DAS LIED DES SCHWERTES (1 von 2)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Welt ist weiterhin in Aufruhr. Die nichtmagische Menschheit lebt mit den Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 und dem Vergeltungskrieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und dem Irak. Die Magische Welt hat weiterhin mit den Auswirkungen der von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelösten Welle dunkler Zauberkraft zu tun. Zwar konnte das Erbe Sardonias in und über Millemerveilles endgültig beseitigt werden. Doch die während der Eingeschlossenheit durch eine gasförmige Droge Vita Magicas ausgelöste Fortpflanzungsorgie erlegt den Bewohnern Millemerveilles die Verantwortung für über 750 im nächsten Jahr ankommende Kinder auf. Im Auftrag und mit Hilfe der transvitalen Entität Ammayamiria errichten Millie und Julius Latierre zusammen mit Ashtarias Nachkommen Camille Dusoleil, Maribel Valdez und Adrian Moonriver eine neue, schützende Glocke über Millemerveilles, die nicht wie die dunkle Kuppel Sardonias auf Leid und Tod, sondern Lebensfreude, wachsendem Leben und Liebe gründet. Die dunkle Woge im April 2003 bestärkt dunkle Wesen und Gegenstände. So erwacht die schlummernde Kraft in einem Zauberkessel der Hexenmeisterin Morgause zu unheimlichem Eigenleben. Doch der Kessel wird von den darum streitenden Hexen Anthelia und Ladonna zerstört. Morgauses darin eingelagerte Seele wird von der ebenfalls bestärkten Nachtschattenführerin Birgute Hinrichter vertilgt und gibt ihr damit noch mehr magische Kraft. Auch der Orden der Gooriaimiria gewinnt durch die weltweite Welle dunkler Zauberkraft mehr Kraft. In Australien erwachen die vier letzten Schlangenmenschen Skyllians aus jahrtausendelangem Zauberbann und sorgen über mehrere Wochen für Angst und Unsicherheit, weil sie ihr Dasein ungehindert ausbreiten wollen. Nur die von Anthelia nach Australien geschafften Insektenmenschen, sowie ein machtvolles Ritual australischer Stammeszauberer am heiligen Berg Uluru dämmen die Ausbreitung von Skyllians letzten Dienern ein.

Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Bei der Hochzeit von Gabrielle Delacour und Pierre Marceau in einem abgelegenen Waldschloss bei Amien droht die Geheimhaltung der Zaubererwelt zu scheitern. Denn das Schloss wurde vom US-Geheimdienst CIA als Spionage und Überwachungsstätte benutzt. Nur Julius' Computerkenntnisse und der Zaubertrank Felix Felicis ermöglichen ihm, die drohende Enttarnung der Zaubererwelt zu verhindern.

Im Dezember bekommt die Familie Latierre Zuwachs. Zum einen wird den Eheleuten Hippolyte und Albericus Latierre ein Sohn geboren, der eine körperliche Besonderheit aufweist. Er besitzt zwölf Finger und zwölf Zehen. Zum anderen heiratet Hippolytes und Béatrices Cousin Gilbert seine amerikanische Kollegin Linda Knowles, mit der er den Betrug der US-Quidditchmannschaft bei der Weltmeisterschaft aufgedeckt hat. Ein wenig beunruhigt ist er von einem Traum, indem die in magischen Sphären überdauernden Seelen älterer Frauen davon sprechen, dass Millie und er drei Jahre und drei mal so viele Jahre wie sie Töchter haben keinen Sohn bekommen können, weil die Magie der Mondburg dies so eingerichtet hat. Da Ashtaria über Ammayamiria gefordert hat, dass er in den kommenden Jahren seinen ersten Sohn zeugen soll, um den Tod eines Sohnes aus der Linie Ashtarias auszugleichen, weiß er nicht, was er von diesem Traum halten soll.

Die ersten Wochen des Jahres 2004 verlaufen ohne erwähnenswerte Ereignisse. Doch die mit dem Schutz der magischen und nichtmagischen Menschen betrauten Ministeriumsbeamten wissen, dass diese Ruhe trügerisch ist. Tatsächlich nutzen die menschenfeindlichen Gruppierungen die Zeit, um bessere Ausgangsmöglichkeiten für weitere Aktionen zu schaffen. Die Sekte der erwachten Göttin errichtet auf jedem der sieben großen Erdteile einen magischen Stützpunkt, einen "Tempel der erwachtten Göttin". Birgutes nachtschatten erweisen sich als die mächtigsten Widersacher Gooriaimirias. Mit dem Machtanspruch Gooriaimirias unzufriedene Vampire erbeuten die Kenntnisse über die Standorte der sieben Tempel. Linda Latierre-Knowles und ihr Ehemann Gilbert erfahren bei einer heimlichen Reise nach Italien, dass Ladonna Montefiori offenbar schon wichtige Posten im Zaubereiministerium kontrolliert und muss nun zusehen, wie sie es denen beibringen können, die ihnen vertrauen.

Die Wochen zwischen Ende Februar und Mitte April werden die anstrengendsten in der Laufbahn der Heilhexe Hera Matine. Denn in diesen Zeitraum fallen die von Vita Magica erzwungenen Geburten von mehr als siebenhundert neuen Zaubererweltkindern. Camille Dusoleil macht am 29. Februar den Anfang mit gleich vier Töchtern. Die Pflegehelfer unterstützen die ausgebildeten Hebammen bei den Entbindungen. Allerdings kommt es zwischen Uranie Dusoleil und dem ungewollten Vater ihrer drei Kinder zu einem Zerwürfnis. Ihr Sohn Philemon fühlt sich zurückgesetzt und versucht dies durch grobes Auftreten zu überspielen. Uranie geht auf Antoinette Eauvives Vorschlag ein, bis auf weiteres in ihrer Residenz, dem Château Florissant, zu wohnen. Bis zum 18. April erfolgen die erwarteten Geburten der von Camille als Frühlingskinder bezeichneten Babys.

Zur gleichen Zeit kommt es innerhalb der Werwolf-Vereinigung namens Mondbruderschaft zu einer Entscheidung, ob die Mitglieder sich den eingestaltlichen Hexen und Zauberern anvertrauen sollen, um keine weiteren Opfer des von Vita Magica verfremdeten Vollmondlichtes zu riskieren oder nun erst recht gegen die Eingestaltler vorzugehen. Die Gruppe um den Zauberer Fino, die für ein weiteres Alleingehen eintritt, gewinnt die Abstimmung und damit auch die Entscheidung, wer die Mondgeschwister weiterführen soll.

Ladonna Montefiori will ihre Macht in Italien vervollkommnen, bevor dort die Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft beginnen soll. Hierzu will sie alte Feinde, die ihr schon vor vierhundert Jahren lästig waren, unwiederbringlich entmachten, die Lupi Romani. Sie schürt gezielt Unfrieden zwischen den vier großen Familien und entfacht damit einen Krieg, der drei der Familien an den Rand der Auslöschung treibt. Der zwergenstämmige Clanchef Vespasiano Mangiapietri und seine Söhne können gerade so noch von seiner Großmutter, der reinrassigen Zwergin Lutetia Arno, in Sicherheit gebracht werden, bleiben aber bis auf weiteres im Zauberschlaf. Ladonna wittert nun die Gelegenheit, weitere treue Anhängerinnen unter dem Bann der Feuerrose zu vereinen. Vor allem geht es ihr um die Stuhlmeisterinnen der sogenannten schweigsamen Schwestern. Ebenso bereitet sie sich darauf vor, weitere Zaubereiminister Europas und anderer Erdteile unter ihre Herrschaft zu zwingen. Falls ihr das gelingt gehört ihr die Zaubererwelt. Doch ihre Feinde sind vorgewarnt. Sophia Whitesand, die Stuhlmeisterin der britischen Sektion der schweigsamen Schwestern, fällt nicht auf gefälschte Unterlagen ihrer einstmals treuen Mitschwester Erin O'Casy herein und wittert eine Falle. Deshalb holt sie die irische Mitschwester in ihre besonders gesicherte Heimstatt, wo Erin durch den dort wirksamen Sanctuafugium-Zauber von Ladonnas Bann befreit wird, jedoch bis auf weiteres geschwächt ist. Albertrude Steinbeißer, die von den allermeisten noch für Albertine gehalten wird, soll von Ladonnas Handlangerin Gundula Wellenkamm in ein unterirdisches Versteck angeblicher Aufzeichnungen gelockt werden. Doch weil Albertrude davon ausgeht, dass Gundula bereits unter Ladonnas Einfluss steht trifft sie Vorbereitungen. So entgeht sie dem Duft der Feuerrose und schafft es sogar, die am Zielort aufgetauchte Ladonna Montefiori schwer zu demütigen, indem sie ihr mit bezauberten Scheren einen Gutteil ihrer Haare abschneiden lässt.

Laurentine Hellersdorf nimmt den Rat der Heilerin Hera Matine an und nimmt Kontakt mit der Kampfzauberexpertin Louiselle Beaumont auf. Nachdem sie deren Einstiegsprüfung in Form einer Rätseljagd und Vorführung ihrer Zauberkenntnisse bestanden hat trifft sie diese in ihrem abgelegenen kleinen Schlösschen, wo sie erweiterte Verteidigungszauber besonders für Hexen erleidet und erlernt. Während dessen forschen Millie und Julius Latierre nach, was es mit Julius' Traum von den in Sphären überdauernden Geisterfrauen auf sich hat. Die Mondtöchter bestätigen, dass es kein bloßer Traum war. Millie und er können erst dann einen gemeinsamen Sohn haben, wenn sie nach Clarimondes Geburt zwölf Jahre verstreichen lassen. Doch Ashtaria fordert von Julius, dass er in den nächsten anderthalb Jahren einen Sohn zeugen soll, um die Lücke zu schließen, die durch den Tod eines erbenlos gebliebenen Sohnes aus Ashtarias Blutlinie entstanden ist. Außerdem soll er für die Mondtöchter nach drei von der Mondbruderschaft abgerückten Werwölfen suchen, die nach Frankreich gekommen sind. Wenn es ihm gelingt, sie in die versteckte Burg der Mondtöchter zu bringen, können sie von ihrem Dasein als Werwölfe geheilt werden.

Julius findet heraus, dass wahrhaftig drei der Mondbruderschaft entsagende Werwölfe in Frankreich eingetroffen sind. Dem Werwolfkontrollamtsleiter Hubert Fontbleu missfällt das, weil er die Festnahme der drei gerne als Trumpf gegen die Mondbruderschaft ausgespielt hätte. Dennoch muss er sich der Weisung seines Vorgesetzten Beaubois fügen und Julius die drei Abtrünnigen überstellen. Dieser bringt sie wie versprochen zur Mondburg. Die drei dürfen über jene gläserne Brücke, über die auch schon Millie und Julius gegangen sind. Allerdings weist die erste der Mondtöchter ihn mentiloquistisch darauf hin, dass eine der drei, Nina, ein Kind mit der Werwolfkrankheit geboren hat. Auch dieses wollen die Mondtöchter heilen, doch erst später. Weil Fontbleu das mit den drei Werwölfen zum fast eigenen Staatsgeheimnis gemacht hat und weil er Julius willentlich einem umstrittenen Ortungszauber ausgesetzt hat und wegen anderer vorangegangener Verfehlungen wird der Leiter des Werwolfkontrollamtes vom Dienst freigestellt.

Ladonna Montefiori lässt von ihrem unterworfenen Romulo Bernadotti Portschlüssel an fast alle europäischen Zaubereiministerien verschicken, deren Nationalmannschaft an der Quidditchweltmeisterschaft teilnehmen dürfen. Nur Frankreichs Ministerin Ventvit will sie nicht dabei haben. Um so ärgerlicher ist es für sie, dass die Spanier den Veelastämmigen Ignacio Lucio Bocafuego Escobar mitbringen. Um ihn nicht bei ihrem geplanten Unterwerfungsakt stören zu lassen vergiftet sie ihn mit einem tückischen Gemisch aus dem Gift einer Runespore-Schlange. Doch ihr Plan, die Minister und ihre Mitarbeiter mit einer Feuerrosen-Duftkerze zu unterwerfen scheitert. Denn Anthelia/Naaneavargia kann dank Albertrudes besonderer Sehkraft den für Deutschland bestimmten Portschlüssel wenige Sekunden vor dem Auslösen wegschnappen und damit zum geheimen Treffpunkt versetzt werden. Dort zerstört sie die magische Duftkerze mit Yanxothars Feuerklinge und wendet den Erdzauber "Lied der reinigenden Mutter Erde" an, um die bereits vorher unterworfenen Minister von allen magischen Zwängen freizuspülen. Dabei sterben zwar alle von Ladonna vollständig unterworfenen. Doch nun wissen die meisten Zaubereiministerien, dass Ladonna das italienische Zaubereiministerium beherrscht und noch mehr Macht haben will. Die knapp vor der Versklavung erretteten Minister machen nun Jagd auf Ladonnas Agentinnen und Helfershelfer in ihren eigenen Ländern. Auch Ministerin Ventvit erfährt von dem beinahe geglückten Streich der teilweise Veelastämmigen. Mit Hilfe der in Frankreich lebenden Veela-Abkömmlinge unter Führung der reinrassigen Veela Léto können alle im Zaubereiministerium verborgenen Helferinnen Ladonnas enttarnt und ohne sie zu töten unschädlich gemacht werden. Für diese Hilfe möchte Léto eine Besserstellung ihrer Artgenossinnen und Nachkommen und tritt mit Ministerin Ventvit in geheime Verhandlungen ein, die von Julius Latierre begleitet werden. Deshalb legt er seinen Herzanhänger bis auf weiteres ab, um Millie nicht mit Létos Veelamagie zu belasten.

Laurentine Hellersdorf beendet ihre intensive Einzelausbildung bei Louiselle Beaumont und reist zu ihren nichtmagischen Verwandten in die USA. Als ihre dort ebenfalls hinreisende Mutter ihr einen Dicken Umschlag mit allen bisherigen Dokumenten aus Laurentines Leben vor Beauxbatons und eine schriftliche Erklärung ihres Vaters übergibt weiß sie, dass ihre Eltern endgültig mit ihr gebrochen haben. Weil ihre Großmutter Monique spürt, dass sich ihre Tochter und ihre Enkelin offenbar im Streit befinden verlangt sie eine Aussprache. Dabei eröffnet Laurentine ihr, dass sie kurz nach Eintritt in die Volljährigkeit aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten ist, was ihre sehr gläubige Großmutter erzürnt. Diese verlangt, dass auch Laurentine ihr Haus verlässt. Es sieht danach aus, dass Laurentine auch den guten Kontakt mit ihrer verwitweten Großmutter einbüßt, ohne dieser verraten zu haben, was mit ihr los ist. Weil sie bei einem Musicalbesuch in New York einer sehr schönen wie offenbar mächtigen Hexe begegnet und später erfährt, dass es die neue Anthelia ist, beschließt sie, Kontakt zu den schweigsamen Schwestern zu suchen. Diese laden sie im Juni zu sich ein und bieten ihr an, ihre Mitschwester zu werden. Doch bevor sie die entscheidende Frage beantworten kann enthüllen sich mehrere Mitschwestern als offenbar abtrünnige, die versuchen, die gemäßigten Schwestern umzubringen. Nur die in der Versammlungshöhle wirksamen Schutzzauber verhindern den Massenmord. die offenbar vom Orden abgefallenen werden in magischen Lichtblasen von einem eingeprägten Fluch gereinigt und vollständig zu neugeborenen wiederverjüngt, wie es die Regeln der Schwesternschaft bei Verrat und versuchten Angriffen auf Mitschwestern vorsehen. Laurentine schwört den Eid der Schwestern und wird somit zu einer weiteren schweigsamen Schwester.

Im Juni treffen sich die Ladonnas Unterwerfungsversuch entgangenen Zaubereiminister und ihre Mitarbeiter in Millemerveilles, weil die neue Schutzglocke keine böswilligen oder von dunklen Zaubern beeinflussten hineinlässt. Millie und Julius nehmen in ihren Funktionen als Berichterstatterin und Veela-Menschen-Beauftragter daran teil. Es wird vereinbart, dass die Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft in Kanada stattfinden soll, da den italienischen Zaubereiverwaltern nicht mehr zu trauen ist. Als Antwort auf diese Entscheidung führt Ladonna den grausamen Ausgrenzungszauber aus, den bereits Voldemort benutzte, um alle nicht auf britischem oder irischem Boden geborene Hexen und Zauberer auszusperren. Italien und Sardinien werden somit für magische Menschen zu gnadenlosen Todeszonen. Ob es einmal möglich ist, Ladonnas Macht zu brechen weiß keiner.

Millie lässt Julius einen schlimmen Albtraum nacherleben, der sie seit Ende Mai umtreibt. Darin offenbart ihr Ashtaria selbst, dass die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten von den mächtigen Dunkelwesen und ihren Helfern ausgelöscht werden kann, wenn es Julius nicht bald gelingt einen Sohn zu zeugen. Nachdem Julius alles nachbetrachtet hat, was Millie durchlitten hat, eröffnet ihm seine Frau, dass es trotz der Aussagen der Mondtöchter doch noch einen legalen Weg gibt, dass er in den nächsten zwei Jahren Vater eines Sohnes wird. Zwar ist der Weg für einen auf das Gebot der ehelichen Treue hinerzogenen schwer zu gehen. Doch Julius erkennt, dass er Millie nicht betrügt, wenn sie und er sich darauf einigen, dass er mit einer von beiden anerkannten unverheirateten Hexe den von Ashtaria eingeforderten männlichen Erben zeugt. Die Auserwählte ist Béatrice Latierre, die formal und wohl auch im ideellen Sinne als Retterin des Ehefriedens handeln soll. Béatrice erklärt sich mit der Wahl einverstanden und reist mit Julius mitte Juni ins Sonnenblumenschloss, um bis Anfang Juli den ersten Versuch zu schaffen. Währenddessen droht in Ostasien ein weiteres von der Welle dunkler Zauberkraft erwecktes Erbe, aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberzutreten.

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Frühlingstagnachtgleiche im 5. Jahr des Tennos Go-Uda

Katashi Takayama genoss eines der wenigsten Vorrechte, die der Palast des himmlischen Herrschers zu vergeben hatte. Er durfte sich dem göttlichen Herrscher nicht nur jederzeit nähern, ohne aufgehalten zu werden, sondern er durfte ihm auch alles sagen, was ihn umtrieb, ihm sogar verbindliche Vorschläge machen. Zumindest galt es für die gerade für einen weiteren Zeitraum von zehn Jahren amtierende Familie. Katashi Takayama, der als Gründer des Hauses der hohen Kräfte und Lehren bereits vor zwanzig Jahren einen großen Anteil der sogenannten schweigenden Geschichte seines Landes geleistet hatte, war der höchste Magier der regierenden Kaiserfamilie. Deshalb hatte er die Last der Verantwortung übernommen, wenn im Lande die Wesen der dunklen Kräfte mit denen der hellen Kräfte stritten und Träger der überweltlichen Kräfte ihren Weg nahmen, ob den auf hellen, dämmerigen oder finsteren Pfaden. Gerade jene, die den finsteren Pfaden folgten drohten, die zerbrechliche Ordnung der Menschen dieses Landes zu zerstören, um ihre eigenen Machtgelüste auszuleben. Besonders gefürchtet war der Herr des schwarzen Berges, ein Hanyo, also Kind eines Menschen und eines Zauberwesens, und sein höchster Diener, der mittlerweile siebzig Sommer alte selbsternannte Hüter der Tore von Yomi, der weitgereiste, der dunkle Wächter der Wege. Fast so wie in der Welt der unbegüterten Menschen geriet der Herr des schwarzen Berges immer mehr zum Herrscher ohne handelnde Hand, während sein höchster Diener immer mehr seiner eigenen Gedanken und Pläne verwirklichte. Irgendwann würde es zwischen den beiden dunklen Zauberern zum entscheidenden Zweikampf kommen. Wer immer den gewann würde sofort die restliche Bevölkerung zum Sklavendasein verdammen. Takayama musste davon ausgehen, dass der amtierende Tenno diesem Umsturz nichts entgegenzusetzen hatte und auch keiner von den möglichen Nachfolgern, die da aus der Gnade der Shogune auf dem Kaiserthron sitzen durften. Deshalb hatte Takayama den hochamtlichen Herrscher um ein geheimes Zwiegespräch gebeten.

Dieses Gespräch fand nicht im Thronsaal statt, sondern in einem unterirdischen Raum, wo die wertvollsten Schätze der Familie aufbewahrt wurden.

"Himmlischer Herrscher, du weißt, ich übe die mir von den Göttern verliehene Macht nicht zu meinem Vorteil aus", begann Takayama, als er den Herrscher da selbst gegenüberstand. "Doch Ihr wisst sehr wohl, dass ich nicht der einzige bin, der die hohen Künste und Kräfte erlernt hat. Jene, die wie ich in Behutsamkeit und Rücksicht auf ihre Mitmenschen wirken versuchen, die Kinder, bei denen solche Gaben erkannt wurden, im Sinne eines besonnenen Miteinanders zu erziehen. Doch die, welche die ihnen verliehenen Kräfte als göttliches Recht empfinden, damit alles und jeden in diesem Land und dem Rest der Welt zu unterwerfen und in ihrem Sinne zu benutzen wie Nahrung, Werkzeug und Hausrat, scharen mehr Anhänger um sich, die aus Furcht vor übler Behandlung oder aus eigener Gier nach Reichtum und Größe tun, was sie gebieten. Es sind vor allem zwei, die gerade sehr unrühmlich aber erfolgreich das Land mit ihrem immer längeren Schatten überziehen wollen." Er beschrieb dem Herrscher die zwei größten dunklen Magier. Beim dunklen Wächter sagte er sogar, dass dieser den amtierenden Fürsten finsterer Kräfte bald entthronen würde, weil ihm mehr Macht über niedere Zauberwesen zugefallen sei und er diese als Krieger seiner eigenen Armee einsetzen würde.

"Wollt ihr die bösen Geister schlechter Träume zu mir hinrufen, Meisterzauberer Takayama?" fragte Go-Uda und sah seinen heimlichen Berater verärgert an. "Falls ich dies tue, himmlischer Herrscher, so geschieht dies nicht aus böser Absicht, sondern genau aus dem Grund, Euch und das von Euch beherrschte Volk vor den Auswirkungen der beiden dunklen Meister zu beschützen. Ich kann nicht alleine gegen sie antreten, selbst wenn ich mir eine gewisse Macht und Kundigkeit zurechnen darf. Doch ich hege die Hoffnung, dass ich mit einer dem Licht und dem Frieden folgenden Gefolgschaft aus starken Zauberern und Zauberinnen dieses Land vor dem Sturz in die Finsternis bewahren kann. Daher biete ich an, wenn Ihr es befehlt, eine solche Streitmacht zu bilden, die auf die Kräfte von Sonne, Luft und Leben gründet und gegen den auf Eis, Feuer, Dunkelheit und Tod gründenden Zauberern und Zauberinnen entgegentreten kann, ohne gleich im ersten Kampf zu unterliegen, ja am Ende den Sieg über die Diener der Dunkelheit davonzutragen. Doch darf ich dies nicht von mir aus beginnen, da ich sonst genauso eigenmächtig handeln würde wie die beiden dunklen Meister, die meinen, ihre Gaben und Kenntnisse als allgemeine Erlaubnis der Götter zu sehen, die Welt nach ihrem Bild umzugestalten. Da Euer Haus und das dem mit Euch alle zehn Jahre wechselndem Herrscherhaus von der sonnenhellen Himmelsherrin Amaterasu abstammt muss ich Euch fragen, ob Ihr mir die Erlaubnis gewährt, diese Streitmacht zu begründen."

"Ich habe in all den Jahren, die Ihr schon unser Haus beratet nicht erkannt, ob Ihr wahrlich als Bote der Götter oder im eigenen Sinne handelt, Meister Takayama. Ich weiß nur, dass ich Eure Kräfte nicht erlernen kann, obwohl in meinen Adern göttliches Blut fließt. Doch waren und sind die Wege der Götter stets unvorhersehbar. Doch ich verstehe, was Euch besorgt, Meister Takayama. Auch kenne ich aus Euren berichten und den Botschaften aus dem Reich die Auswirkungen böswilliger Zauberei, die eindeutig von durch Yokaiabstammung vergifteten Geistern herrührt. Daher muss ich nicht lange überdenken, was Euren Vorschlag und Eure Anfrage angeht. Ich werde Euch eine schriftliche Bestätigung erstellen, dass Ihr als erster Zauberer des herrschenden Tennos das Recht erhaltet, eine zauberische Streitmacht zu bilden, die unser Land und seine Menschen vor den Begehrlichkeiten böswilliger Hanyos und deren finsteren Nachläufern bewahren hilft. Doch wie unsere Unterredungen und das Wissen um die Wahrhaftigkeit der Zauberei und Zauberwesen muss auch das Wissen um diese Streitmacht vor den Geschichtsschreibern verborgen bleiben. Nur Ihr und die Euren dürft darüber Kunde und aufzeichnungen erwerben, um Eure Arbeit über Euren Tod hinaus fortführen zu können. Ihr habt die Erlaubnis, die besonnenen, dem Leben und dem Schutz der Menschen verbundenen Krieger zusammenzurufen und im Sinne dieser großen Aufgabe auszubilden und zu befehligen. Ihr erhaltet hierzu den Rang eines Sachgebiethauptverwalters erster Ordnung, wobei das Sachgebiet eben die Erforschung und Lenkung der überweltlichen Kräfte und Wesen ist. Wie mögt ihr diese Streitmacht nennen, damit ich sie in meinem herrschaftlichen Erlass erwähnen kann?"

"Da sie ja in Eurem und der Sonnengöttin Dienst gestellt werden sollen und damit die auf Erden wirkenden Augen, Ohren und vor allem handelnden Hände der Sonnengöttin sein sollen, so schlage ich in aller Bescheidenheit die höchst ehrenvolle Bezeichnung "Hände der Amaterasu" vor", sagte Takayama Katashi nach nur zwei tiefen Atemzügen.

"So sei es beschlossen und verkündet und wird in nur sieben Tagen auch verbrieft sein, dass Ihr, Meister Takayama, die Hände der Amaterasu begründen und auf die große Aufgabe vorbereiten mögt und dass dieser Beschluss mit dem in sechs Jahren mir nachfolgenden Herrscher aus der Gnade der Shogune nicht wieder umgestoßen werden kann, sondern alle Jahrhunderte von heute an gelten soll."

"So soll es dann sein", erwiderte Takayama. Ob er sich darüber freute oder gar ein Gefühl der Überlegenheit verspürte war dem bärtigen Mann, der im Palast als älterer Hausdiener wahrgenommen wurde, nicht anzumerken. Er hoffte jedoch, dass er schon bald eine schlagkräftige Streitmacht hinter sich vereinen konnte, um sowohl dem Herren des schwarzen Berges als auch dem ihm langsam über den Kopf zu wachsen drohenden ersten Diener, dem dunklen Wächter, Einhalt gebieten zu können.

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am zweiten Tage der Kirschblüte im 4. Regierungsjahr des Tennos Go-Daigo

Er mochte den Klang, den der durch die vielen Gänge wehende Wind erzeugte. Für viele andere Wesen bedeuteten die ganz tiefen Töne Unbehagen, Übelkeit oder gar Angst. Doch weil er der von ihm mit einer Yamauba gezeugte sohn und der Tod seiner zweiten Mutter war konnte ihm nichts und niemand mehr Angst machen.

Bald würde er auch den Herrn des schwarzen Berges niederkämpfen, noch ein Hanyo wie er, nur dass dessen Vater ein Omi war. Viele Landsleute glaubten ernsthaft, er diene dem selbsternannten dunklen Fürsten. Doch in Wirklichkeit fürchtete der Herr des schwarzen Berges den Tag, an dem er, der dunkle Wächter, mit seinen Kennzeichen der Macht vor seinem nachtschwarzen Obsidianpalast auftauchen und die steinernen Garden auslöschen würde, um dem angeblichen Fürsten aller dunklen Bruderschaften selbst den Kopf abzuschlagen.

In einer Art von irrsinniger Vorliebe für Gebeine hatte er sich einen Sessel aus den Knochen erlegter Krieger gefertigt. In den Schädeln der Besiegten brannten Kerzen, die aus deren Körperfett und Haaren gemacht worden waren. Eigentlich brauchte er kein Licht zum sehen. Doch die kleinen Flammen, die leuchtenden Überreste seiner Opfer, gaben ihm zusätzliche Kraft. Und die würde erwohl bald brauchen.

Bevor dieser lächerliche Shogun sich zum Herren über die vier großen Inseln im Reich der aufgehenden Sonne ausgerufen hatte und der Tenno, der Nachfahre der Sonnengöttin selbst, sich zum reinen Vorführherrscher hatte machen lassen, hatte der Tenno mit seinen drei Hofmagiern eine Truppe von besonderen Kriegern aufstellen lassen, die Zauberkraft und Schwertkunst miteinander verschmolzen. Die Hände Amaterasus nannten diese Wichte sich, und ihre erklärten Erzfeinde waren der Meister des schwarzen Berges und er, der dunkle Wächter, Hüter der Tore von Yomi. Sicher hätte er auch schon längst nach der Kaiserkrone greifen können. Doch er wollte nicht die schlafendenGötter wecken, wenn er einen ihrer Nachfahren tötete oder mit Geistesfesseln an sich band. Es war nicht Angst, die ihn davon abhielt, den Tenno zu beseitigen und statt seiner zum obersten Herrscher zu werden, sondern das Wissen, dass ein Kampf mit den alten Göttern selbst alles Land zerstören wwürde, das er beherrschen wollte. Ein Herrsher über Staub und Asche wollte er dann doch nicht sein. Eigentlich sollte der Nachgeborene aus dem Geschlecht der Sonnengöttin dies wissen. Immerhin hatte er es vor einem halben Jahr mit Hilfe eines Rabens übermittelt. Doch die neue Armee wollte ihn trotzdem vernichten. Er musste ergründen, wie er gegen deren Zauberkünste bestehen konnte, ohne gleich das halbe Land zu zerstören. Dann würde er zunächst den Halbomi töten und dann sie auslöschen und sich zum finsteren Shogun ausrufen.

Ein nur für ihn hörbarer Schrei erklang durch die von flackernden Kerzen erleuchtete Halle. Einer der fünf von ihm unterworfenen Tengus vermeldete einen unerwarteten wie unerwünschten Besucher. Die Art des Schreies bedeutete eindeutig einen tödlichen Feind. Dann hörte er noch einen Tengu einen Warnschrei ausstoßen, bevor er dessen geistigen Todesschrei vernahm. Es waren mehrere Feinde. Sie waren gekommen. Die Entscheidung, die er eigentlich erst in einem Jahr suchen wollte, stand unmittelbar bevor.

Der dunkle Wächter hüllte sich in seinen Mantel aus Drachenhaut, der ihn zum einen für im Feuer entstandene Waffen unangreifbar machte und zum anderen mit seiner Umgebung verschmelzen ließ. Sein Schwert steckte in seiner Sterneneisenscheide auf seinem Rücken. Er wollte es jetzt noch nicht ziehen. Denn dann würde es sein für Menschenohren unhörbares Lied des Rufes und der Unterwerfung singen, mit dem er die mächtigsten Yokai unterworfen und fünf ihm nachstellende Berghexen gefügig gemacht hatte. Doch das Lied mochten die dafür geschulten Gegner erfassen, nicht mit den Ohren, sondern mit ihren Seelen. Er musste denen noch nicht verraten, wo genau er war. Erst galt es, die bereits in den Wänden und Türen wirksamen Bann - und Verriegelungszauber zu wecken, sobald er wusste, wie viele Feinde ihn heimsuchen wollten.

Mit Hilfe des Stabes stimmte er sich auf den am höchsten fliegenden seiner fünf Tengus ein. Nun konnte er durch dessen Augen sehen, dass die drei noch lebenden geflügelten Wächter versuchten, eine Gruppe auf blauflügeligen Pferden reitender Männer anzugreifen. Doch diese verschossen im Fluge zu gleißenden Strahlen werdende Pfeile von goldenen Bögen. Selbst die Schnelligkeit der Tengus und ihre große Unverwundbarkeit reichten nicht aus. Denn die gleißenden Geschosse konnten ihre Ziele verfolgen, und ihre Kraft verwandelte die Getroffenen in lodernde Flammenkugeln, aus denen nur noch tiefschwarze, feine Asche niederregnete.

Tengus kannten keine Angst. Doch wenn einer von ihnen starb wurden sie richtig wütend. Die Wut der geflügelten Wachen trieb sie, die insgesamt acht Reiter in sonnengelben Gewändern anzugreifen. Der Sohn einer Yamauba versuchte den von ihm gerade als Späher eingesetzten Tengu davon abzubringen, sich mit seinen Artgenossen in den Kampf zu stürzen. Doch die Wut überwog den Gehorsam, ja drängte seinen Geist aus den Sinnen des geflügelten Yokais. Mit bohrenden Kopfschmerzen fand er sich dann in seiner Halle wieder.

Jetzt vernahm er die geistigen Todesschreie seiner verbliebenen Wachen. Die anderen waren ebensoschnell wie gefährlich. jetzt wussten die, dass am Berg des klagenden Windes etwas für sie sehr begehrtes zu finden war.

"So stellt euch meinen Fallen und Verheerungen, ihr Knechte der Sonne", dachte der dunkle Wächter und sprach in die Richtung zweier Schädel, in denen keine flackernde Kerze steckte. Die Schädel waren Verbindungsglieder zu seinen Abwehrzaubern. Augenblicklich entstanden dunkle Flammenwände, grün glitzernde Eismauern und aus den Wänden stoßende Steinlanzen. Die Türen verschlossen sich und verschmolzen mit den Wänden zu einer unüberwindlich harten Steinbarriere. Auch wirkten in den Gängen Zauber, die den Weg der schnellen Wünsche unterbrachen oder jene, die ihn gingen in einem runden, hohen Raum trieben, wo in mehreren Steinen gefangenes Drachenfeuer darauf wartete, jedes Leben zu verschlingen, das in ihre Nähe geriet. Wenn es nur die acht Reiter waren, so würden sie in nicht einmal einem Tageszwölftel vergangen sein, dachte der dunkle Wächter.

Er griff sich einen der beiden Verbindungsschädel und drehte ihn so, dass er ihm in die Augen sah. Dadurch gewann er den Überblick über die verteilten Fernbeobachtungszauber. So konte er mitverfolgen, wie drei der Reiter vor dem Berg niedersanken und dann mit trommelstockartigen Gegenständen in der Luft herumwedelten. Daraufhin entstanden kleine, weißgelbe Lichtkugeln, wie winzige Töchter der Sonne selbst, die die Berghänge hinaufeilten und durch die Zugänge drangen. Die fünf anderen Reiter waren bereits in den ersten Gängen, wo sie von den wie steinerne Mäuler zuschnappenden Lanzengruppen erwartet wurden. Doch sie schufen sonnenaufgangsfarbene Schilde oder schwangen goldene Fächer, aus denen gleißende Lichtstrahlen schlugen. Diese Strahlen zersprengten die Steinlanzen, sofern diese nicht an den Schilden zerbrachen. Dann erkannte der dunkle Wächter, wie überlegen vereinigte Zauberkräfte sein konnten, wenn ihre Meister ein gemeinsames Ziel hatten und wusste, er musste selbst kämpfen.

Weißes Licht flutete einen der Gänge. Dann krachte und prasselte es, und die Fernbeobachtungszauber erloschen. Die Eindringlinge schafften es, sich durch die ihnen entgegenstehenden Bannzauber und Verriegelungen hindurchzukämmpfen, obwohl sie bereits außerhalb des Sonnenlichtes waren. Denn der dunkle Wächter vermutete, dass die Sonne die Kraftquelle seiner Gegner sein musste. Es knallte und donnerte, als weitere Barrieren brachen. Wie machten die es nur? Seine Zauber nährten sich doch von Luft, Feuer und Erde, drei der vier unerschöpflichen Urkräfte der Welt.

"Dunkler Wächter, hör uns an!" drangen vier Stimmen an sein Ohr, während die beiden Verbindungsschädel laut knackend zerbrachen und zu feinem Staub zerfielen. "Ergib dich uns, den Händen der Amaterasu und gewinne dadurch die Gnade der Göttin, dein Leben zu schonen!"

"Als euer Gefangener, euer niederster Diener, wie?" zischte der dunkle Wächter. Dann zog er sein mattgrün glänzendes Schwert, auf das er so stolz war. Es machte einen singenden Ton. Daraufhin erglühte seine Klinge. "Auch wenn ihr mich vielleicht tötet. Ich werde so viele ich kann mit nach Yomi nehmen."

"Dunkler Wächter, Geflohener von Yomi, Herr der niederen Yokai! Wir, die Hände der Amaterasu, gewähren dir dein Leben, wenn du dich uns ohne Kampf ergibst!" drangen wieder die Stimmen der Eindringlinge zu ihm durch. Gleichzeitig krachte und splitterte es irgendwo. Der zum zweiten mal lebende, sein eigener Sohn, grinste. Er griff in eine Nische hinter seinem Knochenstuhl und zog eine im Licht der flackerndenKerzen blutrot glänzende Maske hervor, die eine verkleinerte Nachbildung eines der roten Feuerdrachen mit der goldenen Hornkrone war, in dessen Blut er das aus Occamysilber und dem aus Feuerbergschloten geschleuderten und aus gefallenen Sternen stammenden Eisen gefertigte Schwert gehärtet hatte. Er setzte sich die Maske auf und band sie fest. Dann zog er die Kapuze seines Kampfgewandes über den Kopf, gerade soweit, dass sie bis zu den goldenen kleinen Hörnern reichte. Dann summte er einen Ton, den sein Schwert aufnahm und verstärkte. "Williges weib sucht willigen Kerl, zu treiben den eigenen Samen in fruchtbaren Leib", dachte der dunkle Wächter, während er den tiefen Ton summte. Sein Schwert übertrug Ton und Gedanken nur für die Angehörigen einer ganz bestimmten Gruppe von gezüchteten Feuerdrachen, seiner stärksten Armee überhaupt. Die begattungswilligen Männchen würden nun auffliegen und nach der Quelle des Rufes suchen.

"Was wagst du, du närrischer Mensch!" rief nur eine Stimme. "Er ruft die roten Drachen, die schon unsere Gebrüder niedermachten. Er weiß nicht, was er da entfesselt."

"Doch, weiß der ganz wohl", dachte der dunkle Wächter. Dann erkannte er, dass sie ihn von seinem Vorhaben abbringen wollten und besann sich wieder auf seine verlockenden Gedanken und den Rufton, den sein Schwert übermittelte.

Er hörte, wie die anderen gegen seine Fallenzauber ankämpften, zum Beispiel den Schattenfresser, der die bei Lichtzu sehenden Schatten verschlang, um sie gegen ihre Erzeuger wie rachsüchtige Geister einzusetzen. Doch er hörte, dass nicht wenige der acht Eindringlinge die Fallen überwanden und sich von drei Richtungen her zu ihm vorkämpften. Wielange würden die gerufenen Drachen brauchen, um den Berg zu erreichen und ihn auf der Suche nach dem willigen Weibchen zu bestürmen?

"Ruft die zweite Gruppe, um die gerufenen Drachen zu bekämpfen!" hörte er eine merkwürdig nachschwingende Männerstimme rufen. Dann hörte er wieder einen seiner Schutzwälle zerspringen. Diese Sonnendiener machten seine dunkelstenSperrzauber zunichte. Doch sein würde die Rache sein. Er würde auf den Knochen seiner Feinde einen Freudentanz tanzen und ihre Schädel in seine Sammlung einreihen. Er schwang mit links den von Einhornblut silbrig glänzenden Stab und mit der rechten Hand sein Schwert. Da in diesen Gegenständen durch entschlossenen Zauber ein Teil seines eigenen Geistes wohnte verliehen diese Dinge ihm zusätzliche Kraft und Geschwindigkeit. Er würde die Feinde wie ein Wirbelsturm aus Feuer und Tod empfangen und niedermachen. Dann jagten vier weißgelbe Lichtkugeln durch die aus der Verbundenheit mit der Wand herausbrechenden Tür.

"Seid willkommen am Tore zu Yomi, dem Reich, das euch erwartet!" rief der dunkle Wächter. Seine Maske verzerrte seine Stimme zu einem tiefen, schnarrenden, lauten Brüllen, das jedem Menschen das Blut in den Adern gefrieren machen musste. Dann sah er die ersten drei in Sonnengelb gewandeten. Um ihre Körper schimmerte goldener Dunst, der Segenshauch der Sonne, wie der dunkle Wächter es aus den Schriften seines Meisters gelernt hatte. Doch sein Schwert glühte weiß auf. Jetzt, wo es unmittelbare Todfeinde erspürte, entfesselte Ryu no Kiba seine ganze Kraft. Die Sonnendiener waren schnell, wohl auch durch Beschleunigungszauber beschwingt. Doch gegen die rasende Schnelligkeit des dunklen Wächters und die zielsicher dreinschlagende weiße Klinge konnten zwei der drei Eindringlinge nicht bestehen. Die dem Zauberschwert des dunklen Wächters entgegenschwingenden Klingen zerschellten laut klirrend an der weißen Klinge, bevor diese fast widerstandslos durch die Körper seiner Feinde schnitt. Die so in zwei Hälften geteilten Leiber erglühten und fielen als schwarz verkohlte Überreste zu Boden. Im Rausch von Kampf und Todeswut vergaßen das Schwert und sein Meister, dass der dunkle Wächter die Schädel seiner Feinde aufbewahren wollte. Die weißglühende Klinge sauste auf den dritten Gegner zu, der eigentlich darauf gehofft hatte, dass der Segenshauch der Sonne ihn vor Feuerkräften schützte. Er riss einen goldenen Schild hoch, der rot aufleuchtete. Die Klinge des dunklen Wächters prallte darauf und ließ den Schild wie einen großen Gong erschallen. Der Schild blieb ganz. Das Schwert glitt davon ab und flackerte kurz wie eine der in den Totenschädeln brennenden Kerzen.

"Und dein Schädel wird mein sein!" rief der dunkle Wächter durch seine Drachenmaulartige Maske. Wieder sauste seine Klinge durch die Luft und prallte auf den goldenen Schild. Wieder dröhnte dieser wie ein Gong. Wieder flackerte das Schwert kurz. Was für ein Zauber war so mächtig wie sein Schwert? Das durfte nicht sein.

"Geisterhand gewandt, reiß Waffe fort aus Feindeshand!" dachte er und zielte mit seinem Zauberstab auf den Gegner. Ein grüner Strahl schlug heraus, verbreiterte sich im Flug und umfing den goldenen Schild. Mit einem Ruck wurde dieser dem Gegner entrissen. Der ließ seine Hand schneller als für übliche Augen in sein Gewand fahren, um wohl einen Zauberkraftausrichter zu ziehen. Doch da enthauptete das nun wieder weiß glühende Schwert den Feind. Der Körper zerfiel zu kohlschwarzen Überresten. Der davonwirbelnde Kopf verbrannte wie in unsichtbarem Feuer, bis nur der knöcherne Schädel übrig war. Dieser knallte gegen eine Wand und zerbarst vollständig.

"In die tiefsten Schlünde Yomis mit diesen Kriegern!" fluchte der dunkle Wächter. Er musste das Schwert dazu bringen, nicht so wild zu glühen, wenn er die gewünschten Trophäen bekommen wollte. Doch weil das Schwert ein Stück seiner Seele enthielt würde es die Feinde gnadenlos niedermachen, so wie er es sonst auch tun würde.

Der vierte noch hereinstürmende Krieger riss bereits seinen Schild und einen Zauberstab hoch. Gleichzeitig sprangen alle vier leuchtenden Kugeln aufeinander zu und verschmolzen zu einer einzigen, kopfgroßen Lichtkugel, die nun immer wieder in die Bahn des Schwertes flog. Es federte davon zurück wie von einer straff gespannten Lederhaut. Der dunkle Wächter fand kein Durchkommen. Denn wo das Schwert auf die Lichtkugel traf sprang es zurück und erlosch gerade noch rechtzeitig, um nicht seinen Herrn und Meister zu verbrennen. Wo es auf den goldenen Schild prallte dröhnte dieser wie ein Gebetsgong. Der Herr der Yokai und erste Diener des finsteren Meisters versuchte erneut den grünen Entreißungszauber. Doch diesmal versperrte ihm diese widerwärtig hell leuchtende Lichtkugel den Weg und schluckte den grünen Strahl. Sie blähte sich in schneller Folge auf und zog sich zusammen, bis der grüne Strahl erlosch. Diese zwei Atemzüge wollte der verbliebene Feind nutzen, um den dunklen Wächter mit seinem Schild zu schlagen. Doch dessen Schwert war wachsam, glühte auf und fing den Schlag ab. Wieder dröhnte ein alle Räume erfüllender Gongschlag. Dann flogen noch weitere Lichtkugeln in die Halle hinein. Sie bildeten einen Ring um den dunklenWächter und umkreisten ihn mit steigender Geschwindigkeit. Weitere Lichtkugeln flogen herein, bildeten einen zweiten Ring und kreiselten in der entgegengesetzten Richtung über dem ersten. Der dunkle Wächter versuchte die zu einem grellen flirren gewordenen Lichtkugeln mit dem Schwert zu durchschlagen. Doch seine sonst so mächtige Waffe prallte davon ab. Nun drangen noch je zwei Feinde aus verschiedenen Richtungen vor. Der dunkle Wächter dankte seiner Drachenmaske, deren eingesetzte Glasaugen alles schmerzhafte Licht auf ein erträgliches Maß abdunkelten. Doch er erkannte, dass diese ihn umschwirrenden Lichtkugeln sich immer enger um ihn tummelten. Sie waren dabei, ihn einzuschnüren. Er stieß sich vom Boden ab, um über den oberen Lichtkugelring hinwegzuspringen. Da flogen ihm gleich drei goldene Schilde entgegen. Zwei davon konnte er noch im Flug mit seinem Schwert fortschlagen. Der dritte prallte auf seinen Kopf. Hätte er nicht die Maske und die Kapuze getragen, so hätte ihm der Aufprall sicher den Schädel gespalten. Doch auch so war der Anprall viel zu laut und der Kopfschmerz fast unerträglich. Sein Sprung geriet zu einer Flatterbewegung. Sein linker Fuß berührte eine der Lichtkugeln. Ein sengendheißer Schmerz jagte durch sein Bein bis unter die Schädeldecke hinauf. Er fiel noch innerhalb der Lichtringbegrenzung zu Boden.

"Feiglinge. Einer für einen!" rief der dunkle Wächter, während er sich mit einem unangenehmen Pochen im rechten Bein wieder aufrichtete.

"Du bist für einen alleine zu stark, um dich im ehrenvollen Zweikampf zu besiegen", sagte einer der Eindringlinge. "Doch unser Ehrengesetz verlangt, dir dein Leben zu schenken, wenn du deine Waffen niederlegst und dich in unsere Obhut fügst."

"Obhut? Gefangenschaft meinst du wohl, du elender Heuchler. Und fügen werde ich mich niemandem. Auch wenn eure Sonnenlichtkugeln beachtlich sind, so werde ich die mit der Macht der finsteren Eisnacht hinwegfegen!" rief er dem Feind entgegen und riss seinen silbernen Stab nach oben. Er rief eine Formel, die er auf seiner Reise durch Indien gelernt hatte. Aus dem Stab waberte eine schwarze Wolke, die ihn umschloss wie ein großes Zelt. Gleichzeitig breitete sich die Wolke in alle Richtungen aus und traf auf die Lichtkugeln. Diese zischten und prasselten, verloren für einige Sekunden ihren Schwung und trieben davon. Doch dann riefen die noch lebenden Feinde in einer unerwarteten Einheit die gnadenvolle Macht der Mutter des Lichtes an. Weißes Licht erstrahlte aus trommelstockähnlichen Stäben, berührte die goldenen Schilde, die ebenfalls im weißen Licht erstrahlten. Die schwarze Wolke löste sich auf. Dabei fühlte der dunkle Wächter, wie ihm die Kräfte schwanden. Er taumelte. Seine Geschwindigkeit verringerte sich. Er erkannte, dass diese Schurken ihm alle Körperverstärkungszauber entrissen. Dieses Licht war kein reines Licht, sondern das reinste Licht, die Kraft des Lebens, das von der Sonne erzeugt und genährt wurde. Sein Gewand konnte zerstörerisches Feuer zurückwerfen, ebenso seine Maske. Doch gegen der Sonne entströmende Lebenskraft kamen sie nicht an. Und da in seinem Leib und seiner Seele mehr Tod und Vernichtung verwoben waren, lähmte das Licht ihn mehr und mehr. Bald würde er ein gewöhnlich schneller zitternder und taumelnder Wicht sein, ja womöglich in diesem Licht auf die Knie fallen. Niemals!!!

"Und ihr bekommtmich nicht, nicht lebend und nicht tot!" rief der Dunkle Wächter noch und ließ den Zauberstab fallen. Mit einem Griff öffnete er sein Gewand. Dann schwang er sein rotglühendes Schwert: "Wenn des Schwertes Lied erklingt, mein Geist aus dem Dunkeln dringt, neues blut benetzt die Klinge, Zahn des Drachens lauthals singe!" rief er und stieß sich sein eigenes Schwert in den Bauch. Mit einem gekonnten Zug schlitzte er sich selbst den Leib auf. Er stürzte zu Boden. Doch noch im Sterben röchelte er: "Mein ist die Wiederkehr, dann hält mich niemand mehr! Niemand mehr!" Mit diesen Worten tat er seinen allerletzten Atemzug. Er fühlte, wie sein Blut und sein Geist mit dem Schwert in seinem Leib verschmolzen. Dann war nur noch tiefschwarzes Nichts um ihn herum.

Für die Feinde, die seinen Freitod erzwungen hatten zeigte sich ein schauriges Bild. Das im Leib des dunklen Wächters steckende Schwert erstrahlte noch einmal in weißer Glut, widersetzte sich dem Licht der Sonnendiener. Der Körper des dunklen Wächters glühte immer heller auf, bevor er in einer Flammenwolke zerplatzte. Klirrend landete das Schwert auf dem Boden und erlosch scheinbar für immer. Doch die Überwinder des dunklen Wächters hörten es in der Stille, ein leises, metallisches Singen, Töne, für Menschenohren unhörbar. Doch sie hörten die Worte, Worte der Verlockung und der Kraft. Sie wussten nun, dass es noch nicht vorbei war.

"Das Schwert muss schweigen", sagte der älteste noch lebende der Angriffstruppe. Seine Kameraden nickten. Dann sah einer den silbergrauen Zauberstab auf dem Boden liegen. "Der hat sich einen dieser Holzstäbe von den Trägern hoher Hüte in Sonnenuntergangsrichtung verschafft."

Sie hörten die Worte der Verheißung und Kraft, Kraft dem, der es wagte, das Schwert zu nehmen, das Schwert der großen Macht. Einer der jüngeren machte schon anstalten, sich zu bücken und nach dem gerade nicht glühenden Schwert zu greifen. Da zogen ihn seine Kameraden zurück. "Er hat dem Schwert seinen Geist geopfert. Das Schwert und er sind eins geworden. Er wartet auf einen, der das Lied hört und zugreift", sagte der Älteste. Dann gebot er, mit vereinter Zauberkraft das Lied der schlafenden Sonne zu singen, das je mehr es sangen und mit Zauberkraftausrichtern ein Wesen oder einen beseelten Gegenstand bestrichen, der Schlaf solange dauern würde, bis die Sonne vom Mond überdeckt wurde. Bei Zaubergegenständen konnte es sogar mehrere Sonnenfinsternisse dauern. Die Hände der Amaterasu kannten natürlich alle Angaben über Sonnenfinsternisse der nächsten zweihundert Jahre. So vertrauten sie darauf, dass ihr gemeinsamer Zauber vorhielt.

Der für ohren unhörbare Gesang wurde immer langsamer und leiser, während um das Schwert eine hauchdünne, blaue Eisschicht entstand. Das war das Zeichen, dass dem Schwert eine dunkle Seele innewohnen musste und auch, dass das Schwert eigentlich dem Feuer verbunden war. Denn der Schlafzauber umhüllte beseelte Gegenstände mit einer gegenteiligen Ummantelung. Wäre es ein Schwert des Eises gewesen, so hätte sich wohl erst rotglühende und dann immer festere Feuerbergasche darum gebildet. Erst als keiner von ihnen auch durch einen Magiehorchverstärkungszauber die verlockenden Töne und Worte nicht mehr hören konnte wussten sie, dass das Schwert des dunklen Wächters für unbestimmte Zeit gebannt war. Dennoch luden sie es in eine Kiste aus mit Mondblei überzogenem Sterneneisen, die mit Zauberzeichen für Ruhe, Geschlossenheit und Fesselung beschrieben war.

einer der Zauberer, die den Händen der Amaterasu dienten, prüfte mit seinem Zauberkraftausrichter, ob der silbergraue Stab ungefährdet aufgehoben werden konnte. Dabei schwang der Stab sehr schnell aber leise, und über ihm erschien das verächtlich grinsende Gesicht eines mittelalten Mannes. "Auch dem Stab wohnt ein Teil einer Seele inne, womöglich die unseres Feindes. Wir sollten auch ihn sicher fortschließen, dasss niemand an ihn rühren kann. Nachher nutzt der Stab den Besitzer aus, um im Sinn und Auftrag seines Herren zu handeln", sagte der Älteste der Einsatzgruppe. So wurde auch der Stab in eine kleine Sterneneisenkiste gelegt, wobei die Sonnendiener ihn mit ihren goldenen Schilden aufschaufelten, damit niemand ihn anfassen konnte.

Sie wollten gerade wieder fort, als sie das wilde und wütende Gebrüll von weiter draußen hörten. Die gerufenen Drachen kamen.

"Sind unsere Gebrüder draußen bereit?" fragte einer der Einsatzgruppler. Zur Antwort hörten sie ein schmerzvolles, röhrendes Brüllen, gefolgt von einem lauten, dumpfen Aufprall und ein Rutschen von Gestein. "Du hörst es, Haruko", sagte der Älteste der Gruppe. Dann krachte es erneut irgendwo. Danach hörten sie ein lautes Fauchen und tosen. "Sie wollen unsere Leute mit ihren Flammenstößen töten." Da knallte es erneut, und wieder röhrte ein Ungeheuer im freien Absturz.

"Die Pfeile der Amaterasu sind jedes Reiskorn aus Gold wert, das sie kosten", stellte ein noch junger Mitkämpfer fest.

Als die Krieger wieder nach draußen kamen hatten ihre Kampfgefährten zwanzig beängstigend große rote Ungeheuer mit ihren Sonnenpfeilen erledigt. Im Moment kam keiner mehr nach.

"Wir haben noch Aufzeichnungen gefunden. Doch sie sind so winzig geschrieben und in einer mir unbekannten Schrift, dass ich sie nicht enträtseln kann", sagte der zweitälteste Zauberer der noch verbliebenen Hände Amaterasus.

"Sollen unsere Mitstreiter ergründen, was es ist", setzte der älteste den Abschluss dieser Unterredung.

Auf ihren geflügelten Pferden konnten die Zauberkrieger wieder zu ihrer Festung einen Tausend-Männer-Schritt vom Fuß des heiligen Berges Fuji zurückkehren. Die erbeuteten Gegenstände des vergangenen dunklen Wächters wurden in den tiefsten Kerkern der Festung aufbewahrt, aber schön weit voneinander getrennt. Niemand außer den Händen der Amaterasu sollte diese Dinge je wieder berühren und damit den Rest der dunklen Machenschaften des Geflohenen von Yomi auf sie vereinigen.

Aus den ebenfalls erbeuteten Aufzeichnungen, die nur in der Schriftensammlung der Hände Amaterasus bleiben sollten, ergab sich, dass das Schwert aus den silbernen Schalen von Occamyeiern, aus Vulkangestein herausgelöstem Eisen und einer Menge Sterneneisen zusammengefügt worden sein musste. Das war auf jeden Fall zauberkraftspeicherfähiger als Bergeisen. Stab und Schwert verschwanden hinter mächtigen Eisen- und Bergkristallwänden.

"So kehren wir nun in unsere erhabenen Häuser zurück und verlieren über all das keinen Ton. Wenn der Mantel der Zeit immer dicker wird, so stirbt mit jedem Jahr ein wenig von dem Beinaheunglück." .

"Ja, und geben es die Götter, dass diese ebenso ein Auge auf unsere Familien haben", hoffte der Einsatzgruppenleiter. Seine Leute wagten nicht, ihm zu widersprechen. Alle hofften nun, dass nun Ruhe einkehrte.

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28.05.2004

Hiroki Takayama, Mitglied des hohen Rates der Hände Amaterasus, verbeugte sich wie alle anderen gerufenen vor seiner Ehrwürdigkeit, dem Oberhofzauberer seiner kaiserlichen Majestät, dem kaiserlichen Minister für zauberische Belange, Menschen und Lebewesen, Bewahrer der magischen Eintracht zwischen Himmel, Menschheit und Erde, Herrn Ninigi Takahara. Der oberste aller Zauberer des japanischen Kaiserreiches hatte ihn so wie alle anderen lenker und Sprecher ehrwürdiger hoher Verwaltungsbehörden zu einer Besprechung eingeladen, die als sehr dringlich bezeichnet worden war. Als Sprecher des hohen Rates der Hände Amaterasus, die eine Einrichtung für sich darstellten, besaß er Recht auf Gehör und Kenntnisse aus allen anderen Verwaltungsbehörden, wie geheim sie auch immer sein mochten.

Insgesamt gab es zwölf Hauptbehörden unter dem Minister selbst. Elf davon wurden von Zauberern geleitet, nur eine von einer Zauberin. Das war Emi Chihara, Hüterin der friedvollen verständigung und gemeinsamen Werke in aller Welt lebender magischer Menschen. Sie war noch kleiner und zierlicher als die meisten Töchter des Reiches der aufgehenden Sonne und besaß rubinrotes, bis über den Rücken wallendes Haar. Ihre Augen waren Jadegrün und mandelförmig. Takayama erinnerte sich, dass sie die in hundertster Generation geborene Nachfahrin eines Kami sein sollte, sozusagen aus einer Zeit, als die Götter noch auf Erden wandelten. Er wusste dass sie vierzig Menschensprachen, die geheime Sprache der Yokai und die Sprache der im Meer lebenden Fischschwanzmenschen beherrschte, also die bestmögliche Grundlage für die höchste Auslandsbeauftragte des kaiserlichen Verwaltungsgefüges für Zauberei und Zauberwesen. Auf sie sah der Minister, und somit taten es auch alle anderen Anwesenden, auch jener, welcher den magischen Ordnungshütern vorstand und in Takayamas Orden einen unliebsamen Mitstreiter sah. Dann sprach Takaharasan:

Ich erfreue mich an euer aller Anwesennheit und bedanke mich ehrerbietig für die Zeit, die ihr mir hier und jetzt gewährt. Doch nicht ich habe euch etwas zu verkünden, sondern die von mir über alle Maßen hoch geschätzte Hüterin der friedlichen Verständigung und gemeinsamen Werke weltweit lebender Menschen mit Zauberkräften, die ehrenwerte Frau Emi Chihara. Somit übergebe ich das mir von Amtswegen verliehene Wort an euch, Frau Chihara und erbitte Euer aller ungeteilte Aufmerksamkeit für das, was Ihr zu sagen habt."

Emi Chihara erhob sich. Ihr bis auf die Füße herabreichender himmelblauer Kimono glättete sich nun. Sie entnahm einer Jutetasche eine Rolle aus zusammengesteckten Pergamenten, die von einem Ring aus Bambusholz gehalten wurden. Takayama sah im Ring die Zauberzeichen für bestimmtes Fleisch und wahren Namen. Also konnte nur die Person ihn bewegen, die mit Fleisch, Blut und ihrem Wahren Namen darauf abgestimmt war. Emi Chihara zog den Ring von den zusammengerollten Pergamenten und breitete die Pergamente auf dem kleinen Mitschreibtisch und Stegreifrednerpult vor sich aus. Dann sprach sie mit ihrer glockenreinen Stimme.

"Höchstverehrter kaiserlicher Minister für zauberische Angelegenheiten und Lebewesen, zunächst ist es an mir, Euch zu danken, dass ihr meinem Bericht, den ich aus mehreren mir verfügbaren Quellen erstellen konnte, den nötigen Wert beimaßt, dass ich ihn hier und jetzt vor Euch und meinen geschätzten Kollegen des Verwaltungsrates und dem ehrenwerten Herrn Takayama vom hoch hilfreichen Orden der Hände Amaterasus zu gehör bringen darf. Ich bedanke mich bei Euch, dass Ihr die Zeit gefunden habt, heute hier zu sein. Auch möchte ich alle die um Verzeihung bitten, die durch den nun folgenden Bericht erschrecken und in Angst verfallen mögen. Ich möchte allen hier bekunden, dass ich ebenso empfand, als ich die verschiedenen Mitteilungen erhielt und daraus die wohl höchst wahrhaftige Gewissheit schöpfte, die meinem Bericht zu Grunde liegt. So Hört bitte diesen meinen Bericht."

Nach diesem der hiesigen Redesitte vorgeschriebenen Vorlauf verlas Emi Chihara Meldungen aus England, Deutschland, Griechenland und Russland, dass am 25. Mai des christlichen Kalenderjahres 2004 in einem Schloss bei Bergamo den dort zusammengetretenen Ministern eine tückische Falle einer dunklen Magierin namens Ladonna Montefiori gestellt worden war, um die dort versammelten Ministerinnen und Minister zu gefügigen Handlangern dieser bösen Zauberin zu machen. Wie diese Unterwerfung vor sich ging beschrieben die verschiedenen Zeugen so gleichsam und in übereinstimmenden Einzelheiten, dass sie, Emi Chihara, nicht an deren Wahrhaftigkeit zweifeln könne. Somit stehe zu befürchten, dass das Land Italien und seine Zaubereiverwaltung bereits auf ähnliche Weise von Ladonna Montefiori unterworfen sei und sie somit wie eine heimliche Königin dort herrsche. Doch offenbar treibe sie die Gier nach Macht und Vorherrschaft noch weiter, so dass sie danach trachte, die heimliche Kaiserin des Westens zu werden, womöglich dann auch Kaiserin der ganzen von Menschen besiedelten Erdkugel zu werden. Auch dass die in die Falle getappten und beinahe darin zu niederen Dienern gewandelten Minister ihre Rettung einzig und allein einer anderen Magierin mit zweifelhafter Gesinnung und Bestreben zu verdanken hatten trübte die Aussicht, weiterhin in einer freien und friedlichen Zaubererwelt leben zu können. Als sie aus den Berichten zitierte, dass die andere Hexe ein flammendes Schwert geführt habe, mit dem sie die verhängnisvolle Duftkerze Ladonnas zerschmolzen habe, horchte Takayama auf. Ein flammendes Schwert? Doch die Höflichkeit und der unverbrüchliche Respekt dem kaiserlichen Zaubereiminister gegenüber geboten ihm, die gerade vortragende nicht zu unterbrechen. Er notierte sich jedoch die Bemerkungen über Ladonna, ihren Zauberring, die eine rosenförmige Flamme entfaltende Rauchkerze und das Flammenschwert der unverhofften und von den meisten wohl auch ungebetenen Retterin. Dann horchte er noch mehr auf. Denn die Berichte sprachen auch von einem silbergrauen, glitzernden Zauberstab, den die andere benutzte. Diesen Stab kannte er doch. Aber von dem gab es nur ein Stück, keinesfalls mehr als das eine.

"So wiederhole ich noch einmal meine Bitte um Verzeihung, wenn Euch mein Vortrag entsetzt haben sollte und Angst in Eure Herzen Einzug nimmt. Doch war es meine Pflicht, diese dunkler als die längste Winternacht gefärbte Nachricht Euren Ohren zu Gehör zu bringen, weil sie zu wichtig ist, um verschwiegen zu werden", beschloss Emi Chihara ihren ausführlichen Bericht und verbeugte sich vor den Anwesenden. Alle anderen beugten kurz ihre oberkörper. Chihara wollte gerade die ausgebreiteten Pergamente wieder zusammenrollen, da wandte sich Takayama an den Minister und bat ihn in aller hier anstehenden Ehrerbietung um das Wort, um Emi Chihara drei Fragen stellen zu dürfen. Er erhielt das Wort.

"Ehrenwerte Frau Chihara, zunächst einmal danke ich Euch für diesen Bericht, auch wenn er keine Freude und Zuversicht erwecken will. Ich habe drei Fragen an Euch und hoffe, dass Ihr Sie mir beantworten könnt: Frage eins lautet: Ist Euren Quellen im Ausland bekannt und verzeichnet, woher die zweite Zauberin die Zeit und den Ort wusste, an dem das verhängnisvolle Treffen stattfinden sollte?"

Emi Chihara nickte dem Minister zu. Der machte eine Geste, dass sie sprechen möge: "Es wollte niemand der mir berichtenden Amtsgenossen im Ausland mitteilen, doch steht zu vermuten, dass die Abwesenheit des deutschen Zaubereiministers und seines Stabes und die Anwesenheit der Zauberin mit dem silbergrauen Stab und dem Flammenschwert darauf zurückgeführt werden kann, dass diese dem deutschen Zaubereiminister den Portschlüssel für die Reise entwand und dessen eingewirkten Reisezauber nutzte, um an seiner Stelle an den Ort des Zusammentreffens zu gelangen." Takayama machte eine bejahende Geste und notierte die Antwort. Dann sah er den Minister an. Dieser deutete an, er möge weitersprechen.

"Meine zweite Frage lautet: Wenn Eure Quellen diese Hexe und ihren Zauberstab schon so betonen, hat eine Eurer Quellen was dazu beschrieben, was für ein Zauberstab dies ist? Denn mir und meinem Orden ist ein solcher Stab durchaus bekannt, wenn wir ihn auch als Einzelstück vermutet haben."

Chihara wartete darauf, dass sie vom Minister Sprecherlaubnis erhielt und antwortete: "Was den silbergrauen Stab angeht, so wurde mir bisher nichts über ihn und seine Herkunft mitgeteilt. Doch der Dringlichkeit eurer Frage nach vermute ich, dass es Euch sehr wichtig ist, mehr darüber zu erfahren. Falls Ihr es wünscht und der Kaiserliche Minister für Zauberei und Zauberwesen dies gestattet, so werde ich bei allen nachfragen, die diese Hexe als "Die Spinnenhexe" bezeichnet haben." Takayama sah den Minister an. Dieser antwortete statt seiner: "Wenn Herrn Takayama der Zauberstab bekannt ist, so ist es ihm wichtig, und somit auch im Sinne unserer friedlichen Zaubererwelt, woher die andere den Stab hatte oder ob es eine Nachbildung des Zauberstabes ist, den Herr Takayama und seine Getreuen kennen. Somit erlaube ich die Anfrage bei Euren ausländischen Verbindungsstellen, Frau Chihara. Die Antwort auf diese Anfrage wünsche auch ich zu hören." Emi Chihara nickte. Dann sah der Minister Takayama an und erteilte ihm wortlos das Wort.

"Zunächst einmal vielen Dank für die Mühe, die Ihr meiner zweiten Frage wegen auf Euch nehmen möchtet, ehrenwerte Frau Chihara. So hoffe ich, dass meine dritte Frage Euch nicht noch mehr Mühe bereitet, sofern Ihr sie beantworten könnt. Sie lautet: Was wissen Eure Quellen über das flammende schwert, das die bezaubernde Kerze besiegte und offenbar auch die feurige Kraft des Zauberrings von Ladonna und den aramäischen Todesfluch abzuwehren vermag? Bisher ging ich davon aus, dass nur die Chinesen, Inder und wir solch machtvolle Waffen schmieden und bezaubern können."

"Auch hierzu haben meine Quellen nichts eindeutiges verlautbart, ehrenwerter Herr Takayama. Doch auch dieses Wissen mag ich erforschen, wenn der Minister mir dazu die Erlaubnis gewährt."

"Zu dem Schwert kann ich was sagen", sagte der oberste Lenker und Hüter magischer Wesen und Tiere, als er durch eine entsprechende Geste um das Wort gebeten hatte. Er durfte dann weitersprechen, dass er von diesem Schwert gehört habe, dass es aus dem versunkenen Reich stammen solle und durch eine Vielzahl von Feuerzaubern Macht über natürliche und magische Feuerquellen und dem Feuer verbundene Wesen wie die roten Drachen ausüben könne, wenn dem, der es führt, die Erlaubnis gestattet war, es zu benutzen. Jener, der bis 1998 Furcht und Tod verbreitet habe, sei einmal in den Besitz dieser Waffe gelangt und habe damit mehrere Drachen gerufen, die nach Russland eingerückt seien, wohl um einen Nebenbuhler dieses Dunkelmagiers zu beeindrucken. Er habe das Schwert dann wohl verloren. Die Andere musste es dann wohl irgendwann und irgendwie wiedererlangt und die Erlaubnis zu dessen Gebrauch erhalten haben. Einige meiner Mitarbeiter mutmaßen, dass in der Waffe einer der Abkömmlinge jenes Feuergottes lebe, der durch den Tod von Izanamis letztem Sohn auf Erden entstand, als ihr Gemahl und Bruder Izanagi ihn im Zorn erschlug, weil sein Feuer den Schoß seinerMutter verbrannte und sie damit nach Yomi hinabstieß, wo sie seitdem über die Totengötter herrscht."

"Eine mächtige Waffe ist dies für wahr", sagte Takayama und erhielt Zustimmung von allen. Er selbst dachte daran, dass das Schwert des dunklen Wächters ebenfalls Feuerkräfte offenbart hatte und wahrhaftig beseelt war.

"So war Euer Bericht auf jeden Fall sehr wichtig, Frau Chihara. Seit dafür bedankt", sagte der Minister. "Falls noch jemand etwas dazu wissen oder darlegen möchte möge er es kundtun!"

So wollte jeder hier nach seiner Zuständigkeit wissen, wie das kaiserliche Zaubereiministerium mit dieser betrüblichen Neuigkeit umgehen sollte. Für Takayama war alles, was ihn an diesem Bericht interessierte erörtert. Es gab mindestens zwei Hexen, die über mächtige Gegenstände verfügten. Ob die Zauberin mit dem Feuerschwert den wahren Stab des dunklen Wächters hatte oder eine geschickte Nachbildung, oder ob noch wer anderes in der Welt darauf gekommen war, einen solchen Stab zu machen, wusste er nicht. Doch wenn es genau der Stab war, von dem es eben nur den einen gab, dann hieß es leider, dass jemand es geschafft hatte, in das bestens gesicherte Haus der Verwahrung einzudringen, den Stab aus seiner Verwahrung zu entwenden, ohne einen Warnzauber auszulösen und mit dem Stab unerkannt und unangefochten wieder hinauszugelangen. Das waren so viele höchst unwahrscheinliche Einzelheiten, dass sie in ihrer Gesamtheit eigentlich unmöglich waren. Eigentlich, wenn es keinen Verräter oder eine Verräterin in den eigenen Reihen gegeben hatte, der oder die den Stab in Ausnutzung des Vertrauens des Ordens an sich nehmen konnte, ja durfte und ihn dann höchst selbst oder über verschlungene Zwischenhalte an die sogenannte Spinnenhexe übergeben hatte. Die Vorstellung allein, dass es im Orden einen Verräter geben mochte war schon so unfassbar, dass sie schmerzte. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht zur grauenvollen Gewissheit wurde. Denn dann stand das Vertrauen aller Ordensmitglieder zueinander auf dem Spiel. Misstrauen und Verrat vergifteten jede gut zusammenwirkende Gemeinschaft. So musste er den Hüter der Gefahren und Schätze noch einmal danach fragen, ja den Stab selbst zu sehen verlangen um zu wissen, ob er noch da war oder tatsächlich in falsche Hände geraten war. Hatte er darüber Gewissheit, konnte er je nach Ergebnis handeln.

Als die anderen ihre abteilungsbedingten Fragen und Einwende geäußert hatten bedankte sich der Minister noch einmal für die ungeteilte Aufmerksamkeit und wünschte seinen Untergebenen noch einen erfolgreichen und friedlichen Tag. Alle bedankten sich im Chor und verbeugten sich ganz tief vor ihrer aller oberstem Herren unterhalb des Kaisers selbst. Sie standen auf und strebten der zweiflügeligen Tür zum Besprechungsraum zu. Takayama wollte gerade hinter dem obersten Bewahrer der ministerialen Schätze und Handelsverträge hergehen, als der Minister ihn beim Namen rief und zu sich hinwinkte. Takayama verharrte und kehrte dann um. Auf einen weiteren Wink sollte er sich noch einmal hinsetzen. Der Lenker für magische Ordnung und Sicherheit wandte sich auch noch einmal um. Doch der Minister deutete auf die Tür und erwähnte, dass er ihn nicht weiter benötige. So verließ er den Raum. Die Türen fielen zu. Nun konnte niemand von draußen hören, was hier gesprochen wurde.

"Es wundert mich nicht, dass Euch die Erwähnung des Flammenschwertes so erregt hat, Herr Takayama", begann der Minister. "Allerdings möchte ich doch nun mehr über diesen Zauberstab wissen. Denn soweit mir selbst bekannt ist gehörte ein solcher auch einmal Yominoko, dem höchsten Diener des Hern vom schwarzen Berge oder auch dem dunklen Wächter der Tore von Yomi. Entspricht dies auch Eurem Wissensstand?"

"Ja, dies tut es, höchst ehrenwerter kaiserlicher Minister für Zauberei und Zauberwesen", erwiderte Takayama.

