MACHT UND MÖGLICHKEITEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelöste Welle dunkler Zauberkraft, die im April 2003 über die Welt hinwegbrandete, hat weiterhin auswirkungen auf die magischen Gemeinschaften. Beseelte Zaubergegenstände entfalten trotz auferlegter Zauberbanne ein unheilvolles Eigenleben. Von dunkler Magie durchdrungene Wesen gewinnen an Stärke und bedrohen die Menschheit und sich gegenseitig. Vor allem die selbsternannte Vampirgöttin Gooriaimiria, die von Vengor aus Versehen erschaffene Nachtschattenkönigin Birgute Hinrichter, sowie die Töchter der Lahilliota schöpfen neue Kräfte aus der Woge dunkler Energie. Morgauses magischer Silberkessel wirkt auf dessen Hüter, der nur durch die Flucht der Unterwerfung entrinnen kann. Der von Morgauses Seele erfüllte Kessel wird bei einem darum geführten Kampf zwischen Anthelia und Ladonna zerstört. In Australien erwachen nach jahrtausendelangem Zaubertiefschlaf vier verbliebene Schlangenmenschen aus Skyllians Heer und wollen das Land mit ihresgleichen füllen. Nur Anthelias Entomanthropen und ein gemeinsames Ritual australischer Ureinwohner beenden dieses Vorhaben. Ebenso kann sich die in einem magischen Schwert überdauernde Seele des japanischen Erzdunkelmagiers, der als dunkler Wächter bezeichnet wird, aus den Zauberkerkern der Hände Amaterasus befreien und den arglosen Jungen Takeshi Tanaka dazu treiben, den eigenen Vater zu töten, wodurch der dunkle Wächter Takeshi als Wirtskörper übernehmen kann. Beim Versuch, ihn zu stoppen stirbt die offiziell für die Hände Amaterasus arbeitende Spinnenschwester Izanami Kanisaga. Doch Anthelia gelingt es mit Hilfe des von Yanxothar geerbten Schwertes, den Dunklen Wächter aus dem Wirtskörper zu vertreiben und dessen Schwert zu vernichten, wodurch der böse Geist des dunklen Wächters freigesetzt, aber sofort vom nicht minder gefährlichen Geist einer japanischen Berghexe durch inverse Geburt einverleibt wird.

Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil und kann bei einer solchen gerade noch verhindern, dass die Aufzeichnungen über angewandte Zauber in die nichtmagische Welt übertragen werden.

Von der transvitalen Entität Ammayamiria bekommen Julius und die in Europa lebenden Kinder Ashtarias den Auftrag, einen neuen, ausschließlich auf gutartige Magie gründenden Schutzzauber über Millemerveilles zu spannen. Grundlage dafür ist ein mit einem machtvollen Zauber der Erde aufgeladener Kugelkörper, auf den dann noch Schutzzauber des Wassers, des Feuers und die gebündelte Macht Ashtarias aufgeprägt werden und sich über alle von Ashtarias Magie erfüllte Bäume in Millemerveilles verteilt.

Im Dezember bekommt die Latierre-Familie Zuwachs. Millie bekommt ein Brüderchen, das mit einer Besonderheit geboren wird, zwölf Finger und zwölf Zehen. Ebenso heiratet Gilbert Latierre seine mit magischem Gehör ausgestattete Kollegin Linda Knowles, mit der er im kommenden Frühling eine Tochter bekommt.

Die Machenschaften Vita Magicas führen im März und April 2004 zu einer wahren Geburtenexplosion in Millemerveilles. Julius Latierre und alle anderen Pflegehelfer assistieren den beruflichen Hebammen bei den vielen Entbindungen. Allerdings führt der erzwungene Nachwuchs auch zu Unstimmigkeiten innerhalb der magischen Gemeinschaft und bedarf einer gründlichen Vorbereitung in Beauxbatons, um die 750 neuen Kinder aufzunehmen und zu beschulen, wenn sie in das vorgeschriebene Alter kommen.

Millie und Julius erfahren von den Mondtöchtern, dass sie beide in den nächsten 12 Jahren nur Töchter zeugen können. Da Ashtaria von Julius verlangt, dass er in den nächsten zwei Jahren einen Sohn zeugt und diese Aufforderung in Form einer an Millie übermittelten Albtraumvision bekräftigt, vereinbaren sie, er und die bis auf weiteres bei ihnen lebende Béatrice Latierre, dass Julius mit seiner Schwiegertante auf den von Ashtaria und Ammayamiria geforderten Sohn hinwirkt. Tatsächlich wird Béatrice von Julius mit einem Sohn schwanger, den sie im April 2005 zur Welt bringen wird. Ob sie ihn dann als leibliche Mutter aufziehen oder ihn an Millie abgeben muss wird Julius' Ehefrau nach der Geburt des Jungen entscheiden. Doch eine Bemerkung von Aurore, dass wer das Kind im Bauch hat auch dessen Mutter sei, rührt beide zu Tränen. Millie hat inzwischen ihre vollständige Ausbildung zur Vertrauten altaxarroischer Feuerzauber beendet und wegen einer gewissen Eifersucht auf Béatrice Julius dazu gebracht, auch mit ihr ein neues Kind auf den Weg zu bringen. Tatsächlich empfängt sie gleich zwei Kinder, gemäß der von den Mondtöchtern erwähnten Absprache zwei neue Töchter.

Als am 26. Dezember 2004 ein schweres unterseeisches Erdbeben im Indischen Ozean stattfindet regt dieses ein Konzentrat dunkler Magie auf dem Meeresboden an, sich zu entladen und mit der Schutzbezauberung der australischen Ureinwohner zu reagieren. Das führt zu einer weltweiten Wellenfront heftiger Erdzauber, die auf alle der Erde verbundenen Wesen und Dinge schwere Auswirkungen hat. Dadurch wird Gringotts in Australien vollkommen vernichtet und die Filialen der von Kobolden betriebenen Bank in aller Welt bis auf weiteres unbetretbar. Zahllose Kobolde sterben durch die überstarken Erdmagieentladungen. Julius Latierre entgeht der Überbelastung, weil Ashtaria seinen Geist für einige Stunden mit dem Körper seines ungeborenen Sohnes vereint. Anthelia/Naaneavargia ist durch das von ihr selbst gewirkte Schutzlied der starken Mutter Erde in ihrer neuen Zuflucht vor den Auswirkungen der Erdzauberentladungen geschützt. Viele Hexen und Zauberer mit nichtmagischem Hintergrund bangen um Angehörige, die im Erdbebengebiet Urlaub machen, darunter Laurentine Hellersdorf, die seit Juni 2003 von ihren Freunden und Bekannten unbemerkt zur Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern gehört. Sie erfährt am zweiten Januar 2005, dass ihre Eltern tot an einem im Meer treibenden Urwaldbaum festgeschnallt aufgefunden wurden.

Weil durch den weltweiten Ausfall von Gringotts ein Zusammenbruch der Handelsströme droht suchen viele Zaubereiministerien Wege aus der Notlage. Frankreichs Beauftragter für magischen Handel trifft mit den wichtigsten Unternehmen der Zaubererwelt ein Geheimabkommen. Offiziell präsentiert er einen Vier-Stufen-Plan, der bis auf weiteres eine Art von Zahlungsverkehr ohne Gold, Silber und Bronze ermöglichen soll. Andere Zaubereiministerien wollen die Gelegenheit nutzen, das jahrhundertealte Abkommen mit den Kobolden zu beenden. Das, was die Zaubererweltpresse als "Goldebbe" bezeichnet hat, droht, noch stärkere Auswirkungen auf die magischen Gemeinschaften in aller Welt zu haben.

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Im Haus von Tracy und Anthony Summerhill, 01.01.2005, 00:02 Uhr Ortszeit

"Ein schönes, neues Jahr, mein Sohn. Schön, dass wir es bisher so gut miteinander aushalten", säuselte Tracy Summerhill, nachdem sie mit Traubensaft mit ihrem Sohn Anthony angestoßen hatte. Der jetzt schon fünf Jahre und sieben Monate auf der Welt befindliche Junge, der ausnahmslos alle Merkmale seines "verstorbenenVaters" ausgebildet hatte, lag ergeben in den Armen seiner auf fragwürdige Weise zu ihrem Glück gelangten Mutter. Er musste sich so drehen, dass seine Worte nicht in ihrer feinen, mintgrünen Bluse versickerten. Dann sagte er:

"Hätte ich auch nicht gedacht, dass es mir doch noch gefällt, ein kleiner Junge zu sein. Tja, aber ab Sommer darf ich ja auch offiziell lesen und schreiben lernen."

"Ja, lernen, mein Sohn. Wenn die rauskriegen, dass du das schon perfekt kannst war alles bisher erlebte umsonst", mahnte ihn seine Mutter. Anthony bestätigte das mit hörbarem Unmut. Dann wechselte er das Thema.

"Und, hast du dir überlegt, ob du in meinem Namen um Entschädigung für das in Gringotts vergrabene Gold ersuchen willst, Mom?"

"Wo Picton gerade mit mehreren scharfen Äxten zugleich jongliert und dabei auf einem haardünnen Drahtseil tanzt?" fragte Tracy Summerhill verächtlich. "Entweder verscherzt der sich's erst recht mit den Kobolden, dass die Gringotts überhaupt nicht mehr aufmachen oder muss zugeben, dass keiner von uns mehr an das da eingelagerte Gold und Silber rankommt. Was soll ich dem dann auch noch auf die Nase binden, dass ich von deinem Vater zwei Millionen Goldstücke und die Wertanteile an zwanzig Zaubererweltfirmen geerbt habe. Bis zu diesem Aufruhr in der Erde kamen wir ganz gut klar. Ich bin zumindest froh, dass ich in weiser Voraussicht die größeren Diamanten aus dem Verlies geholt und in unserem Geheimkeller untergekriegt habe. Die kann ich im Zweifelsfall noch für Muggelgeld verkaufen, um auf deren Märkten frische Lebensmittel zu bekommen, wenn die Conservatempus-Vorräte alle sind." Ihr wohlig in ihren Armen ruhender Sohn bejahte das. Dann lauschten sie beide in die stille Nacht hinaus. Weiter fort von ihnen mochten Menschen mit und ohne Magie wilde Feuerwerke abbrennen oder sich noch mit Schaumwein oder anderen alkoholhaltigen Sachen zutrinken. Ihr Beitrag zum Beginn des neuen gemeinsamen Jahres waren zwölf magisch erzeugte Lichtfontänen, die in den Farben der vier Jahreszeiten glühten, schneeweiß und Eisblau für den Winter, Blattgrün für den Frühling, Sonnengelb und Himmelblau für den Sommer und Rot und Golden für den Herbst.

"Ob Pictons zusammengeklöppelter Aktionsplan die ersten drei Wochen übersteht?" fragte Anthony Summerhill.

"Das muss ich hoffen, weil wir sonst die totale Urwaldgesellschaft kriegen, wo jeder gegen jeden angeht, um nicht umzukommen."

"Vor allem weil dann all die aus ihren Rattenlöchern kommen, die meinen, jetzt sei die Zeit für eine Machtübernahme", erwiderte Tony Summerhill ganz und gar nicht wie ein gerade mal fünfeinhalb Jahre alter Junge sprechend.

"Deshalb sagte ich ja, dass Picton mit scharfenÄxten auf einem Drahtseil jongliert. Fällt eine Axt runter und haut dabei das Seil durch, stürzt nicht nur er ab." Tony verstand dieses Gleichnis.

Im Moment fühlte er sich in der Umarmung der Frau gut, die ihn zum zweiten Mal geboren hatte. Ein wenig wehmütig dachte er an das erste Leben zurück, aber auch daran, wie geborgen er sich nach der Tortur der Wiedergeburt gefühlt hatte, wenn er bei ihr trinken durfte. Damals hatte er sich gewünscht, möglichst schnell wieder groß zu werden. Jetzt ertappte er sich dabei, dass er die letzten fünfeinhalb Jahre wieder zurückdrehen wollte, um noch mal so selbstverständlich umsorgt und genährt zu werden. Ob sie beide in den nächstenWochen genug Essen haben würden war ja fraglich. Die gewissen Kontakte, die seine Mutter sich bewahrt hatte wankten bereits wegen der Unsicherheit, was mit den angesparten Münzgeldvorräten und anderen Wertsachen passiert war oder noch passieren würde. Deshalb waren sie ja auch in diesem Jahr nicht auf eine Party junger Familien gegangen, sondern hatten lieber in der Sicherheit der ihr Haus umgebenden Schutzzauber auf das Jahr 2005 angestoßen. Immerhin gab es keinen zu betrauern, der oder die im Seebebengebiet gewesen war. Doch die Sorge blieb, ob sie die nächsten Wochen gut überstehen konnten, bis eindeutig geklärt war, wie sich die nordamerikanische Zaubererwelt erhalten konnte, ohne auf Gringotts angewiesen zu sein.

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In der Bestattungshalle des deutschen Zwergenvolkes, 02.01.2005 Menschenzeitrechnung, kurz vor Sonnenaufgang

Ontwarin Wortweber war der Hüter der Ereignisse und Bräuche, also nach dem König der höchste Amts- und Würdenträger des unterirdischen Volkes. Er zählte schon an die dreihundert Sonnenkreise und wäre beinahe mit dem viele Hundertersonnen lang regierenden König in den Warteraum zu Durins ewiger Schmiede abberufen worden. Doch als die Wut der allgebärenden Mutter sie alle überrascht und die Ältesten von ihnen von der Welt getilgt hatte war er gerade in den goldenen Hallen der Erinnerungen, um die neuesten Ereignisse in seinem Reich zu ordnen. Gold, das war nicht nur seinem Volk bekannt, war ein hervorragender Speicher für Zauberkräfte, aber auch von solchen ebenso schwer zu verändern. Da in den Hallen der Erinnerungen vor allem Schutzzauber gegen das Wüten von Erde und Feuer eingewirkt waren, war das die weiten Hallen umkleidende Gold eine ausgezeichnete Wehr gegen von außen eindringende Zauberkräfte. Das hatte ihn, den Hüter der Ereignisse und Bräuche, vor dem sicheren Tod bewahrt und ihn zugleich zum vorübergehenden Herrscher gemacht. Denn der uralte Brauch sagte, dass der erste Sohn des Königs nur dann für die nächsten zwölf Jahre König sein durfte, wenn es ihm gelang, in einem Mondkreis nach dem Tod bis zu drei Herausforderer in einer von vier möglichen Kampfarten zu besiegen. Verlor er einen der Kämpfe, so musste der Sieger gegen die noch verbleibenden Herausforderer und noch so viele, dass er auch drei Kämpfe zu bestehen hatte, antreten und siegen. Da die Kämpfe auf Leben und Tod geführt wurden konnte es also sein, dass der letzte verbleibende Herausforderer durch den Tod der drei anderen zum König wurde. Ebenso mochte es sein, dass der erste Königssohn alle drei Herausforderer besiegte. Dann durfte er zwölf Jahre lang ohne Sorge vor einer neuen Herausforderung regieren. Wer dann meinte, ihn ablösen zu müssen, der durfte ihn dann zu einem neuen Kampf auf Leben und Tod herausfordern. Gewann der regierende König diesen Kampf, durfte er weitere zwölf Jahre rechtmäßig regieren und jeden töten oder töten lassen, der ihn vor Ablauf dieser Frist zu töten trachtete. Starb der König doch eines vorzeitigen Gewalttodes, so wurde der, der ihn tötete lebendig eingemauert oder lebendig zerschnitten, und seine Körperteile nicht dem heiligen Schmiedefeuer Durins, sondern den gefräßigen Felsenwühlern übergeben.

Ontwarin hatte gleich nach der Verkündung des Königstodes die Glocke der königlosen Zeit geschlagen und im Namen des Urvaters aller Zwerge verkündet, bis zur Entscheidung der Nachfolgekämpfe alle Reichsangelegenheiten zu verwalten. Damit durfte er alles entscheiden, was das Volk am Leben hielt, nur keinen Krieg ausrufen oder nach neuen Gebieten für die Bergleute suchen. Im Grunde durfte er in der königlosen Zeit nur verwahren, nicht mehren.

Heute, sieben Tage nach dem Tod des Königs, versammelten sich alle in der Halle, wo der Schacht zu den ewigen Feuern im Boden verlief. Ehrenvoll verstorbene Zwergenmänner und falls diese das vor dem Tod verfügt hatten, auch deren Frauen, wurden dann auf einer gläsernen Rutschbahn in den Schacht geschickt, bis sie in den blutroten Flammen aus den tiefsten Tiefen der Erde zu Asche zerfielen. Die Asche wurde dem Glauben der Zwerge nach zu neuem Samen, aus dem die allgebärende Mutter neues Leben empfing. Die mit dem Rauch aufsteigende Seele der verstorbenen durfte in Durins ehrenvolles Land hinüberschweben, wo sie für ihren Fleiß und ihre Treue bis ans Ende aller Welten belohnt wurde.

Ontwarin trug das rot-goldene Kapuzengewand des Bewahrers der Ereignisse und Bräuche. Hinter ihm marschierte der Verkündungstrommler und schlug die um Schultern und Bauch geschnallte Kesselpauke, auf die er jeden zweiten Schritt der acht Träger untermalte. Die Träger waren in die blutroten Gewänder der Bestattungsdiener gekleidet. Auf ihren Schultern trugen sie ein silbernes Gestell, dass auf allen Schultern verteilt war. Auf dem Gestell lag das manneslange Totenglas, ein walzenförmiger Behälter aus völlig durchsichtigem, im blauen Feuer gebranntem Quarzglas. Darin steckte in tiefrotes Leinen gehüllt der Körper des verstorbenen Königs.

Im Schein der mitgeführten roten Lampen trugen sie den gläsernen Totenbehälter bis zu einer kreisrunden Stelle im Boden. Dort gebot Ontwarin dem Zug anzuhalten.

Der Hüter der Ereignisse und Bräuche blickte nach oben, über die im Kreis aufgestellten Steinbänke, die auf einer trichterförmigen Ebene immer weiter nach oben angereiht waren. Auf den Bänken saßen bereits viele männliche Untertanen in blutroten Bestattungsgewändern. Heute waren sie alle gleich, keine Zunft, kein Rang, keine Familienabstammung. Die Frauen blieben jedoch wie es Sitte war in den Häusern ihrer Eltern oder Männer. Nur wenn der König es gewollt hätte, seine Zugesprochene mit in die Nachwelt zu nehmen, dann hätten auch Frauen dem Bestattungsvorgang beiwohnen dürfen oder auch müssen, je danach, wer gefragt wurde.

Ontwarin überblickte die Reihen der obersten Amts- und Würdenträger, die alle bangten, ob sie noch lange in Amt und Würden blieben. Denn außer dem vom Vater auf den Sohn übergehenden Amtes des Hüters aller Ereignisse und Bräuche war jedes andere Amt vom Wohlwollen des regierenden Königs abhängig. Insofern mochten schon viele auf den obersten Rängen darum bangen oder wetteifern, wer von ihnen dem neuen König hold sein mochte.

Gerade betraten Malin Eisenknoter, der erste Sohn des verstorbenen Königs, sowie seine Brüder Gonur, Idorin und Halwin die Halle der ewigenSchmiede. Sie durften oder mussten der letzten Fahrt ihres Vaters in der Nähe des Schachteinganges beiwohnen. Ontwarin dachte daran, dass Malin Eisenknoter in sieben Tagen gegen Norin Feuertreter den ersten Kampf ausfechten sollte. Das interessierte den Hüter der Ereignisse und Bräuche deshalb, weil Norin der erste Sohn seines Bruders Gunor Zeichenklopfer war und als einziger eine Waffenschmiedelaufbahn eingeschlagen hatte. Denn nur wer der erste Sohn des Königs war, als Krieger in der Armee diente oder den ehrenvollen Zünften der Metallbearbeiter, Steinmetze oder Erzbergmänner angehörte, durfte um den Platz auf dem ehernen Herrscherstuhl kämpfen. Insofern war Ontwarin einerseits froh, dass seines Bruders Sohn Norin um dieses höchste Amt mitkämpfen durfte, war jedoch auch besorgt, dass er dabei sterben würde. Natürlich hoffte er, dass Norin gewann und dann auch die beiden anderen Herausforderer und einen sich dann noch einfindenden im Kampf besiegte. Denn dann hätte er einen ihm blutstreu ergebenen Herrscher auf gleicher augenhöhe, der aber das tun würde, was er, der ältere aus der Familie, ihm raten würde.

"Wir sind heute aus allen Höhlen und Hallen herbeigetreten, um uns von unserem großen Vater, Anführer und Ernährer zu verabschieden. König Gaorin der vierte, der den ruhmvollen Namen Steinstampfer trug, wurde von unser aller Urkönig und der allgebärenden Mutter Erde aus diesem mühsamen Leben abberufen. Noch schläft seine nimmermüde Seele in der von der Wut der ewigen Mutter zum erkalten gebrachten Hülle. Noch schlummert sein rastloses Wesen im Dunkel des seines inneren Lebensfeuers beraubten Leibes. Doch nun, bevor die erste Glut des Himmelsfeuers den Rand der Welt überstrahlt, so gebietet es die alte Sitte unserer Vorväter, öffnen wir ihm das Tor in das glückselige Reich Durins, in dem ehrenvolle Männer die Belohnung für die getragenen Lasten des Lebens empfangen. Möge der ihn umschließende Leib in den ewigen Flammen von Durins Schmiede erstrahlen und den schlafenden Geist freigeben, auf dass er im Rauche seines dahingehenden Leibes aufsteigen und zum Heim unseres Urvaters emporschweben möge, losgelöst von allen Lasten der Erde und des Lebens!" sprach Ontwarin mit seiner raumfüllenden Baritonstimme, die gar nicht recht zu einem Wesen passen mochte, das nach Menschenmaßen gerade mal so groß wie ein sechsjähriger Junge war.

"Legt das Glas der kalten Hülle auf den Stein der Bereitschaft!" befahl er. Daraufhin traten die acht Träger mit ihrem Gestell zu einem im Boden eingelassenen Steinsockel, der eine lange Mulde besaß. In diese Mulde hinein versenkten sie die gläserne Walze mit Gaorins Leichnam. Dabei konnten alle sehen, dass der König mit den Füßen voran auf eine große, kreisrunde Stelle weisend zu liegen kam.

"Löscht die mitgeführten Lichter!" forderte Ontwarin. Als habe er damit einen Zauber aufgerufen wurde es schlagartig dunkel. Die bis dahin regelmäßig glühenden roten Lampen waren erloschen.

"Nun öffnet das Tor zu den ewigen Flammen!" befahl der Hüter der Ereignisse und Bräuche. Nur die mit guter Nachtsicht begüterten und nahe genug am Geschehen sitzenden konnten sehen, wie die acht ihrer Last befreiten Träger sich um jener runden Stelle aufstellten, in die Hocke gingen und ihre Hände auf im Dunkeln gar nicht zu erkennende Stellen legten. Runen leuchteten auf. Leise knarrend klappte eine drei Manneslängen durchmessende Steinplatte nach oben und gab den Blick auf ein unheimlich und erhaben zugleich wirkendes Schauspiel frei. Aus einer unergründlichenTiefe warfen blutrote Flammen ein unterweltgleiches, wechselhaftes Licht in die weitläufige Halle. Wie glimmende Schatten huschten die von den Flammen geworfenen Lichtflecken über alles und jeden hier. Nur wer direkt in den Schacht hineinsah, der unter der magisch geöffneten Steinplatte verborgen lag, der konnte die tief unten tanzenden Feuerzungen sehen, das ewige Feuer aus dem Schoß der allgebärenden Mutter, einst entzündet von den rechtmäßigen Blutsträgern Durins überall dort, wo Schwarzalben ihre Heimstatt gründeten. Dieses Feuer leuchtete zwar schwach wie ohne genug Luft. Doch es brannte heißer als jedes mit Holz oder Kohle entfachte Feuer. Alles, was ihm zugeführt wurde verging zu Asche, Rauch und Wasserdampf. Daher war es bei Todesstrafe mit vorangehender Entbartung und Entmannung oder Abtrennen von Brüsten und verbleiung des weiblichen Schoßes verboten, Metalldinge in den Schacht zu werfen. Nur der erste König und Gott der Schmiedekunst durfte in diesen Öfen tief im Boden Erz oder gediegenes Metall brennen.

"Seht an die ewigen Feuer Durins, entfacht, um in ewigkeit die erkalteten Leiber ehrenvoller Brüder aufzunehmen!" rief Ontwarin. Alle folgten seiner Aufforderung. Dann gab er den für diesen feierlichen Akt entscheidenden Befehl: "Helft dem erkalteten Leib unseres mächtigen Herrschers auf die letzte Reise!"

Die Träger eilten zu der im Steinsockel abgelegten Glaswalze. Zwei von ihnen begannen, am fußseitigen Ende zu drehen. Die anderen sechs hielten den rest der Walze fest. Leise schabend löste sich ein Viertel des gläsernen Totenbehälters mehr und mehr. Dann hoben die zwei daran drehenden das abgelöste Stück nach oben und traten behutsam zur Seite. Denn nun lagen die Füße des verstorbenen Königs frei, vom blutroten Schein der tief im Schacht lodernden Flammen erhellt.

Nun begann sich der Stein, auf dem die Glaswalze lag, an der Kopfseite zu heben. Gleichzeitig konnten sie alle sehen, wie vor dem Stein eine weitere halbrunde Vertiefung entstand, die schräg abwärts in den Schacht hineinführte. Als der Stein so stark angehoben war, dass die alles nach unten ziehende Kraft der Erde die Füße des Königs fester umfasste und daran zog, glitt der Leichnam aus seiner letzten Aufbewahrungsstätte. Gleichzeitig schlug der Verkündungstrommler auf seiner Pauke einen immer schnelleren Takt, bis der Leichnam in die schräg abwärts weisende Mulde hineinglitt, vom Annfangsschwung bereits gut beschleunigt. Er geriet völlig ins rutschen und glitt wie auf purem Eis dem Schacht entgegen. Als wüsste das dort lodernde Feuer, dass es gleich zu fressen bekam, erglühten die Flammen eine Spur heller. So konnten alle sehen, wie der Leichnam Gaorins in den immer steiler werdenden Schacht hineinschlidderte und dann als letzten Gruß an die Verbliebenen noch einmal den bis auf wenige weiße Haare kahlen Schädel hob. Dann verschwand Gaorins Leichnam im glühenden Schacht. Der Trommler schlug noch einen lauten Wirbel auf seiner tragbaren Pauke. Dann hielt er inne. Bis auf ein leises Tosen aus der Tiefe des Schachtes wurde es Still. Dann zischte es laut. Der Körper des Königs war in die ewigen Flammen hineingeraten. Da die Haut von Zwergen so gut wie unbrennbar war brannte natürlich erst der Leinenstoff, den er am Leib getragen hatte. Doch das ewige Feuer würde sich seinen Weg in den Leib des Königs suchen und ihn von innen her verbrennen. Dann würde auch die zähe, ledrige Haut des einstigen Herrschers aufflammen und mit dem Rest zu Asche zerfallen. Niemand sagte etwas. Keiner machte ein Geräusch. Alle warteten sie ab.

Mehrere dutzend Atemzüge lang geschah nichts. Dann rief Ontwarin in die fast vollkommene Stille hinein: "Seht den Rauch der freien Seele. Unser mächtiger Herrscher kehrt heim in Durins ruhmesreich!" Tatsächlich war mit geübten Augen ein weißlicher Qualm zu sehen, der aus dem Schacht herauswehte. Der Trommler schlug einen leisen Wirbel, während der weiße Rauch aus dem Schacht abzog, dem Glauben aller Zwerge nach in Richtung Durins Reich außerhalb der Welt. Dort würde der König für alle geleisteten Arbeiten und all seinen Fleiß auf ewig belohnt.

Als kein Rauch mehr zu erkennen war befahl Ontwarin: "Verschließt das Tor zu den ewigen Flammen! Mögen die Feuer nun auf den nächsten warten, der von ihnen freigebrannt werden soll!" Die acht Bestattungsdiener eilten wieder zu der aufgeklappten Luke. Sie brauchten sie nur mit vier Händen anzustoßen. Sie fiel mit dumpfem Knall zu. Wieder wurde es dunkel. "Die Lichter seien wieder entzündet!" befahl Ontwarin. Die mitgebrachten Lampen glühten wieder auf. "Verschließt das Totenglas und tragt es in seine Kammer zurück!" befahl der Hüter der Ereignisse und Bräuche. Die Bestattungsdiener gehorchten.

"So mögen wir nun alle unter Durins starkem Schutze und Wohlwollen in unsere Hallen und Kammern zurückkehren und unser Tagwerk fortsetzen, bis die Nacht der ersten Königsprüfung grüßt!"

Ontwarin sah mit gewissem Unbehagen den in der Blühte seiner Jahre stehenden Malin und seine Brüder. Aber Norin Feuertreter hatte sicher nicht den Kampf der drei Höhlen als den von ihm gewählten aus vier möglichen Kämpfen ausgewählt, wenn er nicht schon längst was hatte, um diesen Kampf zu gewinnen. Er war doch ein Feuerverbundener. Das mochte auf den ersten Blick nachteilig für ihn sein, weil niemand zum Drei-Höhlen-Kampf eine Fackel oder ein anderes dem Feuer entstammendes Licht mitführen durfte. Doch Norin würde den Kampf gewinnen. Falls er seinen Oheim fragte würde der ihm sicher den Weg in die goldenen Hallen der Erinnerungen öffnen, damit er dort alles über bisherige Nachfolgekämpfe lesen konnte. Das war zwar nicht wirklich erlaubt. Doch wer dem Blut treu war, so ein altes Gesetz, der musste dem eigenen Blut beistehen, über alle Gesetze hinweg. Ja, das würde er, Ontwarin tun.

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Im Haus von Lutetia Arno, 02.01.2005, 07:30 Uhr

"Es war sehr aufmerksam, dass du, Beri, mich die ganzen Tage lang so gut wie nicht beachtet hast", begann Lutetia Arno eine Schimpftirade gegen einen der jüngeren Söhne, die gerade mit ihren Schwestern bei ihr zu Besuch waren. "Als diese unglaubliche Folterkraft durch den Boden gerast ist und ich für einen vollen Tag nicht mehr aufstehen konnte hast du dich nicht einmal blicken lassen. Ich hätte dabei sterben können, mein Sohn", fuhr sie fort. Albericus Latierre sah seine Mutter abbittend an. Sie war einen halben Kopf kleiner als er selbst, weil sein Vater ein Mensch war, während sie eine reinrassige, ihrem Volk davongelaufene Zwergin war. Da sagte Primula Arno, Albericus' ältere Schwester:

"Kann er was dafür, dass irgendwo unter Indien irgendein Erbe von Kali oder Yama wachgerüttelt wurde und sich mit den Schutzbannen der australischen Ureinwohner gezankt hat? Ich war sofort bei dir, als ich über den Ring die Warnung vor schweren Gesundheitsbelastungen bekam, Mutter. Er hatte genug mit seiner Familie um die Ohren, vor allem weil der kleine Alain jetzt die ersten auf ihn zugeschnittenen Sachen braucht. Und du hast selbst gesagt, dass der Hanbaldurin alle Aufmerksamkeit seiner Verwandten braucht, um seine ganze besondere Kraft zu entwickeln und für uns alle sinnvoll und nützlich einzusetzen."

"Ja, und ich bin ja nur die kleine Frau, die ihn aus seiner langen Mutter rausgezogen hat", grummelte Lutetia. Sie war immer noch wütend, dass sie von diesem Aufruhr im Erdboden so heiß und kalt erwischt worden war. Da sagte ihr norwegischer Sohn Lasse: "Sei froh, Mutter, dass du nicht in einer Zwergenhöhle gewesen bist. Bei uns im Norden sind die Schutzzauber in den Höhlen aufgescheucht worden. Von den älteren Vollzwergen haben es vierzig von hundert nicht überlebt, alles Männer über zweihundert. Die Frauen sind da doch besser weggekommen, auch wenn sie dein Alter hatten, Mutter."

"Ja, und was soll ich damit?"fragte Lutetia Arno. Primula übernahm es, für ihren älteren Halbbruder zu antworten:

"Das du zu den glücklichen gehört hast, die es nicht so heftig erwischt hat. Von den reinrassigen Menschen sind in Südostasien über hunderttausend von den Flutwellen in den Tod gerissen worden, die nach dem Erdbeben waren. Einige Thaumaturgiefachleute behaupten sogar, dass das Beben nur deshalb so stark war, weil es sich mit diesem fremden Dunkelzauber aufgeschaukelt hat. Aber bisher konnte das nicht bewiesen werden. Außerdem sind die Spitzohren jetzt voll durch den Wind, weil bei denen über die Hälfte aller über zweihundert Lebensjahre von der Belastung umgekommen sind und etliche von denen wegen der Zerstörung ihrer Lebenserhaltungsgegenstände ebenfalls in den Staub gebissen haben und zu selbigem wurden. Hättest du es bei deinen Migräne und Schüttellähmungsanfällen lieber gehabt, dass alle um dich rumgesprungen sind und gebangt hätten, ob du das überlebst oder nicht? Du hast selbst gebrüllt, dass dir alles zu laut ist und du nicht von allen begluckt werden willst, weil das gegen unser Bluterbe ist. Na, wer hat denn auch immer gesagt, dass Frauen jeden Schmerz ertragen müssen, weil dadurch die Freude noch wertvoller wird?"

"Ja, aber dein kleiner Bruder hätte trotzdem in den Tagen nach diesem wilden Durchquirlen mal zu mir hinkommen und sich erkundigen können", bestand Lutetia darauf, zu wenig Aufmerksamkeit gehabt zu haben. Darauf sagte Albericus' ältere Halbschwester Inga:

"Aha, gilt das mit dem klaglosen Erleiden von Schmerzen dann nicht mehr, Frau Hebamme. Wer hat mir damals, als ich deinen Enkel Hanno bekommen habe vorgehalten, ich sei zu wehleidig?"

"Das ist ein Schluchtenweiter Unterschied, ob jemand Schmerzen hat, weil sie neues Leben zur Welt bringt oder von einem hinterhältigen Großangriff mit Erdzaubern an den Rand des Todes getrieben wird", entgegnete Lutetia. Darauf erwiderte Primula: "Jedenfalls geht es dir jetzt wieder ausgezeichnet, Mutter, sonst könntest du nicht so laut herumzetern. Beri war hier, hat dich gesehen und gehört. Dann kann er jetzt wieder an seine Arbeit zurückkehren, um seine beiden noch unnmündigen Kinder satt zu halten." Albericus sah erst seine Schwester an und musste dann grinsen. Offenbar hatte die ihm die Worte aus dem Mund genommen. Lutetia funkelte ihn und Primula zornig an und zischte: "Kommt ja nicht noch mal zu mir, wenn ihr wen braucht, der euch mit Heilsachen hilft!"

"Soll das eine Drohung oder ein Versprechen sein?" fragte Primula. Albericus wandte sich schnell ab, damit Lutetia nicht sah, wie er darauf reagierte. Doch an dem leichten Schütteln seines Körpers konnte sie erkennen, dass er offenbar über diese Frage lachte. Wie frech war das denn? Sowas hätte sie nach all dem, was sie für ihn getan hatte nicht für möglich gehalten. Doch weil er und Pri sich offenbar einig waren und die anderen ihre Mutter so ansahen, als sei sie es, die sich hier gerade unmöglich benahm bedachte sie jeden einzelnen ihrer Nachkommen mit einem tadelnden Blick und sagte zu Primula: "Das wirst du erkennen, wenn du von diesen langen Holzstababhängigen behandelt werden musst und die erst mal umständliche Blubberbräue machen müssen, um dich zu heilen. Außerdem könntest du immer noch Mutter werden, Primula."

"Och, meine Schwägerin hilft ihr bestimmt dabei, wenn sie noch mal wen kleines ausbrütet", kicherte Albericus. Da merkte Lutetia, welchen Felsbrocken sie sich beim Versuch, ihn nach anderen zu werfen, selbst auf die Füße hatte fallen lassen. Sie erkannte, dass ihr Kopf offenbar doch noch nicht vollständig von den vielen Schmerzen und damit verbundenen Blitz- und Krachempfindungen erholt war. Sie war bisher davon ausgegangen, dass es verbindlich war, dass sie ihre eigenen Enkelkinder auf die Welt holte. Doch das war eben nicht so verbindlich. Ihre Enkeltöchter Martine und Mildrid hatten es ja schon vorgemacht, dass sie ohne Schwierigkeiten wen anderes an ihre Schöße lassen konnten, wenn dort wer neues ans Licht der Welt drängte. Ja, und auch ihre Schwiegertochter Hippolyte hatte schon mehr als einmal angedeutet, dass sie sie nur deshalb noch als ihre Hebamme erbat, weil sie sich ihrem Mann verpflichtet fühlte und nicht, weil sie ihre Erfahrung und Heilmethoden schätzte. So konnte Lutetia nur noch sagen: "Dann geht jetzt alle zurück an eure Arbeitsstätten und seht zu, womit ihr euren Kindernund Enkeln Essen und Kleidung verschafft, wo diese Spitzohren euch im Moment kein Gold rausgeben können, falls sie das überhaupt mal irgendwann wieder wollen!" Das war für alle anderen eine klare Aufforderung, sie wieder alleine zu lassen. Primula winkte mit der rechten Hand, an der ein goldener Ring mit sechs himmelblauen Saphiren glitzerte. Als Erstgeborene der Arno-Familie hatte sie mit drei mal sieben Lebensjahren den Ring von ihrer Mutter geschenkt bekommen, mit dem sie diese direkt erreichen konnte.

Alle ihre Kinder verließen das Haus. Lutetia Arno war wieder alleine. Da es noch ganz früh am Morgen war beschloss sie, erst einmal ausgiebig zu frühstücken. Immerhin hatte sie wieder Appetit, nachdem sie drei Tage hintereinander nur von je einer Scheibe Zwergenbrot mit Fruchtgelee gelebt hatte und nicht das übliche Frühstück mit Eiern mit Speck und Käsebroten genießen wollte.

Nach dem Frühstück besuchte sie die tief schlafenden Gäste ihres Hauses, alles Angehörige der italienischen Familie Mangiapietri, die nach ihrer unfreiwilligen Flucht vor ihren rachsüchtigen Konkurrenten im Zaubertiefschlaf lagen, bis in ihrer Heimat niemand mehr davon ausging, dass sie noch lebten. Würde sie mit denen besser zurechtkommen als mit ihrer aufsässigen französischen Verwandtschaft? Die hier schlafenden Männer waren allesamt berufsmäßige Schurken, Räuber, Erpresser, Menschenhändler und Mörder. In ihrer Heimat hatten sie zu den vier mächtigsten Familien gehört. Doch die viel zu schöne dunkle Königin, die von zwei mächtigen Zauberwesen abstammte, hatte es hinbekommen, alle vier Familien gegeneinander auszuspielenund sich gegenseitig bis auf einzelne wenige, vor allem Frauen und Kinder ausrotten zu lassen. Sicher würde die nicht zögern, auch die bei ihr untergebrachten Mangiapietris umzubringen, wenn sie wusste, wo die waren. Also sollten die besser weiterschlafen, dann konnten die auch selbst keinen Schaden anrichten. Mit diesem Gedanken im Kopf verließ sie den fensterlosen Schlafsaal, in dem ihre italienischen Nachkommen lagen und verschloss sorgfältig die Tür, die nur von ihr oder ihrem Fleisch und Blut bewegt werden konnte.

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Private Räume des US-Zaubereiministers, 02.01.2005, 20:20 Uhr Ortszeit

Sie hatte es wieder geschafft, bis zu ihm vorzudringen, ohne Alarm auszulösen. Sie saß auf seinem breiten Ledersofa und hatte die Füße mit den weißen Noppensocken auf seinen Couchtisch gelegt. Vom Kopf her sah sie aus wie ein auf dreifache Größe aufgeblasenes Baby mit rosarotem Gesicht, runden Pausbacken und großen, hellblauen Augen. Doch der restliche Körper wies sie als bereits ausgewachsene Frau aus. Der blütenweiße Strampelanzug lag ihr ganz eng am Körper. Auf dem großen Babykopf saß ein ebenso blütenweißes Käppchen. Von der Verkleidung oder besser Uniformierung her war klar, von wem sie kam und was ihre Auftraggeber von ihm wollten.

"Guten Abend, Madam Whitecap", grummelte Zaubereiminister Buggles verstimmt. "Sie sind garantiert nicht durch alle für sicher gehaltenen Absperrungen und Meldezauber gedrungen, um mich persönlich ins Bett zu bringen, oder?"

"Ich bin keine unserer Ammen, sonst hätte ich dich für diese Frechheit wirklich ins Bett gebracht, Lionel", quäkte sie mit ihrer magisch auf kleines Mädchen verfremdeten Stimme. "Aber der hohe Rat des Lebens hat mir aufgetragen, deinen Bericht abzuholen."

Einerseits war Lionel Buggles verärgert, weil sie ihn nicht mit dem gebührenden Respekt ansprach. Andererseits war er froh, dass wegen der scharfohrigen Reporterhexe Linda Latierre Knowles sämtliche Räume im Ministerium zu Dauerklangkerkern gemacht worden waren. So konnten seine Leibwächter, die vor den Zugangstüren postiert waren, dieses impertinente Frauenzimmer nicht hören. Allerdings wäre dieses maskierte Geschöpf da längst festgesetzt worden.

"Wenn es wieder um den Vertrag geht, werte weiße Botin, so werde ich den nur dann unterschreiben, wenn dieser Nachwuchsverpflichtungsparagraph raus ist, den mir Ihr sogenannter hoher Rat des Lebens aufladen will. Abgesehen davon werden die großen zwölf den neuen Vertrag genauso ablehnen wie den alten."

"Ja, und was gibt's neues?" fragte die maskierte Hexe in Weiß.

"Neu ist, dass wir das Problem mit dem Zahlungsverkehr demnächst lösen. Die Notfallverordnung hält den Handel erst einmal in Schwung. Ab Mitte Januar werden wir dann fälschungssicheres Papiergeld an die magischen Mitbürger verteilen. Wenn Sie bis dahin die überarbeitete Version des Vertrages vorlegen können und ich diese frei von jedem Zwang unterschreiben kann, bitte! Vorher nicht."

"Wer hat den Rat denn wegen der Blutsauger angefleht, ihm beizustehen? Wer ist denn so bange vor den Mondanheulern, dass er ganz gerne unser Patent für eine großflächige Beseitigung dieser Seuchenträger erhalten möchte?" quäkte die künstliche Kleinmädchenstimme Madam Whitecaps.

"Ich bin bereit, Ihrer Gruppierung entgegenzukommen, Ihnen hier in den Vereinigten Staaten sichere Zufluchtsorte einzuräumen und sogar zuzulassen, dass Sie wieder diese Animierpartys veranstalten, um junge Leute zur vorzeitigen Familienplanung zu bewegen. Doch ich muss und werde mich nicht erpressen lassen."

Unvermittelt hielt die Besucherin jenes golden glitzernde Gerät in den Händen, mit dem arglose Menschen sowohl körperlich wie geistig auf den Entwicklungsstand eines neugeborenen Kindes zurückversetzt werden konnten. "Sie mögen wohl einige Alarmzauber ausgetrickst haben. Aber bedrohen muss ich mich nicht lassen", erwiderte Buggles so, als habe er alles hier im Griff. "Außerdem müssten Sie dann mit meiner mit den Hufen scharrenden Konkurrentin Bullhorn fertigwerden. Das wollen Sie nicht wirklich."

"Mit ihr fertigwerden? Falls es nötig ist wollen wir das nicht nur, sondern werden es dann auch", erwiderte Madam Whitecap. Buggles hätte zu gerne gewusst, ob unter dem Babykopf eine kesse Junghexe oder eine gestandene Hexengroßmutter steckte. Doch dieses goldene Zwangsverjüngungsgerät, dass sie ganz ohne Zauberstabnutzung aus dem Nichts gefischt hatte, könnte ihn innerhalb nur einer Sekunde babyfizieren. Wenn er Glück hatte putzte sie damit gleich seine Erinnerungen aus. Sich vorzustellen, fast völlig unfähig herumzuliegen und laut schreien zu müssen gefiel ihm nicht. Deshalb machte er eine beschwichtigende Geste und sagte ruhig: "Sie können weder Major Bullhorn noch mich ohne Aufsehen verschwinden lassen. Und wenn Sie mich hoppnehmen und einer Ihrer Ammen auf den Wickeltisch packen wird man nach mir suchen. Selbst wenn man mich nicht mehr finden sollte wird der Verdacht auf jeden Fall auf Ihre Gruppierung fallen. Das wollen Sie sicher auch nicht."

"Wer sagt denn, dass jemand das mitbekommt, wenn du verschwindest? Ich konnte hier hereinkommen und kann mit dir auch verschwinden, ohne dass es jemand mitbekommt. Aber womöglich ist es wirklich erst mal besser, dich mit den Kobolden fertigwerden zu lassen, sofern die überhaupt noch so aufsässig sind, nachdem sie lernen mussten, dass ihre achso geheiligte Bank störanfällig für fremde Erdmagie ist. Der Rat gibt dir noch bis Mitte Januar Zeit. Wenn wir wissen, dass du bereit bist, komm ich mit dem Vertrag vorbei. Was die zwölf Richter angeht, ja da haben wir eine Unterlassungssünde begangen. Aber wenn du den neuen Vertrag unterschreibst und ihn damit für das ganze Ministerium verbindlich machst wird sich auch eine Lösung für dieses Problem finden."

"Die Richter sind genausogut ..." "Abgesichert" hatte er sagen wollen, als ihm klar wurde, dass auch der Zwölferrat ungebetenen Besuch erhalten mochte. Madam Whitecap erkannte, was ihm klargeworden war. Sie erwiderte mit ihrer künstlich hohen Stimme: "Wenn sie dich zu sich hinrufen sag uns bescheid. Mehr musst du im Moment nicht wissen. Aber vielleicht willst du ja wirklich zurück in Windeln und Wiege. Könnte dir nur passieren, dass wir dir dein Gedächtnis lassen und du alles bewusst mitbekommen musst. Tja, dann müssten wir wohl mit deinem Nachfolger oder deiner Nachfolgerin wegen der Mondanheuler verhandeln. Dann wird auch nichts aus deinem großen Traum einer geeinten nordamerikanischen Zaubererwelt." Lionel Buggles erstarrte. Woher zum feuerroten Donnervogel wusste die das denn schon wieder? Konnte sie seine Gedanken lesen, ohne dass er einen legilimentischen Zugriff bemerkte?

"Geben Sie mir noch bis zum 21. Januar. Dann weiß ich auch, wie die Kobolde meinen erweiterten Handelsstabilisierungsplan schlucken werden", entgegnete Buggles so ruhig wie möglich klingend. "Gut, ich gebe das so weiter", sagte die Botin. Dann nahm sie ihre Beine wieder vom Couchtisch, stand auf und streckte sich. Sie begann aus sich heraus silbern zu leuchten. Das Silberlicht strahlte noch eine Spur heller auf. Dann wechselte es schlagartig die Farbe. Nun rotierte da eine grüne Lichtspirale, die zweimal kreiselte, bevor sie genauso im Nichts verschwand wie die Besucherin, die er Madam Whitecap nennen musste. "Sie kann einen unortbaren Portschlüssel, zum roten Donnervogel. Damit kann die überall auftauchen", dachte der ranghöchste Zauberer der Vereinigten Staaten. Ihm war jetzt klar, dass sie jederzeit zu ihm vordringen konnte. Am Ende ging er schlafen und wachte entweder in einer Wiege wieder auf oder musste einige Runden auf diesem ominösen Karussell mitfahren. Er merkte, wie sehr er sich Vita Magica ausgeliefert hatte. Wenn er jetzt noch einen neuerlichen Friedensvertrag mit denen abschloss, und das kam trotz einer darüber zu verhängenden Geheimstufe raus, wwürde er garantiert ein ganz neues Leben anfangen. Doch er hatte in seinem über 40 Jahre langem Leben noch kein eigenes Kind auf den Weg gebracht. Würden sie ihn dann trotzdem wiederverjüngen? Es war sicher besser, wenn er sich diese und andere Fragen erst stellte, wenn sicher feststand, wie es mit den Kobolden weiterging.

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Auswärtiges Amt der französischen Republik in Paris, 03.01.2005, 09:30 Uhr Ortszeit

Laurentine hatte darauf verzichtet, ihren eigenen Kleinwagen zu nehmen. In ihrer Stimmung wollte sie sich nicht dem chaotischen Autoverkehr in Paris aussetzen. So war sie mit der Metro zur Haltestelle am Place de la Concorde hingefahren und hatte die letzte Etappe in die Quai D'orsay zu Fuß zurückgelegt.

Nach umfangreichen Sicherheitskontrollen und der Vorlage ihres Personalausweises an drei Stellen war sie endlich zu Zimmer 206 vorgelassen worden. Dort hatte sie bis jetzt gewartet. Um halb zehn sollte sie ihren Termin mit der Sachbearbeiterin Fabienne Moulin haben.

Sie klopfte an die ziemlich stabil aussehende Tür. Rechts davon leuchtete ein Schild: "Melle. Hellersdorf bitte eintreten!" Gleichzeitig klickte es leise in der Tür. Laurentine dachte daran, dass sowas auch im französischen Zaubereiministerium vorkam. Sie drehte den Knauf und öffnete die Tür. Sie betrat ein Einzelbüro mit dunkelgrünem Teppichboden. An den Wänden reihten sich Regale und ein metallbeschlagener Aktenschrank. In der Mitte stand ein beiger Schreibtisch, vor dem drei bequeme Stühle aufgereiht waren. Auf dem Schreibtisch erkannte sie einen mit der Rückseite zu ihr gekehrten LCD-Bildschirm, eine Tastatur mit Maus, einen Laserdrucker, ein weißes und ein olivefarbenes Telefon, einen aufrechtstehenden schwarzen Aktenordner und einen rosenroten Plastikbehälter mit mehreren Schreibstiften. Hinter dem Schreibtisch, das dezent geschminkte Gesicht der Tür zugewandt, saß eine Frau Mitte vierzig im mittelblauen Kostüm. Ihr nachtschwarzes Haar war sorgfältig hochgesteckt. Sie blickte die hereinkommende aus veilchenblauen Augen an.

"Guten Morgen, Mademoiselle Moulin", grüßte Laurentine, weil sie diejenige war, die den Raum betreten hatte. "Guten Morgen, Mademoiselle Hellersdorf. Schön, dass Sie pünktlich sind", erwiderte die Büroinhaberin mit mittelhoher Stimme. Laurentine erkannte nun, das sie nicht mit ihrem ehemaligen Klassenkameraden Hercules Moulin verwandt sein mochte.

Fabienne Moulin deutete auf den ihr direkt gegenüberstehenden Besucherstuhl und nickte. Laurentine nickte zurück und bedankte sich. Dann nahm sie Platz. Die Büroinhaberin griff nach der Computermaus und bewegte sie, bis sie fand, worauf sie doppelklicken konnte.

"Wie Sie gestern schon vermuteten ist der Anlass dieser Unterredung kein angenehmer. Ich würde es Ihnen gerne möglichst einfühlsam beibringen. Doch ich fürchte, davon haben weder Sie noch ich was. Also gut! Gestern wurden die an einen im Meer treibenden Baum festgeschnallten Leichname zweier europäischer Touristen gefunden. Sie führten Reisedokumente auf den Namen Renée und Simon Hellersdorf mit sich." Laurentine fühlte, wie ihre Gesichtsfarbe wich und war froh, doch ein wenig mehr Rouge aufgelegt zu haben. Dann straffte sie sich. Sie hatte es doch schon längst amtlich bekommen. Das hier war nur die zweite Bestätigung.

"Natürlich sind Sie nun sehr betrübt, Mademoiselle. Das kann ich sehr gut verstehen. Auch möchte ich, bevor ich über die Einzelheiten sprechen werde bekunden, dass es noch zu klären sein wird, warum nicht schon früher nach Ihren Eltern gesucht wurde. Ob dies ihr Leben gerettet hätte weiß ich allerdings auch nicht." Laurentine nickte. Sie fühlte Tränen aufsteigen und fischte ein Taschentuch aus ihrem wadenlangen graublauen Rock. "Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet, dass man sie lebend bergen kann, Mademoiselle", sagte sie, bevor sie die Tränen aus den Augen wischte und dann wieder klar und gefasst hinsah.

Die nächsten zehn Minuten beschrieb Fabienne Moulin die Lage, wie sie dem auswärtigen Amt gestern noch mitgeteilt wurde. Demnach wurde die Suche nach den Eheleuten Hellersdorf erst begonnen, als genug Notstrom für Banda Aceh verfügbar war. Zumindest waren die betreffenden Räume der Reiseagentur dem Tsunami entgangen, wohl weil sie im neunten Stock eines Bürohauses untergebracht waren. Ein indonesischer Marinekreuzer hatte dann die Insel Gulanayatra angelaufen und die im Meer treibenden Leichname gefunden. Offenbar hatten die vier, die an einem der treibenden Bäume festgeschnallt waren, den Baum als letzte Hoffnung betrachtet. An und für sich war das wohl auch eine gute Idee gewesen, wenn der Baum nicht entwurzelt worden und abgetrieben worden wäre. Jedenfalls seien die darauf geflüchteten ertrunken, wie die Untersuchung zweifelsfrei ergeben hatte. "Dass sie an diesem großen Urwaldbaum festgeschnallt waren hielt offenbar die Raubfische und Aasfresser des Ozeans davon ab, an die Körper der Verstorbenen zu gehen. Dennoch möchte ich Ihnen und jedem Angehörigen der Verstorbenen nahelegen, von einer letzten direkten Besichtigung der Leichname Abstand zu nehmen. Versuchen Sie, Ihre Eltern so in Erinnerung zu behalten, wie Sie sie zu Lebzeiten kannten!"

"Ich las und hörte davon, dass bei vielen der im Meer treibenden oder unter zertrümmerten Häusern geborgenen Toten nur eine DNA-Analyse und ein Vergleich mit Blutsverwandten die Identität klären konnte. Ist das gesichert, dass es meine Eltern waren? Gut, sie erwähnten, dass sie ihre Reisedokumente mitführten", sagte Laurentine.

"Sie waren noch gut genug zu erkennen, dass die Lichtbilder in den Pässen und anderen mitgeführten Dokumenten damit verglichen werden konnten. Die französische Staatspolizei hat heute morgen um acht Uhr das Ergebnis eines Zahnvergleiches gemailt. Laut Unterlagen des Betriebszahnarztes von Kourou stimmen die Zahnprofile der beiden Toten mit den Unterlagen der Eheleute Hellersdorf überein. Nur falls Sie es noch wünschen kann eine DNA-Vergleichsuntersuchung stattfinden, würde aber den leider unumgänglichen Fortgang der nun zu treffenden Maßnahmen um mindestens einen Tag hinauszögern. Wissen Sie zumindest, ob Ihre Eltern beide eine Erdbestattung haben wollten?"

"Da meine Eltern noch einige Jahre zu leben hofften haben Sie mir derartiges noch nicht mitgeteilt", erwiderte Laurentine ganz gefasst. "Aber ich gehe davon aus, dass es in Kourou Unterlagen gibt, in denen sie im Falle ihres Todes bestattet werden möchten. Meine Großmutter mütterlicherseits, mit der ich gestern abend noch telefonierte, wusste auch nichts über eine gewünschte Art der Bestattung."

"Nun, dann müssen Sie mit Kourou telefonieren und dort unter Verwendung des erstellten Aktenzeichens die Frage stellen. Denn davon hängt ab, wie die Überführung der beiden stattfinden oder ob sie an Ort und Stelle bestattet werden sollen", erwiderte Fabienne Moulin. Das sah Laurentine ein und bestätigte, mit Kourou zu telefonieren. "Dann übergebe ich Ihnen gleich die provisorischen Unterlagen, die Kopien der Totenscheine, Auffindeprotokolle und nachvollzogenen Reisewege enthalten. Wenn Sie ein auf Überseeüberführungen spezialisiertes Bestattungsinstitut suchen finden Sie im Anhang zu den kopiertenDokumenten auch eine Adressliste der regelmäßig mit uns zusammenarbeitenden Institute, falls Sie kein von Ihnen oder Ihren Angehörigen bevorzugtes Unternehmen darauf finden teilen Sie uns bitte mit, wer dieses Unternehmen ist oder teilen Sie zu meinen Händen mit, wer Ihr Vertrauen erhalten und die Überführung und gegebenenfalls Bestattung vornehmen soll. Anbei bekommen Sie natürlich auch die Unterlagen, mit denen sie die Rücksendung der verbliebenen Habseligkeiten Ihrer Eltern beantragen können." Sie nahm den schwarzen Ordner vom Tisch und übergab ihn Laurentine. Diese wollte sich gerade anständig dafür bedanken, als das weiße Telefon auf dem Schreibtisch läutete. Mademoiselle Moulin griff zum Hörer und meldete sich mit einem schlichten "Ja, hallo!" Dann vergingen zehn Sekunden, bei denen Laurentine nur hörte, dass wohl ein Mann am anderen Ende sprach, aber nicht was er sagte. Dann antwortete Fabienne Moulin:

"Das erscheint mir merkwürdig, Jean. Lassen Sie sich ja alles vorlegen und prüfen Sie es auf Echtheit, von der Identität des Herren angefangen bis zu allem, was den erwähnten Auftrag betrifft! ... Wie, solange ich nicht weiß, ob sein Anliegen und seine Legitimation stimmen werde ich keine Bitte von ihm erfüllen. Ach ja, Sie dürfen ihm gerne sagen, dass ich es schon für sehr verdächtig halte, das er in der Angelegenheit vorstellig wird, wo weder ich noch sonst ein Kollege von uns ihn in Kenntnis gesetzt und vorgeladen haben. ... Ja, die übliche Bemerkung, Jean. Prüfen Sie erst einmal sämtliche Unterlagen, die er mitführt und dann auch, ob inoffizielle Meldungen über den Fund im Internet kursieren. Falls dem nicht so sein sollte gehen Sie gemäß Anweisung drei B vor. ... Sie haben richtig gehört: Bei unzureichendem oder gar alarmierendem Ergebnis Anweisung drei B! ... Nein, nicht bevor seine Person und seine Aussagen überprüft wurden. Ja, Jean, danke!" Sie legte den Hörer wieder auf die Gabel und wandte sich Laurentine zu:

"Darf ich fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass ein Docteur Maurice Bouvier alle rechtlichen Angelegenheiten Ihrer Eltern auch nach deren Tod vertritt?" Laurentine musste sich sehr beherrschen. Der Name war ihr sowas von im Gedächtnis geblieben. Der Anwalt hatte damals mithelfen sollen, sie vorzeitig aus Beauxbatons herauszuklagen, was wegen der Geheimhaltungstricks des Zaubereiministeriums und da besonders der Familienstands- und der Ausbildungsabteilung im Nichts verpufft war. Dass Ihre eltern diesen Anwalt immer noch für sich arbeiten ließen war ihr jedoch nicht geläufig. So sagte sie, dass sie mal davon gehört habe, dass ihre Eltern einen Rechtsanwalt dieses Namens bemüht hätten, aber nicht, dass dieser auch deren Nachlassverwalter oder sowas sein sollte. Dass ihre Eltern sie enterben wollten verschwieg sie der Büroinhaberin.

"Ein Herr, der sich als dieser Rechtsanwalt ausgibt ist gerade bei Monsieur Dubois am Empfang und behauptet, gestern spät abend noch vom traurigen Fund Ihrer Eltern erfahren zu haben. Er behauptet, Unterlagen mitzuführen, die bestätigen, dass ausschließlich er für alle die Bestattung und den Nachlass betreffenden Angelegenheiten zuständig sei und besteht darauf, auf gar keinen Fall mit Ihnen in Kontakt zu treten und falls wir dies schon getan hätten nur in seinem Beisein mit Ihnen zu sprechen oder Sie wegen des Verdachts möglicher Straftaten gegen Ihre Eltern in Polizeigewahrsam zu übergeben."

"Ach neh! Glaubt Monsieur Bouvier, ich hätte das Erdbeben oder die Tsunamis ausgelöst und über hunderttausend Menschen umgebracht, nur um meine Eltern umzubringen. Abgesehen davon, dass diese Vermutung schon sehr paranoid klingt, wie sollte ich das angestellt haben?" fragte Laurentine sehr provokant.

"Eben, deshalb kommt mir diese Vorhaltung auch sehr abwegig bis verdächtig vor", sagte Mademoiselle Moulin. "Falls dieser Herr ist, was er vorgibt zu sein, dann werde ich ihn separat vorladen. Falls nicht, netter Versuch. Wäre nicht der erste Anwalt, der meint, auf dem Trittbrett eines tragischen Trauerfalls im Ausland für die betroffenen Französischen Landsleute handeln zu dürfen. Das hatten wir in den letzten drei Tagen schon viermal. Nur, dass die betreffendenRechtsbeistände sich mit Fax- und Mailnachrichten an unsere Rechtsabteilung gewandt haben. - Öhm, ich empfehle Ihnen jedoch, die überreichten Unterlagen einzustecken und durch die Tür am anderen Ende des Ganges hinauszugehen. Benutzen Sie bitte einen der dort verfügbaren Fahrstühle und verlassen Sie das Gebäude durch die zur Nationalversammlung hinführende hinterpforte. Ich gebe Ihnen eine entsprechende Passage mit", sagte Fabienne Moulin und hantierte schnell mit der Maus. Dann klickte sie mehrmals auf etwas, das Laurentine nicht sehen konnte. Jedenfalls trat der Laserdrucker in Tätigkeit, surrte einige Sekunden lang und spuckte dann einen Zettel aus. "Das ist der für die Hinterpforte berechtigende Passierschein."

Laurentine musste grinsen, als sie auf dem überreichten Zettel las:

PASSIERSCHEIN O-19

Berechtigung für Mademoiselle Laurentine Hellersdorf zur Passage der Nebenpforte gemäß Sondervollmacht S-22a Anlage b.

Gez. F. Moulin

Auf dem Zettel waren dann noch zwei merkwürdige Zeichen, die Laurentine als QR-Codes erkannte, ein neues Verfahren, um Vorgänge zu bearbeiten.

"Wie erwähnt, bitte durch die von hier aus rechte Tür des Ganges hinaus, einen der Fahrstühle dort nutzen und dann dem Pförtner an der betreffenden kleinen Pforte diesen Passierschein aushändigen! Möglicherweise müssen Sie sich ihm gegenüber noch einmal ausweisen. Also halten Sie bitte auch Ihren Ausweis bereit! Trotz des bedauerlichen Anlasses unseres Zusammentreffens wünsche ich Ihnen noch einen möglichst angenehmen Tag!"

Laurentine wusste zwar nicht, womit sie dieses Sonderrecht verdient hatte. Doch sie wollte es hier und jetzt nicht hinterfragen um nicht noch mehr Zeit zu vertun. So verabschiedete sie sich und befolgte die Anweisungen genau.

Zwar war der Pförtner an der anderen Tür, die ausdrücklich wohl nur für besondere Besucher oder Mitarbeiter gedacht war skeptisch. Doch als er die beiden QR-Codes mit einem tragbaren Lesegerät geprüft und Laurentines Identität festgestellt hatte, betätigte er die elektronische Verriegelung der massiven Stahltür mit zentimeterdicken Milchglasscheiben. Laurentine verließ das Ministeriumsgebäude und peilte sofort das Gebäude der Nationalversammlung an. Offenbar hatte Mademoiselle Moulin befürchtet, Bouvier könne bereits auf sie warten oder wolle sie noch abfangen, bevor sie das Gebäude verließ. Sie Tippte mit dem rechten Zeigefinger an ihre Handtasche und dachte: "Wach auf!" Die Handtasche vibrierte eine Sekunde. Dann hing sie so wie gewohnt über ihrer Schulter.

Nun ohne Angst vor Handtaschenräubern oder Taschendieben ging sie auf die Rückseite des Parlamentsgebäudes zu. Offenbar nutzte der Außenminister diesen Weg, um schnell von seinem Arbeitssitz ins Parlament überzuwechseln. Dass sie diesen Weg gehen durfte wunderte sie immer noch. Jedenfalls bog sie auf einen Weg ein, der auf eine der am Gebäude entlangführenden Hauptverkehrsstraßen führte.

Da sie wusste, dass in den letzten Jahren viele Metrostationen videoüberwacht wurden und seit dem Anschlag auf die spanische Eisenbahn auch in Frankreich zusätzliche Überwachungskameras montiert worden waren konnte sie es vergessen, auf einem leeren Bahnsteig zu disapparieren. Allerdings mochte jemand mit Drähten zur Überwachungszentrale rausbekommen, von wo sie abgefahren war und wo sie wieder aussteigen würde. Das allerdings wollte sie nicht. Deshalb ließ sie die Metro Metro sein und ging zügig aber noch unauffällig genug im Strom der Stadtbewohner und Touristen und bog einige Querstraßen weiter vom Parlamentsgebäude in eine Seitenstraße ein. Sie hatte bei ihrer kurzen Anstellung im Zaubereiministerium gelernt, wie sie in einer Stadt wie Paris nach uneinsehbaren Stellen suchen musste, an denen sie möglichst unbeobachtet apparieren oder disapparieren konnte. So eine Stelle war die überdachte Einfahrt, die zu drei Häusern gehörte und mit einer fernsteuerbaren Schranke gesichert war. Sie überstieg die Schranke, trat einige Schritte in die Durchfahrt hinein, holte aus dem Geheimfach ihrer Handtasche ihren Zauberstab hervor und vollführte eine geschmeidige Drehung auf dem rechten Absatz. Mit leisem Plopp verschwand sie.

