Die Auswirkungen jener weltweiten Welle dunkler Magie, die bei der Vernichtung von Iaxathans Ankergefäß freigesetzt wurde, halten die ganze magische Welt in Atem. Schwarzmagische Gegenstände erwachen zu einem unheilvollen Eigenleben. Für dunkle Kräfte empfängliche Wesen schütteln jahrtausende alte Erstarrungszauber ab oder werden stärker. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zaubereiministerien und davon unabhängiger Eingreiftruppen gegen dunkle Künste kommen nicht zur Ruhe. Als dann durch das schwere Seebeben vom 26. Dezember 2004 ein auf dem Meeresgrund liegender Unlichtkristall zerbricht und deshalb eine weltweite Entladung von Erdmagie auslöst gerät die gesamte Gesellschaftsstruktur der magischen Menschheit ins Wanken. Denn die Welle aus Erdmagie trifft dafür empfängliche Wesen wie Kobolde und Zwerge hart bis tödlich. In Australien wird die Koboldbank Gringotts zerstört. Anderswo müssen Filialen schließen. Verschiedene Gruppen versuchen das auszunutzen, um das jahrhundertealte Goldwertbestimmungsmonopol der Kobolde zu beenden. Ebenso wittert in den Vereinigten Staaten ein einzelner Zauberer die Chance, der mächtigste in Nordamerika zu werden: Lionel Buggles. Als dieser dann von der obskuren Gruppe Vita Magica unterworfen wird hilft diese ihm, seinen Traum für einige Monate zu verwirklichen, ganz Nordamerika unter seiner Führung zu vereinen, bis ihm die Führerin der Spinnenhexen für immer Einhalt gebietet.
Julius Latierre wird von Ashtaria beauftragt, einen eigenen Sohn zu zeugen. Da er mit Millie von den Mondtöchtern gesegnet wurde kann er dies jedoch erst nach einer Wartezeit von zwölf Jahren, weil er schon drei Töchter mit Millie hat. Ashtaria schickt Millie einen höchst beängstigenden Traum von einer Zukunft, in der sowohl Lahilliotas neue Ameisenkreaturen, die Nachtschatten der selbsternannten Nachtkaiserin und die Vampire der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder die Menschheit auslöschen und Ashtarias Macht vollständig verschwinden mag, wenn es keine sieben Heilssternträger mehr gibt. Daher nutzen sie und Julius ein besonderes Gesetz, dass einem Ehemann erlaubt, mit einer unverheirateten Hexe ein Kind zu zeugen, welches die angetraute Frau nicht oder nicht früh genug bekommen kann. Als sogenannte Friedensretterin erwählen beide Millies Tante Béatrice, die seit dem unfreiwilligen Kindersegen in Millemerveilles die zweite Heilerin dort ist. Béatrice geht auf die Bitte ein und verbringt mit Julius mehrere Nächte, während Millie sich in den Künsten der Feuermagier aus dem alten Reich zu ende bilden lässt. Das Vorhaben gelingt. Béatrice empfängt einen Sohn. Kurz nach der erfolgreichen Zeugung wird Millie ebenfalls schwanger. Sie trägt Zwillingstöchter. Sie verzichtet auf ihr Recht, Béatrices Kind als ihres anzunehmen und überlässt den kleinen Félix seiner leiblichen Mutter. Sie selbst bringt in der Walpurgisnacht 2005 die beiden Töchter Flavine und Fylla zur Welt. Julius hat Ashtarias Auftrag ausgeführt. Er wartet darauf, ob und wo er den verwaisten Silberstern entgegennehmen kann. Er muss dafür noch eine gefährliche Aufgabe erledigen. Ashtaria stellt ihm drei zur Auswahl: Das verschollene Buch über das Geheimnis des großen, grauen Eisentrolls, den Zwerge und Kobolde gleichermaßen fürchten zu finden, einen mächtigen Dschinnenkönig finden und verhindern, dass dieser sich wieder zum Herren aller orientalischen Geisterwesen aufschwingt oder eine schwarzmagische Vorrichtung namens "Das Herz von Seth" unschädlich zu machen. Er entscheidet sich für die dritte gefahrvolle Aufgabe. Dank Goldschweif, seiner Temmie-Patrona und einer ausreichenden Dosis Felix Felicis übersteht er die auf dem Weg in die unterirdische Anlage lauernden Fallen und kann gerade noch rechtzeitig verhindern, dass der im Herzen des Seth angesammelte Hass und Zerstörungswille auf einen Schlag freigesetzt werden und damit alle fühlenden Wesen zu Mord und Krieg getrieben werden. . Um die unheilvolle, gewaltige Maschinerie der dunklen Kraft möglichst nie wieder in Gang zu setzen hilft ihm Madame Delamontagnes Hauselfe, den zentralen Raum unbetretbar zu machen. Weil Julius die ihm gestellte Aufgabe erledigt hat darf er das Geburtshaus von Hassan al-Burch Kitab aufsuchen, wo der verwaiste Silberstern liegt. Doch dieses wird von Ilithula, der Abgrundstochter mit Beziehung zu Windmagie bewacht. Er kann sie jedoch austricksen und den Heilsstern an sich nehmen. Zusammen mit den sechs anderen Sternträgerinnen und -trägern ruft er in Ashtarias Höhle des letzten Abschiedes die mächtige Formel aus, die die geballte Macht der sieben Sterne freisetzt. Damit wird er endgültig der sechste Sohn Ashtarias. Die Anrufung der Heilsformel bewirkt jedoch auch, dass die in Gestalt einer roten Riesenameisenkönigin gefangene Lahilliota wieder zur Hexe in Menschengestalt wird, allerdings immer nur im Wechsel mit ihrer Tiergestalt alle zwei Monate.
Wegen der Mordanschläge von London und Birmingham am 7. Juli regen Julius und seine Mutter eine internationale Zaubereikonferenz zum Thema elektronische Aufzeichnung und Verhüllung der Magie vor Videokameras an. Der Projektname lautet Blickschutz. Die Konferenz soll Ende September 2005 stattfinden.
Das dalmatische Gebirge lag menschenleer im Licht der heißen Mittagssonne. Niemand aus der Umgebung wusste, dass unter den karstigen Bergen in noch unerschlossenen Höhlen das Versteck lichtscheuer Wesen lag, Wesen, die nicht aus Fleisch und Blut bestanden.
Seitdem das Pendel im Sonnenturm wieder korrekt arbeitete hatten sie diese Gegend besonders überwacht, sich aber nie persönlich hier hingewagt, um der, die hier regierte, keine Veranlassung zu geben, ihr widernatürliches Volk in Sicherheit zu bringen. Doch heute wollten sie es wagen, dieser selbsternannten Kaiserin der Nacht einen gehörigen Schlag zu versetzen, auch wenn ihnen das Fiasco mit den Dementoren noch gut in Erinnerung war.
Dailangamiria hatte sich von Faidaria davon überzeugen lassen, dass eine der beiden Trägerinnen eines Erbzeichens des großen Vaters Himmelsfeuer an diesem Einsatz teilnehmen sollte. Außerdem trugen sie alle die Rüstung der Sonnenkinder. Gewöhnliche Zauberwesen, die das Sonnenlicht und die darauf gründende Zauberkraft scheuten mochten davon abgehalten werden, sie direkt anzurühren. Doch wie sie wussten konnten die Rüstungen auch entkräftet werden. In dem Fall wollten sie noch vollständig aufgeladene Sonnenlichtkugeln zur spontanen Entladung zwingen, um nicht noch einmal Opfer dunkler Wesen zu werden.
"Laut Dunkelkraftspürer müssen sie in etwa fünfhundert Metern unter der Erde sein. Ich kriege die klare Anzeige von postmortalen Existenzen mit sehr hohem Anteil von Todesmagie", schickte Dailangamiria einen Sammelgedankenruf an die zwanzig Mitglieder ihrer Einsatztruppe. Sie schwebten mit besonderen Fluggeschirren bekleidet über der bezeichneten Stelle.
"Faidaria, wenn du es sagst gehen wir rein. Die Sonne scheint gerade so schön auf die Berge", teilte Dailangamiria ihrer Sprecherin mit. "Gut, Dailangamiria, geht da rein und löscht möglichst viele von ihnen aus, falls möglich auch deren Königin!" gab Faidaria von der Heimatinsel der Sonnenkinder aus den Angriffsbefehl. Nun würde es sich zeigen, ob sie eine Gefahr für die Menschheit bannen oder zumindest verringern konnten oder beim Versuch die nächste große Niederlage kassierten.
Sie ließen sich fallen, nachdem sie überprüft hatten, dass ihre Sonnenrüstungen mit größtmöglicher Kraft aufgeladen waren. Aus dem freien Fall heraus richteten sie sich auf die die noch nicht betretenen Höhlen aus. Es war ein Wagnis, in einen unbekannten Raum zu apparieren. Doch sie mussten es so machen. Sie verschwanden aus freiem Fall heraus. Nur ein mehrfaches Ploppen in mehr als eintausend Metern höhe verriet, dass sie gerade noch da gewesen waren.
Dailangamiria fühlte sofort, dass sie in einen mit dunkler Magie getränkten Bereich hineingeraten war, als sie gleich nach der Ankunft ihre Sonnenrüstung vibrieren fühlte und das Sonnenamulett des Inti dunkelrot flimmerte, weil es gegen eine ihm entgegenstehende Kraft wirkte. Sie sah die anderen Sonnenkinder, die eine für andere Sonnenkinder orangegolden sichtbare Aura verbreiteten.
Von der Decke hingen pechschwarze Stalaktiten herab. Aus dem Boden wuchsen ebenso schwarze Stalakmiten empor. Das war ungewöhnlich. Dailangamiria erspürte mit ihrem Sinn für fremde Gedanken, dass in den schwarzen Tropfsteinen gequälte Geister steckten, deren Gedanken sie wohl nur erfasste, weil sie mit diesen in Jahrmillionen gewachsenen Steinen verschmolzen waren. Hatte dieses Ungeheuer, dem sie nachjagten es geschafft, eigene Artgenossen in diese Steingewächse zu bannen? Falls ja, wozu?
Ihre Ankunft blieb nicht unbemerkt. Denn Sogleich wurde die sie umgebende Dunkelheit lebendig. Mehrere dutzen schwarze Kugeln flogen aus den nachtschwarzen Tropfsteinhöhlen heran, passierten die von oben herabhängenden Stalaktiten und gingen zum Angriff über.
Die Rüstungen vibrierten stärker, und die anfliegenden Schattenkugeln glommen in einem tiefblauen Licht auf. Sie wurden so schlagartig abgebremst, dass sie zu metergroßen, wabernden Fladen breitgedrückt wurden. Dailangamiria hörte das wütende und schmerzhafte Schnauben und Zischen. Immer noch kamen Schattenkugeln angerast und wurden von den Ausstrahlungen der Rüstungen gestoppt.
"Achtung, sie kommen von allen Seiten. Nicht einzeln einkreisen lassen!" rief Dailangamiria gedanklich und winkte zwei Mitstreitern, die von fünf oder Sechs Kugeln umschwirrt wurden, die versuchten, eine Lücke in der unsichtbaren Abwehr der Rüstungen zu finden. "In Bewegung bleiben, um den Ring nicht stabil werden zu lassen! Sonnenkeulen bereithalten!" gedankenrief Dailangamiria, als sie es geschafft hatte, alle ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter zusammenzukriegen und ihre Abwehrauren zu einer vereinten, unsichtbaren Schutzblase zusammenzuführen. Das Amulett des Inti strahlte nun wie die Sonne selbst. Wo seine Lichtstrahlen auf sich zusammenrottende Schattenkugeln trafen glühten diese violett bis hellblau auf, um in weißen Dampfwolken zu zerfließen. Dabei hörte sie die erst qualvollen und dann glückseligen Aufschreie der Vergehenden.
Die Mitstreiter Dailangamirias bildeten einen engen Kreis und zielten mit ihren Sonnenkeulen nach außen. Immer stürmischer rasten die nachtschwarzen Kugeln aus den dunklen Gängen heran. "Schießt!" gedankenrief Dailangamiria, als sie merkte, dass ihr Sonnenamulett nicht mehr stetig strahlte, sondern wild flirrte. Auf die Hundertstelsekunde genau schossen aus allen zwanzig bereitgehaltenen Sonnenkeulen nadelfeine, weißgelbe Strahlenbündel und stachen mitten hinein in die anschwirrenden Angreifer. Diese zerplatzten in violetten Blitzen. Die für fremde Gedanken empfängliche Dailangamiria hörte bei jeder lautlosen Explosion einen kurzen wie in weite Ferne davonrasenden Aufschrei. Ja, so ging es. Die Kugeln konnten mit der gebündelten Sonnenkraft zerstört werden. Auf diese Weise zerstrahlten die zwanzig Sonnenkinder in nur zehn Sekunden über hundert gegnerische Globen, die nichts weiteres waren als zum unseeligen Verbleib in der Welt verurteilte Geister, denen die dunkle Kraft gewaltsamen Todes und bösen Willens anhaftete. Doch der Ansturm der schwarzen Kugeln ebbte nicht ab, auch wenn die Sonnenkeulen große Lücken in ihre Reihen schlugen. Die nun anfliegenden schwirrten nun in scheinbar unberechenbaren Zickzackbahnen wie wild springende Gummibälle auf- und abhüpfend heran. So zischten auch viele Sonnenlichtbündel ins Leere und schlugen krachend glutrote Löcher in Wände oder sprengten die Spitzen der nachtschwarzen Tropfsteine ab.
Plötzlich wurde es viel dunkler. Die Rüstung Dailangamirias begann zu erbeben. Eine viele Meter große, menschenförmige Gestalt mit suppentellergroßen blauen Augen starrte auf die zusammenstehenden Sonnenkinder in ihren für Menschenaugen unsichtbar machenden Rüstungen. Das war die Mutter der Schattenwesen, die Kaiserin der bösen Nachtgeschöpfe selbst. Mit der Herrin dieser Kreaturen kamen mehr als eintausend von ihnen aus dem Nichts heraus und verstärkten die Reihen der hier bereits herumfliegenden. So waren sie zwar nicht zu verfehlen, doch wo ein Strahl vier auf einen Schlag auslöschte füllten sechs oder mehr die entstehenden Lücken sofort aus. Einer der Sonnensöhne zielte auf die dazugekommene Brutmutter der Nachtschatten. Tatsächlich glühte sie an der getroffenen Stelle violett auf und schien zu schrumpfen. Doch sogleich sprangen ihre niederen Artgenossen in die Flugbahn und boten ihr Schutz.
"Ich habe es doch gewusst, dass ihr mich findet, ihr Ausgeburten einer selbstherrlichen Bande", sprach die riesenhafte Schattenfrau. Dailangamiria fühlte, wie von dieser eine unirdische Kälte ausstrahlte, wie sie sie sonst nur von Dementoren kannte. Selbst ihre Rüstung konnte diese Wärme schluckende Aura nicht vollständig von ihr fernhalten.
"Du gehörst nicht in diese Welt. Deine Brut bedroht die, die zu schützen wir erschaffen wurden", sprach einer der älteren Sonnensöhne ohne Dailangamiria zu fragen und löste einen weiteren sonnengelben Strahlenstoß aus, der gleich drei der zu einem Wall formierten Nachtschatten vernichtete. Doch immer noch kamen hunderte von ihnen nach, füllten nun alle Gänge der Breite und Höhe nach aus. Dailangamiria fragte sich mit großem Unbehagen, wie viele von ihnen es bereits gab. Eine ganze Armee angstloser Schattendämonen gegen einen Einsatztrupp aus zwanzig Wesen aus Fleisch und Blut. Konnten sie das durchhalten?
"Ihr gehört auch nicht in diese Welt, ihr niederen Sklaven, ihr Wegwerfzüchtungen", stieß die Schattenkönigin aus. "Und was meint ihr, was ihr machen könnt. Ich habe alle meine Kinder, die zwischen dunklen Orten springen können hergerufen, um euch auszulöschen. Es sei denn, ihr legt eure widerwärtigen Waffen und Panzer ab und gewährt mir die Ehre, euch als meine neuen Kinder zu bekommen." Zur Antwort zischten ihr zehn Sonnenkraftstrahlen entgegen und blieben in einem Wall aus sich ausbreitenden Nachtschatten hängen. Zwar vergingen dabei wieder mehr als zehn. Doch der Schutzwall vor der Herrin der verdunkelten Geister blieb bestehen.
"Wir haben schon zu ehrende Eltern, deren Andenken wir nicht mit Feigheit und Verrat besudeln dürfen!" rief eine andere Sonnentochter, die nur deshalb mitkommen durfte, weil sie gerade keine kleinen Kinder zu versorgen hatte und wieder auf ihre fruchtbaren Tage warten musste. Dann sprach Dailangamiria: "Siehst du das hier, Schattenmutter? Dieses Zeichen wurde geschaffen um Wesen wie dich und die Blutsauger und Glücksauger aus der Welt zu schaffen." Sie hielt der anderen ihr Amulett entgegen und spürte, wie wild es erzitterte. Das Zeichen Intis glühte wie die aufgehende Sonne. Wo sein Licht auf den wabernden, dunklen Schutzwall traf glühten große Flächen violett und zersprühten. Doch die Unheimlichen wichen nicht aus. Ihre Herrin blickte kurz über die sie schützende Mauer aus niederen Artgenossen hinweg und zuckte zurück. "Ja, ich merke es, dass es sehr stark ist. Aber ich bin keine kleine Tochter der Nacht. deine Strahlenbrosche kann mich nicht verjagen oder verletzen, da musst du schon wesentlich mehr aufbieten, Dazugeholte", stieß die Kaiserin der Nachtschatten sehr verärgert klingend aus.
Dailangamiria merkte wohl, dass die Mutter der Nachtschatten viel stärker sein musste als alle anderen. Auch erinnerte sie sich an die Berichte über einen kristallinen Uterus, den sie in ihrem fleischlosen Körper trug, ihren ganz eigenen stofflichen Anker in dieser Welt. Der mochte ihr den nötigen Halt geben, nicht von den Sonnenkraftstrahlen und anderen Sonnenzaubern geschwächt zu werden. Doch nun waren sie hier. Nun würden sie es erkämpfen, wer überleben würde, dachte Dailangamiria.
"Meine Kinder werden jetzt die Kraft aufzehren, die ihr gegen sie und mich aufbietet. Wir sind euch zweihundert zu eins überlegen. Auch könnt ihr nicht mehr flüchten. Denn wir haben euch in allen Richtungen eingekreist. Damit ist euch das Weggwünschen verwehrt. Also gebt euer altes Leben auf und nehmt meine Gnade und meine Herrschaft an oder werdet von meinen Kindern mit Leib und Seele verschlungen!" forderte die Herrscherin der Schattenwesen.
"Deine Terrorherrschaft über die Menschen hat lange genug gedauert, Schattenkönigin", sagte Dailangamiria trotzig. "Wir werden deine Ausgeburten von ihrem unnatürlichen Dasein erlösen und ihren gefangenen Seelen Frieden geben."
"Frieden? Ihr wisst ja selbst nicht, was das sein soll. außerdem seid ihr doch nur gezüchtet worden, um für andere Krieg zu führen. Ohne Krieg hättet ihr doch keine Daseinsberechtigung mehr. Ich gebe euch eine neue, weitaus wichtigere Aufgabe, die Besiedlung der Welt mit einer wahrhaft überlegenen Daseinsform."
"Wir lehnen dein Angebot ab, schwarze Königin der Nachtbrütigen", knurrte Dailangamirias rechter Flankenschützer. "So, tut ihr das? Dann vergeht in unserer geballten Kraft der ewigen Dunkelheit!" rief die Schattenkönigin laut und aus allen Höhlen widerhallend.
Schlagartig erschienen noch viele hundert Schattenkugeln mehr in der Höhle. Alle bewaffneten Sonnenkinder lösten ihre Sonnenkeulen aus. Doch die daraus schlagenden Strahlen glommen nur noch dunkelrot und wirkten nicht mehr so verheerend wie gerade eben noch. Es war, als wenn die Masse der zusammengerufenen Schattenwesen feststofflich geworden wäre und die Dunkelheit aller Nächte zusammen das gespeicherte Sonnenlicht fräße.
Dailangamiria merkte auf einmal, wie sie sich immer schwerfälliger in ihrer Rüstung bewegen konnte. "Die Sonnenlichtkugeln! Los, auslösen und in die Masse reinwerfen!" gedankenrief sie. Doch sie merkte, dass selbst ihre Gedankenrufe nicht mehr weit drangen. Ja, sie vermeinte, die Gedankenstimmen ihrer Mitstreiter immer leiser und leiser zu vernehmen. Immer mehr dunkle Kugeln erschienen völlig lautlos in der großen Höhle. Die schwarze Masse kroch aus allen Richtungen auf sie zu, langsam aber scheinbar unaufhaltsam. Die abgeschwächten Sonnenkeulen glommen tiefrot auf. Hier und da flimmerte es violett. Doch Dailangamiria hörte keinen mentalen Todesschrei vergehender Nachtschatten mehr. Dann spielte die Schattenkönigin ihre stärkste Macht aus.
Unvermittelt schloss sich die bereits vorherrschende Dunkelheit um alle Sonnenkinder, und die orangerot glühenden Auren der Rüstung flackerten immer bedenklicher. Den Sonnenkeulen entflogen nur noch dunkelrote Funken, die von der Schwärze um alle herum geschluckt wurden wie Wasser von einem trockenen Schwamm. Dailangamiria fühlte die Kälte und spürte aufkommende Furcht. Dieses Schattenweib konnte dieselbe dunkelmagische Aura wie Dementoren verbreiten, die Wärme, Licht und Glücksgefühle verschlang. Hatten sie dieses Geschöpf schmählich unterschätzt? Die Kälte wurde immer grimmiger. Die Rüstung wurde immer schwerer. Das Amulett des Inti glomm von Sekunde zu Sekunde dunkler. Die bisher davon ausstrahlende Wärme nahm immer mehr ab. "Ich habe alle Kräfte meiner Kinder zu einer alles bedeckenden Dunkelheit vereint, die alles vertilgen wird. Ihr wolltet es ja so haben!" rief die Schattenkönigin, während rings um Dailangamiria das metallische Klirren und Kullern ausgeworfener Sonnenlichtkugeln hörte. Warum lösten die nicht aus? Da fiel ihr ein, dass die Sonnenlichtkugeln nur auslösen konnten, wenn die Verbindung zu ihren Anwendern bestand. Doch die war bedenklich stark abgeschwächt. Gleich würden die sie schützenden Rüstungen zu unbeweglichen, sie einzwengenden Ganzkörperfesseln werden, wie bei jenen, die gegen die Dementoren der Paradiso di Mare gekämpft und verloren hatten. Doch noch blieb Dailangamiria ein Mittel. Sie musste es anwenden, oder sie und alle anderen würden gleich zu wehrlosen Statuen erstarren und der alles verschlingenden Kraft der vereinten Nachtschatten erliegen.
"Gleich seid ihr armseligen Erfüllungsgehilfen ausgelöscht!" rief die Schattenkönigin unerträglich laut und überlegen. Dailangamiria hörte die Gedankenrufe ihrer Mitstreiter nur noch wie ein harmloses Windgeflüster in Baumwipfeln, ohne zu verstehen, was sie riefen. Also blieb ihr nur dieses eine Mittel, dieser womöglich letzte Versuch.
Sie stemmte ihren rechten Arm hoch. Es war, als müsse sie Zentner von Morast damit bewegen. Schwerfällig ertastete sie das Amulett des Inti, dessen Ausstrahlung zu einem kümmerlichen glutroten Rest abgeschwächt worden war. Die Auren der anderen Rüstungen konnte Dailangamiria schon nicht mehr sehen. Die scheinbar steinhart gewordene Dunkelheit legte sich immer mehr auf alles und jeden hier.
Sie konzentrierte sich auf die entscheidenden Gedanken, um dem Amulett den entscheidenden Befehl zu erteilen. Es musste einfach reagieren. Doch zunächst geschah nichts, außer dass die sie alle durchdringende Kälte immer grimmiger wurde. Sie hatte das Gefühl, gleich in dieser Kälte zu zerspringen, unrettbar in dieser Dunkelheit zu vergehen. Dann schaffte sie es, den Gedankenbefehl an das Amulett klar genug auszustoßen.
Das Amulett des Inti erzitterte kurz. Dann war es, als würde es von mehreren Kilogramm Sprengstoff auseinandergerissen. Es strahlte erst orangerot und dann gleißendhell auf. Ein lauter Aufschrei der Schattenkönigin erklang. Gleichzeitig erfüllte weißer Nebel die Höhle. Der Nebel wurde zu einer vereinten Masse aus weißem Licht. Dailangamiria hörte viele tausend kurze Schreie gleichzeitig. Deren mentale Wucht drohte ihren Kopf zu zersprengen. Sie sah, wie zahllose kleine weiße Feuerbälle explodierten. Mit jeder Explosion wurde das sie umstrahlende Licht heller und Heller. Die gebündelte Kraft von zehn Tagen Sonnenlicht brannte sich immer stärker in die Umgebung hinein. Jeder natürliche Mensch wäre davon geblendet worden. Doch für die Sonnenkinder war dieses Licht Labsal und Rettung in einem. Für die zu einer einzigen Masse zusammengefügten Nachtschatten war es die Vernichtung.
Dailangamiria konnte sich endlich vor dem Chor der im Tode schreienden Nachtschatten abschirmen. Sie bekam es mit, wie die vielen hundert oder tausend hier zusammengerufenen Schatten in dieser geballten Lichtentladung vergingen. Doch die Mutter dieser dunklen Brut schrie nicht mehr. War sie gleich beim ersten Lichtausbruch vergangen? Dann hörte Dailagamiria ihre Stimme aus sehr weiter Ferne: "Du verdammtes Weib. Das wusste ich nicht, dass du das kannst. Aber ich werde wiederkommen, meine Kinder rächen, die ihr alle tötet. Für jedes von ihnen werde ich zehn von euch vertilgen!"
Dailangamiria sah, wie das grelle weiße Licht für zehn weitere Sekunden erstrahlte. Dann erlosch es schlagartig. Doch es hatte sein Werk vollendet. Hier gab es keine Nachtschatten mehr. Die Königin musste beim ersten Aufbäumen des Amulettes disappariert sein, weil sie merkte, dass jemand doch noch etwas gegen sie aufbot. Gerade explodierten die ausgeworfenen Sonnenlichtkugeln und jagten die gespeicherte Kraft von fünf Stunden Sonnenlicht in nur einer halben Sekunde in alle Richtungen. Nun sahen alle, wie die Höhlenwände orangerot glühten, Blasen warfen und größere Brocken herausbrachen. Die über Jahrmillionen gewachsenen Tropfsteine waren allesamt zerstört. Die orangerot glühende Höhlendecke bog sich bedrohlich nach unten durch. "Raus hier!" rief Dailangamiria. Die endlich wieder frei beweglichen Mitstreiter gehorchten unverzüglich.
Gerade als auch Dailangamiria die von schlagartig freigesetzter Sonnenmagie aufgeheizte Höhle verließ begannen alle Höhlen in hundert Meter Umkreis in sich zusammenzubrechen. Das Gestein war zu glühendem, zähflüssigen Brei zwischen Tropfstein und Lava geworden. Das Gewicht der karstigen Gesteinsmassen über den Höhlen drückte nun mit gnadenloser Kraft auf die verborgenen Höhlen. Es donnerte und polterte, als die Kammern und Gänge einstürzten. Glutheiße Luft wurde in andere Höhlen geblasen und riss dünne Stalaktiten von der Decke und knickte fingerdicke Stalakmiten um wie Bäume im Sturm. Ein weiterer Abschnitt der unterirdischen Kammern und Gänge brach knarrend und krachend in sich zusammen. Das Zerstörungswerk pflanzte sich weiter fort.
Dailangamiria sah von weiter oben, wie der von Rissen und Löchern durchzogene Boden noch rissiger wurde, wie Berghänge ins Rutschen gerieten und Gesteinslawinen in die Schluchten hinabdonnerten. Sie hatte nicht gedacht, dass die Freisetzung von zehn gespeicherten Sonnentagen eine derartige Wirkung haben konnte. Doch wohl auch die freigesetzte Kraft der Sonnenkugeln hatte ihren Beitrag zur Vernichtung geleistet.
Hier oben schien die Sonne und behinderte das Erscheinen von Nachtschatten. Dailangamiria war sich sicher, dass sie über zweitausend von ihnen vernichtet hatten. Sie hoffte, dass auch viele dabei waren, die die Schatten argloser Menschen gestohlen hatten, um diese zu lenken. Doch dass ihr ultimativer Schlag, den sie nur einmal in zehn Tagen ausführen konnte, die Königin der Schattenwesen nicht erreicht hatte war ein bitterer Tropfen im süßen Genuss der ganz knapp gewonnenen Schlacht.
Die Sonnenkinder eilten zurück auf ihre Insel. Sollten doch die in Dalmatien lebenden Menschen herauszufinden versuchen, was da geschehen war.
"Es waren über dreitausend Schatten, die ihr vernichten konntet. Dieses Weib muss sie alle gerufen haben, um euch zu töten", meinte Faidaria, als Dailangamiria ihren Bericht erstattet hatte. "Es hat sicher lange gedauert, diese armen Seelen in diesen unerträglichen Zustand zu zwingen. Ihre Gevolkschaft ist also geschrumpft. Sie ist angeshlagen und somit gefährlich. Doch sie dürfte auch geschwächt sein, keine weltweiten Handlungen ausführen, bis sie wieder eine ausreichend große Anzahl von sogenannten Kindern hat. Dagegen werden wir vorgehen." Faidaria erwähnte die Schlüssel der Unversehrtheit, aus Gold bestehende Gegenstände, die Orte mit Schutzzaubern der Sonne umschlossen und von Sonnenlicht immer wieder bestärkt wurden. Damit würden sie alle größeren Gebäude der Welt vor neuen Überfällen dieser Unwesen schützen. Zugleich konnten sie auch den aus Fleisch und Blut bestehenden Erbfeinden, den Kindern der Nacht, damit den Zugang zu ihrer Nahrung versperren.
"Wir werden uns Gold beschaffen müssen, das noch von keines Menschenhand berührt wurde, müssen also nicht zu dieben an den lebenden Menschen werden. Unsere Zauberschmiede werden die Schlüssel der Unversehrtheit daraus fertigen", legte Faidaria fest. Dailangamiria schwieg dazu. Sie hatte an diesem Tag zu spüren bekommen, wie stark die Schattenkönigin oder Kaiserin der wahren Nachtkinder sein konnte. Gegen die alles Licht und alle körperliche und seelische Wärme schluckende Aura der Dementoren half die Rüstung nicht. Ja, auch eine Sonnenkeule, sonst eine schlagkräftige Waffe gegen Ausgeburten der Nacht, wurde davon geschwächt. Die andere wusste das jetzt und würde ihre nächsten Vorhaben darauf ausrichten. Doch vorerst mochte sie eine Königin ohne großes Volk und eine Feldherrin ohne Armee sein. Vielleicht gab sie sich die Blöße, irgendwo aufzutauchen, wo dreißig Sonnenkinder zugleich ihr mit neuen Sonnenlichtkugeln den Garaus machen konnten. Zumindest hofften dies alle Bewohner von Ashtaraiondroi.
In der Erdbebenwarte von Split schlugen die Seismografen Alarm. Bebenwellen der Stärke sechs brandeten durch das dalmatische Gebirge. Der Aufruhr in der Erde dauerte eine Minute. Dabei schwächten sich die Bebenwellen schlagartig ab. Die Wissenschaftler telefonierten miteinander und ließen ihre Messcomputer den Ausgangspunkt errechnen. Dabei kam heraus, dass es sich bei dem Beben um kein tektonisches, sondern ein Einsturzbeben handelte. Offenbar war im Epizentrum der Erschütterungen eine Reihe unterirdischer Hohlräume zusammengestürzt und hatte das darüberliegende Gestein nachrutschen lassen. Mehrere Geologen aus der Provinzhauptstadt Split flogen per Hubschrauber in das betroffene Gebiet und stellten Untersuchungen vor Ort an. Sie erkannten, dass tief unter der Oberfläche mindestens mehrere Kilometer unzugänglicher Hohlräume gewesen sein mochten, die durch eine noch nicht erkennbare Ursache zusammengebrochen waren, als habe jemand unter der Erde eine Atombombe gezündet. Die einst so zerklüftete Landschaft bot sich den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als eine Trümmerlandschaft dar. Viele tausend Tonnen Geröll waren durch den unterirdischen Zusammenbruch ins Rutschen geraten und in die Täler und Schluchten gestürzt. Vor Ort konnten sie auch noch schwache Nachbeben im Bereich von 0,02 Punkten auf der Richterskala anmessen. Offenbar rutschte dort unten noch loses Material nach.
Unter dem aus dem seismologischen Institut von Split mitgereisten Forschern war auch ein Mann, der seit zwanzig Jahren unter dem Namen Dragan Vucovic lebte und in Wirklichkeit Goran Petric hieß und für das jugoslawische Zaubereiministerium arbeitete. Auch wenn die einzelnen Regionen des einstigen Vielvölkerstaates durch Abspaltungen und blutige Kriege in einzelne Staaten zergliedert waren hatten die Hexen und Zauberer in einer für die Gegend ungewohnten demokratischen Abstimmung beschlossen, dass das vereinte Zaubereiministerium in Belgrad weiterbestehen sollte, eben nur durch Regionalvertreter der betreffenden Volksgruppen ergänzt wurde.
Petric alias Vucovic war Beobachter der nichtmagischen Welt. Als er den Ursprungsort des Bebens erreichte wusste er sofort, woran er war. Seit Monaten ging das Gerücht, dass tief unter der karstigen Kalklandschaft Dalmatiens das geheime Versteck jener Unheilsgestalt sein sollte, die als Mutter der Schattendämonen traurige Berühmtheit erreicht hatte. Versuche, ihren genauen Stützpunkt zu finden oder gar auszuheben waren daran gescheitert, dass das jugoslawische Zaubereiministerium keine punktgenauen Dunkelkraftmessungen anstellen konnte. Es war so, als atme das gesamte dalmatische Gebirge die dunkle Aura bösartiger Geisterwesen. Das konnte jedoch auch an der blutigen Vergangenheit der letzten Jahrhunderte liegen. Doch wenn hier gerade ein starkes Beben stattgefunden hatte, dann hieß das, dass jemand das Versteck der Schattenkönigin gefunden und vernichtet hatte. Wer kam für sowas in Frage? Die Schattenkönigin war nicht nur die Feindin der magischen Menschen. Sie kämpfte sicher auch gegen die Diener der Blutgötzin, die das jugoslawische Zaubereiministerium ebenso mit allen verfügbaren Mitteln jagte und sich den Russen und Rumänen gegenüber damit brüstete, ein größtenteils vampirfreies Land geworden zu sein. Also waren es wohl nicht die Blutsauger.
Petric dachte an das Gerücht von den wiedererwachten Sonnenkindern, jenen im Grau alter Legenden vorkommenden Erbfeinde der Vampire. Tja, wenn es sie wirklich gab, dann waren die Nachtschatten auch deren Feinde. Doch dann mussten die über gewaltige Kräfte verfügen, um ein unterirdisches Höhlensystem zu vernichten, ähnlich stark wie die Kernspaltungsbomben der magielosen Menschen.
Oder waren es dem Zaubereiministerium in Belgrad unbekannte Hexen- oder Zaubererorden? Auch das klang nicht wirklich beruhigend.
Petric las das Georadargerät ab. Es zeigte in mehr als dreihundert Metern Tiefe klaffende Risse im Gestein und kleinere Hohlräume, die zusehens schrumpften. Er nahm ein wie ein Metallsuchgerät aussehendes Gerät aus seiner Werkzeugtasche und führte es über den Boden. Es vibrierte in regelmäßig an- und abschwellender Stärke. Ja, da unten verebbte gerade der letzte Rest einer dunklen Magie, die ihren Halt und ihre Kraftquelle verloren hatte. Mehr konnte Petric jedoch nicht daraus ablesen. Da er keine noch intakte Höhle fand, in die er hineinapparieren konnte blieb ihm nur, seinen Vorgesetzten in Belgrad über dieses Einsturzbeben zu unterrichten und sich auf bloße Vermutungen zu stützen, die er genausowenig mochte wie der jugoslawische Zaubereiminister.
Sie hatte es ihren Kindern noch zugerufen, sich voneinander zu trennen und zu verschwinden. Doch da hatte sich dieses widerwärtige, fast erloschene Schmuckstück mit neuer Kraft aufgeheizt und war aufgeblitzt. Ihr Trumpfas, die Aura der körperlichen und seelischen Kälte und Dunkelheit, die sie von Thurainillas in ihr aufgegangenen Zwillingsschwester erlernt und mit der Kraft der von ihr hinzugerufenen Kinder verstärkt hatte, war weggebrannt worden. Dieses nicht zu der eigentlichen Brut der Sonnenkinder gehörige Weib musste eine versteckte Aufladung ihres Talismans freigemacht haben, die wie eine Atombombenexplosion wirkte. Sie selbst war gerade noch in ihr Ausweichversteck geflüchtet. Doch hatte sie gefühlt, wie die freigesetzte Kraft auch ihrem Körper Substanz entrissen hatte. Sie hatte den kurzen aber heftigen Aufschrei von viertausend Kindern gehört, die in wenigen Sekunden von der gewaltigen Entladung zerstört worden waren. Was für eine Macht war das, die so viele Nachtkinder auf einmal töten konnte?
Birgute Hinrichter hatte jetzt nur noch zwanzig über die Welt verteilte Kinder und musste sich selbst erst einmal wieder erholen. Sie musste vorsichtig sein. Denn wenn diese Sonnenkinder diese Kraft beliebig oft rufen konnten würden sie ihr doch noch den Garaus machen. Doch sie wollte leben, auch wenn ihre Form von Leben von den allermeisten Leuten nicht als solches anerkannt wurde. Sie war gekommen um zu bleiben. Ihr Dasein musste einen Sinn haben und durfte nicht sinnlos beendet werden. Sie wollte die Blutsauger vernichten, um die wahre Zivilisation der Nacht zu begründen. Sie war Kanoras' rechtmäßige Erbin. Sie konnte und durfte nicht zulassen, dass diese falsche Göttin über die Menschen herrschte. Wenn schon, dann sollten ihre Kinder über diese schwächlichen Fleischlinge herrschen.
"Ihr mögt diese Schlacht gewonnen haben. Aber wenn der nächste Winter vorbei ist habe ich wieder genug Kraft und Getreue, um den Krieg mit euch fortzusetzen, Sonnenbrütige", schwor Birgute Hinrichter.
Sie erkundigte sich, ob alle die vergangen waren, die einen schattenlosen Menschen lenkten. Jene, die vergangen waren mochten die von ihnen gelenkten mit in die Vernichtung gerissen haben. Nachprüfen konnte sie das nicht. Darüber hinaus waren nur noch die ersten selbsterbrüteten Kinder übrig, die je einen schattenlosen Menschen fernsteuerten. "Lasst sie in ihren Beobachtungsstellungen und Kenntnisse sammeln, mit denen wir uns in drei oder vier Monaten was neues aufbauen können!" befahl Birgute ihren verbliebenen Kindern. Dann fiel ihr noch was ein, was sie jedoch keinem ihrer Kinder verraten wollte, solange sie selbst wieder neue Kraft sammeln musste.
Anthelia/Naaneavargia betrachtete die Gedenkwand im Keller ihres neuen Zuhauses. Sie dachte an Izanami Kanisaga, die vor einem Jahr und sechs Tagen im Kampf mit dem dunklen Wächter gestorben war. Mittlerweile hatte sie fünf neue Mitschwestern aus Japan gewonnen, von denen eine auch weiterhin als Tochter Susanoos auftreten würde. Die oberste der Spinnenhexen dachte, es sei eine gute Idee, eine Mitschwester in den Reihen einer im japanischen Zaubereiministerium verpönten Vereinigung zu haben. Auch hoffte sie, ohne dass die andere ihren Eid den Kindern Susanoos gegenüber brechen musste weitergehende Beziehungen zu diesem der Luft- und Wassermagie zugewandtem Orden zu bekommen.
Portia Weaver apparierte in der Eingangshalle von Tyches Refugium. Anthelia begrüßte ihre Mitschwester, ohne die sie Buggles' Marionettenregime nicht hätte stürzen können. "Die Stimmen sind alle in den Tresoren der Inobskuratoren verstaut, keine Möglichkeit, vor der Auszählung zu erfahren, wie die Leute abgestimmt haben, höchste Schwester", vermeldete Portia.
"Dann können wir sie auch nicht zu unseren Gunsten ändern", meinte Anthelia/Naaneavargia dazu. "Aber sei es. Wir werden mit jedem Ergebnis arbeiten können, wie es bisher immer war", bekräftigte sie noch. "Aber was weißt du von der Koboldtruppe in Kanada?"
"Hmm, das waren tatsächlich welche von deren geheimer Vollstreckungsbande, höchste Schwester. Die wollten wohl die verschlossenen Gringotts-Zweigstellen für Hexen und Zauberer unbenutzbar machen. Aber die aus China stammenden Zauberwesenmelder haben sie verpetzt. Da waren selbst die unsichtbaren Killerkobolde nicht drauf gefasst. Tja, und dann haben die von Bullhorns Ministerium die vita-magica-mäßig eingesackt, mit fliegenden Plasticksäcken und sie auf eine zwei Kilometer große Eisscholle gesetzt, wo die nicht mal eben unter der Erde verschwinden können. "Wer uns kalt abduscht wird kaltgestellt", soll einer von Bullhorns Erfüllungsgehilfen getönt haben, heißt es auf den Fluren des Ministeriums."
"Wie viel von Bullhorns Mitstreitern sind nach Viento del Sol umgezogen?" wollte Anthelia wissen. "Nur die obersten Etagen, höchste Schwester. Leider weist mich dieser Feindeswehrzauber von den Kaliforniern ab, genauso wie es im Weißrosenweg war, bevor Katrina da alles überflutet hat."
"Gutes Stichwort, Schwester Portia. Wie groß sind die Chancen, noch irgendwelche weggeschwemmten Hinterlassenschaften aus dem Weißrosenweg zu bergen?" wollte Anthelia/Naaneavargia wissen. "Irgendwas um null herum, höchste Schwester. Außerdem fährt da neuerdings so'n knallgelbes U-Boot herum und sammelt die aus den Häusern gespülten magischen Töpfe, Lampen und andere nicht vom Wasser zersetzbaren Sachen ein. Warum die das Ding gelb angemalt haben weiß die Mutter aller Sabberhexen."
"Dann wäre ich das ja", setzte Anthelia an. "Denn ich weiß es. Das U-Boot heißt Nautilus, nach einem Unterseefahrzeug aus einer Technikphantasie des Romanschreibers Jules Verne und ist deshalb sonnengelb, weil der Erbauer, Florymont Dusoleil, sich von einem populären Lied hat inspirieren lassen, das von einem gelben U-Boot handelt, in dem alle als Freunde zusammen durchs Meer streifen. Denn dieses Schiff ist ursprünglich für den Tourismus im Farbensee von Millemerveilles erdacht und gebaut worden und sollte daher auffällig aussehen."
"Häh? Ich kenne kein Zaubererweltlied von einem gelben U-Boot. Ist das so'n Nomaj-Schlager?" Anthelia grinste und erwiderte: "Eher Muggel. Das Lied stammt aus England von einem damals viel Wirbel und Lärm veranstaltenden Quartett namens "Die Beatles". Unser früherer Kundschafter Ben Calder kannte es, und als er als Cecil Wellington für uns tätig war hatte er einen Schulfreund, der dieses Lied auch kannte und auf dessen Melodie eine Schmähhymne gegen gegnerische Sportvereine getextet hat. An und für sich völlig belangloses Zeug. Doch um diese magiefeindlichen Ignoranten besser zu verstehen muss ich ja auch deren kulturellen Trivialitäten kennen."
"Ich nicht wirklich. Diese sogenannten Blumenkinder haben mir schon gereicht", grummelte Portia. Da Anthelia zu diesem Zeitpunkt noch nicht wiederverkörpert gewesen war und Pandora Straton diese Zeit nicht in der magielosen Welt erlebt hatte konnte sie nichts dazu sagen. So legte sie nur fest, dass die Spinnenschwestern sich an den Rettungsarbeiten in New Orleans beteiligen sollten, sofern ihre allgemein bekannten Tätigkeiten das erlaubten.
Für viele andere, die körperlich gleich alt waren, war das ein ganz großer Tag, der zweite wichtige Tag nach der Geburt, wenn es endlich in die Schule ging. Doch für ihn, der sich mit ihr damals darauf eingelassen hatte, ihr Sohn zu werden, war dieser Tag eher ein notwendiges Übel. Denn sie hatten ausgemacht, dass er bloß nicht auffallen durfte. Dass er schon mit zwei Jahren ganze Zeitungen oder Bücher hatte lesen können durfte in diesem himmelblauen Haus keiner mitkriegen. Jetzt musste er noch mehr so tun, als wenn er nur ein unbedarfter, sechsjähriger Junge war, dem man noch ein X für ein U vormachen konnte.
Viele Dutzend Mädchen und Jungen in den himmelblauen Schuluniformen der Jollysky-Grundschule, in die alle im Nordosten der USA wohnenden Zaubererkinder zu gehen hatten, harrten gespannt auf die Begrüßungsrede des Direktors. Tony Summerhill, der sich hier wie ein heimlicher Beobachter vorkam, der bloß nicht entdeckt werden durfte, sah gleich, welche Kinder schon selbstsicher durch ihr kurzes Leben gingen und welche lieber noch ein oder zwei Jahre an den Umhangsäumen ihrer Eltern hängen würden. Auch die Eltern unterschieden sich. Die meisten waren sehr stolz und freuten sich, dass ihr Spross endlich groß genug war, die wichtigen Sachen für's Leben zu lernen. Andere trauerten wohl der Zeit nach, wo sie mit ihrem Kind selbst noch in einer heilen, kleinen Welt abtauchen durften und jetzt von irgendwelchen Buchstabenjongleuren und Direktoren gesagt bekommen sollten, ob ihr Kind gut oder schlecht mitkam oder was sie ihm oder ihr bitte noch zu Hause beizubringen hatten, damit es weiter mitkam. Wieder andere Elternpaare waren nur froh, dass sie ihren immer lebhafteren Sprössling für mehrere Stunden am Tag nicht mehr um sich haben mussten, ja selbst wieder mehr verdienen konnten, weil ihr Kind gemäß Ausbildungsvertrag bis vier Uhr nachmittags betreut wurde. Ja, zu Jollysky gehörte sogar noch ein Spielclub, der von Aushilfslehrerinnen und -lehrern geleitet wurde, um die Kinder, die nachmittags Schulfrei hatten anzuleiten und zu beaufsichtigen. Sicher würden die Schulanfänger noch keine Hausaufgaben kriegen. Dazu mussten die ja erst mal lesen und schreiben lernen. Aber Sing- und Musikmachergruppen sollte es geben. Das war etwas, vor dem es Tony Summerhill graute, in so eine Quietschtruppe rein zu müssen. Denn er durfte ja nicht einfach in einer Ecke sitzen und darauf warten, dass seine zweite Mutter ihn wieder abholte.
Tony Summerhill dachte noch einmal zurück an alles, was ihn bis hier hingeführt hatte, dieses Hexenweib, dass ihm die Rückkehr ins Ministeramt verdorben hatte, die Auswahl, blitzartig zu vergreisen und zu sterben oder von einer geliebten, sein Vertrauen genießenden Hexe neu ausgetragen und wiedergeboren zu werden. Er erinnerte sich an die Zeit in Tracy Summerhills Bauch und an die Tortur seiner Wiedergeburt, an die Säuglingszeit und an seinen ganz geheimen Ausflug in das Wishbone-Haus, wo er das berühmte blaue Buch ergattern musste, in dem alle Lebensgeschichten der Wishbones verzeichnet worden waren. Da hatte er noch gedacht, so könne es weitergehen. Doch seine Wiedergebärerin, die im ersten Leben seine heimliche Geliebte gewesen war, wollte ihn mit den anderen Kindern zusammen "groß werden" lassen. Da er sie nicht verstimmen wollte hatte er mit in den Taschen geballten Fäusten zugestimmt, wie jedes natürlich geborene Kind aufzuwachsen, was aber hieß, dass sein Geist mit zentnerschweren Kugeln an den Beinen voranschreiten musste, um nicht zu früh zu zeigen, dass er bereits vollständig entwickelt war. Das würde auch heißen, sich mit trolldummen Bengeln abzufinden, die meinten, wegen eines schnelleren Größenwachstums anzusagen, wo es lang ging oder mit kleinen, kieksenden und kichernden Mädchen zusammen zu sein, denen bunte Klamotten die ganze Welt bedeuteten. Gut, er kannte erwachsene Hexen, bei denen sich das von der Kindheit an nicht geändert hatte. Doch jetzt noch einmal fünf Jahre diesen Unfug durchhalten, den er, als er noch Lucas Wishbone gewesen war, schon verabscheut hatte, war schlimmer als die Stunden zwischen Mutterleib und Geburtszimmer, die Gefahren im Wishbone-Haus und die Halloweenpartys mit albern herumgiggelnden oder wegen irgendwelcher Kleinigkeiten herumflennender Kinder. Hier galt es nun, bloß nicht zu viel können zu dürfen. Sicher gab es auch für sechs Jahre wesentlich weiter entwickelte Jungen und Mädchen. Doch wenn er nicht auffallen durfte, wo seine Entstehung ja schon genug Gerede gegeben hatte, musste er sich eben zurückhalten.
Jetzt trat so ein Kerl im himmelblauen Umhang mit weißen Wolkenmustern und sonnengelbem Spitzhut auf dem regengrauen Haar auf, Prinzipal Goodwin Whitebridge. Vielleicht konnten nur tony und seine Mutter, die zwischen den achso anständig angetrauten Elternpaaren stand, erkennen, dass Whitebridge nur so aussah, als mache ihm das alles hier spaß. Der wäre sicher gerne ein Lehrer in Ilvermorny, Thorntails oder Dragonbreath geworden, statt Grundschuldirektor zu sein. So spulte er jetzt sein Programm ab, dass irgendwo zwischen Zirkusdirektor, Pausenclown und Raubtierbändiger liegen mochte. Er leierte den üblichen Text vom "ersten großen Schritt des eigenen Lebens" herunter und dass es für alle die, die heute hier angekommen waren, ein ganz großes Ziel war, endlich zu den großen Kindern gehören zu dürfen. Tony sah es einigen Zweit- und drittklässlern an, dass sie hinter vorgehaltenen Händen hämisch grinsen mochten, von wegen groß und dazugehörend. Dann stellte der Schulleiter von Jollysky die beiden Lehrer vor, die die in zwei Parallelklassen aufgeteilten Erstklässler betreuen sollten. Sein Klassenlehrer war ein spindeldürrer Zauberer mit schwarzer Igelfrisur, Mr. Howard Burton. Tony erinnerte sich, dass dieser Zauberer der Neffe von Jasper Pole gewesen war.
"So wünsche ich uns allen, dass dieses Schuljahr ein friedliches, gewinnträchtiges und erfreuliches Jahr werden möge, ob für Sie, Ladies and Gentlemen oder für euch, liebe Jungen und Mädchen, die ihr hier ab heute die wichtigen Dinge des Lebens erlernt, um später große und kundige Hexen und Zauberer werden zu können", beschloss Schulleiter Whitebridge seine alljährliche Begrüßungsansprache. Jetzt ging es los. Burton winkte der ihm zugewiesenen Gruppe zu. Tony Summerhill winkte seiner zweiten Mutter, die sich wie er gut beherrschte, das verhalten abfällige Glotzen der anderen Eltern auszuhalten. Ja, auch für sie würden diese fünf Jahre schwierig sein. Denn die aller meisten hier wussten ja noch, dass er, Tony, der Sohn ihres eigenen Neffen Lucas war, ein nicht so astrein entstandenes Kind, zumindest nicht für diese Kesselpolierer und Besenreiserglattbieger da in den Reihen der Eltern.
Wie ein Schaf trottete er mit der Herde der anderen Sechsjährigen mit. Seine Mutter würde ihn um vier Uhr wieder abholen und sich dann ganz sicher ganz gerne erzählen lassen, wie sein erster Schultag verlaufen war.
Theia Hemlock, die angebliche Tochter von Daianira Hemlock, hatte sich durchgesetzt. Ihre Tochter Selene sollte in Viento del Sol ihre Grundschulzeit verbringen, auch wenn die Direktrice, Prinzipalin Greta Greengrass angemerkt hatte, dass nur Kinder, die in Viento del Sol wohnten, dort auch unterrichtet werden sollten. Theia Hemlock hatte jedoch bei der Familienstands- und Ausbildungsbehörde durchgedrückt, dass sie als Erbin von Daianira Hemlock ihr Recht auf deren Bürgerrechte geltend machte, ja hatte sogar in Aussicht gestellt, nach Viento del Sol umzuziehen, wenn dort ein Haus frei würde. Doch im Moment war der Häusermarkt dort völlig leergefegt, da viele Hexen und Zauberer nach der Ära Buggles an einem Ort wohnen wollten, an dem ein mächtiger Schutzzauber gegen Feinde wirkte.
Sie hatte erst gedacht, dass dieser ominöse Feindesabwehrzauber sie abweisen mochte. Doch offenbar hatte ihre Wiedergeburt als Lysithea und die Schwangerschaft und Niederkunft mit Selene all ihre früheren Verfehlungen überlagert. Außerdem hatte sie seit ihrer eigenen Wiedergeburt keinem Menschen mehr Leid angetan, also auch keinem Bewohner dieser Ansiedlung. So genoss sie es sogar, die ganzen Leute anzublicken, die nun Kinder im Grundschulalter hatten. Sie wusste auch, dass es in drei Jahren noch etliche Mehr sein würden, weil Vita Magica viele ungeplanten Zeugungsakte herbeigeführt hatte.
"Du weißt, dass du nicht auffallen darfst, Selene", mentiloquierte sie ihrer vaterlos empfangenen Tochter, die angeblich von einem verstorbenen Inselzauberer abstammte. "Ich hoffe, ich komme mit den ganzen Kindern hier zurecht", fing sie Selenes Gedankenantwort auf. Noch stand die, die angeblich von einem Inselzauberer abstammte, rechts neben ihr. Doch gleich würde Direktrice Greengrass, die Leiterin der Sunbright-Grundschule von Viento del Sol, die Kinder auffordern, zu ihren Klassenlehrern zu gehen. als Theia sah, dass die Erstklässler von Dorothy Bluelake betreut würde musste sie sich sehr beherrschen, nicht verächtlich dreinzuschauen. Dieses vorwitzige Weib hatte damals, wo Daianira Lehrerin in Thorntails gewesen war, allen nachgestellt, deren Eltern ihnen goldene Brücken zu großen Karrieren bauen konnten. Tja, und dann hatte die ausgerechnet Robby Blulake geheiratet, der sich schon als Leiter der Abteilung für magische Spiele und Sportarten gesehen hatte und dann nur als Kapitän der Viento del Sol Windriders geglänzt hatte, bis er mit seinem Besen gegen den Uhrenturm geflogen war, um zu prüfen, bis wohin der Anprallschutz noch hielt. Seitdem hing Bluelake in VDS herum und verdiente sich ihr Brot als Lehrerin für Sprechen, Lesen und Schreiben und Musik. So konnte es kommen.
"So bitte ich nun alle Erstklässlerinnen und Erstklässler, zu der Dame im Rosaroten Kleid hinüberzugehen, Mrs. Bluelake", sprach die selbst in Grasgrün gewandete Direktrice zu den neuen Schülerinnen und Schülern.
Selene winkte ihrer besonderen Mutter zu und rief: "Bis nachher, Mom!" Theia winkte zurück und rief: "Vertrag dich gut mit den anderen, Selene! Bis nachher!"
als sie sah, wie alle Schülerinnen und Schüler hinter ihren Klassenlehrern her in das sonnengelbe Steinhaus gefolgt waren winkte Theia Hemlock den anderen Eltern zu, die wohl meinten, sich noch unterhalten zu wollen, wo sie extra für diesen Tag freigenommen hatten.
Eigentlich war ihr nicht danach. Doch weil sie selbst auch nicht unnötig auffallen wollte traf sie mit den Eltern der heute eingeschulten Kinder zu einer angeblich zwanglosen Unterredung mit der Direktrice zusammen. Wie sie aus Daianiras früherer Erfahrung erahnte ging es bei dieser Versammlung darum, dass die Eltern der Kinder darauf eingeschworen wurden, sich nicht von den Kindern gegeneinander oder gar gegen die hier unterrichtenden Lehrkräfte ausspielen zu lassen. "Für Sie mag Ihre Tochter oder Ihr Sohn wie ein Königskind und Sonnenschein sein", sagte Greengrass. "Doch wissen wir leider, dass sich gerade im Umgang von Kindern untereinander die ersten größeren Unstimmigkeiten ergeben und dass Kinder dazu neigen können, sich selbst über die erreichten Ziele ihrer Eltern zu definieren. Lassen Sie sich bitte nicht darauf ein, als Vorzeigeware für übermütige Kinder herzuhalten. Sie alle hier sind vor uns Lehrerinnen und Lehrern gleich. Wir arbeiten hier in Ihrer aller Auftrag, in Loco parentis. Jedes Kind ist uns daher gleich wichtig oder gleich zu umsorgen. Bitte helfen Sie sich und uns dabei, dass Ihre Kinder hier lernen dürfen, einander gleichermaßen zu achten und für ihren Weg in die Zaubererwelt die nötige Übersicht und Umsicht zu erwerben! So wichtig Jeder von Ihnen allen im einzelnen ist, für Ihren Sohn oder Ihre Tochter gilt ab heute, dass er oder sie nicht alleine für sich steht, sondern im Miteinander den Weg in die eigene Zukunft zu finden hat. Das ist naturgemäß alles andere als einfach. doch erbitte ich von Ihnen die größtmögliche Unterstützung, dass dieses unser Lehrziel kein Wunschtraum ist, sondern eine feste, auch für Sie verlässliche Größe bleiben darf. Ich bedanke mich für Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung!"
"Wenn Sie schon von einem geregelten Miteinander anfangen, Madam Greengrass, dann klären Sie es vordringlich mit dieser Person da, dass Ihre Tochter lernt, dass sie keine kleine Prinzessin ist, sondern die von anständigen Eltern behüteten Kinder als gleichwertig zu achten hat", sagte einer der hier versammelten jungen Väter. Theia hätte diesem gerade mal Mitte dreißig Jahre alten Burschen neben einer fein herausgeputzten Hexe Mitte zwanzig dafür gerne die Zähne zusammengeflucht. Doch ihr fiel was wesentlich schlagkräftigeres ein.
"Falls Sie meinen, ich hätte meine Tochter Selene verzärtelt und alles ignoriert, was Sie als sogenannte anständige Familieneltern ansehen, Mr. Holloway, so muss ich mir das nicht vorwerfen lassen, da meine Tochter bereits mit fünf Jahren genug Intelligenz und Übersicht gezeigt hat, um hier eingeschult zu werden, es aber von der Ausbildungsabteilung für bedenklich erklärt wurde, sie zu früh in den üblichen Schultrott einzuspannen. Soweit ich mich aus einem Tagebuch meiner seligen Mutter erinnern kann mussten Sie in Thorntails drei Jahre in Folge nachsitzen und kassierten dauernd Strafpunkte für unkameradschaftliches Verhalten gegenüber Ihren Klassenkameraden, weil Ihr Vater meinte, Minister Pole beerben zu können und Sie schon ganz sicher in einem seiner Unterbehörden unterbringen würde. Also kommen Sie mir bitte nicht mit kleinen Prinzessinnen oder unanständigem Betragen! Wer mit dem Finger auf andere deutet zeigt mit drei Fingern derselben Hand auf sich selbst, Mr. William Terence Holloway. Meine Tochter Selene wird sich nicht als kleine Prinzessin aufspielen, da sie gelernt hat, dass sie nicht alleine auf der Welt ist. Ob Ihr Sohn das schon gelernt hat wird sich ab heute erweisen müssen. Und was ihre Abstammung angeht, Ladies and Gentlemen, ich bereue es nicht, sie bekommen zu haben. Wie dies möglich war betrifft nur noch sie und mich, und Selene wird auch kein Aufheben darum machen, soweit ich ihr schon erklärt habe, warum sie sozusagen mit mir zusammen in die Staaten eingewandert ist, ohne einen angeblich anständigen Vater vorweisen zu können. Madam Greengrass hat darum gebeten, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Denken Sie alle bitte daran, wenn es um die Zukunft unser aller Kinder geht, für wen wir leben und nicht was jeder hier für eigene Ziele hat! Danke!"
Alle hier versammelten Elternpaare sahen Theia Hemlock verdattert an. Holloway stierte sie verdrossen an. Sie hatte ihm gerade mitgeteilt, dass sie von seiner eigenen Vergangenheit wusste. Falls er sich mit ihr weiter anlegen würde könnte ja noch herauskommen, dass sein Vater nur deshalb kein Zaubereiminister geworden war, weil Mabel Pole ihren Mann dazu gebracht hatte, Holloway strafzuversetzen. Ja, auch über andere hier anwesende hatte Daianira Hemlock ein sorgfältiges Tagebuch geführt. Sie konnte jeder und jedem hier ansehen, dass er oder sie sich gerade fragte, ob der eigene Name und irgendwelche Auffälligkeiten darin erwähnt wurden. Da sie nicht den Feindesabwehrzauber dieses Ortes auslösen wollte vermied sie es gerade noch, jeden hier zu legilimentieren.
Direktrice Greengrass ergriff noch einmal das Wort. Sie sagte: "Ich bin für das Wohl und den Lernfortschritt der mir und meinem Kollegium anvertrauten Jungen und Mädchen verantwortlich. Daher bestätige ich Mrs. Hemlocks Einwand, keine Streitigkeiten wegen der Vergangenheit oder der Abstammung der Kinder zu provozieren. Außerdem haben Sie alle, wie Sie hier sitzen, mit dem heutigen Tag mir und meinen Kolleginnen und Kollegen anvertraut, die Entwicklung Ihrer Kinder zu fördern, zu beobachten und zu beurteilen. Auch daher möchte ich von Vorwürfen, welches Kind sich wie benimmt absehen, solange wir vom Lehrkörper keinen Anlass haben, mit Ihnen einzeln darüber zu reden, ob unerwünschte Auffälligkeiten bestehen oder nicht. Mehr dazu dann beim Elternsprechtag vor den Osterferien. Ich wünsche Ihnen allen noch einen erbaulichen Tag und bitte darum, mich nun wieder meinen hiesigen Pflichten zuwenden zu dürfen. Vielen Dank!"
Draußen vor den Mauern von Sunbright kam Mrs. Holloway auf Theia Hemlock zu und sah sie abbittend an. "Verzeihen Sie bitte meinem Mann diese unangebrachte Vorabverurteilung. Doch meine Schwiegermutter war eine Broomswoodianerin und hat ihm wohl eingeredet, dass alleinstehende Mütter ihre Kinder grundsätzlich unrichtig erziehen. Dabei waren diese Damen damals selbst nicht anständiger oder erfahrener, sondern nur ihrem starren Weltbild unterworfen. Ich hoffe, dass wir keinen Streit bekommen werden."
Ich danke Ihnen für Ihr verständnis und versichere Ihnen das meinige", sagte Theia Hemlock. Mehr musste und wollte sie dazu nicht sagen.
Als der Schultag vorbei war holte sie Selene wieder ab. "Es ist wie ein Lauf auf der Stelle, sich so zurückhalten zu müssen, Mom. Aber gut, dass wir das früh genug geklärt haben, wie ich diese Zeit überstehen kann, ohne meine bisherigen Erinnerungen völlig auslagern zu müssen", sagte Selene, als sie mit ihrer Mutter wieder im gemeinsamen Haus war. Theia verstand, was ihre ihr wortwörtlich zugeflogene Tochter umtrieb. Für Selene war das jetzt noch schwerer, nicht aufzufallen als die letzten fünf Jahre, vor allem wo Selene bereits in einige Aktivitäten einbezogen worden war, die von einem natürlich aufwachsenden Kind meilenweit ferngehalten wurden. Derartig zurückgestuft zu werden, bloß um nicht doch noch aufzufliegen, war genauso schwer wie mit zentnerschweren Eisenkugeln an Armen und Beinen Ballett zu tanzen.
Jeff Bristol musste daran denken, dass es jetzt einen Monat her war, dass sein Kollege Ralf Burton gestorben war. Bisher hatte er nichts davon gehört, ob der Informant Tinwhistle sich wieder gemeldet hätte.
Gemäß der Betriebsanweisung, dass ein Telefon- oder Internetanschluss eines verstorbenen Kollegen noch zwei Monate über die Todesmeldung hinaus erreichbar sein sollte überwachte Jeff nicht nur sein E-Mail-Postfach, sondern auch das von Ralf. So sammelte er noch die von seinem Kollegen erfragten Angaben zu Vorfällen, die für die Times interessant sein konnten. Gegen Mittag bimmelte das E-Mail-Programm. Jeff las die Nachricht und nickte.
An Mr. Bristol, der das hier sicher noch lesen darf!
Ich weiß schon seit dem 5. August, dass Ihr Kollege Ralf Burton tot ist. Auch weiß ich, dass das Schiff, auf dem er fuhr absichtlich versenkt wurde, um zum einen ein paar an ihrem langen Leben hängende Erblasser umzubringen, damit deren Erben kassieren durften und zum zweiten die Versicherungssumme für das Schiff zu kassieren. Woher ich das weiß verrate ich nicht. Nur soviel noch, der das gemacht hat wird keine Freude an seinem Coup haben. Keine Sorge, ich bringe niemanden um, wenn er mich nicht mit Gewalt angreift. Aber ich habe eine Menge Tricks im Ärmel. Der Mistkerl Clieve Huggins wird den Tag verwünschen, dass er sich mit mir angelegt hat. Denn Ralf Burton stand unter meinem Schutz. Dass er sich dieses Schutzes entledigt hat entbindet mich nicht davon, ihm zumindest posthum Gerechtigkeit zu Teil werden zu lassen. Achten Sie darauf, was demnächst mit Huggins' Leiharbeitsfirma passiert, aber wagen Sie es nicht, diesen Drecksack vorher zu warnen. Ich habe eine gute Quelle, die seine Telefongespräche mitschneidet und seine Privatpost kopiert und an mich weiterleitet. Wenn Sie hübsch brav abwarten, bis Huggins entweder selbst ins Meer springt oder sich vor Gericht wiederfindet melde ich mich gerne bei Ihnen persönlich.
TinwistleP.s. grüßen Sie Ihren afroamerikanischen Unterhändler und sagen sie dem, dass ich weiß, dass er nur eine Tarnexistenz ist!
"Du mich auch, rostroter Räuberhauptmann", knurrte Jeff Bristol. Natürlich konnte jemand mit den richtigen Beziehungen herausfinden, dass seine Identität, die er damals für ein Interview mit Tinwhistle gewählt hatte, kein offizieller Mitarbeiter der Times war. Aber wie es wirklich war sollte dieser höchst dubiose Zeitgenosse nicht herausgefunden haben, denn dann wäre es quasi amtlich, dass er Drähte in die magische Welt hätte. Dabei wusste Jeff bis heute nicht, ob es ein "er" oder eine "sie" war, weil sich Tinwhistle in einer rostroten, alle Körpermerkmale bedeckenden Vollrüstung präsentiert und über einen Stimmensimulator mit ihm gesprochen hatte. Aber er hatte durch die Mehrzweckbrille im Infrarotmodus das Gesicht der Person gesehen, die von den Mitgliedern des rostroten Rechtecks "Faktor I" genannt wurde.
Jeff hob die von Ralf errichtete Verschlüsselung der E-Mail auf, um diese an Dunston weiterzuleiten. Er hängte dem noch einen Kommentar an: "Tinwhistle ist ein Computertüftler. Der hat sicher die Kontobewegungen von Huggins gehackt und sich was von der Versicherungssumme abgezweigt, falls er dem nicht noch was unterjubelt", schrieb er halblaut diktierend. Dann klickte er auf "Absenden".
Einer Eingebung folgend, dass Tinwhistle nicht nur Ohren in Huggins' Firma haben könnte ließ er den "geisterhaften Wächter", wie Martha Merryweather es genannt hatte, das Betriebssystem und alle für Kommunikationen wichtigen Programme seines Rechners abklopfen. Tatsächlich fand er an die 25000 Angriffsversuche von der Adresse, unter der der Intranetserver der Times lief. Aber der Wächter hatte für jeden Spion ein paar potemkin'sche Dörfer errichtet, in denen er sich umsehen und alles mögliche finden konnte, nur nicht, was brisant für den rechtmäßigen Nutzer des Rechners oder des Servers war. Die Erkenntnis, dass da offenbar seit mehr als fünf Jahren ein Spionageprogramm gut beschützt vor allen Abwehrprogrammen im hauseigenen Intranet nistete gefiel Jeff nicht. Denn nun wusste er, warum es einem Kollegen von ihm misslungen war, sich in die Unterweltorganisation namens rostrotes Rechteck einzuschleichen. Man hatte ihn erwartet. Aber was sollte er, Jeff nun tun? Wenn er jetzt Alarm schlug würde das Spionageprogramm das mitbekommen und seinerseits Alarm schlagen. Außerdem würde er verraten müssen, wieso sein Rechner gegen diesen virtuellen Kundschafter immun war und wohl alle anderen Rechner nicht. Er müsste dann zugeben, dass er von einer genialen Hackerin ein Paket von Programmen bekommen hatte, um seinerseits andere auszukundschaften und gleichzeitig den eigenen Rechner vor Leuten wie ihr selbst größtmöglich abzusichern. Zumindest stand für ihn fest, dass jemand von innen her das Spionageprogramm ins Intranet eingeschleust hatte, als Ansammlung harmloser Datenbankabfragen, bis sich das Programm wie das Geschöpf von Frankenstein aus Einzelteilen zusammengesetzt hatte und durch einen Initialimpuls zum heimlichen Eigenleben erwacht war, ohne von den routinemäßig durchlaufenden Antivirenprogrammen gefunden zu werden. Tja, nur ein Geist konnte einen Geist fangen, hatte er mal von einem Gespenst gehört, dass alte Häuser mit dunkler Vergangenheit auf dort verbliebene, rachsüchtige Seelen untersuchte. In Jeffs Fall stimmte das auch für Computer.
Jeff las noch, dass der Geisterwächter nicht nur Scheinadressen und Pseudodatenflüsse erzeugt hatte, um den ertappten Spion mit ungefährlichem aber interessant scheinendem Zeug zu füttern, sondern auch schon weitere Immunprozeduren erzeugt hatte, um mögliche Mutanten des Eindringlings zu erkennen und vor der "Haustür" abzufangen. Wie erwähnt durfte er nicht verraten, dass er selbst mit höchst fragwürdiger, auf jeden Fall nicht vom Systemadministrator genehmigter Software arbeitete, auch um an Daten zu kommen, die ein "kleiner Reporter" niemals sehen durfte. Sein Beruf war zu wichtig, um sich wegen sowas mit der Chefetage herumzuschlagen und die eigene Enttarnung zu riskieren. Dass Tinwhistle seine Tarnidentität aufgedeckt hatte, aber nicht wusste, wer der angebliche Afroamerikaner wirklich war, war schon Warnung genug für den Mann, der sich Jeff Bristol nannte.
Ansonsten verlief der Tag friedlich. Der Burgfrieden der neun großen Familien hielt, und der sich androhende Krieg zwischen dem eisernen Kleeblatt und dem Ableger der Camorra war entweder nicht ausgebrochen oder fand als nun kalter Krieg hinter lichtdichten Kulissen statt. Vielleicht hatte auch irgendein Unterhändler Cardigan und die Erben der von ihm getöteten zusammengebracht und eine Entschädigungszahlung ausgehandelt. Solange nicht noch mehr Leute starben sollte es Jeff Bristol recht sein. Was ihm im Moment eher Sorgen machte war der Müllkönig Michele Milelli. Der hatte seit seinen letzten Aktionen nichts mehr von sich hören lassen. Bestenfalls hatten die anderen acht ihn zum Maßhalten verdonnert. Schlimmstenfalls brütete der was neues aus, das auf keinen Fall vor der Zeit auffliegen durfte. Jeff ärgerte sich, dass sie deshalb auf dubiose Zeitgenossen wie Tinwhistle angewiesen waren, um mehr zu erfahren. Doch das Problem hatten selbst die offiziellen Ordnungsbehörden wie das FBI.
Am Nachmittag des fünften Septembers traf sich die ganze große Familie Latierre im Sonnenblumenschloss, um den dreifachen Geburtstag von Ursuline und ihren Zwillingstöchtern Esperance und Félicité zu feiern. Sämtliche Familienangehörigen kamen durch die errichtete Verschwindeschrankverbindung. Millie hatte sich den Zwillings-Traglingssack umgeschnallt, Béatrice jenen, in dem einst Aurore durch den Park von Beauxbatons und durch Millemerveilles getragen worden war.
Julius durfte mal wieder feststellen, wie groß die Familie war, in die er hineingeheiratet hatte. Auch Gilbert und seine Frau Linda waren aus den Staaten herübergekommen und hatten die kleine Lydia Barbara mitgebracht, die bereits erste eigenständige Schritte tun konnte und sich freute, dass noch andere Kinder da waren.