"So stimmen die von meinem ehrwürdig entschlafenen Vorgänger hinterlassenen Aufzeichnungen, dass Euer Orden diesen alten Stab ebenso hütet wie das Tsurugi des dunklen Wächters selbst?" Takayama bejahte dies. "Dann mögt Ihr prüfen, ob der Stab noch in Eurer Obhut ist. Doch was mich bewog, Euch noch zurückzuhalten, Herr Takayama: Ihr erzähltet mir vor einigen Monaten, dass das Schwert des dunklen Wächters sich erneut rege, ja die ihm auferlegten Bannzauber abgeworfen hat, seitdem jene große dunkle Welle die Weltkugel umlief und alles und jeden mit dunkler Zauberkraft erfüllten mit zusätzlicher Kraft erfüllte."

"Ich erwähnte dies, höchst ehrenwerter Herr Takahara", erwiderte Takayama ehrerbietig. "Dann berichtet mir, wo wir nun für uns sind, was eure Mitstreiter gegen diese Tätigkeit des dunklen Schwertes unternehmen!" forderte der japanische Zaubereiminister.

"Wir verstärken immer wieder die Barrieren gegen geistige Fernbeobachtungen oder nach außen drängende Gedankenbotschaften, da der Hüter der gefährlichen Gegenstände davon ausgeht, dass das Schwert nach jemandem oder etwas ruft. Aus den Aufzeichnungen meiner Vorgänger weiß ich, dass der dunkle Wächter, als er vier Monate vor dem Herrn des schwarzen Berges sein Ende fand, von einem Lied gesprochen hat, das von einem dafür empfänglichen Geist gehört und befolgt werden soll. Bisher gelang es meinen Mitstreitern, dieses "lied des Schwertes" daran zu hindern, die magischen Mauern zu überwinden, die um seinen Kerker errichtet wurden."

"Seid ihr euch dessen so sicher?" wollte der Zaubereiminister wissen. Takayama erkannte, dass die Frage durchaus berechtigt war. Woher konnten sie sicher sein, dass das magische Lied, das wohl nur auf geistige Weise wahrgenommen werden konnte, nicht doch schon von einem empfänglichen Geist vernommen wurde? Dann sagte er: "Meine Leute können ungefähr die Stärke der vom Schwert ausgehenden Kräfte ermessen und ergründen, ob die darum herum errichteten Barrieren schwächer oder stärker sind. Bisher sind die Barrieren stärker als das Lied des Schwertes." Er dachte jedoch daran, dass sich die Kraft des Schwertes jeden zweiten Tag ein wenig verstärkte und die Barrieren gegen Geistesrufe oder Gedankenverbindungen fast jeden Tag wiederverstärkt werden mussten. Das sprach dafür, dass eine starke Macht sie erschöpfte, langsam aber wirksam, so wie ein Seestern die Schalen einer Muschel auseinanderdrückt, bis er an deren Fleisch gelangt. So sagte er noch: "Wenn die Hüter des Schwertes und der anderen dunklen Hinterlassenschaften einstiger böser Zauberer und Zauberinnen erkennen, dass das Schwert stärker wird als die es umschließenden Sperren, dann werden sie neue Mittel erwägen, es zum schweigen zu bringen, höchst ehrenwerter kaiserlicher Oberhofzauberer."

"So darf unser Land darauf vertrauen, dass diese unheilvolle Hinterlassenschaft genauso wie der Stab keinen Schaden anrichten werden?" fragte der Zaubereiminister. Takayama erkannte, dass diese Frage für den Orden schicksalhaft war. So sagte er: "Unser Land liegt uns vom Orden der Hände Amaterasus so sehr am Herzen, dass jeder und jede von uns das eigene Leben geben wird, um es zu schützen und zu verteidigen, höchst ehrenwerter Herr Takahara."

"Dann hoffe ich sehr darauf, dass weder Ihr noch ich nicht eines Tages dieses hohe Versprechen einlösen müssen, um unser geliebtes Heimatland und seine Menschen vor der Dunkelheit aus frühen Zeiten zu retten. Ihr wisst genau, welch hohe Verantwortung Euer Orden trägt, seitdem vor siebenhundert Jahren von meinem damaligen Amtsvorgänger, der zugleich Euer Vorfahre war, verfügt wurde, dass Euer Orden die nicht zerstörbaren Dinge dunkler Zauberkräfte sicher verwahrt. Bitte erweist Euch auch weiterhin dieses sehr großen Vertrauens als würdig!"

"Wie gesagt, höchst ehrenwerter Herr Takahara, jeder und jede meines Ordens, ich eingeschlossen, werden das eigene Leben dafür einsetzen, um unser Land und seine Menschen vor weiteren Gefahren zu bewahren, wenn wir sie früh genug drohen sehen", bekräftigte Takayama seine letzte Äußerung. Er wusste, dass er damit bereits sein Leben verpfändete. Denn sollte es eines Tages nicht gelingen, dass die Hände Amaterasus das Land vor einer großen Gefahr retteten, so blieb ihm nur der ehrenvolle Freitod. Doch dann, das wusste er, würden ihm die am Versagen mitbeteiligten vorausgehen.

"Dann prüft es bitte nach, ob die fremde Hexe einen nachgefertigten Stab benutzt oder ob es nicht doch jener ist, den Euer Orden in Verwahrung halten sollte! Und was das Schwert betrifft, so bringt sein Lied zum schweigen, bevor es wirklich von wem gehört wird! Ihr dürft nun auch gehen, Herr Takayama", sagte der Minister.

Hiroki Takayama verbeugte sich und verließ den Besprechungsraum des höchsten Zauberers von Japan.

Wieder zurück im Haus des hohen Rates sandte er einen schnellen Boten zu Kohaku Murabayashi, dem Hüter der Gefahren und Schätze und befahl ihn zu sich. Als der Hüter der Gefahren und Schätze bei ihm eintraf las ihm Takayama vor, was Emi Chihara berichtet hatte. Murabayashi kämpfte sichtbar um seine Ruhe und Selbstbeherrschung. Als Takayama seine Verlesung beendete fragte er ihn:

"Wie sicher seid Ihr euch, dass es vom Stab des dunklen Wächters nur ein Stück gibt?" Murabayashi, der bisher sichtlich um seine innere Ruhe gekämpft hatte, atmete auf und sagte: "Bisher gingen wir nur von diesem einen Stab aus. Doch wissen wir nicht genug von ihm, ob der dunkle Wächter nicht noch mehrere, dem einen untergeordnete Stäbe hergestellt hat, um seine Getreuen zu bewaffnen. Unter diesen könnten auch Zauberinnen sein, die die ihnen zugefallenen Stäbe an ihre Nachfahren weitergaben."

"So, könnte dies wirklich so sein. Warum haben wir dann in all den Jahrhunderten, die der dunkle Wächter nun tot ist, keinen solchen Sohn dieses Stabes angetroffen?"

"Das weiß ich nicht, ehrenwerter Herr Takayama", sagte Murabayashi.

"Nun, Ihr wart gerade sehr angespannt, als ich Euch von dieser Zauberin und ihrem silbergrauen Stab vorlas. Habt ihr da nicht auch gedacht, dass es dieser eine Stab sein mochte, jener, den Euer Haus eigentlich unter Verschluss hält?"

"Der Stab des dunklen Wächters, den unsere hoch verehrten Vorgänger erbeuten konnten, konnte nur von ihm selbst benutzt oder zu wirklich dunklen Zwecken verwendet werden. Es ist auszuschließen, dass irgendeine westliche Hexe ihn einfach so benutzen kann. Sie hätte ja dafür in das von mir zur Beaufsichtigung anvertraute Haus eindringen und den Stab aus einem mit starken Verschluss- und Sicherungszaubern umflochtenen Schrank entnehmen müssen", sagte Murabayashi. Takayama dachte, dass ihm genau diese Dinge auch durch den Kopf gegangen waren.

"Ich fordere euch auf, prüft nach, wann der Stab zuletzt aus seiner Verwahrung genommen und untersucht wurde und prüft dann selbst, ob er noch dort ist, wo er verwahrt wird! Falls er noch dort ist und es genau jener ist, den unsere vorausgegangenen Ordensbrüder erbeutet haben, dann muss diese Hexe eine Nachbildung besitzen, von der wir bis heute nichts wussten." Murabayashi nickte. Das war unbestreitbar. So verließ der Hüter der Gefahren und Schätze Takayamas Sprechzimmer, um die erteilte Aufgabe zu erfüllen.

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Izanami Kanisaga lebte im Haus ihrer verstorbenen Großeltern in den Bergen von Shikoku. Doch wenn sie für den Orden der Hände Amaterasus arbeitete war sie im Haus der handelnden Hände, dem Stützpunkt der Außentruppe. Sie wurde dann gerufen, wenn es gegen gefährliche Yokai oder beseelte Hinterlassenschaften dunkler Zauberer und Zauberinnen ging. Ihre Kenntnisse der alten Zauberkrieger, die sowohl den Ninjas wie den Samurai nützliche Körperverbesserungszauber beigebracht hatten, verhalfen ihr häufig genug zum Sieg über die Erzeugnisse dunkler Magier. Dass sie dabei selbst manch dunklen Zauber verwendete war ihrem Vorgesetzten Hiro Kazeyama bekannt. Doch weil sie diese Fertigkeiten doch ehr zur Rettung aller Menschen nutzte sah er sehr oft darüber hinweg. Das widersprach zwar der Philosophie, mit guten Mitteln für das Gute zu streiten, statt mit verwerflichen Mitteln gegen das Böse zu kämpfen. Doch es galt auch, das das Ziel den Weg rechtfertigte, ja dass ein hohes Ziel einen verschlungenen, nicht immer im Lichte verlaufenden Weg verlangte. Doch meistens reichte es aus, wenn sie das von ihren Vorfahren geerbte Schwert einsetzte, das mit starken Feuer- und Feindeserkennungs- und Abwehrzaubern erfüllt war.

"Handelnde der zweithöchsten Stufe Kanisaga, ich erbitte dein Erscheinen im Raum der Anweisungen!" hörte sie wie direkt in beide Ohren die Aufforderung, die ihr Vorgesetzter mit dem Zauber der fliegenden Stimme unmittelbar und ausschließlich an sie übermittelte.

Nur eine Minute später saß sie im Raum der Anweisungen auf einer der zwanzig Bänke, auf denen zusammen zweihundert handlnde Hände Amaterasus sitzen konnten. Vor ihr saß ihr direkter Vorgesetzter Hiro Kazeyama. "Was habt Ihr schon von einem Schwert gehört, dessen Klinge aus Flammen besteht?" wurde sie gefragt. Izanami beherrschte sich gut. Irgendwann musste ja auch in Japan ankommen, dass es ein Schwert gab, dessen Klinge aus geschmiedeten Flammen bestand, die durch ein Zauberwort oder einen Befehl zum auflodern gebracht werden konnten. So sagte sie ganz ruhig:

"Ich hörte, dass es in einem Reich weit vor unserer Zeit und weit im westen von hier mächtige, ja gottgleiche Zauberer und Zauberinnen gegeben haben soll, die mächtige Waffen und Gegenstände erschufen, je danach, welcher der Urkräfte sie verbunden waren. Ein Großmeister des Feuers, der von den anderen Feuervertrauten wohl als König verehrt wurde, soll so ein Schwert erschaffen haben. Doch bis zu einem Zwischenfall in Russland, wo der britische Dunkelmagier mit dem Kriegsnamen Lord Voldemort ein Rudel Drachen mit Hilfe eines solchen Schwertes gelenkt haben soll, hielt ich die Berichte über diese Waffe für eine Legende, ein Zaubererweltmärchen."

"Dann wusstet Ihr vorher schon von einer solchen Waffe? Und sie kann Drachen unterwerfen?" fragte Kazeyama. Izanami bejahte es. Würde sie jetzt gefragt, ob sie wisse, wer diese Waffe nun habe?

"Ich muss offenbar einiges nachlesen, was Euch handelnden Händen von woanders angereicht wurde", grummelte Kazeyama. Dann fragte er: "Und habt Ihr auch erfahren, was mit diesem Schwert geschah, als der wahnsinnige Weiße aus England sein verdientes Ende fand?"

"Nicht in Einzelheiten, weil ich dafür ja in dessen dunklem Orden hätte sein müssen", erwiderte Izanami ruhig. "Doch ich hörte sowas, dass einer der von ihm gebändigten Drachen das Schwert fortgetragen haben soll. Wohin weiß ich nicht. Ist es wieder aufgetaucht?" wagte sie einen sprachlichen Vorstoß.

"O ja, ist es", erwiderte Hiro Kazeyama. Dann las er vor, was ihm einer der anderen fünfzehn hohen Räte, der Ratssprecher Takayama persönlich, zu lesen gegeben hatte. Izanami blieb äußerlich ganz ruhig. Nach innen schirmte sie sich gegen mögliche Geistesausforschungen ab. "Der Hüter der Gefahren und Schätze soll den Verbleib des Stabes prüfen, Handelnde Hand Kanisaga. Wenn er noch dort ist, wo er sein soll hat die Andere eine Nachbildung. Doch das flammende Schwert, das selbst Drachen bändigen kann und wohl sehr viele Dinge mit seinem Feuer zerstören kann, sollte nicht länger in den Händen einer solch eigensinnigen, Ehre und Gewissen leugnenden Zauberin verbleiben. Sollte sie damit zu uns hinkommen, so gilt es, ihr diese Waffe fortzunehmen und sie genauso im Haus der Gefahren und Schätze zu verschließen wie alle anderen übermächtigen Gegenstände. Womöglich müsst Ihr dann gegen die Trägerin dieses Schwertes kämpfen. Ich hoffe darauf, dass Euer mächtiges Schwert der alten Waffe gewachsen ist."

"Solange die Sonne immer wieder aufgeht besteht auch Hoffnung", sagte Izanami dazu. Sie hoffte jedoch, dass sie niemals in die Zwangslage geraten würde, gegen das alte Feuerschwert und seine Trägerin zu kämpfen. Zum einen war sie sich nicht sicher, dass ihr eigenes Schwert dem mächtigen Feuerschwert gewachsen war. Zum anderen würde sie dann einen Eidbruch begehen, entweder gegen den Orden der Hände Amaterasus oder den Treueschwur der Spinnenschwestern.

"Gut, so übt den Schwertkampf in den Hallen der Ertüchtigung und Fortschritte, damit dann, wenn der Tag der Entscheidung anbricht, Ihr uns dieses Schwert erringen könnt!" sagte Kazeyama. Izanami blieb im Moment nur, die Anweisung zu bestätigen. Dann sagte Kazeyama noch: "Womöglich mag es auch eines Tages nötig sein, das Schwert des dunklen Wächters zu bezwingen, obwohl wir im Moment keinen Feuerzauber kennen, der es zerstören oder schwächen kann."

"Wird es immer schlimmer mit dem Schwert?" fragte Izanami besorgt. "Noch halten die Zauber gegen unerwünschte Gedankenbotschaften nach draußen. Doch sie schwächen sich jede Nacht so sehr, dass sie am Tag immer wieder neu aufgefrischt werden müssen. Noch herrscht ein Überhang unserer Bannzauber. Doch das Schwert des dunklenWächters wird langsam immer stärker. Wir wissen nicht, ob es bald seine Höchststärke erreicht haben wird oder ob diese den Barrieren überlegen ist, die es umgeben. Doch das obliegt den Hütern der Gefahren und Schätze. Wir sind die handelnden Hände, die dann tätig werden, wenn die Behütung versagt oder Gefahren von außen drohen." Izanami bestätigte das.

Hiro Kazeyama gebot ihr nun zu gehen und weiterhin mit den anderen zu wachen, ob wieder etwas geschah. Denn durch die dunkle Woge waren die japanischen Zauberwesen der dunklen Seite stärker und dreister geworden.

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Kohaku Murabayashi, der Hüter der Gefahren und Schätze, erhielt gleich nach Takayamas Rückkehr aus der Besprechung mit dem Zaubereiminister den Auftrag, den Stab des dunklen Wächters zu überprüfen. Hierzu las er zunächst in den Aufzeichnungen seines direkten Vorgängers, wann der betreffende Gegenstand zum letzten Mal aus seiner Verwahrung geholt oder auch nur dort angesehen wurde. Das war vor fünfzig Jahren geschehen. Seitdem hatte niemand mehr den Stab des dunklen Wächters zu Gesicht bekommen. Dann musste diese fremde Zauberin eine Nachbildung haben. Warum sollten nicht auch andere die Fertigung eines solchen dunklen Stabes erprobt und vervollkommnet haben? Doch um Takayama und den anderen 15 hohen Räten eine eindeutige Antwort geben zu können musste er mit eigenen Händen und Augen überprüfen, ob der Stab noch dort war, wo er sein sollte.

Das Haus der Gefahren und Schätze war an und für sich ein Verbund aus Stollen, Schächten, gewaltigen Höhlen und kleinen Kammern in einem erzhaltigen Bergg, der Kaneyama genannt wurde. Es handelte sich um einen Feuerberg, der vor hunderttausend Jahren seinen letzten Feuerstoß in den Himmel geschleudert hatte. Die Kräfte von Himmelskörpern, der festen Erde und der tief im Leib der Erde wirkenden Feuersglut bündelten sich in diesem erstorbenen Feuerberg. Deshalb hatten die Hände Amaterasus ihn vor vierhundert Jahren zum Hort unzerstörbarer Dinge gemacht, die ein böswilliges Eigenleben besaßen. Hier wurden sie in tiefen Verliesen und in Schränken aus bezaubertem Bergkristall und Mondblei gehütet.

Im Moment machten sich die Hüter der Gefahren und Schätze eher Gedanken um das Schwert des dunklen Wächters. Doch noch konnten sie es beherrschen. Ob auch dessen alter Zauberstab von der dunklen Woge im letzten Jahr bestärkt und belebt worden war hatte bisher niemand geprüft. Insofern war auch deshalb eine unmittelbare Sichtung sinnvoll.

In den Gängen schwebten die mit durchsichtigen Bögen und Schwertern bewaffneten Geister ehemaliger Mitstreiter, die sich im Angesicht des Todes entschlossen hatten, weiterhin dem Orden zu dienen und nicht in die Unterwelt überzuwechseln. Da im Haus der Gefahren und Schätze der Weg der schnellen Wünsche versperrt war musste Murabayashi mehrere Transportkörbe in tiefe Schächte nutzen und durch viele mit sonnengelben Zauberlichtern erhellte Gänge laufen, bis er den mit mehreren Türen geschützten Bezirk erreichte, wo die kleineren Zaubergegenstände aufbewahrt wurden. Der Siegelring des Hüters und der auf sein Fleisch und Blut abgestimmte Türöffnungszauber gewährten ihm den Zutritt zu einem schlauchartigen Raum, an dessen Wänden sich massive Metallschränke entlangreihten, in deren Türen Zauberzeichen eingeritzt waren und die bei völliger Dunkelheit ein grünliches Glimmen ausstrahlten. Durch das Auflegen seiner linken und rechten hand an bestimmten Stellen einer Schranktür und das Aussprechen der für diesen Schrank festgelegten Passwörter brachte Murabayashi die dreißig in der Tür verarbeiteten Riegel dazu, sich nacheinander zu lösen. Jetzt konnte er die Tür aufziehen. Nur fünf seiner Untergebenen und er selbst vermochten dies zu tun.

Im Schrank selbst waren noch bleigraue Metallschubladen verbaut. Das Mondblei, so genannt, weil dessen Schmelzung im Licht des Vollmondes erfolgte und mit den Namen der zwölf hellsten Nachtgestirne und entsprechenden Zaubersprüchen bestärkt wurde, konnte viele dunkle Zauber wie ein massiver Berg aus Reisbrei aufsaugen und abschwächen.

Murabayashi zählte die in Abschnitte von vier mal vier Schubladen angeordneten Fächer bis zur zweituntersten Schublade in der ersten Reihe von links. darin sollte der Stab aufbewahrt werden. Der Hüter der Gefahren und Schätze bestrich die Schublade mit dem Siegelring und dann mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Es ruckelte kurz. Nun hatte er genau zwanzig ruhige Herzschläge Zeit, die Schublade zu öffnen. Ansonsten musste er einen vollen Tag verstreichen lassen, um es erneut zu versuchen. Jeder gewaltsame Öffnungsversuch führte dazu, dass die Tür zum Raum mit den Schränken zuschlug und verriegelt wurde und wer immer den Versuch unternahm in einen dünnen aber unaufbrechbaren Panzer aus versteinerter Luft eingehüllt wurde, bis die lautlos herbeigerufenen Hüter den Raum betraten und den Fesselzauber aufhoben um den unberechtigten Türöffner festzunehmen.

Murabayashi schaffte es jedoch in weniger als drei ruhigen Herzschlägen, die Schublade herauszuziehen. Doch dann übersprang sein Herz gleich zwei Schläge, um dann mit sehr hoher Zahl und Stärke in seiner Brust zu hämmern. Denn auf dem grünen Kissen in der Schublade lag kein silbergrauer Zauberstab. Es war noch nicht einmal eine längliche Vertiefung zu erkennen, dass er jemals auf diesem Kissen gelegen hatte, das nebenbei auch einen Zutrittsberechtigungszauber beinhaltete, die allerletzte Absicherung, wenn jemand anderes als einer der eingeschworenen Hüter diese Schublade öffnete. Auf dem grünen Kissen lag nicht einmal ein Staubkorn.

"Das ist unmöglich", dachte Murabayashi. Niemand ohne die Zutrittsberechtigung kam hier her. Der oder die wurde bereits vom Transportkorb abgewiesen, der in dieses Tiefgeschoss hinunterführte. Keiner kam durch eine der sechs Zwischentüren, der nicht zu den sechs Zugangsberechtigten gehörte. Ja, und ebenso konnte niemand ohne die entsprechende Abstimmung auf die Körperspeicherschlösser den Schrank oder die Schublade öffnen. Und doch fehlte der Zauberstab des dunklen Wächters. Die Erkenntnis, die sich daraus ergab war schrecklich: Jemand mit gültigen Zugangsrechten und entsprechender Abstimmung hatte den Stab des dunklen Wächters gestohlen. Das konnte nur heißen, dass es im Haus der Gefahren und Schätze einen Verräter gab. Doch auch dann war es unmöglich, an eine der Schubladen zu gelangen. Denn verräterische Gesinnung, Verheimlichung oder offene Feindschaft wurden auch von entsprechenden Wachzaubern erkannt, ja auch von den in den Gängen und vor den Mondblei bestärkten Türen wachenden Geisterkriegern verspürt, die dann das Recht hatten, den Feindoder Verräter zu ergreifen und fortzubringen. Außerdem war nun zu fragen, wann genau der oder die den Stab herausgeholt und ohne bei der Ausgangsprüfung damit aufzufallen das Haus der Gefahren und Schätze verlassen hatte. Denn hinausgetragene Gegenstände mit dem Hauch dunkler Zauberkraft wurden von entsprechenden Zaubern weitergemeldet, es sei denn, jemand hatte den Stab in einer Mondbleischachtel oder Röhre versteckt. Doch an Mondblei mit der richtigen Bezauberung war schwer heranzukommen. Das Ministerium und die Hände Amaterasus rühmten sich, die einzigen Gemeinschaften zu sein, die das Mondbleigießen und die entsprechenden Zauber beherrschten. Jeder, der damit hantierte musste die bezauberte Menge und den Verwendungszweck aufschreiben und in dreifacher Ausfertigung an die entsprechenden Ausrüstungshüter weiterreichen.

was und wann auch immer geschehen war, mit dem völlig unbemerkten Verlust des Zauberstabes stand fest, dass die Zauberin mit dem Feuerschwert ihn auf irgendeine Weise erhalten hatte. Sie hatte den Zauberstab. Wenn stimmte, was Frau Chihara vorgetragen hatte, galt diese Zauberin als dem dunklen Weg folgende, unberechenbare und gewissenlose Zeitgenossin. Was hatte die mit dem Stab in der Zeit alles angerichtet, von dem in Japan niemand was mitbekommen hatte? Jeder böse Zauber, jeder damit getötete Mensch gingen somit auch auf die Rechnung der Hände Amaterasus. Wenn das bekannt wurde zerstob das Vertrauen in den bis heute als hoch ehrenwerter Orden angesehenen Bund wie Nebel im Sturmwind. Wenn er das jetzt weitermeldete - was er seiner Pflicht nach musste - würde der hohe Rat ihn fragen, warum der Stab unbemerkt entfernt werden konnte und seit wann er fort war. Vielleicht würden sie ihm auch gleich befehlen, den gläsernen Ritualdolch aus dem Schrank der verlorenen Ehre zu holen und sich damit den Tod zu geben, auf dass sein Stellvertreter oder ein vom hohen Rat bestimmter Nachfolger seine Pflichten übernahm. Nein, auch wenn die Pflicht und die Ehre dies von ihm forderten wollte er jetzt noch nicht sterben. Denn jetzt wollte er wissen, wann der Stab geraubt wurde, von wem und wie überhaupt. Verheimlichen konnte er es nicht. Denn wenn er seinen Geist verschloss würde das bereits als Verheimlichung gewertet, und er kam hier nicht mehr raus. Also musste er es zumindest Takayama erzählen, der ihn vor zwanzig Jahren zum Hüter der Gefahren und Schätze gemacht hatte. Sollte Takayama befinden, dass er ihm dafür den Kopf abschlug wie einem Verräter, dann konnte er eben nicht herausfinden, wer den Stab gestohlen hatte. Aber jetzt wusste er, was er ihm sagen sollte.

Er schob die Schublade wieder in den Schrank zurück. Leise Klickend schlossen sich die Verriegelungen. Etwas lauter rasselten die dreißig Riegel in der Schranktür, als er diese wieder zudrückte. Was sonst noch im Schrank war war nun wieder sicher verschlossen. Eigentlich hätte er jede Schublade prüfen sollen, ob alles andere noch da war. Doch in den festgelegten Regeln des Hauses stand, dass nur bis zu drei Gegenstände desselben Aufbewahrungsortes hervorgeholt und angesehen werden durften, ohne einen Warnrufzauber auszulösen. Also musste er darauf vertrauen, dass die anderen Dinge noch da waren.

Durch alle Zwischentüren und mit Hilfe des Transportkorbes kehrte Murabayashi in seinen Wachraum zurück. Dann schrieb er eine Meldung an Takayama und erwähnte darin, dass er vor der ihm drohenden Bestrafung das Recht der Aufklärung erbat, um nicht allein für das Versagen bestraft zu werden. Damit erkaufte er sich ein Vierteljahr Zeit, die Schuldigen an seinem Versagen zu suchen und zu finden. Fand er keinen, starb er eben alleine. Doch drei Monate waren eine lange Zeit. Zumindest dachte er das.

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07.06.2004

Albertrude Steinbeißer fühlte, dass etwas in dem Stuhl wirkte, auf dem sie platznahm. Ihr gegenüber saß Anthelia und sah die Verbündete aufmerksam an. Albertrude fühlte, wie was auch immer durch ihren Körper tastete und dann wieder verebbte. "Seelenlotungszauber, Schwester Anthelia?" fragte sie. Anthelia sah sie etwas verdrossen an. Dann grummelte sie: "Du hast es gespürt. Mag an der Seelenverschmelzung liegen, die deine magische Bindung zu mir verändert, aber nicht zur totalen Feindschaft verkehrt hat."

"Soso, du hast diesen Stuhl behext, dass er dich warnt, wenn sich wer darauf hinpflanzt, die dir nicht mehr treu ist, obwohl sie von der Blut- und Namensabstimmung her Zutritt zu diesem Haus hat? Sehr umsichtig, insbesondere deshalb, weil ich herkam um dir und den anderen mitzuteilen, dass Ladonna wahrhaftig den Zuständigkeitsbereich des italienischen Zaubereiministeriums mit dem Klingsor'schen Blut-und-Boden-Bann ummauert hat. Das ist jener, der auch von dem Seelenzersplitterer Riddle alias Voldemort verwendet wurde, um die britischen Inseln für ausländische Hilfstruppen unbetretbar zu machen", antwortete Albertrude. Anthelia nickte verdrossen. Dann grinste sie überlegen.

"Also fühlt sie sich doch nicht so stark wie sie ihre Schwestern und Unterworfenen glauben macht. Denn sonst hätte sie ihr Geburtsland nicht vor nicht dort geborenen Hexen und Zauberern verschlossen, sondern darauf gelauert, dass wichtige Hexen und Zauberer aus dem Ausland in ihr ausgelegtes Fangnetz geraten. Gut zu wissen, dass sie sich noch nicht stark genug wähnt."

"Vielleicht geht sie davon aus, dass die von dir vor ihr geretteten Minister versuchen könnten, ihre Marionettentruppe zu entmachten", meinte Albertrude. Anthelia nickte leicht. Dann antwortete sie:

"Auf jeden Fall gesteht sie den anderen Zaubereiministern, dass sie wahrhaftig Italien unterworfen hat. Denn nur wer das Land beherrscht, was er oder sie mit Klingsors Bann ummauern will, der oder die kann diesen Zauber wirken." Albertrude stimmte dem voll und ganz zu. Dann schilderte sie der gleichrangigen Schwester, wie das deutsche Zaubereiministerium auf diese neue Lage einging. Auch erwähnte sie, dass Güldenberg und Wetterspitz darauf ausgingen, die Verräterin zu finden, welche ihnen den Portschlüssel in dieses Schloss in Italien abgejagt hatte. "Ich bin auf jeden Fall vorbereitet, falls sie doch auf mich kommen", sagte Albertrude. Anthelia nickte nur beipflichtend.

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11.06.2004

Einen Monat war es jetzt her, dass der Zwölferrat der obersten Richter den Friedensvertrag mit Vita Magica für rechtswidrig erklärt hatte und alle in seinem Sinne vollzogenen Handlungen und gewährten Zugeständnisse zu widerrufen waren. Der zeitweilige Zaubereiminister Lionel Buggles hatte das Urteil anerkannt und zugleich bekräftigt, in einem Monat verkünden zu können, wann es eine Neuwahl für das Amt des Zaubereiministers der USA geben sollte. Also trat er nun vor die versammelte Presse und den magischen Rundfunk.

Im Presseraum des US-Zaubereiministeriums waren alle Vertreter der großen Zaubererzeitungen, der Illustrierten Hexen des Westens und der fünf großen Zauberrundfunksender anwesend. Als der gerade in seinem dunkelblau-goldenen Umhang gekleidete Minister vor das Rednerpult trat verklang das leise Wispern und Tuscheln. Sie hatten seine volle Aufmerksamkeit.

"Ladies und Gentlemen von den Nachrichtenverbreitungsanbietern dieser großen und stolzen Union freier Staaten, ich bedanke mich bei Mr. Sladecutter, meinem Pressereferenten, dass er es möglich machte, dass wir alle zu diesem Zeitpunkt zusammenkommen konnten", sagte Buggles ganz ruhig. "Ich möchte es auch nicht zu lange und zu spannend machen. Denn Sie wollen ja alle wissen, wie es nun weitergeht", beendete er seine einleitenden Worte.

"In befolgung des am 11. Mai 2004 vom höchst ehrenwerten Zwölferrat des US-amerikanischen Zaubergamot ausgesprochenen Urteils bezüglich des Friedensvertrages zwischen dem Ministerium und der Gruppierung Vita Magica habe ich den von meinem Vorgänger Chroesus Dime abgezwungenen Vertrag mit der sich selbst Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens (Vita Magica) nennenden Vereinigung in allen Punkten widerrufen. Ich tat dies mit dem mulmigen Gefühl, das wir uns dadurch einen weiteren Feind heranziehen. Mit den verbrecherischen Werwölfen, den nicht minder kriminellen Vampiren von der Sekte der sogenannten Göttin der Nachtkinder und nicht zu vergessen den geheimen und uns ablehnenden Orden von Hexen und Zauberern sind wir über die Maßen ausreichend beschäftigt. Doch als Ihr aller Zaubereiminister, wenn auch nur bis zu einer vorgezogenen Neuwahl, bin ich verpflichtet, die bestehenden Gesetze zu achten und ihnen überall auf unserem Hoheitsgebiet Geltung zu verschaffen. Deshalb habe ich den Angehörigen von Vita Magica unmissverständlich mitgeteilt, dass die von Dime erpressten und angeblich für alle Nachfolger bindenden Zugeständnisse erloschen seien. Das heißt jedoch auch, dass die bereits ausgezahlten Goldbeträge an die Mütter von ungewollt bekommenen Kindern unrechtmäßig bezahlt wurden, weil sie ja Bestandteil des Vertrages waren." Ein leises Raunen ging durch den Presseraum. "Bitte ruhe!" rief Sladecutter. Dann sprach der Minister weiter: "Da die Angehörigen des Zwölferrates einstimmig forderten, den Vertrag mit Vita Magica in allen Punkten für rückwirkend unwirksam zu erklären, musste ich auch diesen Bestandteil als rückwirkend ungültig anerkennen. Finanzabteilungsleiter Picton bat mich, Ihnen allen wörtlich mitzuteilen: "Das Zaubereiministerium schreibt keiner Hexe vor, wie viele Kinder sie zu bekommen hat und fordert auch keinen Zauberer dazu auf, mindestens ein Kind zu zeugen. Nur Vita Magica wollte dies durchsetzen und hat daher das Zaubereiministerium bewogen, den betreffenden Müttern eine Unterstützung zu gewähren." Ende der wörtlichen Mitteilung von meinem Mitarbeiter Cyrus Picton. Soviel dazu", sagte Buggles. Dann fuhr er mit seiner vorbereiteten Erklärung fort.

"Eine mir nicht von Gesicht und Namen her bekannte Vertreterin von Vita Magica behauptete, dass der von Dime abgerungene Vertrag von ihrer Seite her ein erfolgversprechender Versuch gewesen sei und sie als "omninationale" Vereinigung nicht auf unser Hoheitsgebiet angewiesen seien. Allerdings, so die in einem weißen Strampelanzug und einer Babykopf-Vollmaske mit weißem Mützchen vermummte Unterhändlerin, dürften sie dann ja auch wieder befinden, welcher US-Bürger oder welche US-Bürgerin demnächst für Nachkommenschaft zu sorgen habe. Das muss ich leider als ernste Drohung verstehen, Ladies und Gentlemen. Die Mitglieder des Zwölferrates entschieden mit zwölf von zwölf Stimmen, dass alle im Lande enthüllten Mitglieder von Vita Magica zu ergreifen und vor den Gamot zu bringen seien. Offenbar hatten aber diese schon mit einem solchen Schritt gerechnet und sich noch vor der Umsetzung des höchst richterlichen Beschlusses abgesetzt. Ob noch uns bisher unbekannte Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppierung in unserer Mitte weilen ist derzeitig nicht bekannt, dürfte jedoch ziemlich wahrscheinlich sein. Somit bitte ich Sie und Ihre Leserschaft und Hörerschaft, die Augen offen zu halten und bei verdächtigen Beobachtungen oder mitgehörten Äußerungen über die bekannte Kontaktfeueradresse "Warnruf" die Sicherheitstruppen zu informieren. Dies gilt auch für Beobachtungen, die auf Tätigkeiten von verbrecherischen Werwölfen und blutgierigen Vampiren hinweisen. In allen Fällen gilt: Unternehmen Sie nichts auf eigene Faust, auch wenn Sie sich für ausreichend duellierfähig halten! Dies wollte ich nur noch einmal wiederholen, um unnötige Opfer unter Ihnen zu vermeiden.

Abschließend zu dem, was Sie alle am meisten Interessiert. Ich habe vor einer Stunde dem Zwölferrat den Termin für die vorgezogene Ministerwahl vorgelegt und diesen bestätigt bekommen. Es ist der letzte Sonntag im September, also noch genug zeit, dass sich mindestens zwei Kandidatinnen oder Kandidaten bewerben. Gegen diese darf ich mit der Erlaubnis des Zwölferrates antreten. Um die Einflussnahme freiheitsfeindlicher Gruppierungen oder ausländischer Mächte zu vereiteln werden die Behörden für Gesetzesüberwachung, Personenverkehr und Familienstand und Ausbildung entsprechende Sicherheitsrichtlinien erarbeiten. Soweit das, was für Sie und Ihre Abonennten oder Zuhörerschaft wichtig ist. Ich danke Ihnen für Ihre aufmerksamkeit."

"Hallo, Minister Buggles, noch Fragen", riefen die versammelten Zeitungs- und Rundfunkleute durcheinander. Doch der Minister verließ das Rednerpult. Sein Pressereferent Sladecutter trat vor und sagte: "Sie müssen verstehen, dass der Minister gerade wegen der erwähnten Gefahren nicht zu lange an einem öffentlichen Ort bleiben darf, Ladies und Gentlemen. Gerade die Aufkündigung des Friedensvertrages mit Vita Magica hat unser Land wieder zu einem möglichen Angriffsziel dieser Leute gemacht."

"So geht es doch nicht", protestierte Randolph Woodnail vom Kristallherold. "Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, was mit den dreizehn Betrügern ist und was jetzt mit möglichen Mora-Vingate-Partys ist." Der Minister drehte sich noch einmal um und sagte so laut, dass er das Durcheinanderrufen gerade so übertönte: "Die Mitglieder der schändlichen Betrug verübenden Quidditchnationalmannschaft befinden sich in einem geheimgehaltenen Versteck als Kronzeugen gegen Phoebe Gildfork. Wenn wir mehr über ihren Verbleib wissen wird im Ministerium entschieden, was mit ihren Helfern weitergeschieht, Mr. Woodnail. Aber das hat Ihnen Strafverfolgungsbehördenleiter Catlock auch schon ausführlich mitgeteilt. Was die Partys angeht, so gilt für Mora Vingate ein Veranstaltungsverbot. Sollten wir vom Ministerium dennoch von einer solchen Party erfahren werden wir sie verhindern oder vorzeitig beenden. Abgesehen davon konnten die Partys bisher auch nur deshalb stattfinden, weil es mehr als genug magische Menschen mit Hunger auf verwegene Abenteuer gab, die daran teilnehmen wollten. Also fragen sie die Leute, die im Frühling zu den Partys in Malibu, Orlando, Miami, Sandiego oder San Francisco geeilt sind, als könne es nichts schöneres geben, als sich per Zaubertrank einem fortpflanzungsfähigen Geschlechtspartner zuweisen zu lassen und von dem, wenn eine Hexe, schwanger zu werden oder wenn Zauberer, für ein ungewollt gezeugtes Kind aufzukommen. So, aber jetzt muss ich wirklich fort. Haben Sie noch einen schönen Tag!"

Unter weiteren Rufen der versammelten Medienvertreter verließ der Minister den Presseraum. So, mit den Informationen mussten die jetzt erst mal zufrieden sein, dachte er. Wieder in seinem Büro zurückgekehrt dachte er, dass die schon sehr bald mitbekommen würden, was die Aufkündigung des Friedensvertrages bedeutete.

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15.06.2004

Es war besser gelaufen als sie gedacht hatte. Anthelia hatte sich unter dem Namen Cleo Westford wieder an den Schauspieler Ronin Sunnydale herangemacht, ihn durch zwei heiße Nächte, ein siegreiches Katz-und-Maus-Spiel mit diesen aufdringlichen Fotoreportern und ein geheucheltes Interesse für seine Unterhaltungsfilmreihe den Theaterabend in New York erarbeitet. Dort hatte sie Laurentine Hellersdorf aus weniger als zwei Metern Entfernung angetroffen. Die hatte es natürlich gemerkt, dass Anthelia sie schnell aber gründlich legilimentiert hatte, sollte sie auch, wosie so begabt war und eine gestrenge Lehrmeisterin und einen kampferprobten Lehrmeister gehabt hatte. Während der ersten Hälfte des Stückes hatte sie mal eben alle hier versammelten Wichtigtuer der Stadt abgehört, aber auch die Gedanken von Laurentines Cousinen mitgehört. Victoria, genannt Vicky, verachtete das auf raschen Geldgewinn und oberflächliche Protzereien ausgelegte Gesellschaftsmodell. Ihre Schwester Hellen hingegen hoffte darauf, durch eine ansehnliche Karriere in der Rechtsprechung einen wichtigen Beitrag zur Wohlstandsmehrung der Staaten leisten zu können, wenngleich es ihr schon missfallen hatte, dass einige ältere Männer sie eher als hübsches Dekorationsobjekt ansahen, und manche ihre Finger nicht bei sich behalten konnten.

In der Pause hatte sie durch einen kleinen telekinetischen Eingriff einer dieser aufgeblasenen Ehrenlogenbesucherinnen den restlichen Abend verdorben und ganz bewusst eine kurze Gedankenbotschaft an Laurentine geschickt. Damit hatte sie erreicht, was sie wollte. Laurentine würde sich nun überlegen, wie sie weiterhin sicher durchs Leben kam. Da sie ja vorher schon mit zwei achso anständigen Hexen aus der Gruppe der Zögerlichen zu tun hatte, es aber noch nicht wusste, war für Anthelia klar, wohin Laurentines Weg führen musste. Auch würde sie ihren Bekannten Catherine und Julius ihre Erlebnisse erzählen, und die würden ihr natürlich erzählen, wen sie da getroffen hatte. Hilfe, eine gaaaanz böse Hexe ist hinter mir her! So ungefähr würde es für sie aussehen. Als sie dann noch mit dem jungen Ronin Sunnydale in dessen Hotelzimmer eine weitere wilde Nacht verbracht hatte war sie in jeder Hinsicht vollkommen befriedigt in ihre eigene kleine Residenz zurückgekehrt.

Dort erwartete sie eine Nachricht von Izanami Kanisaga. Diese teilte ihr mit, dass ihr Orden davon ausging, dass das Schwert des dunklen Wächters bereits ein Ziel erfasst hatte, aber wegen der noch bestehenden Schutzbezauberungen nicht so zu ihm durchdringen konnte wie von dessen Schöpfer erwünscht. Doch das Schwert nutzte die Geistesschutzzauber immer mehr als eine Art Schallverstärker. Wenn die dem Schwert innewohnende Seele des dunklen Wächters herausfand, wie genau sie die bestehenden Barrieren erschüttern musste, um ihre eigene Kraft nach außen zu verstärken, würde wer immer das Ziel war dem "Lied des Schwertes" verfallen. Die Frage war, was dann geschah. Anthelia überlegte, was sie unternehmen konnte. Sollte sie versuchen, dorthin zu gelangen, wo das Schwert lag und es mit ihren eigenen Mitteln, unter anderem Yanxotahrs Klinge, bekämpfen? Das war deshalb nicht möglich, weil das Haus, in dem es lag, mit allen Schutzzaubern auch gegen Erdmagie belegt war. Man kannte schließlich auch Wesen, die sich durch die Erde wühlten. Sollte sie den Feuersprung ihres Schwertes nutzen, gegen den es zumindest westlich von China noch keine Abwehr oder Barriere gab? Sicher konnte sie das. Aber erstens musste sie dann genau wissen, wohin sie reisen wollte. Zweitens würde ihr Auftauchen in einem der Hochsicherheitsverliese eine Menge Abwehrzauber und Gegner auf sich ziehen, und sie war nicht so einfältig, in ein Haus hineinzuspringen, dessen Besatzungsstärke und Bezauberungen sie nicht kannte. Gringotts war da schon die glorreiche Ausnahme gewesen. Aber da hatte sie auch auf dort arbeitende Kobolde zurückgreifen können. Man würde das Schwert auch nicht für sie herausholen. Ja, die Leute dort würden das nicht tun. Doch wenn es nicht gelang, es wieder in einen jahrhundertelangen Ruhezustand zu zwingen, dann würde es baldsein Ziel erreichen. Also galt es, das Ziel zu finden und zu verhindern, dass der dunkle Wächter seinen Plan ausführte. Sie musste einen Moment daran denken, was gewesen wäre, wenn noch andere außer Pandora davon Wind bekommen hätten, dass der Anthelia bildende Anteil von ihr in Dairons Seelenmedaillon gewohnt hatte. Man hätte sie sicher auch unschädlich machen wollen. Daianira hatte die Chance, war aber auch zu neugierig gewesen. Es blieb ihr also gerade nur, zu warten, bis der dunkle Wächter den entscheidenden Zug gemacht hatte. Hoffentlich war danach noch etwas zu retten.

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Aus dem Kristallherold vom 21.06.2004

VIER FÜR DIE NACHFOLGE

EINE HEXE UND DREI ZAUBERER WOLLEN AUF WACKELIGEN MINISTERSTUHL PLATZNEHMEN

Nachdem der zeitweilige Zaubereiminister Lionel Buggles am 11. Juni vor der magischen Öffentlichkeit bekanntgab, dass er das Amt des Ministers durch eine ordentliche Wahl aller Stimmberechtigten entscheiden lassen wolle, wohl auf Druck der zwölf obersten Richter, stehen nun vier Kandidaten fest.

  1. Atalanta Bullhorn (43), Majorin der Inobskuratorentruppe nördliche Ostküste, geht wohl auf Empfehlung des Zwölferrates des Zaubergamots ins Rennen. Ihr Ziel: Stricktere Abwehr von kriminellen Magiern und Zauberwesen, einführung einer Kopfsteuer für Nachfahren von Menschen und humanoiden Zauberwesen, sowie eine höhere Bestrafung gegen alle, die Hexen gegen ihren Willen zur Mutterschaft drängen. Sie erklärte bei Ihrer ersten kurzen Ansprache: "Dime hat sich verführen und erpressen lassen, Buggles ist ein weichherziger Hasenfuß, der nichts riskieren will. Deshalb konnte Vita Magica in unserem Land Fuß fassen wie ein giftiger Pilz. Sollten Sie mich wählen wird dieses Übel grundweg ausgerottet." Sie ist eine Fachkundige für Werwölfe, Vampire und grüne Waldfrauen. So steht auch zu vermuten, dass sie sich im Falle einer Wahl noch stärker in der Eindämmung dieser magischen Wesen einsetzen wird.
  2. Finnley Dunston (43) ehemaliger Stareintopfer bei den Misty Mountain Peaks und heute im Vorstand der panamerikanischen Quodpotföderation, zeichnete sich damals wie heute durch ein sehr geschicktes Mannschaftsspiel aus und hofft auf den Rückhalt aus der Bevölkerung. Er sagte: "Ich will wieder mehr Wert auf den Respekt der Menschen vor der Unversehrtheit ihrer Mitmenschen legen. Was Vita Magica sich geleistet hat ist ein Verbrechen gegen die Gesundheit unserer Hexen und Zauberer. Daher will ich im Falle meiner Wahl gezielt nach besseren Empfängnisverhütungsmethoden forschen. Außerdem will ich die Leute wieder zu mehr eigenen Sportübungen anregen."
  3. Lysander Bowman (50) arbeitet derzeitig noch im Werwolfkontrollamt und will im Falle seiner Wahl die zurückgestellten Vorhaben einer landesweiten Werwolfsammelunterbringung wiederbeleben, da hierfür, so Bowman, mittlerweile doch mehr Notwendigkeit besteht, als vor fünf Jahren noch erkannt wurde. "Die registrierten Werwölfe müssen keine Angst vor Übergriffen haben, wenn sie freiwillig in eigenen Unterkünften wohnen, die weit genug von unbelasteten Menschen entfernt sind. Nachwuchs werde ich jedoch nicht zulassen."
  4. Lionel Buggles (45), derzeitig als Übergangsminister von den zwölf obersten Richtern eingesetzt, trachtet nach einem friedlichen Miteinander aller magischen Menschen in den Staaten und will jene von Vita Magica, die nicht selbst an deren Untaten beteiligt waren, als Verhandlungspartner anerkennen. Er sagte: "Wir können es uns nicht leisten, mit anderen Hexen und Zauberern im Krieg zu liegen, wo wir gerade so viele andere Feinde gegen uns haben. Daher möchte ich mit Ihrer Hilfe eine entkriminalisierung der Mehrheit von Vita Magica erreichen, sodass wir gemeinsam gegen die aktuellen Bedrohungen vorgehen können."

Auch wenn es im Moment nicht danach aussieht, dass Lionel Buggles das Ministeramt über die Wahl hinaus behalten wird steht es ihm zu, zu kandidieren. Zumindest ist dies die Aussage von Richter Chrysostomos Ironside. "Er mag sich zunächst gegen unser Recht vergangen haben, weil er einen rechtswidrigen Vertrag erfüllte, doch dies tat er nur solange, wie er davon überzeugt sein musste, dass der Vertrag magisch bindend war", so die orginäre Aussage des obersten Richters der US-amerikanischen Zaubererwelt.

Die Kandidatin und die Kandidaten stehen also fest. Nun gilt es, in den kommenden drei Monaten herauszufinden, wer von ihnen die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für sich überzeugen kann. Wir vom Kristallherold werden natürlich für Sie verfolgen und begleiten, wie sich die vier für das Ministeramt behaupten werden.

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22.06.2004

Takeshi Tanaka trug mit seinen fünfzehn Jahren schon eine Menge Verantwortung. Da seine Eltern Haru und Natsu beide arbeiten gingen hatten sie ihm, dem ältesten von drei Geschwistern, mit zwölf Jahren die Wohnungsschlüssel und eine bis zu 28000 Yen belastbare Jugendkreditkarte gegeben und ihm die Aufsicht und Führung der Wohnung zwischen Schulzeit und Rückkehr des ersten Elternteils übergeben. Da seine Schwester Naomi drei und seine Schwester Keiko fünf Jahre jünger war war für den Jungen nicht mehr viel Freizeit möglich, sehr zum heimlichen Spott seiner Mitschüler, die in der Freizeit gerne Fußball oder Baseball spielten oder sich der Übung der weltberühmten japanischen Kampfkünste Judo, Aikido und Karate hingaben. Immerhin hatte es der junge Takeshi bis zur Übernahme des Juniorbosspostens noch bis zum grünen Karategürtel geschafft, weil er schon sehr früh mit diesem Kampfsport angefangen hatte. Um nicht aus der Übung zu kommen hatte er bei sich im Zimmer eine Auswahl von Trainingsgeräten, um Schnellkraft und Ausdauer aufrechtzuerhalten. War er früher zweimal wöchentlich zum Training gegangen, konnte er nur noch freitagsabends gehen, wenn seine Mutter Natsu eine Stunde früher von ihrer Arbeit zurückkam.

Dass er auf seine jüngeren Schwestern aufpassen musste führte dazu, dass er mit seinen Schulfreunden nur noch über Internetchats oder moderne Internet-Konferenzprogramme in Verbindung stand. Doch das war für Takeshi nicht dasselbe wie mit seinen Kumpels Hiro, Toshi oder Ichiro in den Tanzhäusern zu sein. Auch sein aufkeimendes Bedürfnis nach geschlechtlicher Zweisamkeit litt unter der großen Verantwortung. Doch er beklagte sich nicht. Er war für seine Schwestern zuständig, der über sie wachende große Bruder, im Namen seiner ehrenwerten Eltern. Diese Ehre durfte er nicht zurückweisen oder sie mit Schimpf und Unmut besudeln. Allerdings nutzten die zwei Mädchen es gerne aus, dass ihr großer Bruder auf sie aufpassen musste.

Naomi meinte jetzt, wo sie zwölf Jahre alt war, schon für ein größeres Mädchen gehalten werden zu müssen und stellte Versuche mit Schminkzeug und Kleidung an, die Takeshi schon mehrmals das Blut zum wallen gebracht hatten. Einerseits war er verärgert, dass seine Schwester sich kleidete wie eine Hure. Andererseits fühlte er in sich, dass ihre Erscheinung etwas anregte, dass er im Namen seiner hohen Aufgabe niederhalten musste. Naomi wusste das auch zu gut und tänzelte sogar vor ihm herum, als sei sie ein Zirkuspferd. Die zehnjährige Keiko schwärmte für die Bildergeschichten, die Mangas hießen und manche daraus entstandenen Zeichentrickfilme, die in Japan Anime genannt wurden. Nicht selten waren diese Geschichten sehr gewalttätig und/oder zeichneten ein ziemlich merkwürdiges Bild von Frauen und Mädchen. Aus den Kuschelgeschichten wie die Abenteuer der Biene Maja oder Heidi, dem Mädchen aus den Alpen, war sie ihrer eigenen Ansicht nach rausgewachsen. Er konnte es ihr nicht mal verübeln, da er selbst gerne Animeserien wie die Geschichten um die Pokemons im Internet ansah und einen eigenen kleinen, abschließbaren Schrein im Zimmer hatte, in dem Sammelkarten seiner Lieblingshelden lagen. Das Problem, dass er mit Keikos Begeisterung hatte war, dass sie sich auch so anzog wie ihre Heldinnen. Er durfte ihr raten, sich nicht so auffällig anzuziehen, es ihr verbieten durften aber nur ihre Gemeinsamen Eltern.

Gerade wummerte aus Keikos Zimmer ein Megahit aus einer der gerade laufenden Animeserien. Naomi, die eher auf westliche Rockmusik stand, hielt sofort mit Guns And Roses dagegen. Takeshi konnte sich deshalb nicht auf seine eigenen Schularbeiten konzentrieren. Er stand auf und öffnete die Tür.

Um nicht laut schreien zu müssen klopfte er an jede der Türen und sagte etwas lauter als gesittet: "Denke an die Nachbarn!" Er fragte sich, wozu in Japan der Walkman erfunden worden war. Die Antwort war einfach: Für unterwegs. Für zu Hause mussten es immer noch große, leistungsstarke Boxen sein, aus denen die Musik kam.

Häh, Keiko, was soll denn das sein?" fragte er seine jüngere Schwester, als sie in einem neuen farbenfrohen Kostüm aus dem Zimmer kam. Neben der Kostümierung waren es vor allem ihre Haare, die in einem ziemlich auffälligen grün-Orange-Ton gehalten waren. "Lady Takabayashi Fushigi, Herrin des Wunderwaldes und Tochter der Natur", gab Keiko bereitwillig auskunft und präsentierte eine Kette aus getrockneten Waldfrüchten.

"Öhm, damit möchtest du ganz bestimmt kein Aufsehen erregen", sagte Takeshi. Das hieß dasselbe wie bei ihrer gemeinsamen Schwester: "Zieh dir bitte was unauffälligeres an". Keiko grinste jedoch nur und sagte: "Nächstes Wochenende ist Fantreffen mit Cosplaywettbewerb. Mama sagt, sie fährt mich hin."

"Achso, und du wolltest sehen, wie es auf mich wirkt?" frafte Takeshi, der sich gerade selbst fragte, was er verpasst hatte. Denn von dieser Takabayashi Fushigi hatte er noch nichts gehört. Keiko bejahte das. "Na ja, wie gut deine Möglichkeiten sind kann ich nicht sagen, wenn da so viele hinkommen. Aber lauf bitte nicht damit draußen rum und bring unsere Nachbarn auf merkwürdige Gedanken! Es reicht schon, wenn Naomi meint, mit zwölf schon für siebzehn durchgehen zu wollen."

"Danke, großer Bruder", trällerte Naomi aus ihrem Zimmer. "Liebe Schwester, in diesen zu kurzen Klamotten meint jeder Mann, du seist für ihn zu haben. Willst du echt schon mit dreizehn ein Kind kriegen?"

"Mann, vom Anziehen kriegt 'ne Frau keine Kinder. Nur vom Ausziehen", erwiederte Naomi. Das brachte Keiko und sie zum kichern. "Bei Himmel und Erde, Naomi, du weißt doch echt, wie ich das meine. Ich hörte von Jungs aus meiner Altersgruppe, die das zum Sport machen, so kurzberockte Mädchen und Frauen anzumachen, mit Digitalkameras unter ihre Röcke zu fotografieren und es nicht immer beim Kucken lassen."

"Keine Angst, ich habe immer noch meine Ehren- und Lebensversicherung bei mir. Davon abgesehen bist du doch Karatekämpfer."

"Zum ersten lerne ich das nur, um den eigenen Frust durch Sport loszuwerden. Zum zweiten ist das nichts, um anderen zu drohen. Drittens und ganz wichtigstens, ich kann nicht die ganze Zeit hinter dir herlaufen, um sicherzusein, dass dir nichts passiert."

"Hast du schon so häufig erzählt", grummelte Naomi genervt. "Aber die da darf immer rumlaufen wie eine bunte Märchenfigur."

"Ich hab's ihr gerade gesagt, dass es besser ist, nicht zu auffällig rumzulaufen", erwiderte Takeshi. Heute war mal wieder so ein Tag, wo sich seine Schwestern gegen ihn verschworen zu haben schienen. Klar, sie wollten ihre Grenzen ausloten, doch bitte nicht auf seine Kosten. Denn wenn denen was passierte trug er die Verantwortung. So blieb er standhaft, dass Keiko ihr Naturköniginnenkostüm wieder gegen die übliche Kleidung für zehnjährige Mädchen eintauschte. Als das erledigt war sagte er: "So, ihr beiden. Ich muss noch was für die Schule tun. Ihr wollt sicher nicht, dass ich unsere Eltern mit schlechten Noten entehre, nur weil ihr meint, ihr wäret ein Schaufenster für auffällige Anziehsachen." Darauf grummelten die zwei Mädchen, dass sie es begriffen hatten und zogen sich jede in ihr kleines Reich zurück.

Er hörte einen Türschlüssel im Schloss klicken. Laut der Systemuhr war es gerade 17:00 Uhr. Seine Mutter sollte doch erst um 18:00 Uhr nach Hause kommen und sein Vater würde nicht vor 19:00 Uhr zu Hause sein, weil er in der Inselhauptstadt arbeitete und erst um 18:00 Uhr den Zug aus der Stadt bekam.

"Vater, du bist schon da?" hörte er Keiko rufen. Takeshi sprang förmlich von seinem Schreibtischstuhl auf und ging zur Tür.

Tatsächlich stand sein Vater im Flur. Er trug seinen mittelhellen Anzug und den Aktenkoffer unter dem linken Arm. Er wirkte jedoch nicht erfreut, sondern sehr bestürzt und beschämt. "Hiromitsusan hat mich heute an den Schreibtish am Westfenster hingesetzt und gemeint, ich dürfe heute zwei stunden früher Schluss machen", seufzte Takeshis Vater Haru. "Na und, ist doch schön, am Fenster sitzen und früher nach Hause kommen", meinte Keiko. Doch die beiden männlichen Verwandten sahen das anders.

"Herr Hiromitsu möchte mir wohl zeigen, dass er mich bald nicht mehr nötig hat und ich mich wohl bald nach was neuem umsehen möchte", seufzte Haru Tanaka. "Jeder frühere Kollege, der an diesen Schreibtisch gesetzt wurde, ist einen Monat später entlassen worden. Dabei weiß ich nicht, mit was ich meinen Vorgesetzten so erzürnt habe, dass ich nicht mehr für ihn arbeiten darf."

"Da musst du nichts für tun, Vater. Es reicht oft auch ein Fortschritt bei der Verwaltungstechnik. Wenn einer allein mit einem neuen Rechner dieselbe Arbeit wie drei Kollegen macht, müssen zwei Kollegen gehen, so das Gesetz der Rationalität", sagte Takeshi. Sein Vater vfunkelte ihn verstimmt an und stieß aus: "Ja, aber warum deutet Hiromitsu an, ich solle gehen, wo der genau weiß, dass ich drei Kinder habe?"

"Vielleicht muss er das noch nicht mal selbst entscheiden, Vater. Er könnte von seinen Vorgesetzten dazu getrieben werden, Leute zu entlassen." vermutete Takeshi weiter. Sein Vater sah ihn nun noch finsterer an. "Herr Hiromitsu ist der oberste Boss. Er hat keine Vorgesetzten, junger Mann."

Takeshi hätte seinem Vater jetzt entgegenhalten können, dass dessen Firma eine Aktiengesellschaft war, die über verschiedene Ecken mit demToyotakonzern verknüpft war und dass die Aktionäre bestimmen durften, wofür das Geld ausgegeben wurde und wer davon bezahlt wurde. Doch er fühlte, dass das wie Aufsässigkeit bei seinem Vater ankommen konnte. Also hielt er seinen Mund und sagte nichts weiteres.

Sein Vater ging ins Schlafzimmer, um aus dem Anzug zu schlüpfen.

"WennVater gefeuert wird können wir uns diese Wohnung nicht länger erlauben", dachte Takeshi schon eher wie ein Erwachsener als wie ein Fünfzehnjähriger. Denn sein Vater brachte zwei Drittel des monatlichen Geldes mit nach Hause. Außerdem mochte ein Umzug heißen, dass er sich von liebgewonnenen Sachen trennen musste und womöglich die Juniorkreditkarte nicht mehr behalten durfte. Dann würde er wohl wieder Bargeld erhalten, womöglich weniger als zehntausend Yen im Monat. Er verstand seinen Vater, dass der jetzt so betrübt war. Für ihn war es eine Frage der Ehre, in Hiromitsus Firma zu arbeiten. Am Ende kamen sie nur noch in einer kleinenWohnung mit einer Küche im Flur, einem Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern unter. Nein, er wollte doch sicher nicht mit seinen Schwestern zusammen in einem Zimmer wohnen. Alles, was er in den letzten drei Jahren ausgehalten und niedergehalten hatte drängte jetzt mit immer größerer Macht nach außen. Nein, er wollte sicher nicht in einer Miniwohnung wohnen, nicht viel größer als eine dieser modernen Schlafkapseln, mit denen die Bahnhofs- und Flughafenhotels warben.

"Was fällt dir ein, meine Tochter? Ist es recht, so mit dem eigenen Vater zu sprechen?" hörte Takeshi seinen Vater schimpfen. Offenbar hatte eine der zwei was ungehöriges gesagt. Dann hörte er Naomis Stimme: "Vater, die Wahrheit ist doch, dass Hiromitsu auf Druck der Aktionäre eine Fusion mit dem Takahashi-Konzern hinkriegen soll. Bei sowas werden leider immer wieder angesehene Mitarbeiter geopfert."

"Ich verbiete dir,in diesen respektlosen Ton von Hiromitsusan zu sprechen, meine Tochter! Er darf frei für sich entscheiden, wie er das Geschäft führt."

"Vater, ich lasse mich nicht so einfach runtermachen", begehrte Naomi auf. Da rief der Herr der Familie nach Takeshi.

"Deine Schwester spricht ungehörig von meinem Vorgesetzten, dem ihr vieles zu verdanken und ihn dafür zu ehren habt. Mach ihr das begreiflich, dass seine Ehre auch unsere Ehre ist! Ich kann und will ihren frechenRedennicht weiter zuhören." Mit diesen Worten zog sich Takeshis und Naomis Vater in das kleine Arbeitszimmer zurück, dass für ihn Ruheraum und Heimarbeitsplatz sein konnte. Auf jeden Fall war es den anderen Familienangehörigen verboten, ihn dort zu stören oder gar hineinzugehen.

Naomi sah ihren großen Bruder herausfordernd an und fragte leise: "Hat er dir gerade die Lizenz zum Verhauen gegeben, Takeshi?"

"Naomi, manche Wahrheit schmerzt mehr als ein mehrfach gebrochener Arm", versuchte sich Takeshi in einem Vergleich. "Und verhauen werde ich dich nicht, auch wenn ich das könnte. Doch meine eigene Ehre verbietet mir, Mädchen und halbe Kinder zu schlagen."

"Haha ,halbe Kinder. Du meinst echt schon, unsere Elternwürden dich für erwachsen halten,wie?" begehrte Naomi gegen ihren großen Bruder auf. Dieser erkannte, dass sie wegen der trüben Nachricht jetzt widerborstig war. Auch er würde am liebsten aufstampfen und seinen hochkochenden Unmut in die Wohnung hinausbrüllen. Doch er wollte keine Schwäche zeigen. So sagte er: "Warum auch immer Herr Hiromitsu Vater nicht mehr in der Firma behalten möchte, wir werden uns damit abfinden und uns darauf einstellen müssen, nicht mehr so weiterleben zu können, und das weißt du ganz genau. Denn nur deshalb bist du gerade so widerborstig, was ich sogar ein wenig verstehen kann", erwiderte Takeshi. "Ja, Ehre, Treue, Gehorsam. Wohin hat's Vater gebracht?" fragte Naomi. Takeshi musste erkennen, dass seine Schwester leider recht hatte. Doch seine Stellung als der vernünftige, große Bruder, verbot ihm, das zuzugeben. So beließ er es nur bei einem fragendenBlick und sagte: "Das werden uns die himmlischen Mächte zeigen, wo er damit noch hinkommt." Dann ging er selbst in sein Zimmer zurück. Er meinte noch, Naomis verächtliches Kichern hinter seinemRücken zu Hören. Ja, im Grunde hatte er sich vor einer offenen Antwort gedrückt. War er dafür zu feige?

Die trübe Stimmung in der Wohnung hielt an, als auch noch die Mutter nach Hause kam. Doch als ihre Tochter ihr erzählte was los war machte sie eine bestätigende Geste und flüsterte: "Sagt's ihm bitte nicht, aber dann stimmen die Gerüchte, dass Hiromitsu mit Takahashi fusionieren will und der seinen eigenen Agrarchemiefachmann mitbringen wird. Da müssen wir dann alle mit leben."

Beim Abendessen redeten sie kein Wort mehr als nötig. Das kleine Küchenradio spielte Schlager aus den Siebziger Jahren. Takeshi hing mit seinen Gedanken dem anstehenden Verlust des bisherigen Lebensstils und der Frage nach, wozu Unterwürfigkeit und Gehorsam nützten, wenn andere auf einem herumtrampeln durften wie sie wollten. Sein anerzogenes Gewissen begehrte zwar auf, dass solche Fragen ungehörig und gefährlich waren. Denn wer sich nicht in das Gefüge von Fleiß, Leistung und Gehorsam einfügen wollte riskierte, alles um sich herum durcheinanderzubringen und am Ende von allen verlassen zu sein. Doch seine Gedanken übertönten das Gewissen, ja auch die alten Schlager aus Japan.

Er wusste nicht was das war. Aber als in einem Stück von Reise, Mut und großen Erfolgen gesungen wurde, meinte er, eine ganz leise Stimme mit einer sehr schwebenden Stimme in einer offenbar schon alten Sprache singen zu hören:

Die Stund' der Helden naht erneut.
Es brennt das große Feuer.
und es erwacht zur neuen Zeit,
des Helden wahres Abenteuer.

Zu jeder Stund' an jedem Tage,
wirst einmal du gepriesen sein,
so folg dem Liede, keine Frage,
dann ist der Welten Reichtum dein.

Sohör das Lied durch Zeit und Raum,
halt fest dich an dem Klange.
So wird zur Wahrheit jeder Traum,
komm, zögere nicht lange!

Dein altes Blut ergreift die Macht,
so folge seinem Rufen.
Sei sehr Entschlossen Tag und Nacht!
Erklimme alle Stufen!

"Heh, Takeshi, träumst du?" fragte seine Schwester Naomi ihn und ließ das sehr schöne, sphärenhafte Lied verstummen. Gleichzeitig begann im Radio ein Stück, das von einemSamurai handelte, der seine tote Geliebte aus der mythischen Unterwelt Yomi zurückholen wollte und dabei mit den schlimmsten Dämonen kämpfte. Das passte irgendwie zu diesem merkwürdigenLied, dass er gerade gehört hatte. Woher hatte er das denn gekannt?

"Ich bin nur in Gedanken bei der Geschichtsarbeit für Herrn Yamamoto", sagte Takeshi. "Der erwartet von uns eine zeitliche Einordnung der Entwicklungen der Edo-Zeit besonders unter Berücksichtigung der portugiesischen und holländischen Kauffahrer. Ich glaube ich hänge da noch an einer Stelle, wo ich nicht weiterweiß. Muss das nachher noch mal nachlesen", redete sich Takeshi heraus. Hatte er wirklich gerade geträumt? Falls ja war das sehr peinlich. Denn er musste immer darauf achten, was die Eltern sagten, um es zu beherzigen, wenn er wieder mit seinen Schwestern alleine war.

"In der Edo-Zeit galt die Ehre und die unverbrüchliche Folgsamkeit dem Herren gegenüber noch als wichtigstes Gut", erwiderte Takeshis vater. Sein Sohn wollte darauf jetzt nichts sagen. Denn irgendwie war ihm heute so richtig zu Bewusstsein gekommen, wie schwächlich jemand war, der einer von wem auch immer eingeredeten Ehre wegen Angst hatte, sich für seine Ziele einzusetzen oder der vor lauter Gehorsam ins Feuer sprang, sobald der Herr darauf zeigte. Wollte er mal so enden, so Unterwürfig wie sein Vater, bis jemand es ihm damit dankte, dass er ihn entließ? Das wollte er nicht wirklich. Womöglich musste er sich dafür selbstständig machen.

Abends in seinem Zimmer las er noch ein Kapitel über die Zeit der Shogune, die über zweihundert Jahre lang mehr Macht hatten als der Kaiser selbst. Die Geschichtsarbeit wurde am ersten Juli fällig. Zwar wurde sie nicht mehr in die Prüfung eingerechnet, aber für den Weg in die Oberstufe wichtig.

Gegen halb elf lag Takeshi im Bett. Er hing immer noch den trüben Aussichten nach, bald aus dieser Wohnung zu müssen. Sie war zwar nicht all zu groß, doch wenn Vater seinen Arbeitsplatz verlor und sich was neues suchen musste konnte das wer weiß wo sein, vielleicht sogar in einem der 23 Bezirke von Tokio oder irgendwo im Ausland. Wollte er von hier weg? Sicher, Amerika reizte ihn, angeblich weil die Leute da viel lockerer miteinander umgingen. Doch seine Mutter hatte mal behauptet, dass die Amerikaner keinen Sinn für Anstand und würdiges Benehmen hätten. Sie hatte ja noch die Besatzer mitbekommen, die Japan die schlimmste Niederlage und zwei bis heute verseuchte Städte beschert und sich nach dem Weltkrieg im Land festgesetzt hatten, mit Wissen und Erlaubnis einer schmählich niedergeworfenen Regierung. Über diese Gedanken schlief er ein.

Im Traum hörte er wieder jenes sphärische Lied, das er schon am Nachmittag gehört hatte. Es durchdrang ihn und erfüllte ihn mit einem Verlangen, die Quelle davon zu erreichen.

Er saß aufrecht auf einem verschiedenhell gefärbten Teppich. Er trug keinen Schlafanzug, sondern ein weites, vom Hals bis zum Steiß reichendes, dunkles Gewand. Über ihm spannte sich ein sternenklarer Nachthimmel. Zwischendurch blickte der zunehmende Mond zwischen den schattengleich aufragenden Gipfeln hoher Berge hindurch. Der Teppich bewegte sich, ja, er flog mehrere Meter über dem felsigen Boden. Er durchquerte ein hohes Gebirge. Takeshi sah auf seine Hände und nahm wie beiläufig zur Kenntnis, dass sie nicht die Hände eines Fünfzehnjährigen, sondern eines mindestens vierzig Jahre alten Mannes mit einem eher dunkleren Hautton waren. Welche Hautfarbe er genau hatte konnte er jetzt nicht sehen, weil es eben Nacht war. Er griff sich ins Gesicht und bekam eine etwas längere Nase zu fassen, nicht die eines reinrassigen Japaners, eher wie die Nase eines Weißen. Er steckte in einem fremden Körper und saß auf einem Flugteppich aus den Arabischen Märchen. Einen Moment lang erschreckte ihn diese Erkenntnis. Doch dann hörte er noch lauter jenes merkwürdige Lied, das ihm Macht und Erfolg verhieß, wenn er ihm zuhörte. Er gab sich der betörenden Melodie hin, hörte die Worte, die ihm Kraft, Macht und Erfolg geben wollten und sah vor sich einen Berghang, von dem das zauberhafte Lied zu kommen schien. Der fliegende Teppich hielt genau darauf zu.

Der Teppichreiter im immer stärkeren Bann des magischen Liedes griff in das wallende Gewand und zog einen dünnen Holzstab hervor, der im Mondlicht grau und metallisch glänzte, als sei er nicht aus Holz gemacht worden oder mit einem glitzernden Lack überzogen. Der auf dem Teppich reitende schwang den Stab im Takt des Liedes und sah nun drei leuchtende Gebilde am Berghang. Beim näherkommen erkannte er diese als Mischwesen aus Mensch und Vogel, mit Armen, die zugleich gefiederte Flügel waren und Vogelkrallen an Händen und Füßen. Statt Mund und Nase hatten sie lange, scharfe Schnäbel in einem sonst menschenähnlichem Gesicht. Die Augen der Wesen glommen noch heller als ihre Körper. Er wusste, was sie waren: Tengus, geflügelte Zauberwesen aus den Bergen, die je nach Erzählung Stürme und Tod oder Glück und Erfolg bringen konnten.

Die drei Tengus erkannten den Eindringling und flogen auf ihn zu. Der Teppichreiter schwang seinen Zauberstab und rief dabei Worte, die Takeshi nicht kannte, aber verstand, dass sie einen Wall aus Luft und Feuer schaffen sollten. Tatsächlich umschloss eine hellviolett leuchtende, durchsichtige Lichtblase den Teppich und seinen Reiter. Dann versuchte er mit Worten in einer Takeshi völlig unbekannten Sprache, erst alle drei anfliegenden Tengus zu unterwerfen. Als ihm das nicht gelang und die drei Vogelwesen nur noch hundert Längen entfernt waren versuchte er es durch genaues Anzielen eines einzelnen, ihn zu unterwerfen. Doch das führte nur dazu, dass der Angezielte langsamer wurde. Zwar schaffte er es, die beiden anderen noch auf diese Weise abzubremsen. Doch dann schienen sie den auferlegten Bann wieder abzuschütteln und griffen noch entschlossener an. Der ihm nächste prallte auf die violette Leuchtblase, sprühte Funken und schrie laut auf, bevor er wie von einem straff gespannten Trampolin zurückfederte und wie benommen nach unten durchsackte. Dasselbe geschah dem zweiten und dritten Tengu, die innerhalb von einer Sekunde nacheinander auf die leuchtende Blase prallten. Allerdings flackerte die Blase beim zweiten und dritten bedenklich. Offenbar konnte sie nur eine begrenzte Zahl von Anprallern wegstecken oder die Tengus wirkten mit ihrer eigenen Zauberkraft dagegen an. Jedenfalls krachten die besinnungslosen Tengus auf den felsigen Boden und regten sich nicht mehr. Der Teppichreiter sprach noch einen Zauber und schwang den Stab über die abgestürzten. Nichts veränderte sich. Offenbar waren sie tot.