Sie tauchte ebenso übergangslos in ihrer Wohnung in der Rue de Liberation 13 auf. Catherine Brickston war sicher in ihrem Arbeitszimmer. Joe war in seiner neuen Firma, Babette wieder in Beauxbatons und Claudine schon zur drittenStunde in Millemerveilles. Damit konnte sie in Ruhe die Unterlagen studieren und dann entsprechend darauf reagieren. Was sie auf jeden Fall erst einmal nicht tun durfte war ans Telefon zu gehen. Denn offiziell war sie ja noch in Paris unterwegs.

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Zur selben Zeit im Raum der zweiten Grundschulklasse von Millemerveilles

Julius Latierre überblickte die fünf Mädchen und sechs Jungen, mit denen er in Vertretung für Laurentine die dritte und vierte Stunde zubringen sollte. Er erkannte Claudine Brickston, sowie Gerome Dubois und den pummeligen Florian Latour, den jüngsten Sohn des Brandschutzbeauftragten von Millemerveilles. Auch Liliane Lefèvre, die zweite Tochter von Florymonts Konkurrenten Dorian Lefèvre erkannte er, weil er sie bei der Ankunft ihrer drei jüngsten Geschwister wiedergesehen hatte.

Es war nicht das erste mal, dass er für Laurentine einsprang. Als Sardonias magische Kuppel durch die Woge dunkler Kräfte zu ihrem unheilvollen, dämmerdunklen Dasein erwacht war hatte er schon für Sie vertretungsstunden gegeben. Deshalb kannte er die hier üblichen Vorgehensweisen. Wie in Beauxbatons begrüßte er die Klasse und nahm die im Chor gerufene Erwiderung zur Kenntnis. Dann ließ er alle in den Klassenraum ein und nahm hinter dem antiquiert aussehendenLehrerpult aufstellung. Dort holte er eine Sitzbelegung hervor und rief die Schülerinnen und Schüler der Belegung nach auf. Dabei versuchte doch Gerome Latour ihn zu verulken, weil er sich beim Aufruf von "Brussac, Michel", meldete. "Netter Versuch, Gerome Latour. Aber wie du aussiehst und heißt weiß ich schon vom letzten Frühling", grinste Julius. Den Gag hatte er selbst mal mit Lester und Malcolm abgezogen, als sie in der dritten Klasse einen neuen Heimatkundelehrer bekommen hatten und der nur die Namen kannte, aber nicht die Sitzbelegung. Eine Stunde hatten sie das echt durchgehalten, und der Rest der Klasse hatte den Streich mitgetragen. Tja, anschließend waren sie drei dann zum Direktor zitiert worden und hatten sich was anhören müssen wegen mutwilliger Täuschung und Verfremdung der Notengebung und noch so einiges. Doch der Direktor war selbst ein Spaßvogel unter dem Himmel und hatte ihnen nur Putzdienst auferlegt, wenn die anderen zum Mittagessen gehen durften. Dafür wurden ihre Eltern nicht informiert.

"Also, ihr hattet mit Mademoiselle Hellersdorf die Jahreszeiten und das dafür typische Wetter, bevor es in die Ferien ging. Sie hat mir gesagt, dass ihr von ihr die Aufgaben bekommen habt ... Ja bitte, Liliane?"

"Stimmt das, dass Mademoiselle Hellersdorfs Eltern von diesem Nusami-Ding bei Indien umgebraccht worden sind?" fragte Liliane. Julius nickte und erwiderte, dass sie deshalb jetzt damit zu tun hatte, wie ihre Eltern wieder nach Frankreich zurückkamen und würdig beerdigt wurden. Schließlich hatte die Direktrice am Morgen vor Schulbeginn noch erwähnt, warum Laurentine heute und in den nächsten Tagen nicht herkommen würde und warum das Zaubereiministerium ihnen dafür Monsieur Latierre ausgeliehen habe, weil der sich mit nichtmagischen Sachen genausogut auskannte wie Laurentine. "Heftig", bemerkte Florian Latour dazu. "Wie kann denn so 'ne Nuzami-Welle Leute umbringen. Ist doch nur wasser."

"Ach, dann warst du mit deinen Eltern noch nie am Meer, wenn es etwas windiger da war?" konterte Julius mit einer Gegenfrage. Darauf lachten alle. Dann meinte Luc Beaurivage, ein schlachsiger Bursche mit pechschwarzer Stoppelfrisur: "Der Florian schwimmt immer oben, wenn der ins Wasser fällt."

"Eh, pass bloß auf, eh!" empörte sich Florian. Julius räusperte sich laut und sagte im ganz ruhigen Ton: "Bitte keine Witze über das Aussehen von Klassenkameradinnen und -kameraden! Für sowas ziehe ich beim nächsten mal Notenpunkte ab, verstanden?" Ein missmutiges Grummeln war die Antwort. Dann sah Julius Florian noch einmal an und sagte: "Also, ein Tsunami ist eine Flutwelle, die von einem starken Erdbeben auf dem Meeresboden gemacht wird. Die kann so hoch wie das höchste Haus hier sein und schneller voranlaufen als ein Rennbesen fliegen kann. Wer da reingerät, weil er oder sie nicht auf etwas klettern kann, was höher als die Welle ist, bevor die Welle kommt, der oder die wird gnadenlos umgeworfen, mitgerissen und ertränkt. Kein schöner Tod!" Er trat an die Tafel, nahm die weiße Kreide und schrieb auf, was er nun sagte: "Tsunami", das wort unterstrich er doppelt"ist ein Wort aus der Sprache Japanisch und heißt Große Hafenwelle." Auch das Wort Hafenwelle unterstrich er. "Die Menschen in Japan haben diese Flutwelle deshalb so genannt, weil sie auf dem offenen Meer, also weit draußen, nur ganz flach und ganz langgestreckt ist, so langgestreckt wie ganz Millemerveilles groß ist. Nur wenn das in ihr mitlaufende Wasser an einen Strand herankommt, der nicht so tief ist wie das offene Meer, dann steigt die Welle je nach Heftigkeit um mehrere Meter bis viele dutzend Meter an und wirft sich dann über den Strand und alles, was dahinter steht und liegt. Geraten Menschen in den Weg so einer Welle können sie sich nicht mehr halten. Sie werden weggerissen, von Wasser überspült und schlimmstenfalls sogar gegen Häuser oder andere fest am Boden stehende Körper geschlagen. Wenn die Welle am weitesten ins Land hineingelaufen ist fließt das Wasser wieder zum Meer zurück. Dabei reißt es alles nicht fest am Boden stehende mit sich weit ins Meer hinaus, auch Menschen, die nicht rechtzeitig weit genug laufen und vor allem nicht hoch genug steigen konnten.

Ein Tsunami kann von einem starken Erdbeben auf dem Meeresgrund gemacht werden, wenn das Erdbeben was von hohen Bergen auf dem Meeresboden wegrutschen lässt. Das wegrutschende Gestein drückt dann alles Wasser weg, was in seinem Rutschweg ist. Das Wasser schiebt weiteres Wasser an und so weiter. So gerät dann eine ganz große Menge Wasser, tausendmal mehr als im Farbensee drin ist, in Bewegung, als wenn jemand einen Stein so groß wie Millemerveilles und so schwer wie zwei Berge ins Meer wirft. Deshalb laufen solche Flutwellen auch kreisförmig von der Stelle weg, wo das Erdbeben Berge unter Wasser angestoßen hat. Das ist ein Tsunami, eine große Flutwelle nach einem Seebeben."

"Ui," kam es von den meisten Kindern im Klassenraum. Claudine sah auf die Tafel und zückte ihr Schreibzeug. "Dürfen wir das so aufschreiben, Monsieur Latierre?" fragte sie eifrig. Der Hilfslehrer nickte und erlaubte es der ganzen Klasse. Florian wollte aber vorher noch wissen, was ein Erdbeben sei. Julius erwähnte, dass es eine wilde Bewegung im Boden war, wenn sich tief unter der Erde Steine verschoben oder weit unter der Erde mehrere Steinne aneinanderrieben und dann mit einem Schlag die ganze Kraft freisetzten. Er schrieb das noch an die Tafel. Dann gestattete er allen, sich das abzuschreiben. Da sie es ja vom Wasser und seinen natürlichen Zustandsformen hatten passte dieser Ausflug in ein anderes Thema auch gut. Denn dass Wasser nicht nur als lästiger Regen runterfallen, in Bächen plätschern oder zum trinken und Feuerlöschen da sein konnte war ja schon wichtig.

Als alle den Text auf der Tafel abgeschrieben hatten sprachen sie von verschiedenen Wellen im Meer und Julius fragte auch, wer das schon herausbekommen hatte, dass ins Wasser geworfene Steine solche kreisförmigen Wellen machten. Weil die Jungen das alle, aber nur drei der Mädchen schon ausprobiert hatten verwandelte Julius das Lehrerpult in einen flachen Holzzuber, ließ ungesagt Wasser darin erscheinen, wofür er gerne die anerkennenden Blicke der Kinder genoss und holte dann einen möglichst schweren bunten Steinklotz aus einem der Regale. Mit solchen Klötzen konnten sie hier verschiedene Gebäudeformen vom Straßenpflaster, einem Haus, bis zu einer zünftigen Ritterburg nachbauen oder sogar, was Sandrines Mutter mal erwähnt hatte, eine altägyptische Pyramiede im Maßstab 1:100 nachbauen. Er trat einige Schritte vom Zuber zurück und warnte die am nächsten dransitzenden. "Achtung, wer zu nahe dran ist wird gleich nass!" Er sah, wie sich alle schnell an der Wand aufreihten. Dann warf er den Baustein bis unter die Decke hoch. Der Stein trudelte und plumpste dann unüberhörbar in den Zuber. Dabei spritzte schon wasser bis zur Decke. Doch eine Sekunde später schwappte die erste von fünf Wellen über den Rand und ergoss sich klatschend über den Boden. Die Kinder konnten sehen, wie die höchste Welle bis einem Drittel der Tischhöhe erreichte und mehr als fünf meter weit in den Klassenraum vordrang. Nach der fünften Welle war das halbe Wasser aus dem Zuber heraus, und einige Füße waren troffnass. Viele Iiis und "Nicht doch"-Ausrufe klangen auf. Dann war es vorbei.

"Gut, haben wohl alle von euch mitbekommen. Jetzt stellt euch das mal vor, wenn Steine so groß wie Millemerveilles tief im Meer hundertmal tiefer rutschen als der Stein hier fallen konnte. Kriegt ihr das hin? Dann habt ihr das ungefähr, wie stark und gefährlich so ein Tsunami ist." Als er das gesagt hatte ließ er das verschüttete Wasser mit einem Trocknungszauber wieder verschwinden, ebenso das noch im Zuber verbliebene Wasser. Den Zuber verwandelte er wieder in das Lehrerpult. "Ja, und wenn ihr fragt, ob man solche Erdbeben und Tsunamis nicht früh genug mitbekommt, um alle Menschen zu warnen: Nicht überall auf der Welt wohnen Hexen und Zauberer, die gelernt haben, auf die Bewegungen in der Erde zu hören. Wenn so ein Erdbeben losgeht kann das keiner alleine aufhalten. Auch ist es sehr gefährlich, gegen eine starke Naturgewalt anzuzaubern, weil diese sich dann einen anderen Weg sucht, um sich auszutoben. Das dürft ihr euch bei der Gelegenheit auch schon mal merken, auch wenn es noch einige Jahre dauert, bis das in Beauxbatons gefragt werden könnte. Öhm, wer hat nasse Beine gekriegt?"

Mit dem Trocknungszauber half er denen, die sich doch näher an den Vorführzuber getraut hatten, auch Claudine. Dann erwähnte er, dass er mal einen aus Japan stammenden Lehrer hatte, der ihm erzählt hatte, dass einer seiner Verwandten einen Tsunami mitbekommen und diesem ganz ganz knapp entkommen war. "Jetzt versteht ihr alle ganz bestimmt, warum Mademoiselle Hellersdorf so besorgt war, als sie hörte, dass ihre Eltern dort hingefahren sind, wo das Erdbeben war und warum sie jetzt traurig ist, dass sie nicht mehr wiederkommen. Aber ich denke, wir kommen die nächstenTage auch gut miteinander aus." Die elf Kinder aus der zweiten Klasse beteuerten sofort, dass sie das begriffen hatten und keine Schwierigkeiten machen wollten. Dafür hörten sie aus dem nebenan liegenden Raum der ersten Klasse wildes Toben und die sehr erboste Stimme ihres Klassenlehrers: "Philemon, Barnabas, Michel, sofort damit aufhören!"

"Gut, ich hoffe, ich muss bei euch nicht mal so laut rufen wie Monsieur Dubois", sagte Julius mit angestrengt streng dreinblickendem Gesicht. Die elf Kinder Nickten heftig, dass bei den Mädchen die sorgfältig geflochtenen Zöpfe hin und herflogen.

"O, ist die Stunde gleich wieder um? Dann möchte ich für eure Notenpunkte noch die Mitschriften nachsehen, um zu wissen, dass jeder und jede auch richtig mitgeschrieben hat", sagte Julius mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Bei den Mädchen hatte er nichts zu beanstanden. Bei den Jungen musste er jedoch Punktabzüge androhen, wenn sie es nicht hinbekamen, sauber abzuschreiben. Nur Florian hatte seinen Text von der Tafel sorgfältig genug abgeschrieben, um neunzig von hundert Notenpunkten zu bekommen.

Als die Glocke zum Lehrerwechsel läutete trug er ins lederne Klassenbuch ein: "Heutiges Thema: "Was ist ein Tsunami und warum ist er so gefährlich?"". Danach bedankte sich Julius bei allen für's Zuhören und mitmachen und kündigte an, dass sie beim nächsten mal weiter über die Zustandsformen von Wasser sprechen würden und warum das für alle lebenden Wesen auf der Erde so entscheidend war. Das stand zwar so nicht im Lehrplan, sollte aber mal erwähnt werden, fand Julius.

Als er sich der Tafel zuwandte und sagte, dass er die für die nächste stunde leerwischen wollte betrat Laurentines Kollegin Philippine Bleulac denKlassenraum. Sie grüßte Julius höflich. Er erinnerte sich daran, dass er und Hera Matine ihr im letzten März bei der Geburt von zwei Jungenund einem Mädchen geholfen hatte. Sie war die Klassenlehrerin der elf hier und gab das Fach Lesen, schreiben, sprechen. Deshalb wunderte sich Julius nicht, als sie "Halt, Stop! Bitte noch nicht wegwischen!" rief. Sie stellte sich neben Julius, der gerade mit dem Tafelreinigungszauber hantieren wollte. "So hat mir das bisher keiner erklären können", sagte sie anerkennend. "Haben die jungen Herrschaften den Text abgeschrieben?!" Julius und die elf Schulkinder nickten. "Gut, möchte ich gleich nachsehen! Ich schreibe es mir noch auf, dann leere ich die Tafel, Monsieur Latierre. Danke für Ihre sehr verständliche Darlegung!"

Julius ging dann allen noch mal zuwinkend hinaus und zur vierten Klasse, die es in diesem Halbjahr mit den messbaren Größen in Natur und Handwerk zu tun bekamen, so Laurentine. Allerdings durfte er auch den fünf Mädchen und vier Jungen erklären, was da im Indischen Ozean passiert war. Da zum Zubehör der Klasse auch ein magischer Globus mit verschiedenen Darstellungsweisen gehörte nutzte er diesen, um zu verdeutlichen, wo es die meisten Erdbeben gab und wiederholte den Versuch mit dem Wasserzuber und dem hineinfallenden Stein. Um im Thema zu bleiben ließ er von zweien der Schüler nachmessen, wie viel Liter Wasser im vollen Zuber waren und wie viel Kubikzentimeter der Bauklotz besaß. "Tja, ganz schlaue Rechenkünstler haben das mal als Rechenformel aufgeschrieben, wie viel Wasser bei einem Stein dieser Größe verdrängt wird, wenn er ganz behutsamhineingelegt wird", sagte er und legte den Stein erst ohne Plumpsen ins Wasser. Dann warf er ihn wie vorhin ganz hoch, natürlich nicht ohne die anderen zu warnen. Die stellten sich gleich auf ihre Stühle. So wurde keiner Nass. "So, und wer sich traut kann jetzt mal nachmessen, wie viel im Zuber dringeblieben ist", sagte Julius. Von den Jungen traute sich keiner. Charlotte Leblanc traute sich als einzige. Die Jungen sahen sie schon komisch an, weil sie ihr das nicht zutrauten. Dann trat sie an den drei Meter durchmessenden und einen Meter hohen Behälter heran, betrachtete ihn und nahm dann ein Maßband. Mit dem maß sie den Durchmesser aus, nickte, maß dann den Abstand des verbliebenen Wasserspiegels zum Rand des Zubers, nickte wieder und grübelte nach. Julius, der die Messung genau beobachtet hatte, rechnete auch schon im Kopf aus, wie viel Wasser der hineingeworfene Stein verdrängt und weggespritzt hatte und staunte selbst. Als Charlotte Leblanc dann dasselbe Ergebnis ausrief, dass er selbst berechnet hatte konnte er nur anerkennend nicken. "Ja, das Stimmt, damit sind das schon mal dreißig sichere Notenpunkte für die Stunde, Charlotte. Kannst du uns auch allen sagen, wie du das ausgerechnet hast?" Charlotte sah Julius an und nickte. Er wusste, dass Laurentine mit den Viertklässlern noch keine Formeln für Kreise und Kugeln gemacht hatte und somit auch keine Formel für einen Zylinder, wie sie hier angebracht war. Als Charlotte das dann aber haargenau wiedergab guckten die Jungen sie belauernd und die Mädchen verstört an. Dann bestätigte Julius das auch. "Bei ganz runden Dingen wie Kreisen, Walzen und Kugeln ist da diese gemeine Zahl Pi, was der im alten Griechenland gebrauchte Anfangsbuchstabe für das Wort Peripherie, also Außenrand ist." Er schrieb das Symbol, dessen Aussprache und die Zahl mit sechs Nachkommastellen und zehn Pünktchen dahinter an die Tafel. "Es ist unmöglich, den ganz genauen Wert von Pi auszurechnen. Da sind schon die schlauesten Rechenkünstler und Naturkundler dran gescheitert. Selbst mit den schnellsten und stärksten Computern aus der nichtmagischen Welt konnte Pi nicht bis zur allerletzten Zahl nach dem Komma ausgerechnet werden. Es ist gesichert, dass diese Zahl unendlich viele Zahlen hinter dem Komma hat. Aber für das Ausmessen von runden Körpern oder Kreisflächen reichen für uns hier die ersten vier Nachkommastellen voll aus. Mademoiselle Hellersdorf hat euch allen ja erklärt, warum es praktisch ist, Brüche als Zahlen mit Komma und Zehntel, Hundertstel, Tausendstel und so weiter zu schreiben und damit zu rechnen. Viele Maßeinheiten, die auch in der Zaubererwelt gebraucht werden, gründen auf der Zehn als Ausgangszahl. Ich wiederhole das nur, um das zu erklären, warum es mit solchen Zahlen leichter ist, von einem Maß in ein anderes umzurechnen. Ja, und was Charlottes Rechenergebnis angeht, so zeigt uns das ganz deutlich, dass ein ins Wasser fallender oder im Wasser verrutschender Stein mehr Wasser verdrängt als ein ganz vorsichtig hineingelegter oder schon länger dort liegender. Den Unterschied dürft ihr gerne selbst ausrechnen, dafür braucht ihr die Zahl Pi nicht zu kennen. Schreibt es bitte auf, und ich guck mir gleich die Ergebnisse an!"

So verging auch diese Stunde mehr oder weniger zum Thema Erdbeben im Indischen Ozean. Ins Klassenbuch trug er ein, dass sie über die Verdrängung von Wasser durch sich darin bewegende Steine bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten gesprochen hatten und auch, wo es die häufigsten Erdbeben gab. Das sollte dann deren Heimatkundelehrer lesen, wo es in den französischen Überseegebieten ja doch auch Erdbeben und Vulkanausbrüche geben konnte.

Nach der sechstenStunde bekam er mit, dass Claudine von ihrer Mutter abgeholt wurde. Catherine mentiloquierte ihm: "Sie hat es amtlich und soll zusehen, wie ihre Eltern nach Hause geholt werden sollen." Claudine erzählte, dass sie am Morgen gelernt hatten, wie "so eine Tsunami-Welle" ging.

"Dann geh mal davon aus, dass dich die anderen Kollegenin den nächsten Tagen immer dazuholen, wenn sie gefragt werden, ob den anderen das jemand erklären kann", lachte Catherine. Dann suchte sie mit Claudine das Postamt auf, um mit ihr per Flohpulver nach Hause zu reisen.

Am Nachmittag kam Laurentine kurz herüber und erzählte, was sie am Morgen erlebt hatte und dass sie durch den Geheimausgang des Außenministers nach draußen gehen durfte. "Ja, und zwei Stunden später kriege ich ein Fax von der werten Mademoiselle Moulin, dass Bouvier die Wahl hatte, das Ministerium ohne weiteres Aufsehen zu verlassen oder wegen der unberechtigten Beschaffung vertraulicher Daten festgenommen und angeklagt zu werden. Offenbar hat der irgendwelche Kanäle angezapft, die ihm gemeldet haben, dass meine Eltern gefunden wurden. Tja, falls er jetzt weiter auf die Pauke haut geb ich das an die nette Dame aus dem Außenministerium weiter, und er verliert womöglich das Mandat."

"Ist die Frau mit Hercules Moulin verwandt?" fragte Julius. Laurentine erwähnte, dass sie keine großen Ähnlichkeiten mit ihm oder dessen Vater erkannt hätte. So ging Julius davon aus, dass sie eben keine Hexe sei, sondern eben nur was gegen rechthaberische und einmischungssüchtige Rechtsanwälte habe. "Das kommt wohl hin", erwiderte Laurentine belustigt,obwohl der Anlass kein erfreulicher war.

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In den Hallen des Herrschers unter dem Berg, 04.01.2005 kurz vor Sonnenaufgang

Malin Eisenknoter mochte diese Stunde nicht. Zwischen Nachtende und erstem Morgenrot fühlte er sich immer so niedergeschlagen. Auch wenn er meistens in den Tiefen der Höhlen weilte, wo nur das Licht der Fakclen oder flammenlosen Zauberlichter brannte, fühlte er doch, wann die Sonne aufging, und dass Nacht und Tag ihren lautlosen Kampf um die Herrschaft über die Welt führten. Dieser Kampf dauerte ewig, solange dieses Himmelsfeuer bestand, wusste Malin. Die auf der Erde herumlaufenden verehrten dieses grelle Feuerding am Himmel, weil es ihnen Wärme und Nahrung verhieß. Auch unter der Erde gab es welche, die gerne mal die Blätter grüner Pflanzen aßen, und natürlich ehrten sie das Holz der Bäume als schnell verfügbarer Bau- und Brennstoff. Doch die meisten lebten von den vielen unterirdischen Geflechten und entzündeten die Kohle, in der laut den Gelehrten die Kraft uralter Sonnentage eingesperrt war, die durch das Brennen nach und nach freikam. Woher die Kohlensteine diese Sonnenkraft hatten wusste niemand wirklich.

"Mein Sohn, komm bitte zu mir in den unhörbaren Raum!" erklang Mirus Stimme in seinen Ohren. Seine Mutter hatte den Zauber der gerichteten Stimme benutzt, den nur Angehörige der Sängerzunft oder der Botenzunft kannten. Damit konnte sie die, an die sie dachte, aus viele tausend Manneslängen Ferne ansprechen. Er hatte diesen Zauber von ihr gelernt, von wegen Blutstreue. Da war er noch ein Kleinling zwischen Geburt und Mannesschmiede. So besann er sich auf die geheimen Worte, ließ sie als besondere Klangfolge in seinem Kopf ertönen, bis er meinte, dass sie besonders laut schallte. Dann sagte er: "Ja, geehrte Mutter, ich komme zu dir!"

Der unhörbare Raum war eigentlich ein kleiner Vorratsraum ohne Fenster in den weiten Hallen des Herrscherpalastes unter den Bergen. Doch Miru Silberstimme, seine Mutter, hatte es auf ihre eigene Weise hinbekommen, dass der Raum jedes in ihm gesprochene Wort für sich behielt. Niemand von außen konnte hören, was drinnen gesagt oder welcher Laut gemacht wurde. Nicht mal die von den Kundschaftern benutzten Steine der Beobachtung konnten erfassen, was in diesem Raum geschah. So brauchte Malin die massive Steintür nur von innen zuzuschieben und die armdicken Riegel aus beruntem Eisen vorzulegen. Nun war der Raum uneinsehbar und unabhörbar.

Den Namen Silberstimme trug Miru trotz des fortgeschrittenen Alters zurecht. Das lag daran, dass sie aus der Familie der Sangesfreudigen die Geheimrezepte kannte, um ihre Stimme glatt und kräftig zu halten. Einst war sie das Juwel der freien Tänzerinnen gewesen, bis der König sie vor mehr als hundert Zeugen als seine Frau eingefordert hatte. Miru hatte da nur die Wahl zwischen Ablehnung und Verbannung in ein anderes Reich oder Zustimmung und fragwürdige Vorrechte im glitzernden Käfig des Herrschenden gehabt. Sie hatte die zweite Möglichkeit gewählt. Deshalb gab es Malin und seine drei Brüder und vier Schwestern. Doch nach der vierten Schwester hatte der König die Lust an seiner vielbegehrten Frau verloren. Sie hatte es zugelassen, dass er auch mit anderen Tänzerinnen "tanzte" und sich von dienstbarenMägden jeden Wunsch erfüllen ließ. Deshalb trauerte sie ihrem Mann nicht nach. Was ihr jedoch Sorgen machte war dessen Nachfolge.

"In wenigen Tagen sollst du gegen Ontwarins Brudersohn im Drei-Höhlen-Kampf antreten. Ihr dürft dabei nichts am Leib tragen als Leinenstoff und nur mit dem Kämpfen, was ihr in den Höhlen findet, falls keiner von euch in einen der Todesschächte stürzt oder einen Steinregen auslöst oder zwischen zwei zusammenschiebende Steine gerät. Was glaubst du, warum dieser Feuerbändiger sich sicher ist, in diesem Kampf zu gewinnen?" fragte Miru.

"Wenn er nichts aus Metall mit hineinnehmen und auch kein von natürlichem Feuer oder Lichtzauber erfüllten Leuchtkörper mitnehmen darf wird's schwer. Aber ich denke, er wollte den ihm am schwierigsten erscheinenden Kampf zuerst ausfechten. Mein Vater sagte mal: "Wenn du das größte Ungemach siehst, lauf ihm nicht davon, sondern ihm entgegen und brülle ihm deinen Siegeswillen in die Ohren!" sagte Malin.

"Jaja, dein Vater, der Freund aller Tänzerinnen, hat diesen und noch solche hammerschlagartigen Reden geschwungen, mein Sohn. Vielleicht stimmt es sogar, was Feuertreter angeht. Aber ich glaube das nicht. Seine Zugesprochene, dieses rothaarige Weib mit einem Hang zum lauten Lachen, meinte, dass er alle Feuer beherrsche, die die Welt entzünden könne."

"Ich wusste bis zu seiner Herausforderung nicht, dass Norin der Neffe von Ontwarin ist", grummelte Malin. "Wofür du schon mal vor bleierner Unwissenheit im Boden versinken solltest. Gut, sein Oheim hat es tunlichst verhüllt, dass sein Bruder eine Schmiedetochter erworben hat und er deshalb seinen ersten Sohn den Feuerbändigern überlassen hat. Aber wenn Norin Feuertreter gewinnt, mein Sohn, dann wird nicht er der Herrscher sein. Auf dem ehernen Stuhl wird zwar sein Hinterteil ruhen, aber der Kopf wird auf Ontwarins alten Schultern sitzen. Deshalb wird Ontwarin ihm sicher verbotene Einsichten gewähren, wie er diesen Kampf bestehen kann. Denn in den goldenen Hallen der Erinnerungen liegen sicher auch geheimgehaltene Geschichten von früheren Drei-Höhlen-Kämpfen."

"Das mag sein, Mutter. Aber worauf willst du hinaus?" wollte Malin wissen.

"Das er sich Zaubersinne aneignen könnte, die das im Dunkeln sehen der Zwerge übertreffen. Schon was vom auf kleiner Glut brennendem inneren Lebensfeuer gehört?" fragte Miru.

"Ja, bei Vaters letzter Fahrt", erwiderte Malin. Seine Mutter blickte ihn verdrossen an. "Eigentlich hätte ich dich noch drei Jahre länger mit meiner Milch ernähren sollen, damit du auch die wichtigen Dinge des Lebens erlernst, und nicht nur das Gepränge der Meister und Königsdiener", grummelte sie. "Also, das innere Lebensfeuer ist das, was jeden von uns mit eigener Wärme durchdringt und dafür sorgt, dass wir in der Kälte nicht erstarren wie die beinlosen Tiere in den Eishöhlen. Es strahlt ein für übliche Sichtweise unsichtbares Licht aus, genauso wie das erhitzte Eisenstück vor der tiefroten Glut schon eine starke Hitze ausstrahlt. Vielleicht kennt Norin einen Zauber, um diese Vorhitze wie helles Licht sehen zu können. Du hast bei den Schmieden auch einige Feuerzauber erlernt. Aber so ein Vorglutsichtbarkeitszauber ist dir offenbar nicht untergekommen."

"Woher kennst du die Geheimnisse des geschmiedeten Eisens, Mutter?" fragte Malin und erstarrte, weil ihn in dem Moment das Herz raste und sein Bauch verkrampfte. Das kam immer, wenn er einen Argwohn oder Groll gegen seine Mutter hegte. Schlimmer war es aber, wenn sie ihm einen Befehl erteilte und er zuerst dagegen aufbegehren wollte. Das wusste die auch und nutzte es, ja hatte es ganz sicher in ihm eingefügt, wie ein Schmied zwei Metallstücke zu einem Gegenstand zusammenfügen kann. Deshalb tat ihm jetzt auch noch der Kopf weh. Miru sah ihn mit ihren dunkelbraunen Augen belauernd an. Erst als er sich wieder entspannte und beschloss, keinen weiterenArgwohn zu empfinden, erholte sich sein Körper schlagartig wieder.

"Wenn es so einen Sinneszauber gibt, der nicht auf einen Gegenstand gelegt werden muss, dann muss ich den noch lernen und am besten noch einen, der meine eigene innere Lebensglut für andere unsichtbar macht", sagte er. "Genau das habe ich von dir seit mehreren Tagen erwartet. Du hast nur noch zwei Tage Zeit um vorbereitet zu sein. Du musst siegen, gegen Norin, gegen Onur und gegen diesen kriecherischen Bartputzer Gloin Zangenschmied. Du musst unter allen Umständen König unter den Bergen werden, Malin Eisenknoter. Denn sonst landen deine Brüder als niedere Knappen in den Minen, deine Schwestern werden den nächstbesten Frauenlosen angeboten und deine Iru und ich werden vom neuen König entweder auf dem Markt der Witwen verkauft oder gleich in das Haus der wertlosenWeiber gesteckt, wo wir nur noch auf den Tod warten können." Jedes Wort von Miru Silberstimme war wie ein Axthieb in Malins Seele. Jede Aussicht, was ihm und was ihr geschehen würde schmerzte ihn körperlich vom Bauch bis unter die Schädeldecke. So konnte er nur unter großen Anstrengungen sagen: "Ja, Mutter, ich werde siegen, um mein Blut zu schützen." Dann konnte er sich nur mit jener eisernen Selbstbeherrschung auf den Beinen halten, die er bei den Schmieden eingeprägt bekommen hatte.

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Millemerveilles am Nachmittag des 04.01.2005

Millie, Béatrice und Julius Latierre begutachteten die ihnen zugeschickten Entlohnungspunktelisten, die in Form kleiner Notizbücher zugestellt worden waren. Um sie zu nutzen mussten die damit versorgten alle Finger ihrer Zauberstabhände auf einen silbernen Metallstreifen auf dem dunkelgrünen Einband legen und ihren vollständigen Namen nennen. Dabei fühlten sie, wie kleine Nadeln in die Finger stachenund vibrierten. Das war einer von vielen möglichen Blutbindungszaubern, der in Verbindung mit der Nennung des Namens dafür sorgte, dass niemand sonst den damit bezauberten Gegenstand benutzen konnte.

Wie Colbert es vollmundig angekündigt hatte erhielt jeder ein Startguthaben von 1020 Entlohnungspunkten. Jeder Punkt stand für den Wert einer sickel.

Millie bekam auch die kleinen Bücher für jede der drei schon geborenen Töchter. Um diese Bücher zu aktivieren musste sie laut beigefügter Bedienungsanleitung nur das mit dem Namen des Kindes beschriebene Büchlein auf das bereits in Kraft gesetzte Hauptverzeichnis legenund bei aufgelegter Hand sagen: "Ich bin die Mutter von ..." Da Julius Millies Familiennamen angenommen hatte wurde sie offenbar als Familienoberhaupt geführt. Er grinste, weil er sich vorstellte, wie Bruno dreinschauen würde, weil er Jeannes Nachnamen angenommen hatte und deshalb sie das Familienoberhaupt war.

"Es ist schon merkwürdig, wie schnell die diese Einstimmungsbezauberung hinbekommen haben. Ich meine, es gibt doch an die hunderttausend Hexen und Zauberer in Frankreich mit Überseegebieten", meinte Julius. Béatrice wusste darauf die richtige Antwort: "Das ist ähnlich wie beim Zauber mit den Broschen, Julius. Allerdings muss hierfür eine größere Menge des zu bezaubernden Metalls genommen und in einem aus dem Blut von je sechs Hexen und sechs Zauberern gezeichnetem Kreis mit eingewirkten Mondphasensymbolen oder Runen für die Himmelsrichtungen dem betreffenden Gestirn vom Aufgang bis zum Untergang ausgesetzt werden. Danach genügt es, die betreffenden Gegenstände mit einem Zehntausendstel des bezauberten Metalls zu versehen. Die erste Stufe begrenzt die Mehrlinge des mit dem Zauber versehenden Gegenstandes auf höchstens zwei Jahre, eben wie bei den Broschen, bevor er erneuert werden muss. Bei der zweiten Stufe des Zaubers kann ein Gegenstand solange benutzt werden, wie der betreffende Mensch von Blut durchströmt wird. In jedem Fall muss ein auf einen bestimmten Menschen geprägter Gegenstand in die Nähe dessen Blutkreislaufes kommen und dessen wahrhaftigen Namen erfassen, um wie gewünscht zu funktionieren. Er saugt dem Träger beim Tragen ein Tausendstel der Ausdauer ab, die in der Zeit, wo der Gegenstand am Körper getragen wird, verbraucht wird. Also fühlt niemand sich dadurch erschöpft. Deshalb gilt dieser Zauber nicht als dunkle Kunst und wird sogar von der Heilzunft in festgelegten Grenzen verwendet."

"Was heißt, wenn ich sterben sollte erlischt die Liste?" fragte Julius. Béatrice verneinte es. "Womöglich kommt dann auf das oberste Blatt nur die Bemerkung: "Nutzungsberechtigter verstorben". Millie verzog ihr Gesicht. Dass eine Hexe, die gerade selbst ein Kind erwartete so locker über beim Tod eintretende Sachen reden konnte verstimmte sie ein wenig. Doch sie sah ein, dass Julius nun einmal alles über ihm vorgeführte Zauber wissenwollte. Sie und Béatrice waren da ja nicht besser. "Der Zauber stammt übrigens aus Ägypten, wurde aber von römischen Magiern und Hexen übernommen und entsprechend umformuliert. Damit können übrigens noch mehr Sachen, die vervielfältigt werden sollen, hergestellt werden."

"So ähnliche Zauber gibt es auch in der Erdmagie des alten Reiches", mentiloquierte Julius nun an Béatrice, wohl wissend, dass Millie es auch mitbekam. Millie schickte deshalb an beide gleichzeitig zurück: "In der Feuermagie aus dem alten Reich gibt es auch mehrere Zauber, die Blut zu Feuer werden lassen oder das langsam in jedem lebendigen Wesen brennende Feuer betreffen."

Im Verlauf des Nachmittags erfuhr Julius, dass auch die Dusoleils und Delamontagnes ihre Gutschriftenlisten bekommen hatten. Für die nun mehr als ausreichend mit Kindersegen bedachten Familien war es eine langwierige Sache, sämtliche Gutschriftslisten für alle minderjährigen Kinder zu aktivieren. Laurentine Hellersdorf kontaktfeuerte die Latierres nach dem Abendessen. Sie erwähnte, dass der Anwalt Bouvier offiziell das Mandat niedergelegt habe, angeblich weil ihm alle Grundlagen fehlten, die Sache vor dem Nachlassgericht durchzufechten. "Offenbar wurde ihm mitgeteilt, dass das Gericht ihn dann auch fragen würde, woher er wusste, dass meine Eltern tot aufgefunden wurden. Aber irgendwie sieht es verdammt danach aus, als wenn das Zaubereiministerium wieder mal dran gedreht hat. Öhm, falls du das genauer weißt, Julius, dann nicke einfach nur. Du musst es mir nicht erklären, wer da wie dran beteiligt war. Aber sicher wissenmöchte ich schon, ob ich jetzt erst mal aus dem Schneider bin, ich meine, ob ich jetzt sicher bin, dass da nicht doch noch was nachkommt."

"Du kannst Madame Belle Grandchapeau anschreiben und fragen, ob das Ministerium dir in irgendeiner Weise beistehen kann, um die Geheimhaltung der Zauberei zu sichern. Dann kriegst du vielleicht eine Antwort, ob da schon was gedeichselt wurde", erwiderte Julius. "Also, ich selbst weiß nichts von einer direkten Aktion aus dem Ministerium. Aber Madame Nathalie Grandchapeau weiß natürlich, dass deine Eltern gefunden wurden. Insofern ist es nicht abwegig, dass sie schon wen darauf angesetzt hat, dass es keine unerwünschten Veröffentlichungen gibt."

"Wo Belles Maman so gut auf mich zu sprechen ist", grummelte Laurentine. Julius erwiderte darauf nur: "Was immer sie noch gegen dich haben sollte, die Enthüllung der Zaubererwelt wird sie dafür nicht riskieren."

"Womit du mir die Frage gerade beantwortet hast, Julius Latierre geborener Andrews", grummelte Laurentine. Dann wünschte sie allen noch einen erholsamen Abend. Ihr Kopf verschwand aus dem Kamin.

"Das ist doch eindeutig, dass Demetrius' wandelnde Dauerherberge in dem Moment was angeleiert hat, wo klar war, dass Laurentines Eltern gefunden wurden, allein schon, um sicherzustellen, ob die nicht irgendwas angestellt haben, was nach ihrem Tod die Zaubererwelt betrifft", sagte Millie. Julius wollte und konnte nicht widersprechen.

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Europa zwischen dem 05. und 07.01.2005

Nicht nur in Frankreich waren Notfallpläne in Kraft getreten, um den Handel innerhalb der Zaubererwelt in gewisser Weise zu erhalten. Auch in England, Deutschland und anderen Ländern wurden Tauschvereinbarungen umgesetzt, die später in die betreffenden Werte Gold und Silber umgerechnet werden konnten. Allerdings gefiel es etlichen Zaubererfamilien nicht, derartig vom eigenen Vermögen abgeschnitten zu sein, bestenfalls eine schriftliche Versicherung des jeweiligen Zaubereiministeriums zu haben, dass sie bald wieder an ihre Werteinlagen herankommen mochten. Es gab Protestkundgebungen in den Einkaufsstraßen der Zaubererwelt. Viele stellten sich vor die geschlossenen Tore von Gringotts und riefen: "Tore auf, wir wollen rein!" oder "Gebt unser Gold frei!"

Offenbar gingen etliche nicht gerade arme Zaubererfamilien davon aus, die Kobolde wollten sie erpressen, bessere Bedingungen für die Goldverwahrung zu bekommen. Auch hatte in Deutschland jemand in Umlauf gesetzt, die Geschichte mit den erdmagischen Auswirkungen sei von Heller, dem koboldstämmigen Handelsabteilungsleiter, frei erfunden worden, um den Kobolden bessere Handelsbedingungen zu verschaffen. zumindest bekam Julius und jeder mit Arkanetanschluss das in der täglichen Rundmail von Bärbel Weizengold. Das, so dachte Julius, erinnerte ihn schon stark an die Behauptungen der Goldblütenhonigverweigerer in Millemerveilles während der Dämmerkuppelzeit. Allerdings gab es auch Stimmen, die klarstellten, dass die Woge aus ungerichteter Erdmagie wahrhaftig durch die ganze Erde gelaufen war. Da mochten sich dann zwei oder drei Meinungen bilden, die in der näheren Zukunft noch einige Probleme bereiten mochten.

Was frankreich anging sprach es sich trotz aller Diskretion doch herum, dass die Zweigstelle von Millemerveilles von den Auswirkungen der Erdmagieentladungen verschont geblieben war, jedoch nur die dort ein Verlies besitzenden mit Galleonen, Sickel und Knuts versorgte. Das führte dazu, dass der Miroir Magique am Morgen des 6. Januar titelte:

MILLEMERVEILLES, INSEL DER RUHE UND SORGLOSIGKEIT

Millie Latierre sah sich deshalb veranlasst, in einem Artikel der Temps zu erwähnen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner Millemerveilles zwar weiterhin koboldgeprägtes Münzgeld benutzen konnten, das aber eben nur innerhalb der Grenzen von Millemerveilles. Zahlungsanweisungen an auswärtige Geschäfte oder Dienstleister seien auch von Millemerveilles aus unmöglich.

Wir mögen vielleicht weniger Sorgen um Essen, Trinken, Haus und Garten haben. Doch wer von uns einen neuen Ganymedbesen braucht oder wegen der vielen neu dazugekommenen Kinder Gebrauchsgegenstände aus Paris, Avignon oder gar aus Übersee haben möchte ist genauso auf Colberts kleine Kontobücher angewiesen wie jede Hexe und jeder Zauberer außerhalb von Millemerveilles. Sich jetzt in Neid und Anfeindungen zu ergehen schürt nur unnötigen Unfrieden und nützt nur denen, die die Lage ausnutzen wollen, um alles zu zerstören, was unsere Vorfahren und wir in den letzten Jahrhunderten erreicht haben. Bitte bedenken Sie das alle. Millemerveilles ist keine Wohlstandsinsel.

Von den Kobolden aus Millemerveilles erfuhr Madame Delamontagne, die mit diesen unterhandeln durfte, dass die weltweiten Nachrichtennetze erst langsam wieder aufgebaut werden konnten. Pierroche, der Leiter der Zweigstelle Millemerveilles, erwähnte, dass es wohl bis zum März oder April dauern mochte, bis jede Gringotts-Zweigstelle auf der Welt wieder mit jeder anderen und mit jeder anderen Koboldinstitution Kontakt bekam. Eleonore meinte in Anwesenheit des vollständigen Gemeinderates von Millemerveilles, dass Pierroche gewisse Bedenken habe, dass es unter den Kobolden zu Streitigkeiten und Missgunst kommen mochte, je danach, wer schneller seine eigenen Betriebe wieder in Gang setzen konnte. Ja, auch bei den Kobolden in Paris gab es eine gewisse Missstimmung gegen die Kollegen in Millemerveilles. Dennoch wollten sie die noch frei handlungsfähige Zweigstelle nutzen, um zumindest in Frankreich wieder ein funktionsfähiges Netzwerk zu schaffen. Allerdings, so hatte Pierroche es Madame Delamontagne erzählt, müssten sich die Kobolde von Millemerveilles auch vor der geheimen Überwachungstruppe der Kobolde in Acht nehmen. Die sei ja ebenfalls kalt erwischt wordenund entsprechend paranoid, was die Urheber der Katastrophe anginge. "Pierroche wollte wissen, ob wir ihm und allen seinen Kollegen und deren direkten Angehörigen sowas wie eine unantastbare Zuflucht in Millemerveilles gewähren, auch dann, wenn seine eigenen Artgenossen ihnen zusetzen sollten. Immerhin seien wir ja für ihn und seine Leute verantwortlich, da er nicht von sich aus aus Millemerveilles abziehen könne", beschloss Eleonore ihren Bericht über die letzte Unterredung mit Pierroche.

Was auf jeden Fall als positive Meldung in allen Zaubererweltmedien gefeiert wurde war der Spendenaufruf für die vollständig mittellos gewordenen Hexenund Zauberer in Australien, den Großbritanniens Zaubereiminister Shacklebolt gestartet hatte. Wenn jede Person aus der magischen Welt ein Tausendstel des Goldvermögens nach Australien schickte, um denen dort beim Wiederaufbau ihres Handelssystems zu helfen, dann sei schon etwas großes geschafft, so Shacklebolt bei einer Pressekonferenz am Morgen des sechsten Januars. Sicher, im Moment kam außer den Einheimischen von Millemerveilles niemand an Zauberergold heran. Doch die Geste war groß, und sicher würden sich die Hexen und Zauberer Australiens darüber freuen. Julius meinte dazu abends zu Béatrice und seiner Frau: "Gold nach Australien schicken, lustig! Ist so, als wenn Jamaika und Barbados ihren Rum nach Kuba exportieren würden." Darauf erwiderte Béatrice: "Wenn in Kuba alle Zuckerrohrfelder veröden und alle Rumvorräte durch einen Flächenbrand vernichtet werden würden die Kubaner froh sein, von wem anderem Rum zu bekommen." Julius bejahte das. Diese Hexe konnte trotz voranschreitender Schwangerschaft immer noch auf jeden Topf den passenden Deckel setzen. Das mochte er genauso wie bei seiner angetrauten Ehefrau.

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Büro von Handelsabteilungsleiter Badhurst im australischen Zaubereiministerium, 07.01.2005, 10:20 Uhr Ortszeit

Ministerin Rockridge sah ihren Untergebenen Phodopus Badhurst sehr interessiert an, als dieser mit einem Zauberstabwink alle Außenansichtsfenster verdunkelte und dann an der ihr gegenüberliegenden Wand eine aus sich selbst leuchtende weiße Fläche erscheinen ließ. Auf dieser weißen Fläche entstand nun eine farbige Landkarte von Australien und Neuseeland. Die Ministerin sah sofort, dass bestimmte Stellen auf der Karte hervorgehoben waren. In golden leuchtenden Kreisen standen die Namen ministeriumseigener Goldminen. In hellblauen Kreisen standen die Namen für insgesamt fünf Diamantminen, die Badhursts Aussage nach im Besitz des Ministeriums waren, aber bis zum 26. Dezember von Kobolden überwacht wurden.

"Und haben sich viele beklagt, dass sie ihr Gold nicht mehr wiederbekommen?" fragte die Ministerin ihren Handels- und Finanzfachzauberer.

"Ich habe die entsprechenden Beschwerde- und Rückforderungsschreiben an Coolidge, Piennyford und Silverspoon delegiert, Ministerin Rockridge. Immerhin haben unsere Landsleute es hingenommen, dass bis auf weiteres nicht mit Gold, sondern mit verbriefter Arbeitszeit bezahlt wird. Im Grunde genommen - was ich ja schon einen Tag nach diesem Erdzauberchaos gesagt habe - können wir Australier aus der Sache noch besser rauskommen als ein Phönix aus der eigenen Asche."

"Sie meinen, weil mit einem Schlag alle Kobolde in Australien ausstarben und damit auch die mit diesen bestehenden Abkommen bezüglich der Rohstoffgewinnung und alle Schulden, die wir wegen der Schlangenmenschenpest bei denen Hatten?" fragte die Ministerin ernst. "Ja, so meinte ich das. Die von unser beider Amtsvorvorvorvorgänger vor zweihundert Jahren eingegangenen Verpflichtungen zur "Wahrung magischer Vermögenssicherheit und Handelsgrundlagen" galten nur für die aus Europa herübergekommenen Kobolde und ihren auf australischem Boden geborenen Nachkommen. Damals mussten sie auf Druck aus London dieses Abkommen schließen, damit die britischen Kobolde nicht herumzickten. Damals war ja noch nicht klar, wie viele Bodenschätze dieser Wüstenkontinent in sich trägt. Als das rauskam haben die hier zugewanderten Kobolde das natürlich sofort ausgenutzt, das mit denen bestehende Abkommen auch auf die Förderung hiesiger Gold-, Silber- und Diamantvorkommen zu erweitern. Aber der Vertrag mit denen besagt, dass die Überwacher mindestens zehn Jahre lang auf diesem Erdteil gelebt haben oder hier geboren worden sein müssen. Tja, und jetzt, wo ausnahmslos alle Kobolde dieses Inferno nicht überlebt haben ist der Vertrag hinfällig geworden. Das heißt, wir müssen nicht mehr zehn bis fünfzehn Prozent der geförderten Menge an diese raffgierigen Spitzohren abtreten, um weiterhin kreditwürdig zu bleiben. Ja, und was die Diamanten angeht, so habe ich dank einiger kluger Leute aus meinem Mitarbeiterstab erfahren, dass gut geschliffene, schwere Diamanten ihr zehnfaches Gewicht in Gold einbringen können, wenn sie besonders einzigartig beschaffen sind und den Muggeln als besondere Schmucksteine mit Geschichte oder Seltenheitswert untergejubelt werden können. Für das Geld von denen können wir bei denen wiederum Gold einkaufen, das wir dann in dieser Mine einlagern können." Er deutete auf einen orangeroten Kreis, in dem in Rundschrift "Geheimer Keller" stand. "Da habe ich seit meinem Amtsantritt einiges an diesen raffgierigen Langfingern vorbeigeschmuggelte Gold und vor allem Diamanten einlagern lassen. Da können wir auch von den Muggeln gekauftes Gold einlagern. Außerdem können wir in allen Minen die Fördermenge nun auf den siebenfachen Tageswert steigern, haben meine Goldförderungsexperten bekräftigt. Wir müssen dafür nicht mal zusätzliches Personal einstellen oder dem vorhandenen Personal mehr Arbeitszeit auferlegen. Somit besteht die Möglichkeit, innerhalb eines Vierteljahres einen Goldvorrat anzulegen, der mehr als ausreichend ist, eigene Münzen zu prägen und in Umlauf zu bringen. Und das dollste kommt noch, Ministerin Rockridge", sagte Badhurst mit einen gewissen Grinsen. Dann deutete er mit seinem Zauberstab auf den Bereich, wo Sydney lag. Dieser Ausschnitt vergrößerte sich auf die gesamte Kartenoberfläche. "Wir haben die Möglichkeit, die in Gringotts verschütteten Gold-, Silber- und Bronzevorräte wieder auszugraben. Ich habe zehn Wünschelrutengänger aus meiner Golderschließungsbehörde hingeschickt, die bei Nacht und Dunkelheit nachgeprüft haben, ob das in den Verliesen gelagerte Gold noch im Krater steckt. Zwar mussten wir davon ausgehen, dass es einen Unortbarkeitszauber gab, der verborgenes Gold versteckt, gingen aber völlig zurecht davon aus, dass auch dieser Zauber mit der Bausubstanz von Gringotts und den darin eingelagerten Zaubern zerstört wurde. Sie haben tatsächlich hohe Gold- und Silberkonzentrationen erpendelt, die wir nun so heimlich es geht wieder ausgraben können. Sicher, das ist nicht ganz ungefährlich, weil die tiefen Stollen von Gringotts viele Meilen unter die Erde reichen und immer noch die Gefahr besteht, dass die äußeren Stollen einbrechen und womöglich was von oben nachrutschen kann. Aber soweit der Bericht meiner Fachleute es hergibt besteht die Möglichkeit, an die Edelmetallvorräte heranzukommen und sie zu bergen. Allerdings darf das zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand wissen, weil wir sonst eine Horde Schatzjäger am Hals haben, die versuchen, sich durch den Krater von Gringotts zu wühlen. Brauchen wir nicht wirklich." Die Ministerin nickte. Dann meinte sie jedoch, dass auch andere auf die Idee kommen könnten, dass das in Gringotts eingelagerte Gold und Silber als Edelmetallvorkommen noch existieren mochte.

"Für den Fall habe ich schon die passende Geschichte parat, die ich so leuten wie Peppermill zum Fraß vorwerfenlassenkann, nämlich die, dass die Goldvorräte durch einenFluch der Kobolde unergreifbar tief im Boden liegen und nicht mehr gehoben werden können, gemäß dem Grundsatz: "Wenn wir nicht mehr drankommen soll auch niemand anderes drankommen.""

"Ah, deshalb ist mir die gute Ginger gerade über den Weg gelaufen, als ich auf dem Weg zu Ihnen war, Phodopus", sagte die Ministerin.

"Stimmt, ich habe diese Geschichte mit ihr ausgetüftelt, gerade um die besonderen Herrschaften unserer Zaubererweltpresse so richtig in Schwung zu bringen. Ja, und während alle glauben, dass das Gold in Gringotts wahrhaftig unwiederbringlich verloren ist buddeln meine Leute sich von weiter außen zu den Stollen durch und knacken die eingestürzten Verliese. Was wir dort finden wird dann erst mal im Geheimkeller eingelagert. Wie erwähnt, das könnte uns helfen, wie ein frisch der eigenen Asche entschlüpfender Phönix aus dieser bedenklichen Lage herauszukommen. Es darf außer uns und den darauf mit unbrechbarem Eid einzuschwörenden niemand wissen."

"Sie sind ein Schlitzohr, Phodopus. Aber genau deshalb sind Sie der richtige auf Ihrem Posten", sagte die Ministerin verhalten begeistert. Denn ihr fiel noch was ein. "Was ist, wenn die Kobolde wirklich einen Fluch auf jedes ihrer Verliese gelegt haben, dass nur die Inhaber des rechtmäßigen Schlüssels etwas dort herausholen dürfen?"

"Auch wenn das zu den schlimmsten Minuten meines Lebens gehörte, genau zum Zeitpunkt der Katastrophe in Gringotts gewesen zu sein, bin ich jetzt um so zuversichtlicher, dass wirklich alles, was die Kobolde an Magie dort eingelagert haben, durch die Erdzauberkommotion restlos entladen wurde. Was meinen Sie, Latona, weshalb die europäischen Kobolde ordentliche Zauberstabträger als Bodenschatzerschließer oder Fluchbrecher anstellen, weil die gegen nicht auf Erdmagie bauenden Flüche nichts ausrichten können und im Umkehrschluss nichts bewirken können, ohne Erdzauber einzubeziehen. Wenn die sich aber restlos entladen haben, somit auch jede Vorkehrung der Kobolde, um Unbefugten die Mitnahme nicht ihnen gehörenden Goldes zu verderben. Aber wie erwähnt muss das niemand erfahren, weil wir sonst die ganzen Schatzjäger Australiens in den Gringotts-Krater locken."

"Ja, und die Kobolde in Europa, Amerika und Indien?" wollte die Ministerin wissen.

"Ach, sie meinen, die könnten Ansprüche auf die Verbindlichkeiten erheben, die wir Australier mit deren hier wohnhaft gewesenen Artgenossen hatten? Tja, dagegen steht der Vertrag von Red Plains im Jahre 1820. Nur Kobolde, die bereits zehn Jahre auf australischem Boden leben oder hier geboren wurden dürfen unsere Bodenschätze ausschöpfen und unser aller Gold hüten und genauso Kredite ausschließlich an australische Hexen und Zauberer vergeben und deren Schulden eintreiben. Falls also wer aus London meint, mal eben zu uns herüberkommen zu dürfen und im Namen der hier bedauerlicherweise verstorbenen Kollegen Ansprüche gemäß der multikolonialen Übereinkunft englischsprachiger Hexen, Zauberer und Kobolde erheben zu dürfen, kriegt den Orginalvertrag unter die Nase gehalten und darf gleich nach Hause, den Kollegen beim weiter aufräumen helfen", sprach Badhurst mit unüberhörbarer Überlegenheit.

"Das genau meinte ich, inwieweit Gringotts in London finden könnte, die Erbansprüche aus der Kolonialzeit aufrechtzuhalten. Immerhin könnten sie ihre Abteilung für magische Geschöpfe einschalten und die internationale Zaubererweltföderation anrufen, dass sie die Kollegen bei uns in Australien ersetzen dürfen."

"O, da sagen Sie was, Ministerin Rockridge. Auch wenn es mir nicht zusteht, diese Bitte an Sie heranzutragen, wäre es für Sie, mich und alle Hexen und Zauberer Australiens sehr vorteilhaft und sicher, wenn Sie mit der Kollegin Flatfoot klären, dass wir bis auf weiteres ein Einreiseverbot für nicht in Australien heimische menschenähnliche Zauberwesen erwirken und das auch mit allem Nachdruck durchsetzen. Ich hatte zwar vor, mit Mrs. Flatfoot selbst darüber zu reden, aber dann hätte ich sie in unseren Plan "Goldphönix" einweihen müssen. Auch wenn die Kollegin Flatfoot an sich sehr diskret ist möchte ich das nicht von jedem ihrer Mitarbeiter aus der Zauberwesenbehörde sagen. Da wäre es schon günstiger, wenn Sie, Frau Ministerin, einen Ministerialerlass erwirken, dass wir uns im Moment vor möglichen Nachstellungen ausländischer Kobolde schützen müssen, die sicher glauben, mit uns leichtes Spiel zu haben."

"Ich habe mit Mrs. Flatfoot schon gesprochen. Sie erwähnte, dass sich im Moment wohl kein Kobold zu uns hintraut, wenn herauskommt, dass keiner von denen die Katastrophe überlebt hat. Ich erkenne die Möglichkeiten in Ihrem Vorhaben und finde auch, dass wir aus dieser Notlage eine Stärkung machen und uns von der Gnade oder Ungnade dieser aufsässigen, gierigen Zauberwesen unabhängig machen sollten, wenn wir wirklich die Möglichkeit haben, unser eigenes Geld zu verwalten und den Wert unseres Goldes zu bestimmen. Ich werde also mit Tharalkoo reden, dass sie entsprechende Vorkehrungen treffen lässt. - Ja, natürlich müssen wir auf der Hut vor rachsüchtigen Kobolden sein, wenn die ergründen, wo der Ursprung jener Magieentladungen liegt, denen sie ausgesetzt wurden. Ja, doch, das ist eine ausreichende Begründung für ein Koboldeinreiseverbot."

"Ich bin erfreut, dass wir uns in dieser Sache völlig einig sind, Ministerin Rockridge", sagte Badhurst erleichtert. Dann beschrieb er ihr noch, mit welchen personellen und zaubererwelttechnischen Mitteln die Steigerung der Goldförderung und der Verkauf der Diamanten in die Muggelwelt verwirklicht werden sollte. Nach zwei Stunden Vorführung und Fragestunde verließ die Ministerin das Büro ihres Handelsabteilungsleiters wieder. Dieser grinste und dachte daran, dass die Kobolde weltweit wohl jetzt vor dem großen Problem standen, ihre Ansprüche aufrechtzuhalten. Nur waren die Gringotts-Filialen in Europa und den Staaten noch unbeschädigt, wenn auch gerade nicht für Publikum geöffnet. Somit konnten die überlebenden Kobolde die dort lebenden Hexen und Zauberer schön am goldenen Führstrick halten, weil die immer noch hoffen konnten, wieder an ihre eigenen Gold- und Werteinlagen zu kommen, wenn sie sich nicht mit den Kobolden überwarfen.

Als ihm aus einem seiner vielen vorgeschalteten Postannahmestellezimmern ein Brief aus London weitergereicht wurde musste er lauthals lachen. Irgendwie war das schon nett, was ihm der Amtskollege aus London anbot. Der wollte doch allen Ernstes einen Spendenaufruf starten, dass alle Hexenund Zauberer Europas einen winzigen Teil ihres eigenen Vermögens spendeten, um den Hexenund Zauberern in Australien aus der Armut zu helfen. Dabei saßen sie hier in Australien auf den nach Südafrika größten Goldvorräten der Welt und konnten sogar einige Diamantenminen ausbeuten. Badhurst hatte sogar eingeräumt, für Muggel unbrauchbar gewordene Kohlenminen zu übernehmem und die dort geförderte Steinkohle durch alchemistisch-thaumaturgische Prozesse zu entschwefeln und in lupenreine Diamanten umzuwandeln. Sollte der weltweit laufende Diamantenverkauf gut laufen wollte die Ministerin noch einmal darauf zurückkommen. Was wollten die Europäer und Yankees da mit ihren "großzügigen" Spenden?

Als er sich über diesen gut gemeinten Vorschlag genug amüsiert hatte fiel Badhurst ein, dass die restliche Welt nicht wissen sollte, was er ausgeheckt hatte. Würde er das Angebot dankbar ablehnen würde er Verdacht erregen. Also musste er eine Antwort finden, die den Spendewilligen nicht vor den Kopf stieß. Dann fiel ihm ein, dass das auch nicht so schlecht wäre, ausländisches Gold ins Land zu holen, um auch wirklich alle nun anfallenden Kosten decken zu können und immer noch wie ein goldener Phönix aus der Asche von Gringotts emporzusteigen. Ja, er würde eine passende Antwort finden, um keinen Verdacht zu erregen.

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Am oberen Tor der Drei Höhlen der Gefahren unter den Bergen des Schwarzwaldes, 07.01.2005 Menschenzeitrechnung, kurz vor Morgenrot

Er sah im langsam verlöschenden Wärmelicht seines Gegners auf die sechs Riegel des zweiflügeligen, granitenen Tores. Er musste es nur noch öffnen und hinaustreten. Dann würden alle die, die draußen warteten, sehen, dass er gesiegt hatte. Doch wie sollte er jetzt, wo sein überschlauer Gegner tot war, die richtige Reihenfolge finden. Sein Gegner hatte das gewusst, wie er überhaupt alles gewusst hatte, um möglichst schnell und unversehrt durch die drei Höhlen der Gefahren zu kommen. Dann viel ihm was ein, was sein Vater aus der Zunft der Steinhauer einmal gesagt hatte: "Es gibt Tore in unserem Reich, die haben so viele Riegel wie ein Hanbaldurin Finger an einer Hand hat. Die Namen der Finger in der Ordnung der sie bezeichnenden Runen öffnet die Tore. Wenn du vor so einem davon stehst, erinnere dich an meine Worte!"

Er war kein Hanbaldurin. Er hatte fünf Finger an jeder Hand, wie die allermeisten anderen seines Volkes. Dann erinnerte er sich an das alte Lied über die Hanbaldurin, die von Durin mit sechs Fingern an jeder Hand gesegneten Meisterhandwerker oder Künstler. Ihm fiel wieder ein, wie die einzelnen Finger benannt waren. Dann dachte er an die alte Ordnung der Lautrunen und wusste wirklich, welchen Riegel er zuerst lösen musste. Er wusste, dass er jetzt keinen Fehler mehr machen durfte. Sonst würde sich der Schacht der Schande, der den Unterlegenen verschlingen sollte, unter ihm auftun. Da er gerade eine viele Dutzend Manneslängen hohe Wendeltreppe heraufgekommen war, um auf diese Plattform zu gelangen würden er und sein besiegter Gegner diese Höhe mindestens hinunterstürzen, ja womöglich noch einmal diese Höhe bis in den Saal mit den Gebeinen der Geschlagenen. Starb er nicht beim Aufprall, so würde er an den schweren Verletzungen sterben, falls Hunger und Durst ihm nicht den Garaus machten. So oder so würde es mindestens zwölf Jahre dauern, bis wieder wer den Drei-Höhlen-Kampf ausführte, um um den Platz auf dem Ehernen Herrscherstuhl zu streiten.

Um sich nicht weiter in Gedanken zu verlieren griff er nach dem zweituntersten Rigel und löste ihn. Es knirschte kurz. Dann klackte es vernehmlich. Er griff zum zweitobersten Riegel und löste auch diesen. Wieder knirschte und klackte es. Hoffentlich stimmte, was er aus seiner Erinnerung hervorgerufen hatte. Sein Gegner hatte alles gewusst, was über die Höhlen zu wissen war, auch wenn es ihm eigentlich nicht zugestanden hatte. Der hätte die Riegel noch schneller gelöst. Jetzt kam der oberste Riegel dran. Knirsch-Klack! Danach folgten der dritte von unten und der unterste. Jetzt war nur noch der dritte von oben geschlossen. Er fühlte ein leichtes Beben im Boden. Wenn er sich doch irrte würden er und sein Toter Gegner gleich in den Abgrund stürzen und im Gelass der Gebeine der Geschlagenen im Tode und am Platze wiedervereint. Der Sieger dieses Kampfes löste den letzten geschlossenen Riegel. Es klackte nur vernehmlich lauter als bei den anderen fünf. Da fiel ein schmaler senkrechter Streifen Licht durch die beiden Torflügel. Er stand noch sicher auf der Plattform. Sie erzitterte zwar ein wenig heftiger, doch sie hielt ihn noch aus.

Er kniff die Augen zu, als er sich entschlossen mit jeder Hand gegen einen der Torflügel stemmte. Das Tor tat sich auf. Schnell machte er einen Schritt mit dem rechten und dann mit dem linken Fuß und stand auf festem, ruhigen Boden. Da hörten er und sicher auch etliche andere, wie hinter im etwas mit lautem Poltern wegbrach oder wegkippte. Er ging schnell nach rechts, damit alle sehen konnten, was hinter ihm geschah. Dann wagte er, seine Augen zu öffnen.