Sie ließen erst die amtierende Familienälteste hochleben und danach ihre beiden zeitgleich auf die Welt gekommenen Töchter, die auch schon neun Jahre alt waren. Julius erinnerte sich wohl wie viele andere hier daran, wie ihre Mutter sie stolz und entschlossen in ihrem Bauch getragen hatte. So lange war das schon wieder her. Klar! Deren vier jüngsten Geschwister waren ja genauso wie Aurore ja auch schon mehr als fünf Jahre auf der Welt.
"Ich freue mich ganz besonders, dass ihr es geschafft habt, rüberzukommen, Gilbert und Linda", sagte Ursuline, als ihr alle auch einzeln gratuliert hatten. ""Ja, Tante Line, hätte ich am Jahresanfang auch nicht gedacht, dass wir drei da noch mal rauskommen, wo uns Buggles diese Käseglocke übergestülpt hat", sagte Gilbert. "Im Moment tauchen sie im Golf von Mexiko, um nach verstreuten Zaubergegenständen aus dem Weißrosenweg und anderen betroffenen Vierteln zu suchen", sagte Linda Latierre-Knowles. "Ich bin froh, mal wieder an einem Ort zu sein, wo das Leben lärmt und nicht den Eindruck zu haben, über einen versunkenen Friedhof zu fahren. Selbst für meine Ohren war es da so still wie in einem einzigen großen Grab", fügte sie noch hinzu.
"Immerhin hast du mithelfen können, dass noch viele Eingeschlossene gefunden und gerettet werden konnten", sagte Gilbert. Linda nickte und antwortete: "Ja, und dabei wieder einmal gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob jemand gerettet oder nur noch geborgen werden kann."
Julius, der den Wortwechsel mithörte sagte dazu noch: "Hoffentlich kommen die Helfer alle einigermaßen unbeschaddet aus dieser Sache raus. Was Bruno gemeldet hat war auch beim Nachlesen gruselig genug. Deshalb sage ich da nicht mehr zu." Ursuline nickte ihm zu.
Da die allermeisten hier auch schon bei der Willkommensfeier für die drei jüngsten Mitbewohner des Apfelhauses gewesen waren kommentierten jene, denen es wichtig war, gut mit neuen Kindern auszukommen, wie groß die drei schon wieder geworden seien. Julius dachte nur daran, dass die das wohl die nächsten elf Jahre andauernd zu hören bekommen würden und wie es ihn immer wieder genervt hatte, wenn Tante Alison oder Tante Monica das über ihn gesagt hatten. Tja, Tante Alison war nicht mehr da, obwohl sie nicht wirklich tot war. Aber wie sie jetzt weiterlebte war schlimmer als ihr immer neue Blumen aufs Grab legen zu dürfen. Doch hier wollte er sicher nicht davon zu reden anfangen.
Als erst die stolze Mutter die nun schon 74 Kerzen auf der großen Torte ausgepustet hatte und dann die beiden Zwillingsschwestern ihre neun Kerzen zeitgleich ausgeblasen hatten konnte sich Julius mit seiner Schwägerin Martine über die Erfahrungen der Zwillingselternschaft austauschen. "Ich merk's jetzt, dass Héméra doch ein wenig eifersüchtig wird, weil ich mich mehr mit den Kleinen befasse als mit ihr. Wie kriegt ihr das mit Aurore hin?" Julius und Millie beschrieben ihren Alltag mit nun sechs Kindern. Béatrice konnte sich jetzt mit ihren älteren Schwestern darüber unterhalten, ob es mehr Freude oder Anstrengung war. Julius sah, dass sie richtig Freude daran hatte, jetzt "dazuzugehören". Natürlich wussten die Erwachsenen hier, wie es wirklich um die Entstehung von Félix Richard Roland bestellt war. Aber das gehörte zu den Sachen, die nicht laut ausgesprochen wurden.
Patricia, die ja auch "dazugehörte", ließ sich von allen anderen jungen Müttern erzählen, was sie demnächst alles erleben würde, wenn ihr Antoine Brian schneller laufen konnte als sie, wenn es irgendwas ganz interessantes anzusehen und anzufassen gab. Erwähnter Nachwuchs von Patricia und Marc durfte in der großen Kinderflughalle mit den über ein Jahr alten Kindern auf den Spielzeugbesen herumflitzen, gut beaufsichtigt von Ursulines Nichte Artemis. Die hatte schon angedeutet, dass sie nächstes Jahr, wenn Ursuline die 75 Kerzen voll hatte, ihr Café in der Seitenstraße der Rue de Camouflage für diesen Tag bereithalten wolle. Andererseits, wo konnte man größer feiern als in einem echten Schloss an der Loire? Doch das wollte ihr im Moment niemand unter die Nase reiben.
Wie üblich gab es das große Geschenkeauspacken. Dafür, dass Ursuline schon vielfache Uroma geworden war freute sie sich immer noch wie ein kleines Mädchen über die mit viel Herz und Verstand ausgesuchten Geburtstagsgeschenke. Julius' Mutter, die sich mit Linda und Gilbert über die Lage in den Staaten unterhalten hatte, freute sich, als Ursuline ein großes Buch mit schachbrettgemusterten Klappen entpackte. "Die 1000 größten Partien der letzten 300 Jahre", las Line laut vor. Sie klappte das Buch auf und las kurz das Inhaltsverzeichnis. Dann musste sie grinsen. "Unsere allererste Finalpartie von Millemerveilles steht da auch drin, Martha. Das war der Redaktion von "Bauer und König" doch einen ausführlichen Eintrag wert."
"Ich habe auch nicht schlecht gestaunt, als ich das gelesen habe, Line. Deshalb dachte ich, dass du dieses Werk unbedingt auch in deiner Bibliothek haben solltest."
"O ja", sagte Line sehr aufrichtig erfreut.
Die Latierres aus dem Apfelhaus hatten der Matriarchin der Latierres ein Album mit Farbfotos überreicht, in das sie alle Bilder seit der frühen Hochzeit von Millie und Julius bis zur Willkommensfeier für die drei Neuzugänge einsortiert hatten. Darunter waren auch drei Fotos, die Béatrice mit prallem Umstandsbauch zeigten. "Du strahlst richtig von innen her, kleine Schwester", kommentierte Babs Latierre dieses Foto. Béatrice meinte dazu: "Das macht das Frühlingssonnenlicht von Millemerveilles, Babs." Ja, sie gehörte jetzt dazu, und nur weil Julius von Ashtaria angehalten worden war, einen männlichen Erben jenes kleinen Silbersterns zu zeugen, den er außerhalb des Ministeriumsgebäudes unter seiner Kleidung versteckt um den Hals trug. Er freute sich für seine Schwiegertante, die ihm diesen geforderten Erben geboren hatte.
"Ich wünsche euch weiterhin alle Freude und allen Spaß, den ihr neun miteinander erleben könnt", sagte Ursuline Latierre mit feucht glitzernden Augen.
Später nach dem Abendessen, als die ersten Kinder müde wurden und sich von wechselnden Aufsehern behütet in einem Raum voller bunter Matratzen hingelegt hatten präsentierte Julius den Erwachsenen die besondere Errungenschaft, die er erhalten hatte. "Das ist der gleiche Silberstern, den ich bei Aurélie Odin gesehen habe. Die gehören also echt zusammen", meinte Ursuline. Linda lauschte. "Also, wenn ich auf magische Schwingungen lausche kann ich ein schönes, gleichmäßiges summen wie von mehreren sauber intonierenden Stimmen hören, Julius", sagte Linda Latierre-Knowles. Julius ging noch einmal näher an sie heran. Er hielt ihr den Heilsstern entgegen. Sie schloss die augen. "Ui, jetzt meine ich, dass die Sängerinnen und Sänger einen Kreis um mich bilden. Soweit reicht die Ruehaura?" ""offenbar zwei Armlängen weit. Aber von dem Effekt hat mir keiner was erzählt", entgegnete Julius. "Ich muss dann wohl aufpassen, damit nich vor Pierre Marceau herumzulaufen, weil der sehen kann was du hörst, Linda."
"Ja, war ich auch sehr erstaunt, dass ein nicht von Zauberereltern abstammender Junge ein Auravisor sein kann." Julius vermutete, dass diese Gabe auch nur deshalb geweckt werden konnte, weil er mit einer Veelastämmigen die Ehe vollzogen hatte und die cdabei zwischen ihnen überspringenden Zauberkräfte so gewirkt hatten."
"Stimmt, das las ich mal", sagte Barbara Latierre. "Deshalb wollte diese Euphrosyne ja unbedingt diesen Fußballtreter heiraten, weil sie seine besondere Begabung in ihren Kindern weitergeben wollte. Ich habe die werte Madame Grandchapeau gewarnt, sich nicht mit einer wütenden Veela oder Veelastämmigen anzulegen. Aber sie meinte ja, dass die Geheimhaltung der Zaubererwelt gefährdet sei, wenn ein berühmter und umjubelter Sportler eine überirdisch schöne Frau an der Seite hat, die noch dazu von Bildaufzeichnungsgeräten nicht so leicht erfasst werden kann. Mehr muss ich dazu nicht sagen." Das Kopfnicken aller Zuhörenden bestätigte, dass sie wirklich nicht mehr dazu sagen musste.
Weil es schon mal angesprochen wurde ging es um die bald anstehende internationale Zusammenkunft zur Absicherung der Zaubererwelt vor elektronischen Überwachungsgeräten. Dass daran gearbeitet wurde war kein Geheimnis, sondern eine reine Vertraulichkeit. Linda wusste es ja auch schon, dass Atalanta Bullhorn ihre Leute nicht zu dieser Zusammenkunft schicken würde, solange sie nicht davon überzeugt war, dass eine echte Gefahr für die Zaubererwelt bestand. "Ja, aber ich stelle doch nicht erst eine Feuerwehrtruppe auf, nachdem zwei Häuser abgebrannt sind, wenn ich weiß, dass Häuser brennen können", sagte Martha, der dieses Projekt wichtig war und die auch keinen Hehl daraus machte, eigentlich wieder in den Staaten arbeiten zu dürfen. Doch im Moment sah es nicht danach aus. Keiner hier konnte ihr da helfen.
"Also, ich erkläre es zum Familiengeheimnis der Latierres, dass du, Mein Schwiegerenkelsohn Julius, einen der sieben silbernen Sterne der Kinder Ashtarias erhalten hast und ihn in deren Sinne anwenden wirst", sagte Ursuline Latierre. Damit war es sicher, dass niemand außenstehendes davon erfuhr, solange Julius es keinem Außenstehenden verriet. Julius fühlte einen kurzen warmen Schauer durch den silbernen Stern gehen und sah, wie er kurz aus sich heraus golden aufblitzte. Alle anderen sahen das auch. Offenbar hatte der Stern die Einstufung seiner Existenz zum Familiengeheimnis erfasst und diese als mächtigen Schutzzauber erkannt.
Kurz vor Mitternacht trugen alle Elternpaare ihre selig schlafenden Kinder durch die Schränke in ihre Häuser zurück. Martha Merrywweather trug die kleine Clarimonde, während Julius Aurore an der rechten Hand hielt und Chrysope auf den Armen trug.
Kurz vor eins lagen dann auch alle Apfelhausbewohner und Julius' Mutter in den Betten. Millie gab den Zwillingen noch einmal zu trinken. Béatrice tat dies wohl mit Félix. "Ja, war ein ganz schön langer Tag", schnurrte Millie, während sie die zwei Mädchen sicher in den Armen hielt und diese leise schmatzten und glucksten. "Ja, ein schöner langer Tag", wiederholte Julius ruhig und wünschte seiner in ihrer Mutterrolle aufgehenden Frau und den beiden jüngsten Hausbewohnerinnen eine gute Nacht.
Zwei Tage nach der Geburtstagsfeier im Sonnenblumenschloss hatten die für Nathalie Grandchapeau tätigen Computerexpertinnen und -experten weitere Punkte für das Projekt "Blickschutz" erarbeitet. Es war demnach nicht nur nötig, Bildaufzeichnungen magischer Vorkommnisse zu verhindern oder nachträglich zu löschen, es mussten auch Vorkehrungen erarbeitet werden, die Zaubereigeheimhaltung beziehungsweise Verfremdung von Informationen gleich an den Verteilerknoten im Internet abzufangen und gemäß noch zu bestimmender Vorgaben zu verfremden oder zu löschen, bevor sie in millionen internetfähige Rechner gerieten. Julius' Mutter hatte bereits entsprechende Vorarbeit geleistet und wollte in wenigen Tagen die ersten Einsatzmöglichkeiten erläutern.
Spät abends saßen Millie, Béatrice und Julius in der Wohnküche und besprachen den Haushaltsplan für die kommende Woche. Mit nun drei lauffähigen Kindern und drei Säuglingen im Haus mussten die drei ihre jeweiligen Einkommen besser verplanen, um immer genug zu essen und zu trinken zu haben. Sie stellten mal wieder fest, wie gut es war, dass alle drei einträgliche Berufe hatten und dass es gut war, sich mit den Kobolden geeinigt zu haben, auch wenn in London weiterhin gegen die Spenderinnen und Spender für New Orleans gehetzt wurde.
"Öhm, sind die Kinder alle im Bett?" erklang unvermittelt eine Stimme, die Millie und Julius schon seit vielen Monaten nicht mehr gehört hatten. Doch außer der gemalten Viviane in ihrem wasserblauen Umhang und dem gelben, melonenartigen Hut war niemand im Vordergrund des Bildes zu sehen. "Die Kinder schlafen alle, Madame Araña Blanca", sagte Julius leise. "Gut, darf ich mal eben herüberkommen?" fragte die Stimme der Unsichtbaren Hexe. Alle drei erlaubten es. Schließlich wusste Béatrice ja vom Besuch der Totgesagten vor fast drei Jahren über die Existenz der Weltenwanderin, wie sie sich auch gerne nennen ließ. Deshalb war es nichts besonderes, als erst eine untersetzte Frau im geblümten Kleid mit Strohhut auf dem graublonden Schopf im Bildvordergrund erschien und nach dem Ausruf "Per Intraculum excedo!" zu einer farbigen Lichtspirale wurde, die aus dem Bild herausdrang, zu einer wirbelnden Lichtsäule wurde und dann die bis dahin scheinbar nur gemalte Frau leibhaftig in der Wohnküche erschien.
"Ui, stimmt doch, dass der übertritt in die natürliche Welt nach so vielen Monaten hinter dem Weltenfenster ein wenig schwummerig macht", sagte Jane Porter und nahm ihren Hut ab. Béatrice war sofort bereit, der besonderen Besucherin was gegen den Schwindelanfall anzubieten. Sie brauchte jedoch nur einen Stuhl. "Gut dass ich noch einmal da rausgeklettert bin", sagte Jane im eher der Volksgruppe der Cajun zugeordneten Französisch und zeigte auf Vivianes Bild. Die Gründerin des grasgrünen Saales von Beauxbatons sah aus ihrer Welt in die des Apfelhauses hinüber.
"Ja, zu langes Intrakulieren kann den Bezug und damit die Zugehörigkeit zur natürlichen Welt verschlechtern", sagte Béatrice typisch eine Heilerin. Dann sagte Jane Porter: "Ich war vor zwei Monaten das letzte Mal in der natürlichen Welt, nachdem ich von sechs verschiedenen Stellen gehört habe, dass Livius dabei sei, seinen Verstand und seinen Körper in Alkohol zu ersäufen. Wie schlimm das da schon war erschloss sich mir, als ich erst einmal unsichtbar beobachtete, wie er von seiner Arbeit nach Hause kam und innerhalb einer halben Stunde eine ganze Flasche Feuerwhisky in sich hineinschüttete wie klares Quellwasser. Ich habe nicht gedacht, dass meine Abwesenheit ihn derartig aus dem Gleichgewicht gebracht hat."
"Ja, und was Hast du dann gemacht, Jane?" wollte Julius wissen. "Ich konnte nicht an mich halten und habe ihm aus meiner Bilderwarte heraus eine Vorhaltung gemacht, dass es für die, die noch bei ihm sind unerträglich sei, wenn er sich derartig kaputtmacht. Er meinte dann zu mir, dass ich ja nur ein Abklatsch, eine Momentaufnahme seiner viel zu früh von einem skrrupellosen Institut in den Tod geschickten Frau sei und ihm somit nichts mehr zu sagen hätte. Dann hat der doch ganz provokant noch eine Flasche Feuerwhisky unverdünnt in sich hineingekippt, mehrmals unanständig laut aufgestoßen und sich dann auf das Dreiersofa hingeworfen, auf dem unsere Kinder gerne auf und abgehüpft sind, ohne zu wissen, öhm, dass Livius und ich dieses Prachtmögel ebenfalls zu ganz intimen Turnübungen benutzt haben. Das stach mir sowas von schmerzvoll ins Herz, dass ich nicht mehr an mich halten konnte. Ich habe gebebt und gewartet, bis dieser unglaublich dumme Mann in einen Schlaf gefallen war. Dann war ich selbst so dumm und bin aus dem Bild herausgestiegen, um alle Vorräte von Alkohol vom Butterbier bis zum Trinkspiritus, wie ihn die Zwerge in sich hineinkippen, zu finden und fortzuschütten. Zwei Kisten Feuerwhisky habe ich erlegt, lautlos und gründlich. Doch als ich im Keller ein Rudel Schnepfeneierlikörflaschen erlegen wollte hörte ich Livius die Kellertreppe herunterkommen. Da unten Kein Bild zum hineinschlüpfen war wollte ich mich unsichtbar machen. Tja, nur dass der alte Unsichtbarkeitsunterdrückungszauber, den meine Kollegen für mich damals im Haus installiert haben noch wirkte. Das tat mir im ganzen Körper weh und hat grelle Blitze um mich herumgeschleudert. Da kam Livius herein. Tja, die Dame Heilerin und die beiden Pflegehilfskräfte, wie wird er da wohl reagiert haben?"
Béatrice, Millie und Julius sahen Jane mit einer Mischung aus Tadel und Mitgefühl an. Dann sagte Béatrice: "Womöglich wird er Sie gesehen und für eine dem Alkoholrausch entspringende Wahnvorstellung gehalten haben, die ihn heftig erschreckt hat."
"Leider all zu exakt diagnostiziert, Mademoiselle Latierre", sagte Jane Porter schuldbewusst dreinschauend. "Erst schrie er laut auf, dann erzitterte er wild, wimmerte fast wie ein kleines Kind. Dann fiel er wie vom Schlag getroffen um. Ich konnte ihn noch mit der Wolkenwiege auffangen, bevor er die ganze Treppe hinuntergestürzt ist. Dann habe ich ihn mit meinen für Institutsangehörige nötigem Grundwissen in Heilmagie untersucht und zum Glück keinen Gehirnschlag, sondern nur eine tiefe Bewusstlosigkeit und einen überhöhten Alkoholisierungsgrad ermittelt. Da ich auf gar keinen Fall im Haus angetroffen werden durfte wirkte ich gerade noch so viele Heilzauber, um ihn sich von alleine erholen zu lassen und zog mich in die Bilderwelt zurück, um von dort aus Heiler zu alarmieren. Wie ich erfuhr konnte die gute Maya Unittamo mit dem Schlüssel, den sie von uns bekommen hat ins Haus und die im Weißrosenweg residente Heilerin Teresa Honeydew hinzuziehen. Aber Livius hat sich nach der sofortigen Ausnüchterung geweigert, in das Kurheim für Suchtkranke Hexen und Zauberer zu gehen. Teresa blieb nur, ihm anzudroh... öhm ... anzukündigen, ihn bei einem erneuten Ohnmachtsanfall zwangseinweisen zu lassen, da sie als für seinen Wohnort zuständige Heilerin nicht nur für seine persönliche Gesundheit, sondern auch für die Vorbildwirkung auf andere Hexen und Zauberer verantwortlich sei und in seiner Nachbarschaft mehrere junge Leute lebten, die meinen könnten, sich in die Selbstvernichtung hineinzutrinken sei etwas männliches, erhebendes, ja überlegenes. Wahrscheinlich hat er ihr nichts von der Begegnung mit dem "Geist" seiner eigenen Frau erzählt. Jedenfalls habe ich da den Entschluss gefasst, nicht eher wieder bei ihm zu erscheinen, bis er es irgendwie mit oder ohne Hilfe geschafft hat, dem hochprozentigen Verführer zu entrinnen. Ich habe in meiner Zweitexistenz als angeblich porträtierte Ausgabe von mir selbst die Damen Maya Unittamo und Patricia Redlief angestachelt, ihn im Auge zu behalten und über Vivianes Kontakte zum weltweiten Heilernetz gezielte Nachrichten an die US-amerikanische Sektion der Heilerzunft weitergeleitet."
"Ich verstehe einerseits, dass Sie sich nicht offenbaren durften, Jane. Auch verstehe ich, dass der Mann, der offiziell Ihr Witwer ist, ein erwachsener Zauberer ist, der nicht grundlos bevormundet werden darf und erkenne das Dilemma meiner Kollegin vor Ort an", sagte Béatrice. Jane nickte und meinte: "Ich höre da ein stummes "Aber"." Béatrice holte nur Luft und sagte: "jedoch hätte ich als Heilerin zumindest sämtliche Vorräte an Trinkalkohol umgehend entsorgt, um ihm so eine Möglichkeit zu eröffnen, sich zu überlegen, ob er wirklich sein restliches Leben davon abhängig bleiben möchte oder ihm den Vergrämungstrank von Chiara bonavia verabreicht, der dem, der ihn trinkt, einen vollen Monat lang jeden Trinkalkohol widerlich schmecken lässt."
"Ja, nur dass Bonavia auch vor den Folgen eines unbetreuten Entzuges gewarnt hat", sagte Julius. "Das was bei anderen Drogen als kalter Entzug bezeichnet wird kann Leute erst recht körperlich und geistig kaputtmachen. Joe Brickston ist ja nur deshalb dem Drogenteufel von der bunt schillernden Mistgabel gesprungen, weil Hera ihn sofort in die Delourdesklinik hat einweisen lassen, wo sie ihn über mehrere Wochen von dieser metamphetaminabwandlung unabhängig gemacht haben, ohne Löcher in sein Gedächtnis zu schießen." Béatrice nickte. "Wahrscheinlich wird es ihm nun, wo er sein Haus zwangsweise verlassen musste, entsprechend angetragen", sagte Béatrice.
"Gut, ich komme jetzt in keines der dortigen Bilder mehr rein, weil das Wasser die alle aufgeweicht und trotz Ölfarben viele Motive unrettbar zerstört hat", sagte Jane. "Aber ich werde mich wohl unsichtbar immer mal wieder im Glashutturm sehen lassen, wo Geraldine noch ein Bild meiner Urgroßmutter Genoveva hängen hat, von der ich an einem sicheren Ort ein Gegenstück hingehängt habe."
"Ich denke, zum jetzigen Zeitpunkt wäre es auch verkehrt, wenn du dich ihm oder deinen Kindern und Enkeln zeigst", sagte Julius ganz leise. Jane bestätigte es. "Das wollte ich euch auch nur erzählen, dass es für mich im Moment auch nicht einfach ist, zwischen dem notwendigen und dem mich gefühlsmäßig betreffenden auszugleichen. Aber ich gehe davon aus, dass Livius bei Patricia in guten Händen ist und sich besonders wo Mel selbst auf ein Kind wartet klar wird, was für ein Urgroßvater er sein will. Ich würde den oder die kleine ja auch gerne leibhaftig begrüßen. Aber dann könnte ich meine ganze Familie gleich an diesen Hexenorden verfüttern, der Ardentia Truelane gegen uns instrumentalisiert hat."
"Wobei ich gerade denke, dass die, die sich Anthelia nennt, gerade das kleinste Übel ist", wagte Julius einen Kommentar. Jane deutete nur ein Nicken an und berichtigte ihn dann: "Mag sein, dass es der Anführerin gerade nicht wichtig ist, ob ich tot oder lebendig bin. Aber deren Mitschwestern könnten noch einer höchst fragwürdigen Ehre wegen auf Rache ausgehen, weil sie völlig zu recht davon ausgehen, dass ich ihrer treuen Mitschwester Ardentia die tödliche Falle gestellt habe. Ob sie dann versuchen, meiner habhaft zu werden oder sich an meine Verwandten halten kommt für mich aufs gleiche heraus. Solange die nicht wissen, dass es mich noch gibt, sind meine Eltern, meine Familie und deren Kinder größtenteils sicher, zumindest vor diesen Spinnenhexen."
"Ja, oder Sie bringen in Umlauf, dass jeder Versuch, sich an Ihren Angehörigen zu rächen eine weitere tödliche Falle für diejenigen ist, die auf Rache ausgehen", schlug Béatrice vor. Jane erwiderte darauf: "Das wurde bereits in alle dunklen Kanäle gestreut, die das Laveau-Institut zu den dunklen Orden errichtet hat. Aber im Moment müssen sie ja selbst in Deckung und unter Einhaltung aller Selbstschutzmaßnahmen arbeiten, weil das Ministerium Bullhorn ihnen das freie Arbeiten untersagt hat. Da haben Sie und habt ihr sicher schon von gehört." Die Latierres nickten.
"Wenigstens wissen wir jetzt, dass es dich noch gibt", sagte Julius. Béatrice fügte hinzu: "Ja, doch Sie sollten es irgendwie einrichten, mindestens einen Tag pro Monat in der natürlichen Welt auszuharren. Ansonsten droht die Kieselbleich-torrerossa-Entfremdung bishin zur Unmöglichkeit, aus der magisch erstellten in die natürliche Welt zurückzukehren."
"Vor diesem Effekt wurde ich bereits von der institutseigenen Heilerin Mia Silverlake gewarnt, Mademoiselle Latierre. Aber jetzt sollte ich wieder weiterziehen", sagte Jane Porter. Dann wünschte sie den dreien noch mehr Freude als Verdruss mit den sechs Kindern. Dabei lächelte sie vor allem Béatrice aufmunternd an. Beide Hexen blickten sich darauf einige Sekunden lang genau an. Dann stand Jane auf und winkte allen dreien zum Abschied. Dann nickte sie Viviane Eauvives gemaltem Ich zu und trat an das Bild heran. Sie legte die Metallscheibe mit ihrem eingeprägten Abbild gegen die Leinwand und hielt den Zauberstab daran. "Per Intraculum transcedo!" wisperte sie. Aus der im Intrakulum eingewirkten Spirale floss Licht, umschlang Jane als leuchtende, farbige Spiralwindungen und nahm sie in sich auf, bis sie als Lichtsäule in das Gemälde hinübergezogen wurde und dort wieder wie ein gemaltes Abbild von ihr selbst erschien. Sie ergriff Viviane bei der Hand und wurde von ihr durch den linken Rand des Bildes mitgezogen. Jetzt waren beide Hexen nicht mehr zu sehen.
"Das muss der werten Dame sehr zugesetzt haben, dass ihr Mann sich selbst die Leber und die Birne wegsäuft", bemerkte Millie leise zu dem besonderen Besuch. Béatrice sah sie kritisch an, wohl weil Millie sich so schulmädchenhaft ausdrückte. Doch dann sagte sie ganz ruhig: "Ich hoffe sehr, dass keine und keiner hier jemals in diese Situation gerät, entscheiden zu müssen, ob er oder sie einem geliebten Menschen hilft oder wegen eines weitaus größeren Ziels zulässt, dass dieser Mensch zu Schaden kommt. Abgesehen davon, dass ich es dann, wenn ich alle Welt glauben machen müsste, dass ich tot sei, ganz bestimmt nicht in die Nähe geliebter Menschen zurückkehren würde, nur um zu erleben, wie sie unter meinem angeblichen Tod leiden. Das hätte die werte Madame Porter bei all ihrer Lebens- und Berufserfahrung bedenken können und müssen, auch wenn das jetzt sehr überheblich klingen mag, Millie und Julius."
Julius gab dann noch einmal zum besten, was er aus den Sherlock-Holmes-Geschichten kannte, wo sich der Meisterdetektiv über Jahre totgestellt beziehungsweise unter anderen Identitäten gelebt hatte und möglichst weit von den ihn betrauernden Menschen entfernt blieb, bis er seinem besten Freund und langjährigem Wohngenossen Watson den Schrecken seines Lebens bereitet hatte.
"Ja, die Geschichte vom leeren Haus, Julius. Ich habe die Geschichte gelesen", sagte Béatrice. "Hätte nicht gedacht, jemanden kennenzulernen, der oder besser die in einer ähnlichen Zwangslage steckt wie damals Holmes. Denn soweit ich es verstanden habe musste er für tot gehalten werden, um die Überlebenden des Verbrecherclans von Moriarty auf die Schliche zu kommen, ohne die ihm wichtigen Leute wie die Hauswirtin Hudson oder eben seinen Chronisten und Freund zu gefährden. Aber Patricia Straton, die zu den Sonnenkindern gewechselt ist, kennt Jane Porters Geheimnis."
"Nur, dass sie eben zu den Sonnenkindern übergetreten ist und da wohl einige verbindliche Versprechen hat machen müssen", sagte Julius. Béatrice nickte. Sie hatte ja die Geburt von Patricias Zwillingstöchtern mitbekommen und auch, dass die beiden Mädchen Zwiegeborene waren, die bereits ein vollendetes Leben geführt hatten und sich dessen schon vor der Wiedergeburt bewusst waren. So mentiloquierte sie Julius: "Erkundige dich zu gegebenem Anlass bitte mal, was aus den beiden Mädchen geworden ist, Julius." Er schickte zurück, dass er das am 13. Oktober tun würde, wo die zwei ihren dritten Wiedergeburtstag feierten.
Janes Besuch bei den Latierres brachte diese darauf, sich im Schutze eines Klangkerkers über die bisherigen Aktivitäten der Spinnenhexen auszutauschen. Julius hatte Béatrice ja erzählt, dass er sich klammheimlich mit Anthelia getroffen hatte, um ihr eine Unterredung mit der Veela Sternennacht zu ermöglichen und wie Anthelia diese Gelegenheit ausgenutzt hatte, um sich vor Sternennacht und ihren Blutsverwandten abzusichern. Seitdem hatte er auch nichts mehr von der Spinnenhexe mit dem silbergrauen Zauberstab gehört.
Béatrice und Millie beschlossen den Abend damit, die drei Säuglinge zu stillen. Dann legten sich alle drei Erwachsenen schlafen, ohne eine hausweite Gutenachtsagerunde zu bestreiten.
Am Morgen des vierten Jahrestages der Anschläge auf das New Yorker Welthandelszentrum und das Pentagon fand Julius ein Memo in seinem Büro, dass von Nathalie Grandchapeau verschickt worden war. Sie bat darum, für die 10-Uhr-Konferenz eine Zusammenfassung der bisherigen Mitteilungen bezüglich der Konferenz zum Projekt "Blickschutz" zu erstellen. Außerdem teilte sie mit, dass er mit ihr zusammen das Büro für die friedliche Koexistenz vertreten würde. Also hatte er es jetzt wortwörtlich amtlich, dass er bei Zustandekommen einer Konferenz dabeisein würde.
Irgendwie kam es ihm merkwürdig vor, wie seine eigene Mutter und Nathalie Grandchapeau einander ansahen, als die Konferenz begann. Martha Merryweather durfte als erste einen Bericht vortragen, wie nach der möglichen weltweiten Einführung von Projekt "Blickschutz" weitere Schritte zur Wahrung der Zaubereigeheimhaltung im 21. Jahrhundert möglich sein mochten. Sie erwähnte in ihrer Julius' bekannten kühlen Sachlichkeit, dass es dafür nötig sein mochte, die auf dem Hoheitsgebiet des französischen Zaubereiministeriums eingerichteten Internetknotenpunkte mit Filterprogrammen zu versehen, die auffällige Bild- und Textdateien bei der Verteilung auf andere Rechner erkennen und durch entweder hochgradig abwegige oder harmlose Einschübe verfremden oder Bilddateien gleich ganz aus dem Datenverkehr löschen konnten. Dies, so sagte Julius' Mutter scheinbar völlig emotionsloss, grenze schon an eine Zensur im Internet, die von allen Nichtmagiern in der westlichen Welt strickt abgelehnt werde. Daher sei es auch unbedingt erforderlich, die Programme so abzusichern, dass sie zum einen nicht als solche auffielen und zum anderen nicht in die Hände skrupelloser Staatsregierungen, derer Geheimdienste oder um ihre Gewinne fürchtender Unternehmen fallen konnten, um von diesen dazu eingesetzt zu werden, ihnen gefährlich werdende Meldungen oder unerwünschte Meinungen vor ihren Bürgern oder Kundinnen und Kunden zu verheimlichen, ja möglicherweise die Absender solcher "gefährlichen" Mitteilungen ausfindig machten, um sie umzubringen. Daher müssten die Programme mit Selbstvernichtungsroutinen versehen werden, die so gut in ihrem Quellcode versteckt seien, dass sie nicht entdeckt wurden, aber bei einer Verfremdung der Grundprogramme unverzüglich alle Routinen und Subroutinen löschten. Die US-Amerikaner hätten bereits mehrere heimliche Überwachungsprogramme, die im Internet nach bestimmten Stichwörtern suchten und diese an ihre Nutzer weitermeldeten. Ihre Vorstellung ginge noch zwei Schritte weiter, nämlich dass solche Programme die gesuchten Begriffe oder Dateien im Sinne der Zaubereigeheimhaltung abänderten und dass sie genau an den Verteilerknoten eingerichtet wurden, nicht an Endgeräten in den Zentralen der betreffenden Regierungsstellen.
"Wie viel Zeit veranschlagen Sie für die Einrichtung dieser von Ihnen als Türsteher bezeichneten Ausfilterungsprogramme?" nahm Nathalie Julius die Frage aus dem Mund. "Das Programm mit allen Unterklassen und Objekten kann in vier Arbeitsmonaten erstellt werden, da die Grundlagen dafür schon bekannt sind. Es gilt halt, die Suchrotinen und die Filtereigenschaften genau zu bestimmen, um die Unauffälligkeit im Netz zu maximieren", erwiderte Martha Merryweather ohne jede Gefühlsregung in Miene und Tonfall. "Die Anbringung an den geeigneten Stellen erfordert genaue Abstimmung, wann diese Knotenpunkte gewartet und wieder eingefügt werden. Das kann dann bis zu einem Jahr dauern, während dem die von mir bereits erstellten und zur Anwendung gebrachten Arkanetprogramme uns betreffende Vorgänge melden und wir befinden müssen, wie wir diese zum Schutz der Geheimhaltung umändern. Mit den Türstehern würde das innerhalb von wenigen Sekunden geschehen, noch bevor alle anderen die betreffenden Daten zu sehen bekommen. Es wäre die zweite Stufe nach der erfolgreichen Durchführung von "Blickschutz", Madame Grandchapeau."
"Ich sehe es ein, dass dieser Auftrag längst nicht alle Betätigungsfelder dieser Behörde berührt und daher nicht in voller Breite dargelegt werden muss, Madame Merryweather. Nur so viel: Falls ich nach gründlicher Erörterung mit Ihnen einer derartig heiklen und tiefgreifenden Maßnahme zustimmen sollte, möchte ich gerne Ihre Garantie haben, dass Sie uns zu deren Durchführung vom Anfang bis zum erfolgreichen Abschluss zur Verfügung stehen, Madame Merryweather. Ich hege nämlich die Besorgnis, dass außer Ihnen niemand der hier anwesenden Personen Ihre jahrelange Sach- und Fachkenntnis und Praxis besitzt, um diese umfangreiche Arbeit erfolgreich zu verrichten. Ich möchte Sie daher nach dieser Konferenz für eine ausführlichere Erläuterung in mein Büro bitten. Madame Grandchapeau Junior möchte bitte dabeisein. Monsieur Latierre, den ich gerne auch dabei hätte, soll einen ausführlichen Bericht von Ihnen erhalten, falls ich Ihrem Vorhaben unter der bereits erwähnten Bedingung zustimme."
Julius sah für einen kurzen Moment Verdrossenheit im Gesicht seiner Mutter. Offenbar hing sie nun voll zwischen einer von ihr aus für überaus wichtig gehaltenen Aufgabe und anderen ähnlich wichtigen Dingen. Dann sagte sie: "Ich werde Ihnen und Madame Belle Grandchapeau die Einzelheiten dieses Vorhabens darlegen. Ob Sie es danach genehmigen liegt dann bei Ihnen, Madame Grandchapeau.
"Dann sind wir uns zumindest in dieser Angelegenheit einig", erwiderte Nathalie. Danach erteilte sie Julius das Wort, damit er seinen Bericht über die anstehende Konferenz zum Projekt "Blickschutz" erstatten konnte.
"Danke, Madame Grandchapeau für das mir gewährte Wort", begann Julius und erwähnte dann, was aus Großbritannien, Deutschland, Belgien, Spanien, Griechenland und Japan berichtet wurde. Die Zusammenkunft sollte demnach am 25. September beginnen und zunächst einmal bis zum 1. Oktober andauern. Es wurde nun noch gefragt, ob die dafür zusammengestellte Delegation aus Frankreich auch einen oder zwei Tage mehr erübrigen könne, sollte es sich erweisen, dass die Unterbereiche des Projektes "Blickschutz" länger diskutiert werden sollten, um eine für alle Beteiligten vertretbare Lösung zu erbringen. Er erwähnte, dass die Auswahl der Teilnehmenden auf eine mögliche Verlängerung der Zusammenkunft ausgerichtet sein sollte. "Dies sage ich jetzt, weil von unserer Seite her geplant ist, die betreffenden Behördenleiterinnen und -leiter zu entsenden." Nathalie nickte bestätigend, sagte jedoch nichts. Sie ließ Julius seinen Bericht vollenden und bedankte sich erst, als er sagte, dass die bisherigen Rückmeldungen Grund zur zuversicht gaben, dass eine internationale Vereinbarung zur Vermeidung unnötiger Auffälligkeiten in elektronischen Nachrichtenverbreitungsmedien möglich sei. Vielleicht müsse der Name des Vorhabens dann noch einmal überarbeitet werden. Doch dies sei dann wohl nur die geringste Sorge.
Nathalie bedankte sich für den Bericht und teilte die Hoffnung, dass die angestrebte Zusammenkunft ein für alle seiten umsetzbares Ergebnis einbrachte. Sie bedauerte, dass das italienische Zaubereiministerium außer Stande sei, an dieser Zusammenkunft teilzunehmen und dass das russische Zaubereiministerium keine Notwendigkeit sehe, einen gemeinsamen Weg zu finden, wo es bereits eigene Unternehmungen umsetze, um auch im Internetzeitalter das Magiegeheimhaltungsstatut von 1721 durchzusetzen. Julius blickte dabei etwas beunruhigt drein. Er wusste, dass die russische Zaubererwelt den Nichtmagiern gegenüber immer noch große Vorbehalte hegte und etliche von denen immer noch Grindelwalds Ansichten anhingen, Nichtmagier seien dazu bestimmt, von den Zauberern und Hexen beherrscht zu werden.
"Gut, dann beschließe ich, dass Sie, Monsieur Latierre, als nach Madame Merryweather bester Sachverständiger zum Themenkreis elektronische Nachrichtenübermittlung und überwachungsverfahren an dieser Reise teilnehmen", sagte Nathalie, was ihr Memo an ihn schon klargestellt hatte. "Da diese Reise neben dem erwähnten Vorhaben auch eine Gelegenheit bietet, hochrangige Amtskollegen anzutreffen werde ich alle im fraglichen Zeitraum anfallenden Obliegenheiten an Madame Belle Grandchapeau delegieren und sie bis zum Abreisetag entsprechend vorbereiten. Dann möchte ich jetzt Mademoiselle Deveraux um Ihren Bericht zur Lage in den in nichtmagische Städte eingebetteten Zaubererweltvierteln bitten." Damit bekam nun Julius' Kollegin Rose Devereaux das Wort.
Als alle die was für alle anderen wichtiges zu berichten und diskutieren hatten fertig waren beschloss Nathalie die Konferenz und sah Julius' Mutter und Belle an. Julius verabschiedete sich von den Kolleginnen und Kollegen und verließ den Konferenzraum.
In seinem eigenen Büro schrieb Julius die bei der Konferenz erläuterten Punkte für sich selbst ab. Es konnte ja gut sein, dass er ebenfalls zur Betreuung dieser Türsteherprogramme eingeteilt wurde, wenn sie einmal liefen. Außerdem stellte er sich vor, dass seine Mutter nach vollendung der Arbeit oder schon davor die Segel gen Nordamerika setzen würde. Im Moment wartete sie wohl auch auf die Verkündung der eingegangenen Stimmen, ob es weiterhin drei Zaubereiministerien geben sollte oder eine Neuauflage der nordamerikanischen Föderation mit nicht auf einen einzelnen, starken Führer zugeschnittenen Verwaltungsrat geben mochte.
Mittags aß er mit allen anderen höheren Beamten im Speisesaal, wobei es ihm guttat sich mit seiner Schwiegermutter über die Familie zu unterhalten. "Sage meiner kleinen Schwester Béatrice, dass ich jetzt auch den Fünfzehner als Einzelreisebesen benutzen darf. Das Besenkontrollamt hat es mir erlaubt, nachdem es außer ihr noch fünf weiteren Heilmagiern Frankreichs den Besitz und die Nutzung dieses Besens bewilligt hat."
"Da hast du doch sicher ein wenig dran gedreht, Belle-Maman", meinte Julius mit verschmitztem Grinsen. "Ich habe denen nur gesagt, dass es sehr merkwürdig aussieht, dass fünf Heiler, die so gut wie keine Quidditcherfahrung haben, diesen Besen benutzen dürfen und die Leiterin der Spiele- und Sportabteilung gerade mal den Zwölfer privatfliegen darf, wo genau diese es war, die die letzten Fragen im Zusammenhang mit der Verwendbarkeit des Ganymed 15 geklärt hat", erwiderte Hippolyte Latierre mit ebenso verschmitztem Grinsen. Dem konnte Julius nicht widersprechen.
Am Nachmittag saß Julius mit allen anderen für die Computer zuständigen Kolleginnen und Kollegen vor den Rechnern. Seine Mutter saß mit Primula zusammen, die sich gerade in die ersten Grundzüge der Programmiersprache Java einarbeitete. Auffällig war, dass die beiden hierfür an den von der Eingangstür am weitesten entfernten Rechnern saßen. So unterließ es Julius, seine Mutter laut zu grüßen und kümmerte sich gleich um die eingetroffenen E-Mails. Seine japanische Kollegin Masa Daidoji hatte eine Anfrage ihrer Vorgesetzten Kyoko Hashimoto weitergeleitet, die wiederum von Zaubereiminister Ninigi Takahara gestellt worden war. Es ging darum, ob es der französischen Delegation genehm sei, wenn die Zusammenkunft nicht in den hohen Hallen des Ministeriums für magische Menschen, Wesen und Dinge stattfände, sondern im "Haus der hohen Gäste" des kaiserlichen Zaubereiministeriums in Yokohama, zumal es dort einen stillen Hafen für die internationale Schnellseglerlinie fliegender Holländer gab. Auch könnten die Delegierten dort übernachten und die Vorzüge des Hauses genießen, wie die drei Baderäume, den gläsern überdachten Garten der Düfte und Farben und die Kammern für Ertüchtigungen des Leibes und des Geistes. Sollte jedoch jemandem aus der angekündigten Gesandtschaft daran gelegen sein, nicht unter demselben Dach wie alle anderen Gesandtschaften zu nächtigen, so werde selbstverständlich nach einer anderen, gleichrangigen Unterkunft ausschau gehalten, so las es Julius Nathalie vor, die statt Belle in den Computerraum gekommen war.
"Fliegender Holländer? Ich ging von einer Portschlüsselreise aus", erwähnte Nathalie. Julius erläuterte, dass die Japaner keinen Ortszeitanpassungstrank vorrätig hätten, um allen Delegierten die Anpassung zu ermöglichen. Daher seien die "Gastgeber" darauf gekommen, dass eine Überfahrt mit dem Schnellsegler die Anpassung erleichtern würde. Nathalie mentiloquierte, dass sie wohl wegen des verbotenen Segens und der Dauerschwangerschaft keinen Ortszeitanpassungstrank hätte nehmen können. Julius bestätigte es ebenfalls auf gedanklichem Weg.
"Das liest sich so, als wenn nicht wir, sondern die japanischen Kollegen diese Zusammenkunft vorgeschlagen und dazu eingeladen hätten", sagte Nathalie. "Wir würden uns voll und ganz in die Obhut der japanischen Gastgeber begeben. "Drucken Sie mir bitte so viele Kopien der Anfrage aus, dass alle einbezogenen Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter darüber befinden können und warten Sie bis zu meiner Rückkehr mit einer Antwort!" sagte Nathalie. Julius befolgte die Anweisung und übergab ihr einen ordentlichen Stapel bedrucktes Papier. Nathalie verließ damit den Computerraum.
Um die Zeit nicht nutzlos verstreichen zu lassen beantwortete er noch weitere Anfragen aus Übersee, wobei auch hier die Bitte bestand, es den betreffenden Fachabteilungsleitern weiterzureichen. So erfuhr er, dass Tim Abrahams und Pina Watermelon aus dem Büro für friedliche Koexistenz zusammen mit Amos Diggory und William Deering aus der Abteilung für magische Geschöpfe, sowie Nelson Watergate und Percival Weasley aus der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, wie auch Arthur Weasley und Douglas Wakefield aus der Strafverfolgungsbehörde die britische Delegation bildeten. Pina fragte ihn in einem über entsprechende Arkanetprogramme ermöglichtem Telefongespräch, ob auch er die Anfrage aus Tokio erhalten habe. "Die Anfrage befindet sich im Bearbeitungsprozess", erwiderte er darauf. Pina lachte glockenhell, was nur er über die Kopfhörer mitbekam und antwortete: "Gleiche Antwort auch von uns. Aber mein Vorgesetzter meint, die Japaner wollten uns in einen goldenen Käfig stecken, damit ihre Landsleute nicht mitbekommen, dass wir da sind." Julius überlegte nicht lange und antwortete: "Stimmt, den Eindruck habe ich auch. Ist ja in gewisser Weise auch eine Geheimkonferenz. Wenn nichts dabei herumkommt braucht es auch keiner zu wissen. Wenn es ein Erfolg wird verbuchen die Gastgeber ihn für sich." Pina erwiderte: "Öhm, wenn das Thema nicht zu wichtig wäre, um einfach nicht beachtet zu werden, hätte ich Mr. Abrahams wohl auch abgeraten, anderswo als in London zusammenzukommen. Das mit Ladonna hast du ja mitbekommen." Julius musste dies bestätigen.
"Dann sehen wir uns wohl auf der Fahrt dahin", verabschiedete sich Pina. Julius erwiderte den Gruß und trennte dann die Internet-Sprechverbindung.
als Nathalie zurückkehrte brachte sie mehrere Pergamente mit: "Ich konnte Madame Barbara Latierre und die Messieurs Chaudchamp, Dupont und Chevallier davon überzeugen, dass eine Beantwortung der Anfrage per Arkanet um ein vielfaches schneller verliefe als die Entsendung von Posteulen, zumal die Anfrage ja die Antwort in Form einer E-Mail ausdrücklich erlaubt hat. Na ja, aber Monsieur Dupont ist wie sein Vorgesetzter nicht sonderlich angetan von den Neuerungen und behält sich vor, bei einer Abteilungsleiterkonferenz mit der Ministerin klarzustellen, was als verbindliche Kommunikkation innerhalb unseres Ministeriums und zwischen uns und anderen Zaubereiministerien gehandhabt werden soll. Madame Barbara Latierre räumte ein, dass die Kollegen in Japan die ganze Konferenz als "Ihr Ding" ausgeben würden, wenn sie für sie erfolgreich verläuft." Julius erwiderte, dass seine Kollegin Pina Watermelon in London der gleichen Ansicht sei.
"Bitte, Monsieur Latierre, Wandeln Sie die Papiervorlagen in elektronisch versendbare Informationspakete um und senden Sie diese an die Adresse von Madame Daidoji zu Händen aller, die der japanischen Delegation angehören werden!" wies Nathalie ihren Computerfachkundigen an. Julius las die auf Pergament geschriebenen Antworten auf die Anfrage. Er stellte fest, dass alle befragten mit Ja geantwortet hatten. Auch las er nun hochoffiziell, dass Nathalie ihn auf die Teilnehmerliste gesetzt und für das von ihr geleitete Büro zugestimmt hatte. Damit standen drei Sachen fest: Julius durfte, ja sollte an dieser Zusammenkunft teilnehmen, und er würde wie Nathalie, Belenus Chevaillier und dessen Untersekretär Grandvignier aus der Strafverfolgung, Barbara Latierre und Adrastée Ventvit aus der Abteilung für magische Wesen, sowie Chaudchamps Untersekretär Dupond aus der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit in jenem Haus der hohen Gäste unterkommen. Die Veranstaltung selbst würde dann auch in Yokohama und nicht im Zaubereiministerium von Tokio stattfinden. Julius fragte Nathalie, ob das hieße, dass sie dann von allen anderen Sachen abgeschirmt seien. "Das hat Madame Latierre auch gefragt", erwiderte Nathalie mit einem leichten Grinsen. "Es liest sich so, auch wegen der ausdrücklich erwähnten Luxuseinrichtungen, die einen Verbleib innerhalb des Hauses erleichtern, ja regelrecht anempfehlen. Insofern kann ich die Frage nicht gänzlich mit "Nein" beantworten. Dennoch ist die Wichtigkeit der Zusammenkunft so groß, dass wir keine unnötigen Verzögerungen eingehen sollten, sagt auch Monsieur Chevallier."
"Dann besteht aber keine Möglichkeit, die bereits getesteten Programme vorzuführen", räumte Julius ein. Nathalie erwähnte, dass dies wohl den Japanern bewusst sei und sie entweder darauf verzichten wollten oder Alternativen dazu erfunden oder gefunden hätten. "Im Zweifelsfall kann ich, falls Sie es genehmigen, die Struktogramme der betreffenden Programme vorlegen. Ich hoffe mal, dass Frau Daidoji und ihre Kollegen im Arkanetzentrum von Tokio verstehen, wie Computerprogramme arbeiten." Nathalie wollte eine solche Darstellung auf Papier sehen. Julius druckte das Struktogramm für die um ein Einzelbild pro Sekunde versetzte Darstellung aus, die in die Festspeicher jeder Überwachungskamera eingefügt werden sollte. Nathalie las die Darstellung, die beschrieb, wie das Programm arbeiten würde und verzog ihr Gesicht. "Wusste nicht mehr, dass diese Art der Befehlseingabe so umständlich ist."
"Das liegt auch daran, dass Fehler erkannt und ausgeglichen werden müssen, Madame Grandchapeau. Aber Könnte ich solche Darstellungen präsentieren?"
"Drucken Sie für alle betreffenden Befehlsabfolgen solche Darstellungen in fünffacher Ausfertigung aus und halten Sie sie für mögliche Anfragen der Kollegen vor! Aushändigen dürfen Sie diese dann aber auch nur auf meine ausdrückliche Genehmigung." Julius bestätigte den Erhalt dieser Anweisung und führte sie unverzüglich aus.
"Öhm, wieso kommt Madame Ventvit aus der Geisterbehörde mit?" fragte Julius. "Die Frage kann Ihnen nur Madame Barbara Latierre beantworten", erwiderte Nathalie. Dann deutete sie auf das Kombinationsgerät, mit dem man scannen, kopieren, Drucken und sogar faxen konnte, je danach, was gerade anstand. So war es für Julius kein Akt mehr, die Pergamente mit den Antworten über das vorausgewählte Scannerprogramm in Bilddateien mit klarem Kontrast bei möglichst originalgetreuer Farbdarstellung zu übertragen, die er dann nur noch als Anlage einer E-Mail nach Japan einfügen musste. Keine zehn Minuten später erfolgte die Antwort auf Englisch.
Sehr geehrter Monsieur Latierre,
in großer Dankbarkeit für die sehr rasche beantwortung der von meinem hochehrenwerten Vorgesetzten ergangenen Anfrage habe ich die große Ehre, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass die für die Unterbringung Ihrer hochverehrten Delegation bereitgehaltenen Räume im Haus der hohen Gäste am 25. September 2005 internationaler Zeitrechnung ab acht Uhr morgens Tokioter Ortszeit für Sie vorbereitet sein werden. Die Inhaber und Bediensteten des Hauses bekunden ihre große Vorfreude, Sie und die anderen sich zum Aufenthalt dort bereiterklärenden Damen und Herren bis zum Ende unser hoch wichtigen Zusammenkunft beherbergen zu dürfen und hoffen, dass Ihr Aufenthalt außerhalb der in gegenseitiger Achtung vorgeplanten Arbeitssitzungen so angenehm wie es nur sein mag verlaufen möge. Auch wenn es sich von selbst versteht bin ich gehalten zu bekunden, dass zur wahrung höchsteigener Rückzugsmöglichkeiten jedem Mitglied Ihrer Delegation eine persönliche Unterbringung bereitstehen wird.
Mit hochachtungsvollen Grüßen an Ihre ehrenwerte Vorgesetzte, Madame Nathalie Grandchapeau und an Sie, geehrter Monsieur Latierre
I. A. Masa Daidoji
"Oh, wir kriegen Einzelzimmer", bemerkte Julius leise zu Nathalie. "Machen die immer, wenn sie hohe Gäste ohne Ehepartner beherbergen", erwiderte die Kleinjungenstimme von Demetrius in Julius' Kopf. "Für mich macht es ja keinen Unterschied."
"Bitte drucken Sie auch Kopien dieser Antwort aus und bringen Sie Sie in eigener Person zu den adressierten Damen und Herren", sagte Nathalie. Julius bestätigte die Anweisung.
In Befolgung des an ihn ergangenen Auftrages traf Julius auch seine Schwiegertante Barbara, die sich gerade mit Monsieur Chaudchamp aus der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit unterhielt. "Ah, da ist ja unser neuer Überseekorrespondent vom Dienst", sagte Chaudchamp mit deutlicher Verachtung. Julius schaffte es, diesen Ton zu ignorieren und meldete den Erhalt der Bestätigung. "Wo Sie hier sind, Monsieur Chaudchamp, habe ich es richtig verstanden, dass Sie Monsieur Dupont zur Zusammenkunft entsenden?" fragte er.
"Zum einen gibt es für mich gerade jetzt, wo die internationale magische Zusammenarbeit schwieriger denn je ist eine menge zu tun. Zum zweiten entsende ich Monsieur Dupont deshalb, weil dieser sich darauf eingelassen hat, von seinem Neffen Robert wichtige Grundlagen der sogenannten elektronischen Medien zu erfahren und ich nicht mit einem der Muggelwelt affinen Verwandten aufwarten kann. Zum dritten weise ich einmal mehr darauf hin, dass dieses ganze Projekt nur unnötige Zeit- und Goldvergeudung ist und wir uns des Problems der Offenbarung magischer Dinge und Ereignisse in der nichtmagischen Welt auf andere Weise zuwenden können, wie es seit Jahrhunderten bereits erprobte Praxis ist und auch im Zeitalter durch die Luft versendbarer Bilder und Worte ohne Einsatz der Magie genug Mittel gibt, um unerwünschte Enthüllungen unserer Welt zu beheben. Aber da rede ich ja gerade bei Ihnen gegen eine Wand aus Watte", knurrte Chaudchamp. Julius nickte nur. Dann gab er Barbara Latierre die für sie bestimmte Kopie der Antwort.
"Ich werde Ihre und meine Zeit nicht damit vertun, zu wiederholen, was Madame Grandchapeau und ich bereits bei der Konferenz der Abteilungsleiter erörtert haben, Monsieur Chaudchamp. Noch einen angenehmen Tag, Madame et Monsieur", entgegnete Julius darauf.
"Gleichfalls", wünschte Barbara Latierre. Julius hörte noch, dass sie zu Chaudchamp sagte, dass er mal wieder bewies, wohin Ignoranz der neuen Gegebenheiten führte. Dann war die Tür zu, und Julius sah zu, dass er zu Madame Adrastée Ventvit, der Nichte der Zaubereiministerin, hinkam.
"Ist es mir erlaubt zu fragen, ob es einen bestimmten Grund gibt, dass Sie mitreisen möchten, Madame Ventvit?" fragte Julius.
"Sagen wir es so, Madame Dubois war nicht schnell genug für gleich drei grüne Waldfrauen auf einmal. sie befindet sich bis zum ersten Oktober in der Delourdesklinik, um die Verletzungen und mit diesen einhergehenden Infektionen auszukurieren. Ihre zwei Kollegen hatten noch weniger Glück. Ob sie wiedergefunden werden ist im Moment fraglich. Deshalb bin ich die einzige aus der Abteilung außer Madame Latierre, die genug Englischkenntnisse besitzt und sich zudem mit der Welt der Yokai befasst hat, also den japanischen Tier- und Zauberwesen. Das prädestiniert mich, für die verletzte Kollegin einzuspringen."."
"Drei auf einmal? Wo denn?" fragte Julius hörbar erschüttert.
"In Rennes, Bretagne. Wenn ich das noch richtig im Kopf habe durften Sie dort auch schon einmal hin."
"Oha, die Kulturfolgerin, -folgerinnen", seufzte Julius. Er konnte sich noch gut an den Vorfall mit dem Jungen aus England erinnern, der wegen einer Begegnung mit einer grünen Waldfrau in stationäre Behandlung musste. Er gab für die Kollegin seine besten Wünsche für eine rasche und vollständige Genesung weiter. "Sie kennen die Kollegin ja noch von der Sache mit der grünen Hybridin. Es ist kein Geheimnis, dass sie behandelt wird. Also dürfen Sie ihr gerne eine Eule in die Delourdesklinik schicken", sagte Adrastée förmlich. Weniger förmlich sagte sie dann noch: "Die hätten auf Ihre Warnung hören sollen, dass es an Städte angepasste Sabberhexen gibt. Das kann uns allen noch übel aufstoßen. Eigentlich dachte ich, dass ich mit den Nachtschatten genug zu tun habe, aber die verhalten sich seltsamerweise sehr ruhig."
"Sind denn weitere Schattenlose aufgetaucht?" wollte Julius wissen. "Oh, das dürfen Sie nur von Madame Latierre erfahren, weil die die Geheimstufen festlegt, Monsieur Latierre. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es in den letzten fünf Monaten keine weiteren Nachtschattenauftritte in dicht besiedelten Städten gegeben hat."
Wieder zurück im Computerraum las er neue Arkanetnachrichten, während seine Mutter weiterhin mit Primula Arno über Java und die Möglichkeiten von Programmen im allgemeinen diskutierte. Nathalie winkte ihn von ihrem Platz etwas abseits der Rechner zu sich heran und sagte leise: "Falls es private Gründe gibt, weshalb Madame Merryweather gerade so leicht reizbar ist, wirken Sie bitte auf sie ein, dass sie mit ihrer Heimstattgeberin darüber spricht, woran es liegt und inwieweit es ein familiäres oder heilkundliches Anliegen gibt, das sie klären möchte! Ich möchte vor der Abreise Gewissheit, dass wir beide nicht dringend benötigt werden könnten."
"Das ist auch in meinem Interesse", erwiderte Julius leise, absichernd, dass seine Mutter gerade auf Primulas Bildschirm blickte, um ihr dieses oder jenes genauer zu erklären.
Der restliche Arbeitstag verlief mit der Überwachung von Seiten, auf denen heufig Fans von Vampiren und Werwölfen miteinander chatteten. Julius argwöhnte, dass auch echte Vampire dort nach künftigen Artgenossen Ausschau hielten.
"Und war viel los heute?" fragte Millie ihn, nachdem er sie und die drei nun eigenständig laufenden Kinder begrüßt hatte. "Das mit der Konferenz ist jetzt ziemlich sicher, aber C5, also noch nichts für die Zeitung", sagte er. Julius begrüßte auch Béatrice, die gerade dabei war, den kleinen Félix zu stillen. Er erwähnte ihr gegenüber auch, was heute im Ministerium gelaufen war.
"Oh, die Japaner ziehen das an sich, Julius. Das machen sie gerne, wenn sie was überragendes präsentieren wollen. Ich war mal bei einem Heilerkongress in Kyoto, wo der oberste Rat der hochehrenwerten Zunft magischen Heils residiert. Die haben uns da mehrere Verfahren erklärt, mit denen mehrfache Verletzungen zugleich behandelt werden können, das aber eben nur für approbierte Heilerinnen und Heiler erlaubtes Wissen sei. Da war ich gerade durch das praktische Jahr und vollapprobiert. Immerhin sind die Heilzunftmitglieder bei denen gleichberechtigt."
"Dann meinst du, die hätten nur darauf gewartet, dass jemand sie wegen sowas wie Blickschutz fragt, um uns allen eine geniale Sache vorzustellen?" fragte Julius. "So wie du es geschildert hast, Julius, möchten die wohl nicht, dass der Rest der Japanischen Zaubererwelt mitbekommt, dass es diese Konferenz gibt. Zweitens gehe ich davon aus, dass sie schon was vorbereitet haben, mit dem sie ganz groß auftrumpfen können. Denn sonst hätten Sie die Teilnahme an der Konferenz entweder höflich abgelehnt oder nicht darauf beharrt, dass sie bei ihnen stattfindet. Öhm, Julius, das heißt aber auch, dass sie am Ende vor der internationalen Zaubererwelt so auftreten möchten, dass sie diese Zusammenkunft einberufen und ausgerichtet haben."
"Oh, dann meinst du, dass ich denen einen genialen Pass zugespielt habe, den sie nur noch durch einen Ring schupsen müssen?" wollte Julius wissen. "Öhm, es ist meine persönliche Meinung auf Grundlage meiner fachlichen Erfahrungen. Ob das für ministerielle Zusammenkünfte ebenso ist weiß ich nicht sicher, kann es mir jedoch gut vorstellen", schränkte Béatrice ihre Ansicht ein. Julius konnte sich aber ebenfalls vorstellen, dass es so ablief. Zumindest hielt er es für denkbar, dass das japanische Zaubereiministerium nichts darüber bekannt werden lassen wollte, dass auf seinem Hoheitsgebiet eine internationale Konferenz stattfand. Auch musste Julius an den fast gelungenen Hinterhalt von Ladonna Montefiori denken, bei dem sie fast 20 Zaubereiminister unterworfen hätte. Die Japaner wussten es sicher auch und würden sich entsprechend absichern.
"Hadert deine Mutter immer noch damit, dass sie noch keine Meldung aus den Staaten hat, ob sie wieder dort arbeiten darf oder nicht?" fragte Béatrice. "Davon habe ich heute nichts mitbekommen, Trice. Ich habe nur mitbekommen, dass sie leicht reizbar war und sich heute morgen sehr stark anstrengen musste, beherrscht aufzutreten. Außerdem sah es für uns heute morgen so aus, als wenn sie und Nathalie Grandchapeau gerade eine gewisse Unstimmigkeit haben, sich aber gerade so noch beherrschen konnten, sie vor uns allen auszutragen."
"Wo Nathalie ja genug auszutragen hat", meinte Millie dazu. Béatrice räusperte sich leise, konnte aber ein verwegenes Grinsen nicht ganz unterdrücken.
Chrysope fragte ihren Vater, ob er mit ihr das Werfballspiel spielen konnte. Er sagte ja. Deshalb wollte auch Aurore mitspielen. Die zwei Mädchen schienen keine Müdigkeit zu kennen. Julius musste immer darauf hinweisen, dass die drei Kleinen schliefen und die zwei Großen nicht so wild schreien durften. Als Millie alle zum Abendessen ins runde Haus rief hatte Julius einen guten Tagesausgleich von der Büroarbeit erhalten und die zwei größeren Mädchen waren gut genug erschöpft, um beim Abendessen nicht so herumzualbern wie häufig, wenn sie sich gegenseitig hochschaukeln wollten.
Nach der Bettgehzeit für Aurore, Chrysope und Clarimonde entspannten sich Béatrice, Julius und Millie bei einem Musikabend, wobei Millie Klavier spielte und Béatrice und Julius ein Flötenduett spielten. Das war es, was Julius an seinem Leben mochte. So anstrengend es bei der Arbeit und mit den nun sechs Kindern auch immer war, es bot jedoch dafür auch Momente der Freude und der inneren und äußeren Ausgeglichenheit. Ob Millie das ähnlich sah konnte er nur vermuten. Zumindest wirkte Béatrice nicht so, als sei sie außen vor. Das gab ihm das Gefühl, dass er die beiden für eine ganze Woche alleine lassen konnte, wenn er in das Land der aufgehenden Sonne reiste.
Weil nun alle Einzelheiten der internationalen Zusammenkunft zum Projekt "Blickschutz" auf dem Tisch lagen fassten Nathalie und Julius die gestern ausgetauschten Schreiben zusammen. Rose Deveraux meinte dazu: "Das ist kein goldener Käfig, sondern eine goldene Käseglocke. Nichts böses rein, nichts böses raus." Martha Merryweather konnte ihr da nur zustimmen, räumte jedoch ein, dass sie selbst schon im Rahmen von geschäftlichen Treffen in derartig abgeschotteten Häusern gewohnt hatte. Dann wurde sie von Nathalie gefragt, wann sie die genaue Arbeitsabfolge und Aufgabenverteilung für das Türsteherprojekt darlegen konnte. Julius' Mutter erwähnte, dass sie wegen der Übungszeiten für die Anwärter nur zwei Stunden pro Arbeitstag dafür zur Verfügung hätte, aber bis zur Rückkehr Nathalies eine verlässliche Aufstellung und Einteilung vorweisen würde. Sie wirkte dabei jedoch irgendwie so, als sei das für sie eine unerwünschte Aufgabe. Das kannte Julius von ihr so gar nicht.
Nathalie lud die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Delegation für das Blickschutzprojekt zum Mittagessen ein. Deshalb bekam Julius keinen Cogison-Ohrring angehängt. Alain Dupont nutzte die Runde, um zu betonen, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten Chaudchamp das Projekt für sehr wichtig hielt und auf Grund seiner erworbenen Kenntnisse eine gewisse Befürchtung hege, dass die Zaubereigeheimhaltung die ersten zwanzig Jahre des dritten Jahrtausends nicht überstehen könne, wenn immer mehr mobile Zugriffsmöglichkeiten entstanden und kostengünstig genug waren, damit jeder sich sowas zulegen konnte. Dem konnte Julius nicht widersprechen. Nathalie erwähnte deshalb auch, dass sie bereits den nächsten Schritt erörterten, alle die Geheimhaltung gefährdenden Nachrichten und Dokumentationen gleich an den Verteilungsstellen abzufangen und je nach Aufwand entweder leicht bis stark verfremdeten oder vollständig löschten.
Julius bekam am Nachmittag mit, dass seine Mutter sichtlich verärgert dreinschaute und fast die junge Anwärterin Jacqueline Richelieu zusammengestaucht hätte, weil die in einem Quellcode zweimal das nötige Semikolon am Ende einer Befehlszeile vergessen hatte. Weil gerade keine von den Damen Grandchapeau im Raum war ignorierte Julius die von diesen auferlegte förmliche Distanz und ging zu seiner Mutter hinüber. "Öhm, was bitte ist so heftiges passiert, dass du so wütend wirst?" fragte er, während Jacqueline ihren Bildschirm anglotzte, als habe der sie gerade tödlich beleidigt.
"Nichts, was ich hier und jetzt vor dir und allen anderen auswalzen will, Julius. Abgesehen davon sind noch einige Tage Zeit, bis ich weiß, wie es da weitergeht."
"Also hat es was mit den Staaten und Ministerin Bullhorn zu tun, richtig?"
"Soweit nur, ja, hat es. Ende der Bekanntmachung", schnaubte Martha Merryweather. Dann wandte sie sich an ihre betreute Anwärterin: "Entschuldigung, Jacqueline, ich wollte dich sicher nicht kränken. Für mich ist das eben ein uralter Hut, dass bei modernen Programmiersprachen jede geltende Befehlszeile durch ein Semikolon abzuschließen ist und jede Schleife oder Fallauswahlliste mit geschweiften Klammern zu umschließen ist. Wenn jemand das ganz neu lernt kann es eben schon passieren, dass solche Markierungszeichen ausgelassen werden."
"Hmm, is' wohl so", grummelte Jacqueline. Julius sah Babettes ehemaliger Klassenkameradin an, dass sie sich mit dem ganzen Quellcode schwertat. Er versuchte kurz einen Blick auf den Bildschirm seiner Mutter zu werfen. Diese hatte gerade eine Anwendung laufen, die grafisch die räumliche Einteilung von Internetknoten auf französischem Hoheitsgebiet zeigte. Sie bekam das mit und sagte: "Ich muss zwei Dinge gleichzeitig überblicken, Julius, und die Suche nach den Knotenpunkten ist eine sehr brisante Angelegenheit, weil es nicht auffallen darf." Julius verstand es.
Im Internet kursierten weiterhin Geschichten über Vampire und Werwölfe, aber auch über moderne Hexenclubs, die sich für Nachfolger altkeltischer oder altnordischer Kultgemeinschaften hielten. Da galt es immer wieder aufzupassen, ob hinter den aufkommenden Stichworten wie "Magie", "Hexe", "Zauberwerk" nicht vielleicht doch echte Magie und echte Hexen und Zauberer steckten. Auch kamen immer noch wegen des vor zwei Jahren veröffentlichten Spielfilms "Fluch der Karibik" Diskussionen über altaztekische Flüche und untote Piraten auf. Julius dachte daran, dass es im 17. Jahrhundert durchaus wenige echte Zauberer und eine Hexe gegeben hatte, die wahrhaftig als Piraten die Meere unsicher gemacht hatten.
Nach Feierabend war die allgemeine Spielstunde mit den Kindern, die Julius auch als eine Art eigenes Körperertüchtigungstraining schätzte, wenn er nicht gerade Wickeldienst hatte.
Die ganze nordamerikanische Zaubererwelt hing an den Lippen der bevorzugten Nachrichtenreporter im Zaubererweltradio. Auch Anthelia/Naaneavargia lauschte der Direktübertragung der Stimmenauszählung. Als sich dann schon andeutete, dass die Mehrheit der US-Zauberergemeinschaft für die Neuauflage der Dreierföderation stimmen würde musste Anthelia grinsen. "Die trauen ihrer achso anständigen Administration nicht über den Weg, und die Provinzkönige haben sich kaufen lassen, dass sie ihre Anhänger zur Zustimmung bringen konnten", dachte sie. Dann erfuhr sie, dass der von der Mehrheit erteilte "Auftrag" bis zum Jahresende umgesetzt würde und "mit dem letzten Glockenschlag des alten Jahres" die bisherige Zaubereiadministration in der neuen Föderation aufgehen würde. "Dann passt aber besser auf euer Archiv auf", musste Anthelia/Naaneavargia dazu loslassen.
Von Albertrude Steinbeißer erfuhr sie, dass es nun amtlich, aber unter hoher Vertraulichkeitsstufe feststand, dass es in Japan eine Zusammenkunft mehrerer Vertreter anderer Zaubereiministerien geben würde. Da sie bald in das letzte Drittel ihrer heimlich ausgetragenen Schwangerschaft eintrat konnte sie nicht mitreisen. Am viertenDezember sollte ihr Kind, ein Mädchen, zur Welt kommen. Sie wollte es Prunella nennen, als Abwandlung des katholischen Brauches, Kirschbaumzweige ins Haus zu holen und in warmem Wasser bis Weihnachten aufzubewahren. Anthelia wusste, dass dieses von einem ahnungslosen, nichtmagischen Mann gezeugte Kind nicht das einzige bleiben sollte. Jedenfalls wollte und durfte sie nicht mit nach Japan, wo sie mit anderen über Tage in einem abgeschlossenen Gebäude auszuharren hatte.
"Dann soll Armins Töchterchen mit dem zusammen dahinreisen", grummelte sie. "Werde ich mich also nicht "empfehlen", da mitzukommen", fügte Albertrude noch hinzu. Abgesehen davon wusste sie ja auch nicht, ob die Reise nach Japan ihrem ungeborenen Kind gut bekommen würde. Allein die Reise via Portschlüssel hatte der bewusst Mutter werdenden Mitschwester genug Schwindelanfälle beschert. Die Rückreise würde nicht besser verlaufen. Anthelia bedankte sich bei ihr für ihr Verständnis.
"Wann möchtest du Kontakt zu den Töchtern des grünen Mondes aufnehmen? Die drei Jahre sind doch jetzt um." fragte Albertrude. "Wenn ich einen Grund habe, in deren Wirkungssphäre einzudringen", erwiderte Anthelia/Naaneavargia. Alles wollte sie der ebenbürtigen Mitschwester auch nicht verraten.
Albertrude verabschiedete sich und disapparierte, um mehrere Kilometer entfernt den Rückkehrportschlüssel auszulösen. "Ladonna hat sicher noch nicht genug Macht errungen", dachte Anthelia. Da sollte jemand wie Albertrude besser aufpassen, dass dem amtierenden Zaubereiminister nichts passierte.
Zwar begann der Tag bei den Latierres schon um vier Uhr morgens, weil Félix und seine zwei Halbschwestern um Zuwendung schrien. Doch nachdem die drei versorgt waren konnten die Bewohnerinnen und Bewohner über zwei Jahre noch zwei Stunden schlafen, bis die Miniaturtemmie muhte und der Trompete spielende Zwerg von Claires Bild mit Musikzwergen seinen Morgengruß schmetterte.