Aus weiter Ferne klangen weitere langgezogene Schreie wie von riesigen Vögeln. Der Teppichreiter meinte daraus jedoch "Tod dem Brudermörder!" zu verstehen. Offenbar gab es hier in der Gegend noch mehr Tengus; und diese waren alle sehr, sehr wütend auf das, was hier geschehen war.

"Ich brauche mehr Macht", hörte der Teppichreiter seine Gedanken, während das betörende Lied wieder lauter und lauter wurde. "Ich brauche mehr Macht, um sie zu binden."

Noch im Schutz der leuchtenden Blase jagte der Flugteppich nach oben, bis die Luft so dünn war, dass der Teppichreiter nicht mehr genug Luft bekam. Er ließ den Teppich wieder einige hundert Meter absinken und befahl ihm: "Fluchtgeschwindigkeit!" in einer fremden Sprache, vielleicht arabisch, vielleicht Persisch.

Wahrhaftig jagten wohl aus verschiedenen Richtungen weitere Tengus heran. Die mussten aber erst einmal die betreffende Höhe und Geschwindigkeit erreichen. Das schafften sie jedoch mühelos. So sah sich der Teppichreiter von mindestens dreißig geflügelten Gegnern bedrängt, die alle seinen Tod wollten. Außerdem musste der Teppich bei der hohen Geschwindigkeit Berghängen oder Felsvorsprüngen ausweichen. So sah es aus, als würden die Schatten von Riesen vor ihm auftauchen, die im nächsten Moment den Himmel umkippten oder in eine andere Richtung drehten. Die Kampfschreie der Tengus wurden dabei immer lauter. Doch noch lauter als diese klang jenes betörende Lied, dass den Teppichreiter seit der ersten Begegnung mit den Tengus begleitete, als wolle es ihn vorantreiben, ihm Kraft geben, ihn zum Sieg führen. Dann fiel dem Teppichreiter was ein: "Ich muss ihren König töten. Dann gehorchen sie mir alle."

Als wenn dieser Gedanke eine Formel für einen Teleportationszauber war umschloss eine tiefe Schwärze den Teppich und seinen Reiter und schien ihn mit mörderischer Kraft zusammenzuquetschen. Dann war die Welt wieder weit und lichterfüllt. Zwar war es hier immer noch Nacht, doch die Gegend war eine völlig andere.

Der Teppich flog auf einen Berg zu, aus dessen Hängen Rauch quoll. Ganz oben gähnte ein riesiger Krater, aus dem heraus es dunkelrot glomm. Warum war er jetzt bei einem Vulkan? Dann sah er einen Tempel auf einem weiten Felsvorsprung. Es war kein Shintotempel, sondern eher einer der Buddhisten. Hier war er richtig. Hier wohnte König Sojobo, der Herr der Tengus. Woher wusste er das so sicher?

Als der Teppich landete wusste der Reiter, dass er hier wohl nicht mehr lebend fortkam. Denn sofort rannten hundert Tengus aus dem Tempel hervor. In ihrer Mitte schritt ein alter Mann in mittelhellem Gewand. Sein Haar war weiß wie Schnee und hing ihm bis auf die Schultern. Besonders auffallend waren die großen, klaren Augen im lederartigen Gesicht und die beinahe handlange, dünne Nase, die fast einem Schnabel gleich hervorragte. Er trug ein im Schein von vielen Fackeln Sonnenaufgangsfarbenes Gewand und hielt einen geöffneten Fächer aus sieben langen farbigen Federn in der rechten Hand. Das war er also, König Sojobo, der Beherrscher der Vogelwesen. Der Teppichreiter sah, dass der alte Mann eine Schwertscheide auf dem Rücken trug, in der ein Langschwert mit gerader Klinge steckte.

"Bist du gekommen, deinen Tod zu finden, Mörder meiner Untertanen?" fragte der alte Mann, der außer der langen Nase nichts von einem Tengu an sich hatte.

"Ich bin gekommen, mit dir einen Zweikampf auszuführen, König Sojobo, mein Leben setze ich ein, um deine Herrschaft zu gewinnen", rief der Teppichreiter. Offenbar machte es ihm nichts aus, dass da hundert kampfbereit aussehende Tengus vor ihm standen und ihn jederzeit angreifen konnten.

"So, du willst mich, König Sojobo, den Großmeister der Schwertkunst, im Zweikampf besiegen? Das ist aber ein sehr tollkühnes Vorhaben", erwiderte der König der Tengus. Dann deutete er auf den Teppichreiter und fragte: "Wo hast du denn dein Schwert?"

"Wer sagt denn, dass ich eines brauche?" fragte der Zauberer auf dem Flugteppich und zeigte seinen Zauberstab.

"Du willst mich mit Zauberwerk niederkämpfen, mich? Du bist ein ehrloser Feigling", spie ihm der Tengukönig mit sehr großer Verachtung entgegen und schüttelte sich. Darauf sagte der Teppichreiter: "Das sagt einer, der sich von hundert Flügelkriegern beschützen lassen muss."

"Ich kämpfe nicht mit Feiglingen, die meinen, weil sie die Zauberkraft der Götter in sich haben jeden ehrenvollen Herrscher der Welt bedrohen zu dürfen. Schaff dir ein eigenes, selbstgeschmiedetes Schwert oder stirb hier und jetzt zur Sühne deiner Beleidigung an mein Volk und mich selbst!"

"Wie viele Tengus hast du hier, König Sojobo?" fragte der Teppichreiter.

"Wieviele, oh ehrenwerter Herrscher der Tengus, habt Ihr hier?" berichtigte Sojobo seinen Widersacher. Dann sagte er: "Die zweihundert hier und auf meinen Ruf in nicht einem Tagesviertel abertausend. Du kannst wohl gerade drei überwinden, vielleicht auch zehn, aber nicht sooo viele auf einmal."

"Dann frage ich dich, wer hier der ehrlose Feigling ist", erwiderte der Zauberer auf dem Flugteppich herausfordernd.

"So sei es. Du hast alle Zeit die du brauchst, dir ein brauchbares Schwert zu schmieden. Es muss von deinen Händen gefertigt und geschliffen werden, nicht von eines anderen Schmiedes Händen. Hast du dieses Schwert komm wieder her! Solange bleibst du aus den Reichen meiner Untertanen fort oder bist frei zum töten. Aber du darfst auch gleich nach Yomi gehen, wenn du meinst, nur Zauberwerk bringt dich ans Ziel."

"Das sagt der, dessen Schwert aus Sterneneisen im Feuer eines Drachens geschmiedet und mit den aus Heimweh vergossenen Tränen Susanoos gekühlt und gehärtet wurde. Somit ist mein Kraftstab genauso brauchbar wie dein Schwert, König Sojobo."

"Ich werde meine Klinge nicht mit dem Blut eines Ehrlosen besudeln", schnaubte Sojobo. "Dir fehlt es an Demut, Anerkennung und Sprachbildung. Und ich rieche, dass du kein reinblütiger Mensch bist. Du bist ein Hanyo, nicht wahr?"

"Genau wie du, König Sojobo. Denn nur einem, in dem das Blut eines mächtigen Yokais fließt, kann die Herrschaft über andere Yokai erringen und behalten, bis der Tod ihn ereilt."

"Falsch, Ehrloser!" bellte Sojobo wie ein wütender Hofhund. "In meinen Adern fließt das Blut eines Kami, Susanoo, dem Herren von Meer und Erde."

"Dann bist du ja ein halber Gott", erwiderte der Teppichreiter. "Und dann fürchtest du dich vor Zauberwerk? Lächerlich."

"Ich fürchte nicht das Zauberwerk,ich verachte jene, die meinen, es als Schlüssel zur unumschränkten Herrschaft gebrauchen zu können. Und jetzt geh fort und komm nur wieder, wenn du ein eigenes Schwert schmieden und führen kannst! Oder finde hier und jetzt den Tod und die ewige Verdammnis in Izanamis Reich."

"Ich werde wiederkommen und deine Herrschaft beenden", stieß der Teppichreiter aus. Er sah die hundert aufmarschierten Tengus, die auf ein Zeichen ihres Herrschers warteten. Dieser straffte sich nur und winkte mit dem gefiederten Fächer. Dann trat er in den Tempel zurück, der zugleich sein Herrschersitz war. Dazu erklang jenes magische Lied, dass die ganze Zeit im Hintergrund als reine Melodie erklungen war, so laut wie von einem Chor gesungen und mit den verheißungsvollen Versen.

Die Töne und Worte des Liedes hoben den Flugteppich und seinen Reiter nach oben. Dann stürzte die Welt wieder als schwarzes, zusammendrückendes Etwas auf ihn ein. "Ich werde ein Schwert haben!" dachte er noch. Dann fand sich Takeshi wieder in seinem Bett.

Das fremdartige Lied klang noch in seinem Kopf nach, wurde leiser und leiser, bis es zu einer wohltuend sanften, verheißungsvollen Melodie wurde. Dann verstummte es. Takeshi lauschte. Wo war das so schöne, ihn beflügelnde Lied? Er hörte es nicht mehr. Er fühlte eine gewisse Leere, weil das Lied nicht mehr zu hören war. Dann erkannte er, dass er nur geträumt hatte. Natürlich hatte er nur geträumt. Denn das alles was er als der fremde Zauberer erlebt hatte gab es nur in den alten Sagen oder auf diesen aufbauenden Märchen, Mangas und Animes. Doch das Lied, das er die ganze Zeit wie eine Hintergrundmusik gehört hatte, das kam in keinem der ihm bekannten Geschichten vor. Doch irgendwie wollte er es wiederhören. Es hatte ihm so gut getan. Dazu musste er wohl wieder schlafen und hoffen, dass der Traum wie aus einer japanischen Göttergeschichte zurückkehrte.

Er lag jedoch weiterhin wach, weil jetzt wieder die Gedanken und Zweifel vom vergangenen Tag zu ihm durchdrangen. Sein Vater würde bald seinen Beruf verlieren. Ob er so schnell einen neuen fand und wo das sein würde wusste keiner. Für seinen Vater war der Verlust seiner Anstellung ein Verlust der eigenen Ehre. War das wirklich so? Takeshi wusste es nicht.

Irgendwann schlief er wieder ein. Doch das wundervolle, ihn durchdringende Lied hörte er nicht noch einmal.

__________

Die Amikiris, die in versilberten Drahtkäfigen gehalten wurden, starrten immer wieder nach unten. Die kleinen, grauen, geflügelten Wesen, die wie eine Mischung aus Heuschrecke und Menschen mit großen, schwarzen Kerbtieraugen aussahen und mit ihren sehr scharfen Scherenklauen an den Armen durchaus eine gewisse Verletzungsgefahr bedeuteten, schwirrten laut sirrend herum oder hockten mit wie in tiefster Ergebenheit gebeugten Köpfen auf dem sandigen Boden. Kohaku Murabayashi, der Hüter der Gefahren und Schätze, blickte immer wieder auf die Käfige. Dort, wo die meisten Amikiris auf dem Boden saßen oder schon lagen, war eine mächtige Zauberkraftquelle erwacht, die niedere Yokai wie die Amikiri anzog wie das Licht die Motten. Murabayashi wusste auch ganz genau, was diese gerade drei Finger langen Wesen so in ihren Bann zog. Er konnte auch sehen, dass sie wie im Takt einer für ihn unhörbaren Musik niedersanken und wieder aufstanden. Das verbotene Schwert, der Fluch des dunklen Wächters, war stärker geworden. Es verbreitete seine dunkle Kraft, die sein Schöpfer damals als Lied des Schwertes bezeichnet hatte, immer weiter. Trotz der ganzen Bannzauber, die den Raum mit dem kristallischen Kasten umschlossen, drang die Kraft des Schwertes immer weiter nach außen. Welch mächtiger Zauber das Schwert damals durchdrungen hatte, er war jetzt noch viel stärker. Gewiss wusste Kohaku Murabayashi, was das Lied des Schwertes zu bedeuten hatte. Der dunkle Wächter, ein Hanyo, wollte Verbindung mit der Außenwelt bekommen, suchte einen, der so war wie er, um ihn unter seinen Willen zu zwingen oder noch schlimmer, seinen lebenden Körper zu übernehmen.

Als die dunkle Woge vor einem Sonnenkreis und zwei Mondumläufen über die ganze Welt geschwappt war waren viele verschiedenen Anzeiger dunkler Kräfte zersprungen, verbrannt oder laut schreiend tot umgefallen. Die Wachhäuser hatten gewankt, weil ihre Wehrzauber mit der Kraft der dunklen Woge stritten. Murabayashis oberster Dienstherr unterhalb des kaiserlichen Zauberrates hatte diese ungeheure Kraftfreisetzung mit eintausend großen Hafenwellen zugleich verglichen, die alle Küsten der Welt verheerten und viele Inseln rettungslos ins Meer zurücktauchten, aus dem sie einmal aufgestiegen waren. Viele eingesammelten und seiner unermüdlichen Wachsamkeit überordneten Dinge aus dunklem Zauberstreben waren zu eigenem Leben erwacht oder hatten versucht, sich gegen die Einkerkerung zu behaupten. Einige dieser Gegenstände mussten vernichtet werden, weil zu befürchten stand, dass sie noch mehr Ungemach heraufbeschworen. Doch die heftigsten Gegenstände waren gegen Gewalt und Zerstörungszauber gefeit, ja widerstanden sogar dem Feuer, das sonst viele dunkle Gegenstände verzehren konnte.

Unter diesen Gegenständen, die so gefährlich waren, dass sie in eigenen Kerkern mit umgebenden Bannzaubern aufbewahrt werden mussten, war das Langschwert des dunklen Wächters, das aus einer bis dahin völlig neuen Legierung aus Silber und Eisen entstanden war. Es war den Händen Amaterasus nicht möglich, eine Probe der Metallmischung abzukratzen. Bis zur dunklen Woge hatten die Bann- und Schlafzauber der ehrenwerten Vorkämpfer das Schwert im Zaum gehalten. Doch seit dem verhängnisvollen Tag regte sich was darin steckte. Wenn nicht die magische Eisschicht um die Klinge mehr und mehr abgetaut wäre und die vorher noch grün glänzende Klinge in einem erst bräunlichen und dann immer röteren Licht zu glühen begonnen hätte, dann wäre den Schülern und Gesellen Murabayashis nicht aufgefallen, dass das alte Schwert zu neuem Leben erwacht war.

Aus den Aufzeichnungen des dunklen Wächters, die seinen Freitod überdauert hatten, war zumindest der Name Ryu no Kiba hervorgegangen. Damit war dieses Schwert auch gleich als Feuerklinge und tödlich gefährliche Waffe beschrieben. Doch wie er es geschmiedet und womit er es genau bezaubert hatte war bei seinem Tod in Asche und Rauch aufgegangen. So konnten sie Schwert und Stab nur bergen und vor gierigen Händen sicher wegschließen. Was den sonderbar silbern glänzenden Zauberstab, ein Gegenstand nach weit im westen bestehendem Vorbild, anging, so konnten die damaligen Mitbrüder ergründen, dass der dunkle Wächter ein Bruchstück seiner verdorbenen Seele dort eingefügt hatte, weshalb der Stab für niemanden benutzbar war oder die Gefahr in sich barg, bei jeder Benutzung mehr von der Seele des Benutzers zu enthüllen und dem dunklen Wächter als Beute anzubieten. Zumindest war das mal so gewesen. Ob dies bei dieser fremden Hexe immer noch so wirkte wusste er nicht.

Auch wenn das Schwert, mit dem der Hanyo sich getötet hatte, in starke Bann- und Schlafzauber eingeschlossen wurde, so konnte doch eine wesentlich langsamere, aber eindeutig ähnliche Ausstrahlung davon erfasst werden. Also war der Geist des dunklen Wächters vollends in das Schwert gefahren und lauerte nun auf die Gelegenheit, sein finsteres Werk fortzusetzen.

Noch vermochten die Sperren gegen Geister und Geisteszauber, jede vom Kerker des Schwertes ausggehende Kraft zurückzuhalten. Doch wielange noch? Denn mit jedem Monat, der verging, wurde das rote Glosen heller und die unheimliche Kraft des Schwertes stärker.

Zwei der gerade noch am Boden liegenden Amikiris schnellten hoch, schwirrten laut sirrend auf die dem Schwertkerker nächste Wand ihres Käfigs zu und versuchten mit ihren Scherenhänden, den Draht zu durchtrennen. Funken sprühten, und die kleinen Wesen prallten zurück. "Habt ihr euch gedacht, ihr Mückenführer", knurrte Kohaku Murabayashi. Doch dann erkannte er, warum jene niederen Dämonen ausbrechen wollten, obwohl die wussten, dass der versilberte Draht mit Rückprällzaubern belegt war. Sie wollten dahin, wo die starke, sie anziehende Zauberkraftquelle war. Das hieß, diese war jetzt noch stärker als vorher. Das wiederum hieß, das Lied des Schwertes hatte einen Zuhörer gefunden und würde jetzt noch lauter und eindringlicher für den bedauernswerten Menschen oder Hanyo klingen. Außerdem bestand die Gefahr, das Yokais aller Art von dieser Kraft herbeigerufen wurden und versuchen würden, das Haus der dunklen Gefahren und Schätze zu stürmen. Das galt es zu verhindern. Ebenso galt es, dieses Schwert wieder zu beruhigen, wenn es schon nicht zerstört werden konnte. Vielleicht sollten doch jetzt die Geisteraustreibungsfachleute ran, um es von seiner dunklen Seele zu befreien. Vielleicht war dann ruhe.

"An alle Gehilfen und Schüler. Der Zahn des drachens wirkt noch stärker. Alle Sperren gegen rastlose Seelen, geistige Rufe und körperliche Eindringlinge müssen verstärkt und ständig aufrechterhalten werden!" rief Kohaku Murabayashi in ein versilbertes Horn, dass seine Worte an alle seine Untergebenen und Schüler weitergab.

Die auf ihn abgestimmten schweren Türen mit magischen Zeichen aus den alten Zauberschriften seiner Heimat glitten leise rumpelnd vor ihm auf, ließen ihn durchgehen und schlossen sich ebenso leise rumpelnd hinter ihm wieder. Der schnelle Weg der Wünsche, wie die japanischen Zauberkundigen den zeitlosen Standortwechsel nannten, war in diesem Haus nicht möglich, auch und vor allem um beseelte Gegenstände daran zu hindern, auf diese Weise zu entfliehen. So musste Murabayashi die Stockwerke bis in die tiefsten Kerkerräume zu Fuß zurücklegen. Er wollte sehen, ob sich das Schwert verändert hatte und ob es noch eine Möglichkeit gab, es zu zähmen.

Er begab sich im Transportkorb mehr als zwölf Stockwerke tief. Je tiefer, desto wert- oder gefahrenvoller waren die hier aufbewahrten Dinge. Endlich erreichte er den untersten Stock und betrat einen vier Manneslängenhohen, vier Männer breiten Durchgang. An den Wändenhingen goldene Lampen, die auch als kleine Sonnen bezeichnet wurden und gesammeltes Tageslicht wiedergaben. Seine Halskette erbebte leicht. Hier unten wirkte etwas mit starker Zauberkraft gegen die einschließenden Zauber an.

Jetzt stand er vor einer mit Goldblech beschlagenen Tür aus Feuerbergestein. Hier hatten sich schon drei seiner Gesellen, erkennbar an den Morgenrotfarbenen Halstüchern über den Sonnenaufgangsfarbenen Gewändern bereitgestellt. Als sie ihren Vorsitzenden sahen verbeugten sie sich tief und ehrerbietig. Er nickte ihnen nur zu und deutete dann auf die Tür. "Habt ihr euren Seelenschild errichtet?" fragte er. Die drei Gesellen bejahten es. "Gut, dann werde ich auch den meinen stärken, um die dort drinnen wirkende Kraft zu ertragen", sagte Murabayashi.

Mit Zauberformeln, die aus den Jahren des ersten Tennos stammten, umgab sich Murabayashi mit einer unsichtbaren Umhüllung, die vor allem Angriffe auf den eigenen Geist zurückweisen sollten, ihn aber auch innerlich beruhigte, egal was er zu sehen bekam. Daher wirkte es für Uneingeweihte so, als bewege er sich in einer Art Halbschlaf. Doch seine Sinne waren und blieben hellwach.

Mit einer leicht schleppenden Stimme befahl er der Tür, sich zu öffnen. Erst sprangen laut krachend zehn feste Riegel innerhalb des schweren Türblattes zurück. Dann glitt sie leise schabend nach oben und gab einen zwei Manneslängen hohen Durchgang frei. Als die Tür im Rahmen verschwand klickte es. Vier Riegel hielten sie nun oben, bis ihr befohlen wurde, sich zu schließen. "Entzündet das gesammelte Licht!" befahl Murabayashi seinen Begleitern. Diese schwangen die fächerartigen Gebilde, die auf die fünf Grundkräfte der Welt eingestimmt waren und zielten nach oben. Eine weißgoldene Scheibe an der Decke erstrahlte wie die Sonne selbst. So hatten sie nun mehr als ausreichend Licht. Die Lichtquelle bewirkte auch, dass keiner einen Schatten warf. An den Wänden waren Schriftzeichen eingemeißelt, die davor warnten, nicht ohne Schutz von Geist und Körper durch die zweite Tür zu treten, weil dahinter ein höchstgefährliches Gut lagerte. Doch die Vier Männer hatten sich ja schon vor der ersten Tür entsprechend vorbehandelt. So befahl Murabayashi der äußeren Tür, wieder zzugehen. Es klackte, und in nur zwei Sekunden fiel das Türblatt in seine Schließstellung zurück. Wieder rasteten die zehn Verriegelungen ein. Nun konnten sie die innere Tür öffnen.

Wie die äußere Tür glitt auch diese nach dem Lösen vieler Riegel nach oben und verschwand in der Decke, wo sie hörbar von starken Riegeln in ihrer Lage festgestellt wurde. Falls doch was aus dem dahinterliegenden Raum zu entweichen versuchte konnte die Tür innerhalb eines Lidschlages in ihre Verschlussstellung zurückfallen und verriegelt werden. Allerdings war das für Wesen in unmittelbarer Nähe schmerzhaft laut.

"Sollen wir auch hier das Licht entzünden, Murabayashi-San?" fragte einer der drei Gesellen mit einer leicht schläfrig anmutenden Stimme. Der Gefragte verneinte es. Denn er wollte das Schwert bei Dunkelheit sehen. So betraten sie den nächsten Raum, der mit einem im Widerschein des von draußen eindringenden Lichtes gelblich-grün glänzendem Metall ausgekleidet war. Am der der Zugangstür gegenüberliegendem Ende befand sich noch eine Tür. Doch davor schwebten drei aus sich heraus bläulich leuchtende, teildurchsichtige Erscheinungen in menschlicher Form mit je zwei unterschiedlich langen Schwertern bewaffnete Geister, die aber nicht rein rastlose Seelen waren, sondern durch eigene Bezauberung in den letzten Minuten ihres Lebens den Händen Amaterasus weiterhin dienstbare ehemalige Mitkämpfer, die durch die große Auswahl die Ehre erfuhren, als unsterbliche Hüter der Gefahrenquellen und magischen Schätze weiterzubestehen oder auch im Kampf gegen fleischlose Gegner ihren lebendigen Mitstreitern beizustehen. Einer der Geisterwächter verbeugte sich vor dem obersten Hüter der Gefahren und Schätze und sprach mit der für Geistwesen leicht verwaschen und aus fernen Sphären dringenden Stimme: "Meister Murabayashi, das Lied des Schwertes ertönt lauter. Wir fühlten auch, dass sein erwachter, im Schwert verkörperter Geist versucht, uns zu unterwerfen. Doch die Eide und Segenskräfte Amaterasus schützen uns weiterhin. Doch er sucht einen Weg, durch die vielen Wälle gegen Zauberwerk und Gedankenrückhalt zu dringen. Möchtest du das Schwert betrachten?"

"Gib mir den Weg frei, um zu sehen, was das Schwert tut!" befahl Murabayashi mit der wegen seines eigenen Geistesschutzzaubers schläfrig wirkenden Stimme. Die zwei blau schimmernden Geisterkrieger wichen zur Seite und ließen ihren lebendigen Meister an die verschlossene Tür herantreten. Er berührte drei der vier Ecken einer darin eingebauten Verblendung. Diese klappte nach oben und gab ein Fenster frei, dessen Glas aus Feuerberggesteinsstaub und Meeresstrandsand gebrannt worden war und mit mehreren Zaubern gegen Zerstörung oder Überhitzung verstärkt worden war. Dennoch war es so durchsichtig, als blicke jemand durch staub- und rauchfreie Bergluft.

Durch das Fenster sah der Hüter der Gefahren und Schätze in einen achteckigen Schacht hinunter, auf dessen Grund ein achteckiges Gefäß aus demselben Glas wie die Sichtscheibe bestand. In diesem Gefäß lag auf einer schwarzen Steinplatte das Schwert des dunklen Wächters. Es schimmerte in einem sonnenaufgangsroten Farbton. Doch das Licht nahm ab und wieder zu, nicht im Regelmaß wie Atemoder Herzschlag, sondern wie eine Kerzenflamme, in die jemand aus nächster Nähe etwas hineinruft und sie so flackern lässt. Auch fühlte Murabayashi, dass trotz der in der Tür verdichteten Geistesschutzbezauberung etwas nach seinem eigenen Bewusstsein greifen wollte. Es war wie ein leises Wummern in seinen eigenen Gedanken. Wie stark war dieses Schwert dort, dass es trotz der massiven Tür und seinem Geistesschild noch so gut spürbar war? Mit der Gelassenheit, die der Geistesschutzbann ihm verlieh, verfolgte der Hüter der Gefahren und Schätze das Lichterspiel des zehn Manneslängen tief unter ihm gelagerten Schwertes. Jetzt erkannte er, dass das leise Wummern in seinen Gedanken vollkommen mit dem Helligkeitswechsel abgestimmt war. Das hatte er erwartet.

"Ich werde es vermelden, dass das Schwert noch stärker wirkt als bisher beobachtet. Die hohen Herren mögen entscheiden, ob nun der Zeitpunkt für die große Austreibung angebrochen ist, auch wenn diese den zum Dämon gewordenen Geist des dunklen Wächters vollends befreien mag."

"Meister Murabayashi, haben die ehrenwerten Herren des hohen Rates nicht schon vor drei Monaten beschlossen, dass niemand lebendiges mehr dieses Schwert berühren oder sich ihm auf eine Manneslänge nähern darf?" fragte einer der drei Gesellen. Der Hüter der Gefahren und Schätze sah ihn an und antwortete: "Ja, dies ist richtig, junger Hüter Amako. Doch werde ich dem Rat berichten, dass das Schwert womöglich ein Ziel dort draußen gefunden hat und nun versucht, sich darauf einzustimmen und es für seinen Schöpfer dienlich zu machen. Vielleicht möchten die ehrenwerten Herren des hohen Rates ihre Meinung dann ändern."

"So mögen die ehrenwerten Herren des hohen Rates es beschließen, was zu tun ist", sagten die drei Gesellen des Hüters. Als wenn das auf dem Schachtgrund liegende Schwert es mitgehört hatte leuchtete es auf einmal im goldgelben Schein und flackerte so stark, dass es wirkte wie eine Fackel im Sturm. Gleichzeitig wurde das Wummern in den Gedanken Murabayashis lauter. Er meinte ganz dumpf Worte zu verstehen, worte, die ihm Macht und Erfolg verhießen. Ja, er meinte auch, unterschiedliche Töne herauszuhören. Zur Selben Zeit flimmerte die Luft um ihn herum, sowie um die Körper der drei jungen Hüter. Die vor der Tür wachenden Geisterkrieger flackerten nun ebenso wie das Schwert im Schacht. Dann versuchte einer davon, durch die geschlossene Tür zu fliegen. Doch die Tür war gegen alle Formen körperloser Wesen gesichert. So drückte sich der blau leuchtende Geisterkrieger immer fester gegen die Tür und wurde breiter und schemenhafter. Seine eigene Leuchtkraft verringerte sich, je mehr die Erscheinung das Türblatt bedeckte. Dann kam auch der zweite Wachgeist und prallte ohne jedes Geräusch gegen die Tür und drückte sich selber immer breiter. "Seelenrückprall!" stieß Murabayashi aus. Denn er ahnte, dass die zwei Geisterkrieger dabei waren, ihre eigene Erscheinung zu vernichten. Die Tür blitzte kurz grün auf, und zwei blaue Lichtwolken flogen geräuschlos in den Gang zurück. Doch diese ballten sich zu blauen Leuchtkugeln zusammen und flogen erneut gegen die Tür. Wieder wurden sie zurückgestoßen. Dabei wurden sie immer kleiner und leuchtschwächer. Murabayashi erkannte völlig frei von Gefühlen, dass die zwei Wachen im Bann des Schwertes standen. Es wirkte schon stärker, als die Schutzbezauberung der Tür es aufhalten konnte, und das sollte was heißen.

"Seid entbunden von diesem Wachdienst!" rief Murabayashi. Denn er wusste, dass die zwei Geisterkrieger nicht von sich aus diesen Gang verlassen würden, wenn ihnen der oberste Hüter der Gefahren und Schätze es nicht ausdrücklich befahl. Tatsächlich sah es erst so aus, als wollten sie zur verschlossenen Zwischentür zurückfliegen, die ja auch gegen Geisterwesen gesichert war. Doch auf halbem Wege bremsten sie ab, drehten um und jagten mit Pfeilgeschwindigkeit auf die verschlossene Tür zum Schacht zu. Sie prallten beide in Form kleiner blauer Lichtkugeln auf denselben Punkt an der Tür und verschmolzen zunächst zu einer etwas größeren, wabernden Lichtkugel, bevor diese mit einem blauen Blitz in abermillionen blauer Funken zerplatzte. Diese stießen lautlos gegen die Wände und Türen, bevor sie erloschen. Murabayashi meinte dabei einen ganz fernen, dumpf klingenden Aufschrei zu hören. Die beiden Geisterkrieger hatten sich selbst ausgelöscht. Ob ihre Seelen diesen Selbstzerstörungsvorgang überstanden und in eine bessere Nachwelt übertraten wusste Murabayashi nicht. Vielleicht waren sie auch restlos in alle Himmelsrichtungen zersprengt worden und konnten nicht mal als ruhelose Schatten ins Reich Yomi hinübergehen. Was auch immer stimmte, die zwei Geisterkrieger gab es nicht mehr.

"Meister, diese Töne, diese Kräfte, sie werden stärker", warnte einer der drei jungen Hüter. Um seinen Körper flirrte ein blauer, seinen Körper nachzeichnender Hauch. Das kannte Murabayashi zu gut. Auch seinen Körper umfloss dieses blaue Flimmerlicht. Der Schild gegen geistige Angriffe wankte. Zerbrach er, so waren sie den darauf einschlagenden Gewalten schutzlos preisgegeben. Was dann geschah wollte Murabayashi nicht erleben. So befahl er immer noch mit einer schleppenden Stimme: "Zurück in den Zugang vor den Vorraum! Schnell!"

Die Tür zum Vorraum glitt für Murabayashis Empfinden langsam auf. Doch sie schafften es, hindurchzugehen. Sofort danach glitt die Tür wieder zu. Noch war kein ihren Schnellverschlusszustand auslösender Notfall eingetreten. Sicher mochte die Auslöschung der Wachgeister ein hausweites Warnen erregt haben. Doch solange die vier lebenden Mitarbeiter nicht von einem tödlichen Gegner verfolgt oder eindeutig einem fremden Willen unterworfen waren galt der übliche Betriebsablauf.

Erst als sie auch durch die zweite schwere Tür getreten waren und diese hinter ihnen wieder zugefallen war, ließen das blaue Flimmern und die in die Gedanken eindringenden Worte und Töne schlagartig nach. "Wir haben zwei getreue und unverletzlich scheinende Gefährten verloren und uns von diesem alten Schwert vertreiben lassen", stellte einer der jungen Hüter ohne um Sprecherlaubnis zu bitten fest. Sein Vorgesetzter sah ihn dafür tadelnd an. Doch dann machte er eine bejahende Geste. Es stimmte ja. Die Macht des eingesperrten Schwertes hatte sie zur Flucht getrieben. Doch es gab eine Hoffnung:

"Wenn Amaterasus Gestirn uns Licht und Wärme sendet schläft die Kraft der bösen Klinge. In dieser hellen Tageszeit könnten unsere Mitstreiter versuchen, das Schwert von seiner dunklen Seele zu befreien", sagte Murabayashi. Doch innerlich zweifelte er daran, dass das Schwert sich jetzt noch von seinem bösen Geist befreien ließ. Eher musste er fürchten, dass der aus dem Schwert hervorgezerrte Geist des dunklen Wächters aus Bosheit und Überlebenswillen in den Leib eines nahebeistehenden Menschens einfahren würde, wenn dessen Schutz vor unsichtbaren Körperdieben und die Gedanken unterwerfenden Zaubern nicht ausreichte. Doch dass solten die befinden, die in der Geister- und Dämonenkunde noch besser bewandert waren als er, der seines ehrenwerten Berufes wegen schon viel darüber wusste.

Wieder zurück im Raum der Überwachung sah er, wie die gefangenen Amikiris wild entschlossen versuchten, ihre Käfige zu durchbrechen. Er sah, dass die dem Schwert am nächsten stehenden Käfige leicht ausgebeult waren. Die darin eingesperrten Amikiris lagen reglos auf dem Boden. Sie waren kohlschwarz und hatten ihre scharfen Schneidwerkzeuge verloren. Nun konnte Kohaku Murabayashi zusehen, wie es den noch lebenden Amikiri erging. Diese flogen wild sirrend gegen die Käfigwände und versuchten, sie zu durchbrechen. Blitze und Funken prällten sie immer wieder zurück. Doch einige ließn nicht los und wurden von blauen Blitzen durchzuckt. Funken sprühten prasselnd aus ihren kleinen Körpern. Sie zuckten und wanden sich. Doch sie ließen nicht los. Dann quoll Rauch aus ihren Körpern hervor. Sie zitterten noch einmal, dann fielen sie kraftlos auf den Boden und regten sich nicht mehr. Die kleinen Yokai hatten sich selbst getötet, um ihren Gefängnissen zu entfliehen. Noch hatten die in den Silberdrähten verwobenen Abschreck und Rückprällzauber gehalten. Doch würde das so bleiben?

Nur die am weitesten vom Schwert des dunklen Wächters entfernten Amikiris ließen sich noch von den Rückprällzaubern beeindrucken und hockten erschöpft aber weiterhin lebendig am Boden.

"Warnruf zu den Waffen, Tengus im Anflug auf das Haus der Gefahren und Schätze!" erklang wie aus leerer Luft die Stimme des Außenbeobachters vom Dienst. Murabayashi hatte damit gerechnet. "Achtung, die Köpfe von Nukekubis umfliegen das Haus. Erbitte vom ehrenwerten Hüter aller Schätze die Erlaubnis, diese Yokai zu bekämpfen."

"Narren, dies habe ich euch doch vorhin schon erlaubt", dachte Murabayashi. Doch dann griff er das silberne Horn, in das er vorhin schon hineingesprochen hatte: "An alle bewaffneten Verteidiger, lebendig oder Geister: Wehrt alles ab, was kein lebendiger mensch ist! Ich wiederhole: Wehrt alles ab, was kein lebendiger Mensch ist!"

Dieser Befehl hieß nichts anderes, als dass das Haus der Gefahren und Schätze nun nicht allein verhinderte, dass die darin gelagerten Gegenstände ins Freie gelangten, sondern jetzt auch keinen mehr hinausließ, solange es von außen bestürmt wurde. Nukekubis, blutsaugende Yokai, die ihre Köpfe von den Leibern lösen konnten, galten als hinterlistig und scharfsinnig. Doch wer es schaffte, entweder einen freifliegenden Kopf zu vernichten oder dessen handlungsunfähig abgelegtenKörper zu zerstören, konnte sie besiegen. Doch mit unmagischen Waffen waren Nukekubis nicht zu besiegen. Doch in diesem Haus gab es genug den Händen Amaterasus angepasste Zauberwaffen, vor allem die goldenen Bögen mit den Sonnenpfeilen, die aus dem reinen, aus der Erde oder Flüssen gewonnenem Gold gemacht waren, dessen wegen noch kein Tropfen Blut vergossen wurde. Als Murabayashi seine Gläser des Außenblicks aufsetzte konnte er durch reine Gedankenbefehle sehen, wo seine Schützen bereitsaßen und mit den Pfeilen auf die heranschwirrenden Vogelwesen und die gegen die unsichtbaren Barrieren anprallenden Köpfe der Nukekubis schossen. Im Flug wurden die Pfeile zu sonnenhellen Leuchtgeschossen. Wo sie ein Ziel trafen, zerbarst dieses in einem weißgelben Feuerball. Zwar zerfielen die Pfeile dabei zu feinem Goldstaub, aber gegen Yokais und noch schlimmere Ungeheuer gab es keine mächtigeren Waffen.

"Es werden nicht weniger!" rief eine Stimme aus leerer Luft. Doch noch hatten die Verteidiger genug Pfeile. Außerdem rückten nun die Geisterkrieger aus, indem diese sich selbst wie blaue Leuchtkugeln aus den Schießscharten hinausschnellten und auf die erkannten Feinde zujagten. Im Flug wurden sie wieder zu aus sich heraus blau leuchtenden Geistern mit zwei Samuraischwertern. Diese leuchteten sogar noch heller auf, denn der Wille zum Kampf und zur Vernichtung der Feinde stärkte ihre Erscheinung. Wo noch viele fliegende Tengus und Köpfe ausgemacht wurden schnitten die Geisterkrieger mit blitzschnellen Hieben hindurch. Murabayashi verabscheute diese Art von blutigem Handwerk. Deshalb war er ja auch der oberste Hüter der Gefahren und Schätze der Hände Amaterasus. Doch er musste einsehen, dass es auch die furchtlosen, gnadenlosen Kämpfer geben musste, die angreifende Feinde mit äußerster Gewalt zurückdrängen oder vernichten mussten, wenn die eingeschworene Gemeinschaft von fünfhundert Kampfesbrüdern und fünfzig Kampfesschwestern weiterbestehen und die Menschen des erhabenen Reiches der aufgehenden Sonne beschützen wollte.

"Sie werden gerufen, erbarmungslos", dachte Murabayashi. Was er befürchtet hatte war eingetreten. Das Schwert des dunklen Wächters hatte es geschafft, bis nach außen zu wirken. Wie ihm das gelang musste geklärt werden.

Nach zwanzig Minuten furchbaren Gemetzels gab es keinen fliegenden Kopf und keine niederstoßenden Tengus mehr. Wer auch immer in der Reichweite der Kraft des Schwertes mitgehört hatte war tot. Doch wie die immer noch auf das unhörbare Lied lauschenden Amikiri zeigten war es nicht verstummt.

"Wenn keine Gegner mehr vorrücken schickt die roten Eisendiener aus, die Überreste dieser Schlacht zu beseitigen!" befahl Murabayashi, als zwei Minuten verstrichen waren, ohne dass ein weiterer fliegender Yokai oder ein frei fliegender Körperteil eines solchen in Sicht kam. "Dein Befehl ist gehört und wird befolgt", erklang eine andere Stimme aus der Luft.

Nur zwanzig Sekunden später öffneten sich die schweren Türen des Hauses, und mit metallischem, gleichmäßigem Schritt traten im Licht der freischwebenden Sonnenlichtkugeln blutrot schimmernde Gestalten hervor, die so groß wie Zwei männer waren und vier Arme besaßen oder wie vierbeinige Risenspinnen mit zusammenschibbaren Rüsseln statt Beißwerkzeugen aussahen. Ihre gläsernen Augen glommen im satten Blattgrün. Das waren die eisernen Diener. Murabayashi hatte längst einen Antrag gestellt, auch die Eisenkrieger zum Schutz zu erhalten. Doch der hohe Rat hatte beschlossen, dass diese bei den Häusern der Wächter besser aufgehoben waren als beim Haus der gehüteten Gefahren und Schätze. Womöglich sollte er in aller gebotenen Demut die Frage stellen, ob sich wegen der gerade überstandenen Ereignisse eine andere Lage ergab, die zur Zuteilung von schwergepanzerten Eisenkriegern berechtigte.

Die auf zwei Beinen voranstampfenden Eisendiener nahmen Werkzeug aus den auf den Rücken getragenen, Metallstrebenverstärkten Rucksäcken und begannen, die Überreste der getöteten Yokai zusammenzutragen, während die spinnenartigen Diener ihre Rüssel ausfuhren und die verunreinigte Erde einsaugten, um sie in ihren Bäuchen von allen Blut- und Aschespuren zu reinigen, um sie dann mit aus der Luft in sich hineingesogenem Wasser wieder auszuscheiden und damit den Boden zu glätten. Murabayashi wusste, dass reiche Zauberkundige sich kleinere Ausführungen der Eisendiener hielten, die ihre Häuser säuberten und das Gras ihrer Wiesenstücke kurzhielten. Die hier arbeitenden Diener waren wesentlich gründlicher und schneller. So dauerte es nur fünf Minuten, bis die Spuren der blutigen Schlacht beseitigt und der das Haus umgebende Boden glatt und scheinbar unberührt war. Dann zogen sich die eisernen Diener ins Haus zurück, um in ihren Bereitschaftskammern abzuwarten, bis die nächste Arbeit anstand.

"Wir haben zweihundert Tengus und an die dreihundert Nukekubi-Köpfe erledigt und dabei einhundertfünfzig Sonnenpfeile verschossen. Zwanzig davon haben gefehlt und können deshalb wiederverwendet werden", fasste der Befehlshaber der Verteidigungstruppe zusammen, als er sich mit dem Hüter der Gefahren und Schätze traf. Dieser schrieb die Angaben auf und sagte dem Befehlshaber der Verteidigungsgruppe: "Ich erwarte von jedem Schützen, dass er beim ersten Schuss sein Ziel trifft. Zwanzig Fehlschüsse sind zwanzig zu viele", sagte Murabayashi. Der Befehlshaber stimmte ihm wortlos zu. "Die Barrierenzauber gegen nach außen dringende Geistesrufe sind zu schwach gewesen. Wenn die Sonne aufgeht sofort alles verstärken und diesmal erbitte ich stärkere Schutzwälle", fügte Murabayashi noch hinzu. In diesem Haus war er der oberste Befehlshaber, auch über die Verteidigungstruppe. Sein Mitstreiter von der Verteidigungsgruppe bestätigte den Befehl. "Und beim nächsten Angriff von Yokais nur noch die Geisterkrieger aussenden. Wir sind sehr knapp mit unbesudeltem Gold, und die Sonnenpfeilschmiede kommen nicht mit der Fertigung frischer Pfeile hinterher, wenn wir derartig stark bestürmt werden wie jetzt."

"Ich verstehe und bestätige diese Anweisung, Meister Murabayashi", sagte der Leiter der Verteidigungsgruppe. "Doch ist es mir erlaubt, eine hoffentlich bedeutsame Frage an Euch zu richten?"

"Es ist Euch Erlaubt, Truppführer Takemitsu!" gewährte Murabayashi dem Befehlshaber die Frage.

"Was sollen wir tun, wenn das erwachte und offensichtlich sehr erstarkte Schwert des dunklen Wächters jeden Wall gegen Gedankenrufen und Willensdurchdringung überwinden kann?"

"Dann steht zu befürchten, dass wir ihm selbst zum Opfer fallen, wie die zwei Geisterkrieger, die seiner Kraft erlegen sind und uns für alle Zeit verließen", sagte Murabayashi. Mit keinem Wort deutete er an, dass sie fliehen sollten. Denn zu fliehen war ein unverzeihliches Versagen. Ihr Ehrengesetz befahl, alles hier zu hütende bis zum letzten Atemzug oder zur letzten Regung der eigenen Seele zu hüten, solange der hohe Rat keine neuen Hüter und Verteidiger bestimmt und entsandt hatte. Das geschah jedoch erst, wenn die hier eingesetzten Hüter und Verteidiger starben oder zu alt für ihre Arbeit waren und in den ehrenvollen Ruhestand entlassen werden durften. Das wusste auch Truppführer Takemitsu. Dann fragte er ohne noch mal um Erlaubnis zu bitten: "Können wir dann den Händen Amaterasus noch dienen, wenn wir dem Willen des dunklen Wächters unterworfen sind?" Die Antwort war ein klares "Nein, dann sind wir selbst Feinde unserer Mitstreiter." "Dann möchte ich ergebenst vorschlagen, die unabnehmbaren Ketten anzulegen, damit wir, wenn wir versagen sollten, schnell aus der dunklen Knechtschaft befreit werden, bevor wir unsere Mitbrüder und -schwestern verletzen oder töten können." Murabayashi sah seinen Untergebenen verunsichert an. Dann erkannte er, dass dieser leider recht hatte. Wenn sie selbst zu Feinden ihrer ehrenvollen Gilde wurden, dann mussten sie sterben, bevor es ihre Mitstreiter taten. Wurden sie fremdbestimmt, so konnten sie sich nicht selbst den Tod geben. Also mussten es die unabnehmbaren Ketten erledigen, die einmal angelegt bis zum letzten Atemzug getragen werden mussten und eben durch keinen bekannten Zauber wieder von ihren Trägern gelöst werden konnten.

"Ich möchte das nicht jetzt beschließen, weil diese Entscheidung unwiderruflich ist, Truppführer Takemitsu. Doch ich werde nachher, wenn Amaterasus helles Gestirn vollständig dem Meer entstiegen ist, und das Schwert des dunklen Wächters in seinen üblichen Ruhezustand zurückfällt, den Hohen Rat besuchen und ihm berichten, was in dieser Nacht geschehen ist und was ich in aller Bescheidenheit für die kommenden Nächte befürchten muss", sagte Murabayashi.

"Ich harre hier in Wachsamkeit dem Beschluss des ehrenwerten hohen Rates", erwiderte Truppführer Takemitsu darauf.

In den nächsten Stunden erfolgte kein weiterer Angriff von fliegenden Yokais. Also reichte der Ruf des Schwertes noch nicht über die ganze große Insel hinweg, auf der das Haus der gehüteten Gefahren und Schätze stand.

Als die Sonne wie ein lodernder Feuerball aus dem Meer stieg und immer mehr zu einer gleißend weißgelben Kugel wurde, entriegelte Murabayashi in seiner verborgenen Kammer einen silbernen Schrank und öffnete die beiden Türen. Er verbeugte sich vor dem metallischen Möbelstück und sagte: "Ich erbitte in Demut den Zutritt zum Haus des Hohen Rates. Denn ich muss ihm wichtiges verkünden." Der Schrank erbebte ein wenig. Dann erschien in seinem silbrigem Inneren ein rundes, überlebensgroßes goldenes Gesicht, dass aus sich heraus schimmerte. Der schmale Mund mit goldenen Zähnen tat sich auf und sagte mit einer sphärenhaften Kleinmädchenstimme: "Was bedrängt den Hüter der Gefahren und Schätze so sehr, dass er es den ehrenwerten Herren des hohen Rates nicht als geschriebenes Wort übersenden mag?"

"Das Lied des Schwertes wird lauter. Künde das den hohen Herren!" sagte Murabayashi. Darauf verschwand die freischwebende Erscheinung eines Gesichtes für einige Atemzüge. Dann entstand sie übergangslos wieder und sprach: "Die hohen Herren sind noch bei den allmorgentlichen Gruß- und Schwurhandlungen zu Ehren Amaterasus. Ich habe deine Anfrage an mein Gegenstück dort weitergeleitet. Bitte verharre in Geduld, bis der Schrank des schnellen Zugangs dich benachrichtigt!" Ohne eine Entgegnung abzuwarten verschwand das schwebende Goldgesicht wieder. Gleichzeitig klappte die silberne Schranktür zu. Das war deutlich genug.

Da Murabayashi schon bei Sonnenaufgang das jedem Mitglied der Hände Amaterasus vorgeschriebene Gruß- und Schwurritual erfüllt hatte wunderte er sich, warum die Herren des hohen Rates es noch nicht vollzogen hatten. Doch ihr Gebot war unbestreitbar. So wartete er, wobei er die Listen der im Haus geführten Lebensmittel und Ausrüstungsgüter prüfte. Die verschossenen Sonnenpfeile hatte er schon längst abgezogen. Jedes Jahr am längsten Tag mussten er und alle anderen Hüter von Wach- oder Lagerhäusern ihre Bestandslisten an den obersten Ausrüstungshüter der Gilde überreichen. Wehe dem Hausherren, der unsauber mitgeschrieben hatte, was in seinem Haus bestellt und verbraucht wurde. Da konnte selbst der oberste Rat Hiroki Takayama sehr heftigen Ärger bekommen. Einmal hatte der oberste Ausrüstungshüter einen nachlässigen Hausherren dazu verurteilt, zehn Tage lang jedes einzelne Goldstück in der Halle der Münzen von einer Seite zur anderen zu tragen, ohne dabei Zauberkraft zu verwenden, zumal Gold ja ohnehin sehr schwer mit Bewegungszaubern zu befördern war. "Jedes einzelne Stückchen Gold in unserem Besitz hat seinen Wert. Versäume daher nicht, jedes davon ausgegebene klar und nachvollziehbar zu vermerken!" hatte der Oberste Ausrüstungshüter zum Schluss der Strafaktion gemahnt. Nein, Goldmünzen umhertragen wollte Murabayashi nicht, auch wenn er der Hüter der Gefahren und Schätze war.

Die Sonne war bereits auf der Hälfte ihrer Bahn zum Scheitelpunkt des Himmelsgewölbes hinaufgestiegen, als der silberne Schrank laut und vernehmbar brummte. Als Murabayashi nach der Tür griff klappte diese auf. Das schwebende Gesicht war schon da und sagte: "Der hohe Rat gewährt seinem gehorsamen Diener Murabayashi den Zutritt und das Wort. Ihm ist die Zeit einer Stunde gewährt, sein Anliegen vorzubringen." Mit diesen Worten verschwand das Gesicht wieder. Auch die silberne Rückwand des Schrankes verschwand. Statt dessen war da nur noch ein tiefschwarzes Nichts.

Murabayashi hatte keine Angst. Er kannte es, dass das Schrankinnere so aussah, wenn es bereit war, ihn aufzunehmen und in das auf den Schrank abgestimmte Gegenstück zu befördern. So betrat er den Schrank. Sofort fiel hinter ihm die Tür zu, und es wurde dunkel um ihn.

Er meinte, einige Sekunden lang in einem völlig leeren unendlichen Raum zu schweben. Dann fühlte er wieder festen Boden unter den Füßen. Gleichzeitig sprang vor ihm eine weitere Tür auf. Dahinter lag eine kleine Halle mit mehreren dieser silbernen Schränke. Er war am Ziel.

Zwei in himmelblaue Gewänder gekleidete Männer erschinen und verbeugten sich vor Kohaku Murabayashi. Er deutete eine kurze Verbeugung an. Dann geleiteten ihn die zwei ohne Worte durch kurvige Gänge, über eine Wendeltreppe bis ins oberste Stockwerk hinauf und durch einen Gang mit nach oben gewölbter Decke zu einer schwarzen Tür, auf der eine goldene Sonnenscheibe mit fünfzig ausgreifenden Strahlen prangte und die Schriftzeichen für Halle des hohen Rates eingeschnitten waren . Einer der beiden wortlos handelnden Männer in Blau trat vor und klopfte mit seinen Fingerknöcheln erst zweimal, dann dreimal und dann noch fünfmal an. Jetzt hieß es warten. Auch wenn dort drinnen jeder schon vorbereitet war mussten Mitstreiter außerhalb des Rates zwischen einer halben und zwei Minuten warten, bis sie hereingebeten wurden. Diese Geduldsprobe gehörte zu den überlieferten Gepflogenheiten der Hände Amaterasus. Um so erstaunter waren Murabayashi und seine zwei Begleiter, als die Tür bereits fünf Sekunden nach dem letzten Klopfzeichen aufsprang und aus der lichtdurchfluteten Halle dahinter eine befehlsgewohnte Männerstimme sagte: "Tritt ein, Murabayashi Kohaku, eifriger Hüter aller Gefahren und Schätze unseres Ordens!"

An den zwei Männern in Blau vorbei betrat der Hüter der Gefahren und Schätze eine kreisrunde Halle. In der Decke war eine mehrere Meter große, kreisrunde Glasscheibe, durch die ein Stück vom Himmel zu sehen war. In der Wand befanden sich noch sieben weitere Türen als die, durch die der Besucher hereingekommen war. In der Mitte der Halle stand ein kreisrunder Tisch mit einer sonnengelben Seidendecke mit vergoldetem Saum. Um dem Tisch standen sechzehn hochbeinige, breite Stühle mit hohen Rückenlehnen. Auf vierzehn Stühlen saßen Männer in sonnengelben Gewändern mit weißen Halstüchern. Auf zweien saßen Frauen in sonnengelben Kimonos und trugen weiße Perlenketten. Murabayashi kannte sie alle mit Namen und Gesichtern. Er trat bis zu einer nur gedachten Begrenzungslinie von sechs Schritten vor, stand einen Moment gerade und verbeugte sich dann so tief, dass sein Gesicht fast den Boden berührte. In dieser Haltung blieb er, bis die Männerstimme von eben befahl: "Erhebe dich und tritt näher!" Murabayashi trat vier weitere Schritte vor. Dann stellte er sich bereit. Die Männer und eine der Frauen, die ihm gerade den Rücken zukehrten, drehten sich mit ihren Stühlen um, ohne dass es knirschte oder quietschte. Als sie ihn alle ansahen sprach der ihm genau gegenüber auf der anderen Tischseite sitzende ihn an, es war jener, dessen Stimme ihn hereingebeten hatte.

"Wir vernahmen mit großer Sorge, dass du uns zu verkünden hast, dass das in deiner Obhut liegende Schwert des dunklen Wächters offenbar an Kraft gewinnt und sein unhörbares Lied noch weiter verbreitet. So berichte uns!"

"Seid bedankt, oberster Rat Takayamasan. So will ich in gebotener Kürze und Ausführlichkeit schildern, was in dieser Nacht geschah", setzte Murabayashi an und berichtete alles, was in den letzten Stunden geschehen war. Er ließ auch nicht aus, dass die Wälle gegen Gedankenrufe offenbar nicht mehr undurchlässig waren. Als er seinen Bericht beendete musste er einige Sekunden warten. Denn die Ratsmitglieder tauschten erst besorgte und dann verdrossene Blicke aus. Dann sprach deren Vorsitzender:

"Es ist nicht so, dass die Schutzwälle gegen gedankliche Rufe undurchlässig wurden, Hüter der Gefahren und Schätze. Es ist eher zu befürchten, dass die dem Schwerte innewohnende Seele des dunklen Wächters ergründet hat, wie sie die Wälle selbst zum Schwingen bringen kann, so wie eine Saite oder die Luft in einer Flöte, um seine Botschaft zu verstärken. Außerdem hat die ehrenwerte Rätin Takesaki bereits vor drei Tagen befürchtet, dass das Schwert, wenn es sein Lied über die Grenzen deines Hauses hinaus ertönen lassen kann, ein bestimmtes Ziel erfasst hat, einen lebendigen Menschen mit oder ohne Zauberkraft, vielleicht auch einen Hanyo, der das Lied zu hören vermag, ob nur im Traum oder auch im Wachzustand. Unser für Geisterwesen ausgebildeter ehrenwerter Rat Murakami möchte hierzu wohl noch mehr erwähnen. Bitte sprich, ehrenwerter Rat Murakami!"

Einer der Räte, die auf Murabayashis Seite des Tisches saßen blickte den Besucher an und sagte: "Die Schriften der Vorkämpfer sagen, dass in dem Schwert die aus dem Körper geschiedene Seele des dunklen Wächters wohnt. Ebenso hat er wohl vorher einen Teil seiner Seele in seinen magischen Stab mit dem Überzug aus hochwirksamem Zaubertierblut, womöglich dem eines europäischen Einhornes, eingewirkt. Der Stab wird ja auch bei dir verwahrt, soweit wir wissen." Murabayashi machte nur eine bejahende Geste. "Das Schwert ist jedoch um ein vielfaches stärker, weil die Seele Yominokos, wie der dunkle Wächter sich selbst nannte, im Augenblick seines selbstgewählten Todes direkt aus seinem Körper in das Schwert überging und dort neue Wohnstatt fand. Ihn auszutreiben haben in den letzten Jahrhunderten etliche Geisterkundige versucht. Doch der Stoff, aus dem das Schwert gemacht ist, hält den darin wohnenden Geist fest. Außerdem haben unsere Vorfahren erkannt, dass je länger sie in der nähe des Schwertes verweilen, wenn es nicht in Bann- und Schlafzaubern gehalten wird, desto mehr saugt es ihnen Lebenskraft aus. Somit steht zu befürchten, dass der dunkle Wächter bereits zu seinen körperlichen Zeiten erlernt hat, die Lebenskraft aus seinen Opfern zu saugen wie Blutsaugende Yokai. Womöglich bestärkt der Stoff, aus dem sein Schwert gemacht ist diese Gabe im Bezug auf Willenskraft und Seelenstärke. Das erscheint mir sogar jetzt, wo du uns von den erloschenen Geisterkriegern berichtet hast, sehr zutreffend. Daher ist jeder Versuch, dem Schwert jetzt, wo es sehr unverkennbar stärker geworden ist, die eingewobene Seele zu entreißen, genauso erfolgverheißend wie nach dem Sepuku noch durch eigene Manneskraft einen Sohn zu zeugen. Ich meine damit, dass selbst dann, wenn unsere großen Austreibungsrituale wirksam sind, der böse Geist nicht aus der Welt verschwindet, sondern unverzüglich auf einen nahebei erspürten Körper überspringt und ihn als sein neues Gefäß erfüllt. Oder er wird zum seelenverschlingenden Dämon, der von jeder Stofflichkeit befreit auf Beute ausgeht und alles Übel der damaligen Zeit um ein vielfaches übertrifft. Ich erfuhr von einem Mitglied im Rate des hochehrenwerten Zaubereiministers und erstem Hofzauberer des göttlichen Kaisers, dass derzeit weit im Westen von uns ein weiblicher Schattendämon umgeht, der sich die Seelen argloser Menschen einverleibt. Bisher hat dieses Unwesen nicht nach unserem Land getrachtet. Doch wir müssen es nicht darauf anlegen, dass wir dem dunklen Wächter die Gelegenheit geben, selbst zu so einem seelenfressenden Dämon zu werden, wenn er dies nicht schon ist. Doch solange er fest an das Schwert gebunden ist können wir ihn zumindest niederhalten. Daher schlage ich vor, weil die bisherigen Bann- und Schlafzauber nicht mehr wirken, den Raum, im dem das Schwert aufbewahrt wird mit Seeleneis aufzufüllen. Es gefriert nach außen dringende Gedanken und verhindert ihre Wirkung auf andere Wesen."

Mehrere vom Rat sprangen förmlich von ihren Stühlen auf und machten wilde Gesten in Richtung Murakami. Eine der beiden Rätinnen sah den obersten Rat Takayama an. Der gab ihr das Wort:

"Das kann nicht Euer Ernst sein, Rat Murakami. Seeleneis ist neben dem ungebärdigen Dämonsfeuer und dem Witterwasser das übelste, was die Grundkräfte der Welt erschaffen können. Denn wer es längere Zeit in der Nähe hat verliert selbst jeden Antrieb, irgendwas zu tun, bis er oder sie verhungert oder verdurstet. Deren oder dessen Seele darf dann aber nicht in eine Nachwelt, nicht mal nach Yomi. Sie wird zum Bestandteil des Seeleneisstückes. Um Seeleneis herzustellen müssen einen Monat lang jede Nacht zehn fühlende Wesen in Angst und Trübsal gehalten werden, bis genug Seeleneis entstanden ist, dass es sich durch das erfassen betrüblicher Gefühle und Gedanken selbst vermehrt. Das meint Ihr also nicht ernst, Rat Murakami."

"Ich habe nicht gesagt, dass mir dies gefällt oder Freude bereiten soll, ehrenwerte Rätin Iwamoto. Ich habe es bis heute als allerletztes Mittel gesehen, um die vielfach verstärkte Kraft des Schwertes zu schwächen. Denn so bedauerlich gerade ich dies finde: Wir können den bösen Geist des dunklenWächters nicht mehr austreiben, ohne alles noch schlimmer zu machen als es jetzt schon ist. Uns bleibt eben nur, das Schwert in seiner Verwahrung zu belassen und seine Kraft einzudämmen, wie es unsere Vorkämpfer schon damals taten, als sie dem dunklen Wächter Einhalt geboten", verteidigte Murakami seinen heftigen Vorschlag.

"Müssen es Menschen sein, die dem Herstellungsvorgang unterworfen werden?" fragte ein anderer Rat, der für die Verteilung von Truppen zuständig war. Murakami überlegte kurz und sagte nur was von fühlenden Wesen, die auch auf keinen Fall getötet werden durften. Denn durch deren leidende Seelen würde ja das Seeleneis entstehen, ähnlich wie der finstere Unlichtkristall, mit dem sie es vor drei Jahren erstmalig zu tun bekamen, durch gewaltsamen Tod vieler hundert Menschen an einem Tag beschaffen sei.

"Dennoch ist es ein sehr ehrloses, grausames und lebensverachtendes Verfahren", wandte Rätin Iwamoto ein. "Wir, die Hände Amaterasus, sind angetreten, das Leben unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu schützen, und nicht um finstere Zauberkunst im großen Maße anzuwenden, selbst wenn wir behaupten, sie diene einem guten Zwecke. Fangen wir damit an, ehrenwerte Ratsmitglieder, so begehen wir denselben dunklen Pfad, auf dem einst der dunkle Wächter wandelte. Denn irgendwann, nicht heute, nicht im nächsten Monat, aber irgendwann, wird es ans Licht gelangen, dass wir auch nicht vor dunklen Handlungen zurückscheuen, nur weil wir behaupten, sie dienten dem Guten. Kämpfe mit guten Mitteln für das Gute, nicht mit verderblichen Mitteln gegen das Böse, so lautet ein Grundsatz unseres Ordens. Sicher wissen wir hier alle, auch unser treuer Mitstreiter Murabayashi, dass es bedauerlicherweise längst nicht immer ohne magische Gewalt geht, wenn es dem Bösen Einhalt zu gebieten gilt. Dennoch lehne ich die Einbringung des Seeleneises ab, da wir davon mindestens so viel herstellen müssen, wie in diesen Schacht hineingeht. Außerdem, so erinnere ich alle hier, macht Seeleneis alle in seiner Nähe befindlichen Wesen antriebslos und handlungsunfähig, je mehr davon vorhanden ist und je länger Menschen in seiner Nähe sind. Wir würden also ein großes Übel durch ein noch größeres bekämpfen, nämlich das, dass im Umkreis des Hauses der Gefahren und Schätze kein lebendes Wesen länger als einige Tage oder Stunden bestehen kann, ohne seine Willenskraft und seinen Überlebenstrieb zu verlieren. Eine derartig verfluchte Gegend zu erschaffen sollte uns nie im Leben einfallen."

"Es ist aber noch vor Mondblei die wirksamste Möglichkeit, den bösen Geist in seinem Schwert zu bannen, Miträtin Iwamoto", beharrte Murakami auf seinem Vorschlag.

"Wie viel Mondblei können wir in den Schacht füllen, um das Schwert zu bannen?" fragte einer der anderen Räte. Da mussten Takayama und Murabayashi erklären, dass das Schwert jeden Mondbleiüberzug von sich abgeschmolzen hatte, seitdem die dunkle Woge über die Welt gefegt war. Offenbar enthielt es eine Menge Mondmagie, die die im Mondblei konzentrierten Zauber in reine Hitze umwandelten. "Da können wir ja froh sein, dass die allermeisten bei Euch verwahrten Dinge nicht so mondbleiabschmelzend sind", sagte Iwamoto mit unüberhörbarer Ironie. Murabayashi, über dem ja nun die Frist der letzten Gnade hing, nickte nur.

"Sowohl dem dunklen Wächter als auch seinem angeblichen Herrn und Fürsten vom schwarzen Berg waren die Herstellung und Bezauberung von Mondblei bekannt", sagte der Bewahrer der Aufzeichnungen. "Wir konnten aus dem, was den Freitod des Wächters überdauert hat entnehmen, dass er die Bezauberung unter Nutzung der Nachtgestirne beherrschte. Dann wird er seine Waffe auch gegen Mondblei abgesichert haben. Nur die Bannung des Geistes hat wohl über Jahrhunderte verhindert, dass das Schwert die Mondbleiumhüllung von sich abgeschüttelt hat." Da sah Murabayashi den obersten Rat Takayama an. Dieser erteilte ihm das Wort.

"Gibt es keine Möglichkeit, den Geist des dunklen Wächters sofort nach dem Austreiben in einen anderen behälter einzusperren, über den er keine Macht auf andere ausüben kann?"

"Wie erwähnt, Hüter der Gefahren und Schätze, es wurde damals viel versucht, den Geist des dunklen Wächters aus dem Schwert zu lösen, auch um ihn unschädlich in einem anderen Gefäß einzusperren, so wie es die Araber und Inder vermögen oder wie es einige afrikanische und amerikannische Wald- und Steppenvölker vermögen", sagte Murakami. "Doch er hat das Schwert auf seinen Geist, seinen Willen und seine Kraft eingestimmt, wodurch es nach seinem durch es selbst herbeigeführten Freitod zu seinem neuen Körper wurde. Ja, und auch wenn die finsteren Magier Künste beherrschen, Teile ihrer Seele aus dem eigenen Körper zu lösen und in ihnen gefällige Behälter zu verpflanzen und auch wenn sie die Seelen lebender Wesen aus ihren Körpern zu reißen vermögen, so gilt das eben nur für lebende Körper, nicht für mit hoher Zauberkraft angefüllte Gegenstände. Deshalb bleibe ich dabei, es muss Seeleneis in den Schacht eingebracht werden, wobei es völlig reicht, die Kraft des Schwertes bis zur Unschädlichkeit zu schwächen, nicht den ganzen Schacht auszufüllen, Rätin Iwamoto."

"Könnt Ihr das genau ausrechnen?" fragte Takayama. "Ich bin bereit, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, wenn mir erlaubt wird, die Macht des Schwertes selbst zu ermessen", sagte Murakami.

"So erbitte ich von allen hier anwesendenRäten die Antwort auf die Frage, ob es trotz unserer Grundsätze nötig und richtig sein soll, das Schwert in Seeleneis einzufrieren, wenn wir wissen, wie viel davon benötigt wird."

Acht der sechzehn Räte stimmten dem Vorgang zu, darunter Murakami. Sieben Räte sprachen sich dagegen aus, darunter die beiden Rätinnen. Takayama überblickte die Anwesenden. Dann fragte er Murabayashi, ob die bisher benutzten Geistesschutzzauber verstärkt werden konnten, um den Einfluss einer gewissen Menge Seeleneis nach außen abzuschirmen. Daraufhin wollte Rat Murakami wissen, wie genau die Schutzbanne wirkten, da er bisher keine Einsicht in die Pläne für das Haus der Behütung gefährlicher Gegenstände und magischer Schätze bekommen hatte. Murabayashi erzählte ihm dann, wie die Zauber genau wirkten und in welcher Weise sie aufgebaut worden waren. Während seines in allen Einzelheiten erfolgenden Berichtes konnten alle sehen, dass Murakami immer verdrossener und betrübter dreinschaute, ein ums andere mal eine verneinende Geste machte und am Ende keine Entschlossenheit mehr besaß. Als er dann ums Wort bat meinte er: "Ich muss eingestehen, von falschen Voraussetzungen und Grundlagen ausgegangen zu sein. Doch wenn die Zauber im Haus der Behütung so sind, wie unser Mitstreiter Murabayashi sie schildert, dann kann dort kein Seeleneis gedeihen, da es sich an den Abwehrzaubern ständig reibt und seinen Zusammenhalt verliert. Es würde nicht mehr als eine Stunde pro Raumeinheit halten und müsste immer wieder nachgefüllt werden. Deshalb kann ich meinen Vorschlag nicht weiter aufrechterhalten und bitte Euch alle um Verzeihung wegen der Zeit und der Aufregung, die die Besprechung dieser Maßnahme benötigt hat."

Jene, die sowieso gegen den Antrag waren atmeten hörbar auf. Die, welche es als notwendiges Übel ansahen verzogen erst ihre Gesichter und verziehen Murakami.

Nun wurden andere Möglichkeiten besprochen, ob das Schwert in einen tätigen Feuerberg geworfen werden sollte, was jedoch gleich wieder verworfen wurde, weil das Schwert eindeutig der Grundkraft Feuer verbunden war und somit jedem irdischen Feuer widerstehen, ja es selbst als zusätzliche Kraftquelle nutzen konnte. Es ins tiefe Meer zu werfen kam auch nicht in Frage, weil es ja wohl niedere Lebewesen aussaugen konnte. Dadurch würden irgendwann die Nahrungsgrundlagen der Menschen verschwinden. Es im Eis an einem der Pole zu vergraben kam auf dasselbe heraus wie die bisherigen Methoden. Da die Hände Amaterasus keinen Weg kannten etwas in die Tiefen des Weltraums zu befördern brachte einer der vierzehn anderen Räte noch die Möglichkeit auf den Tisch, das Schwert in ein Gefäß zu stecken, in dem die Zeit viel Langsamer ablief. Somit würden auch alle dem Schwert entströmenden Gedanken undKräfte um ein mehrfaches langsamer entweichen und somit bei schnell denkenden und lebenden Wesen keinen Halt finden. Auf die Frage, wie so ein mächtiger Zeitzauber ausgeführt werden konnte sagte der Rat, der den Vorschlag gemacht hatte, dass er dies nicht wisse, es aber in westlichen Ländern bereits seit mehr als hundert Jahren im Gebrauch sei, um Lebensmittel länger frisch zu halten. Das brachte den sonst sehr ruhig und besonnen auftretenden Takayama sichtlich in Wut. Er herrschte seinen Ratskollegen an, weshalb der hohe Rat bisher nichts von dieser Zauberei erfahren habe und nach wie vor Lebensmittel durch Kältezauber eingefroren gehalten würden, was ja bei einem Schwert aus Metall keinen Sinn machte.

"Ich erinnere an Euren großen Vorgänger, Isao Tokugawa, der vor hundertfünfzig Jahren hat beschließen lassen, dass wir weder von unseren Zauberkünsten etwas an Ausländer weitergeben, noch deren Zauberkünste erbitten, um unsere Anliegen zu regeln. Unabhängigkeit und Eigenständigkeit seien die hohen Tugenden eines starken Ordens, hat der Vorgänger es begründet. Damals ging es um eine befürchtete Einmischung aus dem chinesischen Kaiserreich. Außerdem versuchten europäische Zauberer, die heimlich mit den weißen Kaufleuten und den Christuspredigern zu uns kamen, unsere Geheimnisse zu ergründen. Daher diese eindeutige Abgrenzung zwischen uns und denen. Was die Chinesen angeht will deren Zaubereiministerium immer noch alles über unseren Orden erfahren und schickt ab und an Spione mit sehr guten Japanischkenntnissen herüber. Daher beließ ich es bei meinen Erkundigungen, ohne Einzelheiten zu erfragen."

"Es ist doch so, dass viele unserer fleißigen Hände im Außeneinsatz mindestens zwei Jahre an vertrauenswürdigen Stätten die Zauber der westlichen Welt erlernen", sagte Takayama seinen Ratsmitgliedern zugewandt. "Dann ist es doch ebenso erdenklich, dass wir auch solche mächtigen Zauber erlernen dürfen. Immerhin gilt ja, dass wir auch gegen aus dem Westen vordringende Zauberwesen und Menschen kämpfen müssen, wenn sie uns bedrängen."

"Es geht hierbei doch nur um eine Ausnahme, was Kampf und Abwehrzauber betrifft", wandte der Rat ein, der die Abgrenzungspolitik Tokugawas angeführt hatte.

"Amaterasu schenke Euch mehr Licht und Wärme, um euren Verstand wachsen zu lassen", seufzte Takayama. Sein Ratskollege sah ihn dafür leicht ungehalten an. Auch wenn Takayama der oberste Rat war hieß das nicht, dass die anderen unter ihm standen und somit auch keine Erniedrigungen und Beleidigungen hinzunehmen hatten. Doch bevor es zu einer entsprechenden Äußerung kam sagte Murabayashi:

"Darf ich fragen, ob es dann nicht gelingen mag, das Schwert in einen Geschwindigkeitssteigerungszauber einzuweben, der die Handlungszeit und die Alterung beschleunigt. Dann sind alle von ihm ausgehenden Gedanken so schnell, dass sie von niemandem verstanden werden. Beschleunigungszauber können wir immerhin."

"Das könnte gelingen", sagte Takayama, bevor er sich von seinemKollegen was wegen des fehlenden Verstandes anhören mochte. "Der Zauber kann Bäume innerhalb von Minuten emporwachsenlassen. Wenn zehn Kundige ihn zeitgleich und im Gleichmaß ihrer Worte und Bewegungen wirken, dann kann es gelingen. Wer stimmt mit mir, dass dieser Weg versucht wird?" Hier stimmten alle zu, auch der Rat, der gerade von Takayama beleidigt worden war.

