Die Auswirkungen jener weltweiten Welle dunkler Magie, die bei der Vernichtung von Iaxathans Ankergefäß freigesetzt wurde, halten die ganze magische Welt in Atem. Schwarzmagische Gegenstände erwachen zu einem unheilvollen Eigenleben. Für dunkle Kräfte empfängliche Wesen schütteln jahrtausende alte Erstarrungszauber ab oder werden stärker. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zaubereiministerien und davon unabhängiger Eingreiftruppen gegen dunkle Künste kommen nicht zur Ruhe. Als dann durch das schwere Seebeben vom 26. Dezember 2004 ein auf dem Meeresgrund liegender Unlichtkristall zerbricht und deshalb eine weltweite Entladung von Erdmagie auslöst gerät die gesamte Gesellschaftsstruktur der magischen Menschheit ins Wanken. Denn die Welle aus Erdmagie trifft dafür empfängliche Wesen wie Kobolde und Zwerge hart bis tödlich. In Australien wird die Koboldbank Gringotts zerstört. Anderswo müssen Filialen schließen. Verschiedene Gruppen versuchen das auszunutzen, um das jahrhundertealte Goldwertbestimmungsmonopol der Kobolde zu beenden. Ebenso wittert in den Vereinigten Staaten ein einzelner Zauberer die Chance, der mächtigste in Nordamerika zu werden: Lionel Buggles. Als dieser dann von der obskuren Gruppe Vita Magica unterworfen wird hilft diese ihm, seinen Traum für einige Monate zu verwirklichen, ganz Nordamerika unter seiner Führung zu vereinen, bis ihm die Führerin der Spinnenhexen für immer Einhalt gebietet.
Julius Latierre wird von Ashtaria beauftragt, einen eigenen Sohn zu zeugen. Da er mit Millie von den Mondtöchtern gesegnet wurde kann er dies jedoch erst nach einer Wartezeit von zwölf Jahren, weil er schon drei Töchter mit Millie hat. Ashtaria schickt Millie einen höchst beängstigenden Traum von einer Zukunft, in der sowohl Lahilliotas neue Ameisenkreaturen, die Nachtschatten der selbsternannten Nachtkaiserin und die Vampire der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder die Menschheit auslöschen und Ashtarias Macht vollständig verschwinden mag, wenn es keine sieben Heilssternträger mehr gibt. Daher nutzen sie und Julius ein besonderes Gesetz, dass einem Ehemann erlaubt, mit einer unverheirateten Hexe ein Kind zu zeugen, welches die angetraute Frau nicht oder nicht früh genug bekommen kann. Als sogenannte Friedensretterin erwählen beide Millies Tante Béatrice, die seit dem unfreiwilligen Kindersegen in Millemerveilles die zweite Heilerin dort ist. Béatrice geht auf die Bitte ein und verbringt mit Julius mehrere Nächte, während Millie sich in den Künsten der Feuermagier aus dem alten Reich zu ende bilden lässt. Das Vorhaben gelingt. Béatrice empfängt einen Sohn. Kurz nach der erfolgreichen Zeugung wird Millie ebenfalls schwanger. Sie trägt Zwillingstöchter. Sie verzichtet auf ihr Recht, Béatrices Kind als ihres anzunehmen und überlässt den kleinen Félix seiner leiblichen Mutter. Sie selbst bringt in der Walpurgisnacht 2005 die beiden Töchter Flavine und Fylla zur Welt. Julius hat Ashtarias Auftrag ausgeführt. Er wartet darauf, ob und wo er den verwaisten Silberstern entgegennehmen kann. Er muss dafür noch eine gefährliche Aufgabe erledigen. Ashtaria stellt ihm drei zur Auswahl: Das verschollene Buch über das Geheimnis des großen, grauen Eisentrolls, den Zwerge und Kobolde gleichermaßen fürchten zu finden, einen mächtigen Dschinnenkönig finden und verhindern, dass dieser sich wieder zum Herren aller orientalischen Geisterwesen aufschwingt oder eine schwarzmagische Vorrichtung namens "Das Herz von Seth" unschädlich zu machen. Er entscheidet sich für die dritte gefahrvolle Aufgabe. Dank Goldschweif, seiner Temmie-Patrona und einer ausreichenden Dosis Felix Felicis übersteht er die auf dem Weg in die unterirdische Anlage lauernden Fallen und kann gerade noch rechtzeitig verhindern, dass der im Herzen des Seth angesammelte Hass und Zerstörungswille auf einen Schlag freigesetzt werden und damit alle fühlenden Wesen zu Mord und Krieg getrieben werden. . Um die unheilvolle, gewaltige Maschinerie der dunklen Kraft möglichst nie wieder in Gang zu setzen hilft ihm Madame Delamontagnes Hauselfe, den zentralen Raum unbetretbar zu machen. Weil Julius die ihm gestellte Aufgabe erledigt hat darf er das Geburtshaus von Hassan al-Burch Kitab aufsuchen, wo der verwaiste Silberstern liegt. Doch dieses wird von Ilithula, der Abgrundstochter mit Beziehung zu Windmagie bewacht. Er kann sie jedoch austricksen und den Heilsstern an sich nehmen. Zusammen mit den sechs anderen Sternträgerinnen und -trägern ruft er in Ashtarias Höhle des letzten Abschiedes die mächtige Formel aus, die die geballte Macht der sieben Sterne freisetzt. Damit wird er endgültig der sechste Sohn Ashtarias. Die Anrufung der Heilsformel bewirkt jedoch auch, dass die in Gestalt einer roten Riesenameisenkönigin gefangene Lahilliota wieder zur Hexe in Menschengestalt wird, allerdings immer nur im Wechsel mit ihrer Tiergestalt alle zwei Monate.
Wegen der Mordanschläge von London und Birmingham am 7. Juli regen Julius und seine Mutter eine internationale Zaubereikonferenz zum Thema elektronische Aufzeichnung und Verhüllung der Magie vor Videokameras an. Viele Zaubereiministerien gehen auf diesen Vorschlag ein. Die Konferenz findet Ende September Anfang Oktober in einer gesicherten Niederlassung des Japanischen Zaubereiministeriums statt. Dort werden fast alle Teilnehmer durch den Nebel des Mondfriedens darauf eingestimmt, einander zu vertrauen. Nur Julius und Nathalie entgehen diesem angeblich so friedlichen Vorbeugungszauber. Julius wird von Ashtarias Heilsstern geschützt, Nathalie durch den ihr aufgezwungenen Sonnensegen Euphrosynes. Nach einigen Tagen Beratung präsentieren die Japaner das gesuchte Mittel, den lautlosen Verberger, einen Gürtel, der seinen Träger für elektronische Aufnahmegeräte unsichtbar macht. Die Ministerien beschließen, für ihre Sondertruppen solche Gürtel anzuschaffen.
Catherine wird von Julius zu den Altmeistern Khalakatans gebracht, wo sie vollständig in Zaubern der alten Windmagier und Mondmagier ausgebildet wird. Während ihres Ausbleibens verfolgt Julius die Unruhen in den Vororten französischer Großstädte im November 2005. Als Catherine zurückkehrt bittet sie Julius, ihr die von ihm lange gehütete Flöte des Windkönigs Ailanorar zu überlassen. Er soll in der Zeit, die sie mit deren Schöpfer um den Besitz ringt auf ihre Kinder aufpassen. Mit dem Heilsstern verhindert er, dass Babette, Claudine und Justin von einem fremden Einfluss entseelt werden und hilft damit auch Catherine, Ailanorar zu bezwingen und somit die Flöte für sich zu erobern. Diese dient fortan nur noch ihr und ihren direkten Nachkommen.
Laurentine Hellersdorf nimmt eine Reise nach Amerika zum Anlass, sich in weiterführenden Abwehrzaubern ausbilden zu lassen. Hera Matine empfiehlt ihr Nachhilfestunden bei ihrer Nichte Louiselle Beaumont, die ihr auch in Beauxbatons ungern gesehene Zauber beibringt. Als Laurentine auf der Reise durch die Staaten wahrhaftig mit der Führerin der Spinnenschwestern zusammentrifft beschließen Louiselle und Hera, Laurentine in die Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern aufzunehmen. Bei diesem Zeremoniell erweist sich, dass Ladonna Montefiori bereits Gefolgshexen in diese Gemeinschaft eingeschleust hat. Doch diese versagen beim Versuch, die Stuhlmeisterin Hera Matine zu töten und werden durch Schutzzauber des Versammlungsortes körperlich und geistig zu Neugeborenen zurückverjüngt und sollen ein neues Leben beginnen. Der Tsunami vom 26.12.2004, der auch für die Erdmagieturbulenzen verantwortlich ist, nimmt der trimagischen Gewinnerin beide Eltern. Sie braucht eine Zeit, um darüber hinwegzukommen, bis sich ihr im Traum und bei der Beerdigung eine rot-golden leuchtende Erscheinung zeigt, die große Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Schulfreundin Claire Dusoleil hat. Von da an ist sie wieder zuversichtlich, weiterleben zu können.
Laurentine und Louiselle setzen ihre Übungen fort. Dabei erkennt Laurentine, dass sie die ältere Hexe nicht nur als Lehrerin schätzt, sondern sich auch in sie verliebt. Bei einer Übung zur Abwehr eines Unfruchtbarkeitszaubers wendet Laurentine einen anderen Weg an als bisher bekannt. Dadurch drängt sie den ihr geltenden Zauber nicht nur zu Louiselle zurück, sondern bewirkt auch eine der wenigen hellen Verkehrungen eines ursprünglich bösartigen Zaubers. Statt für Monate unfruchtbar zu werden entsteht aus einer Eizelle Laurentines und Louiselles eine gemeinsame Tochter in Louiselles Gebärmutter. Damit kommen die zwei Hexen sprichwörtlich wie die Jungfrau zu einem Kind und müssen überlegen, wie sie mit dieser Verantwortung umgehen.
Das neue Jahr beginnt. In Nordamerika soll die neue Föderation aus Kanada, den USA und Mexikos ihre Arbeit aufnehmen. Was dabei für den Rest der Welt herumkommt wird sich zeigen müssen.
Während all dieser aufwühlenden und unerwarteten Ereignisse bereitet sich Ladonna Montefiori darauf vor, ihr nächstes großes Ziel zu erreichen, mit dem sie ihre Todfeindin Sardonia endgültig überflügeln will. Sie schürt in verschiedenen Ländern Unruhen in der magischen Gemeinschaft und treibt die amtierenden Zaubereiminister dazu, sich zu geheimen Treffen zu verabreden. Über ihre Agentinnen erfährt sie, wann und wo solche Treffen stattfinden und schafft es, neue Feuerrosenkerzen dort einzuschmuggeln. So gelingt ihr doch noch, was sie schon längst erreichen wollte. Außer Frankreich, Griechenland und die afrikanischen Länder übernimmt sie alle Mittelmeeranrainer. Weitere Feuerrosenkerzen machen ihr zudem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der eroberten Zaubereiministerien gefügig. Allerdings entwischen ihr in Deutschland mehrere Dutzend Hexen und Zauberer mit Hilfe von bei Gefahr auslösenden Portschlüsseln und warnen die noch freien Zaubereigemeinschaften. Ladonna lässt verbreiten, dass die Zaubereiministerien wegen der vielen internationalen Feinde ein starkes Bündnis gegründet haben, die Koalition der Verbundenheit. Alle Behauptungen, sie seien unterwandert werden als böswillige Verleumdungen abgetan. Außerdem schafft es Ladonna, zwei weitere wichtige Niederlassungen von Vita Magica zu vernichten und sogar den amtierenden hohen Rat des Lebens auszulöschen, so dass Vita Magica stark geschwächt ist und zunächst den Fall "Dornröschen" ausruft, also das unbefristete Stillhalten. Ebenso kann sie die in Deutschland und Italien aufmuckenden Zwerge und Kobolde niederhalten, indem sie publikumswirksam vorführt, dass sie den großen grauen Eisentroll, den Urfeind aller Zwerge und Kobolde, aus der Erde hervorrufen und ihn wieder dorthin zurückschicken kann. Sie wähnt sich sicher, trotz der entwischten Opfer ihre weiteren Ziele erreichen zu können.
Julius Latierre bekommt mit, wie sich die offenkundig unterworfenen Zaubereiministerien positionieren. Die Veelas holen ihn zu einer nächtlichen Beratung in die Höhle der gesammelten Worte. Dort bekommt er nicht nur mit, dass Létos Schwester ihn weiterhin begehrt, sondern auch die spanische Veelastämmige Espinela Bocafuego ihn für sich haben will. Er kann sie jedoch mit dem erlernten Lied des inneren Friedens von sich fernhalten. Die Veelas teilen ihm und der magischen Menschheit unmissverständlich mit, dass sie nicht hinnehmen werden, dass Ladonna von Menschen getötet wird.
Derweil bahnt sich in den Nordamerikanischen Staaten etwas unausweichliches an. Der Mexikanische Zauberer Augusto Paredes, der auch als "El Aguila Roja", der rote Adler berühmt und berüchtigt ist, hat sich durch seine aztekischen Zauberkenntnisse zu einem schier unbezwingbaren Machthaber im internationalen Rauschgifthandel hochgekämpft. Er will aber auch in der US-amerikanischen Unterwelt Fuß fassen. Hierzu hat er sich den Mafioso Don Michele Millelli durch einen aztekischen Bluteid gefügig gemacht. Eigentlich will er sich in der Nähe der Grenze zwischen den USA und Mexiko einen wichtigen Standplatz sichern. Doch eine andere will das auch, die nicht minder mächtige und gefährliche peruanische Hexe mit Inka-Abstammung Margarita de Piedra Roja, genannt die Löwin von Lima. Um sie einzuschüchtern oder gleich zu erledigen schickt Paredes ihr mit einem altaztekischen Dunkelzauber belebte Leichname, die Feuerherzkrieger, deren Herzen er in seinem Keller am schlagen hält und die sich in zerstörerische Feuerbomben verwandeln können. Doch Margarita hat ihr Haus mit wehrhaften Zaubern aus der Mondmagie des Inkavolkes abgesichert und wehrt die Feuerherz-Zombies ab. Eine direkte Konfrontation erscheint unausweichlich. Doch vorher will Paredes sich ein Standbein in der New Yorker Mafia sichern, deren Führer sich in einem inoffiziell errichteten Atombunker treffen. Weil Margarita de Piedra Roja davon ausgeht, dass die Sekte der Vampirgötzin diese Gelegenheit nutzen will, um dort neue Helfershelfer zu rekrutieren schmuggelt einer ihrer Verwandten einen Zaubertrank dort ein, der jeden davon trinkenden gegen alle nach seinem Blut gierenden Wesen ein volles Jahr fernhält. Paredes richtet klammheimlich einen Sternenzauber ein, der das Erscheinen der Vampire mit Hilfe jener nachtschwarzen Abart eines Portschlüssels vereitelt. Alle Mafiosi trinken Margaritas Schutztrank. Dabei kommt es bei Michele Millelli, dem Müllkönig, zu einer unerwarteten Reaktion. Die in seinem Blut zusammentreffenden Zauber treiben seine Körpertemperatur über das erträgliche Maß hinaus. Millelli stirbt. Dadurch wird die in ihm wirkende Kraft des aztekischen Bluteides so heftig freigesetzt, dass sie auf ihren Urheber, den roten Adler zurückschlägt und auch ihn tötet. In einer höllischen Kettenreaktion werden dessen Diener vernichtet und alle nicht gerade in fliegenden Flugzeugen sitzenden Bluteidgebundenen von der magischen Bindung befreit. Ohne es direkt darauf angelegt zu haben ist Margarita de Piedra Roja den gefährlichen Widersacher los.
Der als Times-Reporter getarnte Laveau-Instituts-Mitarbeiter Jeff Bristol sorgt sich wegen jener Geschwister, die auf eine heimliche Eroberung der Welt hinarbeiten. Er bekommt auch mit, was Milelli und Paredes widerfährt. Über all dem schwebt die Warnung, dass Ladonna Montefiori auch die Zaubereiminister der beiden amerikanischen Teilkontinente unterwerfen will. Wie berechtigt diese Warnung ist soll sich schon sehr bald erweisen. Denn bei der alle drei Jahre stattfindenden Konferenz spanischsprachiger Zaubereiminister zündet der von Ladonna unterworfene Pataleón eine Feuerrosenkerze. Doch die Mexikaner, die der Konferenz beiwohnen setzen ein Gegenmittel ein, den magicomechanischen Gefahrenfänger. Dieser schafft die brennende Kerze mittels Portschlüssel fort. Die mexikanischen Delegierten erweisen sich als Agenten der Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Wesen und wollen Pataleón und seine Leute kampfunfähig machen. Dabei kommt es zu einer Zauberschlacht, an deren Ende die Mexikaner trotz Täuschzaubern den Tod finden. Die eigentlich für Mexiko und den Föderationsrat gedachte zweite Feuerrosenkerze vollendet, was die erste Kerze nicht geschafft hat. Diesmal kommt kein Gefahrenfänger zum einsatz.
Nachdem die südamerikanischen Zaubereiminister und ihre wichtigsten Mitarbeiter doch unter Ladonnas Einfluss geraten können sie auch Atalanta Bullhorn in eine Falle locken, wobei ein Gefahrenfänger die Feuerrosenkerze abfängt, aber dann alle anderen von einem Portschlüssel in eine von Ladonna vorbereitete Höhle geschafft werden. Weil Atalanta Bullhorn einen Schutzzauber auf ihren Geist gelegt hat, der solange hält, wie ihr Körper durchblutet wird, lässt Ladonna ihr alle Haare und überstehende Finger- und Zehennägel entfernen, um damit ihre treue Gehilfin Ashton Underwood auszustatten, die dann mit Vielsafttrank Atalantas Rolle übernimmt. Die wirkliche Ratssprecherin verschwindet in Ladonnas besonderem Rosengarten. Die nun falsche Atalanta lockt den gesamten Föderationsrat mit der Warnung vor einem Fliegerbombenangriff auf Viento del Sol aus der sicheren Zuflucht heraus und präsentiert eine weitere Feuerrosenkerze. Danach jagen die Föderationsadministratoren allen hinterher, die ihrer neuen Herrin gefährlich werden können. Darunter sind auch die Mitarbeiter des Laveau-Institutes. Um der Verhaftung und möglichen Versklavung zu entgehen inszenieren jene, die als Beobachter und Eingreiftruppler in der nichtmagischen Welt arbeiten ihren eigenen Tod und hinterlassen mit Hilfe ihrer Kollegen täuschend echte Leichname. Zu ihnen gehört auch Jeff Bristol, der mit seiner kleinen Familie in das vom Laveau-Institut errichtete versteckte Inseldorf Shady Shelter flüchtet.
Somit ist auch Amerika nicht mehr frei. Da demnächst die alle halbe Jahre anstehende Konferenz der internationalen Zaubererweltkonföderation ansteht fürchten die noch freien Zaubereiministerien, dass Ladonna auch dort eine Feuerrosenkerze entzünden lassen wird. Doch sie wollen Ladonnas Vormarsch stoppen. Die Konferenz soll zum Wendepunkt in ihrem Kampf gegen die Rosenkönigin werden.
Es war schon lange her, dass sie sich mit einer der flugunfähigen getroffen hatte. Seitdem Morpuora vor dem schlangenköpfigen Todmacher mit den roten Augen hatte flüchten müssen und in den Wäldern Nordamerikas Zuflucht gefunden hatte lebten sie und ihre Töchter und Enkeltöchter hier größtenteils unbehelligt. Um nicht aufzufallen hatten sie ihre Ernährung von jungem Menschenfleisch auf junges Wild umgestellt, Rehkitze, Frischlinge, Wolfswelpen, alles was noch nicht geschlechtsreif war. Nur wenn es die grünen Waldfrauen danach verlangte, einer weiteren Tochter das Leben zu schenken mussten sie sich dafür geeignete, meist noch unberührte Jungen suchen, die mit eigenen Zauberkräften begütert waren. Deshalb war sie froh, dass sie in ihrem Alter nicht mehr diesen Drang hatte.
Am Abend des 4. Mais 2006 fand zum ersten mal nach vielen Jahren wieder eine Begegnung zwischen Morpuora und einer der flugunfähigen großen Frauen statt. Die schon über 200 Jahre alte grüne Waldfrau fühlte die Nähe der Fremden, bevor sie den eigentümlichen Geruch in ihre hochempfindliche Nase einsog. Dann hörte sie das leise Rauschen in der Luft. Aber wieso? Die rosahäutigen konnten doch nicht ohne diese Holzstäbe zwischen den Beinen fliegen. Dann sah sie, dass die, die da auf sie zukam es doch konnte. Auch sah Morpuora, dass die andere keine rosahäutige Frau war und auch keine von den dunkelhäutigen Leuten war, die es in diesem Land auch gab. Ihre Haut war fast so gefärbt wie eine reife Kornähre, nur eine spur heller. Ihre Augen schimmerten wie die Oberflächen von Waldlichtungsseen. Ihre Haare waren braungelb. Sie trug Kleidung, die schon eher eine zweite Haut war, so Eng lag sie am Körper an. Morpuora roch, dass dieses Wesen da kein gewöhnlicher Mensch war. Eine starke Kraft, sowie der Hauch einer andersartigen Daseinsform entströmten ihr, nicht von Menschen wahrnehmbar, aber für Wesen wie sie unverkennbar.
Die andere landete vor Morpuora und grüßte sie. Dann stellte sie sich als Anthelias Erbin Naaneavargia vor. "Was willst du in meinem Wald, Naaneavargia?" fragte Morpuora. Die andere erwiderte mit einer schönen, warmen Stimme:
"Ich bin gekommen, dich und deine Töchter und Enkeltöchter um Hilfe zu bitten. Weit weg von hier, im Lande deiner und meiner Vorfahren, will eine Frau alle von uns und von euch zu ihren willenlosen Gehilfen machen und sieht sich wegen eines kleinen Teiles Waldfrauenblut und eines kleinen Teils Veelablut als über alle diese Wesen rechtmäßig herrschende Königin. Wenn wir ihr nicht zeigen, dass sie das nicht ist, wird sie jeden töten, der ihr lästig fällt."
"Und wie soll ich oder eine meiner Töchter dir helfen? Ich werde keine umbringen, die zum Teil von der großen grünen Mutter abstammt", sagte Morpuora entschlossen. "Das wird wohl auch nicht nötig sein, Morpuora", sagte Naaneavargia. "Es wird reichen, ihr zu zeigen, dass sie nicht die Herrin von euch und uns allen ist. Doch sie kann etwas, weshalb sie das glaubt." Morpuora wollte natürlich nun wissen, was es war.
Naaneavargia erzählte ihr nun alles von einer magischen Kerze, die durch den ihr entströmenden Rauch und einen auf Feuerzauber gründenden Unterwerfungsspruch viele hundert Leute zugleich zu willenlosen Gefolgsleuten machte. Womöglich, so erwähnte die fremde Zauberkundige, benutzte sie dafür eigenes Blut, vielleicht jenes, dass ihrem Schoß am Ende des Fruchtbarkeitsmondes entströmte. Morpuora knurrte. "Ja, ich kenne einen solchen Zwang, bei dem das Blut wie ein ständiger Befehlshaber wirkt. Es hat zu meiner Kleinlingszeit Waldfrauen gegeben, die damit andere Waldfrauen zu willigen Dienerinnen gemacht haben. daher kam es zu mehreren Stammeskämpfen, bis meine Mutter und alle Herrinnen der großen Wälder der Inseln und des großen Festlandes in einer mehrtägigen Beratung beschlossen haben, den Blutbefehl zu verbieten. Jede, die ihn anwendet sollte kahlgeschoren und mit gebrochenen Armen und Beinen an einen Baum gebunden werden und verhungern, wenn ihr dieser Zauber bewiesen wurde. Seitdem haben weder ich noch sonst eine, die ich kenne diesen Zauber benutzt."
"Ja, die die ich meine lebte ein Leben vor deiner Zeit, bis sie von Sardonia, Anthelias Wegführerin, in einen viele hundert Jahre währenden Schlaf versenkt wurde. Deshalb hat sie wohl nicht mitbekommen, dass dieser Blutzwang verboten wurde. Außerdem besitzt sie wie erwähnt auch Erbanteile der Veelas. Die kennst du vielleicht nicht."
"Ich hörte von weitgereisten Waldfrauen und einigen der Kurzlebigen, was die Veelas sind, im Sonnenaufgangsland geborene, für Menschen überragend schöne Geschöpfe, die mit ihrer Stimme, ihrem Aussehen, der ihnen entströmenden Macht der Betörung und der in ihren langen Haaren steckenden Zauberkraft vor allem andersgeschlechtliche Menschen ihrem Willen unterwerfen können, sie aber zumindest soweit verwirren, dass sie nicht mehr wissen, was sie tun. Ja, und mit so einer ist diese Ladonna auch verwandt? Ja, stimmt, Ladonna, die Enkelin einer Waldfrau, die vor mehr als vierhundert Sommern in jenem Land wohnte, dass die großen Flugunfähigen Italien nennen." Naaneavargia ließ nun noch die Katze aus dem Sack, dass Ladonna von zwei Müttern abstammte, einer, in der das Waldfrauenerbe weiterbestand und einer, in der das Veelaerbe weiterbestand.
"Wie soll denn das gehen?" wolte Morpuora wissen. Naaneavargia konnte ihr diese Frage nicht beantworten. Sie konnte ihr nur sagen, dass es die Wahrheit war. "Dann ist sie ein verbotenes Kind. Denn selbst wir Waldfrauen müssen um Kinder zu bekommen mit einem Männlichen von euch Hochzeit haltenund sie mit uns vereinigen, damit ihre Saat in uns heranreifen kann. Das ist das Gesetz der Mutter alles Lebendigen, dass alles was kein Pilz und kein Moos ist mit einen Andersbeschaffenen zusammenfindet, um die Kraft, die Gesundheit und die Vielfalt zu wahren. Nur an Stengeln und Blättern saugenden Blattläusen und deren von Blut lebenden Verwandten wurde es gestattet, aus dem eigenen Körper Nachwuchs auszuscheiden, weil sie als Futter für andere Tiere dienen sollen."
"Willst du sie dann immer noch leben lassen?" fragte Naaneavargia. "Ja, aber nicht in Freiheit, sondern in ewiger Gefangenschaft, dass sie den letzten Atemzug herbeisehnt, ohne dass ihr jemand den vorschnellen Tod gibt", schnaubte Morpuora. Naaneavargia unterdrückte ein Lächeln. Denn sie erfasste, dass Morpuora sich eine Menge Ärger und Anstrengungen erspart hätte, wenn sie wie eine Blattlaus aus reinem Wunsch und bei guter Ernährung eine Tochter bekommen konnte.
"Um sie einzusperren und für ihr ganzes noch langes Restleben festzuhalten müsste ihr aber jede Macht über andere Menschen genommen werden, weil die sie sonst beschützen oder aus dem Gefängnis befreien", sagte Naaneavargia. Morpuora starrte sie mit ihren gelben Augen finster an. Dann sagte sie: "Gut, dann werde ich mit meinen Töchtern helfen, dass die, welche sie sich schon mit dem verbotenen Zauber des Blutbefehls unterworfen hat wieder freikommen können. Aber die Leute müssten wir dann alle mit uns zusammenbringen und zwischen uns und einem von uns erwählten Kraftbaum drücken, damit sie die fremde Kraft an diesen abgeben müssen."
"Vielleicht ist dies nicht nötig. Ich kenne starke Zauber der Erde, die helfen könnten, Zauber, die von Blut auf anderes Blut einwirken aufheben oder die Gegenzauber so verstärken, dass sie auf kleine Steine gelegt werden und durch Berührung wirken können", sagte Naaneavargia. Morpuora musste grinsen. "Ihr Zauberstabnutzer glaubt, alles mit Zauberstäben erledigen zu können wie?"
"Nicht alles, aber doch eine ganze Menge. Ob das mit dem geht, was du erwähnt hast weiß ich noch nicht. Aber ich bin zuversichtlich", sagte Naaneavargia und zeigte ihren silbergrauen Zauberstab. Morpuora erkannte ihn sofort wieder. "Den habe ich von Anthelia geerbt", sagte Naaneavargia. Morpuora nickte. Sie wusste, wie mächtig dieser Zauberstab war. Ja, sie spürte, dass er mit seiner Trägerin eine noch stärkere Verbindung hielt als mit seiner früheren Trägerin. So versprach sie, mit ihren Töchtern und geschlechtsreifen Enkeltöchtern zu helfen, dass Ladonnas verbotener Zauber aufgehoben werden konnte.
Naaneavargia bedankte sich und flog wieder fort, ohne zu verraten, wieso sie das konnte. Morpuora blieb mit ihren Gedanken zurück. Also war sie wieder da, jene, die schon damals als dunkle Legende gegolten hatte, weil sie eben mächtiger war als eine grüne Waldfrau.
Ladonna wusste, wie schwer es mit zunehmender Entfernung zwischen sich und dem anderen Endpunkt einer von ihr errichteten Gedankenbrücke war und wie viel Ausdauer es kosten würde. Doch gerade jetzt, wo es gelungen war, auch den Rat der nordamerikanischen Richter im Rauch und Wort der Feuerrose zu unterwerfen galt es, die restliche Bevölkerung möglichst ruhig zu halten. Es musste sichergestellt werden, dass es keine Gegenbewegung aus den Verwaltungszentren gab. Sowas gelang nur, wenn alle davon überzeugt werden konnten, dass sie für sich und ihr Land das einzig richtige taten. Im Fall der Föderation nordamerikanischer Hexen und Zauberer war das einfach. Denn in Südamerika formierte sich unter der Führung Perus, Argentiniens, Brasiliens und Chiles eine eigene lateinamerikanische Föderation südamerikanischer Hexen und Zauberer. Diese wollte alle nichtamerikanischen Einwirkungen von außen zurückdrängen und ein eigenes Verständnis von Tradditionen aus eigenen Errungenschaften schaffen. Als Streitobjekt mit Nordamerika galt, dass Mexiko mehrheitlich spanischsprachig war und somit eigentlich zu jener Gemeinschaft dazugehörte. Also galt es, dass die gerade mal vier Monate und fünf Tage bestehende Föderation nicht wieder auseinanderbrach oder sich im Bestfall mit anderen amerikanischen Zaubereiverwaltungen zu einem noch mächtigeren und damit sicheren Gefüge weiterentwickelte. Am Ende, so der Plan der Rosenkönigin, sollte es eine Pattsituation geben, wo beide Bündnisse nur noch die Auswahl hatten, sich gegenseitig zu schwächen und damit Feinden wie der Vampirgöttin, den Werwölfen von der Mondbruderschaft oder eben ihr, der Rosenkönigin den Weg freizuräumen oder den "einzig vernünftigen Ausweg" wählten, nämlich einen gesamtamerikanischen Zauberrat oder ein panamerikanisches Konzil, in dem dann beide Föderationen zu einer Gesamtverwaltung verschmolzen. Als Beruhigungstrank für die vielen Regionalinteressenten im Norden, der Mitte und im Süden wollte sie dann einen panamerikanischen Zaubereisenat ausrufen lassen, dessen Mitglieder die ranghöchsten Zauberer und Hexen der als Einzelregionen anerkannten Gebiete waren, was die kanadischen, US-amerikanischen und mexikanischen Bundesstaaten und die Provinzen der mittel- und südamerikanischen Staaten betraf. Nach außen hin würde das als Gefüge der gemeinsamen Stärke verkauft, das durchaus auch mit der in Europa entstandenen Koalition der vernunftgemäßen Zusammenarbeit zusammengehen konnte. Wichtig war, dass die Mehrheit der magischen Menschen davon überzeugt war, dass ihre Zaubereiminister noch frei und nur aus dem Sinn einer starken Gemeinschaft heraus handelten und nicht von einer einzelnen Hexe geführt wurden. Das sollte diesen Unwissenden erst klar werden, wenn alle für Schutz- und Überwachungsangelegenheiten zuständigen Hexen und Zauberer im Duft und Klang der Feuerrose vereint waren und auch die internationale Zaubererkonföderation und die globale Magierkonferenz auf sie, die Rosenkönigin, eingeschworen waren. Erst dann würde sie ans Licht der Öffentlichkeit treten und allen die drei verbleibenden Möglichkeiten aufzeigen: Fügung unter ihre Vorherrschaft zum Gegenwert eines größtenteils friedlichen und eigenständigen Lebens, solange die betreffenden sie als über allen stehende Herrscherin anerkannten, bei offener oder indirekter Nichtanerkennung entweder auf noch unbewohnte Inseln verbannt zu werden oder für den Gesamtfrieden der magischen Welt das Leben zu geben, wobei hier nach Gefährlichkeit der oder des Widersetzlichen die Art der Hinrichtung von einfach todfluchen bis stundenlang zu Tode Foltern verhängt werden konnte.
Ladonna vergaß nicht, dass Frankreich, Großbritannien und Griechenland sich ihrer "Werbung" bisher und wohl auch weiterhin entzogen und sogar versuchten, Stimmung gegen die von ihr begründete Friedenskoalition zu schüren. Noch hatte sie nicht genügend fachkundige Helferinnen und Helfer oder das richtige Material, um die drei Störungsherde zumindest unwirksam zu machen. Doch daran arbeitete sie.
Ebenso ging sie davon aus, dass überall dort, wo Nachkommen der Veelastämme frei und anerkannt leben durften, die zuständigen Zaubereiministerien auf diese Leute zugreifen würden, um gegen sie vorzugehen. Das hieß auch, dass Leute wie Ventvit, Shacklebolt oder Anaxagoras versuchen würden, Veelastämmige als Schutzpersonal zu internationalen Zusammenkünften mitzubringen. Das nächste größere Ereignis dieser Art sollte das Treffen der internationalen Zaubererkonföderation am 15. Mai in der seit 1923 anerkannten Zentrale in Genf in der Schweiz sein. Ladonna war es zwar zu wider, wie viel sich die moderne Zaubererwelt von den Magieunfähigen abgeschaut hatte, was Orte und Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit betraf, musste jedoch einsehen, dass durch die immer perfideren Neuerungen der nichtmagischen Welt die Überwachung ebendieser wichtiger denn je war. Also mussten auch die Kontrollinstanzen der Zaubererwelt da sein, wo die der Magieunfähigen waren.
"Ist die Presseerklärung auf meine Einladung an Mexiko schon fertig?" fragte Perus Zaubereiminister Costacalma Ladonnas nordamerikanische Statthalterin. Ladonna fühlte, wie sich ihr Gesicht zu einem überlegenen Grinsen formte. "Die Königin gibt uns beiden die Erlaubnis, die Aktion "Funkenschlag" zu beginnen. Schicken Sie Ihre öffentliche Einladung an die Mexikaner hinaus, damit ich umgehend darauf antworten kann, Señor Costacalma", sagte Ladonnas Statthalterin. Costacalma nickte. "Dann wünsche ich Ihnen einen unbeschwerlichen Heimweg. Lang lebe die Königin!" Die nordamerikanische Statthalterin erwiderte diese Bekundung. Dann verließ sie das Unterhandlungshaus auf der Isla de las Buenas Tardes wieder, die seit dem dritten Mai quasi zur heimlichen Verwaltungszentrale von ganz Amerika geworden war. Nur wusste der Föderationsrat im Norden davon noch nichts. Die gingen davon aus, im Sinne der Königin weiterzumachen wie seit dem ersten Januar.
Nachdem alle Kinder ins Bett gebracht waren trafen sich Millie, Béatrice und Julius noch einmal im Musikzimmer. Millie verkündete, dass sie sich dazu entschlossen habe, mit Belle und den anderen Mitgliedern der französischen Gesandtschaft der internationalen Zaubererkonföderation nach Genf zu reisen. Darauf erwähnte Millie noch, was sie alles mitnehmen wollte, das nicht so auffallen würde wie Kailishaias Kleid des schlafenden Feuers.
"Berühre ich eines der Geheimnisse des Kleides wenn ich frage, warum du es nicht unter anderer Kleidung verstecken kannst, Millie?" fragte Julius. Millie überlegte kurz und schüttelte den Kopf. "Nein, das ist nicht eines der fundamentalen Geheimnisse des Kleides, weil es ja jeder und jedem offenkundig wird, was passiert, wenn ich über dem Kleid ein es vollständig verbergendes Kleidungsstück trage. Es lässt nur Unterkleidung zu. Alles was mehr als zehn Atemzüge lang darübergetragen wird zerfällt innerhalb weiterer zehn Atemzüge in einer Art unsichtbarem Feuer zu Asche und verfliegt. Ich habe das mit einem alten Arbeitsumhang aus der Zeit in Beaux ausprobiert. War schon unheimlich, wie der sonst so stabile blaue Umhang sich erst total schwarz verfärbt hat wie eure Schulumhänge in Hogwarts und dann zu einer Wolke aus Kohlenstaub und Rauch auseinandergeflossen ist. Selbst die Metallschließen sind zu Staub zerfallen. Ich darf nur etwas unter dem Kleid tragen, Unterwäsche, Schmuck oder meinen Prakticusbeutel. Gut, Handtaschen und Rucksäcke kann ich noch tragen, solange mehr als zwei Drittel des Kleides offen sichtbar sind. Das Kleid wechselwirkt ja mit den Feuern von Sonne und Erdkern, wobei das Mondlicht ja eine abgespeckte und farblich veränderte Art Sonnenfeuer ist. Deshalb will das Kleid auch offen gesehen werden."
"Moment, heißt das, dass du dich nicht unsichtbar machen darfst oder kannst?" fragte Julius seine Frau. Diese grinste ihn an und nahm ihren Zauberstab. Dann führte sie diesen in schnellen Spiralbewegungen vom Kopf zu den Füßen an ihrem Körper entlang. Zuerst meinte Julius, dass sie von innen her rot glühte. Dann flimmerte ihre Gestalt. Dann sah er sie nicht mehr. Oder besser, er wusste nicht mehr, wo sie war. Doch als sie ihn ansprach meinte er, da wo sie stand eine rote Geistererscheinung von ihr zu sehen, die jedoch nur solange zu sehen war, wie sie sprach. Ja, und als sie ihn anfasste konnte er sie sehen und fühlte den goldenen Herzanhänger stark pulsieren.
"Du hast dich damals doch sicher gefragt, warum dein von dieser Feuerhure Hallitti versklavter Vater immer wieder irgendwo reingehen konnte, ohne gleich erkannt zu werden. Dieses Abgrundsweib hat den garantiert mit einer abgeschwächten Ausgabe des verhüllenden Lebensfeuers belegt. Das ist ein Zauber, der jedes Lebewesen für alle anderen Lebewesen uninteressiert bis unsichtbar erscheinen lässt, also eine negative Illusion, keine thaumaturgische Unsichtbarkeit, die mit dem Umgebungslicht wechselwirkt. Solange ich deine Aufmerksamkeit nicht durch etwas anderes als meine äußere Erscheinung zu gewinnen wünsche nimmst du mich nicht mehr wahr. Ja, und womöglich bin ich dann auch für magische Ortungsverfahren unauffindbar und somit auch nicht mit der Rückschaubrille zu sehen wie die Veelas oder die Angehörigen dieser Vampirsekte."
"Ja, aber wenn du von einer Foto- oder Videokamera aufgenommen wirst?" fragte Julius. Millie überlegte. "Hmm, die könnte mich womöglich als eine Art Nebelstreifen oder Geistererscheinung aufnehmen, solange ich mich mit diesem Zauber umschließe."
"Spiegelbild und Schattenwurf?" fragte Julius. Millie, die er immer noch an der Hand hielt, um sie richtig sehen zu können verzog das Gesicht. "Stimmt, wenn ich voll in der Sonne stehe könnte mein Schatten zu sehen sein, genauso wenn ich vor einer starken Lichtquelle wie einer Straßenlaterne oder einer Lampe stehe könnte ich auch einen gewissen Schattenwurf haben. Aber im Spiegel kann mich keiner sehen, weil der Zauber ja meine äußere Erscheinung verhüllt, also auch mein Spiegelbild", erwiderte Millie. "Aber das erzähle ich nur euch beiden, weil ihr das Recht habt, zu wissen, wie ich mich selbst absichern kann."
"Öhm, interessanter Effekt, Millie und Julius", schaltete sich nun Béatrice ein. "Wenn du was sagst sehe ich dich wie ein von innen rot glühendes Gespenst, halb durchsichtig. Wenn du nichts sagst sehe ich nur Julius und ja, für eine Heilerin gewöhnungsbedürftig, dass er keine rechte Hand hat. Sein Arm endet in einem leicht flimmernden Stumpf."
"Ups!" machte Julius und wollte Millies Hand loslassen. Doch seine Frau wollte ihn nicht loslassen. Im Gegenteil. Sie zog ihn mit der anderen Hand zu sich und umarmte ihn. "Und was siehst du jetzt?" fragte sie ihre Tante, Mitbewohnerin und Retterin ihres Ehefriedens.
"Oha, wenn keiner von euch was sagt sehe ich nur einen schwachen, rötlichen Nebelstreifen", antwortete Béatrice. Millie schmatzte ihrem Mann einen Kuss auf den Mund und gab ihn dann aus der Umarmung frei, griff aber sofort wieder nach seiner Hand, um zumindest für ihn sichtbar zu sein. "Julius sehe ich jetzt wieder deutlich aber ohne rechte Hand und dich dafür nicht mehr", bestätigte Béatrice.
"Und der Vivideo-Zauber?" fragte Julius. Da ließ Millie ihn los. Er meinte wieder, sie vor seinen Augen verschwinden zu sehen. "Probier es aus!" forderte sie ihn auf, wobei sie wie ein rötlich pulsierendes Gespenst vor ihm erschien. Er nahm seinen Zauberstab und führte den Lebensaurenanzeigezauber aus. Normalerweise konnte er damit jedes in Zauberstabausrichtung befindliche Lebewesen dazu bringen, eine grün leuchtende Aura zu bilden, die auch aus hundert Metern Entfernung erkennbar wurde, bei Pflanzen dunkel und starr, bei tierischen oder menschenförmigen Wesen hell leuchtend, viermal so groß wie das betreffende Wesenund im Takt des eigenen Herzens pulsierend. Doch nun sah er gerade mal, dass seine Zauberstabspitze grün flimmerte. Millies Lebensaura konnte er nicht erkennen. Er zielte auf Béatrice. Um deren Körper strahlte wie eingeschaltetes Neonlicht eine hellgrüne, ihre Körperkonturen nachzeichnende, jedoch im Verhältnis riesenhafte Aura. Er widerrief den Lebensaurenanzeigezauber.
"Für mich fühlte sich das gerade so an, als hätte mir wer eine leichte Wolldecke über den Körper gelegt", sagte Millie, wobei sie wieder durchscheinend und rötlich erschien. Dann tauchte sie aus einem kurzen orangeroten Funkenschauer wieder vollständig sichtbar auf. "Ja, und dieser Zauber zieht innerhalb geschlossener Räume ein wenig Ausdauer ab, als trüge ich eine schwere Rüstung am Körper", meinte sie noch. "Aber den Zauber kann ich wohl bringen, solange ich das Kleid trage."
"Dich kann keiner rückbetrachten. Aber wie weit reicht diese Verhüllungsaura, wenn du in ihrem Schutz etwas ausführst, was bei Rückbetrachtung auf dich zurückgeschlossen werden kann?" fragte Béatrice. Millie verzog das Gesicht. "Oha, stimmt, die macht nur, dass mich und alles was ich in weniger als einem Meter Umkreis am Körper trage unrückschaubar wird. Aber was Florymonts Brille angeht - Psst, macht ihn nicht Traurig! - Ich kann einen toten Gegenstand von starkem Bezug zu einer Feuerquelle so bezaubern, dass sie alle magischen Spuren von mir im spurlosen Licht verschwinden lässt. Dazu brauche ich aber dann eine starke Feuerquelle, bestenfalls freies Sonnenlicht und mindestens eine Stunde Zeit."
"Wie lange hält der Zauber dann?" wollte Béatrice wissen. "Je danach, aus welchem Stoff der Unrückschaubarkeitsgegenstand besteht einen Tag bis einen Monat lang." Julius deutete auf seinen und ihren Ehering. Millie verstand. "Stimmt, da ist genug Gold für mindestens eine Woche Wirkungsdauer drin. Danke für diesen wichtigen Hinweis!" Julius und Béatrice sagten im Duett: "Da nicht für, Millie." Dann mussten sie alle drei lachen.
"Catherine hat sicher was ähnliches gelernt, sein wie Luft oder sowas", vermutete Julius. Denn er erinnerte sich aus Madrashainorians Ausbildung daran, dass es für jede Elementarausrichtung einen Tarnzauber gab. Für die Erdvertrauten war es das Lied der verschmelzenden Ansicht, der den Anwender rein optisch mit der Umgebung verschmolz, wobei hier natürliche Ausprägungen der Erde, also Felsen, Berge oder Sanddünen die Kraft verstärkten, dass der Anwender vor diesen Naturerzeugnissen völlig unsichtbar erschien. Deshalb wirkte dieser Zauber wohl auch nur, wenn dessen Anwender auf festem Boden stand. Also kannten die Feuermagier einen Zauber, die eigene Lebensaura als Tarnschild einzusetzen. Die Luftmagier, zu denen Catherine hinzugestoßen war konnten sicher was machen, dass sie für andere wie die Umgebungsluft waren. Dann gab es ja für die Lichtfolger den Zauber Schleier des Guten, der sie für Feinde unerkennbar machte, solange sie sich nicht von der Stelle bewegten. Sicher konnten die Dunkelmagier aus dem alten Reich auch sowas zaubern, um für ihre Mitgeschöpfe unsichtbar oder eben uninteressant zu sein, zu sehen aber unbeachtet, wie beim Desinteressierungszauber und dem Ich-seh-nicht-recht-Zauber.
"Da bin ich beruhigt, dass du dich zumindest schnell und gründlich verbergen kannst", meinte Julius zu Millie. "Aber was nimmst du alles mit, was nicht auffallen darf?" Millie erklärte es ihm und auch Béatrice, der nicht so wohl war, dass Millie genau dort hinreisen sollte, wo Ladonnas nächster Schlag ausgeführt werden mochte. Als Julius erfuhr, dass seine Frau auch das goldene Armband mitnehmen wollte, das sie sozusagen mit dem Kleid Kailishaias erhalten hatte fragte er sie, ob sie damit rechne, es einzusetzen.
"Sagen wir es mal so, Julius", setzte Millie an. "Wenn ich das Kleid nicht mitnehmen kann werde ich froh sein, wenn ich mit mehr als hundert Leuten gegen mich wen oder was rufen kann, das mich da rausholt."
"Ja, du weißt aber noch, dass Faiyandria nur halb so schnell wie der Schall fliegen kann, also gerade mal sechshundert Stundenkilometer. Oder kann die auch apparieren oder den Phönix-Feuersprung?"
"Es wäre ja echt unsinnig, so eine mächtige Waffe wie Faiyandria mehrere tausend Kilometer entfernt zu verstecken und dann, wenn sie gebraucht wird, erst mal stundenlang warten zu müssen, bis sie da ist", erwiderte Millie. Ashtardarmiria kann doch auch mal eben den Standort wechseln." Julius nickte heftig. Natürlich konnte Faiyandria genauso eine künstliche Reisesphäre aus magischem Feuer erzeugen wie die von ihm aus Garumitan in die Moderne Welt herübergeholte Ashtardarmiria. Er dachte auch daran, dass Ashtardarmiria die Botin der Altmeister der Elemente und der Lichtfolger geworden war und diese somit durchaus in die Geschicke der modernen Welt eingreifen konnten. Die könnten sie locker zu Ladonna hinschicken und sie mal eben wegtragen lassen. Doch offenbar durften sie das nicht, weil ihre alten Gesetze das verboten. Nur wer unmittelbar von ihnen wusste oder mit ihrer alten Magie zu tun hatte konnte oder musste damit rechnen, dass Ashtardarmiria bei ihm oder ihr auftauchte.
"Also außer dem Kleid nimmst du alles mit, was du an Schutzmitteln bekommen hast", fasste Julius noch einmal zusammen. Dann dachte er daran, dass er von Nathalie einen sehr nützlichen Schutzgegenstand aus dem Laveau-Institut erhalten hatte, unter der Hand sozusagen. Millie hatte sowas bisher noch nicht. Nur konnte er seinen Gasvorgreifer nicht an Millie weitergeben, weil dieser per Körperspeicher auf ihn allein abgestimmt war.
"Die könnten auf die Idee kommen, erst mal alle Gäste mit einem Schlafnebel zu betäuben, um ihnen alle ihnen gefährlich erscheinenden Sachen wegzunehmen", musste Julius jetzt doch unken. Da grinste Millie und öffnete ihren grünen Umhang. Da konnten Béatrice und Julius den kleinen Knopf sehen, der ihren rubinroten Büstenhalter zierte. "Madame Belle Grandchapeau hat mir auch so einen Gasvorgreifer aus den Staaten übergeben, nachdem ich mich bereiterklärt habe, sie und die anderen IZKF-Gesandten zu begleiten. Überhaupt soll der ganze Stille Dienst damit ausgestattet werden, haben sie und Catherine bei Sheena O'Hoolihan vom LI durchgedrückt. Die wissen, wie wichtig wir für die sein können, Julius", erläuterte Millie, warum sie nun auch einen Gasvorgreifer hatte, der innerhalb eines winzigen Sekundenbruchteils eine schützende Kopfblase erzeugen konnte, sobald er die ersten Anzeichen eines schädlichen Gases erfasste.
"Ich bin auf jeden Fall beruhigt, dass du auch sowas bekommen hast, Millie", sagte Julius hörbar erleichtert.
Nun wurde besprochen, wie genau die Reise ablaufen würde und wie mit einem weiteren Feuerrosenkerzen-Anschlag Ladonnas umgegangen werden konnte, davon abgesehen, dass Belle ja von Euphrosyne einen Veelazauber auferlegt bekommen hatte. Danach gingen sie drei ebenfalls schlafen.
"Okay, Joyce, du kannst das Ding jetzt abfeuern!" rief Quinn Hammersmith über eine silberne Schallverpflanzungsdose. "Auf deine Verantwortung, Quinn", kam die Antwort der Angerufenen Joyce Silverspoon. "Ich kann immer noch disapparieren, wenn ich das Ding sehe, Joyce. Also los", sagte Quinn und prüfte ein Gliederarmband aus vergoldetem Silber, in das in gut abgemessenen Abständen kleine bunte Steine eingearbeitet waren. "Achtung, Geschoss auf dem Weg!" rief Joyce. Quinn lauschte. Wenn sie die von der Armee abgezweigte Waffe richtig studiert hatten flog sie bis zu acht Kilometer weit. Spätestens fünf Kilometer vor dem Ziel sollte sein Armband was melden. Dann fühlte er ein starkes Vibrieren, das von einem bestimmten Stein ausging und sich schlagartig über das ganze Armband ausbreitete. Er blickte sich um. Um den Versuch aussagekräftig zu machen hatte er Joyce angewiesen, nicht zu sagen, aus welcher Richtung sie auf ihn schießen würde. Erst drei Sekunden später sah er einen winzigen Punkt am Himmel, der auf ihn zujagte. Er wartete noch drei weitere Sekunden. Denn es sollte nicht nur die Vorwarnzeit gemessen werden, sondern auch die verbleibende Zeit für eine Flucht mittels Portschlüssel oder Disapparieren. Erst als er das zylindrische Geschoss mit seitlich angesetzten Steuerflossen sah, das von einem Flammenstrahl getrieben wurde sah er es ein, dass er besser verschwand. Er zählte noch zwei Sekunden. Hören konte er es nicht, weil das Ding schneller als der Schall flog. Dann disapparierte er.
Das feuergetriebene Geschoss schlug drei Sekunden nach seiner Flucht dort ein, wo er gerade eben noch gestanden hatte. Es explodierte und hinterließ einen mehr als badewannengroßen Krater. Umliegende Bäume verloren ihre kleinen Zweige und schüttelten sich unter der plötzlichen Druckwelle.
Eine Minute später kehrte Quinn Hammersmith wieder zurück und klaubte die in mehrren Bäumen ausgehängten Bewegungsverfolgungsgeräte zusammen. "Joh, reicht. Der mit dem Feindestötungswunsch gekoppelte Warnzauber vor dem tödlichen Speer klappt mit dieser Metall-Kristall-Abstimmung auch", meldete Quinn.
"Glaubst du echt, die Nomajs schießen mal mit sowas auf uns?" fragte Joyce.
"Nicht auf uns, aber falls doch sollten wir das früh genug mitkriegen. Mit der neuen Frühwarnkombi kann ich das jetzt garantieren."
"Da wird sich Davidson freuen, wenn er von seiner Unterredung zurückkehrt", erwiderte Joyce Silverspoon.
Elysius Davidson wusste, wie gefährlich das war, sich hier mit ihr zu treffen. Doch das Laveau-Institut musste helfen, dass die Veelastämmigen in den USA nicht Ladonnas Willkür zum Opfer fielen.
Sie hatten sich einen Treffpunkt in der Nähe von Misty Mountain gesucht, Chrysope Honeyfield und der Direktor des Laveau-Institutes. Die Sprecherin aller fünfzig Veelastämmigen auf dem Boden der vereinigten Staaten trug ein himmelblaues Kleid und besaß bis zum unteren Rücken reichendes goldblondes Haar, das seidigweich bei jeder Bewegung mitfloss. Der Direktor des Laveau-Institutes musste sich sehr anstrengen, seine Selbstbeherrschung zu behalten, als die Veelastämmige, die seines Wissens nach schon über 150 Jahre alt war, genau vor ihm tief einatmete und ihn dann begrüßte.
