FANFAREN DER ZUKUNFT

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelöste Welle dunkler Zauberkraft, die im April 2003 über die Welt hinwegbrandete, hat weiterhin auswirkungen auf die magischen Gemeinschaften. Beseelte Zaubergegenstände entfalten trotz auferlegter Zauberbanne ein unheilvolles Eigenleben. Von dunkler Magie durchdrungene Wesen gewinnen an Stärke und bedrohen die Menschheit und sich gegenseitig. Vor allem die selbsternannte Vampirgöttin Gooriaimiria, die von Vengor aus Versehen erschaffene Nachtschattenkönigin Birgute Hinrichter, sowie die Töchter der Lahilliota schöpfen neue Kräfte aus der Woge dunkler Energie. Morgauses magischer Silberkessel wirkt auf dessen Hüter, der nur durch die Flucht der Unterwerfung entrinnen kann. Der von Morgauses Seele erfüllte Kessel wird bei einem darum geführten Kampf zwischen Anthelia und Ladonna zerstört. In Australien erwachen nach jahrtausendelangem Zaubertiefschlaf vier verbliebene Schlangenmenschen aus Skyllians Heer und wollen das Land mit ihresgleichen füllen. Nur Anthelias Entomanthropen und ein gemeinsames Ritual australischer Ureinwohner beenden dieses Vorhaben. Ebenso kann sich die in einem magischen Schwert überdauernde Seele des japanischen Erzdunkelmagiers, der als dunkler Wächter bezeichnet wird, aus den Zauberkerkern der Hände Amaterasus befreien und den arglosen Jungen Takeshi Tanaka dazu treiben, den eigenen Vater zu töten, wodurch der dunkle Wächter Takeshi als Wirtskörper übernehmen kann. Beim Versuch, ihn zu stoppen stirbt die offiziell für die Hände Amaterasus arbeitende Spinnenschwester Izanami Kanisaga. Doch Anthelia gelingt es mit Hilfe des von Yanxothar geerbten Schwertes, den Dunklen Wächter aus dem Wirtskörper zu vertreiben und dessen Schwert zu vernichten, wodurch der böse Geist des dunklen Wächters freigesetzt, aber sofort vom nicht minder gefährlichen Geist einer japanischen Berghexe durch inverse Geburt einverleibt wird.

Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil und kann bei einer solchen gerade noch verhindern, dass die Aufzeichnungen über angewandte Zauber in die nichtmagische Welt übertragen werden.

Von der transvitalen Entität Ammayamiria bekommen Julius und die in Europa lebenden Kinder Ashtarias den Auftrag, einen neuen, ausschließlich auf gutartige Magie gründenden Schutzzauber über Millemerveilles zu spannen. Grundlage dafür ist ein mit einem machtvollen Zauber der Erde aufgeladener Kugelkörper, auf den dann noch Schutzzauber des Wassers, des Feuers und die gebündelte Macht Ashtarias aufgeprägt werden und sich über alle von Ashtarias Magie erfüllte Bäume in Millemerveilles verteilt.

Im Dezember bekommt die Latierre-Familie Zuwachs. Millie bekommt ein Brüderchen, das mit einer Besonderheit geboren wird, zwölf Finger und zwölf Zehen. Ebenso heiratet Gilbert Latierre seine mit magischem Gehör ausgestattete Kollegin Linda Knowles, mit der er im kommenden Frühling eine Tochter bekommt.

Die Machenschaften Vita Magicas führen im März und April 2004 zu einer wahren Geburtenexplosion in Millemerveilles. Julius Latierre und alle anderen Pflegehelfer assistieren den beruflichen Hebammen bei den vielen Entbindungen. Allerdings führt der erzwungene Nachwuchs auch zu Unstimmigkeiten innerhalb der magischen Gemeinschaft und bedarf einer gründlichen Vorbereitung in Beauxbatons, um die 750 neuen Kinder aufzunehmen und zu beschulen, wenn sie in das vorgeschriebene Alter kommen.

Millie und Julius erfahren von den Mondtöchtern, dass sie beide in den nächsten 12 Jahren nur Töchter zeugen können. Da Ashtaria von Julius verlangt, dass er in den nächsten zwei Jahren einen Sohn zeugt und diese Aufforderung in Form einer an Millie übermittelten Albtraumvision bekräftigt, vereinbaren sie, er und die bis auf weiteres bei ihnen lebende Béatrice Latierre, dass Julius mit seiner Schwiegertante auf den von Ashtaria und Ammayamiria geforderten Sohn hinwirkt. Tatsächlich wird Béatrice von Julius mit einem Sohn schwanger, den sie im April 2005 zur Welt bringen wird. Ob sie ihn dann als leibliche Mutter aufziehen oder ihn an Millie abgeben muss wird Julius' Ehefrau nach der Geburt des Jungen entscheiden. Doch eine Bemerkung von Aurore, dass wer das Kind im Bauch hat auch dessen Mutter sei, rührt beide zu Tränen. Millie hat inzwischen ihre vollständige Ausbildung zur Vertrauten altaxarroischer Feuerzauber beendet und wegen einer gewissen Eifersucht auf Béatrice Julius dazu gebracht, auch mit ihr ein neues Kind auf den Weg zu bringen. Tatsächlich empfängt sie gleich zwei Kinder, gemäß der von den Mondtöchtern erwähnten Absprache zwei neue Töchter.

Als am 26. Dezember 2004 ein schweres unterseeisches Erdbeben im Indischen Ozean stattfindet regt dieses ein Konzentrat dunkler Magie auf dem Meeresboden an, sich zu entladen und mit der Schutzbezauberung der australischen Ureinwohner zu reagieren. Das führt zu einer weltweiten Wellenfront heftiger Erdzauber, die auf alle der Erde verbundenen Wesen und Dinge schwere Auswirkungen hat. Dadurch wird Gringotts in Australien vollkommen vernichtet und die Filialen der von Kobolden betriebenen Bank in aller Welt bis auf weiteres unbetretbar. Zahllose Kobolde sterben durch die überstarken Erdmagieentladungen. Julius Latierre entgeht der Überbelastung, weil Ashtaria seinen Geist für einige Stunden mit dem Körper seines ungeborenen Sohnes vereint. Anthelia/Naaneavargia ist durch das von ihr selbst gewirkte Schutzlied der starken Mutter Erde in ihrer neuen Zuflucht vor den Auswirkungen der Erdzauberentladungen geschützt. Viele Hexen und Zauberer mit nichtmagischem Hintergrund bangen um Angehörige, die im Erdbebengebiet Urlaub machen, darunter Laurentine Hellersdorf, die seit Juni 2003 von ihren Freunden und Bekannten unbemerkt zur Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern gehört. Sie erfährt am 2. Januar 2005, dass ihre Eltern tot an einem im Meer treibenden Urwaldbaum festgeschnallt aufgefunden wurden.

Weil durch den weltweiten Ausfall von Gringotts ein Zusammenbruch der Handelsströme droht suchen viele Zaubereiministerien Wege aus der Notlage. Frankreichs Beauftragter für magischen Handel trifft mit den wichtigsten Unternehmen der Zaubererwelt ein Geheimabkommen. Offiziell präsentiert er einen Vier-Stufen-Plan, der bis auf weiteres eine Art von Zahlungsverkehr ohne Gold, Silber und Bronze ermöglichen soll. Andere Zaubereiministerien wollen die Gelegenheit nutzen, das jahrhundertealte Abkommen mit den Kobolden zu beenden. In den USA bringt das Zaubereiministerium eigene Banknoten in Umlauf, deren Herstellung nicht ganz unumstritten ist. Ziel ist auch hier, vom Goldwertbestimmungsmonopol der Kobolde unabhängig zu werden. Außerdem legt eine weißgekleidete Botin Vita Magicas dem Minister einen neuen Entwurf für einen Friedensvertrag vor. Doch dieser enthält für Buggles unannehmbare Bedingungen, weshalb er ihn nicht unterschreiben will. Die Botin droht ihm, ihn deshalb zu infanticorporisieren, um einen ihrer Gruppierung gewogenen Nachfolger einzusetzen. Das ruft Buggles' besondere Schutztruppe auf den Plan, die ehemaligen Quidditchnationalspieler, die durch das immer noch wirksame Glücksritual eigentlich jede Gefahr und Bedrängnis meistern. Doch die Botin in Weiß setzt einen mitgeführten Sonnenzauber frei, der die besondere Bezauberung der zur Hilfe geeilten Ex-Quidditchspieler blockiert und sie damit ebenso angreifbar macht wie jeden anderen Menschen. Sie entführt die gelähmten Gehilfen und den Zaubereiminister ohne Alarm auszulösen in eine unter Wasser schwebende Niederlassung Vita Magicas, wo die Gefangenen unter mit Sonnenzaubern angereicherten Lichtquellen festgehalten werden, während Lionel Buggles von Mater Vicesima Secunda gefügig gestimmt wird, den neuen Friedensvertrag zu unterschreiben. Buggles beginnt nun, das Zaubereiministerium im Sinne von Vita Magica umzubauen. Außerdem träumt er von einem gesamtnordamerikanischen Zaubererstaat, wo auch Mexiko und Kanada unter seiner Führung stehen sollen. Er bindet so heimlich es geht immer mehr Mitarbeiter an den neuen Friedensvertrag. Nur von martha Merryweather soll er laut seiner neuen Herrin Mater Vicesima Secunda die Finger lassen, weil sie zu wichtige Kontakte hat.

Diese argwöhnt zwar, dass irgendwas im Busch ist, als sie mit den nichtmagischen Verwandten Laurentines Hellersdorfs zur Trauerfeier für ihre im Tsunami umgekommenen Eltern reist, kann es jedoch nicht klar benennen.

Derweil findet im Reich deutschsprachiger Schwarzalben die Auswahl eines neuen Königs statt. Der sohn des gestorbenen Königs, Malin Eisenknoter, übersteht die dafür angesetzten Zweikämpfe mit drei Herausforderern, die selbst nicht vor unehrlichen Mitteln zurückschrecken. Er wird schließlich als Malin VII. zum neuen König unter den deutschen Bergen gekrönt. In seiner ersten Ansprache verkündet er, dass er die Ursache für Gaorins Tod ergründen und die Verursacher zur Verantwortung ziehen wird. Dies ist nichts andderes als eine Kriegserklärung an die Kobolde und/oder die Zauberstabnutzenden. Die Kobolde selbst können sich nur schwer von den Turbulenzen der ungerichteten Erdmagie erholen. Sie hoffen darauf, dass sie das Goldwertbestimmungsmonopol verteidigen können, auch wenn sich ihr schlagkräftiger Geheimdienst gerade damit beschäftigt, einen Nachfolger für den verstorbenen Turnlook zu finden und ein neues, sicheres Hauptquartier zu errichten.

Es mutet als freudige Botschaft an, dass die Gringottsfilialen in Frankreich am 24. Februar wiedereröffnen können. Doch ob es so kommt steht noch aus. Außerdem sorgen sich Béatrice und Millie darum, ob sie die von ihnen getragenen Kinder gesund auf die Welt bringen können.

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25.01.2005

Sie wusste, was nun anstand. Die Schmerzen in ihrem Unterleib wurden immer stärker. Auch hörte sie in ihrem Geist das ungehaltene Stöhnen dessen, den sie neu auf die Welt zurückbringen sollte. "Eh, warum wird das jetzt noch enger hier?!" gedankenquengelte Canurdarian, dem sie nach dessen Wiedergeburt einen neuen Namen geben sollte. "Weil du heute ans Licht zurückdarfst", dachte Geranammaya ihm zu. "O nein, das heißt, ich muss irgendwie aus deinem Schoß raus. Dann lass deinen Leib aufmachen und mich da herausholen!" forderte Canurdarian. "Nichts da. Ich will das jetzt wissen, ob ich das wieder hinbekomme. Keine Sorge, in meinem ersten Leben habe ich schon zwei Kinder bekommen", schickte Geranammaya zurück. Sie wusste, wenn sie diesen Jungen, in dem der Geist eines verstorbenen Sonnensohnes wiederverkörpert wurde, auf die Welt zurückbrachte würde auch sie einen neuen Namen erhalten, weil sie dann keine -ammaya, also Jungfrau oder "kleine Tochter" mehr war, sondern eine -miria, also eine Lebensgeberin, Mutter, erwachsene Frau. "Aber die Lebenskelche von euch Frauen sind doch für uns viel zu eng", gedankenquengelte Canurdarian. Geranammaya fragte sich, wie jemand, der dazu erschaffen wurde, gegen die gemeinsten Wesen der Dunkelheit anzutreten, derartig wehleidig sein konnte. Natürlich hatte sie bei ihrer eigenen Wiedergeburt auch Minuten der Platzangst erlebt. Doch die Gewissheit, dass sie danach wieder eine eigenständige Hexe sein würde hatte diesen bedrückenden Zustand überlagert. Abgesehen davon, dass eine starke helle Magie ihr und ihrer Mutter die Geburt erheblich erleichtert hatte. Aber das musste sie dem da, der da in ihr drinsteckte, nicht schon jetzt auftischen.

"Ich gehe in unser Geburtshaus. Dann kriege ich dich sicher bald an Luft und Licht", gedankensprach Geranammaya und stand auf. Die ersten Senkwehen hatten ihren Kreislauf angegriffen. Das merkte sie, als sie mit sehr Ausladenden Schritten und butterweichen Knien aus ihrem Schlafzimmer hinauswankte und sich arg anstrengen musste, das Gleichgewicht zu halten.

Olarammaya, ihre widerwillige Zwillingsschwester, die Faidarias ehemaligen Gefährten Aroyan austrug, hatte mitbekommen, was vorging. Auch Faidaria, die Sprecherin der Sonnenkinder und wie Dailangamiria Trägerin eines starken Amulettes der Sonne, traf keine zwei Minuten später im mit zusätzlichen Schutzzaubern gesicherten Blockhaus ein, das seit der ersten Gruppe neuer Kinder das Geburtshaus war. Bis zu fünf Mütter konnten hier zeitgleich niederkommen, betreut von jenen Mitschwestern, die selbst nicht gerade unmittelbar vor der Niederkunft standen. Dass Geranammaya die erste in der Gruppe der zweiten vielen Mütter wurde lag daran, dass ihr Körper nur zur Hälfte von den Erschaffern der Sonnenkinder abstammte. Die aus dem Schöpfungsakt alter Feuermagier hervorgegangenen Sonnenkinder trugen ihre Kinder bald ein Jahr lang aus.

"Oha, in vier Wochen erwischt es mich", dachte Olarammaya. Geranammaya schickte ihrer Zwillingsschwester zurück: "Freu dich besser drauf. Denn dann kannst du endlich Frieden mit deinem Körper schließen, wenn du weißt, was er aushalten kann!"

"Wenn ich nicht wüsste, wie wichtig das ist, bald wieder genug Leute zu haben, die gegen diese Schattendämonin und die Blutsauger vorgehen können, würde ich glatt eine Geschlechtsumwandlung beantragen", dachte Olarammaya. "Wieso, jetzt erfährst du erst, wie erhaben unser dasein ist", erwiderte Dailangamirias Gedankenstimme. Auch sie konnte jeden Tag mit ihrer dritten Niederkunft rechnen. Vielleicht wurde Canurdarians Wiedergeburt sogar sowas wie ein Startzeichen für jene, die nur zum Teil den ursprünglichen Sonnenkindern entstammten.

Die nächsten fünf Stunden waren für Geranammaya anstrengend und schmerzhaft. Doch sie überstand die von der Natur aufgebürdete Pein, weil sie es wissen wollte. Canurdarian, der in dieser Zeit nur Angst fühlte, im Geburtskanal zerdrückt zu werden oder nicht rechtzeitig hindurchzugelangen, bevor er Luft holen musste, ließ es dann doch über sich ergehen, auf natürliche Weise ausgetrieben zu werden. Als er schließlich vollständig dem Mutterleib entschlüpft war musste er genauso schreien wie ein mit unausgereifter Seele geborener Mensch. Immerhin freute er sich trotz der noch bestehenden Kopfschmerzen und der plötzlichen Kälte um ihn, dieses erste große Hindernis seines neuen Lebens überwunden zu haben. Er war nun wieder auf der Welt und wusste auch, dass er nur das Säuglingsjahr überstehen musste, bevor er durch die Vorrichtung der schnellen Reifung Kindheit und Halbwüchsigkeit überspringen und wieder als erwachsener Mann leben konnte. "Glückwunsch, Canurdarian. Du hast hinter dir, was ich noch vor mir habe", gedankenmurrte Aroyan, dessen neue Mutter Olarammaya werden würde.

"Genieß es. Das wirst du erst wieder in mehr als hundert Sonnen mitkriegen, wenn du dann nicht selbst als Tochter wiederkommen musst", gedankengrummelte der gerade laut schreiende Canurdarian.

"alotargurin Vuaichatur", sagte Faidaria, als sie die lauten Schreie des Wiedergeborenen hörten. "Die Verkündungsklänge der werdenden Zeit", wie Geranammaya und ihre Blutsverwandten es gelernt hatten. Bald würden Sie noch mehr dieser Klänge aus der Zukunft hören, die hoffentlich eine bessere Zeit verhießen als jene, in der sie gerade lebten.

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05.02.2005

Jene, die nicht mit der Ausreifung neuer Nachkommen zu tun hatten waren ausgesandt worden, um für das auf dunkle Quellen deutende Pendel die nötige Kraft zu sammeln. Das jedoch hieß, Wesen der Dunkelheit aufzuspüren und lebend zu fangen, um sie in einem an und für sich geächteten Verfahren dem Behälter für Lebenskraft zu übergeben, aus dem wiederum die Kraftquelle des magischen Pendels gespeist wurde, um zu erfassen, aus welcher Richtung dunkle Zauberkräfte wirkten.

Die Nacht war nicht ihre Zeit. Das wussten sie. Doch ebenso wussten sie auch, dass die Nacht die bevorzugte Zeit ihrer auserwählten Beute war. Zwölf Sonnensöhne in aus dem Worakashtaril erhaltenen Rüstungen gegen dunkle Wesen und unerwünschtes Entdecken suchten die gerade von Vater Himmelsfeuer abgekehrte Seite der großen Mutter ab. Fand einer von ihnen die Quelle dunklen Daseins, konnte er die anderen geistig zu Hilfe rufen. So kreuzten sich die Wege zweier unterschiedlicher Jäger, bei denen das Schicksal entschied, wer weiterhin jagen und wer die Beute sein würde.

Garonyanan war von seinen Mitbrüdern und -schwestern in jenen Teil der Welt geschickt worden, den die jetztzeitigen Bewohner Nordeuropa nannten. Hier kehrte der große Vater Himmelsfeuer zu dieser Jahreszeit nur für wenige Zehnteltage zurück, um seine Kinder mit wenig Licht und viel zu wenig seiner Wärme zu beleben. Doch genau deshalb erhofften sie, hier von Dunkelheit erfüllte Wesen zu finden. Ja, und am sanften Erbeben seiner Sonnenrüstung fühlte Garonyanan, dass ein solcher Feind nicht weit entfernt war.

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Seit einem Monat hieß sie nun Idossa Reharu. Ihr früheres Ich Doris Hauser hatte das Pech gehabt, eine alte Studienfreundin von Birgit Hinrichsen gewesen zu sein. Als sie dann eines Nachts von jener unheimlichen Erscheinung aus purer Dunkelheit heimgesucht und einverleibt worden war hatte sie sich nicht lange dagegen wehren können, zur dunklen Ausgeburt dieses Dämonenwesens zu werden. Zusammen mit ihrem damaligen Ehemann war sie als Zwillingspaar Idossa und Nobrus Reharu in die dunkle Nacht zurückgeboren worden, um fortan ihr zu dienen, der Kaiserin der Dunkelheit, Birgute Hinrichter. Beide hatten nach der Zeit der Ausreifung neue Aufträge erhalten. Während ihr neuer Zwillingsbruder Nobrus einen eigenen Schattenlosen erschaffen und lenken sollte, galt ihr Einsatz der weiteren Kraftzunahme. Hierfür durfte sie als wahrhaftiges Schreckgespenst in Häuser argloser Leute eindringen und vor allem junge Mädchen entseelen. Deren Körper blieben dann als tiefgefrorene Leichname zurück. Da sie diese ihre Jagdgewohnheiten nicht zu lange am selben Ort ausführen durfte wechselte sie jede Nacht in einen anderen Landstrich Nordeuropas und vor allem zu den kleinen Dörfern nördlich des Polarkreises, wo die Dunkelheit wesentlich länger dauerte als in den gemäßigten Breiten.

Gerade näherte sie sich lautlos einem abgelegenen Gehöft, wo sie die Seelenschwingungen von sieben Menschen aus Fleisch und Blut erspüren konnte. Davon waren zwei heranwachsende Mädchen. Diese würde sie sich auf bewährte Art einverleiben und deren Seelen in sich zerfließen lassen. Sie musste dabei ganz schnell vorgehen. Denn sie wusste, dass ihre Mutter und alle ihre Brüder und Schwestern starke Feinde hatten.

Nun war sie nur noch einhundert Schritte vom Wohnhaus entfernt. Sie fühlte die schwächeren, ungeordneteren Seelenschwingungen kleinerer Wesen, wohl Ziegen, Schafe oder Schweine. Diese Wesen konnte sie nicht verwerten, weil sie nicht über die Intelligenz verfügten, aus der sie ihre Kraft bezog. Dann fühlte sie ein merkwürdiges Beben, als wenn sich die für sie tödliche Sonne langsam wieder über den Horizont schob und bereits mit ersten, zitternden Strahlen um sich griff. Das gefiel ihr nicht. Lauerte jemand auf sie?

Sie richtete ihre neuen, übernatürlichen Sinne auf jenes unbehagliche Vibrieren aus und fühlte, dass da etwas war, das sich auf sie zubewegte. Doch sie konnte nicht erfassen, ob es was lebendiges oder nur eine ferngelenkte Kraftquelle war. Sie merkte nur, dass es wohl genauso auf sie reagierte und sich gezielt auf sie zubewegte.

"Mutter der Nacht, ich fühle die Nähe von was, das wie die Sonne kurz vor dem Aufgang ist. Was ist das?" gedankenfragte sie jene, aus deren kristallischem Leib heraus sie wiedergeboren worden war.

"Pass ja auf. Das könnten Leute von diesem Zaubereiministerium sein. Die können fiese Sonnenlichtzauber. Aber bei Nacht verbrauchen die sich schnell. Wenn es dir zu nahe kommt wünsch dich weiter weg von da, wo du gerade bist!" erklang die Stimme ihrer Herrin und Mutter in ihrem fügsamen Geist.

Sie wollte gerade antworten, da schien eine Entladung aus vielfacher Kraft ihren fleischlosen Körper zu durchbrausen und ihn in einer Flut von Lichtern zu rösten. Sie schrie innerlich auf, als sie gleich fünf weitere dieser Kraftquellen fühlte, die nun aber nicht aus der Ferne auf sie wirkten, sondern aus unmittelbarer Nähe auf sie einhieben wie mit glühenden Klingen.

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Angoryanan hatte durch ein paar nicht in die Ferne greifende, sondern aus der Ferne erheischende Zauber ergründet, dass es ein von dunkler Kraft erfülltes, nichtfeststoffliches Wesen war, eine von Mitternachtskraft verdunkelte Seele, dazu verdammt, die Lebenskraft argloser Menschen zu verschlingen, oder von der gleichmäßigen Kraft der reinen Dunkelheit zu zehren. Dailangamiria und ihre Tochter Geranammaya hatten sowas Nachtschatten genannt. Sie wussten alle, dass es eine mächtige Vertreterin dieser Unwesen gab, die sich als deren Mutter und oberste Königin verstand. Doch dieses Wesen da in seiner Nähe war für eine Königin dieser Nachtgeburten zu klein und schwach. Doch für ihn und die anderen mochte sie die gewünschte Kraft in sich haben, um das auf dunkle Quellen weisende Pendel wiederzubeleben.

"Brüder des Jagdtrupps, habe eine fleischlose Nachtgeburt erfühlt. Kommt dorthin, wo ich bin!" rief Angoryanan in Gedanken. Fünf seiner Brüder antworteten auf diesen Anruf. Er sollte jedoch auf der Hut sein, dass die Mutter dieser Unwesen nicht ebenso unvermittelt erscheinen mochte. Doch vielleicht ergab sich die Möglichkeit, auch dieses Geschöpf zu fangen und im Vollbesitz der unnatürlichen Kraft für die Wiederherstellung des Dunkelkraftanzeigers zu dienen.

Die fünf, die geantwortet hatten verstofflichten aus einer Flut von Sonnenlichtkraft heraus in hellen Leuchtwirbeln. Dann waren sie nur noch für andere Sonnenkinder sichtbar. Zusammen flogen sie mit der Hilfe von Vorrichtungen, die von den Hütern des Worakashtaril "Schwingen des Südwindes" genannt wurden und ihnen die Möglichkeit verliehen, dreimal so schnell wie ein Sturmwind zu reisen.

Sie umkreisten die von jedem erfühlte Quelle von dunkler Kraft. Dann sahen sie das Geschöpf. Es war ein aus purer Dunkelheit geformtes, menschengestaltliches Etwas, das sich bereits unter den Auswirkungen des von den Sonnenrüstungen ausgehenden Hauches wand. Angoryanan erkannte, dass es wohl der widernatürlich belebte Schatten einer frau sein mochte. Dann verformte sich das Wesen und versuchte als dunkle Kugel nach oben zu steigen, hinaus aus dem sich immer enger um es schließenden Ring. Doch die Sonnensöhne setzten nach. Sie näherten sich der flüchtenden Erscheinung, die immer wieder wuchs und schrumpfte, als müsse sie viel Luft einatmen. In gewisser Weise war dem wohl auch so. Denn was für fleischliche Wesen die Luft, das war für solche körperlosen Wesen die reine Dunkelheit.

"Bleibt mir fern oder sterbt!" hörten sie nun die in der Luft schwirrende Stimme einer Frau. "Kind der Dunkelheit. Wir sind gekommen, deiner unerfreulichen Beschaffenheit einen Sinn und deinem unseligen Dasein ein Ende zu geben", sprach Angoryanan. Da erschienen gleich drei weitere dieser Unheilsseelen aus dem Nichts heraus und erzitterten in der gebündelten Ausstrahlung der Sonnenrüstungen. Jetzt schlossen die sechs den Ring um die vier Wesen, die sofort versuchten, wieder zu verschwinden. Doch die ihnen Kraft gebende Dunkelheit war bereits vom unsichtbaren Hauch des Himmelsfeuers überladen. So flimmerten ihre Gestalten.

"Werft die Himmelslichtnetze aus, Brüder! Jeder eines für jedes Unwesen", rief Angoryanan. Dieser fürchtete, dass sie gleich noch mehr dieser Unheilsgeschöpfe hier hatten und dann aus den Jägern in den Sonnenrüstungen die Gejagten wurden, wie deren Brüder von den Dementoren getötet worden waren.

Jeder von ihnen warf nun aus der Hand heraus eine hellblau flirrende Kugel auf eines der erkannten Nachtgeschöpfe. Diese versuchten nun wieder, durch schnellen Aufstieg zu entkommen. Doch ihre Jäger blieben auf derselben Höhe. Dass keines der Wesen nach unten auswich verhinderte Angoryanan, der aus der mitgeführten Sonnenkeule kurze grelle Lichtbündel verschoss, von denen jedes die Kraft eines Hundertstel Tageslichtes auf einer Fläche von zehn mal zehn Schritten enthielt. Dann trafen die Himmelslichtnetze auf die angezielten Gegner. Sofort blähten sich die blauen Kugeln zu blassblauen, engmaschigen Netzen aus reinem Licht auf, die jede Form dunkler Kraft in sich einschlossen. Bei stofflichen Wesen führten sie zu einer völligen Erstarrung. Bei Schattenwesen führten sie zu einer vollständigen Zusammenballung der darin steckendenKraft. Die vier Nachtgespenster hatten keine Möglichkeit mehr, sich zu bewegen. Denn das Himmelslichtnetz nahm ihnen nicht nur die Kraft, sondern auch den Willen zur Gegenwehr. Nun konnten die Sonnenkinder die Gefangenen an hauchdünnen Fäden näher an sich heranholen. Dabei merkten sie jedoch, dass die Gefangenen durch die Ausstrahlung ihrer Rüstungen aufgezehrt zu werden drohten. Es galt also möglichst rasch zum Endziel zu gelangen.

"Zum Worakashtaril!" befahl Angoryanan.

Dann hörten sie aus den zu kleinen, gebündelten blauen Lichtern geschrumpften die tief klingende Stimme einer wütenden Frau dröhnen: "Wer immer ihr seid. Das werde ich euch heimzahlen. Meine Kinder!!!"

"Holt uns endlich hier weg!" gedankenrief Angoryanan. Alle fassten sich an den Händen. Dann endlich umfloss sie die vereinte Kraft der im Sonnenturm wartenden Brüder und ließ sie von hier verschwinden.

Sie erschienen in der von goldenem Licht erstrahlenden Halle am breiten Fuß des erhabenen Turmes ihrer Ureltern. Die gefangenen Schattenwesen erbebten mit deutlich hörbaren geistigen Schwingungen wie ständig angeblasene Tieftonflöten. Sie wurden von der hier allgegenwärtigen Kraft des Vaters Himmelsfeuer gepeinigt, ja durchgewalkt und drohten gewiss darin zu zerkochen, bevor ihre verinnerlichte dunkle Kraft dort ankam, wo sie hinsollte.

Deshalb beeilten sich die Führer von Himmelslichtnetzen, ihren Fang in jene Halle zu bringen, wo seit mehr als einem Sonnenkreis das auf dunkle Kräfte weisende Pendel reglos über dem gemeinsamen Mittelpunkt von fünf in Unterabschnitte aufgeteilten Kreisen hing.

Gisirdaria, die Trägerin von Yanhanaria, sah mit gewissem Unwohl auf die vier blauen, flimmernden Kugeln. Ihr Sinn für fremdes Leben erfasste die dunkle Kraft, die vom Himmelslichtnetz eingeschnürt wurde. Sie fühlte auch, dass diese Wesen immer wieder versuchten, geistige Rufe auszusenden, wohl um Hilfe zu erhalten. Auch wusste sie, dass diese Wesen dem Gefäß der dunklen Lebenskraft zugeführt werden sollten. Einerseits war ihr nicht wohl dabei, dass das Pendel von der Kraft anderer Seelen zehrte. Doch sie tröstete sich damit, dass es in diesem Falle keine lebendigen Wesen waren, sondern unnatürliches Scheinleben. Die in ihr noch auf die Wiedergeburt wartende Meisterin der Lebenskräfte, Yanhanaria fühlte wohl das Unbehagen ihrer zweiten Mutter und gedankensprach: "Wir haben leider keine Wahl. Die Flut aus mitternächtiger Kraft hat das Pendel überlastet und angehalten. Wenn wir nicht wollen, dass die Welt von Geschöpfen dieser Art verseucht und leergefressen wird müssen wir einige davon opfern, um zu wissen, wo die dunkle Pest sich auszubreiten trachtet."

"Das weiß ich wohl, meine künftige Tochter", gedankengrummelte Gisirdaria. "Aber wir sollten das Leben schützen, nicht Leben nehmen."

"Jene, die in die Dunkelheit der Nacht hineingeboren wurden und die von der Kraft von Zerstörung, Pein und Tod in der Welt gehalten werden, nehmen die Menschen als schmackhaftes Futter wahr, ob jene, die das innere Selbst in sich aufsaugen oder als stoffliche Kinder der Nacht den Lebenssaft aus fleischlichen Wesen saugen. Sie alle sind ohne Gnade und Reue. So müssen wir es ihnen gegenüber ebenso sein."

"Es ist nicht einfach", schickte Gisirdaria zurück, während sie zusah, wie ihre Brüder einen großen, aus Mondglanz geformten Behälter in Form einer doppelten Kugel öffneten und einen mit alten Zauberzeichen beschrifteten Trichter hineinsteckten. Dann trieben sie die blauen Himmelslichtbündel in den Trichter hinein. Kurze Bewegungen ihrer gläsernen Kraftausrichter reichten, um die blassblauen Kugelschalen zu einem einzigen, flirrenden Faden aus eilig dahingleitenden Funken zerfallen zu lassen. Die in den Netzen gefangenen Schattenwesen blähten sich kurz zu kopfgroßen Kugeln aus reiner Dunkelheit auf. Dann verschwanden sie in einem silbernen Lichtwirbel durch den Trichter. Die vordere Kugel erbebte für drei Atemzüge. Dann erbebte die hintere Kugel. Gisirdaria fühlte einen Stoß gegen ihre Bauchdecke und hörte zugleich das zu einem von Prasseln und Fauchen überlagerte Aufschreien verendender Daseinsformen, zwei männliche und zwei Weibliche.

"Diese Laute werde ich wohl nicht mehr vergessen", dachte Gisirdaria, die sich jetzt ärgerte, dass Yanhanaria noch nicht geboren war und sie sie deshalb an diesen Ort hatte bringen müssen, damit sie sich von ihr anleiten lassen konnte, diese Dunkelkraftsammelvorrichtung zu bedienen.

"Finde dich besser damit ab, den Schrei der verwehenden Dunkelseelen noch häufiger hören zu müssen, künftige Mutter!" gedankenmaßregelte Yanhanaria aus der nicht mehr lange währenden Geborgenheit von Gisirdarias Schoß heraus. Doch ob Gisirdaria sich jemals damit abfinden konnte, wie auch immer sterbende Wesen mitzuerleben wusste sie nicht.

"Zwei Zwölftel des nötigen", sagte Dargarian, der gegen die üblichen Regeln der Wiedergeburten seinen Namen aus dem ersten Leben behalten durfte. "Also müssen wir noch je elf männliche und elf weibliche Daseinsformen dieser Art erheischen und in die Kugeln der gesammelten Dunkelkraft einlagern", erklärte der wieder zum erwachsenen Mann herangereifte Daisirian.

"Sie wird es nun wissen, dass die von ihr zu ihrer dunklen Brut gemachten Seelen entreißen wollten", gedankenmahnte Yanhanaria. "Auch wird sie wohl wissen, wie ihre dunklen Kinder unsere Nähe fühlen können. Das heißt, wo wir sind kann auch sie auftauchen, um uns im direkten Kampf zu stellen. Womöglich müssen wir viele ihrer Kinder mit den Sonnenlichtkeulen erlegen um den von ihr verdorbenen Seelen die Freiheit und den Frieden zurückzugeben."

"Gut, dass wir so viele Sonnenlichtkeulen haben", sagte Angoryanan. Denn er ging auch davon aus, dass die fleischlose Feindin nun wusste, wer die Jäger ihrer Kinder waren. Wie schnell sich die Rollen von Jäger und Beute vertauschen konnten hatten sie alle ja gerade mitbekommen. Aus dem einen Schattenwesen waren unvermittelt vier geworden. Sicher, das hatte ihnen Zeit erspart, nach weiteren dieser Geschöpfe zu suchen. Doch wenn aus einer unmittelbar hunderte von diesen Wesen werden mochten, was dann? Dann blieb nur der Kampf ums eigene Überleben, sofern die Sonnenrüstungen die aus verdichteter Dunkelkraft geformten Gegner nicht abhalten konnten.

Lohnt es sich noch, in einer anderenGegend auf Beute auszugehen?" wollte Angoryan wissen. Dargarian nickte. "Sucht noch weiter. Aber bleibt nicht alleine. Immer drei von uns zusammen, bis ein weiteres Geschöpf gefunden ist. Denn jetzt wird die Mutter dieser Unheilsbringer auf der Hut sein und ihrerseits mehr als eine ihrer Ausgeburten an denselben Ort senden."

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Birgute Hinrichter bebte vor Zorn. Sie hatten ihr gleich vier Kinder entrissen, diese Wesen, deren Ausstrahlung keines ihrer Kinder erfassen konnte. Wer zur Hölle, aus der sie wohl ihre Kraft hatte, war das? Es war nicht dieses Hexenweib, dass ihr schon einmal mit schlagartig freigesetzter Dunkelheit zu schaffen gemacht hatte. Doch wer fühlte sich an wie eine kurz vor dem Aufgehen stehende Sonne?

Als ihre Kinder umzingelt wurden hatte sie nur noch ein lautes, angstvolles Schreien gehört und durch die Sinne ihrer Kinder feurige Lichtspeere empfunden, die aus allen Richtungen auf sie einstachen, bis helblaues, wie zerstreutes Sonnenlicht wirkendes Licht über sie geflossen war und damit die letzte bestehende Gedankenverbindung getrennt hatte. Dann hatte sie einen vierfachen, dumpf und von verwaschenem Widerhall verfremdeten Aufschrei gehört, ohne zu erfassen, von wo er kam. Man hatte ihre Kinder ausgelöscht, einfach so ausgelöscht. Wer immer das war, diese Banditen würden den Tag ihrer eigenen Geburt verwünschen, schwor sich die selbsternannte Kaiserin der Nachtgeschöpfe.

Als wenn ihr Ärger nicht schon ausreichend war musste sie wenige Zeit später miterleben, wie drei weitere ihrer Kinder von diesen Sonnenhauchverbreitern eingefangen und verschleppt wurden. Wieder hörte sie die dumpfen, von verwaschenem Widerhall verfälschten Todesschreie ihrer Kinder. "Die Zauberstabträger wissen, wer das sein kann. Die sollen denen sagen, damit aufzuhören. Oder ich werde für jedes von denen ausgelöschte Kind zwanzig Menschen töten lassen", beschloss Birgute Hinrichter. Sie war die Herrin und Mutter der Nachtgeborenen. Sie wollte und durfte nicht erlauben, dass jemand mal eben so ihre Kinder umbrachte, ohne dass sie erfuhr, wer dies tat.

Doch halt! Sie durfte sich nicht von ihrer unbändigen Wut verleiten lassen, in eine auf sie wartende Falle zu rennen. Denn womöglich halfen jene, die ihre Kinder töteten, bereits den Zauberstabträgern und erwarteten, dass sie sich an diese wandte. Sie beruhigte ihren Zorn mit der Gewissheit, dass sie diese Tat nicht unvergolten lassen würde. Ihr fiel ein Spruch aus dem Universum der Star-Trek-Geschichten ein: "Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird." Dieses aus Ute Richters Erinnerungen geschöpfte Zitat passte doch so richtig zu ihrer Natur. Denn ihre Natur war die absolute Kälte selbst.

Dann fiel ihr noch etwas ein. Sie wollte ihre eigene Kraft verstärken. Die Zauberkraft dieser armseligen Hexe Morgause und die in ihr eingesaugte Kraft der Schattendienerin dieser Thurainilla waren schon sehr brauchbar. Doch um diese Kräfte am besten zu gebrauchen musste sie die lebende Kraftquelle Thurainillas ebenso einverleiben wie deren fleischlose Zwillingsschwester. Dann, so wusste sie, war sie Herrin aller auf reiner Dunkelheit basierenden Zauberkräfte und konnte auch dieses rote Flittchen vertilgen, das sich als Herrin und Mutter der Vampire anbeten ließ. Auch sie beanspruchte den Titel "Herrin der Nachtkinder" für sich. Doch am Ende konnte es nur eine geben, so wie in diesem martialischen Märchenfilm mit den sich gegenseitig enthauptenden Unsterblichen. Aber diese Nacht hatte ihr überdeutlich gemacht, dass sie noch weitere Feinde hatte. Der Weg zum Thron der Dunkelheit war immer noch gefährlich.

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09.02.2005

Olarammaya fühlte, dass auch sie bald dieses immer quirligere BündelLeben aus sich hinauslassen musste, wollte sie nicht davon zerrissen werden. Immer wieder quengelte Aroyan, dass es ihm langsam zu eng wurde und er selbst wieder atmen und sehen wollte. Doch Olarammaya fürchtete sich vor diesem Tag. Sie hatte Geranammayas heftige Schmerzen mitbekommen und wusste von der eigenen Wiedergeburt, dass es bedrückend für Mutter und Kind sein würde.

"Ich hätte in Faidaria selbst wiedererwachen müssen. Die ist nicht so bange wie du", gedankenmaulte Aroyan. "Du hättest noch lauter gejammert, wenn du als werdende Mutter herumlaufen müsstest, Klugscheißerchen", gedankenknurrte Olarammaya. Zwischendurch hoffte sie doch noch, dass sie gleich aufwachen und sich im gewohnten Körper von Ben Calder im Bett in Dropout wiederfinden mochte und über diesen absolut abgedrehten Traum lachen konnte. Doch immer wenn sie sich kniff fühlte sie Schmerzen. Auch waren die Tritte ihres künftigen Sohnes zu deutlich fühlbar.

"Ich muss nicht noch länger in deinem Unterkörper feststecken, Tochter einer ehemals von Dunkelheit erfüllten. Lass dir den Trunk der völligen Schmerzlosigkeit geben und mich aus diesem dunklen Wanst von dir herausschneiden. Ich bin sicher schon fähig, alleine zu atmen und wenn es sein muss Milch aus Brüsten zu saugen."

"Neh, freundchen. Jetzt auf keinen Fall. Ich will das jetzt wissen, ob ich das auch aushalte, was Patricia oder Dailangamiria und Geranammaya ausgehalten haben. Wenn ich das nicht aushalte lasse ich mich eben nicht mehr schwängern. Basta!"

"Ja, aber wenn du dich aufschneiden und mich aus dir herausziehenlässt haben wir beide es überstanden", legte Aroyan nach. "Achso, das ist dein Prob, Kleiner. Du hast noch mehr Schiss vor deiner Geburt als ich davor, mir deinetwegen den ganzen Unterleib aufreißen zu müssen", gedankenfeixte Olarammaya. "Gut, jetzt erst recht", dachte sie. Denn jetzt wollte sie es wirklich auch wissen. Sie hörte ein leises Gedankenlachen und erkannte, dass es ihre Zwillingsschwester war. Offenbar hatte Olarammaya wieder einmal zu intensiv gedacht. Dann hörte sie auch Faidarias Gedankenstimme:

"Du wirst Frieden mit deinem angeborenen Körper finden, wenn du seine höchsten Anstrengungen und Schmerzen überstanden haben wirst, Olarammaya. Und du, mein ehemaliger Vertrauter, wirst es hinnehmen, dass sie dich auf dem natürlichen Weg ans Licht der Welt bringt. Sonst muss ich mich fragen, wessen schwächlichen Geistes und Fleisches Kinder ich bisher gebären musste."

"Das ist ungerecht, Faidaria, meine ehemalige Vertraute. Ich habe mein Leben für dich und unsere gemeinsamen Kinder hergegeben. Niemand von den verweilenden Ureltern verriet mir, dass ich dazu bestimmt bin, immer und immer wieder auf die Welt zurückzukehren und das auch noch im Vollbesitz aller bisher erlebten Dinge. Dieses Wesen, das kein rechter Mann mehr und auch kein williges Weib ist soll mich so schnell wie möglich aus dem inneren Nest entlassen. Ich will nicht länger als nötig darin eingesperrt sein, wo dort draußen so viele Feinde lauern."

"Du wirst solange im inneren nest Olarammayas verbleiben, wie dein eigener Körper braucht, um sich auf das Leben außerhalb einzurichten. Erst dann, wenn er und nur er das weiß wird er Olarammaya dazu bringen, dich entschlüpfen zu lassen. Also sei friedlich und nutze die Zeit, die du noch nicht selbst handeln musst, um die nötige Stärke dafür zu erlangen!" befahl Faidaria. "Am besten verschläfst du noch ein paar Stunden. Dann geht die Zeit schneller um", schickte Olarammaya an ihr ungeborenes Kind zurück. "Zumindest haben Geranammaya und ich das so ganz gut ausgehalten."

"Was anderes verbleibt mir wohl auch nicht", gedankengrummelte Aroyan.

Während Olarammaya mit den anderen auf Ashtaraiondroi verbliebenen Sonnentöchtern aß bekam sie mit, wie ihre in der Welt herumjagenden Mitbrüder es schafften, einen der grauen Übervampire auf sich aufmerksam zu machen und ihn mit drei dieser Himmelslichtnetze einzuwickeln wie einen Rollschinken. Dessen schwarzmagisches Leben lud die beiden als Dunkelkraftsammler bezeichneten Wandelkammern mit einem weiteren Zwölftel nötiger Kraft auf. Es war ein männlicher Blutsauger, der eigentlich dazu bestimmt war, in Forschungsstätten argloser Menschen vorzudringen, um dort angebrachte Vampirabwehrvorrichtungen auszuschalten. Das brachte die Sonnenkinder auf den Trichter, sich genau dort auf die Lauer zu legen, wo sie selbst die schnellen Schwingungen jener Vampirblutüberhitzungsvorrichtungen mit ihren Sonnenrüstungen erfassen konnten.

"Und diese Nachtgöttin hat versucht, dieses graue Ungeheuer mit dunklen Wirbeln einzufangen?" fragte Olarammaya in Gedanken Gisirdaria und ihre noch ungeborene Tochter Yanhanaria. "ja, so haben es Angoryanan und die sechs Mitbrüder berichtet. Doch die gebündelte Kraft der Sonnenlichtrüstungen hat diese Schattenwirbel zerstreut, ehe sie dicht genug gebildet werden konnten. Jetzt sollte auch die Herrin der Nachtgeborenen wissen, wer ihre wahren Feinde sind."

"Dann könnte sie davon absehen, ihre grauen Superfledermäuse genau da hinzuschicken, wo diese für Normalvampire tödlichen Abwehrvorrichtungen eingebaut sind. Es sei denn, die legt's jetzt total darauf an, irgendwelche unmagischen Wissenschaftler abzugreifen, die ihr neues Vampirwerdungszeug zusammenrühren sollen."

"Womöglich hat sie keine andere Wahl. Denn nachdem wir die Mutter der fleischlosen Nachtgeschöpfe erzürnt haben und diese nun selbst auf neue Kinder ausgeht will die angebliche Gottheit der vom Mitternachtsstein entstammenden Brut ihre eigene Macht ausbauen. Aber damit mussten wir ja eben rechnen, als wir begannen, auf diese Wesen Jagd zu machen. Immerhin haben wir es bis jetzt vollbracht, keinen von uns zu verlieren", erwiderte Yanhanaria. Olarammaya fröstelte ein wenig, wenn sie dachte, dass Yanhanaria im Leib jener Frau steckte, mit der Ben Calder damals sein altes Leben hinter sich gelassen hatte und zu einem der nachgeborenen Sonnensöhne geworden war.

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Gooriaimiria, die große Göttin aller Nachtkinder, erbebte im Gesamtgefüge der in ihr aufgegangenen Einzelseelen. Jemand hatte es gewagt und erreicht, einen ihrer Kristallstaubkrieger gegen dessen Kraft und Widerstand zu ergreifen und wegzutragen wie ein Kalb zur Schlachtbank.

Sicher, sie hatte mit den heute lebenden Zauberern und Hexen gerechnet, dass die ihren grauen Kriegern überlegen waren. Denn die schickten sie meistens mit verschießbaren Portschlüsseln an einen Ort, wo aufgeschreckte Säuglinge losplärrten und damit den in ihren Kriegern kreisenden Unlichtkristallstaub zerstörten. Doch diesmal war es anders verlaufen. Als sie einen ihrer Kristallstaubkrieger in die Nähe eines Virenerforschungszentrums bei Chicago versetzt hatte und er bereits auf dem Weg war, sich zur Quelle der dort auf jedes andere Nachtkind lauernden Zerstörungskraft vorzuarbeiten, waren diese sechs überhellen Gegner aufgetaucht, die jeden Sinn ihres Kriegers überstrahlt hatten. Er hatte noch einen Hilferuf an sie aussenden können, bevor sie ihn in Kugeln aus verdichtetem Himmelslicht eingefangen und wie mit unzerreißbarem Netzen eingesponnen hatten, wie eine Spinne die Fliege, die in ihrem Netz zappelt. Als das Netz völlig geschlossen war hatte sie die Sinnesverbindung verloren. Versuche, ihren angeblich übermächtigen Krieger mit einem Schattenstrudel zu ergreifen und in Sicherheit zu bringen waren gescheitert. Denn die Kräfte des Schattenstrudels prallten von einer unerhört starken Abwehrwand zurück, die aus atmender Sonnenkraft bestand. Das kannte sie leider schon zu gut von diesen Mondanheulern aus Südamerika. Doch diese Abwehr hier war beweglich und nicht auf einen Ort beschränkt. So hatte sie weder ihren Krieger ergreifen, noch Hilfe zu ihm hinschicken können. Ihr Plan, mit mehr als vier von ihr abstammenden einen Ring um ein Tageskind zu legen, um dieses gegen dessen Willen mit einem Schattenstrudel zu befördern, war bereits im Ansatz undurchführbar, solange diese unerträgliche Sonnenkraft wirkte. Sie kannte nur eine Gruppe von Leuten, die über diese Macht geboten: Die Sonnenkinder. Diese widerliche Brut, die zur Vernichtung ihrer erhabenen Art erschaffen worden war, hatte sich unübersehbar und unüberhörbar zurückgemeldet. Das bestätigte sich dann noch, als sie ihren Krieger nach nur wenigen Minuten im Geiste laut aufschreien und im Klang der in Eigenschwingung versetzten Kristallstaubteilchen hören konnte. Dann war die Verbindung endgültig abgerissen. Ja, sie hatte nicht einmal die aus dem sterbenden Körper entweichende Seele des Dieners ergreifen können. Sie war mit dem Körper vergangen, von den Sonnenkindern ausgelöscht worden. Jetzt wusste sie, dass diese wussten, wo sie ihre grauen Kämpfer hinsenden würde. Denn nur die konnten die widerlichen Blutüberhitzungswälle durchbrechen, um an die Erforscher und Hersteller künstlicher Erreger heranzukommen. Ihre üblichen Kinder konnte sie dort nicht hinschicken. Selbst ihre auf Bewährung lebende Hohepriesterin Nyctodora schaffte es nicht, länger als zwanzig Sekunden auf ein derartig abgesperrtes Ziel zuzufliegen, ohne zu erbeben und rote Ringe vor den Augen zu sehen.

"Ich finde euch und töte jedes widerliche Balg von euch, bis ihr nicht mehr da seid!" schrie sie ihre Wut in die Unendlichkeit des Geistesraumes hinaus. Natürlich wusste sie, dass keiner ihrer Gegner sie hören konnte.

Als dann noch der Hüter einer Solexfolienfabrik bei Beirut um Hilfe rief, weil seine Fabrik von schweren Explosionen erschüttert wurde und er dann noch einen alten Eichenholzbolzen in die Brust bekam linderte das ihren Zorn nicht. Denn als sie die dem Körper entfliehende Seele ergriff und in ihr Gefüge einverleibte wusste sie, dass der Hüter zwei andere Nachtkinder gesehen hatte, die gezielt Jagd auf ihn und die beiden anderen Nachtgeborenen machten. Die Verräter waren zwar mit roten, keine Wärmestrahlung hinauslassenden Masken verhüllt, auf deren Stirnen die Buchstaben LLLN standen. Doch ihre Lebensausstrahlung, ihr Geruch und die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen verrieten überdeutlich, dass es Wesen ihrer Art, aber eben Ungläubige, Ketzer, verdammenswürdiges Geschmeiß waren, die mal wieder ihre Anstrengungen vereitelten, noch mehr gegen die Sonne geschützte Nachtkinder in die Welt zu schicken. Woher wussten die Verräter, wo ihre Fabriken standen? Erst hatten sie die Mondheuler dafür eingespannt, wie immer sie dies auch angestellt hatten. Jetzt griffen sie selbst an, nicht in offener, breiter Front, sondern in kleinen, aber gut abgestimmten Einsatzgruppen. Ja, und offenbar nutzten sie gezähmte Kleintiere, um Spreng- und Brandsätze an die empfindlichsten Stellen zu bringen. Irgendwer in ihren Reihen musste den Ketzern die Lage ihrer Fabriken verraten haben, das, was bei den Geheimdiensten der Menschen als Maulwurf bezeichnet wurde. Sie wollte keinen Maulwurf in ihrem Vorgarten. Ihr ganzes Streben, ein unzerstörbares Reich der Nachtgöttin zu errichten, wankte, wenn sie nicht einmal mehr ihren eigenen Dienern trauen durfte. Nein, sie musste jeden einzelnen prüfen. Das konnte sie, wenn sie den Geist jedes einzelnen durchsuchte, ob er oder sie Verrat beging oder auch nur im geschworenen Glauben an sie, die Göttin, wankte. Doch selbst mit ihren überragenden Kräften dauerte eine solche Überprüfung mehr als zehn Nächte. In der Zeit konnte sie nichts anderes tun. Das würde den Sonnenkindern, den Zauberstabschwingern und dieser nicht minder widerwärtigen fleisch- und blutlosen Kreatur Zeit geben, ihre eigenen Pläne gegen sie umzusetzen. Auch wenn sie es schon in ihrer fleischlichen Form erlebt hatte, in die Defensive gedrängt zu werden wollte sie sich nicht mit diesem Zustand anfreunden. Nein, sie musste was anderes tun, etwas, um zumindest die Ketzer von ihrem Feldzug gegen sie abzubringen. Ja, die Sonnenkinder und dieses schwarze Dämonenweib waren doch die Feinde aller Nachtkinder. So mussten diese sich zusammentun, um diesen Feinden zu begegnen, sie zu vernichten. Doch so bitter es war, solange sie nicht wusste, wen von diesen Ungläubigen sie ansprechen musste, um alle ihr widerstrebenden zu erreichen, war das nur eine Idee, aus einem Anflug von Wut und Verzweiflung geboren, weil sie merkte, dass sie doch noch nicht die allmächtige, unbesiegbare Göttin war. Dann mengte sich wieder ein Hoffnungsfunke in ihre eingetrübte Stimmung. Sie musste doch nur die allgegenwärtige Stimme erlernen, um jedes Nachtkind auf der Welt zu erreichen. Sie hatte die Quelle dieses Wissens in sicherer Verwahrung. Ja, es wurde Zeit, den zum ewigen Ungeborenen ernidrigten Schöpfer ihrer mächtigen Heimstatt zu zwingen, ihr seine letzten Geheimnisse zu verraten. Dann brauchte sie nicht mehr nach dem Maulwurf in ihrem eigenen Garten zu suchen, sondern konnte gleich alle Verräter auf einmal mit ihrer mächtigen Stimme erreichen.

Erst behutsam, dann immer fordernder, sandte sie ihre geistigen Schwingungen in den in ihrem Gefüge eingebetteten Giriainanaansirian. Dieser erwachte halb aus dem Zustand gedanklicher Lähmung. Doch sie ließ ihn nicht zu voller Stärke erwachen. Sicher, entrinnen konnte er ihr nicht. Doch er könnte versuchen, ihr sein Wissen zu verweigern.

Giriainanaansirian erkannte, dass er wieder wach wurde. Dann erkannte er auch, dass seine Trägerin wohl was von ihm haben wollte. Sofort regte sich Widerstand gegen sie. Er hatte geschworen, ihr nichts von seinem unermesslichen Wissen über die dunklen Kräfte zu überlassen. "Wie klingt die allgegenwärtige Stimme, mein kleiner Dauergast", säuselte die Gedankenstimme dieses Unwesens in seinem eigenen Geist.

"Nein, du gefräßige Dirne! Ich werde dir nicht die Schlüssel meiner Macht überlassen", begehrte er auf und versuchte, sich noch stärker gegen die ihn umschlingende Gesamtheit ihres Daseins zu stemmen. Doch ihre geistigen Ströme drangen in ihn ein, bliesen ihn auf und saugten an ihm wie ein Blasebalg. Er wollte kämpfen, um sein geheimes Wissen zu behalten. Bisher hatte sie sich damit abgefunden, ihn einfach in sich einverleibt und weggeschlossen zu haben. Jetzt wollte sie seine Macht haben, sie aus ihm herauspressen, wie jemand den Saft aus einer reifen Frucht herauspresste. Sie wollte das Geheimnis der allgegenwärtigen Stimme, mit der er damals jedes seiner Nachtgeschöpfe erreichen konnte, so wie sein Diener Sharanagot es mit seinen Schlangenkriegern geschafft hatte. Er fühlte, wie die damit zusammenhängenden Erinnerungen und Kenntnisse in ihm aufstiegen. Er musste sie niederringen, sich nicht aussaugen lassen. Doch ihre Kräfte pumpten seinen Geist auf und ab und brachten ihn in eine ihr genehme Gleichschwingung. "Wehr dich nicht, Kleiner. Es peinigt dich mehr als mich, deinen kleinen Rest von Widerstand wegzubrechen", hörte er ihre verdammenswürdige Stimme. Er wusste schon, warum er niemals nie einem Weib seine Gunst darbringen wollte. Sein schlimmster Angsttraum, so einem aus sich neues Leben ausstoßendem Geschöpf für alle Zeiten ausgeliefert zu sein, erfüllte sich einmal mehr auf unerträgliche Weise.

Immer deutlicher wurde der Strom der alten Kenntnisse und Erinnerungsbilder. Jetzt sah er sich, als er noch ein lebendiger Mann und mächtiger Kundiger der mitternächtigen Künste und Kräfte war, wie er den eiförmigen, vollkommen schwarzen Stein der Mitternacht in seinen Händen wog und dann mit einem Tropfen seines eigenen blutes Benetzte. Dazu sang er ein Lied, das Lied des Herren der Geschöpfe, mit dem dunkle Meister wie er eigene Diener erschaffen und lenken konnten, egal wo sie waren. So verband er den Mitternachtsstein mit ihm und den Stein mit jedem davon hervorgebrachten Nachtkind. Außerdem lagerte er einen durch die Tötung eines unschuldigen Kindes gelösten winzigen Teil seines eigenen inneren Selbst in den Stein ein, machte dieses Bruchstück damit zum Wächter des Steines, der seinen Willen vollstrecken sollte. Erst als er dies alles getan hatte trat er mit dem sanft erbebenden Stein in den Händen in einen aus dem Blut von acht verschiedenen Wesen gemalten Kreis. Dieser war in acht Unterabschnitte unterteilt, deren Grenzlinien sich im Mittelpunkt trafen. Jeder Abschnitt stand für einen der acht unvergänglichen Körper der Gesamtheit aus Himmel und Erde, die widerwärtige sonne, die er mit dem Blut eines halbwüchsigen Feuerbläsers darstellte, dem Mond, der durch das Blut einer Jungfrau mit starken hohen Kräften dargestellt wurde, sowie den fünf anderen am Himmel sichtbaren Brüdern der großen Mutter.

Für den schnellen kleinen Boten stand das Blut eines jungen weißen Hengstes. Für die weiße Schwester des Morgens und Abends stand das Blut einer erstmalig Mutter gewordenen Frau ohne die hohen Kräfte. Für den blutroten Bruder stand das Blut eines starken Kriegsknechtes, der da selbst schon mehrfach Leben genommen hatte. Dem großen Bruder am Himmel, dessen vier Kinder ihn in ewiger Treue umtanzten, hatte er das Blut eines alten männlichen Abkömmlings des größten damals lebenden Zaubertieres gewidmet, dem Götterträger aus der Art der Feuerbläser. für den fernen Ringträger hatte er das Blut eines bepelzten Metalljägers genommen, nachdem dieser ihm mehr als ein Zehntel seines Gewichtes in purem Sonnenmetall verschafft hatte. Der allgebärenden Quelle, auf deren Haut sie alle herumliefen, hatte er das Blut einer mit den hohen Kräften begüterten Frau, die bereits mehrfache Muttermutter geworden war dargebracht.

Dieser Kreis, der in seiner dunklen Festung auf dem Innenhof gemalt war, sollte die Quelle für die allgegenwärtige Stimme sein, die in alle acht Winkel der Welt dringen und jedes dort lebende Nachtkind erreichen und zu seinem Dienst rufen sollte. Von hier aus würde er sie alle losschicken, um die Macht der neun anderen zu brechen, um König der Könige zu werden, der eifrigste Diener der alles endenden Dunkelheit, in deren ewigen Schoß alles zurückkehren musste, was damals daraus hervorgebrochen war.

Unter den seinen Geist im Gleichklang haltenden Kraftstößen erinnerte sich Giriainanaansirrian, dass er, wo er noch Iaxathan, der König der Mitternächtigen gewesen war, die Worte von Wind und Nacht in einer bestimmten Abfolge gerufen und dabei über einen der acht Unterabschnitte des Zauberkreises hinweggeblickt hatte. Er rief die mit dem vergossenen Blut gemeinten Gestirne an, wobei er den Vater Himmelsfeuer mit verächtlichen Worten bedachte, dass er nicht der Herr allen Lebens sei und die halbe Zeit im Bauch seiner Geliebten feststeckte, weil er nicht manns genug war, sie in seiner ganzen Größe zu beschlafen und für jeden Zeugungsakt vollends in sie eindringen musste. Den blutigen Bruder der großen Mutter bedachte er mit Worten der Freude am Töten und den Worten der Zerstörung, die immer am Ende allen Schaffens stand. Und so hatte er für jeden Körper am Himmel seine Verse. Für die kleine Himmelsschwester hatte er Dankesworte gewählt, weil sie die Wesen der Nacht führte und das Wasser bändigte, das sonst die ganze Haut der großen Mutter überdecken mochte. Für die Allgebärerin, die auch ihn und seine Gefolgschaft hervorgebracht hatte, wählte er Worte, die das miteinander von Leben und Tod besangen. Denn kein Leben diente, wenn es nicht durch den Tod in Grenzen gehalten wurde. Und irgendwann würden Miri, das Leben und Sharil, der Tod, im letzten Liebesakt miteinander verschmelzen und das eine große Ganze werden, die Wiederkehr der alles endenden Dunkelheit, in die alles bis dahin entstandene für immer zurücksinken würde.

Die Anrufungen musste er entgegen der Richtung des verhassten Sonnenlaufes wiederholen. Achtmal musste er dies tun. Dann fühlte er die Aufmerksamkeit aller seiner bis dahin entstandenen Diener. Er rief sie mit körperlicher und geistiger Stimme an, wobei er den Mitternachtsstein gegen seine Stirn drückte, um die Schwingungen seiner Stimme in ihn zu übertragen. Er erkannte jeden, der ihm antwortete und konnte ihn oder sie mit Namen ansprechen. Doch er merkte auch, dass diese Macht Kraft kostete. Sein Körper erbebte und erhitzte sich ins unerträgliche. Sein Geist geriet ins Wanken, weil er die für diese mächtige Ausführung der hohen Kräfte nötige Anstrengung nicht lange aushalten konnte. Wohl wwahr, um alle ihm folgenden an jedem Ort der Welt zu erreichen musste er viel von sich selbst opfern. So hatte er diese Macht, alle Krieger auf einmal zu erreichen, nur dreimal genutzt, nämlich um den großen Krieg zu befehligen, der ihm die alleinige Herrschaft bringen sollte. Dann hatte er den zweittörichsten aller seiner Einfälle gehabt und die nach Leibesfreuden süchtige Schwester Ailanorars in seine Festung geholt. Denn als sein eigener Gefangener im Auge der Mitternacht konnte er die allgegenwärtige Stimme nicht mehr nutzen. Denn dafür musste er ja einen lebenden, atmenden Leib sein eigen nennen, an dessen Kopf er den Mitternachtssteinhalten konnte. Diese schmähliche Erkenntnis schrillte wie ein lauter Aufschrei durch seinen Geist, und er fand sich auf einmal wieder dort, wo er seit seinem allertörichsten Einfall, Heptachirons Geist in sich selbst hieneinzuziehen, feststeckte, im aus reiner Seelenkraft gefügten Leib seiner eigenen Schöpfung und größten aller Feindinnen. Auch erkannte er, dass es ihr Wutschrei war, den er im letzten Augenblick der ihm abgepressten Erinnerungen vernommen hatte. Denn jetzt wusste sie auch, dass sie selbst diese Kunst der allgegenwärtigen Stimme niemals anwenden konnte. Denn zum einen besaß sie selbst keinen atmenden Leib mehr. Zum zweiten müsste sie dafür ja den Stein der Mitternacht ergreifen und an ihre eigene Stirn halten. Da dieser Stein jedoch viele hundert Menschenlängen tief auf dem Grund eines Weltmeeres lag, kam auch keiner ihrer lebenden Diener heran, weil dises Gebiet vom größten aller Flüsse überspült wurde, dem warmes Wasser tragenden Strom östlich des zweifachen Abendrichtungserdteiles. Ihre Wut umwühlte ihn wie ein unbändiger Wirbelsturm. Doch für ihn, den geknechteten, den von der eigenen Schöpfung zum dienstbaren Wissensspender erniedrigten, war diese Wut eine erfreuliche Erkenntnis. Sie hatte ihm sein Wissen abgerungen. Doch sie konnte überhaupt nichts damit anfangen. Es war für sie, die sich für so unermesslich mächtig hielt, vollkommen nutzlos. Ihre Wut und seine Genugtuung brachten das schwache Gefüge seines gefangenen Geistes und ihr mächtiges Gefüge aus über neunhundert verschmolzenen Seelen zum beben, ganz so wie vor mehr als einem Monddurchlauf, als starke Kräfte der Erde auch die Heimstatt dieser selbsternannten Mutter aller Nachtkinder erschüttert hatten.

"Und ich werde doch die allgegenwärtige Stimme nutzen können, Kleiner!" brüllte ihre Geistesstimme in seinem Bewusstsein. "Ich werde einen Weg finden, die Stimme aller Nachtkinder zu werden und den aus Unglauben und Missachtung meiner Größe entbrannten Streit niederringen, so oder so."

"Es erfreut mich, dass du, meine Kerkermeisterin, deine erste große Niederlage gegen mich erleiden musstest. So hege ich Hoffnung, dass du und ich zusammen schon bald in den Schoß unser aller Urmutter, der alles endenden Nacht, zurückgesogen werden."

"Erst wenn die widerliche Sonne am Himmel erlischt und ihre Asche sich im All verteilt, du kleiner, dich selbstüberschätzender Bengel. Und jetzt schlaf weiter, damit ich in Ruhe nachdenken kann!"

"Nicht, bevor du mich nicht aus dir freigegeben hast, missratene Tochter", begehrte Giriainanaansirian auf, der sich für einige Momente wieder als größten Meister der dunklen Wesen und mächtigsten Diener der alles endenden Nacht begriff.

"Du schläfst jetzt weiter, bis ich dein Wissen wieder brauche, Kleiner!" erwiderte sie. Da fühlte der gefangene Geist, wie ihm schlagartig Kraft abgesogen wurde. Seine Gedanken erstarrten. Seine Regungen erlahmten. Er war nun wieder der niezugebärende Sohn der großen Mutter aller Nachtkinder.

Gooriaimiria empfand im Moment nicht die Freude, diesen Wicht da in sich selbst wieder zur Untätigkeit verdammt zu haben. Sie ärgerte sich, dass die allgegenwärtige Stimme nur auf diese eine Weise erklingen konnte. Ja, und dieser zum ewig ungebärbaren Bengel degradierte Möchtegernkaiser aller dunklen Wesen hatte zur Sommermittagssonne noch mal recht. So, wie er diesen Zauber entwickelt hatte konnte weder sie selbst noch eines ihrer eigenen Kinder ihn nutzen. So blieb ihr doch nur die Anbiederung an die Ketzer, um mit diesen gemeinsam gegen die Sonnenkinder und das Dämonenweib vorzugehen.

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11.02.2005

"Hatten Sie nicht gesagt, dass diese Elektrorechnerabteilung unbehelligt bleiben soll, weil sie nicht so wichtig ist?" fragte Desmond Richway seinen Vorgesetzten, als dieser ihm am Vormittag des 11. Februar eröffnete, die Abwesenheit von Martha Merryweather auszunutzen, um die Computerabteilung neu zu organisieren.

"Ich weiß genau, was ich gesagt habe, Desmond", erwiderte Lionel Buggles. "Ich weiß vor allem, warum ich es gesagt habe, Desmond", legte er nach. "Diese Frau, Martha Merryweather, ist eine potenzielle Gefahr für den Zusammenhalt unseres Ministeriums. Sie ist zu intelligent, um sich auf eine Anerkenntnisunterschrift einzulassen, weil sie weiß, dass wir damit mehr Ärger bekämen als sie. Sie hat Kontakte, die mir persönlich und auch meiner Amtsführung schaden können, wenn sie erfahren, dass wir eine Vereinigung aller nordamerikanischen Zauberergemeinschaften anstreben. Es ist jetzt schon riskant, mit dem weißen Sombrero in Ciudad de México zu verhandeln, weil einige seiner Leute wiederum Drähte zu bestimmten Familien in Europa haben. Wenn da noch herauskommt, dass ich von jedem von Ihnen eine schriftliche, magisch bindende Anerkenntnis meiner Amtsführung abverlange, könnten die ihren mexikanischen Freunden und Verwandten einreden, ich sei darauf aus, ihnen das Land und die Freiheit wegzunehmen. Die würden dann ihren eigenen Einfluss nutzen und Piedraroja davon abbringen, sich auf meinen Vorschlag einzulassen, ja ihm womöglich in Aussicht stellen, ihnen zuzustimmen oder den Ministerstuhl für jemanden freizumachen, der oder die damit keine Probleme hat. Außerdem weiß ich, dass Atalanta Bullhorn schon mit möglichen Nachfolgern von ihm unterhandelt, wie die Zusammenarbeit zwischen denen und uns noch besser laufen könnte, ohne eine einheitliche Führungsspitze zu bestimmen. Auch hat diese Martha Merryweather Kontakte nach England. Die Briten könnten es für einen üblen Witz auf ihre Kosten halten, dass ich den Kanadiern mehr Freiheitsrechte zugesagt habe, wenn sie sich von der Londoner Langlaufleine lösen. Shacklebolt war Auror, ist also von Natur aus argwöhnisch, was äußere Einflüsse angeht. Er gilt immer noch als einer der Helden von Hogwarts, weil er sich im direkten Kampf gegen Sie-wissen-schon-wen gestellt hat. Ihm hören sie immer noch zu, auch wenn er diesen dicken Haufen Drachenmist mit den angeblich ausgerotteten Dementoren verzapft hat. Ach ja, und was mich dazu bringt, diese Frau aus ihrer bisherigen, doch sehr einflussreichen Anstellung zu entfernen, ohne dass es ihr bewusst wird, was hier bei uns geschieht ist, dass ihr erster Sohn in Kontakt mit einer Gemeinschaft steht, von der wir nur wissen, dass es sie gibt und gerade mal zwei Mitglieder kennen, an die wir nicht herantreten dürfen, weil sie für unsere Sicherheit zu wichtig sind. Denn sie können die dunklen Wesen wie Vampire und Nachtschatten und die vaterlosen Töchter des Abgrundes effektiv bekämpfen. Deshalb werden wir uns mit dieser Gemeinschaft nicht anlegen oder uns ihr gar als weiteren Feind aufdrängen. Denn genau das würden wir, wenn wir Martha Merryweather zu einer magisch bindenden Anerkenntnis meiner Amtsführung zwingen wollten. Da sie zudem in einer vorsichtigen, jedoch unverkennbaren Weise gegen mein Vorhaben spricht, genauso wie dieser igelborstige Franzose, der mit Linda Langohr verheiratet ist, kann und werde ich die Gunst nutzen, sie wegen Unzuverlässigkeit und unzureichender Loyalität aus ihrem Amt zu entfernen. Das Recht habe ich laut Vertrag und Amtseid. Also, zitieren Sie die sechs Unterwarte dieser Elektrorechner in Ihr Büro und legen Sie denen die Anerkenntnisbekundungen zur Unterschrift vor! Ich will heute noch die Entscheidung haben."

"Sehr wohl, Herr Zaubereiminister!" bestätigte Richway die Anweisung. Dann dachte er, dass ja nur dann ein Nomajweltkontrollamt Sinn machte, wenn deren Nachrichtenübermittlungen mitverfolgt wurden. Das hatte der Minister also doch noch erkannt. So konnte Richway nun daran gehen, dieses Vorhaben zum erfolgreichen Abschluss zu bringen.

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12.02.2005

"Madame Lacroise hat mir angeboten, mich mit ihrem Privathubschrauber bis Santa Barbara zu bringen. Sie kennt da in der Nähe einen Landeplatz, wo ihr Mann immer gelandet ist, wenn er Tonaufnahmen gemacht hat. Von da aus könnte ich dann locker mit einem Taxi zu meinem Haus hin", sagte Martha Merryweather, als sie mit Catherine, Joe und Claudine von der Trauerfeier für Laurentines Eltern in die Rue de Liberation 13 zurückkehrte. "Wird sowieso ein langer Tag morgen", fügte sie noch hinzu.

"Wie war das, du musst um fünf Uhr in Le Bourget sein, um mit deren Privatflugzeug um halb Sechs abzuheben?" fragte Joe seine ehemalige Studienkameradin. Martha bestätigte es. Ihr war immer noch nicht so ganz wohl bei dem Gedanken, was sie nach ihrer Rückkehr erwartete. Früher hatte sie sich immer gefreut, wenn sie nach Hause kam, weil sie mit den Leuten, magisch oder nichtmagisch, guten Kontakt gefunden hatte. Aber jetzt, wo das Zaubereiministerium in einer Art Belagerungszustand war und sie diesen Fragebogen ausfüllen musste argwöhnte sie, dass man ihr das Gefühl vom süßen Zuhause vergellen mochte. Man, das war vor allem dieser aus Notlagen Vorteile ziehende Mensch namens Lionel Buggles.

"Und, nimmst du Madame Lacroises Angebot an?" fragte Catherine.

"Ich habe bis zur Zwischenlandung in New York Laguardia Zeit, wo die Kenworthys aussteigen möchten. Da wird der Flieger nachbetankt, bevor es zum LAX geht", führte Martha Merryweather aus.

"Mit diesem Luftschiff wärest du dreimal hin und wieder zurück", grummelte Joe, den der Gedanke piesackte, dass er wohl so schnell nicht mehr mit ganz normalen, völlig magiefreien Düsenmaschinen verreisen durfte. "Das ist richtig und wäre mir in dem Fall ... nein, nicht so wirklich recht. Wenn Lucky und Britt recht haben lungern an der Landestelle zu viele Einreisekontrolleure herum. Deshalb sind ja schon viele, die da Urlaub machen wollten mit dem nächsten Himmelsfeger zurückgeflogen, weil sie ja auch nicht groß in den Staaten herumreisen konnten, ohne gültige Zahlungsmittel."

"Ach, und du meinst, an einem total magielosen Flughafen steht keiner von euren Leuten rum?" fragte Joe, der es natürlich genau wusste. Martha wusste das natürlich auch und erwiderte: "Ja, nur dass ich da in einer größeren Menge nicht so ohne weiteres verschwinden kann, wenn die meinen, ich hätte irgendwas übles im Sinn."

"Ja, und der Reisesphärenkreis von New Orleans ist ja seit diesem Noterlass von Buggles mit diebstahlsicher bezauberten Gegenständen blockiert, wie damals unter Wishbone", stellte Catherine klar. "Sonst hätte ich gesagt, ich bring dich mal eben nach New Orleans rüber und du apparierst in Etappen bis in dein Haus, und wir erzählen Madame Lacroise was von einem spontan bewilligten Sonderurlaub, den du mit deinen Verwandten verbringen möchtest, wo du schon mal hier bist und die Kinder gut untergebracht sind."

"Ui, da erinnerst du mich an was, Catherine. Ich muss vor dem Abendessen die nächste Dosis des Überbehütsamkeitshemmers trinken, der diesem gemeinen Elixier entgegenwirkt, dass sich durch die Drillingsschwangerschaft in meine DNS eingebrannt hat", knurrte Martha Merryweather. "Hast du noch bis morgen genug hier oder möchtest du von Hera was haben, bis du wieder zu Hause bist."

"Ich glaube, die Damen in Millemerveilles brauchen das Mittel dringender als ich, Catherine. Ich habe bis zum 14. Februar genug dabei. Ist ja auch schon so widerlich, dass ich von so einem Trank abhängig bin wie eine Alkoholikerin vom Bourbon oder eine Heroinsüchtige."

