Die Welt ist weiterhin in Aufruhr. Die nichtmagische Menschheit lebt mit den Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 und dem Vergeltungskrieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und dem Irak. Die Magische Welt hat weiterhin mit den Auswirkungen der von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelösten Welle dunkler Zauberkraft zu tun. Zwar konnte das Erbe Sardonias in und über Millemerveilles endgültig beseitigt werden. Doch die während der Eingeschlossenheit durch eine gasförmige Droge Vita Magicas ausgelöste Fortpflanzungsorgie erlegt den Bewohnern Millemerveilles die Verantwortung für über 750 im nächsten Jahr ankommende Kinder auf. Im Auftrag und mit Hilfe der transvitalen Entität Ammayamiria errichten Millie und Julius Latierre zusammen mit Ashtarias Nachkommen Camille Dusoleil, Maribel Valdez und Adrian Moonriver eine neue, schützende Glocke über Millemerveilles, die nicht wie die dunkle Kuppel Sardonias auf Leid und Tod, sondern Lebensfreude, wachsendem Leben und Liebe gründet. Die dunkle Woge im April 2003 bestärkt dunkle Wesen und Gegenstände. So erwacht die schlummernde Kraft in einem Zauberkessel der Hexenmeisterin Morgause zu unheimlichem Eigenleben. Doch der Kessel wird von den darum streitenden Hexen Anthelia und Ladonna zerstört. Morgauses darin eingelagerte Seele wird von der ebenfalls bestärkten Nachtschattenführerin Birgute Hinrichter vertilgt und gibt ihr damit noch mehr magische Kraft. Auch der Orden der Gooriaimiria gewinnt durch die weltweite Welle dunkler Zauberkraft mehr Kraft. In Australien erwachen die vier letzten Schlangenmenschen Skyllians aus jahrtausendelangem Zauberbann und sorgen über mehrere Wochen für Angst und Unsicherheit, weil sie ihr Dasein ungehindert ausbreiten wollen. Nur die von Anthelia nach Australien geschafften Insektenmenschen, sowie ein machtvolles Ritual australischer Stammeszauberer am heiligen Berg Uluru dämmen die Ausbreitung von Skyllians letzten Dienern ein. Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Bei der Hochzeit von Gabrielle Delacour und Pierre Marceau in einem abgelegenen Waldschloss bei Amien droht die Geheimhaltung der Zaubererwelt zu scheitern. Denn das Schloss wurde vom US-Geheimdienst CIA als Spionage und Überwachungsstätte benutzt. Nur Julius' Computerkenntnisse und der Zaubertrank Félix Felicis ermöglichen ihm, die drohende Enttarnung der Zaubererwelt zu verhindern. Im Dezember bekommt die Familie Latierre Zuwachs. Zum einen wird den Eheleuten Hippolyte und Albericus Latierre ein Sohn geboren, der eine körperliche Besonderheit aufweist. Er besitzt zwölf Finger und zwölf Zehen. Zum anderen heiratet Hippolytes und Béatrices Cousin Gilbert seine amerikanische Kollegin Linda Knowles, mit der er den Betrug der US-Quidditchmannschaft bei der Weltmeisterschaft aufgedeckt hat. Ein wenig beunruhigt ist Julius von einem Traum, indem die in magischen Sphären überdauernden Seelen älterer Frauen davon sprechen, dass Millie und er drei Jahre und drei mal so viele Jahre wie sie Töchter haben keinen Sohn bekommen können, weil die Magie der Mondburg dies so eingerichtet hat. Da Ashtaria über Ammayamiria gefordert hat, dass er in den kommenden Jahren seinen ersten Sohn zeugen soll, um den Tod eines Sohnes aus der Linie Ashtarias auszugleichen, weiß er nicht, was er von diesem Traum halten soll. Die ersten Wochen des Jahres 2004 verlaufen ohne erwähnenswerte Ereignisse. Doch die mit dem Schutz der magischen und nichtmagischen Menschen betrauten Ministeriumsbeamten wissen, dass diese Ruhe trügerisch ist. Tatsächlich nutzen die menschenfeindlichen Gruppierungen die Zeit, um bessere Ausgangsmöglichkeiten für weitere Aktionen zu schaffen. Die Sekte der erwachten Göttin errichtet auf jedem der sieben großen Erdteile einen magischen Stützpunkt, einen "Tempel der erwachtten Göttin". Birgutes nachtschatten erweisen sich als die mächtigsten Widersacher Gooriaimirias. Mit dem Machtanspruch Gooriaimirias unzufriedene Vampire erbeuten die Kenntnisse über die Standorte der sieben Tempel. Linda Latierre-Knowles und ihr Ehemann Gilbert erfahren bei einer heimlichen Reise nach Italien, dass Ladonna Montefiori offenbar schon wichtige Posten im Zaubereiministerium kontrolliert und muss nun zusehen, wie sie es denen beibringen können, die ihnen vertrauen.
Die Wochen zwischen Ende Februar und Mitte April werden die anstrengendsten in der Laufbahn der Heilhexe Hera Matine. Denn in diesen Zeitraum fallen die von Vita Magica erzwungenen Geburten von mehr als siebenhundert neuen Zaubererweltkindern. Camille Dusoleil macht am 29. Februar den Anfang mit gleich vier Töchtern. Die Pflegehelfer unterstützen die ausgebildeten Hebammen bei den Entbindungen. Allerdings kommt es zwischen Uranie Dusoleil und dem ungewollten Vater ihrer drei Kinder zu einem Zerwürfnis. Ihr Sohn Philemon fühlt sich zurückgesetzt und versucht dies durch grobes Auftreten zu überspielen. Uranie geht auf Antoinette Eauvives Vorschlag ein, bis auf weiteres in ihrer Residenz, dem Château Florissant, zu wohnen. Bis zum 18. April erfolgen die erwarteten Geburten der von Camille als Frühlingskinder bezeichneten Babys. Zur gleichen Zeit kommt es innerhalb der Werwolf-Vereinigung namens Mondbruderschaft zu einer Entscheidung, ob die Mitglieder sich den eingestaltlichen Hexen und Zauberern anvertrauen sollen, um keine weiteren Opfer des von Vita Magica verfremdeten Vollmondlichtes zu riskieren oder nun erst recht gegen die Eingestaltler vorzugehen. Die Gruppe um den Zauberer Fino, die für ein weiteres Alleingehen eintritt, gewinnt die Abstimmung und damit auch die Entscheidung, wer die Mondgeschwister weiterführen soll.
Ladonna Montefiori will ihre Macht in Italien vervollkommnen, bevor dort die Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft beginnen soll. Hierzu will sie alte Feinde, die ihr schon vor vierhundert Jahren lästig waren, unwiederbringlich entmachten, die Lupi Romani. Sie schürt gezielt Unfrieden zwischen den vier großen Familien und entfacht damit einen Krieg, der drei der Familien an den Rand der Auslöschung treibt. Der zwergenstämmige Clanchef Vespasiano Mangiapietri und seine Söhne können gerade so noch von seiner Großmutter, der reinrassigen Zwergin Lutetia Arno, in Sicherheit gebracht werden, bleiben aber bis auf weiteres im Zauberschlaf. Ladonna wittert nun die Gelegenheit, weitere treue Anhängerinnen unter dem Bann der Feuerrose zu vereinen. Vor allem geht es ihr um die Stuhlmeisterinnen der sogenannten schweigsamen Schwestern. Ebenso bereitet sie sich darauf vor, weitere Zaubereiminister Europas und anderer Erdteile unter ihre Herrschaft zu zwingen. Falls ihr das gelingt gehört ihr die Zaubererwelt. Doch ihre Feinde sind vorgewarnt. Sophia Whitesand, die Stuhlmeisterin der britischen Sektion der schweigsamen Schwestern, fällt nicht auf gefälschte Unterlagen ihrer einstmals treuen Mitschwester Erin O'Casy herein und wittert eine Falle. Deshalb holt sie die irische Mitschwester in ihre besonders gesicherte Heimstatt, wo Erin durch den dort wirksamen Sanctuafugium-Zauber von Ladonnas Bann befreit wird, jedoch bis auf weiteres geschwächt ist. Albertrude Steinbeißer, die von den allermeisten noch für Albertine gehalten wird, soll von Ladonnas Handlangerin Gundula Wellenkamm in ein unterirdisches Versteck angeblicher Aufzeichnungen gelockt werden. Doch weil Albertrude davon ausgeht, dass Gundula bereits unter Ladonnas Einfluss steht trifft sie Vorbereitungen. So entgeht sie dem Duft der Feuerrose und schafft es sogar, die am Zielort aufgetauchte Ladonna Montefiori schwer zu demütigen, indem sie ihr mit bezauberten Scheren einen Gutteil ihrer Haare abschneiden lässt.
Laurentine Hellersdorf nimmt den Rat der Heilerin Hera Matine an und nimmt Kontakt mit der Kampfzauberexpertin Louiselle Beaumont auf. Nachdem sie deren Einstiegsprüfung in Form einer Rätseljagd und Vorführung ihrer Zauberkenntnisse bestanden hat trifft sie diese in ihrem abgelegenen kleinen Schlösschen, wo sie erweiterte Verteidigungszauber besonders für Hexen erleidet und erlernt. Während dessen forschen Millie und Julius Latierre nach, was es mit Julius' Traum von den in Sphären überdauernden Geisterfrauen auf sich hat. Die Mondtöchter bestätigen, dass es kein bloßer Traum war. Millie und er können erst dann einen gemeinsamen Sohn haben, wenn sie nach Clarimondes Geburt zwölf Jahre verstreichen lassen. Doch Ashtaria fordert von Julius, dass er in den nächsten anderthalb Jahren einen Sohn zeugen soll, um die Lücke zu schließen, die durch den Tod eines erbenlos gebliebenen Sohnes aus Ashtarias Blutlinie entstanden ist. Außerdem soll er für die Mondtöchter nach drei von der Mondbruderschaft abgerückten Werwölfen suchen, die nach Frankreich gekommen sind. Wenn es ihm gelingt, sie in die versteckte Burg der Mondtöchter zu bringen, können sie von ihrem Dasein als Werwölfe geheilt werden.
Julius findet heraus, dass wahrhaftig drei der Mondbruderschaft entsagende Werwölfe in Frankreich eingetroffen sind. Dem Werwolfkontrollamtsleiter Hubert Fontbleu missfällt das, weil er die Festnahme der drei gerne als Trumpf gegen die Mondbruderschaft ausgespielt hätte. Dennoch muss er sich der Weisung seines Vorgesetzten Beaubois fügen und Julius die drei Abtrünnigen überstellen. Dieser bringt sie wie versprochen zur Mondburg. Die drei dürfen über jene gläserne Brücke, über die auch schon Millie und Julius gegangen sind. Allerdings weist die erste der Mondtöchter ihn mentiloquistisch darauf hin, dass eine der drei, Nina, ein Kind mit der Werwolfkrankheit geboren hat. Auch dieses wollen die Mondtöchter heilen, doch erst später. Weil Fontbleu das mit den drei Werwölfen zum fast eigenen Staatsgeheimnis gemacht hat und weil er Julius willentlich einem umstrittenen Ortungszauber ausgesetzt hat und wegen anderer vorangegangener Verfehlungen wird der Leiter des Werwolfkontrollamtes vom Dienst freigestellt.
Ladonna Montefiori lässt von ihrem unterworfenen Romulo Bernadotti Portschlüssel an fast alle europäischen Zaubereiministerien verschicken, deren Nationalmannschaft an der Quidditchweltmeisterschaft teilnehmen dürfen. Nur Frankreichs Ministerin Ventvit will sie nicht dabei haben. Um so ärgerlicher ist es für sie, dass die Spanier den Veelastämmigen Ignacio Lucio Bocafuego Escobar mitbringen. Um ihn nicht bei ihrem geplanten Unterwerfungsakt stören zu lassen vergiftet sie ihn mit einem tückischen Gemisch aus dem Gift einer Runespore-Schlange. Doch ihr Plan, die Minister und ihre Mitarbeiter mit einer Feuerrosen-Duftkerze zu unterwerfen scheitert. Denn Anthelia/Naaneavargia kann dank Albertrudes besonderer Sehkraft den für Deutschland bestimmten Portschlüssel wenige Sekunden vor dem Auslösen wegschnappen und damit zum geheimen Treffpunkt versetzt werden. Dort zerstört sie die magische Duftkerze mit Yanxothars Feuerklinge und wendet den Erdzauber "Lied der reinigenden Mutter Erde" an, um die bereits vorher unterworfenen Minister von allen magischen Zwängen freizuspülen. Dabei sterben zwar alle von Ladonna vollständig unterworfenen. Doch nun wissen die meisten Zaubereiministerien, dass Ladonna das italienische Zaubereiministerium beherrscht und noch mehr Macht haben will. Die knapp vor der Versklavung erretteten Minister machen nun Jagd auf Ladonnas Agentinnen und Helfershelfer in ihren eigenen Ländern. Auch Ministerin Ventvit erfährt von dem beinahe geglückten Streich der teilweise Veelastämmigen. Mit Hilfe der in Frankreich lebenden Veela-Abkömmlinge unter Führung der reinrassigen Veela Léto können alle im Zaubereiministerium verborgenen Helferinnen Ladonnas enttarnt und ohne sie zu töten unschädlich gemacht werden. Für diese Hilfe möchte Léto eine Besserstellung ihrer Artgenossinnen und Nachkommen und tritt mit Ministerin Ventvit in geheime Verhandlungen ein, die von Julius Latierre begleitet werden. Deshalb legt er seinen Herzanhänger bis auf weiteres ab, um Millie nicht mit Létos Veelamagie zu belasten.
Laurentine Hellersdorf beendet ihre intensive Einzelausbildung bei Louiselle Beaumont und reist zu ihren nichtmagischen Verwandten in die USA. Als ihre dort ebenfalls hinreisende Mutter ihr einen Dicken Umschlag mit allen bisherigen Dokumenten aus Laurentines Leben vor Beauxbatons und eine schriftliche Erklärung ihres Vaters übergibt weiß sie, dass ihre Eltern endgültig mit ihr gebrochen haben. Weil ihre Großmutter Monique spürt, dass sich ihre Tochter und ihre Enkelin offenbar im Streit befinden verlangt sie eine Aussprache. Dabei eröffnet Laurentine ihr, dass sie kurz Eintritt in die Volljährigkeit aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten ist, was ihre sehr gläubige Großmutter erzürnt. Diese verlangt, dass auch Laurentine ihr Haus verlässt. Es sieht danach aus, dass Laurentine auch den guten Kontakt mit ihrer verwitweten Großmutter einbüßt, ohne dieser verraten zu haben, was mit ihr los ist. Weil sie bei einem Musicalbesuch in New York einer sehr schönen wie offenbar mächtigen Hexe begegnet und später erfährt, dass es die neue Anthelia ist, beschließt sie, Kontakt zu den schweigsamen Schwestern zu suchen. Diese laden sie im Juni zu sich ein und bieten ihr an, ihre Mitschwester zu werden. Doch bevor sie die entscheidende Frage beantworten kann enthüllen sich mehrere Mitschwestern als offenbar abtrünnige, die versuchen, die gemäßigten Schwestern umzubringen. Nur die in der Versammlungshöhle wirksamen Schutzzauber verhindern den Massenmord. die offenbar vom Orden abgefallenen werden in magischen Lichtblasen von einem eingeprägten Fluch gereinigt und vollständig zu neugeborenen wiederverjüngt, wie es die Regeln der Schwesternschaft bei Verrat und versuchten Angriffen auf Mitschwestern vorsehen. Laurentine schwört den Eid der Schwestern und wird somit zu einer weiteren schweigsamen Schwester.
Im Juni treffen sich die Ladonnas Unterwerfungsversuch entgangenen Zaubereiminister und ihre Mitarbeiter in Millemerveilles, weil die neue Schutzglocke keine böswilligen oder von dunklen Zaubern beeinflussten hineinlässt. Millie und Julius nehmen in ihren Funktionen als Berichterstatterin und Veela-Menschen-Beauftragter daran teil. Es wird vereinbart, dass im die Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft in Kanada stattfinden soll, da den italienischen Zaubereiverwaltern nicht mehr zu trauen ist. Als Antwort auf diese Entscheidung führt Ladonna den grausamen Ausgrenzungszauber aus, den bereits Voldemort benutzte, um alle nicht auf britischem oder irischem Boden geborene Hexen und Zauberer auszusperren. Italien und Sardinien werden somit für magische Menschen zu gnadenlosen Todeszonen. Ob es einmal möglich ist, Ladonnas Macht zu brechen weiß keiner.
Währenddessen droht in Ostasien ein weiteres von der Welle dunkler Zauberkraft erwecktes Erbe, aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberzutreten. Das von den japanischen Magiern gehütete Schwert Drachenzahn schafft es, einen für seine mentalmagischen Signale empfänglichen Geist zu erreichen, den arglosen, Jungen Takeshi Tanaka aus einem Vorort von Fukuoka auf Kyushu. In verlockenden Träumen bringt er den bis dahin überaus folgsamen Halbwüchsigen dazu, gegen seine Eltern aufzubegehren und sich für mehr Freiheit und Macht zu begeistern. In den Träumen erlebt Takeshi die Entstehung des Schwertes nach. Am 24. Juli 2004 wirkt der Einfluss des dunklen Wächters so stark auf Takeshi und auch dessen Vater ein, dass sich beide gegenseitig angreifen, angeblich, weil der jeweils andere ein tödlicher Feind ist. Dabei schafft es Takeshi, seinen Vater zu töten. Diese unverzeihliche Tat verschafft dem Schwert den Ausweg aus seinem Gefängnis. Es erscheint in Takeshis Händen. Der dunkle Wächter will ihn auch dazu treiben, seine Mutter und seine Schwestern umzubringen. Doch er widerstrebt. Da greift der Geist des dunklen Wächters aus dem Schwert heraus auf Takeshis Körper über. Dessen Geist wird aus dem eigenen Körper verstoßen und muss die nächsten Wochen zusehen, wie der dunkle Wächter mit dem befreiten Schwert nach neuen Opfern sucht. Vor allem will der Wächter seinen Zauberstab wiederhaben. Doch den hat Anthelia/Naaneavargia. Diese erfährt vom Rachefeldzug des dunklen Wächters. Ihre Mitschwester Izanami Kanisaga will jedoch zuerst gegen ihn antreten, weil auch sie ein magisches Feuerschwert hat. Anthelia gibt ihr einen Zweiwegspiegel mit, der im Todesfall einer der beiden der Überlebenden Ort und Zeitpunkt mitteilt. Deshalb ist Anthelia auch sehr betrübt, als am 26. August 2004 Ortszeit Tokio Izanami das mit dem dunklen Wächter ausgefochtene Duell verliert. Denn ihr Schwert brauchte Sonnenlicht, während das des dunklen Wächters mit Mondlicht und dem Feuer aus dem Erdinneren gespeist wird. Anthelia nutzt die Computerkenntnisse ihrer Mitschwestern, um einen Köder für den dunklen Wächter zu finden. Damit lockt sie ihn auf einen Berg auf einer unbewohnten Insel Japans. Dort kommt es zum Entscheidungskampf der beiden mächtigen Feuerklingen. Anthelia lässt dabei sechs Zauberkugeln mit gespeichertem Sonnenlicht frei, die ihr Schwert stärken und das des dunklen Wächters schwächen. Er verliert es und wird von Takeshis Geist aus dem gekaperten Körper vertrieben. Anthelia zerstört die im Schwert des dunklen Wächters enthaltene Magie mit ihrem eigenen Schwert. Dabei erscheinen ihr die mächtigsten Gegner des Wächters als Geister, darunter Izanami Kanisaga und der Tenguherrscher Sojobo. Am Ende entsteigt der Geist des dunklen Wächters der zerfallenden Schwertklinge. Doch er wird von der ebenfalls durch die dunkle Zauberkraftwelle zur Geisterriesin aufgeblasenen Berghexe Yamanonechan in einem inversen Geburtsvorgang einverleibt, um ihren Fehler zu berichtigen, ihn damals, wo sie noch aus Fleisch und Blut war, in die Welt hineingeboren zu haben. Sie flieht vor Angehörigen der Hände Amaterasus, die wegen ihres Versagens beim Zaubereiministers in Ungnade gefallen sind, sich jedoch nicht mit seiner Entscheidung abfinden wollen. Takeshi wird mit geringfügig veränderter Erinnerung mit seiner Mutter und seinen Schwestern in die nichtmagische Welt zurückgeschickt. Doch muss er irgendwann mit einer lebenden Berghexe einen Nachkommen zeugen, wenn er nicht selbst als Geisterfötus im Leib der Yamanonechan einkehren und dauerhaft dort verbleiben will. Das Kapitel dunkler Wächter ist nun endgültig erledigt, und kein Europäer hat davon etwas mitbekommen.
Millie lässt Julius einen schlimmen Albtraum nacherleben, der sie seit Ende Mai umtreibt. Darin offenbart ihr Ashtaria selbst, dass die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten von den mächtigen Dunkelwesen und ihren Helfern ausgelöscht werden kann, wenn es Julius nicht bald gelingt einen Sohn zu zeugen. Nachdem Julius alles nachbetrachtet hat, was Millie durchlitten hat, eröffnet ihm seine Frau, dass es trotz der Aussagen der Mondtöchter doch noch einen legalen Weg gibt, dass er in den nächsten zwei Jahren Vater eines Sohnes wird. Zwar ist der Weg für einen auf das Gebot der ehelichen Treue hinerzogenen schwer zu gehen. Doch Julius erkennt, dass er Millie nicht betrügt, wenn sie und er sich darauf einigen, dass er mit einer von beiden anerkannten unverheirateten Hexe den von Ashtaria eingeforderten männlichen Erben zeugt. Die Auserwählte ist Béatrice Latierre, die formal und wohl auch im ideellen Sinne als Retterin des Ehefriedens handeln soll. Béatrice erklärt sich mit der Wahl einverstanden und reist mit Julius mitte Juni ins Sonnenblumenschloss. Dort verbringen sie ganz im Sinne der auf ihre Vollendung als Feuervertraute hinwirkenden Millie mehrere leidenschaftliche Liebesnächte. Béatrice und Julius merken dabei, dass sie durchaus auch wunderbar zusammengehören könnten. Sie erkennen, dass die rein körperliche Anstrengung nicht die größte Schwierigkeit bei dem Vorhaben ist.
Als Millie ihre Ausbildung vollendet hat und als Feuervertraute Pangyanimiria aus Khalakatan zurückkehrt begehrt sie Julius derartig, dass es gleich in der ersten gemeinsamen Nacht zu wilder Liebe kommt. Im Verlauf der nächsten Wochen stellt sich heraus, dass sowohl Béatrice als auch Millie von Julius empfangen haben. Millie wird sogar Zwillinge austragen, die gemäß der Magie der Mondtöchter auf jeden Fall Töchter werden. Weil Béatrice wohl selbst im Wochenbett liegen wird, wenn Millies neue Töchter ankommen und weil sie selbst eine ausgebildete hebamme benötigt vertraut sie sich der Heilerin Hera Matine an. Auch Millie, die eigentlich nichts mit der "Zwergenhasserin" zu schaffen haben möchte, stimmt ebenfalls zu, dass Hera Matine ihre Kinder auf die Welt holt. Deshalb erfährt Hera auch, warum die drei sich auf dieses Vorhaben eingelassen haben. In den kommenden Monaten werden auch Béatrices Mutter, Millies Eltern und Julius Mutter über die bevorstehende außereheliche Geburt eines Kindes von Julius unterrichtet. Béatrice hofft darauf, dass Millie ihr das Kind lässt, als sie erfährt, dass sie den gewünschten Sohn von Julius trägt. Doch die letzte Entscheidung wird Millie haben. Eine Bemerkung von Aurore, als diese erfährt, dass nicht nur ihre Maman, sondern auch ihre Tante schwanger ist treibt beiden werdenden Müttern Tränen in die Augen. Denn Aurore sagt, dass wer ein Kind im Bauch hat ist dem seine Maman.
Die Latierres feiern mit Gilbert und dessen junger Familie das Weihnachtsfest. Sie hoffen darauf, dass die drei neuen Kinder in eine etwas friedlichere Welt geboren werden, als Ashtarias Albtraumvision es verhieß.
Laurentine Hellersdorf verabredet mit Louiselle Beaumont weitere Übungseinheiten. Sie weiß nicht genau, wie sie ihr Verhältnis zu der neuen Mitschwester einordnen soll. Auch hadert sie damit, dass man ihre Großmutter Monique wohl gründlich betrogen hat, als es um die Weltraumbestattung ihres Mannes ging. Doch Monique Lacroise erkennt, dass der katholische Priester, dem sie sich anvertraut hat, ein scheinheiliger Mensch ist und verzeiht Laurentine, dass diese ihr das schon im Mai um die Ohren gehauen hat. Laurentine kann zumindest darauf hoffen, mit dem Rest ihrer Verwandtschaft weiterhin gut auszukommen. Nur mit ihren Eltern wird es wohl nicht mehr klappen. Sie weiß nicht, welch wahrhaft erschütterndes Ereignis ihr Leben und das vieler anderer Menschen betreffen soll.
Kapitän Pieter de Bruyne blickte sorgenvoll zum südöstlichen Horizont. Dort waberte ein dunkler Fleck auf der Linie, wo die grau wogende See und der klare blaue Tropenhimmel sich vereinten. Er hob sein Fernrohr an die Augen, um die Sache näher zu betrachten. So konnte er kurz aufleuchtende Lichter sehen, die innerhalb der dunklen Masse aufglühten, Blitze. Außerdem sah er eine weiße Schaumlinie. Er wusste, was das hieß. Im Südosten tobte einer jener berüchtigten Tropenstürme, die schon manches stolze Schiff der sieben Niederlande ins nasse Grab gerissen hatten. Das passte auch zu der beinahen Windstille, die seit etlichen Stunden herrschte. Die Ruhe vor dem Sturm.
"Steuermann van Boeren!" rief der Kapitän über das Deck hinweg. Der Gerufene kam unverzüglich zu ihm herüber. "Es kann sein, dass wir einen Wirbelsturm erleben werden", sagte der Kapitän und deutete nach Südosten. Steuermann Hanns van Boeren folgte der Handbewegung und nickte verdrossen. "Wird dem Herrn nicht gefallen, Kapitän", grummelte der zweithöchste Offizier an Bord des Dreimasters Seeland.
"Ja, vor allem, dass wir wohl nach Nordwest ausweichen müssen, um nicht voll in dieses Unwetter zu geraten", sagte der Kapitän. Steuermann van Boeren nickte. Schickt den Schiffsjungen Jan zu ihm und lasst ihn zu mir bitten!" befahl der Kapitän. Der erste Steuermann bestätigte den Befehl und ging los, ihn auszuführen.
Fünf Minuten später kam der wohlgenährte Schiffseigner Arnulf van Rieten an Deck. Er wirkte nicht erfreut, als er den Kapitän sah.
"Mynher van Rieten, ich bedauere, Euch mitzuteilen, dass wir wohl den Kurs ändern müssen. Von Südost droht ein Sturm. Wollen wir nicht in diesen hineingeraten müssen wir nach Nordwest ausweichen", erklärte der Kapitän.
"Ein Sturm? Auch das noch! Wir sind sowieso schon im Verzug", grummelte van Rieten und deutete an seine Weste, unter der er seine Taschenuhr trug. Der Kapitän unterdrückte eine aufsässige Antwort und sagte nur, dass er es nur vorschlüge, um Schiff und Ladung zu schützen. Der angesehene Gewürz- und Edelholzhändler aus Rotterdam nickte wild und blaffte: "Ja, ändert den Kurs. Gerade diese Fracht muss nach Rotterdam. Ist sonst noch was?"
"Nein, Mynher, sonst liegt nichts vor", erwiderte der Kapitän. Kaufmann van Rieten nickte und ging wieder in Richtung seiner eigenen Kajüte, die im Vergleich zum Nannschaftslogie eigene kleine Sichtfenster, auch Bullaugen genannt, besaß.
"Steuermann van Boeren. Kurs Nordwest!" befahl der Kapitän mit lauter Stimme. "Zu Befehl, Kapitän!" rief van Boeren und gab die Anweisung an den wachhabenden Rudergänger weiter. Dieser bejahte ebenfalls und drehte am Steuerrad. Der Kapitän blickte auf die noch fern erscheinende dunkle Wolkenmasse, die sich scheinbar langsam bewegte, bis sie genau achtern zu sehen war. Doch der Fahrtwind flaute immer weiter ab. Die See lag beinahe spiegelglatt unter dem Kiel des stolzen Handelsseglers. Seine weißen Segel hingen schlaff zwischen den Tauen der Takelage. Jetzt bedauerte der Kapitän es, keine Galeere zu befehligen. Die hätte dann noch mit der Kraft der Ruderer Fahrt machen können. Dann erstarb auch die letzte Brise. Die Seeland lag völlig ohne Fahrt auf der flachen Dünung. Jetzt konnte der Schiffsführer sehen, wie die dunkle Wolkenmasse immer näher rückte. Wenn sie nicht bald Fahrt aufnahmen würde der Sturm sie einholen.
De Bruyne dachte daran, dass sie gerade erst vor vier Tagen mit knapper Not einem grausamen Schicksal entronnen waren, als van Rietens Begleitmannschaft mit dieser alten Holzkiste an Bord geeilt war, dicht gefolgt von sehr aufgebrachten Eingeborenen, die mit ihren langen Messern und wütend geschwungenen Speeren hinter ihnen hereilten. Der Eigner der Seeland hatte kein Wort darüber verloren, was in der Kiste war, sondern nur befohlen, sofort den Anker zu lichten und möglichst schnell nach Westen von Sumatra fortzufahren. Dann hatten die aufgebrachten Eingeborenen ihre Speere geworfen. Drei davon waren zitternd in die Beplankung des Schanzkleides eingeschlagen. Zwei der wütenden Stammeskrieger hatten noch versucht, am noch nicht eingeholten Fallreep hinaufzuklettern. Nur van Rietens Leibwächter hatten sie mit gezielten Pistolenschüssen davon abgehalten, an Bord zu kommen. Doch die zwei getöteten Krieger stachelten ihre heranstürmenden Stammesgenossen noch mehr an. Sie johlten und schrien vor Wut und wollten das Schiff entern wie eine Horde goldgieriger Piraten. So hatten de Bruynes Matrosen ihre Entermesser gezogen, um die Angreifer zurückzutreiben. Die Seelland hatte es noch geschafft, die Bucht zu verlassen. Der Kapitän hatte nur die Worte "Unheilsstein und Todesstein rufen gehört und dass die wohl erzürnt waren, weil jemand ihren Götzen bestohlen haben sollte.
Als die Seeland die offene See gewonnen hatte hatte es ihr Kapitän gewagt, den Eigner nach der Kiste und dem Grund für die Wut der Eingeborenen zu fragen. Doch van Rieten hatte nur die Schultern gezuckt und gesagt, dass die Schiffsbesatzung besser schlief, wenn sie nicht wisse, was in der Kiste sei und sich dann in seine geräumige Kajüte zurückgezogen. Kapitän de Bruyne kannte es zur Genüge, dass man den ehrenwerten Kommerzienrat aus Rotterdam nicht mit zu vielen Fragen behelligen durfte. Mehr als einmal hatte der ihm die Entlassung angedroht, falls er zu neugierig war. "Ich bezahlle Euch und Eure Leute sehr großzügig, Kapitän. Trachtet nicht danach, dass ich das ändern muss!" Der Kapitän ging jedoch davon aus, dass van Rietens Leute einen Kultgegenstand der Eingeborenen entführt hatten, einen Fetisch oder eine Götzenstatue. Es wäre nicht das erste mal, dass wohlhabende Kaufleute solche alten Kultgegenstände mitgehen ließen, um sie entweder als Teil einer eigenen Sammlung zu behalten oder für einen prallen Beutel Gold an andere reiche Leute zu verkaufen, die nicht selbst auf große Fahrt gehen wollten, aber die Schätze der Südsee in ihr Haus holen wollten.
Im Augenblick sorgte sich der Kapitän mehr um den immer näher rückenden Sturm. Es war nicht der erste, den er in all den Jahren auf See erlebt und überstanden hatte. Doch er war erfahren genug, die Elemente nicht zu unterschätzen. Jeder Sturm konnte das Verhängnis bringen, und so weit fort von jeder rettenden Küste würde selbst die stolze Seeland niemals mehr gefunden werden, wenn ein Sturm sie zerschlug und in den unergründlichen Tiefen versenkte.
In all den Jahren hatte er gelernt, nicht nur den Augen, sondern auch Nase und Ohren zu vertrauen. So deutete er den gewissen Druck auf beiden Ohren als Vorzeichen des Sturmes und den Geruch der See als Anzeichen für eine Menge Verdruss. Noch einmal sah er nach achtern aus und erkannte die immer häufigeren Blitze in der dunklen Masse, die wie ein herankriechendes Ungeheuer auf das Schiff zuhielt.
In seiner Kajüte dachte der Eigner Arnulf van Rieten daran, dass er wohl den größten Schatz der Welt erbeutet hatte und damit in seiner Heimatstadt eine ganze Schiffsladung Gold erzielen mochte. Sicher, für ihn und seine fünf Getreuen war es sehr brenzlig geworden, als sie in den vergessenen Tempel in einer weiten Höhle vorgedrungen waren und den aus einem Granitbrocken gehauenen Götzenaltar gefunden hatten. Sie hatten davon gehört, dass dort ein besonderer Stein oder Kristall zu finden sein sollte, die Hinterlassenschaft eines dem Satan vergleichbaren Abgottes oder Dämonen, dem hier vor undenklich langer Zeit gehuldigt worden war. Arnulf van Rieten hatte schon an die Berichte von Platon gedacht oder an ausgestorbene Völker Ostafrikas, die es irgendwie geschafft hatten, bis zur Insel Sumatra vorzudringen und ihren Geisterglauben dort weitergetrieben hatten. Doch als er jenen völlig schwarzen, jeden Funken Licht verschluckenden Gegenstand mit zwölf gleichmäßigen Oberflächen gefunden hatte war ihm bewusst, dass er hier das Erzeugnis einer längst vergangenen Hochkultur, vergleichbar den alten Ägyptern oder Babyloniern, vor Augen hatte. Der schwarze Kristallkörper hatte sich bei Berührung kalt wie Eis angefühlt, ja und auch einen gewissen Kältehauch verströmt, als wolle er jedem, der ihm zu nahe kam alles Böse der Welt androhen. Dennoch hatten seine Leute den faustgroßen Gegenstand von seinem heidnischen Altar gehoben und in eine mitgeführte Kiste gepackt. Dann waren die ersten wilden Krieger erschienen und hatten gemerkt, dass man das Unheiligtum des alten Volkes entwendet hatte. Nur mit den überlegenen Feuerwaffen und Schwertern war es van Rieten und seinen Männern gelungen, dem erzürnten Rudel Eingeborener zu entrinnen. Doch deren Schreie hatten den Rest des Stammes aufgerüttelt. So hatten die sechs Niederländer nur noch das Heil in der Flucht suchen können. Dabei hatten sie einen Gutteil ihrer bereits ergatterten Beute zurückgelassen, um nur mit der Kiste mit dem dunklen Artefakt zur Seeland zu gelangen, immer mehr aufgebrachte Stammeskrieger im Nacken.
Konnte es sein, dass der vom Kapitän erwähnte Sturm eine Auswirkung des verwegenen Beutezuges war? Unsinn! Auch wenn van Rieten im Namen der protestantischen Kirche getauft war glaubte er nicht wirklich an den Teufel oder gar irgendwelche Dämonen der Südsee, die sich für den dreisten Raub ihrer Kultgegenstände rächen mochten. Doch für weniger klar denkende Leute wie Will Brokken, seinen Fachmann für Edelsteine, mochte es solche Zusammenhänge geben.
Van rieten hörte auf das leise Knarren und Plätschern, das ein ständiger Begleiter auf See war. Doch es war irgendwie still. Dann hörte er des Kapitäns befehlsgewohnte Stimme "Alle Mann an Deck!" rufen. Sofort klangen die schnellen Schritte nach oben eilender Matrosen auf. "In die Wanten, Segel Reffen!" hörte van Rieten die Stimme des ersten Maates, der zwischen den Offizieren und der einfachen Mannschaft vermittelte. Der Kaufmann aus Rotterdam kannte diese Vorkehrungen ganz gut. Wenn ein Sturm bevorstand mussten alle großen Segel eingeholt werden, damit die Masten und das Tauwerk nicht von den Elementen zerfetzt wurden. Also zog der Sturm auf, obwohl die Seeland den Kurs geändert hatte. "Noch zwei Mann ans Ruder!" ertönte der Befehl von Deck. Der Eigner beschloss, die Kajütentür fest zu verriegeln, um kein überkommendes Wasser in seinen geheiligten Wohnraum zu bekommen. Er verriegelte die Tür so fest er konnte und schloss auch die äußeren Luken vor den Bullaugen, bevor er auch diese fest verriegelte. Dann merkte er, wie die See unruhiger wurde. Das Unwetter schickte seine nassen Vorboten voraus.
Van Rieten öffnete den stählernen Geldschrank, in dem er seine eigenen Dokumente, einen Beutel voll Gold und die ihm wichtigsten Gegenstände aufbewahrte. Im Schein seiner Öllampe betrachtete er den vollkommen schwarzen Gegenstand, der nicht einen Funken Licht spiegelte, obgleich er aus Kristall bestand. Das Schiff schaukelte immer mehr, so dass der fremdartige, etwas bedrohliches atmende Gegenstand hin und herkullerte. Van Rieten griff eher aus Furcht als Absicht danach und meinte, einen blanken Eisblock aus dem hohen Norden zu berühren. Seine Finger schienen schlagartig zu gefrieren. Schnell zog er die Hand zurück und schlug die Schranktür zu. Eine starke Welle warf das Schiff nach oben und ließ es in ein tiefes Wellental hinuntersacken. Die festgeschraubte Öllampe wackelte bedenklich. Van rieten löschte das Licht, damit es bei Auslaufen des Öls kein Feuer entfachte. Jetzt saß van Rieten in völliger Dunkelheit da. Er hörte das unheilvolle tiefe Dröhnen von draußen. Er hörte die Befehle von Kapitän und Maat an die Mannschaft und fühlte, wie der Seegang immer stärker wurde. Er hörte das Klatschen über das Deck schlagender Wellen und hoffte, dass die Dichtungen in der Tür und den Rahmen der Bullaugen dem Wasser widerstanden. Mit einem lauten Schlag prallte eine weitere Welle gegen die Bordwand und warf das schiff zur Seite. Der Eigner schaffte es noch gerade so, sich an seinem vorsorglich mit der Bordwand verschraubten Schreibtisch festzuhalten, um nicht durch seine Kajüte zu kullern. Er hörte, wie in seinem stählernen Geldschrank dieses und jenes herumgeworfen wurde. Hoffentlich stimmte, was sein Diamantenfachmann behauptet hatte. Der hatte den dunklen Zwölfflächler mit einem mittgebrachten Diamanten geprüft und festgestellt, dass der Kristall noch härter war als der bisher am härtesten vermutete Diamant. Denn wenn der Kristall in diesem Aufruhr von Wasser und Wind zerbrach konnte sich van Rieten von seinem erhofften Erlös verabschieden. Dann bliebe ihm nur, die Splitter des dunklen Kristalls an die Gelehrten des Königs zu verkaufen, damit die ihn auf seine Beschaffenheit untersuchen konnten.
Der Sturm wurde immer wilder. Donnerschläge durchdrangen das immer lautere Heulen und Brüllen und das Tosen der Wellen. Der mehr als ausreichend genährte Kaufmann dachte daran, dass das jetzt Tage so gehen mochte. Er fürchtete um die Unversehrtheit der bereits an Bord befindlichen Waren, die er aus Niederländisch-Indien in das Mutterland bringen wollte. Er hoffte, dass de Bruyne und seine Besatzung ihr Handwerk verstanden und sein Schiff durch dieses Unwetter bringen würden. Dann hörte er den lauten Knall, begleitet von einem kanonendonnerartigen Schlag. Er hörte über das Sturmgeheul und Wellentosen hinweg die aufgeregten Rufe: "Blitzschlag am Besanmast!" Also das war der laute Knall gewesen. Gleichzeitig rumpelte dunkler Donner über sie alle hinweg. Er hörte das laute Tosen von Wasser, dass mit Macht gegen die Kajütenwand und über das Deck hinwegfegte. Die See war inzwischen zu einem ungebärdigen Element geworden, das den auf ihr reitenden Segler herumwarf wie ein bockendes Vollblutpferd, ja sogar noch wilder als ein solches. Meer und Sturm wollten die Seeland verderben, sie weitab von jeder menschlichen Besiedlung zerschlagen und in die unergründlichen Tiefen des Meeres hineinschlingen. Van Rieten konnte sich nur mit größter Anstrengung halten. Sein Schreibtischstuhl war vorsorglich mit festen Tauen an den Beinen des Tisches gezurrt und konnte nicht verrutschen.
Dann erfolgte ein sehr, sehr unheilvoller Schlag, ein Knarzen und Gurgeln. "Leck an Steuerbord!" hörte er den Maat ausrufen. "Drei Mann an die Pumpen!" folgte die dazu passende Anweisung. Wenn das Schiff Wasser fasste drohten die eingelagerten Gewürze zu verderben, die er seinen reichen Landsleuten bringen wollte. Dann hörte er noch über das Geheul hinweg den Ruf: "Mann über Bord!" Jemand von der Besatzung musste von einer der Wellen vom Schiff gerissen worden sein. Ihn zu finden war in dieser Hölle aus Wind und Wellen so gut wie unmöglich. Dann knallte es mit Wucht gegen die Kajütenwand. Das Holz brach weg, und ein Schwall Wasser schlug wie die Faust eines nordischen Eislandriesens in van Rietns Gesicht und gegen dessen Brustkorb, dass ihm der Atem wegblieb. Dann umspülte das nasse Element seine Füße, seine Schienbeine, seine Knie und dann seine Hüften. Er sah durch das geschlagene Leck so groß wie sein Kopf den dunkelgrauen Himmel von haushohen Wellen durchbrochen. Dann rauschte die nächste Welle genau auf ihn zu. Er riss den Mund zu einem Schrei auf. Doch genau das wurde sein Verhängnis. Die wütende Woge drängte mit aller Macht durch das Leck in der Kajütenwand, riss dieses noch weiter auf und drang van Rieten in Mund und Nase. Er schluckte und prustete, um das in seinem Rachen brennende Salzwasser wieder auszuspeien. Doch der Druck der hereindrängenden Flut war zu groß. Van Rieten versuchte Luft zu holen und sog damit erst recht Wasser in seine Lungen ein. Gleichzeitig stieg das in der Kajüte eingedrungene Wasser ihm über den Bauch und bis zum Brustkorb. Die in seine Kajüte brechende Welle raubte van Rieten die Besinnung. Er fühlte nicht mehr, wie sein Körper einen aussichtslosen Kampf gegen das Ertrinken führte. Sein letzter Gedanke war noch, dass er seine Ladung und vor allem den geraubten Kristall wohl nicht mehr nach Rotterdam bringen konnte.
Die Seeland kämpfte gegen die wütenden Wogen, den brüllenden Sturm und die niederfahrenden Blitze. Feuer, Wasser und Wind bedrängten die gegen ihren Untergang kämpfenden Seeleute. Der Laderaum wurde immer wieder geflutet. Die Mannschaft an den Pumpen führte einen aussichtslosen Kampf gegen die eindringende See. Kapitän de Bruyne sah noch, wie Steuermann van Boeren von einem weiteren Brecher gepackt und über Bord gerissen wurde. Dann brachen auch noch Planken des Oberdecks und gaben den Wassermassen einen weiteren Weg frei. De Bruyne sah durch die Mischung aus grauer Flut, weißer Gischt und hellgrauem Himmel die an der Seite aufgeschlagene Kajüte des Eigners. Im Moment konnte er für diesen nichts mehr tun.
Ein weiterer Blitzschlag zersprengte den Großmast. Der Kapitän fühlte die mit dem Blitz niederfahrende Kraft in seinen Leib jagen und verlor die Besinnung.
Die Seeland hielt sich noch eine halbe Stunde über Wasser. Doch dann hatte sie so viel Wasser in ihrem Bauch, dass sie immer tiefer im Meer versank. Immer mehr Wellen kamen über und fluteten das dem Untergang geweihte Handelsschiff. Ein weiterer greller Blitz erschlug fünf Seeleute, darunter den ersten Maat, der bis zum letzten Atemzug gegen den drohenden Untergang kämpfend Befehle gerufen hatte. Dann brach das Deck unter der Last einer gewaltigen Woge. Die letzte Luft aus dem Laderaum blubberte nach oben. Die Seeland versank wie ein Stein und riss das dunkle Geheimnis eines längst vergessenen Kultes mit sich in die ewige Finsternis der Tiefsee hinab.
Es war ein 1000 Quadratmeter großes Grundstück. Es wurde von einer vier Meter hohen Panzerglaswand umfriedet, die nur durch ein Tor im Osten, dem Morning Gate und dem im Westen, dem Evening Gate, betreten oder verlassen werden konnte. Um Schlangen abzuwehren war auf der Krone der Mauer ein dünner Draht mit 200 Volt Strom angebracht. Schließlich sollten die bis zu acht Touristen, die hier unterkommen konnten, nicht von den im nur hundert Meter entfernt beginnenden Urwaldreservat lebenden Tieren behelligt werden. Andererseits erlaubte die Glaswand es den Besuchern, die im 99,2 Quadratkilometer großen Dschungelreservat lebenden Tiere ohne die Optik störende Gitterstäbe anzusehen, wenn sie sich doch mal trauten, aus dem sie schützenden Waldstück herauszukommen. Das galt besonders für die drei Tigerinnen und ihr kapitales Alphamännchen, die in dem Waldstück ausgewildert worden waren und laut Bericht des mitgereisten Rangers Nujang schon mehrfach Nachwuchs bekommen hatten.
Jetzt lag die tropische Nacht über dem einzigen bewohnten Bungalow. Stille erfüllte diesen Abschnitt der insel. Vor nicht einmal fünf Minuten war das noch ganz anders gewesen. Da hatten zwei, die nicht wussten, ob sie auch noch körperlich was füreinander fühlten und miteinander erleben wollten die Bestätigung gefunden, ja es ging noch. Das alte Feuer war noch nicht erloschen, sondern hatte nur schwach glosend auf diese erste Gelegenheit gewartet, neu zu entflammen.
Erschöpft von drei Runden ihres ganz persönlichen Festes der Liebe lagen zwei Eheleute aus Frankreich zusammen. Noch berauscht von der wiedergefundenen Leidenschaft gab sich die Frau der nun gewürdigten Ruhe hin. Ihr Mann schlief bereits. Ihn hatte die nach vielen Jahren wiedergefundene Lust an seiner Frau offenbar schneller erschöpft als diese. So war sie im Grunde gerade alleine im Umkreis von sieben Kilometern. Die fünf Ranger, die vor fünfzehn Tagen mit ihnen beiden aus Banda Aceh über den Indischen Ozean auf dieses kleine Eiland übergesetzt hatten, schliefen sicher in ihrem Quartier in der Mitte der Insel, wo auf einem hundert Meter hohen Hügel ein Wohnbau und ein Wachturm standen. Die hatten sicher nicht mitbekommen, was hier am Oststrand von Gulanayatra stattgefunden hatte.
Seit 25 Jahren waren sie jetzt verheiratet. Dies waren sozusagen ihre zweiten Flitterwochen. Ihr Mann hatte ihr am 8. Dezember verraten, dass er einen vollen Monat Urlaub nehmen konnte, wohl auch, weil ab Januar einige Personalumbauten in Kourou anstanden. Er hatte für sie beide einen Privatjet gechartert, der sie über Kenia nach Banda Aceh auf Sumatra gebracht hatte. Von dort aus waren sie mit fünf Wildhütern in einem schnellen Flachboot über den Ozean gefahren und am Oststrand gelandet, wo ihr vom zehnten Dezember bis zum zehnten Januar gebuchtes, exklusives Feriendomizil auf sie gewartet hatte. Das Boot war dann ohne sie nach Sumatra zurückgefahren. Die Wildhüter, hier Rangers genannt, waren dann mit dem Wagen weiter zu ihrem Hauptquartier gefahren. Für Ausflüge zu Fuß durch den Dschungel kamen dann immer zwei mit einem kleinen E-Buggy angefahren und hatten sie abgeholt.
Ja, fünfzehn Tage waren sie nun hier, hatten nichts anderes als den Dschungel oder den die ganze Insel umgebenden Sandstrand genossen und weder von der Arbeit noch von der Familie gesprochen. Langweilig war es ihnen trotzdem nicht gewesen. Denn die Beobachtungen, die sie mal am Tag, mal bei Nacht gemacht hatten, waren so überwältigend, dass sie wohl noch mehr als einen Monat darüber reden konnten. Tja, und irgendwie hatten sie dann auch einander wiederentdeckt. Sie hatte darauf gehofft, dass es wieder einmal passieren würde, wo ihr Mann gerade nicht von seinen Kollegen erreicht werden konnte und sie im Grunde alle Ruhe der Welt hatten. Deshalb hatte sie sich noch einen Tag vor der Reise von ihrer Frauenärztin eine Hormonspritze geben lassen, die zwei volle Monate lang eine Empfängnis zu 99,97 % unwahrscheinlich machen sollte. Sie hoffte, dass ihr nicht die restlichen 0,03 Prozent blühten und sie trotz dieser Vorkehrung noch einmal schwanger wurde. Sie hatten beide eine Tochter. Doch die eine reichte völlig aus, um jeden Wunsch nach einem weiteren Kind zu verwerfen. Denn sie wussten beide nicht, woher ihre einzige Tochter diese abnormen Anlagen hatte, die sie Dinge tun ließ, die nicht mit naturwissenschaftlichen Regeln einhergingen und die trotz aller Bemühungen, sie davon abzubringen mit diesen Anlagen leben und sie nutzen wollte. Sie beide hatten ihr klargemacht, dass sie dann auch nichts mehr von den Eltern zu erwarten habe und die letzten Reste ihres früheren Lebens aufgegeben. Weil sie ihr eigenes Haus an der Französisch-deutschen Grenze verkauft hatten konnten sie sich jetzt diese höchst exklusive Reise leisten, weit ab von der westlichen Zivilisation, ja auch weit genug weg von jenen, die ihnen ihre Tochter abspenstig gemacht hatten und sie womöglich noch unter Beobachtung hielten. Wieso musste sie jetzt daran denken, wo sie gerade erst wieder richtige Lust am eigenen Körper gefühlt hatte? Sie beneidete ihren Mann, dass er sofort danach einschlafen konnte. Aber womöglich war es nur das Durcheinander der Hormone, das ihr gerade diesenStreich spielte. Vielleicht kam sie besser von all dem mitgeschleppten Ballast weg, wenn sie und er es nicht bei dieser einen Nacht beließen. Sie hatten ja noch sechzehn Tage Zeit.
Sie lauschte auf die beruhigende Meeresbrandung und den offenbar auch schlafenden Urwald. Sie waren so nahe an der reinen Natur. Wenn sie beide noch vor dem Sonnenaufgang aufwachten konnten sie sicher beide am Strand die Herrlichkeit des neuen Morgens genießen.
Brummback war der deutsche Sektionsleiter des koboldischen Überwachungs- und Sicherheitsdienstes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui , den alle nicht dort tätigen Kobolde nur "den Bund" oder "die, die man nicht laut nennt" nannten. Gerade war er mal wieder in der Gringottszweigstelle von Frankfurt am Main, beim neuen Zweigstellenleiter Murrmuck. "Das missfällt uns, dass ihr das mit dem Sicherheitsleck damals immer noch nicht behoben habt. Seitdem dieser angebliche Alarich Steinbeißer hier hereingekommen und ungeschoren wieder verschwunden ist sollt ihr klären, woher dieser Zauberstabbändiger die geheimen Zugänge kannte und vor allem, was er oder sie mit dieser Verbrecherin zu schaffen hatte, die in unser londoner Zentralverlies eingedrungen ist. Mein irobritischer Kollege Wizrock rennt bei denen von Gringotts London ständig gegen eine meterdicke Schmiedewand an, weil die ihm nur unzureichend mitteilen konnten, wie genau die andere in das Hochsicherheitsverlies 007 eindringen konnte. Immerhin haben sie es nun wieder sicher gemacht und vor allem unbetretbar für langbeinige Rundohren mit Zauberstäben. Sowas wie mit den Weihesteinen darf uns einfach nicht zweimal passieren. Deshalb werdet ihr, wenn ihr um Schlag Mittag alle Türen für die Zeit bis zum Schwirrbummknallfest zumacht den Schlund der gierigen Angst vor die geheimsten Verliese machen. Ich schick euch für den Zweck fünf meiner Angstsänger rüber."
"Leitwächter Brummback, unsere geheimen Verliese müssen auch von Zauberstabträgerinnen und Zauberstabträgern besucht werden können, da das hiesige Zaubereiministerium sehr viel Wert darauf legt, dort seine ganz gefährlichen oder wertvollen Sachen zu lagern. Wenn wir denen den Zugang versperren gefährdet das die Zusammenarbeit mit den Zauberstabträgern. Sie wissen, was das heißt?"
"Ach, wo wir den Halbling Giesbert Heller schon mehrfach auf unsere unbedingt nötige Zusammenarbeit hingewiesen haben droht der uns mal wieder mit den Schweißbärten und Fuselbeuteln?" fragte Brummback sichtlich verärgert. Er zwirbelte seinen nachtschwarzen Schnurrbart, der als einzige Gesichtsbehaarung vorhanden war, da sein Kopf völlig kahl war.
"Er muss uns damit nicht drohen. Die Saufbäuche stehen bei dem Verbindungszauberer im Ministerium in Lauerstellung und warten drauf, sich das vor vierhundert Jahren abgejagte Goldhüterabkommen zurückzuholen, wenn wir es versau.., öhm, verderben sollten."
"Ich bin der Leitwächter der deutschsprachigen zehntausend Augen und Ohren, Murrmuck. Du erzählst mir nichts wirklich neues. Ich ging aber davon aus, dass die Zauberstabschwinger zu sehr darauf wertlegen, an ihre Gold- und Werteinlagen bei uns dranzukommen, statt mit König Gaorin Steinstampfer gegen uns zu paktieren. Der Halblin Giesbert Heller weiß, dass wir in dem Moment alle Türen fest zumachen, wenn der was macht, dass uns nicht gefällt. Im Schachspiel heißt das Patt."
"Das widerspricht mir nicht, Leitwächter Brummback", sagte Murrmuck und zupfte seinen rot-goldenen Zweigstellenleiteranzug zurecht. "Genau wegen dieses Patts dürfen wir von uns aus auch nichts machen, was die Zugänglichkeit und Kundenvertrautheit gefährdet. Und der Schlund der gierigen Angst ist ein ziemlich heftiger Schutzzauber. Wer da reingerät kann froh sein, nur halbwahnsinnig wieder rauszukommen, was bei geistig schwachen Menschen sehr selten vorkommt. Die meisten verlieren ganz den Verstand oder sterben vor Angst. Das wir Drachen als Türhüter halten ist das höchste, was wir den Zauberstabschwingern zumuten dürfen. Denn stirbt einer von denen wegen uns, lachen die Gierschlünde von Saufbartkönig Gaorin Steinstampfer."
"So, aber von uns durften zweiunddreißig sterben, darunter dein Vorgesetzter Ratzpack und sein Sicherheitshüter Rollnack", stieß Brummback verärgert aus.
"Der Rat der grauen Bärte und Sie vom Bund wollten nicht, dass die Zauberstabträger das erfahren. Sonst hätten wir für jeden gestorbenen Kollegen dessen doppeltes Gewicht in Gold einfordern dürfen, so der Vertrag mit denen. Aber Sie wollten das nicht erwähnen", begehrte Murrmuck auf. Brummback funkelte ihn aus seinen steingrauen Augen warnend an. "Sprich um der Haltbarkeit deines Weihesteines willen nie wieder so zu mir, kleiner Goldumrührer", knurrte der deutsche Leitwächter des Axdeshtan Ashgacki az Oarshui. "Es wird der Tag kommen, wo wir von diesem Halbling Heller all die Schulden eintreiben werden, die uns der ungebetene Besuch eingebrockt hat. Und du lässt veranlassen, dass statt der Drachen vor den Türen die Schlünde der gierigen Angst eingerichtet werden. Den Schurkenschlucker zu verwenden wie bei allen anderen Verliesen wäre zu gnädig."
"Sie haben die Befugnisse vom Rat der grauen Bärte, Leitwächter Brummback", seufzte Murrmuck.
"Gut, dass du das einsiehst, Murrmuck. Sei froh, dass du noch auf dem versilberten Zweigstellenleiterstuhl sitzen darfst. Kriege ich aber noch mal derartig aufsässige Worte von dir zu hören wird dieser Stuhl frei, und dann wird nur wer drauf hingesetzt, dem ich ohne weiteres vertrauen kann." Die Drohung saß, erkannte Brummback. Zum einen dass Murrmuck entbehrlich genug war, ihn von seinem Posten zu entfernen, ja wohl auch unauffindbar verschwinden zu lassen und auch, dass Brummback ihm nicht über den Weg traute. Doch noch war Murrmuck zu wichtig, weil sein Großvater Grimmblick alias Vater Eisenbart zum Rat der grauen Bärte gehörte und seine schützende Hand über ihn hielt. Selbst der Bund durfte nicht mal eben jeden Kobold verschwinden lassen, ohne sich womöglich bei den Graubärten rechtfertigen zu müssen.
Er war gerade mal so groß wie ein siebenjähriges Menschenkind, aber mindestens dreimal so breit und viermal so schwer wie ein solches. Er trug einen stattlichen Kugelbauch vor sich her, besaß aber auch kurze, muskelüberladene Arme und Beine. Sein viereckig anmutendes Gesicht wurde von einem schneeweißen Bart geziert, der bis zum prallen, in gold-schwarze Kleidung eingezwengten Wanst hinunterreichte. Ein ebenso schneeweißer Kranz stoppelkurzer Haare zierte seinen braunen, faltigen Kopf. Seine Kohlschwarzen Augen wirkten unstet. Doch in Wirklichkeit behielten sie jede winzige Veränderung genau im Blick. Nur dadurch konnte er bereits das dritte Jahrhundert in Folge den Bund der deutschen Unterbergvölker, Schwarzalben oder Zwerge regieren.
König Gaorin VI. Steinstampfer ließ sich zum 340. Geburtstag beglückwünschen. Dass er ausgerechnet an dem Tag aus seiner Mutter Irnu Würmerschreck herausgepresst worden war, an dem die großen, kurzbärtigen Holzstabbändiger die Ankunft eines Heilspredigers aus Sonnenaufgangsrichtung feierten hatte ihn bei den Großen schon manchmal Staunen eingebracht. Er hatte das immer mit dem Spruch abgetan: "Irgendwann war ich meiner Mutter zu groß und zu schwer zum weiter für mich mitessen, da musste die mich eben selbst aus sich rausdrücken. Der Tag war uns beiden völlig egal."
"Noch einmal meine aufrichtigen Glückwünsche zum vollendeten Lebensjahr, großer Herr der tiefen Höhlen und Gewölbe, König unter den Bergen. Möge Euer stattlicher Bart niemals ausfallen!" sprach Kloin Zangenschmied, der wichtigste Erzverarbeitungsbeauftragte des Königs seinen schon in Heuchelei ausufernden Geburtstagswunsch aus. Denn hier in der Herrschaftshöhle Gaorins wussten es sogar die ungebrannten, dass Kloin Zangenschmied all zu gerne Gaorins Nachfolger sein würde. Doch der hatte jeden Entmachtungskampf gewonnen, zu dem er in all den drei Jahrhunderten herausgefordert worden war. Auch die, die versucht hatten, ihm einen Hinterhalt zu legen, hatten ihr Vorhaben nur solange überlebt, bis er auf sie gezeigt hatte und "Die da waren's", geblökt hatte. Das wusste Kloin zu gut und wollte sicher nicht, dass auch sein Kopf mit Siegelton ausgehöhlt als Nachttopf für einen Günstling des Königs, schlimmstenfalls für seine nicht minder dickwanstige Frau verwendet wurde.
"Und, was bringt ihr mir für Kunde von den Großen, Späher Ranur?" fragte er seinen Außenkundschafterdienstbeauftragten Ranur Zwickernase.
"Sie sorgen sich immer noch um diese aus drei verschiedenen Weiberleuten zusammengebackene Dunkelmeisterin aus Italien. Öhm, bei der Gelegenheit, Pietrinino Roccaveloce aus Venedig lässt im Namen seines Königs anfragen, ob der Beistandspakt weiter gilt, auch wenn die Zauberstabträger aus anderen Ländern nicht mehr nach Italien vordringen können."
"Soso, der Gondelschaukler hat Angst, dass dieses dunkelhaarige Mischlingsweib ihm auch noch die Krone vom Kopf zerrt wie sie es mit den gierfingrigen Spitzohren gemacht hat. Gut, du darfst ihm weitergeben, dass wenn deine Kundschafter ohne Gefahren in sein Land reingehen können, er nur das Glashorn zu blasen braucht, was ich ihm von Hogin Glasbrenner habe machen lassen. Dann schicke ich den schnellen Trupp los. Sollten wir diese dunkelhaarige Feuerbändigerin zu fassen kriegen teilen wir die brüderlich unter uns auf, bevor wir sie an die Felsenwühler verfüttern", tönte der König. Dann rief er mit seiner schafsbockartigen Blökstimme: "Ööiii! Fasst du meine Tänzerin nochmal an den Hintern hänge ich dich am eigenen kümmerlichen Bart auf, Quorin Eisenbieger!" Eigentlich wusste es jeder Bartträger hier, dass die flinken, sehr geschmeidigen Tänzerinnen nur vom König selbst angefasst oder sonst wie berührt werden durften. Insofern war die Drohung sehr ernstzunehmen.
"Achso, dies dürfte Euch ebenso anrühren wie die Lage im Stiefelland. Die Spitzohren suchen nach Sachen, die sie gegen uns verwenden können, um uns die Großen auf die Bärte zu hetzen. deren sieben Ältesten, die sich lustigerweise Rat der grauen Bärte nennen, möchten uns sicherlich gerne loswerden."
"Ja, ist so", tat der König diese Mitteilung beiläufig ab. "Diese Graubärte wissen zu gut, dass wir sofort da sind, wenn die Bergtrollkacke verzapfen. Ach ja, die halten immer noch den Deckel drauf, dass welche von den Zauberstabschwingern deren Goldhäuschen in Frankfurt aufgemischt haben?"
"Natürlich, sie schämen sich, dass denen sowas passieren konnte", sagte Ranur Zwickernase. "Vielleicht sollten wir das mal bei dieser allmonatlichen Zusammenkunft denkfähiger Wesen im Ministerium auf den Tisch packen und gucken, wie verbiestert deren Abgesandter dann dreinschaut."