"Gut, so erteile ich dir, Hüter der Gefahren und Schätze, Murabayashi, den Befehl, deine zwölf besten Zauberkundigen üben zu lassen, wie der Zauber der überragenden Geschwindigkeit gebündelt und zu einem Zauber der Blitzesschnelle verstärkt werden kann. Wenn das Schwert niemanden mit seinen ausgesandten Rufen oder Liedern erreichen kann, weil es dafür zu schnell ist, dann kann es gerne seine ganze Kraft darauf setzen, die es woher auch immer bezieht."

"Ich habe Euren Befehl vernommen und bitte demütig darum, in mein zugewiesenes Haus zurückzukehren, um ihn auszuführen", sagte Kohaku Murabayashi. Diese Erlaubnis wurde ihm gewährt.

Innerhalb von nur zwei Minuten war er durch die beiden Silberschränke wieder in seinem Haus. Er rief nach den zwölf besten für Kampfzauber und vereinende Zauberkraft und erklärte ihnen, was der hohe Rat ihm aufgetragen hatte. "Lernt und übt, wie ihr den Zauber der beschleunigten bewegung auf einen Gegenstand oder eine Pflanze legen könnt! Wenn ihr darin gut genug geübt seid, lasst euch mit Schutzgegenständen gegen Willensbeeinflussung und Seelenschwächung ausstatten. Dann werden wir dem Schwert beikommen", sagte Murabayashi. Dem stimmten die zwölf Auserwählten zu. Dann durften sie gehen.

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23.06.2004

Wenn sie nicht mit ihren Blutskindern oder Blutseltern gedankensprechen konnten trafen sich grundsätzlich nur drei von Ihnen an einem Ort, die einander kannten. Dass jeder andere noch zwei weitere Kannte war den jeweils anderen bekannt, wer das war wusste jedoch nur der unmittelbar mit denen bekannte. So hofften sie, die Auswirkungen eines möglichen Verrates möglichst klein zu halten. Sie waren im Grunde genommen eine Gruppe von Rebellen, die gegen ein zunehmendes, theokratisches Angstregime ankämpfen wollten, auch weil es um ihre Existenz als Lebensform überhaupt ging.

In dieser Nacht trafen sich Mondsteiger, ein 200 Jahre alter Vollmondgeborener aus dem Schwarzwald, sowie Nuitnoire, eine 400 Jahre alte, westfranzösische Neumondgeborene und Thanatopteros, ein griechisch-zypriotischer Neumondgeborener von 300 Jahren. Mondsteiger fühlte sich nicht so recht wohl zwischen den beiden wesentlich älteren Neumondgeborenen. Vor allem die irgendwo in der Nähe von Bayonne lebende Nuitnoire strahlte eine Aura aus, die er von auf Beute lauernden Rudeljägern wie Wölfen oder Löwen kannte. Da beruhigte ihn auch nicht, dass der Zypriot ebenso vor ihr zu kuschen schien wie er. Da sie sich darauf geeinigt hatten, eine einheitliche Sprache zu benutzen sprachen sie Englisch, obwohl keiner von ihnen ein englischer Muttersprachler war.

Gemäß der uralten Sitte, dass der oder die Älteste einer Versammlung das erste Wort hatte begann die französische Nachttochter mit dem Grund der Zusammenkunft. "Meine Brüder, nachdem unsere Liga freier Nachtkinder die Ortsangaben der sieben Götzinnentempel erbeuten konnte leben unsere Mitglieder noch gefährlicher als so schon. Nicht nur, dass die Blutgötzin ihre Hescher und Werber ausschickt, um möglichst weitere Anhänger zu erlangen, sind auch die Zaubereiministerien aller Länder nördlich des Äquators hinter uns Nachtkindern her. Außerdem muss irgendwer von uns einer Gruppe von Hexen oder Zauberern verraten haben, wo diese sieben Tempel liegen. Will sagen, auch wir haben mindestens einen Verräter oder eine Verräterin in unseren Reihen, die mit den Rotblütigen verbündet ist, womöglich auf Grund eines mit einer oder einem von denen geschlossenen Blutpaktes. Das einzig gute daran ist, dass die Rotblütler auch erfahren haben, dass es diese sogenannten Tempel der Göttin gibt und wo diese errichtet wurden. Doch wir von der Liga freier Nachtkinder müssen unter allen Umständen vermeiden, dass die Rotblütler auch mehr über uns selbst erfahren. Am Ende wollen die uns noch ein Ultimatum stellen, entweder für sie zu arbeiten oder zu sterben. Das dürfte dann das Ende der Liga sein, falls nicht noch wer von uns an diese Götzinnenbrut berichtet. Deshalb schlage ich für weitere Aktionen vor, dass diese nicht von einer Stelle allein geplant werden, sondern in Teilen von verschiedenen Stellen ausgearbeitet werden und erst unmittelbar vor der Ausführung zusammengebracht werden und dann auch erst die ausführenden Ligamitglieder bestimmt werden. Ich hoffe, ihr habt von euren Dreiergruppen die Erlaubnis, mir dafür zuzustimmen." Die beiden anderen Nachtkinder nickten eifrig. "Gut, dann kann ich das meiner Gruppe weitergeben, die dass dann den jeweiligen Anknüpfungspartnern weitersagen", sagte Nuitnoire. Dann berichtete sie noch, dass es in französischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen offenbar diese Vergrämungsgegenstände gab, die das Blut eines Nachtkindes zum erbeben und zum erhitzen brachten, so dass ein Nachtkind nicht näher als gerade mal einhundert Schritte an eine so gesicherte Einrichtung herankam. "Das geht natürlich nicht grundsätzlich gegen uns, sondern gegen die Sekte der Blutgötzin, weil die meinen, magielose Forscher, die sich auf ihre Weise mit Lebewesen und Blut befassen, für ihre Ziele einspannen können. Offenbar sind viele der Götzinnendiener ehemalige Heilkundige der magielosen, oder diese Götzin selbst kennt deren Tricks, ohne Magie an lebenden Wesen herumzuwerkeln. Da wir aber ebenso Kundschafterinnen und Kundschafter in der magielosen Welt brauchen - ich weiß, Thanatopteros, dass dich das anwidert, seitdem du dich an einer offenbar unter Rauschgifteinwirkung stehenden Urlaubsreisenden gelabt hast - müssen wir uns darauf einstellen, dass die die französischen Rotblütler immer mehr öffentliche Häuser damit absichern. Ja, Mondsteiger?"

"Diese Vergrämungsgegenstände stammen aus den vereinigten Staaten, soweit meine Dreiergruppenmitglieder erfahren haben. Güldenbergs Ministerium will selbst solche sogenannten Vampirblutresonanzkristalle erwerben, was jedoch im Moment wegen einer mir nicht ganz bekannten Lage in den Staaten selbst sehr schwierig ist. Doch eines weiß ich, diese Kristalle sind klein genug, um von einem Rotblütler am Körper getragen zu werden und wehren unsereins damit sicher ab. Das Projekt "Weltruf" wird damit sehr schwierig umzusetzen." Die zwei anderen Nachtkinder verzogen ihre Gesichter und zeigten dabei ihre spitzen Eckzähne.

Das Projekt "Weltruf" war eine von den Gruppenführern der Liga freier Nachtkinder in Treffen wie dem gerade stattfindenden langwierig beschlossenes Vorhaben, möglichst viele Menschen aus allen lebenden Generationen zu Nachtkindern zu machen, um möglichst viele Stellen in der rotblütigen Gesellschaft besetzen zu können. Allerdings sollte die Anwerbung auf Freiwilligkeit fußen, weil nichts einen besser antrieb als die eigene Überzeugung. Doch wenn zumindest in Frankreich und den USA solche Abwehrmittel eingesetzt wurden ging das schon mal nicht so leicht. Da tröstete auch nicht, dass es den Blutgötzinnenanbetern ebenso schwerfiel, neue Mitstreiter zu bekommen.

"Was wissen wir von denen, die die Tempelpläne bekommen haben?" wollte Thanatopteros wissen. Darauf antwortete Nuitnoire, dass sowohl das französische Zaubereiministerium wohl was von einem Stützpunkt unter dem Mont Blanc mitbekommen hatte. Zumindest wurde das so weitergegeben. "Sie werden sich sicher auf die Erstürmung dieses sogenannten Tempels vorbereiten. Doch diese Stützpunkte sind mit mehrfachen Abwehr- und Verbergezaubern gesichert. Das Könnte für die wackeren Handlanger von Boris Charlier eine sehr blutige Nacht werden", erwiderte Nuitnoire. Thanatopteros grinste zurück, dass die auch für seine Heimat Zypern zuständigen Jäger aus Griechenland sicher auch schon Wege suchten, ihm den letzten Lebenstropfen aus dem Leib zu treiben und er deshalb in drei Monaten viermal seinen Ruheplatz hatte wechseln müssen. So verwunderte es keine Anwesenden hier, dass er fragte: "Besteht neben der Kenntnis über die sogenannten Tempel auch eine Möglichkeit, das Geheimnis von deren Schutz vor Sonnenlicht zu erlangen?"

"Seit wann fragt ein Dunkelmondler nach etwas, um im Licht der Sonne herumzulaufen?" feixte Mondsteiger. Der zypriotische Nachtsohn knirschte bedenklich mit den Zähnen und knurrte: "Weil diese Götzinnenbrut das kann und wir nicht."

"Ja, und damit sie es nicht mehr kann, Thanatopteros", griff Nuitnoire wieder in die Unterredung ein, "haben wir alle in den verteilten Dreiergruppen abstimmen lassen und beschlossen, dass sie es bald nicht mehr können. Du erinnerst dich? Projekt "Tagesruhe"."

"Ich erinnere mich daran, dass meine Dreiergruppe und deren Verknüpfungsgruppen dem nicht zugestimmt haben, Nuitnoire", erwiderte der zypriotische Nachtsohn. "Warum sollen wir die Möglichkeit vernichten, uns auch mal am Tag von einem Ort zum anderen zu bewegen? Sowas holt man sich, aber gibt es nicht aus der Hand", schnaubte der Nachtsohn von der Insel Zypern.

"Die Mehrheit hat beschlossen, dass dieses Machtmittel vernichtet werden soll, auch um die Dienerschaft dieser Entität daran zu erinnern, wer und was sie sind und dadurch vielleicht den einen oder die andere aus den geistigen Fängen dieser angeblichen Mutter aller Nachtkinder zu befreien", rechtfertigte Nuitnoire den Beschluss aller anderen. Thanatopteros setzte zu lachen an, da blickte ihn die französische Nachttochter sehr streng an, als wolle sie ein ungebärdiges Kind maßregeln. Der zypriotische Neumondgeborene versuchte, gegen diesen Blick anzukämpfen, erzitterte, dann bebte er. Dann wand er sich und dann krümmte er sich wie unter schmerzhaften Schlägen. Die ältere Nachttochter wirkte dabei völlig unerschüttert und entschlossen. Mondsteiger kannte diese Art von geistigem Zweikampf und war froh, dass nicht er sich den Zorn der älteren Mitstreiterin zugezogen hatte. Endlich ließ Nuitnoire von Thanatopteros ab. Dieser schüttelte sich wie ein nasser Hund. Dann keuchte er laut. Seine Augen flatterten hektisch, als würden sie von einer Folge von Blitzen geblendet. Dann beruhigte er sich soweit, dass er sich wieder aufrichten konnte. "Leg es nie wieder darauf an, Garçon", sagte Nuitnoire sehr bedrohlich klingend. Dann wandte sie sich Mondsteiger zu. Der fürchtete, jetzt auch noch drangsaliert zu werden. Doch die ältere Nachttochter sagte nur: "Soweit meine Verknüpfungspartner über die Strecken zu deiner Gruppe erfuhren kommt ihr an Sprengstoffe und Sprengvorrichtungen der zauberstablosen Rotblütler. Wie schnell kannst du mehrere solcher Vorrichtungen beschaffen?"

"Wenn es nicht eilig ist und nicht auffallen darf in einem ganzen Monddurchlauf, Nuitnoire. Aber wie kriegen wir heraus, wo die Fabriken sind?"

"Das erfährst du dann wohl über den deiner Gruppe nächsten Verknüpfungspartner, der eine Verbindung zu meiner Dreiergruppe hat", sagte Nuitnoire. Thanatopteros schwieg, bis die französische Abgesandte ihn wieder ansah und er erst zusammenzuckte, als brenne ihr Blick sich sofort in sein Gehirn hinein.

"Du sagst deiner Gruppe und deren Verknüpfungspartnern bitte, dass es besser ist, wenn diese Sonnenschutzhäute vernichtet werden! Wir sind die Kinder der Nacht, die in erhabener Dunkelheit lebenden. Diese Tradition gilt es zu wahren.

"Ich werde es meinen Gruppenkameraden weitergeben", seufzte Thanatopteros.

"Es geht doch auch noch um die Pelzwechsler. Ich hörte da sowas, dass die wieder auf dem Kriegspfad sind, um mal diesen Ausdruck aus den Wildwestgeschichten zu gebrauchen", begann Mondsteiger ein anderes Thema.

"Ja, und ihr beide dürft davon ausgehen, dass die Mondanheuler selbst auf der Jagd nach den Sonnenschutzüberzügen sind, auch um diese Götzinnenbrut daran zu hindern, auch bei Tag herumzulaufen. Die beanspruchen das nämlich als ihr natürliches Vorrecht", schnarrte Nuitnoire. Allerdings meinen die jetzt auch, jedes Nachtkind sei Freiwild. Wir müssen also einen Weg finden, uns diese Fellträger vom Leib zu halten."

Mondsteiger nickte und sagte, dass seine direkten Verbindungsleute einen Stützpunkt der sogenannnten Mondbruderschaft gefunden hätten, und zwar im Fichtelgebirge. Er wollte wissen, was sie jetzt machen sollten, ihn einnehmen, ihn vernichten oder ihn bis auf weiteres beobachten. Nuitnoire unt Thanatopteros überlegten kurz. Dann sagten beide: "Wenn die Vollmondanheuler wissen, wo diese Sonnenschutzfabriken sind, dann greifen wir deren Kenntnisse doch einfach ab und nutzen die selbst." Nuitnoire ergänzte: "Besser noch, wir lassen sie in dieser Hinsicht für uns arbeiten und spielen denen falls gegeben weitere Ortsangaben zu."

"Und wir halten die Hände still?" fragte Mondsteiger. "Das soll die Gesamtheit der Liga beschließen. Hmm, über das Gedankensprechen geht sowas wohl innerhalb von zwei Wochen. Aber wenn jemand zu wem anderem hinreisen muss können das auch vier Wochen sein", sagte Nuitnoire. Mondsteiger nickte beipflichtend. Dann schlug er vor, bis dahin auch genug Sprengstoffe und Sprengvorrichtungen zu beschaffen. Dem stimmten die beiden anderen zu. So war es beschlossen, die Sonnenschutzfolienfabriken der Götzinnenanbeter zu finden und zu vernichten oder den Werwölfen dabei zu helfen, diese Fabriken zu vernichten, aber aufzupassen, dass diese ihnen nicht auf den Leib rückten.

Als dieses Thema soweit geklärt war, dass es erst einmal in die langwierige Abstimmungsrunde ging brachte Mondsteiger noch einen Vorschlag in die Dreierrunde ein. Er sagte: "Seit Jahrhunderten bestehen wir Kinder der Nacht neben zahllosen Artverwandten oder durch magische Veränderung betroffenen Artverwandten. Vor allem die fernöstlichen Nachtkinder könnten für uns ebenso interessant sein wie für die Blutgötzin und ihre Handlanger. Wäre es daher nicht sinnvoll, unsere Hand zur Verständigung auszustrecken?"

"Du meinst doch nicht ernsthaft, dass diese chinesischen Hüpfer Artverwandte von uns sind", grummelte Thanatopteros. "Oder schwebt dir ein Zweckbündnis mit diesen abartigen japanischen Kobolden vor, die ihre Köpfe abtrennen und wie kleine Flugkörper durch die Gegend schicken können? Die meinst du doch nicht ehrlich, Mondlichtbader!"

"Erstens, mein Name ist Mondsteiger, Thanatopteros", setzte der deutsche Nachtsohn an. "Zweitens meine ich eben genau diese Wesen aus China und Japan. Dass die chinesischen Nachtkinder sich nur hüpfend voranbewegen können ist eine Fehldeutung der Rotblüter. Wenn die chinesischen Brüder und Schwestern wollen, können sie auch flohgleiche Weitsprünge über mehr als hundert Schritte machen, um Mauern zu überwinden oder vor Angreifern zu flüchten. Ja, und die Nukekubis, die ihre Köpfe von den Körpern lösen können, waren ursprünglich auch mal vom finsteren König erschaffene Nachtkinder, die sich im Lauf der Jahrtausende die Fähigkeit durch enthauptung gestorbener Geister starker Zauberer angeeignet haben. Die können nämlich nicht nur Blut trinken, sondern bei Erreichen eines bestimmten Stärkegrades auch körperlos wandelnde Seelen in sich aufnehmen. Auch deswegen sollten wir uns ihnen zumindest mehr widmen. Aber vielleicht reicht es auch, sich mit den Langhälsen, den Rukorukubis, zu befassen. Wenn die Blutgötzin ihre Jünger weltweit einsetzt und beliebig an einem Ort verschwinden und erscheinen lassen kann, dann steht ihr die ganze Welt offen. Nicht, dass sie diese Wesen als neue Verbündete gewinnt."

"Nein, ist klar, Mondsteiger. Wo diese ostasiatischen Missgeburten auch so viel davon halten, sich mit uns ehrenvollen Nachtkindern zusammenzutun", spöttelte Thanatopteros. Da sagte Nuitnoire:

"Nur weil Nukekubis und Rukorukubis Blut trinken und dafür rotblütigen Menschen in die Hälse beißen sind sie keine reinen Nachkommen aus dem ersten Geschlecht des dunklen Königs. Vielleicht waren sie das. Aber ebenso könntest du verlangen, dass Menschen Affen ehelichen oder behaupten dass Löwen, Krokodile und Riesenschlangen artverwandte sind, nur weil sie dieselben Beutetiere erlegen. Auch wenn dein Ansinnen durchaus nachzuvollziehen ist, Mondsteiger, so würde es nicht viel bringen, es durch die Gruppen der Liga zu vermitteln. Denn um ein Zweckbündnis zu gründen müssten diese ostasiatischen Geschöpfe willens sein, mit uns aus dem achso rückständigen Westen zusammenzuarbeiten."

"Dann sollen wir diese Möglichkeit ungenutzt lassen?" wollte Mondsteiger wissen.

"Was stellst du dir vor, Mondsteiger?" fragte Nuitnoire. "Willst du, dass die japanischen Nukekubis zu uns nach Europa übersiedeln oder das die chinesischen Bluttrinker durch London, Paris oder Berlin hüpfen und sofort von jedem zaubereiministerium als Eindringlinge erkannt und noch schneller erledigt werden?"

"Ich wollte denen nur die Hand zur Verständigung reichen, ihre und unsere Gemeinsamkeiten bekräftigen und darauf hinwirken, dass sie nicht von der Blutgötzin vereinnahmt werden können", sagte Mondsteiger. Thanatopteros grinste verächtlich. Dann sagte er mit einem schnellen Blick auf Nuitnoire: "Nuitnoire hat völlig recht. Diese Geschöpfe sind mit uns so verwandt wie Löwen mit Riesenschlangen oder Haie mit Delphinen, die ja beide Fisch fressen. Auch bilden die sich was auf die lange Geschichte ihrer Ursprungsvölker ein. Vielleicht sind sie auch die Überbleibsel der ersten Fehlversuche des finsteren Königs, der unsere Ureltern erschaffen hat und der noch irgendwo auf der Welt im tiefen Schlaf ruht."

"Er ruht nicht mehr", knurrte Nuitnoire. "Der Schöpfer unserer Art ist von diesem Selbstverstümmeler aus England mit Hilfe dessen Diener, dem Herren der Schlangenkrieger, erweckt worden und hat versucht, sich einen neuen Knecht unter den Kurzlebigen zu verschaffen. Das ist wohl danebengegangen. Und dass ausgerechnet du, Thanatopteros es nicht mitbekommen hast, dass der siebenarmige Schrecken bei euch von jemandem mit großer Zaubermacht getötet wurde und der dunkle König dadurch wohl an Macht verloren hat wundert mich jetzt doch. Die Götzin streut ja sogar das Gerücht, dass sie sich den Geist des Urschöpfers einverleibt haben soll und daher dessen Wissen nutzen kann. Feststeht nur, dass jene Woge unbändiger Kraft, die wir im letzten Jahr erlebt haben, aus der Richtung kam, wo den Überlieferungen nach der Seelenanker des dunklen Königs aufbewahrt wurde."

"Du glaubst die Propaganda der Blutgötzin?" fragte Thanatopteros verwundert.

"Ich halte mich nur an das, was meine Verbindungsleute mir unabhängig voneinander zugetragen haben", sagte Nuitnoire und sah Thanatopteros wieder so an, als wolle sie sein Hirn mit ihrem Blick ausbrennen. Der griechische Nachtsohn wich ihrem Blick aus. Dann fragte Mondsteiger:

Dann darf ich als von euch beschlossen annehmen, dass ihr euren Gruppen und den damit verknüpften Gruppen nicht vorschlagen wollt, uns mit den ostasiatischen Bluttrinkern zu verständigen?"

"Meinerseits besteht kein Grund zur Hoffnung, dass wir ein haltbares und erfolgreiches Zweckbündnis mit diesen Wesen schließen können", sagte Nuitnoire. Thanatopteros sah den vollmondgeborenen Nachtsohn herablassend an und sagte: "Komm wieder, wenn du uns was bieten kannst, was echt Sinn macht." Mondsteiger unterdrückte gerade so noch den Wunsch, dem anderen den Hals umzudrehen. Er nickte nur verdrossen und sagte: "Gut, ich bleibe auf jeden Fall bereit, wenn doch jemand wissen will, ob wir nicht doch mit den ostasiatischen Artverwandten sprechen sollen. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass diese Wesen versuchen könnten, mit uns Kontakt aufzunehmen."

"Das ist so wahrscheinlich, wie dass der Mond auf seiner Bahn stehenbleibt und die Sonne dauerhaft verdeckt", schnarrte Thanatopteros. Nuitnoire sagte dazu gar nichts.

Weil es derzeit nichts weiteres zu besprechen gab beendete Nuitnoire die Unterredung. Sie verabschiedeten sich voneinander und verließen den heimlichen Treffpunkt in den schweizer Alpen wieder.

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Aus der Stimme des Westwinds vom 24.06.2004

RÜCKFORDERUNG VON GEZAHLTEN GOLDBETRÄGEN NIMMT ERSTE ZÜGE AN

Wie bereits am 11. Juni vom zeitweiligen Zaubereiminister Buggles angekündigt besteht für die ungewollt Mutter gewordenen Hexen die Aussicht, die bisher erhaltenen Goldbeträge pro geborenes Kind zurückzahlen zu müssen. Finanzabteilungsleiter Cyrus Picton sagte der Stimme des Westwindes: "Die Goldzahlung an die betreffenden mütter erfolgte unter der Voraussetzung, dass diese von Vita Magica beglichen werde, da nur diese Organisation auf Nachkommenschaft bei Hexen und Zauberern drängt. Da der Vertrag für ungültig erklärt wurde und dies rückwirkend, so sind auch alle bisher erbrachten Leistungen rückwirkend unzulässig. Allerdings räume ich einigen Müttern ein, finanziell ruiniert zu sein, wenn sie die nicht aus eigenem Willen empfangenen und geborenen Kinder ordentlich großziehen möchten. Daher gewähre ich als Finanzabteilungsleiter all denen, die im Monat unter 500 Galleonen zur Verfügung haben, die Einbehaltung der bisher ausbezahlten Goldbeträge. Sie müssen jedoch schriftlich nachweisen, dass sie unter 500 Galleonen im Monat zur Verfügung haben, also auch nicht durch einen Ehepartner finanziell unterstützt werden können. Ja, ich weiß, das klingt für die betroffenen Mütter sehr unfair. Aber Sie wollten ja haben, dass der Friedensvertrag mit Vita Magica vom Zwölferrat überprüft wird und im Falle einer Rechtswidrigkeit vollständig widerrufen wird. So gilt nun wieder der Grundsatz: Das Zaubereiministerium schreibt keiner Hexe und keinem Zauberer vor, ob und wenn ja wie viele Kinder sie oder er haben soll und ist daher nicht verpflichtet, jedes Kind in gleicher Höhe finanziell zu unterstützen."

Picton gewährt jedoch jeder betroffenen Mutter einen Monat Zeit, um die nötigen Nachweise zu erbringen, wobei hierfür die Einkünfte der letzten drei Jahre benannt werden müssen. Das dürfte für viele von ihnen gleichbedeutend mit einer Offenbarung des eigenen Vermögens sein. Picton beruft sich jedoch nicht nur auf den Grundsatz, dass das Zaubereiministerium nicht für die Versorgung von Kindern zuständig ist, sondern auch darauf, dass eine gewisse Gerechtigkeit zwischen den Eltern, die aus eigenem Willen Kinder bekommen und denen, die welche aus Unachtsamkeit oder Unwissenheit Kinder bekommen herrschen muss. Denn, so Picton, von einigen Elternpaaren kamen durchaus ernstzunehmende Klagen, dass den sogenannten VM-Kindern und deren Eltern mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung gewährt würde als den in ehelicher Liebe gewünscht entstandenen Kindern.

Auf die Frage des Westwindes, ob damit den von den Müttern ungewollt empfangenen Kindern noch mehr Hindernisse in den Weg gelegt würden oder nicht verwies Picton an den Leiter der Familienstandsbehörde und die nordamerikanische Sektion der Heilerzunft. Ein Interview mit Heilzunftsprecherin Greensporn ist in Vorbereitung und wird in einer der nächsten Ausgaben erscheinen.

Der Einwand, dass in Frankreich die Absicherung der dort im März und April hinzugekommenen Kinder ministeriell beschlossen worden sei wurde von Picton mit der unterschiedlichen Zuständigkeit abgetan. Er sagte wörtlich: "Wenn der französische Kollege Colbert einen Stall voller Tiere hat, die Gold statt Dung ausscheiden kann er das gerne so machen. Wir haben leider keine solchen Zaubertiere, und die Inder würden uns keine ihrer Silbereier legenden Occamys überlassen, um ausreichend begütert zu sein."

So bleibt für die ungewollt zu Mehrlingsmüttern gewordenen Hexen nur die Wahl zwischen finanzieller Beschränkung oder der vagen Hoffnung, dass Minister Buggles oder dessen Nachfolgerin oder Nachfolger die im Land versteckten Agentinnen und Agenten von Vita Magica aufspürt und deren Vermögen beschlagnahmen lässt oder, was sehr viele ungewollt Vater oder Mutter gewordenen trotz der neuen Entwicklung von sich weisen, der Minister mit Vita Magica einen neuen Vertrag schließt, der die Unterstützung von VM erzwungenen Kinder klar und deutlich vorschreibt und in der nötigen Höhe festlegt.

LLK

25.06.2004

Takeshi Tanaka hörte wieder dieses betörende, ihm Macht und Erfolg versprechende Lied in seinem Geist. Gerade träumte er davon, einem Geschöpf halb Schlange halb Vogel ein großes Trinkfass hinzustellen. Er war wieder jener Zauberer mit dem silbergrauen Stab, von dem er schon drei Tage zuvor geträumt hatte. Er sah mit großer Befridigung zu, wie das fremde Wesen aus dem Fass trank, wankte und dann handlungsunfähig am Boden lag. Er erlebte mit, wie er acht Eier aus scheinbar reinem Silber aus dem Nest des Schlangenvogels oder was auch immer es war stiebitzte. Er wusste sofort, wofür die Eier gebraucht wurden. Denn die Eier dieser als Occamys bezeichneten Wesen hatten Schalen aus reinem, weichen Silber, das sich leicht in andere Formen schmieden und bezaubern ließ.

Um größere Wegstrecken zu überwinden nutzte der Träumende eine durch Zauberstabanheben und Drehung eingeleitete Form der Teleportation, die ihn mal eben von Kyushu nach Honschu oder einer der vielen anderen Inseln des Kaiserreiches brachte. Er benutzte eine Wünschelrutenartige Vorrichtung, um eisenhaltige Steine zu suchen. Warum dieses Erz Sterneneisen hieß wusste Takeshi erst, als er einen großen Brocken davon aus einem mehrere Meter großen Einschlagkrater herausgrub. Diese Steine waren vom Himmel gefallen, Meteoriten.

Ein weiterer Raumsprung brachte ihn in eine klassische Schmiede mit Ambossen, Feuerstellen, Schmelzöfen und Reihen von Hämmern, Zangen, feilen und anderen zur Formung von Metallen wichtigen Werkzeugen. Takeshi Tanaka hatte einmal eine Schmiede besichtigt, wo angeblich oder wahrhaftig Samuraischwerter geschmiedet worden waren. Nun erlebte er, wie genau ein Schmied reines Eisen herstellen, die Silberscherben zertrümmerter Occamyeier verflüssigen und mit dem weißglühenden Eisen zusammenbringen konnte, um eine neue Mischform zu machen, die dann in Gussformen zu erst glühenden und dann die flackernden Flammen widerspiegelnden Quadern wurden. In diesem Traum erlebte Takeshi, wie er, der diesen alten Zauberer verkörperte, verschiedene Mischungen ausprobierte, wie gut sie sich schmieden und wieviel Zauberkraft sie aufnehmen konnten. Als er dann einen silberweißen, spiegelnden Rohling bearbeitete erkannte er, dass diese Abmischung von Occamysilber, aus jeder Himmelsrichtung vom Berg Fuji aus gesammeltem Vulkansteineisen und Sterneneisen die gewünschte Bestform war. So stellte er größere Rohlinge aus diesem Mischmetall her und versuchte mehrere Schmiedetechniken wie Faltung, Formschmieden, Feuerverschweißung oder Biegen, Schleifen und Polieren. So machte er mehrere schmale Klingen und schmiedete die passenden Griffe dazu, fügte diese in heißem Feuer unter Luftabschluss zusammen und wandte erst nach dem Abkühlen und bei weiteren Versuchen bereits während des Abkühlens in Öl oder Wasser verschiedene Zauber der Grundkräfte Feuer, Luft, Wasser oder Erde an. Scheinbar übersprang er dabei immer wieder Zeiträume, denn mal hatte er nur fünf geschmiedete Proben, dann waren es im nächsten Augenblick zehn, und er wusste irgendwie mehr, was er wie machen musste. Am Ende hatte er ein Kurzschwert fertig, das er mit Zaubern des Feuers belegt hatte, wobei er die Bezauberung schon beim Warmschmiedevorgang aufgebracht hatte. Doch irgendwie schien ihm das für das Schwert, dass er für den Kampf gegen den Tengukönig haben wollte, noch nicht das entscheidende zu sein.

Er wollte gerade einen neuen Raumsprung ansetzen, da wachte er auf. Das in seinem Kopf klingende Zauberlied wurde leiser und leiser. Einige Minuten lang lag er so da und dachte an das, was er im Traum erlebt hatte. Er war nicht nur Magier, sondern auch Schmied gewesen und hatte zum Takt dieses so anziehenden Liedes Sachen geschmiedet und mit Zaubern für Feuer, Wasser, Luft oder Erde belegt. Das hatte er wohl machen müssen, um das wahre Schwert zu machen, dass er wohl brauchte, um gegen den Tengukönig Sojobo kämpfen und gewinnen zu können. Er wusste von irgendwoher, dass er dazu noch den Mondlauf in den Rohling einschmieden und diesen nach der Formung in echtem Drachenblut abkühlen sollte. Dann kehrten die Sorgen des Alltages zurück. Sein Vater wusste nun ganz sicher, dass er ab dem ersten August nicht mehr in Hiromitsus Firma arbeiten sollte. Er arbeitete bereits weniger Stunden am Tag und nutzte die Freizeit, am Rechner nach neuen Stellen zu suchen und sich auf ihm passende Stellen zu bewerben. Doch irgendwie, so wusste Takeshi, war das für seinen Vater eine Entwürdigung. Er musste sich anderen anbieten wie Marktware, bereit sein, für weniger zu arbeiten als er bisher verdient hatte. Das hieß, dass sich die Familie auf jeden Fall einschränken musste. Das hieß auch, dass sie wohl alle aus dieser großen Wohnung ausziehen mussten und dass sowohl er als auch seine jüngeren Schwestern naomi und Keiko demnächst weniger Taschengeld und Freizeitmöglichkeiten haben würden. Takeshi wollte sich das nicht vorstellen, wie gefrustet seine beiden Schwestern sein würden, wenn sie nicht mehr so viel Anziehsachen und Kosmetikzeugs kaufen konnten oder für jedes Teil, was eine meinte, unbedingt haben zu müssen, die Eltern um mehr Geld anpumpen musste. Das würde sicher zu einem Wettstreit der zwei führen, wer die bessere Tochter war. Takeshi dachte aber auch daran, dass er dann wohl die Uni vergessen konnte. Denn für die von ihm angepeilte Privathochschule würde dann wohl kein Geld da sein, und die öffentlichen Hochschulen boten nicht den Umfang von Lernmöglichkeiten, den er für eine einträgliche Karriere brauchte. Dann fiel ihm ein, dass er doch auch ein Handwerk lernen konnte, warum nicht das Schmieden? Nein, er wollte mehr erreichen als sein Vater, sich nicht von jemandem abhängig machen, der ihm jederzeit das Leben vermiesen konnte. Er wollte mehr sein als nur ein kleiner Angestellter.

Die bedrückende Stimmung, die seit einigen Tagen herrschte machte sich schon beim Frühstück bemerkbar. Die zwei Mädchen pampten sich gegenseitig an, und Takeshi sah keinen Grund, sich selbst anständiger aufzuführen. Als sein Vater ihn deshalb anherrschte, er möge als großer Bruder und sein Erbe mehr Ehrerbietung ihm gegenüber zeigen sagte Takeshi: "Du hast selbst gesagt, dass du dich von Hiromitsu entehrt fühlst. Also erwarte keine Ehrfurcht von mir, wenn die zwei da nicht mal klarhaben, wie sie miteinander reden sollen."

"Takeshi, entschuldige dich für diese Unerhörte Antwort!" forderte sein Vater laut. "Wieso, was ist denn, wenn nicht? Kürzt du mir das Taschengeld? Musst du demnächst doch sowieso machen. Willst du mich zu Stubenarrest verdonnern? Geht nur nicht, wo noch Schule ist und ich erst um drei wieder zurückkomme. Also was?"

"Junge, wie redest du mit deinem Vater?" zischte ihn seine Mutter Natsu an, während die zwei Mädchen ihr leises Gezänk unterbrachen und zuhörten. "Wie mit einem, der sich nicht gegen einen geldgierigen, willkürlichen Boss durchsetzen kann", erwiderte Takeshi. Stille trat ein. So eine Antwort in so einem aufsässigen Ton waren sie alle nicht von ihm gewohnt. Die Mädchen starrten ihren Bruder verwundert an. Sein Vater sah sehr verärgert aus, während seine Mutter sich offenbar fragte, ob der Junge da am Tisch ihr Sohn oder ein Hilfsarbeitersohn war, der nur so aussah wie ihr Takeshi.

Zehn ganze Sekunden dauerte das Schweigen. Dann sagte Haru Tanaka: "Mag sein, dass ich dir im Moment nicht das Vorbild für ehrenvolles, wichtiges arbeiten bin, Junge. Aber trotzdem bin und bleibe ich dein Vater und erwarte allen Respekt und den gebührenden Gehorsam von dir. Also bitte mich um Verzeihung für deine aufsässigen Reden!"

"Würde ich sie denn bekommen, wenn ich es täte?" fragte Takeshi immer noch ungewohnt aufmüpfig.

"Je länger du damit wartest um so weniger", schnarrte sein Vater. "Dann lassen wir's", versetzte Takeshi ihm einen weiteren sprachlichen Schlag. "Dann sei es, dass du für die nächsten vier Wochen nur die hälfte des Taschengeldes bekommst und was dein Karatetraining angeht deinem Lehrer sagen wirst, dass du die nächsten Vier Wochen nicht hingehen wirst. Er soll mir das bereits bezahlte Geld für die ausfallenden Stunden zurückgeben."

Die zwei Mädchen grinsten schadenfroh. Doch das Grinsen verschwand, als ihr Vater sagte: "Und ich habe nicht überhört, dass ihr euch um etwas nichtiges wie ein Kostüm so sehr gezankt habt, dass ihr eure schwesterliche Anerkennung vergessen habt. Denkt also nicht, dass ich euch deshalb mehr Geld lasse, nur weil euer Bruder seine Pflichten vergessen hat."

"Ey, wir haben dir nichts getan, Vater", widersprach Naomi, während Keiko geknickt dreinschaute.

"Allein schon diese Antwort ist was, wofür du mit weniger auskommen musst als ich dir in meiner Liebe bisher an überflüssigem erlaubt habe", sagte Haru Tanaka. "Außerdem überlasse ich eurer Mutter, ob sie dich und Keiko noch mehr bestrafen soll."

"Ey, nur weil Takeshi gerade so komisch drauf ist uns dafür auch noch zu bestrafen ist unfair", begehrte nun auch Keiko auf. "Ich muss mich doch für das Takabayashi-Fushigi-Treffen klarmachen."

"Wenn du weiterhin so aufsässig redest findet es ohne dich statt", sagte Haru Tanaka. Seine Frau machte eine bejahende Geste. Da war Keiko ganz still. Ihre große Schwester sah sie zwar herausfordernd an, sagte aber keinen Ton. Offenbar dachte sie an ihre eigenen achso wichtigen Sachen, die sie nicht riskieren wollte. Dann sagte Takeshi ganz ruhig und entschlossen:

"Vater, ich nehme deine Strafe an, denn zu entschuldigen habe ich nichts. Doch sage ich dir in allem noch gebotenem Respekt, dass ich dann nicht mehr auf die zwei eitlen Pfauenprinzessinnen da aufpassen werde, sondern nur meine Schularbeiten in meinem Zimmer machen werde. Und was Sensai Tokugawa angeht, Vater, so wird er dir das vorausbezahlte Geld geben, wenn er findet, dass du es nötiger hast als er selbst."

Haru Tanaka stierte seinen Sohn nun ganz verstört an. Doch er beließ es bei der ausgesprochenen Strafe, wohl weil er erkannte, dass Takeshi sich davon nicht beeindrucken ließ. Die zwei Mädchen funkelten ihren Bruder zwar böse an, weil er sie als "eitle pfauenprinzessinnen" bezeichnet hatte, wagten jedoch nicht, was zu sagen, weil sie wohl gemerkt hatten, dass ihre Eltern sie echt mitbestrafen würden. So bat Keiko ihren Vater um Verzeihung, und Naomi sagte keinen Ton mehr.

Der Rest des Morgenmahls verlief in eisigem Schweigen. Nur Takeshi fühlte sich zufrieden. Er hatte endlich einmal gewagt, die ihm aufgebürdete Familienverantwortung zu kritisieren. Dass sie ihm dafür schon jetzt das Taschengeld und die Freizeit kürzten nahm er als nötige Eingewöhnung hin. Besser als bis zur endgültigen Entlassung seines Vaters noch so zu tun, als bliebe alles wie bisher und dann von heute auf morgen in einem winzigen Appartment unterzukommen, wo die Mädchen sich ein Zimmer teilen mussten und er wohl ein Fenster zu einem Hochhaus raus abkriegen mochte, wenn sie überhaupt eine eigene Wohnung kriegten. Er dachte an die Zeilen des Liedes, dass er in seinen Träumen gehört hatte. Er würde seine Möglichkeiten nutzen und alle Stufen erklimmen, die ihn zum Erfolg und zur Macht führen würden. Dann würde es sein Vater sein, der ihm Anerkennung und Ehrerbietung schuldete, und die zwei auf äußerliche Sachen getrimmten Mädchen sollten ihm dann bloß aus dem Weg gehen.

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Ladonna Montefiori lag allein in ihrem Bett in der Villa Girandelli. Ihren Lustknaben Luigi hatte sie mit einem Schlafzauber ruhiggestellt, ebenso wie das restliche Personal. Sie wartete auf die Vollzugsmeldung ihrer französischen Gehilfin Cloto Villefort. Die hatte ihr gestern per Gedankenbrückenverbindung übermittelt, dass Hera Matine eine Vollversammlung aller schweigsamen Schwestern einberufen hatte. Es ging um eine mögliche neue Mitschwester. Ladonna hatte Chlotho befohlen, mit den anderen unterworfenen Mitschwestern Hera und ihre aussichtsreichen Nachfolgerinnen zu töten. Zum einen wusste sie mittlerweile, dass Hera einen besonders hohen Fremdverwandlungswiderstand hatte und daher wohl nicht freiwillig zu einer weiteren Rose in ihrem besonderen Garten werden würde. Zum anderen ging es ihr darum, die miteinander vernetzten Schwestern einzuschüchtern, dass sie sich freiwillig unter Ladonnas Herrschaft begaben. Falls die angeblich neu dazukommende Hexe eine wichtige Rangstellung oder wichtige Kenntnisse hatte sollte diese von Cloto dem Duft der Feuerrose ausgesetzt werden, um für sie zu arbeiten. Dann konnte sie wohl auch nach Italien einreisen. Jedenfalls musste diese Kinderpflückerin aus Millemerveilles aus der Welt verschwinden.

Die Standuhr im Salon der Villa schlug gerade Mitternacht, als Ladonna meinte, Cloto Villefort und mehr als zehn andere französische Untertaninnen in einem grünen Licht erstrahlen und sich dann darin auflösen zu sehen. Sie fühlte Wellen einer Kraft, die sie zurückwies und dann wieder an ihr zerrten und dann immer schwächer wurden. Dann war da nur noch eine lautlose Leere. Wo waren Cloto und die anderen? Sie waren nicht von Feinden oder dem Verratsunterdrückungsbann getötet worden und auch keines natürlichen Todes gestorben. Denn dann hätte Ladonna nur die Gesichter der Betroffenen gesehen und ein letztes geistiges Aufstöhnen und die drei letzten Herzschläge gehört. Nein, sie waren ihr entzogen worden, auf eine ihr bis dahin unvorstellbare Art aus dem von ihr für unbrechbar gehaltenen Bann der Feuerrose gelöst worden. Diese jähe Erkenntnis, dass ihre Macht doch nicht unumstößlich war ließ sowohl Unbehagen wie auch Wut in ihr aufsteigen. Also hatten diese unentschlossenen, viel zu friedlichen Hexenweiber einen Weg gefunden, die treuen Mitschwestern zu befreien, ohne Ladonnas Vergeltung auszulösen. Sie hatte in Frankreich dreißig treue Schwestern in den Reihen der Unentschlossenen gehabt. Die sollten jetzt alle bei dieser Hauptversammlung sein.>

Ladonna rief jede einzelne von ihnen. Doch sie bekam nicht mal den Nachhall einer erfolgreichen Gedankenübermittlung zu hören. Damit hatte sie es nun amtlich, dass sie sämtliche Untertaninnen in Frankreich verloren hatte. Sie wusste jetzt aber auch, dass diese nicht bei Bewusstsein waren oder ihre Identität verloren hatten. Dafür gab es nur eine Erklärung: Die völlige Wiederverjüngung. Diese verfluchte Hebammenhexe hatte ihre Feindinnen in eine Falle gelockt, um sie dazu zu bringen, sie anzugreifen und dann einen längst auf Feindinnen vorbereiteten Zauber zu wirken, der die Gegnerinnen nicht tötete, sondern ihnen ein zweites Leben ermöglichte, frei von aller Schuld und allen magischen oder schriftlich vereinbarten Verpflichtungen.

"Die haben versagt, diese Närrinnen", dachte Ladonna. Dann wurde ihr klar, dass dieses Vorgehen sich sehr schnell unter den anderen ihr noch nicht unterworfenen Hexenschwesternschaften herumsprechen würde. Ja, und diese Widerlinge von Vita Magica benutzten genau diese Taktik doch schon länger, um missliebige Hexen und Zauberer unschädlich zu machen, ohne sie aus der Welt zu schaffen. Ja, ihre Macht war nicht unumstößlich. Das war eine sehr ärgerliche Erkenntnis. Doch sie würde am Ende triumphieren. Schon gehörte ihr Italien. Auch wenn einige ihrer treuen Schwestern in Österreich, Irland und Deutschland für sie gestorben waren und ihre viel zu schönen Verwandten in Frankreich, Bulgarien und Russland auch schon heimliche Helferinnen von ihr enttarnt hatten würde sie bald triumphieren. Ihr Weg war klar und unverrückbar vorgegeben: Sie würde eines Tages über alle Menschen mit und Ohne Magie herrschen und alle menschenförmigen Zauberwesen vor die Wahl stellen, zu dienen oder zu erlöschen. Mit dieser sie ein wenig beruhigenden Aussicht drehte sie sich um und schlief bald ein.

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26.06.2004

Fino umschritt seine Residenz, das Mondlichtungshaus auf einer Insel mitten im Amazonasstrom. Er war froh, dass er immer noch der Anführer war. In einem heftigen Zweikampf hatten er und der Mitbruder Ojonegro unter dem Vollmond im Mai um die Führerschaft gekämpft. Von jeder Seite waren zwanzig Zeuginnen und Zeugen dabei gewesen, als sie in einer aus Steinen errichteten Umfriedung aufeinander losgegangen waren. Fast hätte der muskulöse Ojonegro den auch in Wolfsgestalt dünnen Fino auf den Rücken geworfen und ihm dann wohl die Kehle durchgebissen. Doch Fino hatte den schwereren Gegner mit einer geschickten Hebeltechnik der Beine über sich weggeschleudert und war ihm dann mit einem gezielten Sprung nachgesetzt. Ojonegro hatte noch versucht, sich aus der Rückenlage heraus auf ihn zu stürzen, da hatte Fino ihn schon bei der Kehle. eine volle Minute lang dauerte dieser mörderische Kampf noch, bei dem Fino durchaus noch einmal hätte abgeworfen werden können. Dann war es vorbei. Ojonegro hauchte mit einem letzten rauhen Röcheln sein Leben aus. Als er sich in seine Menschengestalt zurückverwandelte war klar, wer den Kampf gewonnen hatte. Fino hatte daraufhin ein lautes Triumphgeheul ausgestoßen, in das seine Unterstützer eingefallen waren. Die Anhänger des unterlegenen Gegners waren dann mit eingeklemmten Ruten davongetrottet. Gemäß der Regeln des Zweikampfes durfte der Sieger ein Jahr lang nicht mehr herausgefordert werden, und die Anhänger des Unterlegenen hatten mindestens eine Stufe unter ihrer bisherigen Tätigkeit weiterzudienen oder mussten die Bruderschaft und ihren Schutz verlassen.

Manche Wunden des Kampfes ziepten noch. Denn mit Zauberkraft konnten nur natürliche Verletzungen rückstandslos geheilt werden. Bisse von Lykanthropen waren jedoch mit dem dunklen Mondfluch verbunden, der bis zur Erfindung von Wolfsbanntrank und dessen Steigerung, dem Lykonemisis-Trank, ein Dasein als willenlose Bestie bedingte.

Alles in allem war der Zweikampf mit Ojonegro trotz seiner Gefährlichkeit weniger dramatisch verlaufen, als Finos erste und bis jetzt einzige Begegnung mit der Anführerin des Spinnenordens. Ja, manchmal wünschte er sich sogar, er sei tot. Denn die Erinnerungen an die unaussprechliche Behandlung, die sie ihm angetan hatte, quälten ihn und machten ihm so zu schaffen, dass er zwischen Hass und Verzweiflung schwankte, sobald er an dieses blassgoldene Flittchen dachte. Auch hatte dieses Weib ihm jede Lust auf die Berührung einer Frau vergellt, wohl ein für alle mal. Deshalb würde er alles tun, seinen einzigen Sohn Alejandro am Leben zu halten. Der Junge hatte ihm auch die nötige Triebkraft gegeben, den Kampf mit Ojonegro zu gewinnen. Denn hätte Ojonegro gewonnen, hätte er den Kleinen sicher auch noch umgebracht oder ihn schlicht und ergreifend im unendlich erscheinenden Urwald ausgesetzt, wo der Jaguar und andere Raubtiere ihn erledigt hätten.

Ein schnelles Tappen auf dem weichen Boden. Fino wusste, wer da kam. Er drehte sich ruhig um und sah den kleinen Jungen, der mit schnellen, kurzen Schritten auf ihn zulief und die letzten Meter förmlich rannte und sich ihm ans rechte Bein warf. Fino stach es wieder ins Herz, wie die Augen des Jungen seiner toten Mutter ähnelten.

"Papa, will auf Hüpfburg!" quiekte der Junge. Fino sah ihn an und sagte: "Du kannst mit Erica und Rodrigo auf die Hüpfburg. Da muss ich nicht bei sein, oder doch?"

"Will mit dir auf Hüpfburg", bestand der Junge darauf, dass er mit ihm auf dieses große, aufblasbare Teil ging, dass die magielosen Mitstreiter vor einem Jahr hier angeschleppt hatten, um die neuen Kinder zu bespaßen. Fino hatte es sogar noch biss- und reißfest bezaubert und mit Impervius-Zaubern gegen Verschmutzung abgesichert. Jetzt, wo Alejandro einer von sieben weiteren Kindern im Mondlichtungshaus war, wurde dieses mehrere Meter große Spielgerät sehr eifrig und gerne genutzt. Ja, auch manche jungen Elternteile tobten darauf herum. Doch Fino hatte jetzt dafür keine Zeit.

"Alejandro, ich habe gleich eine ganz wichtige Besprechung mit den anderen Großen. Geh bitte alleine mit den Kindern auf die Hüpfburg. Sicher passt Roddys Mama auf, dass euch nichts passiert."

"Will aber mit dir. Bittöö bittöö bittöööö!!!" erwiderte Alejandro zwischen Fordern und Flehen.

"Gut, Papa hat noch eine Stunde. Aber dann musst du ganz lieb sein und nicht mehr rumquengeln oder mir überall hinterherlaufen. Verstanden?" Der Junge machte "Mmhmm", was bei Kindern seines Alters als klares Ja zu verstehen war. Fino atmete durch. Die eine Stunde konnte er seinem wohl einzig bleibenden Sohn gönnen.

Tatsächlich lenkte ihn die Tobestunde mit seinem ziemlich anhänglichen Sohn gut von allem ab, was ihm seit der Abstimmung über die Führerschaft der Mondgeschwister so passiert war und auch dass ihm die McRore-Schwestern in England die Gefolgschaft aufgekündigt hatten. Doch deren Beispiel durfte auf gar keinen Fall Schule machen. Auch wenn er selbst keine Frau mehr anfassen oder gar an sich heranlassen wollte musste er seinen Mitbrüdern die Möglichkeit lassen, Gefährtinnen für zärtliche oder wilde Stunden zu finden. Sicher gab es auch genug Mitschwestern, die ihn als ihren Anführer anerkannten, auch nachdem er so schnell gegen Ojonegro gewonnen hatte. Doch die meisten von denen hatten schon Mondlichtangetraute, und einige von ihnen waren gerade schwanger.

Als Fino Alejandro mit sanftem Nachdruck dazu bekommen hatte, mit den anderen schon laufenden Kindern weiterzuspielen und dabei von Lyra, einer dunkelhaarigen, pummeligen Mitschwester beaufsichtigt zu werden, traf er sich mit den aus allen Weltecken eingetroffenen Mitgliedern des obersten Rates.

"Wir haben uns sehr lange zurückgehalten, obwohl wir doch eigentlich wieder mehr Einsatz zeigen wollten", begann Fino mit der heutigen Ansprache. "Ich hoffe, diese Zurückhaltung zahlt sich demnächst aus.

"Wir haben alle lohnenden Ziele aufgelistet, Fino. Wir können demnächst vier vielversprechende Staatsbeamte aus Mexiko, Chile oder Bolivien angehen, die ihre privaten Burgen haben. Wir brauchen dafür nur mehr von diesen Stromgefrierstöpseln und Unfunksteinchen", sagte León del Fuego. Er legte Fino eine Liste von Namen und Wohnorten vor.

"Dieser Alfonso Figueras interessiert mich", sagte Fino. "Der will bei der nächsten Wahl zum mexikanischen Parlament kandidieren. Tja, vielleicht kandidiert der dann auch für uns."

"Ja, und genau deshalb hat der sich von seinen Gönnern eine Privatarmee aus zwanzig Söldnern mit allem, was Waffen und Spähgeräte angeht absichern lassen. Aber wenn du sagst, dass du den willst, dann kriegen wir das mit der Leibwache auch hin", sagte der rotschopfige León del Fuego.

"Hmm, vielleicht machen wir das genau so, dass wir einen seiner Leibwächter als Türöffner sichern, um uns zu ihm vorzulassen", sagte Fino. "Es sollte auf jeden Fall so unauffällig wie möglich ablaufen, damit keiner gewarnt wird, weder die Magielosen noch die Zaubererwelt."

"Geht in Ordnung", sagte León. "Wir halten den unter Überwachung und kriegen raus, wen von seiner Schutztruppe wir abfischen können." Fino nickte zustimmend.

Nun durfte Mondkralle, ein aus Deutschland stammender Mitbruder, erzählen, was er aus seiner Heimat wusste. Dabei kam raus, dass es wohl gerade nicht zu empfehlen war, irgendwen da zu beißen und in die Bruderschaft reinzuholen. Aber zumindest hätten sie bei Grünau eine alte Fabrik gefunden, die von einem sehr geheimnisvollen Käufer erworben und wieder in Betrieb genommen worden wäre, eine Kunststofffabrik für besondere Folien. "Na klar, diese Sonnenschutzfolien der Blutgötzinnensekte", grummelte Fino. "Aber gut, dann werden wir die beehren, Mondkralle. Was weißt du von unseren Französischen Mitstreitern?"

"Von denen habe ich nichts mehr gehört, seitdem rausgekommen ist, dass wohl ein vom pariser Zaubereiministerium angeheuerter Lykanthrop sich bei denen hat einschleusen lassen und die dann ausgeliefert hat", grummelte Mondkralle.

"Ja, ich weiß, die Engländer, Franzosen und Gringos in Washington haben es hinbekommen, eine Spionagetruppe aus willigen Werwölfen zusammenzustellen, die uns auskundschaften soll. Deshalb haben wir das Projekt Mondstern in New York ja aufgeben müssen, nachdem Puffynose von den Yankees hochgenommen wurde", grummelte Fino.

"Ja, dieser Buggles macht wohl gemeinsame Sache mit denen, die uns das blaue Todeslicht beschert haben", grummelte León del Fuego. "Aber der steht selbst nicht mehr so sicher da, nachdem klar wurde, dass der angebliche magische Vertrag mit diesen Babymachern eine Fälschung ist. Kann sein, dass der bald seinen Spitzhut nehmen darf."

"Ja, um einem noch heftigeren Lykanthropenhasser Platz zu machen", schnaubte Fino. Zu gerne hätte er ein paar anerkannte Börsenmakler und Bankleute in der Wallstraße rekrutiert. Doch diese Agententruppe aus zahnlosen Schoßhunden hatte ihm die Grundlage dafür genommen. Aber er spekulierte schon darauf, demnächst in Japan und Deutschland wen zu installieren, der im Zweifelsfall die achso sehr geliebte Spielerei mit ganz viel Geld durcheinanderbringen konnte.

Wo sie es gerade von Wertschöpfungen hatten erkundigte sich Fino bei seinen Goldbeschaffern, ob sie weitere Mengen unbezaubertes Gold zusammengetragen hatten. "An einige Quellen konnten wir nicht ran, weil jemand da magische Vorwarngegenstände hingepflanzt hat. Buggles' Leute haben es wohl mitbekommen, dass da wer im großen Stil Gold organisiert. Offenbar haben denen auch schon welche von den Eingestaltlern gesteckt, wofür das Gold gebraucht wird", sagte Palón, Leóns Vetter, der Fino noch um anderthalb Köpfe überragte, aber ebenso hager war wie der neue Anführer der Mondbruderschaft.

"Wie viel Gold konntet ihr noch beschaffen?" wollte Fino wissen. "Ach, alles in allem noch eine halbe Tonne. Öhm, meine Frau fragt an, ob nicht Arbeiter in den Goldminen selbst zu unseren Mitbrüdern werden sollen. Die könnten dann mit unserer Hilfe Gold beiseite schaffen, und wir hätten immer eine Quelle.""

"Deine Frau ist die Tochter eines eingestaltlichen Bankmenschen aus den Staaten, richtig?" fragte Fino. Palón nickte bestätigend. "So schlecht ist die Idee nicht", deutete Fino an. "Die ergiebigsten Minen sind in Südafrika, wo keine amerikanischen Schoßhündchen herumlaufen. Ich prüfe das über unseren Kontakt bei Kapstadt, was dort geht", fügte er noch hinzu.

Im Verlauf des Gespräches ging es auch noch um den durch Luneras Weggang und den Abfall vieler Mondschwestern entstandenen Frauenmangel. Auch wenn Fino selbst durch die an ihm begangene Untat der Spinnenhexe keine Frau mehr auf Armreichweite an sich heranlassen würde verstand er, dass dieses Problem gelöst werden musste, um keinen Unfrieden in der Mondbruderschaft zu riskieren. Als Rabioso damals seine eigene Truppe aufgebaut hatte waren da mehr Frauen als Männer drin gewesen. Fino wurde gefragt, ob er keinen Beschluss fassen wolle, dass alle zur Gemeinschaft der Mondgeschwister gehörenden Werwölfinnen grundsätzlich als Gefährtinnen oder zeitweilige Triebabfuhrhelferinnen verpflichtet werden mochten, oder ob es besser war, wenn sich die männlichen Lykanthropen aus den vielen Frauen und Mädchen der eingestaltlichen Welt ihre eigene Partnerin "herausfingen", wie Vaqueros und Cowboys sich ihre eigenen Pferde und Mulis aus einer Herde von Wildtieren fingen. Darauf fragte León del Fuego: "Du meinst, wir sollten es so wie die Blutschlürfer machen, Moonchaser? Hast du es so nötig?"

"Sei du besser ganz ruhig, Rotschopf. Wenn du nicht deine Bocafina hättest würdest du in Wolfsform mit fünf Beinen rumlaufen", knurrte der irischstämmige Mitbruder, der Moonchaser genannt wurde, weil er angeblich so schnell laufen konnte, dass er den Mond vor dem Untergehen einfangen konnte. Natürlich war das maßlos übertrieben. Aber schnell war der Mitbruder schon.

"Ich habe da eine grandiose Idee, Leute. Wenn wir schöne Frauen wollen, die dann auch unsere Babys kriegen und für uns dahingehen, wo fremde Männer erst mal misstrauisch angeglotzt werden, holen wir uns doch aus den Sexclubs der Welt die besten Puppen raus", sagte Mondkralle. Offenbar fühlte er sich bei dem Thema auch sehr stark angesprochen.

"Dann müssen wir das aber so hinkriegen, dass deren Aufpasser nichts davon mitkriegen, dass sich ihre goldene Eier legenden Hühner plötzlich in bissige Wölfinnen verwandelt haben", sagte León. Sein Vetter Palón nickte dazu nur.

"Ja, das ist wohl richtig, León. Vor allem müssen wir das deshalb schon tun, weil die Blutschlürfer garantiert schon auf diesen Einfall gekommen sind", sagte Mondkralle. Fino blieb bei diesem Teil der Unterredung auffallend still. Als er gefragt wurde, was ihn so umtreibe sagte er: "Seitdem Nina sich mit Pata Negra in die Tiefen der Erde hineingestürzt hat steht mir nicht mehr der Sinn nach sowas. Außerdem hörte ich, dass es in Spanien eine von diesen ominösen Abgrundstöchtern ohne Vater geben soll, die ein Bordell betreibt, wo sie zwischendurch selbst mal anschafft, um ihren Hunger nach männlicher Lebenskraft zu stillen wie ein Blutschlürfer. Also sollten wir Spanien besser nicht einmal angucken, wenn ihr euch neue Frauen fangen wollt. Abgesehen davon wollen wir nicht so auffallen wie Rabioso und seine Leute. Wie ihr alle wisst hat es mit denen ein ganz übles Ende genommen.""

"Wissen wir", erwiderte León del Fuego. "Stimmt, irgendwo in Andalusien soll dieses Freudenhaus sein, wo dieses Unweib anschafft. Da lassen wir also die Finger von weg. Aber was ist mit den Mädchenschulen, die achso stark von allen bösen Sachen der Welt abgeschirmt werden. Wenn wir da welche von unseren Mädels reinkriegen könnten die in einer Nacht fünfzig neue Mitschwestern hinkriegen."

"Tja, wenn wir noch einen dieser Elektrorechnerbändiger hätten, die uns die passendenSchulen aussuchen könnten", sagte Fino. "Aber der eine ist im Bauch von Pacha Mama verschwunden und der andere hängt am Rockzipfel einer uns abgesprungenen englischen Putzhexe. Im Moment haben wir keinen, der sich so gut mit diesem Internetzeug auskennt."

"Dann brauchen wir wieder wen", sagte León etwas, dass Fino auch so schon wusste. "Gut, dann setzen wir das noch auf die Liste zu erledigender Sachen", sagte der Anführer der Mondgeschwister. "Das ist auch wichtig, weil wir den Kontakt mit den Tigerleuten nicht ganz einreißen lassen wollen, auch wenn die sich jetzt aus Angst ... zurückgezogen haben oder in Indien und Umgebung bleiben wollen." Eigentlich hatte Fino "Aus angst vor der Spinnenhexe" sagen wollen. Doch da fiel ihm ein, dass sein unbändiger Hass auf diese Hexe auch auf nichts anderem als Angst und grenzenloser Hilflosigkeit beruhte. Das wollte er hier und jetzt nicht wieder besprechen. Denn er wusste, dass einige Anhänger des getöteten Ojonegro nur darauf lauerten, eine Schwachstelle bei ihm zu finden, um ihn im nächsten Jahr so zu provozieren, dass er bei einem neuerlichen Zweikampf nicht mehr so schnell reagieren mochte.

"Gut, ist notiert, dass wir die Anzahl weiblicher Mitglieder steigern und weitere Fachidioten für diesen Elektrorechner da finden sollen", sagte Fino.

Am Schluss der Unterredung teilte er die Gemeinschaftssprecher ein, die besprochenen Vorhaben umzusetzen. Demnächst würden sie einen eigenen Fürsprecher in der mexikanischen Regierung haben und womöglich sogar die ganze Regierung fernsteuern. Das gleiche würden sie dann in ganz Hispanoamerika und womöglich auch in Brasilien und auf den vorgelagerten Inseln machen. Klappte das, konnten sie sogar daran denken, europäische Wirtschaftsunternehmen oder politische Parteien zu infiltrieren.

Fino wollte gerade die Sitzung für beendet erklären, da traf eine Eule für den Mitbruder Campoalto aus Bollogna ein. Der las die wohl sehr eilig notierte Mitteilung. "Oh, das italienische Zaubereiministerium hat unseren Stützpunkt gefunden, wie auch immer. Jedenfalls konnte mein Vetter Rinaldo noch flüchten, bevor die Leute vom Ministerium alle dort festgenommen haben. Kann sein, dass sie sie töten, kann aber auch sein, dass sie sie umdrehen."

"Häh? Umdrehen?" fragte León del Fuego. Mondkralle seufzte nur. Fino erklärte dann, dass damit gemeint sei, einen bis dahin treuen Mitstreiter auf die gegnerische Seite zu ziehen. León erbleichte. Das mochte passieren. So fragte er, ob der Stützpunkt bei Bollogna dann verloren war. "Wir sollten ihn so behandeln", sagte Fino.

"Noch ein Grund mehr, uns langsam mal wieder in der Welt zurückzumelden, wenn auch nicht mit lautem Trara wie Rabioso, aber unverkennbar." Mit diesen Worten beendete Fino die Unterredung seines obersten Rates.

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27.06.2004

Michiko Chikamatsu war froh, dass ihre Dienstherrschaft sie schon um elf Uhr Abends nicht mehr benötigte. Die 60 Jahre alte Haushälterin und direkte Vorgesetzte von fünf eifrigen und verlässlichen Dienstboten genoss die Aussicht aus ihrem Wohn-Schlafzimmerfenster. 200 Meter unter ihr lagen Chiyodas Straßen und Häuser in verschiedenfarbigem Licht. Doch es war nur ein kleiner Teil der bei Nacht bunt und vielfältig leuchtenden Metropole. Wenn sie durch das bis zu ihren Knien herabreichende Panoramafenster blickte konnte sie sowohl den hell erleuchteten Bahnhof Tokio erkennen, wie auch die Grundstücke verschiedener ausländischer Botschaften. Gerne hätte sie auch den Kaiserpalast gesehen, doch der stand außerhalb des Blickfeldes. Doch sie wollte und durfte nicht klagen. Bei den Domotos zu arbeiten war für die zweifache Mutter und vierfache Großmutter eine besondere Ehre. Denn Ichiro Domoto hatte vor zwanzig Jahren ihrer Familie einen sehr großzügigen Kredit gewährt, um die kostspielige Operation ihres damals zehnjährigen Sohnes Taro zu bezahlen. Nun durfte sie dessen Hausstand führen und ihm und seiner Gattin alle Sorgen des Alltages von den Schultern nehmen. Auch durfte sie, wenn das Dienstpersonal mit seinen Aufgaben beschäftigt war, die drei Enkelkinder der Familie mit Märchen und Mythen aus der alten Zeit unterhalten, was der Hausherr gar nicht mal so schlecht fand, weil er selbst von seinen Eltern nur auf westlich orientiertes Bank- und Finanzwesen getrimmt worden war und außer den abenteuerlichen Entwicklungen an der Tokioter Börse nichts wirklich spannendes zu lesen bekommen hatte.

Die Vollmondförmige Deckenlampe glomm ähnlich wie ihr Vorbild, das wegen der Lichterflut und Dunstglocke über der aus 23 größtenteils eigenständigen Bezirken zusammengesetzten Metropole selten zu erkennen war. Michiko Chikamatsu sah noch einmal auf die Nachbildung einer altenglischen Tischuhr. "Wecker für fünf Uhr einschalten!" befahl sie leise. Zur Antwort gblinkten die römische Zwölf und die Fünf auf dem Zifferblatt kurz grün auf.

"Mond aus!" befahl sie der Lampe, als sie sich in ihr schmales Bett legte. Mit einem kaum vernehmlichen Klick erlosch die Deckenlampe.

Sie dachte erst an ein Erdbeben, als es mitten in der Nacht heftig krachte und die zweistöckige Dachgeschosswohnung erzitterte. Sofort sprang die hauseigene Alarmanlage an. Dann polterte etwas schweres in einem merkwürdig gleichbbleibenden Rhythmus über Michikos Kopf herum. Es klang so, als pralle immer wieder etwas shweres, aber auch weiches auf den Parkettboden im großen Esszimmer, wo Domotos Familie mit den erwachsenen Kindern und Enkelkindern zu speisen pflegte. Einen Moment dachte die Haushälterin an Schritte eines Riesens; eines Riesens?!

Jetzt hörte sie von zwei Räumen nebenan eindeutige Schritte von Stiefeln. Das war Foujita, der Chauffeur und Sicherheitsbeauftragte.

Jetzt krachte es über ihr, als würde etwas mit Urgewalt den großen Esstisch umwerfen und die daran abgestellten Stühle umherstoßen. "Wo seid ihr?!!" ertönte ein merkwürdig hohl klingendes Brüllen in tiefer Tonlage. Michiko erschauerte. Das war nie im Leben ein Mensch.

Foujitas Schritte wurden schneller. Dann ertönte ein gellender Aufschrei: "Aaah, was ist das? Ichiroooo!!" Das war Asuka Domoto, ihre Dienstherrin. Damit war es amtlich, dass wer fremdes, wohl auch unheimliches in die auf dem Murahashi-Büroturm errichtete Luxuswohnung eingedrungen sein musste. Michiko wusste, dass sie besser nicht im Weg stehen sollte. Doch sie musste wissen, wer da ungebeten zu ihnen vorgedrungen war. "Uuäää! Was ist das für ein widerliches Ding?!" stieß Frau Domoto aus. "Heh, du, Frau. Wasche mich!" erfolgte jenes unheimliche, hohl und tief klingende Brüllen. Michiko meinte, das Blut müsse ihr gefrieren. Sofort fielen ihr jene alten Geschichten ein, die sie den beiden kleinen Mädchen und dem Jungen erzählt hatte. Da hörte sie auch schon eine Kinderstimme rufen: "Mama, das ist der Ashiarai Yashiki!"

"Richtig, Mädchen, der bin ich. Kommt und wascht mich sauber und rein."

"Raus aus dem Raum, ehrenwerte Herrschaften!" rief Foujita mit befehlsgewohnter Stimme. Dann knallte es dreimal scharf. Hatte der geschossen. "Eeeiiiii! Frevler!" röhrte die unheimliche Stimme von eben. Michiko sprang jetzt doch auf. Sie musste hochlaufen und ein Unglück verhindern. Sie hoffte auch, dass die Alarmanlage bereits die Sicherheitsfirma auf den Plan rief, welche bei Einbrüchen oder Feuer in Aktion trat.

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Ein kleiner Gong begann ohne sichtbaren Anschlag loszutönen, erst einmal, dann in sehr schneller Folge, dass er nicht einmal ausklingen konnte. Der diensthabende Aufseher im Raum der aufrechten Wache sah sofort dort hin, wo der kleine Gong stand. Es war der für den Großraum Tokio eingerichtete Warngong. Auf der magisch erleuchteten Landkarte dieses gebietes breitete sich gerade der Stadtbezirk Chiyoda über die sichtbare Fläche aus. Auf einem Haus, das als Murahashi-Büroturm gekennzeichnet war, blinkte ein rotes Schriftzeichen, das die Anwesenheit eines Yokai vermeldete, der irgendwie durch das Spür- und Sperrnetz der Hauptstadt geschlüpft war. Das war der fall "brennende Stadt", mit dem sie seit einem Jahr immer wieder zu tun hatten.

"Brennende Stadt! Brennende Stadt! Brennende Stadt! - Einsatzruf für Yokaibekämpfungstrupp Kobayashi! Großraum Tokio, Stadtbezirk Chiyoda, nordwestlich des Kaiserpalastes. Yokai in der Stadt. Bekämpfung dringend erforderlich! Wiederhole, Warnruf für Yokaibekämpfungstrupp Kobayashi ..." Als er die Angaben noch einmal wiederholt hatte lehnte sich der Wachhabende zurück. Hoffentlich kamen da nicht gleich noch mehr von den niederen Geister- und Dämonenwesen über Tokio. Er erinnerte sich noch zu gut daran, wie er vor bald zwei Jahren mit anderen Kameraden gegen die von einem menschenfeindlichen Finsterling ersonnene Brut alter Götterdrachen hatte kämpfen müssen. Seit der großen dunklen Kraftwelle im April 2003 kam es immer wieder vor, dass Kappas in Vorstädte eindrangen oder auch Nukekubis ihre ablösbaren Köpfe in dicht besiedelte Wohngegenden schickten. Diese früher so technikscheuen Unwesen fühlten sich bestärkt. So war es eben auch schon häufiger vorgekommen, dass solche Zauberwesen in die großen Städte eingedrungen waren.

"Hier Kobayashi, bin mit vier weiteren Händen unterwegs zum einsatzort", klang die Stimme eines Mannes aus leerer Luft. Nur dreißig Sekunden vom Alarm bis zur Ankunft der Einsatztruppe. Hoffentlich war noch niemand zu Schaden gekommen.

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Meiyo Foujita War seit fünfzehn Jahren der Beschützer der Domoto-Familie. Von seinem Schlafraum aus konnte er in nur zehn Sekunden auf der Wohnetage der Dienstherrschaft sein, wo die um den großen Ess- und Festsaal gruppierten Räume angelegt waren. Die Zeit reichte normalerweise, falls jemand versuchte, sich Zugang zur zweistöckigen Luxuswohnung zu verschaffen. Doch irgendwie musste jemand mit Urgewalt durch das mit vielen schmalen Regenwasserablaufrinnen verzierte Flachdach eingedrungen sein.

Er hörte die Schreie der Hausherrin und das Brüllen einer Stimme, die scheinbar nicht von dieser Welt war, als er die Treppe hinaufstürmte. Dabei fiel ihm schon der üble Geruch auf. Es war so, als würde er den Umkleideraum einer Sporthalle betreten, in dem gerade alle nach einer straffen Übungseinheit ihre Turnschuhe und durchgeschwitzten Socken auszogen. Doch es war so, als lägen diese Socken schon tagelang ungewaschen herum. Jetzt stürmte er in den großen Saal hinein. Er überblickte in einer halben Sekunde die Lage. Die Decke war an einer Stelle zerstört, Betonstaub und gesplittertes Holz von der Täfelung waren verstreut. Die Hausherrin stand im Morgenrock wild zitternd in der Tür zum Schlaftrakt der Familie. Doch das absolut absonderlichste befand sich zwischen den umgestürzten Möbeln. Jetzt wusste er zwar, wo der nun penetrante Gestank wie ranziger Käse herkam, doch wollte er seinen Augen nicht trauen.