"Siehst du das so?" fragte Catherine. Joe grinste nur. Martha nickte. "Dann sieh es eher so, wie die nötigen Insulingaben bei Diabetes oder Blutdrucksenkungsmittel", sagte Catherine. Martha schlug sich vor den Kopf. Natürlich hatte Catherine recht. Sie war nicht süchtig, sondern in gewisser weise chronisch krank und musste zur Beibehaltung eines lebenswerten Lebens gewisse Medikamente einnehmen. Sicher hätte sie auch auf das Überbehütsamkeitshemmungsgebräu verzichten können. Doch dann hätte sie jede Sekunde um sich gesehen, wo ihre drei Kinder waren und jede Minute in völliger Angespanntheit verbracht, die ihre Kinder nicht in ihrer Nähe waren. Sie hätte sogar Angstzustände bekommen, wenn sie mehr als eine halbe Stunde lang nicht wusste, wo ihre Kinder waren und was mit ihnen passierte. Zwar gab es neben der alchemistischen Behandlungsmethode auch eine psychotherapeutische Methode, die Angst um die eigenen Kinder niederzuhalten, erforderte aber immer eine gewisse Zeit der Meditation. Sandrine Dumas hatte das erwähnt, dass sie für diese Beruhigungsmeditation immer eine halbe Stunde Zeit einplanen musste. Mit dem Hemmtrank brauchte sie nur zehn Sekunden vom hinunterschlucken bis zur Wirkung, die dann zehn volle Stunden vorhielt. Sicher würde eine höhere Dosierung die Wirkungsdauer verlängern, barg jedoch die Gefahr der Empathielosigkeit und eine unumkehrbare Gewöhnung an das Gebräu in sich. Doch zehn angst- und sorgenfreie Stunden reichten für einen Arbeitstag oder eine längere Reise mit anderen Leuten schon aus.

"Ich habe noch einige Sachen im Vorratsschrank, Martha. Was wünschst du dir zum Abendessen, was du nur hier kriegen kannst?" bot Catherine ihrer Hausgästin an. Martha überlegte einige Sekunden und bat dann um eine Bouillabaisse und zum Nachtisch was von dem Prirsichkuchen, dessen Rezept Catherine von ihrer Mutter erlernt hatte. Claudine freute sich auch darauf. Catherine nickte und begab sich in die Küche, um das insgesamt aus vier Gängen erstellte Abendessen zuzubereiten.

Joe verhielt sich während des Wunschmenüs zurückhaltend. Offenbar gingen ihm viele Sachen durch den Kopf, wo er heute wieder daran erinnert wurde, wie schnell geliebte menschen sterben konnten, ja und auch es dann noch tragischer war, wenn es zwischen den Verstorbenen und einer Angehörigen vorher zu einem scheinbar unauflöslichen Zerwürfnis gekommen war. Auch Martha musste daran denken, dass sie ihre Eltern zu früh verloren hatte, vor allem das Siechtum ihres Vaters. Dessen geistiger Verfall und die damit einhergehende Bösartigkeit hatten ihr heute auch wieder zugesetzt, als sie Laurentines Tränen gesehen hatte. Trotz aller technischen und/oder magischen Errungenschaften blieb der Tod geliebter Menschen immer noch ein ewiger Schatten über dem Leben, obwohl die Christen ja von einer Heimkehr in Gottes Reich sprachen und auch die Muslime und Juden vom Himmelreich erzählten. Andererseits war die Vorstellung der Unsterblichkeit auch kein wünschenswertes Ding. Wenn jeder ewig leben konnte gab es womöglich keinen Anlass, mit jedem irgendwie gut auszukommen, da ja jeder jederzeit immer wieder neu anfangen konnte und dann noch jahrhundertelang immer dieselben Leute um sich herumzuhaben war auch nichts, was sich jemand wünschen mochte.

Martha genoss mit Catherine und Joe noch einen gemütlichen Abend mit Bordeauxwein. Claudine war seit halb zehn im Bett und hatte auch keine Anstalten gemacht, die Bettgehzeit noch länger hinauszuzögern. Immerhin war es auch für sie ein sehr langer und gefühlsmäßig aufwühlender Tag gewesen.

Um halb elf abends klopfte etwas an das Wohnzimmerfenster der Brickstons. Catherine machte schnell auf und ließ eine leicht zerzaust wirkende Schleiereule hereinfliegen. Erst dachte die magische Hausherrin, dass der Vogel was für sie brachte. Doch er steuerte Martha Merryweather an. Diese sah, dass der Vogel einen blauen Ring mit weißen Sternen am rechten Bein trug. Also kam er vom US-Amerikanischen Zaubereiministerium. Ihr Argwohn wurde sofort sehr groß, als sie den versiegelten Umschlag vom Bein nahm und "Nur für Sie persönlich, höchst vertraulich!" darauf las. Tatsächlich hatte der Schreiber der Adresse Catherines und Joes Haus und sogar das Gästezimmer der Brickstons in die Anschrift eingefügt. Es stand aber auch: "Falls möglich persönlich zustellen" darauf. Es wurde jedoch keine Antwort erbeten. Wenn das US-Zaubereiministerium ihr eine solche Post schickte, obwohl sie doch übermorgen schon wieder zum Dienst antreten würde, dann hatte es sicher was mit dem Fragebogen zu tun, was keinen Aufschub duldete.

Martha durfte mit Catherine ins Dauerklangkerker-Arbeitszimmer gehen, während die Posteule ohne Antwortbrief wieder davonflog. Auch wenn da "Vertraulich" stand wollte Martha Catherine vorlesen, was das Ministerium von ihr wollte. So las sie:

"Werte Mrs. Merryweather, hiermit wird Ihnen in Beantwortung des von ihnen am5. Februar ausgefüllten Fragebogens seitens unserer Abteilung für magische Familien, Ausbildung und Studien, sowie Ihres direkten Vorgesetzten, Mr. Desmond Richway, folgender Bescheid und nachfolgende Empfehlung zugestellt.

Leider sieht sich die für die Auswertung der an alle im Zeitraum der letzten zehn Jahre in unsere Staatengemeinschaft eingewanderten und/oder durch Heirat eingebürgertenMenschen mit magischen Fähigkeiten gehalten, Ihre Antworten im Fragebogen als Ausdruck einer höchst wahrscheinlichen Unzuverlässigkeit und fehlenden Unterstützung unseres Zaubereiministeriums zu erkennen. Gemäß der im oben genannten Fragebogen dargelegten Folge eines solch bedauerlichen Ergebnisses sieht sich die Abteilung für magische Familien, Ausbildung und Studien daher gehalten, Ihnen die durch Heirat erworbeneMitgliedschaft US-amerikanischer Staatsbürger mit magischer Begabung abzuerkennen. Die Ehe an sich bleibt bis auf weiteres anerkannt. Ihnen wird jedoch seitens der Abteilung für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Studien, sowie der Abteilung zur Wahrung magischer Gesetze auferlegt, auf keine Ihnen mögliche Weise in das Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten zurückzukehren, da Grund zur Sorge besteht, dass Sie mit unserem Ministerium abträglichen Personenkreisen oder Gemeinschaften gegen uns wirken könnten und/oder von solchen uns abträglichen Personen oder Personengruppen gegen uns instrumentalisiert werden könnten. Da wir dieses unter keinen Umständen zulassen dürfen gilt das soeben gegen Sie ausgesprochene Rückkehrverbot.

Dies hat ebenso zur Folge, dass Sie von Ihrem bisherigen Dienstposten im US-amerikanischen Zaubereiministerium auf unbestimmte Zeit beurlaubt sind. Die Behörde für Dienstanstellungsvergütungen wurde über diesen Schritt unterrichtet und hat ihre Zustimmung erteilt, Ihnen für die nächsten zwei Kalendermonate das halbe Gehalt in Form von internationalen Zahlungsanweisungen gutzuschreiben, sobald die entsprechenden Geldübermittlungswege wieder vollumfänglich verfügbar sein werden. Ihnen wird freigestellt, die Auszahlung dieser beiden genehmigten Gehälter auf Ihren Ehemann Lucullus Merryweather umschreiben zu lassen oder diese Gehaltsanweisungen an ein für Ihre drei Kinder mündelsicher eingerichtetes Bankverlies oder -guthaben erstatten zu lassen. Ihr bisheriger Dienstposten wird mit Wirkung vom 13. Februar von Mrs. Inga Feller eingenommen, welche die von Ihnen bisher geführte Unterabteilung für elektronische Informationsbeschaffung und Nachrichtenüberwachung leiten soll, bis adäquates Personal für weitergehende Ausbaumaßnahmen geschult worden sein wird.

Zeitgleich mit dieser Mitteilung wird auch Ihrem Ehemann Lucullus Merryweather eine Aufforderung zugestellt, sich zum weiteren Verbleib der in seiner Obhut befindlichen drei Kinder Linda Estrella, Hillary Camille und Louis Eurypides zu äußern. Ihnen beiden wird angeboten, diesbezüglich per Eulenpost zu korrespondieren, ob die erwähnten Kinder in seiner dauerhaften Obhut verbleiben oder ihnen auf dem Weg der magischen Luftschiffverbindung Viento del Sol - Millemerveilles überantwortet werden sollen. Sie beide werden jedoch hiermit darüber belehrt, dass eine einmalig zwischen Ihnen beiden getroffene Entscheidung unwiderruflich wird, sobald uns diese zur Kenntnis gebracht wurde. Wir gewähren Ihnen beiden für diese Abstimmung den Zeitraum von zwei Wochen, beginnend am 12. Februar und Endend am 26. Februar 2005, 23:59 Uhr Ostküstenstandardzeit. Liegt der Abteilung für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Studien keine eindeutige Aussage von Ihnen Beiden vor, erlischt Ihr Anrecht auf Erziehungsbeteiligung und Ihr Ehemann erhält das alleinige Sorge- und Erziehungsrecht bis zur Vollendung des siebzehnten Lebensjahres des letztgeborenen Kindes.

Im Bewusstsein, dass diese Mitteilung nicht ihr Wohlwollen finden wird und Ihrerseits eine gewisse Verärgerung hervorrufen mag wünschen wir Ihnen für die Zukunft alles gute und verbleiben mit freundlichen Grüßen ... - Ihr Heuchler!" Die beiden letzten Worte standen nicht in der Mitteilung, sondern waren nur Marthas direkte Reaktion auf das soeben vorgelesene. Einen Moment lang konnte Catherine Wut in den hellblauen Augen ihrer Bekannten sehen. Doch dann trat Entschlossenheit in den Blick der soeben zwangsbeurlaubten Computerfachhexe. Sie nickte. "Wie sagt deine Mutter gerne, wenn etwas eintritt, was zu erwarten war? Quod erat expectandum!" bemerkte Martha noch zu dem ihr zugestellten Bescheid.

"Da hattest du doch tatsächlich recht, Martha. Die haben deine Abwesenheit genutzt, um mal eben deine Abteilung umzubauen und dir den Chefinnensessel unter dem Gesäß wegzuziehen."

"Ja, und diese Leute setzen darauf, dass ich wegen der besonderen Umstände, unter denen ich die Drillinge bekommen habe entweder die Herausgabe der Drillinge erbitten werde oder alles tun werde, um wieder in ihrer Nähe zu sein, womöglich auch eine höchst unterwürfige Erklärung unterschreiben, dass ich immer und an jedem Ort die Vorhaben und Anweisungen von Minister Lionel Buggles befolgen werde. Da haben die sich aber verrechnet", knurrte Martha. "Und vor allem spekuliert Richway oder sein Herr und Meister darauf, dass ich ihm für das Recht auf meine Kinder alles offenlegen werde, was ich über das Arkanet erstellt und entwickelt habe, damit er einen ihm genehmen Stellvertreter damit beauftragen kann, es nach seinen Vorstellungen umzuändern. Sowas hatte ich schon vermutet, als Richway mich fragte, ob ich meinen Leuten alles über das Arkanet erzählt habe, sollte mir etwas zustoßen, während ich in Europa bin. Er heuchelte Besorgnis, dass es ja bei den "unzulänglichen Flugapparaten der nichtmagischen Welt" immer mal wieder zu Unfällen käme. Ich war fast geneigt, das als Drohung aufzufassen, konnte mich aber noch gerade so beherrschen. Ich habe ihm erzählt, dass im Falle einer andauernden Dienstunfähigkeit die Kollegen Feller, Grover, Sanders und McEthan Teile eines Zugangscodes haben, mit dem sie die Quellcodes und Konfigurationseinstellungen für meine Arkanetprogramme erfragen können. Ich habe das so gemacht, weil ich dieses Netzwerk und vor allem die Betriebssystemanpassungen als mein geistiges Eigentum betrachte. Allerdings wären die vier erwähnten nur im Stande, die auf einem geheimen Server hochverschlüsselt abgespeicherten Daten abzurufen, wenn sie in Kenntnis meiner andauernden Dienstunfähigkeit darauf zugreifen müssten. Tja, da wird sich noch jemand ganz doll wundern", grummelte Martha. Es klang jedoch nicht verärgert, sondern kampflustig, als habe sie schon die gebührende Antwort auf den ihr zugefügten, ja zu erwarten gewesenen Schlag bereit. Catherine vermutete das wenigstens, weil sie Martha und Julius als vorausdenkende Menschen kannte.

"Die werden wohl schon in New York auf der Lauer liegen, ob du in die Staaten einreist und dich dort unter einem Vorwand in Gewahrsam nehmen", sagte Catherine. Martha nickte. "Ich habe zwar eine Antisonde mit, wolte die aber nur benutzen, wenn ich alleine geflogen wäre und so einen Schrieb wie den hier erhalten hätte. Wenn ich mit den Lacroises und Kenworthys zurückflöge könnte ich zumindest ausnutzen, dass wir wie Privatjetbesitzer nur anmelden müssen, dass unser Flieger gelandet ist und ich den Pass nur vorzeigen müsste, wenn ich den Flughafen verlasse. Aber du hast recht, da werden sie auf mich lauern, mit oder ohne Antisonde. Es steht ja da drin, dass ich auf keine mir verfügbare Weise in die Staaten zurückkehren darf, also auch nicht über das Flohnetz, die Luftschiffe oder die Reisesphäre nach New Orleans. Bliebe mir nur der Besen mit mehreren Zwischenlandungen oder das Apparieren über mindestens zwanzig mir vertraute Zwischenhalte. Da ich jedoch keine zwanzig Zwischenhalte zwischen hier und dem nordamerikanischen Kontinent kenne fällt das schon einmal weg. Hmm, bliebe dann nur noch dieser Zauber mit den Bildern, dann wäre ich sogar noch schneller zu Hause als mit den Luftschiffen. Aber dann müsste mich jemand bringen. Abgesehen davon dürfte ich mich dann trotzdem nirgendwo in der Zaubererwelt blicken lassen. Dank deiner Mutter und deiner Tante Madeleine habe ich zwar einen guten Verwandlungs-UTZ erworben, lege aber keinen großen Wert darauf, die eingerostete Selbstverwandlungskunst an mir selbst aufzufrischen. Ich gehe davon aus, dass Lucky mir die Drillinge herüberschickt."

"Und falls er das nicht tut?" wollte Catherine wissen. "Werde ich Béatrice, Hera oder Antoimette bitten, mir die bisherige Ehe mit Lucky und die drei Kinder so vollständig es geht aus dem Gedächtnis zu löschen", seufzte Martha Merryweather. Catherine sog laut Luft zwischen den Zähnen durch. "Astronauten- und Programmiererinnenweisheit: Kalkuliere immer die schlimmstmöglichen Auswirkungen ein und bereite dich bestmöglich darauf vor, sie zu bewältigen!" seufzte Martha. "Ich war immer darauf gefasst, dass jemand mich damit zu erpressen versuchen könnte, mir die Kinder dauerhaft zu entziehen, vor allem diese Gangster, die mal eben Millemerveilles Einwohnerzahl verdoppelt haben. Da habe ich eben verschiedene Szenarien durchdacht- ich weiß, Schachspielerin - und bin zu dem mir selbst sehr missfallenden Schluss gekommen, dass ich im schlimmsten Fall meine Kinder nur dann am besten schützen kann, wenn ich am weitesten von ihnen entfernt bin und selbst nicht weiß, dass es sie gibt. Natürlich müssten dann auch die drei eine entsprechende Behandlung erfahren. Aber ich denke, das lässt sich für Kinder leichter hinbiegen als für mich als von VM konditionierte Mehrlingsmutter. Ich bin dann einfach beim Heimflug mit der kleinen Flugmaschine über dem Atlantik abgestürzt, fertig aus!"

"Ui, jetzt gruselst du mich aber, und ich bin wirklich gruselige Sachen gewohnt", gestand Catherine ihrer Gästin ein. Doch dann nickte sie. "Du hast leider recht. Wenn es dem Schutz der eigenen Kinder dient, sie nicht mehr zu sehen, ist es wohl die beste Möglichkeit. öhm, soweit ich weiß wäre das auch nicht das erste mal, dass sowas passiert." Martha Merryweather überlegte kurz, auf wen oder was Catherine anspielte. Ihr fiel jedoch nichts dazu ein.

"Und was hast du jetzt vor?" wollte Catherine wissen.

"Erst mal Madame Lacroise anrufen, dass ich wegen eines wegen meiner "besonderen Arbeitsleistungen" spontan gewährten Sonderurlaubes noch zwei Wochen in Frankreich bleiben und mit meinen hier lebenden Verwandten zusammen sein möchte, mich bei ihr recht herzlich für die Mitnahme bedanken und ihr und den anderen einen guten Heimflug wünschen."

"Oh, dann solltest du es jetzt tun, bevor die ältere Dame zu Bett geht", sagte Catherine und stand auf, um die Tür zu öffnen. "Ich habe ihre Mobilnummer. Ich mach das von meinem Zimmer aus", sagte Martha, bevor Catherine die Tür öffnete. "Öhm, und danach möchte ich per Flohpulver nach Millemerveilles und hoffe, dass Julius noch wach ist. Ich habe was mit, was ich besser nicht vor Joe und Claudine benutzen sollte."

"Das rosige Armband? Oh, hast du das auch in deiner Tasche mitgebracht?" fragte Catherine.

"In jenem kleinen Geheimfach, das auch gegen Röntgenstrahlung abgeschirmt ist beziehungsweise diese wie beim Bildverprlanzungszauber hin- und herversetzt, ohne dass sie von undurchdringlichen Gegenständen blockiert werden. Die Eauvive-Sippe enthält eine Menge sehr kundiger Thaumaturgen, nicht nur Florymont Dusoleil."

"Oh, das solltest du ihm aber besser nicht so sagen", meinte Catherine. Dann erst öffnete sie die Tür.

Martha Merryweather ging in das ihr zur Verfügung gestellte Gästezimmer. Dort holte sie aus ihrer Handtasche nicht nur das Armband heraus, sondern auch ein kleines Zauberporträt von Viviane Eauvive. Dessen gviermal größeres Geschwister hing in ihrem Haus "Zwei Mühlen". Sie hängte das kleine Bild an einem Nagel an der Wand und sah, dass die winzige Viviane in einem hohen Lehnstuhl saß und schlief. Doch als das Licht der elektrischen Zimmerbeleuchtung ihre halbgeschlossenen Augen traf wachte das verkleinerte Bild-Ich auf und wandte sich Martha zu. "Fall Schleudersitz, Viviane. Bitte prüf nach, ob Julius noch auf ist und falls ja, kündige ihm bitte meinen Besuch durch den Kamin an. Falls er nicht wach ist frag bitte bei Camille und Florymont, ob die noch wach sind und kündige denen bitte meinen Besuch an. Es ist wie gesagt der fall "Schleudersitz" eingetreten."

"Lucky hat das Bild von euch bei sich im Zimmer bei den Kindern aufgehängt. Er meinte, für den Fall, dass du was unter dem Flohnetz durchreichen wolltest wäre es bei ihm besser aufgehoben als in eurem Haus", sagte die verkleinerte Ausgabe der Gründungsmutter des Eauvive-Clans.

"Hat er das? Gut, das ist sogar noch besser. Sage dem, ich riefe gleich bei Brittany durch. Er weiß dann, was gemeint ist. Sie ist sicher noch auf."

"Neun Stunden zurück, jetzt ist bei euch elf und bei denen zwei Uhr nachmittags. Da wirst du Brittany aber nicht über euer Armband erreichen, weil sie da sicher noch bei Stella Hammersmith im Büro sitzt."

"Oh, natürlich", grummelte Marhta, kam aber sofort auf eine andere Möglichkeit. "Dann sage ich Lucky, er möge ihr eine Eule schicken, deren Text ich dann von Camille oder Julius aus durchgeben werde! Bitte!"

"Wollte schon sagen, dass ich nicht mal eben so durch alle Bilder springe, ohne freundlichst gebeten zu werden", erwiderte Vivianes Winzbild. Dann nickte sie Martha zu und verließ das kleine Bild durch die linke untere Ecke des Rahmens.

"Ja, hallo, Monique. Wegen der Zeitverschiebung bekam ich gerade erst vor einer Stunde bescheid, dass mein Chef mir und drei anderen Kollegen wegen gerade nicht benötigter Personalstärke einen schon lange zugesicherten Extraurlaub genehmigt hat. Er meint, wenn ich schon mal in Frankreich sei, ich dort ein paar erholsame Wochen zubringen möchte."

"Achso, dann möchtenSie nicht mit uns zurückfliegen, Martha?" fragte Monique Lacroise. Martha Merryweather bestätigte es und erwähnte, dass sie ja ein Touristenvisum für die EU erworben habe, das seit Weinachten gelte und wohl noch bis Ende März gültig sei. "Das kann ich verstehen, wo Ihre Schwiegertochter ja bald ihre Zwillinge erwartet", erwiderte Monique Lacroise ein wenig wehmütig aber dennoch verständig. "Gut, wenn sie mich bei deren Geburt dabei haben möchte müsste ich wohl noch einmal regulären Urlaub nehmen und mir ein neues Visum ausstellen lassen, weil der errechnete Geburtstermin erst Ende April Anfang Mai liegt, Monique."

"Und was ist mit Ihren drei Kindern, Martha?" wollte Monique wissen. "Falls mein Mann kann darf er hoffentlich mit den dreien herüberkommen. Dank Ihnen habe ich mir ja eine teuer bezahlte Flugreise erspart."

"Das war selbstverständlich bei allem, was Sie und Ihr Sohn für Tinette ... öhm, Laurentine getan haben", erwiderte Madame Lacroise. "Das war für meinen Sohn selbstverständlich und für mich, weil ich ihm helfen durfte", sagte Martha.

"Nun, Vicky dürfte es schade finden, eine derartig kompetente Gesprächspartnerin vermissen zu müssen. Aber ich kann es wie erwähnt nachempfinden, dass sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen möchten, noch ein paar Tage mit Ihren Verwandten herauszuholen. Mir hat es ja trotz des Anlasses auch sehr gut getan, mit allen, die ich aus St. Joseph noch kenne, schöne lange Gespräche führen zu können. Ja, und wie ja auch häufiger anzutreffen ergeben sich auch aus einem so betrüblichen Anlass Gelegenheiten, alte Kontakte wiederzubeleben. Deshalb hätte ich fast gesagt, dass ich auch noch in Frankreich bleiben möchte. Doch ich habe nun einmal von meinem seligen Gatten alle finanziellen und personellen Verpflichtungen geerbt und möchte sie auch in seinem Namen bestmöglich erfüllen, und die Mädchen müssen ja auch wieder zu ihren Studienplätzen und Praktikumsbetrieben."

"Das verstehe ich wiederum. Ich möchte ja auch alles tun, für meine und meiner Kinder Zukunft die bestmögliche Vorsorge zu treffen", erwiderte Martha und dachte an die bittere Ironie dieser Worte. Sie war im Grunde gefeuert worden und musste jetzt zusehen, ob sie mit drei Kindern unter vier Jahren in einem anderen Land neu anfangen konnte, um denen eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen, ohne zu wissen, welche Zukunft ihr selbst bevorstand.

"Ich gebe es dann an unseren Piloten weiter. Es war auf jeden Fall sehr schön, diese Tage in Paris zu verbringen. Bitte danken Sie Madame Brickston auch noch einmal für die kompetente Führung durch den Louvre und die Karten für das Ballett. Gute Beziehungen sind nicht mit Gold aufzuwiegen."

"Ich dachte, das gilt für Freundschaften", erwiderte Martha darauf. Dann bestätigte sie, dass sie den Dank weiterreichen würde. Danach sagte sie noch: "Soweit ich weiß haben mein Sohn und Ihre Enkeltöchter E-Mail-Adressen ausgetauscht und Laurentine hat ja sicher auch die E-Mail-Adresse von Hellen und Victoria. Falls die junge Dame Vicky an unsere Diskussion auf dem Hinflug anknüpfen möchte möge Sie meinem Sohn oder Laurentine das bitte mitteilen und auch, ob sie meine eigene E-Mail-Adresse erfahren möchte. Über mein Mobiltelefon kann ich auch E-Mails empfangen und versenden."

"Dies gebe ich gerne so weiter, Martha. Dann wünsche ich Ihnen und allen denen, mit denen Sie die nächsten Tage verbringen gute Erholung und ein friedliches Beisammensein und Gottes Segen, auch wenn ich seinem Bodenpersonal nicht mehr über den Weg traue."

"Ich bedanke mich und werde dies auch weitergeben, Monique. Guten und sicheren Heimflug und alles Gute für die nächste Zeit!" erwiderte Martha. Dann beendete sie die Mobilverbindung. Kaum hatte sie ihr Telefon wieder fortgepackt räusperte sich Vivianes kleines Bild-Ich. Martha blickte es an.

"Also, drei Sachen, Martha. Lucky war nicht im Haus von Dorothy und Daniel. Gemäß unserer Absprache darf mein Gegenstück ja nur mit anderen Eauvive-Angehörigen sprechen, wenn du es ihm durch mich ausdrücklich aufträgst. Außerdem ist Daniel mal wieder im Garten und jagt Gnome. Zum zweiten habe ich wegen erstens dem bei Antoinette aushängenden Ursprungsbild von mir mitgeteilt, dass du zunächst einmal nicht mehr in die Staaten zurückkehren darfst, weil du dort offenbar nicht mehr erwünscht bist. Sie war nicht besonders überrascht, aber trotzdem auch nicht wirklich erfreut. Vor allem will sie wissen, was mit den Drillingen ist. Das konnte ich ihr wenigstens erklären, dass sie mit ihrem Vater im Haus der Foresters sind. Drittens, Julius ist noch auf und wartet auf dich, zumal Millie offenbar eine merkwürdige Digeka-Mitteilung ihres Onkels Gilbert erhalten hat, die womöglich mit deinem Fall vergleichbar ist oder unmittelbar zusammenhängt. Die drei geborenen Mädchen sind in ihren Betten und die Ungeborenen Kinder werden nicht petzen, dass du so spät in der Nacht noch zu ihrenEltern reinflohpulverst, ohne die drei größeren Geschwister zu begrüßen."

"Danke, Viviane. Ich werde das Bild wieder abnehmen. Bitte bereite dich darauf vor!"

"Schon passiert", erwiderte die gemalte Viviane und verschwand durch die linke Seite des Rahmens aus dem kleinen Bild. Martha nahm es vom Nagel und verstaute es wieder im gegen magische Ausstrahlung und Röntgenuntersuchungen abgeschirmten Geheimfach. Dabei fühlte sie auch die sieben eingepackten Daten-CDS und atmete auf, dass sie doch noch daran gedacht hatte, die Arkanet-Programme und Datenbank-CDS mitgenommen zu haben.

So leise sie konnte meldete sie sich bei Catherine ab. Diese wisperte ihr zu, dass sie um Mitternacht den Kamin wieder versperren würde. "Sagte die Fee zu Cinderella", scherzte Martha. "Bibbidi-Bobbidi-Boo", erwiderte Catherine darauf. Beide Hexen grinsten sich an, obwohl eigentlich kein Anlass dazu bestand.

So leise sie es deutlich aussprechen konnte, dass das mit Flohpulver entfachte Zauberfeuer es auch verstand sprach sie "Pomme de la Vie!" aus, als Martha im Kamin im Partyraum der Brickstons stand. Sogleich setzte die magische Wirkung ein. Sie schloss die Augen, um die Wirbelei besser zu ertragen. Erst als sie mit einem Ruck auf harten Untergrund traf öffnete sie ihre Augen wieder. Sie war in der wohnküche ihres Sohnes herausgekommen. Sie fühlte einen Wärmestoß, der irgendwie von außen nach innen durch ihren Körper lief und sich mit einem kurzen Ruckeln in ihrem Unterleib entlud. Dann war Ruhe. "Öhm, nette Begrüßung", raunte sie. Da half ihr Julius aus dem Kamin. Béatrice und Millie waren auch da. Béatrice trug jetzt keine ihre eigene Schwangerschaft verhüllende Unterkleidung. Jetzt konnte Martha sehen, wie üppig und gerundet ihre verschwägerte Verwandte in Wirklichkeit aussah. Sie kam nicht umhin, sie und Millie miteinander zu vergleichen. Millie wirkte schon wie kurz vor der Niederkunft und nicht so athletisch wie vor einem halben Jahr noch. Béatrice hatte einen keck weit vorgetriebenen Bauch und hatte mindestens den doppelten Brustumfang, als sie am Morgen noch vorgetäuscht hatte. "Entschuldigung, Millie und Béatrice, ich wollte euch nicht angaffen. Aber zu sehen, wie perfekt diese Umstandsverhüllungskleidung wirkt erstaunt mich immer wieder."

"Hallo, so viel dicker bin ich doch nicht, als ich heute morgen aussah", warf Béatrice ein, musste jedoch über ihr mitgerundetes Gesicht grinsen.

"Na ja, ich wollte mal die Gelegenheit nutzen, meine künftigen Enkelkinder vor der Geburt anzugucken. Aber eigentlich bin ich wegen einer Unterredung mit Brittany hier. ich wollte nicht bei den Brickstons das Armband rausholen. Ich habe auch nur bis Mitternacht Zeit, weil sonst der Flohpulverkamin wieder zum Aschenbecher wird, hat mir die saphiräugige Fee mitgeteilt."

"Wo ist denn dann dein silbernes Ballkleid, Cinderella?" fragte Julius verwegen. "Steckt noch in meiner Mary-Poppins-Handtasche, zusammen mit deren rosarotem Regenschirm. Gut, ich habe den Quatsch weitergesponnen, den Catherine mit mir angefangen hat. Aber jetzt wird's ernst", sagte Martha.

"Hast du doch den Schrieb gekriegt, dass du bei der Buggles-Beliebtheits-Umfrage durchgerasselt bist, Mum?" fragte Julius. Seine Mutter nickte energisch. Sie holte den Brief aus ihrer Handtasche. "Den wollte ich Lucky und Britt vorlesen, weil das über die Bilder nicht in Echtzeit geht. Aber Britt ist wohl noch bei Stella Hammersmith und Lucky ist mit den Kindern unterwegs, wenn die schon mal in VDS frei herumlaufen dürfen, was ich zumindest hoffe."

"Öhm, das hoffe ich aber auch, dass die das noch können", sagte Julius schnell. Offenbar erinnerte er sich an Vorfälle, wo jemand mit der Freiheit und dem Leben geliebter Menschen erpresst wurde. Die mussten dafür nicht unbedingt entführt werden. Es reichte schon, dass ein angeheuerter Gangster in deren Nähe lauerte.

"Aber ich denke, das hhätte Viviane mir sofort mitgeteilt, wenn Lucky und den Kindern was passiert wäre. Andererseits kann ich mir auch vorstellen, dass sie darauf lauern, dass ich zu ihnen komme oder er sie zu mir hinbringt, um sie gegen mich zu verwenden. Ich lese euch mal vor, was ich Catherine vorgelesen habe."

"Das ist sehr nett, Martha, weil ich diesen besagten Brief auch gerne kennen möchte", sagte die in der Wohnküche aushängende Version von Viviane Eauvive. Auch Aurora Dawns Bild-Ich stand so da, als wolle sie alles genau mitbekommen, was hier gesprochen wurde.

Als Martha ihren Verwandten den Brief des Anstoßes vorgelesen hatte schlug Béatrice vor, den Verfasser oder die Verfasserin bildhaft darzustellen. Dabei kam heraus, dass Desmond Richway diesen Brief geschrieben hatte. "Inga Feller, wer genau ist das?" wollte Julius wissen.

"Eine gerade mal fünfundzwanzig Jahre alte Thorntails-Absolventin, sieht mit ihren platinblonden Haaren fast so aus wie Madonna, trägt aber züchtigere Kleidung als die Sängerin. Sie hat einen Professor der Informatik zum Vater und eine Kräuterhexe aus dem Zaubererviertel von New York zur Mutter. Ursprünglich wollte sie im Bereich Katastrophenumkehr arbeiten. Doch weil sie keinen sogenannten Muggelkundeunterricht genommen hat und somit auch nicht in diesem Fach graduierte hat sie dann im Kontaktbüro angefangen und sich gefreut, was tun zu können, was sie von der nichtmagischen Welt her mitbekommen hat. Ich hätte sie sowieso zu meiner Nachfolgerin vorgeschlagen, wenn ich irgendwann in zwanzig oder dreißig Jahren in den Ruhestand gegangen wäre. Sie ist sehr intelligent und hat von mir auch viel über die politischen Ereignisse der nichtmagischen Welt erfahren. Daher wäre es eigentlich schwer zu glauben, dass sie Buggles auf den Leim geht und sich ihm anbiedert. Aber ich fürchte, da sie ebenfalls bei jener Halloweenfeier war, die auch von Nancy Unittamo früher Gordon besucht wurde, und von dort zwei Kinder mit nach Hause gebracht hat hat sie einen genauso triftigen Grund, ihrenArbeitsplatz nicht zu verlieren."

"Kommt mir von Didier und Louvois bekannt vor", brummelte Julius. "Ja, und von Pétain", ergänzte Martha Merryweather. Dann erwähnte sie, dass auch die fünf anderen, drei weitere Hexen und zwei Zauberer, wohl Familien hatten, die auf ihre Einkünfte angewiesen waren. "Tolle Logik, weil die Drillinge ja schon eigenes Geld verdienen und ihr Vater öfter auf Dienstreise ist oder wie?" fragte Julius.

"Das nicht jeder Mensch logisch denken kann musste ich sehr früh lernen und du leider auch, Julius", erwiderte seine Mutter darauf. Dann fragte sie, ob sie an den Rechner könne, um Brittany eine E-Mail zu schicken, die nicht vom ministeriumseigenen Arkanet mitgelesen werden konnte. Julius gestattete es ihr und brachte sie zum Baumhaus.

Martha nutzte die Gelegenheit, sich über Julius' privatem Arkanetzugang auf die Seite für allgemeine Mitteilungen einzuwählen. Als sie las, was die neueste Nachricht aus den Staaten war nickte sie verdrossen. Denn da stand:

An alle Mitglieder des weltweiten Arkanetverbundes! Dies ist die bis auf weiteres letzte Nachricht aus dem Arkanet-Knoten USA!

Das US-Zaubereiministerium steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter fremdem Einfluss. Alle Empfänger dieser Nachricht werden gebeten, sich bis auf weiteres nicht auf Ankündigungen aus dem US-Zaubereiministerium zu verlassen, ja sie nach Möglichkeit nicht zu beachten. Das elektronische Rechenzentrum des US-Zaubereiministeriums schaltet sich vollständig aus.

Wir wünschen Ihnen allen weiterhin viel Glück und ein Leben in Friedenund Freiheit!

Dies war die Letzte Nachricht!

gez. Martha Merryweather

"Ups!!" stieß Julius aus, als er diese in unmissverständlichem Signalrot geschriebene Nachricht las

"Die haben nicht lange gefackelt, alle Achtung. Aber das heißt für mich, dass ich jetzt noch schneller sein muss", sagte Martha und textete schnell eine Nachricht an Brittany und noch eine an das Laveau-Institut, in der sie im Telegrammstil ihren de Facto Rauswurf aus dem Ministerium und die Ausweisung aus den Staaten erwähnte, aber weiterhin über ihre dem Institut bekannte Geheimadresse erreichbar bleibe. Dann fuhr Julius den Rechner wieder herunter und nahm seine Mutter Seit an Seit apparierend mit in die Wohnküche zurück. "Eh, die Kleinen!" zischte Millie, weil es mit zwei zugleich wohl heftig geknallt hatte und sowohl sie als auch Béatrice dafür in die Bäuche getreten wurden. "Wollten wir nicht, mussten wir aber", sagte Julius. Dann holte er sein eigenes Orichalkarmband hervor und versuchte es aufs Geratewohl, während martha sich an Vivianes Bild-Ich wandte und ankündigte, dass Lucky und die Kinder sich entweder im eigenen Haus verschanzen oder sich in der nichtmagischen Welt verstecken sollten. Unvermittelt tauchte Brittany Brocklehursts räumliches Ebenbild zwischen ihr und Julius auf. "Britt, ist dein Onkel Lucky irgendwo im Dorf mit den Kindern?" fragte Julius.

"Ich habe die Kinder bei mir im Haus zusammen mit Leonidas. Wir haben hier vor zehn Minuten Belagerungsalarm bekommen. Stella Hammersmith hat mich dann sofort losgeschickt, deine drei Halbgeschwister einzusammeln und wenn er will auch Onkel Lucky. Stella wollte mir noch nicht erzählen, was los ist. Sie meinte nur, dass alle, die hier geboren seien oder Eltern hier geborener Kinder seien in ihre Häuser sollten und alle, die gerade zu besuch seien dazuholen sollten. Onkel Lucky ist heute rüber nach Acapulco, einen Schulfreund besuchen, der in Mexiko die Liebe seines Lebens gefunden hat, öhm, der Schulfreund, nicht Onkel Lucky, Tante Martha."

"Das will ich für den Hoffen. Aber Belagerungsalarm! Wer greift euch denn an?"

"Wollte Friedensrichterin Jessica Benchurch gleich über VDSR 1923 bekannt geben, wenn alle sich in ihrer Bleibe zurückgemeldet haben, was ich mit den dreien und Leo vor einer Minute gemacht habe. Linus ist noch in seiner Firma. Aber was ist bei euch los?"

Martha schilderte ihr im Telegrammstil, was ihr zugeschickt worden war und erwähnte auch die letzte von ihr versendete Arkanetbotschaft, die jedoch nicht heute von ihr geschrieben worden war, sondern schon einen Tag vor der Abreise. Brittany machte "Häh?!" Da tischte Martha ihnen allen auf, was sie für einen Zug gemacht hatte.

"Ich bin seit diesem Fragebogen davon ausgegangen, dass Buggles versucht, mich entweder zu vereinnahmen oder aus dem Weg zu räumen, bestenfalls meine Reise nach Frankreich ausnutzt, um mich nicht mehr nach Hause zu lassen. Deshalb habe ich auf dem nur mir bekannten Zugangsportal, wo alle Arkanetdaten hochverschlüsselt abgespeichert sind, ein Unterprogramm für den fall eingerichtet, dass wenn vier verschiedene Rechner mit vier verschiedenen Zugangscodes auf die Daten zugreifen möchten, nur ein Wust von zusammenhanglosen Zeichenfolgen übermittelt wird und zugleich über die Arkanet-Rundschreiben-Applikation eine Nachricht abgesetzt wird, dass das Zaubereiministerium unter fremdem Einfluss steht und dann, wenn die Nachricht abgesetzt wurde, alle Ministeriumsrechner zugleich alle darauf abgelegten Daten löschen und sich danach herunterfahren sollten. Natürlich habe ich vor meiner Abreise eine lautlos im Hintergrund laufende Datensicherung auf den von mir angemiteten Reserveserver gemacht, für den Fall, dass die "Belagerung" oder "Fremdherrschaft" beendet wird und dann noch Bedarf für eine Computerabteilung besteht. Ich stelle mir gerade meine Stellvertreterin vor, wie sie versucht, den Abschaltvorgang zu verhindern und dann melden muss, dass irgendwas alle Rechner zugleich lahmgelegt hat. Sie werden mich natürlich für die Saboteurin halten, aber das kommt davon, wenn einem derartig misstraut wird."

"Öhm, und du hattest keine Angst, dass den Kindern oder dir was passiert, wenn die das noch vor deiner Abreise rausbekommen?" fragte Julius. Brittany nickte beipflichtend.

"Wie ihr alle wisst stehe ich gut mit dem LI und bekomme zwischendurch gewisse Hilfsmittel von denen, die ich bisher gar nicht benötigt habe, bis auf einen Bergestein, den ich mit etwas aktivieren konnte, was ich unbedingt geheimhalten musste. Und was die Kinder angeht, Britt, sollte sich der Minister oder einer seiner Handlanger an ihnen vergreifen hat er sofort sämtliche späten Mütter und Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch am Hals, die dann natürlich davon ausgehen müssen, dass man ihnen auch ihre Kinder wegnehmen wird, weil deren Eltern ja sooo undankbar sind. Ob Buggles noch aus eigenem Antrieb handelt oder von jemandem fremdbestimmt wird, wie ich im Moment fürchten muss, kann er sich einen derartigen Aufruhr nicht leisten, schon gar nicht, nachdem sein Finanzabteilungsleiter Picton die Aufwandsentschädigung nicht weiterzahlen wollte. Das habe ich mit Nancy Unittamo, sowie Mrs. Partridge und einigen anderen so vereinbart."

"Achsowowowowo!" erwiderte Brittany. Dabei flackerte ihr Abbild in roten und grünen Tönen, verwischte zu goldbraunem Nebel und entstand mit leisem Pritzeln wieder neu. "Huch, eben wart ihr weg", sagte sie mit leicht widerhallender Stimme. Julius nickte und zeigte sein Armband. "Das hat auch eben kurz dreimal vibriert, als wolltest du oder sonst wer mich anrufen. Aber jetzt ist die Verbindung wieder gut, wenngleich du ein ganz leichtes Echo hast."

"Du auch. Irgendwas hat in die Verbindung reingefuhrwerkt. Aber ich dachte, die wäre unabhörbar", grummelte Brittany. Dann erscholl von da, wo sie wohl war ein melodisches Hornsignal. "Das ist wieder der Alarm. Dann hören wir mal, was das Radio sag. Linda, Hillary, Louis, bleibt bitte im Haus! Leo du sowieso!" rief sie in eine andere Richtung. Dann verfolgten die Latierres und Martha Merryweather wie Brittany offenbar in einen anderen Raum hinüberwechselte. Gleichzeitig hörte sie ein lautes Klopfen an der Tür. "Mrs. Brocklehurst, hier ist die Familienfürsorge. Kommen Sie heraus und bringen sie die drei Kinder von Ma...!" erklang aus dem Armband eine forsche Männerstimme. Dann krachte es wie beim Apparieren. Gleichzeitig flackerte wieder die Verbindung in Rot und Grün. Dann war sie wieder klar. "Ui, so habe ich bisher niemanden disapparieren sehen dürfen", meinte Brittany. "Da standen drei Leute vor der Tür, einen kannte ich, Jeff Woodblock von der Superabteilung für Familienfürsorge, Ausbildung und Gesundheitsfürsorge. Aber dann knallte es und die drei verschwanden in einer blutroten Wolke. Jetzt sind sie nicht mehr da. Und eben war wieder ein kurzer Flackerer und eine kurze Erhitzung im Armband."

"Sind die Kinder noch da, Britt?" fragte Martha. "Moment. Ja, sind bei Leo im Zimmer. Ich höre die alle vier", sagte Brittany. Jetzt konnten Martha und die Latierres auch die durcheinanderrufenden Kinderstimmen hören.

"Ich mach das Radio an", sagte Brittany und eilte ins Wohnzimmer ihres Hauses. Dort stellte sie ein silbernes Zauberradio an, das durch die Armbandverbindung wie hinter leichtem Nebeldunst verborgen aussah.

"Achtung, an alle, die uns gerade zuhören. hier ist Radio VDSR 1923, der Lokalrundfunk von Viento del Sol", erklang die Stimme von Dorfrätin Stella Hammersmith. "Im Namen aller Bewohnerinnen und Bewohner von Viento del Sol haben wir, der Rat dieser Gemeinde, in einstimmiger Beschlussfassung wegen drohender Übergriffe fremder Zaubermächte und ihrer Handlanger über diesen Ort den Protectio Nativorum ausgerufen und alle hier geborenen Kindern und/oder deren Eltern mittelbar oder offen feindselig gegenüberstehenden Menschen und Zauberwesen augenblicklich auf zweifache Sichtweite aus unserem geliebten Heimatort verbannt. Wer versucht, wieder hineinzuapparieren, zu laufen oder zu fliegen wird auf die zehnfache Sichtweite des Ortes verwiesen, was für jeden, der dies versucht, im Verhältnis zur feindseligen Entschlossenheit sehr schmerzhaft und Kraftraubend ausfallen wird. Im Gegenzug erfuhren wir gerade, dass eine Minute nach der Abweisung der ersten uns feindlich gesinnten Menschen der Gesundheitsbevollmächtigte des Zaubereiministeriums unsere Gemeinde unter Quarantäne gestellt hat. Damit ist jedem untersagt, Viento del Sol zu verlassen und jedem derzeitig außerhalb davon weilenden angedroht, ihn oder sie ohne Angabe weiterer Gründe zu ergreifen und in Isolationsverwahrung zu nehmen. Sollten unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die gerade hier sind, Möglichkeiten zur Hand haben, ihre Freunde und Verwandten außerhalb zu warnen, versuchen Sie, sie zur unverzüglichen Rückkehr zu bewegen, bevor sie dieser Revanchemaßnahme des Zaubereiministeriums unterzogen werden. Auch im Auftrag von Heilerin Palmer darf ich verbindlich versichern, dass wir hier derzeitig keine wie auch immer ansteckende Krankheit vorliegen haben, die eine Quarantäne oder eine Isolierverwahrung rechtfertigt. Es handelt sich dabei um eine Vergeltungsmaßnahme des Ministeriums, weil jene, die abgewiesen wurden, ausschließlich Beamte desselben sind. Warum sie abgewiesen wurden und abgewiesen bleiben werden weiß wohl nur deren vorgesetzte Dienststelle. Unser Grund für den Belagerungsalarm und den Abwehrbann besteht darin, dass wir absolut glaubwürdige Hinweise erhalten haben, dass unseren Mitbürgern hier unrechtmäßig nach Freiheit oder Leben getrachtet werden soll. Vor allem sollten die Familienangehörigen der Brocklehursts, Merryweathers, Latierres, Windfalls, Bakerswoods und zehn weiterer in Gefahr sein. Wir sichern allen Freiheit und Schutz von Leib und Leben zu, die nicht in feindlicher Absicht zu uns kamen oder noch kommen möchten." Dann wiederholte sie die Durchsage in bestem Cajun-Französisch, wie Julius und Millie es beim letzten Sommerball von ihr gehört hatten.

"Damit haben wir es amtlich", knurrte Martha. "Die sind hinter meinen Kindern herr, diese Drecksäcke."

"Martha, die sind auch hinter Linus, Onkel Lucky und mir her, vielleicht auch hinter Mom in Thorny und Heilerin Merryweather."

"Ja, stimmt, hast recht, Britt. Ich muss diesen Überbehütsamkeitshemmer nachtrinken", knurrte Martha, die leicht zitterte. "Moment, wir kriegen gerade eine neue Nachricht auf den Tisch", sagte eine männliche Stimme im Radio. Es raschelte vernehmlich. "Yep, alle Ein-und Ausreiseprüfer am Luftschiffhafen sind auch in roten Wolken verschwunden und gelten dem Zauber nach als indirekte oder direkte Feinde. Das heißt, dass wieder jeder, der oder die will, jederzeit ausreisen oder zu uns einreisen kann."

"Danke Laney, du darfst gleich auch wieder weitersenden", sagte Stella Hammersmith. "Sie haben es gehört, die Luftschiffverbindung ist weiterhin möglich. Nur sollten Sie auf Flohpulverbeförderung nach außerhalb verzichten." Auch diese Meldung übersetzte sie auf Französisch.

"Bakerswood, ich erinnere mich, mit einer Ilsa Bakerswood gesprochen zu haben, als ich die Drillinge im Kinderhort angemeldet habe", grummelte Martha. "Sie stammt ursprünglich aus Österreich und hat ihren Mann wohl bei der Quidditch-WM hier in Millemerveilles kennengelernt. Womöglich hat sie auch den Fragebogen falsch ausgefüllt."

"Ja, oder er will alle loswerden, die nicht amerikanisch genug sind oder in den Staaten richtig verwurzelt sind", vermutete Julius. "Ja, und Gilbert hat eindeutig die falschen Antworten gegeben", rückte Millie mit etwas heraus, das sie bis jetzt für sich behalten hatte. "Britt, der hat mir vor einer halben Stunde, noch bevor deine Tante Martha zu uns rübergeflohpulvert kam, einen Brief zugedigekastelt, dass er zum einen keine Akkreditive mehr hat und bis spätestens morgen mit oder ohne Familie die Staaten zu verlassen habe, ansonsten er mit seiner Festnahme und Zwangsausweisung zu rechnen habe, sofern ihm nicht noch was illegales nachgewiesen werden könnte."

"Wie durchgeknallt und kurzschlüssig muss jemand sein, der gleich mit so einer Keule draufhaut und jeden aber wirklich jeden mit der Nase drauf stößt, dass mit ihm was nicht stimmt?" fragte Martha Merryweather. "Gut, das mit meiner letzten Botschaft könnte er sehr persönlich nehmen. Verstehe ich sogar. Aber dann sollte er besonders aufpassen, keinen Lärm zu machen, wo jeder fragt, was passiert ist."

"Es sei denn, du hast irgendwem anderem gehörig in die Suppe gespuckt, Mum. Womöglich durfte sich wer den Schuh anziehen, den du hingelegt hast, noch mal Grüße von Cinderella."

"Tja, und dann ist es wirklich kein Akt mehr, zu raten, wer dieser dubiose Jemand ist", führte Martha den Gedanken fort. Alle im Raum und Brittany Brocklehurst nickten und nannten einen Namen, der mit v anfing.

"Wer anderes kommt nicht in Frage, weil die Werwölfe nach ihren letzten Streichen durch einen darauf ausgelegten Aufspürzauber gleich am Zugang zum Ministerium oder im Foyer erkannt werden. Gleiches gilt für Vampire", sagte Brittany. Dann ploppte es laut. Brittany zuckte zusammen. Doch als sie sich in die Richtung drehte, wo das Geräusch hergekommen war sahen sie alle ihren Mann Linus. "Die wollten mich gerade kassieren. Gut, dass ich diesen Frühwarner umhatte, wegen der Mondheuler, der Spinnenhexen oder den Blutsaugern. Ich konnte gerade noch wegploppen und hoffen, dass die mir echt nicht bis hier rein folgen können", keuchte Linus. Dann sah er, dass da noch Leute als räumliche Abbilder waren. "o Hallo, Tante Martha, Julius. Ist deine Frau auch noch wach, Julius?" Die sitzt hinter uns in ihrem Umstandssessel, Linus. Keine Sorgen. Also, dich wollten die festnehmen?" fragte Julius. Linus bestätigte es. Brittany umschlang ihn und schmatzte ihn mehrmals ab, froh, dass er noch nach Hause gefunden hatte.

"Öhm, Leute, jetzt, wo wir wissen, dass ihr gerade ähnlich gut beschützt seid wie wir hören wir hier besser auf", sagte Julius. Denn er hörte, dass Béatrice vor der Wohnküche war. Dass sie gerade auch schwanger war mussten Brittany und Linus nicht sehen. Brittany war einverstanden und versprach, sich zu melden, wenn Lucky wieder zurückkehrte.

"Okay, Britt, ich bin wieder bei den Brickstons. Ich habe da ein kleines Bild von Viviane Eauvive. Wenn Lucky wieder da ist oder falls bekannt wird, dass sie ihn festgenommen haben sollten, gib das bitte irgendwie an Julius weiter. Ich möchte es nicht erst erfahren, wenn ich das nächste mal wieder hier bin", sagte Martha Merryweather. In dem Moment klingelte es an der Tür. Brittany blickte sich um und lauschte. Julius wusste, dass sie einen Meldezauber hatte, der auf ihr bekannte Leute eingerichtet war, egal wo im Haus sie gerade war. "Hat sich gerade erledigt. Onkel Lucky steht ziemlich zerzaust mit leicht ramponiertem Besen vor der Tür. Ich hol ihn rein", sagte Brittany.

Béatrice trat ein. Sie hatte wieder ihre Umstandsverhüllungskleidung an und sah so schlank und rank aus wie bei der Trauerfeier.

"Lucky auch wieder da?" fragte sie, als sie sich neben Martha hinstellte, die es ein wenig unheimlich fand, wie Béatrice ihre inoffizielle Schwangerschaft verbarg. Sie konnte nur nicken.

"Diese Frühwarner sind ihr Geld wert, Martha. Gut, dich gleich zu sehen. Du bist bei Millie und Julius? - Bin wohl gerade noch einer illegalen Verhaftung entschlüpft. Sieben Leute von der Gesetzesüberwachung und einer in Weiß, könnte von der Gesundheitsfürsorge sein. Die wollten mich wegen Verstoß gegen Quarantäneauflagen einsacken, und das wortwörtlich. Die hatten so einen blauen Sack mit. Ich konnte gerade noch aus dem Firmenhaus rausdisapparieren, meinen Besen aus dem kleinen Futteral zupfen - auch vielen Dank an diese grandiose Erfindung, wer auch immer sie gemacht hat und dann im Katapultstart auf und davon, alle hinter mir her. Ich habe dann die Nummer mit der Selbstvervielfältigung gebracht und dabei diese Tribbletiere als Mentalkomponente benutzt, Julius. Hat mich zwar körperlich gut leergepumpt, aber dafür haben die erst mal vor lauter Luckys keinen Baum mehrgesehen. Ich bin dann erst mal weit genug weggeflogen, um mindestens zwanzig Sekunden Zeit zu haben. Dann bin ich gelandet und disappariert. Wollte eigentlich gleich nach VDS rein. Doch irgendwas hat mich zwei Kilometer vor der Ortsgrenze in die Welt zurückgezerrt, aber frag nicht nach Sonnenschein! Ganz sicher Locattractus. Da waren auch schon weitere Herren und Damen in der Uniform der Gesetzeshüter, aber keine Inobskuratoren. Gut, die wollten mich mit Fangzaubern lahmlegen. Aber die Zauber sind alle an blutroten Lichtwänden abgeprallt, die für eine Sekunde zwischen denen und mir aus dem Boden geschossensind. Da bin ich noch mal auf den Besen und habe die Gefahrenstufe ausgerufen. Wusste echt nicht, dass so'n Millennium bei Gefahrenstufe so heiß unterm Aa...llerwertesten wird. Sind ja doch Damen anwesend." Die erwähnten Damen schmunzelten, vielleicht auch die, die noch gut verpackt in einer derjenigen verstaut waren. "Jedenfalls sind die Fallensteller hinter mir her, bis an die Ortsgrenze und dann sind die puff puff puff in roten Wolken verschwunden. Warum auch immer das war, ich kam jetzt ohne weitere Probleme weiter. Der Besen hat sogar von selbst auf Normalflugstufe runtergebremst. Ja, und jetzt steh ich hier und weiß nicht mal, warum die mich einsacken wollten."

"Wegen all denen, die diesen Fragebogen von Buggles nicht richtig ausgefüllt haben und wegen eines Streiches von mir, der unsere Computerzentrale ausgeknipst hat, und das ist auch nur deshalb passiert, weil ich den Fragebogen falsch ausgefüllt habe und man deshalb meinte, mir denChefinnensessel unterm Hinterteil wegziehen zu dürfen. Ich darf übrigens nicht wieder zu euch zurückkommen", sagte Martha Merryweather und hielt den Brief so, dass die Bild-Verbindung ihn erfassen konnte. Dann las sie ihn zum drittenmal an diesem Abend laut vor. "Wie viel hast du noch vom Alles-Gut-Mom-Trank bei dir?".

"In weiser Voraussicht habe ich mich bis zum Valentinstag damit bevorratet, Lucky. Danach könnte es eng werden, weil die hier in Millemerveilles den Trank selbst brauchen."

"Gut, ich gebe es an meine Mutter weiter, dass ich bis auf weiteres zwischen hier und unserem Haus pendel. Gold verdienen geht ja im Moment eh nicht. Abgesehen davon, dass die Kobolde langsam richtig sauer werden, weil Buggles die grünen Schnipsel nicht wieder einsammelt, die er unters Volk gestreut hat."

"Wir machen hier am vierundzwanzigsten wieder auf, sagen die Gringotts-Leute bei uns", sagte Julius. Martha sah nur den leicht verwaschen aussehenden Lucky an. Dieser wiegte den Kopf. "Ich bleib auf jeden Fall in den Staaten. Habt ihr noch genug Platz für eine Mutter mit drei Kindern, Julius?"

"Wir haben noch zwei Gästezimmer, weil wir eines für deine im April oder Mai ankommenden Großnichten verplant haben", sagte Julius. Seine Mutter schüttelte den Kopf. "Ihr habt echt schon genug eigene Kinder hier im Haus, Julius. Und ich will euch auch nichts wegessen, wo ihr mit eurem Gold Haushalten müsst", sagte Martha kategorisch. Da meldete sich Viviane Eauvives Bild-Ich: "Antoinette sagt, wenn ihr die Kinder nach Frankreich hinüberschicken könnt, ohne dass sie unterwegs von Buggles und seinen Helfern und Helfershelfern ergriffen werden können möchte sie ihnen und dir ein zeitlich unbegrenztes Asyl gewähren. Die einzige Bedingung, die sie stellt ist, dass du dich hier in Frankreich nicht langweilst."

"Gut, ich komme dann, sobald ich die Kleinen hier in Millemerveilles abholen kann", sagte Martha sofort zu und ließ ausrichten, dass sie sich für das spontane Angebot bedanke. "Also, du möchtest nicht mit den Kindern rüberkommen, Lucky?" fragte Martha ihren Mann. "Das nächste Luftschiff geht hier wohl um neun Uhr abends ab und ist dann um acht Uhr morgens eurer Zeit bei euch in Millemerveilles, wenn sichergestellt ist, dass es nicht unterwegs abgefangen werden kann."

"Das will ich sehr hoffen. Sonst komme ich selbst wieder rüber und räume mit allen späten Vätern das Ministerium auf", knurrte Martha. Offenbar ließ die Wirkung ihres Überbehütsamkeitshemmtrankes immer mehr nach.

"Ich bin bei den Brickstons. Ich habe die Minivivi mit, Lucky. Wenn was ist, was es auch immer sei, gib es an ihre große Schwester weiter. Danke!" sagte Julius' Mutter. Dann nickte sie ihrem Sohn zu, die Verbindung zu beenden.

"Danke, Julius. Das war jetzt sehr wichtig für mich und wohl auch für alle freien Hexen und Zauberer hier und über dem Atlantik. ich bin wieder bei Catherine, bevor es zwölf schlägt", sagte Martha Merryweather. Sie bedankte sich auch bei Millie und Béatrice, dass sie deren Bettgehzeit noch ein wenig hinauszögern durfte. Dann flohpulverte sie wieder nach Paris zurück. Dort erstattete sie Catherine in ihremKlangkerker-Arbeitszimmer Bericht.

"Wenn VM wirklich dahintersteckt werden sie dir oder deinen Kindern nichts tun, solange sie nicht alt genug sind, um ohne dich auszukommen, Martha", sagte Catherine. "Wir hatten da sowas in der Liga mitbekommen, dass diese Banditen eine Gruppe von Leuten angreifen wollten, weil die wohl wen von denen erkannt hatten. Dabei war eine junge Mutter, die vor zwei Jahren ebenfalls die fragwürdige Ehre hatte, deren Kindersegenszauber abzubekommen. Die Hexe haben sie ziehen lassen. Offenbar gilt bei diesen Verbrechern doch noch sowas wie ein Gesetz, dass von ihnen zu Müttern und oder Vätern gemachte Leute erst einmal ungestört ihre neuen Kinder großfüttern dürfen. Sie haben wohl Angst, dass diese Kinder sonst in Pflegefamilien gesteckt oder gleich als unerwünschtes Leben umgebracht werden. Solange die wissen, dass ihr wegen deren Machenschaften diese Kinder unbedingt beschützen wollt oder müsst, seid ihr für deren Helfer und Helfershelfer unantastbar. Ja, ich weiß, auch eine sehr fragwürdige Ehre und eine sehr wackelige Sicherheitsgrundlage. Aber wir wissen ja so gut wie nichts von deren Grundsätzen, außer, dass sie möglichst viele magisch begabte Kinder auf der Welt haben wollen und dass sie keinen magisch begabten Menschen töten, wenn es reicht, ihn zum Neugeborenen zurückzuverjüngen."

"Ja, und dass deine selige Urgroßmutter Claudine offenbar damals mit welchen von denen in Verbindung stand, dass ihr Bild-Ich Gegenstücke bei denen hat", ergänzte Martha. Catherine nickte und sagte: "Deshalb mussten wir das hier in diesem Raum besprechen. Sicher werden die von VM mitbekommen, dass du kurz in Millemerveilles warst. Sie werden aber nicht erfahren, dass du bei Antoinette unterkommst. Sie werden sicher auch über Bild-Ichs in VDS mitbekommen, was dort gerade vor sich geht. Denn der Protectio Nativorum, ein sehr mächtiger Ritualzauber, wehrt nur feindliche Wesen aus Fleisch, Blut und einer Geisteskraft ausstrahlenden Seele ab. Das tut er aber auch nur solange, solange genug in seinem Wirkungsbereich geborene Kinder und deren Eltern dort verweilen und jeden Tag ein Quantum eigener Lebenskraft dafür hergeben. Je mehr Leute an dem Ort sind, je weniger Lebenskraft muss ein Individuum opfern. Das ist anders als bei dem Zauber, den dein Sohn zusammen mit Millie und den Kindern Ashtarias gewirkt hat. Der zieht seine Kraft aus Freude am Leben, Liebe und der Lebenskraft der mit ihm angereicherten Bäume, die wiederum von Sonne, Luft und Erde ihre Kraft beziehen."

"Apropos Millemerveilles. Hat Laurentine morgen noch frei, dass ich mich von ihr verabschieden kann, was immer auch passiert?" wollte Martha wissen.

"Sie möchte wohl morgen zum Flughafen mitfahren, um ihre Verwandten zu verabschieden", antwortete Catherine.

"Ui, dann fahre ich da auch mit. Dann lasse ich den Wecker so eingestellt wie ich es vorhatte. Die anderen wissen ja, dass ich nicht mitfliege. Öhm, ich erzähle es Laurentine auch nur so, wie ihren Verwandten. Sie macht schon genug durch."

"Das liegt bei dir, was sie von dir mitbekommen soll, Martha", sagte Catherine. Dafür bedankte sich Martha Merryweather. Dann befand sie, trotz der Aufregung doch schon ins Bett zu gehen. Vorher nahm sie die nächste Dosis von dem Zaubertrank gegen die ihr aufgeprägte Überbehütsamkeit ein. Der wirkte auch als allgemeines Beruhigungsmittel und half ihr so, in den nötigen Schlaf zu finden.

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13.02.2005

Trotz immer ausladenderem Umstandsbauch verzichtete Olarammaya nicht darauf, ihre tägliche Stunde am eigenen Rechner zu verbringen. So las sie über die von Dailangamiria erbeutete Arkanetverbindung, dass diese Trottel in den Staaten offenbar wieder diesen Fanatikern unterworfen waren, die meinten, möglichst viele kleine Hexen und Zauberer auf die Welt kommen lassen zu müssen. Zumindest vermutete sie das, wenn sie las, dass das US-Zaubereiministerium gerade von auswärtigen Mächten beherrscht wurde. Denn die angebliche Göttin aller Vampire hatte dort kein Bein auf den Boden bekommen, dank der Leute vom Laveau-Institut und den Sonnenkindern selbst. Denn in den letzten drei Tagen waren weitere graue Übervampire eingefangen worden, darunter zwei weibliche. Somit wurde das geschlechtliche Gleichgewicht der dunklen Kraft gewahrt, die dem Dunkelkraftsammler zugeführt werden musste, um mit ihm das auf dunkle Quellen deutende Pendel wieder hochfahren zu können.

"Wie kannst du dir so sicher sein, dass nicht andere Feinde diese Statthalter der hohen Kräfte unterworfen haben, meine künftige Mutter?" fragte Aroyans Gedankenstimme. "Weil es nur andere Hexen und Zauberer sein können, die sich unbemerkt und deshalb unangegriffen ins Zaubereiministerium reinschleichen konnten. Das ist wie damals mit diesem Heilzauberer Silvester Partridge, der den früheren Zaubereiminister überwältigt hat. Die Nachtkinder kommen da nicht rein, ohne aufzufliegen. Und falls es ihnen doch gelungen wäre, dann hätte es diese Meldung so nicht gegeben. Dann wäre Weltalarm ausgelöst worden, dass die Vampire es geschafft haben, ein hochgesichertes Zaubereiministerium zu knacken und zu erobern", erwiderte Olarammaya. Eine sachte Bewegung des in ihr wachsenden Jungen genügte ihr als Zustimmung. So überwachte sie eine Stunde lang die Reaktionen im Arkanet, vor allem die vielen Anfragen, ob diese Meldung echt war und ob da noch wer war, der antworten konnte. Weil solche Antworten ausblieben blieben auch weitere Rundbriefe aus. Womöglich schickten sich die einzelnen Zaubereiministerien jetzt gegenseitige E-Mails über die im Arkanet verlaufenden verschlüsselten Kanäle, um das weitere Vorgehen abzustimmen.

Beim nächsten Essen erwähnte Olarammaya, was sie herausbekommen hatte. Die, die nun Geranamiria gerufen wurde, die trotz der überstandenen Niederkunft immer noch sehr füllig aussah, bemerkte dazu: "Damit gehört jetzt auch das achso freieste Land der Welt einer fanatischen Vereinigung, nachdem Italien ja schon zum heimlichen Königreich einer größenwahnsinnigen Hybridin geworden ist. Und dazu haben die immer noch diesen schwelenden Konflikt mit den Kobolden wegen Gringotts."

"Aber überleg mal, Geranammiria, dass die von uns damals wegen Frust auf dieses die Maschinenanbeter so gewähren lassende Zaubereiministerium aufgeweckte Anthelia selbst gerne die Königin der Welt werden wollte", erinnerte Dailangamiria ihre frühere Mutter und jetzige Tochter daran, wem sie beide damals selbst zugetan gewesen waren. Ohne diese Anthelia hätte es auch keine Olarammaya gegeben, erkannte die, die im ersten Leben ein gerade mal erwachsen gewordener Mann gewesen war. Und ohne Anthelia, das erkannten die drei Blutsverwandten, hätte die damals noch Patricia Straton heißende Hexe Daianira nicht das Zeichen des südamerikanischen Sonnengottes Inti abnehmen können, hinter dem auch schon die damals noch Pandora Straton heißende Geranamiria hergewesen war. Nun, wo sie wussten, dass Anthelia mit der einstigen Erdvertrauten Naaneavargia zu einer einzigen Erscheinung und Seele verschmolzen war, wussten sie nicht, was von Anthelias Vorhaben noch immer galt und wo Naaneavargias Wünsche wirkten.

"Also, wir dürfen festhalten, dass wir uns nur noch mit dem Laveau-Institut unterhalten dürfen, wenn stimmt, was Martha Merryweather über ihre Elektrorechner verbreitet hat", sagte Dailangamiria, weil Faidaria gerade im Sonnenturm war, um die Wiederherstellung des magischen Pendels zu beaufsichtigen. Da sie auch ein Symbol der alten Sonnenvertrauten trug war sie auch wegen ihrer Kenntnisse der gegenwärtigen Welt Faidarias Stellvertreterin, auch wenn sie jünger war als das jüngste der wiedererweckten Sonnenkinder.

"Wenn wir uns da jemals wieder sehen lassen dürfen", meinte Olarammaya. Ihre Zwillingsschwester Geranamiria bejahte das. Dann meinte sie: "Womöglich liegt es auch bei uns, ob wir sowohl mein ehemaliges Heimatland und Italien von ihren fanatischen Fremdherrschern befreien müssen oder nicht."

"Bei allem Respekt, meine Tochter, aber das ist nicht unsere Angelegenheit", erwiderte Dailangamiria. "Du weißt doch, was Faidaria gesagt hat. Wir haben eine klare Aufgabe, die ganze Welt von den Ausgeburten der Dunkelheit zu befreien, nicht die Herrschaft über verschiedene Länder zu lenken."

"Ja, weil sie immer noch dafür lebt, eine brave Dienerin zu sein, Mutter. Doch dann muss ich dich und demnächst auch sie noch einmal fragen, wem wir eigentlich damit dienen, wenn um uns herum Zaubererweltdespoten die Herrschaft an sich reißen. Willst du Vita Magica dienen oder Ladonna Montefiori?" Dailangamiria verzog ihr Gesicht. "Siehst du, ich nämlich auch nicht", legte Geranamiria nach.

"Ihr wollt nicht mehr dienen?" fragte Aroyans Geist. "Doch schon, aber nicht diesen beiden Irrsinnsgruppen", schickte Olarammaya schnell nach. Denn sie wusste, das Aroyan dem Treueid der Sonnenkinder verschworen blieb, egal das wie vielte Leben er führen musste. Am Ende behauptete der noch, dass die drei in die Gemeinschaft der Sonnenkinder hineingeholten gegen eben diese aufbegehrten und somit zur Gefahr für die Sache werden mochten. Sowas durften sie sich auf gar keinen Fall vorwerfen lassen.

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Der Wecker piepte um vier Uhr. Martha merkte, dass ihr doch noch ein paar Stunden fehlten. Immerhin hatte sie keine aufwühlenden Träume gehabt. Als sie kurz noch einmal die Miniaturviviane befragte, ob sich was geändert habe, flüsterte diese leise: "Sie haben versucht, Flugsperren über Viento del Sol zu errichten und wollten wohl die einfangen, die auf Besen angeflogen kamen. Doch die Gemeindethaumaturgen haben die Flugsperren aufgehoben. Das Luftschiff mit deinen Kindern wird schon eine Stunde früher starten und um sieben Uhr ankommen."

"Kann ich als Großmutter von in Millemerveilles geborenen Kindern dort apparieren?" fragte Martha leise.

"Lass dich von Catherine per Reisesphäre hinbringen. Das ist sicherer. Innerhalb von Millemerveilles kannst du ungehindert apparieren", wisperte Vivianes verkleinertes Bild-Ich.

Nach einem Espresso, in dem der Löffel stecken bleiben konnte war Martha wenigstens wach genug, um mit Laurentine und Catherine zum FlughafenLe Bourget zu fahren, von wo es für die amerikanischen Verwandten zurückgehen sollte. Sie verabschiedeten sich voneinander und wünschten sich trotz der betrüblichen Lage wieder genug Gründe zur Hoffnung und Freude. Laurentine wollte diesmal keine Maschine mit geliebten Menschen drinnen wegfliegen sehen. Zu sehr wirkte noch das Trauma, als sie ihren Großvater Henri verloren hatte. Deshalb fuhren die drei auch gleich nach dem Abschied wieder zurück nach Paris.

"Kann ich heute mal mitkommen, wenn Claudine zur Schule gebracht wird, oder schickst du sie schon durch den Kamin?" fragte Martha Catherine. Diese lachte und sagte, dass das Claudine so passen würde, durch den Kamin zu gehen. Aber solange sie noch keine acht Jahre alt war würde sie sie mit der Reisesphäre nach Millemerveilles bringen. Martha fragte, wie Philemon Dusoleil nach Millemerveilles kam.

"Den bringt seine Mutter wirklich per Kamin hin und ist dannn sofort wieder weg, weil sie immer noch keine Lust hat, sich mit dem Vater ihrer drei Kinder zu treffen", sagte Laurentine. "Ich wollte sie schon häufig wegen ihm ansprechen, weil er immer noch meint, mit Rauflust und Bockigkeit alles ausgleichen zu müssen, was ihn umtreibt. Aber ich komme da nur an Florymont ran, der ja der Pate von ihm ist. Aber einen Tag vor den Osterferien ist Elternsprechtag. Da kriegt sie eine verbindliche Einladung, hat Geneviève schon angesagt. Gut, dass ich den nicht im Unterricht habe."

"Ui, der sollte ich auch nicht über den Weg laufen", meinte Martha. "Die ist bestimmt immer noch ungehalten, weil ich mich ihren Werbungen so erfolgreich entzogen habe."

"Dann sag ihr besser auch nicht, dass du gerade Sonderurlaub bekommen hast, Martha", sagte Laurentine. Die Angesprochene nickte eifrig.

Als sie dann Claudine abholten, die noch leicht schläfrig war und mit ihr zum Geschichtsmuseum fuhren meinte Martha zu ihr, dass sie in den nächsten Wochen noch ein wenig im Land herumreisen würde, zu den Eauvives, vielleicht zu den Latierres.

"Ach schön, dann siehst du ja auch Rories kleine Tanten und Onkel", kicherte Claudine. "Wird wohl passieren", sagte Martha Merryweather.

Als sie dann alle drei in Millemerveilles ankamen durfte Martha noch zusehen, wie Claudine von ihrer Mutter bis zum Schulhof gebracht wurde. Dabei lief sie wahrhaftig der Direktrice Geneviève Dumas über den Weg. Diese erkundigte sich, was die Arbeit mache. Martha erwähnte so belanglos wie möglich klingend, dass im Moment wohl nichts wichtiges anstehe und sie deshalb ein paar Sonderurlaubstage bekommen habe. "Ihr Sohn hat Mademoiselle Hellersdorf in den ersten Januartagen sehr vorzüglich vertreten, Martha. Es hat sich trotz einiger Einwände von zaubererweltstolzen Eltern erwiesen, dass Kenntnisse aus beiden Lebenswelten sehr förderlich für unsere Kinder sind. Sollte ihnen dieses Staatengefüge jenseits des Atlantiks zu unübersichtlich werden oder die Situation wegen Ihrer drei Kinder unübersehbar werden und Sie vielleicht eine berufliche Veränderung erwägen sollten besteht meinerseits immer noch Interesse an einer gebildeten und gut erklärenden Fachkraft."

"Es ist sehr nett, dass Sie mir das sagen, Geneviève. Sollte sich wirklich die Notwendigkeit ergeben, mich nach einer neuen beruflichen Betätigung umzusehen, was ich ja heute noch nicht wissen kann, werde ich Ihre Anfrage gerne in näheren Betracht ziehen", erwiderte Martha Merryweather. Schroff ablehnen konnte sie dieses Angebot in ihrer jetzigen Lage nicht. Denn wie hatte Antoinette über Vivianes Bild-Ich gefordert? Sie durfte sich nicht langweilen. Also hieß das, sie brauchte eine sinnvolle Betätigung, da im Château Florissant kein Rechner funktionierte. Falls sie nicht wieder in Paris anfangen konnte, weil vielleicht irgendein Bürokrat auf Buggles Leim ging und dachte, sie sei ein Sicherheitsrisiko, mochte sie womöglich doch bei Geneviève landen, auch wenn sie sich nicht als ergraute Lehrerin sah, die an die zwanzig Schülergenerationen unterrichtet hatte. außerdem bewies ihr Buggles' unüberlegter oder auf unzureichenden Grundlagen setzender Aktionismus, dass jemand wie sie gebraucht wurde. Das würde dieser Mensch bald merken, wenn er nicht mehr mitbekam, was in der nichtmagischen Welt vor sich ging. Sicher, sie hatte einen veritablen Sabotageakt begangen, indem sie alle Ministeriumsrechner lahmgelegt hatte. Doch wie viel schlimmer mochte es sein, wenn Buggles und seine Hinterleute das Internet nach ihrem Gutdünken überwachen und manipulieren konnten? Sie hatte diverse Filme gesehen, wo eine Clique von kriminellen Hackern die Welt an den Rand des Chaos gebracht hatte oder mit Identitäten argloser Menschen ihr perfides Spiel trieben, nicht zu vergessen jene Dystopien, wo Computer die Welt beherrschten und die Menschen nur noch geduldet wurden oder wie im Fall der Matrix-Filme als ruiggestellte Energiespender für die Maschinenzivilisation herhielten. Sie war immer wieder gefragt worden, ob sowas möglich war und falls ja, wann ungefähr. Wenn Magie und Technik so vereint werden konnten, dass solche Schreckensvisionen Wirklichkeit werden konnten, dann gnade welcher Gott auch immer allen Menschenkindern, die darunter zu leiden hatten.