Schon vor dem Frühstück holte Millie die neusten Nachrichten aus den Staaten aus ihrem Distantigeminuskasten. "Die Mehrheiten in Kanada, den Staaten und Mexikos wollen die Neuauflage der Föderation bis Ende des Jahres, Trice und Julius. Sie wollen jetzt die bereits aufeinander abgestimmten Vereinbarungen zu einem Gesamtpaket von Gesetzen und Regelungen ausbauen."
"Och, haben sich die Kleinstaatler doch nicht durchgesetzt?" fragte Julius. "Du weiß doch von Britt, dass die damit geködert wurden, dass der Föderationsrat aus je neun Hexen und je neun Zauberern besteht, von denen wiederum je drei aus Kanada, den Staaten und Mexiko stammen. Da ist dann also was für die Unterschiede von Norden und Süden drin. Allerdings steht Bullhorn jetzt wohl erst recht unter Erfolgsdruck. Denn wenn sie die Angelegenheit mit den Werwölfen und der Vampirsekte nicht bis zum ersten Januar für die Mehrheit aller Zaubererweltbürger zufriedenstellend klärt darf sie keine der drei Hexen aus dem bald nicht mehr bestehenden US-Zaubereiministerium sein. Will sagen, die wird jetzt noch mal richtig heftig durchgreifen. Mehr konnte Onkel Gilbert im Moment nicht herausfinden. Seine frau wird erst um neun Uhr morgens Ortszeit Washington am fünfzehnten September ein Interview mit den US-amerikanischen Vertretern der Föderationsidee führen, also nach unserer Zeit um drei Uhr nachmittags."
"Da bin ich ja mal gespannt, was Mum und Britt dazu sagen", antwortete Julius. "Mum war ja in den letzten Tagen so angespannt. Sie wollte nicht mal mir verraten, warum. Sie meinte nur, dass es erst nach dem vierzehnten September wichtig werde, also nach der Auszählung."
"Ist doch klar, weil sie da erst sagen kann, ob sie wieder nach Amerika zurückfliegt oder nicht", erwiderte Béatrice. Julius nickte. Soweit war er ja auch schon. Nur warum sie deshalb so wütend geworden war, als habe ihr jemand was ganz übles an den Kopf geworfen."
"Vielleicht ist sie ja schon auf", meinte Millie. Doch Béatrice blockte den Vorstoß sofort ab, mit Julius' Mutter über die Armbänder zu sprechen, solange es nicht sicher war, dass sie auch alleine war. Also sollte sie von sich aus bei ihnen durchrufen.
Brittany meinte nach dem Frühstück: "Ich habe nach eurer Zeit noch gestern mit deiner Mutter über diese Verbindung geredet. Sie sagte dann nur, dass sie dann eben bald zusehen wolle, ihren Familienfrieden wiederzufinden, was wohl heißt, dass sie und Onkel Lucky wieder zusammenfinden sollen und die Drillinge wieder mit gleichaltrigen Kindern spielen können, deren Sprache sie können. Tante Martha meinte, sie hätte jetzt lange genug gewartet, und ihr Mann, der mein Onkel Lucky ist, wollte endlich auch wissen, wie's weitergeht. . Sie meinte nur, dass sie aber in den Staaten wohl immer noch mit einem Gerichtsverfahren wegen angeblicher Sabotage rechnen müsse. Dabei hat da ja schon dieser Marionettenzauber von Vita Magica gewirkt, als sie das Arkanet der USA ausgeschaltet hat. Das kann die dann bei einem Gerichtsprozess anbringen."
"Hast du ihr das gesagt?" fragte Julius. "Ja, das und dass ich ihr Hypereides Greenwood empfehle, wenn sie echt einen guten Verteidiger brauchen sollte. Öhm, du weißt, warum sie möglichst bald wieder in die Staaten will, Julius?" Diese Frage kam so rüber, als wisse Brittany die Antwort, die Julius erst suchen musste.
"Sie erwähnte was, dass sie mit Lucky und den Kindern wieder zusammenleben wolle, da sie sich nicht noch einmal die Schuld an einer gescheiterten Ehe vorhalten wolle", sagte Julius. "Dann frag sie besser selbst noch einmal", sagte Brittany mit einem hintergründigen Lächeln, dass Julius und Millie gleichermaßen auf bestimmte Ideen brachte. Millie fragte sogleich: "Och, dann möchte sie deinem Onkel Lucky ein neues Familienmitglied vorstellen, der will aber nicht dafür noch einmal nach Frankreich?" Julius sah Brittany an, dass sie um ihre Gesichtszüge ringen musste, um bloß nicht zu verraten, ob ja oder ob nein. So fragte er: "Hat meine Mutter, deine Tante Martha, dir in dieser Hinsicht was offenbart, Brittany?"
"Das findest du besser selbst heraus", sagte Brittany. Doch sie hätte dann auch gleich "Ja" sagen können.
Nach dem üblichen Morgengruß zwischen Leonidas und Aurore wollte Julius seine Mutter über die Armbandverbindung anrufen. Doch sie hatte das Gegenstück seines Orichalkarmbandes wohl gerade nicht angelegt.
Erst im Zaubereiministerium traf er seine Mutter im Fahrstuhl nach oben. "Und, hast du es auch schon erfahren, dass die in Nordamerika eine neue Föderation gründen sollen?" fragte Martha Merryweather ihren Sohn. Dieser bejahte es ruhig. Dann sah er sie genau an. Sie setzte zu einer abwehrenden Handbewegung an, erkannte jedoch, dass das wohl gerade völlig verkehrt war und sah Julius sehr ernst an: "Ich werde euch nach Feierabend kurz besuchen, sofern Nathalie nicht meint, mich nachsitzen zu lassen. Die könnte eh noch sehr ungehalten werden. Aber mehr nicht hier in einer öffentlichen Fahrstuhlkabine, Julius." Julius verstand und nickte. Somit bestand die sehr große Wahrscheinlichkeit, dass er noch ein viertes Halbgeschwister dazubekommen mochte. Doch näheres sollte seine Mutter ihm und jeden, den sie allein für berechtigt hielt erzählen.
Wegen der nicht ganz ausgeplauderten Neuigkeit war Julius an diesem Arbeitstag nicht so konzentriert wie sonst. Zu seinem Glück bekam das keiner mit, weil er entweder in seinem Büro saß oder eigene Recherchen am ministeriumseigenen Rechner durchführte. Eine gewisse Erregung empfand er, als er eine Nachricht von Sheena O'Hoolihan erhielt, die den von der Magieadministration unabhängigen Rechner des Laveau-Institutes benutzte. Sie schrieb, dass durch die Entscheidung der Bewohnerinnen und Bewohner der nordamerikanischen Zauberergemeinden eine "Neuausrichtung" des Laveau-Institutes erforderlich sei, da die US-Zaubereiadministration klargestellt habe, dass das Laveau-Institut keine eigenständigen Aktionen mehr ausführen dürfe, in die auch Bürger der US-Zauberergemeinschaft verwickelt würden. Im Klartext hieß das also, dass Bullhorn bis zur Gründung der neuen Föderation klarstellen wollte, dass das Laveau-Institut eine an einer mehr oder weniger kurzen Leine geführte Unterorganisation des Zaubereiministeriums sei und als solche in die neue Föderation übernommen werde, um "erneute Missverständnisse" und "nicht hilfreiche Aktionen gegeneinander" von vorne herein auszuschließen. Julius antwortete nur, dass er sich für die Mitteilung bedanke und in seiner Position zum Abwarten gehalten sei, wie sich das Verhältnis zwischen Zaubereiadministration und Laveau-Institut weiterentwickle. Darauf erfolgte keine weitere Nachricht aus Louisiana.
Als er wieder nach Millemerveilles kam traf er dort nicht nur seine Frau, seine Schwiegertante und alle seine Kinder an, sondern auch seine Mutter und ihre Drillinge, die überglücklich, mit ungefähr gleichaltrigen Kindern zusammen zu sein, im weitläufigen Garten um das Apfelhaus tobten. So konnte Martha Merryweather die drei erwachsenen Hausbewohner bitten, mit ihr in ein Klangkerkerzimmer zu gehen. Sie wählten das Musikzimmer.
"Drei Punkte, Millie, Béatrice und Julius. Punkt eins: Ja, Lucky und ich haben es in den wenigen Tagen, die er bei mir sein durfte geschafft, unser viertes Kind zu zeugen. Ich bin also in der achten Woche schwanger." Millie, Béatrice und Julius sahen sie ruhig an. Offenbar war das nicht die Neuigkeit des Tages, dachte Martha. "Daraus ergibt sich nun Punkt zwei: Lucky und seine Frau Mutter bestehen darauf, dass ich zur Aufrechterhaltung der Ehe dieses Kind in den Staaten zur Welt bringen soll und bis dahin eine Lösung für die Distanz zwischen ihm und mir gefunden habe. Sicher könnten wir uns gegenseitig mit dem Luftschiff besuchen, und er oder ich könnte ein ganzes Wochenende bei der einen oder dem anderen zubringen. Allerdings ist das keine erträgliche Dauerlösung, zumal ich ja nicht weiß, wann genau Merryweather Nummer vier auf die Welt will. Daher Punkt drei: Ich habe Nathalie gebeten, mir nach eurer Rückkehr, Julius, eine Außenstelle des französischen Zaubereiministeriums einzurichten, die im Haus Zwei Mühlen angesiedelt sein soll. Das hieße jedoch, dass ich dort nur Recherche und Projektdokumentationsarbeit betreiben könnte, statt wie jetzt mit euch anderen zusammen zu arbeiten. Zudem hat Atalanta Bullhorn in ihrem Übereifer angedroht, sie könnte mir immer noch wegen mutwilliger Sachbeschädigung in Tateinheit mit behinderung des Zaubereiministeriums einen Strafprozess anhängen. Aber dem habe ich schon vorgebaut, indem ich den Anwalt Hypereides Greenwood beauftragt habe, zu klären, ob das Zaubereiministerium zur Tatzeit noch eine freie, unabhängige Verwaltungseinheit war. Vorhin bekam ich über das LI die Meldung, dass er das geklärt hat. Mein Handeln richtete sich nicht gegen ein unabhängiges Zaubereiministerium, sondern gegen eine von Verbrechern unterwanderte und beherrschte Schattenorganisation. Damit können die mir keinen Prozess mehr machen. Allerdings haben sie das LI an eine beliebig lange oder kurze Leine gelegt und es zur teilautonomen Unterbehörde des Ministeriums erklärt. Bullhorn möchte offenbar nette Gastgeschenke für die neue Föderation Nordamerikanischer Magiekundiger mitbringen. Will sagen, ich darf dort nicht arbeiten, weil ich ein bis auf weiteres wirkendes Arbeitsverbot auferlegt bekommen habe. Denn jetzt kommt es, ich hätte gleich nach dem Aus der Dreizackföderation zurückkehren und den Verantwortlichen für die Rechner sämtliche Daten über das Arkanet aushändigen müssen. Da ich den Zeitpunkt versäumt habe bin ich zumindest nicht vertrauenswürdig genug. Abgesehen davon, dass Bullhorn beschlossen hat, dass es keine Neuauflage des Computerzentrums geben soll, weil ihr der wundersamerweise rehabilitierte Mr. Picton ausgerechnet hat, dass es kostengünstiger sei, hundert Obleviatoren an einen Schauplatz magischer Ereignisse vor Nichtmagiern zu schicken, als teuere Gerätschaften, die längst nicht jeder bedienen könne, Tag und Nacht mit Strom aus sehr umstrittenen Quellen zu versorgen. Die Zahlen würde ich gerne mal sehen, bin aber leider nicht zur Einsichtnahme berechtigt."
"Ja, und jetzt?" fragte Julius.
"Jetzt gehe ich am Ende eurer Dienstreise wieder rüber und übernehme eine geheime Außenstelle, die nicht ganz zufällig auch mit dem Laveau-Institut korrespondiert. Nathalie hat wohl erkannt, dasss die Kinder und ich zwischen zwei belastenden Interessen zerrissen würden, Familienfrieden und Pflichterfüllung. Tja, und seitdem ich ihr auf Antoinettes Anraten enthüllt habe, dass ich wieder Mutter werde, hat sie erkannt, dass mir im Moment der Familienfrieden wichtiger als meine Pflichterfüllung sei. Allerdings ist das eine ganz geheime, um nicht zu sagen schwarze Operation mit unbestimmter Dauer, so hat sich Nathalie ausgedrückt. Will sagen, ich darf wieder bei meinem Mann wohnen, aber in keiner Ministeriumsbehörde Geld verdienen."
"Aber offenbar will sich das LI nicht daran halten, an der kurzen Leine zu laufen", griff Julius das von seiner Mutter gebrauchte Bild auf. Darauf erwiederte seine Mutter ungewohnt verwegen grinsend: "Was hat Sheena O'hoolihan gesagt: "Wir dürfen immer noch alles, was wir bisher tun mussten, bis auf eine Ausnahme." Na, Julius, kommst du drauf?"
"Deckt sich mit dem, was Lester mir vor vierzehn Jahren erzählt hat. Jeder darf alles machen, wonach ihm ist, außer sich erwischen zu lassen."
"Ja, schon eine rechte Räuberphilosophie, Julius und zu unser aller Glück nur von wenigen skrupellosen Zeitgenossen beherzigt. Aber für das Laveau-Institut gilt diese Räuberregel nun, weil sie der Ansicht sind, dass sie ohne den bürokratischen Apparat des Ministeriums zielgenauer und flexibler handeln und damit möglicherweise tausend Menschenleben mehr retten, als wenn sie erst mal per Eulenpost nachfragen müssen, was sie tun sollen. Wie bereits erwähnt vermute nicht nur ich, dass Atalanta Bullhorn sich den anderen gegenüber beweisen will", sagte Martha Merryweather.
"Das heißt, du bleibst noch bis zum zweiten oder fünften Oktober bei Antoinette wohnen und saust danach mit dem Pendelschiff von hier nach Viento del Sol?" wollte Julius wissen.
"Bis dahin sollte die Legende stehen, dass Lucky mehr Gehalt wegen seiner Kinder ausgehandelt hat. Seine Mutter, die Schulheilerin von Thorntails, will da mit anderen Heilerinnen und Heilern was drehen, dass es auch von den Geldüberwachern des Ministeriums nicht beanstandet wird. Das ist sowas von traurig, dass ich mich auf derartige Gangstermethoden einlassen muss, nur um nicht die zweite Ehe auf dem Gewissen zu haben und mit einem Kind im Bauch auf weitere Fürsorge durch das französische Zaubereiministerium zu hoffen", grummelte Julius' Mutter.
"Onkel Charles, unser Familienanwalt, hat das mal so ausgedrückt, Belle-Maman: Wenn ein Gesetz dir befiehlt, zu verhungern, knabbere es selbst an und verschaffe dir die nötigen Lücken, um satt zu werden. Du musst ja niemanden beklauen oder umbringen", erwiderte Millie.
"Ja, vor allem, wo diese Einschränkungen ja wohl wegen der Verachtung der Kobolde und wegen des Ehrgeizes einer ehemaligen Inobskuratorin bestehen. Womöglich kann Mr. Greenwood dich da auch noch sauber rausbringen, da die Drillinge und Nummer vier ja dann ordentliche Staatsbürger sind, die von den Gesetzen beschützt werden müssen."
"Das hoffe ich auch", sagte Julius' Mutter. "Jedenfalls bleibe ich euch bis zum Ende der Konferenz noch erhalten und kann die Abläufe und Wegbeschreibungen für das Türsteherprojekt fertigbekommen."
Da sie schon einmal da waren informierte Julius über Vivianes Bild-Ich, dass seine Mutter und Halbgeschwister bei den Latierres zu Abend essen wollten. Danach riefen sie über die Armbandverbindung noch Brittany. Die erwähnte dann, dass auch sie neues Leben in sich trug. Entweder wuchs da eine kleine Brooke oder ein kleiner Lysander heran. "Dann können wir ja doch eine Stillgruppe aufmachen, Tante Martha. Trotz der Vita-Magica-Schurkerei hat Chloe neben mir vier werdende Mütter erfasst."
"Ich muss erst mal wieder in den Staaten eintreffen und mich aus Bullhorns langem Schatten heraushalten, bis klar ist, ob sie weiteramtiert oder nicht", schränkte Julius' Mutter Brittanys Enthusiasmus ein.
"Nachdem gerade im Morgenradio gemeldet wurde, dass sie mit Picton, Catlock und dem Sonderkommando Quentin Bullhorn eine neue Kampagne zur Befriedung der unregistrierten Werwölfe gestartet hat, weil die Verluste bei den Mondbrüdern in den letzten Wochen doch ziemlich hoch waren, hat sie wenigstens Mexiko auf ihrer Seite, auch wenn nach den neuen Regeln, die noch genauer ausgeschrieben werden müssen, nur Kandidaten eines der drei ehemaligen Teilgebiete von dort lebenden Bürgern gewählt werden dürfen. Aber ich traue den Brüdern und Schwestern zu, dass die sich die Gesetze auch so hinbiegen, dass sie bequem drunter durchlaufen können. am Ende kriegen wir alle Zettel mit sechsunddreißig Namen aus Kanada, den Vereinigten Staaten und Mexiko in die Hand und dürfen uns je neun Hexen und neun Zauberer davon zusammensuchen. Wer dann die Mehrheiten hat kommt in dieses Achtzehnergespann rein, und wer von denen noch eine Mehrheit hat könnte deren Sprecherin oder Sprecher werden", sagte Brittany. Julius wollte ihr da nicht widersprechen. Trotz der nun bekannten Abstimmungsergebnisse stand das ganze Vorhaben auf sehr tönernen Füßen. Ein Ereignis konnte alles kippen.
Es war wieder einmal abends um neun Uhr. Laurentine hatte sich wieder an den Trott eines neuen Schuljahres angepasst und die Trainingszeiten mit Louiselle Beaumont so gelegt, dass sie nur noch einmal in der Woche stattfanden, statt wie in den Ferien alle zwei Tage. Mittlerweile hatte sie eine ganze Menge mehr gemeine Hexenzauber gelernt, als in allen sieben Jahren von Beauxbatons zusammen. Vor allem aber hatte sie die besondere Abstimmung zwischen ihr und ihrem Zauberstab weiter ausgefeilt, dass sie selbst die Zauber ungesagt bringen konnte, die die meisten anderen noch ausrufen mussten, mal von ihrem Schulkameraden Julius Latierre abgesehen.
Neben den Fortschritten in der Kunst der magischen Selbstverteidigung hatte sie endlich erkannt, dass es nicht nur eine besonders innige Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehung war, die sie mit Louiselle pflegte. Unbewusst ausgetauschte Signale, die für die meisten anderen wohl unbemerkt blieben, hatten sie veranlasst, nach der gerade überstandenden Stunde Louiselle die Frage zu stellen, ob sie sich vorstellen könne, dass sie mit ihr, Laurentine, irgendwann ganz zusammenleben könne. Darauf antwortete Louiselle ohne Anflug von Verdrossenheit oder Spott: "Als was, als Hexenwohngemeinschaft oder Paar?" Laurentine hatte diese Frage erwartet und antwortete nach nur einer Sekunde: "Das hängt davon ab, was wir uns beide außer unserem Wissen noch zu geben haben." Daraufhin probierten sie es aus. Offenbar war Louiselle experimentierfreudiger als Laurentine es für Möglich hielt. Die nächste Stunde verlief sehr leidenschaftlich, anstrengend und erkenntnisbringend, jedoch ohne jede Zauberei außer der, die zwischen zwei Menschen entsteht, die erkunden und erkennen, dass sie auch körperlich einander zugetan waren.
Laurentine vermied es gerade noch "Ich liebe dich" zu hauchen, als sie und Louiselle keuchend nebeneinanderlagen. Sie meinte nur: "Für zwei Schwestern haben wir uns aber jetzt sehr heftig danebenbenommen."
"Tja, sollten wir unserer gestrengen Mutter besser nichts von erzählen, bis wir wissen, wie es weitergeht", schnurrte Louiselle. Laurentine verspürte bei dem Wort "Mutter" keinen Stich im Herzen, sondern wusste sofort, dass nicht ihre leibliche Mutter gemeint war. Immerhin hatte Louiselle darauf geachtet, Laurentine nicht zu heftig ranzunehmen, so dass sie für brave Heilerinnen immer noch unschuldig rüberkommen mochte. Nur sie und die kräftige, gelenkige und entschlossene Hexe da neben ihr wussten jetzt, das dem nicht mehr so war. Das war im Moment noch ihr süßes kleines Geheimnis.
Nachdem Julius wusste, was mit seiner Mutter los war musste er sich gut beherrschen, um sich im Ministerium nichts anmerken zu lassen. Als er und die Leiter der mit Koboldaktivitäten unmittelbar oder mittelbar befassten Abteilungen am 17. September in einer neuen Sub-Rosa-Unterredung mit der Ministerin erfuhren, dass der Rat der grauen Bärte den britischen Gringottsleiter vor die Wahl gestellt habe, Tod und Verderben über alle Kobolde zu bringen oder auf die Ausführung der Drohung zu verzichten und auch der britische Graubart, dessen Name übersetzt Meister Wolkenbart lautete, seine Autorität eingesetzt hatte, dem obersten Leiter des Bundes der zehntausend Augen und Ohren zu befehlen, keine ausländischen Hexen und Zauberer anzugreifen, hofften sie alle, dass dieser unrühmliche Fall, von dem kein Außenstehender etwas wissen durfte, erledigt war. Dennoch blieb das neue Überwachungsnetz gegen unsichtbare Kobolde im Einsatz. Zudem hatte Barbara latierres Abteilung für magische Wesen eine Methode erproben lassen, die feindselige Wesen auf weniger als hundert Metern Abstand regelrecht einfrieren konnte. Wie diese Methode funktionierte, die nebenbei auch für die Absicherung wichtiger Hexen und Zauberer außerhalb der üblichen Abschirmungen verwendet werden sollte, erwähnte sie nur in Stichworten. "Es ist ein invertierter Dolodium-Zauber, gekoppelt mit einem Zauber, der den Körper eines Feindes schwächt, sobald der erste Zauber in Kraft tritt. Da hinlänglich bekannt war, dass erwachsene Kobolde mit der Geschwindigkeit einer Erdbebenwelle unter der Erde reisen konnten mochte diese Zauberkombination jedoch dazu führen, dass der davon erfasste ohne Vorwarnung mitten im Bewegungsvorgang erstarrte und eins mit der ihn umgebenden Erde wurde und es blieb.
"Öhm, der Dolodium-Zauber ist mir bekannt. Aber wie kann er umgekehrt beziehungsweise gegenteilig wirken?" fragte Julius. "Indem der aufgekommene Hass oder Tötungswille zur schlagartigen Ermüdung und damit zur Bewusstlosigkeit wird, Julius. Er stammt aus der Zeit vor den heute bekannten Abwehrzaubern und Sanctuafugium. Denn je stärker der Wunsch zu Morden und zu zerstören in einem ausgeprägt ist, desto heftiger wirkt der Zauber, so dass der Mörder allein durch seine Absicht selbst sterben kann. Das wurde von der internationalen Zaubererweltkonföderation 1780 als verbotene, magische Eigenmacht eingestuft und fast zum vierten unverzeihlichen Fluch erklärt, weshalb der Zauber nur wenigen bekannt blieb."
"Und Sie haben jetzt eine Falle für mordlüsterne Kobolde bauen lassen, die jeden Kobold lähmt und erstarren lässt oder gleich tötet?" wollte Midas Colbert wissen. Barbara Latierre bejahte es sehr entschlossen. "Unter den Spendern sind auch entfernte Verwandte meiner Familie, die nicht im schützenden Sanctuafugium-Zauber meines Elternhauses wohnen. Ich konnte unmöglich zulassen, dass nur einer oder eine von ihnen von meuchelnden Kobolden umgebracht wird. Also darf Gischtbart seinen hier lebenden Artgenossen erlauben, dass die Spender bekanntgegeben werden. Wer sie dann noch ermorden will wird entweder beim Versuch ergriffen oder selbst getötet. Das wird gleich noch an Gischtbart und seine Miträte weitergegeben, vor allem, dass kein Koboldzauber diese Abwehr brechen oder unterlaufen kann."
"Ja, aber nur, wenn deren Ziele in davon geschützten bereichen bleiben", erwiderte Midas Colbert. "Aber ich akzeptiere den Grund dieser drastischen Maßnahme, Barbara. Ich bitte im Namen meiner Behörde weiterzugeben, dass wir in dem Moment, wo wir erfahren, dass Menschen von Kobolden angegriffen oder gar getötet wurden, Verhandlungen mit den Zwergen wegen einer Neuzuteilung des Goldwertbestimmungsrechtes aufnehmen, da wir uns nicht mehr auf die Kobolde verlassen können."
"Haben Sie denen jemals voll vertraut, Midas?" wollte Nathalie Grandchapeau wissen. "Nur so weit, wie ich einen satten Krieger von denen mit bloßen Händen werfen kann", sagte Midas Colbert.
"Wegen der drastischen Wirksamkeit des von Madame Latierre erwähnten Zaubers weise ich Sie alle auf die Bedeutung der hier angebrachten Rose hin", sagte Ministerin Ventvit und deutete auf die von der Decke hängende Rose. Damit war diese Geheimkonferenz auch schon beendet.
Die nächsten Tage verliefen mit weiteren Vorbereitungen auf die Abreise. Sie sollte am 24. September um zehn Uhr Morgens vom Geheimen Seehafen Port d'Orient bei Marseille beginnen, den 1991 an den beiden Eingängen zum Suezkanal installierten Transitportalen zum Roten Meer führen und dann nach Zwischenhalt in Indien und einem Hafen in der Nähe von Hongkong und Singapur zu den Japanischen Inseln führen.
"Wenn ich es richtig mitbekommen habe werden die Delegationen aus Deutschland, Belgien, Großbritannien, Griechenland und Spanien uns in Marseille treffen", sagte Julius zu Nathalie, als er mit ihr und Belle mittag aß. Die Reise würde einen halben Tag mit je zwanzig Minuten Zwischenhalt in Suez, Indien und China dauern. Julius musste sich sehr beherrschen, sein steigendes Reisefieber zu verbergen. Zum ersten mal würde er richtig nach Japan einreisen, dem Land, wo sein Karatelehrer Sensei Hiro Tanaka herkam. Zwar war er schon einmal in der Nähe von Tokio gewesen, aber nur, um zu erkunden, dass ein Ausgang der alten Straßen Altaxarrois dort lag, nicht erlaubterweise und nicht für mehr als einen Tag wie demnächst.
Am 21. September erfuhren die Latierres aus Millemerveilles, dass das an die Zauberergemeinschaft von New Orleans ausgeliehene U-Boot noch drei Wochen dort bleiben würde, um ins Meer gespülte Zaubergegenstände zu suchen und einzusammeln. Julius reizte das zur Bemerkung: "Die USA haben neben Russland die größte U-Boot-Flotte und brauchen eins von uns." Natürlich wusste er, dass sie sich kein US-amerikanisches U-Boot, schon gar kein Atom-U-Boot ausborgen konnten.
Julius empfand es auch für ihn als Lehrreich, mit den zwei erwachsenen und den drei schon sprachfähigen Hexen in seinem Haus über das Land zu reden, in das er für eine Woche reisen würde. Aus dem Internet und dem magischen Atlas, den er bekommen hatte konnte er prima die erdkundlichen Gegebenheiten erklären, aber auch über die dort lebenden Zauberwesen, sofern das für Kinderohren nicht zu gruselige Gestalten waren. Er erwähnte auch, was er noch über die Höflichkeitsformen dort gelernt hatte, erwähnte aber, dass sie alle hierzu von der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit noch eine verständliche Anleitung erhalten würden.
Béatrice fragte ihn am Abend nach der Bettgehzeit für Aurore, Chrysope und Clarimonde, ob er seinen Heilsstern mitnehmen würde. "Als wir damals mit der Zaubertierklasse in Indien waren haben sie uns nicht kontrolliert, weil wir nur Tagestouristen waren", sagte Julius. "Aber hier muss ich ja damit rechnen, dass die wissen wollen, wer was an Zaubergegenständen einführt. Ich will die eigentlich nicht mit der Nase drauf stoßen, dass ich was ganz besonderes geerbt habe. Der Stern verbreitet beim Tragen eine besondere Aura, die, soweit ich das von Camille und Maribel weiß, jeden Suchzauber um einen herumlenkt und den Geist des Trägers vor magischen Zugriffen schützt. Maribel erwähnte was, dass sie auch erfahren habe, dass ihr damals noch als Silberkreuz bestehendes Erbstück sogar vor bösen Augen unsichtbar mache, sowie es der Zauber macht, den ich in der Halle der Altmeister gelernt habe, um vor Feinden unsichtbar und unerfassbar zu bleiben. Das dürfte den Kontrolleuren auffallen."
"Nicht ganz, Julius", sagte Béatrice. "Du kannst die Ruheaura von zaubergegenständen überlagern, wenn du die Gegenstände in einer Edelmetallschachtel mit Conservatempus-Bezauberung einschließt. Öhm, so wie du das längst mit dieser Silberflöte gemacht hast, mit der du die Risenvögel aus der fliegenden Burg heruntergerufen hast, wo du es noch durftest."
"Auuuaa! Ich dachte bisher, das hätte ich nur gemacht, um die Spinnenkönigin nicht drauf zu bringen, wo die Flöte ist, weil deren Teil-Ich mit dem in der Flöte steckenden Geist von Ailanorar verbunden ist."
"Ja, und aus dem genau gleichen Grund schwächt sich die Ruheaura eines hochpotenten Zaubergegenstandes auf ein Hundertstel ab, wenn er in einem Conservatempus-Behälter verschlossen wird. Dann kannst du nämlich nur die schwache magische Streuung von Conservatempus erfassen, sofern du die Schachtel mit Körperspeicher oder Gedankensiegel verschlossen hast."
"Dann kann ich den Stern mitnehmen", sagte Julius. "Ich tu die kleine Silberschachtel, wo ich den Allversteher drin habe, mit in den Weltenbummlerrucksack und sage, dass ich darin meinen magischen Haustürschlüssel für hier verstaut habe."
"Das Ding ist doch diebstahlsicher, richtig?" fragte Millie. "Ja, ist es wohl", sagte Julius. "Sowie Maribel es erwähnt hat treibt er jedem, der ihn anfassen und stehlen will die Absicht zu stehlen aus, er oder sie hat dann keine Lust, zu klauen", erklärte Julius.
"Hmm, vielleicht kannst du den Stern auch unter deinem Hemd tragen, ohne dass es auffällt. Frag Camille!" schlug Millie vor. Doch weil die Reise ja an und für sich eine geheime Dienstreise war, wollte er das eigentlich nicht. Doch weil er seinen Töchtern schon die Geschichte aufgetischt hatte, dass er mit seiner Vorgesetzten nach Japan fuhr, um da einen neuen Elektrorechner einzurichten konnte er das Camille wohl auch auftischen.
Camille wusste wirklich mehr über den Stern, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte und dessen Mehrlingsgeschwister Julius erhalten hatte. So wusste sie, dass ein reiner Gedankenbefehl reichte, ihn eine Aura der Unauffälligkeit auszustrahlen, dass er zum einen nicht beachtet und zum anderen nicht über die Lebensaura der Trägerin oder des Trägers hinauswirkte, solange er oder sie keine echte Angst oder Kampfbereitschaft empfand. "Maman hat es im Denkarium in der Villa ausgelagert, Julius. "Es ist die Vorstufe des Verbergezaubers vor feindlichen Augen, der wiederum selbst in Kraft tritt, wenn du einen übermächtigen Gegner in der Nähe wahrnimmst. Mit diesem Zauber kannst du mit offen getragenem Heilsstern herumlaufen, und keiner wird ihn beachten, selbst wenn er oder sie ihn direkt ansieht. Aber bei Zauberfotos ist das um so auffälliger, weil der Stern dich auf den Fotos immer nebelhaft erscheinen lässt. Ich habe das mit Florymont mal ausprobiert. Ich sah aus wie eine wabernde, grüne Wolke mit schwarzem Kleks oben, irgendwie schon gruselig", sagte Camille.
Während die jüngsten Dusoleils von ihrer ganz großen Schwester im Garten beschäftigt wurden führte Camille ihm den Unauffälligkeitszauber vor. "Ja, und wie du schon von Maribel und Adrian gehört hast wehrt sich der Stern auf sanfte Weise gegen Diebstahl, indem er den möglichen Dieb davon abbringt, ihn haben zu wollen. Mit dem Unauffälligkeitszauber kombiniert kommt ein möglicher Dieb oder unerwünschter Enteigner nicht mal darauf, dass du ihn gerade am Körper trägst. Die ersten Kinder Ashtarias haben wirklich viel da reingezaubert, wie immer die damals die Pinkenbachgrenze ausgereizt haben."
"Orichalk vielleicht, Camille. Der Stern ist außen silbern. Aber er könnte einen Kern aus dem vergessenen Metall Orichalk, dem Himmelsbergerz aus dem alten Reich enthalten, das rosige Metall, aus dem die Armbänder und die große Tür in der Villa gemacht sind, wo dieser wuschig machende Garten mit den Brunnen hinter ist", flüsterte Julius und ertappte sich dabei, wie er sich wieder an jene Szene erinnerte, wie er und Camille völlig unbekleidet durch einen unterirdischen Garten liefen und von besonderen Pflanzendüften bis fast zum Verlust der Selbstbeherrschung liebeshungrig aufeinander gemacht wurden.
"Ja, daran erinnere ich mich auch noch sehr, sehr intensiv", erwiderte Camille, die wohl gerade an dieses besondere Erlebnis dachte."
Jedenfalls kann ich den Stern unter meiner Kleidung verbergen, ohne dass den jemand entdeckt", sagte Julius. So konnte er ihn beruhigt mitnehmen. Da fiel ihm noch was ein: "Camille, hast du von deiner Mutter auch gelernt, wie mit dem Stern durch Apparierwälle appariert werden kann?" Camille grinste und nickte dann. "Hätte mich doch sehr gewundert, wenn du mich das nicht fragst. Ich meine, Adrian wollte dir das beibringen. Aber ich sehe wie du ein, dass wir beide uns doch häufiger treffen."
So gingen Camille und Julius die weiteren im Heilsstern bereitgehaltenen Zauber durch. Beim Appariersperren und -fallendurchdringungszauber galt es, dass der Anwender an eine ihn umringende, auf ihn zukriechende Wand aus blauen Flammen dachte, aber nur, wenn er gleichzeitig von einer echten Gefahr für sich und/oder andere ausging und entsprechende Angst oder Abwehrstimmung empfand. Einmal aufgeweckt wirkte der Zauber für hindernisfreies Apparieren 1000 Herzschläge lang, bevor er neu erweckt werden musste, aber eben nur, wenn immer noch eine Gefahrenlage bestand, sonst nicht. Damit hatten die sieben ersten Kinder Ashtarias verhindert, dass jemand mutwillig durch Appariersperren brach, vor allem dann, wenn er böse Absichten hatte.
Ebenso wie mit dem Appariersperrenumgehungszauber verhielt es sich mit "der kleinen Schwester" der Heilsformel, mit der Camille und Adrian damals Ilithulas Höhlenversteck geöffnet hatten und die im Focus Amoris, der vereinten Kraft mindestens zweier, bestenfalls aller sieben Heilssterne, fast ebenso stark wirkte wie die von einem alleine gerufene Heilsformel. Dann erwähnte sie noch, dass der Heilsstern von selbst schwarzmagisch belebte Leichen wie Inferi, Skelettkrieger oder Zombies wieder leblos machte, da belebte Leichname in der Ausrichtung des Heilssterns immer als feindliche Kräfte, aber nicht als lebende Wesen eingeordnet wurden. "Außerdem verstärkt der Stern den eigenen Patronus-Zauber und kann ihn auch ohne Zauberstabführung hervorbringen, wenn du die Auslöseformel kennst. Du musst dabei nicht einmal an ein glückliches Ereignis denken", erwähnte Camille.
"Stimmt, Maribel hat es auch erwähnt. Aber sie hat auch erwähnt, dass die erste Begegnung mit Dementoren ihr genauso zugesetzt hat wie einem nicht mit einem Heilsstern geschützten Menschen. Wie passt das dazu, dass der Stern gegen geistige Einflüsse abschirmt?" fragte Julius, weil ihm Maribel diese Frage nicht beantworten konnte.
"Weil ihr Talisman erst einmal aufgeweckt werden musste. Sie musste in einer unverkennbaren Gefahrenlage sein und sich daran erinnern, dass sie den Stern, der damals noch ein christliches Kreuz war, bitten oder anflehen, ihr zu helfen, also ihm voll und ganz vertrauen, dass er ihr helfen konnte. Zumindest hat das Jophiel Bensalom so gesagt." Julius nickte bestätigend. "Ariassa hat es ebenso von ihrer Mutter gelernt, jene Ariassa, die Maman auch dir vorgestellt hat", erwiderte Camille. Julius begriff. Aurélie Odin geborene Binoche hatte wesentlich mehr Erinnerungen ihrer weiblichen Vorfahren zur Verfügung gehabt als sie ihm ausgelagert hatte. Natürlich hatte sie das, weil er ja kein Heilssternträger werden würde und somit längst nicht alle dessen Geheimnisse und Kräfte kennen durfte.
Nach diesem heimlichen Nachhilfeunterricht apparierte Julius von der Landewiese der Dusoleils in die Wohnküche des Apfelhauses. "Und, hat Camille dir helfen können?" fragte Millie. Julius bestätigte es und mentiloquierte ihr, dass er nur dann alle Appariersperren durchdringen konnte, wenn er wirklich und wahrhaftig in Gefahr war, nicht zum reinen Vergnügen und schon gar nicht, wenn er verbotene Absichten hatte. Zumindest war er nun ganz und gar davon überzeugt, den Silberstern auf die Reise mitzunehmen.
Der Vortag der Abreise galt dann noch der genauen Aufgabenverteilung. Außer Julius' Mutter Nathalie, Demetrius und ihm wusste bisher noch keiner im Büro, das sie ab dem fünften Oktober nach Kalifornien zurückkehren würde. Das verkündete Nathalie bei der 10-Uhr-Konferenz ihrer Behörde und erwähnte auch, dass Martha Merryweather deshalb wieder in die Staaten wollte, um für alle ihre Kinder ein gewohntes und sicheres Umfeld zu schaffen, mit dazugehörigem Vater.
"Öhm, was ist denn dann mit der Zwischenprüfung?" wollte Jacqueline wissen. "Die werde ich noch am ersten Oktober abnehmen, Mademoiselle Richelieu", sagte Julius' Mutter bestimmt und entschlossen. "Es geht ja auch erst mal nur darum, dass Sie die Grundlagen moderner Programmierungen kennenlernen."
Wo sie schon mal die volle Aufmerksamkeit der anderen hatte legte Martha Merryweather noch die Pläne für das Türsteherprojekt vor, die so ausgefertigt waren, dass jeder andere in der Rechnerabteilung sie durchführen konnte. "Ich werde in der Zeit, wo Madame Nathalie Grandchapeau und Monsieur Latierre verreist sind mit Madame Belle Grandchapeau die ersten Arbeitsschritte festlegen. Bis dahin habe ich auch den Quellcode für das Türsteherprogramm. Wenn vier ausgebildete Programmierer von Ihnen sich die Abschnitte einteilen kann es innerhalb von einem Monat an unserem Testserver ausprobiert werden. Bis Weihnachten dürften wir dann alle Knotenpunkte damit geimpft oder auch infiziert haben, je nach moralischer Auslegung dieses Projektes."
"Wo Sie's erwähnen, Madame Merryweather, wie ist es vor regulären Virenschutzprogrammen geschützt?" wollte Julius wissen. "Indem es sich als reguläres Wortzählprogramm einer Statistikfirma tarnt, die im Auftrag der Betreiber den Internetverkehr über diese Knotenpunkte auswertet. Allein das unentdeckt zu ermitteln, wer das macht hat mich dreißig Arbeitsstunden gekostet."
"Öhm, wie viele Wochen haben Sie an diesem Programm gesessen?" wollte Julius wissen. "In gewisserweise vom Februar an, Monsieur Latierre", sagte seine Mutter. "Ich hatte schon in den Staaten vor, so einen Türsteher zu bauen, weil dort die wichtigsten Internetverteiler betrieben werden. Nur dass ich das jetzt erst mal nur für den französischen Sprachraum durchbringen kann."
Und ich dachte schon, du, öhm, Sie hätten unter Einwirkung eines Beschleunigungszaubers gearbeitet", erwiderte Julius. Nathalie antwortete darauf: "Das hätte die Heimstattgeberin von Madame Merryweather sicherlich untersagt. Wie Sie hier alle wissen, führt ein Selbstbeschleunigungszauber zur ebenso rasanten Erschöpfung der Tagesausdauer und wird daher von Heilmagiern und -magierinnen nicht für mehr als eine Subjektivstunde pro zwei Tage empfohlen, falls er denn unbedingt benutzt werden muss", erwiderte Nathalie Grandchapeau. Martha Merryweather nickte. Jetzt würde sie den Zauber auf keinen Fall benutzen, um schneller ein Programm zu schreiben als mit natürlicher Geschwindigkeit.
"Dann hoffe ich, dass Sie alle in der Zeit meiner und Monsieur Latierres Abwesenheit alle Ihnen zugeteilten Aufgaben vollständig und erfolgreich erledigen. Ich bedanke mich und wünsche uns allen noch einen erquicklichen Arbeitstag!" Damit durften, ja mussten nun alle ihrer Behörde unterstellten wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.
Am Abend prüfte er zusammen mit Millie und Béatrice sein Gepäck. Wie schon erwogen wollte er seinen Weltenbummlerrucksack mitnehmen, in dem laut Hersteller Kleidung für drei volle Wochen, ein 4-Personen-Zelt mit voller Wohnungseinrichtung und bis zu vier Flugbesen für eine Person gesteckt werden konnten. Julius nahm auch seine immer umfangreich gewordene Hausapotheke mit, die Béatrice noch mit einem Stempelzauber als "Private Reiseapotheke" zertifizierte, falls die in Japan fragten, was er alles darin mitführte. "Macht sich immer ganz gut, wenn jemand seine oder ihre Reiseapotheke von einem approbierten Heilkundigen prüfen und bestätigen lässt, hab ich für Babs auch schon gemacht."
"Will heißen, ich hätte so oder so bei dir vorbeisehen dürfen, um mir meine ganzen Heiltränke und -salben genehmigen zu lassen?" fragte Julius. "Neh, hättest du nicht. Entweder hättest du alles so mitgenommen und dann den möglichen Einlassprüfern jede Tinktur, jeden Trank und jedes Pulver erklären müssen, was deine Einreise möglicherweise um einige Stunden verzögert hätte. Oder du hättest bei Hera oder François Delourdes vorsprechen können, damit sie das machen. Öhm, und ich frage mal, wieso deine beiden Pflegehelferausbilderinnen dir das bisher nicht erzählt haben."
"Hmm, wohl weil sie auf Anfrage wohl die Reiseapotheke für mich zusammengestellt hätten", meinte Julius und erwähnte die Indienreise. Millie konnte sich auch erinnern. "Stimmt, da wird sie wohl eure Ausrüstung gleich mitzertifiziert haben", grinste Béatrice. Millie und Julius bestätigten das. Insofern war es gut, dass er die Goldblütenhonigphiole auch als Bestandteil der Reiseapotheke mitnahm, auch wenn er ja jetzt einen Heilsstern Ashtarias trug.
"Du gehst morgen wie üblich ins Ministerium und triffst dich da mit den anderen Delegierten?" fragte Millie noch mal nach. Julius bestätigte es. "Wir sollen eine Viertelstunde vor dem Ablegen am Hafen sein. Du kennst das ja noch von unserem Ausflug zu den fliegenden Elefanten und Silbereier legenden Occamys." Millie nickte bestätigend. "Um zehn Uhr unserer Ortszeit geht's dann los. Da wir diesmal etwas weiter als bis Indien reisen dauert die Fahrt keine zwölf Stunden sondern fünfzehn, und das nur, wenn das Schiff nicht um irgendwelche Sturmgebiete herumschippern muss. Zumindest können wir die Suezkanalstrecke überspringen und müssen nicht mehr ums Kap der guten Hoffnung herum, wie die Dawns damals, wo Aurora zum ersten mal in Australien war." Millie erinnerte sich auch, wie Aurora Dawn ihnen die Geschichte ihrer ersten Australienreise erzählt hatte und dass da noch nicht das von Frankreich und Ägypten errichtete Transitportal bestanden hatte, mit dem alle vier Stunden ein darauf eingestimmtes Schiff vom Startpunkt bis zum Endpunkt des 193 Kilometer langen Suezkanals übergesetzt wurde.
Wenigstens brauchten sie nicht früher ins Bett zu gehen als sonst.
Beim Frühstücken langte Julius noch einmal richtig bei den Croissants zu, achtete aber darauf, dass Aurore und Chrysope mindestens zwei essen konnten. Auch genoss er ein Baguette mit Madame l'ordouxes Wiesenblumenhonig. "Wenn ich es nicht besser wüsste müsste ich meinen, du bekämst auch bald ein Kind", schertzte Béatrice. Julius grinste darüber und meinte, dass er ja in den nächsten Tagen wohl nur japanisches Frühstück, Mittag- und Abendessen bekommen würde.
Nach dem Frühstück rief er Brittany noch einmal selbst über sein Armband und erkundigte sich nach ihrem Befinden. "Uns beiden geht's ganz gut, Julius. Nur Linus wird immer nervöser, weil ihm jetzt aufgeht, dass ich demnächst auch wieder aufgehe und dann noch so einer oder eine wie Leo mit am Tisch sitzt", erwiderte Brittany schmunzelnd. "Und du fährst heute zu den Kappas und Kitsunes?" Julius bestätigte das. Weil die Reise von Frankreich her keine Geheimsache, sondern nur vertraulich war, dass er es nur denen erzählte, denen er selbst vertrauen und sie um Stillschweigen bitten konnte, wusste Brittany wenigstens, wohin er fuhr. Er meinte dann noch: "Wahrscheinlich werde ich bei allem, was ansteht keine einheimischen Zaubertiere oder Zauberwesen zu sehen kriegen. Gut, bei vielen von denen ist das auch nicht echt nötig, aber einige hätte ich schon gerne mal in echt gesehen."
"Yamaubas?" fragte Brittany. Julius schüttelte den Kopf. Aurore wollte wissen, was das sein sollte. "Sowie die grünen Waldfrauen, Aurore, nur dass die in den Bergen leben", erwähnte Julius. Das reichte Aurore schon als Erklärung.
"Wie ausgemacht kriegt Millie das Armband, bis ich wieder da bin", sagte Julius. Brittany bestätigte das. Dann folgte der übliche Gruß zwischen Aurore und Leonidas. Danach beendete Julius die magische Fernverbindung. Danach übergab Julius seiner Frau das Orichalkarmband.
"Gut, dann hol ich mal Rucksack und Aktenkoffer", sagte Julius.
Der Abschied fiel an diesem Morgen inniger aus, weil er ja eine volle Woche wegbleiben würde. Dann prüfte er, ob er alles mit hatte, was er mitnehmen wollte. "Ich geb dir wenn ich kann jeden Morgen dortiger Ortszeit vor dem Frühstück einen Kurzbericht über die Herzverbindung", sagte Julius. "Ach, und du meinst, die haben da keine Meloblockade?" fragte sie. "Falls ja kann ich eben erst auf der Rückreise mit dir mentiloquieren", sagte Julius. Beinahe erwähnte er, dass sie es fühlen würde, wenn ihm was passierte. Doch er konnte es gerade so noch hinunterschlucken.
Kurz vor acht apparierte Julius im Zaubereiministerium und suchte sein Büro auf. Dort fand er ein Memo, dass er um halb zehn im Foyer des Zaubereiministeriums antreten sollte. Weil er bis viertel nach neun alle ihm zugestellten Anfragen der Veelastämmigen beantwortet hatte konnte er mit seinem Rucksack und dem Aktenkoffer zu Nathalie hinübergehen. Diese instruierte Belle noch, wie die Leitung des gesamten Büros ablaufen sollte. Julius verabschiedete sich von Belle und wünschte ihr eine ruhige Woche. "Sowie ich gerade instruiert wurde kommt dieser wunsch eine Minute zu spät", erwiderte Belle und bedankte sich doch noch für den gutgemeinten Wunsch.
Wie erbeten traf Julius um 09:30 Uhr im hinteren Teil des Ministeriumsfoyers auf die sechs anderen Delegationsteilnehmer. Alain Dupont übergab ihm und den anderen eine Broschüre mit Verhaltensregeln im Gastgeberland. "Ich erkenne an, dass diese Reise der Absicherung der Zaubererwelt gegen die sich rasant verbreitenden Informationsübermittler der nichtmagischen Welt dient und erkenne daher Madame Grandchapeau als Delegationssprecherin an", sagte Dupont. Anders als sein Vorgesetzter war er davon überzeugt, dass dieses Projekt und dessen multinationale Durchführung wichtig waren. Er wies jedoch Julius Latierre darauf hin, dass dieser nur dann was erklären oder eine Meinung äußern dürfe, wenn er von seiner Vorgesetzten dazu aufgefordert wurde. Julius sah ihn ruhig anund erwiderte, dass er dies schon bedenke, wo es ja nach Japan ginge.
Um 09:45 Uhr wechselten sie mit einem weißen Tischtuch als Portschlüssel zum geheimen Hafen Port d'Orient bei Marseille über. Sie landeten in einer mit einer Glaskuppel überdachten Ankunftshalle, die eher an einen Hauptbahnhof als einen Seehafen erinnerte. Dort wurden sie von einem blau-weiß-rot gekleideten Beamten aus der Personenverkehrsabteilung begrüßt und registriert. Dann erhielten sie die Julius schon von seiner Indienreise bekannten Zutrittskarten, die wie die Bordkarten bei Verkehrsflugzeugen galten. Nur war die, die er jetzt bekam golden umrandet und trug die Daten der Reise als aus sich silbern leuchtende Buchstaben und nicht wie in Beauxbatons in smaragdgrünen, nicht leuchtenden Buchstaben. Ihr schiff war die "Golden Sunrise".
Als sie alle registriert waren trafen Julius und die sechs anderen in einer luxuriös möblierten Wartehalle mit bodentiefen panoramafenstern auf die anderen europäischen Delegationen. Wegen der nötigen Professionalität beließ Julius es bei Pina Watermelon und Bärbel Weizengold beim stillen zuwinken.
Durch eines der Fenster konnte Julius das dreimastige Schiff mit schlankem, spitz zulaufendem Bug erkennen. Es war wasserblau lackiert und trug seinen Namen in goldenen Großbuchstaben an der ihnen zugekehrten Steuerbordseite des Bugs und am Heck. Am Mittelmast wehte die Flagge der Überseelinie mit der blauen Erdkugel auf schwarzem Grund, über der ein wolkenweißes Modell der üblichen Schnellsegler schwebte.
Als der Bordgang begann stiegen die Premiumpassagiere nicht über die breite Laufplanke für die Standardfahrgäste zu, sondern verließen die Wartehalle durch ein Treppenhaus und durchquerten eine leicht schwingende Röhre, die Julius an die Lauftunnel an Flughäfen erinnerte. Sie bestiegen das Schiff unterhalb des Oberdecks. Dort wurden sie im Licht von Kristallsphären von mehreren Zauberern begrüßt, die alle wasserblaue Umhänge trugen, welche wie zusammengenähte Fischschuppen wirkten.
Jedes Delegationsmitglied bekam eine Einzelkabine, die von der Größe her auch als Familienunterbringung geeignet war. Für die Premiumpassagiere waren sogar sprachgesteuerte Komfortzauber eingerichtet. Das bekam Julius heraus, als er kurz die Tür zuzog um seinen Rucksack im innen beleuchtbaren Kleiderschrank zu verstauen. Eine weibliche Zauberstimme begrüßte ihn auf Französisch und erwähnte, dass sie viele Dinge ausführen konnte, wenn er sie mit "Sunny" und mit dem aus einer Liste wählbaren Befehl ansprach. "Zum Aufruf der Liste sagen Sie bitte: "Sunny, Befehlsliste ansagen!" Julius war so vertraut mit sprachgesteuerten Komforteinrichtungen, dass er das gleich ausprobierte. Dabei lernte er, dass er durch die übliche Frage nach Sprachkenntnissen die gewünschte Sprache auswählen konnte, unter anderem Mandarinchinesisch und die am meisten gesprochenen indischen Sprachen, wie auch Japanisch und die südafrikanischen Sprachen. Er konnte verschiedenfarbiges und verschieden helles Licht leuchten lassen oder die äußere Kabinenwand zu einem bodentiefen Panoramafenster umwandeln lassen, ohne dass man von außen hineinsehen konnte. Das kannte er ja von seinem eigenen Haus. Er fragte nach der Speisekarte des Bordrestaurants und erfuhr, dass Premiumpassagiere einen eigenen Speisesaal hatten und die alles, was dort getrunken oder gegessen wurde schon im Fahrpreis enthalten sei. "Das wird eine Kreuzfahrt", dachte Julius. Dann fragte er nach der Reiseroute und stellte den Weckzauber auf sieben Uhr Tokiozeit, also eine Stunde vor der geplanten Ankunft am Zielhafen.Vor lauter Komfortzauber hätte Julius fast die Abfahrt verpasst, die er unbedingt an Deck miterleben wollte. So beeilte er sich und traf oben auf Nathalie, Pina und seine Schwiegertante, die bereits an der hafenseitigen Reling standen. Außerdem sah er die nebelartige Trennwand zwischen dem achterlichen Premiumbereich und den vorderen zwei Dritteln. Das kannte er von diesen Schiffen noch nicht. "Sichtschutz, dass wir die Standardpassagiere nicht sehen können?" fragte Julius. Nathalie horchte in sich hinein, weil sie wohl über eine Antwort nachdenken oder sie sich zudenken lassen musste. Dann sagte sie: "Totale Diskretion, wenn für ein Schiff mindestens zwei ranghohe Ministerialbeamte oder mindestens ein Zaubereiminister gemeldet sind. Da hier gerade mehr als zwanzig sind sehen die Standardfahrgäste uns nicht, sondern nur die Aussicht achtern, also was hinter uns liegt."
"Wir sind also für die unsichtbar und auch unhörbar?" wollte Julius wissen. "Soweit ich es verstanden habe ja", erwiderte Nathalie und mentiloquierte: "Genau wie der ganz junge Herr in meiner innersten Obhut." Dann folgte eine gedankliche Kleinjungenstimme: "Schon mal ein Vorgeschmack auf die goldene Käseglocke, unter der unsere hochehrenwerten Gastgeber uns verstauen werden." Nathalie mentiloquierte noch: "Besser wir strengen uns nicht weiter an, der Herr vor und der Herr in mir." Dann deutete sie auf die Hafenmauer. In dem Moment schlug die silberne Schiffsglocke an, und eine befehlsgewohnte Stimme rief: Planke einholen! Leinen Los!" Sofort zog sich die Laufplanke ein. Die runde Zustiegsluke klappte hörbar zu und verriegelte sich. Zeitgleich lösten sich alle Taue von selbst und wickelten sich in Windeseile zu meterdicken Knäuelen auf. "Aaablegen!" befahl die Stimme des Kapitäns auf Englisch, der Bordsprache Nummer eins dieser Passagierlinie. Wie von unsichtbaren Riesen wurde das Schiff seitwärts von der Kaimauer weggedrückt, bis es soweit davon entfernt war, dass es sich dem Meer zuwenden konnte. Dann wurden auf Befehl des Kapitäns erst die kleinen, durchsichtigen Segel gesetzt. Das Schiff beschleunigte und entfernte sich mit mindestens fünfzig Stundenkilometern vom Hafen mit seinen drei Hauptgebäuden. Eine Minute später wurden dann durch die koordinierte Zauberkraft von zehn wasserblauen Zauberern die Großsegel gehisst. Ruckartig gewann das Schiff immer mehr Geschwindigkeit. Dann verschwand die französische Südküste auch schon unter dem Horizont.
Die Fahrt nach Suez vertrieben sich die Premiumfahrgäste mit allgemeinem Gespräch über die eigenen Familien, die Hobbys und das, was sie an Privatsachen preiszugeben bereit waren. Als eine magische Männerstimme ansagte, dass sie gleich an Port Suez anlegten und nach zwanzig Minuten Aufenthalt durch das Transitportal auf das rote Meer überwechseln würden wollte Pina von Julius wissen, wie er das schon erlebt hatte, und seit wann es das Portal gab. Er erwähnte, dass er beim Schulausflug den Durchgang nicht mitbekommen hatte, weil Professeur Fourmier ihre Zaubertierklasse unter Deck befohlen habe. Deshalb sei er jetzt auch sehr gespannt.
Während die hier aussteigenden und zusteigenden Gäste abgefertigt wurden erfolgte die Durchsage: "In zehn Minuten durchqueren wir den 1991 eingerichteten Transitkanal. Allen nicht schwindelfreien Fahrgästen, sowie gerade schwangeren Fahrgästen wird dringend empfohlen, sich auf eine Bank zu setzen oder auf einem Liegestuhl oder im zugeteilten Kabinenbett zu liegen, bis der Durchgang vollzogen ist. Auch wird allen, die beim Anblick flackernder Lichter Kopfschmerzen erleiden oder gar zu epileptischen Anfällen neigen könnten abgeraten, den Durchgang an Deck mitzuverfolgen. Die Reederei lehnt jeden Anspruch auf Schadensersatz auf Grund der Nichtbeachtung dieser Empfehlungen ab." Die Durchsage erfolgte dann noch auf Französisch, Spanisch, wohl auf Deutsch und zehn weiteren Sprachen, die Julius nicht sofort erkannte.
"Klar für Transit!" befahl der Kapitän. Dann zählte die magische Durchsagenstimme die letzten zehn Sekunden herunter. Bei der vorletzten bimmelte die Schiffsglocke zweimal. "Transit!" rief der Kapitän.
Zuerst wurde das Schiff von einer es umschließenden smaragdgrünen Feuerwand umschlossen. Dann wurde es nach vorne gestoßen und jagte wild ruckelnd und bockend durch einen Tunnel aus hellgrünen und roten Lichtringen, die wie Gewitterblitze aufflammten. Um sie herum ertönte ein leises, sphärisches Rauschen. Julius behielt den Sekundenzeiger seiner Weltzeituhr im Blick. So erfasste er, dass diese wilde Fahrt, die wie in einer Achterbahn aus Lichtblitzen ablief, zwanzig Sekunden dauerte. Dann wurde das Schiff durch einen smaragdgrünen Feuerring ausgespien und klatschte auf die Wasseroberfläche zurück. Die Schiffsglocke schlug erneut zweimal. "Transit beendet! Segel für große Fahrt hissen!" rief der Kapitän. Die mehrsprachige Durchsage verkündete, dass die "Golden Sunrise" nun auf dem Roten Meer fuhr und Kurs auf Indien nahm.
"Ich denke, ich werde das bei der Rückfahrt in liegender Position durchstehen", grummelte Nathalie. Zwar hatte sie sicher auf einer der Bänke gesessen und sich an dem vor ihr stehenden Tisch festgehalten, fühlte sich aber nun wohl leicht schwindelig.
Weil nicht nur Julius fünf Stunden vorschlafen wollte aßen die Delegierten im Speisesaal für Premiumgäste. Danach vertraten sie sich an Deck die Beine und verfolgten den schneller ablaufenden Tag. Als die Sonne immer röter am westlichen Horizont niedersank verabschiedete sich Julius von Pina und Bärbel und zog sich in seine Kabine zurück. Dort erstattete er nach Blick auf seine Uhr einen kurzen Melobericht an seine Frau, wobei er froh war, dass der goldene Herzanhänger wesentlich besser verstärkte als es der rote schon getan hatte. Anschließend zog er sich bettfertig um, legte sich hin und befahl: "Sunny, Licht aus!" "Licht wwird gelöscht. Erholsame Ruhe!" erwiderte die weiblich klingende Stimme der Komfortzaubersteuerung.
Wie von ihm gewünscht wurde er mit dem fröhlichen Glockenspiel "Die Morgensonne küsst die Welt" aufgeweckt. Er schaffte es in nur zehn Minuten, tagesfertig und gründlich rasiert die Kabine zu verlassen. Da kein großes Gepäckstück im Speisesaal erlaubt war ließ er seinen Rucksack und den Aktenkoffer noch in der Kabine.
"Ich hätte mich auch hinlegen sollen", seufzte Pina und gähnte hinter vorgehaltener Hand. "Aber ich wollte unbedingt den Sternenhimmel sehen. Na ja, zur Not gebe ich mir gleich eine Tagesdosis Wachhaltetrank", wisperte sie noch. Julius meinte, dass er schon merkte, dass die fünf Stunden ihm was gebracht hatten, aber er trotzdem nicht so das übliche Wachgefühl wie am Morgen habe, zumal es in Frankreich ja gerade Mitternacht sei.
Fünf Minuten vor dem Anlegen im Hafen Nami no Yuri Kago von Yokohama wurden alle dort aussteigenden Passagiere gebeten, ihr Gepäck zu holen und die Kabinenschlüssel an das Gastbetreuungspersonal zurückzugeben. Auch diese Durchsage wurde in mindestens zehn Sprachen wiederholt. Da hier der Endhafen der Eurasienlinie warwürde die "Golden Sunrise" nach einer halben Stunde mit neuen Fahrgästen wieder zurückfahren.
Der geheime Hafen von Yokohama unterschied sich nicht groß vom Hafen in Frankreich, nur dass über dem Hauptgebäude neben der Flagge der Reederei noch die japanische Staatsflagge und das Banner des kaiserlichen Zauberrates im Wind wehte. Wie beim Bordgang mussten die Premiumpassagiere durch einen Tunnel unter der Wasserlinie das Schiff verlassen und gelangten durch ein Treppenhaus in einen abgetrennten Teil des Ankunftsbereiches. Julius versuchte einige der japanischen Schriftzeichen zu erkennen und war froh, dass die Mitteilungen auch in aussagekräftigen Bildsymbolen und auf Englisch nachzulesen waren.
Fünf Zauberer in himmelblauen Kimonos begrüßten die Neuankömmlinge und geleiteten sie durch einen Seitenausgang zu einem Laufband, das wie eine elektrische Rolltreppe arbeitete, was vor allem den mitgereisten Arthur Weasley begeisterte. "Haben die das doch von den Muggeln abgeschaut", freute er sich, was das Empfangskommitee ein wenig verstimmte. Doch sie sagten nichts.
Sie erreichten einen unterirdischen Bahnsteig, wo ein frei schwebender Zug mit fünf Wagen auf sie wartete. Julius horchte auf seinen Erdmagnetsinn, ob dieser Zug womöglich eine vollendete Magnetbahn war. Doch hier wirkte nur das Erdmagnetfeld. Dennoch war es wie bei einem Magnetzug. Als sie alle eingestiegen waren glitten die Türen zu, und die Bahn setzte sich ohne Ruckeln in Bewegung. Der Zug beschleunigte und jagte durch einen aus schwach leuchtenden Wänden bestehenden Tunnel. Nur zwei Minuten später bremste der schwebende Zug wieder ab und hielt an einem anderen mit sonnengelben Lampen erhellten Bahnsteig.
Am Bahnsteig erwarteten drei weitere Ministeriumsmitarbeiter die Anreisenden. Eine Hexe mit ungewohntem rubinroten Haar und jadegrünen Augen, ein korpulenter Zauberer und ein athletisch aussehender Zauberer mit fast auf die Kopfhaut heruntergestutztem schwarzen Haar. Die Hexe sprach alle in akzentfreiem Oxfordenglisch an und stellte sich als Emi Chihara, die Leiterin der Behörde für erbauliches und friedvolles Zusammenwirken magischer Menschen in der ganzen großen Welt vor. Dann übergab sie das Wort an den korpulenten Kollegen, der sich als Kazuki Ajima vorstellte und die Behörde des friedvollen Miteinanders von Menschen mit und ohne magische Begabung leitete. Der dritte hieß Ichiro Nakahara, der Leiter der kaiserlichen Behörde für magische Gesetze und Sicherheit, also der Amtskollege von Belenus Chevallier und Arthur Weasley. Dann traten noch vier weitere Zauberer und zwei Hexen ein. Die Hexen waren Kyoko Hashimoto, die Leiterin des Abschnittes für nichtmagische Nachrichten und Kenntnisse und ihre Mitarbeiterin Masa Daidoji, mit der Julius bereits E-Mails ausgetauscht hatte. Sie stellten sich alle durch Verbeugung vor. Danach winkte Emi Chihara einer Tür am Bahnsteigende.
Durch die Tür traten genauso viele Hexen und Zauberer, wie es Delegierte gab ein. Sie trugen grasgrüne kurzärmelige Gewänder und kleine runde Hüte, auf denen etwas in japanischen Schriftzeichen geschrieben stand. "Dies, o hochehrenwerte Gäste und ehrwürdige Kolleginnen und Kollegen, sind die fleißigen Dienstboten des Hauses der hohen Gäste", stellte Emi Chihara die Truppe vor. Die Hexen und Zauberer in Grasgrün verbeugten sich so tief, dass ihre Nasenspitzen fast den Steinboden berührten. Dann schwärmten sie auf ein Zeichen ihres Vorgesetzten aus und suchten sich je einen der Neuankömmlinge, wobei die Hexen zu Hexen und die Zauberer zu Zauberern gingen. Julius bekam einen Dienstboten Namens Kohaku zugeteilt. Dieser verbeugte sich noch einmal ganz tief vor ihm. Julius deutete eine Verbeugung an, um auch seine Wertschätzung zu zeigen, auch wenn es ihm etwas unangenehm war, dass jemand sich derartig vor ihm erniedrigte. Doch den Diener nicht anzunehmen hätte diesen wohl in seiner Ehre gekränkt. Das durfte er sich auch nicht leisten.
In Begleitung der zugeteilten Dienstboten ging es über den Bahnsteig. Julius fühlte für einen Sekundenbruchteil, wie sein Silberstern vibrierte. Dann erkannte er, dass hinter dem letzten, einem schon ergrauten Zauberer aus Belgien, eine silberne Lichtwand entstanden war. War das schon die erste Abgrenzung?
Nun ging es lange, von warmem Licht erhellte Gänge entlang, immer im Zickzack, wobei sie noch zwei weitere unsichtbare Barrieren durchschritten, die vielleicht nur Julius mitbekam. Der Zug endete vor einer aus zwei Flügeln bestehenden Holztür mit silbernen Beschlägen, in die weitere japanische Schriftzeichen eingraviert waren. Dort gebot Frau Chihara der Kolonne zu halten.
"Hochehrenwerte Gäste und ehrwürdige Kolleginnen und Kollegen. Gleich wird der Meister des Hauses hoher Gäste die Tür des friedvollen Einlasses öffnen. Ihr wird dann ein von der Kraft des vollen Mondes belebter Hauch entströmen, der uns alle berühren und durchdringen wird. Dies ist kein Angriff auf Sie, hochehrenwerte Gäste und ehrwürdige Kolleginnen und Kollegen, sondern eine weitere Ihrem Schutz dienende Vorkehrung. Denn der Hauch des friedlichen Mondes vertreibt jede Mordlust und jeden Argwohn. Solange der Mond durch alle seine Erscheinungszustände wandert werden alle, die friedfertiger Natur sind, vor Gewalthandlungen anderer, die den Hauch in sich eingeatmet haben geschützt sein. Wie erwähnt ist dies kein Angriff auf Ihr Wohl und Leben. Denn auch wir werden uns dem Hauch des friedvollen Mondes anvertrauen." Danach machte sie eine Geste vom Meister des Hauses zur bezeichneten Tür.
Nun öffnete der Meister des Hauses die schwere, mit Silberbeschlägen verstärkte Holztür. Unvermittelt entströmte dieser ein mondlicht farben schimmernder Dunst, der sich innerhalb von zwei Sekunden bis zu den Delegierten ausdehnte. Einige wollten zurückspringen. Doch der silberweiße Nebelschleier war schneller. Julius fühlte, wie sein Heilsstern warm und wärmer wurde und dabei im Takt seines eigenen Herzens pulsierte. Auch sah er, dass die schimmernden Schwaden sich knapp einen halben Meter vor ihm teilten und ihn umstrichen, ohne ihn zu berühren oder gar in seine Atemwege einzudringen. Wie war das noch mal? Erwärmung des Heilssterns verhieß gutartigen Zauber, Abkühlung bösartigen Zauber, je nach wirkender Kraft pulsierte der Heilsstern mal langsamer, mal ganz schnell oder passte sich dem Herzschlag an, wenn es um auf die Einheit von Körper und Seele wirkende Zauber ging. Dennoch wehrte der Heilsstern den silberweißen Nebel ab, weil der Nebel ja in gewisser Weise die Willensfreiheit unterdrücken sollte. Alles was Körper und Geist des anerkannten Trägers betreffen sollte wurde abgewehrt, wenn es nicht stärker als die Kraft der sieben Urkinder Ashtarias wurde. Wahrscheinlich hatte Julius auch unbewusst die Abwehr des Heilssterns aktiviert, weil was von Unterdrückung von Mordlust und Argwohn gesagt worden war. Argwohn war ja nicht immer böswillig, sondern konnte auch helfen, Dingen und Vorgängen ein gesundes und überlebenswichtiges Misstrauen entgegenzubringen. Man wollte sie alle gerade auf vollstes Vertrauen zueinander und vor allem zu den Gastgebern einstimmen. Sollte er jetzt laut protestieren? Dann würden sie wissen wollen, wie er sich dagegen wehren konnte und warum er dies tat.
Der merkwürdige Nebel verflog hinter dem letzten Delegierten. Alle blickten entspannt und friedlich drein, bis auf eine, Nathalie Grandchapeau. Sie wirkte sehr konzentriert, als müsse sie jeden kommenden Schritt ganz genau vorherplanen, um keinen tödlichen Fehler zu machen.
Emi Chihara deutete nun auf die Türschwelle. Julius wusste, dass es in japanischen Häusern Sitte war, die Schuhe vor der Tür auszuziehen. Als er sich bückte erkannten wohl auch die anderen, dass sie erst ihre Straßenschuhe ablegen sollten. Die zugeteilten Diener wollten ihnen beispringen. Doch Julius machte eine verneinende Geste. "Sie dürfen Ihre Schuhe in einem der Beutel mit hineintragen, die dort an der Wand bereithängen", sagte der Meister des Hauses und deutete auf eine Wand, wo wahrlich wie hingezaubert eine Menge Lederbeutel an einer langen Stange an Haken hingen. Julius dachte, dass das gerade wohl ein Test gewesen war, wie gut sie sich auf die hiesigen Landessitten eingestellt hatten. Dann hatte er den wenigstens bestanden.
Frau Chihara befahl nun dem meister des Hauses, sie alle durch die Tür zu lassen und diese hinter ihnen zu schließen. Julius hörte, wie die Tür zufiel und fühlte wieder ein kurzes Vibrieren seines Heilssterns. Offenbar war noch eine magische Absicherung in Kraft getreten. Die goldene Käseglocke war über ihnen allen herabgesenkt und fest auf den Boden gedrückt worden.
In Begleitung des ihm zugeteilten Dieners Kohaku erreichte Julius seine Unterbringung, eine echte Suite mit fünf Räumen, davon ein sehr großes Badezimmer mit einer Wanne, in der sechs Personen gleichzeitig platzfinden konnten, einem handelsüblichen Toilettensitz, einem Bidet und einem Urinal, das laut Kohaku auf die Hüfthöhe des eingetragenen Bewohners eingestellt werden konnte. Dann war da noch eine Duschkabiene, die bei geschlossener Tür an der Türinnenseite unterschiedliche Bilddarstellungen zeigen konnte und über fünf Wasserhähne nicht nur heißes und kaltes Wasser, sondern auch beliebig mischbare Duft- und Reinigungsessenzen verströmen konnte. "Der reinigende Wasserfall der zwanzig belebenden Düfte dient der Reinigung des Leibes. Die Badewanne dient der Erholung und reinigung der Seele", erklärte Kohaku in astreinem Literaturfranzösisch ohne eigenen Akzent und ohne regionale Ausprägung. Also hatten die vom japanischen Zaubereiministerium ganz genau vorgeplant, welchen Diener sie zu wem hinschicken konnten.
Der Schlafraum enthielt ein schmales Bett, das jedoch bei Julius Berührung lang und breit genug wurde, dass er bequem und sicher darin schlafen konnte. Der Kleiderschrank war begehbar und konnte, wenn gewünscht, in das Fach der Reinigung gelegte Wäschestücke blitzsauber und keimfrei machen. Auch gab es einen Wandtresor, in dem Wertsachen verstaut und durch Handauflegen des Gastes auf dessen Körper eingestimmt wurde. So wurde übrigens auch die schwere, schalldichte Tür zur Suite verriegelt, wie Kohaku ihm sagte. Nur der zugewiesene Diener konnte, wenn ausdrücklich hereinbefohlen, die verschlossene Tür durch Anlegen seines Kopfes entriegeln, wofür er sich verbeugen musste. Julius wollte wissen, ob es noch Reinigungspersonal gab. Darauf sah ihn Kohaku ein wenig verwundert an. "Oh, ich unwürdige Person habe offenbar nicht zu fragen gewagt, ob Sie unser erhabenes Heimatland schon einmal bereist haben. In allen Häusern hoher Gäste reinigen sich die Wohn- und Schlafräume der Gäste selbst zweimal täglich, sobald der in ihnen wohnende Gast sie verlassen hat. Ich unwürdiger Diener bin dafür da, all die Dinge zu vollbringen, die nicht durch die hochwirksamen Bequemlichkeits- und Reinlichkeitszauber vollbracht werden."