"Da wir nicht wissen, ob nicht doch wer von Ihren Leuten aus Versehen was verraten hat nur so viel, Mrs. Honeyfield: Das Laveau-Institut bietet Ihnen und Ihren Volksangehörigen an, Sie mit Vorwarnvorrichtungen für feindliche Angriffe und Rettungsportschlüsseln auszustatten, damit Sie vor jedem Angriff flüchten können. Zudem können wir jedes Ihrer Häuser mit lange genug wirksamen Abwehrzaubern ausstatten, die nur von dreimal so vielen Hexen und Zauberern aufgehoben werden können wie für die Errichtung nötig waren."
"Sie glauben also ernsthaft, dass auch hier in den Staaten eine Jagd auf uns beginnen kann? Ich hörte sowas, dass in Russland und Rumänien Veelas und Veelastämmige gejagt werden. Denen scheint es egal zu sein, dass bei uns das Gebot der Blutrache gegen die gesamte Familie des einen von uns tötenden Zauberers gilt."
"Es sei denn, die Mörderin ist eben eine Hexe", erwiderte Davidson schnippisch. Chrysope Honeyfield verzog das Gesicht. Dann sagte sie: "Wie wollen und können Sie uns helfen?"
Zehn Minuten später war der Vertrag perfekt. Das LI würde allen fünfzig Veelastämmigen tragbare Feindeswarner überlassen, die auf böswillige Wesen, dunkle Zauber und, falls die Abteilung Hammersmith zuverlässig gearbeitet hatte, auch auf ferngelenkte Waffen der nichtmagischen Welt ansprachen.
Als Davidson in sein Büro zurückkehrte erfuhr er, dass der Test mit nichtmagischen Waffen mehrfach wiederholt worden war und jetzt als gelungen eingestuft wurde. Das freute Davidson.
Am selben Tag, an dem Davidson sich mit der Vertreterin der US-amerikanischen Veelastämmigen traf landete eine Hexe mit blassgoldener Hautfarbe im für dieses Land sehr unzüchtig wirkendem hautengen Kostüm auf einem Besen vom Typ Bronco Parsec am Fuße jener Treppen, über die es zum Versammlungsplateau der Töchter des grünen Mondes hinaufging. Links und rechts am Rand der Treppen standen die zu Stein erstarrten Hexen und vor allem Zauberer, die es gewagt hatten, unerlaubt bis nach ganz oben gehen zu wollen. Anthelia/Naaneavargia wartete, bis ihr über das am Hals getragene smaragdene Halbmondsymbol eine Frauenstimme befahl, die Stufen hinaufzusteigen.
Anthelia erkletterte die vielen hundert Stufen, bis sie unbehelligt auf dem Versammlungsplateau eintraf. Doch stattt der zwölf höchsten Töchter des grünen Mondes traf sie hier nur die in weiten grünen Gewändern steckende, füllige erste grüne Mutter, die ranghöchste Tochter des grünen Mondes. Sie verbeugte sich vor ihr und grüßte sie auf Arabisch, wie es in Ägypten gesprochen wurde. Die grüne Mutter sprach das saudische Arabisch, wie es auch um die heilige Stadt der Muslime herum im Gebrauch war.
"Du hast unsere Bedingung erfüllt und dich mehr als die dir gebotene Frist aus unseren Ländern ferngehalten, höchste Schwester der schwarzen Spinne. Doch nun kommst du zu mir, weil eine Feindin aus langem Schlaf erwacht ist, die uns beiden gefährlich werden mag und die weder deinen noch meinen erhabenen Orden bestehen lassen wird", sagte Alia, die grüne Mutter der morgenländischen Mondtöchter.
"Ja, und weil die auch euch sicher aufgefallene dunkle Woge vor drei Jahren all die noch schlafenden Töchter der Lahilliota aufgeweckt hat, die eigentlich für immer schlafen sollten. Auch diese könnten uns gefährlich werden."
"Nun, dies trifft wohl zu, wenngleich ich über meine Verbindungen zu den Brüdern des blauen Morgensternes erfuhr, dass die sieben Kinder Ashtarias, Lahilliotas stärksten Gegenspielern, ebenfalls an Stärke gewonnen haben. Auch weiß ich, dass Lahilliota sich aus einem Anflug von Größenwahn oder Verzweiflungshandlung mit einer Dämonin eingelassen hat, die auf der Erde als mehr als menschengroße Ameisenkönigin erscheint. Offenbar war die Dämonin mächtiger als Lahilliota und verleibte sie sich ein, wodurch beide eins wurden. Hast du auch davon gehört, Naaneavargia, Bergerin der Seele Anthelias?"
"Ich habe über einige Umwege davon gehört, dass Lahilliota einen neuen Körper erhalten hat und das Dasein einer roten Ameisenkönigin wohl der Preis dafür ist und sie wohl darauf ausgeht, ein Volk aus willigen Ameisenmenschen zu erbrüten, um gegen ihre Feinde vorzugehen. Doch im Augenblick bekümmert mich der Vormarsch der Feuerrosenkönigin, weil diese bereits einen Gutteil der Welt beherrscht und immer noch nicht genug hat", sagte Anthelia/Naaneavargia. Die grüne Mutter bejahte es.
Sie sprachen nun darüber, wie Ladonna ihre Gefolgsleute gewann und dass sie mit jedem Zaubereiministerium, dass sie sich unterwarf, eine schwer zu schlagende Streitmacht hinzugewann. "Sie wird sich nicht damit zufrieden geben, die Zaubererwelt Europas und Amerikas zu beherrschen, sondern auch eure Länder unterwerfen", sagte Anthelia. Alia bejahte das und erwähnte, dass es ihren Töchtern des grünen Mondes schon sehr wahrscheinlich erschien, dass Ladonna die nordafrikanischen Staaten unterworfen hatte und ihr somit das Tor zur arabischen und persischen Welt offenstand. Anthelia bejahte das und erwähnte auch, dass es in wenigen Tagen eine Konferenz der internationalen Zaubererweltkonföderation in Genf geben würde. Sollte sie auch dort eine ihrer Feuerrosenkerzen entzünden hielt sie sogar bedingungslos treue Gefolgsleute in den asiatischen Ländern, die ihre Herrschaft dort vorbereiten mochten. Zwar ging sie davon aus, dass es auch den noch freien Zaubereiministerien bewusst war und dass jene, die mit Veelastämmigen gut bis sehr gut zusammenarbeiteten oder sich wider alle Vorbehalte mit grünen Waldfrauen zusammentaten darauf hinwirkten, dass Ladonna keinen Erfolg hatte. Doch wie genau die anderen Zaubereiministerien dies unternahmen wusste sie nicht und wollte lieber eigene Versuche unternehmen, um die Macht der Feuerrose zu brechen. Alia fragte, wie genau Anthelia dies tun wolle. Sie erwähnte, dass sie einige wenige grüne Waldfrauen gewonnen habe, um dem Feuerrosenzauber einen gleichwertigen Aufhebungszauber entgegenzusetzen. "Dann geh davon aus, dass jener, den du einst erwähntest und der mit den Töchtern Mokushas in Verbindung steht und bei den Kindern Ashtarias aufgenommen wurde mit den Veelas darüber verhandelt, ob sie ihm und den anderen helfen. Wenn dies gelingt und es zwei oder mehr Wege gibt, Ladonnas Machtstreben zu beenden ist dies ein erster Erfolg, und wir bekämen wieder Luft für die Bewältigung der anderen Gefahren", sagte Alia. Anthelia nickte und sagte, dass sie es immer so gelernt habe, dass sie sich nicht zu sehr auf andere verlassen möge. Das sah auch Alia, die Mutter der grünen Mondtöchter so.
"Hörtest du davon, dass die in Hellas wohnenden Zauberinnen, die sich als Töchter einer Göttin namens Hecate sehen, ebenfalls gegen Ladonna kämpfen?" Anthelia bestätigte das und erwähnte, dass sie sich doch mit einer kleinen Abordnung dieser Hexenschwestern treffen wolle. Dann erwähnte sie auch die Kinder Susanoos, die kein reiner Hexenorden waren, aber bei einer Beeinflussung japanischer Ministeriumsmitarbeiter durchaus gegen Ladonna vorgehen würden." Alia bejahte das. Dann beschlossen sie, dass sie weiterhin über die Smaragdmondamulette Verbindung halten sollten. Anthelia mochte ihr mitteilen, ob der von ihr gewählte Weg zum Erfolg führte. Anthelia versprach es.
"Nun, du weißt, dass wir dir auftrugen, eigenen Nachwuchs hervorzubringen. Da jener, den du erwähntest, durch seine Berufung in die Siebenheit Ashtarias wohl deiner gewissen dunklen Beschaffenheit entgegenstehen mag dürfte das sehr viel schwerer geworden sein. Gibt es wen anderen, dem du die Ehre erweisen möchtest, die Früchte deines Leibes zu zeugen?" fragte Alia. Anthelia verneinte das. Aber sie erwähnte auch, dass sie es beinahe hautnah mitverfolgt hatte, dass die Kinder Ashtarias ein offizielles siebtes Mitglied hinzubekommen hatten, nachdem der letzte Überlebende einer der alten Blutlinien ermordet worden war. "Ich wähne, dass mein Leben länger dauert als viele anderen, auch wenn ich ständig in gefahrvolle Lagen gerate. So wage ich es, mir mehr Zeit einzuräumen als andere Hexen sie haben", sagte Anthelia. Alia meinte dazu, dass sie sich da vielleicht irren könnte und sie in Wahrheit nur wenige Jahre habe, um ihr eigenes Fleisch und Blut zu mehren. Doch sie erkannte zumindest an, dass Anthelia außerhalb des Morgenlandes nicht der unmittelbaren Befehlsgewalt der grünen Mutter unterstand und es so oder so ein erhabener Akt sei, freiwillig auf eigenen Nachwuchs hinzuwirken. Die Bestrebungen Vita Magicas zeigten ja überdeutlich, wie ablehnend jene denen gegenüberstanden, die durch magischen Zwang in die Welt kamen. Dem konnte Anthelia nicht widersprechen.
Die beiden ranghohen Hexen verabschiedeten sich in Respekt voneinander. Anthelia stieg die vielen hundert Treppenstufen wieder hinunter und bestieg ihren Bronco Parsec. In zwei Tagen würde sie sich mit den Töchtern Susanoos treffen und dann noch mit drei Abgesandten der Töchter Hecates. Bis dahin wollte sie schon die ersten Versuche für einen Fokusgegenstand zur Aufhebung von Ladonnas Feuerrosenzauber anstellen.
Die Zaubereiministerin hatte es abgesegnet, dass die Reisevorbereitungen auf der höchsten Geheimhaltungsstufe s0 eingeordnet wurde, also nur sie und die unmittelbar daran beteiligten es wissen sollten. Julius Latierre musste immer wieder eine Gelegenheit finden, nicht vermisst zu werden. Doch am Ende waren er und die beiden von Euphrosyne gesegneten zuversichtlich, dass sie es schaffen konnten, der sicherlich lauernden Falle zu widerstehen. Am neunten Mai wurden die zwischen Belle, Millie, Léto und drei ihrer Töchter und Julius beschlossenen Vorbereitungen abgeschlossen, ohne die anderen Delegierten der Konföderation einzuweihen. Denn noch bestand die Gefahr, dass der Plan trotz aller Abwägungen und Vorbereitungen fehlschlug. Ebenso mochte es unter den zwanzig weiteren Mitgliedern der französischen Gesandtschaft doch einen freiwilligen oder unfreiwilligen Verräter geben, wenn auch kein direkt von Ladonna bezauberter Agent, so aber vielleicht ein Angehöriger eines außerministeriellen Helfers oder Helfershelfers Ladonnas. Darüber hinaus merkte Julius an, dass für den Fall, dass sie den erwarteten Anschlag auf die internationale Zaubererweltkonföderation vereiteln konnten, Ladonna sicher sehr schnell darauf verfallen würde, Veelas oder ihre Nachkommen zu verdächtigen. Er sagte: "Ich kenne die dunkle Lady zwar nicht persönlich, was gerne so bleiben darf. Doch ich kann mir vorstellen, dass sie allen Veelas und ihren Kindern den totalen Vernichtungskrieg erklärt, sobald ihre Feuerrosenkerzen von solchen Wesen außer Kraft gesetzt werden könnten. Madame Sternennacht hat ja schon erwähnt, dass sich Ladonna Montefiori nicht am Blutrachegebot der Veelas stört. Bitte teilen Sie Ihren Volksangehörigen mit, dass dieser Einsatz alle Veelas und Veelastämmigen gefährden könnte, aber wir sehr gerne helfen, flüchtende Veelastämmige in Sicherheit zu bringen, falls dies erwünscht ist."
"Ich darf im Namen des Ältestenrates meines Volkes sprechen, Monsieur Latierre, dass wir alle uns seit des Massakers an Verwandten von Madame Sternennacht der Gnaden-und Gewissenlosigkeit dieser durch Einkreuzung vergifteten Blutes entarteten Angehörigen voll bewusst sind und die von ihr in Auftrag gegebenen Vertreibungs- oder Einkerkerungsunternehmungen in den Ursprungsländern unseres Volkes überdeutlich zeigen, dass sie uns am liebsten gestern als morgen vollständig aus der Welt schaffen will. Auch deshalb genehmigt der Ältestenrat meines Volkes die Unterstützung Ihrer Unternehmung mit allen mir und meinen Verwandten möglichen Mitteln, sofern dabei kein Mensch getötet wird", sagte Léto. Da diese beiden Stellungnahmen mitprotokolliert wurden sahen die Grandchapeaus, Léto und Julius Latierre die Besprechung als ausführlich abgeschlossen an.
Mike Dunston saß am Morgen des elften Mais in seinem Büro im Times-Gebäude. Gerade hatte er vom Personalbüro erfahren, dass die Ausgrabungsarbeiten in Brewster beendet waren und die beiden beinahe schon vollständig verbrannten und weit verstreut aufgefundenen Leichname von Justine und Laura Jane Bristol geborgen werden konnten. Laut des Testamentes, dass Jeff bei einem Notar in Manhattan hinterlegt hatte wünschte er eine aus einem fahrenden Ballon oder Luftschiff vorgenommene Bestattung über dem Pazifik, da seine Großeltern einst in Kalifornien lebten und er oftmals am Strand des größten Weltmeeres gestanden habe. So wolle er im Tode eins mit dem Wind, dem Ozean und der Welt werden. Der Notar hatte auch erwähnt, dass dann wohl auch die beiden Familienangehörigen Bristols auf diese Weise beigesetzt wurden. Da Bristol keine lebenden Verwandten mehr hatte würde es wohl ein kleiner Zeppelin werden, der aus mehr als fünfhundert Metern Höhe die Asche der Verstorbenen verstreute. Die Zeremonie sollte am 31. Mai westlich von Pasadena stattfinden. Dunston hatte die Erlaubnis der Chefetage, als Trauergast mitzureisen und das Ereignis in einer Kommentarspalte der Times zu schildern.
Mike Dunston dachte an Tinwhistle. Nachdem Jeff von einem Mordkommando des eisernen Kleeblattes getötet wurde - zumindest war dies die allgemeine Deutung - war er der einzige, der von Ralf Burtons düsterem Handel und dessen Spionagetätigkeit für die zwei für tot erklärten Campoverde-Geschwister wusste. Das ganze klang so krude, dass er sich selbst dann nicht trauen konnte, es öffentlich zu machen, wenn seine Familie nicht in Gefahr war, seinetwegen ermordet zu werden. Höchstens reißerische Blut- und Glibbermedien wie das Internetportal "Totale Wahrheit" würden eine derartige Geschichte kaufen. Zwei hochintelligente Geschwister, beide superrgut in Computeranwendungen geschult und auch in anderen Fächern ausgebildet, führten eine Gangsterbande in Brooklyn, die es wohl mit den eingespielten Mafiaverbindungen aufnehmen konnte und planten die Übernahme der Weltherrschaft. Das würde ihm doch niemand mit gesundem Menschenverstand glauben. Ebensogut könnte er behaupten, es gebe echte Zauberer oder die Welt würde von Außerirdischen Beherrscht, deren Statthalter Bill Gates und Wladimir Putin seien oder Osama bin Laden sei der Sohn des Teufels, den die Muslime Iblis oder Sheitan nannten. Wenn Tinwhistle nicht dauernd mit Jeff und auch mal ihm in Verbindung getreten wäre hätte er das sogar als abartigen Scherz von Ralf Burton abgetan und darüber gelacht.
Jacqueline Morehead klopfte bei ihm an und brachte ihm den Abschlussbericht zum Prozess gegen Huggins. Sein Verteidiger hatte zwar noch eine Wiederaufnahme der Beweisaufnahme gefordert, weil angeblich neue Fakten aufgetaucht waren. Doch die hatten sich als rote Heringe, also platzierte Täuschungen erwiesen. Danach konnte es dem Richter und den Geschworenen nicht schnell genug gehen, mit einer Verzögerung von siben Tagen befanden die Geschworenen den Angeklagten Clieve Huggins des dreißigfachen Mordes in Tateinheit mit schwerer Sachbeschädigung mit Todesfolge sowie Versicherungsbetrug in der Höhe von 20 Millionen Dollar schuldig. Das Strafmaß musste eigentlich auf Tod lauten. Doch Huggins Verteidiger wollte da noch was machen, dass sich Huggins mit einer Zahlung von mehreren Millionen an die Hinterbliebenen und eine vollständige Rückerstattung der Versicherungssumme eine Freiheitsstrafe von fünfzig oder sechzig Jahren kaufen konnte. Es hing davon ab, wie gut gelaunt Richter Cornwall morgen sein würde, dachte Dunston. Dann dachte er daran, dass "Tinwhistle" Huggins tot sehen wollte. Falls die Behauptung von Ralf Burton stimmte hatte dessen Liebesherrin Claudia Campoverde ein ganz persönliches Motiv, Huggins brennen zu sehen. Also würde dieses Geschwisterpärchen vielleicht sogar noch was drehen, dass das Gericht Huggins auf keinen Fall begnadigen konnte. Doch das hieß nicht, dass er gleich am nächsten Tag auf den Stuhl gesetzt wurde. Sowas konnte Monate, ja sogar Jahre dauern, je danach, wie gut der Anwalt mit Eingaben hantieren konnte. Dunston dachte an den Ex-Senator Wellington, der auch wegen versuchten Auftragsmordes zum Tode durch die Giftspritze verurteilt worden war. Dessen Anwalt hatte aber tatsächlich Strafmilderung geltend machen können, da er Zeugen präsentierte, die gesehen haben wollten, dass der Ex-Senator und Eve Gilmore, die Mutter des unehelichen Sohnes, so spontan miteinander zusammenfanden, dass da jemand Drogen verteilt haben mochte. Somit sei der Senator zum Zeitpunkt der Zeugung des Kindes ebensowenig Schuldfähig gewesen wie Eve Gilmore und dass er einen Auftragsmord bestellt hatte könne auf die Nachwirkungen des synthetischen Aphrodisiakums zurückgeführt werden. Außerdem hatte Wellingtons Staranwalt nachweisen können, dass die Kellnerin, die ihn und Eve an den Abenden bedient hatte, gar nicht existierte, es also von vorne herein ein abgekartetes, mit neuartigen Drogen vollzogenes Manöver war. Gut, das schaffte den Anschlag des Killers nicht aus der Welt. Doch weil Eve Gilmore diesen ja vor der Ausführung der Tat mit einem Schlag getötet hatte sei nicht mehr nachzuweisen, ob der Killer den kleinen Oliver wirklich getötet hätte. Somit wurde der Auftragsmörder daran"gehindert" von der geplanten Straftat zurückzutreten. Somit bliebe als vollendete Tat nur der Einbruch und die von Eve im Akt von putativer Notwehr und Nothilfe ausgeführte Aktion gegen den Auftragsmörder. Durch diese Winkelzüge war Wellington der Giftspritze entgangen, musste aber die nächsten dreißig Jahre auf Staatskosten absitzen noch dazu in einem für verdiente Beamte eingerichteten Luxusgefängnis auf einer Insel vor der Ostküste. Alcatraz für Millionäre und Politiker sozusagen. Das könnte Huggins auch passieren, dachte Dunston. Ob das "Tinwhistle" zulassen würde? Er dachte wieder daran, dass er keinem verraten konnte, was Ralf Burtons geheime E-Mail beinhaltete. Das einzige, was vielleicht ging war, nach der versteckten Datei zu suchen. Doch die sollte eine Sicherheitsschaltung haben. Wer sie vor seinem Ableben öffnen wollte riskierte den totalen Datenverlust des hauseigenen Servers. Also blieb ihm erst einmal nur so zu tun, als wisse er von nichts.
Weiter im Süden konnten sie die höchsten Gebäude von Kyoto erkennen. Einst war Kyoto die Hauptstadt des Kaiserreiches Japan. Edo hatte die Stadt damals geheißen und der Herrschaftsperiode ihren Namen gegeben. Das wussten die junge Hexe Hiko Ishihara und die oberste der Spinnenschwestern, Anthelia/Naaneavargia.
Die Lichter der fernen Stadt flammten auf. Hier auf der kleinen vorgelagerten und unter einem jahrhunderte alten Tarnzauber versteckten Insel namens Izanagis Aussichtspunkt warteten die beiden unterschiedlichen Zauberinnen auf eine Abordnung der Kinder Susanoos. Jener eher den dunklen Künsten des Wassers und Windes zugetane Orden aus Hexen und Zauberern galt neben den Händen der Amaterasu als mächtigste magische Organisation außerhalb des japanischen Zauberrates. Doch nachdem die Hände der Amaterasu vor dem kaiserlichen Minister für magische Angelegenheiten und Lebewesen in Ungnade gefallen war, weil es ihnen nicht gelungen war, die Rückkehr des dunklen Wächters zu verhindern oder ihn möglichst früh zu besiegen mussten sich die Hände der Amaterasu versteckt halten und nicht mehr als außerministerieller Handlungsarm für Sicherheitsangelegenheiten betätigen. Außerdem waren die eher den hellen Künsten folgenden Anbeter der Sonnengöttin und die Jünger Susanoo no Mikotos Jahrhunderte alte Erzfeinde. Wenn es nicht gerade ein beiden Orden heilliger Ort war mussten sie sich bekämpfen. Nur der Kampf gegen den dunklen Wächter hatte sie für wenige Tage geeint. Das war schon bald zwei Jahre her. Dennoch suchte Anthelia den Kontakt mit den Wassermagiern. Hiko Ishihara, die eigentlich Izanamis Schülerin bei den Händen der Amaterasu werden wollte hatte erkannt, dass es doch wichtiger war, sich nach allen Seiten offen zu halten und nicht der Laune eines Zaubereiministers ausgeliefert zu sein. Doch noch hatte sie sich nicht für die Mitgliedschaft bei den Kindern Susanoos entschieden. Sie war jedoch seit über einem Jahr eine der neuen japanischen Spinnenschwestern.
"Da ist die Flugbarke, höchste Schwester", zischte Hiko gerade laut genug, um über die gegen den Felsenstrand brandenden Wellen hinweg verstanden zu werden. Anthelia blickte in die von Hiko bezeichnete Richtung. Ja, da kam ein kleines, zweimastiges Schiff. Doch statt aufgespannter Segel trugen die Masten nur im Wind flatternde Fahnen, die eine geflügelte Gestalt auf drei hohen Wellen zeigten. Das Schiff wurde von vier abgerundeten Flügeln wie die eines gigantischen Schmetterlings durch die Luft getragen. Obwohl das fliegende Schiff gegen einen starken Wind anflog kam es sehr schnell heran. Dann senkte sich der schnabelartige Bug nach unten. Es sah so aus, als wolle sich das geflügelte Schiff in das Meer stürzen. Die beiden Flaggenmasten klappten sich aufeinander zu ein und legten sich auf das Deck. Anthelia erfasste nun die Annäherung von drei Hexen. Da sie der japanischen Sprache mächtig genug war verstand sie, dass es die Tochter des obersten Wellenmeisters und ihre beiden Nichten waren, die bei ihr die nächste Stufe in der Wissenshierarchie erklimmen wollten. Kyoko von Kyoto, wie sie sich nannte, lenkte das in die Tiefe sausende Schiff und fing es keine fünf Meter über dem höchsten Wellenkamm ab. Das geflügelte Fahrzeug glitt die letzten zehn seiner Längen im ganz flachen Winkel nach unten und setzte so sanft auf, dass Anthelia an eine Liebkosung als an eine Wasserung denken musste. Dann schlidderte das Fahrzeug, dass von der Größe her zwischen Boot und Schiff rangierte, zwischen den Wogen dahin wie auf einer glatten Eisbahn und drehte mit einklappenden Flügeln bei, dass seine Steuerbordseite mit den Felsen zusammenstieß. Doch Anthelia sah, dass zwischen Schiff und Strand ein flirrendes Luftpolster lag, dass die endgültige Landung erheblich sanfter machte als wenn Holz gegen Stein gestoßen wäre. Nun klappte der vordere Steuerbordflügel wieder auf und legte sich schnell aber behutsam auf den Strand. Jetzt lag das Schiffchen so ruhig auf dem Wasser, als sei es vollständig an Land geschoben worden. Über den ausgeklappten Flügel verließen die drei Töchter Susanoos das Fahrzeug. Sie betraten den Strand und drehten sich auf ihren flachen Absätzen. Keine Viertelsekunde später erschienen sie mit leisem Knall auf der Höhe der beiden wartenden Hexen.
Hiko verbeugte sich tief, als sie die ältere der drei in dunkler Kleidung gewandeten Hexen erkannte. Anthelia deutete nur eine leichte Verbeugung an und wünschte einen erhabenen Abend.
"Du bist die, die den Stab des dunklen Wächters und das brennende Schwert aus alter Zeit erlangt hat?" fragte Kyoko auf Japanisch. Anthelia präsentierte ihr den Stab des dunklen Wächters. "Dann hast du ihn aus dem Haus der Gefahren und Schätze dieser Gutgläubigen Sonnenanbeter geraubt. Tja, war offenbar schon immer durchlässig wie ein von Haien zerbissenes Fischernetz, dieses Haus", ätzte Kyoko. "Ich verstehe zumindest, warum du dich den selbsternannten Bewahrern von Frieden und Gerechtigkeit nicht anvertrauen willst. Die würden dich umgehend gefangennehmen, weil du sie bestohlen hast."
"Ja, haben sie ernsthaft versucht. Doch ihre Ankunft wurde mir früh genug mitgeteilt, so dass ich mit Hilfe meiner eigenen Schätze der Macht entkommen konnte. Vor allem kamen sie erst lange nachdem ich mit dem ersten Sohn von Yomi die Entscheidung um sein oder mein Leben erkämpfte", ätzte Anthelia nicht minder abfällig gegen die Hände Amaterasus, zu denen Hiko eigentlich mal gehören wollte. Dann stellte Anthelia ihre Begleiterin vor. "Wir wissen, wer sie ist", sagte Kyokos Nichte Namiko. "Sie wollte jener folgen, die zuerst gegen den dunklen Wächter focht und von ihm getötet wurde. Möchtest du immer noch zu den Sonnenanbetern, Hiko Ishihara, Tochter des Hiroki und der Mai?"
"Ich will vor allem eines, Wellensängerin Namiko, unser Land vor neuen Schrecken wie dem dunklen Wächter schützen", sagte Hiko Ishihara. Die drei Töchter Susanoos lachten glockenhell. Dann sagte Kyoko: "Und du bist sicher, dass sie dort kein neuer Schrecken für unser erhabenes Land ist, Hiko Ishihara?" "Ja, zweithöchste Wellenvertraute Kyoko. Denn sonst hätte ich euch sicher nicht herbeigerufen, damit sie mit euch unterhandeln kann."
"Oho, das was die im Westen Logik nennen", spöttelte Kyokos zweite Nichte. Anthelia wunderte sich, dass eine untergeordnete Schwester so frei sprechen durfte, wenn eine ihr übergeordnete anwesend war.
"So sag, was du vorbringen möchtest, Bezwingerin des ersten Sohnes von Yomi! Ich werde befinden, ob ich es vor den Rat von Wind und Wellen bringe oder nicht", sagte Kyoko.
Anthelia schilderte nun Ladonna Montefiori, die ähnlich wie der dunkle Wächter aus langem Schlaf erwacht war und ebenso ähnlich wie dieser eine machtvolle Waffe, einen tödliches Feuer verschleudernden Ring und eine Menge Wissen von Waldfrauen und Veelas besaß und sich wegen der in ihr vereinten Erbanlagen für die Königin aller magischen Wesen hielt, also auch der Kinder Susanoos und dass sie mit einem wirkmächtigen Zauber, der Feuerrose, Macht über gleich hunderte von arglosen Menschen gewinnen und diese wie Puppen nach ihrem Willen führen konnte. Ihr sei daran gelegen, die ganze Welt unter der Feuerrose zu einen, aber nur zu ihrem eigenen Willen und Streben. Die drei Töchter Susanoos hörten mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu, die einem geladenen Gastredner zustand. Sie unterbrachen Anthelia nicht mit Zwischenfragen oder Andeutungen, ob sie ihr glaubten oder sie für eine Schwindlerin hielten. Erst als sie erwähnt hatte, dass sie wie viele andere Hexen Ladonna nicht als ihre Herrin und Meisterin anerkennen wolle fragte Kyoko: "Was macht dich so sicher, dass diese Zauberin auch uns heimsuchen könnte?" Anthelia erwähnte noch einmal, dass Ladonna schon damals, bevor sie in tiefen Schlaf versenkt wurde, die ganze ihr damals bekannte Welt beherrschen wollte. Dasie nun wisse, wie groß die Welt wirklich war habe sie den Ansporn, diese Herrschaft möglichst bald zu erringen.
"Wer sagt uns, dass nicht du diejenige bist, vor der wir Kinder des Herren von Wind und Wellen uns hüten und gegen die wir unsere Waffen erheben müssen?"
"Nun, wenn ihr mir das nicht glaubt, dass ich es nicht bin und ihr dort nicht glaubt, dass sie weiß, dass ich es nicht bin müsst ihr euren eigenen inneren Stimmen folgen, die euch raten, in welche Richtung ihr euch wenden mögt. Ich kann jedoch auch anerkennen, dass jedes meiner Worte Zeitverschwendung ist und wieder fortgehen. Zumindest kann ich dann im guten Gewissen abreisen, euch noch früh genug gewarnt zu haben."
"Was erwartest du von uns, Das wir dir folgen?" wollte Kyoko wissen.
"Nein, zweithöchste Wellenvertraute Kyoko. Ich erhoffe nur, dass wir uns in gegenseitiger Achtung gegen Ladonnas Vordringen stemmen, jeder und jede an ihrem Orte und uns nicht von ihr gegeneinander ausspielen lassen, was ihr mehr Macht geben würde und dass wir einen gemeinsamen Weg finden, der Macht der Feuerrose zu trotzen, damit sie nicht die mächtigen Eurer Heimat unterwerfen kann. Sie könnte auch die Yokai unterwerfen, die Tengus, die Yamaubas, die Kitsunes und vielleicht sogar den schlafenden Drachen wecken, der von euch irgendwo östlich eurer Heimatinseln vermutet wird.""
"Du sagst, ihr Kraftquell ist das Feuer. Dann wird sie den schlafenden Drachen nicht wecken. Eher steht zu befürchten, dass die Magielosen dies irgendwann mit ihren Knalllotungsgeräten und den lauten Schiffsmotoren tun werden. Wir, die Töchter und Söhne Susanoos, achten darauf, dass der Drache weiterschläft, auch wenn die beiden Wogen der dunklen Kraft und der zornigen Erde ihn sicher berührt und bestärkt haben."
"Jedenfalls wird Ladonna, wenn sie erst einmal wen aus eurem Zaubereiministerium beherrscht, jeden unterwerfen wollen, der oder die ihr wichtig oder gefährlich ist.
"Gut, ich höre auf meine innere Stimme und höre, dass du nicht nur glaubst, was du sagst, sondern auch, dass es so sein wird. Dennoch werden wir uns nicht mit dir zusammentun, auch wenn du den dunklen Wächter besiegt hast. Es sei denn, du vertraust uns so sehr, dass du uns verrätst, wie das brennende Schwert gefertigt wird und wir es nachbauen können."
"Soso, das Schwert wollt ihr nachbauen", erwiderte Anthelia. "Erstens ist es eine Waffe des Feuers, wo ihr dem Wind und den Wellen verbunden seid. Zweitens ist es ein Einzelstück, dessen Fertigungspläne mit seinem Schmied in es selbst eingingen und es daher nur von jenem genommen und geführt werden kann, welche oder welcher eine Kraftprobe gegen ihn besteht. Ich habe das Schwert errungen und die Prüfung bestanden. Es gehorcht nur mir. Wie es nachgefertigt werden kann weiß ich nicht und kann es daher nicht weitergeben, selbst wenn dies der einzige Beweis für meine Zuverlässigkeit und Treue sein sollte."
"So bleibt uns nur, deine Warnung zum Rat der Wellen und des Windes zu bringen. Sie da soll dir über Fernverständigung mitteilen, was der Rat beschlossen hat und sich dann entscheiden, ob sie den Weg der Entschlossenheit oder den der Sonnenanbeter wählen wird. Du jedoch wirst solange außerhalb unserer Heimat verbleiben, bis die obersten des Rates von Wind und Wellen dich herbeirufen. Finden wir dich vor, ohne dass du gerufen wurdest, werden wir dich festnehmen und dir alles fortnehmen, was diesem Land gehört. So bist auch du gewarnt."
"Da ich keine Absicht hege, gegen euch anzutreten nehme ich eure Warnung und die Bedingung an. So werden wir nun in Frieden und Ehre auseinandergehen."
"So gehen wir in Frieden und Ehre auseinander", sagte Kyoko und deutete eine leichte Verbeugung an. Das gleiche tat Anthelia. Die drei anderen japanischen Hexen verbeugten sich ein wenig tiefer vor den jeweils anderen. Danach disapparierten die drei Töchter Susanoos, um einen Lidschlag später vor dem ausgeklappten Schmetterlingsflügel ihres Schiffes zu erscheinen. Sie überquerten den Flügel und betraten das Deck ihres Schiffes. Der flügel klappte ein. Das Schiff drehte sich vom Strand fort und klappte die Masten hoch. Sofort gewann es an Fahrt. Anthelia vermutete eine Art von unsichtbarem Segel, das dem kleinen Schiff den nötigen Schwung gab. Dann hob sich der Bug. Alle vier Flügel klappten aus und spannten sich weit auf. Das Schiff löste sich von den Wellen und glitt in einem 45-Grad-Winkel nach oben.
"Dann können wir auch gehen, Schwester Hiko. Und lass dich ja nicht von diesen drei Frauen verunsichern! Sie fürchten Ladonna nach allem, was ich erzählte. Denn sie erfuhren schon auf andere Weise von ihr. Kyoko dachte sogar daran, dass es in den Wissenshäusern der Kinder Susanoos Berichte über eine Tochter dreier mächtiger Wesen gab, die als Zeichen ihrer Macht eine brennende Rose nutzte. Doch respektiere ich, dass sie selbst über ihre Heimat bestimmen wollen. Vielleicht muss ich auch die Hände Amaterasus warnen. Doch wegen des Stabes werden sie mich nur für eine Diebin und Schwindlerin halten. Habe ich nicht nötig. Ich bring dich noch auf die Hauptinsel. Von da aus kannst du zu deinem Haus apparieren, Hiko."
Hiko fragte nicht, woher Anthelia wusste, was Kyoko gedacht hatte. Sie nahm ihr Angebot an und saß hinter ihr auf dem Bronco Parsec auf.
"Es wird der elektrische Stuhl", meldete Jacqueline Morehead an Dunston, als sie um ein Uhr Mittags bei ihm ins Büro kam. "Cornwall hat das ganz große Paket geschnürt, gezielter mehrfacher Mord, weil Huggins alle die Opfer gut kannte, also für jeden ein Mordmotiv hatte, wie der Staatsanwalt es erzählt hat. Der Rechtsanwalt von ihm möchte aber noch prüfen, ob Huggins nicht als Kronzeuge gegen das eiserne Kleeblatt herhalten kann und sich damit bis zum natürlichen Ableben Staatsverpflegung verdienen kann."
"Und, wie sehen die Chancen dafür aus?" fragte Dunston. "Weil er gestanden hat und weil er sich für weitere Ermittlungen kooperationsbereit gezeigt hat könnte der morgen schon in ein Exklusivkurheim für millionenschwere Jungs verbracht werden. Tja, vielleicht gefällt es ihm da so sehr, dass wir den vor seiner Beerdigung in fünfzig Jahren nicht mehr wiedersehen."
"Bleiben Sie bitte da dran, Jackie! Die Angehörigen könnten das sehr ungehalten aufnehmen", sagte Dunston. "Ja, und die irischen Gangster auch. Laut Jeffs Notizen hat sich Huggins bei denen auf die Todesliste gesetzt. Wenn sie den jetzt in einen Sonderbau umsiedeln glauben die doch alle, der hätte schon gesungen. Im Handyzeitalter können heute auch ferngezündete Bomben ins Gefängnis geschmuggelt werden."
"Stimmt, wenn irgendwo ein Leck sein sollte, über dass Cardigan und Genossen erfahren, wo genau Huggins hingebracht wird könnten die ihn dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit umbringen. Am Ende ist das genau der Handel, den irgendwer mit den Iren eingefädelt hat, den lästigen Mitwisser statt öffentlich zu grillen und Tage lang seinen Hintergrund durch den Medienwolf zu drehen einen kurzen aufgeregten Aufschrei loslassen, dass die Kleinen mal wieder gehängt werden und die Großen sich freikaufen können", sagte Dunston. Jacqueline Morehead bejahte das. "Mich interessiert das jetzt auch, nicht nur weil ich damit Jeffs letzten zwei Geschichten fertigschreiben kann, sondern auch weil da so viel dranhängt", erwiderte Jacqueline Morehead. Dunston konnte dazu nur nicken.
Die Zaubererzeitungen Frankreichs hatten immer wieder davon berichtet, dass die am Mittelmeer gelegenen Zaubereiministerien immer mehr darauf drängten, dass Frankreich und Griechenland ebenfalls Mitglieder jener merkwürdigen Koalition der vernunftgemäßen Eintracht werden sollten. Doch gerade die Temps de Liberté wurde nicht müde zu erwähnen, dass dieser neue Verbund aus Zaubereiministerien in Wirklichkeit eine von Ladonna Montefiori mit stählernen Ketten und schweren Gewichten zusammengeschmiedete Einheit war, damit sie sie besser beherrschen konnte. Natürlich hetzten die ausländischen Zeitungen gegen die Temps. Gilbert hatte sogar über den Distantigeminus-Kasten weitergeleitet, dass ihm vorgeworfen wurde, für die langsam aus der Deckung kommenden Feinde der Föderation zu spionieren und zumindest mit der Aberkennung seines Pressestatusses rechnen müsse, sollte er sich nicht bald klar dazu äußern, für wen er jetzt eigentlich eintrat. Seitdem trugen Gilbert und seine Frau vom Laveau-Institut angefertigte Fußkettchen, die bei von ihnen erkennbarer Gefahr einen Rücksprung nach Viento del Sol auslösten, und zwar durch alle möglichen Apparier- und Portschlüsselsperren hindurch. Denn, so Gilbert, der Ausrüstungsfachzauberer des LIs habe mit seinen Kolleginnen und Kollegen herausgefunden, wie Vita Magica es anstellte, durch bestehende Portschlüsselsperren hindurchzuwirken.
"Und hat Belle Grandchapeau mit dir noch mal durchgesprochen, ob alles so laufen kann, sofern es echt zum Angriff Ladonnas kommt?" fragte Julius. Millie nickte. "Sie hat mich in einem Klangkerkerraum darauf hingewiesen, dass ich nur über die Dinge berichten soll, die mit den anderen Konföderationsgesandten vereinbart wurden und ansonsten alles so befolgen sollte, wie wir es besprochen haben", sagte Millie. Doch Unsicherheitsfaktoren blieben immer. Andererseits durften sie sich davon nicht zu sehr einschüchtern lassen, weil Leute wie Ladonna Montefiori genau darauf ausgingen und dann schon gewonnen hatten, bevor es zu einer offenen Auseinandersetzung kommen mochte.
Die Insel hieß Gyneka und lag in der Umgebung von Korfu. Hierr sollte sich laut Melonia ein Talkessel befinden, der als Schoß der zweiten Tochter bezeichnet wurde.
Die Sterne traten bereits hervor. Die letzte Abenddämmerung schimmerte dunkelgrau über dem westlichen Horizont, als aus dem Nichts heraus in einem kurzen Flimmern ein Besen mit zwei Reiterinnen erschien. Der Bronco Parsec, den Anthelias Schwesternschaft über dunkle Kanäle ergattert hatte, war präzise über dem Mittelpunkt Gynekas aus dem letzten Transit gekommen. Er wurde von Melonia gelenkt, einer Mitschwester Anthelias, deren Urgroßmutter Philandra vor mehr als hundert Jahren mit einem Zauberer aus Athen nach Nordamerika ausgewandert war, um dort ein eigenes Glück zu schmieden und nicht auf den seit Jahrtausenden ausgetretenen Pfaden alter Zauberer- und Hexentraditionen zu wandeln.
"Ui, ist schon ziemlich dunkel. Aber die wollten uns unbedingt bei Mondlicht treffen", sagte Melonia. "Ich offe, ich kann die alten Namen noch fehlerfrei aussprechen. Ich muss die sechs Hügel sehen, die das Schloss bilden."
"Meinst du die dort in südöstlicher Richtung?" fragte Anthelia, die ausnahmsweise die Mitfliegerin war und nicht die Lenkerin. Melonia blickte in die bezeichnete Richtung und lachte erfreut. "Die glitzern richtig im ersten Mondlicht, wie mit Silberpulver bestreut."
"Einfacher Mondzauber, Schwester Melonia. "Nur für Hexen erkennbar, die bereits die erste Regelblutung hinter sich haben."
"Hallo, woher weißt du das denn?" wollte Melonia wissen. "Ich bin deine höchste Schwester, ich weiß eine Menge über andere Hexenorden", antwortete Anthelia lächelnd. "Aber die sechs Schlüssel habe ich nicht gelernt. Hoffentlich gelten sie noch", sagte Anthelia. Melonia wiegte den Kopf. Dann steuerte sie den Bronco Parsec genau in die Mitte des von den sechs Erhebungen gebildeten gleichseitigen Hexagons. Dann sprach sie in Ostrichtung den ersten Namen, in Südsüdostrichtung den zweiten, in westsüdwestlicher Richtung den dritten, in genauer Westrichtung den vierten, in nordwestlicher Richtung den fünften und in nordöstlicher Richtung den sechsten und letzten Namen eines der Schlüssel. Dabei fiel Anthelia auf, dass sie jeden Namen einen bestimmten Tonabstand höher als den vorangegangenen aussprach. Als der sechste Name verklang leuchteten die sechs Hügel so hell wie das Licht des gerade erst aufgehenden Mondes. Das Licht floss aus allen sechs Richtungen auf den Mittelpunkt zu und vereinte sich darüber. Nun war eine silberne Kuppel zu sehen, die fest wie geschmiedetes Metall glänzte. Melonia überlegte kurz, ob das so sein sollte. Dann senkte sie den Besen weiter ab, bis ihre Füße das silberne Licht berührten und wie durch Luft hindurchglitten. In dem Moment, wo dies passierte fühlte Anthelia eine in rascher Folge wechselnde Empfindung von Lust auf ein Beilager und Angriffslust. Gleichzeitig hörte sie sechs leise singende Frauenstimmen in ihrem Geist. Sie sangen eine wunderschöne, außerhalb westlicher Tonskalen liegende Harmonie und schinen eine Art Kanon zu singen, bei dem die Silben genauso wie die Töne ineinander übergingen und zusammenflossen. Irgendwie wusste Anthelia jetzt, warum sie diesen Ort nur bei sichtbaren Sternen und dem Mond erreichen konnten. Doch sie hörte Melonias Gedanken nicht mehr. Die sechs schönen Stimmen überlagerten die Gedanken der vor ihr sitzenden Schwester.
Melonia konnte die sechs Stimmen nicht hören, weil sie keine Gedankenhörerin war. Dafür hörte sie in sich die Stimmen von kleinen Kindern, ja von Säuglingen und fühlte ein Tasten innerhalb ihres Unterbauches, als trüge sie mindestens ein Kind in sich, nicht eins, nicht zwei. Es war ihr unheimlich, die gefühlten Kinder leise plappern und giggeln zu hören und zu spüren, aber keine Angst zu haben, sondern irgendwie zu denken, dies sei genau das, was sie wollte. Das Gefühl und die rein in ihrem Geist klingenden Stimmen verstärkten sich, je tiefer sie sanken. Unter ihnen lag der Talkessel, der wirklich wie eine geöffnete Gebärmutter mit drei Ausgängen aussah.
Anthelia/Naaneavargia musste an die Stadt Madrashghedoxalan, die Hauptstadt der Erdvertrauten denken. Diese lag unter einem Taleinschnitt, der wie die Vulva einer riesenhaften Frau aussah. Also hatte sich die Vorstellung der körperlichen Weiblichkeit als Quelle der Erdkräfte auch auf andere Orte der Welt übertragen. Ihr war klar, dass nur erwachsene Hexen oder solche, die zumindest schon die Monatsblutung erlebten diesen Ort erreichen konnten.
Beide Hexen aus dem Westen sahen auf dem Grund des Talkessels ein graues, rundes Zelt, aus dem ein Fahnenmast ragte. An dem Fahnenmast wehte ganz sanft die Fahne, die die drei Fackeln um einen aufrechten Schlüssel zeigte. Die Zeichen der Wegführerin.
Melonia hörte die erfreuten Laute von Säuglingen, die noch nicht geboren waren noch ein wenig lauter. Sie meinte, sechs Stimmen zu hören und sechs neugierig tastende Hände und Füße zu spüren, die ihren Unterleib erkundeten. Nein, sechs Kinder auf einmal wollte sie garantiert nicht austragen, dachte sie. Dann trafen ihre Füße auf festen Boden, danach die Anthelias. Beide Hexen spürten ein kurzes Beben in ihren Körpern, vor allem im Unterleib und ihren Brüsten. Anthelia wisperte: "Das war der letzte Test, dass wir wirklich Hexen sind."
Anthelia hörte die sechs leise singenden Stimmen in ihrem Kopf erst ein wenig lauter und dann so leise, dass sie nicht wusste, ob sie sich nur noch einbildete, sie zu hören. Melonia keuchte, als sie in eine Hockstellung geriet, als müsse sie gleich niederkommen. Ein Moment sah Anthelia, wie sie bekümmert zu Boden blickte. Dann richtete sie sich wieder auf.
Melonia hatte wahrhaftig gedacht, die sechs in ihr werdenden Kinder wollten alle zugleich aus ihr entschlüpfen und entfielen ihr. Doch als sie nach unten sah konnte sie nichts sehen. Auch die Stimmen und das Gefühl, von innen berührt zu werden waren weg. Das einzige, was sie noch empfand war ein Gefühl des Zuhause seins.
Jetzt blickten die beiden Hexen aus dem Westen auf das Zelt. Eine Klappe tat sich auf, und die drei Fackeln der Flagge erstrahlten in einem erhabenen weißgoldenen Licht. So konnten die beiden Besenreiterinnen sehen, dass die drei aus dem Zelt tretenden Hexen mitternachtsblaue Gewänder trugen, die bis zu ihren Waden reichten, aber ihre Oberkörper klar nachzeichneten, als wollten sie jedem Beobachter mitteilen, dass sie erwachsene Frauen und Hexen waren. Da Anthelia ihr geliebtes und zum Markenzeichen gewordenes hautenges Kostüm aus scharlachrotem Stoff trug fühlte sie sich hier angemessen bekleidet.
Die ältere der drei Zeltbewohnerinnen gebot den zwei jüngeren, mehrere Schritte zurückzubleiben. Keine von ihnen hielt etwas in Händen. So streckten auch Anthelia und Melonia ihre Handflächen nach vorne, als sie von ihrem Besen zwei Schritte entfernt waren und nicht mehr über ihn fallen würden. Die ältere rief etwas auf altgriechisch: "Gruß den fernen Töchtern! Sei willkommen zu Hause, Tochter der nach Westen gewanderten. Du bist wieder zu Hause!"
Melonia erschauerte, als sie diese Worte verstand. Die wussten, wer sie war. Dann sprach die ältere Hexe weiter: "Gruß auch dir, durch die Macht der Mitternacht vereinte Tochter zweier nächtiger Vertrauten der ersten Mutter. wir haben dich erwartet und danken dir, dass du uns die Urenkelin der vor hundert Jahren fortgewanderten Schwester zurückbrachtest."
"Ich grüße euch, gesegnete Töchter der Hecate, erste Mutter aller Hexen und kundige Wegführerin aller Reisenden", erwiderte Anthelia, die schon als Nichte Sardonias Altgriechisch genauso erlernt hatte wie Latein und Arabisch, die damals neben Französisch und Spanisch wichtigsten Sprachen im Mittelmeerraum.
"Wie nennst du dich nun, wo jene, die einst mit den Füßen zuerst gegen das Licht der Sonne die Welt erreichte in dir aufging, Spinnenfrau?" fragte die ältere. Woher wusste die, wer Anthelia war und mit wem sie eins geworden war?
"Ich bin sehr erstaunt wie geehrt, dass ihr wisst, wer ich bin, Hochvertraute der Hecate. Nenne mich weiterhin Anthelia, weil dies ein vertrauter Name ist."
"Auch wenn der Name und der ihrer Tante einen dunklen bis schmerzvollen Klang besitzt errang er doch auf seinem von der Wegführerin beobachteten Weg einen gewissen Rang. So sei weiterhin Anthelia genannt, aus zwei Leibern und Seelen vereinte. Mein name ist Chrysochira von Thessalien, Hochvertraute der Urmutter Erde, aus deren Schoß wir alle kamen und in deren ewigen Schoß wir einst wieder einkehren werden. Jene zwei hinter mir, die auf demselben Weg wandeln wie ich sind Eurynome von Mykene und Argyrope von Athen, die ich die Ehre hatte, in die höchste erhabene Stufe unserer Gemeinschaft führen zu dürfen. Es ehrt uns, dass du selbst, die sich als höchste Schwester des Ordens der schwarzen Spinne bezeichnet, den Weg zu uns gesucht und mit dem Segen der ersten Mutter gefunden hast. Die drei lebenden Mütter unserer Gemeinschaft argwöhnten schon, wir seien nicht wichtig genug für dich, mit uns zu sprechen."
"So erklärt sich mir, warum keine der drei lebenden Mütter den Weg hierher auf sich nehmen wollte, nur um mit einer rangniedrigeren Schwester von mir zu unterhandeln", sagte Anthelia mit schwer unterdrücktem Lächeln. "Doch ich erkenne, dass ihr drei der Erde anvertraut seid, weil auch ich dies bin und dieser Ort die Verbindung zwischen Himmel und Erde ist."
"Es ist einer der Orte, an denen die Kraft der Urmutter und der himmlischen Wächterin eins werden", sagte Chrysochira. Dann winkte sie die zwei anderen zu sich, die nun mit ihr eine Dreierreihe bildeten. "So werden wir nun hören, was du uns aus dem fernen Westen zu berichten hast, wo sich offenbar die Tochter dreier Linien ebenso neuer Gefolgsleute versichert hat wie in ihrem Geburtsland und dann in vielen anderen Ländern des alten Römischen Großreiches."
Anthelia schilderte nun, was sie mitbekommen hatte und auch, wie Ladonna ihre Gefolgsleute warb und auch, dass sie eine der wenigen war, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit dem Zauber der Feuerrose widerstehen konnten. Dann sprach sie davon, dass sie erfreut war, dass die Heimat ihres ersten Körpers und die Heimat der Hellenen genauso wie die beiden Inseln der Briten dem Vormarsch Ladonnas bisher widerstanden und erwähnte auch, was sie von Frankreich wusste. Die drei Töchter Hecates hörten schweigend zu. Als Anthelia ihren Bericht mit den Worten beendete, dass sie nicht als Bittstellerin oder Tributforderin und selbsternannte Anführerin käme, sondern als besorgte Hüterin hohen Wissens sagte Argyrope:
"Warum in Frankreich keine Feuerrose erblühte wissen wir. Dort sind drei, die ursprünglich aus Rache mit einer Last langen Lebens beladen wurden, von denen eine sogar viele Dutzend Sommer lang ein ungeborenes Kind in sich trägt, dessen Vater sich ebenfalls den Zorn der ruhm- und Erfolgssüchtigen zuzog und deshalb nun im Leibe seines ungeborenen Sohnes eingeschlossen ist und von Gnade und Geduld der ihn tragenden abhängig ist. Die Feuerrose kann nicht dort erblühen, wo bereits die Kraft einer Tochter Mokushas wirkt. Doch weil die Zauberer in den Ländern, wo Mokushas Töchter wohnen dies nicht früh genug erfuhren gerieten sie in Ladonnas Gewalt. Die sich selbst zur Königin aller Hexen berufende, die vielleicht sogar meint, eines Tages die erste Mutter vom Thron zu stürzen und in den Staub des Vergessens zu treten scheut die direkte Begegnung mit jenen, die mehr sind als der winzige Anteil in ihr selbst. Sicher, bei uns wohnt keine von ihnen. Doch wir schufen uns einen wirksamen Schutzwall gegen jene, die von Ladonna gesandt werden, um uns zu verderben. Das ist der Grund für unsere Freiheit. Welchen Weg möchtest du gehen, und bist du gewillt, ihn mit uns zu teilen?"