"Und, interessiert?" fragte Catherine ihre ehemalige Hausmitbewohnerin. "Sagen wir es so, ich behalte mir vor, dieses Angebot zu prüfen", sagte Martha Merryweather.

Da Catherine heute keinen Außeneinsatz hatte fragte sie, ob sie Martha bei der Ankunft des Luftschiffes begleiten durfte. Sie willigte ein, fragte aber sofort, woher sie das wusste. "Weil du sonst nicht gefragt hättest, ob du mich und Claudine zur Schule begleiten könntest, im Bewusstsein, dass du Sandrines Maman begegnen könntest", erwiderte Catherine. Martha nickte verdrossen. Ja, das war doch sowas von logisch, dass es ihr schon weh tat. Vor allem wo sie ja gestern noch darüber gesprochen hatten. Offenbar war sie noch nicht richtig wach, oder der Beruhigungstrank stritt sich mit dem drängenden Wunsch, ihre drei Kinder wiederzusehen um die Vorherrschaft in ihrem Verstand, dass ihr Logiksektor gerade im Bereitschaftsmodus festhing.

Als das blau-silberne Luftschiff angeflogen kam ließ Martha Merryweather ihre Augen nicht davon, bis es nur wenige Meter über dem Boden schwebte. Dann wurden vorne und achtern Strickleitern aus runden Luken herabgelassen. Die ersten Fluggäste stiegen aus, alles Bewohner von Millemerveilles, die offenbar sehr glücklich waren, wieder in ihrer Heimat zu sein. Dann sah Martha eine ältere Hexe, die von Haar und Augenfarbe her ihrem Mann Lucky glich, wie sie einem kleinen Mädchen, das Marthas Stimmung schlagartig ansteigen ließ, in einen Sicheruntsgurt half und ihm dann zeigte, wie es die Leiter hinunterklettern konnte.

Martha und Catherine sahen zu, wie erst das eine kleine Mädchen, dann das zweite kleine Mädchen und am Ende ihrer beider Drillingsbruder wie im Spiel die wackelige Leiter hinunterturnten. Dann stieg auch die ältere Hexe herab und lächelte dabei, als sie Martha sah. Als alle vier auf festem Boden standen machte die Hexe eine Winkbewegung, und alle drei Kleinen Kinder wuselten los, auf ihre Mutter zu, die freudestrahlend und laut klatschend auf sie zulief und dann ihre Arme weit ausbreitete.

Catherine freute sich auch, dass die drei angekommen waren. Sie wusste nicht, wie Martha es vertragen und überstanden hätte, wenn auch nur einem der drei was passiert wäre. Sie sah zu, wie Martha erst ihre Kinder knuddelte und dann ihre Schwiegermutter umarmte. Musste die nicht in Thorntails sein? Bei denen waren die Ferien doch auch schon seit einem Monat um.

Guten Morgen, Madame Brickston. Ich möchte mich auch im Namen meines Sohnes bedanken, dass Sie Martha so gut aufgenommen und beherbergt haben", grüßte Hygia Merryweather Catherine in lupenreinem Französisch.

"Guten Morgen Madame Merryweather. Ich wusste nicht, dass Sie es einrichten konnten, die Drillinge herzubegleiten. Ich ging davon aus, dass Ihre Dienste in Thorntails benötigt werden", erwiderte Catherine.

"Abgesehen davon, dass wir wegen des zu erwartenden geburtenstarken Jahrgangs beschlossen haben, zwei Heilhexen bei uns zu beschäftigen und ich die jüngere Kollegin gerne mal einen Tag alleine lassen kann wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, die drei kleinen unbegleitet herüberfliegen zu lassen, auch wenn Viento del Sol und Millemerveilles wohl gerade die vor Intriganten und Nachstellern sichersten Orte der bedenklich wackelnden Zaubererwelt sind. Daher bekam ich von meinen beiden Vorgesetzten einen vollen Tag frei, da mein werter Herr Sohn der Meinung ist, jetzt erst recht in den Staaten zu bleiben, um dieses Chaos, dass Buggles zu erwecken droht, zu überblicken."

"Öhm, beide Vorgesetzten?" fragte Catherine. "Natürlich musste ich mir einen freien Tag von Prinzipalin Wright erbitten, auch wenn die erwähnte Kollegin Honeypot schon sehr kompetent ist. Aber sie war bis vor einem Jahr nur als Stationsheilerin im Honestus-Powell-Krankenhaus tätig, wo sie es nicht mit gesunden, halbwüchsigen Schülerinnen und Schülern zu tun hatte. Da gehört ja doch auch eine gewisse Erfahrung im Zwischenmenschlichen und eine besondere Form von Einfühlungsvermögen dazu, um diese große Aufgabe zu bewältigen. Ach ja, und natürlich musste ich meine oberste Dienstherrin, Madam Greensporn, um die Erlaubnis bitten, für einen Tag meinen Zuständigkeitsbereich verlassen zu dürfen. Im Zweifelsfall gelten Ihre Anweisungen immer noch mehr als die Prinzipalin Wrights. Ja, und wie erwähnt meint mein Sohn, er müsse jetzt, wo seine Frau und seine Kinder aus dem Land sind, einen heimlichen Widerstand gegen Buggles' Wahnwitz organisieren. Ich habe ihn jedoch gewarnt, dass dies kein Spaß sei und Buggles womöglich nur noch ein Strohmann ist, hinter dem ganz andere, wesentlich gefährlichere Kräfte stehen."

"Dann glauben Sie auch, dass Vita Magica in diese Lage involviert ist?" fragte Catherine. "Nun, das Wort "involviert" bezeichnet ja, dass jemand in eine Lage oder Ausführung einbezogen wurde, ob freiwillig oder nicht ist dabei unerheblich. Falls Vita Magica hinter dieser drastischen Beschränkung von Freiheitsrechten steckt, dann sind sie nicht involviert, sondern federführend oder besser drahtziehend. Zumindest gehen Madam Greensporn und andere Kolleginnen davon aus, nachdem Buggles einige Personalveränderungen angekündigt hat."

"Will sagen, dass er deren Gefolgsleute in machtvolle Stellungen bringt", vermutete Martha. Madam Merryweather nickte nur. "Und wo ich schon mal hier bin, werde ich mit Martha ins Château Florissant reisen, zum einen um die Unterbringung meiner Enkelkinder zu begutachten und zum zweiten um mit Antoinette im Auftrag Madam Greensporns zu konferieren", flüsterte sie Catherine auf Englisch zu, weil gerade weitere Bewohner Millemerveilles dazukamen.

Endlich hatten Martha und die Drillinge sich genug begrüßt. Sie kamen eilig herüber. Da apparierte auch Antoinette Eauvive am Landeplatz. "Ah, Martha, schön, dass sie es einrichten konnten", sagte Antoinette. Dann begrüßte sie die Kollegin aus den Staaten. "Ich habe ein Thestralgespann auf der Landewiese bereitstehen. Bitte mir zu folgen", bat sie ihre Gäste. Dannn winkte sie Catherine und rief noch: "Teilen Sie Ihrer Mutter bitte mit, dass ich über die Kollegin Maiglock eine Aussprache mit ihr wegen der offenkundigen Verschärfung in den Staaten erbitten werde!"

"Ja, mach ich, Madame Eauvive", sagte Catherine.

Sie sah noch zu, wie Martha und ihre Verwandten in einen kleinen Reisewagen stiegen, der mit vier skelettartigen Pferden mit schwarzem Fell und lederartigen Flügeln Bespannt war. Der Wagen holperte über die Landewiese, auf der auch schon dralle Latierre-Kühe gelandet waren, hob sich erst vorne und dann hinten vom Boden und stieg mit sich einziehenden Rädern in den nördlichen Morgenhimmel. Catherine hob ihren Zauberstab, konzentrierte sich, stellte sich ihre Wohnung vor und vollführte eine schnelle Drehung auf der Stelle. Mit leisem Plopp verschwand sie aus Millemerveilles.

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Laurentine atmete noch einmal tief durch. Dann drückte sie die Anruf-Taste ihres schnurlosen Telefons, in das sie bereits die Durchwahl zum Büro von Monsieur Barnier eingetippt hatte. Der würde sich sicher nicht freuen, doch noch das geparkte Versicherungsgeld rausrücken zu müssen. Doch Laurentine war entschlossen, es nicht dieser gierigen Firma zu überlassen.

"Ja, guten Morgen Monsieur Barnier, hier ist Laurentine Hellersdorf", sprach sie mit ein wenig mehr Trübsal in der Stimme als sie gerade fühlte. "Ich habe gehofft, diese Nachricht nicht mitteilen zu müssen. Aber am 26. Dezember kamen meine Eltern bei einer Reise in Südostasien ums Leben. Gestern habe ich mich mit all ihnen wichtigen Menschen von ihnen verabschiedet."

"Öhm, Ihre Eltern waren auch unter den Opfern? Das hätte ich doch erfahren müssen, wo ... öhm, können Sie das belegen?" Fragte der Mensch am anderen Ende der Leitung.

"Ja, dies kann ich. Auffindungsprotokoll, Klärung der Identitäten, Reise- und Ausweisdokumente, Totenschein, überfürungsurkunde, Protokoll der Bestattungsunternehmer, Auszug aus dem Kirchenbuch über eine Beisetzungsfeier am 12. Februar 2005 in St. Joseph bei St. Louis in Ostfrankreich, sowie die Bestätigung von der Sterbeversicherung über die Bestattungskosten. Liegt alles vor. Sagen Sie mir bitte nur, was davon Sie benötigen."

"Öhm, warum habe ich das nicht längst ... ich meine, wenn Sie das belegen können, dass Ihre Eltern beide tot sind ist dies natürlich eine andere Situation als bei unserem letzten Gespräch, sofern Ihre Eltern wahrhaftig zu den Opfern der Flutwellen gerechnet werden."

"Moment, Monsieur Barnier, Sie möchten mir doch jetzt sicher nicht unterstellen, entweder die Unterlagen gefälscht oder meine Eltern ermordet zu haben. Erstens verbitte ich mir diese Unterstellungen und zweitens erinnere ich Sie sehr gerne daran, was ich Ihnen im Bezug auf den vorzeitigen Tod meiner Eltern gesagt habe, als wir beide noch davon ausgehen durften, dass diese noch ein langes, glückliches Leben vor sich hatten. Ich bin darüber wesentlich betrübter als sie, dass dies nicht so eingetreten ist, Monsieur Barnier."

"Wie schnell können Sie die Sterbeunterlagen und die Bestätigung der Reise zusenden? Ich meine, ich muss natürlich prüfen, ob der Sonderfall gegeben ist."

"Ferenghi", dachte Laurentine und sagte laut: "Natürlich kann ich Ihnen nur Kopien zusenden, die aber beglaubigt sind. Auch kann ich die Unterlagen als Bilddateien scannen und Ihnen auf dem elektronischen Postweg zukommen lassen oder per Telefax, ist alles möglich."

"Senden Sie mir bitte per Kurier die erwähnten beglaubigten Kopien", sagte Barnier, dem Laurentine anhörte, dass er nicht so erfreut war, doch die geparkte Versicherungssumme auszahlen zu müssen. Dann sagte er wohl vom Geistesblitz getroffen: "Nun, es würde weniger bürokratischen Aufwand erfordern, wenn Sie auf die Auszahlung verzichten und das Geld für ihr eigenes Leben anlegen, jetzt, wo Ihre Eltern nicht mehr da sind."

"Monsieur Barnier, ich hätte Sie sicher nicht angerufen und mit meiner trüben Stimmung behelligt, wenn ich es in eine Lebensversicherung einbezahlen wollte. Denn die hätte ich ja schon vorher abschließen können. Ich bedauere es selbst, dass meine Eltern tot sind. Doch ich werde nicht auf die vertraglich zugesicherte Summe verzichten, auch und gerade, weil ich hoffe, dass ich noch ein langes Leben vor mir habe. Vielleicht möchte ich ja irgendwann doch eine Familie gründen und Wohneigentum erwerben. Doch wann das ist und wo das ist möchte ich bestimmen. Daher werde ich Ihnen die erbetenen Unterlagen per Kurier zusenden, mit Annahmebestätigung zu Ihren Händen", erwiderte Laurentine.

"Nun gut, wenn die Unterlagen bestätigen, was Sie mir mitteilten haben Sie natürlich das vertragliche Recht auf Auszahlung", erwiderte Barnier. Laurentine bejahte das.

"Bis wann können Sie die Unterlagen einreichen?"

"Das kann heute noch geschehen", sagte Laurentine. "Oh, per Kurier?" "Ja, ich kenne ein paar ganz schnelle und zugleich zuverlässige Botendienste", sagte Laurentine. Darauf kam fünf Sekunden lang keine Antwort. Dann sagte Barnier: "Wie Sie wünschen. Sofern die Unterlagen innerhalb meiner Bürozeit eintreffen werde ich mich mit ihrer Auswertung befassen. Wann genau eine Auszahlung erfolgen wird hängt jedoch nicht alleine von mir ab, sondern auch von der Firmenleitung. Schließlich muss sie die Auszahlungen genehmigen."

"Möchten Sie mir damit sagen, dass ich nicht mit der richtigen Stelle spreche, um das zu klären und ich besser Ihren Vorgesetzten anrufen möge?" fragte Laurentine jetzt ein wenig verbittert. "Nein, Sie sind schon bei mir richtig, weil die Firmenleitung solche Anfragen immer an mich und meine Kollegen delegiert. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Sie nicht von heute auf Morgen über 20.000 Euro überwiesen bekommen können."

"Ich habe Freunde und Bekannte, die sagen, mit Online-Bankng geht das heute ganz schnell, man muss nur die Kontonummer, den Verwendungszweck und den Betrag eingeben und noch eine Transaktionsnummer zur Bestätigung eintippen. Das geht wohl doch ganz schnell."

"Wie erwähnt ist es auch eine Frage von Entscheidungen, die die Firmenleitung treffen muss, zum Beispiel, wann wir das geforderte Kapital vorhalten können. Schließlich haben wir auch Ausgaben."

"Ach, Sie haben das von meinen Eltern für mich angesparte Geld schon längst verplant. Warum sagen Sie das nicht gleich?" erwiderte Laurentine. "Dann muss ich natürlich erst mal warten, ob es irgendwann genehm ist, bis Ihre Firma es an mich auszahlt, falls Ihnen oder Ihrer vorgesetzten Stelle nicht noch was einfällt, wie Sie die Auszahlung abwenden können. Soll ich das jetzt wirklich so denken, Monsieur?"

"nein, natürlich nicht, Mademoiselle Hellersdorf. Wie erwähnt, wenn Sie beweisen können, dass Ihre Eltern eines nicht durch Menschenhand verursachten Todes starben und eindeutig identifiziert wurden ..."

"Da waren wir doch schon längst. Ja, ich kann das alles beweisen. Finden Sie das so schön, trauernde Menschen noch derartig hinhalten zu müssen? Stimmt, Geld einnehmen ist ja auch leichter als es herzugeben."

"Wollen Sie mich und meine Firma jetzt beleidigen?" fragte Barnier.

"Das ist eine allgemeine Feststellung und somit keine persönliche Beleidigung", erwiderte Laurentine ruhig. "Und damit wir uns nicht doch in unschönen und noch dazu zeitvergeudenden Phrasen verstricken befolge ich Ihren Rat und sende Ihnen noch heute die betreffenden Unterlagen als beglaubigte Kopien zu. Sie unterrichten mich dann aber bitte, bis wann die von meinen verewigten Eltern angesparte und mündelsicher für mich persönlich angelegte Summe verfügbar sein wird, nicht wann ungefähr, sondern wann genau und das möglichst noch in diesem Halbjahr, falls mir diese Bitte gestattet ist. - Danke schön!"

"Wie Sie wünschen, Mademoiselle Hellersdorf", sagte Barniers Stimme. Dann sprachen beide noch die übliche Verabschiedungssätze und trennten die Verbindung.

"War klar, dass der mich immer noch hinhalten will", dachte Laurentine. Doch innerlich war sie schon zufrieden, diesen Vertreter ein wenig ins Rotieren gebracht zu haben.

Nach weiteren zehn Minuten traf ein Kurierfahrer ein, dem Laurentine einen gewissen Vorschuss auf das Honorar zahlte. Weil die Versicherungsfirma in Straßburg saß würde es auf jeden Fall bis Büroschluss dauern, bis sie wusste, ob die Unterlagen eingetroffen waren oder nicht.

An diesem Tag erhielt sie auch Post vom Nachlassgericht, dass es ein Testament beider Elternteile gebe, sie jedoch nur einen Pflichtteil erhalte. Sie beschloss, diese Testamente, die auf Gegenseitigkeit ausgestellt waren, nicht anzufechten. Denn allein der Pflichtteil betrug umgerechnet anderthalb Millionen Euro. Offenbar hatten ihre Eltern doch beide ganz gut verdient. Nein, natürlich hatte ihre Mutter auch was von den Millionen ihres Vaters Henri geerbt, wenn auch nur einen winzigen Teil, weil der Löwenanteil an seine Witwe Monique gefallen war.

Laurentine war nicht geldgierig. Aber eine gewisse Rücklage, auch und vor allem jetzt, wo das mit den Kobolden so kitzelig war, war schon beruhigend.

Hera und Louiselle hatten ihr unabhängig voneinander mitgeteilt, dass die Schwestern sich am 15. Februar noch einmal treffen wollten, um Laurentines Eltern zu gedenken. Sicher, die meisten von denen würden wohl gerne den Valentinstag mit ihren Liebsten verbringen. Außerdem kam ein Treffen aller Schwestern auch nur dann zustande, wenn auch alle heimlich von dort wegkonnten, wo sie üblicherweise waren. Hätte sie dieses Treffen dankend ablehnen sollen? Da sie es sich mit denen, die sie gegen einige Vorbehalte in ihrer verschwiegenen Gemeinschaft willkommengeheißen hatten nicht verderben wollte wohl nicht. Ganz sicher gehörte es zum guten Ton, die verstorbenen Verwandten einer Mitschwester zu würdigen und ihrer zu gedenken.

So richtig froh war Laurentine erst, als sie abends um elf Uhr die Nachricht von ihrer Großmutter Monique bekam, dass alle wieder sicher in den Staaten angekommen waren. Allerdings wunderte sich ihre Oma Monique über einen gewissen Grenzkontrolleur, der sie in New York besucht hatte und sich nach Martha Merryweather erkundigt hatte. Üblicherweise gab es von Charterflügen von Privatleuten keine Passagierlisten wie bei Linienflügen.

"Was ist an deiner Bekannten so wichtig, dass die US-Grenzbeamten sich extra nach ihr erkundigen, Tinette?" fragte ihre verwitwete Großmutter.

"Na ja, sie kennt von ihrem Beruf her einige geheime Sachen. Daher sind die Regierungsbeamten darauf bedacht, dass es ihr gut geht. Offenbar ist es bei denen noch nicht rumgegangen, dass sie von ihrer Arbeitsstelle einen Sonderurlaub erhalten hat", begründete Laurentine das Interesse der US-Grenzer. Für sich selbst dachte sie, mit wem Martha sich in den Staaten angelegt haben mochte, dass sie vorerst nicht dort hinreisen wollte oder durfte.

"Achso, das übliche Spiel, wo die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, Kind", erwiderte Monique Lacroise. "Aber ich dachte, Madame Merryweather arbeitet für ein privates Unternehmen in der IT-Abteilung."

"Ja, das stimmt, Mémé Monique. Aber dieses Unternehmen erfüllt auch Regierungsaufträge. Du weißt ja, Auslagerung von Arbeitsprozessen um Geld einzusparen."

"Ah, natürlich. Aber jetzt wissen die es mit sicherheit. Also wir sind wieder gut angekommen. Du hast es gut organisiert, Kind. Deine Eltern sind sicher stolz auf dich, unabhängig von jenen Differenzen, über die ihr drei mir nichts erzählen wolltet", erwiderte Monique Lacroise.

"Ich habe heute Post vom Nachlassgericht bekommen. Die haben uns alle bedacht, wobei ich nur den mir zustehenden Pflichtteil erhalte, weil meine Eltern wohl meinten, ich hätte kein Anrecht auf den vollen Erbteil. Ich werde das Testament nicht anfechten. Ich bin froh, wenn das alles hinter mir liegt und ich wieder in meinen Alltag hineinfinden kann", erwähnte Laurentine.

"Das ist auch der einzige Grund, warum ich nicht nachhaken werde, was genau euch drei entzweit hat, Tinette. Bei euch ist ja schon spät abend. Deshalb wünsche ich dir eine gute Nacht. Öhm, verbringst du den Valentinstag morgen mit einem geliebten Menschen?"

"Im Moment gibt es keinen, mit dem ich diesen Tag im vorgegebenen Sinn verbringen möchte, Mémé Monique", erwiderte Laurentine ein wenig verbittert. Ihre Großmutter bat um Entschuldigung, falls sie zu indiskret gewesen war. Laurentine gewährte ihr die Entschuldigung.

Als das Ferngespräch nach Kalifornien beendet war blickte Laurentine noch einmal auf die grüne Mappe, in der sie alle Dokumente und Erinnerungsfotos einsortiert hatte, die ihre Eltern ihr sozusagen zum endgültigen Abschied überlassen hatten. Ihr ganzes friedliches Leben bis zur fünften Klasse von Beauxbatons passte in eine solche Mappe. Das war schon ein befremdliches Gefühl, fand Laurentine. Sie nahm die grüne Mappe, ging damit zu ihrem Wohnzimmerschrank und verstaute sie in einem für Unterlagen vorgesehenen Fach. Mit einem Gefühl von entschlossener Endgültigkeit schloss sie den Schrank wieder. Jetzt galt es nur noch, die in Kourou verbliebenen Habseligkeiten ihrer Eltern zurückzuholen. Hierfür würde sie sich am 20 Februar mit einem auf sowas spezialisierten Spediteur treffen. Es konnte sein, dass der noch mal Umstände machte, weil sie nicht die alleinige Erbin war. Doch vielleicht war der auch froh, wenn er so einen Transport ohne weitere Nachfragen und Diskussionen abwickeln konnte.

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Im Büro von US-Zaubereiminister Buggles zeigte die Wanduhr halb zehn Morgens. Der Inhaber dieses Büros wirkte alles andere als begeistert.

"Sie hat was?" fragte Buggles Desmond Richway. "Nun, sie hat offenbar vor ihrer Abreise dafür gesorgt, dass bei einer zu erwartenden Anfrage nach den Dokumentationen des Arkanetverbundsystems alle bei uns betriebenen Rechner ausfallen mussten und nicht mehr gestartet werden können, da alle dafür nötigen Programme und Wertetabellen aus den Speichern gelöscht wurden. Ms. Feller erwähnte, dass ohne eine völlig neue Installation der gängigen Betriebssystemprogramme keine weiterführende Arbeit mit den Geräten möglich sei. Immerhin seien die Geräte nicht zerstört worden, was durchaus auch hätte geschehen können, Sir."

"Mit anderen Worten, wir haben jetzt keinen Überblick mehr über die Informationsströme und Nachrichtenverbreitung in der nichtmagischen Welt?" Fragte Buggles. "Ja, das ist wohl die Sachlage", erwiderte Richway. "Dann kann ich die Nomajs, diese Giftschleudern und Lärmmacher nicht in die gewünschten Bahnen lenken", dachte der amtierende Zaubereiminister. Laut sagte er: "Gut, was haben wir gemacht, als wir diese Computersachen noch nicht hatten? Brauchten wir die denn davor?"

"Sagen wir es so, durch dieses Zusammenschalten von Informationsverarbeitungsgeräten in diesem Internet entstand eine bis dahin nicht vorstellbare und daher nicht als nötig empfundene Grundlage, die in diesem Netzwerk verbreiteten und ausgetauschten Botschaften, Dokumentationen und anderen Wissensgrundlagen auf unerwünschte Enthüllungen unserer magischen Welt zu prüfen und solche Enthüllungen früh genug abzufangen oder als bewusste Falschmeldungen darzustellen, wie es sie neben den ernsthaften Informationen auch zu Hauf in diesem Internet gibt. Um es so zu formulieren: Wir benötigten vorher nur die Augen und Ohren, um direkte Vorfälle zu erkennen und ohne Angst vor Weitergabe zu vertuschen. Durch das Internet ist die Nachrichtenverbreitung nicht nur erheblich schneller geworden, sondern kann auch einen erheblich größeren Raum einnehmen und in wenigen Sekunden tausende von Adressaten erreichen. Daher haben Dime und Picton die Einrichtung und den Betrieb dieser Rechnerkammer genehmigt. Deren Ausfall bedeutet, dass wir wieder mit altbewährten Methoden wie Rundfunk, Spürsteinen und Anzeigen aus der magischen Bevölkerung arbeiten müssen, aber dabei nicht wissen, ob nicht jemand magische Vorgänge an weltweit verteilte Adressen gesendet hat."

"Ja, und Martha Merryweather wusste das natürlich auch alles ganz genau", grummelte Buggles. "Ich hatte recht, dass sie zu intelligent ist, um sich von uns führen zu lassen. Sie hätten ihr nicht den Urlaub genehmigen dürfen, Richway. Dann hätten wir sie vielleicht mit der Freiheit und dem Zugang zu ihren .... hätten wir sie ..." Buggles fühlte auf einmal wieder diese bohrenden Kopfschmerzen. Das war schon ein ausgewachsener Migräneanfall, der zu regelrechten Lichtblitzwahrnehmungen und einem wie wild pochenden Schädel führte. Er kämpfte um seine Haltung, versuchte, seine Augen nicht zu verdrehen. Dann sagte er: "Gut, so soll es dann sein, dass Feller und die anderen ohne dieses Arkanet auskommen müssen. Dann sollen die eben magieloses Radio und Fernsehen verfolgen, zum roten Donnervogel noch mal", presste er hervor. "Und was machen wir wegen der Sabotage?" fragte Richway.

"Wir verbergen das. Denn wenn wir sie jetzt offen anklagen stoßen wir die halbe Welt darauf, dass wir gerade unterwandert wurden, von Spionen, Saboteuren und womöglich Attentätern. Vielleicht hat dieses Weib für die Spinnenhexen gearbeitet. Sperren Sie die Gehaltszahlung und geben Sie die ausstehende Summe an Picton. Der soll sie als Schadensersatz für den Geräteausfall verbuchen!"

"Sehr wohl, Sir", sagte Richway. "Und, wenn sie oder ihre Kinder wieder einzureisen versuchen? Wir haben keine Kontrolle mehr über den Luftschiffverkehr nach Viento del Sol."

"So, haben wir das nicht. Haben wir keine Luftschiffe mehr?" blaffte Buggles.

"Öhm, nein, soweit ich von Verkehrsexperten Ferrington weiß haben wir im Moment keine eigenen Luftschiffe. Die überseetauglichen Fahrzeuge sind im Besitz der Stratofegergesellschaft, die einen festen Bestand für Thorntails und Dragon Breath vorhalten muss."

"Wo gerade das zweite Trimester stattfindet. Also haben wir bis Ostern genug Zeit, um diesen arroganten Dorfhexen und Dungdreherzauberern die Freude am Fliegen zu verderben. Aber das kläre ich mit Ferrington. Sie sind erst mal hier fertig, Mr. Richway."

"Sehr wohl, Zaubereiminister Buggles", sagte Desmond Richway.

Lionel Buggles atmete kurz auf, als Richway sein Büro verließ. Sie hatte ihn wieder gezüchtigt, weil er es gewagt hatte, daran zu denken, Martha Merryweather mit der Freiheit und dem Leben ihrer Kinder gefügig machen zu können. "Sei froh, dass dieses vorwitzige und euch in diesen Elektrorechnersachen turmhoch überlegene Weib außer Landes ist. Sie muss sich jetzt mit ihren Kindern bei ihren französischen Verwandten verkriechen und kann dir somit nicht weiter schaden", hörte er ihre Stimme in seinem Kopf. Gleichzeitig fühlte er ein dumpfes Ziepen in seinen Eingeweiden. Sie machte wieder das, was ihn leiden ließ, wenn er auch nicht wusste, wie genau. Denn eigentlich konnten Flüche ihn hier nicht berühren.

"Sir, auch Misty Mountain und der Weißrosenweg in New Orleans haben diesen Zauber aufgerufen, der ihnen nicht genehme Leute abweist", hörte der Minister die magisch in seinen Raum verpflanzte Stimme Catlocks. "Meine Wachposten dort sind alle samt und sonders abgewiesen worden und können nicht mehr hinein. Außerdem haben wir hier mehrere Anzeigen wegen Beeinträchtigung der Reisefreiheiten auf dem Tisch. Einen Teil davon konnte ich an Ferringtons Abteilung weitergeben. Aber was machen wir wegen der isolierten Dörfer? Sollen wir die alle unter Quarantäne stellen?"

"Das mit der Quarantäne kann nicht auf diese Gegenden ausgedehnt werden, weil die Heilerzunft schon misstrauisch genug ist. Wir dürfen es uns nicht mit denen verderben, Catlock. Aber wegen VDS, wo dieser Sonnenwindsender herumplappert, da werden wir was machen. Näheres später", erwiderte der Zauberer, der hoffte, bald schon der höchste Zauberer Nordamerikas zu werden. Doch das war im Moment noch Zukunftsmusik.

Der Arbeitstag endete für Buggles mit einer schriftlichen Mitteilung aus der Inobskuratorenzentrale. zwar hatte er zehn von denen schon mit dem Trick der erheischten Unterschrift an sich gebunden. Doch die restlichen 134, darunter auch die gerade wegen des ausgesetzten Wahlkampfes pausierende Atalanta Bullhorn, hatten sich von ihm losgesagt.

... Nach all den aufgeführten Faktoren kommen wir, die Abteilung zur Erfassung und Behebung schwarzmagischer Vorkommnisse, zu dem Schluss, dass wir der ministeriellen Führungsebene derzeitig nicht vertrauen können. Sollten Sie, Minister Buggles, Mr. Catlock und alle anderen Abteilungsleiter, glaubhaft und unbestreitbare Beweise vorlegen, dass alle Bedenken unsererseits unbegründet sind, so sind wir gerne bereit, unsere Anstrengungen und Einsatzbereitschaft wieder mit den regulären Gesetzesüberwachungskräften gemeinsam zu erbringen. Sie haben bis zum 20. Februar Zeit, die weiter oben aufgeführten Punkte zu entkräften. Wichtig ist dabei, dass Sie uns beweisen, dass weder Sie noch Ihre unmittelbaren Mitarbeiter unter fremden, womöglich böswilligem Einfluss stehen. Widrigenfalls rufen wir den Fall "Gestürmte Burg" aus und werden uns auf die eigenständige Ermittlung und Eindämmung dunkler Zauberei beschränken. Sollten Sie, was wir nicht hoffen, von einer derartigen Seite unterwandert und unterworfen worden sein, könnte dies zu einem sehr unangenehmen Konflikt führen, den wir nicht wollen, aber im Rahmen unseres internen Eides, jede Form bösartiger Magie zu bekämpfen, ausfechten werden. Sie sind hier mit belehrt oder gewarnt, je danach, ob unsere Besorgnis berechtigt oder unberechtigt ist.

Gez. IGVD Foster Douglas

"Catlock zu mir!!" rief Buggles in Richtung der magischen Rufanlage. In nicht einmal einer halben Minute saß der sichtlich schuldbewusst dreinschauende Strafverfolgungsleiter Ray Catlock im Büro seines obersten Dienstherren auf dem Besucherstuhl.

"Wieso hat es nicht geklappt, alle einhundertvierundvierzig Inobskuratoren zur schriftlichen Anerkenntnis meiner Amtsführung zu bewegen?" stieß Buggles jede Silbe wie ein wütendes Gebell aus. Catlock sah seinen nun durch magische Bindung festgelegten Herren abbittend an und antwortete halblaut: "Ich hatte Douglas und seine Führungsoffiziere vorgeladen, um sie einzuschwören, Sir. Doch offenbar haben Atalanta Bullhorn und zwei aus VDS stammende und dort untergeschlüpfte Angehörige der Truppe ihnen die Aufzeichnung einer im dortigen Dorfradio verbreiteten Mitteilung vorgeführt. Ich hatte erst einmal genug mit den hereinkommenden Anzeigen zu tun und musste drei Stunden mit den Richtern über die gesetzeskonforme Umsetzung der Vertragsbedingungen mit Vita Magica debattieren."

"Sehr gut, Ray. Dadurch haben Sie und die ehrenwerten zwölf genau die Zeit verschenkt, die nötig war, um die Inobskuratoren einschließlich Atalanta Bullhorn auf unsere Seite zu ziehen. Jetzt sollen wir, ja auch Sie, bis zum zwanzigsten beweisen, dass wir nicht von bösartigen Mächten unterwandert wurden. Da, lesen Sie!!" Mit den letzten Worten klatschte er Ray Catlock die Mitteilung aus der Inobskuratorenzentrale auf den Tisch. Catlock nahm sie und las. "Ja, offenbar haben wir wirklich die nötige Zeit verschenkt", konnte er danach nur sagen. "Öhm, aber wenn wir jetzt gegen diese Mitteilung angehen oder sie als unhaltbaren Vorwurf ignorieren?"

"Riskieren wir einen offenen Kampf im Zaubereiministerium. Zehn haben wir ja von denen", sagte Buggles mit einer gewissen Genugtuung. Doch Catlock verdarb ihm die Gewissheit. "Ja, und diese werden auf Anfrage ihres Vorgesetzten ablehnen, weiter für ihn zu arbeiten, ohne zu verraten, warum nicht. Das dürfte Douglas und Bullhorn, die sicher hinter dieser Verweigerung steht, erst recht stutzig machen. Am Ende schaltet von denen noch wer das Laveau-Institut ein und ..."

"Wie können Sie es wagen, mich belehren zu wollen?!" brüllte Buggles. Darauf erklang ihre Stimme in seinem Geist: "Weil das sein verdammter Job ist, dich über Auswirkungen von Unstimmigkeiten zu unterrichten." Catlock selbst sagte: "Dies gebietet meine Ihnen gegenüber bekräftigte Verpflichtung, Sir. Sie müssen alles wissen, was uns bevorstehen könnte, Sir."

"Sie haben die Liste jener, die auf unserer Seite stehen. Rufen Sie sie zusammen und weisen Sie sie in meinem klaren Auftrag an, auf Anfragen ihrer Kameraden zu bekunden, dass sie in einer Sonderermittlung für Sie tätig sind und daher nicht zu irgendwelchen Vollversammlungen hinzustoßen oder Auskünfte über ihren gegenwärtigen Auftrag erteilen dürfen. Ich hoffe, Douglas erkennt das an, weil es ja nicht die erste verdeckte Operation der Inobskuratoren ist. Ach ja, bei der Gelegenheit rufen Sie alle Mitglieder der Sondergruppe Quentin Bullhorn zusammen, die Operation "Friedliche Mondnächte" wird ab morgen durchgeführt."

"Sir, wenn ich die zehn uns sicheren IOs auf Geheimhaltung und Auskunftsverweigerung einstimme werden Douglas und Bullhorn ebenso argwöhnen, dass etwas bei uns nicht mehr mit rechten Dingen zugeht", sagte Catlock.

"Dann schicken sie die zehn auf eine Mission, beispielsweise, um alle Kunststofffabriken des Landes abzusuchen, ob dort weitere Vampire und/oder Werwölfe sind!" befahl Buggles. "Schon armselig, dass ich Ihnen vorgeben muss, was Sie tun sollen", fügte er noch hinzu. Catlock überhörte diese verächtliche Bemerkung mit der Empfindung eines auf Gnade und Ungnade unterworfenen Dieners, fast wie ein Hauself. Ebenso hauselfenartig erwiederte Catlock: "ich werde jeden von Ihnen gegebenen Befehl ausführen, Sir." Buggles nickte und schickte ihn wieder fort.

"Und diesen Trottel habe ich zum Leiter der wichtigsten Abteilung gemacht", dachte Buggles abfällig. Dann erkannte er, was wirklich vorging. Die Mitarbeiter hatten sich verpflichtet, jeden Befehl von ihm auszuführen und nichts zu unternehmen das er nicht angeordnet hatte. Sie waren wirklich wie Hauselfen, die devot darauf warteten, die nächste Anweisung zu erhalten, sofern ihre Meister keine klare Anleitung für Eigeninitiative mitteilten. Was hatte Richway ihm von der Computerabteilung erzählt, die Dinger waren nicht intelligent, sondern strohdumm. Die taten nur, was ihnen Punkt für Punkt befohlen wurde. Ja, Mit dem Dreh von Vita Magica hatte er seine Leute zu halben Zombies oder Golems aus Fleisch und Blut gemacht, die nur noch Punkt für Punkt, Anweisung für Anweisung ausführten, was er, ihr Herr, befahl. Allein dieser Umstand, so dachte er ungehalten, mochte als klarer Beweis für eine Fremdsteuerung von außen angesehen werden. Doch wie hätte er seine Leute anders an sich und ihren Willen binden können? Die Inobskuratoren hatten es ihm und Catlock doch gerade klar bewiesen, dass freies Denken leicht zur Verweigerungshaltung führen konnte. Er wusste nun, dass seine Leute wirklich nur das taten, was er ihnen befahl. Also galt es, Listen von abzuarbeitenden Aufgaben zu erstellen, die er auf jede und jeden einzeln abstimmte. Dabei galt es nicht nur, einen Befehl zu formulieren, sondern auch das klare Ziel der gestellten Aufgabe zu erwähnen, damit sie auch in der noch möglichen Eigenverantwortung erfüllt wurde.

"Madam Whitecap wird dir diese Listen bringen. Bis du alle nötigen Listen fertig hast gehen Tage ins Land, die wir nicht haben", hörte er wieder die Stimme seiner Herrin im Kopf. Er dachte nur, dass er verstanden hatte. Er wollte nicht schon wieder von ihr gezüchtigt werden.

"Aber was dieses rebellische Dorf in Kalifornien angeht sollten wir sofort was unternehmen", hörte er ihre Stimme in seinem Geist und meinte, sie in seinen Eingeweiden nachschwingen zu fühlen. "Dieser Rundfunksender darf nicht weiter abgehört werden. Außerdem sollen keine heimlichen Luftschiffpassagen möglich sein, um Eindringlinge dort an- und abreisen zu lassen. Du wirst gleich besuch von vier Boten erhalten, die euch was mitbringen. Dann schickst du deine Experten für Zauberkunst und Gesetzesdurchsetzung los, um dieses Dorf abzuriegeln."

"Das haben wir doch schon versucht. Die Überflugsperren sind von denen mit Entsprechenden Gegenzaubern überladen und verdrängt worden. "Wurde bereits bedacht. Wir haben da was, das anders wirkt und somit nicht auf übliche Weise zu kontern sein wird. Wie genau es geht werde ich dir nicht verraten. Du musst nur dafür sorgen, dass die nötigen Ankergegenstände in der richtigen Weise verteilt werden." Buggles bestätigte diese Anweisung. Er wusste, dass auch er nur noch eine willfährige Marionette war, ein tätiges Werkzeug jener, die ihn an sich gebunden hatte. Doch er empfand keinerlei Widerwillen oder Unbehagen dagegen. Sie hatte ihn mit sich verbunden. Sie wachte über ihn und würde ihn beschützen, wenn die Lage zu gefährlich für ihn werden sollte.

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Béatrice Latierre fühlte Félix' Bewegungen immer deutlicher. Sie trug neues Leben in sich. Doch zwischendurch machte der kleine Junge, der noch nicht wusste, zu wem er irgendwann einmal Maman sagen sollte, dass ihr zwischendurch unwohl wurde. Sicher konnte sie mit Tränken dagegen vorgehen. Doch als Heilerin wusste sie auch, dass Tränke auch auf ungeborene Kinder einwirkten. Außerdem wollte sie diesen Abschnitt in ihrem Leben mit allen Sinnen genießen, die schönen und die unangenehmen Erscheinungen.

Immer wieder, wenn sie unbeobachtet war, strich sie sanft über ihren mehr und mehr anschwellenden Unterbauch und sprach mit ihm, der in ihre innigste Obhut gegeben war. Dabei fluteten Hoffnung und Besorgnis durch ihr vom besonderen Zustand ums Gleichgewicht kämpfendes Bewusstsein. Sie trug ihren eigenen Sohn aus, den sie zur Welt bringen und dann auch als ihren Sohn großziehen wollte. Deshalb hoffte sie, dass Millie das auch erkannte und ihn ihr ließ. Doch die Besorgnis, dass der Junge in ihrem Leib von Millie als deren Sohn beansprucht werden könnte, war auch da.

Wo sie drei das ausgehandelt hatten klang das nicht so schlimm, mal für eine andere Hexe ein Kind zur Welt zu bringen, weil die das so wie gewünscht nicht hinbekam. Doch je länger er bei ihr untergebracht war, je mehr sie fühlte, dass er leben wollte, desto mehr drückte es auch auf ihre Seele, dass sie für diesen Jungen "nur die liebe Tante" sein sollte, wenn Millie ihr vereinbartes Recht auf die Mutterschaft geltend machte.

Ja, und da sie nicht wie andere sogenannte Leih- oder Mietmütter weit genug von den künftigen Eltern ihres ungeborenen Kindes entfernt lebte, um nicht dauernd daran zu denken, es nach der Niederkunft abzugeben, sondern mit dem Kindsvater und dessen Frau im selben Haus wohnte, war dieses Auf und Ab von Hoffnung und Besorgnis jeden Atemzug am Werk. Auch hatte sie gestern bei der Trauerfeier für Laurentines Eltern wieder mitbekommen, wie anstrengend es für sie war, nicht als sehnsüchtig auf das Kind wartende Mutter auftreten zu dürfen wie Millie. Julius hatte das natürlich gemerkt und sie um Entschuldigung gebeten. Sie hatte ihn erst zurechtweisen wollen, sie nicht wie ein kleines Kind zu behandeln. Doch dann hatte sie begriffen, dass er sich genauso um sie sorgte wie um seine angetraute, höchst offiziell auf seine beiden nächsten Kinder wartende Frau. Natürlich war es für ihn genauso schwierig wie für sie. Er wollte ihr nicht weh tun, aber auch Millie nicht dreinreden, was sie zu tun hatte. Was so ein winziger Mensch, der erst noch zur Lebensreife wachsen musste, in seiner unmittelbaren Umgebung anrichtete.

"Und, was sagt deine Vorgesetzte, dass Martha ihren amerikanischen Arbeitsplatz unbrauchbar gemacht hat, bevor sie zu uns herüberkam?" fragte Millie ihren Mann nach dessen Heimkehr, wo auch Béatrice dabei war.

"Sie hat mich nach der üblichen Morgenkonferenz noch einmal in ihr Büro gebeten und mich gefragt, was genau ich von dem allen Mitbekommen habe. Ich habe ihr dann den Textausdruck vorgelegt und mit ihr und ihrem Bauchgefühl beraten, was wir hier in Frankreich davon zu halten haben", sagte Julius. Mutter und Sohn Grandchapeau sind mit mir darüber einig, dass wir ohne klare Beweise für eine Unterwanderung oder gar feindliche Übernahme des US-Zaubereiministeriums keine Möglichkeit haben, dagegen vorzugehen, ähnlich wie mit Italien. Nur bei Italien hat dieses dunkle Dornröschen ja gleich klargestellt, dass sich keiner von außen einmischen kann."

"Falls Vita Magica hinter den Vorkommnissen in den Staaten steckt können sie es aber nicht so drastisch machen wie Ladonna Montefiori", warf Béatrice ein. "Denn der Fremdenabweisefluch Klingsors würde dann ja auch all die VM-Mitglieder umbringen, die nicht auf dem Boden der USA geboren wurden, ganz zu schweigen davon, dass diese Banditen keine magischen Menschen umbringen wollen, sofern es keine Werwölfe oder Vampire sind", fügte Béatrice hinzu. Da legte Julius noch nach:

"Ja, und was meine Mutter gestern noch angedeutet hat ginge dann ja gar nicht, nämlich eine Fusion der drei nordamerikanischen Staatsgebilde zu einem einzigen nordamerikanischen Zaubererreich, völlig abgesehen davon, dass sowas ja dann von allen nichtmagischen Regierungsbeteiligungen abgekoppelt werden müsste. Gut, die Staaten haben sich seit der Wahl von George W. Bush auf eine reine Beobachterrolle zurückgezogen. Aber Mexikos Zaubereiministerium unterhält noch ganz heimliche Kontakte zur amtierenden Regierung, auch um die in Mexiko lebenden Ureinwohner und deren magisch begabte Angehörige abzusichern. Wie es mit Kanada aussieht habe ich heute mal in England angefragt, weil von da ja auch eine Anfrage ins Arkanet ging, was mit dieser vorerst letzten Botschaft gemeint ist. Die Computerabteilung des britischen Zaubereiministeriums hat auf meine persönliche Antwort zurückgeschrieben, dass das Zaubereiministerium genau beobachtet, wie sich sein kanadischer Stellvertreter verhält, ob der auch wie vor 60 Jahren Australien ein eigenes Zaubereiministerium haben will und sich nur noch im lockeren Bündnis mit Großbritannien und den anderen ehemaligen Kronkolonien betätigen möchte. Während des dunklen Jahres sind ja viele aus Großbritannien nach Kanada geflohen, sofern sie nicht von den Todessern abgefangen und umgebracht wurden."

"Also, mein Vorgesetzter hat gedigekastelt, dass der Radiosender von VDS viele Eulen gekriegt hat. Viele von denen wollten wissen, warum nicht mehr über die verhängte Quarantäne gebracht wird. Andere warfen denen vom Sender vor, dass er mithelfe, das Vertrauen ins Zaubereiministerium zu zerstören. Einige wenige schrieben, dass sie über die Quarantänemeldung des Ministeriums und die Erwähnung des besonderen Abwehrzaubers in VDS verstört seien, weil sie nicht wüssten, wem sie jetzt glauben dürfen und wem nicht. Unsere scharfohrige Tante aus den Staaten hat von ihrem Chef vom Westwind den Auftrag bekommen, aus der Quarantäne zu berichten, wie es den Leuten dort gehe und sich "im Namen der weiteren gedeihlichen Zusammenarbeit mit dem Ministerium" nicht an den Verschwörungen zu beteiligen, das Ministerium sei von irgendwem unterwandert worden", berichtete Millie.

"Echt, das haben sie ihr so geschrieben?" wollte Julius wissen. Millie nickte. "Oha, dann hat sich die Unterwanderung nicht nur auf das Ministerium beschränkt, sondern gleich auch die Presse mit eingesackt, wie bei einem Militärputsch."

"Du meinst einen von Armeeangehörigen ausgeführten Staatsstreich, richtig, Julius?" fragte Béatrice. Julius bestätigte das und erinnerte daran, wie schnell und gründlich die Übernahme des britischen Zaubereiministeriums abgelaufen sein musste und auch wie in Frankreich Didiers Angstherrschaft vom Miroir Magique unterstützt wurde, weshalb es ja Gilberts Temps de Liberté gab.

"Was sagen denn die Heilzunftmitglieder in den Staaten, Trice?" fragte Julius.

"Also, über Antoinette und Hera habe ich erfahren, dass deren Zunftsprecherin Greensporn sich nach der vom Ministerium ausgerufenen Quarantäne sehr befremdet gefühlt habe, da sie, als oberste Heilerin der USA keine entsprechende Vorwarnung ihrer derzeitig einzigen Kollegin Chloe Palmer erhalten habe, was ja die übliche Vorgehensweise bei Ansteckungskrankheiten sei. Auch sei wohl keiner aus der zusammengeführten Abteilung für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Gesundheit in Viento del Sol gewesen, um sich vor ort zu erkundigen. Der Beschluss zur Quarantäne sei aber von dieser Behörde zusammen mit den drei ministeriumseigenen Heilerinnen und Heilern gefasst und ohne weitere Rücksprache mit der Heilzunft umgesetzt worden", berichtete Béatrice nun. Da Millie und Julius zertifizierte Ersthelfer waren durften sie auch nicht all zu geheime Vorgänge in der Heilerzunft erfahren.

"Und was schließt Heilzunftsprecherin Greensporn aus dieser ausgebliebenen Abstimmung?" fragte Julius so, als wisse er die Antwort schon.

"Da gibt es sogar drei Möglichkeiten, sagt Hera", setzte Béatrice an. "Möglichkeit eins, ein Bewohner von Viento del Sol ist an seinem Arbeitsplatz im Ministerium zusammengebrochen und für ansteckend krank befunden worden, dass die Maßnahme ohne weitere Absprache erfolgte, also Gefahr im Verzug bestand. Möglichkeit zwei ist, dass das Ministerium von einem besorgten Bewohner aus Viento del Sol eine klare Warnung erhalten habe und das mal eben schnell umgesetzt hat, auch wegen Gefahr im Verzug. Großheilerin Greensporn hält jedoch eher Möglichkeit drei für wahrscheinlich, nämlich dass das Zaubereiministerium eine Revanche für den wirksamen Ausschluss für die Bewohner feindseliger Zeitgenossen aus ihrer Gemeinde übt und sagt, wenn wir nicht mehr bei euch rein dürfen, dürft ihr auch nicht raus. Ob dahinter ein gewisser Alleingang von Buggles und seinem amtierenden Gesundheitsfürsorgebeauftragten steckt oder es ihm von außen her auferlegt wurde möchte sie im Moment nicht bestätigen. Sie erinnert jedoch daran, dass Buggles Vorgänger Dime ja wahrhaftig von einer bis heute noch nicht ermittelten Hexe an das Leben ihres ungeborenen Kindes gekettet wurde und unter diesem Zwang den sogenannten Friedensvertrag mit Vita Magica unterschrieben hat."

"Dann könnte Buggles das gleiche passiert sein?" wollte Millie wissen. Béatrice und Julius schüttelten ihre Köpfe. "Den Fehler, damit aufzufliegen werden die nicht noch mal machen, Millie", sagte Julius. "Ich behaupte jetzt mal sogar, dass dieses Verbrechen mit dem Blutkettenfluch von einer Befürworterin von Vita Magica verübt wurde, die jedoch kein reguläres Mitglied dieser Bande ist, sowie es ja auch Sympathisanten von Terrorgruppen gibt, die nicht zur eigentlichen Gruppierung gehören. Falls Vita Magica hinter dem ganzen Zeug steckt, wie Mum vermutet oder vielleicht auch Madam Greensporn, dann liegt denen auch daran, kein unschuldiges magisches Leben zu gefährden, und unschuldiger als ein ungeborenes Kind kann ja niemand sein." Offenbar wollte er diesen Satz vor den Ohren seiner schwangeren Mitbewohnerinnen anbringen, um eine Reaktion zu provozieren. Millie meinte dazu:

"Doch die zwei Kleinen stiften mich dauernd dazu an, mehr für neue Kleidung auszugeben und laden mir täglich ein paar Dutzend Gramm mehr Gewicht auf."

"Ja, aber dafür können die beiden in dir genausowenig wie der Kleine in mir", wandte Béatrice ein. Millie sah sie verwegen an und legte sich die rechte Hand auf ihrem schon sehr ausladenden Bauch. Sogesehen wirkte Millie zwei Monate weiter als Béatrice, wenn keiner wusste, dass sie Zwillinge erwartete.

"Ich rufe nachher noch mal bei Brittany durch und bei Mum, ob die Familie Merryweather gut bei uns angekommen ist", verkündete Julius.

So gegen elf uhr Abends Mitteleuropäischer Zeit erfuhr er, dass nur die Kinder zusammen mit Madam Merryweather von Viento del Sol aus abgereist seien und ihr Onkel Lucky jetzt im Haus ihres Vaters wohnte.

"Oma Hygia hat keine Angst wegen der Quarantäne gehabt?" fragte Julius. Brittany verneinte das. "Im Gegenteil. Als sie hier ankam, so Chloe Palmer, hat sie sofort mit ihr gesprochen und ist dann mit deinen Halbgeschwisterchen losgebraust. Die Abendreporterin Klio Sweetwater hat den Besuch der Heilerin als klare Bestätigung der Heilzunft verkündet, dass es keinen Grund für eine Quarantäne gebe, weil sonst von den Heilern keine Ausreise erlaubt worden sei."

"Ui, das ist aber ziemlich riskant für Oma Hygia", zischte Julius. "Jetzt kann es ihr passieren, dass sie nicht mehr nach Thorntails reindarf, ohne gleich da abgegriffen und in ein vom Ministerium überwachtes Verwahrzentrum gesteckt zu werden", sagte Julius. Béatrice und Millie stimmten ihm durch Nicken zu.

"Ich weiß nicht, ob Großtante Hygia das mit ihren beiden Chefinnen abgesprochen hat und ob die nicht sogar wollte, dass es über den Sender geht, dass sie ihre Enkelkinder zu ihrer Mutter bringt. Wenn sie nach Thorntails zurück will kommt sie hier wohl noch locker raus", sagte Brittany.

"Wenn sie überhaupt wieder zu euch reinkommt", argwöhnte Julius. "Sind da noch welche von Buggles' Leuten über eurer Siedlung unterwegs?" fragte er.

"Nachdem sie gelernt haben, wie nahe sie gerade so noch an uns rankommen ist keiner mehr über VDS gesichtet worden. Sie haben nur Posteulen geschickt, dass wir den Heilern des Ministeriums freien Zugang zu uns Bewohnern gewähren sollen. Darauf haben meine Chefin und Richterin Benchurch geantwortet, dass jederzeit Heilerinnen und Heiler von auswärts zu uns reinkommen und uns untersuchen dürften, da die Heilzunft ja selbst ein fundamentales Interesse habe, dass ansteckende Krankheiten eingedämmt werden sollen, aber eben außer Madam Merryweather, die aus rein privaten Gründen eingereist und ausgereist sei, kein anderer auswärtiger Heiler zu ihnen gewollt habe."

"Britt, mir gefällt das nicht. Buggles' Leute werden sich das nicht lange anhören, dass ihre Maßnahme als Vergeltungsakt hingestellt wird und warum alle Ministeriumsleute auf einmal eure Feinde sein sollen, die von diesem genialen Zauber weggescheucht werden. Die haben bestimmt schon was in Arbeit, um euren Sender zu stören und euch am ungehinderten Rein- und Rausfliegen zu hindern."

"Du meinst das, was die mit Glorias Großeltern gemacht haben, einen Arrestdom aufzubauen, Julius?" fragte Brittany. Julius nickte. "Dafür müssten die einen Kreis mit einem Durchmesser von zehn Kilometern umspannen. Der Dom selbst würde dann ebenso hoch reichen und halb so tief in die Erde reichen. Abgesehen von der dafür aufzuwendenden Zauberkraft müssten die tausendmal mehr Ankergegenstände um uns herum auslegen als für ein einzelnes großes Haus. Ja, und das muss ich dir ja echt nicht erklären, dass dann sowohl das Flugmaschinenfliegen über uns zur Todesfalle wird als auch, dass ein Arrestdom weithin sichtbar leuchtet und das garantiert die ganzen Satelliten da oben im Weltraum mitkriegen, die auf die Erde runtergucken. Damit will ich bloß nicht ausschließen, dass du recht hast, Julius. Ich denke aber eher, dass die es beim Abkoppeln aller Flohnetzkamine und den ganzen Locattractus-Zaubern da draußen um uns herum belassen müssen."

"Was schon heftig genug ist", sagte Julius. "Aber ich bleibe dabei, dass die zumindest was machen, um euren flotten Gemeinderundfunk zu überlagern. In der nichtmagischen Welt gibt es dafür sogenannte Störsender, die auf den Empfangswellenlängen starkes Rauschen oder Wummern übertragen, um den Empfang zu unterdrücken."

"Das hat deine Mutter vor einer halben Stunde auch schon angedeutet. Aber die Schallverbreitungszauber bei uns sind nicht so klar in Schwingzahlen wie der elektrische Funk bei den Nichtmagiern einzuteilen. Aber wie gesagt möchte ich nicht ausschließen, dass deine Mom und du recht habt und die schon was aushecken, um uns von sich aus vom Rest der Welt abzuschneiden", erwiderte Brittany. Julius nickte. "Und, wie geht es Millies Babys?" fragte Brittany noch was persönliches.

"Die haben offenbar immer noch platz, um in mir zu turnen, Britt. Vielleicht balgen die sich auch immer darum, wer am nächsten an meinem Magen sitzen darf um mitzuhören, was da alles für sie gutes reingestopft wird. Sowas ähnliches hast du ja bei Leo auch erleben dürfen."

"Eindeutig", erwiderte Brittany verschmitzt grinsend. Dann wünschte sie den Latierres noch eine erholsame Nacht. "Ich geb das dann weiter, wenn Großtante Hygia wieder bei uns war und sicher nach Thorntails zurückkehren konnte."

"Alles klar, Britt! Euch allen auch noch einen ruhigen und störungsfreien Abend", erwiderte Julius.

"Dann dürfte es aber für die Kollegin Merryweather schwer werden, nach Thorntails zurückzureisen, wenn sie in Viento del Sol die Flohnetzanschlüsse unterbrochen und um die Siedlung Locattractus-Fallen aufgestellt haben", merkte Béatrice an. Julius bejahte das und vermutete, dass seine Stiefgroßmutter womöglich einen eigenen Portschlüssel benutzen musste, um nach Thorntails zurückzukehren.

"Falls die da nicht auch schon was gegen machen, Julius", erwiderte Millie. Daraufhin wandte sich Julius an die in der Wohnküche aushängende Version von Viviane Eauvive und bat sie, seine Mutter und falls sie noch wach war auch Hygia Merryweather zu warnen, dass die Rückreise nach Viento del Sol womöglich nichtso einfach werden mochte. "Das brauche ich denen nicht mehr weiterzugeben, Julius. Deine Mutter hat ja schon mit Brittany über ihr eigenes Armband gesprochen und ähnliches vermutet wie du. Madame Merryweather ist auf diese Eventualität vorbereitet, hat sie gesagt. Wie genau hat sie jedoch nicht verraten", erwiderte Vivianes Bild-Ich. Julius nickte. Da seine Mutter logisch denken konnte war sie natürlich auch darauf gekommen, dass die Abschottung von Viento del Sol ja auch von außen vorgenommen werden konnte.

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14.02.2005

Lionel Buggles Leute hatten genug damit zu tun, das plötzliche Schweigen der Bewohner von Viento del Sol und Misty Mountain zu begründen. Sie taten es damit, dass die beiden Gemeinden von unzufriedenen, auf eigene Macht versessenen Agitatoren gegen jede Form von Eindringling abgeschottet worden waren und sich deren Bewohner aus Angst, beim Verlassen ergriffen und gegen ihre Familien eingesetzt zu werden, zur Arbeitsverweigerung entschlossen hätten, was die derzeitige Lage in den Staaten nicht wirklich verbessere. Was den Weißrosenweg in New Orleans anging, so ließ Buggles über die ihm unterworfenen Rundfunksender und den Kristallherold verbreiten, dass dies eine Sicherheitsmaßnahme des Laveau-Institutes sei, weil deren Mitglieder verhindern müssten, dass feindliche Wesen den Weißrosenweg überrennen konnten. Warum auch Angehörige des Zaubereiministeriums abgewiesen würden erklärte Buggles damit, dass der Zauber eben vordringlich auf dort geborene Menschen oder deren leibliche Eltern ausgerichtet sei. Das Laveau-Institut habe es nun in der Hand, die Sperrung des Weißrosenweges aufzuheben. Natürlich erfolgte eine unverzügliche Antwort aus dem Laveau-Institut, dass der Protectio-Nativorum-Zauber nur den Bewohnern feindlich gesinnte oder zu feindlichen Handlungen getriebene Wesen abweisen solle, und dass Ministeriumszauberer und -hexen, die abgewiesen würden, womöglich feindliche Absichten hegten. Das wiederum nahm Buggles zum Anlass, dem Marie-Laveau-Institut vorzuwerfen, das Ministerium pauschal zu seinem Feind erklärt zu haben und somit den eigenen Anspruch zu verfehlen, für das Wohl aller in den Staaten lebenden Menschen mit und ohne Magie verpflichtet zu sein. Denn diese Art von Abschottung und Anfeindung würde ja eher zur Unsicherheit innerhalb der Zaubererwelt beitragen, als diese zu schützen. Das wiederum dementierte Elysius Davidson persönlich. Er behauptete, dass das Laveau-Institut weder den Protectio-Nativorum-Zauber aufgerufen habe, noch das Ministerium zum Feind erklärt zu haben. Er musste jedoch einräumen, dass er für die Abweisung der Ministeriumszauberer und -hexen keine gerichtsfesten Beweise vorlegen könne, warum diese als Feinde abgewiesen würden, er aber zuversichtlich sei, dass der Zwölferrat das Ministerium schon frühzeitig genug darauf hinweise, ob es sich gegen bestehende Gesetze verginge oder nicht. Somit stand Aussage gegen Aussage.

"Wir werden es so hinstellen, dass unsere Feinde im Laveau-Institut sitzen und es dazu instrumentalisieren möchten, das bisherige Gefüge zu zerstören. Die Richter werden uns entsprechende Vollmachten erteilen", verkündete der Minister vor den Außeneinsatztruppen der Strafverfolgungsabteilung. Dann fragte er, wo Atalanta Bullhorn abgeblieben sei.

"Sie hält sich unseren noch gerade so verfügbaren Kenntnissen nach im Weißrosenweg auf. Die zu ihr haltenden Kollegen haben sich ebenfalls dort einquartiert", sagte Catlock.

"Gut, dann streuen wir aus, dass sie mit Hilfe des Laveau-Institutes den gewaltsamen Umsturz gegen uns plant und deshalb unsere Leute dort nicht mehr eindringen können", sagte der Minister mit gewisser Genugtuung. Catlock fragte, ob sie nicht auch dort die neuartige Arrestglocke aufbauen konnten. Das wies der Minister jedoch als undurchführbar ab. "Der Weißrosenweg befindet sich in einer magischen Raumnische mitten in der Nomajsiedlung New Orleans. Zum einen muss für diesen neuen Absperrdom ein Kreis aus dafür bezauberten Ankergegenständen ausgelegt werden, was bei einer größtenteils geraden Straße nicht möglich ist. Zweitens würde der Absperrdom nicht in die Raumnische hineinreichen, in der der Weißrosenweg vor dem Zugang von Nomajs und anderen Unbefugten verborgen ist. Drittens wissen Sie, dass dieser Zauber möglicherweise mit elektrischen Apparaturen in seiner unmittelbaren Umgebung wechselwirken kann und New Orleans voll mit derartigen Gerätschaften und Krafterzeugern ist. Bevor wir keinen Weg finden, die Magielosen friedlich von allen diesen Erzeugnissen abzubringen dürfen wir nicht unnötig auffallen. Oder glauben Sie, dass es den Rest der Welt egal ist, wenn in New Orleans plötzlich alles elektrische oder elektronische ausfällt oder es zu verheerendenEntladungen elektrischer Kräfte kommt? Da müsste schon ein tropischer Wirbelsturm dreinfahren, um der Welt glauben zu machen, dass New Orleans vom Rest aller sogenannten Zivilisation abgeschnitten ist. Sicher haben Sie alle gelernt, dass Elementarzauber nur im begrenzten Maß eingesetzt werden können und alle Elementarkräfte aus den Fugen geraten können, wenn zu viel und zu großflächig darauf eingewirkt wird. Also erst einmal keine Absperrglocke." Die Anwesenden erkannten diese Argumente an, die, wie sie ihm ansahen, dem Minister selbst nicht gefielen.

So blieb nur, die Absichten und Vorgehensweisen des Laveau-Institutes in Frage zu stellen und deren Absichten als umstürzlerisch zu brandmarken.

"Die Kobolde beharren auf die Abschaffung der grünen Scheine oder deren sofortige Übergabe an ihre Unterhändler", teilte der Koboldverbindungsbüroleiter dem Minister mit. "Widrigenfalls bleibt Gringotts geschlossen."

"Dann geben Sie denen bitte weiter, dass wir bis zum 20. Februar die bedingungslose Wiedereröffnung von Gringotts erwarten, widrigenfalls wir sämtliche Kobolde als Vertragsbrüchig im Sinne des Abkommens von 1613 einstufen und zur schnellstmöglichen Ausreise aus den Staaten verurteilen werden. Wollen doch mal sehen, wer da das längere Ende vom Besenstiel in der Hand hält."

"Bis zum zwanzigsten Februar?" fragte der Leiter des Koboldverbindungsbüros. Der Minister bestätigte es. "Sie würden uns nicht diese Bedingung diktieren, wenn sie selbst noch Schwierigkeiten hätten, Gringotts wieder aufzumachen", fügte Buggles hinzu. "Sehr wohl, Sir", nahm sein Untergebener die Anweisung zur Kenntnis.

"Und sie werden Gringotts wieder aufmachen. Dann kommt der letzte Akt in diesem Drama mit den keltischen Spitzohren", sinnierte Buggles wie er dachte für sich. Darauf erhielt er jedoch eine Gedankenantwort: "Unterschätze nicht deren Wunsch, ihr geliebtes Goldwertbestimmungsvorrecht zu behalten. Wenn du die Verliese überprüfst muss alles so aussehen, als sei durch den Furor Elementarius alles verlorengegangen, was die Leute bei euch in die Verliese gelegt haben. Haben deine Leute die kleinen Würfel bekommen?""

"O ja, meine Herrin. Ich habe die 500 Würfel, die Mrs. Whitecap mitgebracht hat wie erwünscht einen Tag in der Sonne liegen lassen und dann an die Verliesbegeher ausgehändigt. Sie werden entsprechende Kleidung tragen, um das, was die Würfel auslösen sollten aufzubauen. Hoffentlich kommt keiner auf die Idee, einen Illusionszerstreuer anzuwenden."

"Der würde verpuffen, sobald mehr als ein halbes Pfund Gold in fünfzig Metern Umkreis ist, je mehr Gold desto sicherer", erhielt er zur Antwort. "Sieh du nur zu, dass deine Leute die Würfel sicher platzieren, sobald sie deren Kraft aufgerufen haben!" Der Minister versprach es.

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Am Valentinstagsmorgen erreichte eine Ausgabe des gestrigen Tagespropheten die Latierres. Sie stammte von Pina Watermellon aus London. Gleich auf der zweiten Seite konnten die Bewohner des Apfelhauses ein glücklich strahlendes Ehepaar sehen und dass die Frau ein wenige Monate altes Baby im Arm hielt. "Der Erbe des Auserwählten zeigt sich der großen Welt zum ersten mal", las Julius die Überschrift vor. Dann erfuhren sie, dass Ginny Weasley deshalb nicht mehr zur Wiederholung der Quidditchweltmeisterschaft gereist war, weil sie da schon in der zwanzigsten Schwangerschaftswoche war, aber das bis zur Geburt niemand außerhalb der Familie erfahren durfte, weil sie alle noch gewisse Sorgen hatten, dass rachsüchtige Anhänger des gestürzten Herrn der Todesser sich an ihr und damit an Harry Potters Baby rächen mochten. Julius bemerkte dazu: "Tja, so ist der Preis des Ruhmes. Haben wir hier ja auch schon erlebt." Millie freute sich für die Potters und auch für den jungen Zauberer, der soviel hatte überstehen müssen, weil er als Auserwählter gegolten hatte, dass er endlich auch was dauerhaft erfreuliches im Leben haben durfte. Julius hätte fast das Wort "Muttertier" ausgesprochen. Doch in Millies Zustand war nicht sicher, wie sie es aufnehmen mochte. Jedenfalls wussten sie nun, dass es da einen kleinen, schon quirlig aussehenden Jungen namens James Sirius gab.

"Die haben es aber gut hinbekommen, die Presse von ihr fernzuhalten. Hat sicher auch die eine Schwangerschaft verbergende Unterkleidung getragen, wenn sie öffentlich unterwegs war."

"Der Kleine wurde nach dem Opa der Brickston-Geschwister benannt?" fragte Millie. Julius las noch einmal den Artikel durch. "Nein, er trägt den Namen seines Großvaters väterlicherseits und den Namen von Harry Potters Paten Sirius Black, den wir in Hogwarts damals für einen brandgefährlichen Massenmörder gehalten haben", informierte Julius seine beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen.

"Ich hoffe, sie bekommen es hin, den Jungen auch weiterhin ohne überneugierige Öffentlichkeit großzuziehen", sagte Béatrice. "Ich habe ja Erfahrungen damit, wie es ist, wenn eine berühmte Hexe Mutter wird, ob und wie es geht, deren Kinder möglichst vor den Presseleuten zu schützen."

"Ja, ist nicht leicht", seufzte Julius und erinnerte an die 1997 bei einem Autounfall in Paris verunglückte Prinzessin von Wales. "Na ja, die hat aber auch mit diesen aufdringlichen, ihr und ihren Kindern nachstellenden Reportern immer wieder Katz und Maus gespielt", sagte Béatrice dazu. Millie nickte nur. Über nichtmagische Medien hatten sie es ja immer mal wieder, auch wenn wieder mal über irgendwelche Berühmtheiten hergezogen wurde.

Nach dem gemeinsamen Frühstück apparierte Julius direkt von der großen Empfangs- und Festhalle seines Hauses ins Foyer des Zaubereiministeriums, um dort einen weiteren Arbeitstag zu verbringen.

Julius erfuhr am Nachmittag, dass seine Mutter auf Antoinette Eauvives Vermittlung hin bei Nathalie Grandchapeau vorgesprochen hatte und bis auf weiteres als auswärtige Korrespondenzassistentin mit englischsprachigen Kollegen in anderenZaubereiministerien Verbindung halten sollte und wenn die Ministerin selbst davon überzeugt war, dass Martha Merryweather keine berufsmäßige Saboteurin war, auch wieder Zugang zum Computerraum erhalten sollte. Das freute ihn, weil sie so was wichtiges tun durfte und sich nicht langweilen musste, wenn man von den drei Kindern absah, um die sie sich ja jetzt wieder intensiv kümmern durfte.

Allerdings wurde seine Freude über den Aushilfsberuf seiner Mutter in dem Moment abgewürgt, als er wieder in seinem Apfelhaus apparierte. Dort empfingen ihn nicht nur seine drei geborenen Kinder und die zwei Hexen, die gerade seine nächsten drei Kinder erwarteten, sondern auch eine sehr verdrossen dreinschauende Viviane Eauvive in ihrem Porträtgemälde. "Julius, sie haben es wahrhaftig vollbracht, was Martha und du gestern nur befürchtet habt", sagte sie, nachdem Julius seine erwachsenen und dann die kleinen Mitbewohner begrüßt hatte. Er fragte, was genau passiert war.

"Wenn du es hinbekommst, dass die Kinder wieder draußen auf dem Platz spielen", grummelte die gemalte Viviane. Allerdings musste Julius erst einmal eine volle Stunde mit den drei bereits geborenen Mädchen und Sandrines dazugekommenen Zwillingen im Garten spielen. Erst als Sandrine ihm zusicherte, auf alle fünf aufzupassen kehrte er in die Wohnküche des Apfelhauses zurück. Béatrice trug gerade wieder ihre anderen Umstände verbergende Unterkleidung unter dem blauen Umhang, als er sich zwischen sie und Millie an den langen Esstisch setzte, von wo er Vivianes Bild im Blick hatte.

"Folgendes, Julius! Um drei Uhr Morgens kalifornischer Ortszeit, also zwölf Uhr Mittags bei uns in Frankreich, konnten die für die Sternwarte zuständigen Hexen und Zauberer ein ungewöhnliches buntes Schillern aller sichtbaren Sterne erkennen. Für eine Minute sah es auch so aus, als wenn die Sterne nicht mehr punktförmig, sondern Ringförmig wären, als wirbele jemand sie ganz schnell um einen bestimmten Punkt herum. Der Mond sei in dieser Zeit auf seine sechsfache Größe angewachsen und habe dabei regenbogenfarbige Funken versprüht und selbst in jeder Regenbogenfarbe geleuchtet, so die Aussage der Sternengucker. Dann habe sich das gewohnte Bild des Nachthimmels ieder eingestellt, wobei die Gestirne absolut flackerfrei zu sehen waren, als wenn keine aufgewühlten Luftmassenzwischen ihnen und den Beobachtern stünden. Die Sicherheitspatrouille von Viento del Sol sei daraufhin aufgeweckt worden. Die sind dann mit ihren Einsatzbesen losgeflogen und gerade so bis zur Ortsgrenze gelangt und gerade so bis auf achthundert Meter über dem Boden aufgestiegen, bevor sie gegen eine massive, unsichtbare Barriere geprallt seien, die noch dazu die unangenehme Eigenschaft besaß, die benutzten Besen innerhalb von drei Sekunden auf Gefriertemperatur herabzukühlen. Sie hätten gerade so noch landen können, bevor ihnen die Besen vor Erschöpfung abgestürzt sind. Da ja um die Gemeinde herum ein Ring aus sich genau berührenden Locattractus-Fallen eingerichtet worden sei konnten sie auch nicht hinausdisapparieren. So blieb ihnen noch, die Barriere zu Fuß zu untersuchen. So konnten sie herausbekommen, dass jeder feste Gegenstand, der über diese Begrenzung hinausgestoßen werden soll, von einer scheinbar feststofflichen Wand abprallte und jede magisch erzeugte Bewegung vollständig gestoppt wurde. Einer der Sicherheitsbeauftragten habe dann trotz eindringlicher Warnungen versucht, die Barriere zu Fuß zu durchdringen. Er prallte auf ein unsichtbares Hindernis und meinte im selben Moment, in eiskaltes Wasser hineinzutauchen. Tatsächlich war seine Körpertemperatur laut mit Wärmesichtbrillen ausgerüsteter Kollegen um mindestens ein Viertel abgefallen. Solch thermophage Reaktionen sind von auf die Nachtgestirne bezogenen Zaubern her bekannt, die als Abwehrzauber gegen magische Geschosse wirken, wie der große Schild, der seine Kraft ja aus Erde und Mond zugleich bezieht und vom Anwender durch eigene Geisteskraft in Form gehalten wird, solange er nicht überlastet wird."

"oment, zusammenfassung! Da hat jemand also bei Nacht und sternenklarem Himmel eine magische Glocke über Viento del Sol gestülpt, die an die achthundert Meter hoch aufragt und für alles und jeden undurchdringlich ist?" fragte Julius. Viviane bestätigte das. "Und diese Glocke saugt jedem, der da gegenknallt nicht nur Bewegungskraft sondern auch Eigenwärme ab?" Auch das bestätigte Viviane. "Öhm, nichtmagische Tiere. Kamen die noch raus oder rein?" fragte Julius.

Wurde ausprobiert. Sie haben die dort schon wieder eingetroffenen Singvögel an den Rand der Abgrenzung gebracht und aufgescheucht. Die Vögel prallten gegen eine harte Wand und fielen teils ohnmächtig, teils mit aufgeschlagenem Kopf zu Boden. Die, die den Anprall überlebt haben wiesen ebenfalls eine abgesenkte Körperwärme auf. Das ist anders als bei Sardonias Kuppel, Julius. Diese schluckte Licht und entzog lebenden Wesen sämtliche körperliche und geistige Kraft und alle Eigenwärme. Was uns Bilderwesen angeht, so hat das mir berichtende Gegenstück aus Luckys gegenwärtiger Unterbringung beim Überwechsel zu mir einen ganz kurzen mittelhohen Ton vernommen, der in den Ohren gedröhnt hat. Die Passage gelang jedoch ohne spürbaren Widerstand hin und wieder zurück."

"Ich muss das Armband ausprobieren", sagte Julius. "Das hat deine Mutter schon getan. Mit Camille und Aurora konnte sie problemlos Bild-Sprech-Verbindung erhalten. Mit Brittany gelang nur die Bilderverbindung, wobei Brittanys Abbild mit einem leichten Blaustich erschien, es aber eben keine gegenseitige Sprechverbindung gab. Das ist auch anders als unter der verdunkelten Kuppel Sardonias, wo Sprechverbindung gelang, aber keine Bildverbindung möglich war und wir Bilderwesen in den gerade besuchten Bildern eingefroren wurden, außer ich, weil ich da ja unter dem Schutz von Ashtarias Abwehrzauber stand.