"Öhm, und woher weiß die wahrhaftig wundersame und hochwirksame Reinigungskraft, wann sie wirken muss?" fragte Julius, der gerade eine unangenehme Vorahnung hatte.
"In den Wänden wohnen Erspürer der Körperwärme und in Boden und Decke ruhen unsichtbare Nasen für die Ausdünstungen des Atems und Körpers. Bleibt das alles für mehr als eine Minute aus, und die Zeit einer Reinigung ist gekommen, tritt die Reinigung aller Einrichtungsdinge und des Bodens in Kraft."
"Will sagen, die Unterbringung weiß, wann ich darin bin und wann nicht", sagte Julius ganz ruhig. "Dies ist vollkommen richtig, hochehrenwerter Gast unseres hochehrenwerten kaiserlichen Oberhofzauberers", bestätigte Kohaku. Julius konnte es gerade noch unterdrücken nachzufragen, ob die Suite weiterpetzte, wann er da war und wann nicht. Vielleicht hatte er seine Wissensberechtigung auch schon bis zum Anschlag ausgereizt. Allerdings fragte er noch: "In meiner Heimat kennt man böse Zauber, die über die Gedanken eines Menschen wirken. Geht das hier wirklich nicht?"
"Die Kraft fremder Gedanken durchdringt nicht die Wände des Hauses. Doch mehr zu erklären steht mir unwürdigem Diener leider nicht zu. Da müsste der hochehrenwerte Monsieur Latierre den Meister des Hauses fragen."
"Ich denke, die Zeit des Meisters ist sehr kostbar und er ist immer damit befasst, uns Gästen einen sicheren und erquicklichen Aufenthalt zu bereiten. Daher möchte ich den Meister nicht bei dieser so verantwortungsvollen Arbeit unterbrechen, nur weil ich meine Neugier nicht bezähmen kann", erwiderte Julius und lächelte den Diener freundlich an. Dieser verbeugte sich kurz und schlug dann mit der ihm auferlegten Wertschätzung in jedem Satz vor, die Aussicht des Wohn- und des Arbeitszimmers auf die Bedürfnisse des hochehrenwerten Gastes einzustellen. Julius ging gleich voll zur Sache und stellte sich für das Wohnzimmer die in der betreffenden Himmelsrichtung liegende Ansicht der Umgebung ein. Da der gläserne Tisch im Arbeitszimmer wie ein waagerechter Bildschirm funktionierte, so zumindest die Übersetzung der Beschreibung, konnte er dort Kartenansichten, gezeichnete Pläne im ganzen oder abschnittsvergrößert darstellen lassen oder auch die "Alles überblickende Sicht des Adlers" einstellen, also eine beliebige Landschaft von oben ansehen. So wählte er eine Ansicht der Hauptstadt und befahl dem Komfortzauber, die Ansicht an die Tageszeit anzukoppeln.
Als Julius das alles ausprobiert hatte bat er den Diener, ihn für fünf Minuten alleinzulassen. Die offizielle Begrüßung im "Saal der wichtigen Beratungen" würde ja laut seiner Uhr erst in einer Stunde und vierzig Minuten erfolgen. Kohaku verbeugte sich noch einmal und bekundete, dass er im Warteraum für Diener auf seinen Ruf warten würde.
Julius atmete auf, als Kohaku durch die Tür zum Hauptkorridor verschwunden war. Da er wusste, dass alles hier per Stimmkommando gesteuert wurde argwöhnte er, dass die "unsichtbaren Ohren" auch alles andere mithörten, was er so sagte oder tat und es an einen ganz diskreten Ort weitergaben. Soviel zum vernebelten Argwohn, dachte er. Er nutzte das Auspacken seines Weltenbummlerrucksacks aus, um sich im Schrank den Herzanhänger an die Stirn zu drücken. "Mamille, hörst du mich!" mentiloquierte er. Tatsächlich hörte er ein leises, metallisches Echo zu dem üblichen Nachhall. Er wartete fünf Sekunden und versuchte es erneut. Dann hörte er Millies Gedankenstimme mit umgekehrtem Widerhall, nich wie üblich ohne Halleffekt: "Monju, gut, dass ich noch wach war. Bist du schon in deiner Luxusunterbringung? Du klangst so komisch, wie schnell heranfliegende Wörter."
"Genauso höre ich deine Melostimme auch im Kopf, Mamille. Die haben eine Meloabsicherung hier, aber die Herzen kommen da wohl noch drüber weg oder drunter durch. Außerdem sind wir ja über neuntausend Kilometer voneinander weg", schickte er. Dabei merkte er, dass sich der Anhänger etwas mehr erwärmte als es von seinem eigenen Kopf her üblich war. Das meldete auch Millie. "Dann heizt der Meloblocker die auf. Dann nur noch so viel: Wir sind komplett abgeriegelt, die meisten haben einen silbernen Befriedungsnebel einatmen müssen, außer mir, Dank meiner Besonderen Errungenschaft und Nathalie, Dank der unerbetenen Segnung womöglich. Kann sein, dass die uns hier über den Tisch ziehen wollen. Angeblich war der Nebel nur dafür, dass keiner den anderen umbringen wollen könnte. Ui, wird richtig heiß, der Anhänger!"
"Dann besser jetzt nicht mehr Melo, Monju. Pass gut auf dich auf!" "Du auch, Mamille!" schickte Julius noch zurück. Dann nahm er schnell den ziemlich erwärmten goldenen Anhänger von der Stirn. Der pulsierte noch im Takt seines Herzschlags. "Hoffentlich kommt nicht doch noch wer auf die Idee, mir alles wegzunehmen", dachte Julius und hoffte, dass da nicht noch ein Gedankenlesezauber im Luxusangebot war, von wegen: Wir erfüllen jeden Wunsch, bevor sie ihn aussprechen. Dann dachte er wieder daran, dass in Japan die Privatsphäre heilig war. Darauf hoffend, dass dies auch für die Zaubererwelt galt räumte er noch die restlichen Kleidungsstücke ein. Dann verschloss er den Schrank von außen. Er brauchte den Tresor nicht, da er die wertvollsten Dinge direkt am Körper behielt.
Nur mit Herzanhänger, Heilsstern und wasserdichter Armbanduhr bekleidet testete Julius die Dusche mit den verschiedenen Reinigungsessenzen und fand eine Mischung, die wie Frühlingswiese und würzige Kräuter duftete. Danach erbat er vom Komfortzauber eine Übersicht über die Freizeitangebote, um schon mal abzuklären, worauf er denn so Lust haben konnte, wenn die Sitzungen vorbei waren. Er ließ sich ein paar Proben japanischer Musik vorspielen und erbat eine in Französisch übersetzte Übersicht über die Zaubererweltnachrichten aus dem Land. Dabei erfuhr er, dass das Zaubereiministerium weiterhin nach den Händen Amaterasus suchte, die sich einem direkten Befehl des Zaubereiministers verweigert und versteckt hatten. Also war es hier genauso wie in den Staaten, dass die bis dahin eigenständige Truppe gegen böses Zauberwerk vom Ministerium übernommen werden sollte, dachte Julius. Gut, das musste ihn jetzt nicht weiter kümmern. Aber interessant war es doch.
Als er auf seiner Uhr las, dass es nur noch vierzig Minuten bis zum ersten offiziellen Treffen dauern würde prüfte er seine Kleidung und den Aktenkoffer. Er hatte alles dabei, was er mitnehmen wollte. So rief er den ihm zugeteilten Diener.
Kohaku kam zurück und verbeugte sich vor ihm. Julius fragte sich, ob das wirklich ein Zauberer war, der es gewohnt war, Macht über Dinge und niedere Lebewesen zu haben oder auch Macht über Menschen zu begehren. Wieder piesackte ihn ein gewisser unvernebelter Argwohn, dass die Diener hier unter einer Geisteskontrolle standen, ähnlich wie Imperius. Natürlich hatte Kohaku auch den Silbernebel eingeatmet. Falls stimmte, was Madame Chihara gesagt hatte wirkte der dann auch auf die Diener. Doch was, wenn die sich dagegen genauso immunisieren konnten wie sein Heilsstern und Nathalies und Demetrius' Veelasegen es konnten? Oha, da musste er aber jetzt aufpassen, dass der Argwohnverblasenebel bei ihm nicht eine ausgewachsene Paranoia ausgelöst hatte. Die konnte er genausowenig gebrauchen wie einen zu allem bereiten, immer friedvoll "ja" und "richtig" sagenden Verstand.
"Wollen die die echt dabeikriegen?" fragte sich Millie Latierre, als sie nach Julius merkwürdig verzerrter Botschaft den fast schmerzhaft heißen Herzanhänger wieder unter ihr Nachthemd schob und merkte, wie er weiterpulsierte, obwohl er sich gerade unangenehm anfühlte. Sie hätte gerne noch mehr über diesen Silbernebel erfahren. Doch wenn Julius' Anhänger genauso heiß wurde wie ihrer war es richtig, ihn nicht für länger als eine Minute als Meloverstärker zu benutzen. Auch wenn er es nicht erwähnt hatte musste sie davon ausgehen, dass er da auch nicht disapparieren konnte- ohne den Heilsstern. Es war doch gut, dass er ihn mitgenommen hatte. Ja, und falls es nötig war konnte sie zu ihm hin, auch durch Appariersperren hindurch. Er musste ihr jedoch ein Bild seiner Umgebung übermitteln, was mit reinem Melo nicht ging und wegen der Sperren auch mit dem Herzanhänger schwierig bis unmöglich war. Sie würde morgen noch Béatrice fragen, ob die schon was von diesem Silbernebel gehört hatte.
Kohaku zeigte Julius die für alle zugänglichen Räume und erklärte auch, dass er in seinem Auftrag die Ausgabe jeder Zaubererweltzeitung bestellen konnte, wo immer sie herkam. Dabei trafen sie auch andere Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer mit den ihnen zugeteilten Dienstboten.
Julius bewunderte den Garten der Düfte, der unter einer künstlichen Sonne erblühte und von magisch belebten Bewässerungsvorrichtungen feuchtgehalten wurde. Doch einmal musste er an den Garten in den Kellerräumen der Villa Binoche denken. Es gab pflanzen, die in jeder Hinsicht betörende Düfte verströmen konnten, die Rauschnebelhecke gehörte ja auch dazu. Er bestaunte mit dem Blick des Hobbyherbologen die großen Blumen mit ihren verschiedenfarbigen Kelchen und kleine Bäumchen, an denen von selbst leuchtende Blätter hingen. Das Zentrum des Gartens bildete ein die ganze Raumhöhe ausfüllendes Glashaus, in dem zwischen hohen Gräsern versteckt zwei grasgrüne und zwei signalrote Zwergdrachen gehalten wurden. Bonsaibäume und Bonsaidrachen, dachte Julius. Einer der roten Drachen sah ihn mit seinen goldenen Augen mit senkrechten Schlitzen an, flog mit schnell schwirrenden Flügeln auf und näherte sich der Glasscheibe. Ein daumendicker Feuerstrahl schoss aus dem aufspringenden Maul und zerstob an der Glasscheibe zu einem glühenden Fleck. "Nun, mir unwürdigem Diener ist bekannt, dass in Ihren Ländern die Zucht und Haltung solcher lebender Kleinodien untersagt ist, weil Sie keine übertriebenen Eingriffe in die lebende Natur dulden. Doch ein solches Wesen wird in hohen Familien unseres Landes höher gehandelt als ein geräumiges Haus. Denn diese Wesen dulden kein fremdes Feuer und können die Feindschaft von anderen Wesen wittern, bevor sie vor der Tür stehen. Bedauerlicherweise bleibt mir verborgen, warum Hiko vom silbernen Fluss Sie so begrüßt hat, hochehrenwerter Gast Latierre. Womöglich hat sie wieder ein neues Gelege. Dies dürfen dann meine fleißigen Kollegen Hüter der lebenden Kostbarkeiten ergründen." Erneut schleuderte das Rote Bonsaidrachenweibchen, dass wohl von einem chinesischen Feuerball abstammte, einen Feuerstrahl gegen die Glasscheibe. Dann spuckte es sogar durch Veränderung der Lippenstellung einen Feuerball, der leise wummernd an der Glasscheibe zersprang. Julius trat einen Schritt zurück und sagte: "Vielleicht greift es nicht nur mich an, sondern jeden, der näher als einen Schritt auf die Glaswand zugeht und ..." Da sah er, wie die anderen Drachen sich mit der kleinen Roten anlegten. Diese geriet unvermittelt zwischen zwei Grüne Drachen und musste sich wehren. Da flutete eine bläuliche Gaswolke in das Glashaus. Die Drachen gerieten ins Schlingern, sackten durch und plumpsten aus zwei Metern Flughöhe ins hohe Gras. "Ah, der Unterbindungsdampf hat sie beruhigt. Sie werden erst in fünf Minuten wieder handlungsfähig sein. Kommen Sie bitte weiter mit mir, hochehrenwerter Gast Latierre", sagte Kohaku. Julius nickte und wandte sich um. Dabei sah er Nathalie Grandchapeau, die sich mit ihrer zugeteilten Dienerin über die goldfarbene Blume unterhielt, die Kohaku als "Kelch der himmlischen Königin" übersetzt hatte.
"Vielleicht hat die kleine rote Feuerlady spitzgekriegt, dass ich nicht so vertrauensselig und ein wenig argwöhnisch gestimmt bin. Aber das mit diesem Unterbindungsgas sollte ich mir auch mal merken. Wer weiß, wo die das noch reinblasen können", dachte er.
Es ging weiter zu den Übungshallen, wo es ein fünfzig Längen langes und zwanzig Längen breites Schwimmbecken, einen Hindernis- und Kletterparcours, verschiedene Kraftübungsvorrichtungen und tatsächlich magicomechanische, gut gepolsterte Übungsgegner für Kampfsportler gab. Vielleicht sollte er doch mal gegen einen dieser Plüschroboter antreten, um seinen Ausbildungsstand in Karate zu überprüfen. Doch im Moment interessierte ihn nur, was bei der Konferenz herauskommen würde und vor allem, wie Nathalie Grandchapeau gestimmt war.
Nach dem Rundgang fragte Kohaku Julius, ob er sich für die Begrüßung noch zurechtmachen wolle. Er sagte nur, dass er sich noch einmal Gesicht und Hände waschen wolle.
Von den Dienstboten geführt betraten die Delegationen den "Raum der wichtigen Beratungen" und fanden dort einen großen, runden Tisch mit hochlehnigen Sesseln, die sich beim Hineinsetzen den Körperformen anpassten. Julius durfte laut Platzkarte auf Japanisch und Europäisch rechts neben Nathalie Grandchapeau sitzen.
Emi Chihara, die bisher die Begrüßung und Zimmerübergabe überwacht hatte übergab nun das Wort an ihren Kollegen Kazuki Ajima. Dieser verbeugte sich noch einmal, sofern sein Kugelbauch dies zuließ und bedankte sich bei allen Anwesenden für ihr Erscheinen und das hohe Interesse an dem so wichtigen Vorhaben, die Geheimhaltung der Zauberei auch im Zeitalter des Internet zu bewahren. Er erwähnte eine Tagesordnung, die, falls alle ihr zustimmten, jeden Tag mehrere Einzelrednerinnen und -redner zu Wort kommen ließ, um ihre bisherigen Erfolge und geplanten Ziele darzulegen. Da Frankreich dieses Projekt unter dem Namen Blickschutz angefangen und vorangetrieben hatte galt die heutige Aufmerksamkeit den Vertreterinnen und Vertretern der "großen Nation", die Schönheit, Liebe und Wissen zu einen vermochte.
Von Zauberkraft herbeigeholt erschienen vor allen Teilnehmern kleine Hefte, in denen die Tagesordnung verzeichnet war. Auch konnten die Delegierten eigene Schreibsachen benutzen oder sich der auf dem Tisch erscheinenden Tintenfässer bedienen.
"Wer Durst oder ein wenig Hunger verspürt, der oder die ist sehr herzlich eingeladen, nach den fleißigen Küchenkräften zu rufen, jedoch erwähne ich, dass es um die Mittagsstunde sowieso ein leichtes Mal im Raum der gemeinsamen Speisen geben wird", sagte Ajima. Dann ließ er die zwei Meter durchmessende Kristallsphäre unter der Decke so erstrahlen, als säßen sie im hellen Sonnenschein unter freiem Himmel.
Laut der Tagesordnung durfte also erst einmal Nathalie Grandchapeau sprechen. Diese bedankte sich zunächst bei den Gastgebern für die großzügige Unterbringung und Zusammenkunft. Sie bedauerte auch, dass weder die Italiener, noch die Amerikaner, noch die Russen sich dazu bereiterklärt hätten, hier dabei zu sein. Dann beschrieb sie in einer gut einstudierten Weise, wie es zu dem Projekt gekommen sei, dass der Auslöser für die Idee die blutigen und unverständlichen Mordanschläge im nichtmagischen London waren und die Menschen dort wohl mehr elektronische Überwachungsaugen in ihrer Stadt haben wollten. Dann erwähnte sie Julius, der auf diese Gefahr für die Geheimhaltung aufmerksam gemacht habe und wie dann das Projekt "Blickschutz" ausgearbeitet worden sei. Sie erwähnte, dass sie in Absprache mit den hier ebenfalls vertretenen Abteilungsleitern Barbara Latierre, Belenus Chevallier und dem nicht anwesenden Gustave Chaudchamp darüber gesprochen habe, es international bekannt zu machen und weitere Zaubereiministerien zum Mitmachen aufzufordern. Es ging dann noch um die bereits bekannten Korrespondenzen, die zu dieser Konferenz geführt haben. Dann bedankte sie sich noch einmal für die Erlaubnis, hier vor den ehrenwerten Vertretern des höchstehrenwerten Oberhofzauberers, Minister für magische Wesen und Dinge, sprechen zu dürfen, verbeugte sich ansatzweise und setzte sich wieder hin. Als nächstes sollte dann Alain Dupont sprechen, dann Belenus Chevallier und Barbara Latierre. Dann erst würde Julius das Wort erhalten, so der Ablaufplan dieses Vormittages.
Zwei hauseigene Pfleger betrachteten die vier gerade wieder zu sich gekommenen Bonsaidrachen und sprachen darüber, was die vier kleinen Feuerspeier dazu getrieben haben mochte, erst auf einen Gast loszugehen und dann noch aufeinander einzustürmen. Tatsächlich gab es zwei Gelege, eines mit acht Erdnusskerngroßen, golden schimmernden Eiern und eines mit neun erdnusskerngroßen, kreisrunden, grasgrünen Eiern. Offenbar hatte der Brutverteidigungsreflex Hikos auch das andere Weibchen gereizt, Hiko anzugreifen, was dann den Beschützertrieb der beiden Männchen geweckt hatte. Doch warum die vier auf die Anwesenheit von Gästen so reagierten war seltsam. Vielleicht sollten die Gäste untersucht werden, ob sie was an oder in sich hatten. Doch dies, so hatte der Meister befohlen, sollte nur im unwahrscheinlichen Fall eines direkten Angriffes auf die hochehrenwerten Gastgeber erfolgen. Denn dann hätten diese vielleicht doch die Kraft des Mondhauches von sich abgewiesen, wie es nur die höchsten Zauberkundigen des kaiserlichen Zaubereiministeriums und die seit einem Jahr verschwundenen Hände der Amaterasu vollbringen konnten, wenn sie wussten, dass der Mondfriedenshauch sie erfassen sollte.
Julius besaß die nötige Disziplin, selbst dann noch ruhig zu bleiben, als Dupont erwähnte, dass sein eigentlicher Vorgesetzter diese Konferenz für unnötig hielt und es für auf Aufmerksamkeit und Beachtung abzielende Angstmacherei der Mitarbeiter mit nichtmagischen Eltern hielt und dass nur er, Alain Dupont, den Ernst der Lage so einschätzte, dass die internationale Zaubereigeheimhaltung durch das Internet und seine Ableger gefährdet sei, wenn Aufzeichnungen von Überwachungskameras dort hineingerieten, die magische Vorgänge zeigten. Zwar hatte Nathalie Grandchapeau erwähnt, dass genau dafür in Frankreich und den anderen hier vertretenen Ländern Internetüberwachungszentren eingerichtet worden seien, aber das alleine reiche ja nicht mehr aus.
Die anderen französischen Delegierten erwähnten dann nur noch, was sie an diesem Projekt betraf und für sie wichtig war. Dann bat der Gesprächsleiter Ajima Nathalie darum, ihren Mitarbeiter Julius Latierre zu bitten, seine bisherigen Gedankengänge und Arbeitsfortschritte zu enthüllen. Nathalie kam dieser Bitte nach.
Julius übernahm Nathalies lange Dankesrede und bedankte sich dann noch bei ihr, dass sie ihn für ernsthaft genug und würdig genug befunden habe, solch ein verantwortungsvolles Vorhaben zu verwirklichen. Dann erwähnte er alles, was er bisher mit den anderen durchgesprochen und bereits im Ansatz umgesetzt habe. Er erwähnte dann auch, dass es wichtig sei, die Herstellerlländer für Überwachungskameras zu bedenken, damit die dortigen Zaubereiministerien eine vereinte Lösung des Problems erarbeiten konnten und drückte seine Wertschätzung für das japanische Volk aus, das nach dem verheerenden Krieg gegen die USA und China so schnell so viel Fortschritt in Informationstechnologie erzielt habe und er deshalb hoffe, dass die Gastgeber ihnen allen helfen konnten, die neue Gefahr, die dieser Fortschritt erweckt habe, zu bannen. Ja, manchmal musste man in der Diplomatie mit mehreren Kilo Honig hantieren, dachte Julius. Dann verbeugte er sich ein wenig mehr als vorhin Nathalie und setzte sich wieder hin. Weil das hier eine amtliche Konferenz war bekam er keinen Applaus, nur zustimmende Gesten oder verhaltenes Kopfschütteln, weil doch manche dachten, dass hier doch ein Wichtel zum gefräßigen Riesen aufgeblasen wurde. Doch das kümmerte ihn nicht. Außer Leuten wie Pina, Bärbel und wohl auch Masa Daidoji hatten hier die wenigsten Ahnung davon, wie rasant sich das Internet weiterentwickelte.
"Sie erwähnten eine Martha Merryweather, Mr. Latierre", sagte Kazuki Ajima und sah seine Mitarbeiterin Daidoji an. Diese erwähnte, dass sie ebenfalls mit Martha Merryweather korrespondiert habe und ursprünglich davon ausgegangen sei, dass sie die Leiterin der Internetüberwachung sei. Nathalie übernahm es, zu antworten und stellte klar, dass Martha Merryweather wegen der auch hier bekannt gewordenen Verwicklungen in den USA vorübergehend in Frankreich Arbeit gefunden habe, bis sie wieder zu ihrer Familie zurückkehren könne, ohne Nachstellungen befürchten zu müssen. Das Argument wurde akzeptiert.
Nathalie wurde gebeten, Julius aufzufordern, sich in den nächsten Tagen mit schriftlichen Einzelheiten bereitzuhalten. Doch zunächst wollten die Gastgeber die Meinungen der anderen Delegationen erfahren und am Ende des Tages selbst ihre Ansichten äußern.
So durfte nun Tim Abrahams aus dem britischen Zaubereiministerium sprechen. Danach folgte Nelson Watergate, der ähnlich wie Gustave Chaudchamp aus Frankreich die Ansicht vertrat, dass die Furcht vor einer Enthüllung der Zaubererwelt übertrieben sei, da selbst nach der Erfindung von Rundfunk und Fernsehen jeder Vorfall, der in diesen Verbreitungsmedien zu landen drohte, rechtzeitig erkannt und behoben worden sei. Da erbat sich sein deutscher Kollege das Wort und wandte ein, dass es schon eine sehr große Aufregung gegeben habe, als bekannt wurde, dass die Nichtmagier elektromagnetische Wellen für alles mögliche benutzen konnten und die Schiffahrtslinie Fliegender Holländer ein halbes Jahr unterbrochen wurde, bis es wirksame Mittel gegen Radarstrahlen gab und dass hier auch eine internationale Konferenz nötig gewesen sei, um diese Gegenlösung weltweit zu verbreiten. Beim elektrischen Rundfunk sei doch ähnliches nötig gewesen.
Jetzt entspann sich eine rege Debatte über verschiedene nichtmagische Erfindungen und welche davon von den verschiedenen Zauberergemeinschaften übernommen und magisch weiterentwickelt worden waren und dass dies doch auch auf ein schwindendes Selbstverständnis der Zauberergemeinschaften hinwiese. Alle sprachen ruhig, unterbrachen einander nicht oder machten wüste Gesten oder sowas. Doch an einer gesitteten Befragung der einzelnen Delegierten war im Moment nicht zu denken. Ajima ließ es auch erst einmal so laufen, bis es zehn vor eins Ortszeit war. Dann erinnerte er daran, dass es gleich Essen geben würde. Da die Debatte ja ganz mannierlich abliefe dürften die Teilnehmer sie gerne bei Tisch fortsetzen, aber nicht vor den Ohren der Dienerschaft, selbst wenn diese zum Stillschweigen vereidigt sei.
Wie es hierzulande zum guten Ton gehörte besuchten die Teilnehmer die an den Konferenzraum angeschlossenen Waschräume, um sich Gesicht und Hände zu waschen, bevor sie aßen. Julius horchte dabei auf mögliche Reaktionen seines Heilssterns. Doch falls die jetzt noch vorhatten, ihn mit Alchemie zu benebeln konnte der Stern wohl auch nichts dagegen tun.
Wie vorgeschlagen wurde die angefachte Debatte über Sinn und Unsinn von Reaktionen auf nichtmagische Erfindungen bei Tisch fortgesetzt. Hier ergab sich jedoch die Möglichkeit, dass die Debattierenden an einem Tisch sitzen konnten, während an den fünf anderen Tischen die Delegierten saßen, die sich bereits gut verstanden. So konnte Julius zwischen Nathalie und Pina sitzen. Als Pina ihn aus versehen am rechten Arm berührte zuckte sie zusammen. "Hah, was war das denn?" fragte sie leise und schnell, bevor es noch wem auffiel. Julius raunte ihr zu: "Vielleicht hat mich die aufgeladene Debatte über elektrische Sachen selbst elektrisch aufgeladen." Pina musste grinsen. Sie nickte. Doch dann sah Sie Julius so an, als wäre sie sich seiner gerade erst bewusst geworden.
Die Kellner in blauen Gewändern brachten die Vorsuppe. Dabei sprachen die an Julius' Tisch sitzenden leise über die Auswirkungen der neuen Plattformen wie Facebook. Masa Daidoji erwähnte auch, dass sie sehr viel damit zu tun hatte, Internetforen zu Mangas und Animes auf verdächtige Begriffe abzusuchen. Gut, das machte zum Großteil die von Julius' Mutter entwickelte Schlagwortsuchsoftware. Doch anstrengend war das immer noch, auch weil das Cosplaying, die Verkleidung als Manga- oder Animefigur, immer beliebter wurde und so nicht sofort zu erkennen war, ob da nicht ein echter Zauberer oder ein verkleidetes Zauberwesen unterwegs war.
So verlief die Mittagsmahlzeit von den wilden Debatten über Fug und Unfug von Muggelwelterfindungen sehr ruhig und entspannt.
Nach dem Essen wuschen sich noch einmal alle die Hände. Dann ging die Erläuterungsrunde weiter. Sie dauerte bis zum Tagesschluss um sieben Uhr abends. Die japanischen Gastgeber bedankten sich bei den Teilnehmenden und wünschten Ihnen einen entspannenden Tagesausklang und eine erholsame Nachtruhe. Morgen um neun Uhr sollte es mit der Delegation aus Griechenland weitergehen, die wegen tatsächlich schon aufgetauchter Zauberwesen wie Satyrn und Flussnymphen Probleme mit Touristen bekommen habe.
"Ui, die Zeitverschiebung habe ich doch noch nicht richtig drin", meinte Julius, als er sich mit Pina für ein Abendkonzert in der Halle der erlesenen Klangkunst verabredete. Er wollte unbedingt gerne echtjapanische Kabokimusik hören. Da Pina Harfe spielte und er verschiedene Blockflöten mochte sie das beide inspirieren.
Bevor Julius sich für das Konzert seinen weinroten Festumhang anzog erklang Nathalies Stimme aus dem Nichts. "Monsieur Latierre, ich erbitte Ihre Anwesenheit in der blauen Kammer der Absprachen. Es betrifft die bestmögliche Präsentation Ihrer Unterlagen nach der Vollendung der Delegationsvorstellungen!" Julius rief zurück: "Habe verstanden, Madame Grandchapeau. Er sah kurz auf seine Uhr. Bis zum angesetzten Konzert blieben noch zwanzig Minuten. So zog er sich den Umhang noch an, nahm seinen Aktenkoffer und verschloss die Tür zur Suite von außen. Hoffentlich war das in zehn Minuten erledigt, dachte er.
Die blaue Kammer der Absprachen war eine von fünf vorgestellten Besprechungsräumen, wenn Mitglieder einer Delegation noch einmal ihre Darlegungen abstimmen wollten. Julius traf Nathalie alleine dort an, wenn er mal von Demetrius absah. Sie nickte ihm zu. Er trat ein und schloss die Tür. "Sonincarcero!" zischte Nathalie mit erhobenem Zauberstab. Julius blieb solange still, bis sie mit einem ockergelben Lichtstrahl die Decke, alle Wände und den Boden bestrichen hatte und diese von sich aus im ockergelben Licht schimmerten.
"Ich dachte die blaue, Rosarote, grüne, gelbe und violette Kammerseien bereits Dauerklangkerker", sagte Julius. "Eben das wollte ich prüfen und habe gerade festgestellt, dass dem nicht so ist, weil ein temporärer Klangkerker nicht über einen bereits bestehenden Klankerker gelegt werden kann, Julius", erwiderte Nathalie. Dass sie Julius' beim Vornamen nannte zeigte ihm, dass es keine reine Ministeriumsangelegenheit war. "Also, wir wissen jetzt, dass der Dauerklangkerker offenbar ein Schwindel ist. Kann sein, dass deshalb gleich welche kommen, die ihn "reparieren" wollen. Zweitens habe ich mitbekommen, dass du offenbar auch nicht diesem Nebel verfallen bist wie die meisten anderen. Bei mir war es wohl der verbotene Segen Euphrosynes und dass Demetrius auch von ihr "gesegnet" wurde oder dieser Nebel nur auf nichtschwangere Hexen wirken kann. Bei dir war es sicher dein Mitbringsel aus dem Morgenland." Julius nickte. "Gut, dieser Nebel kann den Zweck haben, den sie uns beschrieben haben, dass wir nicht anfangen, uns gegenseitig umzubringen, weil wir hier eingeschlossen sind. Es kann aber auch den Zweck haben, uns in eine bestimmte Grundstimmung zu versetzen. Ich weiß, dass du mit Pina das Kabokikonzert besuchen möchtest. Deshalb nur noch soviel, bevor ich den Klangkerker wieder aufhebe: Nicht auffallen heißt die Devise. Wenn die was anderes vorhaben als uns nur friedlich zu stimmen dürfen wir denen nicht zeigen, dass wir nicht davon beeinflusst wurden." Julius bejahte das. Das war wie in den Geschichten, wo Menschen von außerirdischen Gedankenkontrollparasiten oder Pseudosymbionten gesteuert wurden oder von Psychostrahlen auf bestimmte Gedanken und Handlungen gebracht wurden. "Das freie Mentiloquieren ist übrigens unmöglich, und das lautlose Cogison funktioniert nur noch mit halber Stärke. Hast du mal versucht deine Frau über deinen goldenen Herzanhänger zu erreichen?" Julius bejahte auch das und erwähnte die Nebeneffekte. "Hmm, das könnte bedeuten, dass die Mentiloquismussperre erfassen kann, wenn jemand gegen sie anwirkt oder sie gar überwindet. Falls sie deshalb was unternehmen liegt das Kind halt schon im Kessel. Vielleicht wissen sie auch noch nicht, wo der Widerstand gegen ihre Mentiloquismussperre herkommt. Deshalb bitte ja bitte ich dich darum, nicht mehr als zehn Sekunden pro Durchgang pro Tag zu mentiloquieren. Hmm, du hast sicher auch gesehen, wie sie die aufgebrachten Bonsaidrachen betäubt haben."
"Ja, und das hat leise Alarmglocken in mir zum läuten gebracht", sagte Julius leise, obwohl der Klangkerker wirkte und vom Leuchten her stabil blieb. "Dann gebe ich dir mal was mit, was ich von deiner Mutter in vierfacher Ausgabe erhalten habe, als sie das letzte mal von Sheena O'Hoolihan besucht wurde. Eins habe ich mir selbst an das Mieder geklemmt. Daher schlage ich vor, du klemmst es dir an ein leichtes Unterhemd, über dass du deinen Schlafanzug ziehen kannstt, nachdem du es aus der Isolationsverpackung gezogen hast."
Sie holte aus einer unauffälligen Tasche ihres Umhangs ein nicht erkennbares Etwas in einer Silberfolie. Julius nahm das leichte Ding entgegen, das rund und klein wie ein Hemdkragenknopf war. Er las eine winzige Schrift, die er ohne Vergrößerungshilfe nicht entziffern konnte. "Da steht drauf: "Nur der, der es nutzen will darf es auspacken, Körperspeicherabstimmung bei erstverwendung."
"Das ist doch sicher aus der Abteilung Q des Laveau-Institutes", grinste Julius. "Öhm, soll mich das vor Gasanschlägen schützen?" fragte er leise. "Genau, dies soll es. Deine Mutter nannte es einen Gasvorgreifer. Er überwacht die Luftzusammensetzung in deiner unmittelbaren Nähe und baut zwanzigmal schneller als handgezaubert eine Kopfblase auf, sobald er eine verdächtige Gasbeimischung in geringster Konzentration erfasst. Klemme es dir möglichst nahe an den Kopf, damit der Zauber keinen langen Weg zurücklegen muss, wie gesagt, ein Hemd oder Unterhemd ist ideal. Lösen kannst dann nur du ihn, wenn du "Luft ist rein" denkst. Ansonsten ist er wie mit dem Diebstahlschutzzauber an dich gebunden, wie zum feuerroten Wichtel dieser Mr. Hammersmith die Pinkenbachgrenze überlistet hat."
"Och, mit vier reiskorngroßen Stücken aus purem Gold geht das ganz gut. Eins für die Kopfblase hin und zurück, eines für den Körperspeicher, eines für den Diebstahlschutz und eines für die Luftüberwachung. Dann kommt es nur auf die Anordnung bei der Bezauberung des gesamten Gerätes an", sagte Julius leise. Nathalie verzog das Gesicht und zuckte zusammen, weil ihr jemand frech in den Bauch geboxt hatte. Jetzt sah Julius auch den silbernen Ohrring unter ihrem dunkelblonden Haar.
"Moment, wenn ich den jetzt auspacke und anfasse stimmt der sich nur auf mich ein. Dann möchten Sie ihn nicht wiederhaben, Madame Grandchapeau?" fragte Julius vorsichtshalber nach. "Da ich diesen und die anderen noch zwei vergebbaren Gasvorgreifer jenseits aller Dienst- und Zuteilungswege erhalten habe habe ich dir dieses Gerät nicht gegeben und kann es folglich auch nicht mehr zurückfordern. ja, durch die Erstverwendung bist dann du der einzig legitimierte Anwender, bis das Gerät zerstört werden sollte, was nach der Aussage von Mr. Hammersmith nur durch das Feuer eines schwedischen Kurzschnäuzlers, Dämonsfeuer, Drachengalle, Basiliskenzahn oder dunkles Feuer geschehen kann", erwiderte Nathalie. "Außerdem gehe ich sehr sicher davon aus, dass der Erfinder dir dieses Schutzartefakt irgendwann so oder so zugespielt hätte, da du unseres Wissens nach die Zutrittsberechtigung für das Laveau-Institut besitzt", fügte sie noch hinzu. Julius wertete das als Zusage, dass ihm der Gasvorgreifer auf Lebenszeit gehörte.
"Gut, dann klemme ich mir den sicherheitshalber schon mal ans Unterhemd. Hoffentlich beißt der sich nicht mit meinem Heilsstern."
Er zog schnell die silberfolie ab, griff das nachtschwarze, runde Etwas, fand die winzigen Haken und drehte es mit der glatten Oberfläche nach vorne. Dann zog er seinen Umhangkragen nach unten, tastete mit der freien hand nach dem Unterhemd und drückte den kleinen Knopf dagegen. Dieser erzitterte kurz. Julius vermeinte auch ein ganz leises Klicken gehört zu haben. Jedenfalls saß der Gasvorgreifer jetzt fest an seinem Unterhemd, nur fünf zentimeter von seinem Hals entfernt.
"Es müssten übrigens sechs erst unabhängige Goldbröckchen sein, meint mein kleiner Bauchturner. Neben den von dir schon aufgezählten Zaubern müssten da noch einer für die Nachladung und ein Desinteressierungszauber dazukommen." Julius nickte Nathalies Bauch zu. Sie sagte: "Er stimmt dir zu." Dann sagte sie noch: "Ich hebe jetzt den Klangkerker auf und geh mit dir noch zwei Minuten die Präsentation durch, wann du was vorlegen darfst und wann erst einmal nicht", legte Nathalie fest. Dann sagte sie noch: "Ich vermute, dieses Winzdrachengezücht hat nicht dich gemeint, sondern mich, eine von einer Veelaaura durchdrungene Brüterin, vielleicht Konkurrenz für sie." Danach hob sie den Klangkerker auf.
Julius war zwar kein großer Schauspieler, aber konnte schnell auf bestimmte Betonungen umstellen, eben nur amtlich. Vor allem musste er sich erst einmal entschuldigen, weil er später eingetroffen war als erwartet. Dann gingen sie den Ablauf durch. Sollte jemand mithören wusste der oder die eben nur, wie die Franzosen ihre Präsentation anlegen wollten. "Da ich selbst zu dem Konzert gehe verzeihe ich Ihnen Ihre Verspätung und begleite Sie, bis Sie die Dame treffen, mit der sie dem Konzert beizuwohnen wünschen", sagte Nathalie noch.
So verließen sie beide die blaue Kammer und gingen den am Morgen vorgestellten Weg zur "Halle der erlesenen Klänge".
"Ich habe echt gedacht, die hätten dich wegen gerade eben noch mal befragt", flüsterte Pina, als Julius sie traf. Er wisperte zurück: "Dann war das eben kein elektrischer Schlag. Aber nichts zu irgendwem, warum du jetzt was anderes denkst."
"Ich war wörtlich benebelt. Konnte nur denken: Nicht aufregen. Alles ist gut, tu du keinem was, denn keiner tut dir was. Aber klar."
"Werte anwesende Gäste, die traditionsreiche Musikvereinigung Tengoku no Kane, was in Ihrer Sprache Glocken des Himmels bedeutet, beehren Sie mit Ihrer Klangkunstdarbietung und werden mit Begleitung unserer Schattenspielkünstlerin Michiko Susuki die Geschichte der Schöpfung der Welt bis zum ersten Kaiser auf dem Chrysanthementrhon darbieten. Falls sie unsere erhabene, von Licht und Dunkelheit durchwobene Mythologie noch nicht kennen sollten möchten wir Ihnen empfehlen, das Programmheft in englischer Sprache zu lesen", rief eine Frau in einem kirschroten Kimono von der Bühne herunter, während hinter ihr die Musiker Aufstellung nahmen und eine weitere Frau mit verschiedenen dunklen Tüchern vor einer noch dunklen Leinwand hantierte. Außer Nathalie, Pina und Julius saßen noch dreißig weitere Gäste im gut gedämpften Konzertsaal. Julius griff sich zwei Programmhefte und gab Pina eines. Dann nahmen Sie Plätze in der dritten Reihe ein.
Das Konzert war anders als es westliche Ohren gewohnt waren. Doch die Musik konnte Erhabenheit, Liebesfreude, Trauer und Wut, Gehetztheit und Angst, Triumph und Entschlossenheit richtig gut darstellen, je danach, wo die Geschichte gerade war und was die Schattenspielerin an die nun helle Leinwand projizierte. Einen Teil kannte Julius ja schon aus der Karateausbildung. Den Rest gaben das Programmheft und das Schattenspiel her.
Als zwei abwechslungsreiche Stunden vergangen waren war Julius rechtschaffen Müde. Kohaku, der während des Konzertes mit den anderen Dienerinnenund Dienern der Besucher in den hintersten Reihen gesessen hatte, wartete mit seiner für Pina abgestellten Kollegin Hinagiku, bis die beiden sich bis morgen verabschiedet hatten. Dann geleitete Kohaku seinen Schützling zu seiner Suite, obwohl dafür eigentlich kein Grund bestand. Julius bedankte sich für seinen heutigen Dienst und erwähnte, dass er den Wecker gestellt habe. "Falls sie noch einen Wunsch haben sollten oder irgendwas anliegt rufen Sie nach dem Namen der magischen Stimme auch nach meinem, und ich werde zu Ihnen eilen, hochehrenwerter Gast Latierre."
"Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Dienstbereitschaft und hoffe, sie während der Nacht nicht bemühen zu müssen. Auch Ihnen eine erholsame Nacht, Kohaku", sagte Julius. Dann betrat er in seinen Hauspantoffeln seine Suite und verschloss sie.
Millie und Béatrice hatten den Nachmittag lang alle Bücher zu fernöstlichen Zaubern durchgeblättert, die in der Hausbibliothek oder in der Schattenbibliothek der Heilzunft zu finden waren. Nach dem Abendessen besprachen sie im Musikzimmer die Ergebnisse.
"Also, es ist wohl ein Hybrid zwischen alchemistischer Mixtur und Thaumaturgie, Ortsgebunden und Mondgebunden", sagte Béatrice. Milli hörte zu. "Es ist echt sowas wie dieser Todeswehrzauber, den Julius gelernt und dir und den anderen vom stillen Dienst beigebracht hat, nur dass der eben einen vollen Mondzyklus anhält und nur im Umkreis von tausend Schritten vom Quellort wirkt, und zwar nur auf die, die unmittelbar beim Entströmen das mit Mondmagie geladene Gas eingeatmet haben. Es ist übrigens geruchlos und ungiftig. Seine Wirkung beruht auf dem daran angehefteten Zauber. Hauch des friedvollen Mondes heißt er in unsere Sprache übersetzt und wird wahrhaftig als Beruhigungszauber gegen eine Masse Aufrührer eingesetzt. Allein das ist eigentlich schon eine Beleidigung für alle Gäste. Jedenfalls blockiert der Zauber den Drang zu töten und hemmt jedes Misstrauen, solange der Betroffene im damit geschützten Bereich verbleibt, was bei einer goldenen Käseglocke mit eingewirkten Appariersperren garantiert sein dürfte. Ja, und jetzt kommt was du sicher wissen möchtest: Wer mit diesem Hauch des friedvollen Mondes rechnet kann sich ebenso einen vollen Monat lang dagegen immunisieren, und zwar mit einem auf ein halbes Lot alter Messungen wiegendes Silber, dass einen Monat lang jede Nacht mit Mondlicht bestrahlt wurde und dem Zauber "Freiheit des Himmels". Ja, ich stimme deinem wütenden Gesicht völlig zu, dass das nicht nur eine Beleidigung, sondern eine große Sauerei ist."
"Ja, ist es, Trice. Aber kann jemand unter dem Einfluss dieses Zaubers zu irgendwas gezwungen werden wie bei Imperius oder dieser verfluchten Feuerrose von Ladonna?" wollte Millie wissen.
"Nicht durch Befehle. Aber der Betroffene vertraut denen, die im geschützten Bereich sind voll und ganz und ist geneigt, deren Vorschläge und Ratschläge zu befolgen, wenn sie so formuliert werden, dass sie nicht als Anweisungen verstanden werden. Insofern ist das wie ein Zauber aus Potentia Matrium", erwähnte Béatrice etwas, dass ihr sichtlich unangenehm war.
"Lacta Deditionis?" verkleidete Millie eine Vermutung als Frage. "Na, hoffentlich hast du den nicht gelernt. Sonst kriegst du noch Ärger mit deinen zwei bisherigen Hebammen und der Heilerzunft", bestätigte Béatrice Millies Vermutung.
"Gut zu wissen. Aber ich weiß nur, dass es ihn gibt und wirklich übel für die ist, die damit unterworfen werden. Öhm, aber so gesehen könnte dann ja jeder Vorschlag befolgt werden, egal von wem."
"Leider nicht, sondern nur die Vorschläge jener, die gegen den Hauch des friedvollen Mondes immunisiert sind und ihn mit eingeatmet haben. Deren Meinung wirkt dann dominant gegenüber der anderer, voll betroffener. Deshalb ist das ja auch eine große Sauerei", sagte Béatrice. Millie nickte nur zustimmend. Dann blickte sie auf ihre Damenausführung der Weltzeituhr, die sie von Tine zum siebzehnten bekommen hatte. "In Tokio und Umgebung ist es jetzt gerade vier uhr am sechsundzwanzigsten. Ich melo Julius um sieben seiner Zeit an, was bei uns Mitternacht ist. Bis dahin bin ich hoffentlich noch wach genug um eine Minute mit dem Herzanhänger zu mentiloquieren."
"Mach es bitte wieder so wie es beim freien Mentiloquieren angeraten ist. Keine langen vollständigen Setze, nur kurze Botschaften, Millie!" riet Béatrice ihrer Nichte. Millie bestätigte das und dachte schon, mit wie wenigen Worten sie Julius das Geheimnis des Nebels zuflüstern konnte.
Noch bevor ihn der auf sieben Uhr gestellte Wecker aus dem Schlaf riss hörte er Millies Gedankenstimme wwieder wie umgekehrter Hall in seinem Kopf: "Monju, morgen. Nur soviel: Silbernebel macht friedlich und voll vertrauensselig. Kann vor Einwirkung durch mit Mondlicht bestrahltes Silber und "Freiheit des Himmels"-Zauber überstanden werden. Wirkt nur da, wo auch das geladene Gas freigesetzt wurde. Macht Betroffene für Vorschläge und Ratschläge der immunen anfällig. Ende!"
"Danke, Mamille. Dann kannst du jetzt schlafen. Ist ja erst Mitternacht bei euch. Nacht!"
Wieder hatte sich der Herzanhänger erwärmt, aber nicht so stark wie gestern noch. Das lag wohl an der Kürze der ausgetauschten Botschaften. Julius legte den Anhänger wieder unter seinen Schlafanzug. Da klang das bestellte Wecklied, Griegs Morgenstimmung.
"Ihr Priester der Schweine", dachte Julius auf der Hut vor den "unsichtbaren Ohren" in den Wänden oder der Decke. Wollten die aus dieser Konferenz jetzt eine Werbe- und Verkaufsveranstaltung machen?Oder wollten sie alle dazu bringen, ihre Geheimnisse mit den japanischen Kollegen zu teilen, sozusagen als stille Übereinkünfte?
Obwohl Julius' Mistrauen vom Vortag mit ihm erwacht war beherrschte er sich gut, es sich nicht anmerken zu lassen. Er behandelte seinen zugeteilten Leibdiener Kohaku genauso höflich wie gestern und genoss das Frühstück, ohne daran zu denken, dass man ihn vergiften könnte. Zumindest verstand er, was dieser Silbernebel anstellte. Ein Bunker war ein Bunker und blieb ein Bunker. Irgendwann kam jeder auf komische Ideen, man wolle ihm oder ihr was. Insofern nutzte dieser Mondfriedenszauber tatsächlich was. So entspannte er sich und führte mit Bärbel, Pina und Frau Daidoji ein ruhiges Tischgespräch über Nachrichtenplattformen und welche davon auf spektakuläre Bilder aboniert waren. Frau Daidoji erwähnte, dass sie selbst eben viele illustere Foren abgrasen musste, teils kindlich unschuldige bunte Mangas, teils schon in harte Pornografie ausartende Seiten, wo sich Leute ausmalten, wie Sex mit diesem oder jenem Yokai verlaufen mochte. "Dabei haben diese Phantasten keine Ahnung, wie grausam die Realität sein kann. Aber mehr darf ich wegen gewisser Geheimhaltungsgründe nicht ausführen", sagte Masa Daidoji, welche ebenfalls wegen nichtmagischer Eltern zur Computerüberwacherin geworden war.
"Perdoneme, öhm, verssei'ung, Señor Latierre, ich suche Kollege Alfonso Almeda aus meiner Delegación", fragte ihn der spanische Beauftragte für friedliche Koexistenz.
"Ich habe ihn gestern nur beim Konzert gesehen, danach nicht mehr, Señor Haladorada", sagte Julius. "Que Porquería! Hat er ssich wieder versspätet, dieser Capullo. Noch eine schöne Tag!"
"Ihnen Auch", wünschte Julius.
"Häh? Was sollte das denn jetzt werden?" wollte Bärbel wissen.
"Mit Almeda steht und fällt die spanische Präsentation ihrer Vorschläge zur Verheimlichung von Meigas und anderer iberischer Zauberwesen, die er uns gestern angekündigt hat. Aber verlorengehen kann er hier sicher nicht", erwiderte Julius.
Ichiro Nakahara betrat eine nur für Ministeriumsbeamte erlaubte Kammer, in der mehrere dienstbare Mitarbeiter an leise tickenden, klickenden und tackenden Instrumenten und zwei Bilddarstellungs-Glastischen arbeiteten. "Guten Morgen, die Herren", grüßte er in seiner Muttersprache. Alle sprangen auf und verbeugten sich tief vor ihm. "Nicht so demutsvoll, ich bin nicht Minister Takahara, sondern nur sein Sicherheitsbeauftragter", sagte Nakahara. Dann fragte er: "Und, hat jemand es noch einmal geschafft, zu mentiloquieren?"
"Ja, Herr Nakahara. Zwei verschiedene Personen, eine um sechs kurz vor dem erbetenen Wecken und eine fast zeitgleich damit, wobei hier zuerst ein Durchbruch von außen erfolgte, aber mit gleicher Stärke. Öhm, das geht nur wenn mindestens neun völlig zeitgleich dasselbe an dieselbe Zielperson schicken wollen, Herr Nakahara", sagte einer der Geräteüberwacher.
"Ja, oder wenn einer einen US-amerikanischen Zuneigungsherzanhänger in Gold für verheiratete und bereits Eltern gewordene Hexen und Zauberer trägt. Also bleiben nur fünf Verdächtige, von denen wir es sicher wissen, Madame Barbara Latierre, ihr Schwiegerneffe Julius, sowie Armin Weizengold, Claudio Puentealto und Judith Fireclaw. Die Götter von Yomi wissen allein, wer von denen das ist, weil wir es nicht orten können, beim zerstörten Schwert des dunklen Wächters."
"Ja, aber sollten wir nicht wenigstens die betreffenden Gegenstände einziehen, Herr Nakahara?"
"Sie belieben zu scherzen, Überwachungsmann Murayama. Nehmen wir alle fünf an uns beleidigen wir nicht nur alle fünf wegen der Wegnahme, sondern beleidigen vor allem die vier, die unschuldig sind. Abgesehen davon können die fünf nach dem Hauch des friedvollen Mondes keine gefährlichen Nachrichten senden oder von anderen gegen uns aufgestachelt werden. Da wir mit ihnen nach Ausführung des Schutzbannes gesprochen haben müssen sie uns und nur uns bedingungslos vertrauen. Also sollen die doch weitermentiloquieren, solange ihre Anhänger nicht verglühen."
"Ja, aber Sie wollten den Delegierten Julius Latierre wegen dieser Hexe fragen, die den silbergrauen Zauberstab besitzt."
"Ja, hatte ich bis vorgestern noch vor. Aber jetzt weiß ich mit Sicherheit, dass sie diesen Stab schon seit mindestens elf Jahren hat. Da muss ich den Ruster-Simonowsky-Zauberer nicht fragen, wie seine Begegnung mit ihr verlief. Aber da die Hände der Amaterasu genauso unauffindbar geworden sind wie deren vermeintliche Todfeinde, die Kinder Susanoos, nützt mir diese Erkenntnis auch nichts. Sehen Sie bitte weiter zu, dass keiner in Sonnengelb oder Wasserblau mit Silberwellenmuster hier hereinkommt. Den Wellenmachern traue ich das eher zu als den Sonnenanbetern, aber nichts ist unmöglich."
"Ja, doch die Absprache mit Herren Ajima besteht weiter?" wollte ein anderer Zauberer wissen, der der höchste Diener der Sicherheit in diesem Haus war.
"Wir lassen Sie erst alle präsentieren und argumentieren. Wer sich dabei am ergiebigsten erweist darf uns in einzelnen Gesprächen noch mehr verraten. Außerdem sollen sie unsere Königslösung erwerben, um dieses Problem zu lösen, dass die jetzt erst zu haben meinen und wir schon seit den ersten armseligen Monsterfilmen bedenken und behandelt haben. Passen Sie bitte weiterhin gut auf, falls wie erwähnt jemand von außen hier einfallen sollte. Wir haben gerade viele sehr wichtige Leute hier auf einem Haufen versammelt. Wir dürfen uns keine Blöße geben. Am Ende taucht noch diese Hexe mit dem gestohlenen Stab und dem Feuerschwert auf oder deren italienische Gegenspielerin aus zwei verfemten Blutlinien.""
"Das mögen die Götter verhüten, hochehrenwerter Herr Nakahara", stieß Murayama aus. Alle anderen stimmten ihm wortlos zu.
Der Konferenztag begann eine Viertelstunde später, weil der gesuchte Señor aus Spanien total verschlafen hatte. Offenbar hatte der den Wecker nicht gestellt oder schlichtweg überhört. Erst als sein zeitweiliger Leibdiener vor Konferenzbeginn an die Tür klopfte sei er aufgestanden. Entsprechend wurde er von seinem Vorgesetzten verstört angestarrt. Julius war sich sicher, dass ohne den Silbernebel in den meisten Köpfen eine lautstarke Aussprache fällig gewesen wäre. Das konnte ja noch kommen, wenn der Konferenztag vorbei war.
Jedenfalls ging es weiter mit der ersten Vorstellungs- und Erläuterungsrunde. Während der Mittagspause formierten sich Tischgesellschaften aus verschiedenen Delegationen, aber nach Fachgebieten und Zuständigkeiten Sortiert. So kam Julius wieder mit Nathalie, Pina, ihrem Vorgesetzten Tim Abrahams, Bärbel und ihrem Vater und Vorgesetzten Armin Weizengold und dem belgischen Vertreter für friedliche Koexistenz ins Gespräch über mögliche Benutzerkonten bei Facebook und anderen bestehenden und künftigen Plattformen, die gezielt Leute anlocken sollten, die an Magie interessiert waren. Dabei sollte es möglichst vermieden werden, die wirkliche Zaubererwelt zu beschreiben. Dazu meinte Bärbel: "Stimmt, denen müssten wir dann erklären, dass das was uns betrifft alles genauso nur erfunden ist wie die Star-Wars-Geschichte oder die dreibeinigen Kampfmaschinen vom Mars."
"Stimmt, die Geschichte haben die ja auch wieder verfilmt", sagte Julius dazu. Armin Weizengold sah beide verwundert an. Darauf sagte Nathalie: "Die Erzählgattung namens Science Fiction hat auch schon gestandene Thaumaturgen und Alchemisten zu neuen Erfindungen inspiriert. Eine davon leistet zur Zeit Unterstützung bei der Bergung verschollener Zaubergegenstände aus New Orleans."
"Stimmt, habe ich gelesen, das gelbe U-Boot", erwiderte Bärbel. Ihr Vater nickte nur. Dann bat Nathalie, das eigentliche Thema weiterzubesprechen, den Umgang mit den neuen Kennenlern- und Austauschplattformen. Denn Facebook würde sicher Schule machen und/oder im Lauf der Zeit viele Nutzerinnen und Nutzer gewinnen.
"Ja, und da kann jeder jede noch so abgedrehte Geschichte reinsetzen", seufzte Julius. "Madame Merryweather hat das schon ausprobiert, einfach mal um zu kucken, wer auf so eine erfundene Geschichte anbeißt. Resultat: 2000 haben es gesehen und ganze 900 davon mit "Gefällt mir" bewertet. Wer braucht da noch Drachen, Trolle oder böse Zauberer wie Grindelwald und den anderen?"
"Ja, aber das wirkt nur, wenn die meisten nur noch über diese Quelle ihre Nachrichten beziehen", warf Pina ein. Doch sie wirkte so, als halte sie genau das für möglich und fühle sich dabei nicht wohl.
"Ja, und hier in Japan ist ja das Mutterland der Mangas und darauf aufbauende Animes", sagte Bärbel noch. "Da gibt es sicher auch genug Leute, die sich darin verlieren und denken, das sei alles echt."
"Wo wir dann wieder ansetzen können und das, was bei uns echt ist als glatte Erfindung verkaufen", sagte Julius.
Offenbar schienen sich einige Delegationsmitglieder in einer Grundsatzdebatte über den Umgang mit den Zaubererweltgesetzen verheddert zu haben. Denn als Kazuki Ajima das Ende der Mittagspause verkündete blieben zwei Tische besetzt, während die anderen schon in die Waschräume liefen.
Der Nachmittag verlief so, dass nun auch die Japaner ihre Meinung und Ansetze zu "Blickschutz" präsentierten und Julius Latierre beipflichteten, dass die bei ihnen gebauten Kameras und tragbaren Rechner durchaus dazu führen konnten, dass mehr magische Sachen offenbart wurden. Auch hatten die Japaner schon mit den Chinesen Kontakt aufgenommen, um mit diesen im vertraulichen Dialog zweier Nachbarn, die nicht immer hold waren aber eben doch Nachbarn blieben, nach einer asiatischen Lösung zu suchen. Kazuki Ajima kündigte an, hierzu näheres bei der Einzelheitenbesprechung am nächsten Tag darzulegen. Er würde erst alle bereits voranschreitenden Arbeiten präsentieren lassen und dann die noch nicht umgesetzten Vorhaben aufeinander abstimmen, falls dies erwünscht sei. Natürlich war dies erwünscht, weil sie ja sonst nicht hergekommen wären. Russen und Amerikaner waren ja schon ferngeblieben, weil sie dachten, sie könnten es alleine oder wollten nicht jeden an ihrem Wissen teilhaben lassen.
Der Abend dieses Tages klang für die abgeschottet wohnenden Delegierten mit Sportübungen aus. Julius vermied es, in das Schwimmbad zu gehen, weil er hierfür seine wichtigsten Zaubergegenstände ablegen müsste. Sicher, er hatte den Wandtresor mit nur auf ihn geprägtem Körperspeicher. Doch wusste er, ob es dazu nicht doch noch einen Generalschlüssel gab? Also lieh er sich einen Karateanzug aus, legte sich einen braunen Gürtel um und versuchte sich an einem der Sparringsautomaten. Es dauerte nur zwei Minuten, da wusste er, dass er in dieser Kampfkunst einige Übungsjahre zurücklag. Sicher, gegen einen Gegner, der entweder gar nicht darauf gefasst war oder kein Karate konnte war er immer noch im Vorteil. Aber bei einem Kampf gegen einen regelmäßig trainierenden Gegner würde er genauso platt auf dem Rücken landen wie gegen den gepolsterten Robokämpfer.
So testete er seine ohne Frage bestehenen Reflexe und Kondition in einem der Hindernisparcours'. Das lag ihm schon besser, auch wenn seine Schwiegertante Barbara es als Herausforderung ansah, den Parcours zu bewältigen und Julius um zehn Sekunden unterbot.
"Du bist gut in Form, Julius Latierre. Aber ich bin nach dem Abstillen nur mit Latierre-Kuhmilch zum Frühstück ernährt worden", grinste seine Schwiegertante ihn an, während Adrastée Ventvit nur ungläubig dreinschaute.
"Als es für ihn spät abends war riskierte er es wieder, eine kurze Melobotschaft an seine Frau zu schicken. "Heute nur abschluss der Vorstellungs- und Ideenrunde. Wichtig wird's ab morgen. Nacht, Mamille!"
"Bei uns ist es erst vier, Weltreisender. Nacht!"
Die drei folgenden Tage wurde in der Abgeschiedenheit des Hauses hoher Gäste diskutiert, ob es Sinn machte, nur die Überwachungskameras für echte Magie blind zu machen oder gleich die von der französischen Delegation angedachte RFID-Lösung für jede Art von Aufzeichnungsgerät anzuwenden. Allerdings kam dabei kein probates Mittel heraus, wie die restlichen Aufzeichnungen unversehrt bleiben konnten, um eben keine auffälligen Lücken zu hinterlassen. Julius fiel jedoch auf, dass die Japanischen Gastgeber an seinen Lippen hingen, wenn er mit Hilfe seiner Struktogramme die genauen Abläufe für die Umprogrammierung von Speichersoftware darlegte. Die anderen wurden gefragt, ob sie nachvollziehen konnten, was Julius meinte. Pina und Masa Daidoji bestätigten das.
"Es ist sicherlich hochinteressant, dieses Wissen in praktische Ergebnisse umzusetzen", begann Ajima. Die allermeisten hörten ihm buchstäblich gebannt zu. "Deshalb möchte ich, Ihr geschätztes Einverständnis als Grundlage erbittend, Madame Grandchapeau, vorschlagen, dass Monsieur Latierre in den kommenden Monaten für mindestens ein Austauschjahr in unserem Land den dortigen Fachkundigen zur Seite steht, um das von ihm offenbarte Wissen in der Praxis zu erproben. Zudem würde sich für Ihn auch eine Möglichkeit ergeben, wichtige Erfahrungen für seine weitere Tätigkeit zu sammeln. Stimmen Sie dem Zu, Madame Grandchapeau?"
"Ein Austauschjahr?" fragte Nathalie. "das hieße, jemand von Ihnen würde dann zu uns kommen. Wen würden Sie denn da schicken?" Immer noch blieben alle anderen ruhig.
"Einen ebenso begabten wie interessierten jungen Mitarbeiter, Kyo Nakamura sein Name", sagte Ajima. Masa Daidoji sah Frau Hashimoto an, die sie an Herrn Ajima verwies. "Sie möchten ums Wort bitten, Frau Daidoji?" Diese nickte. Dann sagte sie: "Der Kollege Kyo Nakamura beherrscht zwar die englische Sprache, aber kein Französisch. Da würde auch der Wechselzungentrank nicht helfen, der andere Sprachen verstehen und sprechen lässt, hochehrenwerter Behördenleiter Ajima. Ich schlage deshalb vor, dass, falls Monsieur Latierre von Ihnen, hochehrenwerte Madame Grandchapeau, freigestellt wird, nicht in der Überwachung des Internets, sondern in der Weiterentwicklung des Arkanets tätig werden mag, was ihm und uns allen hier sicher einen besseren Stand gegen die viel zu schnelle Verbreitung unliebsamer Nachrichten erbringt."
"Des weiteren frage ich, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn Ihr Mitarbeiter, Madame Grandchapeau, alle Unterlagen über die Verteilung von Arkanetknoten und die Erweiterung dieses hochwirksamen Netzwerkes mit uns teilt, weil wir nach den Amerikanern mehr Zugriff auf integrierte Schaltungen haben", sagte Ajima.
Julius kapierte es jetzt. Sie wollten ihn abwerben, ihn erst ein Jahr lang und dann für immer als Arkanetprogrammierer einspannen, weil sie an seine Mutter nicht herangekommen waren. Doch da legte Nakahara noch einen drauf: "Nun, ich denke, wir müssten dann wohl nicht nur Madame Grandchapeau fragen, sondern auch Monsieur Dupont, ob es im Rahmen der Verbesserung der Beziehungen nicht sehr erfolgreich sein mag, wenn die Fachkundigen des Arkanets nicht nur in den Staaten und Frankreich, sondern wie vor einiger Zeit Martha Merryweather auch bei uns wirken würden. Hierzu bräuchten wir natürlich sämtliche Grundlagen des Arkanets, nicht nur die lauffähigen Programme. Würden Sie einem solchen Austausch zustimmen, hochehrenwerter Monsieur Chevallier?"
"Wenn dadurch die Verbreitung magischer Vorkommnisse in diesem Internet unterbunden würde stimme ich zu", sagte Belenus Chevallier.
"Monsieur Latierre, ich möchte Sie fragen, wie sie dazu stehen", wollte Ajima wissen. Julius sah Nathalie an. Diese schüttelte den Kopf. So sagte er: "Ohne die klare Einwilligung meiner Vorgesetzten darf ich zu dieser Frage keine Stellung nehmen." An den verblüfften Gesichtern von Nakahara und Ajima sah Julius, dass sie garantiert nicht mit dieser Antwort gerechnet hatten und auch Nathalies stumme Ablehnung ihnen nicht gefiel. "Ja, doch außer Martha Merryweather ist nur Monsieur Latierre befähigt, das Arkanet von Grund auf zu verbessern. Welchen Sinn sollte es ergeben, an einem Punkt innezuhalten und alle anderen Entwicklungen vorbeiziehen zu lassen. Eines Tages wird das Arkanet in seiner jetzigen Form überholt sein, ja für böswillige Unbefugte wie ein offenes Buch ausgebreitet daliegen. Wollen Sie das, Monsieur Latierre?"
Diesmal gewährte ihm Nathalie zu antworten. "Weil ich das nicht will, arbeite ich bereits mit anderen an ständigen Verbesserungen. Doch von Ihnen hört es sich so an, als dürfe ich es ausschließlich nur bei Ihnen. Stimmt das?"
"Nicht ausschließlich", knurrte Nakahara alles andere als freundlich. Da sagte Masa Daidoji: "Ich verstehe natürlich Ihr Zögern, Monsieur Latierre. Sie haben eine Familie und möchten diese nicht über ein Jahr alleine lassen, richtig?" Julius nickte. Soweit konnte er ja gehen. "Dann schlage ich vor, dass Ihre Familie für die Zeit, die Sie bei uns an der Verbesserung des Arkanets arbeiten, im Haus der hohen Gäste wohnt, natürlich kostenlos, sofern unser Hüter der Werte und Handelsmittel dies genehmigt. Das Haus ist sehr gut geeignet, um große Familien aufzunehmen", sagte Kazuki Ajima. Da schaltete sich Emi Chihara ein. "Dies wird unser Hüter der Werte und Handelsmittel nicht genehmigen, ohne eine Bereitwilligkeitserklärung für eine Ausnahme für uns alleine", sagte sie. "Ich müsste dazu den hochehrenwerten Kollegen fragen und womöglich auch den erhabenen Oberhofzauberer seiner Majestät, Minister für Zauberei, magische Wesen und Dinge, Ninigi Takahara. Dafür brauche ich jedoch Ihre fachliche Bewertung, welche Vor- und Nachteile es haben könnte, die hochehrenwerten Kollegen Nakahara und Ajima." Nun blickten die zwei erwähnten Herren ihre Kollegin sehr verdrossen an. Damit hatte Julius es amtlich, dass die beiden gegen ihren eigenen Nebel immunisiert worden waren. Aber galt das auch für Emi Chihara und die anderen der Delegattion?"Wir werden diese und alle anderen vorgebrachten Fragen prüfen und morgen oder am letzten Tag noch einmal darauf zurückkommen", sagte Ajima etwas verstimmt. Sein Kollege Nakahara setzte noch nach: "Sie sind zu uns gekommen, weil Sie wissen, dass die hiesige nichtmagische Bevölkerung sehr weit fortgeschritten ist, was elektronische Gerätschaften angeht, das haben Sie, Monsieur Latierre, selbst in ihrer ersten Übersichtserklärung erwähnt. Überdenken Sie bitte unseren Vorschlag. Sie würden hier mehr Erfolg haben als in Frankreich."
"In welchem Bereich?" fragte nun Julius und erntete einen kurzen, tadelnden und dann erkennenden Blick Nathalies. "Öhm, ja, in der Arkanetprogrammierung und Anwendung", sagte Ajima ein wenig unwirsch. "Achso, und Sie meinten meine Erfolge als Familiengründer", sagte Julius. Nathalie, Pina und Bärbel mussten hinter vorgehaltenen Händen grinsen.
"Wie erwähnt, dies kann ohne die Rückfragen bei den entsprechenden Herren nicht abschließend abgesprochen werden", sagte Emi Chihara. So wie die zwei hohen Herren aussahen hatte sie bei denen gerade voll auf die Spaßbremse getreten und sie aus der sichergeglaubten Erfolgsspur geschubst. Dann shlug sie auch noch vor, erst einmal die weiteren international relevanten Punkte dieser Konferenz zu besprechen. Das war für die zwei Herren genug für einen Abend. Die Konferenz wurde auf den nächsten Tag vertagt.
Barbara Latierre traf Julius in der Parcourshalle wieder. Er hatte Revanche gefordert, und sie wollte sie ihm bieten. Dabei passierte das gleiche, was ihm mit Pina passiert war. Sie klopfte ihm auf die Schulter. Dabei zuckte sie wie von einem mittelstarken Stromschlag getroffen zusammen. Dann rieb sie sich erst die Hand und dann die Augen. Dann sah sie Julius so an, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht. Sie legte sofort die Finger an die Lippen und winkte ihm mit der anderen Hand zu, ihr zu folgen.
Sie führte ihn in die violette Kammer der vertraulichen Absprachen, nachdem sie gesichert hatte, dass niemand dort war. Julius legte nun seine Finger an die Lippen und zog seinen Zauberstab. Dann baute er einen zeitweiligen Klangkerker auf. Als dieser ockergelb alle Wände, den Boden und die Decke auskleidete verzerrte sich das Gesicht seiner Schwiegertante. "Also doch kein dauerhafter Klangkerker", knurrte sie wie eine Hündin, der man den Knochen aus dem Maul ziehen will.
"Kann es sein, dass du was an dir hast, was mich gerade aus einem traumartigen Zustand befreit hat?" fragte Babs Latierre. Julius nickte heftig und zeigte ihr, was es war. "Also ist dieser Nebel nicht so harmlos, wie die uns erzählt haben?"
"Sagen wir so, er ist nicht Imperius und er hält Leute wirklich von aggressiven Gedanken und Handlungen ab, hat Millie mir gemelot. Aber er soll für Vorschläge von dagegen immunen Leuten, die ihn mit dir zusammen eingeatmet haben, anfällig bis willfährig stimmen, weil eben das gesunde Misstrauen unterdrückt wird. In einem Bunker oder unter dieser goldenen Käseglocke ist das gut, wenn sich nicht alle gegenseitig zerfleischen wollen oder können. Aber was die jetzt machen ist schon dreist."
"Sie wollen dich abwerben und für unbestimmte Zeit hierbehalten, weil die wissen, dass du nach Martha der einzige bist, der das Arkanet in- und auswendig kennt. Sie werden natürlich keine Gewalt anwenden, obgleich die Ausnutzung dieses Friedensnebels schon eine Form von magischer Gewalt gegen den Geist ist. Wetten, dass die die Chinesen und Inder ähnlich behandelt haben?" fragte Babs Latierre.
"Öhm, die Chinesen und Inder?" fragte Julius nach.
"Ja, der werte Kollege der japanischen Zauberwesenabteilung hat es der australischen Kollegin Flatfoot aufgetischt, dass sie vor einer Woche mit den hochehrenwerten Vertretern von China und Indien unterhandelt haben, wie sie mit dieser neuen Bedrohung umgehen sollten. Bei der Gelegenheit ging es dann auch um die Wertiger, die Vampire und deren Abarten wie die Hiyang Shis, falls du von denen schon was gehört oder gelesen hast."
"Die nur hüpfen können, weil sie erst mitten in der Totenstarre wieder aufwachen", erwiderte Julius. "Ja, und die Seelenenergie saugen statt Blut, bis der Körper so erschöpft ist, dass er stirbt", legte seine Schwiegertante nach. Dann fuhr sie fort: "Jedenfalls hat der japanische Kollege angeregt, dass wir Europäer die mit Indien und China ausgehandelten Meldezauber erhalten sollen, wenn diese Konferenz ein Erfolg wird. Jetzt weiß ich, was er damit gemeint hat."
"So hat sich der Klingone Worf gefühlt, als man seine Familie als Erben eines Verräters verklagt hat, obwohl alle wussten, dass ein anderer der Verräter war, der aber nur zu mächtig war, um angeklagt zu werden", grummelte Julius. "Das sagt mir jetzt nichts, aber wenn du damit meinst, dass unsere Gastgeber ihren Ehrbegriff vergessen haben könnten muss ich dir leider zustimmen."
"Warum soll nicht auch in Ostasien der Zweck die Mittel heiligen. War ja bei Grindelwald und Lord Unnennbar auch so", ätzte Julius. "Ja, nur dass sie nicht über Angst und Brutalität an ihr Ziel wollen", räumte Barbara Latierre ein.
"Hmm, ich weiß nicht, ob die Kammer überwacht wird. Deshalb sollten wir besser Nathalies Rat befolgen und ... neh, unauffällig ist mit heute abend erledigt, nachdem Madame Grandchapeau gezögert hat, mich auszuleihen."
"Ja, aber uns einfach so verschwinden lassen können sie auch nicht."