Anthelia erwähnte unbekümmert, was sie vorhatte. Da wurden die bisher so geduldigen hellenischen Hexen ungehalten. "So willst du giftigen Rauch mit giftigem Blut austreiben? Die grünen Waldfrauen, Nachkommen der missratenen Tochter Demeters mit einem Satyr sind wie wilde Tiere, die nur für Nahrung und Begattung leben. Daher sind sie auf unseren Inseln und auf dem Festland unerwünscht. Ja, und weil wir wissen, dass Ladonna einen Teil jenes giftigen Blutes in sich hat gilt sie auch als unerwünscht hier. Aber offenbar wähnst du auf Grund deiner eigenen Erfahrungen mit der körperlichen Verschmelzung diesen Weg als gangbar und bewahrend."
"So sehe ich das in der Tat", sagte Anthelia ruhig. Eurynome blickte sie finster an. Anthelia widerstand der Versuchung, sie zu legilimentieren. Das hätte die andere völlig zu recht als Angriff verstanden.
"So willst du dich an den Kräften und dem Blute jener mit dem Schutz vor giftigem Rauch versehen, in deren Mägen unschuldige Kinder hineingeschlungen werden und bestenfalls als winzige Teile späterer Kinder dieser grünen Brut wiedergeboren werden? Gibt es bei euch keine Töchter Mokushas? Nicht dass sie nicht auch eitel, ruhmsüchtig und verschlagen sein können. Aber ihre Kräfte kommen aus dem Schoß der Erde, dem Feuer der Sonne und den Bewegungen von Wasser und Wind und nicht aus den Toden unschuldiger Kinder", sagte Eurynome.
"Jene, die ich ins Vertrauen ziehe haben dem Kinderfressen abgeschworen, Hochvertraute Eurynome. So ist denn alles Blut, was sie freiwillig zu geben bereit sind aus jenen vier erhabenen Quellen, die du aufgezählt hast", sagte Anthelia ruhig.
"Eurynome, die Wege der Welt sind oft unüberschaubar, und selbst wenn mit jedem Schritt ein neuer Weg entsteht gilt es als wichtig, ein Ziel zu sehen, auf das der Weg zuführen kann, egal wie kurz oder wie lang der Weg am Ende ist", sagte Chrysochira. Dann sah sie Anthelia an und sagte: "Doch ich fürchte, die drei Mütter werden Eurynome zustimmen. Vor allem die Mutter des Lebens wird es nicht gutheißen, die Kräfte von Kinderfresserinnen zu nutzen. Allerdings erkenne ich, dass dein Weg eher durch die dunklen Täler führt, in die die meisten Kinder Mokushas nicht hinabsteigen wollen. So musst du um deiner eigenen Freiheit wegen nach allem greifen, was dir diese Freiheit verheißt. Doch fürchte ich, dass wir dir so nicht mehr bieten können als einen Burgfrieden, ein friedliches Nebeneinander von Handlungen und Zielen, ohne den Weg der einen oder der anderen zu kreuzen und ohne einen Weg zusammenzugehen. Denn die drei Mütter würden deinen Weg ablehnen, auch wenn vor der ersten Mutter alle Wege gleich sind, die hellen wie die zwielichtigen oder die durch dunkelste Täler entlang verschlingender Abgründe. So wissen wir nun, was du uns sagen wolltest und werden es den drei lebenden Müttern künden. So darfst du uns in Frieden und Achtung deines Ranges verlassen. Der Dank für die Heimführung von Philandras Urenkelin sei dein Lohnn für die Reise.""
"Halt mal, soll das heißen, ich soll hierbleiben?" fragte Melonia auf Englisch. Da erwiderte Chrysochira ebenfalls auf Englisch: "Bisher konntest du unsere erhabene Sprache ganz gut verstehen, Melonia, Urenkelin der Philandra von Korinth. Aber ich verstehe deine Frage. Ja, du bist heimgekehrt, um den Weg deiner Ahne zu vollenden, die auszog, um ihr erhabenes Blut mit frischem Blut zu einen. In dir fließt nun so viel frisches Blut aus anderen Landen, dass es ein großer Erfolg Philandras ist, wenn du bei uns bleibst und von einem der Söhne unserer Mitschwwestern neue Söhne und vor allem Töchter gebierst."
"Nein, Leute. Wenn ich Kinder hätte haben wollen hätte ich das vor zwanzig Jahren schon haben können", sagte Melonia unerwartet aufsässig. "Außerdem werde ich mich nicht mit jemandem verkuppeln lassen, nur weil der aus einer wie auch immer erhabenen Familie stammt. Ich bin Amerikanerin, frei zu entscheiden, für was und für wen ich lebe."
"So hast du eben nicht die Rufe deiner ungeborenen Kinder vernommen?" fragte Chrysochira. Melonia errötete. "Du hast den Willkommensruf der Heimkehr vernommen. Damit hast du das Vermächtnis deiner Urgroßmutter angenommen, einst mit frischem Blut in unsere Reihen zurückzukehren. Außerdem wirst du nicht verkuppelt. Welch seelenloses Wort! Unsere Gemeinschaft zählt mehr als tausend Schwestern und Mütter, von denen mehr als dreihundert je zwei Söhne geboren haben oder bereits mehr als vier Enkelsöhne im Leben begrüßen durften. Du hast also eine sehr große Wahl, weil jede Mutter unserer Gemeinschaft vor der allerersten Mutter gleich ist. Außerdem kannst du jetzt nicht mehr fort, ohne dein restliches Leben die Schreie und Bettelrufe all der ungeborenen Kinder zu hören, denen du das Leben verweigerst. So war es und ist es seit der Enkeltochter der allerersten Mutter. In dir fließt das Blut einer fortgewanderten, um bekräftigt mit frischem Blute zurückzukehren."
"Können die mich echt zwingen hierzubleiben, höchste Schwester?" fragte Melonia. Anthelia sah sie an und überlegte. Begehrte nun sie gegen die drei auf schlug sie jede Diplomatie in Stücke, die sie trotz aller sonstigen Direktheit aufgeboten hatte. Gab sie ihre Schwester Melonia auf mochte es so erscheinen, als opfere sie eine Schwester. Doch im Grunde hatte sie das schon so oft getan, damals als Anthelia unter Sardonias Führung, als Stuhlmeisterin der Entschlossenen Schwestern Britanniens und auch in ihrem zweiten und dann dritten Leben, wenn das Ziel diesen Preis forderte. War der Burgfrieden mit den Töchtern Hecates diesen Preis wert? Dann sagte sie:
"Weder können Sie dort dich zwingen, zu bleiben, weil an diesem Ort kein Zwang geduldet wird, noch darf ich dich zwingen, mich zu begleiten oder hierzubleiben, weil für mich dieselbe Regel an diesem Ort gilt wie für die drei hochvertrauten Töchter Hecates." Sie dachte nur, dass sie sich auch über so eine Regel hinwegsetzen konnte. Sowohl Anthelia oder Naaneavargia alleine hätten das getan. Doch sie war nicht alleine, denn sie stand für etwas ein, das zu wichtig war, um es sich notlos mit anderen zu verderben. Die hatten durchaus angedeutet, dass sie und Ladonna im Grunde gleichgefährlich waren, ähnlich wie die Töchter Susanoos dies ausgesprochen hatten.
"Ich fühle, dass ich hier willkommen bin. Doch als Zuchtstute will ich hier nicht bleiben", sagte Melonia. "Ich entscheide frei aus meiner eigenen Seele, dass ich meinen Weg in meinem Geburtsland fortsetzen werde, mit oder ohne eigene Kinder."
"Wie erwähnt, du hast den Ruf der Heimkehr vernommen und verstanden. Doch wenn du dich nicht berufen fühlst, so lebe mit den Folgen dessen, was du für dich entscheidest, schwester Melonia. Doch klage nicht später, wir hätten dich nicht gewarnt. Ja, wohl wahr, wir und deine Mitreisende dürfen dich nicht zu der einen oder anderen Handlung zwingen. Doch die erste Mutter hat dich als eine ihrer heimgekehrten Töchter erkannt und erinnert sich an das Versprechen, dass deine Urgroßmutter ihr einst gab, Wohl, Kraft und Blut für die erste Mutter zu geben und in ehrenvoller Handlung mit einem erwählten Mann frisches Blut in ihre eigene Linie einzufügen. Du bist ihr Vermächtnis, ein wichtiger Teil des von ihr beschrittenen Weges. So versuche nun, dich abzuwenden. Wenn Anthelia dich zurückbringen soll sage ihr das früh genug! Wir werden dich dann aufs Festland geleiten, wo du unseren Heilerinnen und der Mutter des Lebens vorgestellt wirst. Wann und wen du dann als Vater deiner Kinder erwählst und in ehrenvoller, einvernehmlicher Handlung zu dir nimmst bleibt deine Entscheidung. Denn wir sind nicht Vita Magica."
"Ich lasse es drauf ankommen", schnaubte Melonia. Demonstrativ trat sie ans hintere Besenende, um Anthelia lenken zu lassen. Diese sah die drei an und sagte: "So mag euer und unser Weg immer an das Ziel führen, dass wir für richtig halten. Möge die Wegführerin uns geleiten und darüber wachen, dass wir unser Ziel erreichen, wo immer es liegt und wie lang der Weg auch sein mag." Diesen Gruß entboten dann auch die drei Hecatianerinnen in vollendeter Zeitgleichheit.
Anthelia ließ den Bronco Parsec in Aufstiegshaltung schnellen. Dann saß sie vor Melonia auf. Sie lauschte, ob nicht doch irgendwelche Erdkräfte auf sie und Melonia einwirkten. Doch sie hörte nur die sechs leise singenden Frauenstimmen in ihrem Geist. Gerne hätte sie gewusst, welchem Zweck sie dienten. Doch ihr wurde klar, dass sie dafür eine eingeschworene Tochter Hecates sein musste. Ja, und dass sie das nicht mehr werden sollte hatten die drei ihr mit der Ablehnung ihres Weges und den ständigen Hinweisen auf ihre besondere körperlich-seelische Beschaffenheit verdeutlicht. Also war ihr Weg der Weg nach Hause.
Sie und Melonia stießen sich ab. Der Besen glitt unangefochten aufwärts. Anthelia hörte den sechsstimmigen Chorgesang. Sie vermeinte einzelne Silben zu hören, doch die Worte verstand sie nicht. Sie flossen so gleitend ineinander ein, dass sie nicht heraushören konnte, wer da was genau sang. Die Stimmen wurden lauter, blieben aber angenehm, ja wunderschön harmonisch. Dann hörte sie ein leises Grummeln hinter sich. Melonia klammerte sich an sie und drückte ihren Bauch gegen ihren Rücken. "Mann, das gibt's nicht. Das kann nicht wahr sein", stöhnte sie. Anthelia wollte fragen, was sie hatte. Sie konnte Melonias Gedanken nicht hören, weil da immer noch die sechs singenden Frauen in ihrem Geist erklangen.
"Höchste Schwester, bring uns bitte ganz schnell von dieser Insel runter. Das kann nicht angehen", keuchte Melonia.
"Was kann nicht angehen?" fragte Anthelia, ohne den Steigflug zu verzögern. "Ich höre immer lautere Babyschreie in meinem Bauch, als sei ich die verdammte Mutter-Kind-Station Eileithyia Greensporns im HPK."
"Die Macht der Suggestion", grinste Anthelia. "Sie haben dir eingeredet, dass du das empfindest, also empfindest du es so."
"Nein, höchste Schwester, das ist so. Ich höre die Bälger in meinem Bauch und fühle die auch wieder darin herumkrabbeln und autsch, boxen oder treten. Spürst du das nicht auch von mir?" Anthelia wagte nicht, dazu was zu sagen. Denn in dem Augenblick flimmerte über ihnen die Luft. Die sechs singenden Stimmen wurden noch lauter, als wenn Anthelia die Sängerinnen aus jenen sechs Richtungen hörte, in denen die Ecken des magischen Hexagons lagen. Dann durchstießen sie das Flimmern. Die Stimmen in Anthelias Kopf verhallten auf der letzten gesungenen Silbe. Ihr Hall klang lange nach, als würden sie in einem kilometerlangen Tunnel zwischen den Wänden hin- und hergeworfen, bis sie von fordernden Schreien neugeborener Mädchen und Jungen überlagert wurden. Anthelia hörte nun Melonias Gedanken und Empfindungen wieder. Ja, und sie fühlte wahrhaftig ein wiederholtes Zucken in Melonias Bauch, als trüge sie ernsthaft neues Leben darin.
"Mach was, höchste Schwester, bring uns ganz weit von hier weg. Das wird immer schlimmer", stöhnte Melonia. Anthelia schluckte die Frage hinunter, ob sie sie nicht doch lieber wieder nach unten bringen sollte. Da fiel ihr ein, dass sie den Bereich der Tarnung schon verlassen hatten. Um sie zu öffnen müsste Melonia die sechs Schlüsselwörter ausrufen.
"Ich bring uns erst einmal weiter weg. Willst du dann immer noch mit mir kommen versuche ich was anderes", sagte Anthelia und beschleunigte. Als sie genug Geschwindigkeit für einen ersten Sprung über zwanzig Kilometer hatte löste sie einen Sprung richtung Nordafrika aus, weil das näher lag. Melonia zitterte und wimmerte. Anthelia hörte den Chor fordernder und bettelnder Babystimmen ebenfalls immer lauter werden. Jetzt verstand sie sogar auf englisch gerufene Worte: "Mom, gib mir Leben, lass mich raus!" Anthelia hatte vermutet, dass dieser Fluch oder magische Auftrag auf Altgriechisch ablaufen würde. Doch offenbar galt hier wortwörtlich die Muttersprache als tragendes Element. Sie dachte an den Duraverba-Fluch, der eine bestimmte Wortfolge immer und immer wieder im Geist des Verfluchten wiederholte. Das hier war wohl dessen Vater oder Urgroßvater.
"Willst du wieder zurück, Melonia?" fragte Anthelia ohne die Anrede Schwester zu gebrauchen.
"Im Moment könnte ich glatt vom Besen springen, damit das Geplärr und Rumgeboxe in meinem Bauch aufhört, Höchste Schw... Autsch!" keuchte Melonia. "Los, Mom, lass mich aus dir raus! Ich will leben!" plärrte eine ziemlich enervierende Kleinmädchenstimme. "Drachendreck! So ähnlich habe ich damals geklungen", knurrte Melonia.
"Wie viele hörst du genau?" fragte Anthelia. "Es werden immer ... mpf ... immer mehr. Öhm, wie viele Eier kann eine erwachsene Hexe ausreifen?" fragte sie, als die plärrenden Stimmen neu ausholten, bis sie in einem einzigen, kreischenden, schrillenden Schreiorkan ausbrachen.
"Sag mir nicht, dass die von dir an die zweihundert Babys haben wollen", grummelte Anthelia. "So viele unbefruchtete Eizellen trägst du wohl noch in dir."
"Ich will leben! Mom, lass mich raus! Ich will leben!" plärrten unzählige Stimmen in Melonias Geist. Anthelia fühlte, dass die Mitschwester kurz davor stand, sich vom Besen fallen zu lassen. Was hinderte sie noch daran. Ach ja, der Sicherungszauber, der bei hohen Geschwindigkeiten wirkte, um bei heftigen Richtungswechseln oder Raumsprüngen die Reiterin auf dem Besen zu halten. Also beschleunigte Anthelia noch einmal und löste einen weiteren Sprung aus. Doch das Geplärr, Geschrei und zwischen flehenden und wütend fordernden Rufen klingende Durcheinander in Melonias Geist und wohl auch Unterleib wurde immer noch lauter und unerträglicher. Sie hörte Melonias wimmernde Gedanken, "Ich halt das nicht mehr aus! Ich will das nicht mehr hören!"
"Soll ich dich zurückbringen, Schwester?" fragte Anthelia unerwartet mitfühlend. "Nein!" stieß sie aus. "Mach die Sicherung los und lass mich einfach hier runterspringen. Das wird die mehr ärgern als alles andere."
"Soweit kommt's noch. Ich habe noch nie eine Mitschwester vom fliegenden Besen runterfallen lassen, weder in der erhabenen Obhut von Maman Beauxbatons noch später", knurrte Anthelia/Naaneavargia. Sie dachte daran, dass der Dauerschlaf, in den ihre erdvertrauten Gesinnungsgeschwister sie damals versenkt hatten jetzt sicher wohltuend sei. Dann fiel ihr ein, dass der magische Auftrag vielleicht an einen bestimmten Zeitablauf gebunden war und vielleicht auch nachließ, wenn sein Ziel außerhalb der natürlichen Zeit war. Also machte sie innerhalb einer Minute fünf Sprünge, bis sie die libysche Küste vor sich hatte. Dann noch ein Sprung, so dass sie nun 20 Kilometer von der Küste entfernt waren. Hier war die nordafrikanische Wüste, die Sahara. Dass hier wer vorbeikommen mochte war unwahrscheinlich. Anthelia bremste den Besen und landete ihn etwas ruppiger als sie es gewöhnlich tat. Dann zog sie ihren Zauberstab. Melonia heulte nun selbst wie ein gerade erst geborenes Kind, flehhte um Ruhe. Da traf sie der erste Lentavita-Zauber Anthelias. Ihre Stimme sackte in einer Viertelsekunde zu einem knatternden Gebrumm ab. Dann wiederholzauberte Anthelia noch zweimal. Mehr als drei Körperverzögerungszauber wurden nicht empfohlen. Der vierte war dann irreversibel, wie es heilmagisch korrekt hieß. Auch eine Art, jemanden zu töten, nur nicht so schnell wie bei Avada Kedavra, dachte sie. Jedenfalls konnte sie nun keine Gedanken oder in Melonias Geist hineinschreienden Säuglinge mehr hören.
"So, ich bring uns erst zu mir nach Hause. Womöglich fängt das Lied der starken Mutter Erde diesen Zauber ab, wenn er zwischen dir und einem bestimmten Ort wirkt", sagte sie, obwohl die fast auf Stillstand verlangsamte es nicht verstehen konnte. Für die würde es jetzt eine rasende Fahrt durch die Nacht, innerhalb von einer Viertelminute von hier bis nach Amerika, dachte Anthelia. Doch passieren konnte ihr nichts, weil die von ihr wahrgenommene Luftreibung nicht stark genug sein würde, sie verglühen zu lassen.
Anthelia hob mit ihrer mehrfachlentavitalisierten Mitschwester ab und brauste westwärts davon. Mit dem Parsec-Besen konnte sie in zwei Stunden in den Staaten sein.
Auf dem Weg dorthin fiel ihr was ein: Was wenn der Fluch oder magische Auftrag an den Blutkreislauf der Betroffenen gebunden war? Sollte der Zauber nicht durch die starke Verlangsamung aufgehoben worden sein würde sie noch was anderes versuchen, von dem sie sicher war, dass auch Ladonna diesen Trick verwendet hatte, um auf den eigenen Blutkreislauf wirkende Zauber zu beenden.
"Sie sind wahrhaftig davongeflogen. Könnte es sein, dass du dich geirrt hast, Wegführerin Chrysochira?" fragte Argyrope. "Entweder wird sie wiederkehren oder an ihrer Sturheit zerschellen wie ein Glas an einer Granitwand. Das kann sie unmöglich durchhalten. Entweder wird sie die Spinnenhexe anflehen, sie uns wiederzubringen oder wahnsinnig", knurrte Chrysochira. "Ja, und wenn sie wahnsinnig wird haben wir alle nichts davon außer einer schreienden, sabbernden, zitternden und heulenden Seelenruine", erwiderte Eurynome.
"Ich habe das jetzt nicht gehört, Wegbegleiterin Eurynome", zischte Chrysochira. "So, dann meinst du, sie würde den Auftrag der allerersten Mutter erfüllen, auch wenn sie irrsinnig ist. Stimmt, die Fortpflanzungsorgane müssten dann noch arbeiten", knurrte Eurynome. "Sei froh, dass wir hier im Schoß der zweiten Tochter sind, wo keine wie auch immer wirkende und gemeinte Gewalt angewendet werden darf. Aber ich kann eine Arbeitsstrafe aussprechen. Wenn wir wieder zurück auf dem Festland sind wirst du im Hause der Heilerinnen sämtliche dort gehüteten Säuglinge säubern und wickeln, und das zwei Tage lang", sagte Chrysochira. Weil Argyrope Zeugin war und Chrysochira trotz der gleichfarbigen Gewandung drei Jahre älter war konnte sie den jüngeren immer noch Anweisungen geben. Eurynome verzog ihr Gesicht. Hätte sie doch bloß ihren Mund gehalten!
Sie warteten noch fünf Minuten, noch zehn, eine halbe Stunde. Dann sagte Chrysochira: "Ich fürchte, die Spinnenschwester hat was mit ihr angestellt, dass sie nicht mehr unter den Forderungen leiden muss. Ich erkundige mich bei der Mutter des Lebens, wie das gehen kann. Ihr zwei wartet hier bis ich wiederkomme!" Sprachs und disapparierte mit erhobenem Zedernholzzauberstab.
"Momentt, wenn die uns Melonia nicht mehr zurückbringt, gilt sie dann als uns geraubt oder nur verschollen?" fragte Argyrope Eurynome. "Ich sage da jetzt besser nichts mehr. Ich höre auch schon plärrende Bälger und rieche ihre vollen Windeln", knurrte Argyropes Wegbegleiterin.
Nach zehn Minuten apparierte Chrysochira wieder im Zelt. "Die Mutter des Lebens hat gesagt, dass es einen Weg gibt, den Auftrag der ersten Mutter abzuweisen. Sie wollte ihn mir jedoch nicht verraten, weil ich vertraute der Erde, der Pflanzen und der Kräfte von Bergenund Tiefen sei und keine Heilerin. Sie meinte, dass wir auch ohne Melonia auskommen, wenn eine von uns dafür frisches Blut sucht und sich mit ihm verbindet, um hier neue Töchter der ersten Mutter zu bekommen. Öhm, das hat sie mir und euch beiden sogar verbindlich befohlen. Aber sie wird es wohl noch einmal vor den beiden anderen Müttern und dem restlichen Rat tun, damit es amtlich wird. Tja, und dann können wir herausfinden, wie sich die Amerikanerin gefühlt hat, bevor ihre höchste Schwester das angestellt hat, was die Mutter des Lebens für einzig Mmöglich hält."
"Oh, man kann also einen Auftrag der ersten Mutter zurückweisen?" fragte Argyrope. "Du machst dann die Zwei Tage nach Eurynome Hilfsdienst im Mutter-Kind-Haus der Heilerinnen", sagte Chrysochira. Eurynome kicherte schadenfroh. "Nach dir, Eurynome, kann auch heißen, erst wenn du fertig bist. Also lege es nicht darauf an, dich einen Monat oder ein Jahr dort unterzubringen", drohte Chrysochira.
"Eh, Moment, das ist Drohung und Herabwürdigung, also verbale Gewalt", beschwerte sich Eurynome. "Maßregelungen und die Androhungen solcher sind noch gerade so erlaubt. Also machst du zwei Monate Wickeldienst und dann darf Argyrope zwei Tage."
Die beiden etwas jüngeren Mitschwestern trauten sich nun nicht mehr, noch irgendeinen Laut von sich zu geben.
Ja, es machte schon einen gehörigen Unterschied, ob das Haus mit den leistungsfähigen Computern weit außerhalb der Zaubererstraße Rue de Camouflage entfernt stand oder nur fünfzig Meter vom oberirdischen Zugang zum Rest des Zaubereiministeriums. So konnten auch Memoflieger dorthin, ohne aufzufallen. Einer dieser kunterbunten, wie einfache Papierflieger aussehenden Nachrichtenüberbringer purzelte durch die auf seine Annäherung aufklappende Dachluke und segelte zu Julius' Arbeitsplatz hinüber. Der Leiter der Computerabteilung nahm den nur für ihn bestimmten Umschlag zwischen den bunten Tragflächen heraus. Der Memoflieger glitt langsam zur Seite und schraubte sich dann bis unter die Decke, wo er wie eine das Licht umschwirrende Motte kreiste. Offenbar sollte er eine Antwort mitnehmen.
M. Latierre, bitte kontaktieren Sie die Rechnerabteilung des Marie-Laveau-Institutes um folgende Fragen zu klären!
- Besteht eine Möglichkeit, mit den in den USA wohnhaften Veelastämmigen Kontakt zu erhalten?
- Falls ja: wie ist deren Lage?
- Gilt es als gesichert, dass sich alle Mitglieder des Föderationsrates dauerhaft außerhalb von Viento del Sol aufhalten?
- Wie nimmt die magische Bevölkerung der Föderationsmitgliedsländer das Verlassen des bisherigen Amtssitzes wahr?
Bitte senden Sie den mit diesen Anfragen betrauten Memoträger nach vollständiger Ausführung des Auftrages zu meinen Händen zurück!
Mme. Nathalie Grandchapeau
Julius rief sogleich die E-Mail-Funktion des Arkanetverwaltungsprogrammes auf und schickte eine elektronische Nachricht mit den gestellten Fragen weiter. Als er die Mail verschickt hatte druckte er sie auf Papier aus. Er winkte dem Memoflieger. Dieser schwirrte kurz um ihn herum und setzte dann seine Warteschleifen fort. Julius wollte schon "Häh?!" rufen. Doch dann erkannte er, dass Nathalie das bunte Fliegeding so instruiert hatte, erst die vollständige Ausführung des Auftrages abzuwarten, also die erhofften Antworten in gedruckter Form mitzunehmen.
So dauerte es dreißig Minuten, bis Julius den für alle Rechner ansteuerbaren Kombiapparat, der drucken, scannen und kopieren konnte mit der Antwort einer gewissen May Baywater beschicken konnte.
Sehr geehrter Monsieur Latierre,
in der Hoffnung, dass unsere Antwort Ihnen und Ihrer Abteilung dienlich ist erfolgt die Beantwortung der von Ihnen gestellten Fragen.
- Es besteht Kontakt zur seit dem 1. März bestehenden Interessensgruppe veelastämmiger Hexen und Zauberer.
- Deren Vertreterin Chrysope Honeyfield (Urenkelin einer rumänischen Veela) berichtete uns von zunehmenden Belastungen seitens der Zauberwesenverwaltung der Föderation und befürchtet ähnliche Beschränkungen wie für die registrierten Lykanthropen.
- Leider ist es wegen der gewissen magischen Aufladung der Zeitungen nicht möglich, sie auf elektronischem Wege zu kopieren und zu versenden. Daher hier eine kurze Zusammenfassung der jüngsten Berichte zur derzeitigen Lage in der Föderation:
Zusammenfassung der betreffenden Zeitungsartikel
- 06.05.2006: die seit dem 3. Mai vertraglich gegründete Konföderation südamerikanischer Hexen und Zauberer lädt die magische Bevölkerung Mexikos ein, in die Gemeinschaft spanischsprachiger Zaubereiministerien zurückzukehren und bezichtigt Kanada und vor allem die USA mehrfacher Lügen, was die Wertschätzung Mexikos angeht.
- 07.05.2006: Föderationsratssprecherin Bullhorn wirft den "mal eben zusammengeschlossenen" Verfassern der sogenannten Einladung an Mexiko Heuchelei und eine Gefährdung des Nachbarschaftsfriedens vor und stellt klar, das Mexiko der Föderation nur auf den Wunsch seiner magischen Bevölkerung beitrat und nur eine erneute Befragung dies ändern könne. Sie geht jedoch von einer Zurückweisung der Einladung aus. Außerdem müsse vorher geklärt werden, ob die neue südamerikanische Konföderation dem Willen der in ihr lebenden magischen Menschen entspricht, bevor diese andere Länder als Mitglieder werben dürfe.
- 09.05.2006: Perus Zaubereiminister bezichtigt Föderationssprecherin Bullhorn des Versuches, unter dem Deckmantel der Bevölkerungsmehrheit auf eine Alleinherrschaft hinzuwirken und legt Dokument über die Befragung der magischen Bevölkerung der Mitgliedsländer vor. Er lässt sich zitieren mit: "Wenn Ihre Spione das nicht mitbekommen haben, dass wir genauso wie Sie eine rechtsgültige Befragung aller magischen Mitmenschen durchführten werfen Sie sie raus!"
- 12.05.2006: Föderationsratssprecherin Bullhorn weißt die Behauptung, einen Alleinherrschaftsanspruch zu besitzen als böswillige Unterstellung zurück und betont, dass die Föderation keine Spione in Südamerika beschäftige, da sich dieses unter Freunden und Nachbarn nicht gehöre. Außerdem widerspricht sie dem Gemeinderat von Viento del Sol, der angefragt hat, ob der Föderationsrat nicht nachprüfen wolle, inwieweit ihre Siedlung von nichtmagischen Massenzerstörungswaffen bedroht sei. Diese Behauptung, so Gemeinderätin Hammersmith, habe zu einer starken Verunsicherung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger geführt.
Sollte Bedarf an einer direkten Unterredung bestehen lädt das Marie-Laveau-Institut eine Vertretung Ihres Zaubereiministeriums zu weiterführenden Unterhandlungen ein. Über den Termin und die Mitglieder Ihrer Delegation mögen Sie entscheiden.
In der Hoffnung, dass wir diese höchst unangenehme Lage ohne Verluste und mit größtmöglichem Erfolg überstehen mögen verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen
i. A. May Baywater
Julius druckte mehrere Kopien dieser Mail aus und winkte damit dem immer noch über ihm kreisenden Memoflieger. Dieser glitt auf ihn zu, ließ sich aus der Luft fangen und wartete, bis Julius ihm die dünnen Papierblätter zwischen die bunten Tragflächen gesteckt hatte. "Zu Händen Madame Nathalie Grandchapeau!" rief er und warf den bestückten Memoflieger in die Luft zurück. Das bezauberte Papierflugzeug nahm Kurs auf die Deckenluke und durchflog diese.
Eine halbe Stunde vor der Mittagspause kam ein neuer Memoflieger in die Computerabteilung und brachte eine Aufforderung Nathalies, sich in einer Viertelstunde nach Erhalt dieses Memos bei ihr einzufinden. So delegierte er die gerade laufende Gemeinschaftsüberwachung der Internetkorrespondenz eines selbsternannten Hexenforums in Bayonne und begab sich in das Hauptgebäude des Ministeriums
Bei Nathalie traf er nicht nur die Büroinhaberin selbst, sondern auch Gustave Chaudchamp von der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit. Letzterer wirkte verdrossen und zugleich verunsichert. Julius wartete höflich, bis ihm die Büroinhaberin erlaubte, sich hinzusetzen. Dann sagte sie: "Monsieur Chaudchamp äußerte einmal mehr einen gewissen Unmut, dass wir seiner Auffassung nach die Arbeit seiner Behörde erledigten, ohne dazu durch klare Aufforderung oder Zuordnung unserer Aufgaben berechtigt zu sein. Kollege Chaudchamp, bitte wiederholen Sie meinem jungen Mitarbeiter gegenüber, welche amtliche Mitteilung Sie erhalten haben!" sagte Nathalie. Chaudchamp nickte und straffte sich. Dann sagte er: "So ungern ich das tue werde ich es tun." Dann erwähnte er, dass sein Amtskollege in der Föderation nordamerikanischer Hexen und Zauberer sich beschwerte, dass das französische Zaubereiministerium offenbar hinter seinem Rücken mit Gruppierungen wie dem Laveau-Institut Absprachen treffe, deren Auswirkungen der Föderation schaden, sie aber mindestens in Frage stellen könnten. Er ließ durch Blitzeule mitteilen, dass wir jeden Kontakt zum Marie-Laveau-Institut zu beenden hätten, da dieses sich in letzter Zeit als eigensinnige, ja gesetzeswidrige Vereinigung erweise, deren Ziel es sei, die Rechtmäßigkeit der Föderation in Frage zu stellen und gegen sie zu konspirieren. Daher dürften wir keiner von dort erhobenen Behauptung folgen, die Föderation sei unterwandert oder gar unterjocht worden. Außerdem stand in dem Schreiben, dass sich die Föderation nordamerikanischer Hexen und Zauberer vorbehalte, uns vor dem Rechtstribunal der globalen Magierkonferenz wegen fortgesetzter Einmischung in deren Angelegenheiten zu verklagen. Öhm, haben Sie irgendwelche klaren Beweise dafür, dass der Föderationsrat und die vollständige Zaubereiadministration Nordamerikas von Ladonna Montefiori unterwandert oder gar unterjocht wurde, Monsieur Latierre?"
"Hmm, keine konkreten Beweise. Doch liegen genug Hinweise vor, dass Ladonna es irgendwie angestellt hat, wichtige Mitglieder des Föderationsrates aus der Sicherheit von Viento del Sol herauszulocken und sie dann womöglich mit den Ihnen bekannten Mitteln gefügig gemacht hat. Dass sie daraufhin nicht mehr nach Viento del Sol zurückkehrten, ja auch den Rest des Rates dort hinauslockten ist ein weiterer Hinweis, dass sie dort wegen des Feindesabwehrzaubers nicht mehr hineingelassen werden oder zumindest davon überzeugt sind, dass dem so ist. Sie erinnern sich ja daran, dass vor der Woge dunkler Magie vor drei Jahren kein feindseliger Zauberer und selbst keine dunkle Hexe mit sardonianischer Gesinnung nach Millemerveilles hineingelangte, weshalb wir ja dort eine größtenteils friedliche Quidditchweltmeisterschaft erleben durften. Der Schutz des geborenen Blutes, wie der über Viento del Sol errichtete Schutzbann genannt wird, hat eine ähnliche Auswirkung wie Sardonias Kuppel oder die von den Bewohnern Millemerveilles an deren Stelle errichteter Schutz vor bösen Dingen und Wesen. Also ist jeder magische oder nichtmagische Mensch, der unter Ladonnas Einfluss steht ein Feind der Menschen in Viento del Sol, wie damals die von Vita Magica unterworfenen Mitarbeiter von Minister Buggles."
"Laden Sie den Kollegen oder besser gleich Madam Bullhorn ein, uns in Millemerveilles zu besuchen", kam Nathalie Chaudchamp mit einer Antwort zuvor. "Oder bitten Sie um die Erlaubnis, die aufgekommene Unstimmigkeit an einem friedlichen Ort ohne Angst vor böswilligen Eindringlingen klären zu dürfen und verweisen Sie ihn auf die exzellente Schnellverbindung zwischen Millemerveilles und Viento del Sol. Geht Madam Bullhorn darauf ein und erscheint leibhaftig dort und nicht als räumliches Abbild ihrer selbst oder als transfiguratives Simulacrum dürfte dies der Beweis sein, dass sie nicht von einer fremden, böswilligen Macht beherrscht wird."
"Ach, und solange unterlassen Sie beide jede echte oder unterstellte Konspiration gegen die Föderation Nordamerikas?" fragte Chaudchamp.
"Solange wir uns nicht von den Repräsentanten dieser Föderation bedroht fühlen müssen besteht auch kein Grund, gegen sie zu konspirieren", sagte Nathalie doppeldeutig. Denn solange der Föderationsrat frei von fremdem Einfluss war galt jeder Kontakt zum LI nicht als Verschwörung, sondern Fortsetzung der bisher so geschätzten Zusammenarbeit. War Bullhorns Administration jedoch schon unter Ladonnas Einfluss bedrohten sie wie alle anderen von ihr Unterjochten die Freiheit, die Sicherheit und den Frieden der französischen Zaubererwelt. Dagegen mussten sie dann wohl was tun.
"Wissen Sie was, Nathalie, ich kann Ihnen das nicht glauben. Ja, und falls Sie selbst meine dringliche Bitte um Unterlassung weiterer Kontakte weitergeben besteht die Gefahr, dass Ihr Mitarbeiter wegen der ihm verliehenen Befugnisse weiterhin seine Zuständigkeitsgrenzen überschreitet, da in seiner Unterabteilung niemand von uns anderen sitzt, der oder die alle dort stattfindenden Aktivitäten überwacht", sagte Chaudchamp.
"Entschuldigung, Kollege Chaudchamp, aber Sie möchten mir doch nicht allen Ernstes unterstellen, entweder meine Abteilung nicht mehr führen zu können oder dass in meiner Behörde illoyale Menschen arbeiten. Das weise ich mit allem gebotenen Nachdruck zurück, Kollege Chaudchamp." Julius konnte sich noch gut beherrschen. Außerdem war es ja nicht das erste mal, dass ihm ältere Ministeriumsbeamte Eigenwilligkeit und unerlaubte Eigenmacht unterstellten.
"Ich wollte nur sicherstellen, dass unsere beiden Behörden auch weiterhin in gegenseitigem Respekt und Befolgung der jeweiligen Zuständigkeitszuteilungen existieren, Kollegin Grandchapeau. Doch kann ich ein gewisses Misstrauen Ihrer Elektrorechnerabteilung gegenüber nicht verhehlen, weil von dort aus mit meiner Abteilung oder anderen Abteilungen unabgestimmte Handlungen vorgenommen wurden. Ich möchte auch daran erinnern, dass Ihr Schützling Monsieur Latierre bereits wegen diverser Eigenmächtigkeiten verwarnt wurde und Sie ihm trotzdem eine solch große Verantwortung übertrugen, dass er größtenteils unbeaufsichtigt handeln kann, anders als jeder andere gerade einmal fünf Jahre im Ministerium tätige Amtsanwärter oder Beamte."
"Wo Sie es wiederholt von Zuständigkeiten hatten erstaunt es mich doch jetzt sehr, dass Sie sich derartig weit aus dem Fenster lehnen, dass Sie mir mangelnde Führungsfähigkeit und Monsieur Latierre fortgesetzte Eigenmächtigkeiten unterstellen. Für derlei Vorhaltungen oder gar Vorwürfe sind Sie nicht zuständig, Kollege Chaudchamp", stellte Nathalie klar.
"Dies muss ich wohl leider eingestehen und ziehe meine Behauptungen einstweilen zurück. Doch auf die Beendigung des elektrisch gesteuerten Kontaktes mit dem Laveau-Institut muss ich bestehen, solange meine Abteilung keine entsprechende Veranlassung hat, Monsieur Latierre um eine solche Kontaktaufnahme zu bitten."
"Dann lesen Sie sich bitte noch einmal alle bisher von dort erhaltenen Unterlagen durch und formulieren Sie einen Ihren Befugnissen und Aufgaben gemäßen Auftrag!" sagte Nathalie Grandchapeau. "Denn wir rechnen jetzt jeden Moment mit einer weiterführenden Mitteilung aus New Orleans. Wenn wir uns nicht einmal dafür bedanken dürfen wird uns das Laveau-Institut das als Unhöflichkeit auslegen oder gar fürchten, wir seien nun auch Untertanen dieser selbsternannten Hexenkönigin aus Italien."
"Das ist jetzt wohl nicht Ihr Ernst", knurrte Chaudchamp. Doch Nathalie sah ihn so ernst an wie es nur möglich war und erwiderte: "Sie und viele andere Abteilungen, darunter die Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Geschöpfe haben bisher sehr gut davon profitiert, dass wir über die Computerabteilung viel schnellere Verbindungen in die Welt haben als mit herkömmlichen Übermittlungsarten. Jetzt aus Sorge vor einer möglichen Beschwerde aus den Staaten diese Verbindung zu untersagen wäre kontraproduktiv für uns alle."
"Dann werden Sie weitermachen wie bisher?" fragte Chaudchamp. "Wir werden uns nicht an einer Verschwörung gegen die frei handlungsfähige gewählte Administration eines anderen Landes beteiligen, sondern nur den Schutz unserer eigenen Freiheit und Sicherheit absichern", erwiderte Nathalie Grandchapeau.
"Sie glauben wohl immer noch, eine bevorrechtete Stellung zu haben, weil Sie die Witwe eines Zaubereiministers sind, wie? Aber das kann und irgendwann wird sich das ändern", grummelte Chaudchamp.
"Dann wollen wir beide hoffen, dass es nicht Ladonna Montefiori sein wird, die diese Änderung erzwingt", erwiderte Nathalie völlig unbeeindruckt von Chaudchamps schon an Neid grenzender Behauptung. Der Leiter der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit verzog nur das Gesicht und sagte dann: "Weiterhin einen erfolgreichen Tag noch, Madame Grandchapeau, Monsieur Latierre." Dann stand er auf und verließ Nathalies Büro.
"Ui, das war jetzt aber ziemlich heftig", meinte Julius. "Ich höre das schon seitdem Armand sich um das Ministeramt beworben hat, dass ich jetzt nur noch lächeln müsse um diese oder jene Sondervollmacht zu bekommen. Als Belle geboren wurde wurde ich von einigen älteren Damen hier als Zuchtstute bezeichnet. Dass mir jemand, dessen Handwerk die Diplomatie sein sollte meinen Witwenstatus um die Ohren haut und zugleich eine indirekte Drohung ausspricht, dass mir irgendwann etwas unerwünschtes widerfahren möge, konnte, wollte und durfte ich nicht auf sich beruhen lassen", erwiderte Nathalie. "Aber in der Auswirkung gebe ich Ihnen schon recht, Monsieur Latierre, das war heftig, auch und vor allem, weil es unnötig war, mich in dieser Weise anzugehen, nur weil ihm keine weiteren Argumente mehr einfielen außer Sie und mich ständig an die Einhaltung unserer Zuständigkeitsgrenzen zu erinnern, obwohl ich weiß, dass er weiß, dass es nicht wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in seiner Abteilung gibt, die all zu gerne die nichtmagischen Fernverständigungsverfahren nutzen möchten, um mit ihren Kolleginnen und Kollegen in anderen Ministerien zu korrespondieren. Ja, und was das Laveau-Institut angeht habe ich es auch ernstgemeint. Wir dürfen uns diesen Kontakt nicht verderben, sonst stehen wir am Ende isoliert auf der ganzen Welt. Genau das ist es doch, was Ladonna bezwecken will, Unfrieden stiften und sich dann als Friedensbringerin zu produzieren. wir dürfen uns nicht gegeneinander aufbringen lassen. Deshalb bin ich ja verwundert, dass der Kollege Chaudchamp das nicht erkent." Sie lauschte. Dann sagte sie: "Nein, ich glaube nicht, dass er auch schwanger ist, der werte Herr im warmen Leib einer Witwe."
"Ich denke eher, dass Monsieur Chaudchamp um sein Amt fürchtet, Madame Grandchapeau. "Je mehr wir alles erledigen, was eigentlich von seiner Abteilung erledigt werden sollte, desto unwichtiger wird sein Amt", wagte Julius eine ungefragte Vermutung.
"Das kann sein, muss aber nicht stimmen, Monsieur Latierre. Daher möchte ich Sie inständig darum bitten, diese Ansicht nicht aus diesen Raum zu tragen", entgegnete Nathalie Grandchapeau mit unüberhörbarer Strenge. Dann fragte sie im freundlichen Ton:. "Aber es ist gleich Essenszeit. Sind Sie mit irgendwem zum Mittagessen verabredet?"
"Ich habe alle gerade laufenden Projekte im Rahmen meiner Obliegenheiten an Mademoiselle Richelieu übertragen und werde erst nach dem Mittagessen wieder dorthin gehen. Ansonsten habe ich noch keine feste Verabredung zum Mittagessen", erwiderte Julius."
"Gut, dann erweisen Sie mir bitte die Ehre und Höflichkeit, mir beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten", sagte Nathalie Grandchapeau. Julius willigte ein.
Dass Nathalie ihn nicht wegen seiner reinen Gesellschaft wegen gefragt hatte sprach sie an, als die ihr zugeteilte Hauselfe das Mittagessen für zwei Personen serviert hatte und Nathalie einen Klangkerker zaubern konnte. Es ging um die morgen beginnende Zusammenkunft der internationalen Zaubererweltkonföderation, bei der neben Belle Grandchapeau ja auch Leute aus Chaudchamps Abteilung und hochrangige Hexen und Zauberer aus nichtministeriellen Bereichen mitreisen würden. Nathalie und Demetrius, der wieder über den Silberohrring mitsprechen konnte, wollten noch einmal wissen, was genau vorbereitet worden war. Julius erwähnte es und auch, dass er weiterhin Bedenken hatte, dass in der Schweiz bereits sowas wie Veelafallen aufgestellt worden sein konnten, falls das schweizer Zaubereiministerium auch schon unterwandert war wie das Deutsche, Italienische oder auch das spanische Zaubereiministerium.
"Ich teile deine Sorgen wegen Mildrid und Belle", cogisonierte Nathalie, damit Demetrius es auch klar und deutlich verstand.
"Wir haben uns schon auf manches gefährliche Zeug eingelassen, Millie und ich. Aber falls Ladonna echt noch die internationale Zaubererkonföderation mit ihren Duftkerzen heimsuchen will könnte es echt eng werden, selbst wenn die Gasvorgreifer den Qualm abhalten und Millie einige uralte Tricks aus dem versunkenen Reich kennt."
"Ja, was nützt es, als einziger gegen diesen Giftqualm immun zu sein und dann von der ganzen Meute angegriffen zu werden, die diesem Dreckdunst erliegt?" fragte Demetrius. Darauf antwortete Nathalie: "ich hoffe sehr, dass Belle und du, die ihr ja hervorragende Schachspieler seid, auch diesen Ausgang der Reise mit einkalkuliert habt." Das konnte Julius nur unter dem Vorbehalt bestätigen, dass gute Schachspieler alle Figuren und das Brett überblicken konnten, während so eine Mission wie ein Pokerspiel war, wo unter Einhaltung der Regeln keiner in die Karten des anderen sehen konnte und nicht wusste, ob wer bluffte oder ein alle anderen Blätter übertreffendes Blatt auf der Hand hatte. "Dann sollen meine große Schwester und deine Frau früh genug passen und den Spielsaal verlassen, bevor die Meute wütend wird", cogisonierte Demetrius. Alle drei wussten, was er damit meinte. Im Zweifelsfall sollten Belle und Millie flüchten und weitermelden, was passiert war. Er erwähnte dass er noch über das goldene Zuneigungsherz mit ihr Verbindung halten würde. "Dann sage der, die in der Zeit, wo ich gerade mal einen halben Millimeter weitergewachsen bin drei Kinder durchgebacken und ausgeliefert hat, dass sie bitte immer in der Nähe meiner künftigen großen Schwester bleiben möchte, auch wenn ihr das vielleicht lästig wird."
"So nah wie du deiner Mutter bist wird es nicht gehen", konterte Julius. Nathalie blickte ihn erst etwas ungehalten an, musste dann aber grinsen.
"Da hast du es bekommen, Kleiner", vermittelte sie über das Cogison.
Nach dem Mittagessen hielt sich Julius wieder in der Computerabteilung auf. Er gab das weiter, was Chaudchamp ihm gesagt hatte. Jacqueline, Louis und die anderen Kolleginnen und Kollegen mussten lachen. "Wir sind nicht beaufsichtigt, Leute", meinte Luis Vignier.
Kurz vor dem Feierabend traf noch eine Nachricht aus Deutschland ein. Bärbel Weizengold teilte mit, wer morgen bei der Zusammenkunft dabei sein würde und warnte davor, dass die Personen alle unter dem Feuerrosenbann standen. Julius schrieb zurück, dass er das weitergeben würde, auch um sicherzustellen, dass die französischen Delegierten nicht von jenen überwältigt und entführt wurden. Er wusste zwar, welch großen Drachen er da rief, hoffte aber darauf, dass es zu keinen Handgreiflichkeiten kommen würde, bevor nicht alle an der Konferenz teilnehmenden von Ladonnas gemeinem Zauber betroffen sein würden. Eben das sollte ja nach Möglichkeit verhindert werden. Er durfte Bärbel nur nicht berichten, wer zu der Konferenz hinreiste.
Julius zeigte Belle und später auch Millie die von Bärbel mitgeschickten Phantombilder der betreffenden Hexen und Zauberer. "Stimmt, es wäre saublöd, wenn die vor einem möglichen Angriff Ladonnas schon rausließen, wem sie dienen", meinte Millie. Julius grinste und sagte: "Das gleiche hat Belle Grandchapeau auch gesagt, nur mit ganz anderen Worten."
"Na klar, die hochwohlgeborene Kronprinzessin hat es sicher in der gehobenen Sprechweise gesagt, mit der sie schon in Beaux so viele neue Freundinnen und Freunde gefunden hat", erwiderte Millie. Julius überging diesen gehässigen Unterton und zitierte Belles Antwort auf die Warnung aus Deutschland: "Es war ja bedauerlicherweise zu erwarten, dass unter den Teilnehmern eindeutige Erfüllungsgehilfen jener machthungrigen Person sind. Doch es erschiene mir höchst unklug, wenn sich solche Leute bereits weit vor einem geplanten Anschlag ihrer Herrin dahingehend enthüllten, dass sie eben jener Herrin dienen, indem sie etwas unternehmen, von dem sie finden, dass es ihr behagen möge. Nicht immer gilt vorauseilender Gehorsam als zu belohnende Handlung."
"Genau so ist es", erwiderte Millie.
Es war diesmal anstrengender, alle Kinder zur festgelegten Zeit in die Betten zu kriegen. Vor allem Félix und die Zwillinge wuselten mal krabbelnd, mal an Stühlen und Tischen entlangtrippelnd herum. Doch um neun Uhr abends lag auch die ganz große in ihrem Bett und schlief.
"die merken das, dass mir die Kiste nicht so geheuer ist, trotz aller Vorbereitungen", sagte Millie. "Aber trotzdem fahre ich dahin, gerade weil dieses Luder nicht weiß, was ich der alles entgegenhalten kann. Du bleibst ja mit dem Herzanhänger in Verbindung mit mir, Julius." Er bestätigte das und erwähnte auch, dass er mit Primula und Nathalie abgeklärt hatte, dass er die nächsten zwei oder drei Tage sein eigenes Büro hüten durfte, weil sich doch etliche Anfragen der französischen Veelastämmigen angesammelt hätten. Die konnte er zwar in Ruhe abarbeiten, aber so hatte er eine geniale Begründung, für sich zu bleiben, um auf Nachrichten aus der Schweiz zu lauschen.
"Oder soll ich dir nicht doch Ashtarias Erbe mitgeben, Millie. Du kannst die Anrufung ja auch."
"Neh lass mal, Julius. Am Ende meint Ashtaria es so gut mit mir, dass die mich gleich ganz aus der Welt hebt und mir alle weiteren Sorgen abzunehmen denkt. Das damals mit Ilithula und der in der drinsteckenden Hallitti war ja ein von ihr sicher voll genehmigter Sonderfall. Aber jetzt, wo du ihr Erbe geworden bist könnte sie mir das übel nehmen, wenn ich dich um den Stern bitte. Also lasse ich es besser bleiben und vertraue auf alles, was ich mitnehmen und annwenden darf", sagte Millie.
So gingen sie noch einmal alles durch, was Millie mitnehmen und worauf sie gefasst sein sollte. Béatrice hatte ihr neben den üblichen Schnellheilungs- und Auffrischungstränken auch eine für insgesamt drei Stunden vorhaltende Menge von Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit, den bisher besten Gedächtnisverstärkertrank der Zaubererwelt, eingepackt.
Als Millie und Julius im gemeinsamen Ehebett lagen sagte Julius zu seiner Frau: "Ich hoffe, Belle und du kommt aus dieser Veranstaltung so raus, wie ihr reingeht, am besten ohne dass Ladonna was anstellt. Immerhin könnte sie ja schon über die ihr unterworfenen Delegierten einiges anschieben oder blockieren."
"Wer hat da vorgestern noch gesagt, dass dieses Weib noch nicht genug hat, Monju? Die will die ganze Welt erobern. Europa ist nicht die ganze Welt. So'n Treffen von hochrangigen Vertretern der weltweiten Zauberergemeinschaft ist eine seltene Gelegenheit, um da noch mehr Rosenknechte und -mägde zu kriegen. Aber ich will natürlich auch nicht von diesem Mistqualm benebelt werden. Sonst käme ich wohl nicht mehr nach Millemerveilles rein."
"Obwohl du hier vier Kinder geboren hast, Mamille und wo du mitgeholfen hast, dass wir überhaupt dieses Schutznetz von Ashtaria über dem Ort haben?" fragte Julius. "Ja, aber du hast ja mitbekommen, wie es denen von der amerikanischen Schummeltruppe ging, als sie hier waren. Da haben wir das Lichternetz noch gar nicht voll ausgespannt", erwiderte Millie. "Ja, und womöglich käme ich dann weder nach Millemerveilles, noch ins Sonnenblumenschloss rein. Also muss ich schon zusehen, dass mir das nicht passiert, was leider schon zu vielen passiert ist." Das Argument leuchtete ein, fand Julius.
Einen langen Augenblick lagen er und sie einander in den Armen. Julius fühlte, dass er sie begehrte, die da bei ihm im Bett war. Er merkte auch, dass sie wohl überlegte, ob sie diese Nacht noch einmal leidenschaftlich werden durfte oder vielleicht doch mehr Ruhe haben wollte. Dann gewann die Lust aufeinander gegen die Vernunft und belohnte die beiden mit bald zwei Stunden bis zur herrlichen Erschöpfung. Julius half seiner Frau mit jenem blauen Wunderelixier, dass sichern sollte, dass sie nicht zu früh wieder an wen neues denken mussten. Das gehörte für die beiden schon zum festen Ritual, wenn sie miteinander eine höllisch heiße Reise zum siebten Himmel und zurück erleben wollten. Dann waren sie auch beide sehr müde.
"Soso, eine offizielle vorladung hat mir der nette Minister Costacalma geschickt", grummelte Margarita Isabel de Piedra Roja. "Da kommt er aber früh drauf", fügte sie hinzu. Esmeralda sah ihre Tante besorgt an. "Weshalb jetzt genau? Ich meine, den Handel mit Kokain hätte er dir ja schon viel früher anhängen können."