Auf dem Boden stand ein mindestens zwei Meter großer, nackter Fuß, jedoch ohne daran anschließendes Bein. Die fünf Zehen ragten lang heraus und endeten in mehr als zehn Zentimeter langen Nägeln. Das völlig fremdartige Gebilde war über und über mit Schlamm und Schleim bedeckt. Da wo eigendlich das Gelenk saß wölbte sich eine Halbkugel. Foujita rief der Hausherrin zu, sich zurückzuhziehen, auch weil er gerade noch die kleine Megumi hinter ihrer Großmutter auftauchen sah. Er sah, wie sie auf den übelriechenden, besudelten Fuß deutete und was von einem Ashiarai Yashiki rief. Das Ding bewegte sich und sprach mit einem nicht sichtbaren Mund und verlangte, gewaschen zu werden. Foujita rief den beiden Schutzbefohlenen zu, den Raum zu verlassen. Dann riss er seine schwere Dienstpistole hoch. Als er sah, dass die beiden seiner Anweisung folgten gab er drei Schüsse auf das Unding ab. Doch die Kugeln prallten wie von Beton ab und schwirrten gefährlich durch die Gegend. Eine schlug in die Wand ein. Eine andere peitschte laut sirrend an seinem Kopf vorbei und landete mit lautem Knacken in der Wandtäfelung. Die dritte Kugel schlug genau auf seinen Brustkorb zurück. Doch weil er gerade in der Nacht auf Wacht war und deshalb eine Schusssichere Weste trug war es ihm nur, als bekäme er einen Hammerschlag auf den rechten Lungenflügel. Dann brüllte ihn diese Ausgeburt des Irrsinns und des Ekels noch an und hieß ihn einen Frevler. Daraufhin hüpfte das abscheuliche Etwas nach oben, schwang dabei nach vorne und krachte voll in den umgestoßenen Tisch. Die dreckstarrenden Fußnägel schnitten laut knirschend in die massive Mahagonyplatte hinein. Doch der Vorstoß des Undings war erst mal gestoppt. "Frevler, dich zertrete ich zu dünnem Brei!" röhrte die unheimliche Stimme, die scheinbar aus dem stinkenden, schmutzigen Riesenfuß kam. Foujita zielte noch einmal auf das unirdische Ungetüm, doch er zielte so, dass er keine der Kugeln abbekommen würde. Er drückte ab. Wieder peitschte ein Schuss durch den Raum und prallte auf den sich nun wieder anhebenden Riesenfuß. Wieder schwirrte das Geschoss als tückischer Querschläger davon und landete krachend in der Decke.

Foujita meinte, gleich nicht mehr atmen zu können, so sehr setzte ihm der üble Geruch zu. Jetzt sah er noch, dass das Unding waagerecht nach oben schnellte, über den Tisch hinwegflog und zielgenau über ihm ankam. Foujita gab sich selbs tnur noch eine Sekunde, bis das abscheuliche Körperteil eines Riesens auf ihn niedersausen und zerquetschen würde.

"Einhalt im Namen von Sonne, Mond und Wind, die deine Herren sind!" rief eine Frauenstimme von hinten. Der gewaltige Fuß ohne restlichen Körper verharrte in der Luft und erbebte. Ein verärgertes Grummeln schien aus diesem ekligen Etwas zu dringen. Foujita erkannte seine Möglichkeit und sprang zur Seite. "Zügel deine Wut, Ashiarai Yashiki!" rief die Frauenstimme, die er jetzt als die von frau Chikamatsu erkannte.

"Der Frevler muss gehen oder sterben", grollte die Stimme des Unheimlichen. "Herr Foujita, bitte verlassen Sie den Raum. Sie können einen Yokai nicht mit Pistolenkugeln verletzen", sagte Frau Chikamatsu mit einer Sicherheit, als sei das alles hier eine völlig alltägliche Angelegenheit. Der Begriff Yokai sagte Foujita was. So hießen die Gespenster und Zaubertiere in der japanischen Märchen- und Sagenwelt. Dann gehörte dieser überlebensgroße Stinkefuß auch dazu. Natürlich tat er das. Denn Megumi hatte diese Schreckgestalt ja auch beim Namen genannt.

"Der Frevler soll gehen oder sterben!" schnarrte die Stimme des Unholdes erneut. Zur Bekräftigung bewegte sich der sich in die Richtung Foujitas. Dieser sah Frau Chikamatsu an, die sich die Nase zuhielt und mit der freien Hand auf die offene Tür zum Treppenaufgang deutete. Doch er durfte seine Herrschaft nicht schutzlos lassen. Da konnte er ja gleich einen Dolch nehmen und sich selbst den Bauch aufschlitzen. Doch als die albtraumhafte Abscheulichkeit wieder genau über ihm verharrte und sogar noch einen Meter nach oben stieg, um mehr Schwung zu nehmen wusste er, dass er hier nichts ausrichten konnte. Er warf sich herum und eilte an der Haushälterin vorbei, die im Gegensatz zu ihm offenbar alles unter Kontrolle zu haben schien. Er hörte noch ein lautes dumpfes Aufstampfen hinter sich. Ein schneller Blick zurück zeigte ihm, dass das fußförmige Ungeheuer keinen Meter hinter ihm aufgesetzt und den Parkettboden eingedrückt hatte. Das war überdeutlich. Er verließ den Saal. Doch er wollte in der Nähe bleiben, um vielleicht doch noch einzugreifen.

"Harre hier aus, reisender und warte auf Linderung deiner Last!" hörte er die näselnde Stimme der Haushälterin antworten.

"Nicht du, Frau, die denen das hier ist, sollen mich waschen!" brüllte die Stimme wieder. Offenbar hatte die gestrenge Frau Chikamatsu, die für die drei Enkel der Herrschaft wie eine dritte Großmutter sein konnte, die Lage nicht ganz so sicher unter Kontrolle.

Foujita überlegte schon, wie man einem Yokai beikommen konnte. Vielleicht ging Feuer. Doch dann würde er die ganze Wohnung abfackeln. Heiliges Wasser, wie es in den Shintotempeln zur rituellen Waschung ausgegeben wurde? Hatten sie gerade nicht im Haus. Sonst hätte die Haushälterin sicher schon was davon mitgebracht.

Unvermittelt knallte und ploppte es in der ganzen Wohnung. Unmittelbar vor ihm stand wie aus dem Nichts ein Mann in einem gelben Gewand mit einer merkwürdigen Kopfbedeckung. Die Vorderseite der Kopfbedeckung zierte eine rote Sonne mit zwanzig Strahlen. Sechs davon endeten in fünffingrigen Händen. In der rechten Hand hielt der so plötzlich aufgetauchte Fremde ... einen Zauberstab? Das wurde doch immer absurder, dachte Foujita. Da sagte der Mann: "Bleiben Sie besser hier stehen!" Als wenn dieser Befehl selbst eine Zauberformel war konnte sich Foujita nicht mehr bewegen, ja nicht mal mehr einen Finger rühren. So konnte er gerade so erkennen, dass der Mann in Gelb in den Esssaal ging, und er war nicht der einzige.

Um die Ecke kam eine Frau, die ebenfalls gelbe Gewänder trug und eine Kopfbedeckung mit rotem Sonnensymbol trug. Sie sah den scheinbar zur Bewegungslosigkeit gebannten Leibwächter und nickte. Dann eilte sie ihrem offenkundigen Kollegen in den Esssaal nach.

"Heh, ihr gehört nicht hierher. Verschwindet von hier!" brüllte die Stimme des fußförmigen Ungetüms. "Nein, du bist es, der gehen wird, Ashiarai Yashiki, übelriechende Ausgeburt einer unvergoltenen Untat!" sprach eine fremde Männerstimme, vielleicht die des Zauberers.

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Die kleine Megumi war mit ihrer Großmutter Mayumi in den mit Teppichboden ausgelegten Flur zu den fünf großen Schlafzimmern zurückgewichen. Sie hielt sich ihre Nase zu. Sie dachte daran, dass Frau Chikamatsu was von diesem Ungeheuer erzählt hatte. Doch sie hatte auch erwähnt, dass es eben nur alte Geschichten und Märchen waren, die sich die Menschen früher erzählt hatten, um zu erklären, warum was unrechtes bestraft wurde und warum Leute früher an Gruselgestalten wie den Rukorukubi oder die verschlagene Fuchsfrau geglaubt hatten. Doch dieses Gespenstermärchen war jetzt echt.

"Tür zu!" zischte Megumis Großmutter. Sie drückte leise die Tür zu, während nebenan das Scheusal mit Herrn Foujita und Frau Chikamatsu beschäftigt war.

"Du kennst dieses Ding?" fragte Megumis Großmutter. "Ich dachte, das wäre nur eine Figur aus einer Gespenstergeschichte", sagte Megumi, die den üblen Geruch von vielen ungewaschenen Füßen immer noch in der Nase hatte.

"Ja, aber hat dir Frau Chikamatsu nicht gesagt, dass das nur Geschichten sind, nur Märchen?"

"Ja, ehrenwerte Großmutter. Das hat sie gesagt. Aber da drinnen ist der Ashiarai Yashiki", flüsterte Megumi. Da hörte sie, wie das Ungeheuer verlangte, dass die, denen diese Wohnung war, es waschen sollten. Megumi und ihre Großmutter schüttelten sich angewidert. Da erschienen auch Megumis Eltern und ihr Großvater, sowie die beiden Geschwister Momiji und Taro. Der Hausherr sagte, dass er gerade die Polizei angerufen und den Alarm bestätigt hatte und wollte gerade zu einem Tadel gegen seine Frau und seine zweite Enkeltochter ansetzen, als aus dem Nichts heraus zwei Männer in gelben Gewändern erschienen. "Keine Angst, wir sind die guten", sagte einer davon, der wohl noch zimlich jung zu sein schien. Sein Begleiter verzog darüber nur das Gesicht. Dann schwangen sie beide echte Zauberstäbe. Da war für Megumi klar, wieso die beiden so plötzlich bei ihnen in der Wohnung sein konnten. Doch dann stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Auch ihren Großeltern, ihren Eltern und den zwei Geschwistern wurde was angehext, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Sie mussten tatenlos zusehen, wie die zwei Fremden durch die Verbindungstür in den Festsaal gingen.

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Sie hatte dieses Wesen noch nie leibhaftig zu sehen bekommen. Sie wusste nur, dass es von dieser Sorte noch fünf Stück gab, alles wegen eines über den Tod hinausreichenden Grolls zur Wiederkehr in dieser Form verfluchte Seelen, die im Leben von reichen Leuten schikaniert und mit Worten und Schmutz besudelt worden waren. Doch als Izanami Kanisaga, die mit der Gruppe um Kobayashi ausgerückt war, den Ashiarai Yashiki zum ersten mal sah und roch wusste sie, dass die bisherigen Geschichten über diese Erscheinungsform nur die halbe Wahrheit waren.

"Ihr verschwindet so wie ihr kamt, damit die, die hier wohnen ihre Schuldigkeit mir gegenüber erfüllen können", brüllte der einzelne Riesenfuß mit einem nichtvorhandenen Mund. Izanami hörte ihren Truppführer sagen: "Nein, Unwürdiger, du verlässt diese Wohnstatt und kehrst nimmer wieder, im Namen von Sonne, Mond und Wind, die deine wahren Herren sind." Dabei richtete er den Zauberstab auf das fußförmige Ungeheuer. Gelbe, silberne und hellblaue Blitze schlugen davon auf den Eindringling über. Dieser erbebte und wandt sich. Doch dann schnellte er nach oben bis unter das Loch in der Decke, zielte mit der mittleren Zehe auf Kobayashi und schwang von oben nach unten durch. In dem Moment entstand vor Kobayashi eine von ihm aus durchsichtige, weißgelbe Lichtwand, der Schutzwall Amaterasus. Mit einem gongartigen Klong prallte der Ashiarai Yashiki gegen diese ddie ganze Raumbreite ausspannende Wand und federte laut jaulend zurück. Doch Izanami sah wohl, dass der Schutzwall flackerte. Diese Abscheulichkeit hatte dem Zauber mehr Kraft entzogen als üblich war. Das sprach auch dafür, dass es mit einer zusätzlichen Kraft erfüllt war. Sonst hätte es sich auch sicher bei der Erwähnung der drei Naturgegebenheiten zurückgezogen, wie es andere Yokai vorher getan hatten.

"Ich zertrete euch zu Brei und Splitterndem Gebein!" jaulte das Ungetüm, nahm noch einmal schwung und stieß gegen die Lichtmauer. Wieder gab es ein lautes Klong. Gleichzeitig hörte Izanami über den wimmernden Alarmton hinweg noch weitere Sirenen von draußen. Irgendwelche Sicherheitsleute kamen, Polizei oder Feuerwehr. Wie konnten die so schnell unterwegs sein?

"Ich fege euch hinweg. Ich trete euch zu Brei und Staub!" schnaubte der noch einmal Schwung nehmende Riesenfuß. Da prallte er gegen eine zweite Lichtwand, die hinter ihm entstanden war. "Öiii!" entfuhr es dem Ungetüm. "Es ist mit einfachen Bannworten nicht zu bezwingen, Takeru!" rief Kobayashi seinem Kameraden zu, der gerade aus dem Schlaftrakt kam und dem Yokai den Rückweg versperrt hatte. "Mich rührt das nicht!" rief das fußförmige Unwesen, sauste waagerecht nach oben und verschwand durch das Loch in der Decke. "Der verschwindet nicht", zischte Izanami. "Der sucht sich einen neuen Eingang."

"Tama, achtung!" rief Kobayashi nach oben. Da prasselte es auch schon. Zwei Kollegen waren nicht den Weg der schnellen Wünsche gegangen, sondern hatten in der Nähe auf einem indischen Flugteppich Stellung bezogen, um im Bedarfsfall von oben her eingreifen zu können. Das war jetzt wohl auch nötig.

Kobayashi löste schnell seinen sowieso schon stark flackernden Schutzwall auf und rannte in den Saal. Beinahe stürzte er über einen der umgeworfenen Stühle. Doch er fing sich und riss den Zauberstab hoch. Er schickte zwei sonnengelbe Lichtkugeln durch das Loch in der Decke, gerade als mit lautem Wutgebrüll etwas großes auf das Dach niedersauste. Mit lautem Zischen prallten die zwei Lichtkugeln auf das niederstürzende Etwas und prellten es aus der Bahn. Laut jaulend und schnaubend stürzte der Ashiarai Yashiki am Dachrand vorbei in die Tiefe. Er zog eine Spur aus schwarzem Qualm hinter sich her.

"Gut, dann wirken Amaterasus Boten auch nicht so gründlich. Ist vielleicht auch gut. Aber wie kriegen wir den jetzt von hier weg, bevor die magielosen Ordnungskräfte hier eintreffen?" schnaubte Kobayashi. Dann sagte er: "Kollegin Kanisaga, sie und der Kollege Fujimori wechseln zum Grund dieses Hauses und versuchen, den Ashiarai Yashiki mit dem Netz vonSonne und Wind zu binden. Nur wenn er gegen seinen Willen und gegen die von ihm aufgewendete Kraft vom Ort bewegt und einen vollen Tag und eine Volle Nacht lang Sonne, Mond und Wind ausgesetzt bleibt weiß er, dass er hier nicht mehr herkommen darf."

"Ich kann den aramäischen Todesfluch", sagte der Kollege, der noch im Schlaftrakt stand. "Unterstehen Sie sich, Einsatztruppler Fujimori!" stieß Kobayashi aus. "Wer einen Ashiarai Yashiki zu töten vermag ruft seine Daseinsgeschwister zum Racheschlag herbei. Nein, er muss am Leben bleiben und den drei Naturgewalten unterworfen sein, um zu verstehen, dass er hier nicht mehr hinkommen darf."

"Was machen wir wegen der Magielosen?" fragte Izanami. Kobayashi tippte sich zur Antwort an das goldene Amulett, dass er an der Brust trug und sagte leise: "Ein Trupp Aufräumer und Erinnerungsumfärber zu meinem Standort. Nichtmagische Ordnungskräfte am Vordringen hindern und Gedächtnisse berichtigen. Hier ist nichts vorgefallen."

Izanami apparierte nun zum Hof hinter dem Haus. Gerade sah sie, wie der fußförmige Yokai mit kerzengerade nach oben weisenden Zehen wieder in die Höhe raste. Offenbar wollte der Yokai wieder in die geräumige Luxuswohnung. Izanami hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich über die Bewohner zu informieren. Sie konnte jetzt nur zusehen, wie ihre beiden Kollegen auf dem Flugteppich dem Riesenfuß die Flugbahn verlegten und in hundertfach geübter Abstimmung ihre Zauberstäbe schwangen. Doch der Yokai ließ sich fallen, kaum dass erste grüne Lichtfäden auf ihn zuschnellten. Er wich dem ihm geltenden Fangnetz aus. Die Kollegen hatten keine Wahl, als mit dem Teppich hinterherzusinken. Das mochte tödlich enden, weil indische Flugteppiche es nicht mochten, wenn sie schneller als die Erdschwerkraft zu Boden getrieben wurden. Doch die Kollegen mussten es riskieren.

Der Riesenfuß ohne Bein und ohne Körper jagte in wilden Schlingerbewegungen nach unten. Izanami erinnerte sich nicht, dass diese Form von Yokai so intelligent war. Sie wusste nur, dass er auf Grund einer unerträglichen andauernden Misshandlung so geworden war. Sie wusste auch nicht, wie dieses Ungetüm seine Umgebung wahrnahm. Denn es besaß keine sichtbaren Augen und Ohren. Doch es sprach ja auch ohne Mund.

Ihr Wichte. Ich zerstampfe euch!" brüllte der herabsausende Yokai hohl und absolut ernstzunehmen. Izanami war versucht, hinter sich zu greifen, wo sie unter ihrem Gewand eine Schwertscheide trug, in der ihre Waffe, das Schwert "Blitz in der Dunkelheit" steckte. Wenn es nicht anders ging wollte sie dem Riesenfuß damit zumindest die viel zu langen Nägel abschneiden. Dann hatte sie eine bessere Idee. Sie wartete, bis der Yokai genau auf den Kollegen Fujimori zielte. "Verschwinde schnell!" rief sie. Fujimori sah nach oben und disapparierte sofort. Mit lautem dumpfem Aufklatschen traf die verschmierte Sohle des zwei Meter langen Riesenfußes den Asphalt. Izanami zielte auf ihn und rief: "Du willst gewaschen werden? Sollst du haben! - Aguamenti Coquenta!"

Die beiden Letzten Worte entfachten einen armdicken Wasserstrahl, der aus dem Zauberstab fauchte und zielgenau den sich gerade auf die neue Feindin ausrichtenden Yokai an der halbkugelförmigen Wölbung an der Oberseite traf. Dampfwolken quollen dort auf, wo der Wasserstrahl sein Ziel traf. Der Ashiarai Yashiki erzitterte und schwankte. Dann wollte er nach oben steigen. Doch der ihm zusetzende Wasserstrahl hielt ihn nieder. Er wimmerte und jaulte, als der ihn bedeckende Schmutz und Schleim immer mehr abgelöst wurde. Es stank wie hundert ungewaschene Füße in einem Badehaus, dachte Izanami. Doch sie hielt den aus ihrem Stab schießenden Wasserstrahl genau auf den vor ihr zurückweichenden Yokai. Er wollte immer weiter von ihr fort. Izanami lief ihm nach. Das Ungeheuer war eigentlich sehr unbeweglich, wenn es seinen innewohnenden Flugzauber nicht nutzen konnte. Noch einmal versuchte es den schnellen Aufstieg. Doch da trafen es gleich zwei ähnliche Strahlen aus Wasser und Dampf direkt von oben. Die Kollegen auf dem Flugteppich hatten Izananis Angriffsart erkannt und übernommen.

"Nein, nicht so, ihr Frevler. Achtung und Ehre sei die Waschung!" jammerte der gepeinigte Riesenfuß. Dann standen noch vier gelbgewandete Zauberer dort und betrachteten den Vorgang.

"Du warst hier nicht erwünscht, und du bist es auch weiterhin nicht. Somit hast du die Ehre und den Frieden derer gestört, denen du ungebeten ins Haus gedrungen bist", sagte Izanami klar und unerbittlich.

"Ihr Verächter alter Sitten. Ihr Frevler meines Seins!" schimpfte der Ashiarai Yashiki. Doch seine Stimme war nicht mehr laut und brüllend, sondern wurde immer heiserer und gequälter. Auch meinte Izanami, dass dort, wo die Schmutz- und Schleimschicht abgespült wurde, große rote Blasen entstanden. Also konnte man ihm mit magisch zum kochen gebrachtem Wasser beikommen, ohne ihn gleich zu töten.

"Erweist dem durch unvergoltene Untat getriebenen die Ehre und Gnade", flehte der Yokai nun, während er immer mehr vom Schmutz und Schleim befreit wurde und dafür sehr unansehnliche Verbrühungen hinnahm.

"Erst sprich die Worte der Unterwerfung unter die Kräfte, die dich und die Deinen leiten und beherrschen!" rief Izanamis Kollege Fujimori. "Ich befehle mein Sein in die Gewalten der Sonne, die den Tag erhellt, des Mondes, dem wandelbaren und des Windes, der nie zu fassen ist und alle acht Grenzen der Welt kennt", jaulte und blubberte der unter drei kochendheiße Wasserstrahlen gesetzte Yokai. Dann löste sich auch der letzte Rest des auf der Oberseite befindlichen Schmutzes von ihm. Mit einem lauten Aufschrei zuckte das fußförmige Zauberwesen zusammen. Izanami dachte "Finis incantato!" Ihr Wasserzauber verebbte schlagartig.

"Schnell einwickeln, bevor er es sich anders überlegt", zischte Izanami, weil der von Dreck befreite, von Verbrühungen übersäte Riesenfuß anstalten machte, nach oben zu hüpfen. Schnell hatten ihn die bereitstehenden Hände Amaterasus in ein engmaschiges grünes Netz, schon eher einem Kokon aus grünem Licht eingesponnen. "Bringt ihn zum hohen Turm der freien Winde!" hörten Izanami und ihre Kollegen alleine die Stimme Kobayashis. Offenbar hatte der von weiter oben das ganze Vorgehen beobachtet. "Kollegin Kanisaga, bitte noch mal in die betroffene Wohnung kommen!"

Izanami gehorchte dem Befehl sofort. Sie apparierte zielgenau vor dem leicht ramponierten Esssaal. Hier waren bereits Aufräumzauberer dabei, den Schaden in der Decke zu reparieren und das beschädigte Parkett wiederherzustellen. Außerdem wurden mit Windzaubern viele Kubikmeter Frischluft in den Raum hineingeblasen, um den Gestank des Yokais auszutreiben. Die Bewohner der Wohnung wurden mit Gedächtniszaubern belegt, dass die Alarmanlage wegen eines örtlichen Erdbebens losgegangen sei. Was die Polizei anging, so waren auch schon Mitglieder der Gilde bei der zuständigen Wache und in der Zentrale der Sicherheitsfirma. Im Vergleich zu dem Vorfall mit den aus einem schwarzmagisch aufgeladenen Gemäldes entstiegenen Götterdrachen war dies hier eine kleine Fingerübung. Die Bewohner der Wohnung würden nichts von ihrem nächtlichen Besucher wissen, und wenn die Behandlung des gefangenen Yokais abgeschlossen war würde er sich hier auch nicht mehr hintrauen.

Izanami erstattete ihrem Truppenführer einen kurzen aber alles wichtige enthaltendenBericht."Gut, dass unser großer Rat in seiner Weißheit beschlossen hat, dass alle Außeneinsatzkräfte von uns auch ein paar westliche Zauber erlernen dürfen. Früher wäre niemand auf die Idee gekommen, einen Ashiarai Yashiki mit magisch erhitztem Wasser beizukommen. Aber Früher ließ sich so ein Yokai, wenn er doch mal auftauchte, mit dem grünen Netz aus Sonne und Wind einfangen und mit vereinten Flugzaubern fortschleppen. Gut, dass diese Geschöpfe nicht den Weg der schnellen Wünsche gehen können."

"Ja, doch unser Aufspürnetz muss engmaschiger und fester werden", sagte Izanami ohne die sonst zu achtende Ehrerbietung dem Truppenführer gegenüber. Dieser überhörte die forsche Art wohl und sagte nur: "Dies wird die Lehre sein, die wir und der hohe Rat aus diesem Vorfall ziehen. Doch weise ich sie darauf hin, Kollegin Kanisaga, dass jede Verstärkung unserer Vorwarnzauber die neuartigen Gerätschaften der magielosen Welt stören könnten. Dies muss wohl bedacht sein, vor allem bei ohne Magie angetriebenen und gelenkten Fluggeräten. Wenn wegen unserer Vorsicht und Wachsamkeit hunderte von Menschen sterben widerspricht es dem Eid, den wir alle haben schwören müssen." Izanami Kanisaga bejahte es, auch wenn sie innerlich daran zu knabbern hatte, wie oft sie schon für eine andere hohe Anführerin das Leben anderer Menschen gefährdet hatte, ja sogar unmittelbar dafür verantwortlich war, dass es da eine Hexe gab, die bedenkenlos Menschen tötete, wenn diese ihren Plänen zuwiderhandelten. Doch damals, wo eine amerikanische Hexe namens Pandora Straton mit ihr darüber gesprochen hatte, dass die Entwicklung der magielosen Welt in die Selbstvernichtung der Menschheit mit und ohne Magie führen würde, hatte sie sich darauf eingelassen, die neueWegführerin mit in die Welt zurückzurufen. Bis heute wusste das niemand von ihren Kameraden. Und sie wusste auch, dass sie es keinen Tag überleben würde, wenn es dem hohen Rat der Hände Amaterasus bekannt würde. Denn auf Eidbruch stand die Entleibung, entweder durch eigene Hand oder durch das Schwert des unmittelbaren Vorgesetzten, um gleichermaßen auch dessen besudelte Ehre reinzuwaschen.

Als alle Schäden Repariert und alle Erinnerungen an den ungebetenen Besucher getilgt und durch neue Erinnerungen ersetzt waren verschwanden die ausgeschickten Einsatztruppler, um in ihren Bereitschaftsräumen ihre Berichte zu schreiben. Darin würde auch stehen, dass nach mehr als hundert Jahren auch wieder ein Ashiarai Yashiki in einer Wohnsiedlung aufgetaucht war. Den geheimen Überlieferungen nach war es einer von sechs. Dann waren die anderen fünf wohl auch noch unterwegs. Aber nun wussten die Hände Amaterasus ja, wie ihnen auch nach der Verstärkung im letzten Jahr beizukommen war. Hoffentlich würden sie dann endgültig in den für menschen unzugänglichen Gebirgsregionen weilen, nur vom Licht des Mondes und dem Wind genährt.

Als Izanami ihren Bericht fertiggeschrieben hatte traf sie sich noch mit dem jungen Takeru, der die Familie Domoto bewacht hatte. Sie sprachen über den Vorfall und kamen dann auch noch auf das Schwert des dunklen Wächters. "Ich gehöre nicht zu jenen, die es bewachen. Doch ich kenne die alten Schriften, demnach es wohl nach einem Träger des Blutes dessen sucht, dem sein Schöpfer entstammte. Doch ob es wirklich so ist ist nur Mutmaßung", sagte Takeru. Izanami fragte dann, was über die Verwandten des dunklen Wächters noch bekannt sei. Darauf erwiderte Takeru: "Die vorausgegangenen Mitstreiter suchten nach lebenden Verwandten des Unseligen. Doch sie wussten ja nicht, wessen Sohn er war. Sicher ist nur, dass er wohl ein Hanyo war, gezeugt von einem Menschen, geboren von einer Yamauba, was auch schon sehr, sehr selten ist."

"Ich erinnere mich, dies auch so erlernt zu haben, als ich ausgebildet wurde", sagte Izanami. "Kann es sein, dass die Seele des dunklen Wächters auch die seines Vaters war? Manchmal verschlingt eine Yamauba im Rausch des Beilagers und ihres Hungers nicht nur das Fleisch eines männlichen Opfers, sondern auch dessen Seele."

"O, dann wäre der dunkle Wächter ein noch mehr von dunklen Mächten getriebener als bisher angenommen", sagte Takeru. Und nun wohnt sein Geist in diesem Schwert", seufzte Takeru noch. Izanami bejahte es. "Dann ist zu hoffen, dass unsere geehrten Mitstreiter einen Weg finden, das Schwert wieder zum schweigen zu bringen."

"Ja, das ist zu hoffen", bekräftigte Izanami Kanisaga.

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Aus der Stimme des Westwindes vom 29.06.2004

HEILERZUNFTSPRECHERIN GREENSPORN WIRFT FINANZABTEILUNGSLEITER PICTON UNTERLASSENE HILFELEISTUNG VOR

Nachdem Finanzabteilungsleiter Cyrus Picton am 23. Juni bekundete, dass alle im Rahmen des rückwirkend rechtswidrig befundenen Vertrages mit Vita Magica ausbezahlten Goldbeträge zurückgefordert werden können bat die Stimme des Westwindes um ein Gespräch mit der Sprecherin der nordamerikanischen Heilerzunft Eileithyia Greensporn. Diese gewährte unserer Reporterin Linda Latierre-Knowles (LKL) ein Interview zum nächsten für sie möglichen Zeitpunkt. Am 28. Juni konnte unsere Reporterin mit der über viele Jahrzehnte erfahrenen Großheilerin sprechen.

Stimme des Westwindes: Erst einmal vielen Dank, dass Sie bei Ihren sehr vielen Terminen noch die Zeit fanden, mit uns zu sprechen.

E. Greensporn: Das war mir ein höchst persönliches Anliegen, zu dem Stellung zu nehmen, was Finanzabteilungsleiter Picton behauptet hat. Schließlich ist einer meiner eigenen Enkelsöhne dazu gezwungen worden, für diese Banditen mehrere neue Kinder auf den Weg zu bringen. Das hat Picton nämlich gerne unterschlagen, dass es sich hier nicht um aus Unbedachtsamkeit oder Abenteuerlust entstandene Kinder handelt, sondern um Verbrechensopfer.

Stimme des Westwindes: Demnach stimmt es nicht, was Finanzabteilungsleiter Picton gesagt hat?

E. Greensporn: Es stimmt schon, dass das Zaubereiministerium keiner Hexe und keinem Zauberer vorschreibt, ob und wenn ja wie viele Kinder zu bekommen sind. Doch Mr. Picton unterschlägt dabei, dass es sich bei den unter Einwirkung einer magischen Mixtur entstandenen Kindern eben nicht um aus Unachtsamkeit oder gar geschlechtlicher Abenteuerlust entstandene Kinder handelt, sondern um Verbrechensopfer.

Stimme des Westwindes: Sie haben das vor einem Jahr auch schon erwähnt, dass es sich hierbei um die Auswirkungen von Vergewaltigungen unter Ausnutzung magischer Mittel handelt, richtig?

E. Greensporn: Ja, das ist richtig. Nur leider hat der Zwölferrat der achso hoch angesehenen Richter unter Führung von Chrysostomos Ironside bei allen diesbezüglichen Anklagen befunden, dass eine Vergewaltigung nur dann vorliegt, wenn es eine klare Abgrenzung zwischen Täter und Opfer gibt und die Verabreichung eines zur hemmungslosen Beischlafhandlung führenden Droge eine zweifache Betäubung der Willensfreiheit ist. Wo aber kein vorsetzlich von einem der beteiligten erzwungener Beischlaf stattfindet, so könnten die betreffenden Hexen sich nicht als alleinige Opfer sehen, ebensowenig wie die ungewollt Vater gewordenen Zauberer die Hexen, mit denen sie geschlechtlich verkehren mussten, als Täterinnen anklagen konnten. Es gebe zwar den Tatbestand der Anstiftung zu einer Vergewaltigung, der sei jedoch nur auf Grundlage nachweislicher Verwendung entsprechender Erzwingungszauber mittels Zauberstab erfüllt. Die Gabe von Liebestränken und anderen entsprechenden Mixturen zählt nicht dazu, so die Herren in den roten Roben.

Stimme des Westwindes: Für den Fall, dass das jetzt einige Leserinnen und Leser als Anklage der Richterschaft missverstehen mögen: Sie bedauern, dass die derzeitige Gesetzeslage eine Opferentschädigung nach den Vergewaltigungsparagraphen unmöglich macht?

E. Greensporn: Zunächst einmal habe ich mich nicht missverständlich ausgedrückt, wenn ich dem Zwölferrat vorhalte, dass er da zu buchstabengetreu urteilte, wo er, also der Zwölferrat, durchaus einen gewissen Auslegungsspielraum hat, ob das, was Vita Magica veranstaltet als reine zeitweilige Betäubung der Willensfreiheit zu werten ist oder als Anstiftung oder Erzwingung eines geschlechtlichen Missbrauchs gewertet und geahndet werden sollte. Das Problem ist nur, dass die Richter selbst wohl zu dem Zeitpunkt davon ausgingen, dass der Vertrag magisch bindend war und dass Chroesus Dime zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Herr seines eigenen Willens war. Leider kann eine einmal vor den Gamot gebrachte Anschuldigung nicht noch einmal vorgebracht werden, wenn darüber bereits ein Urteil gefällt wurde, und sei es ein Freispruch. Ne bis in idem, sagen die Rechtsgelehrten dazu, nicht zweimal für die selbe Tat angeklagt werden.

Stimme des Westwindes: Dennoch bestehen Sie darauf, dass die ungewollt entstandenen Kinder als Verbrechensopfer zu bewerten sind. Wie würden Sie als Heilerin diese Lage dann bewältigen?

E. Greensporn: Nach der Grundlage, was einem Kind und seinen Eltern an körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen widerfährt und dass ein solches Kind Zeit seines Lebens damit belastet ist, durch einen magischen Zwang entstanden zu sein und nicht in ehelicher Liebe und ausdrücklichem Wunsch beider Eltern. Ich bin da mit allen Hebammenhexen weltweit einer Meinung, dass die angeblich so heeren Ziele von Vita Magica, mehr magische Menschen auf diese Welt kommen zu lassen, ein fortgesetztes Verbrechen nicht nur an den ungewollt zu Eltern werdenden Erwachsenen ist, sondern auch an den unter magischem Einfluss entstandenen Kindern. Denn selbst wenn sie kein Zeichen auf der Stirn haben, dass sie auf Betreiben Vita Magicas entstanden, so ist diese unsere Zaubererwelt nicht groß genug, um darin unerkannt und namenlos zu wandeln, wie es den Nichtmagiern in ihren viel zu übervölkerten Städten möglich ist. Damit will ich jetzt nicht VMs Behauptung befürworten, es gebe zu viele nichtmagische Menschen, sondern nur, dass in Großstädten ein unübersichtliches Gedränge vorherrscht, in dem sich einzelne Menschen verlieren können. Aber das ist wohl ein anderes Thema.

Stimme des Westwindes: Gut, wieder zurück zu Pictons Verlautbarung, dass das Ministerium die bereits bezahlten Goldbeträge zurückfordern möchte. Sie finden das nicht richtig. Was würden Sie an Pictons Stelle tun?

E. Greensporn: Erstens, Picton macht sich der unterlassenen Hilfeleistung in sehr vielen Fällen schuldig, wenn er die Opfer dieser mehrfachen Untat im Stich lässt, ja, die ihnen bereits gewährte Unterstützung sogar zurückfordert. Kinder brauchen Kleidung, Essen, Trinken, ein geschütztes Heim und Obdach und auch persönliche Zuwendung von ihren Eltern, die nicht in Gold, Silber und Bronze gemessen werden kann. Wenn Eltern gezwungen werden, noch mehr zu arbeiten, um ihren Kindern zumindest Kleidung und Nahrung zu verschaffen, fällt die persönliche Zuwendung weg. Deshalb brauchen diese Kinder eine gewisse finanzielle Unterstützung, damit die Eltern sich auch Zeit für sie nehmen können. Also fordere ich in meiner Eigenschaft als Sprecherin aller Heilerinnen und Heiler Nordamerikas Finanzabteilungsleiter Picton auf: Verzichten Sie auf die Rückforderung und legen Sie mit Ihren Kollegen aus der Strafverfolgung und Familienstandsabteilung fest, wie viel Gold die Mütter ungewollter Kinder pro Kind erhalten! In Ländern wie Frankreich und Deutschland ist dies schon längst beschlossen und umgesetzt worden, auch wenn es in den betreffenden Ländern keine Gold ausscheidenden oder Eier mit Goldenen oder silbernen Schalen legenden Zaubertiere gibt.

Stimme des Westwindes: Haben Sie keine Angst, dass Ihnen Mr. Picton deshalb Vorwürfe machen oder sie gar vor Gericht bringen mag?

E. Greensporn: Das soll er mal wagen. Denn dann werde ich im Namen aller Heilerinnen und Heiler darlegen, wie viel Gold und Silber er den betreffenden Müttern und Vätern nachzuzahlen hat. Und ich weiß, dass der Gamot oder auch der Zwölferrat dann wohl die bisherigen Fälle neu bewerten wird, nicht als Straftatbestand der Vergewaltigung, sondern der unterlassenen Hilfeleistung seitens des Zaubereiministeriums. Falls dem nicht so sein sollte stimmt etwas mit unserer Rechtsprechung nicht mehr. Doch ich hoffe, dass dies nicht eintritt.

Stimme des Westwindes: Ich erfuhr auch, dass sich vor allem nicht im Einklang mit dem Ministerium sehende Hexen erst recht berufen fühlen könnten, gegen Vita Magica und ihre Helfershelfer vorzugehen. Fürchten Sie, dass die neuerlichen Aussagen von Minister Buggles und Finanzabteilungsleiter Picton diesen Hexen mehr Sympathie und Zulauf bringen könnten?

E. Greensporn: Ja, diese Befürchtung habe ich. Äußerungen solcher Hexen, die sich auf reine Vorherrschaft der Hexen berufen legen nahe, dass Mitglieder von Vita Magica an jedem Ort der Welt mit gezielten Anschlägen rechnen müssen. Die wähnen sich zwar ziemlich sicher, weil sie ihre besonderen Spielsachen haben oder in ihren Vollverkleidungen unerkannt sind. Doch muss ich ernsthaft befürchten, dass Entwicklungen wie die des letzten Jahres zu einem sehr unschönen Konflikt führen können.

Stimme des Westwindes: Dann muss ich Ihnen doch jetzt die Frage stellen, ob sie jemanden aus einem solchen Hexenorden oder einem erkannten Mitglied von Vita Magica heilmagische Hilfe leisten, wenn er oder sie bei Ihnen darum bittet oder entsprechend verwundet ist, dass Sie sie leisten müssen.

E. Greensporn: Die zehn Heilerdirektiven gebieten es mir und jedem anderen approbierten Mitglied der Heilergemeinschaft weltweit, jedem magischen Menschen heilmagische Hilfe zu leisten, egal wer es sei. Allerdings gebieten dieselben Direktiven auch, dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse über eine begangene oder noch geplante Straftat an die entsprechenden Stellen weiterzugeben sind. Hier ist die einzige Ausnahme in der ansonsten geltenden Schweigepflicht der Heilerzunft. Ich würde also jedem helfen, der oder die meine heilmagische Behandlung benötigt. Was ihm oder ihr danach geschieht ist dann Sache des Gerichtes.

Stimme des Westwindes: Dann bedanke ich mich für das Interview und die Zeit, die Sie für uns erübrigt haben.

E. Greensporn: Ich bedanke mich bei Ihnen, Mrs. Latierre-Knowles, dass Sie bereit waren, mir zuzuhören.

LKL

01.07.2004

Takeshi Tanaka fragte sich, was sein Vater damit beweisen wollte, dass er seit der Verhängung der Strafe gegen ihn nicht mehr mit ihm sprach, ja ihn nicht einmal mehr zu beachten schien. Selbst wenn er einer seiner Schwestern auftrug, dem Vater was von ihm auszurichten, antwortete dieser nicht darauf. Auch als ihre gemeinsame Mutter versuchte, für den ungehorsamen Sohn um Milde zu bitten hatte der nur gesagt: "Mein Sohn ist von mir fortgegangen und wird erst wiederkehren, wenn er Demut und Abbitte erlernt hat." Takeshi wusste, dass es anderen Jungen schon an die Substanz gehen würde, vom eigenen Vater derartig nicht beachtet zu werden. Doch er selbst empfand für diese Art nur Verachtung. Je länger diese Nichtbeachtung dauerte, je mehr fühlte sich Takeshi im Recht und je mehr schwand in ihm der Wunsch, für seinen Fehltritt und seinen fortgesetzten Ungehorsam um Verzeihung zu bitten. Wie würde es weitergehen? Würde man ihm den Platz an dem Tisch verwehren, ihm nichts mehr zu essen und zu trinken geben, weil er ja nicht da war? Würde seine Mutter noch eher an der Haltung ihres Mannes zerbrechen als er? Oder würde es sein Vater sein, der reuevoll um Verzeihung für seine überharte Strafe bat? Ja, genau darauf wollte Takeshi hinaus, dass sein Vater bereute, ihn so von oben herab behandelt zu haben, ihn, der fast schon ein Mann war und seinen eigenen Weg suchen und finden musste. Im Schatten eines Vaters zu wandeln, der sich von einer simplen Kündigung derartig aus dem Tritt bringen ließ, war nicht dieser Weg.

Irgendwie wusste Takeshi auch nicht, was er von diesen Träumen halten sollte, die er hatte. Es begann immer damit, dass er dieses wunderschöne Lied mit dem verheißungsvollen Text hörte. Dann fand er sich in dieser Schmiede, um seine eigene Kunst auszuprobieren. Immer mehr erkannte er, dass das Schwert, was er schaffen wollte, nur mit dem Blut eines gewaltigen Drachens gehärtet werden konnte um die Macht zu erhalten, die er ihm geben wollte. Wenn er dann aufwachte und das Zauberlied immer leiser und leiser wurde fühlte er sich einen Moment lang hilflos. Ohne das Lied würde er das alles nicht aushalten. Doch dann erkannte er, dass das Lied nur ein Wegweiser war. Den Weg musste er selbst gehen. Doch wer oder was schickte ihm diese Träume? In einem Manga wäre sicher ein Gott oder ein magisches Wesen für sowas zuständig. Doch welcher Kami oder welche Sagengestalt aus dem japanischen Volksglauben wollte, dass er immer mehr seinen eigenen Weg suchte? Oder war es vielleicht ein Dämon, der ihn dazu verführen wollte, allem zu widersprechen, um sich immer mehr der dunklenSeite der Macht hinzugeben, wie es beim Krieg der Sterne genannt wurde? Falls ja, sollte er vielleicht nicht doch überlegen, mit seinem Vater wieder Frieden zu schließen? Nein! Wenn er jetzt nachgab blieb er nur ein hilfloser Junge, der ohne die Eltern nicht zurechtkam. Doch wenn er in die Welt hinausziehen wollte musste er sein eigener Herr sein, vor allem, wenn er nicht so in einer Abhängigkeit landen wollte wie seine Eltern. Wenn sich einer bei ihm zu entschuldigen hatte war es sein Vater bei ihm. Abgesehen davon gab es doch keine echten Dämonen oder Geister. Das Lied musste er irgendwann früher mal gehört haben, und jetzt war das sein ganz persönlicher Ohrwurm. Vielleicht sollte er mal im Internet nachforschen, ob die Liedzeilen zu einem bestimmtenLied gehörten, dass mindestens so alt wie er selbst war. Er versuchte, alle Textzeilen klar zu erinnern. Doch an einigen Stellen fehlten ihm Wörter, oder er war sich nicht sicher, ob die Reimform stimmte. So blieb ihm im Moment nur, darauf zu hoffen, dass er es in seinen Träumen hörte.

Als er in dieser Nacht des ersten Juli schon um zehn Uhr ins Bett ging träumte er nicht, dieser Zauberer und Schmied zu sein, sondern einer seiner Lieblingshelden aus den Mangas. Er erledigte Monster und gewann die Zuneigung sehr üppig gestalteter Mädchen, und zu all dem lief wie in einer Animeserie Musik. Doch er kam nie dazu, das zu durchdenken. Denn immer wieder wurde seine Kampfkraft gefordert. Einmal musste er gegen eine Risin mit weißgoldenem Schlangenhaar kämpfen, die immer wider Kinder aus einem Dorf lockte und sie dann verschlang. Ein anderes Mal ging es gegen mehrere rote Drachen, die Feuer spien. Jedesmal nutzte er seine Flügel und seine besondere Waffe, ein Blitze schleuderndes Schwert. Besonders bei diesen Ereignissen klang die schnelle Begleitmusik mit ihren beschwingten Trompeten, dem vorantreibenden Schlagzeug und den elektronischen Effekten, wenn er seinem nächsten Gegner gegenüberstand. Dann krachte und kreischte es um ihn herum. Er erschrak so heftig, dass er aus der Luft herabfiel, hinein in lichtlose Leere. Das Krachen und Kreischen verebbte zum regelmäßigen Piepen seines Weckers. Mit wild pochendem Herzen fand sich Takeshi in seinem Bett.

"Aus!" rief er dem sprachgesteuerten Wecker zu. Das Piepen hörte auf. Dass sein eigener Wecker ihn derartig ruppig aus einem Traum riss war ihm bisher nie passiert. Sonst hatte er es immer in der Ferne piepen gehört, bis das Geräusch allein übrig war. Doch alles in allem hatte er viele schöne Sachen geträumt. Dann fiel ihm auf, wie schön er manche Sachen geträumt hatte. "O nicht das wieder", dachte er. Es war ihm bisher nur zweimal passiert, dass sein vom Jungen zum Mann werdender Körper sich angestauter Bedürfnisse entledigt hatte, die nichts mit schon mal gegessenem zu tun hatten. Das letzte mal hatte seine Mutter ihn verdonnert, sein Bettzeug von Hand zu waschen um zu lernen, sich zu beherrschen und vor allem nichts seinen Schwestern zu sagen, da die ihm ja auch nicht verrieten, wie fraulich sie schon waren. Klar wollte seine Mutter haben, dass er sein Samenzeug nur da hintat, wo es neue Kinder entstehen lassen konnte. Doch sicher dachte sie auch an die Liebesnächte mit seinem Vater, die wohl schon länger als zehn Jahre her waren.

Gut, Mama, damit ich mir's nicht auch noch mit dir verderbe zieh ich das Bettzeug gleich ab", dachte Takeshi und handelte auch wie gedacht. Er musste nur zusehen, dass seine Schwestern nicht mitbekamen, was ihm passiert war. Ja, er war kein kleiner Junge mehr. Na und? Irgendwann würde er eine Finden, mit der er auch in echt so herrliches Zeug erleben konnte wie mit dieser Waldamazone, die ihm zur Belohnung für die Rettung ihrer drei kleinen Töchter eine wilde Nacht spendiert hatte.

Er schaffte es tatsächlich, nichts von seinen nächtlichen Erlebnissen auffliegen zu lassen. Seine beiden Schwestern Naomi und Keiko hatten es davon, dass sie wohl mit weniger Geld auskommen mussten. Keiko haderte damit, dass ihre Eltern ihr geraten hatten, das Kostüm der Herrin vom Wunderwald auf Ebay zu versteigern, um das dafür ausgegebene Geld wieder reinzuholen, jetzt, wo sie das Fantreffen durch ganz viel Unterwürfigkeit mitmachen durfte. Naomi zog sie damit auf, dass sie sicher für das Kostüm den doppelten Preis bekommen würde, wenn sie reinschrieb, dass sie sich beim Fantreffen in Fukuoka Sushi darauf gekleckert hatte, weil sie da die Zeichnerin dieser Mangaserie gesehen hatte. Keiko hatte erwidert, dass sie sich nicht bekleckert habe und bot ihrer Schwester an, ihr das Kostüm zu zeigen. Da meinte Takeshi: "Lass das besser bleiben, Keiko. Nachher meint Naomi, ihren Lippenstift draufschmieren zu müssen, um ihren Vorwurf zu beweisen."

"Ey, was soll'n das?" entgegnete Naomi verstimmt. Keiko sah ihn und dann ihre Schwester an und meinte: "Hast recht, Takeshi, könnte der echt einfallen."

"Na toll, danke, großer Bruder", blaffte Naomi. Ihr gemeinsamer Vater sah sie an. Doch dann fiel dem wohl ein, dass er ja was dazu sagen müsste, was Takeshi, der seiner Meinung nach nicht da war, gesagt hatte. Deshalb schwieg er wohl. Dafür sagte Takeshis Mutter: "Mädchen, keinen Zank. Und du, Takeshi, hörst bitte auf, deine Schwestern gegeneinander aufzubringen."

"Och, ich bin doch nicht schuld. Weil wer nicht da ist kann auch niemandn aufhetzen, Mama. Abgesehen davon brauchen die mich nicht um sich zu zanken."

"Junge, du machst uns alle noch unglücklich", seufzte Natsu Tanaka. Takeshi sah in die Runde und fragte laut und eindeutig provokant: "Waren wir alle denn wirklich jemals glücklich?" Stille trat ein. Alle, einschließlich Takeshis Vater sahen ihn an. Die Mädchen wussten nicht, ob und was sie dazu sagen durften. Die Mutter sah besorgt drein, weil sie nicht wirklich mit "ja" antworten konnte, aber auch nicht mit einem klaren "nein" antworten durfte. Denn dann müsste sie ja zugeben, dass alles in den letzten Jahren erlebte und erreichte nicht wirklich glücklich gemacht hatte. Takeshis Vater haderte weiterhin damit, dass er nichts zu einer direkten Wortmeldung seines Sohnes sagen wollte, aber gerade jetzt was sagen müsste. Doch wenn er jetzt sein Schweigen brach mochte Takeshi es als einen Sieg verbuchen, eine weitere Entehrung seines Vaters vielleicht. Deshalb tat er etwas, was er bisher nie getan hatte. Er stand einfach auf und ging mit einem: "Bis heute Abend", durch die Tür hinaus. Takeshi überlegte kurz, ob er ihm noch einen Spruch mitgeben sollte, ließ es aber dann doch bleiben. Das wäre genauso feige gewesen, wie ihm einen Dolch in den Rücken zu stoßen oder ihn von hinten zu erschießen. Mit Ungehorsam, aufsässig und unbändig konnte er leben. Als Feigling wollte er sich dann aber nicht bezeichnen lassen.

Außer den Abschiedsworten des Vaters, der keine zwei Minuten später schon aus dem Haus war, sprach niemand mehr am Tisch. Wieder einmal war die Stimmung verdorben. Doch Takeshi wollte sich nicht darauf festnageln lassen, dass es seine Schuld sein sollte, auch wenn ihn seine Mutter und die beiden Schwestern so anguckten. Doch die Mädchen fürchteten wohl, dass er ihnen noch einen heftigen Spruch aufbraten würde, wenn auch nur eine was gegen ihn sagte. Klar, die wussten beide, dass ab dem ersten August kleinere Reisbällchen angesagt waren. Vielleicht dachten sie auch schon daran, sich demnächst wohl ein Zimmer teilen zu müssen, was für jede der beiden wohl der blanke Horror sein mochte. Takeshi dachte nur daran, dass er im nächsten Schuljahr wohl andere Schulkameraden haben würde, sollten sie umziehen müssen. Doch dann fiel ihm ein, dass sein Vater womöglich schon die nächste Anstellung in Aussicht hatte, und dass er weder dafür umziehen, noch mit weniger Geld als bisher auskommen müsste. Außerdem konnte Takeshis Mutter ja nicht so einfach ihren Beruf aufgeben, solange nicht klar war, dass sie auch anderswo die gleiche Arbeit machen konnte.

Nach dem Frühstück verließen die Tanakas das Haus. Seine Mutter ging zur Bushaltestelle richtung Innenstadt, Takeshi begleitete seine Schwestern noch zur Haltestelle für den Bus zu ihrer Mädchenschule. Naomi hatte darauf spekuliert, nächstes Jahr auf eine höhere Schule mit mehrsprachiger Ausbildung wechseln zu können. Doch davon war im Moment wohl keine Rede. "Wenn ihr aus der Schule kommt ruft mich an, damit ich euch wieder einsammeln kommen kann", sagte Takeshi.

"Langsam kennen wir den Weg nach Hause", sagte Naomi. Keiko nickte. Vor allem wie Naomi die Wörter "nach Hause" ausgesprochen hatte wirkte wohl auf die jüngere Schwester. Takeshi dachte nur daran, dass überall da zu Hause war, wo jemand Freunde und liebende Menschen hatte. Doch wenn es darauf ankam, würde er auch woanders hinziehen, wo er seinen eigenen Weg weitergehen konnte.

"Gut, wenn ihr allein nach Hause wollt und dabei verloren geht sage ich es Mama, dass du, Naomi, langsam selbst Verantwortung für dich übernehmen wolltest. Falls du findest, dass es jetzt schon richtig ist geht alleine nach Hause. Aber wenn du findest, dass du durch die Kirschblütenstraße doch lieber mit einem großen Bruder an deiner Seite gehen willst ruf mich an, wenn ihr wieder hier ankommt! Danke und noch einen erfolgreichen Schultag! Sind ja nicht mehr viele bis zu den Ferien."

"Dir auch einen schönen Tag, großer Bruder", grummelte Naomi. Takeshi nickte ihr und Keiko zu und ging dann in Richtung, wo die Busse in die Richtung seiner Schule fuhren.

Seine Mitschüler, vor allem seine guten Schulfreunde Hiro, Toshi und Ichiro bekamen mit, dass irgendwas mit ihm anders war. Diese frühere Übervorsicht und Ehrerbietung gegenüber den Erwachsenen schien nicht mehr dazusein. Toshi, der eher der Draufgänger war, fragte ihn in der großen Pause einmal: "Haben sich deine Elternjetzt verkracht, weil dein Pa seinen Job nicht mehr behalten kann oder was?"

"Nein, verkracht nicht. Aber mein Vater meint jetzt, den großen Boss in der Familie rauszukehren, weil er selbst auf der Abschussrampe steht und sein Boss schon mit dem Countdown angefangen hat. Weil ich ihm das mal klar gesagt habe, dass das mich nicht mehr beeindruckt und er nicht mehr länger auf meine kindliche Unterwürfigkeit und Jasagerei hoffen kann spricht der mit mir nicht mehr. Also muss ich eben zusehen, wie ich ohne den durchkomme."

"Ui, wann war das denn, dass du, der stets der Familie gehorsame Takeshi Tanaka, deinem Erzeuger widersprochenhast? Den Tag muss ich wohl noch im Kalender ankreuzen", sagte Toshi mit einer Mischung aus Sarkasmus und Anerkennung. Hiro meinte dazu: "Takeshi, das ist aber heftig. Wir dürfen unsere Eltern nicht verachten, weil sie unsere Wurzeln sind." Toshi hatte dafür nur ein verächtliches Grinsen übrig. Ichiro, der wegen seiner genauen Überlegungen wegen "der Philosoph" genannt wurde schwieg einige Sekunden. Dann sagte er: "Die Pubertät erwischt doch irgendwann jeden. Mädchen werden zickig, Jungs aufsässig. Das war so, das ist so und wird's noch in hundert Jahren sein, wenn wir längst nicht mehr da sind."

"Jawohl, Bruder", sagte Toshi. "Also genieße es, solange du noch wächst", sagte er noch. Da meinte Ichiro noch: "Auch ich durfte schon erfahren, wie es sich anfühlt, nicht mehr jedes Wort der Eltern für ein göttliches Gesetz zu halten. Doch wissen meine Eltern auch, dass es ohne mich ein sehr robotisches Leben geworden wäre, was sie dann geführt hätten, nur Arbeit, nur Leistung, nur gehorsames Ausführen von Aufgaben. Kein Spaß, keine neuen Ideen. Vielleicht ist es deinem Vater erst jetzt bewusst, was er bisher erlebt und erreicht hat und was er jetzt verliert. Er wird sich nicht lange Zeit lassen, dich zu bitten, wieder mit ihm zu sprechen." Takeshi hätte seinem Schulfreund fast gesagt, dass das mit seinem Vater schon fast eine Woche dauerte und es nicht danach aussehe, dass es bald endete. Doch das verriet er ihm nicht.

Nachmittags fuhr er wieder mit dem Bus zurück. Unterwegs vibrierte sein Mobiltelefon. Da trotz einer Verhaltensrichtlinie, doch bitte nicht innerhalb von Bussen undBahnen zu telefonieren jeder mit einem Mobiltelefon auch damit hantierte, nahm er das Gespräch an. Es war Keiko: "Naomi hat gesagt, sie will allein nach Hause, wenn sie findet, dass es früh genug ist. Jetzt steh ich hier ohne die rum. Kannst du mich bitte abholen?"

"Ach, hat sie sich mit ihrer Mädchenbande wieder über irgendwelche Superstars und Möchtegernhelden verquatscht? Kein Thema, ich hol dich ab. Bleib bitte an der Haltestelle, bis ich da bin!"

"Is' gut", erwiderte Keikos Stimme. Dann wurde die Verbindung getrennt.

Takeshi traf seine kleine Schwester wie verabredet an der Haltestelle. Zwei ältere Damen waren bei ihr. "Ah, du bist ihr großer Bruder", sagte eine der Frauen. Takeshi fühlte eine freche Antwort in sich aufsteigen. Doch dann besann er sich noch darauf, nicht abfällig zu antworten. Er sagte: "Ja, das ist richtig, die Damen."

"Dann wünsche ich euch beiden einen angenehmen Heimweg", sagte die eine ältere Dame. Die andere machte nur eine zustimmende Geste. Jetzt erkannte Takeshi, dass es zwei Schwestern waren. Dann nahm er Keiko flüchtig in die Arme und ging dann mit ihr nach Hause.

Natürlich war Naomi noch nicht da. Aber auch von den Eltern war noch keiner da. Das war Takeshi recht. Vor allem, dass sich Keiko gleich auf ihr Zimmer zurückzog und da wohl zu den Klängen ihrer aktuellen Lieblingsserie irgendwas machte. Takeshi war schon drauf und dran, sie daran zu erinnern, an die Nachbarn zu denken. Doch dann fiel ihm ein, dass Keiko jetzt doch mal alt genug sein sollte, um zu wissen, wie laut sie Musik hören konnte, ohne wen zu stören. Er selbst wollte in seinem Zimmer im Internet surfen und vielleicht mehr über das besondere Lied herausfinden, dass er vor einigen Tagen zum ersten Mal gehört hatte. Doch als er seinen Rechner hochfuhr und das Passwort eintippte bekam er gleich angezeigt, dass die DSL-Verbindung nicht aufgebaut werden konnte. Der Dsl-Anschluss stand bei seinem Vater im Arbeitszimmer, und das war zu. So konnte er nicht nachprüfen, ob mit dem langen, an der Fußleiste entlanggeführtem Kabel, irgendwas nicht in Ordnung war. Doch jetzt hatte er kein Internet. Sollte er zu Naomi ins Zimmer? Neh, deren Passwort kannte er nicht. Würde er daran herumprobieren konnte es sein, dass ihr Rechner das verpetzte, wenn sie sich auf ihrer eigenenArbeitsoberfläche anmeldete. Es gab so diese ungeschriebenen Gesetze: "Dein Rechner, dein Reich, deine Geheimnisse." Schließlich wollte er ja auch nicht, dass Naomi, Keiko oder seine Eltern auf seinem Rechner herumschnüffeln konnten.

"Dann eben erst mal ohne Internet", grummelte Takeshi und machte seine Hausaufgaben, für die er dann echt seine Schulbücher zu Rate ziehen musste, auch wenn die schon zehn Jahre alt waren. Dabei begleitete ihn das Animegedudel aus dem Zimmer seiner jüngeren Schwester.

Er hörte einen Schlüssel im Schloss. Das konnte unmöglich seine ältere Schwester sein. Denn die hatte keinen Türschlüssel. Dann hörte er die Schritte seines Vaters auf dem Flur. Der hatte es in den letzten Tagen nicht hinbekommen, Takeshi zu begrüßen, und der es nicht für nötig hielt, ihm freudig und eherbietig entgegenzulaufen. Keiko hörte ihn offenbar nicht, weil gerade ihre Lieblingsstelle eines Liedes kam, zu der sie glockenhell mitsang. Das verstimmte wohl ihren Vater. Er lief mit schweren Schritten auf das Zimmer zu und klopfte sehr laut an: "Keiko, bist du denn von allen wilden Kobolden gebissen, so einen ungehörigen Lärm zu machen? Was sollen denn die Nachbarn denken?"

"O, Papa, schon zu Hause?" erwiderte Keiko eher freudig als betroffen. "Ja, deine Musik habe ich schon auf dem Flur zur Wohnung gehört. Wo ist denn deine Schwester?"

"Ach die, die kommt später", sagte Keiko irgendwie beiläufig. "Wie, die kommt später?" herrschte sie ihr Vater an. "Fangt ihr beide jetzt auch schon so an wie Takeshi? Und ich habe gedacht, ihr wäret nicht solch undankbare Kinder, die mit mehr als zehn Jahren meinen, ihren eigenen Kopf gegen jede sich bietende Wand rammen zu müssen."

"Heh, Vater, für die Naomi kann ich nichts. Die Musik mach ich gleich leiser. Das Lied ist ja eh zu Ende. Aber frag Takeshi, was Naomi heute morgen gesagt hat."

"Wen?" fragte ihr Vater. "Okay, dann warten wir alle, bis Naomi wiederkommt, wann immer das ist", sagte Keiko. Die Folge war ein kurzer Aufschrei. "Rede nicht so mit deinem Vater, nicht so abfällig und nicht so undankbar, kleines Mädchen", hörte Takeshi ihn schnauben. Die Wut kochte in ihm hoch. Der schlug die doch nicht etwa oder riss ihr an den Haaren oder sowas? Dann hörte er nur eine Tür zuschlagen und ein ganz leises Wimmern. "Hör auf zu weinen und denke daran, was du mir alles verdankst, verwöhntes Balg", sagte ihr und Takeshis Vater. Dann klangen seine Schritte durch den Flur. Takeshi hörte wohl, dass sein Vater erst zu Naomis Zimmer ging und dann auf dem Flur hin und hertigerte. "Na, fragst du mich oder fragst du mich nicht?" dachte Takeshi. Dann verhielten die Schritte genau vor seiner Tür. Einige bange Sekunden vergingen. Dann klopfte es bei ihm. Takeshi rief: "Herein!"

"Wo ist deine Schwester Naomi?" waren die allerersten Worte, die sein Vater nach fünf Tagen zu ihm sprach. Takeshi stand in Ruhe auf und sah seinen Vater an. "Ach, schön, dass ich auch wieder zu Hause bin, ehrenwerter Vater", spie er ihm entgegen. "Ach ja, und wo Naomi ist weiß ich nicht. Ich habe ihr gesagt, mich anzurufen, wenn sie mit dem Bus von der Schule zurückgefahren ist. Aber nur Keiko war an der Haltestelle. Naomi hat wohl irgendwo noch was zu erledigen und wollte wohl deshalb nicht von mir abgeholt werden. Das ist, was ich weiß."

"Du hast die Verantwortung für beide. Du hast sicherzustellen, dass beide sicher nach Hause finden. Du hättest Keiko fragen müssen, wo Naomi ist. Sie ist erst zwölf. Sie kann nicht unbeaufsichtigt herumlaufen", knurrte Takeshis Vater und näherte sich ihm. "Ich sehe jeden Tag, dass sie das schon ganz gut kann, Vater."

"Du hast nichts dazugelernt und jetzt auch noch jedes Gefühl für Verantwortung verloren", schnaubte Takeshis Vater. Der Junge sagte darauf nur: "Hatte ich das jemals? Hast du mich jemals gefragt, ob ich diese Verantwortung tragen kann? Du hast vorausgesetzt, dass ich das kann, der große Bruder, der auf seine kleineren Schwestern aufpasst, weil es die Familienehre so verlangt. Und du bleibst stehen wo du bist. Ich hab's gehört, dass du Keiko was getan hast. Machst du das mit mir, lernst du, wofür du in den letzten acht Jahren Geld ausgegeben hast."

"Wie bitte?! Mein eigen Fleisch und Blut droht mir? Wenn Großvater Momiji das jetzt miterlebt hätte ..."

"Der ist aber nicht hier, nur wir beide", sagte Takeshi mit einer sehr bedrohlichen Betonung.

"So war meine Mühe in den letzten Tagen umsonst", knurrte Haru Tanaka. "Dich hat der Keim der Ungebärdigkeit befallen, aber offenbar auch deine Schwestern. Aber du warst und bist für die beiden verantwortlich. Wenn Naomi was passiert ist das deine Schuld."

"Hoffe mal besser, dass ihr nichts passiert ist, Vater. Denn dann bist du einer der ersten, die sich Vorwürfe machen müssen, weil du uns in den letzten Tagen so mit deiner trüben Stimmung vergiftet hast", sagte Takeshi. Sein Vater trat noch zwei Schritte vor. "Wage es nicht, die Schuld für dein ungehöriges Betragen und die offenbar ansteckende Aufmüpfigkeit deiner Schwestern auf mich zu schieben. Ich habe euch immer ein sicheres Zuhause gegeben, immer zu Essen auf den Tisch gebracht, ja sogar dann eure Wünsche respektiert, wenn ich wusste, dass sie reiner Unsinn sind. Und jetzt erfahre ich von meinen Kindern nur noch Missachtung, Undankbarkeit und Spott. Du stehst jetzt sofort von deinem bbequemen Stuhl, den ich auch bezahlt habe auf und suchst deine Schwester Naomi. Und wenn du sie findest, dann hol sie da weg, wo immer sie ist und bring sie hierher zurück!"

"Erstens, wenn sie am anderen Ende der Stadt sein sollte bräuchte ich mindestens vier Stunden. Zweitens könnte sie dann schon längst weg sein, wenn ich da ankomme, wo sie jetzt gerade ist. Drittens .. Eh!" Sein Vater trat mehrere Schritte vor, hob die Hand und schlug zu. Doch Takeshi wich dem Schlag aus. Doch anstatt sich klarzuwerden, dass er seinen Sohn fast geschlagen hatte, griff er nach seinem Kragen und bekam ihn zu fassen. Takeshi schnellte von seinem Stuhl hoch. In derselben Bewegung landete er auch einen Handkantenschlag an die Stirn seines eigenen Vaters. Dieser verdrehte die Augen, ließ von ihm ab und kippte nach hinten um. "Ich hatte dich gewarnt", zischte Takeshi. Dann setzte er sich wieder hin. In dem Augenblick klingelte es an der Tür. Takeshi sah seinen bewusstlosen Vater, an dessen Schläfe eine mächtige Beule erblühte. Er ging behutsam um ihn herum und lief dann zur Wohnungstür. Durch den Türspion sah er Naomis Gesicht und machte die Tür auf. "Hi, großer Bruder. Papa ist auch schon da, habe ich mitbekommen. Hat er dich gefragt, wo ich abgeblieben bin?"

"Nicht nur das. Der meinte auch, mich dafür züchtigen zu müssen, weil ich dich so alleine habe rumlaufen lassen", erwiderte Takeshi. "Dabei ist mir wohl ein Karatereflex ausgerutscht."

"Öhöm, du hast unseren Vater doch nicht echt ..." "Sieh ihn dir an!" knurrte Takeshi. Denn ihm wurde gerade klar, dass Naomi seinen Vater und ihn gerade ganz gründlich verschaukelt hatte. Wollte die haben, dass er ausgeschimpft wurde oder einfach nur, dass ihr Vater wieder mit ihm redete?

"Ui, du hast ihn echt ... Jetzt ist es ganz aus zwischen dir und ihm", seufzte Naomi, der Takeshi anzusehen glaubte, dass sie sich an der Sache schuldig fühlte.

"Erst mal muss er wieder aufwachen. Ich habe nicht so heftig zugelangt wie ich konnte. Aber das war schon heftig genug. Ah, er wird wieder wach."

"Papa, wie geht es dir?" fragte Naomi besorgt, als ihr Vater sich stöhnend regte und dann die Hand zur Schläfe führte. Dann öffnete er die Augen und sah seine beiden älteren Kinder an. Beide bedachte er mit einem sehr vorwurfsvollen Blick.

"Wo warst du, Mädchen?" seufzte er.

"Och, ich war mit Maiko und Ishi im Eiscafé zwei Häuserecken weiter, wir haben uns gut unterhalten, vor allem darüber, wie es demnächst mit der Wohnung weitergeht. Ishi meint, ihr Onkel könnte dir vielleicht eine neue Anstellung geben, dann könnten wir alle hierbleiben."

"So, dieses überhebliche Gör, dessen Eltern es immer mit einem Lexus zur Schule kutschieren und wieder abholen? Autsch! mein Kopf", grummelte er. Dann sah er Takeshi an. "Du hast mich doch ernsthaft geschlagen, du undankbarer Schurke. Du hast hinzunehmen, wenn dir wohlgemeinte Züchtigung widerfährt. Sieh zu, dass du mir bis zu den Ferien aus dem Weg bleibst! Und dann sieh zu, dass du einen Ferienjob anfängst, damit du lernst, was es heißt, für sein Essen zu arbeiten und die rechte Demut zu haben für die, die einem Brot und Obdach geben."

"Wenn du mit Demut Demütigung meinst, mein Erzeuger, so glaube ich dir gerne, dass du mir da viele Jahre Erfahrungen voraushast. Und wenn du meinst, mir das Taschengeld auf null runterzukürzen, um eine Art Schmerzensgeld zu kriegen, dann denk bitte daran, dass ich dich davor gewarnt habe, mich anzufassen. Und nein, kein Kind muss sich heute noch hauen oder sonst wie ruppig anfassen lassen, auch nicht in Japan, wo die Ehre und die Hingabe an den höheren Vorgesetzten zu Hause sind. Und wenn ich mir echt einen Job suchen soll, lass bitte erst mal meinen Internetzugang reparieren. Der ist nämlich kaputt."

"Nein, ist er nicht. Ich habe den Stecker aus der Buchse gezogen, damit du dich wieder mehr auf die Familie und deine Rolle hier besinnst und nicht mit allen möglichen virtuellen Gestalten Textnachrichten austauschst. Und das Internet bleibt für dich bis auf weiteres verwehrt."

"Tja, dann kann ich mir keinen Ferienjob suchen und werde wohl am vollgedeckten Tisch verhungern, wo Mutter dabei zusieht", flötete Takeshi, der keinen Moment lang zu überlegen schien, dass er sich gerade Wort für Wort von seinem Vater entfremdete. Dieser sah Naomi an und sagte: "Hast du deinem Bruder gesagt, du willst allein nach Hause gehen, ja oder nein?"

"Ja, habe ich", erwiderte Naomi für Takeshi unerwartet. Er dachte schon, sie würde ihn richtig reinreiten. Aber dann hätte Keiko ja auch mitziehen müssen.

"Ich habe euch dreien damals gesagt, dass ihr nicht jeder für sich in der Stadt herumlaufen sollt. Takeshi ist der ältere von euch. Deshalb habe ich ihm die Verantwortung für euch drei übertragen. Drei Jahre lang schien das auch richtig zu sein. Doch heute erkenne ich, dass ihr drei mich und eure Mutter nicht mehr achtet. Denn sonst hättest du, Naomi, den von mir erteilten Befehl befolgt, dich und deine Schwester Keiko von ihm da abholen zu lassen und der hier hätte euch beide daran erinnern müssen, dass er die Verantwortung für euch beide hat. Draußen in der Stadt laufen nicht nur liebe Menschen herum. Deshalb habe ich Takeshi ja diese Karatestunden bezahlt, die er mir mit größtem Undank wortwörtlich an den Kopf geschlagen hat. Offenbar brauchst du kein Training mehr, Takeshi Tanaka. Aber Geld wirst du brauchen. Denn nur wenn du mir und deiner Mutter was ablieferst wirst du genug zu essen haben. Das ist hiermit verkündet."

"Ach du meine Güte, für einen mittleren Angestellten mit bevorstehender Entlassung redest du jetzt wie ein Fürst oder der Tenno selbst", meinte Takeshi, und Naomi musste unwillkürlich nicken. Ihr beider Vater sah das, und nicht nur der. Auch Keiko, die sich aus ihrem Zimmer herangeschlichen hatte, sah es durch die offene Tür.

"Was ich gesagt habe habe ich gesagt. Und das ist auch das letzte, was du, Takeshi Tanaka, bis nach den Ferien von mir hören wirst. Bring mir anständig verdientes Geld, dann kannst du weiter genug essen!"

"Verstehe, mein Vater. In den Ferien muss ich zusehen, wo ich was zu essen herkriege. Ich verstehe auch, dass du die von dir und mir so schön herbeigeführte Gelegenheit nutzen möchtest, Geld zu sparen. Dann werde ich dir und Mutter auch nicht auf der Tasche liegen. Doch wenn ich als halbes Skelett in die Schule zurückkommen sollte werden die euch fragen, ob ihr noch gut für mich sorgt. Nur, dass du auch weißt, worauf du dich da einlässt. Und das sind dann auch meine vorerst letzten Worte an dich."

"Die Karte, gib mir die Kreditkarte!" grummelte Takeshis Vater und erkannte erst jetzt, dass er sein Versprechen, nichts mehr zu sagen, schon gebrochen hatte. Doch Takeshi ging nicht darauf ein. Er holte seine Kreditkarte hervor und gab sie ihm. Naomi wurde rot und röter. Das hatte sie so wohl nicht gewollt. Auch trauerte sie wohl der Gelegenheit nach, ihren großen Bruder anzupumpen, weil der ja mit der Karte zahlen konnte.

"Aus dem Weg da, weinerliches Balg!" knurrte Haru Tanaka, als er an Keiko vorbei aus dem Zimmer ging.

"War das echt nötig?" wollte Naomi schon fast wie eine Erwachsene wissen. "Frag den das. Mit dir redet er ja gerade so noch", sagte Takeshi. Keiko fragte, was denn jetzt los war. "Nichts, Papa wollte wissen, wie schnell ich beim Karate bin und weiß das jetzt. Deshalb soll ich jetzt selbst Geld verdienen, weil ich dem sonst zu viel esse und zu stark werde", interpretierte Takeshi das gerade geschehene. Keiko verzog nur das Gesicht, während Naomi Takeshis Zimmer verließ. "Und das alles nur für ein Eis mit den Mädels", flüsterte Keiko Takeshi zu. "Hat die dir das gesagt, bevor ich dich abgeholt habe?" wollte Takeshi wissen. Keiko verneinte es. "Wäre auch sehr hinterlistig von euch beiden gewesen, mich derartig hinzuhängen", sagte er. "Merk dir das ganz genau, dass ich mich von keinem hier und auch keinem da draußen verarschen lasse. Sei froh, dass du'n Mädchen bist. Sonst hätte ich dich vielleicht auch schon längst "wohlmeinend" gezüchtigt."