Das Licht von Fackeln und Feuerzauberlampen war etwas heller als sonst und tat ihm einen Moment in den Augen weh. Doch dann gewöhnte er sich daran. Er sah Ontwarin, den Hüter der Ereignisse und Bräuche, zusammen mit den 36 hohen Meistern aller Zünfte des Reiches. Der Hüter wirkte verwundert, ja bestürzt. Klar, denn der hatte wohl damit gerechnet, dass sein Neffe Norin Feuertreter durch dieses Tor treten und damit als Sieger erkannt würde. So war es Malin, der Sohn des verstorbenen Königs, der den Sieg in diesem Lauf durch Dunkelheit und tödliche Fallen überlebt hatte.

"Ich erkenne dich, Malin, des von Durin heimgerufenen Königs erster Sohn Eisenknoter. Du hast das Tor als einziger durchschritten und bist der Sieger der ersten Königsprüfung", sprach Ontwarin die vorgeschriebene Bekundungsformel aus. In den Reihen der 36 Meister trommelten viele auf ihre mit Lederwämsen überdeckten Bäuche, das Zeichen für höchst gern gespendeten Beifall. Die anderen winkten mit beiden Händen dreimal, was Anerkennung für erbrachte Leistung bedeutete.

"Wie es der Brauch der offenen Kämpfe um Rang oder Würde gebietet erhebe ich Anspruch auf die Waffe des Besiegten", sagte Malin und griff an seinen Gürtel, wo er die schwarze Lederscheide angebunden hatte, die gerade einmal so lang wie für einen Dolch gemacht war. Aus ihr ragte ein Griff mit dem Knauf in der Form eines behelmten Kopfes. Er zog an dem Griff und ließ eine mattschwarze, das Licht der Lampen geisterhaft spiegelnde Klinge hervortreten, die immer länger wurde, länger als die Lederscheide annehmen ließ. Am Ende hielt Malin ein zweischneidiges Langschwert mit Diamantener Klinge in der Hand und reckte es zum Zeichen seines Anspruches lotrecht nach oben, dass die Spitze genau auf die sich zehn Manneslängen über ihm wölbende Decke deutete. "Dieses Recht besteht!" bestätigte Ontwarin so gefühlfrei er konnte. Doch an den Augen konnte Malin es dem alten Hüter der Ereignisse und Bräuche ansehen, dass er schwer enttäuscht war und seine Trübsal nur sehr schwer beherrschen konnte.

"So erkläre ich die erste Königsprüfung für bestanden und bekunde, dass in sieben Tagen Malin, der Sieger des Drei-Höhlen-Kampfes, gegen Omur Hackenschläger im ehernen Wurfkampf auf der schwingenden Brücke die zweite Königsprüfung bestehen möge. Wie es der Brauch verlangt soll auch diese Prüfung zwischen Mitternacht und Morgenröte erfolgen, damit der Sieger den neuen Tag begrüßen kann, während der Besiegte mit den vergangenen Tagen eins werde."

"So soll es sein, wie es immer war!" sprach Malin die vorgeschriebene Antwort auf diese Ankündigung. Dann steckte er das von Norin erbeutete Schwert zurück in die scheinbar viel zu kleine Scheide. Er durfte noch sieben Tage in den Königshallen wohnen, bis er die zweite von hoffentlich drei Königsprüfungen zu bestehen hatte.

Wie es die alte Sitte verlangte durfte der Sieger einer Königsprüfung von niemanden in Wort oder Handgreiflichkeit bedrängt werden. So musste Ontwarin dem Sieger den Weg zu den dienstbaren Wagen auf stählernen Pfaden geleiten, auch wenn Malin ihm immer noch ansehen konnte, dass er lieber seinen Neffen Norin als Sieger ausgerufen und begleitet hätte.

Mit den schnellen Wagen, deren Bau und Betriebsweise sich die arglistigen Spitzohren vor Jahrhunderten abgeschaut hatten, jagten Ontwarin, Malin und das Ehrengeleit durch die Fahrstollen. Die Zeugen des Kampfbeginns und Endes nahmen andere Wagen, um in ihre Werkstätten zurückzukehren.

Wieder in den Hallen des Herrschers nutzte Malin die von seiner Mutter Miru erlernte Kunst der gerichteten Stimme, um ihr zu verkünden, dass er die drei Höhlen und Norins Schläue überlebt hatte.

"Komm zu mir in den unhörbaren Raum!" befahl seine Mutter ihm auf dieselbe Klangzauberische Weise.

Als wäre er nicht der erwachsene und fest im Leben stehende Sohn eines Königs, sondern immer noch ein kleiner Junge vor der harten Zeit der Mannesschmiede trabte er ohne weiteres Zögern zu jener Tür, hinter der der unhörbare Raum lag. Gerade kam seine füllige Mutter um die Ecke. Als ehemalige Königsfrau und Mutter eines Königsanwärters durfte sie alle Körperstellen mit feinem Stoff bekleiden, während die Mägde und Frauen anderer Männer gerade mal ihren Unterleib mit schmalen Tüchern verhüllen durften.

Im Schein eines Lichtsteins erzählte Malin seiner Mutter nun, wie er die drei Höhlen überstanden hatte.

"Erst hat uns Ontwarin erzählt, dass selbst mit Fackeln oder Lichtsteinen die Höhlen zu dunkel bleiben und dass dort gnadenlose Fallen aus der Kunst der magischen Steinhauer warten. Aber das wusste ich ja schon. Dann bot er uns gemäß des Brauches an, von der Prüfung zurückzutreten, wenn wir dafür alles weggeben, was wir seit dem Neubrennen erworben haben. Norin hat natürlich nicht verzichtet, und ich habe das ganz besonders nicht", begann Malin. Dann erwähnte er, wie sie durch je ein eigenes kleines Tor in die Gänge des Eintretens geschickt wurden. Treffen sollten sie sich ja erst innerhalb der Höhlen. "Ontwarin sagte sogar, dass wir alles benutzen dürften, was wir dort finden. Ich habe nachdem mein Tor hinter mir verschlossenund verriegelt worden war erst mal die zwei Zauber gemacht, die du mir geraten hast. Erst habe ich meinen Körper gegen das Leuchten im Wärmelicht verschlossen und meine Augen dann mit eigenem Blut auf das Sehen des Wärmelichtes vor der Rotglut eingestimmt. Dann bin ich in die erste Höhle hinein und musste da schon aufpassen, keine Falle auszulösen. Gut dass mir Vater einige der Fallen erklärt hat, die die Steinmetze können. Unterwegs habe ich dann immer aufgepasst, nicht zu stark zu atmen, weil meine Atemluft doch ein gewisses rotes Wärmelicht abgab. Mit dem Wärmelichtsehen konnte ich die Wände und den Boden im dunklen Grau schimmern sehen. Das hat gereicht, um lauernde Löcher oder tückische Vorsprünge zu erkennen."

"Ja, und wo war Norin Feuertreter?" fragte Miru.

"Den sah ich erst, als ich doch aus Versehen Barodins Schnappmaul ausgelöst habe, eine Falle, bei der jemand von einem Stein in die Luft geschleudert wird und dann in einem ganz schnell aufgehenden Spalt verschwindet. Knallt er unten auf den Boden, schnappt der Spalt wieder zu und zerdrückt den armen Wicht, der reingefallen ist. Ach ja, nachdem ich gerade noch von dem Schleuderstein weggeschnellt bin sah ich Norin im Wärmelicht. Der Hat sich sicher den Sehzauber aufgeladen, aber vergessen sein eigenes Wärmelicht abzudunkeln. Entweder kannte der den Zauber nicht oder wollte nicht die doppelte Tagesausdauer verbrauchen."

"Unwichtig, erzähl, was er gemacht hat!" bestand Miru auf einen gestrafften Bericht. Malin erwähnte nun, dass er mitbekommen hatte, das Norin eine Waffe in die Höhlen reingebracht hatte, die nicht aus Metall war. Er zeigte seiner Mutter das erbeutete Schwert. "Ei, gibt's die Klinge also doch. Kaire Glimmerputzer hat mir das mal erzählt, als ich noch nicht von deinem Vater eingefordert wurde", grummelte Miru Silberstimme. "Es ist aus alter Zeit und wahrhaftig aus Unzwingstein, allerdings mit zusätzlicher Beständigkeit und Selbstreinigung belegt. Das Schwert hatte er schon dabei, als ihr reinkamt?" Malin steckte die Waffe wieder fort und bejahte es. Er erwähnte, dass der schmale und niedrige Durchschlupf vom Eingangsstollen zur ersten Höhle wohl jedes Metallstück festhalten sollte, weil er darin die Kraft der Eisenhaftung gefühlt hatte und die Erbauer der Höhle sicher mehrere Metalle mit dem Gleich-zieht-gleich-Zauber belegt hatten.

"Ist anzunehmen. Aber wie ging eure Begegnung weiter?"

Norin sah dorthin, wo Barodins Schnappmaul mich fast gefressen hätte. Er sah mich aber nicht, weil ich ja den Schutz vor Wärmelichtaussendung auf mich gelegt habe. Dann fiel ihm wohl ein, dass ich schon erledigt sei und suchte sich seinen Weg. Dabei bekam ich mit, dass er nicht gerade aus ging, sondern in Linien und dass er an einigen Stellen größere Schritte machte, um über etwas drüberzusteigen. Ich bin ihm dann hinterher. Sein Wärmelicht war stark genug, als sei er ein Lichtstein, der einen ganzen Sonnenaufgang Licht aufnehmen konnte. Ich erkannte, dass der offenbar genau wusste, wo welche Fallen sind. Da ich meine Füße auch mit dem Lautloszauber belegt habe hörte er mich nicht. So führte mich Norin zum Aufstieg, der an den Wänden entlang nach oben zum Engen Durchschlupf zur zweiten Höhle führte. Da hat er sich dann niedergehockt, sich am oberen Rand festgehalten und dann die Füße zugleich durchgeschwungen. Da ich dachte, dass das sicher wichtig war habe ich im schwachen Leuchten meiner Atemluft nachgeguckt. Da waren echt einige Steine, die herausragten. Ich wollte nicht wissen, was damit geschehen würde und habe Norins Durchschlupf nachgemacht. Dann habe ich gesehen, wie er in der zweiten Höhle gleich an der linken Wand entlang ist und bin ihm weiter gefolgt. Als wir dann den nächsten, die Wände entlangführenden Aufstieg betreten haben muss ich wohl doch einen Fallenstein erwischt haben. Es knisterte unter meinen Füßen. Über mir machte es Klick, und ich bin ganz schnell nach vorne gesprungen, wobei ich die Luft angehalten habe. Da knallte hinter mir ein mindestens zehn Männer schwerer Stein auf den Boden, dass es richtig gebebt hat. Der sollte mich wohl unangespitzt in den Boden rammen oder aus mir einen einzigen Fleck auf dem Boden machen. Das hat Norin mitbekommen und ist einige Schritte zurückgelaufen. Ich musste heftig aufpassen, nicht zu atmen. Ein paar Dutzend Herzschläge standen wir uns gegenüber. Ich wollte es nicht drauf anlegen, von seinem Schwert erwischt zu werden. Und bevor du mich einen Feigling nennst bedenke, dass ich dir nur deshalb gegenübersitze, weil ich so vorsichtig war!" Seine Mutter verzog das Gesicht, nickte dann aber.

Jetzt erzählte Malin, dass er mitbekommen hatte, dass Norin losgelaufen war und dann mit dem der Wand zuweisenden Arm an bestimmte Stellen gedrückt hatte. Fünfmal hatte er das gemacht und rannte dann regelrecht los, als wenn es jetzt keine Fallen mehr, aber einen gefährlichen Verfolger gab. So konnte Malin ihm folgenund durch den dritten Durchschlupf in die dritte Höhle hinüber. Da war Norin geradewegs durch die weite Halle gerannt und zu einer Wendeltreppe, die viele Dutzend Manneslängen nach oben führte. Oben war eine Plattform, so groß, dass sie nicht mit einem einzigen Sprung überwunden werden konnte.

"Da habe ich auch das Ausgangstor mit sechs Riegeln gesehen, Mutter. Ich wusste von Vaters Beschreibung, dass die Steinmetze die Fallen sperren können, wenn sie die Höhlen warten. Doch das sei ein Geheimnis der Steinmetze, hat Vater mir erzählt. Warum Norin das alles wusste weiß ich nicht. Nur der Schacht der Schande, in den der zweite Kämpfer stürzen muss, wenn er mit fast mit dem Ersten am Tor ankommt, sei davon ausgenommen. Jedenfalls ist es dann passiert, Mutter", sagte Malin und machte eine die Spannung erhöhende Pause. Als seine Mutter ihn fragte, was geschehen sei sagte er: "Tja, auf einmal war Norins Wärmelicht erloschen. Ich habe fast die zwei letzten Herzschläge meines Lebens empfunden. Doch da war mir klar, was war. Er hat gewusst, dass ich weiter hinter ihm her war und wollte mich jetzt vor dem Tor töten. Ich habe mich zur Seite fallen lassen und ihm ein Bein gestellt. Da war so'n ganz übles Pfeifen über mir. Dann knallte er gegen mein Bein und kippte wohl nach vorne. Ich hörte ihn fallen und kurz aufschreien. Dann röchelte er nur noch, und sein Wärmelicht war wieder zu sehen. Der ist in sein eigenes Schwert gestürzt, Mutter. Das sah ziemlich blutig aus. Es war auf jeden Fall tödlich für den. Er röchelte noch und gurgelte einige Atemzüge lang. Dann war es aus mit ihm. Ich wollte jetzt zum Tor um im Verglühen seines Wärmelichtes die Riegel zu öffnen. Doch da ist mir eingefallen, dass das Schwert nicht im Schacht der Schande landen und immer da bleiben sollte. Ich zog es aus ihm raus und habe es mit meinem Allsäuberungstuch gegen Schweiß und Blut geputzt, um Norins Blut runterzukriegen. Dann habe ich Norin weiter durchsucht. Ich fand eine kleine Lederscheide an seinem Gürtel. Den Gürtel habe ich dann an mich genommen. Als ich nur so zur Prüfung das Schwert da reingesteckt habe passte das, obwohl da von außen nur Platz für einen Nahkampf- oder Opferdolch zu sein schien. Na ja, und dann habe ich die sechs Torriegel aufgemacht und bin raus. Das verdutzte Gesicht von Ontwarin hättest du sehen sollen, Mutter. Der hat wirklich gedacht, nur sein Neffe käme aus dem Tor raus. Na ja, der liegt jetzt eben unten im Gelass der Gebeine der Geschlagenen."

"Tjaha, der ist dann wohl wortwörtlich über seine eigene Schlauheit gestolpert", bemerkte Miru Silberstimme. "Der hat den Zauber zum Verbergen des eigenen Wärmelichtes wohl in irgendwas an seinem Körper gelegt und ihn erst wirken lassen, als er sicher war, dass du auf der Plattform warst. Sein Tod hat den Zauber dann wieder aufgehoben."

"Ja, und er hatte dieses schön scharfe Schwertchen mit passender Lederscheide. Die lagen ganz bestimmt nicht in der ersten Höhle herum. Der Betrüger hat beides wohl mit hineingeschmuggelt und ich bin ohne einen Tatzelwurmzahn reingegangen. Gut, er ist Geschichte, und in den nächsten zwölf Sonnenkreisen wird kein Drei-Höhlen-Kampf mehr stattfinden", sagte Malin.

"Ja, und Omur Hackenschläger will dich auf der schwingendenBrücke im Kampf der ehernen Kugeln besiegen?" fragte Miru. "Dabei werden sie uns wohl alle zusehen", sagte Malin. Dabei warf er sich in eine überlegene Pose und tönte: "Aber da wird der Spitzhackenputzer seine letzte Nacht erleben."

"Dies hoffe ich sehr, mein Sohn. Ich will nicht von diesem lederhändigen Burschen auf den Witwenmarkt geschleift werden oder gleich ins Haus der wertlosen Weiber geschafft werden", sagte Miru sehr entschieden. "Aber jedenfalls hast du als Sohn eines Königs aus der Zunft der Steinmetze jetzt ein ihm würdiges Langschwert erkämpft. Moment, wenn Norin sein eigenes Wärmelicht zeitweilig verbergen konnte, vielleicht mit seinem Gürtel. Zeig ihn noch mal her!"

"Dann muss ich aber das Schwert von ihm abnehmen, weil Frauen keine Waffe tragen dürfen", sagte Malin. "Gib mir sofort den Gürtel, mein Sohn!" befahl seine Mutter, und ihre Worte stachen ihm in den Kopf und wurden zu einem immer peinigenderen Schmerz in seinen Eingeweiden. So gab er mit zitternden Händen Norins Gürtel ab. Seine Mutter berührte den Schwertgriff jedoch nicht. Sie besah sich nur die aus einem Horn gemachte Schließe und das dunkelrote Leder. "Wusste ich es doch. Dieser Gürtel wurde aus Horn und Haut eines roten Feuerdrachens gemacht, ein Meisterwerk der Lederverarbeitung. Sicher wusste Ontwarin, wer diesen Gürtel und die daran hängende Scheide und das Schwert einst erhalten und getragen hat. Und sicher wusste der auch, dass in diesen Runen da die Zauberkraft für das Verbergen von Wärmelicht steckt. Es kann sogar sein, dass der Gürtel völlig unsichtbar macht. Das solltest du in den dir bleibenden Tagen bis zur zweiten Prüfung herausfinden", sagte Miru. Dann gab sie ihrem Sohn den Schwertgürtel zurück.

"Warum hat er dann nicht gleich sein Wärmelicht verborgen?" fragte Malin. "Weil er wohl dachte, dass er in den Höhlen Licht brauchte und wohl auch, weil er dich damit anlocken wollte, damit du ihm in sein bis dahin gut verborgenes Schwert rennst, mein Sohn. Nein, ich habe keinen Feigling im Leibe getragen, sondern einen umsichtigen, nicht gleich auf alles losstürmenden Sohn", sagte sie mit samtweicher Stimme und schloss ihren Sohn in eine mütterliche Umarmung.

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In der Wohnung von Laurentine Hellersdorf in Paris, 09.01.2005, 11:30 Uhr Ortszeit

"Du wirkst sehr gefasst, dafür dass du gerade mit diesem Bestattungsfachmann gesprochen hast, Laurentine", sagte Hera Matine, die auf Laurentines Wunsch hin herübergekommen war, um mitzubekommen, wie sie mit dem für Überseebestattungsangelegenheiten ausgewiesenen Unternehmen telefonierte, dass ihr Fabienne Moulin empfohlen hatte. Sie wollte danach mit Hera über ihre innere Stimmung reden, weil sie nicht wusste, ob sie trauerte oder sich schon vor Zeiten von ihren Eltern verabschiedet hatte.

"Wie erwähnt, Hera, die Bürokratie belastet mich gerade mehr als der Gedanke, dass meine Eltern tot sind und nicht mehr mit mir sprechen können. Sicher, ich habe in den letzten Nächten oft von ihnen geträumt, von früher vor Beauxbatons. Da waren auch ein paar Albträume bei, dass ich mit meinem Vater spiele und mir plötzlich ein Blitz aus den Händen fährt, der ihn tötet oder dass meine Mutter mit mir Schimpft und ich sie durch einen bloßen Anblick in Flammen aufgehen lasse und ich dafür von allen mit Feuerwaffen gejagt werde, bis ich einen Abhang runterfalle und im schwarzen Nichts verschwinde. Aber wenn ich dann aufwache und weiß, wo und wann ich bin, fällt mir wieder ein, dass das nur die Ängste meiner Eltern waren, mich nicht mehr unter Kontrolle halten zu können und die religiöse Abneigung meiner Mutter gegen Zauberei und jeden, der damit zu tun hat. Aber jetzt mit Monsieur Belfort zu sprechen hat mich nicht so aufgewühlt wie ich erst gedacht habe. Auch als er mich zu Erinnerungen an meine Eltern befragt hat bin ich komischerweise ganz ruhig geblieben. Nach Claires Tod damals war ich tagelang aus dem tritt, mal tieftraurig und dann wieder wütend auf die, die ihr das angetan haben."

"Womöglich wird es dich erst später richtig betreffen, wenn alles verpflichtende vorbei ist und du nur für dich selbst darüber nachdenken kannst, ob du was verloren hast und wenn ja wie viel. Was Claire angeht, so wart ihr sehr gute Freundinnen, ihr wart beide gleich alt. Sie ist viel zu jung gestorben und du wusstest, dass jemand sie umgebracht hat. Bei deinen Eltern ist das anders, weil sie nicht von jemandem umgebracht wurden, auf den du wütend sein kannst, weil sie schon seit Jahren von dir fort waren und dich nicht mehr an ihrem Leben teilhabenlassen wollten und weil sie nicht in unmittelbarer Nähe von dir gestorben sind, sondern ganz weit von hier fort. Das sind alles Sachen, die du erst verarbeiten kannst, wenn du die Zeit dafür hast. Dass du jetzt viel von ihnen träumst zeigt mir, dass deine Seele schon damit beschäftigt ist, was alles noch hätte sein können, wenn deine Eltern ihre aus Angst entstandene Ablehnung hätten überwinden können."

"Wie war das, als deine Großtante Zoé gestorben war. Du hast gesagt, dass dich das auch erst sehr stark mitgenommen hat", wandte sich Laurentine an Hera Matine.

"Das hat mich deshalb sehr stark betroffen, weil ich unmittelbar miterleben musste, wie sie starb und mich immer wieder gefragt habe, ob ich, eine ausgebildete Heilerin, sie nicht am Leben hätte halten müssen, wo sie mich schon extra zu sich hingerufen hat, um mir noch was zu sagen", sagte Hera mit körperlicher Stimme. Mentiloquistisch fügte sie hinzu: "Sie hat mir förmlich die Nachfolge als erste Mutter der französischen Schwestern aufgeladen und sich dann im Wissen um ihre schwere Krankheit so stark überlastet, dass sie sterben musste. mich hat sie handlungsunfähig gemacht."

"Und wie bist du mit diesem Schuldgefühl fertiggeworden?" fragte Laurentine mit körperlicher Stimme. "Ich habe alle Gründe und Erinnerungen bemüht, die mir klarmachen konnten, dass ich nicht Schuld am Tod meiner ehrwürdigen Großtante war, sondern sie ihren eigenen Weg bis zum Ende gehen wollte und ich womöglich mehr Schuld auf mich geladen hätte, wenn ich sie auf einen anderen Weg gezwungen hätte. Deine Eltern wollten dich nicht deinen Weg finden und gehen lassen und haben deshalb abgelehnt, dich auch an ihrem Weg teilhaben zu lassen, richtig?" Laurentine nickte. "Deshalb solltest du nicht daran denken, dass du an irgendwas schuldig sein könntest. Womit du umgehen musst ist, dass es keine Gelegenheit mehr geben wird, dich mit ihnen auszusöhnen. Aber auch da ist es für dich wichtig, zu erkennen, wie es für dich selbst weitergehen soll. Soweit ich weiß galt das für euch alle ja auch damals, wo Claire gestorben ist.""

"Ja, wobei Céline Dornier und ich mich damals schon gefragt haben, wie Julius, ihr Verlobter, so gefasst bleiben konnte und nicht einmal daran gedacht hat, Claires Mörder zu suchen. Das hat mich damals schon aufgebracht, und nur wegen Beauxbatons musste ich mich heftig zusammenreißen, ihn deshalb nicht anzugreifen."

"Wie erwähnt, damals wusstet ihr auch, dass sie von böswilligen Leuten aus der Ferne umgebracht wurde, ja und fast auch ihre Mutter, ihre Schwestern Jeanne und Denise, nur weil Claires Großmutter Aurélie sich mit diesen Leuten angelegt hat. Was hättest du oder was hätte Julius da tun sollen, Rache üben?"

"Ja, habe ich auch erst gedacht. Mir ging diese alte Wildwestgeschichte aus Deutschland durch den Kopf, wo ein alter Indianerhäuptling und seine Tochter von goldgierigen Banditen erschossen wurden und die Tochter ihren Bruder im Sterben aufgefordert hat, sie zu rächen und er danach Jahre lang hinter dem Mörder seines Vaters und seiner Schwester hergejagt hat."

"Und, hat er seinen Vater und seine Schwester mit Blut gerächt?" wollte Hera wissen.

"Er hat es nicht geschafft. Aber in gewisser Weise hat er noch seine Rache bekommen. Denn sein bester Freund sollte nach seinem Tod den versteckten Goldschatz, um den es ging suchen, und der Bandit bekam den Plan in die Hände. Doch der hat dann was verkehrt verstandenund ist beim Versuch, an das Gold zu kommen umgekommen."

"Öhm, und der die Geschichte erzählt oder aufgeschrieben hat, wie hat er oder sie dieses Rachestreben bewertet?" fragte Hera.

"Er war selbst Christ und glaubte nicht an die vom Menschen zu übende Rache. Aber er hat zu seinem Freund und Blutsbruder gestanden bis nach dessen Tod. Natürlich war das alles nur eine erfundene Geschichte. Der Schreiber ist nie selbst im nordamerikanischenWesten gewesen."

"Interessante Geschichte. Ich kenne viele Märchen und Abenteuergeschichten aus der magielosen Welt, wo Zauberei oder mythische Hinterlassenschaften im Spiel sind. Mit dem sogenannten wilden Westen und dessen buntschillernden Ausschmückungen habe ich mich nie befasst. Aber dass Blutrache ein nie endender Kreislauf aus Angst, Hass und Tod ist ist unbestreitbar. Also hätte Julius, selbst wenn Claire ihn wie diese Häuptlingstochter gebeten hätte, sie zu rächen, ihr damit keinen Gefallen getan, wenn er selbst zum Mörder geworden wäre und er oder einer seiner Blutsverwandten dafür hätte sterben müssen und so weiter", sprach Hera mit sanfter Stimme. "Es gab in der Zaubereigeschichte mehr als hundert Blutfehden zwischen den mächtigen Familien. Sie führten zur gegenseitigen Belauerung, Massenmorden und Heimatvertreibungen. Dass wir alle jetzt in einer einigermaßen friedlichen Gemeinschaft leben können, von diesen ab und an aufkommenden Machtsüchtigen, die mit friedlicher Gemeinschaft nichts anfangen können abgesehen, liegt nur daran, dass wir lernen mussten, dass Rache kein Ausweg ist. Damit hadern ja hier wie vor allem in Großbritannien noch viele, die unter der Tyrannei der Todesser und ihres geisteskranken Anführers gelitten haben, dass sie nicht einfach losgehen und die erwiesenen Verbrecher umbringen können. Dadurch würden ihre toten Angehörigen nicht wiederkommen, und die dauerhaft an ihrer Seele verletzten bekämen so auch keinen wirklichen Frieden. Ich denke, Julius wusste das damals schon, wohl auch, weil er diese ganzen Wildwestgeschichten aus dem Fernsehkasten kannte."

"Ja, und das Rache einen am Ende selbst kaputtmacht kenne ich aus einer anderen, in der Zukunft spielenden Geschichte", sagte Laurentine. "Genau das hat mich dann auch wieder aufgebaut, dass Claire erstens nichts davon hätte, wenn wir uns selbst ein Leben lang wegen sowas kaputtmachen und zweitens auch eben nicht gewollt hätte, dass jemand ihretwegen zum Mörder und damit Ausgestoßenen wird. Seitdem bin ich auch davon abgekommen, selbst nachzuforschen, was damals passiert ist und wer dafür verantwortlich ist." Hera nickte anerkennend.

"Ja, und in deinem ganz konkreten Fall gäbe es ja auch niemanden, auf den du deine Wut oder gar deinen Hass richten könntest, weil es der Mutter Erde völlig unwichtig ist, wer sie liebt und wer sie hast, weil sie uns alle gleichwohl trägt und nährt, bis unsere Zeit gekommen ist", philosophierte die oberste der schweigsamen Schwestern Frankreichs und residente Heilerin von Millemerveilles. Laurentine konnte dem nicht widersprechen. Außerdem klingelte in dem Moment das Telefon.

"Ja, hallo Vicky", grüßte Laurentine ihre Cousine in New York. Dann erzählte sie dieser, was bisher erledigt worden war, auch dass es in Kourou im Rechner ihres Vaters eine Textdatei gab, die erst nach einer offiziellen Todesmeldung im Hauptrechner freigeschaltet wurde. Demnach wollte Laurentines Mutter ein Urnengrab in der kleinen Gemeinde bei Saint Louis im Elsass bekommen und ihr Vater, wohl angestachelt von Laurentines und Vickys gemeinsamem Großvater Henri, eine Weltraumbestattung, sobald eine ausreichend große Anzahl anderer Verstorbener zusammenkam, um einen großen Satelliten zu besetzen, der dann auf eine Umlaufbahn genau über dem Äquator geparkt werden sollte. "Was Meine Mutter angeht, also deine Tante Renée, so möchte ich erst einmal abwarten, wann die Überführung der beiden möglich ist. Ich habe das gerade mit dem ausgewählten Bestatter besprochen, dass er dann die Einladungen verschickenlässt, und zwar so, dass alle Verwandten aus Übersee ohne Hektik zusagen und herüberkommen können", erläuterte Laurentine ihrer Cousine. Vicky Kenworthy bejahrte das. Sie war jetzt wieder in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Offenbar hatten die Wochen um die Weihnachtszeit völlig gereicht, mal wieder Ruhe vor Mutter und Schwester nötig zu haben, zumal ihre Schwester Hellen wieder da war, wo ihr Praktikumsplatz in der Nähe war.

Laurentine versicherte, sämtliche Adressen der amerikanischen Verwandten im Rechner zu haben und dass der Bestattungsunternehmer die Liste bekommen dürfe, wenn es an die Einladungen ging. Der wartete aber jetzt auf die Originalausgaben der Totenscheine und sonstigen für eine derartige Angelegenheit nötigen Dokumente. Dann verabschiedeten sich die beiden jungen Frauen voneinander.

"Es ist trotz des traurigen Anlasses schon sehr interessant, mitzuverfolgen, dass der bürokratische Aufwand in der nichtmagischen Welt ähnlich hoch wie bei uns ist", meinte Hera. Dann fragte sie, ob sie Laurentine noch bei irgendwas helfen könne. Diese verneinte höflich. Darauf bekam sie eine reine Gedankenbotschaft: "Ich habe ein Treffen aller Schwestern angesetzt. Wenn Angehörige von uns sterben gedenken wir ihrer im feierlichen Kreis. So ist das üblich." Laurentine wagte nicht, dagegen aufzubegehren. Sie schickte nur zurück, dass sie natürlich dabei sein würde. Getreu den Mentiloquismusregeln zeigte Hera keine Regung auf diese Antwort. Sie sagte nur mit körperlicher Stimme: "Dann lass mich wissen, wenn du meine Hilfe benötigst, Laurentine. Bis dann!"

Hera nutzte denFlohnetzanschluss, um in ihr eigenes Haus in Millemerveilles zurückzukehren, um dort wieder für ihre vielen Patienten und vor allem Patientinnen da zu sein.

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In einer geheimgehaltenen Villa nördlich von Miami, Vereinigte Staaten, 10.01.2005, 12:30 Uhr Ortszeit

Die vierzehn "glücklichen" sahen ihn wieder mit diesem Ausdruck der gewissen Verdrossenheit und gespannten Erwartung an. Seitdem er sie durch ein verlockendes Angebot an Gold und nichtsexuellen Vergnüglichkeiten dazu bekommen hatte, für ihn persönlich als geheimes Sondereinsatzkommando zu arbeiten, standen Zaubereiminister Buggles und die ehemaligen Quidditch-Nationalspieler in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Keiner konnte sich vom anderen lossagen, ohne zu riskieren, dafür ein Leben lang auf der Flucht oder ein Leben lang an Leib und Seele getrennt im gefürchteten Zauberkerker Doomcastle zu verbringen. Bisehr hatten die GlücklichenVierzehn noch nichts nennenswertes für ihren Auftraggeber tun müssen, außer sich bereitzuhalten, ihm im Bedarfsfall beizustehen. Genau deshalb war er jetzt auch bei ihnen in der Villa Glücksstern. Außerdem musste er sicherstellen, dass sie nicht doch einen Weg fanden, sich von ihm loszureißen. Denn die vierzehn Hexen und Zauberer besaßen durch das von ihnen abverlangte Ritual aus der Inkazeit die selben Fähigkeiten wie jemand, der den Glückstrank Felix Felicis einnahm, eben nur jede Minute, ein Leben lang, solange sie keinen Geschlechtsverkehr hatten. Doch gerade jetzt setzte er auf dieses Glück.

Minister Buggles schilderte den jungen Ex-Nationalmannschaftsmitgliedern um die hochgewachsene Kelly Grumman, was ihm bevorstand und dass er womöglich nur die Auswahl zwischen Doomcastle oder Neuaufwachsen hatte. Er wies auch darauf hin, dass Vita Magica ebenfalls nach den vierzehn verbliebenen Ex-Nationalspielern suchte, weil diese durch ihre geschlechtliche Enthaltsamkeit gegen die Vorstellungen von VM verstießen, dass magische Menschen magischen Nachwuchs zu haben hätten. dieVierzehn hörten ihm nur zu. Keiner und keine unterbrach ihn. Das lag wohl daran, dass sie merkten, dass sie erst genug wissen mussten, um richtig handeln zu können. Als Buggles damit endete, dass er all zu gerne die Vorrichtung zur flächendeckenden Abtötung von Werwölfen hätte, ohne mit VM einen neuen Vertrag schließen zu müssen sagte Douglas McDonald:

"Sie wollen also, dass wir für Sie die Unterlagen oder Leute kassieren, die zeigen, wie diese Werwolfvernichtungsvorrichtung geht, richtig? Und was ist mit Gringotts? Sie haben jedem von uns 200 Galleonen im Monat bezahlt. Kriegen Sie erst mal die Kobolde dazu, ihre Bank wieder aufzumachen, sonst machen wir das, Minister Buggles. Erst wenn wir wissen, dass unsere Verwandten nicht verhungern müssen, weil das Gold ausbleibt, kriegen wir das mit der Werwolfabtötungsvorrichtung hin."

"Ist das Ihrer aller Meinung?" fragte Buggles und sah Kelly Grumman an. "Minister Buggles, ich habe drei Geschwister, die Kinder unter der Zauberschulreife haben. Ich habe die seit Dons miesem Verrat nicht mehr zu sehen gekriegt. Dougy will Gold, ich will Bewegungsfreiheit, genau wie die anderen hier auch. Entweder Sie regeln das mit dem Gold, dass wir wenigstens unsere Leute versorgen können, oder Sie ermöglichen uns, in Verkleidung zu reisen, Leute zu besuchen, die wir lange nicht mehr gesehen haben. Fällt beides weg werden wir Ihnen nur dann helfen, wenn Sie in echter Gefahr sind, wie wir das mit ihnen abgeklärt haben." Die anderen nickten beipflichtend.

Buggles verwünschte die Intuition der vierzehn Quidditchbetrüger. Denn die merkten sicher, dass er nicht in wirklicher Lebensgefahr war. Aber er hatte sie auf sich verpflichtet, nicht auf das Ministerium. So sagte er: "So, ich bin nicht in unmittelbarer Gefahr. Falls mir was passiert oder ich nicht mehr Minister sein kann ist das Ihr Misserfolg. Denn Sie sind verpflichtet, mir beizustehen, damit ich weder meinen Rang noch meine Unversehrtheit verliere."

"Wenn Sie's noch mit keiner getrieben haben suchen Sie die alte Inkapriesterin, die uns dem Ritual unterzogen hat", erwiderte Kelly Grumman. Buggles verzog das Gesicht. So dreist und unverschämt war ihm bisher nur diese weißgekleidete Botin von VM gekommen. Doch er hoffte, die passende Antwort zu haben: "Diese Priesterin wurde vom Peruanischen Zaubereiministerium einbestellt und magisch verpflichtet, dieses Ritual nicht mehr an europäisch- oder afrikanischstämmigen Hexen und Zauberern auszuführen. Wussten Sie das noch nicht? Nein, dann eben jetzt."

Die vierzehn ehemaligen Nationalspieler zuckten wie vom Blitz getroffen zusammen. Sie sahen Buggles an, der ganz ruhig blieb. Offenbar lauschten sie auf ihre verstärkte Intuition, ob er sie anlog. Tjaha, jetzt wussten die, dass er wohl die Wahrheit sagte. Sie erkannten auch, dass Donovan Maveric wohl wirklich alles ausgeplaudert hatte, was im Zusammenhang mit dem grandiosen Quidditchbetrug stand. Dann sagte Kelly Grumman:

"Dann haben Sie erst recht allen Grund, uns, die wir noch die Kraft aus dem Ritual haben, ganz lieb und zuvorkommend zu behandeln, wie Ihr eigenes Leben. Also denken Sie bitte darüber nach, was Sie für uns tun können. Wir bekommen es ja früh genug mit, wenn Sie in Gefahr sind und können dann im Verbund auch Appariersperren durchbrechen, solange am Zielort nicht wieder so ein vertückter Sonnenzauber wirkt wie in dem Franzosenkaff Millemerveilles."

"Schon aus ganz eigenenInteressen bin ich dabei, dass die Kobolde schnellstmöglich wieder die Tore von Gringotts aufsperren. Doch bedenken Sie, dass diese ungerichtete Erdmagie, die Ihnen ja auch gut zugesetzt hat, Ladies and Gentlemen, auf Kobolde und deren Magie viel stärker eingewirkt hat. Im Augenblick muss ich sogar davon ausgehen, dass die Kobolde Gringotts gar nicht aufmachen können, auch wenn sie es wollen. Vielleicht sind sie da ja selbst eingesperrt und drohen sogar zu verhungern. Aber die noch frei herumlaufenden Kobolde wollen darüber nichts erzählen. Also muss ich eine Situation schaffen, in der die Kobolde erkennen, dass wir auch ganz ohne sie auskommen können, wenn wir es wollen oder müssen. Dann werden sie schon zusehen, dass wir wieder an unser Gold kommen. Was die Reisefreiheit angeht, so kann ich die Ihnen erst gewähren, wenn ich mit Strafverfolgungsleiter Catlock ungefährdet das Zaubereiministerium führen kann. Dann kann und werde ich Ihnen allen Amnestie gewähren, ja Sie sogar als Mitarbeiter zur besonderen Verwendung offiziell in den Gehaltslisten führen. Das würde die bisherige Entlohnung deutlich verbessern. Aber das alles geht nur, wenn ich im Amt bleibe und mir keiner an Leben und Verstand geht. Wenn mich die Babymacher einkassieren werden die mich erst gründlich ausforschen, was ich alles weiß und dann wohl in Windeln und Wiege zurückschrumpfen. Das wird dann ein eindeutiger Misserfolg für mich."

"Sie wollen also, dass keiner Sie aus dem Ministerium rauswirft oder da rausholt?" fragte Kelly Grumman. Buggles bejahte das. "Wie soll das gehen? Irgendwann wird die Bullhorn genug Leute auf ihrer Seite haben, um eine Neuwahl zu erzwingen oder die zwölf Richter dazu kriegen, Sie abzusetzen. Und dann?"

"Tja, genau das möchte ich nach Möglichkeit verhindern", sagte der Minister frei heraus. Denn die vierzehn würden das nicht an die Presse weitergeben, was er wirklich wollte. außerdem hatte er sie mit der Aussicht auf eine Aufhebung der Strafanklage wegen fortgesetzten Betruges und einer höheren Entlohnung sicher für sich gewonnen.

"Dann müssen Sie wohl das alte Gesetz vom drohenden Krieg mit einer mächtigen Grupierung von Zauberern und Zauberwesen bemühen, dass seit der versuchten Repatriierung von Hexenund Zauberern nach den Salemer Hexenprozessen beschlossen wurde", warf Taffy Rockwell für Buggles höchst überraschend ein. Sie ergänzte dann noch: "Das müsste, wenn ich das richtig gelernt habe, der Paragraph 22 B der Gesetze zur Bestimmung der magischen Bürgerschaft nordamerikanischer Staaten sein, das nach der Gründung der USA beschlossen wurde, um die Zwangsrückholung von Hexen und Zauberern zu vereiteln. In dem betreffenden Unterabschnitt steht sowas wie, dass wenn die Unabhängigkeit der Zaubereiverwaltungsbehörden von inneren oder äußeren Mächten bedroht ist, kann der oberste Sprecher der Zaubereiverwaltungseinrichtungen jede anstehende Personalentscheidung von außen auf unbestimmte Zeit verschieben oder fvollständig aussetzen, wenn er oder sie der magischen Justiz vorlegen kann, dass eine solche Gefährdung der Unabhängigkeit besteht. Sie brauchen also nur Beweise zu ... öhm ... beschaffen, die Ihnen erlauben, das magische Kriegsrecht auszurufen."

"Wieso hat mein Rechtsberater mir das nicht so gesagt, wie Sie das gerade mal eben aus dem Handgelenk geschüttelt haben, Ms. Rockwell?" fragte der Minister. "Der hat mir nur die Paragraphen zitiert, die mir ermöglichten, wegen der Überfälle von Werwölfen und Vampiren die Wahl bis auf später zu verschieben."

"Tja, weil Mr. Catlock offenbar kein Freund von staubigen Gesetzbüchern ist, wie mein Vater, der wissen wollte, ob wir wegen unserer afrikanischen Wurzeln eine Entschädigung für die von unseren versklavten Vorfahren erlittenen Misshandlungen einklagen könnten. Er sagte, dass es in den USA der Nichtmagier so viele uralte Gesetze gebe, die heute überhaupt keinen Sinn mehr machten, aber nicht abgeschafft wurden, dass da sicher was zu finden sei. Leider stand in einem der Gesetzbücher, dass erst nach der Abschaffung der Sklaverei afrikanischstämmige Zauberer in die Staaten einwanderten, um ihren dorthin verschleppten Verwandten ohne magische Befähigung beizustehen. Weil sie eben nicht unmittelbare Nachkommen der ehemaligenSklaven waren bestehe weder für sie noch für ihre unmittelbaren Nachkommen ein Recht auf Entschädigung. War zumindest ein netter Versuch", sagte Taffy Rockwell. Kelly Grumman nickte beipflichtend. "Aber zumindest hast du dabei dieses verstaubte Kriegsrechtsgesetz kennengelernt, Taff", sagte Kelly und nahm dem Minister damit die Worte aus dem Mund.

"Ich werde meinen Rechtsbeistand noch einmal befragen und zusehen, dass ich die nötigen Beweise vorlegen kann", grinste Buggles und dachte: "Was dieser texanische Ex-Säufer mit den Mesopotamiern angestellt hat kann ich schon lange." Dann fiel ihm noch was ein, womit er sich die Unterstützung der vierzehn verbliebenen Betrüger sichern konnte.

"Auch wenn Sie, Ms. Grumman, die Geheimniswahrerin dieser Villa und ihrer Bewohner sind sind Sie hier nicht absolut sicher vor Vita Magica. Diese könnten die von Ihnen erwähnten Verwandten benutzen, um einen Bann über das Land zu legen, der sofort wirksam wird, wenn Sie das sichere Haus verlassen. Das wird Sie wiederum dazu bringen, es gar nicht erst zu verlassen. Damit wäre die von Ihnen geforderte Reisefreiheit endgültig fort. Tja, und Ihre Verwandten werden wohl kaum mit Ihnen allen zusammen in diesem Haus bleiben wollen und auf all das verzichten, was deren Leben einen Sinn gibt. Insofern sollten wir alle zusammen darauf hoffen, dass mir nichts zustößt, was wir alle dann bereuen müssten. Aber danke für den Tipp mit dem alten Bürgerschutzgesetz, Ms. Rockwell. Ich werde es wie erwähnt nachprüfen und wenn ausreichend begründet anwenden. Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Tag."

Als der Minister das Haus verließ, um außerhalb der Appariersperre zu verschwinden sagte Kelly zu Taffy: "Das war ein sehr guter Einfall, dem mit einem verstaubten Paragraphen zu kommen." Taffy erwiderte: "Das ist mir auch erst in dem Moment wieder eingefallen, als er meinte, wir sollten zusehen, dass er nicht sein Amt verliert. Mann, ich hasse das, dass der uns am langen Führstrick haltenkann. Aber leider hat der Kerl recht. Wenn VM dieses Land durch die Hintertür einsackt sind wir geliefert. Deren Meinung nach hat jede fruchtbare Hexe immer wieder Kinder zu kriegen, und jeder zeugungsfähige Zauberer hat dauernd welche zu machen. Wie krank ist diese Vorstellung, ey?"

"Frag mal die Magielosen, warum die immer mehr von diesen Atomsprengbomben gebaut haben oder meinen, mit viel verbranntem Öl um die Welt zu fliegen, anstatt auf Segelschiffen zu fahren. Oder frag mal deine Crup-Hündin, warum die sich immer wieder selbst an ihrem Pullerdöschen lutscht. Die Antwort ist immer dieselbe: Weil sie's können", meinte Kelly mit ebenso verbitterter Miene wie ihre ebenso afrikanischstämmige Mannschaftskameradin. Dann wandte sich Kelly an Douglas: "Und was sollte das gerade eben mit der Goldzahlung? Du weißt doch wie wir alle, dass im Moment echt keiner an Gold rankommt, um wen oder was auch immer zu bezahlen."

"Deshalb hat der uns doch die Kiste mit denKobolden erzählt, dass der glaubt, dass die selbst gerade voll in der Donnervogelscheiße sitzen, Kelly. Sonst hätte er uns auch nicht aufgetischt, dass er eigentlich keine Lust auf Neuwahlen hat und lieber weiter in den Ministersessel furzen will. Genau das hat dich, Taffy, draufgebracht, diesen alten Paragraphen aus dem Hirn zu kramen, der ihm das möglich macht. Na, sind wir immer noch 'ne Mannschaft oder sind wir 'ne Mannschaft?"

"Angeber", knurrte Morton Baker. Doch die anderen nicktenDouglas McDonald aufrichtig anerkennend zu.

"Das mit VM ist leider auch für uns ein Problem. Da müssen wir was gegen machen, damit die nicht echt das Ministerium einkassieren", sagte Kelly. Die anderen nickten. So berieten sie, wie sie Buggles und damit sich selbst am besten helfen konnten, den neuerlichen Übergriff von Vita Magica zu vereiteln. Wie vorhin beim Minister ergab sich hier, dass Einfälle des einen zu Einfällen der anderen führten, und weil sie so gut aufeinander abgestimmt waren und bei anstehenden Schwierigkeiten die für sie bestmögliche Lösung fanden, dauerte diese Beratung auch nur eine Viertelstunde. Dann stand fest, was die verbliebenen Vierzehn aus der Villa Glücksstern machen wollten.

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Winkelgasse vor dem Gringottsgebäude in London, 12.01.2005, 10:50 Uhr Ortszeit

Offenbar gefiel es vielen Hexen und Zauberern nicht, was das Zaubereiministerium wegen der andauerndenSchließung von Gringotts beschlossenhatte. Denn wie die letzten zwei Tage hatte sich auch heute wieder eine große Menge Zaubererweltangehöriger vor dem großen weißen Marmorgebäude von Gringotts versammelt und ließ hell aufleuchtende Transparente über der kopfsteingepflasterten Einkaufsmeile für magische Menschen in London schweben. "Tore Auf! Wir wollen unser Gold!" oder "Gringotts wach auf! Macht endlich auf!" waren da die noch harmlosesten Parolen, die die an die zweihundert Hexenund Zauberer von gerade mal zehn bis weit über hundert Jahren riefen.

"Ich kann vollkommen verstehen, dass Jack nicht mitkommen wollte", sagte der hochgewachsene, dunkelhäutige Zauberer im blau-goldenen Umhang zu einem nicht minder hochgewachsenen mit flammenroten Haaren. "Ja, nicht mal zwei Jahre im Amt und dann schon eine Goldkrise", sagte der rothaarige, Arthur Weasley, der eigentlich schon vor zwei Jahren als neuer Zaubereiminister antreten sollte. Doch sein Gesprächspartner Kingsley Schacklebolt hatte von allen Leuten hier noch den Auftrag, die Panne mit den angeblich ausgerotteten Dementoren und das was die dunkle Welle im April 2003 angerichtet hatte zu beheben. Arthur Weasley fand sich sehr gut damit ab, dass er "nur" die Strafverfolgungsabteilung leitete, auch wenn seine Frau Molly schon einige Tränen wegen der ausstehenden Ministerbesoldung vergossenhaben wollte.

"Ah, Minister Shacklebolt ist auch da. Und seinen roten Sheriff hat er auch mit", feixte ein säbelbeiniger Bursche im großen Getümmel der nach Öffnung von Gringotts rufenden.

"Mundungus, ich wusste nicht, dass Sie in Gringotts noch ein paar herrenlose Kessel deponiert haben", erwiderte Shacklebolt. "Haha, wie ... öhm, nein Sir", erwiderte Mundungus Fletcher. Der Zauberer, der einst mit Shacklebolt und Weasley im Phönixorden Dumbledores mitgefochten hatte, war auf Bewährung, und das schon seit fünf Jahren. Er hatte sich einfach am Eigentum einer wichtigen Dame aus der Zaubererwelt vergriffen und hatte in Aussicht gestellt bekommen, entweder fünf Jahre für Diebstahl in Neu-Askaban absitzen oder zehn Jahre lang Botengänge und Nachrichtenbeschaffungsdienst für das Ministerium. Er hatte sich für zweites entschiden, nachdem ihm wer zugetragen hatte, was alles neu in Neu-Askaban war. Manche wünschten sich da wohl die düsteren Dementoren zurück, hatte Arthur Weasley einmal zu Shacklebolt gesagt, als sie für sich waren.

"Das sind hier auf jeden Fall nicht die ärmsten Leute, die hier rumlaufen", meinte Weasley zu Shacklebolt. Dieser nickte, als er die Reihen der Protestierenden überblickte. Von den meisten wusste er, dass sie wenigstens 100000 Galleonen in einem oder zwei Verliesen hatten.

"O, der Minister", tönte es von hinten. Shacklebolt fuhr herum und unterdrückte gerade noch den Reflex, zum Zauberstab zu greifen. Dann erkannte er den jungen Zauberer mit einem Schallsammeltrichter und schenkte ihm ein breites Lächeln. Auch Arthur Weasley erkannte den jungen Zauberer, Lee Jordan.

"Darf ich Sie zu dieser Kundgebung befragen, Minister Shacklebolt?" fragte der rasende Rundfunkreporter Lee Jordan, der als Betreiber eines illegalen Durchhaltesenders im dunklen Jahr angefangen hatte und seitdem bei Sport und Gesellschaftstehmen einer der ersten am Platz war.

"Die Kundgebung von Mr. McDuffy hat noch nicht stattgefunden, Lee. Was möchten Sie mich dazu gerne fragen?" erwiderte der Zaubereiminister.

"Ja, darf ich? - Ja, also unsere gespannten Hörerinnen und Hörer wollen wissen, wie Sie nach McDuffys großem Aufruf zum sogenannten täglichen Klopfkonzert an die Tore von Gringotts die von Ihrem Handelsabteilungsleiter Jack Potts ausgearbeiteten Notfallmaßnahmen rechtfertigen können, also das mit den Verpflichtungsgutscheinen?"

"Gut, da Mr. McDuffy seine Rede noch nicht gehalten hat kann ich natürlich nicht dazu Stellung nehmen, was er denn anders oder gar besser machen möchte, solange die Tore von Gringotts geschlossen bleiben. Ich kann und möchte Ihnen und Ihrer Zuhörerschaft sagen, dass die Verpflichtungsgutscheine nur ein kleiner aber nützlicher Notfallplan sind, der in dem Moment endet, wenn wir alle wieder unsere Münzgeldvorräte nutzen dürfen. Mr. Potts hat mir zugesichert, dass das sogenannte "Herumzetteln" dadurch vereinfacht werden soll, dass hundert Verpflichtungsgutscheine beim Ministerium in einen Gutschein für hundert Verpflichtungen umgetauscht werden sollen, wenn die Frage der Fälschungssicherheit geklärt ist."

"Nun, die Franzosen sind uns da offenbar schon mit konkreten Wertumrechnungen voraus, wie ich weiß. Ist es also nur eine Frage des Stolzes, dass wir uns nicht von denen das Lohngutschriftensystem abgucken oder gar das Deutsche Notgoldverfahren übernehmen, dass wir gegen magisch erzeugte Diamanten Gold aus den Reserven der nichtmagischen Haushalte kaufen?" fragte Jordan.

"Nun, das erste stößt in Frankreich auch nicht auf ungeteilte Zustimmung, zumal dort die Bürgerinnen und Bürger fürchten, dass ihr Vermögen und ihr Kaufverhalten für unberechtigte Leute einsehbar wird. Was den vom deutschen Zaubereiministerium ausgeheck... öhm, ausgearbeiteten Notfallplan angeht, so besteht wohl eine gewisse Vereinbarung zwischen der nichtmagischen Bundesregierung und dem Zaubereiministerium, dass in gewissen Notlagen geheime Unterstützungsleistungen stattfinden. Wir in Großbritannien haben allein schon dadurch, dass wir vier Volksgruppen in vier teilautonomen Regionen zu betreuen haben und in jeder herausragende Vertreterinnen und Vertreter der magischen Welt wohnen, die sich eher selbst den Kopf abschneiden würden, als Muggelgold anzunehmen, mehr gutes als schlechtes aus einer größtenteils berührungslosen Koexistenz. Kann sein, dass Mr. McDuffy das anders sieht. Aber dann fürchte ich, wird er sehr harsche Kritik von allen denen ernten, die hier sind, um ihr unabhängig von der nichtmagischen Welt erwirtschaftetes Gold wiederzubekommen oder zumindest den freien Zugang dorthin. Deshalb kann ich im Moment nur wiedergeben, was mein Mitarbeiter Potts ausarbeitet. Näheres dazu, wenn es angewandt werden kann."

"Mr. Weasley, sind Sie hier, weil Sie fürchten, dass es zu Ausschreitungen kommt?" fragte Lee Jordan.

"Das ist aber schon sehr mutig, eine solche Frage zu stellen, Mr. Jordan", setzte Arthur Weasley an. "Ich persönlich bin auf Einladung des Ministers hier, um mir Mr. McDuffys Rede und die folgenden Meinungsäußerungen anzuhören, wie die allermeisten hier auch. Ich lege keinen Wert darauf, dass es zu Ausschreitungen kommt und bitte auf diesem Wege jede und jeden, friedlich zu bleiben. Gringotts macht nicht schneller auf, wenn sich dessen Kunden gegenseitig massakrieren." Shacklebolt und Jordan sahen Arthur Weasley verblüfft an. Mit so einer Erwiderung hatten sie wohl beide nicht gerechnet.

"Ah, die große Uhr zeigt sechs Minuten vor elf. Das heißt also noch sechs Minuten, bis wir alle hören, was außerhalb des Zaubereiministeriums an Anmerkungen oder Vorschlägen geboten ist, Ladies and Gentlemen da draußen an den Rundfunkgeräten. Sie hörten den britischen Zaubereiminister Kingsley Shacklebolt und den Leiter der Abteilung für magisches Recht und Sicherheitswesen Arthur Weasley. Ich danke Ihnen beiden für diese Eindrücke vor der Kundgebung.

"Noch einen erfolgreichen Tag, Mr. Jordan", sagte Arthur Weasley.

"Hi, Lee, auf Arbeit oder so hier?!" hörten Shacklebolt und Weasley noch George Weasleys Stimme.

"Ich bin hier zum arbeiten und du, Häuptling Einohr?"

"Ich will mitkriegen, was der alte McDuffy so rauslässt und dann wie die anderen darauf anspringen", erwiderte George. Dann grüßte er seinen Vater. "Habt ihr den Laden auch wirklich gut abgesichert, George?" fragte Arthur. Der seit einem gemeinen Körperteilabtrennfluch mit einem Ohr herumlaufende und seit dem Tod seines Zwillingsbruders Fred nicht immer so spaßig aufgelegte Zauberer sah seinen Vater ruhig an: "Wer bei uns was kaputtmacht wird es sein Lebenlang bereuen. Aber der Laden ist dicht. Wir haben sogar die kleinen Quiekbällchen ausgelagert."

"Ausgelagert. Zu wem bitte?" fragte Arthur seinen Sohn argwöhnisch. "Tantchen Muriel. Die ist so verschossen in die kleinen Dinger, dass die uns die alle abkaufen würde. Tja, aber im Moment kommt sie nicht an ihr Gold dran, deshalb zahlt sie schon mal welche durch Fütterung und Betreuung an, ganz nach Pottys Verpflichtungsgutschriftsystem."

"Er heißt Mister Potts, Mister Weasley Junior", brummte Shacklebolt. "Oder würden Sie es hinnehmen, wenn Ihr Schwager Harry Potter so genannt würde, oder Ihre seinen Nachnamen tragende Schwester oder ihr zukünftiger Neffe?"

"Alles klar, Minister Shacklebolt, wollte nicht fies sein. Aber das Verpflichtungsgutscheinsystem ist der größte Scherz, den es seit dem tragbaren Sumpf und dem Inferno Deluxe gegeben hat, Hut ab, oder Chapeau, wie die Franzosen sagen."

"Sie werden Sicher bald wieder Gelegenheit haben, ihre höchst kreativen Belustigungsartikel und Schadenfreudenspender an die Leute zu bringen, George", sagte Shacklebolt.

"Ja, wenn Mister Potts nicht in seiner landesweiten Ansprache rumgetönt hätte, dass sich die Leute mit den gegenseitigenVerpflichtungen bloß nur "Anständiges Zeug" kaufen sollen. Da sind wir natürlich mit dem Laden voll unten durch, und die Koexistenz mit Zonko zerbröselt jeden Tag mehr und mehr, weil die in Hogsmeade nur noch an deren Bürgersleute verkaufen, weil die mitgekriegt haben, dass die in Millemerveilles auch nur noch Gold von Leuten von da nehmen. Superidee! Das bringt den Handel voll in Schwung", erwiderte George Weasley.

"Und was wissen Sie neues?" fragte Shacklebolt. "Dass da gleich der alte McDuffy auf die weiße Bühne hüpft und was über seine Pläne erzählt, die Kobolde von Gringotts wieder wachzukriegen", sagte George Weasley.

"Ui, dann sollten wir besser mal hierbleiben. Dann kriegen wir das ganz sicher auch mit, nicht wahr, Arthur?" wandte sich Shacklebolt grinsend an seinen Mitarbeiter. "Ja, stimmt, das ist allemal besser als auf die nächste Zeitung zu warten. Oh, wenn man dem Wichtel Pfeift."

Ein Reporter vom Tagespropheten kam eilfertig angelaufen und fragte die zwei ranghohen Ministeriumszauberer, ob sie noch vor der Kundgebung was für die Zeitung sagen wollten. Beide wiederholten, was sie schon Lee Jordan gesagt hatten. George Weasley nutzte die Gelegenheit, sich unter die Leute zu mischen, auch wenn sein rotes Haar wie ein Leuchtsignal wirkte. Doch da er sich mit seinem jüngeren Bruder Ron zusammenstellte fiel er nicht mehr so heftig auf.

Als die Uhr über Prazap die elfte Stunde zeigte wurde es schlagartig ruhig. Nur die Transparente blinkten und sprühten noch ihre Parolen. Dann apparierte ein ziemlich beleibter Zauberer mit schwarz-grauem Lockenschopf auf der sich selbst aufblasenden Bühne und blickte in die Runde. Dann sah er auf die Uhr und wirkte den Sonorus-Zauber. "Tach zusammen!" rief er in die Runde. Dann begrüßte er noch den Minister und bedauerte, dass dessen "Goldwart" Potts nicht da war. "Gut, muss ich dem halt meinen kleinen Vorschlagskatalog ins Ministerium schicken, wenn meine alte Gerty noch so schwere Post tragen kann. Aber vielleicht hört der Drückeberger ja über Potterwatch oder Zauberklang und die anderen Wortpuster zu. Also, folgendes: ..."

Damit begann eine von Wut und Verdrossenheit gefärbte Aufzählung von Nachgiebigkeiten gegenüber den Kobolden, um dann zu seiner meinung nach wirklich anständigen Notfallübereinkommen zu kommen. Zu denen gehörten laut McDuffy die Aufkündigung aller Schulden, die jemand bei den Koboldenhatte, ob Ministerium, Geschäftsleute oder Privatpersonen. Des weiteren verlangte er ein Zahlungsverfahren mit Arbeitszeitgutschrift, wobei er eine Staffelung nach Wert der Arbeit verlangte, wodurch jene, die wichtiges zu tun hatten, doppelt bis zehnmal so viel gutgeschrieben bekamen wie Botenleute oder Tischabwischer in den Cafés und Speiselokalen. Dies sei in den Vereinigten Staaten gleich so eingeführt worden. Auch wollte er haben, dass die Kobolde für jeden Tag, den Gringotts geschlossen blieb, jedem Kunden pro Verlies zehn Galleonen gutschrieben, beginnend am 1. Januar 2005. Falls die Kobolde darauf nicht eingehen wollten sollte eben zugesehen werden, eigene Rohstoffvorkommen zu erschließen und derenVerkauf dann nach bisheriger Einstufung der Arbeitenden Hexen und Zauberer an die Bürger verteilen. Auch sollte geprüft werden, ob das mit den Kobolden seit 1613 bestehende Abkommen nicht aufgekündigt werden sollte, um mit anderen Goldfachleuten aus der Zaubererwelt ein neues Abkommen zu schließen, zum Beispiel mit den Zwergen. Diese Ankündigung löste ein verdutztes "Uuu" aus. Der in der Menge mithörende Lucius Malfoy rief zurück: "Sie wollen den Drachen gegen den Basilisken eintauschen, McDuffy. Und sie wollen von den Muggeln Geld nehmen. Schämen Sie sich nicht?"

"Wunder tmich, dass jemand, der laut vielen Aussagen und Gerüchten mehr als ein randvolles Verlies in Gringotts hat so drauf aus ist, weiter von den Kobolden abhängig zu seinn, Mr. Malfoy. Aber zu Ihrer Beruhigung: Erst mal geht's um die Wiedereröffnung von Gringotts. Je schneller das Tor da wieder aufgeht, desto weniger Probleme kriegen die Kobolde mit uns oder den Zwergen. Und was den von Ihnenund den anderen Ex-Todessern weiterhin verbreiteten Glauben an die reine Zaubererwelt angeht, Mr. Malfoy und alle anderen, wir leben auf zwei Inseln, aber wir sind keine Insel. Die Zeiten der totalen Abschottung sind bald um, und vielleicht sollten wir mal zusehen, wie wir so behutsam wie möglich über rein geschäftliche und dann politische Wege mit den Nichtzauberern klarkommen. Sie müssen ja keine Muggelfrau heiraten, um an Geld zu kommen, Mr. Malfoy. Öhm, den Zauberstab besser wieder wegtun. Meine Leute und ich haben die Bühne gegen fiese Unterbrechungen abgesichert. Wer hier draufsteht ist sicher."

"Ach ja?!" stieß der wutrote Lucius Malfoy aus. Er ließ seinen Zauberstab durch die Luft peitschen. die vor ihm stehenden sprangen zur Seite. Ein silberner Blitz zuckte zur Bühne, ballte sich zu einer Lichtkugel zusammen und flog leise sirrend zurück, um in Malfoys Gesicht zu landen. Eine Sekunde später wirkte es, als trüge er eine silberne ganzkopfmaske, die jedoch keine Löcher zum Atmen hatte. Sofort sprangen zwei Zauberer in grüner Heilertracht aus der Menge und lösten das silbern leuchtende Gebilde auf. Keuchend und röchelnd rang Malfoy um Atemluft. "Haben Sie das nicht bei Ihrem großen Meister gelernt, Lucius? Wer nicht hören will muss fühlen", sagte McDuffy verächtlich. Malfoy funkelte in Richtung Bühne. Dessen Blonde Frau Narzissa eilte zu ihm und zog ihn in die Menge zurück, obwohl er sich zu wehren versuchte. "Also, wo war ich?" fragte der immer noch mit dem Sonorus-Zauber belegte McDuffy. Dann führte er seine Vorschläge und Forderungen weiter aus, alles in allem zwanzig angeblich bessere Alternativen zum Verpflichtungsgutscheinverfahren. Dann bedankte er sich bei den Zuhörern und disapparierte. Die Bühne erbebte kurz. Danach trat noch Huge McLaughlin auf, ein schottischer Clanshäuptling, von der Kappe über den Kilt in seinen Familienfarben bis zu den Schnallenschuhen. Fehlten nur noch ein Claymore, ein Dolch oder ein Dudelsack, dachte Arthur Weasley. McLaughlin erwähnte was, dass er mit dem alten McFusty verhandele, ob sie nicht alle ihr Gold auf die Dracheninsel brachten und jeder Kunde einen Portschlüssel bekäme, um einmal im Monat dort hin- und wieder zurückzureisen. Allerdings wollte er das erst nur für Schotten machenund auch erst dann, wenn die Kobolde sich weigerten, weiterhin der Zaubererwelt zu dienen. "Wie Engländer und Iren das anstellen wollen kriegen Sie sicher selbst raus. Die Waliser haben ja auch ihre Drachenreservate, wo sie auch Gold einlagern können. Soweit von mir für Sie alle", sagte McLaughlin und disapparierte.