"Es geht um die Sache mit Paredes. Offenbar will er bei den Mexikanern schönes Wetter machen und das genau klären, ob ich was damit zu tun habe. Ja, und falls er befindet, dass dem so ist, dann fällt alles auf mich herunter, was ich bisher so schön hoch oben hielt."
"Oha. Aber der hat doch sonst stillgehalten, wenn was war, nach dem Motto, was uns nicht betrifft passiert auch nicht", sagte Esmeralda. "Vor allem, wo ich ihn wegen der Sache damals so schön in meiner Spur hatte", grummelte Margarita de Piedra Roja. Ihr gefiel es nicht, dass Costacalma derartig aufbegehrte. Das konnte nur heißen, dass jemand noch mächtigeres als sie selbst hinter ihm stand.
"Und wenn stimmt, was behauptet wird, dass diese neue Südamerikaföderation, für die wir ja gar nicht abstimmen mussten, auf dem Mist dieser italienischen Überhexe Ladonna gewachsen ist?" fragte Esmeralda. Die Doña Margarita verfiel ins Nachdenken. Dann sagte sie: "Ja, dann könnte der einfallen, mich zu einer sehr treuen Bundesschwester zu machen, wenn sie wirklich so schnell so viele andere unterworfen hat. Sicher könnte ich eine der erkannten schweigsamen Schwestern fragen, was dran ist. Aber mit denen habe ich seit zwanzig Jahren keinen Vertrag mehr."
"Dann gehst du zu dieser Anhörung hin, Tante Gita?" wollte Esmeralda wissen. "Seh ich aus, als sei ich altersverwirrt oder was?!" stieß Margarita de Piedra Roja aus. "Ich habe gewiss nicht die ganzen Angriffe der Bondego-Brüder, der Locarno-Familie und anderer Magielosen oder die Anfeindung des schwarzen Engels von Sevilla überstanden und die Feuerherzzombies von Paredes abgewehrt, um mich von einem möglicherweise von einer Mischlingshure aus Italien verdrehten Zaubereiminister einsperren, dieser Schlampe als neue Marionette darbringen oder gleich einen Kopf kürzer machen zu lassen. "Die Anhörung ist erst in zwei Tagen. Da machen wir doch was ganz besonderes. Außerdem haben wir dann Zeit, um einen Versuch vorzubereiten, mit dem wir rauskriegen, ob dieser plötzlich so gerechtigkeitsliebende kleine dicke Alberto echt noch der Herr in seinem Haus ist oder schon längst am Nasenring der Sabberhexenbrütigen geführt wird wie ein Zuchtstier auf der Rinderleistungsschau."
"Der blaue Phönix, Tita Gita?" fragte Esmeralda. "Genau der, Sobrinita mia", grinste Margarita de Piedra Roja. Dann rief sie ihre Dienerschaft und ihren derzeitigen Lebens- und Liebespartner. Sie wirkte etwas, dass alle zugleich betraf. Danach führte sie mehrere Telefongespräche und reiste mit Esmeralda an verschiedene Orte. Nur eine Stunde später war alles vorbereitet. Denn immer schon hatte Margarita damit rechnen müssen, dass ihre Abwehrzauber alleine nicht ausreichten, wenn doch jemand wie Paredes einen Großangriff auf alle ihre Niederlassungen und Angehörigen starten würde. Im Grunde hatte sie bei Paredes unverschämtes Glück gehabt, dass ihre Schutzmaßnahme gegen Vampirübergriffe einen seiner Handlanger umgebracht und ihn wegen des mit ihm geschlossenen Bluteides hinterhergemeuchelt hatte. Ähnlich wie bei Paredes würde es jetzt ablaufen, nnur mit dem einen, feinen Unterschied, dass sie dafür nicht wirklich sterben musste.
Der peruanische Zaubereiminister Costacalma wurde mitten in der Nacht zum 15. Mai aus dem Schlaf gerissen. "Herr Minister, mehrere Magielose haben einen regelrechten Großangriff auf die Hacienda von margarita de Piedra Roja gestartet. Aber da waren sicher auch Zauberer oder Hexen bei", informierte Costacalmas Sicherheitsleiter den Minister. Dieser schrak aus dem Bett hoch und sprang auf die Füße. Doch weil sein Kreislauf nicht mehr der jüngste war und für die Umstellung von Tiefschlaf auf hellwach so eine Minute brauchte fiel er fast vorne über. Seine Mitarbeiter fingen ihn auf und halfen ihm, in Nachtgewand und Hausschuhen in den Lageraum zu wechseln, wo gerade eine Meldung nach der anderen eintraf. "Es sieht nach einem Racheakt der Paredesanhänger aus. Die haben mit nichtmagischen Fernlenkraketen und magischen Feuerentladungen angegriffen, etwas, das uns allen sehr zu denken geben muss", sagte der wachhabende Meldezauberüberwacher. "Wir schicken gerade einen Schwarm Eulen mit Mitsehaugen nach Hugo Dawn in das betreffende Gebiet. Bisher wissen wir nur, dass in Lima selbst ein Haus von Margarita de Piedra Roja in die Luft flog, dann drei Fabriken, wo sie das für die Nichtmagier gedachte Kokain hergestellt hat. Ja, und ihre Hacienda wurde von mehreren hundert Feuerkugeln getroffen. Die Spürsteine sind dabei überlastet worden."
"Meine Königin, wart ihr das mit jener, die sich Margarita de Piedra Roja nennt?" fragte Costacalma seine wahre Herrin in Gedanken. Dann durfte er ihr schildern, was er mitbekommen hatte. "Und sie hatte viele Feinde?" wurde er gefragt. "Ja, hat oder hatte sie", erwiderte er. "Gut, dann behalte ihre Wohnstatt unter Beobachtung. Es kann sein, dass sie wirklich vernichtet wurde. Es kann aber auch sein, dass sie euch was vorspielt. Bleibt wachsam!"
Eine Stunde später stellte sich heraus, dass die Hacienda von margarita de Piedra Roja nur noch ein lichterloh brennendes Trümmerfeld war. außerdem stand ein Arrestdom über dem Haupthaus, das gerade vollständig ausbrannte. Blaue Flammen tanzten gierig über alles, was sie noch verzehren konnten. Einige von denen berührten den weißblauen Arrestdom mit goldenen Schlieren und ließen diesen hektisch aufflackern.
"Öhm, wer kann sowas außer uns machen?" wollte Costacalma wissen. Keiner antwortete ihm darauf. "Wenn das wer aus dem Ausland war gibt das Ärger", sagte er noch, während die Hacienda weiter im blauen Zauberfeuer niederbrannte. "Versuch da wen hinzuschicken, der rauskriegt, was es ist und ob die wirklich nicht mehr da ist!" befahl der Zaubereiminister von Peru.
Es stellte sich heraus, dass trotz des blauen Infernos kein Zauberer näher als zwei Kilometer heranapparieren konnte. Wer sich dem Zaun näherte konnte gerade noch zurückspringen, als blaues, eisige Kälte verströmendes Feuer auf ihn zuraste. Im Haus oder darunter musste eine Menge Magie stecken, die sich nun ungehemmt austobte.
"Die hätten echt warten sollen, bis ich diese alte Krawallhexe hier im Ministerium habe", knurrte Costacalma. Denn er hatte eigentlich vorgehabt, sie zusammen mit anderen Südamerikanern, die Ladonna für brauchbar oder unbedingt zu kontrollieren eingestuft hatte mit einer Feuerrosenkerze zu beehren. Gut, dann sollte es eben auch ohne die Piedra Roja gehen, dachte Costacalma. Er überlegte auch, was seine Delegation der IZKF ab morgen veranlassen würde, wenn die dafür bereitgestellte Feuerrosenkerze ihre Wirkung tat. Er hoffte nur, dass dieses Inferno wie vom jüngsten Gericht persönlich in Auftrag gegeben bis dahin nicht in Genf bekannt wurde. Denn dann mochten viele fragen, was genau passiert war und warum er, der peruanische Zaubereiminister, die Doña so lange hatte gewähren lassen. Er wollte keinem erzählen, dass er Margarita de Piedra Roja nur deshalb nicht gleich bei Aufkommen der ersten Verdächtigungen hatte festnehmen lassen, weil sie ihm damals aus einer sehr tiefen finanziellen Patsche geholfen hatte. Tja, und wie das so war, erst Geschenke, dann doch das Preisschild. Sie waren darüber eingekommen, dass sie niemals in der magischen Welt dumm auffallen durfte. Das hatte sie auch über zehn Jahre lang geschafft, bis heute.
Millie war einerseits verdammt stolz und glücklich, dass sie mit Julius immer noch so herrliche Nächte erleben konnte und am nächsten Morgen keinen Muskelkater fühlte. Doch offenbar konnte sie es nicht so recht verbergen, wie glücklich sie im Moment wieder war. Denn ihre Tante Béatrice sah sie einmal prüfend an und wirkte so, als müsse sie entweder gleich lostoben oder weinen oder beides. Dann hatte sich die Heilerin, die ihr, Mildrid Ursuline Latierre, alles nötige für die Pflegehelferausbildung gezeigt hatte, wieder im Griff. Millie unterdrückte die Regung, ihre Tante damit aufzuziehen, dass Julius und sie immer noch wie in der allerersten Nacht auf der Mondburg miteinander klarkamen. Doch ihr fiel sofort ein, dass es nicht nur Béatrice, sondern auch Julius und ihr selbst weh tun mochte. Sie bekam schon mit, dass Julius doch mal zwischendurch daran dachte, mal wieder mit Béatrice so eine herrliche wilde Nacht zu erleben. doch natürlich würde er sich das nicht herausnehmen, sie noch einmal dazu zu kriegen. Doch Millie merkte auch, dass Béatrice stark mit ihren eigenen Gefühlen kämpfen musste.
Millie dachte daran, dass Ashtaria diese Lage erzwungen hatte. Sicher, Béatrice hätte auch nein sagen können und wäre damit aus der Sache heraus gewesen. Aber sie hatte nicht nur nicht nein gesagt, sondern sie hatte es wohl auch genossen, nicht nur die wilden Nächte, sondern auch die Schwangerschaft mit Félix, dessen Geburt und die Mutterrolle, die Millie ihr nicht wegnehmen konnte, auch wenn sie das Recht dazu gehabt hatte. Wenn sie nicht gerade auf eine sehr riskante, vielleicht sogar tödlich gefährliche Mission gehen würde, wobei Julius sich bereithalten wollte, sie zu unterstützen, hätte sie gesagt: "Ihr zwei, solange ich weg bin kümmert ihr euch um alles und um einander!" Doch sie wusste, dass Julius solange nur auf sie lauschen würde, bis sie wieder da war. Womöglich hatte die letzte Nacht die Bindung zu ihm sogar noch verstärkt, dass die zwei goldenen Herzanhänger sie beide noch besser verbanden. Auch wusste Millie nicht, ob sie wirklich auf alles vorbereitet war und ob sie nicht am Ende doch unterliegen mochte. Nein, sie wollte nicht zu Ladonnas Sklaventruppe gehören. Sie musste das überstehen.
Die Kinder, vor allem Chrysope und Aurore merkten, dass es heute etwas anderes war als sonst. Sonst ging immer nur der Papa zur Arbeit, indem er disapparierte oder durch grünes Feuer wegfauchte. Doch heute ging auch die Maman weg. Sie hatte es den zwei großen Mädchen erklärt, dass sie eingeladen worden war, bei einer ganz langen Unterhaltung von vielen Leuten zuzuhören, die alle aus verschiedenen Ländern kamen, um zu reden, was in ihren Ländern gerade wichtiges passierte. Das würde auch ohne die über allem schwebende Feuerrose Ladonnas eine neue Erfahrung für die Reporterin der Temps de Liberté sein.
Als das Frühstück vorbei war erschien Nathalie Grandchapeaus Kopf im Kamin. Aurore, Chrysope und Clarimonde kannten das schon, dass jemand mal eben als Kopf im Kaminfeuer war. Doch für Félix und die Zwillinge war das noch ziemlich unheimlich. Deshalb erschraken die erst mal und schluchzten. Millie nahm die zwei kleinen Mädchen auf die Arme und sprach ihnen tröstende Worte in die kleinen Ohren. "Oh, das hätte ich wohl bedenken müssen, dass der Anblick eines im Feuer erscheinenden Kopfes bei damit nicht vertrauten Menschen, vor allem kleinen Kindern, sehr befremdlich wirkt. Ich bitte um Ihre Verzeihung", grüßte Nathalies Kopf mit den dunkelblonden Haaren. Millie sah ihr in die Augen und sagte: "Das gehört zu den Dingen, die die beiden und der Kleine auch noch lernen werden, Madame. Da die beiden noch nicht so sprechen können, um sich unmissverständlich auszudrücken spreche ich Ihnen meine Verzeihung aus." Julius grinste über Millies gestelzte Antwort. Dann sagte er: "Ich schließe mich meiner Angetrauten vorbehaltlos und vollumfänglich an und gewähre Ihnen auch meine Verzeihung, Madame Grandchapeau. Doch was verschafft uns die Ehre eines Kontaktfeueranrufes Ihrerseits?"
"Der Umstand, dass ich Mademoiselle Arno beauftragt habe, heute ganz ohne Sie auszukommen und dass ich in meiner Eigenschaft als Leiterin des Büros für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne magische Fähigkeiten beschlossen habe, sie für die kommenden drei Tage freizustellen, da mir bewusst ist, dass Sie auch in Ihrem angestammten Büro mehr bei Ihrem Herzen als bei den erwähnten Schreibarbeiten sein werden. Da Madame Belle Grandchapeau ebenfalls davon profitiert, dass zwischen Ihnen und Ihrer Gattin ein so intensiver und räumlich weitreichender Kontakt besteht und mir das Wohlergehen Madame Grandchapeaus wichtig ist gewähre ich Ihnen drei Tage außerhalb des Ministeriums. Meinetwegen verfassen Sie einen Bericht über die Lage in der nichtmagischen Welt, und ob irgendwas von den letzten Monaten bei uns dort irgendwie ruchbar wurde! Hauptsache, Sie sind in Bereitschaft, Monsieur Latierre."
"Ich habe verstanden, Madame Grandchapeau", sagte Julius. Offenbar hatte er für eine Sekunde überlegt, ob er sich bedanken sollte. Doch er hatte ja einen offiziellen Auftrag bekommen, keine Gefälligkeit. "Gut, dann wünsche ich Ihnen eine erfolgreiche, beschwernisarme Reise, Madame Latierre und Ihnen die nötige Ruhe und Ausdauer, um Ihren Sonderauftrag zu erledigen, Monsieur Latierre", sagte Nathalies Kopf. Millie und Julius bedankten sich. Dann verschwand Nathalies Kopf mit einem vernehmlichen Plopp in den Flammen.
"Hat deine Chefin gesagt, du darfst heute hierbleiben?" fragte Aurore ihren Vater. Der sagte: "Ja, ich darf hier in Millemerveilles bleiben. Aber sie hat auch gesagt, dass ich was arbeiten muss, Rorie", sagte Julius. Dann sagte Millie: "außerdem wollten Roger und Estelle doch mit euch durchsprechen, wie sie ihren sechsten Geburtstag feiern wollen, nicht wahr?"
"Stümmt, die zwei haben ja in - öhm - am Achtzehnten Gebuatstag", erwiderte Aurore. Sie kannte natürlich die Geschichte, dass sieund die beiden in der Beauxbatons-Schule geboren worden waren und dass Rories Maman und Sandrine, die Maman von Estelle und Roger viele Tage im gleichen zimmer gewohnt hatten. Da die beiden ja auch bei Aurores sechstem Geburtstag dabei waren und Estelle und Roger mit ihren Freunden aus dem Kindergarten zusammen feiern wollten wurde da natürlich gerade sehr groß vorbereitet.
"Also, ich fliege gleich mit Madame Belle nach Genf in der Schweiz, Papa muss für Belles Maman Nathalie einen Bericht über die Leute schreiben, die nicht zaubern können und du und Chrysie macht alles soweit fertig, damit Estelle und Roger einen schönen Geburtstag feiern können", fasste Millie die Pläne der gesamten Familie zusammen. Béatrice erwähnte, dass sie sich für Heilereinsätze bereithalten wollte, aber dann auch auf die drei ganz kleinen aufpassen würde, wo Millie nicht zu Hause war.
Zusammen brachten sie Aurore, Chrysope und Clarimonde zum örtlichen Kindergarten. Da wollten sie Félix und die Zwillingsschwestern Flavine und Phylla in einem Jahr auch hinschicken. Die Leiterin, die vor zwei Jahren zwei Jungen und ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, freute sich, dass die drei aus dem Apfelhaus einmal zusammen den Weg zu ihr fanden. Dass Millie zur Konferenz der internationalen Zaubererkonföderation reisen würde hatte sich in Millemerveilles schon herumgesprochen.
Wieder zurück im Apfelhaus holte Millie ihren Weltenbummlerrucksack aus dem Elternschlafzimmer. Julius fragte sie noch einmal, was sie machen würde, wenn sie durchsucht werden sollte. "Tja, das Geheimfach im Rucksack mit den ganzen Sondergepäckstücken werden die nicht finden, Julius. Das einzige, was ich denen klar angeben werde ist mein Zauberstab und der Herzanhänger. Sollte der schon Stress machen und die mich deshalb gleich wieder nach Hause schicken werde ich eben wieder abrauschen, um mich in der Nähe aufzuhalten, wenn es doch kritisch werden sollte."
"Komm bitte wieder, Millie", sagte Julius nur. Béatrice sagte: "Ja, und wenn es zu gefährlich wird sieh zu, dass du da wegkommst und es weiterberichten kannst."
"Wenn ich die Möglichkeit habe, alle aus unserer Delegation da wegzuholen werde ich das tun, Trice. Aber ich sehe auch ein, dass ich mich nicht von diesem Weib zur lebenden Puppe machen lassen will", grummelte Millie. Dann wandte sie sich dem Flohpulverkamin zu. "Wenn alles gut geht sehen wir uns in spätestens einer Woche wieder", sagte sie noch. Dann warf sie das glitzernde graue Flohpulver in das kleine Kaminfeuer. Dieses loderte unvermittelt smaragdgrün auf. Millie prüfte noch einmal ihren Presseanstecker. Dann lud sie sich den Rucksack auf den Rücken, kletterte auf den Kaminrost und stellte sich mitten hinein in das magische Feuer. "Zaubereiministerium!" rief sie aus. Unverzüglich wirbelte alles um sie herum. Andere Kamine huschten durch ihr Blickfeld, und es fauchte wie ein durch einen dichten Wald wütender Wintersturm. Dann fiel sie und landete auf einem anderen Kaminrost. Sie sah sogleich, dass sie am ausgerufenen Zielort angekommen war.
Wie schon mehrfach ausgeführt ging sie zunächst zur Ankunftsbetreuung und stellte sich vor. "Ach, die Reisekorrespondentin", sagte der diensthabende Zauberstabprüfer und Plakettenverteiler. Man kannte sie hier ja schon ziemlich gut.
"Madame Belle Grandchapeau erwartet sie in ihrem Büro. Möchten Sie, dass ich Ihnen den Weg beschreibe?" Millie verneinte es. Schließlich hatte Belle ihr den Weg zu ihrem Büro gut genug beschrieben.
Millie fuhr mit einem der ständig von ganz unten bis ganz oben und wieder hinunterfahrenden Aufzüge bis zum Stockwerk hinauf, auf dem die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit zu finden war. Schon aus zwanzig Metern entfernung hörte sie das leise Tuscheln von mehr als zehn Hexen und Zauberern. Als sie um die letzte Ecke bog und in den Trakt der Büros der internationalen Zaubereikonföderationsmitglieder einbog kam ihr Heilerin Anne Laporte entgegen. "Schön, Sie sind pünktlich, Madame Latierre. Ich habe dem Kollegen Champverd schon erzählt, dass Sie nicht nur unsere Reise journalistisch begleiten, sondern auch als Pflegehelferin teilnehmen, sofern eine solche benötigt wird. Hat meine Kollegin Mademoiselle Latierre Sie mit allen nötigen Tränken und Salben ausgestattet?" Millie bejahte es und zählte leise die mitgeführten Heilmittel auf. "Das beruhigt mich sehr. Dann begleiten Sie mich zu den anderen", sagte Anne Laporte, die Tochter der Heilerin und Hebamme Alouette Laporte.
Millie sah, dass die Kollegin vom Miroir Magique, Thérèse Duvent, gerade mit Octave Champverd, dem Schwiegervater von Oleande Champverdd, im Gespräch war. Der altehrwürdige Zauberer mit dem schneeweißen Haarschopf ließ sich wohl gerade darüber aus, warum Belle Grandchapeau mitreisen durfte. So begrüßte Millie die anderen Hexen und Zauberer und interviewte Henri Montété, von dem sie wusste, dass er eine veelastämmige Schwiegertochter hatte. Vielleicht hatte diese ihm ja noch was mitgegeben, was ihn gesondert beschützen sollte. Doch direkt danach fragen durfte sie nicht. So erkundigte sie sich bei ihm, wie er die mögliche Unterwerfung Italiens durch Ladonna Montefiori im Bezug zur internationalen Konföderation einschätzte und ob er sich Sorgen machte. Er erwähnte, dass seine Schwiegertochter, die ja zur neuen Veelapatrouille des Zaubereiministeriums gehörte, ihm einige Zauber beigebracht hatte, um sich gegen feindliche Zauberwesen zu wehren, aber er diese nicht beliebig weitergeben oder gar veröffentlichen durfte. "Wenn Sie meine Antworten niederschreiben, Madame Latierre erwähnen Sie bitte, dass ich von meinen Verwandten mit besonderer Herkunft auf alle möglichen Eventualitäten hingewiesen und soweit es ging vorbereitet wurde", sagte Montété.
Nun durfte Millie noch den Patriarchen der Gesandtschaft begrüßen und interviewen. Octave Champverd blickte sie durch seine smaragdgrün geränderte Brille von unten her an, weil er gerade einmal 1,63 Meter hoch war. Millie kannte das Unwohlsein von Zauberern, wenn sie mit sie längenmäßig überragenden Hexen sprachen. Doch von der Stimme her blieb er sehr gefasst.
"Ich habe nach allen besorgniserregenden Meldungen aus Italien und der sich dort abzeichnenden Entwicklung begrüßt, dass wir eine mit bestimmten Anlagen ausgestattete Delegierte hinzugewonnen haben, die sich gleich vom ersten Tag an in die bei uns übliche Hierarchie eingegliedert hat. Ich hoffe natürlich, dass wir bei unserer Unterhandlung in Genf näheres über diese sogenannte Koalition der Verbundenheit erfahren können, ohne dazu genötigt zu werden, uns ihr anzuschließen oder von dieser als Gegner eingestuft zu werden, Madame Latierre. Unsere seit 1725 bestehende Konföderation dient der sachlichen Unterredung in ruhiger Atmosphäre und der Vermeidung und der Beseitigung aufkommender Missverständnisse. Selbst wenn wir nur eine repräsentative Organisation darstellen, anders als die verbindliche globale Magierkonferenz, so hatten und hoffentlich haben unsere Beratungen, Beschlüsse und Vorschläge doch immer wieder einen sehr förderlichen Einfluss auf die internationale Zusammenarbeit. Wir hoffen sehr, dass dieser gute Geist der Gemeinschaft nicht durch das Gift des Misstrauens und der Unterdrückung beschädigt wird. Ob ich Bedenken habe, nicht nur die Italiener könnten bedauernswerte Erfüllungsgehilfen einer skrupellosen Macht sein? Nun, in meinem Herzen widerstreiten die Hoffnung, alles sei doch nur ein zeitweiliges Phänomen mit der großen Besorgnis, dass wir französischen Hexen und Zauberer eines nicht so fernen Tages vor die Wahl gestellt werden könnten, entweder den Frieden unter Fremder Herrschaft oder die von ständigen Übergriffen und Anfeindungen bedrohte Freiheit zu wählen, sofern uns die dunkle Magierin Ladonna Montefiori überhaupt eine Wahl lässt", sprach Octave Champverd seine wohl einstudierte Erklärung herunter, ohne dass Millie groß fragen musste. Offenbar hatte er genau das auch schon der Kollegin Duvent erzählt, die im Hintergrund zuhörte und verhalten grinste, als Millie diese Erklärung mitnotierte. Sie fragte dann noch, was die Konföderation unternehmen würde, wenn die Helferinnen und Helfer Ladonna sie offen angriff. Darauf sagte Champverd:
"Nun, sie wird sich das mehrmals überlegen müssen, ob ein wie auch immer geführter Angriff auf unsere körperliche und geistige Unversehrtheit ihren Zwecken dient. Denn wenn sie derartiges vorhaben sollte und wir es hoffentlich früh genug bemerken können wir der gesamten Weltöffentlichkeit mitteilen, dass alle Beteuerungen des italienischen Zaubereiministeriums erlogen waren und dieses seit der Angelegenheit von 2004 immer noch und wohl noch verstärkt im Zugriff dieser machtsüchtigen Hexe ist."
"Haben die italienischen Gesandten zu- oder abgesagt?" wollte Millie wissen. "Ich erhielt vor zehn Tagen die Bestätigung, dass mein italienischer Kollege Tulio Piazzasole mit zwanzig Kolleginnen und Kollegen an der längst fälligen Unterredung teilnehmen wird. Dann wird sich zeigen, wie weit Minister Barbanera ein Gegner oder ein williger Gefolgszauberer Ladonna Montefioris ist, weil wir in Genf an einem Ort tagen werden, der schädliche Absichten erfassen und den Konferenzleiter Kilian Felsental mitteilen wird, ob ein Feind unter den Teilnehmern ist."
Millie fragte nach, ob Champverd nicht auch fürchten müsse, dass die Schweiz wie Deutschland von Ladonnas Macht unterworfen worden war und die Feindeserkennung daher ebenso verändert sein mochte.
"Nun, dieser Logik folgend müssten dann ja sämtliche Hexen und Zauberer, die nicht unter dem Einfluss der dunklen Hexe Ladonna Montefiori stehen, als Feinde eingestuft und damit die Unterredung selbst unmöglich werden. Ich gehe im Moment davon aus, dass die Schweiz selbst noch unbelastet ist, auch wenn deren Minister Rheinquell sich zur Koalition der Verbundenheit bekannt hat. Selbst wenn es Ladonna beinahe gelungen wäre, mehrere Minister auf einen Schlag unter ihre Herrschaft zu bringen ist es doch sehr fraglich, dass sie auch deren vollständige Verwaltungsstruktur übernommen hat. Was die Deutschen da erwähnt haben erscheint sehr unvorstellbar."
"Wie würde dieser Feindeserkennungszauber wirken?" fragte Millie. "Darüber vermag ich Ihnen keine Auskunft erteilen zu können, da er wohl zu den Betriebsgeheimnissen der in Genf dauerresidenten Kollegen gehört. In meiner bisher schon hundert Jahre dauernden Zeit, die ich Mitglied der internationalen Zaubererweltkonföderation bin habe ich jedoch nie mitbekommen, dass dieser Zauber auch nur einmal in Kraft trat. Sollte es sich dabei um einen Feindesverdränger hhandeln wie in Ihrer Wahlheimat Millemerveilles hätte niemand was davon, uns aus dem Besprechungsraum zu befördern, bevor irgendjemand uns wegen Ladonna Montefiori ansprechen könnte. Außerdem wäre das dann ja der unumstößliche Beweis, dass auch die Schweiz korrumpiert sei. Derlei Blößen werden sich die werten Kollegen nicht gleich am ersten Tag geben", sprach Octave Champverd im Brustton der Überzeugung. Darauf erwiderte Millie: "Nun, wenn sie den Zauber beliebig wirken lassen oder unterbrechen können bekommen wir keinen direkten Beweis, ob die Schweiz selbst noch unabhängig ist oder bereits eine Erweiterung von Ladonnas Königreich wurde." Octave Champverd zupfte sich am schneeweißen Schnurrbart und wiegte den Kopf. "Da kann ich nur wiederholen, dass mir nicht bekannt ist, wie die Feindesabwehr funktionirt und ob sie beliebig in Kraft gesetzt oder dauerhaft unterbrochen werden kann. So bleibt uns nur, auf vieles gefasst zu sein", erwiderte der altehrwürdige Zauberer. Millie konnte dem nur vollkommen zustimmen.
Sie interviewte dann noch Belle, die natürlich ein wenig nervös war, auf so eine Reise zu gehen. "Ich werde mich ehr im Hintergrund halten und sozusagen als stille Garantie mitreisen, dass die auf Veelakräfte bauende Widersacherin keinen Erfolg damit hat, uns mit ihren Kräften zu unterjochen", sagte Belle entschlossen. "Allerdings darf ich diese Reise nutzen, um für die Einrichtung von elektronischen Nachrichtenverbindungen in der internationalen Zusammenarbeit zu werben. Derzeitig können wir dafür nur die zur Überwachung weltweiter elektronischer Mitteilungen und Berichte genutzten Gerätschaften aus der Behörde für friedliche Koexistenz für Menschen mit und ohne Magie nutzen. Auch wenn die Konföderation keine verbindlichen Anweisungen an die globale Zaubereiministerkonferenz aussprechen darf besteht wenigstens die Gelegenheit, diese nichtmagische Technologie aus der bisherigen Schmuddelecke herauszuholen, in die sie die Traditionalisten gestellt haben." Millie bedankte sich für diese kurze und klare Erklärung. Dann reihte sie sich ein, um ins Foyer zu fahren. Dabei sah sie auf Belles kirschroten Aktenkoffer, der Millies kleinem Jornalistenkoffer ähnelte. Falls Ladonna Montefiori der Versuchung nachgab und auch die internationale Zaubererweltkonföderation mit ihren Duftkerzen befallen wollte steckte in Belles Aktenkoffer eine mögliche Abwehr. Doch natürlich durften sie nicht darüber reden, solange zu viele Mithörer in der Nähe waren.
Um halb Zehn trafen sich alle im Foyer wieder und umstellten einen mottenzerfressenen, grauweißen Perserteppich. Das war der Reiseportschlüssel, der sie von hier aus nach Genf ins Zaubererviertel Quartier Prairie Arc-en-Ciel befördern sollte. Dabei sollte es sich den von Millie studierten Aufzeichnungen nach um die Burg eines römischen Zauberers handeln, der vor 2000 Jahren in der von Rom eroberten Provinz Helvetien eine Niederlassung für seine Familie und seine Getreuen errichten wollte und sicherstellte, dass keine "Homines inhabiles magicae" (HIMs) dort hingelangten. Millie erinnerte sich daran, dass Martines Klassenkameradin Amalie Troisvents aus diesem Viertel stammte und von Paris aus immer mit einer ein Viertel so großen Reisekutsche wie die von Beauxbatons in die Schweiz zurückreiste, die von vier Thestralen gezogen wurde und sofort nach dem abheben für außenstehende unsichtbar wurde, aber für die Insassen weiterhin sichtbar blieb, also eher von einer negativen Illusion in Ausdehnung der Thestraleigenschaften als von einer wirklichen Lichtbeeinflussung gesprochen werden musste. Martine hatte Millie auch erzählt, dass Amalie Troisvents in der Handelsabteilung des schweizer Zaubereiministeriums arbeitete. Dann bestand die Gefahr, dass auch sie zu den Feuerrosenopfern gehörte.
"Messieursdames et Mesdemoiselles, in einer Minute wird unser zuverlässiger Beförderer Le Grand Gris uns alle auf den Platz der alten Treue im Quartier Prairie Arc-en-Ciel hinübertragen. Da Sie alle mit der Wirkungsweise von Portschlüsseln vertraut sind brauche ich den heute zum ersten mal mit uns ehrwürdigem Häuflein verreisenden nur mitzuteilen, dass dieser Platz das urtümliche Herrenhaus Villa Viridis des Gründervaters Querinius Cornelius Herbarius beherbergt, das sich bis zum heutigen Tag im Besitz der Gründerfamilie befindet, die seit der Zuordnung Genfs zum französischen Sprachraum der Schweiz Dujardin heißt und auch einige Verzweigungen nach Frankreich und Belgien vorweisen kann. Dort wird traditionell der Abschlussball gegeben, wenn wir Vielredner doch mal genug gesprochen haben", sagte Octave Champverd und erntete ein verhaltenes Grinsen. "Vom Ankunftsort aus erreichen wir das Diplomatendorf und die Wohnsiedlung der Einheimischen. Im Diplomatendorf befinden sich die Unterkünfte nach Landesvertretungen geordnet und das Versammlungshaus mit den Einzelbüros und dem Hauptsaal Dufour. Wie bereits üblich werden wir nach der Ankunft vom Gesandten des schweizer Zaubereiministeriums begrüßt. Danach suchen wir unseren kleinen aber komfortablen Bungalow auf. Die alten Hasen dürfen die jungen Hüpfer führen. Bitte halten Sie sich nun an den Rändern des Portschlüssels fest und erwarten Sie den Transport!"
Alle bekamen genug Halt am ausgefransten und schon einzelne Wollfäden verlierenden Teppich. Dann war es soweit.
Millie hatte es schon häufig mitgemacht, wenngleich sie lieber auf einem Besen oder in einer Transportkabine auf dem Rücken einer Latierre-Kuh verreiste. Doch sie überstand wie alle anderen auch den rasanten Flug durch einen schier grenzenlosen, farbigen Raum, in dem nur ein leises Säuseln zu hören war. Dann schlugen ihre Füße auf wadenhohem Gras auf. Alle schafften es, sich auszubalancieren. Frische Luft wehte den Ankömmlingen um Nasen und Ohren. Millie hatte vermutet, fernen Straßenlärm der nichtmagischen Stadt zu hören und ähnlich wie in der Rue de Camouflage einen Hauch der Abgase zu riechen, wie sie das nichtmagische Paris ausstieß. Doch hier roch es nach einer frisch beregneten Frühlingswiese. Allerdings erkannte Millie, dass es hier nur einheitliches Gras gab, wie es extra für die An- und Abreise mit Fluggeräten oder geflügelten Transporttieren in Gebrauch war und wie es auch auf dem Grundstück des Apfelhauses vorkam.
Millie stand durch einen wohl nicht ganz glücklichen Zufall so, dass sie die erwähnte Villa Viridis nicht sofort sah. Dazu musste sie sich erst umdrehen und nickte. Ja, das in altrömischem Stil gebaute Herrenhaus mit seinen grasgrünen Wänden und den scheinbar aus dem Dach wachsenden bunten Blumen, den wie glatte Birkenstämme beschaffenen Säulen und den vier kleinen Ecktürmchen machte schon was her. Doch im Vergleich zum Château Tournesol der Latierres und dem Château Florissant der Eauvives war diese Villa klein und bescheiden.
Die französische Abordnung war nicht die erste, die hier eintraf und auch noch nicht die letzte. Millie sah mehrere ramponiert aussehende Möbel, Teppiche oder Tischdecken, die von fleißigen Empfangszauberern in blau-goldenen Umhängen eingesammeltund in einen grasgrünen Schuppen zehn Schritte von der Treppe zum Portal der Villa getragen wurden. Gerade erschien ein wurmstichiger Eichenholztisch, an dem zwanzig Hexen und Zauberer in königsblauen Kleidern und Umhängen Halt gefunden hatten. Millie erkannte zwei Hexen, die Gilbert als Mitglieder der US-amerikanischen Abteilung der Konföderation beschrieben hatte. Auch sah sie drei Zauberer, die sonnengelbe runde Hüte trugen, wie sie zur mexikanischen Nationaltracht gehörten. Wie die es angestellt hatten, die Hüte auf den Köpfen zu behalten war bewundernswert, fand Millie. Ihr kribbelte es in den Fingern, ihr neues Mitschreibutensil hervorzuholen, dem sie die ersten Eindrücke diktieren wollte. Dann sah sie eine Truppe nur aus Zauberern, die sich am bereits stark enthaarten und löcherigem Fell eines hellgefärbten Kamels festhielten. Von Haar- und Hautfarbe her stammten sie aus einem arabischen Land. Millie fühlte jetzt erst diesen Kitzel, an was weltweitem teilzunehmen, wie damals, als sie zur Freiwilligentruppe für die Quidditchweltmeisterschaft in Millemerveilles gehört hatte. Sicher, sie hatte schon mit verschiedenen Zaubereiministern und -ministerinnen gesprochen, doch in die arabische Welt hatte sie als Hexe nicht reisen können, weil die werten Herren Zauberer lieber unter sich blieben und schon genug Schwierigkeiten gehabt hatten, mit einer französischen Zaubereiministerin unterhandeln zu müssen.
Millie notierte sich dann doch, wen sie alles schon zu sehen vermochte und wen sie kleinen Ansteckfähnchen nach einer Landesabordnung zuordnen konnte und mit welchen abenteuerlichen Portschlüsselträgern sie ankamen. Die fünf Japanerinnen und fünfzehn Japaner polterten mit einem sechs Meter durchmessendenBronzegong auf die Wiese. Allerdings war dieses zweckentfremdete Musikinstrument schon verbeult und zerkratzt. Die indische Abordnung, die wie die aus den arabischen Ländern nur von Zauberern gestellt wurde, landete ebenfalls mit einem ausgedienten und verschlissenen Teppich, der vielleicht mal ein Flugteppich gewesen war. Bemerkenswert fand Millie die eingewebten Figuren, die mehrere Kühe mit prallen Eutern, einen elefantenköpfigen Menschen mit vier Armen und einen im Sprung befindlichen Tiger darstellten. All das und noch mehr sprach Millie in ihr neues Aufnahmegerät hinein, dass bis zu einem vollen Tag gesprochene Worte einspeichern und über eine Silberdrahtverbindung auf eine Flotte-Schreibe-Feder übertragen konnte, die dann alles zu Pergament oder Papier bringen konnte, was der Speicher enthielt.
Ob es ihr auffiel, weil sie auf sowas besonders achten wollte oder weil es schon augenfällig war wusste Millie nicht. Doch während alle anderen Gesandten aus Paris ihre Kollegen aus anderenLändern begrüßten wichen viele vor Belle zurück, als verströme sie einen unerträglichen Gestank oder strahle ein blendendes Licht aus. Vor allem jene, die Millie dem deutschsprachigen Raum und Italien zuordnen konnte vermieden es, Belle näher als drei Schritte zu kommen. Das fiel sicher auch allen anderen auf, auch wenn sie zunächst nicht erkennen mochten, was es zu bedeuten hatte. Sie sprach in ihre Aufzeichnungsvorrichtung: "Offenbar behagt etlichen angereisten Konföderationsabgesandten Madame Grandchapeaus persönliche Ausstrahlung nicht. Denn sie trachten danach, einen ausreichenden Abstand zu ihr zu halten. Da ich Madame Grandchapeaus Parfüm und Hautpflegemittel bereits wahrnehmen durfte kann ich ausschließen, dass sie einen unerträglichen Geruch verströmt. also woran mag diese Anwiderung oder gar Abschreckung wohl liegen?"
Ein schmächtiger Zauberer mit silbergrauem Haarkranz und gleichartigem Backenbart verließ das goldene Portal eines himmelblauen Quaderhauses mit vier Stockwerken und einem schneeweißen kuppelförmigen Aufbau auf dem flachen Dach. Er trug einen blau-goldenen Umhang mit Stehkragen und einen blau-weiß-rot quergestreiften Zaubererhut auf dem Schopf. Auch ihm fiel auf, dass gerade die europäischen Gesandten vor Belle Grandchapeau zurückwichen und näherte sich ihr. Da prallte er wie gegen eine unsichtbare Wand. Er kam nicht weiter und konnte nur noch zurückgehen. Millie erkannte, dass der Zauberer vom Empfangskommitee offenbar sehr erschrocken war. Denn er wirkte nicht mehr so entschlossen wie gerade eben noch. Dann nickte er und stellte sich so, dass er alle anderen im Blick hatte. Er tippte sich mit einem eher zahnstocherartigen Zauberstab an seinen Kehlkopf und wisperte das Zauberwort Sonorus. Danach sprach er mit magisch verstärkter Stimme erst auf Französisch, dann auf Englisch, Spanisch und dann wohl Arabisch zu den Anwesenden. Millie ließ ihr Schallaufnahmeartefakt weiter mithören, was gesagt wurde.
"Messieursdames Kolleginnen und Kollegen. Im Namen der schweizer Sektion der internationalen Zaubererweltkonföderation heiße ich, Kilian Felsental Sie alle Willkommen in der traditionsreichen Unterhandlungsstadt Genf in der herrlichen Schweiz und hoffe, dass Sie alle eine gute Anreise hatten. Sehr viele von Ihnen kennen mich ja noch von den letzten hundert Begegnungen. Denen, die heute zum ersten Mal hier sind darf ich kurz schildern, wie es nun weitergeht.
Die Sprecher Ihrer Abordnungen haben bereits auf dem Eulenpostweg die Lage- und Belegungspläne für Ihre Unterbringung erhalten. Wer sein Gepäck nicht persönlich dort hintragen will kann es mit den mitgeschickten Erkennungsanhängern versehen und auf der Landewise abstellen. Fleißige Hauselfen werden die Gepäckstücke dann in die zugeteilten Unterkünfte bringen. Dort selbst haben Sie eine Stunde Zeit, alle Habseligkeiten in die verfügbaren Schränke einzuräumen, die sie in den nächsten Tagen zur Verfügung haben möchten. Selbstverständlich gilt das auch für alle für das Badezimmer mitgeführten Artikel. Um elf Uhr, vernehmbar am in Ihre Gästequartiere übertragenen Klang der Eidesglocken unseres Zaubereiministeriums, bitte ich darum, sich vor dem himmelblauen Versammlungshaus, dass sie in Südrichtung sehen, einzufinden. Dort wird dann die höchst offizielle Begrüßung und die Eröffnung im Dufour-Saal erfolgen. Dort werde ich Ihnen auch die Tagesordnung für die kommenden sieben Tage überreichen, über die dann am Nachmittag beraten werden kann. Darauf sind auch die Raucherpausen und Essenszeiten vermerkt.
Ich wünsche Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen, so wie Ihnen, die Damen und Herren von der begleitenden Presse, eine Zeit der gedeihlichen, ideenreichen und erfolgreichen Zusammenkunft."
von der möglichen Stunde bis elf Uhr blieb am Ende der Ankündigung in der achten Sprache, die wohl Mandarinchinesisch war, gerade noch eine Dreiviertelstunde übrig. Als sich alle Abordnungen in Bewegung setzten sortierte sich Millie bei Belle Grandchapeau und Anne Laporte ein. Unter dem allgemeinen Getuschel in so vielen Sprachen konnte Millie Belle zuflüstern: "Offenbar haben Sie etwas ann sich, was die europäischstämmigen Delegationsmitglieder zurückstößt, Madame Grandchapeau. Ihr Parfüm und ihr äußeres Erscheinungsbild sind es auf jeden Fall nicht."
"Das ist mir auch sofort aufgefallen. Aber psst", zischte Belle und flüsterte Millie ins Ohr: "Ich habe auch was gespürt, wenn mir einer von denen näher als drei Schritte kam, als wenn die Luft um mich herum verdichtet würde und dass mein Blut sich leicht erhitzt hat. Wir haben also recht gehabt." Millie unterdrückte es, zu nicken.
"Die Unterbringung ist nach Geschlechtern geordnet", sprach Octave Champverd zu seinen Leuten. "Wir betreten das französische Gästehaus, also das Haus da drüben."
Das französische Haus war ein großer Bungalow, in dessen Seitenwänden Spitzbogenfenster eingebaut waren und über dessen leicht schrägem Dach die Tricolore im Wind wehte.
"Für die erstmalig mitreisenden", setzte Champverd an. "Die internationale Zaubererkonföderation rühmt sich einer strengen Einhaltung in vielen Ländern geltender Sittlichkeitsregeln. Daher besitzt jedes Gästehaus zwei Zugänge, einen für Damen, erkennbar an der Hexe im hellen Kostüm und mit Kopftuch und einen für Herren, erkennbar an der Abbildung eines Zauberers im dunkelroten Umhang mit rotem Spitzhut auf dem Kopf. Die Kollegin Bleumont wird die Damen unter uns in den Wohntrakt für Damen geleiten, während mir bitte alle Herren folgen mögen. Danke!"
"Spürst du was, Belle?" mentiloquierte Millie an Belle, froh, dass sie das beide noch ein paar mal geübt hatten.
"Im Moment nicht. Eben war mir, als wenn ein warmer Gegenwind aus der Tür kommt. Ist aber gerade nicht mehr zu spüren."
"Goldblütenhonigphiole?" gedankenfragte Millie. "Keine spürbare Reaktion", war Belles ebenso lautlos erfolgende Antwort.
Auch Millie spürte keine Reaktion der Goldblütenhonigphiole. Auch ihr Herzanhänger pulsierte ruhig. Offenbar saß Julius gerade in seinem hauseigenen Arbeitszimmer und beschäftigte sich mit etwas entspannendem. Also waren die drei ganz kleinen auch gerade friedlich.
Als Millie und die anderen Hexen durch die mit der fröhlich lachenden Hexe gekennzeichnete Tür traten fühlte Millie etwas warmes über ihre Brüste und zwischen ihre Beine tief in ihren Unterleib hineintasten. Dann war sie im Haus. Also hatten die hier zur Absicherung der Sittlichkeitsbestimmungen den auf Fenster und Türrahmen legbaren Selectisexus-Zauber verwendet. Ein männlicher Eindringling würde wie von einer heißen Woge und mit nicht zur Wiederholung anregenden Schmerzen an den Geschlechtsteilen abgewiesen. Das war schon heftig, fand Millie. Belle gedankensprach: "Selectisexus der höchsten Stufe. Hatten die in Beauxbatons vor hundert Jahren auch noch." Millie gedankenfragte: "Fühlst du sonst noch was?" Belle antwortete auf dieselbe Weise: "Als wenn mir jemand beim Eintreten eine ganz leichte, vorgewärmte Decke über den Körper gelegt hat. Irgendwas wirkt auf mich ein. Aber keine Goldblütenhonigreaktion spürbar."
"Nicht den Anschluss verlieren", mahnte Anne Laporte und deutete auf Madame Bleumont, die so klein und rund wie sie war glatt eine Tante oder Großtante von Corinne Duisenberg hätte sein können, fand Millie.
Die Inneneinrichtung bestand aus einem Salon, von dem zwei Seitentrakte ausgingen und einem Zimmer, in dem laut Madame Bleumont verschiedene Schlagg-, Saiten und Tasteninstrumente vorgehalten wurden, alles, was nicht mit dem Mund berührt werden musste. "Wir teilen uns auf: Madame Duvent bezieht das Zimmer am Ende des rechten Traktes. Madame Latierre bezieht das Zimmer am Ende des linken Traktes. Jede Unterkunft besitzt ein Wohn-Schlaf-Zimmer und ein Bad mit allen nötigen Einrichtungen. Entpacken Sie ihre Koffer, Taschen oder Rucksäcke und finden Sie sich um zehn vor elf in dem Anlass angemessener Garderobe wieder in diesem Gemeinschaftssalon ein!" kommandierte Madame Bleumont wie eine Lehrerin, die ihre Schulklasse anleitete. Belle stellte sich sofort neben Millie und deutete nach links. Millie fragte nach den Zimmerschlüsseln oder ob die Türen mit Körperspeicherschlössern versehen waren. Madame Bleumont sah Millie ein wenig abschätzig an. Dann grummelte sie: "Clavunicus-Schlüssel stecken in den Türen. Aber das hätten sie in nur fünf Sekunden selbst erkennen können, junge Dame."
"Stimmt, Ihre Antwort hat länger gedauert", stellte Millie ungerührt von der gouvernantenhaften Anrede fest. Belle musste hinter vorgehaltener Hand grinsen. Dann gingen die beiden gefolgt von Madame Laporte in den linken Flur, wo links und rechts je zwei Zimmertüren und am Ende eine einzige abgingen.
Millie drehte den Clavunicus-Schlüssel im Schloss, während sich Belle gleich links von ihr das Zimmer nahm. Anne Laporte wählte sich das Zimmer dem Belles gegenüber aus.
Millie war an rauminhaltsbezauberte Räume, ob in Toilettenkabinen oder kleinen Reisezelten gewohnt. Deshalb verwunderte es sie, dass ihr Zimmer gerade mal vier mal vier Meter maß und das Badezimmer mit Duschkabine, Bidet, Waschtisch und Toilettenschüssel gerade mal zwei Mal zwei Meter maß. War das das typische Journalistenzimmer, während die eigentlichen Delegierten in Suiten mit vier oder sechs Zimmern wohnten?
"Millie, das mit dieser über mir liegenden Decke wird immer stärker. Ich fühle mich so, als wenn mich jemand vollständig einwickeln und vom Boden hochheben wolle", hörte sie Belles Gedankenstimme in sich.
"Bin gleich bei dir", gedankenantwortete Millie. Sie griff schnell in ihren frühlingsgrünen Umhang, fingerte die auf ihren Körper abgestimmte Innentasche auf und zog die kleine Flasche mit Felix Felicis heraus. Entkorken, Ansetzen, zweimal kräftig schlucken, absetzen, zukorken, wegpacken. Diese Handlungsschritte dauerten nur sechs Sekunden. Dann fühlte Millie sich wacher als eben noch. Ihre Gedanken waren so klar, als müsse sie sich auf eine lebenswichtige Prüfung konzentrieren. Da hörte sie Belle in ihrem Geist rufen: "Millie, ich werde von Funken bestürmt! Komm schnell!" Belles Gedankenstimme klang nicht mit klarem Nachhall, sondern dumpf, als riefe sie aus einem verschlossenen Schrank heraus nach ihr.
Millie verzichtete darauf, den Rucksack abzusetzen. Am Ende brauchte sie dessen besonderen Inhalt gleich noch. Sie verließ ihr Zimmer und schloss es von außen ab.
Schon auf dem Flur sah sie, was Belle meinte. Sonnengelbe Funken schwirrten über den Flur und von der Decke und aus dem Boden genau auf Belles Zimmertür zu und durchdrangen diese. Doch nur ihre Zimmertür wurde auf diese Weise bestürmt.
Anne Laporte hatte ihre Zimmertür schon von innen verschlossen. Als Millie vor Belles Tür stand fühlte sie die Goldblütenhonigphiole unter ihrem Umhang erbeben. Gleichzeitig war ihr, als wenn aus Belles Türe purpurrote Flammen schlügen. Sofort wusste sie, was zu tun war. Sie zielte mit ihrem Zauberstab auf den Mittelpunkt der Tür und sang leise: "mirdaryanin aluranin Darinur,
agiu na akfubar
nai yanin akfubaranin
uiga karandorinir!
Sinngemäß übersetzt hieß dies: "Wo des Lebens weiße Feuer leuchten, sollen weder Hass noch des Hasses Feuer weilen."
Die Wirkung von Millies Zauber trat unverzüglich ein. strahlend weiße Flammen sprossen aus der Tür, breiteten sich daran und an der sie umgebenden Wand aus und bildeten eine hell, doch hitzelos lodernde Feuersäule. Es flackerte nur drei Herzschläge Millies lang. Dann klang es so wie ein umgekehrt widerhallendes Ploppen. Es prasselte, und die strahlend weiße Feuersäule fiel in sich zusammen. Die hatten also tatsächlich das vor die Tür gemachtt, was im alten Reich als Glutatem des Hasses bezeichnet wurde und auf Feinde des Anwenders so schädlich und zerstörerisch wirkte wie eine Wand aus sonnenheißem Feuer. Sowas konnte auch nur einem oder einer einfallen, der oder die keine Rücksicht auf Menschenleben nahm. Doch jetzt war zumindest die Tür frei. Da diese jedoch mit einem Clavunicus-Zauber belegt war und sicher auch eine Appariersperre besaß wandte Millie einen anderen Kniff aus dem Zauberschatz der Feuervertrauten an: Die Worte des Rückschmiedens. Sie belegte erst einmal ihre Augen mit dem Zauber, mit dessen Hilfe sie stundenlang in die gleißende Sonne starren konnte, ohne zu erblinden. Als sie dessen Wirkung in ihren Augen prickeln fühlte zielte sie auf das Türschloss. Dieses schien sich eines Angriffs gewahr, denn es glühte rot und sprühte Funken, die jedoch von den immer noch in dichten Strömen heranfliegenden sonnengelben Funken aufgezehrt wurden. Nun sang sie mit in der Tonhöhe abfallender Stimme die sieben Worte der Entschmiedung und der Erzrückgewinnung. Schlagartig glühte das Türschloss weißblau auf. Es zerlief. Doch die glutflüssigen Tropfen versengten weder das Türblatt noch den Teppich. Sie fielen herab und erstarrten noch vor dem Bodenkontakt zu kleinen, rötlichbraunen Kügelchen, bis das Schloss gänzlich aus dem Türblatt herausgeschmolzen war. Da ploppte es um ihren Kopf. Der Gasvorgreifer hatte angesprochen. Millie dachte erst, es läge an den bei ihrem Zauber freigesetzten Metallpartikeln in der Luft. Doch dann ergoss sich ein bläulicher Dampf in den Flur. Ihn hatte der Gasvorgreifer wahrgenommen. Sie wusste jetzt nur nicht, ob der Nebel durch ihren feuermagischen Türknackversuch ausgelöst wurde oder sowieso schon freigesetzt worden war. Wichtig war nur, dass sie jetzt in Belles Zimmer treten konnte.