"Ich kann mich auch gut wehren", schnarrte Keiko und zeigte ihre Fingernägel. Takeshi verzog nur das Gesicht. Mehr äußerte er dazu nicht.

Als dann noch die Mutter nach Hause kam und von allen vieren erfuhr, was los war sagte sie erst zu Takeshi: "Junge, du darfst deinen eigenenVater nicht schlagen. Das ist der größte Undank überhaupt. Ich kann ihn sogar verstehen, dass er dir das Taschengeld gestrichen hat und auch das Internet. Junge, sieh bitte zu, dass du wieder vernünftig wirst!" Takeshi wartete erst, bis sie auch Keiko und dann noch Naomi eine kurze Strafpredigt gehalten hatte. Dann sagte er: "Bei allem verbliebenen Respekt, Mama, der größte Undank wäre es, wenn ich dich hauen würde. Immerhin hast du mich neun Monate im Bauch herumgetragen und mich nur unter ganz viel Schmerzen auf die Welt gebracht."

"Ich muss erkennen, dass meine Hoffnungen verfehlt waren, zu denken, dass gleich von anfang an verantwortungsvolle Tätigkeiten dich vor den Frechheiten der Pubertät schützen könnten. Das gleiche gilt auch für dich, Naomi."

"Ist wohl so, Mama", sagte Naomi trotzig. Dann schob sie ab.

Wie angedroht sprachen Vater und Sohn beim Abendessen kein Wort mehr miteinander. Takeshi war es sogar recht. Denn für ihn war jetzt alles gesagt und alles geklärt. Er musste seinen Weg finden, auch und vor allem um nicht zu verhungern.

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Im Haus Tyches Refugium war es neun Uhr Morgens, als Anthelia/Naaneavargia das typische laute Plopp einer apparierendenMitschwester hörte. Da dieses Haus mit umfangreichen Sicherungszaubern belegt war konnte es nur eine solche sein. Über ihren Gedankenhörsinn bekam die höchste Spinnenschwester mit, dass es ihre japanische Mitstreiterin Izanami Kanisaga war. Sie wirkte ein wenig angespannt.

Was führt dich über alle Meere und Erdteile zu mir hin, Schwester Izanami?" fragte Anthelia/Naaneavargia, als sie die ostasiatische Mitkämpferin im großen Kellerraum des Hauses begrüßt und ihr versichert hatte, dass hier kein Fernbeobachtungszauber hinreichte und auch kein von wem immer unwissentlich oder wissentlich mitgetragener Ortungszauber wirkte.

"Drei Dinge, höchste Schwester. Das erste ist, das japanische Zaubereiministerium hat auch erfahren, was in Italien passiert ist und dass dich mehrere der ddabeigewesenen beschrieben haben, mit Schwert und Stab", sagte Izanami so ruhig wie möglich, obwohl die höchste Schwester genau wusste, dass sie sehr angespannt war. Die Führerin des Spinnenordens nickte, sagte aber nichts.

"Zum zweiten wird das Schwert des dunklen Wächters immer stärker. Es scheint wohl ein Ziel gefunden zu haben, auf das es sich nun ausrichtet. Könnte ähnlich sein wie beim Ring Ladonnas oder deinem früheren Medaillon, dass eine dunkle Seele einen neuen Körper sucht." Anthelia nickte wiederum. "Ja, und wegen deines Schwertes, höchste Schwester gibt es wohl gewisse Begehrlichkeiten bei den Händen Amaterasus. Sie hoffen wohl darauf, es dir auf die sanfte oder blutige Weise entwwenden zu können, weil sie es gerne für sich haben, natürlich nur, um es in ihrem Haus der gehüteten Gefahren und Schätze zu verstecken, wie den Stab des dunklen Wächters und sein Schwert", sagte Izanami. Die Führerin des Spinnenordens nickte erneut. Als Izanami nichts mehr sagte und Anthelia auch keinen Gedanken wahrnahm, dass sie noch was sagen wollte antwortete sie:

"Abgesehen davon, dass sie nun entweder wegen des singenden Schwertes oder wegen der Berichte über meinen Auftritt im Schloss von Ladonnas Handlanger prüfen werden, ob der Stab des dunklenWächters noch dort ist, wo er sein soll. Natürlich werden sie ihn da nichtmehr finden, weil du ihn mir vor zehn Jahren gebracht und überlassen hast. Das hat den Geist dieses Halbmenschen sichtlich verängstigt, dass ich einen altdruidischen Austreibungszauber kannte, der in Verbindung mit dem Medaillon Dairons seinen Halt im Stab auslöschte und ihn dort hinaustrieb, worauf sich sein kümmerlicher Rest in alle Richtungen verteilte. Nicht mal der Fluch der Daggers-Villa konnte dieses winzige Stück einer Seele festhalten oder befand es nicht für würdig, auf unbestimmte Zeit dort zu spuken."

"Wohl eher, weil der Fluch deines ersten Hauses wohl nur die im Haus festhielt, die dort aus ihren lebenden Körpern entrissen wurden", vermutete Izanami. Anthelia nickte und sagte, dass es wohl genau so gewesen war. "Aber was wichtiger ist, Izanami, können Sie dir nach zehn Jahren noch auf die Spur kommen, und wenn ja, wie kann ich dir helfen, von ihnen nicht getötet zu werden?"

"Zum ersten: Ich habe damals die Gestalt und die Losungsworte eines jungen Wächters namens Isamu Kazeyama im besagten Haus der Bewahrung gefährlicher Dinge angenommen und von Pandora, möge sie in hellen Gefilden ruhen, einige Verhüllungszauber erlernt, um meine wahre Person und Gesinnung zu verbergen. Zwar sind die Schutzzauber in diesem Sicherheitshaus sehr stark. Doch sie konnten meine Tarnung nicht enthüllen. Der Vielsaft-Trank ist den Händen Amaterasus bis heute nicht bekannt. So konnte ich den Zauberstab nehmen und dem Schrank, in dem er lag, sogar vorgaukeln, er sei an diesem Tag nicht geöffnet worden. Der Mitstreiter Isamu Kazeyama bekam von mir eine Gedächtniskorrektur, dass er an diesem Tag im Haus war, aber dort nur seinen Patrouillendienst verrichtet hat. Ein merkwürdiges Schicksal wollte es dann, dass er ein paar Jahre später zu den handelnden Händen wechselte, weil ihm der Dienst als Schatzhüter zu eintönig war und er wegen seiner Ausbildung besser für die Außenarbeit geeignet war. Tja, und dann hat dieser Pickman seine gemalten Dämonen und Ungeheuer auf die Welt losgelassen, und Isamu Kazeyama wurde von einem der aus einem dieser Bilder entschlüpften Götterdrachenjungen bei lebendigem Leibe aufgefressen. Wenn sie also noch eine Spur zu mir finden wollen, dann nur über mich selbst. Denn außer mir weiß keiner von den anderen Mitstreitern, dass ich den Stab genommen habe."

"Du warst sehr umsichtig, Schwester Izanami. Auch hast du nicht im eigentlichen Sinne gegen deinen Orden gehandelt. Denn in meinen Händen ist dieser Stab ein besserer Schutz für die Menschheit, als ungenutzt in einem magischen Tresor herumzuliegen, aber das wusstest du ja schon längst, bevor du ihm mir beschafft hast, wo du noch nicht mal wusstest, dass Pandora einen neuen Körper für Antehlias Seele ausgekundschaftet hatte." Izanami nickte. "Ich habe es in meinem Land und auch in anderen Ländern gesehen, was die magielose Technik der Welt antut. Schon schlimm, dass sich meine Mitstreiter von einigen von Magielosen abstammenden Freunden und Verwandten haben einreden lassen, wie vorteilhaft mechanische Dienstboten sein können. Deshalb laufen seit zwanzig Jahren auch bei uns magisch betriebene Automata in verschiedenen Gestalten und Einsatzgebieten herum. deshalb habe ich dir den Stab beschafft, weil du dich nicht an Ministeriumsweisungen und Geheimhaltungen gebunden fühlst", sagte Izanami. Anthelia hörte sehr wohl eine gewisse Enttäuschung aus ihren Gedanken, weil sie bis heute noch nicht die Welt erobert und alles magielos maschinelle aus der Welt verbannt hatte. Deshalb sagte sie noch:

"Ja, und weil ich durch viele Dinge lernen musste, dass forsches Voranstürmen und offener Kampf die Zerstörung der Welt nur beschleunigen werden, gehen wir einen zielbestimmteren Weg, immer ein Ziel nach dem anderen zu erreichen, ohne das große Endziel aus den Augen zu verlieren. Sicher sind da einige ungeduldig, wann ich endlich die Führerschaft aller Hexen und dann auch der gesamten Menschheit übernehme und die Geheimhaltung der Zaubererwelt aufkündige. Doch wie gesagt würde es zum jetzigen Zeitpunkt die Zerstörung der Welt nur beschleunigen, nicht verhindern."

"Ob Ladonna da so denkt", dachte Izanami und sagte laut: "Ich folge dir weiter, weil ich auch gelernt habe, dass nur Zwang auszuüben keine Freude am nötigen macht. Das sage ausgerechnet ich, deren Kultur Ehrerbietung, klaglose Hingabe an die Pflicht und Unterwürfigkeit unter den Vorgesetzten, Vater, Chef oder Dienstherren fordert."

"Das hat dein Land über Jahrhunderte vielfältig und auch stark gemacht und nach dem Krieg, von dem du mir berichtet hast und wo diese unsäglichen Atomspaltungsbomben auf dein Land geworfen wurden zu einem schnellen Wiedererstarken geführt, wenn auch auf einem falschen Weg. Die Sonne scheint immer und für jeden auf der Erde gleich. Winde wehen ständig und blähen Segel und bewegen Mühlenflügel. Darauf kann eine magielose Welt genauso Wohlstand und Vielfalt errichten", dozierte Anthelia. Izanami nickte. Dann fragte die höchste Schwester: "Wo du klaglose Hingabe an auferlegte Pflichten erwähnt hast, Schwester Izanami, was haben sie dir im Moment für Aufgaben zugewiesen?"

"Das was ich bisher auch zu tun habe, Bereitschaft für Einsetze gegen übermütige Yokai", sagte Izanami und erwähnte, was ihr erst vor einigen Tagen widerfahren war. Anthelia verzog kurz das Gesicht, als sie das Aussehen und den Gestank des Ashiarai Yashiki erwähnte. "Sowas gehört in Drachengalle eingelegt und in den tiefsten Vulkankrater geschüttet", sagte sie. "Ich hätte diesen Stinkefuß nicht am leben gelassen."

"Sein Tod hätte seine Artgenossen herbeigerufen", erwiderte Izanami. "Noch besser. Dann hätte ich mich mit genug Mitstreiterinnen auf die Lauer gelegt und alle in blinder Rache heranklatschenden Stinkefüße erledigt, bis keiner mehr nachgerückt wäre. - Was haben deine Kollegen mit dem gemacht, den sie eingefangen haben?"

"Sie haben ihn zwei Tage lang auf einer von allen Seiten vom Wind erreichbaren Felsspitze angekettet, bis er so schwach war, dass er jeden Schwur geleistet hat, dass weder er noch seine Brüder in die großen Städte der Menschen zurückkehren."

"Aber die Dörfer dürfen diese Käsequanten dann heimsuchen?" fragte Anthelia verächtlich.

"Unsere Philosophie erlaubt auch Yokai das Leben, weil keiner weiß, ob sie nicht wem nützen, der wiederum uns Menschen nützt", rechtfertigte Izanami das Vorgehen ihres Ordens.

"Verstehe, riesige, schmutzige Füße dienen irgendwem, der oder die wiederum den Menschen nützt. Sowas von einleuchtend", ätzte Anthelia. "Wie erwähnt, sollte mir solch ein dämonischer Riesenfuß begegnen, wasche ich den so gründlich, dass er danach in allen Ritzen der Erde versickert. Immerhin gut zu wissen, dass er magisch zum kochen gebrachtes Wasser nicht verträgt." Izanami nickte dazu nur. Sie verstand ihre höchste Schwester so sehr. Aber die Regeln des Ordens galten trotz ihrer Zugehörigkeit zum Spinnenorden weiterhin.

"Dann pass weiterhin gut auf, dass euch keine Amikiri, Kappas oder Kitsunes die Nächte verderben!" sagte Anthelia. Izanami versprach, gut aufzupassen, auch auf sich und ihr sofort zu melden, wenn wegen des Schwertes was neues bekannt war.

"Ich vermute, das Schwert oder besser sein Geist sucht einen Nachfahren aus der ursprünglichen Familie des dunklen Wächters, in dessen Adern noch etwas von dem Blut fließt, dass im Erzeuger des dunklen Wächters floss", sagte Anthelia. Izanami sah ihre höchste Schwester verwundert und dann verstehend an. Anthelia fügte noch hinzu: "Wenn das Schwert wirklich ohne von einem lebenden, beseelten Menschen berührt zu werden immer stärker wird, dann hat es ein Ziel erfasst, auf das es sich immer stärker einstimmt, trotz aller von dir erwähnten Barrieren. Es könnte sogar danach trachten, die Barrieren gegen geistigen Fernkontakt als Verstärker für sein sogenanntes Lied zu nutzen, wenn der ihm innewohnende Geist erkennt, wie die Barrieren wirken."

"Dass die Barrieren erzittern haben die Hüter der gefährlichen Gegenstände schon erkannt. Doch sie können nichts tun, außer die fünf genutzten Zauber gegen geistige Fernerfassung, Gedankensprechen und Fernbeobachtung und Fernbelauschung immer wieder verstärken. Ja, und die im Haus selbst wachenden Geister ehemaliger Mitstreiter streben immer mehr zu dem Ort hin, an dem das Schwert verwahrt wird."

"Das zeigt, wie mächtig dieses sogenannte Lied ist. Vielleicht erreichst du es, dass deine Mitkämpfer nach möglichen Nachfahren forschen und sie finden, bevor einer von ihnen dem Lied des Schwertes verfällt und dem dunklen Wächter als neuer Körper dient", sagte Anthelia. Izanami bejahte es und dankte ihrer höchsten Schwester für diesen wichtigen Hinweis. Dann verbeugte sie sich und verabschiedete sich von der Führerin der Spinnenschwestern.

Mit einem lauten Plopp disapparierte die japanische Mitschwester wieder. Anthelia sah noch einige Sekunden auf die Stelle, an der sie verschwunden war. Dass die Bewahrer des Stabes ihn doch noch vermissen würden hatte sie erwartet, ja sogar schon viel früher. Aber jetzt gehörte er ihr und gehorchte auch nur noch ihr. Andererseits, wenn der Geist des dunklen Wächters im Schwert so stark wurde und sich womöglich einen neuen Körper suchte, dann konnte er darauf ausgehen, sich den Stab zurückzuholen. Wer auch immer ihm dabei im Weg stand würde sterben, ohne jede Gnade. Wollte sie die Schuld am Tod dieser Leute tragen? Zu töten war nichts neues oder verwerfliches für sie. Nur unnütze, für sie völlig bedeutungslose Tote musste sie wirklich nicht verantworten. Sie hoffte darauf, früh genug zu erfahren, ob es den Händen Amaterasus gelang, das Schwert zu bändigen oder dass sie rechtzeitig erfuhr, wen sich der dunkle Wächter als neuen Körper ausgesucht hatte.

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Aus dem Kristallherold vom 04.07.2004

DRUCK DER HEILERZUNFT FÜHRT ZUR RÜCKNAHME DER RÜCKFORDERUNGEN AN UNFREIWILLIGE MEHRLINGSMÜTTER

Der für Handel und Finanzen zuständige Cyrus Picton hat nach dem Aufsehen erregenden Interview unserer Kollegin Linda Latierre-Knowles von der Stimme des Westwinds und dem darin geäußerten Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung eine Menge Gegenwind für seine angedachte Rückforderung bereits bezahlter Goldbeträge an die Mütter von sogenannten VM-Kindern erhalten. Deshalb trat er gestern noch einmal vor die versammelten Zeitungs- und Rundfunkvertreter unseres großartigen Landes und gab folgende Erklärung ab:

"Ich, Cyrus Picton, derzeitig Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzwesen, lehne jeden Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung gegenüber all den Kindern ab, die ohne Wunsch ihrer Eltern zur Welt kamen. Auch wenn mich das wohl ihrer eigenen Rangstellung entspringende forsche Vorpreschen von Großheilerin Greensporn verstimmt hat, so habe ich nach eingehenden und langen Gesprächen mit Rechtsvertretern aus meiner Behörde und der Familienstands- und Strafverfolgungsbehörde erkennen müssen, dass es sich wirklich und wahrhaftig bei den Kindern und ihren Eltern um die Opfer planmäßig verübter Verbrechen handelt. Deshalb kann ich, so schwer es mir gerade im Hinblick auf die Goldvorräte des Ministeriums fällt, die von mir erwähnte Rückforderung nicht aufrechthalten. Ich werde also die bereits ausbezahlten Goldbeträge nicht mehr einfordern. Ich weise jedoch darauf hin, dass eventuelle Nachforderungen an Gold und Silber nicht an das Zaubereiministerium der USA, sondern ausdrücklich an die sogenannte Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens zu richten sind. Sowohl der Kollege Catlock aus der Strafverfolgungsabteilung, als auch die Kollegin Gilmore aus der Abteilung für Familien und Ausbildung, pflichten Großheilerin Greensporn bei, dass Vita Magica die alleinige Schuld an diesen ungeplanten Kindern trägt und deshalb auch dafür zu zahlen hat. Ich weise darauf hin, dass genau das Bestandteil des für rechtswidrig gehaltenen Friedensvertrages mit jener Organisation war. Das Ministerium trat nur in Vorleistung unter der Bedingung, dass Vita Magica entsprechende Beträge überweist. Inwieweit eine weitere Unterstützung der betreffenden Mütter und Kinder von uns aus zu zahlen sei muss der Zwölferrat beschließen. Ich möchte jedoch schon jetzt jeden Vorwurf zurückweisen, falls der Zwölferrat nicht so entscheiden sollte, wie es sich die Damen Hebammen und die betroffenen Mütter und Väter gerne wünschen, die der Meinung sind, dass die ungeplant zur Welt gekommenen Kinder ein sorgenfreies Umfeld mit allen zu bekommen haben, was Kinder zum Leben brauchen. Wir würden uns gegen all die Eltern versündigen, die ganz aus freien Stücken Kinder bekommen haben und aus eigener Kraft und eigenem Willen für ihre Unterbringung und Ernährung aufkommen möchten und würden Vita Magica einladen, noch viele viele solcher ungeplanten Kindeszeugungen zu forcieren. Damit genau das nicht passiert stehen demnächst Beratungen an, die, wie zu erwarten steht, nicht alle öffentlich sein werden. Mehr dazu darf und wird ihnen dann wohl der Kollege Catlock sagen. Nur noch einmal, die bereits bezahlten Goldbeträge dürfen einbehalten werden. Soviel von mir für Sie. Vilen Dank!"

Auch wenn das schon sehr laut an einer Spekulation entlangknirscht ist der Kristallherold sich mit vielen anderen Nachrichtenverbreitungsmedien eins, dass Picton wohl Angst davor hatte, dass die magische Heilzunft ihm und seinen Mitarbeitern bei anstehenden Behandlungen zusätzliche Kosten aufbürden könnte um den Eltern ohne ausdrücklichen Kinderwunsch die anfallenden Untersuchungs- und Behandlungskosten auszugleichen.

Tja, da sind wir alle doch einmal gespannt, was der Zwölferrat dazu beschließen wird. Die obersten Richter zeigten sich bisher zu keiner Stellungnahme bereit, da dies, so Richter Ironside, eine voreilige Interpretation der bestehenden Lage bedeuten würde. Es gibt viel zu tun. Warten wir es ab!

RDWN

06.07.2004

Wenn ihm sein Vater schon kein eigenes Internet ließ konnte er im Internetcafé in der Nähe für 150 Yen pro Stunde an einem Hochgeschwindigkeitsrechner arbeiten. Der Vorteil war, dass die Einzelrechner durch blickdichte Trennwände voneinander abgeschirmt waren und die Internetverbindung über einen Proxyserver, einen vorgeschobenen Stellvertreterknotenpunkt, abgewickelt wurde, so dass im Ernstfall keiner zurückverfolgen konnte, wenn wer auf brisante Seiten ging oder heikle Anfragen stellte. Auch war in das Webseitenprogramm die Funktion eingeschaltet, jeden Verlauf gleich bei Verlassen des Programms zu löschen, damit niemand danach herausfinden konnte, was der Vorgänger im Internet angewählt hatte. So konnte er in Ruhe nach den ihm wichtigen Begriffen wie "Zauberschwert aus Japan", "Tengu", "Tengukönig Sojobo" und "silbergrauer Zauberstab, Flugteppich" suchen. Wohl wahr, dieses Café führte den Namen "Fenster zur Welt" völlig zu recht. Nur nutzten ihm die ganzen Vorkehrungen für anonymes Suchen nicht viel. Beim Begriff Zauberschwert stürzte eine Riesenlawine an Treffern zu König Arthus, dem aus einer Spielzeugfigur entwickelten Comichelden He-Man, dessen Zwillingsschwester She-Ra bishin zum legendären Kusanagi no Tsurugi auf ihn ein. Die Tengus waren natürlich sowas von häufig auf japanischen Webseiten zu finden und ihr König ebenso, der laut Legende ein buddhistischer Priester war und ein Großmeister der Schwertkampfkunst. Ui, und mit dem wollte sich sein seit einigen Tagen immer wieder geträumtes Ich einen Zweikampf liefern? Sehr mutig oder sehr blöd, dachte Takeshi. Allerdings fand er überhaupt nichts zum silbergrauen Zauberstab oder zu den ihm noch vertrauten Textzeilen aus dem merkwürdigen Lied, weder auf Japanisch noch auf Englisch. In anderen Sprachen musste er erst gar nicht suchen.

Als links neben der Systemuhr die dem rechner eigene Zeitanzeige "00:58" anzeigte beendete er die Internetsitzung lieber. Denn sobald eine Stunde um war musste er noch mal 150 Yen hinlegen, weil wie in vielen Parkhäusern jede angefangene Stunde voll berechnet wurde. Er tippte auf "Abmelden, bevor die Zeitanzeige auf "00:59" umsprang. Aus dem links vom Rechner stehenden Etikettendrucker kam leise surrend der Beleg für die verbrachte Zeit heraus, den er beim Bezahlen der Gesamtzeche mitverrechnen lassen musste.

"Vielleicht kriege ich ja doch noch raus, woher ich diesen Zauberer und seine Sachen kenne", dachte Takeshi auf dem Weg zur Bushaltestelle, wo er seine beiden Schwestern abholte.

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Masa Daidoji und Kyo Nakamura waren stolz, im Raum der magielos betriebenen Wissensverarbeitungsvorrichtungen arbeiten zu dürfen. Hier war der Umstand, einen nichtmagischen Elternteil zu haben, kein Makel, sondern eine Auszeichnung.

Vor einem Jahr hatte auch das kaiserliche Ministerium für Zauberei und Zauberwesen unter Tokios Regierungsviertel die Gunst genutzt, einen eigenen Rechnerraum einzurichten und von der in den Staaten lebenden Martha Merryweather die Programme für heimliche Vernetzung, Fernverständigung und Recherchen erhalten, um ein weiterer Knoten im Arkanet, dem internationalen Computernetz verschiedener Zaubereiministerien zu werden.

Gerade pingelte wieder der Rechner, weil dessen ganz geheimen Suchprogramme bei den japanischsprachigen Suchdiensten was aufgeschnappt hatten, was interessant sein mochte. Als Masa das Suchergebnis auf ihren Bildschirm holte bekam sie große Augen. "Kyo, hier fragt jemand ausdrücklich nach einem silbergrauen Zauberstab in Verbindung mit einem Flugteppich. Dieselbe Adresse hat dann auch nach einem japanischen Zauberschwert, den Tengus, deren König Sojobo und einem Liedtextgefragt. Oha, die Zeielen könnten ein magisches Locklied einer Yamauba oder eines höheren Yokai sein, der jemanden auf seine Seite ziehen will."

"Silbergrauer Zauberstab? Moment mal, war da nicht was in den Geschichten aus der Ära der alle zehn Jahre wechselnden Tennos? Irgendwas mit einem dunklen Wächter. Der soll so einen Zauberstab gehabt haben. Wer will denn das wissen?"

"Moment, wie ging das noch mal? Achso", sagte Masa Daidoji. Sie rief die Funktion "Adresse Ermitteln" auf und erfuhr, dass die Anfrage an die angezapfte Suchmaschine von einem Server auf den Philippinen stammte. "Es entfaltet den üblen Geruch eines Proxyservers", knurrte Masa. Ihr Kollege nickte. "Dann müssten wir uns auf den einhacken, um zu klären, wo die ursprüngliche Adresse ist?" sagte er. "Dennoch, ich glaube, ich geh damit zum Lenker der Nachrichten."

"Warum nicht gleich zu Frau Hashimoto?" fragte Kyo Nakamura.

"Oha, du wirst doch wohl nicht den Dienstweg umgehen wollen, Kyo. Stell dir vor, ich komme damit bei Frau Hashimoto an, und die Anfrage war nur ein Test, ob es schon eine Idee für ein neues Manga gibt. Deshalb gehe ich zu Herrn Funayama. Soll er entscheiden, ob die Nachricht wichtig genug für Frau Hashimoto ist." Kyo Nakamura sah seine Kollegin mit gemischten Gefühlen an. Einerseits gab er ihr ja recht. Sie durften den Dienstweg nicht umgehen. Andererseits war Herr Funayama dafür bekannt, Nachrichten aus dem Internet nur dann durchzulassen, wenn sie ihm vorher angekündigt worden waren.

Masa verließ den unterirdischen Rechnerraum und fuhr mit einer magisch betriebenen Einschienenbahn in das eigentliche Zaubereiministerium hinüber, dass tief unter dem Kaiserpalast angelegt worden war und sich über zehn Stockwerke verteilte.

Als sie über die gläsernen Fahrstühle bis zum Stockwerk mit den Behörden für Zusammenarbeit und Handel hinaufgefahren war ging sie mit den Ausdrucken der Suchanfrage und Antworten zum Sprechzimmer von Herrn Funayama, dem Lenker der herein- und hinausgehenden Nachrichten zwischen Zaubererwelt und Maschinenwelt.

Herr Funayama war bereits achtzig Jahre alt, untersetzt und trug bereits viele hellgraue Haarsträhnen in seiner nachtschwarzen Kurzhaarfrisur. Er wusste sofort, was das Erscheinen der Internetüberwacherin zu bedeuten hatte. "Wieder eine Anfrage oder gar ein Augenzeugenbericht, was uns interessieren soll?" fragte er ein wenig ungehalten. Masa Daidoji blieb äußerlich ruhig. Sie wusste ja, zu wem sie gegangen war. So berichtete sie in Kurzform, was ihre Überwachung ergeben hatte und übergab dann den Packen Druckerpapier.

Herr Funayama las die erste Seite, wo die Anfrage und die anfragende Internetadresse und die tatsächliche Anschrift zu lesen waren. "Oh, seit wann können Bewohner der Philippinen so gut Japanisch?" fragte er. Masa erklärte ihm dann, was ein Proxyserver war und dass es trotz der Rückverfolgungsprogramme noch nicht möglich war, eine hinter so einem Server stehende Originaladresse zu ermitteln. Hierfür müsste der betreffende Proxyserver selbst angezapft und auf die eingehenden Daten geprüft werden.

"Ja, ist schon interessant, dass wer nach dem silbergrauen Zauberstab sucht. Eigentlich mussten wir davon ausgehen, dass es nur uns bekannt ist, wer der dunkle Wächter war und dass er so einen Stab hatte. Doch vielleicht hat ein Zauberer mit Angehörigen in der magielosen Welt mal was darüber erzählt. Und die Liedzeilen hier könnten als Schlüssel zu einer empfänglichen Seele verstanden werden. Aber ansonsten kann ich hier nichts lesen, was Aufschluss auf den Fragenden gibt. Da die Philippinen sich selbst verwalten und da noch kein Internetmithörtrupp besteht können wir die Kollegen nicht fragen, ob die mal eben an den Standort dieses Dings, dieses Proxyservers, hingehen können. Ja, und weil ja mittlerweile das ganze Kaiserreich mit diesem Internet überzogen ist können wir auch nicht in jedes Dorf und schon gar nicht jede Großstadt gehen, um nach dem Absender dieser Anfragen zu suchen. Da müssen wir wohl abwarten, ob der Fragende noch mehr von sich preisgibt. Solange halten wir diese Anfrage zurück", sagte Herr Funayama. Masa Daidoji bestätigte es, auch wenn ihr nicht wohl dabei war. Kyo hatte recht. Bei Funayama versickerten die meisten Sachen aus dem Internet oder wurden bis auf unbestimmte Zeit angestaut."

"Und, hwas hat er gesagt? - Können wir nichts mit anfangen, weil keine japanische Adresse, also Ablage Papierkorb?" fragte Kyo Nakamura.

"Fast richtig, Kyo. Er hat gesagt, dass wir nicht wissen, wo das genau herkommt und wir deshalb nicht ganz Japan absuchen können und wir warten sollen, ob noch einmal so eine Anfrage kommt und ob der oder die dann mehr von sich preisgibt. Dabei ist doch klar, dass dieser Mensch wohl nur diese eine Suchanfrage losgeschickt hat. Entweder hat er die Antworten bekommen, die er haben wollte, oder er weiß, dass sich die Suche nicht mehr lohnt. Deshalb wird es keine weitere Anfrage geben."

"Hast du Herrn Funayama das gesagt?" wollte Kyo Nakamura wissen.

"Nachdem ich ihm vor drei Wochen erklärt habe, wie Internetsuchanfragen gehen hat er mir ganz verbindlich befohlen, ihn nicht noch einmal mit derlei für seine Arbeit unwichtigen Sachen zu beladen, da sein Gehirn nicht unendlich viel aufnehmen könne und er somit nur das wirklich wichtige lernen und erinnern wolle. Ja, und er hat mir eine Abmahnung in Aussicht gestellt, sollte ich diese klare Anweisung jemals wieder missachten. Mir gefällt die Arbeit hier zu gut, als mich wieder zum Archivieren früherer Begegnungen mit Magielosen herunterstufen zu lassen."

"Ja, wo Frau Hashimoto sich gerade mit dem achso ehrenwerten Herrn Takayama von den Händen der Amaterasu hat, weil der ihr nicht erzählen will, wie deren Yokaiwarnnetz über den größeren Städten wirkt, nachdem ein echter Ashiarai Yashiki in Chiyoda aufgetaucht ist. Mal abwarten, was dabei herauskommt", sagte Kyo Nakamura.

"Wollen wir eine Wette drauf machen, dass der hoch ehrenwerte Minister Takahara seine Hand über Takayamas Sondertruppe hält und Frau Hashimoto verbietet, weiter auf die Preisgabe derer Geheimnisse zu bestehen?"

"Komm, so viel verdiene ich hier auch nicht, dass ich was wette, wo ich auf jeden Fall verlieren werde", sagte Kyo Nakamura. Dann sah er auf seinen Bildschirm. "Ach neh, da will jemand ein Manga über die Tochter einer Yamauba und eines Samurai schreiben und sammelt jede Menge Hintergrundwissen zusammen. Am Ende ist das mit dieser einen Anfrage auch so einer, der nur zufällig was von einem silbergrauen Zauberstab losgelassen hat, weil der im Vergleich zu einem Kristallstab oder einem Holzstab was besonderes ist."

"Komm, hör bitte auf! Wenn das echt so ist habe ich mich bei Funayama völlig blamiert", grummelte Masa Daidoji. Dann kümmerte sie sich wieder um ihren eigenen Rechner. Vielleicht kam ja über die vorhin benutzte Adresse doch noch mehr herein.

Masa konnte herausfinden, dass über den Proxyserver jede Menge Sachen liefen, aber nichts, was für ihre Suche wichtig war. Am Ende ihrer Schicht konnte sie nur vermuten, dass der Server von einem Internetcafé oder dergleichen verwendet wurde. Davon gab es viele. Und ob dieser Server nur von dem einen Internetcafé benutzt wurde war auch nicht sicher. Sie brauchten echt ein weiteres Hilfsmittel, um auch Proxyserver überwinden und auf den Ursprungsrechner rückschließen zu können. Kyo sollte demnächst mal eine Anfrage an Martha Merryweather stellen, ob sowas bald ging.

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08.07.2004

War es Nostalgie, Rückbesinnung oder schlicht weg sentimentales Getue, was sie hier und heute an diesen Ort trieb? Im Grunde passte alles. Denn sogesehen durfte sie heute ihren zehnten Wiederverkörperungstag begehen, selbst wenn in diesen zehn Jahren eine beinahe Wiedergeburt als Daianiras Tochter und die körperlich-seelische Verschmelzung mit Naaneavargia stattgefunden hatten. doch wollte die höchste Schwwester des Spinnenordens diesen Tag nicht ungewürdigt verstreichen lassen, gerade weil in den letzten zehn Jahren so viel passiert war.

Unsichtbar flog sie auf der Hut vor möglichen Aufspürzaubern an die Stelle, wo vor einem Jahr und drei Monaten noch das Haus gestanden hatte, in dem sie nach einem Jahr in Pandora Stratons treuer Obhut ihren eigenen Körper erhalten hatte. Sie sah, dass die Trümmer der zusammengestürzten Daggers-Villa längst weggeräumt waren und dass auch deren eingestürztes Fundament neu aufgefüllt war. Der Fluch des alten Medizinmannes war trotz der dunklen Woge restlos in den Schoß von Mutter Erde abgeflossen, so wie Anthelia/Naaneavargia es mit ihrem Zauber vollbringen wollte. Sie sah sich um, lauschte auf die Gedanken der Männer, die gerade hinter einem hohen Bretterzaun mehrere kleinere Gebäude errichteten. So erfuhr sie, dass ein sogenanntes Motel gebaut werden sollte, ein Gasthof, bei dem die Gäste mit ihren Motorwagen an die gemieteten Zimmer heranfahren konnten. Offenbar hatte sich der Stadtrat von Dropout darauf verständigt, den einstmals für verflucht gehaltenen Ort geschäftlich zu nutzen. Insofern wurde der Platz, an dem einst das Daggers-Haus stand, mit neuem Leben erfüllt.

"Glauben Sie, dass die alte Magie, die diese falsche Schlange angelockt hat, wirklich restlos erloschen ist?" hörte sie die in gesprochene Worte umgewandelten Gedanken eines angeblichen Vorarbeiters, der einen der Bautrupps beaufsichtigte.

"Das fragen Sie mich jeden Monat neu, Backster. Hier im Boden und in der Luft wirkt keine alte Magie mehr. Das haben auch die vom Laveau-Institut bestätigt. Was immer im April letztes Jahr passiert ist hat den alten Fluch gebrochen und deshalb das Haus einstürzen lassen. Für die Spinnenhure ist das Gebiet hier folglich nicht mehr interessant genug, zumal unsere Leute nach zwei Monaten Suche keine Hinterlassenschaft finden konnten, mit der sie noch was anfangen konnte. Sie hat also alles noch rechtzeitig herausgeschafft und an einem neuen Fidelius-Ort versteckt", erwiderte die Stimme aus einer scheinbaren Feldflasche, die der als Vorarbeiter maskierte Beobachter aus Buggles' Ministerium um den Hals trug.

"Ich wollte nur sicher sein, dass nicht gleich nach der Eröffnung dieser Kraftwagenherberge neue Schwierigkeiten auftreten, zum Beispiel, dass diese Spinnenhexe meint, ihr altes Hauptquartier zurückzuerobern oder hier ein neues zu errichten."

"Darauf gebe ich mal keine Antwort, weil gerade fünf von den Jungs auf mich zukommen, Mr. Backster", hörte Anthelia über die Gedanken Backsters seinen Gesprächspartner antworten.

"Sie bekam noch mit, wie ein dritter Zauberer genau zur vollen Stunde einen Rundumprüfzauber ansetzte, weil der gerade unbeobachtet war. Anthelia/Naaneavargia vollführte deshalb schnell den Unortbarkeitszauber aus dem Wissen der Erdvertrauten Naaneavargia. So griff der Rundumsuchzauber über sie hinweg, ohne sie zu erfassen. "Kein Beobachter oder Spionagezauber", hörte sie die Gedanken des heimlichen Kundschafters.

"Vielleicht sind wir einfach ein wenig paranoid, dass wir hier, wo echt nichts magisches mehr ist, auf dieses Weib warten. Und falls sie doch zwischendurch erkundet, was hier geschieht, so weiß sie, dass sie hier wohl kein neues Hauptquartier mehr begründen kann, ohne dass es sofort auffällt."

"Warum auch. Die ist auf der ganzen Welt zu Hause. Die hat garantiert schon längst woanders ihr Spinnennetz aufgespannt", grummelte der als einfacher Bauarbeiter maskierte, als die fünf scheinbaren Kollegen ihn zum Vorarbeiter geschickt hatten. Anthelia/Naaneavargia lächelte verwegen. Sie fragte sich, was das hier sollte. Natürlich brauchte sie von hier nichts mehr. Natürlich würde sie hier kein neues Hauptquartier errichten. Denn sie hatte ja gleich nach ihrer Flucht aus dem zusammenbrechenden Plantagenbesitzerhaus ein neues, nun wesentlich sichereres Versammlungs- und Wohnhaus "erworben". Als sie sicher war, dass der Rundumsuchzauber restlos abgeklungen war nutzte sie den Freiflugzauber um sich mindestens drei Meilen von hier entfernt fortzubegeben. Von dort aus apparierte sie in jenem neuen Hauptquartier, dem ehemaligen Wohnhaus der im Atlantik verschollenen Mitschwwester Tyche Lennox.

Sie betrat einen der Kellerräume, die nicht als Versammlungsraum dienen sollten, sondern dem stillen Gedenken an verstorbene Mitschwestern. Hier hing eine Tafel, auf der die Namen der bereits im Dienst der Spinnenschwesternschaft ihr Leben gelassen hatten. Trotzdem sie wusste, dass Patricia Straton nicht gestorben war, stand ihr Name genauso neben dem ihrer Mutter Pandora, Dana Moore, Lucretia Witherspoon, Delila Pokes, Donata Archstone und anderen, die einst ihre Wiederverkörperung ermöglicht und ihr bei der Errichtung des Netzes der schwarzen Spinne geholfen hatten. Patricia Straton diente nun mit Leib und Seele den wiedererwachten Ashtarsirin, den Sonnenkindern, die als von den Feuerlenkern des alten Reiches geschaffene Gegenmacht zu Iaxathans blutdurstigen Nachtkindern erzeugt worden waren. Delila Pokes und Dana Moore waren beim Kampf in Hallittis Schlafhöhle im dunklen Feuer verbrannt, und Donata Archstone war von Hyneria Swordgrinder getötet worden, die mittlerweile selbst ohne Wissen um ihr früheres Leben wieder aufwachsen musste, so wie die Gesetze der schweigsamen Schwestern es geboten. Das Pandora gestorben war müsste sie eigentlich Daianira Hemlock anlasten. Doch erstens war Pandora von dem irrsinnigen Waisenjungen Tom Riddle ermordet worden und zweitens gab es Daianira Hemlock offiziell nicht mehr. Die hatte damals gedacht, durch einen schwarzen Spiegel Anthelias Macht gebrochen zu haben und sie als ihre folgsame Tochter wiedergebären zu dürfen, um dann durch Anthelias List selbst zur Ungeborenen und durch Hynerias Zeitschwundvorrichtung blitzgealtert mit der aus der Welt verschwundenen Austère Tourrecandide erneut schwanger zu werden. Ja, es war in diesen zehn Jahren sehr viel passiert.

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Offenbar hatte es sie jetzt doch auch erwischt oder besser erreicht, dachte Olarammaya, als sie am späten Abend des achten Juli noch einmal am solarzellengetriebenen Klapprechner mit Satellitenmodem saß, um die für ihre neue Lebensgemeinschaft wichtigen Dinge zu erforschen. Denn sie fühlte, dass mit ihrem Körper etwas anders war. Das deutete ziemlich darauf hin, dass sie im zweiten Anlauf die Pflichten einer fruchtbaren Sonnentochter miterfüllen würde, nachdem ihre wenige Minuten ältere Zwillingsschwester Geranammaya bereits offiziell in der zwölften Woche schwanger war. Auch wenn sie sich mittlerweile wirklich damit abgefundenhatte, kein junger Mann zu sein, sondern eine körperlich vollendete junge Frau, war es ihr doch unheimlich, schon in sieben oder acht Monaten Mutter zu werden, auch weil sie wusste, dass ihr Kind mit der Seele eines verstorbenen Sonnenkindes verschmolzen würde.

"Wenn du denkst, dass du es endlich geschafft hast lass es bestätigen, Schwester", hörte sie Geranammayas Gedankenstimme. Erst hatte sie gedacht, das ungeborene Kind spräche schon in Gedanken mit ihr.

"Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben", schickte Olarammaya zurück.

Eine Viertelstunde später wusste sie es mit Sicherheit. Sie war in der achten Woche schwanger. Da die Sonnenkinder ein wenig länger an ihren Kindern trugen mochte sie im Februar oder März dieses Kind bekommen, während ihre große Schwester und ihre gemeinsame Mutter bereits im Februar Nachwuchs bekommen würden. Die anderen Sonnentöchter mochten ähnliche Termine haben wie Olarammaya.

Die früher mal Patricia Straton genannte Ex-Sardonianerin saß mit ihren beiden Töchtern zusammen, als Olarammaya ihren "freudigen Zustand" allgemein verkündet hatte. "Ist schon eine merkwürdige Sache, dass wir drei jetzt hier zusammensitzen, weil ein gewisser Benjamin Calder damals am 8. Juli 1994 unbedingt dem Wiederverkörperungsritual für Anthelia zuhören musste", meinte Dailangamiria zu ihren Zwillingstöchtern. Geranammaya antwortete darauf: "Ja, weil die Mutter einer gewissen Patricia Straton unbedingt davon überzeugt war, dass nur eine entschlossene Hexe die Welt vor dem Plünderungs- und Zerstörungswahn der Magieunfähigen retten könne." Dann schilderte sie durch die ausgeklügelte übertragung, was Pandora Straton, deren Geist in Geranammayas Körper wiedergeboren worden war, dazu bewegt hatte, sich Dairons dunkles Seelenmedaillon aus dem Verlies der britischen Zaubererfamilie Deepwater zu beschaffen und dessen wahres Geheimnis entdeckt hatte. In letzter Folge aller danach stattgefundenen Ereignisse hatte dieses Vorhaben mitgeholfen, eine gefährliche Kreatur wie Hallitti zu bannen, sowie die Sonnenkinder aufzuwecken. Auch wenn es Olarammaya nicht gefiel, dass sie deshalb nicht als Ben Calder hatte groß werden und weiterleben dürfen musste sie tatsächlich anerkennen, dass aus Pandora Stratons Absicht, einer starken wie entschlossenen und gefährlichen Hexenmeisterin zu helfen, auch viel gutes für die Menschheit entstanden war. Sie erinnerte sich daran, was sowohl die heute als ihre leibliche Mutter anerkannte Patricia, als auch Anthelia über die willkürliche Einteilung von gut und böse, nützlich und schädlich gesagt hatten. Ben Calder hatte das damals als billige Rechtfertigung für skrupelloses Handeln verstanden. Doch heute, wo Olarammaya wusste, dass sie Dailangamirias zweites Enkelkind trug, mochten diese Ansprachen von damals passen. Dennoch galt weiterhin, möglichst gar nicht zum Schaden anderer Menschen zu handeln, um wirklich gute Dinge zu tun. Damit konnte sich selbst Geranammaya abfinden, die wohl in ihrer jahrelangen Existenz als unsichtbarer Geist in Patricias Nähe lernen musste, was die Auswirkungen von schwerwiegenden Taten sein konnten.

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10.07.2004

Er war fast am Ziel. Jetzt konnte er nach Belieben Klingen und Griffe schmieden, zusammenschweißen und bezaubern. Der Tag der Entscheidung rückte näher. Doch auch die Tengus ahnten wohl, dass jemand ihrem König gefährlich werden würde. Zweimal hatte er ein solches Wesen mit einem Verwirrungszauber die Orientierung nehmen und es weit von sich fortschicken müssen. Er musste sich wirklich beeilen. König Sojobo wartete auf ihn.

Immer wenn Takeshi diese Träume hatte dachte er anschließend, dass irgendwer ihn beeinflusste, ihn auf irgendwas bringen wollte. Doch dann überwog die Gewissheit, dass das alles nur in seinem Kopf passierte. Auch musste er sich darauf besinnen, wo er in den Ferien sein Frühstück, Mittag- und Abendessen herbekam. Er ging nämlich davon aus, dass sein Vater die Drohung aufrechterhielt, nur gegen vorgelegtes Geld was für ihn zu kaufen. Tja, und das Geld musste auf ehrenvolle, also gesetzlich einwandfreie Weise verdient werden. Doch seine Freunde hatten ihm schon verschiedene Möglichkeiten in Aussicht gestellt. Am Ende konnte sein Vater noch in der Firma von Ishis Onkel anfangen, wie seine Schwester Naomi es vorgeschlagen hatte.

Waren sie früher alle sehr behutsam, ja schier übervorsichtig miteinander umgesprungen, so herrschte in Takeshis Familie nicht nur Eiszeit, sondern auch das Prinzip, jeder macht sein oder ihr Ding. Das machte seine Mutter traurig und seinen Vater immer verbitterter. Doch der würde es nicht mehr wagen, ihn zu schlagen oder anderswie handgreiflich zu werden.

"Joh, großer Bruder, musst du die kleinen Schwestern nichtmal langsam wieder einsammeln?" hörte er seinen Schulfreund Toshi hinter sich.

"Ach, wieder das Ding, wie froh du bist, dass du ein Einzelkind bist, wie, Toshi?" fragte Takeshi.

"Ich muss jedenfalls nicht hinter kleinen, kratzbürstigen Puppen herlaufen. Reicht mir schon, dass ich wegen der Prüfungen mehr ranklotzen musste, weil meine Eltern mich für ein Auslandsjahr in Deutschland angemeldet haben."

"Deutschland? Öhm, ist bestimmt sehr interessant, von wegen kölner Karneval, Maibaumtanz und Oktoberfest. Aber wieso nicht Kalifornien, wie angedacht?"

"Tja, von wegen glückliches Einzelkind, weil mein Vater sich dazu entschlossen hat, dass sein einziger Sohn mit Mitte Zwanzig in die Filiale in Düsseldorf, Deutschland reingehen soll und ich deshalb schon mal in einer deutsch-japanischen Schule da lernen soll."

"Oha, Gruß aus dem goldenen Käfig", grummelte Takeshi. Toshi bejahte es. "Kann mir voll passieren, dass ich außer der Schule und meiner Gastfamilie da wohl nichts anderes zu sehen kriegen werde. Öhm, außer dem Flughafen natürlich, weil hinbeamen lassen kann ich mich ja nicht."

"Düsseldorf, wo liegt das denn?" fragte Takeshi.

"Nicht so weit weg von Köln, aber ziemlich weit weg von München", erwiderte Toshi.

"Und das ist klar, oder hängt es an den Prüfungsergebnissen?" fragte Takeshi interessiert.

"Das ist sowas von klar, dasss ich selbst bei einem Wiederholungsjahr dahingeschickt würde. Mein ehrenwerter Vater erwartet von seinem einzigen Sohn, dass er ihn nicht enttäuscht und dass er ihm ein gehorsamer und dankbarer Sohn sei."

"Komm, hör auf. Mein Vater erwartet das auch von mir. Aber der meint, weil er demnächst mehr Zeit als ihm lieb ist hat, jetzt den König des Hauses geben zu dürfen. Aber das habe ich euch ja schon erzählt."

"Immer noch Eiszeit?" fragte Toshi mitfühlend. "Minus hundert Grad und kein Tauwetter in Sicht. Aber ich werde nicht den ersten Schritt tun", sagte Takeshi.

"Und deine Schwestern?" fragte Toshi. treffe ich gleich im Eiscafé und gehe mit denen nach Hause. Wenn meine Eltern dann schon da sind ist gut, wenn nicht noch besser."

"Du bist echt anders drauf als vor drei Wochen noch", meinte Toshi. "Da hättest du im Leben kein schlechtes Wort über deine Eltern gesagt und jede halbe Minute auf die Uhr gekuckt, um deine Schwestern auch ja pünktlich einzusammeln."

"Ja, das war in einem anderen Leben, bevor mein Vater uns mit seiner Endzeitstimmung vergiftet hat und jetzt meint, den Familienkönig zu geben", erwiderte Takeshi. Toshi grinste verächtlich. Der war schon immer ein kleiner Frechdachs. Doch Takeshi dachte, dass Toshi zu Hause noch unterwürfiger war als er selbst noch vor drei Wochen war. Es gab viele Jungs, die draußen den großen starken Mann markierten und bei den Eltern ängstlich auf jedes Wort vom Vater oder der Mutter lauschten, dass ihnen bloß nichts passierte. Doch das konnte er Toshi natürlich nicht an den Kopf werfen. Warum eigentlich nicht? Wenn der ihn nochmal so wie jetzt verspottete bekam der die passende Antwort.

Die zwei Freunde verabschiedeten sich. Toshi wollte noch wegen Düsseldorf im Internet recherchieren, um nicht ganz unvorbereitet eine so weite Reise zu machen.

In der Nacht träumte Takeshi wieder von ihm, dem Zauberer und Wunderschmied. Diesmal flog er mit seinem Zauberteppich auf einen steilen Berghang zu. Schwarz-graues Vulkangestein zog sich vom Fuß des Berges bis hinauf zum schneebedeckten Gipfel. In demHang öffnete sich eine senkrechte Felsspalte. Dahinter lag wohl eine Höhle. Takeshi oder der neue Held seiner Träume ließ den Flugteppich verharren. Dann griff er hinter sich und zog ein etwa einen Meter langes, leicht gebogenes Horn aus Elfenbein hervor, dessen Mundstück aus Silber war. Er holte tief Luft und blies hinein.

Erst erklang ein dumpfer, blubbernder Ton. Dann wurde der Ton immer klarer, bis er tief und raumfüllend hallte. Dann stieß er den Rest der Luft mit ganzer Macht durch das Mundstück und ließ die Finger über die Spiellöcher tanzen. Aus dem Horn flogen sechs laute, missklingende aber jeder für sich saubere Töne heraus. Dann setzte er das Horn ab.

Von der Höhle her erklang ein aufgeregtes Brüllen. Der Träumende blies noch mal diese merkwürdige Tonfolge auf dem Horn. Wieder brüllte jemand großes, wütendes von drinnen. Dann spielte Takeshi oder der Zauberer seiner Träume die gleichen Laute auf dem Horn, wie sie aus der Höhle kamen. Ein wütender, eindeutig tierhafter Aufschrei war die Antwort. Dann kam er aus der Höhle.

Er hatte schon mehrere Drachen gesehen. Doch das Ungetüm, was da gerade aus seiner Höhle hervordrang war noch größer als die, die er schon in seinen Träumen erlegt hatte. "Sei mir gegrüßt, Felsenkönigin. Dein Blut wird mein Werk vollenden und Sojobos Untergang herbeiführen!" rief der Träumende, als der große, rote Drache mit dem goldenen Hornkranz am Kopf vollständig aus der Höhle heraus war. Mit einem lauten Brüllen blickte sich das Ungeheuer um. Der Schrei klang nicht so melodisch wie das Kampfgebrüll des Originalgodzilla, fand Takeshi. Doch es reichte weit und zeigte, dass hier ein sehr starker Drache wohnte.

Nun spannte das riesige rote Tierwesen seine lederartigen Flügel aus und stieß sich vom Boden ab. Nun wurde es sehr ernst. Einer von ihnen beiden würde noch in der nächsten Stunde sein Leben lassen. Doch der Träumende war sich sowas von sicher, dass nicht er das sein würde.

Mit dem silbergrauen Zauberstab erschuf er um sich herum eine purpurrote Lichtblase. Da fauchte auch schon eine hell lodernde Flammengarbe auf ihn zu. Mit dumpfem Fauchen traf der Feuerstoß die Schutzblase und verpuffte daran. Der Träumende spürte, dass ihn das Kraft kostete. Doch über ihm stand der Mond, jener Mond, dessen Kraft er in den letzten Wochen genutzt hatte, um das Silber für sein wahres Schwert mit Kraft aufzuladen. Dann ließ er mit der Kraft seines Zauberstabes die lange Lanze, die neben ihm lag in die Luft steigen. Sie glitzerte Silbern im Licht des Mondes. "Voran auf den Feind!" rief er, während er dem Drachen ausweichen musste, der versuchte, ihn frontal zu rammen. Das riesige Tierwesen verfehlte ihn. Doch sein langer, knochiger Schuppenschwanz peitschte fauchend durch die Luft und fegte knapp über ihn hinweg. Die Blase schützte vor Feuer, nicht vor der Urgewalt des Drachens selbst.

Die silberne Lanze glühte auf und flog von selbst davon. Der Drache oder besser, das Drachenweibchen, machte gerade kehrt. Die Zauberlanze jagte erst einige Dutzend Meter weiter, bevor sie einen Bogen schlug und dann auf den Drachen selbst zujagte. Takeshi dachte, dass das eigentlich nicht die Art war, einen Drachen zu bekämpfen. Das dachte wohl auch das Drachenweibchen. Denn es brüllte laut und spie wieder Feuer. Der Träumende ließ sich mit dem Teppich in die Tiefe fallen und sah, wie das Drachenweibchen ihm nachsetzte. Dann erkannte es wohl die Gefahr von der alleine fliegenden Lanze und schaffte es gerade noch so, ihr auszuweichen. Damit erkaufte sich das fliegende Ungeheuer ein paar Sekunden mehr. Es griff von oben her an. Takeshi in seiner Traumgestalt tauchte hinunter in die Tiefe. Nur im freien Flug war er dem Drachen noch überlegen und weil die Purpurblase noch bestand.

Es entspann sich eine schnelle Verfolgungsjagd, weil die ausgeworfene Lanze doch nicht so gewandt war, wie ihr Macher es gehofft hatte. Immer wieder blies der Drache seine Feuerstöße gegen den Feind. Doch noch hielt die magische Schutzblase. Fast erwischte das schuppige Riesentier den Teppich an einer Ecke. Doch Takeshi zog seitwärts hinweg. Dann waren zwischen Teppich und Berghang nur noch wenige Meter, und von hinten oben kam ein sehr wütendes Drachenweibchen. Da traf endlich die herumfliegende Zauberlanze und bohrte sich bis fast zum Schaft in den Bauch des Schuppentiers. Takeshi landete, als der Drache vor Schmerz und Wut brüllend in die Tiefe stürzte. Er schaffte es, dem aufschlagenden Gegner auszuweichen. Dann sah er zu, wie das einst so mächtige Tier mit qualvollen Lauten und wie eine sterbende Fliege zuckend verendete. Er hatte gesiegt. Doch so richtig freuen konnte sich Takeshi nicht darüber. Der Drache hatte ihm nichts getan, hatte vielleicht sogar nur auf seine Jungen aufgepasst, wollte sie beschützen. Ja, und er hatte ihn mit einem Zauberspeer den Garaus gemacht, nicht im direkten Zweikampf wie die anderen Drachentöter, oder zumindest mit einem ehrlichen Pfeilschuss, wie es in der Geschichte vom kleinen Hobbit passiert war. Magie gegen ein Tier, egal welches, war doch kein Heldenakt. Doch da fegte ein Gedanke seine Reue und sein Mitleid hinweg wie ein Besen das Staubkorn:

"Wer Macht will muss Mitleid überwinden!" Takeshi hörte jetzt nur noch das allgegenwärtige Lied, dass in beschleunigter Fassung seinen Kampf mit dem Drachen begleitet hatte, nun wieder verlockend süß und Auffordernd. Er hörte nur noch dieses Lied und handelte wie ein Roboter. Mit nun völlig gefühllosem Blick nahm er einen großen Eisenkessel vom Teppich herunter und ging mit festen Schritten zum verendeten Drachen hinüber. In seinen Ohren und Gedanken klangen nur die verheißungsvollen Zeilen aus dem Lied, das ihn seit vielen Nächten vorantrieb, hin zu diesem so wichtigen Augenblick. Er stellte den Eisenkessel so, dass er genau unter der tödlichen Wunde in der Unterseite stand. Dann griff er die Lanze und zog sie mühelos aus der Wunde. Augenblicklich ergoss sich noch dampfendes, dunkles Drachenblut in den großen Eisenkessel hinein. An den Wänden des Behälters waren Schriftzeichen, die für Blut, Feuer, Stärke, Unverwüstlichkeit und Vernichtung standen. Weiter und weiter füllte sich der Kessel mit Drachenblut, bis er fast voll war. Takeshi winkte mit dem Zauberstab und befahl im Takt des Liedes, dass ein Stein die Wunde verschließen sollte. So wurde die Blutung gestoppt, zumal das Herz des Drachens nicht mehr schlug. Er wischte mit einem großen Leinentuch das über den Rand getretene Drachenblut ab und schloss den Kessel. Dann befahl er der Lanze: "Vergehe im Ruhm deines Sieges!" Darauf strahlte die Lanze noch einmal hell auf und zerfiel dann zu nichts als Roststaub.

Mit einem Selbststärkungszauber verlieh er sich die Kraft, um den großen Kessel mit dem Drachenblut auf den Teppich zu heben. Dabei achtete er darauf, dass kein Blutstropfen auf das bezauberte Gewebe kam. Denn Flugteppiche mochten nicht besudelt werden, je magischer die Flüssigkeit war, desto heftiger reagierten sie darauf.

Unter den wieder schnellen und fröhlichen Tönen des Liedes, nur ohne Text ging es durch die Luft davon bis zu einer Schmiede, deren Feuer schon loderte. Dort durfte der siegreiche Drachentöter endlich sein größtes Werk erschaffen, ein anderthalb Armlängen messendes Schwert aus der silberweißen Metalllegierung, die er vor undenkbarer Zeit gemischt und als vollkommen erkannt hatte. Wo andere Schmiede Tage oder Wochen für brauchten gelang ihm in wohl nur wenigen Stunden, die Faltung der Metallschichten, das Formschmieden, die Beachtung der Biegsamkeit der Klinge und die Härte der Schneide. Am Ende härtete er die Klinge, in dem er sie im neu erhitzten Drachenblut herunterkühlen ließ. Dadurch bekamen die Klinge und der Teil, der mit dem Griff verbunden werden sollte, eine dunkelgrüne Farbe, behielten aber ihre spiegelnde Oberfläche. Ganz zum Schluss nutzte er einen die ganze Luft absaugenden Flammenstrahl aus dem Zauberstab, um das mit Sand bestreute Ende, wo der Griff angesetzt werden sollte, soweit zu erhitzen, dass er den griff daran anschweißen konnte. Der Griff bestand aus schwarzem Vulkangestein, das früher einmal glutheiße Lava gewesen war und sicher einige Zerstörung bewirkt hatte. In den Griff hatte er bereits die Zeichen für die von ihm ausgewählten Zauber eingeritzt. Er ließ seinen Zauberstab über Klinge und Griff schwingen und murmelte im Takt des nun ganz leisen und wortlosen Liedes Zaubersprüche des Feuers, der Geschwindigkeit, der Unterwerfung und der Unzerstörbarkeit, des ewigen Mondes und der Kraft der Glut aus den Tiefen der Erde, welche Landschaften formen kann und fruchtbaren Boden bereitet, auf dem viel gedeihen kann. Das Schwert glühte immer heller. Der Boden Bebte spürbar. Dann erstrahlte die Klinge weißblau. Der Träumende umfasste den nun warmen Griff und hob das Schwert empor. Unter den nun triumphalen Klängen jenes Liedes, das ihn durch dieses Abenteuer begleitete, reckte er die hell glühende Klinge in den Nachthimmel über der Schmiede. Alle Feuer erloschen. Doch er fühlte die Macht des heißen Urelementes, aus dem einst alles geboren worden war, aus dem Feuer der Sonne und der erstarrenden Glut der Erde. Doch auch dem Mond war er verbunden. Irgendwie dachte er daran, dass er das Kind von Feuer und Erde war, dazu verdammt, die Mutter immer zu umwandern und dabei das Licht der abwesenden Sonne kalt und silbern zurückzuwerfen. Ja, er war verbunden mit Feuer, Erde und Mond und nur in der Abwesenheit der mit ihrem gleißenden Feuer den Himmel beherrschenden Sonne. Jetzt war er wahrlich ein Wächter, ein Hüter der dunklen Wege. Bald würde er der Herr sein, der Herr über alle in der Nacht lebenden Wesen und allen, die mit dem Nachthimmel und dem Erdfeuer verbunden waren. Er hatte das Schwert. Und weil es aus vom Mond gestärktem Silber war und in sich das Eisen aus Feuerbergen und gefallenen Himmelsteinen barg, und all das im Blut eines getöteten, fruchtbaren Drachenweibes gehärtet worden war, nannte er das Schwert ...

Piep-piep-piep! Das überlaute und alle Melodie und Freude übertönende Piepen zerrte Takeshi aus seinem Traum heraus. ER war jetzt kein Drachentöter und Zauberschmied mehr. Er war jetzt wieder dieser junge, von seinen Eltern abhängige, jeden Tag zwischen Montag und Freitag zur Schule gehende Stadtjunge Takeshi Tanaka. Das Piepen des Weckers überlagerte auch die letzten schwachen Laute jenes Liedes, das ihm die Macht des dunklen Wächters gegeben hatte. Dunkler Wächter? Das klang nicht nach Luke Skywalker, sondern nach Darth Vader, nicht nach Flash Gordon, sondern nach Ming dem Gnadenlosen. Wollte er das sein, ein dunkler Lord, ein finsterer Hexenmeister? Gerade wurde ihm Angst und Bange. Was lief da mit und in ihm ab? Dann war ihm, als wische jemand ganz behutsam alle Überlegungen aus seinem kopf heraus. Er hörte nur noch den Wecker. "Aus!" rief er. Der Wecker verstummte.

Ohne weitere Gedanken an das, was er war oder nicht sein wollte machte er sich für den Tag fein. Der Tag, Sonne, bald Sommer. Das würde sicher ein heißer Sommer sein, zu viel Sonne.

Das Frühstück mit seinem eisig schweigenden Vater, seiner zwischen den Stühlen hängenden Mutter und den zwei sich gegenseitig wegen irgendwas anstachelnden Schwestern überstand Takeshi wie die letzten Male. Er Empfand weder Freude noch Reue, als sein Vater aufstand und fortging. Seine Arbeitstage bei Hiromitsu waren gezählt. Am ersten August war es vorbei. Deshalb sagte er zu seiner Mutter:

"Wenn du es erlaubst, Mutter, darf Naomi meinen Schlüssel haben. Ich möchte heute Nachmittag im Internet nach einem Ferienjob suchen. Es sei denn, du steckst mein Internetkabel wieder in den Router. Dann kann ich auch von hier aus suchen."

"Der Router steht im Arbeitszimmer deines Vaters. Er hat den Schlüssel dazu, und du weißt, wie du wieder Internet bekommst", sagte seine Mutter mit betrübter Miene.

"Stimmt, ich trete die Tür ein, stecke denSteckerein, fertig", stieß Takeshi aus. Seine Mutter und seine Schwestern erschraken über die entschlossene Stimme. Dann sagte er: "Aber das mach ich sicher erst, wenn ich hier nicht mehr wohnen muss. Weil dann wird mich unser aller Ernährer auf Zeit garantiert rausschmeißen. Also gehe ich lieber ins Internetcafé, aber ohne Keiko. Die muss ich dann nämlich von einem anderen Rechner wegholen, weil die da alle möglichen Animeserien durchguckt."

"Ey, was soll'n das?" entrüstete sich Keiko. Ihre Schwester grinste verwegen und meinte: "Recht hat er aber. Oder was meinst du, warum du noch kein eigenes Internetkabel im Router hast. Ein Steckplatz ist ja noch frei."

"Bääääh!" machte Keiko und streckte ihrer Schwester die Zunge heraus. Das brachte ihre gemeinsame Mutter dazu, beide zu tadeln, dass sie sich nicht so verhalten durften und Keiko froh sein durfte, den Versuchungen des Internets noch lange genug entzogen zu werden.

"Ja klar, Mama, das Internet ist nur ein Pfuhl, in dem unschuldige Jungen und Mädchen in Sünde und unehrenhaftem Zeugs ersaufen", sagte Naomi.

"Seht euren Bruder an, wie er sich verändert hat", mahnte ihre Mutter. Darauf sagte Naomi: "Das nennt man Pubertät, Ma, hat er, habe ich und Keiko sicher bald auch."

"Das ist kein Grund für dauernden Ungehorsam, Widerworte und andere Dummheiten", sagte ihre Mutter. Takeshi meinte dazu nur: "Doch, Mama, das ist der Grund überhaupt."

"Ich erkenne, dass mit euch dreien jetzt nicht darüber zu sprechen ist, wo ihr nur noch eine Stunde bis Schulbeginn habt. Also seht zu, dort hinzukommen!" befahl die Mutter der drei nicht mehr so ganz gehorsamen Kinder.

"Der Tag ist schon durch", maulte Naomi. Takeshi wusste, dass er die zwei einsammeln musste und nicht ins Internetcafé konnte. Na ja, hockte er eben zu Hause herum. Ichiro hatte ihm da was erzählt, was ihm die leidige Sache mit dem Ferienjob vom Hals halten mochte. Etwas, was Toshi auch schon mal gemacht hatte, um ganz legal an Geld zu kommen. Was auch immer das sein sollte, er würde es bald brauchen, dachte Takeshi.

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12.07.2004

Kohaku Murabayashi hoffte, dass die von ihm erwählten zwölf Zauberer bald die Abstimmung für den Beschleunigungszauber gefunden hatten, um das Schwert endlich unhörbar zu machen. Dann hatte er noch eine Eule von einem Untergebenen des Außentruppenführers Hiro Kazeyama erhalten, dass das Schwert wohl nach einem noch lebenden Nachfahren des dunklen Wächters suchen mochte oder schlimmer noch, ihn bereits gefunden hatte und nun versuchte, ihn dem dunklen Wächter gefügig zu machen. Die Idee hatte viel für sich. Doch wie wollten sie diesen noch lebenden Nachfahren finden? Feststand wohl, dass der dunkle Wächter einen Mann oder Knaben zum Ziel hatte. Doch seit er gewirkt hatte waren viele Generationen gekommen und wieder gegangen. Jede davon hatte noch mehr Nachkommen einer Blutlinie hinterlassen. Sicher dünnte sich eine Blutlinie immer mehr aus. Doch im Grunde blieb sie weiterhin in der Welt, so wie die Blutlinie des Kaisers, die laut den alten Geschichten auf die Sonnengöttin Amaterasu selbst zurückging, beziehungsweise auf ihren Enkelsohn, dessen Namen der amtierende Zaubereiminister als Vornamen zu tragen die große Ehre hatte. Da fiel ihm ein, dass genau das das Schwert bestärkte, dass es so viele Nachfahren aus der Blutlinie des dunklen Wächters gab, dass jeder heute lebende Nachfahre dem Schwert unbewusst und ungewollt half, weiter zu erstarken. Ja, es wurde wirklich zeit für den Zeitzauberversuch.

Herr Murabayashi, die wachenden Geister streben immer mehr auf den Kerker des Schwertes zu", vermeldete einer der Gehilfen des Hüters.

"Dann befehlt die eisernen Krieger an die früheren Stellen und gebt den Geistern die Anweisung, nur noch außerhalb des Hauses auf Wache zu bleiben!" erwiderte Murabayashi über die allgemeine Sprechverbindung.

"Wenn die Geister der verstorbenen Mitstreiter dem Schwert verfallen könnte es dadurch auch gegen uns vorgehen", dachte Murabayashi. Er prüfte deshalb, ob die Wände, die Decke und der Boden noch die Zauber gegen körperlose Seelen hielten. Dem war noch so. Die Vorstellung, dass ein seit Jahrhunderten in einem Kerker liegendes Schwert die treuen Wachen des Hauses der Gefahren und Schätze gegen ihre lebenden Mitstreiter aufhetzen könnte gefiel ihm gar nicht. Vielleicht hätte er vorsorglich befehlen sollen, die Wachgeister einzufangen und bis auf weiteres in Seelenkrügen aufzubewahren, bis die Sache mit dem Schwert erledigt war. Doch das war undankbar den treuen Wächtern gegenüber, die das Recht auf einen Platz in den hellen Gefilden ehrenvoller Seelen abgelehnt hatten, um weiterhin für den Orden der Hände Amaterasus zu kämpfen und ihm auch sonst zu dienen.

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15.07.2004

"Ryu no Kiba - Des Drachen Zahn", so hieß das grüne Schwert, in dem die Heilenden und zerstörenden Kräfte des heißen Erdinneren enthalten waren. Als der Zauberer und Wunderwaffenschmied sein Meisterwerk schwang lachte er zu den schnellen und triumphalen Klängen des Liedes, die von überall her klangen, aber nun auch vor allem aus dem Schwert selbst zu tönen schienen. Jedes mal, wenn er das Schwert Ryu no Kiba durch die Luft schwang klang es ein wenig lauter. Doch noch fehlte dem Schwert was entscheidendes, um sein eigenes, unbesiegbares Schwert zu sein, noch mächtiger, als das von Susanoo aus dem Schwanz des achtköpfigen Ungeheuers gezogene Kusanagi no Tsurugi, das Schwert, das von selbst das Gras mäht. Es brauchte einen Teil seiner Seele, um ihm fortan und auf Ewig zu dienen, sich selbst und ihn zu einer unbezwingbaren Kampfeinheit zu verbinden. Das ging nur, wenn er jemanden tötete und aus der Kraft des gewaltsamen Todes die Macht für eine Abspaltung eines Teils seiner Seele bezog. Sicher, er, der dunkle Wächter, hatte schon viele Gegner gefällt und seinem Zauberstab einen kleinen Teil seiner Seele eingeflößt. Doch wenn er das Schwert in seinen Händen auf sich allein einstimmen wollte musste er noch einmal töten.

Takeshi, der das Wirken und Denken des Zauberers mitverfolgte, wimmerte bei dem Gedanken, dass er jemanden töten musste. Doch er konnte den Körper, in dem er gerade steckte, nicht davon abbringen. Im Gegenteil, der andere Bemerkte, dass wohl etwas in ihm widerstrebte und dachte: "Wer Macht will muss den Weg durch dunkelste Nächte gehen, so wie ich es tat, von einem Leben zum anderen. So sei es."

Im nächsten Moment verstummte das Lied des schwertes, und Takeshi meinte, in einem engen, dunklen Raum unter Wasser zu sein, mit durchgebeugtem Rücken an einer weichen Wand lehnend, Die Knie bis zu den Augen angezogen. Er hörte dumpfes Grummeln, Rauschen und gleichmäßiges Fauchen, sowie das dumpfe Pochen über sich. Er hörte auch schnelles Wummern von sich selbst ausgehen und bekam einen im Takt pulsierenden, spiralförmigen Schlauch zu fassen. Sofort erinnerte sich der Junge an die Biologiestunden, wo sie es von der Zeugung bis zur Geburt hatten, wie ein neuer Mensch entstand. Er erkannte seine eigenen Geräusche als Herztöne eines Ungeborenen. Dann hörte er dumpf und laut eine um ihn klingende Frauenstimme sagen:

"Und Schwester, er wird mein erster und stärkster Sohn sein. Ich freue mich schon darauf, mal was lebendes aus meinem Bauch rauszulassen, statt es dort hineinzuschlingen."

"Schwester, du weißt aber auch, dass ein Hanyo stärker sein kann als unsereins selbst. Er könnte dir gefährlich werden", klang eine leicht nachhallende Stimme zur Antwort.

"Das wird er nicht wagen. Wenn es eine Tochter wäre sicher, da sie meint, mich beerben zu dürfen. Aber ein Sohn wird immer treu sein."

"Verdammt, ich bin ein Ungeborener in einer Menschenfresserin, einer Omi oder Yamauba", dachte Takeshi nun ganz frei von den sonstigen Einflüssen durch das Lied. Denn dieses war gerade nicht zu hören.

"Ah, er hört uns, Schwester. Er klagt sein Leid, weil ich ihn dreierlei zu mir nahm, seine Saat, sein Fleisch und seine Seele", lachte die dumpf klingende Stimme derjenigen, die ihn austrug. "Nein, ich will das nicht sein. Ich will hier raus", widerstrebte Takeshi rein gedanklich und trat dann heftig um sich. Ein lautes Stöhnen und Wutgegrummel waren die Antworten. "Nein, du bist mein Kind. Du bist mein Fleisch und Blut. Füge dich und Gedeihe!" hörte er die dumpfe Stimme. Als wäre das eine Zauberformel ließ jeder Widerstand nach. Herzschlag für Herzschlag floss in ihn ein, dass er an seinem Los nichts ändern konnte. Im gleichen Maße erkannte er, dass ihm damit auch eine große Möglichkeit gegeben wurde, viel Ruhm und Macht zu erreichen, wenn ihn diese große, gefräßige Yokai um ihn herum irgendwie auf die Welt zurückbrachte. Er würde diese Möglichkeit nutzen, mächtig und stark zu werden, sobald er da draußen war und groß genug war.