"Bei aller Achtung Eures Ranges und Eures Scharfsinnes, Euer Erhabenheit, König unter allen Bergen, doch dies wäre sehr unklug, solange wir nichts außer weitergegebenen Aussagen haben. Die langfingrigen Spitzohren werden uns das als glatte Verächtlichmachung und schädigende Lüge auslegen und kommen dann sauberer da heraus als ein Kind aus dem Wasserbad", sagte Zwickernase. Gaorin Steinstampfer verzog das viereckige Gesicht und brummselte in seinen langen Bart: "Trollkack, das ist wohl wahr." Dann sagte er: "Vielleicht erwischen wir die doch noch mit runtergelassenen Hosen und können uns über deren viel zu kurze Rammelbolzen ereifern."
"Ja, auf diesen Tag dürfen wir wohl weiterhin hoffen", erwiderte Zwickernase. Er mochte es nicht, wenn sich sein König in derartigen Derbheiten erging. Doch er war zu sehr Hofbeamter, als sich auch nur im Flüsterton darüber zu beklagen. Gaorin gab es schon, als sein Großvater geboren wurde, so wollte er zumindest zusehen, dass es ihn noch gab, wenn Gaorin die letzte Fahrt antrat.
Wizrock war der Leitwächter der britischen Sektion des Bundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui. Als solcher prüfte er die erweiterten Sicherheitsvorkehrungen vor dem Hochsicherheitsverlies 007 mit den Weihesteinen. "So, sind jetzt alle Zauberstabträger aus dem Gebäude raus?" fragte er den Zweigstellenleiter Glitterrock. Dieser nutzte die besonderen Knöpfe an seiner Uniformjacke, um mit den zuständigen Überwachern und Schienenfahrern zu sprechen. "Gerade ist der letzte Wagen aus den Stollen zurück zum Haltepunkt gefahren, Leitwächter Wizrock. Wir werden in fünf Minuten für die nächsten drei Tage schließen und die allwinterliche Wartung der Sicherheitsvorrichtungen vornehmen. Dann können wir auch ohne Störung durch die Lebensquellen rundohriger Zauberstabschwinger alle neuen Vorrichtungen in Tätigkeit bringen."
"Es hat ja auch wirklich lange genug gedauert, die Tür zu reparieren und alle bisherigen Sicherheitsvorkehrungen wiederzubeleben", grummelte Wizrock. "Und ihr wisst bis heute nicht, wie die Eindringlinge die Ankersymbole in der Tür ausgebrannt haben?"
"Genau nicht, aber ungefähr, Leitwächter Wizrock. Es war eine magische Vorrichtung, die das Tiefenfeuer aus der Erde und das Himmelsfeuer von der Sonne zu einem gemeinsamen Glutbündel vereint hat. Was die gegen Drachenfeuer eingerichteten Zauber gegen das Erdfeuer aufbieten konnten wurde von den aus dem Sonnenfeuer geschöpften Gluten überwunden. Es ist bisher nicht möglich, ein Gegenmittel zu entwickeln, weil es nichts heißeres und unerschöpflicheres gibt als das Feuer aus der Tiefen Erde und der Sonne. Wer diese Vorrichtung ersonnen hat muss ein sehr mächtiger Feuerkundiger sein oder war es."
"Deshalb ist es um so wichtiger, dass kein Zauberstabschwinger mehr auf weniger als zwanzig seiner Schritte an diese Tür da herankommt", schnaubte Wizrock und deutete mit seinem spindeldürren Zeigefinger auf die schwere Pforte zum allerheiligsten Sicherheitsverlies der Koboldwelt. Doch dann fragte er: "Moment, eigentlich müssten die auf die sieben sichtbaren Himmelslichter ausgerichteten Zauber doch auch das Sonnenfeuer bändigen."
"Ja, wo das bekämpft wurde griff dann das aus der tiefe der Erde geschöpfte Feuer", grummelte Glitterrock. Der Leitwächter der britischen Sektion des Axdeshtan Ashgacki az Oarshui schnarrte nur, dass das wohl so war. "Ab Morgen haben wir hier den Schlund der gierigen Angst. Er wurde auf das Blut von Zauberstabträgern sowie die Verbindung von Stabholz und Stabkern geprägt. Wer da hineingerät wird mit den schlimmsten Angstbildern und Angsterweckungslauten gequält, die in seinem oder ihrem innersten schlummern. Bestenfalls ist er oder sie dann ein Fall für deren Seelenheiler. Schlimmstenfalls räumt die Putzmannschaft dann seine oder ihre vermodernden Überreste weg", sagte Glitterrock.
"Und ihr habt es ganz genau auf ausschließlich Zauberstabbezogene Quellen abgestimmt?" fragte Wizrock. "Selbstverständlich. Wir müssen ja selbst jederzeit an das Verlies heran. Allerdings müssen dann die Drachen anderswo hingeschafft werden. Aber das erledigen unsere Drachenwärter dann in den Tagen, wo wir geschlossen haben."
"Gut, ich erwarte dann deinen Bericht nur zu meinen Händen, Glitterrock. Sieh zu, dass es nichts zu beklagen gibt! Die Graubärte auf Irland können sehr nachtragend sein, wenn jemand Zwergendreck anrichtet. Wo wir dabei sind, du hast diesem Schwarzbart Forin aus Hogsmeade hoffentlich ein lebenslanges Hausverbot ausgesprochen, nachdem er versucht hat, Orecracks Schmiede auszukundschaften."
"Aber ganz gewiss habe ich das. Seine Gesellen, Lehrburschen und er dürfen Gringotts nicht mehr betreten, solange sie leben oder werden sofort vom Schurkenschlucker hinter dem Eingang in das Knochenmagazin gesogen. Forins Vaterbruder ist übrigens nicht damit einverstanden, dass wir den Sohn seines Bruders derartig abstrafen."
"Meine Leute haben das Stinkloch unter Bewachung, in dem diese Saufbäuche wohnen. Spuckt da einer in die falsche Richtung bekomme ich das sofort mit."
"Ich wollte es nur erwähnt haben, Leitwächter Wizrock."
Der Leitwächter der britischen Abteilung des geheimen Überwachungsdienstes dachte nur daran, dass er am liebsten auch wusste, wer es gewagt und dreisterweise auch geschafft hatte, in Verlies 007 einzudringen und Weihesteine daraus zu entführen. Er wusste, dass es eine mächtige Zauberstabträgerin war. Doch wer und vor allem wo sie war wusste er noch nicht. Offenbar reichten zehntausend Augen und Ohren nicht aus, um sie zu finden. Doch wenn er sie fand, dann würde er sie in einzelne Körperteile zerlegen und diese vergolden lassen, als Abschreckung für andere Frechlinge, die sich an den Schätzen des hohen Volkes der Erde vergriffen.
Vor drei Tagen hatten sie hier die Wintersonnenwende gefeiert. Von Weihnachten hielten sie und ihre Bundesschwestern nichts. Diese alljährlich besungene Nächstenliebe und der angebliche Friede auf Erden, wo um diese Zeit an so vielen Orten Hunger und Krieg wüteten, stieß ihr noch mehr auf als denen, die irgendwie noch in dieses wiederkehrende Getue hineinerzogen worden waren. Deshalb hatte Anthelia/Naaneavargia die alten Hexentraditionen neu aufleben lassen und mit dreißig ihrer Schwestern die Sonnenwende gefeiert. Zwar waren auch hier in den nordamerikanischen Staaten die Nächte nach der Wintersonnenwende die längsten des Jahresüberganges. Doch die Gewissheit, dass die Tage wieder länger wurden war beruhigender als die Botschaft vom angeblich Fleisch gewordenen Gottessohn, der noch dazu von einer reinen Jungfrau geboren worden sein sollte.
Anthelia hörte quasi über Louisettes Gedanken mit, wie sie aus dem Zauberradio im Gemeinschaftsraum ein Interview mit Atalanta Bullhorn verfolgte. die ehemalige Inobskuratorin, die im September gegen Buggles antreten wollte, ließ sich gerade darüber aus, dass Buggles sein immer noch schwer beschädigtes Vertrauen durch Angst vor den Werwölfen und Vampiren zu übertünchen schaffte. "Diese Pelzwechsler und Blutsauger haben ihm den Gefallen getan und das Land in die Unsicherheit gestürzt, in der er ohne groß beraten zu müssen die heftigsten Beschränkungen durchsetzen kann, ja und wie vorhin in seiner Weihnachtsansprache gehört zur gegenseitigenÜberwachung aufruft. Gleichzeitig bietet er mal wieder all denen die Hand zur Freundschaft, die sich mal offen und mal verdeckt gegen das Ministerium gestellt haben oder es immer noch tun. Offenbar hat er mit denen von Vita Magica was ausgehandelt, sowas ähnliches wie den Dime aufgezwungenen Vertrag ganz freiwillig neu zu fassen, natürlich so, dass die zwölf obersten Richter nichts dagegen machen können. Sicher, diese Werwölfe sind ein Graus und die Vampire eine echte Pest. Hätten die magischen Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit erhalten, den Posten des Zaubereiministers neu zu besetzen und wäre ich dann mit dem Vertrauen der Mehrheit ausgestattet worden, so hätte ich natürlich auch Maßnahmen gegen diese beiden Gruppierungen ergriffen. Doch ich hätte dann die Inobskuratorentruppe gestärkt, mich mit dem Marie-Laveau-Institut auf ein gegenseitiges Beistandsabkommen verständigt, welches die bisherige Zusammenarbeit erheblich verbessert hätte. Doch ich hätte nicht versucht, mit Verbrecherbanden wie Vita Magica oder dem Spinnenorden zu paktieren, weil ich genau weiß, dass wer mit Hunden schlafen geht immer mit Flöhen wieder aufwacht. Gut, als Mädchen vom Lande lernt man sowas schon ganz früh im Leben. Mr. Buggles hatte wohl das Glück, immer in einer flohfreien Umgebung großwerden zu dürfen."
"Ja, aber Sie müssen doch zugeben, dass die Maßnahmen richtig sind, die Minister Buggles ergriffen hat. Immerhin wollen die Werwölfe offenbar die nichtmagische Welt mit ihrer krankhaften Natur verseuchen, um uns dann, wenn es genug von ihnen gibt, ihre Bedingungen diktieren zu können", wandte der Reporter des Senders HCPC2623 ein.
"In dem Punkt kann ich Ihnen nicht widersprechen, Mr. Woodnail. Doch ich widerspreche allen, die meinen, für die Sicherheit unserer magischen Gemeinschaft die Freiheiten aufzugeben, die wir jahrhundertelang verteidigt haben, von den zehn letzten Jahren des MAKUSA abgesehen. Was wir unbedingt vermeiden müssen ist die gegenseitige Überwachung, das Misstrauen untereinander. Das wird uns alle schwächen und anfällig für solche Kreaturen wie die angebliche Göttin der Nachtkinder oder die Rudelführer der Mondbruderschaft machen. Das ist, worin ich Buggles kritisiere. Statt die bewährten Truppen und Institutionen still und gezielt gegen die sich äußernden Gefahren vorgehen zu lassen posaunt er jeden vereitelten Anschlag der Werwölfe hinaus in die Welt und fordert uns alle auf, immer die Umgebung zu beobachten, ob nicht jemand von uns verdächtige Handlungen ausführt, beispielsweise nur noch nachts herumläuft oder sowas. Das stört, ja zerstört den Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft und bietet wie erwähnt genug Angriffsfläche für die erwiesenen Feinde. Da ist es sowas von widersinnig, dass Buggles am Tag des Friedens auf Erden Vita Magica einlädt, doch noch mal mit ihm über eine Neuauflage eines Stillhaltevertrages zu reden. Er wertet diese internationale Gangsterbande dadurch zu machtgleichen, ja gleichberechtigten Verhandlungspartnern auf. Was würden Sie oder ein für Sie wichtiger Mensch denken, wenn jemand eine Generalamnestie für erwiesene Diebe und Mörder erlassen würde, um dann mit den rechtskräftig verurteilten Brüderschaft zu trinken?"
"Haben Sie keine Angst, Vita Magica könnte Ihnen Ihre Behauptungen übelnehmen?" wollte Woodnail wissen.
"Mit anderen Worten, Sie wollen mir nicht antworten, Mr. Woodnail. Sonst würden Sie mir nicht mit einer Gegenfrage kommen. Aber bitte, weil uns ja gerade eine Menge Leute zuhören. Sicher ist mir bewusst, dass Vita Magica ihre Feinde zu beseitigen weiß. Sicher muss ich mich auch zu diesen Feindenzählen. Doch wenn ich vor diesen Gangstern kuschen würde dürfte ich mich nicht um das höchste Amt der US-amerikanischen Zaubererwelt bewerben. Doch ich tue das, weil ich es für nötig halte, diese Schieflage zu beheben, die durch den irgendwann einer dummen Laune verfallenen Ex-Minister Dime verschuldet wurde und von seinem kommissarischen Nachfolger Buggles offenbar als eine Art Rutschbahn nach oben betrachtet wird. Nächste Frage!"
Anthelia bekam noch mit, dass Atalanta Bullhorn dazu befragt wurde, was sie tun würde, falls Minister Buggles die anstehende Ministerwahl vollständig absagen würde. Sie erwiderte darauf nur, dass sie es erst dann sagen würde, wenn dieser Fall eintrete und nicht vorher. Dann schaltete Louisette das Radio wieder aus. Sie setzte sich hin und las in dem Buch weiter, dass sie vor drei Tagen angefangen hatte. So beschloss Anthelia, sich ebenfalls was aus der Bibliothek zu holen. Die Geschichte der US-Zauberergemeinschaft war sicher ein sehr spannendes und zugleich wichtiges Thema.
Sie war schon seit einer Stunde wach. Die Tiere im nahebei liegenden Urwaldreservat gebärdeten sich heute sehr aufgeregt, als wenn sie sich gegenseitig was wichtiges mitteilen oder vor irgendwem oder irgendwas warnen wollten. Dazu kam noch eine merkwürdige Spannung, die über dem Land lag, als wenn jeden Moment ein heftiges Gewitter über sie alle hereinbrechen würde. Das hatten sie in den Tagen, die sie schon hier waren tatsächlich einmal erlebt. Da war es mitten am Tag richtig dunkel geworden. Dann hatte es grell aufgeleuchtet und mit einem Getöse wie eine Breitseite abgefeuerter Kanonen gedonnert. Dann waren Wind und Regen über die Insel hinweggefegt, hatten Tonnen von Wasser abgeladen und den weichen Sand am rundum verlaufenden Strand durchtränkt. Zehn Minuten hatte der Aufruhr im Himmel gedauert. Dreimal hatte es im Urwaldreservat eingeschlagen. Doch die Regenflut hatte jeden Brand im Keim erstickt. Dann war es ebenso schnell wieder sonnig und hell geworden wie vor dem Unwetter. Vielleicht bekamen sie gleich das zweite wilde Tropengewitter ab, dachte die Frau des Mannes, der noch selig neben ihr schlief.
Das wilde Rufen, Flötenund Schreien der Tiere hielt sie davon ab, weiterzuschlafen. So stand sie auf und besah sich den Himmel. Im Osten war keine Wolke am Himmel zu sehen. Die Sonne stieg gerade als große, flammenlos brennende Kugel aus den rotorange widerscheinenden Fluten des Indischen Ozeans. Wie herrlich so ein Sonnenaufgang doch war. Er verkündete immer wieder neue Möglichkeiten. Doch irgendwie hatte sie für einen winzigen Augenblick das Gefühl, das Licht und Wärme spendende Tagesgestirn zum letzten Mal dem Meer entsteigen zu sehen. Ja, sie meinte sogar, dass irgendwo da unten im Meer eine tödliche Bedrohung lauere. Doch dann verwarf sie diese Eindrücke wieder. Offenbar steckten die wegen was auch immer aufgeregter als sonst schon herumkrakehlenden Urwaldbewohner sie mit ihrer Stimmung an. Um wieder in die gewünschte Urlaubsstimmung zurückzufinden verließ sie leise das Schlafzimmer und den Bunker. Sie hatte erst daran gedacht, die Fernbedienung für die Panzerglastür im Osten mitzunehmen, um schon mal an den Strand zu gehen. Doch dann mochte ihr Mann sie vermissen. So lief sie nur zweimal innen an der durchsichtigen Umfriedung des Touristengrundstückes entlang und blickte immer wieder zum Himmel hinauf. Außer dass das gestreute Sonnenlicht den Himmel in einer flammenlosen Glut erstrahlen ließ war nichts auffälliges zu sehen. Der Himmel über dem kleinen, exklusiven Tropenparadies war völlig wolkenfrei. Ob ein Wind wehte konnte sie innerhalb der Tigerabwehrwand nicht erfassen. Dazu musste sie wirklich aus der schützenden Einfriedung hinaus. Doch das würde sie mit ihm zusammen tun.
"Hat dich das Gezeter da draußen nicht schlafen lassen?" fragte ihr Mann sie, kaum dass sie ins Haus mit dem Flachdach zurückgekehrt war. Sie nickte. "Ich bin gerade wach geworden und habe gedacht, die Affen da im Urwalt wollten sich mit den Vögeln da ein Wettkreischen liefern. Hast du was gesehen, was die Biester so hibbelig macht, Renée?"
"Nein, überhaupt nicht. Letztes mal, wo wir das Gewitter hier hatten konnten wir ja zumindest eine Minute vor dem ersten Blitz die Wolken anfliegen sehen. Aber im Moment ist keine Wolke am Himmel zu sehen. Aber wir haben mal wieder einen herrlichen Sonnenaufgang."
"Stimmt, wenn ich schon mal wach bin muss ich mir den auch ansehen", sagte er und eilte barfuß zum großen Fenster, dass genau nach Osten hinausblickte. Er genoss den Aufstieg der Sonne, deren Licht nun immer gelber wurde. "Wir müssen uns echt mal den Wecker stellen, dass wir noch vor dem ersten Morgenrot am Strand sein können, wo wir noch hier sind", sagte er."
"Welchen Wecker?" fragte sie ihn. Zur Antwort deutete er auf seine Digitaluhr am Handgelenk. Die hatte unter anderem eine Weckfunktion und konnte per Infrarotschnittstelle auch kurze Texte von einem Rechner überspielt bekommen und anzeigen. Sie konnte auch als Nachrichtenpieper verwendet werden, allerdings nur dort, wo auch die entsprechenden Sender verbaut waren.
"Wer von uns beiden hat bei der Ankunft hier gesagt, möglichst ohne technisches Zeug auszukommen?" fragte Renée ihren Mann. Dieser nickte schuldbewusst und sagte, dass sie sich dann eben von den Tieren weckenlassen mussten, sofern sie früh genug in den Schlaf fanden. Darauf konnte sie ihm nur ein verwegenes Grinsen bieten. Denn warum sie beide auch in dieser Nacht nicht vor ein Uhr zum Schlafen gekommen waren wusste er ja ganz genau.
"Mir gefällt aber nicht, wie sich die Tiere aufführen, Renée. Wo das Gewitter war haben die sich zehn Minuten vor dem ersten Knall ganz still verhalten, wohl weil sie sich in Sicherheit gebracht haben. So wie die jetzt drauf sind klingt es, als würden die sich vor irgendwas fürchten und müssten sich gegenseitig Mut machen."
"Ich verstehe es auch nicht. Klingt so, als wenn über nacht statt der vier hundert Tiger auf die Insel gekommen wären, die jetzt alles jagten, was nicht bei drei auf den höchsten Bäumen ist", sagte Renée. Ihr Mann erwiederte darauf: "Dann hätten uns die Rangers schon alarmiert, wenn mal eben irgendwelche Langstreckenschwimmer aus Sumatra den Weg auf die Insel gefunden hätten. Dass hier überhaupt Tiger sind haben die Leute gedreht, die dieses kleine Fleckchen Dschungelparadies für Touristen erschlossen haben", sagte er. Sie nickte dazu nur. Das kannte sie ja schließlich. Nach zwanzig Sekunden fragte sie ihn, ob er bei Mr. Nujang, dem Führer der fünf Rangers, durchrufen wollte, ob die irgendwas mitbekommen hatten. Er überlegte erst. Dann sagte er: "Wenn die Tiere in zehn Minuten immer noch so aufgedreht sind mach ich das."
Die zehn Minuten vergingen damit, dass sie beide sich für den Tag ankleideten, was man als Individualtourist in den Tropen so anzukleiden hatte. Eigentlich könnten sie den ganzen Tag in Badesachen oder gar wie weiland Adam und Eva im Garten Eden herumlaufen. Solange die mitgekommenen Waldaufseher keinen triftigen Grund hatten, sie hier am Oststrand aufzusuchen kamen die nur her, wenn sie gerufen wurden, wenn die beiden Urlauber in das Urwaldreservat gehen und dabei nicht einem der dort lebenden Tiger vor die Pranken geraten wollten.
"Die sind immer noch so aufgedreht", sagte er und meinte die Tiere im Dschungelreservat. Er ging ins Wohnzimmer und nahm den klobigen Hörer von dem elfenbeinfarbenen Telefon. Er drückte die drei Tasten für das Quartier der Rangers und lauschte. Dann grüßte er Nujang in englischer Sprache und wünschte ihm eine gute Nacht gehabt zu haben. Dann lauschte er, antwortete kurz und ein wenig bedrückt klingend und erwähnte noch, dass es ihnen soweit gut gehe. Dann sagte er, dass er keine Freischaltung der Satellitenverbindung benötigte. "Falls sich die Bedenken Ihres Mitarbeiters Mulong bestätigen sollten können Sie ja in zehn Minuten mit dem E-Buggy bei uns sein. ... Ja, ich sage es meiner Frau. Danke für den Rat!"
"Was hat er gesagt?" wollte Renée wissen. "Dass die Tiere sich schon seit fünf Uhr so seltsam benehmen und die vier Tiger, die die Nachtwache im Infrarotblick behalten hat, wie im Käfig im Zoo herumliefen, als wenn sie nicht genug Platz hätten. Dabei hätten sie immer wieder richtung Osten oder Südosten gelauscht. Die Affen und Vögel versuchten sich gegenseitig die Plätze auf den höchsten Bäumen streitig zu machen, als müssten sie vor einer steigenden Flut nach oben flüchten. Nujang meint, so hätten sie in den letzten Jahren immer reagiert, wenn auf einer der anderen Inseln ein Vulkan ausgebrochen sei oder wenn sich davor oder deshalb ein Erdbeben ereignet hätte. Er wolle gleich noch beim seismologischen Institut in Banda Aceh anrufen, ob die was bedenkliches gemessen haben. Wir sollten am besten unsere wertvollsten Sachen so verpacken, dass wir sie immer am Körper tragen, nichts sperriges mitnehmen, für den Fall, dass sie uns evakuieren müssten."
"Evakuieren?" fragte Renée sichtlich alarmiert klingend. "Renée, wir wohnen auf einem Hot Spot, also einem heißen Fleck, von wegen Vulkane und tektonische Plattengrenzen. Die müssen sowas für möglich halten. Stell dir mal vor, sowas wie der Krakatauausbruch von 1883 wiederholt sich oder irgendwo im Meer um uns herum bebt die Erde. Dann müssen wir womöglich ganz schnell von der Insel runter. Mein japanischer Kollege Sato hat mir das erzählt, dass sie in seiner Heimat immer wieder Übungen für den Katastrophenfall machen."
"Willst du mir echt den Tag verderben, Simon Hellersdorf?" fragte Renée sichtlich aufgebracht. Er schüttelte den Kopf und beteuerte, nur ihre Frage von eben beantwortet zu haben, warum Nujang und seine Rangers sie beide evakuieren wollten.
Das Telefon trällerte. Simon ging dran und hörte einige Sekunden zu. Dann sagte er: "Ja, wir bleiben im Haus, damit Sie uns sofort erreichen können. ... Ja, das ist auch in Ordnung. Kann ich die Einfriedung offen lassen, ich meine wegen Shere Kahn und seiner Haremsdamen? ... Ja, ich weiß, dass die vier anders heißen. ... Gut, ich mach die Glasfront im westen auf, damit Sie und Ihrr Kollege reinfahren können. ... Ob meine Frau noch frühstücken will weiß ich nicht. Versuchen sollten wir es aber. ... Ja, finde ich auch. Bis gleich dann!"
"Hallo, was ist los?" wollte Renée wissen.
"Also, soweit sie mitbekommen haben hat es am 24. Dezember zwischen Australien und Antarktika wohl ein Seebeben ohne weitere Folgen gegeben. Das muss nichts heißen, könnte aber den Rest der angespannten Erdplatten ins Rutschen gebracht haben. Die in Banda Aceh wissen nicht, ob sie Erdbebenwarnung geben sollen oder nicht. Da es nun mal bestätigte Tatsache ist, dass Tiere auf Naturereignisse wesentlich empfindlicher reagieren als Messgeräte will nujang mit einem seiner Kollegen zu uns rüberkommen. Die drei anderen sollen in den Aussichtsturm rauf, der ist bis Stärke acht erdbebensicher. Falls die was vulkanisches sehen müssen wir uns wohl vor Ascheregen absichern. Die auf Martinique kennen das ja schon."
"Dann kommen Nujang und ein Kollege jetzt zu uns. Wer genau?" wollte Renée wissen. "Mulong, der angebliche Schamanensohn. Der soll aus dem Verhalten von Tieren und bestimmten Anzeichen ablesen können, wie sich Himmel und Erde verhalten werden, meint Nujang."
"Der Schamanenabkömmling? Am Ende hat der ähnliche Anlagen in sich wie ... sie", erwiderte Renée und vermied es, den Namen der missratenen Tochter auszusprechen.
"Sollte ich ihn deshalb ablehnen? Dann würde mich Nujang fragen, was ich gegen ihn habe. Mulong hat uns nichts getan. Im Gegenteil, der hat uns immer früh genug gewarnt, wenn einer der Tiger in der Nähe war oder uns gerade dann auf die großen Katzen hingewisen, wenn wir auf dem dreißig Meter hohen Ansitz waren."
"Du hast ja leider recht. Wir können Mulong nicht ablehnen, nur weil der vielleicht ähnlich widernatürliche Anlagen hat. Wunder mich nur, dass die Rangers einen Naturgötzenanbeter in den eigenen Reihen dulden, wo die doch alle Muslime sind."
"Oh, da hast du was nicht mitbekommen, Renée. Nur Rahman ist Moslem. Nujang und Rojan sind Buddhisten. Da kann Mulong doch gerne die alten Naturgeister anbeten, an die die Indonesier vor zweitausend Jahren noch geglaubt haben, bevor Buddhas Lehren und der Koran den Weg zu ihnen gefunden haben." Renée nickte schuldbewusst. Ja, das hätte sie eigentlich mitbekommen können und müssen.
Simon griff die kleine Fernbedienung, mit der das westliche und/oder das östliche Glastor entriegelt und aufgefahren werden konnte. Er ging hinaus und gab den entsprechenden Code ein. Klackend lösten sich die reißverschlussartigen Verriegelungen tief im Boden. Mit einem leisen Ruck sprang ein drei Meter großer Abschnitt der westlichen Glaswand nach hinten und glitt leise surrend zur Seite. Durch die entstehende Lücke konnte nun jeder der wollte hereinkommen. Dann sahen sie auch schon den für vier Personen ausgelegten, blattgrünen, elektrisch betriebenen Geländewagen, der ausschließlich für Ausflüge durch das Urwaldreservat gedacht war und gerade mal zwei Stunden lang fahren konnte, bevor er am Aussichtsturm wieder aufgeladen werden musste.
Nujang und Mulong trugen ihre Rangeruniform. Die beiden Eheleute hatten sich dann doch für eine etwas stadttauglichere Kleidung entschieden, wenn sie schon nicht an den Strand gehen sollten. Renée hatte sich sogar ihre große Handtasche umgehängt, in der ihre wertvollsten Habseligkeiten verstaut waren. Auch Simon trug seine Brieftasche mit den drei Kreditkarten, dem Führerschein und dem Reisepass am Körper. Wenn die Waldaufseher wirklich so einen Alarm machten wollte er als auf Sicherheit pochender Ingenieur nicht nachlässig sein.
Wo sie schon mal da waren lud Renée die beiden Rangers zum Frühstück ein. Nujang nahm dankbar eine Tasse Kaffee an. "Kann sein, dass wir nichts mitbekommen, was auch immer passiert. Aber meine Leute halten Kontakt zur Wetterwarte in Medan und zur Erdbebenwarte in Medan und Banda Aceh. Wenn was passiert funkt der Kollege Rojan mich an. Es tut uns leid, dass wir Ihnen den Aufenthalt hier so ungemütlich machen."
"Dann frage ich doch mal höflich, wann bitte hätten Sie uns angerufen, wenn mein Mann nicht Sie angerufen hätte, Ranger Nujang?" wollte Renée wissen.
"Nun, solange es kein drängendes Problem gab wollten wir erst einmal nur abwarten. Wir konnten ja erkennen, dass die vier Tiger sich alle im Westabschnitt der Insel aufhalten, also keine unmittelbare Bedrohung für sie boten", sagte Nujang. Da meinte Mulong: "Irgendwas in Sonnenaufgangsrichtung macht den Tieren Angst. Ich fühlte auch was in der Erde, als spanne die sich immer mehr an."
"Wie genau äußert sich das?" wollte Simon wissen. "Das kann ich Ihnen nicht mit englischenWorten beschreiben, Mr. Hellersdorf", sagte Mulong. "Ich habe es von meinem Vater, der ein ausgebildeter Schamane ist, gelernt, auf den Himmel und die Erde zu lauschen und die Nähe gefährlicher und ungefährlicher Tiere zu erkennen, bevor ich sie mit denAugen sehen oder mit den Ohren hören kann."
"Vielleicht geht das über das Erdmagnetfeld", wagte Simon eine rein naturwissenschaftliche Erklärung. "Wenn Sie damit die allen Dingen die Richtung zeigende Kraft aus der Erde meinen kann das auch sein", sagte Mulong. Simon nickte. "Ich habe schon drei wütende Feuerberge mitbekommen, die viele tausend Meilen von hier entfernt getobt haben. Ich spüre wie die Tiere hier, dass was da draußen ist, was noch Atem holt. Ich kann aber nicht sagen, was es ist, ein Sturm, ein Feuerberg oder ein Wutgebrüll der Erde selbst."
"So bleiben wir sicherheitshalber Abreisebereit. Wenn es irgendwo rumpelt rufen meine Kolegen die Hubschrauberbasis in Banda Aceh an, dass die uns vom Aussichtsturm abholen", sagte Nujang noch.
Die nächsten Viertelstunden vergingen ruhig, nur vom regelmäßigen Rauschen des Meeres und dem immer noch wilden Durcheinanderrufen, - brüllen und -trällern der Urwaldtiere durchsetzt. Doch irgendwie wirkte es so, als entferne sich das vielstimmige Gezeter immer weiter von ihnen. Mulong blickte immer wieder nach Westen und nach osten. "Die Tiere flüchten in Sonnenuntergangsrichtung", sagte er. Dann hörten sie nichts mehr von den Tieren. Nur noch die Brandungswellen rauschten heran und brachen sich am flachen Sandstrand. Auf der analogen Wanduhr mit den römischen Ziffern war es fünf vor acht Uhr morgens, eigentlich eine schöne Zeit, um am Strand zu sein, wenn es noch nicht all zu heiß war.
"Die Tiere sind auf die andere Seite der Insel geflüchtet", sagte Mulong, nachdem er von draußen zurückkam. Dann erschauerte er. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen nach Südosten und erstarrte. Nujang fragte ihn, was er mitbekam, doch Mulong sagte nichts. Er stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Der große Zeiger der Uhr rückte derweil auf zwei Minuten vor acht vor. Dann geschah es.
Unvermittelt erzitterte der Boden. Ein unheilvolles tiefes Grummeln schwoll schlagartig zu einem alles und jeden erschütterndem Dröhnen an. Alles begann zu wackeln und zu hüpfen. Die Wanduhr, die gerade auf zwei vor acht stand, schwang immer heftiger hin und her, bis sie von der eigentlich sicheren Halterung loskam und scheppernd auf den wild erbebenden Boden knallte. Auch die Bilder von Tropenlandschaften an der Wand schwangen vor und zurück, bevor drei davon den Halt verloren und auf dem immer heftiger bebenden Boden klatschten. Mulong zuckte wie unter Stromschlägen und kippte dann schlaff wie ein leerer Sack zusammen. Nujang, der gerade von dem immer wilder rüttelnden Stuhl aufsprang, kämpfte sich über den aufgewühlten Boden zu seinem Kollegen hin. Renée und Simon waren bereits mit ihrer am Körper getragenen Habe unterwegs zur in den Angeln schwingenden Tür. Der Türrahmen Knarzte und verzog sich immer mehr. Nujang rief über das Brüllen aus Boden und Wänden hinweg: "Bitte helfen Sie mir mit Mulong!" Renée war schon durch die sich immer mehr verformende Tür. Simon wollte ihr schon nach. Doch dann besann er sich darauf, Hilfe zu leisten und kämpfte sich über den bebenden Boden zu Mulongs im Takt des Erdaufruhrs hüpfenden Körper. Er schaffte es, sich mit Nujang herunterzubeugen, den scheinbar leblosen Ranger aufzuheben und so zu lagern, dass sie ihn auf ihren Schultern tragen konnten. Dann brach ein Stück aus dem Türrahmen heraus. Das Türblatt verlor den festen Halt in den Angeln und polterte zu Boden. Die drei Männer schafften es gerade noch durch die verformte Türöffnung aus dem Wohnzimmer. Gerade klirrte der dreistrahlige Deckenleuchter zu Boden. Es knisterte sehr unheilvoll. Dann knallte es irgendwo im Haus. Offenbar hatte ein Kurzschluss die Sicherungen rausgehauen, dachte Simon, während er mit Nujang Mulong über den wild erzitternden Boden nach draußen trug. Weitere Deckenelemente brachen knirschend und knisternd ab und schlugen laut auf dem Boden auf, in dem Simon beim Hinausstürmen erste unregelmäßig verlaufende Risse erkannte. Sie schafften es gerade so noch hinaus aus dem nur sechs Zimmer beherbergenden Bungalow, bevor die erste Wand zusammenbrach. Das flache Haus bekam sofort Schlagseite wo die Wand weggebrochen war und klappte knirschend und knarzend immer weiter zusammen. Nujang, Simon Hellersdorf und der scheinbar ohnmächtige Mulong kämpften sich derweil über den Vorplatz, wobei auch hier schon erste Risse im Boden aufklafften. Simon wusste, dass sie da bloß nicht reingeraten durften, weil solche Spalten zum einen viele Dutzend Meter tief sein konnten und zum anderen genausso wieder zuwachsen konnten, wie sie sich auftaten. Er warf schnell einen Blick zum Urwaldreservat. Wie von schnell abfolgenden Sturmböen geschüttelt schwankten die mächtigen Bäume hinund her. Sie stießen mit ihren Wipfeln aneinander und kippten immer wieder fast in eine bedrohliche Lage. Tatsächlich verloren einige der Bäume den Halt, weil ihre brettartigen Wurzeln sich nicht länger in der aufgelockerten Erde halten konnten und stürzten nieder. Dabei rissen sie auch weitere Bäume mit ins Verderben. Doch nur dort, wo genug Abstand zwischen den Bäumen war, dass sie in diesen bedrohlichen Neigungswinkel geraten konnten, verlief das unheimliche Dominospiel der niederstürzenden Urwaldriesen.
Renée hatte sich inzwischen zum elektrischen Geländewagen vorgekämpft. Dieser hopste auf seinen vier breiten Reifen auf und ab, Weil jedoch die Handbremse gezogen war rollte er nicht weg. Sie wagte es nicht, dem Gefährt näher als Schrittweite zu kommen und rief über das tief aus dem Erdinneren klingende Dröhnen hinweg nach ihrem Mann. Dieser antwortete keuchend, dass er auch rausgekommen war und deutete auf den nun wie ein übergroßes Kartenhaus zusammengefallenen Bungalow, in dem der größte Teil ihrer Habe verschwunden war. Immerhin war kein Feuer ausgebrochen. Mit einem lauten Knall schien irgendwas zu platzen. Renée hatte für vier Sekunden nur ein unangenehmes Piepen in den Ohren. Dann sah sie, dass aus dem zusammengebrochenen Bungalow eine meterhohe Wasserfontäne in den Himmel zischte, geschüttelt von den immer noch erfolgenden Erdstößen. Dann, so unvermittelt wie es begann, endete das Erdbeben. Schlagartig wurde es ruhig und still um sie alle herum.
"Das muss für ihn wie eine Überladung gewirkt haben", keuchte Nujang und deutete auf den immer noch reglosen Mulong. "Hinten auf die hintere Bank. Sie zwei hinter die Vordersitze!" befahl er noch. "Wir sollten zusehen, den Turm zu erreichen." Die Eheleute hatten keine Einwände. Im Grunde hatten sie alles Verloren, was in ihren Koffern steckte. Sie dankten wortlos den Waldaufsehern, die ihnen geraten hatten, ihre wichtigsten Dinge am Körper zu tragen.
Nujang warf sich regelrecht hinter das Steuer und betätigte den Anlassschalter. Dann hieb er mit der rechten Hand gegen eine scheinbar massive Verblendung zwischen Lenksäule und Handschuhfach und machte ein Loch hinein. Es war nur eine hauchdünne abdeckung gewesen. Er löste die Handbremse und trat auf das Beschleunigungspedal. Leise surrend rollte der Wagen an, wurde immer schneller. Er durchfuhr das nun wellenförmig verformte Glastor, dass zum Glück geöffnet gewesen war, als das beben erfolgt war. Simon dachte daran, dass die Glaswand im großen und Ganzen gehalten hatte. Doch er sah die haardünnen Risse in der Wand und vermutete, dass das Tor sich sicher nicht mehr hätte entrigeln lassen.
Das Stolze Schiff aus dem fernen Westen, das hier vor dreihundert Jahren, einem Wimpernschlag der Erdgeschichte, in einem Wirbelsturm gesunken war, gab es schon lange nicht mehr. Doch die Fracht, die es getragen hatte ruhte unter vielen Schichten aufgeschwemmten Sand und Überresten von Meerestieren. Das Herz des vergessenen Tempels hatte alle Jahre überstanden und sich von den ringsumher durch Beutefänge sterbenden Tieren genährt. Doch nun brach der Zorn der Erde über seinen Liegeplatz herein. Mit mächtigen Stößen wühlte die Erde den Grund auf. Dabei traf die Vergessene Fracht auch Stränge der natürlichen Erdmagie, die wie die Adern der Erde zwischen stofflichem und übernatürlichem Zustand wechselten. Sie erregten das Herz des finnsteren Tempels. Sie brachten es zum schlagen und bewirkten, dass ihm Schlag für Schlag ein Teil der eingelagerten Todeskraft entströmte, bis es so heftig überfordert war, dass es in vier kräftigen Schlägen zerbarst. Dabei setzte es all die in ihm gefangene Kraft von über dreißigtausend Menschenseelen frei, die in der Stadt der dunklen Gottheit geopfert worden waren. Diese Kraft raste in alle Richtungen davon, entlang der erbebenden Stränge aus natürlicher Erdkraft. Das Herz des finsteren Tempels war nicht mehr. Doch im Vergehen gebar es neues Unheil für alle, die den Kräften der Erde verbunden waren.
Der Elektrowagen eilte über die rissige und aufgeworfene Erde hinweg. Nur die besonders gute Federung verhinderte ein unkontrolliertes Hüpfen und Ausbrechen nach links oder rechts. "Hier Nujang an Rojann! Kommen!" rief Nujang in das im Armaturenbrett verbaute Funkgerät, während er einen Weg durch die Schneise der niedergestürzten Bäume suchte. Einige Sekunden vergingen. Keine Antwort! "Nujang an Rojan, bitte kommen!" wiederholte der Ranger den Anruf mit gewisser Dringlichkeit. Doch nach fünf Sekunden war wieder keine Antwort zu hören. Er versuchte es nun in der hiesigen Landessprache und klang dabei sehr ungehalten. Wieder vergingen mehrere Sekunden. Dann seufzte er nur und drückte auf eine Taste am Funkgerät. Es knackte kurz. Dann knisterte und rauschte es nur. Nujang stieß eine Verwünschung in seiner Muttersprache aus, die Renée wohl nicht verstehen wollte und Simon sich ungefähr vorstellen konnte. Nujang wich gerade noch einem beindicken Aststück aus, dass halbschräg aus dem Boden ragte. Offenbar war der ganze Ast wie ein Speer in den Boden geschlagen, und das Übergewicht hatte ihn zerbrochen. Denn die längere Hälfte lag quer über der rissigen Piste. Der Buggy holperte darüber hinweg und federte durch.
"Ihre Kollegen sind auf dem Wachturm, von dem Sie erzählt haben, Nujang?" fragte Simon.
"Das waren sie, als ich losfuhr. Aber offenbar hat das Beben die Funkanlage kaputtgemacht. Er antwortet nicht. Und das Peilzeichen, nach dem ich bei Nebel fahren kann ist auch stumm. Es hat also die ganze Anlage erwischt."
"Oder die Stromquelle", vermutete Simon. Seine Frau stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite und zischte auf Französisch: "Was soll die Fragerei, Simon? Schon schlimm genug, dass Nujangs Kollegen nicht antworten."
"Was möchte Ihre Frau?" fragte Nujang, während der auf der Rückbank liegende Mulong aufstöhnte. Er kam wohl gerade wieder zu sich. "Sie bittet mich, Sie nicht beim Fahren zu stören, weil das sicher sehr anstrengend ist, so schnell durch den Wald hier zu fahren", log Simon.
"Das ist sehr aufmerksam, Mrs Hellersdorf, aber im Moment will ich nur wissen, warum meine Kollegen sich nicht melden." Dann riss er das Steuer herum, so dass Renée gegen ihren Mann geworfen wurde und der fast Nujangs Arm am Lenkrad weggestoßen hätte.
Mulong stöhnte was in seiner Muttersprache. Nujang zischte ihm in derselben Sprache eine Antwort zu und sagte dann auf Englisch: "Mein Kollege drängt darauf, dass wir uns möglichst bald einen möglichst hohen Warteort suchen. Der Hügel mit unserem Hauptquartier liegt schon fünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Der Turm ist noch mal vierzig Meter höher. Reicht aus."
"Das sollte ausreichen", meinte Simon dazu. Ihm gingen bereits Bilder von gewaltigen Flutwellen durch den Kopf, die einem Seebeben folgen konnten, aber nicht zwangsläufig mussten.
Nujang bog an einer Wegkreuzung nach rechts ab und jagte den Motor auf einen hohen, wimmernden Ton. Der Buggy sprang vorwärts und stemmte sich einen ziemlich steilen Weg nach oben, Steigung wenigstens zwanzig Prozent, schätzte Simon. Das wimmernde Orgeln des Motors wurde lauter, weil er nun auch gegen die Schwerkraft anzukämpfen hatte. Simon wusste, dass der Wagen sozusagen auf Notfallstufe lief. Aber dass er diese Steigung so schnell bewältigte und dabei nicht abrutschte beeindruckte ihn. Was sie alle vier dann zu sehen bekamen beeindruckte sie allerdings nur sehr unangenehm.
Es war wie ein von einem Sturm herangetragenes Geheul und Schreien unter der Erde dahinjagender Dämonen. So zumindest empfand es die Hüterin des heiligen Berges, die von den weißen Siedlern nur Morgennebel genannt werden wollte. Es jagte mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit heran, wurde immer lauter und prallte dann auf die Kraft, die der Uluru in alle Winkel dieses großen Landes vieler Völker ausstrahlte. Aus dem wilden Geheul wurde ein Durcheinander an Donnerschlägen, Gebrüll und Tosen, Krachen und Sirren, das in alle Richtungen davonjagte, während die Hauptwucht der fremden Kraft um das große Land herumzujagen und sich zu entfernen schien. Nebelmorgen sah im Boden etwas, dass sie nur vom Himmel kannte, dunkle Wirbel, in denen grelle Blitze zuckten, die bläulich-rot zum Uluru hin- und Blutrot von ihm fortschlugen. Die Hüterin des heiligen Berges erbebte wie von starken Erdstößen erschüttert. Ihre Augen brannten, ihr Kopf dröhnte schmerzhaft vom unheilvollen Durcheinander an Geräuschen und Geschrei. Sie fürchtete schon, ihre Seele würde den Leib verlassen. Sie bangte, dass die auf sie einstürmenden Kräfte sie zerreißen würden. Uluru glomm für einige lange Atemzüge in einem wild flackernden, violetten Licht. Aus seinem Gipfel schlugen rote Blitze zum Himmel, bogen sich dabei nach unten und fuhren wieder in die Erde zurück, um sich mit den anderen roten Lichtentladungen zu vereinen, die vom heiligen Berg ausstrahlten. Sie wusste nicht, ob sie ebenfalls schrie. Sie hörte gerade nur die wie wildes Gebrüll und Geschrei klingenden Laute, vermischt mit den harten Donnerschlägen und dem Sirren wie ein abertausend Tiere großer Mückenschwarm auf Beutefang. Dann entfernte sich das wilde Getöse. Die Blitze erloschen, die dunklen Wirbel im Boden verblassten, bis Morgennebel nur noch den sandigen Boden ihrer Heimat sah. In ihren Armen und Beinen kribbelte es wie ein ganzes Ameisenvolk. Sie keuchte. Dann schaffte sie es, die beruhigenden Worte zu denken, die bei großer Anstrengung ihren Körper und Geist heilen konnten. Fünfmal musste sie die wiederkehrenden Worte in ihrem Geist erklingen lassen. Viermal sang sie sie, als sie wieder regelmäßig atmen konnte. Das half ihr. Das wilde Kribbeln verging, die Schwäche ließ nach, auch die Schmerzen in ihrem Kopf verschwanden. Sie konnte wieder aufstehen.
"Der Zorn vieler Erdgeister", dachte sie in ihrer Sprache. Das war also die Antwort, mit der sie und andere weisen Männer und Frauen dieses Landes gerechnet hatten, als vor zwei Sonnenaufgängen in Mitternachtsrichtung ein lautes Aufbrüllen der Erde die Kraft von Uluru erschüttert hatte, jedoch nicht so stark wie jetzt. Irgendwo war etwas aus alten Fesseln befreit und auf die Welt losgelassen worden, etwas noch stärkeres als das vor zwei Tagen. Sie musste es ihren Stammesmitgliedern mitteilen und dann den Rat der weisen Vermittler zwischen den Ahnen und den Lebenden rufen. Am Ende hatte das, was gerade durch sie hindurchgestürmt war und Uluru zur Gegenwehr gebracht hatte im ganzen Land seine Spuren hinterlassen.
Statt eines Hügels lag ein großer Haufen Erde vor ihnen. An einigen Stellen waren hausgroße Löcher und viele Dutzend Meter lange Spalten zu sehen. Doch das wirklich erschütternde war der auf der eingedellten Hügelkuppe liegende Trümmerberg. Es war unschwer zu erkennen, dass hier ein großes von Menschen errichtetes Gebäude zusammengestürzt war. Und über dem allen stieg eine viele hundert Meter hohe Staubwolke empor, die sich an ihrer höchsten Stelle zu einer pinienförmigen Wolke ausbreitete, ein Zwischending zwischen der Aschenwolke eines ausbrechenden Vulkans und eines Atompilzes, dachte Simon.
Nujang bremste. Der E-Motor erstarb mit einem kurzen Wummern. Der Wagen kam zum Halten. Alle vier sahen und wussten gleichzeitig, dass sie hier auf keinen lebenden Menschen mehr ttreffen würden. Der Turm, überhaupt das ganze Quartier der Rangers, war ein Opfer des Erdbebens geworden.
"Stärker als acht", seufzte Nujang auf Englisch. Simon begriff. Der Turm und die anderen Gebäude waren für eine Erdbebenstärke von acht auf der Richterskala ausgelegt gewesen. Das Beben musste also noch stärker gewesen sein, ja womöglich eine Einheit stärker, was es bereits zehnmal so stark machte als der Turm und das Quartier aushalten konnten. Jetzt wunderte ihn auch nicht, dass sein Ferienbungalow zusammengestürzt war und dass es im Boden so viele lange und tiefe Spalten und Verwerfungen gab.
"Auf die großen, grünen Brüder. Sie können uns schützen", zischte Mulong auf Englisch. Simon sah sich um. Der Hügel war offenbar unbepflanzt gewesen oder nur mit Gras. Er sah metergroße Glassplitter aus dem verworfenen Gemisch aus Erde und Stein ragen. Das war wohl die Umfriedung des Grundstückes. Es lagen auch einige umgestürzte Bäume am Boden, allerdings nur in die Richtung, wo der Hügel mit dem Rangerquartier gewesen war. Die restlichen Bäume standen alle noch aufrecht, wenngleich sie viele äußeren Zweige eingebüßt hatten. Nujang sah seinen Kollegen an und fragte ihn was in der gemeinsamen Sprache. Mulong antwortete schnell und entschlossen klingend. Dann sagte Nujang auf Englisch: "Die Kollegen sind sicher unter dem Trümmerhaufen begraben. Wenn die wie befohlen ganz oben waren leben die auch nicht mehr. Wir können versuchen, auf die Hügelkuppe zu kommen und so hoch wie möglich auf den Trümmerberg zu klettern. Doch der ist ziemlich instabil. Mulong schlägt vor, dass wir auf die dem Hügel am nächsten stehenden Bäume in Sonnenaufgangsrichtung, also Osten steigen, so hoch wie möglich. Wir haben armlange Handschuhe und Stiefel in verschiedenen Größen im Laderaum wegen der Griffsicherheit und möglicher Schlangen. Aber ich denke, die meisten Schlangen sind alle mit der Beute nach Westen geflüchtet. Mulong lauscht gerade ob er Schlangen erspüren kann."
"Erspüren? Sowas wie Tiertelepathie?" fragte Simon. Nujang übersetzte es, weil Mulong mit dem Begriff offenbar nichts anfangen konnte. "Das fühlen und denken von Tieren hören, ja, Sir", sagte Mulong. Er lauschte wieder. Dann sagte er: "Alle Schlangen weiter in Sonnenuntergangsrichtung. Grüne Brüder weiter in Sonnenaufgangsrichtung frei, nur kleine Krabbeltiere ganz oben."
"Giftbienen und -spinnen", schlotterte Renée. Simon erwiderte darauf: "Deshalb kriegen wir Handschuhe und Stiefel. Aber auch damit kommen wir nicht so schnell die Baumstämme rauf. Wir sind doch keine Affen oder Leguane."
"Wir kriegen das. Wir haben da was, dass ich eigentlich für völlig unnötig hielt. Aber mein Boss meinte, könnte mal wichtig sein, wenn wer meint, auf einen Baum raufzuklettern, weil ein Tiger hinter ihm her ist. Mulong!" Er teilte dem Untergebenen was in der gemeinsamen Muttersprache mit. Der bejahte offenbar. "Sie bleiben erst mal im Wagen. Wir suchen einen stabilen Baum und machen ihn besteigbar. Die Handschuhe und Stiefel können Sie schon mal anziehen." Er stieg aus und öffnete schnell die heckklappe des Buggys. Er nahm eine große Ledertasche heraus, prüfte wohl eingestickte Schriftzeichen und gab sie an die Hellersdorfs weiter. Dann hholte er etwas wie eine besonders dicke Kabeltrommel und etwas wie ein zusammengeklapptes Stahlkreuz heraus und dazu vier längliche Gegenstände, die Simon nicht zuordnen konnte. Seine Frau war bereits dabei, die Ledertasche zu öffnen. Sie blickte argwöhnisch hinein, ob da vielleicht ein ungebetener Gast drin versteckt war. Doch dem war nicht so. Sie zog vier paare Handschuhe und dito Paare Stiefel heraus. "Das könnte echt deine Größe sein, in unsere Maße umgerechnet, Simon", sagte sie. Simon prüfte das Paar profilstarker und offenbar wasserdicht gummierter Lederstiefel. Er nickte seiner Frau zu. Schnell schlüpfte er aus seinen schnürsenkellosen Laufschuhen mit starkem Sohlenprofil. Seine Frau zog ebenfalls ihre Schuhe aus.
Die stiefel passten Simon. Seine Frau musste die anderen drei Paare prüfen, bis sie das hatte, das ihr passte. Sie zogen die Schäfte bis über die Schienbeine hoch und schnürten sie oben so fest zu wie es ging, damit ja nichts hineinkriechen konnte. Dann zogen sie sich gegenseitig die Handschuhe an. Diese konnten auf Schulterhöhe und unterhalb der Ellenbogen ebenfalls zugeschnürt werden, um nicht mehr zu verrutschen. Die Handinnenflächen waren gerippt. Einen Moment musste Simon an besondere Kondome denken, die er bisher aber nie benötigt hatte, aber von Kollegen und Freunden wusste, dass die echt was bewirken konnten. Im Fall der Spezialhandschuhe war es, dass sie damit ganz festen Halt finden konnten.
"Mulong!" rief Nujang und fügte ein paar befehlende Worte hinzu. Mulong bestätigte es. Simon und Renée blickten hinaus. Jetzt staunte Simon, und Renée wunderte sich.
Die beiden Aufseher hatten den Schock, drei Kollegen verloren zu haben, schnell überwunden. Sie hatten das zusammengeklappte stahlkreuz auseinandergeklappt, mit einer dicken Schraube und Flügelmutter fixiert und in zwei halterungen links und rechts überdimensionierte Feuerwerksraketen gesteckt, deren Lagestabilisierungsstäbe genau lotrecht mit dem unteren Längsbalken des Kreuzes ausgerichtet waren. Gerade zündeten Nujang und sein Kamerad gleichzeitig die handlangen Zündschnüre an. Dann sprangen sie zurück.
"Träume ich das jetzt alles und wache gleich neben dir auf, Simon?" fragte Renée im Moment ohne jede Angst oder Besorgnis. "Dann träumen wir wohl gerade dasselbe", sagte Simon. Dann sah er mit schon kindlich anmutender Begeisterung zu, wie die zwei Raketen zeitgleich zündeten und laut zischend nach oben schnellten, nicht so schnell wie handelsübliche Feuerwerksgeschosse. Das lag aber nicht an den Raketen selbst, sondern an dem Gewicht, dass sie mit nach oben zogen. Denn an den beiden Querbalken hingen nicht nur die Raketen, sondern auch die eingehakten Enden einer sich immer weiter abrollenden Strickleiter. Diese wuchs aus dem heraus, was Simon als besonders dicke Kabeltrommel gedeutet hatte. Die ganze Konstruktion schob sich pro Sekunde um etwa fünf Meter nach oben. Wie lange die Raketen brannten konnte der studierte und promovierte Raketeningenieur so nicht sagen. Er konnte nur vermuten, dass diese pyrotechnischen Hilfsmittel für die maximal zu erwartende Höhe eines der hier stehenden Urwaldbäume ausgelegt waren, natürlich mit mitgeschleppter Strickleiter. Tatsächlich wurden die beiden Raketen nach sechs Sekunden langsamer und langsamer. Natürlich lag das am immer größeren Schleppgewicht. Selbst wenn die Leiter aus ultraleichten Kunstfasern und Karbonverbundstoff bestand, wie er im Flugzeug- und Raketenbau Verwendung fand, wurde sie den beiden Geschossen immer schwerer, je länger sie auseinandergezogen wurde. Dennoch blieben die Raketen auf einer stabilen Flugbahn, kletterten pro Sekunde um vier, dann um drei Meter nach oben, schneller als jeder Dschungelaffe. "Deshalb wollte King Louis das Feuer von Mowgli haben", meinte Simon zu seiner Frau und deutete auf die langsam ausbrennenden Raketen, die gerade den Wipfel des angezielten Baumes erreichten, durchflogen und tatsächlich noch fünf ganze Meter gewannen, bevor ihre Flammen erloschen und die Hülsen mit dem kreuzförmigen Schleppgeschirr wieder nach unten trudelten. Dabei kippte das Kreuz dem Baum entgegenund verfing sich in erst dünnen und dann beindicken Auswüchsen.
Nujang sah die Leiter hinauf. Dann kurbelte er an der großen Trommel, bevor er eine Verriegelung schloss. "So, die Spannung hält die Halterung sicher in den Ästen fest. Der Hersteller sagt, bis zu dreihundert Pfund können gefahrlos hinaufklettern."
"Was hundertfünfzig Kilo sind. Schön, dass du und ich noch weit drunter sind, Renée", bemerkte Simon zu seiner Frau. "Steigen Sie bitte aus. Ich kletter voraus und sichere die Halterung noch besser. Mulong, du machst die Nachhut, auch wenn die Erde wieder wackeln sollte!" Offenbar hatte Nujang den Befehl deshalb auf Englisch erteilt, damit die beiden Eheleute wussten, was er meinte.
Der Führer der ursprünglich fünf Aufseher kletterte behände die ausgespannte Strickleiter hoch. Simon Hellersdorf sah ihm dabei genau zu und beachtete vor allem die Halterung im Wipfel des Baumes. Sie verschob sich leicht, hielt jedoch das an ihr ziehende Gewicht aus. Dann war Nujang oben und schwang sich fast wie ein Urwaldaffe auf den breiten Ast hinüber. Sogleich griff er an seine Werkzeugtasche und zog etwas glitzerndes hervor, das wie eine bogenförmige Klemme aussah. Mit dieser verband er das Haltekreuz der Strickleiter und den Ast, an dem es hielt, so dass die Halterung sich nicht mehr verschieben konnte. Dann winkte er schnell und entschlossen nach unten.
"Renée, du zuerst", bestimmte Simon. Seine Frau sah ihn erst verdutzt an, ging dann aber zu der nun straff ausgespannten Strickleiter. Gerade glitt ein Seil mit angeklinktem Gurt herunter. "Bitte den Gurt um die Hüfte. Das sichert Sie zusätzlich!" sagte Mulong, der immer wieder umherblickte, als erwarte er den nächsten Schlag der Natur. Renée legte sich den Gurt um und setzte den ersten Fuß auf die dünnen Sprossen. Simon sah zu, wie sie so flink sie konnte nach oben kletterte. Die angelegten Handschuhe verschafften ihr den nötigen Halt und schützten ihre Haut vor möglichen Abschürfungen an den dünnen Halteseilen. Als sie auf halber Höhe war vibrierte der Boden ein wenig. Sicher war das ein Nachbeben. Mulong lauschte und blickte dann nach osten. Doch er sagte nichts.
Renée beeilte sich nun, nach oben zu kommen. Dabei zeigte sie, dass die intensiven Turnstunden in ihrer Jugendzeit den Aufwand wert gewesen waren. Denn mit einer schon einer Ballerina gleichkommenden Abstimmung von Armen und Beinen gewann sie immer mehr Höhe. Dann war sie oben angekommen. Nujang half ihr, auf den rettenden Ast umzusteigen. Dann löste er ihr den Sicherungsgurt von den Hüften und ließ diesen am Sicherungsseil hinabfallen. Simon brauchte keine Anweisung mehr, dass er nun diesen Gurt umlegen sollte.
Nicht ganz so gelenkig wie seine Frau arbeitete er sich die Leiter hoch, die wegen der Spannung so unverrückbar war wie angeschraubt. Doch er beeilte sich, weil er die unheimliche Stille hörte, die auf einmal über dem Urwald lag. Eben noch hatte er das ferne Meeresrauschen hören können, das wie der Atem eines sehr großen Tieres die Umgebung beschallt hatte. Dieses rhythmische Rauschen war nun weg. Er ahnte, ja war sich sicher, was das bedeutete. Das Meer holte aus zum großen Ansturm auf die Insel. Es würde wahrhaftig einen Tsunami geben.
Endlich oben angelangt ließ er sich von Nujang den Sicherungsgurt abnehmen und rutschte mit seiner Frau in die gewaltige Astgabel des turmhohen Baumes hinein. Dabei hoffte er, nicht doch noch einer dort Zuflucht suchenden Schlange an den Kopf zu greifen. Als er sicher saß nutzte er die neue Aussicht. Er sah über die vielen kleineren Bäume hinweg bis zum verwüsteten Strand. Sandhaufen lagen wild aufgeworfen nebeneinander. Tiefe Risse durchzogen den vorhin noch glatten Strand. Doch das beunruhigendste waren die freiliegenden Felsen, die noch grün von Algenbewuchs waren. Dazwischen war nasser Sand zu sehen. Er musste weit sehen, um das Meer zu erkennen.
Die bisher so regelmäßige Brandung hatte aufgehört. Das Wasser wanderte zusehens immer weiter hinaus. Das hatte er befürchtet. Irgendwo weiter draußen im Ozean musste eine große Masse Gestein oder Sand ins Rutschen geraten sein und hatte nun eine gewaltige Welle aufgeworfen, die gerade Anlauf nahm, um über alles hinwegzuwalzen, was ihr im Weg lag.
Mulong lief Wieselflink die Leiter hinauf. Diese schwankte jedoch heftig. Offenbar hatte der letzte der Rangers die Verbindung mit der Beförderungstrommel gelöst, so dass die Leiter nun frei hing. Deshalb hatte Nujang wohl darauf bestanden, dass sein verbliebener Kamerad die Nachhut bildete. Simon begriff dieses Vorgehen. Wenn sie alle oben waren konnte Nujang die Leiter einholen, vorausgesetzt, der letzte Ranger schaffte es, den rettenden Wipfel zu erreichen, bevor der Tsunami da war.
Simons Blick huschte abwechselnd vom kletternden Ranger zum Strand. Mulong war gerade auf halber Höhe des Baumes und hatte wie Renée eine geniale Abstimmung, um Arme und Beine schnellstmöglich einzusetzen. Das Meer zog sich immer noch zurück, nicht nur am Oststrand. Doch dort war die Veränderung am stärksten ausgeprägt. Immer größere Steine und schlammige Flächen wurden sichtbar. Simon erinnerte sich daran, dass er an einem der Felsen, der wie eine im Boden vergrabene Birne beschaffen war, vor drei Tagen noch geschnorchelt war. Das Meer war an der Stelle schon vier Meter tief gewesen. Welch eine Naturgewalt, die so viel Wasser auf einmal bewegen konnte, dachte er mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Ehrfurcht.
"Tsunami kommt", sagte Nujang und reichte Simon und Renée je ein Geschirr, das wie eine lederne Acht aussah, bei der beide Bögen geöffnet waren. "Bitte einmal um die Hüfte und ddie andere Schlaufe um den dicksten Ast, den sie in Reichweite haben", sagte Nujang im Telegrammstil. Er machte ihnen vor, was er meinte, indem er ein ähnliches Sicherungsgeschirr anlegte. Auch Mulong, der sich über zwei weitere Äste näher an den Vegetationskegel des gewaltigen Baumes herangerobbt hatte, sicherte sich bereits mit einem solchen Geschirr. Renée wollte wissen, wozu das noch nötig war. "Wenn ein neues Beben kommt oder die Tsunamiflut werden alle Bäume wackeln, die nicht dicht genug zusammenstehen um sich gegenseitig zu bremsen, Madam", sagte Nujang. Simon ergänzte: "Genau, und dann könnte unser Rettungsbaum uns abwerfen, wenn wir uns nicht sicher darauf halten können." Nujang bejahte es.
Simon half seiner Frau und sicherte sich dann selbst. Er zog den um den Ast gelegten Gurt so stramm wie möglich, dass er selbst beim Hinunterfallen gerade mal einen halben Meter tief kam. Er war gerade fertig, als Mulong rief: "Die Wut des Meeres kommt!"