"Gut, ich möchte es selbst prüfen, Viviane", sagte Julius und holte das Orichalkarmband aus der Villa Binoche hervor, mit dem er mit mehreren Gegenstellen weltweit in Verbindung treten konnte.

Tatsächlich leuchtete erst ein kurzes blaues Flackern auf, bevor Brittanys räumliches Abbild mit einem deutlichen Blauanteil aber ansonsten konturscharf zu sehen war. Brittany rief wohl was ganz laut, was jedoch nicht zu hören war. Julius fühlte ein hektisches Pulsieren des Armbandes. Er legte sich die Finger an die Ohren und schüttelte den Kopf. Brittany wiederholte die Geste, als er was rief. Damit stand fest, dass mit Lautsprache gerade nichts ging. Doch weil Julius vorgewarnt war probierte er die Zauberfadenschrift aus, wobei er seitenverkehrt denken musste. "Kannst du das lesen?" schrieb er zwischen sich und Brittany in die Luft. Sie nickte heftig und überlegte kurz. Dann schrieb sie was mit Zauberfadenschrift von sich aus rechts anfangend. In einem hellen Blau stand da: "Das geht so, ist aber umständlich. Wir stecken unter einer unsichtbaren Käseglocke fest, Julius."

"Hat Vivianes Bild-Ich uns schon erzählt. Blöde Sache das! Ich hasse es manchmal selbst, recht zu haben", schrieb Julius zurück. Als Brittany nickte wischte er seinen Text weg und las ihre Antwort: "Großtante Hygia musste gleich nach Thorntails weiter. Konnte da aber landen. Gut, dass die Luftschiffe jetzt eine Zauberbarrierenfrüherkennung haben, sonst wäre die Himmelswurst wohl an dieser drachenmistigen Glocke zerplatzt."

"Geht Melo noch?" fragte Julius zurück. "Melo geht auch nicht mehr, weil die wohl Sperren um uns aufgepflanzt haben. Wir sind ganz und gar von allem abgeschnitten, nur dass wir noch den Himmel und die Sonne ungefiltert sehen dürfen."

"Gut, ich denk mal über was nach, um besser und schneller texten zu können und melde mich dann wieder", zauberfadenschrieb Julius noch zwischen sich und sie. Dann trennte er die Verbindung wieder.

"Dann geht auch kein Rundfunk mehr, Julius", sagte Béatrice. Er nickte. Wenn jeder Schallübermittlungszauber unterbrochen wurde war auch kein magisch modulierter Schall mehr zu empfangen. Die hatten echt nicht lange gebraucht, um aus der Festung Viento del Sol ein Gefängnis mit eigenen Gartenanlagen zu machen.

"Der Unterschied zwischen Festung und Gefängnis besteht darin, auf welcher Seite der Tür der Schlüssel im Schloss gedreht wird", zitierte er eine Weisheit aus seinen Rollenspielertagen vor Hogwarts.

"Millie, gehen die Digekas noch?" fragte er seine Frau. Diese wiegte den Kopf und ging schnell aber ihren leicht ausschwingenden Bauch beachtend in ihr Arbeitszimmer. "Drei Nachrichten seit gestern abend", rief sie aus. Dann war es eine Minute lang still. Dann kehrte sie zurück und setzte sich wieder. "Hier, er schreibt zuerst: "Bunter Sternentanz und Farbenmond Vorbote der totalen Absperrung". Das war so um halb ein Uhr Mittags. Er erwähnt darin, was Viviane dir gerade erzählt hat. Die zweite Nachricht ist übertitelt "Nur der Wind darf kommen und gehen, wi es ihm passt". Dann noch die dritte Meldung, dass der Gemeinderat von Viento del Sol eine Frist erhalten hat, bis zum Monatsende den Abweisezauber zu widerrufen, den er aufgebaut hat. Ansonsten bliebe die neue "Rundumschutzmaßnahme" dauerhaft in Vollzug. Dann fragt er noch, ob wir diese Nachricht erhalten konnten. Ich habe zurückgeschrieben, dass wir alle Nachrichten erhalten und auch schon reine Bildverbindungen haben herstellen können."

"Also, auf Licht basierende Fernverständigungszauber klappen, Schallübermittlung klapptnicht mehr, Melo auchnicht, wegen bereits erprobter Melosperren. Aber die, so habe ich es gelernt, nur bei größtenteils oben verschlossenen Gebäuden oder als Wall nur bis zu menschlicher Rufweite nach oben. Mist, könnte gerade so die Höhe sein, bis wohin die Leute da noch aufsteigen können. Aber vielleicht geht direkt unter dem Scheitelpunkt ein Meloanruf, wenn der Körperkontakt mit der Energieglocke vermieden wird", dachte Julius laut.

"Das kannst du nur genau einschätzen, wenn du die Kraftquelle exakt messenkannst", sagte Béatrice. Julius sah sie an und erkannte, worauf sie hinauswollte. "Du meinst, dass die diese Käseglocke nicht unangefochten aufgebaut bekommen hätten, wenn die Thaumaturgen in VDS die dafür nötige Magie schon frühzeitig angemessen hätten?" Béatrice nickte. "Was womöglich an deren eigenem Abwehrzauber liegt, dass der die dafür nötigen Messvorrichtungen überlagert, sozusagen jeden Wassertropfen mit dem Getöse eines Wasserfalls übertönt."

"Klingt ähnlich dem, was mein Bruder, dein Onkel Otto, mal gesagt hat. "Wenn du einen starken Abwehrzauber oder eine ganze Staffel davon um einen großen Bereich errichtest, brauchst du schon ganz genau auf bestimmte Zauberwirkungen abgestimmte Messgeräte, die die einzelne Kerzenflamme neben der Mittagssonne erfassen können. Er hat selbst deshalb eine Menge solcher auf bestimmte Zauber abgestimmte Geräte gebaut und bietet sowas an, unter anderem auch für Beauxbatons, wobei er sich da immer mal wieder mit dem letzten wahren Erben Collinbleus einen Bieterwettstreit liefert", sagte Béatrice.

"Ja, und dann konnten Buggles' Leute ganz in Ruhe mit einer Menge Zauberkraft herumwerkeln, bis diese unsichtbare Glocke stand und undurchdringlich wurde, also in einer Minute von Beginn bis Vollendung."

"Das ist wohl so", erwiderte Béatrice. "Ja, aber die haben weder mit deinem Armband, noch mit meinem Digeka oder unserer Viviane gerechnet, Julius. Die gehen davon aus, dass die Leute in VDS jetzt völlig abgeschnitten sind und hoffen, die lange genug hungern zu lassen, bis die von sich aus alles wieder aufmachen."

"Da sagst du was, Millie", erwiderte Julius und fragte Viviane, ob sie was wegen der noch verfügbaren Vorräte in VDS sagen konnte. Sie verschwand aus ihrem Bild und kam nach fünfMinuten zurück. "Peggy Swann sagt, sie hätten noch für ein halbes Jahr genug zu Essen für alle Menschen, die gerade bei ihnen seien. Nur für die größeren Zaubertiere könnte es in einem Monat eng werden, besonders für die fleischfressenden Tiere, wie das Drachenweibchen und das Donnervogelpaar."

"Und die Latierre-Kühe?" wollte Millie wissen. "Die mussten bis zu dieser Schurkerei auchmit Futterpflanzen von außen versorgt werden, können aber wohl genausolange durchhalten wie die Menschen, wenn Camilles verbessertes Schnellwachselixier angewendet wird, um Gras und Futtergetreide zu kultivieren. Sonnenlicht wird diesmal ja mehr als ausreichend verfügbar sein."

"Haben die denn genug Dünger da? Falls nicht ist es vielleicht nötig, den Luftstickstoff zu binden, um ihn mit dafür nötigen Substanzen zusammenzubringen, wie es bei den Nichtmagiern mit dem Haber-Bosch-Verfahren gemacht wird. Allerdings frisst das sehr viel elektrischen Strom und braucht Hochdruckbehälter, die bis 500 Grad Celsius dauerhaft aushalten", erwiderte Julius. Béatrice sah ihn an und sagte dann: "Sowas ähnliches gibt es in der Alchemie. In Anna Corteses nur für die magische Welt verfasster Schrift "De alchymia vitae" beschreibt sie die Verschmelzung "unbrennbarer Luft" mit aus kompostierter Erde und dem Urin pflanzenfressender Zaubertiere wie Einhörnern, Abraxanerpferden und wohl auch Latierre-Kühen hergestelltem Dünger. Dazu muss allerdings ein Gerät aus zu Glas gebranntem Granitstaub gefertigt werden, in dem gebrannte Holzkohle oder auch pulverisierte Steinkohle mit Schwefelbindenden Lösungen vom Schwefelanteil gereinigt werden und die Reinkohle dann in der aufwändigen Apparatur langsam mit Luft zusammengebracht und verbrannt wird. Das Kohlensäuregas wird während des Vorgangs in andere Teilapparaturen umgeleitet und entweder in die Umgebungsluft abgelassen oder an andere Stoffe angebunden. Was dann von der Luft unten rauskommt ist der unbrennbare Anteil. Der kann dann über den Trank der ungeliebten Hochzeit mit Braunschlamm zu festem Dünger vereinigt werden. . Der Heilerzunft ist außerdem seit dreihundert Jahren ein Verfahren zur Nährstoffrückgewinnung aus Kot und Harn bekannt, das nur deshalb nicht in der üblichen Nahrungsmittelherstellung verwendet wird, weil die seelische Wirkung auf die Endnutzer das vereitelte. Es werde nur dort genutzt, wo auf unfruchtbarem Boden in weiträumiger Abgeschiedenheit lebende Menschen dauerhaft hinreichend ernährt werden müsten. Millie, ich such dir gleich die betreffende Rezeptur heraus. Du möchtest sie dann bitte an Gilbert versenden mit der Anfrage, ob die Bewohner von Viento del Sol alle Zutaten und Gerätschaften da haben. Falls nicht müssten sie sie bauen."

"De Alchymia vitae? - Von der Alchemie des Lebens. Aua, das Ding steht doch bei uns in der Bibliothek in der Zaubertrank- und Alchemieabteilung", sagte Julius verschmitzt grinsend. Er führte einen Apportationszauber aus und holte das benannte Werk ohne Zeitverlust auf den Tisch. Wo er schon einmal dabei war holte er auf diese Weise auch einen dicken Wälzer über angewandte Chemie herbei und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Da die Einträge alphabetisch geordnet waren konnte er bis H wie Haber-Bosch-Verfahren vorblättern. Weil Béatrice es nun wissen wollte las er die Zusammenfassung und dann noch die ausführliche Beschreibung vor. Dabei schrieb eine Flotte-Schreibefeder mit, was er las. Millie las sich derweil die Beschreibung der alchemistischen Düngemittelherstellung nach Anna Cortese durch. "Klingt voll kompliziert und Zeitaufwendig", murrte sie. "Da wundere ich mich, dass Fixie uns das nicht auch mal hat nachbauen lassen." Dann dachte sie an die andere Methode, die Béatrice erwähnt hatte. "Gehst du jetzt davon aus, dass die sich dauerhaft von ... Öhm, von schon mal gegessenem und getrunkenem ernähren müssen", presste Millie hervor. "Millie, erstens beweist du gerade, warum es nicht allgemein benutzt wird und lieber frisch angebautes Gemüse und schlachtfrisches Fleisch verzehrt wird. Zweitens machen Flavine, Fylla und Félix im Moment auch nicht viel anderes als neben den von uns zugeführten Nährstoffen auch ihre eigenen Ausscheidungen wiederzuverwerten."

"Super, danke, Trice!!" grummelte Millie. Doch dann nickte sie ihr zu.

"Und was dieses Haber-Bosch-Verfahren angeht, Julius, so würde ich denen in Viento del Sol zumindest mal beschreiben, wie es ohne Magie geht. Vielleicht möchten deren Thaumaturgen und Alchemisten das doch auch magisch umsetzen, wenn Pflanzen schon den Luftstickstoff brauchen und es eben um uns herum soviel davon gibt."

"Die heftigeren Sachen sind die Reaktoren, die ein entsprechendes Rohrsystem mit nötiger Gesamtinnenoberfläche haben müssen, viel Druck und Temperaturen wie auf der Venus aushalten müssen, ohne beim anfahren zu explodieren", erwiderte Julius.

"Ist ja schön, dass wir hier bei uns wen wohnen haben, der das längst umgesetzt hat, Hitze und Druck zugleich ertragen zu können", sagte Millie. Julius bejahte es.

So schwärmten sie nun aus. Julius apparierte zu Florymont und las ihm alles über die rein technische Umsetzung vor. Béatrice suchte Hera auf und fragte sie, welche Zutaten für das Rückgewinnungsverfahren benötigt wurden. Außerdem erkundigte sie sich beim Kesselschmied von Millemerveilles, wie lange die Herstellung der nötigen Metallgerätschaften dauere, wenn möglichst wenig Eisen, Zinn, Kupfer oder Silber verwendet werden sollte. Millie war die Sammel- und Weitergabestelle.

"Ich muss mich wohl demnächst bei meiner großen Schwester entschuldigen, dass sie den Ganymed 15 getestet hat, als sie selbst hochschwanger war", keuchte Béatrice, als sie nach dem dritten Ausflug mit einem Packen Pergament von der Glasmanufaktur zurückkam. "Der Digeka raucht bald", sagte Millie. "So heftig wurde der bisher noch nie mit zu kopierenden Dokumenten gefüttert."

"Florymont hat gesagt, du kannst von tausend Buchseiten fünf Kopien pro Tag durchjagen lassen. Erst dann wird er kritisch", erwiderte Julius und ließ die von seiner Schreibe-Feder auf Pergament übertragenen Textpassagen zum Haber-Bosch-Verfahren mitkopieren. Da er die gewisse Abneigung gegen alles nichtmagische aus Millemerveilles kannte unterstellte er den Bewohnern von VDS, ebenfalls misstrauisch oder ablehnend zu sein, wenngleich er bei Thaumaturgen und Alchemisten mit großer Neugier und dem Wunsch, was neues, grandioses zu schaffen, rechnete.

Als alle Dokumente verschickt worden waren dauerte es nur fünf Minuten, bis Gilbert Latierre eine Antwort schickte. Millie las laut vor:

"Hiiilfe!! Wollt ihr mich mit kopierten Pergamenten überfüttern? Mein Digeka hat wild gebebt, als würde hier gerade die Erde wackeln. Aber danke für den ganzen Wust. Ich blicke da zwar nicht durch, was ihr hier alles zusammengeworfen habt. Aber Linda kennt genug Alchemisten und Thaumaturgen, die das wohl gerne mal lesen möchten. Sie ist jetzt gerade im Senderaum von VDSR 1923 und erwähnt, dass sie wohl ohne triftigen Grund von ihrer Arbeit für den Westwind abgebracht worden sei, was wohl bedeute, dass sie dort im Moment nicht gebraucht werde. Da wir ja jetzt gerade keine Besucher erwarten werden sie und ich nachher noch einen schönen Valentinstag verleben. Ich hoffe, Millie und Julius, der ist euch wegen dieser diamantharten Eiskuppel über uns nicht verleidet worden. Ich grüße alle, die bei euch wohnen, auch meine auf unser aller Gesundheit achtende Cousine Béatrice."

"Stimmt, wollte ich eigentlich noch was für besorgt haben. Aber dann meinte Madame Grandchapeau, dass ich erst allen zu schreiben hätte, die noch im Arkanet sind", grummelte Julius.

"Julius, welche Pralinen oder Schokoladensachen können mich gerade so schön rund machen wie die zwei Kleinen in Millies warmer Unterstube? Welche Blumen blühenlänger als die zwei, die in meiner kleinen Vase aufgehen?" meinte Millie dazu. Dann knuddelte sie ihren Mann. Er wollte mal wieder aufpassen, ihr nicht Bauch und Brüste einzuquetschen. Doch sie bestand auf eine innige Umarmung. Auch Béatrice freute sich, dass er sie zumindest kurz an sich drückte und ihr zuhauchte, dass er froh war, dass sie bei Millie und ihm sei.

Nachdem die Kinder im Bett waren bekamen die Latierres eine Eule, dass sie am nächsten Tag einer eilig einberufenen Bürgervollversammlung beiwohnen möchten. Außerdem erfuhr Julius über Vivianes Bild, dessen Gegenstück im Arbeitszimmer Antoinettes in der Delourdesklinik hing und da mit vielen Größen der magischen Heilzunft in Verbindung stand, dass Hygia Merryweather unversehrt in Thorntails zurück war. Allerdings habe das Luftschiff kurz vor Viento del Sol eine Vollbremsung machen müssen, was nur wegen der hochwertigen Innerttralisatus-Bezauberung keine Folgeschäden verursacht habe. Es sei dann um den Ort herumgeflogen, um dann mit dem Rest von Kraft nach Thorntails zu fliegen, wo es bis auf weiteres unter dem eigenen Tarnzauber bleiben würde, bis es wieder dorthin zurückkehren könne, wo es hingehöre. "Sie lässt ausrichten, dass Prinzipalin Wright jede Anfrage nach Auslieferung von ihr abgewiesen habe, es sei denn, die Heilerzunft beantrage ihre Freistellung. Ansonsten gelte weiter, dass Thorntails wie alle anderen Zauberschulen selbst bestimme, wer auf ihrem Grund und Boden erwünscht und unerwünscht sei. Die glaubt also auch, dass Buggles' Ministerium Usurpiert wurde", sagte Viviane. "Außerdem hat Heilzunftsprecherin Greensporn klargestellt, dass sämtliche Heilmagierinnen und -magier augenblicklich ihre Arbeit zum Wohle aller erwachsenen Hexen und Zauberer sowie aller Kinder einstellen würden, wenn auch nur ein eingetragenes Mitglied der Zunft verhaftet oder ohne nachvollziehbaren Grund des Landes verwiesen würde."

"Das heißt auch, dass die werdenden Mütter in den Staaten ohne Hebammen auskommen müssten", schloss Julius aus dieser Drohung. "Ich denke aber, dass die respektable Großheilerin Greensporn blufft, also was androht, was sie nie wahrmachen würde. Dafür liebt die ihre Arbeit zu sehr und ist zu verantwortungsbewusst."

"Das ist wohl richtig, Julius. Aber wenn sie ihm den Fall Arnica McFee vorhält wird er es nicht wagen, diese Drohung auf ihre Ernsthaftigkeit zu prüfen", sagte Viviane und erwähnte, dass es 1902 auf den Britischen Inseln den Versuch gegeben habe, alle Heiler zu Ministerialbeamten zu erklären, womit auch deren Wissen in das Eigentum des Ministeriums übergehen sollte. weil die damalige Heilzunftsprecherin Arnica McFee dieser Eingliederung widersprach hat der damalige Zaubereiminister sie wegen Anstiftung zum Aufstand und mutmaßlicher Anwendung dunkler Künste verhaften lassen. Daraufhin haben sämtliche Heilerinnen und Heiler tatsächlich einen Monat nur die absoluten Notfälle behandelt, aber sonst nichts", sagte Béatrice. Erst als McFee von allen Anklagepunkten freigesprochen wurde, haben die Heilerinnen und Heiler ihre Arbeit wieder aufgenommen. Das ist bei uns ein sehr umstrittenes Thema, weil hier bewusst gegen einige der zehn Heilerdirektiven verstoßen wurde. Doch die Mehrheit aller Heiler ist der Überzeugung, dass wir nur von den Interessen der zivilen Zaubereiverwaltung unabhängig am besten helfen können, in Selbstverwaltung und eigenen Vorschriften", gab Béatrice ihr Wissen um die Geschichte der Heilerzunft zum besten. Julius musste zugeben, dass er nicht von diesem Fall gehört habe, aber sicher sei, dass Madam Greensporn das beinahe selbst miterlebt habe.

"Oh, das lass aber weder Hera noch Antoinette hören, dass du dich nicht ausreichend mit der Geschichte des magischen Heilwesens auskennst", sagte Béatrice mit verwegenem Lächeln. "Wieso, entziehen die mir dann den Pflegehelferstatus und erklären alle von mir mitbetreuten Geburten für nicht stattgefunden?" konterte Julius. Béatrice musste so heftig darüber lachen, dass ihr die Tränen kamen. Millie fiel mit in das Lachen ein. Das wiederum weckte Aurore, Chrysope und Clarimonde und brachte Millies und Béatrices ungeborene Kinder zu wildem Gestrampel, bis Millie laut "Auuutsch!" ausrief. Sofort hörte das Lachen auf. Julius kümmerte sich um seine drei verschlafen dreinschauenden Töchter, während Béatrice ihre Nichte untersuchte. "Nichts passiert, Millie. Dein Magen ist noch da, wo er sein soll. Aber einen Tropfen Magentrosttrank für die Nacht möchtest du bitte einnehmen", sagte Béatrice.

"Hat die Maman aua?" fragte Chrysope ihren Vater. "Nein, keine Angst. Ist alles noch gut bei ihr. Sie hat nur über was lachen müssen, was der Papa erzählt hat, und da meinte eine von deinen bald zu uns kommenden Schwestern, sie treten zu müssen, weil das so laut für die war. Kennen wir auch von dir, von Clari und auch von der Rorie", sagte Julius sanft.

"So, die, die du geschwängert hast, um mir keine bösen Träume mehr zu machen, hat gerade ein Witzerzählverbot bis zur vollendeten Geburt von Fylla verordnet. Ich habe auch echt gedacht, die will mir durch Magen und Speiseröhre entfahren wie ein wütender Flaschengeist", murrte Millie, als sie neben Julius im Bett lag. "Aber dafür haben wir heute hoffentlich einige Leute mehr wenn nicht glücklich gemacht, aber hoffentlich beruhigt", schnurrte sie noch und küsste ihren Mann zur guten Nacht.

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Béatrice lag selbst noch eine Weile wach. Félix hatte sich auch sehr ungestüm in ihrem Leib bewegt. Doch sie hatte es eher so empfunden, als wolle er freudensprünge machen, in einer so schön lachenden Hexe heranwachsen zu dürfen. Dieser Gedanke hatte sie richtig euphorisch gemacht. Um so heftiger war die Befürchtung gewesen, dass Millie ihre Zwillinge wegen so einem Scherz von Julius verlieren und genau deshalb Félix als ihren rechtmäßigen Sohn einfordern würde. Ja, etwas zu beschließen und dann wortwörtlich hautnah mitzuerleben, wie es sich auswirkte, waren zwei ganz verschiedene Sachen, so wie die Theorie des Besenfliegens nichts mit dem Ritt auf einem Ganymed 15 gemein hatte. Aber sie freute sich auch, dass sie ihrer Kollegin Chloe Palmer vielleicht helfen konnte, die ihr nun auf Gedeih und Verderb anvertrauten Mitbewohner bei bester Gesundheit halten zu können.

Diese Beruhigung half ihr, doch noch in einen friedlichen Schlaf zu finden. Auch Félix beruhigte sich und wuchs seiner Ankunft Anfang April weiter entgegen.

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15.02.2005

Die gigantische Höhle war noch dieselbe wie im letzten Juni, als sie hier zum ersten mal hingebracht worden und in die Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern eingeschworen wurde. Nur waren es statt über 1000 frei schwebenden Kerzen gerade einmal 100, was den Ort wesentlich dunkler erscheinen ließ. Auch waren wieder über 170 Frauen hier, abgesehen von jenen, die bei ihrer Einbeschwörung versucht hatten, die wichtigsten Mitschwestern zu töten, im Namen der dunklen Hexenkönigin Ladonna. Diesmal trugen alle hier versammelten dunkle Umhänge und schwarze Hexenhüte. Laurentine, die sowas nie besessen hatte blickte leicht errötend umher, bis ihr Louiselle Beaumont einen solchen Hut auf das blonde Haar pflanzte. Hera Matine, die Mutter der französischen Gemeinschaft der Schwestern, trug ein bis zu den Knöcheln fallendes, nachtschwarzes Samtkleid mit weitem Kragen mit abgerundeten Ecken. An ihrer rechten Hand glomm es rotgolden. Laurentine stutzte. Hatten sie ihr nach der Einschwörung nicht erzählt, dass die Oberste von ihnen einen magischen Ring trug, der sonst unsichtbar war, bis er im Tode der Trägerin wieder sichtbar wurde? Womöglich erfasste Hera, was Laurentine dachte. Ausschließen mochte sie es zumindest nicht. Denn sie sagte:

"Ihr alle seht den Ring der ersten Mutter leuchten, wie er es tut, wenn Trauer und Verlust in seiner Nähe empfunden werden. Denn immer dann, wenn eine von uns diese Welt verlässt oder eine von uns sehr geliebte, ja wichtige Menschen an die letzte Begleiterin verabschieden musste, zeigt sein Licht, dass wir immer noch eine Gemeinschaft sind und ein eigenes, in der tiefsten Dunkelheit leuchtendes Licht in unseren Seelen tragen. Ich bitte euch, nun, da ihr alle dem Ruf gefolgt seid, euch alle niederzuknien und vor den Eltern unserer geliebten und verehrten Mitschwester Laurentine zu verbeugen, deren Lebensweg so abrupt beendet wurde."

Laurentine fühlte die Trauer um ihre Eltern, egal was am Ende zwischen ihnen und ihr gestanden hatte. Sie wusste, dass sie sie nie wieder sprechen, keine Gelegenheit mehr haben würde, mit ihnen ins Reine zu kommen, einen friedlichen Ausgleich zu finden. Sie wusste aber auch, dass sie nicht alleine auf der Welt war. Hier waren mehr als 170 andere Hexen zwischen nur ein paar Jahre älter als sie und über einhundert Jahre alt, die ihr beistehen wollten, wenn sie deren Beistand brauchte. Vor diesen beugte sie ihre Knie. Vor diesen beugte sie ihr Haupt. Ja, und auch vor Renée und Simon Hellersdorf, die nicht die Eltern einer Hexe sein wollten, verneigte sie sich in letzter Demut. Denn ohne die beiden gäbe es sie nicht. Genau das war die Botschaft, die Hera mit ihren wenigen Worten verkünden wollte, wusste sie nun und wussten die anderen auch.

"So gedenken wir eine Minute lang Laurentines Mutter, die sie ins Leben getragen, unter großen Schmerzen geboren und mit ihrer Fürsorge und Liebe umsorgt und großgezogen hat, wie vor Simon Hellersdorf, der seiner Tochter ein fürsorglicher Vater war und ihr ein warmes Heim und genug Nahrung für Leib und Seele dargebracht hat, um sie groß und stark genug für diese nicht immer friedliche Welt werden zu lassen. Ihnen beiden sei dafür gedankt, uns diese geliebte und geehrte Schwester geschenkt zu haben." Silemus in memoriam parentum sororis nostrae, Renatae et simonis Hellersdorf. Gratias agemus pro filia vostra!"

Eine Minute lang sagte keine ein Wort. Jede hing den eigenen, dem Anlass geschuldeten Gedanken nach. Laurentine musste erkennen, dass ihre Eltern sie nicht verstoßen hatten, weil sie sie verachteten, sondern weil sie Angst vor dem hatten, was sie nicht für richtig und begreiflich gehalten hatten. Sie hatten nicht sie verstoßen, sondern die magische Welt abgelehnt, für die sie, Laurentine, sich entschieden hatte, um selbst ein friedliches, seelisch stabiles Leben führen zu können. Sie fühlte Tränen in den Augen und ließ ihnen freien Lauf. Jedoch gab sie kein Schluchzen von sich. In lautloser Trauer überstand sie die Minute, bis Hera sagte: "Exit Silencium! Surgite sorores!"

Erst als sich die anderen erhoben kapierte Laurentine, dass sie wohl sowas wie "Steht auf" oder "Erhebet euch, Schwestern" gesagt haben musste. Mit ein wenig geröteten Ohren stand sie neben ihrer Fürsprecherin Louiselle und der schon lebenserfahrenen Mitschwester Solange. Beide lächelten sie aufmunternd an. Dann sagte Hera wieder auf Französisch: "So wollen wir diese Zusammenkunft nutzen, die Erinnerungen an jene zu teilen, die uns verließen, um mit der letzten Begleiterin in die Gefilde einer anderen, uns noch entfernten Welt hinüberzugehen, wo jede von uns in uns nicht bekannter Zeit ebenfalls hinübertreten wird, um ddort jene wiederzusehen, die uns vorausgingen."

Laurentine ließ sich von allen, die sie seit der Todesmeldung noch nicht getroffen hatte ihre Anteilnahme bekunden. Dann sprachen sie in gemäßigter Lautstärke über die ihnen gerade wichtigen Leute, die sie nicht mehr treffen konnten und von denen die allermeisten nicht mitbekommen durften, dass die eine oder andere bei den schweigsamen Schwestern war. Selbst jene, die sich als entschlossene Schwestern bezeichneten und für einen schnelleren Weg zur Vorherrschaft der Hexen mit beinahe allen Mitteln eintraten, bekundeten ihre Anteilnahme, als Laurentine noch einmal beschrieb, warum der unerwartete Tod beider Eltern auf einmal für sie noch schwerer wog. Auch gab sie ihre Gedanken aus der Schweigeminute preis. Denn sie ging davon aus, dass viele von ihnen hier ähnliche Erfahrungen mit ihren nichtmagischen Verwandten gemacht hatten. Solange, die da selbst schon Urgroßmutter war und demzufolge schon sehr viele geliebte Menschen verabschieden musste, erwähnte, dass egal wie alt jemand wurde, die Eltern immer in und bei einem blieben, auch wenn es mal sehr unangenehm, ja nervtötend sein mochte. "Ich muss nicht immer denken, wie meine Mutter dies getan oder mein Vater das gesagt hätte. Es reicht mir schon aus, wenn ich danach erkenne, dass sie es in meiner Lage so ähnlich gemacht haben wie ich es überlegt oder spontan getan habe. Natürlich ist es sehr schade, ungelöste Streitigkeiten nicht beenden zu können. Ich habe daraus aber für mich gelernt, dass ich immer dann, wenn ein Streit droht, nachprüfe, warum er entsteht und was ich von mir aus tun oder sagen kann, dass er, wenn er nötig ist, nicht zum endgültigen Bruch mit denen führt, mit denen ich Streit bekomme. Was du über die Angst deiner Eltern gesagt hast ist wohl so. Sie konnten dich nicht als Hexe akzeptieren, weil ihr Weltbild das verboten hat und sie nicht das tun konnten, was du gelernt hast. Ich bin auch nicht mit allem einverstanden, was meine Enkelkinder so anstellen oder wie sie meine Urenkel erziehen. Aber ich muss dann immer wieder erkennen, dass ich auch in meinem Alter immer noch neues lernen muss und dankbar sein muss, dass ich dies noch kann, neues lernen. Was du gesagt hast, Schwester Laurentine, dass du fürchtest, dass deine Eltern extra auf diese Insel gereist sind, weil sie vor dir und der Zaubererwelt unentdeckt bleiben wollten, weißt du nicht sicher. Deshalb bitte ich dich in schwesterlicher Anteilnahme, dir das nicht immer selbst einzureden oder dir selbst vorzuhalten. Deine Eltern wollten an einem von der hektischen Welt verborgenen Ort schöne, gemeinsame Tage verbringen, vielleicht auch, um sich einander wiederzufinden. Wenn das geklappt hat, bevor diese Mörderwelle sie fortgerissen hat, dann gönne ihnen diese letzte schöne Zeit und behalte sie als ein Geschenk des Schicksals im Gedächtnis, dass sie noch einmal für sich sein und füreinander empfinden konnten. Vielleicht haben sie auch noch einmal die körperliche Ehe vollzogen. Wissen wir das?" Einige Schwestern kicherten mädchenhaft. Andere schlugen verschämt die Augen nieder. Andere warfen Solange vorwurfsvolle Blicke zu. "Schwestern, wir sind hier alle erwachsen und wissen, dass nicht der Regenbogenvogel die kleinen Kinder ausliefert", tadelte Solange jene, die sie vorwurfsvoll anguckten.

Laurentine wusste nicht, ob sie jetzt lachen oder selbst verschämt dreinschauen sollte, weil in ihrem Kopf gerade die Bilder ihrer sich in körperlicher Liebe umschlingenden Eltern herumspukten. Wenn Hera sie jetzt legilimentierte konnte Laurentine wohl auf ihrem Gesicht Spiegeleier braten.

"Abgesehen davon, lebensbejahende Schwester Solange, ist es für uns alle auch wichtig, dass wir nie im Selbstvorwurf von denen Abschied nehmen, die wir betrauern", sagte Hera Matine und klang weder amüsiert noch vorwurfsvoll. "Deshalb schließe ich mich deinem mitschwesterlichen Rat gernean, Schwester Solange. Schwester Laurentine, deine Eltern sind nicht aus Angst vor dir in dieses Gebiet der Welt gereist, sondern weil sie es für einen schönen, ruhigen Ort hielten, an dem sie gerne sein wollten. Behalte dies bitte in deiner Erinnerung, um mit allem, was du nun ohne sie erleben musst zurechtzukommen!"

So ging es noch um die Berufe, die Laurentines Eltern ausgeübt hatten. Zwar hatte sie bei ihrer Einberufung schon etwas darüber erzählt. Doch nun, wo es ja vor allem um die Erinnerungen an sie ging, war es um so wichtiger, dass Laurentine erklären konnte, was ein Raketeningenieur für verantwortungsvolle Aufgaben hatte und warum es trotz der unbestreibaren hohen Kosten und Umweltbelastungen richtig und wichtig war, den Weltraum zu erkunden, nicht nur mit Fernrohren in den Himmel zu sehen. Laurentine erwähnte auch, was Julius einmal in einer Verwandlungsstunde über die Entstehung des irdischen Goldes erwähnt hatte und dass das ja ähnlich der Vorstellung war, dass die irdische Sonne um verstorbene Artgenossen geweint haben mochte. "Ja, und wollen wir hoffen, dass der gesellschaftserhaltende Wert des Goldes wieder gewürdigt wird, nachdem es ja doch viele Kulturen zerstört hat, die des Goldes wegen beraubt und unterdrückt wurden", sagte die fünfzig Jahre alte Mitschwester Brigitte Bonvoy, bei der Laurentine die bis zu zum Steiß herabwallenden schwarzen Ringellocken so bewunderte.

"In Millemerveilles konnten sie ja weiter an ihr Gold kommen", sagte Louiselle und sah Hera an. "Ja, und wir sind auch froh, dass wir trotz der gewissen Unstimmigkeiten mit den dort tätigen Kobolden nach der Errichtung unserer neuen Schutzbezauberung mit ihnen friedlich umgehen und sie auch froh sind, dass sie genauso unter dem starken Schutz gestanden haben wie wir und nicht wie etliche ihrer Kollegen oder Angehörigen der wilden Erdmagiewellenfront zum Opfer fielen."

"Ob die australischen Ureinwohner das geahnt haben, dass ihr großes Reinigungsritual einmal eine weltweite Handelskrise auslöst?" wollte Brigitte Bonvoy wissen. Ihr Sohn war Fluchbrecher bei Gringotts und deshalb seit dem 26. Dezember quasi arbeitslos.

"Ob sie das jetzt bereuen wage ich zu bezweifeln, Schwester Brigitte", sagte Hera. "Für sie zählte und zählt, dass sie die uralte Plage der Schlangenmenschen austreiben mussten und es auch konnten. Näheres erfahre ich wohl erst im März, wenn ich meine australische Amtsschwester sprechen kann. Es sei denn, ich erfahre auf anderen Wegen, was sich dort tut." Laurentine hörte daraus, dass sie wohl von Julius regelmäßig auf dem laufenden gehalten wurde, der ja ein Porträtbild der Heilerin Aurora Dawn hatte. Dann kamen sie auf die Vorgänge in den Staaten, weil Solanges Urenkelin Therèse in den Staaten arbeitete, auch als Grundschullehrerin wie Laurentine. So erfuhren sie alle, wo sie schon mal da waren, was am 12. und 13. Februar dort geschehen war und dass seitdem eine Stimmung der gegenseitigen Belauerung und Abschottung vorherrschte. Laurentine erkannte, dass das alles auch Martha Merryweather betraf und dass das mit dem Sonderurlaub wahrscheinlich eine Art Flucht war oder, was noch wahrscheinlicher war, dass ihr der Rückweg in die Staaten verwehrt worden war, weil sie keine gebürtige US-Amerikanerin und dazu noch über viele Jahre keine Hexe gewesen war. Zu gerne würde sie ihr das sagen, wie sie mit ihr mitfühlte. Doch was hier gesprochen wurde durfte kein außenstehender erfahren, so die unverbrüchlichen Regeln des Ordens. Aber vielleicht fragte sie mal ganz unverbindlich bei Julius, was er von Brittany Brocklehurst und Glorias Cousinen mitbekam.

Als Hera das Treffen der nur nach außen hin schweigsamen Schwestern für beendet erklärte und sich noch einmal für die drei Stunden der Anteilnahme und bereitwillig geteilten Erinnerungen bedankte sah Laurentine zum ersten mal wieder auf ihre silberne Uhr. "Ui, schon nach zwei Uhr! Wenn ich jetzt in meiner Wohnung appariere fallen Claudine und Joe aus dem Bett", wisperte sie Louiselle zu. "Und Flohpulver?" fragte diese zurück. "Das könnte gerade noch leise genug rauschen und ich hoffentlich noch gesittet leise aus dem Kamin steigen", sagte Laurentine. "Jedenfalls ist für mich um sechs Uhr die Nacht wieder um."

"Ich kann dir Wachhaltetrank geben, dass du morgen länger durchhältst", gedankensprach Louiselle. Laurentine mentiloquierte zurück: "Nicht, wo deine Tante uns zuguckt." Da trat Hera auf Laurentine zu und sagte:

"Gilt eure Übereinkunft noch, dass du mit den Brickstons die Mahlzeiten einnimmst, Schwester Laurentine?" Die Gefragte bejahte es. "Sonst hätte ich dir angeboten, die Nacht bei mir zu bleiben und nicht in Hektik in den Tag zu gehen. Ach ja, und am besten gebe ich dir eine kleine Dosis Wachhaltetrank, damit es nicht auffällt, dass du eine so kurze Nacht hattest. In dem Fall muss ich das als erste Mutter des Ordens verantworten, auch wenn ich als Heilerin natürlich darauf achte, dass Kraft- und Munterkeitsausdehnende Tränke nicht wie Wasser getrunken werden dürfen. Was bitte gibt es da so mädchenhaft zu grinsen, Schwester Louiselle?"

"Öhm, nichts, geliebte Mutter der erhabenen Schwestern", sagte Louiselle. "Dann entspann deine Mundwinkel wieder, Schwester Louiselle!" forderte Hera ihre Nichte auf.

Hera nahm sie Seit an Seit mit in ihr eigenes Haus, damit keiner sie zusammen sah. Von dort aus konnte Laurentine den Flohnetzanschluss benutzen. Sie schaffte es wirklich, so leise sie konnte aus dem Kamin zu klettern. Sie lauschte, ob unten wer aufgeschreckt sein mochte. Denn Claudine hatte ein feines Gehör. Doch nichts tat sich. Auch bekam sie keine Gedankenanfrage von Catherine, was los sei. Sie wusste nur, dass sie jetzt kein Wasser mehr rauschen lassen sollte, weil das bis unten durchgluckerte. Doch wozu war sie eine Hexe? So stellte sie sich splitternackt ins Badezimmer und vollführte den Körperreinigungszauber an sich selbst und nutzte noch den praktischen Zahnputzzauber, den Julius ihr erklärt hatte. Danach fühlte sie sich wesentlich frischer und sauberer als mit bloßem Wasser, Seife und Zahnpaste behandelt.

Als sie in ihrem Bett lag dachte sie, dass sie durch dieses Essensabkommen mit Catherine und Joe kein eigentliches Nachtleben mehr führen konnte. Gut, mit ihrem Berufsalltag war das auch schon schwer. Aber mal eben bei wem anderen Übernachten, ohne sich wie eine Halbwüchsige vorher abzumelden behagte ihr auch nicht so recht. Vielleicht ging es, dass sie irgendwann wieder für sich alleine essen konnte und dann nicht auffiel, wenn sie mal die Nacht woanders schlief. Der Gedanke brachte sie wieder auf Louiselle. Konnte es sein, dass Hera es ahnte, dass die beiden vielleicht mehr miteinander anfangen mochten als eine reine unverdorbene Lehrerin-Schülerin-Beziehung? Ja, dass sie deshalb erwähnt hatte, dass Laurentine auch bei ihr hätte übernachten können und auch nicht ganz beiläufig das Essensabkommen erwähnt hatte? Getreu dem Motto: Ich pass auf euch auf. Seid also brav und jede nur im eigenen Bett! Hera traute sie das zu. Aber das sollte sie der besser nicht zeigen und schon gar nicht aus irgendeiner Laune heraus an den Kopf werfen. Dennoch missfiel ihr der Gedanke, nur deshalb nichts mit Louiselle anfangen zu können, weil sie quasi unter Catherines und Heras Aufsicht stand wie ein unverheiratetes Frauenzimmer unter der Fuchtel mindestens einer Anstandsdame. Tja, höhere Tochter halt, dachte Laurentine und fand sich damit wieder in Erinnerungen an ihre Eltern. Die hätten sie auf jeden Fall in ein Mädcheninternat geschickt, römisch-katholisch natürlich, damit ihre Mutter und Großmutter Monique beruhigt waren. Neh, dann lieber von einer besorgten Mutter und einer nicht minder besorgten Heilhexe umschlichen zu werden als von den eigenen Körper verachtenden, jeden Fluch mit einem Jahr Hölle gleichsetzenden Nonnen begluckt zu werden.

"Tja, war alles nicht so, wie ihr euch das gewünscht habt. Aber hoffentlich habt ihr jetzt euren Frieden, auch wenn ihr nicht im katholischen Himmelreich gelandet seid", dachte Laurentine an die Adresse ihrer Eltern. Dann dachte sie an den Traum, den sie am Abend vor der Beerdigung hatte. Sie hatte auf einer blühenden Blumenwiese gestanden. Ihre Eltern waren bei ihr, halb durchsichtig wie die Geister, die sie aus Beauxbatons kannte. Dann war die Frau aus rotgoldenem Licht gekommen, die aussah wie Jeanne oder vielleicht doch eine Schwester von Camille.

"Es ist nicht alles so gelaufen, wie wir es für dich für richtig hielten, Kind", hatte die Geistererscheinung ihrer Mutter gesagt. "Aber wir möchten nicht gehen, ohne dir zu sagen, dass wir doch sehr stolz sind, dass du deinen Weg gefunden hast und wir jetzt in Frieden gehen dürfen." Ihr ebenfalls geisterhafter Vater hatte dann gesagt: "Ich war eine bekloppte Bangebuchse, dass ich es nie wahrhaben wollte, dass du mit diesen Kräften auch was anständiges anfangen könntest. Aber denk bitte nicht nur böses von mir, damit ich auch in Frieden gehen kann. Wenn du in die Sterne siehst, denk bitte an deinen alten, auf naturwissenschaftliche Regeln festgenagelten Papa von der Waterkant!"

"Mach dir bitte um deine Eltern und die anderen, die du lieb hattest keine Sorgen mehr, Laurentine. Führe dein Leben, aber bitte immmer so, dass du keinen Grund hast, es zu bereuen, dann werden dir alle, die dir vorausgegangen sind in Liebe gedennken, und du kannst uns alle in deiner Seele tragen, wie wir dich", hatte die Frau aus rotgoldenem Licht mit sanfter Stimme gesprochen, mit der Stimme von Claire. Danach waren alle drei ganz sanft und lautlos davongeschwebt, hinein in die gerade im Zenit stehende Sonne.

Das hatte sie so heftig ergriffen, dass sie noch Stunden später, als sie wieder aufgewacht war, daran hatte denken müssen. Ja, und dann hatte sie diese rotgoldene Erscheinung bei der Trauerfeier gesehen, da wo die Urnen ihrer Eltern waren, als wenn sie deren unsichtbare Seelen an denHänden hielt, um mit ihnen diesen traurigen, aber zugleich sehr erhabenen Moment zu erfahren, den letzten Abschied. Das hatte sie zu einer weiteren Tränenflut gerührt. Als sie ihre Augen wieder klar hatte war die rotgoldene Frau wieder verschwunden. Hätte Claire so ausgesehen, wenn sie nicht zu früh gegangen wäre? Sie hatte Rot gemocht, die blauen Sachen von Beauxbatons immer als "nicht meins" bezeichnet und sich immer gefreut, wenn sie beim Jahresabschlussball in roten Sachen auftreten durfte. Hatte Claire ihre Eltern abgeholt, um ihnen den Weg in die andere Welt zu zeigen, ja ihnen vielleicht noch Mut zuzusprechen, dass sie, Laurentine, nicht allein zurückbleiben würde? Bei diesen anrührenden Gedanken fühlte sie zum zweitenmal an diesem Abend Tränen in die Augen steigen. Doch diesmal wischte sie sie schnell fort. Außerdem war es doch ein schönes Bild, dass die, die sie einst sehr gerne hatte, die begleitet hatte, die am Ende doch erkannt hatten, was sie an ihr, Laurentine, hatten. Ja, und sie begriff es endgültig, warum Julius nicht auf Rache ausgegangen war. Das hätte Claire sicher verletzt und unsagbar traurig gemacht. Dann kamen ihr wieder die Bilder von der dritten Runde des trimagischen Turnieres in den Sinn, wo sie in einer von Traumfladen heraufbeschworenen Teilillusion gedacht hatte, mit Claire splitternackt zu tanzen, als jugendliches, lesbisches Liebespaar. War das echt nur eine Fehldeutung der Traumfladen, weil die innige Freundschaft und Sex nicht voneinander trennen konnten? Oder wollte sie es nicht wahrhaben, was die Traumfladen tief in ihr erkannt hatten, dass sie Claire wirklich geliebt hatte, ohne es klar zu erkennen oder es gar benennen zu können? Sie wusste nur, dass sie damals überaus traurig und wütend war, weil Claire gestorben war, ja und tatsächlich davor auch ein wenig eifersüchtig auf Julius war, weil der von Claire mehr Zuwendungen bekam als sie. War das wirklich so? Womöglich würde sie selbst erst über diese Schwelle treten müssen, von der aus es kein Zurück mehr gab, um Claire zu fragen, sofern sie ihr drüben begegnen durfte, wo und wann auch immer "drüben" war. Mit dieser abschließenden Erkenntnis fand sie endlich in den nötigen Schlaf.

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Linda Latierre Knowles saß, ihre kleine Tochter Lydia Barbara auf den Knien wiegend, in der Küche des mit Gilbert bewohnten hauses und hörte das Morgenprogramm von VDSR 1923.

"Hallo zusammen, hier ist wieder euer rasanter Rundfunkrodeoreiter Roderic Krrrueger, der die Nacht vom Tag scheidet, wie meine Großtante, die Morgenröte. Heute ist der fünfzehnte Februar, und nachdem wir ja gestern alle einen superruhigen Valentinstag verbringen konnten - Keiner musste zur Arbeit, kein Tourist ist zu uns reingeflogen, und kein Ministeriumsbürokrat hat uns mit Formularen den Tag versaut, fragen wir uns heute am Tag nach dem Überstülpen der neuartigen Riesenkäseglocke, ob wir hier solange bleiben dürfen, bis die Sonne keinen Brennstoff mehr hat oder der Ururenkel von Minister Buggles findet, dass wir lange genug gereift sind. Sicher, wir haben immer noch das grüne Notgeld und können das locker hier bei uns ausgeben. Aber irgendwann muss doch mal gut sein. Der Gag mit der Quarantäne war ja schon untere Schublade, Minister Buggles. Aber uns jetzt echt vom Rest der Welt abzuschneiden ist als Aprilscherz doch ein wenig zu früh dran. Aber sind wir echt so abgeschnitten? Das frage ich unseren aus dem fernen Frankreich in unsere Gemeinde reingeheirateten Mr. Rotblonder Igel Gilbert Latierre - und ich hoffe, ich habe den Namen richtig ausgesprochen."

"Guten Morgen zusammen", hörte Linda die Stimme ihres Mannes. "Ich hoffe, sie alle konnten nach dem vielfachen Schwirrenund Donnern in der letzten Nacht noch gut schlafen."

"Jau, konnten wir wohl noch. Ich habe nur gehört, dass die Hühner statt einem Ei fünf Stück hintereinander gelegt haben und die hier gehaltenen Latierre-Kühe fast ihr Gehege zerlegt haben. Aber die werten Gemeinderäte wollten es meinem Kollegen von der Nachtwache nicht auf das Toastbrot schmieren, was da genau geknallt hat."

"Nun, bevor ich Ihre Eingangsfrage beantworte, Mr. Krueger - Öhm, Roddy - soviel zu der Knallerei, die sogar noch Ihre Musikauswahl an unüberhörbarkeit übertraf: Das waren Versuche mit Schallweitstrahlzaubervorrichtungen, den sogenannten Firepan-Flöten aus dem Jahre 1790.Meine gerade auf unsere kleine Tochter aufpassende Angetraute hat mir vor einer Stunde für Sie alle da draußen gestattete Infos mit eingepackt. Demnach haben die Thaumaturgen unserer Gemeinde die Schallweitstrahlvorrichtungen in mehrfacher Vergrößerung nachgebaut, mit denen Jarrel Firepan 1790 ein erstmaliges Fernverständigungsnetzt der Zaubererwelt errichtet hat, damals von New York bis Chicago, was schon ziemlich heftig war. Leider, wie so oft bei uns Menschen mit und ohne Zauberkräfte, gab es damals Leute, die diese zur Verständigung gedachten Vorrichtungen als Waffe missbraucht haben, um auf engem Raum gebündeltenLärm mit hoher Stärke gegen Ziele zu lenken, die dann regelrecht pulverisiert wurden oder im Fall brennbarer Häuser in Flammen aufgingen. Seitdem, und weil da das Flohnetz in den Staaten immer engmaschiger wurde, wurde auf die Firepan-Flöten verzichtet, ja sie wurden nicht mehr als Verständigungsmittel, sondern Fernwaffen eingestuft. In diesem Sinne wollten unsere Thaumaturgen sie in der vergangenen Nacht einsetzen, um die über uns heruntergelassene Glocke aufzubrechen. Das hat nicht geklappt. Die Schallstrahlen wurden restlos geschluckt, aber die kleinen Kanonen sind überlastet worden und explodiert. Die Feuerwehrzauberer durften dreißig Brandherde löschen."

"Ui, stimmt, in unserer Ecke hat es auch gebrannt", zischte Roddy. "Ja, aber jetzt noch mal die Frage, ob wir echt voll von allen anderen abgeschnitten sind?"

"Klare Frage, klare Antwort: Nein, sind wir nicht, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich kann das mit der Gewissheit sagen, dass uns Buggles ja nach außen hin unmithörbar gemacht hat und so nicht mitbekommt, was wir noch mitbekommen. Zwar ist die Flohnetzverbindung unterbrochen, Eulen können nicht verschickt werden, und draußen lauern Locattractus-Fallen, die jeden einfangen, der mehr als zwei Kilometer von der Dorfmitte entfernt disappariert. Aber es gibt noch genug auf reinem Licht basierende Fernverständigungszauber. Da Gemeinderat Hammersmith mittlerweile herausgebracht hat, dass diese Käseglocke vom einfallenden Sonnen-Mond- und Sternenlicht und frei wehendem Wind ihre Kraft bezieht, wird keiner von Buggles' Leuten was anstellen können, um uns in eine ähnliche Zwangslage zu bringen wie die Bewohner von Millemerveilles im April bis Juni 2003. Also können wir immer noch weit in die Ferne winken und weitergeben, wie es uns geht und erfahren, was der Rest der Welt macht. Auch wenn Sie hier sonst mehr zur Munterkeit beitragen möchten arbeiten Sie ja gerade als Reporter, genau wie Ihre Kolleginnen und Kollegen, meine Frau und ich. Wir dürfen und müssen den Leuten hier erzählen, was draußen vor sich geht und uns ständig bemerkbar machen, damit wir nicht vergessen werden."

"ja, nachher gibt's eine öffentliche Ratssitzung. Ich muss ja bis zehn hierbleiben, aber unser lebendes Geschichtsbuch, die zauberhafte Klio Sweetwater wird wohl direkt von dort berichten."

"Falls die Sitzung nicht doch geheime Sachen berät oder beschließt", sagte Gilbert. Sein britisch geprägtes Englisch klang so, als wäre er kein gebürtiger Franzose.

"Dann wollen wir hoffen, dass wir bald wieder frei herumfliegen können", sagte Roddy Krueger. "Danke Gilbert für diese wichtige Info für den Frühstückstisch. Hier noch die passende Musik zum Schütteln der Milchmischgetränke: Heather Hillcrest mit ihrem ofenwarmen Tanzbodenfüller "was wilde hexen wirklich wollen". Und da ist sie auch schon", sprach Roddy in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Dann flogen bereits Xylophontöne und ein schneller Basslauf aus dem Radiogerät.

als gilbert von der Ratssitzung zurückkehrte ging er sofort an seinen eigenen Distantigeminuskasten. Er grinste dabei. "Diese Glocke macht ihn auch nicht fertig, auch wenn seine Frau und die Drillinge jetzt weit von ihm fort sind", sagte Gilbert.

"Du meinst Lucky Merryweather. Hat er den Stapel von Vorschlägen, die uns gestern noch zugeflogen sind weiterverteilt?"

"Ja, hat er, und die wie Milchkaffee aussehende Shirley Dorkins hat gemeint, dass diese Vorschlagsliste jetzt wohl umgesetzt wird, sofern das mit den nhier noch verfügbaren Sachen geht. Lucky hat dann bei der Ratssitzung als Gastredner vorgeschlagen, einen Wettbewerb zu starten, wer die Zeit unter dieser Glocke am sinnvollsten umkriegt und vor allem, wie wir alle solange gesund und fröhlich bleiben können, bis Buggles abgesetzt ist. Er nannte es doch echt: "neueer Käse für die Glocke- Wir stinken gegen Buggles an." Ich habe ihn gefragt, sowohl Klio, als auch wir zwei hübschen dürfen diesen Titel benutzen. Mal kucken, wer da so alles was vorschlägt."

Gilbert schickte den für alle interessierten Europäer freigegebenen Sitzungsbericht und Luckys Titelvorschlag für einen Durchhalte und Widerstandswettbewerb an Millies Adresse und per Pappostillon eine Nachricht an seine Mutter Cynthia, in der er ihr versicherte, dass er im Moment keinerlei Gefahr zu befürchten habe und sich mit Linda und Lydia immer noch gut verstehe.

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"Ja, das ist Onkel Lucky", grinste Millie und gab Julius die ihr zugestellten Kopien einer Nachricht aus der Ferne. Er las sie und grinste auch. "Jau, genau so muss das. Nur nicht den Humor verlieren. Aber dass sich Gilbert beklagt, dass seine Frau vor lauter Vorschlagszetteln keinen Boden mehr gesehen hätte ist auch nicht schlecht. Und das mit den Schallversuchen zeigt mir nur, dass diese Glocke was ganz anderes ist als was Madrashainorian gelernt hat."

"Ja, auch dass glutflüssige Tropfen von den explodierten Schallbündlern zehn Sekunden unter der Glocke hängengeblieben sind, bevor sie von Eis überzogen wieder runterfielen ist auch bezeichnend, Julius. Diese Glocke schluckt wirklich alle Bewegungen und auch inneres Feuer. Womöglich wird die abgesaugte Wärme gleichmäßig über die Glocke verteilt nach außen abgeleitet. Aber es stimmt auch, dass Buggles eigentlich nichts dümmeres hätte machen können, als diese Wegsperrtaktik. Denn irgendwann werden die Verwandten von denen fragen, wielange die Quarantäne noch andauern soll und warum die Heiler nichts davon berichten."

"Vom Wort her dauert eine Quarantäne üblicherweise vierzig Tage", sagte Julius. Vom vierzehnten Februar aus gerechnet also bis zum vierundzwanzigsten März. Jetzt hat Buggles denen in VDS ein Ultimatum bis Anfang März gestellt. Lassen die das unbeantwortet vergehen, will er sie dauerhaft aushungern. Das müssen alle wissen, die Verwandte da haben, hier und überm Teich, Millie", sagte Julius. Seine Frau bestätigte es.

Béatrice kam herein und bat darum, die Nachrichten aus VDS ebenfalls zu lesen. Als sie es getan hatte meinte sie: "Wir haben ja unter Sardonias Kuppel auch schon einiges angestellt, um sie wieder aufzukriegen. Aber ausgerechnet Firepans Flöten nachzubauen, noch dazu zwanzigmal größer als die Armlänge von damals, war doch schon sehr riskant. Wundere mich, dass meine Kollegin Chloe Palmer da kein zusätzliches Donnerwetter über die Beteiligten herabbeschworen hat."

"Sind diese Dinger echt so gefährlich gewesen?" fragte Millie.

"Sie waren ja ursprünglich als Verständigungsmittel gedacht. Doch dann kam Firepans Neffe Myles auf den Einfall, statt gesprochener Worte einen anhaltenden ganz tiefen Ton, was heute Infraschall genannt wird oder einen überhohen Ton damit zu verschießen, und zwar bis zu einhundert Kilometer weit", erläuterte Béatrice. "Er hat damit 1798 vier Ansiedlungen in Schutt und Asche gelegt. Danach wurden alle verfügbaren Vorrichtungen und die Herstellungspläne eingezogen. Firepans Neffe wurde verhaftet und, wie damals noch üblich, hingerichtet. Dabei haben sie ihn selbst in eine Armeekanone gesteckt und unter ihm Schießpulver gezündet. In welchem Zustand er dann wieder herauskam behalte ich mal besser für mich. Und Millie, du willst das nicht wissen, glaub's mir bitte."

"Ich muss es nicht wissen", meinte Julius. "Schon ziemlich heftig. Früher haben sie doch alle im Westen aufgehängt, ob Pferdediebe, Mörder, Leute, die für Hexen und Zauberer gehalten wurden."

"Jarrel Firepan hat diese Hinrichtung auch nicht überlebt. Dass eine seiner Erfindungen zum Massenmordgerät gemacht wurde und sein Neffe der Versuchung erlag, das auch noch auszuprobieren hat ihm das Herz gebrochen", sagte Béatrice.

"Schon heftig. Aber wo wir alle jetzt wieder schön zusammensitzen führe ich euch vor, was Florymont auf meinen Vorschlag hin gebaut hat und was wir den Thaumaturgen in VDS auch zum Nachbauen anbieten dürfen. Der Dorfrat hat ja beschlossen, dass wir VDS unterstützen, so gut wir das können", sagte Julius. Er holte ein silbernes Stativ hervor, an das er eine Vorrichtung befestigte, in das er wiederum eine Leinwand einspannte, die in einem leichten Silberglanz schimmerte. "So, die Flexitext-Leinwand, ganz großes Kino der Stummfilmzeit", pries Julius diese Vorrichtung an. Die Pläne für Material und Bezauberung kannst du gleich zu Onkel Gilbert rüberschicken. Ich will das nur würdig einweihen."

Julius holte sein Orichalkarmband hervor, während Béatrice ihren Umstandssessel entfaltete und eine bequeme Haltung einnahm. Dann rief Julius nach Brittany.

Wie gestern war sie nur noch als räumliches Abbild mit leichtem Blaustich zu erkennen. Er stellte sich dann so, dass die Leinwand ihn verdeckte. Dann schrieb er mit erleuchtetem Zauberstab einen Text, der in warmem Gelb auf der Leinwand nachleuchtete. Brittany schien ohne Probleme lesen zu können, was Julius ganz wie üblich geschrieben hatte, nicht Seitenverkehrt. Der Text lautete: "Kannst du das so lesen?" Keine fünf Sekunden später stand darunter: "Ja, geht jetzt noch besser als mit den Silberfäden. Tolle Idee!"

Julius und Brittany konnten auf diese Weise in Echtzeit Texte austauschen, wohl weil Brittany ebenfalls einen leuchtenden Zauberstab über die Leinwand führte. "Grüß Florymont Dusoleil und bedank dich bitte in unser aller Namen, dass wir noch eine Echtzeitverständigung dazubekommen haben."

"Kein Thema", schrieb Julius zurück. Dann wünschte er ihr und ihrer Familie eine gute Nacht.

"Öhm, sie brauchte keinen hier anwesenden Zauberstab?" staunte Millie. Julius erläuterte, dass es tatsächlich auch ging, wenn eine räumlich sichtbare Erscheinung mit einem leuchtenden Zauberstab auf ihre Seite der Leinwand deutete und dann nur Schreibbewegungen ausführen musste. Der Text wurde dann in für den Leser richtiger Anordnung auf der anderen Seite der Leinwand nachgeschrieben.

"Es reicht also eine helle Lichtquelle aus, um einen Punkt auf der Leinwand zum leuchten zu bringen", erkannte Millie. "Und was ist, wenn die Leinwand voll ist?"

"Dann schiebt jede am unteren Rand stehende Zeile die ganz oben stehende nach oben raus aus dem Bild, so wie du das schon bei Texten auf dem Bildschirm gesehen hast. Ich habe Florymont ein paar Vorschläge gemacht, was damit alles gehen kann. Mit Nigerilumos lösche ich bereits geschriebenen Text aus. Mit blauem Licht markiere ich Textstellen, um sie weiter nach unten zu verschieben, mit grünem Licht hole ich bereits geschriebenen aber nach oben rausgeschobenen Text zurück. Mit rotem Licht lasse ich alle Zeilen einer Seite nach oben wegrutschen, wenn mehr als eine Leinwandgröße voll ist. Florymont fand das ganz lustig. Er meinte, das schwierigste dabei sei die zauberlichtempfindliche Beschichtung und der Nachleuchtezauber bei weißem Licht. Testen wir demnächst. Ich lösch jetzt erst mal das bisher geschriebene."

So kann man auch was direkt mitteilen, ohne dass Lino das mithören kann", stellte Millie fest. Béatrice nickte beipflichtend. "Das hätten wir damals in Beauxbatons gut gebrauchen können, wo Didiers Wachgeier über uns gekreist sind", sagte Millie noch. Julius stimmte ihr zu, auch wenn ihm ihre abfällige Bezeichnung für die unter dem Imperius-Fluch stehenden Wächter nicht so gefiel. Doch er wollte sie jetzt nicht wegen sowas aufregen.

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16.02.2005

Dank des Wachhaltetrankes von Hera, den sie gleich nach dem Losdudeln ihres Radioweckers eingenommen hatte, überstand Laurentine den langen Schultag ohne Gähnanfall oder Konzentrationsproblemen. Mittlerweile hatte sie mit den Schülerinnen und Schülern der drei Klassen, die sie unterrichtete, wieder ein normales Verhältnis. Als sie zwischen den Tagen, wo sie sich um die Bestattung kümmern musste weitergearbeitet hatte hatten sie alle so angesehen, als dürften sie nicht laut sein, nichts böses sagen oder irgendwas fragen, was ihr weh tun mochte. Von Julius hatte sie erfahren, dass er denen schon viel erklärt hatte, warum ihre Eltern nicht mehr da waren. So brauchte sie es nicht mehr zu tun. Auch hatte er das Lernpensum dafür, dass er nur Aushilfslehrer ohne Fachausbildung war sehr hochgehalten und jede und jeden Mitgenommen und hatte von den sonst sehr von ihrer Erfahrung überzeugten Kollegen und vor allem Kolleginnen viel Lob erhalten.

Als sie nach dem Mittagessen mit den Kollegen wieder in die Rue de Liberation zurückflohpulverte fand sie einen Brief in ihrem für Normalopost aufgehängten Briefkasten an der Hintertür vor. Sie nahm ihn und ging damit in ihre Wohnung zurück.

Laurentine musste gegen den Anlass grinsen. Es war ihr gelungen, die Firmenzentrale jener Versicherungsgesellschaft zu überzeugen, die von ihren Eltern angesparte Summe bis zum Monatsende zu überweisen. Und zwar hatte sie es dadurch erreicht, dass sie Präzedenzfälle zitiert hatte, wo bei einer nicht mit den Vertragsinhalten vereinbaren Zahlungsverweigerung zu Gerichtsurteilen führte, bei denen die beklagten Gesellschaften bis zum dreifachen Wert der zurückgehaltenen Summe bezahlen mussten, nicht nur für den Kunden, sondern auch für die eigenen und die Klägeranwälte, die natürlich ihr Honorar am Streitwert ausrichteten.

Was noch ausstand war die Auswahl und Verteilung der letzten Gegenstände ihrer Eltern. Trotz ihres halben Erbteils war sie von der Wohnungsverwaltung in Kourou angesprochen worden, dass bis zum ersten März alle persönlichen Dinge und Dokumente aus der verwaisten Vicedirektorenwohnung abtransportiert werden mussten, da ab dem dritten März der nachbeförderte Vicedirektor des Weltraumbahnhofs dort einziehen sollte. Laurentine dachte an den Artistenspruch "Die Schau muss weitergehen!" Dazu hatte die Rockband Queen ja kurz vor dem Tod ihres Sängers Freddy Mercury ein Lied gemacht. Tja, der war auf den Tag genau zehn Jahre vor ihrem Großvater Henri gestorben. Der hatte das auch so empfunden, dass die Schau weitergehen musste.

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18.02.2005

Am 18. Februar stand im Miroir Magique, dass Colberts Abteilung 300 Mitarbeiter zur Durchführung der Bestandsprüfung in Gringotts ausgewählt hatte, deren Namen jedoch nicht bekannt gegeben werden durften, um diese Mitarbeiter nicht im Vorfeld zu beeinflussen. Es stand auch zu lesen, dass immer kleine Gruppen zu je fünf Kundinnen und Kunden einem Prüfer und einem Kobold beigeordnet sein würden und dass am 24. Februar ausschließlich die Verliesmieter in die Gringottsfiliale Paris eingelassen werden sollten, deren dortige Verliesnummern von 0100 bis 1499 lauteten, und zwar in einer bestimmten zeitlichen Abfolge, die den Kunden bis zum 22. Februar per Eulenpost zugestellt würde.

"Die wollen also erst Paris prüfen. Wie wollen die denn verhindern, dass die Kunden von Marseilles und Avignon an ihre Sachen gehen?" fragte Millie. Julius las den Artikel noch weiter und antwortete: "Die stellen da Beobachter vor die Tore. Machen die Kobolde die Filialen auf, und jemand will da rein, wird das gemeldet, und der, der unerlaubt eingelassen wurde, verwirkt alles Recht auf möglichen Schadensersatz."

"Moment, Julius, heißt das jetzt auch, dass wir nicht mehr in die Filiale von Millemerveilles rein dürfen?" wollte Millie wissen. Julius tippte noch einmal auf die betreffende Stelle und wiederholte, dass erst die Filiale in Paris geprüft würde, da, so die Begründung, dort die meisten französischen Zauberer und Hexen mindestens ein Verlies unterhielten.

"Mindestens eins, Julius. Die mit mehr als einem dürfen dann wohl auch alle überprüfen, oder?" bohrte Millie weiter nach. Julius gab ihr statt einer Antwort die Zeitung. Sie las sich den Artikel selbst noch einmal durch und nickte. "Ja, ist ja gut, die Nummerierung sagt es. Und die ganz sicheren Verliese sind eh die unter 0100."

"So versteh ich das wenigstens", sagte Julius.

Béatrice landete auf einem Ganymed 7 vor dem Apfelhaus, als Millie gerade zum Küchenfenster hinaussah. "Wo ist denn dein Superfeger hin, Tante Trice?" fragte sie.

"Ich komm erst mal rein. Von unten nach oben brüllen will ich nicht", rief Béatrice zurück und benutzte den ihr ausgehändigten dritten Schlüssel für die getarnte Tür.

"Meine werte Vertrauenshebamme hat doch allen ernstes darauf bestanden, dass ich bis zum Ende der Wochenbettphase, also bis nach Walpurgis, nur noch auf langsameren Besen fliegen darf, sofern sie mir nicht ganz grundsätzlich die Besenflugerlaubnis entziehen möchte. Daher hat sie meinen eigenen modernen Flugbesen in ihre Obhut genommen und erwähnt, ihn in ihrem Gringotts-Verlies einzuschließen, bis sie die Wochenbettphase für beendet erklärt haben wird. Ich durfte von ihr den Ganymed 7 erhalten und eine Quittung, dass mein Besen mit der eingeprägten Seriennummer GN-15-312 an sie ausgehändigt wurde. Das hätte ich mal mit Hipp machen sollen, da wäre was losgewesen."

"Dann darfst du jetzt auf diesem Schneckenwinker durch Millemerveilles schleichen. Da hättest du auch Rories rosaroten Babyhüpfer nehmen können", feixte Millie.

"Natürlich, der hält mich mit dem ganzen Gewicht auch noch aus, Madame Mildrid. Außerdem hat sie mir schon einen Wehenwarner mitgegeben, den ich ab erstem März ständig tragen soll. Deinen macht sie auch schon fertig. Den kriegst du dann wohl ende März verpasst."

"Na, wie fühlt sich das an, ständig von einer Hebamme bevormundet zu werden?" musste Millie jetzt doch fragen. "Ich habe nicht gesagt, dass ich das überzogen finde, was Hera mit mir macht oder für mich und den Kleinen beschließt", sagte Béatrice. "Ich ärgere mich nur, dass ich selbst so seltendämlich war, mit dem neuen, wirklich überschnellen Besen herumzufliegen und damit auch noch zu ihr hinzureiten, als wenn es was ganz selbstverständliches wäre. Ach ja, Frau Reporterin, die Antwort auf deine konkrete Frage: Es fühlt sich zwar belastend an, derartig angeleitet zu werden, ist aber in Anbetracht, dass ich ein nicht eigenständiges Menschenkind zu behüten habe ausdrücklich richtig. Das darfst du so zitieren, falls du meinst, mich mal irgendwann in deiner Zeitung zu erwähnen", erwiderte Béatrice. "Wo wir dabei sind: Neues von unter der Käseglocke?"

"Ich wollte das erst wo Julius dabei ist sagen. Aber es haben sich unter den Alchis in VDS zwei Gruppen gebildet. Die einen wollen das Verfahren von Anna Cortese durchführen, beziehungsweise haben auch schon wegen der Dämmerkuppel über uns damals fünf Geräte im großen Maßstab vorrätig. Die anderen wollen ohne elektrischen Strom das von Julius erwähnte magielose Verfahren zur Ammoniakherstellung ausprobieren, ob das komplizierter ist als das von Cortese. Was dann leichter nachzubauen und ohne zu viel Abfall geht wird dann wohl weitergeführt", erwähnte Millie.

"Dann kommen sie wenigstens über das Ultimatum von Buggles hinaus mit allem aus, was nötig ist", erwiderte Béatrice.

Als Julius wieder von der Arbeit nach Hause kam las Millie ihm den vollständigen Bericht aus VDS vor und beendete ihn mit den Worten: "... könnte sich aus den zwei Vorschlägen ein Richtungsstreit zwischen Traditionalisten und Modernisten unter den Alchemisten entwickeln, da die Modernisten schon lange eifersüchtig auf die Errungenschaften der nichtmagischen Kunststoff- und Wirkstoffhersteller blicken. "Jetzt haben wir mal ein wirklich wichtiges Verfahren von denen erklärt bekommen", so Gregory Deepwater, Spezialist für Alchemie der nichtlebenden Natur."

"Ui, einen Richtungsstreit wollte ich echt nicht auslösen. Das können die im Moment am wenigsten gebrauchen", grummelte Julius.

"Den hätten die irgendwann sowieso gekriegt, Julius", sagte Millie. "Gerade in den Überseestaaten sind die Modernisten mit den Traditionalisten schon seit Jahrzehnten dran, was die alten Meisterinnen und Meister der Alchemie uns heute noch bieten können und dass es immernoch Erkrankungen gibt, für die zu aufwendig Tränke von Hand hergestellt werden müssen und es doch erlaubt sein sollte, Verfahren zu prüfen, die mit möglichst wenig Magieeinsatz möglichst viel Zaubertrank für den Masseneinsatz hervorbringen können. Die Traditionalisten verweisen ja immer darauf, dass bei der Zubereitung keine Rühr- oder Heizzauber verwendet werden dürfen, weil dies den Trank verfälscht. So könnte dein Haber-Bosch-Verfahren die schon lange brodelnde Debatte noch mal richtig in Fahrt bringen."

"Das Verfahren gehört mir nicht. Sonst hieße das ja Andrews- oder Latierre-Verfahren", wandte Julius ein. Béatrice musste darüber grinsen. Millie machte ein leicht verdrossenes Gesicht. Doch dann nickte sie auch und schmunzelte. "Aber vielleicht setzen dir die Modernisten einmal ein Denkmal, weil du denen den Quaffel so fanggerecht zugepasst hast, Julius Latierre", sagte sie amüsiert. Julius erkannte wieder einmal, wie schnell eine schwangere Hexe zwischen verdrossen auf schon kindlich erheitert umschwenken konnte.

Nach dem Abendessen und dem üblichen Gutenachtritual für die drei Mädchen zogen sich die drei erwachsenen Apfelhausbewohner in die Bibliothek zurück. Von dort aus rief Julius über das rosige Armband seine Mutter. Auch das war schon sowas wie ein Ritual, seitdem seine Mutter notgedrungen wieder in derselben Zeitzone lebte.

"Hallo ihr drei. Ui, habe ich heute was hinter mir", begrüßte Martha Merryweather alle Zuhörenden, als ihr räumliches Abbild entstanden war. Julius fragte natürlich, was alles.

"Heute hätte ich fast mit Uranie richtigen Krach bekommen", sagte Martha Merryweather. Julius fragte, warum sie, die sonst so friedlich und sachlich mit anderen umging, mit einer anderen, ihm eher als friedliche, eher ernst bekannten Hexe Krach bekommen konnte.

"Ihr Großer hat sich sehr rüpelhaft mit Hillary und Louis angelegt. Das gefiel mir überhaupt nicht. Da habe ich ihn so laut zusammengestaucht, dass bei Antoinette sicher der halbe Putz von der Decke gerieselt ist, obwohl ich das an und für sich so nicht wollte. Aber das ging mir diesmal so sehr über die Hutschnur, dass ich ihm das gleich vor Ort klarmachen musste, dass es so nicht mehr weiterginge. Nur weil sie ihm in der Schule gewisse Verhaltensauflagen gemacht haben muss der seine Frustration nicht an den Kleinen auslassen, auch nicht an seinen eigenen Halbgeschwistern. Uranie kam dazu und wollte mich anfahren, was mir denn einfiele, ihren "armen Sohn" derartig anzuschreien. Als ich ihr das erzählt habe meinte sie, dass ich mit den Kindern doch in dem mir zugeteilten Trakt bleiben möge, dann würde ihr Sohn auch keinen Grund haben, andere umzuschubsen. Da war ich echt völlig überrascht, sowas noch serviert zu bekommen, Julius. Ich habe ihr dann vorgehalten, dass sie im Grunde ihren Frust, zweimal uneheliche Mutter ohne Absicht geworden zu sein, auf ihren Sohn ablade und der ebenso frustriert meint, sich an vermeintlich schwächeren abreagieren zu müssen. Wir waren auf jeden Fall laut genug, dass Antoinette es gehört hat. Sie kam dazu und hat uns fast mit gezückten Zauberstäben angetroffen. Ich habe Uranie noch mitgegeben, dass sie sich Hilfe suchen soll, wenn sie mit ihrem Leben als ledige Mutter nicht zurechtkäme. Da wollte die wohl was drauf antworten, aber Antoinette hat "Pax!" gerufen, also dass jetzt wieder Frieden sein soll. Dann hat sie mich gefragt, wann ich das letzte Mal den Überbehütsamkeitstrank genommen hätte. Das war da gerade vier Stunden her. Dann hat sie klargestellt, dass sie unter ihrem Dach keinen Zank duldet und dann mir rechtgegeben, dass Uranie mit ihrer Lage und dem richtigen Umgang mit Phil hadere und sie beide sich mit Callisto, der hauseigenen Kinderpsychologin, unterhalten sollten, wie es weiterginge. Mich hat sie darauf hingewiesen, dass ich als junge Mutter auch möglichst ruhig zu bleiben hätte, um den Kindern ein gutes Vorbild in Konfliktbewältigung zu sein. Uranie ist dann abgezogen, weil sie es sich nicht länger anhören wollte, dass sie für Philemon ein annehmbares, förderliches Umfeld zu schaffen habe. Ob sie mir jetzt die Schuld gibt, dass sie sich nicht mehr so in dieser von Antoinette angebotenen Abgeschiedenheit ausruhen kann weiß ich nicht. Aber ich sehe nicht zu, wie ein Junge als hinterletzter Rüpel kleinere Kinder umwirft und dabei noch abfällig redet, sie sollten halt aufpassen, wo sie hinlaufen."