Da fühlte er, wie er sich langsam im warmen Wasser umdrehte, bis sein Kopf in einer Mulde lag. In den folgenden Minuten erlebte er, wie er Zentimeter für Zentimeter aus dem Leib der Menschenfresserin hinausgedrückt wurde. Sie stöhnte, schrie und keuchte. Immer enger wurde es um ihn, bis sein Kopf in etwas flüchtiges hineingedrückt wurde. Dann rutschte sein restlicher Körper hinaus in eine kalte, sternenklare Nacht im Gebirge. Er fühlte, wie ihn zwei Hände auffingen und auf etwas sich sanft hebendes ablegten. "Da warst du gerade noch drin. Sieh zu, dass ich dich nicht noch mal in kleinen Stücken dort hineinschlinge", hörte er die Stimme jener Unholdin, deren Kind er geworden war. Er schrie genauso wie ein neugeborenes Baby schrie, laut und verängstigt, hungrig und verzweifelt, weil er der schützenden Umhüllung entglitten war.

Er fühlte, wie die noch pulsierende Nabelschnur von ihm gelöst wurde und dass er nun noch weiter nach oben geschoben wurde. "Nimm mich an und sei angenommen", hörte er über die Schreie hinweg die Stimme seiner neuen Mutter.

Gerade, als er sich zu einer ihrer für ihn kopfgroßen Brüste vorgearbeitet hatte piepte etwas laut und in einem fremden Rhythmus als das Atmen seiner neuen Mutter.

Takeshi hörte noch halb, dass er nicht nur im Traum wie ein Baby schrie, sondern auch in Echt genauso klang. Dann erkannte er, dass er wieder wach war und fühlte große Scham. Wenn das gerade wer gehört hatte.

Seine kleine Schwester hatte das gehört. Denn beim Frühstück fragte sie ihn, warum er im Traum so gequängelt hatte wie ein Baby. Er erwiderte darauf, dass er von seiner eigenen Geburt geträumt hatte. Das schien seiner echten Mutter wohl nicht so zu behagen. Sie sah ihn streng an und sagte: "Selbst wenn du davon noch was im Unterbewusstsein mit dir trägst, gehört das jetzt nicht hier hin."

Takeshis Vater sah seinen Sohn verdrossen an. Doch er blieb bei seiner Haltung, kein Wort mehr mit ihm zu sprechen. Dafür meinte Naomi: "Ui, kann man sich echt doch noch dran erinnern, wie's im Mutterbauch war. Gut, will ich besser auch nicht genau wissen." Ihre Mutter sah auch Naomi tadelnd an, die in halber Abbitte nickte. Damit war das Thema für Takeshi erledigt. Gut, dass Keiko nicht mehr wissen durfte. Denn der Zehnjährigen was zu erzählen, dass er von einer Berghexe gefressen worden war, um dann von dieser wiedergeboren zu werden, hätte ihr sicher den ganzen Tag versaut. Ihn hätte das sicher auch übel runtergezogen. Doch nun war er sich sicher, dass jemand, wohl ein Vorfahre von ihm, wahrhaftig ein Halbdämon gewesen sein musste und dessen Erbe nun in ihm aufging, weil er vom Jungen zum Mann wurde. Doch warum er und nicht sein Vater oder seine Schwestern?

Merkwürdigerweise fühlte er wegen dem, was er als Erkenntnis empfand, kein Unbehagen. Vielmehr hielt er sich gerade für was besonderes, einzigartiges, jemand, der demnächst wirklich was großes leisten konnte. Doch musste er dafür Menschen töten? Das hoffte er, konnte er vermeiden. Doch was, wenn Naomi oder Keiko eines Tages selbst zu weiblichen Yokai wurden und ihn als Schwächling oder Widersacher ansahen? Er hatte seine Träume bis gerade eben geheimgehalten. Seine Schwestern taten das auch. Denn wer die Träume eines anderen kennt kennt auch den Weg in sein tiefstes inneres, hatte er mal einen Shintopriester sagen hören. Daher sollten Träume tunlichst nur denen erzählt werden, denen der Träumende vertraute. Konnte er seiner Familie noch so bedingungslos trauen? Vor allem sah er nun, wie sein Vater seltsam dreinschaute, als arbeite in dessen Kopf irgendwas vielleicht gegen ihn, Takeshi.

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17.07.2004

Sie waren sich sicher, den Beschleunigungszauber nun vollkommen zu beherrschen. Zwölf Hände der Amaterasu meldeten sich bei dem Hüter der Gefahren und Schätze, um hoffentlich dem singenden Schwert des dunklen Wächters beizukommen. Zum Beweis ließen sie vor dem Hüter des Hauses innerhalb einer Viertelminute aus einer Eichel eine mehr als dreihundertjährige Eiche wachsen. Der Baum verlor andauernd Blätter und bekam neue. Selbst das abgeworfene Laub verwitterte in einem winzigen Augenblick. Dann erbebte der rasend schnell hochgewachsene Baum. Seine Rinde wurde rissig. Dann fielen seine Äste ab und zerfielen im Flug zu staub. Während die Eiche scheinbar tausend Jahre in nur einer Minute überdauerte verlor sie immer mehr Kraft. Dann wankte sie und stürzte um. Die Zauberer sprangen schnell in die Richtung, in der der Baum sie nicht traf. Dann sahen alle, wie die gezauberte Rieseneiche beim Aufschlagen wie ein leerer Luftsack in sich zusammensank und dabei zu Holzmehl und dann zu feinstem Staub zerfiel.

"Eine sehr erschreckende wie beeindruckende Art, die Zeit zu beschleunigen", sagte Murabayashi. "Wenn das wer mit einem Menschen macht?"

"Der kann aus einem ungeborenen in einer halben Minute ein erwachsenes Knochengerüst werden lassen", brachte es einer der zwölf Thaumaturgen auf den Punkt. "Dieser Zauber ist eine gefährliche Waffe, aber im Vergleich zum Seeleneis noch die harmlosere Form."

"So wollen wir es wagen", sagte der Hüter der Gefahren und Schätze. Dann ließ er sie und sich mit mehrfachen Schutzamuletten gegen geistige Unterwerfung ausstatten. Danach geleitete er sie durch die schweren Türen zu jenem Raum, in dem das Schwert in seinem tiefen Schacht lag. Sie wussten, dass sie bei Sonnenlicht draußen wohl gut zaubern konnten. Denn das Schwert nahm seine Tätigkeit immer nur während der Nachtstunden auf. Dennoch wollten sie kein Risiko eingehen. Sie schickten einen der roten Eisendiener hinunter. Dieser krabbelte auf seinen vier Spinnenbeinen hinunter und ergriff das auf einem gleichwarm bezauberten Kissen liegende Schwert mit seinen Zangen. Dann krabbelte er mit seiner Fracht wieder hinauf. Je mehr der magisch betriebene Diener dem Rand des Schachts näherkam, desto deutlicher spürten sie die langsamen Stöße in den Schutzamuletten. Selbst im scheinbar völlig toten Zustand strahlte diese verfluchte grüne Waffe eine wirksame Zauberkraft aus. "Hüter der Schätze, mit allem Respekt vor dir als Mitstreiter und deinem Amt als Herr dieses Hauses bitten wir dich aus Sorge vor möglichen Fehlgängern, unser Werk durch die sichere Tür des Kerkerraumes zu verfolgen", sagte einer der zwölf Zauberer der Hände Amaterasus. Murabayashi verstand. Er war hier einer zu viel. Immerhin erlaubten sie ihm noch, zwölf Stühle hinzustellen. Dann zog er sich hinter die schwere Tür mit dem Guckloch zurück. Er schloss die Tür und sah zu.

Erst legten sie das scheinbar harmlose Langschwert auf den Boden. Dann zogen sie drei konzentrische Kreise darum herum. Zwischen die Kreise malten sie verschiedene Zauberzeichen. Dann nickte der Truppführer seinen Leuten zu. Auf sein Zeichen hoben alle wirklich gleichzeitig ihre Zauberstäbe und machten auch die gleiche und ganz genau abgestimmte Bewegungsform. Murabayashi war sich nun sicher, dass das Schwert des dunklen Wächters gleich keine Gefahr mehr darstellen würde. Auch wenn es ewig halten mochte, sein sogenanntes Lied würde viel zu schnell und für alle Welt unverständlich erklingen, vielleicht sowas wie ein wiederholtes, hohes Grillenzirpen in den Gedanken jener, die dafür empfänglich waren. Sicher, sowas konnte auch auf Dauer zum Wahnsinn führen. Doch besser als sich von der Macht des dunklen Wächters zu neuerlichen Gräueltaten treiben zu lassen.

Nun sprachen die zwölf wohl ihre Zaubersprüche. Er sah, wie innerhalb der drei Kreise eine blau-grüne Lichtspirale um das Schwert herum entstand und sich der geächteten Waffe immer weiter näherte, sie ergriff und an ihr wetterleuchtete. Das Wetterleuchten wurde immer schneller und heller. Dann geschah es.

Es war wie eine Kaskade von hellblauen und hellgrünen Gewitterblitzen, die den Raum erhellten. Der Hüter der Schätze fühlte, dasss etwas gegen die Tür schlug und zurückprallte. Sollte das so sein? Dann sah er, dass das Schwert wieder unten im Schacht lag, als habe es ein Teleportationszauber dort hinbefördert. Die drei Kreise waren nicht mehr zu sehen, und auch die zwölf Zauberer waren nicht mehr zu sehen. Das war niemals im Leben das gewünschte Ergebnis. Er wollte gerade die Tür öffnen, um hineinzugehen, als aus dem Nichts heraus die zwölf Zauberer in gekrümmter Haltung am Boden liegend auftauchten. doch sie regten sich nicht mehr. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und trocken wie nach Tagen im Wüstensand. Ihre Augen lagen tief in den Pupillen. Dann zerfielen ihre Körper innerhalb von wenigen Sekunden bis auf die Knochen. Diese blieben noch einige Sekunden lang sichtbar, bevor auch sie zu Staub zerfielen. Für Murabayashi stand mit entsetzlicher Gewissheit fest, dass die zwölf Freiwilligen ihren eigenen Zeitzauber abbekommen haben mussten. Ja, und dass sie erst einmal nicht mehr zu sehen gewesen waren lag daran, dass sie sich für menschliche Augen viel zu schnell bewegt hatten. Immerhin hatten sie das Schwert in den Schacht zurückgeworfen. Als dieses außerhalb ihres Zaubers war kehrte es in den normalen Zeitablauf zurück und wurde sichtbar. Dann hatten die bedauernswerten Menschen wohl versucht, die Tür aufzukriegen, was jedoch nicht gelang, weil die magische Vorrichtung für Stimmbefehle ihre viel zu schnellen und viel zu hoch klingenden Befehle nicht verstehen konnte. Ab da war es nur noch das blanke Grauen gewesen, zwölf Leute in einem Kerker, kein Essen, kein Trinken, mit der Gewissheit, zu sterben. War für den Hüter der Schätze nur eine halbe Minute vergangen, so mochten es für die bedauernswerten Mitstreiter Tage gewesen sein. Denn ohne Wasser trat der Tod schon nach wenigen Tagen ein.

Murabayashi wusste nicht, ob er es wagen durfte, die Tür zu öffnen oder ob der fehlgeschlagene Zeitzauber dann noch ihn ereilen würde. Er beschloss, lieber noch eine Stunde zu warten. Die nun bedauerlicherweise für die große Sache verstorbenen hatten ihm gesagt, dass der Zauber nur zwei gewöhnliche Minuten halten konnte. Dann klang er innerhalb einer weiteren Viertelminute restlos ab. Für die armen Wichte da in dem Schwertkerker waren diese zwei üblichen Minuten die letzten Tage ihres Lebens gewesen.

Murabayashi durchquerte die Schleuse des gesicherten Kerkers zurück in die Kellergänge des Hauses. Auf dem Weg nach oben überlegte er, wie er Takayama und dem restlichen Rat erklären konnte, was geschehen war. Dass er dies musste war klar. Immerhin hatte die Kerkertür den Zeitzauber zurückgehalten, sonst wäre er wohl auch nur noch ein Häuflein Staub.

Er betrat seinen Arbeitsraum. Dort nahm er jenes Allrufhorn, mit dem er sämtliche Mitarbeiter erreichte. Diesen verkündete er nun die traurige Nachricht und bat um eine Gedenkminute für die Verstorbenen. Dann brauchte er erst einmal einen ordentlich erwärmten Sake. In einer Stunde würde er den Rat verständigen und seinen Rücktritt anbieten. Vielleicht musste er seine Ehrenschuld sogar mit seinem Leben einlösen. Er war darauf gefasst.

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Takeshi hatte an diesem Abend starke Kopfschmerzen. Es war, als wolle sein Gehirn durch die Schläfen aus dem Schädel brechen. Er dachte schon, Kopfschmerztabletten aus dem Medikamentenschrank in der Küche organisieren zu müssen, als mit einem kurzen, wie ein elektrischer Schlag durch seinen Kopf zuckenden Schmerz alles wie weggeblasen war. Er meinte sogar, ein triumphierendes Lachen in weiter ferne zu hören. Dann war wieder ruhe. War das der, dessen möglicher Nachfahre er war? Vielleicht sollte er sich doch ein paar Schlaftabletten besorgen, um mal ohne Träume zu schlafen. Doch seine Großtante war nach sowas süchtig geworden und war wegen mangelndem Traumschlafes richtig rammdösig geworden, bis sein Großvater sie in eine Suchtklinik gebracht hatte, wo sie die totale Entgiftung und Entwöhnung hatte durchmachen müssen. Das hatte Takeshi und die Mädchen vor allen anderen Warnungen überzeugt, dass sie besser nichts mit Drogen anfangen sollten, legalen oder illegalen.

Schon um halb zehn lag er im Bett. Im Internet konnte er eh nicht surfen. Sein Vater hatte die Fernbedienung für den Großbildfernseher in sicherer Verwahrung und würde sich seine Sendung über die US-Baseball-Oberliga nicht ausreden lassen. Naomi konnte ihren eigenen Internetkanal nutzen, um sich über ihre Lieblingsthemen dumm und dämlich zu lesen. Also hatte er sich eines seiner alten Kinderbücher von vor fünf Jahren gegriffen und noch mal die alten Märchen nachgelesen, die sein Volk so ersponnen hatte. Doch gegen das, was er sich in den letzten Wochen zusammengeträumt hatte waren die alle nur kalter Tee. Hoffentlich träumte er diese Nacht nicht wieder von dieser Yamauba, deren Baby er geworden war. Am Ende meinten seine Eltern noch, er drehe durch. Das käme denen sogar recht, weil sie damit seine rebellische und respektlose Art begründen konnten. Aber dann sollten die Klapsdoktoren auch seinen Vater und seine Schwester Naomi durchchecken. Denn die verhielten sich ja auch nicht mehr so wie früher.

Es begann wieder mit dem Lied, diesem wunderschönen, Macht und Ruhm verheißendem Lied. Als er es sehr laut hörte trieb er durch die unendlichen Weiten des Weltraums, fern von der Erde. Er meinte, dass die Sterne ihn anzogen. Jeder der kleinen Lichtpunkte schien zum greifen nah zu sein. Dann hörte er aus dem Lied heraus eine Stimme: "Bist du bereit für den Kampf gegen den Meister der Schwerter? Oder willst du noch einmal zurück in den Schoß der alten Berghexe?" Das Lied verstummte, und die Sterne erloschen. Jetzt schwebte er in einem völlig leeren, lautlosen Raum. Er hörte nur noch seinen eigenen Herzschlag. Rumm-bumm - rumm-bumm - rumm-bumm. Er meinte schon, dass er auch wieder das übergroße Herz der Yamauba hörte, in deren Bauch er sich nach seiner Weigerung zu töten, wiedergefunden hatte. So dachte er schnell: "Ich bin bereit zu kämpfen." Das Wort "kämpfen" kam nun als jede Sekunde klingendes Echo aus allen Richtungen. Dann stand er unvermittelt auf festem Boden.

Zu seinen Füßen lag der fliegende Teppich, bereit, ihn zum Ort des Zweikampfes zu tragen. Über sich sah er die Sterne am Himmel flimmern, nicht mehr so klar und so nah wie gerade eben noch. Es war ihm, als sei er aus dem Himmel auf die Erde herabgestiegen. In der linken Hand hielt er den silbergrauen Stab. In der rechten Hand hielt er das bei Feuerschein und Tageslicht grüne Schwert, das Ryu no Kiba hieß. "Bring mich zum Haus von Toshi Nakahara!" rief er dem Teppich in einer fremden Sprache zu, die er aber irgendwie verstand. Dann hob der Flugteppich ab und raste durch die Luft dahin. Wer und wo dieser Toshi Nakahara war wusste Takeshi nicht. Sein Schulfreund Toshi hieß Okuma mit Familiennamen. Außerdem war das hier alles eine Gegend aus längst vergangener Zeit.

Als er auf eine Berghütte zuraste wusste er, dass dort einer seiner Widersacher wohnte, der Sonnenzauberer Toshi Nakahara mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Was wollte er hier, sich auf den eigentlichen Kampf mit König Sojobo vorbereiten?

Ohne es selbst zu wollen schwang er den Zauberstab und machte damit eine sonnengelbe Halbkugel sichtbar, die über dem Haus stand. Er raste auf diese Halbkugel zu. Dabei konzentrierte er sich auf sein neues Schwert. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis dieses aus sich heraus erst dunkelbraun, dann mittelrot und dann immer heller und gelber glühte, bis es selbst die Farbe der Mittagsssonne angenommen hatte. Das dauerte zu lange. Er musste dieses Schwert unbedingt schneller erstrahlen lassen. Doch nun konnte er sich nach vorne werfen und mit der glühenden Schwertspitze in die gelbe Kuppel hineinschneiden. Es krachte und prasselte laut. Die Kuppel wankte wummernd und sprühte Funken. Das Schwert konnte sie nicht durchdringen. Es federte zurück wie von einem prall aufgepumpten Fußball. Einem was? - Auf jeden Fall konnte er die Klinge nicht durch die Kuppel stoßen. Dann prallte er mit dem Teppich darauf. Er wurde wie von einer glutheißen Riesenfaust getroffen und prallte schreiend zurück. Sein Flugteppich bockte und spie grüne und blaue Blitze aus. Dann sackte er durch. Mit einem unangenehmen Hopser landete der Teppich und blieb liegen. Takeshi oder der dunkle Wächter fand sich auf den Knien wieder. Das war eine völlig unwürdige Haltung für ihn. Wütend sprang er wieder auf. Die gelbe Kuppel erlosch gerade. Doch der Zauberer und Wunderwaffenschmied wusste, dass sie noch da war. Nakahara hatte sein Haus mit einem Absperrzauber gegen seine Feinde gesichert. Deshalb wollte er ja mit dem Schwert dorthin. Doch offenbar reichte dessen gesammelte Kraft nicht aus, um diese von der Sonne erstarkte Kuppel zu durchstoßen. Aber wenn er schon am Boden war blieb ihm eine Möglichkeit. "Erdenfeuer Quell der Macht, hilf mir graben einen Schacht!" beschwor er, indem er seinen Zauberstab an die Schwertklinge hielt. Diese erglühte nun in einem gelb-grünen Licht, ähnlich wie reines Chlorgas, wie es der Chemielehrer vor zwei Jahren vorgeführt und darüber belehrt hatte, wie giftig und ätzend es in Reinform war und dass es bei hellem Licht eine explosionsartige Reaktion mit der Umgebungsluft durchlief.

Hier und jetzt nutzte er jedoch das erleuchtete Schwert, um sich einen Schacht in den Boden zu graben. Tiefer und tiefer drang er so vor. Er wusste, dass eine Sonnenkuppel nur dort wirkte, wo auch Sonnenstrahlen oder deren geschwächte Spiegelung, das Mondlicht, hinreichten. Doch die Erde und der Mond waren seine Freunde. Sie gaben ihm die Macht, gegen die Sonnenzauber anzuwirken. So grub er sich mit dem glühenden Schwert in Sekundenschnelle durch den Boden, wie ein siedendheißer Bohrer sich durch einen Butterberg arbeitet. Durch die Zauberkraft des Schwertes blieb der Schacht und der von ihm ausgehende Tunnel stabil. Er lief mit schnell kreisendem Schwert durch das Erdreich und Gestein, bis er sicher war, unter der Kuppel hindurch zu sein. Dann grub er sich einen schräg nach oben weisenden Gang, bis er punktgenau hinter dem Haus Nakaharas durch die Erdoberfläche stieß und wie bei der nacherlebten Geburt aus dem Leib einer Yamauba in die kalte Weltzurückkehrte. "Ruhe, mein Schwert", dachte er. Doch das Schwert erlosch nicht sofort, sondern wechselte erst mal die Farbe zu Sonnengelb. Dann erst wurde es dunkel. Diese Zauber gehorchten seinen Befehlen nur zögerlich. Das musste er ändern, hier und jetzt.

Er wollte gerade die hintere Tür mit einem gekonnten Karatetritt aufbrechen, als diese auch schon aufflog und ein Mann in hellem Gewand heraustrat. In der rechten Hand hielt er einen glitzernden Fächer. So sahen die Zauberkraftausrichter der Lichtanbeter aus, Fächer aus den von selbst abgefallenen Federn großer Vögel, die mit Goldstaub überzogen zu mächtigen Zauberhilfen wurden.

"Yominoko, Schrecken der Menschen, Halbkind der Yokai, was wagst du, den Frieden meines Hauses zu stören?"

"Von dir will ich nichts, Sonnenprediger. Geh mir aus dem Weg oder kehre ein in das Reich der Todesgöttin", sagte Takeshi oder der dunkle Wächter oder wie immer er jetzt gerade hieß.

"Du hast ein Schwert, und ihm haftet schlafendes Feuer an. Du Mörder willst meine Familie abschlachten wie niederes Vieh? So gehe du dorthin, wo du längst hingehörst", sagte der Hausherr und öffnete den Fächer. Dieser glühte auf, als der andere ihn schwang. "So steig hinab zu den Feuern des Vergessens!" rief Takeshi und parierte mit dem Zauberstab vier sonnenhelle Lichtstrahlen auf einmal. Dann glühte sein Schwert wieder auf, langsam, aber sichtbar. Blitze flogen zwischen ihm und dem Hausherren hin und her, prallten auf unsichtbare Abwehrbarrieren oder wurden laut krachend abgelenkt. Dann rief Takeshi zwei Worte in einer ihm völlig fremden Sprache: "Avada kedavra!" Ein gleißendgrüner Blitz sirrte aus dem silbernen Zauberstab und zerschlug den ihm entgegengehaltenen Fächer. Ein Rest der freigesetzten Zauberkraft traf Nakahara voll am Brustkorb. Er röchelte, taumelte und stürzte. Dann zuckte er noch zweimal, bevor er sich nicht mehr regte.

Der dunkle Wächter triumphierte. Dieser fremdländische Todeszauber war doch schneller und stärker als die Worte eines Totsprechers. Es war doch gut gewesen, ihn zu erlernen.

Mit zwei aus tiefster Verachtung heraus geführten Schritten auf Nakaharas Leichnam und über diesen hinweg betrat er das Haus, in dem gerade ein leises Schwirren erklang, als wären alle Mücken des Sumpflandes hier versammelt, um auf Blutjagd zu gehen.

Der dunkle Wächter lief durch das Haus und suchte die Frau und die Kinder. Er wusste, dass die Frau keine Zauberin war. So hatte er auch kein Problem, sie zu finden. Sie war gerade dabei, zwei Jungen und ein kleines Mädchen anzutreiben, mit ihr das Haus zu verlassen. "Da seid ihr ja, das Weib des Sonnenpredigers und seine Brut. So werdet ihr mir helfen, mein Werk zu vollenden."

"Du Mörder. Du hast meinen Gemahl getötet!" schrie die Frau und wollte die Kinder weitertreiben. Doch Takeschi stellte sich mit dem Schwert und dem Stab in Händen in den Weg. Die Frau stellte sich nun schützend vor ihre Kinder, in den Händen hielt sie einen goldenen Bogen, auf dem sie einen Pfeil aufgelegt hatte. Takeshi wusste, dass es nur noch um einen Atemzug ging, wer von beiden überleben würde. Doch er wusste auch, dasss er die Mutter von Zaubererkindern nicht in deren Beisein töten durfte. Selbst wenn sie keine eigenen Zauberkräfte hatte konnte sie durch ihren Opfertod einen lebenslangen Schutzbann über ihre Kinder verhängen, den selbst er, der erwiesene Todfeind, nicht mehr durchbrechen konnte.

"Stirb, du Mörder!" rief die Mutter von Nakaharas Kindern. Takeshi schnellte zur Seite, als ein im Flug hell aufleuchtender Pfeil von der Bogensehne schnellte und mit kurzem Zischen in die Steinwand eindrang und dann zitternd darin steckenblieb. Noch bevor die Frau einen zweiten Pfeil auflegen konnte versetzte er ihr einen Schlag mit der Breitseite seines Schwertes. Sie steckte den Schlag jedoch weg. Die Angst um ihre Kinder machte diese Frau übermenschlich stark. Sie versuchte, mit dem Bogen das Schwert zur Seite zu schlagen. Als ihr das misslang trat sie heftig nach ihrem Todfeind. Dieser tanzte den Angriff aus und holte noch einmal mit dem Schwert aus. Er musste es riskieren, die Frau zu töten. Er musste an ihr vorbei. da stolperte sie und fiel vorne über. Takeshi ließ das Schwert los und versetzte der fallenden einen wuchtigen Handkantenschlag in den Nacken. Diesen konnte auch ihr von Angst und Wut getriebener Körper nicht aushalten. Mit einem Seufzer fiel sie zu Boden. Doch sie atmete noch.

Der dunkle Wächter ergriff sein Schwert und jagte den fliehenden Kindern nach. Sie machten genau das, was in dieser Lage das klügste war. Sie trennten sich. Doch er brauchte nur eines davon. So jagte er dem kleinen Mädchen nach, das nicht so schnell wegkam. Im Laufenholte er mit dem Schwert aus. Eine innere Stimme rief: "Nein, nicht das Kind umbringen!" Doch da sauste die in Drachenblut gehärtete Klinge aus Occamysilber und Sternenstahl durch die Luft und beendete das noch so junge Leben. Unschuldiges Blut ergoss sich über die Klinge, die nun rot aufleuchtete und die grausam errungene Gabe gierig aufzehrte. Auch spürte er einen leichten Ruck in seinem inneren, als wenn etwas von ihm freigesprengt worden war. Er wusste, er hatte sein Ziel erreicht. Im Namen des Schwertes hatte er ihm ein junges Menschenleben geopfert. Nun konnte er vollenden, weshalb er hier war. Er hörte die beiden anderen nach draußen laufen. Sollten sie doch. Er hatte bekommen, was er wollte.

Er hführte den Stab gegen sich und dann zum schwert. Dabei besang er die Verschmelzung eines großen Teiles seiner Seele mit dem Ding, das er dafür gemacht hatte. Er fühlte, wie sich etwas von ihm trennte und merkte, dass ihm ein wenig schwindelig wurde. Doch als er sah, wie ein dunstig blauer Schemen, der ihm ähnelte, auf das Schwert traf und darin eindrang merkte er, wie er und das Schwert immer mehr zueinanderfanden. Dann sah er sein eigenes Gesicht in der leuchtenden Klinge und fühlte, dass das Schwert ihn nun als seinen wahren Herren annahm. Er hatte es geschafft! Diese Nacht noch würde König Sojobo fallen.

Wie zur Unterstützung des grausamen Angriffes erklang das Lied der Macht und des Ruhmes in einer schnellen, vorantreibenden Fassung. Und nun klang es besonders laut von der Klinge seines Schwertes her.

Vorangetrieben von den beschwingten Tönen verließ Takeshi das Haus Nakaharas wieder durch den Hintereingang. Mit seinem Zauberstab prüfte er, ob die Kuppel noch da war. Ja, sie stand noch. Also blieb ihm nur, durch den noch bestehenden Gang unter die Erde zurückzukehren. Doch der Gang begann schon zu verfallen. Er schaffte es gerade so noch, durch den Schacht wieder nach oben zu kommen, wo sein Flugteppich lag. In der Ferne hörte er die Schritte flüchtender Kinder. Offenbar hatte deren Mutter befohlen, dass sie weglaufen sollten, wenn der böse Mann in ihre Nähe kam. Solten sie doch!

"Bring mich zu König Sojobo!" befahl der mörderische Magier demTeppich. Dieser stieg auf und flog davon. Dann machte er sowas wie einen Raumsprung. Denn unvermittelt durchflog er jenes Gebirge, in dem der tempelartige Wohnsitz des Tengukönigs lag. Immer noch schmetterte die kriegerisch vorantreibende Fassung des machtvollen Liedes. Dann ertönte eine langsam gespielte Fanfare, die ankündigte, dass der Wohnsitz des Gegners vorauslag.

Hunderte von Tengus flogen herbei, bildeten einen Ring und dann auch eine kuppelförmige Anordnung um ihn herum. Die Untertanen wollten Sicherstellen, dass der, der ihren König herausgefordert hatte, nicht mehr zurückweichen konnte.

Takeshi rief den König beim Namen. Dieser rat aus seinem Tempel. In der linken Hand hielt er jenen Fächer mit den sieben großen Federn. Er trug eine helle Lederrüstung, wie ein Samurai. In der rechten Hand führte er ein das Mondlicht in voller Stärke spiegelndes Langschwert, ähnlich jenem, dass der Zauberer und Wunderwaffenschmied besaß.

"Meine Tengus haben wahr berichtet. Du hast es gewagt, eine Waffe zu schmieden, um mich, ihren König, herauszufordern", sagte Sojobo mit einer gewissen Wehmut in der Stimme. Der dunkle Wächter deutete diesen Tonfall als Schwächeeingeständnis. Doch er durfte den König der Tengus nicht unterschätzen. So sagte er nur: "Ich habe es Euch versprochen, Sojobo, dass ich wiederkehren würde, wenn ich ein Schwert geschmiedet habe, das den Kampf mit Euch würdig ist. So steht zu Eurem Wort und stellt Euch zum Kampf!"

"Dannleg du deinen Stab fort. Nur die Schwerter dürfen sprechen. Nur die Klinge darf den Kampf entscheiden."

"Dann legt auch Ihr euren Zierrat auf den Boden. Sonst könnte Euch einfallen, in großer Bedrängnis die Tengus gegen mich aufzuhetzen", erwiderte der dunkle Wächter, immer noch die höfliche Anrede gebrauchend.

"Der Fächer der Herrschaft darf nie den gewachsenen Erdboden berühren. Aber ich werde ihn in seinen Schrein schicken, auf dass er dort warte, bis der Kampf entschieden ist." Mit diesen Worten warf er seinen Fächer in die Luft. Dieser spannte sich auf und glitt mit leichten Flatterbewegungen durch die Luft zwischen die Tempelsäulen. Die Tengus erstarrten wie versteinert.

Der dunkle Wächter legte seinen Zauberstab auf den Flugteppich. Dieser rollte sich blitzschnell darum zusammen. "Nur, damit keiner Eurer Diener meint, ihn sich nehmen zu dürfen", sagte der Zauberer, der gekommen war, den König der Tengus zu stürzen.

"Ich gewähre dir noch eine Möglichkeit, den Kampf zu vermeiden und dich in Ehre zurückzuziehen, wenn du mich für deinen Frevel um Vergebung bittest", sagte der Tengukönig. "Bedenke, dass ich ein Großmeister und sehr gewand bin. Du wirst in mir deinen Tod finden."

"Eher wirst du heute deinen Tod finden", erwiderte der dunkle Wächter. Dabei trat er ganz entschlossen auf den wartenden Gegner zu. Dieser reckte sein Schwert in den Nachthimmel, damit es vom Mondlicht vollends übergossen wurde. Der dunkle Wächter erhob auch seine Waffe und hielt sie dem Mond entgegen.

"So soll denn das Schwert nun entscheiden", sagte Sojobo mit entschlossener, leicht angerauhter Stimme. "Einer von uns wird stehenbleiben, der andere wird in den Staub fallen."

"So soll es sein. Darum auf in den Kampf!" erwiderte der dunkle Wächter. Dann senkte er das Schwert mit der Spitze nach unten, trat einige Schritte vor. Auch der Tengukönig schritt auf seinen Gegner zu, wobei er das Schwert nach unten richtete. Als sie gerade noch die anderthalbfache Reichweite ihrer Klingen entfernt waren blieben sie stehen. Die jahrhunderte alten Regeln des Zweikampfes forderten, dass sich die Gegner voreinander verbeugten und im stillen Gebet die himmlischen und irdischenGötter um ihre Gunst baten. Das taten sie dann auch. Als sie sich wieder voreinander aufrichteten rief der König: "So beginnen wir!" Dabei hielt er sein Schwert in einer Verteidigungshaltung.

Takeshis Traum-Ich stieß vor und führte den ersten Hieb. Klirrend prallten die Klingen aufeinander. Funken sprühten. Dann ging es erst richtig los.

Mit immer schnelleren Angriffen und Abwehrschlägen bedrängten sich die beiden Gegner. Sojobo musste schon in der ersten Minute erkennen, dass sein Herausforderer nicht nur ein sehr gutes Schwert besaß, sondern auch im Kampf damit geübt war. Beide Widerstreiter fochten in immer schnelleren Bewegungen gegeneinander. Die Klingen trafen laut klirrend und nachhallend aufeinander. Hatte der dunkle Wächter darauf gehofft, dass seine Waffe die des Königs zerschlagen würde, so war diese Hoffnung verfehlt. Doch ebenso hielt sein Schwert allen Anprallen stand. blitzend und pfeifend durchschnitten die Klingen die Luft, trafen lautstark aufeinander, glitten metallisch schabend voneinander ab, nur um in der nächsten Zehntelsekunde wieder zusammenzutreffen.

Beide Gegner umkreisten einander. Der dunkle Wächter fühlte die Verschmelzung seiner Waffe mit sich selbst. Die Kraft von Erde, Feuer und Mondlicht verlieh ihm Ausdauer und Schnelligkeit. Doch auch der König schien von hohen Mächten bestärkt zu werden. Denn er verlor keine Ausdauer und wurde auch nicht langsamer. Doch keiner seiner kunstvoll gesetzten Hiebe kam durch. Ryu no Kiba schien jeden Schlag vorauszuahnen und war immer dort, wo die Klinge des Gegners hinwollte. Doch auch die Gegenstöße des dunklen Wächters kamen nicht durch. Das lag aber daran, dass der König der Tengus mehr Erfahrung und Übung im Schwertkampf hatte und einen drohenden Körpertreffer noch im allerletzten Augenblick verhinderte. Dennoch zeigte sich für jene, deren Augen diesen Kampf in allen Einzelheiten verfolgen konnten, dass der dunkle Wächter schneller und gewandter war und sein Schwert beinahe von selbst kämpfte. Das entging auch König Sojobo nicht. Doch wollte er im durch magische Aufladung erzeugtem Rausch der Geschwindigkeit nichts sagen, um nicht aus dem Tritt zu geraten.

Der dunkle Wächter merkte, dass der König der Tengus wahrhaftig ein Großmeister war. Auch ahnte er, dass er diesen Kampf unerschöpft bis zum Tagesanbruch führen konnte. Doch was war dann, wenn die Sonne aufging? Der dunkle Wächter argwöhnte, dass sein Schwert dann die Kraft verlieren und er, der Sohn einer Yamauba, ebenfalls an Kraft und Schnelligkeit verlieren würde. Dann würde dieser Vogelmenschenbändiger da gewinnen. Nein, das durfte nicht sein. Er musste die ganze Macht des Schwertes einsetzen.

Einige Angriffe und Abwehrschläge später erstrahlte das Schwert des dunklen Wächters unmittelbar in weißem Licht. Der König der Tengus erkannte einen Moment zu spät, dass das Schwert nicht nur über große Haltbarkeit verfügte. Er bekam seine Klinge gerade noch zwischen sich und das glühende Schwert. Da krachte es.

Sojobos Schwert wurde genau in der Klingenmitte durchschlagen. Der abgetrennte Teil wirbelte schwirrend davon, während der Rest rot aufglühte und seine Festigkeit verlor. So gut wie wehrlos versuchte der Tengukönig noch einen letzten Ausfall. Da erlosch das Feuer im Schwert wieder. Doch die Klinge fand ihr Ziel und drang durch Sojobos Rüstung. Mit einem hässlich spritzenden Geräusch schnitt Ryu no Kiba in den Leib des Gegners ein. Dieser röchelte noch ein letztes: "Du hinterhältiger Feigling!". Dann fiel er vom Aufprall des tödlichen Treffers getrieben nach hinten über. Sein Körper war vom Brustbein bis zum Becken aufgeschlitzt.

"Sagt der, der sich und sein Schwert mit Beschleunigungszaubern gestärkt hat und sein Schwert mit Härtungszaubern so gut wie unzerstörbar gemacht hat", grummelte der dunkle Wächter. Doch dann erkannte er, dass er noch nicht ganz gesiegt hatte. Er musste die schwindende Lebenskraft und Macht des Königs aufsaugen und sich zu eigen Machen. Er stieß einen kurzen Pfiff aus. Sein Flugteppich entrollte sich und sprang förmlich zu ihm hinüber. Er pflückte seinen Zauberstab vom Teppich herunter und warf sich über den gefällten Tengukönig.

"Lebenssaft ist Lebenskraft, mir des Feindes Kraft verschaft!" raunte der dunkle Wächter, während er seinen Zauberstab in die klaffende Wunde des in den letzten Zuckungen liegenden Tengukönigs tunkte. Der Zauberstab glühte nun rot auf. "Lebenssaft ist Lebenskraft, mir des Feindes Kraft verschafft!" wiederholte der siegreiche Kämpfer noch zweimal. Er fühlte, wie die schwindende Lebenskraft und Macht des anderen auf ihn überging. Er hörte schon die Gedanken der Tengus, die den Ausgang des Kampfes in völliger Untätigkeit erwartet hatten. Dann tat Sojobo seinen letzten Atemzug. Ein letztes hellrotes Aufleuchten des Stabes, ein letzter belebender Kraftstoß. Dann war es vorbei. Sojobo, der sagenumwobene König der Tengus, war tot. Seine bisherigen Untertanen stießen wie auf ein gemeinsames Zeichen einen langgezogenen Klagelaut aus, der irgendwie wie das Geschrei von hundert Möwen und Schmerzensschreien gefolterter Menschen klang. Doch der dunkle Wächter überstand es ohne zu zittern oder zu wanken. Er erhob sich. Sein Zauberstab sah völlig rein und makellos aus. Nichts deutete darauf hin, dass er gerade noch in der blutenden Wunde eines fühlenden Wesens gesteckt hatte.

Die Klagelaute der Tengus hallten noch mehr als dreißig Atemzüge über den Platz des nun verwaisten Tempels. Dann verstummten sie. Der dunkle Wächter fühlte, dass er mit den unmittelbar bei ihnen stehenden Tengus eine reine Gedankenverbindung bekam. Er dachte ihnen konzentriert zu: "Kniet vor mir, eurem neuen, wahren König!" Einige der Tengus zögerten, während andere bereits vor dem Bezwinger ihres Herren niederfielen. Doch dann knieten sie alle um ihn herum, und auch die noch über ihm fliegenden Tengus landeten und knieten Nieder. Jetzt war sein Sieg vollkommen. Das Schwert hatte beim Treffer Blut des Königs gekostet, und sein Zauberstab hatte ihm über das Blut des sterbenden Gegners dessen Macht über diese Wesen zugeführt. Jetzt war er der Herrscher über diese geflügelten Yokai. Auch würde Sojobos Macht ihm helfen, andere mittlere und vielleicht auch höhere Dämonen und Zaubertiere zu lenken, ja auch die menschenfressenden Geschöpfe bändigen und zu seinen treuen Kämpfern machen.

Vom Rausch des überstandenen Kampfes und des Sieges trunken hüpfte der dunkle Wächter eher als dass er ging in den Tempel hinein. War dies hier sein neuer Wohnsitz? Nein, Hier kam am Tag zu viel Licht durch, zumal das Tempeldach aus zusammengefügten Kristallteilen bestand. Dieser König hatte die Sonne verehrt, wohin er den Mond und das Feuer aus der Erde verehrte, durch Geburt der Nacht verbunden war.

Er erreichte den Thronsaal des Königs. Dort stand ein verschlossener Schrein. Er besaß keinen Schlüssel dazu. Deshalb versuchte er es mit einem Öffnungszauber. "Ich tu mich nicht für Blutdürstige auf", klang eine hohle Stimme vom Schrein her. Der dunkle Wächter wusste, dass dort der aus sieben Federn bestehende Fächer lag. Wenn er an den nicht herankam war seine Macht über die Tengus irgendwie nicht vollständig. Doch alles was er versuchte, den Schrein zu öffnen und den Fächer zu nehmen misslang. Zaubersprüche flossen in die Erde selbst ab. Das Schwert prallte auf eine blau-grün flirrende Kuppel um den Schrein. Selbst als er nur daran dachte, es weiß aufglühen zu lassen, konnte das Schwert die Kuppel nicht durchdringen. Der Schrein stand unter einem sehr mächtigen Schildzauber. Nun gut, dann musste es eben ohne den Fächer gehen, dachte der dunkle Wächter.

Er wollte gerade wider hinausgehen und die Tengus um sich versammeln, da zerschnitt das regelmäßige Piepen eines elektronischenWeckers die leisen Töne des magischen Liedes, das nun in einer Form getragen klingender Andacht im Hintergrund zu hören war. Das Piepen des Weckers zerrte Takeshi Tanaka aus dieser Szene heraus und ließ ihn in seinem Bett aufwachen. Er befahl dem Wecker, still zu sein. Das Gerät gehorchte. Das war auch wie Magie, dachte Takeshi. Dann lauschte er. Das lied war noch da, das Lied, das auch aus dem mächtigen Schwert geklungen war. Doch was hatte er mit diesem Schwert angerichtet. Er hatte ein kleines Mädchen getötet und einen bis dahin friedlichen Halbgott vernichtet, um sich dessen Kraft anzueignen. War das wirklich alles nötig? Doch als er das dachte wechselte die leise in seinem Kopf summende Melodie zu einem immer lauter werdenden Pochen und fauchen. Er erkannte, dass jeder Gedanke, der den Weg zur Macht in Frage stellte, ihn beim nächsten Mal unumkehrbar in den Leib dieser Yamauba zurückversetzen würde, wo er dann auf ewig ungeboren verweilen musste. Er fühlte, wie die beiden in ihm widerstreitendenGedanken ihm Tränen in die Augen trieben. Er wollte nicht töten. Doch um Macht zu erhalten musste er töten. Er wollte leben, doch wenn er nicht bereit war, dem Weg des Liedes weiterzufolgen würde er der Gefangene einer menschenfressenden Abscheulichkeit sein, nicht lebendig und nicht tot. Nein, das wollte er auf gar keinen Fall.

Als er einsah, dass er wohl der Erbe dessen war, der das Schwert gemacht hatte und das Erbe antreten musste, ob er wollte oder nicht, kehrte die ihn bis hierhin wie an einer großen warmen Hand führende Melodie zurück. Doch er wusste, dass sie gleich verebben würde. Denn jetzt musste er wieder das Leben eines fünfzehnjährigen Stadtkindes leben, von seinem Vater mit Schweigen gestraft, von seiner Mutter bemitleidet und verachtet und von seinen Schwestern für nicht mehr so anzuerkennen befunden. Das musste er nun wieder ertragen. Wie lange noch?

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19.07.2004

Es war tiefe Nacht über der alten Burgruine irgendwo in Ungarn. Hier residierte seit zweihundert Jahren der Vampirfürst Roman, genannt die Blutkralle, ein Neumondvampir, Blutvater von zehn Töchtern und fünf Söhnen der nacht. Er spürte es wieder, dieses Tasten nach seinem Geist. Das war sie, die selbsternannte Göttin der Nachtkinder. Sie wollte ihn immer noch in ihre Reihen zwingen. Doch er würde sich ihr nicht anschließen. Er wehrte sie mit aller Erfahrung für Geisteszauber ab. Doch er wusste, dass sie nur mit ihm spielte, wie die Katze mit der Maus. Hier in seinem Schloss waren er und seine Verwandten sicher genug, weil ihre magischen Knechte starke Bannzauber gewirkt hatten. Doch die Zeit mochte kommen, wo die Götzin diese Zauber durchbrach und dann wie zehn seiner Art auf einmal über ein einziges, unschuldiges Kind über ihn kommen würde, um ihn zu ihremSklaven zu machen oder seine Seele zu verschlingen.

"Stani!" rief er. Sein ältester Sohn, nach Menschenrechnung schon zweihundert Jahre alt, betrat den fensterlosen Thronsaal. "Vater, du riefst, ich bin da", sagte der jüngere Sohn der Nacht.

"Haben die anderen Gruppen die Fertigungsstätten dieser Sonnenschutzhäute endlich erfahren?"

"Es war nicht einfach, mein Vater. Denn die Götzinnendiener haben viele falsche Spuren ausgelegt. Doch nun sind unsere Kundschafter sicher, wo mindestens fünf dieser Fabriken stehen. Doch sind sie gegen unsereins abgesichert. Man weiß, dass wir von der erhabenen Liga freier Nachtkinder die Macht der Götzinnendiener brechen wollen. Aber wir haben schon wen, der uns die Arbeit abnehmen wird."

"So, haben wir das?" fragte Fürst Roman Blutkralle.

"Nun, wir wissen, dass auch die Pelzwechsler die Götzin bekämpfen. Daher hat ein von einer Ligakameradin durch bezaubernden Blick gebannter Mensch die Pläne für die fünf Standorte und das Innere der Fabriken dort hingebracht, wo wir ganz sicher einen toten Briefkasten der sogenannten Mondgeschwister wähnen dürfen. Die mögen denken, es wäre einer von ihnen gewesen, der die Nachricht dort hinterlegt hat."

"So, mögen sie das?" fragte Roman Blutkralle seinen Sohn. Dieser nickte und sagte: "Da dem Handlanger kein für uns typischer Geruch anhaftete können sie nur von einem Menschen oder einem Artgenossen ausgehen. Jedenfalls werden sie die Pläne überprüfen und dann zuschlagen, wenn sie es für günstig halten. Sie verfügen über Zauberstabnutzer und Maschinennutzer und kommen sicher an alle Mittel, um ganze Fabriken zu vernichten", bekräftigte Romans Blutsohn.

"Ja, und was machen wir?" fragte Blutkralle.

"Wir beobachten sie. Die Rattensprecher haben bereits genug quiekende Kundschafter versammelt, um überall auf der Welt zu erfahren, was für uns wichtig ist."

"Ja, nur dass an uns gebundene Ratten nicht durch Abwehrbarrieren gegen Feinde und andere unerwünschte Wesen dringen können. Aber ansonsten sind sie schon sehr gute kleine Kundschafter. Tja, und sie könnten auch gut als kleine Vollstrecker eingesetzt werden", sagte Fürst Roman. Sein Sohn bestätigte das.

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Fino war aus der sicheren Residenz auf der Amazonasinsel in das südeuropäische Hauptquartier in der Sierra Nevada gekommen und traf sich dort mit den beiden wohnhaften Mitstreitern Devoranoches und Durodientes. Er erfuhr von ihnen, dass sie aus dem Loch der heimlichen Nachrichten eine Botschaft mit fünf Standortangaben und Bauzeichnungen geholt hatten. In Wolfsgestalt geprüfte Geruchsspuren verrieten, dass es ein junger Mann Mitte zwanzig gewesen sein musste, der den heimlichen Brief dort abgelegt hatte. Doch es war kein Lykanthrop, aber schon gar kein Vampir.

"Offenbar dürfen wir diesen Briefkasten nicht mehr nutzen. Denn wenn jemand, der kein Lykanthrop ist, davon erfahren hat, wissen es auch andere, womöglich gegen uns arbeitende Leute", sagte Fino. Devoranoches, ein zwei meter langer, mit struweligem schwarzen Haar und Vollbart geschmückter Bursche, der in Wolfsgestalt pechschwarz und anderthalb mal so groß war wie die durchschnittlichen Werwölfe, nickte zustimmend. Auch deshalb hatte er den neuen Anführer der Mondbruderschaft gebeten, herzukommen. "Du hast damals versäumt, alle Mondgeschwister darauf schwören zu lassen, nichts von unseren Geheimverstecken auszuplaudern", hielt er dem etwas kleineren und viel schlankeren Fino vor. Dieser sah den ihm körperlich sicher überlegenen Mitbruder an und erwiderte ruhig: "Oh, dann hast du es schon versucht, wem zu verraten, was uns so wichtig ist, Devoranoches? Offenbar noch nicht, weil du dann garantiert erkannt hättest, dass der von mir und Rabioso damals entwickelte Mondschwur jede Preisgabe unserer Mitglieder und Verstecke unterdrückt, ob freiwillig oder unter magischem oder alchemistischem Zwang. Nicht mal das von Ministeriumsschergen so gern gerühmte Veritaserum vermag die im Wolfsblut eingelagerte Macht zu brechen, die vor Verrat schützt. Aber ich fürchte, dir jetzt im Gegenzug vorhalten zu müssen, dass deine Nachrichteneinsammler nicht auf ihre Rückendeckung geachtet haben und von irgendwem beobachtet wurden, oft genug, bis sicher war, wo der tote Briefkasten liegt."

"Meine Leute wissen ihre Deckung zu wahren. Außerdem sind sie immer nachts bei Dunkelheit dorthin. Da könnte nur jemand sie beobachten ... Mondfinsternis!"

"Der im dunkeln so gut wie bei hellem Sonnenlicht sehen kann, weil genau dieses helle Sonnenlicht tödlich für ihn oder sie ist", legte Fino nach. "Tja, und der oder diejenige muss dann nicht hinter einem herlaufen, wenn dieses Wesen auch fliegen kann und dabei hoch genug steigt, um alle Gerüche und Geräusche auch für unsereins unwahrnehmbar zu halten. Wir müssen uns einen neuen Nachrichtensammelpunkt suchen."

"Seit wann schicken diese langzähnigen Blutschlürfer gewöhnliche Eingestaltler aus, um etwas zu erledigen?" knurrte Durodientes, ein ähnlich schrankartig gebauter Kerl, nur mit bartlosem Gesicht und einem auch in Menschengestalt vorspringenden Unterkiefer. Sein Kampfname rührte angeblich daher, dass er mit seinen Zähnen schon in Menschengestalt die Schenkelknochen eines Hirschs mit einem Biss durchtrennen konnte und in Wolfsgestalt angeblich Eisenstäbe zerbeißen konnte, ohne sich einen Zahn auszubrechen. Ob das stimmte oder nur die Legende der hier lebenden Mitbrüder war hatte Fino bisher nicht überprüft.

"Lesen und Schreiben hast du gelernt, und des Spanischen bist du, wie ich hören kann auch mächtig", setzte Fino zu einer Belehrung an: "Dann hättest du schon vor einem Jahr lesen können, dass wir sicher wissen, dass die Blutgötzin sich gewöhnliche Verbrecher unterwirft, um für sie am Tag zu arbeiten. Wir haben dies bei einer Bande in Mexiko auch übernommen und werden demnächst noch weitere Eingestaltler in unseren Dienst nehmen, allerdings, ohne dass die davon was mitbekommen. Also können die Blutschlürfer das auch machen. Und wenn dein Hausherr sagt, dass eure Nachrichteneinsammler nur bei Nacht ausschwärmen, dann konnte dieser Briefzustecker ganz locker am Tag zur kleinen Grotte, wo unser toter Briefkasten ist. Also entweder schaffen wir uns einen neuen an oder bauen dort, wo der ist einen Zauber ein, der nur Träger unserer Besonderheit reinlässt. Nicht dass wir noch von Vita Magica was da reingelegt kriegen."

"MMMMMMM", grummelte Devoranoches. Durodientes knirschte mit seinen angeblich diamantharten Beißern.

"Wir zwei hier können das nicht. Deshalb haben wir dich ja auch hergebeten, für den Fall, dass sowas nötig ist, Fino", sagte Devoranoches noch. Fino nickte.

Also, was halten wir davon, Jungs? Irgendwelche Leute, wohl von Blutsaugern angeleitet, wollen, dass wir diese Fabriken prüfen und dann, wenn wir wissen, ob da was für uns böses drin gemacht wird, in die Luft sprengen. Wir werden hier instrumentalisiert, Leute, ist euch das klar?" sagte Fino.

"Ja, aber wenn da echt die Blutgötzin ihre Sonnenschutzhäute machen lässt wäre es dumm, diese Fabriken stehenzulassen", sagte Durodientes.

"Ja, eben gerade das", meinte Fino. "Das wäre auch für uns sehr passend, diese Fabriken zu vernichten. Das würden wir auch so machen, wenn wir wüssten, wo die alle sind. Aber dass wir erstens von wem Hilfe bekamen, der oder die es nicht nötig hatte, sich uns offen zu zeigen und zweitens wohl für diese Leute die Drecksarbeit machen sollen ..."

"Fino, das ist doch egal. Dann klären die für uns auf und ermitteln die Fabriken, und wir blasen die dann in den Himmel", antwortete Devoranoches. Fino nickte heftig und grummelte: "Ja, ihr habt recht. Aber mir schmeckt es nicht, von wem auch immer an der langen Leine geführt zu werden wie ein braver Haushund. Also, was machen wir mit der Liste und den Zeichnungen?"

"Oh, Demokratie? Seit wann denn das?" fragte Durodientes. "Seit dem Moment, wo mir klar wurde, dass wir hier für wen anderen die Drecksarbeit machen sollen. Also frage ich euch, ob ihr dabei mitmachen wollt", entgegnete Fino sehr ungehalten. Die anderen Lykanthropen überlegten kurz. Dann sagte Devoranoches: "Lass uns die größte von denen angehen und sehen, ob da echt Sonnenschutzfolien gemacht werden. Falls ja, Buuuuummmm!" Die anderen nickten nur. So willigte auch Fino ein, die zugespielte Liste zu nutzen. Womöglich würden diejenigen, die sie ihm "anvertraut" hatten beobachten, was er tat. Vielleicht konnte er sie dabei erwischen.

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22.07.2004

Es mochte beruhigend anmuten, dass das Schwert des dunklen Wächters seit zwei Tagen nur noch schwache Zauberkräfte verströmt hatte. Doch seine Hüter fühlten sich alles andere als beruhigt. Kohaku Murabayashi, der Hüter der Gefahren und Schätze, vermutete, dass das Schwert Kraft schöpfte, um einen wirklich großen Ausbruch aus der Einkerkerung zu schaffen, und sei es nur, um einen auf sein Lied hörenden Menschen zu betören. Er und seine Untergebenen waren sich einig, dass der Geist des dunklen Wächters ein Ziel erwählt hatte, einen anderen Menschen, in dessen Bewusstsein oder Traumzustand er eindrang, um ihn in seinem Sinne zu beeinflussen. Ja, so war es wohl. Weil das Schwert nur Nachts seine ganze bisherige Stärke geäußert hatte, mochte es die Träume eines arglosen Menschenkindes vergiften und so langsam aber sicher die Persönlichkeit des Opfers verändern, bis es auch am Tage für den dunklen Wächter nutzbar sein würde. Allerdings wussten sie auch, dass das Schwert am Tag nur ganz ganz schwache Regungen geäußert hatte, seitdem es durch die dunkle Zauberkraftwoge im letzten Jahr erweckt und bestärkt worden war. Irgendwie hielt die Macht der Sonne es nieder, auch hier, wo mehrere Dutzend magisch durchtränkte Decken zwischen Erdoberfläche und dem Kerker lagen.

Takayama hatte ihn und den Hüter des vergangenen Wissens zu sich befohlen und sich die Geschichte vom Endkampf zwischen dem dunklen Wächter und den damaligen Händen Amaterasus schildern lassen. Dabei war ihm was aufgefallen.

"Wisst Ihr eigentlich, dass es nun sechshundertsiebenundachtzig Jahre und vierundsechzig Tage her ist, dass unsere wackeren Vorgänger den dunklen Wächter im Kampf besiegten und die Werkzeuge seiner Macht in ihre Obhut genommen hatten?"

"Ja, gewiss ist mir dieser Tag vertraut, bin ich doch über die Einlagerung jedes Gegenstandes in den Sicherheitskerkern des mir anvertrauten Hauses bestens unterrichtet, Takayamasan. Doch verzeiht meinen Vorwitz, Euch darauf hinzuweisen, dass das Schwert bis zum 26. April 2003, dem siebten Tag des Kirschblütenfestes, im magischen Gefrierzustand verbracht hat. Somit wird der ihm innewohnende Geist jegliches Gefühl für die verstrichene Zeit verloren haben, sofern er in der Umhüllung des Schwertes überhaupt Sinne für den Zeitablauf haben kann.""

"Immerhin konnte er den von Euren Auserwählten gewirkten Zeitzauber auf diese selbst zurückwerfen, sei es durch einen eingewirkten Schutzzauber oder durch selbsttätige Abwehr. Vielleicht konnte er doch den Lauf der Zeit verspüren. Doch dass er nun seit einigen Tagen Ruhe gibt ist kein Grund zur Beruhigung." Murabayashi stimmte dem unverzüglich zu.

"Könnt ihr nachprüfen, ob das Schwert aus einer äußeren Quelle seine Kraft bezieht? Ich meine lebende Wesen", erkundigte sich Takayama. Murabashi verneinte das eindeutig. Dann wurde er noch einmal gefragt, ob er herausbekommen hatte, wann und von wem der silbergraue Zauberstab entwendet worden war.

"Laut den Unterlagen ist der Stab des dunklen Wächters zum letzten mal vor fünfzig Jahren aus seiner Verwahrung geholt worden und nach Begutachtung auch wieder dort hineingelegt worden, Takayamasan. Meine Schriftenhüter haben alle Aufzeichnungen der letzten fünfzig Jahre untersucht, selbstverständlich als Übung für schnelle Suche ausgegeben. Seit der letzten vermerkten Entnahme und Rückgabe wurde der Zauberstab nicht mehr hervorgeholt."

"Und der Schrank, in dem er lag?" wollte Takayama wissen. "Die ihm eingeprägten Nutzungsspeicher haben tatsächlich eine Entnahme vor zehn Jahren und Wiedereinlagerung des Stabes vermerkt. Ein junger Außendienstkrieger, dessen Name die Zugangsspeicher nicht erfasst haben, prüfte wohl den Stab, ohne mich, den Hüter der Gefahren und Schätze oder einen meiner Gehilfen zu benachrichtigen. Er kannte offenbar alle Zugangsbestimmungen und war berechtigt, ohne Anfrage und Gegenwehr bis auf die entsprechende Ebene hinunterzusteigen. Er muss über besondere Berechtigungen verfügt haben, wenn er ohne Zuhilfenahme eines meiner Untergebenen an die versiegelten Räume und Schränke gelangen durfte, ohne einen Meldezauber auszulösen. Außer ir und meinen fünf Vertretern verfügen nur noch der Außentruppleiter, der Hüter alten Wissens und Ihr, der Sprecher des obersten Rates, über solche Berechtigungen", sagte Murabayashi schnell, bevor ihn die Ehrerbietung davon abhielt, diese ungeheuerliche Wahrheit auszusprechen.

"Ein Außentruppmitarbeiter? Keiner von denen darf an die von Euch gehüteten Gefahren und Schätze, wenn der hohe Rat dies nicht ausdrücklich beschließt und den vom Außentrupp namentlich beauftragt, gefährliche Gegenstände zu prüfen oder mehr über ihre Bezauberung zu lernen", erboste sich Takayama. "Findet Ihr, dass Ihr eure Leute und die Euch anvertrauten Dinge wirklich gut beherrscht und verwaltet?" fragte er noch.

"Der Schrank meldete es nicht weiter, dass ihn jemand öffnete. Wir wissen nur, dass es ein junger Krieger war."

"Wozu habt Ihr Namensechtheitsprüfzauber gewirkt? Wozu habt ihr die klare Vorgabe, dass jeder Außenstehende nur in Begleitung eingeschworener Gehilfen an eines der gefährlichen oder unersetzlichen Gegenstände gelangen darf, wenn ein einziger mit den Kenntnissen über die Zugangszauber und die Schlüssel zu den versiegelten Räumen und Schränken unerkannt und unbehelligt vordringen und einen der gefährlichsten Gegenstände aus seiner Verwahrung nehmen kann?" erregte sich Takayama. Kohaku Murabayashi konnte diese Fragen nicht beantworten. Er wusste nur, er hatte versagt. Wer immer den Stab genommen hatte musste ihn über Umwege oder unmittelbar an diese Hexe weitergegeben haben, und das wohl schon vor zehn Jahren. Da diese Hexe eindeutig damit frei nach Belieben zaubern konnte stand zu befürchten, dass sie dies auch schon seit der Inbesitznahme des Stabes konnte. Jede damit verübte Untat, jeder mit dem Stab verwünschte oder Tote war sein Versagen. Er wusste, dass er hier und jetzt in unumkehrbare Ungnade fiel, wenn Takayama ihn vor dem hohen Rat anklagte.

"Ihr seid der einzige, der alle Unterlagen über die aufbewahrten Dinge prüfen kann. Ich gewähre euch bis zum Ende des nächsten Monats die Zeit, die Bestände eures Hauses zu prüfen, ob noch etwas heimlich entwendet wurde oder sonst alles dort ist, wo es sein soll. Dann werde ich euch vor den gesamten hohen Rat rufen, und Ihr werdet dem Ruf folgen, Hüter Murabayashi", sagte Hiroki Takayama. "Vielleicht ist Euch das Schicksal gnädig genug, bis dahin einen Weg zu finden, um das Schwert des dunklen Wächters für alle Zeit zum schweigen zu bringen. Misslingt euch dies, solltet ihr bis dahin Euren Nachlass geregelt haben."

"Ich erkenne meine Schuld an, O hoher Rat des erhabenen Ordens der Hände Amaterasus. Ich danke euch für die Gnade, mir einen Zeitraum zu gewähren, in dem ich alles für eine mögliche Nachfolge meines Amtes regeln kann und auch vielleicht den Weg finde, das Schwert des dunklen Wächters dauerhaft zu bannen oder zu vernichten, ohne dass der darin wohnende böse Geist ihm entfahren und sich einen neuen Körper greifen kann", sagte Murabayashi, wobei er sich in tiefster Demut und Dankbarkeit vor Takayama verbeugte. Er wusste nun, dass das Schicksal des Schwertes auch seines war.

"Dann kehrt zurück in das euch zugesprochene Haus und führt aus, was ich Euch befahl. Doch zu keinem anderen ein Wort. Wir wollen keine schlafenden Kitsunes aufscheuchen, die dann noch verbreiten, dass jemand Verdacht schöpft, im Haus der Gefahren und Schätze könne etwas nicht mit rechten Dingen zugehen", sagte Takayama. Murabayashi verstand. Wenn herauskam, das gefährliche oder wertvolle Gegenstände aus dem Besitz der Hände Amaterasus verschwanden weckte das bei den einen Angst und Misstrauen und bei den anderen Begehrlichkeiten, solche Gegenstände zu erlangen.

Wieder zurück im Haus der Gefahren und Schätze ging der oberste Hüter gleich daran, den unmittelbar an ihn erteilten Befehl des obersten Rates zu befolgen. Dabei dachte er jedoch immer wieder daran, dass tief in den Kerkern gerade ein schlafender Drache ruhte, der jederzeit aufwachen und erst seine unmittelbare Umgebung und dann die restliche Welt verheeren mochte.

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24.07.2004

Er vermisste die Träume vom dunklen Wächter, seinem silbernen Zauberstab und dem grünen Schwert, mit dem man sogar durch festes Gestein graben konnte. In den letzten Nächten hatte Takeshi nur von belanglosem Zeug geträumt und es schnell wieder vergessen. Auch war er in den letzten Tagen irgendwie nachdenklich geworden. War es echt richtig, seinen Vater so zu behandeln? Doch der hatte ja damit angefangen. Dann sollte der auch damit aufhören, dachte Takeshi.

Sein Vater war auch immer unruhiger und gereizter geworden. Sicher, mit drei nun aufsässigen Kindern, von denen eines bis vor einem Monat noch der Ausb und von Gehorsam und Hingabe war, konnte er nicht glücklich sein. Auch rückte ja der Tag seiner Entlassung immer näher heran. Er hatte beim Frühstück noch erzählt, dass Hiromitsu ihm angeboten habe, die letzten elf Urlaubstage zu gewähren oder ihm diese in Form einer kleinen "Anerkenntnis" in Yen zu bezahlen. Er hatte sich für das Geld entschieden. So würde Haru Tanaka bis zum ersten August fleißig und hingebungsvoll mithelfen, dass der Laden, wie Takeshi es nun abfällig nannte, ganz reibungslos ohne ihn weiterlaufen konnte. Das war echt schon eine komische Sache, fast so, als würde ein zum Tode verurteilter ganz allein den Galgen aufbauen und den Strick drehen, an dem er dann aufgehängt werden sollte.

Immerhin hatte sich Takeshis Vater von seinem Ich-bin-der-König-der-Familie-Verhalten zurückgezogen. Dem war es im Moment nur wichtig, dass er nicht mit noch mehr Frust in Kopf und Bauch in die Firma musste. Doch Takeshi traute dem kalten Frieden nicht. Sein Vater hatte garantiert noch was vor, wenn das mit der Entlassung durch war. Immerhin wollte er immer noch, dass er einen Ferienjob fand, falls er sich nicht vor allen hier und in ganzer Offenheit und Aufrichtigkeit für sein wiederholtes Fehlverhalten entschuldigte. Doch das durfte der voll vergessen, fand Takeshi. Auch Naomi war aus ihrem Braves-Mädchen-Schlaf aufgewacht und wollte nun wissen, was sie so machen konnte, ohne aus dem Haus zu fliegen. Nur Keiko gefiel die Lage nicht, wohl auch, weil sie nun ganz aus ihrem Manga-Märchenland herauskommen musste.

"Je danach, wie weit ich heute mit der Auflistung der Außenstellen durch bin bin ich um halb vier oder halb sieben wieder hier", sagte Haru Tanaka zu seinerFrau. "Krieg das bitte hin, dass die drei nicht nach mir nach Hause kommen!"

O, da war er wieder, der kleine Familienkönig, dachte Takeshi. Er verkündete keine Anweisung, er delegierte sie. Mama sollte das den dreien weitergeben, auch wenn die das gut genug mitgekriegt hatten.

"Takeshi, auch wenn du noch was suchst, bitte sieh zu, mit den Mädchen vor vier Uhr wieder zu Hause zu sein!" gab Natsu Tanaka die von ihrem Mann erteilte Anweisung brav weiter, wie ein Schiffsoffizier den Befehl des Kapitäns an die unteren Decks weiterreichte. Takeshi fühlte sich gerade nicht dazu berufen, den trotzigen Teenager zu geben. Er nickte nur und sah die zwei Schwestern an. Diese nickten auch, obwohl es Naomi anzusehen war, dass ihr diese Anweisung nicht schmeckte.

"Bis übermorgen will ich endlich wissen, was der Junge in den Ferien macht, Natsu. Sonst frag ich deinen Bruder Nori, ob der ihm was in Kyoto zu schaffen gibt. Dann kann er da gleich die Ferien wohnen", sagte Takeshis Vater. Takeshi gab sich mühe, nicht verdutzt oder verdrossen dreinzuschauen. Sein Onkel Nori betrieb eine erfolgreiche Fischfabrik mit vier eigenen Hochseefischereischiffen und einem sogenannten Forschungsschiff zur Erforschung der Wale im Nordpolarmeer. Wenn der Takeshi irgendeinen Ferienjob anhängen wollte war das sicher sowas wie Fische putzen, Deck Schrubben oder Kajütenjunge für den Walfän... öhm, Walerforscher. Könnte sein, dass er dann nicht mal in Kyoto, sondern irgendwo auf dem Meer zu tun bekam. Wollte er das? Seine Freunde hatten aber auch schon was angeleiert, was sie ihm heute oder morgen servieren wollten. Dann reichte dieses väterliche Ultimatum vollkommen aus, um nicht als Fischverpacker oder Harpunenschleifer eingeteilt zu werden.

"Das mit Nori ist keine schlechte Idee, Haru. Ich kann ihn um einen zinslosenFamilienkredit bitten. Der kann den dann als private Kapitalentnahme verbuchen und uns die Rückzahlungszeit selbst bestimmen lassen", sagte Takeshis Mutter unerwartet.

"Moment, Natsu, soweit wollte ich deinen Bruder nicht mit meinen Sachen belasten. Der meint ja dann, er dürfre dann auch bestimmen, was ich zu tun habe, um den Kredit wieder abzuzahlen. Neh, danke, Natsu. Bevor ich von dem noch mal Geld annehme wander ich nach Shanghai aus."

"Shanghai? Ist da nicht die Magnetbahn?" fragte Takeshi. Sein Vater sah ihn erst an, besann sich aber darauf, ihn nicht zu beachten und sah statt dessen die eigene Frau an. Naomi antwortete:

"Stimmt, der Maglev-betrieb zwischen Shanghai-Stadt und Flughafen. Wäre doch auch was für dich, Vater. Immerhin könnten die da auch wen brauchen, der die Ersatzteillieferungen einteilt."

"Ja, als Japaner in Shanghai arbeiten, wo die Rotchinesen immer noch so abweisend auf uns reagieren, wegen damals", sagte Haru Tanaka.

"Stimmt, wo Großvater Momiji mit den anderen Truppen in China einmarschiert ist", sagte Naomi. Takeshi erinnerte sich. Sein mittlerweile ziemlich angejahrter Großvater schwärmte immer wieder vom "glorreichen Feldzug" gegen die Chienesen. Stimmt, seitdem war das japanische Volk im selbsternannten Reich der Mitte nicht mehr beliebt. Nur noch auf diplomatischer Ebene gab es was, und auch nur dann, wenn es nicht gerade um Hongkong oder Taiwan ging, wusste Takeshi. Deshalb hielt er sich mit weiteren Äußerungen zurück, auch weil sein Vater ja eh nicht auf ihn antworten würde.

Mit einer merkwürdig niedergeschlagenen Stimmung verbrachte Takeshi den Tag. Irgendwie fragte er sich, warum er das Lied nicht mehr hörte und vor allem, ob das mit seinen Träumen doch nur ein Streich seines gerade von den Hormonen umgekrempelten Gehirns war, etwas, dass ihn sich größer fühlen lassen konnte als er in echt war.

Kurz bevor er mit seinen Schulfreunden Ichiro und Toshi in den Bus zurück in sein Wohnviertel stieg sagte Toshi: "Und wenn dein Vater immer noch darauf besteht, dass du einen Ferienjob machst. Mein Vater bräuchte echt einen, der das Papierarchiv seiner Firma auf einundzwanzigstes Jahrhundert umkrempelt. Also Sachen einscannen, Scanfehler ausbügeln, abspeichern, fertig. Er möchte dafür keine Fachleute einteilen, und die Praktikanten, die er hat lernen gerade höhere Buchhaltung, also wie was für das Finanzamt erträglich notiert und verrechnet wird. Also, Hilfsarchivar, wäre das was für dich?"

"Kommt drauf an, ob ich davon jeden Tag einmal was warmes zu essen kaufen kann", sagte Takeshi. Toshi nickte. da meinte Ichiro:

"Kommt darauf an, wo du was essen willst. meine Eltern haben ja das Nudelhaus mit Fleisch- und Fischspezialitäten. Da ess ich meistens auch, weshalb wir zu Hause keine großen Kochfeste feiern."

"Warum nicht. "Aber bei uns gibt's das warme eher abends. Wenn ich da nicht zu Hause bin ... Soll so. Der will, dass ich für mein Essen zahle, dann muss er auch nicht wissen, was und wo ich esse", sagte Takeshi.

"Gut, dann kriegst du demnächst eine E-Mail wegen des Jobs", sagte Toshi. Takeshi lachte und verwies darauf, dass sein Vater ihm ja das Internet gesperrt hatte und er wegen seiner Schwestern gerade mal eine halbe Stunde Zeit für das Internetcafé hatte. "Dann machen wir das ganz wie vor zwanzig Jahren. Mein Vater schreibt dir einen Ferienarbeitsvertrag. Dein Vater muss den ja eh unterschreiben, oder macht deine Mutter das? Egal. Jedenfalls bring ich den morgen bei euch vorbei", sagte Toshi. Und Ichiro sagte: "Ja, und wenn du weißt, was Toshis Erzeuger für dich ausgibt kriegen wir das mit dem warmen Abendbrot auch geregelt." Takeshi nickte und bedankte sich bei seinen Freunden.

Sichtlich besser gelaunt als am Morgen noch holte Takeshi seine jüngeren Schwestern ab und brachte sie in die heimische Wohnung. Sein Vater war noch nicht zu Hause. Offenbar nutzte Hiromitsu es aus, einen, der eh entlassen wurde, noch einmal richtig im Laufrad herumrennen zu lassen. Dass sein Vater sich das noch gefallen ließ wunderte Takeshi.