Jetzt trat Kyra Brubaker auf, eine Hexe mitte sechzig und Verfasserin verschiedener Bücher über menschengestaltliche Zauberwesen. Sie verwies auf die ewige Fehde zwischen Kobolden und Zwergen und dass es für die Zaubererwelt ein Nachteil wäre, wenn sie beide Zauberwesengruppen gegeneinander aufbrachten. Das wäre schon bei den Koboldaufständen 1612 fast danebengegangen. Die Deutschen könntenheute noch Lieder über verlustreiche Zwischenfälle mit Kobolden und Zwergen singen, und dass eine gewisse Anthelia vom Bitterwald als dunkle Herrin der britischen Hexen die Riesenkriege durch Waffenlieferungen und Intrigen geschürt hatte, habe zu schweren Zerstörungen in der magischen und der Muggelwelt geführt. "Auch wenn Mr. McDuffy in einigen Punkten recht hat und wir unbedingt erfahren sollten, was genau die Kobolde so beeinträchtigt hat, so warne ich doch davor, auch nur davon anzufangen, mit den Zwergen zu verhandeln. Sicher wird es hier wen geben, der oder die sagt, dass Zwerge fleißiger und ehrlicher sind. Aber erstens gilt das nicht für alle Zwerge und zweitens ist genau diese Charaktereigenschaft ein Nachteil für uns. Denn die Zwerge würden uns sehr strickte und punktgenau einzuhaltende Bedingungen abverlangen. Sind Sie alle wirklich bereit, für neues Gold - Das aus Gringotts werden Sie nämlich dann nicht mehr kriegen - den Drachen gegen den Basilisken einzutauschen, wie Mr. Malfoy es erwähnt hat, auch wenn ich längst nicht alle seine Ansichten teile."

"Dann sollen die Kobolde endlich mal ansagen, wann genau Gringotts wieder aufgemacht wird und McDuffys Verzugsausgleich rüberreichen!" rief ein anderer Zauberer aus der Menge. "Was die Auskunft angeht würden sie das sicher tun, wenn sie keine Angst haben müssen, dass wir ihnen das als Schwächeeingeständnis auslegen", sagte Mrs. Brubaker. "Was die Verzugsausgleichszahlung angeht holen Sie sich am besten Ohrenschützer, damit sie das Lachen der ältesten Kobolde ertragen können! Vielleicht ist was zu verhandeln, was die Wartezeit ausgleichen hilft. Aber eine pauschale Verzugszahlung dürften die Hüter von Gringotts als Witz auffassen. Aber vielleicht irre ich mich ja, und die Kobolde von Gringotts warten nur darauf, uns ein großzügiges Entschädigungsangebot zu machen. Das werden wir erst erfahren, wenn wir wieder mit den Koboldenin Gringotts reden können. Das wird aber nur möglich sein, wenn die sich nicht von tausend Zauberstäben bedroht fühlen müssen. Falls Mr. McDuffy sich an dieser Unterhandlung beteiligen will mag er ja gerne mit Minister Shacklebolt oder Mr. Potts darüber sprechen, ob er als Privatperson in die Gespräche mit eingebunden wird oder nicht. Das kann ich nicht entscheiden. Bedenken Sie alle nur bitte, dass der einzige große Vorteil von uns Menschen darin liegt, dass wir Magie über Zauberstäbe wirken können. Ansonsten sind uns etliche Zauberwesenarten haushoch, ja turmhoch überlegen. Bedenken Sie das immer, bei allem verständlichem Unmut, den wir alle fühlen, weil uns der Zugang zu unserem Gold versperrt ist!"

Sie verabschiedete sich von der Zuhörerschaft und verschwand ebenfalls in leerer Luft.

"Das kann noch sehr anstrengend werden", sagte Arthur Weasley dem Zaubereiminister zugewandt. Dieser nickte leicht verdrossen. "Wollen Sie gegen Lucius Malfoy Anklage erheben, weil er in aller Öffentlichkeit Gorattas Maske ausgeführt hat?" fragte Kingsley Shacklebolt seinen Mitarbeiter.

"Ich denke, dass sie ihm selbst ins gesicht geflogen ist dürfte für ihn Strafe genug sein", erwiderte Weasley. "Der sollte doch wissen, dass McDuffy und sein Clan Experten in Fluchabwehrzaubern sind."

"Jetzt weiß er es ganz sicher", erwiderte Shacklebolt.

"Aber Sie haben recht, Kingsley, dass ich ihm wenigstens ein Bußgeld wegen unangekündigten Angriffs auf einen Zaubererweltbürger abverlangen muss, damit er nicht denkt, er dürfe sich alles erlauben." "Da wird es ihn sicher freuen, dass er im Moment nicht an sein Gold kommt", erwiderte Shacklebolt mit beißendem Spott in der Stimme.

"Glauben Sie es mir, Kingsley, dass dieser aalglatte Halunke immer noch genug Galleonen in seinem eigenen Keller hortet. Wir haben sein Haus mehrmals durchsucht, damals, bevor das mit der Kammer des Schreckens passiert ist und dann, als er in die Mysteriumsabteilung eingebrochen ist. Tja, und dann noch, um sein Vermögen zu bestimmen, damit er sich aus der ihm zustehenden Haft freikaufen konnte. Der hat sicher noch zwei Räume im Haus, die wir damals nicht gefunden haben. Da dürften noch jede Menge Galleonen bei sein. Der traut den Kobolden doch auch nicht mehr, seitdem Harry Potter und die beiden anderen das Lestrange-Verlies heimgesucht haben." Shacklebolt nickte beipflichtend.

Die Bühne schrumpfte wieder in sich zusammenund verschwand mit leisem Plopp. Die Kundgebung war vorbei. Einige der Zuhörer nutzten die aufgeladene Stimmung aus und drängten zum Tor von Gringotts. Sie beschworen schwere Hämmer herauf und hieben damit rhythmisch gegen das Tor, wobei sie "Tor auf! Lasst uns rein!" riefen. Doch die Hämmer zerbröckelten mit jedem Schlag, bis sie sich in glitzernden Staub auflösten, der in einem silbernen und blauen Funkenregen verging.

"Das geht wohl noch, dass das Tor jeden Rammversuch abwehrt", grinste Shacklebolt. Arthur Weasley ergänzte: "Das war wohl schon beim Schmieden des Tores festgelegt worden, dass es alles schwächt, was ihm schaden soll." Der Zaubereiminister nickte sacht.

"Gut, die Kundgebung ist um und ... Ah, Mr. Jordan."

"Äh, Herr Zaubereiminister, darf ich, jetzt wo wir alle die Kundgebung gehört haben, Ihren Standpunkt dazu hören?" fragte Lee Jordan. Doch da erschienen weitere Reporter mit einsatzbereiten Schreibefedern oder Schallansaugtrichtern. "Herr Minister, eine Stellungnahme zu den Forderungen McDuffys bitte", stießen sie hektisch durcheinanderredend aus. Shacklebolt stellte sich in Pose und holte Atem. Dann sagte er den Reportern zugewandt:

"Ladies and Gentlemen, gerade hörten wir die drei Redner McDuffy, McLaughlin und Brubaker, die uns allen im allgemeinen und dem von mir geleiteten Zaubereiministerium im besonderen ihre Ansichten und Handlungsvorschläge im Bezug auf die andauernde Schließung von Gringotts unterbreiteten. Einige dieser Vorschläge sind schlicht weg undurchführbar, weil sie nicht ohne guten Willen der Kobolde umgesetzt werden können. Andere hingegen können für eine Zeit, wenn Gringotts auf unbestimmte Zeit für uns verschlossen bleiben sollte - was die Betreiber ganz sicher nicht beabsichtigen - in Erwägung gezogen werden. Da Mr. McDuffy der Ansicht ist, dass wir, das Zaubereiministerium, nicht auf ihn hören würden hat er es ja vorgezogen, seine Vorschläge einer breiten Öffentlichkeit zu übermitteln, bei der die meisten Personen keine so verantwortungsvollen Stellungen haben wie Mr. Potts oder ich. Natürlich ist es für Leute, die selbst keine Verantwortung für alle anderen tragen müssen leicht, alles zu fordern, ob möglich oder unmöglich. Am Ende zählt jedoch, wie das, was unternommen wird, auf die betroffenen Personen und Wesen wirkt und ob diese Wirkung die von dem, der die Verantwortung trägt gewünscht ist oder nicht. Insofern kann ich Mr. McDuffy in den Punkten, was die völlige Aufkündigung des Werthütungs- und Münzprägungsabkommens von 1613 angeht nur sagen, dass er damit die Aufgabe aller im Gebäude von Gringotts enthaltenen Vermögenswerte unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger fordert. Ich denke nicht, dass Sie und alle anderen Zaubererweltangehörigen dies von mir erwarten, dass ich die Ersparnisse und wertvollen Gegenstände unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger einfach so opfere, nur weil gerade eine Lage besteht, die das bisherige Handels- und Finanzgeschehen unseres Landes beeinträchtigt. Das wäre so, als wollten Sie Mäuse mit Ratten aus dem Haus vertreiben oder den Drachen mit dem Basilisken, wie es Mr. Malfoy und Mrs. Brubaker formuliert haben."

"Apropos Malfoy, werden Sie gegen ihn Anzeige erstatten, Mr. Weasley?" fragte Lee Jordan.

"Ich werde prüfen, ob er sich gegen die Gesetze zur schädlichen Zauberei vergangen hat und entsprechend befinden, ob es zu einer gerichtlichen Klärung oder eines Bußgeldes zwischen 100 und 500 Galleonen kommt, da Mr. Malfoys zugegeben heimtückischer und lebensbedrohlicher Zauber auf ihn selbst zurückfiel und somit keinem anderen als dem Urheber geschadet hat."

"Werden Sie Mr. McDuffy zu einer weiteren Besprechung einladen?" fragte ein Reporter des Tagespropheten. "Nur weil er eine Menge Gleichgesinnter in unseren Reihen anspricht empfiehlt er sich damit noch nicht für eine Einbeziehung in ministerielle Vorhaben zur Bewältigung der Goldkrise", sagte Shacklebolt ruhig.

"Danke für die Stellungnahme", sagte Jordan und zog sich zurück. Andere wollten noch auf einzelne Punkte der Reden eingehen. Arthur Weasley blieb dabei ganz ruhig. Erst als er gefragt wurde, ob er mit weiteren magischen Gewalthandlungen rechnen müsse sagte er: "Ich habe das vorhin schon Ihrem Kollegen Mr. Jordan gesagt, dass ich sehr hoffe, dass alle magischen Mitmenschen erkennen, dass sie nicht schneller an ihr Gold kommen, wenn sie sich magisch oder mit reiner Körperkraft mit den Kobolden oder wem auch immer anlegen. Auch wenn es einige Beispiele für eine gefühlsgetriebene Überstürzung gab und gibt setze ich doch sehr auf eine Mehrheit, die den nötigen Verstand hat, dies zu erkennen und sich daran zu halten. Aber natürlich werden meine Leute und ich zusehen, dass die Anwesenheit von Eingreiftrupplern in der Winkelgasse auf ein entsprechend hohes Maß gesetzt wird, um Ausrutscher wie den von Mr. Malfoy zu verhüten oder sofort zu ahnden. Es steht auch immer noch in den Gesetzen, dass bei Verhängung eines Bußgeldes und Feststellung der Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsunwilligkeit pro 20 Galleonen ein Tag in Neu-Askaban verhängt werden kann. Ich hoffe, diese Aussicht dürfte denen, die meinen, alles mit Gewalt regeln zu können, die nötige Einsicht bringen, dass es ihnen und ihren Angehörigen nichts einbringt, wenn sie entweder Bußgelder zu zahlen haben oder in Ausgleichshaft sitzen müssen."

Die vier verbliebenen Zauberer von den verschiedenen Nachrichtenmedien verzogen ihre Gesichter. Doch Arthur Weasley machte keine Anstalten, seine Aussage zu ergänzen oder abzuändern.

Nachdem die beiden ranghöchsten Zauberer Großbritanniens das unvermeidliche Aufgebot der Reporter mit genug Aussagen und Stellungnahmen gefüttert hatten kehrten sie in das Ministeriumsgebäude zurück.

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Im Versammlungsraum des obersten Rates von Vita Magica, 13.01.2005, 10:20 Uhr Ortszeit

Der hohe Rat des Lebens war vollzählig versammelt. Alle Hexen und Zauberer, die mehr als acht eigene Kinder gezeugt oder geboren hatten saßen um den großen Konferenztisch herum. Da Mater Vicesima Secunda die Mutter mit den mit abstand meisten Kindern war hatte sie den Vorsitz. Gerade erwähnte Pater Octavius Franciae, was er über geheime Verbindungsleute aus dem handelsverband Frankreichs erfahren hatte. "Offenbar hat Colbert mit den führenden Unternehmerinnen und Unternehmern der französischen Zaubererwelt eine ganz geheime Besprechung geführt, um das weitere Vorgehen zu klären. Der in Frankreich in Kraft befindliche Vier-Stufen-Plan ist im Grunde nur ein Beruhigungstrank für die dortigen Bewohner, um die Bevölkerung darauf hinzuführen, ohne die Kobolde auszukommen, auch wenn sie Gringotts wiedereröffnen. Den genauen Gesprächsinhalt kennen meine Leute nicht, weil es wohl sub Rosa geführt wurde. Aber es ist die Erklärung für die widerstandslose Beteiligung der größten Unternehmen an dem gerade durchgeführten Notfallplan. Wir müssen also wie bei den Australiern davon ausgehen, dass sie einen Weg einschlagen, um die Kobolde für alle Zeiten aus dem Handels- und Goldwertbestimmungsverfahren auszuschließen." Ein Zauberer aus der australischen Sektion des Rates nickte beipflichtend. Er bat ums Wort und bekam es.

"Nur dass Rockridge, Badhurst und Flatfoot bei uns eine ungleich bessere Ausgangsmöglichkeit haben, sich von künftigen Abkommen mit den Kobolden unabhängig zu machen. Zum einen ist allen Zaubererfamilien und -unternehmen das Münzgeldvermögen abhandengekommen, so dass die Kobolde uns nicht mit Einbehaltung unseres Geldes erpressen können. Zum zweiten hat das Zaubereiministerium Zugriff auf sehr ergiebige Gold- und Edelsteinvorkommen. Zum dritten gilt seit 1820 ein auf Druck der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien geschlossener Vertrag, dass nach Australien eingewanderte Kobolde, die mehr als zehn Jahre oder von Geburt an dort leben, das Goldwertbestimmungsrecht und Bankenrecht wie in Großbritannien ausüben dürfen. Immerhin haben meine Vorfahren es damalls hingekriegt, dass nicht jeder Kobold in Australien unser Geld hüten oder prägen darf. Das heißt wiederum, dass nach dem völligen Aussterben aller Kobolde auf australischem Boden kein auswärtiger Kobold Erbansprüche auf die Führung von Gringotts stellen kann. Mit anderen Worten, wir Australier können ganz ohne die Kobolde neu anfangen, ohne von denen aus Europa behelligt zu werden."

"Dann ist das mit der Goldspende nach Australien ja völliger Humbug", erwiderte Pater Octavius Franciae. Sein australischer Ratskamerad konnte dem nur beipflichten. "Na ja, aber unser Zaubereiministerium wird es keinem auf die Nase binden, dass es gerade eine geniale Gelegenheit hat, sich vom letzten britischen Gängelband zu lösen, dem Goldhütungs- und Prägeabkommen mit den Kobolden."

"Also dürfen wir festhalten, dass sich zwei Zaubereiministerien ganz heimlich vom jahrhundertelangen Miteinander zwischen Hexen, Zauberern und Kobolden freimachen wollen", sagte Mater Vicesima Secunda.

"Drei", sagte einer der US-amerikanischen Vertreter. Er bekam das Wort und führte aus, dass Minister Buggles das Vorhaben Wishbones wieder aufgegriffen habe, eigenes Papiergeld in Umlauf zu bringen, wenn es gegen magische Vervielfältigung und Fälschung abgesichert werden konnte. Es sei da schon was in Planung, was die Unveränderlichkeit von Gold auch auf besondere Druckunterlagen übertragen werden könne.

"Und ihr habt immer noch eine Nachrichtensperre, seitdem Buggles' Ministerium den Arbeitszeit-gegen-Waren-Handel eingeführt hat?" fragte Mater Vicesima Secunda.

"Ich denke, Buggles möchte eine Lage heraufbeschwören, die ihn über die nächsten Jahre als Zaubereiminister oder MAKUSA-Präsident absichert."

"Ja, und er nutzt die Lage aus, dass gerade keiner an sein oder ihr Gold rankommt", sagte Mater Vicesima Secunda. "Was das ganze Ungezifer mit Fell oder langen Zähnen angeht habe ich ihm unseren Vorschlag von unserer weißen Botin übergeben lassen. Er ist immer noch hinterher, wie sie in seine besonders gesicherten Privaträume vordringen kann, ohne Portschlüsselalarm auszulösen. Aber er ist geneigt, unser Angebot anzunehmen, falls es gelingt, den Zwölferrat der obersten Richter gewogen zu stimmen."

"Ich gebe hier zu Protokoll, dass mir das missfällt, dass die weiße Botin, die ja eine Bürgerin meiner Heimat ist, ausschließlich an dich berichtet und nicht zu mir kommt oder von mir gesandt wird", warf Pater Duodecimus Occidentalis ein. Die Ratsvorsitzende bestätigte das und begründete dieses Vorgehen einmal mehr damit, dass laut Ratsbeschluss vom zweiten März 1944 Boten und Botinnen, die zu einem Zaubereiminister geschickt wurden, nur der Hexe oder dem Zauberer mit den meisten nachgewiesenen Nachkommen berichtspflichtig und weisungsgebunden seien.

"Dann krieg selbst heraus, wie du zwölf erfahrene Zauberer aus hochgesicherten Räumen herausholen und unseren Zielen gewogen stimmen willst!" sagte der ranghöchste Rat der US-amerikanischen Sektion.

"Daran wird gearbeitet. Falls es dort gelingt, festen Fuß zu fassen können wir auch anderswo mehr Bewegungs- und Handlungsfreiheit herausholen", sagte Mater Vicesima Secunda. "Außerdem müssen wir endlich einen Weg finden, diese Sabberhexenbrut aus dem italienischenzaubereiministerium herauszukriegen, bevor die noch unsere dortigen Getreuen auffindet und gegen uns einsetzt." Darin waren sich alle hier einig.

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Am mitternächtlichen Ende der schwingenden Brücke unter den Bergen, 14.01.2005 Menschenzeitrechnung, kurz nach Mitternacht

Malin sah es Ontwarin an, dass er wohl hoffte, in wenigen Stunden oder Minuten Omur Hackenschläger zum Sieger ausrufen zu können. Der gerade vierzig Jahre alte Werkzeugschmiedemeister, der diamantsilberne Spitz- und Breithacken machen konnte, die selbst durch Granit drangen wie heiße Messer durch Butter, tänzelte auf seinen kräftigen Beinen, um deren Beweglichkeit zu üben und spannte immer wieder die Armmuskeln an. Der sechzig Jahre ältere Malin Gaorinssohn Eisenknoter zeigte ihm, dass er ebenfalls über gute Muskeln verfügte und machte drei blitzschnelle Tanzschritte und vollführte aus dem dritten Schritt heraus einen hohen Sprung, der ihm ermöglichte, sich zweimal um die eigene Körperachse zu drehen, bevor er sicher auf beiden Füßen aufkam.

Wie beim Drei-Höhlen-Kampf durften die Kämpfer keine eigenen Metallrüstungen oder eigene Waffen mitbringen. Dafür bekamen sie von Ontwarins Gehilfen je ein rollbares Gestell, auf dem ein anderthalb Manneslängen hoher Sack befestigt war. In diesem waren die 25 ehernen Kugeln von fünf verschiedenen Größen und Gewichten.

"Die Schwingende Brücke ist der mit Abstand gefährlichste Weg unter unseren Bergen", setzte Ontwarin Wortweber an, der wieder in seiner Würdenträgerkleidung auftrat. "Sie zu überqueren erfordert auch schon so Mut, ein gutes Gleichgewicht und Beweglichkeit, um nicht von ihr abgeworfen zu werden. Der Strom der Vergessenheit, der tief unter ihr dahineilt, nahm schon viele wagemutige Männer aus dem Volk der Schwarzalben mit sich in die Ewigkeit. Ihn zu durchschwimmen oder ihm zu entsteigen ist bisher niemandem gelungen", führte Ontwarin weiter aus. "Der Herausforderer wird im Korb des sicheren Überweges auf das mittagsseitige Ende der Brücke getragen. Dort muss er auf den Ton des Horn der Heldens warten und dann mit seiner Last versuchen, die dreihundert Schritte bis zum Mitternächtlichen Ende zurückzulegen, ohne in den Strom des Vergessens hinunterzustürzen. Der Herausgeforderte wird zur selben Zeit vom mitternächtigen Ende der Brücke aus losziehen, um das gegenüberligende Ende zu erreichen, ohne hinunterzustürzen. Jedem der beiden Kämpfer ist es gestattet, die mitgeführten ehernen Kugeln zu benutzen, um seinen Gegner zu Fall zu Bringen. Wem es glückt, das jeweils gegenüberliegende Ende als einziger zu erreichen, der hat die zweite Königsprüfung bestanden. Doch wer von euch mehr um sein Leben als um Hab, Gut und Ehre bangt darf vor dem Kampf erklären, ihn nicht bestreiten zu wollen. Verzichten beide auf die Prüfung, so wird jener zum Sieger, der als nächstes zur Königsprüfung antreten will und die Kämpfer verlieren Hab, Gut und alles erworbene Ansehen. Ist dies verstanden?"

"Dies ist verstanden", antworteten Hackenschläger und Malin Eisenknoter.

So frage ich dich, Omur Tamorinssohn Hackenschläger, nimmst du den Kampf der ehernen Kugeln auf der schwingenden Brücke an oder nicht?" "Ich nehme den Kampf an, Hüter der Ereignisse und Bräuche", erwiderte Hackenschläger für alle anwesendenZunft- und Kriegsmeister deutlich. "Malin König Gaorins Sohn Eisenknoter, nimmst du den Kampf der ehernen Kugeln auf der schwingenden Brücke an oder nicht?" wandte sich Ontwarin an den Herausgeforderten. "Ich nehme den Kampf an, Hüter der Ereignisse und Bräuche", bekundete Malin ebenfalls laut und deutlich. "Damit erfolgt die zweitte Königsprüfung. Omur Hackenschläger, besteige mit deiner zugesagten Last den Förderkorb des sicheren Überweges!"

Von oben wurde ein Korb aus Eisenstreben an vier Ketten herabgelassen. In dem Korb gab es eine niedrige Tür. Als der Korb aufsetzte klappte die Tür von selbst auf. Omur grinste noch einmal überlegen zu Malin herüber und schob das Rollgestell mit den klimpernden Eisenkugeln in den Korb. Dann stieg er selbst ein. "Ich bin bereit!" rief Omur. Daraufhin hob sich der Korb. Die Tür fiel scheppernd zu. In einer Höhe von einer halben Manneslänge wurde der Korb über den Rand des unersichtlich tiefen Abgrundes bewegt. Dann glitt der Korb an weit über ihnen verlaufenden Schienen über den gähnenden Abgrund, aus dessen Tiefe das Rauschen jenes unterirdischen Wildbaches klang, der als Strom des Vergessens bekannt war. Wer hineinfiel wurde nie wieder aufgefunden und konnte somit auch nicht den ewigen Flammen Durins übergeben werden. Daher mieden die Zwerge unter den Bergen der deutschen Lande es, in diesen reißenden Strom hinabzufallen. Die schwingende Brücke, die an sehr locker gespannten Drahtseilen hing, wurde nur zum Zweck eines Kampfes betreten oder von Leuten, die eine Ehrenschuld durch eine Mutprobe begleichen sollten oder vom Gericht der vier höchsten Meister einem Durinsurteil unterworfen wurden. Wer es schaffte, im aufrechten Gang über die Brücke zu kommen bewies Durins Gnade und durfte dann mit allen Ehren weiterleben. Doch Durins Gnade war ein äußerst selten dargebrachtes Gut.

Der Korb mit Omur glitt in knapp einer Minute bis zum anderen Ende der Brücke hinüber. Dort wurde er wieder auf festem Boden abgestellt. Die Tür klappte auf und Omur entstieg dem Beförderungsmittel mit seinen ausgeliehenen Wurfgeschossen. "Nimm Aufstellung an dieser Seite der Brücke, Malin Eisenknoter!" befahl Ontwarin. Der Sohn des verstorbenen Königs gehorchte.

Vor ihm lag sie, die schwingende Brücke, gerade einmal breit genug für einen einzigen erwachsenen Zwergenmann. Sie bestand aus rechteckigen Steinplatten, die nur an den dünnen, lockeren Seilen hingen und nicht direkt miteinander verbunden waren. Auf der anderen Seite stand Omur und blickte herausfordernd über das dreihundert Schritte lange Bauwerk.

Ontwarin winkte einem seiner Helfer zu, der ein goldenes Horn mit eingeritzten Runen für Reinheit, Kraft und Weite in sich trug, das Horn der Helden. Tönte es, wusste jeder erwachsene Zwerg, dass der Kampf um die Königswürde weiterging.

Wie es dem Hornbläser zustand musste er nicht auf eine Anweisung warten, sondern konnte den Zeitpunkt frei wählen, wann er das Horn blies, solange es vom letzten Befehl zum Ton nicht mehr als eine Zehntelstunde dauerte. Doch der Hornbläser wollte nicht so lange warten. Er setzte das Horn an und blies aus vollen Backen hinein. Ein mittelhoher, blitzsauberer Ton, wie der in der Luft festgehaltene Klang einer mittelgroßen Bronzeglocke, erfüllte die Luft. Zugleich rückten die zwei Kämpfer vor und betraten ihr jeweiliges Brückenende.

Ja, die Brücke trug ihren Namen völlig zurecht. Sie schwang bereits unheilvoll aus, als beide Gegner zugleich auf die ersten Steinplatten traten. Die nicht straff gespannten Seile knirschten leise über das verderbenverheißende Rauschen aus der Tiefe hinweg. Malin musste um sein Gleichgewicht ringen, als er das Rollgestell mit dem Sack vor sich herschob. Sein Gegner versuchte bereits, mit größeren Schritten und vorgebeugtem Oberkörper über die Brücke zu eilen, um in die richtige Wurfweite für die kleinsten und damit am schnellsten werfbaren Kugeln zu finden. Dabei lenkte er die Brücke derartig bedrohlich aus, dass Malin schon fürchtete, gleich in die Tiefe zu stürzen. Doch er stemmte sich mit aller Gewandtheit gegen das Verhängnis und griff bereits nach einer kleinen Eisenkugel. Wenn Omur in der richtigen Entfernung war wollte er schneller sein als dieser.

Hin und her, rauf und runter schwang die gefährliche Brücke. Von beiden Enden erstrahlten flammenlose Lichtsteine, die das Sonnenlicht eines vollen Tages gesammelt hatten und es bei Dunkelheit wieder freigaben.

Fast hätte Omur einen falschen Schritt getan. Er bekam sehr bedenkliche Schlagseite. Doch schnell fing er sich mit seinem linken Arm ab und schaffte es, in eine gebückte Stellung zurückzufinden.

"Bück dichnicht wie ein altes Weib, Omur. Du hältst dich doch für so stark!" rief Malin herausfordernd.

"Du wirst gleich in den alle Ehrlosen verschlingenden Strom fallen, mittelalter Wicht! Dann werde ich mir deine Frau nehmen, deine Brut in die Minen und Bautruppen schicken und deine fette Mutter ins Haus der wertlosen Weiber bringen lassen!" rief Omur zurück und schob seinen Sack mit den Wurfgeschossen weiter voran. Mittlerweile waren beide je fünfzig Schritte vom rettenden Ufer entfernt. Ein Zurück gab es nicht. Denn das würde ja dem anderen erlauben, seinen Weg voranzuschreiten. Wer es dennoch tat und von der Brücke heruntertrat gab den Kampf auf. Auch wenn er dann nicht im Strom des Vergessens enden würde war das eigene Leben dann wertlos. Denn er wurde dann entbartet und in die Häuser der Ammen und Putzfrauen gesteckt, wo er als ewig unsprießbarer Wasch- und Putzarbeiten für alle anderen zu erledigen hatte.

Weiter und weiter kämpften sich die beiden Gegner über die immer wieder wild auslenkende Brücke. Einmal fürchtete Malin, beim nächsten Hopser einer Steinplatte abgeworfen zu werden. Doch er hielt sich mit einer Hand am schweren Sack auf dem Gestell fest und lauerte wie Omur darauf, in die günstige Reichweite zu kommen. Omur indes schritt regelmäßig aus und schob seine Wurfgeschosse weiter vor sich her. Da ruckte Omur hoch, eine der gerade mal ein Viertel Faustgroßen Eisenkugeln in der linken Hand haltend. Er schleuderte die Kugel, wobei er die Brücke wieder für alle beide gefährlich zum Ausschwingen brachte. Die Kugel sauste auf Malin zu. Dieser erfasste in einem halben Augenblick, wo sie ihn treffen sollte. Solange er den Sack mit allen Kugeln wie einen mehrteiligen Schild vor sich herschob konnte er Beine und Bauchraum unbesorgt vernachlässigen. Tatsächlich zielte das Wurfgeschoss auf seinen Kopf. Er wartete fast bis zum Aufprall. Dann fiel er auf die Knie. So schoss die kleine Kugel über ihn hinweg und flog weiter, bis sie mit schwirrendem Pjojoing! gegen eine unsichbare Begrenzung am mitternachtsseitigen Brückenende prallte und fast ungebremst in die Gegenrichtung zurücksauste. Malin hatte von seinem Vater gehört, dass beim Kampf der ehernen Kugeln solche Eisenabstoßungswände errichtet wurden, um die Zeugen vor Fehlwürfen zu schützen. Gleichzeitig erhöte sich die Gefahr für den Angezielten, wenn ein Fehlwurf zu ihm zurückschwirrte. Gerade im letzten Moment duckte er sich unter der kleinenEisenkugel weg, die mit einem gewissen rechtsdrall über den Rand der Brücke hinwegtrieb und somit eine erste Gabe an den Strom des Vergessens war. Wie viel ungenutztes Eisen in Form vergebener Würfe ruhte bereits in dem tief unten rauschendenStrom?

"Gruß zurück", dachte Malin und vollführte im schwankenden Lauf eine Zug-, Aushol- und Wurfbewegung. Dabei bekam er selbst Schlagseite. Doch sein Wurf war gut gezielt. Omur hätte das Geschoss mit sicherheit an die Brust bekommen, wenn er sich nicht hinter dem Eisenkugelsack versteckt hätte. Mit lautem Kling knallte Malins Kugel gegen den Sack und ließ die darin steckenden Eisenkugeln hörbar klirrend durcheinanderkullern. Das stoppte den Schwung der geworfenen Kugel. Sie schlug auf die Steinplatte der Brücke. Omur tauchte mit beiden händen danach und erwischte sie gerade noch, bevor sie zum Rand hinkullern konnte. Damit hatte er jetzt wieder 25 Kugeln zur Verfügung. "Hol dich das Wasser der Ewigkeit!" rief Omur und warf das erbeutete Wurfgeschoss mit beiden Händen auf Malin. Dieser ging in die Hocke und stemmte den Sack mit den verbleibendenKugeln hoch. Kling-klong! Omurs Wurfgeschoss knallte genau zwischen zwei eingesackte Kugeln. Malin ergriff sie mit beiden Händen, wofür er den Sack mit seinem Rollgestell wieder loslassen musste. Er bekam die ihm geltende Kugel zu fassenund legte sie in den Sack. Nun hatte er wieder 25 Kugeln. Dabei ging er beharrlich Schritt für Schritt weiter auf Omur zu. Dieser riss bereits eine Faustgroße Kugel heraus und warf sie einhändig auf ihn. Das eherne Rund zielte auf Malins Kopf, und der Königssohn wusste, dass selbst ein harter Zwergenschädel solch einen Aufprall nicht aushielt. Er riss eine zwei Köpfe große Kugel aus dem Sack und prellte damit das ihm geltende Wurfgeschoss ab, dass es im hohen Bogen und wilder Eigendrehung aus beider Männer Reichweite flog und irgendwo in mehr als hundert Schritten Entfernung von der Brücke in den Abgrund stürzen musste. "Feigling!" rief Omur. "Sich zu schützen ist nicht verboten!" rief Malin zurück. Dann ließ er die große Kugel wieder in den Sack fallen. Da kamen gleich zwei der kleinsten Eisenkugeln geflogen. Doch Omur hatte in seiner Wut und ungenauigkeit zu hoch geworfen. Malin konnte sich durch eine schnelle verbeugung vor beiden Geschossen wegducken, die nun wieder auf das Hinterende der Brücke zuflogen. Pjojoing-pjojoing! Beide Kugeln wurden von der Eisenwehrwand abgeprellt, flatterten förmlich durch die Luft und flogen viele Breiten an beiden Gegnern vorbei.

Die Brücke schwankte immer mehr, je weiter sich die beiden der Mitte näherten. Malin musste sich durch schnelle Tanzschritte im Gleichgewicht halten. Omur schritt derweil auf dem weit schwingenden Überweg wie auf einer steinernen Straße. Malin meinte zu sehen, dass er genau abgemessene Schritte tat. Er schien nicht im Ansatz ins Straucheln zu kommen. Da dämmerte ihm, dass der Gegner einen Zaubertrick anwandte, um nicht von sich aus abzurutschen. Er wusste, dass es einen Anhaftzauber gab, mit dem Schuhmacher der Zwerge die Sohlen von Kampfstiefeln belegen konnten. So konnten Zwergenkrieger selbst auf glattestem Metallboden oder Eis sicher laufen und ihnen geltende Angriffe parieren, ohne auszugleiten. Doch Malin wollte es dem anderen nicht zurufen, dass er schummelte. Ihm ging es jetzt darum, ihn von dieser wild wackelnden Brücke zu werfen, damit dieser lästige Abschnitt auf dem Weg zum ehernen Herrscherstuhl geschafft war. Doch Omur nutzte seinen sicheren Halt nun aus, um mit jedem Schritt eine weitere von den kleinen Kugeln freizuziehen und zu werfen. . Malin konnte nur mit einer der größten Kugeln die kleinen Geschosse abwehren. Manche von denen prallten vom Sack auf dem Rollgestell ab und titschten klirrend am Brückenrand auf, bevor sie auf nimmer Wiedersehen in der dunklen Tiefe verschwanden. Malin hörte es zweimal laut plumpsen und wusste, dass wieder zwei Wurfgeschosse im unterirdischen Fluss gelandet waren. Da flogen ihm die zwei nächsten Kugeln entgegen. Das waren die letzten der winzigen Wurfgeschosse. Kling-Kling! Er parierte auch diese mit der zwei Köpfe großen Kugel in seinen händen und fühlte, dass es ihn fast dabei von den Beinen kippte. Wieder knallte eine der Kugeln auf den Sack vor Malin und brachte ihn zum schwanken. Da kam Malin eine Idee, wie er der wilden Werferei ein vorzeitiges Ende machen konnte.

Noch einmal wehrte er eine Kugel ab. diese flog aber genau zu ihrem Absender zurück, der nun Malins Abwehrtrick nachmachte. Da stieß Malin das Rollgestell um und schleuderte die gehaltene Kugel auf Wadenhöhe von sich. Sein Wurfgeschoss flog an die zwanzig Schritt weit. Dann knallte es auf die Steinplattenund rollte mit lautem Kullern auf Omur zu, der gerade noch zwei von den viertgrößten Kugeln freizog. Er holte aus und warf auf den scheinbar wehrlosen Malin. Da knallte die von diesem geworfene und nun in leicht schlingernden Linien rollende Kugel voll gegen eines der Räder von Omurs Rollgestell. Dieses rutschte weg. Der Sack kippte zur Seite weg. Weil Omur ihn für ein möglichst schnelles Nachgreifen von Wurfgeschossen weit aufgezogen hatte klirrten und polterten alle noch darin liegenden Kugeln heraus und kullerten ihrerseits über die Brücke. Dann fielen sie in die Tiefe. Omur brüllte: "Sohn eines Bartlosen!". Da traf ihn eine der noch nicht von der Brücke gerollten Kugeln am linken Stiefel. Jetzt hatte Malin es amtlich, dass Omur gegen die Kampfregeln verstieß. Denn der Fuß blieb sicher auf der wackelnden Steinplatte. Omur verzog nur das Gesicht vor Schmerzen, weil der Anprall sicher gut weh tat. Dann rollte die letzte Kugel aus Omurs erlaubtem Vorrat über den linken Brückenrand und verschwand wie ihre Geschwister in der Tiefe.

"Tja, Omur. Das war wohl dein letztes Eisen. Ich hab noch genug davon!" rief Malin. Eigentlich sollte Ontwarin den Kampf für beendet erklären, weil Omur augenscheinlich betrog. Er meinte auch einige der Zuschauer ungehalten irgendwas ausrufen zu hören. Doch was er rief wurde vom Widerhall aus dem Abgrund verwischt. Natürlich wollte Ontwarin den Kampf nicht abbrechen. Denn dann hätte er Malin zum Sieger erklären müssen. Der war sich nun ganz sicher, dass Ontwarin ihn nicht als neuen König haben wollte, weil der seinen Neffen und damit den eigenen Anspruch auf Macht aus dem Hintergrund aus der Welt geschafft hatte.

Malin blieb nun stehen, während Omur mit entschlossenen Schritten auf ihn zukam und dabei die Brücke zum Schwingen brachte. Er zog in unregelmäßigen Abständen eine der kleineren Kugeln frei und versuchte, den Gegner damit aus dem Gleichgewicht zu werfen. Doch Omur stemmte seine Füße gegen die gerade betretene Steinplatte und duckte den ihm geltenden Wurf ab. Zweimal prallten Malins Kugeln von der unsichtbaren Eisenwehr auf Omurs Seite der Brücke ab und schlugen zurück. Doch Omur machte schnelle Wippbewegungen mit dem Oberkörper, um die zu ihm hinsausenden Eisenbälle an sich vorbeifliegen zu lassen. Die Brücke wackelte dabei so stark, dass der Sohn des toten Königs seine Füße wegrutschen fühlte. Er konnte das Ausgleiten nur durch schnelles Hinhocken ausgleichen. Dann waren die zwei von ihm selbst geworfenen Kugeln auch schon an ihm vorbei. Eine prallte mit lautem Kling gegen die Brücke hinter ihm und taumelte mehr fallend als fliegend davon. Omur schien wie auf einer breiten Versorgungsstraße in den Hauptstollen zu gehen, so sicher hielt er sich auf der wild wackelnden und auf und ab hüpfenden Brücke.

"Ich habe noch die gaaanz großen Dinger im Sack!" rief Malin Omur entgegen, der mehr aus Trotz und Wut als aus klarer Überlegenheit weiter auf ihn zukam. Er sah seinen Gegner an und lächelte überlegen. Das machte Omur wirklich wütend. Er beschleunigte seine Schritte und brachte die Brücke damit noch mehr zum wackeln. Malin merkte, wie er immer wieder auf und abhüpfte. Doch er hielt sich am eisernen Gestänge des Rollgestells fest. Er ließ Omur auf zwanzig, dann auf zehn Schritte herankommen. Dann zog er schnell eine der kleineren Kugeln frei und warf sie auf Omurs Kopf ab. Dieser duckte sich unter der Kugel weg. Dann machte er etwas, das Malin sich auf diesem Wackelboden ganz sicher nicht gewagt hätte. Er stieß sich mit einem kräftigen Schwung ab und flog auf ihn zu. Zwerge konnten im Ernstfall mehr als siebenihrer Schritte mit einem Sprung überwinden. Das würde bei Omur sogar reichen, dachte er. Doch er vertat keine Zeit mit Nachdenken. Er ließ sich auf den Rücken Fallen. Als Omur genau über ihm war verpasste er ihm einen beidfüßigen Tritt in den Bauch und hebelte ihn damit über sich hinweg. Dabei hatte Malin die Kraft beider Beine so bedacht, dass sein Gegner nicht in gerader Linie über ihn hinwegflog, sondern nach rechts abtrieb. Als dieser merkte, dass er geradewegs über den Brückenrand hinausflog war es schon zu spät. Omur versuchte noch, mit beiden Händen den Rand zu erwischen. Doch der war bereits einen halben Arm von ihm fort. Mit einem kurzen Aufschrei sackte Omur Hackenschläger nach unten weg und stürzte in die ungewisse und endgültige Tiefe hinab. Malin Warf sich herum und blieb flach auf dem Bauch auf der weit ausschwingenden Brücke liegen. Sein Sackwagen rollte vor und zurück. Die darin liegenden Kugeln klirrten bedrohlichlaut wie in schneller Folge auf Ambosse einschlagende Schmiedehämmer. Dann ließ das wilde Wogen und Wackeln der Brücke nach. Eine fast vollkommene Stille legte sich über den gefährlichen Überweg. Jetzt meinte Malin, das Rauschen des tief unten dahinjagenden Wassers immer lauter zu hören, bis ein lautes Platsch das gleichmäßige Tosen übertönte. Omur Hackenschläger, bester Schüler seines Meisters Andur Meisterhammer, war in den Strom des Vergessens gestürzt. Damit war der Kampf so gut wie entschieden. Doch noch musste Malin auf die Mittagsseite der Brücke hinübergelangen, nach Möglichkeit mit seinem mitgegebenen Sackwagen.

Der Sohn des toten Königs drehte sich behutsam auf den Bauch. Dann richtete er sich vorsichtig auf. Die Brücke wippte ein wenig. Dann stellte er sich auf seine Füße und griff nach den Halterungen des Wagens. Nun, wo er keinen Angriff seines Gegners mehr zu fürchten hatte, ging er mit Bedacht Schritt für Schritt genau in der Brückenmitte weiter. Die locker aneinanderreihenden Steinplatten schwankten zwar, doch Malin fand seinen Weg. Jetzt hörte er auch schon jene Zuschauer, die ihm den Sieg wünschten. Sie klopften sich im Takt seiner Schritte auf die Bäuche und riefen: "Kö-nig Ma-lin! Kö-nig Ma-lin!" Gaorins Sohn dachte daran, dass dies Ontwarin noch mehr ärgerte als die Tatsache, dass er ihn gleich zum Sieger dieser Königsprüfung ausrufen musste.

Als Malin Eisenknoter das von seinem Ausgangspunkt aus gegenüberliegende Brückenende vor sich hatte schob er den noch gut gefüllten Sack mit den ehernen Kugeln auf festen Grund. Die Eisenwehrkraft, die vorhin noch geworfene Kugeln zurückgeprellt hatte war verschwunden, weil sie nicht mehr nötig war.

Malin tat einen weit ausgreifenden Schritt, um ebenfalls festen Grund unter den Fuß zu kriegen. Fast sah es aus, als wolle die schwingende Brücke ihn doch noch von sich abwerfen und Omur hinterherschicken. Doch mit einem kräftigen Abstoß schwang sich Malin auch mit dem anderen Fuß auf sicheren Boden. . Die hier versammelten fünfzehn Zunft- und Kriegsmeister jubelten und klopften sich im schnellen Takt auf die Bäuche. Malin sah über die dreihundert Schritte hinweg Ontwarin stehen. Er sah diesmal nicht, wie der Hüter der Ereignisse und Bräuche aussah. Doch das kümmerte ihn nicht. Er streckte beide Hände nach oben, holte tief Luft und rief die ganze große Höhle und die Tiefe des Abgrunds erfüllend: "Ich habe die schwingende Brücke bezwungen! Ich stehe auf der gegenüberliegenden Seite! Ist dies bezeugt?"!" Die auf seiner Seite wartenden Zunftmeister riefen laut: "Ja, dies ist bezeugt!" Auch die auf der gegenüberliegenden Seite riefen "Ja, dies bezeugen wir!" Dann wurde es wieder still. Denn um diese Prüfung zu beenden musste der Hüter der Ereignisse und Bräuche dies verkünden. Dieser ließ sich jedoch Zeit. Dann ertönte seine Stimme: "Malin Gaorinssohn Eisenknoter steht auf der anderen Seite der schwingenden Brücke. Malin hat die zweite Königsprüfung bestanden! Nun sollen wiederum sieben Tage vergehen, bis er die dritte Königsprüfung gegen Gloin Idurssohn Zangenschmied im Saal der tanzenden Klingen zu bestehen hat! Bläser, blase dein Horn!"

Diesmal blies der Hornbläser eine Folge von zwei Tönen dreimal. Somit wusste nun auch jeder in den Hallen der Zwerge deutscher Lande, dass die zweite Prüfung beendet war.

"Ich werde diesen Weg fortsetzen und durch die Mittagshöhlen in die Hallen des Herrschers zurückkehren!" rief Malin aus. Zwar hätte er auch um den Beförderungskorb bitten können. Doch er traute Ontwarin nicht mehr über den Weg. Dass Omur mit dem Anhaftungszauber der Schuhmacherzunft sicheren Halt auf der Brücke gefunden hatte war genauso seltsam wie Norins in die drei Höhlen geschmuggeltes Schwert, von dem er mittlerweile wusste, dass es auch Granit durchschlagen und unbezauberten Stahl zerteilen konnte wie ein Messer lose Blätter.

Mit den ihm aufrichtig zujubelnden Zunft- und Kriegsmeistern im Gefolge kehrte Malin in die Hallen der Herrscher zurück. Dort berichtete er seiner Mutter Miru Silberstimme im unhörbaren Raum, wie er sich geschlagen hatte. Diese meinte dann: "Ontwarin kennt Schuhmacher, die haftende Stiefel machen können. Vielleicht hat er einen von denen zu Omur geschickt um ihm zu helfen, besser auf der Brücke zu stehen. Aber warum der dann meinte, dich anzuspringen ist sehr seltsam. Er hätte doch nur sicher auf der Brücke warten müssen, bis du bei ihm bist und dich dann mit einem kräftigen Stoß hinunterwerfen können."

"Er war schlicht wütend, dass er seinen Sack nicht festgehalten hat, Mutter", sagte Malin mit unverhohlener Schadenfreude. "Außerdem hätte ich ihm auf den Weg noch alle meine Eisenkugeln gegen Kopf, Brust und Beine werfen können. Selbst mit anhaftenden Sohlen hätte er diese Angriffe ohne schützende Rüstung schwer ertragen. Er musste alles auf den einen entscheidenden Angriff setzen und hat verloren." Seine Mutter nickte und lächelte überlegen. Denn je weiter ihr Sohn durch die Königsprüfungen kam, desto wahrscheinlicher war es, dass sie weiterhin als Mutter des Königs die Vorrechte einer hochgestellten Frau in den Hallen der Herrscher genießen durfte, zumindest die nächsten zwölf Jahre. Doch beide wussten, dass die tanzenden Klingen das Ende ihrer beider Hoffnungen bedeuten konnten.

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Im Château Beaumont, Frankreich, 15.01.2005, 20:30 Uhr Ortszeit

Es war nicht ihr erster Besuch bei Louiselle, seitdem sie es amtlich hatte, dass ihre Eltern tot waren. Gerade erzählte Laurentine ihrer geheimen Nachhilfelehrerin für Abwehr- und Kampfzauber, dass sie heute Bescheid bekommen hatte, dass das Zaubereiministerium die Verstecke der geheimen Notizen ihres Vaters gefunden hatte. Bouvier, der Anwalt, hatte eine verschlüsselte Liste in seinem Panzerschrank gehabt, wann und wo die Unterlagen auftauchen würden. Dabei hatte es sich um logische Bomben in Rechnersystemen gehandelt, mit denen ihr Vater über Jahre hinweg arbeiten konnte, sowohl in Frankreich, als auch bei der ESA und anderen Rechnernetzen. Ehemalige Schul- und Studienkameraden hatten in Form von präparierten E-Mails nach und nach einen für die Endnutzerinnen und Endnutzer unzugänglichen Text zugeschickt bekommen, der einen Monat nach einem außergewöhnlichen Todesfall von ihm und/oder seiner Frau an ausgewählte Verbreitungsmedien geschickt werden sollten. Ihr Vater hatte offenbar nicht mitbekommen, dass es im französischenZaubereiministerium mittlerweile auch eine sehr fähige Computerabteilung gab und dass die ja genau darauf ausgelegt war, versteckte Texte zu suchen, die Aufschluss über die reale Zaubererwelt geben konnten.

"Als mein ehemaliger Klassenkamerad Julius mir das heute aufgezählt hat, wie scheinbar raffiniert mein Vater die Texte verschickt hat und seine Freunde und Kollegen das wohl nicht mitbekommen sollten, dass da mal eben ein Megabyte Text in ihren Rechnern geparkt wurde, habe ich echt gedacht, wie gut es ist, dass mein Vater dafür nicht mehr angeklagt werden kann. Denn das waren echt schon Computerviren mit Schläferfunktion, eben logische Bomben, die auf ein bestimmtes Ereignis oder zu einer bestimmten Zeit ihr Werk tun sollten."

"Woher wussten diese "logischen Bomben", wann sie zünden sollten?" fragte Louiselle. Laurentine antwortete: "Laut meines Klassenkameraden Julius Latierre war das die am Aufwand des Einschmuggelns und Versteckens gemessenen Aufwand einfachste Angelegenheit. Alle zwei Stunden rief das mitgeschickte und im Wust von Betriebssystemdateien eingefügte Programm eine geheime Adresse auf, ohne dass die Besitzer der Rechner das mitbekamen. Die Adresse meldete dann einen Zahlencode zurück, der sich aus der vergangenen Zeit der letzten Meldung meines Vaters und den von der Geheimadresse abgelesenen Meldungen über ihn und seinen Tod zusammensetzte. Eine nicht als rein natürlich gewertete Todesursache von ihm oder meiner Mutter ergab dann einen Zahlencode, der wiederum einen über einen Monat laufenden Countdown starten sollte, also die Zeit heruntergezählt werden sollte. Da in jedem Computer eine Uhr und ein Kalender mitläuft brauchte das Progrämmchen nur abzufragen, wielange es noch bis zum Zeitpunkt null dauert, ob der oder die Rechner zwischendurch mal ausgeschaltet wurde oder wurden oder nicht. War der Zeitpunkt erreicht oder schon überschritten sollten die versteckten Botschaften verschict werden. Irgendwer von an die zweihundert Adressaten hätte dann sicher nachgeforscht was dran war oder die Sache veröffentlicht. Mein Vater ging davon aus, dass wir in der Zaubererwelt keine ausgebildeten Computerexperten haben, weil er immer meinte, dass die Zaubererwelt ja hinter allen Monden lebe. Jetzt müssen eben diese nicht beachteten Computerexperten von uns und anderenZaubereiministerien genauso heimlich die betreffenden Adressen aufsuchen oder anfragen und die verräterischen Unterlagen löschen, ohne die Rechner der Adressaten zu stören oder zu beschädigen. Das war eine Bedingung, die Belle Grandchapeau und Julius Latierre bei der Einrichtung des Rechenzentrums festgelegt haben, möglichst keinen anderen Rechner zu beschädigen, weil der für den daran arbeitenden Menschen oder die damit verwalteten Sachen zu wichtig sei, um einfach so auszufallen. "Dann wären wir nicht besser als verbrecherische Hacker", sagte Julius einmal." Sie durfte dann noch einmal erklären, was ein Hacker sei und dass die in einem Rechner ablaufenden Vorgänge wie ein Haus mit Türen sei, die offen oder verschlossen sein konnten, mit oder ohne Pförtner und immer wieder darin herumgehenden Wachposten. Louiselle nickte ihr zu, ihr das bitte noch einmal für ihre Notizen zu diktieren. So durfte Laurentine erst einmal über die ihr bekannten Sicherheitsvorkehrungen und Angriffsmöglichkeiten bei elektronischen Informationsverarbeitungsssystemen reden. Als Louiselle sich alles ihr wichtige dazu aufgeschrieben hatte fragte sie Laurentine noch, wann ihre Eltern nun ehrenvoll bestattet würden. Laurentine erwähnte mit gewisser Betroffenheit, dass ihre Eltern am zweiten Februar aus Indonesien nach Frankreich überführt würden, nachdem endgültig geklärt war, dass sie durch die Tsunami-Katastrophe umgekommen waren und auf Grund der schriftlich niedergelegten Bestattungswünsche beigesetzt würden. Ihre Mutter wollte eine Urnenbestattung haben, während die Urne ihres Vaters zu einer mit Ariane Space verbundenen Firma gebracht werden sollte, die sie dann mit elf anderen Urnen in eine Erdumlaufbahn bringen lassen sollte. Allerdings würde die für ihre Mutter angesetzte Trauerfeier auch für ihn stattfinden, und deshalb eine Menge Verwandtschaft dazukommen. "Ich bin die ganze Zeit dabei, Hotels in der Nähe zu finden und wie wer dahinkommt. Meine Chefin hat ja schon gefragt, wie groß ihre Delegation sein darf."

"Und?" fragte Louiselle. "Ich habe ihr gesagt, dass sie mitkommen möchte und als Vertreter der Schüler, die bei mir lernen, Viviane, Chloé Dusoleil und Claudine Brickston, weil die Brickstons natürlich auch eingeladen werden. Das hat sie akzeptiert."

"Wer kommt denn sonst noch aus der Zaubererwelt?" Fragte Louiselle. Laurentine zählte auf, dass außer den Brickstons noch die Dorniers, Millie und Julius Latierre mit ihrer begleitenden Hebamme Béatrice, sowie Jeanne Dusoleil als Mutter von Viviane und Schwester von Chloé dabei sei, sowie Belisama Lagrange. "Ich würde dich gerne mit einladen, Louiselle. Aber ich weiß gerade nicht, wie ich das begründen kann, ohne dass es einen Haufen unangenehmer Fragen gibt", seufzte Laurentine. Louiselle nickte und sagte, dass sie das durchaus verstehen könne, weil es ja nicht jeder mitbekommen durfte, dass sie beide miteinander zu tun hatten.

Am Ende dieser kurzen Zusammenkunft verabredeten sie beide, dass sie im Februar wieder ihre Abwehrzauberübungen machen würden. Obwohl es nicht die Zeit und nicht dem Anlass gerecht war freute sich Laurentine schon darauf, die geheimen Hexenkampfübungen fortzusetzen.

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Vereinigte Staaten von Amerika zwischen dem 15. und 19.01.2005

Die Lage wurde immer undurchschaubarer für die Angehörigen der US-amerikanischen Zaubererwelt. Die mit den weißen Hexen und Zauberern eingewanderten Kobolde konnten sich nirgendwo mehr blicken lassen, ohne von wütenden Zauberstabträgern angepöbelt oder bedroht zu werden, weil denen der Zugang zum eigenen Gold versperrt war. Klagen der den Erdmagieaufruhr überlebenden Kobolde verhallten ungehört im Zaubereiministerium. Dieses hatte nach der Anordnung, die eigene Arbeitszeit mit dem gesellschaftlichen Wert der eigenen Arbeit malzunehmen und die so berechneten Minuten und Stunden gutschreiben zu lassen, um sie in Geschäften oder für Dienstleistungen einzutauschen, einiges an Beschwerden einstecken müssen. Vor allem Cyrus Picton, der Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzen, musste jeden Tag mehrere Heuler entgegennehmen, beziehungsweise, seine Postannahmestelle musste die voller Wut steckenden roten Umschläge abwehren. Denn den allermeisten Hexen und Zauberern missfiel es, dass Händler oder andere für Bezahlung arbeitende Leute wussten, wann wer wo wie viele Arbeitsstunden eingetauscht hatte.

An dieser Notfallmaßnahme der Handelsabteilung entzündete sich ab dem 16. Januar eine immer heftigere Debatte in der Zaubererweltpresse, wie der gesellschaftliche Wert berechnet werden durfte. Viele waren sich einig, dass ein Quodpot-Profi nicht den hohen Rang besaß, den ein Ministerialbeamter hatte oder den ein Meisterthaumaturg oder ein Trankbraumeister für sich beanspruchen konnte. Das wiederum verärgerte die Quodpotspieler, die ruhm- und goldverwöhnt waren und jetzt auf einmal mit niederen Handlangern gleichgestellt werden sollten. Das führte dazu, dass die Vereine der Quodpotliga am 18. Januar einstimmig verkündeten, bis zur Klärung der Goldfrage kein Spiel mehr zu spielen, weil die Mannschaftsmitglieder streikten und sich auch durch Androhung von Honorarkürzungen oder Entlassungen nicht zum Weiterspielen antreiben ließen. "Wir sind auch Leistungsträger", ließ der halbindigene Spieler Marwin Divinghawk in allen Zeitungen und dem Quodpotmagazin "Blickpot" verlautbaren. Das löste einen Kommentar im Kristallherold aus:

Nur weil ihr nicht gleich beim Auffliegen vom Besen rutscht und ein paar schnelle Flugmanöver fliegen könnt seid ihr keine so wichtigen Leute. Ihr sollt froh sein, dass wir euch überhaupt dafür bezahlt haben, euch spielen zu sehen. Jetzt sind echt wichtigere Sachen dran als eure echt mal zu überprüfenden Überhonorare. Wenn ihr echt als Leistungsträger gelten wollt, dann lasst euch nur noch nach erspielten Punkten bezahlen und nicht mehr weil ihr der Große Wer-immer oder die große Ich-hab's-Drauf seid! Da kann die Spisspo aus dem Zaubereiministerium echt mal drüber nachdenken, ob eure Honorare nicht auf ein kleines Maß beschränkt bleiben. Denn eines ist klar. Falls uns die Kobolde wieder an unser Gold ranlassen brauchen wir das für die ausstehenden Bezahlungen wichtiger Sachen. Und falls die uns nicht mehr ranlassen brauchen wir neues Gold, so wie die Australier. Dann solltet ihr froh sein, wenn ihr morgens noch wisst, dass ihr abends was zu essen bekommt und die nötige Kleidung und das Brennholz für die restlichen Wintertage kaufen könnt.

Also, wenn ihr nur spielt, wenn euch jeden Monat euer halbes Gewicht in Gold in die Hinterteile geschoben wird, dann finden wir schon andere Sachen, um unsere Freizeit zu verbringen.

Am selben Tag verkündete der Sprecher der Ligavereine, dass der Kristallherold wegen dieses "abwertenden Kommentars" und wegen Ruf- und Geschäftsschädigung mit einer sehr heftigen Schadensersatzklage zu rechnen habe. Dies führte dann wiederum zu schallendem Gelächter in der Handels- und Sportabteilung des Zaubereiministeriums.

Das Zaubereiministerium selbst hielt sich erstaunlicherweise aus dieser und anderen Debatten um den gesellschaftlichen Wert einzelner Berufe heraus. Offenbar galt dort nach der Verkündung des Handelsnotfallplanes, dass nichts mehr nach außen dringen durfte. Jede Anfrage von der Presse wurde mit "Wir arbeiten an Ihrer aller Sicherheit und Lebensqualität" beantwortet. So bekam das Ministerium auf einen Ausdruck von Gilbert Latierres Frau Linda den Namen "Buggles Bollwerk". Auf die Frage an Linda, ob sie nicht mehr aus dem Ministerium wisse sagte sie: "Das Ministerium ist ein Bau voller Klankerker" zurück.

Roberta Sevenrock berief am 19. Januar eine heimliche Vollversammlung der nordamerikanischen Schwestern und sprach mit diesen über die unübersichtliche Lage. Dabei erfuhr sie, dass viele Einzelstaaten wie Kalifornien und New York offenbar darauf ausgingen, regionale Notfallpläne zu schmieden, nach dem Motto: "Nur die unmittelbaren Nachbarn sind wichtig." Offenbar, so bemerkte Linda Latierre Knowles dazu, sei das genau der Grund für die Abschottungstaktik des Zaubereiministeriums, dass durch den Wegfall des Goldverkehrs die Kontrolle über den Staatenbund abhandengekommen sei. Dem konnte Roberta Sevenrock nur zustimmen.

Eileithyia Greensporn erwähnte, dass sie es gerade so noch verhindert habe, dass die Zunft der umfangreichen Triebabfuhrfachkundigen einen offenen Protest vor dem Zaubereiministerium oder einen in allen Zeitungen erscheinenden Leserbrief losschicken wollte, wo sie gegen das Ausbleiben der Kunden und die Nachteile die auch für deren Familienangehörigen daraus entstünden, eine Abänderung der Tauschhandelsverordnung erwirken wollten. "Ich habe deren Sprecherin Estrella Rubia im Namen aller magischen Heiler angeboten, dass ihre Kunden gegen Überweisungen von uns bei ihnen versorgt werden können. Das habe ich jetzt auch in alle Zeitungen reingesetzt. "Wer körperlichen oder seelischen Ausgleich benötigt, ihn aber nicht offen dokumentieren möchte, mag sich bei der Heilerin oder dem Heiler des Vertrauens entsprechende Verschreibungen holen." Wird einigen vor allem familienzusammenhaltenden Damen vielleicht nicht gefallen. Dafür brauchen die dann nicht zu uns zu kommen, wenn sie die Opfer angestauter Triebe wurden."

"Moment, Schwester Eileithyia. Du hast deinen Kolleginnen und Kollegen empfohlen, Rezepte für Wonnefeen und Wonnewichtel zu verschreiben?" fragte eine der älteren Mitschwestern ziemlich verstimmt. "Faktisch genau das, Schwester Suzanne", sagte die Sprecherin der Heilzunft und ungekrönte Königin nordamerikanischer Hebammenhexen.

"Soviel zur Sicherung ehelichen Friedens und Familienzusammenhalt", knurrte die aufgebrachte Mitschwester. Doch weil Eileithyia sie ganz ruhig ansah und die anderen Mitschwestern eher belustigt als verwundert oder verstimmt dreinschauten blieb sie ruhig. Außerdem war ja eine von ihnen eine praktizierende Triebabfuhrfachhexe und somit unmittelbar von der diskreten Absprache betroffen. Eileithyia sagte dann noch, dass die Heilerzunft die benötigten Tauschzeiten als Behandlungskosten verrechnen würde. Wenn Picton damit leben konnte sollte er dann bei der Wiederherstellung des üblichen Münzgeld- und Zahlungsanweisungssystems die Heilerzunft auszahlen, die dann wiederum die entsprechenden Wonnehäuser bedenken würde. So sei allen gedient und die für die Wonnehäuser unumgängliche Diskretion bliebe intakt.

Als Beth McGuire, die die Gruppe der sogenannten entschlossenen Schwestern anführte, ihrer heimlichen Herrin Anthelia die besprochenen Sachen mitteilte meinte diese nur, dass es so aussehe, als warteten sie alle auf eine wirklich starke Führung. Doch im Moment wollte jeder Bundesstaat wohl seinen eigenen großen Anführer oder seine Anführerin. Falls sie, also Anthelia, eine Gelegenheit sehe, das Ministerium und alle Regionalverwaltungen der USA auszuhebeln und selbst an die Macht zu kommen, dann nur, wenn sich diese selbsternannten oder von ihren Mitmenschen erklärten starken Führungspersonen in gegenseitigen Kämpfen schwächten, also ein Bürgerkrieg der amerikanischen Zaubererwelt ausbräche. Erst dann, wenn sowas eintrete, bestehe eine Möglichkeit für die Spinnenschwestern, offen die Macht zu beanspruchen. Am Beispiel Ladonna Montefioris sehe sie jedoch, dass es nicht reiche, ein Zaubereiministerium zu unterwerfen, wenn sie nicht genug Helferinnen hatte, um wirklich jede Zaubererfamilie zu unterwerfen oder durch Bedrohung in Schach zu halten. Insofern lege sie es nicht darauf an, einen Bürgerkrieg der nordamerikanischen Hexen und Zauberer auszulösen, weil sowas all zu leicht zu unvorstellbarer Zerstörung und den Tod vieler interessanter Hexen führen konnte. Sie sah jedoch eine Notwendigkeit, wieder mehrere Mitschwestern in wichtigen Anstellungen unterzubringen, um in nicht all zu ferner Zeit eine Art Hexenstaat im offiziellen Gefüge der nordamerikanischen Zaubererwelt zu gründen, mit dem Buggles oder wer ihm folgen mochte dann unbedingt zu rechnen und zu verhandeln habe. Auch machte sich Anthelia Sorgen, weil sie nichts mehr von Ladonna Montefiori gehört hatte, seitdem diese ihren dressierten Minister Barbanera alle Kobolde in Italien hatte internieren lassen und die dort lebenden Zwerge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in ihren Höhlen hatte einschließen lassen. Barbanera hatte das damit begründet, dass er einen Krieg zwischen Zwergen und Kobolden verhindern müsse. Nur die Gringottsfilialen von Rom, Mailand, Neapel und Venedig dürften weiterbetrieben werden. anthelia hatte darüber nur grinsen können und gesagt, dass die Gringottsgebäude unbestürmbare Burgen seien, die nur durch Belagerung und Aushungerung besiegt werden könnten. Das sei schon zu Sardonias und damit auch Ladonnas Zeit bekannt gewesen.