"Ich fürchte, wenn sie müssten könnten die es ganz gut. Wenn die so Nebel haben, die eine Menge Leute auf einmal lammfromm und folgsam stimmen können haben die noch mehr Tricks im Ärmel. Kämpfen geht gegen die auch nicht, weil die Zauber können, die wir nicht kennen und weil die garantiert bessere Karatekämpfer sind als du und ich. Wir können auch nichts auffliegen lassen, weil die meisten anderen noch benebelt sind. Nur du, meine alte Schulkameradin Pina und Nathalie sind außer mir frei von diesem Mondzauber."
"Ja, bei über dreißig Leuten zu wenig", erwiderte Babs Latierre.
"Dann machen wir, dass wir zum Parcours kommen, bevor doch noch wer die Kammern prüft."
Vor der Kammer stand niemand. So konnten sie wieder in den Sportraum. "Heute mach ich dich fertig, Tante Babs. Jetzt kenne ich alle Hindernisse und Kletterforderungen", tönte Julius. "Ja, aber erst wenn du euer nächstes Baby zur Welt gebracht hast", erwiderte seine Schwiegertante. Da kam Bärbel Weizengold und fragte, ob sie zuschauen dürfe. Sie stimmten zu.
Tatsächlich schaffte es seine Schwiegertante, ihn um zwölf Sekunden zu unterbieten, obwohl beide schneller waren als gestern. "Tja, ich habe mir auch alle Griffe und Übersteigmöglichkeiten gemerkt", lachte sie, während Julius sichtbar erschöpft war. Da kam Bärbel auf ihn zu und tätschelte seine verschwitzte Stirn. Da zuckte auch sie zusammen wie von einem mittelschweren Stromschlag getroffen. Doch diesmal sagte Julius nur: "Die Turnschuhe auf dem Boden hier haben mich wohl aufgeladen und du hast mich entladen."
"Das war kein elektrischer Schlag", zischte Bärbel. Dann peilte sie umher. "Okay, war ein elektrischer Schlag", fauchte sie leise, weil gerade drei vom Dienstpersonal eintraten. "Wir möchten die hochehrenwerten Gäste darüber in Kenntnis setzen, dass der Hindernisparcoursraum eins in fünf Minuten geschlossen wird. Wir hoffen ehrerbietigst, dass dies keine Unanehmlichkeit für Sie ist", sagte Kohaku, Julius' Leibdiener. War der etwa auf ihn angesetzt worden, um abzusichern, dass er nirgendwo mehr alleine hinging? Nein, er durfte nicht paranoid auftreten.
Als er wieder in seiner Suite war fiel ihm ein, dass Kohaku jederzeit ungefragt zu ihm vordringen konnte. Ja, er musste ihn aussperren. Als Erdvertrauter war das ein Klacks für ihn. Doch vorher untersuchte er die Schränke und Möbel auf zusätzliche Vorrichtungen. Er konnte die unsichtbaren Stränge der ineinander verwobenen Komfortzauber finden und dabei tatsächlich leuchtende Feldlinien sehen, die wie große Ohren geformt waren. Ja, Magiestränge sichtbar zu machen konnte einen echt das gruseln lehren. Also verschloss er wie gewohnt die Tür. Dann hielt er seinen Zauberstab an jede Ecke der Tür und murmelte eines von vier Zauberworten, die eine Tür zur Wand machten, solange sich die große Mutter einmal um sich selbst drehte. Selbst Reducto oder Confringo konnte sie nicht wegsprengen. Er konnte den Zauber aber jederzeit widerrufen, weil er das Auflösungspasswort mit eingewirkt hatte: "Duras".
Mit dem Gasvorgreifer am Unterhemd unter dem Schlafanzug, dem Herzanhänger und dem Heilsstern unter der Kleidung legte er sich hin.
"Haben Sie es bemerkt, hochwerter Kollege Ajima, Nathalie Grandchapeau und Julius Latierre sind offenbar gegen den Hauch des friedvollen Mondes gefeit. Bei ihr schätze ich, dass es jener Zauber einer rachsüchtigen Veelastämmigen ist, der sie für andere Zauber unerreichbar gemacht hat. Aber ist es das gleiche auch bei ihm, wo er Veelabeauftragter ist?"
"Ja, das oder es ist seine besonders hohe Zauberbegabung, die seinen passiven Widerstandswert erhöht oder er führt was mit, was ihn stärkt", erwiderte Ajima.
"Ich könnte ihn durchsuchen lassen und alle verdächtigen Gegenstände zur Untersuchung einreichen", sagte Nakahara. "Am Ende kann ich ihn sogar damit gefügig machen, dass er entweder nur noch für uns das Arkanet pflegt oder in den See der Ruchlosen geworfen wird."
"Hochehrenwerter Kollege Nakahara, das würde nur gehen, wenn die höchstehrenwerten acht und/oder der höchstehrenwerte Herr Takahara ihn eines dieses Urteils würdigen Verbrechens für schuldig erklärt. Das hieße jedoch, dass wir die Heimlichkeit dieses Treffens aufkündigen würden, und das wiederum ... Ach, das darf Ihnen die hochehrenwerte Kollegin Chihara erklären."
"Ja, aber wenn wir seine Sachen durchsuchen. Wir könnten den Hauch der Drachenzähmung zu ihm hinleiten. Kohaku kann in seine Unterbringung und alles an sich nehmen, was er bei sich hat oder am Leibe trägt."
"Ja, und wenn was davon diebstahlsicher bezaubert wurde oder bei unbefugter Berührung einen Alarmruf an uns unbekannte und unerreichbare auslöst. Wenn Sie seinen Herzanhänger wegnehmen merkt seine Frau das noch in dieser Entfernung. Die Armbanduhr die er trägt ist ebenfalls auf einen nur von ihm nutzbaren Schlüssel geprägt", erwiderte Ajima. Dann meinte Nakahara: "Sie sind ähnlich verderbend wie Emi Chihara. Wie kam diese darauf, den Oberhofzauberer zu fragen oder diesen Goldwärmer von Handelsabteilungsleiter?"
"Dies vermag ich nicht zu beantworten. Ich weiß nur, dass Sie sehr verdrossen und überrascht dreingeschaut haben, hochehrenwerter Kollege Nakahara."
"Da haben Sie wohl in den Spiegel gesehen. Denn sie sahen nicht erfreuter oder beherrschter aus", gab Nakahara es seinem Kollegen zurück. Dann sagte er noch: "Wir könnten den Burschen anklagen, weil er sich mit der Hexe mit dem geraubten Zauberstab des dunklen Wächters gegen uns verschworen hat."
"Und einen internationalen Aufruhr verursachen, hochehrenwerter Kollege Nakahara? Auch ich will dieses Arkanet ganz allein in unseren Händen wissen. Dass die Amerikaner es verloren haben heißt, dass es noch genug geheime Hintertüren und Absicherungen gibt, die es unbrauchbar machen. Doch wenn wir zugeben müssen, dass wir ein geheimes Treffen hochrangiger Hexen und Zauberer ..."
"Wo steht das? Er könnte durch aus bei uns eingedrungen sein, um uns zu schaden", spann Nakahara weiter an seiner Idee. Doch Ajima zerriss diesen Hoffnungsfaden mit einem Satz: "Dann müssten sie alle töten, die von dieser Zusammenkunft wissen, einschließlich aller Zaubereiminister, die dem zugestimmt haben." Nakahara stierte ihn noch verdutzter an als vorhin Nathalie Grandchapeau und Julius Latierre. Dann hieb er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Nein, das kann und will ich natürlich nicht, zumal ich nicht weiß, wer davon Kenntnis hat und wie schnell diese sich verbreitet, wenn wir doch mit Gewalt vorgehen. Gut, dann verbleibt nur das Angebot, das wir unterbreiten werden."
"Ich denke, dies ist die klügste Lösung. Ebenso denke ich, dass diese Unterredung nicht stattgefunden hat, hochehrenwerter Kollege Nakahara", sagte Ajima. Dann lächelte er: "Frau Daidoji und Herr Nakamura können die Geheimnisse des Arkanetsystems auch ohne die Mithilfe Monsieur Latierres oder seiner weit nach der Geburt magisch erwachten Mutter ergründen. Ich habe da einen Plan, wie das gehen kann ..." Nakahara verstand zwar nur ein Drittel dessen, was Ajima ihm sagte. Doch er erkannte, dass es die gewünschte Gelegenheit bieten mochte. So wollten sie am nächsten Tag weitermachen, als wenn nichts gewesen wäre.
Julius mentiloquierte Millie um sechs Uhr Ortszeit, was ihm gestern vorgeschlagen worden war und dass er es Nathalie überließ. "Wehe der und dem kleinen Braten in ihrem Ofen, wenn die dich verhökert, Monju. Und wir bleiben in Millemerveilles. Basta und aus!"
"Ich habe dich auch lieb, Mamille", schickte Julius zurück. Noch einen oder zwei Tage, dann kam er hoffentlich unter dieser nach Intrige und Verrat stinkenden Käseglocke heraus. Vielleicht versuchten die noch was, um ihn entweder zu ködern oder gefügig zu machen. Sie hatten nur ein massives Problem: Die wollten dieses Treffen geheimhalten. Anderswo in der Welt wussten einige wichtige Leute, dass es stattfand und wer daran teilnahm. Ihn mal eben verschwinden lassen konnten sie nicht. Die einzige Chance wäre gewesen, ihn in einer buchstäblichen Nacht-und-Nebelaktion aus dem Zimmer zu holen, ihm was einzutrichtern, was ihn auf ihre Linie brachte und dann wieder zurückzulegen, um am nächsten Tag zu ernten, was sie in ihm gesät hatten. Doch er konnte noch frei denken und fühlte auch keine Auswirkungen irgendeiner Droge.
Emi Chihara knüpfte an das Thema vom Vortag an. Sie sagte dass Herr Kinfukuro, der Hüter der Werte und Handelsmittel die Unterbringung einer Großfamilie für ein volles Jahr untersagte, sofern dies die Bedingung sei, dass ein europäischer Fachzauberer in diesem Land arbeiten möge. Julius legte dann noch mit Nathalies Erlaubnis nach, dass seine Frau ihm vor Zeiten schon klargemacht habe, dass sie mal für einige Wochen ins Ausland könne, aber nicht für ein Jahr oder ein ganzes Leben auf ihre Heimat verzichten wolle, zumal ein abgeschirmtes Haus wie dieses hier kein Umfeld für wuselige Kinder war, die gerade anfingen, die große weite Welt zu entdecken. Barbara Latierre konnte dann sogar noch einen draufsetzen. Sie sagte: "Wir Latierres lieben Frankreich, unsere Heimaterde, und wir lieben es, mit unseren Kindern unter freiem Himmel zu spielen, auf Besen zu fliegen, in Gewässern unter freiem Himmel zu baden. All das gibt es in diesem Haus nicht." Dabei brauchten sie und Julius nicht mal zu sagen, dass sie "das Haus der hohen Gäste" bis her nicht einmal von außen gesehen hatten. Julius vermutete sogar, dass es eine unterirdische Höhle war, die tief unter einem Berg lag. Kein Platz für eine wilde Motte wie Chrysope oder eine Besenprinzessin wie Aurore und vor allem keine gleichaltrigen Freunde.
So ging es nur noch um die Software für die Kameras und die Lebensaurenerfasser. Als das durch war sagte Herr Ajima leutselig:
"Nun, wir wollten erfahren, wie weit Sie schon sind, die Damen und Herren. Nun ist es an der Zeit, Ihnen zu zeigen, dass wir dieses Problem schon vor vierzig Jahren gelöst haben. Denn wir haben ungebärdige Wesen bei uns, die von den Nichtmagiern weiterhin für Sagen- oder Märchengestalten gehalten werden sollen. Deshalb möchte ich Ihnen nun präsentieren: Den lautlosen Verberger!"
Wie bei einer Werbesendung im Fernsehen zog Ajima nun einen schmalen, mitternachtsblauen Gürtel hervor, der mit japanischen Schriftzeichen bestickt war. "Dieser unscheinbare Gürtel verhilft jedem, der ihn trägt, zu einer Absicherung gegen elektrische Augen und Ohren, sobald er ihnen näher als zwei Schritte kommt. Ja, es ist sogar möglich, alle Aufzeichnungen der letzten fünfzehn Minuten aus den Aufnahmegeräten in diesen Gürtel einzusaugen und darin zu verschließen und dafür belanglose Bilder derselben Umgebung in das Gerät zurückzuübermitteln. Der lautlose Verberger ist die Antwort auf die von Ihnen allen gestellten Fragen: Kann er Zauberer und Hexen vor Kameras verbergen? Ja, er kann. Vermag er bereits aufgezeichnetes Zauberwerk unaufgezeichnet zu machen? Ja, er kann. Können damit auch eventuell Spuren magischer Wesen verwischt werden, ja das können sie. Ist er gut zu handhaben? Ja, das ist er. Wie viele Gürtel brauchen sie? Sagen Sie uns die gewünschte Menge, und wir ermitteln Lieferzeit und Endbetrag für sie."
Die Konferenzteilnehmer starrten auf den Gürtel wie auf eine neue Zaubertierart. Arthur Weasley fragte begeistert: "Wieso haben Sie das nicht schon vor drei Tagen gesagt? So ein Gürtel, wenn er tut, was sie sagen, ist doch die Ideallösung." Dem stimmten alle zu. So pries Kazuki Ajima den wortwörtlich aus dem Ärmel gezauberten Gürtel weiter an und erwähnte, dass er nicht nur vor elektrischen Augen verbarg, sondern den Träger bei aufkommender Angst völlig unsichtbar machte, völlig, weil auch Wärmestrahlung zurückgehalten wurde. Außerdem hieß der Gürtel "Der lautlose Verberger", weil er rein durch Gedankenkraft gesteuert werden konnte.
So verging nun eine Stunde, wo die genauen Abmessungen des Gürtels, die Grundmaterialien und die Lieferfristen erörtert wurden. Da bis auf Nathalie, Barbara, Pina und Julius unter dem Bann des silbernen Nebels standen willigten alle sofort ein, mindestens je zwanzig Stück für ihre Außentruppen anzuschaffen, ohne sich vorführen zu lassen, dass er wirklich tat, was behauptet wurde. "Sie dürfen Probemodelle mitnehmen und sie in der wilden Praxis prüfen. Die Probemodelle werden dann einen vollen Monat halten. Erfolgt keine Bestellung an uns, so werden sich die ausgeborgten Gürtel selbstvernichten. Dies werden sie auch, wenn jemand versucht, ihre Beschaffenheit und Funktionsweise zu ergründen. Somit können wir Ihnen allen den lautlosen Verberger zur Probe geben", sagte Ajima. Nakahara, der gestern noch um Julius' Umzug nach Japan gerungen hatte, lächelte nur. Julius empfand das als Scheinheiligkeit. Anstatt gleich auszupacken, dass sie solch ein Gerät hatten, das nicht mal nach magischer Apparatur aussah, hielten sie eine tagelange Debatte ab und versuchten, vielversprechende Kandidaten abzuwerben. Jetzt waren sie von Kopfjägern zu Marktschreiern mutiert und das ohne Zauberstäbe. Julius gab Arthur Weasley recht. Diese spesenträchtige Tour hätte um wenigstens zwei Tage abgekürzt werden können. Dann sah er Nathalie lächeln. "Es ehrt Sie, meine Herren, dass Sie uns so sehr vertrauen, dass Sie uns diesen Gürtel überlassen möchten, sofern er die auf ihn gemachten Versprechen hält, wo es sicherlich schwer war, jeden einzelnen zu fertigen. Daher nehme ich im namen meiner Abteilung den Probegürtel an und versichere, dass unser Ministerium schnell und sorgfältig seine Nützlichkeit prüfen wird."
"So sei es", sagte Ajima.
Nun wurden die ersten Leihverträge mit Option auf die Bestellung bei Mindestabnahme von je zwanzig Gürteln ausgestellt. Pina fragte ihn während des Andrangs um Ajima: "Bin ich jetzt im falschen Film oder nur im falschen Kino?" Julius flüsterte zurück: "Das ist ein Doppelfilm, Pina. Dazwischen kommt meistens Werbung." Darüber musste Pina noch mehr grinsen.
Abgesehen von dem Gürtel, dessen Kräfte noch getestet werden mussten, ging es dann noch um die bessere internationale Verständigung auch im Bezug auf die Vampirgöttin oder die Mondgeschwister. Jene benutzten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch das Internet. Genau das konnten die französischen, britischen und spanischen Vertreter bestätigen. Denn alle erinnerten sich zu gut an die Lykotopia-Affäre.
Gegen sechs Uhr abends schritt Konferenzleiter Ajima zur feierlichen Abschlusskundgebung. Er erwähnte, dass sie alle in den letzten sechs Tagen sehr interessante Dinge zu hören bekommen und selbst zu berichten hatten. Es sei dabei klargeworden, dass die internationale Zusammenarbeit auch mit Hilfe des Arkanets erheblich gewachsen war und doch noch genug Spielraum nach oben und allen Seiten hatte. Darauf durften und wollten sie aufbauen. Danach erschienen kleine Krüge mit warmem Pflaumenwein in der Luft. Jeder und jede nahm sich einen Krug. Julius zwang sich, nicht zu Nathalie hinüberzusehen. Eigentlich durfte sie keinen Alkohol trinken. Doch ein kleiner Krug zum feierlichen Ausklang ... Er dachte echt schon wie ein Heiler, stellte er fest.
Abends wurde noch ein mehrgängiges Menü aufgefahren, das aus mehreren Fischgängen bestand, also nichts für Brittany gewesen wäre. Gegen halb Zehn trafen sich noch einmal alle im Raum der erlesenen Klänge und lauschten einem Konzert, bei dem europäische Klassik und traditionelle japanische Stücke gespielt wurden. Gegen elf Uhr Abends waren alle müde genug.
"Dann ist eben die Option für morgen gegeben", sagte Nathalie. Julius nickte. Kamen sie wirklich morgen aus diesem Luxusgefängnis frei?
Laurentine pflegte jede Woche einmal die Nachrichtensendungen aus Deutschland im Internet nachzubetrachten. Dabei hatte sie auch die sogenannte Elefantenrunde nach der vor wenigen Tagen stattgefundenen Bundestagswahl mitverfolgt. "O Mann, Schröder, für wie blöd hältst du deine Mitbürger", grummelte sie, als sie den trotzigen Auftritt des abgewählten Bundeskanzlers mitbekam. Sie rief ihre Tante Maren an und unterhielt sich mit ihr über die letzten Tage und auch darüber, wie es ihr ging. Sie erwähnte, dass sie jetzt wieder voll im Schuljahrestrott sei und viele Erstklässler erst einmal klarbekommen mussten, wie der Schulalltag verlief, aber die allermeisten Kinder immer noch hochmotiviert waren, vor allem was den Rechen- und Sachkundeunterricht von ihr anging. Davon, dass sie seit einigen Tagen eine heimliche Geliebte hatte erzählte sie ihrer Tante aus dem hohen Norden Deutschlands nichts.
Genauso hielt sie es, als sie mit ihrem Verwandten Joseph genannt Jupp in Köln sprach. Der sagte nur: "Der Schröder hat den Schuss nicht gehört und fährt seine Partei an die Wand. Jetzt kriegen wir die Tante aus dem Osten. Wie die das machen wird bleibt abzuwarten." Dem wollte Laurentine nichts hinzufügen.
Julius kniff sich mehrmals, als sie am nächsten morgen um zehn Uhr Tokiozeit an Bord der "Sea Of Harmony" vom Hafen Nami no yuri Kago ablegten und innerhalb von zwei Minuten die japanische Hauptinsel Honshu hinter sich ließen. Nein, er träumte das nicht. Er war wieder unterwegs in Richtung Heimat. Da sie für die Rückfahrt ebenso fünfzehn Stunden benötigten, würden sie um sechs Uhr abends mitteleuropäischer Sommerzeit bei Marseille anlegen.
Nathalie lud ihn und den Rest der französischen Delegation in ihre Kabine ein und besprach mit ihnen noch einmal die letzten Tage. Dabei ließ sie die Katze aus dem Sack, was dieser Silbernebel bewirkt hatte. Da Barbara Latierre genauso von dessen Wirkung befreit worden war wie Julius es schon die ganze Zeit war sagte sie: "Die wollten uns echt in die linke Umhangtasche stecken und uns rechts wieder rausziehen. Aber das mit dem Gürtel könnte wirklich das sein, was wir gesucht haben."
"Ja, wenn an dem kein weiterer Zauber dranhängt", knurrte Belenus Chevallier. Sich vorzustellen, nicht nur friedlich, sondern willfährig ausgeliefert gewesen zu sein gefiel ihm nicht. Er hatte nicht übel Lust, das japanische Zaubereiministerium zu verklagen. Darauf meinte Dupont: "Sie werden alle Spuren verwischen, die unsere Anwesenheit zeigen, sollten wir uns über sie beschweren. Diese - Wie nannten Sie diese Einrichtung? - goldene Käseglocke eignet sich hervorragend, um Menschen unauffällig zu befragen oder für länger zu verbergen. Ja, und jetzt können sie es hinstellen, als wenn Sie uns zu dieser Veranstaltung eingeladen hätten, um uns den Schlager des Jahres, den Lautlosen Verberger, anzubieten."
"Da gebe ich Ihnen zu meiner größten Verärgerung Recht, Kollege Dupont", knurrte Brunos Vater. Julius Schwiegertante sagte noch: "Der Herr mit dem feuerroten Haarkranz hatte völlig recht, das hätten die uns schon nach einem Tag auf den Tisch legen können."
"Nicht ganz, Madame Latierre", sagte Julius, wegen Nathalie die förmliche Anrede gebrauchend: "Sie wollten wissen, was wir können. Ohne jetzt überheblich sein zu wollen haben Sie dabei nur meine Frau Mutter und mich als wirklich Interessant herausgepickt. Deren Pech, dass dieser Silbernebel bei mir und Madame Grandchapeau nicht wunschgemäß gewirkt hat."
"Darauf noch einen großen Schluck französischen Rebensaftes", meinte Belenus und füllte aus der Weinkaraffe noch mal alle Gläser nach. Dabei konnte Julius sehen, wie Nathalies in Gedenken an Armand Grandchapeau weitergetragener Ehering bei Berührung des Kelches bläulich aufflackerte. Also hatte irgendwer den Ring so bezaubert, dass er Alkohol in was harmloses umwandelte. Das sowas ging wusste er.
Da sie nun der Sonne hinterherfuhren verlief der Tag nicht so schnell wie bei der Hinfahrt, sondern blieb fast auf einer Uhrzeit. Julius beobachtete, wie seine Weltzeit-Armbanduhr Stunde um Stunde zurücksprang. Jetzt waren sie nur noch drei Zeitzonen von zu Hause entfernt.
Julius genoss mit Pina und Bärbel noch einmal den Sprung durch den Sueztransit. Ihm kam die Idee, dass hier ein ähnlicher Zauber wie beim Flohpulver benutzt wurde.
Als es auf Julius' Uhr fünf vor Sechs abends war erfolgte auch schon die Ankündigung, dass alle Reisenden mit Ziel Frankreich sich zum Aussteigen bereitmachen sollten. Julius grinste, dass er diesmal nicht auf Vorrat geschlafen hatte.
"Wir fahren dann noch bis zum heimlichen Hafen von England rauf", sagte Pina. Dann knuddelte sie Julius ganz undiplomatisch und schmatzte ihm die in Frankreich üblichen Küsse auf jede Wange. "Sag Millie bitte einen schönen Gruß von der strohblonden Meistertänzerin und sie möge bitte weiterhin gut auf dich aufpassen."
"Wird nicht so einfach sein, wo wir sechs quirlige Kinder im Haus haben. Die drei kleinsten fangen sicher in den nächsten Wochen zu krabbeln an. Dann kommen die ersten Zähnchen, und dann rennen sie auch schon auf ihren eigenen Füßen durch die Gegend."
"Stimmt, die werden schnell groß. Jimmy T. ist auch schon wieder drei Zentimeter größer und mindestens zwei Kilo schwerer als vor zwei Monaten, wo ich ihn besucht habe."
"Millie hat sie das wohl schon gefragt ..."
"Ja, sie und Tom wollen noch eins, vielleicht eine kleine Blossom oder Iris, irgendein Blumenname."
"Fleur?" fragte Julius. "Nein, die nicht, Julius", lachte Pina. "Aber nachdem meine zugeteilte Kammerzofe mir ihren Namen übersetzt hat könnte ich Olivia auch Daisy vorschlagen."
"Daisy Duck?" fragte Julius. Pina grinste und meinte nur: "Nein, nur das Gänseblümchen." Julius schmunzelte und meinte: "Achso, verstehe."
"So, die Herrschaften, wie es sich für eine ministerielle Delegation gehört begeben wir uns alle noch einmal ins Foyer, wo ich Sie dann alle offiziell aus Ihrem Sondereinsatz verabschieden werde", legte Nathalie fest. Für Pina hieß das, sich zu ihrer eigenen Delegation zurückzubegeben. Bärbel nutzte das noch aus und schmatzte Julius ebenfalls zwei Küsse auf. "Falls Millie dich noch mal länger allein verreisen lässt kommst du bitte zu uns. Wir brauchen keine goldene Käseglocke. Meine Mutter ist immer noch davon angetan, dass nicht nur ich so ein langes Frauenzimmer geworden bin. Bis demnächst im Arkanet oder RL!"
"Grüß mir Berlin!" erwiderte Julius. "Ja, da kommt wohl demnächst was neues, die erste Bundeskanzlerin der Geschichte", entgegnete Bärbel.
"Ach, haben sie den Brionikanzler mit Zigarre doch abgewählt. Laurentine hatte da noch keine klare Auskunft", sagte Julius. "Wird wohl auf eine bürgerlich-sozialdemokratische, also große Koalition hinauslaufen, weil es sonst keine Mehrheiten gibt. Nachdem sie eine Kiste Jamaikarum geext haben hatten sie am nächsten Tag Kopfweh beim Merkelwahlverein. Also auch keine Jamaikaregierung. Näheres wenn mehr bekannt ist", sagte Bärbel und winkte Nathalie, die bereits andeutete, ihre Delegation für sich haben zu wollen.
Wieder verließen sie das Schiff durch einen Tunnel unter Deck und erreichten die Ankunftshalle. Dort notierte eine Kollegin in Blau-weiß-Rot die Ankunft der Sonderdelegation "Blickschutz", die Julius auch als Operation "Silbernebel" oder "Wundergürtel" eintragen konnte.
"So, meine Damen und Herren, die Reise ist zu Ende. Wir sind mit einer Idee losgefahren und mit einem Hosengürtel zurückgekommen und wissen jetzt, dass nicht alles, was harmlos aussieht, harmlos sein muss. Ich möchte Sie alle ganz dringend darum bitten, über diese Reise und ihren Verlauf bis auf weiteres keine öffentliche Bekanntmachung zu verbreiten. Wir lassen die Kollegen in Japan den ersten Zug machen und lassen es dann von der Pressestelle kommentieren. Vielleicht geben der Kollege Dupont und ich noch eine Stellungnahme ab, sobald bekannt ist, ob diese Reise eine geheime Operation oder ein diplomatisches Freundschaftsspiel war. Sie, Madame Latierre und Monsieur Latierre dürfen Ihrer journalistisch tätigen Verwandten gerne ausrichten, dass ich und oder Monsieur Dupont auf sie zukommen werden, wenn wir was öffentlichkeitstaugliches für sie haben. Ich danke Ihnen allen noch einmal für Ihre Teilnahme unter leicht erschwerten Bedingungen und wünsche Ihnen allen einen angenehmen Heimweg und einen erholsamen Abend. Falls sie möchten, können Sie alle von der HVD noch den Ortszeitanpassungstrank erhalten, so Müde wie einige von Ihnen aussehen. Bis dann demnächst wieder an den gewohnten Arbeitsplätzen!" Alle bedankten sich bei Nathalie für die nette Ansprache. "Endlich wieder frei mentiloquieren", hörte Julius noch Demetrius' Gedankenstimme in sich.
Barbara Latierre und er flohpulverten zum Apfelhaus, wo Béatrice ihnen beiden den Ortszeitanpassungstrank verabreichte. So wurden beide wieder richtig wach, hatten aber nun einen großen Hunger.
Beim Abendessen erzählte Julius, dass sie alle in einem unterirdischen Haus gewohnt hatten und er im hauseigenen Laden ein Bilderbuch mit japanischen Märchen in französischer Sprache für jede der größeren Mädchen ergattert hatte.
Nachdem alle Kinder im Bett waren packten Barbara und Julius Latierre im Musikzimmer noch einmal aus, was ihnen widerfahren war und hörten, was Béatrice darüber herausgefunden hatte. "Kein Wunder, dass die uns diesen lautlosen Verbergergürtel nur einmal zeigen mussten, damit alle anbeißen. Hoffentlich ist das keine Fälschung, weil angeblich zerstört der sich bei Untersuchungszaubern selbst."
"Es ging denen primär um euer Wissen, Babs", sagte Béatrice. "Die haben viele fachkundige Leute im Bereich Computer auf einem Haufen zusammenbekommen und wollten sich aussuchen, wen sie davon für ihre Ziele einspannen könnten. Mit Ehre hat das wohl nichts zu tun, aber mit Berechnung und Ansehen gegenüber China. Und ich erzähle dir und Julius nichts wirklich neues, aber die japanische Zaubererwelt ist immer noch eine in sich geschlossene, fremdenfeindliche Truppe. Wohl deshalb haben sie euch wohl gefügig machen wollen. Zumindest habe ich das von zwei Heilerkongressen so rüberbekommen, dass die dort meinen, uns um Jahrhunderte in der Zaubereientwicklung vorauszusein. Immerhin waren zwei Kollegen aus Japan bereit, über diesen Trick mit dem Silbernebel und wie er unbeeinflusst eingeatmet werden kann in die Schattenbib von uns zu stellen. Das dürften die Verwalter dieses Zaubers nicht mögen."
"Trotzdem er hier mich mit seinem Silberdingelchen aus der Benebelung freigezwirbelt hat habe ich mit meinem Kollegen von der Abteilung für magische Geschöpfe und der Kollegin Flatfoot aus Australien ausgehandelt, dass ich dort im nächsten Sommer wieder hinreise, um mir die aus China importierten Bergphönixe und die anderen eher harmlosen Zaubertiere anzusehen. Sie haben da auch ein Reservat für Chinesische Feuerbälle, und diese Bonsaizüchtungen möchte sich der Kollege Lamarck sicher gerne genauer ansehen."
"Tja, Babsie, dann weiß ich ja, was ich dir zu Weihnachten Schenke, eine nagelneue Silberkette, die du einen Monat vorher in das Mondlicht legen musst und den Zauber des freien Himmels darauf sprechen kannst", sagte Béatrice.
"Ist es schon wieder solange her, dass ich dich fast totgekitzelt habe, Kleine Schwester? Du sollst mich nicht Babsie nennen", knurrte Barbara Latierre. "Barbie vielleicht?" fragte Julius. "Die ganz sicher nicht. Schon schlimm genug, dass Pennie und Callie von ihren muggelstämmigen Mitschülerinnen diesen Unfug mit diesen rosaroten Anziehpuppen abgekriegt haben. Und du möchtest sicher keinen Krach mit mir, wo deine große Freundin so gut von mir mitversorgt wird", raunte sie noch."Wenn du keinen Krach mit unserer großen Freundin kriegen willst sicher nicht", sagte Julius. Dann knuddelte ihn seine Schwiegertante und danach auch ihre Schwester und ihre Nichte.
"Wenn ihr am Wochenende wieder Zeit habt kommt noch mal zu uns auf den Hof und zeigt Temmie die drei kleinen", sagte sie noch. Danach nutzte sie den orangeroten Verschwindeschrank, um über das Château Tournesol zu ihrem Bauernhof zurückzukehren.
Als Julius frisch gebadet neben Millie im Bett lag brummte er: "Da hatte ich zwei so große Badewannen und habe morgens nur geduscht."
"Ihr hattet echt wichtigeres zu tun", schnurrte Millie. Aber jetzt bist du wieder da." Mit diesen Worten zog sie ihn an Sich und kuschelte sich an ihn. Irgendwie machte das, dass das für ihn bestimmte Sandmännchen noch zwei Ehrenrunden drehen musste, bevor er müde genug war, es zu sich vorzulassen.
Ninigi Takahara, der ranghöchste Zauberer des erhabenen Reiches der aufgehenden Sonne, versicherte seinen Besucherinnen, dass kein Mithörzauber und keine Fernbeobachtung nachverfolgen konnten, was hier gesagt und getan wurde. Dann wartete er die ihm gebührende tiefe Verbeugung ab. Danach durften sie sich hinsetzen.
"ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie so schnell sie es ohne Aufsehen einrichten konnten zu mir gekommen sind, Frau Chihara und Frau Hashimoto. Leider kamen ja aus dem Haus der hohen Gäste keine Meldungen heraus, ohne dass Nakahara und seine Überwacher es mitbekommen hätten. Also, wie war das mit diesem Vorstoß Nakaharas und Ajimas, einen Europäer als neuen Computerfachkundigen einzuhandeln?" Emi Chihara berichtete, was sie mitbekommen hatte und dass wohl nicht nur ihr Einwand, es sei nicht zu erwarten, dass der Minister die ganze Familie im Haus der hohen Gäste unterbringen würde, das Vorhaben beendet hatte, bevor es in Gang gesetzt wurde. Sie erwähnte, dass sowohl Nathalie Grandchapeau als auch Julius Latierre dem Hauch des friedvollen Mondes getrotzt haben mussten. Kyoko Hashimoto erwähnte, dass ihr Vorgesetzter die ganze Zeit darauf ausgegangen sei, die fähigsten Fachkundigen im Bereich Computer unter der Wirkung des silbernen Nebelhauches anzuwerben und an einem gut verborgenen Ort für sich arbeiten zu lassen, womöglich mit täglicher Gabe des Tees der Treue oder im Duft der Blume der Folgsamkeit. Zumindest könne sie nun, wo sie mehrere Tage mit ihm zusammen im Haus der hohen Gäste gewohnt habe, genug Beweise vorlegen."
"Wie konnte er das nur vorhaben?" entrüstete sich Takahara. "Sicher, ich habe genehmigt, dass zum Schutze der Teilnehmer und zum friedlichen Ablauf der Hauch des friedvollen Mondes verwendet wird. Aber ich habe keinesfalls genehmigt, dass er versucht, einen oder zwei Europäer aus dieser Konferenz für uns arbeiten zu lassen. Hat dieser Mann denn keine Ehre mehr im Leib? Wie hätten wir in der Welt dagestanden, wenn herausgekommen wäre, dass wir, das Volk der Sonne, es nötig gehabt hätten, diese selbstherrlichen Weißen für uns arbeiten zu lassen, um unsere Probleme mit dem wild wuchernden Internet zu lösen?"
"Dies war auch mein Eindruck, höchst ehrenwerter Oberhofzauberer", sagte Frau Hashimoto. "Er scheute nicht einmal davor zurück, den Franzosen meinen fähigsten Computergesellen zum Austausch anzubieten, den jungen Herren Nakamura."
"Ich fürchte, mich gerade verhört zu haben", grummelte Takahara. Doch Frau Chihara bestätigte es. "Ist denn der vom grünen Geist des Irrsinns gebissen worden? Nakamura ist, obwohl halbblütig, immer noch der Sohn von frau Hideko Nakamura, einer der wichtigsten Zauberinnen unseres erhabenen Reiches. Die hätte uns ihre Macht über die großen Drachen spüren lassen, wenn der sich in Frankreich in eines dieser blasshäutigen, freizügigen Mädchen verkuckt, mit ihr das Lager geteilt und sie mit seinem Kind in ihrem Leib zurückgelassen hätte. Welche Schande wäre das gewesen? Pfui! Drachendreck!" spie Takahara aus. "Ja, und ich hätte genehmigen sollen, dass dieser Julius Latierre, ein von zwei nichtmagischen Blutlinien zusammengeführter Zauberer, mit seiner ganzen Familie hier gelebt hätte, noch dazu im Haus der hohen Gäste, wie die Made im Speck? Das kann unmöglich sein Ernst gewesen sein. Danke Ihnen, Frau Chihara, dass Sie diesen Irrsinn aufgehalten haben, bevor er zu den Göttern im Himmel geschrien hätte."
"Danken Sie den fremden Mächten, die die beiden vor der Macht des friedvollen Mondes bewahrt haben, auch wenn die beiden und später noch weitere zur Gefahr für Erfolg und Eintracht hätten werden können", sagte Emi Chihara. Sie beherrschte sich, nicht noch mehr zu sagen.
Takahara war nun wütend. "Ich erbitte von Ihnen beiden einen Eidesschwur auf die Jadetafel der Warheit, dass alles, was Sie mir gerade berichtet haben der Wahrheit entspricht. Dann werde ich überlegen müssen, wie ich diesen Makel aus diesem Hause tilgen kann, ohne Susanoos wütendsten Sturm zu übertreffen."
"Im Zweifel können wir immer noch behaupten, dass es diese Zusammenkunft nie gab. Die Diener sind alle an den Eid des treuen Blutes gebunden und werden nicht verraten, wem sie dienten", sagte Emi Chihara. Ihre einen Rang tiefer stehende Kollegin machte eine bejahende Geste. Doch dann fiel ihr ein, dass Ajima bereits rundgehen ließ, dass er Abnehmer für den Gürtel des lautlosen Verbergens gefunden habe. "Hätte nie gedacht, dass dieses Lederding zu was nütze sein kann", sagte sie.
"Gut, dann lasse ich ihn seinen kleinen Erfolg genießen. Doch nicht mehr lange, dann wird er sich mir gegenüber erklären müssen. Sie beide schwören jedenfalls den Eid der Wahrheit", sagte der japanische Zaubereiminister.
Emi Chihara lächelte, als sie mit Kyoko Hashimoto das Ministerzimmer verlassen und sich ihrer eigenen Abteilung zugewendet hatte. Takahara war immer noch so ein auf die eigene Rasse festgenagelter Tropf. Die Vorstellung allein, dass ein Sohn aus dem Reich der Sonne seine Abstammung und Standhaftigkeit vergessen mochte, wenn er in der Fremde weilte, regte ihn schon genug auf. Aber dass dann noch die als sehr fruchtbar geltende Familie eines Weißen in seinem Land leben sollte, ohne dass er einen Nutzen darin sah, brachte ihn fast zum platzen. Sein Lebenshauch hatte schon Flammen geschlagen. Sie, die Tochter eines der mächtigsten Kamis, verachtete diesen Selbstherrlichen, den das Rad der Himmelsweisen zum neuen Minister gemacht hatte. Es wurde Zeit, dass auch in diesem erhabenen Reich Töchter und Mütter das höchste Amt unter der Sonne erlangen konnten. Sie wollte auch nicht verraten, das Nathalie Grandchapeau einen im Wachstum ruhenden, aber wohl sehr regen Jungen unter dem Herzen trug und beide in einem starken Lebenshauch badeten und Julius von gleich zwei äußeren Herzen bestärkt wurde, wo das eine wohl mit seiner Angetrauten verbunden war und das andere den Lebenshauch mindestens eines mächtigen Weltenwanderers erzeugte. Das waren die Gründe, warum die beiden dem friedvollen Mond widerstanden hatten. Rein eidesmäßig hätte sie diese Umstände vor dem Betreten des Hauses der hohen Gäste melden müssen. Doch dass sie die Lebenskraft und Zauberkraft als umfließenden gefärbten Nebel oder Lichthof sehen konnte war eines von vielen Geheimnissen, die sie hüten musste.
Am Tag nach der Rückkehr aus dem fernen Osten berief Nathalie alle ihr unterstehenden Mitarbeiter zu einer längeren Konferenz ein, während der sie und Julius berichteten, was bei der internationalen Konferenz besprochen und am Ende beschlossen wurde. Als die hier in Frankreich gebliebenen ihre Meinung dazu äußern durften sagte Martha Merryweather: "Womöglich sind diese lautlosen Verberger ähnlich wie die Pflegehelferarmbänder von Beauxbatons fernüberwacht, Madame Grandchapeau. Denn anders kann ich es nicht verstehen, dass die an uns großzügig ausgeliehenen Probeexemplare sich selbst vernichten, wenn keine weiteren Gürtel bestellt werden. Abgesehen davon könnte jede damit ausgeführte Aktion gespeichert und zu bestimmten Zeiten an eine zentrale Datensammelstelle weitergeleitet werden."
"Nun, Entfernungen sind nicht unwichtig in der Magie, Madame Merryweather. Doch wo sie die Ihnen von Ihrem Sohn Julius her bekannten Pflegehelferschlüssel erwähnt haben, so muss ich wohl einräumen, dass die Entfernung von uns nach Tokio noch klein genug für eine Überwachungsvorrichtung ist. Ohne Zauberkräfte auf den uns zugestandenen Gürtel anzuwenden konnte ich mit einer Onmilexbrille zur Entzifferung unbekannter Schriften die Schriftzeichen als Namen und Funktionswörter erkennen. Falls jemand eine Vorrichtung hat, die auf die Namen der Gürtel abgestimmt ist könnte dieser in der Tat auch lautlose Rufe versenden, wann er benutzt wurde. Andererseits ist dieses Artefakt das bisher fortgeschrittenste Erzeugnis, das dem von uns erörterten Zweck dient", sagte Nathalie Grandchapeau. "Wir werden ihn auf Funktion prüfen. Gefällt uns, was er kann, kommen wir nicht um eine Bestellung mehrerer Exemplare herum."
"Das steht ihnen unbestritten zu, Madame Grandchapeau", sagte Julius' Mutter.
"Ich wollte auch nicht annehmen, dass Sie kurz vor dem Antritt Ihrer neuen Arbeitsstelle gegen mich aufbegehren möchten, Madame Merryweather", erwiderte Nathalie Grandchapeau.
Nachdem alles über die Japanreise ausgiebig besprochen war verkündete Jacqueline Richelieu, dass sie den Grundkurs Programmieren bestanden hatte. Sie würde jedoch weiter mit ihrer Ausbilderin Madame Merryweather in Kontakt bleiben. Diese neue Video- und/oder Sprachanwendung namens Skype würde es möglich machen. Wie bei allen anderen Anwendungen hatte Julius' Mutter eine Arkanetkomponente in den nach gewissen Anstrengungen geknackten Quellcode eingefügt, dass trotz der bereits bestehenden Verschlüsselung auch keiner die sogenannten Metadaten abfischen konnte, also wann wer mit wem in Verbindung gestanden hatte. Das war sozusagen ihr Abschiedsgeschenk vor der Rückkehr in die Staaten.
Mittags aßen alle aus dem Büro im Speisesaal des Ministeriums. Dabei konnte sich Julius' Mutter auch noch einmal mit dessen Schwiegertante Barbara unterhalten.
Als der Feierabend anstand standen noch einmal alle im Rechnerraum Dienst tuenden auf und verabschiedeten sich erst einzeln und dann noch im Chor von ihrer zeitweiligen Mitarbeiterin, die nun eine freie Internetrechercheurin war, die nicht ganz zufällig das französische Zaubereiministerium als Premiumkunden betreuen würde. Alle applaudierten ihr noch einmal und wünschten ihr eine erfolgreiche Zukunft in ihrer neuen Anstellung.
Julius' Mutter sah alle mit leicht tränenfeuchten Augen an und brachte gerade noch beherrscht heraus: "Es war mir eine Ehre und auch eine große Freude, für Sie und mit Ihnen zusammen an der Wahrung des Friedens zwischen Menschen mit und ohne Zauberkräfte arbeiten zu dürfen. Ich wünsche Ihnen allen, vor allem den jüngeren unter Ihnen, dass sie vom rechten Wissen und Willen geleitet auf dem aufbauen können, was wir hier gemeinsam vollbracht haben. An die Mesdames Grandchapeau noch mal meinen aufrichtigen Dank, dass Sie mir trotz gegenteiliger Anzeichen aus den Staaten das nötige Vertrauen und die Gunst gewährt haben, hier für mich und meine Familie arbeiten zu dürfen. Ich weiß natürlich, dass Sie mich sehr gerne weiterhin hier in diesem Raum behalten hätten. Die Gründe, warum dies nicht gehen kann kennen Sie und haben Sie auch als mehr als ausreichend anerkannt, dass Sie bereit sind, mich meinen Weg in der Heimat meines Mannes und unserer gemeinsamen Kinder fortsetzen zu lassen. Dafür wie erwähnt meinen aufrichtigen Dank und meine Bitte um Verzeihung, wenn ich Ihnen dadurch unnötige Umstände bereitet haben sollte!"
Noch einmal brandete Applaus durch den Rechnerraum. Nathalie und Belle sagten nur kurz, dass sie die Gründe wohl verstanden und sicher ähnlich gehandelt hätten. Dann übergab Nathalie ihrer Mitarbeiterin auf Zeit eine Pergamentrolle in einem silbernen Ring. "Dies ist das für alle zeitweiligen oder lebenslang dienstbaren Mitarbeiter des Zaubereiministeriums zustehende Zeugnis Ihrer erfolgreichen und nutzbringenden Arbeit, Martha. Ebenso habe ich es mir nicht nehmen lassen, ein Empfehlungsschreiben beizufügen, dass Sie im Falle einer neuen Anwerbung des US-Zaubereiministeriums beziehungsweise dessen Rechtsnachfolger vorlegen dürfen, um Ihre dort selbst in Frage gestellte Glaubwürdigkeit und Vertraulichkeit wiederherzustellen, falls dies von Ihnen erwünscht sein sollte. Alles gute für Ihre Zukunft und gute Reise, Martha!" Alle sahen die heimlich ihr zum jahrzehntelangen Wachstum verurteiltes Kind tragende Hexe erstaunt an. Sie hatte es in der Öffentlichkeit bisher immer unterlassen, Untergebene mit dem Vornamen anzusprechen. Vielleicht lag es einfach daran, dass Martha Merryweather ab jetzt keine Mitarbeiterin mehr war, sondern eine Selbstständige, die auf gleicher Augenhöhe mit ihr arbeiten würde.
Wie es mit ihr abgesprochen war begleitete Martha ihren Sohn ins Château Florissant, wo sie die Drillinge abholten und sich noch einmal bei Antoinette verabschiedeten. "Ich habe dir eine kurze Notiz für die Kollegin Chloé Palmer mitgegeben und auch einen Bericht von Callisto, wie wichtig es ist, dass du und die Drillinge wieder in eine bekannte und vertraute Umgebung zurückkehrt. Aber du darfst mich jederzeit kontaktieren, falls was sein sollte, wofür ich mit meinen Verbindungen helfen kann."
"Wiedersehen, Tante Antoinette", sagten die drei kleinen Merryweathers auf Französisch. Ihre Wangen waren rot vor Aufregung. Es ging wieder nach Hause, zu den anderen, die mit ihnen ganz normal reden konnten.
"Du wirst ihnen doch weiter Französisch beibringen, oder?" fragte Antoinette. "Wird Lucky nicht gefallen. Aber da muss er dann durch. Denn ich erkenne wie du, dass es sinnvoll ist, Kindern frühest möglich zwei Sprachen beizubringen und sich das auf jeden Fall anbietet. Ich sehe es ja an Catherines Töchtern und an den Töchtern von Julius, wie gut das geht, wenn es konsequent und in der nötigen Ruhe vermittelt wird." Dann klatschte sie in die Hände und sagte: auf dann, die jungen Merryweathers!"
Vor dem Château Florissant wartete eine Kutsche, die mit vier Thestralen bespannt war. Die Kinder konnten die klapperdürr wirkenden Tiere mit ledernen Flügeln nicht sehen. Für sie war das eine Kutsche, die von selbst fuhr, wie ein Auto, mit dem sie in Amerika auch schon mal gefahren waren.
Mit der Kutsche ging es nach Millemerveilles. Dort wartete noch ein Abschiedskommitee, bestehend aus den Apfelhausbewohnern, den beiden hier lebenden Familien Dusoleil, Eleonore Delamontagne und Ursuline Latierre. Sie verabschiedeten sich alle von Julius' Mutter und wünschten ihr glückliche Zeiten und immer ein weisendes Licht, dass den für sie sichersten Weg erleuchten sollte. Dann ging es zum Startplatz des Pendelluftschiffes, das um sechs Uhr losfliegen oder auch fahren würde, je danach, ob man mit einem Flugzeugpiloten oder einem Ballonfahrer sprach. Camille sagte noch zu ihr, dass sie das mit dem Weihnachtsbaum schon verbucht habe, und jetzt, wo sicher sei, dass die Luftschiffe auch größere Gegenstände transportieren konnten sie auf jeden Fall einen Baum aus der Weihnachtsbaumplantage der grünen Gasse bekommen würde.
Als dann die Einstiegsluke hinter Julius' Mutter zuklappte merkte er doch, wie schwierig es trotz seiner 23 Jahre war, seine Mutter wieder ganz weit fort zu wissen. Gut, er war jetzt groß und eigenständig und deshalb auch froh, dass er nicht die ganze Zeit mit ihr und seinen drei Halbgeschwistern im selben Haus gewohnt hatte. Doch irgendwie war es auch ein kleines Stück früherer heiler Welt gewesen, sie jedes Wochenende da zu haben. Auch hatte ihm das geholfen, sich mit den Drillingen besser anzufreunden und zu akzeptieren, dass Nummer vier unterwegs war. Nun sah er, wie sich das Ankertau von selbst losband, in die Gondel hineinschnurrte und der den alten Zeppelinen nachempfundene Flugkörper ohne Geräusch in die Höhe stieg. Er wurde immer schneller und jagte dann wie eine Rakete ohne Flammenschweif in den Himmel hinauf, der untergehenden Sonne entgegen. Er würde sie überholen und um elf Uhr vormittags des 2. Oktober in Kalifornien landen. Dann war das magische Überschallluftschiff aus seinem Sichtbereich verschwunden. Seine Mutter war wieder unterwegs zu ihrem Mann und allen, die sie sehnsüchtig zurückerwarteten.
"Geh davon aus, Mum, dass die in der Welt verbliebene Königin des Voodoo das gesehen hat, wer da zu euch neu dazukommt", sagte Julius.
"Na ja, aber eine so klare Zukunft vorherzusehen ist wohl doch etwas merkwürdig, Julius. Jeder Tag bringt tausend neue Möglichkeiten." Julius bejahte es. Er wollte seiner Mutter nicht erzählen, dass Marie Laveau bei ihrem Wahrsagezauber vier klare Möglichkeiten aufgezeigt hatte, von denen sich zwei als bereits möglich erwiesen hatten und er nur durch eine richtige Entscheidung an einem ihm nicht bekannten Punkt vor der Verwirklichung einer der beiden Möglichkeiten bewahrt worden war. So sagte er nur: "Ich wünsche euch noch einen schönen, sonnigen Abend."
Abends sprach er in einer weiteren Musikzimmerrunde mit den beiden anderen wichtigen Frauen seines Lebens über seine Gefühle beim Abschied und dass er es einsah, dass seine Mutter ihren Weg ging und er seinen weitergehen sollte, mit ihnen zusammen.
"Ich verstehe was du meinst", sagte Millie. "Ich habe mit meiner Ma immer wieder Krach gehabt, wenn ich was wollte, was ihr nicht passte und bin saufroh, dass ich sie nicht jeden Tag um mich rum habe. Ich bin aber auch froh, dass ich nur Flohpulver in den Kamin werfen und sie kontaktfeuern oder mit ihr mentiloquieren kann, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Ja, und du hast ja das Armband." Er nickte zustimmend.
Jeff saß an einer weiteren Geschichte über illegale Müllentsorgung und fragte sich, wann Milellis Leute gepiesackt aufschreien würden. Da klingelte sein Telefon. Es war die Polizeibeamtin Friley, von der er wusste, dass sie so wie er als Kundschafterin der Zaubererwelt tätig war. So war es für ihn keine Überraschung, als sie ihm sagte: "Ihnen ist über Ihre Chefetage im Südosten mitgeteilt worden, dass im Rahmen der Reformen eine neue Zusammenarbeit erwartet wird. Wenn Sie also was erfahren, was für uns wichtig ist melden Sie es unverzüglich an mich und unternehmen Sie nichts auf eigene Rechnung, auch wenn jemand anderes Ihnen das weiterhin empfehlen sollte. Erkundigen Sie sich dazu bei denen, für die Sie arbeiten!"
"Wenn Sie darauf anspielen, dass die bisher so gedeihliche Aufteilung, Getrennt marschieren, vereint schlagen nicht mehr gelten soll möchte ich Sie beruhigen, dass ich hier an dieser Stelle nichts anderes kann als auf mir zugegangene Meldungen zu reagieren, mehr nicht", erwiderte Jeff ganz ruhig.
"sie wissen genau was ich meine. Falls nicht, erkundigen Sie sich besser jetzt, als sich später in einer unschönen Lage wiederzufinden."
"Das klingt jetzt ziemlich heftig nach einer Drohung, Sergeant Friley", sagte Bristol. "Natürlich müssen Sie das so auffassen, und ich werde Ihnen da auch nicht widersprechen", erwiderte Friley. "Halten Sie sich einfach nur mit Alleingängen zurück, wie Ihre Firma sie gerne unternimmt, dann besteht meinerseits kein Grund, gegen Sie vorgehen zu müssen."
"Ich denke, meine Firma wird ihre integrität nicht gefährden wollen, indem sie sich mit der Stadtpolizei von New York anlegt. Doch falls sie meinen, aus Karrieregründen irgendwelche Drohungen an mich persönlich aussprechen zu müssen kann und werde ich mich erkundigen, ob Sie da nicht zu weit über ihre eigenen Befugnisse hinausgehen. Immerhin gelten in diesem Land noch die Pressefreiheit und der Informantenschutz."
"Okay, wenn Sie dieses Spiel spielen wollen, Mister, dann nur so viel: Ich spreche nicht für mich, sondern nur zu Ihnen, weil dieser Weg der schnellste ist. Wahrscheinlich haben Sie schon Privatpost erhalten. Diskutieren Sie mit Ihrer Frau Ihre gemeinsamen Berufsaussichten! Ich werde jedenfalls gut aufpassen, wie weit Sie gehen."
"Wir hatten einmal eine sehr gedeihliche Zusammenarbeit, Sergeant Friley. Es wundert mich sehr, dass sie die echt wegen irgendwelcher Ambitionen von Ihnen oder einer über Ihnen stehenden Person aufs Spiel setzen. Dafür sitzen sie nicht hoch genug. Aber ich werde Ihre Andeutungen und Drohungen bedenken und zumindest den Rat befolgen, meine Privatpost zu sichten, wenngleich ich schon weiß, was Ihre Firma mir da reingelegt hat. Wie gesagt, Ambitionen taugen nur was, wenn sie bestehende Verhältnisse nicht mutwillig zerstören. Noch einen schönen Tag."
Als Jeff auflegte musste er grinsen. Das war eindeutig auf Bullhorns Drachenmist gewachsen, um ihm, dem Laveau-Mitarbeiter, klarzumachen, dass er ab heute unter Beobachtung stand. Er hatte auch gehört, was denen widerfahren sollte, die sich nicht an die neue Bullhorn-Doktrin zum Umgang mit eigenständigen Sicherheits- und Zulieferfirmen hielten. Ihnen drohte unter Umständen ein Prozess wegen höchster Gefährdung der magischen Sicherheit und des Friedens innerhalb der Zaubererwelt. Wenn Bullhorn die von Vita Magica eingeführte Höchststrafe beibehalten wollte konnte das in einer vollständigen Wiederverjüngung enden. Doch soweit waren die wohl in Viento del Sol noch nicht.
Ein paar Minuten nach dem schon sehr überheblichen Anruf aus dem Polizeidepartment las Jeff Bristol eine auf Ralfs Konto eingegangene Mail.
Vier grüne Gurken!
Erkundigen Sie sich mal nach der Landesgerichtsakte CX-409-220-181 und fragen Sie bei Ihren Verbindungsleuten im Hoovergebäude nach, was die gestern abend in Albany getrieben haben! Vielleicht kriegen Sie sogar ein Interview mit Richter Tobias Cornwall, der den Fall auf den Tisch bekommen hat. Soweit ich weiß hat der Vater Ihres Redakteurs mit Cornwall zusammen studiert und war mit dem in derselben Verbindung gewesen. Gute Jagd und eine hoffentlich erbauliche Artikelserie!
Tinwhistle
Als Jeff Mike Dunston diese Mitteilung vorlegte nickte er. "Vier grüne Gurken heißt, dass etwas zu Tinwhistles großer Zufriedenheit verlaufen ist. Ralf hat mal erwähnt, dass er bisher nur zwei grüne Gurken in einer Nachricht erhalten hat, als er oder sie ihm mitgeteilt hat, dass eine große Bande aufgeflogen war. Ralf wollte nicht damit herausrücken, aber ich hatte immer den Eindruck, dass Tinwhistles Hinterleute oder Untergebenen an diesen Erfolgen gedreht haben. Wenn er oder sie jetzt ganze vier grüne Gurken meldet heißt das für mich, dass seine Organisation einen heftigen Erfolg verbucht hat und wir die fragwürdige Ehre haben, davon was erfahren zu dürfen. Ich rate jedoch sehr davon ab, den erwähnten Richter darauf anzusprechen, dass wir vor seinem Anruf bei mir schon was von dieser Akte erfahren haben. Er würde dann völlig zu recht davon ausgehen, dass jemand aus unserem Informantenstab bei ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen spioniert. Das könnte er dann sogar als Verfahrensfehler auslegen. Falls, ja nur falls Tinwhistle recht haben sollte, dass Huggins was mit dem Tod von Ralf Burton zu tun haben könnte würden wir unserem verstorbenen Kollegen einen schlechten Dienst erweisen, das Gerichtsverfahren gegen seinen Mörder zu behindern oder gar unmöglich zu machen. Abgesehen davon würde uns das Gericht im Nacken sitzen, wer genau dort beim Putzen heruntergefallene Papiere aufhebt oder beim Leeren der Mülleimer zerknüllte Notizen mitgehen lässt. Wollen Sie nicht wirklich und ich noch weniger, Jeff. Wenn der ehemalige Studienkollege meines Herrn Vaters befindet, dass er ganz handelsüblich in aller Öffentlichkeit verhandeln soll, wird er mich das wissen lassen. Cornwall verhandelt meistens Betrugsfälle im Millionenbereich, hat aber auch schon mit Mordfällen zu tun gehabt. Das würde zu Tinwhistles letzter Mail passen. Öhm, Sie haben mir bisher nicht verraten, wie Sie den schwarzen Unterhändler von uns dargestellt haben, Jeff."
"Ja und nein, Mr. Dunston. Aber wer mir bei der Maske geholfen hat verrate ich nicht, weil die Person sehr medienscheu ist. Ich kann Sie nur dahingehend beruhigen, dass diese Person nicht mit Gangstern zusammenarbeitet", erwiderte Jeff. Dunston nickte. Dann sagte er noch: "Verhalten Sie sich ruhig, nutzen Sie die Ihnen über andere Fälle zugehenden Informationen und warten Sie ab, ob sich Cornwalls Büro meldet oder nicht. Öhm, eigentlich ist ja Jackie Morehead unsere Gerichtsreporterin. Aber die ist ja schon mit dem Fall USA gegen Stanley Braddock befast. Falls Richter Cornwall hier durchklingelt und was über einen Fall Huggins bekanntgeben möchte werde ich Sie und die Kollegin Morehead informieren. Bitte warten Sie ab, ob diese den Fall mitverfolgen kann oder will! Nur wenn sie das wegen des Braddock-Falls nicht kann, springen Sie ein."
"Verstanden, Sir", sagte Jeff ganz untergeben. Dann durfte er in sein Büro zurückkehren.
Jeff nutzte den Vorzug, ein Einzelbüro zu haben und wählte sich heimlich auf den Rechner des FBI ein. Er nutzte die von Brenda Brightgate erwähnte Scheinidentität eines Archivars aus und fand die Akte Huggins. Demnach war dieser gestern in Albany verhaftet worden, weil es hinweise auf einen Versicherungsbetrug in zweistelliger Millionenhöhe und dreißigfachem Auftragsmord geben solte. Huggins war bei der Verhaftung nicht allein gewesen. Er hatte sich wohl die Zeit mit einer käuflichen Dame vertrieben, die wiederum für einen aktenkundigen Callgirlring tätig war. "Tja, da haben sie dich mit heruntergelassener Hose erwischt, Clieve Huggins", dachte Jeff schadenfroh. "Irgendwer aus deinem Verein muss gesungen haben, nicht bei den Feds, sondern bei Tinwhistles Bande." Jeff verging das schadenfrohe Grinsen, wenn er daran dachte, dass Tinwhistle vielleicht arglose Leute dazu gezwungen hatte, für ihn zu spionieren. Er musste sich darüber klar sein, es nicht mit einem kleinen Gangster, sondern einem Bandenboss oder gar Syndikatsboss zu tun zu haben, der seine Konkurrenz kleinhalten oder vollständig auslöschen wollte. Außerdem war da ja das heimliche Mithörprogramm im Server der Times, das vielleicht auf Tinwhistles Mist gewachsen war. Huggins war für Tinwhistle wohl eher so eine Art Ehrenschuldeinlösung, vielleicht auch was noch privateres. So genau konnte oder wollte er das nicht überdenken. Sicher war nur, dass Huggins verraten worden sein musste, und zwar so gründlich, dass er festgenommen worden war und bald vor Gericht landen würde. Bewiesen Sie ihm den mehrfachen Auftragsmord konnte Huggins auf dem elektrischen Stuhl landen. Das war alles andere als lustig. Da wegen seiner Auslandsimmobilie auf den Bahamas Flucht- und Verdunkelungsgefahr bestand blieb Huggins in Haft.
Gegen drei Uhr nachmittag wurde Jeff noch einmal zu Mike Dunston gerufen. Der Redakteur winkte ihm mit seinem Telefonhörer "Cornwalls Büro hat gerade an alle lokalen und überregionalen Medien herausgegeben, dass am 16. November der erste Verhandlungstag im Fall USA gegen Clieve Huggins stattfinden soll. Ich habe der Kollegin Morehead die Mail weitergeleitet. Sollte sie wie erwähnt anders disponiert sein darf sie Ihnen das sagen."
"Verstanden, Mr. Dunston", sagte Jeff.
Kaum war Jeff Wieder in seinem Büro, um den Arbeitstag mit ordentlich beendeten Artikeln über eine aufgeflogene Rauschgiftbande aus der Bronx abzuschließen, fand er schon eine E-Mail der Kollegin Jacqueline Morehead in seinem Postfach. Sie erwähnte, dass die Sache, an der sie gerade saß bis Dezember dauern würde, weil die Verteidigung noch zwanzig Zeugen aufgetrieben hatte, die erst vorgeladen werden müssten. Sie teilte ihm aber mit, dass sie zumindest soweit für ihn vorgearbeitet hatte, dass sie den Namen des zuständigen Staatsanwaltes und Huggins' Verteidiger erfahren hatte.
Viel Erfolg bei der Sache mit Huggins, und bitte dran denken, dass jemand erst nach Urteilsspruch schuldig ist!
"Hat die gerade nötig", knurrte Jeff, als er diesen Hinweis las. Als die nämlich einmal über einen Serienvergewaltiger geschrieben hatte, dass er nur dann freigesprochen würde, wenn ihm ein psychiatrischer Gutachter Schuldunfähigkeit bescheinige hatte der Anwalt des Beklagten heftigen Wind gemacht. Das hatte dessen Mandanten aber auch nicht geholfen, da es genug Beweise für seine Schuld gab.
Nun, da Jeff offiziell den Fall übergeben bekommen hatte wollte er zusehen, mit allen Beteiligten zu sprechen, um zu wissen, was genau Huggins zur Last gelegt wurde. Jedenfalls würde er wohl ganz nahe dran sein, wenn der angebliche Mörder seines Kollegen vor Gericht stand. Doch sein Gewissen piesackte ihn, dass dieses Verfahren auch ein Manöver Tinwhistles sein könnte, um Huggins, der bisher wegen seiner unlauteren Zeitarbeitsverträge nur mit Geldstrafen davongekommen war und alle Gesetzeslücken ausnutze, die bei Personalanstellungen bestanden, wegen was echt großem verurteilt wurde.
Trotzdem Julius ziemlich geschafft vom Tag war, weil er mit Belle, Jacqueline Richelieu und fünf anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechenzentrum die ersten Module des neuen Türsteherprogramms ausprobiert hatte wollte er es sich nicht nehmen lassen, im Baumhaus außerhalb der Schutzzone Ashtarias an seinem Rechner zu arbeiten. Er nutzte die Gelegenheit und schickte um halb sechs abends den Kindern Olarammaya und Geranammaya einen Glückwunsch zum dritten Geburtstag. Er ging davon aus, dass die beiden wegen der elf Stunden, die ihre Insel voraus war, wohl noch tief und fest schliefen. Deshalb wurde er heftig überrascht, als er die Gedankenstimme von Patricia Straton in seinem Kopf hörte: "Das ist aber nett, dass du an die beiden gedacht hast. Es ist schon wieder so viel passiert, dass wir das nicht auf diesem oder dem elektrorechnergestütztem Weg besprechen können. Nur so viel: Wir konnten dieser Schattenkönigin einen heftigen Schlag versetzen, von dem sie sich erst einmal erholen muss. Wir hätten sie zwar gerne auch gleich miterledigt, aber sie ist zu stark, um sich im offenen Kampf fangen oder vernichten zu lassen. Mehr dazu, wenn Faidaria beschließt, dich noch einmal zu uns einzuladen. Pass weiterhin gut auf dich und deine fruchtbare Angetraute auf!"!"
Julius atmete auf. Die ehemalige Spinnenschwester, die seinen Vater damals vom unnatürlich schnell gealterten Greis per Infanticorpore-Fluch zum Neugeborenen zurückverjüngt hatte, wusste noch nichts über die Entwicklungen des letzten Jahres und dass er mittlerweile auch einen Sohn mit Béatrice Latierre hatte. Doch die Andeutung, dass viel passiert sei ließ ihn nicht in ruhe. Sicher, es war mal wieder ein Jahr vergangen, seitdem er den letzten Geburtstagsgruß verschickt hatte. Doch er hatte ernsthaft gedacht, dass die Sonnenkinder gerade damit zu tun hatten, ihre Anzahl zu vergrößern, nachdem der Versuch, mehrere Dementoren auf einmal zu besiegen in einem Fiasco geendet hatte.
Auch wusste er nicht, was genau die Sonnenkinder gegen die Nachtschattenkönigin unternommen hatten, dass diese sich "erst einmal" wieder davon erholen musste. Betrüblich war es wohl, dass sie sich davon erholen konnte und vor allem, dass dafür wohl wieder unschuldige Menschen ihr Leben verlieren mochten. Das sollte auch den Sonnenkindern klar sein. Doch vielleicht taten sie gerade jetzt etwas, um dagegen anzuwirken. Sicher wusste er das nicht. Deshalb fragte er noch einmal nach:
"Euch ist klar, dass diese zur Dämonin gewordene Frauensperson unschuldige Leute umbringt, um deren Seelen zu fressen oder sie selbst in bedingungslos gehorsame Schattenwesen zu verwandeln. Was macht ihr dagegen, falls ich das wissen darf?"
"Was ähnliches, was das Laveau-Institut gegen Vampire macht, um sie nicht in wichtige Gebäude reinzulassen. Aber mehr musst du im Moment nicht wissen, sagt unsere Sprecherin, es sei denn, du entschließt dich, auch zu uns zu gehören, mit allem, was damit zusammenhängt, sagt Faidaria."
"Wieso kommuniziert sie nicht selbst mit mir?" fragte Julius. "Weil sie wohl gerade mit jemanden von uns auf ihr nächstes Kind hinarbeitet", war die kurze aber alles besagende Antwort. Julius dachte daran, dass wenn er zu den Sonnenkindern übertreten würde, alles hinter sich lassen musste, was er mit Millie und jetzt auch Béatrice aufgebaut hatte. Ja, vielleicht musste er dann sogar seine neue Errungenschaft an Félix abgeben, weil die Sonnenkinder nicht ganz auf Ashtarias Weg wandelten. Das würde Ashtaria wohl nicht wollen, dachte er. Oder die von ihm gänzlich unbeabsichtigt erweckte goldene Dienerin Ashtardarmiria könnte von den Altmeistern losgeschickt werden, um ihn davon abzuhalten, einer von den Sonnenkindern zu werden. Ja, und falls er es doch wagte und schaffte, zu dieser kleinen, besonderen Menschengruppe gehören zu dürfen würde er seine eigene Seele in einen ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt einschließen. Denn die Sonnenkinder waren durch ihre magische Beschaffenheit und Gebundenheit dazu bestimmt, nach dem Tod in einem neu gezeugten Körper einzukehren und im Vollbesitz ihrer früheren Erfahrungen und Kenntnisse wiedergeboren zu werden. Dabei hatte es bei der Sache mit dem Luxusvergnügungsschiff "Paradiso di Mare" einen merkwürdigen Effekt gegeben. Weil Patricia Straton mit einem nichtmagischen Jungen, den sie in die Reihen der Sonnenkinder mitgenommen hatte, eine besonders starke Verbindung geknüpft hatte, war der im Körper einer ihrer ungeborenen Töchter gelandet und musste sich nun entweder als transsexueller Mann oder als sich in die Lebensrolle als Mädchen und Frau einfügende neue Person entwickeln und irgendwann selbst die Seelen verstorbener Sonnenkinder als neue Kinder zur Welt bringen. Das könnte ihm dann auch passieren. War es das, was Marie Laveaus Geist ihm damals bei der Audienz um Mitternacht auf dem Friedhof St. Louis Nummer eins gezeigt hatte? Er wusste es nicht. So wünschte er Gwendartammaya noch einen schönen Tag. Diese teilte ihm mit, dass sie seit der Zwillingsniederkunft Dailangamiria heiße, also Mutter der zwei Hoffnungen. Ja, da war wohl einiges passiert, dachte Julius.
Er las noch die neuesten Nachrichten aus aller Welt. Im Augenblick war da nur die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland die erste Regierungschefin der Geschichte bekommen würde und was von einer sogenannten großen Koalition zu erwarten sei, die keine starke Opposition zu erwarten oder zu befürchten hätte. Doch noch liefen die Verhandlungen, solange sei die bisherige Regierung aus Sozialdemokraten und Grünen geschäftsführend im Amt. Er dachte, dass die Briten da die allerersten waren, auch wenn er persönlich nichts von der Politik Margaret Thatchers gehalten hatte, trotz seiner gutbürgerlichen Abstammung.
Wieder zurück im Apfelhaus gab er die von Dailangamiria ausgerichteten Grüße weiter und auch, dass wohl einiges passiert sei, was sie in der restlichen Zaubererwelt nicht mitbekommen hätten.
"Du hast ihr getextet, dass dieses Schattenweib seine Kraft durch die Seelen unschuldiger Menschen bezieht", sagte Millie. Julius bestätigte es und erwähnte, dass sie dagegen was unternahmen, solange sie konnten. "Und von diesem goldenen Wächter haben sie nichts neues gehört?" fragte Millie. Julius verneinte es. "Dann ist der hoffentlich wieder in Tiefschlaf gefallen", erwiderte seine Frau. Ob er diese Hoffnung teilen konnte wusste er nicht. Für den Wächter von Garumitan war Zeit bedeutungslos. Sicher analysierte dieses Kunstgeschöpf die Weltlage, um zu entscheiden, ob die Menschheit ohne sein Eingreifen weiterbestehen durfte oder nicht. Wehe, wenn er befand, dass sie das nicht tun durfte, dachte Julius.
Laurentine war schon so oft in das kleine Landschlösschen gereist, dass sie von den Stunden her drei ganze Ferienwochen zusammen haben mochte. Doch was sie hier erlebte waren keine Ferien.
Einmal mehr duellierten sich Laurentine und ihre ganz private Lehrerin, wobei beide keine Rücksicht darauf nahmen, dass sie sich seit dem September einander zugetan hatten. "Also, du kannst dich mindestens eine halbe Stunde lang mit wirklich gemeinen Leuten duellieren, Laurentine. Deine Schildzauber kommen schnell und wirksam, und die Gegenschläge treffen in neun von zehn Fällen dahin, wo sie sollen, wenn ich nicht ständig meinen eigenen Körper- und Seelenschild nachladen würde", bewertete Louiselle diese Übungsrunde. "Öhm, wenn die Pause rum ist möchte ich dir noch einen fiesen Zauber vorstellen, mit dem so manche Hexe körperlich wie seelisch zu Boden geschickt werden kann. Falls du dich fit genug fühlst, dagegenzuhalten probiere ich den aus. Nur soviel, hast du wen in Aussicht, von dem du in den nächsten vier Monaten ein Kind empfangen möchtest?"
"Nein, habe ich nicht", erwiderte Laurentine. "Wieso. Willst du mir die Gebärmutter aus dem Leib hexen oder mir die kleine Vordertür zuschweißen. Dass sowas geht habe ich schon gelesen."
"Die Zauber kannst du mit dem Praeservirginis-Zauber abwehren, weil sie instantan wirken. Aber kontinuierliche Zauber legen sich auf jeden Schild, schwächen ihn immer mehr und wirken dann nach dessen Erlöschen im Verhältnis zur Dauer des Zaubers als solchem und der bereits abgeklungenen Kraft wegen des Schildes. Einer von denen ist ein Fluch, der von den Töchtern Hecates als Eileithyias oder Lucinas Unmut bezeichnet wurde und nach der Adaptation durch römische Hexen und Zauberer Ovulatio Inhibita genannt wird."