"Holla!" erwiderte Julius unangenehm beeindruckt. "An und für sich ist Antoinette sicher froh, wieder wen beglucken zu können, wo alle ihre Kinder feste anstellungen haben."

"Ja, und ich denke ... aber Nichts zu Viviane", flüsterte seine Mutter geheimnisvoll, "dass sie auf Ursuline eifersüchtig ist, weil sie bald noch weitere Urenkel bekommt, erst Martine und dann Béatrice und Millie. Aber das muss die nicht hören, dass ich das denke."

"Achso, und du meinst, sie nutzt jetzt die Chance, zu testen, ob sie als gestrenge aber auch liebenswerte Großmutter angenommen wird. Dabei hat sie doch soviele Nichten und Großneffen und was alles dranhängt", erwiderte Julius.

"Mag alles sein, Julius", wisperte Martha. Dann sagte sie mit gewöhnlicher Lautstärke: "Jedenfalls werde ich Uranie und ihre vier Kinder nur noch bei den Mahlzeiten zu sehen kriegen, hat Uranie mir beim Abendessen gesagt. Das ist für mich die Bestätigung, dass ich ihr das sichere und unbeschwerte Wohnen verdorben haben mag. Hätte nur noch gefehlt, dass sie meint, ich solle zu euch hinziehen. Aber darüber hat sie dann doch nichts zu befinden."

"In gewisser Weise bist du auch in ihre neue friedliche Umgebung eingedrungen, Mum", sagte Julius. "Aber du hast es dir nicht ausgesucht, während sie es klar entschieden hat, dass sie nicht mehr neben den Nachbarn wohnen will, die ihr die drei Kleinen verpasst haben."

"Also, wenn Uranie nicht mit Callisto reden will, weil die ja quasi zur Familie gehört, Martha, dann kann Antoinette ihr sicher noch andere Kinderheilkundlerinnen empfehlen, wenn sie nicht zu Hera gehen möchte", sagte Béatrice.

"Das soll mich jetzt auch nicht mehr kümmern, solange ihr Großer meine Kinder in Ruhe lässt", sagte Julius' Mutter. Dem konnten Julius' und Béatrice nicht widersprechen.

"Und was war sonst noch so heftiges?" wollte Julius wissen. "Ich habe vor einem Tag den Fehler gemacht, Antoinette diesen Fragebogen zu zeigen, den Buggles an alle in die Staaten eingeheirateten Leute geschickt hat. Da habe ich unter anderem ja eingetragen, dass ich in bestimmten Zauberfeldern nach der Prüfungszeit nichts mehr gemacht habe. Das wollte Antoinette noch genauer von mir wissen. Dann hat sie gemeint, ich möge ab heute mindestens zwei Stunden täglich Zauberübungen machen, und weil sie ja wegen ihrer Arbeit den ganzen Tag weg ist hat sie das delegiert, an wen wohl?" Millie, Béatrice und Julius mussten grinsen. Julius durfte es aussprechen: "Blanche Faucons große Schwester." Das Abbild seiner Mutter nickte heftig und sagte: "Die haben sich das genau ausgerechnet, dass ich ja nun erst einmal wieder in ihrer unmittelbaren Zeitzone bleiben muss und ich wie erwähnt so unvorsichtig war, ihr diesen vertückten Fragebogen zu lesen zu geben. So war ich nach dem kurzen aber wilden Wortgefecht mit Uranie bei Madeleine. Die hat mich dann schon gleich zum magischen Küchendienst eingeteilt und gemeint, ich sei langsamer geworden, und das müsse sie unbedingt wieder in mich reinkriegen, zumindest drei Viertel so schnell wie sie zu sein."

"Oh, dann fallen die gemeinsamen Mahlzeiten mit Antoinette und Uranie wohl auch flach", vermutete Julius, während Millie und Béatrice schmunzelnd schwiegen. "Bring die nicht auf Ideen, Julius", grummelte seine Mutter. "So kann und werde ich mich hier überhaupt nicht langweilen", legte sie noch nach.

Dann sprachen sie über das, was bei den Latierres so geschehen war und dass Millie einen neuen Bericht aus Viento del Sol bekommen hatte. "Habe ich auch schon, Julius. Diese Flexitext-Leinwand, die von zwei Seiten beschrieben und beliebig verändert werden kann, hat sie jetzt auch bei sich. Wir haben fast eine volle Stunde gechattet, obwohl das Armband schon einige Ermüdungserscheinungen gezeigt hat. Die Thaumaturgen von da haben einen schnöden Heliumballon mit einem Messgerät aufsteigen lassen, der bis zum Scheitelpunkt der Käseglocke hochkam und da solange festhing, bis das Helium flüssig war und der Ballon wieder abgestürzt ist. Jetzt werten sie aus, was beim Kontakt mit der Glocke genau passiert."

"Huch, wo hatten die denn Helium her?" wollte Julius wissen. "Stammt wohl aus einer Versuchsreihe, die ein Mr. Deepwater zusammen mit Waldemar Zuckerman von den Thaumaturgen angestellt hat, weil er wissen wollte, ob Edelgase nicht doch mit anderen Stoffen verbunden werden können, durch ein Gebräu das Potio invitis matrimonii heißt, was wohl Trank der unerwünschten oder ungewollten Hochzeit oder Ehe bedeutet. Davon gehört habe ich zwar nichts, aber Brittany meinte, der sei nicht vegan, und sie sei froh, dass der in Thorntails auch nicht im Unterricht drankäme, weil ein Kessel der Normgröße zwei vier Wochen lang beaufsichtigt werden und immer wieder mit entsprechenden Zutaten nachbefüllt werden müsse."

Béatrice sah Martha an und dann Julius. Der nickte seiner Mitbewohnerin und Trägerin seines ersten Sohnes zu und erklärte dann, dass der Trank ähnlich wie ein Enzym im Körper von Lebewesen wirke, nämlich ohne großen Energieaufwand zwei Stoffe zu einer Verbindung zu vereinen, ohne selbst dabei verändert zu werden. Das ginge aber nur bei halbflüssigen bis gasförmigen Mitteln, nicht bei Festkörpern. "Nachdem ich vor ein paar Tagen von ihm gehört habe habe ich mich natürlich schlaugelesen, sofern meine Freizeit das zuließ, Mum", beendete er seine Erklärung. Auf die Rezeptur hatte er verzichtet. Aber er musste Brittany zustimmen, dass sie alles andere als vegan war. Doch das spielte in der Zaubertrankbraukunst eh keine Rolle.

"Jedenfalls hoffen die Thaumaturgen, dass sie mehr über die Beschaffenheit der Käseglocke herausbekommen", sagte Martha Merryweather.

"Ich werde wohl morgen oder übermorgen mit Brittany Texten. Heute bin ich zu müde", sagte Julius. So wünschten sie sich gegenseitig noch eine angenehme Nacht. Dann verschwand das Räumliche Abbild von Julius Mutter.

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19.02.2005

Olarammaya wollte es nicht mehr miterleben, was Gisirdaria ihnen übertrug, nachdem sie Yanhanaria geboren hatte und mit ihr weiterhin im Sonnenturm ausharrte. Zwar gefielen ihr die das Leben preisenden und anregenden Gesänge ihrer Mitbrüder. Doch es galt noch die hälfte der benötigten Kraft in den Dunkelkraftsammler zu übertragen, um das Pendel wieder in Schwung zu bringen. Im Moment durften sie keine dunklen Wesen dafür jagen, weil die Umwandlung der gesammelten Kraft in eine für das Pendel kompatible Grundlage ihre Zeit brauchte. Doch wenn sie daran dachte, dass dafür wieder an sich lebende Wesen geopfert werden mussten brachte das ihren von der auf das Ende zusteuernden Schwangerschaft aufgewühlten Willen zum wanken.

Um sich aus den regelmäßigen Lageberichten aus dem Sonnenturm herauszuhalten nutzte sie die Zeit am Rechner aus, um den Verlauf in der nichtmagischenWelt zu überwachen. Mittlerweile hatten die Rettungskräfte die schlimmsten Auswirkungen der Tsunamikatastrophe erfasst. Immer noch wurden tote Menschen angetrieben, deren Identität geklärt werden musste. Die verheerten Küsten mussten von Trümmern, Giftabfällen und Leichen gesäubert werden. Olarammaya dachte daran, wie leicht auch Ashtaraiondroi von so einer Flutwelle überrollt und von der Landkarte geputzt werden konnte. So hohe Berge hatten sie hier nicht, um einer Welle wie in Südostasien zu entrinnen.

Dailangamirias Aufschrei erfüllte den Gedankenraum der Sonnenkinder. Offenbar war es nun soweit, dass sie Faidarias ehemaligen Bruder Fainorangan auf die Welt zurückbrachte. "Der Glückliche", hörte sie Aroyans Gedankenstimme. Natürlich haderte Faidarias ehemaliger Gefährte immer noch damit, dass er immer noch nicht wiedergeboren war, wo alle seine Kampfgefährten, die der zufälligen Auswahl des Sonnenturms folgend wiedererwacht waren, bereits wieder ans Licht der Welt zurückgekehrt waren.

Olarammaya und ihre Schwester standen Dailangamiria bei. Drei Stunden dauerte es, bis Fainorangan vollständig dem Mutterleib entschlüpft und von seiner zweiten Mutter entbunden war. "Brrr, ist das kalt auf dieser Welt", war der erste klare Gedanke, den der frisch wiedergeborene an seine Mitgeschöpfe sandte. Doch als er auf dem Bauch seiner Wiedergebärerin lag und sich an einer ihrer Brüste festsaugte schwangen Wellen der Freude und Zufriedenheit von ihm in alle Richtungen. "Das mal bewusst zu erleben, wie eine Mutter ihr Kind mit neuer Lebenskraft nährt ist sehr erhaben", dachte er und dankte Dailangamiria, dass sie ihn in sein neues Leben getragen hatte und nun ein Jahr lang alle nötigen Verrichtungen erledigen wollte, um ihn richtig auf sein zweites Leben vorzubereiten. Olarammaya hörte den neidischen Kommentar ihres eigenen, ungeborenen Sohnes: "Eh, die hat dich nur bekommen, weil dein Vater mit deinem früheren Körper blutsverwandt war. Tu also nicht so, als hätte sie dich gezielt haben wollen!"

"Komm du erst mal aus deiner eigenen Mutter frei. Dann wirst du begreifen, wie viel sie für dich aufbringen musste, damit du alter Jammerling wieder leben durftest. Stimmt, du wolltest ja in meiner großen Schwester heranwachsen, als der Kleine Bruder deiner eigenen gezeugten Kinder", erwiderte Fainorangan, ohne aus dem für ihn als ideal empfundenen Saugrhythmus zu geraten. Dafür trat Aroyan seiner künftigen Mutter voll in den Bauch, wohl weil er eigentlich Fainorangan treffen wollte. Olarammaya musste sich setzen, so heftig zog sie dieser Tritt körperlich runter. "Wenn du mit deinem Onkel Krach haben willst warte solange, bis du ihm die erste vollgemachte Windel an den Kopf werfen kannst. Nicht vorher", gedankenfluchte Olarammaya.

"Dazu muss der Bursche erst mal zielen können. Abgesehen davon mach ich bis der draußen ist bestimmt schon richtig dicke feste Haufen", erwiderte Fainorangan großschnäuzig wie ein Teenager. Olarammaya ertappte sich dabei, an Ben Calders eigene Jugendjahre zurückzudenken, wo er sich mit allen halben Hosen aus Dropout einen ständigen Wettstreit in Prahlereien und gegenseitigen Beschimpfungen geliefert hatte und am Ende doch mit denen an einer der beiden Tankstellen ein Wetttrinken veranstaltet hatte, natürlich nur mit Cola, Sprite oder Multivitaminsaft. Denn Bier rückten die beiden Tankstellenpächter nicht an sie raus, und in den Läden gab es auch nichts. Das war eben der Nachteil einer Winzstadt wie Dropout. Doch gegen die Gemeinschaft der Sonnenkinder war Dropout schon eine mittlere Industrie- oder Universitätsstadt wie Berkeley in Kalifornien.

"Die drei Wochen hältst du wohl noch aus, wenn du mir nicht beim Klogang in die Schüssel plumpsen willst", schickte Olarammaya eine bewusst erschütternde Vorstellung an ihren ungeborenen Sohn. "Uuuääää!" war dessen zu erwartender Kommentar dazu. Doch weil er sich danach ganz ruhig verhielt, um dem ausgemalten Schicksal zu entgehen, verbuchte Olarammaya es als ersten Erziehungserfolg, noch bevor sie selbst alle Auswirkungen einer Mutterschaft erlebt hatte.

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20.02.2005

Gisirdaria war wieder da. Dardaria würde sich als vorübergehende Amme um Yanhanaria kümmern, der sie den Namen sirdarlangaria (Morgenhoffnung) gegeben hatte. Denn zusammen mit dem bereits wieder zum jungen Erwachsenen gereiften Dargarian sollte sie die Fertigstellung des Pendels sicherstellen. Sechs Sonnensöhne und sechs Schwestern wirkten derweil die anderen, dem Leben und dem Licht verbundenen Stärkungszauber auf die Quellenerspürung des magischen Pendels.

"Und wie geht es euch beiden?" fragte Gisirdaria Olarammaya. Diese deutete auf ihren immer raumgreifenderen Körper und sagte: "Ich werde froh sein, ihn hier endlich aus mir rauszukriegen. Ich kann mich fast schon nicht mehr bewegen, trotz der Körperübungen." Gisirdaria, die damals ben Calders Wegführerin zu den Sonnenkindern gewesen war, betastete behutsam Olarammayas vorgetriebenen Unterbauch. "Einhalt. Sie soll das lassen, in dich reinzutasten, um mich zu erfühlen. Ich will nicht von dir berührt werden, bis ich wieder ein vollgereifter Mann sein darf", protestierte Aroyan. Gisirdaria hörte es wohl in ihrem Geist und erwiderte: "Deine Mutter und damit dich gibt es nur, weil ich ihrem früheren Leben half, zu uns zu finden. Also habe ich das Recht, zu erspüren, wie du, ihr neues Leben, in ihr heranreifst, Aroyan. Außerdem musst du dich noch mit dem Kopf nach unten drehen, wenn du nicht mit den Beinen zuerst auf die Welt kommen willst und dabei womöglich in Olarammayas Lebenskelch erstickst."

"Wie soll das gehen, wo es hier so eng ist?" erwiderte Aroyan. "gut, dann wende ich dich so, dass die nährende Schnur nicht zusammengedrückt wird", sagte Gisirdaria und legte beide Hände auf Olarammayas dicken Bauch. Sie murmelte alte Wörter und schickte merkwürdig prickelnde Kraftströme durch ihre Hände. Dann fühlte Olarammaya, wie sich in ihr etwas verschob und dann ein wenig schmerzhaft gegen ihre Eingeweide stieß. Gleichzeitig hörte sie Aroyan erschrocken denken: "Heh, nimm deine Gedankenhände von mir. Örrgs, jetzt bin ich ja ganz durcheinander."

"So, jetzt liegt er so, dass du ihn auf die übliche Weise gebären kannst, meine Brudertochter", grinste Gisirdaria. Dass sie selbst eigentlich noch Wochenbettruhe halten sollte war ihr nicht anzusehen. Olarammaya bedankte sich für diesen hoffentlich letzten Eingriff vor der Tortur der Niederkunft. "Sirdarlangaria hat es gefallen, mir zu entschlüpfen. Sie erwähnte, dass es für eine Frau eine besondere Erfahrung ist, den Akt des Geborenwerdens bewusst nachzuerleben."

"Wenn du wieder zu ihr darfst grüß sie bitte! Die Erfahrung habe ich schon gemacht, auch wenn ich immer noch daran denke, wie schön es mit uns beiden war, als wir Laura und ihren Bruder auf den Weg gebracht haben."

"Das war ein anderes Leben, Olarammaya. Aber dass du beide Seiten erleben durftest sollte dir eine gewisse Zufriedenheit geben. Auch wenn du dann womöglich beim nächsten Leben nicht weißt, ob du erneut ein Mann oder eine Frau sein wirst. Was dir widerfuhr ist sehr, sehr selten."

"Ja, und das nur, weil ich unbedingt mit zu diesem Vergnügungsdampfer hinmusste, wo die Dementoren draufgesessen haben", grummelte Olarammaya. "Und weil Dailangamiria da zwei Töchter zugleich getragen hat", erwiderte Gisirdaria.

"Für alle Mitbrüder und Mitschwestern: Wir konnten die Berichte des Wächters von Garumitan hören. Er will seine fünf Beobachter an neue Orte der Welt verlegen, damit er einen sicheren Weg ersinnen kann, wie er die seiner Prägung nach richtige Rangordnung wiederherstellen kann", vermeldete Faidaria, die genau wie Olarammaya auf die Geburt ihres nächsten, ebenfalls zwiegeborenen Kindes wartete.

"Wieso bekommen wir jetzt erst wieder was von ihm zu hören?" wollte Dailangamiria wissen. "Weil er offenbar lange über etwas nachsinnen musste. Offenbar sind ihm mittlerweile zu viele Menschen auf der Welt. Er hat keine klare Kenntnis, wie viele von ihnen mit der höheren Kraft begütert sind. Daher musste er wohl einen ursprünglichen Plan verwerfen", erwiderte Faidaria. Olarammaya bejahte es rein geistig. "Seine Kundschafter hören nur die Radiosendungen mit, dürfen aber genausowenig frei in der Welt herumlaufen wie er. Er weiß nur, dass es wohl noch einige zauberfähige Menschen gibt. Doch von denen hat sich nach dieser Sache mit Garumitan wohl keiner mehr in seine nähe getraut."

"O doch, hat es. Ein Meister der körperlosen Wesen muss einen seiner Diener angetroffen haben. Doch er wurde nicht als würdig befunden, den Wächter zum Diener zu gewinnen", hörten sie alle Yantulians Gedankenstimme, der quasi durch Faidarias Geist verstärkt wurde. "Deshalb weiß er, dass es doch noch einige begüterte Menschen gibt. Aber wie Olarammaya richtig erwähnt hat weiß er nicht, wie viele es sind und wo sie leben. Wenn er weiß, wo keine von ihnen leben, dann könnte er befinden, die nicht begüterten Menschen auf großer Fläche töten zu lassen, um den seiner Prägung nach entstandenen Wildwuchs zu bremsen. Denn wir müssen davon ausgehen, dass der Wächter darauf eingestimmt wurde, den Überhang von unbegüterten Menschen zu verringern, wenn er keine anderslautenden Befehle von dazu berechtigten Begüterten erhält. Wir sind für ihn genauso Diener wie er selbst und dürfen ihm keine Befehle erteilen, wie vor allem Olarammaya erfahren musste."

"Du meinst Ilangadan", berichtigte Olarammaya Yantulian verdrossen. Gisirdarias Gedankenkichern übertönte fast dessen Antwort: "Ja, doch du trägst sein Wissen genauso in dir wie Aroyans neuen Körper." Das konnte Olarammaya nicht abstreiten. Ebensowenig konnte sie abstreiten, dass der goldene Riesenroboter, den ihr früheres Ich Ilangadan damals gesehen hatte, ein sehr gefährliches Ding war, das nur tat, was ihm einprogrammiert worden war und eindeutig darauf programmiert war, dass nur die Zauberkraftträger die Welt regieren durften. Der sammelte Wissen, bereitete sich vor, dieses Programm zu erfüllen, wenn er alle dafür nötigen Daten hatte. Für den waren zehn oder hundert Jahre keine Zeit, wenn dafür ein hundertprozentiger Erfolg gewiss war. Am Ende löste der noch einen Atomkrieg aus, um über 90 Prozent aller Menschen "abzutöten". Doch nein, das würde ja auch die gefährden, die laut seiner Programmierung zur Herrscherkaste gehörten. Also musste und würde er sich was anderes zurechtlegen.

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Seite 1 des Kristallheroldes vom 21. Februar 205

BÖSE ÜBERRASCHUNG BEI BEGEHUNG VON BANKVERLIESEN

WAR ERDMAGIEENTLADUNG SCHULD AN VERMÖGENSVERLUSTEN ODER KOBOLDISCHES ZUTUN?

Als heute pünktlich um 08:00 Uhr nach vielen Wochen bangen Wartens die silberbeschlagenen Tore von Gringotts an allen Standorten für die ersten Besucher aufschwangen hoffte wohl jeder, dass sich durch die am 26. Dezember zweimal unter den Staaten hindurchwälzende Welle aus Erdzauberkräften nichts wesentliches verändert hatte. Die ersten hundert Verliesinhaber durften zusammen mit je einem Ministeriumszauberer im blau-weiß-roten Umhang mit silbernen Schließen hinunterfahren, begleitet von 25 Kobolden aus dem Sicherheitspersonal von Gringotts.

An den Gängen zu den Verliesen standen große Metalltonnen, in die die Kunden ihre grünen Notgeldscheine einwerfen sollten. Doch die Kunden verweigerten dies. Auf Drängen der Ministeriumsbeamten schlossen die mitgekommenen Kobolde nacheinander je vier Verliese auf und ließen Kundschaft und Prüfer eintreten.

Danach berichteten die Kunden übereinstimmend, dass sie in den Verliesen außer mit den Wänden und dem Boden verbackene Goldkörner und schwarze Aschehaufen nichts von Wert vorgefunden hatten. Als die Kobolde noch dazukamen konnten die ebenfalls nur solche Bilder der Zerstörung sehen. Die Gringotts-Mitarbeiter beteuerten, bei der letzten Prüfung der Verliese vor einer Woche sei noch alles in Ordnung gewesen. Doch darf dies wohl bezweifelt werden. Denn sowohl die Prüfer, als auch der vom Kristallherold bei der ersten Begehung anwesende Handels-und Wirtschaftsreporter sahen eindeutig wie von starken Explosionen geschmolzenes, in alle Richtungen zerstreutes und wiederverhärtetes Gold. Bei den schwarzen Aschehaufen mag es sich um verbrannte Leder- oder Holzbehälter und mit der Umgebungsluft schlagartig verbundenes Silber handeln. Dabei behaupteten die Kobolde bisher immer, ihre Münzen seien feuer- und Rostsicher, da sie ja mehr als hundert Jahre lang vorhalten sollten.

Versuche, die Goldkörner vom Boden zu lösen scheiterten. Das Gold war zu fest darin eingeschmolzen. Sämtliche Kundinnen und Kunden sahen dieses Bild einer offenbar heftigen Zerstörung unter Freisetzung von starkem Feuer und Sprengkraft.

Die Beteuerungen, bei der Prüfung der Verliese vor einer Woche seien noch alle dort eingelagerten Geld- und Wertbestände unversehrt gewesen, müssen erntsthaft angezweifelt werden. Offenbar wollten sie verheimlichen, dass sie schon die ganze Zeit von den Auswirkungen der Zauberkraftentladungen wussten und davon ausgingen, die Kunden würden ohne amtlichen Beistand ihre Verliese begutachten und die dann angezeigten Verluste nicht ersetzt bekommen.

"Es ist offenkundig, dass das von uns in die Sicherheitszauber der Kobolde gesetzte Vertrauen ungerechtfertigt war", so Finanzabteilungsleiter Cyrus Picton nach der ersten Begehung. "Damit ist genau jener Fall eingetreten, den wir eigentlich nicht haben wollten. Wir sind in derselben beklagenswerten Lage wie unsere magischen Mitmenschen in Australien, die völlig ohne die angesparten Geldbestände dastehen. Ich kann Sie jedoch alle beruhigen. Die von uns ausgegebenen Banknoten behalten weiterhin ihren Wert, da wir mehr Gewicht auf erbrachte Leistungen als auf angespartes Gold legen", so Picton weiter.

Zaubereiminister Lionel Buggles entschied eine Stunde nachdem der letzte enttäuschte Kunde Gringotts wieder verlassen hatte, dass damit das bisherige Abkommen mit den Kobolden unhaltbar geworden sei. Es sei nun am Zaubereiministerium, die verlorengegangenen Werte auf eine noch nicht genau dargelegte Weise zumindest in Teilen zu ersetzen, was Jahre dauern könne. Was die Kobolde angehe, so räumte er diesen wegen des klaren Vertrauensverlustes eine Zeit bis zum 24. Februar ein, mit den magischen Holzschiffen das Land zu verlassen oder von Sicherheitsbeamten des Ministeriums fortgebracht zu werden.

Behauptungen aus dem Weißrosenweg, dass die Kunden der dortigen Gringottsfiliale keinerlei Verluste in ihren Verliesen bemerkt haben wollten sind ohne ministerielle Gegenprüfung nicht haltbar, so Cyrus Picton. Vielmehr handele es sich bei der vor allen Ministeriumszauberern und -hexen abgeriegelten Straße um einen Hort des Aufstandes gegen das Ministerium. Daher sei alles, was von dort behauptet werde, grundsätzlich mit äußerster Vorsicht zu genießen, so der Minister nach einer Vorhaltung eines Gringotts-Kunden aus New Orleans. Somit steht Aussage gegen Aussage, da sich die Zauberergemeinden Viento del Sol und Misty Mountain seit mehr als einer Woche unter einer selbsterzeugten magischen Abwehrkuppel verschanzen, wohl aus Furcht vor einer feindlichen Invasion aus dem Ausland.

Ob die Kobolde dem Aufruf zum Verlassen des Hoheitsgebietes der Vereinigten Staaten nachkommen werden steht noch aus. Denn bisher haben sie sich hinter den wieder verschlossenen Toren von Gringotts verbarrikadiert. Womöglich wird es auf eine sehr unschöne Zwangsräumung mit magischer Gewalt hinauslaufen, sofern der Minister keine Belagerung der betreffenden Gringottsgebäude befiehlt.

Wir bleiben für Sie an diesem Fall dran.

RDL

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21.02.2005

Sowohl der Leitwächter Nordamerikas Sneakbug, als auch sein persönlicher Herold Bootlack hatten sich bei Meister Schieferbart, dem ältesten der nordamerikanischen Kobolde, eingefunden. Sie warteten noch auf Boxlock und Ridgepoke, die Leiter der größten nordamerikanischen Gringottsfilialen. Eigentlich wollte er auch Snapjack aus Viento del Sol hierhaben. Doch der kam nicht mehr aus diesem Dorf raus, seitdem die Zauberstabschwinger eine ziemlich fiese Sternenkraftglocke drübergestülpt und die zu allem Verdruss noch mit tonnenschweren Schmiedeeisenplatten umlagert hatten, die wohl auch magnetisiert waren, weil deren Kraft das zehnfache so stark war.

Endlich schepperte der Gästemelder, und die beiden einbestellten jüngeren Kobolde wuchsen aus der Erde wie zu schnell wachsende Pilze. Doch als sie in die Anhörungskammer traten warfen sie sich sofort auf die Bäuche.

"Eh, steht wieder auf. Mein Weib hat schon den Boden gescheuert", knurrte Meister Schieferbart. Dann sah er alle seine hergerufenen Artgenossen an. "Also, was ist da bei euch in New York und Chicago passiert?" wollte Meister Schieferbart wissen.

"Ich weiß das nicht. Irgendwie hat sich in den Verliesen der Kunden das Gold in glühenden Staub aufgelöst und sich in Wände und Boden eingefressen. Wir können uns das nicht erklären", sagte Boxlock.

"Und, was hat der Blick der Wahrheit ergeben, ihr Schleichwürmer?" fragte Meister Schieferbart. "Öhnm, die Gläser der Wahrheit, öhm, ja, öhm, die sind zerkrümelt worden, als die zweite Wut der Erde unter uns durchgerast ist, Meister Schieferbart. Offenbar hat damit jemand genauer hinsehen wollen, was los war und klirr", sagte Boxlock.

"Nett, dass ich das in meinem Alter zehn tage näher an meinem Tod erfahre, als ihr das wusstet", knurrte Meister Schieferbart. "Will sagen, keiner von euch konnte rausfinden, ob das mit dem zersprengten Gold ein fieser Trick ist oder echt geschehen ist? Dann sage ich euch mal was: die weiter oben in Norden haben nach dem Ding von vor zwei Tagen alle Verliese bei sich geprüft. Da liegen noch alle Goldmünzen, Silbermünzen und auch wertvolle Gegenstände. Das wurde mittlerweile festgeschrieben, wenn der nachtfarbene Ohrringträger auch bei denen prüfen lässt. Und soweit ist Kanada nicht von New York weg, dass da ganz unterschiedliche Erdkraftströme langlaufen. Also, wer hat da Murksc gemacht, Boxlock?"

"Ich weiß nur von den Mitprüfern, dass in den Verliesen nur zerbröseltes Gold herumlag und alles andere weg war. Alles, was bei uns aus bezaubertem Glas war ist auch zersprungen. Deshalb können wir weder mit dem Blick der Wahrheit draufgucken noch das Echtgoldglas drüberhalten, ob die Krümel echtes Gold sind oder nicht."

"Will heißen, dass ihr von den Zauberstabschwingern auch einen Schleier des ernsten Truges über die Augen gelegt bekommen haben könnt", sagte der nordamerikanische Leitwächter Sneakbug verbittert. "Aber wir habennoch ein paar Gläser der Wahrheit. Die lagen zu eurem Glück noch in den Silberkästen der Unberührbarkeit. Ich schicke gleich zwei meiner Augen zu euch rüber, dass die sich genau umsehen. Falls Buggles uns betrogen hat füttern wir ihn mit dem grünen Dreck, den er seinen Leuten angedreht hat."

"Wird nicht mehr so einfach sein. Meine Leute haben alle Türen zugemacht. Ich kann nur noch durch den Direktorenzugang rein, sonst keiner mehr", sagte Boxlock.

"Augenblick mal, die Augen und Ohren haben überall reinzudürfen. Sonst suchen und finden die einen sehr unangenehmen Weg", grummelte Sneakbug bedrohlich. Boxlock nickte, sagte aber, dass es eben nur diesen einen Zugang gebe und er offenbar noch nicht lange genug Zweigstellenleiter war, um diese Türen zu öffnen.

"Was heißt, dass ihr Staubfänger euch jetzt nur noch in eurem Haus einschließen und hoffen könnt, dass alle Abwehrkräfte reichen", grummelte Meister Schieferbart. Sneagbug nickte ihm zu. "Gut, du gehst nach Gringotts zurück. Es wird die Glasbrenner einige Tage Zeit kosten, neue Echtgoldgläser und Augen der Wahrheit zu machen. Solange macht ihr alle Klappen und Ritzen zu, dass nicht mal eine Sandkornassel durchpasst. Ist das verstanden?"

"Jawohl, Meister Schieferbart, erwiderten Boxlock und Ridgepoke fast zeitgleich. Dann verließen sie die Kammer der Anhörung, um draußen vor dem mit schwingendem Silberdraht umzäunten Haus in der Erde zu versinken.

"Und was machen wir?" wollte Sneakbug wissen. "Wir ziehen uns in die Bergresidenz in Kanada zurück. Wir lassen uns jedenfalls nicht aus Nordamerika wegschiffen. Ich sage Glockenwart Rattlemug, dass er seine Standeskollegen in Europa und vor allem die Mitbrüder anläuten soll, dass wir eine Absetzbewegung machen, bis wir wissen, wie wir das mit dem angeblich zerbröseltem Gold erklären und mögliche Schuldige dafür zerbröseln dürfen. Und wehe, dieser Buggles hat sich das ausgedacht, um seine grünen Schnipsel weiterverteilen zu dürfen, dann machen wir dem das ganze Land zu", schwor Meister Schieferbart. Dann schickte er seinen persönlichen Herold Bootlack los, um die betreffende Rundmeldung zu machen.

"Wir sind hier und bleiben hier, auch wenn Buggles uns wieder loswerden will", dachte Meister Schieferbart. Denn dass Australien sich gar nicht mehr meldete und Russland und Italien ganz offen die Einhaltung des Goldwertbestimmungsrechtes aufgekündigt hatten machte dem schon an die 200 Jahre alten Sprecher aller nordamerikanischen Kobolde Sorgen. Nur durfte er es keinem auf die Nasen binden.

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23.02.2005

Die Botin in Weiß, die deshalb von Lionel Buggles als Mrs. Whitecap bezeichnet werden sollte, traf den von ihrer Gruppierung vollkommen kontrollierten Chef des US-Zaubereiministeriums am Abend des 23. Februars in dessen Privaträumen im mittlerweile schon einer kleinen Festung gleichenden Zaubereiministerium an. Sie erkundigte sich nach den Kobolden und nach den eingeschlossenen Widerständlern in Viento del Sol und Misty Mountain.

"Atalanta Bullhorn und die uns entsagenden Inobskuratoren haben ihr neues Hauptquartier neben dem betrunkenen Drachen im Weißrosenweg errichtet. Wir haben davon nur Kenntnisse, weil sich herausgestellt hat, dass einfache, gut zu dressierende Tiere wie Posteulen in die Abwehrzone einfliegen können. Solange sie keine tödlichen oder zerstörerischen Ladungen zu überbringen haben bleiben sie unbehelligt", erwähnte der Minister, der genau wusste, aus wessen Gnaden er noch dieses Amt ausübte und welches noch mächtigere Amt er demnächst ausüben mochte, wenn die Operation "Goldener Dreizack" abgeschlossen sein würde. "Die von diesem Vogelfreund Hugo Dawn entwickelten Mitbeobachtungsaugen haben meinen Überwachern schon wichtige Eindrücke vermittelt", fügte er hinzu. Dann kam er auf die Kobolde.

"Die in allen Gringottsfilialen lebenden Kobolde haben ihre Tore wieder fest verschlossen und lassen niemanden mehr hinein. Da Picton ja bereits verkündet hat, dass unser grünes Geld weiter als Zahlungsmittel gültig ist vermisst auch niemand mehr das eigene Gold. Die gehen ja eh alle davon aus, dass die Goldvorräte unrettbar zerstört wurden. Doch wie lange wird die Täuschung vorhalten?"

"Deine Leute haben bei der Prüfung die unsichtbaren Würfel dort zurückgelassen?" fragte die Botin in Weiß. Er bestätigte es. "Dann wird die Täuschung solange vorhalten, wie es dort genug Gold gibt, um die aufgeprägtenSchwingungen zu spiegeln, sagt unser Chefthaumaturg. Er nannte es einen Realitätsmodulator, weil er die technischen Phantasien der Magielosen bewundert, welche irgendwann mal Magie nachahmen könnten", erwiderte Mrs. Whitecap ein wenig verächtlich.

"Nicht, dass es Plopp macht und alles Gold völlig unversehrt wieder zu sehen ist, sozusagen als vorgezogener Aprilscherz."

"Je danach, wie viel Gold in den Verliesen lagert hält die Täuschung solange vor, bis jemand den Modulator aus dem davon beeinflussten Raum herausnimmt. Und wo sind die, die nicht in Gringotts arbeiten? Stimmt es, dass sie sich nach Kanada abgesetzt haben?"

"Sie sind einfach verschwunden. Aber wenn sie nur über Land geflüchtet sind müssen sie in Mexiko oder Kanada sein. Da ich mit Piedraroja bald einig bin, wie es zwischen seinem und meinem Heimatland weitergeht können wir das dann wohl prüfen lassen, wo die Kobolde sind. Ich mache mir nur Gedanken, ob Kanada unserem Dreibund beitreten wird, vor allem, wenn die dort erkennen, dass die Goldvorräte in den Gringottsfilialen noch unversehrt sind."

"Wir haben Gemeinschaftsmitglieder dort, die bereits Vorkehrungen treffen, dass der nordamerikanische Dreibund bis Ende April beschlossen und bis Juni vollständig eingerichtet sein wird, Lionel. Außerdem sagt der hohe Rat des Lebens, dass die Engländer wohl keine Schwierigkeiten machen werden, wenn Kanadas Stellvertreter sich von London lossagen wird. Du musst aber unbedingt Koboldabwehrposten an den Grenzen errichten, die auch auf deren Begabung, unter der Erde zu reisen, eingerichtet sind. Denn wenn unsere Einsatzbevollmächtigten in Kanada die ihnen ausgehändigten Modulatoren nicht früh genug in Gringotts unterbringen können dürften die Kobolde erkennen, dass hier eine groß angelegte Täuschung durchgeführt wurde."

"Die Posten werden gerade eingerichtet. Allerdings sind die Grenzen dann erst Ende März dicht genug, um keine Kobolde mehr zu uns reinzulassen", sagte Buggles. "Aber ich habe schon die nächsten Sonderkommandos bereit, die nach der Lebensausstrahlung von Kobolden suchen können. Wir geben denen unser Land nicht mehr zurück", tönte der Unterworfene Minister. "Öhm, vielleicht sollten wir die Sperrglocke über Viento del Sol öffnen, um unsere gefiederten Spione reinzuschicken", sagte Buggles noch.

"Das darfst du getrost wieder vergessen, Lionel. Zum einen könnte deren Protestsender dann wieder von allen gehört werden, die nahe genug an VDS dran wohnen. Zum zweiten wäre das verdächtig, dass ihr auf einmal wieder die Glocke aufmacht. Zum dritten wohnt diese Reporterin Linda Latierre Knowles dort. Deren Ohren könnten die feinen Schwingungen des Mitbeobachtungsauges erlauschen und die damit behängten Vögel als dressierte Spionagewerkzeuge erkennen", knurrte Mrs. Whitecap. Denn ihr war klar, dass durch die käseglockenartige Abschottung der beiden Zaubererdörfer auch die Mitverfolgung dort stattfindender Ereignisse unterbunden wurde. Doch der hohe Rat des Lebens hatte mit überdeutlicher Mehrheit befunden, dass es besser war, die Aufständischen in ihren Dörfern einzuschließen, statt ihnen die Gelegenheit für Gegenpropaganda oder gar verdeckte Einsätze zu bieten. Sie auszuhungern erschien den nordamerikanischen Ratsmitgliedern die erfolgversprechendere Taktik zu sein. Denn wenn die ganzen Mehrlingsmütter dort Angst um ihre Kinder haben mussten würden sie deren Väter schon dazu bringen, sich zu ergeben, so die Ansicht des hohen Rates. Denn um die Zutaten für den Trank gegen Überbehütsamkeit zu bekommen mussten die Bewohner der eingeschlossenen Dörfer in anderen Regionen einkaufen. Irgendwann würden denen also diese Unterdrückungstränke ausgehen. Dann würden die bei der stimulierten Kindeszeugung eingeprägten Verhaltensweisen auch wieder frei und übermächtig wirken. Ob das alles so ablief wusste Mrs. Whitecap selbst nicht so recht. Sie dachte nur daran, warum es in VDS so viele Mehrlingseltern gab.

"Ich werde die Dörfer aus großer Höhe unter Beobachtung behalten. Womöglich bekommen wir dann auch einiges mit", sagte Buggles. Die Botin in Weiß nickte. Dann kehrte sie dorthin zurück, wo sie hergekommen war, mal wieder ohne Alarmzauber auszulösen. Doch eigentlich könnte sie auch ganz offen und ohne ihre Verkleidung bei ihm auftauchen, jetzt, wo die allermeisten seiner Mitarbeiter auf seiner Linie waren.

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24.02.2005

Béatrice lauschte der Direktübertragung von der Wiedereröffnung von Gringotts am 24. Februar. Um Acht Uhr morgens durften die ersten vier Kunden mit einem zugeteilten Prüfer von der Handelsabteilung in die Stollen zu den Verliesen hinunterfahren. Bruno, der zwischen den Ligaspielen für die Mercurios Außenreporter für den Sender Freie Zaubererwelt sein durfte, erwähnte, dass es wohl mindestens eine Stunde dauerte, bis die ersten Kunden wieder herauskamen. Alle zwei Minuten verschwand ein weiterer Vierertrupp und ein zugeteilter Ministeriumszauberer im Gebäude.

"Die hier vertretenen beamtinnen aus dem Ministerium sorgen für einen störungsfreien Ablauf bei der Einteilung der Gruppen. Ich frage mal Amélie Rieuvive aus der Zauberwesenabteilung, warum nur Zauberer mit den Gruppen ins Gebäude gehen", kündigte Bruno an. Da hörte Béatrice ihre Nichte und Mitbewohnerin Millie schon fragen: "Madame Rieuvive, ich sehe, dass nur Zauberer mit den Gruppen ins Gebäude gehen. Wieso gehören Sie und Ihre Kolleginnen nicht zu den beigeordneten Prüfern?"

"Nun, Madame Latierre, Monsieur Villeneuve und Monsieur Colbert haben lange mit den Kobolden diskutiert, wie die angesetzte Bestandsprüfung abgehalten werden soll. Die Kobolde konnten sich mit ihrer Forderung durchsetzen, dass die offiziellen Prüfer nur Zauberer sein durften, wohl wegen des bei den Kobolden immer noch geltenden Grundsatzes, dass wichtige Angelegenheiten nur von Männern erledigt werden dürfen. Dies mag für uns Menschen eine größtenteils überkommene Haltung sein, muss in diesem Fall jedoch akzeptiert werden, um überhaupt offizielle Prüfungen in Gringotts durchführen zu können."

"Danke, Madame Rieuvive. Ah, der Kollege vom Rundfunk", sagte Millie. Bruno erwiderte erheitert: "Sie hörten meine Kollegin Mildrid Latierre von der freien Zeitung Temps de Liberté, die genau die Frage gestellt hat, die ich auch an Madame Rieuvive hatte. So läuft Gleichberechtigung, Messieursdames an den Rundrufempfängern."

Während Bruno und seine Kollegen wohl festhielten, wer wichtiges bereits heute morgen in das angemietete Verlies ging gab sich Béatrice ihrem eigenen Zustand hin. Sie fühlte Félix Richard Roland, den Sohn, den sie für Millie und Julius austrug. Sie erinnerte sich an die leidenschaftlichen Stunden mit dessen Vater und auch daran, dass sie den ungern an Millie zurückgegeben hatte. Sie empfand die Schwangerschaft als außergewöhnliches Erlebnis, belastend und doch auch erfreulich. Sie dachte einmal, dass es vielleicht doch besser wäre, wieder ins Sonnenblumenschloss zurückzuziehen, wenn sie ihn da auf die Welt gebracht haben würde und ihn nicht als ihren Sohn behalten dürfe, , sich nicht weiter damit zu befassen, wie er aufwuchs, wie das jene Frauen in der nichtmagischen Welt taten, die ihren Uterus vermieteten, um die Kinder von Ehepaaren zu bekommen, die miteinander keine eigenen Kinder hinbekamen. Nein, auf sowas wollte sie sich nicht einlassen. Sie hatte mit Julius geschlafen, um seinen Sohn zu bekommen, den er dieser transvitalen Entität Ashtaria schuldete, weil sie ihm das Leben wiedergegeben hatte. Sie war keine käufliche Leihmutter und auch keine Zuchtstute auf einem Bauernhof und Julius kein Deckhengst, der um der vielen Nachkommen willen verschiedene Stuten zu schwängern hatte. Außerdem würde sie so oder so mitbekommen, wie sich Félix entwickelte. Denn seine künftige Großmutter Ursuline würde darauf bestehen, sein Aufwachsen mitzubekommen.

Die Eheleute Aggilius und Margot Dornier und ihre noch unverheiratete Tochter Constance werden gleich mit der aus der Hexenwelt bekannten Reiseschriftstellerin Nanette Savoy ins Gebäude gehen. Es gehörte auch zu den heiß debattierten Punkten dieser Prüfung, ob es wirklich jeder mitbekommen muss, welche Mitbürger unmittelbar nebeneinander liegende Verliese angemietet haben. Versuche, die Prüfung nicht als Massenabfertigung abzuhalten, sondern durch diskrete Terminabsprachen, scheiterten an dem Druck aus der Handelsabteilung, möglichst schnell zurück zum Alltag zu kommen, wie es der Wirtschaftskollege aus dem Miroir gefordert hat. Somit dürfen auch wir Reporter diesem Ereignis zusehen und, falls die Kunden dies möchten, Stimmungen und Stimmen einfangen", sprach Bruno, um die lange Wartezeit zu füllen. Was Millie in der Zeit machte bekam Béatrice nicht mit. Es sei denn, sie bat Temmie darum, ihre Sinneseindrücke wahrzunehmen. Doch wegen Clarimonde und Félix durfte sie das nicht.

Um halb zehn kehrten die ersten aus Gringotts zurück. Bruno erwähnte, dass die Ordnerinnen draußen sicherstellten, dass jene, die herauskamen, nicht mit denen zusammenstanden, die noch hineinwollten. "Oha, die ersten Rückkehrer sehen ziemlich wütend aus. Offenbar haben sie dort unten was sehr unangenehmes vorgefunden oder besser, nicht mehr das vorgefunden, was sie erhofft haben", bemerkte Bruno.

"Trice, die ersten acht sind wieder draußen und sind alle voll sauer. Ich halt mich hinter Bruno und versuch so mitzuhören, was er von denen kriegt."

"Wenn die wütend sind sind sie unberechenbar, Millie. Halt dich bitte möglichst aus Zauberstabausrichtungen", schickte Béatrice an ihre Nichte. Zwar wussten beide, dass Julius sicher mithörte, weil die durch die Zeugung von Félix und den Zwillingen Flavine und Fylla verstärkte Verbindung eine besondere Geistesverbindung herstellte. Doch er würde es Millie sicher verzeihen.

"Monsieur Bernaud, sie wirken sehr verärgert. Haben Sie eine höchst unerwünschte Entdeckung gemacht?" fragte Bruno mit der gewissen Aufdringlichkeit eines schnellen Direktreporters.

"Unerwünscht, ja, auf jeden Fall. Mir sind drei Viertel meines Ersparten abhandengekommen. Mehr kriegt nur Colberts Truppe. Tschö!!"

"Monsieur Lepont ..." setzte Bruno an. "Nur noch die Hälfte vom ersparten. Zehn Jahre für nichts geschuftet", blaffte eine andere Männerstimme.

So ging es weiter, wobei herauskam, dass die Kunden zwischen der Hälfte und drei Vierteln ihrer Ersparnisse verloren haben mochten. Eine Hexe zeterte: "Was wollen ausgerechnet Sie von der Insel der Wohlhabenden hier, sich dran freuen, dass es Ihnen besser geht als den nicht in Millemerveilles lebenden? Dann haben Sie wohl heute Ihren größten Freudentag, sie und die Legehenne der Latierre-Sippschaft da in ihrem Windschatten. Wiedersehen!"

"Jetzt geht das wieder los", dachte Béatrice. "Millie, es sieht verflixt danach aus, dass sehr viele Kunden ihr Gold verloren haben. Nachher werdet ihr noch von wem angegriffen, weil der euch für unverdiente Glückskäfer hält. Bitte halt dich weiter zurück! Beobachte die Leute, schreib dir auf, wie sie gehen und dreinschauen. Aber versuch keinen anzusprechen, der im nächsten Augenblick tobsüchtig werden könnte."

"Deine Sorge ehrt mich, Trice. Aber ich habe vorgesorgt, eben weil wir ja schon davon geredet haben, dass ... Ui!!" erwiderte Millie. Im gleichen Moment klang aus dem Radiogerät ein unverkennbarer Schlag, der Brunos Frage abwürgte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Bruno ein wenig angeschlagen sagte: "Danke an Monsieur Lépin für diese eindeutige Auskunft zu seiner Stimmung."

"Hast du das auch mitbekommen, Trice?" gedankenfragte Millie. "Das wer Bruno einen Schlag versetzt hat? Ja, durften oder mussten wir alle mithören. Hat es ihn heftig erwischt?" "Er tut so, als wenn er das gut wegsteckt. Außerdem hat sich der alte Herr von Malthus Lépin damit erst recht als Ziel für Nachfragen angeboten. Aber ich muss mir von dem nicht auch noch eins einfangen. Gegen Zauber habe ich vorgesorgt. Aber gegen Faustschläge voll auf den Mund hilft meine Vorkehrung nichts."

"Mädels, bin ich froh, dass ich gerade nicht bei der Außentruppe sein muss und dass ich mit meinem Schreibkram bis zur Zehn-Uhr-Konferenz durch bin", hörte Béatrice Julius. "Jedenfalls danke für die Vorwarnung. Wenn um zehn Uhr schon wer von denen dabei ist weiß ich wenigstens, warum die Stimmung so mies ist."

"Die kramen wieder diese Behauptungen vom Miroir aus dem Gedächtnis, dass wir mehr Glück hatten als uns zusteht, Julius. Gerade disappariert dieser Monsieur Lepont, der was von zehn Jahren für nichts gearbeitet erzählt hat. Oha, und Monsieur Lépin darf sich mit zwei Ordnerinnen unterhalten, weil die das mit Bruno mitbekommen haben."

"Lepont? So'n gut genährter Zauberer?" fragte Julius. Millie bestätigte das. "Danke für die Vorwarnung. Der wird wohl gleich vom Leder ziehen, dass er wohl für nichts und wieder nichts gearbeitet hat."

"Gut, besser wir mentiloquieren nur noch, wenn es unbedingt nötig ist", schlug Béatrice vor. Millie und Julius waren einverstanden.

Ausnahmslos alle, die sich einer kurzen Befragung stellten, vermeldeten Verluste und dass sie diese bei der Handelsabteilung anzeigen würden. Gegen halb zwölf hatte Millie genug wütende Gesichter gesehen und mitbekommen, dass die Reporter aus Millemerveilles nicht so gut gelitten waren. Sie kehrte über die Verbindung aus ihrem Elternhaus und dem Sonnenblumenschloss zurück nach Millemerveilles. "Ich höre mir das lieber aus sicherer Entfernung an", sagte sie sichtlich erschöpft, obwohl sie beteuerte, die meiste Zeit in ihrem mitgenommenen Faltsessel gesessen zu haben.

"Dann können wir Julius auch in Ruhe arbeiten lassen", sagte Béatrice.

Bruno erwähnte, dass die Ordnerinnen damit beschäftigt waren, die bereits zurückgekehrten zum zügigen Verlassen des Vorplatzes zu bewegen, da sich unter den wartenden immer mehr Unmut breitmachte. Laute Anschuldigungen gegen die Kobolde wurden immer häufiger.

"Millie, Trice, ich habe den offiziellen Auftrag, nachher um drei mit dabei zu sein, wenn Apolline und Gabrielle nach Gringotts reingehen", gedankensprach Julius. "Nathalie und Demetrius sind der gleichen Meinung, dass ausnahmslos jeder Gringotts-Kunde Verluste gemacht hat. Ich habe denen erklärt, dass es meines Wissens nach keinen Erdzauber gibt, der einen Teil des Goldes verschwinden lässt und das so aussieht, als wäre nur weniger gleichmäßig verteilt. Ich komm zum essen zu euch, falls ich darf."

"Aber sicher darfst du", erwiderte Millie.

Kurz vor zwölf apparierte Julius im Apfelhaus. Das Radio lief immer noch. Béatrice war gerade unterwegs, Aurore und Chrysope vom Kindergarten abzuholen. Die beiden ersten Töchter von Millie und Julius freuten sich, ihre beiden Eltern zusammen zu sehen. Julius sagte Aurore, dass er nachher noch einmal fort müsse, um für das Ministerium was wichtiges herauszufinden.

"Onkel Bruno im Radiokasten", sagte Chrysope. Julius bejahte das. Millie fügte hinzu: "Ja, und der hat sehr viel anzuhören und auszuhalten. Dann stellte sie den Rundfunkempfänger auf den Musiksender um. Doch dort wetterte gerade Apollo Arbrenoir über Gringotts, dass die Kobolde offenbar nicht genug Zeit gehabt hatten, jedes Verlies komplett leerzuräumen und so nur die Hälfte hatten mitgehen lassen. Millie schnaubte und stellte das Zauberradio ganz aus.

"Damit haben wir es gewissermaßen amtlich, dass hier was nicht stimmt", mentiloquierte Julius. "Denn das wäre zu blöd von den Kobolden, sich beim massenweisen Diebstahl erwischen zu lassen, wo das absolut anders gelaufen wäre."

"Ja, auf jedenFall, Julius. Aber wie es gelaufen ist wissen wir damit nicht und können es deshalb auch nicht rausposaunen", erwiderte Millie ebenfalls nur für ihn und Béatrice hörbar. Dann beschäftigten sie sich mit dem Mittagessenund den beiden Kindern. Millie würde jetzt nicht mehr nach Gringotts zurückkehren. Sie hatte ihre Story, glaubte sie.

Als Julius sich noch einmal von seinen drei Töchtern verabschiedet hatte und in einer Außendienstbekleidung des Ministeriums disapparierte steckte Catherine ihren Kopf aus dem Kamin. "Hallo ihr beiden. Millie, ist gut, dass du wieder in Millemerveilles bist. Leute wollen von sich aus nach Gringotts rein und auf eigene Faust ihre Verliese prüfen. Die meinen wohl, die Kobolde hätten sie alle bestohlen."

"Musst du nicht heute auch noch dahin?" fragte Millie. "Nein, ich habe eine Verliesnummer über 1600. Aber ich denke, ich werde auch nicht mehr alles finden, was da vor Weihnachten noch drin war. Ich habe die Kobolde immer für durchtriebenund habgierig gehalten, aber auf keinen Fall für dumm. Das wäre es nämlich, ganz offensichtlich eine Menge Gold aus fremden Verliesen zu entwenden, dass es wirklich jedem auffällt. Also hat es entweder doch mit den Erdzaubern zu tun wie in den USA, wo das Gold zerstäubt wurde, oder wie in Australien, wo Gringotts komplett zerstört wurde.

"Du weißt, dass Julius sich auf Erdzauber spezialisiert hatt", setzte Millie an. "Der hat erwähnt, dass er keinen Erdzauber kennt, der Gold am Stück verschwinden lässt, aber es danach so aussieht, als wäre es ordentlich abtransportiert worden. Die wollen das den Kobolden anhängen."

"Wer die?" fragte Catherine so, als wisse sie bereits die Antwort. "Colbert und Beaubois womöglich. Denen geht es darum, das Goldverwahr- und Wertbestimmungsrecht der Kobolde abzuschaffen. Aber ich kann das leider nicht belegen. Ich weiß nur, dass es immer so abgeht, dass erst der zugeteilte Prüfer in ein Verlies reingeht, da dreißig Sekunden alleine ist, während die Kunden zwei Schritte von der Tür entfernt stehenbleiben müssen. Da wirkt dieser Neiderwehrschleier von den Kobolden, der Wasser aus der tiefen Erde ansaugt, vor der Tür zum Vorhang macht und nach oben wieder wegpumpt, wenn ich da nichts unrichtiges erfahren habe. Erst dann dürfen die Kunden ins Verlies rein und sehen, was sie vorfinden."

"Interessant. Hast du noch was dabei rausgekriegt, Millie?" fragte Catherine. "Ja, Bruno hat einen gefragt, der ein wenig mehr rausrücken wollte. Der zugeteilte Prüfer zückt gleich nach Aufschließen des Verlieses eine Silberfeder und ein blaues Notizbuch, um sich was aufzuschreiben, bevor er reingeht. Was eine Silberfeder soll weiß ich nicht."

"Es gibt Schreibfedern, die können Schrift unsichtbar werden lassen, sobald sie auf Pergament geschrieben wurde und solche, die Buchstaben bei Nacht leuchten lassen, wenn keine weitere Lichtquelle verfügbar ist oder zu viel Licht jemanden verraten könnte. Die für beide Arten sind mit silbernen Griffen versehen, weil Silber mit dem Mond verbunden ist."

"Ah, das könnte es sein", sagte Millie. "Öhm, darf ich dich als kompetente Quelle angeben, wenn ich das erwähnen sollte?"

"Besser nicht, Millie. Weil solche Federn werden nur an Leute mit geheimen Aufträgen ausgegeben, deren Notizen oder Dokumente nicht jeder mitlesen darf. Also sollte das auch nicht jeder wissen."

"Dann dürfen die aber nicht mit sowas rumprotzen, Catherine", erwiderte Millie darauf. Das erkannte Catherine an. "Dann stelle es so dar, dass du nur vermutest, dass damit besondere Schriften geschrieben werden könnten, wenngleich ich mich frage, wozu das gut sein soll, dass die Prüfer was in Geheimschrift notieren oder das nur bei Nacht gelesen werden soll."

"Stimmt, das ist wieder eine Frage mehr. Ich höre Freie Zaubererwelt weiter mit. Bruno ist sicher noch vor Ort. Julius will wegen den Veelastämmigen bereitstehen, falls die ihn brauchen."

"Oh, Veelas und Kobolde sind nicht so gut aufeinander zu sprechen", raunte Catherines Kopf. "Hoffentlich geht das gut aus."

"Das hoffe ich auch. Ich will Julius nachher zurückhaben. Der soll mitkriegen, wie alle seine Kinder groß werden."

"Klar, verstehe ich", erwiderte Catherines Kopf. Dann verabschiedete sich die Tochter Madame Faucons. Mit leisem Plopp verschwand ihr Kopf wieder aus dem Kamin.

"Gut, dass ich gerade in meinem Sprechzimmer war", sagte Béatrice, als Millie ihr von Catherines Kontaktfeuerbesuch erzählte. "Ich kann ja nicht dauernd im Verhüllungs-Unterzeug herumlaufen", fügte die Heilerin aus der Latierrefamilie noch hinzu.

"Hier im Haus nicht unbedingt. Stimmt, wir sollten aufpassen wegen Kontaktfeueranrufen", sagte Millie.

Sie schaltete um drei Uhr das Radio wieder an. Bruno wirkte bereits sichtlich abgekämpft und das hoffentlich nicht wortwörtlich.

"Gerade ist das Ehepaar Delacour eingetroffen. Die Eltern der trimagischen Championette von 1994-1995 haben offenbar auch ein Verlies hier. Deshalb ist auch der offizielle Menschen-Veelastämmigen-Beauftragte des Zaubereiministeriums hier bei uns, Monsieur Julius Latierre. Erwarten Sie nach allem, was hier den ganzen Tag bekannt wurde zusätzliche Schwierigkeiten?"

"Das will ich im Moment nicht klar bestätigen oder verneinen, Monsieur Dusoleil. Ich empfinde mich im Moment wie ein Feuerwehrzauberer, der bei einem großen Feuerwerk dabei ist und darauf hofft, dass kein Brand ausbricht, aber bereitsteht, falls doch, wenn Sie und Ihre Hörerinnen und Hörer dieses Bild verstehen."

"O ja, das ist sehr klar zu verstehen, Monsieur Latierre. Gehen wir mal vom schlimmsten Fall aus. Was könnenund was dürfen Sie dann unternehmen?"

"Der Schlimmste fall wäre eine magische Schlacht zwischen Veelastämmigen und Kobolden innerhalb von Gringotts. Ich fürchte, da werde ich dann wohl nicht schnell genug hinkommen, um noch schlichtend einzugreifen. Ich weiß jedoch, dass Madame Delacour eine sehr vernünftige Frau ist, die kein magisches Handgemenge provozieren wird, schon gar nicht da, wo die Kobolde Hausrecht haben und genug Vorkehrungen für den Eigenschutz getroffen haben. Das gilt auch für Madame Marceau, die gerade mit ihrem Ehemann eintrifft. Ah, sie möchte mich sprechen. Noch einen hoffentlich friedlichen Tagesausklang!" hörten Béatrice und Millie Julius' Stimme aus dem Radio.

"Sie hörten Monsieur Julius Latierre, derzeitig als Mitarbeiter in der Behörde für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Zauberkräfte, aber auch weiterhin Menschen-Veelastämmigen-Beauftragter. Ich versuche mal, mitzubekommen ... Nein, ich soll Abstand halten", kommentierte Bruno ein wenig verdrossen. Offenbar hatten Gabrielle und/oder Julius ihm deutlich gemacht, kein Interview zu geben.

"Na, Millie, wann wird er heute nach Hause kommen?" fragte Béatrice. "Erst dann, wenn er weiß, dass ihn keiner benötigt", grummelte Millie zur Antwort. Ihr war anzusehen, dass sie sich Sorgen machte. Denn was Julius da über eine Zauberschlacht in Gringotts erwähnt hatte klang schon sehr drastisch. Sie erinnerte sich an die Berichte über Harry Potter und seine Freunde, die am Vortag der Schlacht von Hogwarts in das Londoner Gringottsgebäude eingedrungen waren, um dort etwas zu entwenden und dann auf dem Rücken eines der Wachdrachen entkommen waren. Die Kobolde hatten den dreien nach der Schlacht verziehen, weil sie ja mitgeholfen hatten, dass der dunkle Zauberer mit dem unaussprechlichen Namen endgültig entmachtet wurde.

Was Gabrielle anging dachte sie an deren erste Tochter Cécilie, die wohl gerade bei einer ihrer Tanten war, die heute nicht nach Gringotts durften.

Bruno erwähnte was, dass Pierre Marceau die Ordnerinnen und Prüfer so ansah, als müsse er sie sich ganz genau einprägen. Gut, der war sicher nach den bereits bekannt gewordenen Meldungen auf der Hut, bloß nichts zu übersehen. Dann durften auch die Marceaus zusammen mit den Flauberts in das Gringottsgebäude.

"Jetzt sind noch zweihundert Personen hier, die darauf warten, eingelassen zu werden, also noch fünfzig Gruppen, die zu bilden sind. Somit dürfte die letzte Gruppe gegen fünf Uhr durch das Tor der Entscheidung oder der Enttäuschung hineingehen und wohl gegen sieben Uhr abends wieder herauskommen, gerade rechtzeitig, um zum Abendessen zu kommen", textete Bruno.

"Eh, Dusoleil, quatsch nicht so'n Drachenmist in deine Wortspucktüte!" hörten die Latierres die höchst ungehaltene Stimme eines noch jungen Mannes rufen. "Ja, dieser wortgewandte Kommentar stammt von meinem langjährigen Haus-, Klassen- und Quidditchkameraden Monsieur Hannibal Platini, dem ersten Hüter der Elsässer Adler. Ja, was machen Sie denn hier im Revier der Pelikane, Monsieur Platini?"

"Geht dich und dein Dorfpublikum zwar nichts an, aber bevor's noch von der Monde des Sorcières falsch dargestellt wird, ich begleite meine alleinstehende Tante, um sicherzustellen, dass ihr keiner dummkommt. So, mehr kriegste nich'."

"Danke für die Auskunft und Ihnen hoffentlich einen erfreulichen Tagesausklang."

"Geh zu deiner blonden Blubberkesselbändigerin und lass uns hier besser in Ruhe!" knurrte Hannibal Platini. Béatrice stupste Millie an und meinte: "Höre ich das nur oder klingt dein ehemaliger Hauskamerad so, als habe er schon vor Sonnenuntergang Zwiesprache mit dem Weingeist gehalten."

"Klingt nicht nur für dich so, Trice. Der konnte bei den Siegesfeiern gut bechern, hatte sich dann auch meistens mit Bruno und Tine, dass er mehr geschluckt hat als gut für ihn war. Aber er hat's immer wieder hinbekommen, am Morgen danach ganz nüchtern zu sein und hat auch nie raushängen lassen, ob er sich einen Kater oder eine ganze Armee Zwerge unter die Schädeldecke gesoffen hat."

"Ja, und als Hüter sollte er eigentlich immer nüchtern sein", meinte Béatrice. Aber ich bin ja nicht dessen Heilerin. Aber dann sollte er zumindest aufpassen, nicht in aller Öffentlichkeit als Betrunkener aufzufallen, der andere Leute anpöbelt oder gar beleidigt."

"Och, falls Jeanne das jetzt gehört hat steckt die das locker weg, weil die weiß, von wem's kommt und wir alle auch nicht genau wissen, was Hanibal gerade so umtreibt, dass er derartig viel in sich reinschüttet."

"Hört ihr noch Radio?" mentiloquierte Julius. Millie schickte zurück, dass sie sowohl seine kurze Ansage als auch Hannibals peinlichen Auftritt mitgehört hatten. "ich bin froh, dass ich da gerade bei Gabrielle und Pierre war. Hannibal schwankt wie ein Seemann auf sturmgebeuteltem Schiff. Dabei sieht die Dame, die er begleitet nicht so aus, als müsste er die sich schön trinken, eher so, als hätte sie einiges Gold auf dem Konto."

"Angeblich ist das seine Tante", erwiderte Millie. "Ui, dann halt ich mich da besser mal geschlossen", schickte Julius zurück.

"Wie sieht die aus, Julius?" fragte Béatrice. Er beschrieb ihr die sehr vornehm gekleidete Hexe und ihren nachtschwarzen Schopf, der mit einer goldenen Spange auf Nackenhöhe zusammengehalten wurde. "Dann ist es seine Tante Sophie, die ältere Schwester seines Vaters und nach dem Tod der Eltern die Haupterbin des elterlichen Vermögens, solange sie es schafft, kinderlos zu bleiben, weil sonst die Kinder ihren Anteil bekommen sollen, sagt Maman. Sie ist eine Matriarchin, die selbst nie Mutter wurde, hat Maman auch gesagt, mit sehr großem Mitleid in der Stimme."

"Dann darf sich die Monde des Sorcières drüber auslassen", fügte Millie hinzu.

Es war so gegen vier Uhr nachmittags. Millie beschäftigte sich gerade mit den beiden älteren Mädchen, als Bruno immer aufgeregter vermeldete: "Die Delacours verlassen soeben in gewisser Eile das Gringottsgebäude. Ihr zugeteilter Prüfer ist nicht bei ihnen. Die hier draußen aufpassenden Beamtinnen eilen zu ihnen hin. Doch irgendwas macht, dass sie langsamer werden. Monsieur Delacour sieht verdrossen aus, seine überragend schöne Frau sehr kampfeslustig, nicht so, als hätten sie gerade ein halbleeres Verlies besichtigt, sondern als hätten sie da unten mit wem kämpfen müssen und seien nun auf der Flucht. Madame Delacour breitet ihre Arme aus und ... Irgendwas ... irgendwas ist anders ... Wau, wunderschön klingt das!"

Béatrice hörte erst, dass Bruno immer weltentrückter und langsamer sprach, bis er ganz verstummte. Dann hörte sie aus dem Radio merkwürdige metallisch quietschende Töne und ein regelmäßiges Prasseln, als würde der Schallansauger immer wieder in ein Feuer gehalten und wieder zurückgezogen. Irgendwas lief da. Sie versuchte Julius anzumentiloquieren, bekam jedoch nicht den üblichen Nachhall einer erfolgreich abgesetzten Gedankenbotschaft. Das Prasseln und Quietschen war für eine halbe Minute das einzige Geräusch. Dann wurde es übergangslos völlig still.

"Was ist mit Julius, Tante Trice?" gedankenfragte Millie. "Offenbar hat Apolline Delacour mit ihrer Stimme einen Zauber gewirkt, den der Schallansauger nicht störungsfrei übermitteln konnte. Jetzt ist es völlig Rruhig im Radio", schickte Béatrice zurück.

"Ich habe die Mädchen auf dem Besen und bin zu Jeanne unterwegs, weil Aurore und Chrysope mit Viviane und Janine spielen wollen."

"Ist Jeanne zu Hause?" fragte Béatrice. "Ja, sie ist zu Hause", bestätigte Millie. "Bleib bitte am Radio. Sobald ich die beiden da abgeladen habe komm ich zurück."

"Ja, aber nicht zu schnell fliegen, Millie", schickte Béatrice zurück.

Das Radio schwieg noch eine halbe Minute. Dann erklang Apollines Stimme laut und glockenrein: "Ann Sie alle, die jetzt hier warten oder wachen und an alle, die vielleicht über Radio zuhören. "Mein Mann und ich mussten sehr eilig aus dem Gebäude heraus, nachdem wir eine Ungeheuerlichkeit entdeckt haben. Sie und wir alle sind Opfer eines ganz gemeinen Täuschungsversuches geworden. Jemand wollte Ihnen und uns vormachen, dass Gold verschwunden ist. Doch das ist eine Lüge. Der uns zugeteilte Prüfer Duchamp hat in der Zeit vor unserem Zutritt etwas gemacht, dass einen Gutteil unserer Ersparnisse mit einem Verhüllungszauber umgab, der etwas nicht nur unsichtbar, sondern auch ungreifbar macht. Zumindest gilt das für gewöhnliche Menschen. Wegen meiner besonderen Abstammung konnte ich jedoch die versteckten Sachen als nebelhafte flimmernde Flecken sehen und trotzdem diese vor meiner Hand immer wieder zurückgewichen sind bei ganz gezieltem Wunsch, einen bestimmten Beutel zu ergreifen, diesen aus dem Zauber herausziehen, einer Art Verbergeblase. Das gelang mir dann auch bei drei weiteren Sachen. Der Prüfer, Monsieur Duchamp aus der Handelsabteilung, hat versucht, mich mit einem Erstarrungszauber aufzuhalten und sogar einen Schockzauber versucht. Doch den konnte ich wegen meiner inneren Abwehrbereitschaft von mit ablenken. Dieser Zauber ist kein Koboldzauber, weil die immer so zaubern müssen, dass was aus der Erde mitwirkt. Der Versteckzauber ist eine Verbindung aus Wind-, Feuer- und Mondzauberkraft und wohl deshalb nur da möglich, wo keine Sonne hinscheint. Da ich gerade kein Vertrauen zu Ihnen vom Ministerium haben kann werde ich meinen Bann des friedlichen Verharrens erst wieder von Ihnen lösen, wenn meine Tochter und ihr Mann aus Gringotts heraus sind. Die Kobolde sind übrigens gerade dabei, unser Verlies mit ihren eigenen Illusionsdurchdringungshilfen zu prüfen, jetzt wo es offensichtlich ist, dass auch sie getäuscht wurden. Solange bleiben wir hier. Dann werden wir uns zurückziehen und beraten, wie wir mit diesem Betrugsversuch umgehen können."

Es ploppte im Radio. Offenbar apparierten gerade andere Hexen und Zauberer. Doch wieder gab es ein lautes Quietschen und Prasseln. Dann wieder Stille. "Ich werde die Damen und Herren, die gerade appariert sind auch freigeben, wenn meine Tochter und mein Schwiegersohn das Haus der Kobolde verlassen haben. Weiteres dann, wenn wir mit dem ministeriumseigenen Veelastämmigenbeauftragten gesprochen haben werden. Ich bitte für meine ungestüme Beeinträchtigung Ihrer Bewegungsfreiheit um Entschuldigung. Doch ich muss meinen Mann und mich gegen magische Angriffe schützen."

Béatrice lauschte weiter auf das Radio. Doch über Minuten hinweg war nichs zu hören. Das war unheimlicher als die unglaubliche Enthüllung, die Madame Delacour gerade ausgesprochen hatte. Die Heilerin wusste, dass Veelas und ihre Nachkommen starke Zauberkräfte hatten, die sie auch ohne Zauberstäbe einsetzen konnten. Deshalb war Ladonna Montefiori auch so gefährlich. Doch dass sie mal eben eine ganze Einsatztruppe Ministeriumszauberer bannen konnte war ihr noch nicht bekannt.

Die Stille aus dem Radio drohte unerträglich zu werden. Da hörte Béatrice schnelle Schritte und das aufgebrachte Schnattern von Koboldstimmen. "Alle raus hier! Alle raus hier!" zeterten die Gringotts-Mitarbeiter. Dann hörte Béatrice Apolline rufen: "Gabrielle, Pierre, zu uns hin!" Danach klangen nur aufgeregte Stimmen und alle zwei Sekunden ein Geräusch wie das Blöken eines wütenden Schafsbockes in einer großen Lagerhalle. Dann erfolgte wieder ein erst reiner Ton, der in ein metallisches Quietschen überging und mit einem starken Prasseln durchsetzt wurde. Dann kamen nur aufgeregte Stimmen von Menschen und die immer noch aufgebrachten "Alle raus!"-Rufe der Kobolde durch.

"Ui, was war das heftig", erklang nun Brunos Stimme, so als wache er gerade auf. Messieursdames, ich weiß nicht, ob Sie das alles mitbekommen haben. Hier auf dem Platz sind gerade zwanzig Zauberer in der Bekleidung der Strafverfolgungsabteilung und müssen auch erst mal wieder klarwerden. Wir waren alle von einem Bannzauber der Veelas gelähmt, konnten aber noch alles deutlich verstehen. Als die Tochter von Madame Delacour mit ihrem Mann an der Hand herauskam waren auch andere Hexen und Zauberer hinter ihnen her. Und immer noch kommen Leute aus Gringotts heraus. Die Kobolde lassen keinen mehr rein. Gabrielle und Pierre Marceau, Tochter und Schwiegersohn von Madame Delacour, haben dem hier anwesenden Veelabeauftragten eine silberne Schreibfeder ausgehändigt. Pierre sah so aus, als könnte er seine Mutter nicht lange ansehen, als strahle sie so hell wie die Mittagssonne. Ja, und dann hat Madame Delacour den Bann mit ihrer überragend schönen Stimme aufgehoben und die Zeit genutzt, mit ihrem Mann, ihrer Tochter, deren Mann und Julius Latierre vom Vorplatz zu disapparieren. Da kommt gerade einer von der Strafverfolgung an. "Hallo, Monsieur ..."

"WendenSie sich an Ihren Herrn Erzeuger, Monsieur Dusoleil", hörte Béatrice ein Blaffen. Dann erklang das immer hektischere Durcheinanderreden vieler Leute.

"Millie, Trice, es hat doch Ärger gegeben. Bin jetzt mit den Delacours und Marceaus bei Létos Wohnstatt. Ich komme wieder, wenn ich weiß, was los ist. Unglaublich!" mentiloquierte Julius.

"Julius, was war los?" wollte Millie wissen.

"Später, wenn ich genug weiß, um zu sagen, was davon in die Zeitung darf oder nicht", schickte Julius zurück.

Béatrice hörte weiter Radio. Offenbar trieben die Kobolde alle Menschen aus Gringotts heraus. Dann rief einer von denen was in der Koboldsprache. Dann erklangen vier scheppernde Gongschläge und das unmissverständliche Geräusch zuschlagender Torflügel. "Was soll der Quatsch? Wir wollen unsere Verliese ansehen, eh!" rief einer. "Irgendwer hat was angestellt", zeterte eine andere Stimme. Dann krachte es laut. Stille trat ein. "Messieursdames, es gab einen Zwischenfall mit zwei Kundinnen, die wohl meinten, das Ministerium des gemeinschaftlichen Betruges bezichtigen zu können. Dieser unerhörte Vorwurf wird jetzt von uns und den Kobolden überprüft", sagte eine befehlsgewohnte Frauenstimme. Dann erklang eine ebenso strenge Männerstimme: "Falls an den erhobenen Vorwürfen etwas dran ist wird das Folgen haben. Falls nicht wird sich nur eine zu verantworten haben."

Da erklang noch eine Frauenstimme, bei der alle unvermittelt schwiegen. "Messieursdames, ich habe Monsieur Chevaillier und seinen Stab beauftragt diesen Vorfall und die von Madame Delacour erhobenen Vorwürfe überprüfen zu lassen. Da sie offenbar der Meinung ist, das ganze Ministerium gegen sich zu haben wird sie wohl erst mit dem Veelabeauftragten sprechen. Ich werde diesem unverzüglich mitteilen, dass er Madame Delacour dazu bringen muss, mit Monsieur Chevallier und den Herren Beaubois und Colbert zu sprechen. Ich versichere Ihnen allen, dass das Zaubereiministerium diesen Zwischenfall aufklären wird."

"Was gibs'n da aufzuklär'n, Minis'erin Ventvit. Die BlödenKlobolde haben uns alle voll verarscht und sin' erwischt wor'n", lallte Hannibal Platini. Béatrice konnte nur mit dem Kopf schütteln und denken, dass auch andere gerade unangenehm von dieser Ansprache berührt wurden. "Diese Drachenfürze ham' uns einfach rausgeschm-missen."