Neben dem Misstrauen gegen Kobolde wuchs auch das Misstrauen gegen zugewanderte Hexen und Zauberer wie Gilbert Latierre. Denn denen wurde unterstellt, nicht amerikanisch genug zu denken und von Blut und Denkweise her noch mehr mit ihren in Europa oder Asien wohnenden Familien zu tun zu haben. Auch war herumgegangen, dass Japan und China, die keine Kobolde als Währungshüter hatten, die Lage immer besser ausnutzten, um eigene Vorrangstellungen auf dem internationalen Goldmarkt anzustreben. Das stärkte die ohnehin schon bestehende Abneigung gegen ausländische Firmen, die auf den amerikanischen Markt drängten. "Macht den ausländischen Hausierern nicht mehr die Türen auf!" hatte der Busunternehmer Bluecastle im Wirtschaftsteil des Kristallherolds getönt. Dieser platten und deshalb von wirklich jedem verstandenen Aufforderung schlossen sich tagtäglich immer mehr an. Es zeichnete sich ab, dass die USA wie unter Wishbone eine Politik der völligen Abschottung nach außen betreiben würden. Auch hierzu passte die refrainartig wiederholte Aussage aus dem Ministerium" Wir arbeiten für Ihrer aller Sicherheit und Lebensqualität." Allerdings waren sich sämtliche Hexenschwesternschaften in der Sache einig, dass diese Belagerungs- und Abschottungsstimmung ein ergiebiger Nährboden für Vita Magica sein mochte, um wieder mehr Einfluss und Bewegungsfreiheit in den Staaten zu bekommen. Da die Hexen rein anatomisch und wortwörtlich die Hauptlast von Vita Magicas Unternehmungen zu tragen hatten waren sich von Roberta Sevenrock bis Anthelia alle in solchen Schwesternschaften verbündeten Hexen einig, dass sie es nicht zulassen würden, dass VM einen neuen Handel mit dem Ministerium abschließen konnte. Doch sie hofften noch darauf, dass die zwölf obersten Richter ebensowenig zulassen wollten, dass eine umstrittene Vereinigung das Zaubereiministerium gängeln konnte.

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Französisches Zaubereiministerium und Millemerveilles, 20.01.2005

Irgendwie war Julius Latierre stolz auf seine eigene Erfindung einer räumliche Illusionen erzeugenden wahrhaftigen Laterna Magica. So konnte er Nathalie Grandchapeau und ihrem vollzählig versammelten Mitarbeiterstab deutlich und in bewegten Bildern die Ergebnisse der Suchanfragen und Berichte präsentieren, als wenn die Buchstaben aus wirklichen Leuchtstäben bestanden und die Bilder wirklich Räumlich waren. Auch klangen die von Julius eingesprochenen Kommentare so, als kämen sie aus allen Richtungen, ohne widerzuhallen. Gerade sagte seine konservierte Stimme: "Somit können wir alle dreißig Suchanfragen als beantwortet erklären. Leider konnten eben nur neun von dreißig gesuchten Angehörigen lebend geborgen werden. Ich danke den Damen Grandchapeau und Eauvive für die Unterstützung bei der bisherigen Betreuung der zaubererweltstämmigen Angehörigen." Dann verschwand die räumliche Darstellung in Dunkelheit. Nathalie winkte mit ihrem Zauberstab, sodass alle vollverdunkelten Außenfenster wieder aufleuchteten und die von ihr gewünschte Darstellung zeigten.

"Nun, Monsieur Latierre, dann ist es auch an mir, mich im Namen Ihrer Kolleginnen und Kollegen und dieser Abteilung bei Ihnen zu bedanken, dass Sie die an uns herangetragenen Suchanfragen schnell und erschöpflich beantworten halfen. Ich bedauere ebenso wie Sie, dass einundzwanzig der gesuchten Menschen zu den über einhunderttausend Opfern dieser Jahrhundertkatastrophe im Indischen Ozean gehören. Vor allem bedanke ich mich bei Ihnen, dass Sie mithalfen, die heilmagische Betreuung der trauernden Angehörigen so schnell und diskret zu organisieren. Womöglich wäre früher niemand auf die Idee gekommen, den Verbleib und Zustand geliebter Angehöriger zu überprüfen, wenn diese nicht der Zaubererwelt angehörten. Auch fühle ich mich im Nachhinein voll und ganz bestätigt, dass es gut war, die nichtmagischen Informationsverarbeitungsmittel der rein technischen Zivilisation zu studieren und für uns nutzbar zu machen. Denn jene Vorkehrung von Simon Hellersdorrf, die Sie als logische Bombe bezeichneten, hätte die Geheimhaltung der Zaubererwelt sehr stark gefährdet, wenn nicht nutzlos gemacht. Konnten Sie auch die letzten Zieladressen dieser geplanten Enthüllungsoffensive ermitteln?" Julius sah Fabienne Moulin an und sagte dann:

"Wir wissen jetzt, dass auch im Verwaltungsrechner der Rolling Nugget Ranch der Familie Lacroise bei Hidden Hopes, Kalifornien, ein unsichtbar gehaltener Text verstaut wurde, der einen Monat nach dem vom Spähprogramm ermittelten Todeszeitpunkt einen umfangreichen Text über die Zaubererwelt und Beauxbatons freigegeben hätte. Allerdings ist der Rechner gegen Zugriffe von außen sehr gut abgesichert. Daher war ich sehr beruhigt, dass Madame Grandchapeau mir genehmigt hat, das Marie-Laveau-Institut einzuschalten. Dessen Mitarbeiterin Brenda Brightgate konnte unter Ausnutzung der Abwesenheit der Hausherrin und ihres Hausverwalters Zugang zu den Daten nehmen und diese ebensoheimlich unschädlich machen, wie Monsieur Hellersdorf sie als getarnter Anhang einer elektronischen Postsendung seiner Frau in den Rechner hineingeschmuggelt hat, ohne den Rechner oder dessen Speichervorrichtungen zu beschädigen."

"Konnten Sie die Anfrage des Laveau-Institutes bezüglich gesuchter US-Amerikaner beantworten?" fragte Nathalie Julius. Dieser bejahte es, weil ja ein Protokoll mitgeschrieben wurde. "Haben Sie bei der Gelegenheit auch erfahren, was der Grund für das wochenlange Stillschweigen des US-Zaubereiministeriums bedeutet?" wollte die Leiterin des Büros für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie wissen. "Dazu hat Ms. Brightgate vom Laveau-Institut nur geäußert, dass Minister Buggles offenbar mit seinen Leuten in Klausur tagt, wie Gringotts wiedereröffnet werden kann und ob das überhaupt erwünscht ist. Näheres konnte oder durfte sie mir als Vertreter eines anderen Zaubereiministeriums nicht mitteilen."

"Was soll denn die Frage, ob das überhaupt erwünscht ist, dass Gringotts wieder geöffnet wird?" schaltete sich Monsieur Lepont von der Außeneinsatztruppe ein. "Auch die Amerikaner haben Filialen von Gringotts, noch aus der britischen und französischen Kolonialzeit. Das heißt, die meisten Zaubererweltbürger da haben da auch Verliese drin. Die wird doch wohl niemand aufgeben wollen."

"Darf ich?" fragte Julius Nathalie. Diese nickte zustimmen. "In Australien arbeiten Sie gerade an einem neuen Währungssystem und überlegen, wie sie die Verluste ihrer Bürger ausgleichen können, ohne dass das Zaubereiministerium dort handlungsunfähig wird. Was Italien angeht haben wir nur erfahren, dass sie die dortigen Kobolde zur höchsten Eile angetrieben haben, das eingelagerte Gold verfügbar zu machen. Deutschland sucht nach einem Weg, mit den Kobolden zusammenzuarbeiten, was nicht so einfach ist, weil viele von denen glauben, dass diese mit den Zwergen paktiert haben. Ebenso verdächtigen die Zwerge die Kobolde, ihren über dreihundert Jahre regierenden König mit magischen Experimenten getötet zu haben. Da käme es anderen Zaubereiministerien, die zur Zeit der europäischen Kolonialmächte als Zauberräte oder Magiesprechergruppen an den Standorten bestanden haben recht, wenn sie diese Hinterlassenschaft der europäischen Kolonialzeit loswerden könnten. Solange die Türen von Gringotts offen waren und jeder an sein oder ihr Verlies konnte war alles super und bequem. Jetzt, wo uns allen die Tore von Gringotts versperrt sind kommen all die magischen Mitmenschen aus ihren Verstecken, die immer schon vor einem Packt mit den Kobolden gewarnt haben wollen und uns, Entschuldigung die Damen, für Arschkriecher und Duckmäuser gehalten haben", sagte Julius. Nathalie nickte nur, statt ihn tadelnd anzusehen. Dann meinte Fabienne Moulin: "Ja, aber das gehört dochjetzt nicht alles in unseren Zuständigkeitsbereich, oder? Die Kobolde sind Angelegenheit von Monsieur Beaubois und Monsieur Colbert, und die internationalen Beziehungen obliegen Monsieur Chaudchamp."

"Dies stimmt alles, Fabienne. Dennoch sind wir dadurch, dass wir die mit abstand schnellsten Verbindungen in alle Welt unterhalten können ebenso damit befasst, wie unsere internationalen Kontakte arbeiten und unter welchen Voraussetzungen sie weiterhin mit uns in Verbindung bleiben können", sagte Nathalie Grandchapeau. "Natürlich geben wir alle uns erreichenden Erkenntnisse an die dafür zuständigen Abteilungen und Unterbehörden weiter - ja, und bevor es hier wer ausspricht - erhalten wir dafür selten Dank und Anerkennung und so können die zuständigen Bereiche die neuesten Ereignisse und/oder Vorhaben früh genug bewerten, um angemessen damit umzugehen." Julius nickte.

"Gibt es sonst noch Fragen zu Monsieur Latierres Abschlussbericht?" wollte Nathalie wissen. Keiner hatte eine Frage. Denn alle hatten sie seinen Bericht in gedruckter Form erhalten, bevor er ihn ganz modern in räumlicher Darstellung vorgestellt hatte.

"Als die Versammlung sich auflöste bat Nathalie Julius, sie noch in ihr Büro zu begleiten. "Zum einen darf ich Ihnen für Ihre herausragende Leistung heute schon früher Freigeben als sonst", sagte Nathalie. "Zum anderen möchte ich Sie ganz inoffiziell darum bitten, die zu Ihrer Frau Mutter in den Staaten bestehenden Verbindungen zu nutzen, um nachzufragen, ob sie etwas über Buggles' Pläne erfahren hat. Die Ministerin selbst hat mich vor der Versammlung gebeten, die mir bekannten Verbindungen in die Staaten zu bemühen, um näheres zu erfahren. Sie ist in Sorge, dass Buggles die Lähmung des internationalen Handels nutzt, um eine neuerliche Abschottung der USA zu rechtfertigen, ja sogar versuchen mag, sich vieler internationaler Abkommen zu enthalten, wie auch immer begründet."

"Falls er das machen will können wir ihn nicht davon abhalten", warf Julius ein. Er erinnerte sich noch an das dunkle Jahr, wo in den Staaten Lucas Wishbone alle Verbindungen nach Europa gekappt hatte, angeblich aus Furcht, Todesser oder deren Verbündete in die Staaten hineinzulassen. Das hatte ihm nur deshalb nichts genützt, weil Anthelia die Entomanthropen Sardonias wiedererweckt hatte und eine neu von ihr gezüchtete Entomanthropenkönigin zu viel Eigensinn und Herrschaftsansprüche geäußert hatte.

"Sagen wir es mal so, mein Bauchgefühl stimmt mich beunruhigt, dass Lionel Buggles die Lage in den Staaten und der Welt ausnutzen wird, um sich dauerhaft zum Zaubereiminister erklären zu lassen. Wenn er wahrhaftig aus kleinen Verhältnissen hochgekommen ist könnte ihm der Rausch der Macht zu Kopf steigen. Er könnte den starken Mann markieren, der die Lage mit Links beherrscht oder sich in viel zu vielen Schuldzuweisungen verlieren, weil er nicht weiß, was konkret geschehen ist." Julius konnte Nathalies "Bauchgefühl" da nur zustimmen, auch wenn er es diesmal nicht selbst mitgehört hatte. Er willigte ein, über die ihm möglichen Kanäle mit seiner Mutter zu reden, falls diese nicht schon einer Anweisung Buggles' folgen musste, keinem Außenstehenden was zu verraten.

Bis drei Uhr Nachmittags arbeitete er alle Sachen ab, die er wegen der Stellvertretung für Laurentine und der Suche nach nichtmagischen Angehörigen von Zaubererfamilien zurückgestellt hatte. Immerhin schaffte er es, alle für heute und morgen anfallenden Aufgaben zu erledigen. Dann traf er sich noch einmal mit Belle Grandchapeau im Computerraum. "Wir haben eine Nachricht von Madame Merryweather aus den Staaten", begrüßte Belle ihn. Er sah sie mit einer Mischung aus Unbehagen und Erleichterung an. "Das Ministerium entschuldigt sich bei allen, die auf dem Weg der elektronischen Post mit ihm in Kontakt stehen, für das lange Schweigen. Doch es seien noch interne Vorgänge zu erledigen, die alle erdenklichen Szenarien wegen Gringotts beinhalteten. Sie würde sich dann mit einem längeren Bericht melden, wenn sie wisse, was genau sie aus dem Ministerium berichten dürfe und inwieweit das berichtete für die internationale Zusammenarbeit richtig und wichtig war." Belle gab Julius die ausgedruckte E-Mail. Er las sie gründlich und legte seine Stirn in Sorgenfalten. "Madame Grandchapeau, ich möchte hier keinen großen Drachen rufen. Aber so wie ich es hier lese schreibt Madame Merryweather, dass das Ministerium es offenbar leid ist, sich bei anderen Zaubereiministerien zu rechtfertigen, weil es nicht über Arkanet mit denen in Verbindung bleibt. Auch lese ich hier heraus, dass sie sich sorgt, dass US-Zaubereiminister Buggles irgendwas unternehmen könnte, was ihn zum dauerhaften Leiter der Zaubereiverwaltung macht, zum Präsidenten auf Lebenszeit. Ich kann Ihnen auch sagen, warum ich das denke", antwortete Julius. Dann erwähnte er die Passagen, wo sie schrieb, dass der amtierende US-Zaubereiminister ein "gesteigertes Interesse" daran habe, die in der aktuellen Krise zusammentreffenden Notlagen zu bereinigen und einem "irgendwann" erwählten Nachfolger ein "aufgeräumtes Haus und ein wohlbestelltes Feld" zu übergeben. Auch ließ sie Leute grüßen, von denen Julius wusste, dass die Namen für selbsternannte Präsidenten auf Lebenszeit standen. "Kann sein, dass meine Mutter die letzte Gelegenheit genutzt hat, unbeaufsichtigt eine Nachricht zu verschicken, aber zugleich angewiesen war, eine wortgetreue Kopie davon für das Archiv abzugeben. Mir gefällt das nicht wirklich, Madame Grandchapeau."

"Dann möchten wir besser hoffen, dass Sie sich in dieser Hinsicht irren, wenngleich ich die Hinweise auf Namen, die mit nichtmagischen Alleinherrschern zu tun haben, sicher nicht außer Acht lassen darf", sagte Belle. Julius erwiderte darauf, dass er auch hoffe, sich zu irren und Buggles nur abwarten wolle, dass alle US-amerikanischen Gringotts-Filialen wiedereröffneten, damit die magischen Leute in den Staaten wieder beruhigt waren. Je länger Gringotts verschlossen blieb, desto ungehaltener wurden dessen Kundinnen und Kunden. Er wusste es aus London, dass da jeden Tag Leute mit großen Hämmern an die verschlossenen Tore von Gringotts klopften, bis die Hämmer von den im Tor eingewirkten Abwehrzaubern zerbröselt wurden. In Paris hatte sich eine Gruppierung von sehr wohlhabenden Familien zusammengetan und zwanzig Meter vor Gringotts ein haushohes Stundenglas aufgebaut, aus dessen oberen Kolben jeden Tag 24 rote Kügelchen herabkullerten. Oberhalb des Kolbens prangte ein blutrotes Schild: "Die Letzten Tage der Geduld. Bleiben die Tore zu, findet ihr keine Ruh." Mittlerweile war dieses riesige Stunden- oder besser Tageglas eine regelrechte Touristenattraktion. Laut Colbert hatten jene, die es unversetzbar und unverwandelbar dort aufgepflanzt hatten, den Kobolden eine Frist von 100 Tagen gesetzt. Julius hatte mal in der Familie herumgefragt, ob jemand was damit zu tun hatte. Darauf hatte Otto Latierre geantwortet, dass er das nur mit einem Beamten aus der Finanzabteilung oder mit "Villeneuves Koboldkuschelknechten" bereden würde. Damit hatte er die Antwort, dass die Latierres in gewisser Hinsicht mit drinhingen.

"Darf ich noch eine Kopie von der Mail für meine Frau haben oder liegt die Mail auf meinem Zugangskonto?" fragte er Belle. "Sie kam über das allgemeine Arkanetkonto an alle daran angeschlossenen. Aber ich habe eine Kopie davon auf Ihr Zugangskonto übermitteln lassen", sagte Belle. Julius bedankte sich und machte noch eine Kopie der betreffenden Nachricht.

Als er wieder in Millemerveilles war freuten sich alle fünf geborenen Hexen seines Haushaltes, dass er schon so früh da war. Aurore erwähnte, dass sie auf dem großen Spielplatz jetzt eine große Schiffschaukel hatten, in die zehn große oder vierzehn kleine Kinder rreinklettern durften. Julius grinste seine älteste Tochter anund fragte sie, ob sie denn wisse wie viel vierzehn waren. Da zählte ihm Aurore erst an allen zehn Fingern bis zehn vor, wobei sie jeden Finger krümmte. Dann streckte sie die vier Finger der rechten Hand wieder aus. "Das ist viazehn", sagte sie stolz. Julius strahlte sie an und nickte. "Du bist echt schon ein großes Mädchen", lobte er sie. Das gefiel seiner erstgeborenen Tochter so sehr, dass sie ihn mehr als eine Minute lang knuddelte.

Nach dem Abendessen, als Clarimonde und Chrysope schon im Bett lagen, verlas Julius die Nachricht seiner Mutter aus den Staaten und meinte dazu, dass sie offenbar jetzt diejenige sein durfte, die aus Amerika erzählte, was da los war. Aurore bat Julius, die Mémé Martha von ihr zu grüßen, wenn er ihr auch einen Eelektrobrief oder eine Eule schickte. Julius versprach es.

Als dann auch Aurore nach dem üblichen Gutenachtritual mit Waschen, Zähneputzen, hinlegen und zwei Kapitel aus einem Buch für junge Hexen schlief bat Julius die zwei mit ihm zusammenwohnenden Hexen in den klangkerkerbezauberten Musikraum. Dort erwähnte er, was er auch Belle gegenüber befürchtet hatte. "So las sich das für mich auch, Julius", meinte Béatrice dazu. "Ma meinte sowas, dass Orion ziemlich ungehalten sei, weil ihm Jacqueline Corbeau nichts mehr mitteilte und dass die Viviane-Ausgabe von Beauxbatons von den Cottons aus New Orleans und einer Peggy Swann aus Viento del Sol beunruhigende Gerüchte gehört habe, dass Buggles nach außerministeriellen Verbündeten gegen die Mondgeschwister suche und vor allem, dass er wohl seinen Personenverkehrsleiter Summertrail nach Viento del Sol geschickt habe, um die Luftschiffverbindung sicherer gegen mögliche Eindringlinge aus dem Ausland abzusichern."

"Oh, dann war das sicher geheim. Brittany hätte mir das garantiert erzählt, und hier im Dorfrat ist sowas noch nicht angesprochen worden", sagte Julius.

"Wir wissen echt nicht was da läuft, Julius. Noch so 'ne Schroedinger-Katze", sagte Millie. Julius musste ihr beipflichten. Dass er sich sehr um seine Mutter sorgte verriet er erst einmal nicht, auch wenn Millie das bestimmt fühlte.

"Tante Babs hat heute mittag zu mir gemeint, ich dürfte mich gerne jedes Jahr von dir schwängern lassen, wenn Temmie alle meine an dich überspringenden Gefühlswallungen abfängt und dadurch selbst wie schwanger gestimmt ist", sagte Millie. Béatrice nickte. Offenbar hatte sie diese Mitteilung auch mitbekommen. "Temmie gibt seit dem vierten Monat, wo die beiden kleinen Prinzessinnen in ihrer warmen Wartestube weilen ein Drittel mehr Milch als ihre anderen Schwestern und Cousinen. Clarabella ist richtig kugelrund, und Temmie kann noch genug für den Weitervertrieb abgeben. Tante Babs schreibt es uns alles gut, was sie für Temmies Milch bekommt. Könnte sein, dass wir Flavine, Fylla und dem Kleinen gleich nach der Geburt ein Extraverlies mit mehr als hundert Galleonen anmieten können", sagte Millie noch.

"Apropos Gringotts, Julius", setzte Béatrice an. "Hera hat mit Eleonore und Pierroche beschlossen, dass die zugesagte Zusatzmiete nach der Einrichtung eures Schutzzaubers für zwei Jahre ausgesetzt wird, wenn dafür die Familien der hier arbeitenden Kobolde volle Bürgerrechte bekommen, von der Führung und Nutzung von Zauberstäben abgesehen. Hera meint, dass Pierroche sowas angedeutet habe, dass er sich im Moment hier in Millemerveilles am sichersten fühlt und es wohl Schwierigkeiten mit den anderen Kobolden gibt, vor allem mit deren Sicherheitsdienst. Genaueres wollte er dazu nicht sagen. Dass Hera ihn bei dem Gespräch heimlich legilimentiert hat weiß er nicht und muss auch keiner außerhalb dieses Raumes wissen", sagte Béatrice noch. "Sie meinte zu mir, dass Pierroche Angst vor einer Strafversetzung habe, wenn er nicht von sich aus die Listen mit allen Verliesen und Kunden preisgebe, die sich mit Zauberwesen am besten auskennen. Jedenfalls fürchte er, dass die Filiale in Paris vor dem 14. Februar nicht aufgemacht werden könnte."

"Och, dann müssen die verliebten Hexen dieses Jahr auf die Blumensträuße und Süßigkeiten zum Valentinstag verzichten", feixte Julius. Millie grinste darüber und sah Béatrice an: "Wir beide haben was viel schöneres von dir geschenkt gekriegt, was mich richtig stolz macht und Béatrice auf jeden Fall eine wichtige Erfahrung für ihren Beruf als Hebamme bietet."

"Julius musste dafür nicht schwanger werden, um Catherine bei der Geburt ihres Sohnes zu helfen und hat auch bei Uranies Kindern fast selbstständig mitgeholfen", konterte Béatrice. Julius fragte sich, wie er jetzt darauf reagieren sollte. Er wollte keine von beiden verletzen. Ihm wurde nur wieder bewusst, wie schwer es Millie fallen würde, Béatrices Kind aufwachsen zu sehen, wenn sie es nicht als ihren Adoptivsohn beanspruchte und wie weh es Béatrice tun würde, wenn sie den kleinen Félix gleich nach der Geburt an Millie abgeben musste und dann doch mitbekam, wie er aufwuchs und sie "nur die Tante" sein durfte.

Als Millie und Julius in ihrem Ehebett lagen meinte er noch zu ihr: "Morgen rede ich mal über das Armband mit Britt und Mum und lass mir erzählen, was bei denen wirklich abläuft, vorausgesetzt, Mum wurde nicht von Buggles verdonnert oder gar magisch eingeschworen, nur noch das zu erzählen, was ihm nützt. Am Ende pusten die uns lauter rosarote Blubberblasen um die Ohren und kochen in Wirklichkeit was aus, um erst mal die Staaten und dann den Rest der Welt aus dem Tritt zu bringen." Millie grummelte dazu nur: "Falls die sowas anleiern können wir von hier aus nichts dran machen, Monju. Aber ich geb dir recht, dass mir das auch nicht gefällt mir vorzustellen, dass deine Mutter von diesem an seinem Chefsessel klebenden Kerl zu irgendwelchen verlogenen Berichten getrieben werden soll und wozu noch so alles. am besten textest du diese Mail morgen noch zu denen vom Laveau-Institut hin. Vielleicht wissen die mehr als Buggles rauslassen will." Julius sog Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. Dann sagte er: "Das hätte ich heute nachmittag noch erledigen können. Aber das werde ich gleich morgen erledigen." Dann wünschte er seiner Frau und den ungeborenen Zwillingsschwestern eine gute, erholsame Nacht.

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Vor dem Saal der tanzenden Klingen im Königreich deutschsprachiger Zwerge, 21.01.2005 Menschenzeitrechnung, kurz nach Mitternacht

Viele von den altgedienten Kriegern sagten, dass die tanzenden Klingen die gefährlichste Art des Nachfolgezweikampfes waren, noch viel gefährlicher als die drei Höhlen. Andere hielten den Ehernen Wurfkampf auf der schwingenden Brücke über dem Strom des Vergessens oder das Rad der Entscheidung für die gefährlichste Art zu kämpfen. Doch für Malin Gaorinssohn Eisenknoter und seinen letzten Herausforderer Gloin Zangenschmied war dies hier die entscheidende Prüfung. Bestand Malin auch diese, dann war er König und durfte zwölf Jahre lang nicht mehr herausgefordert werden. Verlor er den Kampf und damit sein Leben, dann musste Gloin Zangenschmied gegen weitere zwei Herausforderer antreten. Starb er dabei, musste dessen Überwinder wiederum zwei Herausforderungen bestehen. So konnte es geschehen, dass heute der Auftakt für viele weitere Königsproben stattfand oder der neue König unter den Bergen bestimmt war.

"Die tanzenden Klingen von Morin Schädelsammler und Koldorin Hammerschwinger sind die mit abstand schärfsten und tödlichsten Waffen, die jemals von unsereins geschmiedet und bezaubert wurden. Sie trinken unser Blut, wollen uns zerstückeln und lächzen danach, unsere Knochen zu zerteilen. Nur wer schnell und gewandt und dabei vorausblickend durch die Halle geht, der vermag größtenteils lebendig an der anderen Seite zu erscheinen", sagte Ontwarin Wortweber. "Und wie bei der schwingenden Brücke gilt auch hier, dass die beiden Gegner von zwei Seiten durch die Halle gehen müssen. Anders als bei den drei Höhlen und bei der Brücke ist hier das Mitführen von Metallwaffen und Wehren der eigenen Wahl erlaubt. Denn die Klingen werden immer versuchen, die unbedeckten Stellen zu treffen. Auch sind sie aus Dauereisen, das fünfmal so hart wie ein Unzwingstein ist und nicht einmal vom Glutatem des gefährlichsten Feuerbläsers geschmolzen werden kann. Ihr kämpft nicht nur gegen die tanzenden Todesklingen, sondern müsst auch zusehen, dass nur einer von euch auf die andere Seite gelangt. Denn nur für einen von euch wird sich das Tor zum Sieg öffnen. Entweder dürfen wir heute einen neuen König feiern oder werden Zeuge, wie zwei weitere Königsprüfungen stattfinden. Wie immer gilt, dass wer diesen Kampf scheut davon zurücktreten darf, wenn er bereit ist, alles im Leben erworbene Hab und Gut, alle Verdienste und alle Ehre aufzugeben. So frage ich dich, Malin, Gaorinssohn Eisenknoter, willst du dich der letzten Königsprüfung stellen oder lieber in Bescheidenheit und Einfachheit ein ruhiges Leben führen?"

"Ich will kämpfen und mich den tanzenden Klingen und meinem Gegner stellen", sagte Malin.

"So frage ich dich, Gloin Idurssohn Zangenschmied, willst du dich der Königsprüfung stellen oder lieber in Bescheidenheit und Einfachheit ein friedvolles Leben genießen?"

"Ich will kämpfen und mich den tanzenden Klingen stellen und diesen verwöhnten Burschen da in Durins Reich senden", stieß Gloin Zangenschmied aus. Malin grinste darüber nur. Sicher spekulierte Gloin darauf, sowohl Malins dann verwitwete Frau zu bekommen als auch alles, was Malin an Habseligkeiten von seinem Vater geerbt hatte und vor allem die magische Diamantklinge, die er im ersten Kampf von Norin Feuertreter erbeutet hatte.

"So habt ihr beide entschieden, die Halle der tanzenden Klingen zu durchschreitenund dem jeweils anderen den Weg durch das gegenüberliegende Tor zu verwehren", sagte Ontwarin. "So wähle du, Malin aus, ob du durch das Morgen- oder das Abendtor in die Halle eintreten möchtest."

"Ich hoffe, das Licht der Sonne wiederzusehen und auf die vielen Tage, die ab heute anbrechen. Daher wähle ich das Morgentor, Hüter Ontwarin", sagte Malin. Gloin grinste verächtlich. Doch nun war die Entscheidung gefallen. Er musste durch das Abendtor. Da die Klingen in der Halle nicht immer am selben Fleck blieben war ein Tor so gut oder so schlimm wie das andere. Aber der symbolische Akt war ebenso wichtig. Wer auf weitere Tage hoffte wählte immer das Morgentor. Selten wählte jemand das Abendtor, weil er hoffte, noch eine geruhsame Restnacht verbringen zu dürfen, sofern er nicht schwer verstümmelt im Haus der Heiler landete und vielleicht nie wieder mit eigenen Händen arbeiten konnte. Was war ein Sieg wert, wenn dafür das ganze Leben eine einzige Belastung für sich und andere war? Doch wer kämpfen wollte musste bereit sein, das eigene Leben einzusetzen. Natürlich konnte es auch geschehen, dass beide Kämpfer die tanzenden Klingen nicht überlebten. In dem Fall konnte der Hüter der Ereignisse und Bräuche tatsächlich ein ganzes Jahr lang die Herrschaft ausüben, auch wenn er keinen bewaffneten Kampf befehlen durfte, bis sich vier neue Herausforderer fanden, die erneut um dieses Amt kämpfen wollten.

"So mögest du, Malin Gaorinssohn Eisenknoter, um den granitenen Saal der tanzenden Klingen herum zum Morgentor schreiten und dort vom Hüter hineingelassen werden, sobald das Horn der Helden zum Kampf ruft", sagte der Hüter der Ereignisse und Bräuche.

Malin nickte allen zu, die auf Gloins Seite der Halle verbleiben wollten. Seine bisher treuen Anhänger folgten ihm im gebührenden Abstand. Malin dachte dabei daran, dass er unter seinem blauen Gewand die von ihm persönlich geschmiedete und mit Runen der Panzerung und Leichtigkeit versehene Diamantsilberrüstung trug. Auch trug er hautfarbene Handschuhe mit hauchdünnen Diamantsilberplättchen, die auf seine eigenen Hände abgestimmt waren. An den Füßen trug er unter Höhlenechsenleder verborgene Diamantsilberstiefel. Damit hoffte er, den Dauereisenklingen zumindest genug entgegenzusetzen, dass er den Kampf gewinnen würde. Außerdem trug er unter dem Gewand den vonNorin erbeuteten Schwertgürtel mit jener unverwüstlich erscheinenden Waffe. Falls es zwischen den tanzendenKlingen zum Zweikampf kommen mochte wollte er das Schwert zum ersten mal gegen einen Gegner einsetzen. Er ging davon aus, dass auch Gloin Zangenschmied in einer Rüstung seiner Wahl antrat, die er dem Brauch gerecht unter einfach wirkendem Leinenstoff verbarg, um nicht damit zu protzen. Malin wusste, dass Gloin sich auf das Schmieden von gebändigtem Sonnenlicht ausgerichtet hatte. Zwar hieß er Zangenschmied, weil er eigentlich Werkzeugschmied war. Doch dürfte er Kontakt zu kundigen Rüstungsschmieden haben, denen er für ihre Arbeit passende Werkzeuge gefertigt hatte.

Am durch eine knapp über einer blauen wellenlinie schwebende gelbrote Sonnenscheibe war das Morgentor gekennzeichnet. Auf seinen silbernen Flügeln stand in der Lautrunenschrift der Zwerge:

Ich bin die Hoffnungen und Sorgen,
auf jeden neu erwachten Morgen.
Doch wer durch mich betritt den Saal,
bin ich zugleich das Tor zur Qual.

Der Herausgeforderte ist am Morgentor eingetroffen!" rief der rot-golden gewandete Hüter, der zwei große Silberschlüssel an einer Kette um den Hals trug. Von weiter weg erfolgte Ontwarins Antwort: "So soll jeder der Prüflinge eintreten, sobald das Horn der Helden ertönt."

Der Torhüter sperrte jeden Torflügel einzeln auf. Dann erklang das Horn der Helden mit einem einzigen Ton. Die beiden Torflügel sprangen leise rasselnd auf. Malin sah in den von Sonnenlichtsteinen erhellten Saal hineinund erkannte die von der Decke herabhängenden, mehrere Manneslängen langen Klingen. Er trat im gleichen Augenblick durch das Tor, als auf der anderen Seite Gloin Zangenschmied eintrat. Sofort wurde hinter beiden das jeweilige Tor verschlossen. Malin konnte durch einen schnellen Blick zurück erkennen, dass von Hand bedienbare Drehräder kreisten. Also war es möglich, das Tor von innen zu öffnen. Doch tat er das war es gleichbedeutend mit einer eingestandenen Niederlage. Da er vorhin vollmundig den Kampf angenommen hatte würde es nicht bei einem Leben in Einfachheit ohne erworbenen Besitz bleiben, sondern in seiner Entmannung und Entbartung enden. Also ging es nun um alles.

"Bringen wir es hinter uns, verwöhnter Bursche. Ich habe Jahrzehnte darauf gehofft, diesen Tag zu erleben!" hörte Malin Gloins verächtliche Stimme. "Ich trage ehrenvolles königliches Blut in mir, trügerische Zunge und kriecherischer Wurm. Dein letzter Tag war gestern!" rief Malin zurück, während er so behutsam er konnte über sein Gewand strich. Seine Rüstung vibrierte, erwärmte sich einen Moment und war dann wieder wie immer. Gloin würde heute sein letztes Wunder dieser Welt erleben. Malin fühlte, wie sich etwas auf sein Gesicht legte und sich wie eine zweite Haut daran schmiegte. Seine Rüstung und seine Kopfbedeckung hatten ihre unsichtbare Panzerung geschlossen. Ob das schon reichte, gegen die tanzenden Klingen zu bestehen?

Als Malin einen Schritt weiter in den mehr als hundert Schritte langen Saal hineintrat kam erstes Leben in die hängenden Klingen. Sie drehten sich und hoben sich selbst an. Malin konnte keine Fäden oder Federungen sehen. Die Klingen waren mit mehreren Zaubern belegt. Einer davon war die Witterung von in lebenden Wesen kreisendem Blut, und ihnen war die Natur des Blutdurstes eingeprägt worden. Malins Vater, der zweimal durch diesen Saal hatte gehen müssen, hatte gewarnt, dass die Klingenimmer wilder wurden, sobald mehr Blut floss. Außerdem hatte er noch gemeint, dass mehr zu sehen war als zu erahnen war. "Sei gefasst, dass auch viel Schein und nicht nur Sein den Saal der tanzenden Klingen erfüllt. Lass dich nicht verwirren, solltest du einmal diesen Kampf bestehen!"

Jetzt begannen die Klingen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Richtungen zu schwingen. Malin erkannte, dass es keinen sicheren Weg durch die vielen Reihen der tödlichen Schneiden gab. Ihm blieb nur das Ausweichen oder Abwehren der ihn bedrängenden Klingen.

Als er sah, dass es nicht nur die Klingen waren, die den Saal bevölkerten ahnte er, wo die weitere Schwierigkeit bestand. Denn unvermittelt schwangen und tanzten nicht nur glitzernde Klingen durch den Saal, sondern huschten auch Ebenbilder von Gloin Zangenschmied zwischen den Klingen herum. Malin hoffte, dass auch von ihm solche Scheinbilder entstanden. Doch jedes davon konnte der echte Gegner sein. Falls er nicht lernte, Trug und Wahrheit voneinander zu unterscheiden würde ihn Gloin überraschen und töten.

Mit schwirrenden und pfeifendenLauten fegten die Klingen nun in hoher Geschwindigkeit durch den Saal. Einige von ihnen zielten dabei auf Malin. Der konnte gerade drei auf ihn zukommenden Klingen ausweichen. Dann stand er mitten zwischen den magisch belebten Waffen. Nun sah er auch, dass Gloin offenbar einen weiteren Trick brachte. Seinen Körper umstrahlte ein goldener Lichtschimmer, der ganz genau seine Körperformen nachzeichnete. Vier Klingen prallten prasselnd davon ab und klirrten gegen ihnen nachrückende Schwertblätter. Dann zischte eine der Klingen genau auf Malin zu. Der riss seine Hände nach unten und bot der Schneide die gepanzerte Brust. Es pongte laut, als die Klingen gegen die mit Panzerungszauber verstärkte sowieso schon für natürliche Waffen undurchdringliche Rüstung knallte. Als eine quer durch die Luft jagende Klinge genau auf seinen Hals zuraste sprang Malin nach oben. Die Klinge prallte lauttönend von seiner Brust zurück. Das war also die Begrüßung, dachte Malin.

Er wand sich und tauchte, sprang und kreiselte durch die ihm nun entgegenschlagenden Klingen. Ein frei fliegendes Beil holte nach oben aus, um ihm im Fallen doch noch den unter der Kapuze getragenen Helm zu zertrümmern.

Malin bemerkte, dass sich Gloin ganz offen in die Schwungbahnen stellte. Das goldene Licht war ähnlich wie die unsichtbare Panzerung von Malins Rüstung. Andere leuchtende Gloin-Abbilder traten vor und wurden von den tanzenden Klingen getroffen. Die Klingen prallten ab. Das war hinterhältig. Denn so konnte Malin das Original nicht von dessen Spiegelbildern unterscheiden. Wieder pfiffen zwei Klingen auf ihn zu. Sie hätten sicher seinen noch von der Rüstung geschützten Hals getroffen. Doch Brust- und Bauchpanzerungen hielten mehr aus. Malin wurde von den Treffern um zwei Schritte nach rechts und drei Schritte nach hinten gedrängt. Dann sah er etwas, was ihn richtig wütend machte.

Unvermittelt bewegte sich Gloin Zangenkrieger immer schneller und schlüpfte so mühelos zwischen den Klingen hindurch. Hatte der sich einen Beschleunigungszauber auferlegt. Doch ohne einen Zauberstab brauchte ein Zwerg Minuten oder Stunden, um ähnlich kraftvolle bis von keinem Zauberer erreichbar die größten Erfolge zu erreichen. Doch Gloin ging jetzt mit sehr schnellen Bewegungen zwischen den auf ihn zujagenden Klingen hindurch. Malin wusste, dass Gloin auf diese Weise sicher den Kampf gewinnen mochte. Von irgendwoher hatte er einen Selbstbeschleunigungszauber. Oder war es umgekehrt, dass Malin von Gloin gegen ohne dessen Wissen mit einem Verzögerungszauber getroffen worden war? Beides war einfach unzulässig. rüstung mit Panzerung ja, bezauberte Waffen ebenso. Aber eine Beschleunigungszauberei war ungerecht. "War mir klar, dass du auf einen Trick setzt, Heuchelzunge. Aber dann pass mal auf", dachte Malin und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne im linken Unterkiefer. Dort war eine winzige Gummiblase verstaut, die nicht bei der Untersuchung und auch nicht während der Minuten vor den Toren zu entdecken war, wenn sie ihn nicht dazu anhielten, den Mund weit aufzureißen. Er parierte drei weitere Klingen mit Brust- und Bauch teil, bis er die Gummiblase zurechtgeschoben hatte. Dann biss er kräftig zu. Ein bitteres, sofort heißer werdendes Zeug drang ihm in den Mund. Schnell schluckte er das, was seine Mutter ihm noch vor dem Aufbruch in den Mund gesteckt hatte. Jetzt fühlte er schon, wie sein Körper von anderer Kraft durchflossen wurde. Dann wurde es ihm leichter. Ja, er meinte, seine Arme, Beine, seine Hüfte und seinen Oberkörper noch gewandter bewegen zu können. Außerdem wurden die vor ihm und um ihn tanzenden und zuschlagendenKlingen immer langsamer. Ihr wildes Zischen und Pfeifen wurde zu einem auf tiefen Tonlagen klingenden Wusch-wusch-wusch. Jetzt konnte er den auf ihn zuschwingenden Klingen mühelos ausweichen, die Lücken nutzen, die zwischen ihnen entstanden. "Würg!" dachte Malin, als er den merkwürdigen, klebrigen Geschmack im Mund fühlte. Was hatte seine Mutter ihm da verpasst, das ihn zwar erst schnell machte, doch so wiederlich schmeckte? Er wusste nur, dass er gerade eine gefühlte Stunde hatte. Doch um wie viel Schneller er sich gerade bewegte und seine Umwelt wahrnahm wusste er nicht. Mit einem glockenartigen Tjoing, federte eine der Klingen von seiner Brust zurück, weil er nicht genug Platz zum Ausweichen hatte. Dann bekam er auch Stupser von hinten, die jedoch wie kräfftige Schläge mit einem kopfgroßen Hammer auf einen mannshohen Amboss klangen. Er musste sich vorsehen, dass ihm keine Klinge von hinten den Kopf abtrennte.

"War mir klar, dass deine der Kräuterhexeerei vertraute Gebärerin dich nicht ohne ein Mittel ihrer Kunst in diesen Kampf schickt. Aber mein Gewand der Sonne und mein Zauber der schnellen Bewegung ist ihrer Panscherei überlegen", hörte Malin die in der Tonhöhe nach unten gerutschte Bemerkung von Gloin. Er zog es vor, nicht darauf zu antworten. Es ging darum, ob er oder der aus dieser Halle freikam.

Die Klingen hatten wohl bemerkt, dass ihre Beute sich schneller und gewandter unter ihnen bewegte. Sie bekamen mehr Geschwindigkeit und richteten sich immer so, dass sie die ungedeckten Körperstellen suchen und abtrennen konnten. Um beide herum wimmelte es nun von glänzenden, äußerst scharfen Schneiden von grifflosen Schwertern und Streitäxten, die alle dazu gemacht waren, einen ungeschützten Schwarzalben innerhalb weniger Augenblicke in viele winzige Portionen Fleisch, Blut und Knochensplitter zu zerhacken. Kling-kloing-kling! Die magisch belebten Klingen trafen auf die beiden Gegner, deren Spiegelbilder ebenfalls Treffer abbekamen. Scheinbar gab es noch mehr Klingen im Saal als vorher. Einige von ihnen drohten nun auch von unten. Malin musste einer breiten Beilklinge ausweichen, die es auf seine Füße abgesehen hatte. Doch die Klingen waren zu langsam, um ihm ernsthaft Schaden zu können. Doch es waren Viele und nicht immer fand er eine Lücke, in die er mit einem schnellen Sprung eintauchen konnte. Ein ähnliches Problem hatte Gloin Zangenschmied. Der löste es jedoch damit, dass er unter seinem Gewand eine goldene Zange mit handgroßen Backen zog und damit nach ihm ausschlagenden Klingen schnappte. Erwischte er eine, riss er sie so heftig nach oben, dass sie erzitterte und sich wand. Dann fiel die Klinge zu Boden. Also konnte man diese wilder und wilder tanzenden Klingen auch bis auf absehbare Zeit handlungsunfähig machen.

Malin zog nun auch sein erbeutetes schwert frei und sah, wie es aus sich heraus silberblau leuchtete. Offenbar steckte darin auch eine Art Witterung für böses Zauberwerk oder die Anwesenheit von Feinden. Jedenfalls konnte Malin damit die ihm geltendenKlingen nun mühelos aus der Luft schlagen. Dabei pfiff das nichtmetallische Schwertblatt durch die Luft und traf mit hammerschlagartigem Geräusch auf die andrängenden Klingen. Mal kreiselte Malin herum und fegte dabei fünf aus allen Richtungen vorstoßende Klingen zur Seite und zu Boden. Jetzt wusste er es ganz sicher. Landeten die Klingen auf dem Boden, blieben sie erst einmal liegen. So setzte Malin darauf, die ihm weiterhin geltenden Schwerter mit seinem eigenen Schwert zu Boden zu schlagen. Schon stieg er mit seinen metallenen Absätzen über die bis auf weiteres leblosen Klingen hinweg. Immer wieder musste er mit Bogenförmigen Schlägen Schwertklingen zu Boden bringen. Auch Gloin hatte erkannt, dass nur die Erniedrigung der Klingen deren Kampfkraft auslöschte. Doch wo eine Klinge niedergeworfen wurde, sausten zwei oder drei neue Klingen von der Decke herab. Malin hörte das lauter werdende Geräusch in der Luft und drehte sich unter einer mannslangen Beilklinge, die auf dem Weg war, Beute zu zerlegen. Jeder nicht unter einem Beschleunigungszauber stehende Schwarzalb hätte diese Klinge vomöglich auf den Kopf bekommen oder währe von ihr zerteilt worden.

Gloin Zangenschmied ließ seine Schmiedezange kreisen und riss immer wieder Klingen aus der Luft und zu boden. Malin ließ sein nun hellblau leuchtendes Schwert zwischen seinen nur von Magie geführten Artgenossen kreisen. Dabei vollbrachte er es mehrmals, mit einem Hieb eine Klinge so aus der Bahn zu schlagen, dass sie mit einer gerade auf ihn zuschwingendenKlinge zusammenstieß. Beide polterten laut auf den Boden und blieben liegen. "Ja, dein Schwert werde ich nachher mit Freuden in die Höhe strecken, Sohn einer fetten Höhlenschnecke", erwiderte Gloin. "Ach, wo sind denn Eure sehr gut entwickelten Umgangsformen verblieben, Meister Gloin?" fragte Malin und hieb mit seinem Schwert gleich drei Klingen aus seinem Weg, bevor er wieder eine für seine jetzige Geschwindigkeit ausreichendeLücke nutzte, um weitere drei Schritte zu gewinnen. Doch um das Abendtor zu erreichen musste er sich eher rechts halten. Da jedoch kamen ihm gleich fünf gleich aussehende Gestalten entgegen, die alle Gloins goldene Lichtumhüllung trugen. Alle rissenihre leuchtenden Zangen hoch. Malin argwöhnte, dass einer der fünf der richtige war und er gerade nicht sah, welcher. Er wusste auch, was der andere wollte. Entweder wollte er ihm die Klinge mit der Zange entreißen oder ihm sein Werkzeug selbst um den Halszusammendrücken. Der wusste nicht, dass Malins Rüstung jedes Metall abwies. Aber das mit dem Schwert konnte klappen, wenn er nicht schnellstmöglich sah, wer der richtige war. Er sprang mit Todesverachtung nach links und prellte dabei zwei Klingen mit seiner gepanzertenBrust ab. Fast hätte ihn eine von oben nach unten schlagende Klinge am Handgelenk getroffen. Ob der Treffer ausgereicht hätte, ihm die behandschuhte Hand abzutrennen wusste er nicht und wollte es auch nicht wissen. Er konnte gerade noch zwei weiteren von oben niedergleitenden Klingen ausweichen und stieß dann mit einem ansatzlosen Ellenbogenschlag gegen eine golden umflimmerte Brust Gloins. Tatsächlich spürte er einen gewissen Widerstand. Doch dann sah er, wie die von ihm getroffene Erscheinung gegen ihren Mehrling prallte und beide zwei weitere Mehrlinge anzogen, um mit ihnen in einer goldenen Lichterwolke zu zerfließen. Einer blieb unverändert. Malin sprang über zwei auf Kniehöhe anfliegende Klingen hinweg, nahm den Schlag gegen den Bauch als zu vertragen hin und hieb drei weitere Klingen aus dem Weg. Dann war er mit Gloin auf gleicher Höhe. Dieser wollte seine Gelegenheit nutzen, den Gegner zu entwaffnen oder zu töten. Doch Malin hockte sich blitzschnell hin und hieb mit dem Schwert nach Gloins Beinen. Dieser bekam zu spät mit, dass seine Rüstung nur auf Metalle abwehrend wirkte. Der Treffer tat sein blutiges Werk. Gloin konnte nicht mehr stehen. Sofort flogen zwanzig Klingen aus allen Richtungen an und umschwirrten den schwer verletzten Gloin. Dieser versuchte, die entstandenen Schmerzen zu veratmen und gleichzeitig die ihm geltenden Klingen abzuwehren. Doch jetzt lag er am Boden. Seine goldene Lichtrüstung flackerte unter immer mehr Hieben. Dann trieb eine der Klingen seine glühende Zange zur Seite. Malin überlegte, ob er den nun kampfunfähigen Gegner den auf ihn einstürmenden Klingen überlassen sollte oder ihm den schnellen Gnadentod geben sollte. Vor allem wollte er wissen, wie Gloin sich selbst so schnell gemacht hatte.

Die Klingen fielen förmlich von oben herunter und hieben auf dem nun am Boden liegenden ein. Dieser schaffte es nicht mehr, alle Klingen mit seiner Zange abzuwehren. Das Werkzeug entfiel seiner Hand. Er war waffenlos. Malin hingegen konnte immer noch mit seinem Schwert kämpfen. Er sprang vor, holte aus und traf den bereits am Bodenliegenden zwischen Bartansatz und Hals. Er hatte noch damit gerechnet, dass sein immer heftiger flackernder Schutz den Schlag abmildern würde. Doch als er sah, wie heftig er noch traf staunte Malin. Er musste aus dem Weg springen, weil nun ganze Hundertschaften von Klingen auf den Besiegten einschlugen. "Du hättest in deiner Schreiberstube bleiben sollen, Kaufmannssohn", bedachte Malin den Überwundenen Gegner mit letzten Worten. Weil die Klingen gerade voll auf ihn einschlugen und offenbar keinen Widerstand mehr fanden konnte Malin nicht sofort an ihn heran, um zu prüfen, was er benutzt hatte, um schneller zu werden. Dann sah er es, einen grün-goldenen Gürtel, in den die Runen für Blitzschlag, Sturmwind und die in ein Ohr eindringenden Wellen des Schalls eingestickt waren. Doch so schnell Malin es bmerkte, so schnell zerhackten die Klingen nun denGürtel und alles, was nun ungeschützt von Gloin zu sehen war. Denn mit dessen Leben war auch die schützende Kraft seiner Rüstung erloschen. Wie hieß es, die Klingen gierten nach Blut. Je mehr davon vergossen wurde desto ungestümer und gnadenloser sausten sie nieder. Malin wusste nun, dass man sich in dieser Halle niemals auch nur einen blutigen Finger zuziehen durfte. Denn jetzt brauchten die tanzenden Klingen nur eine gefühlte Minute.

Malin erkannte fast zu spät, dass er gerade die beste Gelegenheit hatte, sich bis zum Abendtor durchzuwinden. Denn die meisten Klingen hatten den toten Gloin Zangenschmied als ihr Opfer erwählt. Er wusste jedoch, das sie sich auch wieder auf ihn stürzen würden, wenn er dem anderen Tor nahe kam. Doch er nutzte die nun sehr großen Lücken aus und lief hindurch, wehrte von oben niedersausende Klingen mit dem Schwert ab und konnte bis zum gegenüberliegenden Tor gelangen, bevor er hörte, wie hinter ihm ein Schwarm Klingen heranflog, der nun auch ihn zerstückeln wollte. Sicher würde seine Rüstung noch viele Klingen abwehren, die ja aus Metall waren. Doch irgendwann würde auch der Panzerungszauber erlahmen. Dann blieb ihm nur zu hoffen, dass Diamantsilber wirklich viermal so haltbar wie Dauereisen war. Doch mit den eingravierten Mond- und Erdrunen konnte er die Kraft beider mächtigen Körper nutzen, hoffte er. Sich darauf verlassen durfte er jedoch nicht.

Die ihn nun verfolgenden Klingen waren gerade noch zehn Schritte von ihm fort, als er die Idee hatte. Er bückte sich, griff eine der von ihm zu Boden gehiebenen Klingen und schleuderte sie in den Schwarm der ihm nachsetzenden Schwert- und Axtblätter hinein. Es klirrte laut und tief, als wenn zwei Bronzeglocken gegeneinandergestoßen wären. Drei Klingen fielen herunter. Doch die anderen wurden aus dem Weg geprellt und trafen ihre blutgierigen Artgenossen. Diese wiederum schlugen unbeherrscht gegen andere Klingen. Malin tauchte wieder schnell durch die sich gerade wie Wasser anfühlende Luft, riss eine weitere Klinge hoch und warf sie so, dass sie sich im Flug zu drehen begann und dann laut dröhnend gegen die auf ihrer Höhe fliegendenKlingen prallte. Diese gerieten aus der Flugbahn und trafen ihre nachsetzenden Artgenossen. Jetzt war das Durcheinander vollkommen. Denn so dicht die Klingen gerade noch hinter ihm hergeflogen waren, so häufig prallten sie nun gegeneinander. Es stimmte also nicht, dass die Klingen einander nie berühren würden, weil ihnen eine Abweisung gegen gleichartige Schneiden eingewirkt sein sollte. Jedenfalls konnte er mit dem Wurf eines auf ihn niedergefallenen und von seinem Schwert auf den Boden gestoßenen Beils noch weitere anfliegende Klingen zu unbeherrscht um sich kreisenden und schlagenden Metallstücken machen.

Jetzt setzte Malin alles auf die eine Möglichkeit. Er hielt sein Schwert in einer schrägen Abfanghaltung über seinen Kopf und sprang in kurzen Sätzen auf das Tor zu. Da flogen plötzlich Klingen aus der Wand und prallten sich verbiegend gegen seine Brust. Gerade so konnte er noch eine kreisende Scheibe mit äußerst scharfem Rand mit seinem Schwert zurücktreiben. Dann war er am Tor. Er packte mit der freien Hand nach dem Drehrad und sicherte mit dem Schwert, dass ihm nicht der Arm abgeschlagen wurde. Zweimal musste er wirklich noch Klingen von oben abfangen und konnte sie aus der Abwehrbewegung heraus gegen die immer noch im wilden Durcheinander klirrenden Klingen hauen. Dann hatte er das eine Drehrad so bewegt, dass die Verriegelung des linken Flügels aufging. Das rechte Rad drehte er noch schneller. Jetzt drückte er die beiden Torflügel auf. Klirr! Eine Klinge traf ihn im Rücken. Er fühlte, wie seine Rüstung erbebte und wild pochte. Doch dann sprang er durch das Tor hinaus ins freie. Er hörte hintersich das tiefe Wimmern der noch auf ihn zufliegendenKlingen und wie es wieder leiser wurde.

Vor ihm standen alle die, die auf dieser Seite des Tores gewartet hatten. Sie wirkten wie Standbilder. Nur an den sich langsam öffnenden und wider schließenden Augen erkannte er, dass sie ihn verwundert anblinzelten. Jetzt erkannte er seine größte Schwierigkeit. Er war unter dem Einfluss des Beschleunigungstrankes durch die Halle der tanzenden Klingen gelangt und hatte Gloin Zangenschmied überwunden. Doch das Gebräu würde noch mehr als eine halbe von ihm empfundene Stunde vorhalten. Das war zu lange, um seinen Sieg auszurufen. Denn seine Worte mochten als einziger, kurzer, Schriller Aufschrei zu hören sein. Außerdem mochte es sein, dass Ontwarin ihm den Sieg absprach, weil er mit einem Zaubertrank nachgeholfen hatte. Nein, so durfte es nicht enden. Dann fiel ihm ein, was seine Mutter Miru Silberstimme ihm kurz vor dem Kampf geraten hatte. "Wenn du in die Bedrängnis gerätst, zu schnell für die anderen zu sprechen, so halte die Luft an, solange du kannst. Dann wirst du alles um dich wieder so sehen wie sonst!" Er holte tief Luft und hielt den Atem an.

Er zählte die Herzschläge, als er bei sechzig war fühlte er, wie etwas in seinem Körper erbebte und seine Arme und Beine zitterten. Er hielt weiter den Atem an. Ja, jetzt begannen die anderen, sich wieder zu bewegen. Das tiefe Brummen und Brüllen wurde wieder zu verständlichen, laut gerufenen Worten, erst mit tiefer Stimme und jede Silbe langgezogen. Doch dann bekamen alle wieder ihre ganz eigene Geschwindigkeit. In Wirklichkeit war es so, dass er wieder auf ihre Geschwindigkeit verzögert wurde. Als er Sicher war, dass er wieder in ihrer richtigen Wahrnehmung angekommen war riss er sein Schwert hoch und reckte es nach oben. "Ich bin durch das Morgentor eingetreten und als einziger durch das Abendtor wieder hinausgetreten. Ich habe die Halle der tanzenden Klingen durchschritten und die Königsprüfung damit bestanden!" rief er. Dann holte er wieder Luft und atmete wie sonst weiter.

"Ja, du bist durch die Halle gelangt, auch wenn du dabei nicht nur auf die Fertigungskunst deiner Rüstung und des von dir erlangten Schwertes gesetzt hast. Aber der Brauch sagt, dass wer die Halle der tanzenden Klingen als einziger verlässt hat die Königsprüfung bestanden", hörte er Ontwarin etwas weiter links von sich ausrufen. Meinte er das nur, oder klang die große Verachtung für ihn aus Ontwarins Stimme heraus. Also konnte der ihm den Sieg nicht absprechen, obwohl er sich eines Zaubertrankes bedient hatte. Offenbar gab es dafür keine Regeln, weil die meisten Männer auf diese Hilfe verzichteten. Vielleicht hielt Ontwarin ihn nun doch für einenFeigling. Da riefen mehrere Zeugen: "Malin hat die dritte und letzte Königsprüfung innerhalb des laufenden Mondkreises bestanden. Malin ist unser neuer König. Hoch lebe Malin VII. Gaorinssohn Eisenknoter, König unter den Bergen!" In diesen Zuruf stimmten weitere ein, die bereits vorher gezeigt hatten, wem ihre Gunst galt. Wie und wannGloin Zangenschmied den Kampf verloren hatte war denen egal. Nur wer herauskam und noch einigermaßen brauchbare Gliedmaßen hatte war zu würdigen. Der andere hatte dann eben verloren, so das uralte Recht von Härte, Stärke und Gefolgschaft.

"Hoch lebe König Malin VII. Gaorinssohn Eisenknoter!!" riefen nun auch alle anderen, die für ihn, den Sohn des verstorbenen Königs, eintraten. Dann stimmten auch die noch unentschlossenen sowie Gloins Anhänger in die Hochrufe ein. Über diese ersten Bekundungen hinweg erklang dreimal das in allen Räumen und Gängen hörbare Zweitonzeichen des Horns der Helden. Es konnte nun zwölf Jahre lang ruhen, falls es nicht zum Kriegszug rief. Malin erkannte nun, welche schweren Aufgaben er zu erledigen hatte. Denn der Tod des Königs und vieler erfahrener Altvorderen hatte die Frage aufgeworfen, wer daran Schuld dtrug. Wenn es die großen Leute mit den Zauberstäben waren, so musste er sie dazu bringen, seinem Volk Entschädigung zu leisten. Waren es jedoch die Spitzohren, die irgendwas angestellt hatten, um sein Volk zu schwächen, so konnte er nun einen Kriegszug gegen sie ausrufen. Doch erst einmal musste er von Ontwarin in der Halle der Herrscher den eisernen Reif des Herrschers auf den Kopf gesetzt bekommen. Erst dann durfte er seinen ersten Befel erteilen.

"So ist es vollbracht. Wir dürfen einen neuen Herrscher in unserer Mitte begrüßen!" sprach Ontwarin die ihm vorgeschriebenen Bestätigungsworte. "So lasst uns alle in die Halle des ehernen Herrscherstuhles gehen, wo unser neuer König seine Würde empfangen und damit unser neuer Herrscher werden möge!"

Malin steckte sein Schwert wieder in die dafür gemachte Scheide, die es scheinbar auf die Größe eines Nahkampf- oder Ritualdolches verkürzte. Dann ließ er sich von den ihn bejubelnden Meistern und Kriegern zu den Hallen der Herrscher begleiten. Unterwegs riefen Herolde mit blökenden Stimmen alles Volk zusammen. "Volk der Völker unter den Bergen! Eilt in den großen Saal des ehernen Stuhles! Gewahrt und vernehmt euren neuen König!"

Bei dieser feierlichen Handlung durften, ja mussten auch alle fruchtbaren Frauen und Jungfrauen zusehen. Denn sie mussten wissen, wem sie alle in gewisser Weise gehörten. Dem neuen König stand es zu, neben einer ihm zugesprochenen Frau noch mehrere Frauen zu erwählen, die mit ihm das Lager teilen oder ihm zu Essen bereiten sollten. Nur die Frau, die ihm zugesprochen war durfte jedoch seine Kinder gebären. Ob sein ältester Sohn eines Tages sein Erbe sein oder in einem der drei Nachfolgekämpfe sterben würde wusste Malin nicht. Auch war es schon mehrfach vorgekommen, dass zwei Brüder einander um die Königswürde bekämpft hatten. Insofern hatte Malin Glück gehabt, dass keiner seiner Brüder ihm das Vorrecht zu Herrschen abgestritten hatte, obwohl sie das Recht dazu besaßen. Doch nun war es vorbei. Zwölf Jahre lang durfte ihn niemand herausfordern. Wer einen König vom Herrscherstuhl werfen wollte, musste sich an die alten Sitten der Vorväter halten und ihn zum erlaubten Zeitpunkt herausfordern.

Die Hallen der Herrscher wurden mit lodernden Feuerkörben und goldgelben Sonnenlichtsteinen ausgeleuchtet. Gerade trugen Knechte und Mägde goldenen Zierrat herein, Waffen, Schilde, Wandteller und Gefäße in denen grünes, blaues und purpurrotes Feuer loderte. Der runde Saal des Herrschers wurde gerade mit den letzten wichtigen Schmuckstücken verziert. Auf einem Sockel aus schwarzem Stein stand der blitzblank polierte Stuhl des Herrschers mit der hohen Rückenlehne und halbrunden Kopfstütze.

"Malin, der du unser neuer König bist, steige die Stufen zum Sitz der Herrscher hinauf und sieh auf dein Volk!" sprach Ontwarin. Der Hüter der Ereignisse und Bräuche klang wirklich nicht nach großer Freude. Er hatte seinen Neffen in den Tod geschickt, miterleben müssen, wie Omur Hackenschläger in den Abgrund des Vergessens gestürzt war und wusste nun, dass Gloin Zangenschmied, ein sehr gut mit ihm vertrauter alter Ränkeschmied, seinen Fürwitz ebenfalls mit dem Leben bezahlt hatte. Sicher mochte es noch viele Neider oder gar richtige Feinde geben, wusste Malin. Doch jetzt stand er unter dem Schutz der alten Sitten. Solange er diese achtete und bewahrte würde es keiner wagen, ihn offen anzugreifen. Doch gegen hinterhältige Mörder war trotz aller Sicherheiten noch kein Kraut gewachsen, wusste Malin. Aber jetzt war er erst einmal dort, wo sein Vater Gaorin ihn immer schon gesehen hatte, auch wenn der sich viel Zeit gelassen hatte, den Weg freizugeben. Allerdings musste Malin ergründen, was seinen Vater getötet hatte. Wenn es ein magischer Angriff gewesen war, wie viele glaubten, mussten die Angreifer bestraft werden.

Da er noch nicht auf dem neuen Platz sitzen durfte, bis jeder aus dem Volk im Saal war, nutzte Malin die Gelegenheit, alle die anzusehen, die wichtig waren, ja die ihm nützlich und gefährlich sein mochten. Ontwarin stufte er nun als seinen Widersacher ein. Der würde wie bei Norin alles tun, um ihm Stolpersteine vor oder auf die Füße zu werfen. Blut half Blut und diente Blut, so eine der uralten Sitten, die den Zusammenhalt innerhalb einer Familie bestimmten. Weil Ontwarin selbst der Wortweberzunft angehörte durfte er selbst keine Waffe gegen ihn erheben. Weil Ontwarin der Hüter der Ereignisse und Bräuche war durfte er nicht gegen die bestehenden Gesetze verstoßen. Das machte dem sichtbar zu schaffen.

Endlich waren alle Männer, Frauen, Jünglinge und Jungfrauen da, wobei die Frauen alle in die hellgrauen Tücher der öffentlichen Teilnahme gehüllt waren und alle Jungfrauen die hellblaue Tracht der Unberührtheit trugen. Die Männer und Jungen trugen festliche Gewänder. Die Krieger trugen blitzende Rüstungen und funkelnde Helme. Malin erkannte die füllige Figur seiner Mutter Miru Silberstimme und seine zierliche Ehefrau. Sie beide traten weit nach vorne und setzten sich in die dritte Reihe hinter den niederen Mägden, aber noch unter den nidersten Männern. Nun verkündete Ontwarin noch einmal den endgültigen Sieg Malins und entnahm einer hereingetragenen Holzkiste den mit achtundzwanzig dünnen Zacken besetzten Reif des Herrschers. Er bestand aus Eisen, nicht aus Gold. Allerdings waren funkelnde Bergkristalle eingearbeitet, die Krone des Zwergenkönigs.