Während Keiko wieder im bunten Land der Animes verschwand und Naomi irgendwas mit ihrem noch zugestandenen Internetzugang anstellte dachte Takeshi darüber nach, was nach den Ferien sein würde. So, wie es vor fünf Wochen noch war, würde es nicht mehr werden. Auch wenn es in den letzten Tagen nicht mehr zwischen seinem Vater und ihm geknirscht hatte war sich Takeshi sicher, dass er den ewig braven, für alle kleinen Familiensachen einspannbaren Mustersohn nicht mehr geben würde. Dann grübelte er darüber nach, was diese Träume von dem dunklen Wächter, angefangen bei seiner gruseligen Wiedergeburt aus dem Bauch einer Yamauba bis zur Geschichte seines grünen Zauberschwertes Ryo no Kiba zu bedeuten hatten. Solange er diese Träume hatte hatte er sich stark und entschlossen gefühlt. Doch im Moment wusste er nur, dass er kein ewig folgsamer Bubi mehr sein wollte, aber nicht, woher er die Kraft nehmen sollte, sich gegen seinen Vater möglichst gewaltlos aufzulehnen. Denn eines war ihm klar, würde der wieder meinen, ihn schlagen zu müssen, würde er es nicht bei einem reinenVerteidigungsschlag bewenden lassen. Entweder schlug er ihn dann selbst krankenhausreif oder verließ diese Wohnung auf Nimmerwiedersehen oder beides. Doch was war mit diesem dunklen Wächter? Bisher hatten seine Recherchen zum Lied des Schwertes und einem silbergrauen Zauberstab nichts ergeben. Vielleicht sollte er das noch einmal anders machen. Dafür musste er aber ins Internetcafé, bevor sein Vater oder seine Mutter wieder zu Hause waren. Die Mädchen konnte er mal für eine stunde alleine lassen, die waren beschäftigt. Er musste nur zusehen, dass er so heimlich wie er konnte aus der Wohnung kam.

Er lauschte in den Trakt mit den Schlafzimmern hinaus. Naomi schien gerade mit jemandem zu telefonieren. Nein, nicht mit irgendwem, sondern mit Ishi. Das würde sicher lange dauern. Tja, gut, dass ihr Vater ihr ein eigenes, von ihrem Taschengeld zu zahlendes Telefon ins Zimmer hatte legen lassen. Keiko sang gerade Lieder von ihrer Anime-Titellieder-HitCD. Offenbar hörte sie die gerade über Kopfhörer. Wenn sie mitsang waren die doch echt unnötig, dachte Takeshi. Doch für ihn war gerade nur wichtig, dass die zwei Mädchen beschäftigt waren.

Ganz ganz leise nahm er den Wohnungs- und Haustürschlüssel, seine Schülerkarte für den Bus und abgezähltes Geld für mindestens eine Stunde im Internetcafé "Fenster zur Welt". Dann schlich er aus dem Zimmer. Er fühlte einen leichten Druck auf der Blase. Nein, wenn er hier aufs Klo ging würde naomi das hören und ihn vielleicht irgendwas fragen. Also verdrängte er den Drang und schlich aus dem Schlaftrakt durch das Wohnzimmer, ging in den Flur, wo seine Straßenschuhe im Regal standen. So leise er konnte zog er sie an. Dann machte er die Tür auf, ging ganz leise aus der Wohnung und zog die Tür so langsam er konnte wieder zu. Mit einem kaum hörbaren Klick klinkte die Tür ins Schloss.

Was er eben wegen möglichst weniger Geräusche zu langsam gemacht hatte holte er nun dadurch wieder auf, dass er mit nur fünf schnellen Schritten bei einem der zwei Aufzüge war. Einen Moment dachte er, dass er die fünfzehn Stockwerke doch auch die Treppe runterlaufen konnte. Doch dann erkannte er, dass er weniger Zeit brauchte, wenn er auf den Aufzug wartete und damit runterfuhr.

Zu seiner Erleichterung kam der gerufene Fahrstuhl nach nur zzehn Sekunden. Offenbar war der noch zwei Etagen weiter oben gewesen. Er vergewisserte sich, dass die Kabine leer war und stieg ein. Er rümpfte die Nase, weil wohl jemand im Aufzug überschüssiges Gas abgelassen hatte. Aber damit konnte er leben, zumal die Klimaanlage im Aufzug den in der luft hängenden Pupser bereits begierig aufsaugte und in angenehme Luft verwandelte. Weit genug fortgeschrittene Technik war eben von Magie nicht zu unterscheiden.

Mit einem Gefühl, vielleicht heute noch was wichtigeres zu erfahren als wo er in den Ferien arbeiten sollte verließ Takeshi den Fahrstuhl im Erdgeschoss. Er sah zu der Loge des Hausportiers. Wenn der ihn jetzt alleine sah würde er wohl Fragen, was er noch draußen zu erledigen hatte. Doch das war kein Thema. Er ging los und nickte dem Portier zu. Der las gerade in einer zeitung und beachtete den Jungen nicht. So ging Takeshi einfach an der panzerverglasten Loge vorbei und verließ das Haus durch die Innen- und die Außentür, die wegen der hausweiten Klimaanlage installiert waren.

Weil das Internetcafé nur wenige Blocks entfernt war verzichtete Takeshi auf den Bus und lief die Strecke in fünf Minuten. Das war auch ein gutes Beintraining für ihn.

Im Internetcafé "Fenster zur Welt" suchte er zunächst die Toilette auf. Hier wurde alle dreißig Minuten geputzt. Über jeder Kabinentür hing der Hinweis:

Bitte verlassen sie diesen Ort so Sauber, wie Sie ihn selbst vorzufinden wünschen!
Vielen Dank!

Den schriftlichen Rat befolgend erledigte Takeshi die nötige Verrichtung und kehrte mit frisch gewaschenen Händen in den Gastraum zurück. Gerade wurde Rechner vier für ihn frei. Einen Moment dachte er, dass die Vier in seinem Land als Unglücks- und Todeszahl galt. Doch das war doch völliger Aberglaube. Da wollte er die Vier lieber als Zahl für alles wichtige der Welt nehmen, Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Tageszeiten und die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Er nickte der Bedienung zu, die ihn wegen seiner Internetsitzungen der letzten drei Wochen kannte und sagte ihr: "Wieder eine Stunde wie üblich." Die Kellnerin nickte ihm verstehend zu und kümmerte sich um einen Gast, der was zu trinken bestellen wollte.

Die nächsten vierzig Minuten verbrachte er damit, nicht nur nach Internetseiten über die Begriffe silbergrauer Zauberstab,, dunkler Wächter, grünes Zauberschwert und Ryu no Kiba zu suchen, sondern auch in Fanforen über verschiedene Mangas und Animes danach zu fragen. Da es ja alles mit japanischen Sagen und Mythen zu tun hatte brauchte er dafür nicht mal seine Englischkenntnisse zu bemühen. Er hatte gerade noch einmal in der Liste aller bisher erschienenen Mangas bezüglich japanischer Märchen, Sagen und Götter durchgeblättert, als in dem Forum "Schwert und Zauberkräfte aus Japan" eine Antwort auf seine Anfrage wegen der Begriffe aufploppte. Ein Nutzer oder eine Nutzerin namens Sonnenfeuer67 fragte ihn, der unter dem Decknamen Pegasus89 geschrieben hatte, wann und wo er diese Begriffe zuerst gehört oder gelesen oder geträumt< hatte. Takeshi stutzte. Wieso kam Sonnenfeuer67 darauf, dass er von diesen Sachen geträumt hatte? Die Frage stellte er dem anonymen Frager erst einmal. Darauf bekam er von Sonnenfeuer67 die Antwort, dass es früher schon mal berichte über diese alte legende gegeben hatte, die sich bestimmtenLeuten nur im Traum offenbart hatte. Er wollte dann natürlich wissen, worum es ging. Da verwies ihn Sonnenfeuer67 darauf, dass das Forum für so private Sachen zu unsicher sei. Takeshi wurde gefragt, ob er chatten könne. Er überlegte. Wenn er sich jetzt auf einen Chat einließ konnte das länger dauern. Die links neben der Systemzeit angezeigte Dauer der Sitzung stand bei 00:43. Er hatte also noch 17 Minuten, bis die nächste Stunde anfing, die er bezahlen musste. So tippte er schnell, dass seine Internetzeit für heute schon so gut wie vorbei sei. Darauf kam die Antwort, dass es nur fünf Minuten dauern würde, ihm "alles wichtige" zu erklären, aber nicht im Forum. Das machte ihn nun doch neugierig, auch wenn ihm die Warnungen durch den Kopf gingen, sich nicht mit wildfremden, noch dazu hinter Decknamen versteckenden Leuten im Internet über private Sachen zu unterhalten und auf gar keinen Fall private Daten wie Telefonnummer, E-Mail-Adresse oder gar die Wohnanschrift zu verraten. Es gab zu viele miese Leute im Netz, die vor allem Kinder und Jugendliche für ihre linken, teilweise brutalen Sachen ködern wollten. Das hatte er im Computerkurs in der Schule gelernt: "Traut keinem, den ihr noch nie gesehen habt und den ihr nicht persönlich kennt. Sollte er nun das tun, was er seinen beiden Schwestern auf jeden Fall ausreden würde? Dann dachte er, dass ja ein Proxyserver zwischen dem Rechner hier und dem Server des Forums stand, in dem Sonnenfeuer67 gerade unterwegs war. Er prüfte noch einmal die bis zur vollen Stunde fehlenden Minuten: 00:44. Also noch 16 Minuten. Er wollte es jetzt wissen.

Das Forum besaß eine Chatfunktion, wenn eine Diskussion ins private abgleiten würde. Er tippte seinen gerade benutzten Decknamen Pegasus89 ein und nutzte die Freigabeoption, um den Chat mit Sonnenfeuer67 zu erlauben. Es dauerte nur eine halbe Minute, bis die erste Chatnachricht aufleuchtete:

Sonnenfeuer67: Seit wann wissen Sie vom Dunklen Wächter, seinem Zauberstab und dem Schwert?
Pegasus89: Das war so vor drei Wochen, wo ich von diesem Zauberer geträumt habe. Ich habe bisher nicht an Geister oder Magie außerhalb von Mangas oder Märchen geglaubt.
Sonnenfeuer67: Kann ich verstehen. Die meisten Menschen weisen das in unserer von Technik und Naturwissenschaft geprägten Zeit von sich.
Pegasus89: Was soll dieser ganze Krempel? Wer sind Sie überhaupt?
Sonnenfeuer67: Ich arbeite für eine Gruppe von Erforschern übernatürlicher Dinge, also dem, was unter dem Begriff Parapsychologie geführt wird.
Pegasus89: Dann weiß ich immer noch nicht, wer Sie sind. Da ich meinen Klarnamen auch nicht rauslassen werde bleiben wir eben dabei.
Sonnenfeuer67: Das wäre aber besser, wenn Sie und ich uns träfen, um das ganze klarer zu erörtern als über die Maschine.
Pegasus89: Wieso nicht? Sagen Sie mir, was Sie meinen, was das soll, und ich sage Ihnen, ob ich Ihnen das abkaufe oder nicht.
Sonnenfeuer67: Auch wenn Sie es mir nicht glauben möchten, es kann sein, dass Sie in großer Gefahr sind, von jemandem zu etwas getrieben zu werden, was Sie auf keinen Fall tun wollen. Deshalb möchte ich gerne persönlich mit Ihnen sprechen. Wann und wo geht das? Am besten noch heute.
Pegasus89: Heute auf gar keinen Fall mehr, und morgen früh bin ich auch beschäftigt. Wenn ich Ihnen glauben soll schreiben Sie mir, was sie meinen, was mit mir los ist!
Sonnenfeuer67: Dann geben Sie mir bitte Ihre E-Mail-Anschrift. Darin kann ich mich deutlicher äußern. Mir wäre aber ein persönliches Treffen sehr viel lieber.
Pegasus89: Ich bedauere, aber meine E-Mail-Adresse darf ich nur Leuten mitteilen, die ich bereits persönlich getroffen habe und deren Klarnamen ich kenne. Bitte schreiben Sie mir, was Sie mit dieser großen Gefahr meinen!
Sonnenfeuer67: Jemand will sie in seinem Sinne beeinflussen. Meine Arbeitsgruppe und ich wurden gewarnt, dass in diesen Tagen sowas versucht werden könnte. Deshalb habe ich auch sofort auf Ihre Suchanfrage geantwortet.
Pegasus89: Wer sagt mir, dass nicht Sie oder Ihre Gruppe dahinterstecken?
Sonnenfeuer67: Ich kann Ihr Misstrauen verstehen. Doch um Ihrer eigenen Sicherheit und der Ihrer unmittelbaren Mitmenschen bitte ich Sie, sich noch heute mit mir zu treffen.
Pegasus89: Nicht heute und nicht morgen früh. Ich weiß ja nicht mal, ob Sie Männchen oder Weibchen oder ein Neutrum sind.
Sonnenfeuer67: Das weiß ich von Ihnen auch nicht. Deshalb möchte ich Sie ja persönlich kennenlernen. Falls Sie nicht ohne Aufsicht mit fremden Leuten sprechen dürfen bringen Sie gerne eine Vertrauensperson zum Treffen mit.
Pegasus89: Wie kommen Sie denn darauf, dass ich nicht ohne Aufsicht mit Fremden sprechen darf? Ich bin doch gerade mit Ihnen am chatten.
Sonnenfeuer67: Ja, von zu Hause aus, wo keiner hinter Ihnen steht womöglich. Wenn bei Ihnen wer wohnt, der Ihnen ganz wichtig ist sollten Sie den, falls schon erwachsen, darum bitten, sich mit mir zu treffen. Sagen Sie Ihm oder ihr bitte, dass es um eine Studie geht, die mit Traumforschung zu tun hat!
Pegasus89: Komm ich gerade so kindermäßig rüber, dass Sie meinen, ich bräuchte einen anderen Erwachsenen, der auf mich aufpasst?
Sonnenfeuer67: Sprache und Vorsichtsverhalten lassen mich darauf schließen, ebenso wie ein Faktor, den ich Ihnen nur bei einem persönlichen Treffen oder per E-Mail mitteilen möchte.
Pegasus89: Was für ein Faktor?
Sonnenfeuer67: Zugänglichkeit wegen Unberührtheit
Pegasus89: ROFL
Sonnenfeuer67: Damit musste ich rechnen. Ist aber so.
Pegasus89: Dann machen wir besser Schluss. Bin raus.
Sonnenfeuer67: Bitte einen Rat annehmen, bei neuen Träumen nicht befolgen, was im Traum befohlen oder vorgeschlagen wird! Wenn Sie auch im Wachsein Dinge hören, die sonst im Traum vorkommen, schnell an was anderes denken, ein lautes Musikstück oder bevorstehende Aufgaben! BITTE nicht den Bildern, Klängen und Worten im Traum nachgeben! Bitte melden Sie sich möglichst bald wieder über das Forum!
Pegasus89: Danke und aus!

War er jetzt wirklich schlauer als vorher? Da war jemand, der oder die ihn damit ködern wollte, dass ihn jemand über seine Träume anrief, um ihn mit was für was anderes zu ködern? Das klang echt voll abartig. Klar wollte Sonnenfeuer67 die E-Mail-Adresse oder ein Treffen. Ja, und weil er sich um diese Preisgabe herumgemogelt hatte hatte er sich als unmündiger Schuljunge verraten, dem sowas völlig zurecht verboten war. Aber wirklich schlauer als vorher war er nicht. Doch woher wusste diese unbekannte Gegenstelle, dass er von diesen Sachen geträumt hatte, bevor er das verraten hatte? Doch dafür irgendwo hingehen oder wem völlig unbekannten seine Kontaktdaten nennen ging gar nicht. Doch vielleicht hatte Sonnenfeuer67 echt recht und ...

"Hier bist du also. Was fällt dir ein, deine Schwestern ganz alleine zu Hause zu lassen, Bursche!" herrschte ihn eine ziemlich wütende Männerstimme von hinten an. Gleichzeitig fühlte er, wie eine kräftige Hand ihn an der Schulter packte und mit dem Schreibtischstuhl zurückzog. Er Wirbelte herum und sah in das zornrote Gesicht seines Vaters. Als der dann sehen wollte, was Takeshi da gemacht hatte hieb dieser auf "Sitzung beenden". Damit wurden automatisch alle Suchverläufe und Chatprotokolle gelöscht, damit Nachfolger nicht rausfanden, was ihre Vornutzer so im Netz anstellten. Er war hier sowieso fertig. Aus dem Etikettendrucker surrte die Gesamtsitzungsdauer. Sein Vater versuchte danach zu langen. Doch Takeshi hieb ihm aus dem Ellenbogengelenk die Hand weg und packte den Ausdruck selbst. Dann sagte er mit unüberhörbarem Spott: "Ach, mein Herr Vater hat mich wiedergefunden. Ist ja schön, dass du endlich wieder mit mir redest."

"Nicht in diesem Ton und nichthier. Was hast du hier gemacht und wieso sind die Mädchen alleine zu Hause?"

"Erstens, du hast den Ton angestimmt. Zweitens habe ich hier letzte Einzelheiten für den von dir verordneten Ferienjob recherchiert und deshalb mit wem gechattet, der mir dazu noch mehr mitteilen kann. Drittens habe ich das hier gemacht, weil du mir ja zu Hause den Stecker rausgezogen hast. Deshalb sind viertens die Mädchen alleine zu Hause. Fünftens ist Naomi groß genug, auf Keiko aufzupassen und im Zweifelsfall den Notruf zu wählen, wenn was sein sollte und somit nicht mehr machen kann und muss als ich. Soweit alle Fragen beantwortet?"

"Das war kein Chat über Ferienjobs. Ich habe nicht lesen können, was du da mit wem auch immer geschrieben hast, aber es ging nicht um einen Job. Sonst hättest du mich ja mal lesen lassen."

"O, faszinierend logisch, Vater. Ich habe mit Toshi gechattet, weil dessen Vater mir einen Job als Aushilfsarchivar angeboten hat, der alte Dokumente einscannen und für das elektronische Archiv aufbereiten soll. Ich wollte nur von ihm noch wissen, wieviel Papierzeug ich durchzuscannen habe."

"Lügst du mich jetzt auch noch an, deinen eigenen Vater", schnarrte Haru Tanaka. "Los, den Schlüssel her und dann nach Hause. Ich rufe nachher noch Onkel Nori an, dass der dir einen Job in seiner Firma geben soll, damit du endlich lernst, was der Sinn des Lebens ist."

"Zu funktionieren wie ein Roboter und das damit verdiente in irgendwelches sinnlose Zeug umzusetzen, damit andere, die genauso robotern ihren Daseinszweck erfüllen?" fragte Takeshi aufsässig. "Wenn das der Sinn des Lebens ist ist es kein Leben mehr", fügte er noch hinzu. Sein Vater holte zum Schlag aus. Takeshi schnellte vom Stuhl hoch und blockte die Hand mit einer schnellen Armbewegung ab. "Wenn du mich hier angreifst, wird mir jeder glauben, dass ich mich nur wehren musste, wenn du mit dem Rettungswagen weggefahren wirst", zischte Takeshi. Sein Vater zitterte förmlich. "Schlüssel her!" zischte er. "Und die Rechnung für diese Sitzung auch, damit ich sehe, was du hier angestellt hast."

"Den Schlüssel bekommst du erst, wenn wir wieder in der Wohnung sind. Denk nicht mal dran, mir den mit Gewalt wegzunehmen! Denn dann gilt das gleiche wie für's hauen. Außerdem zahle ich und nur ich die Sitzung hier von dem bisschen Taschengeld, dass ich noch übrig habe. Ja, und drittens kannst du auf dem Ausdruck nur lesen, dass der Computer Nummer vier im Internetcafé "Fenster zur Welt" von viertel nach vier bis kurz nach fünf Nachmittags von Tageskunde XYZ genutzt wurde. Mehr steht da nicht drauf. Du warst wohl noch nie in einem Internetcafé. Hier jonglieren Leute mit ihren Aktien oder turteln verliebte Leute mit ihren Süßen in Übersee. Da ist Anonymität wichtiger als der Strom für die Rechner."

"Das wird sich zeigen. Ich werde die Polizei anrufen, dass die diesen Laden hier mal überprüft, ob hier nicht Kinder und Jugendliche an für sie verbotene Sachen können."

"Ja, die Yakuza und andere Gangstergruppen machen ja gerade Urlaub. Da hat die Polizei sicher Zeit genug. Obwohl, wenn der Laden hier der Yakuza gehört ist das vielleicht keine gute Idee, den hochnehmen zu lassen. Ich habe hier vor einer Woche mal einen gesehen, dem der linke kleine Finger fehlt", zischte Takeshi verschwörerisch. Sein Vater verzog das Gesicht. Offenbar wusste er nicht, ob sein Sohn ihn jetzt veralberte oder die Wahrheit sprach. Dann sagte Haru Tanaka: "Zahl die Rechnung. Deine Jobsuche ist eh vorbei. Dann kommst du hier auch nicht mehr her. Und den Schlüssel gibst du mir jetzt her!"

"Nicht bevor wir in der Wohnung sind, Vater. So wie du gerade drauf bist kommst du auf die Idee, mich vor der verschlossenen Tür zu lassen. Gut, das wohl eher nicht, weil "Denk an die Nachbarn!"" erwiderte Takeshi und spielte auf den Generalbefehl an, in der Mietwohnung nichts lautes oder auffälliges zu tun.

"ich sag's zum letzten Mal, den Schlüssel her oder ich werde ernstlich wütend", schnaubte Haru Tanaka und baute sich in einer kämpferischen Haltung vor seinem Sohn auf.

"Und ich wiederhole mich, dass jeder Versuch, mir was mit Gewalt wegzunehmen dir 'ne Fahrt im Rettungswagen einbringt", raunte Takeshi.

"Ey, Familienzank?" fragte ein sehr gut gekleideter Mann hinter Haru. Dieser drehte sich abrupt um und wollte den anderen anherrschen, sich nicht einzumischen. Da sah er, dass dem Mann an der linken Hand der kleine Finger fehlte. Außerdem sagte der Fremde: "Ich bin gerade bei einer sehr wichtigen, die volle Konzentration benötigenden Internetsitzung. Wenn Sie hier nichts mehr zu erledigen haben klären Sie Ihre Sachen gütigst draußen oder besser zu Hause!"

"Verflixt", knurrte Haru Tanaka. Dann sagte er zu seinem Sohn: "Dann zahl die Sitzung. Ist ja dein letztes Taschengeld für diesen Monat. Der Fremde nickte und zog sich in eine andere Rechnerkabine zurück. Takeshi sah, dass er dort wohl nicht alleine war und die Kabine eine verschließbare Glastür hatte. Damit war es schon amtlich, dass der Herr mit den neun Fingern ein ganz besonderer Kunde war, mit dem sie besser keinen Streit anfangen sollten.

Takeshi war es zwar mulmig, weil der gut gekleidete Neun-Finger-Mann die hitzige Unterredung runtergekühlt hatte. Doch er fühlte sich auch in einer gewissen Weise überlegen, weil sein Vater jetzt sehr sorgsam darauf achtete, nicht noch mehr aufzufallen. Er hielt sich im Hintergrund, als sein Sohn die 150 Yen für die Internetsitzung bezahlte und der Bedienung freundlich zulächelte. Diese wirkte ein wenig verunsichert, wohl weil sie seinem Vater gesagt hatte, an welchem Rechner er war. Aber das nahm Takeshi ganz beiläufig wahr. Ihm war nur wichtig, dass sein Ausflug etwas gebracht hatte. Jemand da draußen hatte angebissen, was seine Träume anging. Doch derjenige hatte ihn vor einer merkwürdigen Form von Einflussnahme gewarnt. Sollte er das als Einschüchterungsversuch abtun oder ernstnehmen?

Vor der Tür streckte sein Vater wieder die rechte Hand aus. "Den Schlüssel her", sagte er. "Da rannte Takeshi einfach los, als wäre er auf der Flucht. Sein Vater rannte ihm nach, rief ihm zu, stehenzubleiben. Doch dann erkannte der die Falle, die ihm sein Sohn gestellt hatte und ließ sich zurückfallen. Takeshi könnte auf die Idee kommen, um Hilfe zu rufen oder ihn einfach so niederschlagen und später behaupten, er habe die Stimme im Lärm der Autos hier nicht klar erkennen können. Also blieb Haru besser hinter ihm und machte keine Anstalten, ihn einzuholen. Doch Takeshi legte ein sehr flottes Tempo vor. Haru merkte, dass er seinem Sohn nicht mehr folgen konnte, ja dass der ihm wirklich immer mehr überlegen war. Der Junge wuchs ihm über den Kopf, konnte reden und auch kämpfen. Haru wusste, dass er mit Takeshi so nicht mehr fertig wurde.

Takeshi indes hielt ein hohes Tempo, als er durch einen schnellen Blick zurück sah, dass sein Vater nicht mehr versuchte, ihn einzukriegen. Als das gemeinsame Wohnhaus nur noch fünfzig Meter entfernt war und der Gehweg frei war zog Takeshi das Tempo noch einmal an und wischte weit vor seinem Vater durch die beiden Türen. Einer der aufzüge war gerade im Erdgeschoss. Takeshi grinste und stieg ein. Er drückte die Taste für das Stockwerk, wo seine Wohnung lag und bangte, ob die Falttüren sich schnell genug schhlossen. Sie taten es. Bereits beim Fahren hörrte Takeshi noch, wie sein Vater sichtlich abgehetzt mit dem Portier sprach. Spitzte der den etwwa jetzt darauf an, ihn beim nächsten Ausflug außerhalb der Schulzeit nicht mehr rauszulassen? Na ja, er hatte ja im Grunde erfahren, was man ihm zu wissen gegönnt hatte. Und er hatte keinem seine persönlichen Daten verraten.

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Masa Daidoji bebte vor erregung. Ihr auf bestimmte Begriffe voreingestelltes Meldeprogramm hatte sehr laut gepingelt. Ja, jemand hatte nach vier Begriffen gefragt, die im Zusammenhang unmöglich zufällig sein konnten: "Dunkler Wächter", "Silbergrauer Zauberstab", "Grünes Langschwert mit Zauberkräften" und "Ryu no Kiba- Zahn des Drachens"

Sie hatte sich mit dem Pseudonym Sonnenfeuer67 mit der Person in Verbindung gesetzt und bedauert, keine Direktbild- oder Sprechverbindung aufbauen zu können. Sie war sichtlich beunruhigt, weil die mit Pegasus89 zeichnende Person auf ihre Frage, ob er von diesen Dingen im Traum erfahren habe tatsächlich davon angefangenhatte, seit wochen diese Sachen zu träumen. Sie wollte ihn treffen. Doch der wehrte die Anfragen ab. Daraus schloss sie, dass die Person kein eigenständig handlungsfähiger Mensch sein konnte, wohl ein Schüler. Frauen und Mädchen schloss sie gleich aus, weil der dunkle Wächter sicher nach einem männlichen Ziel suchte, wohl auch einem geschlechtlich unberührten, dessen Geist für dunkle Verlockungen empfänglich war. Manche Yokai bevorzugten Knaben und Jungfrauen. Andere scheuten vor diesen zurück, weil die kindliche Unschuld ihre Seele wie mit einer stählernen Rüstung schützte.

Sie hatte Kyo Nakamura losgeschickt, den Proxyserver aufzusuchen, um die wahre Adresse des Fragenden zu finden. Leider konnte sie Pegasus89 nicht lange genug im Chat halten, um sicherzustellen, ihm dann auch persönlich zu begegnen, wenn sein wirklicher Ausgangspunkt ermittelt war.

Fünf Minuten nach dem Internetchat kehrte Kyo Nakamura zurück. "Die Kollegen auf den Philippinen hätten mich fast festgenommen, als ich in diesem Haus mit den Servern drin war. Ich habe denen zu erklären versucht, warum ich da rein bin. Aber die sagten nur, dass wir kein Apparierrecht auf ihrem Gebiet haben und die technischen Sachen der magielosen Leute da deren Angelegenheit seien und wir deshalb nichts erfahren würden. Dann haben sie mir dreißig Sekunden gegeben, entweder zu verschwinden und nicht noch mal auf deren Gebiet anzukommen, oder mir den Zauberstab wegzunehmen und unserem Zaubereiminister eine Forderung zu schreiben, mein fünffaches Gewicht in Jade zu zahlen, um mich wieder auszulösen und zugleich Abbitte für die Gebietsübertretung zu leisten. Da bin ich verschwunden", sagte Kyo erst verbittert. Dann grinste er. "Allerdings konnte ich den kleinen Spion noch unterbringen, den wir für sowas von unseren Verbindungsleuten bei den Elektronikfirmen gekriegt haben. Codewort "Mückenschwarm um Mitternacht, nachdem du die genaue Internetadresse des Proxyservers angewählt hast."

"Und du meinst, die Philippinos kriegen es nicht raus?" fragte Masa.

"Dann müssten die erst mal Ahnung von IT-Systemen haben, und soweit mir bekannt ist haben die noch keinen eigenen Arkanetzugang, weil die bei sich keinen haben, der oder die sich mit sowas auskennt. Achso, unser kleiner Stöpsel dürfte mittlerweile über die Hälfte der im Haus stehendenServer geimpft haben. Versuchs mal!"

Masa grinste verwegen und rief das Arkanetwerkzeug zur Überprüfung zielgenauer Internetadressen auf, wobei die Suchanfragen als harmlose Statusprüfungen getarnt ihren Weg auf die Server fanden und selbst bei für andere Nutzer schwer zu knackenden Sicherheitsvorkehrungen eine klitzekleine Hintertür aufbauten, die allerdings, so die Vereinbarung, nur einmal am Tag für eine Stunde bestand. Hatte wer auch immer damit arbeitete bis dahin nicht alles an Daten, was abgefragt werden sollte, musste ein voller 24-Stunden-Zeitraum vergehen, bis das Werkzeugprogramm erneut auf die Adresse zugreifen konnte.

"Treffer, der Zugang ist offen. Unser Türöffner hat den betreffenden Server schon vorbehandelt. Suchanfrage läuft: "Wer hat heute um die betreffende uhrzeit Internetverbindungen mit folgenen Adressen aufgebaut?" dozierte Masa und überspielte die bereits in der Zwischenablage wartende Liste der zu prüfenden Adressen und Uhrzeiten in das Eingabefeld. "Hoffentlich kommen wir mit der einen Stunde aus", sagte Kyo, als auf dem Bildschirm ein Countdown lief und vom unterenRand her ein grüner Fortschrittsbalken wuchs. "Und was machen wir, wenn wir die Adresse haben?" fragte Kyo.

"Erst mal prüfen, ob es eine öffentliche oder private Adresse ist. Wenn sie öffentlich ist müssen wir rauskriegen, wer um besagte Uhrzeit da an einem internetfähigen Rechner saß", sagte Masa Daidoji.

"Hmm, sollten wir da nicht unsere Kontakte bei der Polizei drauf ansetzen?" fragte Kyo.

"Gefahr im Verzug, Kyo. Dieser Pegasus89 hat zwar nicht so viel erzählt, aber genug, dass ich weiß, dass er wohl vom dunklen Wächter beeinflusst wird. Takayama von den Händen Amaterasus wollte dazu zwar nichts sagen, als er vor dem obersten Verwaltungsrat stand. Aber wir wissen mittlerweile, dass auch ein altes Schwert des dunklen Wächters, beziehungsweise das Schwert des dunklen Wächters, tätig geworden ist. Womöglich sucht es einen neuen Erfüllungsgehilfen oder Körper für die in ihm lauernde Seele des dunklen Wächters."

"Ja, und die Hände Amaterasus denken das auch?" fragte Kyo. "Ich fürchte eher, die wissen das längst. Sie wissen nur nicht, wen sich der Geist des dunklen Wächters ausgesucht hat, weil sonst hätten sie die betreffende Person schon längst in Gewahrsam genommen, um sie von diesem Einfluss freizumachen."

"Sie dürfen auch nicht alles", sagte Kyo. Doch Masa antwortete: "Sie haben seit ihrer Gründung die Generalvollmacht des kaiserlichen Oberhofzauberers, jeden Menschen gefangenzunehmen oder zu töten, der für das Land und seine Menschen zur tödlichen Gefahr werden kann. Herr Takahara hat dieses Recht nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur darauf bestanden, dass ihm persönlich mitgeteilt wird, wenn wer von den Händen Amaterasus gesucht oder festgenommen wird. Die haben schon eine ganze Menge Sonderrechte, Kyo. Und wenn die wissen, wie wir gerade den einen Menschen suchen, der sich über das Schwert, den Wächter und den Zauberstab erkundigt hat, glaube es mir, dann sitzt demnächst noch einer von denen hier bei uns und passt auf, dass wir auch ja anständig ermitteln."

"Und ich dachte, wir hätten schon eine Menge Sonderrechte", grummelte Kyo nakamura.

Der Fortschrittsbalken wuchs weiter. Er stand für die Anzahl geprüfter Datenverkehrsverbindungen auf über den betreffenden Server oder darauf. "Hoffentlich ist die IP-Adresse wirklich richtig gewesen", sagte Kyo. "Wenn unser Nachverfolgungsprogramm einen Zahlendreher gebaut hat oder es einen Spiegelserver mit derselben Adresse irgendwo am anderen Ende der Welt gibt ..."

"Werden wir das erst wissen, wenn unsere Suchanfrage negativ ausfällt", sagte Masa. "Überleg mal, wie viele Leute pro Sekunde über eine Internetschnittstelle verbunden sind, mehr als Japan Einwohner hat." Kyo pfiff durch die Zähne.

"Hoffentlich ist unser Spionageprogramm wirklich so gut abgesichert. Nicht, dass die gleichzeitig auch bei uns reingucken", unkte Kyo. Masa führte kurz ein Statusabfrageprogramm aus. Außer den mittlerweile 124 Arkanetregistrierungen weltweit hatte niemand heute Verbindungen mit ihrem Server aufgenommen, und das auch nur wegen Status- und Lageüberprüfungen. Kein unbekannter Nutzer hatte es gewagt, durch die flexiblen Firewalls zu brechen.

Es fehlten noch zehn Minuten, bevor sich die Verbindung für heute deaktivieren würde, da pingelte es dreimal. Der Fortschrittsbalken verharrte bei 77,77 %. Dann erschien in einem grüngerahmten Fenster daneben die Meldung, dass im gesuchten Zeitraum Rechner 4 des Kunden 5018 aus Fukuoka die fraglichen Adressen angewählt und einen mehrminütigen Chat im japanischen Forum "Schwert und Zauberwerk" ausgeführt hatte.

"Wir haben noch neun Minuten. Lass den Spion noch abfragen, wer Kunde 5018 ist", sagte Kyo. Masa wählte aus einer Werkzeugleiste den Punkt "Kundenverzeichnis durchsuchen" aus und gab die erwähnte Kundennummer ein. Sie wurde nach dem Administratorpasswort gefragt. Das war zu erwarten gewesen und für die Internetermittler des japanischen Zaubereiministeriums kein Problem. Denn solange die Spionageprogramme von beiden Seiten der Verbindung her zusammenarbeiteten galt ein für diesen Fall benutztes Passwort auf dem Server als gültiges Administratorpasswort. Diese Martha Merryweather wäre ohne Berührung mit der Zaubererwelt die Kaiserin der Hacker geworden, dachte Masa, als sie das Passwort eingab. Keine zwei Sekunden später hatte sie die Antwort: Das Internetcafé "Fenster zur Welt" in einer Satellitenstadt von Fukuoka auf Kyushu. Darunter blinkte noch ein rot leuchtender Hinweis: "Sensibler Kunde, Störung des Betriebsablaufes kann das eigene Leben gefährden."

"Super, der Laden gehört der Y-Gang", grummelte Kyo. "Zumindest einer Familie von denen", zähneknirschte Masa. Dann straffte sie sich und lies die Angaben ausdrucken. "Seit wann haben wir uns um die Belange der hochehrenwerten Clans gekümmert, wenn etwas magisches anlag?"

"Bisher noch nicht", sagte Kyo. "Ich hörte sogar, dass bei denen auch welche von uns drinsitzen und aber nur Takahara die Namen hat, weil die nur mit dem höchsten Chef Kontakt haben wollen."

"Gut, ich umgehe jetzt mal den Dienstweg und bring die Daten zu unserer Vorgesetzten. Wenn die findet, dass da welche von uns hin müssen, dann gehen da welche von uns hin."

"Gut, mach das. Ich sorge dafür, dass unser kleiner Spion sich anständig aus deren Rechnern zurückzieht und sein Schneckenhäuschen nicht mehr gefunden wird." Masa nickte und verlies mit den Ausdrucken, auch denen des Chatverlaufes, den Raum der magielos betriebenen Wissensvorrichtungen.

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Schnaufend betrat Haru Tanaka seine Wohnung. Takeshi war schon in seinem Zimmer. Er ging hin und klopfte an. Takeshi machte die Tür auf: "So, unter meinen Dach gelten meine Regeln, Junge. Gib sofort und ohne weiteren Widerstand deinen Haus- und Wohnungsschlüssel ab. Du bist seiner nicht mehr würdig", schnaufte Takeshis Vater. Der Junge grinste ihn unverschämt überlegen an und gab ihm die geforderten Schlüssel. Dann sagte er: "Tja, da wirst du dir wohl ab morgen Urlaub nehmen müssen, um die Mädchen vom Bus abzuholen. Ich werde dann nämlich erst nach Hause kommen, wenn jemand da ist, der mir die Tür aufmachen kann."

"Du hältst dich offenbar für mir überlegen, meinst andauernd Widerworte geben zu dürfen. Was diesen Ferienjob angeht, den du angeblich gefunden hast, so werde ich verbieten, dass du ihn annimmst beziehungsweise mit dem angeblichen Arbeitgeber sprechen, dass du schon was anderes gefunden hast. Du wirst die Ferien bei Onkel Nori verbringen und dort lernen, wie hart es ist, eigenes Geld zu verdienen, jeden Bissen einzeln zu erarbeiten. Ich bin es nun endgültig leid, deine Anwandlungen zu ertragen. Ich habe wichtigeres zu tun, als mich in einem äffischen Rangstellungskampf mit dir zu verausgaben."

"Damit stufst du mich gerade zum Kleinkind zurück. Du hast gesagt, Such dir einen Ferienjob. Habe ich gemacht, habe ich gefunden. Und ich werde sicher nicht bei deinem Schwager Nori anfangen, Fische zu schuppen oder Krabben aus den Schalen zu puhlen, damit du zum ersten Mal seit Keikos Entstehung wieder befriedigt bist." Haru holte wieder aus. Doch wie vorher blockte Takeshi den Schlag ab. "Ich hab's dir schon gesagt. Ich werde keinen einzigen Schlag mehr von dir hinnehmen, ob gerechtfertigt oder aus purer Lust am hauen, Vater", zischte Takeshi. "Und was ich dir gerade gesagt habe bleibt so. Entweder ich mache den Job, den Toshi für mich klargemacht hat oder werde das essen, was die Mädels vom Essen übriglassen. Zu Onkel Nori schaffst du mich wenigstens nicht."

"Das werden wir erleben, wie gut ich das hinkriege."

"Ach, spekuliert der Herr auf Betäubungsmittel? Dann kriegst du den Ärger mit der Polizei. Ich habe unter anderem auch mit Toshi gechattet, dass ich fürchten muss, dass du mich gerne loswerden möchtest und das mit dem Ferienjob nur der erste Schritt ist. Melde ich mich nicht in regelmäßigen Abständen höchst persönlich oder mit Internetcodwort bei dem, das alles in Ordnung ist, Kommen die Polizei und die Jugendbehörde bei euch zu Besuch. Falls du denkst, dass ich bluffe probier's aus mit irgendwelchen Betäubungsmitteln! Weil ohne sowas kriegst du mich keine fünf Meter weit ohne meinen Willen."

"Und wenn ich dich abholen lasse, weil ich fürchten muss, dass du wegen einer geistigen Störung nicht mehr zu kontrollieren bist?" fragte Haru Tanaka. "Dann hättest du genau das schon längst gemacht. Aber du möchtest ja nicht, dass die Nachbarn darüber reden, dass ein halbwüchsiger Halb- oder Vollirrer in ihrer Nachbarschaft wohnt."

"Wie erwähnt, ich rufe Onkel Nori an, dass der dich in den Ferien übernimmt. Dann wirst du anders zurückkommen. Dieser Archivjob wäre doch auch nur eine Lizenz zum Faulenzen gewesen. Wie viel hättest du denn dafür überhaupt bekommen?"

"Das wundert mich, dass du das jetzt erst fragst. Genug für ein warmes Abendessen und die Mitessberechtigung beim Frühstücken", sagte Takeshi, auch wenn er den Stundenlohn noch nicht kannte. Dann legte er noch nach: "Und was Onkel Nori angeht, so wolltest du doch nie wieder in dessen Schuld stehen, wo der dir mal wegen einer mir nicht bekannten Sache mit Geld ausgeholfen und dafür eine Menge von dir zurückverlangt hat."

"Ich stehe dann nicht bei ihm in der Schuld, sondern verschaffe ihm einen günstigen Hilfsarbeiter. Dann kriegst du statt einer Entlohnung eben Kost und Unterbringung von ihm."

"meine Ansage steht, Herr Tanaka Senior", sagte Takeshi.

"Meine auch, Herr Junior", knurrte Haru Tanaka.

Beim Abendessen erzählte Takeshi, dass er mit Hilfe von Toshi einen Ferienjob an Land gezogen hatte. Dieser würde morgen vorbeikommen und den Arbeitsvertrag mitbringen. Sein Vater sagte dazu nur: "Falls mir diese Arbeit nicht zu lausig erscheint. Du sollst ja schließlich was lernen und nicht nur faul herumhängen." Takeshi überhörte es. Jetzt tat er mal so, als sei sein Vater nicht da. So wartete er, bis Naomi meinte: "Dann machst du ja was ähnliches wie Vater, nur dass du dabei in einem verstaubten Aktenraum rumhängst." Takeshi bejahte das. Keiko wollte dann wissen, wozu es gut war, Papiersachen noch mal zu scannen. Takeshi erwähnte, dass damit die alten Daten auch auf neuen Rechnern verwaltet werden könnten. Naomi fragte ihren Vater, ob er das nicht vor zwei Jahren auch mit den Daten seiner Firma hatte machen müssen. Haru Tanaka sah seine ältere Tochter verdrossen an und sagte: "ja, weil irgendein schlauer Mensch auf die Idee gekommen ist, alle Unterlagen auf Festplatte speichern und mit Markierungen für schnellen Datenzugriff versehen zu müssen. Hat uns eine Menge Extrazeit gekostet und den Betriebsablauf gebremst."

"Tja, und da hättet ihr dann wen gut gebrauchen können, der nur das macht und den anderen Kollegen keineArbeitszeit abfordert", sprach Naomi etwas aus, was Takeshi gerade selbst sagen wollte.

"Die werden da schon wen finden, der das macht, notfalls Toshi."

"Dann hätte der Takeshi den Job nicht angeboten, wenn der den selbst machen wollte", meinte Naomi. Ihr Vater holte mit der Faust aus, um auf den Tisch zu hauen. Doch seine Frau zischte: "Nicht, die Suppenschüssel ist noch halb voll."

"Es bleibt bei meiner Entscheidung. Takeshi fährt in den Ferien zu Onkel Nori und verdient sich dort seine Unterbringung und sein Essen. Wenn Toshi hier morgen wirklich vorbeikommt werde ich ihm diesen Arbeitsvertrag ununterschrieben zurückreichen und klarstellen, dass wir in der Familie eine Lösung für alle Seiten gefunden haben."

"Da wird er sich freuen, der Onkel Nori", feixte Naomi. Takeshi hätte sie dafür fast geküsst. "Der kriegt das schon hin. Der hat vier Jungen wie Takeshi großgekriegt."

"Der hat ja auch sechs Jahre früher losgelegt mit der Familienplanung", grummelte nun Natsu Tanaka. Ihr Mann sah sie nun entgeistert an und fragte, ob sie ihm nun auch noch widersprechen wolle. Sie erwiderte: "Ich höre es noch, wie du zu ihm gesagt hast, dass deine Kinder zum einen nicht in stinkenden Hallen Fische ausnehmen oder verkaufsfertig zzusammenpacken werden und dass du keine weitere Gefälligkeit von ihm forderst, nachdem er uns wegen Keikos anstehender Geburt mit dem Großraumwagen ausgeholfen hat. Seine Söhne haben sich übrigens auch von ihm getrennt. Hideaki hat sich ein Stipendium für Stanford erarbeitet und will auch in den Staaten bleiben. Susumu hat sich mit zwei Schulfreunden zusammengetan und eine eigene Firma für 3-D-Drucker gegründet, was immer diese Dinger sind. Katashi ist nach einem Zerwürfnis mit seinem Vater ausgezogen und jetzt irgendwo in Tokio und Teshi ist bei einem Shintopriester in die Lehre gegangen und will wohl eine Karriere in der Religion machen, weil ihm das Gewinnstreben seines Vaters missfallen hat", zählte Natsu Tanaka die ihr bekannten Werdegänge ihrer Neffen auf. Dann sagte sie noch: "Soviel dazu, dass er vier Jungen in seinem Sinne großbekommen hat. Großbekommen sicherlich, aber nicht in seinem Sinne, dass da wer ist, der seine Firma übernehmen wird, falls er die beiden Mädchen nicht dazu bringt, einen aussichtsreichen Kandidaten für die Nachfolge zu heiraten. Aber die sind ja erst vier und zwei Jahre alt. und da willst du ihm unseren Jungen anempfehlen, wo Nori sicher schnell begreift, dass du ihn nur deshalb abschiebst, weil zwischen ihm und dir gerade eine generationsbedingte Rivalität herrscht. Der wird sich schön bedanken und dir, mein geliebter und verehrter Mann, nicht nur eine Gegenleistung abverlangen, sondern dich für dein ganzes restliches Leben zu Gegenleistungen auffordern, und sei es, dass du eins von unseren Mädchen mit einem aussichtsreichen Geschäftspartner von ihm verkuppelst, sowie unser beider Eltern uns verkuppelt haben, weil dein Vater der meinung war, über die Mitgift für mich sein angeschlagenes kleines Unternehmen sanieren zu müssen, weil du ihm angeblich nicht genug Geld mit nach Hause bringen würdest."

Stille trat ein. So ausführlich, entschlossen und vor allem ohne jede Ehrerbietung hatten Takeshi und seine Schwestern ihre Mutter bisher nicht sprechen hören, zumindest nicht, wo sie in Hörweite waren. Ihr war auch deutlich die Abneigung gegen den eigenen Bruder anzuhören. Haru Tanaka sah seine Frau sehr verärgert an. Doch die hielt seinem Blick Stand. "Bevor du unseren Sohn in Noris Obhut übergibst, mein geliebter Mann, musst du mich beerdigen", unterbrach Natsu Tanaka das Schweigen, das danach noch eisiger und bleierner auf allen lastete. Haru Tanaka sah ihr an, dass sie meinte, was sie sagte.

Keiko, die bisher nur schweigend gegessen hatte, sah alle ihre Verwandten an. Als sie merkte, dass im Moment niemand was sagen würde, nahm sie ihren Löffel und aß weiter von der Vorsuppe. Ihrem einfachen Beispiel folgten dann auch Takeshi und Naomi, während sich ihre Eltern ein Anstarrduell lieferten. Dieses dauerte volle fünf Minuten laut der analogen Wanduhr. Dann wandte Haru sein Gesicht ab und aß die Vorsuppe zu Ende.

Das Hauptgericht und den fruchtigen Nachtisch nahmen sie alle ohne was zu sagen ein. Takeshi war sich sicher, dass sein Vater jetzt schon daran brütete, wie er, der Familienkönig, nach dieser Ansage seiner Königin aus der Nummer wieder rauskommen konnte. Sein Vater aß nun besonders schnell und stand einfach auf, als er fertig war. Er sah noch mal alle seine Familienangehörigen an. Seiner Frau warf er einen verhalten tadelnden Blick zu, Naomi sah er sehr ermahnend an, was diese scheinbar locker wegsteckte. Keiko bedachte er mit einem leicht wehmütigen Blick. Doch als er Takeshi ansah flammte stiller Hass in den Augen auf. Takeshi hatte sowas bisher noch nie in den Augen seines Vaters gesehen. Jeder andere Junge hätte jetzt vielleicht darum gebeten, nicht so böse angeguckt zu werden. Doch Takeshi verbuchte diesen Blick als heimlichen Sieg für sich. Sein Vater hatte gegen ihn wieder eine Niederlage hingenommen. Hätte er gehört, was gerade im Kopf seines Vaters vorging, er wäre wohl gleich in Kampfstellung gegangen oder hätte zugesehen, dass er zwischen seinen Vater und sich immer eine verschlossene Tür brachte.

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Etsuko Murahashi, die 22 Jahre alte Bedienung im Internetcafé "Fenster zur Welt", war schon ein wenig verunsichert, ob das so gut war, dem Herren in mittlerer Geschäftsleuteaufmachung den Rechner gezeigt zu haben, an dem der Junge saß. Doch die Ähnlichkeit des Mannes mit dem Jungen und das Foto des Jungen hatten sie bewogen, nicht weiter nachzuhaken. Die junge Kellnerin hatte den kurzen, beinahe zu lauten Streit zwischen dem athletischen Jungen, der seit mehreren Wochen immer wieder herkam und dessen Vater nicht wortwörtlich mitbekommen. Doch es sah so aus, als wollten sich die beiden hier im Café prügeln. Das hätte ein sehr unschönes Aufsehen gegeben. Wenn Herr Z nicht dazwischengegangen wäre hätte der Streit wohl noch länger angedauert und die Gäste unnötig aufgeregt. Zumindest hatten beide gemerkt, dass Herr Z hier sehr wichtig war. Der hatte natürlich den Computer Nummer sechs benutzt, der in der einzigen schalldichten Kabine mit Panzerglastür lag. Wie er das mit Vater und Sohn mitbekommen hatte wusste Etsuko nicht. Es war wohl auch besser, wenn sie das nicht wissen wollte. Ihr Vater hatte ihr diesen Job besorgt, weil sie nur in einem Geschäft des Clans sicher vor billiger Anmache oder Übergriffen war. Denn wer hier arbeitete gehörte dem Clan.

Herr Z und sein Assistent beendeten um halb sechs ihre Sitzung und verließen das Café durch den gepanzerten Ausgang, der zu den Notstromaggregaten für die unterbrechungsfreie Stromversorgung führte, aber auch einen 2-Personen-Fahrstuhl enthielt, mit dem die bevorrechteten Besucher in die geheime Tiefgarage hinunterfahren konnten. Das zumindest hatte man Etsuko verraten, damit sie nicht immer stutzig war, dass von da fremde Leute in das Café hereinkamen oder nach Durchschreiten der Tür nicht mehr zurückkamen. Damit waren nun bis auf sie alle fort, die den halblauten Zusammenstoß zwischen einem Vater und seinem Sohn mitbekommen haben mochten. Somit konnte sie diesen Zwischenfall als zu vergessen abhaken.

Ein Mann im roten Anzug und eine Frau im himmelblauen Cocktailkleid kamen herein. Der Mann ging zielgenau auf die Bedienung zu und sah sie an. "Meine - Cousine und ich würden gerne unsere Internetkorrespondenz erledigen, bevor wir ins Hotel gehen. Wir trauen den dortigen Angeboten nicht so richtig und erfuhren, dass Sie in diesem Café größten Wert auf Anonymität und Diskretion legen. So möchten wir auch an zwei Rechnern arbeiten. Welche sind frei und wie viel kostet eine Sitzungsstunde?"

"Die zwei und die vier sind frei. Die Sitzung kostet 150 Yen die angefangene Stunde. Die Bezahlung kann nur in Bar erfolgen, wegen der von Ihnen schon erwähnten Diskretion. Ich lass ihnen mal die Zugangsdaten ausdrucken. Nach jeder Sitzung wird ein zwanzigstelliges Zugangspasswort generiert. Alle Verlaufsdaten für Internetseiten, E-Mails und Chats werden bei Abmeldung vom Benutzerkonto automatisch gelöscht. Jede Verbindung von hier geht zu einem Proxyserver, der dann als Startadresse für Ihre Internettätigkeiten dient. Ich hoffe, das entspricht Ihren Sicherheitswünschen."

"Auf jeden Fall. Geliebte Base, das mit den zwei Rechnern zugleich geht. Welchen willst du nehmen, zwei oder vier?"

"Vier? Die haben hier echt einen Rechner mit der Nummer?" fragte die Frau im Cocktailkleid zurück. Die Kellnerin konnte echt nicht erkennen, dass die zwei miteinander Verwandt waren. Aber das hatte sie auch nicht zu kümmern. "Gut, dann nehm ich die Vier", sagte der Mann in Rot. Er ließ sich die zwei Zettel mit dem Zugangskonto und dem zeitweiligen Passwort geben. "Bezahlt wird nach Ende der Sitzung. Zeit und Betrag werden vom angeschlossenen Drucker ausgegeben", sagte die Kellnerin noch, weil der Mann schon seine Brieftasche zückte.

"Versteht sich", sagte der Mann und winkte seiner Begleiterin zu. Die Kellnerin sah, wie die Frau zum freien Rechner Nummer 2 ging und der Mann sich erst vor der kleinen Kabine mit Rechner 4 hinstellte. Er holte eine Brille mit merkwürdig blauen Gläsern heraus und setzte sie auf. Was sollten die blauen Gläser. Die verfälschten doch die Farben.

Die zwei zogen die halbdurchsichtigen Vorhänge zu, so dass von außen nur zu sehen war, dass jemand an einem der Rechner saß, aber nicht, was er oder sie damit anstellte.

Es vergingen nur fünfzig Sekunden, da hörte sie aus allen nicht schalldichten Rechnerkabinen ein mehrfaches, misstönendes Dong-Dong-Dong! Dann blinkte bei der Bedienung selbst an der Kasse die Meldung auf: "Schwerer Ausnahmefehler an Speicheradresse A8e711Dd! neustart des Zentralservers dringend erforderlich. Neustart ..." Dann erlosch die Anzeige auf der Kasse. Der kleine LCD-Bildschirm war grau und leer. "Ey, mann, was ist denn das für ein Mist!" tönte der Kunde in Kabine 3. Ein anderer meinte: "Huch, hat einer die Maus verkehrt herum gehalten oder was?" Weitere Kunden lamentierten. Die Frau in Kabine 2 fragte laut: "Wie lange dauert so'n Neustart, und kann ich dann noch auf das Konto drauf?"

"Die Damen und Herren. Ein Neustart aller Rechner dauert fünf Minuten, weil alle Sicherheitsanwendungen vorgeschaltet werden müssen. Allerdings müssen dann auch die Einzelzugänge neu erstellt werden", sagte die Kellnerin. Da glomm für ein paar Sekunden eine Meldung auf der Kassenanzeige auf: "Neustart beginnt". Offenbar war ihre Kasse ein Kontrollgerät für den Zentralrechner, auf dem der heimische Server lief und der irgendwo in den verschlossenen und klimatisierten Kellerräumen an mehreren Festplatten hing. Nach nur zehn Sekunden blinkte die Meldung: "Fehler bei Neustart! Neustartversuch 2".

Dieses Wechselspiel von Neustartversuchen und -abbrüchen erfolgte dann noch zweimal. Dann kam überhaupt keine Anzeige mehr.

Das Telefon klingelte. Etsuko Murahashi nahm den Hörer ab.

"Hier Rokuda. Ich erfahre hier gerade, dass unser Startserver ausgefallen ist. Benötigen Sie Hilfe beim Neustart?"

"Öhm, ja, ist wohl nötig. Es werden hier andauernd Fehler beim Neustart angezeigt."

"Gut, ich komme gerade nicht auf den Wartungsrechner. Den muss es wohl auch erwischt haben. Es ist auch kein Fehlerprotokoll da. Dann schicke ich wen vorbei, der den Redundanzserver startet. Beruhigen Sie die Gäste, dass in einer halben Stunde alles wieder läuft!" Etsuko bestätigte das.

"Erst in einer halben Stunde. Frankfurt hat gerade aufgemacht", schimpfte der europäische Kunde in Kabine sieben auf Englisch und fügte ein nichtenglisches und nichtjapanisches Wort an, das die Kellnerin als Hamubabus oder Hannubambos" verstand. War wohl ein Kraftausdruck für oder gegen jemanden und sollte am besten überhört werden.

Die beiden letzten Kunden kamen aus ihren Kabinen. Der Mann trug immer noch die Brille und winkte seiner Begleiterin. "Können Sie noch kassieren?" fragte er. Etsuko Murahashi errötete und prüfte, ob die Kasse noch ging. Dabei stellte sie fest, dass die Kasse wohl auch am abgestürzten System hing und schüttelte den Kopf. "Gut, hoffentlich sind Ihnen nicht alle Daten von heute verlorengegangen. Aber wir zahlen unsere Zeche", sagte der Mann und zählte der Frau 300 Yen auf den Tisch. "Müssen wir eben alles über Telefon machen", sagte er seiner Begleiterin zugewandt. Irgendwie schien er es eilig zu haben. Doch zur Toilette musste er offenbar nicht. Denn die war nicht außer Betrieb.

Etsuko verstaute die 300 Yen in einem abschließbaren Fach ihres Tresens um sie später in die Kasse zu legen, wenn diese wieder arbeitete. Dann winkte sie den beiden Kunden nach. Wieso trug der Mann immer noch die Brille, wo er doch nicht mehr vor einem Bildschirm saß? Dann waren die beiden aus dem Lokal verschwunden. Nur die aufgebrachten Kunden und eine junge Kellnerin und Rechnerplatzanweiserin waren noch da und begriffen nicht, was geschehen war.

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"Der Junge will dir ans Leben. Der Junge ist dein Feind!" pochte es hinter Haru Tanakas Stirn, begleitet von jenem merkwürdigen Lied, von dem er vor drei Wochen dreimal geträumt hatte, dessen Text er aber nicht verstandenhatte. Ja, Takeshi wollte ihn als Herren der Familie entthronen. Er würde ihn hinterrücks töten und dann seinen Anspruch auf Natsu, seine eigene Mutter, durchsetzen. Vielleicht würde er auch die zwei Mädchen schänden, um sie zu Trägerinnen seiner Kinder zu machen. Der Junge war ein Psychopath, ein Irrer. Ja, nur so konnte sich Haru die drastische Veränderung an ihm erklären. Dieses verdammte Zeug namens Pubertät hatte bei ihm im Gehirn eine gestörte Stelle wachgekitzelt, die ihn zum totalen Ungehorsam, ja zur Feindschaft gegen den eigenen Vater trieb. Aber Natsu gehörte nur ihm. Er war und blieb der Herr dieser Familie. Er würde sich nicht von diesem falschen Fleisch aus seinen Lenden entthronen lassen. Je deutlicher er das dachte, je mehr Hass er auf den eigenen Sohn fühlte, desto lauter und eindringlicher wurde die merkwürdige Melodie, die sowohl verlockend wie vorantreibend war. ER musste Takeshi zuvorkommen, ihn töten. Doch hier durfte er das nicht. Er musste ihn dazu zwingen, mit ihm auf das ungesicherte Dach zu steigen, wo die immer noch nicht gesicherte Eisentür hinführte. Dann würde er ihn zwingen, zu springen. Mit bloßen Händen ging das natürlich nicht. Deshalb schloss Haru die unterste Schublade seines imposanten Schreibtisches auf und zog sie so leise es seine aufwallenden Gefühle zuließen auf. Er lauschte. Natsu war gerade in der Küche und spülte. Dabei sang sie gerne. Keiko war wohl auch da. Sie hörte ihre Mutter gerne singen. Naomi war wohl wieder mit wem am telefonieren. Der würde sie das noch abgewöhnen, wenn Hiromitsu ... Ja, den würde er morgen besuchen, nicht in der Firma, sondern bei ihm zu Hause. Doch erst war Takeshi dran.

mit vom wilden Hass angeheiztem Blick griff er in die Schublade hinein.

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"Hast du wenigstens gesehen, was wir wissen wollen?" fragte Hana Koyama ihrem Kollegen vom Außentrupp der hochwichtigen Behörde zur Bewahrung oder Wiederherstellung der magischen Sicherheit.

"Oja, habe ich. Aber diese französische Rückschaubrille und moderne Rechner vertragen sich nur, wenn sie mindestens zwei Meter voneinander entfernt sind, wenn die Rückschau begonnen wird", flüsterte der Mann im roten Anzug. "Aber jetzt sollten wir zusehen, dass wir dem Jungen folgen. Der hat diesen Internettextaustausch gemacht, von dem Frau Daidoji berichtet hat. Hoffentlich kommen wir noch früh genug, um ihn unauffällig zu befragen oder in Sicherheitsverwahrung zu nehmen."

"Hinter uns sind zwei sonnengelbe Schatten in ihren angeblich undurchdringlichen Tarnanzügen!" rief Hana und deutete nach hinten. Da flimmerte die Luft und zwei Männer in sonnengelben Umhängen mit rotem Sonnensymbol an den Brustteilen standen da.

"Nach Yomi mit deinem Durchblickauge, Hana Koyama", grummelte einer der Männer.

"Da würde ich dich auch mit dem Auge sehen, werter Vetter Takeru. Aber jetzt haben wir es eilig, denke ich."

"O ja, haben wir. Wir gehen wieder auf Tarnung und bleiben an euch dran, wo dein Kollege Saburo gerade den zeitlichen Durchblick hat", sagte Takerus Mitstreiter in Sonnengelb.

"Schön, dass ihr es einseht", grummelte Saburo und deutete in eine bestimmte Richtung. Die zwei in Sonnengelb flimmerten wieder und waren nicht mehr zu sehen, zumindest nicht für unmagische Augen.

Im schnellen Schritt ging es vom Internetcafé fort und über mehrere Querstraßen. Hana übernahm hier die Führung, weil sie die gerade ankommenden Autos sehen konnte und auch die gerade auf dem Gehweg laufenden Menschen erkannte, während ihr Kollege nur das sah, was schon zwei Stunden zurücklag. Fast hätte ein die Ampel missachtender Motorradfahrer das einzig sichtbare Pärchen gerammt und hupte wild. Hana machte eine tadelnde Geste. Der Fahrer sah den Mann mit der blauen Brille an ihrem Arm hängen und machte sofort abbittende Gesten. "'tschuldigung, konnte ich nicht erkennen, dass ihr Begleiter nichts sehen kann."

"Da haben Sie was mit ihm gemeinsam", sagte Hana verächtlich. Der Motorradfahrer schien ob dieser harschen Erwiderung verstört zu sein, da blitzte es kurz silbern auf. Der Motorradfahrer zuckte kurz zusammen und verdrehte die Augen. "Bitte weitergehen!" zischte eine Männerstimme gleich hinter Saburo . Dieser stupste seine Begleiterin an. Die führte ihn über die Straße.

"Der Junge rennt mit seinem Vater um die Wette oder sowas. Er hängt ihn aber langsam ab. Och nöh, jetzt wird der noch schneller", sagte Saburo, als sie sich auf eines der zwanzigstöckigen Wohnhäuser zubewegten, auf deren Dach ein Wald von Stabantennen und Satellitenschüsseln wuchs. "Ah, der will seinen Vater abhängen. Schafft er auch. Der Junge ist in sehr guter Form, von den verlangsamt betrachteten Bewegungen her Karateschüler oder schon ein junger Meister. Hoffentlich müssen wir mit dem nicht kämpfen."

"Gegen den Bann der sofortigen Ruhe kann Karate nichts ausrichten", sagte Hana. "Ich darf nur nicht auf Sprungweite an ihn herankommen. "Dafür haben wir ja unser gelbes Geleitgeschwader", erwiderte Saburo. "Das ihr nicht gleich sehr froh seid, dass wir dabei sind", sagte der gerade unsichtbare Takeru.

"Oh, Wärmeschleuse, ganz nobel", sagte Saburo. "Da müssen wir rein. Haustürschlüssel?" fragte sie.

"Kommt! Zum Glück keines dieser Plastikkartenschlösser mit Zugangscode wie in der Eastern Sunrise Bank, wo wir den Zeichenfresser gesucht haben, der die ganzen Geldscheine unbrauchbar gemacht hat."

"Stimmt, da mussten wir reinapparieren", sagte Hana, während Saburo einen goldenen Schlüssel aus seiner Tasche zog, ihn kurz über das Schloss strich und dann hineinsteckte. Widerstandslos ging die Außentür auf.

Sie warteten, bis alle vier im Vorraum waren. Dann öffnete Saburo mit demselben Schlüssel auch die Innentür. "Oha, Portier und sicher auch Kameras", sagte Saburo. Da sprach ihn auch schon ein Mann aus der gläsernen Loge an. "Moment mal, Sie wohnen aber nicht hier. Zu wem woll'nse."

"Sagen wir Ihnen gerne, wenn wir dort sind", sagte einer der Unsichtbaren. Wieder blitzte es silbern auf. Der Portier zuckte zusammen und verdrehte die Augen. "In dreißig Sekunden von jetzt müssen wir wohin auch immer fahren", sagte der Unsichtbare.

So beeilten sie sich, an dem Portier vorbeizukommen. Was mögliche Kameraaufnahmen anging wollte sich ein Kollege der Unsichtbaren kümmern, der mehr Ahnung von sowas hatte.

"Für dieses Blitzedings habt ihr aber eindeutig die falsche Anzugfarbe, und ihr müsstet auch Brillen tragen", scherzte Hana. "Wir haben die sonnengelbe Ausgabe bekommen", wisperte Takeru.

Im Aufzug prüfte Saburo, in welches Stockwerk sie mussten. Er drückte den entsprechenden Knopf. "Auch eine gute Übung, wen in einem Aufzug zu verfolgen, der in den zwei letzten Stunden andauernd rauf und runtergependelt ist", sagte Saburo. "Achtung, mögliche Gefahr", zischte der unsichtbare Takeru. "Über uns ist gerade dunkle Zauberkraft wirksam. Ich fürchte, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren."

__________

Takeshi war gerade in seinem Zimmer, als die Tür aufgestoßen wurde, und sein eigener Vater mit einer schallgedämpften Pistole in der Hand hereinstürmte. "Kein Laut, Bursche, sonst war's das mit dir", zischte Haru Tanaka. Takeshi blickte nur in den Lauf der ihm vorgehaltenen Waffe. Woher hatte sein Vater das Ding? Warum zielte er damit auf ihn? Würde er echt abdrücken? In den Augen las er die Antwort auf die dritte Frage. Er würde.

"Gut, du hast eine Knarre, und die ist wohl auch entsichert. Was genau willst du?" Zischte Takeshi, der im Moment nicht wusste, wie er sich fühlen sollte.

"Das du jetzt vor meiner Knarre, wie du es nennst hergehst, nach draußen vor die Tür und dann immer weit genug vor mir her bis zum Treppenhaus. Wir machen einen kleinen Ausflug auf's Dach. Da reden wir dann über deine Zukunft", fauchte Haru. Im Hintergrund waren Geschirrklappern und Natsu Tanakas Stimme zu hören. Seine Mutter sang. Sie sang gerne bei der Hausarbeit. Er hatte ihr früher immer gerne zugehört. War das jetzt das letzte mal, dass er seine Mutter singen hörte?

"Vater, ich weiß nicht, was du jetzt von mir denkst. Aber ich lasse mich sicher nicht von dir auf das ungesicherte Dach führen und dann mit dieser Puste an der Schläfe dazu treiben, da runterzuspringen. Wenn du mich umbringen willst mach's hier, wo deine Familie es mitkriegt, du starker Held!" stieß Takeshi unvermittelt aus. In seinen Augen loderte die selbe in Hass umschlagende Verachtung wie in denen seines Vaters. Auch hörte er das Lied seiner Träume, das Lied der Macht, das Lied, das ihm Kraft gab. Ja, er war überlegen. Sein Vater konnte nicht so schnell schießen wie er ihm die Waffe wegtreten konnte. Doch sein Vater hielt die Pistole mit beiden Händen sicher und stand so, dass weder ein Schlag noch ein Tritt ihm die Waffe entwenden konnte. Außerdem stand er noch zwei Meter entfernt. Takeshi würde springen müssen, um ihn zu erwischen. Da konnte sein Vater ihm gleich zwei Kugeln in den Leib jagen. Der wollte ihn echt umbringen!

"Du hängst zu sehr an deinem jämmerlichen Leben, Bursche, dass du dich hier lieber niederschießen lässt als darum zu betteln, weiterleben zu dürfen. Aber deine Mutter muss nichts davon mitkriegen, dass wir das jetzt ein für allemal klären. Wehe du schreist oder brüllst."

"Keine Sorge, aus dem Schreialter bin ich raus, und ich muss nicht brüllen, um dir zu sagen, dass du der Irre bist, nicht ich. Das ist jetzt eindeutig klargeworden. Das Ding mit Hiromitsu hat dich voll aus der Kurve gefeuert", schnarrte Takeshi, während seine Mutter gerade ein wunderschönes Lied aus einem Kabokistück sang.

"Du willst es klären, ein für allemal? Warum da oben auf dem Dach, wo du locker runterfallen kannst?" legte Takeshi nach, während er selbst sich auf das Lied der Macht konzentrierte, das nun den lieblichen Gesang seiner Mutter überlagerte. Jetzt hörte er nur noch die Textzeilen, die ihm Macht und Ruhm versprachen.

"Ich lass mich von dir nicht mehr beschwatzen. In drei Sekunden bist du hier raus und an der Wohnungstür."

"Vergiss und vergehe, du Narr!" entschlüpfte es Takeshi mit einer merkwürdig angerauhten Stimme. Er fühlte seine Hände vibrieren. Dann sprang er vor. Ein Schuss löste sich und landete mit lautem Knacken in der Decke. Knisternd flackerte das Licht, bevor es mit leisem Piff ausging. Das machte Takeshi nichts aus. Er war an seinem Vater dran und hieb von oben auf die Pistole. Er war so stark, dass der Lauf direkt nach unten zielte, als sich der nächste Schuss löste und durch den Boden drang. Wehe der oder dem, der jetzt gerade einen Stock tiefer in der genauen Schusslinie stand. Doch Takeshi kümmerte es nicht, ob einer der Yamuras verletzt oder getötet wurde. Da war nur sein Vater und er.

Takeshi hieb seinem Vater mit der rechten Handkante an den Kopf. Doch der schien gerade in einem Kampfrausch oder sowas zu sein. Er steckte den Schlag weg und wollte neu zielen. Es entspann sich ein Gerangel um die Waffe. Das konnten die drei weiblichen Familienmitglieder nicht überhören.

Takeshi schaffte es nicht, seinem Vater die Pistole aus den Händen zu hauen oder zu drehen. Sein Vater war wie ein Killerandroide, wie er ihn aus manchen Mangas kannte, die in einer düsteren Zukunft spielten. Dass er selbst von einer völlig unheimlichen Macht angetrieben wurde nahm er nur über das in seinem Geist tönende Lied war. Er dachte an Sojobo. Dann sah er eine in flammen stehende, laut schreiende Frau mit weißgoldenen Schlangenhaaren vor sich und wusste, das war seine zweite Mutter, diese Yamauba, die seinen ersten Körper gefressen und mit ihm seine Seele verschluckt hatte, die dann jedoch in einem von beiden gezeugten Kind neuen Halt gefunden hatte. Er konnte seine zweite Mutter töten. Also konnte er auch diesen Mann mit dem kleinen Todesrohr töten.

"Haru, Takeshi, was ist los! Hört auf! Bitte aufhören!" hörte Takeshi eine in großer Angst und Verzweiflung kreischende Frauenstimme. Wer war das?

"Vergehe, du Narr!" schnarrte Takeshi und stieß dem Gegner sein Knie in den Unterleib. Jeder andere Mann hätte daraufhin vor Schmerz schreiend abgelassen. Doch immer noch war der Feind von einem Rausch getrieben, der ihn jeden Schmerz verdrängen ließ. Aber zumindest verstolperte er den nächsten Ansatz, Takeshi die Waffe an den Körper zu halten. So konnte Takeshi ihm das rechte Bein wegtreten. Der andere fiel um. Wie durch einen rot flirrenden Nebel sah er seine Umgebung, eine Frau, die wild zitternd in der Tür stand, dahinter ein Mädchen, gerade mal zehn Jahre alt, das wild losheulte, weil es was ansehen musste, dass ihm ganz viel Angst machte.

Takeshi sprang dem stürzenden Mann entgegen und bekam ihn am Hals zu fassen. "Er oder ich", hieß die einzig gültige Entscheidung. Er fühlte schon, wie auch der Feind seine Arme bewegte. Da drehte er diesem mit einem kräftigen Ruck den Kopf herum, das es laut knackte. Etwas splitterte. Dann fühlte er etwas warmes, flüssiges aus der entstandenen Wunde auf seine Hände tropfen. Es war, als habe ihm wer kochendes Wasser übergegossen. Während sein Gegner mit einem letzten Röcheln sein Leben aushauchte fühlte der entschlossene Kämpfer, wie die heiße Flüssigkeit auf seiner Haut brannte. Üblicherweise hätte er jetzt vor Schmerzen schreien müssen. Doch er fühlte sich überglücklich. Die Hitze der ihn benetzenden Flüssigkeit strömte in seinen ganzen Körper. Seine Hände und Arme vibrierten, und in seinem Kopf erscholl ein siegestrunkenes Lachen, zusammen mit den Tönen und den letzten Textzeilen jenes verhängnisvollen Liedes, dass ihm den Weg zur Macht weisen wollte. Er sah ein Flimmern in der Luft. Er führte seine mit roten Sprenkeln besudelten Hände zusammen. Dann entstand mit einem weiß-grünen Blitz ein anderthalb Armlängen langer Gegenstand. Der große Kämpfer hielt es in der Hand, das grüne in Drachenblut gehärtete Langschwert Ryu no Kiba. Es hatte sich einen neuen Träger erwählt.

"Und nun die drei anderen!" dröhnte dieselbe Stimme, die gerade so gelacht hatte, in Takeshis aufgewühltem Geist. "Los, gib mir auch ihr Blut, damit du deine neue Bestimmung erfüllen kannst!!!"

ENDE DES 1. TEILS

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