Simon sah im Moment kein Meer mehr. Wo das mal war ragten nur von Schhlamm, Algen und Muscheln bewachsene Felsen auf. Doch er zweifelte keine Sekunde, dass der Schamanenabkömmling spürte, dass die Flutwelle auf dem Weg war. Nujang blickte derweil durch ein Fernglas und wiegte den Kopf. Dann seufzte er: "Jetzt sehe ich sie. Mulong hat recht."
Simon wollte schon fragen, ob er sich das Fernglas ausborgen durfte, was Nujang um den Hals hängen hatte. Doch das war nicht mehr nötig. Ein kaum hörbares Grollen und eine knapp über dem Horizont aufragende graue Linie mit weißen Tupfen kündigten das Unheil an. Aus der Linie wurde eine immer höhere graugrüne Wand, die von Horizont zu Horizont reichte und eindeutig aus dem Osten heranrückte. Das leise Grollen wurde zu dumpfem Donner, wie mehrere in der Ferne niederstürzende Wasserfälle. Doch gegen das, was da gerade anrollte waren selbst die Niagarafälle ein lächerliches Rinnsal, für das sich niemand interessiert hätte. Aus dem Donnern und Grollen wurde ein immer lauteres, auf unterer Basslage klingendes Dröhnen. Simon dachte an Tiere, die im Infraschallbereich hören konnten. Die mochten dieses Wasserinferno sicher schon vor Minuten gehört haben. Die graue Wand mit weißen Aufsätzen wuchs derweil immer höher. Schon überquerte sie die weiter draußen aufragenden Felsen, bügelte sie förmlich nieder. Sie türmte sich immer höher auf. Das laute Dröhnen wurde nun von einem wilden Rauschen begleitet. Simon sah und spürte, das ein leichter Wind aufkam. Er dachte daran, wie gut er es raushatte, auf U-Bahnhöfen zu sagen, wann ein ankommender Zug nach dem ersten spürbaren Wind bis zu den sichtbaren Frontscheinwerfern brauchte. Auch von Lawinen hieß es, dass sie eine Unmenge Luft vor sich herschoben. Der Wind frischte immer mehr auf. Die Bäume am Strand erbebten in ihren dicht belaubten Wipfeln. Einige der Bäume standen längst nicht mehr so sicher wie gestern noch. Das vorangegangene Beben, dass den Turm der Rangers zerstört hatte, hatte auch deren Untergrund aufgewühlt. Simon durchfuhr ein heißer Schreck, weil er dachte, dass sie hier oben nicht in Sicherheit waren, sondern in einer tödlichen Falle saßen. Doch laut wollte er das nicht sagen. Er konnte nur hoffen, dass er sich irrte. Dann kam er, der Tsunami.
Phodopus Bathurst, der Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzen des australischen Zaubereiministeriums, war zu einem geheimen Treffen mit Sydneys Gringottsfilialleiter Digrock hergekommen und wollte gerade mit dem grauhaarigen Kobold in der rot-goldenen Uniform in dessen Bürohinter der imposanten Schalterhalle hinübergehen, als ein unerträglich lauter, in allem und durch alles dröhnender Ton erklang. Gleichzeitig flackerten rote Leuchtkugeln an der Decke auf, die vorher noch nicht zu sehen gewesen waren. Über das unheilvolle Dröhnen hinweg versuchte eine Glocke mit wildem Geläut Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch alle die Kobolde in der Halle, Digrock eingeschlossen, konnten nicht mehr darauf achten. Sie erbebten wild und zuckten wie von unsichtbaren Peitschen getroffen zusammen. Bathurst sah, wie Digrogs braunes Gesicht immer bleicher wurde. Er sah, wie der alte Kobold die Augen verdrehte. Dann krümmte er sich so stark zusammen, dass sein Gesicht den wild dröhnenden Boden berührte. Gleichzeitig zuckten blaue, silberne und violette Blitze durch die Halle. Bathurst warf sich zu Boden, während rings um ihn die Türen zuschlugen und dabei zerbrachen. Die Wände warfen Wellen und spien Funkenstrahlen aus. Eine blaue Stichflamme schoss über Bathurst hinweg. Er fühlte sengende Hitze. Das große Eingangsportal schlug gerade zu. Er spürte davon nur den Luftzug. Denn seine Ohren waren hoffnungslos mit dem überlauten Dröhnen ausgefüllt. Gleißende, weißblaue Lichtentladungen schlugen kreuz und quer durch die Halle. Zwei gerade über ihren Schaltertischen zusammengeklappte Kobolde geriten voll in die Glutbahn hinein und vergingen in weißblauen Feuerbällen. Bathurst bekam den Geruch verkohlten Fleisches in die Nase, wie er ihn einmal bei zwei Opfern von marodierenden Drachen hatte riechen müssen. Offenbar waren sämtliche Sicherheitsvorkehrungen von Gringotts außer Kontrolle. Er drückte sich noch stärker auf den bebenden Boden und bereute diese Vorsicht keine Sekunde. Denn gerade zuckte ein weiterer weißblauer Blitz über ihn hinweg und sprengte einen glühenden Spalt in die Wand rechts von ihm. Er drehte seinen Kopf und sah etwas grauenvolles. Digrock, der ihn hierher eingeladen hatte, wand sich wie ein Regenwurm im Feuer. Und ähnlich wie solch einer verfärbte sich seine Haut immer dunkler. Die Kleidung blieb unversehrt. Doch der Körper des Koboldes verkohlte in einer Art unsichtbarem Feuer. Dann zerbarst dieser in einer grünlichen Dampfwolke. Bathurst bekam einen Schwall Asche in Augen und Nase. Er schniefte und prustete. Er begriff, dass Digrock gerade auf eine unheimliche Weise getötet worden war. Dann sah er, wie auch vier weitere, nicht vom weißblauen Blitz berührte Kobolde auf dieselbe erschreckende Weise vergingen wie ihr Chef. Irgendwer oder irgendwas brachte die eifrigen Bediensteten um und sprengte ihre Körper auseinander. Durch das Gemisch aus Asche und Tränen in seinen Augen konnte Bathurst nur verschwommen erkennen, wie sich die Säulen in der Halle verbogen und wieder in ihre lotrechte Form zurücksprangen. Dabei schleuderten sie selbst jene weißblauen Blitze, die über das laute Dröhnen hinweg mit dumpfen Knällen wie Riesenpeitschen durch die Halle schlugen. Gerade zerplatzte der letzte in der Halle befindliche Kobold in einer grünen Dampfwolke. Dann schwoll das Dröhnen kurz zu einem lauten Brüllen wie der Aufschrei eines gewaltigen Ungeheuers an. Eine Kaskade blauer Flammen und Blitze toste durch die Halle. Die wild läutenden Glocken schepperten wie der Wecker eines Riesens. Die roten Leuchtkugeln flackerten immer hektischer, bevor sie in sich zusammenstürzten und violette Funkenwolken gebaren.
So plötzlich, wie der unheimliche Aufruhr für Augen und Ohren eingesetzt hatte erstarb alles Dröhnen und Blitzen. Die Glocken verklangen mit einem letzten, klagenden Klong. Dann füllten Dunkelheit und Grabesstille die beschädigte Halle aus.
Bathurst wischte sich erst die Augen frei, die gegen den Aschewurf antränten. Dann rieb er sich die schmerzenden Ohren, in denen ein leises, vom eigenen Herzschlag angefachtes Piepen klang.
Er entzündete zunächst sein Zauberstablicht, um wieder was erkennen zu können. Dann sah er sich um. Der Boden war an unzähligen Stellen aufgerissen. Die Schaltertische waren gespalten oder sogar zu kleinen Trümmerhaufen zerschlagen worden. Auch Wände und Decke wiesen beträchtliche Risse und Spalten auf. Einzelne Stücke der Decke waren sogar herabgebrochen. Eine der Säulen war am oberen Ende aufgebrochen. Staub rieselte aus ihr herunter. Doch das unheimlichste war, dass außer ihm, Bathurst, kein weiteres Wesen in der Halle zu sehen war. Wo gerade noch zwanzig Kobolde hinter ihren Schaltern gesessen hatten waren nur noch die Trümmer und kleine graue Aschenhaufen zu erkennen. Keiner der Kobolde hier oben hatte das plötzlich über sie alle hereingebrochene Inferno überlebt. Dann sah Bathurst das geschlossene Portal an. Es strahlte nicht mehr die Größe und den Reichtum der Koboldbank aus, sondern war ein einziges, tiefschwarzes Tor mit Beulen und Wellen. Was immer die Halle verheert hatte hatte auch das Portal betroffen. Bathurst war klar, dass er durch dieses Tor nicht mehr hinausgelangen würde. Denn er war sich sicher, dass die koboldeigene Magie des Portales und überhaupt aller Dinge hier ungerichtet freigesetzt worden war. Alles was davon erfüllt gewesen war war nun zerstört oder unansehnlich und unbrauchbar.
"Hallo, ist noch wer da, der oder die mich hören kann?!" rief Bathurst. Seine Stimme hallte durch den verwüsteten und entvölkerten Schalterraum wie in einer tiefen Höhle. Bathurst erkannte, dass es gerade nicht so ratsam war, laute Geräusche zu machen. Denn sein Rufen brachte loses Material in der Decke zum herunterfallen. Er konnte gerade noch zwei niedersausenden Steinbrocken ausweichen. Zu seinem Glück oder Unglück traf ihn keiner der weiteren Brocken.
Bathurst wartete einige Sekunden, bis der von seinem Rufen erzeugte Steinregen endete. Dann ging er auf wackeligen Beinen zum verzogenen Portal. Er zielte mit dem Zauberstab auf das schwarz angelaufene Portal und wirkte ungesagt einige Prüfzauber. Dabei erzitterte sein Stab so heftig, als wolle er ihm aus der Hand springen. . Also steckte noch ein Rest der koboldischen Zauberkraft in dem Tor. Doch die Magie war unstet, nicht auf klare Auswirkungen ausgerichtet. Bathurst ahnte nur, dass es ihm übel bekommen mochte, das schwarze Tor zu berühren. Er prüfte die Wände. Die ließen seinen Zauberstab nicht erzittern. Doch dafür kühlte sich das Eukalyptusholz schlagartig ab, als verwandele es sich in pures Südpoleis. Erst als er den Stab wieder senkte kehrte das ursprüngliche Wärmeempfinden zurück. Womöglich saugten die Wände die im Stab ausgerichtete Zauberkraft auf und schwächten ihn dadurch, dass er sich seine eigene Kraft aus der ihn haltenden Hand holen musste, dachte Bathurst, der ein wenig Ahnung von Zauberstabkunde hatte. Das verriet ihm, dass er auch besser die Wände nicht antasten sollte. Was auch immer hier wirkte hielt ihn genauso sicher gefangen wie zwanzig über einer Felsinsel in einem Meer aus glühender Lava kreisende Drachen. Komisch, welche Vergleiche ein Mensch in einer solchen Ausnahmelage so zog, dachte Bathurst. Dann horchte er auf. Hatte er sich das laute Brüllen von ganz tief unten eingebildet?
Die von der herandonnernden Flutwelle vorangeschobenen Luftmassen schwollen zu einem regelrechten Sturm an, der die Bäume der Insel schüttelte wie Pappeln. Dann warf sich die wütende Wassermasse über den bis vor einem Tag mit Stolz gepflegten Sandstrand und wischte ihn innerhalb einer Sekunde vollständig weg. Dann prallte die so hoch wie ein dreistöckiges Haus aufragende Wasserwand auf die noch stehenden Bäume am Rand des Urwaldreservates. Jetzt sahen Simon und Renée, warum sie die zusätzlichen Sicherungsgurte hatten anlegen müssen. Die von der voranjagenden Flutwelle getroffenen Bäume schlugen förmlich nach hinten weg, bogen sich und wankten. Die bereits auf zu lockerem Boden stehenden Bäume wurden dabei endgültig entwurzelt und stürzten nieder. Renée schrie. Sie dachte sicher, dass ihnen genau dieses Schicksal drohte, dachte Simon. Er wollte ihr zurufen, sich zusammenzunehmen. Doch das Tosen, Donnernund Rauschen der rasend schnell heranjagenden Flutwelle hätte jedes mit menschlicher Stimme gerufene Wort übertönt.
Der Hauptwelle vorauseilende Wasserströme pflügten zwischen den Bäumen hindurch, wühlten den Boden auf und gurgelten in die vom Erdbeben erzeugten Risse hinab. Die weißen Schaumkronen und Wirbel auf der Oberfläche der Flutwelle kreiselten dabei herum, zerflossen und entstanden immer wieder neu. Weitere Bäume bogen sich und drohten wie Streichhölzer umgeknickt zu werden. Die vom Tsunami vorangeschobenen Luftmassen erreichten derweil Orkanstärke. Obwohl es bis zum Auftreffen der Welle noch Sekunden dauern mochte erbebte der Baum, auf dem Simon und seine Frau saßen von diesen Windstößen. Simon spürte den Druck auf seine Ohren zunehmen. Es war, als tauche er innerhalb von Sekunden mehr als zehn Meter in die Tiefe. Der Tsunami drang derweil in die dichteren Baumbestände vor. Er musste mindestens mit 400 Stundenkilometern unterwegs sein, dachte Simon. Bestimmt war die Welle noch schneller unterwegs.
Wo der Tsunami auf dichter beisammen stehende Bäume traf stießen diese mit den Wipfeln gegeneinander, bogen sich und sprangen wieder in ihre aufrechte Haltung zurück. Je dichter die Bäume standen, desto mehr Halt boten sie einander. Doch hier und da wurde ein weiterer Baum entwurzelt oder brach in der Mitte durch. Was dann von ihm blieb wurde von den weiterjagenden Wassermassen mitgerissen und bedrohte die noch aufrecht stehenden Bäume.
Simon taten die Ohren weh, und er wusste nicht, ob der Baum noch stand oder schon taumelte. Er sah, dass die heranwütende Wasserwand fast rechtwinklig mit der Oberfläche der Flutwelle abschloss. Nur die weiße Gischt verwischte die klaren Konturen. Auf der Oberfläche trieben abgerissene Blätter, Schaum und verschieden dicke Äste. Wieder krachte es, als ein weiterer fast frei stehender Baum dem Ansturm erlag und in zwei Teile zersprang. Dann prallte die geballte Macht des entfesselten Meerwassers auf den Hügel, auf dem das Rangerhauptquartier errichtet worden war.
Es war wie eine Salve zeitgleich abgefeuerter Kanonen, nur dass statt Eisenkugeln Wasserstrahlen in die Höhe schossen. Die vom aufschießenden Wasser losspritzende Gischt erreichte selbst die hohen Wipfel der auf der Kuppe wachsenden Urwaldbäume. Die von der Hauptwucht vorangetriebene Luft blies den Ausharrenden das aufspritzende Wasser in die Gesichter. Das Salzwasser brannte in Augen und Nasen. Renée hatte längst zu schreien aufgehört. Denn die immer noch mit Orkanstärke vorangeschobenen Luftmassen raubten ihr schier den Atem. Dann war die Stoßwelle aus Luft vorbei. Um sie alle herum donnerte die Flutwelle ein Drittel des Hügels hinauf und umspülte ihn. Der Baum, auf dem die vier letzten Menschen auf Gulanayatra sich festgeschnallt hatten schwankte wie ein Schiffsmast im Taifun. Doch dann ließ der Sturm nach. wie ein Wolkenbruch aus allen Richtungen zugleich traf das hochgespritzte Wasser auf die Geflüchteten. Trotz der tropischen Wärme begannen Renée und Simon ein wenig zu frösteln. Doch noch lebten sie.
Der Tsunami walzte die kleineren Bäume unterhalb des Hügels nieder, verschlang sie und machte sie zu einem Teil seiner unaufhaltsamen Zerstörungsmacht. Hier und da prallten entwurzelte oder in mehrere Teile zerbrochene Baumstämme gegen den Hang, wühlten sich in den Boden und frästen eine breite Schneise, in der sich das nachdrängende Wasser sammelte. Doch die Welle der Vernichtung schaffte es nicht, mehr als ein Drittel des Hanges hinaufzureichen. Die weiter oben stehenden Bäume wankten zwar im wilden Wind der getriebenen Luftmassen und zitterten unter den Erderschütterungen der dahinjagenden Flut. Doch sie blieben aufrecht stehen. Simon merkte, dass ihm vom wilden Wackeln des Wipfels übel wurde. Konnte er sich noch beherrschen? Absonderlicherweise dachte er einmal mehr daran, wie gerne er Astronaut geworden wäre, wenn ihn diverse Gesundheitsbedenken nicht davon abgebracht hätten, selbst in den Weltraum zu fliegen. auch merkte er, dass die wilden Jahre, wo kein fliehkraftstrotzendes Fahrgeschäft auf Rummelplätzen oder in Freizeitparks vor ihm sicher war, endgültig vorbei waren. In einem schmerzhaften Krampf schleuderte sein Magen unverträglichen Ballast von sich. Simon schaffte es gerade noch, sich nicht über seiner eigenen Frau zu erbrechen. Renée selbst sah blass aus. Sicher war ihr auch übel, von der Angst und von dem wilden Gewackel. Wieso hatten sie sich auch ausgerechnet auf einen hohen Baum flüchten müssen?
Die zwei Ranger schienen zu beten. Sie bewegten die Lippen. Doch ob sie flüsterten oder ihre Bitte um Rettung oder Gnade mit aller Kraft hinausschrien konnte Simon nicht hören. Er hatte nur noch das wilde Tosen und das Rauschen der haushohen Wasserfontänen in den Ohren. Die Augen brannten noch vom Ansturm aus Salzwasser. Doch Simon hoffte, dass sie diese Hölle aus Wasser überleben konnten.
Weitere Baumstämme prallten gegen den Hügel, bildeten dabei sogar eine Art provisorischen Damm. Das Wasser staute sich daran auf, überspülte die wackelige Krone des Dammes und ergoss sich in die dahinter geschlagenen Schneisen.
Simon gab es auf, sich das Salzwasser aus den Augen wischen zu wollen. Sein Ärmel war bereits völlig durchtränkt. Am Ende erfror er noch auf einer Tropeninsel, dachte er mit gewisser Ironie. Auch Renées Sommerkostüm klebte ihr klitschnass am Körper. Ihre Augen waren starr auf das wilde Tosen an die hundert Meter weiter unten gerichtet. Simon fürchtete, dass sie bereits unter Schock stand. Er wusste, dass sie alle ohne fremde Hilfe verloren waren, ob der Tsunami sie direkt traf oder seine Nachwirkungen ihnen den Rückweg vereitelten. Durch die von Meerwasser und Tränen nassen und brennenden Augen sah Simon etwas, das ihm einen weiteren Stich ins Herz versetzte.
Phodopus Bathurst hatte es sichnicht eingebildet. Das vielstimmige, wütende und auch schmerzhafte Gebrüll kam von unten. Er wusste sofort, was das bedeutete. Die Wachdrachen vor den Hochsicherheitsverliesen hatten sich von ihren Ketten losgerissen und suchten sich ihren Weg nach oben in die Freiheit. Wie lange würde es dauern, bis sie die Höhe der zerstörten Schalterhalle erreichten?
Der Abteilungsleiter für magischen Handel und Finanzen des australischen Zaubereiministeriums dachte an die Berichte von vor sechs Jahren und sieben Monaten. In Großbritannien hatten sich Harry Potter und seine beiden besten Freunde in die Londoner Gringottsfiliale eingeschlichen, um etwas aus dem Verlies der höchst anrüchigen Familie Lestrange zu entwenden. Sie waren aufgeflogen und hatten den vor dem Lestrange-Verlies angeketteten Drachen losgemacht, um auf dessen Rücken aus Gringotts zu entkommen. Hier in Sydney war es sicher mehr als nur ein einziger Drache. Keiner der Kobolde hier schien noch fähig zu sein, die feuerspeienden Wächter zurückzuhalten. Bathurst bangte, dass die Drachen, wenn sie bis nach oben durchbrachen, auf alles und jeden losgehen würden, dem sie begegneten. Er hatte gegen mehr als zehn wütende Drachen keine Chance, wenn es ihm nicht gelang, das beschädigte Gebäude zu verlassen. Ja, und selbst wenn er es noch schaffen sollte, Gringotts zu verlassen, würden die ausbrechenden Drachen ein Vernichtungswerk in ganz Sydney und Umgebung anrichten. Es war sehr wahrscheinlich, dass die Einkaufsmeile der australischen Zaubererwelt danach dem Erdboden gleich war und dass alle, die hier gerade unterwegs waren starben, ohne dass ihre Angehörigen etwas fanden, was sie noch mit allen Ehren begraben konnten. Vielleicht, so dachte er, war es sogar gut, wenn er dieses Vernichtungswerk nicht mehr miterleben musste. Dann fühlte er, wie sich etwas in den Wänden regte, ohne dass er sehen konnte, was es war. Er zog sich instinktiv so weit er konnte von den Wänden zurück. Dann sah er, wie sich die geschlossenen Torflügel des Eingangsportals wellenartig verformten. Dann zuckten rot-grüne Blitze durch die Wände, ohne einen Laut zu machen. Das Portal sprühte silberne und blaue Funken, die mit vernehmlichem Prasseln und Knacken durch die weitläufige Halle schwirrten. Bathurst warf sich unter einen der marmornen Schaltertische in Deckung, keine Sekunde zu früh. Denn mit lautem Knarren, Knacken und Knirschen lösten sich Stücke aus der viele Meter über ihm verlaufenden Decke und schlugen laut krachend auf dem Boden auf. Gleichzeitig barsten ganze Wandstücke unter den Lichtentladungen. Das verschlossene Portal wankte, verbog sich laut quietschend und kippte schließlich um. Ein kurzer, heftiger Hagelschauer aus niederstürzenden Deckenbruchstücken ließ Bathursts Ohren schmerzen. Dann war dieser Aufruhr auch schon vorbei.
Bathurst wagte es, sich umzusehen. Durch einen dichten Staubschleier konnte er sehen, dass in der einst so prunkvoll gestalteten Halle mehr als mannshohe Trümmerhaufen lagen. Er sah das tiefschwarz verfärbte, in seine beiden Torflügel auseinandergefallene Portal auf dem Boden liegen, dessen Rahmen genauso fehlte wie die gesamte Außenwand. Auch von den Innenwänden stand nicht mehr viel. Ein tiefes, mit Ohren kaum hörbares Grummeln erfüllte den Boden. Bathurst wusste, was das hieß. Er schnellte unter dem Tisch hervor, der den Hagel aus Deckentrümmern erstaunlich gut ausgehalten hatte und lief zwischen den Trümmerhaufen hindurch über den vor winzigen Bruchstücken Knirschenden Boden nach draußen.
Das erste, was er hörte waren die vielen Notfallglocken, die bei Feuer, Sturm oder Angriffen von selbst läuteten. Wer konnte war wohl schon auf der Flucht. Zumindest lag vor Gringotts kein toter Mitbürger auf der von Rissen und Spalten durchzogenen Straße. Doch Bathurst wusste, dass das hier nur der Auftakt der eigentlichen Katastrophe war. Er wagte den Blick zurück und sah, wie sich die noch verbliebene Decke in der ehemaligen Schalterhalle von Gringotts durchbog. Auch sah er die ersten Spalten im Boden, die sich langsam aber unaufhaltsam immer weiter auftaten. Das gesamte Gringottsgebäude stand kurz vor dem Einsturz.
Bathurst fielen alle Notfallbestimmungen ein, die er in seiner Zeit als Amtsanwärter gelernt und eingeübt hatte. Wenn er die Leute hier vor den ausbrechenden Drachen schützen wollte musste er schnell sein. Doch gerade als er den Zauberstab anhob, um entsprechende Alarmzauber für das Ministerium loszuschicken apparierten viele Hexen und Zauberer in den Dienstumhängen des Ministeriums. Er sah auch den Leiter des Koboldverbindungsbüros, der zielgenau vor dem nicht mehr vorhandenen Portal von Gringotts appariert war. Der erkannte auch ihn und lief mit weit ausgreifenden Schritten herbei.
"Gringotts wurde von irgendeiner übermächtigen Magie, womöglich erdelementaren ursprungs getroffen und verwüstet. Möglicherweise alle Mitarbeiter tot oder unter Trümmern verschüttet. Sicherheitsdrachen von ihren Ketten gelöst, suchen sich ihren Weg in die Freiheit. Höchste Gefahrenstufe!" rief Bathurst, noch ehe ihn der Kollege fragen mochte, was los war.
Der Kollege vom Koboldverbindungsbüro nickte und disapparierte. Bathurst fand, dass er das auch tun sollte. Denn hier konnte er jetzt nichts mehr tun. Hier würde er nur noch im Weg stehen. Also hob er seinen wundersamerweise unbeschädigt gebliebenen Zauberstab und drehte sich auf dem rechten Absatz. Mit mittellautem Knall verschwand der Überlebende dessen, was später als Gringotts-Inferno bezeichnet werden würde.
Auf den immernoch vom Meer her aufs Land drängendenFluten sah Simon Hellersdorf den mit dem Bauch nach oben treibenden Körper eines Tigers. Die bis heute so stolze Großkatze wies tiefe Wunden an Kopf und Flanken auf. Für einen winzigen Moment konnte der Tourist aus dem fernen Westen die gebrochenen Augen sehen. Sie schienen ihn und alle hier anzuklagen, dass dieses stolze, gefährliche Tier auf diese unwürdige Weise hatte sterben müssen. Er erkannte auch, dass es eines der drei Weibchen gewesen war. Dann schlugen die nachdrängenden grauen Fluten über dem im Tsunami gefangenen Tierkörper zusammen und begruben es unter Millionen Tonnen Wasser. Für Simon stand fest, dass keiner der Tiger diesen Ansturm aus Erde und Meerwasser überlebt hatte. Das tat ihm in der Seele weh. Denn wegen Leuten wie ihm war dieses Tier auf der Insel ausgewildert worden, weil es bis zur nächsten größeren Küste viel zu weit zum schwimmen war. Doch dann kam ihm die Erkenntnis, dass nicht er Schuld am Tod der Tigerin hatte. Denn er hatte das Seebeben und die Flutwelle nicht bestellt. Er war selbst immer noch in tödlicher Gefahr, hatte nur Glück gehabt, weil ihm genug technische Hilfsmittel geboten worden waren, auf einen hohen Baum zu flüchten, sonst wären seine Frau und er sicher auch schon zu treibenden Leichen geworden. Doch das, so befürchtete er, konnte immer noch eintreten.
Wie viele Minuten schon vergangen waren hatte er nicht mitgerechnet. Jedenfalls merkte er, dass die Wucht der Welle nachließ, weil das laute Donnern und Tosen leiser wurde. Die Fontänen an den den Hügel umgebenden Steinen fielen in sich zusammen. Die aufgewühlte Luft beruhigte sich. Der Wasserspiegel sank schnell ab. Er konnte förmlich zusehen, wie die Welle im Westen von der Insel herunterrollte. Doch dabei riss sie gnadenlos alles mit sich, was sie vom Boden gelöst hatte. Je weiter sie abebbte, desto mehr konnten die Ausharrenden das Ausmaß der Zerstörung sehen. Laut rauschend liefen die noch beachtlichen Mengen Wasser ab.
"Wir müssen noch oben bleiben!" rief Ranger Nujangg. "es kann noch eine zweite Welle kommen." Simon nickte ihm zu. Zwar war er nass bis auf die Haut und fror ein wenig trotz der vollends aufgegangenen Tropensonne. Doch er wusste, dass Nujang völlig recht hatte. Bei einem solchen Beben konnte es mehr als nur einen Tsunami geben. Ja, und es konnte auch sein, dass die zweite oder dritte Flutwelle noch höher wurde als die erste. So mussten sie ausharren, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Vor allem mussten sie überlegen, wie sie Hilfe bekamen. Denn ohne einen Hubschrauber kamen sie alle nicht mehr von dieser Insel runter. So fragte Simon Nujang, ob es noch einen Weg gab, jemanden herbeizurufen. Die Antwort erschütterte ihn fast so heftig wie das Erdbeben von vorhin:
"Die werden auf Sumatra und anderen Inseln auch mit der Welle zu tun kriegen, Sir. Die werden erst alle retten, die in direkter Reichweite sind, Sir. Wir haben kein Funkgerät mehr, das weit genug senden kann, um Hilfe zu rufen. Wir müssen aushalten, bis jemand nach uns sucht, Sir."
Buck Rawlins war offiziell der Leiter des Büros zur Eindämmung gefährlicher magischer Geschöpfe größer als Nogschwänze. Eigentlich gab es auf dem australischen Kontinent nur in den Bergen ein paar freilebende Drachen der Art antipodisches Opalauge. Deshalb hatte er bisher noch nie mit einem solchen Geschöpf zu tun bekommen müssen. Er hatte auch immer Bedenken geäußert, dass es unter den Straßen von Sydney in den tiefen Gewölben von Gringotts zwanzig Wachdrachen aus Europa und Asien gab, nur weil die vor allem Herren Kobolde von Gringotts der Meinung waren, dass solche Ungetüme ihre Hochsicherheitsverliese zu bewachen hatten. Sowohl er als auch seine direkte Vorgesetzte Tharalkoo Flatfoot hatten immer wieder versucht, diese kleinen, spitzohrigen Goldhorter zu überzeugen, die Drachen dorthin zurückzubringen, wo sie herkamen. Doch die waren so stur, dass jede Stahlkugel an deren Köpfen zerspringen musste. Jetzt würden sie alle die Quittung für diese Sturheit bekommen.
Ein eher mit Füßen und Unterleib wahrnehmbares Rumoren im Boden kündigte noch mehr Unheil an. Gerade wurden die Warnsignale für eine Totalevakuierung der Sonnenstrahlstraße ausgestoßen. Die war bisher nur ein einziges mal nötig gewesen, im September des Jahres 1859, wo sich Erebus Shadelake mit seinem damaligen Rivalen Astaroth Knightrock unter den wilden Südlichtern mit ihren jeweiligen Anhängern eine wahrhaft höllische Schlacht in der Sonnenstrahlstraße geliefert hatten, an dessen Ende es außer Gringotts kein unversehrtes Gebäude mehr gegeben hatte. Beide hatten die aus einem Aufruhr am Himmel entzündeten Südlichter als Zeichen für den jeweiligen sieg über den anderen missgedeutet. Am Ende hatte Shadelake die Zauberschlacht zwar gewonnen, dafür jedoch sein gesamtes Vermögen an die geschädigten Mitbürger abtreten müssen. Würde es heute auch wieder so sein? Nein, denn das Gringottsgebäude war nicht mehr unversehrt.
Was von dem einst so protzigen Prunkbau der Kobolde noch stand erzitterte unter dem fast unhörbar tiefen Grummeln im Boden. Offenbar tobten sich die für Kobolde typischen Erdzauber aus. Rawlins dachte mit gewisser Wehmut an die 500000 Galleonen, die er für sich und seine Familie dort eingelagert hatte. War das ganze Gold bereits verloren? Dann fiel ihm ein, dass nicht nur er, sondern jeder magisch begabte Mensch Australiens um das eigene Gold und Gut bangen musste, falls Gringotts vollständig in sich zusammenstürzte und/oder die Drachen es Stück für Stück in Schutt und Asche legten.
"Bevor die Drachen kommen einen Arrestdom!" rief Rawlins den hundert ihm beigeordneten Drachenjägern zu, die alle genausowenig echte Erfahrung mit Drachen hatten wie er. "Arrestdom?!" rief sein Untergebener Pitfield zurück. Da durchlief den Boden ein starker Erdstoß. Was von Gringotts noch stand begann zu wanken. Dann krachten die noch stehenden Wände und Decken zusammen. eine gewaltige Staubwolke quoll aus dem zusammenbrechenden Gebäude hervor. Dagegen wirkten sie alle den Kopfblasenzauber. Dennoch fühlten sie die gewisse Kraft, mit der der freigesetzte Staub auf sie alle drückte. Außerdem vernebelte er ihnen allen die Sicht, weil sich der Staub an der Kopfblase verdichtete und zu einer hauchdünnen Schale aus getrocknetem Stein wurde. So konnten die aufmarschierten Abwehrfachkundigen nicht mehr sehen, was dort geschah, wo Gringotts gestanden hatte. Doch was er und seine Leute hörten war alles andere als beruhigend.
Aus den Tiefen der Erde selbst dröhnte und polterte es. Immer wieder krachte und bebte es, wenn größere Gesteinstrümmer auf noch festem Boden aufschlugen. Außerdem klangen laute, mal rauhe, mal schrille Schreie aus der Tiefe herauf, gefolgt von wütendem Fauchen und Brüllen. Offenbar waren einige der dort unten gehaltenen Drachen von einstürzenden Wänden oder Gängen verschüttet worden. Einige andere schienen dem noch entronnen zu sein und wurden noch wütender. Es hieß, dass Drachen keine Angst kannten, weil sie keinen natürlichen Feind hatten außer dem Basilisken oder einer Truppe von Hexen und Zauberern. Sie waren nicht dafür bekannt, einen Kampf zu vermeiden, sondern nur dann zu flüchten, wenn sie klar unterlagen, falls sie es dann noch konnten. Das hier war für die feuerspeienden Zauberechsen sicher nichts anderes als ein Revierkampf. Um so wütender mochten sie sein, wenn sie das überlebten.
"Los, wer noch was sieht soll die Ankersteine für den Arrestdom ausbringen! Schnell!!" rief Rawlins seinen Leuten zu. Doch die meisten von denen waren im Moment genauso blind wie er. Mehrere Pfund aufgewirbelter Staub klebten an den Umhängen und hinderten sie an schnellen Bewegungen. Immerhin schien die Totalevakuierung nach Plan zu laufen. Auch wenn hier und da laute Angst-und Wutschreie erklangen wurde wohl eine Panik vermieden. Sicher würden sich die hier ansessigen Händler und Handwerker beschweren, dass man ihnen das Geschäft verdorben hatte. Doch ob das Ministerium ihnen dafür Entschädigung zahlen konnte stand noch sowas von in den Sternen, dachte Rawlins. Dann hörte er, wie sich etwas laut schnaubend und fauchend durch weitere Trümmerhaufen nach oben vorarbeitete. Die Drachen kamen, und er konnte sie nicht sehen.
Laura Morehead, die amtierende Sprecherin der magischen Heilzunft Australiens, erfuhr nur eine Minute nach den ersten Alarmmeldungen aus Sydney, was in der Sonnenstrahlstraße vorgefallen war. Im Gringottsgebäude hatte es offenbar eine Spontanentladung eingewirkter Erdzauber gegeben. Das passte zusammen mit den in der Sana-Novodies-Klinik gemeldeten Fällen von erdmagiesensitiven Hexen und Zauberern, die wegen eines noch nicht gänzlich überschaubaren Furors von Erdmagie in die Notaufnahme gebracht worden waren. Jetzt musste Laura Morehead alle in den Heilzentren und den Niederlassungen tätigen Heilerinnen und Heiler koordinieren, dass sie weitere Fälle von Erdmagieüberlastungen aufnahmen und behandelten. Gerade sprach sie mit Melchior Vineyard, dem Kontakt zu den Zauberkundigen der Ureinwohner.
"Alle, die sich mir anvertraut haben melden, dass etwas die in den australischen Kontinent eingelagerte Magie gegen die Schlangenmenschen in Aufruhr versetzt hat. Dabei hat die im Uluru fokussierte Zauberkraft von westen her anstürmende Magie zurückgeprellt und damit eine wilde Verwirbelung mit spontanen Entladungen von Erdmagie im Boden hervorgerufen, Laura. Die ältesten von den auf die Stimme der Erde lauschenden sind ohnmächtig geworden. Zwei von ihnen wurden von einem Gehirnschlag getroffen und konnten nicht rechtzeitig gefunden werden. Was immer da aus dem Westen kam muss eine Menge ungerichteter Erdmagie mitgeführt haben."
"Wie viele von denen, mit denen du dich unterhalten kannst haben die Kommotion überstanden, Mel?" fragte Laura Morehead über die praktischen Schallverpflanzungsdosen.
"Ich habe gerade mit Morgennebel, der Hüterin von Uluru, gesprochen. Sie selbst hätte es fast auch dahingerafft. Sie beschrieb das als "Zorn der Erdgeister" und vermutet, dass es die Antwort auf ein schwächeres Beben vor zwei Tagen sei, etwas, das irgendwo weiter nordwestlich sein soll, wenn ich das aus ihrer Wortwahl richtig interpretieren kann."
"Ach, und die von den Stammeszauberern und -hexen im Uluru konzentrierte Abwehrkraft hat diesen "Zorn der Erdgeister" abgeschmettert?" wollte Laura Morehead wissen.
"So haben der Verbindungszauberer zu den Ureinwohnern und ich das gerade eben verstanden, Laura", bestätigte Melchior Vineyard.
"Gut, wenn die Ureinwohner ihre Leute von uns behandeln lassen müssen gib es bitte gleich an Beth durch. Die hat die Notfalltruppe verstärkt und alle noch freien Betten für Opfer dieser Erdmagieentladungen freigehalten", sagte Laura Morehead noch. Dann verabschiedete sie sich von Melchior Vineyard, um mit ihrer Berufskollegin Aurora Dawn in Sydney zu reden. Denn in Sydney und Umgebung gab es viele Hexen und Zauberer, aber auch und vor allem die Filiale der Koboldbank Gringotts. Ja, das war schon eine sehr gute Idee gewesen, neben der Kontaktfeuermöglichkeit auch diese neumodischen Schallverpflanzungsdosen aus England zu ordern, um mit den Niedergelassenen in den größten Zaubererweltansiedlungen Australiens in Verbindung zu treten.
Die gelehrte Heilerin Aurora Dawn hatte nur leichte Kopfschmerzen und ein Kribbeln in den Füßen verspürt. Dennoch hatte sie sofort erkannt, dass irgendwas aus der Erde auf sie und wohl alle magisch begabten Wesen eingewirkt hatte. Eine Überprüfung der eigenen Messvorrichtungen für elementarmagie hatte gezeigt, dass es für zwanzig Sekunden einen heftigen Aufruhr von Erdmagie in ihrem Einsatzgebiet gegeben hatte, wobei hier Ströme und Gegenströme, Stauuungen und Entladungen stattgefunden hatten. Sie hatte sogleich ihre Liste von für Erdzauber empfängliche Patienten apportiert und wollte gerade los, die betreffenden Patienten aufzusuchen, als die von Laura Morehead bei ihr abgestellte Silberdose wie ein alter Wecker losrasselte. Sie klappte den Deckel auf und rief: "Ich höre, Laura!" hinein. Nun erfuhr sie, dass die Magier der Ureinwhohner wohl sowas wie eine von nordwesten kommende Sturmfront aus Erdmagie verspürt hatten. Einige von denen waren dabei wegen Überlastung gestorben. Morgennebel, die direkt am Uluru wohnte, hatte den Ansturm wohl nur deshalb überlebt, weil der rote Felsenberg die Wucht der fremden Erdmagie aus seinem unmittelbaren Bereich abgewehrt hatte.
"Gut, wir behandeln keine Kobolde, Aurora. Aber sei darauf gefasst, dass die Leute in der Sonnenstrahlstraße dich brauchen. Beth wird dir wohl noch die für Sydney zuständigen Noteinsatztruppen rüberschicken. Darf sie dich als Koordinatorin für die einteilen, oder hast du schon Fälle von Überbelastung?"
"Ich wollte gerade eine Runde durch mein Zuständigkeitsgebiet machen. Ich habe hier fünf Leute, die besonders für Erdmagie empfänglich sind, Laura. Aber anders als meinen Kamin kann ich die Dose mitnehmen und mich als Anlaufstelle bereithalten."
"Gut, Aurora, mach das bitte! Es kann sein, dass in oder um Gringotts eine besonders heftige Reaktion stattgefunden hat."
"O, Kobolde sind erdgebundene Wesen. Auf die könnte das mindestens viermal so stark wirken als auf magisch begabte Menschen. Das könnte den Betrieb von Gringotts gefährden", seufzte die aus Großbritannien stammende Heilerin. Laura Morehead setzte dem drauf, dass die Kobolde wohl zehmmal so stark betroffen sein mochten.
"Gut, ich besuche erst die, die ich als gefährdet eingestuft habe, Laura. Dann kann ich gerne von der Niederlassung oder von der Sonnenstrahlstraße aus koordinieren. Wo möchtest du mich hinhaben?"
"Gut, prüf die in Frage kommenden Patienten und apparier dann in der Sonnenstrahlstraße!" ordnete Laura Moreheads Stimme aus der Dose an. Aurora Dawn bestätigte das. Dann klappte sie die Silberdose wieder zu und nahm die noch verschlossene Silberdose, die sie mit der Notfallabteilung der Sana-Novodies-Klinik verband. Doch bevor sie loswollte fiel ihr ein, dass sie noch wen warnen musste, der nicht in Australien wohnte, jedoch ihres Wissens nach durch besondere Lehrstunden besonders auf Erdmagie geprägt worden war.
Sie holte schnell das rosigfarbene Metallarmband, dass ihr vor drei Jahren von Camille Dusoleil übergeben worden war. Sie legte es sich um und versuchte damit nach Julius Latierre zu rufen. Doch sie bekam keinen Kontakt. Sicher, in Europa war es zehn Stunden früher als in Sydney und somit noch tiefe Nacht. Doch sie wollte alle schnellen Mittel ausnutzen, die sie hatte. Weil sie keinen Kontakt bekam rief sie ihrer gemalten Version zu, ihn zu warnen, dass womöglich starke Wellen Erdmagie durch den ganzen Planeten jagten und er sich darauf vorbereiten sollte, bestenfalls jeden Kontakt zum Erdboden vermeiden sollte, bis die Wellenfront durchgewandert war. "Julius ist mit seiner Familie und Béatrice im Sonnenblumenschloss und wird erst am sechsundzwanzigsten zurückkommen", erwiderte Auroras Bild-Ich gleichnach der Anfrage. "Gut, bitte gib es dann an Vivianes Bild-Ich weiter, das dann ihren Gründungscompagnon Orion Lesauvage beauftragen soll, ihn zu warnen!"
"Ich kann's nur versuchen, fürchte aber, dass dieser Schwerenöter sich von einer Hexe aus dem nichtfranzösischen Ausland nichts vorschreiben lässt", sagte die gemalte Version der Heilerin. Die leibhaftige Aurora Dawn nickte. Sie hatte zu häufig von ihrer Bild-Version anhören müssen, dass dieses selbstherrliche, ruppige Alphamännchen gerne versucht hatte, sie für sich zu begeistern und einmal sogar seine Finger nicht bei sich behalten hatte, so dass Viviane und Serena ihn zur Ordnung rufen mussten und Auroras gemalte Version, die damals noch in Beauxbatons gewohnt hatte, als gleichermaßen zu respektierendes Mitglied der Zauberbildgemeinschaft bestätigt hatten. Dieser Machomann würde garantiert nicht springen, wenn Auroras Bild-Ich "Hopp!" rief, auch nicht, wenn Vivianes Bild-Ich ihm klarmachte, worum es ging. Doch sie hatte es versuchen müssen.
Um die aufgewendete Zeit wieder aufzuholen apportierte sie ihre Heilertasche und apparierte unverzüglich zu ihrer ersten Patientin, einer fünfzig Jahre alten Hexe, die sich auf die Vorhersage von Erdbeben spezialisiert hatte. Diese hatte jedoch außer einem starken Migräneanfall mit Lichtblitzwarhnehmungen und wild kribbelnden Beinen keine Auswirkungen des Aufruhrs verspürt. Aurora gab ihr was gegen die Nachwirkungen des Migräneanfalls und bat sie, sich bei ihr zu melden, falls sie doch noch stärkere Beschwerden haben sollte.
Auch die weiteren vier Patienten hatten die wilden Erdmagieentladungen gut überstanden. So wollte sie in die Sonnenstrahlstraße apparieren. Doch als sie genau auf der Höhe des Willy-Willy ankommen wollte prallte sie von einem dort aufgebauten Locorefusus-Zauber ab, der sie ganze zwei Kilometer von der Einkaufsstraße entfernt apparieren ließ. Sie musste die zwanzig nichtmagischen Augenzeugen mit Gedächtniszaubern belegen, um ihr ungeplantes Erscheinen zu vertuschen. Dann eilte sie zu Fuß dorthin, wo der Eingang zur Einkaufsstraße lag. Dort traf sie vier Sicherheitszauberer. "Die Straße wird totalevakuiert. Gringotts hat es erwischt. Wir rechnen gerade mit einem Ausbruch der Überlebenden der dort gehaltenen Drachen", sagte Will Woodley, ein kleiderschrankartiger Zauberer, der in Melbourne wohnte.
"Ach, und das konntet ihr der Sano und der Heilzunft nicht früh genug mitteilen?" wollte Aurora Dawn wissen.
"Ach, hat unsere HVD ihre Zunftkollegen nicht benachrichtigt? Ist nicht mein Problem. Ich soll nur aufpassen, dass hier alle rauskommen, die auf der Straße waren und keiner reinkommt, der auf die Straße will."
"Dann lass mich mal durch, denn ich bin kein Der, sondern eine Die!" versuchte es Aurora Dawn. Will lachte lauthals. Seine drei Kollegen grinsten nur. "Okay, alles mit Magie im Blut kommt nicht durch die Tür rein, nur noch raus", berichtigte Will Woodley seine Ansage. Das musste Aurora Dawn akzeptieren. Da kamen auch schon weitere Geschäftsinhaber und Kunden aus der Sonnenstrahlstraße heraus. "Gringotts ist zusammengekracht", seufzte die Verkäuferin des Süßwarenladens trübselig. "Und gab es Verletzte bei Ihnen?" fragte Aurora Dawn. "Einige haben Staub eingeatmet und mussten nach der Evakuierung von den Bereitschaftsheilern behandelt werden. Zum Glück kennen ja doch viele den Anabneo-Zauber zur Behebung akuter Erstickungsanfälle", sagte Will Woodley.
"Also, ich habe den Auftrag von Großheilerin Morehead, mit den Kollegen hier aufzupassen, falls doch noch wem was passiert", sagte Aurora Dawn. "Haben Sie das Schriftlich, Heilerin Dawn?" wollte Woodley wissen. Aurora schüttelte verdrossen den Kopf. "Gut, dann sehen Sie bitte zu, die schriftliche ... Ups!" In dem Moment landete ein weiblicher Steinkauz auf Auroras rechter Schulter. Der Postvogel trug einen Ring am rechten Bein, der die Farben und das Symbol der australischen Heilzunft trug und hielt einen blauen Briefumschlag im Schnabel. Aurora nahm den Briefumschlag und grinste Woodley an. "Da ist die geforderte Bestätigung meiner Aufgabe", sagte sie und gab ihm den Pergamentzettel. Woodley las und nickte.
Ein lautes Gebrüll und Fauchen zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Aurora hörte, wie jemand rief: "Wo bleibben die Unfeuersteine?" Dann wurde er von lautem Brüllen und schrillem Geschrei übertönt.
"Anfrage an Ashwood und Oaklane: Steht der Arrestdom?" sprach Woodleys Kollege Thornhill in eine ähnliche Silberdose, wie Aurora sie mitführte.
"Frag mich das, wenn ich das sicher sagen kann", kam eine sehr ungehaltene Antwort aus der Dose. "Der Krater muss tiefer sein als der Scheitelpunkt des Doms hoch ist, den wir bauen wollen."
"Drachendreck!" knurrte Thornhill ungeachtet, dass ihm viele hier zuhörten.
"Das kannst du gleich laut sagen. Wir können den Dom nicht um Gringotts herumbauen. Solange wir nicht wissen, wie tief der Krater genau ist und ..."Ein lautes Aufbrüllen übertönte die Stimme des Kollegen. Aurora begriff. Ein Arrestdom konnte nur dort errichtet werden, wo kompaktes Erdreich oder Gestein tief genug reichte. Denn die Ankersteine mussten eine ständige und unabreißbare Verbindung durch die Erde zueinander haben, und zwar so, dass die Ströme sich unter der Erde vereinten, so tief, wie der zu erwartende Scheitelpunkt des Doms hoch über dem zu sperrenden Bereich lag. Dann fiel ihr auch ein, dass die gegen Feuersbrunst bewährten Unfeuersteine nicht in der Nähe von Arrestkuppeln eingesetzt werden konnten, weil beide Zauber miteinander wechselwirkten und der Arrestdom die Unfeuersteine überladen konnte. Doch für die reine Theorie blieb keine Zeit mehr. Denn ein warnender Ausruf, dass die ersten Drachen aus dem Krater kamen forderte die Aufmerksamkeit aller am Einsatz beteiligten. "Okay, kein Arrestdom, nur Unfeuersteine und Drachenschützen!" hörte Aurora die Stimme eines anderen Ministeriumszauberers aus Thornhills Fernsprechdose.
"Evakuierung so gut wie abgeschlossen", kam eine weitere Meldung durch. Doch das Brüllen und Schnauben nun über der Erde wütender Drachen übertönte sie fast. Aurora wurde nachdrücklich aufgefordert, bis zu einem eindeutigen Anruf einen Kilometer weit von der Sonnenstrahlstraße entfernt zu bleiben. Aurora legte es nicht auf eine Diskussion an, dass Heiler möglichst sofort zu ihren Patienten gelangen mussten. Sie beschloss, in ihre Niederlassung zu apparieren und dort ihren Besen bereitzuhalten. Außerdem erfuhr sie dort, dass Orion der Wilde gerade nicht in seinem Bild in Beauxbatons weilte, sondern offenbar irgendwo anders. Somit konnte Julius Latierre nicht vor der Erdmagieentladung gewarnt werden. Aurora konnte nur hoffen, dass mit dem Abstand zur Quelle auch die Heftigkeit nachließ.
An einen Arrestdom war jetzt nicht mehr zu denken. Gerade krochen an die zwanzig wütende Drachen aus dem Krater, wo vor nicht einmal einer halben Stunde noch Gringotts gestanden hatte. Darunter waren vier schwedische Kurzschnäuzler, die dafür berühmt und berüchtigt waren, das heißeste Feuer von allen Drachen zu speien. Doch die hier zusammengezogenen Abwehrzauberer konnten auch ungarische Hornschwänze, pyrenäische Purpurpanzer und antipodische Opalaugen erkennen. Sie wanden sich wütend schnaubend und brüllend aus dem Krater heraus. Einige von ihnen spien Feuer, um sich den Weg freizubrennen. Noch konnten sie nicht fliegen, weil sie zu gedrängt aufeinanderhockten.
"Unfeuersteine her, bevor die ganz freikommen!" rief Rawlins seinen Leuten zu. Das war jetzt das einzige, um ein völliges Inferno zu verhindern, das Drachenfeuer möglichst abzuschwächen. "Finalschützen in Bereitschaft!" blaffte Rawlins noch, als er sah, wie die fünf ersten Drachen den Kraterrand erkletterten, die Flügel ausspannten und losflogen. Sofort jagten fünf Zauberer in feuerfester Ausrüstung heran. Sie hielten silberne Armbrüste im Annschlag: "Bei sicherer Zielerfassung Schießen!" rief Rawlins. Da entflogen vier weitere Drachen dem Gringotts-Krater und schwärmten aus. Sofort gingen die gewaltigen Tierwesen zum Angriff auf die fliegenden Ministeriumszauberer über. Die fünf Armbrustschützen betätigten den Abzug. Fünf bläulich flirrende Bolzen sirrten durch die Luft. Jeder fand ein Ziel, das zum Feuerstoß aufklaffende Maul eines Drachens. Die Bolzen jagten hinein. Keine Sekunde danach blähten sich silberne Feuerbälle auf. Fünf schwere, rot glühende Körper stürzten, eine schwarze Rauchschleppe hinter sich herziehend nach unten.
Die anderen Drachen erspürten oder rochen den Tod ihrer Artgenossen und beeilten sich nun erst recht, aus dem Krater zu entkommen. Bei einigen konnte Rawlins tiefe Biss- und Kratzwunden sehen. Wieder andere hatten Einkerbungen in den Flügeln. Doch alle waren offenbar noch stark genug, mit anderen zu kämpfen. Fünf weitere Finalschützen versuchten die von ihnen angezielten Drachen zu treffen. Doch drei von fünf schafften es, den auf sie abgefeuerten Bolzen auszuweichen und griffen die Gegner frontal an.
Immer mehr Drachen entstiegen dem Krater und griffen alles an, was ihnen in den Weg geriet. Die Hoffnung, dass sie sich bereits auf dem Weg nach oben gegenseitig zerfleischt hatten erfüllte sich für Rawlins nicht. Er sah sich unvermittelt dem Angriff eines weiblichen Kurzschnäuzlers ausgeliefert. Da er keine magische Armbrust mit Explosivbolzen hatte blieb ihm nur der Zauberstab. Er riss ihn hoch und zielte auf das aufklaffende Maul der Angreiferin. "Avada Kedavra!" rief er. Der grüne Todesblitz schlug genau eine Sekunde vor dem Feuerstrahl des Drachens auf sein Ziel über. Das Drachenweibchen zuckte zusammen, brüllte noch einmal laut auf und stürzte dann ab. Sein letzter Feuerstoß wurde dank des am Besen festgeschnallten Unfeuersteins auf die Hitze eines heißen Wüstenwindes abgekühlt.
Drei Drachen kamen auf Rawlins zu. Sein Unfeuerstein am Besen schützte ihn vor ihren tödlichen Flammen. Doch wenn sie mit ihren handlangen Reißzähnen nach ihm schnappten oder ihn mit ihren krummdolchartigen Krallen erwischten war er hilflos. Doch aufgeben lag ihm nicht. Er riss den Besen fast senkrecht nach oben und legte einen gekonnten Rosselini-Raketenstart hin. Die drei Drachen blickten ihm nach und spien laut fauchende Feuergarben hinter ihm her. Dann krachten sie im Flug gegeneinander und brüllten wütend aufeinander ein. Die Instinkte dieser urweltlichen Zaubertiere ließen sie einander als Gegner einschätzen. Sie begannen nacheinander zu schlagenund zu beißen. Deshalb bekamen sie erst in der letzten Sekunde mit, wie drei Armbrustschützen auf sie einschwenkten und ihre bläulichen Bolzen abschossen. Jeder der drei Drachen wurde an einem Auge oder im zum Zuschnappen aufgerissenen Maul getroffen. Drei silberne Feuerbälle beendeten ihre Existenz.
Rawlins konnte von oben her sehen, dass es mehr als zwanzig Drachen waren, die aus dem Krater von Gringotts herausflogen. Dabei hatte er doch gedacht, dass die Kobolde nur zwanzig Drachen bei sich einquartiert hatten. Hatten diese Spitzohren etwa falsche Angaben gemacht? Das war jetzt völlig unerheblich, weil die allermeisten von denen sicher mit ihrem protzigen Bankhaus in die Tiefe gerauscht waren. Wichtig war jedoch, dass viele der ausgebrochenen Drachen noch die starken Eisenschellen an den Beinen trugen, an denen die Halteketten gehangen hatten und dass sie nun erkannten, wie gefährlich die silbernen Armbrüste und die bläulichen Bolzen für sie waren. Auch wenn sie keine menschliche Intelligenz besaßen verrieten ihre Überlebensinstinkte, dass sie diese Gefar meiden mussten. So schwärmten sie gleich nach Verlassen des Kraters aus, flogen tief zwischen den Häusern. Einige, die wohl besonders schlau waren bliesen ihre Feuerstöße in die passierten Häuser hinein. Nicht jedes Haus war feuerfest. Die meisten hier bestanden zwar aus Stein, hatten aber hölzerne Bauelemente. So kam es, dass eine immer längere Reihe brennender Gebäude entstand. Die auf besen fliegenden Hexen und Zauberer schossen zwar auf die Drachen, doch die Bolzen prallten von ihren Schuppenpanzern ab und verpufften im Flug zu kopfgroßen Feuerbällen, die nur eine Sekunde lang leuchteten und dann schneller als ein Blinzeln in sich zusammenfielen. Nur wem es gelang, sich einem Drachen zum Frontalangriff anzubieten schaffte es meistens, ihm einen der tödlichen Bolzen in ein Auge oder den Rachen zu setzen. Doch nicht jedem gelang das. Vier Besenflieger wurden von ihren schuppigen Gegnern getroffen und aus der Bahn geworfen. Einer wurde dabei von einem Drachenmaul gepackt und vom Besen gepflückt. So forderte die Abwehrschlacht gegen die freigekommenen Drachen in den nächsten Minuten sieben Opfer auf Seiten der Abwehrexperten. Ebenso viele Drachen wurden mit den bläulichen Bolzen erlegt.
Um die Häuser gegen die Feuerstöße der Drachen zu sichern flogen mehrere mit Unfeuersteinen ausgerüstete Ministeriumsmitarbeiter über den Häusern im Kreis. So lief sich das Feuer zwar tot, doch die in die Häuser hineinkrachenden Drachen richteten nicht weniger Schaden an. Einige von ihnen versuchten erst einmal Höhe zu gewinnen. Doch dabei wurden sie von den Besenfliegern überholt und von oben her beschossen. Allerdings ging nicht jeder Schuss ins Ziel. Etliche Bolzen schlugen in die Kopfsteinpflasterstraße oder in eines der Häuser ein. Nur die Nähe der Unfeuersteine hinderte die Magie der Bolzen, sich zu entladen. Das hieß jedoch nur, dass niemand mit einem Unfeuerstein mehr als hundert Meter davon fort sein durfte.
Mehr als dreißig Häuser waren durch das Drachenfeuer oder die wie Greifvögel in sie hineinstoßenden Drachen schwer beschädigt worden. Rawlins gruppierte seine Leute so, dass immer drei einen Drachen aufs Korn nehmen konnten. Nach grauenvollen zwanzig Minuten schafften sie es, den letzten Ausbrecher zu stellen und zu erlegen. Der Körper des getöteten Zaubertieres schlug genau in das Dach vom Willy-Willy ein. Das Haus mit dem landesweit berühmten Pub für junge Leute stürzte splitternd und krachend zusammen.
Rawlins landete und rief mit Hilfe des Sonorus-Zaubers "Zählappell!" Alle seine Leute flogen heran, sofern sie noch flugtüchtige Besen besaßen und größtenteils unversehrt waren. Der Zählappell ergab, dass zehn Drachenbekämpfer bei der Schlacht um die Sonnenstrahlstraße gestorben waren. Sieben waren schwerverletzt und mussten umgehend in die Sana-Novodies-Klinik eingeliefert werden. Alle anderen waren Dank der Unfeuersteine unverletzt geblieben.
Die Locorefusus-Sperre wurde aufgehoben, damit die Heiler die Verletzten behandeln oder zur weiteren Behandlung abtransportieren konnten. Bathurst kam zusammen mit der Zaubereiministerin und besah sich den Schaden. Vor allem der gähnende Riesenkrater ließ Ministerin Rockridge und Bathurst sehr besorgt dreinschauen. "Von den Kobolden ist niemand am Leben?" wollte die Ministerin wissen.
"Die in Gringotts sind auf jeden Fall tot", sagte Bathurst, der sehr betrübt in den tiefen Schlund blickte, wo eins das prunkvolle Gringotts-Gebäude gestanden hatte. "Ichhabe nach der ersten Verwüstung schon meine Kontakte angeklingelt, Ministerin Rockridge", sagte Myles Crocker, der Koboldverbindungsbeauftragte Australiens. "Und, hat sich schon wer gemeldet, Myles?" wollte die Ministerin wissen. "Nein, Frau Ministerin. Kein einziger. Aber vielleicht sind meine Kontakte auch nur besinnungslos geworden. Öhm, ich erinnere bei der Gelegenheit noch mal daran, dass ..."
"Nicht jetzt und schon gar nicht hier, Myles", zischte die Ministerin, die sichtbar darum rang, die Fassung zu bewahren. Doch die tiefen Sorgenfalten auf ihrer Stirn sprachen eine deutliche Sprache. Sie wusste, was die Vernichtung von Gringotts bedeutete. Doch hier und jetzt wollte sie nicht näher darauf eingehen.
"Wir haben alle Leicht- und Schwerverletzten in die Notaufnahme gebracht, Ministerin Rockridge", meldete Bethesda Herbregis, die Leiterin der Sana-Novodies-Klinik. Dann sah sich die Großheilerin um. "Ui! Das wird Ärger geben", schnarrte sie, als sie den Krater und die von den Drachen verheerten Häuser betrachtete.
"Davon dürfen Sie ausgehen, Madam Herbregis", grummelte die Ministerin. "Die Frage ist nur, für wen alles." Darauf sagte Latona Rockridge: "Ich fürchte, für uns alle."
"Lohnt es sich zu fragen, wer für das hier verantwortlich ist?" fragte die Großheilerin.
"Nein, im Moment lohnt sich gar nichts, bevor wir nicht wissen, wie genau es weitergeht", sagte die Ministerin. "Falls Sie gleich noch mit Großheilerin Morehead konferieren, Madam Herbregis, bitten Sie sie in meinem Auftrag zu einer Dringlichkeitssitzung um drei Uhr nachmittags ins Ministerium! Es gibt da doch wesentlich mehr zusammenzukehren und aufzuräumen als die halbe Sonnenstrahlstraße."
"Ich werde es ihr ausrichten, Ministerin Rockridge", sagte Bethesda Herbregis. Dann disapparierte sie.
"Wir sind am Boden. Wir sind erledigt. Alles was in der ganzen australischen Zaubereigeschichte aufgebaut wurde ist weg, ausgelöscht", lamentierte Phodopus Bathurst. Rawlins dachte nur für sich daran, dass die Abos, wie er die Ureinwohner immer noch abfällig nannte, da ganz anders drüber denken würden. Deren Geschichte war ja noch viel älter und die hatten auch keine Goldreserven hier in Gringotts gehabt. Im Gegenteil, die hatten immer schon Stress mit den Kobolden gehabt, die sie als "Die, die nicht hierhergehören" bezeichneten. Die Kobolde wiederum, so wusste es Rawlins von den Besprechungen in der Abteilung für magische Geschöpfe, hielten die Magie der Ureinwohner für "lästiges Zeugs", das nur Ärger machte. Da hatten Crocker und der vom Ministerium als Kontakt zu den Magiern der Ureinwohner immer wieder Streitigkeiten auszubügeln. Am Ende hatten die Kobolde sich nicht außerhalb der Stadtgrenzen aufhalten dürfen. Doch wenn sie unter der Erde entlangjagten, so Crocker, spürten die Stammeshexen und -zauberer das irgendwie. Ja, und nach der gruseligen Sache mit den Schlangenmenschen hatten die Kobolde echt noch mehr Schwierigkeiten mit den Stammeszauberern und -hexen. Doch zumindest hatte sich Rawlins heute als Drachenkontrollamtsleiter behaupten können. Allerdings würde man ihm sicher keine Bestnoten für seine Arbeit hier geben. Das lag aber wohl auch daran, dass die Kobolde ganz klar gelogen hatten, was die Anzahl der von ihnen hier angesiedelten Drachen anging. Falls von Gringotts Sydney noch irgendwer lebte konnte der sich schon mal auf ein ganz heftiges Donnerwetter einrichten. Das ging ihn aber nichts an, war nur unnötig viel Arbeit, die er sich sicher nicht aufladen lassen würde.