So bitte ich Euch nun demütig, Euch auf den Euch gebührenden Stuhl des Herrschers zu setzen!" sagte Ontwarin und bestieg langsam das Podest. Kleinere Geschwister des Hornes der Helden tröteten los. Trommeln wummerten. Dann sagte Ontwarin: "So empfangt den Stirnreif des ehrenvollen, siegreichen Herrschers, auf dass Ihr die da kommenden Sonnenkreise mit starker, sicherer und geschickter Hand unser aller Geschick und Fortkommen lenken möget!" Mit diesen Worten senkte Ontwarin die eiserne Krone über Malins nun entblößten Kopf nieder. Dann lag diese ihm auf dem dunkelbraunen Schopf. Erst fühlte es sich kalt wie Eis an. Doch dann begann ein Strom aus Wärme durch den eisernen Stuhl in seinen Körper zu fließen und durch seinen Kopf in die Krone. Er hatte sich erzählen lassen, dass die darin eingefasstenKristalle dann hell aufleuchteten, wenn ein rechtmäßiger König auf dem Herrscherstuhl saß. An den Gesichtern der anderen erkannte er, dass dem wohl so war. Doch alle schwiegen. "So seht im Licht der neuen Zeit unser aller Herrscher, König Malin VII. Gaorinssohn Eisenknoter!!" rief Ontwarin nun den ganzen Raum ausfüllend. "Es lebe das Reich unter den Bergen! Es lebe der König! Es lebe Malin VII.!!" Alle stimmten in Ontwarins Ausrufe ein. Jetzt fühlte Malin, wie ihm Beine und Gesäß, der Rücken und der Kopf wohlig warm wurden. Aufrecht und bereit, das neue Amt zu übernehmen, saß Malin auf dem ehernen Stuhll. Er sah, wie Ontwarin sich vor ihm niederkniete und mit seiner Stirn den Boden vor seinen Stiefeln berührte. Malin unterdrückte den ersten Drang, ihm mal eben gegen den Kopf zu treten. Dann erhob sich Ontwarin wieder und trat die Stufen des Podestes hinunter. Malin sah, wie er sich zu den anderen Würdenträgern stellte, von denen einige vielleicht doch Norin, Omur oder Gloin auf diesem Platz gesehen hätten. Jetzt durfte Malin seine erste Rede halten. Da er über fünfzig Jahre geübt hatte, die richtigenWorte zu finden und laut genug auszusprechen hörten ihm alle hier zu. Er verkündete, dass seine erste Aufgabe war, die Ursache für den großen Aufruhr in der Erde zu finden und bei einer klar erkennbaren Schuld die Schuldigen zu strafen oder ihnen hohe Bußleistungen abzuverlangen. Einige riefen: "Die Spitzohren waren das!" Andere riefen: "Die Zauberstabschwinger wollen uns loswerden. Nimm ihnen ihre Holzstecken weg, o König!" Malin hörte die Rufer. Die Frauen blieben still. Offenbar dachten einige Jungfrauen schon daran, dass sie demnächst des Königs Bett wärmen und ihm ihre Unschuld darbringen mussten. Doch das war ihm im Moment völlig unwichtig. Sein Vater war so ein Nachtgenießer. Er war eher ein Handwerker, einer, der seine Befriedigung in der Arbeit fand. Dass er überhaupt eine Frau und Kinder mit ihr hatte lag einzig an der Familienpflicht, Nachkommen zu zeugen, nicht daran, dass er gerne das Lager mit einer willigen Frau teilte.

"Nun, wo ich in Amt und Würden bin kann ich all die Fragen stellen, all die Erforschungen bestimmen, die uns die Antworten bringen sollen, wer uns allen diesen Schlag zugefügt hat. Und wenn wir keine hinnehmbaren Antworten erhalten, so werden wir, bei Durin und seinen Söhnen, eine Neuordnung fordern, die die Zauberstabträger dazu zwingt, uns mehr Anerkennung und Entgegenkommen zu zollen. Es wurde schon unter meinem Vater nichts über uns ohne uns beschlossen und verkündet. Ich werde dafür eintreten, dass alles für und uns über uns nur und ausschließlich von uns bestimmt wird, auch wenn sich dieser Güldenberg und seine Helfer für uns überlegen ansehen. Freiheit,Wohlstand, unverbrüchliche Anerkennung all dessen, was wir sind und schaffen. Dies sind die Forderungen, die ich Güldenberg und seinen Spießgesellen unterbreiten werde. Ihr alle seid meine Zeugen, dass ich dies beschlossen habe", beendete Malin VII. seine erste Ansprache als neuer König der deutschsprachigen Zwerge.

Als er kurz vor dem Morgenrot noch einmal in seine nun sicher erworbenen Schlafgemächer ging wurde er von seiner Mutter Miru und seiner Frau umarmt und geknuddelt. "Ich danke dir, dass du deinem und meinem Blut die nötige Ehrung verschafft hast. Ich bin stolz, dich in mir getragen, geboren und an meinen Brüsten genährt zu haben", hauchte Miru und warf sich in eine Pose, die ihn alles sehen ließ, was sie als fruchtbare Frau bestätigte. Seine ihm zugesprochene Frau sagte dann noch: "Und falls du es willst, mein Herr und Hüter, so mag ich auch noch das eine oder andere Kind von dir empfangen und dir zu Ehren auf die Welt bringen." Malin wagte im Moment nicht, etwas dazu zu sagen. Er wollte den Moment der Siegesgewissheit auskosten. Die große Verantwortung würde ihm schon sehr bald auf den Schultern lasten, vor allem, wo er sich gleich in der ersten Rede sehr weit aus dem Höhleneingang gelehnt hatte. Er musste den Worten Taten folgen lassen, um nicht doch noch für einen Schwächling angesehen zu werden, der mit seiner Geburt und mit gewissen Hilfsmitteln die Königswürde ergattert hatte, ohne diese zu verdienen. Nein, er verdiente diese Würde. Sein Vater hatte ihn zu seinem Nachfolger erklärt. In anderen Völkern galt der erste Sohn des Herrschers unverzüglich als neuer Herrscher, wenn der alte Herrscher starb. Doch das hieß nicht, dass diese neuen Herrscher es wirklich verstanden, ihr Volk zu führen und dessen Wohlstand zu mehren. Er wollte nicht als König in die Hallen der geschriebenen Ereignisse eingehen, der seinem Volk keine Anerkennung und keinen Wohlstand verschafft hatte. Mit diesen Gedanken legte er seine nur von ihm berührbare Rüstung ab, verstaute das von Norin erbeutete Schwert mit dem Gürtel in den nur von seiner Hand zu öffnenden Nachtschrank und ließ sich gefallen, wie seine Frau ihm das neue, rot-goldene Nachtgewand überzog. Sie selbst trug nur jenes schmale Tuch zwischen den Beinen und um die Hüften, um ihre unteren Blößen zu verbergen.

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US-Zaubereiministerium, 21.01.2005, 10:30 Uhr Ortszeit

Natürlich waren sie alle da. Wenn nach mehreren Tagen Stillschweigen der Zaubereiminister und vier seiner Abteilungsleiter zu einer spontanen Pressekonferenz einluden mussten die sich in wilden Spekulationen ergehenden Reporter natürlich erscheinen. Wer fehlte bekam die Geschichte nicht mit.

Minister Buggles, gekleidet in einen blau-weiß-roten Umhang über einem antrazitgrauen Anzug, begrüßte die Vertreter der zwanzig Zaubererweltradios und der Zaubererweltzeitungen mit ausgesuchter Höflichkeit und bat dafür um Entschuldigung, dass er und seine Mitarbeiter so viele Tage nichts von sich hatten hören lassen. Dann sagte er noch: "Auch wenn wir es nicht ganz verhindern konnten, dass Sie alle irgendwelche Spekulationen verbreiteten, warum wir in den letzten Tagen keine Stellung mehr zur aktuellen Lage nahmen, so war es das ausdrückliche Ziel unserer Verwaltungsbehörde, jede winzige Einzelheit eines Planes solange zurückzuhalten, bis der Plan im ganzen steht und von allen daran beteiligten angenommen wurde. Dies, Ladies and Gentlemen, darf ich hier und heute verkünden. Ja, ich weiß, die Zaubereiministerien in Frankreich, Deutschland und Großbritannien waren etwas schneller damit bei der Hand. Aber unser Land ist nun einmal wesentlich größer als die erwähntenLänder zusammen. Außerdem galt und gilt es, die über Jahrhunderte gepflegte Grundidee von freiem Handel für freie Menschen zu bewahren, auch wenn die derzeitige Notlage dies erschwert, wie Sie alle wissenund mehr oder weniger sachgerecht kommentiert haben. Ja, ich weiß, es geht nicht um gegenseitige Vorwürfe. Also komme ich zu den ausgearbeiteten Einzelheiten."

Die Reporterinnen und Reporter sahen den Minister leicht verstimmt an. Doch dann begriffen sie, dass sie ja was von ihm wollten und deshalb besser erst einmal abwarteten.

Der Zaubereiminister führte aus, dass die letzten Tage daran gearbeitet worden sei, fälschungssichere und gegen magische Vervielfachung abgesicherte Tauschwertscheine zu erstellen, die anders als die gerade benutzten Gutschriftenlisten anonym und in klar abgezählten Werteinheiten verwendet werden konnten, genauso wie das Papiergeld der nichtmagischen Welt, aber eben nicht beliebig vervielfachbar und ohne Kenntnis des Herstellungsprozesses auch nicht zu fälschen. "Jedes Geschäft erhält eine Prüfvorrichtung, um die Echtheit der entgegengenommenen Tauschwertscheine zu ermitteln Wer gegen die gerade erwähnte Unwahrscheinlichkeit einer Fälschung dennoch mit einer solchen zu zahlen versucht verliert denAnspruch auf Zugänglichkeit zu seinen oder ihren in Gringotts gelagerten Münzgeldvorräten. Das entsprechende Gesetz werden Ihnen gleich meine Mitarbeiter Catlock und Picton erläutern. Nur so viel, es tritt rückwirkend bis zum ersten Januar diesen Jahres in Kraft und wird gelten, bis ein ungehinderter und gegen neuerliche Störungen abgesicherter Zugang zu unser aller Goldvorräten wiederhergestellt ist. Hier ist ein Tauschwertschein im Wert von einem Knut, hier einer im Wert von zweihundert Galleonen." Der Minister legte zwei unterschiedlich große rechteckige Zettel auf den Tisch. Sie schimmerten hellgrün und glitzerten ein wenig, als habe jemand Sternenstaub darauf verteilt. "Zwischen diesen beiden Werteinheiten gibt es zehn weitere Größen, also insgesamt zwölf Werteinheiten, die Sie der gleich an Sie alle ausgehändigtenTabelle entnehmen dürfen, wie Sie auch nach der Pressekonferenz Tauschwertscheine in den ersten zehn Größen erhalten werden. Jeder magische Haushalt auf dem Boden der Vereinigten Staaten wird je nach Berufsregistrierung der Bewohner eine Anzahl von Tauschwertscheinen im Wert zwischen fünfzig und eintausend Galleonen erhalten. Unter Beachtung der bisherigen Wertstellungen der eingetragenen Handelsunternehmen werden in diesenMinuten von Mr. Pictons Abteilung ausgewählte Boten die Verkaufsstellen oder Kundenanlaufstellen der Firmen aufsuchenund ihnen alle nötigen Unterlagen und Prüfgeräte überantworten. Näheres gleich von Mr. Picton. Von meiner Seite her ist noch zu bekunden, dass wir natürlich hoffen, dass dieses provisorische Verfahren, das auf der Hoffnung beruht, wieder an unser aller Goldvorräte gelangen zu können, den magischen Handel innerhalb der USA nicht nur am Leben zu halten, sondern ihn sogar dahingehend zu bestärken, dass er die bisher verzeichneten Verluste wettmacht und beweglicher wird. Die nächste Stufe wird die Einführung eines ähnlich effizienten Zahlungssystems sein, wie es die Zahlungsanweisungen bisher für den Fernhandel waren. Ich freue mich, dass wir es in dieser kurzen Zeit geschafft haben, ein tragfähiges Verfahren zu entwickeln, mit dem wir unser Leben und damit den inneren Zusammenhalt und Frieden sichern werden. Soweit von mir. Ich übergebe das Wort an meinen Mitarbeiter Picton."

Der erwähnte Zauberer, der früher als Fluchbrecher von Gringotts gearbeitet hatte, schilderte nun, dass alle eingetragenenHandels- und Dienstleistungsunternehmen von Sicherheitsboten des Ministeriums einen Grundstock von Tauschwertscheinen erhielten und die entsprechendenPrüfgeräte, um versuchte Fälschungen zu enttarnen. Die Scheine an sich könnten einmal hergestellt nicht auf magische Weise vervielfältigt oder verschwinden gelassen werden. Das Verfahren zu ihrer Herstellung sei auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe angesiedelt. Dazu gehörte auch der Standort der Herstellung und wer die Tauschwertscheine herstellte. "In Zusammenwirkung mit der Abteilung für magische Gesetze hat meine Abteilung klargestellt, dass jeder Versuch, dieses Zahlungssystem zu hintertreiben, um es entweder unbrauchbar zu machen oder eigene Vorteile daraus zu ziehen, für mindestens fünf Jahre in Doomcastle inhaftiert wird. Näheres gleich von Mr. Catlock. Was die meiner Abteilung zufallenden Obliegenheiten angeht, so möchte ich noch allen zu erwartendenProtesten gegen ein die Magielosennachmachendes Verfahren klarstellen, dass das eigene Leben, die Entlohnung von Arbeit, der Erwerb von Nahrung, Kleidung und anderen lebensnotwendigen Gütern oder die Inanspruchnahme magischer Dienstleistungen jeden falschen Stolz überwiegen müssen. Wir sehen dieses Verfahren, das im Übrigen schon vor Jahren angedacht wurde, als derzeitig besten Weg, um die Unzugänglichkeit zu Gold und Silber zu überbrücken. Eine Brücke ist immer als Weg zu verstehen, nicht als dauerhafter Standort für jemanden. Geben Sie es bitte allen zu bedenken, welche Ihre Zeitungen lesen! Jenen, die über den magischen Rundfunk zuhören möchte ich gerne sagen, dass ich verstehe, dass bares Gold in der Hand einen höheren Wert vermitteln mag als solch ein bedruckter Schein. Doch um Ihrer Familien Willen seien Sie bitte bereit und helfen uns allen dabei, die unerwartete und höchst unerfreuliche Zwangslage zu überstehen! Danke! Ich gebe nun das Wort und die Aufmerksamkeit an meinen Kollegen Catlock."

Die Reporter hörten nun, welche Gesetze geändert wurden, dass das Ministerium ein Zentralregister aller in Umlauf befindlichen Tauschwertscheine habe, und dass bei jedem Bezahlvorgang das Prüfgerät auch an dieses Register weitergab, dass es einen solchen Schein entgegengenommen und verbucht habe, wenn er echt war. Wie bereits angedeutet erwartete jeden Einzeltäter oder alle Mitglieder einer Tätergruppe eine fünfjährige Freiheitsstrafe in Doomcastle. Diese galt auch für jeden Versuch, die Prüfgeräte zu verändern oder zu zerstören. Er erwähnte auch, dass die Scheine selbst nicht zerstört werden durften, beispielsweise um ihre Herstellung zu ergründen. Wer bei sowas erwischt wurde durfte als möglicher Fälscher oder Vorteilserschleicher fünf Jahre Zwangsurlaub in Doomcastle verbringen. Ansonsten galten alle Gesetze wegen Raubes und Diebstahls weiter,nur dass hier eben der in die Scheine eingewirkte Zahlungswert galt. Wer zu den Auslieferern gehörte durfte auch nicht überfallen werden, weil die dann zu verbüßende Strafe das zehnfache betrug. Das regte ein lautes "Ooouuu!" in den Reihen der versammelten Nachrichtenverbreiter an. "Ja, und falls einer der ausliefernden selbst etwas bei Seite schaffen möchte kann er mit einer unbegrenzten Auslagerung seiner oder ihrer Seele in Doomcastle rechnen. Denn das Vertrauen in unsere Boten darf nicht missbraucht werden", sagte Catlock.

Nun durften Fragen gestellt werden. Diese drehten sich darum, wie es dem Ministerium gelungen sei, in nur zwanzig Tagen die Herstellung von Tauschwertscheinen in einer für alle ausreichenden Menge anzuschieben. Das wurde mit dem Hinweis auf die Geheimhaltung des Herstellungsverfahrens abgewiesen. Dann wurde Picton gefragt, ob dieses Verfahren noch aus der Ära Wishbone stammte, was von Picton bejaht wurde, jedoch erst einmal zurückgestellt wurde, weil er keine Lage wie die jetzige herbeiführen wollte. Daraufhin wurde er natürlich gefragt, ob die Kobolde nicht gerade deshalb die Wiedereröffnung von Gringotts verweigern mochten.

"wie erwähnt bleibt dieses Verfahren solange in Anwendung, solange wir in der Zaubererwelt keinen ungehinderten Zugang zu unseren in Gringotts eingelagertenGoldvorräten erhalten und sichergestellt wird, dass sich ein Vorfall wie der vom 26. Dezember nicht wiederholen wird. Wenn die Kobolde nicht darauf eingehen verlieren sie ihre eigenen Existenzgrundlagen", sagte Picton. "Sie meinen auch das Existenzrecht auf US-amerikanischem Hoheitsgebiet", warf Catlock ungefragt ein. Picton übergab ihm noch einmal das Wort. "Kobolde sind keine uramerikanischen Zauberwesen. Sie wanderten mit britischen, französischen und deutschen Zaubberern und Hexen ein. Gemäß dem mit ihnen nach der völligenUnabhängigkeit der Staaten getroffenenÜbereinkunft dürfen sie solange hier leben, arbeiten und eigene Familien gründen, solange sie sich an das in Europa geltende Abkommen von 1613 halten, das ihnen die Edelmetallwertbestimmung zubilligt, aber auch klarstellt, dass sie bei Verweigerung der Herausgabe an rechtmäßige Besitzer des erbetenen Goldes die Verweigerer als unerwünschte Geschöpfe eingestuft werden. Im Falle USA heißt dies, dass ein Kobold, der das Abkommen mit dem damaligenZaubererat, aus dem erst der MAKUSA und dann das Zaubereiministerium hervorging mutwillig bricht, innerhalb eines Tages das Hoheitsgebiet unserer Staatenunion zu verlassen hat oder von jedem zauberkundigen Menschen über siebzehn Jahren gefangengenommen oder gar getötet werden darf. Ich denke doch sehr, dass kein Kobold das riskieren wird."

"So, das denken Sie, Mr. Catlock?" fragte Gilbert Latierre, der für die USA eine Reporterakkreditierung besaß. "Die Kobolde sind genauso wie wir in einem Ausnahmezustand. WennSie oder noch wer anderes damit droht, jeden Kobold umzubringen, der ihm nicht das Verlies in Gringotts aufschließen will, könnten sich alle Kobolde gleichermaßen bedroht fühlen. Der einzige Grund, warum es damals 1612 nicht zu einem langwierigen Krieg zwischen magischen Menschen und Kobolden kam lag darin, dass die Kobolde keinen Wert in vergossenem Blut sahen, sondern eher in zu hütendem Gold. Das könnte sich ändern, wenn die hier lebendenKobolde fürchten müssen, von aufgebrachten Hexen und Zauberern mit Billigung des Zaubereiministers getötet zu werden. WissenSie, wie Mord unter Kobolden von denen bestraft wird?" Der Vertreter der Zauberwesenbehörde nickte und bat ums Wort. Er schilderte die heftigen Strafen, die sich bei den Kobolden nicht auf einen einzelnen Täter beschränkten, sondern auch dessen Nachkommen betrafen, wobei diese nicht getötet, sondern unfruchtbar gemacht und deren Ohrenspitzen abgeschnitten wurden, damit sie für alle anderen als Blutvergießerkinder zu erkennen waren." Gilbert bejahte es laut. "Ja, aber deren Gesetze geltennicht für uns, sondern laut klarer Übereinkunft aller Zaubereiministerin innerhalb der internationalen Zaubererweltkonfföderation gelten unsere Gesetze für alle Zauber- und Tierwesen, wobei das Vollstreckungsrecht auf dem Hoheitsgebiet des zuständigen Zaubereiministeriums liegt. Wenn wir, die Gesetzesdurchsetzungsabteilung, beschließen, dass ein straffälliger Kobold sein Existenzrecht verliert, dann sind wir in den USA zu dieser Strafvollstreckung befugt. Auch das wissen die meisten Kobolde. Wir gehen auch davon aus, dass es den allermeisten hier lebenden Kobolden nicht einfallen wird, sich gegen die hier bestehenden Gesetze zu vergehen. Ich erwähnte es nur, damit Sie unsere Zuversicht teilen können, dass wir mit den Kobolden auf US-amerikanischem Boden zu jener gegenseitigen Nutzbeziehung zurückkehren werden, die ausschließlich durch das unerwartete Aufkommen ungerichteter Erdmagieentladungen gestört wurde", bekräftigte Catlock.

"Wenn Sie uns schon nicht erzählen dürfen, wie Sie so schnell so viel Notgeld herstellen können, Mr. Picton, dann möchte ich doch gerne fragen, was mit den Vorrichtungen und den Leuten, die sie bedienen geschieht, wenn die Kobolde sich mit dem Ministerium auf die Fortsetzung des Abkommens einigen." ergriff nun Linda Latierre Knowles für die Stimme des Westwinds das Wort.

"Die Tauschwertscheine werden von den Händlern eingesammelt und zusammen mit den Prüfgeräten an einen geheimzuhaltenden Ort verbracht, wo sie zusammen mit den Vorrichtungen verwahrt werden, bis eine ähnliche Notlage wie gerade jetzt wieder eintretensollte, was wir nicht hoffen, aber aus den gerade gemachtenErfahrungen heraus nicht völlig ausschließen dürfen. Um das hier unmissverständlich zu äußern: Wir beschuldigen die Kobolde nicht, Gringotts in voller Absicht vor uns verschlossen zu haben. Wir stellen nur fest, wie verletzlich unser bisheriges Währungs- und Handelssystem ist, wenn Vorkommnisse wie das vom 26. Dezember nicht berechnet und somit nicht vorhergesagt werden können."

"Ja,und bei der Gelegenheit haben Sie den Kobolden gezeigt, dass es im Ernstfall auch ohne sie geht", warf Gilbert Latierre ein. Der Zaubereiminister räusperte sich und sagte: "Bitte stellenSie nur Fragen und machen Sie keine Feststellungen oder gar irgendwelche spekulativen Einwürfe, Ladies and Gentlemen!"

"Dann dürfen wir also auch nicht fragen, was weitergeschieht, falls die Kobolde die Vernichtung der Notgeldreserven und deren Herstellungsvorrichtungen verlangen, um uns alle wieder an unser Gold heranzulassen", musste sich Frank Sunnydale von HCPC 2623 dazu auslassen. Der Minister kam seinem Handelsabteilungsleiter mit der Antwort zuvor: "Da haben Sie recht, Mr. Sunnydale. Danke Ihnen allen trotzdem für Ihre Aufmerksamkeit."

"Joh, da freuen sich dann unsere Kollegen von den Kommentarspalten", feixte der Vertreter des Kristallherolds. Doch darauf bekam er schon keineAntwort mehr.

Während der Zaubereiminister den Presseraum verließ bekamen alle anwesenden Reporterinnen und Reporter Umschläge ausgehändigt, die die angekündigten Ausgabebeträge enthielten. Gilbert flüsterte seiner Frau zu: "So viel ist eine Stunde Pressekonferenz also dem Ministerium wert." Linda nickte nur unmerklich.

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Im Versammlungsraum des hohen Rates des Lebens der Gruppierung Vita Magica, 3 Stunden nach der Pressekonferenz des US-Zaubereiministeriums

Mater Vicesima Secunda hatte es erreicht, dass alle Mitglieder des hohen Rates des Lebens sich von ihren offiziellen Tätigkeiten und Standorten entfernen und einer Vollversammlung beiwohnen konnten. Gerade hörten sie die Pressekonferenz von Minister Buggles und seinen beiden Mitarbeitern Picton und Catlock, die ihnen auf sehr verschwiegenen Kanälen zugegangen war. Da hier alle fließend Englisch konnten brauchten sie keinen Übersetzer. Auch die mitschreibende Flotte Feder war auf amerikanisches Englisch eingestimmt.

"Na, ob das den Leuten da mehr gefällt als diese mitzuführenden Zeit-Gegen-Ware-Tauschlisten?" fragte Perdy, der offiziell kein Ratsmitglied war, da er in diesem Lebennoch kein eigenes Kind gezeugt hatte, aber wegen seiner langjährigen Verdienste vor der Wiederverjüngung zumindest Mithör- und Mitspracherecht hatte.

"Wahrscheinlich werden viele es als kleineres Übel ansehen, vor allem die Wonnefeen", sagte Mater Vicesima Secunda mit gewisser Verachtung. Sie hatte keine Probleme mit freier Liebe, aber damit, wenn magische Menschen dabei empfängnisverhütende Mittel benutzten.

"Wollte Buggles nicht heute oder morgen rauslassen, ob er den neuen Vertrag mit uns unterschreibt?" fragte einer Pater Duodecimus Occidentalis. Mater Vicesima bejahte das. "Ich schicke unsere Botin nachher zu ihm. Der soll ihr berichten, ob das mit dem Notgeld jetzt nur bis zur Wiedereröffnung von Gringotts beibehalten wird oder fortdauern soll. Dann soll sie ihn darauf festlegen, dass er entweder den neuen Vertrag unterschreibt oder sich darauf gefasst machen soll, dass wir einen eigenen Nachfolger für ihn ins Spiel bringen. Bei der Gelegenheit, unser Bote für Argentinien hat den dortigen Zaubereiminister Aurelio Torrefina in Aussicht gestellt, dass er sich zum Präsidenten der südamerikanischen Zaubererföderation aufschwingen kann, wenn er den auf Spanisch übersetzten Originalvertrag von damals unterschreibt, denDime unterschrieben hat. Ich darf vermelden, dass unser Bote für Südamerika den unterschriebenen Vertrag mitgebracht hat. hier ist er." Sie öffnete ihre kleine Handtasche, die an ihrer Stuhllehne hing und präsentierte den anderen denVertrag. "Wir haben dafür gesorgt, dass jedes von einem vereidigten Mitarbeiter unterschriebene Dokument, das auf diesen Vertrag gelegt wird, den Unterzeichner genauso bindet wie Torrefina. Ähnliche Verhandlungen laufen auch mit Brasilien, Kolumbien, Peru und Chile. Wenn die alle unterschriebenhaben sollten, dann können wir uns aussuchen, wer von denen als Präsident der Federación des cosas mágicas suramericana über alle anderen herrschen darf. Auch gerade im Hinblick auf diese weltweit grassierende Globalisierung der nichtmagischen Welt sollten wir langsam eine eigene Weltverbundsverwaltung hinbekommen, so ähnlich wie es bei uns ist."

"Moment, Chile? Da ist doch Carlos Alamedas Zaubereiminister. Ist der nicht mit Carmendora verheiratet?" fragte Mater Octavia Chilensis, die mit der erwähnten Hexe verwandt war. Die südamerikanischen Ratsmitglieder nickten bestätigend. "Dann schlage ich zur Abstimmung vor, dass Alamedas der ausgelobte Präsident der südamerikanischen Zaubererweltföderation wird", fügte sie noch hinzu. Mater Vicesima Secunda akzeptierte diesen Vorschlag, vertagte die Abstimmung darüber aber auf die Zeit, wenn wirklich alle ausgesuchten Zaubereiminister unterschrieben haben sollten. Sie erwähnte dann, dass sie behutsam vorgehen mussten, damit nicht zu früh herauskam, in welchen Diensten der südamerikanische Zaubererweltpräsident dann stand. "Wenn wir weitere Zaubereiminister auf unsere Seite ziehen oder durch unsere eigenen Leute ersetzen können besteht die Möglichkeit, das Gefüge magischer Menschen in der sogenannten neuen Welt zu überwachen und zumindest dort die Verpflichtung zur Mehrung magischen Blutes zur allgemeinen Gesetzesgrundlage zu erheben, wie es ja auch in der verändertenFassung des für Buggles bestimmten Vertrages angedeutet wird." Mit diesen Worten legte sie die Kopie des mit Argentinien geschlossenen Beistandsabkommens und Schutzrechtzusicherungsvertrages wieder in ihre Handtasche.

"Ob Buggles unterschreibt. Am Ende windet er sich dochnoch da raus", mahnte Pater Duodecimus Occidentalis an.

"Du meinst, der windelt sich daraus, Pater Dudecimus Occidentalis", scherzte Perdy. "Haha, witzig, Kleiner", grummelte der amerikanische Ratskollege. Dann sagte er: "Ich meine das todernst, Leute. Wir wissen immer noch nicht, wo der die vierzehn Quidditchbetrüger verstaut hat. Die sind nach ihrer Heimkehr nie wieder aufgetaucht. Er wird sie nicht umgebracht haben. Also, was hat er mit denen gemacht oder besser, was dürfen die für ihn tun, um nicht ins Gefängnis zu müssen?"

"Das darfst du den Minister selbst fragen, wenn er unterschrieben hat oder in einer der Niederlassungen mit Erinnerungshaube sitzt", sagte Mater Vicesima Secunda. Perdy meinte dazu:

"Der wird die garantiert als Joker, als Spezialeinheit für Spezialfälle angeworben haben und denen eine fidelius-bezauberte Basis zugeteilt haben. Falls Buggles mit denen in Kontakt steht und denen zuträgt, dass wir wieder an ihm dran sind könnte das ein solcher Sonderfall sein, Leute. Insofern hat der Kollege Duodecimus Occidentalis völlig recht."

"Yep, habe ich sicher. Aber nicht dass ihr denkt, dass mir das passt", grummelte der angesprochene Mitrat.

"Wenn die nicht dauernd bei ihm in der Unterbringung herumsitzen muss er die dann erst mal zu sich hinrufen", sagte Mater Vicesima Secunda. "Selbst wenn die alles Glück der Welt gestohlen haben müssen sie doch erst mal durch alle Absicherungen, genau wie unsere Botin. Selbst wenn sie nur drei Sekunden dafür brauchen ist das zu lang, um zu verhindern, dass die Botin Buggles infanticorporisiert und denNotfluchtauslöser wirkt."

"Und wenn sie doch noch von einem oder zweien von denen ergriffen wird, bevor der Auslöser sie wegbringt?" fragte Pater Duodecimus Occidentalis. "Tja, das ist dem Auslöser egal, weil der alles bis zu zweihundert Kilogramm mitnimmt, was gerade Körperkontakt mit ihr hat", antwortete Perdy. "Und dann wird's richtig lustig", schickte er noch in Beachtung seiner Rolle als äußerlich dreizehn Jahre alter Junge nach. "Fragt sich nur für wen", raunzte Pater Duodecimus Occidentalis.

Nun fühlte sich Mater Vicesima Secunda berufen, Einhalt zu gebieten. Sie erklärte unumstößlich: "Ob Buggles jetzt mit diesen erklärtenNachwuchsverweigerern paktiert oder nicht hat er die Entscheidung, ob er mit uns zusammengeht oder so oder so aus dem Amt entfernt wird."

"Ich werde dich und euch alle anderen auch an deine Worte erinnern, Mater Vicesima Secunda", sagte Pater Duodecimus Occidentalis. Die Angesprochene nickte bestätigend.

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Privaträume des US-Zaubereiministers, 21.01.2005, 19:30 Uhr Ortszeit

Wie er erwartet hatte war kurz nach der Pressekonferenz ein ashgrauhaariger Kobold im rot-goldenen Gewand eines ranghohen Vertreters seiner Art bei Lesley Rubycutter vom Koboldverbindungsbüro aufgetaucht und hatte dort einen mehrseitigen Protestbrief abgegeben, in dem die in den Staatenlebenden und arbeitenden Kobolde die zeitnahe Abschaffung des Tauschwertscheinsystems forderten. Er hatte davor gewarnt, dass dann über die Wiedereröffnung von Gringotts noch einmal sehr gründlich nachgedacht werden müsste und es sein könnte, dass die dort gelagerten Münzgeldvorräte gerade mal als halb soviel wert erklärt würden. Rubycutter hatte ihn darauf vertröstet, dass über die Abschaffung des neuen Währungssystems sowieso beschlossen würde, wenn die Kobolde die Wiedereröffnung von Gringotts mit vollständigem Zugang aller Verliesinhaber zu ihren rechtmäßigen Münzvorräten und Wertgegenständen garantieren würden. So wie Zaubereiminister Buggles es mit Catlock und Picton beschlossen hatte gab Rubycutter es weiter: "Wir haben die Erdmagieentladungen nicht ausgelöst. Wir habenGringotts nicht angegriffen. Nicht wegen uns ist es verschlossen. Daher liegt es bei den Kobolden, den Status quo vor der Katastrophe wieder herzustellen. Ist das vollzogen sind wir natürlich bereit, das Tauschwertscheinsystem außer Vollzug zu setzen und alle in Umlauf befindlichen Scheine gegen die aufgedruckten Werte in Münzgeld an die Kobolde zu übergeben, beziehungsweise von den Kundinnen und Kunden eintauschen zu lassen. Der Kobold, der sich als Meister Schieferbart vorgestellt hatte, war dann sehr ungehalten abgezogen.

Buggles empfand die Drohgebärden der Koboldführungsebene als willkommener Anlass, demnächst jenes Ausnahmegesetz auszupacken, von dem Taffy Rockwell gesprochen und was Ray Catlock mit gewissemIngrimm bestätigt hatte. Der ärgerte sich, dass er nicht auf diese "grandiose Idee" gekommen war, wusste Buggles.

Eine Stunde später als üblich hatte sich der amtierende Zaubereiminister in seine privaten Wohnräume zurückgezogen. Nachdem er jetzt das neue Bezahlsystem öffentlich eingeführt hatte musste er jeden Tag mit dem angekündigten Besuch von Madam Whitecap rechnen. Doch wo er in sein Wohnzimmer kam war sie noch nicht da. Brauchte sie bestimmte Uhrzeiten, um bei ihm aufzutauchen? Oder war heute nochnicht der entscheidende Tag? Vielleicht musste der sogenannte hohe Rat des Lebens erst noch tagen, was bei einer Geheimgesellschaft sicher nicht so einfach war wie bei einem offiziellen Zaubereiministerium oder der Vorstandsriege eines Unternehmens, wo offizielle und verbindliche Einladungen verschickt und nachlesbare Anwesenheitslisten und Protokolle erstellt wurden. Er fragte sich, ob er den neuen Vertrag mit Vita Magica wirklich unterschreiben sollte, selbst wenn der Abschnitt herausgenommen worden war, dass er in fünf Jahren mindestens drei eigene Kinder zeugen sollte und eine Kinderlosigkeitsabgabe ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr erhoben werden sollte, um die "Neujahrsfeierkinder" von 2002 und die "Halloweenkinder" von 2003 abzusichern. Wollte er eine solche Abgabe zahlen, die ein hundertstel des Jahreseinkommens pro Lebensjahr ab 25 betragen sollte? Nein, wollte er nicht. Auch würden ganz viele Hexen und Zauberer das nicht bezahlen. Diese Art von Bevormundung würden die Richter auch nicht zulassen. Wenn Vita Magica also einen neuen Friedensvertrag haben wollte ...

Er hörte ein leises Säuseln aus dem Flur. Schnell blickte er aus dem Wohnzimmer dorthin. Er sah erst eine silberne Lichtwolke, die einige Sekunden über dem Boden shwebte und pulsierte. Dann zog sich die Wolke aus silbernem Licht zu einer manns- beziehungsweise Frauenhohen grünen Lichtspirale zusammen, die zweimal kreiselte und dann eine Frau im blütenweißen Strampelanzug mit weißer Kappe auf dem rosarotenRiesenbabykopf freigab. Sie war also wirklich hergekommen.

"Ah, auch schon da?" fragte die unangemeldete Besucherin mit ihrer magisch erzeugten Kleinmädchenstimme. "Wollte ich Sie auch gerade fragen, Madam Whitecap", erwiderte der Zaubereiminister. "Ich dachte schon, Ihre geheimnisvollen Auftraggeber müssten erst die Zeitungen von morgenlesen um zu entscheiden, ob sie Sie schon zu mir schicken oder nicht."

"Wenn der Rat darauf angewiesen wäre kämen wir zu nichts mehr", sagte die verkleidete Botin von Vita Magica unbeeindruckt von Buggles bissiger Bemerkung. "Mal schön zu sehen, wie Sie eigentlich andauernd in meine Räume kommen, ohne Alarmzauber auszulösen", sagte Buggles noch. Er wollte dieser Frau da nicht unterwürfig und Unterlegen erscheinen, auch wenn er viel riskierte, wenn er diese Bande nicht als gleichwertig anerkannte.

"Demnächst brauche ich das hoffentlich nicht mehr, Lionel. Ich komm am besten ins Wohnzimmer", sagte sie und tat es auch. Ohne auf ein Platzangebot zu warten setzte sie sich auf das Sofa. Sie legte aber nicht noch mal die Füße auf den Couchtisch. Überhaupt trug sie heute keine übergroßen Lauflernsöckchen, sondern wadenhohe weiße Stiefel mit abgerundeten Spitzen. War ihr das herumlaufen auf diesen Noppensocken zu anstrengend geworden?

"Kommen wir gleich zum Punkt. Du hast schon gegessen?" fragte sie, wie üblich jede Höflichkeit und Anerkennung weglassend. "Wieso, möchten Sie mit mir essen. Können Sie denn schon feste Nahrung zu sich nehmen?"

"Ich kann sogar schon eigenständig aufs Klo geh'n, Lionel, oder glaubst du, das hier sind zwei Kuschelkisen?" erwiderte sie und griff sich selbst an ihre gut sichtbaren Rundungen. Buggles schüttelte den Kopf. Offenbar hatte dieses Weib doch noch für jeden Topf den passenden Deckel. Dann sagte sie noch: "Sage deinem persönlichen Hauselfen, dass es später wird, falls du ihn nicht von dir aus anfordern musst!"

"Ich habe aber Hunger. Der Tag war sehr lang", erwiderte der Minister unbekümmert der direkten Aufforderung.

"Im Zweifelsfall kannst du nachher was von einer unserer Ammen kriegen. Je danach, wie du dich entschieden hast hängt es davon ab, wie dein Abend endet."

"Oh, es wird wieder gedroht", stellte der Minister mit hörbarer Verachtung fest. "Nenne es eine Alternativlösung, ist politisch nicht so drastisch wie eine einfache Drohung", konterte Madam Whitecap. "Aber jetzt genug von der Hinhalterei. Sag deinem Elfen, er möge erst mit dem Essen kommen, wenn du ihn ausdrücklich rufst!" befahl dieses Weib in Weiß jetzt ganz offen. "Oder sonst?" fragte Buggles. Daraufhin hielt die andere wieder dieses goldene Gerät in den Händen, mit dem erwachsene Menschen zu hilflosen Säuglingen umgewandelt werden konnten. "Und wenn ich dem Elfen sage, er soll die Sicherheit holen?" "Wird sie dich und mich nicht mehr finden", erwiderte die Botin. Buggles tat so, als müsse er überlegen. Er machte es solange, bis die andere anfing, von zehn an rückwärts zu zählen. Bei drei rief er dann: "Mokie, erst Essen bringen, wenn ich dich rufe!" Die andere senkte ihre hinterhältige Vorrichtung, die daraufhin mit leisem Plopp im Nichts verschwand. Statt dessen fischte die Botin nun eine mit zwei Holzkappen gesicherte Pergamentenrolle aus leerer Luft. Buggles bestaunte diese praktische Magie. Objektapportationen ohne Zauberstab direkt in die eigenen Hände war sicher ein schwieriger Akt. Vielleicht bekam er das noch heraus, wie die das machte.

Sie zog die beiden Verschlusskappen ab und löste drei Pergamente von der Rolle ab. "Hier, das sind die drei Seiten des neuen Friedens-, Anerkenntnis- und Beistandsvertrages. Ich werde erst in einer Stunde erwartet. Bin ich danach noch nicht am verabredeten Ort ist das Abkommen hinfällig und wir installieren einen Nachfolger von dir, der uns gewogen ist."

"Gilt das auch für den Fall, dass ich diesen Entwurf nicht unterschreibe?" fragte Buggles.

"Das auf jeden Fall", sagte die Botin. Buggles verstand. Vita Magica wollte es jetzt echt wissen, ob sie wieder einen sicheren Hafen in den USA bekamen. So las er sich in aller Ruhe alle Punkte des Vertrages mindestens zweimal durch, obwohl das erste mal schon völlig reichte. Denn er fand drei Abschnitte, die er so nicht unterschreiben wollte. Der erste war die schon mal erwähnte Kinderlosigkeitsabgabe, die im Entwurf als "Ausgleichszahlung von absichtlich kinderlos gebliebenen Verdienenden zur Unterstützung eigene Familien begründender oder betreuender Hexen und Zauberer" bezeichnet wurde. Ebenso las er einen Paragraphen, der ihn bei Unterzeichnung verpflichtete, in für die Belange der Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens wichtigen Abteilungen und Unterbehörden von derselben ausgewähltes Personal einzuberufen, was ihm im Traum nicht einfiel. Der dritte war natürlich jener, dass er in fünf Jahren mindestens vier eigene Kinder gezeugt haben sollte, um nicht durch Auswahl der Gesellschaft bestimmte Hexen mit seinen Kindern beehren zu müssen. Die anderenParagraphen betrafen die Zusammenarbeit zwischen Ministerium und jener Gesellschaft für magisches Leben, einschließlich einer umfassendenWerwolferfassung und -umsiedlung in bestimmten Orten, die von jeder bei Vollmond erfolgenden flächendeckenden "Werwolfbereinigung" ausgenommen wurden. als ausführendes Gremium sollte die Gruppe Quentin Bullhorn eingesetzt werden, vorausgesetzt, derenMitglieder unterzogen sich bis dahin einer magischen Entfernung aller Keimdrüsen und Gebärmütter, um nicht selbst mit dem Werwutkeim belastete Kinder zu bekommen. Überhaupt sollte eine Werwolfobergrenze von nur einem auf zweitausend magische Menschen festgelegt werden. Da es in den Vereinigten Staaten an die sechshunderttausend magisch begabte Menschen zwischen Geburt und 200 Lebensjahren gab durfte es hier nur noch 600 Werwölfe geben. Das war heftig, aber lag ihm gut im Sinn. Was Vampire anging sollten die einen mit ihrem Blut besiegelten Pakt mit der Zaubererweltadministration schließen, keine Sonnenschutzfolien zu gebrauchen, jede Vampirehe genehmigen zu lassen und jedes Mitwirken in der Sekte der selbsternannten Göttin der Nachtkinder verweigern oder da wo sie gerade standen oder saßen tot umzufallen. Wie auch immer Vita Magica das durchsetzen wollte. Doch er zweifelte nicht, dass diese Gruppierung eine ganze Menge über die hellen und die dunklen Künste und das viele Zeug, was dazwischen lag, wusste. Jedenfalls las sich der Vertrag so, als wenn er, der oberste Verwalter der Zaubererwelt - wohlgemerkt nicht mehr als Zaubereiminister bezeichnet - nur das zu tun, zu sagen und zu verordnen hatte, was Vita Magica ihm auferlegte. Damit machte er sich genauso zur Marionette wie Dime, nur dass der vorher unter den Catena-Sanguinis-Fluch gezwungen worden war. Ja, er war ja schon eine Zeit lang Quasihandlanger dieser Banditen gewesen, solange er gedacht hatte, der Vertrag sei magisch bindend und betreffe jeden Zaubereiminister nach Dime genauso wie diesen selbst.

"Teilen Sie Ihrem Rat gütigst mit, das er seine Chance vertan hat, einen wirksamen und dauerhaften Friedensvertrag mit uns zu bekommen, weil er meine Änderungsforderungen nicht nur nicht akzeptiert hat, sondern die meine Zustimmung vereitelnden Abschnitte sogar noch drastischer ausformuliert hat. Erst wollten Sie nur drei Kinder von mir, jetzt vier. Die Abgabe kinderloser Hexen und Zauberer liegt in diesem Entwurf bei anderthalb Prozent pro kinderlos erreichtem Lebensjahr ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Damit haben Sie es wirklich und wahrhaftig darauf angelegt, dass ich dieses Schandwerk nicht unterschreiben kann. Daher tu ich dies auch nicht. Falls Sie jetzt meinen, Ihre Drohungen wahrzumachen gehen Sie davon aus, dass wer auch immer mir nachfolgt unverzüglich herausfinden wird, wer Ihre Anhänger sind. Einige von denenhaben sich ja schon während des ersten Abkommens offenbart. Sollte mir was passieren sind die als erste in Doomcastle. Außerdem wissen Sie nicht, was ich vorhin noch alles auf den Weg gebracht habe, für den Fall, dass das Ministerium und ich angegriffen werden."

"wie gesagt, ich habe noch ein wenig Zeit, mit Ihnen zu klären, ob es wirklich Sinn macht, dass Sie die Unterschrift verweigern", sagte Madam Whitecap.

"Ersparen Sie sich all die sogenannten Alternativlösungen, Madam Whitecap oder wie immer Sie wirklich heißen! Ich bin nicht mehr interessiert. Meine Leute haben bereits signalisiert, dass sie die Beschaffenheit ihres blauen Todeslichtes, das ausschließlich Werwölfe tötet, ergründen. Es gab ja genug Einsätze dieser Waffe. Was die Werwolfverwaltung angeht nehme ich gerne den Punkt mit der Umsiedlung und Bestandsregelung auf. Doch ich unterschreibe keinen Vertrag, der mich zum Postenbeschaffungsautomaton und Zuchthahn zugleich degradiert. Die Ausnahmeregelungen des Zaubereiministeriums reichen an und für sich aus, um unsere Probleme alleine zu lösen. Ich wollte nur dem überwiegend gemäßigten Teil Ihrer Gruppierung eine Möglichkeit bieten, aus der Kriminalität herauszukommen. Statt dessen pochen Sie sogar darauf, dass Sie es in der Hand haben wollen, wer bei uns im Ministerium welche Angelegenheiten regelt und dass sich Hexen und Zauberer möglichst jung Kinder zulegen müssen, was ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte ist. Wollen Sie ernsthaft einen Krieg mit allen amerikanischen Hexen und Zauberern führen? Falls die aus den Staaten stammenden Mitglieder Ihrer Bande glauben, dass sie den Krieg gewinnen lesen Sie bessernoch einmal in den Zaubereigeschichtsbüchern, wo es um dunkle Imperien ging und das diese nicht lange hielten."

"Wir gestattendoch allen die Freiheit, zu entscheiden, mit oder ohne eigene Kinder zu leben. Wir geben ja außer bei Ihnen keine konkrete Anzahl vor. Eins reicht doch völlig aus."

"Soll ich jetzt lachen oder auf den Tisch hauen und Sie eine miese Heuchlerin nennen? Ach neh, brächte mir ja nichts, weil Sie ja auch nur eine kleine, gelenkige Marionette Ihres hohen Rates sind, die ausgeschickt wurde, dessen Befehl zu vollstrecken. Also faseln gerade Sie nichts von freien Entscheidungen. Oder können Sie auch darauf verzichten, mir zu drohen oder solche Drohungen zu verwirklichen?"

"Verzichten wollen kann ich. Abgesehen davon gibt es ja mehr als die eine Alternativlösung, wenn Sie nicht unterschreiben. Und was einen Zaubererweltkrieg gegen uns angeht, so haben wir den doch schon längst. Was dein geliebtes Heimatland angeht, so sind doch schon längst alle dazu übergegangen, nur noch ihr eigenes kleines Revier zu verteidigen, wie bei den Nomajs im wilden Westen", stieß die Botin in Weiß verächtlich aus. "Und falls du jetzt drauf hoffst, mich lange genug aufgehalten zu haben, um genug Leute herzurufen gilt, dass sie uns beide nicht mehr finden."

"Bin ich also in Gefahr?" fragte der Minister verächtlich. "Ja, du bist in sehr großer Gefahr", sagte die Besucherin ungerührt. Dann hielt sie schon den goldenenVerjüngungsapparat in den Händen. Der Vertrag war weg. Sie zielte auf Buggles. Doch der blieb ganz ruhig.

Unvermittelt stand vor Buggles eine schwarze, halbdurchsichtige Wand. Im nächsten Moment umstanden ihn drei weitere solche Wände, alles schwarze Spiegel, dazu gedacht, einen darauf prallenden Fluch fünffach verstärkt auf denAbsender zurückzuschleudern. "Sind Sie immun gegen das eigene Gift?" fragte Buggles. Die andere senkte zur Antwort ihre Waffe. Damit hatte sie offenbar nicht gerechnet, oder doch?

Statt der goldenen Schussvorrichtung hielt sie ein kleines Wattebällchen in der Hand und warf es nach dem schwarzen Spiegel vor Buggles. Das Wattebällchen glühte rosarot auf. Mit einem metallischen Klirren zersprang der schwarze Spiegel in abermillionen kleine, schwarze Funken, die knisternd in der Luft zerstoben. Dann warf sie den zweiten, kleinen flauschigenWatteball, den sie aus dem Nichts gepflückt hatte und noch einen. Klirr! Klirr! die beiden seitlichen schwarzenSpiegelwände zersprangen wie die erste. "Zumindest waren diese hinterhältigen Spiegelwände nicht immun gegen meine Medizin!" rief sie und hatte schon wieder ihr goldenes Schussgerät in den Händen. Da erschienen mit lautem Peng fünf weitere Gestalten. Buggles ließ sich hinten überfallen, weil er davon ausging, gleich mit diesem goldenen Rückverjüngungsblitz angegriffen zu werden. Da hieb eine der fünf Neuankömmlinge mit einem Schläger wie beim Quidditch nach der goldenen Waffe. Der Schlag traf den Gegenstand und prellte ihn aus den Händen der Botin. "Taffy, zurück da!" rief eine junge Männerstimme, die von Douglas McDonald, der seinen Zauberstab bereithielt. Er zielte auf den Boden vor der Botin und wollte gerade was ausrufen, als von der unverhofft zur Bedrängten gewordenen ein sonnenhelles Licht ausstrahlte. Es wuchs sich zu einer gleißenden goldenen Sphäre aus, die in weniger als einer Sekunde bis zu Buggles reichte und ihn durchdrang. Er musste die Augen schließen und fühlte eine unerträgliche Hitze, die ihn durchbrauste. Dann krachte es hinter ihm.

Buggles hörte fünf laute Aufschreie. Er wagte es, die Augen zu öffnen und sah, dass er sich in Mitten einer goldenen Kuppel befand, die zweimal so hoch war wie er selbst maß und die ganze Sitzgruppe um den Tisch und das Sofa umschloss wie eine Glocke aus glühendem Gold. Das hatte er noch nie gesehen. Der hinter ihm entstandene schwarze Spiegel war verschwunden wie die drei anderen zuvor. Was er auch nicht erwartet hatte war, dass seine besondere Einsatzgruppe gerade von der goldenen Lichtglocke an die Wände gedrückt wurde und dort heftig schwitzend und wie bei einem schweren Erdbeben erzitternd festhing, als habe man sie mit dem Murattractus-Zauber dort angeheftet. Er erkannte die beiden Treiberinnen Grumman und Rockwell, sowie die Jäger McDonald, Baker und Leary. Die hingen nun an den Wänden und konnten nichts machen. Wieso konnten die nichts machen? Üblicherweise hätten die doch mit ihrer überlegenen Intuition die richtige Taktik anwenden müssen, nachdem sie es wohl im Verbund geschafft hatten, direkt in seine Privaträume zu gelangen. Hatten die echt nicht mit dieser Abwehrzauberei gerechnet? Er fragte sich jedoch, warum immernoch kein Alarmzauber losgegangen war. Offenbar hatte die Besucherin einen Blockadezauber gewirkt.

"Ach nein, zwei verlorene Töchter und drei verlorene Söhne auf einmal!" rief die Botin vergnügt. "Dann stimmt es doch, dass er euch als seine Sondereinsatzgruppe verpflichtet hat", sagte sie noch leise.

Buggles wollte aufspringen, dieser Hexe mit dem eigenen Zauberstab in der Hand die letzten Worte ihres Lebens zurufen. Das war doch die geniale Gelegenheit, Vita Magica als bösen Feind zu präsentieren. Da hielt die andere wieder dieses goldene Schussgerät in den Händen und zielte auf ihn. Er ließ sich aber nicht beirren. Er musste es wenigstens versuchen.

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Zur selben Zeit in der geheimenVilla Glücksstern bei Miami, Florida

Sie waren davon ausgegangen, das fünf von ihnen reichten, mit einer alleine fertig zu werden, ob mit Schildzaubern gespickt oder nicht. Sie würden ihr dann eben den Boden unter den Füßen wegsprengen und dann alle zugleich verschiedene Angriffszauber bringen, die jeden Schild knackten. Doch unvermittelt hörten die neun in der geheimen Villa wartenden einen lauten Aufschrei. Dann fühlten sie, wie ihnen mit einem Schlag alle Kraft schwand. Jeder und jede von ihnen fiel dort um, wo er oder sie gerade stand. Das letzte, was sie dachten war: "Nicht schon wieder!"

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In Minister Buggles' Privaträumen

Ja, dieses Science-Fiction-Zeugs war doch was wert, wenn es um neue Inspirationen für Kampf- und Schutzzauber ging, dachte die Botin des hohen Rates, als sie sah, wie die goldene Kuppel, eine Verquickung aus den Zaubern "Schild des Ra" und Amniosphaera, die fünf Glücksdiebe und Nachwuchsverweigerer an die Wand drängte, ohne dass sie was dagegen machen konnten. Perdy hatte recht gehabt, starke Sonnenzauber lähmten diese Banditen. Doch jetzt verriet ihre eigene, durch Felix Felicis gesteigerte Intuition, dass sie ganz schnell Lionel Buggles handlungsunfähig machen musste. Der riss gerade seinen Zauberstab hoch. Sie zielte mit ihrem Reinitiator auf ihn und drückte einen im Griffversteckten Knopf. Mit einem leisen Piff entlud sich ein rosaroter Blitz und traf Buggles am Kopf. Lionel Buggles erzitterte kurz. Dann stand er still da. Nur sein Mund öffnete sich ganz ganz langsam. Sie konnte nun gefahrlos zu ihm hingehen und ihm wie beiläufig den Zauberstab aus der Hand ziehen, wobei sie sah, wie sein Kehlkopf in einem langsamen Rhythmus erzitterte. Buggles rief wohl aus Leibeskräften. Doch im Moment war er gerade mal ein zwanzigstel so schnell wie üblich. Der hatte sicher noch nicht bemerkt, dass sie ihm den zauberstab weggenommen hatte.

"Vielleicht buche ich doch noch eines deiner Kinder für mich, Wunderbengel", dachte die Botin. Sie dachte an die Instruktion, Buggles nicht körperlich zu verwandeln, um ihn anzuliefern. Von einem zweifach starken, instantan freigesetzten Lentavita-Zauber war keine Rede. Allerdings musste sie den wieder aufheben, sobald sie mit ihm in der ausgemachten Niederlassung war.

Sie berührte ihren Bauch und dachte "Heimkehr mit Gästen!" Silbernes Licht strahlte von ihr aus. Im nächstenMoment erlosch auch die goldene Lichtglocke. Hoffentlich reichten die drei Sekunden aus, um sich und alle im Raum befindlichen Widersacher von hier wegzubringen. Das Silberlicht erfasste alle Anwesenden. Dann wurde es zu einer grünen Lichtspirale, die vier Meter breit war und die ganze Raumhöhe einnahm. Dann stürzten sie alle in einen smaragdgrünen Lichtwirbel hinein, der sie von leisem Rauschen und Säuseln begleitet davontrug. Das kannten die Idioten in den anderen Zaubereiministerien noch nicht, den ersten berührungslos wirksamen Portschlüssel. Damit könnte Perdy eine Menge Gold verdienen, wenn es wieder welches gab. Doch er hatte erwähnt, dass diese Form von Portschlüssel nur der Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens vorbehalten bleiben sollte.

Als sie alle im Abstand von zwei Metern voneinander entfernt aus dem grünen Wirbel fielen war das erste, was die Botin unter den Stiefeln fühlte ein leicht schwankender Boden. Noch was, dass Perdy wohl aus einer seiner vielen Zukunftsmärchen hatte, eine frei unter Wasser schwebende Niederlassung ohne Kontakt zum festen Boden und mindestens dreihundert Meter von der Oberfläche entfernt. Dafür strahlten an der Decke sonnengelbe Lichtkugeln, die gesammeltes Sonnenlicht ausstrahlten.

Eine leise Glocke klang in beidenOhren zugleich. Dann hörte sie die Stimme ihrer Mentorin Mater Vicesima Secunda. "Willkommen zu Hause, Eartha. Wie wir sehen können hast du nicht nur ihn mitgebracht sondern fünf weitere Vögel."

"Ja, habe ich. Ihr müsst sie jedoch schnell fesseln oder bewusstlos machen, sonst zerlegen die unsere schöne Unterseebasis."

"Keine Sorge, Eartha. Die Sonnenlichtkugeln sind mit "Hauch des Ra" verstärkt. Das siehst du sicher daran, dass du gerade keinen Schatten wirfst", hörte sie Perdys vergnügte Stimme. Sie blickte sich um und sah, dass es stimmte. Keiner der hier stehendenGegenstände und auch sie warfen keinen Schatten. "Wie kommst du bitte an die ganzen altägyptischen Zauber, wo du dich doch nur für Geschichten von Überübermorgen interessierst?" fragte die Botin des Rates.

"Erstens war ich ja nicht immer so wie jetzt und habe mit meinem Bruder, der hoffentlich immer noch um mich trauert, vieles aus dem Land der Pharaonen mitgekriegt. Zweitens gibt es auch Sci-Fi-Filme und -romane, die mit Hinterlassenschaften aus dem alten Ägypten zu tun haben. Falls du mal Zeit hast zeige ich dir ein paar davon", erklang Perdys Stimme.

"Was Perdy sagen will ist, dass die fünf, die du mitgenommen hast, durch die Sonnenzauber und den Abstand zum Meeresboden von ihrer sonst so zuverlässigen Kraftquelle abgeschnitten sind. Womöglich liegen bei denen im Geheimversteck alle anderen jetzt wieder in Ohnmacht, weil mal wieder wer aus ihrem Verbund versagt hat", sagte Mater Vicesima Secunda. "Wir sammeln die ein. ich kriege diesen Burschen Buggles. Offenbar wollte er nicht unterschreiben."

"Nein, er wollte keine vier Kinder zeugen, Mater Vicesima. Du hattest recht und der Rest vom Rat unrecht, vor allem dieser Angeber Duodecimus Occidentalis."

"Wird ihn nicht erfreuen", erwiderte Mater Vicesima Secunda. "Deshalb muss er auch nicht mitbekommen, dass du die Botin von uns warst und dass du Buggles zu mir und nicht in die Niederlassung Réunion gebracht hast, weil Perdy damit rechnete, dass du noch wen von den Glücksdieben und Sportbetrügern mitbringen könntest."

"Deine goldene Lichtkuppel war sensationell, Perdy. Hut ab",lobte die Botin den Meisterthaumaturgen der Gruppierung.

Zehn wie übliche Außentruppler uniformierte Mitstreiter kamen durch zwei sich selbst öffnende und schließende Türen herein. Zwei ergriffen den immer noch unter Lentavita-Zauber stehenden Buggles. Die anderen sechs und die Botin luden die fünf überwundenen Glücksdiebe auf beschworene Tragen und brachten die scheinbar schockstarren Hexen und Zauberer durch die mit farbigen Bildern von Unterwasserlandschaften und Meerestieren behangenen Korridore in die vorbereiteten Räume. Jede der fünf Tragen wurde unter einer von der Decke leuchtendenSonnenlichtkugel abgelegt. "Das mit Ras Hauch verstärkte Sonnenlicht hält die fünf so sicher fest und handlungsunfähig wie Stupor und Manetus zusammen", sagte Perdys Stimme von einer Ecke des Raumes her. "Kann sein, dass sie wach sind und alles mitkriegen, aber gerade nichts machen können. Kann aber auch wie in Millemerveilles sein, dass sie in tiefer, komaähnlicher Bewusstlosigkeit liegen.

"Gut, um Lionel Buggles kümmere ich mich. Der Zeitpunkt war doch richtig gewählt", hörte Eartha die Stimme ihrer Mentorin im Kopf. Sie mentiloquierte zurück: "Wie willst du es hinkriegen, dass er doch macht, was wir wollen?" "Das war und bleibt mein Geheimnis, Eartha. Es sei denn, du möchtest mir den unbrechbaren Eid schwören, es keinem weiterzuverraten und es nicht gegen mich oder meine Blutsverwandten anzuwenden. Wärest du dazu bereit?"

"Öhm, noch nicht", gedankenantwortete Eartha. "Ist vielleicht auch nochnicht so günstig. Du solltest vorher noch das eine oder andere Kind geboren haben, damit du damit überhaupt was anfangen kannst. Mehr musst du jetzt nicht wissen.

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Vor den offenen Toren der unterirdischen Festung des Bundes der zehntausend Augen und Ohren, die Nacht vom 21. zum 22. Januar 2005 Menschenzeitrechnung

Die kühle, sternenklare Nacht und der bleiche Silbermond am Himmel, all das waren Grüße aus der äußeren Welt, die eigentlich nicht seine war und doch um ein vieles freundlicher als das, was er in den letzten Tagen durchlebt und vor allem überlebt hatte. Es war schrecklich, und er würde die Bilder und Laute davon sein ganzes noch viele hundert Sonnenkreise dauerndes Leben mit sich herumtragen.

Dashmock war von seinem Förderer Turnlook, seinem Ururgroßonkel, in die Schriftenverwahrung der unterirdischen Festung des Bundes berufen worden, nachdem er alle Ausbildungs- und Aufnahmeprüfungen bestanden hatte. Deshalb hatte er sowohl das Unheil mit den vielen sich entladenden Erdzaubern mitbekommen, als auch das Grauen danach.

Drei Tage hatten sie damit zugebracht, alle Stellen zu prüfen, wo die Schutz- und Dienstzauber der Festung verbaut waren, um diese wieder in Kraft zu setzen. Die Sonnenlichtsammelgläser waren in der Zeit aufgebraucht worden. Sie hatten dann gewagt, die Ewigkeitslichter anzuzünden, obwohl die auch mit Erdzaubern erfüllt waren. Doch es hatte geklappt. Die weißblauen Flammen stammten laut Erdhorcher Zimrock aus dem glühenden Schoß der Erde selbst. Man sollte damit sparsam umgehen, hatte er gesagt. Denn sonst konnte die Mutter allen Lebens in Aufruhr geraten. Aber für das eine Jahr, dass sie hier ausharren konnten, wenn da draußen Feinde waren, sollte es wenig genug sein. Doch irgendwie hatten die blauen Lichter allen hier ein gewisses Unbehagen gemacht. Vor allem die älteren, die nach einem langen Leben als Feldeinsatzleute gedient hatten, wurden von immer größerer Angst und Wut bedrängt.

Am Tag danach war es zum ersten schlimmen Kampf gekommen. Zimrock hatte was von draußen lauernden Zwergen gerufen und wollte los, den Jahrhunderte alten Erbfeind zu bekämpfen. Als ihn zwei Kameraden festhalten wollten hatte er sich losgerissen und sein Schwert gezogen. Daraufhin war es zur ersten blutigen Schlacht gekommen. Am Ende waren zwanzig der älteren Bundesgenossen tot und dreißig so schwer verletzt, dass sie denTag nicht überleben konnten, obwohl Heiler Morrock sofort mit entsprechendenZaubern anfing. Doch er meinte, dass hierfür auch Sonnenlicht nötig sei.

Immer wieder kam es zu Angstanfällen. Dashmock meinte, in den Flammen verschwommene Gesichter zu sehen, Leute, die er kannte, ja einmal auch seinen Ururgroßonkel Turnlook. Dann meinte er, dass eine riesige graue Hand seinen Verwanten völlig umschloss und fortriss. Er hatte sich da an Geschichten vom großen grauen Eisentroll erinnert, dem gefährlichsten Feind aller Erdvölker, auch der Zwerge. Zwar hieß es, dass acht mutige Kobolde ihn vor undenklicher Zeit in einen glühenden Schacht hinabgestoßen und so in den Schoß der Mutter Erde zurückgetrieben hatten. Doch er hatte dabei noch fünf der acht Gefährten getötet und deren Seelenwohl mit sich gerissen. Seitdem, so hieß es, treibe er wütend und um Freilassung flehend im Leib der Erde umher. Doch die große Mutter wollte ihn nicht freilassen. Doch sein Geist verlasse jede lange Nacht, vor allem bei Neumond oder Unwetter, den gefangenenKörper und schaffe es bis nach oben, wo er die Seelen ungehorsamer Kobolde riechen und jagen konnte. Vor dem Sonnenlicht müsse der Geist des Eisentrolls in seinen Körper zurückkehren. An dieses und andere Schauergeschichten aus seinen Kindertagen hatte sich Dashmock erinnert, wenn er in den blauen Flammen die Gesichter toter Verwandter sah und das Quietschen hörte, wenn sich der große graue Eisentroll mit seiner sägeblattartigen Zunge die Lippen leckte.

Die älteren von ihnen, die alle schon mehr als hundert Jahre Außendienst gehabt hatten, verfielen der Angst und der Wut immer mehr. Es kam zu weiteren Kämpfen und vielen Toten. Dashmock hatte mit ansehen müssen, wie Morrock, der Heiler, von Dropknock, dem Feuermeister enthauptet worden war, weil Morrock alle Waffen wegschaffen wollte. Daraufhin war Dropknock von gleich fünf weiteren Kameraden totgeschlagen worden, und die Welle der Tötungswut hatte viele erreicht. Da war Dashmock klar, was hier geschah.

Bei der Wiederbelebung der alten Schutzzauber hatten sie ganz unbeabsichtigt die tödlichste Waffe in Tätigkeit gesetzt, die der Bund je gegen seine Feinde eingesetzt hatte und die er auch um die Festung herum bereitgestellt hatte, um außen lauernde Feinde zu vernichten, denUrach Gurachah Tuanaforka Iarinatu'ur, denAtem des großen grauen Eisentrolls.