"Eileithyia, wie Eileithyia Greensporn?" fragte Laurentine. "Eben, die wurde wegen der leichtigkeit ihrer eigenen Geburt nach der altgriechischen Geburtshelfergöttin benannt, die über die Schwere oder Leichtigkeit von Geburtswehen und der Gesundheit von Föten und Neugeborenen bestimmte", erwiderte Luiselle Beaumont. Vielleicht hat jemand in deinem Bekanntenkreis ihr Werk über die Betreuung von werdenden Müttern von der gesicherten Empfängnis bis zum letzten Milchzahn des Kindes", fügte sie noch hinzu. Laurentine nickte. Millie und Julius hatten so einen Band, hatte Julius ihr mal erzählt.
"Ja, und wie erwähnt wirkt der von mir noch vorzustellende Zauber kontinuierlich über die Zeit von vier Monatszyklen, beziehungsweise unterbricht den Zyklus für vier volle Monate. Jetzt könntest du sagen, dass das für ein Mädchen nach der ersten Regelblutung und eine Frau auf der Höhe ihrer Fruchtbarkeit doch mal ganz schön ist, nicht jeden Monat zu bluten oder auf Empfängnisverhütung achten zu müssen. Doch der Fluch hinterlässt ein gewisses Ziepen in den inneren Geschlechtsorganen und bewirkt zu dem eine mit jedem Monat zunehmende Lustlosigkeit und Depression, einen Verlust des Selbstwertgefühls und bei schwachen Charakteren sogar Suizidabsichten, weil sie denken, keine vollständige Frau mehr zu sein."
"Oha. Öhm, und du traust mir entweder zu, dass ich den Zauber kontern kann oder nicht deshalb depressiv werde?" fragte Laurentine.
"Richtig! Du kennst ja den Eigenschutz gegen Flächenflüche und dauerhaft wirksame Schädigungszauber. Die beiden musst du zusammenbringen, um gegen Inhibita Ovulatio zu bestehen. Allerdings hast du, wenn ich mit dem Zauberstab auf dich zeige gerade mal zwei bis fünf Sekunden Zeit, um diesen Schutz zu wirken, solange, wie ich brauche, den Fluch zu imaginieren und auszusprechen. Aber mehr nach der Pause, Laurentine."
Nachdem sie was getrunken und ihre Arme und Beine ausgeschüttelt hatten, um beweglich zu bleiben sprach Louiselle: "Bevor ich dir den Zauber genau erkläre nur noch die Frage, ob du dir wirklich zutraust, dich ihm zu stellen und ihn bestenfalls zu kontern und schlimmstenfalls vier Monate mit leichten Unterbauchschmerzen und einer steigenden Gemütseintrübung zu leben. Überlege es dir gut, Laurentine! Es ist keine Feigheit, etwas abzulehnen, was du für zu gefährlich hältst, solange es keine Lage gibt, wo dein Handeln dir und anderen Leib und Leben bewahren muss."
Laurentine überlegte kurz. Sie konnte sich gut mit den Bauchschmerzen während ihrer Blutungen arrangieren. Doch vier Monate lang sowas zu haben und dabei zu denken, keine vollständige Frau mehr zu sein war nicht so einfach abzutun. Dann dachte sie daran, dass Louiselle ihr sicher nicht jetzt, wo sie beide sich einander zugetan hatten so ein Ding verpassen würde, wenn sie nicht sicher war, dass sie das überstehen oder abhalten konnte. So sagte sie: "Ich möchte den Zauber und dessen Abwehr lernen."
Louiselle erklärte ihr erst, wie sie den erweiterten Körperschutz und den Schutz vor Flächenzaubern zusammenbringen konnte, um gegen Inhibita Ovulatio bestehen zu können, und ab wann sie den Zauber spätestens aussprechen musste, wenn sie mitbekam, dass sie, Louiselle bestimmte Gesten zu ihrem Unterleib machte und ganz leise bestimmte Silben ausstieß. Sie erklärte Laurentine den aus vier Wörtern, drei Basisgesten und einer mentalen Komponente bestehenden Zauberspruch und warnte sie davor, den bei auf ihre Fruchtbarkeit stolzen Hexen anzubringen. "Wenn du eine der Latierres damit angehst und sie damit triffst könnte der einfallen, dir den Todesfluch überzubraten oder dich von ihrer Verwandtschaft vierteilen zu lassen. Ich zeige und erkläre dir den Fluch auch nur, weil du wissen sollst, was einer Hexe noch alles gemeines zugefügt werden kann. Ich zeige es dir an unseren freundlichen Assistentinnen."
Laurentine war heilfroh, dass sie keine Angst vor Ratten und Mäusen hatte. So konnte sie Louiselle zusehen, wie sie zwanzig ausgewachsene Wanderrattenweibchen aus ihrem Labor für Zaubertrankzutaten holte und eine nach der anderen mit einer Anhebe-, einer Absenk- und einer gegen den Uhrzeigersinn verlaufenden zweifachen Krreiselgeste und den Zauberwörtern "Ovulatio inhibita nunc effectiva!"behexte. Jedesmal leuchteten die Bäuche der Versuchstiere blutrot auf. Die Getroffenen Ratten zuckten zusammen, quiekten und begannen dann immer hektischer herumzurennen, nachdem das Leuchten verschwunden war. "Sie merken, dass ihre Körper sich verändert haben, können es aber nicht einordnen, was es genau ist. Da die Fruchtbarkeitszyklen von Nagetieren viel viel kürzer als die von Menschen sind wird jedes der Tiere nach nur wenigen Tagen immer schwermütiger und ängstlicher sein. Willst du es immer noch versuchen?"
"Wie vielen Hexen hast du diesen Zauber gezeigt?" fragte Laurentine. "Jeder dritten, die ich unterrichtet habe, eben nur denen, die ich für geübt und charakterstark genug hielt. Ja, und jede zweite von denen hat es nicht geschafft, den Zauber im ersten Ansatz zu kontern. Deshalb schlage ich immer vor, im Zweifelsfall zur Seite zu springen, sobald ich "nunc effectiva!" murmel und die gegen den Uhrzeigersinn kreiselnde Zauberstabbewegung auf Höhe deiner Vulva mache. Wenn du es schaffstt, einen Meter nach links oder rechts zu springen oder entsprechend nach oben mit geschlossenen Beinen abspringst findet der Zauber keinen Fokus in deinen Geschlechtsorganen und zersprüht entweder in leerer Luft wie blutrotes Elmsfeuer oder bereitet dir für zehn Sekunden ein heftiges Zittern des getroffenen Beines, bevor seine Kraft wirkungslos verebbt. Aber ich denke, du kriegst das mit dem Schild hin."
Laurentine sah ihre Lehrerin und heimliche Geliebte an. Sie war wunderschön, selbst auf der Höhe der Fruchtbarkeit, obwohl sie zwanzig Jahre älter als sie war. Aber die wusste auch, was sie ihrer Schülerin abverlangen konnte. Ja, Laurentine wollte es jetzt wissen.
"Ich möchte die Formel für den Schild und die für den Fluch abstimmen, ob ich schnell genug sprechen und imaginieren kann", sagte sie.
Louiselle ließ sie dreimal den kombinierten Schildzauber aussprechen. Laurentine selbst empfand die Zeit für zu lang, um diesen Fluch abzuwehren. Da war der Gegenzauber zu Infanticorpore ja wesendlich schneller auszusprechen. Als sie dann die Gesten und Wörter für den Fluch als solchen erklärt bekam und die mentale Komponente, eine mit rotem Blut gefüllte Sanduhr, die immer langsamer lief und erstarrte, genau vor ihrem geistigen Auge sah beschloss Laurentine, etwas ganz anderes zu wagen. Sie hatte bei unzähligen Schulduellen mitbekommen, dass sich gleichartige und gleichstarke Zauber gegenseitig aus der Bahn schlugen. Sicher war ein kontinuierlicher Fluch kein kurzes Aufblitzen. Aber er konnte sich am Schild oder einem gleichartigen Gegenzauber abbrennen wie eine mit flüssigem Sauerstoff getränkte Wachskerze. Das wollte sie versuchen, wenn Louiselle ihren Zauber mit maximaler Geschwindigkeit sprach. Außerdem fiel ihr ein, dass Flüche durch den Auslösegesten entgegengerichtete Gesten geblockt werden konnten. Also brauchte sie die entscheidende Zielbewegung nur in Gegenrichtung auszuführen. Die Ausrichtung auf die Eireifung und der durch Absenkgeste in vielen Flüchen aufgerufene Schwächungs- oder Unterdrückungsanteil konnten ja bleiben wie sie waren.
"Und, hast du dir überlegt, ob du schnell genug bist?" wollte Louiselle wissen. Laurentine nickte heftig. "Dann beginnen wir", leitete Louiselle die entscheidende Übung ein.
Zunächst ließ sich Louiselle Zeit mit der Ausführung des Zaubers. Als Laurentine ihren kombinierten Körperschutzzauber aufgebaut hatte verpuffte Louiselles Fluch in rosaroten und rubinroten Lichtentladungen. Laurentine fühlte, dass diese Abwehr ihr gut zusetzte, weil sie den Zauberstab sicher halten musste, um den unsichtbaren Schild aufrechtzuhalten.
Fünfmal konnte sie Louiselles Zauber kontern. Jedesmal sprach diese ihren Fluch schneller und Schneller, so dass Laurentine erkannte, ab wann sie was genau machen musste, um sich abzusichern. "So, jetzt die mir schnellstmögliche Ausführung. Allerdings dürfte die dann auch heftig wirken, wenn du den Schild nicht schnell genug hinbekommst", warnte Louiselle. Sie verbeugte sich kurz und hob dann den Zauberstab.
Laurentine rief sich die durchlaufende Sanduhr ins Bewusstsein. Dabei dachte sie auch den Namen Louiselles. Ihr ging es nicht darum, sie zu verfluchen, sondern den Fluch auf sie loszulassen, um den ihr geltenden Fluch aus der Bahn zu fegen. Sie führte fast synchron die Gesten Louiselles aus. Diese blickte auf Laurentine, war überrascht. Doch irgendeine eingeschliffene Abfolge von Gesten und Gedanken trieb sie, den bereits angefangenen Fluch zu Ende zu formulieren. Dann kam die Stelle, wo sie "Nunc effectiva!" wisperte. Die gleichen Worte dachte Laurentine und wisperte noch "Amplifico!". Ja, sie führte den Zauberstab in derselben Zeit, allerdings im Uhrzeigersinn und einen Tacken schneller als Louiselle, weil sie eine bessere Handgelenkstechnik verwendete. . Dann hatten beide Hexen ihren zauber vollendet.
Aus Louiselles Zauberstab drang ein roter Lichtstrahl. Aus Laurentines Zauberstab ebenso. Beide Strahlen schlugen lautlos gegeneinander. Zwischen beiden entstand eine wild im Uhrzeigersinn rotierende blutrote Lichtkugel. Laurentine hielt ihren Zauberstab fest, obwohl sie fühlte, wie dieser ihr aus der Hand gedrückt werden sollte. Louiselle wagte es nicht, ihren Zauberstab nach oben oder unten wegzuziehen, weil sie davon ausging, dass dann Laurentines Zauber bei ihr durchkam. Beide waren auf die mentale Komponente konzentriert. Beide drängten ihre eigenen Gefühle zurück. Dann begann die rotierende Lichtkugel Zentimeter für Zentimeter auf Louiselle zuzugleiten, näherte sich ihrem Unterbauch. Warum sprang Louiselle nicht weg? Offenbar wollte sie wissen, wie gut sie gegenhalten konnte, dachte Laurentine. Dann sah sie, wie die rote Kugel in Louiselles bloßen Unterleib eindrang. Louiselle zuckte zusammen wie von einem Schlag getroffen. Dann erstrahlte ihr Unterleib in einem Licht wie eine gerade aufgehende Sonne und ebenso hell. Zugleich sah Laurentine einen dünnen Lichtstrahl von Louiselle ausgehen, der sie genau dort traf, wo irgendwann mal ihr erstes eigenes Kind zum Vorschein kommen sollte. Laurentine fühlte eine starke Wärme in sich einschießen und zugleich eine Kraft, als sauge ihr jemand die Kraft ab wie ein Vampir. Doch da war keine Angst, kein Gefühl von Gefahr, sondern eine steigende Glückseligkeit. Beide Hexen waren durch den dünnen, sonnenaufgangsorangen Lichtstrahl miteinander verbunden und fühlten eine aufsteigende Wonne. Wirklich zeitgleich überkam Louiselle und Laurentine die höchste wonnige Wallung. Beide schrien mit erröteten Gesichtern die so unverhofft erlebte Lust in den Duellraum hinein, während Louiselles Unterleib so aussah, als scheine die Sonne darin. Laurentine konnte wie durch einen hauchdünnen Vorhang die hell leuchtenden Geschlechtsorgane ihrer Nachhilfelehrerin erkennen. Doch das Flirren vor ihren Augen und das leichte Schwindelgefühl wegen der so plötzlich aufgekommenen Lust trübte ihre Sicht ein wenig ein, so dass sie nicht sagen konnte, ob sie wirklich sah, was sie zu sehen meinte.
Erst als beide Hexen ihre ganze auf magische Weise geweckte Lust überstanden hatten erlosch das sonnenaufgangsfarbene Leuchten. Louiselles bloßer Unterbauch sah nun wieder so aus wie vor diesem höchst beeindruckenden und auch absonderlichen Zauber.
Laurentine fühlte sich auf einmal so ausgelaugt, als habe sie mit Louiselle gleich zwei wilde Liebesakte hintereinander erlebt. Trotz ihrer durch tägliche Gymnastik und Ausdauerübungen erhaltenen Kondition drohten ihr die Beine wegzuknicken. Sie musste sich auf den Boden setzen. Dafür wirkte Louiselle so, als habe sie nach einem langen, erquicklichen Schlaf und zwei großen Tassen Kaffee oder schwarzen Tee ihre gesamte Tagesausdauer erhalten. Jetzt spürte Laurentine ein schwaches, gleichmäßiges Pochen in ihrem Unterleib. Es war tief in ihr drin, als habe ihre gerade zur wilden Wallung getriebene Gebärmutter noch nicht genug Aufruhr gehabt.
"Mädchen, was war denn das jetzt?" fragte Louiselle besorgt. Sie blickte auf die am Boden hockende Schülerin hinunter.
"Fluch und Gegenfluch", keuchte Laurentine. "Ich habe gehofft, dass ich durch die Abwandlung der Entscheidungsgeste deinen Fluch in leerer Luft zerbrutzeln kann. Wusste nicht, dass ich dir damit unser beider Zauber in den Bauch jage. Aber was dann war habe ich echt nicht erwartet."
"Ich auch nicht. Die meisten, die wie du meinten, den Fluch durch gegenläufige Gesten auszukontern haben ihn dann nur vor dem eigenen Bauch in roten Blitzen zersprühen lassen, ähnlich wie beim Schildzauber", sagte Louiselle, der anzusehen war, dass sie gerade die allerhöchsten Glücksgefühle verspürt hatte. "Kann sein, dass unsere beiden Zauberstäbe da eine eigenwillige Abwandlung geschaffen haben, ähnlich wie Priori Incantatem."
"Priori Incantatem? Soweit ich das gelernt habe geht der nur bei kerngleichen Zauberstäben, also Fasern vom selben Drachenherzen oder Schweifhaaren vom selben Einhorn oder Federn desselben Phönixes", ächzte Laurentine, die sich mit den Händen am Boden abstützen musste, um nicht dem heftigen Schwindel zu erliegen.
"Öhm, dein Zauberstab enthält den Schweif einer zum Zeitpunkt der Entnahme trächtigen Einhornstute, richtig?" fragte Louiselle noch einmal nach, obwohl Laurentine es ihr bei den ersten Übungsstunden erzählt hatte. Laurentine bejahte es. "Ja, und meiner enthält ebenfalls den Schweif einer Einhornstute, nur dass diese damals nicht trächtig war, wenn Charpentier mir das richtig erzählt hat. "Aber es könnte sein, dass mein Zauberstab den Schweif der Mutter deines Zauberstabkerns enthält, wodurch eine gewisse Verwandtschaft möglich wäre."
"Oh, dann hätten wir diesen Zauber besser nicht ausprobieren dürfen", sagte Laurentine. "Kommt eine Minute zu spät, diese Einschätzung. Außerdem hätte ich, deine Privatlehrerin, das längst bedenken und entsprechend beurteilen müssen. Also gib dir bitte nicht die Schuld an dem, was passiert ist und vielleicht noch passiert!" baute Louiselle sofort jedem Selbstvorwurf Laurentines vor.
"Öhm, noch passiert. Also fühlst du jetzt dieses Ziepen, von dem du gesprochen hast?" fragte Laurentine. "Nein, fühle ich nicht. Ich fühle mich nur so, als hätte ich mit dir zwei ganz herrliche Runden Bodentanz erlebt und danach eine halbe Kanne Kaffee oder Wachhaltetrank für mindestens einen vollen Tag getrunken. Aber du siehst so aus, als hätte unser Versuch dich völlig ausgelaugt. Geht es dir soweit gut, dass wir uns wenigstens gesittet zusammensetzen können?" fragte Louiselle.
"Muss gehen. Auch wenn sich das jetzt so anfühlt, als hätte ich einen Vollen Tag lang heftig schwere Sachen herumgetragen oder eben wie du sagtest mehrere Runden hintereinander mit dir wilde Liebe gemacht komme ich hoffentlich wieder auf die Beine."
"Ich habe Aufpäppeltrank im Haus. Aber den möchte ich dir nur geben, wenn wir zwei von Hera untersucht worden sind. Meine werte Tante mag es nämlich nicht, gleich nach einem Vorfall mit Auswirkungen auf den Körper oder Geist eigene Abhilfe zu schaffen und sie dann erst herbeizurufen. Ich fühle mich ganz gut. Am Ende hat unser verknäuelter Zauber mir deine Tagesausdauer in den Leib gepumpt."
"Das sah voll merkwürdig aus, als hättest du die aufgehende Sonne im Bauch gehabt. Ich konnte deine Gebärmutter, Eileiter und Eierstöcke erkennen wie durch einen Einblickspiegel."
"Oh, das darfst du gleich der guten Madame Matine erzählen", erwiderte Louiselle. "Aber wir sollten versuchen, uns vorzeigbar hinzukriegen, falls du nicht doch total erschöpft bist."
Laurentine horchte in sich hinein. Das leichte Pochen im Unterleib war verschwunden. Der Schwindel war auch verflogen. Doch es war anstrengend, sich hinzustellen. Sie wartete einige Sekunden, ob ihre Beine sie auch sicher trugen. Als sie sich dessen sicher war nickte sie. "Also, nur Unterzeug anziehen, falls unser beider Vertrauensheilerin uns ohne Einblickspiegel untersuchen möchte!" ordnete Louiselle an. Laurentine nickte.
Beide gingen in den Trakt, wo die Umkleidekabinen und Badezimmer waren. Als Laurentine die Tür hinter sich zugemacht hatte musste sie sich erst einmal setzen. Was hatten sie beide da gerade angestellt, und warum hatte der Zauber, der eine vorübergehende Unfruchtbarkeit und Trübsal erzeugen sollte beide so synchron zum geschlechtlichen Höhepunkt gebracht? Eigentlich hätten sich die beiden Flüche aufheben oder einer von beiden seine gemeine Wirkung entfalten müssen. Doch wie es aussah hatte es eine totale Umkehrung gegeben, also wilde Wollust statt Trübsal ... und am Ende noch ... O ha, dachte Laurentine. Dann dachte sie, dass sie froh war, dass ihre Zauberstababstimmung so gut war, dass sie diesen verknäuelten Zauber nicht in den Bauch bekommen hatte. Doch was genau passiert war sollte Hera herausfinden.
"Laurentine, bist du so weit oder ist dir doch ganz übel?" hörte Laurentine Louiselle rufen. Jetzt erkannte die junge Hexe, dass sie mehr als zwei Minuten in der Kabine war. Beim Turnunterricht damals hatte ihr Madame Leblanc Trödelstrafpunkte verpasst. "Du kannst auf der Matte oder an den Geräten Bestnoten kriegen und wegen zu langsamen Umkleidens Nachlässigkeitsabzüge kassieren", hatte die Lehrerin damals getönt. Aber die hatte ja auch keinen merkwürdigen Zauber überstanden, der irgendwas mit ihr oder der Duellpartnerin angestellt hatte.
Laurentine verließ wie erbeten nur in Unterwäsche die von ihr genutzte Kabine. Immerhin hatte sie noch ihre Armbanduhr herausgeholt, um ungefähr anzusagen, wann was passiert war.
Weil beide sich gerade nicht zu apparieren trauten kontaktfeuerte Louiselle mit "Maison Matine". Hera war gerade damit beschäftigt, die letzten Akten des Tages zu sortieren. Als Heilerin musste sie auch viel Schreibkram erledigen. Laurentine hörte Louiselles Stimme wie aus einem Brunnenschacht erklären, dass es wohl beim Zaubern einen Zwischenfall gegeben habe. Hera war sofort bereit, herüberzukommen.
Nur eine Minute später fauchte die residente Heilerin von Millemerveilles aus einer smaragdgrünen Funkenwolke im Marmorkamin von Louiselles Schloss. Sie sah beide Mitschwestern an und erkannte, dass die eine am Rande der Totalerschöpfung taumelte und die andere so aussah, als habe ihr gerade jemand etwas sehr gutes getan.
Hera Matine ließ sich von Louiselle berichten, was diese mit ihrer Schülerin angestellt hatte. Dann ließ sie sich von Laurentine erzählen, was diese angestellt und dabei gefühlt hatte. Sie blickte beide nacheinander streng an und holte dann ihre Untersuchungsgeräte aus der Heilertasche.
Erst untersuchte sie die immer noch sehr erschöpfte Laurentine ganz genau. Sie tastete sie sogar ab und blickte mit dem Einblickspiegel in ihren Körper. "Du hast noch alle inneren Organe, Laurentine. Allerdings sehe ich da ein aufgeplatztes Eibläschen ohne Ovulum. Ich prüf das mal eben nach", sagte Hera und vollführte einen Zauber, mit dem sie irgendwas anstellte. "Du warst kurz nach dem Eisprung. Aber ich finde das befruchtungsfähige Ei nicht mehr in dir, Laurentine. Von deiner Lebensaura her hast du dich irgendwie total verausgabt. Wenn ihr wirklich diesen höchst fragwürdigen Ovulatio-Inhibita-Zauber ausgeführt habt hätte ich eine Erstarrung deiner Geschlechtsorgane messen und im Einblickspiegel einen gleichbleibenden blutroten Schimmer sehen müssen. Aber dem ist nicht so. Du bist einfach nur völlig erschöpft. Das ist nicht die übliche Wirkung des Fluches. Abgesehen von dem verschwundenen Ei wirst du wohl im gewohnten Monatsrhythmus bleiben", diagnostizierte Hera noch. Dann wandte sie sich ihrer Nichte zu. "So, Louiselle, jetzt lass bitte sehen, was mit dir ist!" sagte Hera sehr ruhig, ja schon irgendwie nachdenklich.
Nur eine Minute später hatte sie ein Ergebnis. "Oha, wie auch immer ihr das hinbekommen habt habt ihr aus einem Fruchtbarkeitshemmfluch einen Gestationsverstärker gemacht. Ich kann in deinm Uterus eine bereits eingenistete, schon mehrfach geteilte Eizelle erkennen, wie sie üblicherweise bei Schwangeren in der zweiten oder dritten Woche unter dem Vergrößerungsglas erkennbar ist." Laurentine blickte Louiselle verstört an, während diese Heras Befund scheinbar schicksalsergeben abnickte. "Ja, du hast richtig gehört. Proba gestationis affirmativae positiva. Du bist laut Diagnose in der zweiten oder dritten Woche schwanger, Louiselle."
"Öhm, das wollte ich nicht, Louiselle", sagte Laurentine. Hera sah sie streng an und machte Schsch. Dann fuhr die Heilerin zu sprechen fort. "Ich sehe, was ich sehe, ihr zwei. Offenbar habt ihr zwei mit oder ohne Absicht herausgefunden, wie die Zwei-Mütter-Tochter Ladonna Montefiori gezeugt wurde. Aber dass ich schon eine vollständig eingenistete Leibesfrucht im frühen Embryonalstadium sehe und keine noch im Eileiter wandernde Zygote erstaunt mich als langjährige Hexenheilkundige. Wie lange hat der Aufruhr in deinem Unterleib gedauert, Louiselle?"
"Öhm, Laurentine und ich hatten einen total simultanen Orgasmus, als wenn wir zwei uns gegenseitig perfekt auf den Gipfel der wilden Wonnen gehoben hhätten", sagte Louiselle selig grinsend, weil sie wohl die entscheidenden Sekunden ins Gedächtnis zurückrief. Dann gab sie die gewünschte Auskunft. "Mindestens dreißig Sekunden plusminus drei Sekunden, Heilerin Matine."
"Laurentine, du hast beobachtet, dass euer zusammengeballter Zauber Louiselles innere Geschlechtsorgane erleuchtet hat. Kannst du das mit den dreißig Sekunden bestätigen?" fragte Hera. Laurentine überlegte kurz und bestätigte es dann. "Ich würde mir ja gerne diese Szene in der Rückschau ansehen, aber deine werten Vorfahren haben das Schloss innen und außen mit Unortbarkeitszaubern gespickt, womit keine magische Rückschau möglich ist", grummelte Hera Matine. Louiselle nickte scheinbar schuldbewusst. Dann sagte sie: "Würde das denn am Befund was ändern?"
"Jetzt wird sie auch noch frech", knurrte Hera. "Nein, würde es nicht", zischte sie. "Ich sehe das ungeborene Kind, mindestens zwei Wochen nach der Zeugung. Ich kann nur vermuten, dass du ähnlich im Rhythmus warst wie Laurentine, also kurz vor oder kurz nach dem Eisprung. Laurentine, du erwähntest, dass du einen dünnen Lichtstrahl in dein Geschlecht dringen sahst und danach erst die höchste Wonne und dann die beinahe völlige Entkräftung erlebt hast. Richtig?"
"Ja, Madame Matine", bestätigte Laurentine. "Dann hat euer durch etwas mir nicht nachvollziehbares in sein Gegenteil verkehrter Doppelfluch die bei dir gereifte Eizelle über diesen Lichtstrahl in Louiselles Körper hinübergesogen und diese unter der Wirkung des Zaubers mit einer reifen Eizelle von ihr verschmolzen, wodurch eine vollständige Zeugung ohne männlichen Samen stattfand. Immer noch unter der Entfaltung des von euch zusammengeballten Zaubers hat die so entstandene Zygote ihren Weg in deine Gebärmutter gefunden und sich dort innerhalb von Sekunden so weit entwickelt, als seist du schon zwei oder drei Wochen schwanger, Louiselle. Ja, Laurentine, ich habe es registriert, dass du das so nicht beabsichtigt hast. Aber wer mit auf das Leben einwirkenden Zaubern hantiert riskiert leider unbeabsichtigte Auswirkungen. Das gilt auch für uns Heilerinnen", sprach Hera Laurentine zugewandt. Dann sagte Louiselle: "Ja, und ich hätte eine ähnliche Auswirkung zumindest bedenken müssen, als ich erwähnte, dass die übliche Handlungsweise, einen Fluch durch eine ihm entgegengewirkte Entsprechung gekontert werden kann. Also ist es vordringlich meine Schuld, Laurentine."
"Ja, aber jetzt hast du ein Kind von mir drin. Wie abgedreht ist das denn?"
"Erst einmal möchte ich doch um etwas mehr sprachliche Selbstbeherrschung und Sorgfalt bitten, Schwester Laurentine", sagte Hera und stellte mit dem einen Wort "Schwester" klar, dass sie das hier gerade zum Geheimnis der Schwesternschaft erklären würde. Dann fügte sie noch hinzu: "Wie erwähnt ist die aufkeimende Leibesfrucht wohl intakt, also kann gesund ausreifen. Ja, und es ist euer beider Kind, eine Tochter um ganz genau zu sein. Denn auch wenn immer noch viele Männer das nicht wahrhaben wollen, der Vater bestimmt das Geschlecht seines Kindes, nicht die Mutter. Aber da ihr gewissermaßen zwei Mütter werdet ist es absolut sicher, dass du, Schwester Louiselle, eure gemeinsame Tochter empfangen hast. Deshalb sagte ich ja vorhin, dass ihr womöglich ganz unbeabsichtigt das Geheimnis um Ladonna Montefioris homophilen Zeugungsakt gelüftet habt."
"Ach du großer ...", setzte Laurentine an und wurde durch Heras lautes Räuspern abgewürgt. "Bitte keine warum auch immer gewählten Kraftausdrücke vor Kindern", sagte Hera. Darüber musste Laurentine unvermittelt loslachen, und auch Louiselle konnte nicht an sich halten. "Die Kleine kann doch wohl noch nichts hören, ehrwürdige Mutter", kicherte Louiselle.
"Besser ist es, ihr fangt so früh wie möglich damit an, euch ihr gerecht zu verhalten, vor allem du, Louiselle. Denn gemäß der Heilerdirektiven muss eine Hexe, bei der eine Schwangerschaft bestätigt ist, diese austragen und das Kind zur Welt bringen, sofern es keine heilmagischen Bedenken gibt und eine Heilerin das Kind übernehmen und austragen muss."
"Wie es bei Julius' Tante gelaufen ist?" fragte Laurentine. Hera nickte bestätigend.
"Ich verstehe. Die Kleine muss erst mal geboren werden, bevor ich entscheiden darf, ob sie bei mir bleibt oder ich sie an euch Heilerinnen abgebe, damit ihr eine neue Pflegefamilie für sie findet." Hera nickte erneut. Laurentine hatte den merkwürdigen Eindruck, dass es Louiselle nicht so niederschmetterte, mal eben ein vaterlos gezeugtes Kind austragen zu müssen. Ja, sie meinte an Louiselles Gesicht abzulesen, dass sie dieses Kind, die gemeinsame Tochter, nicht nur gebären, sondern auch großziehen wollte. Sicher, sie konnte das, wo sie alleinstehend war. Sie konnte das wohl auch mit ihrem Beruf in Einklang bringen. Laurentine wurde siedendheiß klar, was für sie alles anders geworden wäre, wenn sie nicht die paar Funken mehr Zauberkraft aufgebracht hätte und dann Louiselles und ihr Kind in den Bauch geschoben bekommen hätte. Doch wie würde sie damit umgehen, dass da ein Mädchen unterwegs war, das ihre Erbanlagen hatte. Würde sie es zulassen, dass das Kind an wildfremde Leute abgegeben wurde oder noch schlimmer, bei jemandem aufwuchs, den sie kannte, ohne denen verraten zu dürfen, dass es ihre Tochter war?
"Also, Schwestern, ihr habt es als wohl erste Hexen nach den Müttern Ladonnas hinbekommen, ohne Mithilfe eines Zauberers ein Kind auf den Weg zu bringen. Ich gehe sehr stark davon aus, dass das bis auf weiteres niemand außer uns dreien wissen muss, oder?" Laurentine und Louiselle bestätigten es. "Gut, des weiteren ist euch beiden klar, dass ihr bis mindestens zur Entbindung keine Duellübungen mehr machen dürft, es sei denn, Laurentine, du siehst noch Lernbedarf und möchtest dich einer anderen Lehrerin anvertrauen."
Laurentine erwiderte, dass sie keinen Lernbedarf sehe und somit das Duellierverbot akzeptiere. Wieder dachte sie daran, was ihr gerade noch soeben erspart worden war. Sie hätte womöglich ihren Lehrerinnenberuf aufgeben müssen, weil die Eltern in Millemerveilles keine ledige Mutter oder von einer anderen Hexe schwangere Lesbierin an ihre Kinder ranlassen wollten. Es gab immer noch genug Unmut, weil sie den Kindern so viel aus der nichtmagischen Welt beibrachte. Das wäre für die Zaubererweltehrenschützer ein gefundenes Fressen geworden, sie aus dem Job und aus Millemerveilles rauszuekeln. Auch deshalb musste das außer den zwei Bundesschwestern keiner wissen, was sie mit Louiselle hinbekommen hatte.
Als ob Louiselle ihre Gedanken mitgehört hatte sagte diese noch mit einem mädchenhaft vergnügten Grinsen: "Wenigstens können wir bestätigen, dass unsere Übungseinheiten Hand und Fuß haben." Laurentine musste deshalb ebenso grinsen.
"Dich scheint es nicht so zu bekümmern, dass ihr zwei unbeaufsichtigt auf Nachwuchs hingearbeitet habt, Louiselle. Immerhin musst du das Kind austragen", bemerkte Hera Matine.
"Richtig, ehrwürdige Mutter und geliebte Tante Hera. Ich trage die Kleine. Wenn Laurentine sie abbekommen hätte hätte sie die ganze Zeit in Umstandsverhüllungskleidung herumlaufen müssen wie Madame Grandchapeau." Laurentine merkte auf. Was war das gerade? Da sagte Hera Matine: "Ja, aber das hätte die unbeherrschten Gefühlswallungen nicht verbergen können, von den körperlichen Erschöpfungsanfällen ganz abgesehen." Danach erklärte Hera Laurentine, was Louiselle gerade ausgeplaudert hatte. Diese erbleichte. Dann sagte sie: "Schlimmer geht also immer. Dann muss Minister Grandchapeaus Witwe jetzt noch über dreißig Jahre mit dem von Monsieur Grandchapeau gezeugtem Kind im Bauch herumlaufen, und Grandchapeau selbst hat sich mit dieser Veela verkracht, dass die den zur Vergeltung auch noch mit diesem Jungen geistig verschmolzen hat. O ha, das darf aber auch längst nicht jeder wissen."
"Wobei zu fürchten ist, dass es jetzt schon mehr Leute wissen, die es besser nicht wissen sollten", meinte Louiselle dazu. "Aber zumindest brauchst du dir wegen ihr da in meinem warmen Unterstübchen keine Gedanken zu machen, es sei denn, du möchtest mir nach ihrer Geburt helfen, sie gesund und wohlgenährt groß zu kriegen." Laurentine räumte ein, dass sie das erst sicher entscheiden wolle, wenn sie "die Kleine" leibhaftig zu sehen bekam.
"Üblicherweise verordne ich während einer Schwangerschaft Gymnastikübungen zur Stärkung von Ausdauer und Geschlechtsorganen und ziehe meistens beide Elternteile mit heran", sagte Hera. "Aber da ich nicht weiß, ob der neue Schutzbann über Millemerveilles die durch einen verkehrten Fluch gezeugte Tochter nicht als bösartige Magieauswirkung bekämpft kann ich das nur hier in diesem Schloss machen. Wie habt ihr von diesem Tag abgesehen eure Übungseinheiten geplant?" fragte Hera. Louiselle und Laurentine erzählten es der Heilerin. "Gut, dann lege ich meine Termine so, dass ich euch an den geplanten Abenden beaufsichtige. Dann haben wir das auch geklärt. Laurentine, am besten kommst du diese Nacht zu mir und schläfst dich aus. Falls du morgen früh nicht kräftig genug bist kann ich dich bedenkenlos krank schreiben."
Laurentine erwähnte, dass sie noch die Unterlagen für den nächsten Schultag bräuche. Hera meinte dazu, dass sie diese morgen früh noch holen könne, falls sie sie für arbeitsfähig erklären könne.
Als sie sich vollständig bekleidet hatte flohpulverte Laurentine sich in Heras Haus mit angeschlossener Praxis hinüber. Im dauerklangkerker bezauberten Sprechzimmer fragte Hera Laurentine noch einmal zu allen Einzelheiten, und vor allem, wie sie sich jetzt dabei fühlte. Laurentine erwiderte, dass sie heute gelernt hatte, dass man nicht so locker mit auf lebende Wesen wirkenden zaubern herumexperimentieren dürfe und dass sie am Ende froh war, dass sie das Kind nicht in den Bauch bekommen habe. "Glaube es mir bitte, Laurentine, dass wir Schwestern niemanden von uns in so einer Lage allein lassen. Wenn du wirklich diejenige geworden wärest, die das Ergebnis eures besonderen Experimentes zu tragen bekommen hätte, hätte ich für dich genug finden können, um dich und sie sicher weiterleben zu lassen oder ich hätte wegen meiner Anregung, diese Nachhilfestunden zu nehmen, befinden können, dass du wegen irgendwas körperlichem gerade nicht im Stande seist, ein Kind ungefährdet auszutragen und dich gefragt, ob ich es für dich weitertragen soll. Das hätte die gute Louiselle noch mehr erstaunt als der Umstand, dass sie jetzt von dir schwanger ist, Laurentine."
"Öhm, wärest du denn noch körperlich im Stande -?" setzte Laurentine an. "Fortuna-Matris-Trank", stieß Hera sogleich aus. "Jede Heilerin, die den betreffenden Zauber erlernt hat, muss dazu bereit sein, für eine andere Hexe ein Kind auszutragen, wenn es nicht gleich nach der Zeugung uneingenistet ausgeschieden wird. Aber es ist nicht nötig, laurentine. Louiselle ist körperlich stark genug, diese Belastung zu ertragen. Wie du mitbekommen hast freut sie sich sogar auf euer gemeinsames Kind. Könnte es sein, dass ihr zwei nicht nur Duellübungen gemacht habt?" Laurentine errötete so schnell, dass sie nicht mehr überlegen konnte. "Dachte ich es mir doch. Ich habe bei Louiselle immer schon vermutet, dass sie von Zauberern nichts wissen will. Ich will auch nicht weiter wissen, wer da den ersten Schritt gemacht hat. Ich möchte dir nur mit auf den Weg geben, dass Louiselle darauf hoffen mag, dass du ihr beistehst und sie nicht mit eurem Kind sitzen lässt. Ihr habt ja noch an die achtunddreißig Wochen Zeit, euch darüber zu einigen, wie es nach der Geburt des Mädchens weitergeht." Das empfand Laurentine als beruhigend. Ihr Gesicht nahm wieder die übliche Farbe und Temperatur an. Dann umarmte Hera sie wie eine Enkeltochter. "Ich helfe euch dreien bei allem was da nun auf euch zukommt, Laurentine. Das bin ich euch als Heilerin und als die böse Hexe schuldig, die euch zwei zusammengebracht hat und natürlich auch als fürsorgliche Mutter, die zwei Schwestern behüten möchte, sofern sie das zulassen."
"Sofern sie das zulassen", echote Laurentine. Hera grinste erheitert. Dann zeigte sie ihrer Patientin und Hausgästin eines der drei Gästezimmer und legte ihr zur Sicherheit noch ein Körperüberwachungsarmband an. "Das verrät mir, ob du dich auch wirklich gut erholst. Einen Schlaftrank werde ich dir keinen geben. Da musst du jetzt selbst durch." Laurentine sah das ein.
Catherine Brickston saß in ihrem Arbeitszimmer. Justin hielt seinen Nachmittagsschlaf. Ihr Mann war in seinem Arbeitszimmer und werkelte wohl an einer neuen Marktanalysestatistik herum. Claudine war mit Miriam Latierre auf dem Hof der Latierres, wo die Zwillinge Callie und Pennie die Betreuung der gigantischen geflügelten Rinder übernommen hatten, und Babette hatte Training. Denn sie hatte es geschafft, einen Vertrag bei den Lyoneser Löwen zu bekommen, der über fünf Jahre ging. Das hatte sie wohl dem Umstand zu verdanken, dass sie entgegen der Regelung von Beauxbatons während der letzten beiden Jahre, wo sie noch Quidditch spielen durfte, die Dawn'sche Doppelachse trainiert hatte. Wenn sie die festgelegte Zeit dort aushielt wollte sie entweder dort weitermachen, zu einem anderen Verein wechseln oder zu Cyrano oder Ganymed als Besenentwicklerin oder ins Besenkontrollamt des Zaubereiministeriums. Jedenfalls wollte sie nicht wie sie damals weiterführende Zauberkunst und Abwehr dunkler Magie studieren. Allerdings hatte Joe es ihr verdorben, weiterhin im beschützten Haus der Rue de Liberation 13 zu wohnen. Denn er hatte gleich klargestellt, dass er von ihr was für den Hausunterhalt mithaben wollte. Catherine hatte ihn dann, als Babette Bedenkzeit erbeten hatte, leise aber bestimmt gesagt, dass es wohl auch auf freiwilliger basis gegangen wäre, dass sie was für den Haushalt abgab. Doch er hatte nur gesagt, dass wenn sie weiterhin wert legte, "unter seinem Dach" zu wohnen, auch was vom erarbeiteten Geld abzugeben habe, so wie sein Vater damals, bevor er Joes Mutter Jennifer getroffen und ihn auf den Weg gebracht habe.
Babette war nach nur fünf Minuten aus dem Zimmer gekommen, schnurstracks zum Kamin im Partyraum gegangen und hatte mit wem in Lyon kontaktgefeuert. Danach war sie zurückgekommen und hatte gesagt: "ich packe mein Zeugs und ziehe ins Vereinshaus, bis ich in Lyon was eigenes finde. Vielen Dank euch beiden für alles, was ihr für mich ausgehalten und hinbekommen habt, aber wenn ich schon was für 'ne Wohnung abdrücken muss kann ich gleich 'ne eigene nehmen. Habt noch 'ne schöne Zeit."
Das hatte Joe und sie doch ziemlich getroffen. Doch Joe hatte ihr nur viel Glück gewünscht und war in sein eigenes kleines Reich abgetaucht.
Das Telefon riss Catherine aus ihren Gedanken. Da die meisten Anrufe für Joe waren überließ sie es ihm, ranzugehen. So bekam sie mit, wie er erst erfreut "Hi Mum!" rief und nach einigen Sekunden sehr ernst auf Englisch weitersprach. So erfuhr sie, dass sein Großonkel Archie, den sie nur bei der Hochzeitsfeier getroffen hatte, gestorben sein musste. Dann hörte sie noch, dass dessen Haus an seinen Vater James ging, da Archibald keine eigenen Kinder gehabt hatte und dessen Bruder, Joes Großvater, ja schon vor sieben Jahren gestorben war. "Und das ist alles in trockenen Tüchern, Mum. Also, nicht, dass da noch wer auftaucht, der oder die Ansprüche stellt?" hörte sie Joe fragen. "Ich muss das fragen, Mum, weil es bei so großen Häusern oder wo viel Geld im Spiel ist immer wen gibt, der was abhaben will. - Mhmm, das Vermögen geht an Oma Cynthia, damit die nach Sun City umziehen will? - Gut, Dad kriegt das Haus. - und was macht er damit? - Wäre der erste einfache Arbeiter, der in dieses Nobelviertel einzieht. - Ja, verstehe ich auch, dass er das dir zum Gefallen tut, Mum. Das heißt, unser, öhm, euer Haus gebt ihr ab? - Ach, das läuft schon? - Wie? Schon nächste Woche? - Ich kann mit meinem neuen Boss klären, dass ich doppelte Heimarbeit mache. Den gesicherten Firmenlaptop kann ich mitnehmen und ein W-Lan-Modul, dass ich nur in die Steckdose zu klemmen und über den Rechner anmelden muss. Ja, was ganz neues, Mum. Muss ich mit Catherine drüber reden - nein, das geht leider nicht, wegen der klaren Abgrenzungsbestimmungen. Nur wenn du jetzt noch wen dazubekämst, der oder die ... Du hast davon angefangen, Mum, ich nicht. - Wie gesagt muss ich das mit Catherine ... - Babette hat das durchgezogen. Die wohnt jetzt in Lyon, in der Nähe ihres Arbeitgebers. Mehr nicht am Telefon. - Nein, du kannst sie da nicht anrufen. Aber die haben eine Faxnummer für schnelle Postzustellungen, die kannst du wählen. Oder geht der Faxapparat nicht mehr? - Dann ist ja gut. - Wie erwähnt, ich muss meinen Boss fragen, ob das mit der Fernarbeit geht und Catherine fragen, ob sie und die Kinder zwei wochen auf mich verzichten können. - Neh, Mum, ich bringe die besser nicht mit. Claudine experimentiert schon mit dem, was sie kann. - Ja, die ist eine oder wird eine. Erbanlagen ... ja auch deine, Mum, also nicht meckern! - Höchstens bleib ich frech, Mum, weißt du doch am besten von allen. Ja, die Erbanlagen hat Babette auch abbekommen. - Ich rufe dann nachher noch mal an, wenn ich mit Catherine geredet habe. - Höchstens ihre Mutter würde das machen, und die ist schön weit weg in ihrer Schule, Mum. - Grüß Dad, wenn er wieder zu Hause ist!""
Catherine wartete, bis Joe sie rief. Dann besprach sie mit ihm, was war, wobei sie ja das meiste schon von ihm mitgehört hatte. Es ging darum, dass er beim Umzug helfen sollte, auch und vor allem, um die Satellitenanlage für den Fernseher und den Internetzugang einzurichten, aber garantiert auch, um die geerbten Möbel aus der viktorianischen Ära von A nach B zu befördern. Zwar konnten und würden die von professionellen Umzugshelfern transportiert, aber beim Aufbau brauchten sie sicher ein paar zusätzliche Hände.
"Achso, und deine Mutter, die uns früher mit Verachtung überschüttet hat, wollte wissen, ob die dortigen Hexen und Zauberer ihr das nicht abnehmen könnten?" fragte Catherine. "Öhm, stimmt, hast du wohl mitbekommen. Ja, hat sie, meine Mutter, die Hexenhasserin, allen ernstes gefragt. Soviel dazu, was man nicht mag und dann doch gerne nimmt, wenn es bequem und billig ist. Aber wie du vielleicht auch mitbekommen hast musste ich ihr das ausreden."
"Wie groß ist das Haus?" wollte Catherine nun wissen. "Fünfzehn Räume, verteilt auf zwei Stockwerke, ein Garten von tausend Quadratyards mit drei Yards hoher Mauer um das Grundstück und eine Garage für drei Mittelklassewagen. Onkel Archie hat da sogar noch einen Kleinbus, angeblich aus den beschwingten Sechzigern. Der wird aber verkauft, um meiner Oma die Reise nach Florida zu sichern."
"Will Sie jetzt doch nicht in diesem Altersruhesitz bei Glocester einziehen?" fragte Catherine. "Irgendwer aus den Staaten hat ihr wohl Sun City schmackhaft gemacht, und sie hält sich noch für zu aktiv, um in einem Altersruhesitz für betuchte Bürgerinnen und Bürger auf ihr Ende zu warten. Du hast sie ja kennengelernt."
"O ja, habe ich, und ich halte bis heute aufrecht, dass sie es nicht verdient hat, mehr über ihre Urenkel zu erfahren, als dass es sie gibt. Wer mich als "französisches Luder" bezeichnet hat, das ihren Enkel wegen des sicheren Reichtums geheiratet hat und wohl schon deshalb ein Kind von ihm im Bauch hat braucht nicht mehr über mich und die mittlerweile drei Kinder zu wissen", grummelte Catherine und erinnerte sich, wie ihre eigene Mutter, die des Englischen mächtig war, damals sehr ernst dreingeschaut hatte.
"Na ja, es geht jetzt um Onkel Archies Haus", sagte Joe. "Würdest du mir freigeben, so zwischen dem 20. Oktober und 10. November?"
"Ich kann Justin das mit dem Töpfchen auch alleine erklären. Aber das im stehen Pieseln, dass euch Mannsbildern ja so ungeheuer wichtig ist, kannst nur du ihm beibringen."
"Wie lustig, Catherine. Aber so könnte ich drei Wochen weg?"
"Von mir aus ginge das. Aber dann musst du auch Claudine erklären, warum du drei Wochen weg willst", sagte Catherine. "Du weißt, sie erinnert sich immer noch daran, wie du damals im Zimmer gelegen hast und danach im Krankenhaus sehr unfeine Sachen von dir gegeben hast."
"Ja, weiß ich doch. Gut, ich rede noch mit ihr und Justin", grummelte Joe. Hatte der denn echt geglaubt, dass er nur seine Frau fragen musste, wo er zwei mittlerweile sprachfähige Kinder im Haus hatte?
Spät abends rief er seine Mutter noch einmal an und erwähnte, dass er von allen die Erlaubnis erhalten habe, drei Wochen zu ihr und seinem Vater hinzufliegen, wobei er betonte, keinen Besen und kein Teleportationsgerät benutzen zu dürfen.
Laurentine saß in ihrem eigenen Arbeitszimmer und korrigierte die Hausaufgaben der letzten Stunden. Sie war immer noch froh, dass es sie nicht erwischt hatte, vor allem, wenn sie daran dachte, wie es mit Sandrine und Millie in Beauxbatons gelaufen war. Immerhin hatte Louiselle ihr zwei Tage später noch versichert, dass sie keine Entscheidung treffen würde, ohne Laurentine zu fragen.
Jemand klingelte an der Tür. Von unten scholl gerade Melanie Cs neue Ballade vom ersten Tag ihres Lebens herauf. Ja, das Lied mochte sie auch ganz gerne.
"Laurentine, Joe ist ja wegen dieser Erbschaft seiner Eltern unterwegs. Da habe ich beschlossen, dass ich die Zeit für eine Studienreise nutze", sagte Catherine, als sie bei Laurentine im Wohnzimmer saß. "Ach, und ich soll solange auf Claudine und Justin aufpassen?" fragte Laurentine. "Nein, das ist schon geklärt. Du musst dich ja nicht mit meiner Tante Madeleine duellieren, wer die beiden besser umsorgen kann. Die beiden kommen ins Haus Rabenhügel. Wenn ich es hinbekomme am siebten oder achten November zurück zu sein hole ich sie wieder ab. Joe ist ja bis zum zehnten weg."
"Der freut sich sicher, mal eben Möbel von Birmingham nach Glocester schleppen, ohne Portschlüssel und Locomotor-Zauber", grinste Laurentine.
"Er wird es überleben", sagte Catherine verhalten grinsend. "Ich wollte dir auch nur sagen, dass ich die Wohnung unten ganz zumache, es sei denn, Babette möchte nachsehen, ob noch alles in Ordnung ist. Aber ich habe ihr schon eine Eule geschickt, dass sie dich in Ruhe lassen soll."
"Das ist sehr aufmerksam, Catherine. Öhm, wo geht es denn hin, falls ich das wissen darf?"
"Ja, das ist eben der Punkt. Die, zu denen ich hinreisen möchte, legen sehr viel Wert auf Diskretion und sind auch nicht leicht zu erreichen. Deshalb kann ich dir nur sagen, dass ich zusehen möchte, vor Joes Rückkehr wieder hier zu sein. Der muss es nämlich auch nicht mitbekommen, wenn du verstehst was ich meine."
"Ja, ganz sicher verstehe ich das", sagte Laurentine. Sie hatte ja schließlich auch ihre noch ganz kleinen Geheimnisse. Catherine nickte und wünschte ihr noch eine angenehme Zeit mit den ganzen jungen Nachwuchsbewohnern von Millemerveilles. Dann verließ sie Laurentines Wohnung wieder.
Laurentine hörte noch, wie Catherine Claudine anhielt, ihre Reisetasche zu packen, weil es gleich zu Tante Lenie ginge. "Gut, ich kann das Lied von der Mel C jetzt auch richtig nachsingen", flötete Claudine. Laurentine grinste. Sie lauschte noch, bis Catherine mit den beiden abgereist war. Sie würde dann wohl noch einmal wiederkommen, um ihre eigenen Sachen zu packen, dachte Laurentine. Dann dachte sie an Louiselle. Würde die was dagegen haben, wenn sie bei ihr wohnte? Dann fiel ihr ein, dass sie doch besser in Paris blieb. Immerhin könnten ja Tante Suzanne oder Vicky und Hellen anrufen.
Jeff Bristol bedankte sich bei dem würdigen Herrn Mitte fünfzig, der in einem nachtschwarzen Schwenksessel hinter einem imposanten Schreibtisch saß. Richter Cornwall deutete auf einen bequemen Besucherstuhl. Jeff setzte sich. Er fragte, ob er das Gespräch als Audiodatei speichern dürfe oder sich nur Notizen machen dürfe. "Bitte schreiben Sie nur die Ihnen wichtigen und von meiner Seite her erlaubten Einzelheiten auf, Mr. Bristol", sagte Richter Cornwall. Jeff bestätigte es und legte sein Notizbuch offen sichtbar hin und machte seinen Stift schreibbereit. Dass ein einziger Gedanke genügte, dass der Stift jedes im Umkreis von drei Metern geflüsterte und im Umkreis von fünfzig Metern gerufene Wort speicherte brauchte er dem würdigen Amtsträger nicht zu sagen.
"Sie haben erfahren, dass es ein Verfahren gegen den Zeitarbeitsunternehmer Clive Huggins geben wird. Da die erste Anhörung am 1. November angesetzt ist kann ich Ihnen und Ihrer Zeitung bereits einige Details mitteilen, hoffe jedoch, dass Sie von einer Vorverurteilung absehen. Noch gilt in den USA die Unschuldsvermutung. Das muss auch die Presse befolgen." Jeff nickte bestätigend. "Nun, ich muss das immer wieder sagen, weil es ja doch zu viele Ihrer Zunft gibt, die sehr schnell mit die Grundstimmung prägenden Formulierungen und Vorhaltungen bei der Hand sind. Aber ich schätze Ihre Zeitung sehr und hoffe, dass dieser Hinweis nur der rechtmäßigkeit wegen erteilt werden musste", sagte der Richter. Jeff bejahte es und versprach, nur die Angaben zu verwenden, von denen der Richter sicher war, dass sie den Prozessverlauf nicht zu Ungunsten des Beklagten beeinflussen würden. Er hatte nämlich keine Lust, sich mit einem überbezahlten Anwalt herumzuschlagen. Aber mit dem würde er dann ja auch noch reden, gemäß dem Grundsatz, dass alle Seiten gehört werden sollten.
Nun erfuhr Jeff, dass Huggins unter Verdacht stand, den Untergang des Kreuzfahrtschiffes Southern Cruise Jade mittels Sprengstoffladung herbeigeführt zu haben, um die Versicherungssumme für die dort tätigen Zeitarbeiter in Höhe von 20 Millionen Dollar zu kassieren. Weil zu dem Zeitpunkt auch vierzig vermögende Passagiere an Bord waren war gleich noch der Verdacht aufgekommen, er habe diese Passagiere ermorden lassen, um deren Erben zu deren Vermögen zu verhelfen. Natürlich bestritt der Beklagte die Vorwürfe und beharrte darauf, dass eine überhohe Welle das Schiff zum kentern und anschließend zum sinken gebracht habe. Die Erben der angeblich ermordeten Passagiere waren als Zeugen geladen. Um deren Identität nicht vor dem Prozessbeginn in den Medien breitzutreten behielt Richter Cornwall die Namen für sich. Jeff notierte die Anklagepunkte, über deren Zulassung die erste Anhörung befinden würde. Der eigentliche Prozess würde dann Mitte November beginnen und sollte wegen der vorgebrachten Beweismenge und Anzahl der Zeugen bis zum März oder April 2006 dauern. Richter Cornwall lud Jeff ein, dem Prozess als Reporter beizuwohnen, falls sein Redakteur dies wünsche. Jeff bedankte sich für die Einladung und bekundete, dass Mr. Dunston ihm schon die Begleitung des Prozesses aufgetragen habe. Er legte dem Richter die fertig ausgefüllte und nur noch vom Landesgericht zu bestätigende Akkreditierungsanfrage vor. "Dann sehen wir uns ja am 16. November. Die Saalnummer wird Ihrer Redaktion postschriftlich mitgeteilt", sagte der Richter. Jeff bestätigte das und bedankte sich noch einmal für das Interview.
Jeff verließ das Gerichtsgebäude und begab sich zu seinem nächsten Termin. Er wusste, dass Hugins von Dr. Lionel Branigan verteidigt wurde. Dieser Rechtsanwalt galt auch als Rechtsbeistand von Alan Cardigan. Hoffentlich bekam er mit dem keinen Krach. Aber er hatte vorgesorgt und seine Körpergewaltabweisende Unterwäsche angezogen.
Tatsächlich wusste Lionel Branigan, mit wem er es zu tun hatte und war entsprechend kühl und abweisend. Doch als Jeff erwähnte, dass er die "sehr schweren Vorwürfe" gegen Clieve Huggins von allen Seiten her prüfen müsse, um objektiv zu berichten sagte Branigan: "Dann passen Sie gut auf, was ich Ihnen mitteile und dichten Sie nicht irgendwas dazu, nur um meinen Mandanten in der Öffentlichkeit vorzuverurteilen. Weil sonst bekommen Sie richtigen Ärger mit mir."
"Sie dürfen nach dem Gespräch gerne meine Aufzeichnungen und eine eventuelle Vorabversion meines Artikels lesen", sagte Jeff.
Das Interview begann mit einer bekundung der Unschuld des Beklagten und dann einer Auflistung von Argumenten, weshalb Huggins keinen seiner Zeitarbeitsangestellten umbringen würde. Was die dreißig angeblichen Auftragsmorde anginge so seien diese Vorwürfe auf üble Verleumdung zurückzuführen und er, Lionel Branigan, würde die Urheber dieser Rufmordaktion ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen. Denn seine Zeuginnen und Zeugen würden klar aussagen, dass Huggins weder Zahlungen für Auftragsmorde empfangen habe, noch mit den Angehörigen der Opfer in Kontakt gestanden habe. Das notierte Jeff auch.
Als Jeff dem Anwalt nach dreißig Minuten Interview seine Mitschriften zur Überprüfung vorlegte sagte Branigan: "Falls Sie dem Prozess beiwohnen sollten werden Sie erleben, wie ich die Verleumder vor aller Augen entlarve und diese da selbst auf die Anklagebank bringen werde. Mehr ist zu diesem Thema nicht zu sagen. Ich rate Ihnen nur, Ihre mögliche Akkreditierung nicht zu verspielen, indem Sie vor dem Prozess haltlose Anschuldigungen gegen andere von mir vertretene Mandanten veröffentlichen. Denn dann kann und werde ich Ihre Teilnahme ablehnen."
"Natürlich, das steht Ihnen frei, sofern keiner Ihrer anderen Mandanten sich doch noch irgendwas zu Schulden kommen lässt, von dem die Öffentlichkeit erfahren muss", erwiderte Jeff Bristol.
"Das wird nicht passieren", grummelte Branigan. Dann deutete er auf die Tür. Jeff nickte und wünschte ihm noch einen angenehmen Tag. Er passierte die brünette Sekretärin, die ihm neugierig hinterhersah.
Jeff verließ unbehelligt die Anwaltspraxis und kehrte zu seinem Mustang zurück. Er prüfte die unhörbaren Meldezauber, ob jemand in der Zwischenzeit was an seinem Wagen gemacht hatte. Doch es war nichts passiert. Es wäre sicher auch sehr dumm von Branigan, ihn mit der Nase darauf zu stoßen, dass er mit seinen Artikeln über Cardigan doch ins Schwarze getroffen hatte.
Mit einem Batzen verwertbarer Aussagen im Aktenkoffer fuhr er wieder zurück zum Times-Gebäude. Was er davon verwenden würde musste er mit Dunston abklären, auch um Branigans Drohung zu entkräften.
Wieder in seinem Büro fand er auf Ralfs Rechner, der ab übermorgen offiziell abgemeldet wurde eine Botschaft von Tinwhistle.
Danke für die fünfte grüne Gurke, Mr. Bristol. Branigan und seine Hinterzimmerbagage haben mir Dank Ihnen die letzten noch fehlenden Hinweise geliefert, während sie mit Ihm geredet haben. Huggins wird schneller sinken als die Southern Cruise Jade. Sie dürfen es ja dann live erleben.
Ich hoffe, wir sehen uns demnächst, wenn das Zeitschloss für die Daten über mich aufgeht. Ich möchte Sie jedoch davon in Kenntnis setzen, dass das, was Sie oder Dunston dann erfahren, nicht aus Ihren Arbeitsräumen hinausgelangen darf. Ich habe genug Ohren in allen möglichen virtuellen Räumen. Versuchen Sie auch nicht, das eine oder andere davon zuzustopfen. Das würde ich als mutwillige Provokation ansehen.
Tinwhistle
"Ralf, du hast also unsere Systeme verwanzt", knurrte Jeff. Denn er konnte sich zu gut vorstellen, dass sein toter Kollege im Auftrag von Tinwhistle jenes Spionageprogramm in den Intranetserver und bis auf seinen gesondert gesicherten alle Rechner seiner Kollegen eingepflanzt hatte. Doch bald würde er erfahren, wer sich hinter dem Pseudonym Tinwhistle verbarg.
Es war um sechs Uhr abends, als Julius eine Gedankenbotschaft von Catherine Brickston empfing. "Komm bitte leibhaftig zu mir herüber, Julius. Möglicherweise Zeit für Weiterbildung in alter Stadt!" lautete die Nachricht.
Julius holte den Lotsenstein aus dem Schrank heraus. Denn wenn Catherine jetzt sowas andeutete, dann konnte es ihr wohl auch nicht schnell genug gehen. "Ich hoffe, ich bin in einer Stunde wieder da, Millie und Béatrice", sagte er. "Was will Catherine von dir?" wollte Millie berechtigterweise wissen. "Wenn ich das richtig verstanden habe dahin, wo wir beide unsere Sonderausbildung bekommen haben. Sie wurde da ja auch schon als Lernberechtigt angenommen."
"Öhm, Nicht, dass du dann da bleiben musst, bis sie fertig ist, Julius."
"Das hoffe ich auch, dass ich da nicht die ganze Zeit bleiben muss. Obwohl, da sind sooo viele interessante Räume, die ich erkunden könnte."
"Ja klar, und dann kommst du da erst wieder raus, wenn Flavine und Fylla die ersten Enkelkinder auf den Knien schaukeln und Félix sich fragt, weshalb er überhaupt existiert, wo du den Heilsstern mitgenommen hast."
"Hmm, vielleicht sollte ich den ..." Millie schüttelte den Kopf. "Nicht bei dem Gekröse, was da rumläuft, brummt und fleucht, Julius. Neh, nimm den kleinen Silberstern mal lieber mit. Öhm, und sage der Catherine, sie möge sich dieses Amulett mitnehmen, mit dem sie deinen Stern wachgekitzelt hat!"
"Wie gesagt, ich versuche, in einer Stunde wieder da zu sein, Millie. Falls nicht, melo ich dir zu, wann ich hoffentlich wieder zu Hause bin."
"Ich warte drauf, Julius", sagte Millie sehr ernst.
Julius flohpulverte sich zu Catherine und staunte, wie still es war. Eigentlich müsste Claudine doch schon wieder in ihrem Zimmer sein und ihre Lieblingsmusik hören, wie damals Babette. Justin war offenbar auch nicht da, weil Catherine ganz entspannt vor dem Kamin auf einem Stuhl saß und auf ihn wartete. Er begrüßte sie mit der landestypischen Umarmung. Dann folgte er ihr in ihr Klangkerker-Arbeitszimmer. Dort setzten sie sich beide hin.
"Meine Frau gibt mir nur eine Stunde, oder ich muss ohne Abendessen ins Bett", erwähnte Julius. Diese grinste verwegen. "Wessen Bett?" fragte sie. Er schluckte. Mit dieser Antwort hatte er jetzt echt nicht gerechnet.
"Sagen wir so, Millie hat Angst, ich könnte in diesem Turm, zu dem du wohl hin willst, in den vielen Räumen verloren gehen."
"Wenn die dich da reinlassen wollen könnte das passieren. Ich weiß ja nicht mal, ob die mich da reinlassen", sagte Catherine. Danach erzählte sie Julius, dass sie Claudine und Justin bei Madeleine einquartiert hatte und Madeleine Claudine zur Schule bringen und wieder abholen würde. Das sei der Handel, den sie ihrem Vater abgerungen habe.
"Und Babette fühlt sich in Lyon noch ganz wohl, fern von zu Hause?"
"Per Flohpulver wäre sie jede Sekunde wieder hier, Julius. Aber ich habe das mit ihr geklärt, dass ich die Zeit nutzen würde, einige Studien außerhalb des Hauses zu machen, was der Wahrheit ja ganz nahe kommt. Da ich ja weiß, wie lange es bei dir gedauert hat hoffe ich, dass drei Wochen reichen, um das zu lernen, was mir die Wind- und Mondmagier dort beibringen wollen. Ich hoffe nur, dass ich nicht auch ein volles Leben von Zeugung bis Erwachsen durchlaufen muss wie du."
"Millie musste nur sieben virtuelle Jahre überstehen, obwohl ich ihrer Lehrerin zugetraut hätte, dass sie sie vielleicht auch gerne als eigene Tochter bekommen hätte. Aber das musst du mit denen klären, denen du dich anvertraust. In welche Richtung willst du dich weiterentwickeln, Wind oder Mond?"
"Meine Ururgroßmutter mütterlicherseits war eine richtige Mondhexe, die konnte sogar Sachen machen, wo sie in Beauxbatons die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden, wenn eine Schülerin das erwähnte. Vielleicht legitimiert mich das dazu. Aber ich habe auch einige Windzauber erlernt, wie du weißt. Das wäre ja auch eine gute Ergänzung zu dir, als Erdvertrautem, Millie als Feuervertrauter, Adrian als Schutzzauberexperten und Camille als Wasservertrauter. Aber das bespreche ich gegebenenfalls mit den Altmeistern dort."
"Sogesehen wissen die in dem Augenblick, wo du in die Stadt kommst, wer du bist und was du willst", erinnerte Julius sie und sich an die in mannshohen Kristallzylindern überdauernden Geister alter Erzmagier des alten Reiches. Sie nickte bestätigend.
"Weiß Laurentine, dass du für drei Wochen verreisen möchtest?" fragte Julius. Catherine nickte und sagte, dass sie ihr dieselbe Geschichte erzählt habe wie Babette. Julius nickte bestätigend.
"Wie schnell könntest du mich hinbringen?" fragte sie. Er holte zur Antwort den Lotsenstein heraus, den er damals zur Belohnung für die bestandene Prüfung in der Festung des alten Wissens erhalten hatte. Er zwang sich, nicht daran zu denken, wieviel Ärger, Trauer, Freude und Triumph an diesem besonderen Artefakt hingen, und welche Verantwortung er sich damit schon hatte aufladen lassen. Jetzt sollte ihm dieser kunstvoll gearbeitete Steinglobus mit silbernen Längen- und Breitengraden und dazu passenden Zauberzeichen der Erdmagie helfen, Catherine eine gesonderte Ausbildung zu erhalten, mit der sie wie er die gegenwärtige Zaubererwelt aufmischen oder vor dem Totalabsturz retten konnte.
"Gut, da ich wohl kein großes Gepäck mitnehmen muss gehe ich nur noch einmal austreten und dann können wir."
"Öhm, Millie schlug vor, du mögest, falls du es hier hast, jenes Amulett von Eulalia Bellavista mitnehmen, um an den ganzen Monstern vorbeizukommen, die in der Stadt herumstrolchen. Ich habe mein neues Familienerbstück auch mit. Aber ich hoffe mal, dass ich nicht drei Wochen da bleiben muss, bis du wieder nach Hause kannst."
"Das hoffe ich auch mal. Denk an Adrian. Der wurde nicht gefragt, wie lange er da bleiben wollte."
"Öhm, ja", sagte Julius. Doch er hoffte sehr, dass ihm das nicht passierte, was Adrian Moonriver passiert war. Abgesehen davon hatte der ja nur gekriegt, was er die ganze Zeit haben wollte und musste nicht meckern.
Nachdem Catherine noch einmal im Bad gewesen war trug sie nun einen hellblauen Umhang und hatte sich das Amulett von Eulalia Bellavista umgehängt. Dieses und der Heilsstern erkannten sich wieder und wärmten einander auf. Catherine hob ihren Zauberstab und rief: "Totum securum in Absentia!" Dann nahm Sie Julius bei der linken hand und sagte: "Konzentriere dich darauf, dort zu sein, wo ich sein will!" Julius befolgte diese Anweisung. Dann zählte Catherine "Eins - zwei - drei!"
Er sprang ab und wurde sofort von einem viel zu engen, völlig lichtlosen Etwas zusammengedrückt. Der einzige sichere Halt war Catherines Hand. Dann wurde die welt um sie beide herum wieder weit und hell. Er fühlte seinen Heilsstern sanft pulsieren.
Sie standen in einem hohen Gebirge. Julius wendete sofort seinen Erdmagnetsinn an und erfasste mit dem ihm eingepaukten Standortwissen, dass sie in den Pyrenäen appariert waren. Ja, die Richtung stimmte schon mal. Julius holte nun den Lotsenstein hervor und sprach das Losungswort für den Zugang zu den alten Straßen, wobei er diesen für zwei Personen nutzen wollte. Daraufhin fühlte er ganz genau, ja klarer als sonst, wo er ankommen musste. Sowohl die Umgebung als auch die erdmagnetischen Feldlinien traten glasklar in sein Bewusstsein. "Jetzt das gleiche Spiel wie eben, nur dass du jetzt bitte da ankommen möchtest, wo ich hin will", sagte Julius und bot Catherine den linken Arm zum festhalten. Dann zählte er: "Eins- zwei- drei!" Dann drehte er sich gewandt auf dem rechten Absatz und zwengte sich mit seiner Coapparatorin in jenes viel zu enge Zwischending zwischen Start und Ziel. Die Tortur dauerte jedoch nur zwei volle Herzschläge. Dann standen sie beide wieder in einer Berglandschaft.
"Punktlandung, und das mit Begleitung. Ich bin immer wieder fasziniert, wie das geht", sagte er, nachdem er sichergestellt hatte, dass weder er noch Catherine einen Körperteil am Ausgangsort vergessen hatten.
"Wir sind beide exzellente Apparatoren, Julius, und wie du und ich gelernt haben kann der Wille des Coapparators oder der Coapparatorin den Sprung entscheidend bestärken oder vereiteln. Aber jetzt aktiviere bitte den Zuweg!"
Julius hielt den Lotsenstein nach oben und rief "Daimirin Pantiakhalakatanir Kenartis!!" Unverzüglich erstrahlte der Boden unter ihnen golden. Dann wurden beide in einen goldenen Lichtzylinder eingeschlossen, der sogleich in einen Schacht aus silbernen, blauen und roten Lichtringen versank und dann mit ihnen wie durch ein gebogenes Röhrensystem aus diesen Lichtringen befördert wurde wie die Fahrgondel einer Achterbahn oder die Kapsel einer Hochdruckrohrpost. Als sie wie ausgespien auf einer anderen goldenen Plattform wieder auftauchten betrachtete Catherine den viele Dutzend Meter über ihr ausgespannten Torbogen. Sie waren da, in Khalakatan, der ewigen Stadt des behüteten Wissens.
Julius grinste. Dann lupfte er seinen Umhang und öffnete das Gürtelfutteral, das er sich angehängt hatte. Aus dem nur zwanzig Zentimeter langen, gerade mal daumendicken Seeschlangenhautbehälter zog er seinen Ganymed 10 hervor. Catherine grinste auch wie ein Schulmädchen und holte aus ihrer klein erscheinenden Handtasche ihren Ganymed 12 hervor. "Gewusst wo und wie", sagte sie nur und saß auf ihrem Besen auf. Julius bestieg seinen eigenen Besen.
Der Flug durch die Stadt irgendwo unter der dämmerblauen Kuppel verlief von Begegnungen mit belebten Riesenwassertropfen und roten und blauen Drachen aus reinem Feuer recht ereignislos. Die Wassermonster beschoss Catherine mit einem flirrenden blauen Strahl, der die durch die Luft schwirrenden Wassertropfen zu Eisbällen machte, bevor sie ihre gefürchteten Hochdruckwasserstrahlen ausstoßen konnten. Die Feuerwesen ließ sie mit "Mergentur Malardores!" in die Tiefe stürzen und im Boden verschwinden. "Na bitte, geht doch!" rief sie Julius zu. Ab da wagte es kein flugfähiges Wesen, sie zu behelligen.
In der Nähe des kilometerhohen, wie aus mehreren glatten Einzelringen aufeinandergestapelten Turmes des Wissens wurden die Besen langsamer und sanken in die Tiefe. Hier sog ein starker Zauber allen Fluggegenständen die Kraft aus. Julius peilte nach den Erdelementarwesen, die den unmittelbaren Bereich um den Turm bewachten und sah die steinernen Riesen auf überlebensgroßen Reitnashörnern bereits anrücken. "Jetzt komm ich mal dran", sagte er Catherine, bevor sie landen mussten.
Laut stampfend rückten die steinernen Ungetüme heran. -doch Julius war nicht das erste mal hier. Er winkte Catherine zu sich, die ihren Besen auf den Boden gelegt hatte. Dann legten sich beide hin, ignorierten das immer näher kommende Gepolter der auf steinernen Nashörnern reitenden Steinriesen. Er gebot Catherine, den Fuß des gewaltigen Turmes mit dem Kopf zu berühren. Dann drückte er seinen Kopf und den Lotsenstein dagegen. Sofort wurden sie in einen weiteren, aber wesentlich kürzeren Tunnel aus Lichtringen eingesaugt und sogleich wieder ausgespuckt.
"Tja, jetzt noch die hundertvierundvierzig Stufen hinunter. Dann wird es interessant", sagte er und steckte seinen Lotsenstein wieder fort. Danach stiegen sie von der hohen Plattform herunter.