Ladonna hatte es von verschiedenen Gefolgsleuten mitgeteilt bekommen, dass da eine Hexe war, der sich keiner ihrer Untertanen auf weniger als drei Schritte nähern konnte. als die Rosenkönigin mit einer der aus Luxemburg stammenden Hexen eine Gedankenbrücke errichtete erkannte sie die fragliche Hexe. Das war also Belle Grandchapeau, die jüngste der drei, die von einer irrwitzigen Veelastämmigen mit einem Alterungsverlangsamungszauber, dem verbotenen Segen der Sonne, belegt worden war. Also hatte sie recht behalten. Wer sich einer von Veelazaubern durchdrungenen Person oder gar einer Veela oder Veelastämmigen näherte wurde zurückgedrängt, sobald der Zauber der Feuerrose wirkte. Deshalb hatten die Franzosen es bis zur letzten Minute geheimgehalten, wer alles mitkam. Dabei hatte sie es sich schon längst gedacht, dass Ventvit und ihre Leute es darauf anlegen würden. Na, das war doch jetzt interessant, zu erforschen, wie ihre besonderen Vorkehrungen im britischen und Französischen Bungalow und dem Versammlungshaus wirkten. Veelas und Veelastämmige würden das nicht überleben. Würde Belle Grandchapeau das überleben?
Bereithalten zum Einsammeln aller Franzosen ohne Aufsehen zu erregen!" befahl sie dem diensthabenden Sicherheitszauberer. "Sollen wir die Elfen reinschicken? Die können apparieren und disapparieren."
"Nein, Dummkopf! Die Elfen können keine Kopfblasen zaubern", tadelte Ladonna ihren Untergebenen. "Ihr geht da unsichtbar und mit Kopfblasen rein und sammelt die alle ein, sobald ihr erfahrt, dass der Schlafnebel freigesetzt wurde. Ihr deckt die Schlafenden mit Tarndecken zu und tragt sie in den Weinkeller der Villa. Dort sollen sie erst wieder wach werden. Dann soll eine von den drei kleinen Kerzen entzündet werden", gab Ladonna ihre rein gedanklich erklingenden Anweisungen.
"Verstanden, meine Königin", erwiderte ihr Untergebener vor Ort.
Die gelben Funken bildeten eine immer dichter werdende Wolke um Belle, die ebenfalls in einen Kopfblasenzauber gehüllt war. Doch sie hing mit den Füßen über dem Boden, aus dem ebenfalls gelbe Funken stoben und sich um ihren Füßen verdichteten. Belle bewegte sich immer träger, als wenn sie in sich verfestigenden Teig eingebacken würde. Die Funkenwolke bildete eine immer kompaktere Schale aus Licht. "Millie, den Aktenkoffer auf dem Bett!" wummerte Belles Gedankenstimme in Millies Geist. Millie trat vor und streckte behutsam die Hand aus. Da überkam sie die Erkenntnis, dass wer das sonnengelbe Leuchten berührte wie versteinert erstarren musste. Ja, Belle wurde gerade in eine art kristallisierendes Licht eingeschlossen wie damals, wo Euphrosynes verbotener Segen über sie gekommen war. Sie hörte noch Belles letzten Gedankenruf: "Den koff..." Dann verstummte Belles geistige Stimme. Die Funken hatten sich zu einer nun festen, halbdurchsichtigen gelben Kugel verdichtet. Belle war darin eingeschlossen wie ein urzeitliches Insekt in Bernstein. Dabei schwebte sie einen bis zu anderthalb Meter über dem Boden.
Millie wollte wissen woher die Funken kamen. Doch vorher musste sie zumindest die Tür wieder schließen. Sie stellte sich die Form und das Aussehen des entfernten Türschlosses vor. Dann zeichnete sie in das Loch die Umrisse des Schlosses und schuf damit eine innenund außen gleichwertige Nachbildung. Doch ob diese mit dem gleichen Schlüssel zu öffnen war wusste Millie nicht. Es war ihr auch egal. Sie drückte die Tür zu und wisperte "Colloportus!" Leise Knisternd verwuchs das Türblatt mit dem Rahmen.
Nun zielte sie auf ihre Augen und wechselte den Blendschutzzauber gegen den Blick der Feuerquellen, der ihr nicht nur alle Wärme- und Feuerherde in üblicher Sichtweite anzeigte, sondern auch mit Feuerzaubern wirkende Gegenstände oder Wesen. Sofort änderte sich ihre Umgebung. Sie sah die immer noch um Belles eingeschlossenen Körper wirbelnden Funken nicht mehr sonnengelb, sondern orangerot und nicht mehr wie winzige Lichtteilchen, sondern wie schnatzgroße, pulsierende Lichtkugeln, die immer noch in die nun anderthalb mal größer wirkende Kristallsphäre eindrangen und damit verschmolzen. Sie blickte sich schnell um und sah nun, das an der Decke des Zimmers, genau da, wo die Leuchtkristallsphäre hing, eine flache, kreisrunde Leuchtquelle in einem schwachen orangeroten Licht pulsierte. Doch das war garantiert nicht die eine Quelle, dachte Millie. Sie blickte sich um. Als wenn die Steinwände für sie durchscheinend waren konnte sie in den anderen Zimmern ähnliche Leuchtscheiben sehen, ja auch genau unter diesem Zimmer, da wwo wohl Kellerräume waren. Sie erkannte, dass die Leuchtscheiben ein räumliches Gitter bildeten, von dem aus weitere orangerote Leuchtschnatze ohne Flügel herüberschwirrten und sich mit ihren Geschwistern um Belles Körper zusammenfanden. Dann sah Millie in die Richtung, wo die gänge waren und wusste, dass sie jetzt keine Sekunde mehr vertun sollte.
Kilian Felsental blickte auf das rotblinkende Modell eines von hundert Häuschen, über dem auf dessen Dach "Delégation Française" zu lesen stand. Also hatte die Falle gegen Veelastämmige oder von Veelazaubern belegte zugeschnappt. Entweder würde Belle Grandchapeau jetzt sterben oder zumindest auf dauer handlungsunfähig sein. Was genau bei welchem Veelasegen geschah hatte ihm die Königin nicht verraten, weil das nur den Töchtern der Mokusha gestattet war, hatte sie behauptet.
Als mehr als dreißig Sekunden vergangen waren und das rote Licht immer noch blinkte gab Felsental über eine bereitstehende Schallverpflanzungsdose den Befehl, dass alle Franzosen eingesammelt werden sollten, um sie unter Tarndecken in den Weinkeller der Villa Viridis zu schaffen. Dort sollten sie aus der Schlafdunstbetäubung erwachen und erst zehn Minuten danach mit der kleinen Feuerrosenkerze, die wohl gerade die zwanzig Delegierten betreffen würde, eingeschworen werden. Ab da konnte dann wohl der Plan wie beschlossen ausgeführt werden, bei dessen vorläufiger Höhepunkt war, die versammelten Delegierten noch vor dem Mittagessen mit der großen Schwester der winzigen Feuerrosenkerze in die Reihen der Königin einzuberufen.
"Vergesst ja nicht die Kopfblasen zu zaubern, solange der Schlafdunst wirkt!" Mahnte Felsental seine aus dreißig Hexen und Zauberer bestehende Truppe.
"Und wie lange wirkt der Nebel?" wollte Tessa Feuerherd wissen, die mithelfen sollte, die französischen Hexen einzusammeln.
"Nach ausbringen ohne sofortige Entlüftung zwei Stunden, Tessa", erwiderte Felsental. "Wer an die frische Luft kommt erwacht nach zehn Minuten von selbst, braucht aber dann noch mal zehn Minuten, um wieder völlig bei Sinnen zu sein", fügte er noch hinzu.
"Dürfen wir den Mobilicorpus-Zauber benutzen?" fragte ihn der Kollege Fred Wiesentau. "Ach, Fredi, immer noch so ein Weichkäse? Ihr müsst die in Tarndecken einwickeln. Wenn ihr die mit dem Mobilicorpus transportiert könnten die wieder aufgewickelt werden und runterfallen. Was glaubst du, was es für ein Hallo gibt, wenn plötzlich ein freischwebender Franzose mit wackelnden Armen, Beinenund Kopf in der Luft erscheint und unter dem eine silberfarbene Decke zusammengeknüllt liegt? Also sauft euch meinetwegen mit dem Heraklestrank die nötigen Muckis an, aber kein Mobilicorpus!"
"Lustig, Herr Felsental! Wo gibt's denn den Trank!" fragte Fredi sehr ungehalten. Darauf klang die Stimme einer Kollegin: "Bei mir, du armer schwacher Junge!"
"Gut, Wilhelma, Sie besorgen das mit dem Krafttrunk. Aber zum Blitz- und Hagelschlag noch mal schnell!" knurrte Felsental. Eigentlich ärgerte er sich gerade über sich selbst, dass ihm das mit dem Trank nicht vor einer Minute eingefallen war. Was für ein Truppenführer wollte der mal werden?
Eine Ewigkeit von zwei Minuten später vermeldeten die ausgeschickten Kolleginnen und Kollegen, dass sie jetzt ins Haus gingen.
Millie erkannte, dass ein Trupp Hexen und Zauberer in den Bungalow eindrang. Die durften nicht mitbekommen, dass sie noch wach war. Also machte sie schnell den Zauber "Verhüllendes Lebensfeuer", der sie in eine Aura völliger Nichtbeachtung einschloss. Das machte sie nicht nur so gut wie unsichtbar, sondern auch unhörbar, solange sie nicht laut auftrat oder sprach. Sie wurde gerade noch rechtzeitig damit fertig.
Auf dem Flur trafen soeben dunkelrot leuchtende Erscheinungen ein, die wohl wegen der Tür und der Wände wie Nebelflecken aussahen. "Da wo die Funken fliegen ist die Grandchapeau!" verstand Millie gerade noch so oder weil die betreffende Stimme es laut rief und dabei noch schön langsam sprach. "Dann aufpassen. Bei Fokussierung auf einen Veelakraftträger wird die Tür mit einem Zusatz versperrt, der bei Berührung wie weißglühendes Metall wirkt. Moment, ich hebe den mal eben auf!"
"Ja, mach das mal, Tessa", sagte eine Kameradin der Hexe. Millie überlegte, ob sie noch Zeit für den Friedensraum hatte, um zu schützende Wesen vor feindlichen Angreifern zu beschützen. Doch dafür brauchte sie mindestens zehn Sekunden, und drei Hexen standen schon direkt vor der Tür. Außerdem war eine der Funkenquellen hier im Raum. Das mochte also nicht klappen.
"Linkes Endzimmer leer! Niemand drin!" rief eine sehr aufgebrachte Frauenstimme.
"Dann ist die hier bei der Grandchapeau. Keine Bange!" erwiderte die Stimme der Hexe, die den Zusatzzauber aufheben wollte. "Ardor odii hostis dormito pro amica!" hörte Millie. Es ploppte, und die Feuervertraute sah für eine Sekunde einen blitzeblauen Lichtball, der an der Tür zerplatzte. "Häh?!" war die Antwort. "Öhm, ist wohl doch kein Zusatzzauber drauf." Dann schabte und stupste es metallisch an der Tür. "Hallo, ich habe den richtigen Zweitschlüssel", hörte Millie die andere sagen. Also war ihr Scheinschloss doch keine perfekte Kopie geworden.
Es war eine winzige Überlegung. Sie konnte sich einfach verbergen und die anderen machen lassen. Doch dann wussten die, dass sie gerade nicht da also weg war und würden das weitermelden. Also das weitermelden verhindern.
"Lass mich mal!" hörte Millie eine der Hexen. Deshalb zielte sie auf die Tür. In dem Moment, wo draußen jemand "Confringo!" rief wisperte sie: "Aulalhischa Miryanin!" Da barst die eigentlich massive Zimmertür aus dem Rahmem und stob in hunderten von Holzfetzen und einer Wolke Sägemehl durch das komfortable Delegiertenzimmer. Nur Millie konnte sehen, dass eine für sie silberblaue Feuerwand im Türrahmen aufloderte. Als alle drei Hexen im Sturmschritt hereindrängen wollten zuckten sie zusammen, erstarrten und fielen wie angestoßene Dominosteine zu Boden. Millie sah noch die rot leuchtenden Schemen zweier weiterer Hexen auf dem Flur und machte eine wegstoßende Bewegung mit dem Zauberstab. Die Feuerwand sprang förmlich in den Flur hinaus, wo sie sich völlig lautlos ausdehnte und dabei alles erfasste, was ihr in den Weg geriet. So konnte Millie sehen und hören, wie auch die beiden anderen Hexen einfach so umfielen. Eine von denen hatte offenbar schon das Zimmer von Anne Laporte aufgesperrt. Die Heilerin geriet ebenfalls in jenen silberblauen Feuerzauber. Doch das war nicht schlimm, dachte Millie. Sie konnte sie jederzeit aus dem davon bewirkten Ausdauerschwund befreien. Da kam ihr jedoch eine bessere Idee.
Sie verließ das aufgesprengte Zimmer und eilte zu Anne hinüber. "Aggregato transmutaccio!" zischte sie leise mit auf Anne Laporte deutendem Zauberstab. Dabei stellte sie sich einen rosaroten Fingerhut vor. Annes Körper hob ab, flog in Millies Richtung und veränderte sich innerhalb einer Sekunde. Statt ihr landete ein rosaroter Fingerhut in Millies auffangbereiter Hand. Mit einer schon unglaublich fließenden Bewegung versenkte Millie den Fingerhut in einer der besonderen Außentaschen ihres Reiseumhanges. Als habe sie es geahnt, dass sie was einsammeln musste, dachte sie, und das noch bevor sie den Felix Felicis geschluckt hatte.
Schnell blickte sie sich noch um. Dank des Blickes für schlafende und wache Feuerquellen sah sie die roten Schemen gleichwarmer Körper hinter den offenen Türen. Also wollten die anderen die gerade da herausholen, um sie anderswo hinzubringen. Millie wiederholzauberte den gekoppelten Verwandlungs- und Aufrufezauber, um die betäubten Mitreisenden ebenfalls "sicherzustellen". Ja, das war genial. Denn so würde wer immer denken, die vier anderen aus diesem Trakt hätten sich abgesetzt, nachdem sie die Eindringlinge magisch betäubt hatten. Ihre verstärkte Auffassungsgabe riet ihr, die im anderen Trakt steckenden nicht zu betäuben, sondern zu prüfen, wo sie die alle hinbringen wollten.
Bevor sie in den Salon lief durchsuchte sie die drei Hexen in Belles Zimmer und nahm ihnen mehrere Schlüssel und offene Schallverpflanzungsdosen fort. Mit den Dosen konnte sie zwar nicht viel anfangen, aber vielleicht mal mithören.
im felixgoldenen Vertrauen darauf, dass ihre Aura der Unwichtigkeit und ihr gestern noch mit dem Zauber "Spurloses Licht" bezauberter Ehering jede Rückschau mit Florymonts Retrocular vereitelte lief sie in den Salon. Da kamen gerade fünf Hexen, die je einen leblosen Körper auf dem Rücken trugen. Offenbar hatten sie dafür einen Körperkraftverstärkungszauber oder entsprechenden Zaubertrank benutzt.
Sie hörte eine der Hexen blechern sprechen und hörte den Namen Tessa heraus. Das war wohl eine von denen, die sie kalt erwischt hatte. Dann bekam sie mit, wie die anderen mit ihrer Last aus dem Hexenflügel des Bungalows hinaustraten und sich der grünen Villa zuwandten. Also da ging die Reise hin. Zeitgleich verließen auch zehn Zauberer den Flügel für Herren. Auch sie trugen in flirrende Decken eingewickelte Körper auf dem Rücken.
Kaum waren sie wieder an der frischen Luft löste sich Millies Kopfblase auf. Ihr Gasvorgreifer hatte keine für sie schädlichen Stoffe mehr erfasst.
Ladonna hielt weiterhin über eine Gedankenbrücke eine direkte Verbindung zu einer ihrer treuen Mitschwestern aus der Schweiz. Sie interessierte sich sehr, wie genau ihre Falle aus gläsernem Sonnenlicht auf andere Träger von Veelakräften als sie selbst wirkte. Würde Belle Grandchapeau unter der Einwirkung sterben oder nur handlungsunfähig werden?
Sie war förmlich im Körper der treuen Mitschwester Tessa Feuerherd eingebettet, als diese im von winzigen, sonnengelben Funken bezeichneten Teil des französischen Gästehauses unterwegs war. Ladonna argwöhnte zwar, dass jemand etwas gegen ihren Wall des weißglühenden Zornes unternommen haben mochte. Doch sie wollte es nun wissen. So ließ sie es geschehen, dass Tessa Feuerherd die Tür mit einem entschlossenen "Confringo!" aus dem Rahmen fetzte.
Sie sah noch eine mitten im Raum schwebende, durchsichtige, sonnengelb leuchtende Kugel und erkannte, dass Belle Grandchapeau darin eingeschlossen war. . So sehr von diesem Anblick gefangen achtete sie nicht auf das leichte Flimmern in der Luft. Tessa lief mit zwei anderen treuen Mitschwestern vor, um das Zimmer zu stürmen. Da traf sie etwas so heftig am Körper, dass es augenblicklich völlig schwarz wurde. Ladonna meinte, über Tessas Sinne den Zusammenprall mit einer wild erbebenden, massiven Eiswand zu erleben. Dann schlug die Betäubung Tessas auch zu ihr über. Denn sie hatte sich zu sehr auf ihre treue Mitschwester eingestimmt.
Millie folgte den Sammlern auf ihre Art unsichtbar bis zum Portal der grünen Villa. Dort konnte sie mithören, wie sie nach den anderen gefragt wurden. "Die haben wohl keine Kopfblasen gezaubert, diese Hühner", sagte einer, der den schwergewichtigen Monsieur Boulanger auf dem Rücken trug.
"Kilian schickt gleich noch Kolleginnen rein, weil unser Sittlichkeitswall keine Zauberer in den Hexenflügel reinlässt", sagte der Zauberer am Portaleingang. Dann gab er den Weg frei.
"Wer hat einen Schlüssel zum Keller. Unseren hatte Tessa", erkundigte sich eine der Hexen, die eine von Millies weiblichen Mitreisenden auf dem Rücken trug. "Dann bin das wohl ich", sagte einer der Zauberer und kramte in seinem Umhang, bis er was hervorzog, was Millie gerade nicht sehen konnte, weil es kein eigenes Lebensfeuer in sich trug. Dann entzündete eine der Hexen mit "Onilumos Lanternas!" zwei Reihen von Laternen. Millie sah zu, sich nicht zu sehr ins Licht zu stellen. Denn davor hatte sie ihre Ausbilderin Kailishaia gewarnt, dass direkte Lichteinstrahlung einen verdächtigen Schatten werfen konnte. So duckte sie sich geschmeidig unter den leuchtenden Laternen hindurch und blieb gerade mal weit genug hinter den anderen, um nicht aus Versehen ausgesperrt zu werden.
Der Tross hielt vor einer mit Eisen beschlagenen Eichenholztür mit einem ziemlich großen Schloss. Sogleich fiel Millie ein, welcher der von ihr eingesammelten Schlüssel in dieses Schloss passte. da drehte sich auch schon ein unsichttbarer Schlüssel im Schloss. Es klackte laut. Die Tür glitt lautlos nach innen. Sie wurde also regelmäßig geölt.
Millie nahm sofort den Geruch nach Holzfässern und Weinhefe wahr. Vorbei an liegenden Fässern, deren Durchmesser bald doppelt so groß war wie Millie lang war, vorbei an Regalen mit korrekt liegenden, gut angestaubten Flaschen ging es zu einer Tür aus Eisen. Auch hierzu hatte der Boulanger tragende Zauberer den passenden Schlüssel. Auch hier erkannte Millie, welchen der stiebitzten Schlüssel sie für dieses Schloss brauchte.
Fast wäre Millie zwischen die letzte Laterne und die mit Madame Bleumont beladene Hexe geraten. Nein, sie musste aufpassen. Sie war nur unsichtbar, wenn jemand sie direkt ansah und wenn kein direktes Licht auf sie fiel.
Sie blieb vor der Tür und kauerte sich an die Wand. Der immer noch wirkende Glückstrank ließ sie annehmen, dass der Raum hinter der Tür für sie gerade gefährlich war und sie ihren Leuten nicht helfen konnte, wenn sie doch noch aufflog.
"Da um den Tisch auf die Stühle. Hoffentlich sind die anderen gleich auch da, bevor die hier aufwachen", sagte einer der Zauberer. Seine Kameradin entgegnete. "Die brauchen noch mindestens sieben Minuten, bis sie wach sind. Aber unser Zeitplan wackelt ziemlich heftig, Jungs."
Eine sehr aufgeregt klingende blecherne Stimme rief was in einer Millie unverständlichen Sprache. Die gerade vor ihr im Kellerraum stehenden sprachen jetzt auch kein Französisch mehr. Doch Millie vermeinte zu hören, dass sie Alarmiert klangen. Ja, das traf es ganz sicher. Es war aufgeflogen, dass die anderen Hexen bewusstlos waren. Millie fragte sich doch, ob es so klug war, ihre Mitreisenden einzusammeln. Doch da fiel ihr ein, dass die dadurch nicht wussten, dass sie all das angerichtet hatte. Würde nur sie fehlen wäre den dümmsten Flubberwürmern klar, wer ihnen gerade Sand ins geölte Uhrwerk geschüttet hatte.
"Wie konnten die entwischen", polterte der, der bis jetzt Monsieur Boulanger getragen hatte.
"Geheimer Portschlüssel? Die haben gleich als das mit der Grandchapeau passiert ist Kopfblasen gemacht und dann abgewartet, wer zum aufsammeln kommt."
"Ja, und haben die nicht einkassiert, um sie auszuhorchen?" wollte eine der Hexen wissen. Dann war es einige Sekunden still. "Leute, ich bekomme keine Antwort von ihr. Aber sie muss doch da sein."
"Erst mal die hier einschließen, bevor die Franzosen mit Verstärkung wiederkommen und nach ihren Leuten suchen", sagte einer. Millie musste wider die Gefahr und den Ernst der Lage grinsen. Das lief ja besser als sie erst gedacht hatte. Ihre mütterliche Fürsorge für die ohnmächtigen Mitreisenden ließ die da vor ihr denken, dass die Vermissten sich mit einem unangemeldeten Portschlüssel abgesetzt hatten.
Ein mehrstimmiges Geschepper erklang. "Der Alarmplan Morpheus' Machtwort. Raus hierund die einschließen, bis sie wach genug sind, dass unser Begrüßungsgeschenk zur Geltung kommt!" rief der Zauberer, der sich mit Boulanger abgeschleppt hatte. Jetzt bekam Millie die Bestätigung, dass sie wohl den Heraklestrank geschluckt hatten. Denn als die Widersacherinnen und Gegner an ihr vorbeiwetzten nahmen sie mit jedem Schritt fünf Meter und flogen zwei Drittel davon durch die Luft. So ein Pech, dass der Heraklestrank nicht mit dem Beschleunigungstrank verträglich war. Dann könnten die fast so schnell laufen wie ein Ganymed 10 flog, dachte Millie. Dabei fiel ihr ein, wie sie es anstellen wollte, Belle aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Doch erst einmal galt es, den Rest der Mission zu erfüllen.
Kilian Felsental hatte eine Ahnung, als er selbst nichts mehr von Tessa, Dorle und Kathie gehört hatte. Als dann die Meldung kam, dass bis auf die in einer Art leuchtender Glaskugel gefangenen Belle Grandchapeau keine anderen französischen Hexen zu finden waren und die vermissten Mitarbeiterinnen trotz Kopfblasenzauber bewusstlos waren war er sich sicher, dass die anderen vorsorglich Kopfblasen gezaubert hatten und sich dann ohne die anderen abgesetzt hatten. Apparieren ging nicht. Also blieb nur ein Portschlüssel. Er würde gleich eine Rückschau machen, falls Minister Rheinquell ihm dafür eines dieser Retroculare zusandte. Doch das würde der nur tun, wenn die Königin es erlaubte. Wenn die erfuhr, dass ihr vier französische Hexen, darunter eine Heilerin, eine Reporterin und ein eingetragenes Mitglied der Liga gegen dunkle Künste entkommen waren konnte er minütlich mit seinem Tod rechnen. Nein, er durfte nicht versagen. Er musste die nehmen, die da waren, bevor jemand mit Verstärkung wiederkam. Er würde den Alarmplan "Morpheus' Machtwort" in Kraft setzen. Ja, das musste er.
Felsental zog aus einer Schublade mit Körperspeicherschloss eine goldene Dose. Er öffnete diese und rief hinein: "Alarmplan Morpheus' Machtwort! Morpheus' Machtwort! Morpheus' Machtwort!"
Unverzüglich glühten alle auf seinem Tisch stehenden Modelle der Gästebungalows in blauem Licht. Der französische Bungalow blinkte nun nicht mehr rot, sondern violett. Da wurde gerade eine zweite Ladung Schlafdunst freigesetzt. Gut, dass die anderen Delegationen noch mit ihren Gepäckstücken beschäftigt waren. Jetzt konnte er sich auf mögliche Angreifer einrichten. Sollten die Franzosen es doch wagen, hier mit Sicherheitstrupplern einzufallen. Dann konnte Urs Rheinquell das als Verstoß gegen die internationale Unantastbarkeit dieses Ortes zur Anzeige bringen. Es sei denn, sie kassierten die Verstärkung gleich mit ab. Sollte bei denen eine Veelastämmige sein ... Nein, das würden die Geflüchteten sicher drachenfeuerheiß weitermelden. Nein, die würden nur mit anständigen Hexen und Zauberern anrücken, ohne die Ministerin und ohne die Mutter der vorwitzigen Kronprinzessin Grandchapeau. Aber sicher würden die in Schutzkleidung gegen Betäubungsgase anrücken. Dann würden die sicher noch Schildzauber wirken. Oh, da fiel ihm doch was ein. Er nahm noch einmal eine der Silberdosen und rief hinein: "An alle Sicherheitstruppen in der Villa Viridis und der Maison Bontemps! Keine Schildzauber nutzen. Ich wiederhole, Keine Schildzauber nutzen!" Dann nahm er wieder die goldene Dose und rief in diese hinein: "Schildfänger aufgewacht! Schildfänger aufgewacht! Schildfänger aufgewacht!"Jetzt glühten die Bunkermodelle in einem hellen Grünton, der schon ins Gelbe überging und blinkten in rascher Folge. Der französische Bungalow blinkte nun in einem warmen Gelbton. Wer jetzt auf ein Duell ausging würde sein gelbes Wunder erleben.
Millie sah, wie die Laternen erloschen. Sie hörte, wie die schwere Tür zum Weinkeller zufiel und verschlossen wurde. Das machte ihr nichts, weil sie ja auch einen Schlüssel zu diesem Keller hatte.
Sie hatte was gehört, dass ein Alarmplan "Morpheus' Machtwort" in Kraft getreten war. Morpheus war der altrömische und altgriechische Traumbote, ein Helfer des Schlafgottes. Dann hatten sie wohl alle anderen Delegationen mit diesem Schlafdunst benebelt. Also wollten die sich gegen einen möglichen Gegenschlag aufstellen, ohne die bereits gesicherten Abgesandten dazwischengehen zu lassen. Für Millie hieß das, dass sie jetzt ihre hier eingeschlossenen Landsleute befreien konnte.
"Wieso blinken hier die Warnlichter, Kilian? Hat es Ärger mit den Delegierten gegeben? Haben die sich etwa gegen unsere Begrüßungsgabe gewehrt?" wollte Urs Rheinquell wissen. Aus der auf dem Tisch vor ihm stehenden Silberdose klang Felsentals Stimme:
"Vier französische Hexen sind nach Wirkung des Veelafallenzaubers entkommen. Wir wissen nicht wie und natürlich nicht wohin. Deshalb habe ich Morpheus' Machtwort befohlen, wie wir es vereinbart haben, Herr Minister."
"Und Sie sind sicher, dass noch alle anderen Abgesandten dort sind wo sie sein sollen um erst einmal zu schlafen?" fragte Rheinquell.
"In diesem Fall völlig, Herr Minister", erwiderte Felsental. "Ich wwollte Sie nicht damit behelligen, solange wir die Lage im Griff haben."
"Und, haben Sie das noch?" fragte Rheinquell. Dann dachte er daran, dass die Königin alles andere als erheitert sein würde. Denn wenn von den Franzosen welche entkommen waren, ausgerechnet von denen, die die Königin für gefährlich hielt, dann kamen die vielleicht mit Verstärkung zurück. Doch dann hätten sie die Trümpfe in der Hand. Sie könnten Ventvit und ihren Spießgesellen wichtige und gut informierte Mitstreiter abjagen, nachdem sie unbedingt meinten, sich weiter gegen die mächtige Königin aufzulehnen.
"Ich schicke alle Obleviatoren zu Ihnen hinüber, die gerade Dienst haben. Morpheus' Machtwort ist von mir nachträglich genehmigt. Wenn die Königin Sie oder mich fragt teilen wir ihr mit, dass die Franzosen mit einer Falle gerechnet haben und wir die, die wir noch erwischen konnten gerne zu denen zurückschicken werden. Öhm, ich gehe davon aus, dass sie im Weinkeller sitzen?"
"Wo sollten französische Saufbrüder und Schickerschwestern sonst sein?" fragte Felsental mit einer höchst undiplomatischen Verachtung zurück.
"Beim sieben-Gänge-Menü", erwiderte Rheinquell. Dann wollte er wissen, wer genau entwischt sei. Als er es hörte antwortete er: "Die Latierre ist noch zu jung, um wirklich heftige Zauberschläge auszuteilen. Aber sie könnte uns als Reporterin gefährlich werden, wenn sie weitermeldet, dass wir in der Schweiz Fallen gegen Veelastämmige und Träger von Veelamagie aufstellen können."
"Die wird sich wohl in ihrem kleinen Nest Millemerveilles verkriechen, wo die ja dort angeblich eine neue Schutzkuppel haben, die angeblich nichts mit dunkler Magie zu tun hat", sagte Felsental.
"Da hätte die gar nicht erst wegfahren sollen, wo die in fünf Jahren fünf Kinder ausgebrütet hat. Soviel zu der Intelligenz, die ihrem Mann immer nachgesagt wirt."
"Wie meinen Sie das, Herr Minister?" fragte Felsental. Der Minister beantwortete ihm die Frage auf eine für einen Minister höchst unzulässige Art. Doch beide Männer lachten darüber wie dreizehnjährige Schuljungen.
Millie stieß die Tür erst mit dem linken Fuß auf. Erst als ihr kein Abwehrzauber entgegenflog betrat sie den fensterlosen Kellerraum.
Ein kreisrunder Tisch mit zwanzig hochlehnigen Stühlen darum herum bildete das übliche Mobiliar. Auf den Stühlen saßen alle die von den anderen gefangengenommenen Franzosen, jedoch ohne Fesseln. Offenbar war dieser Raum gegen alle Fluchtversuche abgesichert. Im Moment waren sie noch besinnungslos. Was hatte Millie mitbekommen? In sieben Minuten sollte eine für die Gefangenen bestimmte "kleine Kerze" entzündet werden. Damit stand fest, dass auch das schweizerische Zaubereiministerium eingesackt worden war. Wo war die kleine Kerze?
Millie nutzte den immer noch wirkenden Blick für schlafende und wache Feuerquellen und sah auf den Tisch, an die Wände und dann nach unten. Ja! Da unten, genau unter der Mitte des Tisches, glomm ein stabförmiges Licht in einer Art mittlerem Tischbein. Ja, und sie konnte jetzt auch sehen, dass in der Mitte der Tischplatte ein kleines Loch war, aus dem heraus das immer schneller flackernde Licht herausdrang. Millie musste sich beeilen, wenn sie ihre Mitreisenden noch in Sicherheit bringen wollte, bevor diese aufwachten.
Wie gut, dass sie seit der Verwandlungsaktion keinen weiteren Zauber ausgeführt hatte. So brauchte sie den gekoppelten Verwandlungs- und Einsammelzauber nur mit Repetitio Ultima!" zu wiederholen und dabei an den rosaroten Fingerhut denken, zu dem jeder und jede werden sollte. Dabei merkte sie jedoch, dass das gut auf ihre Ausdauer ging, soviel lebende Materie zu verändern. Dennoch schaffte sie es, die fünfzehn gerade langsam wieder zu sich kommenden Mitreisenden umzuwandeln und zu verstauen. Zuletzt erwischte es Madame Bleumont, die sich hektisch umsah, woher die feindlichen Zauber kamen. Millie war sich sicher, dass sie sich deshalb noch was würde anhören müssen. Doch dafür müsste jemand die kleine runde Bleumont dann erst mal wieder zurückverwandeln, dachte sie mit einer schon an Gehässigkeit grenzenden Überlegenheit.
Gerade wohl rechtzeitig hatte Millie die letzte Abgeordnete aus Frankreich sicher untergebracht. Da entstand um ihren Kopf eine neue Kopfblase. Das stabförmige Licht unter dem Tisch leuchtete für sie nun wie die Sonne. Dann sah sie die von einem flirrenden Licht erfüllten Rauchwolken in ihre Richtung quellen. Dann jedoch erstarb das Leuchten wieder und wurde zu einem schwachen Glosen. Offenbar brauchte die Kerze die Nähe erkennbarer, lebender Wesen, um weiterzubrennen. Millie kam eine wahnwitzige Idee.
Sie zielte unter den Tisch und wisperte gerade leise genug, dass ihre eigene Schutzaura es wohl für Normalhörende verbarg: "Xarunir geloranyaninuiga daruninur Nireash nireash!" Sie fühlte, wie ihr Zauberstab erbebte und sich leicht bog. Er kämpfte gegen einen Widerstand. Millie war sich jedoch sicher, dass er das aushielt. Dann zischte es von unter dem Tisch her. Millie hielt den Zauberstab noch eine Sekunde sicher fest. Dann sprang sie durch die noch offene Tür zurück und warf diese mit lautem Knall zu.
Es fauchte laut hinter der Tür. Gleichzeitig drang ein lautes, in hohen Tönen quietschendes Geräusch aus den Kellerraum, als kratze wer mit langen Fingernägeln über rauhes Metall, wieder und wieder. Durch die geschlossene Tür sah sie, wie eine baumstammdicke, bis unter die Decke schießende Flammensäule aus dem Tisch fuhr und diesen dabei von innen nach außen verschlang. Auch die Stühle wurden von jener Säule zerstört. Gleichzeitig meinte Millie, eine metergroße, weißblaue Blüte zu sehen, die in einem irrwitzigen Tempo herumkreiselte und dabei Funken spie. Dabei schienen die Quietscher aus dem Blütenkelch zu dringen.
"Was sagte Kailishaia: Das Feuer ist unser bester Freund und größter Feind zugleich. Wehe dem, der es erzürnt." Wieso hatte sie auch den Zauber des zwanzigfachen Abbrennens magischer Feuer gewirkt?
Der ganze Kellerraum wurde von dem was dort brannte ausgefüllt. Die Tür begann sich zu erhitzen. Millie erkannte, dass sie da besser von weg sollte. Sie warf sich herum und lief ohne groß hinsehen zu müssen durch die Gänge und Räume dieses Weinkellers bis zur schweren Tür. Dort ging sie in Deckung. Sie meinte noch immer das leise schrille Quietschen und ein lautes Fauchen zu hören. Dann wurde es übergangslos still. Doch Millie war sicher, dass da gleich noch was heftiges kam. Ihre verstärkte Intuition trog sie nicht.
Ein dumpfer, Millies Kopfblase erschütternder Knall dröhnte durch die Kellerräume. Millie kniff die Augen zu. Dennoch meinte sie, für einige Sekunden einen sonnenhellen Lichtschein zu sehen und spürte ein leichtes Vibrieren ihrer Unterwäsche. Gut, dass sie die am Morgen noch mit der altaxarroischen Version eines Flammengefrierzaubers belegt hatte. So spürte sie keine Hitze, und die am Körper getragenen Dinge blieben unversehrt, als eine glutheiße Druckwelle über sie hinwegfegte. Dann fühlte sie einen Gegensog, dem die Kopfblase mit leichtem Erbeben widerstand. Sie hörte wie in der Ferne ein hektisches Tröten. Über dieses rief der Torwächter: "Ja, das war bei uns im Keller. Offenbar haben die Franzosen versucht, die Kerze zu bekämpfen und dabei was völlig wahnsinniges angestellt, Monsieur Felsental. - Ja, ich seh nach, wenn Sie mir wen vom Feuerschutztrupp schicken."
Millie wartete nun, bis die Tür von außen geöffnet wurde und der Torwächter und zwei mit Kopfblasenzauber und bläulich flimmernden Umhängen bekleidete Zauberer hindurchliefen. Sie nutzte die Gelegenheit, durch die Tür zu entwischen, ohne sie auffällig auf- und zuschließen zu müssen.
Bevor sie ihr nächstes wichtiges Etapenziel angehen wollte galt es, eine Meldung abzusetzen. Hierfür zog sie so leise sie konnte ihren goldenen Herzanhänger unter der Kleidung hervor und drückte ihn sich an die Stirn.
Julius hatte Nathalies Aufgabe erledigt. Er genoss nun die Ruhe im Apfelhaus. Béatrice war mit den drei ganz kleinen im Garten. Er hörte jedoch kein wildes Toben, kein kieksendes Lachen oder spontanes Genöle. sie hatte ihm gesagt, dass er sich beim noch fälligen Wickeln mit ihr abwechseln sollte, wo er schon zu Hause war. Er hatte natürlich zugestimmt. Das war der Nachteil von Heimarbeit, private Anliegen mit beruflichen Anforderungen auszubalancieren.
Als sein goldener Herzanhänger schneller zu pulsieren begann und er Anspannung und Verdrossenheit empfand wusste er, dass ihrer aller Befürchtung wahrgeworden war. Ladonna plante einen Anschlag auf die IZKF. Sollte er Millie anmentiloquieren und fragen, was gerade los war? Nein, das könnte sie von überlebenswichtigen Sachen ablenken und ihr bestenfalls die Möglichkeit verderben, was entscheidendes zu machen und schlimmstenfalls - nein, das wollte er nicht denken.
so hing er den Empfindungen über den Herzanhänger nach. Das Pulsieren jagte ihm heiße Ströme in den Körper. Er fühlte erst Verdrossenheit, dann Entschlossenheit, dann sowas wie Triumph. Dann war da wieder Anspannung, als gelte es, eine gefährliche Lage zu überstehen. Dann empfand er Millies Erleichterung. Ja, sie hatte die Gefahr überstanden oder sogar beseitigt. War das etwa Ladonnas Feuerrosenkerze gewesen? Mann! Er würde sie zu gerne fragen. Doch er durfte sie jetzt nicht anmentiloquieren.
Es verging nur eine Minute, bis er Millies Gedankenstimme so deutlich in sich hörte, als spreche sie ihm in beide Ohren gleichzeitig. "Monju, wir hatten recht. Ladonna will die IZKF einsacken. Belle durch Veelakraftfalle handlungsunfähig aber unversehrt. Habe jetzt alle bis auf sie in meine Obhut genommen. Muss verhindern, dass eine große Kerze alle Delegationen benebelt. Danach werde ich die Falle unschädlich machen, um Belle freizubekommen. Wundere dich nicht, wenn dein Herzanhänger demnächst nicht wie üblich ist. Erst wenn du länger als eine Minute lang keine Verbindung mit mir fühlst versuch mich anzumeloen oder besser, jage mir Ashtarias Kraft durch deinen Anhänger in meinen Anhänger rüber. Alles verstanden?"
Julius drückte den Anhänger an die Stirn und dachte konzentriert zurück: "Ja, Mamille, alles verstanden. Viel Glück und Vorsicht!"
"Glück habe ich genug getrunken. Vorsicht ist angeraten. Danke!"
Julius atmete auf. Millie lebte noch und war offenbar auch noch Herrin ihres freien Willens. Klar, wenn sie Felix Felicis getrunken hatte war das für sie ähnlich gut zu bewältigen wie für ihn, als er mit Goldschweif in das Herz des Seth eingedrungen war. Doch was genau hatte sie nun vor, dass den Herzanhänger anders reagieren ließ als sonst? Sollte er sie noch einmal fragen? Nein, sie hätte es ihm sicher auch ausführlich erklärt, wenn sie es gewollt hätte und / oder wenn sie die Zeit dazu hätte. Dieser kurze Gedankenaustausch war wohl gerade drin gewesen, mehr nicht. So blieb ihm eben nur zu warten und zweierlei zu hoffen, nämlich dass Millie was auch immer hinbekam und dass er da nicht ausgerechnet die drei Kleinen neu windeln musste.
Urs Rheinquell versuchte seit Minuten, die Königin in Gedanken zu rufen. Doch sie antwortete ihm nicht. Es war so, als wolle sie ihn nicht erhören oder ihm gar antworten. Von sich aus konnte und durfte er keine Gedankenbrücke zu ihr errichten, weil das sein Tod sein würde. Was er dem Torwächter der Villa Viridis erzählt hatte war eine halbe Notlüge gewesen. Denn seine Anweisungen hatte er nicht von der Königin erhalten. Doch das sollte der Torwächter nicht wissen, dass die Königin gerade nicht erreichbar war.
Er dachte mit großer Besorgnis, dass es den Franzosen gelungen war, die kleine Kerze mit irgendwas zu bezaubern, was die gesamte gespeicherte Kraft freigesetzt hatte, bevor sie alle dem Duft der Feuerrose erlagen. Das durfte sich nicht wiederholen. So gab er seinen Leuten noch den zusätzlichen Befehl: "Wenn ihr die schlafenden einsammelt nehmt denen ihre Zauberstäbe fort und verseht diese mit den Namen der Besitzer! Ich will keine Wiederholung des Weinkellerzwischenfalls!.
"Verstanden, Herr Minister Rheinquell", bestätigte sein Untergebener Felsental. "Erst den Morgengrußnebel in den Dufoursaal einblasen, wenn alle Delegierten entwaffnet und dort versammelt sind. Bis dahin alle Räume weiterhin unter Morpheus' Machtwort halten!" fügte Rheinquell noch hinzu. "Verstanden, alle Räume bis zur vollständigen Anwesenheit aller Delegierten im Dufoursaal unter Morpheus' Machtwort halten. Dann erst Morgengrußnebel einblasen und auf vollständiges Erwachen der Delegierten warten! Öhm, wie wird die große Kerze entzündet?"
"Durch bestimmte Schlüsselwörter, die der italienische, der österreichische und der spanische Delegationssprecher kennen. Die werden erkennen, wann sie sie anwenden müssen. Mehr haben wir nicht zu tun", sprach Rheinquell in die Silberdose.
"Verstanden, nach Erweckung aller Gesandten Saal verschlossen halten bis die Kerze abgebrannt ist", erwiderte Felsental. Der Mensch dachte doch tatsächlich mit, dachte Rheinquell. In dem Fall war das in Ordnung. Aber bei späteren Gelegenheiten sollte er genau überlegen, wie seine Befehle ausgelegt und welche Folgen Felsental daraus ableiten konnte.
Er sorgte sich ein wenig, weil er nicht zu hundert Prozent wusste, ob die Königin genau dieses Verhalten von ihm verlangt hätte. am Ende wollte sie was ganz anderes. Aber dann zum dreifachen Lawinendonner und Bergrutsch sollte sie ihm früh genug befehlen, was er für sie zu tun hatte. Warum schwieg sie sich aus? Hatte sie noch etwas anderes zu tun, von dem er, ihr eidgenössischer Statthalter, nichts wissen durfte? Aber warum hatte sie dann nicht einfach mitgeteilt, dass sie bis auf weiteres nicht gestört werden sollte? So saß Urs Rheinquell da und bangte darum, seiner neuen und einzig wahren Königin einen erfolgreichen Dienst zu leisten. Etwas anderes durfte ihm auch nicht unterlaufen.
Millie verstaute den goldenen Herzanhänger wieder unter ihrer Kleidung. Nun konnte sie losziehen, um die für alle anderen Delegierten gedachte Versklavungskerze zu finden.
Sie griff nach ihrem Weltenbummlerrucksack, öffnete so leise sie konnte den auf ihre Finger eingestimmten Reißverschluss und tastete nach einem aufgerollten Gürtel. Diesen zog sie hervor und rollte ihn aus, wobei sie darauf achtete, nichts davon weiter als wenige Zentimeter von ihrem Körper herauspendeln zu lassen. Dann schloss sie den Reißverschluss wieder und legte den Gürtel um. Sie legte die linke Hand auf die Schließe und wünschte sich nur in gedanken, ein viertel so schwer zu sein wie sonst. Dann spurtete sie los, eher springend als laufend. Wenn sie in Hörweite der gerade in die Gästehäuser einmarschierenden Hexen und Zauberer kan wünschte sie sich ein Zehntel Schwerkraftumkehr und stieß sich kräftig nach vorne vom Boden ab. Sie flog über alle hinweg. Keiner sah oder erfasste sie. Millie erreichte so innerhalb von nur dreißig Sekunden das blaue Haus, das auch Maison Bontemps genannt wurde. Dort wünschte sie sich die übliche Eigenschwere zurück. Der Leviportgürtel ließ sie sanft wie eine Feder zu Boden gleiten. Sie landete mühelos auf ihren Füßen und war froh, keine repräsentativen Stöckelschuhe angezogen zu haben.
Nur drei Meter vor dem Eingangsportal ploppte es um ihren Kopf vernehmlich. Der Gasvorgreifer hatte offenbar was für sie gefährliches erschnüffelt und zwanzigmal schneller als von Hand zu zaubern eine Kopfblase erschaffen, um ihr unvergiftete Atemluft zu sichern.
Das Portal stand offen. Ein Hauch bläulichen Nebels waberte daraus hervor. Alle hier gerade ein- und ausgehenden Hexen und Zauberer hatten sich mit Kopfblasenzaubern geschützt. Natürlich. Sie wollten die Delegierten handlungsunfähig zusammentragen. Die durften nicht zu früh wach werden.
Auch wenn es hier zwei in unterschiedliche Richtungen fahrende Aufzüge gab nutzte Millie lieber das Treppenhaus. Sie wollte es nicht riskieren, in einer Aufzugskabine mit jemandem zusammenzustoßen. Doch ihre körperliche Form erlaubte ihr, ohne ins Keuchen zu geraten über die von leichtem Dunst überdeckte Treppen nach oben zu gelangen. Natürlich war der große Saal der Zusammenkunft unter der kleinen Kuppel. Vor dem Saal endete wohl auch die Fahrstuhlverbindung.
Millie dachte erst, dass der Saal vielleicht noch verschlossen war. Doch als sie durch die Kopfblase hören konnte, dass sich mehrere Zauberer über die "gewichtigen Herrschaften" beklagten wusste sie, dass die Untertanen der Hybridin bereits die ersten Gefangenen dort hineintrugen. Wichtig war nur, dass sie eine Minute hatte, um zu tun, was sie hier tun sollte.
Um im Saal selbst nicht zu lange mit ihrem Rucksack hantieren zu müssen pflückte sie auf dem letzten Treppenabsatz so leise sie konnte Belles Aktenkoffer heraus und drehte den kleinen Clavunicus-Schlüssel, den Belle nur abziehen wollte, wenn sie den Koffer höchst Selbst zur Besprechung hätte mitnehmen können. Daraus wurde ja nichts. So konnte Millie den Koffer öffnen und das darin unter mehreren Pergamenten verstaute bündel hervorholen, das sich wie nebeneinander befestigte Rohre unterschiedlicher Dicke und Länge anfühlte. Sie peilte schnell in alle Richtungen, ob nicht doch wer die Treppe nutzte. Im Moment blieb alles frei. So wickelte sie das Bündel aus und besah sich die sieben unterschiedlich großen, walzenförmigen Gegenstände, die mit dünnen Lederschlaufen zusammengebunden waren. Es waren alles rote Kerzen mit goldfarbenen Dochten. Millie hatte dieses Gesteck nur einmal zu sehen bekommen, als Belle es von Léto überreicht bekommen und dann in feuerfeste Leinen eingeschlagen hatte. Léto hatte behauptet, dass den Veelastämmigen seit der ersten Erwähnung dieser vertückten Kerzen bewusst sei, wie Ladonna sie bezaubert haben mochte. Doch nun, wo Millie mit dem Blick schlafender oder wacher Feuerquellen darauf sah erkannte sie die Besonderheit. Jede Kerze barg in der Mitte des Schaftes eine ganz schwach pulsierende, für sie gerade orangerot schimmernde ovale, der Kerzengröße angepasste Blase, in denen je vier winzige Erscheinungen schwebten, orangerot leuchtende Miniaturen von nackten, makellos schönen Frauen mit langen, flirrenden Haaren. Einen winzigen Moment musste sie an die ihr vertraute Erscheinung Ammayamirias denken, deren Haar dunkler als der Rest des Körpers erschien, aber wie von vielen winzigen goldenen Sternen durchsetzt aussah. Dann erkannte Millie worin das Geheimnis der Kerzen bestand. Die Veelastämmigen hatten mit irgendwas aus ihren eigenen Körpern und mit bestimmten Zaubern einen Bruchteil ihrer eigenen Lebenskraft und besonderen Stärke dort eingewirkt. Hatte Ladonna dies auch so getan?
Millie legte die Verhüllung der Kerzen wieder in den Koffer und schloss diesen. Danach steckte sie ihn in den Rucksack zurück. Dann vollendete sie den Treppenaufstieg und schlängelte sich durch die in den Saal und wieder daraus tretenden Hexen und Zauberer.
Sie befand sich in einem gerade drei Meter breiten Rundgang, der unter der Dachkuppel entlangführte und eine vom Boden bis zum Scheitelpunkt reichende Mauer umrundete. Im Abstand von 45 Winkelgraden gab es einen an die zwei Meter hohen eingang in den eigentlichen Saal. Millie nutzte einen, bei dem die Tür weit offenstand und aus dem gerade drei Zauberer in der Kleidung der schweizer Sicherheitstruppen herauskamen. Diese wandten sich der gerade auf ihrem Stockwerk haltenden Aufzugskabine zu, die weitere Hexen und Zauberer mit in flirrende Decken gehüllten, bewusstlosen Gefangenen ablieferte. Millie sah, dass je zwei Träger einen Besinnungslosen auf den Schultern trugen. Also hatte längst nicht jede und jeder hier Heraklestrank schlucken können.
Der Dufour-Saal hatte seinen Namen daher, dass dann, wenn alle Türen geschlossen waren, der Eindruck bestand, dass die Besucherinnen und Besucher auf dem höchsten Gipfel der Schweiz waren, weil die natürliche, genau an die gegenwärtige Zeit- und Wetterlage angepasste Aussicht über alle Berge und Täler genossen werden konnte. Doch für Millie bot sich kein beeindruckender Rundblick von einem Gipfel aus, sondern nur eine weißblau leuchtende Kuppel, die vom oberen bis unteren Scheitelpunkt durchgängig war. Sicher lag das an ihrem immer noch genutzten Blick für schlafende und wache Feuerquellen, weil bildhafte Illusionen, besonders wenn sie an ferne natürliche Vorlagen gebunden waren, einen starken Feuermagieanteil in sich bargen.
Fünfzig kreisförmig angeordnete Sitzreihen umgaben stufenförmig ein knapp fünf Meter durchmessendes Podest mit vier Stufen. In der Mitte des Podestes war ein für Millie bläulich-grün flirrender Kreis zu erkennen, in den magische Zeichen eingefügt waren. Millie blickte nach oben und erkannte, dass sich über dem Kreis eine Säule aus schwach schimmernder Luft bis zum Scheitelpunkt der Kuppel erstreckte. Sie begriff den Grund für diesen Kreis. Wer immer darin stand war von allen Plätzen in den Sitzreihen her so zu erkennen, als wende er oder sie sich den Betrachtern mit dem Gesicht zu. Von diesem praktischen Bildillusionszauber, dem auch eine entsprechende Geräuschkomponente angefügt werden konnte, hatte sie schon mal gelesen. Die Stühle waren mit ausklappbaren Tischchen ausgestattet, damit die Anwesenden auch was mitschreiben konnten.
Millie untersuchte nun die einzelnen Sitzreihen, wobei sie aus einem ihr gerade nicht erkennbaren Grund aufpasste, nicht auf bestimmte Bodenstellen zu treten. Sie suchte nach weiteren Quellen für Feuerzauber. War die große Kerze bereits hier im Saal oder wurde sie noch hereingetragen? Der Prüfgang dauerte, zumal Millie den Leuten aus dem Weg bleiben musste, die gerade weitere bewusstlose Gesandte auf die Stühle setzten. Dabei fiel ihr auf, dass die italienischen und spanischen Kollegen in den unteren Reihen nahe dem Podest hingesetzt wurden. Das musste was bedeuten. Sie überblickte schnell noch einige Sitzreihen und überstieg einfach die noch leeren Stühle, statt die alle 45 Grad bestehenden Zwischengänge zu nutzen. So konnte sie innerhalb einer Minute unbehelligt bis zur untersten Sitzreihe gelangen. Dort erkannte sie dann, dass in dem Podest noch zwei sichtbare Quellen enthalten waren, eine Handbreite Kreisfläche in der dritten Stufe und eine zwei Meter durchmessende Kreisfläche neben dem bereits von oben erkannten Zauberkreis.
Millie blickte sich um, ob jemand nun genau auf das Podest sah. Sie sah weitere Hexenund Zauberer, die immer noch betäubte Delegierte auf die Stühle setzten und um sie zu sichern die Ausklapptischchen vor ihnen herunterklappten.