War das ein Traum oder Wirklichkeit? Unvermittelt hörte er wildes Brausen, ja an Brüllen und Stampfen erinnernde Laute. Dann meinte er, von blauen und roten Blitzen getroffen zu werden, die direkt aus dem Boden schlugen. Er meinte einen Moment lang, dass ihn irgendwas mit heißen Klingen in Stücke schnitt und seinen Kopf spaltete. Dann sah er sich selbst über einem Bett schweben, Seine Frau wurde gerade von ihm selbst angestoßen. Dann kam der nächste Blitz und fegte ihn förmlich davon, hinein in eine undurchdringliche Dunkelheit. Er schrie. Doch keiner hörte ihn. Seine Stimme schien von der ihn umgebenden Leere verschluckt zu werden. Irgendwo in der Ferne sah er ein schwaches, weißes Glühen, wie einen einzelnen Stern, auf den er gerade mit einer unbekannten Geschwindigkeit zutrieb. Er vermeinte, winzigkleine schwarze Punkte vor diesem Licht zu sehen, wie die dunklen Flecken auf der Sonnenscheibe. Das ansonsten leere Weltall schien sich um ihn zu drehen. Dann hörte er wieder Geräusche, rhytmisches Pochen und langsames Fauchen. Das Licht in der Ferne verglühte und wurde zu einer vollständigen Dunkelheit. Doch er meinte nicht mehr in völliger Leere zu treiben, sondern in etwas zu schweben, nein zu schwimmen. Er hörte die ihn umgebenden Geräusche und erinnerte sich, dass er sowas schon mehrmals im Leben nachempfunden hatte. Dann fühlte er seinen Körper wieder, aber war das überhaupt sein Körper? Wenn er jetzt wieder dort war, wo er schon so oft in Erinnerungsreisen und damals auch in der Stadt der Altmeister gewesen war, dann konnte das nicht sein Körper sein. Doch er konnte ihn bewegen. Ja, er konnte seinen Kopf drehen, fühlte das pulsierende, spiralförmige Etwas, dass direkt aus seinem Bauch ragte. "Nicht schon wieder", dachte er. Doch Dann wurde ihm unheimlich. Er konnte den Körper nicht nur fühlen, sondern selbstständig bewegen. Er konnte die Arme ausstrecken, die bis unters Kinn angezogenen Beine soweit ausstrecken, bis er auf weichen, glatten Widerstand traf. Seine rechte Hand glitt unterhalb des ihn mit pulsierender Kraft belebenden Etwas zwischen seine Beine. Er fühlte, was dort war und wusste, er war nicht bei Martine oder seiner eigenen Frau gelandet, denn die beiden trugen Zwillingstöchter. Er steckte im Körper seines eigenen ungeborenen Sohnes und somit im schützenden Schoß von Béatrice Latierre, seiner Schwiegertante und laut Absprache auserwählten Retterin des Ehefriedens zwischen ihm und Mildrid, seiner angetrauten Frau.
Das konnte nur ein Traum sein. Denn bisher hatte er nur einmal seinen Körper als ungeborener gefühlt und bewegen können, und das war in Khalakatan, als Madrashmironda es für eine geniale Idee hielt, ihn nicht nur zu füttern, sondern gleich ganz neu als ihrer beider gemeinsamen Sohn Madrashainorian austragen, gebären und großziehen zu dürfen. Doch was war das eben, was ihn so heftig getroffen und gepeinigt hatte, bis er sich erst über seinem eigenen Körper hatte schweben sehen können und dann in diesen dunklen Tunnel hineingeschleudert worden war? Was sollte das mit dem Licht am Ende dieses langen dunklen Tunnels? Er zuckte zusammen. Ja, dieser Körper reagierte auf seine Gefühle. Denn ihm wurde klar, was das heißen mochte. Wenn das hier gerade kein Traum war, dann war er gerade gestorben und seine Seele war aus ihm unbekannten Gründen mit seinem ungeborenen Sohn verschmolzen, so wie die Seele Armand Grandchapeaus mit Leib und Seele seines Sohnes Demetrius Vettius oder die Seele Heather Redrobes mit ihrer eigenen Tochter Rosey, die da bereits schon im Leib Aurora Dawns geborgen lag. . Sollte er sich jetzt ängstigen? Sollte er sich jetzt freuen? Vor allem, wie würde Millie das aufnehmen, wenn sein Körper tot neben ihr im Bett lag. Sie würde womöglich ihre beiden Töchter verlieren. Ja, vielleicht erschrak sich Béatrice auch so sehr, dass sie ... Nein! Das durfte nur einTraum sein. Das war sicher nicht so, wie er es gerade fühlte.
Um absolute Klarheit zu haben führte er seine noch nicht so geschickte rechte Hand, die eigentlich seinem Sohn Félix Richard Roland gehörte, zum linken Arm. Es war wirklich wie ein Vollbad. Gut, das kannte er ja schon. Er wollte sich gerade in den Arm kneifen, als eine warme Stimme in seinem Kopf erklang. Es war nicht Temmie, es war nicht Béatrice oder Millie, die ihn rief, sondern diejenige, wegen der er offenbar jetzt da war, wo er war.
Die Schutzwälle in der halbkugelförmigen Umhüllung erbebten und erklangen wie übergroße Klangschalen. Starke Kräfte der Erde rüttelten an der mit den mächtigsten Liedern der Erde und des Wassers besungenen Umschließung. Sie eilten schneller als die Wut der großen Mutter um die große Weltenkugel herum, rüttelten an allen Strängen, aus denen die alten Wege gewoben worden waren und somit auch am Reiseankunftsort, der unter dem Tor der Begrüßung lag. Das Tor gab tiefe und hohe Töne von sich, als es die darauf treffenden Kräfte abwehrte. Irgendwo auf dem mächtigen Leib der Mutter allen Lebens und ewig fruchtbaren hatte etwas die ihr entspringenden Kräfte in Aufruhr versetzt und sie auf eine Reise um die bewohnbare Welt geschickt. In der Halle der Altmeister sorgten die Rückmeldungen der goldenen Diener für kurzzeitige Besorgnis. Denn die machtvollen Schutzschilde in der alles überdeckenden Himmelshalbkugel wurden bis zu zwei Dritteln ihrer eigenen Kraft beansprucht. Sowas durfte eigentlich nicht vorkommen. Hierfür wären mindestens eintausend genau zeitgleich dieselben Lieder der Erde singende Meister der Erde von Nöten. Doch das hatte es bisher nicht gegeben. Irgendwas musste geweckt worden sein, das wiederum etwas noch größeres wachgerufen hatte, etwas, das im tiefen Schlaf gelegen hatte und nun einen wütenden Aufschrei ausstieß. So jedenfalls beschrieben es die dreißig Erdvertrauten, die sich mit Madrashmironda, der höchsten hier vertretenen verbanden, um Ausgangsort und Ursache zu erkunden und zu besprechen. Die Vertrauten der anderen Grundkräfte, aber auch jene des reinen Lichtes und der völligen Dunkelheit lauschten der Beratung. Denn auch ihnen war die Lage neu und daher besorgniserregend. Weil die Unterredung für Menschenbegriffe nur wenige Atemzüge dauerte, obwohl sie für die Altmeister durchaus mehrere Tage andauerte, wussten die Erdvertrauten schon einen halben Tausendsteltag später, was die Ursache für diese gewaltige Wut der großen Mutter war und auch, warum diese Kräfte zwiefach schnell wie gewöhnliches Erdwüten unterwegs waren. Die Erdvertrauten bekundeten, dass nun keine Gefahr mehr bestand. Denn was in der Nähe der Wut der großen Mutter gewesen war, hatte sich völlig aufgebraucht. Beeindruckend war es für die Erdvertrauten jedoch schon.
Als Madrashmironda wieder für sich war ließ sie ihren Blick durch das Gewebe von Gedanken und Empfindungen, Erinnerungen und Träumen gleiten, um den zu erkunden, den sie als ihren neuen lebenden Vertrauten in die Welt zurückgebracht hatte, und was sie erfuhr erstaunte sie. Sie ließ ihren Blick in den Erinnerungen zurückgleiten und erfuhr, wie dies geschehen war und dass ihr aus ihr selbst geborener Vertrauter fast unter der Wucht der aufgewühlten Kraft zerbrochen wäre. Dann war sie erheitert, weil sie die Zusammenhänge erkannte und warum es so war wie es war. Sie war gespannt, wie ihr Schützling damit zurechtkam.
"Madrashmironda, dein aus dir selbst erbrüteter ist ja in Schwierigkeiten, weil du ihn mit deiner ganzn Mutterliebe aufgefüllt hast", lachte Kaliamadra, eine der dunklen Zwillinge. Ihre Schwester Iaighedona legte mit mädchenhafter Betonung nach: "Tja, wird ihm sicher gefallen, wie damals mit dir, Madrashmironda."
"Dann seht es euch genau an, warum das so ist, ihr zwei Nachtanbeterinnen!" sagte Madrashmironda ganz ruhig. Die beiden fern klingenden Stimmen der Zwillinge lachten und spotteten erst einmal weiter. Dann waren sie ganz plötzlich still. Es verging ein gefühlter Tausendsteltag. Dann schnaubte Kaliamadra: "Diese Lichtfolgerin ist immer noch zu mächtig." Madrashmironda konnte dem nicht widersprechen.
"Füge deinem Fleisch keinen Schmerz zu, mein Sohn!" befahl die warme, schon sphärisch klingende Gedankenstimme. Es war Ashtarias Stimme, erkannte er, der gerade meinte, sein ungeborener Sohn zu sein. "Erschrickt die Mutter erwacht dein Sohn, und du wirst unweigerlich den Kräften ausgeliefert sein, die von der wütenden Erde aus schlafendem Licht und einem Samenkorn Dunkelheit entfacht wurden. So halte dich ruhig. Gib dich der Geborgenheit hin, die sie ihm gibt, bis die Wut der Erde verraucht ist und sich die von ihr aufgerüttelten Kräfte wieder beruhigt haben. Vorher darf er, dein Behüter, nicht neu erwachen. Denn dann wird sein aufkeimendes Selbst dich aus seinem Leib verstoßen, und womöglich wirst du dann endgültig über die Weltenbrücke gehen, falls ich dich nicht für alle Zeiten zu mir nehmen soll."
"Dann träume ich das hier gerade nicht, Ashtaria", dachte er so gut er konnte und fühlte seinen Kopf pulsieren. "Nein, du träumst es leider nicht. Irgendeine in der Erde ruhende dunkle Keimzelle und die machtvollen Kräfte der heilenden Erde sind in Streit geraten. Erst wenn dieser Streit vergeht bist du wieder außer Gefahr".
"Wieso, Ashtaria. was genau will mich umbringen?" gedankenfragte der, der gerade nicht er selbst war.
"Ich habe es nur erspürt, weil die Vorboten dich getroffen haben und du und dein Bewahrer am Ort seines Werdens zusammen seid. Du warst schon aus deinem eigenen Körper verstoßen, weil die heilenden Kräfte des Ortes, an dem du bist mit meiner Macht zusammenwirkten und mit der Macht, die auch die Trägerin deines Bewahrers behütet und mit ihm ihr Blut teilt. So konnte ich dir helfen, die todbringende Pein zu fliehen. Fürchte dich nicht. Solange dein Bewahrer schläft, darfst du in seinem werdenden Körper ruhen. Wacht er zu früh auf, kann ich dich nicht in ihm halten, denn auch er wird von der Kraft des Ortes behütet, die alle seines Blutes schützt. Dann bleiben dir nur das andere Ende der Brücke oder mein dich gerne wieder aufnehmender Leib, in dem du dann jedoch für alle Zeiten mit mir über alle meine Kinder wachen musst, auch über den, der gerade im schützenden Schoß der von dir für ihn erwählten Mutter heranwächst."
"Aber wenn Millie aufwacht und ich liege wie tot neben ihr? Dann wird sie sich erschrecken, vielleicht die zwei Mädchen verlieren, die sie selbst trägt. Dann wird sich Béatrice auch erschrecken und ..."
"Ich habe Millie mit meiner Hand berührt. Sie schläft bis morgen früh, weil die in ihr wachsenden Töchter auch von deinem Blut und somit von meiner Kraft erfüllt sind. Womöglich werde ich oder deine Zwillingsschwester zu ihr sprechen, damit sie sich nicht sorgt. Ihr alle genießt den Schutz derer, die die mächtige gemeinsame Anrufung gemacht haben, die das Haus der Familie behütet. Verweile und vertraue, mein Sohn Ashtardaisirian, der du auch der Sohn Madrashmironndas bist! Du wirst ins Leben zurückkehren, so oder so.""
"Im Zweifelsfall von Béatrice wiedergeboren werden", dachte der späte Sohn Ashtarias. Doch dann würde er sicher vorher mit der noch aufkeimenden Seele seines Sohnes verschmolzen, vielleicht alles vergessen, was er bisher erlebt hatte oder ähnlich beschaffen sein wie Demetrius Vettius Grandchapeau oder Rosey Dawn. Ja, und dann mochten sich Millie und Béatrice um ihn streiten, weil er, der eigentliche Kindsvater, ja nicht mehr da war. Aber er kannte Ashtarias Magie ein wenig. Zumindest wusste er, dass sie die Seele eines mit ihr verbundenen aus dem Körper herausholen konnte und sie wieder dorthin zurückversetzen konnte. Also blieb ihm am Ende nur, ihr zu vertrauen und sich um seines Sohnes Willen auch Béatrices Geborgenheit anzuvertrauen. Solange sein Sohn schlief durfte er seinen Körper besitzen. Hieß das also, dass Félix jetzt schlief? Anders konnte er das nicht auslegen. Also musste er aufpassen, dass er nicht zu früh aufwachte. Doch wann war zu früh vorbei? Am Ende musste er doch mit ihm zusammen neu geboren werden. Dann wollte er aber vorher sicherstellen, dass Béatrice auch seine eins, zwei, drei, vierte Mutter sein durfte.
Er fühlte, wie Béatrices Körper in Bewegung geriet. Musste sie sich in eine bequemere Lage drehen? Besser er zog die Beinchen wieder an, dass er möglichst wenig Platz einnahm. Dann empfand er jene Bewegungen, die er von der Zeit bei oder besser in Madrashmironda kannte. Die, die ihn trug stand auf und ging irgendwo hin, vielleicht ... aufs Klo? Oha! Muste er es echt mitbekommen, wie sie machte? Er hatte sie eigentlich gut, ja sehr gut körperlich erkundet. Aber diese Einzelheiten davon wollte er nicht wirklich mitbekommen.
Er bekam mit, dass Béatrice offenbar nicht gleich ins Badezimmer ging, sondern wohl erst wohin, wo sie was zu essen herbekam. Sollte er versuchen, sie anzumentiloquieren? "Beanspruche seinen Kopf nicht, sonst weckst du ihn auf und wirst aus seinem Körper verdrängt!" gedankenzischte Ashtaria ihm zu. Sie überwachte ihn also immer noch. Natürlich tat sie das, denn in Félix steckte ja auch was von ihrer Kraft. So fragte er, warum er nicht bei Mildrid und den beiden kleinen Zwillingsschwestern gelandet war. "Weil ihre Köpfe noch nicht weit genug waren, dein inneres Selbst zu halten und zu hüten, solange sie selbst im Schlaf liegen", war die Antwort. Ja, das hatte eine einleuchtende Logik. Félix hatte vier Wochen Vorsprung vor seinen künftigen Cousinen und Halbschwestern in einem. Oder würde er ihr Adoptivbruder sein, wenn Millie ihn als ihren Sohn einforderte?
Er kannte das schon, wie es für einen Ungeborenen mit weit genug entwickelten Ohren klang, wenn seine Mutter für sich und ihn aß und trank. Daher verwunderte es ihn nicht. um sie möglichst nicht zum Erbrechen zu bringen rollte er sich noch mehr zusammen. So ein Fötus hatte schon sehr biegsame Knochen. Ach neh, die Knochen bildeten sich ja erst nach der Geburt zur vollen Härte aus, hatte er schließlich ganz genau gelernt. Mentiloquieren durfte er also nicht mit ihr. Aber was konnte er tun, ohne den Jungen, dessen unfreiwilliger Untermieter er gerade war, zu wecken? Er konnte seine Mutter anstupsen, behutsam von innen streicheln oder sich in verschiedene Lagen drehen, dass sie merkte, dass was nicht so war wie sonst. Aber sollte er das tun? Am Ende hielt Ashtarias Zauber nur solange vor, solange sie nicht wusste, dass er den gemeinsamen Sohn besetzt hatte wie ein kleiner Dibbuk. Stimmt, über diese körperlosen Dämonen hatte er ja auch genug gelernt und es an ihrem heftigsten Vertreter Otschungu erproben dürfen/müssen. Die konnten auch ungeborene Kinder in Besitz nehmen und in deren Erscheinungsform unerkannt auf die Welt zurückkehren. Doch ein Dibbuk verheizte den Körper, den er übernahm. "Deshalb bist du nur bei ihm, solange er schläft", erklang Ashtarias Gedankenstimme. Dann hörte er noch eine belustigte Frauenstimme sagen: "Das hast du jetzt davon, dass du unbedingt mit zwei Hexen zugleich Kinder haben willst, kleiner Bruder!"
"Ammayamiria?" gedankenfragte er zurück. "Wer sonst. Öhm, die, die dich von Claire geerbt hat und weiterhin gut behütet weiß nur, dass du dich von etwas ganz heftigem erholen musst, was in der Nacht passiert ist. Falls du meinst, ihr oder der, in deren Bauch du gerade ausgelagert wurdest was davon mitzuteilen, denke bitte erst daran, wie das für die beiden rüberkommen könnte!" Ammayamiria klang jetzt wirklich ganz so wie Claire, dachte der, der gerade nicht er selbst war. Dass sie ihn als ihren kleinen Bruder ansprach verstand er sofort. Immerhin hatte Ashtaria Ammayamiria zuerst auf die Welt zurückgebracht, wenn auch nicht als Wesen aus Fleisch und Blut, sondern sozusagen ihre Stellvertreterin, sein und ihrer Familienangehörigen persönlicher Schutzengel.
Er fühlte, dass sich Béatrice wohlfühlte. Er hörte es in ihrem Magen ggluckern und blubbern. Was immer sie da gerade in sich hineingefuttert und getrunken hatte schmeckte ihr offenbar so gut, machte aber auch gleich gewissen Wind. Falls er doch wieder er selbst wurde und nicht durch die kleine Vordertür seiner Schwiegertante an die Luft zurückkehren würde wollte er sie mal fragen, was sie gerade für Essensvorlieben hatte. Dann kam, was er schon befürchtet hatte. Denn wo oben was hineingelassen wurde, musste unten wieder was hinaus. Doch er nahm es hin, auch das mitzubekommen, weil er hoffte, das nur in diesen Minuten oder Stunden zu erleben.
Er bekam mit, wie sie behutsam wieder in einen anderen Raum ging und sich hinlegte. Er hörte das dumpfe Rascheln von etwas, was ihn von oben her überdeckte, sie deckte sich also zu. Sie wollte weiterschlafen. Hoffentlich wurde es für sie kein böses Erwachen, dachte der, der unfreiwillig mitbekam, was in seiner Schwiegertante so vorging.
Konnte er selbst einschlafen? Würde er dann träumen, oder konnte er nur dann selbst einschlafen, wenn sein Sohn wieder aufwachte? Doch dann war es vielleicht zu früh. Er fragte sich jetzt, ob er nur diesen Aufruhr in der Erde mitbekommen und darunter so heftig leiden konnte, dass Ashtaria ihn mal eben umgelagert hatte, weil er ein Erdvertrauter war. Ja, wenn er so heftig drangsaliert wurde, dann galt das doch sicher auch für andere Erdmagieverbundene wie Anthelia/Naaneavargia oder Ullituhilia.
Sie wollte keinen ihrer Abhängigen nehmen, weil die gerade halböffentlich zu tun hatten, um die Fassade der von ihnen geführten Firma unbeschädigt zu halten. Außerdem wollte sie mal wieder einen strammen Burschen ganz und gar genießen, sein junges Leben in sich einsaugen. Deshalb war sie am Abend in Johannesburg auf Beutezug gegangen. Ein Tourist aus Argentinien hatte ihr sehr behagt, und so hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihm ein sehr erregendes nachträgliches Weihnachtsgeschenk machen wollte. Hierfür waren sie in die kleine aber gut gepflegte Absteige gegangen, um sich in einem der schalldichten Zimmer mit großem breiten Bett so richtig auszutoben. Dass der junge Bursche namens Rodrigo heute seine letzte Nacht aller Nächte erleben würde wollte sie dem nicht erzählen. Dann hatte sie erst so getan, als wenn er sie erobern und in Besitz nehmen würde. Doch nach einigen wilden Minuten hatte sie den Spieß umgedreht und ihm klargemacht, wer die wahre Königin der freien Liebe war. Sie genoss es, wie er ihr von sich aus immer mehr von sich gab, sie immer mehr seiner jungen Lebenskraft in sich aufnehmen konnte. Doch bevor der Punkt erreicht war, an dem er unwiederbringlich ihr allein gehörte, überkam sie etwas, dass sie nur mit wild lodernden Wellen beschreiben konnte.
Sie meinte, ein wildes Schwirren und dumpfes Donnern zu hören, das direkt aus der Erde zu kommen schien. Sie erbebte, aber nicht vor wonnevoller Erregung, sondern von immer mehr in sie einschießenden Gewalten aus dem Schoß der Erde, der sie verbunden war. Doch jeder Kraftstoß schwächte sie mehr und mehr. Sie fühlte, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Sie sah, wie die Welt um sie herum immer dunstiger wurde. Nur die grellen Blitze der nur für Wesen wie sie sichtbaren Erdmagie durchdrangen diesen Nebel. Sie fühlte, wie immer mehr ihrer Kraft aus ihr hinausgefegt wurde. Wenn sie nichts dagegen machte würde sie gleich zu einer leblosen Hülle, einem starren Standbild von sich selbst. Nein, so durfte es nicht bleiben. Sie musste hier weg. Eine weitere lodernde Welle aus unbändiger Erdmagie jagte durch sie hindurch. Sie fühlte, dass ihr Körper ihr nicht mehr gehorchte. Sie bekam Angst, panische Angst, hier und jetzt zu erstarren. Sie wollte nur noch in ihre Schlafhöhle zurück, in ihren schützenden, nährenden Lebenskrug. Sie hörte schon die nächste Kraftwelle heranjagen, als sie mit ganzer Anstrengung ihres verbliebenen Willens den Sprung auslöste.
In der Gringottshauptzentrale in London schepperten und tröteten Gefahrenwarnvorrichtungen los. Fallgitter schossen in den Gängen herab. die Schienenbahnen verhielten da, wo sie gerade waren und rührten sich nicht mehr. Gleichzeitig rauschten an mehreren Stellen magische Wasserfälle nieder, die eigentlich nur zum Abwaschen von Verkleidungen oder Körperverwandlungen dienten. Aus den Wänden schlugen in unregelmäßigen Abständen grüne Flammen. Alle auf die Abwehr unbefugter Eindringlinge ausgelegten Zauber traten in Tätigkeit. Doch die, welche Gringotts betreuten, bekamen nicht viel davon mit. Als es über die Nachtwache hereinbrach fielen die ersten gleich nach der ersten durch den Boden jagenden Kraftwelle um wie gefällte Bäume. Viele von ihnen wurden nur bewusstlos. Doch einigen hier und auch anderswo ereilte das Schicksal. Denn die Erdzauberkräfte ließen Gringotts in seinen Grundfesten erbeben. So gerieten etliche Behälter mit Weihesteinen, die im Raum 007 gelagert wurden ins rutschen und fielen aus großer Höhe herunter. Zwar waren die Behälter als solche bruchsicher. Doch die darin gelagerten Steine wurden von den auftreffenden Erdmagieentladungen zersprengt. Die an sie gebundenen Kobolde, egal wo auf der Welt sie gerade waren, alterten innerhalb einer halben Minute um über zweihundert Jahre und fielen tot um oder zerbarsten in grünen Rauchwolken. Besonders gefährlich war es für jene, die diesen grünen Qualm in die Atemwege bekamen. Sie erlitten schwere bis tödliche Erstickungsanfälle, denn der grüne Qualm war der pure Lebensraub für Kobolde.
Immer wieder plärrte eine magische Stimme: "Mitarbeiter am Boden! Mitarbeiter am Boden!" Dann versagte auch diese Vorrichtung unter einer Streuentladung. Die großen Tore, die eh schon für den Publikumsverkehr geschlossen waren, erbebten einmal. Dann blieben sie fest verschlossen.
Dies ereignete sich nicht nur in der Hauptzentrale in London, sondern an jeder Gringottszweigstelle in ganz Europa und Nordafrika. Die zeitgleich mit den unbändigen Erdzauberkräften eintreffenden Meldungen vom Ausfall von Gringotts Sydney, Neudheli, Singapur und Hongkong blieben ungehört. In Frankfurt, Zürich, Wien, Rom, Bern und Paris fielen Personal und Betriebszauber aus. Überall wo Kobolde standen oder lagen ereilte sie die Überlastung. Wessen Weihesteine nicht zu nahe an den Regalrändern von Gringotts London aufbewahrt worden waren kamen mit einer vorübergehenden Besinnungslosigkeit davon. Doch die ältesten Kobolde überstanden die Überbelastung auch nicht. Ihre Herzen oder Gehirne setzten mit einem mal aus und blieben für immer untätig.
Als der deutsche Zwergenkönig Gaorin Steinstampfer gerade mit seiner neuesten Gespielin die nächste Runde wilder Wollust erleben wollte traf es ihn wie ein Blitzschlag von unten durch die Eingeweide. Die junge Zwergin, die sich mit der Vorstellung, die Bettgenossin des Königs sein zu dürfen, über die ganzen Demütigungen der letzten Stunden hinweggetröstet hatte, erstarrte und verlor die Besinnung. Der König aber bekam einen Herzanfall. Da keiner seiner Untertanen in diesen Sekunden fähig war, irgendwas zu unternehmen, konnte ihm auch niemand helfen. So tat er mit lautem Röcheln seine letzten drei Atemzüge und hinterließ damit eine Leere der Macht, die nicht ohne Kampf ausgefüllt werden mochte. Sein Tod wurde von tief klingenden Tönen verkündet, die durch alle Gänge, Stollen und Schächte hallten und in alle Hallen, Säle und Kammern drangen. Alle im unterirdischen Reich der deutschen Schwarzalben wussten nun, dass ihr König tot war. Doch die wilden Wellen unbekannter Erdkräfte hielten sie davon ab, darauf zu reagieren.
Trolle in den Bergen und Wäldern Nordeuropas wurden erst von unbändiger Begierde erfüllt, um dann vor Überlastung umzufallen. Nur ihre Artverwandten, die See und Meerestrolle überstanden den durch die Erde brandenden Sturm aus ungerichteten aber unbändig starken Zaubern. Sie bekamen nur mit, dass irgendwas lästiges im Boden war, das wild schwirrte und wummerte.
Überall dort, wo der Erdmagie verbundene Wesen wohnten, ereigneten sich solche Vorfälle. Die einzige Ausnahme war Millemerveilles. Die dort tätigen Kobolde, die sich immer mal wieder darüber beklagten, dass sie nicht innerhalb von Millemerveilles durch die feste Erde reisen konnten, hörten ein mehrstimmiges Summen im Boden und fühlten ein sachtes Vibrieren. Zwei Kobolde, die gerade losgelaufen waren, um außerhalb des neu gesicherten Dorfes den Weg durch die Erde zu nehmen, sahen farbige Blitze und dunkle Schemen, die direkt unter der Erdoberfläche entlanghuschten, jedoch an der Grenze der neuen Zauberkuppel abprallten und in andere Richtung davonwirbelten. Sie erkannten, dass sie innerhalb der neuen Grenzabsicherung ungefährdet waren. Sie warteten ab, bis die den ganzen Erdkörper durchlaufenden Kraftentladungen verebbten. Dann lief einer los, den befohlenen Botengang zu machen, während der zweite so schnell er auf der Oberfläche laufen konnte in Richtung Gringottszweigstelle zurückrannte um das gesehene weiterzumelden.
Zweigstellenleiter Pierroche musste aus dem Bett geholt werden, da keine Warnvorrichtung in der Zweigstelle angeschlagen hatte. Das für mehrere Atemzüge aus dem Boden klingende Summen hatte nicht ausgereicht, den Zweigstellenleiter aufzurütteln. Als dieser dann erfuhr, dass offenbar ein Sturm unter der Erde um Millemerveilles herumgewütet hatte, jedoch nicht in den neuen Schutzbereich eindringen konnte, versuchte er die französische Hauptzentrale in Paris oder gleich die weltweite Hauptzentrale in London anzuläuten. Hierzu benutzten sie koboldgearbeitete Bronzeglocken ohne Klöppel, die in mit besonderen Zeichen beschriebenen Halterungen befestigt waren. Sieben Glocken unterschiedlicher Größe konnten in bestimmter Reihenfolge gespielt werden wie bei einem gewöhnlichen Musikstück. Pierroche nahm den mit Gravuren verzierten Silberhammer und schlug damit den für den Ruf nach Paris vorgesehenen Glockencode. Er hoffte, dass der Aufruhr in der Erde wirklich vorbei war und die besonderen Schallwellen ihren Weg fanden. Natürlich schliefen die meisten in Paris arbeitenden Kobolde. Doch zwei Wächter mussten bereitsitzen, um die Sicherheitsvorkehrungen zu überwachen und auf mögliche Glockenzeichen zu warten. Pierroche wiederholte die Rufreihenfolge für Paris. Doch es kam keine Antwort.
"Also, entweder hat dieser Sturm unter der Haut der Erde alle Verbindungen aufgelöst, oder dieser neue Schutzzauber, der uns vom Erddurchqueren innerhalb des Ortes abhält behindert jetzt auch unsere Rufglocken. Falls das zweite zutrifft sollen die von Millemerveilles uns gnädigerweise andere Schnellrufmittel geben. Bis dahin sollen unsere schnellsten Erdreisenden nach Paris und vor Ort nachfragen, was los ist." So geschah es dann auch.
Zeitgleich mit der Warnung, dass Außenstellen in Indien, Singapur und dem früheren Ceylon ausgefallen waren kam der Sturm der Erdmagie über sie alle, die sie in den tiefen, für Menschen unzugänglichen Höhlen saßen. Die Hauptleitstelle des Bundes der zehntausend Augen erzitterte unter den erdmagischen Turbulenzen. Grüne, rote, silberne und blaue Blitze fegten durch die Wände oder schlugen mit lautem, hohlen Knall von Wand zu Wand über. Die hundert mit Rundsichtbrillen ausgestatteten Kobolde schrien auf, als die ungerichteten, unbändigen Erdzauberkräfte wie glühende Speere in sie eindrangen und sie vollständig durchfluteten. In den ersten zwei Sekunden fielen die schwächsten von ihnen zu Boden, wo sie noch mehr der durch Wände, Decke und steinernem Boden jagenden Erdmagieentladungen ausgeliefert waren.
Turnlook, der Herr der zehntausend Augen, saß in seinem Schwebesessel, mit dem er mühelos alle zehn Ebenen der Überwachungsstelle erreichen konnte. Deshalb bekam er die ersten Wellen auch nicht zu spüren. Der Herr des Bundes der zehntausend Augen sah jedoch durch seine Rundsichtbrille, wie die von ihm eingesetzten Wachposten auf den britischen Inseln und Festlandeuropa unter den übermächtigen Entladungen litten. Er sah den nur wenige Schritte von ihm entfernten Wizrock, der gerade eine Verbindung mit dem Stoßtrupp bei Birmingham suchte, wie er unter einer grünen Lichtentladung aufglühte. Dann knallte es, und von Wizrock war nur noch grauer Staub und grüner Qualm übrig. Turnlook wusste, was das hieß. Wizrocks Weihestein war von einer feindlichen Kraft überladen oder gleich zerstört worden. Dann geriet sein Schwebesessel ins Schlingern. Denn die ihm innewohnende Magie, die auf Abstoßung vom Erdboden beruhte, wurde vom Aufruhr unter der Erde übersteuert, ja regelrecht ausgebrannt. Der Sessel stürzte aus zwanzig Koboldlängen Höhe ab. Turnlook überschlug sich, bevor er mit dem weißhaarigen Kopf auf den Boden krachte. Eine blaue Lichtentladung setzte seinem 400 Jahre dauernden Leben ein unwürdiges Ende.
Wild tröteten die Warnhörner. Doch jene, die sie warnen sollten, konnten sich nicht retten. Die unterirdischen Höhlen, randvoll mit Schutzzaubern der Kobolde, erbebten und entluden ihre Kräfte. Wer das Unglück hatte, in eine der Überschlagentladungen hineinzugeraten verbrannte sofort oder erstarrte für zwei Sekunden zu grauem Gestein, das dann laut prasselnd zu Sand zerrann. Nur ganz wenige der hohen Wächter überstanden das unterirdische Ungemach. Doch dann stand fest, dass die über die Eisenweiselinien der Erde verknüpften Brillen nicht mehr nutzbar waren. Somit waren die wenigen Überlebenden von der Außenwelt abgeschnitten. Die zehntausend Augen waren auf einen Schlag erblindet. Außerdem war der Herr des Bundes unter den Toten. Sein Stellvertreter Wizrock war gar restlos zerfallen. Somit fehlte ihnen die klare Führung. So versuchte erst einmal jeder für sich selbst zu klären, was sie da so unvorhergesagt heimgesucht hatte. Dabei fanden sie unabhängig voneinander heraus, dass das weltweite Ruf- und Nachrichtennetz der Kobolde Schaden genommen hatte. Wie groß dieser war musste nun untersucht werden.
Sie hatte es geschafft! Sie hatte ihr Höhlenversteck erreicht. Doch sie konnte sich immer noch nicht bewegen. Diese fremde Kraft in der Erde hatte sie vollständig gelähmt, ja fast schon zu Stein werden lassen. Ihr wurde mit dem seltenen Gefühl von Grauen bewusst, dass sie genau dieses Schicksal ereilt hätte, wenn sie nur noch einen Atemzug länger gezögert hätte. Doch wie konnte sie die Lähmung abschütteln? Da fiel ihr ein, dass sie sich ja noch in Bodennebel verwandeln konnte. Das tat sie dann auch. Doch es war, als wolle die Erde sie einsaugen, sie verschlucken. Doch mit der letzten Anstrengung schaffte sie es, zu ihrem Lebenskrug hinzukriechen, daran hinaufzuwabern und dann über dessen Rand hineinzusickern. Kaum hatte sie Kontakt mit der orangeroten Essenz aufgelöster Leben nahm sie wieder feste Gestalt an. Sie sank bis auf den Grund des Kruges. Doch die in ihm gelagerten Leben gaben ihr die nötige Kraft. Es dauerte zwar zwanzig tiefe Atemzüge und zehn tiefe Schlucke der eingespeicherten Lebenskraft. Dann hatte sie ihre alte Beweglichkeit wieder. Trotz dieser befreienden Labung an geraubter und hier eingelagerter Lebenskraft fühlte sie immer noch eine starke Beklemmung. Jemand oder etwas hatte eine Menge Erdmagie freigesetzt, die geeignet war, sie zu lähmen oder gar zu vernichten. Doch das war sicher keiner der beiden, die sie kannte. Sowas konnte einer alleine nicht machen. Außerdem fragte sie sich, ob jemand einen solchen Aufwand treiben würde, um nur sie zu bekämpfen. Allerdings fragte sie sich auch, ob sie hier in ihrer Höhle oder gar in ihrem Lebenskrug völlig sicher war. Sicher, die allermeisten gegen sie anwendbaren Zauber flossen außen ab oder wirkten in der Höhle nur eingeschränkt, solange diese verschlossen war. Doch sie wusste von Ilithula und Hallitti, dass die geballte Macht der verächtlichen Mutterschwester Ilithulas Höhle hatte aufbrechen können. Doch das, was sie da fast erledigt hatte war nicht von der Verächtlichen oder ihren ihr hündisch hörigen Kindern gekommen, selbst wenn die zusammen sicher eine Menge Verdruss bringen konnten. Das war reinste Erdmagie, solche von der Art, die reinigen und peinigen, aber auch Bedrohungen zurückschlagen konnte. Das war auch keine gerichtete Erdzauberei wie von den Vorfahren ihrer mächtigen Mutter. Das konnte womöglich eine über viele Dutzend Atemzüge zu rufende Beschwörung urwüchsiger Völker gewesen sein, etwas, um sowas wie sie es war auf Abstand zu halten. Sie dachte an die Trommler in Afrika, die versucht hatten, sie zu ihrer Sklavin zu machen. Denen konnte sie beikommen, weil sie schnell genug gewesen war. Ja, und sich von solchen rückständigen bezwingen zu lassen war nicht zu erlauben. Sie musste herausfinden, was es war und von wo es herkam. Doch in dieser Nacht brauchte sie Erholung. Rodrigo mochte am nächsten Morgen geschwächt aufwachen und die Nacht mit ihr für einen wilden Traum halten. Falls er doch behauptete, eine überragend schöne Frau auf sein Lager gelockt zu haben und die dann erst wild zuckend und bebend bei ihm gelegen hatte und dann kurz vor der Erstarrung verschwunden war, konnte er von Glück reden, wenn ihn diese kurzlebigen Zauberstockschwinger die Erinnerungen nahmen. Die andere Möglichkeit war, ihn in ein Verwahrhaus für unheilbar irrsinnige zu sperren. Da wäre der zumindest vor ihr und anderen Gefühls- und Gedankenspürern sicher.
Ullituhilia lauschte noch, ob eine ihrer nun alle wieder wachen Schwestern gerade was mitteilen wollte. Doch keine der Wiedererwachten regte sich. Vielleicht konnten sie bald ihre gemeinsame Mutter aus der ständigen Verkörperung einer roten Riesenameise herauslocken. Denn auch das war ihr unheimlich, wie viele dieser Mensch-Kerbtier-Mischformen sie schon erbrütet hatte. Wollte sie irgendwann mal damit aufhören? Falls nicht, was dann?
Anthelia fühlte es, dass etwas heranjagte. Es kam aus dem Osten. Sie stand gerade an der Grundstücksgrenze zu dem von Tyche Lennox geerbten und zu ihrem Hauptquartier ausgebauten Haus. Sie blickte nach osten und zur Erde. Denn sie erkannte, dass was immer es war mit den Kräften der großen Mutter verbunden war. Dann sah sie in der Ferne die zuckenden Blitze im Boden und erkannte, dass da eine ungerichtete Entladung von Erdzaubern anrollte. Sie apparierte schnell im Haus selbst. Dieses war durch das Lied der starken Mutter Erde gegen wirklich jede Erdzauberkraft abgeschirmt. Zwar konnte sie so auch nicht mehr so genau erfassen, wenn anderswo Erdmagie freigesetzt wurde. Doch dafür hatte sie eine schier unangreifbare Wohnstatt und Versammlungsstätte, was die neueren Hexen Hauptquartier oder Basis zu nennen pflegten.
Es summte mehrstimmig. Dazu grummelte es wie aus weiter Ferne klingender Donner. Doch mehr geschah nicht. Anthelia/Naaneavargia benutzte ihren eingeübten Spürsinn für magische Vorgänge in der Erde und erfasste so, dass ihr Schutzzauber gerade gegen Wogen aus starker, aber zielloser Magie bestehen musste. Er spiegelte die direkten Anstürme, brach die auf ihn prallenden Wellen und zerstreute gebündelte Kräfte, die gegen ihn wirken sollten. Es dauerte einige Sekunden. Dann war es vorbei. Die höchste der Spinnenschwestern wartete noch eine halbe Minute. Dann verließ sie ihr Haus noch einmal. Sie prüfte außerhalb des Grundstücks mit dem Zauber, der die Erde verratenließ, was hier gerade passiert war. Tatsächlich hatte eine Wellenfront ungerichteter Erdzauber die ihr bekannten Stränge natürlicher Erdmagie wie die Saiten einer erdteilgroßen Laute angezupft, aber nicht in einem harmonischen Akkord, sondern wild durcheinander. Ja, sie fühlte noch das leichte Zittern, weil die fremden Kräfte immer noch dahinjagten. Wenn die um die ganze Erde jagten ...
Anthelia holte schnell zwölf kleine Steine aus dem Haus, die sie für genaue Erfassungen von Erdzaubern vorbereitet hatte. Sie legte sie nach einem bestimmten Muster aus, immer darauf lauschend, ob neue Erdzauberwellen durch den Boden herankamen. Dass dies passieren würde hielt sie für sicher.
Sie war gerade mit den Vorbereitungen fertig, da hörte sie an den sich verändernden Strängen der Erde, dass wahrhaftig eine zweite Wellenfront herankam, dem Richtungsspürsinn nach aus dem Südwesten. Schnell apparierte sie wieder in ihrem Haus. Da waren sie auch schon da, die neuen Kraftwellen. Wider summte es nur für ihren Erdzauberspürsinn vernehmbar. Der Ton verschob sich mehrmals um eine Winzigkeit nach unten oder oben, schwoll kurz an oder verklang fast, um dann mit einem kurzen Wummern anzuschwellen. Sie hörte die Reaktionen der zwölf besonderen Steine. Sie mussten offenbar eine Menge Erdzauberkraft verdauen. Zweimal knallte es laut. Sie vermutete, dass zwei der zwölf Steine die Belastung nicht ausgehalten hatten. Dann verklang das tiefe Summen des Schutzzaubers endgültig.
"Zwischen der von osten kommenden Wellenfront und der vom Westen um die acht Minuten. Das hilft bei der Eingrenzung des Ursprungsortes", notierte sie sich. Da sie neben Julius Latierre die einzige war, die mit den alten Zaubern Altaxarrois vertraut war lag es an ihr, diesem Vorgang nachzugehen. Julius würde sicher in seinem pausbäckigen Apfelhaus genauso handeln. Immerhin würde er dort genauso sicher sein wie sie hier, womöglich sogar noch mehr, weil er ja mit mehreren zusammengewirkt und die Kraft einer transvitalen Entität genutzt hatte, die wiederum hunderte von Bäumen mit ihrer Kraft erfüllt hatte.
Anthelia verließ nach einer weiteren Minute wieder das Haus und prüfte die ausgelegten Steine. Tatsächlich waren die zwei Steine von Südwest und Westsüdwest zerstört worden. Die anderen glühten wie frisch ausgespiene Lava, waren jedoch noch fest. Die Befragung der Steine ergab, dass sie die von den alten Erdmeistern als Wehr der unerwünschten Kinder der großen Mutter zu Spüren bekommen hatten, allerdings nicht gegen ein bestimmtes Ziel gerichtet, sondern wie Blitze in einem Gewittersturm. Vor allem jagten die Wellen mit dem zweifachen der in festem Gestein möglichen Ausbreitungsgeschwindigkeit dahin, was nur bei reiner Erdmagie möglich war. Doch wer hatte sie wo freigesetzt. Oder war es nicht beabsichtigt gewesen, sie freizusetzen? Immerhin konnte sowas auch durch Goorwurrulon Madrashai, der großen Wut der Mutter Erde entfesselt worden sein. Ja, vielleicht hatte es irgendwo auf dieser nährenden Weltkugel ein schweres Beben gegeben, das in der Nähe einer Quelle für Erdzauber losgebrochen war. Das galt es zu klären. Vielleicht war dies der Vorbote eines neuen Gegenstoßes, eines neu erwachenden Feindes. Denn ihr war klar, dass die dunkle Welle vom April des letzten Jahres noch andere verspätete Unholde wie die Skyllianri oder den dunklen Wächter aufgeweckt oder aus ihrem Gefängnis befreit haben mochte. Auch und vor allem jetzt, wo hier in den Staaten ein offener Machtkampf innerhalb des Zaubereiministeriums bevorstand und auch wegen Ladonna Montefiori musste sie zusehen, dass sie solchen Gegnern früh genug Einhalt gebot, damit sie nicht übermächtig wurden. Womöglich musste sie deshalb noch einmal mit Julius Latierre reden. Wenn er sich schon von Madrashmironda, Naaneavargias Vatermutter, hatte bekehren lassen, ihr Lehrling zu werden, dann hatte er gefälligst auch alle damit einhergehenden Erbverantwortungen aus dem alten Reich zu tragen, ob seine Angetraute jetzt schon wieder von ihm schwanger war oder nicht. Doch solange sie keine direkte Bedrohung erkannte wollte sie ihm sein Stückchen heile Welt gönnen, vorausgesetzt, er ließ sich nicht darauf ein, ihr nach Freiheit oder Leben zu trachten. Nein, der wusste, dass sie nicht getötet werden durfte. Außerdem war er in gewisserweise beruhigt, dass da noch wer war, die nicht mit jenen Skrupeln beladen war wie die, die die Lichtfolger aus Altaxarroi ihm aufgeladen hatten. Na ja, immerhin hatte ihr diese Zuwendung zu den Lichtfolgern ja schon zweimal einen wertvollen Dienst erwiesen. Also sollte sie nicht darüber spotten oder klagen.
Welche zwei sich bekämpfenden Kräfte waren da entfesselt worden? Diese Frage stellte sich der, der gerade nicht er selbst war, während die, die seinen Sohn trug ruig atmend in ihrem Bett lag. Merkwürdigerweise fühlte er keine Müdigkeit. Er hoffte nur, dass er keine Platzangst bekommen konnte. Denn das einzige Mal, wo er meinte, wahrhaftig die letzten Monate bis zur Geburt miterlebt zu haben hatte ihn nur Madrashmirondas Illusion, er sei nur noch ihr in Liebe und Hoffnung erwarteter Sohn, vor Klaustrophobie bewahrt. So wie ihm jetzt mochte es allen bisher bekannten Daisirin ergangen sein. Nur hatten die meisten von denen wohl Kontakt mit ihren zweiten oder dritten Müttern aufnehmen dürfen. Er sollte sich das überlegen, ob er mit Béatrice auf irgendeine Weise Kontakt aufnahm. Die konnte darüber so sehr bestürzt sein, dass sie ihr Kind, also ihn verlor. Dann würde er garantiert von Ashtaria abgefangen, bevor er in welches Totenreich auch immer hinüberwechseln würde. Doch die Blutlinie würde dann auch nicht fortbestehen oder besser neu begründet. Das würde er sich dann eine ganze Ewigkeit lang anhören dürfen.
Es war ein höchst verstörender Anblick. Mehrere hundert Bäume waren entwurzelt worden und hatten sich zwischen den noch sicher stehenden Urwaldriesen verkeilt. Die Reste der Flutwelle waren gurgelnd und plätschernd in alle Richtungen abgeflossen. Was sie dabei an Dingen oder Tieren mitgerissen hatten trieb nun tot und/oder unkenntlich zerstört im offenen Ozean. Simon Hellersdorf und seine Frau bibberten, weil ihre Kleidung total durchnässt war. Die zwei verbliebenen Ranger beobachteten mit Ferngläsern die Umgebung. Sobald ein Schiff oder Flugzeug zu sehen sein würde wollten sie Rote Leuchtkugeln in den Himmel schießen.
Als das Wasser bis auf einige Tümpel und Gräben abgeflossen war sah Simon, wie sich der Ranger Mulong konzentrierte. Er wollte ihn nicht fragen, worauf. Er selbst lauschte. Langsam kehrte die übliche Meeresbrandung zurück. Die erste Hauptwucht des Seebebens war also überstanden. Doch die Ranger hatten vor einer möglichen zweiten Welle gewarnt. Würde die sich auch mit einem Rückzug des Meeres ankündigen? Dann hörten sie die Laute von aufgebrachten Tieren, vor allem Affenund Vögeln. Irgendwie klang es so, dass die gebeutelten Urwaldbewohner ihr altes Revier zurückerobern wollten. Simon dachte daran, dass sie womöglich von gestressten Affen belästigt werden mochten oder gar von Schlangen, die diesen Baum als Zuflucht nutzen mochten.
Ein leises, gleichmäßiges Plätschern aus dem Westen brachte Renée Hellersdorf darauf, in diese Richtung zu sehen. "Simon, das goldene Mädchen hat überlebt!" rief sie. Simon sah schnell in die Richtung in die seine Frau deutete und staunte. Er hatte gedacht, dass alle vier auf der Insel lebenden Tiger bei der Flutwelle gestorben waren. Doch nun sah er das größte Weibchen durch den entstandenen Salzwassergraben zwischen den Bäumen hindurchschwimmen und genau auf den Hügel zuhalten, auf dem die schützenden Bäume standen. Dann sah er noch eines der Weibchen durch die kleinen Tümpel schwimmen und behände auf die schlammigen Stellen überwechseln. Also waren noch zwei Tiger am Leben. Mulong blickte sich um und lächelte. "Die beiden sind auf Bäumen gewesen. Wenn Tiger in Gefahr sind können sie auch auf Bäume hochklettern", sagte er. Renée erschrak über diese Auskunft, und Simon, gerade noch froh, dass mindestens zwei der Großkatzen überlebt hatten, machte sich gewisse Sorgen. Sicher, Tiger konnten schwimmen. Warum sollten sie nicht auch wie kleinere Katzen auf Bäume klettern, wenn sie es mussten? Aber dann bestand die Möglichkeit, dass die zwei Tigerweibchen bei einem weiteren Tsunami ausgerechnet auf den Baum steigen wollten, auf dem die vier Menschen saßen. Das wäre ein schwer zu lösender Interessenskonflikt. Das erkannte wohl auch Nujang. Denn der Chef der stark dezimierten Rangergruppe nahm seinen Rucksack und zog eine Ledertasche hervor. Mulong sprach erregt auf ihn ein. Doch Nujang schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Renée Hellersdorf wandte sich ihrem Mann zu und wisperte: "Was machen wir, wenn die zwei zu uns hochklettern?"
"Ich fürchte, wir können da nichts machen, Renée", seufzte Simon. Dann sah er, wie Nujang aus der Ledertasche die Teile eines Gewehrs hervorholte und anfing, sie zusammenzusetzen. Mulong wollte wohl nicht, dass sein Chef die Waffe klarmachte. Doch Nujang widersprach ihm wohl. Dann sagte er zu den beiden Schutzbefohlenen: "Sollte einer der Tiger zu uns hochklettern wollen werde ich ihn wohl erschießen müssen. Mein Kamerad hat diese beiden förmlich zu uns hingerufen", sagte Nujang sichtlich verärgert. Renée und Simon verstanden sofort. Mulong, der Schamane, hatte auf eine telepathische Art mit den beiden Tigerinnen kommuniziert und ihnen eingegeben, auf diesen Hügel zu kommen. Doch wenn die jetzt auch noch auf diesen Baum hochkletterten ...
Der Baum erbebte. War das ein Nachbeben? Simon sah sofort zum Meer hin. Die Brandung stockte einen Moment. Dann begann das Meer, sich erneut zurückzuziehen. Die nächste Flutwelle war unterwegs.
"Simon, was ist das?!" hörte er seine Frau aufschreien. Dann sah er es selbst. Der Boden sackte langsam aber sicher in sich zusammen. Da, wo vorher noch kleine Tümpel waren, gähnten unerkennbar tiefe Schlammlöcher. Dann begannen alle Bäume des Hügels zu schwanken, obwohl die nächste Welle noch viele Kilometer entfernt sein musste. Mulong legte seine Hände an den Ast, auf dem sie bisher ausgeharrt hatten und summte eine merkwürdige Melodie. Dann schrak er hoch und sprach wild gestikulierend auf Nujang ein. Dieser war noch damit beschäftigt, sein kurzläufiges Gewehr zusammenzubauen. Simon blickte sich schnell nach den beiden Tigerinnen um. Diese machten gerade kehrt und schwammen auf eine Gruppe anderer höherer Bäume zu. Simon wollte gerade fragen, was los war, als er es selbst sah, und da bekam auch er einen gewaltigen Schrecken.
Der Hügel, auf dem auch der Baum stand, auf dem sie sich gerettet hatten, sackte langsam aber unübersehbar in sich zusammen. Er konnte nur noch zusehen, wie der Boden an vielen Stellen einbrach, wie die verbliebenen Wassermengen in immer weiter aufklaffende Spalten hineinstürzten und wie die ersten Bäume ins Wanken gerieten, jene, die auf der Höhe wuchsen, bis zu der die vernichtende Flutwelle gereicht hatte. Der obere Teil des Hügels dellte sich dabei immer mehr ein, rutschte Stück für Stück immer weiter nach unten. Es war, als wenn eine prall aufgeblasene Luftmatratze durch ein immer weiter aufgehendes Leck ihre Luft verlor. Jetzt wurde dem Raketeningenieur Simon Hellersdorf klar, was geschehen war.
Das Erdbeben hatte die ganze Insel instabil gemacht. Tiefe Spalten und Verwerfungen hatten das Gestein und das Erdreich darüber so sehr gelockert, dass es wie Flusssand oder Kies beschaffen war. Auch mussten unterirdische Hohlräume entstanden sein, die das auf ihnen lastende Gewicht nicht mehr aushielten. Als dann die Flutwelle über die Insel hinweggewalzt war hatten die Millionen Tonnen Meerwasser den instabilen Untergrund noch weiter gelockert, hatten loses Gestein und Erdreich weggespült oder gegen andere, gerade noch haltbare Steine geschmettert und auch diese gelockert. Auch mussten die Fluten in die neuen Hohlräume eingedrungen sein und hatten sie vergrößert, bevor sie wieder abflossen. Der Hügel, auf dem der Trümmerhaufen eines von Menschen gebauten Turms lag, hielt das Gewicht der auf ihm stehenden Bäume nicht mehr aus, weil sein unteres Drittel zu nachgiebigem Zeug zermahlen und von Wasser durchtränkt worden war. Das untere rutschte zur Seite weg, weil das obere darauf drückte. Dann waren da sicher noch die Hohlräume unter dem Hügel, die einstürzten. Das, was sie vier für rettendes Land gehalten hatten, war in Wirklichkeit eine tückische Todesfalle. Lohnte es sich jetzt, wo die zweite Welle sich ankündigte noch, von hier zu fliehen?
"Simon, was passiert da?!" schrie seine Frau. Nujang begriff nun auch, was erst Mulong durch seine auf übernatürliches geschulten Sinne erfasst und Simon durch seine Kenntnisse von Statik und Belastbarkeit durchdrungen hatte. "Der Boden gibt nach", sagte der Anführer der auf nur noch zwei Ranger geschrumpften Truppe. "Wenn sie Allah gnädigstimmen wollen rufen Sie ihn an und bitten Sie ihn um die Errettung ihrer Seele!"
"Was soll das bringen?" fragte Simon, der kein gottesfürchtiger Mensch mehr war, nachdem er allem entsagt hatte, was er als "Ausdruck menschlicher Hilflosigkeit im Angesicht der ihn übersteigenden Größe von Raum und Zeit" eingestuft hatte. Seine Frau sah ihn an und keifte wohl in aufkommender Panik: "Das ist deine Schuld, Simon. Du hast mich auf diese Reise in die Wildnis mitgenommen, weil du von diesen Leuten nicht gefunden werden wolltest. Du hast mich dazu getrieben, auf Weihnachten mit der Familie zu verzichten. Deshalb ist der Herr erzürnt und wird uns strafen."
"Wenn Sie noch den wahren Glauben annehmen wollen, dann sprechen Sie mir die Worte des Propheten nach! Dann wird Allah Sie sicher vor den Schrecken der Hölle bewahren oder zumindest in seiner Erhabenheit befinden, Sie dort nicht zu lange leiden zu lassen", sprach Nujang auf seine Schützlinge ein.
"Mohammed war ein Ketzer, der die Lehren des Christentums verleugnet hat, nur um seine eigene Machtsucht zu befriedigen, König aller Stämme zu sein", entgegnete Renée wütend. "Ich werde nicht in der Stunde meines Todes diesen arabischen Irrlehrer akzeptieren." Wie als göttliche Zustimmung brachmit lautem Rumpeln ein Teil der östlichen Hügelflanke in sich zusammen. Alle darauf gerade noch stehenden Bäume kippten um wie aufgestellte Dominosteine. Nujang erschrak. Mulong begann einen für die Hellersdorfs fremdartigen Singsang anzustimmen. Womöglich rief er die Geister und Götter an, an die er zu glauben gelernt hatte. Simon ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, er könne dieser unentrinnbaren Gefahr durch einen konzentrierten Wunsch entkommen, wie einer der Teleporter aus seiner Lieblingsserie seiner Jugendzeit, der sich auf diese Weise vor einer ihn anspringenden Raubkatze gerettet hatte. Aber wenn er das echt schaffte war klar, von wem seine Tochter diese allen christlichen Vorstellungen und Naturwissenschaften zugleich widersprechende Gabe abbekommen hatte. Wollte er dann damit leben, Gott und der Physik zugleich ein Schnippchen geschlagen zu haben? Er sah seine Frau an, die gerade inbrünstig zu beten begann: "Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden. Der Herr ist mit dir ..." Ebenso begann Nujang auf Arabisch zu beten, während Mulong einen auf seine Art schönen, Simon dachte sogar bezaubernden, Singsang erklingen ließ. Alle drei riefen die ihnen als einzig existierenden Schöpfungsentitäten an, erkannte Simon. Sollte er jetzt auch die uralten Gebetsformeln daherwimmern, weil er im Angesicht des nahen Todes keinen anderen Ausweg mehr sah?? Nein! Er wollte so sterben, wie er gelebt hatte, als einer, der die sicht-, hör- und fühlbare Wirklichkeit akzeptiert hatte, vielleicht noch sowas wie Radio- und Infrarotastronomie, Röntgenfotos und Geigerzähler. Wenn es ihn hier und heute erwischen sollte, dann sollte es eben so sein. Das einzige, was ihn wirklich betrübte war, dass niemand erfahren mochte, wo und wie er gestorben war und dass seine Freunde und Verwandten nichts von ihm beerdigen konnten, im Namen welchen Gottes auch immer. Aber vielleicht hatten Sie noch glück, und die Hügelkuppe hielt die auf ihr stehenden Bäume noch solange aus, bis kein Tsunami mmehr kam. Doch wie wahrscheinlich war das?
Er sah sich nun mit der Gewissheit, eh nichts mehr ändern zu können um. Das Meer zog sich wieder zurück. Die nächste Welle war unterwegs. Der Hügel, auf dem der hohe Baum stand, auf dem sie immer noch alle festgeschnallt hockten, sackte langsam aber sicher in sich zusammen. Würde er beim Aufprall der kommenden Flutwelle ganz zusammenbrechen oder sie noch aushalten? Er sah die beiden Tigerinnen, die wohl von ihren Instinkten geleitet vom Hügel wegschwammen und gerade zwei freistehende Bäume ansteuerten, die ebenfalls an die vierzig Meter aufragten. Er dachte daran, dass die zwei Großkatzen womöglich das wirklich richtige taten, noch auf die Bäume zu klettern, die auf sicherem Boden standen. Dann dachte er daran, dass dieser Hügel wohl schon durch den darauf gepflanzten Wachturm instabil geworden war und das Beben und der erste Tsunami ihm nur den Rest gaben. War vielleicht der Turm an sich die Ursache dafür, dass der Hügel jetzt zusammenbrach? Er dachte daran, wer ihm den Tipp mit Gulanayatra gegeben hatte, ein Ingenieurskollege, der wiederum Drähte zu den Eigentümern dieser kleinen, exklusiven Urlaubsinsel hatte. Der würde als einziger im fernen Westen wissen, wo er gerade war und für wie lange er dort eigentlich bleiben wollte. Ja, das war irgendwie eine beruhigende Erkenntnis, dass er doch nicht ganz unbemerkt und unauffindbar war, auch wenn er ja eben nicht gefunden werden wollte, erst recht nicht von denen, die seine Tochter auf ihren Weg gezwungen und ihm und Renée entfremdet hatten. Er ertappte sich dabei, dass er mit keiner Reue oder Wehmut an Laurentine dachte. Er hatte ihr ein seiner Meinung nach gesichertes Leben und Auskommen geben wollen. Sie hatte sich von diesen Mutanten, die sie als eine der ihren erkannt hatten, verlocken lassen, deren Ansichten und Lebensweise zu übernehmen, obwohl es erst so ausgesehen hatte, als dass sie sich dagegen wehrte. Einen Moment dachte er daran, dass sie erst dann von dieser Abwehrhaltung abgekommen war, als eine ihrer angeblichen Schulfreundinnen gestorben war, wohl gemerkt durch einen sogenannten Blutrachefluch, der alle von einer Familie erwischen sollte. Anstatt genau das als die letzte klare Mahnung zu sehen, nicht mit übernatürlichen Sachen zu hantieren hatte sie sich wohl genau dadurch zu diesen Leuten bekannt und alles geschluckt und nachgemacht, was die ihr als für sie richtig und wichtig aufgeschwatzt hatten. Renée wollte sie danach nicht mehr dulden, weil sie gegen das Magieverbot der Christen handelte, er wollte sie nicht mehr um sich haben, ja, weil er Angst hatte, sie könnte ihn und alles, woran zu glauben er gelernt hatte, der Lächerlichkeit preisgeben, seine Tochter, die Hexe. Nein, deshalb hatten Renée und sie sich von ihr abgewandt, ja sie aus ihrem Leben ausgeschlossen, sogar alles getilgt, was sie beide an sie erinnern mochte. Doch das war genauso wirkungslos wie dieser zusammengekrachte Wachturm oder ihre grandiose Baumbesteigung mit raketengetriebener Strickleiter. Im Grunde war das ja auch schon sowas wie ein Zaubertrick gewesen, um die Naturgewalten zu überlisten. Doch die schlugen nun zurück, indem sie ihm und Renée mit geduldiger, grausamer Gemütsruhe vorführten, dass es keine Chance mehr gab. Denn jetzt noch vom Baum runterzuklettern und den Hügel hinabzulaufen, um noch auf einen anderen Baum hochzuklettern war so sinnvoll wie das immer flehendere Gebet seiner Frau, das immer lautere arabische Gerufe Nujangs. Nur dem Schamanenschüler Mulong mochte sein Gemurmel noch was bringen, und sei es, dass er seine Seele mit den Naturkräften vereinte, wenn sein Körper starb.
Simon sah die Tigerinnen, die gerade auf einen der hohen Bäume hinaufkletterten. Welche Ironie, dass er hergekommen war, um die beiden und die zwei anderen beobachten zu können und sie wohl das letzte waren, was er im Leben zu sehen bekam, wie sie ihm vorführten, dass sie diesen Aufruhr der Natur überleben würden, weil sie eben ganz ohne Technik und auch ohne Magie auskamen. sie und die Sorge vor Nachstellungen dieser Mutanten mit ihren Kraftausrichterstäben hatten ihn hier hingeführt, und hier würde die alles und jeden überdauernde Natur ihn verschlingen, die Mutter, die ihn geboren hatte und ihn wieder in sich zurücknehmen würde, auch eine anerkannte Form von Spiritualität, dachte Simon.