"Monsieur Platini, falls Sie wert darauf legen, weiterhin Karriere im Quidditch zu machen sollten Sie besser jetzt nach Hause gehen und sich von dem Tag erholen", sagte die Zaubereiministerin. Béatrice musste grinsen. Da zeterte eine ältere Frauenstimme: "Ja, Hanni, du erregst gerade sehr viel Ungemach. Komm mit!"

"Ta-tantchen, das will's du dir doch nich' bied'n lassen", lallte Hannibal. Dann krachte es laut. "Nun, ich gehe davon aus, dass wir alle, die wir noch hier sind, mit dem gebotenen nüchternen Verstand herausfinden, was genau vorfiel und wer dafür wahrhaftig verantwortlich ist", sagte die Ministerin. "Bitte kehren Sie nun alle dorthin zurück, wo sie wohnen! Wir werden mitteilen, wann eine neue Prüfung stattfinden kann."

"Die Ministerin für Zauberei und magische Vorkommnisse und Wesen, Mademoiselle Ventvit, verlässt nun mit ihren drei Personenschützern den Vorplatz. Die Tore sind wieder zu. Die Menge beginnt sich zu zerstreuen. Ich versuche noch ein paar Stimmen einzufangen, was von dem ganzen zu halten ist", sprach Bruno.

Millie betrat die Wohnküche. Sie keuchte angestrengt. "Ich hoffe, du bist nicht appariert", sagte Béatrice. "Neh, nicht mit dem Überhang oben und unten, Mademoiselle Heilerin. Da kannst du dich drauf verlassen. Was ist passiert?" Béatrice erzählte ihrer Nichte alles, was sie mithören konnte. "Ja, hat Julius gesagt, dass man sich mit Veelastämmigen nicht ohne Grund anlegen soll. Aber das mit dem Verbergezauber ist ein starkes Stück. Hat die echt was von Feuer- und Mondzaubern gesagt?"

"Das war zumindest das, was ich verstanden habe, Mildrid. "Jeanne hatte auch Radio an. Sie meint, wir sehen Julius wohl erst nach dem Abendessen wieder, wenn sie ihn nicht gleich wegen Beihilfe drankriegen."

"Das hoffe ich mal nicht", erwiderte Béatrice.

Es läutete an der Tür. Unten stand Hera. Diese wollte wissen, was die beiden Hausbewohnerinnen von Julius mitbekommen hatten. Als sie erkannte, dass es den beiden Patientinnen und deren ungeborenen Kindern soweit gut ging verließ sie das Apfelhaus wieder.

Gegen alle Befürchtungen kehrte Julius um halb sieben wieder zurück. "Apolline und Gabrielle hatten ein langes Gespräch mit Monsieur Chevallier. Pygmalion und Pierre waren Zeugen. Brunos alter Herr hat Apolline wegen der Bannzauberei gegen Beamte eine Geldstrafe angekündigt, weil die von ihr erhobenen Anschuldigungen bewiesen werden konnten."

"Konnten, also schon geklärt wurden?" fragte Millie. Julius nickte und berichtete nun ausführlich.

"Pierre hat dem zugeteilten Prüfer die silberne Feder abgeluchst, nachdem Gabrielle wie ihre Mutter einige der versteckten Lederbeutel aus ihren Verhüllungsblasen gezogen hat. Brunos alter Herr hat diese Feder sofort als Ausstreicher erkannt, ein Zauberwerkzeug aus deutscher Herstellung, wohl noch von einem gewissen Hagen Wallenkron entwickelt. Das Ministerium hatte damals in geheimen Tauschverhandlungen genau zweihundert solcher Federn erhalten, um sie einerseits bei Vorfällen in der nichtmagischen Welt einzusetzen und zweitens einen Gegenzauber hinzukriegen. Dieser Ausstreicher macht alles, was in einer kugelzone von einem Meter Durchmesser ist unsichtbar und für Lebewesen unberührbar. Allerdings werden die Blasen von der Erdoberfläche abgestoßen, so dass sie nicht im Boden verschwinden können. Was außerhalb davon ist rutscht nach und durchdringt sozusagen den Raum, in dem der versteckte Gegenstand sein müsste. Das ist echt wie bei einer Star-Trek-Folge, die Pierre auch kannte. Sagen wir es so, Mit der Aura einer Veelastämmigen, die sich aus mehreren Naturelementarkräften zugleich stärkt, hat der Erfinder nicht gerechnet", grummelte Julius.

"Öhm, und wieso konnte Apolline die versteckten Sachen sehen?" wollte Béatrice wissen. "Nicht nur Apolline, sondern auch ihr Mann, Gabrielle und Pierre konnten das sehen. Die Veelastämmigen konnten die versteckten Sachen als magisch leuchtende Dunstflecken sehen, die mit sichtbaren Sachen verschmolzen oder für sich alleine gewesen sind. Pygmalion ist ja, wie du, Millie, bei der Goldfischglassache mitbekommen durftest, vierfarbsichtig und konnte verwaschene Unterschiede auf den Wänden und dem Boden erkennen, aber nicht, was es genau war. tja, und Pierre, das musste er bei Chevallier und der dabei sitzenden Ministerin auf den Tisch packen, ist ein Auravisor. Überraschung! Überraschung! Der kann nicht nur die für ihn verschiedenfarbigen Auren von Lebewesen sehen, sondern auch die Auren dauerhaft wirkender Zauber, wenngleich er offenbar noch nicht gelernt hat, wie er die einordnen kann. Dem ist bei dem Prüfer eine über die Lebensaura hinausreichende Ausstrahlung aufgefallen. Als er dann die Feder gezückt hat hat die für ihn gestrahlt wie ein silber-blaues Licht. Ja, und in dem Licht hat er tatsächlich kompakte, einen Meter durchmessende Kugeln gesehen, die da waren, wo eigentlich die abgelegten Goldbeutel oder Wertgegenstände sein sollten. Das hat er dem Prüfer aber nicht gesagt, sondern nur Gabrielle. Die hat dann dieselbe Nummer gebracht wie ihre Mutter und hat gezielt nach den versteckten Gegenständen gegriffen. Apolline erzählte mir das so, dass sie einfach einen bestimmten Gegenstand greifen wollte und ihn dann auch zu fassen bekommen hat. Tja, und wie bei ihr hat auch bei Gabrielle der Prüfer versucht, sie mit Erstarrungszaubern zu bannen und bekam dafür einen stimmlichen Fesselzauber übergebraten. Der dabeistehende Kobold hat sich zwar heftigst geschüttelt und seine Ohren zugehalten, sagte Pierre. Aber dann hat der erkannt, was da gerade ablief. Deshalb wurden wohl alle bis auf die beiden gebannten Prüfer aus dem Gebäude rausgejagt. Apolline erwähnte was, dass die Kobolde was hätten, um durch Verhüllungen zu blicken, was sie aber sonst nur oben in der Schalterhalle benutzen, um zu klären, ob jemand echt ist."

"Gut, bevor wir weiterreden, Julius: Auf welcher Geheimhaltungsstufe ist das jetzt eingeordnet?"

"Im Moment auf S9, weil Chevallier nicht will, dass so schnell rauskommt, dass es solche Zauberwerkzeuge gibt. Außerdem will er nicht, dass Leute gewarnt werden, die mit drinhängen. Obwohl, als Chevallier Villeneuve dazugerufen hat und dem den Ausstreicher vorgeführt hat ist der kreidebleich geworden wie ein Vampir. Damit stand fest, dass er davon gewusst haben oder es sogar angeleiert haben muss. Tja, der kann auch nicht als Geheimagent anfangen", sagte Julius.

"Ausstreicher", grummelte Béatrice. "Ja, gibt es einen geheimen Bericht in unserer Schattenbibliothek. Dieses Gerät wurde nicht von Hagen Wallenkron erfunden, der meinte, Tom Riddle beerben zu müssen, sondern von zwei Brüdern von der Insel Feensand, die vor zehn Jahren bei einem anderen Experiment starben. Die haben auch Versuche an lebenden Wesen angestellt. Tiere und Pflanzen kleiner als ein meter verschwanden zwar in diesen Blasen, erstarrten jedoch und gefroren innerhalb von vier Sekunden vollständig zu eis. Bei Menschen und anderen Wesen ggrößer als einen Meter kam es zu multiplem Organversagen und zur Zerstörung des entsprechenden Artefaktes. Deshalb kennen wir Heiler dieses auch als Verschwindefeder bezeichnete Zaubergerät. Ja, und was Apolline sagte stimmt auch, dass dieses Mittel nur dort dauerhaft wirkt, wo kein Sonnenlicht hinfällt."

"Ja, dann ist klar, warum das nur ganz ganz wenige Leute haben können. Wenn rauskommt, dass dieses Ding aus Ministeriumsbeständen stammt schlägt die ganze Antikoboldstimmung von heute morgen gegen das Ministerium um. Deshalb, Millie, ist es vielleicht günstiger, wenn du erst einmal nur schreibst, dass es einen Skandal bei der Prüfung gab und das Ministerium ihn aufklärt, weil es zu verdächtig war, dass allen Geprüften Gold abhanden kam", schlug Julius vor.

"Verstehe, diese Feder ist ja schon geheim genug. Aber wieso haben die Prüfer die gleich beim Aufschließen freigezogen?" wollte Millie wissen.

"Weil sie wohl jenen Zauberfedern ähnelt, mit denen unsichtbare Schrift oder bei Nacht leuchtende Schrift auf Pergament gebracht werden kann", erwiderte Béatrice und berichtete von Catherines kurzem Kontaktfeuergespräch.

"Gut, dann texte ich für morgen nur, dass es bei der Wiedereröffnung zu einer Reihe angeblicher Verluste kam und erst eine Veelastämmige eine Andeutung machte, woran dies gelegen haben könnte, aber aus dem Ministerium bis zum Redaktionsschluss nichts berichtet wurde. Darf ich das so schreiben?"

"Denk nur daran, dass ich den vollen Ärger kriege, wenn du auch nur andeutest, wie die das getrickst haben", sagte Julius. Millie begriff es und Béatrice ebenso. Alle drei dachten, dass sie sich gerade zu Mitwissern einer großen Verschwörung gemacht hatten. Deshalb fragte Béatrice: "Wer da auch immer mit drinhängt, Julius könnte auf die Idee kommen, dass du mehr weißt als du wissen darfst. Wenn der oder die im Ministerium zu finden ist bist du da im Augenblick nicht mehr sicher genug."

"Hallo Mademoiselle Ventvit, wollten Sie mal wissen, wie es sich anfühlt, schwanger zu sein", flötete Julius in Béatrices Richtung. Diese verzog ihr Gesicht. Julius lächelte beschwichtigend und sagte: "Das hat die nämlich genauso gesagt. Deshalb wurde mir als Veelastämmigenbeauftragter der Geheimauftrag erteilt, in der Abgeschiedenheit von Millemerveilles bis zum nur von ihr, Monsieur Chevallier oder Madame Grandchapeau, Nathalie ergehenden Aufruf Recherchen über die besonderen Abwehrzauber der Veelas anzustellen. Will sagen, sie hat mich bis auf weiteres von meinem Arbeitsplatz fortbefohlen. Nathalie war sofort damit einverstanden. Du, Millie, darfst in ihrem Namen verlautbaren, dass du von mir erfahren hast, dass Apolline Delacour und Madame Gabrielle Marceau mit ihren Ehepartnern bis auf weiteres in einem sicheren Haus für wichtige Zeugen untergebracht werden, wo sie bis zu einer möglichen Hauptverhandlung weiterleben sollen. Mehr brauchst du auch nicht für diese Supergeschichte."

"Schon heftig genug", grummelte Millie. "Da wollten die doch echt alle Kunden verladen und das so drehen, als hätten die Kobolde sie beklaut oder einer der Erdzauber hätte ihr Gold aufgefressen. Wem bringt das was?"

"Da darfst du jetzt alleine mal drüber nachdenken, geliebte Ehefrau", sagte Julius. Béatrice grinste. Dann fand sie, dass zur allgemeinen Gesunderhaltung jetzt mal das Abendessen stattfinden sollte. Millie und Julius waren da ganz ihrer Meinung.

Als Aurore, Chrysope und Clarimonde endlich schliefen saßen die drei erwachsenen Hausbewohner noch in der Wohnküche und besprachen, wie es weitergehen würde. Da trötete der Pappostillon, den Béatrice aufgehängt hatte. Sie alle lasen zeitgleich die Nachricht, die wohl an alle Namensträger der Latierre-Familie ergangen war.

Freudige Nachricht!
Wir, Martine und Alon Latierre, verkünden euch allen, dass wir um acht Uhr Abends zwei neue Mitbewohnerinnen dazubekommen haben.
Nach langer und sehr anstrengender Reise kamen erst Giselle und dann Odette zu uns ins Haus.
Ich, Alon, freue mich, dass meine Frau es gut überstanden hat.
Sie hat zwar immer wieder geschimpft, nie wieder ein Kind haben zu wollen.
Doch als die kleine Odette endlich auch aus ihrem prallen Schoß heraus war war sie richtig glücklich.
Die genauen Angaben bekommt ihr dann per Eulenpost.
Es grüßen euch ein heftig verschwitzter junger Vater und eine völlig ausgelaugte junge Mutter.

"Giselle und Odette?" fragte Julius, der erst mal abwarten musste, wie seine Frau diese Nachricht aufnahm. Béatrice sagte: "Giselle aus dem gleichnamigen Ballettstück nach Vorgaben von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier und der Musik von Adolphe Adam. Odette ist eine Figur aus dem Ballett Schwanensee mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Offenbar meint meine größere Nichte, dass sie die letzten Wochen zwei künftige Ballerinen in ihrem fruchtbaren Leibe herangetragen hat."

"Giselle, wie Madame Nurieve?" fragte Millie. Julius grinste. Er erinnerte sich auch, dass der Kastellan vom Château Trois Étoiles bei Veelas an dieses Ballettstück gedacht hatte und Léto das auch kannte. "Möchtest du deiner großen Schwester eine Antwort schicken?" fragte Julius. Millie grinste von einem Ohr zum anderen und setzte die Idee sofort um.

"Hallo Tine!
Herzlichen Glückwunsch zu dieser großartigen Leistung.
Jetzt bist du mir was das angeht einige Wochen voraus.
Aber wart's ab!
Bald habe ich dich wieder eingeholtund überholt.
Alon, jetzt hast auch du drei Prinzessinnen in deinem herrschaftlichen Haus.
Sei bitte immer nur dann streng, wenn es nicht anders geht.
Des weiteren werden sie dich liebhaben, wenn du sie liebhast.
Grüße von der jungen Tante Millie und ihrer Familie an euch nun fünf!"

Nach diesem turbulenten und für viele höchstärgerlichen Tag war das doch eine wunderschöne Botschaft. Julius erwähnte, dass im alten Reich die ersten Schreie eines Kindes als fröhliche Töne der werdenden Zeit bezeichnet wurden. Das hatte er damals bei Clarimondes Ankunft nicht gesagt. Doch jetzt, wo wieder neue Menschen auf die Welt gekommen waren fiel es ihm ein. "Man könnte das auch als Fanfare oder Fanfaren der Zukunft bezeichnen", grinste Millie. Julius war damit sowas von einverstanden, dass er dazu nichts sagte, sondern sie einfach nur küsste.

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25.02.2005

Millie musste laut lachen, als sie am Morgen des 25. Februar den Artikel von ihrem Onkel Otto aus Burg Greifennest erhalten hatte. Zum einen hatte er mitverfolgt, wie die zweite Runde im diesjährigen trimagischen Turnier verlaufen war. Laura Brelles hatte sich bei einem "Labyrinth der Weltgegenden" mit knapp zehn Wertungspunkten vor Uriel Feuerkiesel von Greifennest auf den ersten Platz vorgeschoben. Was es daran zu lachen gab? Otto Latierres Abschlussbemerkung: "Ich komme mir vor wie ein Bäckerlehrling, der aushelfen muss, weil der Meister unbedingt den neuesten amerikanischen Käse unter einer dicken Glocke betreut und die Gesellin selbst gleich zwei frische Brötchen ausbäckt. Also nicht beschweren, wenn ich das alles nicht so großartig getextet habe wie eine von euch beiden", las Millie ihren Mitbewohnern vor. Dann meinte sie: "Stimmt, ich muss da noch was nachbessern, weil Begriffe wie "Die rassige Rote" oder "Der deutsche Durchmarsch wurde gestoppt" ein bisschen zu kriegerisch und rüpelhaft klingen könnten. Aber den größten Teil kann ich so an die Druckmaschine weiterreichen. "Ich werde dabei noch was über die drei Cahmpions mitliefern, was sie so qualifiziert. Immerhin hat Onkel Otto nach der Runde einen Plan des Parcours mitgeliefert. Die mussten sogar wieder tauchen, wie damals in Hogwarts und bei uns in Beauxbatons. Die Hogwarts-Teilnehmerin Stella Boot war da ja offenbar nicht so begeistert, schreibt Onkel Otto. Mal sehen, wie ich das in eine mitreißende, aber nicht abwertende Form texten kann."

"Wie ging denn dieses Labyrinth der Weltgegenden?" fragte Julius. Millie lieh ihm dafür die zugeschickte Kopie des Planes. "Ui, ähnlich wie in Runde drei bei uns mussten die unterwegs bestimmte Rätsel knacken und dafür Schlüssel erhalten. Dann mussten sie auch gegen den für die erreichte Weltgegend typischen Gegner der Skamanderstufe XXXX antreten. Es ging hier auch um Erdkunde und Geschichte, Sachen, die nicht als klarer Unterricht, sondern im Verlauf von Zauberlektionen vermittelt werden. Auf jeden Fall schon was wert", sagte Julius noch.

So hatte Millie genug mit der Tagespresse aus Millemerveilles und der Berichterstattung über das trimagische Turnier zu tun, während Béatrice weiter in Julius' nichtmagischen Wissenschaftsbüchern las und dabei auch auf Clarimonde aufpasste, die sich zu langweilen drohte, weil ihre größeren Schwestern ja schon in den Kindergarten durften. So brauchte sich Julius keine Sorgen machen, dass Millie und Béatrice vor Langeweile oder Unterforderung die Wände hochgehen mochten.

Da Julius höchst Offiziell zur Recherche nach Veelakräften abgestellt war, obwohl Ornelle Ventvit genau wusste, dass er darüber ja schon viel wusste, vertrieb er sich die Zeit damit, in der hauseigenen Bibliothek zu stöbern, was er von den vielen Büchern aus der damals geschenkten Vielraumtruhe noch alles interessantes finden konnte. Außerdem wechselte er zwischendurch in das Baumhaus, wo sein Rechner stand und verfolgte als heimlicher Mitleser die Arkanetbotschaften. Ihm gefiel es nicht, dass die Kanadier immer mehr auf Buggles eingingen und Mexiko in Buggles' Horn blies, dass zur Bekämpfung der gemeinsamen Feinde eine möglichst lückenlose Überwachung ausländischer Besucher erforderlich sei. Wollte Buggles eine Diktatur, einen magischen Polizeistaat auf amerikanischem Boden gründen?

Am Nachmittag war es an Julius, laut zu lachen. Denn eine Posteule brachte ihm die Nachricht, dass der Zauber der Ausstreichefedern ganz leicht aufzuheben war. Ja, die Lösung war schon fast zu einfach, wenn man es wusste. Denn durch eine Eilanfrage in Deutschland, wo die Federn herkamen, erfuhren die zuständigen Abteilungen, dass es zu jeder Feder ein Gegenstück gab, die sich äußerlich nur von der Registriernummer unterschied, die in umgekehrter Ziffernfolge in den Griff der Feder eingraviert war. Wer wusste, wohin er zu zielen hatte brauchte dann mit dieser Gegenfeder nur die umgekehrte Bewegungsfolge und die für das Verstecken nötigen Gedankenbilder in umgekehrter Folge ins Bewusstsein zu rufen, und Plopp, da war das scheinbar verschwundene wieder zur Stelle. Es war nur wichtig, dass der Anwender entweder selbst ein Auravisor war oder eine auf die Erkennung von übernatürlichen Ausstrahlungen abgestimmtes Sehwerkzeug, eine Brille oder Kontaktlinsen verwendete. Somit würde in den nächsten Tagen eine neuerliche Prüfung der Verliese diesmal unter Beteiligung der Strafverfolgungszauberer stattfinden.

Als Julius genug über diesen simplen Trick gelacht hatte sagte er seiner Frau, dass sie zumindest veröffentlichen durfte, dass die am 24. Februar geprüften in den nächsten Tagen wieder in ihre Verliese gehen durften. Ob die Delacours und Marceaus dabei waren wusste er im Moment nicht.

Über die Armbandverbindung erfuhr er von seiner Mutter, dass Madeleine L'eauvite wohl auch was über den versuchten Riesenschwindel bei den Kobolden erfahren hatte und dass sie hoffte, dass er nicht so lange aus dem Rennen sein würde wie sie.

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26.02.2005

Erst war Laurentine am späten Vormittag bei Madame Dumas gewesen und hatte sich für die Extra-Urlaubstage bedankt. Denn nun war hoffentlich alles den Nachlass und die Hinterlassenschaften ihrer Eltern betreffend erledigt. Mittags hatte sie bei den Latierres gegessen und ihnen erzählt, wie alles noch notwendige abgelaufen war. Vor allem hatten sich Millie, Béatrice und Julius für die mitgebrachten Musiknoten bedankt, die das halbe Bachwerkeverzeichnis beinhalteten, darunter die Goldbergvariationen, die Kunst der Fuge, die Brandenburgischen Konzerte und das wohltemperierte Klavier.

Nachmittags hatte sie sich noch einmal lange mit Catherine, Joe und der aus dem Château Florissant herübergekommenen Martha Merryweather unterhalten. Sie waren sich darüber einig, dass die Zauberergemeinschaft nordamerikas - nicht nur der USA - gerade auf des Messers Schneide stand. Zwar hatte noch niemand dort öffentlich behauptet, dass der Minister mit Vita Magica zusammenging. Doch sowohl die Bewohner von Viento del Sol, dem Weißrosenweg und Misty Mountain, als auch führende Mitglieder des Marie-Laveau-Institutes zur Bekämpfung dunkler Künste aus allen bekannten Kulturkreisen gingen fest davon aus, dass es wieder sowas wie einen Friedensvertrag mit dieser Gruppierung geben musste, wobei eine gewisse Sheena O'Hoolihan sogar die Befürchtung andeutete, dass diesmal auch der Rat der zwölf obersten Zaubererweltrichter der Staaten mit einbezogen worden war. Atalanta Bullhorn war von der wählbaren Gegenkandidatin zur entschiedenen Gegenspielerin aufgestiegen und hatte es geschafft, an die 134 Kameradinnen und Kameraden aus der Inobskuratorentruppe auf ihre Seite zu holen. Erschwerend kam wohl noch hinzu, dass es zwischen Buggles' Ministerium und den in den Staaten wohnenden Kobolden zum völligen Zerwürfnis gekommen war, weil angeblich viele Verliese in Gringotts halb leer waren oder die dort gelagerten Goldvorräte nur Illusionen waren, was dem Minister die Möglichkeit gab, den Kobolden Betrug an den Kunden zu unterstellen und gleichzeitig das von seiner Handels- und Finanzabteilung in umlauf gebrachte Notgeld zum alleinigen Zahlungsmittel erklären zu lassen. Im Klartext hieß dies, dass die amerikanischen Zaubererweltbewohner nicht mehr an ihre Goldeinlagen herankamen oder diese bereits verloren hatten. Doch die Koboldexperten des Laveau-Institutes glaubten nicht, dass die Einlagen verschwunden waren. Denn in Frankreich war etwas aufgeflogen, was auch hier fast einen Bruch mit den Kobolden verursacht und womöglich das Vertrauen in die Zaubereiverwaltung zerstört hätte. Julius und Millie hatten ihr das schon berichtet.

In gewisser weise war sie also nun auf Betriebstemperatur, als sie am späten Abend noch bei Louiselle Beaumont erschien.

"Hast du jetzt alles was den Nachlass angeht erledigt?" fragte sie, als sie wie üblich eine Pause zwischen zwei Duellierübungseinheiten einlegten.

"Ich habe echt gelernt, die magischen Reisemöglichkeiten zu schätzen. Fünfzehn Stunden in einem ruckeligen Kleinflugzeug zusammen mit nur auf ihre Bildschirme glotzenden Yuppies war eine Mischung aus Langeweile und dauernder Achterbahnfahrt", erwiderte Laurentine, während sie wie üblich unbekleidet neben Louiselle auf einem heraufbeschworenen Sofa saß und sie sich gegenseitig wärmten. Dabei wusste Laurentine nicht, ob sie die andere jetzt als liebende große Schwester oder als mütterlich gereifte Wunschgeliebte empfinden sollte. Sie war froh, dass sie sich mit dem Bericht ihrer letzten Reise nach Kourou ablenken konnte.

"Wer oder was bitte sind Yuppies?" fragte Louiselle, und ihre warme Stimme vibrierte durch ihren in Laurentines Körper nach. "Eine erst anerkennende, dann von den Nicht-Yuppies eher abfällig gebrauchte Abkürzung für Junge, städtische Geschäftsleute, Young Urban Professionals. Das sind entweder selbstständige Geschäftsleute, die ganz Jung ihr eigenes Unternehmen gegründet haben und deshalb eine Menge Zeit mit Reisen und Unterwegsarbeit verbringen müssen oder Angestellte großer Unternehmen, die als deren Vertreter andauernd mit anderen Vertretern solcher Unternehmen zu tun haben. Die meisten von denen sind dauernd mit tragbaren Rechnern und/oder Mobiltelefonen beschäftigt. Weil die Fluggesellschaft, mit der ich rübergeflogen bin ihre kleine Maschine voll besetzen wollte sind von denen noch sieben mit mir mitgeflogen."

"Kostet so ein Flug über den Ozean nicht viel von diesen Euros?" fragte Louiselle. Laurentine bejahte es und grinste sie dann an. "Ich habe erst gedacht, ich müsste mit einer üblichen Linienflugmaschine von Paris aus nach Französisch-Guayana. Das habe ich meiner Oma Monique in den Staaten erzählt. Die hat dann gesagt, dass sie noch einmal einen Privatflug anmieten könnte und mich dann bei dieser Gruppe von Yuppies unterbekommen. Hat mich keinen Cent gekostet und sie nur ein Achtel, weil die Herren eh weiter nach Brasilien oder Argentinien wollten und aus Belgien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland zusammengekommen sind. Deshalb konnte ich ganz entspannt rüberfliegen, habe dabei viel Musik gehört, Sachen, die auch meine Eltern gerne gehört haben, Johann-Sebastian Bach, Händel, Mozart und Brahms. Nur einnmal hat einer von den Mitreisenden auf Deutsch geflucht, weil ihm das Betriebssystem, also das Programm- und Einbautenverwaltungsprogrammpaket seines Klapprechners ausgefallen ist. Dabei hat er laut seines Fluchens vier Arbeitsstunden verloren, also das, was er vier Stunden lang damit gemacht hat aus den Speichern verloren. Der hat vergessen, immer Wieder den Stand seiner Arbeit auf Festplatte zwischenzuspeichern. Das haben ihm die anderen auch fingerdick aufs Brot geschmiert: "Reboot tut gut, wenn man regelmäßig speichern tut", hat ein anderer Deutscher gespottet und ein Belgier mit ausreichend Deutschkenntnissen hat den Spruch "Zwischendurch mal Steuerung s erspart dir Ärger, Arbeitszeit und Stress" dazugegeben. Ich musste trotz meiner trüben Stimmung fast losgrinsen. Aber dann kam gerade Händels Concerto Grosso in D-Moll über mein Musikabspielgerät und hat mich mit Krawumn fünfzehn Jahre zurückgeworfen, wo meine Mutter und ich einem Konzert zugehört haben. Ich glaube, ich war da das einzige achtjährige Mädchen, dass sich bei Barockmusik nicht gelangweilt, sondern jeden Ton in sich aufgesogen hat. Genau das hat mich dann wieder in die meinem Anlass anstehende Stimmung zurückgeworfen."

"Und wie ging's weiter?" fragte Louiselle. Offenbar lag ihr gerade nichts an einem stringenten Unterrichtsablauf. Laurentine grinste nun wieder und sagte: "Ausgerechnet der Mensch, dem die Arbeitszwischenergebnisse verlorengegangen sind stellte sich bei der Landung in Kourou als einer der neuen Mitarbeiter von Ariane Space heraus, sogar ein Doktor. Da ich ja angemeldet war wurde ich mit ihm zusammen vom firmeneigenen Abholdienst zum Raketenstartgelände hingefahren. Da wurde er dann an den Leiter einer Arbeitsgruppe weitergereicht und ich durfte mit der Quartiermanagerin leclerk und einem kleinen, übergewichtigen Hausmeister namens Suchard zu den Wohngebäuden für höere Angestellte hinfahren. Der Hausmeister knurrte rum, dass ich endlich klären sollte, was alles wohin transportiert oder der Wertstoffverwertung übergeben werden sollte. Ich frage mich immer wieder, warum viele Hausmeister so missgelaunt sein müssen, also nicht alle, aber der von meiner Grundschule, Schuldiener Bertillon und jetzt noch der Typ, der nicht so süß drauf war wie sein Name vermuten ließ."

"Ach, der Schokoladenhersteller", erinnerte sich Louiselle. Laurentine bejahte es und fuhr in ihrem Bericht fort.

"Jedenfalls hat es mich stimmungsmäßig noch einmal so richtig runtergezogen, als ich in die Wohnung reinkam, die meine Eltern hatten. Die Teppiche, die Bilder an den Wänden, ja auch ein Großteil der Wohn- und Schlafzimmermöbel stammten aus meinem Elternhaus in Vorbach. Offenbar haben meine Eltern darauf bestanden, ihren eigenen Hausstand rüberzuholen und nicht in einer bereits möblierten Unterkunft leben zu wollen. Ich kam mir vor wie in einer Truhe voller Geister, die immer wieder um die Ecke kuckten, was ich jetzt wohl machen oder fühlen würde. Das hat mich ziemlich viel Selbstbeherrschung gekostet, so sachlich wie möglich auszusuchen, was ich oder wer aus der Verwandtschaft behalten wollte und was nicht. Als ich die Fotos sah, wo meine Eltern sich in der Universität Sorbonne kennengelernt haben, als mein Vater dort ein Auslandsjahr verbracht hatte, stach es mir schon richtig ins Herz. Dann fand ich natürlich noch alles, was meine Eltern so zusammen an Musikaufzeichnungen hatten und tatsächlich die Geige, auf der meine Mutter selbst gespielt hat. Meine Großmutter wollte ja, dass ich diese Geige erbe. Dafür sollte ich ihr dann die Geige überlassen, die ich von ihr zum fünften Geburtstag bekommen habe. Das wundert mich zwar, weil beide keine superwertvollen Geigen à la Stradivari sind. Aber ziemlich wahrscheinlich wollte meine Großmutter das aus rein sentimentalen Gründen, dass ich die Geige meiner Mutter erbe und sie dafür was hat, was sie mit mir verbindet. Wenn die wüsste, dass ich darauf zu verschiedenen Aufführungen in einem magischen Internat gespielt habe würde die wohl wieder zur eingetragenen Katholikin, um einen Priester Weihwasser darauf verspritzen zu lassen. Aber die Geige war vorher nicht bezaubert und wurde auch von mir nicht nachträglich behext, weil Mademoiselle Bernstein da sehr peinlich drauf geachtet hat, dass keiner auf bezauberten Instrumenten spielt."

"Ja, ich kenne das. Es haben echt welche aus der damaligen Blechbläsertruppe meiner Schulzeit versucht, Selbstspielzauber auf ihre Instrumente zu legen, um besser zu klingen als sie spielen konnten. Oh, was hat die damals geschimpft", erwähnte Louiselle nun etwas aus ihrer eigenen Schulmädchenzeit. "Und wie ging es bei dir weiter?"

"Na ja, auch wenn der nicht so süße Monsieur Suchard darauf bestanden hat, noch am zweiundzwanzigsten Februar alles aussortieren und am dreiundzwanzigsten abtransportieren zu lassen hat Madame Leclerk klargestellt, dasss ich noch vier Tage zeit hätte, alles auszuwählen und die Spedition, mit der ich am zwanzigsten schon gesprochen habe, anrücken zu lassen. Die Zeit habe ich genutzt, auch und vor allem, um die Bibliothek und die Musikaufzeichnungssammlung meiner Eltern zu sichten. Ich wollte meiner Großmutter das für zwölf Personen ausgelegte Hochzeitsservice zurückschicken. Doch die hat kategorisch abgelehnt. Es würde immer von der Mutter an die erste Tochter weitervererbt, wenn diese ins heiratsfähige Alter käme. Da meine Mutter ihre erstgeborene Tochter und ich deren erstgeborene Tochter sei gehöre dieses Service ausdrücklich nur mir und ich möge es solange hüten, bis meine erstgeborene Tochter ins heiratsfähige Alter käme, so die Ansage meiner lieben Mémé Monique."

"Und, ist wer in Aussicht, der mit dir diese Tradition fortführen kann?" fragte Louiselle jetzt selbst eher wie ein junges Mädchen.

"Der Stern Wega ist näher dran als eine eigene Tochter von mir", sagte Laurentine leicht verknirscht. Doch dann erkannte sie, in welche kleine Falle Louiselle sie gelockt hatte. Sie wollte wissen, ob Laurentine noch zu haben sei. Sicher, das war eigentlich schon bekannt. Aber mit ihrer Aussage hatte Laurentine gerade klargestellt, dass ein möglicher Lebenspartner und Vater ihrer ersten Tochter noch Lichtjahre weit entfernt war. Was immer Louiselle mit dieser Information anfangen würde, jetzt wusste sie bescheid.

"Und wie hast du es jetzt geregelt?" wollte die heimliche Nachhilfelehrerin Laurentines wissen. Diese erwähnte nun, wie sie die Verwandten vom Hotelzimmer mit Internettelefon aus angerufen und nach Wünschen gefragt hatte. Ihre Tante in Norddeutschland würde die deutschsprachigen Vinylschallplatten und CDS ihres Bruders bekommen, sowie ein paar Reiseandenken, die Laurentines Vater von seinen Studienreisen aus Großbritannien, den USA und Frankreich mitgebracht hatte. Ihre Cousinen durften sich bei ihrer gemeinsamen Großmutter Kleidung abholen, die auch junge Frauen bei wichtigen oder erhabenen Anlässen tragen konnten. Laurentine wollte keines der Kleider ihrer Mutter behalten und daran denken, wo und wann diese es getragen haben mochte. "Ach, das habe ich aber gemacht, als Tante Hera die Kleidung von Urgroßmutter Zoé an interessierte Erben verteilt hat. Da habe ich eines von Uroma Zoés Ballroben erbeten. Zeige ich dir gleich mal. Aber du warst noch nicht mit deinem Bericht durch", sagte Louiselle. Laurentine nickte ihr sachte zu und erwähnte dann noch, dass die Sitzgruppe mit drei Ledersesseln, einem Dreiersofa und einem ovalen Couchtisch mit mattschwarzer Marmorplatte zu Laurentines Onkel Homer und dessen Frau Abigail umziehen würde, weil die sich gerne Möbel europäischer Fertigung zulegen wollten. "Der Rest wurde dann als "Für die große Tonne" markiert. Ach ja, die Bilder wandern alle zur Rolling-Nugget-Ranch. Dort möchte Mémé Monique demnächst einen Wohltätigkeitsbasar zu Gunsten unverschuldet in Not geratener Bürger Kaliforniens veranstalten. Sie ist ja seit dem Tod meines Großvaters in mehreren wohltätigen Stiftungen engagiert."

"Und wann sind die Sachen alle da, wo sie hinsollen?" fragte Louiselle. "Ein paar von den CDs und einige der Musiknoten, die ich an interessierte Kameraden weiterverschenken wollte konnte ich in einem großen Karton mit in den Flieger zurück nehmen. Da saßen übrigens keine eifrigen Geschäftsleute, sondern fünf französische Nonnen drin, die von einer Missionsreise nach Brasilien zurückgekommen sind. Die haben bei jedem Windstoß und jedem Luftloch einen halben Rosenkranz gebetet. Eine von denenhat mich, weil ich da ganz ruhig Musik gehört habe gefragt, ob ich keine Angst hätte und nicht auch den Herren oder die Jungfrau Maria anrufen wollte. Da habe ich der ganz kackfrech geantwortet, dass ich eher Angst davor hätte, dass mich der Herrgott dann sofort zu sich holt, wenn ich bei so einem Geruckel an ihn dächte, wo der solange nichts mehr von mir gehört habe und ich von der Jungfrau Maria nicht die Mobiltelefonnummer hätte, um sie anzurufen. Huhu, erst wurde die Klosterdame kreidebleich und dann rot wie ein gekochter Hummer. Die hat mich dann sowas von schräg angeglotzt, bis ich dann selbst sehr streng geguckt habe und ihr sagte, dass ich mit "ihrer Sekte" schon lange keinen Vertrag mehr hätte und ich sie nur deshalb ihren Glauben ausleben ließe, weil ich gelernt habe, wie unterschiedlich Menschen und somit Weltbilder sein können und ich ernsthaft hoffe, dass "ihr Herrgott" sie noch lange genug leben ließe, damit sie dies auch lernen dürfe. Ich konnte da gerade noch aufhören, bevor ich der noch was von wegen der Jungfräulichkeit von Maria um die Ohren gehauen habe. Auf jeden Fall hat sie mich dann in Ruhe gelassen. Da kam auch das nächste Luftloch, und sie musste das Ave Maria beten, um nicht aus der Reihe zu tanzen.

"Mit solchen Damen habe ich auch mal zu tun gehabt. Eine von denen war so leichtsinnig, zu behaupten, dass die Menschheit nicht auf dem Weg in den Abgrund sei, wenn es damals gelungen wäre, alle Satansbündner und Hexen zu ergreifen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Da habe ich nur geantwortet, dass sich die echt bösen Hexen gerne da verstecken, wo sie keiner sucht, unter den Kutten katholischer Ordensschwestern. Das hatte denselben Effekt, den du gerade beschrieben hast, nur mit dem Unterschied, dass die ältere Ordensdame mir dann noch einen Vortrag über Gotteslästerung und Ketzerei halten wollte und ich ihr entgegenhielt, dass ihre Kirche erst mal anfangen solle, vor der eigenen Haustür zu kehren und alle Erbschleicher, Heuchler und Nutznießer der Völkermorde in Afrika und Amerika zu bestrafen, statt immer noch dem Irrglauben anzuhängen, andersdenkende Menschen seien grundweg mit dem Bösen im Bunde. Ja, und dass ich behauptet habe, dass ihre Kirche die Hoffnung auf einen Heiland endgültig zerstört habe, weil sie im Namen von Jesus die Kreuzzüge, die Bartholomäusnacht von 1572, den dreißigjährigen Krieg und eben die Inquisition und die gewaltsame Unterdrückung der Ureinwohner Afrikas und Amerikas zu verantworten habe. Da war dann auch bei ihr Ruhe, weil sie da wohl erkannt hat, auf welcher Grundlage der Wohlstand ihres Ordens gründete."

"Die Kolaboration mit mörderischen Diktatoren hast du da nicht mit einbezogen", fügte Laurentine noch hinzu und zählte solche geschichtlich bekannten Sachen auf und nannte namen wie Napoleon, Mussolini, Hitler und Franco.

"Dann hattest du auf jeden Fall eine interessante, wenn auch stimmungsmäßig anstrengende Reise", beschloss Louiselle die Unterhaltung. Denn sie wollte Laurentine noch ein paar magische Kunstgriffe zeigen, um ihr geltende Angriffszauber fehlgehen zu lassen.

Zu diesen gehörte der Dislocimaginus-Zauber, der das sichtbare Erscheinungsbild eines magischen Wesens an einem mehrere Meter weit und in anderer Höhe befindlichen Ort sehen ließ als der wirkliche Standort. Ebenso gehörte zu den Zielerschwerungszaubern jener, der eine blau flackernde Aura erzeugte, die zugleich ein wildes hohes Sirrenund Schwirren vom Ausführer ausstrahlte, dass auf hohe Töne empfindlich reagierende Wesen zurückschreckte. Die Schülerin fühlte dabei jedoch, wie sich ihr Blut erhitzte und einige der Töne doch in ihren Ohren ziepten. Laurentine erinnerte sich, dass ihre damalige Turnierkonkurrentin Gloria Porter so einen Zauber ausgeführt hatte, um einen Schwarm angriffslustiger Wichtel zurückzuscheuchen. "Das dürfte genau derjenige gewesen sein.", erläuterte Louiselle, nachdem sie den rot leuchtendenEchodomus-Zauber um ihrem Kopf aufgehoben hatte. "Der Altasonaura-Zauber ist vielen Zaubertierkundlern schon seit einigen Jahrhunderten bekannt und gehört auch zum Standard beruflich gegen dunkle Wesen vorgehender Hexen und Zauberer. Deine damalige Gegenspielerin hat ihn sicher von ihrer seligen Großmutter Jane gelernt, die wiederum im Marie-Laveau-Institut beschäftigt war."

"Aber schon fies, dieser Flirr-Sirr-Zauber", sagte Laurentine. "Der hat mich ziemlich gut aufgeheizt, als wenn ich mal eben unter einer Sommermittagssonne durch die Gegend gerannt wäre", keuchte sie noch. Louiselle nickte bestätigend und lobte den griffigenVergleich.

"Auf jeden Fall kannst du diese Zauber schon ganz gut. Mit optischen und akustischen Verwirrzaubern werden wir uns in den nächsten Wochen noch intensiver befassen, bis ich sicher bin, dass du auch den von uns hexen am besten wirksamen Zauber dieser Art bringen kannst. Aber wir werden auch noch häufiger die mit dem Monatsblut assoziierten Schutz- und Abwehrzauber einstudieren, von denen du ja schon einige kennengelernt hast", sagte Louiselle noch. Dann vollführte sie mit Laurentine noch ein fünf Minuten andauerndes Übungsduell und freute sich, dass Laurentine immer schneller, gewandter und kreativer wurde.

Laurentine war erschöpft, als die Übungseinheit für diesen Abend beendet war. Sie nutzte den Reinigungszauber, um Louiselle zu säubern, und diese säuberte Laurentine. Das gehörte zu dem Laurentine so liebgewonnenen Abschluss eines Übungstages.

Bevor Laurentine wieder in ihre eigene Wohnung abreiste führte Louiselle ihr das Kleid ihrer Urgroßmutter Zoé Beaumot vor. Das lange, weit bauschende, lindgrüne Seidenkleid mit den berüschten Säumen gefiel Laurentine. Sie sah, wie sich Louieselle gewandt darin bewegte, ja sogar einige Tanzschritte ausführte, um zu zeigen, zu welchem Zweck dieses Kleid geschneidert worden war. Laurentine musste sich arg beherrschen, nicht wollüstig auf ihre Lehrerin zu gucken. Die Emfindung, mit dieser Frau einen herrlichen Tanz bei einem Ball zu erleben, erinnerte sie wieder an die dritte Runde des trimagischen Turnieres. Sie verwünschte die Traumfladen, die ihr damals diese Vision beschert hatten. Hatten die sie jetzt für alle Zeiten verdorben, oder hatten die echt das innerste Begehren in ihr erfasst und ihr vor Augen geführt? Sie wusste es nicht. Sie wollte es jedoch heute nicht ergründen.

Sie kehrte wieder nach Hause zurück, um sich von den Anstrengungen eines sehr langen Tages zu erholen.

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27.02.2005

Nyctodora sah die dunkelhaarige Sally Fields alias Night Swallow an. Beide Töchter der Nacht belauerten sich. Denn jede fühlte die Kraft der anderen. Warum hatte die Göttin sie beide in dieser tiefgelegenen Tropfsteinhöhle bei Mexiko-Stadt zusammengebracht, wo die Hohepriesterin doch gerade neue Transportwege für Sprengstoff ausgearbeitet hatte, um in Afghanistan und dem Irak weitere Unlichtkristalle zu erzeugen?

"Hohepriesterin der großen Göttin. Hier bin ich, um dir meine Aufwartung zu machen", sprach Night Swallow scheinbar demütig. Doch Nyctodora fühlte, dass in der anderen die Kraft der Göttin selbst wirkte und sie somit stärker machte als andere Nachtkinder.

"Die Göttin hat uns beide an diesen Ort gebracht, weil sie uns beiden etwas mitteilen wollte, das wir zeitgleich erfahren sollten", sagte die Hohepriesterin der erwachten Göttin. Als habe sie damit eine Anrufung ausgesprochen erschienen blutrote Funken zwischen den beiden Nachttöchtern. Diese wurden immer dichter und bildeten eine erst flimmernde und dann immer gleichmäßiger leuchtende Wolke. Diese formte sich zu jener Gestalt, die Nyctodora schon häufiger gesehen hatte. Die Göttin der Nachtkinder offenbarte sich in ihrer erhabenen Erscheinung. Als sie vollständig zu sehen war, wie immer so, als sei sie im zweiten Schwangerschaftsdrittel, sprach die Erscheinung mit ihrer raumfüllenden Stimme:

Ich habe euch beide an diesen Ort gebracht, weil ich will, dass ihr beide auf eure unterschiedliche Weise nach jenen sucht, die sich als Liga freier Nachtkinder bezeichnen und sich anmaßen, unsere Gemeinschaft zu bekämpfen und mich als Göttin der Nachtkinder zu verleugnen. Ihr beide habt Zugang zu den elektrischen und elektronischen Nachrichtenvorrichtungen der magielosen Welt. Diese Mittel werden euch helfen, solche Ungläubigen aufzuspüren. Es geht mir nicht darum, sie jetzt schon auszurotten, auch wenn sie es durch ihre Freveltaten verdient haben. Es geht mir darum, das weltweit verstreute Volk aller Nachtkinder zu einen, um unser aller Überleben zu sichern. Denn die Sonnenkinder sind immer dreister geworden und haben herausgefunden, wie sie unsere Paladine erspüren und überwältigen können. Auch haben wir lange nichts mehr von jener Schattenfrau gehört, die sich für die einzig wahre Königin der Nacht hält. Sie sinnt ganz sicher schon auf einen Plan, uns entweder zu versklaven oder zu vernichten, damit sie und ihre Brut die Menschen für sich alleine haben kann. Doch sie ist kein lebendes Wesen, sondern eine rastlose Seele, die aus einer bösen Laune der Finsternis mit einem Großteil von Zauberkraft erfüllt ist. An ihr ist es, zu erlöschen, nicht an uns. Doch das wird sie nicht einsehen und ihre Brut gegen uns aussenden, wenn diese zahlreich genug ist. Ja, und dann haben wir auch lange nichts mehr von den vaterlosen Töchtern von ihr gehört. Sicher sammeln auch sie neue Kräfte und Verbündete. Dagegen sind die rotblütigen Menschen mit Zauberstäben eigentlich schwach und hinfällig. Doch ich sagte eigentlich, weil es auch unter ihnen welche gibt, die große Kräfte rufen können. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir unser Volk einen. Also sucht die Sprecher der selbsternannten freien Nachtkinder! erklärt ihnen, dass ich bereit bin, ihren Unglauben anzuerkennen, wenn sie dafür aufhören, gegen euch anzukämpfen und sich statt dessen mit euch verbünden!"

"Fällt es dir nicht leichter, sie zu finden, wo wir wissen, dass die angebliche Liga freier Nachtkinder geheime Pläne von uns erbeutet haben muss?" fragte Night Swallow sehr leichtsinnig.

"Ich habe wichtigeres zu tun, als nach Verrätern in unseren Reihen zu suchen. Das überlasse ich der Hohepriesterin und den Statthalterinnen der sieben Tempel", zischte die rotleuchtende Erscheinung. "Außerdem hilft es uns gerade nicht, jene Verräter zu ergreifen, wenn es darum geht, dass wir alle ein Volk der Nachtkinder sind. Daher habe ich den Weg der friedlichen Kontaktaufnahme und der Verhantlung gewählt. Helft mir, ihn erfolgreich zu beschreiten!"

"Wir sind deine Töchter, deine Dienerinnen", sagte Nyctodora. Night Swallow wiederholte den Treueschwur. Die Erscheinung der erwachten Göttin nickte es als zu erwarten ab. Dann verschwand ihre Erscheinungsform im Nichts.

"Tja, Frau FBI-Sonderagentin, da werden Sie wohl Überstunden schieben müssen", sagte Nyctodora jetzt nicht mehr wie eine Priesterin klingend. "Ich werde nicht mehr lange alleine in diesem Beruf sein. Ich verfolge ein Ziel, für das die Göttin mir schon vor einem Monat die Erlaubnis erteilt hat. Mehr musst auch du nicht wissen, Hohepriesterin Nyctodora."

"Die Göttin verteilt ihre Aufgaben wie es ihr gefällt. Ich bin und bleibe ihre oberste Statthalterin. Wenn sie will, dass ich dir helfe, dann tu ich das", sagte Nyctodora. Doch innerlich argwöhnte sie, dass die Göttin bereits ihre unsichtbaren Fühler nach einer willfährigen und besser zu beherrschenden Nachfolgerin ausstreckte. Doch diesen Argwohn durfte sie nicht offen zeigen. Denn das hieße, erst recht das eigene Leben zu riskieren.

Die beiden Nachttöchter verneigten sich noch einmal voreinander. Dann ergriff je ein schwarzer Schattenstrudel eine der beiden und trug sie vorbei an der blutroten Göttin zurück an ihre bisherigen Standorte.

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Gooriaimiria hatte die beiden genau durchforscht, soweit es ihr bei Eleni Papadakis alias Nyctodora gelungen war. Sie waren keine Spione der sogenannten freien Nachtkinder. Auch wenn Nyctodora verständlicherweise mit ihrem Ansehen in der Glaubensgemeinschaft haderte, so war sie doch bereit, ihr weiterhin neue Superkrieger zu verschaffen.

Was Night Swallow anging, so rechnete sich Gooriaimiria schon gute Möglichkeiten aus, sie bei einem neuerlichen Versagen Nyctodoras an deren Stelle zu setzen. Doch vorher sollte sie ihren eigenen Plan durchführen, der große Zustimmung bei der erwachten Göttin fand. Gelang er und ließ sich auch auf andere Ebenen ausdehnen, so würde der Göttin bald viel mehr weltliche Macht bei den rotblütigen Nichtmagiern zufallen. Doch weil die Zauberstabnutzer mit solchen Übergriffen rechneten galt es, diese ganz behutsam auszuführen. Auch deshalb hoffte sie, dass Night Swallows Plan zum Erfolg führte.

Gerade überwachte sie alle sieben Tempelpriesterinnen. Bisher hatte der Verrat der Tempelstätten noch keine unerfreulichen Folgen gehabt. Das lag ganz sicher daran, dass die Tempel gegen viele Formen von Enthüllungs- und Angriffszaubern abgesichert waren. Die Spione, welche die Lage der Tempel erkundet hatten, wussten das natürlich auch. Doch sicher wurde bereits in den Reihen aller ihrer Feinde daran gearbeitet, die sieben ihr geweihten Festungen zu stürmen und niederzureißen. Doch solange sie standen galt, dass von ihnen aus die Eroberung der Welt erfolgen sollte. Jedenfalls war keine der sieben Unterpriesterinnen eine Verräterin.

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28.02.2005

Jetzt war es an Faidaria, ihre neue Tochter zu gebären. Olarammaya war zwar nicht so davon begeistert, auch dabei zuzusehen. Doch Faidaria hatte alle zu sich hinbefohlen, die nicht mit der Jagd auf dunkle Wesen zu tun hatten und gerade nicht im Sonnenturm untergebracht waren. Die Königin des kleinen Volkes kam nieder, und das Volk durfte, ja sollte dabei zusehen. Olarammaya fragte sich, ob sowas im Mittelalter auch üblich war, dass eine Königin vor Publikum den erhofften Thronfolger bekam, auch um sicherzustellen, dass dieses Kind wirklich aus adeligem Schoße entschlüpft war.

Als Faidarias jüngste Tochter, die zwiegeborene Gwendayandaria auf der Welt war und Faidaria ihr zugesichert hatte, sie weiterhin Gwendayandaria zu nennen, also Licht des erhabenen Feuers, bedankte diese sich mit angestrengt klingender Gedankenstimme bei ihrer zweiten Mutter und hoffte, mit ihr zusammen zum Wohl aller Sonnenkinder und der von diesen zu beschützenden Menschen zusammenzuwirken. "Neh, die will ichnicht als meine Gefährtin. Die ist ja genauso übereifrig geblieben wie im vorigen Leben", hörte Olarammaya Aroyans leise Gedankenstimme. Da gedankenschrillte Gwendayandaria, während sie mit körperlicher Stimme schrie: "Das habe ich wohl gehört, missmutiger Wicht im Leib einer unentschlossenen Mutter."

"Kein Streit!" befahl Faidaria an alle. "Ihr alle, ob schon erblüht und erwachsen oder noch in den inneren Nestern eurer Mütter, seid Brüder und Schwestern, einander verbunden und füreinander einstehend. Dies ist der Wille unserer Ureltern und unseres allerersten Elternpaares, dem großen Vater Himmelsfeuer und der großen Mutter allen Lebens. Jede und jeder von euch wird sein oder ihr nötiges tun, um den bevorstehenden Entscheidungskampf gegen die Ausgeburten der Nacht zu führen und im Namen aller Menschen zu gewinnen, wielange er auch dauern mag und wie viele Opfer er auch fordern mag. Und nun genieße das, was dir als meine Tochter zusteht, Gwendayandaria!" Mit diesen Worten nahm sie das kleine, schrill schreiende Mädchen endgültig als ihre Tochter an.

"Hast du noch was neues aus dem Arkanet gehört, Olarammaya?" wollte Dailangamiria von ihrer zweiten Zwillingstochter wissen. "Es gilt die Übereinkunft, dass kein zaubereiministerium sich in die Hoheitsfragen eines anderen einmischt, solange nicht eindeutig klar ist, dass von diesem eine Gefahr für alle anderen ausgeht, Mutter. Andererseits schwirren da Gerüchte herum, dass auch Mexiko wohl bald von Buggles geführt werden könnte. Denn die da mit dem Arkanet herumwerkelnden haben die Nachricht von der Übernahme durch fremde Mächte als bewusste Störung der herrschenden Ordnung aufgefasst, als Versuch, die in den Staaten bestehenden Unstimmigkeiten zu offenem Aufruhr anzuheizen. In Texas und Kalifornien sei das ja auch schon gelungen, was vor allem diesem Sombreroträger Piedraroja Sorgen mache, weil diese Staaten ja an seinen Zuständigkeitsbereich grenzen. Mehr kriege ich über das Arkanet nicht mit. Doch ich verrate dir garantiert nichts neues, wenn ich vermute, dass es unter der sichtbaren Oberfläche ganz heftig brodelt und blubbert, wie unter dem Yellow Stone."

"Anstatt dich weiter mit diesem Zeug zu befassen sieh lieber zu, dass ich auch auf die Welt komme. So mit dem Kopf in deinem Becken zu hängen ist für mich langsam sehr ungemütlich", gedankenmurrte aroyan. Dailangamiria stupste ihrer zweiten Tochter dafür in den vorgetriebenen Bauchnabel. "Ich könnte ihn dir jetzt wieder abnehmen, Olarammaya. Aber dann müsstest du dir von deiner großen Schwester anhören, dass du unfähig bist, ein Kind großzuziehen."

"Danke für das Angebot. Aber den Meckerkopf da unter meinen immer schwereren Milchtüten drücke ich raus und fütter und windel den, bis das eine Jahr um ist, wo die Zwiegeborenen wieder zu großen Leuten werden dürfen. Ich will das jetzt wissen", bekräftigte Olarammaya.

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03.03.2005

Olarammaya meinte, ihre Eingeweide würden ihr aus dem Leib gerissen, so heftig tat das weh. Sie schaffte es gerade so, nicht laut zu schreien. Als sie dann hörte, dass es um Aroyan schlagartig enger geworden war wusste sie, dass es jetzt endlich auch bei ihr losging. Vielleicht musste sie das nur einmal durchmachen. Dann wusste sie es, wie es sich anfühlte. Dann hatte sie sicher noch mehr Respekt vor Ben Calders Mutter und jener, wegen der sie jetzt Olarammaya war, Dailangamiria und Geranamiria.

Weil Aroyan sich beklagte, dass es ihm zu eng wurde und er quengelte, dass Olarammayas "inneres Nest" ihn zerdrücken wollte, schaffte es Olarammaya, sich besser zu beherrschen. Sie wollte kein so wehleidiges Geschöpf sein, wie der, den sie da jetzt unter immer wilderen Schmerzen Stück für stück aus sich hinauspressen musste. Tatsächlich gelang ihr das auch ganz gut, wohl auch, weil Faidaria, Gisirdaria, Dailangamiria und Geranamiria um sie herumsaßen und ihr aufmunternde Gedanken zuschickten. Sie dachte auch daran, wie sie in dem Haus der Latierres wie aus einem goldenen Licht heraus in die Welt hineingerutscht war, beinahe ohne jede Beklemmung. Kunststück, denn Geranamiria, die damals noch Geranammaya geheißen hatte, war ja zuerst geboren worden. Außerdem hatte diese Frau namens Camille Dusoleil irgendwas bei oder an sich gehabt, was die Geburt der Zwillinge erleichtert hatte, etwas das Leben bekräftigendes. Zwar fehlte das jetzt hier. Doch sie fühlte, dass von Dailangamirias und Faidarias Sonnenamulett eine belebende Kraft ausging, die ihr half. Dennoch konnte sie nicht immer an sich halten und stieß den einen oder anderen Schmerzenslaut aus. Dann war Aroyans Kopf endlich aus ihr heraus. Erhaben und gruselig zugleich, ein eigenständiges Geschöpf aus dem eigenen Bauch hinauskriechen zu sehen und zu fühlen, wie es ihren Unterleib bis zum zerreißen anspannte.

"Huh, hell. Wusste nicht mehr, dass Licht so hell sein kann", hörten sie alle Aroyans gequält klingende Gedankenstimme. Dann schaffte es Olarammaya zusammen mit Faidaria, die dem neuen Sonnensohn bei den letzten Zentimetern Wegstrecke unter die Arme griff. Endlich kam er völlig frei und bibberte. Olarammaya sah im goldenen Schein der beiden Sonnenamulette einen hochroten Körper mit vergrößertem Kopf und wegen des hellen Lichtes blinzelnden Augen. Dann begann das immer noch mit ihrem Blutkreislauf verbundene Wesen zu bibbern. "Bedeckt mich oder macht mir bitte das restliche Wasser vom Körper weg!" flehte der Geist des soeben wiedergeborenen Wesens. Olarammaya, die von der Anstrengung und den Schmerzn sehr erschöpft war und erst langsam wieder richtig zu Atem kam sah das von ihr geborene Kind an und fragte sich, ob Ben Calder bei seiner Geburt auch so wild gezetert hatte. Als sie selbst hinter ihrer größeren Schwester zur Welt kam hatte sie sich einfach nur gefreut, wieder auf der Welt zu sein, endlich wieder ein eigenes Leben führen zu können. Warum konnte dieser Bibberling das nicht genauso empfinden?

"Eh, ichhäng noch an was dran. Brauch ich das noch?" gedankenfragte Aroyan, für den sich Olarammaya einen neuen Namen ausdenken konnte. Als Faidaria die bis dahin pulsierende Nabelschnur abband und mit Geranamiria und sie die Entbindung vollendeten wusste es der Wiedergeborene, dass er ab jetzt bis zum Beginn des nächsten Lebens mit eigenem Mund Luft und Nahrung zu sich nehmen musste.

Das Austreiben der Nachgeburt erfolgte, als Olarammaya ihren Sohn zum ersten mal von ihr trinken ließ. Merkwürdigerweise empfand sie diesen natürlichen Vorgang als die wahre Vollendung der Geburt. Auch hörte der von ihr bekommene Junge auf, auch nur in Gedanken zu quengeln. Beide ließen es sich gefallen, dass Olarammaya von den Spuren der Niederkunft gereinigt wurde und dass Aroyan die ersten Windeln seines zweiten Lebens angelegt bekam. Dann sagte Olarammaya: "Also von der Färbung der Haut und der Haare her passt Sonnenbrandroter oder Sonnenfeuerroter ganz gut zu ihm. So nenne ich dich, meinen Sohn, Ashtaryanan, Das Feuer der Sonne."

"Jamm, das mag ich. Ja, so darf ich und will ich heißen, bis ich meinen ersten selbstverdienten Namen bekommen kann", gedankenschnurrte der nun endgültig zum zweiten Leben erwachte Ex-Gefährte von Faidaria. Dabei sog er begierig ein, was Olarammaya für ihn in den letzten Wochen der Schwangerschaft angesammelt hatte. Weil sich beide dabei so wohlfühlten lächelte Faidaria und legte Olarammaya feierlich ihre Hände auf. Das Sonnenamulett, dass sie aus Afrika erhalten hatte, berührte den nackten Bauch der jungen Mutter. Wärme flutete in den von der Niederkunft gebeutelten Körper. "Mit dieser großen Tat, gegen deine früheren Empfindungen die Pflichten einer körperlich gesunden Mutter zu erfüllen, diese Berufung der großen Mutter und des Vaters Himmelsfeuer anzuerkennen, nenne ich dich Kraft meines Ranges als Sprecherin der Sonnengeborenen von heute an Oganduramiria, die bekennende, die annehmende Mutter. Dein Name sei gesegnet vom großen Himmelsfeuer, das alles wachsen und blühen lässt und der großen Mutter, aus deren fruchtbarem Leib wir alle hervortraten. Oganduramiria!"

"Das ist jetzt schon der sechste Name, unter dem ich auf dieser Welt herumlaufe", dachte die, die nun Oganduramiria heißen sollte. Doch wie sehr erkannte sie die neue Rolle ann? Das würde sie wohl erst merken, wenn der kleine Milchegel da an ihrer linken Brust die frische Windel randvoll hatte oder wenn die üblichen Kinderkrankheiten auftraten? Doch offenbar hatte Ilangadans ehemalige Geliebte tiefer in den Geist des Wesens hineingesehen, das gerade neues Leben hervorgebracht hatte und unbedingt am Leben halten wollte.

Weil auch die bereits geborenen Kinder von Oganduramirias Schwester und Mutter nach Nahrung verlangten entstand eine kleine aber feine Stillgruppe. Hatte Ashtaryanan vor seiner Geburt noch viel gejammert, war er wohl heilfroh, endlich wieder selbst atmen zu können und zwischen Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte unterscheiden zu können. Ja, das war schon was erhabenes, die Welt im ganzen erfassen zu können, dachte Oganduramiria. Auch hatte sie nicht vergessen, dass die Schreie eines neugeborenen Kindes die Begrüßungslaute der Zukunft waren, die alotargurin Vuaichatur.

Endlich war Ashtaryanan satt genug, dass er nur noch schlafen wollte. So konnten sich die zwillingsschwestern in ganz leisem Ton über die weitere Zukunft unterhalten. Die Schattenfrau hatte offenbar mitbekommen, dass da jemand ihren Kindern gründlich nachsetzen konnte. Nur der Gedanke, dass diese Wesen eigentlich schon tot waren und nur die dunkle Magie einer alten bösen Kraft sie in der Welt festhielt ließ Oganduramiria darüber hinwegsehen, dass diese Schattenwesen geopfert wurden, um das auf dunkle Quellen zeigende Pendel zu lenken. Doch galt das auch für Vampire? Wenn man Vampirismus als körperlich-seelische Erkrankung auslegte sollte da nicht überlegt werden, ein Heilmittel dagegen zu finden. Oder galten Vampire als unheilbar und gemeingefährlich? Bis heute hatte sie das nicht angezweifelt. Doch jetzt, wo sie selbst ein Kind in die Welt geboren hatte fragte sie sich, ob nicht wer anderes finden mochte, dass dieses Kind eine Gefahr für ihn oder die Allgemeinheit darstellte und er oder sie deshalb meinte, es umbringen zu dürfen. Doch dann fiel ihr wieder ein, was ihr alle über den Mitternachtsstein erzählt hatten. Sein Zweck war die Erschaffung einer grenzenlos skrupellosen Kriegerrasse, die als lebende Werkzeuge ihrem kranken Meister gedient hatten, ja auch die eigene Vermehrung nichts anderes war, als die Verbreitung dieses Sklavendaseins für diesen Iaxathan, dessen Namen niemand der oder die ihn kannte nur so zum Spaß aussprach. Vampirismus war wie die Lykanthropie eine Art ansteckende Krankheit, wie die Tollwut, die nur sich selbst diente und die Wirtskörper zu blutigen Taten trieb, bis diese erlöst wurden. Falls es jemals möglich war, die Befallenen zu heilen, also wieder zu gewöhnlichen Menschen zu machen, dann war das wohl mit zu großen Opfern verbunden gewesen. Doch die Schlangenmenschen waren auch geheilt worden, wusste Oganduramiria. Man hatte das ihre Körper und Seelen verfremdende Gift austreiben können. Vielleicht ging das doch bei den Werwölfen und womöglich auch bei den Vampiren?"

"Wollten die Schlangenmenschen geheilt werden?" fragte Geranamiria ihre Schwester. Offenbar hatte sie deren Gedankengänge mitverfolgt. "Aus ihrer Sicht nicht. Die fanden sich doch toll und superstark, so wie sie waren", erwiderte Oganduramiria. "Ja, und sie haben versucht, sich gegen die Rückverwandlung zu wehren. Geh davon aus, dass Vampire und Werwölfe ähnlich drauf sind, wobei ich mir bei Werwölfen noch vorstellen kann, dass sie diesen Fluch gerne wieder loswerden wollen, wenn jemand kommt, und ihnen das Heilmittel anbietet. Aber genau das macht sie wiederum zur Beute für Heilsversprecher, die ihnen für diese Heilung jede Tat abverlangen können. Glaub mir bitte, als ich noch Pandora Straton war und da gerade Patricia als winziges Mädchen in den Armen gehalten habe wie du gerade Ashtaryanan, habe ich auch gedacht, ob sie, weil sie wohl genauso eine Hexe sein wird wie ich, als für andere gefährlich eingestuft und gejagt wird, wie es im ausgehenden Mittelalter ja viel zu vielen Frauen passiert ist. Dann fiel mir ein, dass wir Menschen ja ohnehin für die allermeisten anderen Wesen gefährlich sind, sei es als Landnehmer, Futterdiebe oder Fressfeinde. Insofern müssten wir alle darum bangen, dass nicht eines Tages jemand aus der Erde oder dem Weltraum kommt und uns wegen unserer Gefährlichkeit auszurotten trachtet. Dieser größte aller Dunkelmagier, der uns die Vampire eingebrockt hat, wollte ja genau das, dass wir alle aussterben, weil das seine Vorstellung von einer endgültig geordneten Welt war. Inletzter Konsequenz verdanken wir diesem Vorbild aller möglichen und unmöglichen Dämonenfürsten unsere Existenz als Sonnenkinder, auch als nun zwei Schwestern, die ein zweites Leben führen und die Erinnerungen an das vorangegangene Leben in uns behalten haben. Es ist also nicht die Frage, wem ein einzelnes Leben gutartig oder bösartig erscheint, sondern wie die, die vernünftig denken können, ein möglichst friedliches Miteinander unter Einhaltung der natürlichen Grenzen hinbekommen. Benny Calders und Cecil Wellingtons Eltern gehörten leider zu denen, die diese Grenzen nicht einhalten wollten. Wo es ging wollten sie immer mehr dazubekommen. Auch unter uns Hexen und Zauberern gibt es viele, die meinen, ihre eigenen Wünsche und Vorlieben über alles andere zu stellen. Wie zerstörerisch das sein kann haben wir ja oft mitbekommen. Wir müssen es wieder lernen, mit der Mutter Erde in Frieden zu leben. Wohl auch deshalb habe ich damals Anthelia einen neuen Körper verschafft. Auch wenn sie damit wie zu erwarten war auch Angst und Tod verbreitet hat, so erschien mir das damals als das kleinere Übel, als von einer wegen Magieunfähigkeit unersättlich gewordener Leute auf einem verödeten und vergifteten Planeten leben zu müssen oder gar meine Kinder und Enkel auf einem solchen zerstörten Erdenball leben zu wissen. Ein wenig bereue ich, dass ich damals keinen anderen Weg sah, als Sardonias Nichte wiederzubeleben. Doch im Nachhinein erkenne ich, dass ich der Welt damit doch mehr gutes getan habe als wenn ich überhaupt nichts getan hätte. Es gibt nicht nur das wahre Gute und das wirklich böse. Wir müssen jedenTag neu bestimmen, wozu wir ihn nutzen und ob wir damit anderen nützen oder uns an anderen bereichern, die uns deshalb verabscheuen oder zu Tode fürchten."

"Das mag wohl so sein, Geranamiria", erwiderte Oganduramiria. "Dann wollen wir hoffen, dass wir am Ende dieses Lebens sagen können, dass wir mit allen friedlicher umgegangen sind als sie andauernd zu bedrohen und ihnen nach Besitz und Leben zu trachten."

Am späten Abend auf Ashtaraiondroi erfuhren die Bewohnerinnen und Bewohner, dass das Pendel wohl am Ende April wieder einsatzbereit sein würde. Dann galt es, den Auftrag der Sonnenkinder weiter auszuführen, die Welt zu einem sichereren Ort zu machen.

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05.03.2005

Julius kam sich langsam vor wie damals unter der Dämmerkuppel. Trotz dass er mit allen ihm wichtigen Menschen Kontakt halten konnte wollte er doch wissen, wie es im Ministerium weiterging. Millies Artikel zu dem großen Gringotts-Skandal war ja auch schon wieder acht Tage her. Zumindest suchte niemand nach ihm. Denn Léto brauchte ihn im Moment nicht.

"Julius, Nathalie hat ihren Kopf zu uns reingesteckt. Sie möchte in einer Viertelstunde bei uns sein", mentiloquierte Millie. Béatrice war gerade wieder unterwegs in Millemerveilles, um die von ihr betreuten jungen Mütter, von denen die älteste schon 68 Jahre alt war, zu besuchen.

"Ich bin gleich wieder im Haus. Ich druck nur was aus, was Nathalie sicher auch interessiert", schickte er zurück.

Als er dann kurz vor zwölf Uhr im Apfelhaus eintraf erschien Nathalie gerade aus dem Kamin. Sie hatte Mühe, nicht hinzufallen und sah sichtlich erbleicht aus. Sie trug die ihre noch viele Jahre dauernde Schwangerschaft verbergende Unterkleidung und sah deshalb wesentlich schlanker aus als Millie.

Julius half der Besucherin aus dem Kamin. Diese umklammerte ihn regelrecht. Dann bedankte sie sich bei ihm und sah Millie an. Diese und Julius vermuteten schon, dass Nathalie die junge Reporterin gleich vor die Tür schicken mochte. Doch die auf ihren ersten Sohn wartende nickte nur und sagte: "Ich bewundere Ihre Standhaftigkeit, selbst eine Zwillingsschwangerschaft zu überstehen, Madame Latierre. Da dies Ihr Haus ist steht es mir nicht zu, Sie aus einem Zimmer zu verweisen. Auch bin ich sozusagen im Auftrag der Ministerin hier, um Sie, Madame Latierre, und andere Reporter, zu einer Pressekonferenz am zehnten März einzuladen, wo diese höchst unschöne Angelegenheit des 24. Februars abschließend dargelegt wird. Nur so viel, Ihr Ehemann wird wohl ab morgen wieder bei uns im Ministerium arbeiten. Öhm, gibt es einen freien Raum, in dem wir uns unterhalten können, Monsieur Latierre?"

Julius führte Nathalie in den Musikraum, der ein Dauerklangkerker war, da hier Aurore gerne auf dem Klavier oder der Blockflöte übte. "Oh, ein sehr nobles Piano", staunte Nathalie. "Ist es ordentlich gestimmt?"

"Das hat einen von Mildrids seligem Großvater Roland entwickelten Selbststimmzauber, der es auch nach Einschrumpf- und Entschrumpfvorgängen wieder tonrein einstimmt", sagte Julius. "Ich weiß ja nicht, wieviel Zeit Sie haben, Nathalie", sagte er noch.

"Da Ihr Magen knurrt höchstens fünf Minuten", bekam er Demetrius' Gedankenstimme zu hören. Sie selbst sagte: "Nun, auch wenn mich die Flohpulverreise gut durchgewirbelt hat werde ich wohl bis ein Uhr wieder im Stande sein, die Mittagsmahlzeit einzunehmen." Dann beschrieb sie Julius, was sich getan hatte. Er musste sich arg zusammennehmen, nicht verächtlich dreinzuschauen oder laut loszulachen.

"Dann war die ganze Sache ein Komplott von Colbert mit den größeren Unternehmern, um sich das Goldverwahrungsrecht und den Unternehmern die freie Auswahl der Goldverwahrung und Preisbestimmung zuzuschustern?"

"Wenn Villeneuve nicht gleich am vierundzwanzigsten Februar beim Kollegen Chevallier umgefallen wäre wie ein Dominostein beim ersten starken Windstoß wüssten wir das bis heute nicht. Angeblich sollte dieses Abkommen ein Casus sub rosa sein. Aber Villeneuve konnte den Aufbewahrungsort für die Kopie des Übereinkommens verraten und damit dessen Inhalt preisgeben. Er brach danach zwar zusammen, wohl weil er gegen eine magisch bindende Bedingung verstoßen hatte. Doch die Heiler vom Dienst haben ihn stabilisiert und schätzen, dass er bis zur erwähnten Pressekonferenz wieder aussagefähig ist. Die beiden anderen Hauptbeteiligten denken, er sei vor den Kobolden geflohen, weil die angeblich gedroht haben, jeden zu töten, der ihnen das Bankgeschäft verdorben hat und er der eigentliche Ansprechpartner von denen ist."

"Was auch mit der Formel Flucht ist gleich Geständnis abgehandelt werden könnte", sagte Julius. "Und ich bin sozusagen jetzt aus allen Schwierigkeiten raus?" wollte er noch wissen.

"Sagen wir es so, was Sie mitbekommen haben, Monsieur Latierre, ist nun auch etlichen bis S0 freigegebenen Mitarbeitern von Monsieur Chevallier hinreichend bekannt. Es würde die Lage für die Verschwörer - ja, diesen Begriff hat die Ministerin auch gebraucht - noch unnötig erschweren, Sie zu bedrohen oder Ihnen gar etwas anzutun. Wir können es auch so sagen, dass diese Leute einfach nicht mit den besonderen Fähigkeiten einer Veelastämmigen gerechnet haben, also nicht durch Ihr Verschulden zu Fall gebracht wurden, Monsieur Latierre, sondern durch deren eigene Unwissenheit. Außerdem - und damit verrate ich Ihnen ja nicht wirklich was neues - flog Monsieur Beaubois auf einem sehr morschen Besen oder saß auf einem bebenden Schleudersitz, wenn Sie diese Metapher aus der nichtmagischen Welt bevorzugen. Er überlegt derzeit, ob es für ihn noch einen Sinn ergibt, im Ministerium zu arbeiten. Was Monsieur Colbert angeht, so versucht er wohl, es so darzustellen, dass er den Unternehmern diesen Vertrag angeboten hat, um sie davon abzuhalten, dass jeder einen eigenen Weg beschreitet, was ja zwangsläufig zu gegenseitiger Rivalität, Behinderungen und Chaos geführt hätte. Womöglich war es auch genau seine Absicht, nicht aus Eigennutz, sondern aus Verantwortungsgefühl. Die ihn belastenden dokumente lassen jedenfalls beide Deutungsweisen zu. Ein guter Rechtsbeistand wird da wohl auf Zweifel an seiner Schuld ausgehen und könnte damit Erfolg haben, sollte es zu einer öffentlichen oder geheimen Gerichtsverhandlung kommen. Im Moment wird auch geprüft, ob der Schaden für das Zaubereiministerium nicht größer wird, wenn die Verursacher des "großen Gringotts-Skandals" öffentlich vorgeführt werden. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Kobolde uns im Moment mit großem Argwohn betrachten."