"Hoffentlich taugt das, was meine werten Onkels Florymont und Otto zusammengebaut haben", dachte Millie. Sie öffnete einen auf ihre Finger abgestimmten Reißverschluss im unteren Saum ihres Umhangs an der linken Seite und zog erst ein Paar Drachenlederhandschuhe hervor, die sie so leise sie konnte anlegte. Rings um sie herum wurden weitere bewusstlose Hexen und Zauberer auf die Stühle gesetzt. Nun holte sie aus derselben kleinen Geheimtasche eine handgroße Schachtel und öffnete sie mit den geübten Handgriffen. Dabei dachte sie an die Vorkehrung, die sie heute morgen im Bad getroffen hatte und von der sie hoffte, dass es dieses unangenehme Gefühl wert war, das sie dabei empfunden hatte. Aus der Schachtel holte sie ein silbern schimmerndes Ding so groß und beschaffen wie ein Hühnerei. Sie drehte es so, dass es mit dem spitzen Ende nach oben zeigte und schüttelte es genau fünfmal in der rechten Hand. Dann schleuderte sie es mit Beinkraftunterstützung aus der Hocke heraus nach oben in die Mitte des Saales hinein. Sofort kam wildes Getuschel auf. Einzelne Stimmen riefen was. Millie kniff ihre Augen zu. Da traf sie und alle im Umkreis von fünfzig Metern etwas wie ein heftiger Windstoß am Körper und drang durch diesen hindurch. Millie meinte, ein lautes Brummen in beiden Ohren zugleich zu vernehmen und trotz der geschlossenen Augen rot-blau flirrende Lichtentladungen zu sehen. Am heftigsten empfand sie das wilde Beben in ihrem Unterleib, aus dem heißkalte Schauer in die entferntesten Enden ihres Körpers ausstrahlten. Drei volle Sekunden hielt dieses Gemisch aus Gebrumm, Lichtflirrenund Beben an. Dann war es auch schon vorbei. Stille lag nun über dem Dufour-Saal.
Millie prüfte, ob sie sich bewegen konnte und ob die Umgebung für sie gefahrlos zu betrachten war. Sie sah sofort die eiförmige Leuchterscheinung, die genau unter dem Scheitelpunkt der Kuppel hing und aus rot-blau waberndem Licht zu bestehen schien. im Mittelpunkt der Erscheinung schwebte jenes silberne Ei, das Millie gerade in die Luft geworfen hatte. Ab jetzt hatte sie zwei volle Minuten Handlungsspielraum.
Sie lief zum Podest und kniete sich davor hin. Sie wählte die kleinere von ihr gesehene Lichtquelle als Ziel aus und vollführte einen Zauber, der mit Zauberkraft bewegte Türen oder Luken öffnete, wobei sie daran dachte, schnell vor etwas brennendem davonlaufen zu müssen. Die kleine Klappe in der Stufe knisterte und sprühte silberne Funken. Dann sprang sie mit einem Klicken auf. Millie langte mit ihren Behandschuhten händen hinein und ergriff das obere Ende eines walzenförmigen Gegenstandes. Sie drehte ihn kurz einmal nach links und einmal nach rechts und zog ihn heraus. Dann hielt sie sie in der Hand, die eine große Kerze, die für alle Delegierten und die sie begleitenden Reporter bestimmt war.
Für Millie sah die Kerze orangerot aus. Sie schien zu leben, weil sie langsam wie ein atmendes Wesen heller und dunkler wurde. wie bei den Kerzen, die sie mitgebracht hatte gab es auch hier in der Mitte des Schaftes eine heller leuchtende, ovale Stelle, eine Blase, in der der beinahe starre, auf nur eine Handlänge verkleinerte Körper einer nackten Frau steckte. Millie sah die in Hockstellung in der Blase schwebende, zwischen deren gespreizten Beinen eine orangerot leuchtende Perlenschnur bis zum Grund der Leuchtblase herabhing. Der Körper war schlank, bis auf das ausladende Becken und die üppigen Rundungen. Das Gesicht war schmal. Die Augen der Erscheinung waren kreisrund. Von Kopf bis zu den Hüften floss im Verhältnis sehr dunkles Haar, in dem kleine Funken stoben. Millie wusste sofort, dass dies der magische Abdruck von Ladonnas lebendem Körper war. Auch wusste sie, dass sie nur noch wenige Sekunden hatte, um die Kerze auszutauschen. Sie griff nach dem Bündel der mitgebrachten Kerzen und zog eine davon heraus, die von Dicke und Länge her passte. Diese steckte sie in die geöffnete Luke und drückte sie fest auf den Boden. Dann drehte sie sie einmal nach rechts und wieder nach links. Millie nahm die Originalkerze, die verdächtig zu vibrieren begann und hielt sie mit der Unterseite über die gerade ausgetauschte Kerze. Sie nahm ihren Zauberstab und zielte auf die Originalkerze. "Yani Adoradarunir yani duranodurinur!" wisperte sie. Die Originalkerze erzitterte in ihrer linken Hand. Dann sprühten rote und orange Funken aus der Unterseite und drangen in die unter ihr steckende Kopie ein. Dabei ließ die Leuchtkraft der Originalkerze ein wenig nach, und die in ihr eingebackene Lebensessenz Ladonnas schien noch ein wenig zu schrumpfen. Doch Millie war sich sicher, dass sie sich wieder erholen würde. Endlich endete der Funkenstrom. Die Originalkerze pulsierte nun halb so schnell wie zuvor. Millie blickte schnell auf Docht und oberes Ende der anderen Kerze und sah, dass beide Kerzen im Gleichtakt pulsierten und auch eine ähnliche Farbe hatten. So schlug Millie die kleine Luke wieder zu und tippte sie an vier Stellen des Randes mit ihrem Zauberstab an, wobei sie an je eine andere gefärbte Tür dachte, die sich gerade schloss. Aus der zugeklappten Luke sprühten goldene Funken, die einen halben Meter aufstiegenund dann wieder nach unten fielen. Der ursprüngliche Zauber war wieder in Kraft. Tja, was eine Latierre so alles von ihrem erfindungsreichen wie experimentierfreudigen Onkel lernen konnte!
Millie beeilte sich, die erbeutete Kerze zwischen die anderen zur Auswahl stehenden Kerzen zu stecken. Wenn Madame Montété recht hatte blockierte die Lederschlaufe die Wirkung der tückischen Kerze, bis sie wieder daraus hervorgeholt wurde.
Millie stand auf und eilte durch einen der gerade freien Zwischengänge nach oben. Sie wollte aus dem Saal sein, bevor die zwei Minuten um waren.
Draußen hockte sie sich an die nächste Wand. Dann wartete sie die verbleibenden Sekunden ab. Endlich war es soweit. wie vorhin meinte sie, von einem heftigen Windstoß getroffen zu werden und eine Kraft durch ihren Körper branden zu fühlen. Auch hörte sie wieder ein Geräusch, diesmal ein vierstimmiges Summen und meinte vor sich eine Lichtwand aus blauen und roten Entladungen zu sehen. Ebenso fühlte sie ein Beben in ihrem Unterleib. Dann hörte sie einen metallischen Knall aus dem Saal. Danach war es für wenige Sekunden still. Millie dachte erst, dass die Wirkung doch anders abgelaufen war. Doch dann hörte sie das bisherige leise Gemurmel der im Saal herumlaufenden Hexen und Zauberer. Sie hörte keine Spur von Erregung oder Alarmstimmung. Sie fühlte, dass sie nicht in Gefahr war. Also hatte das silberne Ei nicht nur alle Lebensprozesse in einer Kugelzone mit einem Halbmesser von fünfzig Metern auf ein Tausendstel verlangsamt, sondern auch alle reagierenden Meldezauber unterbrochen, die Fremdzauber melden sollten. Das kam schon ziemlich nahe an das heran, was sie selbst von den Feuermagiern gelernt hatte, dachte Millie.
Jedenfalls konnte sie nun die erbeutete Kerze mit den anderen zusammen auf dem zweithöchsten Treppenabsatz wieder in das Leinentuch einschlagen, in Belles Aktenkoffer stecken und diesen dann auch wieder in ihrem Rucksack versenken. Teil zwei der Mission "Rosentau" war damit abgeschlossen.
Kilian Felsental meinte für einen Sekundenbruchteil ein Flimmern vor den Augen zu haben. Doch dann war alles wieder wie sonst. Er prüfte sofort alle Überwachungsvorrichtungen. Kein Meldezauber hatte was ungewöhnliches erfasst. Also musste er sich das gerade wohl eingebildet haben. Er überlegte, ob die Königin nicht doch jetzt mit ihm sprechen konnte. Denn die Lage war ja doch außergewöhnlich genug, um ihr eine Meldung zu machen. Doch immer noch schwieg die Königin. Selbst wenn sie was wichtigeres zu erledigen hatte konnte sie ihm wenigstens einen Tadel zudenken, dass er sie nicht stören sollte. So blieb ihm nur, das weitere Vorgehen zu überwachen.
Die Obleviatoren des Schweizer Zaubereiministeriums rückten gerade an, um dann, wenn alle Delegierten im Dufour-Saal waren, deren Gedächtnisse zu bezaubern, dass die Begrüßung doch erst um zwölf Uhr stattfinden sollte und dass die Franzosen es vorgezogen hatten, zu Hause zu bleiben. Von der offenbar immer noch nicht getöteten Belle Grandchapeau musste keiner was wissen, bis die große Kerze entzündet war.
Millie näherte sich dem französischen Gästehaus. Jetzt galt es, Belle aus der Falle für Veelakrafttragende zu befreien, ohne gleich das ganze Haus in Schuttund Asche zu legen. Hierfür hatte sie auch schon die entscheidende Idee. Doch zunächst musste sie die Wachen passieren. Sie einfach zu betäuben würde in dem Moment auffliegen, wenn jemand nach ihnen rief. Doch sie konnte was anderes anstellen.
Nachdem sie geprüft hatte, dass die Wachen wirklich nur vor den Türen blieben zog sie sich hinter das Haus zurück. Durch die Fenster konnte sie nicht eindringen. Die waren nur von innen zu öffnen oder lösten sicher Alarmzauber aus, wenn wer sie von außen knackte. Garantiert war jedes Fenster auch so bezaubert wie die Tür, dass nur Hexen in den Hexenflügel und Zauberer in den Zaubererflügel hineingelangten. Mit nächtlichen Besuchen zwischen verwegenen Herren und sinnesfreudigen Damen war da nichs.
Millie klaubte zwei Kieselsteine aus dem Weg zwischen den dekorativen Grünflächen auf und bezauberte sie so, dass sie unmittelbar neben einer Tür abgelegt den Eindruck vermittelten, die Tür sei verschlossen. Solch einfache Bild- und Geräuschillusionen waren für eine Feuervertraute und einen O-UTZ in Zauberkunst besitzende Beauxbatons-Absolventin ein Klacks. Nun galt es nur, die Steinchen so anzubringen, dass sie in den nächsten zehn Minuten nicht bemerkt wurden und auf keinen Fall die Wand berührten. Denn dann mochte ein Fremdzauberspürzauber anschlagen, weil die Idee, eine Tür als ständig geschlossen zu tarnen ja wirklich nichts wirklich neues war.
Millie merkte, dass die fortwährend bestehende Aura des verhüllenden Lebensfeuers ihr doch gut zusetzte. Hinzu kamen die bereits von ihr ausgeführten höheren Feuerzauber. Dabei bestand ihr der größte Ausdauerverheizer noch bevor.
Sie schlich sich an der Wand entlang zur Tür für Zauberer und legte den darauf abgestimmten Illusionsstein ab. Kaum hatte der Bodenkontakt entstand die für Millie geisterhaft rötlich schimmernde Illusionswand, die eine verschlossene Tür darstellte. Dann legte sie auch vor der Tür zum Hexenflügel einen Stein ab. Als auch dieser seinen Zauber entfaltete trat sie an die Tür und holte den mitgenommenen Schlüssel aus einer ihrer Außentaschen. Keine drei Sekunden später war sie durch die Tür und den sie nicht abwehrenden Selectisexus-Zauber hindurch.
Im Salon sah sie sich nun ganz ruhig um. Der Gasvorgreifer hielt immer noch eine Frischluftblase um ihren Kopf. Also wirkte hier immer noch der Schlafdunst. Sie sah die Leuchtscheibe über der Kristallsphäre, die immer noch die orangeroten Leuchtkugeln verschoss, die in Richtung Belles Zimmer rasten. Konnten diese Dinger irgendwann erschöpft sein? Millie überlegte, auf welcher Kraftquelle diese Fallenkristalle beruhten, Erdkern, Sonne oder die Lebenskraft der Wesen in einer bestimmten Umgebung? Vielleicht waren es auch alle drei Sachen zugleich. Also ging sie davon aus, dass diese Leuchtscheiben jahrelang weitermachen konnten, ja womöglich mit einer ganzen Hundertschaft Veelas oder Veelastämmiger fertig wurden. Sie wusste nur, dass sie Belle nicht wie die anderen einfach verwandeln und zu sich hinholen konnte. diese gläserne Leuchtkugel blockierte jeden von außen eindringenden Zauber außer dem dieser Leuchtscheiben. Sollte sie versuchen, mit den immer noch getragenen Handschuhen in die Sphäre hineinzugreifen? Nein, die Handschuhe waren nicht langgenug dafür. Auch war sie nicht stark genug, Belle aus einer steinharten Umschließung herauszuziehen, selbst wenn sie sie berühren konnte. Also ging es nicht anders als die Falle unschädlich zu machen, wenn es sein musste Stück für Stück.
Millie benutzte den immer noch getragenen Leviportgürtel, um sich so leicht zu machen, dass sie bis zur Decke hochstieg. Sie näherte sich der für sie sichtbaren Leuchtscheibe und fühlte sofort, dass diese ähnlich lebendig sein mochte wie die von ihr entführte und sichergestellte Feuerrosenkerze. Wenn sie also eine davon bewegte merkten die anderen das irgendwie und reagierten. Wie lange würde sie Zeit haben, um alle von ihren Plätzen zu pflücken und entweder weit zu zerstreuen oder mit den ihr bekannten zaubern gegen andere Feuerzauber lahmzulegen? Ja, der erste Eindruck, den sie bei Sichtung des räumlichen Gitters gewonnen hatte stimmte. Sie musste alle diese Dinger in weniger als zehn Sekunden aus dem Gitter reißen und weit genug von sich fort schaffen. Ja, je länger sie diese eine Scheibe aus der Nähe ansah, desto klarer wurde ihr, dass es wirklich nicht anders ging. Sie musste den größten Trumpf ausspielen, den sie als Feuervertraute in der Hand hielt und den sie nur einmal in einem vollen Erddrehungszeitraum verwenden konnte, der ihr eine Menge Ausdauer abfordern und noch weitere Einschränkungen auferlegen würde.
Da man sie nicht mehr suchte konnte sie ihr bereitgestelltes Zimmer benutzen, um sich vorzubereiten. Sie ließ sich mit dem Leviportgürtel wieder zu Boden sinken. Dann schnallte sie den Gürtel wieder ab und steckte ihn in ihren Rucksack zurück. Nur ihr Herzanhänger, ihr Ehering und das unter ihrem Ärmel versteckte Armband Faiyandrias wollte sie am Körper tragen, von der kleinen goldenen Kugel in ihrem Unterleib, die gegen das silberne Pausenei beschützt hatte ganz zu schweigen. Hmm, dieses kleine Goldding könnte sie ... Nein, womöglich brauchte sie das noch einmal. Denn Belle hatte auch so ein Silberei in ihrem Gepäck. Stören würde es sie auch nicht, wenn sie sich auf die eingeschobene Teiletappe der Unternehmung "Rosentau" einstimmte.
Nathalie Grandchapeau sorgte sich um ihre Tochter. Vor einer Viertelstunde hatte die ihr einen Notruf zumentiloquiert, dass sie wohl in eine Falle für Veelakrafttragende geraten war und nur hoffte, dass Millie die ausgearbeitete Unternehmung alleine zu Ende bringen konnte. Dabei waren ihre Gedanken immer langsamer und dumpfer zu ihr vorgedrungen, bis sie gar nichts mehr geantwortet hatte. Seitdem herrschte Schweigen.
Nathalie hoffte, dass Millie mit den in der versunkenen Stadt erlernten Fähigkeiten wirklich was ausrichten konnte und dass sie sich nicht erwischen ließ. Nicht auszudenken, wenn sie dieser hybriden Hyäne in die Fänge geriet!
"Ist was mit Belle?" gedankenwisperte Demetrius. Sie hängte sich den Cogison-Ohrring an und dachte ihm zurück: "Sie ist wirklich in eine Falle geraten, Demetrius. Hoffentlich haben sie Mildrid nicht festgenommen."
"Dann ist es quasi amtlich, dass dieses Unwweib auch die Schweiz unterjocht hat, Maman", erwiderte Demetrius. "Nicht auszudenken, wenn wir gerade keine von einem Veelazauber betroffene Zaubereiministerin hätten", fügte er noch hinzu. Nathalie wusste nicht, ob sie ihm da zustimmen konnte. Denn das hieß ja, dass sie und er sich glücklich schätzen mussten, dass sie Euphrosynes Unmut auf sich gezogen hatten. Wahrscheinlich meinte es Der, der früher ihr Mann Armand war, auch ironisch.
"Willst du mit Julius reden, ob der schon was von Millie weiß?" fragte Demetrius über die Cogisonverbindung. "Ich gehe davon aus, dass er sich sofort meldet, wenn die Unternehmung gescheitert ist", schickte Nathalie zurück. "Immerhin wird er es auch mitbekommen, wenn ihr was passiert sein sollte."
"Dann sollen wir warten?" wollte Demetrius wissen. Seine Cogisonstimme klang sichtlich besorgt. "Ich warte, du schläfst besser. Gedankensprechen ist für deinen kleinen Kopf immer schwerer als für uns Große", meinte Nathalie, ihre Mutterrolle ausspielen zu müssen. "Nur wenn du und ich zusammen beunruhigt sind kann ich sicher nicht schlafen", entgegnete Demetrius. "Ich habe noch was abzuarbeiten, das mich ablenken kann. Denk dran, dass wir beide es früher mitbekommen als uns lieb ist, falls Belle was passiert. Solange das nicht der Fall ist lebt sie noch." Das erkannte Demetrius an.
Julius hatte die Zeit genutzt, Léto weiterzugeben, dass da, wo Ladonna Unterstützung hatte, auch Veelafallen lauerten und beschrieb ihr, was Millie über Belle berichtet hatte. "Und deine Frau lebt noch und ist Herrin ihres eigenen Willens?" wollte die Matriarchin aller in Frankreich lebenden Veelastämmigen wissen. "Ich spüre noch ihren Herzschlag und bekomme mit, dass sie sich zwischendurch anstrengt und dann wieder etwas erleichtert ist. Sie meinte nur, dass ich nicht erschrecken soll, wenn mein Anhänger mal nicht weiterpocht, was immer sie damit meint."
"Dass sie ihn vielleicht mal abnehmen muss, wenn er verräterische Zeichen aussendet", gedankenantwortete Léto. Dann gab sie noch eine Antwort auf den Bericht, den Julius ihr erstattet hatte. "Die Beschreibung von Belles Lage lässt mich vermuten, dass Euphrosynes Segen als eine Art Sammelquelle dient, um das, was die Falle tut um sie herum zu verdichten. Aber weil sie keine Veelastämmige aus Fleisch und Blut ist passiert ihr nicht mehr, als dass sie so erstarrt wie damals, wo ihr, ihrer Mutter und Ornelle Ventvit der verbotene Segen erteilt wurde, Julius."
"Das heißt, sie ist unangreifbar aber auch unrettbar, solange diese Falle wirkt?" wollte Julius wissen. "Ja, genau das ist es. Das heißt aber auch, dass kein Feind sie ergreifen kann, solange das, was diese Falle bildet und antreibt nicht beseitigt wurde. Ich habe da eine ganz üble Vermutung, wie die vom falschen Blut vergiftete Nachfahrin Nachtliedes das angestellt hat. Doch weiß ich nicht, ob ich dir das verraten darf, weil es schon eine sehr, sehr üble Vorgehensweise ist."
"Jetzt hast du mich aber richtig neugierig gemacht, Léto", schickte Julius zurück. "Das warst du immer schon. Aber in diesem Falle gilt, du bekommst weiterhin nur das von mir zu hören, was wir, der Ältestenrat, an euch Menschenkinder weitergeben dürfen, ohne unser eigenes Dasein zu gefährden. Schon schlimm genug, dass Nachtlieds Nachfahrin solche Geheimnisse kennt und anwendet, ohne Angst davor zu bekommen, dass sie selbst davon zerstört wird", gedankenschnaubte Léto. Julius erkannte wie bei der Erwähnung des sogenannten letzten Schnittes, dass hier etwas erwähnt wurde, was den reinrassigen Veelas sehr, sehr ernst war. "Aber danke für den Hinweis, dass es diese Fallen gibt. Falls in Wien, wo ihr eure WeltMinisterkonferenzen haltet, auch schon diese befürchtete Falle auf unsereins wartet werde ich Fleur warnen und am besten auch verbieten, dort hinzureisen", schickte Léto an Julius zurück. "Kann sein, dass Millie und du ihr gerade das Leben gerettet habt."
"Auutsch! So drastisch?" fragte Julius. "Ja!" gedankenblaffte Léto. Dann wünschte sie Julius und Millie noch einen erfolgreichen Ausgang dieser gefahrvollen Unternehmung.
Nun vergingen wieder mehrere Minuten des Wartens. Julius hörte Béatrice mit Félix und den Zwillingen durch den Garten toben. Die Zwei mädchen akzeptierten den Jungen als ihren Bruder, auch wenn sie und er auf zwei verschiedene Mütter aufgeteilt waren.
"Monju, ich noch mal. Habe Létos kleines Kuckucksei erfolgreich ins Nest gelegt und das dunkle Ei Ladonnas dafür sicher verstaut. Ich seh jetzt zu, Belle zu befreien. Ab jetzt musst du mit merkwürdigen Reaktionen des Anhängers rechnen. Wie vorhin schon geschickt versuch erst eine Minute nach beginnendem Stillstand mit mir zu mentiloquieren!"
"Stillstand? Du musst den Anhänger weglegen?" fragte Julius. "Nein, werde ich nicht, Monju. Aber bei dem was ich jetzt mache könnte der Anhänger aussteigen, bis ich fertig bin. Also halte bitte die Uhr im Blick!"
"Léto ließ raushängen, dass die Falle Veelastämmige töten kann und Belle nur Glück hat, dass der Veelasegen sie nur erstarrt hat", schickte Julius zurück. Millie bestätigte diese Vermutung. Dann wünschte er ihr noch einmal Erfolg, auch wenn sie immer noch unter der Wirkung von Felix Felicis stand.
Julius fühlte, dass Millie sich auf irgendwas sehr stark konzentrierte. Sie schaffte es wohl, alle störenden Gefühle zu unterdrücken. Es dauerte keine weitere Minute, da geschah, was Millie angekündigt hatte. Julius' Herzanhänger begann erst schneller zu pulsieren und schickte ihm dabei kurze heiße Kraftstöße durch den Körper. Dann beschleunigte sich die Pulsrate von einer Sekunde zur anderen von Trafo über Honigbienengesumm bis Mückensirren, um dann unvermittelt stillzustehen. Zugleich verschwand auch jede übermittelte Gefühlsregung Millies aus Julius' Bewusstsein. Er war gerade völlig allein mit sich selbst.
Julius holte den Anhänger unter seinem Unterhemd hervor und blickte zugleich auf seine Armbanduhr. Ab jetzt eine Minute. Tick und Tack zuckte der Sekundenzeiger von der zuerst abgelesenen Stellung weiter und weiter, drei, vier, fünf Sekunden. Was immer seine Frau gerade anstellte, er konnte im Moment nur abwarten.
Millie nahm den Herzanhänger wieder von ihrer Stirn. Sie lauschte noch einmal in sich hinein, ob sie auch ja das richtige tat. Sie fand keine Möglichkeit, es anders zu machen. Also galt es nun.
Zuerst wendete sie den Ausdauervorwegnahmezauber an. "Preacipio Dies!" sprach sie aus, während sie den Zauberstab genau auf den Bereich zwischen Bauch- und Brustkorb hielt. Dann fühlte sie, wie die aus dem Stab quillende rote Lichtwolke sie warm und belebend umfloss und mit jedem Herzschlag mehr Kraft in sie einströmte. Sie zählte die Sekunden und senkte den Stab nach zwölf. Jetzt fühlte sie sich regelrecht wie ein siedender Kessel, der bloß nicht verschlossen werden durfte, damit er nicht zerplatzte. Das war Teil eins des Zaubers.
Zu den Geheimnissen der Feuervertrauten gehörte das auf der höchsten von sieben Unterrichtsstufen gelehrte "Lied des dahineilenden lauten Himmelslichtes". Diesen Zauber durfte sie nur dann benutzen, wenn sie in großer Sorge um das Leben und die körperliche und seelische Unversehrtheit ihr anvertrauter Menschen oder ihres eigenen Seins bangte. Denn er kostete sie alle gerade in ihr vorhandene körperliche und geistige Ausdauer. Überzog sie die ihr davon gewährte Zeit fiel sie da wo sie war entweder besinnungslos oder gar tot um, je nach eigener körperlicher Form. Sie hatte gerade einen vollen Tag Ausdauer vorweggenommen, den sie bei nächster Gelegenheit verschlafen musste. Ihr Gehirn rechnete durch, wie viel sogenannte Selbstzeit sie zur Verfügung hatte, wenn sie das Lied vollständig richtig sang. Sie hatte einen halben Tag eigene Ausdauer übrig gehabt und sich einen Tag vorausgenommen und somit anderthalb Tage Ausdauer. Da das Lied des dahineilenden lärmenden Himmelslichtes ihren Körper und Geist auf das hundertfache beschleunigte würde diese Zeit, also anderthalb tage, also dreißig Stunden, also 1800 Minuten, ein Hundertstel davon an Selbstzeit bereitstellen, also achtzehn Minuten. Sie hoffte inständig, dass diese achtzehn Minuten ausreichten, im gesamten französischen Haus alle Leuchtscheiben zu entfernen und durch die Fenster hinauszuwerfen, um das räumliche Gitter zu knacken. In Belles Zimmer wollte sie damit anfangen, wenn der Zauber vollständig wirkte.
"Bedenke vier Dinge, Xallinyandira", hörte sie die Stimme von Daryankeera, ihrer in Khalakatan erlebten Ausbilderin der siebten Stufe in ihren Erinnerungen, "Wenn du erst einmal die Schnelligkeit des dahineilenden Himmelslichtes errungen hast, kannst du nur mit deinen Händen und beinen an Dinge rühren und sie nach deinem Willen bewegen und verändern. Auch dich selbst kannst du dann nicht mehr mit den hohen Kräften verändern, bis du die Worte des Einhaltes aussprichst. So wirke alles was du vorher noch an dir bewirken willst vor dem Lied! Durch den im Lied verwobenen Mantel des dahineilenden Lichtes wirst du deine Umgebung in dem Himmel gleichenden Farbtönen sehen, auch wenn sie mit anderen Farbtönen erfüllt ist, es sei denn, du hast dir vorher den Blick für schlafende und wache Feuerkräfte verliehen. Das Lied wird nur deinen Körper und deinen Geist betreffen, keinen anderen Menschen, auch wenn du ihn berührst. Somit werden auch alle in regelmäßiger Bewegung befindlichen Dinge wie ein Zeitmesser nicht mitbeschleunigt. Deshalb das vierte und wichtigste, achte genau auf die vergehende Zeit, um die dir gewährte Frist nicht zu überschreiten. Denn gleich wo du dich dann befindest wirst du Besinnungs- und hilflos daniederfallen oder gar dein Leben geben müssen. So lerne besser, wie du die für dich verstreichende Zeit beachten kannst!"
Kailishaia hatte ihr noch den Zauber "Zählendes Herz" beigebracht, der einen winzigen Teil ihres Geistes beanspruchte, um ihr alle zehn Herzschläge die Zahl der vergangenen Herzschläge in Gedanken zuzurufen. Den wollte sie sogar Julius beibringen. Doch da hatte Kailishaia gesagt: "Wenn er ihn erlernen will dann nur von mir selbst." Das musste Millie wohl beachten.
Also musste sie erst das zählende Herz erwecken, wie es bei den Altaxarroin hieß. Hierfür zielte sie mit ihrem Zauberstab genau dorthin, wo ihr Herz ein wenig schneller als ruhig aber noch ohne Stress pochte.
"Meiu Miritarour,
meiun taunbardunin Ktanour!"
So sprach Millie im Rhythmus ihres eigenen Herzschlages. Unvermittelt erwärmte sich ihr Herz. Der Wärmestoß pulsierte bis in ihren Kopf. Dann meinte sie, es ein wenig lauter schlagen zu hören. Millie zählte jeden Schlag mit, bis ihre eigene Stimme "Zehn" sprach. Sie meinte, dass ihre Stimme aus ihrem Brustkorb kam und mit einem Echo im Abstand eines Viertelherzschlages nachhallte. Da wusste sie, dass sie den Zauber schon im ersten Ansatz hinbekommen hatte. Den Blick für schlafende und wache Feuerquellen hatte sie ja schon längst auf sich angewendet. Also konnte sie nun den entscheidenden Zauber anwenden.
Wo war Osten? Das bekam sie mit dem Vier-Punkte-Zauber heraus. Dann sprach sie mit Waagerecht auf Kopfhöhe nach Osten gerichtetem Zauberstab die Formel:
"Eiu guadeinu taunpangidur
iu issiggur goorguadur faidari!
meiun taunligonadan
eiun glenarti iugadan
taun issiggi meiu
igurandir eiu!"
Während sie diese Worte sprach dachte sie an ein dahingaloppierendes Pferd, dann einen durch die Luft sausenden Rennbesen und schließlich einen vom Himmel niederfahrenden Blitz. Bei den letzten Worten schlug sie den Zauberstab waagerecht ausgerichtet von oben nach unten, so stark sie konnte. Da spürte sie schon eine gewisse Wärme in sich. Sie wandt sich nach Süden und wiederholte die Anrufung mit allen dazu gedachten Komponenten und der Zauberstabgeste. Das gleiche tat sie dann in Westrichtung und dann noch einmal in Nordrichtung. Jedesmal meinte sie, es werde immer Wärmer um sie. Dann, als sie das letzte mal den Zauberschlag ausgeführt hatte, war ihr, als würden aus allen Richtungen weißblaue Blitze in sie einschlagen, jedoch nicht schmerzhaft, sondern nur prickelnd und heiß. Ihr Herz schien unter diesen Einschlägen stärker zu schlagen. Ihr Kopf vibrierte fühlbar. Um sie herum wurde alles in hellen und dunklen Blautönen eingefärbt. Das lag an dem Mantel der dahineilenden Kraft, der sie und alles, was sie am Leib oder in der Hand trug gegen die auftretende Reibungshitze der Luft schützte. Das war wie der Hitzeschild jener Weltraumfähren, von denen sie es vor drei Jahren schon einmal hatten. Nur dass ihr Hitzeschild nicht bröckelte, bevor der Zauber von ihr beendet wurde oder sie, was sie nicht wollte, die verfügbare Zeit überschritt.
"Sechzig!" hörte sie die Stimme ihres "zählenden Herzens". Wenn sie richtig gerechnet hatte durfte sie nun 2100 Herzschläge lang handeln. Also los!
Kaum hatte die Wirkung des Zaubers eingesetzt erinnerte sie sich wieder an die dreißig Übungstage, wo sie diesen Zauber erprobt hatte, bis Daryankeera, die Meisterin der hohen Feuermächte, sie in dieser riskanten Kunst unterwiesen hatte. Sie kannte die Umgebung, die nun in allen Blautönen erschien, als habe sie sich eine nur blaues Licht durchlassende Brille aufgesetzt. Weil für sie der Schall gerade nur mit drei ein Drittel Metern die Sekunde unterwegs war würde jedes laute Geräusch in einem zehn Meter langen Gang ein mehrfaches Echo wie in einem tausend Meter langen Tal oder Tunnel verursachen. Sie wusste, dass sie solange bei gewohnter Schwerkraft laufen, stehen und sich wenden konnte, wie sie nicht mehr als die Hälfte ihrer Körpergröße über den Boden hinaussprang. War sie jedoch so weit nach oben gesprungen wirkte die irdische Schwerkraft mit nur noch einem Hundertstel auf sie, und der herrschende Luftwiderstand bremste ihren Fall wie bei einer Feder. Diesen Umstand machte sich Millie nun zu Nutze, als sie durch die immer noch zersprengte Tür in Belles Zimmer eindrang. Sie peilte mit dem Blick der Feuerquellen jene Leuchtscheibe über der für sie merkwürdigerweise immer noch orangeroten Glaskugel an, stieß sich ab und flog hinauf zur Decke. Sie musste sich mit dem Arm abfangen, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Dann bekam sie die Kristallsphäre zu fassen, die scheinbar starr unter der Decke befestigt war. Sie ertastete die orangerote, aber gerade nicht pulsierende Leuchtscheibe mit ihren Drachenlederhandschuhen und versuchte, sie zu lösen. Dabei quollen weitere orangerote Funken heraus, die jedoch nicht auf die Kugel aus leuchtendem Glas, sondern auf Millie zutaumelten. Da sie nicht wusste, ob ihr Flammengefrierzauber auf der Unterkleidung auch in diesem Zustand half wich sie den ihr geltenden Funken aus, bis sie die Scheibe mit einer Hand sicher hielt und mit einer kurzen Drehung aus ihrer Befestigung herauslöste. Dann stieß sie sich von der Kristallsphäre ab in richtung Wand. Die nun auf sie wirkende Minimalschwerkraft zog sie ganz behutsam weiter nach unten. Als Millie an der Wand anlangte hangelte sie sich mit der nun stärker strahlenden Leuchtscheibe weiter nach unten, bis sie wieder so nahe über der Erde war, dass die besondere Macht des Zaubers die Schwerkraft für sie wieder mit gewohnter Stärke zupacken ließ. Sie landete an einer Wand mit Fenster. Perfekt! Genau da wollte sie hin. Denn die immer stärker, wenn auch langsam pulsierende Leuchtscheibe musste raus. Millie zog eines der Fenster auf und sah, wie aus dem Rahmen kleine leuchtende Bröckchen herausquollen und langsam durch die Luft taumelten. Mit einer Handbewegung löschte Millie die Funken aus. Dann peilte sie nach draußen. Sie durfte gerade mal drei Herzschläge lang stehen, um nicht als mehr als ein weißblauer Schemen erkannt zu werden. Sie warf die sich immer weiter ausdehnende Leuchtscheibe hinaus. Sie hörte das mittelhohe Schwirren, als die Kristallscheibe davonjagte, gefolgt von aus ihr quellenden Funken. Wer sie sah mochte sie für ein Leuchtgeschoss halten.
Schnell drückte Millie das Fenster wieder zu. Der Funkenstrom auf Belle wurde zwar jetzt nicht mehr von oben unterstützt. Doch die anderen Funkenquellen sprühten noch.
Millie überprüfte die von den von ihr betäubten Hexen eingesammelten Schlüssel. Dabei fand sie zwei Schlüssel, die keine Nummern, sondern griechische Buchstaben trugen. Auf einem prangte zweimal der Buchstabe Gamma. Auf dem zweiten die Buchstabenfolge Gamma und Alpha. Millie ging davon aus, dass es Generalschlüssel waren, wie sie Reinigungskräfte und Sicherheitspersonal benutzen konnten, um in alle Räume eines Gebäudes zu kommen. Sie probierte den mit den zwei Gammas an der Tür ihres Zimmers aus. Er passte. Auch in das Türschloss zu Annes Zimmer passte er. Also galt dieser Schlüssel wohl als Generalschlüssel für den Hexenflügel.
Nun eilte sie von Zimmer zu Zimmer. Überall, wo sie eine Leuchtscheibe sehen konnte pflückte sie diese von einem der Kristallsphärenleuchter an der Decke. Wie bei der ersten Leuchtscheibe warf sie das sich sofort danach immer wilder wehrende Objekt zum Fenster hinaus. Wie weit das Belle half musste sie gleich ergründen.
Mit gewisser Besorgnis sah Millie, dass die noch angebrachten Kristallscheiben immer mehr und immer größere Funken ausschieden. Sie versuchten wohl Belles gläserne Kerkerkugel zu erhalten. Außerdem flogen Millie quaffelgroße Lichtkugeln entgegen, denen sie nur ausweichen konnte, weil diese mit einem Viertel Schrittgeschwindigkeit auf sie zuflatterten. Als sie dann noch einen Knoten des Gitternetzes gelöst hatte wurden aus den Funken in den Raum stechende Feuerlanzen. Millie war sich sicher, dass diese federkieldicken Strahlen ihr garantiert den Tag verdorben hätten, wenn sie gerade nicht den Weg des dahineilenden lärmenden Himmelslichtes benutzte. So konnte sie den nach ihr tastenden Feuerstrahlen ausweichen und einen weiteren dieser Kristalle ergreifen und sofort hinauswerfen. Und zu alle dem erfolgte jeden zehnten Herzschlag eine leise Zahlenangabe in Millies Gedanken.
Ob es ein von Felix Felicis eingeflößter Geniestreich oder doch ein grober Fehler war wusste Millie im Augenblick nicht, als sie mitbekam, wie die im Hexenflügel verbliebenen Leuchtscheiben bereits beim Eintreten in die richtung zielten, in der die meisten anderen Kristallscheiben aus dem Haus befördert worden waren. Millie war sicher, dass diese Dinger mit ihren Feuerlanzen versuchten, sie aufzuspießen oder an einem bestimmten Ort festzunageln. Denn die Feuerlanzen kamen jetzt auch durch die Wände des Bungalows. Erste winzige Rauchwölkchen wallten mit einer schon unheimlichen Langsamkeit auf. Millie musste sehr aufpassen, nicht durch eine dieser gelborangen Feuerlanzen durchzulaufen. Denn sie wusste nicht, ob ihr Flammengefrierzauber auch davor schützte. Doch sie schaffte es, auch die restlichen Kristallscheiben aus ihren festgelegten Stellungen zu lösen und hinauszuwerfen. Schnell eilte sie zu Belle zurück. Da hörte sie ihr zählendes Herz: Eintausendzehn!" sagen. Millie sah, dass der Funkenstrom größtenteils abgerissen war und die gläserne Umhüllung bereits anfing, die eingesaugten Funken wieder auszuscheiden. Also half es. Doch sie musste das Gitter so sehr zerstören, dass der Funkenstrom völlig abriss.
Millie verließ das Gästehaus für Frankreich durch die Tür des Hexentraktes. Sie sah sich um und entdeckte weit weit fort eine einen Meter große, von schnatzgroßen Funken umtanzte Leuchtscheibe, die trotz Luftwiderstand weiter über den Platz hinausflog und sogar Stieg. Ja, sie stieg immer weiter nach oben. Das war aufschlussreich, fand Millie. Sie hatte von Rosey Dawn erfahren, dass Heather und Cygnus Redrobe einen unausgereiften Besen getestet hatten, dessen Triebkraft von der Sonne rührte. Doch genau das hatte den Besen zur tödlichen Falle gemacht. Bei diesen Leuchtscheiben musste es ähnlich sein.
Millie fühlte ihre Unterkleidung erbeben und erkannte, dass sie nur noch eine Handbreit vom Ende eines gebündelten Feuerstrahles entfernt war. Er kam aus Richtung des Zauberertraktes.
Millie umlief die Feuerlanze, um ihr dann zu folgen. Sie erreichte die verschlossene Tür für Zauberer. Behutsam schloss sie sie auf. Doch sie spürte bereits ein unangenehmes Kneifen in beide Brustwarzen. Da kam ihr eine weitere Idee, die sie ohne Felix Felicis wohl erst in hundert Jahren gehabt hätte. Sie stieß die Tür mit einem Fuß auf, drehte sich auf dem Absatz des Standbeines um, zog das andere Bein in eine geeignete Ausgangslage und sprang beidbeinig mit Rücken und Hinterteil voran durch die Tür. Das klappte, auch wenn sie für einen Sekundenbruchteil ein Hitzegefühl an beiden Brustwarzen und einen Ruck in ihrem Unterleib verspürte. Doch der Selectisexus-Zauber hatte sie durchgelassen.
Gerade noch rechtzeitig warf sie sich zu Boden, als leise zischend zwei Feuerlanzen durch die Wände drangen und genau über ihr zusammentrafen. Es spotzte, prasselte und knisterte, als die zwei Feuerbündel zu einer beindicken Röhre aus ganz langsam kreiselnden kurzen Flammen wurde. Hätte Millie noch ihre Schutzaura des verhüllenden Lebensfeuers besessen, wäre dieser Angriff womöglich nicht erfolgt. Ja, und ohne den sie weiterhin mit guten Ideen und schnellen Reflexen begüternden Glückstrank hätten die zwei Feuerlanzen wohl ihren Flammengefrierzauber und den gegen Reibungshitze schützenden Mantel des lärmenden Himmelslichtes überlastet. Sie musste also besonders auf der Hut sein.
Weil im anderen Flügel der Schlüssel mit den zwei Gammas die Zimmer geöffnet hatte nahm Millie nun den Schlüssel mit den Zeichen Gamma und Alpha. Dann ging sie daran, die auf sie jagd machenden Leuchtscheiben zu finden und hinauszuwerfen.
Sich unter den durch die Luft stechenden Feuerlanzen duckend suchte und Fand Millie die nächsten Kristallscheiben und pflückte sie aus ihren berechneten Stellen. Als sie das bei der am nächsten zum Hexenflügel angebrachten Scheibe tat hörte der Spuk mit den Feuerlanzen auf. Offenbar war hier eine kritische Stelle, über die alles ablief. So konnte Millie sich größtenteils an der Decke entlang hangeln und die noch verbliebenen Scheiben fast im Vorübertanzen pflücken. Doch sie musste ja jede einzlne aus einem der Fenster werfen, um sie nicht zueinander hinkommen zu lassen. Ihr kam der Verdacht, dass das für sie und die Umgebung nicht gut sein mochte.
Wie gut es war, ihre Feuer- und fluchfesten Handschuhe zu tragen bekam sie heraus, als sie die viertletzte Leuchtscheibe aus einem der Gästezimmer pflückte. Denn unvermittelt strahlte das Ding in einem flimmernden blauweiß und dehnte sich scheinbar aus. Dabei prasselten blaue Blitze auf Millies behandschuhte Hände und prallten von der Flammengefrieraura ab. Als Millie das sich nun wirklich heftig wehrende Ding aus dem nächstgelegenen Fenster geworfen hatte machte das Objekt beinahe kehrt. Doch dann wurde es immer weiter nach oben gesaugt, als sei die Schwerkraft der Sonne über der Erde fünfmal größer.
Mit schnellem Griff packte sie die drittletzte Scheibe auf dem Erdgeschoss und warf das blauweiße Unding in nur vier ihrer ganz eigenen Sekunden zum Fenster hinaus. Es kreiselte wild und stieg dabei immer schneller werdend nach oben.
"Eintausendvierhundertfünfzig!" flüsterte die magische Stimme ihres "zählenden Herzens" in ihrem Kopf. So viel Zeit hatte sie nun nicht mehr.
Die letzten beiden Leuchtscheiben versuchten, Millie mit blauen Blitzen zu treffen. Sie konnte gerade noch ausweichen und sich hinwerfen. Doch weil die Dinger unter der Decke hingen musste sie nach oben. Als ein Blitz sie streifte fühlte sie ihre Unterwäsche wild erbeben und sah ein kurzes Aufflackern der jede Körperstelle überdeckenden Schutzaura. Das mochte noch was geben, wenn sie in den Keller hinabsteigen musste, um die vier letzten Leuchtscheiben zu erledigen, dachte Millie.
Millie verwünschte den Umstand, gerade nichts zaubern zu können. Wie sollte sie die sich mit blauen Blitzen wehrende Leuchtscheibe erwischen? Da kam ihr ein verwegener Gedanke. Sie schlug zwei schnelle Haken, ergriff die auf dem Wohnzimmertisch stehende Vase mit den Frühlingsblumen, die für sie gerade alle nur hell- bis mittelblau aussahen, pflückte die Schnittblumen heraus und warf die Vase in einer genau abgepassten Pause zwischen zwei Abwehrblitzen in die Kristallsphäre. Es klirrte nicht, sondern schepperte so heftig, als wenn zwei mittelgroße Glocken zusammenknallten und dabei zerbarsten. Millie sah, wie die Kristallsphäre in abertausend Scherben zerplatzte, die in unterschiedlich großen Stücken durch den Raum schwirrten und in die Wände einschlugen. in einer schon quälenden Langsamkeit senkten sich die verbleibenden Scherben nach unten. Doch auch die Blitze schleudernde Leuchtscheibe trudelte abwärts. Dabei hörten ihre blauen Blitze auf.
Weitere Scherben schlugen in die Wände ein. Offenbar hatte die Zerstörung der Sphäre eine Menge Kraft freigesetzt. Denn auch die Vase war zerstört worden.
Millie sprang aus dem Zimmer hinaus, bevor die nach unten trudelnden, herumschwirrenden Scherben ihr zu nahe kamen. Sie wartete, bis das laute und häufig wiederhallende Scheppern und Klingen aufhörte. "Eintausendfünfhundertsechzig!" drang ihre eigene Stimme von ihrem eigenen Herzen her in ihr Bewusstsein. Sie hatte also noch sechshundert Herzschläge zeit, die letzten Scheiben unschädlich zu machen, bevor sie den Hochgeschwindigkeitszauber beenden musste.
Sie schlüpfte in das ramponierte Zimmer und packte die immer noch fallende Leuchtscheibe, die in ihren behandschuhten Händen wieder heller leuchtete. Millie erkannte feine, immer heller leuchtende Linien in der ansonsten glatten Kristallscheibe. Ihr wurde klar, dass ihr das Ding gleich selbst in tausend Stücken um die Ohren fliegen mochte. Doch da war sie auch schon an einem der Fenster, riss es auf und schleuderte die erbeutete Leuchtscheibe hinaus. Es wiederholte sich das gleiche Schauspiel wie schon bei den anderen Kristallscheiben. Allerdings brach die Leuchtscheibe nach wenigen Subjektivsekunden Steigflug auseinander. sonnenhelle Bruchstücke schwirrten wild kreiselnd davon und schufen um sich mehrere konzentrische Ringe aus orangeroten Lichtkugeln.
Derartig erprobt und vorgewarnt schaffte es Millie in der Zeit zwischen "eintausendfünfhundertneunzig!" und "eintausendsechshundertzwanzig!", die letzte Kristallscheibe unschädlich zu machen. Doch sie sah immer noch vier der Leuchtscheiben unter dem Boden. Wie kam sie in den Keller? Vor allem, was tat sie, wo es dort kein Fenster gab?
Von den Muggelstämmigen in ihrer Klasse sowie von Laurentine und Julius wusste sie, dass versteckte Falltüren auch durch Stampfen auf dem Boden gefunden werden konnten. So trat sie im Salon kräftig auf jeder Bodenstelle herum, fand aber keinen anders klingenden Bereich. Dann kam ihr der Einfalldie Wand zwischen Zauberer- und Hexenflügel zu untersuchen. Ja, da war ein Hohlraum. Sie hockte sich hin und drehte an einem der Tischbeine des Salons. Da klaffte ein winziger Riss in der Wand auf. Millie bangte, dass der Öffnungsmechanismus zu lange brauchte, um sie durchzulassen. Doch es dauerte nur sechzig weitere ihrer Herzschläge, bis der Spalt breit genug war, dass sie sich seitwärts hindurchschlängeln konnte. Hinter der immer noch aufgleitenden Tür fand sie eine steile, sich eng windende Wendeltreppe. Über die ging es hinunter in den Kellerbereich.
Als sie unten ankam fiel ihr ein, was sie machen konnte, wo es dort unten keine Fenster zum Hinauswerfen gab.
Als sie auch hier wieder von blauen Blitzen empfangen wurde warf sie die in den Kellerräumen enthaltenen Kästen mit Baumaterial nach obenund zerstörte die bei ihrem Eintreten durch wildes Flacken und sich ausdehnendem Licht entflammten Kristallsphären. Es knallte wie mehrere Kanonenschüsse. Im Licht der glühenden Scherben und der immer schwächer blinkenden Leuchtscheibe sah sie neuen Schlafdunst eindringen. Offenbar hatte die Betäubungsvorrichtung die zwanzig Herzschläge Millies benötigt, um die ungebetene Besucherin zu erfassen. Millie wusste, dass Rauschnebel alle natürlichen Feuer erstickte. Also konnte es ihr nicht besser ergehen. Ansonsten hätte sie einfach nur die Tür wieder zugeworfen und abgeschlossen und die Leuchtscheibe einfach nur zu Boden fallen lassen.
Mittlerweile war sie so gut im "Abschießen" von Kristallsphären, dass sie es gar nicht mehr darauf ankommen ließ, einen der blauen Abwehrblitze auszulösen. Kaum dass sie mit einer kleinen, schweren Kiste in den nächsten Raum trat warf sie sie schon nach oben. Die Kristallsphäre zersprang laut krachend. Millie dankte dem Umstand, dass eine Kopfblase auch den Druck vom Kopf fernhielt, somit auch den Lärm einer nahebei erfolgenden Explosion, sonst wären wohl neue Ohren fällig.
"Eintausendachthundertfünfzig!" verriet der Zauber des zälenden Herzens ihr, dass sie gerade noch drei Eigenminuten Zeit hatte, um wieder nach oben zu kommen. So legte sie auch im Höchstgeschwindigkeitszustand noch etwas mehr Tempo zu, um die letzte Leuchtscheibe unschädlich zu machen. Mit lautem Peng zerbarst die Unter der Kristallscheibe hängende Sphäre in abertausend glühende Einzelstücke. Millie konnte sich gerade noch aus der Tür hechten, als gleich fünf Splitter wimmernd aus dem Zimmer herausschossen. Erst als sie sicher war, dass die durch den Sprengdruck nach unten geschossenen Scherben aufgebraucht waren wagte sie es, noch einmal in das Zimmer zu sehen, Ja, die letzte Leuchtscheibe segelte langsam herunter, wobei gerade noch zwei quaffelgroße orangerote Lichtkugeln aus ihr freigesetzt wurden. Auch sah Millie, dass sich erste leuchtende Linien in der abgeschossenen Scheibe zeigten. Die Vertraute der alten Feuerzauber schlug die schwere Tür des Verschlages zu, der direkt unter Belles Zimmer lag und rannte durch den Gang zurück zur Wendeltreppe. Dabei erstrahlte die sie umkleidende Hitzeschutzaura noch heller.
Millie hastete die Wendeltreppe so schnell nach oben, dass ihr schon schwindelig wurde. Die Zugangstür war noch dabei, sich ganz zu öffnen. So konnte Millie nun bequem in den Salon des Zaubererflügels zurückkehren. Sie lauschte. Sie hörte nichts außer dem vielfachen Echo ihrer auf der Steintreppe getanen Schritte. Doch sie war sich sicher, dass die vier unten bekämpften Leuchtscheiben kurz davor waren, von der in ihnen steckenden Kraft zersprengt zu werden. Sie musste sich beeilen, in Belles Zimmer zurückzukehren.
"Eintausendneunhundertachtzig!" Die Mitteilung ihres zählenden Herzens warnte sie, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. So lief sie bis kurz vor die Ausgangstür. Sie drehte sich um und zog die Tür auf. Dann sprang sie wieder rückwärts durch die Tür hindurch. Sie lief das Haus entlang zur anderen Tür, vor der die Wache mittlerweile den Kopf in die andere Richtung wendete und den Blick ihrer Augen langsam nach oben richtete. Das konnte Millie nur recht sein. So kam sie auch diesmal unangefochten in den Hexenflügel des Bungalows hinein.
sie beschloss, in Belles Zimmer die Widerrufung ihres Zaubers auszuführen. "Zweitausendundvierzig!" meldete das zählende Herz. Dann hatte Millie Belles Zimmer erreicht.
Henriette Barnier sollte die Tür zum Hexenflügel des französischen Gästehauses bewachen, damit dort niemand unerkannt eindringen konnte. Es mochte ja sein, dass die Franzosen versuchten, Belle Grandchapeau zu befreien, wenn Millie Latierre, Anne Laporte und die beiden anderen Flüchtlinge Alarm geschlagen hatten.
Immer wieder blickte sie sich um, ob sie was entdecken konnte. Trotzdem kam es völlig ohne Vorwarnung über sie.
Plötzlich erfolgten innerhalb einer Sekunde mehrere Scharfe Knälle wie von meterlangen Peitschenschnüren. Henriette sah mindestens drei aus den für einen Lidschlag aufspringenden Fenstern fliegende Leuchterscheinungen, die innerhalb einer Viertelsekunde mehr als hundert Meter weit fort waren und wie Kometen einen Schweif aus winzigen sonnengelben Funken hinter sich herzogen. Ebenso wie Kometen blähten sie sich auf, als sie in Richtung der zwischen Ostenund Süden noch nicht ganz auf Mittagshöhe stehenden Sonne zuflogen. Ein ganzer Schwarm von aus den Fenstern herausschießender Kometenschwärmer umschwirrte Henriette und ihre Kollegin. Auch von der anderen Seite des Hauses erklangen Knalllaute und das in den Ohren stechende Pfeifen der davonschießenden Leuchtkörper. Einmal meinte Henriette, einen weißblauen Schemen zu sehen, der von da kam, wo die Tür zum Hexenflügel war und in nur einer Viertelsekunde dort verschwand, wo die Tür zum Zaubererflügel war. Dann krachte und schwirrte, glühte und funkelte es erneut, als ein neuer Schwarm von Kometenschwärmern aus dem anderen Flügel herausjagte und der Sonne entgegenstieg. Dann sah Henriette noch was neues: Vom Haus weg flog ein wild kreiselndes Feuerrad, das kaum von der Sonne beschienen in tausende von glühenden Leuchtgeschossen auseinanderplatzte, die zischend und sirrend in alle Richtungen davonschwirrten. Keine halbe Sekunde später erfolgte eine weitere Erscheinung dieser Art. Indessen krachte es mehr als einen Kilometer weit und über zweitausend Meter hoch vielfach dumpf wie gezündete Feuerwerksböller. Henriette konnte trotz des hellen Himmels mehr als sonnenhelle Lichtentladungen erkennen, die zu gleißenden Feuerringen anwuchsen, die nach nur zwei weiteren Sekunden in abermillionen Funken auseinanderstoben. Als sie einen kurzen, hohen Knalllaut hinter sich hörte meinte sie, es wäre noch ein solches Geschoss unterwegs. Sie warf sich herum. Doch die Tür zum Hexenflügel war zu. Da auch ihre Kollegin gerade das Spektakel der aus dem Haus schwirrenden Leuchtgeschosse verfolgt hatte wusste keine von ihnen, was den vergleichsweise schwachen Knall verursacht hatte. Alles in allem hatte der ganze Feuer- und Funkenspuk weniger als zehn Sekunden gedauert.