"... Heilige Maria, Mutter Gottes
bitte für uns Sünder,
jetzt und in der Stunde unseres Todes! Amen!" Renée hatte diese flehenden Gebetsformeln aus der römisch-katholischen Gebetesammlung nun schon zum vierten Mal ausgerufen, als der ferne Donner erklang, der die Ankunft der zweiten Welle verkündete. Simon streckte seine Hände vor. Renée wollte gerade zu einer weiteren Marienanrufung ansetzen. Doch er umfasste ihre Schultern, zog sie sanft aber bestimmt an sich heran. Sie sah ihm in die Augen, fragend, vorwurfsvoll und doch auch irgendwie abbittend. Dann hielt er sie in seinen Armen, soweit die sie beide haltenden Sicherungsgurte es zuließen. Sie erkannte, dass er in der Todesstunde mit ihr zusammen sein wollte, nicht nur auf dem selben Baum, sondern sich gegenseitig haltend. So gab sie seinem sanften Drängen nach und erwiderte die Umarmung. Trotz der völlig durchtränkten Kleidung bibbernd hielten sie einander umschlungen und küssten sich, vielleicht jetzt schon zum letzten mal. Renée Hellersdorf geborene Lacroise fühlte, dass sie nicht allein war. Simon Hellersdorf war erleichtert, nicht allein von dieser Welt abzutreten, wie er es bei seiner gefährlichen Arbeit häufig befürchtet hatte. Sie hatte ihren Herrgott und ihre Jungfrau Maria, er seine Überzeugung, dass er so starb, wie er immer leben wollte, im Vertrauen und in der Hingabe an die Kräfte der Natur und der Errungenschaften der Menschen. Denn ohne die raketenStrickleiter wären sie niemals auf diesen Baum hinaufgestiegen, der sie nun tragen sollte, solange er stand.
Das Donnergrollen wurde lauter. Der erste Wind kam auf. Die zweite Welle rollte an. Doch die beiden Eheleute sahen nur einander an. Der Boden erbebte. Doch die beiden hielten sich sicher aneinander fest. Der Wind wurde noch stärker. Doch die zwei kümmerte es nicht, auch nicht dass die beiden Ranger immer noch zu ihren jeweiligen Schöpfergottheiten beteten und deren Gnade oder Beistand erflehten. Beide schlossen mit ihrem Schicksal ab. Sie hatten ein langes, abwechslungsreiches Leben geführt. Sogesehen würde es auch auf eine nicht alltägliche Weise enden, falls der hohe Baum nicht doch der herandonnernden Flutwelle standhielt. Sie wollten nicht mehr hinuntersehen, sich nicht mehr umblicken. Mit geschlossenen Augen aneinandergedrückt harrten sie aus, auch als der Baum zu schwanken begann und Wind, Donnergrollen und die erste Gischt der sich an den Hindernissen brechenden Welle über sie kam. Renée wisperte noch: "So gehen wir zusammen und keiner muss um den anderen trauern." Simon verstand sofort, was sie meinte, so rief er über den immer stärkeren Wind und Donner zurück: "Ich habe dich immer geliebt, Renée, ich danke dir für alles, was wir gemeinsam erlebt haben." Doch mit keinem einzigen Wort erwähnte er das, was unbestreitbar greifbar und lebendig von ihnen beiden stammte. Sie rief noch über den Donner und die immer wilderen Schaukelbewegungen des Baumwipfels hinweg: "Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" Simon rief über den Donner und das Tosen hinweg: "Klingt wie beim Raketenstart zu unbekannten Zielen!" Dann wurde es zu laut, um sich noch irgendwas zuzurufen. Selbst die arabischen Gebetsformeln Nujangs wurden vom Zorngebrüll des Meeres verschluckt.
Was bei allen Berggeistern und zum großen, grauen Eisentroll war das? Er hatte gerade noch einen ganzen Atemzug lang das wilde Singen und Surren der magischen Kraftstränge in der Erde gehört. Dann war es wie Wellen aus blauen und roten Blitzen von unten gegen ihn geknallt. Er hatte ein wildes Krachen und Schwirren, Dröhnen und Donnern gehört und gedacht, jemand ramme ihm glutheiße Speere durch die Füße bis rauf zum Hals. Dann war einer dieser grellen Blitze voll durch seinen Körper in seinen Schädel eingeschlagen. Dann war es für ihn dunkel und still geworden.
Er war dann mit einem Kopf wie ein Bienenstock mit Millionen wild herumwuselnder Bienen zwischen den Schultern aufgewacht. Seine Augen pochten vor Schmerz und tränten. In seinen Ohren klang ein wiederlicher Pfeifton, als bliesen ihm dreiste Winzflöteriche mit ihren Pfeifen ständig da hinein. Seine Arme und Beine fühlten sich an, als würden sie andauernd von den wilden Bienen gestochen, die doch auch in seinem Kopf herumbrummten. Ja, und er meinte, sein Sinn für Ort und Richtung sei wie eine flackernde Kerze im Sturm. Dann hörte zumindest das wilde Flackern seines Ortserfassungssinnes auf. Doch das verriet ihm nur, dass er mit seiner wandernden Behausung nicht mehr am Saaleufer war, sondern weiter östlich davon. Ja, er war nicht mal an einem Fluss, sondern irgendwie weiter oben auf einem Berg. Das ging doch gar nicht. Seine Vorfahren hatten die Wandermühle so bezaubert, dass sie immer dahin sprang, wo sie auch einen Wasserlauf hatte, um zu laufen. Doch jetzt drehte sich das Mühlrad nicht.
Er stemmte sich hoch. Sein Rücken schmerzte, als habe er hundert prallgefüllte Säcke Mehl ohne seine Zauberkraft vom Grund der Mühle in den Speicher unter dem Dach hochgeschleppt. Immerhin ließ nun dieses elende Dauerpiepen in den Ohren nach. Aber das wilde Gebrumm unter seiner Schädeldecke blieb. Soviel konnte keiner saufen, um so einen Schädel zu kriegen, dachte der Herr der Wandermühle, Carbonius Pumphut mit Namen.
"Ui, wo bin ich denn hier überhaupt?" fragte er. Dazu musste er in die Kammer, von wo aus er die Sprünge seiner Mühle lenken konnte. Als er aufzustehen trachtete meinte er, die große Mutter Erde, zu der er doch von seiner koboldischen Ahnenreihe her eine besonders gute Verbindung hatte, wolle ihn mit tausenden von Nadeln in die Sohlen stechen, um ihn von sich wegzustoßen. Es dauerte etliche Atemzüge, bis er es schaffte, sich hinzustellen. Sein überschwerer, brummender Schädel drohte ihm dabei vom Hals zu brechen. Doch er kämpfte sich Schritt für Schritt zur Tür seiner Schlafkammer. Eine leichte Berührung mit seinen langen Fingern am Türgriff, und die Tür sprang klackend auf.
Auf nackten Sohlen ging der Nachfahre der Koboldin Kieselgunde und des Zauberers Saxiferus Pumphut über die blankgeputzten Holzdielen bis zur Kammer, in der in einer gewöhnlichen Mühle der Müllermeister zu residieren pflegte. Die verschlossene Tür sprang auf seine Berührung hin gehorsam auf. Ab da war alles anders.
Eigentlich sollte er jetzt auf einer an der Rückwand der Kammer angebrachten Karte von Mitteleuropa sehen, wo die Mühle stand. Eigentlich sollte er auf einer Vorichtung sehen, wie viel Erdmagie die Mühle für eine mögliche Wanderung angesammelt hatte. Eigentlich sollte ein regelmäßiges weißgelbes Licht leuchten, das seine Leuchtkraft aus der Tagessonne bezog. Doch das Licht flackerte in einem unheimlichen blutroten Farbton und ließ die Wandkarte wie von dahinter zuckenden Flammen wirken. Auf der Karte selbst war gerade nichts zu sehen, als habe jemand alle gemalten Landschaften, Flüsse, Städte und Ortsmarkierungen ausgewischt. Die Vorrichtung für gesammelte Erdmagie rotierte mit wildem Schwirren um ihre Hochachse und sprühte dabei rote und grüne Funken, die zum Glück kein Feuer in sich trugen, weil sie überschüssige Erdmagie waren, die in die Luft abgegeben verging. Auch die anderen hier aufgestellten Vorrichtungen und Möbel spielten verrückt. Die Schubladen am Schreibtisch schossen heraus und schnellten wieder zu wie zuschnappende Mausefallen. Das Tintenfass war wie ein kleiner, siedender Kessel, in dem es tiefblau brodelte und zwischendurch dämmerungsblaue Wölkchen herausquollen oder blaue und silberne Funken knisterten. Der bequeme Lehnstuhl tanzte auf seinen breiten Beinen eine viel zu schnelle Tarantella und drohte den Herrn der Mühle anzurempeln. Der Vorratsschrank klappte auf und zu wie ein nach Beute schnappendes Maul. Alle Dinge, die auf die Erdkräfte eingestimmt waren, schienen einem unbändigen Bewegungsdrang unterworfen zu sein.
"Also hat mich und die Mühle eine total wahnwitzige Folge von Erdzaubern getroffen. Ui ui ui, das kannte ich noch nicht", kämpften sich Pumphuts Gedanken durch das Brummen unter seiner Schädeldecke.
Immerhin benahmen sich die Fenster noch so wie sie sollten, wohl weil seine Vorfahren wegen des Wanderzaubers nur wenig Zusatzmagie hineingepumpt hatten. Der Herr der Mühle öffnete jedes Fenster und blickte hinaus. Da er über etliche Generationen von Kobolden abstammte besaß er eine gute Nachtsicht. So konnte er den verschneiten Gipfel eines Berges sehen, auf dem die Mühle gelandet war. Sein Ortssinn verriet ihm, dass er irgendwo in Böhmen oder Mähren gelandet sein musste. Bei genauerem Horchen auf die Richtungsweisekraft der Erde erkannte er, dass er wohl im Riesengebirge gelandet war. Mit einem verächtlichen Grinsen dachte er an die vielen Geschichten um den launischen und wandlungsfähigen Berggeist Rübezahl, den es im Gegensatz zu ihm nicht wirklich gegeben hatte. Es hatte aber mal eine Riesenfamilie hier gegeben, die dem Gebirge den Namen vermacht hatte. Bei denen gab es durchaus auch den Kräften von Erde, Luft und Feuer verbundene Zauberkraftträger. Aber von denen lebte seit zweihundert Jahren keiner mehr hier. Schon sein Vater hatte keinen mehr von denen gesehen.
Endlich hörte das wilde Toben seiner Einrichtung auf. Der Wanderkraftsammler kam zur Ruhe und zeigte, dass er prall mit Erdzauberkraft gefüllt war. Das Licht hörte zu flackern auf und nahm einen gleichbleibenden, weißgelben Farbton an. Nur die Karte war noch leer wie ausradiert. Aber das lag sicher daran, dass die ihr innewohnende Ortsbestimmungsmagie überlagert worden war. Das konnte und würde er gleich richten. Das hatte sein Großvater Aerarius schon einmal erlebt, als der große Krieg zwischen Zwergenund Kobolden tobte und die sich gegenseitig mit heftigen Erdzaubern beharkt hatten. Seitdem hatten die Zwerge nur noch das Recht auf Bergkristall und Eisen, während die Kobolde die Verwahrungsrechte für Gold, Silber und Bronze hatten und damit die selbsternannte Zaubererzivilisation in Schwung hielten. Jedenfalls konnte die Karte nach einer gewissen Erholungszeit die ihr eingeprägten Landschaftsmerkmale wiederbekommen, wenn die bewusst nicht bezauberte Spiegelplatte daraufgelegt wurde, aus der die Karte ihr Erscheinungsbild zurückgewinnen konnte.
Carbonius Pumphut holte die blankpolierte Platte aus reinem Silber hervor, in die alle Kartenmerkmale und Zeichen für die Darstellungsfarben spiegelverkehrt eingraviert waren. Er legte sie genau auf die ausgebleichte Wandkarte und summte fast auf der Tohnhöhe seines Brummschädels:
"Fenster zum Orte
hör meine Worte!
Blicke auf das was du siehst!
Nimm an die Zeichen,
form und dergleichen!
Spiegel sie für den der sie liest!"
Die Silberplatte begann zu vibrieren, wobei es eher die Karte war, von der jedes winzigste Teil die Platte und ihre Gravuren berührte und erfasste. Es dauerte zwanzig Atemzüge, bis das Vibrieren verebbte. Pumphut zog sie behutsam zurück und sah, dass die Karte nun wieder die Gebite und Landschaftsmerkmale Mitteleuropas von den Niederlanden über die vielen deutschen, österreichischen und bömisch-mährischen Königreiche und Fürstentümer zeigte. Dann huschte ein grün leuchtender Punkt wie ein herumwuselndes Irrlicht über die Karte und kam auf einem bestimmten Punkt der Karte zur Ruhe. Er las nun die in einem grünen Kreis stehende Bezeichnung: "Gipfel der Schneekoppe, Risengebirge, Böhmen."
"Tja, kleines Klapperhäuschen, da hast du dich aber gehörig versprungen", sagte Pumphut in den Raum hinein. Denn auf einen Berg sollte die Wandermühle nicht springen, weil da ja meistens Schnee und Eis war, mit dem schlecht ein Mühlrad angetrieben werden konnte. Da im Wanderungskraftsammler genug Erdmagie steckte konnte er aber nun den Standort der Mühle neu wählen. Er musste nur mit dem Finger von der grün umkringelten Standortmarkierung zu einem geeigneten Bach oder Fluss zeichnen und die Worte sagen:
Häuschen mein
stimm dich ein!
Dort wo mein Finger ist
da sollst du sein!
Es ruckelte, währen der Kraftsammler sich langsam zu drehen begann. Dann leuchtete er in einem goldbraunen Licht auf, es gab einen kurzen Ruck. Dann erlosch die bisherige Zielmarkierung und erschien genau dort, wo Pumphut seinen Zeigefinger auf die Karte gelegt hatte. Er hörte ein leises Rauschen und dann das vertraute und beruhigende Klipp-Klapp der sich im fließenden Wasser drehenden Schaufeln des Mühlrades. Damit konnte die Mühle die für die Wanderung gebrauchte Kraft aus Wasser und Erde schöpfen oder ganz gewöhnnlich Korn zu Mehl mahlen.
Pumphut beschloss, dass er noch ein paar Stunden schlafen konnte. Der Sichtverhüller um die Mühle würde diese vor unerwünschten Blicken verbergen. Wenn er wieder klar denken und ohne Kribbeln in Armen und vor allem Beinen handeln konnte wollte er sich umsehen, was genau passiert war.
Olarammaya hatte sie alle gewarnt. Denn sie saß gerade an ihrem Rechner und las die neuesten Nachrichten. Das mit dem Erdbeben im Indischen Ozean hatte sie gleich nach dem Aufwachen mitbekommen. Als es auch noch hieß, dass mindestens ein Tsunami unterwegs war prüfte die Zwiegeborene, ob diese Flutwellen auch der Insel der Sonnenkinder gefährlich werden konnten. Dann hatten sie sich alle auf der höchsten Anhöhe der Insel zusammengesetzt. Als dann Stunden nach dem Erdbeben tatsächlich der Meeresspiegel sprunghaft anstieg und mehrere Dutzend Meter Strand überspülte bangten alle, ob sie dieser Naturgewalt nur noch mit den verbliebenen Luftbarken entkommen oder gar den kurzen Weg gehen mussten. Letzteres mochte für die gerade auf Nachwuchs wartenden gefährlich sein. Doch dann erkannten sie, dass die Überflutung nicht weiter auf die Insel vordrang. Dann zog sich das Meer wieder zurück und hinterließ einen pitschnassen Strand. Niemand hier war zu Schaden gekommen.
"Oh, da hätten wir aber wohl sehr verwundert geguckt", sagte Dailangamiria.
Sie warteten noch einige Zeit, ob weitere Flutwellen kamen. Doch offenbar war das, was bei ihnen angekommen war, der Ausläufer des stärksten Tsunamis gewesen. So konnten sie ihre eigenen Vorhaben weiterführen.
Hatte er selbst geschlafen? Hatte er geträumt? Er konnte sich nicht erinnern. Was er wusste war, dass er immer noch den Körper von Félix bewohnte. Er wusste, dass ungeborene Kinder bis zu 20 Stunden am Tag verschlafen konnten. Das war sicher auch gut so, damit es denen nicht doch noch vor dem großen Ereignis zu langweilig wurde. Jedenfalls bekam er wieder mit, dass Béatrice aufstand und wohl gleich ins Bad ging. Zwar konnte er über die Körpergeräusche und die ihn umschließende Fruchtblase, Gebärmutter und Bauchdecke nicht alles hören. Doch ein gewisses Rauschen und Bewegungen, die auf eine gründliche Körperwäsche hindeuteten sagten es ihm. Béatrice summte ein Lied, wohl auch um ihr Kind ruhig zu halten.
Er bekam mit, wie sie die anderen begrüßte, auch Aurore und Chrysope, sowie die Frau, die eigentlich seine leibliche Mutter war und deren drei jüngsten Kinder. So hörte es sich also für ein Ungeborenes an, wie sie klangen, dachte er, der gerade nicht er selbst sein durfte. . Millie sprach mit der erwählten Friedensretterin und erwähnte was, wo er meinte, den Namen Ammayamiria zu hören. Dann hörte er sie sogar beide in seinem Kopf. Also mentiloquierten sie, und er bekam es mit, weil da diese ganzen magischen Verbindungen waren, die wohl auch den kleinen, der er gerade war, erreichen konnten. Doch er selbst durfte nicht mentiloquieren, hatte Ashtaria befohlen. Aber jetzt, wo Béatrice wach war könnte er doch versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Es gab da einen Vorschlag, wie mit unbekannten Intelligenzen im All Kontakt aufgenommen werden konnte, nämlich über eine bestimmte Folge von Zahlen, die jedes zum rechnen fähige Wesen erkennen und als klaren Intelligenzbeweis deuten würde. Doch dann? Wieder diese Frage. Was brachte es ihm, wenn Béatrice beunruhigt oder verstört war? Dann hörte er noch ihre Gedankenstimme: "Was immer die beiden transvitalen Damen mit ihm vorhaben, wenn er bis um zwölf nicht aufwacht untersuche ich ihn. Gefällt mir nicht, was ich dabei herausfinde bringen wir ihn in die Delourdesklinik. Klär du das bitte mit Martha, dass ihr Sohn sie vielleicht nicht verabschieden kann, da ich ja nicht weiß, was diese Ammayamiria dir genau mitgeteilt hat!"
"Du bist die Heilerin, Tante Trice", gedankengrummelte Millie.
Zwölf Uhr mittags! Hatte er nicht vorhin, wo Béatrice mit ihm durchs Schloss gelaufen war, ganz dumpf aber zählbar sieben Glockenschläge gehört? Wenn er sich nicht verzählt hatte hatten sie noch fünf stunden Zeit. Falls er bis dahin nicht er selbst war oder schlimmer noch, falls Félix bis dahin nicht selbst aufwachte und seinen rechtmäßigen Körper beanspruchte würden die Heiler in der DK sich ausgiebig mit ihm befassen.
"Leute, ganz düstere Nachrichten", hörte er über Béatrices Herzschlag und Magengrummeln hinweg Ursulines Stimme. "Diese Nacht muss es irgendwo auf der Welt ein sehr heftiges Erdbeben gegeben haben, das zu allem Verdruss eine Quelle von Erdmagie in Aufruhr versetzt hat. Die dabei losgetretene Zauberkraft ist durch den Erdball gerast und hat überall da, wo sie auf andere Erdzauber traf Verwirrung angerichtet. Am schlimmsten hat es dabei die Kobolde und Gringotts erwischt. Die Bilder haben es mir berichtet, dass Gringotts Paris offenbar gerade fest verschlossen ist und dass außenstehende Kobolde entweder für mehrere Stunden ohnmächtig wurden oder gar starben. Jetzt bitte keinen Schrecken bekommen, Trice und Millie. Die den Ansturm überstehenden Kobolde sind schon dabei, zu klären, was genau los ist."
"Oma Line, du bist echt drollig, einer Zwillingsmaman in Wartestellung sowas beim Frühstück zu verpassen", hörte er Millies Stimme gerade so noch wie durch eine dicke Wand. "Was ist mit denen in Millemerveilles?" fragte sie noch.
"Wegen eures Schutzbanns da? Haben mir die Bilder von da noch nicht sagen können, weil offenbar noch keiner von denen Gold nötig hatte. Ist ja auch der Tag nach Weihnachten."
"Dann haben wir was ähnliches wie damals, als für mehrere Wochen das Flohnetz ausgefallen ist", sagte Béatrice, und er, der gerade unfreiwillig alles von ihr mitbekam wollte sich schon die Ohren zuhalten, weil er fürchtete, Félix könnte davon aufwachen und ihn verdrängen.
"Ja, nur dass es dann schlimmer ist. Beim Flohnetz konntest du zumindest noch auf Besen umsteigen oder apparieren. Aber wenn die Kobolde von Gringotts Probleme haben sollten kann das die ganze Zaubererwelt beeinträchtigen. Ich frage mich allerdings, wo dieses Erdbeben gewesen sein soll", sagte Ursuline.
"Morgen zusammen!" hörten sie alle, auch er, der gerade nicht er selbst war, die Stimme von Otto Latierre, Béatrices Bruder und somit der künftige Onkel oder Großonkel von Félix, je danach, wie Millie sich nach dessen Geburt entscheiden würde. "Ihr habt es von dem Gringottszusammenbruch und von dem Erdbeben, das diesen Drachenmist gequirlt hat?"
"Otto, bitte nicht solche Wörter vor den Kindern", ermahnte ihn Lines Mann Ferdinand. Béatrice grummelte leise, wohl nur für sich selbst und natürlich für ihn, der gerade alles körperliche von ihr mitbekam.
"Stimmt, hier sitzen ja noch Kinder am Tisch", flötete Otto. "Aber wegen des Erdbebens kann ich euch schon was sagen. Alle auf Erdbewegungen abgestimmten Messstellen haben das Beben und die von ihm losgetretene Welle aus Erdzaubern klar gemessen. Bei Roger Maineferre ist sogar das Geothaumatoskop explodiert, so stark waren die Entladungen. Also, das Beben muss wohl gegen zwei vor zwei unserer Zeit, was zwei vor acht der dortigen Ortszeit war, zwischen sechzig und hundert Kilometer nördlich oder nordwestlich von Sumatra aufgetreten sein. Wenn das mitten im Meer war könnte das sogar Flutwellen nach sich gezogen haben. Will keiner wirklich erleben. Aber dass das die Kobolde hier bei uns aus den Hochglanzpantoffeln haut ist schon heftig."
"Zwei vor zwei bei uns? Wielange dauert dann so eine Bebenwelle, bis die auch hier bei uns angemessen wird?" wollte Patricia wissen, die noch nicht wusste, dass sie bald einen weiteren Neffen oder Großneffen haben würde.
"Hmm, muss ich noch mal nachfragen. Ist auf jeden Fall schneller als Schall in der Luft, weil festes Gestein und so", sagte Otto Latierre laut genug, dass auch Kinder im Warteraum zur weiten Welt ihn gerade so noch verstehen konnten.
"Sagen wir mal so, Otto: Erdmagie kann je nach Ausrichtung und stärke doppelt so schnell sein wie die reinen Erschütterungswellen", wusste Gilbert, der auch noch am Tisch saß. Der, der gerade dazu verurteilt war, in Béatrices Bauch auszuharren, bis die Auswirkungen der erzürnten Erde verklungen waren hätte jetzt gerne eingeworfen, dass es wie beim Wind war, wodurch er entstand und ob es ein Gefälle gab, das die Stärke und Richtung bestimmte. Zumindest wusste er jetzt, wo ungefähr das wahrlich welterschütternde Ereignis stattgefunden hatte. Ja, und wenn es echt unter Wasser passiert war und dabei Gesteinsmassen verschoben wurden konnte es in der Gegend mindestens einen Tsunami gegeben haben. Zu gerne würde er jetzt aus Trices warmem Schoß heraus disapparieren, um an seinem Rechner nachzuprüfen, wo und wann, wie und was genau passiert war. Doch ohne entwickelte Lungen, noch im Aufbau befindlichen Fingermuskeln und mit Fruchtwasser an den Händen war das wohl keine so gute Idee.
"Hast du auch für unser geschätztes Nachrichtenblatt genug über die Störung bei Gringotts erfahren, Otto?" wollte Gilbert wissen. "Ich weiß nur über drei Ecken, dass die Kobolde, die nicht in Gringotts selbst ihre Quartiere haben für mindestens drei Stunden bewusstlos waren und mit heftigen Kopf- und Gliederschmerzen aufgewacht sind. Einer der für humanoide Zauberwesen zuständigen Leute aus Beaubois' Abteilung hat zum Scherz gesagt, dass die wohl soviel getrunken hätten, dass eine ganze Bergbaukompanie Zwerge in ihren Köpfen nach Gold und Silber sucht. Ui!! Das hätte dem guten fast alle Zähne gekostet und vielleicht sogar die Zunge."
"Wo hat der nochmal gelernt, wie das Verhältnis zwischen Zwergenund Kobolden ist?" fragte Millie verdrossen.
"Womöglich in Madame Champverdds Baumschule", scherzte Otto. "Eigentlich weiß jeder drittklässler in Beaux, dass Kobolde und Zwerge so gut befreundet sind wie Haifisch und Delphin, Kniesel und Knarl."
"Jedenfalls sind die Heiler von den Kobolden selbst ziemlich angeschlagen, was die nicht wirklich glücklich macht. Gilbert, Millie, wir sollen übrigens genauso wie alle anderen erst mal nichts davon bringen, dass Gringotts in Paris gerade am Bodenliegt und erst mal wieder auf die Beine kommen muss. Ach ja, die in Millemerveilles haben bisher nichts gesagt. Aber da will dann wohl die gutgenährte Madame Delamontagne noch was überprüfen."
"Gut, Onkel Otto, dann prüfe ich das heute noch nach", erwiderte Millie darauf.
"Wo ist denn Julius. Der ist doch sonst ein Frühaufsteher", kam die Frage von Otto Latierre. Millie erzählte dem dann, dass es gestern noch spät geworden war, weil Julius noch Weihnachtsbriefe nach Übersee geschrieben hatte, Australien und die Staaten.
"Autsch, Australien! Die liegen ja noch näher an dem Bebenherd dran als wir. Da ist sicher auch einiges kaputtgegangen. Sage deinem Angetrauten bitte, falls du darfst möchtest du bitte versuchen, mit einem von deren Zauberwesenleuten oder mit diesem Mr. Bathurst zu reden", sagte Gilbert. Linda Latierre Knowles meinte dazu nur: "Wenn es um die Kobolde geht halten die da genauso dicht wie in den Staaten. Allein wegen des angespannten Verhältnisses zu den magisch begabten Ureinwohnern."
"Dafür wohnen bei denen keine Zwerge, obwohl es da eine Menge Gold zu fördern gibt", warf Ferdinand ein.
So ging es noch einige Zeit um das sehr empfindliche Miteinander zwischen Kobolden und Menschen, Zwergen und Menschen und Zwergen und Kobolden. Der, der gerade nicht er selbst sein durfte fühlte, wie ihm vom konzentrierten Hinhören langsam der Kopf schmerzte. Genau das sollte er ja vermeiden, dass Félix Schmerzen oder Angst bekam und vorzeitig aufwachte. Genau das machte nun ihm Angst. Denn er wollte garantierrt nicht ...
Es war wie ein greller Blitz und ein freier Fall in bodenlose Tife. Dann meinte er, dass der Blitz genau in seinen Kopf einschlug und durch seinen ganzen Körper raste. Er riss den Mund auf ... und sog die wohlvertraute Luft des Gästezimmers in seine voll entwickelten, aber gerade ein wenig schmerzenden Lungen. Sein Kopf dröhnte, seine Arme und Beine kribbelten, als wenn eine Ameisenarmee durch seine Adern marschierte. Dann hörte er seinen Magen knurren. Er war wieder er selbst, Julius Latierre, Vater von drei Töchtern, künftiger Vater von zwei Töchtern und einem Sohn. Offenbar war der ungeborene Sohn gerade von seiner aufgekommenen Angst aufgewacht.
Er wollte sich konzentrieren, um Millie und damit auch Béatrice anzumentiloquieren. Doch unter seiner Schädeldecke hämmerte eine ganze Truppe Schmiedegesellen, als wenn sein Schädel der gemeinsame Amboss sei. "Na, erkennst du nun, warum ich dich deinem Bewahrer anvertrauen musste, wollte dir der Kopfnicht zerspringen oder du vor lauter Pein dem Irrsinn verfallen?" hörte er Ashtarias Stimme unter seiner gerade wild pochenden Schädeldecke. "Ja, Maman, hab verstanden", dachte er zurück. Doch dann kam ihm die Idee, den goldenen Herzanhänger zu nehmen und ihn sich an die Stirn zu drücken. Er wartete einige Sekunden, bis das heftige Hämmern unter der Schädeldecke ein wenig nachließ. Dann schickte er los:
"Mamille, ich bin wach. Mir tut zwar der Schädel weh, als wenn ich ein ganzes Metfass leergemacht hätte. Aber ich denke, ich sollte doch besser aufstehen."
"Lustig, Monju. Kurz bevor du mich angemelot hast musste sich Trice den Bauch halten, nicht vor Lachen. Kann das sein, dass du und der kleine in Trices warmem Prinzenstübchen miteinander verheddert wart?"
"Keine Aussage ohne meine Vertrauensheilerin", schickte er zurück. "Ja, und die sagt, dass du bitte noch solange im Bett liegenbleiben möchtest, bis sie dich gründlich untersucht hat", hörte er nun Béatrices Stimme. "Und ab jetzt kein Melo, ob mit oder ohne Herzanhängerunterstützung! Das ist eine verbindliche heileranweisung", fügte sie noch hinzu.
Julius wusste, dass er schwangere Hexen nicht zum Scherz wütend machen sollte. Also bestätigte er diese Anweisung ... nicht. Denn wenn sie wollte, dass er "ab jetzt" nicht mehr mentiloquierte, dann durfte er auch keinen auf diese Weise erhaltenen Befehl bestätigen, ganz logisch.
Nur zwei Minuten später betraten Béatrice und Millie das Schlafzimmer. "Die zwei größeren sind schon mit ihren vier lieblingsverwandten unterwegs auf dem Spielplatz. Ich habe deiner leiblichen Mutter erzählt, dass du wohl wegen dieser Erderschütterung in einen tiefschlaf gefallen bist, kein Koma. Die Drillinge sind mit unseren zwei großen zusammen raus. Oma Line beaufsichtigt die ganze Rasselbande", sagte Millie. Julius war froh, sie nun ganz klar zu verstehen und ihren leicht besorgten Blick sehen zu können. Dann gab er sich Béatrices Untersuchungsmethoden hin. "Holla, da war wohl echt eine Gehirnüberreizung am Rande eines Schlaganfalls. Immerhin keine Gehirnblutung, sofern Einblickspiegel und darauf aufgesetztes Vergrößerungsglas das zeigen. Du nimmst bitte bis morgen Blutgerinnungshemmtrank Nummer eins ein, damit sich keine Gerinnsel bilden und mentiloquierst nicht mehr in der Gegend herum, bis du von mir und nur mir eine Gedankenbotschaft bekommst, auf die du dann antworten darfst", sagte Béatrice. "Aber falls du meinst, ich sei nicht mehr für dich zuständig kann ich dich gerne an Millies und meine Hebamme überweisen. Die würde dich glatt in Erholungsschlaf versenken und das Calmacerebrum-Tonikum von Großheiler Professeur Docteur Longterm verordnen. Das macht aber sehr dösig. Brauchen wir alle hier sicher nicht", sagte Béatrice. "Aber was genau ist dir selbst passiert, und bitte die Wahrheit. Ich kann mir mit meinem Umstandsbauch keine Lügen aufladen lassen, auch noch so nettgemeinten Schwindel."
So holte Julius Luft - welch ein erhabenes Gefühl, das zu können! Dann berichtete er, als sichergestellt war, dass beide Mütter seiner drei künftigen Kinder sicherund ruhig saßen. Millie grinste, Béatrice nickte ruhig. Er ließ nichts aus, auch nicht, dass er eigentlich nicht mitbekommen wollte, wie seine Schwiegertante unverdauliches Zeug wieder losgeworden war. "Millie meinte schon sowas, dass du bei Träumen oder sonstigen Bewusstseinsveränderungen in die Sinneswelt ungeborener hineingleiten kannst. Aber dass Ashtaria dich wahrhaftig deshalb vollständig in den Körper des Kleinen umgesiedelt hat ist was neues. Aber durch die erwähnten Verbindungen zu ihr und zu uns Latierres kein wirklich unvorstellbares Ding. Und ich mach dir keine Vorhaltungen, weil du meine Privatsphäre gestört haben könntest. Du kannst ja genausowenig dafür wie der kleine Félix."
"Ich habe echt gefürchtet, du packst das nicht gut weg", antwortete Julius. Darauf musste seine Schwiegertante lachen. Als sie wieder klar formulieren konnte sagte sie: "Julius, nachdem, was gerade wir zwei schon alles miteinander erlebt haben war das jetzt wirklich nichts, was mich noch aus den Schuhen hauen kann. Jetzt kennst du mich eben halt noch besser als vorher. Das nehme ich mal als Kompliment." Millie verzog über diese Bemerkung ein wenig das Gesicht. Doch als sie merkte, dass ihr Mann sie beobachtete entspannte sie sich sofort wieder. "Besser als wenn du in einer der beiden kleinen Prinzessinnen hängengeblieben wärest, mein Angetrauter", sagte sie. Dann meinte sie noch: "Gut, durch Trices Speckschicht hast du sicher nicht alles mitgekriegt, was wir gerade beim Frühstück besprochen haben und ...Vienneicht kannst du ndakrzu nnonch nwas ... Eh, ich brauche alle Nluft."
"Ach ja?!" fragte Béatrice und ließ Millies Nase wieder los. "Abgesehen davon trägst du schon mehr vor dir her als ich, um das mal ganz klar zu betonen."
"Also, wenn es die Kobolde noch heftiger aus den Socken gehauen hat als mich, wo ich noch nach den fünf oder sechs Stunden Auszeit noch immer eine ganze Schmiedewerkstatt unterm Haarschopf habe, dann ist klar, dass es einige von denen wohl noch übler erwischt hat", vermutete Julius.
"Ja, und genau deshalb bleibst du noch ein wenig im Bett und schläfst noch ein zwei Stunden länger ganz natürlich. Und wenn du noch einmal bei mir unterschlüpfen solltest tipp mir dreimal gegen die Bauchdecke. Dann krame ich das Cogison raus, dass ich zu Testzwecken behalten durfte und interview dich, was du hinter meiner gesunden Speckschicht noch mitbekommst."
"Ich denke nur, dass Félix jetzt erst mal wieder wach ist", sagte Julius. Béatrice bejahte es und deutete auf ihren unter einem hellblauen Kleid verstauten Bauch. Er sah gerade nichts von einer Schwangerschaft, weil sie natürlich die Tarnunterkleidung trug, um nicht jedem aufs Brot zu schmieren, dass sie auch gerade zu zweit unterwegs war. Beim Gedanken an Brot fragte er sie noch: "Hmm, was hast du eigentlich diese Nacht gegessen, dass dich und damit Félix so glücklich gemacht hat?"
"Honigcroissants und dazu sieben kleine Silberzwiebeln in Gelee und zum Runterspülen einen halben Liter Bananen-Orangensaft. War ja nachts. Ansonsten hätte ich mir wohl noch eines von den Würstchen im Brautkleid gegönnt, von denen es Camille hatte, als sie die vier kleinen Frühlingsprinzessinnen trug."
"Stimmt, können wir bei uns mal wieder machen, Trice", sagte Millie. Julius dachte gerade daran, wie man Honigcroissants mit Zwiebeln vertragen und das auch noch superlecker finden konnte. Mann konnte das sicher nicht verstehen.
Um die zwei ihn gerade umsorgenden Hexenmütter in Wartestellung nicht zu verärgern schlief er noch zwei Stunden. Als er wieder aufwachte konnte er seine Mutter beruhigen, dass er tatsächlich nach einem Gewitter aus Lärm und Blitzen irgendwie ganz tief und fest geschlafen hatte. was er erlebt hatte behielt er besser für sich. Er erwähnte nur, dass er leichte Kopfschmerzen habe und Béatrice ihm dagegen schon was verordnet habe. "Ich hatte schon befürchtet, dir wäre es genauso wie den Kobolden ergangen, wo du mir doch erzählt hast, dass du dich einer Erdmagierin anvertraut und deinen Geist auf Erdzauber eingestimmt hast", erwiderte seine erste und eigentlich wahre Mutter darauf. Er bemerkte dazu, dass er wohl deshalb noch mit einem leichten Kater davongekommen war, weil er kein vollständig körperlich auf Erdmagie eingepegelter Bursche sei. Das nahm seine Mutter als klare und hinnehmbare Begründung hin.
Für das Frühstück war es jetzt zwar zu spät, aber dafür konnte er dann beim Mittagessen wieder zulangen. Danach wollte er jedoch schnellstens an seinen heimischen Rechner, um zu lesen, wie das Erdbeben in der magielosen Welt erwähnt wurde und ob es tatsächlich einen Tsunami gegeben hatte. Er konnte nicht wissen, dass diese Nachricht nicht nur für ihn sehr wichtig, ja, wortwörtlich erschütternd sein würde.
Gemäß der eigenen Vorgabe, einen nicht all zu anderen Tag-Nacht-Rhythmus einzuhalten setzte Laurentines Radiowecker um acht Uhr ein. Die erste Meldung der gerade beginnenden Nachrichtensendung wirkte wie eine Kanne starker Kaffee auf Ex.
".... hat das schwere Seebeben im Indischen Ozean und die diesem nachfolgenden Flutwellen nach bisheriger Zählung mehr als einhunderttausend Menschenleben gefordert. Doch die für die Rettungs- und bergungseinsätze zuständigen Offiziellen fürchten eine weitaus höhere Zahl von Todesopfern. Das Epizentrum des Bebens lag laut dem Sprecher des seismologischen Instituts der Sorbonne in Paris zwischen 80 und 90 Kilometer nordwestlich der Insel Sumatra. Wir schalten um zu unserem Südostasienkorrespondenten Marc Bleumont in Bangkok."
Laurentines Herz hatte bei der Erwähnung des Ursprungsortes einen Schlag übersprungen. aus ihrem Körper brach kalter Schweiß aus. Sie fühlte ein leichtes Zittern, noch während der erwähnte Südostasienkorrespondent die Eindrücke der Katastrophe schilderte. Mindestens drei Tsunamis hatten nach dem Beben die Küsten des Indischen Ozeans heimgesucht. Dabei waren viele Strandurlauber erfasst und in den Tod gerissen worden. Unzählige Häuser waren zerstört worden. Nur wer mehr als zwanzig Meter über dem Meeresspiegel war hatte die tödlichen Flutwellen überlebt. "Sumatra", der Name der großen Insel ließ bei Laurentine alle inneren Alarmglocken schrillen. Irgendwo bei Sumatra, so hatte sie gehört, machten ihre Eltern gerade Urlaub, doch wo genau hatte keiner mitbekommen, der es an sie hätte weitergeben können. Auch wenn ihre Eltern nichts mehr von ihr wissen wollten und sie aus ihrem Leben verbannt hatten waren es immer noch ihre Eltern.
Bibbernd vor Angst lauschte sie den Ausführungen des Reporters weiter. Der erwähnte, wie schwierig es war, die betroffenen Küsten abzusuchen und auch, dass wohl viele Menschen mit den ablaufenden Wassermassen ins offene Meer gerissen worden sein mochten. Es würde also schwer sein, die wirkliche Anzahl der Toten zu ermitteln. "Im Augenblick herrscht hier in Bangkok und allen Anrainerstaaten des Indischen Ozeans höchste Besorgnis, ob es noch weitere Tsunamis geben wird und ob dem Beben, das nach bisherigen Erkenntnissen zwischen 8,9 und 9,1 auf der Richterskala stark war, weitere Beben mit ähnlich verheerenden Flutwellen folgen könnten. Diese Furcht dürfte die Bergungs- und Rettungsmaßnahmen erschweren."
"Danke Marc", schaltete sich nun wieder der Nachrichtensprecher ein. "Die indische Regierung hat bereits verfügt, dass alle Armeeeinheiten des Landes an der Rettung möglicher überlebender und der Bergung beteiligt werden sollen. Inzwischen sind die Ausläufer der stärkeren Tsunamiwellen bereits an die Ostküste Afrikas vorgedrungen. Aus Nairobi unser Ostafrikakorrespondent Charles Perpignan."
Was der Ostafrikakorrespondent zu berichten hatte hörte Laurentine noch mit an. Doch dann hieb sie förmlich auf den großen Ein-aus-Schalter ihres Radioweckers. Ihr fiel wieder ein, was ihre Tante Maren mal gesagt hatte. "Wenn du noch Lust auf's Aufstehen haben willst lass dich bloß nicht mit Radionachrichten wecken!" Wohl wahr, dachte Laurentine. Doch jetzt war sie wirklich wach. Sie fühlte die ersten Tränen in die Augen steigen. Wenn keiner wusste, wo ihre Eltern hingeflogen waren wusste auch keiner, wohin sie die Rettungsmannschaft schicken sollten. Dann würden die noch nicht mal vermisst, waren ihre ersten, düsteren Gedanken zu dieser weltweiten Schreckensmeldung. Sie sprang förmlich aus ihrem Bett und rannte barfuß aus dem Schlafzimmer, das vor ihr Julius' Mutter Martha benutzt hatte. Ihr Ziel war das Telefon im Wohnzimmer. Von unten erklang gerade Wenn ich vierundsechzig bin" von den Beatles. Joes Vater ließ sich immer mit denen wecken. Fast hätte sie mit dem blanken Fuß aufgestampft. Da hatte sie Panik wegen ihrer Eltern, und Paul McKartney sang davon, ob seine Holde ihm auch im Alter von 64 Jahren noch zur Seite stehen würde. Das war so fies. Doch womöglich wusste der bodenständige Birminghamer Busfahrer das noch nicht, was in der Nacht, wo sie alle friedlich geschlafen hatten, passiert war.
Sie riss förmlich das schnurlose Telefon aus seiner Basisstation und rief per Menü die Kontaktliste auf. Wollte sie erst in Kourou anrufen? Nein, besser war es, Ihre Großmutter Monique anzurufen. Doch halt! In Kalifornien war es ja gerade kurz nach elf Uhr abends. Ihre Großmutter ging meistens um halb elf ins bett. Doch dann fiel ihr ein, dass die sicher noch die Nachrichten gesehen hatte und so sicher auch gerade große Angst hatte. So wählte sie die US-amerikanische Nummer aus und drückte auf "Anrufen", womit der Apparat zu wählen begann. Drei rauhe Töne dauerte es, bis jemand dranging. Es war ihre Oma Monique persönlich. Sie klang so, als müsse sie sich sehr stark beherrschen, um nicht in den Apparat zu heulen. Laurentine atmete durch und meldete sich, obgleich bei ihrer Großmutter eine Rufnummernanzeige vorhanden war. Dann sagte sie, dass sie gerade aufgewacht sei und die Nachrichten gehört habe. Mehr musste sie nicht erwähnen. Ihre Großmutter antwortete sehr bestürzt: "Ich möchte auch wissen, wo deine Eltern hingereist sind, Tinette. Aber deine Mutter meinte ja, weil ihr Mann das nicht weiterreichen lassen wollte, sie dazu zu überreden, es auch mir nicht zu verraten. Ich habe schon wen in Washington angerufen, der mit wem vom Außenministerium in Verbindung steht. Der möchte die französische Botschaft bitten, mich zu informieren, wenn deine Mutter Renée ... gefunden wird. Ich habe aber Angst, dass sie zu den über hunderttausend Toten gehört."
"Ich habe eher Angst, dass sie gar nicht gefunden wird, Mémé Monique", erwiderte Laurentine darauf. Dann dachte sie daran, dass der Kontakt ihrer Oma ein frommer Katholik war. Immerhin hatte sie den ja bei der Beerdigung von Grandpère Henri getroffen, sozusagen als Freund der Familie. Wusste der schon, dass Monique Lacroise der Kirche den Rücken gekehrt hatte? Doch laut fragte sie: "Ist es dir recht, wenn eine von uns die jeweils andere anruft, wenn sie was genaues weiß?"
"Du meinst, ob die in Kourou eher was erfahren, Tinette? Falls ja, ja bitte", erwiderte ihre Großmutter Monique. "Dann machen wir das so, Mémé. Soll ich bei Tante Suzanne und den zwei unterschiedlichen Schwestern anrufen oder du, wenn es in New York mehr als sechs Uhr morgens ist?"
"Was möchtest du Sue sagen, dass du genauso erschüttert bist wie ich oder genausowenig weißt, wo ihre Schwester Renée mit ihrem Mann hingereist ist?" fragte Monique Lacroise ein wenig erbost.
"So dachte ich mir das", sagte Laurentine mit ganz schwer unterdrücktem Drang, loszuweinen. Ihre Großmutter hörte es ihr wohl doch an und sagte: "Solange wir nichts ganz genaues wissen sind sie nicht tot, Tinette. Bitte denk dir das so. Erst wenn wir das ganz genau wissen sollten wir weinen. Sonst haben wir keine Tränen mehr übrig." Laurentine musste über diese Feststellung fast lachen. Doch der Anlass verbot ihr das. So sagte sie nur: "Danke für die aufrichtenden Worte, Mémé. Ich hab' dich lieb!"
"Ich dich auch, Kind. Komm so gut es jetzt noch geht durch die Zeit zwischen den Jahren! Nicht die Hoffnung aufgeben, Mädchen!" Das gleiche wünschte auch Laurentine ihrer Oma Monique, auch wenn sie sie nicht als Mädchen anredete. Dann drückte sie auf "Auflegen" und stand einige Sekunden still da. Mittlerweile hatten die Beatles ihr Wecklied beendet. Früher, so hatten es Julius und Martha erwähnt, hatte Jennifer immer was zu meckern gehabt, weil ihr Mann sich morgens mit den Beatles wecken ließ. Doch heute bekam sie davon nichts mit. Vielleicht war es Jennifer nach der Sache mit der angeblichen Wunderdroge Ultradrenalon und der Falschmeldung über Joe bewusst, dass es wichtigere Sachen gab als die Musikauswahl zum Aufwecken.
Sie suchte in der Kontaktliste nach der Nummer in Kourou und drückte erneut auf die Taste mit dem grünen Hörer. Der Apparat wählte. Sicher würde sie erst in der Zentrale landen. Je danach, wen sie da dranbekam wollte sie sagen, dass sie darum bat, dass ihr Vater bei ihr anrufen möge, nur um mitzuteilen, dass er wieder bei der Arbeit sei oder dass sie gerne wissen wollte, wo genau er im Urlaub war und beschreiben, warum sie das fragte.
Die Zentralistin vom Dienst war Mademoiselle Lebois, die eine noch sehr junge Stimme hatte. Mit ihr hatte sich Laurentine schon ein paarmal unterhalten. Deshalb erkannte sie die Anruferin auch an Nummer und Stimme. "Frohe Weihnachten gehabt zu haben, Mademoiselle Hellersdorf", wurde sie ganz förmlich begrüßt. Laurentine schluckte die Bemerkung hinunter, dass ihr die Fröhlichkeit gerade sowas von vergangen war. Sie bedankte sich für den Gruß und erwiderte ihn. Dann erwähnte sie ganz ruhig, was sie gerade gehört hatte und dass ihr Vater ihr mitgeteilt habe, dass er bis zum zehnten Januar irgendwo in Indonesien sei und sie nun gerne ausrichten wollte, dass er sie bitte wieder anrufen möge, wenn er an ein funktionierendes Telefon drankäme oder wieder in Kourou sei.
"Öhm, nichts für ungut, Mademoiselle, aber ich sehe hier gerade auf dem Schirm, dass Monsieur Hellersdorf Ihre Nummer und Kontaktadresse als "Nicht mehr durchzustellen" markiert hat, was wohl soviel heißt, dass er von uns aus nicht mehr mit Ihnen sprechen möchte. Ich weiß zwar nicht, was zwischen Ihnen beiden vorgefallen ist; es geht mich ja auch nichts an. Aber ich fürchte, wenn er so eine Notiz in unser System einträgt meint er es genauso, wie er es schreibt."
"Stimmt, das kenne ich. Was er sagt oder schreibt gilt, bis er und nur er es widerruft", erwiderte Laurentine und erschauerte. Noch sprach sie von ihrem Vater in der Gegenwartsform. Doch wenn er ... Nein! Ihre Oma Monique hatte recht. Erst sicher wissen, dann trauern! So sagte sie noch: "Ich danke Ihnen, dass Sie mich zumindest angehört haben. Sie haben sicher noch genug anderes zu tun, Mademoiselle Lebois."
"Nicht um diese frühe Uhrzeit", sagte die Zentralistin. Natürlich war es in Kourou mitten in der Nacht. Deshalb legte sie noch nach: "Auf jeden Fall Danke für Ihren Anruf und die aufrichtige Besorgnis um Ihre Eltern!" Laurentine erwiderte den Dank und drückte auf "Auflegen".
Bevor sie noch wen anrufen würde wollte sie lieber erst frühstücken. So ging sie ins Bad und nahm eine Dusche. Als sie gerade angezogen war und sich überflüssigerweise noch einen Kaffee aufschütten wollte um zu frühstücken trällerte das Telefon. Sie ging an den Apparat und las ab, dass der Anruf von unten kam. Seit wann rief Catherine sie übers Telefon an? Sie nahm den Hörer ab und meldete sich mit: "Ja, bitte?"
"Joe hier. Öhm, du hast doch gestern erwähnt, dass deine Eltern irgendwo in Indonesien Urlaub machen, richtig?" hörte sie Catherines Mann im Telefonhörer. "Leider ja, Joe. Deshalb bin ich im Moment auch in totaler Alarmstimmung, weil ich die Nachrichten gehört habe", erwiderte Laurentine.
"Reicht dein Telefon bis zu uns runter?" fragte nun Catherine, die sich von Joe den Hörer hatte geben lassen. Laurentine bejahte das. "Gut, dann bring es bitte mit runter. Meine Schwiegereltern haben das gestern sehr interessant gefunden, wie ihr euch über eure Eindrücke von Amerika ausgetauscht habt. Sie haben ja erwähnt, dass sie diesen Sommer nochmal dahin wollen."
"Stimmt, hat Mrs. Brickston erwähnt", sagte Laurentine und merkte, dass es irgendwie harsch klang. Deshalb legte sie schnell nach: "Aber ich verstehe, dass sie gerne noch mehr davon wissen möchten, wo man da hin kann. Ich hoffe nur, dass ich nicht gleich ansatzlos zu weinen anfange. Nachher denkt deine Schwiegermutter noch, ich sei schwanger oder sowas."
"Wir haben gerade den Fernseher angehabt. War schwer, Claudine zu erzählen, was da genau passiert ist. Immerhin haben sie nicht das ganze Ausmaß der Katastrophe gezeigt", erwiderte Catherine. "Ich wurde mit dieser Horrormeldung geweckt, Catherine. Ich werde wohl doch darauf zurückkommen, was meine Tante Maren mal gesagt hat, dass sich keiner mit Nachrichtensendungen wecken lassen soll, wenn er oder sie morgens noch aufstehen möchte", entgegnete Laurentine.
"Ist wohl wwahr. Und wo du jetzt eindeutig aufgestanden bist darfst du mit uns allen Frühstücken", legte Catherine fest.
"Hast recht. Hier rumzusitzen und auf Anrufe zu warten bring's nicht wirklich. Ich komm runter", sagte Laurentine. Sie drückte die Auflegen-Taste und steckte sich das schnurlose Telefon in ihre linke Hosentasche. Wer was von ihr wollte konnte sie dann eben bei den Brickstons erreichen.
Auch wenn sie beim Frühstück erst ein wenig besorgt waren, weil Laurentine eben gestern erwähnt hatte, wo ungefähr ihre Eltern jetzt waren, kamen sie doch schnell auf das, was Joes Vater James und dessen Frau interessierte. Laurentine bot an, bei ihren Verwandten in den Staaten anzufragen, wo interessante Reiseziele außerhalb der üblichen Touristenmekkas lagen. "Na ja, voll ins Hinterland wollte ich dann echt nicht. Da soll's noch welche geben, die meinen, immer noch gegen uns Briten Krieg zu führen, weil wir deren Unabhängigkeit nicht akzeptieren oder so", meinte James Brickston. Seine Frau Jennifer verzog ihr Gesicht und grummelte, dass gerade diese Einstellung zum nordamerikanischen Hinterland solche Leute bestätigen würde. Laurentine erwiderte darauf, dass einerseits gerade die Vielfalt von Lebensarten und Traditionen den Reiz an einer USA-Reise ausmachte, andererseits aber auch bedenklich sei, wie isoliert manche Regionen seien, dass die nicht mitbekamen, was im Nachbarstaat oder gar im Rest der Welt abging. Beinahe hätte sie gesagt "Bis wer von denen bei einer Naturkatastrophe wie jetzt draufgeht." Das erschreckte sie. Deshalb sagte sie statt dessen schnell: "Solange die Welt nicht meint, deren Angelegenheiten regeln zu müssen."
"Da mag was dran sein", sagte James. "Aber wir nehmen Ihr Angebot sehr gerne an, Mademoiselle Hellersdorf." Laurentine bestätigte es. Solange sie nicht wusste, wo genau ihre Eltern waren und was genau mit ihnen war konnte sie jede Ablenkung gebrauchen, bis die Ferien vorbei waren. Claudine wollte dann noch wissen, was mit dem Wort "Hinterland" gemeint war, weil sie das natürlich so noch nicht kannte. Laurentine erklärte es ihr mit den einfachen Worten, die sie auch in der Schule benutzte, wenn sie was, das kompliziert rüberkam, irgendwie doch einfach erklären sollte. Das verstand Claudine. Jennifer fragte dann, ob "dieses Millemerveilles" dann auch eher Hinterland oder mitten im Geschehen war. Laurentine musste darüber lachen. Immerhin hatten die Brickstons aus Birmingham ja Millemerveilles kennengelernt, als sie zur Willkommensfeier ihres Enkels Justin dort hingebracht worden waren. "Viele da würden Millemerveilles als den wahren Nabel der französischen Zaubererwelt bezeichnen, Mrs. Brickston. Einige von da wünschen sich dagegen, dass sie eben diese schön abgeschiedene Hinterlandatmosphäre hätten, die sie vor sieben Jahren noch hatten. Aber seitdem ist einiges passiert, gutes wie weniger gutes. Zwar sitzt in Paris noch das Zaubereiministerium. Aber die da arbeiten hören schon ganz genau hin, wenn wer in Millemerveilles hustet. Ich fühle mich auf jeden Fall da sehr wohl, weil es eben nicht das Großstadtgetriebe ist und es da doch wie in einem kleinen Dorf zugeht, wo jeder jeden kennt und weiß, wie der eine tickt und die andere tackt. Aber das durften Sie beide ja mitbekommen, als wir die Willkommensfeier für Justin hatten", erwähnte Laurentine.
"Viel mehr als Catherines und damit auch Justins Geburtshaus haben wir ja nicht zu sehen bekommen. Aber sogesehen haben Sie wohl recht, wenn die Nachbarschaft da wesentlich familiärer ist und auch vor allem durch diese schlimme Sache mit der dunklen Zauberkuppel aufeinander angewiesen war", sagte Jennifer. Laurentine nickte und wollte gerade was dazu sagen, als ihr eingestecktes Telefon losträllerte. Sie nahm es mit einer Geste der Entschuldigung heraus und sah, dass es eine Nummer aus Deutschland war, aus Köln am Rhein um genau zu sein. Sie sah Catherine fragend an. Sie wusste, dass sie nicht in ihrem Arbeitszimmer sprechen konnte, weil der Dauerklangkerker jede Form von Mithören von außen abblockte. Das galt auch für Telefone. Aber sie durfte in die Küche. Dort nahm sie das Gespräch entgegen. Es war Joseph genannt Jupp, ein Vetter ihres Vaters. Mit ihm sprach sie deutsch, obgleich sie wieder mit dem Kölschen Dialekt klarkommen musste. Sie erwähnte, dass sie bisher nichts von ihren Eltern gehört hatte und die sich auch nicht bei ihr abgemeldet hatten. Sie erfuhr, dass er wiederum von einer Victoria Kenworthy aus den Staaten angerufen worden war, ob er wisse, wo ihr Onkel Simon genau hinverreist war wegen der Weihnachtskarten. Der hatte ihr aber keine Antwort darauf geben können, eben nur gehört, dass er auf einer Insel bei Indien oder Indonesien sein wollte. Den Tipp dafür hätte der wohl von einem seiner Kollegen von der Raketenabschussbasis bekommen. Laurentine bestätigte, dass das auch ihr Wissensstand sei. Dann wünschten sich beide noch Glück, dass Simon Hellersdorf wieder zurückkam. Laurentine wollte dem Verwandten aus der berühmten Dom- und Karnevalsstadt nicht aufs Brot schmieren, dass ihre Eltern und sie seit Mai endgültig geschiedene Leute waren und sie deshalb auch nicht wusste, wo ihre Eltern waren. Besser war's wenn das keiner der Verwandten mitbekam, wenn ihre Eltern das denen nicht weitererzählt hatten.
Wieder zurück im Esszimmer sagte sie nur, dass ihre Verwandten in Deutschland auch nicht mehr wussten als sie und hofften, dass man ihre Eltern noch finden würde.
Als sie wieder in ihrer eigenen Wohnung war schlug sie ihr ganz analoges Adressbuch auf und suchte nach Maren Iversen geborene Hellersdorf. Sie dachte dabei an den Urlaub vor zehn Jahren, wo sie eine Tour an Nord- und Ostsee gemacht hatten und dabei auch die drei norddeutschen Verwandten ihres Vaters besucht hatten. Sie rief bei ihr an.
Als sie ihrer Tante so behutsam wie möglich klargemacht hatte, dass ihr Vater nur was von einer Reise in die Südsee irgendwo bei Sumatra mitgeteilt hatte sagte ihre Tante: "Joh, den Tipp hat er wohl von seinem Kollegen gekricht. Aber das der dir das nich' gesacht hat, wo der und deine Mutti hinwollten is' komisch. Beim letzten mal, als ich mit dem geredet habe sachte der sowas, dass du jetzt nix mehr von dem wissen wolltest. Stimmt das?"
"Sagen wir es lieber so, Tante Maren, dass er und ich unterschiedliche Ansichten haben, wie ich mein Leben führen soll und wir das gerade so noch einvernehmlich geklärt haben, dass ich ohne ihn zurechtkommen soll, wenn ich schon nicht durch eine der Türen laufe, die er mir aufhalten wollte."
"Ach, die Sache mit deiner Ausbildung, wo der nichts davon sagen wollte, wo das is' und was du danach machst", erwiderte ihre Tante väterlicherseits. "Was is'n das jetzt, was du da machst?" Laurentine erklärte es ihr, dass sie nach der Abschlussprüfung eine Ausbildung zur Grundschullehrerin gemacht habe und jetzt in einer kleinen Stadt in der Provence unterrichtete. "Das is' dann klar, warum der Simon dann sauer war. Der hat gedacht, du wirst mal genauso'n Eierkopf mit dickem Konto wie der. Aber Grundschullehrerin, is' das nich' gefährlich? Man hört und liest ja so einiges, was an den allgemeinen Schulen so passiert, nich'?"
"Ja, bei den Hauptschulen, wo die Eltern und Schüler gleichermaßen frustriert sind, weil sie sich da wie auf's Abstellgleis geschoben fühlen. Aber das sind ja doch ganz wenige. Ich gebe Rechenunterricht und Sachkunde für die Zweit- bis Viertklässler. Und ob du es glaubst oder nicht, in dem Alter sind Kinder echt noch lernbegierig, nicht so wie Jungs und Mädels in der Pubertät, die meinen, bloß nichts lernen zu wollen, weil das ja uncool ist oder es wichtigere Sachen gibt als Schularbeiten oder Klassenarbeiten."
"So, dann sachst du denn Kinners wie das Einmaleins geht?" wollte Maren Iversen wissen. Laurentine bestätigte es. "Und wie ist's mit eigenen Kindern?" wollte sie dann noch wissen. "Erst mal nicht, Tante Maren. Ich bin froh, wenn ich in meiner Freizeit noch Ruhe haben kann."
"Joh, aber die beiden hoch aufgeschossenen, die bei deinem Opa Henri auf der Trauerfeier waren haben ja schon zwei Kinder, oder nicht."
"Du meinst meine Schulkameradin Mildrid und Julius? Neh, die haben keine zwei Kinder. Mittlerweile haben die drei Töchter und jeden Tag was neues damit. Sind schön und lustig, wenn sie für ein paar Stunden um einen herum sind. Aber für mich gilt da die Omaregel: Enkelkinder sind was schönes, weil man sie abends wieder abgeben kann."
"Tjaha, aber da musst du dann erst mal Mutti werden, bevor du Omi werden kannst, Mien Deern", erwiderte ihre Tante. Laurentine musste doch jetzt lachen und sagte: "Du weißt das ja ganz genau, wo du einen Witwer mit zwei kleinen Kindern geheiratet hast."
"Au haua, hat der Simon dir das doch gesteckt. Aber du weißt, was ich meine."
"Joh, weiß ich. Also wenn du was von Papa hören oder lesen solltest kannst du mich ja kurz anrufen, auch wenn er meint, nix mehr von mir wissen zu wollen. Aber besser das von ihm selbst zu hören als dass die den tot aus dem Ozean fischen", sagte Laurentine und erschauerte über das, was sie da gerade gesagt hatte.
"Besser is' das", erwiderte ihre Tante Maren.
Sie verabschiedeten sich noch voneinander, dann beendete Laurentine den Anruf. und hielt den Telefonapparat in der Hand, weil sie überlegte, was sie damit noch machen konnte.
"Klar, dass der den allen nicht auf die Nase binden will, warum der mit mir nichts mehr zu schaffen haben will", grummelte Laurentine. Dann fiel ihr ein, dass sie lieber hoffen sollte, dass ihre Eltern noch lebten. Auf so einer Insel gab es sicher Anhöhen oder Berge, wo sie vor Tsunamis sicher waren. Sie dachte daran, dass sie die wegen des Fortpflanzungsgases entstandenen Mehrlingsgeburten einmal als "Babytsunami" bezeichnet hatte und erst dann, als Julius sie gefragt hatte, ob Millie das Wort in ihrer Zeitung benutzen durfte erkannt hatte, dass das Wort nicht angebracht war. Wohl wahr, gut dass sie das da noch rechtzeitig abgeblockt hatte. Doch wen sollte sie jetzt noch anrufen? Sie beschloss, das Internet abzusuchen, was über das Beben berichtet wurde und da Stichworte wie "Französische Touristen" und "Französische Individualreisende" einzugeben. Vielleicht hatte wer auch immer ihre Eltern doch vermerkt und auf seiner oder ihrer Internetseite angegeben, als das Erdbeben und die Tsunamis gewütet hatten.
wie zu befürchten stand war das Internet gerade voll von Meldungen und Berichten über die Naturkatastrophe im Indischen Ozean. Ihre Suchanfrage bezüglich französischer Touristen lieferte mehr als 30.000 Treffer. Die alle zu prüfen war eine ganze Woche Arbeit, wenn sie keine Minute Schlaf dazwischenschob. Sie dachte daran, dass Nathalie Grandchapeaus Büro eigene Suchprogramme für alles mögliche auf den Rechnern laufen hatte. Sollte sie Madame Grandchapeau bitten, nach ihren Eltern zu suchen? Nach ihrem Abgang aus dem Ministerium konnte sie da nicht so große Pauken hauen wie jeder andere. Aber sie wusste, dass Julius Latierre nun ganz und gar bei Nathalie im Büro arbeitete. Also wollte sie ihn fragen, was ging.