Catherine war ja auch nicht das erste mal hier. Daher verlor sie weder Blick noch Worte an die turmhohe Halle, wo man bequem eine Saturn-V-Mondrakete hätte aufstellen können. Am Fuß der Treppe klappte eine einzige Türe auf. Eine frau wie aus purem Gold mit Augen wie aus Kristallen trat hervor. Sie trug ein blutrotes Gewand, das Zeichen der Elementarvertrauten von Altaxarroi. "Reinheit des Ziegelsteins, du wünscht zu jenen Altmeistern zu gelangen, die dir mehr Wissen und Können vermitteln möchten. Doch bist du bereit, eine vollständige Ausbildung zu genießen und die Bedingungen zu erfüllen, die jene dir stellen, deren Wissen du erwerben möchtest?" fragte die goldene Frau mit glockenartiger Stimme. Catherine sah die künstliche Dienerin entschlossen an und sagte: "Ich bin hier und jetzt bereit, das Wissen zu empfangen und den Preis dafür zu zahlen, wer es mir auch immer gewährt."
"Dann folge mir zum Beförderungskorb!" sagte die Goldene und winkte Catherine mit einer für eine Metallfrau sehr grazilen Arm- und Handbewegung. Catherine umarmte Julius noch einmal und schmatzte ihm auf jede Wange einen Kuss. "Ich kriege das irgendwie hin, dir mitzuteilen, wann ich wieder nach Hause will", sagte sie. Julius wusste nur, dass man von hier aus nicht mentiloquieren konnte, nicht einmal mit einem Herzanhänger als Verstärker. Dennoch war er zuversichtlich, dass sie auch wieder den Weg hinausfinden würde.
Er sah ihr nach, wie sie der goldenen Frau folgte, die sich als Ashkhaulainora, das erste Lied des Windes, vorgestellt hatte. Also wollten die Altmeister Catherine schon auf die Elementarkraft Luft und Wind einstimmen. Er musste jetzt nur noch wieder aus dem Turm des Wissens. Oder sollte er doch mal prüfen, ob er in einen der vielen Räume rein konnte, um sich da umzusehen?
Mit einem lauten Wuff explodierte zehn Meter hinter ihm ein Feuerball. Er drehte sich um und sah die vier Meter große, ebenfalls in rote Gewänder gekleidete Frauengestalt, die er einst mit der Seele von Ashtardarmiria erfüllt hatte und die seitdem die Botin der Altmeister war, deren handelnde Hand in der gegenwärtigen Welt. Ehe er es sich versah war sie bei ihm, pflückte ihn vom Boden hoch und wurde mit ihm in einen orangeroten Feuerball eingehüllt.
Sie landeten draußen vor dem Turm, wo Julius und Catherine ihre Besen hingelegt hatten. "Ich nehme das Flugholz deiner Begleiterin und deines", sagte die goldene Riesenfrau und ging so schnell in die Hocke, dass Julius einen kurzen Aufwind spüren konnte. Mit der linken Hand griff sie nach den beiden Besen und hob sie hoch. Julius rief: "Dann kann sie aber nicht mehr von hier wegfliegen."
"Muss sie auch nicht", sagte Ashtardarmiria. "Die Feuerwächter, die sie niedergerungen hat müssen erst neu reifen und wiedergeboren werden. Bis dahin werden die Tropfenkrieger und die Brummenden Vielaugen ihre Stellung übernehmen. Ich bringe dich jetzt an den Ausgangspunkt der Straße, die ihr hierher genommen habt", sagte die goldene Frauengestalt und lief los. Julius erinnerte sich noch gut, dass sie jemanden in einer Aushöhlung ihres Leibes einschließen konnte und wunderte sich, dass sie das nicht mit ihm tat. Dann blieb sie stehen. Wieder umfing sie beide orangerotes Feuer. Er meinte für einige Sekunden, schwerelos zu sein. Dann standen beide genau dort, wo Julius den Transport über die alte Straße aufgerufen hatte.
"Je danach, wie lange sie geduldet und unterwiesen wird werde ich auf sie warten. Ist sie fertig, so bringe ich sie ebenfalls hierher", sagte Ashtardarmiria und stellte Julius wieder auf die eigenen Füße. Dieser bedankte sich, weil er fand, dass diese besondere Dienerin kein stupider Roboter war, der nur seinen Programmen folgte. Er trat unaufgefordert weit genug zurück, dass er fünf Meter von ihr entfernt war. Ohne weiteres Abschiedswort verschwand die alle anderen Goldmenschen weit überragende Botin in einem orangeroten Feuerball. Julius war alleine.
"Mamille, ich komme zurück. Catherine darf dort lernen, und die große Goldene will sie wieder rausbringen, wenn sie fertig ist", mentiloquierte Julius. Dann apparierte er direkt vom versteckten Zugang der alten Straßen im Apfelhaus.
"Hui, das geht also auch", sagte er, als er den kurzen Wärmeschauer verspürte, der jeden apparierberechtigten in Millemerveilles willkommenhieß.
"Dann wissen die auch, wie viel Zeit sie hat und werden das ausreizen", sagte Millie, die Julius erwartet hatte. "Dann kannst du die drei kleinen neu wickeln, bevor wir essen."
"Wenn ich danach noch Appetit haben sollte", meinte Julius. Millie lachte nur darüber.
Nach dem Abendessen gab es noch ein improvisiertes Hauskonzert mit Aurore, Chrysope und der auf einem Tamborin herumtrommelnden Clarimonde. Gegen halb Neun geboten Millie und Julius, dass die drei Kinder müde genug waren.
Nach der Zubettbringprozedur für die drei großen unterhielt sich Julius mit seinen beiden Mitbewohnerinnen über das, was Catherine erwähnt hatte und was er mitbekommen hatte. "Wenn die euch nicht hätten reinlassen wollen hätten die euch auch diese Myriaklopen und die Windelementarbiester auf die Hälse geschickt", meinte Millie. Julius stimmte dem zu. "Die wollten Catherine testen, ob sie trotz der vorbestimmten Zauberrichtung auch mit Wasser- und Feuerwesen klarkommt", sagte Julius.
"Ja, und ob sie nicht doch durch ein ganzes Leben muss weiß ich nicht", sagte Millie. "Mir blieb das wohl erspart, weil Kailishaia wusste, dass ich Kinder zu versorgen habe. Bei dir war es ja so, dass Madrashmironda dir und auch mir eins auswischen wollte, weil sie mitbekommen hatte, dass ich sie für keine richtige Frau gehalten habe", grummelte Millie. Dann sprach Béatrice etwas an, woran Millie und Julius nicht gedacht hatten. "Millie und Julius, könnte es sein, dass die Altmeister sicherstellen wollen, dass diese Zauberflöte, die du im Apfelhaus deponiert hast, eine würdige Besitzerin bekommt, damit auch dieses Artefakt wieder genutzt werden kann? Schließlich hast du ja alles verlernt, was damit zu spielen ist, Julius."
"Hmm, falls Catherine wirklich von den Meistern oder Meisterinnen des Windes eingeschworen wird", erwiderte Julius. Doch Béatrices Vermutung hatte was für sich. Im Grunde lag diese silberne Flöte bei ihm nur herum, wartete wohl darauf, dass ein anderer oder eine andere so verwegen war, sie anzufassen, um sich mit der darin steckenden Seele Ailanorars zu messen. Wer verlor wurde von ihm vertilgt und der Körper starb. Wer ihn bezwang durfte seine Flöte solange benutzen, wie er oder sie lebte oder einem Nachfolger überließ, sich mit dem alten Windkönig zu duellieren.
"Hmm, hoffentlich ist Catherine auf sowas vorbereitet, wenn sie wiederkommt", meinte Millie. "Wenn nicht kriege ich sicher Ärger. Abgesehen davon, dass die Flöte sofort nach Anthelia/Naaneavargia ruft, wenn ich sie aus der Conservatempus-Schatulle raushole."
"Stimmt, die könnte dann herkommen oder immer da auftauchen, wo jemand die Flöte gerade benutzen will", sagte Millie. Béatrice erkundigte sich noch einmal, wie weit die Schwingungen dieser Flöte reichen mochten. Julius erwähnte, dass der in ihr eingebettete Geist des Windkönigs der leibliche Bruder jener Hexe war, mit der die Wiederverkörperung Anthelias auf eine ihm bis heute nicht bekannte Weise verschmolzen war und sie beide durch Blutsbande und Bindungszauber miteinander verknüpft waren. Sogesehen konnte die Spinnenhexe die Ausstrahlung der Flöte über den ganzen Erdball hinweg erfassen, ja vielleicht sogar, wenn sie auf dem Mond ausgepackt wurde.
"Ein sehr sicheres Mittel, dieses Frauenzimmer anzulocken, als wenn jemand einen orientalischen Dschinn beschwören oder einen namentlich bekannten Nachtschatten zu sich hinrufen wollte", sagte Béatrice. "Echt, das geht?" fragte Julius. Millie und Béatrice räusperten sich. Millie sagte: "Man kann es sicher auch lassen, Julius Latierre. Denk bloß nicht einmal dran, diese Schattenkönigin zu dir hinzurufen, nur um zu testen, ob du sie mit deiner neuen Errungenschaft erledigen kannst!"
"Ich denke daran, dass andere Zauberer und Hexen dieses Unweib zu sich hinrufen könnten, wenn sie dessen wahren Namen erfahren, Millie. Am Ende kann die jemand wie einen Dämon unterwerfen und für sich arbeiten lassen. Kanoras war so einer, der das konnte."
"Wer?" fragte Béatrice, während Millie nickte. Julius erwähnte dann, was Aurélie Odin ihm vererbt hatte und was auch Camille mittlerweile erfahren hatte. "Wohl wahr, die Wege der Nacht und Dunkelheit sind sehr vielfältig", sagte Béatrice.
So ging es noch um das, was Millie und Julius aus ihrer Ausbildung verraten durften, ohne Angst zu bekommen, gleich von Ashtardarmiria ergriffen und auf Nimmerwiedersehen fortgebracht zu werden. Darüber verging die Zeit. So wurden die drei ebenfalls müde genug, zumal Millie und Béatrice noch ihre neuen Kinder stillen wollten, bevor sie schlafen konnten.
In New York war es kurz nach drei Uhr nachmittags am 22. Oktober 2005. Mike Dunston bekam eine E-Mail mit hoher Priorität. Er musste sie mit einem Passwort entsperren. Sie informierte ihn, dass die Akte Tinwhistle nun unter den drei bekannten Passwörtern freigeschaltet werden konnte, die Ralf vor zehn Jahren in den Innereien des hauseigenen Intranets versteckt und gesichert hatte. Mike Dunston rief über die Hausleitung Jeff Bristol an, der heute den Auftaktartikel zum Prozess um Clieve Huggins geschrieben hatte. Einer inneren Eingebung folgend erwähnte er, dass es um mögliche Erben umgekommener Passagiere ginge. Denn er wusste, dass viele Telefonate im Hausnetz an einer sicheren Stelle gespeichert wurden, auch um später einmal rechtfertigen zu können, warum wer im Fall XY so und nicht anders gehandelt hatte.
Als Jeff in Dunstons Büro kam deutete Dunston auf ein Gefäß, das wie eine verkleinerte Kupfervase aussah, aber ein Bleistifthalter war. Dann berührte er unter der scheinbar nahtlosen Kupferoberfläche versteckte Membrantasten. Die kleine Vase summte zweimal. "So, jetzt sind wir für alle Wanzen unabhörbar, nur lautes, weißes Rauschen auf allen Frequenzen. Das heißt aber auch, dass Sie von hier aus kein Mobilgespräch führen können", sagte Dunston. Jeff Bristol prüfte es nach. Sein Mobiltelefon zeigte 0 von 7 Netzbalken.
"Interessantes Gerät. Von wem haben Sie das?" fragte Jeff. "Ein Freund, der mir was geschuldet hat, Jeff. Mehr müssen Sie nicht wissen. Dafür können Sie jetzt mitbekommen, was unser im Dienste abberufener Kollege Ralf Burton so geheimes in unseren Datenbanken versteckt hat. Bitte sehr!"
Jeff sah, wie Dunston die Intranetverknüpfung aufrief, die in einer E-Mail angegeben wurde. Dann gab Dunston drei lange Zahlen-Buchstaben-Kombinationen ein. Nach der dritten wurde er gefragt, ob er ganz sicher die Akte Tinwhistle lesen wolle. Die Frage war mit einer Warnung verknüpft, dass die Kenntnis des Inhaltes eine schwere Belastung des Gewissens in sich barg und die Kenntnisnahme einer Einwilligung gleichkam, weiterhin mit Tinwhistle in Kontakt zu bleiben. Lehnte er die Kenntnisnahme ab würde sich die Akte "Tinwhistle" selbst vernichten. Neben dem Text war eine Sanduhr erschienen, die relativ schnell volllief.
"Ja, wir wissen es, dass Ralf gerne "Auftrag: unmöglich" gekuckt hat", knurrte Mike. Jeff musste grinsen. Gegen das, was er an Gadgets und Gimmicks benutzte stank jeder Agentenfilm und jede Spionageserie ab. "Gleich werden wir wissen, wer Faktor I ist", sagte Jeff in der sicheren Zuversicht, dass nicht nur die Wanzenverstopfungsvase, sondern auch sein in weiser Voraussicht aktivierter Unbeobachtbarkeits- und Unbelauschbarkeitszauber jedes Abhören vereitelten.
"Gut, Sie wollen es auch wissen, Jeff. Dann klicke ich mal auf Ja, bevor die Sanduhr da vollgelaufen ist und die Akte gelöscht wird", sagte er und klickte. Die zu drei Vierteln volle Sanduhr verschwand vom Bildschirm und machte einem mehrspaltigen Dokument platz. Links erschien ein Gesicht, das Jeff kannte. Doch er durfte es nicht laut aussprechen. Daneben stand ein von Ralf geschriebener Text. Dieser beschrieb, wie er vor zehn Jahren, wo er gerade mit der Columbia-Universität fertig geworden war, wegen seiner in der Rüstungsbranche tätigen Eltern entführt worden war. Sie hatten versucht, seinen Vater zur Herausgabe von geheimen Daten zu einem neuen Raketenlenksystem zu zwingen. Dann seien die Gangster von anderen, in rostroten Schutzrüstungen gekleideten Konkurrenten überfallen und bis auf den letzten Mann niedergemetzelt worden. Er, Ralf, war dann laut Text von den Rostroten fortgebracht worden und habe dann ein Zwillingsparr, einen Mann und eine Frau getroffen. Er erwähnte, dass die beiden die damals seit fünf Jahren für verschollen erklärten Geschwister Claudia und Cesare Campoverde seien, die ihr Verschwinden initiiert hatten, um einer Vendetta zu entgehen. Sie hatten ihm angeboten, ihn wieder freizulassen, allerdings unter drei Bedingungen: Er musste sich verpflichten, ihnen mitzuteilen, was er über Aktivitäten der Polizei, sowie in der Unterwelt erfuhr oder was er aus dem Stadtrat mitbekam. Die Zweite Bedingung war, dass er einen durch eigene Körperbewegungen immer wieder aufgeladenen Wechselfrequenzpeilsender implantieren ließ, der GPS-Positionen und Gesundheitsdaten von ihm lieferte, sowie mit ihm zur Verfügung gestellten Disketten, später USB-Sticks, Spionageprogramme in allen verfügbaren Rechnern implementierte, zu denen er Zugang bekam. Die dritte Bedingung war die heftigste. Er musste sich durch Bluteid verpflichten, Claudia Campoverde einmal pro Woche geschlechtlich zu Willen zu sein, da sie ihn für sehr attraktiv hielt und überdies von seiner beeindruckenden Karriere als Mitglied der Leichtathletikmannschaft der Columbia-Universität erfahren habe. Falls er auch nur eine der drei Bedingungen nicht erfüllen wolle hätte nicht nur sein Leben an diesem Tag geendet. Ralf schrieb, dass Claudia Campoverde eine sehr anziehende Erscheinung sei und er ja gerade erst auf der Suche nach einem Beruf als Reporter sei. Da er nicht sterben und keinen aus seiner Familie umkommen lassen wollte habe er in einem Anflug von "Gewissensignoranz" allen Bedingungen zugesagt. Seitdem war er nicht nur der Liebesdiener der Campoverde, sondern auch Kundschafter und Erfüllungsgehilfe der Geschwister, die eine neue Organisation aufgezogen hatten. Er erwähnte, dass beide wohl top ausgebildete Computerexperten waren, vor allem Claudia, die einen Doktorgrad in Raumfahrttechnologie und einen in Medizin erworben habe. Damit hätte sie Flugüberwachungsärztin bei der NASA werden können, so Ralfs eigener Kommentar. Für seine Bereitschaft, ihnen in vielfältiger Weise zu dienen sollte er ab und an Berichte erhalten, was in der Unterwelt von New York und anderswo los sei. Das ganze sollte unter dem Pseudonym "Tinwhistle" abgehandelt werden. Erst mit seinem Tod sollte sein "Vertrag" mit den Campoverdes erlöschen.
Im Laufe der Zeit habe Ralf dann erfahren, dass er nicht der einzige "an der superlangen Leine" geführte Gehilfe der beiden war und dass sie mit Tricksereien an der Börse und gezielten Brandstiftungen in den Reihen der großen Organisationen ein Milliardenvermögen und eine schlagkräftige Armee von Getreuen zusammenbekommen hatten, die nicht nur im Bundesstaat New York, sondern überall da, wo Cosa Nostra, 'Ndrangheta und Camorra tätig waren Verbindungsleute hatte und sogar schon Kundschafter in den Clans der Triaden und der Yakuza installiert habe. Sie wollten die "scheinheiligen" Staatsführungen der Welt unterwandern, um unter dem Stichwort "Terra occulta" eine Schattenweltregierung bilden, die im richtigen Moment hervortreten und die auf den Abgrund zusteuernde Erdbevölkerung auf einen sicheren Weg zurückführen wollte, falls nötig unter Errichtung einer nichtdemokratischen Gesamtführung. Jeff verzog das Gesicht. Dann las er was mit, was ihn aufmerken ließ. Die Campoverdes hatten herausgefunden, dass noch wer ein ähnliches Ziel verfolgt habe, eine Organisation, deren Oberhaupt nur unter dem Namen Superior bekannt war und auf eine weltweite Naturkatastrophe oder Wirtschaftskrise lauerte, um die Zivilisation danach wieder aufzubauen. Kontaktversuche mit dieser anderen Organisation kosteten mehreren Kundschaftern das Leben. Dann hätten sie, die sich in der New Yorker Unterwelt als rostrotes Rechteck bezeichneten, miterlebt, wie Superiors Organisation innerhalb von wenigen Monaten zerschlagen und vernichtet worden sei. Daher wussten sie, dass es noch eine dritte, die Welt umspannende Geheimorganisation, womöglich sogar eine Parallelzivilisation geben müsse, der Superior zu nahe gekommen sei, als dieser einen gewissen Joe Brickston kidnappen wollte. Daher bemühe sich die Vereinigung "Terra Occulta" nun darum, heimliche Agenten innerhalb der mächtigsten Industriekonzerne und politischen Parteien weltweit "anzuwerben", um für den Fall, selbst mit jener weiteren Geheimorganisation aneinanderzugeraten, die Oberhand gewinnen zu können. Mehr habe Ralf nicht erfahren und dürfe es auch niemandem verraten, weil er sonst auf der Stelle tot umgefallen wäre und seine lebenden Vettern und Nichten keinen Tag später getötet worden wären. Wenn er medizinische Hilfe brauchte sollte er nur zu jenen Ärzten gehen, die "Terra Occulta" ergeben waren.
Ich weiß, dass ich mithelfe, eine weltweite Verbrecherbande größer und stärker zu machen. Doch wenn ich es nicht tue sterbe nicht nur ich, sondern jedes Mitglied meiner Familie. Sobald ich anders als durch die Hand meiner Erretter den Tod finde wird ein Monat nach Bekanntgabe meines Todes vergehen. Dann wird ein die Nachrichten verfolgender Bot diese Akte freischalten. Wer immer die liest muss sich im klaren sein, dass die Organisation ihn oder sie danach ständig überwachen wird. Ich warne davor, dieses Wissen öffentlich zu machen, da ich mit sicherheit weiß, dass die Campoverde-Geschwister vor jedem Haus der Angehörigen derer, die das hier lesen dürfen Gefolgsleute postiert haben und sofort den Mordbefehl erteilen werden, wenn versucht wird, es zu veröffentlichen. Außerdem musste ich unter Androhung meines Todes und dem meiner Verwandten eine Sicherungsschaltung in die Drucksatzcomputer einbauen, dass bestimmte Schlagwörter nicht in den Druck gehen können und zu einem Totalverlust aller bisherigen Daten führen wird. Wenn Sie das hier lesen, Mr. Dunston, ist es zu Spät, Sie um Entschuldigung zu bitten. Tinwhistle wird es mitbekommen, dass die Akte gelesen wurde. Ob und falls ja wie die beiden auf eine heimliche Weltherrschaft hinarbeitenden dann weiterhin mit Ihnen Kontakt halten und welche Bedingungen sie erfüllen müssen, um weiterleben zu dürfen weiß ich nicht. Hoffen Sie besser darauf, dass Sie für Claudias sexuelle Ambitionen schon zu alt und nicht ausreichend konditioniert sind. Hoffen Sie auch darauf, dass Cesare Ihre Kontakte längst bekannt sind und Sie daher nicht weiterbehelligt, wenn er nicht denkt, dass Sie noch was wichtiges für ihn bereithalten. Versuchen Sie nie nie niemals, das rostrote Rechteck hochgehen zu lassen. Die werden Ihnen immer zwei Schritte voraussein und entsprechende Gegenmaßnahmen anwenden. Ich habe damals den beim New Yorker arbeitenden Kollegen Will Gardener gewarnt, sich da einzuschleichen. Er wollte nicht hören und flog auf, weil die Zwillinge auch beim New Yorker wen haben, der ihnen zuarbeitet. . Die beiden sind hyperintelligent und haben Drähte in wirklich jede ihnen wichtige Institution der Welt.
Auch wenn Sie mich jetzt wohl verfluchen mögen trifft mich das nicht. Mein Gewissen und meine Moral sind vor neun Jahren endgültig gestorben, und ich bin ihnen nun gefolgt.
Ich wünsche Ihnen ein möglichst unbeschwertes Leben und verbleibe mit dem ehrlichen Dank für die Zeit, die ich mit Ihnen verbringen und für Sie arbeiten durfte.
Ralf Burton
"Achtung, Mr. Dunston! Diese Akte verschließt sich wieder bis zu Ihrem Tode", kam eine Meldung. Dann sah es auf dem Bildschirm so aus, als würde ein großes, schwarzes Buch zugeklappt. Dann schloss sich der Intranetbetrachter. Dunston prüfte sofort, ob die Mail mit der Mitteilung noch da war. Sie war gelöscht worden. Er rief den Intranetbetrachter noch einmal auf und las, dass alle temporären Daten und der Suchverlauf ebenfalls gelöscht worden waren. Jeff konnte sich ein gewisses Grinsen nicht verkneifen. Denn wenn er Bicranius' Trank schluckte konnte er die Seite und die drei Passwörter locker in sein Bewusstsein zurückrufen. Doch Dunston würgte diese heimliche Hoffnung ab.
"Ralf hat uns jahrelang getäuscht und ausgenutzt. Gehen Sie davon aus, dass diese Geheimakte bis zu meinem Tod verschlossen bleiben oder einen immensen Schaden im System anrichten wird, sobald jemand sie neu zu öffnen trachtet. Eigentlich müsste ich jetzt die IT-Leute ranlassen, das komplette System und alle Backup-Dateien auf diese Spionageprogramme absuchen zu lassen. Aber ich muss befürchten, dass die schon so tief im Herzen unseres Betriebssystems eingewachsen sind, dass wir damit unsere Betriebsfähigkeit und unser digitales Archiv ins Vergessen schleudern und irgendwo eine Sanduhr mit unseren Namen zu laufen anfängt. Das ist eine Ungeheuerlichkeit aller höchster Unverschämtheit. Ich muss Sie allen Ernstes um Ihrer Familie Leben wegen bitten, niemandem zu verraten, dass Sie diesen Text mit mir gelesen haben.""
"Ich fürchte, da kommen Sie die berühmten fünf Minuten zu spät, Sir. Denn Sie haben mich über die Hausleitung angerufen. Wenn die schon Spionageprogramme in allen wichtigen Systemkomponenten drin haben hat das saubere Zwillingspaar mitgekriegt, dass Sie mich zu sich hinzitiert haben. Als Sie dann noch diese verfängliche Akte aufgemacht haben brauchten die beiden nur noch eins und eins zusammenzuzählen, auch wenn die gerade nicht mithören sollten, was wir besprechen. Gehen Sie auch davon aus, dass die längst Ihr Mobiltelefon gehackt haben, genau wie meins oder das von allen anderen denen wichtigen Kandidaten. Gut, dagegen lässt sich was machen, einfach alle Handys und Smartphones austauschen. Aber das werden die vielleicht als gezielte "Verstopfung" derer vielen Ohren einstufen. Ich muss zugeben, dass Ralf mit derartig weitdenkenden Leuten zu tun hatte habe ich mir nicht vorstellen können. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wenn die meinen, mich oder meine Familie umbringen zu können, werden die es sein, die was neues lernen. Mehr müssen Sie nicht wissen."
"Ja, aber wer ist dieser Faktor I, dieses Weib, dass Ralf zum Sexsklaven degradiert hat oder dieser Cesare?"
"Ich würde mal sagen, beide, je danach, wer gerade am besten mit der betreffenden Angelegenheit bescheid weiß. Und wir haben alle gedacht, Al-Qaida und die Mafiaorganisationen seien heftig", erwiderte Jeff und fügte in Gedanken noch Lady Nyx und den Spinnenorden hinzu.
"Ich weiß von Ihnen, dass Sie diese Superior-Geschichte erwähnt haben. Glauben Sie die Geschichte, dass es neben dieser Bande noch eine heimliche Weltorganisation gibt, die Superiors Organisation eliminiert hat?"
"Soweit ich mitbekommen habe hat Superior sich mit einer anderen Organisation angelegt, der sein Traum von der nach seinem Bild wiedererstehenden Zivilisation missfiel. Mehr kann ich dazu nicht sagen", erwiderte Jeff und musste noch nicht einmal lügen.
"Gut, dann bleibt uns nur zu hoffen, dass wir für die zwei Obergangster von denen nicht wichtig genug sind, um uns noch einmal zu kontaktieren."
"Wie erwähnt habe ich Vorsorge getroffen, dass meiner Familie nichts passiert, wenn ich was erfahre, was ich nicht wissen oder gar weitererzählen darf", versicherte Jeff sich und Dunston noch einmal. Er musste seine Wut verbergen, nun auch von magielosen Möchtegernweltherrschern bedroht zu werden, wo es schon genug magisch assoziierte Feindesgruppen gab.
"Dann bleibt mir nur, Sie wieder in Ihr Büro zurückzuschicken und zu sagen, dass Sie Ihre gewohnte Arbeit fortsetzen. Falls Tinwhistle sich bei Ihnen melden sollte schreiben Sie es auf einen Zettel und bringen ihn mir bei einer üblichen Besprechung mit! nicht außer der Reihe!"
"Verstanden, Sir", sagte Jeff Bristol und deutete auf die Vase. "Vielleicht sollten wir zumindest noch ohne das Ding da einige Worte wechseln", sagte er. Dunston nickte verdrossen und deaktivierte den Wanzenkiller. Vielleicht hatte er sowieso schon sein Leben verwirkt, ihn gerade jetzt benutzt zu haben.
"Ich bin dann mal wieder rüber. Ich gehe davon aus, dass das eiserne Kleeblatt die nächsten Wochen stillhält, sofern deren Aktivitäten keinen Gegenschlag von Alfredo provoziert haben", sagte Jeff noch. "Branigan wird jetzt alle Zeit der Welt brauchen, um Huggins da rauszuboxen. Obwohl er sehr souverän auftrat haben seine Drohungen gegen mich doch verraten, dass er sich nicht so sicher fühlt, was Huggins und was Cardigan angeht. Vielleicht kriegen wir ja noch vor dem Prozessende den großen Knüller."
"Nun gut, wir müssen und werden seriös und sauber recherchiert berichten. Ich bitte mir daher aus, keine von außen zugespielten Mutmaßungen zu verwenden, deren Wahrhaftigkeit nicht überprüft werden kann", sagte Dunston. Jeff bestätigte das. Dann verabschiedete er sich.
"Justine, du glaubst nicht, was ich gerade mitbekommen musste", setzte Jeff an, mit Hilfe seines goldenen Herzanhängers zu mentiloquieren, nachdem er sichergestellt hatte, dass sein Fernbeobachtungsunterdrücker weiterhin zuverlässig wirkte. Dann gab er seiner Frau weiter, was er mitbekommen hatte und vor allem, dass die sich offenbar für bessere Weltherren haltenden Zwillinge argwöhnten, dass es eine weitere heimliche Weltorganisation gab, und auch, dass sie immer einen Gefahrenspürer mithaben und wie er mit Schutzkleidung gegen körperliche Bedrängnis aus dem Haus gehen musste."
"Quinn hat einen Feindesvergrämungspilz auf unser Hausdach gesetzt. Wer immer uns böses will vergisst, dass er oder sie es will", schickte Justine zurück. Jeff hoffte, dass das reichte. Vor allem hoffte er auch, dass Tinwhistle keine weiteren Anfragen oder Aufforderungen an ihn stellen würde.
Wie vereinbart wurde Ralfs Computer vollständig vom Netzwerk getrennt, nachdem dessen E-Mail-Adresse gelöscht worden war. Nun existierte kein Ralf Burton mehr im System, nur noch in der Personaldatei, und die, so wusste es Jeff nun, war völlig unzureichend.
Julius machte sich Sorgen, nicht um seine Familie oder Catherine Brickston, sondern um die Sicherheit Frankreichs. Vor zwei Tagen waren zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in ein Transformatorhäuschen eingedrungen und dort mit stromführenden Leitungen in Berührung gekommen. Die Stromstärke hatte die zwei getötet. Weil es sich dabei um Angehörige nordafrikanischer Einwanderer handelte glaubten viele dieser Gesellschaftsgruppe, die Polizei habe sie in den Tod getrieben und begehrten mit Gewalt auf. Das französische Internet war voll mit Bildern und Texten, wie die Polizei gegen die aufgebrachten Gruppen vorging. So was ähnliches hatte Julius bei den Anschlägen in London und Birmingham befürchtet.
"Löwengrube Lyon!" rief er mit dem Kopf in smaragdgrünen Flammen seines Kamins. Er überstand das herumgewirbel seines scheinbar vom Körper gelösten Kopfes, bis dieser zur Ruhe kam. Eine Hexe, die außer ihrer schwarzen Löwenmähne locker mit Hippolyte Latierre verwandt sein mochte, war gerade dabei, mit ihrem Zauberstab einen langen Tisch zu decken, an den mindestens zwanzig erwachsene Menschen sitzen konnten. "Ach, neh, wer bist du denn", flötete die Hexe, der Julius den Dialekt der Normandie anhörte. "'tschuldigung, die Dame. Ich wollte nur mit Babette Brickston reden. Die wohnt doch hier, oder?"
"Ja, tut sie, Monsieur Latierre", sagte die athletische Hexe und blickte Julius mit goldbraunen Augen an. "Aber sie hat sich bei unserer Vereinsleitung zwei Wochen Sonderurlaub erbeten, als sie von dem Krawall in den Banlieues erfahren hat. Sie meint, weil ihre Ma auf Auslandsreise sei könnte ihr alter Herr, der gerade in England zu tun hat Angstzustände kriegen. Ich bin übrigens die Ginger, Ginger Platini."
"Oh, dann tut es mir leid, Sie gestört zu haben. Öhm, Ginger ist ein englischer Name. Wie haben Sie den den erhalten."
"Den Vornamen durch Geburt, den Nachnamen durch Heirat. Ich bin hier sowas wie die Hausmutter oder Saalvorsteherin."
"Oh, ich dachte, sie seien noch in der Mannschaft."
"In der Mutterlöwinnentruppe, unserer Mannschaft für gestandene Hexenweiber mit mindestens zwei Jungen in Beauxbatons oder drüber hinaus, Monsieur Latierre. Ursprünglich kommen meine Eltern aus Dover, das liegt hinter der Pinkelrinne von Callais."
"Kenne ich, war ich auch mal", sagte Julius und wechselte zum Englischen über. "Dann waren Sie in Hogwarts oder gleich in Beauxbatons."
"Hogwarts, Gryffindor, 1969 bis 1976. Aber ich habe ein Austauschjahr in Beauxbatons gemacht und durfte da im kirschroten Saal wohnen. Tja, und da habe ich dann meinen Liebsten kennengelernt. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen", sagte Ginger Platini. Julius erkannte, dass er sie nicht nach Hannibal fragen sollte, ob sie mit dem verwandt war. "Gut, dann bitte ich für meine Neugier um Entschuldigung. Ich bin dann mal wieder weg. Frohes Spachteln!" wünschte er der Hexe, die jünger aussah als sie ihrer Erzählung nach war auf Englisch. "Falls Sie mit Babette reden wünschen Sie ihr alles gute und dass wir sie wohl wegen des Urlaubs nicht gegen Ihre Dorftruppe aufstellen können."
"Wird sie freuen, wenn sie nicht gleich im ersten offiziellen Spiel verlieren muss", konterte Julius. Ginger Platini lachte hell und grinste feist. Dann zog Julius den Kopf wieder zurück. Sofort danach warf er neues Flohpulver auf den Rost und rief das Ziel "Rue de Liberation!" aus.
Als sein Kopf im Kamin des Partyraums der Brickstons zur Ruhe kam hörte er schon, wie eine junge Frau telefonierte. Das war Babette. "Nein, Papa, Maman ist noch unterwegs irgendwo in der Welt, sucht wohl nach dem Tor von Atlantis. Die anderen beiden sind bei Tante Lenie, und die passt besser auf die zwei auf als eine Truppe Wachtrolle. Moment, könnte sein, dass sie gerade wieder aufgetaucht ist."
Babette kam mit dem schnurlosen Telefon in der Hand in den Partyraum und sah Julius' Kopf. "Hi, Babette, ich hörte von eurer Hausmutter, dass du hier die Stellung hältst. Grüße deinen Papa von mir und sag ihm, dass sein Papa froh sein soll, kein Busfahrer in Paris zu sein."
"Hallo Papa, hast du ihn gehört. Julius wollte sich wohl nach maman erkundigen und lässt ausrichten, dass Grandpére James froh sein soll, nicht in Paris Busfahrer zu sein." Dann lauschte sie. "Öhm, wo du deinen Blondschopf schon mal zu uns reingefeuert hast will Papa wissen, ob du mehr weißt, wo Maman ist. Ich trau mich nicht, das Telefon näher ans Feuer zu halten, wegen der Wechselwirkung von Magie und Elektronik.""
"Mach mal auf laut, Babette!" Babette tat es. "Hi, Joe, wo deine Frau ist weiß ich nur ungefähr. Sie meinte aber, dass du dir keine Sorgen machen musst. Jedenfalls ist sie ganz weit weg von der Randale, die hier in Paris und anderswo gerade abgeht. Ich mach mir auch Gedanken um die aus Beauxbatons, deren Familien in der Gegend wohnen."
"Aber du weißt, wann Catherine wiederkommt, hoffe ich", klang Joes Stimme blechern aus dem Freisprechlautsprecher. "Kein Datum und keine Uhrzeit, Joe. Aber wenn Babette auf die Chance verzichtet, gegen die beste Mannschaft der Liga anzutreten, dann denke ich, dass sie solange hier bleibt, bis sie wieder nach Hause kommt. Dann ruft sie dich sicher an. Ja und, viel Muskelkater vom Möbel schleppen, Computerfritze?"
"Selbst Computerfritze", erwiderte Joe. "Ja, und ich hatte Muskelkater. ich musste mir eine Dröhnung Schmerzmittel einpfeifen, um weiterzuschuften, weil meine Frau Mutter der Ansicht ist, dass die Möbelpacker nicht über Gebühr bezahlt werden müssen. Sie sitzt auf einem Gelege von goldenen Eiern und begluckt die schlimmer als sonst was", sagte Joe. "Das hab ich gehört!" klang es leicht verzerrt und hallig aus dem Telefon. "Sollte auch so", erwiderte Joe. Die unterwürfige Art, die er früher zu seiner Mutter gepflegt hatte war hin und weg, dachten wohl Babette und Julius. Denn sie grinsten sich gegenseitig an.
"Ich wollte mich nur erkundigen, ob es Babette und dir gut geht", sagte Julius scheinheilig.
"Ja, meine eigentliche Arbeit fängt erst an, wenn die Computerecke im Wohnzimmer eingerichtet ist und die Herren von der Glocester Kabelfirma alle Leitungen verlegt haben."
"Joh, dann weiterhin frohes Schaffen", wünschte Julius. Da hörte er ein leises Klappern aus dem Lautsprecher. "Hi, Mr. Latierre, hier Joes Erzeuger und ehemaliger Ernährer. Was geht denn bei euch da unten gerade ab?!"
"Randale Grande, James. Zwei Jungs mit Einwanderungsstammbaum sind in einen laufenden Trafo reingesprungen, weil sie dachten, die Polizei wollte sie hoppnehmen. Ein paar tausend Volt zu viel. Jetzt denken viele aus deren Wohnvierteln, die Polizisten hätten die bewusst in den Tod getrieben und sind voll auf Krawall aus. Andauernd brennen Autos oder Müllcontainer. Kennt ihr in Birmingham sicher auch. Bei der Gelegenheit, musst du jetzt jeden Tag von Glocester nach Birmingham?"
"Oha, nicht gerade 'ne gute Werbung für die Stadt der Liebe. Öhm, da ich ja zur Public Transport gehöre konnte ich einen freien Platz in Glocester ergattern und muss jetzt jeden Tag pauken, wie meine drei Linien fahren, auf denen ich ab dem ersten November eingesetzt werde. Die neuen Kollegen freuen sich schon auf die Einweihungsparty."
"Ja, aber nur, wenn Joe beim Einrichten eures Routers nicht eure alte Hausnummer in Birmingham eingibt."
"Haha, das habe ich jetzt gehört", meldete sich Joe aus dem Hintergrund. "Gleiche Antwort wie von dir eben", trötete Julius. "Also, Catherine ist im Ausland unterwegs. Wo genau darf ich keinem verraten, weil geheime Kommandosache. sie ist aber gerade weit genug von den Banlieues weg, wenn sich der ganze Krawall nicht noch bis in die Kernstadt reinfrisst, was deren Allah und jeder andere Gott auf Erden verhüten mag."
"Öhm, sie muss aber nicht mit dem Flugzeug landen oder durch die Stadt durchfahren?" fragte James Brickston. Julius verneinte das. Mehr brauchte James nicht zu wissen. Babette konnte nun das Telefongespräch beenden. Sie steckte den Apparat in ihre rechte Rocktasche.
"Du hast mit Ginger geredet. Jau, die hat's drauf, Leute auf Trab zu halten. Na ja, und ob die mit mir oder ohne mich gegen euren Dorfclub verlieren ist einerlei. Aber das sollen die nicht wissen. Dann trete ich eben gegen Bine und San an."
"Die freuen sich sicher, Babette. Du bleibst jetzt die ganze Zeit hier?"
"Zwischendurch appariere ich zu den anderen Mädels aus meiner Klasse hin. Aber abends bin ich lieber hier, wenn sowas wie eben möglich ist oder wenn Maman wiederkommen sollte. Die hat zwar die ganze Wohnung abgesichert, aber nur solange keiner drin ist. Laurentine ist wohl auch verreist. Jedenfalls hat sie oben alles dichtgemacht. Ich dachte, sie betreut Claudine und die anderen Kleinlinge. Und du durftest kontaktfeuern. Ich dachte, ihr habt drei Windelpupser zu versorgen."
"Ja und ja", erwiderte Julius und genoss Babettes verblüfftes Gesicht. Dann musste sie lachen. "Okay, wo ich bin weißt du jetzt. Falls du irgendwie mit Maman Kontakt kriegst sage ihr bitte, dass ich bis zu ihrer Rückkehr in Paris bleibe und aufpasse, dass uns die gefrusteten Typen nicht auch noch das Haus anzünden."
"Ich hoffe, dass der Sanctuafugium-Zauber das verhindert, Babette. Dir noch einen schönen Abend", sagte Julius. Sie winkte ihm. Dann zog er seinen Kopf zurück. Er wusste jetzt, was er wissen wollte.
"Komm bitte wieder ins Haus", sagte Béatrice am Abend des siebten Novembers, als Julius im Baumhaus am Rechner saß und die neuesten Nachrichten sah. Dann sah sie selbst die Reihe brennender Autos auf dem Bildschirm. "Bei Hecate und dem Barte des Belenus, ist das jetzt schon Krieg?" fragte sie. "Der eindruck kann leider entstehen, vor allem, wenn du die Rhetorik des Innenministers hörst, und die Rechtsaußenfraktion im Parlament will alle afrikanischstämmigen sogar mit der Armee niedermachen. Dabei haben alle echt betroffenen zur Ruhe und Frieden aufgerufen. Aber dann kam dieser Volltroll Sarcozy und hat die Leute, die das machen pauschal als wegzuputzenden Abschaum beschimpft. Das ist genauso hilfreich wie einem wütenden Drachen noch Feuer zu geben", sagte Julius.
"Ohne dich jetzt maßregeln zu müssen, Julius, aber du kannst daran nichts machen, und wir alle wohnen weit genug davon weg, um uns keine Sorgen zu machen. Also stell bitte diese Orgie der sinnlosen Zerstörung ab, Essen ist fertig."
"Oh, wundert mich, dass Millie mich nicht anmentiloquiert hat", erwiderte Julius und klickte auf "Herunterfahren".
"Sie war in einer Grundsatzdebatte mit Chrysope verstrickt, ob es anständig sei, mit Händen voller Gartenerde an den Esstisch zu kommen. Rorie hört dem zu."
"Ui, dann sollte ich mir gleich auch besser die Finger waschen, nach dem ganzen Zeug, was ich gerade so angeklickt habe", sagte Julius.
Die "Grundsatzdebatte" war zu Millies Gunsten entschieden worden, weil Chrysope von ihr ein paar Brocken Gartenerde zu essen bekommen hatte, um zu merken, dass diese nicht schmeckte. Das fand Julius zwar sehr radikal, erhob jedoch keinen Einspruch dagegen.
Das Abendessen verlief nun sehr gesittet und friedlich. Danach gab es wie es zur neuen Herbsttradition geworden war ein Hauskonzert, bis die drei größeren müde genug waren. Julius hatte mit Millie ausgemacht, dass es echt nichts brachte, Chrysope vor Aurore ins Bett zu bringen, wenn die dann immer wieder aufsprang um zu gucken, wo die große Schwester war. Die würde es noch früh genug kapieren, wie gut gesunder Schlaf war. Lernen durch Anwendung, eine pädagogisch vielleicht nicht lehrbuchgetreue aber funktionierende Methode, solange die Kinder sich keinen Gefahren aussetzen mussten um zu lernen.
Brittany und Julius Mutter erschienen zusammen, als Julius sein Rufarmband erzittern fühlte und den Kontakt herstellte. "Ich habe mit Lucky ein paar Urlaubstage in VDS eingeplant, auch um mich von Chloe gut durchchecken zu lassen", sagte Martha. "Aber was da gerade bei euch in Frankreich los ist grenzt ja schon an Bürgerkrieg. Sowas hatten sie in Kalifornien 1992, auch wegen angeblicher oder echter Rassendiskriminierung und Polizeigewalt."
"Ja, und die geben keine Ruhe", grummelte Julius. Da hörte er Catherines Gedankenstimme: "Julius, bin wieder aus der Stadt raus und gleich zu Hause."
"Moment, Mum, habe gerade wen meloen gehört", sagte Julius und schickte Catherine zurück: "Grüß Babette. Sie hält das Haus warm und deinen Mann ruhig, dass der nicht meint, dass du mitten im Chaos bist."
"Chaos? Bin gleich zu Hause. Aber danke für den Hinweis", mentiloquierte Catherine.
Julius sprach dann mit hörbarer Stimme mit seiner Mutter und sagte, dass Catherine sich gemeldet habe, dass sie mit Babette sprechen würde, weil die sich natürlich auch Sorgen um ihre Leute mache.
"Gut, ich wollte auch nur hören, was ihr von der ganzen leidigen Angelegenheit mitbekommt und ob bei euch alles in Ordnung ist", sagte seine Mutter.
"Bei uns ist alles friedlich. Aber in Marseille haben sie vor einigen Tagen auch mit der Randale angefangen. Da wohnen auch sehr viele, die meinen, abgehängt worden zu sein", sagte Julius. "Dann hoffe ich mal, das von da nichts zu euch rüberfliegt", sagte Martha Merryweather. Dann meinte Brittany: "Joh, ihm geht's gut. Dann handeln wir Chloes Gymnastikliste ab, dass wir unsere Neuzugänge möglichst erschöpfungsfrei an die Luft kriegen", sagte Brittany. Martha Merryweather verzog ihr Gesicht. "Viel Erfolg, Mum", flötete Julius. Dann war die Verbindung beendet.
"Was war echt mit Catherine, Julius. Ist sie wieder raus aus der Stadt?" fragte Millie. Julius bejahte es. Wie aufs Stichwort erklang Catherines Gedankenstimme wieder in seinem Kopf: "Julius, ich habe Babette gesagt, sie möchte noch zwei Tage da bleiben. Komm bitte morgen abend nach der Bettgehzeit für deine größeren Töchter zu mir und bring bitte dein Mitbringsel aus dem roten Berg von Australien mit! Näheres morgen abend!"
"Quod erat expectandum, Catherine. Ich komme morgen um viertel nach neun. Schön, dass du wieder da bist."
"Und?" Wollte Millie wissen. "Genau was Trice gesagt hat. Sie möchte wohl die Flöte ausprobieren."
"Öhm, sie weiß ja, wie gefährlich das ist?" fragte Millie. "Ja, weiß sie wohl. Aber vielleicht hat ihr irgendwer von den Windmeistern erklärt, wie sie die Gefahr minimieren kann, was mir weder Temmie noch der Inuittrommler noch der australische Magier Yati Wullayati verraten konnten, durften oder wollten. Ich kann nur hoffen, dass ich Catherine morgen nicht in die DK rüberbringen lassen muss."
"Öhm, weil das offenbar geheim ist kannst du schlecht nach Hera rufen, dass sie morgen mit dir mitgeht. Sonst müsste ich dir raten, einen Heiler oder ihre Vertrauensheilerin mitzunehmen."
"Ich frage sie mal eben, Trice", sagte Julius und mentiloquierte: "Catherine, soll Hera morgen mitkommen?"
"Nein, sie brauche ich nicht. Aber dich und deine Neuerwerbung aus dem Morgenland brauche ich und eben die Silberflöte. Ja, ich weiß, dass es riskant ist. Aber ich weiß auch, was ich machen kann. Keine Sorgen bitte, sag das deiner Schwiegertante und Mutter deines Sohnes. Ach ja, sag ihr auch, dass wer es hinnehmen kann, dass du in eines der dunkelsten magischen Artefakte aller Zeiten hineinsteigst, der oder die muss sich um mich keine Sorgen machen."
Julius gab es so weiter. "Würde sie das auch sagen, wenn Hera deine einzige Vertrauensheilerin wäre?" fragte Béatrice. "Sogesehen ist Hera immer noch für mich zuständig, weil der Hebammencodex die Betreuung von Mutter, Kind und Vater ..."
"Geschenkt, ich kenne den Codex", knurrte Béatrice. Millie musste grinsen. "Und du auch, wackere Zwillingsmutter", schnarrte sie noch. Millie verzog ihr Gesicht und sah sie dann mit einem Hab-doch-nichts-gesagt-Gesicht an. Béatrice grinste nur überlegen.
Es war ihm immer noch mulmig, als er die kleine Schatulle in eine verschließbare Umhangtasche steckte und dann noch prüfte, ob sein Heilsstern sicher um seinen Hals hing. Wenn Catherine wollte, dass er den mitnahm spekulierte sie wohl darauf, dass er ihn einsetzen musste ... Um sie zurückzuholen? Damals hatte ihm Millie über die Herzanhängerverbindung geholfen, sich aus Ailanorars Zugriff zu befreien und dessen Silberflöte zu unterwerfen.
Er reiste mit Flohpulver in die Rue de Liberation 13. Dort traf er nicht nur Catherine, sondern auch Babette, die sich gerade eine hitzige Debatte lieferten. "Ja, und wenn es nicht so klappt, wie wer immer dir eingeredet hat hängst du hier hilflos oder tot rum, Mum, und ich darf es allen erklären, vor allem Oma Blanche und Tante Madeleine. Außerdem, warum hast du die zwei mitgebracht, wenn du gerade was heftiges vorhast?"
"Weil ich dich, Claudine und Justin brauche. Keine Sorge, ich will euch nicht an irgendwen oder irgendwas verfüttern. Aber ich brauche euch einfach nur in der Nähe. Insofern danke ich dir, meine Tochter, dass du schon da bist und ich dich nicht erst rufen musste", hörte er Catherine. Dann merkten die zwei erwachsenen Hexen, dass jemand durch den Kamin gekommen war.
"Schön, du bist da. Alles mitgebracht?" fragte Catherine, während Babette Julius saphirblau anfunkelte. "Ja, was ich mitbringen sollte, Catherine. Hast du Babette erklärt, was du vorhast?"
"Nur soweit, dass ich Kontakt mit etwas aufnehmen will, mit dem ich mich geistig messen muss. Das findet sie völlig zurecht nicht in Ordnung. Aber es gibt nun einmal Sachen, die müssen sein. Das sagst du deinen Töchtern sicher auch."
"Ja, aber mit dem, was ich dir mitbringen sollte musst du dir weder den Po abwischen noch die Zähne putzen", entgegnete Julius. Babette hörte auf, ihn verärgert anzustieren und musste lachen. "Ja, das ist wohl richtig. Aber mir wurde der klare Auftrag erteilt, es auf mich einzustimmen, damit es nicht länger unbrauchbar versteckt bleiben muss", sagte Catherine und mentiloquierte: "Und was die schwarze Spinne angeht sind wir hier vor ihr sicher", schickte er zurück. Babette sagte "Heh, was melot ihr euch da zu?"
"Babette, wenn ich das wolte, dass du das weißt hätte ich es laut gesagt", erwiderte Catherine knochentrocken. Jetzt musste Julius über Babettes verdrossenes Gesicht grinsen. Dann sagte Catherine: "Wo wir dabei sind, Julius, du gibst mir bitte sehr das Schächtelchen in deiner Umhangtasche und setzt dich bitte sehr mit meinen drei von mir persönlich geborenen Kindern so, dass sie und du euch gegenseitig an den Händen berühren könnt. Falls dir an ihnen irgendwas merkwürdig oder besorgniserregend vorkommt mach du das, was du gelernt hast und außer Camille im Moment nur du machen kannst! Verstanden!" Julius meinte einmal mehr, Catherines Mutter hätte den Körper ihrer Tochter übernommen, um ihn zu maßregeln oder anzuleiten. So blieb ihm nur mit "Verstanden, Catherine" zu antworten.
Er übergab die kleine Schatulle an Catherine, die er so lange in seinem mit Blutsiegelzauber und der Schutzformel Ashtarias versiegeltem Schrank aufbewahrt hatte. Dann peilte er die zurechtgerückten Sessel an, die ein Kreuz bildeten, wobei die Sitzflächen zur Mitte hinzeigten. Auf einem der Sessel saß Justin und schlief. Im anderen Sessel nahm die leicht eingeschüchterte Claudine platz. Julius schaffte es, möglichst beruhigend dreinzuschauen. Jetzt kapierte er, was er hierbei zu tun hatte.
"Okay, Babette, wenn deine Mutter es drauf anlegt können wir sie nicht davon abhalten. Glaub es mir bitte, mir ist auch nicht recht wohl. Aber vielleicht können wir zusammen machen, dass ihr nichts passieren kann", sprach Julius etwas aus, von dem er nur hoffte, dass es stimmte, es aber nicht hundertprozentig wusste.
"So, Alle legen hier die Hände auf den kleinen runden Tisch", sagte Julius, während er mitbekam, wie Catherine in ihr Arbeitszimmer ging. "Ja, genau. hallo, Justin, bist du auch wach? Komm, nur die Hände hier hinlegen, so. Jawoll!" sagte Julius ruhig und legte Justins Hände so, dass sie zugleich mit Babette und Claudine Kontakt hatten. "So und jetzt ganz entspannt bleiben", sagte Julius ruhig. Dann zuckte ein Geistesblitz in seinem Kopf auf, mit den dreien eine einfache Durchhalteformel einzustudieren. "Wir sind hier. Maman, wir helfen dir", sagte er vor. "Sprecht das bitte nach, Babette, Claudine und Justin." Babette sah ihn ungläubig an und fragte, wozu das gut sein sollte. Da sagte Julius: "Weil ich das selbst erfahren habe, wie viel Kraft das wem bringt, wenn jemand geliebtes oder wichtiges bei einem Zauber an jemanden denkt, dem er oder sie helfen will. Diesem Umstand verdanke ich zweimal mein Leben und viele andere nette Leute auch, die ich kennengelernt habe, unter anderem auch Rorie, Chrysie und Clarimonde."
"Ja, habe ich mal gelernt, dass Magie im Verbund stärker wirken kann und ohne Zauberstäbe superstarke Rituale gehen, wenn genug Leute zusammen sind, die das gleiche singen oder tanzen."
"Richtig, genau das machen wir jetzt, nur dass wir nicht um ein Feuer tanzen, sondern uns gegenseitig an den Händen halten. Justin, du bitte auch. Deine große Schwester sieht zwar gerade sehr grimmig aus, wird dich aber nicht beißen."
"Wie überaus witzig", knurrte Babette. Claudine fragte, ob sie Julius' Spruch jetzt nur sagen oder singen sollten. Julius strahlte sie an. "Singen ist immer besser, weil es zusammen immer noch am besten geht und Musik sowieso der größte verbindende Zauber ist. Aber kann Justin schon singen?"
"Ja, mit zwei Tönen neben den Notenwerten", grummelte Babette. Doch da erkannte auch sie, dass sie ihrer Mutter nur half, wenn sie entspannt und vertrauensvoll war. Julius fand eine einfache Melodie, die er vorsummte, bis alle drei sie nachsummen konnten. Dann sang er die einfache Beistandsformel vor: "Wir sind alle hier! Maman wir helfen dir." Als Justin lauter sang sagte er leise: "Nicht schreien, nur leise singen. Leise". Dann hatte er die drei auf einer brauchbaren Tonhöhe zusammen und ließ sie immer wieder singen und dabei die Hände halten. Er summte die Melodie, weil er ja keines von Catherines Kindern war. So vergingen mehrere Minuten, bis es passierte.
Gerade eben noch sangen die drei"Wir sind alle hier. Maman, wir helfen dir." Dann raunten sie die Schutzformel nur noch immer langsamer, leiser und angestrengter. Dann saßen alle drei mit aneinandergelegten Händen da und begannen ins Leere zu blicken, als suchten sie etwas weit in der Ferne. Julius argwöhnte, dass sie in eine art Trance geraten waren oder einem fernen, unheilvollen Ruf lauschten, dem sie folgen würden, ohne sich körperlich von der Stelle zu bewegen. Sowas ähnliches hatte er selbst schon erlebt, als er seinen verschollenen Vater gesucht hatte und dabei fast in die Gewalt der Abgrundstochter Hallitti geraten wäre. Damit wusste er jetzt, was er hier sollte und wozu er ihn mitgebracht hatte, Ashtarias silbernen Heilsstern.
Sie hatte nicht mehr damit gerechnet. Sie hatte geglaubt, dass Julius die magische Flöte von Naaneavargias Bruder nie wieder ans Licht holen würde. Doch als sie aus der Ferne die ihr vertrauten Schwingungen empfand, ja sogar eine gewisse Entschlossenheit und Überlegenheit fühlte wusste sie, dass Julius jemandem dieses Instrument gegeben haben musste, um sich dessen für würdig zu erweisen. Dabei wusste er doch genau, was dem oder der widerfuhr, der es zum ersten mal berührte. Doch sie wusste aus Naaneavargias Erfahrungen her, dass es einigen gelungen war, Ailanorars Stimme zu erobern und sie diese Männer nur durch reine Gewalt aufhalten konnte, damit von dannen zu ziehen. Sollte sie das jetzt auch tun?
Anthelia/Naaneavargia verwandelte sich in die schwarze Spinne. So konnte sie noch besser magische Schwingungen erspüren. Außerdem war sie so mehr Naaneavargia als Anthelia und hielt somit eine stärkere Verbindung zum in der Flöte steckenden Geist ihres Bruders.
Ja, die Richtung stimmte. Es musste noch in Frankreich sein. Falls es Millemerveilles war kam sie nicht an das Erbe ihres Bruders heran. Doch hoffen durfte sie ja noch.
Sie verwandelte sich in ihre menschliche Gestalt zurück und disapparierte aus Tyches Refugium. In zwanzig weit reichenden Sprüngen über mehrere Atlantikinseln hinweg erreichte sie die Bretagne. Hier wurde sie erneut zur Spinne und peilte die genaue Richtung an. Ihr Erdmagnetsinn verriet ihr, dass die Flöte nicht im Süden Frankreichs freigelegt worden war. Sie prägte sich die Herkunft ein. Dabei fühlte sie, dass Ailanorar versuchte, jemanden niederzuringen, ein weibliches Wesen, eine Hexe. Hatte Julius es gewagt, Blanche Faucon, ihrer Tochter oder einer der ihr nicht verbundenen Schwestern Ailanorars Stimme zu überlassen? Sie musste dahin, das herausfinden.
Mit zwei orientierungssprüngen apparierte sie in die Rue de Liberation. Sofort fühlte sie, dass ein unsichtbares Hindernis vor ihr wartete. Sie versuchte, in Gestalt der schwarzen Spinne daran vorbeizukommen. Doch selbst die Tränen der Ewigkeit konnten den unsichtbaren Schutzwall nicht durchbrechen. Sie sah grelle Blitze und hörte schrille, laute Töne im Kopf und prallte zurück. Trotz der Schmerzen konnte sie noch klar denken. Ja, Julius hatte Catherine Brickston die Flöte übergeben, und diese kämpfte nun mit ihrem Bruder um deren Besitz.
Unsichtbar für andere Wesen verfolgte Anthelia/Naaneavargia den Kampf mit. Jetzt, wo sie näher an AilanorarsStimme war als seit ihrem Ausbruch aus dem roten Felsenberg nicht mehr fühlte sie, dass er nicht nur um die Überwindung einer anderen Seele kämpfte, sondern wahrhaftig um seine eigene Freiheit. Ja, dieses Weib, Catherine Brickston, hatte von irgendwo her erfahren, wie sie ihn, Ailanorar, für alle Zeiten an sich und ihre Nachkommen alleine binden konnte, wenn sie es schaffte, ihn mit den Worten der neuen Mutter zu binden.
Sie merkte, dass Ailanorar doch stärker war. Ja, er wollte nicht nur Catherine, sondern auch deren Nachkommen an sich ziehen. Gelang ihm das war die Familie Brickston so gut wie ausgestorben. Da passierte es.
Julius legte den silbernen Stern behutsam auf die Hände der drei immer entrückter dreinschauenden Geschwister. Der Stern begann augenblicklich zu vibrieren und glühte in einem himmelblauen Licht. Himmelblau war die Farbe der Elementarkraft Luft, wusste Julius. Also hatte der Stern einen auf die drei einwirkenden Windzauber erfasst. Doch jetzt blieb Julius wohl nicht mehr fiel zeit. Denn die drei atmeten immer langsamer. Er berührte den Heilsstern mit seinem rechten Zeigefinger. Er holte dtief luft, um mit einem einzigen Atemzug die mächtige Formel auszurufen.
"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"
Zunächst geschah nichts weiteres. Die beiden Mädchen und der kleine Junge saßen daa und blickten wie hypnotisiert in die Gegend. Dann begannen sie in jenem himmelblauen Licht zu leuchten, dass der Heilsstern die ganze Zeit ausgestrahlt hatte. Das Licht wurde heller und heller. Julius dachte einen winzigen Moment daran, dass er sich vielleicht verkalkuliert hatte, dass Catherine sich bei ihm geirrt hatte. Doch dann, als die drei Geschwister so hell wie ein klarer sommermittagshimmel leuchteten, fühlte er den warmen Wind, der zwischen ihnen zu entstehen schien und sie und ihn umwehte wie eine Tropenbrise. Der Heilsstern erwärmte sich unter seinem Finger. Er fühlte, wie er in einen bestimmten Atemrhythmus gezwungen wurde, denselben, den die drei Geschwister gerade einhielten. Erst langsam, dann immer schneller atmend kehrte bei allen dreien das Gefühl für das Hier und Jetzt zurück. Der auf allen drei Händen zugleich liegende Stern erbebte und erwärmte sich noch, während die drei Kinder Catherine Brickstons weiterhin himmelblau leuchteten. Jetzt fingen sie an zu keuchen, als müssten sie um jeden Atemzug ringen, ja hätten Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Dann zuckten sie mehrmals zusammen, um danach alle drei laut aufzuschreien, mit kurzen, schrillen, rauhen Schreien, wie genau zur selben Zeit geborene Babys.
Das ihnen entströmende Licht blitzte noch einmal weißblau auf wie ein Xenonscheinwerfer. Dann erlosch es. Der sie alle umwehende warme Wind erstarb zusammen mit dem blauen Licht aus dem Heilsstern, der nun wieder abkühlte und keine spürbare Regung zeigte. Dann hörten die drei Geschwister zu schreien auf, holten Luft und sahen sich und dann Julius an, der schnell den silbernen Stern wieder fortzog. Justin quengelte leise und wand sich auf seinem Sessel. Claudine blickte sich verwirrt um und bewegte ihre Arme und Beine. Babette stierte ungläubig umher und nickte dann, als habe ihr Gehirn gerade das erfasste verarbeitet. Jetzt konnte sie wieder normal sehen.
"Was war das jetzt bitte?" fragte Babette Julius. Er zeigte ihr den Stern. "Das ist ein uraltes Familienerbstück, was mir eine mächtige Zauberin aus der Zeit vor den Pharaonen anvertraut hat", sagte er. "Damit habe ich euch zurückgeholt, wo immer ihr gerade wart. Ist gut, Justin, wir sind alle da. "Maman, Maman!" quengelte Justin. Claudine sah sich noch verwundert um. Dann fing ihr saphirblauer Blick den von Julius und ihrer großen Schwester ein. "Alles gut, Claudine, wir sind alle bei dir", sagte Julius so, als müsse er Chrysope oder Clarimonde bei Gewitter beruhigen.
"Was bitte war das bitte, Julius? Hast du'n Plan, was das gerade war?"
"Wenn du sagst, was du meinst, mitbekommen zu haben kann ich das vielleicht erklären", sagte Julius. Er nahm Justin aus dem Sessel und wiegte ihn. Doch er wollte nur seine Maman. Genau die kam gerade mit blassem Gesicht und etwas derangiertem Rock aus ihrem Arbeitszimmer. Sie sah ihre drei Kinder an und strahlte sie erfreut, ja überglücklich, ja triumphierend an. "Ja, da bin ich wieder. Alles gut, Justin. Maman ist da", sagte sie und pflückte Justin aus Julius sanfter Umarmung. "Alles gut, kleiner Nuckelmann. Maman ist bei dir."
"Ich will das jetzt wissen, was ihr da gemacht habt und wieso ich gerade echt glaubte, wieder in deinem Bauch drin gewesen zu sein, Maman", schnarrte Babette. Claudine hörte das und sagte: "Häh, ich war in einer ganz dunklen Badewanne aus Gummi ganz im Wasser drin und musste keine Luft holen, weil ich so'n Schlauch im Bauch hatte. Dann hab ich dich erst stöhnen und dann immer lauter schreien gehört, aber ganz dumpf, wie als wenn du in ein großes Kissen reingeschrien hättest. Und dann bin ich durch einen ganz engen aber gummiartigen Gang geschoben worden, in helles Licht rein und habe dich dann richtig laut über mir schreien gehört, Maman. Dann bin ich wohl ganz raus, und mir war brrr kalt."
"Ja, genau das habe ich auch so mitbekommen, Claudine. Aber das war keine Badewanne, sondern Mamans Bauch, in dem du genauso mal drin warst wie ich, und wir sind da von ihr rausgeboren worden", antwortete Babette verstimmt.
"Echt, ist das genau so, rausgeboren zu werden wie beim Justin? Jau! Aber warum?" fragte Claudine, während Justin langsam wieder ruhig war, wohl auch, weil er an Catherines linker Brust lag und nuckelte, als wenn sie ihn noch stillen würde. "Was hast du mit diesem Pentagramm gemacht, Julius. Ähm, hat dir Camille Dusoleil das Ding ausgeliehen? Ich weiß von Denise, dass sie so einen Stern hat und sagt, dass sie den von ihrer toten Maman bekommen hat."
"Nein, das ist mein silberner Stern. Den habe ich wie gesagt von einer uralten aber mächtigen Zauberin als Belohnung bekommen, weil ich für sie was ganz gefährliches machen musste und sie auch wollte, dass der eine Stern von jemandem getragen wird, der ihn sich verdient hat", antwortete Julius im Vertrauen darauf, dass Babette es wegen des Familiengeheimnisses nicht weitervveraten konnte.
"Ich will das noch wissen. Ist das echt so, wenn wer im Bauch von ihrer Maman drin ist und von der so rausgedrückt wird wie das bei Justin war?" sagte Claudine.
"Mädchen, ich habe das genauso erlebt, wie du's erzählt hast und ja, genau so fühlt sich das wohl an, erst noch im Mutterbauch zu stecken und dann da rausgedrückt zu werden", blaffte Babette. "Heh, mach deine Schwester nicht dumm an, Babette, nur weil sie das ganz genau wissen will", tadelte Julius Babette. Catherine, die immer noch den kleinen Justin nuckeln ließ sah ihn erst verstimmt an und nickte dann zustimmend. So sagte Julius: "Eure Maman wollte haben, dass ich auf euch aufpasse, während sie mit einem in etwas eingeschlossenen Geist kämpft. Und der Geist hat wohl versucht, sie und euch zu sich hinzuziehen. Ich habe das bei euch gesehen und dann mit dem Silberstern eine ganz mächtige alte Zauberformel eingesungen, die böse Zauber auslöscht oder zurückdreht. Damit habe ich euch zurückgeholt und wohl auch eure Maman. Kommt das hin, Catherine?"
"Genau das, Julius", sagte Catherine mit ruhiger, aber etwas erschöpft klingender Stimme, während sie zu einer Couch hintorkelte und sich wie ein nasser Sack darauf niederfallen ließ. Offenbar hatte sie der Kampf mit Ailanorar ziemlich heftig geschlaucht. Dann sah Julius die blauen öligen Flecken an ihrem Rocksaum. Catherine erkannte, wo er hinsah und mentiloquierte: "Nicht fragen, Antworten später."
"Öhm, dann hat irgendwer gemacht, dass wir noch mal dahin zurückgezogen wurden, wo Maman uns im Bauch hatte und du hast gemacht, dass sie uns da wieder rausdrücken musste?" fragte Babette. Claudine kuschelte sich an Julius, als sei sie auch Zuwendungsbedürftig wie ihr kleiner Bruder. Er flüsterte zu ihr: "Ich habe aber keine Trinknippel, Claudine." Diese lachte dann. "Weiß ich doch. Du bist 'n Zauberer, keine Hexe. Nur Hexen und Muggelfrauen haben Milchkugeln."
"Yep", bestätigte Julius. "Mit diesem Silberstern hast du uns dann wieder auf die Welt zurückgeholt?" fragte Babette jetzt weniger biestig. Julius nickte. "Dann ist das echt nur 'ne Geschichte mit dem Regenbogenvogel. Kann ich Miriam erzählen", flötete Claudine.
"Willst du, dass es ihr langweilig wird?" fragte Julius und sah an Babettes verschmitztem Grinsen, dass sie wohl was ähnliches geantwortet hätte. "Die hat ihren kleinen Bruder Alain genauso auf die Welt kommen gesehen wie Babette erst dir und ihr zwei dann noch dem Justin auf die Welt kommen gesehen habt."
"So ist das", sagte Catherine und zuckte dann zusammen. "Autsch, nicht beißen, Justin. So, bist jetzt sicher satt genug."
"Du hast noch was vorrätig gehabt?" mentiloquierte Julius ihr. "Wunder mich auch. Aber offenbar war das die Nebenwirkung von meinem und deinem gemeinsamen Ringkampf mit Ailanorar", schickte sie zurück. "Aber dafür ist er jetzt friedlich und lässt mir seine silberflöte."
"Okay, dann darrfst du sie behalten", schickte er zurück, während Babette Claudine angrinste und meinte, dass Rorie eifersüchtig würde, wenn sie Rories Papa so ankuschelte.
"Hör da nicht drauf, Claudine. Deine große Schwester ist nur eifersüchtig, weil sie sich an keinen so ankuscheln kann."
"Quäk!" machte Babette. Da fiel sie Julius in die Arme. Er umfasste sie reflexartig und hatte jetzt beide Brickston-Schwestern halb auf dem Schoß. "Alles gut, Große. Deine Maman ist wieder da, und ihr habt noch was ganz spannendes erlebt. Es weiß nämlich sonst keiner, wie das war, als er oder sie geboren wurde", sprach Julius beruhigend.
"Eng war das und dunkel und ziemlich gerumpelt hat es", wisperte Babette. "Aber schon interessant, das mal so mitzukriegen. Dann weiß ich wenigstens, was das erste Kind, was ich mal kriege so mitkriegt."
"Na, willst du Babette jetzt auch mit nach Hause nehmen?" fragte Catherine belustigt. "Nein, ich fürchte, die Millie wird dann wirklich eifersüchtig, wenn ich mit so einer gut gepolsterten jungen Dame im Arm bei ihr ankomme." Babette grinste und antwortete: "So lang ich an den richtigen Stellen gut gepolstert bin. Aber du hast recht, Julius. Ich muss mit Millie keinen Krach haben."
"So, dann bringe ich ihn hier ins Bett, und du darfst deine Schwester ins Bett bringen, Babette Brickston", sagte Catherine und schaffte es, den in Schlaf gefallenen Justin sanft und sicher auf die Couch zu legen.
"Aber wickeln muss ich die nicht mehr, Maman", meinte Babette ein wenig beklommen.
"Müsstest du das müsste ich dich auch wieder wickeln und nuckeln lassen", konterte Catherine. Dann machte sie eine eindeutig auffordernde Handbewegung in Richtung Flur. "Husch, Bettzeit für Mademoiselle Claudine."
"Naacht, Maman, Nacht Julius!" rief Claudine und winkte. Er winkte zurück. Babette geleitete ihre kleine Schwester zu ihrem Zimmer.
"Komm mal bitte mit, Julius! Keine Sorge, du musst nicht auch noch bei mir nuckeln", sagte Catherine leise. "Dann dürfte ich auch nicht mehr mit Babette den bunten Vogel rufen", versetzte Julius. "Wichtelschlucker", grinste Catherine und führte ihn in ihr Arbeitszimmer.
Wie aus sehr großer Ferne hörte sie jene mächtige Formel der Lichtfolger, die gewaltige Kräfte des Lebens und der Liebe entfesseln konnte. Mit einem der Heilssterne der Lichtfolgerin Ashtaria wurden diese Kräfte potenziert. Genau das überkam sie nun.
Das bis dahin unsichtbare Hindernis leuchtete vor ihr in einem blauen und dann immer weißeren Licht auf. Sie war sicher, dass nur sie dieses Licht sehen konnte. Dann musste sie ganz schnell disapparieren, weil die magische Mauer auf sie zusprang. Sie wollte eigentlich nur hundert Meter weiter fort apparieren. Doch eine Woge aus sonnenhellem Licht traf sie und zwengte sie wieder in jenes lichtlose, bedrückende Zwischenstadium zwischen Ausgangs- und Zielort. Als sie endlich wieder in die natürliche Welt zurückkehrte sah sie die magische Mauer weißgolden vor sich leuchten, stetig und stark. Dann, nach einigen Sekunden, zog sich die magische Aura zurück und erlosch. Dabei bekam Anthelia/Naaneavargia mit, was mit dem Bruder der in ihr aufgegangenen Erdvertrauten geschah. Sie erkannte, dass er den Kampf um seine Freiheit verloren hatte. Sie hörte seine Verzweiflung, die in ein kindliches Wimmern und zum schluss in die Angstschreie eines Säuglings übergingen, die immer leiser wurden. Die Schwingungen veränderten sich. Sie verschoben sich und wurden damit für sie nicht mehr erkennbar. Zwanzig Herzschläge später war da nur noch Stille, wo vorher noch die ihr so lange so vertrauten Schwingungen gewesen waren. Da wusste sie, dass Ailanorar und seine magische Flöte für sie unrettbar verloren waren. Catherine Brickston hatte den König der Winde besiegt und ihn sich quasi einverleibt, um ihn in einem Akt von Seelengeburt wieder aus sich freizusetzen, jetzt nur noch zu ihr und ihren Blutsverwandten gehörend.
"Mögest du mit ihm glücklich werden, Tochter der Blanche Faucon", dachte Anthelia ein wenig verdrossen, jedoch insgeheim anerkennend, dass hier eine Hexe wieder einmal bewiesen hatte, dass sie mächtiger als ein Zauberer sein konnte. Doch die hatte sicher Hilfe gehabt. Natürlich, Julius Latierre kannte die Anrufung des Heilssterns. Sicher hatte er sich den von Camille Dusoleil oder dieser Maria Valdez ausgeliehen. Das änderte jetzt nichts mehr. Doch sie würde ihm einen Brief schreiben, dass sie das sehr wohl mitbekommen hatte, dass Ailanorars Stimme eine neue Besitzerin gefunden hatte.