"Was ja im Moment auf Gegenseitigkeit beruht", sagte Julius. "Aber viele wollen die alte Ordnung wiederhaben, wenn geklärt wird, was genau abgelaufen ist."

"Ja, und dafür muss für beide Seiten klargestellt werden, dass eine solche Täuschung nicht erneut geschehen kann."

"Ich war vor zwei Tagen nochmal bei uns hier in Millemerveilles in Gringotts. Die da arbeitenden Kobolde sehen in dem, was die beiden Veelastämmigen gemacht haben, eine Heldentat. Zwar mögen sie immer noch keine zauberstarken weiblichen Wesen, sind aber bereit, den Delacours und Marceaus eine Belohnung zu zahlen, weil durch sie dieser Schwindel aufgeflogen ist", sagte Julius. "Ach ja, und ich habe mir noch einmal diesen Neiderwehrnebel angeguckt. Es wäre für die Kobolde sicher von Vorteil, wenn sie diese Schutzvorkehrung abschaffen. Die Verliesbesucher sollten schon aus zwei Schritten sehen können, was in ihrem Verlies vorgeht. Aber das soll dann jemand anderes mit denen beraten, nicht ich."

"Nun, damit wissen Sie jetzt alles, was Sie als Veelabeauftragter wissen müssen, Monsieur Latierre." sagte Nathalie. Julius nickte.

Weil Nathalie noch einige Minuten Zeit hatte durfte sie das Klavier ausprobieren. Sie spielte Julius Demetrius derzeitiges Lieblingslied vor, bei dem die unteren Töne eine Melodie für sich waren und auf der richtigen Höhe waren, um durch Nathalies Bauchdecke, Gebärmutterwand und das Demetrius umgebende Fruchtwasser zu dringen. offenbar gefiel es ihm, denn Nathalie verzog kurz das Gesicht und lächelte beim Spielen. Sie bedankte sich bei Julius.

Sie verließen beide das Musikzimmer und kehrten wieder in die Wohnküche zurück, wo mittlerweile auch Béatrice und die kleine Clarimonde anwesend waren. Béatrice trug wie Nathalie ihre besondere Unterkleidung und wirkte wieder rank und schlank wie vor der Empfängnis. Nathalie strahlte über ihr ganzes Gesicht, als sie die schon frei laufende Clarimonde sah und begrüßte sie mit erhöhter Stimmlage. Clarimonde freute sich, dass sich jemand freute, sie zu sehen und giggelte und winkte mit ihren kurzen Armen. Dabei geriet sie aus dem Gleichgewicht und plumpste auf den noch gut gepolsterten Po. Doch sie quengelte nicht, sondern warf sich erst in den Vierfüßlerstand und stemmte sich dann wieder hoch. ""Ich weiß, dass Ihre Familie sehr kinderlieb ist, Madame Latierre. Dann verstehe ich auch, dass Sie nicht zehn oder zwanzig Jahre warten wollen. Wissen Sie schon, wen Sie demnächst dazubekommen werden?"

"Zwei weittere rotblonde Prinzessinnen", sagte Millie stolz. Béatrice sagte dazu: "Vielleicht werden es ja Walpurgisnachtsängerinnen."

"Jau, das wäre doch was", sagte Millie freudestrahlend.

Julius half Nathalie, wieder auf den Rost zu steigen. "Und noch einmal diese Fruchtwasserzentrifuge", kam bei Julius eine leicht wehleidig klingende Gedankenbotschaft von Demetrius an. dann verschwand seine Mutter mit ihm in einem smaragdgrünen Flammenwirbel.

"Fruchtwasserzentrifuge, hat mir ein kleiner Bursche in sicherer Verpackung gerade zugemelot", mentiloquierte Julius gleichzeitig an Millie und Béatrice. "Ja, da kriegt so ein Flohpulververbot doch eine ganz andere Bedeutung", schickte Béatrice zurück.

Julius durfte Aurore und Chrysope vom Kindergarten abholen. "Morgen muss ich wieder ins Ministeriumshaus arbeiten. Die brauchen mich da wieder", sagte er Aurore. Aurore war da nicht so glücklich drüber. Doch ihr Papa musste ja weiter Galleonen verdienen, damit sie immer gut zu essen bekamen, auch weil ja demnächst drei weitere Babys bei ihnen wohnten.

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Silver Gleam war sich nicht sicher, ob es nicht eine gemeine Falle der Blutgötzin war, als ihre gute Freundin Moondew ihr am Abend des 5. März die Nachricht überbrachte, dass die falsche Göttin angeblich friedlichen Kontakt mit der Liga freier Nachtkinder suchte. Sicher, die freien Nachtkinder hatten einige dieser abartigen Sonnenschutzhautfabriken zerstört und den Götzinnenanbetern damit die Möglichkeit erschwert, auch am hellen Tag herumlaufen zu können. Doch diese Abgöttin hatte noch immer ihre grauen Superkrieger, von denen die Liga mittlerweile wusste, dass sie durch die Einspritzung von sogenanntem Unlichtkristall oder kristallisiertem Gewalttod so stark und unverwüstlich waren, zumindest solange, wie sie nicht die Laute neugeborener Kinder hörten. Offenbar war ganz junges Leben für diese grauen Überkrieger ein tödliches Gift.

Silver Gleam traf sich mit ihren Bluteltern Erythrina und Bogdan Lunesku in einem von zehn ausgesuchten Verstecken. Vorher hatte sie sichergestellt, dass Moondews schriftliche Mitteilung nicht mit einem Ortungszauber gespickt war. Dafür hatte sie von ihren Erweckerinnen eine kleine aber sehr nützliche Vorrichtung bekommen, den Entheimlichungsanzeiger, der jede Form von Fernbeobachtung, Ortungszauber und auch Illusionsaufhebungszauber vor einer riskanten körperlichen Berührung anzeigte. Der Brief war in dieser Hinsicht sauber, wenn mal davon abgesehen wurde, dass er mit echtem Vampirblut geschrieben worden war.

"Moondew ist immer noch an den Fanatikern dieser Abgöttin dran, Silvy. Ich dachte nach dem Aufdecken der Tempel habe sie sich bewusst von diesen Irregeleiteten ferngehalten", meinte Bogdan Lunesku. Er verzieh dieser falschen Gottheit bis heute nicht, dass sie sein Zuhause und seinen Lebenssinn, den Pub zur blutigen Fledermaus, zerstört hatte.

"Wir müssen wissen, was diese Sekte vorhat oder gerade macht. Und ohne Moondews und ihrer anderer Kontakte Hilfe hätten wir nicht erfahren, wo diese Sonnenschutzhautfabriken sind", rechtfertigte Silver Gleam das Vorgehen. Sicher sucht diese Götzin nach Verrätern in den eigenen Reihen. Es steht auch zu befürchten, dass sie einen Kontakt von uns zu denen aufdecken wird und ihn dann entweder tötet, oder was für uns viel gefährlicher ist, gegen uns einsetzt, sei es, ihn zu ihrem getreuen Gehilfen zu machen oder ihm Informationen zuzuspielen, auf die wir so reagieren, wie sie es gerne haben möchte. Die Gefahr besteht immer. Doch nichts von ihnen mitbekommen zu können ist weitaus gefährlicher", führte Silver Gleam weiter aus. Ihre Bluteltern nickten zustimmend. "Gut, dann möchte ich euch jetzt, nachdem geklärt ist, dass die mir zugegangene Nachricht nicht mit Aufspür- oder Entführungszaubern gespickt ist, das sogenannte Angebot der Blutgötzin vorlesen", kündigte sie an. Dann entfaltete sie das Pergament und begann zu lesen:

"An jene, die bis zu dieser Nacht immer noch dem Glauben anhängen, meine Gegenwart sei ihre Unfreiheit und ihr tod und meine gläubigen Getreuen seien ihre persönlichen Feinde.

Ich, die erwachte große Mutter aller Nachtkinder, bin willens, euer Aufbegehren gegen meine Führung zu vergessen und meinen tapferen Kriegern den Befehl zu erteilen, keinen wider mich antretenden Nachtgeborenen mehr mit Gefangenschaft oder Tod zu bedrohen. Denn es gilt, unser aller Leben zu bewahren, unser Sein über die nächsten Nächte hinaus zu sichern und gegen jene zu bestehen, die jedes Nachtkind als unwertes Leben und/oder tödliche Bedrohung sehen und daher vernichten wollen, sei es einer von euch, die meinen, die eigene Freiheit von jeder Führung bewahren zu wollen oder einer meiner Gläubigen, die sich meiner Obhut und Führung unterworfen haben." Silvergleam pausierte, weil ihre Bluteltern schon ansetzten, gegen diese selbstherrliche Einleitung aufzubegehren. Sie schaffte es, die beiden älteren Nachtkinder zu beruhigen. Dann las sie weiter.

"Der Feinde sind es viele. Da sind die rotblütigen Menschen mit Zauberkräften, die uns als ihre Fressfeinde betrachten und ihr Blut nicht mit uns teilen wollen. Da sind die vom Keim der Mondanheulerei befallenen, die ihr Dasein als einzig wahre Form sehen und uns Nachtkinder deshalb vertreiben oder vernichten wollen, weil sie sich für die wahren Herren der Nacht halten. Dann gibt es noch die vaterlosen Töchter der Unnennbaren, die immer schon unsere Todfeindinnen waren, die durch jene dunkle Kraftwoge, die uns alle bestärkt hat, selbst an Stärke dazugewannen und wohl nun finden, uns endgültig aus der Welt zu schaffen. Vor allem die eine, die selbst die Dunkelheit der Nacht verformen oder am Tage an ihren Standort rufen kann, ist unsere Feindin. Sie war sogar mal unsere allergrößte Feindin, und unsere Vorfahren der Nacht waren froh, dass sie von ängstlichen Zauberkriegern in einen scheinbar ewigen Schlaf versenkt wurde. Doch es ist zu fürchten, dass auch sie wiedererwacht ist und ihre Überheblichkeit sie antreibt, uns Nachtkinder entweder zu ihren willfährigen Sklaven zu machen oder zu töten. Eine noch größere Feindin ist eine Gestalt, die aus miteinander verschmolzenen Dunkelgeistern, auch Nachtschatten genannt, entstanden sein muss und die durch etwas, was wir bisher nicht wissen, im Stande ist, willige Nachkommen aus sich heraus zu gebären oder andere Nachtschatten ihrem Willen zu unterwerfen. Sie bezeichnet sich selbst als wahre Herrin der Nacht und ihre Ausgeburten als die wahren Nachtkinder. Diese können ohne fremde Hilfe zeitlos den Standort wechseln und durch die Einverleibung ganzer Menschen- oder Tierseelen an Stärke zulegen. Es kann sein, dass sie sich mit jener Vaterlosen zusammentun, welche die Dunkelheit selbst verformen kann. Es kann aber auch sein, dass sie auch dieser trotzen und somit zu unseren noch größeren Feinden werden, vor allem jene, die sich als Kaiserin der Nacht oder Mutter der wahren Nachtkinder bezeichnen lässt. Ja, und womöglich habt ihr auch schon erfahren, dass eine uralte Unverschämtheit gegen uns nach Jahrtausendelangem Schlaf wieder aufgewacht ist, jene Rotblüter, die vor undenklicher Zeit von den Zauberkundigen von Feuer und Sonnenlicht zu ausdrücklich gegen uns gewandten Wesen umgeformt wurden und die sich selbst als Sonnenkinder bezeichnen. Ihre Lebensausstrahlung kann uns Nachtkinder auf Abstand halten, ihre Zauberkenntnisse können uns in großer Zahl vernichten. Sie sind dazu gemacht, uns alle auszurotten, wenn wir nicht alle dagegen vorgehen. Doch die wahrhaft schlimmste aller Feindinnen, die wir derzeit zu fürchten haben, ist die wiedererwachte Mutter der Vaterlosen. Denn sie hat einen Weg gefunden, ihre eigene Kraft zu vervielfachen, und sie hat sich eine neue Gestalt erwählt, aus der heraus sie hunderte von uns an Stärke ebenbürtigen bis überlegenen Kriegsknechten und -mägden gebären kann. Die, deren Name uns verhasst ist, muss Zugang zu einem uralten Geheimnis ewigen Lebens und unermesslicher Kraft besitzen. Ich weiß, wo sie zu finden ist. Doch dieser Ort wird von ihren mächtigsten Zaubern gegen uns beschützt. Selbst meine grauen Paladine, sonst unbezwingbar, konnten dort nicht landen, um ihr Dasein und das ihrer Brut zu beenden. Sie alle werden keinen Unterschied machen, ob es mir weiterhin entsagende oder mir treu und dienstbar zugetane Nachtkinder sind. Sie werden sie alle auf ihre Weise bekämpfen und vernichten, bis keine Tochter der Nacht und kein Sohn des Blutes mehr auf dieser Welt ist.

Ich wende mich an alle die, die eigene Familien haben. Wollt ihr um einer fragwürdigen Auslegung von Freiheit und Unabhängigkeit wegen diesen Feinden hilflos ausgeliefert bleiben? Meine gläubigen Töchter und Söhne wollen dies jedenfalls nicht. Es kann nicht in unser beider Sinne sein, uns weiter zu befehden, uns gegenseitig zu schwächen oder gar nach dem Ende der jeweils anderen Gemeinschaft zu trachten, wenn es dort draußen in der Nacht und ja auch am hellen Tag viel mehr als genug Wesen und Gemeinschaften gibt, die unser Ende wollen und die Macht haben, es herbeizuführen. Wir müssen in dieser schweren Zeit und dieser höchst gefahrvollen Lage unserem Blut allein gehorchen, es zu wahren und gegen jede Bedrohung zu verteidigen. Wir sollten daher einen Frieden schließen, der solange währt, wie es übermächtige Feinde unseres Daseins gibt. Daher habe ich meine Hohepriesterin Nyctodora angewiesen, eurem Fürsprecher oder eurer Fürsprecherin die Hand zur Versöhnung und zur Verbundenheit entgegenzustrecken. Ich erbitte in meiner großen Hoffnung, euer Ohr gefunden zu haben, bis zum Tag, den die Rotblütler den fünfzehnten März nennen, eine verbindliche Antwort, ob es zu einem Treffen in gegenseitiger Achtung des Lebens und Friedens kommen kann und ob wir dann ein festes Bündnis aller Nachtkinder schmieden können, welches den Widersachern wirksam widerstreben kann.

Ich, die große Mutter aller Nachtkinder, grüße euch, die ihr vom selben Blute der Ureltern seid wie meine treuen Töchter und Söhne."

"Was lesen wir aus diesem ganzen Zeug?" fragte Bogdan seine Frau und seine Tochter. Silver Gleam lächelte und entblößte dabei ihre spitzen Eckzähne. "Sie hat gemerkt, dass sie gegen alle ihre Gegner nichts ausrichten kann. Sie fühlt sich an mehreren Fronten zugleich bekämpft und sucht jetzt nach Verbündeten, die ihr helfen sollen", sagte Silver Gleam. "Sie hat nicht damit gerechnet, dass es immer noch über zweihundert Nachtkinder gibt, die ihr nicht folgen wollen. Dann haben wir es auch gewagt und geschafft, eins ihrer Lieblingsprojekte zu verderben, die tageslichtunempfindlichen Getreuen. Sicher wird es einige von uns geben, die auf dieses Getue anspringen, bloß nicht allein gegen eine Heerschar Feinde zu stehen. Wollt ihr euch mit ihr aussöhnen?"

"Erst wenn die Sonne gefriert und in der ewigen Dunkelheit verschwindet", knurrte Bogdan Lunesku. Seine Frau nickte ihm eifrig zu. "Ich sehe da auch keinen Sinn drin", offenbarte Silver Gleam. "Denn wie wird es laufen? Es wird ewig lange Verhandlungen geben, wer dieses "Bündnis aller Nachtkinder" anführen soll. Da sie offenbar sehr mächtig ist wird sie diesen Führungsanspruch nicht aufgeben. Außerdem werden jene, denen wir gut eingeschenkt haben auf Vergeltung oder Wiedergutmachung für die erlittenen Verluste an Familienangehörigen oder Sachwerten bestehen. Wie viele Nächte soll darüber verhandelt werden? Nein, ich persönlich lehne es ab, mit dieser falschen Göttin Frieden zu suchen, die offenbar ganz und gar von den zerstörerischen Gedanken des Erzeugers unserer Art besessen ist."

"Ja, doch wir haben nicht zu bestimmen, wie unsere Gemeinschaft sich entschließen soll", wandte Erythrina ein. "Wir müssen dieses Sogenannte Friedensangebot an alle Zellen unserer Gemeinschaft weitergeben und jede einzeln beschließen lassen, was sie vorhat. Auch wenn Demokratie nicht immer zu für alle gleichsam erträglichen Ergebnissen führt sollten wir, gerade um der Alleinherrschaftsphantasie dieser Blutgötzin entgegenzuwirken, auf dieses Entscheidungsprinzip setzen, dass die Mehrheit bestimmt, wie es weitergeht. Wer nicht mit der Götzin zusammenwirken will kann ja dann auf eigenen Wegen wandeln."

Silver Gleam nickte. "Deshalb gibt es von diesem Schreiben schon Kopien, die ich an die weiteren Zellen weitergeben kann. Hier, bitte, für jeden, den ihr beide aus den anderen Zellen kennt." Damit zog sie einen Packen Pergament aus ihrem dunklen Kleid und teilte magisch erstellte Abbilder der Orginalmitteilung aus. Sie dachte dabei, dass dieses sogenannte Friedensangebot ein tückisches Gift sein konnte, dass den Zusammenhalt in der Gemeinschaft freier Nachtkinder schwächen oder ganz zerstören mochte. Andererseits stimmte es schon, dass es viele Feinde gab. Doch gerade was die Sonnenkinder anging, so waren diese doch bisher immer gegen die Anhängerschaft der Blutgötzin vorgegangen und taten dies offenbar noch mehr als vorher. Außerdem wurden diese wohl nur deshalb aus ihrem jahrtausendelangem Schlaf geweckt, als dieses amerikanische Freudenmädchen namens Lady Nyx den Einflüsterungen des Mitternachtssteins folgend Nocturnia begründen wollte. Solange es keinen Bund der Nachtkinder gab, ja jeder Clan im eigenen Revier blieb, bestand offensichtlich keine Notwendigkeit, die uralte Geißel aller Nachtkinder aus der Beinahevergessenheit zurückzuholen. Sicher, das mit der unnennbaren Mutter der neun vaterlosen Töchter war zu bedenken. Hatte die wirklich einen Weg gefunden, mal eben hunderte von Kriegern auszubrüten - wie eine Ameisenköniginn? Falls sie genau diese Natur für sich entdeckt hatte konnte es ernsthaft schlimm werden, ja wirklich schlimmer als mit den Sonnenkindern. Denn sich vorzustellen, dass jedem Nachtkind zehn magisch aufgeladene Kerbtiersoldaten gegenüberstanden war in der Tat wie die Aussicht, gleich von allen Strahlen der Sommermittagssonne getroffen zu werden. Doch genau das konnte auch eine dreiste Lüge sein, um allen Nachtkindern Angst zu machen und sie der falschen Göttin gefügig zu machen. Von den Nachtschatten, die von einer Verschmelzung aus zwei solcher, beiderseits weiblichen Dunkelgeistern geführt wurden, hatte sie von ihren Erweckerinnen gehört. Die bereitete auch den Rotblütlern Sorgen und Verdruss. Wenn die sich für die einzig wahren Nachtkinder hielten war das natürlich ein schier unlösbarer Interessenskonflikt. Dann fiel Silver Gleam ein, dass die Liga freier Nachtkinder da im Vorteil war, da es keine Absprache gab, dass jeder Clan einer einzigen Linie folgen musste, was den Umgang mit Menschen und Zaubergeschöpfen anging. So konnten sich die Vampire und Nachtschatten getrost aus dem Weg gehen und in ihren eigenen Revieren jagen. Das missfiel jedoch dieser falschen Göttin, weil da wer sein mochte, die ihrer Macht Grenzen setzte.

So ging nun die Nachricht der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder um die Welt. Ob die Liga freier Nachtkinder auf dieses Friedensangebot und den Aufruf zur Einigkeit eingehen würde stand jedoch in den Sternen.

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10.03.2005

Béatrice und Hera hörten sich zusammen die von Nathalie Grandchapeau erwähnte Pressekonferenz an. Dabei erwähnte die Zaubereiministerin, dass die Vorfälle vom 24. Februar auf Betreiben einer Gruppe von Leuten zurückging, die den Kobolden das Recht an der Goldverwahrung und Goldwertbestimmung entreißen wollten, was nur über einen großen öffentlichen Unmut glaubhaft geworden wäre. "Nun, es haben viele meinen Rücktritt gefordert, weil ich angeblich so nachgiebig zu den Kobolden gewesen sei. Doch wenn Sie die von uns erhobenen Beweise sichten werden Sie feststellen, dass mein Rücktritt die Lage nicht verbessert hätte. Wie die Prüfungen unter Anwesenheit von Strafverfolgungsmitarbeitern und Desumbrateuren ergab haben die von Monsieur Colbert und Monsieur Beaubois befehligten Mitarbeiter mit für ganz bestimmte Zwecke entwickelter Ausrüstung den Anschein fehlenden Goldes und sonstiger Wertgegenstände erzeugt. Die Vorrichtungen konnten alle eingezogen werden und werden nur noch auf klare Anweisungen für klar benannte Ziele herausgegeben. Mehr möchte ich aus Gründen der Sicherheit der Zaubererwelt nicht ausführen. Bitte bedenken Sie das, dass viele von Ihnen ruhiger schlafen können, wenn wir unsere Arbeit ohne ständige Beobachtung durch Presse und Rundfunk machen können."

Die Ministerin erwähnte dann, dass Monsieur Colbert klargestellt habe, dass es ihm vordringlich um die Ordnung und Stabilität des magischen Handels gegangen sei. Dennoch erkenne er an, dass er die Hauptlast dieses sehr großen Ärgernisses trüge und stellte sein Amt zur Verfügung. Seine Nachfolge sollte jemand außerhalb seiner Abteilung vorschlagen.

Simon Beaubois, der zunächst abgestritten hatte, dass es um die Entrechtung der Kobolde gegangen sei, wollte ebenfalls zurücktreten. Colbert bot an, in der Außenstelle auf Réunion zu arbeiten, um weiterhin dem Ministerium zu dienen. Die Ministerin nahm dieses Angebot an. Beaubois bat um seinen regulären Abschied und verzichtete auf einen Teil seiner Pensionsansprüche, da er wohl habe lernen müssen, dass er seinem Amt und der magischen Bevölkerung eher geschadet als genützt habe. Als seinen Nachfolger schlug er den Vampirexperten Charlier vor, zumal ja in allernächster Zeit mit mehr Ungemach von den Blutsaugern zu rechnen sei. Doch die Ministerin erwähnte, dass sie die Entscheidung über die Nachfolge diesmal nicht selbst treffen würde, sondern die Behördenleiter selbst über ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger abstimmen lassen würden, allein um den nötigen Rückhalt zu gewährleisten und nicht erneut den Eindruck zu haben, von oben her bestimmt zu werden. Sie begründete es auch mit der Wichtigkeit der Abteilung, auch und vor allem, weil es nun darum gehen mochte, mit allen denk- und handlungsfähigen Zauberwesen eine tragfähige Übereinkunft zu finden, die den Frieden zwischen den magischen Geschöpfen bewahren konnte. Das gefiel Beaubois nicht wirklich, konnte man ihm anhören. Doch er erkannte, dass er seinen Vorrat an Rechten verbraucht hatte.

Bei der anschließenden Fragerunde hörten Hera und Béatrice auch Millie. "Mademoiselle La ministre, in den letzten Tagen wurden die Kobolde sehr übel beschimpft, weil sie uns solange nicht an unser Gold gelassen hatten. Denken Sie, dass es schon bald ein neues Abkommen mit ihnen geben wird?"

"Nun, Bald ist ein dehnbarer Begriff. Deshalb kann ich Ihre Frage nur so beantworten, dass wir auf eine zeitnahe Entscheidung hoffen und nicht erst zehn Jahre verhandeln müssen. Die Entwicklungen in anderen Ländern gibt zwar zur Besorgnis anlass, dass eine Übereinkunft mit den Kobolden schwierig sein wird, solange in Russland, Italien oder den USA eine klare und scheinbar unumkehrbare Abneigung gegen diese Zauberwesengruppe besteht, und in Deutschland ringt mein Amtskollege Güldenberg gerade darum, sowohl mit den Kobolden als auch den Zwergen ein stabiles Koexistenzabkommen zu erzielen. Doch inwieweit das für ein rein französisches Bündnis mit denkfähigen Zauberwesen förderlich oder hinderlich sein mag werden erst die Verhandlungen erweisen."

"Warum mussten Monsieur Beaubois und Monsieur Colbert auf derartige Methoden zurückgreifen? Es wäre doch für alle hier nachvollziehbar gewesen, wenn wir das Abkommen mit den Kobolden aufgekündigt hätten", sagte der Vertreter des Miroir Magique, der anders als die Temps de Liberté grundweg gegen die Beibehaltung der alten Vereinbarungen gesprochen hatte.

"Da Ihre Zeitung diese Haltung gerne bekräftigt hat erinnern Sie sich sicher auch an die Frage, die Monsieur Beaubois Ihnen vorhin allen gestellt hatte: Hätten alle magischen Mitbürger eine derartige Lossagung hingenommen? Sie hätten doch alle und das zurecht Angst um die in Gringotts eingelagerten Vermögenswerte gehabt. Sie brauchen nur nach Russland oder Italien zu blicken. In Italien gingen mehrere Verliesinhalte verloren, weil die dortige Verwaltung der Meinung war, mit Brachialmagie die Verliese öffnen zu müssen. In Russland wissen die Leute gerade nicht, wohin mit ihren wertvollen Habseligkeiten, weil kein Zauberer ähnlich gute Sicherheitsvorkehrungen hinbekommt, wie sie über Jahrhunderte von den Kobolden vorgehalten wurde, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen. Würde jeder magische Mensch die erarbeiteten Vermögenswerte im eigenen Haus aufbewahren würde das auf kurz oder lang Begehrlichkeiten wecken. Die Folge wäre ein gegenseitiges Misstrauen, ja sogar magische Auseinandersetzungen beim kleinsten Anlass. Daher wäre es von vorne herein klüger gewesen - natürlich ist jeder hinterher immer klüger als vorher - die nötige Geduld aufzubringen und den Kobolden sogar zu helfen, unser aller Gold wieder sicher zu verwahren und nur den rechtmäßigen Eigentümern zu überlassen."

"Ist das nicht doch eine zeitungemäße Bequemlichkeit, Zaubereiministerin Ventvit?" wollte derselbe Reporter noch wissen.

"Zumindest schon mal sehr freundlich, dass Sie mir keine Feigheit unterstellen", erwiderte die Zaubereiministerin. Alle Anwesenden lachten. "Es war nie bequem, nach Gringotts hineinzugehen, fast eine Stunde lang bis zu den Verliesen zu fahren und unter den Augen eines Mitarbeiters von dort an das eigene Vermögen zu gelangen und dann wieder zurückzufahren. Es war nie bequem, jedes Jahr mit den Kobolden über die Mietzinsen für jedes Verließ zu verhandeln. Und was bitte war daran bequem, damit zu leben, dass Kobolde bestimmen, wieviel unser Gold wert ist? Das genau waren doch die Argumente, die Monsieur Colbert und seine kaufmännischen Verbündeten dazu bewogen haben, das alles zu angeblich unseren Gunsten zu beenden. Ich weiß, die damen und Herren aus den magischen Fabriken und Dienstleistungen ärgern sich jetzt, dass ihr angeblich so kluger Plan gescheitert ist und mögen gerne an neuen Ideen feilen. Doch wenn Sie alle, nicht nur die Handeltreibenden und Dienstleister, Wert auf eine stabile Wirtschaft mit stabilen Goldwert legen, sollte das alles nicht von einzelnen Leuten jeden Tag aufs neue in Frage gestellt werden dürfen. Da ich davon ausgehe, dass die allermeisten unternehmerisch tätigen Hexen und Zauberer intelligente Leute sind gehe ich davon aus, dass ihnen die Sicherheit und stabile Wertlage der Zahlungsmittel wichtiger sind als ein kurzfristiger Übergewinn auf Kosten anderer. Ich hoffe auch sehr, da nicht auf einen löcherigen Kessel zu klopfen. Möchte noch jemand was fragen?"

Die Schreiberin für die Monde des Sorcières wollte wissen, ob gegen Madame Delacour nun Strafanzeige erstattet wurde, weil sie mal eben über hundert Zauberer und Hexen hatte erstarren lassen. "Zum einen wurde die Strafe bereits ausgesprochen. Madame Delacour ist gehalten, eintausend Galleonen in zehn Raten an den Hilfsfond für Opfer des dunklen Jahres zu zahlen. Zum zweiten hat sie mit ihrer Handlung nur versucht, ihr Leben und das Ihres mannes zu schützen. Daher konnte Monsieur Chevallier auf die Einberufung des Zaubergamots verzichten. Was die beiden Prüfer angeht, die Madame Delacour und Madame Marceau handlungsunfähig gemacht haben, so haben diese auf eine Anzeige wegen Körperverletzung oder zeitweilige magische Beeinträchtigung verzichtet, weil die beiden Veelastämmigen davon ausgehen mussten, Opfer eines kriminellen Vorganges zu sein. Es stand zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht fest, was genau geschehen war. Nächste Frage bitte!"

Millie wollte noch einmal wissen, ob die scheinbar um ihre Ersparnisse gekommenen wieder alle ihre Wertanlagen so sehen konnten, wie sie vorher waren, weil die Kobolde ja Gringotts weiterhin verschlossen hielten.

"Nun, die Wertgegenstände sind nicht wirklich verloren, wie wir mittlerweile wissen. Alle betroffenen Verliese sollen demnächst mit der uns dem Ministerium bekannt gewordenen Methode von jenen Verbergezaubern befreit werden. Dafür brauchen wir aber sowohl die Mitarbeit der dortigen Kobolde als auch das Vertrauen jener Kunden, die am 24. Februar zum Opfer jener Täuschungsaktion wurden. Das wird sicher ein paar Tage oder Wochen dauern. Ich bitte alle Ihre Berichte verfolgenden Hexen und Zauberer um Geduld. Gehen Sie davon aus, dass was Sie nicht ergreifen können auch kein anderer ergreifen kann, der nicht genau im Kopf hat, wonach er oder sie greifen will und keine überragende Aura wie eine Veelastämmige besitzt. Ihr Gold ist nicht verloren. Es wurde sozusagen in der Zukunft versteckt." Wieder lachten viele. "Schön, dass Sie diese Vorstellung amüsiert, Messieursdames et Mesdemoiselles", erwiderte die Ministerin ebenso vergnügt.

"Soweit so gut", meinte Hera, als die Pressekonferenz vorbei war. "Ich weiß nicht, ob die Kobolde wirklich das kleinere Übel sind, Hera", sagte Béatrice. "In der magielosen Welt bestimmt eine von der Regierung unabhängige Bank den Wert ihres Geldes. Das hätten wir ja auch einführen können. Nicht wie in den USA, wo jetzt das Zaubereiministerium bestimmt, wie viel jemand ausgeben kann und was es wert ist. Ein Rat, wo alle am Goldwert interessierten Gruppen beteiligt sind wäre doch was."

"Das wäre schon was", stimmte Hera zu. "Aber du siehst ja, dass sich Kobolde, Zwerge und Veelastämmige nicht riechen können. Da muss erst mal das von der Ministerin beschworene Abkommen her. Dann können wir sowas wieder andenken."

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14.03.2005

Am Morgen erhielt Julius Latierre eine schriftliche Aufforderung, an einer Konferenz um elf Uhr teilzunehmen, an der alle in die Angelegenheit von Gringotts einbezogenen Abteilungen teilnehmen sollten. Da er quasi sein eigener Behördenchef in Veela-Angelegenheiten war galt er als damit befasst. Natürlich prüfte er die handgeschriebene Einladung, ob sie wirklich von der Ministerin stammte. Denn im Moment wagte er nicht so recht jedem Memo zutrauen, dass ihm zuflog. Allein schon, dass Colbert und Beaubois versucht hatten, das Handelssystem auf Kosten der magischen Bevölkerung umzustoßen und nach ihrem Bild neu zu erschaffen hatte ihn doch ein wenig an der Integrität des Ministeriums zweifeln lassen. War bald schon der Punkt erreicht, wo die Zaubereiministerin nur noch wenige vertrauenswürdige Unterstützer hatte? Zumindest hatte sie am zehnten März gezeigt, dass sie noch eine gewisse Macht hatte. Doch was wäre gewesen, wenn Strafverfolgungsleiter Chevallier auch zu den Verschwörern gehört hätte?

Wegen der Konferenz bei der Ministerin entfiel die übliche 10-Uhr-Konferenz bei Nathalie. So hatte Julius noch mehr Zeit, liegengebliebene Vorgänge abzuarbeiten. Um kurz vor elf war er dann mit allem durch, was er noch zu erledigen hatte.

Als er um eine Minute vor elf den Konferenzraum auf der Ministeriumsetage betrat blickte er sich verwundert um. Denn gleich drei Überraschungen erwarteten ihn hier.

Die erste Überraschung war, dass Barbara Latierre offenbar die neue Gesamtabteilungsleiterin für magische Geschöpfe war. Die Tierwesenabteilung hatte Philippe Lamarck zum neuen Leiter bekommen. Wie das genau abgelaufen war und warum die Latierres es bis heute nicht mitbekommen hatten würde er wohl hoffentlich noch erfahren.

Die zweite Überraschung war, dass zwei Kobolde mit am Tisch saßen, die nicht dreinschauten wie vorgeladen oder gar vorgeführt, sondern auf eigenen Wunsch hinzugebeten. Den einen kannte Julius. Es war Pieroche aus Millemerveilles. Der zweite schien noch recht jung zu sein. Er trug einen rot-goldenen Anzug, der aus Drachenhaut gemacht worden sein mochte. Pierroche sah Julius ein wenig beklommen an. Doch dann entspannte er sich wieder.

Überraschung Nummer drei war die Anwesenheit des Leiters für internationale magische Zusammenarbeit. Also mochte das was hier besprochen wurde über die Landesgrenzen hinausreichen oder wirkte bereits von außerhalb der Staatsgrenzen auf die französische Zaubererwelt ein.

Als Vertreter der Handelsabteilung war Quintus Fourier erschienen. Von ihm wusste Julius jedenfalls, dass er der neue Leiter dieser Abteilung war. Dann war auch noch Strafverfolgungsleiter Chevallier dabei und ein Herr, den Julius noch nicht kannte. Deshalb wusste er nicht, ihn einzuordnen.

Die Ministerin betrat um fünf nach elf mit Nathalie Grandchapeau den Konferenzraum. "Ah, sie sind alle anwesend. Sehr gut", begrüßte die höchste Hexe der ffranzösischen Zaubereigemeinschaft die anderen und bat sie, platzzunehmen. "Ich habe Monsieur Bernaud aus dem Zwergenverbindungsbüro hinzugebeten, da er uns gerne eine an ihn ergangene Nachricht aus dem französischen Zwergenvolk vortragen möchte, die, wie ich sicher bin, eine gute Diskussionsgrundlage bilden wird", sagte die Ministerin und deutete auf den Julius noch unbekannten Teilnehmer. "Auch beglückwünsche ich Madame Barbara Latierre, dass sie in der heutigen Abstimmung aller Abteilungsmitglieder eine komfortable Dreiviertelmehrheit erzielen konnte und somit den für die Aufarbeitung der vergangenen und die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Anliegen ihrer Abteilung einen beachtlichen Rückhalt besitzen dürfte. Bitte reichen Sie meinen Glückwunsch an Monsieur Lamarck zur Beförderung zum Leiter der Tierwesenbehörde weiter!" Barbara Latierre nickte.

Der erste Tagesordnungspunkt war, dass nun alle Zweigstellen von Gringotts in Frankreich wiedereröffnet hatten. Die Kunden, die am 24. Februar noch lautstark über Verluste geschimpft hatten, konnten mittlerweile vermelden, dass alle ihre Ersparnisse noch vollständig waren. Jetzt, wo man wusste, womit die Täuschung durchgeführt worden war, waren sämtliche Anzeigen gegen die Kobolde zurückgezogen worden. "Es erscheint uns sehr angebracht, dass wir den Eheleuten Delacour und Marceau eine großzügige Belohnung erstatten, weil sie unsere geschäftliche Ehre gerettet und uns vor sonst zu zahlenden Entschädigungen bewahrt haben", quetschte der Leiter der Filiale Paris hervor. Dann sagte er noch: "Ja, und ich muss auch noch hier vor Ihnen erwähnen, dass ich nicht mehr der Gesamtleiter von Gringotts Frankreich, sondern nur der Leiter der Zweigstelle Paris bin. Die Gesamtzentrale in London sah es als schweres Versäumnis an, dass ich meinen Mitarbeitern befohlen habe, die Prüfungszauberer zunächst alleine hineingehen zu lassen. Der neue Gesamtleiter von Gringotts Frankreich ist Monsieur Pierroche." Das sagte er mit unüberhörbarem Unmut. Julius konnte sich sogar denken, dass Pierroche die Gelegenheit genutzt hatte, bei den oberen Stellen Stimmung gegen den Chef von Paris zu machen und wohl auch angefügt hatte, dass die französischen Zweigstellen nur deshalb so schnell wiedereröffnet werden konnten, weil alles von Millemerveilles aus koordiniert wurde. Julius zwang sich, nicht vergnügt oder gar überlegen zu gucken, als Pierroche ihn erneut mit gewisser Beklemmung ansah. Denn nun stand es fest, dass Millie und er quasi die gesamte Führung von Gringotts beherrschten, falls sie Pierroche glaubhaft machen konnten, dass dessen Kollegen ihnen ans Leben wollten. Der konnte jetzt im Grunde alle feuern, die Julius oder Millie dummkamen. Ja, Macht war ein sehr süßes, berauschendes Mittel, bei dem Paracelsus' Hinweis um so mehr galt, dass die Dosis das Gift machte.

Der zweite Tagesordnungspunkt betraf den internationalen Handel und den damit verbundenen Umgang mit den Kobolden, nicht nur in Frankreich, aber auch die Zusammenarbeit mit den Zwergen. Monsieur Bernaud aus dem Zwergenkontaktbüro verlas hierzu einen Brief des französischen Zwergenkönigs. Dieser prangerte die Saumseligkeit der Kobolde an und zeigte sich verwundert, dass man diesen trotz ihrer Versäumnisse und Unterlassungen wiederum das alleinige Goldverwahrungs- und Wertbestimmungsrecht zuerkennen wollte. Er wies in einer sehr umständlichen Sprache darauf hin, dass die Ereignisse seit dem 26. Dezember gezeigt hatten, dass der internationale Handel und Geldverkehr nicht in den Händen einer einzelnen, eigene Interessen verfolgenden Gruppierung liegen dürfe. Er schlug vor, das Goldverkehrsrecht in der Zaubererwelt dahingehend zu ändern, dass alle mit Gold zu tun habenden Gruppierungen einen gemeinsamen Goldwertbestimmungsrat, ein Concilium auri begründen mögen, um für die Zukunft auf Ausnahmefälle wie den vom 26. Dezember vorbereitet zu sein. Da dieses Vorhaben, sollte es umgesetzt werden, nicht auf staatlicher Ebene alleine wirksam bleiben würde galt es, alle interessierten Länder, in denen Menschen, Kobolde, Schwarzalben und Veelastämmige lebten, in die Verhandlungen einzubeziehen. Denn er, König Roudorin IV., würde einem Abkommen nur dann zustimmen, wenn auch seine Amtskollegen aus anderen Ländern mit einbezogen wurden.

Wie die Ministerin es angekündigt hatte entspann sich nach der Verlesung des Briefes eine rege Diskussion, ob nach den Kobolden nun auch die Zwerge an der Goldwertfestlegung beteiligt werden sollten. Dies lehnten die anwesenden Kobolde jedoch ab. "Das wird die Hauptzentrale, ach was, der Rat der grauen Bärte nicht zulassen", sagte Orcliche. Sein Vorgesetzter Pierroche nickte eifrig und sagte: "Dieser Malin in Deutschland hat unseren Kollegen da mit offenem Krieg gedroht, wenn wir nicht das Goldwertbestimmungsrecht mit ihm teilen. Außerdem will er sich Australien einverleiben, wo keine Kobolde mehr sind. Sein englischer Amtskollege Swordrin VII., möge ihm der graue Bart beim Klogang abfallen, ist da ganz auf seiner Seite."

"Sie Sehen, Messieursdames, dass dieses Thema die Brisanz eines lodernden Drachenfeuers in sich birgt. Daher erwarte ich von Ihnen allen konstruktive Vorschläge, ob und wenn ja wie Verhandlungen zwischen uns, sowie den Kobolden, Zwergenund Veelastämmigen begonnen und vorangetrieben werden können", sagte die Ministerin. "Mit den Saufbärten wird es keinen Bund geben", krakehlte Orcliche, während Pierroche immer wieder verbittert umherblickte. Er sagte dann noch: "Das der bierbäuchige Roudorin das erwähnt, nur auf das einzugehen, wo auch alle anderen Langbärte mitreden dürfen zeigt, dass dieser Malin ihn schon entsprechend beklopft und behämmert hat, auch wenn der dicke Roudorin sich immer gerne als frei von anderer Zwerge Ansichten darstellt. Am Ende macht der Kriegsbrüller aus dem Schwarzwald noch einen Bund mit den Urvölkern da oben im Eisland, wo unsereins nur geduldet wird, wenn wir schön brav als Hausknechte dienen oder eins auf die Mützen kriegen", sagte Orcliche. "Also, wir haben Gringotts wieder offen, für Sie alle hier im Raum und alle, die Sie vertreten. Mehr muss doch nicht sein, oder?"

"Wir hätten vielleicht doch wen von den Zwergen herbitten sollen", sagte Bernaud. "Damit die und die Kobolde das Mobiliar zerlegen?" fragte Fourier und fügte hinzu, dass er gewillt sei, den Status quo ante desastrem zu bewahren."

"Natürlich wäre es für uns alle sehr wünschenswert, nun mit dieser Ausnahmelage abzuschließen und den gewohnten, also bekannten Zustand wiederherzustellen", wandte der Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit ein. "Doch wie Monsieur Orcliche gerade erwähnt hat dürften die Zwerge nun nicht mehr davon abgehen, eine Mitsprache zu fordern. Auch weiß ich von meinem Kollegen aus Deutschland, dass dieser Malin VIII. bereits genug Unterstützung hat, um den friedlichen Handel zu stören, falls Minister Güldenberg nicht auf dessen Bedingungen eingeht."

Julius meldete sich. "Sie erwähnten die Veelastämmigen. Ich bin ein Mensch, kein Veelastämmiger. Von denen ist aber niemand hier. Abgesehen davon, wenn jetzt über eine Partnerschaft von Zauberwesen nachgedacht wird, dann mögen bitte auch alle uns größtenteils friedlich gesinnten Wesen mit einbezogen werden, also auch die Meermenschen, die Hauselfen, die nordischen Huldren und die spanischen Meigas. Denn wir reden ja hier von einem internationalen Bündnis. Mehr kann und darf ich dazu nicht vorschlagen.

"Wir setzen uns nicht mit nach schalem Bier und Grubenschweiß stinkenden Zwergen an denselben Tisch", zeterte Orcliche. Pierroche sah Julius an, als sei es von dem abhängig, was er dazu sagen sollte. So sagte Julius: "Ich akzeptiere, dass Sie wegen der jahrhundertealten Streitigkeiten keinen Sinn in Verhandlungen sehen möchten. Doch wenn die anderen Möglichkeiten Sie und uns gleichermaßen beeinträchtigen sind Verhandlungen besser als ein offener, blutiger Krieg. Oder es mit den Worten eines profitorientierten Geschäftsmannes zu sagen: Frieden ist gut für den Handel, solange Sie kein Waffenhändler sind. Sind Sie das, Monsieur Pierroche, Monsieur Orcliche?""

"Hornuck!!" Fluchte Orcliche und wurde von seinem neuen Vorgesetzten sofort zur Ordnung gerufen. Dann sagte Pierroche: "Sie und wir haben über Jahrhunderte ein zumindest auf beiden Seiten annehmbares Verhältnis gepflegt. Die Zwerge interessiert das nicht. Sie wollten die Lage nutzen, um uns das Goldwertbestimmungsrecht zu nehmen. Jetzt, wo unsere Zweigstellen wieder aufgemacht haben sehen die Zwerge ihre Gelegenheit in die Grube ohne Boden verschwinden. Natürlich drängen und drohen, schikanieren und intrigieren sie nun gegen uns und auch Sie. Prüfen Sie bitte erst einmal nach, ob die hiesigenZwerge damit leben können, dass die für sie gewährten Bedingungen weiter angenommen oder abgelehnt werden. Malin ist noch nicht lange auf dem eisernen Thron unter den Deutschen Bergen. Er will sich beweisen, sich als großer, entschlossener und tatkräftiger König zeigen. Prüfen Sie bitte erst, ob die französischen Zwerge auf dessen Kriegsgebrüll eingehen oder nicht! Dann dürfen Sie gerne auf die Idee des Veelavertreters eingehen und alle sprachbegabten Wesen zusammenrufen."

"Damit Ihr Volk, vor allem die auch von Ihnen so gefürchteten zehntausend Augen und Ohren die Zusammenkunft wieder stören und wertlos machen wie damals, wo sie meinten, die Trolle als sprachfähige Zauberwesen einstufen lassen zu wollen?" fragte Barbara Latierre.

"Ich gehöre dem Bund nicht an", beteuerte Pierroche. "Und der für den Mittelmeerraum sprechende Meister Gischtbart wird wohl auch nichts anstellen, was eine friedliche Unterhandlung stören wird. Doch wenn er sagt, dass wir nicht mit Zwergen reden, dann reden wir nicht mit Zwergen. Abgesehen davon werden die grauen Bärte nicht auf eine internationale Vereinbarung eingehen, solange diese Drei-in-Einer-Mörderin dort alle wichtigen Zauberer lenkt und dieser selbstherrliche Arcadi in Moskau uns diese bissigen und eisenkralligen Quieker auf die Hälse schickt, damit wir bloß nicht mehr dort arbeiten können."

"Tja, das gilt dann wohl Ihnen", sagte die Ministerin zum Leiter für internationale Zusammenarbeit. "Arcadi kann nur überzeugen, der eine ganze Flasche Wodka mehr am Abend trinken kann als er selbst", grummelte der Angesprochene. Julius nickte. Das Maximilian Arcadi trinkfest war wusste er selbst auch schon.

"Dann kann ich im Moment nur bekunden, dass es nach dieser Konferenz Sondierungen mit den Zwergen geben soll und die Kobolde nur auf internationale Abkommen eingehen, wenn sämtliche in Europa lebenden Kobolde darin einbezogen werden. Ebenso schlägt Monsieur Latierre vor, dass auch alle anderen mit uns gut auskommenden Zauberwesen an derartigen Beratungen und einem vielleicht möglichen Abkommen beteiligt werden mögen. Das dürfen dann die Kollegen aus der Zauberwesenabteilung aushandeln. Dann kann und möchte ich diesen Tagesordnungspunkt beschließen, sofern keiner mehr einen weiteren Standpunkt vertreten möchte." Zehn Sekunden Stille folgten. "Gut, dann möchte ich den dritten und letzten Tagesordnungspunkt aufrufen", sagte die Ministerin.

Im Vergleich zum vorangegangenen Tagesordnungspunkt war die Unterhaltung über mögliche Entschädigungen der Kobolde wegen des Verdienstausfalls zwischen dem 24. und 28. Februar harmlos. Denn der Verdienstausfall für die Zauberer wog schwerer. Außerdem konnte ja keine einem einzelnen Lebewesen oder einer Gruppe zuerkennbare Schuld festgestellt werden. Pierroche meinte zwar, dass die australischen Buschvölker diesen Erdmagieaufruhr ausgelöst hätten. Doch Julius, der hierzu ums Wort bat, erklärte, dass dieser Zauber nur eine Reaktion auf einen offenbar seit Jahrhunderten im Ozean schlummernden Quell dunkler Kräfte gewesen sei und erklärte Pierroche und Orcliche, warum die australischen Ureinwohner ihr Land mit starken Erdzaubern durchwoben hatten. "Sie erinnern sich ja sicher auch noch, wie wir die Schlangenmenschen aus der Vorzeit hier bei uns hatten. Die wollten Sie sicher nicht als Kunden. Genau diese Wesen drohten, Australien zu überschwemmen. Da mussten die dortigen Magier handeln. Sie hätten sich auch mit allem gewehrt, was ansatzweise Erfolg gebracht hätte." Der Leiter der internationalen Zusammenarbeit räusperte sich und bat ums Wort. Er sagte:

"Ich bitte den jungen Kollegen Latierre darum, seine Zuständigkeiten nicht zu überschreiten. Denn Australien ist außerterritoriales Gebiet, und dafür bin ich zuständig." Julius nickte verdrossen. Das war ja klar, dass das wieder kam.

"Zumindest stimmen Sie Monsieur Latierre in der Begründung der dortigen Lage zu?" fragte die Ministerin. Dies war der Fall.

Da die Uhr schon halb eins zeigte entließ die Ministerin alle Konferenzteilnehmer mit herzlichem Dank und guten Wünschen für eine weiterhin erfolgreiche Arbeit in die Mittagspause. Julius genierte sich nicht, die Einladung seiner Schwiegertante Barbara anzunehmen. Auch lud diese Nathalie Grandchapeau ein, mit ihr in den Speisesaal zu gehen.

"Ich habe noch keine Gelegenheit erhalten, Ihnen zur Beförderung zu gratulieren, Madame Latierre", sagte Julius unterwegs. Dem schloss sich Nathalie an. "Und Sie haben wirklich eine Abstimmung Abgehalten?"

"Nachdem Monsieur Beaubois, der kurz nach meiner Ernennung das Ministerium verließ, um seine neue Arbeitsstelle aufzusuchen, erst Monsieur Charlier vorschlug und etliche Behördenleiter dem widersprachen, weil sie alle fürchteten, dass die Mittel für unsere Abteilung nur noch in die Vampirbekämpfung fließen würden, schlugen wir eine namentliche Abstimmung vor. Ja, und die ergab halt, dass von hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 77 für mich votierten, zehn für Charlier und dreizehn für den Kollegen Delacour, der sich hatte aufstellen lassen, um vor allem die Lage für die Zauberwesen größer als Elfen und Kobolde zu erwirken. Da mir auch daran gelegen ist haben viele Außendienstmitarbeiter für mich gestimmt, weil sie mich noch von Außeneinsetzen kennen."

Bei Tisch unterhielten sie sich noch über die Lage in Großbritannien, die sich Dank Shacklebolt schnell wieder beruhigt hatte. Allerdings bestand dessen Mitarbeiterin Hermine Weasley nun darauf, nach der Anerkennung der Koboldrechte auch den Hauselfen mehr Rechte einzuräumen, zunächst durch Entlohnung und Krankenversicherung, dann durch freie Wahl des Arbeitgebers.

"Ja, diese illustere Forderungsliste habe ich auch lesen dürfen, weil der Kollege Diggory fand, dass wir auf dem Festland auch gerne wissen dürfen, was gerade für Pläne ausgeheckt werden", sagte Barbara Latierre. Nathalie fragte, welche Chancen dieses Vorhaben habe. Julius bemerkte dazu, dass es am Ende von den Hauselfen abhing, ob diesen mehr Rechte zuerkannt würden. Er erinnerte an das Projekt B.Elfe.R., welches Hermine, damals noch Granger, in Hogwarts auf die Beine stellen wollte.

"Also, Sie wissen das ja längst, Monsieur Latierre, die Hauselfen im Stammschloss meiner Familie leben dort schon seit zwölf generationen und haben bisher jede Bezahlung abgelehnt. Die Vorelfe, welche alle Hausarbeiten abstimmt, hat einmal zu meiner Mutter gesagt: "Kleidung wollen wir nicht, Gold brauchen wir nicht, satt werden wir hier immer. Für Sie und die Ihren zu arbeiten erfüllt unser Leben mehr als ein praller Geldbeutel oder ein dicker Bauch."

"Ich weiß auch, dass Ihre Frau Mutter die für sie arbeitenden Elfen ja auch immer respektvoll behandelt", sagte Julius. "Aber es soll ja Zaubererfamilien geben, die halten Elfen wie niederes Nutzvieh oder lebende Hausreinigungsgeräte, tun ihnen Gewalt an oder bestrafen sie für die geringsten Versehen. Harry Potter hat mir damals von einem Hauselfen erzählt, der für eine solche Familie hat schuften müssen. Dann meinte er noch, dass er und seine Freunde mitbekommen hatten, wie ein Ministeriumszauberer seine eigene Elfe für etwas heruntergeputzt hat, was eigentlich eine Bagatelle war und sie dann entlassen hatte. Ich denke, das waren die entscheidenden Auslöser für Madame Weasleys ausdauernden Einsatz für Elfenrechte, auch wenn ich kein Psychomorphologe bin."

"Stimmt, als Jugendliche hätte ich da wohl auch angefangen, für diese angeblich bedrängten Wesen zu kämpfen", sagte Barbara Latierre.

Dann sprachen sie noch über die Vereinigten Staaten. Julius griff eine Rüge von eben auf und räumte ein, nicht über seine Zuständigkeitsgrenzen hinweggehen zu wollen. Da meinte Nathalie: "Aber Ihre Mutter musste von dort fliehen, Ihr Stiefvater sitzt mit ihrer verschwägerten Cousine und ihrer Familie unter einer Absperrglocke fest. Da haben Sie durchaus ein Recht, sich als Privatperson zu zu äußern, wie ja bei allem, was wir bis jetzt besprochen haben." Dann ließ sie sich von dem Hauptgang auch noch eine zweite Portion bringen. Da Barbara Latierre wusste, was mit Nathalie und ihrem Ungeborenen los war verlor diese dazu kein Wort. Auch Julius zog es vor, nichts dazu zu sagen.

Den restlichen Arbeitstag verbrachte Julius damit, weitere Nachrichten aus der Zaubererwelt zu sammeln und Berichte über neue Trends bei Rollenspielen zu dokumentieren, vor allem, dass immer mehr Leute so auf Vampire standen. Da mussten sie aufpassen, dass die echten Vampire sich dort nicht zwischenschmuggelten. Außerdem wurde schon fleißig für den dritten Star-Wars-Film geworben, der im Mai Premiere feiern sollte. Das würde er sich wohl noch einmal auf seinem Privatrechner ansehen. Hier im Rechnerraum war daran nur wichtig, dass es darin um den Kampf der hellen und der dunklen Seite der Macht ging und dass die Filmreihe somit den Märchen mit edlen Prinzen, bösen Zauberern und gefährlichen Ungeheuern entsprach, nur dass bei der Star-Wars-Reihe eben alles zwischen den Sternen und Planeten der Galaxis stattfand. Er selbst kannte ja schon die Vorgeschichte als Buch und wusste, was passieren würde.

Als Julius wieder nach Hause kam konnte er seinen beiden Mitbewohnerinnen erzählen, dass Babs Latierre jetzt die komplette Abteilung für die Erfassung und Betreuung magischer Geschöpfe leitete, wie die Abteilung seit heute offiziell hieß. Das klang nicht mehr so bevormundend wie Führung und Aufsicht. Béatrice fragte, wer dann die Tierwesenabteilung leitete. Als Julius ihr das erzählte lachte sie erfreut. "Hat sie doch wen gefunden, dem sie die Schlüssel für ihr Büro in die Hand drücken kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Oh, dann hat sie aber jetzt noch weniger Zeit für den Hof. Könnte Callie und Pennie nicht gefallen, dass sie dann mehr dort zu tun haben."

"Die freuen sich doch, wenn sie da anpacken und haushalten dürfen, Trice", sagte Millie. "Wo klar ist, dass keine von beiden einen Zauberer abkriegt, den nicht auch die andere haben möchte, leben die eben füreinander", fügte Millie noch hinzu.

"Soso, wird wohl so sein", sagte Béatrice.

Millie erwähnte dann noch, dass ein weiterer Versuch gescheitert sei, die Käseglocke über VDS von innen her zu sprengen, wo es heller Tag war. Diese konnte sich also auch bei Sonnenlicht fest und undurchdringlich über dem kalifornischen Zaubererdorf wölben. Das war keine erfreuliche Nachricht für Julius' Mutter oder die Bevölkerung von Millemerveilles, die morgen den Gründungstag feiern wollten.

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15.03.2005

Das Jahresfest von Millemerveilles wurde wieder von vielen inländischen Gästen besucht. Dorfrätin Lumière erwähnte, was in der Partnergemeinde Viento del Sol gerade los war und bat um einen kurzen Moment, um an die zu denken, die gerade nicht in den Genuss unbeschränkter Reisefreiheit kamen. Dann wünschte sie allen Besucherinnen und Besuchern einen erfreulichen Festtag.

Erst gab es die künstlerischen Darbietungen. Dann durften die ausgestellten Bilder und Skulpturen besichtigt werden. Wer mochte konnte eines der Kunstwerke kaufen, jetzt wo es zumindest in Frankreich wieder richtiges Münzgeld gab.

Abends wurden die Preisträger verkündet. Dies war das erste mal nach dem Ende der Dämmerkuppel, dass dieser Preis vor großem Publikum übergeben wurde. Er ähnelte in der Form einer geschlechtslosen Figur in bunter Kleidung, großen Augen und Ohren und vom Kopf ausgestreckten Flügeln, die für die Flügel der Gedanken und der Phantasie standen. Die Preisträgerinnen und Preisträger freuten sich sichtlich über die Auszeichnung. Vor allem die junge Besenkunstflughexe Vera Bouchnelle aus der Normandie, die seit einem Jahr die Truppe von Angelique Liberté leiten durfte, war hochgerührt, dass sie und ihre Truppe diesen Preis gewonnen hatten. Auch der junge Zauberbildmaler Émé Charpentier, ein Neffe von Dorfrat Charpentier, freute sich über seinen Preis, den er für die Ausgestaltung der Wände in der Delourdesklinik erhalten hatte. Neben den dort porträtierten Heilern gab es dank ihm nun auch viele beruhigende Naturlandschaften, die den Besuchern und Patienten das Gefühl vermittelten, nicht in einem rein sterilen Krankenhaus zu sein, sondern in einer Kunstgalerie. Daher bekam er den Preis auch von der Großheilerin Antoinette Eauvive persönlich überreicht und erfuhr, dass er wohl schon bald den nächsten Großauftrag bekommen mochte.

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Nyctodora las den mehrseitigen Brief, den sie am Abend des Vortages im Briefkasten ihrer Firma in Athen gefunden hatte. Natürlich wussten die selbsternannten Freien, wer sie war. Das machte ihr Sorgen, weil man sie somit jederzeit angreifen konnte. Doch in diesem Fall war es gut, dass sie die Nachricht erhalten hatte. Doch was sie las gefiel weder ihr noch den sieben Priesterinnen, die sie gleich danach aufsuchte und die mit ihr zusammen die Erscheinungsform der erwachten Göttin herbeiriefen. Denn im wesentlichen lehnten die anonym bleibenden "Sprecher der Zellen" der Liga freier Nachtkinder das Friedensangebot ab. "Wir wissen, dass es diese Feinde und Feindinnen gibt und wissen auch, dass sie unseren Tod wollen, ob wir nun bis zum letzten Blutstropfen freie Nachtkinder bleiben oder uns eurer falschen Göttin unterwerfen. Denn diese Feinde fragen nicht danach, wem unsere Verbundenheit gilt. So haben wir die Wahl zwischen der Freiheit oder dem Tod. Wir wählen die Freiheit und werden weiterhin jeden Versuch vergelten, sie uns zu nehmen, ja lieber den Tod hinnehmen, der uns endgültig von jeder Knechtschaft zu dir, du falsche Göttin, entheben wird. Dies ist der Beschluss aller unserer Zellen: Es lebe die Freiheit!" Las Nyctodora die entscheidende Passage vor, die nach einer umfangreichen Einleitung aus "Endlich" erfolgender Anerkennung und geheuchelter Dankbarkeit für die Warnung bestanden hatte. Ja, und als wenn diese unmissverständliche, jeder Diplomatie entsagende Ablehnung nicht ausreichte erfuhr Nyctodora von der Statthalterin Südamerikas, dass die sich selbst für frei haltenden Nachtkinder wahrhaftig ein Bündnis mit den mondanheulenden Pelzwechslern geschmiedet hatten. Denn diese Pelzwechsler hatten dank ihrer eigenen Zauberkundigen wahrhaftig den Unterschlupf einer Kriegsgruppe der Göttin gestürmt und alle dort lebenden getötet. Deutlicher ging es nun wirklich nicht mehr.

"Wir werden überleben, weil wir vereint sind unter dem Schirm und im Wort der großen Mutter aller Nachtkinder", sprach Nyctodora zu ihren sieben untergeordneten Glaubensschwestern.

"Ich erfahre soeben, dass auch die Rotblütler mit den sogenannten Freien eine Übereinkunft haben, dass diese nur mit jenen Blut austauschen, die dies von sich aus genehmigen und ansonsten mit lebendem Nutzvieh versorgt werden, dessen Blut sie trinken sollen, um ihren Jagdtrieb niederzuhalten", knurrte Rosanegra, die Statthalterin der Göttin in Europa. Nightsong, die den asiatischen Tempel anführte, erwähnte, dass die aus Gründen der verschobenen Magie zu ständig herumhüpfenden Abarten sich freiwillig der Dunkelweberin aus den Reihen der Vaterlosen Töchter unterworfen hatten und nun selbst Feinde der blutroten Göttin und ihrer aus dem fernen Abendland stammenden Gefolgsleute waren.

"Somit hat man mein Friedensangebot nicht nur abgelehnt, sondern für undenkliche Zeit unwiederholbar gemacht", schnarrte die blutrote Erscheinung der erwachten Göttin. "Dann sollen diese Wichte doch von allen Seiten zermalmt werden wie das Korn zwischen den Mühlsteinen, verbrennen wie das Steppengras im Buschfeuer und im Wind verwehen wie der Sand in der Wüste", legte sie nach. "Allein schon, dass sie mit den Mondheulern paktieren ist eine unverzeihliche Beleidigung unserer Art und wird nicht ohne Antwort bleiben. So danke ich euch, meinen Töchtern, dass ihr mit mir diese unerträgliche Zurückweisung vernommen habt und wisst, woran wir alle sind. Nyctodora, meine Hohepriesterin, bringe den Plan "Eingemeindung auf den Weg! Wir müssen endlich das Mittel finden, unsere Gemeinschaft schneller zu vergrößern."

"Die Liste aller Institutionen ist jetzt vollständig. Doch wird es dauern, bis wir die dort tätigen Forscher und Techniker auf unserer Seite haben, o Göttin. Denn viele dieser Institutionen sind gut beschirmt. Es wird nicht einfach sein, dort hineinzukommen, aber natürlich nicht unmöglich. Ich habe da auch schon was ausgearbeitet, das dir hoffentlich gefallen wird."

"Lass mich in deinen Geist blicken, um es zu erfassen!" erwiderte die Erscheinung der Blutgöttin. Nyctodora sah sie an und fühlte, wie etwas in ihrem Kopf tastete. Dass die Göttin nicht den ungehinderten Zugang zu ihr hatte, den diese sich von ihrer Hohepriesterin wünschte wussten beide. Doch für einen gedankenschnellen Austausch aller wichtigen Vorhaben reichte es allemal. Die Erscheinung der Göttin nickte zustimmend. "Geh es an. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, aber vertrödel sie nicht mit reinen Versuchen, sondern nutze die Zeit mit konkreten Handlungen!" Nyctodora bekräftigte, dass sie den Willen ihrer Göttin erfüllen werde. Daraufhin löste sich die mehr als sieben Meter große Erscheinung aus blutrotem Licht in einer Wolke aus verlöschenden Funken auf. Der Auftrag war erteilt und konnte nun nicht mehr abgelehnt oder widerrufen werden. Nyctodora alias Eleni Papadakis wusste, dass ihr schwere Zeiten bevorstanden. Denn selbst wenn es ihr gelang, nicht zu den Nachtkindern gehörende Menschen ohne magische Beeinflussung dazu zu bekommen, die ausgewählten Forscherinnen und Forscher aus ihrer abgesicherten Umgebung zu holen, mochte dabei sehr viel schief gehen und ihre Existenz beendet werden. Auch fürchtete sie sich vor dem nun erst recht angeheizten Zorn der sogenannten freien Nachtkinder. Denn die wussten, wer sie war und konnten das noch denen erzählen, die es noch nicht wussten. Im Grunde war sie mehrfach ausgeliefert: Als Hohepriesterin war sie das Gesicht und die Stimme der Gemeinschaft. Ihr Tod würde den Zusammenhalt beschädigen. Ihr wahrer Menschenname war vielen Feinden bekannt. Die würden das Wissen nutzen. Und wenn sie bei ihrer Tätigkeit versagte würde die erwachte Göttin sie endgültig fallen lassen und dann genüsslich zertreten wie eine widerliche Wanze. Doch weil sie keine Zeit für solche Grübeleien hatte ging sie es an, den Plan "Eingemeindung" in die Tat zu setzen. Ob und wenn ja wann er erfolgreich beendet sein würde wusste sie nicht.

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16.03.2005

Nach dem Jahresfest in Millemerveilles wirkte der Ort fast schon wie ausgestorben, als Julius mit seiner Familie und auch Béatrice am Nachmittag einen ausgedehnten Ausflug zum Musikpark machte. Béatrice war nun sicher, dass sie zwischen dem zweiten und achten April niederkommen würde. Millie könnte die Zwillinge schon zu ihrem Geburtstag in den Armen halten, spätestens am ersten Mai, also in oder nach der Walpurgisnacht. "Wenn die am gleichen Tag Geburtstag haben wie Rorie kriegt die aber eine Krise", meinte Julius, als erwähnte Rorie mit ihrer kleineren Schwester Chrysope ein Wettschaukeln veranstaltete.

"Zu meinem Geburtstag wäre doch genial", grinste Millie. "Dann ziehe ich da mit Oma Line gleich." Julius verstand und grinste.

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Zwischen 17.03. und 01.04.2005

Die nächsten Tage in Frankreich waren geprägt von der Rückkehr zum Alltag. "Das Ende der Goldebbe" feierte die Temps am 21. März, als alle Gringottsfilialen störungsfreien Betrieb meldeten.

Von Simon Beaubois hörte Julius erst am 23. März, dass dieser sich als Privatgelehrter auf dem Gebiet der Geisterkunde eingerichtet habe und eine umfangreiche Enzyklopädie der Nachtoderscheinungsformen verfassen wolle.

In Viento del Sol blieb es soweit ruhig. allerdings beunruhigte es den Dorfrat von Millemerveilles, dass sie keine Nachrichten aus Buggles' Kreisen hatten, wie er und seine Helfer weiter damit umgehen wollten. Jeden Tag mussten sie damit rechnen, dass er die Bewohner von VDS für "an der schweren Epidemie verstorben" erklären würde. Doch offenbar hoffte der US-Zaubereiminister darauf, dass die unter der besonderen Sperrglocke eingeschlossenen noch vor dem Verhungern kapitulieren würden. Womöglich wusste er nicht, dass die Einwohner von Viento del Sol mittlerweile genug Möglichkeiten hatten, Nährstoffe aus bereits verbrauchten Lebensmitteln zurückzugewinnen und so über Jahre hinweg überdauern konnten. Allerdings würden ihnen Ende April alle Zutaten für den Überbehütsamkeitshemmtrank ausgehen, hatte Brittany vermeldet. Spätestens dann würde etwas geschehen, so der Dorfrat von Millemerveilles und die Latierres.

Julius verfolgte die Nachrichten der nichtmagischen Welt. So wusste er, dass es um den amtierenden Papst Johannes-Paul II. sehr schwer stand. Seine engsten Vertrauten rechneten jeden Tag mit dem Tod des kranken, betagten Würdenträgers. Auf britischen Wetteinsatzseiten wurden schon erste Wetten angenommen, wann der Papst starb und wer sein Nachfolger sein würde. Viele gingen von einem Italienischen Kardinal aus. Doch wenn es kein Italiener werden mochte, dann tippten viele auf den Deutschen Joseph Ratzinger, der zur Zeit die Gesellschaft zur Wahrung der katholischen Werte und Glaubensvorgaben leitete. Julius interessierte das nur, weil besonders die katholische Kirche gegen alles magische hetzte. Gut, sie hatte auch lange Zeit naturwissenschaftliche Erkenntnisse abgestritten und hatte ein merkwürdiges Frauenbild, lehnte Abtreibungen ab, verbot aber gleichzeitig auch Empfängnisverhütungsmittel. Deshalb war es auch für einen jaa schon Ex-Anglikaner wie Julius wichtig, wer diese Institution weiter ins 21. Jahrhundert führen würde. Es konnte ja sein, dass die Geheimhaltung der Magie eines Tages doch aufgehoben werden musste, wenn sie nicht mehr aufrechtzuhalten war. Da war es sicher wichtig, wer mit einer solchen Ungeheuerlichkeit besser zurechtkam und wer den Einfluss besaß, Millionen von Menschen für die friedliche Koexistenz oder die gnadenlose Ablehnung zu gewinnen.

Den Ostersonntag 2005 verbrachten mal wieder viele Nachbarskinder, sowie Julius' Halbgeschwister und die Brickston-Kinder auf dem weitläufigen Grundstück des Apfelhauses. Julius erfuhr von seiner Mutter, dass Uranie mittlerweile bereit war, wieder nach Millemerveilles zurückzukehren, jedoch nicht wieder zu ihrem Bruder Florymont und seiner Familie, sondern in ein eigenes kleines Haus, wo sie mit ihren vier Kindern leben wollte. "Sie hat mit Callisto mehrere Sitzungen gehabt und sagt, dass sie jetzt weiß, warum sie so abweisend auf ihre eigenen Kinder wie auch auf alle die reagiert hat, die ihr was anderes nahelegen wollten. Was genau das war hat sie mir nicht verraten wollen. Hauptsache, sie macht mit den Leuten hier wieder ihren Frieden", hatte Martha Merryweather gesagt und sich bei Millie bedankt, dass diese ihr die Ostergrüße ihres Mannes weitergeleitet hatte.

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2.04.2005

Sie wachte auf, weil es in ihrem Unterleib zog und ziepte. Sie fing sofort an, tiefer durchzuatmen, um diesen Schmerz wieder los zu werden. War das eine erste Senkwehe? War sie doch schon in dieser Nacht soweit?

Der Schmerz verging. Ihr angelegter Wehenwarner pulsierte auch nicht mehr. Sie wartete fünf Minuten, zehn, zwanzig, bis zu einer Stunde. Keine neuen Schmerzen, keine neuen Wehen. Ja, damit hatte sie rechnen müssen, dass es am Ende richtig doll weh tat. Das war nur der Vorgeschmack auf das, was ihr bald bevorstand. Dann dachte sie wieder daran, was gleich nach der anstehenden Entbindung geschehen würde. Der da in ihrem wieder zur Ruhe kommenden Bauch war doch ihr Sohn, nicht der von Millie. Die bekam doch selbst demnächst zwei Kinder auf einmal. Doch sie hatte sich Millie und auch Julius gegenüber verpflichtet, Millies Entscheidung zu akzeptieren. Außerdem würde sie ihn ihr sicherlich immer wieder überlassen, damit sie ihn stillte. Doch es blieb ein himmelweiter Unterschied, ob sie sich offiziell seine Mutter nennen lassen durfte oder "nur" die Tante war, die im Zweifelsfall nichts über ihn zu befinden hatte. Sie würde ihn aufwachsen sehen dürfen, vielleicht sein erstes Wort im Leben mitbekommen und immer wieder damit hadern, dass er nicht Maman zu ihr sagen durfte. Jetzt begann alles langsam aber sicher auf sie niederzudrücken, was sie in den letzten acht Monaten so sorgfältig weggedacht hatte. Die sehr schönen wilden Nächte mit Julius, die Bestätigung, dass sie schwanger war. Da schon die Hoffnung, eine Tochter zu bekommen, die sie auf jeden Fall behalten durfte, aber gleichzeitig das schlechte Gewissen, Millie und Julius nicht geholfen zu haben. Dann hatte sie erfahren, dass sie wirklich mit einem Jungen schwanger war. Da kam erst diese Angst auf, ihn abgeben zu müssen und es nicht fertigzubringen, ihn Millie zu überlassen. Aber da war auch diese Genugtuung, etwas zu erleben, was sie als alleinstehende Heilerin wohl gar nicht erleben würde. Sie hatte damals Aurora Dawn beneidet, die wahrhaftig wie die Jungfrau zum Kind gekommen war, nur dass ihre Rosey eine Wiedergeborene war, Daisiria, wie Julius es mal genannt hatte. Das war doch was ganz anderes, als ein völlig unbeschwertes, sein Leben völlig neu entdeckendes Kind aufwachsen zu sehen, ihm zu helfen, mit dieser viel zu großen, unübersichtlichen Welt zurechtzukommen.

Der Satz ihrer Nichte Aurore klang wie ein leises Echo in ihrer Erinnerung: "Aber wenn das Baby in Tante Trice drin ist und aus der rauskommt dann ist die doch seine Maman." Das hatte ihr selbst und auch Millie Tränen in die Augen getrieben. Doch würde sich Millie noch an den Satz ihrer ersten Tochter erinnern, wenn sie den kleinen Félix zum ersten mal ohne Einblickspiegel zu sehen bekam?

Sie dachte an Martine, die am 24. Mai das Willkommensfest für ihre beiden kleinen Ballerinen feiern wollte. Denn sie wollte Millie unbedingt dabei haben und wusste, wie gestreng Hebammen sein konnten. Wie würde Millie das erklären, wenn sie statt nur zwei Mädchen drei Kinder und davon einen etwas größer geratenen Jungen mitbrachte? Die konnte ja schlecht behaupten, dass die Hebammenhexe sich monate lang verzählt hatte. Die Vorstellung, wie ihre Nichte statt der zwei lange Zeit angekündigten Kinder auf einmal drei Kinder vorzeigte und das irgendwie erklären musste erheiterte sie. Sie hätte dagegen kein Problem, ein einzelnes Kind großzuziehen und auch auf Feiern mitzubringen. Sie konnte ja behaupten, dass es ein Ziehsohn sei. Das ging aber nur, wenn er ihr nicht all zu ähnlich sah. Doch das hofften sie und vor allem ihre Mutter. Also mit dem Ziehsohn das würde so nicht klappen. Sie hatten doch echt viel Zeit gehabt, sich für den einen oder anderen Weg gescheite Erklärungen auszudenken, dachte Béatrice, während sie behutsam ihren wirklich weit vorgetriebenen Bauch streichelte, um Félix zu zeigen, dass noch alles in Ordnung war und er heute hoffentlich noch nicht auf die Welt musste. Dann fiel ihr die Erklärung ein, warum sie sich da noch keine Gedanken gemacht hatten. Weder Millie noch sie wollten es vorher festlegen, zu wem Félix Maman sagen durfte. Andere Hexen, die sich auf diese Sonderregelung eingelassen hatten, waren da nicht so behutsam. Die hatten von vorne herein festgelegt, dass das Kind bei der einen oder der anderen Hexe aufzuwachsen hatte. Béatrice fragte sich, ob Millie nur deshalb so unentschieden war, weil sie ihre Tante war. Hätte sie bei einer anderen, zum Beispiel Sandrine oder Belisama oder Julius' Schulkameradin Gloria, so lange mit ihrer Entscheidung gewartet? Darauf wusste sie keine Antwort.