Mit einer kleinen Prise Flohpulver entzündete sie ein smaragdgrünes Zauberfeuer in ihrem Kamin im Wohnzimmer. Sie knite sich davor hin und steckte den Kopf in die lodernden Flammen. Diese fühlten sich nur so warm wie eine Sommerbrise aus dem Süden an. "Pomme de la Vie!" rief sie in die grünen Flammen hinein. Es ruckelte nur kurz. Dann erlosch das grüne Feuer mit einem leisen Wuff. Also war der ausgerufene Zielkamin gerade unerreichbar. Dann waren die Latierres offenbar unterwegs oder bei ihren Verwandten in diesem Schloss an der Loire. Da kam Julius garantiert nicht an einen Rechner heran. So beschloss sie, ihm ihre Eule zu schicken. Die würde ihn auf jeden Fall finden.
Erst schrieb sie einen kurzen Brief, in dem sie erwähnte, dass ihre Eltern wohl gerade auf einer Insel bei Sumatra Urlaub machten und dass sie sich sehr große Sorgen machte, dass sie dem Erdbeben oder einem der diesem folgenden Tsunamis zum Opfer gefallen sein könnten. Dann bat sie darum, dass er anfragen möge, ob nach ihren Eltern gesucht werden könne, da sie nicht die Zeit und Ausdauer hatte, über 30.000 Suchergebnisse zu französischen Touristen im Bereich Indischer Ozean durchzugehen und eine Namenssuche keinen Treffer außer im Bezug auf den Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana ergeben hatte. Als sie den Brief beendet und in einen Umschlag gesteckt hatte schlich sie so leise sie konnte auf den Dachboden, wo sie und die Brickstons ihre Posteulen hielten. Ihre seit zwei Jahren eigene Waldohreule schlief gerade mit dem Kopf unter dem linken Flügel. Doch sie sah ihre Besitzerin sofort an, als die ihr näher als einen Meter kam. "'tschuldigung, dass ich dich geweckt habe, Lucille, aber ich möchte gerne mit Julius Latierre reden. Bring den Brief hier zu Julius Latierre!" sagte sie und band den Umschlag an Lucilles rechtes Bein. Die drei Jahre alte Eule nickte wie ein Mensch und spannte die Flügel aus. Damit löste sie die auf solche Bewegungen ansprechende Dachluke aus. Sie stieß sich ab und flog mit lautlosen Flügelschlägen hinaus in den Wintermorgen von Paris. Wer sie sehen mochte würde hoffentlich denken, dass er oder sie sich das nur einbildete. Als Lucille schon zehn Meter vom Haus fort war klappte die Dachluke behutsam wieder zu und verriegelte sich. Laurentine nickte nun auch und kehrte so leise sie konnte in ihre eigene Wohnung zurück. Durch den Fußboden hörte sie, wie sich Joe und seine Mutter darüber in der Wolle hatten, ob Babette wirklich nur die Zaubererweltsachen lernen sollte oder nicht nach der Hexenschule auch noch die für ein Zaubererweltloses Leben nötigen Sachen lernen konnte, um unabhängiger zu sein. Babette schien offenbar nicht im Haus zu sein, weil die das garantiert nicht hingenommen hätte, dass wer über sie sprach, ohne sie dabeizuhaben. Gut, sollten die Brickstons das selbst klären, dachte Laurentine, als es zaghaft an ihre Wohnungstür klopfte. Laurentine wirkte den von Catherine eingerichteten Türdurchblickzauber und sah Claudine, die mit ziemlich betretenem Gesicht wartete. Sollte sie sie reinlassen? Im Moment war sie nicht so recht in Stimmung, Catherines und Joes jüngere Tochter zu bespaßen. Doch dann fand sie, dass sie gerade nichts mehr machen konnte, um zu klären, was mit ihren Eltern los war. Im Moment sollte sie vielleicht für jede Ablenkung dankbar sein, die sie vom Grübeln und Bangen abhielt. "Ich mach auf, Claudine", sagte Laurentine.
"Ich weiß nicht, was Oma Jenn hat. Die wollten mich auch nicht zuhören lassen, weil die was wegen Babette zu reden haben. Opa James ist im Gastschlafzimmer und Babette ist mit dem Grünen Feuer weggefaucht, irgendwas mit Sonnengarten."
"Och, ist die bei der Denise in Millemerveilles?" fragte Laurentine. "Und deine Maman will jetzt mit deiner Granny Jennifer reden, was Babette nach der Schule machen will oder nicht?"
"Genau", sagte Claudine. "Ich habe mal rumgefragt, ob wer was von meinen Eltern mitbekommen hat. Aber von denen, die ich mit dem Telefon rufen und sprechen konnte weiß das keiner. Das Internet ist viel zu voll mit Geschichten, was denen bei dem Erdbeben und den Riesenflutwellen so passiert ist. Deshalb kriege ich auch da nicht mit, was mit meinen Eltern ist. Deshalb warte ich jetzt hier, ob mir wer was dazu schreibt oder mich anruft", erwähnte Laurentine, damit Claudine wusste, woran sie gerade bei ihr war.
"Und der Julius? Der hat doch auch so'n Rechnerding wie Papa", sagte Claudine. "Dem habe ich meine Eule geschickt, weil der gerade nicht zu Hause ist. Der feiert sicher noch mit Millie, Rorie, Chrysope und Clarimonde in dem Schloss von Millies Mémé Ursuline", erwiderte Laurentine.
"Ach, das Sonnenblumenschloss. War ich doch mal mit Miriam und ihrer Maman. Heißt einfach nur Sonnenblumenschloss."
"Ich bin da bisher nicht gewesen. Aber wenn die da noch alle feiern will ich denen nicht dazwischenkommen. Die Lucille findet den Julius ja dann auch da."
"Und was machst du jetzt?" wollte Claudine wissen. Fast hätte Laurentine gefaucht, dass sie sie nicht mit solchen Fragen nerven sollte. Doch andererseits war das irgendwie rührend, dass Claudine sich mit ihren gerade sieben Jahren so für ihre Mitbewohnerin interessierte. So atmete sie einmal ein und wieder aus, um die Angespanntheit zu überwinden und antwortete: "Tja, im Moment nur warten, dabei vielleicht Musik hören oder ein Buch lesen, irgendwas, was nicht zu anstrengend ist."
"Wir können doch das Fragenspiel spielen, dass ich von Oma Jennifer gekriegt habe. Oder bist du ganz traurig?"
"Im Moment ist das eher Angst und Sorge, weil ich eben nicht weiß, was genau ist, Claudine. Aber dann musst du das Fragenspiel, das Trivial Persuit Junior heißt, von unten hochbringen. Aber dann können wir das gerne spielen", sagte Laurentine. Claudine strahlte sie an wie alle Lichter auf Laurentines Weihnachtsbaum, den sie von Camille durch den Kamin gebracht bekommen hatte. Sie hielt ihre Hände so, als hielte sie das Spiel bereits und konzentrierte sich. Laurentine wollte schon sagen, dass sie das ohne Zauberstab wohl nicht so einfach bei ihr ankommen lassen konnte, als es vernehmlich ploppte und aus einem kurzen Flimmern heraus die Packung mit dem Wissenspiel für Kinder zwischen sieben und vierzehn Jahren in Claudines kleinen Händen lag.
"Hallo, das konnte ich mit sieben Jahren aber nicht machen", sagte Laurentine erstaunt und auch ein wenig erschrocken, dass die jüngere Tochter Catherines mit sieben schon apportationszauber konnte und das noch ohne Zauberstab. "Ich kann das schon länger. Heilertante Hera sagt, dass ich aber nur da das machen darf, wo ich wohne und nur mit dem, was nur mir gehört."
"So, die Tante Heilerin Hera weiß das schon, dass du das kannst. Und deine Maman weiß das auch?" fragte Laurentine. "Ja, weiß die. Aber die will das Papa nicht sagen, weil der keine Angst vor mir haben soll, dass ich dem was wegzauber, was dem gehört", sagte Claudine. Laurentine sagte jetzt ganz eine Lehrerin: "Ja, und da hat deine Maman auch ganz recht, denn dein Papa darf keine Angst vor dir kriegen, weil er dich sonst nicht mehr lieb hat. Ist ja für ihn schon ganz schwer, dass Babette richtig zaubern gelernt hat und immer noch was neues beigebracht bekommt. Klar, der weiß, dass du auch mal in die Beauxbatons-Schule gehen wirst, wie deine Oma Blanche, deine Maman, Babette und ich. Aber das möchte er nicht immer unter die Nase gehalten kriegen."
"Ja, ist wohl so", sagte Claudine, der der Stolz, ihrer Lehrerin schon gezeigt zu haben, was sie ohne Zauberstab zaubern konnte, einer gewissen Beschämtheit wich. Doch dann lächelte sie wieder. "Aber dann können wir jetzt spielen, oder magst du nicht mehr?"
"Doch, wenn da alles in der Schachtel drin ist um zu spielen mag ich", sagte Laurentine und lächelte ihrerseits. Kinder konnten einen mit ihrem Unschuldslächeln doch echt jede Wut und jede Angst nehmen. Ja, und das tat ihr gerade ganz gut.
So setzten sie sich beide an den Wohnzimmertisch und fingen an, das Wissensspiel für mittlere und große Kinder zu spielen, jetzt wo Claudine schon alle Buchstaben lesen und auch schreiben konnte.
Ui, Wir haben eine Menge Eulenpost gekriegt, und eine von den Eulen sitzt noch draußen in einem der Kirschbäume", sagte Millie. Julius bestätigte es und sortierte die über die beiden Tage angelieferte Post. Da waren vor allem Briefe aus den Staaten, von Waltraud Eschenwurz aus Deutschland und den Verwandten von Apolline Delacour, aber auch Briefe aus Südspanien von Millies fernerer Verwandtschaft. Als er einen Brief von Laurentine Hellersdorf fand wunderte er sich zunächst. Doch dann las er, was ihr auf der Seele lag und nickte. "O ha, Laurentine schreibt, dass sie über viele Ecken gehört hat, dass ihre Eltern irgendwo auf einer Insel bei Sumatra Urlaub machen und bis zum zehnten Januar wegbleiben wollten. Jetzt macht sie sich Gedanken, ob denen was passiert ist und fragt, ob ich unsere Suchprogramme für Leute oder Vorkommnisse einsetzen kann, um ihre Eltern zu finden, weil sie auf ihre erste Suchanfrage über dreißigtausend Treffer bekommen hat, also mögliche Suchergebnisse", erwähnte Julius. Millie, die gerade die Reisetaschen auspackte und die Festgarderobe von ihr, Julius und den Kindern in den Wasch-Trocken-Schrank hängte erwiderte: "Huch! Ich dachte, die werten Eheleute Wir-haben-keine-Hexentochter wollten nichts mehr von ihr wissen, genauso wie ihre römisch-katholische Großmutter."
"Vielleicht sind denen die drei Geister der Weihnachtszeit erschienen, von denen ich dir und den zwei größeren Prinzessinnen erzählt habe", erwiderte Julius darauf. "Ja, das wird's sicher sein", lachte Millie. Dann wurde sie wieder ernst. "Und jetzt macht sie sich Sorgen, ob ihre Eltern noch am Leben sind. Ist da also echt so eine Tsunamiwelle über die Küsten gerollt?" Julius las die betreffende Stelle noch einmal laut vor. "Ui, mehr als zwei. Dann sollten wir hoffen, dass die Beiden Zaubererweltignoranten sich noch auf einen hohen Berg oder einen Baum haben flüchten können, der von der Welle nicht umgehauen wurde. Wie kannst du ihr helfen?"
"Wir im Büro für friedliche Koexistenz haben mehrere Suchprogramme, die nach Stichworten und Namen suchen können oder auch bestimmte Personen suchen, wenn wir computerlesbare Bilder von denen haben. Ich habe mir beim Neueinrichten meines eigenen Rechners im Baumhaus auch alle Suchprogramme installiert. Aber erst mal möchte ich mit Aurora Dawn sprechen, was die in Australien erlebt haben."
"Die haben da gerade elf Uhr abends, Monju", sagte Millie und zupfte noch etwas am jadegrünen Festkleid herum, bevor sie die Tür des Wasch-Trocken-Schrankes schloss.
"Können wir klären", sagte Julius und wandte sich der gemalten Ausgabe Aurora Dawns zu. Diese nickte heftig und verschwand, bevor er noch was fragen konnte. Das legte er so aus, dass er das Orichalkarmband anlegen sollte, mit dem er mit ihr und elf anderen Besitzern eines solchen Schmuckstücks Bild-Sprech-Verbindung aufnehmen konnte.
Keine zwanzig Sekunden später erschien die räumliche Darstellung Aurora Dawns frei im Raum zwischen Millie und ihm schwebend. Aus dem Armband kam ihre erleichterte Stimme: "Ein Glück, du hast es offenbar nicht so heftig abbekommen, wo du doch auf Erdzauber eingestimmt wurdest."
"Hallo Aurora, erst mal hoffe ich, dass ihr wenigstens einen schönen Weihnachtstag hattet. Ja, und danke der Nachfrage. Ich bin da wohl gerade so noch dem Wahnsinn und dem Tod von der Mistgabel gehüpft, aber wie genau möchte ich auf dem Weg nicht verraten, auch wenn die Verbindung unabhörbar ist. Jedenfalls gibt's mich noch. Und was ist bei euch alles kaputtgegangen?"
"Gringotts ist weg, Julius. Die ganze australische Zaubererwelt hat gerade kein Gold, Silber und Bronzevermögen mehr", erwiderte Aurora Dawn. Millie pfiff durch die Zähne. "Ja, wo Gringotts war ist jetzt ein Krater, und die halbe Sonnenstrahlstraße ist von ehemaligen Wachdrachen der Kobolde verwüstet worden."
"Und die Kobolde?" fragte Julius.
"Soweit ich von meiner Chefin mitbekommen habe gibt es in Australien keine lebenden Kobolde mehr, auch keine Schwarzfelskobolde. Da wo welche waren sind Hohlräume in die Erde gesprengt worden. Die Sano ist in voller Notfallbehandlung für Radioaktivitätsopfer, weil diese Hohlräume eine Menge dieser Strahlung abgeben und die Hexen und Zauberer, die diese Sprenglöcher untersucht haben eine Menge davon abbekommen haben. Ich soll mich bereithalten, notfalls auch Strahlenopfer zu behandeln oder die Grundtränke für Skelewachs zusammenzubrauen, damit die vorsorglich deskelettierten Patienten neue, unverseuchte Knochen kriegen, falls das nötig sein sollte."
"Häh?!" machte Millie. Da kam Béatrice hinzu und grüßte die Kollegin am anderen Ende der Welt. "Hallo, Béatrice. Ich habe es gerade deinen Heimstattgebern gesagt, dass wir hier im Land unten drunter gerade die totale Katastrophe haben. Unser Zahlungs- und Goldverwahrungssystem ist mit Gringotts in einem großen Krater verschwunden, alle Kobolde auf australischem Boden sind entweder zu überaltert aussehenden Leichen geworden oder gleich ganz zu Staub zerfallen, wohl wegen dieser mysteriösen Weihesteine von denen. Keiner hier hat im Moment mehr Gold als das, was er oder sie gerade noch im eigenen Beutel hat. Außerdem sind die Schwarzfelskobolde alle auf einen Schlag vernichtet worden, was eigentlich ein Segen ist. Aber weil die dabei eine Menge radioaktivstrahlende Asche hinterlassen haben müssen wir hier in Australien jetzt hunderte von Zauberwesenfachleuten gegen die Strahlenseuche behandeln, weil die so unwissend waren, da ohne Schutzkleidung ranzugehen. Deshalb bin ich auch noch auf, weil ich einen Grundtrank für den Knochenerneuerungstrank Skelewachs fertigbrauen soll. Geht nämlich nur mit Alraunensud und Grünwurzfasern."
"Aber Flohpulver geht bei euch noch, und die Bilderverbindungen auch?" fragte Béatrice, die sich schnell hinsetzte, um nicht aus den Schuhen zu kippen. "Ja, das alles geht noch. Aber vieles, was mit Erdelementarzaubern zu tun hat ist entweder explodiert, in grün-rotem Elmsfeuer verbrannt oder einfach nur unbrauchbar. Deshalb habe ich mir ja heftige Sorgen um deinen Schützling gemacht, weil der sich ja auf Erdelementarzauber spezialisiert hat."
"Keine Sorge, Aurora, der war bei mir gut in Verwahrung", erwiderte Béatrice. Julius errötete ein wenig. Da sagte Béatrice noch: "Aber wie genau ich ihm habe helfen können möchte er nicht verraten. Heilergeheimnis." Aurora nickte, auch wenn sie Julius' Reaktion anstachelte, nachzuhaken. Doch gerade sie hatte das Heilergeheimnis zu achten, Stichwort Rosey. So sagte die australische Heilerin: "Unser Handelsabteilungsleiter liegt auf Station in der Sano, weil ihn das alles ziemlich heftig mitgenommen hat, die Ministerin hat eine Notstandsregel in Kraft gesetzt, dernach alle für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und öffentlichen Verkehrswege zuständigen Hexen und Zauberer bis auf weiteres unentlohnt arbeiten sollen, deren Stunden jedoch aufgeschrieben werden, um sie später, falls wir wieder sowas wie ein Zahlungssystem haben, entlohnt zu werden. Morgen will sie mit den Betreibern von Lebensmittel- und Trankzutatenherstellern konferieren, wie sie ihre Ware verkaufen können ohne Galleonen, Sickel und Knuts. Bis dahin sollen wir alle mit dem haushalten, was wir gerade noch an Gold haben. sie gab im Stern des Südens und allen anderen Nachrichtenverbreitern bekannt, dass im Moment kein Gold den Besitzer wechseln soll, sofern es nicht für ganz notwendige Anschaffungen sei. Aber im Grunde haben wir hier jetzt alle sehr viel Gold und Wertgegenstände verloren. Die am wohlhabensten waren hat es dabei am heftigsten getroffen. Einige haben sogar schon auf die Ureinwohner geschimpft, weil die ja mit ihrem großen Reinigungsritual die im ganzen Land eingelagerte Erdmagie aufgebaut haben. Aber das hat die Ministerin gleich von vorne herein untersagt, weil wir ohne dieses Ritual heute alle bissige Schlangenmenschen wären. Ob dieses Machtwort von ihr reicht ist aber fraglich. Und was ist bei euch passiert?"
"Da haben wir noch nicht viel mitbekommen. Dass es auch in Frankreich Ausfälle bei den Kobolden gab wissen wir nur über die privaten Kontakte meiner Schwiegeroma", sagte Julius. "Ja, und die Kobolde selbst, sofern die noch leben, werden es uns nicht aufs Brot schmieren, was genau alles bei denen kaputt ist. Aber die Leute werden das frühestens am Tag nach Neujahr merken, wenn Gringotts nicht so gut zu erreichen ist wie es sein soll", fügte Millie hinzu.
"Kann sein, dass du, Julius dann vor Silvester noch ins Ministerium musst, wenn die da jeden brauchen, der was mit Zauberwesen zu tun hat", vermutete Aurora Dawn. Julius schüttelte den Kopf und erwiderte, dass die ihn ja aus der Zauberwesenabteilung rausgeekelt hatten, weil da einige Neidhammel nicht mit klar kamen, dass er mal eben hundert Vampirabwehrartefakte bestellen konnte und weil er nicht verraten durfte, was er an tollen Zaubern konnte. Dazu bemerkte Béatrice: "Na ja, kkönnte der guten Ministerin Ventvit nur einfallen, dass sie dich als Kontakter zwischen magischen Menschen und menschenähnlichen Zauberwesen in ihre eigene Notfallmannschaft einberuft. Insofern ist es gut, dass du dich so schnell von dieser Entladungsfront Erdmagie erholt hast." Dem wollte Julius nicht widersprechen, auch nicht, um nicht doch noch auszuplaudern, wie genau er der Wucht dieser Entladungsfront entkommen war.
"Wie lange hast du offiziell noch Urlaub, Julius?" fragte Aurora Dawn. "Bis zum zweiten Januar, Aurora. Aber wenn ich echt zu denen gehöre, die im Notfall die Ordnung aufrecht halten sollen hätte ich sicher schon heute morgen eine Eule von meiner Vorgesetzten gekriegt. Die einzige dringliche Eule ist von einer Schulkameradin, die Angst hat, dass ihre Eltern von einem der Tsunamis erwischt wurden. Dem möchte ich nachher noch nachgehen, sollte die Ministerin mich nicht echt noch einbestellen und einberufen und ..."
Die magische Türklingel spielte die Melodie des Kinderliedes "Wie leuchtet mir der Apfelbaum". "Oh, Hat ein Drache seinen Namen gehört?" fragte Aurora. "Ja, oder die Maus", erwiderte Julius in Anlehnung des französischen Sprichwortes: "Die Maus kommt gerannt, wird ihr Name genannt." In Deutschland, so wusste es Julius, wurde dafür der Teufel bemüht.
"Gut, dann machen wir hier besser Schluss", sagte Aurora Dawns räumliches Abbild. Julius bestätigte es und wünschte ihr und allen australischen Hexen und Zauberern trotz der Katastrophe alles gute und alles Glück. Dann apparierte er in die Empfangshalle.
Vor der Tür wartete jedoch nicht etwa die Zaubereiministerin, sondern Hera Matine. Diese entspannte sich, als Julius sie freundlich anlächelte. "Ah, dir geht es offenbar noch gut. Ich hatte schon befürchtet ... aber besser in eurem kleinen Dauerklangkerker", sagte sie zur Begrüßung. Julius rief nach oben durch, dass Hera Matine gekommen war.
Im Abhörschutz des kleinen Arbeitszimmers unterhielten sich Hera, Béatrice, Millie und Julius dann über die Ereignisse der letzten Nacht. Julius erwähnte lieber von sich aus, was genau ihn vor Wahnsinn oder Tod bewahrt hatte.
"Oh, dann hätte ich dich ja im April ja beinahe selbst auf die Welt zurückholen dürfen", meinte Hera Matine dazu. "Offenbar dein und auch Ashtarias Glück, dass ihr drei euch auf diese höchst seltene Übereinkunft eingelassen habt", fügte sie hinzu. Bei der Gelegenheit untersuchte sie die zwei Patientinnen noch einmal und stellte fest, dass die drei auf zwei Schwangere verteilten Föten gesund waren und offenbar ganz ordentlich heranwuchsen. Sie untersuchte auch Julius und bestätigte Béatrices Anordnung bezüglich des Gerinnungshemmtrankes, wobei sie aber dem hinzufügte, dass er dann aber auf keinen Fall größere Verletzungen hinnehmen durfte, die nicht mit einem Wundheilzauber zu beheben waren. Ansonsten attestierte sie ihm körperliche und geistige Unversehrtheit. Dann erwähnte sie, dass es auch in der Delourdesklinik zu Ausfällen aller auf Erdmagie ausgelegten Messgeräte gekommen war, jedoch keine Zerstörungen,nur eine spontane Ermüdung der betreffenden Vorrichtungen. Was die Kobolde anging wollte sich Zunftsprecherin Eauvive noch mit deren Chefheiler unterhalten, auch um zu wissen, ob Gringotts Paris im neuen Jahr wieder eröffnen konnte. In Millemerveilles sei es jedoch zu keinen körperlichen oder thaumaturgischen Ausfällen gekommen. Eleonore Delamontagne hatte Pierroche, den Zweigstellenleiter, aufgesucht und sich mit ihm beraten, wie die Bürgerinnen und Bürger von Millemerveilles Zahlungsanweisungen weitergeben konnten. Der hatte dann gemeint, dass sie die entweder erst mal gut weglegen oder besser gleich auf den Abfallhaufen werfen sollten. Denn Paris schweige wie ein Grab, und das Stammhaus in London sei wohl gerade auch nicht erreichbar.
"O, und die wissen auch, warum die hier so unbehelligt geblieben sind?" fragte Julius. "Ja, wissen die wohl", sagte Hera mit verwegenem Grinsen. "Vielleicht bekommt ihr doch noch ein Dankesschreiben von denen, weil ihr diesen auf verschiedene Elementarkräfte bauenden Schutzzauber gewirkt habt. Na ja, aber ohne Gegenstellen können die von hier aus auch keine Geschäfte machen, ist so wie auf einer kleinen Insel mitten im Meer, ohne Boten, ohne Nachrichten von außen. Deshalb haben Pierroche und Eleonore sich darauf verständigt, dass die Leute von hier nur hier mit Galleonen, Sickel und Knuts bezahlen, die sie gerade mithaben und erst zu ihnen hinkommen, wenn sie was aus ihren Verliesen holen müssen, nicht vorher."
"Und was sagen die Heiler?" wollte Julius noch wissen.
"Das weiterhin gilt, dass jeder Patient erst behandelt wird und erst später berechnet wird, was die Behandlung kostet", antwortete Hera Matine.
"Vielleicht können die Kobolde morgen auch schon wieder aufmachen und bis Neujahr ihr Botensystem für Zahlungsanweisungen reparieren", hoffte Julius. Doch innerlich war er nicht so optimistisch. Denn er wusste nicht, was genau bei den Kobolden alles ausgefallen war und ob es einfach nur reichte, die Sicherungen wieder reinzudrehen und alle Systeme hochzufahren oder gar, wielange dieses Hochfahren dann dauern würde. Millie meinte dazu mit gewisser Besorgnis in der Stimme:
"Könnte auch passieren, dass die in Europa lebenden Zwerge, die ja auch erdverbunden sind, das als Angriff auf sie missdeuten oder auch, dass sie jetzt die Gelegenheit wittern, den Kobolden das Goldverwahrungsmonopol wegnehmen zu können, je danach, wie heftig es sie auch erwischt hat und wielange die Kobolde für einen Neuanfang brauchen und wie der überhaupt aussehen soll. Am Ende kriegt jeder und jede von uns gerade mal hundert Galleonen in die Hand gedrückt und die Empfehlung, sehr sparsam damit zu sein, weil die nicht verraten wollen, wielange die brauchen."
"Ich stell mir gerade vor, was ist, wenn alle Zentralbanken ausfallen, die EZB in Europa, die Fed in den Staaten und so weiter. Ein weltweiter Stromausfall wäre genauso heftig für die Nichtmagier."
"Ja, ich fürchte, die ersten Völker Australiens oder Indonesiens oder wer auch immer diese starke Erdmagie erzeugt hat, haben der europäisch geprägten Zaubererwelt keinen großen Gefallen erwiesen", sagte Hera. "Das könnte noch böses Blut geben", fügte sie hinzu.
"Könnte echt passieren. Aurora Dawn hat es uns bevor du kamst schon angedeutet, dass die in Australien noch heftiger betroffen sind. Wir können ja zumindest noch hoffen, dass unsere Vermögenswerte in den Verliesen noch da sind. Aber bei denen ist buchstäblich alles in Asche und Rauch aufgegangen und vom Erdboden verschluckt worden", berichtete Julius. "Die sind total besitzlos, pleite, bankrott, wortwörtlich abgebrannt."
"O, dann werde ich mal die gute Antoinette fragen, ob die sich schon mit ihren Zunftsprecherkolleginnen und -kollegen unterhalten hat, weil wir ja auch Heilkräuter und fertige Heilmittel zwischen den Erdteilen versenden. also, ich darf und werde euch alle drei weiterhin betreuen. Das werde ich auch an meine auswärtigen Patienten und Patientinnen weitergeben", sagte Hera Matine. Sie bedankte sich dann noch für den Bericht aus Australien. Dann verließ sie das Apfelhaus wieder.
"Darf ich euch beiden hübschen für ein bis zwei Stunden mit den beiden Größeren und der Kleinen alleine lassen?" fragte Julius Béatrice und Millie. Béatrice kam Millie mit einer Antwort zuvor: "Wenn es um die Anfrage von Laurentine geht krieg es bitte in einer Stunde hin und verlier dich nicht wieder in diesem Gewirr so vieler Nachrichten! Du weißt ja, was wir beiden besprochen und beschlossen haben." Julius beherrschte sich, nicht loszuknurren. Er nickte statt einer gesprochenen Antwort. Dann verließ er auch das Apfelhaus, um in seinem Baumhaus außerhalb der Grundstücksgrenze den Rechner und das Satellitenmodem hochzufahren, um dem entgegenzusehen, was im Internet unterwegs war. Wenn Laurentine schon was von 30.000 Treffern bei den Stichworten "Französische Einzeltouristen Pauschaltouristen Indischer Ozean" bekam, wie sollte er dann die Suchprogramme auf ihre Eltern einstellen?
Zunächst prüfte er seine E-Mails. Die in den Staaten hatten es noch in den Spätabendnachrichten mitbekommen, schrieb Brittany Brocklehurst, weil er ja das Armband nicht mitgenommen hatte. Er möge sich bitte bei ihr melden, wenn er wieder im Apfelhaus sei. Er bestätigte die Nachricht und erwähnte, dass er gegen neun europäischer Ortszeit mit ihr über die schnelle Verbindung sprechen würde. Vielleicht waren die Staaten auch noch gut wegekommen. Doch wenn die Entladungswellen sich kreisförmig ausgebreitet hatten waren sie vielleicht von Osten und Westen über den amerikanischen Kontinent gejagt. Ja, sicher waren sie auch zweimal über den europäischen Kontinent hinweggerollt, weshalb er von Ashtaria so außergewöhnlich abgeschirmt worden war.
Was Laurentine anging, so schrieb er sie an, sie möge ihm falls vorhanden digitale Fotos ihrer Eltern schicken oder Bilder, wenn sie noch welche hatte, einscannen und ihm die Bilddateien schicken, damit er diese, sofern er die Erlaubnis von Nathalie Grandchapeau erhalte, in die Personensuchprogramme einbauen konnte. Sie könne aber jetzt auch wieder ihren Kopf durch den Kamin schicken oder direkt zu ihm herüberkommen, falls sie das wolle. Dann fütterte er seine Ableger der benutzten Suchprogramme mit den Namen ihrer Eltern und dem Reiseziel Sumatra und Umgebung. Vielleicht kam da ja doch schon was bei herum. Dann las er, dass vor allem Indonesien ziemlich übel erwischt worden war und in Banda Aceh sehr viele Menschen auf einmal gestorben waren, aber auch Touristenregionen wie die Thailändischen Inseln und Srilanka stark betroffen worden waren. Sogar an der ostafrikanischen Küste hatte es einzelne Todesopfer gegeben, die aber nur deshalb, weil sie da gerade schwammen oder mit kleinen Booten fuhren. Ja, er verstand, warum die Erdvertrauten von Altaxarroi vor Goorwurrullon Madrashai warnten, die große Wut der Erdmutter. Dabei fiel ihm wieder ein, dass ja auch die Verschmelzung aus Anthelia und Naaneavargia davon betroffen worden sein konnte. War die dabei vielleicht getötet worden? Dann wäre aber jetzt wirklich die Hölle los. Denn der Fluch der Windmagier, von denen sie abstammte, würde sie in einen Windelementargeist mit unvorstellbarer Kraft verwandeln. Dann aber regte sich die ironische Hoffnung, dass sie ja auch das Lied der starken Mutter Erde kannte und es entweder schon vor ihm verwendet hatte, aber auf jeden Fall nach dem mit den Kindern Ashtarias und Millie ausgeführten Schutzzauber für Millemerveilles darauf gekommen sein mochte, es auch für ihr Hauptquartier zu verwenden. Sollte er ihr eine Eule schicken oder jenen Zauber benutzen, den sie verwendet hatte, als sie merkte, was er in Millemerveilles gezaubert hatte? Nein, er wollte nicht am Spinnennetz wackeln, wenn es nicht unbedingt sein musste wie damals bei Ladonnas Rückkehr. Dann fiel ihm ein, wie die wohl auf die Entladungsfront Erdmagie reagiert hatte, ja überhaupt alle Veelastämmigen. Das ging ihn durchaus was an. Deshalb fuhr er schon mal alles herunter, um keine Störungen zu verursachen. Dann konzentrierte er sich auf Léto und mentiloquierte ihr zu, ob es ihr gut ginge.
"Außer, dass wir in dieser Nacht alle aus dem Schlaf gerüttelt wurden und uns aus dem reinen Überlebenstrieb in unsere flugfähigen Zweitgestalten verwandelt habenund mehr als zwei Minuten wild herumgeflogen sind haben wir diesen Sturm unter der Erde gut überstanden", schickte sie ihm zurück. "Dann wird Ladonna wohl auch so davor bewahrt worden sein, noch wahnsinniger zu werden als sowieso schon."
"Oha, hoffe mal nicht, dass eine von uns dem völligen Irrsinn verfällt, Julius. Eine unbeherrschte und unbeherrschbare Tochter Mokushas könnte zum schlimmsten aller Angstträume für euch Menschen werden, ja womöglich in diese selbst hineinwirken, wenn ihr schlaft. Also hoffe lieber, dass sie noch bei dem ist, was klarer Verstand genannt werden muss. Denn bisher hat sie ja doch sehr Planvoll und zielführend gehandelt", gedankensprach Léto. "Ach ja, die zwei, die neu aufwachsen dürfen, blieben von der Auswirkung dieser Macht auch verschont, weil sie eben noch sehr jung sind und ja auch kein Wissen um die tiefen Kräfte haben, bis diese in ihnen neu heranreifen. Nur für den Fall, dass du dich um das Leben des im Schoße der eigenen Gefährtin eingeschlossenen ehemaligen Zaubereiministers sorgen mochtest." Julius bekam erst einen Schrecken, atmete aber gleich wieder auf. An Demetrius hatte er nur in der Nacht gedacht, als er dessen Lage nachempfinden musste. Doch wenn unschuldige Veelakinder noch nicht von heftigen Erdzaubern betroffen werden konnten, ja auch wegen ihrer Verbundenheit mit den anderen drei Grundkräften der Natur vor überstarken Erdzaubern geschützt waren konnte er doch aufatmen. Als er auf seine Uhr sah erkannte er, dass er schon eine Minute vor der von Béatrice festgelegten Stunde war. So kletterte er schnell aus dem Baumhaus hinunter. Ließ dessen Leiter wieder hochklappen und apparierte dann direkt im großen Empfangs- und Festraum im Erdgeschoss des Apfelhauses.
Gegen vier Uhr nachmittags bat dann Laurentine darum, vollständig durch den Kamin zu ihnen herüberzukommen. Sie brachte eine CD-ROM mit. "Auch wenn meine Eltern alles was sie an Fotos von mir im Haus hatten womöglich vernichtet haben hatte ich ja doch noch meine eigenen Fotoalben, wo genug Bilder von ihnen drin waren, und sogar den Mutter-Kind-Pass meiner Mutter mit Lichtbild von ihr und mir. Hoffentlich nützt das alles was, und sie sind noch am Leben", sagte Laurentine.
"Béatrice, darf ich diese Informationsträgersheibe noch einmal in meinen eigenen Rechner einstecken, damit die Suchprogramme was damit anfangen können?" fragte Julius seine heilkundige Mitbewohnerin. Diese sah Laurentine an und meinte: "Ja, damit die junge Dame hier etwas beruhigter ist, dass alles mögliche getan werden kann, um ihr zu helfen." Laurentine funkelte sie dafür vorwurfsvoll an. "Er war heute schon eine ganze Stunde an diesem Wissenssammel- und Verarbeitungsding, Laurentine. Wir haben vereinbart, dass er genug Zeit mit uns und seinen Kindern verbringt", stellte die Heilerin klar, von der Laurentine nicht wissen sollte, dass sie Julius' Sohn austrug. So apparierte er schnell, bevor er noch was dazu sagen sollte vor seinem Baumhaus, kletterte wieder hinauf und startete alles, was nötig war, um die CD-ROM einzulesen und alle verwertbaren Bilder von Laurentines Eltern in die Suchanfrage einzubauen. Das dauerte jedoch mehr als eine Stunde. Das merkte er jedoch erst, als er alle Bilder entsprechend markiert und in das Personensuchmuster eingepflegt hatte. Das alles ging dann über den Router an den ministeriumseigenen Server. Damit die da nicht meinten, er würde deren Ressourcen beliebig belasten schrieb er Belle noch eine E-Mail, dass Laurentine ihn direkt als Beauftragten für friedliche Koexistenz um die Mithilfe bei der Suche nach ihren Eltern gebeten habe. Wann Belle das lesen würde wusste er nicht, zumal sie selbst ja nicht ganz nahe an den Rechner durfte, weil Euphrosynes verbotener Segen ihre magische Eigenausstrahlung so verstärkt hatte, dass Elektronik davon gestört werden konnte. Aber mit Florymonts Antisonden, die eigenmagische Ausstrahlungen verhüllen konnten, ging es zumindest für zehn Minuten, hatten sie herausgefunden. Doch das sog den damit hantierenden körperliche Ausdauer ab, was bei Nathalie absolut zu vermeiden war, solange sie Demetrius in sich trug.
Wieder zurück im Apfelhaus gab er Laurentine die CD-Rom zurück. Béatrice lächelte beide an und sagte: "Wir haben die Zeit sehr gut nutzen können. Zwar hat Laurentine Hera als ihre Vertrauensheilerin ausgewählt, aber sie hat mir erlaubt, dieser die heilmagisch relevanten Einzelheiten aus unserem Gespräch weiterzureichen."
"Ja, und das war wohl verdammt wichtig, mich mit wem auszusprechen, der beziehungsweise die im Bedarfsfall mit mir besprechen kann, wie ich damit umgehen kann. Zumindest weiß eure Mitbewohnerin jetzt, dass zumindest das Eis zwischen mir und meiner Oma in den Staaten vom Licht der vielen Weihnachtskerzen weggeschmolzen wurde. Das konnte ich euch ja noch nicht erzählen, weil sie ja erst gestern angerufen hat. Aber das mit den Kobolden und Gringotts ist bestimmt noch nicht ausgestanden. Kann sein, dass uns Sandrines Mutter deshalb noch vor Ferienende zu sich hinruft, um zu klären, wie das mit dem Unterricht weitergeht."
"Ja, und Claudine hat mitgeholfen, dass eure Jahrgangsstufenkameradin nicht den ganzen Morgen in Angst und Trübsal gefangen war", fügte Béatrice hinzu. Laurentine nickte und erwähnte, dass Catherine sie beide fast schon ausgeschimpft hätte, weil sie nicht pünktlich um zwölf Uhr mittags zum Essen heruntergekommen waren, so spannend fand Claudine das Wissensspiel. Julius grinste darüber nur. "Joh, und weil Catherine unumstößlich beschlossen hat, dass ich auch die nächsten Hauptmahlzeiten mit ihrer Familie einzunehmen habe, solange Joes Eltern auch bei ihnen wohnen, muss ich gleich wieder nach Paris zurück. Danke für's Zuhören, Mademoiselle Latierre", sagte Laurentine noch und nickte Béatrice zu. Diese nickte und wünschte ihr, dass ihre Eltern doch noch lebend gefunden wurden und vielleicht erkannten, wie wichtig es war, mit der eigenen Familie friedlich auszukommen. Laurentine bedankte sich höflich, wirkte aber eher so, als wolle sie Béatrice unterstellen, eine völlig verkehrte Vorstellung von ihren Eltern zu haben. Dann flohpulverte sie sich wieder zurück nach Paris.
"Oha, wollte sie mit dir reden oder du mit ihr, Trice?" fragte Julius. "Ich wollte genau wissen, was sie mitbekommen hat, wie genau und wie sie damit umgehen möchte, außer erst mal alle zu fragen, die was wissen oder ihr helfen können", sagte Béatrice. "Ich sah ihr nämlich an, dass sie sich sehr krampfhaft zusammenreißen musste, um nicht jeden Moment loszuweinen. Da ich dieses Gefühl ja selbst gerade all zu gut kenne war es für mich wichtig, dass sie alle inneren Spannungen abbauen konnte. Mehr bekommt nur Hera zu wissen. Dass sie mit ihrer in den Staaten lebenden Großmutter wieder spricht ist zumindest eine sehr wichtige Grundlage. Mit der wird sie wohl nachher noch einmal fernsprechtelefonieren."
"Fernsprechen oder telefonieren, Trice. Ist nämlich beides dasselbe", sagte Julius und bekam dafür einen kräftigen Stupser in den Bauch. "Eh, so heftig habe ich dich aber sicher heute nicht in den Bauch geboxt", sagte er. "Stimmt, die Chance hast du verpasst", erwiderte Béatrice darauf.
Julius sprach dann noch über Armband mit Camille und Florymont. Dessen thaumaturgische Instrumente hatten die Entladungsfront unbeschadet überstanden, weil der ja auf einer starken Erdmagie bauende Schutzzauber wohl alle gegen Millemerveilles anstürmenden Kräfte abgewehrt hatte. Das bestätigte Julius, was er sich im Bezug auf die schwarze Spinne dachte. "Ja, aber wenn Gringotts Paris und alle anderen Zweigstellen erst einmal ausfallen wird es schwer mit dem landesweiten und internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehr", sagte Florymont, dessen räumliches Abbild geisterhaft links nebenCamilles magischem Hologramm schwebte. "Kann also sein, dass es noch vor Jahresende einen lauten Knall gibt, der unsere ganze magische Weltordnung erschüttert."
"Ich denke eher, dass es ein leises Wimmern bis grabesstilles Schweigen sein wird, was wir abbekommen werden, Florymont", sagte Julius. Dann verabschiedeten sich die befreundeten Familien voneinander, nicht ohne Camilles Hinweis, dass Julius sich noch vor dem Jahresende die vier ganz kleinen Dusoleils ansehen sollte, damit er wusste, wie weit sie sich seit ihrer Geburt am 29. Februar entwickelt hatten.
Das Abendessen aller Apfelhausbewohner verlief ruhig. Aurore und Chrysope merkten schon, dass ihre Eltern und die mal sehr fröhliche und doch auch mal strenge Tante nicht geärgert oder angenervt werden wollten. Vielleicht vermuteten sie es wegen der drei ungeborenen Babys, dachte Julius. Jedenfalls machten Aurore und Chrysope keinen üblichen Aufstand, als sie ins Bett sollten.
Wie über die Internetverbindung vereinbart meldete sich Brittany Brocklehurst um neun Uhr abends bei Julius. "Dass deine Mutter wieder gut in ihrem Haus angekommen ist hast du sicher mitbekommen", sagte sie nach der Begrüßung. Julius nickte. "Ja, und was bei uns los ist weiß noch keiner so recht. Buggles und seine Leute halten sich sehr bedeckt, und der Typ vom Koboldverbindungsbüro wollte auch noch nichts dazu sagen, ob die Gringotts-Filialen in den Zaubereransiedlungen sowie in New York, Washington, Houston, San Francisco und Chicago weiterbetrieben werden können. Kann sein, dass die erst einen Notfallplan beschließen, bevor sie uns alle mit der Nase draufstoßen, dass im Moment keiner an sein oder ihr Gold rankommt. Bei uns in VDS ist auf jeden Fall im Moment kein Herankommen, weil Gringotts zugemacht hat, wegen der Sonnenwendfeiern, die für die kleinen Spitzohren so wie Weihnachten für uns sind."
"Wir rechnen damit, dass sie hier bei uns morgen schon was bekanntgeben, was passiert ist und wie es weitergeht", erwähnte Julius. Zwar hatte er diesbezüglich noch keine Mitteilung von seiner Vorgesetzten. Doch er wusste ja auch nicht, wo die gerade war.
"Ich weiß nur, dass wir zwei Wellenfronten abbekommen haben. Unsere mit Erdbebenvorhersagen befassten Thaumaturgen haben jedenfalls eine von Ost nach west brandende Wellenfront gemessen und acht Minuten später eine von West nach ost, die beinahe spiegelverkehrt war und noch einige Querschläger mitgebracht hat. Dann hat es hier bei uns auch zwei leichte Beben gegeben. Kann aber sein, dass die von dem großen Beben im Indischen Ozean waren. Am Pazifik gab es nur einen kurzen Wasseranstieg um wenige Zentimeter. Also muss was von diesen Tsunamiwellen bis dahin durchgeschwappt sein", berichtete Brittany Brocklehurst. Julius erwähnte, dass er sowas erwartet hatte. Die großen Weltmeere waren ja alle miteinander verbunden.
"Ich hoffe, dass wir alle nicht noch mehr Stress bekommen", sagte er noch zu Brittany. Diese hoffte das auch.
"Und du hast gedacht, Trice fällt tot um, wenn die hört, dass du in den Körper des Kleinen reingezaubert worden bist", meinte Millie zu ihm, als sie beide in ihrem nach außen schalldichten Bett lagen. "Ich musste zumindest davon ausgehen, dass sie das nicht lustig findet. Ich wollte es euch auch eigentlich nicht erzählen. Aber die hat mich so durchdringend angesehen, dass ich dachte, die legilimentiert es aus mir raus. Ich konnte da auch noch nicht gescheit zumachen wie sonst, weil mir immer noch die Birne gebrummt hat", sagte Julius.
"Egal war ihr das auch bestimmt nicht. Jetzt weiß sie wenigstens, warum sie dein Kind im Bauch hat. Hat ja auch echt keiner wissen können, dass dieses Erdbeben die altaustralische Abwehrmagie aufrüttelt."
"Ja, nur wird es in den nächsten Tagen mehrere Nachbeben geben. Das ist so üblich, wenn ein echt großes Beben stattfand. Nur hier in Millemerveilles bekomme ich davon eben nichts ab", sagte Julius.
"Dann musst du eben hierbleiben oder jedesmal, wenn es da wieder wackelt unter Tante Trices Umhang schlüpfen. Ja, und genau die Vorstellung hat ihr offenbar gefallen, dich da zu haben, wo ich dich nie hatte."
"Was so nicht richtig ist, Millie. Denn als das mit den Herzanhängern aufkam, die wir nicht abnehmen konnten, war ich in der Nacht, wo wir zwei in der Delourdesklinik waren ja im Traum bei Aurore und musste mir von ihr vorhalten lassen, sie nicht haben zu wollen."
"Ja, im Traum, Julius, und auch eben nur als Gast. Bei Tante Trice wwarst du ganz und gar und offenbar auch hellwach, solange der Kleine tief und fest schlief, wie immer Ashtaria das auch gedreht hat."
"Hast du ja gehört, mit Hilfe des auf uns alle wirkenden Sanctuafugium-Zaubers und weil wir beide ja an dem Ort waren, wo der Kleine entstanden ist, die Beziehung zwischen Orten und Lebewesen, Millie."
"RRRR", knurrte Millie. Denn mit diesen Worten hatte Julius sie und ihn daran erinnert, dass sie von Ashtaria dazu gedrängt worden war, ihn an ihre Tante auszuborgen. Doch dann knuddelte sie ihn wieder. "Aber schön, dass du doch bei mir bleiben möchtest und nicht von Béatrice neu geboren werden musst. Schlaf gut, mein die Wallung deiner Königin ertragender Erdenprinz!"
"Du auch, meine mütterlich über uns wachende Feuerprinzessin, Pangyanimiria." Er küsste seine Frau noch einmal leidenschaftlich. Das war auf jeden Fall schöner, als einer anderen Frau dauernd in den Bauch zu treten und zu boxen, dachte er. Er streichelte behutsam über Millies gerundeten Bauch und fühlte, wie seine zwei neuen Töchter behutsam zurückstupsten. Er fühlte sie so wie sie ihn. Auch ihretwegen würde er zusehen müssen, gesund an Geist und Körper weiterzuleben. Mit dieser unausgesprochenen aber um so verbindlicheren Anweisung im Kopf drehte er sich in seine bevorzugte Einschlafhaltung.
Glitterrock wusste jetzt, dass zwanzig seiner Mitarbeiter bei der heftigen Erdmagieattacke von gestern gestorben waren. Sechzig andere lagen in den Heilhäusern der Kobolde und mussten ihre heftigen Erschöpfungen und Herzstörungen ausheilen. Er selbst war mit einer schmerzhaften Migräne und mehreren Minuten Atemnot davongekommen, obwohl auch er schon hundert Sonnenkreise lebte. Auch der Umstand, dass mehrere andere Kobolde durch die Zerstörung ihrer Weihesteine gestorben waren schmerzte ihn, den Hüter all dieser Ankersteine, weil es hieß, dass die Angehörigen ihm dafür noch die Schuld geben mochten.
Was Glitterrock die meisten sorgen machte war, dass sämtliche Türen innerhalb von Gringotts fest verschlossen blieben und auch die Tore nach draußen sich nicht öffnen ließen. Die mussten wohl erst wieder mit genug koboldeigener Zauberkraft aufgefüllt werden, um bewegt zu werden. Immerhin war der Abwehrstein gegen unerwünschtes Betreten noch ganz, der jeden Zauberstabträger abwies, der durch Apparieren in die Räume von Gringotts wollte. So bestand keine Gefahr, dass die Zauberstabträger die Schwäche von Gringotts nutzten, um im großen Angriffstrupp dort einzufallen. Früher, als er ein kleiner Angestellter gewesen war, hatte er immer wieder über den offenen Raum der Notvorräte gegrinst, wo ausgetrocknete Koboldbrote und Fledermausmilchpulver aufbewahrt wurden. Doch nun kapierte der Leiter von Gringotts, dass diese Vorkehrung doch ihren Sinn hatte. Die Vorratshaltung war nach den letzten Erhebungen der Kobolde gegen das Diktat der Zauberstabträger festgelegt worden. Die hier gelagerten Vorräte, die hinter einer ausdrücklich nur von Koboldhänden bewegten aber ohne sonstige Schutzzauber versehenen Toren lagerten, sollten eine vollständige Belegschaft von Gringotts über vier Monate am Leben halten. Denn für Frischwasser und die Ableitung von Schmutzwasser war gesorgt.
Was ebenso schwerwiegend war, das war der vollständige Ausfall des Glockennetzes, einer nur von Kobolden beherrschten Form vielfältiger Fernverständigungszauber, mit denen sie einander rufen und Nachrichten weitermelden konnten. So waren die gerade in Gringotts eingeschlossenen Kobolde auf sich allein gestellt, bis sie es hinbekamen, die schweren Silbertore des Eingangsportals mit genug Koboldmagie anzufüllen, um sie gefahrlos öffnen zu können. Doch das würden sie dann wohl erst tun, wenn sie wussten, wie sie mit den viele tausenden Verliesen umgehen konnten. Die darin gewirkten Zauber mochten vergangen sein. Vielleicht hatten sie dabei auch alle von ihnen durchdrungenen Wertsachen zerstört. Doch das konnten sie erst wissen, wenn sie es hinbekamen, die fest verriegelten Türen zu öffnen, ohne selbst dabei getötet zu werden. Glitterrock ahnte, dass es lange dauern würde, um Gringotts wieder betret- und benutzbar zu machen.
Er traf sich kurz vor Sonnenaufgang mit allen Angestellten und teilte ihnen mit, dass der Fall "Sturm über Gringotts" eingetreten war, was hieß, dass sie alle bis auf weiteres ohne fremde Hilfe und vor allem und jedem außenstehenden abgeschlossen ausharren mussten. Glitterrock dachte dabei nicht ohne gewisse Beruhigung an den Bund der zehntausend Augen, dessen Mitglieder im Moment auch nicht nach Gringotts vordringen oder das Glockennetz benutzen konnten. Sicher waren die fünf Angstsänger noch hier, die ihm der Leitwächter Wizrock aufgeladen hatte. Die würden natürlich sehr genau mitverfolgen, wie sich die Belegschaft verhielt und wer was wem sagte. Doch die konnten es ihrem Herren nicht weitergeben. Glitterrock konnte nicht wissen, dass Wizrock zu denen gehörte, die beim Aufruhr der großen Erdmutter gestorben waren. Ebensowenig wusste er, dass Wizrocks plötzlicher Tod einen lautlosen aber heftigen Nachfolgestreit in der Führungsgruppe derer, die man nicht laut nennt, auslöste.
Als er seinen Leuten alle nötigen Anweisungen erteilt und die Lagerverwalter für Leuchtmittel, Vorräte, Werkzeuge und Pergamentbestände entsprechend eingeteilt hatte, die Prüf- und Instandsetzungstruppen zu versorgen, zog er sich mit den noch lebenden Mitgliedern der Sicherungsgruppe in sein Sprechzimmer zurück und besprach mit denen die ganz geheimen Sachen wie das innerhäusige Rufsystem, das nach einigen Stunden Totalausfall wieder eingerichtet werden konnte, sowie die ersten Schutzmaßnahmen gegen mögliche Plünderungen und Raubüberfälle. Vor allem die Geschwindigkeit der Eisenwagen musste wieder auf das gewohnte Maß gesteigert werden. Im Moment fuhren die Eisenwagen nur mit einem Viertel der sonstigen Reisegeschwindigkeit. "Wir müssen damit rechnen, dass die Zauberstabträger sehr wütend werden, wenn wir deren Goldvorräte nicht mehr rausrücken. Deshalb hat die Sicherung des Hauses und die Wiederherstellung des Botendienstes aller größten Vorrang", sprach Glitterrock etwas aus, was sowieso jeder Sicherheitstruppler wusste.
"Besteht echt keine Möglichkeit, mit unseren Leuten in den anderen Zweigstellen oder der Schutztruppe zu reden?" fragte Glitterrock den für die Rufglocken zuständigen Mitarbeiter Bangdock. Dieser schüttelte den Kopf und antwortete: "Vier Glocken sind zerbrochen, die anderen drei hängen schief in den Halterungen und sind dunkel angelaufen. Ich kann erst was genaueres sagen, wenn ich wen von Orecracks Leuten hierhabe. Wenn wir es noch heute hinkriegen, zumindest einen Ein-Kobold-Notausstieg aufzukriegen, damit wir Boten losschicken können ..."
"Ist in Arbeit", blaffte der für die Türen und Wege zuständige Sicherheitstruppler zur Antwort. Einerseits waren sie hier gerade am sichersten, weil alle Türen koboldgeschmiedet und somit eigentlich unzerstörbar waren, auch wenn die besonderen Sicherungszauber nicht mehr wirkten. Andererseits konnte so eine Festung zum Gefängnis werden, wenn deren Insassen keinen Weg hatten, nach draußen zu kommen oder mit draußen zu reden. Glitterrock fragte deshalb, bis wann der Notausstieg benutzbar sein würde und erfuhr, dass es wohl noch einen vollen Tag dauern würde, bis die dafür zuständigen Wartungskobolde genug Magie in die Ausstiegsluken eingewirkt hatten, um diese wieder zu bewegen.
Tatsächlich dauerte es jedoch nur noch sieben Stunden, bis der Notschacht, der von der Eingangshalle aus ins Freie führte, für einen Kobold pro Minute benutzbar war. Der dadurch ausgesandte Bote kehrte jedoch erst nach drei weiteren Stunden zurück und meldete folgendes:
"Draußen haben drei Wächter vom Bund der zehntausend Augen gewartet. Die haben mich erst mal in deren Haupthaus mitgenommen und ausgefragt. Die haben mir Wahrheitstrunk eingeflößt. Als ich denen alles gesagt habe, was ich wusste haben die mir gesagt, dass gerade der Fall "schwarze Erde" gilt und ich deshalb nicht weiter als zehntausend Schritte von meinem Wohnhaus oder Gringotts entfernt reisen dürfte. Als ich denen dann gesagt habe, dass ich das mit dem Glockennetz prüfen sollte sagten die mir, dass das Glockennetz der ganzen Welt ausgefallen sei und erst repariert und eingestimmt werden müsste. Daher seien alle von uns gehalten, nicht weiter als zehntausend Schritte zu verreisen, um immer erreichbar zu bleiben."
"Schwarze Erde!" stieß Glitterrock aus. Er wusste, dass damit ein Notfall gemeint war, der eine Bedrohung aller Kobolde bezeichnete und das dann der Bund der zehntausend augen im Auftrag aller grauen Bärte die Sicherheit in den Koboldansiedlungen und Betrieben durchsetzen durfte, notralls auch durch Verhaftungen "uneinsichtiger" Kobolde. Fast wäre es im Jahr des dunklen Lords zu einem solchen Notfall gekommen, als dieser mordgierige Zauberstabschwinger gemeint hatte, die Kobolde würden nicht mehr tun, was er wolle. Das hatten sie diesem Macht- und Goldgierigen Griphook zu verdanken, der angeblich das Lestrange-Verlies beraubt hatte, noch bevor Harry Potter und dessen Freunde einen echten Überfall auf Gringotts verübt hatten, der sich aber im Nachhinein als Glück auch für die Kobolde erwiesen hatte.
"Also ist der Bund gerade dabei, alle von uns in ihren Häusern zusammenzutreiben und passt auf, dass keiner anderswo hinreist als erlaubt ist", sagte Glitterrock. Dann fiel ihm was ein. "Gut, zehntausend Schritte? Dann müssten wir eben Botenketten bilden, deren Zwischenläufer nicht weiter als zehntausend Schritte müssen. Dauert dann zwar etwas länger, bis wir wen in Frankreich oder der Schweiz erreichen, dürfte aber für den Bund keine Schwierigkeit bedeuten. Wir müssen wissen, ob auch die anderen Zweigstellen handlungsunfähig sind, noch bevor den Zauberstabträgern klar wird, dass die gerade nicht an ihre Wertsachen bei uns rankommen."
"Das ist denen schon klar. Blingdrop, der mit denen vom Ministerium in Verbindung steht, hat wohl schon was entsprechendes weitergegeben, dass wir gerade für unbestimmte Zeit geschlossen haben."
"Und der Bund hat dem nicht den Mund verboten?"! Stieß Glitterrock aus. "Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur von denen, die nicht laut genannt werden dürfen, dass Blingdrop gleich nach dem, was uns alle überrollt hat zu Shacklebolt gerufen worden ist. Der wusste da schon, dass Gringotts gerade nicht zu rufen oder zu betreten war", erwiderte der Bote.
"Sicher, die hätten das spätestens nach deren Schwirr-Bumm-Knall-Fest rausbekommen. Aber wenn die es jetzt schon wissen könnten die uns übel beharken", grummelte Glitterrock. "Gut, dann müssen wir den Notausstieg wieder zumachen, bevor einer von denen da durchkommt."
Somit wurde Gringotts wieder in den vollständigen Belagerungszustand versetzt. die obersten Ziele, alle Schutzmaßnahmen wiederherzustellen und alle inneren Verständigungszauber lückenlos wirksam hinzubekommen wurden mit Nachdruck verfolgt. Es durfte nicht sein, dass die Zauberstabträger Wege fanden, Gringotts zu besetzen und zu übernehmen. Sollten die dann auch herausfinden, dass in den Verliesen kaputte Sachen waren - was Glitterock zumindest befürchtete -, dann mochten sie auf die unfeine Idee kommen, den Kobolden das Alleinstellungsrecht auf Gold, Silber und Bronzeaustausch zu entreißen. Glitterrock erinnerte sich noch zu gut, wie seine Vorfahren darum gebangt hatten, dass nach der letzten Erhebung kein langer Krieg mit den Zauberstabträgern ausgebrochen war, der dann auf beiden Seiten sehr blutige Ernte gehalten hätte. Vielleicht war dieser unglaublich heftige Ansturm von Erdmagie ein offener Angriff der Zauberstabträger auf die Kobolde gewesen, um ihnen das Verwaltungsrecht für Gold, Silber und Bronze zu entreißen. Dann durften die doch gar nicht wissen, wie gut dieser Angriff gelungen war. Vielleicht hatten auch die als Saufbärte und Gierschlünde bezeichneten Zwerge diesen Aufruhr in der Erdmagie angerichtet, um die Kobolde zu unterwerfen. Was genau passiert war wusste Glitterrock nicht. Er konnte nur seine Arbeit machen. Mehr ging im Augenblick nicht.
Während Laurentine darauf wartete, ja förmlich entgegenbangte, was von ihren Eltern zu erfahren ging es durch die französische Zaubererwelt, dass Gringotts wohl bis über Neujahr hinaus unbetretbar war und somit niemand an seine oder ihre Goldvorräte oder Wertsachen herankam. Deshalb verkündete Ministerin Ventvit am Abend des 27.12., dass bis auf weiteres keine Geschäfte getätigt werden könnten, bei denen Zahlungsanweisungen benutzt wurden. Allen Zaubererweltbürgerinnenund Bürgern riet sie dazu, ihre Bedürfnisse bis auf weiteres einzuschränken, solange sie eigenes Gold und Silber im Haus hatten, bis sichergestellt sei, dass es einen vorübergehenden Ersatz für Barzahlungen oder Zahlungsanweisungen geben konnte. Finanzleiter Colbert und der Koboldverbindungsbeauftragte Jean-Pierre Villeneuve teilten bei der Gelegenheit mit, dass sie schon an einer entsprechenden Notfallvereinbarung arbeiteten, die im Falle, dass Gringotts bis über den Jahreswechsel nicht betreten werden könne, in Kraft treten würde. Genaueres würde Handelsabteilungsleiter Colbert am 31. Dezember verkünden, wenn seine Mitarbeiter einen tragfähigen, möglichst störungsunanfälligen Ablaufplan entwickelt hatten.
Die Heilerzunft erklärte in Person von Sprecherin Eauvive, dass sie auch weiterhin alle kleinen und großen Fälle betreuen würde, da das oberste Gebot der Heilmagie laute, jedem kranken oder verletzten Menschen mit Magie zu helfen.
Über öffentliche und private Netzwerke erfuhren alle Zauberer und Hexen Europas, Amerikas und Australiens, dass sie nicht die einzigen waren, die es erwischt hatte. Zumindest konnte Shacklebolt am 28.12. verkünden, dass es gelungen sei, dem Verbindungskobold zu Gringotts mitzuteilen, dass der Grund für den Ausfall nicht in einem Angriff der Zauberstabträger liege, sondern eine Verkettung heftiger irgendwo angestauter Erdmagie sei. Allerdings fanden sich Shacklebolt und sein Handels-und Finanzabteilungsleiter einer Flut von Beschwerdebriefen ausgesetzt. Namhafte Zaubererfamilien klagten auf zeitnahen Schadensersatz in Höhe von einem Viertel der angeblich in den Verliesen von Gringotts eingelagerten Goldvorräte. Der dunkelhäutige Zaubereiminister Großbritanniens musste einmal verächtlich auflachen, als ihm ein schon fast als Heuler zugegangener Beschwerdebrief von Lucius Malfoy vor die Nase kam. Der wegen seiner Todesseraktivitäten um einen Gutteil seines Vermögens enteignete, immer noch von der Ehrbarkeit des "reinen Zaubererblutes" überzeugte Magier pochte darauf, dass er und seine Familie in den nächsten Wochen höhere Ausgaben zu stemmen hatten. Shacklebolt ließ seinen Finanzabteilungsleiter antworten, dass im Moment jeder, vom Familienoberhaupt bis zum Besenfabrikanten, mit der Unzugänglichkeit von Gringotts leben müsse und auch das Zaubereiministerium nicht an seine Gold- und Werteinlagen in Gringotts London herankäme, um auch nur eine Galleone mehr auszugeben, als im eigenen Geldschrank des Zaubereiministeriums gerade noch verfügbar sei.