Sie Nahm sich nun Zeit, in ihr neues Hauptquartier zurückzukehren. Es gab ja noch genug anderes zu tun, bevor die neue Föderation nordamerikanischer Zaubereiadministrationen in Kraft trat.
Auf dem Schreibtisch lag eine offene Schatulle. Daneben lag ein blaues, leicht besudeltes Kissen. Darauf lag die silberne Flöte Ailanorars, wobei sie im Moment eher blau und blutrot gesprenkelt war. Julius kam ein ziemlich unbehaglicher Verdacht. Catherine sah, wo er hinsah und sagte: "Ja, ich habe gelernt, wie ich ihm da beikommen und ihn ganz und gar mir und meinen Nachkommen unterwerfen kann. Das hat ihm nicht gefallen. Er hat versucht, mich und die an mir hängenden Geistesstränge zu den drei Kindern in sich hineinzuziehen. Ich hatte auch das Gefühl, dass erst Justin, dann Claudine und dann Babette in meinen Schoß zurückgesogen wurden. Ja, und dann flogen sie wieder heraus, und er da wurde hineingezogen und blieb da, bis ich selbst durch einen engen Lichttunnel auf die Welt zurückgestoßen wurde und er dann aus mir heraus wieder in sein Machtinstrument zurückgetrieben wurde. Ich hörte ihn dann noch wie einen gerade neugeborenen Säugling aufschreien und dann wehmütig wimmern, bevor die geistige Verbindung zu ihm wieder einschlief. Aber jetzt weiß ich, dass das, was seine Tante mütterlicherseits mir beigebracht hat richtig war. Aber ohne dich und die umkehrende und die Umkehr verstärkende Wirkung deines Heilssternes hätte ich es wohl nicht so leicht geschafft."
"Ja, und jetzt ist er - auch dein Kind?" fragte Julius. "Als hätte ich meinen eigenen Bruder geboren, Julius. Näheres entnimmst du wortwörtlich dieser kleinen Phiole hier. Ich mache morgen noch eine für Hera, damit die weiß, was ich angestellt habe. Wird mir höchstwahrscheinlich einen Heuler einbrocken. Aber da muss ich ebenso durch wie der da durch mich."
"Du hast dir das Ding -?" fragte Julius. Catherine deutete auf ihren Unterleib und nickte. "Aber Moment mal. Sobald jemand die Flöte anfasst ..." Sie zeigte auf ein Paar silbern glänzender Handschuhe, auf die noch dazu mit blauer Tinte altaxarroische Symbole des ruhenden Windes gemalt waren. "Wie gesagt, seine Tante hat mir das verraten."
"Und öhm, seine leibliche Schwester?" fragte Julius. "Wird vielleicht mitbekommen haben, dass ich ihn da aus der Schachtel geholt habe. Aber hier hinein kommt sie nicht, auch nicht, wenn sie koboldmäßig unter der Erde entlangrasen kann. Ja, ich weiß, Erdmagierwissen. Aber ich weiß, dass sie und somit auch du das gelernt habt, aber ich das nicht wissen darf, weil zu speziell. Ich bin jetzt eine Vertraute des Windes und eine geduldete Kennerin des Mondes, weil meine Ururgroßmutter eben eine Mondhexe war."
"Das heißt, du kannst alles mit der Flöte anstellen, was Ailanorar konnte, also auch die Riesenvögel rufen?" wollte Julius wissen. "Ja, falls es irgendwann wieder nötig sein sollte, sie zu rufen, Julius. Aber im Moment schlafen sie irgendwo da oben", sagte Catherine und deutete schnurgerade nach oben. "Aber es gibt genug andere Sachen, die ich als neue Windvertraute bedenken muss, zum Beispiel Ilithula. Ich habe erfahren, dass sie von ihrer wandlungsfähigen Mutter in einen Tiefschlaf gebannt wurde. Doch jeder mit ungeweckter Magie könnte sie jederzeit wecken. Ich wurde gewarnt, dass diese vaterlose Kreatur hinter Ailanorars Stimme her ist", sprach Catherine und deutete auf die Flöte. Dann sagte sie entschlossen, ja schon triumphierend dreinschauend: "Aber den Wind habe ich ihr und allen anderen endgültig aus den Segeln genommen. Ich könnte ihr das Ding sogar offen vor die Füße legen und sagen: "Probier sie aus." Doch am Ende hat sie doch noch einen Trick mehr drauf als ich und kann sich mit dem Instrument zur mächtigsten Windmagierin, ja zur Windgöttin schlechthin aufschwingen. Müssen wir nicht wirklich erleben." Julius nickte beipflichtend.
"Und die Phiole?" fragte Julius und nahm sie behutsam. Dann sah er das silberweiße Schimmern und wusste bescheid. "Und ich darf das wissen, weil ich dir geholfen habe, obwohl ich kein Windvertrauter bin?"
"Du darfst das wissen, damit du weißt, dass die Bürde, die dir Darxandria damals aufgeladen hat, endgültig von dir genommen wurde und du dich mit deinem besonderen Schmuckstück und dem Erdwissen alleine durchschlagen darfst, während ich ihn da jetzt am Hals habe", erwiderte Catherine und deutete auf die besudelte Silberflöte. "Achso, ich reinige sie gleich noch, wenn er tief und fest schläft. Ich kann nämlich spüren, wenn er noch erregt ist. eine spezielle Auravision. Und du hast nur die Formel gerufen?" fragte sie. Julius erklärte ihr, was er vorher getan hatte. "Dann habe ich das bei der Vorbereitung richtig gehört", erwiderte Catherine grinsend. "Wie gesagt habe ich darauf vertraut, dass du es rechtzeitig erkennst, wann du eingreifen sollst und das richtige tust. Na ja, er wird jetzt sicher nicht mehr dein Freund sein. Aber er kann dir nichts mehr tun, weil er jetzt mir unterworfen ist und nach mir Babette und nach ihr, wen immer sie zuerst auf die Welt gebracht haben wird."
Julius musste bei dieser Aufzählung an den von Millie ausgelagerten Traum denken, wo sie und er als Zwillingsgeschwister von Aurores Tochter wiedergeboren wurden und eine der gemeinsamen Großmütter Babett sein sollte. Falls das kein blöder Traum war käme dieser Silbertriller ja zu ihm zurück wie ein um die Erde fliegender Bumerang. Wollte er das?
"Brauchst du mich oder Hera noch hier?" fragte Julius. "Er hat mich nicht verletzt. Ich habe mich bestmöglich auf ihn vorbereitet, Julius. Und der guten Hera gebe ich morgen eine Kopie der Phiole, wenn ich den vorgeschriebenen einen Tag Ruhepause eingehalten habe. Ich kuck jetzt nur noch, dass die Mädchen sich erholen und lege Justin in sein richtiges Bett. Aber danke, dass du da warst, Julius. Grüße mir deine beiden Frauen und sage denen, dass mein Ritt auf dem brennenden Besen zum Schnatzfang geführt hat. Mit der Metapher können die sicher was anfangen." Julius war sich dessen sicher.
Als er sich dann von Babette verabschiedet hatte gab diese ihm zwei Wangenküsse und hauchte ihm zu: "Nett, dass du meine Polster magst. Naacht!"
"Schlaf gut", sagte Julius. Danach flohpulverte er sich zurück ins Apfelhaus.
Weil er von der ganzen Kiste noch zu sehr erregt war erzählte er "seinen beiden Frauen", was er erlebt hatte und zeigte die ausgelagerte Erinnerung vor. "Dann verstehe ich das richtig, dass Catherine von der Mutterschwester dieses Ailanorar gelernt hat, wie sie den zu ihrem ganz eigenen Vertrauten oder Halbkind machen kann?" fragte Millie. Julius nickte. "Ja, aber eben nur, weil sie wohl wichtige Kennwörter und Schlüsselsätze gelernt hat, Millie. Ich glaube nicht, dass jede Hexe das hätte machen können", sagte Béatrice. Julius stimmte ihr zu.
Weil er es jetzt unbedingt wissen wollte füllte er Catherines ausgelagerte Erinnerung in das familieneigene Denkarium um und stürzte sich mit Béatrice hinein. Millie wollte zwar auch, wurde aber sehr deutlich darauf hingewiesen, dass sie als Heilerin ein Vorrecht geltend machen konnte, was sehr einprägsame Erinnerungen anging.
Beide fielen in einen schwarzen Schacht. Dieser endete in Catherines Arbeitszimmer. Gerade schloss sie die Tür. Dann holte sie aus einem Schrank eine Flasche, prüfte das etikett und lupfte ihren Rock. Darunter trug sie nichts weiteres. Béatrice machte "Oha, so hat sie es gemacht." Als beide dann das sahen, von dem Julius es schon vermutet hatte seufzte er. Als er dann sah, wie sich Catherine die silbernen Handschuhe anzog und diese mit leisen Worten anhauchte glommen die blauen Zusatzsymbole hell auf. Dann öffnete Catherine die Schachtel und griff ohne zu zögern hinein. Sofort umfloss ihre rechte Hand blaues Licht wie Elmsfeuer. Die aus drei Röhren zusammengesetzte Flöte erbebte. Offenbar kämpfte der ihr eingewirkte Seelenfangzauber schon darum, die vorwitzige Seele einzusaugen. Dann sahen Beatrice und Julius, wie Catherine sich auf den Rücken legte, die Beine spreizte und dann mit einem Ausdruck von Unbehagen und Entschlossenheit die bebende Silberflöte in sich selbst einführte. Als sie sie fast vollständig im Unterleib hatte ließ sie sie los. Während dem allem hörten Julius und Béatrice den dreistimmigen Chor die Beistandszeilen singen, die Julius erwähnt hatte.
Mit einem blauen Blitz änderte sich die Szene. Catherine raste selbst durch einen Schacht, wie Julius ihn bei seinem Kampf um die Flöte durchqueren musste. Dann schwebte sie in einer weiten, bodenlosen Halle. Vor ihr schwebte, mehr als acht Meter groß, eine Männergestalt aus himmelblauem Licht. "Ailanorar", seufzte Julius. Dann sprach dieser auch, und weil es Catherines Erinnerung war verstand auch Béatrice die alte Sprache.
"Ich weiß, du hast dich mit meiner eifersüchtigen Mutterschwester Goorkhaulainora zusammengetan, um mich zu unterwerfen, Reinheit Mauerstein. Aber nicht du wirst mich, sondern ich dich einverleiben, dich und deine Kinder., mit denen du mich durch deine Verwegenheit verbunden hast."
"So, wenn du weißt, mit wem ich zusammentraf, um zu lernen, Ailanorar, Herr der Windkraft, so weißt du auch, dass ich von ihr erfahren habe, wie ich deine Stimme erringen und für mich und meine Nachkommen alleine zum klingen bringen kann."
"Ich bin stärker als du, und auch die Worte der innigen Bindung werden mich nicht unterwerfen. Du wirst jetzt von mir einverleibt und deine Kinder auch, und dann werde ich warten, bis sie mich findet und mit ihr darum ringen, dass die mit ihr verschmolzene von ihr gelöst und wie du in mir vergehen wird, damit sie allein wieder frei ist."
"Wenn du deine Schwester Naaneavargia meinst so fürchte ich, dass sie mit jener, mit der sie eins wurde, überaus glücklich ist und nicht erneut der Natur einer Spinne unterworfen sein will."
"Nein, sie kann unmöglich glücklich sein, mit einer anderen vereint zu sein. Sie will wieder frei sein, und ich werde ihr helfen, mit deinem Wissen in mir und der Kraft deiner jungfräulichen Kinder, die sonst niemals meine Stimme berührt hätten werde ich diese dunkle Tochter, die gegen die Sonne heißt von Naaneavargia losmachen und vertilgen. Den Körper darf sie dann gerne so behalten, wie er durch die erzwungene Vereinigung wurde."
"Deine Prahlerei und deine Rechtfertigung sind reine Angst, weil du weißt, dass deine Tante Goorkhaulainora mich nicht zu dir geschickt hätte, wenn sie nicht wüsste, dass ich dich so deiner wahren Bestimmung zurückgeben kann, als Getreuer des Windes, der hilft, dass die diesem anvertrauten sicher mit ihm umgehen können."
"Du wolltest es so. Dann sei mein!!" brüllte Ailanorar und blähte sich auf. Julius sah auch die ebenso himmelblau leuchtende Catherine, die anfing, auf Ailanorar zuzugleiten, gebunden durch einen dünnen, blauen, pulsierenden Lichtstrahl, der aus ihrer Körpermitte entsprang. Der Geist des Windkönigs begann ein Lied zu singen und dabei pumpende Bewegungen mit Armen, Beinen und seinem Mund zu machen.
"Atem ist des Lebens Wind,
er und ich vereinigt sind.
Schwinde schwinde Lebenswind,
werde du mein ewig' Kind!"
So sang Ailanorar, und Catherine wurde immer dünner und länger. Ja es wirkte so, als sauge der aus ihr entspringende Lichtstrahl ihre Körpersubstanz auf. Dann fing sie mit sphärischer Stimme an zu singen:
"Sohn der Aimartia, mutter ruft das Kind,
teilte sich mit dir derreinst
ihren lebenswind.
sei somit nun mir verbunden,
blut und Hauch durch euer Leben.
Wie du einst von ihr entbunden,
Schmerz und Liebe reines Streben."
So sangen beide gegeneinander an, wobei es immer wieder so aussah, als würden sie sich gegenseitig Körpersubstanz abpumpen. Es war abzusehen, dass Ailanorar wegen seiner größeren Erscheinung wohl die stärkere Präsenz war, während Catherine iergendwann ihren Zusammenhalt verlieren würde. Dann sang er noch die Namen ihrer Kinder in umgekehrter Reihenfolge ihrer Ankunft und dabei die Worte: "Kehhret zurück, in des Schoßes ew'ges Glück!"
Da sahen Julius und Béatrice, wie aus Catherines immer dünner und kleiner werdendem Astralkörper drei weitere Lichtstrahlen austraten und wie Laserstrahlen in den Raum hinausschossen. Offenbar fanden Sie einen Halt. Denn Julius sah in der Ferne an jedem Strahlenende eine kleine, sich immer weiter aufblähende Leuchtkugel. Diese kamen näher, schinen die sie haltenden Strahlen wie ein Wollknäuel aufzuwickeln. Sie näherten sich Catherine langsam, während sie schon am Rand des Stimmverlustes säuselte, dass Ailanorar genauso ihr Kind sein sollte wie er es von seiner Mutter Aimartia, Meeresbrise, gewesen war.
Julius erschauerte, als er sah, wie die auf Catherine zuschwebenden Kugeln zu leuchtenden Blasen wurden, in denen kleine, himmelblaue Föten schwebten, die auf den Weg zurück in den Mutterschoß waren, um dort mit ihrer Mutter von diesem blauen Riesen einverleibt zu werden. Wenn er es nicht sicher wusste, dass sie diesen Husarenritt überlebt hatte würde er jetzt erzittern. Béatrice, die wie leibhaftig neben ihm in dieser Rückschau schwebte, sah ihn sehr ernst an. "wie konnte sie so sicher sein, dass sie das überlebt und wieso hat sie ihre Kinder gefährdet? Wer hat diese Hexe so skrupellos gemacht?"
Julius konnte nur den Namen Goorkhaulainora wispern, Großes Lied oder mächtiger Gesang des Windes. Ja, mit so einem erworbenen Namen wurde eine Windmeisterin eine überdauernswürdige Altmeisterin in Khalakatan.
Es sah nun danach aus, als würde Catherine ihre drei Kinder in umgekehrter Reihenfolge wieder in sich aufnehmen. Doch dann erklang wie aus weiter Ferne Julius lange nachhallende Stimme, als er die mächtige Formel rief, die Béatrice nun auch verstand, weil Catherine die Sprache gelernt hatte.
Ailanorar schrak zusammen. Der zwischen ihm und Catherine pulsierende Lichtstrahl schwang heftig auf und ab. Die drei auf ihre Mutter zutreibenden Lebensessenzen ihrer Kinder erstarrten im Flug. Dann erstrahlten sie von innen her, wurden immer heller und größer. Doch dabei trieben sie immer weiter fort und entrollten die aufgeräufelten Lichtstrahlen. Diese wurden dadurch selbst immer dicker und heller, luden Catherine gleichermaßen mit weißblauen Blitzen auf, während Ailanorar laut versuchte, dagegen anzusingen. Doch je lauter er zu singen versuchte, desto unverständlicher waren seine Beschwörungsformeln. Diese verschwammen in einem immer lauteren Sturmgeheul. Dann wurde der aus Catherines Körpermitte entspringende Hauptstrahl immer heller und dicker, erst armdick, dann beindick. Jetzt sah Julius, wie Ailanorars Körper von den weißblauen Blitzen immer mehr eingeschrumpft wurde. Dann sahen Béatrice und er, wie der große, mächtige Windkönig laut aufschreiend immer mehr einschrumpfte, bis er in das aus weißblauem Licht bestehende Rohr hineingesogen wurde. Seine Stimme wurde leiser und dumpfer. Dann sahen die zwei Erinnerungsbetrachter, wie Catherines Körper von innen her aufgebläht wurde und nun Ailanorars vorherige Ausmaße erreichte. Sie hörten ihn dumpf aufschreien, erst noch mit Worten der Wut, dann wimmernd und dann, während die drei bis dahin noch sichtbaren Erscheinungsformen von Catherines Kindern schlagartig davongeschleudert wurden, wie ein gerade zur Welt gekommener Säugling aufschrie. Im nächsten Moment entfuhr Catherine eine weißblaue, pulsierende Lichtwolke. Die Babyschreie wurden laut und schrill. Dann stürzte Catherine durch jenen goldenen Tunnel, durch den sie eben in diese Scheinwirklichkeit hineingezogen worden war. Béatrice und Julius sahen in einem kurzen Wechsel der Kontraste, wie die Landschaft Ailanorars verschwand. Dann sahen sie die leibhaftige Catherine Brickston, die laut stöhnte und dabei mühevoll noch die letzten Worte ihres Liedes hervorpresste. Dann schob sich die silberne Flöte des Ailanorar aus ihrem Körper heraus und flog wie mit Druckluft abgefeuert aus Catherines Körper heraus. Sie zog einen Schweif aus roten und blauen Tropfen hinter sich her und schlug laut klappernd gegen die Wand. Dann fiel sie zu Boden und blieb liegen. Catherine schrie noch einmal kurz auf. Dann erkannte sie, wo sie war und was mit ihr war. Sogleich streifte sie ihre Handschuhe ab und griff neben sich, wo ihr Zauberstab lag. Von draußen drangen die lauten, babyhaften Aufschreie ihrer drei Kinder herein. Catherine, sichtlich bleich und schweißgebadet, zielte mit zitternder Hand mit ihrem Zauberstab auf ihren noch weit geöffneten Unterleib. "Restaurato Uterum!" keuchte sie. Ein rosaroter Lichtstrahl drang in sie ein. "Vaginam salneto!" stöhnte sie. Ein weiterer Lichtstrahl drang in sie ein. "Vulvam calmato!"!" keuchte sie dann noch. Ihr Leib schloss sich bis auf die für erwachsene Frauen natürliche Öffnung.
"Na holla", dachte Julius. Denn er kannte diese Zauber. Das waren Notfallheilzauber bei besonders blutigen Geburten oder Fehlgeburten. Auch Béatrice musste anerkennend nicken.
"Hera muss ihr doch einige der Hebammenzauber beigebracht haben", sagte Félix' Mutter anerkennend.
"Aber wer kommt auf so eine Idee, sich ein Zauberartefakt ... Okay, diese Goorkhaulainora oder Aimartia womöglich", sagte Julius.
"Jedenfalls hat sie ihre Geschlechtsorgane wohl wieder geheilt, was bei einer selbst betroffenen nicht so einfach ist", stellte Béatrice fest. Dann sahen sie, wie Catherine sich mühsam hochstemmte, einige Sekunden wohl gegen einen Schwindel ankämpfte und dann auf wackeligen Füßen sich am Schreibtisch abstützend um denselben herumtorkelte und dann mit einer Hand die auf dem Boden liegende Flöte des Windmagiers aufhob. Diesmal schlug kein blauer Blitz zu ihr über und beförderte sie in Ailanorars Reich. Er wollte nicht noch einmal wiedergeboren werden, dachte Julius.
"Du hast mich - Wuäh!" hörten sie die kleinkindhafte Stimme eines Jungen wimmern und wie ein gerade erst geborenes Kind schreien. Dann entfernten sich die Schreie. Catherine legte die Flöte auf das Kissen und setzte sich auf den Stuhl. Sie keuchte einige Momente. Dann ergriff sie eine Phiole. In dem Moment verschwamm alles in silberweißem Nebel.
"Das war es dann wohl", sagte Julius und hörte seine Stimme von unten hohl widerhallen. Er und Béatrice zogen die Köpfe aus der aufgewühlten, silberweiß schimmernden Substanz vermengter Erinnerungen.
"ich hoffe mal, dass Hera sich daran erinnert, dass ein Heuler das Gehör zerstören kann und ihr nur eine normalschriftliche Ermahnung zukommen lässt. An und für sich könnte Hera sie auch vor den Gamot bringen, wegen schwerer Gefährdung von Schutzbefohlenen unter Einsatz der Magie in Tateinheit mit Missbrauch der Magie und unerlaubte Aneignung eines hochpotenten Zaubergegenstandes ohne ministerielle Unbedenklichkeitszertifikation", sagte Béatrice und sah Julius' erschrecktes gesicht. "Ich sagte "eigentlich", Julius. Doch erstens müsste ich dich dann auch vor den Gamot bringen, weil du dir was angeeignet hast, was das Ministerium nicht als unbedenklich eingestuft hat und du als junger Vater von Kindern im Säuglingsalter dreifach deine Sorgfaltspflicht vergessen und dein Leben gefährdet hast. Aber dann wäre ich wegen unmittelbarer Mittäterschaft dran und könnte meine eigene Heilerapprobation in die Wolken pusten." Sie grinste ihn verwegen, ja mitverschwörerisch an und knuddelte ihn. Er fühlte, dass sie Félix noch lange und ausgiebig satt halten konnte. Dann sagte sie noch: "Könnte mir sogar vorstellen, dass sie das der guten Hera schon dargelegt hat und Hera ihr da erst diese Heilzauber beigebracht hat, mit denen sie ihre Geschlechtsorgane versorgt hat. Öhm, nicht dass ich grundsätzlich einer Kollegin unterstellen will, sich an höchst fragwürdigen und gefährlichen Aktionen zu beteiligen oder diese gutzuheißen. Aber bei Hera bin ich mir seit Sardonias Dämmerkuppel nicht mehr sicher, ob sie nicht eine eigene Auffassung von Heilung hat, nämlich die welche das allgemeine Wohl über das des einzelnen stellt."
"Das wäre die Logik des Planeten Vulkan, dass das Leben aller mehr bedeutet als das eines einzelnen", legte Julius nach.
"Ein Planet als Vulkan oder wie oder was?" fragte Béatrice. "Star Trek, Trice. Eine fiktive, in einer von uns aus dreihundert und vierhundert Jahren angesiedelten Zukunft spielende Geschichte, die mit raumfahrenden Völkern zu tun hat", leierte Julius eine Kurzfassung herunter.
"Also nicht Luke Skywalker und Darth Vader?" fragte Béatrice. Julius schüttelte bestätigend den Kopf.
"Millie, willst du dir das wirklich auch noch ansehen?" fragte Béatrice. Millie wollte.
Zehn Minuten später schloss Julius das Denkarium wieder fort. "Ich käme nie auf die Idee ..." setzte Millie an. Béatrice würgte sie mit "Ich auch nicht und rate es dir auch nicht, das nachzumachen" ab.
"Hat die das echt in Khalakatan gelernt, Julius?" fragte Millie. "Ich fürchte ja, und ich denke, dass wir nie alles erfahren werden, was sie da gelernt hat. Soweit ich hörte ist sie vollständige Windvertraute mit geduldeten Kenntnissen des Mondes geworden. Wie du weißt konnten in den drei Wochen, die sie weg war für sie mehrere Jahrzehnte vergehen. Vielleicht hat sie diesen Ritt auf brennendem Besen auch mehrmals geübt, bis er ... öhm, ... richtig drin war."
"Wir sind Latierres, Julius. Du kannst sowas in unserer Gegenwart laut aussprechen, ohne selbst rot werden zu müssen", grinste Millie. Béatrice nickte beipflichtend, während Julius über sein eigenes Wortspiel wirklich heiße Ohren und Wangen bekommen hatte.
"Gut, die Dame und der Herr Latierre, bitte nicht vor den Kindern oder Außenstehenden darüber reden. Für Catherine war es heftig genug", fühlte sich Béatrice doch noch zu einer wohlgemeinten Ermahnung berufen.
"Ja, aber sie hat den Schnatz gefangen, obwohl sie auf lichterloh brennendem Besen geflogen ist", griff Millie das Bild auf, dass Julius von Catherine übermittelt hatte. "Ja, und hat sich dann von den Flügeln des Schnatzes sicher zu Boden tragen lassen", vervollständigte Béatrice die Metapher. Alle drei schmunzelten.
Als Millie neben Julius im Bett lag sagte sie nur noch: "Also, wir haben Königin Blanches Tochter total unterschätzt, was dreistes Verhalten angeht."
"Entweder wurde sie jetzt erst so, oder wir haben nie mitgekriegt, wie dreist und skrupellos sie sein konnte", erwiderte Julius. Dem konnte und wollte Millie nicht widersprechen. Sie tätschelte seine behaarte Brust mit dem Herzanhänger. Der Heilsstern lag neben Julius auf dem Nachttisch. Womöglich musste der sich auch erst einmal erholen. Doch das, so wusste Julius, konnte der erst in Verbindung mit einem lebenden Körper, dem Körper seines rechtmäßigen Trägers. Doch jetzt war er selbst sehr erschöpft. Er dachte nun daran, dass Camille ihren Heilsstern und wohl auch Aiondaras nie leerlaufenden Krug hatte. Millie hatte Kailishaias Kleid erworben, Catherine hatte sich Ailanorars Stimme mit Julius' Hilfe und ihren drei Kindern erkämpft. Julius hatte den verwaisten Silberstern erhalten und einen Lotsenstein für die alten Straßen. Tja, Antehlia hatte Yanxothars Feuerschwert ergattert und diesen silbergrauen Zauberstab, von dem nur sie wusste, wo sie den herbekommen hatte. All das waren schon sehr mächtige Gegenstände. Sie konnten die Welt schützen oder aus den Angeln reißen. Da fiel ihm ein, dass die, die jetzt Dailangamiria hieß, dieses Sonnenamulett trug und Faidaria dessen Zwilling erhalten hatte. Welche besonderen Gegenstände warteten da draußen noch, die Licht und Schatten stark machen konnten?
Die Unruhen waren wegen der kämpferischen, ja provokanten Aussagen von Innenminister Nicolas Sarkozy noch einmal angeheizt worden. In deutschland begingen sie mehrere Jahrestage, die auf denselben Tag fielen, davon das höchst unrühmliche, die Pogromnacht 1938 gegen jüdische Mitbürger, aber auch die Feier zum Ende des ersten Weltkrieges und die durch ein Missverständnis des vortragenden Pressesprechers der DDR-Regierung erfolgte Öffnung der Berliner Mauer. Bald würden sie dort eine Bundeskanzlerin aus dem ehemaligen Ostdeutschland haben. Da er sich nur mäßig für nichtfranzösische oder nichtbritische Politik interessierte konnte er das aus entsprechender Entfernung beobachten.
Als er vor dem Abendessen noch sein Baumhaus besuchte, um die Internetneuigkeiten zu lesen flog eine kleine Eule zu ihm hinüber und übergab ihm einen Umschlag. Er zog einen hauchdünnen Papierbogen heraus und erkannte die strenge aber dennoch eindeutig weibliche Handschrift. Er bekam große Augen. Dann entspannte er sich wieder. Auf dem Briefbogen stand:
An meinen im Geiste der großen Mutter ausgebildeten Erdenmitbürger Julius Latierre geborener Andrews
Mit großer Überraschung habe ich erfahren, dass du es doch gewagt hast, die von dir eroberte Flöte meines leiblichen Bruders Ailanorar aus ihrem Versteck hervorzuholen. Daher wollte ich gerne zu dir hineilen, um zu erfahren, ob du dieses Instrument weiterhin benutzen kannst. Umso erstaunter war ich, dass nicht du es berührt hast. Ja, ich war auch verärgert, als ich erkannte, dass du es der alle gerechtfertigten Ansprüche der Hexenheit zurückweisenden Tochter Blanche Faucons ausgehändigt hast. Ich muss zugeben, dass ich erwartet habe, dass sie ihren Vorwitz bitter bereut und dem Schutzbann, den anderen gerne als Fluch bezeichnen, erliegen würde, den mein Bruder auf sein Instrument legte. Doch dann musste ich aus großer Entfernung miterleben, wie mein Bruder dazu gezwungen wurde, sich dieser Hexe ganz und gar zu unterwerfen, ja förmlich zu ihrem immateriellen vierten Kind wurde und sich dadurch das über die ganze Welt reichende Band zwischen ihm und mir löste. Gut, sie wollte die Flöte mit meinem Bruder darin haben. Jetzt hat sie sie für sich und ihre erstgeborenen Nachkommen gesichert. Ich kann sie nicht mehr benutzen und meinen Bruder daraus hervorlocken geht wohl auch nicht mehr. Dann habt ihr eben jetzt seine silberne Stimme sicher. Gegen die Windsbraut aus Lahilliotas Schoß mag dieses Instrument sicher eine mächtige Waffe sein. Sicher hat Catherine den Trick erlernt, dass bereits Mutter gewordene Hexen die Lebenskraft ihrer Kinder mit in ihre Beschwörung einfügen können. Da ich selbst nie Kinder hatte hätte ich die Flöte eben auf andere Weise von meinem Bruder freimachen müssen. Ich habe ja noch meine besonderen Errungenschaften, von denen mir die eine im letzten Jahr endgültig unterworfen werden konnte und die andere mir bereits treue Dienste tut. Also gönne ich Catherine Brickston die Flöte, falls sie auch gelernt hat, darauf zu spielen, ohne einen wütenden Hagelsturm heraufzubeschwören oder ganz aus Versehen einen Blitzschlag aus heiterem Himmel herabruft oder aus Versehen so leicht wird, dass sie wie ein Ballon in die Höhe steigt und vom Wind getrieben davonsegelt.
Das magst du gerne für den Neid einer um ihren rechtmäßigen Besitz geprellten, ganz bösen Hexe halten. Das steht dir zu. Doch eines möchte ich dir noch mitteilen: Bleibe auf der Hut vor Ladonna Montefiori und den Duft ihrer Rosen! Es wäre sehr, sehr schade, wenn dieses aus drei Lebensquellen zusammengezauberte Zwei-Mütter-Weib dich in seine viel zu filigranen Fänge bekäme. Dann müsste ich dich nämlich töten, und danach ist mir nicht. Ich setze weiter darauf, dass wir beide eines nicht zu fernen Tages einen gemeinsamen Weg finden werden, diesen von Unrast und Besitzgier verpesteten Planeten wieder wohnlich zu machen.
Grüße deine Angetraute, überaus fruchtbare Herzenshexe und die Retterin eures Ehefriedens und Mutter deines Sohnes. Ich hoffe, seine Zeugung hat euch beiden den richtigen Spaß bereitet.
Anthelia, höchste Schwester im Orden der schwarzen Spinne
"Damit war zu rechnen", dachte Julius. Ja, und sie sprühte Gift und Galle, weil ihr ailanorars Stimme durch die Lappen gegangen war. Sorgen machten ihm die Sätze über ihn und Béatrice. Hatte sie das also doch herausgefunden, was es mit Félix auf sich hatte. Doch ändern konnte und wollte er jetzt nichts mehr daran.
Julius versprach der kleinen Rosey Dawn, bei ihrem nächsten Geburtstag persönlich vorbeizukommen. Doch im Moment hatte er noch viel um die Ohren. Aurora Dawn erwähnte, dass das australische Zaubereiministerium über die Japanreise veröffentlicht hatte, weil sie diese neuen Wundergürtel erstanden hatten. Julius erwähnte, dass auch das französische Zaubereiministerium vierzig dieser blauen Gürtel erworben hatte, nachdem feststand, dass diese wirklich die Bildaufnahmen von Film- und Digitalkameras löschen und durch harmlose Hintergrundaufnahmen ersetzen konnten. Er meinte, dass die foto- und videobegeisterten Japaner dem dortigen Zaubereiministerium wohl schon viele Jahre Übung gegeben hatten, wie unerwünschte Aufzeichnungen gelöscht werden konnten.
"Ich freue mich schon auf deinen nächsten Geburtstag, Julius. Ich möchte gerne die drei Kleinen wiedersehen", sagte Rosey mit ihrer Kleinmädchenstimme. Außer ganz wenigen durfte niemand wissen, dass auch sie eine Daisiria, eine Zwiegeborene war.
Spät am Abend meldete sich Brittany über das Armband. Sie teilte mit, dass Melanie Chimers vor einer Stunde in der Mutter-Kind-Abteilung des Honestus-Powell-Krankenhauses einem kleinen Jungen namens Tacitus das Leben geschenkt hatte. Millie und Julius freuten sich für Glorias Cousine und versprachen, ihr möglichst bald eine Glückwunschkarte zu schicken.
Am Tag darauf feierten sie in der Rue de Liberation 13 Laurentines 24. Geburtstag. Natürlich merkten sie alle, dass Laurentine wohl wegen ihrer Eltern betrübt war. Auch wenn sie seit Jahren schon nichts mehr von diesen zum Geburtstag gehört oder bekommen hatte fiel ihr das wohl an diesem Tag besonders auf, dass sie nicht mehr da waren. Julius kannte dieses Gefühl. So hatte er sich vor einem Monat wieder gefühlt, als sich Claires offizieller Todestag gejährt hatte. Doch dann hatte er wieder erkannt, dass er mit Millie und Béatrice auch sehr glücklich geworden war und es hoffentlich bleiben würde, auch wenn sechs Kinder auf einmal nicht nur Spaß und Freude machten.
Jeff Bristol war nicht der einzige Reporter, der den Auftakt der Verhandlung Der Staat New York gegen Clieve Huggins verfolgen wollte. Mindestens zwanzig andere Reporterinnen und Reporter saßen auf der Pressetribüne und sprachen oder schrieben ihre Eindrücke vom Auftakt in Mikrofone oder Palmptop-Computer.
Hugins erwies sich als vom Wohlstand und viel Sonne verwöhnter Mittfünfziger mit bereits deutlichen Geheimratsecken und grauen Strähnen im dunklen Haar. Er sah das Publikum mit jener Verachtung an, die reichen Männern eigen war, die sich über den sogenannten Pöbel ereiferten. Sicher waren auch einige Leute hier, die mal für ihn gearbeitet hatten oder Kunden von ihm waren.
Jeff sah sich vor allem nach jemandem um, der oder die vom Gesicht her dem entsprach, dass er damals im geheimen Bunker unter Bennys Frühstücksbar gesehen hatte. Doch er konnte es nicht sehen. Natürlich durfte keiner der Campoverde-Zwillinge bei einer öffentlichen Verhandlung auftauchen, wo die doch als verschollen oder tot galten, fiel es Jeff ein. So blieb ihm nur wie allen anderen, die Verlesung der Anklage mitzuverfolgen. Huggins plädierte bei jedem der ihm zur Last gelegten Punkte auf "nicht schuldig". Richter Cornwall zeigte keine Regung, ob er dem Angeklagten glaubte oder nicht, während der anklagende Staatsanwalt George Woodworth bei jedem "Nicht schuldig" den Kopf schüttelte.
Allein die Verlesung der Anklage dauerte eine halbe Stunde, zumal neben dem eigentlichen Fall noch nachträgliche Anklagepunkte vorangegangener mysteriöser Vorfälle zugelassen worden waren, so dass es am Ende ganze fünfzig Anklagepunkte waren. Das konnte länger dauern als der Prozess gegen O. J. Simpson, dachte Jeff, der nun jeden Verhandlungstag hier erscheinen und mitschreiben würde.
Laurentine traf sich am vierten Todestag ihres Großvaters Henri mit Louiselle in deren kleinem Schloss zu einer Einheit partnerschaftlicher Schwangerschaftsgymnastik. Hera Matine beaufsichtigte die beiden Hexen. Nach der Übung sagte Hera: "Du hast dich dafür, dass du sehr viel mehr mit Magie ausführen kannst in sehr guter körperlicher Verfassung gehalten, Laurentine. Aber du bist auch noch sehr gut unterwegs, Louiselle. Das wirst du in den kommenden Monaten auch brauchen."
"Wir haben uns gegenseitig auf Trab gehalten", meinte Louiselle und erwähnte die bei den Duellen nicht zu unterschätzenden Schnelligkeitsübungen. Dann fragte sie Hera, ab wann sie ziemlich sicher sagen konnte, dass sie Laurentines Tochter trug.
"Ab der zwölften oder dreizehnten Woche nach der Empfängnis kann ich das Geschlecht eines Kindes herausfinden, sofern es sich so dreht, dass ich die Geschlechtsmerkmale im Einblickspiegel sehen kann. Wenn mir das Kind jedoch den Rücken zukehrt kann es sogar bis zur Geburt dauern, bis sowas eindeutig ist."
"Ja, körperlich kann das Geschlecht festgestellt werden, Hera. In der nichtmagischen Welt wird immer häufiger vontranssexuellen Menschen gesprochen, also Frauen, die als Junge geboren wurden oder Männern, die erst als Mädchen zur Welt kamen und sich später mit ihrer körperlichen Zuordnung nicht wohlfühlen und das mit chirurgischen Eingriffen und Hormonen ändern oder wie sie sagen, angleichen zu lassen." entgegnete Laurentine.
"Interessanter Einwurf, Laurentine", setzte Hera an. "In der magischen Heilzunft wird derartig vom körperlichen abweichendes Empfinden bis heute als körperlich-seelisches Ungleichgewicht diagnostiziert und mit je nach Grad der Abweichung dosiertem Psychopolaris-Trank behandelt. Da dieser in der nichtmagischen Welt nicht verfügbar ist - zumindest wäre mir kein entsprechendes Pharmakon bekannt - sprechen sie den entsprechend gestimmten Menschen wohl ein erweitertes Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zu, also wie jemand körperlich beschaffen sein will, vorausgesetzt, er oder sie kann klar ausschließen, dass er oder sie fremdbestimmt denkt oder aus anderen Gründen entscheidungsunfähig ist. Hattest du jemals entsprechende Bedenken gegen deinen Körper, Laurentine?"
"Nein, hatte ich nicht", sagte Laurentine. "Ich habe das nur erwähnt, weil es wie bei der liberalisierung der sexuellen Ausrichtung auch zum Thema geschlechtliche Identität immer mehr Stimmen und Stimmungen gibt. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die das sagen, was du, ehrwürdige Mutter, indirekt gemeint hast, dass körperlich-seelisch uneinheitlich geschlechtliche Menschen wie Kranke zu behandeln sein sollen, sowie psychopathische Mörder oder Depressive. Und ja, wer sich mit dem geborenen Geschlecht nicht zurechtfindet kann es medizinisch ändern lassen und damit auch einen Identitätswechsel vollziehen, also auch sämtliche den Personenstand betreffenden Dokumente ändern lassen", wusste Laurentine noch. Darauf sagte Hera:
"Es hat bisher kein sich mit der körperlichen Geschlechtszuordnung unbehaglich fühlender Mensch darauf beharrt, den Körper ändern zu lassen, zumal bei Zaubern wie dem Contrarigenus-Fluch auch die Empfindung ins Gegenteil verkehrt wird. Deshalb haben die mir aus den Akten bekannten Personen, die derartig unausgeglichen waren die Behandlung mit dem Trank bevorzugt. Ob ich den Körper oder den Geist auf eine Weise angleiche, dass der davon betroffene Mensch danach mit sich und seinem Leben im Einklang ist und weiterhin frei entscheiden kann kommt für mich als Heilerin auf das gleiche heraus. Für mich als Hebamme ist wichtig, wenn ein Körper menstruieren und Kinder gebären kann gilt dessen innewohnende Seele als weiblich. Öhm, Louiselle, würdest du sagen, dass du dich in deinem Körper unwohl fühlst?"
"Rein seelisch, ehrwürdige Mutter? Nein, tu ich nicht. Außerdem finde ich das trotz des nicht beabsichtigten Effektes gerade spannend, ob ich wirklich ein gesundes Kind austragen und zur Welt bringen kann. Ich habe mich immer richtig gefühlt, als Mädchen und als Hexe zu gelten und zu leben." Laurentine nickte ihrer Nachhilfelehrerin beipflichtend zu. Hera nickte auch. "Dann liegt die Wahrscheinlichkeit bei 990 von 1000, dass das Mädchen in deiner Gebärmutter auch geistig ein Mädchen sein wird", machte Hera eine sehr entschlossene Ankündigung. Dann fragte sie Laurentine, wie sie gerade auf dieses Thema körperlich-seelischer Geschlechtsungleichheit gekommen sei.
"Ich habe euch beiden ja von meinen Cousinen erzählt, die in New York wohnen. Eine von denen arbeitet in einer Rechtsanwaltskanzlei und hat heute, wo ich mit ihr telefoniert habe, angedeutet, dass eine ihrer Kolleginnen auf eine Geschlechtsangleichung ausgehe, weil sie sich unter anderen Frauen nicht wohl fühle und überhaupt eher männliche Vorlieben habe und eben auch den eigenen Körper verabscheue", sagte Laurentine.
"Ja, und deshalb will dieser Mensch den Körper ändern lassen, in der Hoffnung, sich dann besser darin zu fühlen?" fragte Hera. Laurentine wusste es nicht sicher, hielt es aber für genau die richtige Schlussfolgerung. "Tja, dann bleibt dieser mir nicht bekannten Person nur zu wünschen, dass die Annahme kein Trugschluss war und die körperliche Veränderung den gewünschten Ausgleich bringt", erwiderte Hera Matine.
Da Laurentine es indirekt ja schon angeschnitten hatte wechselte die Heilerin das Thema und fragte sie, wie sie sich an diesem Tag fühlte, wo sie ja vor vier Jahren die letzte aus ihrer Familie war, die ihren Großvater lebend gesehen und mit ihm gesprochen habe.
"Wegen des Todes meiner Eltern ist dieses Erlebnis irgendwie zweit- oder drittrangig geworden, Hera. Zumindest habe ich mich heute nicht so traurig gefühlt wie vor zwei Jahren noch, auch wo ich mit meiner Großmutter in Kalifornien telefoniert habe. Sie behauptet sogar, dass durch den Tsunami die Empfindung verändert wurde. Sie ist jetzt eher traurig, dass meine Mutter nicht mehr lebt und sie sich immer noch eine gewisse Schuld zuschreibt, sie nach ihrer Geburtstagsfeier vom Grundstück gejagt zu haben. Sie würde zwar immer noch ganz gerne wissen, was meine Eltern und mich auseinandergebracht hat, fürchtet jedoch, dass sie damit die immer noch schmerzende Seelenwunde noch weiter aufreißen würde, so meine Großmutter Monique", erwähnte Laurentine. Dann fügte sie noch hinzu: "Ja, und ich musste mich sehr gut beherrschen, ihr nicht zu verraten, wie recht sie damit hätte. Denn obwohl sie wegen dieses doppelmoralischen Priesters aus der offiziellen Kirche ausgetreten ist gelten für sie immer noch die Gesetze der Bibel, also auch die Ablehnung von Hexen und Zauberern."
"Ja, das ist nicht so leicht auszuräumen", erwiderte Hera darauf. "Meine Kollegin Merryweather hat es mir mal berichtet, dass in Thorntails der Geist einer ehemaligen Nonne aus dem Benediktinerinnenorden spukt, die spät in ihrem Leben erfahren hat, dass sie magische Kräfte hat und eine solche Angst vor der von den Abrahamiten beschriebenen Verdammnis hat, dass sie nicht aus der Welt gehen konnte und als strickende Nonne oder singende Schwester weiterexistiert, vergleichbar mit dem dicken Mönch, einem in der britischen Schule Hogwarts beheimateten Geist."
"Die Dame habe ich mal getroffen, Tante Hera, als ich das Austauschjahr in Thorntails gemacht habe", sagte Louiselle. So entspann sich nun ein Gespräch über die Eindrücke von anderen Zauberschulen, wobei Laurentine die Berichte von Julius, Gloria und Pina aus Hogwarts mit einfließen ließ oder ihren Eindruck von der Burg Greifennest, als sie dort die Sonnenfinsternis beobachten durfte und sich da fragte, ob sie nicht auch mal ein Austauschjahr dort machen sollte wie Waltraud Eschenwurz bei ihnen in Beauxbatons. Louiselle war ein Jahr in Thorntails gewesen. Hera hatte außer Beauxbatons keine andere Schule für Hexen und Zauberer kennengelernt, aber sich im Rahmen ihrer Heilerinnenausbildung in verschiedenen Ländern aufgehalten. Nur Australien fehle ihr noch. Aber dort sollte es im nächsten Jahr einen Heilerkongress geben, auch und vor allem als Nachwirkung der dortigen Schlangenmenschenepidemie. Da würde sie sicher dran teilnehmen.
"Da komm ich dir mit unserer Zwei-Mütter-Tochter aber gerade ungelegen, Tante Hera", meinte Louiselle.
"Wenn die Kleine in der jetzigen Geschwindigkeit weiterwächst wird sie da schon längst auf der Welt sein, Louiselle. Der Kongress wird erst bei der Tagundnachtgleiche sein, die wir als Herbsttagundnachtgleiche bezeichnen, sozusagen Frühlingsanfang auf der Südhalbkugel, weil die dortige Zunftsprecherin uns gerne die Frühlingsgewächse vorstellen möchte." Louiselle und Laurentine nickten.
Um elf Uhr abends kehrten Hera und Laurentine in ihre jeweiligen Wohnsitze zurück. Laurentine war gut erschöpft von der Gymnastik und froh, über ihr neues Empfinden wegen des Todes ihres Großvaters Henri sprechen zu dürfen. Morgen beim Frühstück mit den Brickstons konnte sie das dann wohl noch besser rüberbringen.
Margarita Isabel de Piedra Roja schrie wie unter schlimmer Folter. Warum hatte sie sich darauf eingelassen? Wieso hatte sie nicht einfach beschlossen, dass sie genug für die Erhaltung ihrer Blutlinie getan hatte? Warum wollte Aurelio nicht zur Welt kommen? Seit acht Stunden durchlitt die Hexe, die sonst weder Schmerz noch Skrupel kannte, die heftigsten Geburtswehen. Doch bisher hatte sich der angekündigte Sohn nicht dazu bereitgefunden, seinen Kopf aus ihrem Schoß hervorzuzwengen. Ihre Heilerin Buenamano hatte behauptet, dass sich Aurelio mit Armen und Beinen in ihr verkeilt habe, um seine Geburt zu verhindern. Doch wenn er nicht bald kam musste er ersticken. Bekam der da drinnen das nicht mit? Wieso dachte sie das? Der Junge konnte doch unmöglich logisch überlegen.
Endlich zeigte sich ein mit schwarzem Flaum bedeckter, runzeliger Kopf. Dann ging es schnell. Innerhalb von nur vier weiteren Minuten verließ der kleine Aurelio die bis dahin so sichere Behausung. Noch bevor seine Beine freikamen stieß er bereits erste Schreie aus. Dann war er endlich vollständig auf der Welt.
Mit Tränen der Schmerzen und der Freude begrüßte die ältere Hexe ihren späten Sohn und nahm ihn als ihr Kind an. "Keine Sorgen, junger Mann, du wirst keine kleinen Geschwister mehr bekommen", seufzte Margarita Isabel de Piedra Roja, während Aurelio zum ersten mal trank.
"Bei allem Respekt, Doña Margarita, das würde ich Ihnen auch raten. Der Junge war bereits fünf Tage übertragen. Hätten Sie ihn nicht doch noch auf natürliche Weise gebären können hätte ich ihn wohl herausschneiden müssen", sagte die Heilerin. Doña Margarita war zu erschöpft, darauf noch was zu antworten.
"Aurelio Marco de Piedra Roja", nannte Margarita den Sohn, der nicht geboren werden wollte und am Ende doch noch auf die Welt kommen musste. "Wir werden auf dich aufpassen und dir einen Weg zeigen, auf dem du stolz und aufrecht schreiten kannst", fügte sie noch hinzu.
Nun durfte auch der kreidebleiche, stolze Vater den neuen Mitbewohner ansehen. Er meinte: "Ich habe es schon einige male miterlebt. Aber es ist doch jedesmal gleich anstrengend."
"Sagt der, der die einfachste Arbeit dabei hatte, ihn hier auf den Weg zu bringen", grummelte Margarita. Doch innerlich triumphierte sie. Sie hatte nun zwei Kinder aus einer lange verschollenen, magisch eingeschlafenen Blutlinie auf die Welt gebracht. Der vom Rest der Welt für tot gehaltene Mann da sollte froh sein, dass sein Leben noch diesen Sinn gehabt hatte.
"Ich brauche Ihnen ja nichts mehr zu erklären, was Sie machen müssen, Doña Margarita", sagte Heilerin Buenamano. "Allerdings möchte ich, dass der Kleine für die nächsten zwölf Monate ein Körperwachtarmband trägt, damit ich sofort erfahre, wenn etwas mit ihm nicht stimmt. Bedenken Sie bitte, dass Sie eigentlich über das für Schwangerschaften und Geburten emfohlene Alter hinaus sind!"
"Zum einen, das Wacharmband dürfen Sie ihm anlegen, Heilerin Buenamano. Zum zweiten ist er hier wirklich das letzte Kind, das ich in diese Welt hineingeboren habe. Daher muss ich mir drittens keine Vorhaltungen mehr machen lassen, dass ich noch einmal schwanger wurde", stellte die Doña mit der für sie üblichen Autorität fest. Dann gab sie sich dem so erhabenen Gefühl hin, jemanden umsorgen zu dürfen, eine unschuldige Seele in unschuldigem Leib. Ja, sie beneidete den kleinen Aurelio Marco darum, dass er noch keine schlimmen Dinge außer seiner Geburt erlebt hatte. Doch fast hätte er sich und vielleicht auch sie getötet. margarita dachte deshalb, wie schmal doch der Grad zwischen Unschuld und Schuld eines Menschen sein mochte. Dann genoss sie die Nähe ihres jüngsten Sohnes, den Einiger zweier alter Blutlinien aus Eurasien und Südamerika.
Anthelia erfuhr am Nachmittag des vierten Dezembers, dass Albertrude Steinbeißer es tatsächlich auf den Tag genau geschafft hatte, eine kleine Hexe namens Prunella zur Welt zu bringen. Die mit den Heilerinnen der Spinnenschwesternschaft ausgemachte Verabredung besagte auch, dass Prunella nicht von den üblichen Geburtsregistern des Zaubereiministeriums und der Burg Greifennest erfasst werden konnte, auch wenn das hieß, dass das neugeborene Hexenmädchen unter Ausschluss der Öffentlichkeit aufwachsen musste. Doch sowas kannte Anthelia ja auch schon von Dido Pane beziehungsweise deren Wiedergeburt als Anastasia Barkowa. Außerdem schafften es die Gauner von Vita Magica ja auch, ihre von anderen abgerungenen Kinder ohne Mitteilung an ein Zaubereiministerium zu bekommen und großzuziehen.
Anthelia dachte mit einer gewissen Verbitterung daran, dass Albertrude nun auf dem Weg war, den zweiten Lotsenstein zu erlangen. Einen Jungen musste sie laut Testament der in ihr eingenisteten Seele Gertrudes noch aus sich heraus gebären, um die Absicherungen für den Hinweis auf den Lotsenstein aufzuheben. Auch dachte Anthelia daran, dass Albertrude nun nicht mehr für Geheimaktionen der Spinnenschwesternschaft zur Verfügung stand, weil sie jeden Tag mit ihrer neugeborenen Tochter zusammen sein würde, um sie ja nicht zu verlieren. Dann musste es eben ohne sie gehen, dachte Anthelia. Wenn sie überlegte, dass das womöglich nicht das schlechteste war, wo Albertrude sich ja als ihr ebenbürtig erwiesen hatte, konnte die höchste der Spinnenschwestern damit gut leben.
War es schon wieder zwei Jahre her, dass Hippolyte und Albericus den kleinen Alain dazubekommen hatten? Als Millie, Béatrice, Julius und sämtliche kleinen Bewohnerinnen und bewohner des Apfelhauses im Honigwaabenhaus von Paris zusammensaßen und den kleinen Jungen beglückwünschten, der da wie ein Pfau auf seinen kurzen Beinen herumstolzierte, dachte Julius, das der Junge mit den zwölf Fingern und Zehen bald merken würde, dass die allermeisten Leute um ihn anders als er waren. Wie würde er damit zurechtkommen? Er, der Ruster-Simonowsky-Zauberer, wusste, wie schwierig das war, mit einer Andersartigkeit zu leben und wie schnell jemand entweder in Trübsal verfallen oder sich für den anderen überlegen halten mochte, je danach, wie die Leute im eigenen Umfeld damit klarkamen. Also ging es bei Alain Durin Latierre darum, wie sie alle ihn behandelten. Nur so konnte Alain sicher sein, auch anerkannt und geliebt zu werden.
Alains Großmutter väterlicherseits strahlte den kleinen Enkel so stolz an, als sei er genau das Kind, was sie selbst immer gewollt hatte. Julius erinnerte sich noch gut an seinen Traum, in dem er die Geburt Alains miterlebt hatte. Deshalb war er sich sicher, dass Lutetia Arno auch wirklich so dachte, dass Alain der Enkelsohn war, den sie immer erhofft hatte. Hoffentlich musste Miriam nicht darunter leiden oder die drei Mädchen, die Martine bisher zur welt gebracht hatte.
Auch wenn Félix, Flavine und Fylla bereits krabbeln konnten und die ersten Greif- und Hebeversuche machten genossen es Béatrice und Millie noch, die drei mit eigener Milch zu versorgen. Martine leistete den beiden beim Stillen Gesellschaft. So kam es, dass Julius mit Hippolyte und Albericus alleine sprach, während Ursuline sich mit Lutetia darüber hatte, wer denn wohl die bessere Großmutter für Alain sein würde.
"Also, dass Aurore und Chrysope ihn nicht Onkel nennen werden solltet ihr wohl verstehen", meinte Julius zu Hippolyte und zeigte auf Alain. "Klar, Millie hat Patricia, Mayette und die nach ihnen kamen auch nie Onkel oder Tante gerufen", erwiderte Hippolyte. "Ja, und zu Trice sagt ihr zwei doch auch nicht Tante, richtig?" Julius bejahte das. "Dann kann Alain damit leben, dass vier Nichten älter als er sind. Hauptsache, er bleibt gesund."
"Das hoffe ich auch", sagte Julius. Dann wandte er sich an seinen Schwiegervater. "Und, hast du schon die richtigen Läden gefunden, die die passenden Strümpfe und Handschuhe für Alain machen können? Ich meine, sonst kannst du ja Madame Arachne in Millemerveilles fragen."
"Das ist nicht nötig. Meine Mutter, die kleine Frau, die so überglücklich strahlt, hat sich schon Näh- und Strickmuster gemacht, wie sie Alain in all den Jahren bis nach Beaux genug Zeug schneidern und stricken kann. Sie hat nur das Problem, dass sie nicht zu den Kobolden in Gringotts reinmarschieren und das dafür nötige Münzgeld abheben kann. Die langfingrigen Spitzohren sind wegen des deutschen Großmauls unter dem Schwarzwald ganz stur, was Zwergenstämmige angeht. Das habe ich dir bisher nicht erzählt, dass ich seit Malins Kriegsandrohungen mein Verlies nicht mehr betreten kann. Ich muss immer warten, bis Hipp frei hat und unser Familienverlies besuchen kann. Ist schon eine verdammt miese Sache."
"Stimmt, Beau-Papa, das hast du uns bisher nicht erzählt. Falls du mal Hilfe wegen der Kobolde brauchst können wir ja für dich Gold abheben."
"Das brauchen deine Kinder eher als der Herr hier", sagte Hippolyte. "Ich komm immer noch an das Verlies dran, und sein Arbeitslohn wird ja wieder ordentlich per Goldanweisung in unser Verlies überwiesen. Er meint nur, dass sein Einzelverlies, dass mein Schwiegervater bei seiner Einschulung in Beaux mündelsicher angemietet hat nicht mehr benutzt werden kann."
"Genau, Hipp. Dann erzähl ihm hier bitte auch, dass da mindestens noch hunderttausend Galleonen in Goldbarren drinliegen, die mein Vater eigenhändig aus dem Boden gegraben und geschmiedet hat, um sie irgendwann den Kobolden zur Prägung anzubieten. Nur diese Spitzohren haben ihn damals zu verschaukeln versucht, gemeint, dass er für jeden Goldbarren nur die Hälfte des Wertes an Galleonen kriegen kann, weil die Münzerei und die Registrierung so viel vom Rohgold einhält. Die waren und bleiben raffinierte Gierhälse, die gerade so noch vor Hexen und Zauberern kuschen, solange nicht noch mal sowas wie dieses Erdmagiebeben passiert."
"Wieso, dein Vater war doch auch ein rein menschlicher Zauberer, oder?" fragte Julius. "Ja, aber er hat sich auf eine reinrassige Zwergin eingelassen und es gewagt, mit der Kinder zu haben. Damit hat er für die Spitzohren Blutschande getrieben", knurrte Albericus. Julius konnte ihm das nachfühlen. Als er noch in Hogwarts war hatten ihm die hochnäsigen Slytherins um den Angeber Draco Malfoy immer wieder verdeutlicht, wie unwillkommen er war und dass sich keine anständige Hexe auf ihn einzulassen habe. Na ja, die wussten es mittlerweile doch besser.
"Wie erwähnt, Beau-Papa Berie, falls die Kobolde dir weiter Stress machen können Millie und ich dir helfen."
"Ja, Julius, und ich habe gesagt, dass er das nicht nötig hat", sagte Hippolyte. "Die Goldbarren in dem kleinen Verlies liegen da wo sie sind ganz sicher." Albericus starrte seine Frau von unten her an. Diese blickte ebenso entschlossen zu ihm hinunter.
Alain freute sich, als er die Geschenke auspacken durfte. Weil er so eng mit der Zahl Zwölf verbunden war hatten sich alle darauf geeinigt, dass er immer eine durch zwölf teilbare Zahl an Geschenken bekam. Von den Apfelhausbewohnern bekam er dieses Jahr einen gleichwarm bezauberten Kinderschlafsack und sonnengelbe Schwimmflügel, weil Hippolyte und Albericus ihm nun, wo er größtenteils umfallfrei laufen und sogar schon auf einem Spielzeugbesen über den Boden schwirren konnte das Schwimmen beibringen wollten. Martine und ihre Familie hatten für den jüngsten Bewohner des Honigwaabenhauses teilanimiertes Holzspielzeug aus Schweden besorgt, wo sie im Sommer die Ferien verbracht hatten. Darunter waren auch vier Nachbildungen rauflustiger trolle, die durch Fingerzeichen zum balgen, übereinanderspringen oder Tanzen angeregt werden konnten, sowie ein Paar zwanzig Zentimeter langer Kurzschnäuzler, die fauchen und hitzeloses blaues Feuer speien konnten.
Solange alle Kinder wach waren hielten sich die männlichen Erwachsenen mit hochprozentigen Getränken zurück. Julius hörte aber nach seiner Heimkehr mit seiner großen Familie, dass Albericus sich mit Alon und Ferdinand auf einen Trinkwettkampf eingelassen hatte. Julius musste dabei wieder an Glorias Großvater Livius denken, der seit fünf Wochen freiwillig im Kurheim für Rauschmittelabhängige Hexen und Zauberer weilte, weil er doch festgestellt hatte, dass er seinen Frust über sein weiteres Leben nicht mit Alkohol betäuben konnte. Laut Mel und Gloria würde er dort auch die Tage von Weihnachten bis nach Neujahr zubringen, da die Rückfallgefahr bei Familienfeiern besonders groß war. Britt hatte es sich nicht verkneifen können und gesagt, dass wegen Livius Porter alle anderen Familienangehörigen auf jede Form von Alkohol verzichteten, was für alle die vernünftigste Lösung war. Julius hatte nichts dazu gesagt.
Wie immer fand am 24. Dezember in Millemerveilles ein fröhliches Lichterfest statt, an dessen Ende alle ein von derselben Kerze entzündetes Licht mit nach Hause bringen durften. Dieses Jahr gab es keine werdenden Mütter in Millemerveilles selbst. Zwar hatte Julius seine Mutter gefragt, ob sie herüberkommen wollte. Doch diese wollte Weihnachten in der Schwiegerfamilie feiern.
"Alles gute zum Weihnachtstag, Julius. Danke, dass ich bei euch sein darf", sagte Béatrice, als er sie am Weihnachtsmorgen in der Wohnküche traf, wo Millie noch im Bad war. Sie traute sich und küsste ihn auf den Mund und er küste sie auch. Ja, er musste und würde es schaffen, sie und Millie gleichermaßen zu lieben. Aber das hieß wohl auch, irgendwann mal wieder mit Béatrice das Bett zu teilen, nicht um ein Kind zu zeugen, sondern weil sie ihn vielleicht wieder begehren würde und er sie nicht kränken wollte. Nein, wenn sie ihn wollte, dann wollte er sie wohl auch. Er würde es wohl irgendwie mit den zwei Hexen aushalten, die in sein Leben getreten waren.
Das erste Weihnachten für Félix, Flavine und Fylla war ein Fest der bunten Geschenke, jetzt wo die drei eindeutig Farben erkennen konnten und schon Anstalten machten, auf sie interessierende Sachen zuzukrabbeln, wenn Millie und Trice sie auf den Boden legten. Clarimonde bekam einen sonnengelben Kleinkinderbesen mit Extrapolsterung am vorderen Besenende, so dass sie mit ihren größeren Schwestern nicht lebensgefährlich zusammenstoßen konnte. Julius hatte die neuen Kerzen von Madame L'Ordoux in den Baum gesteckt, die nicht nur im warmem weißgelb, sondern auch himmelblau, rosarot, smaragdgrün oder bernsteingelb leuchten konnten und da, wo der Stiel des apfelförmigen Hauses war, einen US-amerikanischen Frosty hingestellt, der keine Höhenangstanwandlungen zeigte, sondern lustige Lieder vom Spielen im Schnee sang. Um den Kindern mal zu zeigen, wie das weiter nördlich sein konnte beschworen Béatrice, Millie und Julius auf der Landewiese einen Schneeschauer herab, wobei sie das Wasser aus dem Farbensee apportierten. So konnte Julius sich mit seinen großen Mitbewohnerinnen sogar eine Schneeballschlacht liefern und Aurore und Chrysope zeigen, wie ein Schneemann gebaut wurde. Allerdings machte dass den auf dem Apfelhaus aufgestellten Frosty eifersüchtig. Der blökte in bestem New Yorker Gossenenglisch: "Eh, macht diesen saublöden Pampkerl wieder platt. Der bring's nich'." Da mussten Béatrice, Millie und Julius laut lachen. Ein auf einen anderen Schneemann eifersüchtiger magicomechanischer Kunstschneemann war neu. Das konnten sie Brittany und Mel erzählen, von denen sie den Frosty bekommen hatten.
Am Nachmittag kam Laurentine mit einem Rucksack herüber. Sie hatte nach kurzer Bedenkzeit eingewilligt, die Tage bis Neujahr bei den Latierres im Apfelhaus zu wohnen, wo die Brickstons seit dem 24. Dezember im neuen Haus von Joes Eltern Einweihungs- und Weihnachtsparty hintereinanderfeierten und dann wohl noch Silvester dort bleiben würden. Weder sie noch die Latierres hatten es ausgesprochen. Doch alle wussten, dass Laurentine am 26. Dezember sicher darüber grübeln würde, dass ihre Eltern diesem Tsunami zum Opfer gefallen waren. Doch sie freute sich, über diese schwere Zeit nicht ganz allein bleiben zu müssen.
Ja, sie hatte es gewusst, dass es sie wieder erwischen würde. Sie dachte an ihre Eltern, die genau heute vor einem Jahr diesem Tsunami zum Opfer gefallen waren. Jaa, und sie fühlte wieder eine gewisse Schuld, weil ihre Eltern ja möglichst weit von ihr und der Zaubererwelt entfernt sein wollten. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass es nicht ihre Schuld war.
Laurentine war froh, dass sie bei den Latierres war. Zu Hause hätte sie nur darüber nachgegrübelt, was ihr in diesem Jahr alles passiert war. So konnte sie die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Leuten verbringen, die sie gerne um sich hatten. Sicher hätte sie auch bei Louiselle sein können, doch ob diese schon dazu bereit war, sie länger als einen halben Tag bei sich zu haben? Das war etwas, dass sie nach dem Silvesterfeuerwerk behutsam herausfinden sollte. Immerhin wussten sie beide, dass ihr gemeinsames Geheimnis Lucine heißen sollte. Louiselle hatte amüsiert gemeint, dass ein ungewöhnlich gezeugtes, also von der römischen Geburtshelfergöttin Lucina gesegnetes Kind, auch ihren französischen Namen tragen sollte. Außerdem war es auch ein Name mit L, wie Louiselle und Laurentine. Alles in allem wurde Laurentine den Verdacht nicht los, dass Louiselle die außergewöhnliche Schwangerschaft nicht so befremdlich empfand wie sie. Doch womöglich konnte sie sich auch irren, und Louiselle fand sich eben besser damit ab, ein Zwei-Mütter-Kind zu bekommen, wie jene, die damals Ladonna Montefiori zur Welt gebracht hatte.
Laurentine hatte sich gut von der kurzen Trauerphase zwischen Weihnachten und Silvester erholt, zumal sie ja nicht alleine war. So freute sie sich, als die Brocklehursts zur Neujahrsfeier herüberkamen. Die wollten es ausnutzen, erst in Europa und dann in Kalifornien ins neue Jahr reinzufeiern.
Julius fürchtete erst, dass Laurentine wieder traurig werden könnte, weil Brittany ganz offen und freudig von ihren Eltern und deren Vorfreude auf das baldige zweite Kind sprach. Doch sie lachte mit der großen, weizenblonden Amerikanerin mit und ließ sich sehr gerne erzählen, was gerade in den Staaten anstand. "Wenn wir wieder nach Hause fliegen endet das US-Zaubereiministerium. Bullhorn hat es mit den ausgewählten siebzehn anderen durchgeboxt, dass die von VM für Mörder und andere Schwerverbrecher beschlossene Wiederverjüngungsstrafe beibehalten wird. Sie hat sofort nachgelegt, dass diese Wiederverjüngten dann aber zu "anständigen Leuten" kommen sollten und unter neuen Namen groß werden sollen."
"Na ja, eine Art sanfte Hinrichtung mit Chance, noch mal im Sinne der Mehrheitsgesellschaft leben zu dürfen", meinte Laurentine dazu. Brittany konnte ihr da nicht widersprechen.
Wie es üblich war wurden alle betrüblichen Erlebnisse des so gut wie beendeten Jahres 2005 auf Zettel aufgeschrieben, die dann mit dem Feuerwerk zum Jahreswechsel verbrannt werden sollten. Julius nutzte diesen Moment des allgemeinen Innehaltens, um mal wieder über alles nachzudenken, was er mit Millie und Béatrice erlebt hatte.
Sie hatten die Auswirkungen des Tsunamis in der Koboldbank Gringotts überstanden. Dass Londons Oberbankdirektor seine Einwände gegen die Rettungsspenden für New Orleans im Oktober widerrufen hatte lag wohl daran, dass seine Drohungen verpufft waren.
Béatrice hatte einen Sohn von ihm bekommen und durfte dessen Mutter bleiben. Er musste sich selbst eingestehen, dass er geschlechtlich immer wieder hinterfragte, ob er mit ihr nicht auch eine so gute und erfüllte Ehe wie mit Millie führen konnte. Millie hatte ihm die Töchter vier und fünf geboren und schien immer noch nicht genug von ihm ausgebrütet zu haben. Einmal hatte sie gesagt: "Fünf draußen, noch zwei drinnen." Doch wann die kommen würden wussten sie nicht, auch wenn sie weiterhin regelmäßig miteinander schliefen.
Er hatte eine gefährliche Hinterlassenschaft der Iaxathananhänger unschädlich machen können und dankte dafür innerlich Ceridwen Barley und offen Goldschweif, Millie und Béatrice. Deshalb durfte er jetzt den siebten Silberstern tragen und hatte mitgeholfen, dass die Sibenheit der Sternträger wieder voll erstarkt war. Auch dass die Abgrundstöchter sich zurückhalten wollten sollte er eigentlich gut finden. Er fragte sich nur, was bei den Sonnenkindern so alles passiert war. Doch das würde er nächstes Jahr herausfinden.
Was die Zukunft bringen würde wagte er jedoch nicht zu vermuten. Er konnte nur hoffen, dass sie hier in Millemerveilles weiterhin friedlich leben konnten. Die Unruhen im November hatten zu deutlich gezeigt, auf welcher friedlichen Insel die Hexen und Zauberer trotz der zwischenzeitlichen Erschütterungen lebten, kein Paradies, aber weit genug weg von der Hölle auf Erden, so hoffte Julius.
Justine hatte es klar abgelehnt, sich unter die bereits gut berauschte Menge Leute am Times-Platz zu stellen, um das neue Jahr zu begrüßen. Sie und Jeff saßen zu Hause vor dem Fernseher und verfolgten die Berichte über den Jahreswechsel im Rest der Welt. London war vor zwei Stunden ins Jahr 2006 gestartet. Hier dauerte es noch drei Stunden, bis der Jahreswechsel vollzogen wurde.
Jeff holte noch eine Schachtel mit Salzstangen. Laura Jane hatte ihre Haarfarbe geändert. Sie hatte nun blau-weiß-rotes Haar, wie die amerikanischen Nationalfarben und eine adlergleiche Hakennase, wie das amerikanische Wappentier. Offenbar gefiel ihr das, so auszusehen.
"Hoffentlich wird das nächste Jahr besser als dieses", sagte Justine. "Natürlich, wir kriegen doch jetzt eine starke, gesamtnordamerikanische Zaubereiverwaltung", sagte Jeff sarkastisch. "Komm, hör auf. Bullhorn hat die anderen schon angespitzt, jeden unregistrierten Werwolf auf Sicht zu erschießen, ob er alleine oder in Begleitung ist. Dass wir lange nichts mehr von der Blutgötzin gehört haben heißt für mich nur, dass sie gerade mit anderen Widersachern zu tun hat. Aber ich traue der zu, dass sie sich bald wieder bei uns meldet. Ja, und wir dürfen nicht zu auffällig auftreten", sagte Jeff. Dem musste seine Frau zustimmen.
Als es kurz vor Mitternacht war schenkte Jeff sich und seiner Frau kalifornischen Schaumwein und der kleinen Laura Jane weißen Traubensaft ein. Dann hob er das Glas. Gleich war es soweit. Dann sahen sie auf dem Bildschirm, wie die weltberühmte Kugel mit der neuen Jahreszahl über dem Times-Platz heruntersank und die dort ausharrende Menschenmenge die letzten zehn Sekunden von 2005 herunterzählte. Dann war es soweit. "Prost Neujahr, Justine. Schön, dass du immer noch da bist", sagte Jeff und stieß mit seiner Frau an. Sie umarmten einander, küssten sich und wünschten sich, dass das neue Jahr besser als das alte werden würde.
Jeff überspielte seine Sorgen. Denn er wusste, dass da draußen viele Gefahren lauerten. Auch dass er erfahren hatte, wer hinter dem Decknamen Tinwhistle steckte, betrübte ihn innerlich. Die gewisse Enttäuschung, die sein verstorbener Kollege nicht nur ihm, sondern auch Mike Dunston postmortal beschert hatte wog fast so schwer wie das Gefühl, im Moment nichts unternehmen zu können, um Tinwhistles virtuelle Augen und Ohren aus dem Netzwerk herauszudrängen, ohne dafür mit dem eigenen Leben zu bezahlen oder miterleben zu müssen, dass geliebte Angehörige starben.
Draußen krachten, wummerten und böllerten Feuerwerkskörper. Raketen schossen zischend in den Nachthimmel und füllten ihn mit bunten Lichtern. Jeff und Justine brannten kein Feuerwerk ab. Sie hatten ihren Nachbarn erzählt, den Jahreswechsel bei Verwandten im Mittelwesten zu verbringen. So ersparten sie sich auch Telefonanrufe. Jeff hatte sogar sein Handy ausgeschaltet, um unerreichbar zu sein. Auch hielten um das Haus aufgespannte Schutzzauber böswillige Eindringlinge zurück. Es gab im Moment nur ihn, Justine und Laura Jane. Er wollte und würde alles dafür tun, dass dies auch im gerade begonnenen Jahr und vielen Jahren danach so blieb, egal ob Vampire, Nachtschatten, Werwölfe, Mafiaclans oder nach Weltherrschaft trachtende Organisationen lauerten.
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