Im Laufe dieses Tages erfuhr sie, dass es auf jeden Fall noch vor dem achten April geschehen würde. Félix lag bereits mit dem Kopf nach unten in ihrem Becken, musste also nicht mit dem entsprechenden Zauber gedreht werden. Außerdem löste sich bereits jener Schleimpfropfen, der den Gebärmuttermund vor der Außenwelt abschirmte. War dieser weg, und Félix Richard Roland befand, dass sie ihm zu eng wurde, würde er seinen nächsten, hoffentlich ganz langen Lebensabschnitt beginnen. Anders als die nichtmagischen Menschen akzeptierten Hexen und Zauberer, dass ein Fötus bereits ein in seiner beengten Umgebung eigenständiges Wesen war. Es gab sogar welche, die genau nachforschten, in der wievielten Woche sie zur Welt gebracht wurden, um den Zeugungszeitpunkt zu errechnen und diesen als Lebensbeginntag zu feiern, statt die eigene Geburt zu feiern. Sogesehen konnte sie auch nur spekulieren, ob er am 27. Juni oder erst am 5. Juli entstanden war.

Sie merkte, dass sie nicht mehr so viel Appetit hatte. Ihr Magen war sichtlich zusammengedrückt und konnte nicht mehr viel aufnehmen. Deshalb konnte sie nur kleine Mahlzeiten zu sich nehmen, um dem kleinen Jungen für die letzten Tage ins eigene Leben noch genug von sich mitzugeben.

"Mädels, ich denke, wir sollten mal langsam anfangen, uns auszudenken, wie wir denen da draußen erklären, dass da erst ein Kind und dann noch zwei bei uns hingekommen sind", eröffnete Julius, als Aurore, Chrysope und Clarimonde in ihren Betten lagen. "Denn wenn ich Hera richtig verstanden habe kann es ab heute jeden Tag soweit sein, richtig?".

"Ja, das ist richtig", sagte Béatrice. "Also, wie erklären wir denen da draußen, die nicht wissen und nicht wissen müssen, was wir ausgehandelt haben, dass drei Kinder bei uns wohnen?" fragte Julius.

"Julius, du weißt genau, dass ich das nicht vor der Geburt entscheiden will", raunzte Millie. "Also bitte tu uns dreien nicht weh, indem du was planen willst, was erst klappen kann, wenn die Entscheidung klar ist", sagte Millie noch mit etwas freundlicherer Stimmlage. Béatrice erwiderte: "Feststeht ja, dass alle drei hier im Haus aufwachsen. Dann werden wir mit Hera zusammen eine Lösung erarbeiten, je danach, wie du, Millie, dich entschieden hast", sagte sie unerwartet sachlich, als gehe es sie nichts an, wer die Mutterrolle für ihr Kind übernehmen durfte.

"Gut, ich weiß, Millie, du möchtest dich erst nach der Niederkunft entscheiden, sofern du nicht da gerade selbst die kleinen Prinzessinnen zur Welt bringst. Es geht mir auch im Moment nur darum, was wir der Außenwelt erzählen sollen, Ziehsohn klappt nicht, weil der Kleine sicher Béatrice und wohl auch mir zu ähnlich sehen wird, um ihn als Findelkind auszugeben. Hera wird uns was husten, wenn wir in Umlauf setzen, dass sie sich bei dir verzählt hat, Millie. Ja, und dass wir was für eine schon seit Jahrtausende toten Erzmagierin erledigen mussten wird nur wildes Gerede und bestenfalls Spott, schlimmstenfalls die totale Ablehnung einbrocken."

"Ich habe die Idee", sagte Béatrice unvermittelt. Millie und Julius sahen sie verdutzt an: "Ich habe meiner Mutter damals angedroht, eins oder zwei der vier von ihr getragenen Kinder auf Hippolyte oder Barbara zu übertragen, dass sie nur zwei zugleich austragen und bekommen sollte. Wenn wir das mit Hera hinkriegen, dann können wir behaupten, dass ich in den letzten siebzehn Wochen dein drittes Kind ausgetragen habe und es dann auch geboren habe. Da nach dem bekannten Recht die Hexe, die ein Kind aus sich heraus auf die Welt bringt erst einmal die Mutter ist liegt die Entscheidung immer noch bei dir, Millie. Wenn du es von mir einforderst werde ich es dir geben. Falls nicht, dann akzeptierst du mich als seine Mutter. Die Entscheidung bleibt bei dir, Mildrid", sagte Béatrice. Julius sah erst seine Frau, dann Béatrice und dann wieder seine Frau an und sagte: "Ich habe es immer gesagt, Millie, wie immer du dich entscheidest, ich stehe dahinter. Ja, meine Dankbarkeit für dich hört nicht auf, Béatrice, egal wie Millie sich entscheiden wird. Wenn du Millie, mit dieser Geschichte leben kannst, egal wie du dich was den Kleinen angeht entscheidest, dann machen wir es so. Wenn nicht reden wir eben mit Hera darüber, wenn du dich entschieden hast."

"Öhm, wieso soll ich keine drei Kinder austragen können, wo viele von hier sogar fünf ausgetragen haben?" wollte sie wissen. Julius kam Béatrice mit einer Antwort zuvor: "Weil Unsere Kinder nicht unter dem Einfluss einer Droge von Vita Magica entstanden und herangereift sind. Wenn wir das mit Hera richtig hindrehen, dann könnte sie behaupten, dass deine Verdauungsorgane unter der Drillingsschwangerschaft gelitten haben, du andauernd was am Kreislauf hattest und es schon kurz bevorstand, dass du alle Kinder verlierst. Insofern ist das für uns alle wohl eine brauchbare Geschichte. Rorie kann ja erzählen, dass Trice schon mit einem Kind im Bauch herumlief, weil sie einfach nicht wissen durfte, wie gefährlich drei auf einmal für ihre Maman ... Ich weiß, Millie, keinen großen Drachen rufen", sagte Julius. Millie hatte schon anstalten gemacht, ihm den Mund zuzuhalten. Doch er fing ihre Hand ab. Sie bibberte. Doch dann beruhigte sie sich wieder. "Du kannst doch nicht kurz vor der Geburt von den beiden wieder davon anfangen, wie riskant das ist, mehr als eins zu tragen", stieß sie aus. Doch dann nickte sie. Irgendwas mussten sie den Leuten da draußen erzählen, wenn der kleine Junge in Béatrices Bauch von allen akzeptiert werden und nicht im Haus versteckt bleiben sollte.

Froh, dass dieses längst überfällige Thema doch noch vor der ersten Niederkunft auf den Tisch gebracht worden war, konnten alle drei in ihre Schlafzimmer gehen. Zwar war es erst halb zehn abends, doch alle drei waren müde genug. Die nächsten Tage würden sehr anstrengend werden.

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03.04.2005

Nicht aus dem Radio oder dem Internet erfuhr Julius, was am Vorabend in Rom geschehen war, sondern von Sandrines von nichtmagischen Eltern abstammender ehemaliger Klassenkameradin Séverine Monier, die er am Morgen des dritten Aprils im Fahrstuhl traf. "Hast du's gehört, Julius? Der Papst ist tot."

"Oha, also doch schon. War ja in den letzten Tagen andauernd die Rede von", sagte er. Séverine nickte und sagte: "Meine Eltern sind jetzt sicher ganz traurig. Die waren mal bei dem in Rom, so um die zehn Monate vor meiner Geburt. Da war er wohl noch fit genug."

"Für manche ist das wohl so, als wenn ein König gestorben wäre. Ich wäre sicher auch ganz unten, wenn mir einer erzählt, dass die Queen gestorben ist."

"Stimmt, die lebt ja auch schon solange. Aber der geht es doch noch gut, oder?"

"Ich denke, die will ihrer eigenen Mutter nacheifern und vor allem Victorias Rekkord brechen, über zweiundsechzig Jahre auf dem Thron."

"So lange hat es Johannes-Paul II. nicht ausgehalten. Aber dir macht es offenbar nichts, dass der Papst tot ist."

"Ich bin eine anglikanische Karteileiche, kein praktizierender Katholik. Daran wird's wohl liegen", tat Julius dieses geschichtliche Ereignis ab, von dem er ja selbst nicht wusste, wie es sich auf die magische Welt auswirken mochte. Doch er fragte: "Wer glaubst du, wird der nächste sogenannte Pontifex Maximus?"

"Meine Mutter hätte dir jetzt eine gescheuert, weil du so abfällig vom Papst sprichst", grinste Séverine. "Aber ich versteh wie du das meinst. Ich denke, es macht jetzt wieder ein Italiener, der die entsprechenden Fäden im Vatikanstaat ausgeworfen hat."

"Und der deutsche, Ratzinger?" fragte Julius. Séverine verzog ihr Gesicht. "Der Ketzerfresser? Wenn der das wird kriegen wir den letzten praktizierenden Inquisitor auf den Stuhl Petri. Das willst du nicht wirklich."

"Ich will sowieso keinen neuen Papst, weil ich keinen brauche", sagte Julius darauf abfällig. Séverine sah ihn wieder verwegen an. "Nur dass wir eben nicht gefragt werden", sagte sie. Dann kam ihre Etage und sie wünschte Julius einen erfolgreichen Arbeitstag.

Als er in seinem Büro saß konnte er die erhaltene Meldung aus der Muggelwelt abhaken. Denn Apolline und ihre veelastämmigen Verwandten wollten von ihm wissen, wie es um die Verhandlung mit dem Zaubereiministerium bezüglich eines Rates aus wohlmeinenden Zauberwesen bestellt sei. Er teilte jeder einzelnen von ihnen schriftlich mit, dass sowohl die Kobolde wie auch die Zwerge keine Verhandlung akzeptieren wollten, in der es darum ging, dass die einen auf ihre Rechte verzichteten und die anderen am Ende keine erweiterten Rechte erhalten mochten. Was die Veelastämmigen anging, so schrieb er, gelte ja der zwischen Léto und der Ministerin ausgehandelte und unterschriebene Vertrag, der auch weiterhin bestehenbleiben würde.

"Entschuldigung, Monsieur Latierre, Frühstückspause!" piepste eine Stimme von links. Er sah auf seine Uhr und erkannte, dass es schon wieder viertel vor zehn war. Die ihm zugeteilte Hauselfe hatte ihm sein zweites Frühstück gebracht. Um keinen Krach mit der Ministerin zu kriegen legte er den vorletzten Brief so, dass die Tinte trocknen konnte. Dann genoss er das zweite Frühstück.

"Wir haben doch allen Ernstes eine Beschwerde aus den Vereinigten Staaten erhalten, dass wir eine offenkundig straffällig gewordene Hexe nicht nur in unserem Land beherbergen, sondern ihr auch noch erlauben, die gleiche Arbeit zu verrichten, die sie schon in ihrer Wahlheimat verrichtet hat", begann Nathalie die übliche Morgenkonferenz. "Möchte mir einer von Ihnen bitte verraten, von wem das Zaubereiministerium in Washington diese Angaben hat?" Niemand hob die Hand, auch Julius nicht. Denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Brenda oder ein anderer LI-Mitarbeiter das weitererzählt haben mochte. Dann nickte Nathalie. "Gut, niemand von Ihnen hat dem Zaubereiminister in Washington das erzählt, dass Madame Merryweather als auswärtige Expertin für uns arbeitet. Dann bleiben im Grunde nur Porträtverbindungen. Welche genau müssen wir im Moment nicht wissen, da es ohnehin egal ist. Denn ich sage Ihnen allen hier und jetzt, dass die Ministerin, sowie alle Abteilungsleiter dieses Hauses, nicht mehr an Buggles' unverbrüchliche Intigrität oder gar eigenständige Entscheidungen glauben. Daher werde ich die von ihm an uns ergangene Beschwerde zurückweisen. Soweit für Sie alle", sagte Nathalie. Dann ging sie die üblichen Punkte durch, Einzelne Berichte aus der magielosen Welt.

Julius argwöhnte, dass entweder ein Porträt aus Antoinettes Galerie, oder ein mit einem Gegenstück Vivianes in den Staaten oder gar Catherines Bild ihrer Urgroßmutter Claudine gepetzt hatte. Warum er Catherines Urgroßmutter, beziehungsweise deren Porträt verdächtigte? Es hatte sich erwisen, dass dieses Porträt Verbindung zu Vita Magica hatte. Da er ja wie etliche andere vermutete, dass Vita Magica den US-Zaubereiminister kontrrollierte, lag das nahe, dass diese Banditen ihn auch darauf gebracht hatten, dass sein genialer Versuch, lästige Leute loszuwerden, bei Julius' Mutter nicht geklappt hatte. Vielleicht stand dem Minister und den ihn lenkenden Gangstern das Wasser bis zum Hals, weil es ja immer noch die Widerstandsbewegung von Atalanta Bullhorn gab, die vom Weißrosenweg aus operierte. Da brauchte er sicher einen Erfolg um zu zeigen, wie mächtig er immer noch war.

Nach der Konferenz durfte Julius die Briefe an Apolline und alle anderen Veelastämmigen abschicken. Dann traf er sich mit Hippolyte und Barbara Latierre im Speisesaal.

"Und wie fühlt sich der Abteilungsleiterinnenstuhl an, Babs", stichelte Hippolyte, die ja selbst die Abteilung für Spiele und Sport leitete. "Er protestiert manchmal, weil ich mich so ungestüm auf ihn werfe. Doch er dürfte es jetzt begriffen haben, dass ich seine neue Herrin bin", sagte Barbara Latierre.

"Ist das noch Vendredis Stuhl?" fragte Julius. "Ja, ist er. Ich mag auch solche Sessel wie er hatte. Nur muss der sich erst mal wieder daran gewöhnen, dass eine dralle Hexe in ihm sitzt, wo die letzte Gesamtabteilungsleiterin vor achtzig Jahren gelistet ist, die Nichte des damals amtierenden Zaubereiministers." Julius nickte diese Information ab. Dann fragte er, ob der Chefsessel auch so alt sei. "Nein, ganz sicher nicht, Julius, höchstens zehn Jahre. Vendredi hat damals sicher keine gebrauchten Möbel im Büro stehen gelassen", sagte Barbara Latierre.

"Und, weiß eure Hebamme jetzt, wann es soweit ist?" fragte Hippolyte Julius. Er erwiderte, dass immer noch Ende April bis spätestens dritter Mai für Millies Doppelniederkunft berechnet waren. Da mentiloquierte Hippolyte ihm zu: "Ich meine meine kleine, euch bei was ganz heiklem helfende Schwester."

"Kann heute sein oder bis zum achten dauern, sagt Hera", schickte Julius zurück. "Dann sieh bitte zu, dass du bei ihr bist, damit du mitbekommst, was ihr beiden angestellt habt!" schickte sie ihm noch einmal zurück. Dann sagte sie laut: "Ich habe gerade überlegt, was wäre, wenn Aurore ihren Geburtstag mit zwei kleinen Schwestern teilen muss. Glaubst du, sie verkraftet das?" Julius konnte das nicht mit Sicherheit sagen.

Nach dem Essen durfte er wieder an die Ministeriumseigenen Rechner. Mit Nathalies ausdrücklicher Genehmigung verbreitete er, dass das Zaubereiministerium der USA versucht habe, die dort nicht mehr erwünschte Mitarbeiterin Martha Merryweather an der Wahl eines neuen Berufes zu hindern und dadurch die eigenen Hoheitsgrenzen überschritten habe. Was davon zu halten war wisse er im Moment nicht. Darauf kam eine Antwort des Laveau-Institutes:

Er versucht, irgendwelche Exempel zu statuieren, Monsieur Latierre. Der Ausfall der eigenen Arkanetrechner hindert ihn daran, auch die nichtmagische Welt mit seinen Ansichten zu durchdringen. Halten Sie sich an Ihre Hoheitsgrenzen und überlassen Sie es bitte uns in den Staaten, diesen unschönen Konflikt möglichst gewaltlos zu lösen.

S. O'Hoolihan

"Die arbeiten da also auch dran", dachte Julius. "Mehr muss ich im Moment nicht wissen.

Natürlich war das Internet voll mit Videos, Texten und Nachrichtenbeiträgen zum verstorbenen Papst. Doch das betraf Julius nicht wirklich.

Wieder zurück im Apfelhaus erfuhr er, dass Hera die von Béatrice geäußerte Idee, wie drei Kinder im Haus erklärt werden konnten, akzeptiert habe, und dass sie eben eine dritte Leibesfrucht nach Eintritt in die Fötalphase von Millie in Béatrices Gebärmutter übertragen habe um alle drei Kinder sicher ins Leben zu bringen.

"Sie möchte auch noch mal mit dir reden, Julius", sagte Millie. Julius begriff, dass Hera ausloten wollte, wie er mit der nun anstehenden Belastung klarkommen würde.

Er flog auf seinem Besen zu Heras Haus, weil er nicht so plötzlich vor ihrem Haus apparieren wollte. Immerhin konnte sie ja gerade einen Patienten oder eine Patientin haben.

Das Gespräch mit der hauptamtlichen Hebammenhexe von Millemerveilles, seiner Pflegehelferausbilderin, verlief in ruhigen Bahnen. Er gab zu, dass jetzt, wo es unmittelbar bevorstand, sein Gewissen wieder erwacht war. Denn er wollte weder Béatrice noch Millie weh tun. Ja, er gab unter dem Mantel der Vertraulichkeit zwischen Heiler und Patient zu, dass er angefangen habe, beide Frauen gleichermaßen zu lieben, wenngleich er Millie immer noch den Vorzug gab, da sie mit ihm zusammen mehr durchgestanden hatte. "Dennoch ertappe ich mich immer dabei, dass ich Béatrice genauso körperlich begehrt habe wie Millie und das doch bei mir nachwirkt, dass sie deshalb mein Kind bekommt."

"Ja, und wie stehst du zu eurer Vereinbarung. Wirst du es Millie überlassen, ob sie das von Béatrice geborene Kind beansprucht oder nicht?"

"Ich habe es ihr immer wieder gesagt und meine das auch so, dass ich ihre Entscheidung auf jeden Fall akzeptiere. Wenn sie die Mutter des Jungen sein will, dann ist sie es auch für mich. Ich hoffe nur, dass Béatrice damit leben kann. Ich selbst stelle es mir grausam vor, wenn einer Frau, die gerade erst Mutter geworden ist, ihr Kind gleich nach der Entbindung weggenommen und nicht mehr zurückgegeben wird."

"Hast du das Millie gesagt?" fragte Hera.

"Nein, auf keinen Fall. Denn das wäre ja wieder grausam gegenüber Millie, die sich ja nur auf diesen Handel eingelassen hat, weil Ashtaria sie regelrecht dazu geprügelt hat und sie nicht will, dass das passiert, was sie in diesem einen Traum gesehen hat. Ich will ja auch nicht, dass das so eintrifft. Ich will aber auch nicht, dass Béatrice sich wie ein Opfer für Ashtaria fühlt. Das ist nicht einfach."

"Das wollte ich wissen, Julius. Was ihr drei noch ausgeheckt habt kann ich so begründen, wie Béatrice und du es formuliert habt. Millie hat zwar bei der letzten Untersuchung gemeint, dass sie gerne auch vier Kinder von dir auf einmal ausgetragen hätte. Doch sie merkt schon, dass Zwillinge eine ganz andere Belastung sind. Na ja, beide tragen ein Wehenwarnband. Wenn es bei der einen oder der anderen losgeht bin ich innerhalb von einer Minute bei euch. Du brauchst keine Angst zu haben."

"Das habe ich nicht. Ich vertraue dir", sprach Julius etwas aus, was er Hera bisher nie eingestanden hatte. Sie sah ihn an und lächelte. "Dann hoffe ich, dass dein Vertrauen in mich weiterhin gerechtfertigt bleibt."

Abends saßen Beatrice, Millie und Julius noch zusammen. Sie dachten daran, dass ab jetzt jeder Abend der letzte vor Béatrices Niederkunft sein mochte und beteuerten gegenseitig, aufeinander aufzupassen, was auch immer geschehen würde.

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Jetzt war Ashtaryanan schon einen Monat auf der Welt. Oganduramiria dachte nicht mehr an die Schmerzen der Niederkunft, sondern nur an die Erhabenheit, aus sich heraus neues Leben hervorgebracht zu haben. Das Baden und Wickeln des kleinen Sonnensohnes nahm sie als die notwendige Begleiterscheinung hin, ihn auf das eigene Leben vorzubereiten. Wenn sie ihn stillte fühlte sie sich so sehr mit ihm verbunden wie während der ganzen Schwangerschaft nicht. Sie tauschten Erinnerungen an ihre früheren Leben aus, und Oganduramiria hatte über Tage kein Verlangen, an den Rechner zu gehen und zu erfahren, was in der großen weiten Welt vor sich ging. Fast fühlte sie sich selbst wie ein unschuldiges Kind, dass noch selig in der Wiege oder gar noch im schützenden Mutterschoß lag und die ganze große Welt weit weit weg war. Sicher, rein geografisch war Ashtaraiondroi auch sehr weit von den beiden Zivilisationen entfernt. Doch die junge Mutter, die vor zehn Jahren noch keinen Gedanken an Schwangerschaftsbeschwerden, Niederkunft oder Stillzeiten verschwendet hatte, genoss diese Abgeschiedenheit. Was im fernen Sonnenturm vor sich ging bekam sie im Moment nicht mehr mit.

Heute, am dritten April des Jahres 2005, setzte sich Oganduramiria an den kleinen Rechner mit Satellitenmodem und Solarstromversorgung und rief die neuesten Nachrichten ab. Auf den meisten Seiten ging es um den vor einem Tag verstorbenen Papst Johannes-Paul II. und was dieser für die katholische Kirche und die Welt geleistet hatte. Oganduramiria hielt nichts von Kirchenfürsten und Heilspredigern. Sowas lief in den Staaten auf vielen Fernsehsendern ab und schürte mehr Ablehnung andersdenkender als den Frieden im Sinn der christlichen Botschaft. Aber für die Welt war so ein auf lebenszeit gewählter Kirchenfürst schon eine Institution. Jetzt blieb als solche nur noch die britische Königin, was die Europäer anging.

"Wollen wir hoffen, dass der nächste Papst mehr Frieden stiften kann als sein brunzkonservativer Vorgänger", dachte Oganduramiria. Nur so aus Neugier las sie die Diskussionen, wer den ersten polnischen Papst im Amt beerben würde. Viele tippten auf einen italienischen Kardinal. Andere meinten, es sei Zeit für einen afrikanischen Papst. Feministinnen forderten endlich die Papstwürde auch für Frauen. Andere meinten, dass ein allmächtiger, allgegenwärtiger Gott, in dem Jesus von Nazareth ja letzthin aufgegangen sei, keinen menschlichen Stellvertreter auf der Erde nötig habe. Dem konnte Oganduramiria nur zustimmen. Abgesehen davon, dass die rein männliche Einordnung der Schöpfungsmacht schon unsinnig war war es doch anmaßend für einen Menschen, zu behaupten, er oder sie sei die Stellvertretung dieses Schöpferwesens. Ja, und weil viele meinten, derartig berufen zu sein hatte es früher viele Kriege gegeben, und heute schossen radikale Anhänger eines bestimmten Glaubens auf Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornahmen, als wenn ein Mord einen anderen Mord aufwiegen konnte, Fanatiker einer anderen Religion spielten Kamikazekrieger und brachten mal eben 3000 Menschen um, als ob das im Sinne ihrer Version von Gott sei, und religiöse Eiferer, die aus reiner Machtgier ihr eigenes Volk mit Angst und Unwissenheit klein und dumm hielten, legten einfach so fest, dass eine Frau weniger wert als ein Mann war. jetzt, wo Oganduramiria beide körperlichen Versionen des menschseins erleben durfte konnte sie diese völlig altmodische und menschenverachtende Einstufung nur noch ablehnen. Wenn sie nicht gerade eine Sonnentochter war, dann wäre sie wohl als gewöhnliches Mädchen großgeworden, hätte überlegen müssen, ob sie sich in dem angeborenen Körper zurechtfinden oder sich in ihm fremd fühlen würde. Hatte sie kurz nach dem Erwachen in Gwendartammayas Gebärmutter gedacht, niemals damit klarzukommen, körperlich erst ein Mädchen und dann eine Frau zu sein, hatte sich diese Vermutung nicht bewahrheitet. Sicher, als Wickelkind war nicht viel mit geschlechtlicher Ausrichtung. Sie hatte die Kindheit mit Barbiepuppen und die Pubertät übersprungen. Das alles wäre ihr in der restlichen Welt nicht ermöglicht worden. Deshalb hatte sie ja auch gedacht, niemals Mutter sein zu können. Jetzt war sie es und ja, sie fühlte sich wohl dabei. Oder hatte da ein höheres Schicksal, ob es Gott oder Göttin genannt wurde, dran gedreht, "Sei gern was du bist!" oder sowas. Sie dachte einen Moment daran, dass dieses Schicksal mit ihr Billard spielte, sie mal in diese, mal in eine andere Richtung abspielte, über die Bande, und sie nicht wusste, wo das nächste Loch war, in das sie ohne ihr Zutun hineinkullern mochte. Nein, so fatalistisch wollte sie nicht denken. Sie konnte es selbst bestimmen, was sie mit dem machte, was ihr gegeben worden war. Im Moment war es eben ein schon hübsch anzusehender Körper mit einer blassgoldenen Hautfarbe und marsroten Haaren und mutterschaftsbedingt sehr ausladenden Brüsten und einem noch immer ein wenig ziependen Unterleib. Was hatte ihre Zwillingsschwester ihr prophezeit? Wenn sie erst einmal ein Kind bekommen hatte würde der übliche Monatsrhythmus leichter zu ertragen sein. Tja, noch hatte sie keine neue Regelblutung erfahren. Womöglich war das noch die Hormonumstellung und die ausgedehnten Stillphasen. Blieb es also abzuwwarten.

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Zwischen dem 04.04. und dem 06.04.2005

Die nächsten Tage waren geprägt vom bangen warten auf die Ankunft von Félix. Ansonsten bekam Julius nur mit, wie der Vatikanstaat sich auf die ehrenvolle Beisetzung des verstorbenen Papstes vorbereitete. Danach solllte das Conclave, die Zusammenkunft der wahlberechtigten Kardinäle, stattfinden. Doch das nahm er nur mit dem nötigen Interesse an der Weltgeschichte wahr. In Gedanken war er bei Béatrice. Würde er es verkraften, wenn Millie ihr den Kleinen nach der Geburt wegnahm, wenn Béatrice daran zerbrechen mochte oder Millie mit Gewalt davon abbringen wollte, den kleinen Jungen an sich zu nehmen? Er hoffte, dass seine beiden Mitbewohnerinnen nicht doch noch wegen ihm aneinandergerieten. Ja, das machte ihm wirklich Angst. Doch er wusste auch, dass es jetzt kein zurück mehr geben würde.

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06.04.2005

Sie schrak aus dem Schlaf, als es unvermittelt heftig in ihr zog und sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Dann ließ der Schmerz kurz nach, um noch einmal voll durchzudringen. Sie keuchte, wollte nicht schreien. Mit leicht flatternden Augen sah sie auf ihren Wecker. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Dann fühlte sie, dass es wohl losging. Jetzt würde sie es selbst am eigenen Leib erleben, was sie bei unzähligen anderen Hexen schon mitverfolgt hatte. Sollte sie hierbleiben, ihn hier gebären? Nein, sie musste in eine keimfreie umgebung und vor allem auf einen anständigen Gebärstuhl. Sie wollte den Kleinen nicht gegen die Schwerkraft aus sich hinauspressen. Das würde ihr und ihm mehr weh tun als sonst.

Béatrice wartete, bis die erste Wehe verebbt war und sie die Schmerzen, wie sie es selbst gelernt hatte, veratmete.

Sie stemmte sich aus dem Bett. Sie fühlte, dass sie unten herum schwerer geworden war. Dann fiel ihr ein, noch überschüssigen Ballast loszuwerden, bevor sie noch unter der Geburt Wasser oder festes Zeugs absetzen musste. Sie horchte in sich hinein. Ja, noch hatte sie genug Zeit.

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Julius half Hera, Béatrice auf den vorne ausgeschnittenen Stuhl zu setzen. Die Wohnküche würde heute wieder Zeugin einer Ankunft werden. Zweimal war hier schon wer neues zu eigenem Leben erwacht.

Um sieben Uhr erfolgte die nächste Wehe. Millie hatte inzwischen die drei Kinder ins Sonnenblumenschloss hinübergebracht und war mit Ursuline zurückgekehrt. "Trice, ich bin da. Maman ist bei dir, kleines", sagte Ursuline. Doch Béatrice funkelte sie nur verdrossen an. "Ich bin nicht klein, ich kriege gerade selbst ein Kind, Ma", zischte sie. Doch dann strahlte sie. "Hast du nicht mehr gehofft, wie?" fragte sie noch. "Gehofft immer, aber fast befürchtet, dass ich das nicht mehr miterleben werde", sagte Ursuline.

"Gut, Sie bleiben bitte außerhalb des unmittelbaren Behandlungsbereiches, Madame Latierre. Ich helfe Ihrer Tochter. Millie und Julius, ihr bleibt bitte auch links und rechts von Béatrice sitzen und stützt sie ab. Mehr braucht ihr jetzt nicht zu tun."

Die nächsten Stunden wurden aufregend, anstrengend und mehr oder weniger laut. Béatrice wollte nicht übertrieben laut aufschreien, wenn sie die nächste Wehe überkam. Immerhin war soweit alles in Ordnung. Das Kind würde mit dem Kopf zuerst erscheinen. Millie saß daneben und horchte auf das, was neben ihr vorging, aber auch in sich hinein. Ihre beiden noch ungeborenen Töchter regten sich wieder. Sie fühlte, wie die zwei ihre immer engere Umgebung anstießen. Falls sie gleich auch noch Wehen bekam wurde es aber schwierig für Hera.

Julius dachte nur, dass er Béatrice gerade die größten Schmerzen ihres Lebens verpasst hatte. Er dachte wieder an die wilden Nächte mit ihr. Es galt mal wieder, dass jede Sekunde Lust mit zwei Sekunden Schmerz bezahlt werden musste. Bereute er es? Nein, er bereute es nicht.

In den Stunden zwischen zehn und elf erfolgten die wehen in kürzeren Abständen und wurden stärker. Weil Béatrice zum ersten mal niederkam dauerte die Eröffnungsphase entsprechend lange. Ab halb zwölf schob sich etwas ovales mehr und mehr aus ihr heraus. Julius argwöhnte, dass der kleine Junge vielleicht einen deformierten Kopf hatte. Doch als der Kopf zusammen mit einem Schwall Fruchtwasser und Blut ganz zum Vorschein kam erkannte er es. Der kleine Junge trug die eine hälfte der ihn bis dahin schützenden Fruchtblase auf dem Kopf, eine sogenannte Glückshaut oder Glückshaube. Dann kamen die Schultern frei. Dann presste Béatrice den kleinen Bauch des Jungen mit der frei und unbeeinträchtigt pulsierenden Nabelschnur heraus. Dann, mit einem letzten Aufschrei der Gebärenden, kamen die Beine und Füße frei. Julius sah mit Erleichterung, dass der Junge vollständig war, keine fehlenden Hände, Finger, Füße oder Zehen, aber auch keine überzähligen Finger oder Zehen wie bei Alain Durin. Dann atmete der Junge zum allerersten mal ein, bekam einen Schluckauf, hustete kurz und schrie dann laut und rauh auf. Noch war er mit Béatrices Blutkreislauf verbunden. Doch er atmete und schrie seinen Unmut über alles hinaus, was er in den letzten sechs Stunden hatte durchmachen müssen.

Gleichzeitig mit den ersten Schreien sah Julius, dass das Licht in der Küche leicht golden wurde. Er kannte das schon. Ashtarias Magie hieß einen unter ihrem Schutz geborenen im Leben willkommen. Es störte den mächtigen Zauber nicht, dass dieses Kind nicht in ehelicher, sondern außerehelicher Zeugung entstanden war.

Wie sie es verabredet hatten nannte noch keiner einen Namen. Den sollte nur die ihn großziehende Mutter aussprechen.

Millie und Julius durften die langsam zur Ruhe kommende Nabelschnur abbinden und durchtrennen. Jetzt war Julius' Sohn wahrhaftig auf der Welt. "Vollendung der Geburt eines Jungen um genau zwölf Uhr Mittags am sechsten April 2005!" rief Hera über die kurzen lauten Schreie des Neugeborenen aus, damit die mitschreibende Zauberfeder es notierte. Dann trug sie den noch feuchten Säugling zu ihrer Waage hin und nahm alle Maße auf: "Gewicht 3780 Gramm!" diktierte sie. Körperlänge 54 Zentimeter, Kopfdurchmesser 14,4 Zentimeter. Kam mit Glückshaube zur welt!" sprach Hera weiter, während Julius Béatrices bebenden Körper hielt. War es nur Erschöpfung, oder war es Angst?

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Die Schmerzen waren unbeschreiblich gewesen. Doch die dazwischen aufkommende Glücksstimmung hatte sie immer wieder vergessen lassen, dass sie ihrem Körper gerade das höchste abverlangte, was er auszuhalten hatte. Jetzt hörte sie ihn schreien, zum aller ersten mal hörte sie seine Stimme. Kleine Tränen stiegen ihr in die Augen.

Ihre Hebamme nahm seine Maße. Er war gut genährt und wohl auch gesund. Sie fühlte nun wieder diese Furcht, die zu einer Panik zu werden drohte. Was, wenn Millie jetzt sagte, dass das ihr Kind sei? Sie hoffte, dass Millie nicht zu lange zögern würde, dass die Entscheidung schnell fiel. Denn sie war sich jetzt, wo sie es überstanden hatte und ihn sehen und hören konnte, nicht so sicher, ob sie ihn ihr überlassen würde. Da ging Millie auch zu dem mit Tüchern bedeckten Tischchen hin, auf den Hera den kleinen Jungen abgelegt hatte. Sie ergriff ihn behutsam bei Kopf und Körper, hob ihn an. Béatrice sah durch die in ihre Augen tretenden Tränen, wie Millie sich mit dem nun eher quengelnden Kind drehte. Mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Schicksalsergebenheit blickte Béatrice den Jungen an, von dem sie nicht wusste, ob dieser nun Millies oder ihr sohn sein würde. Dann sagte Julius' Frau:

"Ich, mildrid Ursuline Latierre, Ehefrau des Mannes, dessen Kind du für ihn und mich geboren hast, erkenne dich, Béatrice, als die Mutter dieses Jungen an und vertraue ihn dir an. Bitte nimm deinen Sohn an!" Mit diesen Worten legte sie Béatrice den neugeborenen Jungen in die Arme und gab ihn somit in ihre Obhut.

Eine Flut aus Tränen ergoss sich aus Béatrices und Millies Augen, während der gerade erst geborene Junge den Herzschlag fühlte und hörte, der ihn bis in dieses unübersehbare Leben hinein begleitet hatte. Er fühlte wieder Wärme, nachdem er erst mit der für ihn kalten Luft gerungen hatte. Er beruhigte sich. Ja, hier war er sicher. Das war seine Mutter, die ihn in sich getragen hatte.

Béatrice versuchte, sich zu bedanken. Millie, die selbst gerade weinte, schaffte es noch, sich wieder auf ihrem Stuhl niederzulassen. Julius reichte ihr und dann Béatrice ein sauberes Reinigungstuch.

Die Angst wich dem Glück. Denn weil Millie es laut und deutlich ausgesprochen hatte war diese ihre Entscheidung aufgeschrieben worden. Damit war sie laut dem Friedensretterabkommen verbindlich und nicht mehr aufzuheben. Béatrice Latierre war die Mutter dieses Jungen.

Als die ersten Gefühlswogen abebbten und Béatrice die Anstrengung der Niederkunft ein wenig verdaut hatte, legte sie sich den ihr anvertrauten kleinen Latierre auf den Bauch, dass er, wenn er schon Hunger hatte, finden würde, was er suchte. Dann sagte sie mit angestrengter Stimme aber auch mit sehr viel Glückseligkeit: "Mein Sohn, schön, dass du es zu uns geschafft hast. Ich nenne dich hiermit ganz offiziell Félix Richard Roland. Sei uns allen hier willkommen!"

"Du hast deinem Sohn, meinem Enkelsohn, den Namen seines Großvaters gegeben", brach es aus Ursuline heraus, die bis dahin nur zugesehen und abgewartet hatte, wie sich Millie entschied. Béatrice erwiderte: "Das haben Millie, Julius und ich so vereinbart, dass er die namen seiner beiden Großväter bekommt, die nicht mehr da sind, um mit ihm zu lachen und zu spielen", keuchte Béatrice. Millie, die immer noch weinte, sagte erst einmal nichts.

Julius trat nun vor und bedankte sich bei Béatrice, dass sie das für ihn und Millie durchgestanden hatte. "Ich habe ja auch ein paar schöne Stunden dafür bekommen", grinste sie Julius an, während Félix seine erste Mahlzeit im Leben zu sich nahm.

"Ich wusste gar nicht, dass diese von der Fruchtblase stammende Membran auch bei Hexen als Glückshaut oder Glückshaube bezeichnet wird", sagte Julius zu Hera. "Was meinst du, wer den Menschen diesen Begriff gebracht hat. Das war eine Hexe, die als Hebamme gearbeitet hat. Die meinte damals, dass so eine Haube die innige Verbindung zwischen Mutterleib und Welt noch für einige Minuten in die Welt mit hinüberträgt und dass der damit geborene Mensch deshalb besser in ihr zurechtkommt, weil er etwas aus dem schützenden Schoß bewahrt hat. Deshalb sammeln auch viele Mütter die Nabelschnüre ihrer Kinder, um ihre Verbundenheit mit diesen greifbar zu haben."

"Dann kann dieses Stück Fruchtblase auch konserviert werden?" fragte Julius. "Wenn Béatrice dies möchte", sagte Hera. Béatrice nickte behutsam, um ihrem ersten und wohl einzigem Sohn nicht den Rhythmus zu nehmen.

"Aber das, was noch fehlt brauchst du wohl nicht mehr", sagte Hera und ging sofort in Stellung, als es aus Béatrices Leib blutete und sie die nun nicht mehr nötige Nachgeburt austrieb. "Nein, hautsch! Das kann weg", sagte Béatrice, nachdem auch diese so notwendige Phase der Niederkunft überstanden war.

"Ich freue mich auf jeden fall für euch gerade vier. Ich hoffe auch, dass er mit seinen künftigen Verwandten gut zurechtkommt", sagte Ursuline.

"die sind als nächste dran", schnäufzte Millie und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. "O, ich habe voll zwischen allen Stühlen gehangen, Oma Line. Aber Rorie hat recht, die Hexe, die das Kind im Bauch hatte und es dort herauslässt ist die richtige Mutter. Ich hoffe, dass wir damit diese Schuld bei Ashtaria abbezahlt haben."

"Das kann nur diese unergründliche Entität selbst beantworten, wenn sie dies will. Solche Entitäten kann man nicht herbeizwingen wie willensschwache Gespenster oder Tierwesen", sagte Hera. Julius konnte ihr da nur beipflichten. Dann fragte er noch:

"Darf ich die Wiege für ihn in dein Zimmer stellen, Béatrice?" Béatrice sah ihn an und lächelte. Sie hatten schon früh darüber gesprochen, dass Félix auf jeden Fall in jener Wiege schlafen durfte, in der auch seine ältere Halbschwester Aurore die ersten Lebensmonate untergekommen war. So sagte sie: "Ja, bitte, stell mir die Wiege ins Zimmer, Julius!"

Félix' Vater nickte, stand auf und ging in das freigehaltene Zimmer, wo Aurores erste Schlafstatt immer wieder neue Benutzerinnen erhalten hatte. Jetzt würde die mit Ashtarias Segen bezauberte Wiege halt für einen kleinen Jungen da sein, ihn sicher und friedlich schlafen lassen.

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"Ecce dies vitam novam!" dudelte der unter dem Schreibtisch der Schulleiterin von Beauxbatons versteckte Neotokograph. Dann spieh er einen hellblauen Zettel aus. Doch im Moment war niemand da, der ihn entgegennehmen konnte. Es dauerte ganze vier Stunden, bis eine kleine Hexe mit rotbraunen Locken und einer goldenen Brille mit ovalen Gläsern in das Arbeitszimmer der Schulleiterin eintrat und die neue Nachricht fand. Als sie las, dass nicht Mildrid Ursuline, sondern Béatrice Latierre die Mutter des Zaubererweltgeborenen Félix Richard Roland war stutzte sie. Das konnte doch nicht sein. Hatte Julius mit der eigenen Tante Ehebruch begangen? Sie putzte ihre Brille und las die Mitteilung noch mal. Ja, da stand eindeutig der Name Béatrice Latierre als Name der Mutter. Das musste sie heute noch klären, bevor Madame Faucon diese Mitteilung im Jahrgangsverzeichnis 2016 vorfand.

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Außerhalb der Welt galt keine Zeit und eigentlich auch kein Raum. Nur Wünsche und Gedanken bestimmten die Entfernungen und Ziele. Gerade befanden sich zwei mächtige Erscheinungsformen zusammen, Mutter und Tochter. "Sie hat ihr das Recht auf die Mutterschaft überlassen, Mutter", sagte die Tochter.

"Sie weiß, dass es einer Mutter noch mehr weh tut, ihr Kind fortgenommen zu bekommen, als die Schmerzen der Niederkunft es vermögen. Ich habe nichts anderes erwartet, Ammayamiria."

"ich eigentlich auch nicht. Aber Claires Erinnerungen sagen, dass Mildrid immer sehr beharrlich mit dem war, was sie haben wollte."

"So bleibt es ja auch. Immerhin trägt sie selbst ja auch Kinder von Julius aus. So war das einfacher für sie, Béatrices Sohn bei seiner natürlichen Mutter zu belassen", sagte Ashtaria.

"Und wann willst du Julius diesen verwaisten Stern finden lassen?" fragte Ammayamiria. "Das weißt du doch, meine Tochter. Es muss mindestens ein Mond nach der Geburt vergangen sein, damit ich auch weiß, dass der gewünschte Sohn die Mannesreife auch erreichen mag. Dann und nur dann wird Julius die Aufgabe erhalten, den verwaisten Stern zu suchen und wenn er sich seiner würdig erweist, anzunehmen und ihn damit wiedererwecken."

"Und wenn er dabei den Tod finden sollte, Mutter?" fragte Ammayamiria. "So werde ich ihm die Wahl lassen, in meine dauernde Obhut zurückzukehren oder auf die andere Seite der Brücke zu gehen, falls du ihn nicht in deine Obhut nehmen willst, meine Tochter."

"Ja, aber dann wird der Stern immer noch nicht wiedererweckt sein", wandte Ammayamiria ein. Ihre Mutter erwiderte: "Dann mag die Mutter seines Sohnes erfahren, welches Erbe sie für ihren Sohn hüten mag. Doch ich hege große Zuversicht, dass Claires erste Liebe und mein sechster Sohn die Prüfung bestehen und die Wunde heilen wird, die unserem Gefüge zugefügt wurde."

Ammayamiria verstand. Julius Latierre sollte sich als würdig erweisen. War er es, so würden die Kinder Ashtarias wieder zur vollen Stärke zurückkehren. Versagte er, so würde dessen Sohn Félix Richard Roland Latierre irgendwann die Erbschaft antreten, ob er es wollte oder nicht. Keine große Auswahl, dachte jene, die aus den Seelen von Aurélie Odin und Claire Dusoleil entstanden war. Das machte sie ein wenig traurig. Doch sie hoffte, dass ihr erlaubt sein würde, ihm beizustehen, so wie es einer großen Schwester Recht und Pflicht war.

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Das Weibchen Béatrice hat Julius' Junges bekommen. Also müssen die Männchen nicht immer mit denselben Weibchen Junge machen. Das beruhigt mich sehr, zumal ich auch bald wieder die Stimmung fühle. Dusty ist stark und hat mir schon viele kräftige Junge in den Bauch gelegt. Aber da, wo die anderen noch wohnen, habe ich immer wieder wen anderen zu mir gelassen und ihn seine Jungen in den bauch stoßen lassen. Ja, und Dusty hat überhaupt keine Schwierigkeiten, immer wieder eine andere zu finden, die mit ihm die Stimmung auslebt und dann seine Jungen kriegt.

Ich höre das kleine Männchen, dass Béatrice im Bauch hatte. Es trinkt bei seiner starken, wissenden Mutter. Weil er ein Junges von Julius ist passe ich auch auf den auf, genau wie auf die drei kleinen Weibchen, die Millie von ihm gekriegt hat. Ach ja, Millie hat ja auch zwei Klopfer im Bauch. Aber den Zweifußläufern tut das doch noch mehr weh, Junge zu bekommen als mir. Da sind zwei wohl so anstrengend wie acht bei mir.

Huch! Wer komt denn da. Den Geruch kenne ich doch, ja und das gekringelte Kopfffell und diese durchsichtigen Steine vor den Augen kenne ich auch. Die war doch in der großen Wohnhöhle, wo das ganz große Weibchen und danach Blanche die oberste aller von da war. Die kann hören, was andere nur im Kopf haben. Was will die denn jetzt hier? Ich schleich mal näher heran, um zuzuhören. Hoffentlich geht Julius mit der nicht in diese leise singende Höhle, aus der ich nichts mehr hören kann, wenn sie zu ist.

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Julius machte auf, als er sah, wer vor der Tür stand. "o, Professeur Fixus. Haben Sie die Nachricht bekommen?" fragte er und verschloss seinen Geist mit dem Lied des inneren Friedens.

"Ja, ich habe durchaus eine Nachricht erhalten, Monsieur Latierre. Ich denke, es sind Glückwünsche angeraten", sagte Professeur Boragine Fixus mit ihrer bei Schülern weithin gefürchteten Windgeheulstimme.

"Bitte kommen Sie herein. Alle sind jetzt soweit in Ordnung, dass wir kurz miteinander reden können", sagte Julius. Er sah durchaus, wie die Zaubertranklehrerin von Beauxbatons und wegen des trimagischen Turnieres die zeitweilige Schulleiterin wohl versuchte, einen seiner Gedanken zu erhaschen. Offenbar misslang ihr das.

Julius führte die hohe Besucherin in die nach der langen Niederkunft wieder hergerichtete Wohnküche. Béatrice Latierre war gerade nicht zu sehen. Sie lag wohl im Wochenbett. Millie war da, unübersehbar in guter Hoffnung. Auch Hera Matine war da. Diese verschloss auch ihren Geist, als sie hörte, wer gekommen war.

Julius berichtete das, was er mit Hera, Béatrice und Millie ausgemacht hatte. Professeur Fixus konnte auch Millies Gedanken nicht hören. Sie meinte nur, ein munter prasselndes Feuer zu hören.

"Soso, und dann musste Ihre Kollegin Béatrice die dritte Leibesfrucht in sich aufnehmen und unter einer verhüllenden Kleidung verbergen, um kein Gerede zu verursachen", sagte Professeur Fixus. Julius bestätigte das, ebenso Hera. "Aber es besteht doch dann die Möglichkeit, dass sie, Madame Latierre, das Kind adoptieren können, oder?"

"Das habe ich gleich nach der Geburt klargestellt, dass meine Tante die Mutter des Jungen ist", zischte Millie verdrossen. "Sie hat ihn über Monate ausgetragen und zur Welt gebracht. Dann darf, ja muss sie seine Mutter sein. Ich trage noch die beiden Töchter in mir. Ich muss also weder Besitzergreifend noch Eifersüchtig sein", sagte sie dann noch in einem etwas freundlicheren Ton. Hera sprang ihr bei: "Notieren Sie ruhig die vom Geburtenmelder ausgeworfene Benachrichtigung, Boragine. Für den Jungen ändert sich ja nichts, weil er in diesem Haus aufwachsen wird."

"Ich habe selbst keine Kinder bekommen. Doch weiß ich, wie wichtig es für ein Kind ist, wer seine Eltern sind."

"Deshalb ist es ja auch so, wie es registriert wurde", sagte Hera Matine. "Darf ich die junge Mutter auch beglückwünschen?" fragte Professeur Fixus.

"Sie erholt sich von der Niederkunft", sagte Hera. "Desgleichen schläft auch der kleine Félix Richard Roland."

"Natürlich. ich werde es so notieren, wie der Geburtenschreiber es ausgegeben hat", sagte Boragine Fixus. "Sie alle drei müssen mit dieser Entscheidung leben und dem Jungen ein hoffentlich stabiles Umfeld bieten. Mehr darf und will ich nicht dazu sagen." Sprach's und wandte sich zum gehen.

Als die Zaubertranklehrerin auf der Landewiese wieder auf ihren Besen stieg und davonflog sagte Hera zu Julius. "Wie erwähnt decke ich euer Abkommen, weil es ja eben für den Jungen wichtiger ist, dass er Eltern hat, die sich zu ihm bekennen und denen er vertrauen kann."

Aus dem Mutter-Kind-Zimmer, das bis heute morgen nur ein zum Schlaf- und Arbeitszimmer umfunktioniertes Gästezimmer gewesen war, drangen die fordernden Schreie eines Neugeborenen. "Die Fanfare der Zukunft, Julius", sagte Millie. "Die haben wir gehört, als er gerade aus Béatrices Bauch heraus war", berichtigte Julius seine Frau. "Dann kriegen wir demnächst eine zweistimmige Fanfare zu hören", sagte Millie leicht verdrossen.

Hera ging, nachdem sie noch einmal gesehen hatte, dass Béatrice bereits geübt im Stillen war. Da sie alle einen anstrengendenTag hinter sich hatten aßen sie nicht viel. Béatrice trank wesentlich mehr Wasser als sie etwas aß.

Ursuline mentiloquierte, dass sie die drei anderen Kinder über Nacht bei sich behalten würde, da Béatrice sicher die erste Nacht als junge Mutter alle Ruhe brauchte, die sie bekommen konnte. Millie und Julius waren einverstanden.

Bereits um halb zehn lagen Millie und Julius in ihrem Ehebett. Julius wollte eigentlich gleich schlafen. Doch Millie wandte sich ihm noch einmal zu und schnäufzte: "Ich kann keiner Mutter ihr Kind wegnehmen. Rorie hat recht. Sie hat ihn im Bauch gehabt. Es hat ihr genauso weh getan wie mir bei Rorie und den beiden anderen, ihn rauszulassen. Dann muss sie auch seine Mutter bleiben dürfen."

"Ich finde es sehr mutig von dir, so zu entscheiden, Mamille. Ich danke dir, dass du uns allen dreien viel Leid erspart hast. Denn ich hätte voll zwischen beiden Stühlen gehangen, Béatrice hätte sich benutzt und nicht mehr gebraucht gefühlt und du hättest immer daran denken müssen, das Kind einer anderen Frau zu versorgen, die noch am leben ist. Ob das wirklich den Ehefrieden bewahrt hätte weiß ich gerade nicht. Aber es wird hoffentlich den Frieden zwischen Béatrice, dir und mir bewahren", fügte er noch hinzu. Millie knuddelte ihn dafür. Dann horchte er an ihrem schon sehr umfangreichen Bauch. Er konnte neben den gluckernden und grummelnden Geräuschen ihres Verdauungssystems auch die zwei winzigen Herzen schlagen hören. Dort waren seine nächsten Kinder. Schon eine komische Lage: Drei Kinder, zwei Mütter und er der eine Vater. Dann löste er sein Ohr von Millies stolzem Umstandsbauch und legte sich zum schlafen zurecht.

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Zwischen dem 07.04. und 28.04.2005

Weil es fast zwischen den Zwergen Deutschlands und den dort lebenden Kobolden zum offenen Kampf kam lehnten die französischen Kobolde und Zwerge jeden Versuch ab, miteinander übereinander zu verhandeln. Dennoch gab Ministerin Ventvit Julius' Idee nicht verloren. Es galt, nach einer Gemeinsamkeit zu suchen, mit der sie die aufgebrachten Zwerge und die angespannten Kobolde an den Verhandlungstisch bringen konnte. Dagegen waren die Veelastämmigen sofort bereit, mit den Wassermenschen zu verhandeln. Vermittler war hier Julius Latierre selbst, der mal zu Léto und mal in die Meermenschenkolonie vor der südfranzösischen Mittelmeerküste reiste.

Béatrice strahlte immer wieder, wenn ihr jemand zusah, wie sie den kleinen Félix versorgte. Millie brauchte zwar doch einige Tage, um es endgültig zu begreifen, dass da ein Kind von Julius lebte, das nicht sie geboren hatte. Doch dann konnte sie auch erfreut lächeln, wenn sie sah, wie Béatrice den kleinen Jungen umsorgte.

Über Internet bekam Julius mit, dass tatsächlich der aus Bayern stammende Joseph Ratzinger zum neuen Papst gewählt wurde. Benedikt XVI. nannte er sich jetzt, der sechzehnte Gesegnete. Also galt weiterhin, dass die Zaubererwelt sich verbergen musste, weil ein Kirchenfürst dran war, der die alten Werte seiner Kirche beibehalten wollte. Auch erfuhr er, dass es in anderen christlichen Glaubensgemeinschaften auch eine starke Ablehnung aller Zauberei gab. Nur Gott durfte Wunder wirken. Kein Mensch durfte sich über die von Gott gesetzten Grenzen hinauswagen, so eines der vielen Antimagie-Dogmen. allerdings hatte die Menschheit ja in den letzten hundert Jahren so viele neue Dinge erfunden und sogar das Atom gespalten und den Mond betreten. Das war doch eindeutig ein Verstoß gegen die vorgeschriebenen Grenzen, dachte Julius einmal. Die Amischleute waren da konsequent, keine nicht auf Menschen- oder Tierkraft angewiesene Technik, kein elektrisches Licht und ganz sicher auch keine Massenmedien wie Radio, Fernsehen oder Internet.

Aurore hatte sich nach dem ersten angenervten Aufbegehren daran gewöhnt, dass jetzt schon ein neues Baby im Haus wohnte. Aber sie erkannte Béatrice als dessen Maman an, was diese auch sehr freute.

Da Millie ja jeden Tag selbst soweit sein mochte feierte sie ihren 23. Geburtstag am 25. April nur mit ihren Eltern, Julius' Mutter, Julius' Halbgeschwistern und eben Béatrice, die zwischendurch in ihr Zimmer ging, um Félix zu versorgen. Doch anders als Millie es erhofft hatte ließen sich ihre Zwillingstöchter nicht darauf ein, mit ihr zusammen Geburtstag zu haben.

Der zweite Jahrestag der dunklen Welle war kein Feiertag. Dennoch gab es wieder ein großes Freudenfeuer abends auf dem Dorfplatz. Die Latierres entschuldigten sich offiziell, nicht dabei sein zu können, eben weil es ja nun jeden Tag soweit sein würde.

"Wollen wir sie echt zusehen lassen, Mamille?" fragte Julius seine Frau am 28. April, wo es sich abzeichnete, dass sie beide auch besser über Walpurgis zu Hause bleiben sollten. "Ich habe es ihr versprochen. Wenn sie dabei aus den Schuhen kippt ist sie es mitschuld", erwiderte Millie.

Immerhin konnte Julius nun wieder Béatrice oder Millie einzeln anmentiloquieren, ohne beide zugleich zu erreichen oder mitzubekommen, wenn die sich gegenseitig was zuschickten.

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29.04.2005

Im Sonnenturm blickten viele gespannt auf das über dem gemeinsamen Mittelpunkt von fünf Kreisen hängende Pendel. Vier weitere graue Vampire, Träger des vielfachen Todes in Form von eingespritztem Unlichtkristallstaub, hatten den letzten Schwung an dunkler Energie geliefert.

Oganduramiria stand mit ihrem Sohn Ashtaryanan auf dem Arm neben Gisirdaria, die ihre wiedergeborene Tochter Sirdarlangaria auf den Armen trug. Auch Faidaria war da. Nun, wo sämtliche mit neuen Kindern gesegneten Sonnentöchter ihren Nachwuchs zur Welt gebracht hatten, ging es um einen weiteren wichtigen Vorgang: Die Wiederbelebung des magischen Pendels, welches dunkle Quellen anzeigte.

Yantulian, der mit seiner Gefährtin Dardaria den Sonnenturm gehütet hatte, trat mit seinem in der Kammer der schnellen Reifung zum Erwachsenen gewordenen Sohn Dargarian an eine Vorrichtung, die wie ein Gemisch aus Lokomotivführerstand und Alchemistenlabor aussah. "Somit übergeben wir dir, Weiser des Lichtes und der Dunkelheit, Benenner von Nacht und Tag, die von uns und unseren Feinden gesammelte Kraft, um deine Bestimmung zu erfüllen, auf dass deine Hindeutungen uns den weiteren Weg zeigen mögen", sagte Dargarian in der alten Sprache. Dann legten er und seine Mutter Dardaria zeitgleich je einen glitzernden Hebel um.

Beide Sonnenkinder erstrahlten für einen Moment in orangerotem Licht. Von Dardarias Seite aus flossen hellrote Lichtwellen, von Dargarian orangerote Lichtwellen in einen Zylinder, der sich langsam zu drehen begann. Darüber waren die beiden hantelartig zusammengefügten Silberkugeln zu sehen, die randvoll mit bösartiger magie waren. Aus einem goldenfarbenen Zylinder schossen weißgelbe Blitze in den rotierenden Zylinder hinein. Dann begann dieser violette und hellrote Funken zu sprühen, die durch die ganze Vorrichtung flogen und entweder in den fünf Kreisen oder dem unteren Ende des Pendels verschwanden.

Die beiden Sonnenkinder, welche die Vorrichtung bedienten, legten weitere Hebel um, damit der von ihnen ausgelöste Energiestrom nicht schlagartig und in eine falsche Richtung abfloss, sondern in vorbestimmter Weise mal hierhin und dorthin geleitet wurde. Für Oganduramiria wirkte es so, als folgten die beiden Sonnenkinder einem vorgegebenen Programm, wie ein Computer, nur dass die beiden wohl parallele Abläufe einzuhalten hatten und nicht ein Vorgang dem anderen folgte. Durch dieses simultane Vorgehen pumpten sie die hellen und dunklen Kräfte in Pendel und Bodenkreise hinüber, musten auch mal warten, bis sich das glühende Pendel wieder verdunkelte oder bis das mal tiefschwarz erbebende Pendel sich beruhigt und wieder sein metallisches Glitzern zurückbekommen hatte. Am Ende galt es wohl, eine spontane Anihilation zu verhindern, wie es bei der Berührung zwischen Materie und Antimaterie geschehen mochte, wenn da kein regulierender Dilithiumkristall zwischengesetzt wurde, dachte Oganduramiria.

Jedenfalls dauerte die wechselseitige Kraftübertragung fast eine Stunde an. Dann schalteten beide Operatoren der Vorrichtung mit einem simultanen Hebeldruck die letzte Aktion. Der Boden bebte. Blau-grünes Elmsfeuer flackerte über das gesamte Pendel. Dann, mit einem Ruck, schwang das untere Ende bis zum äußersten der fünf konzentrischen Kreise aus. Das Pendel geriet in eine erst weite Auslenkung, während die Kraftübermittlungsvorrichtung mehr und mehr im Boden versank. Dann schwang das Pendel mehr über den drei innersten Kreisen bleibend weiter. "Wenn etwas nahe bei uns ist was wir nicht wollen, werden wir es wohl gleich erkennen", dachte Ashtaryanan seiner Mutter zu. Mittlerweile konnte der Wiedergeborene wieder gut genug sehen, was weiter als zwanzig Zentimeter von ihm fort war. Dann begann das Pendel, in unregelmäßigen Bahnen zu schwingen. Erst dachte Oganduramiria, dass es doch nicht richtig eingestellt worden war. Doch dann sah sie, dass es regelmäßig zu bestimmten Punkten zurückschwang und nicht im ganzen unregelmäßig schwang. Mit einem vernehmlichen Klicklaut versank die Schaltanlage mit den beiden Kraftsammelbehältern im Boden. Fast lautlos schob sich eine mit Zauberzeichen beschriebene Platte darüber und schloss sich. Die Zauberzeichen glommen kurz orangegolden auf. Dann konnte keiner mehr erkennen, dass da eine Bodenplatte war. Es sah nun so aus, als sei der Boden glatt und fugenlos.

"Wie ihr alle sehen könnt, Brüder und Schwestern, schwingt das Pendel nun wieder in die Richtungen aus, wo es dunkle Kräfte erfasst. Es ist also wieder in seinem vorgesehenen Betrieb", sagte Dargarian. Sirdarlangaria winkte ihm beipflichtend aus den Armen ihrer zweiten Mutter zu. "Helle und dunkle Kraft, männliche und weibliche lebenskraft, sind wieder im vorgesehenen Gleichmaß, so dass das Pendel die Stellen bezeichnen kann, an denen mehr dunkles Werk als helles Werk vorhanden ist. Es ist nun wieder an uns, zu beschließen, wo unser Werk am dringendsten getan werden muss. Das Herz unseres Seins schlägt wieder. Unser Weg liegt wieder vor uns. Der Nebel der Ungewissheit ist vertrieben. Wohin der Weg uns alle führt weiß heute niemand. Viele von uns haben es erleben müssen, dass er nicht in gerader Linie verläuft. Etliche von uns mussten dafür ihr früheres Leben geben und ein neues Leben erhalten, um weiterhin mit uns gemeinsam für den Schutz der Menschen vor den Wesen der Zerstörung und grenzenlosen Todesgier zu kämpfen. Nun sind wir wieder da. Wer auch immer meint, diese Welt bereits für sich erobert zu haben, um sie zu zerstören und nach einem eigenen Plan neu zusammenzufügen, wird bald wieder unser bewusst sein, sofern es unsere Feinde es nicht schon längst wieder wissen", sagte Dargarian.

"Jetzt wo wir wissen, dass wir alle so oder so immer wiederkommen, solange dieser Turm und seine Seelenverwahrkugeln da sind", dachte Oganduramiria. "Da denkst du was sehr weises, Mutter", erwiderte Ashtaryanan. "Damit hat der Tod seine bedrohliche Endgültigkeit verloren, solange der Sonnenturm besteht."

Offenbar hatten Faidaria und Dargarian diese rein geistige Aussage mitgehört. Denn die beiden sagten sogleich: "Um sicherzustellen, dass wir alle unsere Bestimmung einhalten können sollte die Wachmannschaft im Sonnenturm vervierfacht werden. Nicht nur ein Mann und eine Frau sollen hier wachen, sondern vier Frauen und vier Männer. Nun, wo wir wieder einige erwachsene Mitstreiter hinzugewonnen haben ist dies möglich und wichtig. Denn wir mussten lernen, dass der Sonnenturm unser wahres Herz ist. Es darf nicht erneut aufhören zu schlagen", sagte Faidaria. Dann legte sie fest, dass jene, die gerade neue Kinder zu versorgen hatten, auf der Insel blieben, während jene, die gerade keine neuen Kinder erwarteten auswählen sollten, welche Frauen und welche Männer den Worakashtaril bewohnen sollten. Yantulian und seine Gefährtin Dardaria durften auf die Heimatinsel zurückkehren. Dargarian, der erst vor kurzem wieder zum erwachsenen Mann geworden war, durfte mit einer anderen wiedergeborenen Tochter als einander anvertraute hierbleiben. Falls sie hier auch ein neues Leben zeugten, wurde es dann eben hier geboren. So fanden sich noch drei weitere Paare, die den Sonnenturm hüten würden, bis ein Jahr vergangen war und neu gelost werden sollte, wer mit wem Nachwuchs hervorbringen sollte. Allerdings galt, dass sie bis dahin nicht wieder in großer Zahl sterben durften. Es konnte also wenn überhaupt nur Einsatzgruppen geben, aber keine großen Schlachten. Oganduramiria ertappte sich dabei, dass sie hoffte, im nächsten Jahr wieder Mutter werden zu können, um nicht wieder so früh aus der Welt zu verschwinden wie ihr früheres Ich. Außerdem war sie neben Dailangamiria die einzige, die mit einem Rechner umgehen konnte. Und wie wichtig das noch werden konnte hatte die Meldung vom 13. Februar ja gezeigt.

Dargarian blickte auf das nun wieder frei schwingende Pendel und beobachtete die Figuren, die es dabei über die fünf Kreise beschrieb. Dann verzog er sein goldbraunes Gesicht und seufzte: "Das Jahr wurde genutzt, um überall auf der Welt dunkle Horte zu schaffen. Das Pendel schwingt bei jeder umrundung in fast alle Richtungen aus. Es ist also wahr, was wir erfuhren, als ich noch friedlich in Dardarias innerem Nest heranwuchs." Oganduramiria nickte. Offenbar zeigte das Pendel in die Richtungen, wo die sieben geheimen Tempel der Blutgötzin stehen sollten, von denen sie aus dem Arkanet und Faidaria von Julius Latierre erfahren hatte. Ashtaryanan deutete auf die farbigen Kreise. Oganduramiria ging etwas näher heran. Jetzt konnten sie es beide erkennen, dass das Pendel besonders in zwei Richtungen gezogen wurde. Yantulian, der bisherige Wachhabende des Worakashtaril trat neben Oganduramiria und sah auch, was diese sah. "Ja, zwei Kraftquellen sind stärker als die sonst noch erkennbaren dunklen Stellen. Die eine muss in Morgenrichtung von hier im Meer liegen, der Richtung und Schwungweite nach. Die andere liegt weit von hier in Abendrichtung, womöglich auf dem Erdteil, der von unserer Heimat aus in Morgenrichtung zu finden war. Wir werden das genauer eingrenzen und mit den alten Karten abgleichen, die wir im Turm haben."

"Die Stelle im Meer könnte der Lageort des Mitternachtssteins sein", vermutete Oganduramiria. "Der wurde ja im Golfstrom östlich des nordamerikanischen Erdteils versenkt. Aber was die andere Kraftquelle ist kann ich gerade nicht erraten. Wir kriegen auch so gut wie keine Meldungen aus Indien, China oder Japan rein, oder die werden über die hochverschlüsselten Einzelkanäle an entsprechende Leute geschickt", sagte Oganduramiria. "Wir kennen auch entsprechende Leute", sagte Faidaria, die sich mit ihrer vor einem halben Monat geborenen Daisiria-Tochter dazustellte. "Vielleicht ist dort auf dem heute Asien heißenden Erdteil etwas, dasss alles andere überwiegt, was an dunklen Horten auf der Welt ist."

"Noch mehr als die sogenannten Tempel Nocturnias?" gedankenfragte Ashtaryanan Aroyans ehemalige Anvertraute. "Diese dunkle Woge vor nun zwei Jahren hat viele Dinge verstärkt, die vorher schwach waren. Sie hat Wesen aus tiefem Schlaf geweckt. Deshalb kann dort wirklich was sein, dass stärker wirkt als die sieben Tempel Nocturnias", erwiderte Faidaria mit körperlicher Stimme.

"Jedenfalls ist in diesen zwei Jahren eine Menge passiert", stellte Oganduramiria klar. Dem konnte niemand widersprechen, ob schon Erwachsen oder gerade erst wenige Wochen zurück auf der Welt.

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30.04.2005

Es begann um neun Uhr abends. Während draußen juchzende Hexen umherflogen, die mit ihren Besenpartnern die Walpurgisnacht feierten, musste Millie die ersten Wehen veratmen. Immerhin hatte Hera die beiden Kinder gestern noch einmal begutachtet. Sie lagen richtig.

Béatrice und Hera kamen in die Wohnküche und halfen Julius, sie wieder einmal zum kleinen Kreißsaal zu machen. Aurore und Chrysope schliefen. So weckte Julius sie beide. Aurore maulte. Doch dann war sie schlagartig wach. Während Julius sie und Chrysope wusch und tagesfertig anzog wachten Hera und Béatrice bei Millie. Dann rauschten auch noch Julius' Mutter und Hippolyte Latierre durch den Kamin herein. Mehr durften nicht dabei sein. "Muss Rorie das wirklich jetzt schon sehen, Julius?" fragte Martha Merryweather ihren Sohn.

"Denise und Chloé haben ihren Geschwistern auch bei der Ankunft zugesehen, Mum. Das hilft Aurore auch, zu verstehen, warum Millie auf die beiden so achtgeben muss."

Anders als bei Béatrice, bei der es fast sechs Stunden gedauert hatte, hatten Millie und die beiden jüngsten Töchter von ihr nicht so lange zu leiden. Während die Mütter der beiden Eltern in sicherem Abstand saßen und Hippolyte Chrysope und Martha Aurore auf dem Schoß hielt schob sich der Kopf der ersten Zwillingsschwester Stück für Stück ans Licht. Es waren zwei Minuten vor Mitternacht, als die erste, Flavine, vollständig dem Mutterleib entwunden war. Dabei zeigte sich bereits der Kopf von Fylla, die sich scheinbar beeilte, noch vor Mitternacht anzukommen. Doch es war genau eine Minute nach zwölf und somit schon der erste Mai, als Fylla mit lauten Schreien die Welt begrüßte.

Zeitgleich erfüllte jenes goldene Licht den Raum und womöglich das ganze Haus und das Grundstück, dass auch bei Chrysopes, Clarimondes und Félix' Geburt zu sehen gewesen war. Nur war es jetzt so, als strahle es nicht nur aus den Kerzen und dem ruhig brennenden Feuer, sondern leuchte aus den Wänden, der Decke und dem Boden heraus. Ashtarias Segen hatte die beiden kleinen Hexenkinder angenommen und durchdrang auch sie. Diese Leuchterscheinung hielt eine volle Minute vor. Dann nahm alles wieder seine gewohnte Erscheinung an.

"oh, hatten wir auch lange nicht mehr", sagte Hera. Zwillinge mit je einem eigenen Geburtstag." Dann wog sie erst Flavine. Sie brachte es bei einer Körperlänge von 46 Zentimetern auf 2566 Gramm. Ihre Zwillingssschwester war auch 46 Zentimeter lang und wog 2800 Gramm. Wieder durfte Millie die feierliche Namensvergabe machen. Das freute sie so sehr, dass sie die Schmerzen der letzten drei Stunden vergessen konnte. Die zwei Mädchen überboten sich dabei im schreien. Julius erklärte seiner Mutter die Sache mit den Fanfaren der Zukunft. "Wenn ich bedenke, dass Babyschreie tödlich für diese grauen Vampirmonster sind", mentiloquierte sie ihrem nassgeschwitzten Sohn. Dieser erwiderte auf dieselbe Weise: "Ja, weil die mit der Essenz gewaltsamen Todes gestärkt sind und selbst der hilflose Schrei eines Säuglings neues und weitergehendes Leben bedeutet. Ist wie mit dem Basilisken, den ein Hahnenschrei töten kann, weil er aus einer verdorbenen Verkettung von Hahn, Ei und Kröte hervorgegangen ist."

"Tolle Themen, gleich nach der Geburt deiner Kinder", gedankenmurrte Julius' Mutter. "Du hast damit angefangen", musste Julius zurückschicken. Mit körperlicher Stimme bedankte er sich bei seiner Frau, dass sie es wieder einmal für ihn ausgehalten hatte.

"Machst du Witze, Julius. Das war es wieder wert. Jetzt bin ich mit meiner Schwester gleich und mit Tante Babs. Aber an Oma Line komme ich dann wohl doch nicht mehr ran", sagte sie, während die Zwillinge endlich begriffen, dass nur schreien nicht satt machte. "Tja, jetzt weißt du auch, warum Hexen, die in der Walpurgisnacht geboren werden, Walpurgisnachtsängerinnen heißen", sagte Hippolyte zu Martha. Aurore, die immernoch total beeindruckt von dem war, was eine Maman aushalten konnte und jetzt ganz sicher wusste, wie die kleinen Babys aus Mutters Bauch kommen konnten, musste sich jedoch schnell hinlegen, weil alles, was sie gesehen hatte so viel zwischen Staunen, Furcht, Ekel und Bewunderung freigesetzt hatte, dass es ihren noch kleinen Kopf heftig zum glühen gebracht hatte. Doch sie hatte sich nicht übergeben müssen, war nicht schreiend weggelaufen. Martha sah ein, dass es eine Frage der Herangehensweise war, ab wann ein Kind selbst einen Geburtsvorgang mit ansehen mochte. Chrysope hatte nur Angst gehabt, dass etwas ihrer Maman zu sehr weh getan hatte und dass es schon unheimlich war, wie sehr sie sich unten herum verändert hatte. "Und das geht wieder richtig zu?" fragte Aurore ihre Mutter. "Nicht ganz, nur soweit, wie ich es brauche", keuchte sie. Aurore verstand. Da sie selbst ein Mädchen war kannte sie ja den Körper einer Frau, eben nur, dass eine Frau die großen Brüste hatte, die sie wohl mal irgendwann auch kriegen würde. Wozu die gut waren kannte sie ja schon von Chrysope und Clarimonde und sah nun, dass auch zwei gleichzeitig trinken konnten.

"Dann haben die jetzt jedesmal, wenn Walpurgis ist Geburtstag?" wollte Aurore wissen. Hera antwortete: "Ja, die Flavine am 30. April, die Fylla am ersten Mai, einem Tag vor deinem Geburtstag."

"Echt, erst die Flavine, dann die Fylla und dann ich?" quiekte Aurore und erschreckte die beiden gerade erst geborenen Schwestern. Millie machte Schschsch! Die Zwillinge hörten wieder auf zu quengeln und tranken weiter. Julius flüsterte: "Ja, ganz echt. Drei Tage hintereinander." Er konnte vollkommen nachempfinden, wie aufregend das für Aurore war, von dem Geburtsakt ganz abgesehen.

"Mögen wir darauf vertrauen, dass sich die heute mit einer Doppelfanfare ankündigende Zukunft besser für uns alle erweisen wird, als die Gegenwart es aussehen lässt", sagte Julius noch.

Draußen tanzten die Hexen mit Ihren Besenpartnern um das große Feuer auf der Festwiese. Im Apfelhaus freuten sich alle Bewohner und ihre Gäste über die Ankunft zweier neuer Hexen. Der Name Pomme de la Vie, der Apfel des Lebens, war nun mehr als gerechtfertigt.

Félix erwachte kurz vor halb eins. Béatrice nahm sich sofort seiner an. "Ich finde es immer noch eine ggroße Leistung, Millie, dass du ihr den Jungen gegönnt hast", sagte Martha zu ihrer Schwiegertochter. "ich habe erst gedacht, ich könnte ihn einfordern, Martha. Aber ich hätte mich dann wohl selbst nicht mehr im Spiegel ansehen können. Vielleicht haben mir die zwei Prinzessinnen hier an meinen nährenden Brüsten auch klargemacht, was es heißt, Mutter zu werden. Das wollte und durfte ich Béatrice nicht wegnehmen, nachdem sie sich für Julius und mich eingesetzt hat." Das verstand Martha. Sie küsste ihrer Schwiegertochter auf die Stirn. Dann wurde ihr klar, dass sie ab heute sechsfache Großmutter war, eine Großmutter mit drei eigenen Kindern unter dem Grundschulalter. Das erinnerte sie daran, wieder zu Antoinette zurückzukehren. Sie bedankte sich noch einmal für die Erlaubnis, der Geburt zusehen zu dürfen und flohpulverte ins Château Florissant.

"Gut, ich helfe dir noch mit dem Umbetten, Millie. Keine Widerrede", sagte Hera. So musste es sich Millie gefallen lassen, wie sie vom Gebärstuhl auf eine schwebende Trage umgebettet wurde. Julius half seiner Schwiegermutter derweil, die Wohnküche wieder blankzuputzen.

"Alles neu macht der Mai, singen die Deutschen", sagte Hippolyte. "Wohl wahr", erwiderte Julius darauf. Dann sandte er noch eine Nachricht über den Pappostillon an alle Latierres und verkündete die Ankunft von Félix, Flavine und Fylla, wobei er wegen der Zeilenbegrenzung auf das Willkommensfest verwies, das wohl wie damals bei Aurore kurz vor seinem eigenen Geburtstag gefeiert werden mochte.

Julius würde Camille fragen, ob sie am Nachmittag vorbeikommen und die neue Doppelwiege für die Zwillinge mit Ashtarias Segen bezaubern mochte. Denn was für Aurore, Chrysope, Clarimonde und jetzt Félix gut war, sollte auch für Flavine und Fylla recht sein. Er dachte auch, dass der Geburtenschreiber in Beauxbatons die beiden angemeldet hatte und Professeur Fixus vielleicht fragte, wieso Félix mehrere Wochen vor seinen Schwestern geboren wurde. Doch das konnte ihr dann gerne Hera Matine erklären, fand Julius.

ENDE

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