Nicht nur in England, sondern auch den USA regte sich Argwohn gegenüber den Kobolden. Der immer noch amtierende Zaubereiminister Buggles hatte ein Verlautbarungsmoratorium befohlen, so dass kein Ministeriumsmitarbeiter den Zeitungen und Rundfunkanstalten irgendwas aus dem Ministerium zu berichten hatte. Indirekt ließ er verbreiten, dass das Zaubereiministerium bereits an einem Plan arbeite, die Abhängigkeit von den Kobolden zu beenden, allerdings erst, wenn alle US-Bürger mit Zauberkräften ihre Goldeinlagen aus den Gringotts-Zweigstellen in den Staaten herausholen konnten. Damit schürte er ganz bewusst auch Argwohn bei den Kobolden. Dass er damit nur einen Grund schaffen wollte, offen gegen das aus britischer Kolonialzeit stammende Währungsmonopol der Kobolde anzugehen, ja die Kobolde als solche offen verfolgen zu können, behielt er tunlichst für sich.
Millie und Julius erfuhren über Bärbel Weizengold vom deutschen Zaubereiministerium, dass dieses um den zerbrechlichen Frieden zwischen Menschen, Kobolden und Zwergen besorgt sei, da die deutschsprachige Zwergengemeinde ihren König verloren habe und die Zwerge wohl argwöhnten, die Kobolde und/oder die Zauberstabträger hätten einen Angriff auf sie durchgeführt. Ähnlich äußerte sich der Zaubereiminister Schwedens, der gerade auch als Repräsentant der skandinavischen Zauberergemeinschaften auftrat. Da dort die Zwerge anders als südlich von Dänemark das Goldhütungsmonopol und damit die Währungshoheit hatten ging bei den Schwarzalben das Gerücht um, man wolle ihnen dieses Recht mit Gewalt entreißen, wie es vor tausend Jahren schon versucht worden sei. Immerhin hatte es bei den skandinavischen Zwergenvölkern keinen Königstod gegeben.
Über die von Jane Porter ermöglichte Zweiwegspiegelverbindung zu Gloria Porter erfuhren Millie und Julius, dass Glorias Vater Plinius bis auf weiteres beurlaubt sei, da die Kobolde von Gringotts London gerade keinen Bedarf an menschlichen Mitarbeitern hatten. Daraus schloss Julius, dass auch Bill Weasley, Fleurs Ehemann und Vater von Victoire, gerade nichts zu tun hatte.
Aurora Dawn hatte in den drei Tagen nach dem Gringotts-Inferno, wie es der Stern des Südens genannt hatte, einiges zu tun, um das Netzwerk der australischen Heiler aufrecht zu halten. Das lag auch daran, dass viele ihrer Stammpatienten fürchteten, keine Behandlung mehr zu erhalten, solange sie kein eigenes Gold mehr abheben konnten. Erst die von Laura Morehead verkündete Garantie, dass auch weiterhin alle behandlungsbedürftigen Zaubererweltangehörigen behandelt wurden hatte die Lage entspannt, was die Heiler anging. Denn die konnten ihre eigenen Heilmittel herstellen, ohne dafür gleich zu Gringotts hinlaufen zu müssen. Denn bei den Heilern galt schon seit Begründung der australischen Heilzunft ein reger Tauschhandel. Was der eine nicht da hatte konnte er oder sie von wem anderen aus der Zunft erbitten und diesem Mitglied im Gegenzug bieten, was dieses gerade benötigte. Deshalb war Aurora Dawn dazu verpflichtet worden, die von ihr hergestellten Grundstoffe oder Tränke auf Vorrat zu erstellen, vor allem Sonnenkrauttinktur und Antidot 999, weil ja in Australien gerade Hochsommer herrschte.
In Italien verfolgte der von Ladonnas Gnaden eingesetzte Zaubereiminister Pontio Barbanera die Krise bei den Kobolden mit gewisser Belauerung. Wenn die Spitzohren es bis zum Jahreswechsel nicht hinbekamen, ihre Geldhäuser in Florenz, Mailand, Rom und Palermo wieder zu öffnen, würde er seine Königin fragen, ob es nicht an der Zeit war, dieses jahrhundertealte, von irgendwelchen Friedensaposteln gestrickte Übereinkommen mit diesen raffgierigen keltischen Langfingern aufzukündigen. Er war sich sicher, dass die Lupi Romani sich die Gelegenheit nicht hätten entgehen lassen, wenn die Königin den Wölfen nicht alle Krallen und Zähne gezogen hätte. Doch galt es, abzuwarten, bis der Unmut in der Bevölkerung erwachte, und er sich als großer Verfechter der Zauberer-und Hexenrechte positionieren durfte. Denn bisher hielt die Königin es nicht für geboten, offen aufzutreten. Doch womöglich war dieser Aufruhr in der Erde, der eine Menge angestauter Erdmagie freigesetzt hatte, die Gelegenheit für Königin Ladonna, ihren Herrschaftsanspruch frei und ohne Angst vor Widerstand bekunden zu können. Aber zunächst mussten sie und er eben warten.
In den Zaubererzeitungen erschinen Berichte über das Erdbebenund dass dieses wohl einen Kern dunkler Magie geöffnet hatte, der wiederum mit der in Australien eingelagerten Schutzbezauberung gegen die Schlangenmenschen wechselwirkte. Zumindest waren sich alle offiziell auf Erdmagie spezialisierten Thaumaturginnen und Thaumaturgen und alle Elementarzauberkundigen darüber einig, dass es im Indischen Ozean wohl eine Quelle dunkler Magie gegeben hatte, die durch die dunkle welle vom April 2003 erst bestärkt und durch das schwere Erdbeben am 26.12. entladen worden war.
Millie hatte in der Temps einen Aufruf gestartet, welche muggelstämmigen Hexen und Zauberer Verwandte suchten. Julius hatte nach einer kurzen Unterredung mit Nathalie Grandchapeau den Auftrag erhalten, Angehörige von Zaubererweltbürgerinnenund -bürgern zu suchen. Da er dabei ein Nachbeben mitbekommen und davon einen völlig unüblichen Migräneanfall erlitten hatte war ihm von Nathalie Grandchapeau und der Heilerin vom Dienst befohlen worden, bis zum letzten schwereren Nachbeben im Ozean in der sicheren Zuflucht Millemerveilles zu verbleiben und von dort aus zu arbeiten. Immerhin wusste zumindest Nathalie und ihr bis auf die nächsten Jahrzehnte ungeboren bleibender Sohn Demetrius, was Julius mit den natürlichen und menschengemachten Zaubern der Erde verband. So war er auch als Sondereinsatzbevollmächtigter für Angehörigensuche dauerhaft abgestellt und hielt Verbindung in beide Lebenswelten. Von Aurora, Brittany und seiner Mutter erfuhr er, was in deren Wohnländern gerade offiziell war und auch, dass seine Mutter Martha einen ähnlichen Suchauftrag erhalten hatte wie er. Denn einige US-Bürger vermissten Verwandte, die über die Weihnachtstage nach Thailand oder Malaisia gereist waren. Julius war auf jeden Fall froh, dass er in gewisser Weise fern vom Schuss war. Denn auch nach seinem Dienstpostenwechsel mochte es Leute geben, die ihm immer noch neideten, dass er Sachen konnte, die nicht in Beauxbatons unterrichtet wurden.
Am 29. Dezember bekam er Besuch von Professeur Fixus, der Stellvertreterin Madame Faucons. Diese war besorgt um die muggelstämmigen Schüler der Akademie und bat darum, einen Nachrichtendienst einzurichten, der die Schüler mit nichtmagischer Verwandtschaft auf dem laufenden hielt, wie damals im dunklen Jahr von Didier und Pétain. Julius sicherte ihr zu, bis zum Ferienende von Beauxbatons genug Möglichkeiten vorzuhalten, wie die Schülerinnen und Schüler ohne Überlastung seiner Möglichkeiten Verbindung mit ihren Anverwandten erhalten mochten. "Ich hege die gewisse Zuversicht, dass es nicht so viele gibt, die Anspruch auf derartige Hilfsleistungen erheben werden, Monsieur Latierre", erwiderte Professeur Fixus darauf.
Millie durfte sie auch so zitieren, als sie für die Ausgabe vom 30. Dezember schrieb, dass die Schüler mit nichtmagischer Verwandtschaft ohne Angst nach Beauxbatons zurückkehren könnten und jene, die Verwandte im Erdbeben- und Tsunamigebiet hatten, so schnell wie möglich erfuhren, was mit diesen sei, ob erfreuliche oder betrübliche Nachrichten.
Gilbert schickte am Abend des 29. Dezembers noch mehrere Seiten Text über den Distantigeminuskasten seiner Anverwandten und Lokalreporterin für Millemerveilles, dass in den Staaten gerade ein "schwerer schwarzer Vorhang" vor allen Fenstern und Türen des Ministeriums herabgelassen worden sei. Bis auf weiteres werde es aus dem Zaubereiministerium keine öffentlichen Verlautbarungen mehr geben, bis geklärt sei, wie das Verhältnis der Kobolde und Menschen zu bewerten sei und friedlich fortgesetzt werden könne. Gilbert hatte darunter für nicht zu veröffentlichen markiert, dass er fürchte, dass Buggles und seine Leute die neue Krise nutzen würden, um sich auf unbestimmte Zeit und von einer schweigenden Mehrheit widerstandslos hingenommen an der Macht zu halten.
"Wenn die sich jetzt totalabschotten könnten die bei sich eine ähnliche Lage kriegen wie die Italiener", sagte Julius zu seiner Frau, als die ihn Gilberts Mitteilung hatte lesen lassen. Sie erwiderte dazu nur: "Dann hätte VM endgültig einen eigenen Zaubereiminister am Führstrick, auch ganz ohne Catena-Sanguinis-Fluch."
Jean-Pierre Villeneuve fühlte sich nicht so wohl in seiner Haut. Gerade hatte er etwas mitverfolgt, dass denen, mit denen er offiziell zu tun hatte, sehr übel aufstoßen und sie zu unfeinen Reaktionen treiben mochte. Er sah Midas Colbert an, der gerade seine Unterschrift unter eine lange Pergamentrolle setzte. Jetzt blickten alle Augen auf den Koboldverbindungsbüroleiter.
"Sie müssen auch unterschreiben, Monsieur Villeneuve", flüsterte Colbert, als wenn dieser Raum kein Dauerklangkerker sei. Villeneuve blickte auf die goldene Feder und das Fass mit der smaragdgrünen Zaubertinte. Wenn er jetzt unterschrieb hing er mit drin, wusste er. Was dann passierte würde auch ihm angekreidet. Wieso hatte dieser alte Geisterbändiger Beaubois ihn dazu beauftragt, dieser Zusammenkunft beizuwohnen? Dem musste doch klar gewesen sein, dass es hier um ein halbgeheimes Abkommen ging, das die Kobolde all zu leicht als Angriff auf ihr Goldhütungsmonopol werten würden. Doch die Blicke der dreißig hier versammelten Hexen und Zauberer bohrten sich so drängend in seine Augen, dass er am Ende nicht anders konnte als ebenfalls die lange Rolle zu unterschreiben, deren wichtigster Inhalt auf Geheimhaltungsstufe S7 eingestuft wurde. Die von der Decke baumelnde weiße Rose verhieß zudem, dass über das hier stattgefundene Gespräch kein Wort nach außen dringen durfte. Rein offiziell würde Midas Colbert mit seinen Buchhaltungsknechten und -mägden einen Notfallplan präsentieren, der die Zeit bis zur Wiedereröffnung von Gringotts abdecken konnte.
"Damit ist es jetzt beschlossen und besiegelt, dass wir alle, die wir hier zusammengekommen sind, den neuen Weg beschreiten werden, um die Abhängigkeit von den Kobolden ein für alle mal zu beenden. Jede Krise zwingt zur Entscheidung. Jede Entscheidung birgt die Chance, die Lage zu verbessern oder endgültig zu scheitern", sagte Colbert. "Geben es uns die großen Altvorderen, dass wir aus dem Ausfall von Gringotts gestärkter hervorgehen!" Er ließ die beschriebene Rolle von einem Hauselfen in den sicheren Aktenschrank der Handelsabteilung bringen. Dann betonte Colbert, dass über die Sitzung und ihr Ergebnis kein Wort gesprochen werden dürfe. "Ich werde morgen vor unseren Nachrichtenverbreitern den besprochenen Notfallerlass verkünden und erklären. Monsieur Beaubois und Sie, Monsieur Villeneuve, werden mir dabei assistieren", bestimmte Colbert.
"Dann wollen wir hoffen, dass die Reporter das auch ohne Murren schlucken und nicht zu heftig nachhaken", seufzte Villeneuve. Der Firmenchef der Ganymed-Manufaktur sagte dazu:
"Dass Sie Umhangflattern haben, weil wir alle gerade beschlossen haben, auch nach der Öffnung von Gringotts an den Spitzohren vorbeizuhandeln verstehe ich. Aber Sie müssen einsehen, dass es unmöglich so bleiben kann, wie es vorher war." Villeneuve fühlte sich nicht in der Stimmung, darauf zu antworten. Er nickte nur ansatzweise.
Julius saß seiner direkten und seit seinem Dienstpostenwechsel einzigen Vorgesetzten gegenüber. Sie trug wieder ihre Verhüllungskleidung, die ihren besonderen Zustand verbarg. Doch weil sie ihm gleich nach dem Hinsetzen einen jener Cogison-Ohrringe übergeben hatte hörte er das kleine Herz von Demetrius schlagen.
"Wie Madame Belle Grandchapeau mir mitgeteilt hat gab es in den letzten Tagen mehrere Nachbeben. Haben Sie davon was verspürt?" fragte Nathalie ihren Mitarbeiter. Dieser schüttelte den Kopf. "Gut, dann hilft der neue Schutzzauber über und unter Millemerveilles wahrhaftig dagegen", sagte sie. "Kommen wir zum bisherigen Stand der Suchanfragen. Nun wollte ich nicht offen gegen Mademoiselle Hellersdorfs Anliegen sprechen, auch wenn sie den Antrag auf Unterstützung eigentlich zu Händen Madame Grandchapeaus hätte senden müssen. Ich erkenne jedoch an, dass ihr Anliegen gerechtfertigt ist, genau wie das aller anderen dreißig Mitbürgerinnen, die um Mithilfe bei der Suche nach Angehörigen gebeten haben. Da Sie ausdrücklich und ausschließlich die Suchanfragen überwachen, was können Sie mir über den derzeitigen Stand berichten?"
Julius präsentierte einen Packen in Durolignumelixier beständiger gemachter Papierblätter und berichtete, dass zehn der Suchanfragen mittlerweile ein Ergebnis erbracht hatten. Davon waren acht erfreulich, weil die gesuchten Angehörigen sich wegen der zerstörten Fernsprechverbindungen erst Tage später bei ihren Reiseunternehmen gemeldet hatten. Bei zweien sei es jedoch erwiesen, dass sie durch einen der Tsunamis ums Leben gekommen waren. "Ich hege die mit dem technischen Stand an den betreffenden Orten verknüpfte Erwartung, dass wir innerhalb von zwanzig Tagen mehr als die Hälfte der Anfragen beantworten können. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass manche Reisende auf kleinere Inseln mit wenig bis unvorhandener Fernverständigungs-Infrastruktur gereist sind. Das vermute ich vor allem bei den Eheleuten Hellersdorf, da sie ihre Mobiltelefone zu Hause gelassen haben. Wenn sie auf einer kleineren Insel gewohnt haben und diese vom Beben oder den ihm folgenden Flutwellen verwüstet wurde sind sie und auch wir auf Suchaktionen angewiesen. Mademoiselle Hellersdorf konnte bei ihren Verwandten in Erfahrung bringen, dass ihre Eltern sehr viel Wert darauf gelegt haben, ihr Reiseziel nicht bekannt werden zu lassen. Dass sie bei Sumatra urlauben wollten haben sie wohl auch nur erwähnt, um ihre Unerreichbarkeit zu begründen."
"Will heißen, dass sie bei einer völligen Überflutung der Insel in den Ozean selbst gerissen werden mochten", sagte Nathalie mit hörbarer Betroffenheit.
"Ist in den letzten Tagen leider schon häufig gemeldet worden. Einige der vermissten wurden tot an andere Strände gespült und sahen ziemlich schlimm zugerichtet aus. Ich las was, dass einige der gefundenen Toten noch kriminaltechnisch untersucht werden müssen, um ihre Identität zu klären. Das heißt auch, dass sie über Erbgutvergleiche mit Blutsverwandten zugeordnet werden müssen. Ich muss ehrlich einräumen, dass mich sowas schon gut betrifft."
"Das kann ich Ihnen und wohl auch allen, die nach ihren Angehörigen forschen durchaus nachfühlen", erwiderte Nathalie. Dann meldete sich auch Demetrius Vettius über Cogison zu Wort:
"Das mit diesem Erbgutvergleich, ist das diese Entschlüsselung dieses DNS-Knäuels in den Zellen, Julius?" "Genauso geht das. Früher wurde auch über Blutgruppen und Chromosomenvergleiche die Verwandtschaft ermittelt. Aber die DNS oder international DNA ist da noch genauer und somit eindeutiger", bestätigte Julius."
"Schon interessant, wie die Magielosen das Erbgut entschlüsselt haben, wenn auch nicht ganz ungefährlich", cogisonierte Demetrius. Julius erinnerte sich, dass er mit Armand Grandchapeau über dieses Thema mal gesprochen hatte, als es darum gegangen war, ob die Anlagen für Magie bereits vor der Zeugung eines Kindes ermittelt werden konnten, als die Grandchapeaus ihn und seine Mutter besucht hatten und seine Mutter das wissen wollte, wie die Zaubererwelt nach magischen Kindern suchte. Doch bisher konnten sie nur durch direkten Blutvergleich Verwandtschaftsbeziehungen ermitteln. Doch skrupellose Zeitgenossen wie der Russe Igor Bokanowski hatten da sicher schon wesentlich mehr über das innerste Wesen der Vererbung ergründet und bestimmt auch entsprechende Methoden erfunden, um mit einer einzigen Probe wie Haar oder Hautschuppen die Identität eines Menschen zu ermitteln. Deshalb sagte Julius: "Da mein Auftrag ja auch dahingeht, die nichtmagischen und magischen Identitätsbestimmungsmethoden zu erörtern habe ich die bei mir wohnhafte Heilerin Béatrice Latierre zunächst im Rahmen familiärer Hilfe gebeten, die ihr bekannten Methoden mit den nichtmagischen zu vergleichen. Falls Sie dies wünschen kann ich diese Anfrage auch hoch offiziell an Zunftsprecherin Eauvive weiterleiten, für den Fall, dass von den noch zu suchenden Angehörigen einige dabei sind, die auch nur durch einen solchen Erbgutvergleich identifiziert werden können.""Ich denke mal, Ihre Mitbewohnerin hat genug mit der Betreuung der in Millemerveilles neu geborenen Kinder zu tun und möchte wohl auch genug Zeit für die Betreuung Ihrer Gattin freihalten", sagte Nathalie. "Immerhin erwartet diese ja Zwillinge", fügte sie noch hinzu. "Das ist alles richtig, Madame Grandchapeau. Doch Mademoiselle Béatrice Latierre ist auch bemüht, mich in guter seelischer Verfassung zu halten, da ich als Kindsvater auch sehr wichtig für die erwähnten Zwillinge sein werde. Daher ist ihr auch wichtig, dass ich die mir gestellten Aufgaben ohne Frustration und Verzweiflung bewältigen kann", entgegnete Julius darauf.
"Klar", cogisonierte Demetrius. Offenbar missfiel es dem dauerhaft ungeborenen, dass da demnächst wieder Kinder ankamen, die schon eigene Kinder haben mochten, bis er selbst geboren werden mochte. Doch weder Nathalie noch Julius sprachen das aus.
"Darf ich diesen Papierpacken behalten?" fragte Nathalie eher wie eine Schulkameradin als wie eine Vorgesetzte sprechend. Julius nickte und gab ihr die Berichte über die bisher gefundenen Angehörigen von Muggelstämmigen. "Dann bedanke ich mich für diesen mündlichen und schriftlichen Zwischenbericht und bitte Sie, wieder auf Ihren derzeitigen Einsatzposten zurückzukehren."
"Ich bitte um Erlaubnis, mir zumindest die eingetroffenen Anfragen der Veelastämmigen aus meinem Büro zu holen und ...", setzte Julius an und wurde mit einer Geste abgewürgt. "Nichts für ungut. Aber im Moment sind Sie von mir ausdrücklich für die Unterstützung der Zaubererweltbürger mit nichtmagischem Hintergrund zuständig, Monsieur Latiere. Da Veela und Veelastämmige wesentlich länger leben als wir Menschen und Sie vor Weihnachten keine Anzeichen für aufkommende Probleme vermelden mussten unterstelle ich diesen Mitgeschöpfen, dass sie die nächsten Tage oder Wochen noch ohne Sie zurechtkommen können. Abgesehen davon hat Ihnen Madame Léto doch nach diesem Aufruhr von Erdmagie mitgeteilt, dass alle ihre Anverwandten wohlauf sind, richtig?" wandte Nathalie Grandchapeau ein. "Ja, das stimmt", sagte Julius. "Dann belassen Sie bitte alle die Veelas betreffenden Anfragen in ihrem Büro. Laden Sie sich nicht noch mehr Arbeit auf als wir Ihnen bereits zumuten durften!" gebot Nathalie unmissverständlich. Julius nickte und verabschiedete sich von dem heimlichen Mutter-Kind-Gespann. Dann gab er den geborgten Ohrring zurück und verließ das Büro wieder.
"Du wolltest ihm das noch nicht servieren, dass wir wegen dieser Diosan-Sarjawitsch-Affäre von damals wieder mit Arcadis Leuten im Argen liegen, richtig?" fragte Demetrius seine Trägerin. Diese erwiderte in Gedanken: "Ich habe es über den Kollegen in Moskau klargestellt, dass alles, was es zu dem Thema zu bereden gibt, im Moment über meinen und Monsieur Delacours Schreibtisch zu gehen hat und Julius wegen dieser Erdbebenkatastrophe im Indischen Ozean gerade wichtigeres zu tun hat. Wir dürfen es uns mit den muggelstämmigen Mitbürgern nicht verderben, schon gar nicht, wo im Moment durch die Unzugänglichkeit von Gringotts jeder Fernhandel eingefroren ist."
"Das ist wohl richtig", bestätigte Demetrius. Er dachte daran, was er, wenn er noch Armand Grandchapeau sein würde, alles unternommen hätte, um das Verhältnis zwischen den selbsternannten reinblütigen Zauberern und Hexen und denen aus nichtmagischen Familien zu verbessern. Doch seine Frustration über die erst in knapp vierzig Jahren erfolgende Geburt seines ersten Sohnes hatte ihn verleitet, dieses Miststück Euphrosyne Lundi anzubetteln, ihm auch einen Segen überzubraten. Jetzt steckte er schon zwei Jahre und sieben Monate im Unterleib seiner eigenen Frau fest und konnte nur hoffen, dass der nichts passierte, bevor er wieder auf die Welt kommen durfte. Einen winzigen Augenblick dachte er, dass die von diesen Tsunamiwellen getöteten es besser als er hatten, weil die es nun hinter sich hatten, während er es ja noch weit vor sich hatte. Doch dann schämte er sich wegen dieses Gedankens. Nathalie hatte eine Menge Belastung für Körper und Seele auf sich genommen, ihn weiterhin auszutragen und tat vieles, damit er nicht in ihrem Leib vor Einzelhaftkoller verrückt wurde oder tatsächlich alles bisher erlernte vergaß und wieder zum unbelasteten Fötus zurückschrumpfte. Verlor sie ihn weit vor der Wiedergeburt war sie ganz bestimmt unheilbar traurig.
"Wo und wie feiern wir heute ins neue Jahr hinein, wenn überhaupt wer aus der Zaubererwelt feiern möchte?" fragte er seine werdende Mutter. Diese schickte zurück: "Ach, da hast du wohl gerade selig geschlummert, als Belle und Adrian mich und damit auch dich eingeladen haben, mit ihnen ins neue Jahr zu feiern. Immerhin haben sie vor Weihnachten noch genug Galleonen aus Gringotts herausgeholt, um uns beide mit durchzufüttern, zumal ich ja aus bekannten Gründen keinen Champagner trinken darf."
"Kommt Midas auch dahin?" fragte Demetrius. "Vergiss es, über Cogison mit dem über das weitere Vorgehen in der Gringotts-Krise zu debattieren", erwiderte Nathalie. "Nicht auf einer Feier, meine duldsame Ernährerin und Heimstattgeberin", erwiderte Demetrius. Allerdings war die Versuchung schon groß, mit dem leiter der Finanz- und Handelsabteilung weiter über die immer angespanntere Lage im magischen Handel und Dienstleistungswesen zu sprechen, wo der zu den ganz wenigen gehörte, die wussten, dass er der mit seinem Sohn verschmolzene Ex-Zaubereiminister Armand Grandchapeau war. So würde er eben die Party genießen, die von seiner großen Schwester bestellten Köstlichkeiten genießen, sobald sie durch Nathalies Verdauungstrakt gewandert waren und wohl auch den einen oder anderen Tanz miterleben, den seine heimliche Austrägerin mit anderen ausführen durfte. Er wusste ja nicht, dass Midas Colbert gerade in dem Moment eine wichtige Entscheidung bekanntgab.
Midas Colbert straffte sich. Er blickte auf den dunkelblauen Schallschluckervorhang, der zwischen dem Eichenholzpodium und dem bis zu dreißig Plätze fassenden Zuschauerbereich hing. Er blickte noch einmal auf seine gegen Aufrufe-und Apportationszauber gesicherte Pergamentrolle. Neben ihm stand Simon Beaubois, der Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe. Hinter diesem wartete Jean-Pierre Villeneuve, der Koboldbeauftragte. Diesem sah Colbert an, dass er sich nicht so wohl fühlte. Doch jetzt galt es.
"Juncus, wir können beginnen", sagte Colbert, der heute als Gastgeber dieser Konferenz auftrat. Der ministeriumseigene Pressesprecher Juncus Crieur, gekleidet in einen feuerroten Umhang mit den darüber verteilten goldenen Runen für Worte, Ferne, Wissen und hören, winkte mit seinem Zauberstab. Leise rauschend hob sich der blaue Vorhang. Jetzt drang das leise Raunen der im Presseraum wartenden Reporterinnen und Reporter zu ihnen durch, die ihren Flotte-Schreibe-Federn was diktierten oder in die tragbaren Schallsammeltrichter sprachen, die alle gesagten Worte zu den Rundfunkverbreitern übertrugen.
Colbert überblickte die versammelte Reporterschar. Der Mirroir Magique hatte sowohl den für Handelsfragen zuständigen Reporter als auch den für Gesetzesfragen zuständigen Kollegen entsandt. Die Temps de Liberté, einst als Gegenzeitung zum von Didier kontrollierten Mirroir Magique gegründet, wurde von ihrem Eigner, Chefredakteur und obersten Reporter Gilbert Latierre persönlich vertreten. Colbert wusste, dass die eigentlich für Frankreich zuständige Reporterin Mildrid Latierre wegen einer voranschreitenden Zwillingsschwangerschaft keine belastenden Reisen mit Flohpulver machen oder gar apparieren durfte. Neben Gilbert saßen die für Gesellschaftsthemen zuständige Reporterin der Monde des Sorcières sowie die für Frankreich zuständige Vertreterin des Heilerherolds. Was die hier sollte wusste Colbert nicht. Da hätte er Crieur fragen müssen. Der stellte sich gerade in Positur, lupfte seinen sonnengelben Zaubererhut und verbeugte sich vor den versammelten Nachrichtensammlerinnen und -sammlern.
Der Pressesprecher begrüßte die Anwesenden mit hundertfacher Routine und bedankte sich für das Erscheinen und das Interesse. Dann verkündete er, dass Midas Colbert zur seit Tagen bedrückenden Lage mit Gringotts eine wichtige Entscheidung bekanntgeben wolle. Anschließend wollte sich Simon Beaubois noch einmal zur gegenwärtigen Verständigung zwischen Menschen und Kobolden äußern. Danach dürften Fragen gestellt werden. Als er das alles angekündigt hatte nickte er Midas Colbert zu und erteilte ihm das Wort.
"Messieursdames et Mesdemoiselles von allen großen Nachrichtenverbreitern unserer großen Nation", begann Colbert. "Ich werde jetzt nicht die Phrase von der ernsten Lage bemühen, denn wie ernst die Lage ist wissen wir ja schon längst." Die Anwesenden schmunzelten. "Ich möchte die auf eine klare Antwort und ein entschiedenes Handeln wartende Öffentlichkeit auch nicht länger im ungewissen lassen, jetzt, wo dieses Jahr kurz vor dem Ende steht und jeder wissen will, wie es im neuen Jahr weitergeht", fügte er noch hinzu. Dann begann er mit dem, weswegen sie alle gerade hier waren.
"Niemand kommt derzeit an die eigenen Goldvorräte in Gringotts. Die dort tätigen Kobolde haben bisher keine Auskunft erteilt, wann der Zugang wieder möglich ist. Unser bisher gewohntes Leben droht einem Zusammenbruch aller Handelsbeziehungen zu erliegen, vom einfachen Lebensmitteleinkauf bis zu umfangreichen Geschäften mit Besenholz, magischen Materialien oder thaumaturgischen Dienstleistungen. Wir wissen, dass Frankreich nicht allein betroffen ist. Die von unseren Elementarzauberkundigen als Ursache erkannte Entladung sich gegeneinander aufschaukelnder Erdmagien auf Grund des Erdbebens im Indischen Ozean hat die ganze Welt betroffen. Im Moment gilt daher bedauerlicherweise, dass jedes Zaubereiministerium eine für die ihm vertrauenden Zaubererweltangehörigen nötige Regelung treffen muss. Internationale Abstimmungen können erst dann wieder erfolgen, wenn die derzeitige Lage vollständig überblickt und eingeordnet werden kann. Deshalb habe ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen strickten, auf seine wesendlichen Ziele ausgerichteten Notfallplan erarbeitet, der von heute an gilt und bis zur Klärung der weiteren Geschäftsbeziehungen mit Gringotts in Kraft bleiben wird.
Im großen Vertrauen auf die Vernunft und die Wahrung der geschäftlichen Interessen aller magischen Händler und Dienstleister unserer großen Nation beschließt die Handelsabteilung, dass ab heute bis zum Ende der Notlage kein Münzgeld mehr zur entlohnung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern benutzt wird. Was außerhalb von Gringotts an Münzen im Umlauf ist darf nur für lebensnotwendige Einkäufe wie Lebensmittel, Flohpulver, Haus- und Körperreinigungsartikel aufgewandt werden, bis der Münzvorrat aufgebraucht ist. Daher sollten jene, die noch Münzgeld im Haus haben, genau überlegen, wofür sie es ausgeben. Um weitere Zahlungen zu gewährleisten erfolgt die erste Stufe des von meiner Abteilung erörterten Planes. Meine Abteilung wird ab dem 1. Januar 2005 personalisierte Gutschriftslisten versenden, auf denen ganz oben ein Grundwert von 1020 Entlohnungspunkten für jedes volljährige Mitglied der magischen Gemeinschaft aufgeführt ist. Bei Elternpaaren werden auf Grund der Familienregistratur noch Entlohnungsgutschriften von 60 Entlohnungspunkten pro Lebensjahr bis zum siebzehnten Lebensjahr für jedes Kind aufgeführt sein. Diese Entlohnungspunkte sind bis auf weiteres die gültige Währung bei allen späteren Geschäftsvorgängen. Die Liste kann bis zu hundert Aktionen beinhalten, bei der Entlohnungspunkte gegeneinander aufgerechnet werden. Jeder Punkt steht dabei für einen Gegenwert von einer Sickel. Arbeitgeber tragen in den Feldern "Gutschrift" die von ihnen üblichen Entlohnungen ein, während bei Käufen oder bezahlten Dienstleistungen ein Viertel der bisherigen Goldpreise an Entlohnungspunkten in den Feldern "Abbuchung" abgerechnet werden können. Die Listen werden bei Zustellung durch eingewirkten Blutbindungszauber auf die Besitzerinnen und Besitzer geprägt, so dass sie nur für diese nutzbar sind. Sind die hundert möglichen Punkteänderungen erschöpft können die Inhaber eine neue Entlohnungsliste erhalten, die dann die aktuelle Summe der verbliebenen Entlohnungspunkte enthält. Allen Händlern und Dienstleistern wird hiermit aufgetragen, dieses münzlose Zahlungsverfahren bis zur endgültigen Klärung der Lage anzuerkennen."
Die versammelten Presseleute blickten verwundert bis verstört zu Midas Colbert. Doch der war noch nicht fertig.
"Stufe zwei beinhaltet eine Wertbestimmung von Firmen, die in unserem Land tätig sind. Hierzu sollen bis zum 20. Januar des in kürze beginnenden Jahres 2005 alle Firmen mit mehr als 500 Galleonen Monatsumsatz die Inventurergebnisse dieses und des vorangegangenen Jahres einreichen. Darauf gründend wird jedem Unternehmen dann eine nur im Bereich von Unternehmen zu Unternehmen nutzbare Liste mit Entlohnungspunkten zugeordnet, die durch Unterschrift der registrierten Unternehmensführer magisch bindend gemacht werden und somit nicht von Unbefugten benutzt werden kann. Die Grundbeträge auf jeder Liste unterliegen der Vertraulichkeit zwischen Unternehmen und der Handelsabteilung. Sollte sich eine Rückkehr zu Münzgeldzahlungen ergeben können die ermittelten Unternehmenswerte unter Abzug eines Zehntels für die Bearbeitung in Sickel, beziehungsweise Galleonen umgewechselt werden. Näheres dann, wenn eine derartige Entscheidung sinnvoll ist." Die Presseleute im Saal nickten verhalten. Einigen war jedoch anzusehen, dass sie hierzu schon einige Fragen auf der Zunge hatten.
"Stufe drei des von heute an gültigen Notfallplanes besteht darin, den auf Eulenpost gründenden Geschäftsverkehr zu regeln, damit landesübergreifende Bezahlungen und Einkünfte wieder möglich sind. Hierfür werden die landesweit tätigen Unternehmerinnen und Unternehmer gebeten, Botenstellen zu schaffen, die in den größeren Zaubererweltansiedlungen Kontakt mit den Kunden und Unternehmen pflegen um auf dem Weg des Kontaktfeuers eingegangene Beträge an die Firmensitze weiterzumelden, wo sie dann in die unter Punkt zwei erwähnten Unternehmensguthabenslisten eingetragen werden können. Wir vertrauen hierbei sowohl auf die Sorgfältigkeit der unternehmenseigenen Kontoführung als auch auf die Ehrlichkeit der Unternehmen, keine Falschangaben zu machen. Ich stehe bereits mit unserer Strafverfolgung in Verbindung, wie ein Missbrauch des Vertrauens geahndet werden kann. Möglicherweise droht einem Unternehmen, dass absichtlich falsche Angaben verbucht, der Entzug der Geschäftslizenzen und die Entziehung der Guthabensliste und damit die totale Enteignung. Aber wie genau dergleichen stattfinden wird ist noch zu erörtern. Sicher ist nur, dass es rückwirkend bis heute gelten wird, wann auch immer dieses Gesetz selbst beschlossen wird. Zumindest wollen wir auf diese Weise einen einigermaßen flüssigen Austausch von Waren und Dienstleistungen ohne lästige Reisen für die Kundinnen und Kunden herbeiführen. Wie bereits erwähnt setze ich hierbei auf die Vernunft und auch die Ehrlichkeit der beteiligten Unternehmen." Viele hier im Raum grinsten verächtlich. Natürlich glaubten die nicht, dass auch nur ein Händler grundehrlich war, wenn es um eigene Gewinne ging. Colbert übersah diese Regung und kam zum letzten Punkt seiner Ausführung.
"Die vierte und letzte Stufe des von heute an geltenden Notfallerlasses, den Sie gerne auch als Vier-Stufen-Plan oder Vier-Punkte-Erlass zur aufrechterhaltung des magischen Waren- und Dienstleistungsaustausches vermerken dürfen, wird eine Überprüfung aller Guthaben in den Verliesen von Gringotts sein, wenn die Kobolde uns allen den Zugang dorthin wieder ermöglichen. Es gilt hierbei, dass jeder und jede im Besitz eines dortigen Verlieses herausfindet, ob die dort eingelagerten Güter und Goldvorräte noch vollständig sind. Hierfür werden wir einen in alphabetischer Reihe erfolgenden Aufruf an sie alle versenden, wann sie im Beisein eines Gringotts-Koboldes und eines Beamten aus meiner Abteilung Ihr Verlies prüfen dürfen. Jede vorzeitige Prüfung ohne beigeordneten Beamten wird als ungültig vermerkt und die amtliche Feststellung der Einlagen gestrichen. Das soll als vorsorgliche Belehrung an alle die gelten, die bei Feststellung eines Verlustes in ihren Verliesen Anspruch auf Entschädigung erwägen sollten. Wer keine amtliche Einlagenbestätigung vorweisen kann ist von allen Ersatzansprüchen ausgeschlossen. Erst wenn diese Prüfungen vollständig abgeschlossen sind kann über eine Rückkehr zum bis zum 26. Dezember diesen Jahres gebräuchlichen Handelsverfahren entschieden werden. Wann und wie dies sein wird liegt bei den Betreibern von Gringotts und uns allen, dass wir ehrlich und zügig die vierte Stufe des Notfallplanes erreichen und vollenden können. Dies ist die von meiner Abteilung für sinnvoll, anwendbar und ja auch hinnehmbar erörterte Maßnahme zur Bewältigung der von einigen von Ihnen als "Goldebbe" oder "Eingefrorenes Vermögen" betitelten Zustandes. Was die gegenwärtige Verständigung zwischen magischen Menschen und Kobolden angeht möchte mein geschätzter Kollege Beaubois Ihnen berichten. Bitte, Monsieur Beaubois!" Hiermit übergab Colbert das Wort an den Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe.
Dieser trat vor und erwähnte in nur einer Minute, dass seit dem 26. Dezember kein Kontakt mehr zu den Kobolden bestand und er somit nicht wisse, was genau in Gringotts los sei und ob die von den Kobolden geführte Bank wieder wie früher betrieben werden könne. Villeneuve sollte kurz erläutern, wie seine Bemühungen um eine Wiederaufnahme der Verständigung mit den Kobolden verliefen. Als beide ihre Auskünfte erteilt hatten nickte Colbert dem Pressesprecher zu. Dieser trat wieder vor und verkündete den Beginn der Fragerunde.
Natürlich wollte der erste Reporter wissen, ob dieser Notfallplan eine Gleichmachung aller Vermögenswerte bedeute, weil ja jedem und jeder gerade mal Entlohnungspunkte im Wert von 1020 Sickeln, also 60 Galleonen zugebilligt wurde, wo es sicher viele gab, diemehr in ihrem Verlies hattenund es auch welche gab, die weniger als diese 60 Galleonen in ihrem Verlies liegen hatten. Colbert bestätigte das und erwähnte, dass sich das Verhältnis ja dann im Laufe der Zeit wieder auf die erbrachten Leistungen einzelner hochrechnen ließe und die Unternehmensguthaben ja tatsächlich nach den Umsätzen der beiden letzten Jahre bemessen würden. Er betonte, dass man in der Zaubererwelt bereits einiges für 60 Galleonen bekommen würde und ja die Entlohnung der Arbeitenden ja im Lauf der nächsten Wochen dazukam, also niemand verhungern müsse. Außerdem bestehe ja gerade im Bereich der unmittelbaren Lebenserhaltungsausgaben noch die Möglichkeit, mit Galleonen, Sickel und Knuts zu zahlen, jedoch unter dem Vorbehalt, dass dieses Geld an Wert verlieren könne, falls es nicht gelänge, Gringotts wieder zu eröffnen. Auf die vom Handelsexperten des Mirroirs gestellte Frage, ob der Handel dadurch nicht arg eingeschränkt würde erwiderte Colbert, dass aus einer Restglut immer wieder ein neues Feuer entfacht werden könne, während ein erloschenes Feuer nur schwer wieder anzufachen sei, wenn der Nachschub an Brennstoff fehle. Also gelte es, den Handel zumindest auf kleiner Flamme zu erhalten, statt alles vollkommen erkalten zu lassen.
"Ich wundere mich, dass Sie ernsthaft auf die Ehrlichkeit der Unternehmer setzen, Monsieur Colbert", wandte sich Gilbert Latierre an den Handelsabteilungsleiter und fragte dann: "Haben Sie den Unternehmern bereits magisch bindende Zusagen abgetrotzt, um diese Zuversicht zu bewahren?" Viele lachten über diese Frage, bis es vielen dämmerte, dass die Frage alles andere als komisch war. Colbert musste sich sehr beherrschen, nicht verärgert oder ertappt dreinzuschauen. Er sah den Reporter mit der rotblonden Igelfrisur fest an und sagte:
"Wie von nicht nur Ihrer Schreibefeder mitgeschrieben erwähnte ich, dass kein Händler den Ausfall seines Geschäftes haben möchte. Der Plan zielt auf die Bereitschaft aller Beteiligten ab, uns alle aus dieser unangenehmen Lage herauszuhelfen. Wer da meint, noch auf unehrlichem Weg Gewinn machen zu wollen wird sich dem Zorn aller Geprellten und Benachteiligten ausgeliefert sehen, von einer wie auch erwähnt noch zu beschließenden Bestrafung ganz abgesehen."
"Ja, und sie missachten das Recht auf Verschweigen des eigenen Vermögens dritten gegenüber, Monsieur Colbert", warf der Reporter von Radio Zaubererweltecho ein. "Sie zwingen alle magischen Bürger frankreichs dazu, ganz öffentlich Rechenschaft über das eigene Guthaben abzugeben, sobald jemand in einen Laden geht und mit dieser ominösen Gutschriftsliste wedelt, wo jeder Ladenbesitzer drauf ablesen kann, wo und was der Kunde in den letzten Tagen bezahlt hat. Wäre es da nicht sinnvoller gewesen, Papiergeld auszugeben, wie es die Nichtmagier benutzen?"
"Daran wurde tatsächlich gedacht. Aber solche Banknoten, wie die Magielosen ihr Papiergeld nennen, sind selbst ohne Gebrauch von Magie nicht so fälschungssicher wie magisch an einen Besitzer gebundene Verträge oder Dokumente. Gerade wir können trotz bestehender Verbote gegen das Kopieren von geistigen oder materiiellen Werteinheiten locker reines Papiergeld vervielfachen und damit dessen Wert verfremden. Daher machen wir das mit den auf jeden Besitzer abzustimmenden Gutschriftenlisten."
"Ja, abgesehen davon, dass ja noch jeder Gold, Silber und Bronze im Haus haben kann", warf Gilbert Latierre ein. Crieur mahnte Sprechdisziplin an und das nur wer etwas sagen sollte, der das Wort erhielt und ausdrücklich nur Fragen zu stellen waren. Doch was Gilbert gesagt hatte wirkte durchaus auf die anderen Zuhöhrer. Deshalb meinte Colbert:
"Ich deute Ihren Einwand als Frage, ob wir nicht ein Zwei-Klassen-Währungssystem schaffen, bei dem die, die noch rechtzeitig viel Gold abgehoben haben, denen gegenüber im Vorteil sind, die gerade so noch zwanzig Galleonen im eigenen Haus haben. Das wird ja dadurch aufgehoben, dass ausschließlich örtliche Händler von dort lebenden Bürgern noch Münzgeld entgegennehmen dürfen. Für Dinge, die außerhalb des eigenen Ortes zu besorgen sind gilt dann nur die Bezahlung in Entlohnungspunkten."
"Was wurde im Bezug auf die laufende Quidditchsaison und die Entlohnung der Spieler und Gerätewarte beschlossen?" fragte Constance Dornier, die für Quaffel & Co. berichtete. Midas Colbert sah sie und dann alle anderen anund erwiderte: "Falls die Spielerinnen und Spiler ihre hohen Gehälter nicht jeden Monat aus dem eigenen Verlies bei Gringotts geholt haben müssen sie mit dem auskommen, was sie gerade in den Taschen haben, sofern sie es nur für Einkäufe um die Ecke ausgeben. Ob und inwieweit die Vereine die bisherigen Gehälter zahlen können hängt dann von deren eigenem Unternehmenswert ab. Ich habe mit Madame Latierre vereinbart, dass die Saison bis auf weiteres fortgesetzt wird. Sollten einige der hofierten Spielerinnen und Spieler finden, sie bekämen nicht mehr das, was ihnen angeblich oder wahrhaftig zusteht sollen die das mit ihren Vereinen ausmachen, ob sie weiterspielen. Sollte es dadurch zu einer Beeinträchtigung der Ligaspiele kommen fällt das in die Zuständigkeit meiner Kollegin Hippolyte Latierre. Diese dürfen Sie alle dann befragen, wenn dieser Fall eintreten sollte."
"Monsieur Villeneuve, Haben Sie keine Kopf- und Bauchschmerzen, weil Sie nicht wissen, wie die Kobolde gerade gestimmt sind und ob sie eine Umgehung ihres Währungsmonopols hinnehmen werden?" wollte der für Gesellschaftsfragen zuständige Reporter des Mirroirs wissen. Villeneuve trat vor und sagte nur:
"Fragen Sie mich das bitte noch einmal, wenn ich selbst die Antwort auf Ihre Frage kenne. Aber Danke für Ihr Interesse an meinem Wohlbefinden." Alle Reporter lachten. Da meldete sich Gilbert Latierre noch einmal zu Wort:
"Trifft es zu, dass die angehörigen des Zwergenvolkes bereits angeboten haben, dass sie die Lagerung und die Ausgabe von Gold, Silber und Bronze übernehmen wollen, falls die Kobolde Gringotts nicht mehr betreiben können?"
"Ich übernehme es, diese Frage zu beantworten", wandte sich Beaubois an die Zuhörenden. "Da ich heute nur mit Monsieur Villeneuve vor Sie alle getreten bin dürfen Sie davon ausgehen, dass ich von derartigen Vorschlägen der Zwerge noch nichts erfahren habe, und mein Zwergenverbindungszauberer hält mich jeden Tag auf dem Stand seiner Informationen."
"So, wie denn, wo die Zwerge in Frankreich eindeutig bekundet haben, bis auf weiteres keinen Kontakt mehr mit der Zaubererwelt zu halten?" fragte Gilbert noch schnell, bevor Crieur wem anderem das Wort erteilen konnte.
"O, woher haben Sie diese Annahme?" fragte Beaubois. Gilbert erwähnte, dass ein Informant aus dem Zwergenverbindungsbüro das erwähnt habe, weil die Zwerge sich wegen eigener Goldverluste benachteiligt fühlten und dem Zaubereiministerium vorhielten, mit den Kobolden gemeinsame Sache gegen sie zu machen. Wer der Informant war verschwieg Gilbert jedoch, da in der französischen Zaubererwelt Informantenschutz galt.
"Nun, ich werde keinen Einflüsterungen eines namen- und gesichtslosen Hinterträgers oder einer Hinterträgerin aufsitzen und Ihre Spekulationen bestätigen oder leugnen. Wenn Sie ausschließlich auf verkaufte Sensationen angewiesen sind, Monsieur Latierre, riskieren Sie den sowieso schon wackeligen Ruf Ihrer Zeitung", sagte Beaubois. Colbert konnte ihm jedoch ansehen, dass ihm dieses Thema überhaupt nicht gefiel, wohl nicht nur, weil die Temps einen fleißigen Informanten in seiner Abteilung hatte, sondern auch, dass Latierre hier gerade einen schlafenden Drachen kitzelte. Deshalb trat Colbert vor und sagte:
"Die nach Frankreich zugewanderten Zwerge genießen seit vierhundert Jahren eine sehr große Eigenständigkeit, was deren Gesetze, deren Handelsvorgänge und deren gesellschaftliche Ordnung angeht. Was Handels- und Währungsfragen angeht, so kann und will ich hier und jetzt klarstellen, dass die Regierung des Zwergenvolkes sehr gut beraten ist, nicht in bestehende Abkommen hineinzufuhrwerken, da dadurch auch die mit dem Zwergenvolk getroffenen Abkommen in Frage gestellt werden könnten, auch was die Einordnung von Handelsgütern und Erzverkäufen angeht. Daher kann ich dem Kollegen Beaubois nur vorschlagen, dass sein Mitarbeiter aus dem Zwergenverbindungsbüro klarstellt, dass wir Zwergengold nicht anders bewerten werden, nur weil wir gerade nicht auf die Goldvorräte in Gringotts zugreifen können. Eine Verhandlung über eine Neuzuteilung des Währungshütungsabkommens mit den Kobolden steht derzeit nicht an."
"Ja, und ich möchte klarstellen, dass die Zwerge keine urwüchsigen humanoiden Zauberwesen Frankreichs sind und wir zuversichtlich davon ausgehen, dass der regierende König es nicht darauf anlegen wird, die Aufenthaltsgenehmigung für sich und sein Volk zu riskieren", sagte Beaubois ungeachtet, dass er gerade nicht das Wort hatte. "Für alle nach Frankreich eingewanderten Zauberwesen gilt, dass sie nur solange hier leben und arbeiten dürfen, solange sie das Recht auf ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen und menschenähnlichen Zauberwesen achten. Ja, und bevor Sie das erwähnen, das gilt auch für die von den britischen Inseln und aus Deutschland zugewanderten Kobolde und die Angehörigen der osteuropäischen Veelas."
"Ich fürchte, das war jetzt ein Satz zu viel", dachte Colbert, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Es wunderte ihn jedoch nicht, dass die Vertreterin der Hexenwoche darauf ansprang und fragte: "Soll das heißen, Monsieur Beaubois, dass Sie auf Grund der bestehenden Notlage allen menschenähnlichen Wesen und deren Nachkommen mit magischen Menschen drohen, sie auszuweisen, wenn sie sich nicht den Forderungen des Zaubereiministeriums fügen?"
"Das habe ich so nicht gesagt. Ich stelle nur klar, dass alle hier lebenden, nicht ursprünglichen Zauberwesen sich dessen klar sind, dass sie nur im friedlichen Zusammenlebenmit uns anerkannt werden", sagte Beaubois, der jetzt wohl gemerkt hatte, welches Erumpenthorn er da gerade schüttelte.
"Dann sind wir alle doch ganz zuversichtlich, dass die Kobolde uns allen sehr bald zu noch günstigeren Konditionen die Türen nach Gringotts wieder aufmachen und auch ohne weiteres Gerede Entschädigungszahlungen an ihre Kunden leisten, wenn Monsieur Colbert und Monsieur Beaubois ihr Aufenthaltsrecht davon abhängig machen", warf Gilbert Latierre ein.
"Ihre offene bis sehr aufmüpfige Vorgehensweise in Ihrem Blatt in allen Ehren, Monsieur Latierre. Aber einen Haufen rebellischer Kobolde und eine scheinbare Chance witternder, begieriger Zwerge wollen Sie genausowenig wie wir alle anderen", sagte Beaubois. "Daher hüten Sie sich gütigst vor derartig aufhetzenden Äußerungen, im Ihrem ganz eigenen Interesse."
"Gibt es sonst noch Fragen zum vorgebrachten Vier-Stufen-Plan?" wollte Crieur wissen. Dem war nicht so. "Dann bedanke ich mich bei Ihnen allen für Ihr Interesse und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag", sagte der Pressesprecher und machte eine lockere Handbewegung. Darauf rauschte der Schallschluckervorhang wieder herunter. Das war überdeutlich. Die Konferenz war vorbei.
"Simon, Sie haben leichtfertig diesen Sensationskrämern da draußen eine Steilvorlage für wweitere wilde Spekulationen geliefert", knurrte Colbert. "Die Dame von der Monde des Sorcières hat eine Schwägerin, die eine Halbveela ist. Das müssten Sie eigentlich wissen. Und was die Zwerge angeht, klären Sie das möglichst bald, ob die noch die Füße stillhalten oder schon darauf hoffen, dass die Kobolde Gringotts nicht mehr aufmachen können! Ich weiß nämlich von meinem Kollegen aus Deutschland, dass deren Zwerge bereits Schadensersatz für bei diesem Erdbeben verstorbener Angehöriger fordern und der Kollege Heller wegen seiner unübersehbaren Koboldstämmigkeit als deren heimlicher Feind angesehen wird. Wir sollten hier in Frankreich keinen Zwergenaufstand riskieren."
"Was ich gesagt habe halte ich aufrecht, Kollege Colbert. Wenn die hier lebenden Zwerge finden, die bisherigen Abkommen zu hinterfragen, könnte auch das Aufenthalts- und Lebensrecht auf den Prüfstand kommen. Daher wundere ich mich sowieso, dass die Zwerge den Kontakt zu uns unterbrochen haben, nur wegen ein paar Felsenwühlern oder wegen dieser Frau, die ihrem Mann weggelaufen ist und sich in der Zaubererwelt ein neues, warmes Nest gesucht hat. Die wissen, dass sie hier nur solange leben dürfen, wie sie das Ministerium als Hausherren und Gastgeber respektieren."
"Natürlich darf ich nicht in Ihre Kompetenzen hineinreden, Kollege Beaubois. Doch wenn Ihre Obliegenheiten zu Problemen in meiner Zuständigkeit ausarten sollten möchte ich klarstellen, dass ich Sie gewarnt habe."
"Ich habe auch Kontakte zu anderen Amtskollegen, Monsieur Colbert. Von den deutschen Zwergen abgesehen weiß ich von keinen Bestrebungen, für die erlittenen Schäden Ersatz zu fordern oder Verhandlungen über künftige Handelsbeziehungen zu führen."
"Ich hoffe, Ihre Zuversicht ist begründet", sagte Colbert. Denn im Grunde hatte Beaubois nicht nur den Zwergen und Veelas, sondern auch den Kobolden gedroht, da hatten die Reporter schon recht. Ob die Ministerin das so akzeptieren würde oder auf ihr Interventionsrecht zurückgreifen würde war fraglich. Zumindest hatte sie den Vier-Stufen-Plan genehmigt, wie Colbert ihn gerade dargelegt hatte. Dass er mit den Händlernund Dienstleistern Frankreichs noch weiterführende Vereinbarungen getroffen hatte wusste die Ministerin nicht und auch nicht Beaubois, diese Fehlbesetzung auf dem Stuhl eines Abteilungsleiters. Colbert musste jetzt genau aufpassen, dass alles möglichst reibungslos ablief. Jede Verzögerung, jede Unstimmigkeit würde ihm angelastet. Das wiederum konnte den wahren Plan, der mehr als vier Umsetzungsstufen hatte, gefährden. Denn im Zweifelsfall, so wusste Colbert, würde sich die Ministerin für das friedliche Zusammenleben von Menschen und denkfähigen Zauberwesen entscheiden und über seinen und Beaubois Kopf hinweg mit allen verhandeln, die das Leben in Frankreich mitbestimmen konnten. Dann konnte die geheime Absprache mit den Händlern zum Fallstrick für ihn werden. Aber vielleicht konnte er eine Intervention von ihr auch dazu ausnutzen, ihre Amtsführung zu hinterfragen, je danach, ob der öffentlich gemachte Plan ein Erfolg wurde oder nicht. Doch soweit wollte er jetzt noch nicht denken.
Alle, die gerade unauffällig fort konnten waren gekommen. Die höchste Schwester des Ordens der schwarzen Spinne hatte über die Meloketten gerufen. Als auch die letzte angekündigte Mitschwester eingetroffen war versammelte Anthelia/Naaneavargia sie alle im Besprechungsraum. Dann befahl sie denen, die aus allen europäisch geprägten Ländern der Erde stammten, über die Lage ihrer magischen Gemeinschaften zu berichten. Im wesentlichen deckten sich alle Berichte. Im Moment konnte niemand mit Zahlungsanweisungen bezahlen oder bezahlt werden. Gringottsfilialen waren bis auf weiteres geschlossen. Die Kobolde hielten sich mit Berichten über ihr Kerngeschäft und über die eigene Bevölkerung zurück. Jedes Zaubereiministerium arbeitete einen Plan aus, um den gerade erstarrten Handel wieder aufzutauen, bevor es zum Unmut in der magischen Gemeinschaft kam. Drei kleine Ausnahmen gab es jedoch in den Berichten.
Albertrude Steinbeißer, die von allen außer Anthelia noch immer für Albertine gehalten wurde, erwähnte, dass der Zwergenverbindungszauberer im Ministerium davon berichtet hatte, dass die Zwerge gerade ohne regierenden König seien und sich vier Anhängerschaften formierten, die einen der vier um die Nachfolge kämpfenden zugetan waren. Dabei war die von Malin, dem Sohn des Königs Gaorin am größten, dicht gefolgt von den Befürwortern eines gewissen Gloin Zangenschmied.
"Soso, dann sind die Zwerge gerade führungslos?" fragte Anthelia. "Gemäß der Zwergengesetze führt deren Historienhüter die Amtsgeschäfte weiter. Allerdings darf er keinen offenen Krieg ausrufen, solange kein neuer König bestätigt wurde. Das könnten die deutschenKobolde ausnutzen. Deren Nachrichtendienst hat sicher einen Maulwurf im Zwergenland", sagte Albertrude.
"Ja, oder eine Maulwürfin. Die können ihre Frauen noch so sehr zu willigen Weibchen erniedrigen. Wegsperren können sie die nicht immer", grummelte Anthelia. Sie dachte dabei an Lutetia Arno, die abtrünnige Zwergin, die den Latierres geholfen hatte, ihre Blutlinie zu verlängern und zu verbreitern.
"Na ja, aber von den "Weibchen" wird wohl keins für die Kobolde anzuwerben sein", vermutete Schwester Portia. Albertrude widersprach dem und erwähnte, dass die Koboldfrau Kieselgunde damals gute Beziehungen mit drei Zwergenschwestern gepflegt habe, die jede für sich einen mächtigen Vertreter der Langbärte geheiratet haben sollte. "Insofern hat die höchste Schwester völlig recht, dass der Bund der zehntausend Augen von den Kobolden da einen Ansatzpunkt hat, um über das Geschehen im Zwergenstaat unterrichtet zu bleiben. Aber natürlich würden es die ebenso ihre Frauen erniedrigenden Spitzohren niemals zugeben, dass sie von kleinen Hausweibchen und Zwergenlegehühnchen ihre so wichtigen Geheiminformationen bekommen." Dem konnte jetzt keine hier widersprechen.
Die zweite Abweichung vom Standardbericht über lahmliegenden Handel und der Angst vor dem Totalverlust aller Wertsachen bei den Zauberern und Hexen bestand darin, dass das britische Zaubereiministerium sich im Moment eher um die nichtmagischen Angehörigen von magischen Mitbürgern sorgte, weil ein Vertreter der Interessensgruppe für friedliche Koexistenz gefordert hatte, dass der Verbleib vermisster Verwandter aufgeklärt werden müsse, wo Großbritannien doch einmal Kolonialmacht im Indischen Ozean gewesen sei und da sicher noch sehr gute Verbindungen unterhalte. "Tim Abrahams, der Leiter des Büros für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Kräfte, hat bereits vor einem Tag einen Aktionsplan mit dem Namen "Seeruf" gestartet, bei dem auch Zaubererweltangehörige aus Indien, Singapur und Kenia einbezogen werden sollen. Von Australien kriegen wir im Moment gar nichts mehr mit. Die sind am Boden, weil bei denen alles verlorengegangen ist. Jeder dort ist mittellos geworden. Das beschränkt auch die Verwendung von Flohpulver und Posteulen", berichtete Anthelias Mitschwester Isobell Winterdale. Anthelia nickte.
Die dritte scheinbare Kleinigkeit betraf die russische Zaubererwelt. Dort war der Ausfall der Gringotts-Filialen in Moskau, St. Petersburg, Tomsk und Wladiwostok zum Anlass genommen worden, das Goldverwahrungsmonopol der Kobolde für beendet zu erklären. Minister Arcadi hatte verfügt, dass die Kobolde bis zum siebten Januar alle Schlüssel von Gringotts und alle Listen von Verliesbesitzern herauszugeben hatten, wollten sie keinen weiteren Ärger mit Arcadis Truppen bekommen. Arcadis Fachleute für Zauberwesen drohten sogar mit einem Schwarm dressierter Kikimoras, jenen kleinen aus bereits slawischer Zeit bekannten, humanoiden Plagegeistern, die sowohl Erd- als auch Luftmagie verbunden waren.
"Ui, da ist aber wer sehr mutig", feixte Anthelia. "Diese Biester zu bändigen ist sehr schwer und hält auch nur solange vor, bis die Sonne wieder aufgeht. Diese Biester sind nachtaktive Geschöpfe, die wie Vampire und Felsentrolle das Sonnenlicht fliehen. Müssen sie fliehen fällt jeder auf sie gelegte Bann von ihnen ab, und sie können zwei Nächte lang nicht mehr unterworfen werden. Das hat schon oft genug dazu geführt, dass sie diejenigen gesucht haben, die ihnen ihren Willen aufgezwungen haben", dozierte Anthelia und erhielt beipflichtendes Nicken von Vera und Albertrude.
"Arcadi hat schon einen Hang zum Übertreiben, höchste Schwester", sagte die sibirische Mitschwester Ilonka Tupulewa. "Aber sein Ultimatum sollten die Kobolde ernstnehmen."
"Ja, werden sie auch und sich entsprechend ausrüsten, um sich zu wehren", sagte Antthelia. "Denn Arcadi hat den Kobolden den offenen Krieg erklärt."
"Das ist wohl wahr", erwiderte Schwester Ilonka. "Und, hat er denn genug Leute hinter sich?" fragte Anthelia/Naaneavargia die russischen Mitschwestern. Diese überlegten, sahen einander an und nickten dann. "Arcadi und seinen Vorgängern waren die aus dem Westen stammenden Kobolde immer schon ein Graus. Aber weil alle Länder westlich der slawischen Reiche mit diesen Geschöpfen ein Abkommen über Gold und Handelswege getroffen haben mussten sie diesem Abkommen beitreten, wollten sie ihr Land nicht dauerhaft isolieren. Das wurmt Arcadi nun, und er sieht seine Chance, diesen ungeliebten Zustand zu beenden."
"Das könnte zu einem Flächenbrand werden, wenn sich bei den Kobolden herumspricht, dass ein Zaubereiministerium ihre Geldüberwachungsvollmacht aufkündigt und mit Gewalt droht. Wird interessant sein, wie diese Lage in Russland sich entwickelt, zumal bei denen ja noch die letzten frei lebenden Riesen wohnen, die von dieser Hybridin Nal beherrscht werden. Es wird in dem Zusammenhang sicher auch sehr wichtig, wie dieses grüne Riesenweib auf die Lage in der zaubererwelt reagiert."
"Du meinst, sie könnte die Gunst nutzen, um den Riesen wieder mehr Vormachtstellung zu verschaffen?" fragte Ilonka Tupulewa. Anthelia überlegte kurz und sagte: "Dazu müsste sie erst einmal wieder genug Artgenossen haben. Doch ich kann mir vorstellen, dass sie die Gunst der Stunde nutzt, um aus dem beobachteten Bereich zu verschwinden und mit den ihr unterworfenen Riesen und deren Nachkommen einen anderen sicheren Ort für ihre Kolonie zu finden. Gebirge gibt es ja doch genug auf der Welt."