"Hier Barnier vor Hexenflügeltüre Ffranzösischer Bungalow! Ich denke mal, dass sie alle das mitbekommen haben, was hier gerade passiert ist", sprach sie in ihre Schallverpflanzungsdose.
"Wir sind schon unterwegs", hörte sie einen Kollegen blechern aus der Dose antworten.
Millie stellte sich neben der langsam schnatzgroße Leuchtkugeln abscheidenden Glaskugel hin und rief: "Naanissiggur! Naanissiggur! Naanissiggur!" Augenblicklich war ihr, als würde sie von einer eiskalten Wasserladung getroffen und erstarrte. Gleichzeitig verschwand das alles hier überlagernde Blau. Die ursprünglichen Farben kehrten zurück. Die aus der orangeroten Glaskugel hervorquellenden Leuchtblasen taumelten nicht mehr durch die Luft, sondern schwirrten mit irrsinniger Geschwindigkeit davon. Immer dichter wurde die von der gläsernen Kugel ausgehende Funkenwolke. Das sphärische Gebilde schrumpfte dabei und verlor seine Festigkeit genauso wie ein Schneeball im Kaminfeuer. Belles Körper, der bisher im Zentrum der leuchtenden Glaskugel eingebacken war, rutschte nun vom Zug der Erdschwerkraft gepackt nach unten. dann löste sich der Rest der Leuchtkugel in einen letzten Schauer orangeroter Leuchtbällchen auf, die ihrerseits im Flug zerbarsten. Millie sah, wie um Belles Kopf eine bläuliche, durchsichtige Kugelschale entstand. Ihr Gasvorgreifer hatte schnell auf den noch vorhandenen Nebel reagiert. Belle fiel aus anderthalb Metern zu boden, konnte sich jedoch so ausrichten, dass sie formvollendet auf beiden Füßen landete und nur kurz durchfederte. Als die aus der gläsernen Einkerkerung befreite Ministeriumshexe Millies Blick sah lächelte sie sie an und sagte mit unüberhörbarer Genugtuung: "Vierzehn Jahre Ballettunterricht und sieben ganze Aufführungen, Madame Latierre."
"Ist genausogut wie Judo", erwiderte Millie darauf. Dann lagen sich die beiden so unterschiedlichen Hexen in den Armen. Das dauerte nur wenige Sekunden. Denn von draußen erklangen mehrere dumpfe Schläge wie von weit entfernt abgefeuerten Böllern. Millie ahnte, was das bedeutete. Dann sah sie auf den Boden. Unter ihren und Belles Füßen begann der Boden rot zu glühen.
Julius zählte die Sekunden. Als die zehnte Sekunde vertickt war hörte er und fühlte er den Anhänger wieder. Es war wie ein Kribbeln von schwachen Stromschlägen, die durch seinen Körper jagten. Der Anhänger sirrte erst wie hundert gefangene Mücken und fiel dann in der Tonhöhe ab, bis er nach nur drei Sekunden auf einer Pulsrate von an die hundert Schläge in der Minute verharrte. Zugleich fühlte Julius Triumph und die Erleichterung, eine anstrengende, ja schwere Aufgabe erledigt zu haben. Er wollte sich gerade den Herzanhänger an die Stirn drücken und ihr zur erfolgreichen Rückkehr von wo auch immer gratulieren, als er eine schlagartig steigende Besorgnis von ihr fühlte. So wagte er es nicht, sie anzumentiloquieren. Im gleichen Augenblick trällerte Béatrices körperliche Stimme im Haus: "Julius, komm bitte. Die kleinen sind fällig."
"Bin unterwegs, Trice!" rief Julius zurück. Was war die Rettung der Welt gegen drei randvoll gemachte Kleinkindwindeln? Dieser Aufgabe musste er sich stellen, weil er das versprochen hatte.
"Wir müssen weg hier. Erklärungen später. Alle in Sicherheit. Es fehlen nur wir", stieß Millie aus und zog Belle einfach mit sich aus dem Zimmer, dessen Boden immer mehr glühte. Millie wusste es irgendwie, dass sie nur in einem der Salons genug Zeit hatten. Deshalb zog sie Belle dort hin. Dann riss sie den Rucksack vom Rücken und zerrte den Reißverschluss der Tasche auf, in der zwei zusammengefaltete Tischtücher lagen, die von vier Kordeln zusammengehalten wurden, ein Sonnengelbes und ein grauweißes. Millie sah mit dem immer noch wirkenden Blick für Feuerquellen, dass in der gelben Tischdecke sonnengelbe Spiralmuster kreiselten und in der grauweißen mondlichtfarbene. Das waren die feuermagischen Bestandteile eingewirkter, auf Sonne oder Mond fokussierter Portschlüssel. "Wir brauchen die Sonnengelbe", sagte Millie und vertat keine Zeit, sie auseinanderzufalten, wo sie nur zu zweit waren. Belle griff danach.
Sie wollte gerade nach dem Verbleib der anderen fragen, als vier dumpfe Knalllaute den Boden unter ihren Füßen erschütterten. Zugleich erhitzte sich der Boden immer mehr. Da sah Belle es ein, dass jetzt keine Zeit für noch so wichtige Fragen war. Sie nickte Millie zu. Diese rief das Auslösewort "Sonnenblumenkelch!"
Der Boden wurde rotglühend. Belle und Millie fühlten die sengende Hitze. Da umschlang sie beide eine sonnengelbe Lichtspirale und riss sie hinein in einen Wirbel aus sonnengelben und goldenen Farbmustern. So bekamen sie beide nicht mehr mit, wie die Rotglut zur Gelbglut und schließlich zur Weißglut wurde. Dann barst der Boden, und Eine Unzahl weißblauer Flammenkugeln zischte hervor und krachte durch die Decke und das Dach. Damit wurde der Weg für frische Luft frei. Die angestaute Hitze reichte aus, alles im Haus mit einem Schlag in weißblaue Flammen zu hüllen.
Felsental blickte auf die Modelle der Gästehäuser, weil von dort ein warnendes Bimmeln ertönte. Er sah das Modell des französischen Gästehauses an. Es hatte aufgehört rot zu blinken. Statt dessen schwebte eine feuerrote Leuchtschrift darüber:
WARNUNG!! VEELABEKÄMPFUNGSMITTEL AUßER KONTROLLE!
HÖCHSTE BRANDGEFAHR!
"Waaas?!" Stieß Felsental aus. Da loderten winzige gelborange und dann weißblaue Flämmchen auf. In dem Augenblick plärrte aus dem Tisch mit den Modellhäusern: "Maison Française in Vollbrand!" Das warnende Bimmeln wurde lauter und hektischer.
Die über das ganze diplomatische Dorf verteilten Alarmtröten gingen los, als die Feuerüberwachungszauber ein brennendes Haus erfassten. Sofort stülpten sich über alle anderen Häuser ovale, eisblaue Lichtkuppeln, in denen eine von genialen Thaumaturgen entwickelte Kombination aus Flammengefrierr- und Brandlöschzauber wirkte. Der Feueralarm und die automatisierten Brandschutzzauber unterbrachen den Transport der noch betäubten Delegierten. Das kleine Modellhaus loderte, ohne jedoch die anderen Modellhäuser zu beeinträchtigen. Denn das Feuer war nur eine bildhafte Illusion. Doch keine Illusion war, dass das Modell des französischen Gästehauses nach nur einer Minute mit lautem Poff zu Staub zerfiel. In dem Moment erloschen auch die hitzelos lodernden Flämmchen. Das war schmerzhaft und überdeutlich, erkannte Felsental.
"Der schweizer Vertreter der IZKF blickte durch das bodentife, unzerbrechliche Fenster in seinem Amtszimmer im himmelblauen Haus der Zusammenkunft. Er sah, wie das französische Gästehaus gerade unter einem weit ausgreifenden Funkenregen zusammenkrachte. Wo die Flammen noch keine frische luft genossen hatten fanden sie nun reichlich davon.
Nun konnte wohl nicht nur Felsental die aberhundert weißblauen Leuchtgeschosse sehen, die genau auf die Sonne zusteuerten, bevor sie mit scharfen Knällen zu sonnengelben Glutbällen auseinanderplatzten.
"Feuer löschen, zum Donnerwetter und Hagelschlag!" rief er in eine große Schallverpflanzungsdose hinein. Das fehlte noch, dass die ganze Unternehmung wegen des außer Kontrolle geratenen Veelafangsystems im französischen Gästehaus abgebrochen werden musste. Er befahl auch die Vergissmichs des Ministeriums, erst dann die Gedächtniskorrekturen durchzuführen, wenn wirklich alle Delegierten im Dufour-Saal waren, damit das abgebrannte Gästehaus keine weiteren Fragen nach sich zog, bevor die große Kerze entzündet worden war.Felsental rief Rheinquell. Der erwiderte auf die Meldung: "Das wird die Königin nicht freuen, dass ihre Veelafalle offenbar bei nur mit Veelazaubern belegten derartig aus dem Gleichgewicht gerät."
"Ich erreiche Sie nicht. Aber Sie sind der Minister. Können Sie mit ihr Verbindung aufnehmen?"
"Natürlich kann ich das", blaffte Rheinquell. "Wie erwähnt wird sie nicht erheitert sein, dass ihre Veelafangvorrichtung außer Kontrolle geraten ist. Ich komme mit den für diese Angelegenheiten zuständigen Abteilungsleitern und ein paar von den Franzosen gespendeten Rückschaubrillen herüber, um das nachzuprüfen und im Auftrag der Königin den Abschluss der Unternehmung zu überwachen", klang Rheinquells Stimme blechern aus der Schallverpflanzungsdose.
"Wenn Sie das für nötig halten bin ich natürlich einverstanden", erwiderte Felsental. Was hätte er auch anderes sagen sollen?
Der schweizer Sprecher der eidgenössischen Delegation der IZKF beobachtete, wie mehrere hundert Mitarbeiter gegen die lodernden Flammen ankämpften. Selbst mit dem Brandlöschzauber und armdicken Kaltwasserstrahlen dauerte es länger als fünf Minuten, bis die besonders heiß lodernden Flammen endlich niedergerungen waren. Jetzt zischte und fauchte nur noch weißer Dampf aus den Glutnestern.
"Ich bin im Heilerhaus", meldete sich Felsental bei seinen Leuten ab. Jetzt, wo das Feuer unter Kontrolle war und die am weitesten vom Brandherd entfernten Schutzkuppeln in sich zusammensanken und wie von den Wänden aufgesaugt verschwanden konnte er eine andere Frage klären, die er hatte. Diese stellte er dem Heiler vom Dienst, Bombastus Maiglock, dem Schwager der Schulheilerin von Greifennest.
"Heiler Maiglock, was genau hat unsere Leute betäubt, wenn es nicht der Schlafdunst war?
"Nun, es ist schon eine sehr erstaunliche Sache, Monsieur Felsental", setzte der Heiler an. "Es war nicht der Schockzauber. Es ist auch kein üblicher Tiefschlafzauber. Das wurde durch Versuche, die Betäubung zu beenden erwiesen. Der Enervate-Zauber ist an ihnen förmlich in kleinen roten Funken zerstoben, als wären sie aus Stein. Aber sie sind nicht erstarrt wie unter dem Blick eines Basilisken oder einer Gorgone der dritten Stufe. Der für Versteinerungen probate Alraunentrunk hat sie auch nicht wiedererweckt. Ich habe den sehr starken Eindruck, dass den Kolleginnen auf einen Schlag so viel Lebenskraft entrissen wurde, dass sie gerade so noch am Leben sind, aber sich erst einmal regenerieren müssen."
"Lebenskraftraub? Das ist dunkle Magie, die Vorstufe zum tödlichen Fluch", stieß Felsental aus. "Öhm, könnte der Ausdauerübertragungszauber abhelfen?" fragte er dann noch.
"Das wäre eine noch zu prüfende Möglichkeit", erwiderte Maiglock mit einer Gelassenheit, die Felsental immer wieder verärgerte.
"So, und was hielt Sie bisher davon ab, dieses Mittel anzuwenden?" fragte Felsental. "Das wir dafür freiwillige Lebenskraftspender benötigen, vorzugsweise geschlechtsgleiche, ist aber nicht zwingend erforderlich", sprach Maiglock ruhig. Felsental schnaubte verdrossen. Dann rief er in den Flur hinaus: "Vier Damen zur Lebenskraftspende antreten, im Namen der Königin!"
"Es könnte sein, dass die das nicht gestattet", sagte Maiglock.
"Der Minister wird gleich hier eintreffen. Der wird wissen wollen, was genau geschehen ist. Also führen Sie die Ausdauerübertragung aus!" befahl Felsental. Maiglock nickte. In dem Moment betraten vier Hexen aus dem Sicherheitstrupp das Vierbettzimmer mit den bewusstlosen Kolleginnen darin. Felsental nickte ihnen zu und zog sich vor die Tür zurück.
Dort bekam er mit, wie Maiglock den Transfusio-Validitatis-Zauber ausführte. Dann hörte er ihn sagen: "Ich konnte Mademoiselle Feuerherd wecken, Monsieur Felsental." Der Angesprochene bejahte es und forderte, auch die anderen drei aufzuwecken. Doch dafür mussten die vier Lebenskraftspenderinnen nun in die Betten, weil sie völlig erschöpft waren.
So erfuhr Felsental von Tessa Feuerherd, was ihr zugestoßen war. Besser er erfuhr, dass sie versucht hatte, in das Zimmer von Belle Grandchapeau einzudringen und dabei wohl in einen Fallenzauber geraten war, der ihr alle Körperwärme entrissen haben mochte.
Eine der nicht gleich ins Zimmer gestürmten sagte aus, dass es sie wenige Sekunden später erwischt habe, als sei der Fallenzauber in den Flur hinausgesprungen, um weitere Opfer zu finden. Felsental verlangte eine genaue Gedächtnislotung. Dagegen hatten sowohl Maiglock wie Tessa was. Maiglocks Einwand war, dass der Entzug von Lebenskraft und magischer Schnellregeneration die Organe belasteten und eine Gedächtnisausforschung zum jetzigen Zeitpunkt nicht alles wichtige wiedergeben konnte. Tessa bestand darauf, dass sie ihr Gedächtnis nur der Königin offenbaren würde. Dabei wirkte sie seltsam verunsichert und schien zu überlegen. Dann sagte sie: "Nur wenn sie Zeit und Lust hat werde ich ihr meine Erinnerungen offenbaren." Felsental erinnerte sich an ein Machtwort der Königin, dass der Wille von Hexen über dem von Zauberern stehe und Zauberer deshalb nur solange frei handeln durften, solange sie damit keiner Hexe in die Quere kamen. Also musste er es akzeptieren, wenn Tessa Feuerherd keine Gedächtnisausforschung zuließ. So konnte er nur sagen: "Ich denke, die Königin wird uns demnächst alle einzeln befragen, was geschehen ist." Er wollte nicht erwähnen, dass er bis jetzt keine Verbindung mehr mit der sonst so allgegenwärtigen Rosenkönigin hatte. Er wusste auch nicht, dass Rheinquell dasselbe Problem hatte. Ebenso wusste er nicht, dass Tessa gerade überlegt hatte, ob sie es den anderen verraten durfte, dass sie keine Verbindung mit der Königin bekam und dass sie wohl die Schuld daran trug, weil sie mit ihr eine Gedankenbrücke errichtet hatte, um sie mitverfolgen zu lassen, wie ihre Veelakraftfangvorrichtung funktionierte.
Als Felsental das Heilerhaus wieder verließ gab er den Befehl, eine bildhafte Illusion an der Stelle zu errichten, wo das französische Gästehaus gestanden hatte. Es sollte der Eindruck entstehen, dass es völlig intakt geblieben war und dass die Franzosen gar nicht erst angereist waren. Da fiel ihm was ein. Sie könnten ja mit dem wohl immer noch verwahrten Portschlüssel der Franzosen zurückreisen. Doch dieser Einfall erschien ihm sogleich töricht. Denn was war, wenn er oder wer immer genau dort ankam, wo mehrere Veelas oder Veelastämmige bereitstanden? Die Königin hatte ihnen ausdrücklich verboten, sich in die Nähe dieser Wesen zu begeben. Er wusste auch, wie die Ausstrahlung Belle Grandchapeaus ihn regelrecht zurückgedrängt hatte. Nein, mit dem löcherigen Teppich nach Frankreich zu portschlüsseln war ein Sprung ins lodernde Drachenmaul. Das würde seine Königin ihm nicht verzeihen, falls er diesen Einsatz überleben sollte.
Belle und Millie landeten nach der wilden Reise durch den sonnengelben und goldenen Wirbel im Foyer des französischen Zaubereiministeriums. Gemäß der Übereinkunft mit den Veelastämmigen patrouillierte hier eine von Létos weiblichen Nachkommen. Sie begrüßte die Rückkehrer. Millie freute sich auch, dem Irrsinn entronnen zu sein, ja und dass sie hoffentlich das ganze Unternehmen zum Erfolg geführt hatte. Dann hörte Millie ihre eigene Stimme "zweitausenddreihundertsiebzig!" flüstern. Oha, das hatte sie glatt vergessen, obwohl sie die Stimme doch alle zehn Herzschläge hören musste. Sie nahm noch einmal ihren Zauberstab, zielte damit auf ihren Brustkorb und wisperte das altaxarroische Wort für Beendigung eines Zaubers. Ihr Herz hüpfte kurz. Dann schlug es normal weiter. Die mitzählende Stimme blieb jedoch stumm.
Belle winkte Millie zu, ihr in ihr Büro zu folgen. Dort stellte sie ihr die längst überfällige Frage:
"Wo sind die anderen genau, schon in Frankreich?" Millie schüttelte den Kopf und deutete auf ihren Reiseumhang, der nicht nur mit Flammengefrierzauber belegt war, sondern auch genug Taschen hatte. Sie zog einen der rosaroten Fingerhüte heraus. Belle blickte darauf. "Öhm, alle, auch die Zauberer?" fragte sie. Millie bestätigte das und fügte hinzu, dass das die sicherste Möglichkeit war, sie vor der Feuerrosenkerze zu schützen.
"Wir zwei hatten offenbar eine zu gute Verwandlungslehrerin", meinte Belle. Millie wollte hier und jetzt nichts dazu sagen. "Mein Koffer?" fragte Belle. "Noch in meinem Rucksack. Alles damit zu erledigende erledigt", meldete sie noch. Das genügte Belle.
Die verwandelten Hexen und Zauberer wurden umgehend von Millie wieder zurückverwandelt. Belle bestand darauf, dass Millie diese Rückverwandlung vornehmen sollte, wobei das mit dem Reverso-Mutatus-Zauber kein großer Akt war. In der Zeit informierte Belle ihre Mutter und damit auch ihren ungeborenen Bruder Demetrius über die Aktion, zu der sie dann gleich noch mehr besprechen wollte.
Als am Ende auch Monsieur Octave Champverd wieder in seiner ganzen Größe und Leibesfülle entstanden war erwachten alle Abgesandten der Franzosen. Champverd wollte sogleich Protest einlegen, dass "jemand übereifriges und überbesorgtes" ihn und alle anderen einfach so aus der Schweiz abtransportiert hatte, ohne die Standpunkte des französischen Zaubereiministeriums vor die Versammlung der anderen Delegierten bringen zu dürfen.
Belle erwähnte nun, was ihr geschehen war und dass sie in der Zeit, die sie sich völlig bewegungsunfähig in jener Einschließungssphäre aufgehalten habe den Eindruck gehabt habe, dass die Sonne mit mehr als der tausendfachen Geschwindigkeit weitergewandert sei wie damals, als Euphrosynes Segen sie betroffen hatte. Dann durfte Millie berichten, wie sie die für die gesamte Zusammenkunft bestimmte Kerze geborgen hatte und dass sie mit den Drachenhauthandschuhen und dem Leviportgürtel, den sie eigentlich als Privatnutzerin gegen die beschwerlicheren zeiten einer Schwangerschaft zum Geschenk bekommen hatte mehrere Kristallscheiben entfernt habe, die über den üblichen Leuchtkristallsphären angebracht gewesen waren. Sie übergab Belle den Koffer. Darauf sagte Belle: "Am besten lassen wir alle gerade patrouillierenden Veelas herkommen, die sich um diese Kerze aufstellen und ihren Einfluss eindämmen."
"Ja, weil wir jederzeit damit rechnen müssen, dass die von Ladonnas Magie unterworfenen die entsprechenden Auslöser anwenden, mit denen Madame Latierre unsere Kerze gekoppelt hat", sagte Nathalie Grandchapeau. Monsieur Chaudchamp, der Leiter der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit bestand jedoch darauf, es eintragen zu lassen, dass die von "den Damen Grandchapeau" zusammen mit der Ministerin ausgeklügelte Aktion unter Einbeziehung einer nichtministeriellen Hexe unzulässig sei. "Man hätte uns alle über die möglichen Gefahren und Gegenmaßnahmen informieren sollen", sagte Monsieur Champverd noch. "Allein die mir auferlegte gegenständliche Verwandlung betrachte ich als schweren Eingriff in meine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Der jungen Dame, so gut sie in Verwandlung auch immer abgeschnitten hat, täten einige Nachholkurse in magischer Rechtsprechung zum Thema beeinträchtigende Zauber sehr gut."
"So, dann gilt die Notfallverordnung 5a nicht mehr, dernach eine magisch ausgebildete Person bei eintreten einer Gefahr, die als solche eine Beeinträchtigung mitreisender oder zur zeitweiligen oder dauerhaften Mitarbeit zugeteilten Personen darstellt, die von der Gefahr selbst betroffene Personen nach bestem Wissen und können mit allen ihr möglichen Mitteln in Sicherheit zu bringen sind, sofern die Gefahrenquelle als solche nicht erkannt und beseitigt werden konnte?" fragte Millie, die genau auf diesen Einwand gelauert hatte. Chaudchamp und Champverd, auch Duvent und Bleumont verzogen ihre Gesichter. Dann sagte Madame Nathalie Grandchapeau: "Doch, diese Notfallverordnung gilt noch, Madame Latierre. Ja, und ich möchte für den Monsieur Champverd hinzufügen, dass er zum Zeitpunkt, wo Madame Latierre beschloss, ihn mit dem gekoppelten Verwandlungs- und Aufrufezauber in Obhut zu nehmen, bereits entscheidungs- und handlungsunfähig war und somit nicht hätte bestimmen oder durchführen können, wie er allein der Gefahr begegnen oder ihr entrinnen sollte. Da der von Madame Latierre ausgeführte Zauber auch mit der Notfallklausel Sieben des internationalen Zaubereistatutes einhergeht, dass in fällen bevorstehender oder bereits akuter Lebensgefahr alle magischen Mittel zur Beseitigung oder Flucht der Gefahr angewendet werden dürfen, wurde Professeur Faucon damals auch nicht verurteilt, als sie beim Ihnen wie mir hinlänglich bekannten Sternenhausmassaker ihre Tochter und andere Gäste des Sternenhauses auf genau diesem Wege in Sicherheit brachte. Vielleicht täte Ihnen noch einmal eine Auffrischung in Notfallparagraphen gut, Monsieur Champverd, zumal ich weiß, dass ihre Schwägerin Oleande selbst auch schon einmal davon gebrauch machen musste, als sie ihre Mitarbeiterinnen auf dem Alraunenhof vor einer freigekommenen Population von Lauerbüschen schützen musste."
"Ja, die Latierres genießen natürlich die Gunst des Ministeriums, wie schon vor dreihundert Jahren", schnaubte Octave Champverd. Millie wertete diesen verdrossenen Kommentar als Zustimmung zu ihrer Handlung. Dann beschloss die Ministerin, die dem ganzen als Zuhörerin beigewohnt hatte, die erbeutete Kerze so zu verwahren, dass sie bei der Zündung keinen Schaden mehr anrichten konnte. Laure-Rose Montété, die als Patrouillengängerin vom Dienst mitverfolgen durfte, was die mehr als vorzeitig zurückgekehrte Delegation zu berichten hatte, schlug vor, die Kerze in einem Raum nur mit Veelastämmigen besetzt zu entzünden, womöglich noch im Beisein von Ministerin Ventvit und Nathalie Grandchapeau. So könne gesichert werden, dass kein magischer Mensch seinen eigenen Willen verlor.
Die Ministerin genehmigte es und ließ Belle das Bündel Kerzen übergeben. Dabei sahen sie alle, wie eine davon, nämlich jene welche, immer mehr pulsierte, als schlüge ein kleines Herz in ihr. Als Champverd das sah erbleichte er. Dann sagte er: "Für das Protokoll, ich ziehe meinen Protest gegen Madame Latierres gekoppelten Verwandlungs- und Aufrufezauber zurück." Dann bat er darum, den Konferenzraum für die ministeriellen Mitglieder der IZKF verlassen zu dürfen. Die Ministerin und Monsieur Chaudchamp erlaubten es ihm und den anderen, bevor Chaudchamp ebenfalls aufstand und den Saal verließ.
"Am besten gehen Sie auch, Madame Latierre. Ich erlaube Ihnen, in ihre Heimatsiedlung zurückzukehren. Was von alle dem zu veröffentlichen ist erfahren Sie dann von der Pressestelle der Abteilung für internationale Zusammenarbeit. Denn ich gehe sehr davon aus, dass Sie keinen Wert darauf legen, aller Welt zu berichten oder auf anderem Wege zukommen zu lassen, wie genau Sie unsere Delegation gerettet haben. Oder sind Sie so auf diesen fragwürdigen Ruhm erpicht?" Millie schüttelte den Kopf. Je weniger die öffentlichkeit von ihrer quasi Einzelmission erfuhr um so besser war es für sie. Weil Ministerin Ventvit das wusste bedankte sich die offiziell nur als begleitende Reporterin mitgereiste junge Hexe und erhob sich. Doch dann fiel ihr was ein: "Ich möchte in sicherer Entfernung miterleben, wie genau diese pulsierende Zeitbombe da unschädlich gemacht wurde, Ministerin Ventvit."
"Das hängt davon ab, wann die Feuerrosenhörigen geruhen, ihrer Königin die versprochenen neuen Gefolgsleute auszuliefern", sagte die Ministerin. Millie wusste die Antwort: "Falls der sicher entstandene Brand des Gästehauses schnell gelöscht werden und keine übergreifenden Feuer zu bekämpfen waren oder sind werden Felsental und seine Mitstreiter alle betäubten Delegierten bis elf oder zwölf Uhr mittags in den Dufour-Saal geschafft haben."
"Gut, die anderen im Haus Streife gehenden Veelastämmigen werden gleich da sein", erwiderte die Ministerin. Sie sah Madame Montété an. Diese nickte heftig. "Madame Grandchapeau, Belle, Sie bezaubern die Tür zu ihrem Büro mit dem Bildverpflanzungszauber, dass von außen beobachtet werden kann, was drinnen vorgeht. Um ganz sicher zu sein wird die Luftaustauschbezauberung auf einen Takt von einer halben Minute erhöht."
"Auch wenn ich als von Veelakraft belegte Menschenfrau wohl immun gegen die Auswirkungen der Originalkerze bin möchte ich es dennoch vorziehen, nicht selbst im Raum zu bleiben", sagte Nathalie Grandchapeau. Belle sah ihre Mutter an und sagte, dass sie dann hierbleiben wolle, um genug Informationen zu erhalten, ob der Feuerrosenzauber wirklich nichts gegen Veelastämmige und von Veelas bezauberte ausrichten konnte.
Es klopfte an der Tür. Draußen standen vier weitere Töchter Létos und die Matriarchin der französischen Veelastämmigen persönlich. "Da ist also so eine Verdrusskerze", knurrte Léto, als sie die immer stärker pulsierende Kerze ansah. Als die anderen Veelastämmigen sich ihr näherten meinte Millie, dass sich die Kerze zusammenziehe und schneller pulsiere. Léto machte eine blitzschnelle Handbewegung, auf die hin alle ihre Töchter sich so um die Kerze postierten, dass sie mit Léto ein gleichseitiges Sechseck bildeten, dessen genauer Mittelpunkt die rubinrote Kerze mit dem nachtschwarzen Docht war.
Was immer dieser verwünschten Kerze entströmen und entsteigen mag muss durch uns durch", sagte Léto Millie zugewandt. "Du darfst dich gerne ein wenig abseits davon hinsetzen."
Millie war sich auf einmal ganz sicher, dass sie außerhalb des magischen Sechsecks aus erwachsenen Veelas und Veelastämmigen nichts mehr zu befürchten hatte. Hingegen setzten sich Belle und die Ministerin genau in das Sechseck hinein.
Nathalie winkte Millie zu, ihr zu folgen. Millie nickte und folgte der offiziellen Witwe eines im Amt verstorbenen Zaubereiministers.
"Ich weiß, Sie möchten dem gerne beiwohnen. Doch ich denke auch, dass sie noch einige Minuten Zeit haben", sagte Nathalie. Dann führte sie Millie in ihr Büro.
"Da Belle es sich nicht ausreden lassen möchte, diese Kerze am eigenen Leib und der eigenen Seele auszuprobieren möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich dafür zu bedanken, dass Sie meine Tochter und ihre Mitreisenden aus dieser gefährlichen Lage befreit haben", sagte Nathalie, als Millie bei ihr im Büro saß. Dann gab sie Millie einen silbernen Ohrring. Diese nickte verstehend und hängte sich den Ring ans rechte Ohr.
Wie das war hatte ihr Julius schon erzählt, weil sie ja neugierig war. So empfand sie das unmittelbare Rauschen, rhythmische Fauchen, Gluckern und das Wummern eines großen und eines kleinen Herzens als zu erwarten. "So, du kannst ihr jetzt erzählen, was du zu sagen hast, Kleiner", hörte Millie Nathalies Stimme laut und dumpf und doch klar zu verstehen.
"Ja, wo ich gerade mal wach bin wollte ich auch von meiner warmen Warte sagen, dass ich froh bin, dass Belle aus diesem Schlamassel herausgekommen ist und dir danken, dass du sie und die anderen da weggeholt hast. Danke schön, Mildrid Ursuline Latierre!"
"War mir ein Bedürfnis und eine Ehre, dieser dunklen Dame den Tag zu verderben, Demetrius Vettius Grandchapeau", erwiderte Millie. "Öhm, und du fühlst dich immer noch wohl da, wo du bist?"
"Solange ich mit euch da draußen immer wieder ein paar Minuten cogisonieren kann und die, die mich weiterhin unter ihrem Herzen trägt zwischendurch den Unsichtbarkeitszauber macht, damit ich aus meinem kleinen, fensterlosen Schlafgemach hinausgucken kann fühle ich mich ganz wohl. Ich habe mich wohl ganz damit abgefunden, ein seiner Mutter anvertrauter Fötus zu sein. Ich hoffe nur, dass ich irgendwann, wenn ich doch mal von ihr geboren werde, damit klarkomme, alles wieder alleine machen zu müssen, essen, trinken, von einem zum anderen Ort hinzukommen und rechtzeitig das Klo zu finden, wenn es nötig ist."
"Du hast das eigene Atmen vergessen, Süßer", hörte Millie Nathalies Stimme jetzt in beiden Ohren und ohne dumpfen Nachklang. "Wenn du das nicht hinkriegst brauchst du dir um die anderen Sachen keine Gedanken mehr zu machen, kleiner Untermieter."
"Auch wahr", cogisonierte Demetrius. Millie fragte Mutter und Ungeborenen, wieso das Cogison ihn mit einer Kleinjungenstimme wiedergab. "Wohl wegen der Verschmelzung mit dem Original-Demetrius", vermutete Demetrius. "Er war ja schon einige Monate unterwegs, bevor mich Létos ruhmsüchtige Enkeltochter zu ihm hineingeschickt hat, so dass ich jetzt sein Leben führen muss, auch wenn es nach zaubererrechtlichen Bestimmungen noch gar nicht angefangen hat."
"Moment, für die Heilerzunft gilt ein Mensch als lebendig, wenn er von einer Heilerin im Leib seiner Mutter vorgefunden wurde", wandte Millie ein. Nathalie grinste ihrer Rolle als höhere Beamtin unangemessen. Dann cogisonierte sie: "So ist das, mein kleiner Bauchturner. Weil wenn das nicht so wäre hätte ich ja keine Veranlassung, dir die Zeit mit mir so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, dir für deinen Einsatz zu danken, Millie. Du hast sicher einige Sachen gemacht, die in keinem Bericht erwähnt werden sollten, richtig?" Millie cogisonierte: "Ganz genau. Muss keiner außerhalb des stillen Dienstes wissen."
"Schon lustig, dass mein Vater diesen Geheimniskrämerverein angeschoben hat", cogisonierte nun Demetrius. "Aber schön, dass ich euch bei euren Geheimberatungen zuhören darf und ihr mich nicht ständig vor die Tür schickt." Darüber mussten Demetrius' Mutter und Millie Latierre lauthals lachen. Dann sagte Nathalie mit körperlicher Stimme: "Nun, wo das eindeutig geklärt ist dürfen Sie gerne zu den Töchtern Mokushas zurückkehren und zusehen, ob und wie die mit Ladonnas Duftkerze zurechtkommen."
"Ich hoffe, dass ich rechtzeitig merke, wenn ich doch den Raum verlassen soll", sagte Millie. Dann gab sie Nathalie den silbernen Ohrring zurück. Sie wartete noch einige Sekunden, bis sie sich wieder an die natürlichen Umgebungsgeräusche gewöhnt hatte. Dann verließ sie Nathalies Büro.
Sie suchte noch die Damentoilette auf dem Stockwerk auf, wo sie sich nicht nur körperlich erleichterte, sondern auch eine kurze Melobotschaft an ihren Mann schickte.
"Ui, da mussten wir beide was wegschaffen, Mamille. Ich habe gerade drei Pfund durchverdauten Rübenbrei entsorgen dürfen. Trice imponiert das immer noch, dass ich das ohne die Nase zu rümpfen hinkriege. Aber dagegen war das Einsacken einer Rosenduftkerze sicher angenehm."
"Wird sich zeigen, Monju. Wenn du unsere Kleinen sauber und zufrieden hast bleibe bitte für mich auf dem Posten, falls mir bei der Sache mit der Kerze gleich doch noch was unschönes passiert. Dann mach bitte das, was Camille mit meinem Anhänger angestellt hat, als du bei den Sterlings warst oder als du Sardonias Geist von unserem Grundstück verscheucht hast!"
"Alles klar, ich setz mich mit Trice zusammen in die Wohnküche. Öhm, ich hoffe nur, wir haben nicht zu viel Hunger, bevor Létos weiblicher Anhang die Duftkerze verduften lässt."
"Ich denke, die in der Schweiz werden es jetzt ganz schnell machen, alle Delegierten an dieses Weib auszuliefern", gedankenantwortete Millie. Dem wollte Julius nicht widersprechen.
Millie kehrte in Belles Büro zurück und nahm auf einem bequemen Stuhl platz, während die sechs Töchter Mokushas in hochlehningen Sesseln um die Kerze saßen. Ornelle Ventvit und Belle saßen so, dass sie die sechs Veelas nicht in der direkten Sicht auf die Kerze behinderten.
Sie fühlte sich, als habe eine pechschwarze Riesenfaust sie über eine undenkliche Entfernung durch ein Weltall ohne Sterne geschleudert. Als sie wieder zu sich kam dröhnte ihr der Kopf. Was war ihr passiert?
Sie hatte noch Tessa Feuerherd überwacht. Dann hatte sie etwas eiskaltes getroffenund ihr augenblicklich alle Sinne geraubt. Dieser Schlag war so stark, dass er auch die in weiter Entfernung postierte Königin aller Hexen getroffen hatte. Wer das gewagt hatte kannte sich in dunkler Magie mindestens so gut aus wie Sardonia und sie. Dabei hatte sie Tessa gerade noch vor einer Falle warnen wollen. Das Dröhnen unter ihrer Schädeldecke war zu stark, um jetzt schon an eine neue Gedankenbrücke zu denken. Als sie dann mit verschwommenen Blick auf ihre Wanduhr sah erkannte sie, dass mindestens eine halbe Stunde vergangen war.
"Das kann nur eine von den Französinnen gewesen sein, die Zimmer in diesem Trakt gewählt haben", dachte Ladonna. Doch damit kam sie nicht weiter. Denn außer Mildrid Latierre, dieser gebärsüchtigen jungen Zeitungsschreiberin aus Millemerveilles, kam jede von denen in Frage, so einen Abwehrschlag gegen sie zu landen. Am Ende war eine von denen noch mit jener Kanallie mit dem Feuerschwert verschwistert. O ja, das war es ganz sicher. Sie wollte denen eine Falle stellenund hatte sich fast selbst in eine von denen reintreiben lassen. Das durfte ihr nicht noch einmal passieren. Wenn ihre Kopfschmerzen verklungen waren würde sie über Urs Rheinquell befehlen, alle anderen Delegationen mit dem Schlafnebel zu betäuben und solange in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, bis sicher war, dass sie sie einberufen konnte.
Als sie endlich ohne Kopfschmerzen denken konnte nahm Ladonna Kontakt zu Urs Rheinquell auf. Dieser zeigte sich natürlich sehr erleichtert, wieder von ihr zu hören. auch wenn er es nicht wagen würde, sie zu fragen, warum sie sich solange nicht gemeldet hatte teilte sie ihm mit, dass sie mit treuen Gefolgsleuten in Übersee befasst war. Dass sie eine viel zu lange Zeit bewusstlos gewesen war durfte dieser Lakei aus den Alpen nicht wissen. Als sie erfuhr, dass er bereits den Befehl ausgegeben hatte, die Delegierten zu betäuben und alle in den Dufour-Saal schaffen und dort wieder aufwecken zu lassen konnte sie gerade noch einen Tadel unterdrücken, dass er so eigenmächtig gehandelt habe. Dann jedoch schickte sie ihm zurück: "Du hast genau so gehandelt, wie ich es angeordnet hätte. Nun begib dich in die Nähe des Dufour-Saales! Lasse dich dort selbst nicht sehen, bis alle verbliebenen Gesandtschaften meiner Stimme und meinem Willen folgen!"
"Sehr wohl, meine Königin", erwiderte Urs Rheinquell.
Ladonna meldete sich nun bei Felsental und tischte auch ihm die Geschichte von der Überseeunternehmung auf. Dann ließ sie sich von ihm schildern, was passiert war. "Keiner kann meine Veelafalle unschädlich machen, ohne dabei das eigene Leben zu lassen", gedankenschnaubte sie. "Aber wieso flogen da Leuchtkörper aus dem Haus, bevor es abbrannte?"
"Das weiß ich nicht. Wir wollen eine Rückschau machen, meine Königin", hörte sie Felsentals Gedankenstimme. Ladonna schalt ihn einen Idioten. Die Veelafalle erzeugte im direkten Umkreis einen bleibenden Unortbarkeitszauber, um nicht mit den üblichen Mitteln gefunden zu werden. Weil sie in einem räumlichen Gitter angeordnet war würde also das ganze Haus unrückschaubar seinn.
"Dann könnt nur Ihr ergründen, wie es zu diesem Feuer kam, meine Königin", erkannte dieser Leibeigene aus der Schweiz. "Ja, das kann und das werde ich", erwiderte Ladonna Montefiori überlegen.
Die Standuhr im Foyer der Maison Bontemps zeigte viertel vor zwölf, als der eidgenössische Zaubereiminister Rheinquell zusammen mit dem Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit und seinem Sicherheitsabteilungsleiter durch das Eingangsportal hereintrat. Felsental begrüßte seinen zweithöchsten Dienstherren und berichtete ihm, dass alle betäubten Hexen nun wieder völlig hergestellt waren.
"Hat Maiglock herausgefunden, was denen genau zugestoßen ist?" wollte Rheinquell wissen. Felsental verneinte es. "Gut, ich werde mich unterhalb des Saales aufhalten und erst nach oben kommen, wenn sicher ist, dass alle Delegierten ausnahmslos einberufen wurden. Bis dahin werden sämtliche Sicherheitshexen und -zauberer zur Absicherung des Hauses abkommandiert, einschließlich jener, die wiederhergestellt wurden."
"Wieso, rechnen Sie damit, dass es noch jemand versuchen könnte, die Einberufung zu vereiteln?" fragte Felsental. "Ich habe denen allen die Zauberstäbe wegnehmen lassen."
"Ja, aber wir müssen immer noch darauf gefasst sein, dass die Franzosen zurückkehren. Die Königin hat mir zwar versichert, dass jede Veela oder Veelastämmige, die es wagt in dieses Haus zu kommen, innerhalb von Sekunden sterben wird, je reinblütiger sie ist desto schneller. Doch wir dürfen diese Hexe mit dem Feuerschwert nicht vergessen. Am Ende wurde diese von den geflüchteten Französinnen informiert und plant bereits einen Überfall auf uns, zumal sie dabei auch eine Menge international angesehener Hexen und Zauberer erledigen kann. Also lassen sie alle Sicherheitskräfte das Haus sichern, von innenund von außen. Sollte irgendwo irgendwer auftauchen, den wir hier nicht haben wollen, muss diese Person unverzüglich eliminiert werden. Hierzu ist der Einsatz des tödlichen Fluches ausdrücklich erlaubt", sagte der Minister.
"Öhm, darf ich vorschlagen, dass Sie diesen Befehl persönlich erteilen, weil er dann auch von allen ohne Rückfrage akzeptiert wird?" fragte Felsental. "Wieso, trauen Sie Ihrer eigenen Kompetenz nicht über den Weg?" fragte Rheinquell. Da betrat Tessa Feuerherd das Foyer.
"Ich bin nur Sprecher der schweizer Abordnung der internationalen Zaubererweltkonföderation, Herr Minister. Die Sicherheitskräfte und die Obleviatoren unterstehen Ihrem Befehl."
"Ja, tun sie", grummelte der Minister. "Doch wenn ich denen befehle ... Ach ja, ist jetzt auch egal", knurrte Rheinquell. Eigentlich hatte er ja incognito hier sein wollen. Doch wo die Hexe Tessa Feuerherd nun im Foyer war nahm er Felsentals Vorschlag an.
Um nicht im ganzen Haus gehört zu werden gab er den Befehl über Felsentals Schallverpflanzungsdose weiter. Dann unterhielt er sich kurz mit Tessa Feuerherd, was ihr genau zugestoßen war und wie Belle Grandchapeaus Körper ausgesehen hatte. Sie erzählte es ihm und eerwähnte, dass sie nach dem Brand des französischen Gästehauses nicht gefunden worden war. wahrscheinlich sei sie bei der massiven Feuersbrunst umgekommen.
"Soll sie doch", knurrte Tessa. Natürlich nahm sie es sehr persönlich, dass man sie für mehr als zwanzig Minuten besinnungslos gemacht hatte. Sie verriet jedoch nicht, dass Ladonna ihr gestanden hatte, ebenfalls für mehr als eine halbe Stunde ohnmächtig gewesen zu sein.
"Monsieur Felsental, die Delegierten der internationalen Zaubererweltkonföderation sind vollzählig im Dufour-Saal versammelt", hörte Felsental die Stimme eines Saaldieners. "Sind die Obleviatoren wieder draußen?" fragte Felsental. "Die sind bereits wieder abgereist", hörte er die Stimme des Saaldieners. "Gut, teilen Sie den Herrschaften mit, dass ich in einer Minute dazustoße. Er dachte für sich, dass vor allem der italienische, österreichische und der spanische Kollege sehr darauf erpicht waren, die Versammlung zu eröffnen.
Pünktlich um zwölf Uhr Mittags betrat Kilian Felsental den Dufour-Saal. Auch wenn er hier schon so oft gewesen war gab auch er sich der perfekten Panoramaillusion hin, auf dem höchsten Berg der Schweiz zu stehen und das Monte-Rosa-Massiv in seiner ganzen Ausdehnung überblicken zu können, weit in die angrenzenden Täler hinabzusehen und den gerade wolkenlosen Himmel über sich zu haben, in dem eine gleißend helle Sonne ihren höchsten Stand erreichte.
"Ich begrüße Sie alle noch einmal in unserem so schönen und wildromantischen Land, Messieursdames. Ich bedauere es, das gerade unsere Nachbarn aus Frankreich wegen angeblicher oder echter Zerwürfnisse mit einigen von Ihnen auf die Teilnahme an dieser Versammlung verzichten. Die Damen und Herren aus Paris mögen sich hinterher ärgern, dass sie nicht hier waren um ihre Anliegen vorzubringen. Doch kommen wir nun zum Tagesordnungspunkt eins, den Beschluss der weiteren Tagesordnung."
Die Delegierten wirkten völlig gelassen. Jeder und jede hier ging davon aus, dass die Franzosen ihre Teilnahme verweigert hatten, angeblich weil sie weiterhin davon ausgingen, dass nicht nur Italien, sondern auch andere Länder jener mysteriösen Hexenkönigin Ladonna Montefiori unterworfen worden waren. So ging es in der Tagesordnung auch gleich darum, dass der italienische Delegationssprecher berichtete, was nach Bernadottis Tod in seinem Land geschehen war und wie sie sicherstellen wollten, keine weiteren Übergriffe von nichtministeriellen Kräften zu verhindern.
Die Tagesordnung wurde mit beinaher Einstimmigkeit beschlossen. Nur Österreich und Spanien wollten Änderungen einbringen, nämlich die, heute noch über die Regionalverbindungen zu sprechen, weil der spanische Zaubereiminister Pataleón gerne eine Mittelmeerunion gründen wollte, falls nötig auch ohne Frankreich. Der österreichische Kollege verlangte eine klare Entscheidung, dass die Region Tirol vollständig an Österreich zurückgegeben wurde. So dirigierte Felsental die Diskussion. Erst sprach der italienische Kollege und sagte: "Ich lasse nicht auf uns sitzen, dass wir die Untertanen der Hexenkönigin Ladonna sein sollen. Denn wenn wir das sein sollten, wären es sicher noch viele andere. Bernadotti mag für sie gearbeitet haben. Doch mit seinem Tod ergab sich ein Befreiungsschlag, der uns bis heute stärkt. Was tirol angeht soll dessen magische Bevölkerung entscheiden, wo es hin will. Europa ist ja mittlerweile doch sehr frei geworden.""
Darauf antwortete der österreichische Kollege Steinkrüger: "Das hat sie schon damals, Kollege Ciampi. Doch unsere beiden Zaubereiministerien fanden es damals eine gute Idee, die Grenze wie bei den Magielosen zu ziehen. Aber ich stimme Ihnen zu, Europa ist heute viel freier. Hoffentlich sieht das auch der Kollege aus Spanien ein."
Der spanische Kollege Caminoverde sah Felsental fragend an und erhielt das Wort. Er stand auf und sagte nur: "Wo Tirol hingehört interessiert uns nicht. Hauptsache, die Mittelmeerländer kehren zur alten Verbundenheit zurück, so wie es damals bei den Römern war."
Felsental hörte das leise Klicken. Dann sah nicht nur er, wie im Rednerpodest eine kleine Luke aufklapte und mit einem vernehmlichen Dong ein etwa sechzig Zentimeter langes, fünf zentimeter breites Objekt aus dem Boden herausgeschossen kam. Alle Anwesenden starrten auf den rubinroten Körper, der einen Meter in die Höhe schnellte und dann wie in der Luft festgeschraubt auf der Stelle stehenblieb. Viele der Anwesenden erkannten jetzt, was da passierte. "Verdammt, eine Falle!" brüllte der griechische Abgesandte Kiriakos. Da entflammte der goldene Docht der Kerze. Ein goldener Docht? Felsental sah genauer hin. Ja, das war ein goldener Docht, kein tiefschwarzer, wie an dem Tag, wo er persönlich die Kerze in dieser Luke verstaut hatte. Auch der Rauch war nicht violett. Doch das schien die Anwesenden hier nicht zu interessieren. Jene, die bisher noch nicht einberufen waren sprangen von ihren Sitzen auf und wollten zur Tür. Viele erinnerten sich daran, vor Betreten des Saales ihren Zauberstab abgegeben zu haben, damit es zu keinen magischen Gefechten kam.
Die Saaltüren waren jedoch verschlossen, und wegen des Rundblickzaubers konnte auch niemand erkennen, wo die Türen waren. Die auf der äußersten und höchsten Sitzreihe untergebrachten Journalisten schwatzten drauf los, um wohl noch was in ihre Schreibefedern zu diktieren, bevor es über sie alle kam.
"Verdammte Kanalie. Ihr habt euch von dieser Sabberhexe einwickeln lassen", polterte der britische Gesandte Summergate.
Jetzt zeigte sich, wer bereits im Dienste der Königin stand und wer nicht. Denn jene, die schon ihrem Ruf folgten versuchten die festzuhalten, die noch nicht folgten. Allen fiel nicht auf, dass der Rauch aus der Kerze nicht violett war, sondern rot-golden. Ja, er leuchtete von innen her. Felsental wollte schon "Einhalt" rufen. Irgendwas stimmte hier nicht.
"Meine Königin, deine Kerze gibt anderen Rauch ab als damals", schickte er seiner Herrin zu. Doch er bekam seine Worte mit voller Wucht in seinen Kopf zurückgetrieben. Also galt die in diesem Saal bestehende doppelte Mentiloquismusabsperrung auch für einen Diener der Königin. Sicher, man wollte ja verhindern, dass delegierte unbefugten Außenstehenden vorzeitig Ergebnisse verrieten. Doch jetzt schlug diese Sicherheitsvorkehrung gnadenlos gegen ihre Entwickler zurück.
"Und ich werde mir eher das Leben nehmen, als mich von dieser Hure zum Fußabtreter machen zu lassen", polterte Summergate und versuchte, den spanischen Kollegen und den aus Belgien abzuschütteln. Während dieser wilden Sekunden quoll immer mehr rot-goldener Rauch aus der Kerze. Er traf bereits die unteren Sitzreihen, wo nicht ganz zufällig die Mittelmeervertreter saßen. Doch als der rot-goldene Rauch sie traf zuckten sie wie vom Blitz getroffen zusammen und wanden sich wie unter Schlägen. Felsental wollte vorspringen und die offenbar fehlerhafte Kerze zu löschen, da traf auch ihn der rot-goldene Rauch. Ein unbändiger Schmerz wie unter dem Cruciatus-Fluch traf ihn. Vor seinen Augen zuckten goldene Blitze, und in seinen Ohren klang ein schauriges Kreischenund Brüllen, als würden tausende in Panik vor einem Ungeheuer aufschreien. Das war nie im Leben ... Da peitschte ein weiterer Schmerz die klaren Gedanken Felsentals fort.
Kiriakos sah, wie viele von den anderen unter dem austretenden Qualm zu leiden hatten. Er dachte bei sich: "Feuerfaust!" Da schoss aus seinem Gürtel ein Ring aus silbernen Flammen, der die ihn gerade festhaltenden traf und zurücktrieb. Die Zurückgeprellten stürzten und fielen über die nächsten Sitzreihen nach unten. Da kam der rot-goldene Rauch über sie. Kiriakos konnte noch sehen, dass der Qualm einen Unterschied machte und auch, wie er die betraf, die offenbar schon unter Ladonnas Fuchtel standen und jenen, die hier und heute dazugeholt werden sollten. Die bereits von ihr vereinnahmten schrien und wanden sich, als würden sie dem Cruciatus-Fluch ausgesetzt. Die anderen beruhigten sich und gaben sich dem magischen Qualm hin. als Dieser die Sitzreihen empordrang erloschen Kiriakos' silberne Feuerzungen aus dem Gürtel. Sollte er versuchen zu entfliehen? Doch da trafen auch ihn die rot-goldenen Rauchwolken. Er versuchte, sie nicht einzuatmen.
Der Rauch war warm wie eine Sommerbrise. Jetzt sah er die Aussicht vom Dufour nicht mehr. Er hörte nicht einmal mehr die Schreie der Gepeinigten. Dann überkam ihn der Drang, einzuatmen.
Es war, als sei er mitten in einen unberührten mitteleuropäischen Wald appariert. Mächtige Laub- und Nadelbäume wuchsen um ihn herum und schinen den blassblauen Himmel zu berühren. Er stand auf einer von goldenem Sonnenlicht beschinenen Lichtung. Zu seinen Füßen blühten bunte Blumen auf einer sattgrünen Waldwiese. Er meinte sogar das leise Rauschen des Windes in den Wipfeln zu hören. Alles war soooo friedlich.