In der Gefahr selbst einer Angstwut zu erliegen, hatte er sich an etwas erinnert, dass sein Urgroßonkel ihm mit einem Gedächtnisschlüssel in den Kopf gepflanzt hatte, dass er nur in unmittelbarer Todesgefahr wieder wissen durfte. Tief unter den Höhlen des Bundes gab es wohl einen nur für wenige Leute betretbaren Raum, wo in großen Kristallen, die über Silberdrähte mit in unbrechbaren Gläsern steckenden Schädeln ehemaliger Feinde verbunden waren, die bösartigste Zauberkraft lauerte, die man mit Feuer, Erde und Tod zusammenbringen konnte. Die Waffe war dazu gedacht, von außen anrückende Feinde in Angst oder gegenseitige Angriffswut zu stürzen, damit sie sich gegenseitig umbrachten. Doch offenbar war diese mächtige Mordwaffe bei der Erdzauberentladungswelle verstellt worden. Sie wirkte nicht mehr auf äußere Feinde, sondern auf die Insassen der Festung. Wo wer schon viele Tode mit angesehen hatte wirkte ihr tödlicher Zauber am stärksten.

Im Bewusstsein, nicht zu überleben, wenn er weiter offen herumlieff war Dashmock unter Ausnutzung des verstärkten Hörens bei geschlossenen Augen in den Küchenbereich hinuntergestiegen. Dort hatten sich alle Küchenknechte gegenseitig mit Hackbeilen und Messern umgebracht. Doch er konnte noch genug von demBrot einstecken, um mindestens dreißig Tage auszuharren. Auch nahm er sich aus dem Körperpflegeraum der Küchenknechte einen der Hornuckorlixacks, einenAuffangtopf für alles ausgeschiedene. Das wurde vom Wasser gereinigt und was dann noch da war wurde zusammengepresst und konnte als Heizmaterial dienen. So ausgerüstet hatte er sich über all die Umwege, die er als Schriftenhüter gelernt hatte, um die wieder tobenden Schlachten herum in ein Lager für erbeutete Gegenstände geschlichen und sich in einen der silbernen Schränke eingeschlossen. Er hatte den Schrank von innen so bezaubert, dass er nur mit seinem Blut wieder geöffnet werden konnte. Dann hatte er die geistige Arbeit verrichtet, sich mehr als einen halben Tag in Schlaf zu halten, um so dem Hunger und Durst noch besser entgegenzuwirken.

Wie viele Tage vergangen waren hatte er nicht mitbekommen. Erst als er draußen nichts mehr hörte hatte er erst gedacht, es lebe keiner außer ihm. Dann hatte er doch noch vier jüngere gehört, die wohl auf der Suche nach essbarem waren. Er hatte mit anhören müssen, wie sie sich gegenseitig umgebracht hatten. Dann war es wieder ganz still geworden. Die Festung war zum großen Grab geworden.

Er hatte um nicht doch noch wahnsinnig zu werden im Lichte des letzten Sonnenlichtsammelglases in diesem Schrank einen längeren Bericht über diese Tage und Stunden aufgeschrieben. Dann hatte er erst geglaubt, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein. Doch er hörte es wirklich, wie sich wer von draußen hineinarbeitete. Dann hörte er die ersten wütenden ausrufe: "Verdammt,die Zwerge haben die Festung gestürmt und alle umgebracht!" "Dann hätten wir die Steine nicht so mühsam wegsprengen müssen", hatte wer anderes gesagt. "Ach, du glaubst nicht, dass das die Zwerge waren. Klar, hast ja selbst so'n Saufbart in der Ahnenlinie."

"Sag das noch mal!" kam die sehr verärgerte Antwort. Dann gab es erst eine Schlägerei mit bloßen Fäusten, dann klirrtenWaffenaufeinander, immer mehr. Was dann kam war Dashmock sehr vertraut. Es gab wieder eine Schlacht und tote. Die schwerverletzten röchelten. Dashmock haderte damit, dass er helfen musste, aber selbst nicht in einen Hinterhalt rennen wollte. Denn er wusste, dass er den Bericht über das alles zu den anderen zehntausend Augen und Ohren bringen musste. "Wenn die Meldung mehr wert ist als dein Tod, dann bleib am Leben!" hatte sein Urgroßonkel einmal gesagt, wo es darum ging, was feiges Verhalten und was echter Mut war. Wenn er wem eine Botschaft zu überbringen hatte, dann durfte er nicht kämpfen und schon gar nicht von hinten ermordet werden. Also galt es, wieder abzuwarten.

Erst viel später, als wirklich niemand mehr atmete, hatte sich Dashmock aus dem Versteck getraut und war immer auf der Hut vor Angriffen, durch alle Höhlen gegangen. Da hatte er sie alle gesehen, die schrecklich zugerichteten Körper seiner einstigen Bundesgenossen. Zumindest waren die Tore jetzt offen, wohl mit Knallpulver aufgebrochen worden, was bei Kobolden eigentlich verpönt war. Doch offenbar hatten andere Bundesgenossen das für angebracht gehalten, die verschlossenenTore aufzubrechen. Der Weg nach draußen war frei.

Jetzt stand er unter dem freien, klaren Sternenhimmel und fühlte die kalte Winterluft auf seiner Haut. Wie schön konnte das sein. Dann besann er sich und suchte sich den Weg zu einer Außenstelle, die er mal besucht hatte. Dort musste er seine Meldung machen und erklären, warum er sich vor allen anderen versteckt hatte.

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In den Privaträumen des US-Zaubereiministers, 21.01.2005, kurz nach Mitternacht

Er lag in seinem Bett. Er fühlte sich prall und satt. Hatte er das alles geträumt?

Erst hatte er versucht, diese Botin in Weiß mit dem Todesfluch zu erwischen. Doch die war in einem rosaroten Blitz verschwunden, als er gerade das A von Avada Kedavra anstimmen wollte. Er hatte das erste der verbotenen Worte nicht einmal halb ausgesprochen, als ihm erst der Zauberstab aus der Handsprang und er dann in einem grünen Wirbel herumgeworfen wurde. Dann hatte er sich nur daran erinnert, dass er mal eben auf einer Trage liegend durch einen von wildem Sturm durchbrausten Korridor mit an der Decke flirrenden Lichtbändern geflogen war, bis er in einem anderen Raum von einem zweiten rosaroten Blitz getroffen wurde. Dann hatte er sie gesehen, die Mutter von 22 Kindern mit ihren meergrünen Augen. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr Gesicht zu verhüllen, ja hatte nicht einen Faden Stoff am Körper. Er hatte erst gedacht, dass sie ihn zur körperlichen Liebe zwingen oder mit diesem Fortpflanzungsrauschgas dazu treiben wollte. Doch dann hatte sie einen Zauber gemacht, den er nur für einen Traum halten konnte. Jedenfalls hatte er danach Kälte und großen Hunger und durst verspürt. Dann dachte er daran, dass sie ihm auf eine nur im Traum mögliche Weise alles gegeben hatte, was er brauchte. Danach war er so dankbar gewesen, dass er ihr sein Leben und seine Seele versprochen hatte, um ihr zu dienen. Das tat er damit, dass er jenes Schriftstück unterschrieb, dass er nicht unterschreiben wollte. Doch jetzt machte es ihm nichts mehr aus, ja, er wollte, dass er für diese Frau und Hexe da alles erledigte. Einmal meinte er noch, einen gewissen Unmut zu fühlen, dass sie ihn mit ihrem Zauber genauso hörig gemacht hatte wie mit Imperius. Doch diese Art, wie sie das gemacht und ihm dabei etwas von sich mitgegeben hatte, war wesentlich erhabener, ja erträglicher als der Gedanke, gegen den eigenen Willen handeln zu müssen.

Sie hatte ihm gesagt, tief und fest zu schlafen, bis er wieder alleine in seinem Bett lag. Stimmt, hier war er jetzt aufgewacht. Wwar das alles geschehen? Doch dieses Völlegefühl, der Eindruck, ein paar Kilogramm zugenommen zu haben, und diese Gedanken an diese trotz Alter immer noch anziehend wirkende Frau, die vor ihm in einem Moment zur Riesin angewachsen war, der war so wirklich.

Lionel Buggles tastete im dunklen nach seinem Nachttisch. Dort fühlte er die Pergamente. Waren es die Pergamente? Er befahl "Illuminato!" Die Zimmerbeleuchtung flammte auf. Dafür brauchten diese Magieunfähigen elektrischenStrom. Lächerlich. Doch jetzt wusste er, dass er nicht geträumt hatte. Denn in den Händen hielt er den Vertrag. Er las zehn Unterschriften, darunter die seiner neuen großen Verehrung, Mater Vicesima Secunda. Dann fand er auch seinen eigenen, schwungvollen Namenszug, den er in den letzten Monaten unter so viele Dokumente hatte setzen müssen. Er hatte tatsächlich unterschrieben, dass er mithelfen würde, dass die von ihr geführte Gesellschaft für die Bewahrung und Mehrung magischen Lebens in seiner Heimat eine sichere Basis fand und er mithelfen würde, noch mehr magische Menschen in diese Welt zu setzen. Er fragte sich jetzt, was er daran auszusetzen gehabt hatte. Er durfte neues Leben erschaffen, sein Fleisch und Blut.

Ihm fiel ein Name ein: Shana Moreland. Ja, irgendwoher wusste er, dass Shana Moreland zu ihrem erhabenen Orden gehörte. Dann sollte er zusehen, sie auch in einer Abteilung unterzubringen, wo sie für die erhabene Gesellschaft die bestmögliche Arbeit verrichten konnte. Doch vorher galt es, alle seine Mitarbeiter ein von ihm unterschriebenes Dokument mit einem Bekenntnis zur nordamerikanischen Zaubererweltverwaltung und ihm als deren obersten Vertreter zu unterschreiben und dieses Pergament auf den Friedensvertrag zu legen. Einfach nur so, um den Unterzeichner genauso daran zu binden, wie er sich daran gebunden hatte. Gleich nach dem Aufstehen wollte er damit anfangen. Er befahl "Nox!" Die Zimmerbeleuchtung erlosch. Er drehte sich wieder in seine gewohnte Schlafhaltung und überließ sich der wohltuendenErholung nach diesem anstrengenden Tag.

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Im Haus Tyches Refugium bei Boston, 22.01.2005, 22:30 Uhr Ortszeit

"Das sind also die neuen Notgeldbanknoten. Habe mich schon gefragt, wann das Ministerium diesen Trick aus der magielosenWelt aus dem Hut zieht", spottete Anthelia/Naaneavargia, als ihr ihre Mitschwester Portia einen grünlich schimmerndenSchein hinhielt. "Der kann das unmöglich in nur zwanzig Tagen umsetzbar bekommen haben. Die Verfahrensweise und die Kapazität für genug solcher Scheine muss schon seit Jahren in Vorbereitung gewesen sein", sagte die höchste Schwester des Spinnenordens. Dann bat sie ihre Mitschwester Portia, ihr den Schein mit dem kleinstenWert zu überlassen. Sie zog darauf einen grünen Schein mit der hoch ansprechendenAufprägung "5 Sickel" hervor undlegte ihn vor Anthelia auf denTisch.

"Das grüne Schimmern stammt ganz sicher von magischen Vorkehrungen, die in das Material eingewirkt wurden. Wenn das von einem Menschen gemacht wird würde es mindestens einige Minuten dauern", sagte die höchste Schwester und zog ihren silbergrauen Zauberstab. "Vorsicht, wer versucht, einen Schein magisch zu entschlüsseln könnte dessen Zerstörung bewirken", sagte Portia. Anthelia besah sich den Schein noch einmal. "Du könntest recht haben. Aber einenZauber muss ich versuchen. Würde dieses Stück bezauberten Stoffes da verraten, wenn es unrettbar beschädigt wird?" fragte sie.

"Eben das weiß ich auch nicht. Könnte auch passieren, dass der, der es zerstört markiert wird, um später erkannt und ergriffen zu werden. Das hat es schon gegeben", sagte Portia. Anthelia nickte verdrossen. "Wohl wahr, ich erinnere mich an derartige Vorkommnisse. Nun, dann bleibt mir nur, mich für deinen Bericht und den grünen Schnipsel im angeblichen Wert von fünf Sickel zu bedanken, Schwester Portia. Ich kann dir den Gegenwert in Münzen geben, falls du das möchtest."

"Damit kann ich leider nichts mehr anfangen, weil alle Händler seit heute die Weisung haben, nur noch "grüneZettel" als Zahlungsmittel anzunehmen. Wer jetzt noch Münzgeld hat soll es sicher verschließen, bis klar ist, ob die Kobolde auch wieder mitspielen."

"Gut, dann bleibt es halt bei meinem Dank", sagte Anthelia. Dann musste sie verächtlich grinsen: "Womöglich verraten die Scheine auch, wo sie alles waren und womöglich haben sie bei der Ausgabe die Scheine entsprechend verbucht, an wen welcher Schein ausgegeben wurde. So kann Buggles oder sein Schatzmeister Picton nachverfolgen, wann von wem wofür welcher dieser grünen Zettel weitergegeben wurde, ist also im Grunde genauso überwacht wie die Gutschriftenpläne in Frankreich oder England."

"Meinst du echt, dass sie diesen Aufwand betrieben haben, höchste Schwester?" fragte Portia. "Ich hätte es auf jedenFall so gemacht, wenn ich schon die Möglichkeit habe, dass ich den Zahlungsverkehr aller magischen Menschen bestimmen kann. Wie erwähnt, ich probiere mal was aus, wovon ich denke, dass es den Schein nicht in den Suizid treiben wird."

"Öhm, das Ding da lebt doch nicht etwa?" erschrak Portia. Anthelia hörte aus den nachschwingendenGedanken der Mitschwester, dass ihr die Vorstellung ein gewisses Grauen bereitete. "Sagen wir es mal so, im Grunde genommen ist alles, was von Magie erfüllt wurde, auf eine gewisse weise lebendig, auch wenn es kein lebendes Wesen mit Atmung, Blutkreislauf und Verdauung ist. Aber wer etwas bezaubert hinterlässt einen gewissen Abdruck seines lebenden Körpers und Geistes auf dem Ding oder Ort, der bezaubert wird. Je mehr verknüpfte Zauber, desto mehr Lebenshauch enthält das Ding." Portia nickte. Sowas ähnliches hatte sie schon mal im Buch "Theorie der Magie" gelesen.

Anthelia führte ihrenZauberstab über den grünschimmernden Schein und dachte konzentriert das Lied vom Hauch des Lebens, einen allgemeinen Magieerkennungs- und Zuordnungszauber aus dem Wissensschatz der Erdvertrauten. Der grüne Schein pulsierte und flimmerte nun in einem bräunlichen Goldton. Anthelia war auf der Hut, nicht zu nahe heranzugehen. Sie ließ den Zauberstab dreimal über dem Schein kreisen und zog ihn dann zurück. Der magische Geldschein nahm wieder seine ursprüngliche Färbung und schwache Leuchtkraft an.

"Interessant", murmelte Anthelia. "Dieses angebliche Tauschwertzeichen dort besitzt eine aus mehreren Kraftquellen entströmende Aura. Ja,und das Material stammtsowohl von einem ehemaligenLebewesen, als auch aus verschiedenenEdelmetallen in einer mit diesem Zauber nicht zu bestimmenden Anordnung und Menge. Sowas kann kein Mensch mal eben in einer Minute herstellen und bezaubern. Ja, und ich halte meine Behauptung aufrecht, dass dieses grüne Ding da in Verbindung mit dem von dir erwähnten Prüfgerät weitermeldet, wo es gerade ist und das wievielte von wie vielen seiner Art es gerade ist."

"Dann überwacht uns dieser Kerl tatsächlich. Ärgerlich, dass ich das nicht so einfach herumerzählen kann."

"Sagen wir es so, Schwester, dass dieser Schein da nicht verrät, wo du gerade bist, solange du ihn nicht an die für ihn gemachte Prüfvorrichtung hältst oder ihn hineinschiebst. Sonst hätte ich ihn hier und jetzt vernichtet, auch wenn ich dabei nicht erfahre, wie er hergestellt wurde. Nur so viel: Entweder Wishbone oder Buggles hatte oder hat Zugriff auf eine interessante thaumaturgische Quelle. Es ist sicher nicht unwichtig zu wissen, welche Quelle oder Quellen er ausschöpft. Da könnte auch für uns eine Menge von abhängen.""

"Etwas, das wir hier nicht kennen?" fragte Portia. "Ja, oder was wir nicht in dieser Gegend oder Zeit erwarten konnten", raunte die höchste Spinnenschwester. Dann bat sie Portia, wieder in ihr eigenes Haus zurückzukehren und auf Nachricht von ihr zu warten. Portia bestätigte es und disapparierte, weil sie eine der zutrittsberechtigten Hexen war.

"Ich denke, dich und deine Leute werde ich bald mal aufsuchen, um zu erfahren, woher du dieses Verfahren kennst", dachte Anthelia an Buggles Adresse. Denn ihr, der Erdvertrauten aus dem alten Reich, sowie der von Sardonia in vielen Dingen der dunklen Künste zwischen Leben und Tod eingeweihten, war sofort klar geworden, wie das Zaubereiministerium in so kurzer Zeit so viele dieser komplex bezaubertenScheine herstellen konnte. "Falls Wishbone das schon konnte sollte ich mir vielleicht mal seinen Sohn vornehmen", dachte die Führerin der Spinnenschwestern. "Immerhin hatte Lucas Wishbone schon an Papiergeld wie bei den Nichtmagiern gedacht und entsprechend vorgearbeitet. Dann fiel ihr ein, dass sie ihn damals legilimentiert hatte und keine Anzeichen für ein solches Herstellungsverfahren gefunden hatte. Doch zum einen konnte der das mit dem Divitiae-Mentis-Zauber verborgenhaben. Zum anderen war sie da noch nicht mit Naaneavargia vereinigt gewesen. Wenn Divitiae Mentis angewandt wurde, dann lohnte es nicht, die Schutzzauber um Tracy Summerhills Haus zu durchbrechen. Ansonsten blieb dann immer noch Buggles oder sein Handelsabteilungsleiter.

Von der magischen Herstellungsweise der neuen Zahlungsmittel abgesehen war Anthelia auch sehr gespannt, wie die Kobolde darauf reagieren würden, dass es eben doch ganz ohne sie ging. Sicher würde der Bund Axdeshtan Ashgacki az Oarshui das mitbekommen und seinerseits versuchen, die Herstellungsweise zu ergründen und vielleicht zu sabotieren, um das alte Goldwertbestimmungsmonopol zurückzubekommen. War sich Buggles dessen bewusst?

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Aus der Stimme des Westwinds vom 23.01.2005

ZAUBEREIMINISTER LIONEL BUGGELS VERSCHIEBT NEUWAHL AUF UNBESTIMMTE ZEIT

ZWÖLFERRAT DER MAGISCHEN RICHTER GEWÄHRT MINISTER BUGGLES FREIE HAND ZUR BEWÄLTIGUNG BESTEHENDER AUSNAHMELAGE

Gestern erfuhr der Westwind aus dem Zaubereiministerium, dass es offenbar in der Nacht zum 21.01.2005 zu mehreren Versuchen kam, die Verteiler des grünen Goldersatzes zu berauben, wohl um ihnen zum einen alle mitgeführten Mengen an sogenannten Tauschwertscheinen wegzunehmen, zum anderen wohl auch, um herauszubekommen, wie diese hergestellt werden. Zumindest konnten sich laut Raymond Catlock aus der Gesetzesüberwachung drei Boten erinnern, dass sie von kleinwüchsigen Wesen angegriffen wurden. Catlock gab wieder: "Der Verteiler 15 sagte: "Plötzlich schossen vier kleine Wichte mit schwarzen Kapuzenumhängen und Masken aus der Erde heraus und griffen mich an, wohl um mir alles wegzureißen. Ich konnte mich mit dem dafür vorgesehenen Ruf- und Abwehrzauber behaupten und disapparieren."" Er sagte auch, dass wenn dieses wirklich Kobolde gewesen seien, hätten sie eine blutrote Linie überschritten. Denn auch denen sei es unter Strafe verboten, die Verteiler des neuen Tauschwwertgutes zu berauben. Er werde deshalb die entsprechenden Konsequenzen ziehen.

Der Versuch unserer Reporterin Linda Latierre Knowles, an den in Amerika residierenden Ratskobold Mashdurk Sloanduburk (Meister Schieferbart) heranzukommen, um ihn wegen dieses angeblichen Überfalls und seiner Einstellung zu Buggles' und Pictons Ersatzzahlungsmittel zu befragen scheiterte daran, das die offizielle Adresse, die sie vom Koboldverbindungsbüro erhalten hat, offenbar nicht mehr gilt. Jedenfalls fand sie dort nur einen eingestürzten Hügel vor. Falls sich Mashdurk Sloandurburk noch auf dem Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten aufhält, so fürchtet er sicher eine harte Bestrafung, ob es überhaupt einen solchen Überfall gab oder nicht.

Sowohl wir vom Westwind, als auch der mit unserer Kollegin Linda Latierre Knowles verheiratete Herausgeber der französischen Zeitung Temps de Liberté (Zeit der Freiheit), sind sich mit dem Kollegen Frank Sunnydale von Radio HCPC 2623 einig, dass der Überfall auf einen Notgeldverteiler auch eine reine Erfindung sein k-ö-n-n-t-e, weil er dem amtierenden Zaubereiminister nun die entscheidende Handhabe gab, die angesetzte Neuwahl auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Denn genau das verkündete Lionel Buggles noch am gestrigen Abend vor Vertretern der Nachrichtenverbreiter und hochrangiger Vertreter der magischen Gewerbe. Auch seine beiden verbliebenen Gegenkandidaten Atalanta Bullhorn und Lysander Bowman waren anwesend. Inobskurator-Majorin Bullhorn war nicht erfreut und bezichtigte Buggles in aller vertretenen Öffentlichkeit der Aushebelung geltender Mitbestimmungsgesetze. Darauf zitierte er zwei Paragraphen, die ihm doch das Recht geben sollten, diesen Ausnahmezustand zu verlängern. Diese finden Sie im Kommentar unseres Rechtsexperten Forester Brody auf Seite 8 ff.

Atalanta Bullhorn gab der Redaktion von Westwind und Temps de Liberté kurz vor Auslieferung der ersten Ausgabe von heute die Mitteilung weiter, dass der Zwölferrat den Ausnahmezustand genehmigt habe, sofern der Minister zeitnah die entsprechendenBeweise vorlegen könne, dass es Übergriffe von Kobolden gegeben habe. Abgesehen davon, so Bullhorn, hätten sie ihm schon wegen der Angriffe von Werwölfen und Vampiren mehr Handlungsspielraum genehmigt. Es dürfe nicht sein, dass das Zaubereiministerium zum Angriffsziel anderer Zauberwesen würde, wie damals, als die Vampirin Nyx versucht habe, Minister Cartridge und seine Familie zu entführen und nur von zwei fremden Hexen aufgehalten wurde, deren Motive selbst nicht im Einklang mit den Zaubereigesetzen standen. Atalanta Bullhorn wird wohl nicht aufgeben. Das ist die Disziplin der Inobskuratoren.

Inwieweit sich der angebliche oder wahrhaftige Überfall auf uns alle auswirkt kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesagt werden. Wir bleiben für Sie an der Lage dran.

LLK

Im Apfelhaus der Familie Latierre in Millemerveilles, 25.01.2005, 17:00 Uhr

Julius Latierre bewunderte seine Frau. Sie kam immer noch damit klar, dass ihre eigene Tante Béatrice sein Kind austrug. Doch offenbar gab es heute noch wichtigeres, als Béatrices und Millies Schwangerschaft.

Zum einen hatte Laurentine nun die Gästeliste für die Trauerfeier ihrer Eltern fertig und würde einen der violetten Reisebusse mieten, die sonst die nichtmagischen Eltern von Beauxbatons-Schülern aus dem Elsass beförderten. Zum anderen durfte er die neusten Nachrichten aus den achso glorreichen Vereinigten Staaten lesen. Minister Buggles hatte nach dem Ausruf eines Quasi-Kriegsrechtes angefangen, die Sicherheitsmaßnahmen im Ministerium zu verstärken. Auch hatte er in einem Interview mit dem Kristallherold klargestellt, dass er nun mit aller dafür nötigen Härte gegen die Feinde der nordamerikanischen Zaubererwelt vorgehen würde. Es war von einem Ultimatum gegen die Kobolde die Rede, Gringotts entweder bald wieder zu öffnen oder bis zum ersten März alle dort gelagerten Wertanlagen an die Handels- und Finanzabteilung auszuliefern. außerdem wollte die Scharfohrige Linda was von einem Friedenspakt zwischen ihm und seinem Herausforderer Bowman gehört haben, dass er Ansiedlungen nur für Werwölfe bauen lassen wollte, um alle in den Staaten registrierten Werwölfe dort zusammenzulegen.

"Au ha! Da haben die in Südafrika die Appartheid gerade erst abgeschafft, und Buggles will sie in den Staaten wieder einführen. Ist offenbar schon zu lange her, dass die afrikanischstämmigen US-Bürger für mehr Bürgerrechte eingetreten sind. Da muss ich doch gleich mal mit Mum reden, wenn sie wieder zu Hause ist."

"Hoffentlich zwingt dieser Aktionist sie nicht dazu, irgendwelche Bekenntnisse zu ihm zu unterschreiben oder gar auf einen Eidesstein zu schwören", unkte Béatrice. Immerhin trug sie Martha Merryweathers Enkelsohn aus.

"Ich denke, die hat längst geblickt, woher der Wind weht und wonach es stinkt, Trice", sagte Julius. Millie nickte beipflichtend.

Den bereits geborenen Kindern gegenüber verschwiegen Millie und Julius, welche Sorgen sie sich gerade machten. Aurore, Chrysope und Clarimonde, die von tag zu Tag besser laufen konnte und bereits kurze, abgehackte Sätze brabbeln konnte, spürten vielleicht, dass ihre lieben Eltern nicht so fröhlich waren wie sie selbst. Aber sie genossen es, die beiden und die nette Tante Trice um sich zu haben.

Spät am Abend bekamen die Latierres zwei Nachrichten. Die eine kam per Distantigeminuskasten von Gilbert Latierre und besagte, dass die weniger als zehn Jahre in den Staaten lebenden magischen Bürger, die nicht dort selbst geboren wurden, demnächst einen Fragebogen zu den seit Januar laufenden Maßnahmen und ihrer Einschätzung des Ausnahmezustandes zugeschickt bekommen sollten, den sie Punkt für Punkt und wahrheitsgemäß auszufüllen hätten. Gilbert kommentierte es mit den Worten: "Er sucht wohl nach Gründen, alle die auszuweisen, die ihn nicht leiden können. Bei uns sogenannten Wahlamerikanern fängt er damit an." Die Zweite Nachricht übermittelte Julius' Mutter, als er kurz nach halb zwölf mit ihr über die Armbandverbindung sprach. Sie erwähnte, dass wegen der Vorwürfe gegen die Kobolde alle Firmen, die ausdrücklich mit Gringotts Geschäfte tätigten, ihre Verbindungen offenlegen sollten. Ja, und sie hatte auch dieses Schreiben erhalten, dass wohl demnächst eine Umfrage stattfinden würde. Auch habe sie gerüchte gehört, der Minister überprüfe nun jeden einzelnen Mitarbeiter auf seine oder ihre Zuverlässigkeit. Dazu sagte sie: "Ich weiß es nicht sicher, aber sollte er mir damit kommen, dass ich eine eidesstattliche, magisch bindende Erklärung unterschreiben soll, dass ich mit seiner jetzigen Politik einverstanden sei und ihn voll und ganz unterstütze, werde ich wohl zusehen, dass ich innerhalb der folgenden zwei Stunden seinen Zuständigkeitsbereich verlasse, Julius. Ich habe nach all den Artikeln den ganz dumpfen Eindruck, dass er sich zum Minister oder gar Zaubererpräsidenten auf Lebenszeit ausrufen möchte. Eine Lage wie die gibt sowas gut und gerne her. Nur könnte es dann einen zweiten Bürgerkrieg geben, nur dass der von Hexen und Zauberern ausgefochten wird. Das habe ich auch schon Brittany gesagt, dass sie bloß aufpassen soll, was aus dem Ministerium so rüberkommt."

"Viviane hört uns gerade zu, deine Ausgabe von ihr wohl auch. Falls du ganz schnell über den Teich hüpfen musst gib irgendein Codewort durch, auf dass wir dich und die drei und wenn er will auch Lucky rüberholen", sagte Julius sehr beunruhigt.

"Nein, ich möchte nicht auf diese Weise geholt werden, weil ich nicht will, dass die Kinder in irgendwas anderes verwandelt werden, Julius. Ich komme auch so raus, mit allen, die mich begleiten wollen. Im Zweifelsfall werden wohl viele mit den Luftschiffen das Land verlassen. Apropos, hat Laurentine jetzt Ort und Tag der Trauerfeier?"

"Hat sie uns heute mitgeteilt. Das ist am zwölften Februar, in der Gemeinde St. Joseph bei St. Louis im Elsass. Du musst nicht wissen, wie man da hinkommt. Zum einen hat sie vom Pariser Ostbahnhof aus einen Reisebus für die französischen und aus den USA einreisenden Gäste gemietet. Zum anderen habe ich ihr geholfen, einen der violetten Busse zu chartern, die sonst die nichtmagischen Eltern aus der Region Frankreich Ost nach Beauxbatons Hin- und zurückbringen. Wir sind dann zu dreißig Leuten aus der Zaubererwelt. Hätte Laurentine nicht gedacht, das mal so viele Leute aus unserer Welt mit ihr feiern, auch wenn sie auf den Anlass garantiert gerne verzichtet hätte."

"Dreißig? Wer denn so alles?" Julius zählte die Gästeliste durch, wie er sie erhalten hatte. Millie, Béatrice und Julius würden hingehen, Béatrice würde sie begleiten, weil sie ja offiziell immer noch Millies Vertrauensheilerin und Hebamme war. Von den Schülern kamen Claudine, Viviane und Chloé mit ihren Eltern und Madame Dumas zusammen mit Sandrine. Ebenso die Dorniers und Belisama, sowie Virginie mit Ehemann aber ohne Kind und Barbara van Heldern ohne Mann und Kinder. Dann würden noch einige Mitglieder der Streichergruppe aus Beauxbatons mitkommen, mit denen Laurentine zusammen musiziert hatte. Auch Hera Matine war dabei, weil sie Laurentines Vertrauensheilerin und somit seelischer Beistand war. . Somit konnte sie auch auf Millie und Béatrice aufpassen, auch wenn Béatrice immer noch Millies offizielle Vertrauensheilerin war.

"Da falle ich ja nicht auf", sagte Martha Merryweather. Julius bestätigte das. Er bemerkte noch dazu, das sie es sich wohl aussuchen könne, ob sie mit den nichtmagischen Trauergästen oder denen aus der magischen Welt zusammenfahren könne. Dann wünschte er ihr eine erholsame Nacht.

"Hoffentlich kommen die nicht auf krumme Ideen, die bei Nacht und Nebel aus dem Haus zu holen", dachte Julius. Gut, wenn es in feindlicher Absicht geschah würden die Abwehrzauber sie sicher zurückweisen. Dann hatte sie genug zeit zu flüchten. Aber die würden ihr das Flohnetz kappen, höchst wahrscheinlich auch das Apparieren vergellen. Dieser Gedanke beruhigte Julius wieder.

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Im kleinen Verhandlungsraum des Zwölferrates der US-amerikanischen Zaubererjustiz, 27.01.2005, 09:30 Uhr Ortszeit

Heute entschied es sich, ob er und seine neuen Verbündeten den eingeschlagenen Weg ohne Hürden weitergehen konnten oder noch eine Hürde zu nehmen hatten. Lionel Buggles hatte sich einen Termin bei Richter Ironside und seinen elf Kollegen geben lassen, um mit ihnen die getroffenen Maßnahmen zu beraten, auch die Befragung der noch nicht lange in den Staaten lebenden Hexen und Zauberer, darunter diese sehr genau zu überwachende Martha Merryweather, der Frechling Gilbert Latierre und diese trotz aller vorgelegten Angaben immer noch nicht ganz einzuordnende Theia Hemlock. Das waren nur die, die bereits morgen die entsprechenden Fragebögen bekommen sollten. Je nach Auswertung konnten sie dann mit gewissen Auflagen weiter in den Staaten bleiben oder würden nahegelegt bekommen, zügig das Land zu verlassen. Was Martha Merryweather anging, so sollte sie jedoch davor schon die eidesstattliche, magisch bindende Bekenntniserklärung vorgelegt bekommen. Unterschrieb sie die, brauchte sie den Fragebogen eigentlich schon nicht mehr zu beantworten oder würde das dann sowieso in seinem Sinne tun. Unterschrieb sie nicht und wollte kündigen, konnte er ihr Kraft seiner erweiterten Befugnisse die Kündigung verweigern, weil er unbedingt dieses Büro für Koexistenz zu einer Muggelüberwachungs- und Beschränkungsbehörde ausbauen wollte. Dafür brauchte er diese postnatal aktivierte Hexe. Im Zweifelsfall musste eben jemand seiner neuen Verbündeten sie kooperationswillig stimmen, da er den Imperius-Fluch nie wirklich gelernt hatte. Doch wenn es ohne den ging um so besser.

Die Richter hörten sich an, was er vorbrachte und auch, dass die Ansprechpartner der Kobolde sich davongemacht hatten. Er müsse von einem zweiten Schlag gegen die Zaubererwelt ausgehen. Er legte die unter Einfluss von Veritaserum gemachte Zeugenaussage seines Geldüberbringers vor. All das wurde mit entsprechenden Unterschriften für angenommen befunden. Dann kam der große Akt. Er legte den Richtern ein angeblich erst gestern erhaltenes neues Friedensangebot von Vita Magica vor. Das er den Originalvertrag schon längst unterschrieben hatte wollte er denen nicht aufs Brot schmieren.

"Die geben offenbar nie auf", knurrte Ironside. "Warum legen Sie uns dieses "Dokument" noch einmal vor. Viel hat sich daran nicht geändert. Diese Leute verlangen Amnestie für alle auf dem Boden der Staaten begangenen Verbrechen und fordern das Ministerium auf, die dabei entstandenen Kinder finanziell abzusichern. Ja, und dann sollen Sie auch noch welche von ihnen in Ihrer Verwaltungsorganisation unterbringen. Dreister geht es wohl nicht mehr, Mr. Buggles. Wir geben Ihnen die Erlaubnis, alle auf unserem Heimatboden erkannten VM-Aktivisten umgehend in Gewahrsam nehmen zu lassen. Diesen Vertrag dort unterschreibenSie auf gar keinen Fall. Andererseits müssten wir Sie des Amtes entheben und pro Forma einen von uns Ihre Amtsgeschäfte tätigen lassen, Minister Buggles. Das ist unsere Entscheidung dazu." Die elf anderen Richter stimmten durch Kopfnicken zu. Da sagte der Minister: "Das kann ich leider nicht tun, Euer Ehren. Denn um den Frieden und die Unversehrtheit in unserem Land zu sichern habe ich dieses Dokument bereits unterschrieben. Ich wollte nur wissen, ob Sie meinen Weg mitgehen oder nicht. Eben nicht! Rote Türe!"

"Silbernes Licht flutete von den Pergamenten auf dem Tisch auf. Der Minister fühlte, wie etwas unter seinem Umhang erzitterte. Dann strahlte grünes Licht auf und umfloss den Richtertisch. Es krachte laut, und sowohl der Tisch, als auch die ddaransitzenden Richter waren verschwunden. Es gab keinen Alarm. Nur der Minister saß noch auf seinem Stuhl. Ein kleiner Anhänger mit einem Smaragd darin hatte ihn vor dem Verschwinden bewahrt. Die Botin hatte ihm gesagt, dass er solange hier sitzen bleiben sollte, bis Tisch und Richter wieder auftauchten. Denn sobald er die Tür öffnete würden die üblichen Überwachungszauber wieder greifen und das Verschwinden der Richter erfassen. Ja, diese Leute hatten schon geniale Sachen drauf, dachte Buggles.

Er musste nur eine halbe Stunde warten. Dann tauchte mit lautem Knall eine neue, viele Meter breite Lichtspirale auf, aus der Tisch und Richter freigegeben wurden. Die zwölf Richter sahen sich um und nickten dann einander und dann Buggles zu. "Hier ist unsere amtliche Ausnahmegenehmigung, dass Vita Magica im Rahmen eines Beistandsabkommens zum Schutze aller magischen Menschen in den USA solange von jeder Strafverfolgung ausgeschlossen bleibt, solange sie keine vollendeten Raubüberfälle, Einbruchsdiebstähle, Notsuchtsdelikte oder Morde begehen. Auch ist ihnen der Gebrauch der drei unverzeihlichen Flüche verboten. Zuwiederhandlung wird im Einzelfall ohne Anerkenntnis der Gruppierungszugehörigkeit wie jedes andere Verbrechen geahndet. Was die Vorhaben der Gruppierung angeht, so ist es ihnen gestattet, nachwuchswillige anzuwerben, die jedoch vor einer möglichen Kindszeugung unterschreiben müssen, dass sie damit einverstanden sind und bereit sind, diese Kinder auch ohne größere Belastung des Ministeriums zu versorgen. Hier ist die entsprechende Urkunde. Wir hoffen, Sie wissen, was Sie tun, Minister Buggles."

Der Minister nahm die Urkunde an sich, las und nickte. Alle zwölf Richter hatten unterschrieben. Damit war der Weg nun frei zum großen Ziel, der Vereinigung aller nordamerikanischen Staatsgefüge auf magischer Ebene. Ach ja, er las mit Wohlwollen, dass er, wenn seine Mitarbeiter alle seiner Amtsführung zugestimmt hatten, die Verwaltungsbehörde auch umbenennen konnte, um sich restlos vom "europäischen Diktat" zu lösen, "nur" ein Zaubereiminister zu sein, wo es zwischen den 1860ern und 1950ern einen eigenständigen Kongress gegeben hatte. Er fragte sich gerade, ob das dieselben Richter waren, die eben noch jede Zusammenarbeit mit Vita Magica abgelehnt hatten. Wie kam er darauf, dass es vielleicht Doppelgänger sein konnten? Egal. Die da hatten ihm gerade Carte Blanche in die Hand gedrückt, den ganzen nördlichen Kontinent umzubauen, ohne dass die Nomajs, Muggels oder wie auch immer diese Maschinenanbeter genannt wurden, was davon mitbekamen. Wenn erst mal alles so stimmte, wie er sich das vorstellte, dann würde er die magielose Welt Nordamerikas dahin zurückwerfen, wo sie nicht nur seiner Meinung nach immer schon hingehört hatte, unter das Lebensniveau der magischen Menschheit. Aber erst einmalmusste er Mexiko sicher haben, dann den Kanadiern klarmachen, dass sie nicht länger an Londons Gängelband zu laufen hatten, wo die USA ihnen doch näher waren als diese kleine, immer noch überheblich auftretende Insel, die sich angemaßt hatte, die halbe Welt beherrschen und ihrer Denkweise von Zivilisation unterwerfen zu dürfen. Gut, was tat er? Nein, er wollte nicht die ganze Welt, Nordamerika reichte ihm schon völlig aus.

Mit dem Freibrief für seine Ideen und die weitere Zusammenwirkung mit Vita magica kehrte er in sein Büro zurück. Es galt, die nächsten wichtigen Mitarbeiter auf sich einzuschwören, nicht mit teuren Eidessteinen, sondern mit einfachem Pergament und Zaubertinte.

Er wollte gerade an Desmond Richway vom Überwachungsbüro der nichtmagischen Welt durchgeben, dass er Martha Merryweather vorladen sollte, um ihr eine Unterschrift abzuringen. Da fuhren ihm die Gedanken seiner neuen Herrin wie blutrot blitzende Klingen durch den Kopf: "Finger weg von Martha Merryweather! Sie steht mit dem LI, denKindern Ashtarias und den großen Familien der Eauvives und Latierres in Verbindung. Außerdem hat sie dank uns drei gesunde Kinder geboren und muss diese versorgen, so unser Gesetz. Wenn sie nicht mehr in ihr Haus kann oder nicht in eines der Sanctuafugium-bezauberten Stammschlösser der Eauvives und Latierres oder gar von Millemerveilles abgewiesen wird wird sie und jeder um sie herum erkennen, dass sie durch einen nicht ganz so hellen Bindungszauber unterworfen wurde. Also, Finger weg von Martha Merryweather und auch ihren Elektrorechnermägden und -knechten."

Buggles konnte fast nicht mehr atmen. Sein Kopf schmerzte wild. Sein Körper erhitzte sich. Sie hielt ihn immer noch an ihrem langen Gängelband. Doch das tat nicht nur weh, es konnte auch sehr wichtig sein und vor allem angenehm, wenn er ihr einen großen Gefallen erwiesen hatte. Immerhin hatte sie wohl die zwölf Richter überprüfen und umstimmen können.

"Mr. Richway", rief er dann ins Leere hinein, "ich habe beschlossen, dass wir die Leute in der Computerabteilung bis auf weiteres nicht in die Interna des Ministeriums einbeziehen. Womöglich würde es ihren vielen Elektrorechnerkontakten auffallen, dass wir gerade eine große Reform durchziehen, die längst nicht jedem gefällt. Ich will nicht dasselbe grausame Ritual wie die Italiener machen, um keinen mehr zu uns reinzulassen. Außerdem hat der Idiot Wishbone mit seiner Abschottungspolitik nichts erreicht, außer dass unser Handel Jahre brauchte, um wieder ganz oben mitzuspielen."

"Aber Sie sagten doch vor einer Woche noch, dass wir diese Rechnerleute unbedingt auf unserer Seite haben müssen, damit die Außenwelt uns versteht und uns in Ruhe lässt", kam Richways Stimme wie aus leerer Luft.

"Sie sagten es, vor einer Woche. Jetzt habe ich es mir gründlich genug überlegt, und wir halten die Computerleute aus allem raus, was im Hauptgebäude vorgeht, bis uns keiner mehr gefährlich werden kann. Dann können wir denen immer noch anbieten, sich zu uns zu bekennen oder ihre Arbeitsverträge aufzukündigen. Relevante Sachen, die aus ihren Gedächtnissen getilgt werden müssten tragen die eh nicht in sich."

"Wie Sie befehlen, Sir!" erwiderte Richways schallverpflanzte Stimme unterwürfig.

Lionel Buggles spürte die Erleichterung. Seine neue Beschützerin und Gebieterin hatte sicher recht. Martha Merryweather war zu gefährlich, um sie unvorbereitet zu irgendwas zu zwingen, was alle anderen auf ihn wütend machen mochte. Stimmt, er musste erst alle anderen hinter sich haben, die nicht kündigen wollten und dann ebenso heimlich die Mexikaner und Kanadier auf seine Seite ziehen, und zwar so, dass eine Lino Langohr es nicht im kleinsten Windhauch hören konnte. Einfach war das nicht, aber auch nicht unmöglich. Denn er hatte ja immer noch neun Leute seiner besonderen Schutztruppe. Allerdings mussten die irgendwas gegen ihre Sonnenzauberallergie tun.

In der Zeit, wo Minister Buggles seine Macht weiter ausbaute saßen die zwölf hohen Richter zusammen an ihrem Tisch und unterhielten sich über die ersten Klagen wegen des Zahlungssystems. Ironside plädierte dafür, dass sie dem Minister vorschlugen, dass jeder, der gegen das neue Geld klagte und damit die Gesellschaft vergiftete, in der Mojavewüste ausgesetzt werden sollte, bis er oder sie knapp am Verdurstungstod entlangkeuchte. Erst dann sollten sie wieder zurückgeholt werden. Töten durften sie sie nicht, und ganz sicher würden sie künftige Straftäter, die früher in Doomcastle gelandet wären, nicht dort hinschicken. "Das ist eine Verschwendung von fruchtbaren Menschenleben, die zu entseelen und deren leere Hüllen in gläserne Überdauerungszylinder zu betten und die Seelen der Straftäter wie eingesperrte Flaschengeister zusehen zu lassen, wie die Tage vergehen. Sein Kollege Brody warf ein, dass sie dann ja gleich alle dort eingemachten Seelen in die angestammten Körper zurückverpflanzen sollten, um sie als künftige Mütter und Väter neuer magischer Menschen zu kultivieren, oder, wenn sie so heftige Übeltäter waren, einfach wieder ganz auf Ausgangsstellung zurückblitzten und neu aufwachsen ließen, zum Wohle der magischen Menschheit.

Wären da nicht die ganzen Sicherungszauber gegen Lauscher an der Wand oder aus der Ferne gewesen, es hätte solchen unerwünschten Mithörern und Mithörerinnen sicher das kalte Grausen bereitet, wie selbstverständlich die zwölf Richter darüber sprachen, wie sie der Gruppierung Vita Magica weitere Dienste erweisen konnten, als nur dem Friedensvertrag zuzustimmen. Der erste Entwurf, da waren sich alle einig, war noch nicht so ausgeklügelt wie der zweite. Da mussten sie Silvester Partridge am Ende noch dankbar sein, dass der die magische Bindung aufgehoben hatte. Auch würden sie bald wissen, wo das aus dieser exotischen Verkehrung entstandeneSchwesternpaar abgeblieben war, von denen je eine eines von ursprünglich als Zwillinge empfangeneTochter bekommen hatte. Die Doppelgängerin, hatten sie über die heimlichen Kanäle gehört, sei wohl Ladonna Montefiori in die Finger geraten, die sich klammheimlich Italien unterworfen hatte. Aber so, wie Mater Vicesima Secunda und der hohe Rat des Lebens es nun angegangen hatten war es wesentlich effizienter und würde zudem noch Perspektiven eröffnen, nach den beiden amerikanischen Teilkontinenten auch Europa von diesem verwerflichen Gedanken abzubringen, dass Vita Magica eine Verbrecherbande sei. Sie waren Richter, sie kannten den Unterschied zwischen ernsthaft engagierten Interessensgruppen, die das magische Leben erhalten wollten und eigensüchtigen, ja geisteskranken Verbrechern. Dabei kamen sie wieder auf Doomcastle. Würden die Gehirne der dort einsitzenden nach einer Rückverjüngung immer noch zum Irrsinn neigen oder sich bei besseren Umweltbedingungen förderlicher für sich und die Umwelt entwickeln? Das sollten die Heiler aus ihrer Gruppierung erörtern, wenn das Projekt mit dem Codenamen "Goldener Dreizack" abgeschlossen war und Nordamerikas Zaubererwelt unter einer einzigen Führungsriege stand. Jedenfalls wollten sie demnächst noch beschließen, dass die neun noch frei herumlaufenden oder besser an einem geheimen Ort versteckten Quidditchbetrüger eine Amnestie erhielten, um wieder frei herumzulaufen. Jetzt, wo dieser geniale Wunderknabe Perdy und der ganze Rat wussten, wi deren Glückssträhne abgeschnitten werden konnte, sollten die natürlich auch zur Mehrung und Wahrung magischen Lebens beitragen.

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Im Apfelhaus von Millemerveilles, 28.01.2005, 07:10 Uhr Ortszeit

"Hallo Mum, ich habe gehofft, dass du noch auf bist. Wie war dein Tag?" fragte Julius.

"Na ja, du hast wohl auch die ganzen Internetstories über die Befreiung von Auschwitz-Birkenau mitbekommen, was ja schon wieder 60 Jahre her ist, für einige offenbar schon zu lange her, um für wahr gehalten zu werden. Ich habe meiner Mitarbeiterin Feller die Zusammenfassungen gezeigt, die ich damals für Nathalie und Armand geschrieben habe. Jetzt kann sie mir nachempfinden, wie ich das dunkle Jahr in Frankreich mitbekommen habe. Hoffentlich müssen wir nicht ausgerechnet hier noch mal sowas erleben. Ich habe es dir ja gesagt, wenn die uns was vorlegen, was ich nicht unterschreiben kann, bin ich wohl ganz schnell von hier weg."

"Ja, hast du erwähnt. Ist denn sowas in der Richtung gelaufen?" wollte Julius wissen.

"Es sieht danach aus, als wenn das doch nur einGerücht war, rumgereicht von einem, der mit Buggles Politik nicht einverstanden ist. Wenn ich in der Ministeriumskantine bin wird auf jeden Fall nicht über sowas gesprochen. Ansonsten ist bei uns alles jetzt wieder Routine. Wir durften ganz ruhig arbeiten. Irgendwie ist da im Moment völlige Ruhe und Frieden. Aber wenn ich frage, ob was besonders sei kommt von den meisten nur, dass wir alle irgendwie gerade in einem Belagerungszustand seien, aber nicht wüssten, wo die achso bösen Feinde sind", sagte das räumliche Abbild seiner Mutter. "Was ich mitbekommen habe ist, dass sich wohl jemand über Buggles herrische Art beschwert habe, weil der wohl meint, jetzt alle wegen des von den Richtern abgesegneten Ausnahmezustandes wie ein Feldherr auftreten zu können. Einer hatte mal gemeint, dass Buggles Unglück mit Gringotts laut klatschend begrüßt haben mochte, weil er nun drei Sachen klären könne: Wie geht er gegen die Vampirgöttin vor? Gibt es noch einmal eine friedliche Einigung mit den Werwölfen? Ja, und werden die Kobolde schlucken, dass sie demnächst weniger Rechte an unserer Währung haben?"

"Oha, will er jetzt doch neue Bedingungen aushandeln, Mum?"

"Ob die wirklich neu sind wissen wir wohl erst, wenn sie auf dem Tisch liegen. - Britt hat mit dir geredet, dass sie das grüne Geld als nichtvegan erkannt hat. Jetzt trommelt sie natürlich dafür, dass die Kobolde uns wieder an unser Münzgeld ranlassen und Minister Buggles keine weiteren Schwierigkeiten mit denen heraufbeschwören möge."

"Lino hat sie interviewt. Jetzt, wo die im Ministerium offenbar die Order haben, kein Wort mehr mit Presseleuten zu reden, muss sie sich aus der Umgebung ihr Futter holen, um die kleine Lydia Barbara sattzukriegen", sagte Julius.

"Also, Julius, ich bleibe dabei, dass mir das nicht gefällt, dass es gerade so still im Ministerium ist. Meistens kommt dann doch ein Sturm angebraust oder ein Vulkan bricht aus oder es kommt ein Tsunami", erwiderte seine Mutter. Dem konnte er nicht widersprechen. Er wünschte ihr trotzdem noch eine gute Nacht und erinnerte sie daran, dass Laurentines amerikanische Verwandte am 9. Februar in Paris landen würden. Wenn sie schon mal in Frankreich waren wollten sie wenigstens einen Tag in der Hauptstadt sein."

"Ich telefoniere mal mit Catherine oder mail Joe an, ob die für mich für zwei Nächte ein Zimmer haben. Dann kann ich mit den Lacroises und den anderen zusammen anreisen."

"Was ist mit Lucky und den Drillingen?" wollte Julius wissen.

"Lucky hat gesagt, dass er nicht in einen dieser Düsenflieger einsteigen möchte und auch nicht in eine katholische Kirche gehen möchte. Da, so mein Mann, würde ihm immer jeder Spaß vergehen. Dann kann ich die drei auch bei ihm lassen, wenn ich die entsprechende Beruhigungsmixtur mitnehme, sie nicht dauernd im Blick oder Hörweite haben zu müssen", entgegnete Martha Merryweather. Dann fragte sie noch einmal, wie die amerikanischen Verwandten von Laurentine nach Europa reisen wollten.

"Da muss ich Laurentine noch mal fragen, ob ihre Verwandten jetzt mit Linienflügen oder einer Chartermaschine rüberkommen. Von L.A. könntest du ja mitfliegen."

"Vorausgesetzt hier bricht nicht doch noch ein Vulkan aus. Das mit den Kobolden gefällt mir nicht, und dass dieser Ausnahmezustand ohne wenn und aber aus der Zwölferriege der Richter durchgesetzt werden konnte behagt mir auch nicht. Na ja, Mutterinstinkte wohl. Ich will nicht, dass die Kleinen in Gefahr geraten."

"Dann schlaf dich auch gut aus, junge Mutter", erwiderte Julius und blies ihr einen Kuss zu. Sie grinste und verschwand dann.

Das Frühstück verlief wie in den letzten Wochen. Millie und Béatrice aßen immer mehr, so dass der Vater ihrer ungeborenen Kinder nicht mehr wusste, ob sie nur von der Schwangerschaft immer fülliger wurden oder auch vom zu vielen Mampfen. anders als bei Aurores Reise in die Welt bekam er Millies Hungergelüste nicht mehr ab. Temmie fing sie zwischen ihr und ihm ab und lebte sie dann wohl selbst aus. Wenn sie dick wurde konnte sie einen Gutteil über ihre Milch wieder loswerden.

Am Tag konnte er auch mit seinen Kolleginnen und Kollegen über die Lage weltweit reden. Das deutsche Zaubereiministerium versuchte eilfertig, zwischen den Kobolden, die von einem gewissen Meister Mondbart vertreten wurden und dem neuen Zwergenkönig Malin VII. zu vermitteln. Malin wollte das mit dem natürlichen Erdbeben nicht glauben, weil bei sowas unmöglich so viel ungerichtete Magie freigesetzt werden könne. Das habe Meister Mondbart von den Kobolden wiederum zum Anlass genommen, den Zwergen und Zauberstabnutzern die Schuld zuzusprechen, dass sie wohl einen Versuch mit Erdmagie angestellt hatten, der zum Rückschlag geworden sei. Als Vertrauter der Erde interessierte sich Julius natürlich für die mittlerweile eingegangenen Informationen. Er stimmte allen zu, die von einer stark mit dunkler Zauberkraft aufgeladenen Quelle, einem Gefäß oder Kraftstein ausgingen, der durch das Beben in Aufruhr gebracht oder zerstört worden sei. Julius dachte dabei an die Unlichtkristalle, an Vengor und die Woge dunkler Magie im April 2003. Wo sie es in den Medien gestern von Auschwitz hatten, da hätte durchaus so ein dunkler Kristall entstehen können. Vielleicht hatte es auch sowas da gegeben. Doch jemand hatte den früh genug neutralisiert, vielleicht die Bruderschaft des blauen Morgensterns.

Nachmittags traf er sich noch einmal mit Laurentine. Diese dankte ihm noch einmal, dass er die Tage, wo sie sich um die ganze Überführung und die Andacht gekümmert hatte, für die Grundschüler da war. "Normalerweise ist es ja so, dass Schüler, die dauernd Vertretungsstunden kriegen, am Ende unwissender aus dem Unterricht herauskommen. Aber du hättest auch gut Lehrer werden können."

"So mit den ersten drei Klassen soweit, dass ich die noch gut für was begeistern kann, Laurentine. Aber denke daran, wie wir in Beaux so drauf waren, und was so über heutige Mittel- und Oberschulen im Netz herumspukt. Da möchte ich bestimmt kein Lehrer sein."

"Das stimmt leider. Ich kann ja jeden Tag mit den Eltern reden, wenn die das wollen und mitkriegen, wie die was finden oder haben wollen. Aber in einem der Außenviertel von Paris? Uiui, ein Jahr und ich wäre in der geschlossenen Anstalt oder im Knast wegen mehrfachen Mordes."

"Insofern haben wir es trotz der wesentlich gefährlicheren Möglichkeiten der Zauberschüler besser als diese Stadtrandmittelschullehrer."

"Das ist wohl doch wahr. Schade, dass meine Eltern das nie verstanden haben", erwiderte Laurentine und verfiel unvermittelt ins Weinen. "Die sind doch nur dahingeflogen, weil die nichts mit der Zaubererwelt zu tun haben wollten. Die hätten da doch nicht hinfliegen brauchen", schniefte sie.

"Ich weiß, Laurentine. Aber wem erzählst du das? Mein Vater hat meine Mutter dazu gebracht, mal eben mit mir nach Australien zu fliegen, damit die Leute von Hogwarts mich nicht finden, und schon im Flugzeug habe ich eine von denen getroffen. Die erste Begegnung mit Aurora Dawn habe ich dir ja erzählt. Fazit, viel Geld für eine schöne Rundreise zum fünften Kontinent, mehr nicht."

"Ich kriege heute bescheid, ob die anderen zu Oma Monique fliegen und dann alle zusammen mit einem Charterjet rüberkommen. So Flugpläne müssen ja doch lange genug vorher angemeldet werden", sagte Laurentine jetzt wieder etwas gefasster. Julius nickte.

Tatsächlich bekam er am Abend noch über Kontaktfeuer bescheid, dass ihre amerikanischen Verwandten mit einem gecharterten Jet herüberkommen würden, der in New York zwischenhalten und dann über den Atlantik hüpfen würde. So würden ihre New Yorker Verwandten nicht extra nach Los Angeles fliegen müssen. "Ich habe deine Mutter schon angerufen, weil Oma Monique mir erlaubt hat, ihr ihre Mobilnummer zu geben. Die klären das dann ab, ob sie alleine fliegen will oder mit ihnen zusammen", beendete Laurentine ihren Kurzbericht. Julius bestätigte es.

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US-Zaubereiministerium, 30.01.2005, 10:30 Uhr Ortszeit

"Das, was im Aktionsplan von ihm und den Leuten von ihr mit dem Codnamen "Stille Post" bezeichnet wurde, erreichte am 30. Januar das nächste Zwischenziel. Er zog nun die Anerkenntnisbekundungen 499 und 500 über die leicht flirrende Kopie des Friedensvertrages mit der Gesellschaft für die Wahrung und Mehrung magischen Lebens. Die hatten echt phänomenale Thaumaturgen und Fluchexperten in ihren Reihen. Denn es reichte völlig aus, die von ihm und von einem der vielen Mitarbeiter unterschriebenen Schriftstücke auf den Friedensvertrag zu legen. Dann flimmerten die Unterschriften kurz grün und nahmen dann wieder ihr gewohntes Aussehen an. Damit haftete der Anerkenntnisbekundung eine ähnliche Bindung an wie dem Friedensvertrag. Damit wurde der oder die Unterzeichnende mit in das magische Erfüllungsvorhaben eingebunden. Vor allem die Drohung, bei Kündigung erst einmal alle geheimen Kenntnisse aus dem Gedächtnis zu entfernen, wobei die damit verknüpften Erinnerungen wohl ein wenig verfremdet wurden, hatte ihm wesentlich mehr Unterschriftswillige beschert. Immerhin hatten sie die Wahl.

Um Elf Uhr würde er eine Ansprache halten, dass er mit Bowman und der Werwolfkontrollbehörde einen Aktionsplan "Friedliche Mondnächte" ausgearbeitet habe, um die Befallenen sicher von den Unbefallenen fernzuhalten. Das war nur der erste Schritt auf dem Weg zur Eindämmung der Lykanthropie auf nordamerikanischem Boden. Sicher würden die registrierten Werwölfe dagegen aufbegehren, aus ihren gewohnten Nachbarschaften in eigens für sie und ihre Daseinsgenossen errichtete Siedlungen umzusiedeln. Doch die Mehrheit der magischen Menschen würde dieses Vorgehen als angemessen betrachten. Das würde natürlich auch die Mondbruderschaft auf den Plan rufen. Da wartete er drauf. Denn dann konnte er die wirklich rigorosen Maßnahmen als einzig wirksam darstellen.

Was die Kobolde anging hatte es doch ernsthaft einen Versuch gegeben, dass die herausfanden, wie das Notgeld gemacht wurde. Bis dahin hatte er auch nicht gewusst, dass es unter denen welche gab, die magisches Material runterschluckten, um durch die eigenen Körperreaktionen anzuzeigen, worin die Zauberkraft bestand. Tja, als dann wohl fünf von diesen Fress-Melde-Kobolden in grünen Lichtblitzen explodiert waren und ihre Kollegen bei der Gelegenheit stark angesengt wurden hatten sie kapiert, das das Notgeld für Kobolde schwer verdaulich war. Die alten Ägypter wussten schon, wie sie ihre Zauber schützen konnten. Er hatte dann den hiesigen Koboldsprecher Meister Schieferbart sein größtes Bedauern bekundet und angeboten, auf die Scheine der nächsten Serie den Warnhinweis "Nicht als Koboldspeise geeignet" aufdrucken zu lassen. Bisher kam keine Reaktion aus dem Volk der Spitzohren.

Um Elf Uhr trat er im Presseraum zusammen mit Catlock und dem Vertreter der Werwolfbehörde, dessen Anerkennung er vorgestern mit dem Vertrag in Berührung gebracht hatte, vor die neugierige Presse. Er erwähnte, dass die Sondergruppe Quentin Bullhorn zwar sehr eifrig, aber leider nicht ausreichend genug gearbeitet habe, was das Auffinden von Werwölfen in dicht besiedelten Gebieten anginge und dort jeder Zeit mit einer Epidemie weiterer Werwütigen zu rechnen sei. Daher sei es ganz dringend angeraten, in Einvernehmen mit den unbescholtenen Lykanthropen eine wirksame Abstandsregel zu finden, durch die die beiden Gesellschaftsgruppen ohne Angst vor gegenseitiger Nachstellung leben könnten. Als er dann ausführte, erst einmal eigene Siedlungen für erwiesene Träger der Werwut zu errichten wollte schon wer was fragen. Doch Lionel Buggles verwies auf die Zeit nach der Erklärung. Er führte noch aus, dass dieser Schritt besonders deshalb nötig sei, weil einzeln in großen Städten lebende Werwölfe durch ihre Einsamkeit und die wegen der dichten Besiedlung hohe Gefährdung der Nachbarn, immer in Versuchung sein könnte, sich solchen Gruppen anzuschließen, die ihnen ein Paradies für Lykanthropen versprachen, dabei aber nur an Terror und Rachefeldzüge dächten. "Wie bei uns Hexen und Zauberern, die in der Gemeinschaft ihrersgleichen sowohl Sinn als auch Bestätigung für ihre Lebensmöglichkeiten finden, so dürften auch die Lykanthropen in extra für sie angelegten Gemeinden mehr Zuversicht und Lebensfreude empfinden, als ständig mit dem Anderssein und der Gefährlichkeit für andere leben und hadern zu müssen."

Als er seine scheinbar so rosigen Vorstellungen für Werwölfe dargelegt hatte prasselten die Zwischenfragen auf ihn ein. Dabei kam immer wieder der Begriff "Ghettoisierung" auf. Er wetterte den immer damit ab, dass sich die magischen Menschen schon seit hunderten von Jahren in größtenteils abgeschirmten Gemeinschaften zusammenfanden und das natürlich als Ghetto oder auch Parallelgesellschaft bezeichnet wurde, häufig mit einem unpassenden verächtlichen und beschimpfenden Beigeschmack. Dennoch seien die Hexen und Zauberer mit dieser Art zu leben sehr glücklich, sofern Katastrophen wie mit Gringotts das "wohl vertraute Miteinander" nicht belasteten. Gilbert Latierre fragte, was der nächste Schritt sei, Werwolf-Sammellager oder gar Werwolf-Aussortieranstalten, ähnlich dem, was die Nationalsozialisten in Deutschland mit ihrer Abneigung gegen bestimmte Volks- und Religionsgruppen angestellt hatten. Darauf erwiderte der Minister sehr harsch:

"Noch sind wir willens und fähig, die Trägerinnen und Träger des Werwutkeims als Menschen anzuerkennen, die wegen einer unheilbaren Erkrankung nicht mehr vollumfänglich am Leben aller teilnehmen können. Aber wenn Sie mit solchen Andeutungen Salz in offene Wunden streuen, Monsieur Latierre, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen eines Tages höchst aufgebrachte Familieneltern vorhalten, dass ihre Kinder von diesen Kranken infiziert wurden oder traurige Kinder Sie anklagen, weil Sie die Werwölfe gegen uns aufgehetzt haben, Monsieur Latierre. Soweit ich weiß hat in Ihrem Geburtsland einmal jemand das Zaubereiministerium geleitet, der Werwölfe gezielt als Einschüchterungs- und Vollstreckungsgehilfen eingesetzt hat. Wir wollen das hier nicht, Monsieur Latierre. Wenn die Lykanthropen weiterhin ein Lebensrecht genießen wollen, so sollten sie so vernünftig sein, mit uns statt gegen uns zu arbeiten. Nächste Frage?"

Es ging dann noch um weitere erwähnte Einzelheiten, die genauer erklärt werden sollten. Immer wieder kam der Minister darauf, dass die Mondgeschwister diese Lage herbeigeführt hätten und es mit den registrierten Lykanthropen durchaus ein friedliches Miteinander gab, die Verbrecher von der Mondbruderschaft jedoch fanden, Nachforderungen aus mehr als vier Jahrhunderten zu stellen.

Als die Pressekonferenz vorbei war konnte der Minister seiner derzeitigen Lieblingsbeschäftigung weiterfröhnen, das zusammenlegen von Anerkenntnisbekundungen mit dem Friedensvertrag mit Vita Magica.