"Wohl wahr", erwiderte Albertrude. Sich vorzustellen, wie an die fünfzig Riesen ungesehen und ungehindert durch ein Land marschierten und sich dann in einer schwer zugänglichen Ecke der Welt einnisteten, um sich dort ungestört zu vermehren, behagte der Verschmelzung aus Albertine und Gertrude Steinbeißer nicht, konnte Anthelia ihren Gedanken entnehmen.
"Schwestern Vera und Ilonka, ihr behaltet die Lage in eurer Heimat sehr gut im Auge. Bei euch laufen so viele intelligente Zauberwesen herum, dass es sehr unüberschaubar werden könnte, wenn die je nach Ausrichtung Angst vor Arcadi kriegen oder sehr wütend auf ihn werden, weil er keine Rücksicht auf andere Zaubergeschöpfe nimmt. Aber mich interessiert schon, wie stark die Kobolde gerade sind. Womöglich tut uns Arcadi mit seinem Kriegsaufruf sogar den Gefallen, eine weitere Schwachstelle bei den Kobolden zu offenbaren als deren Gier und Erdverbundenheit allein", bemerkte Anthelia.
Die weiteren Gespräche drehten sich um das Für und Wider einer Einmischung in die angeschlagene Zaubereiverwaltung in jenen Ländern, die unter dem Ausfall von Gringotts am meisten litten, allen voran die USA. Denn hier hatte sich in den letzten Jahren ein noch größeres Missverhältnis zwischen Kobolden und Zaubererweltangehörigen entwickelt. Viele Amerikaner riefen bereits nach dem Ende des Währungsmonopols. Andere rufen dagegen, dass sie nicht ausgerechnet jetzt die Kobolde reizen durften, solange die Gringottszweitstellen unzugänglich waren, so dass niemand mehr an sein oder ihr Erspartes kommen mochte. Zumindest hofften viele, dass ihre Wertsachen noch vollständig in den Verliesen in Gringotts lagen.
"Was die Lage hier in den Staaten angeht, so möchte ich dazu raten, erst einmal zu verfolgen, welche Hexen oder Zauberer sich durchsetzen können. Was die Kobolde angeht stimme ich zu, dass wir uns vor möglichen Racheakten dieser Wesen vorsehen müssen. Denn selbst wenn man denen wieder und wieder erzählt, dass ihre Kalamitäten durch ein fernes Erdbeben entstanden sind, werden die nicht aufhören, uns bewusste Angriffe zu unterstellen. Die Frage ist also, ob die Tore von Gringotts hier in den Vereinigten Staaten jemals wieder geöffnet werden. Werden sie es nicht, wird Buggles andere Maßnahmen ergreifen. Auch darauf müssen wir achten, Schwestern!" Alle stimmten ihrer höchsten Schwester zu. Dann beschlossen sie noch, einen heimlichen Hexenrat zu gründen, der im Falle, dass das Zaubereiministerium zusammenbrach, die Macht in den Staaten Nord- und Mittelamerikas übernehmen konnte. Das hatte Anthelia ihren Mitschwestern durchgehen lassen, weil diese selbst die Chance witterten, endlich Sardonias Erbe anzutreten und das Weltreich der Hexen auf Erden zu begründen. Da Anthelia dem auch nach der Verschmelzung mit der Erdvertrauten Naaneavargia nicht abgeneigt war galt es für sie, das brünftige Drachenweibchen nicht am Schwanz zu ziehen, sondern auf ihm zum Sieg zu reiten. Doch dazu musste wirklich erst eine Lage eintreten, die eine Machtergreifung ermöglichte. Vorher würden sie alle in das neue Jahr hinüberfeiern, auch wenn es im Moment eher ein trübsinniger Kalenderwechsel sein würde.
Mittlerweile war es ja schon dreimal durch die Zaubererwelt, dass keiner nach Gringotts Paris konnte. Die Kobolde von Millemerveilles hatten klargestellt, dass Barabhebungen und -einzahlungen nur von hier lebenden Hexen und Zauberern stattfinden durften. Das wiederum mochte im Lauf der nächsten Tage einigen Neid und harsche Vorhaltungen hervorrufen. Auch wussten die hier lebenden Hexenund Zauberer, dass sie wie schon unter der dunklen Kuppel Sardonias so gut wie nur noch auf sich allein gestellt sein würden, was die Versorgung mit auswärtigen Dingen anging.
Entsprechend angespannt war die Stimmung zwanzig Minuten vor dem Jahreswechsel. Nach feiern war hier keinem wirklich zu Mute. Dennoch hatten sich alle Bewohnerinnen und Bewohner Millemerveilles' am üblichen Festplatz zusammengefunden, um gemeinsam in das bereits geschichtsträchtige Jahr 2005 hinüberzuwechseln. Eine Umfrage bei den Bewohnern der magischen Ansiedlung hatte eine Mehrheit von neunzig Prozent ergeben, dass der Übergang ins neue Jahr mit einem Feuerwerk begangen werden sollte, auch wenn anderswo keiner mehr Gold für sowas flüchtiges wie Feuerwerk ausgeben wollte. Die Begründung war, dass es für die Kinder der Gemeinschaft wichtig war, einen gewohnten und fröhlichen Übergang zu feiern.
Da sowohl Millie als auch Béatrice keinen Alkohol trinken durften verzichtete auch Julius auf den edlen Champagner, der zum Anstoßen ausgeschenkt werden sollte. Die meisten Hexen, die in diesem Jahr unfreiwillig viele Kinder geboren hatten verzichteten auch darauf, zumal einige von ihnen die Stillzeit über das durchschnittliche halbe Jahr hinaus verlängert hatten. So waren es vor allem die jungen Männer, die bereits vor dem traditionellen Anstoßen gut ins Glas sahen und meinten, die trübe Stimmung damit wegspülen zu können.
Julius saß zusammen mit seinen beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen, sowie Aurore, Chrysope und Clarimonde bei beiden Familien Dusoleil, als die hier traditionelle Runde mit den Zetteln ablief. Jeder und jede durfte aufschreiben, was ihm oder ihr im zu verabschiedenden Jahr Sorgen oder Verdruss bereitet hatte, um diese lästigen Erlebnisse symbolisch mit dem Neujahrsfeuerwerk in Rauch und Asche aufgehen zu lassen. Julius schrieb auf seinen Zettel, dass er um die Freiheit der Zaubererwelt fürchtete, weil Ladonna, sowie die selbsternannte Vampirgöttin, wie auch die von Vengor höchst idiotischerweise erschaffene Nachtschattenkönigin immer stärker wurden und weil VM in diesem Jahr überdeutlich gezeigt hatte, dass diese Organisation keine Skrupel hatte, die eigenen Ziele zu erreichen. Fast hätte er geschrieben, dass er um die Zukunft seiner bereits geborenen und der drei noch ausreifenden Kinder bangte. Doch dann entschied er sich, das nicht aufzuschreiben.
Als dann wenige Sekunden vor Mitternacht frei in der Luft schwebende Kristallgläser erschienen wandte sich Julius an seine Ehefrau und schaffte es zu lächeln. Sie lächelte ebenfalls. Früher hatte sie ihn bei diesem Anlass immer hocherfreut angestrahlt. Also nahm sie die gerade herrschende Stimmung ebenfalls mit.
Die letzten Sekunden wurden laut heruntergezählt. Als alle "Null!" riefen und dann einander ein frohes neues Jahr wünschten klirrten die Trinkgefäße gegeneinander, schmatzten sich liebende Menschen gegenseitig Küsse auf Münder oder Wangen und umarmten sich. Julius wünschte erst Millie ein frohes neues Jahr, dann Béatrice, der er links und rechts auf die Wangen küsste. Dann knuddelte er seine Erstgeborene und stieß mit ihrem kleinen, nichtönenern Trinkbecher an, in dem wie bei ihm purer Traubensaft war. Als Aurore dann auch mit ihrer Mutter anstieß hob er Chrysope hoch und knuddelte sie kurz. "Schönes neues Jahr, meine kleine Goldfee!" hauchte er ihr ins rechte Ohr. Clarimonde nahm er kurz in den Arm, bevor ihn Camille Dusoleil mit erhobenem Glas entgegenkam. "Frohes neues Jahr, Julius! Ich hoffe, es wird doch noch ein sehr schönes und friedliches Jahr für uns hier, wo das letzte schon sehr ereignisreich war." Julius konnte und wollte ihr da nicht widersprechen.
Als nächste wollte Jeanne ihm ein frohes neues Jahr wünschen, während ihr Mann Bruno Millie auf die Wangen küsste.
So wünschten sich alle Nachbarn und Familienangehörigen in Millemerveilles ein gutes 2005, während über allen ein buntes Feuerwerk erstrahlte, allerdings ohne Luftheuler und Böller, nur Feuerräder, Lichtvorhänge, Leuchtkugeln und Raketen in mehr als 12 Farben. Am Himmel rotierte eine metergroße golden funkelnde 2005 für mehrere Minuten. Für einige Minuten waren die Sorgen des gerade verwehten Jahres vergessen, die bereits das Neue Jahr belasteten. Für wenige Minuten war die Welt gerade nur ein großer Festplatz voller feiernder Menschen. Als Hera Matine Julius ebenfalls ein frohes neues Jahr wünschte meinte sie anschließend: "Auf dass wir beide weiterhin gut miteinander auskommen." Er erwiderte diesen Wunsch. Denn er schätzte die residente Heilhexe und Hebamme von Millemerveilles noch höher, seitdem er ihr bei vielen Geburten assistieren konnte und weil sie es ohne Getöse hingenommen hatte, dass Millie, Béatrice und er sich auf dieses Abkommen verständigt hatten. Klar, sie bekam dadurch die Gelegenheit, drei seiner Kinder auf die Welt helfen zu dürfen.
Als ihn Eleonore Delamontagne umarmte sagte diese: "Genießen wir diese erhabenen Momente der Verbundenheit miteinander und nehmen wir sie als Kraftquelle für das, was wir in diesem Jahr zu bewältigen haben!"
Als ob Florymont Dusoleil, der mitverantwortlich für das Neujahresfeuerwerk war, das vorausgeplant hatte dauerte die bunte Lichterschau über allen magischen Menschen aus Millemerveilles genausolange, wie alle brauchten, die einander unmittelbar nach Jahresbeginn ein frohes neues Jahr wünschen wollten. Als Julius schließlich auch Geneviève Dumas und Sandrine ein frohes Neues Jahr gewünscht hatte erlosch die seit Mitternacht rotierende Jahreszahl aus vielen kleinen Leuchtkugeln. 2005 war angebrochen, und keiner wusste so richtig, ob es wirklich ein gutes Jahr werden mochte. Doch niemand hier wagte das auszusprechen, um die erhabene Stimmung nicht zu zerstören.
Da sie auf Musik und Tanz verzichteten blieben die Feiernden noch bis zwei Uhr zusammen an den Tischen sitzenund unterhielten sich leise miteinander über das, was 2004 so alles gebracht hatte. Gut, für die allermeisten hier war das unübersehbar der beachtliche Nachwuchs. Doch auch der Prix Millemerveilles hatte bei den meisten hier sehr schöne Erinnerungen hinterlassen. Millie und Julius dachten auch an die geheime Ministerkonferenz, der sie hatten beiwohnen dürfen. Das einzig bedauerliche war, dass Frankreich die zweite Chance auf die Verteidigung des Quidditch-Weltmeistertitels nicht hatte nutzen können.
Als Millie und Julius wieder in ihrem Ehebett lagen sagte Millie noch: "Auch wenn dieses Erdmagiegewitter uns den Jahreswechsel fast versaut hat bin ich doch sehr froh, dass wir wieder ein sehr schönes Jahr vor uns haben, Monju." Dabei streichelte sie ihren schon beachtlichen Umstandsbauch. Sie hatten sich darauf verständigt, die beiden darin heranwachsenden Mädchen Flavine und Fylla zu nennen. Die Erstgeborene der beiden sollte den Zweitnamen Hillary bekommen, von Julius' Urgroßmutter mütterlicherseits. Die zweitgeborene sollte den Zweitnamen Rosmerta erhalten, nach Millies Urgroßtante mütterlicherseits. Millie und Julius hatten sich deshalb auf zwei Namen mit dem Anfangsbuchstaben F geeinigt, weil egal wie Millie sich im Bezug zu dem von Béatrice ausgetragenen Jungen entschied, alle drei kommenden Kinder durch denselben Anfangsbuchstaben zugeordnet werden konnten. Das wurde sicher lustig, wenn die drei nach Beauxbatons kamen, ein Jahr nach den Frühlingskindern von Millemerveilles.
"Wollen nur hoffen, dass wir für die da drinnen und alle anderen genug zu Essen kriegen", sagte Julius dazu. "Solange die Sonne auf Millemerveilles scheint haben wir sicher genug zu essen da, Monju. Mach dir nicht Midas Colberts Kopf. Milch kriegen wir jedenfalls genug, sagt Temmie." Julius wagte es nicht, weder seiner Frau noch der erwähnten großen weißen Dame mit Flügeln zu widersprechen. Im Zweifelsfall mussten sie sich eben laktovegetarisch ernähren, also nicht vegan wie Brittany Brocklehurst, sondern unter Einbeziehung von Milch und Milchprodukten, was für Säuglinge und Kinder im Wachstum ja auch sehr wichtig sein mochte. Er dachte daran, dass wohl viele Leute in den nächsten Tagen derartig eingeschränkt essen und trinken mussten, wenn sie keine eigenen Nutztiere für frisches Fleisch hielten.
Laurentine hatte die Einladung der Brickstons angenommen, mit ihnen ins neue Jahr zu feiern. Zwar hatten auch Camille und Florymont sie gefragt, ob sie bei und mit ihnen feiern wollte. Doch ihr war im Moment nicht nach einem ganzen feiernden Dorf. Da wollte sie lieber das Feuerwerk über Paris ansehen und mit Joes Eltern "Auld Lang Syne" singen, das aus Schottland stammende Abschiedslied, mit dem im englischen Sprachraum traditionell das alte Jahr verabschiedet wurde. So hatte sie zumindest eine Verbindung zu ihren US-amerikanischen Verwandten. Ja, auch deretwegen wollte sie nicht in der technischen Abgeschiedenheit von Millemerveilles feiern.
Tatsächlich riefen kurz nach dem Neujahrsglockenschlag ihre Tante Sue und deren Töchter Vicky und Hellen an. Sie erwähnten auch, dass Monique Lacroise es vorgezogen hatte, auf der Rolling-Nugget-Ranch zu bleiben, solange sie nicht wusste, was mit ihrer Tochter los war. Laurentine meinte dazu nur: "Ich habe auch einiges angeleiert, um herauszubekommen, was mit meinen Eltern passiert ist. Bisher haben sie sie nicht gefunden. Das ist nicht gerade beruhigend."
"Ja, stimmt. So wissen wir nicht, wie es weitergeht", sagte Vicky. Laurentine erwähnte Schroedingers Katze. Vicky kannte dieses Gedankenexperiment. Dabei fiel Laurentine für sich selbst ein, dass in ihrer Lebenswelt gerade was ähnliches anlag, was den Zugang zum Zauberergeld anging. Laut sagte sie dann nur noch: "So müssen wir weiter warten und dürfen hoffen und bangen zugleich. Ich hatte gehofft, das erst in vierzig Jahren oder so durchmachen zu müssen."
"Verstehe was du meinst", sagte Vicky am anderen Ende der Überseeverbindung. Im Hintergrund war das übliche Stadtgetriebe von New York zu hören. Die würden ja erst in sechs Stunden am Times-Platz ins neue Jahr feiern. Das würde sicher auch wieder ein großes Spektakel, auch wenn auch US-Bürger zu den Tsunamiopfern gehörten. Überhaupt war seit der Katastrophe die Spendenbereitschaft in aller Welt auf einen bisher nicht dagewesenen Wert angestiegen.
"Irgendwie geht das Leben weiter", dachte Laurentine, als sie nach dem Telefongespräch mit den Brickstons die erste halbe Stunde des neuen Jahres feierte. am nächsten Montag würde die Schule weitergehen und Laurentine voll und ganz beschäftigen. Geneviève hatte ihr klargemacht, dass sie weiterhin entlohnt würde, falls nicht in Gold, dann in Naturalien. Jedenfalls dürfe sie mittags gerne bei ihr essen, um nicht dauernd für sich selbst einkaufen zu müssen.
Als Laurentine wieder in ihrer eigenen Wohnung war nutzte sie die Ruhe nach dem Feuerwerk, Louiselle Beaumont eine Gedankenbotschaft zu schicken. Diese antwortete unverzüglich darauf: "Ich hoffe auch, dass dieses Jahr trotz der beängstigenden Nachrichten für uns ein gutes Jahr wird. Schlaf gut, meine Schwester!"
Laurentine wusste nicht so recht, wie sie diese Grußbotschaft deuten sollte. "für uns". Hieß das jetzt, für die gesamte Zaubererwelt? Oder hieß "für uns" für die Schwesternschaft, deren Mitglied sie im gerade erst verwehten Jahr geworden war? oder hieß "für uns" ausdrücklich für sie und Luiselle? Die gewisse Hingezogenheit zu der sehr kundigen Kampfzauberexpertin war immer noch da. Durch die Schreckensmeldung aus Südostasien hatte sie nicht weiter daran gedacht, ob es eine geschlechtliche oder rein bewundernde Hingezogenheit war oder ob sie Louiselle echt wie eine große Schwester annehmen wollte, die sie in Naatur nicht hatte. Doch dann fiel ihr ein, wie oft Claire sich über Jeanne beklagt hatte und dass Millie es auch nicht immer leicht mit ihrer großen Schwester gehabt hatte. Anders war es da zwischen Constance und Céline Dornier gelaufen. Die hatten ihres Wissens nach nie Streit miteinander bekommen oder das immer unter sich abgehandelt, ohne andere mit hineinzuziehen. Tja, wenn sie Louiselle nicht darauf ansprach und es mit ihr klärte war das auch so'n Ding wie mit Schroedingers Katze.
Die kleine Aufklärungsmaschine sank mit laut heulender Turbine und wild kreisenden Rotorblättern auf das Landedeck des großen Kreuzers nieder, Das Schiff und sein Hubschrauber hatten seit dem 27. Dezember internationaler Zeitrechnung den Indischen Ozean nach Opfern der schweren Seebebenkatastrophe abzusuchen. Der Kapitän des Schiffes Samarinda musste seine Mütze festhalten, damit sie ihm nicht vom Wind der Rotorblätter vom Kopf gefegt wurde. Endlich stand die kleine Aufklärungsmaschine sicher auf ihren Kufen. Wartungsmatrosen eilten herbei, um den Helikopter am Schiffskörper zu verankern. Die Turbine lief mit abfallender Tonlage aus. Erst als der wilde Schemen der Luftschraube in einzelne langsamer drehende Rotorblätter überging wagte sich der Kapitän selbst noch näher an die Maschine. Da öffnete sich die Backbordtür, und der Pilot im Rang eines Marineleutnants sprang heraus. Als er seinen kommandierenden Offizier sah salutierte er entschlossen und pflichtgemäß zugleich.
Alle die denLeutnant sahen erkannten sofort, dass er keine erfreulichen Nachrichten überbringen würde. Er hatte nämlich die Aufgabe gehabt, die Sumatra weit vorgelagerten Inseln abzufliegen um zum einen nach geeigneten Landestellen für Hilfskreuzer und Helikopter zu suchen und zum anderen eine erste Einschätzung der Zerstörungen zu bekommen. Dass sie jetzt erst so weit außerhalb des Hauptarchipels nach weiteren Auswirkungen der Tsunamis suchten lag einfach und allein daran, dass die Marineeinheiten mit Mann, Maus, Schiff und Fluggeräten an der Suche, Rettung und Bergung verunglückter Menschen bei den üblichen Touristenhochburgen beschäftigt waren. Tja, und erst gestern, wo die Stromversorgung von Banda Aceh wieder einigermaßen stabil war, hatte ein schlauer Mensch von einem ganz privaten Reisedienst herausgefunden, dass da noch eine Insel namens Gulanayatra war, auf der ab und an kleinere Touristengruppen das tropische Urwaldgefühl erleben wollten, nur von ein paar Rangern gehütet.
"Lohnt sich eine Landung auf Gulanayatra, Leutnant Kalung?" wollte der Kapitän wissen. Der Pilot des Hubschraubers machte eine verneinende Geste. Auf die Aufforderung seines Kommandanten machte er vollständig Meldung. "Anzufliegende Insel offenbar durch Beben und Flutwellen größtenteils zerstört. Habe eine Unzahl im Meer treibender Tropenbäume ausgemacht. Von der Insel selbst konnte ich nur noch drei Felsbrocken sehen. Keine lebenden Menschen gesichtet. Allerdings konnte ich einen im Meer treibenden Baum sichten, der scheinbar als letztes Rettungsmittel benutzt wurde. Habe die Koordinaten des Objektes bereits an den Funker weitergesendet."
"Haben Sie mit dem Infrarotsystem erfasst, ob die Menschen, die den Baum als Rettungsmittel nutzten noch leben, Leutnant Kalung?"
"Infraroterfassung zeigt keine normalwarmen Körper, Kapitän. Kann aber auch von Unterkühlung durch Seewasser hervorgerufen sein."
"Danke Leutnant Kalung, Wegtreten und Ausruhen. Besprechung in zwei Stunden in der Offiziersmesse", sagte der Kapitän.
Kalung salutierte noch einmal und entfernte sich Richtung Niedergang.
"Rudergänger vom Dienst, angelegtem Kurs weiter Folgen!" befahl der Kapitän, als er wieder auf der Brücke war. Der Matrose am Ruder bestätigte den Befehl.
Über Funk holte sich der Kapitän die Erlaubnis ein, die betreffende Position anzulaufen, um das von Kalung gesichtete Treibgut zu finden. Sicher waren schon viele Tage vergangen. Menschen konnten verhungernund ja, auf offener See verdursten, weil Salzwasser nun einmal nicht verträglich war. Doch er durfte nicht aufgeben. Schon etliche gesuchte Menschen waren in den vier letzten Tagen in Booten oder auf kleinen Felsplateaus bibbernd gefunden und abgeborgen worden. Solange ein Mensch nicht eindeutig tot war bestand immer Hoffnung, so lautete die Generalanweisung der Admiralität in Djakarta.
Die Samarinda lief mit voller Kraft auf die bezeichnete Position zu. Eine Seemeile vor dem früheren Strand der Insel ließ der Kapitän die Fahrt auf ein Viertel verringern und mit aktiven Sonargeräten die Tiefe loten um bloß nicht auf einen überspülten Strandabschnitt aufzulaufen. Gleichzeitig suchte der Radarwart vom Dienst die Meeresoberfläche nach auffälligen Objekten ab. Dabei erfasste er tatsächlich etwas, wohl weil es metallische Anteile hatte. Die "Samarinda umfuhr den Bereich, wo früher eine tropische Waldinsel gelegen hatte und jetzt nur noch vereinzelte Felsbrocken zu erkennen waren. Das Schiff musste sich sogar noch zwischen treibenden Riesenbäumen hindurchtasten. Sie ließen den unmittelbaren Gefahrenbereich hinter sich und steuerten das vom Radar erfasste Objekt an.
Beim Näherkommen erkannte die Brückenbesatzung, dass es ein im Meer dümpelnder Urwaldriese war. Dann sah der Kapitän, was Hubschrauberpilot Kalung gemeint hatte. Am Wipfel des einst so unerschütterlich scheinenden Baumes waren vier Menschen festgeschnallt. "Nachricht an den Schiffsarzt, Bereithalten für Bergung!" befahl der Kapitän über Bordsprechanlage.
Es dauerte jedoch noch anderthalb Stunden. Im Osten leuchtete das Morgenrot. Mit drei ausgebrachten Booten konnten sie den treibenden Baumstamm festmachen und in die Nähe des Mutterschiffes schleppen. Der an Deck stehende Schiffsarzt betrachtete die vier Körper, die an den starken Ästen des Wipfels festgeschnallt waren. Er sah, dass er nichts mehr ausrichten konnte. Dennoch wurden die vier von den technisch ausgebildeten Matrosen vom Baumstamm gelöst und an Bord geholt. "Soviel zur letzten Hoffnung!" seufzte der Arzt an den Kapitän gewandt. "Immerhin sehen sie nicht so angebissen aus wie die Leichen, die wir in den letzten Tagen auffischen mussten", grummelte der Kapitän.
"Der Baum dürfte alle Raubfische und Aasfresser abgeschreckt haben", vermutete der Arzt. "Dennoch kein Anblick für unvorbereitete Leute", fügte er noch hinzu. Dann beaufsichtigte er den Transport der Geborgenen auf seine Station. Er wollte eine vorläufige Diagnose stellen, wann und wie die vier zu Tode gekommen waren. Näheres sollte dann auf Sumatra erfolgen, wo bereits Hilfskräfte aus anderen Ländern tätig waren, auch und vor allem um Landsleute zu identifizieren. Sicher würde es noch ein Nachspiel haben, dass jetzt erst an diese weit vorgelagerte Insel gedacht worden war. Aber die schwere Seebebenkatastrophe hatte sie alle kalt und unvorbereitet erwischt.
Weil in dieser Gegend wohl niemand mehr zu finden war bekam die Samarinda den Auftrag, mit ihrer traurigen Fracht nach Sumatra zurückzukehren.
Das Pingeln der Lautsprecher brachte Julius darauf, in das Fenster des seit Tagen laufenden Personensuchprogramms zu wechseln. Er speicherte den gerade getippten Text ab und vergrößerte das betreffende Fenster. Jetzt war es also wieder soweit. Ein weiterer gesuchter Angehöriger war gefunden und mit hoher Wahrscheinlichkeit identifiziert worden.
Schon als er die Bilder auf dem Rechner sah wusste er, dass er gleichjemandem eine sehr traurige Nachricht übermitteln musste. Der englischsprachige Text unter den Bildern beschrieb, dass die beiden Personen an einen ausgewachsenen Urwaldbaum festgeschnallt im Meer treibend aufgefunden worden waren. Dazu kam noch die Positionsangabe und dass die Fundstelle in der Nähe einer Insel namens Gulanayatra lag. Es gab sogar eine Verknüpfung zu weiterführenden Angaben über die Insel, weil das Suchprogramm die Unterfunktion hatte, automatisch alle mit einem erwähnten Ort oder bestimmten geografischen Angaben verbundene Texte zu suchen und anzubieten. Das hatte Julius' Mutter noch programmiert, wenn wer an einem Ort verschwand, den längst nicht jeder kannte. Doch jetzt interessierte ihn die vollständige Meldung und der Bericht über das weitere Vorgehen.
Julius fühlte schon, wie ihn die Trübsal ergriff. Hier hatte er es nicht mit Leuten zu tun, die er nicht kannte, sondern war in gewisser Weise gefühlsmäßig verbunden. Selbst wenn die gerade in seinem Bewusstsein auftauchenden Erinnerungen keine wirklich erfreulichen waren, so fühlte er doch mit.
Er druckte die Meldung, die Bilder und den gesamten englischsprachigen Bericht aus, um ihn zu übergeben. Er könnte das alles auch per E-Mail verschicken. Doch das kam ihm irgendwie feige vor, einfach Klick, Klick und weg war zu einfach, dachte er.
"Mamille, Laurentines Eltern sind gefunden worden. Es war nichts mehr zu machen", mentiloquierte er seiner Frau. Sie hatte ihn immer und immer wieder aufgefordert, ihr nichts zu verheimlichen, was die Suche nach Laurentines Eltern betraf. "Wenn sie von diesen Tsunamis getötet wurden kriege ich das sowieso mit. Also sag's mir bitte gleich, wenn du es weißt!" hatte sie ihm noch gestern nachmittag gesagt, als er für die von Béatrice genehmigte Stunde in seinen Computerraum gehen durfte. Denn gestern war ja noch Feiertag gewesen.
"Dann ist's leider doch so gelaufen", schickte ihm seine Frau zurück. Dann empfing er noch eine Melonachricht von Béatrice. "Hast du Bilder von ihnen, wie sie gefunden wurden?"
"Nein, das sind wohl Fotos für Pässe und Ausweise, keine Auffindefotos. Die kann ich bedenkenlos rumgeben", gedankenantwortete Julius. "Gut. Denn wenn die beiden sehr heftig zugerichtet aussehen sollten möchte ich nicht, dass Millie, Laurentine oder ich das so zu sehen bekommen. Der Schock dürfte für Laurentine eh sehr groß sein. Teil es bitte Hera mit, weil sie Laurentines Vertrauensheilerin ist!"
"Ich möchte es erst ihr mitteilen. Wenn sie dann Heras Hilfe möchte mag sie sie selbst anfordern, Trice", schickte Julius zurück. Er mochte es nicht, wenn alle anderen etwas wussten, was jemanden direkt betraf, der Betreffende es aber erst zum Schluss erfuhr. Das sah Béatrice wohl ein und genehmigte ihm, die traurige Botschaft zu überbringen.
Zuerst vermerkte er im Suchprogramm für seine Arbeitsstelle, dass weitere vermisste Personen gefunden worden waren und die betroffene Angehörige von ihm persönlich informiert werde. Danach schloss er das Textverarbeitungsprogramm, mit dem er heute einen Bericht über Auswirkungen von zusammengebrochener Infrastruktur in der nichtmagischen Welt erstellen wollte, um einen Vergleich zur Lage in der Zaubererwelt ziehen zu können. Dann fuhr er den Rechner vollständig herunter. Womöglich würde er heute nicht mehr damit arbeiten.
"Es ist sehr traurig und fällt mir schwer, dass ich die erste bin, die dir das sagt, Tinette. Aber meine Kontakte zu den Rettungsorganisationen haben das gerade bestätigt, dass Renée und Simon, deine Eltern, gerade in einem Krankenhaus von Sumatra aufgebart wurden. Offenbar haben sie versucht, sich auf einem großen Urwaldbaum zu retten. Doch der wurde wohl von einer der Wellen entwurzelt und ins Meer gerissen", seufzte Monique Lacroise. Laurentine hörte ihr an, dass sie mit den Tränen rang. Auch sie fühlte bereits aufsteigende Tränen in den Augen. Denn sie zweifelte nicht daran, dass ihre Großmutter ihr die Wahrheit sagte. Bei sowas log man nicht, besonders nicht von direkter Verwandter zu direkter Verwandter.
"Was genau hat dir wer mitgeteilt, Mémé Monique?" fragte Laurentine. Sie wollte es genau wissen. Ihre Großmutter in Kalifornien erwähnte nun, dass sie die Meldung von einem Kontakt beim amerikanischen roten Kreuz erhalten habe, der wiederum mit seinen Kollegen in Indonesien in Verbindung stand und nach Bürgerinnenund Bürgern der vereinigten Staaten suchte. Dabei hatte er auch jeden europäischen Touristen, den man lebend oder tot fand im Blick, zumal auch Kreuzer der US-Marine bei der Suche nach Vermissten halfen. "Kannst du mir den vollständigen Bericht mailen, Mémé?" fragte sie. Da hörte sie ein unverkennbares Rauschen im Kamin und sah jemanden aus einer smaragdgrünen Funkenwolke heraustreten.
"Ich habe nur mit dem Bekannten telefoniert, Tinette. Öhm, was war das eigentlich gerade?"
"Das Rauschen? Das war im Radio", log sie. "Klang aber sehr nahe, als wenn ein Schnellzug durch deine Wohnung braust, Tinette", erwiderte ihre Großmutter. Laurentine bejahte das. Dann bedankte sie sich, auch wenn der Anlass kein erfreulicher war und verabredete sich mit ihr für ein weiteres Gespräch, wenn es eine offizielle Mitteilung gab.
Der Besucher, der sofort mitbekommen hatte, dass Laurentine zum einen gerade mit wem telefonierte und auch schon so aussah, dass sie bereits wusste, weshalb er hier war, wartete schweigend, bis Laurentine die Auflegentaste an ihrem schnurlosen Telefon gedrückt und das Telefon in seine Basisstation zurückgestellt hatte. Mit einem kurzen elektronischen Signal verkündete der Apparat, dass sein Akku aufgeladen wurde. Dann wandte sich Laurentine an Julius Latierre, der sich nun weniger behutsam als gerade eben noch die restliche Asche von der Kleidung klopfte.
"Wenn du mir jetzt mitteilen musst, dass sie meine Eltern gefunden haben, Julius, dann bist du genau zwei Minuten nach meiner Oma dran. Ich weiß das schon, dass die im Meer treibend gefunden wurden", wimmerte Laurentine und versuchte, die nun immer stärker aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Julius sah sie mitfühlend an und zog einen Packen Papier aus seinem grünen Arbeitsumhang. "Zumindest bin ich nicht der, der dir den heftigen Schock verpassen muss", seufzte er und übergab ihr die ausgedruckte Mitteilung.
"Immerhin bist du persönlich hergekommen und hast mir das Zeugs nicht per E-Mail durchgereicht", sagte Laurentine. Dann wandte sie sich ab, wohl weil sie nicht wollte, das Julius sie weinen sah. Er nahm Rücksicht darauf und sagte nur: "Falls du jetzt ein paar Minuten für dich brauchst kein Problem. Falls du mit wem reden möchtest sag's Catherine oder kontaktfeuer mich oder Hera!"
"Neh, bleib bitte noch ein paar Minuten hier im Haus. Du kannst gerne hier im Wohnzimmer bleiben. Ich bin gleich wieder klar!" schniefte Laurentine. "Es war ja immer wahrscheinlicher, dass man sie nicht mehr lebend findet", schnäufzte sie in ein Taschentuch. "Es ist halt nur, weil es jetzt amtlich ist, dass da keine Hoffnung mehr is' und jetzt so viel auf mich runterkracht, was gerade so noch an einem haardünnen Faden gehangen hat. Setz dich bitte hin!"
Julius ging zu einem der vielen Esstischstühle und setzte sich. Er schwieg, solange Laurentine ihrer heftigen Trauer ihren Lauf ließ. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte wandte sie sich ihm wieder zu und seufzte: "Aber sehr angenehm, dass du mir diese Nachricht persönlich vorbeibringen wolltest, Julius. Telefon ist doch irgendwie so unpersönlich und E-Mails und SMS sind schlicht Mist bei sowas."
"Ich habe alles ausgedruckt, was unser Suchprogramm im Zusammenhang abgreifen konnte. Offenbar möchten sie es erst der französischen Botschaft mitteilen, das zwei vermisste Staatsbürger gefunden wurden. Die werden dich dann wohl anrufen", vermutete Julius.
"Ja, weil die davon ausgehen, dass das Internet nicht alles vorher ausplaudert", sagte Laurentine mit belegter Stimme. "Hat sich euer Suchspion bei denen eingehackt?"
"Nicht bei den Indonesiern direkt, aber beim FBI. Die haben ja ihre forensischen Pathologen runtergeschickt, um nach vermissten US-Bürgern zu suchen. Einer von denen muss wohl auf Sumatra in Stellung gegangen sein", sagte Julius.
"FBI? Eure Rechner können sich mal eben bei den Feds einhacken, ohne dass die das merken?"
"Wusstest du noch nicht, dass wir auch Drähte zum FBI und der CIA haben, Laurentine?" fragte Julius.
"Da hat sich offenbar viel getan, seitdem ich von den Grandchapeaus weg bin", grummelte Laurentine. Dann sagte sie mit etwas festerer Stimme: "Immerhin ist die Warterei jetzt vorbei. Schroedingers Katze liegt doch tot in der Kiste. Auch wenn das am Ende ziemlich fies und unerträglich war, wie das zwischen meinen Eltern und mir abgelaufen ist mussten die doch nicht echt schon so früh sterben." Sie fühlte weitere Tränen aufkommenund hielt sich das bereits gut durchtränkte Taschentuch vor ihr Gesicht.
"Was haben die Feds denn aus Indonesien bekommen?" fragte sie, nachdem sie den zweiten Weinkrampf überstanden und die vielen schönen bis unangenehmen Erlebnisse mit ihren Eltern erinnert hatte. Sie trocknete sich ihre Hände am Blusenärmel und nahm sich das oberste Blatt, auf dem die Passfotos ihrer Eltern gedruckt waren. "Oh, Maman hatte da ja ihr grünes Festkleid an, dass ihr Opa Henri aus Paris mitgebracht hat", sagte sie mit einem Anflug von Erheiterung. Dann las sie den ausführlichen Auffindungsbericht und dass die Gefundenen mittelschwere Verletzungen auf Grund von Anprall und Abschürfungen aufwiesen, einige von denen jedoch post mortem, also nach Eintritt des Todes. Sie zwang sich, nicht auf den gerade zu lesenden Text zu weinen. Dann fühlte sie sogar eine gewisse Wut. Denn da stand doch allen Ernstes, dass die Suche nach ihren Eltern erst am ersten Januar aufgenommen wurde, weil da erst jemand die Dateien der privaten Reisefirma überprüfen konnte, mit der sie beide unterwegs waren. Außerdem hatten sie nach der Einreise in Indonesien wohl falsche Namen angegeben, um nicht nach außen dringen zu lassen, wo genau sie ihren Urlaub verbringen würden. Nur weil bei den Toten die Reisedokumente gefunden worden waren und das FBI sämtliche Fotos "möglicherweise gefährdeter Personen" aus den USA und Europa in seiner Datenbank hatte waren die beiden toten Europäer als Renée und Simon Hellersdorf identifiziert worden. Zur absoluten Bestätigung konnte jedoch noch ein DNA-Vergleich mit lebenden Verwandten der Toten erfolgen, falls die französische Regierung dies für wichtig hielt. Diese wurde von der indonesischen Regierung unterrichtet.
"Da steht zumindest nichts von Bisswunden oder sowas", seufzte Laurentine. Julius meinte dazu, dass die Halteriemen sie bis zum Schluss an diesen entwurzelten Baum gebunden hatten und deshalb keine größeren Raubfische an sie drangegangen seien.
"Ja, und jetzt muss ich wohl warten, bis wer von der Regierung mich anruft oder was?" fragte Laurentine zwischen Trauer und Wut pendelnd.
"So blöd das ist, Laurentine. Wenn du jetzt zu denen gehst und denen sagst, dass du schon weißt, dass deine Eltern gefunden wurden werden die wissen wollen, woher. Das hier war keine frei im Internet herumgereichte Meldung, wenngleich die vielleicht doch noch auf der Plattform für Anfragen zu Vermissten landen könnte."
"Ja, kapiere ich, Julius", schnaubte Laurentine. "Vielleicht sollte ich dann zumindest schon mal anfangen, die sortierten Unterlagen für alles klarzumachen, was jetzt auf mich zukommt, falls die mich überhaupt mit einbeziehen."
"Du bist die Tochter, warum nicht?" fragte Julius. "Weiß ich, was mein nun hoffentlich seinen Frieden habender Herr Papa noch angestellt hat, um mich aus seinem Leben rauszuhalten. Ich habe Catherine und dir doch das mit dem Abschiedsbrief erzählt, dass sie ja keine Tochter mehr haben wollten." Julius nickte bestätigend. "Ja, und bevor du es sagst, Julius, auch aus seinen Todesangelegenheiten. Am Ende taucht da wie appariert ein Notar auf, wedelt mit entsprechenden Verfügungen herum, die mir verbieten, mich darum zu kümmern, wie auch immer begründet."
"Verstehe ungefähr was du meinst. Als das mit meinem Vater war hing ich auch voll dazwischen, ob ich mich mit um alle anfallenden Sachen kümmern sollte oder das doch meiner Mutter alleine überlassen sollte."
"Ja, und wenn mein Vater der Meinung war, mich aus allen relevanten Dateien über ihn auszustreichen und das noch hingekriegt hat, bevor er diesen supertollen Südseeurlaub angetreten hat ..."
"Du hast doch eben mit deiner Oma in Kalifornien telefoniert, die erst auch nichts mehr von dir wissen wollte. Die wird ja wohl bestätigen können, dass es dich gibt, auch amtlich gesehen."
"Ey, Frechdachs. Man merkt, dass du mit 'ner roten Hexe zusammengekommen bist", grummelte Laurentine. Doch dann musste sie lächeln. Julius hatte doch recht. Doch die Sache mit dem Notar und einer möglichen Ausschlussverfügung ließ sie nicht los. "Vielleicht sollte ich meine Großmutter bitten, mir eine offizielle Vollmacht zu schicken, dass ich in die Bestattungsangelegenheiten meiner Eltern mit einbezogen werde", meinte sie. Julius deutete auf das Faxgerät im Wohnzimmer. Sie nickte und sagte: "Hätte ich besser gleich eben schon machen sollen. Aber da kam ich noch nicht drauf, dass die mir vielleicht dumm kommen könnten. Muss ich sie noch einmal anrufen", seufzte Laurentine. Julius nickte nur zur Antwort.
"Weiß Millie das eigentlich schon oder wolltest du es ihr erst mitteilen, wenn ich es klar habe, wie ich damit umgehen kann?" fragte sie ihren Besucher. Dieser erwiderte, dass seine Frau und seine Schwiegertante es schon wussten, weil Millie seine Stimmungen ja fernfühlen konnte. "Ach ja, das verräterische Herzchen", grummelte Laurentine. "Oha, dann könnte es Hera auch schon von Béatrice zugespielt bekommen haben. Wundere mich, dass die dann nicht gleich nach dir bei mir reingerauscht ist."
"Ich habe Béatrice darauf hingewiesen, dass du bestimmst, wer wann davon erfährt, was mit deinen Eltern und damit auch mit dir los ist. Aber vielleicht solltest du dich echt mit Hera unterhalten, wenn dir alles zu viel wird. Mir hat es jedenfalls gut getan, mit wem zu sprechen, der Erfahrungen in Trauerarbeit hat."
"Hmm, ich fürchte, ich sollte es der eifrigen Geneviève weitermelden, bevor die Schule wieder losgeht. Aber das kann ich ja nur, wenn es auch offiziell ist."
"Da ich die Nachricht über das ministeriumseigene Rechnernetz bekommen habe und das schon sehr offiziell ist reicht das sicher aus, um ihr einen oder zwei freie Tage abzubitten, die du sicher brauchen wirst", sagte Julius.
"Gut, danke. Mach ich dann morgen. Jetzt muss ich erst mal abwarten, wann wer von welcher Behörde bei mir anklingelt. Ich muss nur überlegen, wie ich das Claudine beibringe, dass ich gerade nicht in Stimmung für nette Nachmittage bin", erwähnte Laurentine. Julius nickte bestätigend. Er erwähnte, dass er in einer ähnlichen Lage war, als er nicht wusste, ob seine Mutter den Terroranschlag vom elften September überlebt hatte oder nicht. Laurentine wusste sofort, was damals los war, als Julius vorzeitig freibekommen hatte, um bei sich zu Hause auf Nachricht von seiner Mutter zu warten. Diese Erinnerung brachte sie auch wieder zurück ins Hier und Jetzt. "Im Grunde ist der Shut-Down von Gringotts ja ähnlich heftig für die Zaubererwelt wie damals der elfte September für die magielose Welt", meinte sie. Julius bestätigte es in gewisser Weise, wenngleich das mit Gringotts eher einem weltweiten Stromausfall mit allen daranhängenden Ausfällen gleichkam. "Stimmt, das wäre sogar noch heftiger. Gibt es ja genug Endzeitentwürfe, was dann so alles passiert und ob wir Menschen sowas überleben können."
"Ja, und ich hoffe, wir überstehen das alle. Dieser von Colbert ausgegebene Vier-Stufen-Plan muss ja erst noch umgesetzt werden. Und ob die Kobolde das so locker nehmen, dass wir auch ohne sie Handel treiben können ist genauso fraglich."
"Wird den Kobolden nicht gefallen, wenn wir es hinkriegen, ohne sie auszukommen. Aber dann starten wir alle bei null", erwiderte Laurentine.
"In Australien ist das so. Da ist Gringotts mit allem was drin ist im Boden versunken. Was davon übrig war haben die in Wut und Panik flüchtendenDrachen zerlegt. Die fangen voll bei null an", erwähnte Julius. "Hat deine große Freundin Aurora das erzählt? Ui, das wird dann aber sehr heftig", erwiderte Laurentine. "Stimmt, das ganze System der Zaubereiverwaltung könnte daran kaputtgehen. Dann heißt es am Ende noch jeder für sich und jeder gegen alle anderen. Und ich heul Rotz und Wasser wegen zweier Leute, die nichts mehr mit mir zu schaffen haben wollten", grummelte Laurentine. Julius hakte sofort einund sagte: "Solange wir noch wen liebenund betrauern können sind diese Leute für uns genauso wichtig wie alles andere. Schlimm wird's, wenn wir abstumpfen oder jedem misstrauen, der in unsere Nähe kommt. Die Stimmung hatten wir in Millemerveilles mit diesen Idioten, die meinten, keine Goldblütenhonigphiolen am Körper tragen zu müssen, weil die ja angeblich Lebenskraft aussaugen. Solche Irrdenker wird's sicher auch geben, wenn das ganze Ausmaß dieser Goldebbe durchkommt. Im Moment haben die Leute ja noch Bargeld, auch wenn Colbert verfügt hat, dass nur noch lebensnotwendige Dinge damit bezahlt werden dürfen."
"Ja, und wem das Gold als erstes ausgeht wird am lautesten schreien, was den Kobolden einfällt, ihm oder ihr die Tore vor der Nase zugemacht zu haben", sagte Laurentine. Sie war froh, auch über was anderes sprechen zu können als über ihre nun offiziell toten Eltern.
Das Telefon trällerte. Laurentine nahm den Apparat aus der Basisstation und sah, dass eine Telefonnummer in Paris angezeigt wurde. Sie meldete sich.
"Hier spricht Fabienne Moulin vom auswärtigen Amt in Paris. Sind Sie Mademoiselle Laurentine Hellersdorf, Wohnhaft in der Rue de Liberation 13 zu Paris, Geboren am 11. November 1981?"
"Das ist korrekt", erwiderte Laurentine. "Dann obliegt es mir, Ihnen mittzuteilen, dass in unseren Räumen eine wichtige Nachricht für Sie vorliegt, die sie entweder schriftlich zugestellt bekommen oder bei einem direkten Gespräch mit mir erhalten können. Haben Sie morgen Zeit?"
"Falls es um meine Eltern geht sagen Sie es bitte hier und jetzt, dann spare ich mir den Weg", sagte Laurentine. "Das ist mir nicht am Telefon gestattet, weil es zu viel Betrug an Angehörigen gibt. Bitte kommen Sie, falls es geht, morgen früh um halb zehn in das Sprechzimmer 206 im auswärtigen Amt. Die Zugangsberechtigungsnummer für den Pförtner lautet sieben zwei drei neun Südsee. Bitte notieren Sie es sich oder senden Sie, falls Sie den Termin nicht wahrnehmen können, eine postalische Anfrage mit dem Betreff an die Adresse des auswärtigen Amtes! Diese finden Sie im Branchenverzeichnis aller Telefonanbieter oder auf unserer offiziellen Internetseite. Als Betreff geben Sie bitte den gerade erhaltenen Zutrittsberechtigungscode an, damit wir wissen, dass nur Sie diese Anfrage stellen und zur Herausgabe der für Sie gedachten Unterlagen berechtigt sind."
"Halb zehn morgens! Das geht in Ordnung!" sagte Laurentine ruhig und ohne belastende Gefühle. Dann ließ sie sich den Code noch einmal bestätigen und verabschiedete sich.
"Ui, und ich dachte schon, die knallen mir die Todesmeldung gleich am Telefon an den Kopf", sagte Laurentine. Julius nickte. Dann meinte er: "Ja, aber es gibt Gangster, die mit solchen Nachrichten oder anderen angeblichen Problemen von Verwandten Leute am Telefon abzocken und denen entweder Geld abluchsen oder sie dazu bringen, ihr Haus zu verlassen, um es dann auszuräumen. Insofern verstehe ich das Vorgehen dieser Dame vollständig."
"Stimmt, Enkeltrick, Witwenabzocke und dergleichen. Habe ich auch schon von gehört. Ich kann mir auch vorstellen, dass jetzt gerade viele Gangster damit Kasse machen, dass sie vorgeben, gesuchte Verwandte hätten kein Geld mehr und bräuchten was für die Heimreise oder sowas. Ist das Aas auch noch so klein, stellt sich schnell ein Geier ein!" schnaubte Laurentine. Julius konnte ihr da nur beipflichten. "Okay, dann flohpulvern wir zwei nach Millemerveilles. Ich geb deinen Bericht bei Madame Dumas ab und erbitte mir für morgen frei. Eigentlich fies, dass ich das Ferienende dann nicht mitkriege."
"Ich bin ja von Nathalie Grandchapeau offiziell dazu verdonnert, in Millemerveilles zu bleiben, um weitere Vermisstenmeldungen zu prüfen. Außer dir sind noch zwanzig andere Zaubererweltbürger mit nichtmagischer Verwandtschaft betroffen. Die haben schon gefragt, ob sie dafür Gebühren bezahlen müssen, wo sie gerade nicht an ihr Gold rankommen."
"O haua!" erwiderte Laurentine.
"Ich rufe jetzt noch mal bei meiner Großmutter an und sage ihr, dass das Außenministerium mir die Todesnachricht offiziell mitgeteilt hat und ob sie möchte, dass ich mich hierzulande um alles kümmere was anfällt oder sie das von den Staaten aus machen will", legte Laurentine fest und griff noch einmal zum schnurlosen Telefon. Julius nickte. So ging es auch, Laurentines Mutter mütterlicherseits die Entscheidung zu überlassen, ob Laurentine was damit zu tun haben sollte oder nicht.
Er blieb ganz ruhig, während Laurentine mit ihrer Großmutter sprach und auch erwähnte, dass ihre Eltern womöglich den Anwalt, der das Haus in Vorbach verkauft hatte, auch als Nachlassverwalter eingesetzt haben könnten und sie damit vielleicht aus allem herausgedrängt würde, was anstand. "Natürlich bekommst du von mir die klare Erlaubnis, dich um alles zu kümmern, was in Frankreich ansteht, Tinette. Ich könnte zwar bis zur ehrenvollen Bestattung herüberkommen. Aber ich weiß nicht, ob ich es gut durchstehen kann, jetzt, wo es auch deine Mutter betroffen hat", hörte Julius über den Telefonlautsprecher die ältere Dame seufzen. Laurentine wandte ein, selbst nicht zu wissen, wie sie mit der Lage zurechtkam. Doch dann dankte sie ihrer Oma in Amerika, dass diese ihr vertraute. "Ich telefaxe dir eine schriftliche Bestätigung, dass ich als Mutter der Verstorbenen ... Ich meine, dass ich dich in alle anfallenden Vorgänge mit einbeziehen möchte, unabhängig davon, warum deine Eltern sich von dir losgesagt haben, auch wenn mich das natürlich immer noch interessiert, was sie beide dazu bewogen hat", hörten Laurentine und Julius Monique Lacroises Stimme. Laurentine erwiderte darauf: "Ich habe einfach nicht den von meinen Eltern gewünschten Lebenspfad eingeschlagen, Mémé Monique. Sie meinten, zu viel Zeit und Geld in meine Ausbildung investiert zu haben, um das alles wegzuwerfen. Belassen wir es bitte bei diesem Stand der Dinge", antwortete Laurentine. Einige Sekunden Schweigen später bestätigte ihre Großmutter, dass sie es im Namen des Friedens mit ihren viel zu früh abberufenen Verwandten so hinnehmen würde. Doch Julius meinte doch einen ganz kleinen Argwohn in dieser Bekundung zu hören. Laurentine überhörte das sicher und bedankte sich noch einmal für das Verständnis. Dann gab sie ihrer Großmutter die Faxnummer durch. "Wenn du morgen früh dort hinfährst hast du meine Einverständniserklärung auf jeden Fall schon vorliegen", sicherte ihr Monique Lacroise zu. Dann verabschiedeten sich beide wieder voneinander.
"Tja, dann bleib jetzt noch der Gang zu deiner Vorgesetzten, Laurentine", sagte Julius. Laurentine stimmte ihm mit trübseliger Miene zu.
Eine Minute später flohpulverten sie nacheinander aus der Rue de Liberation 13 nach Millemerveilles, wobei Laurentine im Postamt herauskam und Julius in seinem eigenen Haus landete.
Geneviève Dumas war durch die Meldungen der letzten Tage schon darauf gefasst, dass Laurentine ihr doch die betrübliche Nachricht überbrachte. Natürlich bekam sie für den morgigen Tag frei. "Da ich weiß, wie aufwühlend und aufwändig eine Bestattung sein kann kannst du gerne bis zum Beisetzungstermin Ffrei bekommen, Laurentine. Außerdem hast du trotz deines Amerika-Urlaubs ja noch sieben Überstunden gut. Ich kann deine Stunden auch an den Kollegen Rochfort delegieren. Aber du kommst doch sicher wieder zu uns zurück, oder?"
"Solange meine Eltern mir nicht eine Anstellung in Übersee vererbt haben bin ich sofort wieder da, wenn alles erledigt ist, was jetzt ansteht. Wenn es eine Beerdigung gibt, bei der auch Bekannte oder Kollegen dabei sein können bekommen Sie auf jeden Fall eine Nachricht."
"Das will ich sehr hoffen. Du weißt ja, was sonst passiert", meinte die Direktrice der Grundschule von Millemerveilles. Laurentine erinnerte sich noch gut an die Trauerfeier für ihren Großvater Henri. Da hatte Geneviève ihr nicht ganz so ernst angedroht, alle ihre Schüler bei der Feier auftauchen zu lassen, natürlich in ihren hellblauen Schulumhängen oder -kostümen.
Da es jetzt ganz offiziell war suchte Laurentine auch Hera Matine auf, um ihr zu sagen, dass die ganz schwache Hoffnung sich doch nicht erfüllt hatte. Die residente Heilerin von Millemerveilles sagte dazu nur: "Ohne Hoffnung würde so vieles nicht gemacht werden, Laurentine. Du kannst auf jeden Fall immer zu mir hinkommen, wenn dir die Belastung zu groß wird. Oder falls du es möchtest kann ich dir auch eine Psychomorphologin empfehlen, die sich auf Trauerarbeit spezialisiert hat. Selbst bei allem, was deine Eltern dir und damit sich angetan haben sind und bleiben Sie deine Eltern, ein sehr wichtiger Teil deines Lebens." Laurentine konnte dem nur zustimmen.
Als sie wieder in der Rue de Liberation war sprach sie noch mit Catherine. Diese erbot sich, ihr bei den zwischen Zaubererwelt und Muggelwelt anfallenden Angelegenheiten zu helfen, beispielsweise die Fahrt zum auswärtigen Amt. Claudine erfuhr, dass sie morgen nicht bei der netten Mademoiselle Hellersdorf Unterricht haben würde, was sie schon ein wenig traurig machte. "Madame Dumas sagt, ich möchte bitte wiederkommen, Claudine", sagte Laurentine. Das fand Claudine auch.
"Nach ihrer Rückkehr in die eigene Wohnung fand sie ein dreiseitiges Telefax vor, das ihr in der schönen, geschwungenen Handschrift ihrer Großmutter mütterlicherseits auf Französisch geschrieben die quasi amtliche Aufgabe zuwies, alle für eine standesgemäße und würdige Bestattung ihrer Eltern notwendigen Angelegenheiten zu erledigen. Das verstand sich eigentlich von selbst. Doch für den Fall, dass Laurentines Eltern tatsächlich alles an einen Anwalt delegiert hatten brauchte sie eine solche klare Einverständniserklärung.
Abends kontaktfeuerte Laurentine noch mit Louiselle Beaumont. ihre Privatlehrerin für erweiterte Kampf- und Abwehrzauber sah sie mitfühlend an, als Laurentine ihr eine Kurzfassung von Julius' Bericht widergegeben hatte. "Warst du damit schon bei meiner Tante Hera, Laurentine?" wollte die Kampfzauberexpertin wissen. Laurentine bejahte das und erwähnte auch, dass die residente Heilerin von Millemerveilles ihr zusätzliche Betreuung angeboten hatte, falls sie einer solchen bedürfe. "Wenn einer in so jungen Jahren beide Eltern zugleich verliert steckst du das nicht mit der Schmutzwäsche in den Wasch-Trocken-Schrank. Insofern ist es schon wichtig, dich in der für dich nötigen Zeit und mit der für dich allein richtigen Art von deinen Eltern zu verabschieden. Es ist bedauerlich, dass ich nicht öffentlich für dich eintreten kann, wenn was ist. Aber ich werde da sein, wenn du mich als Zuhörerin oder Gesprächspartnerin brauchst", bekundete Louiselle Beaumont. Laurentine fühlte Tränen der Rührung aufsteigen und wischte sie schnell mit ihrem Blusenärmel aus den Augen. Dann sagte sie mit belegter Stimme: "Ich danke dir, dass du da bist, Louiselle. Es tut gut, mit Leuten reden zu können, denen ich wichtig bin, so wie Catherine oder meine Schulkameraden."
"Ja, und all die anderen, denen du wichtig geworden bist, Laurentine", sagte Louiselle, ohne das Wort "Schwester" zu benutzen. Doch Laurentine wusste, dass sie es genauso meinte. Da sie seit Juni im Bund der schweigsamen Schwestern Mitglied war konnte sie sich mehreren anderen Hexen anvertrauen, zumindest denen, die eindeutig dem duldsamen, gemäßigten Weg folgten.
"Ich lasse dich wissen, wann ich meine Eltern wie verabschiede, vor allem, wenn man mich lässt", sagte Laurentine und verabschiedete sich von Louiselle. Diese bedankte sich für diesen Hinweis und verabschiedete sich auch von Laurentine.
"So, Leute, der Dorfrat hat getagt und folgendes beschlossen", sagte Millie, als Julius und Béatrice mit ihr in der Wohnküche saßen. "Da Gringotts Millemerveilles noch betrieben wird gilt, dass alle die hier Verliese haben, weiterhin Galleonen und Sickel abheben dürfen, solange sie das Gold hier in Millemerveilles ausgeben. Dieser Viererplan von Belles Schwiegervater gilt nur außerhalb von Millemerveilles. Das zum einen. Zum anderen haben Eleonore und Pierroche von Gringotts Millemerveilles ein Abkommen geschlossen, dass die hier lebenden Kobolde zu vollwertigen Mitbürgern erklärt werden, also nicht diesem Aufenthaltsvorbehalt von 1613 unterliegen, mit dem dein Ex-Vorgesetzter Beaubois gedroht hat, wenn Zwerge und/oder Kobolde nicht nach der Pfeife des Ministeriums tanzen. Die Kobolde hier dürfen sogar ihre Ehefrauen und Kinder nachholen, wenn sie denen aus eigenen Mitteln Wohnraum schaffen können. Offenbar liegt der guten Eleonore was daran, dass wir alle weiterhin nach Gringotts rein können, zumal Pierroche was angedeutet hat, dass von hier aus Gringotts in ganz Frankreich und vielleicht Europa wieder auf die Beine gebracht werden kann."
"Also, die Veelastämmigen hier kann Beaubois nicht rauswerfen, falls die auch noch was an der bestehenden Ordnung kritisieren", sagte Julius. "Im Vertrag zwischen ihnen und uns steht deutlich, dass alle Veelastämmigen, die von französischen Eltern abstammen, das volle Bürgerrecht haben. Gut, das galt für Leute wie Apolline, Fleur und Gabrielle eh schon, weil sie ja sonst auch nicht nach Beaux hingedurft hätten. Aber dass es jetzt amtlich ist, dass sie vollwertige Zaubererweltbürger sind und auch deren Blutsverwandten hier im Rahmen der Friedfertigkeit leben dürfen sollte Simon Beaubois klar sein. Immerhin hat er den Vertrag zu lesen bekommen, was ihm ja wie ihr wisst auch nicht wirklich geschmeckt hat, aber er nichts mehr dagegen machen kann."
"Vielleicht müsste sowas mit den Kobolden und Zwergen auch ausgehandelt werden", sagte Béatrice und sah Millie an. "Am Ende stellt er dein Wohnrecht hier in Frage, Millie."
"Das kann Beaubois nicht allein entscheiden, zumal die Kiste schon damals geklärt wurde, als Oma Lutetia das erste Kind von einem Zauberer im Bauch hatte, dass sie als vollwertige Bürgerin der Zaubererwelt gilt, nachdem sie das Zwergenvolk ganz offiziell und für alle Zeit verlassen hat. Pa, Tante Primula, Tine, Miriam, Mir und unseren drei schon laufenden und den zwei noch gut verpackten Prinzessinnen kann Beaubois nicht am Zeug flicken, zumal wir hier, auch du, Tante Trice, unter dem Schutz des Bürgerrechts von Millemerveilles stehen, unter das Eleonore auch die Kobolde stellen will, sofern die nicht von sich aus beschließen, von hier wegzuziehen. Insofern auch ein guter Zug, die von uns friedlich gestimmten Kobolde am Ort zu halten."
"Tja, Schachspielerin halt", sagte Julius. Béatrice nickte dazu nur.
"Öhm, Julius, dich wird es nicht überraschen, dass Sandrines Mutter schon einen Antrag bei Cicero Descartes und Demetrius' Trägerin gestellt hat, dass du für Laurentine einspringst, je danach, wie viele freie Tage sie braucht."
"Hat Sandrine vorhin schon angedeutet und Nathalie mir schon in Aussicht gestellt, dass sie so einem Antrag, sollte er erfolgen, zustimmen wird", sagte Julius. "Ich will nur hoffen, dass Laurentine alles geregelt kriegt, was jetzt ansteht und seelisch wieder ins Lot kommt."
"Das hoffen wir alle", sagte Béatrice. Dann fügte sie hinzu: "Bedenke aber bitte, dass du auch genug Kraft und Zeit für uns beide bereithalten möchtest, Julius. Also wenn Sandrines Mutter meint, dich voll einzuplanen, sieh zu, dass du nicht zu viel Zeit mit Korrekturarbeiten zubringen musst!" Millie grinste. Julius nickte schwerfällig. Sicher musste er zusehen, was für die drei Kinder zusammenzubekommen, die da demnächst ankamen. Er verstand auch, dass Béatrice sicherstellen wollte, dass er für alle drei Kinder da sein konnte, selbst wenn sie noch nicht wusste, ob sie Félix als ihren Sohn aufziehen durfte oder ihn Millie zu überlassen hatte. Auch dachte er daran, ob das von Colbert und Co. beschlossene Entlohnungssystem nicht doch eine Dauerlösung wurde und irgendwann gesagt wurde, dass die in Gringotts liegenden Gold- und Werteinlagen verlorengegeben wurden, auch ohne die in Stufe vier vorgesehene Einzelverliesprüfung. Politiker, das wusste er auch aus der nichtmagischen Welt, trachteten immer danach, aus einer Notlage eigene Vorteile zu ziehen. Und es wäre ein ungemeiner Machtzuwachs für Colbert, wenn er das jahrhundertealte Währungshütermonopol der Kobolde aufkündigen und selbst zum Herren über den Wert von Arbeit und Handelsgütern wurde. Die derzeitige Goldebbe war eine sehr große Versuchung. Es war nur die Frage, wie wichtig Colbert ein weiteres friedliches Miteinander mit den Kobolden war und ob die Ministerin es zulassen würde, wenn es zwischen den Kobolden, Zwergen und Menschen zu einem heftigen Zerwürfnis kam.
Warum machte er sich darüber gedanken? Weil es um die Zukunft aller seiner Kinder ging, denen, die schon geboren waren und denen, die in wenigen Monaten geboren werden würden.
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