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Im Haus Tyches Refugium bei Boston, 30.01.2005, 13:45 Uhr Ortszeit

Anthelia/Naaneavargia hatte die US-amerikanischen Schwestern für eine kurze Zusammenkunft einbestellt. Dabei kam heraus, das ihre Mitschwester Portia am Vormittag eine Anerkenntnisurkunde zu Buggles' Politik unterschreiben musste, um nicht an ihrem Gedächtnis herummanipuliert zu werden. Sie dankte der höchsten Schwester für den Ableitstein. Denn nur eine halbe Stunde nach der Unterschrift habe sie gefühlt, wie etwas versucht habe, in ihrenKopf einzudringen, dass sie jetzt nur noch Lionel Buggles zu gehorchen habe. Doch der Stein an einem Ohrring hatte sich erwärmt, und diese sehr unangenehme Stimmung sei verflogen. "Ich glaube, der wollte mich mit diesem Schriftstück, das außer der grünen Zaubertinte nichts magisches an sich hatte, auf sich einschwören. Geht sowas mit einem nicht schon von vorne herein bindenden Vertrag?"

"Ja, tut es. Deshalb habe ich allen, die für dieses sogenannte Zaubereiministerium arbeiten diese Ableitsteine gegeben. Die fangen in den Geist eindringende Zauber die mit aus der erde gewonnenen Mitteln geschöpft werden ab. Wenn er ein von ihm und dir unterschriebenes Dokument auf einen Träger magischer Bindung legt, den er selbst schon unterschrieben hat, kann er dessen Bindung auf dich übertragen, zwar nicht so stark wie das Original, aber wirksam genug, es nicht hinterfragen zu können, wenn der Zauber die Volle Wirkung hat. Offenbar hat ihn mal wieder jemand außerhalb unserer Reihen an eine lange Kette gelegt wie diesen Dime, und jetzt muss er tun, was die Person am anderen Ende der Kette will. Dreimal dürft ihr raten, wer das wohl ist, Schwestern", schnaubte Anthelia.

"Einmal reicht, die Babymacher natürlich", knurrte nun Beth McGuire.

"Offenbar haben sie Buggles wieder einen Friedensvertrag aufgeschwatzt, und diesmal macht er es nicht so, den groß und breit zu verkünden, sondern kettet jeden, der ihm wichtig ist, mit einer dünneren, aber doch haltbaren Kette an dieses Abkommen. Schwester Portia hat es ja gerade erläutert, was sie da unterschreiben musste. Sei froh, dass der Ableitstein diesen Zauber von dir abgehalten hat, Schwester! Sonst wärest du wohl im Widerstreit zweier magisch bindender Bekenntnisse auf der Stelle tot umgefallen und womöglich in einem sehr unangenehmen Zustand aufgefunden worden."

"Ja, aber wenn die Babymacher wieder im Ministerium mitreden dürfen können die bald wieder Vermehrungspartys feiern, wo unschuldige Hexen sich mit neuen Bälgern auffüllen lassen müssen", lamentierte eine Mitschwester aus Cansas.

"Ich könnte versuchen, zu ihm vorzudringen, das Dokument suchen und mit Hecates Tränen zu vernichten, Schwestern. Aber dann würden sie es wieder versuchen. Das was wir machen müssen ist, solche, wie sagtest du es, Schwester Myra? "Vermehrungspartys" zu stören und die daran teilnehmenden davon abzubringen, solche Orgien zu besuchen. Falls wir dabei einen oder den anderen von den Urhebern erwischen können schicken wir den oder die selbst als greinende Neugeborene zurück. Ja, und was den Vertrag angeht, von dem ich nur behaupten kann, dass es ihn wohl gibt, so warten wir noch ein wenig ab. Wenn Buggles alle Mitarbeiter auf sich persönlich einschwört schaufelt er sich damit sein eigenes Grab, politisch und körperlich. Denn was diese Lumpen von VM womöglich nicht wissen oder es ganz bewusst in Kauf nehmen: Wessen Seele zuerst an ein solches Bindungsartefakt gekettet wurde, der erleidet bei dessen Vernichtung die größten Peinigungen. Danntreffen ihn all die Strafen, die er bei wiederholter Zuwiderhandlung immer und immer wieder hätte erleiden müssen. Warten wir wie gesagt noch ein wenig ab und passen auf, dass der von ihm gestiftete Brand nicht auf unsere geliebten Mitmenschen überspringt. Ebenso gehe ich davon aus, dass die wackeren Wächter vom Laveau-Institut es irgendwann auch erfahren, was er da tut. Ob sie ihn am Leben halten wollen hängt wohl davon ab, was die Alternativen bei Untätigkeit sind."

"Oder du gehst zu ihm rein und tötest ihn mit dem Todesfluch, höchste Schwester", sagte Schwester Portia. "Wäre eine Möglichkeit. Es muss jedoch gelten, dass wir Vita Magica davon abbringen, hier und anderswo solche magischen Bindungen zu schmieden. Gut, wenn es nur Hexen wären könnte ich mir noch eine schwesterliche Einigung vorstellen, aber da sind auch machtversessene Männer dabei. Denen werden wir die Welt nicht überlassen, Schwestern", erwiderte Anthelia sehr entschieden.

Dann ging es noch um das neue Geld. Anthelia erwähnte, dass sie von einem altägyptischen Zauberartefakt ausginge, in dem aus Haaren junger Menschen, dem Blut von im Wasser und an Land lebenden Zauberwesen, beispielsweise Wassermenschen und Kobolde, sowie der Haut giftiger Schlangen hauchdünnes Material erstellt werden könne, was dann in der Fertigung entsprechend bezaubert würde, hauptsächlich von Sonnen- und Erdzaubern aufrechtgehalten. So wundere es Anthelia nicht, dass die auf rein pflanzliche Erzeugnisse bestehende Brittany Brocklehurst gegen dieses grüne Geld, das alles andere als grün im Sinn von Naturverträglichkeit sei, Einspruch erhebe.

Danach verabschiedete sie ihre Schwestern in den restlichen Tag, nicht ohne mit Beth noch einmal über die Werwolfumsiedlungen zu reden, denn Portia hatte ihren älteren Bruder an einen solchen Lykanthropen verloren und war entsprechend abgeneigt gegen diese Geschöpfe. "Wenn das mit dem Vertrag mit Vita Magica stimmt, höchste Schwester, dann will der von denen auch dieses blaue Licht kaufen, mit dem Werwölfe auf der Fläche ausgerottet werden können."

"Ich wette erst gar nicht. Du würdest wohl gewinnen, Schwester Portia", erwiderte Anthelia/Naaneavargia.

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Château Beaumont, 03.02.2005, 21:005 Uhr Ortszeit

Laurentine brauchte das jetzt. Nach dem gestrigen, aufwühlenden Tag am Flughafen und dem langen Gespräch mit dem Bestattungsunternehmer wegen der noch ausstehenden Bürokratie war sie ziemlich erschöpft gewesen. Deshalb hatte sie auch bei Geneviève Dumas für den dritten Februar freigenommen.

Heute abend hatte sie sich mit Louiselle so richtig im Duelltraining ausgetobt. Danach waren zwar beide Hexenschwestern geschafft, aber auch jede für sich zufrieden.

wie es bei ihnen mittlerweile zum Ritual gehörte spritzten sich beide mit warmen Wasserstrahlen aus den Zauberstäben den Schweiß vom Körper. Laurentine wusste nicht, wie sie sich beherrschen konnte, um nicht all zu anschmachtend dreinzuschauen, während Louiselle ganz locker und lässig auf ihrem quietschgrünen Sitzball saß.

"Ja, da ist schon eine Menge Schreibkram nötig, wenn jemand anständig bestattet werden möchte", sagte Louiselle, nachdem Laurentine ihr ihren gestrigen Tag geschildert hatte. "Tante Hera meinte auch mal, dass es die Trauer um jemanden noch verstärkt, wenn irgendwelche Bürokraten ohne Mitgefühl dieses und jenes verlangen. Das durfte ich auch erfahren, als meine Eltern beim Sternenhausmassaker der Todesser starben. Ich war da gerade in Avignon und habe mit Celeste, meiner Fürsprecherin bei den Sorores die geheimen Keller unter dem Papstpalast durchstöbert. Ich durfte dann einen Tag später von meinem vor Trauer und Verzweiflung wütenden Onkel Marc-Antoine zu hören kriegen, dass meine Eltern wie Schlachtvieh in eine Ecke getrieben und dann von diesen britischen Bastarden niedergemetzelt wurden und er nichts mehr machen konnte, weil sie ihn im ersten Moment erstarren ließen. Die hätten ihn sicher auch erledigt, wenn da nicht die Desumbrateure angekommen wären und die Todesser nach kurzem Duell vertrieben hätten. Er meinte sowas von wegen, ich hätte ja die Einladung von meinem Vater annehmen sollen. Da habe ich ihn gefragt, ob er meine, dass ich dann auch umgebracht worden wäre. Der wurde dann natürlich noch wütender und hat gemeint, dass ich genau wüsste, wie er es meine, weil ich ja in Beaux Super-UTZs in Abwehr dunkler Künste, Zauberkunst und Verwandlung abgeräumt hätte. Der wollte mir dann alles abnehmen, was mit der Bestattung zu tun hatte. Doch ich habe ihm klargemacht, dass ich als unmittelbare Angehörige diese schwere Verantwortung zu tragen hätte. Der hätte es garantiert so hinbekommen, dass ich von allem nichts mitbekommen hätte. Aber da hat er sich geschnitten. Tante Hera war auch mit auf dem Fest und Ururgroßmutter Zoé. Mein werter Onkel Marc-Antoine konnte die beiden nicht leiden und hat wohl irgendwie von meiner Mutter, seiner kleinen Schwester, spitzgekriegt, dass die beiden in einem geheimen Hexenbund sein sollten. Tante Hera wollte sich mit ihm aussprechen, doch das wollte er nicht, hat ihr sogar gedroht, das rumgehen zu lassen, dass die Hebamme von Millemerveilles auf dunklen Pfaden wandelt und so. Das hat sie aber kalt gelassen. Er hat nach der Trauerfeier auch schnell das weite gesucht, weil er wusste, dass er sich mehr verausgaben würde, wenn er sich ranhielte, mir ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen."

"Also Zoé Beaumot - ohne n - war deine Ururgroßmutter? Hattest du in dem Übungshäuschen nicht auch das Buch, wie aus einem schönen Wort ein schöner Berg wurde?" fragte Laurentine.

"Genau, das tu ich immer in dieses Übungshäuschen, auch wenn längst nicht alle Prüfungen gleich ablaufen. Manchmal verlieren sich die Interessentinnen darin, die Bücher in einer Bibliothek zu lesen und vergessen die Zeit. Ach ja, das Buch besagt, dass mein Urgroßvater bei der Hochzeit so betrunken gewesen sein soll, dass er auf die Frage nach dem gemeinsamen Nachnamen "Beaumont" gesagt hat und nicht "Beaumot". Seine Frau, meine vor fünf Jahren selig in ihrer Villa bei St. Tropez eingeschlafene Urgroßmutter Mayette hat dann, damit es nicht zu peinlich wurde, den Nachnamen bestätigt. Und Ururgroßmutter Zoé hat nur gegrinst und es als gegeben hingenommen. Sie hat dann den vierten von ihr geschriebenen Band unserer Familienchronik so genannt und dem Geist des Weines gedankt. Sie hatte viel Humor und war sehr, sehr familientreu und vor allem ein Ruhepol bei uns Sorores. Wenn zwei Schwestern Streit hatten hat sie sie beide zu sich eingeladen, ihnen ein mehrgängiges Abendessen serviert und dabei in aller Ruhe jede von den beiden aussprechen lassen, was ihr so auf der Seele lag. Sie hat es dann auch immer hingekriegt, dass sich die Streitenden am Ende nicht nur vertrugen, sondern neue, gemeinsame Ziele verfolgt haben. Sie hat auch gut die ständig drohenden Kräfte gebändigt, die unsere Schwesternschaft zerreißen wollten. Gut, die Ungeduldigen würden sofort den Absprung machen, wenn eine kommt, die ihnen einen sicheren Weg zur Herrschaft der Hexen anböte, aber Ururgroßmutter Zoé hat diese Ungeduldigen immer damit beruhigt, dass wir Hexen im Miteinander aller magischen Menschen mehr erreichen können als im Kampf gegen die Zauberer. Denn die wüssten das noch nicht, dass ihr ganzer Vorherrschaftsanspruch in eine Sackgasse führt. Na ja, du hast es ja leider mitbekommen, das die eine erhoffte starke Hexe aufgetaucht ist, der doch etliche von den Ungeduldigen verfallen sind."

"Deine Tante Hera hat mir auch schon von Zoé Beaumot erzählt. Sie muss sie sehr gern gehabt haben."

"Ja, wohl deshalb ist Tante Hera auch als einzige von ihr gerufen worden, als sie starb. Schon eine üble Krankheit, so eine Hellenwein-Physiatropie. Wollen wir hoffen, dass wir die nie kriegen."

"Klingt schlimm. Wie äußert sich diese Krankheit und ist sie ansteckend?" fragte Laurentine.

"Ui, wenn das so wäre gäbe es heute keine einzige Hexe und keinen Zauberer mehr. Nein, das ist eine sehr seltene Krankheit, die Hexen und Zauberer im hohen Alter heimsucht. Sie äußert sich darin, dass für jeden Zauber je nach angewandter Stärke, ein wenig der eigenen Körpersubstanz verschwindet, also sich in reine magische Energie auflöst. Anfangs kann man da noch gegenhalten, durch entsprechende Regenerationstränke zum Gewebe-, Blut- und Knochenwachstum. Doch ab einem bestimmten Punkt geht das nicht mehr, weil die Tränke nicht mehr wirken, beziehungsweise, der Körper des Betroffenen daran gewöhnt ist und die eigene Regeneration versagt. Ab da wird jemand dünner und dünner, schrumpft auf gerade noch die Hälfte der eigenen Körpergröße oder stirbt an Körperschwäche, wenn er oder sie sich nicht bei einem besonders starken Zauber vollständig auflöst. Deshalb sagen die meisten auch Altersverschwinditis dazu. Wie gesagt, willst du nicht kriegen und ich auch nicht."

"Oha, und Hera hat zugesehen, wie ihre Großtante Zoé starb. Dann hat sie auch noch ihr Erbe angetreten. als wenn jemand in den drei Nummern größeren Schuhe von wem anderen herumlaufen müsste."

"Ich denke, Tante Hera denkt, dass es dreimal so große Schuhe sind, in die sie ihre Großtante hineingestellt hat. Aber bisher hat es ja geklappt. Aber jetzt, wo Ladonna Montefiori ihre Intrigen spinnt und diese Spinnenhexen, deren Anführerin du ja getroffen hast, immer noch im Hintergrund auf ihre Gelegenheit hoffen, ihr Ding zu machen, wie deine Generation das nennt, wird es für die besonnenen Schwestern nicht einfach. Deshalb ist es immer gut, wenn wir uns immer wieder selbst hinterfragen, was wir machen wollen und was wirklich getan werden muss. Hast du auch Kontakte in die US-amerikanische Zaubererwelt?" Laurentine bestätigte es, dass sie mehrere Kontakte habe, auch über ehemalige Schulkameraden wie Julius Latierre. So sprachen sie über das, was dort in der Öffentlichkeit bekannt war aber auch, dass der amtierende Zaubereiminister sich offenbar zum Alleinherrscher der US-Zauberergemeinschaft aufschwingen wolle und es nun wunderbar ausnutze, dass Gringotts nicht betreten werden könne. Laurentine wandte ein, dass solche "Starken Führer" immer aus solchen Notlagen ihre Macht geschöpft hätten.

"Üblicherweise ist es eine goldene Regel bei uns, dass schwestern aus unterschiedlichen Regionen sich einander nicht zu erkennen geben dürfen, es sei denn, sie werden von bereits einander vorgestellten Schwestern einander vorgestellt. So habe ich durch meine Fürsprecherin an die fünf dortigen Schwestern kennengelernt und durfte dann auch deren Stuhlmeisterin - so nennen sie sich dort - kennenlernen. Wenn du aus dem ganzen dunklen Tal wieder raus bist und genug Zeit hast könnten wir zwei mal dahinreisen, und ich stelle dir die vor, die mir vorgestellt wurden. Vielleicht kann ich auch meine Fürsprecherin Celeste fragen, weil die mittlerweile noch mehr von denen kennt."

"Hmm, so oft bin ich auch wieder nicht da. Aber sollte sich das mit meiner Großmutter in Kalifornien jetzt wirklich wieder einränken wäre es sicher gut, ein paar Kontakte in der magischen Welt zu haben", raunte Laurentine. Dann erwähnte sie noch, dass sie auch gerne einige der deutschsprachigen Mitschwestern kennenlernen würde, da sie ja über ihren verstorbenen Vater eher Wurzeln in Deutschland habe.

"Kommen von denen viele zu der Veranstaltung?" fragte Louiselle und kehrte somit zum Ursprungsthema zurück. Laurentine zählte ihr arglos die magischen und nichtmagischen Trauergäste auf und dass sie mit Julius' Hilfe einen der Elterntransportbusse für Beauxbatons für alle magischen Teilnehmer gebucht habe. Er hatte da so einen Paragraphen gefunden, der es Angehörigen von nichtmagischen Verstorbenen erlaube, auf die "in der Welt ohne Magie unauffälligen Fahrzeuge" zugreifen zu dürfen, wenn der Antrag früh genug gestellt und die Zahl der Mitreisenden nicht über fünfzig läge. Dann ging es noch um die einzelnen Gäste aus Frankreich, Deutschland und den USA.

"Das ist schon befremdlich, dass so viel gerade in Amerika passiert, was in der einen und in der anderen Welt wichtig ist, aber die Ereignisse der magischen Welt dürfen in der Nichtmagischen Welt nicht bekannt werden. Deshalb ist ja unter anderem Julius' Mutter dort für die elektronische Nachrichtenüberwachung und falls nötig muggeltaugliche Nachbesserung Zuständig", erwähnte Laurentine betrübt. Darauf meinte Louiselle: "Dann wollen wir hoffen, dass das, was in der magischen Welt gerade passiert, nicht doch Auswirkungen auf die nichtmagische Welt hat oder umgekehrt. Dass es diese Atomspaltungsbomben gibt ist ja wie das berühmte Damoklesschwert, das über uns allen hängt. Kein Wunder, dass die von nichtmagischen Eltern abstammenden Hexen und Zauberer Leute wie Sardonia, Grindelwald oder diesen Wahnsinnigen namens Tom Riddle nicht so für voll genommen haben, obwohl sie ja auch brutale Gewaltherrscher in ihrer Geschichte hatten und zum teil noch haben", sinnierte Louiselle. Laurentine konnte ihr da nur zustimmen. Deshalb sei es ja wichtig, wen zu haben, der beide Welten kenne und mitverfolge, was in beiden Welten vorging, waren sich beide einig.

Nach dieser reinen Gesprächsrunde probierten die zwei Hexen noch ein paar Zauber aus, um die eigene Beweglichkeit zu steigern, wie den Beschleunigungszauber oder den Biegsamkeitszauber, der ihre Knochen gummiartig machte, dass sie sich fast beliebig verbiegen ließen. Laurentine schaffte es dadurch sogar, eine vollkommene Fötushaltung einzunehmen und ihre Knie bis unter die Nase zu ziehen, ja, sich regelrecht selbst zusammenzufalten. Sie merkte nur, dass Gummikiefer oder Gummischädelknochen nicht so praktisch sein mochten, wenn es darum ging, nach dem Aufheben des Zaubers wieder unverbeult und ohne festhakende Gelenke zu sein. "Ja, und der Velociactus-Zauber zieht auch in einer gefühlten Stunde die Ausdauer von gleich zwei natürlichen Stunden", sagte Louiselle. Wer die eigene Tagesausdauer überschätzt und die Zeit überschreitet fällt da wo sie steht in Ohnmacht und kann erst die Zeit, die sozusagen vorweggenommen wurde später wieder aufgeweckt werden. Außerdem können in diesem Zustand nur Bewegungszauber, bestenfalls ungesagte, ausgeführt werden. Körper- und Geistverändernde Flüche einschließlich dem Todesfluch können in diesem Zustand nicht gewirkt werden, weil die ihre Zeit brauchen. Es soll zwar im nahen Osten einen ähnlichen Zauber geben, der wohl "Wandeln wie der Blitz" heißen soll und auch solche Zauber im beschleunigten Zustand erlauben. Aber die Morgenländer behalten das gut für sich, wie der geht", fügte sie noch hinzu.

Am Ende dieses Übungstages fragte Laurentine noch, ob Louiselle ab Mai eine neue Schülerin haben würde. Sie verneinte es. Im Moment seien wohl nicht so viele Hexen interessiert, weiterführende Abwehrzauber zu lernen, und jene, die im Ministerium arbeiteten, hatten ja ihre eigenen Lehrkräfte. "Falls du das möchtest, können wir gerne noch ein Jahr dranhängen. Aber dann darfst du dir wieder was ausdenken, was du für mich persönlich anfertigst", sagte Louiselle. Laurentine sagte sofort zu. Ihr gefiel es, bei ihr zu sein, obwohl sie immer noch nicht wusste, ob ihr heimliches oder nicht mehr ganz heimliches Verlangen geschlechtlicher oder einfach lernbegieriger Natur war. Vielleicht war es sogar beides.

Da sie wieder eine gewisse Zeit vom Schloss Louiselles disapparieren konnte kehrte Laurentine mit einem gezielten Sprung zurück in ihre eigene Wohnung. Der Anrufbeantworter zeigte an, dass drei Nachrichten aufgelaufen waren. Es waren ihre Oma Monique, ihre Tante Abby und Martha Merryweather, die unabhängig voneinander bestätigten, dass sie gemeinsam von L.A. International mit einer von Monique Lacroise gecharterten Maschine für bis zu 90 Passagiere herüberkommen würden. Laurentine dachte daran, dass ihr Großvater Henri in so einer Maschine verunglückt war und hoffte zum einen, dass ihre Oma Monique das nicht mehr wusste und dass es diesmal auch kein Unglück geben würde.

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Im Haus Zwei Mühlen bei Santa Barbara, Kalifornien, USA, 05.02.2005, 18:00 Uhr Ortszeit

Sie war seit mehreren Tagen angekündigt worden. Jetzt hielt Martha Merryweather die aus vier Pergamentseiten bestehende Umfrage für zugewanderte magische Mitbürger ab 1995 in den Händen. Ihr Mann Lucky spielte mit den Drillingen im Garten Ball, wobei es egal war, ob der männerkopfgroße, flauschigweiche aber doch sehr gut hüpfende Ball, der bei jedem Bodenkontakt die Farben wechselte, mit Kopf, Schultern, Hand, Bauch, Beinen oder Füßen gespielt wurde. Sie blendete das lustige Johlen und das immer wieder laute "Ja, Louis, hier rüber!" oder "Ja-ha-ha" ihres Mannes so sehr aus, dass sie sich nur noch auf das Formular in den Händen konzentrierte.

Es fing relativ harmlos an, mit Vor- und Nachnamen, derzeitiger Wohnadresse, Geburtsdatum, Geschlecht, ob verheiratet und falls ja mit wem, ob Kinderlos oder mit wie vielen Kindern. Dann noch Zeitpunkt der Zuwanderung, berufliche Anstellung und Einordnung des Jahresgehaltes in einen von zehn Bereichen von bis. Soweit so vertraut. Dann jedoch kamen Fragen auf, warum die befragte Person in die Staaten eingereist war, wobei sie zwischen Ausbildung, Beruf, Familie oder Altersruhesitz wählen konnte. Hier war nur eine Angabe möglich. Sie kreuzte dann das Feld "Familie" an, weil sie ja wegen Lucky übergesiedelt war und erst später ihren Beruf gewechselt hatte. Auch in diesem Formular gab es ein Feld, dass die eigene geschlechtliche Ausrichtung erfragte, was eigentlich schon ziemlich privat war, fand Martha. Doch weil sie eindeutig heterosexuell war hatte sie keine Probleme, dieses Feld mit einem Kreuz zu versehen. Dann kamen jedoch fragen nach ihren bisherigen Erfahrungen mit der US-amerikanischen Zaubererwelt, wie sie in Ausbildung oder Beruf mit den Kolleginnen oder Kollegen auskam, wobei sie auf einer Skala von 1 bis 10 einen Wert anstreichen konnte. Da sie mit ihren sechs Mitarbeitern bisher ganz gut zurechtkam wählte sie den Wert 9 von 10 aus. Ähnliches wurde im Zusammenhang mit der bereits hier ansessigen Schwiegerverwandschaft erfragt, sofern das Feld "Verheiratet" angekreuzt war. Ja, da musste sie überlegen. Mit Luckys Mutter, der Schulheilerin von Beauxbatons, kam sie ganz gut klar, auch mit Brittany und ihren Eltern in VDS und mit Linus und vor allem dem kleinen Leonidas, der mit den Drillingen im Kindergarten zusammen war. Mit der restlichen Verwandtschaft, auch Brittanys nichtmagischer Verwandtschaft, kam sie auf der Basis aus, sich nicht jeden Tag über den Weg zu laufen und bei den ganz wenigen Gelegenheiten, wo mal viele auf einem Haufen zusammen waren, ihre anerzogene Haltung zu bewahren, wenn was war, dass ihr nicht gefiel. Alles in allem eine 7 von 10.

Was sie schon als eine Art Einstellungstest begriff waren Fragen zur Selbsteinschätzung ihrer magischen Begabungen in verschiedenen Kategorien wie Zauberkunst in Alltag und Beruf, Besenflug und Apparieren, Kenntnisse von magischen Pflanzen, Tieren und denkfähigen Zauberwesen, Zaubereigeschichte der USA, Verwandlungszauber und Selbstverteidigungszauber. In diesen Pflichtfeldern musste sie aus den Kategorien "Problemlos jederzeit", "Geht mir leicht von der Hand", "Gelingt wenn gebraucht", "Über demDurchschnitt", "Mittelmaß", "Unter dem Durchschnitt", "Gelingt nicht jedesmal", "Eher ungern", "sehr wenig" und "Seit der Schule nie mehr genutzt" auswählen. Was die Zaubertränke anging war es klar, dass sie bei "Eher selten" ankreuzte. Bei Verwandlung überlegte sie, was sie verraten durfte. Kreuzte sie einen hohen Wert an mochte man ihr anraten, eine andere Anstellung zu suchen. Wählte sie einen niedrigen Wert aus mochte sie als unfähig eingestuft werden. Da sie aber mit diesem Fach immer schon Gewissensnöte hatte und sich wahrhaftig nach der Schule nie mehr damit befasst hatte kreuzte sie doch bei "Nach der Schule nie mehr genutzt" an. Sollten die doch denken was sie wollten! Das taten sie ja eh.

Dann kamen einzelne Fragen zur früheren und zur jetzigen Politik des Zaubereiministeriums. Martha vermisste einen Rechtshinweis, dass Beamte grundsätzlich keine öffentlichen Angaben machen durften, die gegen ihren Vorgesetzten zielten. Sie hielt diesen Abschnitt für die erste Gelegenheit, sich in unsichtbaren Fallstricken zu verfangen, weil keiner der Befragten wusste, welche Antwort jetzt gefordert, erwünscht, ungern gehört oder völlig verboten war. Bei einigen Sachen konnte sie noch darauf ausweichen, dass sie zu deren Zeitpunkt nicht im Land gelebt hatte und so keine Meinung dazu haben konnte.

Bei den jüngeren Ereignissen wie die Verschiebung der Ministerwahl oder die von Buggles favorisierte Annäherung an die gemäßigten Teile von Vita Magica schrieb sie im Feld für freien Text: "Ich habe keine Kenntnis, welche Kriterien eine gemäßigte Gruppe von Vita Magica erfüllen muss. Da ich kein Mitglied dieser meiner Meinung nach höchst umstrittenen Vereinigung bin weiß ich auch nicht, ob es dort eine derartig klar einstufbare Untergruppierung gibt. Daher kann ich mir erst dann eine Meinung bilden, wenn diese Fragen geklärt sind."

Allerdings kamen dann noch Wertungen für die bisherigen Maßnahmen und die Führungsqualität des amtierenden Zaubereiministers, die verpflichtend waren. Dergleichen hatte sie im Abschnitt "Unterabteilungen" zu beantworten, wobei sie hier wenigstens das Feld "Betrifft mich nicht" ankreuzen konnte. Allerdings konnte sie das nicht bei allen Abteilungen tun, weil sie ja als Ehefrau und Mutter im Zuständigkeitsbereich Gesundheit, Familie und Ausbildung geführt wurde und bei Strafverfolgung als eine, die als Beamtin an die gültigen Dienstvorschriften gebunden war. Da sie mit dem Vorgehen von Buggles im Bezug auf die Kobolde und Werwölfe nicht zu 100 Prozent einverstanden war wählte sie hier das Feld ""Stimme eher nicht zu" aus.

So ging es dann noch weiter, bis sie zum Schluss gefragt wurde, ob sie bereit sei, im Falle einer erweiterten Notsituation auch für den amtierenden Minister mit allen erworbenen Fähigkeiten einzutreten. Da sie hier nur wieder aus vier Pflichtfeldern "Jederzeit", "Nur, wenn ich kann", "Nicht jederzeit" und "überhaupt nicht" wählen konnte wählte sie "Nicht jederzeit" aus. Denn sie konnte sich durchaus vorstellen, dass bei einem Ausfall von Flohnetz oder Posteulen ihre Computerkenntnisse mithelfen konnten, mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten, aber nicht als Buggles Erfüllungsgehilfin.

Als sie alle Einträge und Meinungsäußerungen noch einmal überprüft hatte faltete sie die Pergamente zusammen und versiegelte sie mit dem beigefügten Siegellack. Dann steckte sie die Umfrage in den mitgeschickten Umschlag, versiegelte auch diesen und gab ihn der vor ihrem Fenster im Garten auf einem Baum sitzenden Eule mit.

"So, entweder darf ich übermorgen schon die Koffer packen oder darf hier noch wohnen bleiben", sagte Martha am Abend zu Lucullus.

"Wieso, du packst doch eh die Koffer, um zu diesem römisch-katholischen Beisetzungsakt zu reisen", wandte Lucky ein, als sie ihm das nach der Bettgehzeit für die Drillinge erzählte. Martha nickte. Morgen würde sie wissen, ob die bei Richway beantragten Urlaubstage genehmigt wurden. Falls nicht, musste sie wohl hierbleiben.

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Oberwachposten deutschsprachiger Raum, 08.02.2005 Menschenzeitrechnung, ein Drittel Sonnenstand zwischen Aufgang und Mittag

Brummback, der Leitwächter des deutschsprachigen Raumes des Bundes der zehntausend Augen und Ohren, hatte die Geschichte von Dashmock aus dem Bereich Britannien prüfen lassen. Also hatte jemand die unter jedem Posten verbaute Vorrichtung für den Atem des grauen Eisentrolls ausgelöst, aber nicht nach draußen, sondern drinnen wirken lassen. Allerdings glaubten das nicht alle anderen Leitwächter. Viele fürchteten, dass jemand gezielt die geheime Hauptverwaltung des Bundes angegriffen habe, um diesen zu vernichten. An sowas konnten nur Zwerge und Zauberstabträger interessiert sein. Das schlimme daran war, dass mit dem Ausfall dieser wichtigen Lenkstelle jeder regionale Leitwächter wie er Anspruch auf die Gesamtführung erheben konnte. Solange gab es keine einheitliche Führung. Einige mochten Denken, dass feindliche Mächte die Hauptlenkstelle zerstört hatten. Die riefen schon laut nach Vergeltung und beschuldigten andere Leitwächter, sich auf diese Weise auf den ffliegenden Stuhl des obersten Wächters setzen zu wollen. Immerhin hatten sich die grauen Bärte von den Schockwellen erholt, wohl auch, weil sie in ihren silbernen Gemächern gegen die Zauber der Erde geschützt waren. Doch der Bund der zehntausend Augen und Ohren war gerade führungslos. Das hieß, jeder Kobold konnte nun machen, was er wollte. Ja, und die Zwerge erst. Er wusste nur, dass Malin VII. könig geworden war und einen Unterhändler zu Güldenberg und Heller geschickt hatte. Die redeten sich nun schon seit Tagen die Köpfe heiß, wer Schuld hatte. Dabei stand das doch längst fest: Schuld hatten die zauberstablos zaubernden Schwarzhäutigen auf dem australischen Kontinent. Von denen war das doch hergekommen. Außerdem gab es seitdem keinen Kontakt mehr mit den dort lebenden Artgenossen und auch nicht mit Leitwächter Monkgrock. Am Ende waren alle da lebenden Kobolde tot. Das sprach sehr für den längst erwarteten Racheakt der dunkelhäutigen, zauberstablos zauberfähigen Buschmenschen. Doch sie konnten im Moment kein Expeditionskommando hinschicken, weil diese superschnellen Zauberschiffe im Moment gar nicht fuhren und die Schiffe der Ahnungslosen aus diesem widerlichen Stahlzeugs gemacht waren, das fast so grässlich war wie geschmiedetes Eisen. Abgesehen davon hatten sie damals, als die fünf Übersiedlerschiffe fuhren, nicht nur Holzschiffe benutzen können, sondern in jedem Schiff mindestens vier Längen hohe Haufen aus ehrlichem Gestein befördern können. Mit diesen Großbehälterschiffen kamen sie nicht über die Meere, und ohne dicke Steinschicht zwischen Schiffsboden und ihnen selbst waren da zu viele tausend Längen Wasser unter ihnen. Die Australier hatten sich tatsächlich von ihnen losgerissen, wohl nachdem Gringotts ausgefallen war. Immerhin konnten die Augen und Ohren wieder vereinzelte Nachrichtenglocken mithören, die regelmäßigste davon in diesem Ort Millemerveilles. Doch seit gestern klappte auch wieder die Verbindung zwischen Hamburg und Bremen, Köln und Dortmund. Bald mussten die grauen Bärte entscheiden, wer der neue oberste Wächter sein durfte. Er würde zusehen, sehr weit oben auf der Liste zu stehen.

"Leitwächter Brummback, Unsere Augen und Ohren bei den Eingängen zu den Zwergen sind vergangen. Offenbar haben die Gegenkundschafter der Zwerge sie trotz Sichtverhüllung erkannt und getötet", klang eine etwas verängstigte Stimme in Brummbacks spitzen Ohren.

"Wie, können die nicht. Die können unsere Kundschafter nicht sehen, nicht hören und auch nicht riechen, diese Schnapsfässer!" brüllte Brummback. Doch der mit ihm in Verbindung stehende Außenwächter bestätigte das. "Wir haben den unhörbarenTodesschrei von allen zehn dort wachenden Augenund Ohren vernommen. Sie sind alle tot."

"durchreichen!" befahl Brummback knurrig wie ein Höhlenwolf. Zehn Atemzüge später konnte er die hörbar gemachten Fernrufe vernehmen, die durch die Erde übertragen wurden und als "unhörbarer Todesschrei" bezeichnet wurden. Hörbar gemacht klangen sie wahrhaftig wie zwei Stimmen, die zugleich schrien.

"Gut, alle Aufzeichnungen über die getöteten mit "nicht mehr da" markieren und in die Kammer der Vergessenheit schaffen lassen!" befahl Brummback. Die Zwerge konnten also seine Leute erkennen und töten. Sie machten nicht einmal Gefangene. Gemäß der Regel, erkannte und vergangene Augen und Ohren nicht mehr zu kennen, durfte er das nicht an den für den deutschsprachigen Raum zuständigen Rat der grauen Bärte weitergeben, wie auch sonst so vieles nicht, was sein Bund unternahm.

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Rechenzentrum des französischen Zaubereiministeriums, 08.02.2005, 14:30 Uhr Ortszeit

"O ha, nicht gut", kommentierte Julius, was er gerade auf dem Bildschirm las. Bärbel Weizengold hatte an alle geschrieben, dass es fast zu einem ersten Gefecht zwischen Zwergen und Kobolden gekommen sei, weil die Zwerge ein Vorauskommando in die Nähe von Frankfurt geschickt hatten, um die dortigen Kobolde auszuhorchen. Dabei wurden sie schon erwartet. Nur der Eingriff von zweihundert Lichtwächtern habe eine direkte Auseinandersetzung zwischen den hundert Zwergenkriegern und den für Menschenaugen unsichtbaren hundert Koboldkriegern verhindert. Malin VII. hatte ein Ultimatum gesetzt oder wie er es nannte, "Das Machtwort der verbleibenden Zeit". In seinen Hallen stünde eine große Monduhr. Wenn in der Zeit, die diese eine weitere Umdrehung geschafft habe, keine klare und für die Zwerge anerkennenswerte Erklärung für den Erdzauberaufruhr vorliege, so, bei der Länge von König Malins Bart, würden dessen Truppen alle Kobolde aus dem deutschsprachigen Raum verjagen. Die Zeit liefe ab heute.

"Wenn der das echt so gesagt hat, dann muss er dazu stehen, Julius", sagte Primula Arno, die gerade alleine mit ihm war und deshalb die unter Verwandten übliche Du-Form benutzte.

"Millie hat sowas erwähnt, dass Zwerge immer zu dem stehen müssen, was sie bei der Länge ihrer Bärte schwören", seufzte Julius. "Die einzige Erklärung ist, dass irgendwo in der Nähe von Australien eine Quelle dunkler Magie aufgerüttelt wurde und diese mit der Schutzmagie der Anangu und anderer Urvölker gekämpft haben muss, Tante Primula. Mittlerweile gilt es als die wahrscheinlichste Erklärung. Die Frage ist nur, wie legen wir das einem sturschädeligen und unter Druck stehenden Zwerg vor, dass der das auch glaubt. Immerhin hat Villeneuve mit den Kobolden von Millemerveilles und Paris das Abkommen sicher, dass wir keine Nachforderungen erheben werden wegen des Ausfalls. Die Koordination zwischen Millemerveilles und Paris klappt immer besser. Millie sitzt mit in der Beratung, auch wenn Pierroche sie nicht sonderlich mag."

"So, warum nicht, weil sie gerade eure beiden nächsten Kinder im Bauch hat?" fragte Primula grinsend. "Hmm, könnte sein, dass er angst hat, dass sie zwei seiner Artgenossen verschluckt hat, weil sie wesentlich größer ist als die Koboldfrauen", entgegnete Julius. Dass der Chef von Gringotts Millemerveilles ganz andere Gründe hatte, Millie nicht zu mögen verschwieg er seiner Schwiegertante, deren Mutter eine reinrassige Zwergin war.

Als Julius dann die Nachricht aus Deutschland an die zuständigen Stellen verteilt hatte war es schon viertel vor drei. Als er gerade bei Belle Grandchapeau im Büro war kam gerade ein Memoflieger durch. "Ah, Nachricht über Kontaktfeuer an Koboldverbindungsbüro und alle anderen hier", sagte Belle und lies Julius lesen, als noch ein Memo angeschwirrt kam und auf seiner linken Schulter landete. Es war exakt derselbe Text:

Dorfrat von Millemerveilles bestätigt Erfolgreiche Wiederherstellung von Gringotts Paris. Nach Probelauf aller dort wirksamen Schutz- und Dienstzauber Öffnung von Gringotts am 24.02.2005 08:00 Uhr

"Dann wird es ja Zeit für Stufe drei und vier von Monsieur Colberts Vier-Stufen-Plan", meinte Belle dazu. Julius wiegte den Kopf. Dann sagte er: "Ja, dann werden wir hoffentlich wissen, ob die Katze in der Kiste noch am leben ist." Belle grinste. Er hatte ihr mal dieses reine Gedankenexperiment von Schroedinger erklärt. Daher brauchte sie keine weitere Frage zu stellen.

Wieder zu Hause durfte ihm Millie ganz offiziell berichten, worauf sich der Dorfrat und die Gringotts-Kobolde geeinigt hatten. Demnach durften die Verliesmieter am vierundzwanzigsten Februar um acht Uhr Morgens in der Reihenfolge der Verliesnummern eintreten, immer fünfzig auf einmal. Es galt erst einmal, festzustellen, ob alle dort eingelagerten Münzgeldvorräte und Wertgegenstände vollständig und unbeschädigt waren, auch was magische Eigenschaften anging. Konnte das bestätigt werden, so war es wahrscheinlich, dass die anderen Zweigstellen auch keine Verluste aufwiesen. Dann könnten wohl bis zum ersten März alle europäischen Filialen wieder aufmachen.

"Und was ist mit den Amerikanischen?" fragte Julius. "Ja, da fragst du was. Der Pariser Chef von Gringotts, der nicht so begeistert von unserem starken Schutzzauber ist, hat angedeutet, dass die Filialen in Frankreich nur aufmachen könnten, weil die Ministerin keine Anstalten gemacht habe, das Goldwerthütungsabkommen zu hintertreiben. Will sagen, wenn die Kollegen in den Staaten sich aus dem Spiel genommen fühlen, dann machen die da nicht auf." Julius nickte. Da war sie wieder, die berühmte Katze, die sich selbst in den Schwanz biss. Wenn Buggles das grüne Ersatzgeld nicht wieder abschaffte blieb Gringotts in allen größeren Städten dicht. Blieb Gringotts dicht, schaffte er das grüne Ersatzgeld nicht ab.

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Flughafen Le Bourget in Paris, 09.02.2005, 15:30 Uhr Ortszeit

Sie kannten das emsige Treiben und den Mix aus Düsentriebwerksgeheul und Kerosindunst von Orly. Da in Le Bourget nur noch Geschäftsflieger abgefertigt wurden war das Treiben hier weniger emsig, schon eher erhaben, wie in einer Kathedrale, wo alle andächtig ruhig umherschritten und die Anzeige verfolgten, ob die Sonderflieger mit Angehörigen oder erwarteten Geschäftsreisenden eintrafen. Julius hatte sich den Spaß gegönnt, seinen repräsentativen Anzug anzuziehen. Da hatte Laurentine nicht nachstehen wollen und ein Kostüm aus dunkelblauem Rock und taubenblauer Bluse angezogen. Catherine, die sie beide hergebracht hatte und mit ihnen und Julius Mutter wieder abfahren würde, trug auch eher dunklere Kleidung, nicht Trauerschwarz. Das wollte sie erst am Tag der Gedenkfeier anziehen. Claudine war bei Béatrice, Millie und Julius' Töchtern geblieben.

SHA-012", sagte Laurentine mit einem Blick auf die Anzeige. "Seahopper Air war die exklusive Chartergesellschaft, die denen Flüge bescherten, die nicht im Strom der gewöhnlichen Passagiere verreisen wollten und kein Geld für einen eigenen Jet ausgeben wollten oder konnten. Darüber hatte sich Julius schlau gemacht, als seine Mutter ihm die Flugdaten durchgegeben hatte. Allerdings dauerte es von der Landung bis zum Öffnen der Glastür noch eine Viertelstunde, weil der Zoll gleich an der Maschine die Passagiere nach meldepflichtigen Mitbringseln fragte. Dann aber kamen sie, an die 40 Männer und Frauen. Julius erkannte die meisten von ihnen wieder. Denn er hatte sie bei der Trauerfeier für Laurentines Großvater Henri kennengelernt. Er sah vor allem die trauernde Mutter, Monique Lacroise. Sie trug ein tiefschwarzes, nicht zu tief ausgeschnittenes Kleid und schwarze Halbschuhe. Womöglich würde sie mit dem Kleid auch zur Feier kommen. Dann sah er seine Mutter. Sie trug noch keine Beerdigungskleidung, sondern ein dunkelblaues Kostüm. Dann waren sie alle in Sprechweite.

Laurentine begrüßte erst ihre Großmutter. Julius umarmte seine Mutter, während Catherine erst einmal so dabeistand.

"Ich hatte schon befürchtet, dein Boss hätte dir nicht freigegeben", sagte Julius, während er sah, wie Oma und Enkelin ganze Wasserfälle weinten. Sicher, sie hatten sich ja seit Laurentines Reise nicht mehr gesehen, die letzte Gelegenheit, wo beide auch Laurentines Mutter gesehen und gesprochen hatten.

"Ich hab da so'n dumpfes Gefühl, Julius, dass mein Boss mir die vier Tage Urlaub nur gegeben hat, damit ich aus der Schusslinie bin. Und vielleicht schreibt er schon an meiner Entlassung", wisperte Martha Merryweather, weil sie es zu albern fand, zu mentiloquieren.

"Ach, wegen der Umfrage?" gedankenfragte Julius seine Mutter. Sie verzog das Gesicht, was ihr von Catherine ein mahnendes Räuspern eintrug. Dann konzentrierte sie sich und erwiderte unhörbar: "Wenn es so sein muss, ja, Julius. Könnte sein, dass Buggles mich loswerden will." Mit hörbarer Stimme fügte sie hinzu: "Sagen wir es so: Ich werde wohl nicht im oberen Viertel der gewünschten Auswahlkriterien landen. Aber ich bin hier, und Lucky ist mit den Drillingen in VDS. Dorothy hat ihn und die drei eingeladen."

"Und kommst du gut damit klar, nicht bei ihnen zu sein, Mum", fragte er. "Frag mich das in zehn Stunden noch einmal. Bis dahin dürfte ich wohl wieder wach genug sein", sagte sie. Julius verstand. Sie hatte sicher den Trank gegen die Überbehütungswallungen des VM-Gebräus getrunken.

"Julius, Oma Monique möchte dir auch einen guten Tag wünschen", raunte Laurentine gerade so noch am Rande eines neuen Weinkrampfes. Julius nickte seiner Mutter zu und ging zu Mrs. Lacroise. Er kondolierte höflich und hoffte, dass sie trotz der schweren Last auf der Seele wieder zu mehr Freude im Leben zurückfinden mochte. Dann begrüßte und kondolierte er den älteren Mitreisenden, darunter das Ehepaar, dem er mal geholfen hatte, weil sie nicht wussten, wo sie sich bei Henri Lacroises Andacht hinsetzen sollten. Auch begrüßte er die drei Damen aus New York, von denen Laurentine berichtet hatte. Sie alle trugen dunkle aber nicht tiefschwarze Kleidung, keine Hosen, sondern wadenlange Röcke.

"Mémé Monique war sehr tapfer, als wir in diesem kleinen Flugzeug saßen. Dabei war das genau so'n Düsenhüpfer wie der, mit dem Grandpa Henri abgestürzt ist", zischte ihm Vicky Kenworthy zu, als er fragte, ob alle den Flug gut überstanden hatten.

"Im Grunde ist fliegen immer noch die sicherste Art zu reisen. Deshalb sind ja die Meldungen von Unglücken selten und daher heftiger als die von Autounfällen", stellte Julius fest, froh, wieder in seiner Muttersprache sprechen zu können.

"Deine Mom ist ja sehr gut drauf in allen möglichen Sachen", meinte Vicky, nachdem Julius ihr das Du angeboten hatte. Denn soweit waren sie ja altersmäßig nicht auseinander. "Wir haben uns unterwegs über die neuesten Rechner unterhalten und ob wir da mit den ganzen Mobilgeräten nicht langsam an einen Punkt kommen, wo es anstrengend mit dem Internet wird." Julius konnte das nur bestätigen. "Und deine Frau trägt gerade Zwillinge aus. Ui, da tut mir der Bauch ja jetzt schon weh, vom Denken", sagte Vicky.

"Sie sagt, eine Frage der Übung", erwiderte Julius und verkniff es sich, zu erwidern, was erst bei der Geburt alles weh tun mochte.

"Meine Schwester hält nicht all zu viel von Familienplanung", warf Hellen Kenworthy ein. "Sagt die, die erst mal bis vierzig Karriere machen will, bevor sie an eigene Kinder denkt. Wie viele Eizellen hast du einfrieren lassen, große Schwester? konterte Vicky."

"Hallo, bitte nicht über sowas debattieren und schon nicht bei diesem Anlass, junge Damen", maßregelte sie ihre Mutter Suzanne, bevor sie Julius für die Anteilnahme dankte und dass Laurentine nicht allein mit allem war. Das durfte sie dann auch zu Catherine sagen, als Julius sie den angereisten Gästen vorgestellt hatte.

Wie abgesprochen würde Catherine mit ihrem Wagen, sowie Martha und Julius voraus zum gebuchten Hotel fahren, in dem die Gäste aus Übersee bis zum 13. Februar übernachten durften. Julius teilte dann noch die Paris-Besucher-Tickets aus, damit sie alle ermäßigt mit der Metro und den Bussen fahren konnten und ebenso kostengünstig in die meisten Museen reinkamen. Er warnte vor dem Louvre. Denn da konnte ein Kunstinteressierter schon einen ganzen Tag drin verbringen. Die jungen Frauen aus New York wollten nach Versailles, während ihre Mutter mit Laurentines Tante Abigail tatsächlich in den Louvre wollte. Die restliche Stadt wollten sie am elften erkunden, ganz zum Schluss auf den Eiffelturm.

Mit einem per Mobiltelefon georderten Bus ging es vom Flughafen in die Kernstadt von Paris zurück. Catherine brauchte nicht vorauszufahren, sondern konnte bereits richtung Rue deLiberté 13 abfahren. Unterwegs erklärte Julius' Mutter den beiden die derzeitige Lage in den Staaten, wie sie sie mitbekam. Catherine meinte dazu: "Wenn das nicht nur die Spitze des Eisberges ist, Martha. Meine Kontakte in die Staaten argwöhnen, dass irgendwas anliegt, was denen bei euch noch übel aufstoßen könnte. Sie sprechen von Geheimverhandlungen zwischen Buggles und Piedraroja aus Mexiko oder dem Stellvertreter Shacklebolts in Kanada. Die Kannadier würden wie die Australier lieber heute als morgen ganz eigenständig werden. Kann sein, dass Buggles denen sowas in Aussicht stellt."

"Das wäre dann aber sehr unlogisch, sich von einer Überwachung zu lösen und sich freiwillig unter eine andere zu stellen", meinte Martha. "Es sei denn, die Zuständigen erhoffen sich einen sehr großen Vorteil davon."

"Gold?" fragte Julius verwegen. "Oder Macht, beides Gründe, für die schon Millionen Menschen umgebracht wurden", sagte seine Mutter. Catherine konnte dem auch nur zustimmen.

Nachdem Martha auch Joe und Claudine begrüßt und sich den kleinen, schon freihändig laufenden Justin James angesehen hatte, konnte Julius von Catherine aus flohpulvern. Laurentine würde wohl nachher angeblich mit der Metro zurückkommen.

Millie lachte, als Julius ihr Vicky Kenworthys Grüße wiedergab. Doch als er ihr erzählte, was seine Mutter berichtet hatte und sie nicht wusste, ob sie überhaupt wieder nach Hause durfte meinte sie: "Sehe dem ähnlich, diesem an seinem Stuhl klebenden Typen."

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Europa zwischen dem 09.02. und 12.02.2005

Die Nachricht, dass die französischen Niederlassungen von Gringotts am 24. Februar wiedereröffneten und womöglich alle anderen Filialen am 1. März folgen mochten veranlasste viele Ministerien, die Verbindungskobolde darauf zu drängen, möglichst bald wiederzueröffnen. So wurde am 10. Februar aus Spanien, England und Belgien vermeldet, dass deren Gringotts-Zweigstellen wohl auch ab dem 24. Februar wieder geöffnet werden könnten, aber nur für jene Kunden, die Verliesschlüssel mit einer 0 am Anfang hatten.

In deutschland war die Lage weiterhin angespannt. Eine Delegation aus Kobolden und Zwergen tagte unter Aufsicht des Zaubereiministeriums, um den drohenden Krieg zwischen den beiden erdverbundenen Zauberwesenvölkern zu verhindern. Minister Güldenberg erklärte vor der Presse, dass er nicht tatenlos zusehen würde, wenn sich zwei so zaubermächtige Völker auf seinem Hoheitsgebiet bekämpften.

Julius erfuhr von Léto, dass die in Spanien lebendenVeelastämmigen dem Zaubereiministerium angeboten hatten, die Tore von Gringotts für alle Zauberer zu öffnen. Die Bedingung sei, dass bestimmte Erblasten, von denen Léto nichts erwähnen wollte, aus der Welt geschafft würden. Das spanische Zaubereiministerium wolle sich das wohl bis zum 12. Februar überlegen.

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In der Trauerkappelle von St. Joseph bei St. Louis, östliches Frankreich, 12.02.2005, 11:00 Uhr Ortszeit

Béatrice trug ein schwarzes Kleid über dem ihre anderen Umstände verhüllenden Unterzeugs. Sie wirkte dadurch optisch schlanker als sie im Moment war. Millie hingegen hatte sich ein schon eher Mademoiselle Maxime passendes Kleid aus schwarzer Seide angezogen, dass jedoch ihre Zwillingssschwangerschaft nicht verbarg, sondern klar hervorhob. Claudine trug ein dunkelgrünes Kleid, ähnlich dem, was Chloé Dusoleil und ihre Tante Viviane Aurélie trugen. Sie fingen die gedrückte, aber auch erhabene Stimmung ein und sahen die in ihre Taschentücher weinenden Erwachsenen mit ihren großen Kinderaugen an, als wollten sie fragen, was ihnen denn so weh tat. Doch Claudine wusste das.

Die Fahrt hierher war für die Kinder ein Abenteuer gewesen. Sie hatten im violetten Zauberbus eine Spielecke bekommen mit einer echten Hüpfburg. Außerdem konnten sie zeigen, wie gut sie schon die Uhr lesen konnten. So waren sie eigentlich gut ermüdet, als sie in dem kleinen Ort angekommen waren, wo Renée Lacroise spätere Hellersdorf geboren worden war. Das sie nach einem nicht so langen Leben, das viele Weltgegenden und Stimmungen gesehen hatte, hier auch zur letzten Ruhe gebettet werden würde hatte sie vor Jahren so beschlossen, bevor sie mit ihrem Mann Simon nach Vorbach gezogen war, wo sie ihre einzige Tochter Laurentine bekommen hatte.

Simon wollte wie sein Schwiegervater eine Weltraumbestattung haben und hatte dafür auch schon einiges an Geld angespart. Da Laurentine nicht unhöflich sein wollte hatte sie ihre Großtanten eingeladen, die damals bei Henri Lacroises Trauerfeier einen kleinen Eklat verursacht hatten. Doch, o Wunder, zwei Tage vor der Trauerfeier hatten beide aus unterschiedlichen Gründen abgesagt. Laurentine, so sah es Julius, schien darüber nicht bestürzt oder beleidigt zu sein.

Als alle an die zweihundert Gäste saßen erklang dumpfes, getragenes Orgelspiel. Julius suchte und fand einen Blick auf den Organisten, der im schwarzen Samtanzug vor seinen in drei Stufen angeordneten Tastaturen saß. Dann galt seine Aufmerksamkeit dem Blumenschmuck, der um die glänzende Urne ausgelegt war. Er entdeckte auch den großen Kranz mit der dreifachen Schleife, auf der "In großer Anteilnahme und Anerkennung ihrer schönsten Erlebnisse feiern wir das Leben deiner Eltern" stand. Unterschrieben war es mit "Die Schüler der Grundschule Millemerveilles, Provence, Frankreich"

Nach dem Orgelspiel ergriff der Herr in schwarzer Soutane das Wort und begrüßte die Trauergemeinde. Wie es sich vor allem Laurentines Mutter gewünscht hatte gab es eine römisch-katholische Totenmesse. Hierzu spielte sogar ein Streichorchester auf, dass das Adaggio von Samuel Barber und einen Satz aus Mozarts Requiem intonierte. Julius musste bei den wortwörtlich tottraurigen Akkorden und Melodien selbst weinen. Er dachte an Claire, die er so früh verloren hatte. Er dachte an seinen Vater, der nicht mehr bei ihm war, und er dachte an alle die, die der Tsunami-Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Auch wenn er kein Katholik war und die Christliche Lehre nicht mehr für das Maß aller Dinge hielt, so stimmte er dem Abbé zu, der davon sprach, dass der Mensch immer machtlos sein würde, wenn die Schöpfung in Aufruhr und Wut geriet. Dann erwähnte er noch den Trost im Glauben an das Himmelreich, dass jede arme Seele und jeden aufrechten Menschen erwarte. Bei den Menschen von Altaxaroi hieß das das Land jenseits der Weltenbrücke, die wiederum als silberner Streifen am Nachthimmel zu sehen war. Tja, hinauf zu den Sternen, das war auch Simon Hellersdorfs Wunsch, auch wenn er Laurentines Lebensweg nicht gutheißen wollte. Wüsste der Priester da vorne am Altar, dass an die dreißig kleine und große Hexen und Zauberer im Raum saßen, er hätte sicher mit Weihwasser und Silberkreuz um sich gefuchtelt, um "die Brut Satans" aus dem Haus Gottes zu verjagen. Wobei das wie vieles in dieser Religion unlogisch wäre, weil die Diener jenes Höllenfürsten ja gar nicht erst in die geweihte Halle des Weltenschöpfers gelangen konnten. Schafften sie es doch, nützte kein geweihtes Wasser und auch kein wem auch immer geweihtes Silber.

Während sich Julius einmal mehr Gedanken über die Vorstellungen der Katholiken und seine ganz eigenen Erfahrungen mit jenseitigen Wesen machte sah er über der weinenden Laurentine und der zwei Reihen dahinter sitzenden Céline Dornier eine rot-gold leuchtende Erscheinung, die wie eine unbekleidete Frau in mittleren Jahren aussah und in deren dunklem Haar goldene Sterne glitzerten. "Sie ist auch da", hörte er Camilles Gedankenstimme in sich. Da wusste er, dass diese sie auch sah. Er fühlte, wie Tränen aus seinen Augen kullerten. Waren es Tränen der Trauer oder der tiefen Freude, dass wirklich nicht alles schöne und wichtige aus dieser Welt verschwand? Nur die Körper vergingen. Das innere Selbst, was die Christen die unsterbliche Seele nannten, blieb auf eine unerklärliche Weise unveränderlich, solange es andere Seelen gab, die sich ihnen verbunden fühlten.

Es gab kein Tuscheln. Nur Camille, vielleicht auch Jeanne, ihr Vater und vielleicht Chloé konnten sie sehen, vielleicht auch Laurentine? Julius gab seiner Frau die Hand, und diese nickte sofort, als durch die Verbindung zu ihm auch sie das erhabene Wesen sah, dass trotz seiner Nacktheit keinen verdorbenen, sondern unschuldigen, über den körperlichen Dingen stehenden Eindruck machte. Dann verschmolz die Erscheinung mit dem Licht der vielen Kerzen. Aber sie war da und würde immer da sein, wo immer die waren, die sich ihrer in Liebe und Freude erinnerten, Ammayamiria.

So fand Julius trotz seiner Ablehnung der katholischen Kirche genau die Andacht und Anteilnahme, das Gefühl der Gemeinschaft mit allen hier versammelten.

Dann sah er Laurentine, die fast so wirkte, als zerfließe sie gleich. Ihr Blick lag nicht auf der von Blumenschmuck umkränzten Urne, sondern auf jenen vielen Kerzen, mit deren Licht die Zwei-Seelen-Tochter Aurélie Odins und Claire Dusoleils verschmolzen zu sein schien. Genau in dem Augenblick sprach der Abbé: "So finden wir den Trost derer, die uns dort erwarten, wo unser Heiland uns das ewige Reich des Friedens bereitet und wir alle im Herrn vereint sein werden, frei von Last und Mühsal."

"Julius, ich glaube, sie hat sie auch gesehen", fing Julius Jeannes Gedankenstimme auf. Er mentiloquierte zurück: "Es sieht ganz danach aus, Jeanne."

Der Rest der Trauerfeier war noch von einigen Gesangsdarbietungen und Trauerreden geprägt. Laurentine schaffte es, eine vorbereitete Rede ohne weitere Tränenfluten zu halten, die damit endete, dass ihre Eltern jetzt mit allen vereint waren, die mit ihr und ihnen gut auskamen.

"So bringen wir die bereits dem Feuer übergebene hülle unserer Mitschwester zu ihrer ewigen Ruhestatt!" wies der Priester die Gemeinde an.

Die kleine Totenglocke begann zu läuten, als die Tür der Kappelle aufgetan wurde. In einem geordneten Trauermarsch folgten alle Angehörigen und Freunde der Verstorbenen hinaus auf den Friedhof.

In einem letzten feierlichen Aktlegten die Urnenträger das Totengefäß in eine vorbestimmte Nische. Der Priester tröpfelte noch einmal Weihwasser darüber und erbat den Segen für die fortgegangene Mitschwester. Dann durfte Laurentine den tiefblauen Vorhang zuziehen. Julius hörte sie sagen: "Requiescas in pace, Mater mea." Dann zogen alle an dem verhüllten Grab vorbei, dass noch am Nachmittag anständig verschlossen werden würde. Laurentine vorne weg mit ihrer Großmutter Monique, dahinter deren Kinder und Enkelkinder. Dahinter kamen die anderen Blutsverwandten. Erst ziemlich zum Schluss passierten die Latierres das Urnengrab. Dann ging es unter begleitenden Orgelklängen durch die Kappelle wieder hinaus auf den Vorplatz. Millie hielt die Hand ihres Mannes. Béatrice und Hera Matine folgten ihnen in der hier gebotenen Andacht.

Die Feier für die Verstorbenen fand in einem hübschen Café in der Nähe des Dorfzentrums statt. All die Familien, die Renée Hellersdorf gekannt hatten, luden Laurentine ein, noch mit ihnen zu sprechen und auch Monique, die immer noch einige alte Freunde in der Gemeinde hatte. Julius bildete ohne es zu wollen mit Béatrice und Millie einen Familienblock um drei Tische. Jeanne meinte zu Julius einmal: "Ich denke, sie hat sie auch gesehen." Julius teilte ihre Vermutung. Sie sprachen über alles, was sie nicht als Mitglieder der Zaubererwelt enthüllte. Sie genossen Kaffee, Kakao und eine warme Suppe und noch französische und deutsche Kuchenspezialitäten.

Millie erhielt von den Damen aus der Trauergemeinde noch Segenswünsche für die im April oder Mai anstehende Zwillingsgeburt. Sie nahm die Wünsche mit höflichem Dank entgegen. Vicky meinte zu ihr, dass sie sie bewundere, weil sie sich das schon zum vierten mal auflud. "Ich weiß, dass es meine Kinder sind und von wem ich sie trage. Dann erträgt sich vieles viel leichter, Vicky", sagte Millie darauf. Julius sah sich schnell um und erkannte Béatrice, die kleine Tränen verdrücken musste. Eigentlich müsste er ihr jetzt auch beistehen. Denn sie trug ja auch sein Kind. Doch sie durfte es nicht allen zeigen und nicht allen sagen. Somit mochte Félix Richard Roland für sie gerade viel schwerer zu tragen sein, als für Millie Flavine und Fylla. Doch es war auch erhaben, zu wissen, wer erst auf die Welt kommen würde und nicht nur, die zu verabschieden, die sie verlassen mussten.

Nach dem Kaffeetrinken und teils oberflächlichen, teils interessanten Unterhaltungen mit Laurentines Verwandten und Nachbarn von Monique Lacroise ging es mit dem violetten Zauberbus erst einmal ganz natürlich über die Landstraße richtung Autobahn. Dann erst rief der Fahrer in violetter Uniform: "Achtung, die Herrschaften, Sprung in drei Sekunden." Da alle saßen und die Kinder auf den Knien ihrer Väter schliefen war es kein Problem. "Die Erfinder dieser Unterkleidung gehören als goldene Denkmäler für die Ewigkeit aufgestellt", sagte Millie. Julius wandte sich an Béatrice: "Du weißt, dass ich es sehr, sehr zu schätzen weiß, was du für Millie und mich aushältst und durchmachst, Trice. Sei also nicht mehr traurig, dass du nicht so im Mittelpunkt gestanden hast wie Millie", sagte Julius leise.

"Hast du das gedacht", zischte Béatrice etwas gereizt klingend. Doch dann fing sie sich wieder und sagte in einem freundlichen, ja beruhigenden Ton: "Ich gönne Millie, dass sie dafür bewundert und umgarnt wird, dass sie gerade Zwillinge tragen darf. Was mich dabei angerührt hat war, dass ich auch an meinen Vater denken musste, der uns alle so zusammen gesehen haben mag und sich einen Grinst, weil wir gerade zusammen das durchhalten und aushalten. Das hat meine Balance etwas verstimmt. Natürlich weiß ich, dass ich nicht außen vor bin, auch wenn es heute wieder danach ausgesehen hat, Julius." Sie schmatzte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er begriff, dass er sie genauso behüten und lieben konnte wie Millie, nur, dass es eine andere Form von Liebe sein musste als jene, die ihn mit Millie zusammengebracht hatte. Oder ging es doch auch, dass er beide gleichermaßen lieben konnte?

Der Bus brachte sie alle zurück nach Straßburg, wo Catherine sie alle mit der Reisesphäre nach Paris brachte. Von dort aus brachte Sandrines Mutter die Bewohner von Millemerveilles in ihre ruhige Gemeinde zurück, wo sie sicher und umsorgt waren.

Julius dachte an seine Mutter, die jetzt nicht wusste, ob sie noch in ihrer neuen Wahlheimat willkommen war oder nicht. Geneviève, Camille und er hatten ihr beim Kaffeetrinken unabhängig voneinander zugesichert, dass sie im Gefahrenfall mit ihren Kindern und wenn er wollte auch Lucky nach Millemerveilles kommen und dort wohnen konnte. Sie hatte diese Angebote mit einem höflichen Dank und einem Lächeln hingenommen und erwidert, dass sie erst dann aus ihrem eigenen Haus verschwinden wollte, wenn sie wirklich nicht mehr in den Staaten willkommen war. Das hatten Julius und alle anderen, die sich um ihr Wohlergehen sorgten akzeptiert.

Was die Zukunft genau bringen würde wusste noch keiner. Doch Julius sah sie hell vor sich, obwohl sie noch im Dunkeln lag, im dunkeln von Millies und Béatrices schützendem Schoß.

ENDE

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