Er spitzte die Ohren, als er neben dem Windesrauschen und dem Plätschern eines nahen Baches einen wundervollen, vielstimmigen Gesang hörte. Als wenn ein Frauenchor durch diesen unberührt scheinenden Wald streifte und dabei die Schönheit dieses Ortes besang und ihn damit noch schöner machte. Dann sah er sie, vier wunderschöne, unbekleidete Frauen mit hüftlangen, silberblonden Haaren, die im Rhythmus ihrer schwebenden Schritte ihr Lied sangen. Er wusste, was diese Frauen waren. Doch das Wort wollte ihm nicht einfallen. Er stand nur auf der Lichtung und fühlte, wie die vier makellosen Naturschönheiten in natürlichster Erscheinung auf ihn zutanzten. Ja, sie tanzten und sangen, schwangen ihre Hüften und ließen ihr langes, seidiges Haar im Takt fließen. Dann erreichten sie ihn und umringten ihn. Doch er fühlte keine böse Absicht. Nein, sie waren gekommen, ihn zu ehren und ihn zu beschützen. Sie umtanzten ihn und sangen dabei ihr Lied. Es drang in ihn ein, wärmte und erfreute ihn von innen her. Er wagte es nicht, diese vier vollendeten Frauen zu berühren, auch wenn sie sich nicht mehr als Armreichweite von ihm aufhielten. Sie fassten einander an den Händen und setzten ihren Tanz fort. Er hörte ihr Lied und sah dabei auch, wie die goldene Sonne immer heller und größer wurde. Er fühlte, dass er hier richtig war, ja dass es keinen sichereren Ort gab als diesen. Auch fühlte er, dass er gerade selbst keine Kleidung am Leib hatte. Denn der warme Sommerwindd, der durch die majestätischen Baumstämme fand, streichelte wie mit warmen, liebkosenden Händen seine Haut. Doch er wagte nicht, von den ihn umtanzenden Frauen wegzusehen, deren Körper im goldenen Sonnenlicht leuchteten, deren Haare im immer wärmeren Schein der Sonne glänzten, als wären sie selbst die Sonnenstrahlen. Er empfand keine Angst, keinen Arg, keine Scham.
Als die Sonne den halben Himmel ausfüllte verstand er, was die vier Frauen, zwei Mütterund zwei Töchter, ihm zusangen:
"Dein Leib und dein Geist sind zur Freiheit gemacht,
doch folgst du Ladonna, so schluckt dich die Nacht.
Unsere Stimmen führ'n dich aus der Not,
doch Ladonnas Gebote die sind nur dein Tod.
Sei wohl geborgen in unserem Reigen,
lass all deine Sorgen und Ängste wohl schweigen!
Sei mutig und stark bei Nacht und bei Tage!
So wird dir erspart jede Trauer und Klage.
Flieg auf unseren Stimmen der Sonne entgegen
Als Schutz vor dem Schlimmen gar blutigem Regen.
Hör nicht auf Ladonnas wohl lockende Worte
sie sind pures Gift nur an jeglichem Orte.
Hör nicht auf Ladonnas wohl lockende Worte!
Sie sind pures Gift nur an jeglichem Orte."
Dieses Lied sangen die vier überragenden Schönheiten immer wieder. Er fühlte, wie es in ihm nachklang, merkte, wie es ihn von innen her erwärmte und erstarkte, wie eine innere Ritterrüstung aus im Sonnenlicht gewärmtem Gold.
Während die vier Schönheiten ihr Lied sangen wurde es noch heller um ihn. Er und die vier überragenden Tänzerinnen und Sängerinnen verschmolzen mit dem goldenen, warmem Licht aus dem Himmel. Sie wurden eins. Ihre Stimmen klangen nun in ihm selbst. Ihr Tanz lenkte ihn durch dieses helle, doch nicht in seinen Augen schmerzende Licht. Er wusste, dass er nicht allein war. Er wusste, dass das nicht die böse Zauberei einer Ladonna Montefiori war, sondern von deren größten Feindinnen, die jedoch nicht mit brennendem Schwert und blitzendem Zauberstab, sondern mit Tanz und Gesang wider sie fochten und obsiegten. Er durfte an dieser Kraft teilhaben. Er, Agathos Kiriakos, war teil dieser aus Licht, Wärme und Schönheit bestehenden Kraft.
Felsental schrie seine Pein hinaus in das Gewitter aus goldenen und weißblauen Blitzen. Seine Schreie schienen von weit entfernten Wänden und einer himmelhoch über ihm hängenden Felsdecke widerzuhallen. Er nahm jeden ihn treffenden Blitz wie einen Streich mit glühender Klinge hin, ohne sich dagegen verteidigen zu können. Dann verschmolzen die schmerzhaften Blitze zu einem einzigen, goldenen Licht, das ihn umschloss und warm und sicher barg. Dann hörte er die fernen Stimmen in seinen Ohren. Erst taten sie ihm weh. Doch mit jedem weiteren Ton klangen sie für ihn reiner und hingebungsvoller. Vier Frauenstimmen sangen ihm Mut zu und wiesen ihm den rechten Weg, hinaus aus Ladonnas dunkler Gefangenschaft. Er erkannte auf einmal, was ihm im März zugestoßen war. Ladonna Montefiori hatte Rheinquell und andere mit ihrer Feuerrosenkerze verhext. Jetzt waren die Befreierinnen gekommen und sangen ihm ihr Lied der Stärke und des Lichtes. Dann sah er im goldenen, ihn tragenden Licht einen Ausgang und trieb darauf zu, hinaus auf eine von goldenem Sonnenschein beschienene Lichtung. Er erkannte, dass er gerade aus der Sonne selbst auf die Erde zurückgeschickt worden war. Dann sah er die vier makellosen Schönheiten mit den silberblonden Haaren. Er wusste sofort, dass sie mit Ladonna verwandt waren. Doch wie Ladonna die Dunkelheit und die Einengung darstellte waren die vier anderen Schönheiten das Licht und die Freiheit, Kraft und Sicherheit. Auch als sie ihn umtanzten und ihm ihr langes Kraftlied sangen, dass damit endete, dass er Ladonnas giftigen Worten entrinnen möge, tanzte er mit. Am Ende ergoss sich das goldene Licht wieder über ihn und sie alle und verschmolz die vier mit ihm und sich selbst. Der aus der Sonne gestoßene war in das warme Licht der Sonne selbst eingegangen, ein Teil davon. Mit dieser Gewissheit, endlich wieder frei zu sein, umfing ihn eine gnädige Ohnmacht.
Tessa Feuerherd meinte, in goldenem Feuer zu verbrennen, ihre Knochen rotglühend aus dem im goldenen Feuer zerschmelzenden Fleisch herausragen zu sehen. Ihr ganzer Körper war ein einziger Schmerzensherd. Sie dachte an all die Dinge, die sie für die Königin schon getan hatte und noch tun wollte. Sie hörte die Schreie gepeinigter und schrie dabei ihre eigene Agonie hinaus in das Meer aus goldenen Flammen. Sie konnte nicht mehr denken. Die Erinnerungen an die Taten für Ladonna sprangen ihr entgegen wie gefräßige Raubtiere, um dann mit einem weiteren Schmerz im goldenen Feuer zu verbrennen. Sie bereute es, der Königin freiwillig gefolgt zu sein. Sie fühlte große Trauer um die, die ihre Vorfahren damals für Ladonna umgebracht hatten. Sie empfand große Scham, weil sie mitgeholfen hatte, dass sich der schweizer Zaubereiminister mit dem Kollegen aus Österreich und Deutschland treffen wollte. Sie hatte mitgeholfen, dass Rheinquell in Ladonnas Falle gegangen war. Sie hatte mitgeholfen, dass Ladonna die Konföderation mit einer weiteren Kerze angreifen konnte. Das alles nur, weil sie mit den Menschen von heute keine Geduld mehr hatte, weil sie die Magielosen verabscheute, die ihrer schönen Heimat durch überbordenden Fremdenverkehr und dessen Auswirkungen immer größere Wunden schlugen. Deshalb hatte sie erst bei den Entschlossenen mitgemachtund war dann, weil die sich doch von den Zögerlichen gängeln ließen zu Ladonnas Orden der Feuerrose übergetreten. Mit wie eine glühende Klinge in ihr Herz stoßendem Schmerz dachte sie daran, dass sie in nicht all zu ferner Zeit die schweizer Stuhlmeisterin getötet hätte. Doch Ladonna war keine Befreierin. Ihr Weg war die Unterdrückung, die bedingungslose Unterwerfung, nicht das freie Denken. Als Tessa das erkannt hatte hörten die Höllenqualen auf. Aus dem goldenen Feuer wurde ein warmes, sie umschließendes goldenes Licht. Dann meinte sie, einen vierstimmigen Gesang aus sich heraus zu hören. Es war, als steckten die Seelen von vier kraftvollen Frauen in ihr. Waren das ihre vier ungezeugten Töchter? Sie sangen ihr von Wegen in der Sonne, von einem Frieden ohne Unterdrückung, von Stärke, die gegen die Dunkelheit obsiegte. Dazu wollte sie gehören, nicht zu jenen, die unterdrückten und dabei selbst nur Unterdrückte waren. Sie sang die letzten Zeilen der vier inneren Frauenstimmen mit:
"Hör nicht auf Ladonnas wohl lockende Worte!
Sie sind pures Gift nur an jeglichem Orte."
Dann verschmolz sie mit einem unendlichen, goldenen Licht, dass alle ihre Gedanken in sich aufnahm und sie in einer gnädigen, befreienden Unendlichkeit dahintreiben ließ. Das sie besinnungslos wurde merkte sie nicht.
Ein Stockwerk weiter unten saßen Urs Rheinquell und seine Leute bei einer Partie zauberwesenquartett zusammen und warteten darauf, dass Felsental sie nach oben rief, um die neuen Diener der Königin zu begrüßen.
"Urs, da kommst du mit deiner kleinen Nixengruppe nicht drüber weg, ich habe vier Leviathane und damit den Wasserwesenstich", sagte Wilhelm Klingenschmidt, Rheinquells Leiter für Gesetzesüberwachung. Dann verkündete Marco Treponti, Rheinquells Leiter für Internationale Zusammenarbeit, dass er vier ungarische Hornschwänze zusammen hatte und wenn keiner vier Phönixe hätte er den Stich bei den Feuerwesen kriegte. Rheinquell grinste feist und präsentierte die vier Phönixe. Teponti verzog das Gesicht.
"Wie machst du das immer wieder, alter Halunke?" fragte Klingenschmidt seinen Vorgesetzten. "Glückliches Händchen", erwiderte Rheinquell. Dann fühlte er, dass irgendwas von oben her auf ihn einwirkte. Er blickte sofort nach oben und sah einen goldenen Schimmer aus der Decke. Nur eine Sekunde später wurden die schweizer Zaubererweltbeamten von einem goldenen Licht eingeschlossen, dass ihnen zunächst unerträgliche Schmerzen zufügte. Jeder von ihnen sah im Geiste alle Taten, die er bereits für Ladonna verübt hatte. Zum Glück für jeden war noch kein vollendeter Mord dabei. Doch allein die Erkenntnis, an der langen Führungsleine einer dunklen Hexe gehangen zu haben schmerzte. Dann verloren sie sich alle im goldenen Licht, aus dem wunderschöne Frauenstimmen erklangen, die ihnen zusangen, sich von Ladonnas Macht zu lösen. Was Rheinquell und seine Leute nicht mitbekamen war, dass dieses goldene Licht nicht nur den Raum unter dem Dufour-Saal betraf, sondern durch das ganze Haus Bontemps flutete und jede und jeden von Ladonnas eingeschworener Gemeinschaft von weiteren Überlegungen abhielt. Wo das goldene Licht auf die Sklavinnen und Sklaven Ladonnas prallte, brannte es mit Schmerz und Pein die dunkle Kraft aus, die die Rosenkönigin ihnen aufgeladen hatte. Anschließend gerieten sie alle in einzelne Umgebungen, wo sie Prüfungen zu bestehen hatten. Danach meinten sie alle, in einem unendlichen Meer aus goldenem Licht zu verglühen und sich dann ganz sicher und geborgen darin fühlten. Dann ereilte auch sie eine tiefe Bewusstlosigkeit, genau wie alle anderen, die sich zu diesem Zeitpunkt im blauen Haus Maison Bontemps aufhielten oder nicht mehr als fünfzig Schritte davon entfernt waren. Wo sie standen oder saßen fielen sie in Ohnmacht. So kam es, dass die komplette Führungsspitze des schweizer Zaubereiministeriums, sowie ein zweihundert Personen umfassener Sicherheitstrupp von jenem entfesselten zauber der ausgetauschten Kerze getroffen wurden. Was danach geschah sollte sich erst später erweisen.
Die Rosenkönigin erschrak, als es an ihrem oberen Hinterkopf deutlich wärmer wurde und ein unangenehmes Kribbeln ihre Kopfhaut durchlief. Sie meinte, etwas straffes, wild zitterndes am Kopf hängen zu haben. Sie griff an die Stelle und fühlte, dass eine Haarsträhne erstarrt war und wie eine dauernd angestrichene Violinensaite erzitterte und dabei immer wieder sengende Hitzestöße verbreitete. Ladonna Montefiori, die selbsternannte Herrin aller Hexen und Zauberer, fühlte, wie die wild vibrierende Haarsträhne immer stärker auslenkte. Dabei meinte sie, jemand ziehe ihr immer kräftiger daran. Schnell strich sie mit den Fingern der rechten Hand daran herunter um zu fühlen, ob wirklich wer daran zog. Doch am erzitternden Ende hing und hielt nichts.
Jetzt fühlte sie, wie die Wärmeschauer immer deutlicher durch ihren Kopf in ihren Körper fuhren. Sie fühlte bei jedem Schauer ein kurzes heißes Nachbeben in ihrem Unterleib. Irgendwas wirkte auf die zwei Körperstellen, die sie für die Zentren ihrer Macht über Menschen hielt. Sie warf sich herum und suchte mit ihrem auch bei Dunkelheit gutem Blick den Salon ihrer Residenz bei Florenz ab. Dabei merkte sie, dass die eine Haarsträhne weiterbebte. Mit ihren besonders feinen Ohren hörte sie ein leises Knistern. Dann sah sie den Widerschein von roten Blitzen. Als sie die linke Hand zu jener Haarsträhne führte erbebte auch der mit rosenförmigen Rubinen besetzte Ring an ihrer Hand. Jetzt prasselte es alle fünf Herzschläge. Sie sah kurze rubinrote Lichtentladungen, die an die Decke schlugen und dort rußschwarze Stellen hinterließen. Der Ring leitete offenbar die unbekannte, ihr lästig fallende Kraft ab. Denn die Wärmeschauer hörten auf. Wieder und wieder sprühte ihr besonderer Ring rote Lichtentladungen nach oben. Ladonna war sich sicher, dass die getäfelte Decke ohne den Schutz des Blutfeuernebels längst in Brand geraten oder bereits in glühende Asche verwandelt worden wäre. Jetzt häuften sich die Blitze aus ihrem Ring. Sie schlugen jeden dritten Herzschlag nach oben. Wer griff sie da anund wie?
Sie versuchte, einen Einhaltezauber zu sprechen. Doch ihr Zauberstab bog sich, sobald sie damit auf die dauerhaft vibrierende Haarsträhne zielte. Eine andere Magie bündelte sich in ihrem Haar und konnte nur durch den Ring wieder entladen werden. Die Blitze wurden immer Heller. Selbst der gegen alle natürlichen Feuer wirkende Schutz des Blutfeuernebels reichte nach einigen weiteren Herzschlägen nicht mehr aus, um die ersten Brandlöcher in der Deckentäfelung zu verhindern. Jeder Blitz bohrte mit lautem Knistern ein Loch in die Decke. Asche und Ruß rieselten von oben auf sie herab. Ladonna schüttelte verstört und angewidert ihren Kopf. Sie sprang vor, um der von oben niedersinkenden schwarzen Teilchenwolke auszuweichen. Sie fühlte steigenden Ärger und wachsende Angst. Doch noch war sie zu stolz um um Hilfe zu rufen.
Nun blitzte es jeden zweiten Herzschlag laut krachend und prasselnd. Ladonna sah den Widerschein der Entladungen über die Wände flackern. Die Blitze mussten jetzt so hell wie die Sonne sein. Ihr Ring erbebte und ruckelte, um weitere Entladungen freizusetzen. Ladonna wagte es nicht, ihre Hand aus ihrem Haarschopf zu nehmen. Denn sie ahnte, dass die auf sie einwirkende Kraft dann ungebändigt in ihren Körper eindringen und ihr schaden mochte. Der Ring diente als Überlaufventil, als besondere Form von Blitzableiter. Krachend brachen kleinere, stark verkohlte Stücke aus der Deckentäfelung heraus und segelten rotglühend zu boden. Ladonna tanzte förmlich durch den Salon, um den herabregnenden Rußwolken zu entgehen. Sollte sie hinausgehen, um im Wirkungsbereich des Blutfeuernebels die Entladungen in denHimmel zu jagen?
Die Rosenkönigin eilte zur Salontür und lief durch die Eingangshalle zur pompösen Haustür. Knackend und prasselnd schossen weitere Blitze aus dem Ring ihrer Macht und schlugen weitere Löcher in die Decke. Dann endlich war sie draußen.
Kaum stand sie im freien unter dem ungehindert auf sie treffenden Sonnenlicht erhöhte sich die Anzahl der Entladungen schlagartig, so dass ein ständiges Knatternund Knistern zu hören war. Ladonna meinte, Ihr besonderer Zauberring, in dem ein Teil ihrer eigenen Seele steckte wolle ihr den Ringfinger zerquetschen, um dann für einen winzigen Sekundenbruchteil viel weiter zu sein. Nun sah sie noch goldene Lichtentladungen vor sich und fühlte, wie ihr die eigene Ausdauer entzogen wurde. Ja, die auf sie einwirkende Kraft schwächte sie. Ihr linker Arm kribbelte und erbebte, weil ihm die Kraft schwand, um weiterhin die eine Haarsträhne festzuhalten. Ladonna versuchte, sich mit einem Abwehrzauber gegen Fernflüche zu schützen. Doch der um sie entstehende Schildzauber flimmerte nur, fing aber die auf sie einwirkende Kraft nicht ab. Jetzt war ihr Klar, dass die fremde Kraft mit der Sonne zusammenhing. Sie warf sich mit nach oben gestrecktem Zauberstab herum und apparierte in einem Kellerraum ihres jahrelangen Herrschaftssitzes. Sofort ließ die Anzahl der Blitze wieder nach, und die, die noch aufleuchteten konnten der massiven Granitdecke nicht zusetzen. Knack - knack - knack! Alle zehn Herzschläge entfuhr dem Ring eine weitere Entladung.
Ladonna meinte zwischen den einzelnen Knacklauten ferne Frauenstimmen zu hören, die um sie herumwanderten. Da wusste sie, dass die Blutsverwandten von ihrer zweiten Mutter Domenica her einen Weg gefunden haben mussten, sie anzugreifen. Doch was hatte das mit einer einzelnen Haarsträhne an ihrem Hinterkopf zu tun? Sie hatte ein Ende dieser Haarsträhne benutzt, um daraus einen Docht für eine ihrer Einberufungskerzen zu drehen. Sollte das heißen, dass die Veelas eine ihrer Kerzen gegen sie verwendeten?
Ladonna spürte, wie ihr linker Arm immer schwächer wurde. Sie konnte ihr bebendes Haar nicht mehr länger festhalten. Ihre Hand glitt von ihrem Kopf weg. Sofort meinte sie, von brennenden Nadeln am Kopf getroffen zu werden. Sie spürte ein wildes Ruckeln im Unterleib und meinte, goldene Lichtkugeln an sich vorbeijagen zu sehen. Das Stechen in ihrem Kopf und Ruckeln in ihrem Unterleib wurden zu einem Takt aus Schmerzen. Zugleich hörte sie die Stimmen der sie umtanzenden Veelas. Dann entlud sich direkt vor ihren Augen eine goldene Lichterflut. Als habe ihr jemand von hinten und vorne in den Kopf gestochen explodierte heftiger Schmerz unter ihrer Schädeldecke. Dann überkam sie eine wohltuende Ohnmacht, die zweite an diesem Tag.
Er wusste nicht wer er war. Er wusste nur, das er in absoluter Sicherheit war. Vier wunderschöne Frauenstimmen sangen in vier vollendeten Stimmen von Schutz und Geborgenheit. Er gab sich diesem Gesang hin.
Weil Zeit für ihn, der gerade nicht wusste, wer er war, keine Bedeutung hatte wusste er auch nicht, wielange er in dieser vollendeten Geborgenheit schwebte. Erst als die Stimmen schlagartig leiser wurden und unter ihm ein immer größeres schwarzes Loch im unendlichen Meer aus goldener Glut aufklaffte klärte sich sein Verstand. Doch erst einmal hatte er mit der Empfindung zu kämpfen, in eine bodenlose Tiefe hinabzustürzen. Das bis dahin so wohltuende, goldene Leuchten rückte innerhalb eines winzigen Augenblicks von ihm fort. Er stürzte unaufhaltsam in die Schwärze. Er schrie. Seine Schreie hallten wie von fernen Wänden wider, doch nicht vom Boden. Jetzt wusste er wieder, wer er war, Agathos Kiriakos aus Athen, Sprecher der griechischen Delegation der internationalen Zaubererweltkonföderation. Doch was brachte das, wenn er gleich mit Urgewalt auf dem Boden dieses Schachtes aufschlug und tot liegenblieb? Warum hatten ihn die vier Sängerinnen im Stich gelassen, die ihn in dieses wohltuende warme Licht eingebettet hatten?
Ohne einen Aufprall zu spüren fand sich der griechische Delegationssprecher auf hartem Boden liegend wieder. Doch um ihn herum war es dunkel und still, als sei er aus den höchsten Gefilden der glückseligen Nachwelt in den altgriechischen Tartaros hineingefallen. Dann merkte er, dass seine Augen geschlossen waren. Er mühte sich ab, sie zu öffnen. Doch seine Lider waren scheinbar schwer wie Stahlplatten. Endlich drang genug Licht in seine Augen, dass er erkannte, dass er nicht in der altgriechischen Version der Hölle gelandet war. Er lag auf einem Berggipfel, der über alle in seiner Umgebung aufragenden Gipfel hinausragte. Über ihm wölbte sich ein wolkenloser Himmel. Dann sah er auch die Sonne. Sie war hell, doch für ihn nicht so gleißend wie früher. Sie schien auch nicht warm vom Himmel. Dann sah er, dass er zwischen zwei in einem großen Kreisbogen aufgestellten Stuhlreihen lag. Um ihn herum lagen weitere reglose Körper. An den Umhängen erkannte er, dass es Mitglieder der italienischen Delegation waren. Da war ihm, als öffne sich in seinem Bewusstsein eine Tür, und alle sich dahinter drängenden Erinnerungen stürmten auf ihn ein.
Ja, er sollte im Namen Griechenlands klären, inwieweit die europäische Koalition der vernunftgemäßen Zusammenarbeit eine freie Gemeinschaft von Zaubereiministerien war oder ob seine Frau, seine Schwägerin und seine Schwiegermutter nicht doch recht hatten und die meisten west- und wohl auch viele osteuropäischen Ministerien schon unter der Herrschaft einer aus jahrhundertelangem Schlaf aufgewachten Dunkelhexe standen, die von Italien aus die Welt erobern wollte. Ja, nun wusste er es. Denn die Betäubung mit Schlafdunst, gegen den er nicht mehr rechtzeitig hatte anzaubern können, sowie der Versuch, ihn und alle anderen mit einer magischen Kerze in unterwürfige Stimmung zu versetzen und auf dieses schwarzmagische Frauenzimmer namens Ladonna Montefiori einzuschwören waren der Beweis. Aber irgendwas war dieser angeblich von Menschen, Veelas und Sabberhexen abstammenden Unheilsbraut gründlich schief gelaufen. Denn statt eines violetten Rauches, der ihn in die ihr gefällige Stimmung versetzen sollte, war rot-golden schimmernder Dunst ausgetreten. Dann hatte er sich auf dieser Waldlichtung unter der Sonne wiedergefunden, wo vier unbekleidete Veelas ihn umtanzt hatten, um ihn mit ihrer Zauberkraft Schutz vor Ladonnas Magie zu geben. Dann war da dieses goldene Licht gewesen, in dem er eine undenkbare Zeit geschwebt war. Jetzt lag er auf dem Boden im Dufour-Saal des IZKF-Gebäudes in Genf. Ja, und er war offenbar kein Sklave Ladonnas geworden. Denn er konnte sie noch verachten, ohne deshalb Schmerzen oder Todesangst zu empfinden.
Kiriakos stemmte sich hoch und lauschte. Er hörte leises Stöhnenund Seufzen. Dann sah er, dass auch andere Hexen und Zauberer sich erhoben. Links von ihm lag Umberto Giornochiaro, der für internationale Zusammenarbeit zuständige Delegierte aus Italien. Er regte sich nicht. Kiriakos bangte, dass es den Kollegen wohl ums Leben gebracht hatte. Da fühlte er von rechts eine Hand auf seiner Schulter landen. Er drehte blitzartig seinen Kopf herum und sah Melana Selenoros, eine seiner eigenen Mitreisenden. Hinter ihr tauchte der für eine Griechin ungewohnte Blondschopf von Eudokia Philoponthos auf, von der es hieß, dass ihre Großmutter eine Meeresprinzessin gewesen sein sollte, die sich in einen Landmenschen verliebt und mit ihm zwischen den Gezeiten Hochzeit gefeiert haben sollte.
Eudokia führte ihre linke Hand, an der ein roter Korallenring mit drei blauen Perlen steckte, über Giornochiaros Körper. Die blauen Perlen dunkelten ab. "Oha, dessen Lebenskraft ist bis auf eine Winzigkeit abgefallen, die gerade noch sein Herz antreibt und seine Lungen zwingt, immer wieder neue Luft zu atmen. Aber er ist in einer Art Tiefkoma", sagte Eudokia, die seines Wissens nach eine Heilerin und Wasserzauberfachhexe war, was wohl auch mit ihrer angeblichen Abstammung zusammenpasste.
"Dann muss sich der Einfluss der Dreifachhybridin und der dieser offenbar nicht Planmäßigen Kerze in ihm ausgetobt und ihm fast alle Lebenskraft entrissen haben", vermutete Melana Selenoros, die Kiriakos als Expertin für Sicherheitsfragen begleitete. Angeblich war sie eine Wanderin auf dunklen Pfaden, die nicht all zu weit von Ladonnas Ansichten entfernt war, erinnerte sich Kiriakos. Daher glaubte er ihr voll und ganz, dass Giornochiaro vorher schon von Ladonnas Magie durchdrungen gewesen war und anders als er von dieser merkwürdigen Kerze nicht befreit, sondern handlungsunfähig gemacht wurde.
"Dieses von Überheblichkeit erfüllte und von Sabberhexengier vergiftete Dunkelweib, das in der tiefsten Tiefe des Tartaros verweilen möge wollte uns zu seinen Marionetten machen", knurrte Delia Argyropotamos, die für internationale Handelsbeziehungen zuständige Mitreisende und jüngste der drei griechischen Hexen.
""Ey Mann, wo ist mein Zauberstab?!" rief eine Stimme in einem für Kiriakos gewöhnungsbedürftigen Englisch. Sie gehörte einem jungen Mitglied der australischen Delegation. Die Frage brachte Kiriakos darauf, nachzuprüfen, ob er noch alles bei sich hatte, was er vor dieser Schlafnebelbetäubung am Körper gehabt hatte. Stimmt, sein Zauberstab fehlte auch.
"Felsentals Leute haben uns eine Falle gestellt", rief der britische Delegationssprecher Spike Summergate wütend. "Wir hätten es doch wissen müssen, dass diese Sabberhexenbrut die Gelegenheit nutzt."
"Ja, aber offenbar hat der wer das größte Basiliskenei nach der Züchtung von Herpo dem Üblen ins Nest geschmuggelt", antwortete sein Delegationskolege Brad Bloomingdale.
"Leute, wo sind die Franzosen? Wollte diese Schlampe die nicht auch mit ihrer Stinkkerze vergiften?" fragte der, der sich vorhin schon über den Verlust seines Zauberstabes beklagt hatte. Jetzt erkannte Kiriakos auch, dass es Lorne Chestwood, der Juniorassistent von Australiens Delegationsleiter Woodrow McKeith war.
"Entweder sollten die 'ne Sonderbehandlung kriegen oder waren besser auf die Falle vorbereitet und haben den Absprung gemacht", rief Spike Summergate verdrossen.
"Was'n für 'ne Sonderbehandlung, wo die uns doch alle hier mit diesem mistigen Schlafdunst erwischt haben und uns doch alle hier in diesem Raum zusammengesetzt haben. Öhm, wo sind'n hier die Tür'n?!" fragte Chestwood.
"Im Keller, wie Ihre Ausdrucksweise, junger Mann", tadelte McKeith seinen Mitarbeiter. Dann sagte er: "Die Türen können nur von Felsental oder seinen Assistenten von innen geöffnet werden, in dem sie an die Wand herantreten und die dafür nötigen Passwörter murmeln. Schließlich soll das hier ja die vollkommene Illusion einer Gipfelaussicht sein."
"Ja, und dann womöglich noch in diesem Regionaldialekt, den die Schweizer Schwizerdütsch nennen", knurrte McKeiths Juniorassistent.
Ein unruhiges, von Ungeduld zu Verärgerung übergehendes Durcheinanderreden machte jedes leise gesprochene Wort unverständlich. Kiriakos erinnerte sich daran, wie es früher bisher gehandhabt wurde. Wenn sie hier waren konnten nur die Hauselfen herein, weil die selbst durch für Zauberstabnutzer unüberwindliche Appariersperren dringen konnten. Wer zur Toilette musste konnte eine der in die Illusion eingefügten Kabinen nutzen. Doch wenn es wieder nach draußen ging hatten Felsental und drei weitere seiner Mitreisenden sich an den Rand des Saales gestellt und leise irgendwelche Passwörter gesprochen, um die Türen sichtbar zu machen und zu öffnen.
Was die hier versammelten außer den fehlenden Zauberstäben aufbrachte waren die immer noch ohnmächtigen Kollegen aus mehr als zwanzig Ländern. Bei einigen Delegationen waren nur einzelne Hexen oder Zauberer im Tiefschlaf oder Koma - so genau konnte Kiriakos das nicht einordnen. Tjure Ivarsson und Inga Hendricksdottir aus Island versuchten ihren Delegationsleiter Sigur Snorresson mit Ohrfeigen und Anbrüllen zu wecken. Ohne Zauberstäbe war das ja echt schwer, wen aus einer Betäubung zu holen. Doch Snorresson wurde nicht wach.
"Moment mal, vielleicht können uns die Hauselfen helfen!" rief Ohle Björndal aus Dänemark, der ebenfalls versuchte, seinen Delegationsleiter aus der Bewusstlosigkeit aufzuwecken.
"Die werden nur kommen, wenn Felsental sie ruft", knurrte McKeith. "Außerdem wissen wir nicht, ob dieses faule Ei, dass sie Felsental gelegt haben die nicht gleich mitbetroffen hat."
"Käme auf einen Versuch an, Kollege McKeith!" rief Spike Summergate und rief laut: "Goldglöckli, sofort herkommen!" auf Französisch.
Sie waren alle fleißig, wie immer. Sie waren eifrig dabei, das auf ein Uhr verschobene Mittagessen zuzubereiten. Goldglöckli, die dienstälteste Hauselfe der Maison Bontemps, brauchte keine überflüssigen Befehle zu geben, um ihre hundert Untergebenen anzuleiten. Doch als von weiter oben dieses erst rot-goldene und dann goldgelbe Licht zu ihnen hereingedrungen war und sie meinten, mehrere sehr schmerzhaft rufende Frauenstimmen zu hören, hatte eine unheimliche Kraft sie gelähmt. Goldglöckli war mit immer schwererem Kopf auf die Knie gesunken und dann von starken Schmerzen gepeinigt zu Boden gefallen. Sie meinte, in einem Feuer ohne Flammen zu verbrennen. Dass sie schrie hörte sie nur, weil ihre Stimme in ihrem eigenen Körper nachhallte. Denn auch die anderen schrien vor Qualen, als wolle jemand sie bei lebendigem Leibe zu Asche verbrennen. Dann waren sie wohl ohnmächtig geworden.
Als Goldglöckli keuchend und mit wild pochendem Schädel erwachte traten gerade die Brandlöschzauber in der Küche in Tätigkeit, weil welche von ihren Untergebenen unter den wilden Schmerzen offenbar unsachgemäß mit den Feuerstellen umgegangen waren. Alle Herdfeuer gingen aus. Zum Glück trafen die eisblauen Lichtkegel, in denen die größte Kälte überhaupt steckte, keinen der hundert Bediensteten. Diese kamen stöhnend und quengelnd wieder zu sich. Goldglöckli kämpfte sich auf ihre nicht mehr ganz so jungen Beine. Sie spürte ihre Glieder pochenund kribbeln. Ihr Kopf hämmerte wie eine wild geschlagene Kesselpauke, wenn ein Musikzug mit Laufgeschwindigkeit durch die Straßen eilte. Es war schwer, Gedanken zu fassen. Der vordringlichste war, ob den Meistern was zugestoßen war. Sollte sie nachsehen, ob sie und die anderen helfen mussten? Doch Felsental, der höchste der Meister hier, hatte ganz klar befohlen, dass sie oder wer anderes von den Hauselfen in den Saal mit dem Rundumausblickbild erscheinen durfte, wenn er sie oder ihn mit Namen rief. Sonst sollte sie tunlichst aus dem Saal herausbleiben.
Doch wenn das Licht böse war und nicht nur ihr und den hundert Elfen weh getan hatte? In Ihrem Kopf stritten der bedingungslose Gehorsam dem Meister gegenüber mit der Pflicht, dem Meister und den anderen Menschen zu helfen. Auch war sie damit nicht alleine. Denn die hundert anderen Hauselfen beiderlei Geschlechts umringten sie und sprachen auf sie ein, was sie jetzt machen sollten, wenn die Meister in Gefahr seien. Dann hörte Goldglöckli über die ihrer Art eigene Magie ihren Namen. Doch es war nicht die Stimme ihres Meisters Kilian Felsental, sondern die eines Fremden, der gerade mal genug Französisch konnte, um einen klaren Befehl ausrufen zu können. Nur weil der ihren Namen gerufen hatte hörte sie den überhaupt. Doch es war eben nicht Felsental oder einer der anderen ihr zugeteilten Meister.
"Goldglöckli, sofort in den Dufour-Saal kommen!" rief Summergate auf Französisch und dann noch auf Italienisch und dem, was in Deutschland Deutsch genannt wurde.
Es vergingen immer wieder bange Sekunden. Doch keine Elfe namens Goldglöckli apparierte im Saal, dessen Akkustik auch so bezaubert war, dass sie meinten, im freien zu sein. "Vergessen Sie's Kollege Summergate!" zischte Inga Hendricksdottir. "Hauselfen können den Generalbefehl erhalten, nur auf den Ruf einer bestimmten Stimme zu hören, sonst könnte ja jeder, der ihren Namen kennt sie für irgendwelche Dienste einspannen, die nicht gegen die Interessen des zugewisenen Meisters verstoßen."
"Drachenschsch-mutz!", knurrte Summergate, während Lorne Chestwood ihn lauernd ansah, ob dem altgedienten Diplomaten aus dem ehemaligen Kolonialmutterland doch noch ein unschickliches Wort entschlüpfte. "Ja, und wie sollen wir dann die Bewusstlosen ins Heilerhaus bringenund selbst hier wieder rauskommen?"
"Tja, die hätten uns die Zauberstäbe nicht wegnehmen sollen", feixte Björndal und versuchte erneut, seinen Delegationsleiter aufzuwecken.
"Disapparieren?" fragte Summergate. "Joh, doller Witz", knurrte McKeith.
Kiriakos sah sich in der Zeit ruhig um. Immer noch lagen dutzende Delegierte ohnmächtig auf dem Boden. Felsental, der auf dem Podest gestandenhatte, lag auf dem Rücken. Ob er noch lebte konnte von hier oben keiner sagen. "Kirie Philoponthos, bitte sehen Sie nach Felsental! Vielleicht können Sie ihn aufwecken, damit er uns seine Hauselfen herbeiruft", wisperte Kiriakos der goldblonden Delegationskameradin zu. "Ohne Zauberstab kann ich nur erkennen, ob jemand bei Gesundheit ist, krank, ohnmächtig oder tot", grummelte Eudokia. Da meinte Melana: "Wir können eine der Türen aufmachen, auch wenn die hinter Illusionszaubern versteckt und mit mehreren Schlössern gesichert sind. Die Herrin der Wege und Schlüssel wird uns auch ohne Zauberstab helfen."
"Ja, aber muss das hier jeder mitbekommen?" wollte Delia Argyropotamos wissen. Kiriakos erkannte, dass die drei auch zu jener Schwesternschaft gehörten, der seine Frau, seine Schwägerin und deren gemeinsame Mutter angehörte. So sagte er: "Ihre Mutter und Meisterin mag es Ihnen verzeihen, wenn Sie uns aus dieser Notlage heraushelfen, auch wenn hier viele sind, die die Macht der ersten Mutter nicht kennen dürfen."
"Da mag was dran sein", sagte Eudokia. Doch Melana und Delia waren da nicht so sicher. "Bestenfalls können wir die hohe Macht nicht rufen. Schlimmstenfalls droht uns der Ausstoß aus unserer Gemeinschaft mit einhergehender Erinnerungsauslöschung."
Das Gemaule und Gezeter wurde immer lauter. Die drei Hecatianerinnen aus Kiriakos' Delegation sprachen leise miteinander, ob sie eine der Türen aufbekommen sollten. Kiriakos hörte nur, dass es möglich war, auch ohne Zauberstab. Doch dann hörte er einen der Isländer rufen: "Was machen Sie denn da jetzt, die Herren aus Australien? Und Wozu haben Sie die flachen Flaschen mit?"
"Aus demselben Grund wie der schwedische Kollege Jonasson", rief McKeith, der gerade seine Brille auseinandernahm und die zwei Gläser zu einer nach außen gewölbten Linse zusammenlegte. "Gentlemen, holen Sie unseren achso vertrauenswürdigen Gastgeber vom Podest runter!"
Die Australier liefen los und eilten zum Podest. Währenddessen befahl McKeith mal eben, dass sämtliche Anwesende bis ganz nach oben sollten, auch die Bewusstlosen. "Diese Saufbrüder haben sich kleine Vorräte mitgenommen, die nur sie hervorholen konnten", knurrte Eudokia. Da meinte Delia: "Ja, Wolluwangas wärmenden Eukalyptusschnaps, eigentlich nur für wahrhaftige Zwerge genießbar."
"Augenblick, deshalb die Hantierung mit den Brillengläsern", grummelte Kiriakos. Er wollte schon loslaufen, um die Australier davon abzubringen. Doch Melana hielt ihn zurück. "Lassen Sie sie doch werkeln! Vielleicht hilft es uns hier heraus." Kiriakos sah der Hexe mit den schulterlangen, tiefschwarzen Haaren, die zu dünnen Zöpfen geflochten waren in die fast schwarzen Augen und erstarrte wie vom Blick einer Gorgone getroffen. So hörte er nur, wie sich immer mehr Delegierte darüber ereiferten, was die Australier vorhatten, bis einer der Südafrikaner rief, dass sie das vielleicht lassen sollten. Da gab Melana ihren offiziellen Vorgesetzten wieder frei. "Darüber sprechen wir noch einmal, Kirie Selenoros", knurrte er und wandte sich dem Geschehen am und auf dem Podest zu.
Die Australier schütteten gerade ihre hereingeschmuggelten Taschenflaschen über das Parkett rund um das Podest aus. Inzwischen trugen alle wachen Zauberer die Bewusstlosen nach oben. Jetzt kamen noch fünf Schweden, allen voran der weißhaarige Delegationsleiter Pelle Jonasson dazu und förderten ihrerseits silberne Trinkflaschen zu Tage. Auch deren Inhalt gossen sie auf dem Boden aus, dass es mehrere Pfützen gab. Dann trat McKeith mit den zu einer Sammellinse zusammengelegten Brillengläsern dazu und hielt die Linse so in die scheinbare Sonne, dass sie genau auf die größte Pfütze deutete. "Mr. McKeith, dass das nur eine illusionäre Sonne ist wissen Sie?" fragte Summergate verdrossen. "Die Wärme davon reicht wohl, Kollege Summergate", sagte McKeith. Summergate rief noch einmal nach Goldglöckli. Doch die Elfe erschien nicht.
In hundert Schritten umkreis um das blaue Haus ereilte jene, die bereits von Ladonnas dunklem Zauber unterworfen waren die Kraft des goldenen Lichtes. Wo sie standen, saßen oder gingen kippten alle wie vom Sturm gefällte Bäume um. Es war wie ein lautloser Schlag, der alle traf, die nicht mehr als hundert Schritte entfernt waren. Jene, die außerhalb der unmittelbaren Wirkungszone waren bekamen heftige Kopfschmerzen und meinten, einen Chor aus kreischenden Raubvögeln zu hören. Sie konnten sich gerade noch hinsetzen und sich die schmerzenden Köpfe halten.
Heiler Maiglock wurde ohne jede Vorwarnung von der goldenen Lichterflut erfasst und in die Besinnungslosigkeit gerissen. Er meinte auch erst, nur einen Chor aus völlig dissonant singenden rauhen Stimmen zu hören, bis diese sich in eine völlig harmonische Vierergruppe glockenheller Frauenstimmen verwandelten. Dann verlor auch der residente Heiler der IZKF seine Besinnung, weil er schon nach Rheinquells Unterwerfung den Duft der Feuerrose hatte einatmen und der Botschaft aus der Feuerrose hatte lauschen müssen.
Nur wer mehr als zweihundert Schritte entfernt war überstand das goldene Licht, dass sich wie eine wachsende Kugel aus gleißendem Gold von der Kuppel auf dem Haus her ausgebreitet und mindestens zwei Minuten lang die Sonne überstrahlt hatte. Als die vielen Zeugen ihre schmerzenden Köpfe wiegten und ihre tränenden Augen rieben erkannten sie, dass irgendwer einen Anschlag auf die Konföderationsversammlung begangen hatte. Sie versuchten, ihre jeweiligen Vorgesetzten zu erreichen. Doch die meldeten sich nicht. Keiner von ihnen wagte es, nach ihrer Königin zu rufen. Denn wer waren sie schon, dass sie es wagen durften, die Allmächtige zu rufen?
Erste bläuliche Flämmchen tanzten auf der Pfütze aus hochprozentigem Alkohol. Dann zündete die Pfütze mit einem vernehmlichen Wuff durch. McKeith konnte gerade noch die Hand mit der Linse wegziehen und einen gehörigen Schritt zurückspringen. Dann griff das mit der gebündelten Kraft der eigentlich nur illusionären Sonne entzündete Feuer auf die restlichen Alkohollaachen über. Das Parkett um das Podest begann zu qualmen. Nicht mehr lange, und es würde richtig in Brand stehen.
"So, jetzt gilt Vorschrift eins e wie Ernstfall!" rief MKeith und beeilte sich, die Treppen nach oben zu laufen. Wenn auch in der Schweiz die Vorschriften für magische Verwaltungsgebäude galten musste der Saal sich von alleine öffnen. Abgesehen davon ...
"Goldglöckli, schnell herkommen! Es brennt hier!" rief Summergate. Alle anderen riefen nun ihrerseits das Wort Feu für Feuer.
Kiriakos sah zu den Seiten. Bisher zeigte sich nur der scheinbar weite Ausblick vom Dufour-Gipfel aus. Keine Tür zeigte sich. Vielleicht wurde gerade ein Schlupfloch zum disapparieren geöffnet. Aber ohne Zauberstab war das wertlos. Dann wies ihn Eudokia auf den scheinbaren Himmel hin. Die Sonne stand noch so wie vorher. Doch aus dem Norden jagten turmhohe, tiefschwarze Wolken heran. Während das absichtlich entzündete Feuer weiter um sich griff und alle sich bis ganz nach oben zurückgezogen hatten brauste die dunkle Wolkenmasse heran. Normalerweise sollten bei sowas Blitze zu sehen sein. Doch die Unwetterungetüme drängten ohne vorauseilendes Wetterleuchten heran. Jetzt schienen sie nur noch einen Kilometer entfernt, dann nur noch fünfhundert Meter fort. Dann verdunkelten die Vorläufer die Sonne immer mehr. Es grummelte leise. Doch es schlug kein Blitz aus den Wolken. Dafür ergoss sich ohne weitere Ankündigung eine Sturzflut aus eiskaltem Wasser aus der Höhe und traf alle, die gerade im Saal standen und laut "Feuer! Feuer!" riefen. Das Wasser rauschte über die Stufen nach unten und vereinte sich mit den Eisregenfluten, die gerade um das Podest niederstürzten und das Feuer niederzwangen. Es zischte, fauchte und dampfte. Doch gegen die Eisregenflut kam der Brand nicht an. Womöglich waren in den Regentropfen auch Vereisungszauber enthalten, dachte Kiriakos. Denn die auf ihn niedergehende Regenflut war so kalt, dass er meinte, gleich zu einer Eisskulptur zu gefrieren.
Erst als kein Flämmchen mehr züngelte, kein Gluthauch mehr glomm endete der Wolkenbruch. Die schwarzen Unwetterwolken glitten in alle Richtungen davon und gaben wieder den Blick auf die Sonne, den Himmel und die Gipfel der Umgebung frei.
Alle Bbibberten vor Nässe und Kälte. Doch eine Tür hatte sich nicht gezeigt. Dafür erschienen fünfzig Hauselfen mit randvollen Wassereimern an unterschiedlichen Stellen des Saales. Als sie sahen, dass das Feuer bereits gelöscht war wollten sie wohl wieder verschwinden. Da sah die ältere von denen, deren Augen golden wie Honig waren, dass viele Leute hier bewegungslos am Boden lagen. Sie rief mit einer glockenreinen Stimme: "Was ist mit den Meistern geschehen? Haben Sie die bewusstlos gemacht?"
"Nicht wir, Goldglöckli. Aber warum bist du nicht sofort gekommen, als wir gerufen haben?" fragte Summergate. "Befehl der Meister. Nur die Meister dürfen Goldglöckli und andere Elfen hier hinrufen", erwiderte die Elfe. "Aber Warum haben Sie hier Feuer angezündet? Das ist doch gefährlich", erwiderte die Elfe. "Ja, brandgefährlich", stieß McKeiths Juniorassistent aus. Dann sagte Summergate: "Weil wir die Türen aufmachen wollten. Nur Felsental weiß, wie die zu öffnen sind."
"Die Meister sind ohnmächtig. Müssen alle ins Heilerhaus!" rief Goldglöckli. Dann verschwand sie, um nur fünf Sekunden später mit fünfzig weiteren Elfen wiederzukommen. Die anderen verschwanden mit ihren vollen Eimern wieder. Doch nur drei Sekunden später apparierten sie auf der Höhe der obersten Sitzreihen und nahmen sich der bewusstlosen Delegierten an.
"Und wir?" wollte Jonasson wissen. "Wenn die Meister wieder wach sind sollen sie sagen, was mit Ihnen geschehen soll", erwiderte Goldglöckli. Sprach's und verschwand mit Felsental in leerer Luft.
"Das ist jetzt wohl nicht wahr", knurrte Summergate. Als eine der Elfen sich einen der anderen Bewusstlosen auf den Rücken wuchtete, was für so ein kleines Wesen schon eine beachtliche Leistung war, packte Summergate dem kleinen Dienstboten an den linken Arm. Doch das bekam ihm nicht gut. Denn eine unsichtbare Kraft riss ihn fort und schleuderte ihn mindestens zwanzig Meter weiter zurück. Er hatte schlicht die besonderen telekinetischen Kräfte von Hauselfen vergessen und dass Elfen sich untereinander helfen durften, solange sie keinen gegenteiligen Befehl ihres zugewiesenen Meisters erhielten. Immerhin galten Zauberer für Elfen als nicht mutwillig zu verletzende oder zu tötende Geschöpfe. So landete Summergate sanft neben seinem Kollegen aus Südafrika, der die Fähigkeiten der Hauselfen mit Staunen beobachtete.
Die Hauselfen holten alle Bewusstlosen aus dem Saal. Alle die, die bei Besinnung waren mussten hilflos zusehen, wie die Elfen verschwanden, nachdem sie den letzten Besinnungslosen abgeholt hatten.
"Toll! Ganz großes Theater!" schimpfte Summergate. "Jetzt können wir hier warten, ob sie die alle wieder wachkriegen. Und wenn sie sie wachbekommen könnten die beschließen, dass wir alle umgeflucht werden, weil wir nicht in die eigentliche Falle reingeraten sind."
"Die Gefahr besteht", erwiderte Kiriakos und sah die drei Hexen aus seiner Delegation an. Diese nickten. "Wir machen eine Tür auf und sehen zu, hier herauszukommen und unsere Zauberstäbe wiederzubekommen", sagte Delia Argyropotamos. Die beiden anderen Hexen eilten mit ihr an den Nordrand der Gipfelausblicksillusion und stellten sich zu einem gleichseitigen Dreieck, wobei Delia als Spitze genau an der Wand stand und die beiden anderen hinter ihr die Grundlinie bildeten. Dann stimmten sie einen dreistimmigen Gesang auf Altgriechisch an, der an sich sehr schön klang, aber doch nicht an den vierstimmigen Gesang der Veelas in Kiriakos' Vision heranreichte. Jedenfalls konnte er, der die alte Sprache seiner Landsleute erlernt hatte, heraushören, dass die weise erste Mutter darum gebeten wurde, ihnen den Weg aus einem Kerker zu weisen, ihnen den Schlüssel zur Freiheit in die Hand zu geben.
"Ritualmagie! Hatte ich bisher nur bei den Abos gesehen", zischte Chestwood seinem Vorgesetzten zu. Dieser gemahnte ihn, ruhig zu bleiben. Dann sahen alle, wie von Melanas linker und Eudokias rechter Hand silberneFunken zu Delia hinüberflogen, die ihre Hände der Wand entgegenstreckte. Die Funken wurden wie magnetisch von Delias Händen angezogen und sammelten sich an den Innenflächen. So entstand eine mondlichtfarben leuchtende Wolke, die immer dichter wurde. Es bildeten sich erkennbare Formen heraus, die Formen eines armlangen Schlüssels mit zweiseitigem Bart und bogenförmigem Griff. Immer deutlicher wurde diese Erscheinung, bis Delia tatsächlich einen feststofflichen, aus sich heraus leuchtenden Schlüssel in beiden Händen hielt und ihn lauter als ihre beiden Partnerinnen singend nach vorne stieß. Der doppelte Schlüsselbart verschwand in einer unsichtbaren Wand. Dann erbebte das bis dahin sichtbare Bild. Blaue und weiße Schlieren huschten hektisch über denHorizont bis hinauf in den Himmel. Es sah aus, als flirre heiße Wüstenluft zwischen den sichtbaren Gipfeln. Dann zogen blaue und weiße Schlieren sich zu einem erst flackernden und dann völlig stabilen Bogen zusammen. Unterhalb des Bogens erschien nun eine der massiven Eichenholztüren mit goldenen Beschlägen.
Delia stieß den magischen Schlüssel gegen das Türschloss. Die Goldbeschläge sprühten Funken. Doch diese wurden vom Schlüssel eingesaugt wie Regenwasser von der Erde. Sechsmal musste Delia gegen die Tür klopfen, bis diese mit lautem Klacken aufsprang und den Ausgang freigab.
"Einer muss die Tür aufhalten und die ersten durchlassen!" rief Delia, nachdem sie mit ihren beiden Ordensschwestern einen kurzen Text gesungen hatte, um den Schlüssel nicht gleich wieder zu verlieren. Der breitgebaute Delegationssprecher aus Südafrika eilte dazu und stellte sich so, dass die Tür nicht mehr zufallen konnte.
Kiriakos hörte ein dreistimmiges Trompetensignal, das alle vier Sekunden wiederholt wurde. Offenbar war das ein Meldezauber, der das unbefugte Öffnen einer Saaltür verkündete.
Die drei Töchter Hecates eilten einige Meter weiter am Rande des Saales entlang, bis Delia eine neue Stelle fand, wo sie den Schlüssel in die künstliche Gipfelaussicht hineinstieß. Wieder erschien eine Tür mit goldenen Beschlägen. Auch diese tat sich nach sechsmaligem Anstupsen auf. Kiriakos hörte nun, dass das Meldesignal um einige Halbtöne weiter nach oben verschoben wurde. Da krachte es, und fünf Elfen standen bei den drei Hexen. Doch in dem Moment strahlten die Umhänge der drei mondlichtfarben auf. Die Elfen wurden wie von unsichtbaren Fäusten getroffen zurückgeschleudert. Auch mit ihren telekinetischen Kräften konnten sie die drei nicht davon abbringen, die Tür weit genug zu öffnen. "Sie dürfen erst den Saal verlassen, wenn Meister Felsental das sagt, hat er befohlen!" kreischte ein männlicher Elf, der von seiner Oberarmmuskulatur her wohl gewohnt war, schwere Arbeiten zu machen. Er rannte auf Melana zu. Doch kurz vor dem Anprall schleuderte ihn eine silberne Flammengarbe zurück. Laut kreischend flog der treue Diener weit zurück.
"Die Meister werden nicht wach. Die haben ihnen schlimme Zauber auferlegt!" zeterte Goldglöckli, die unvermittelt auch wieder da war. "Die müssen alle hierbleiben, bis die Meister entflucht sind."
Da drang eine tiefe Frauenstimme aus den Reihen der Delegierten. Sie sang in einer Sprache, die Kiriakos nicht erkannte und benutzte Töne, die außerhalb der westeuropäischen Tonleitern lagen. Die Wirkung aber war eindeutig. Die Hauselfen erstarrten in ihren Bewegungen. Sie sanken zu Boden und blieben liegen.
Jetzt sah Kiriakos, wer da sang. Madam Mbalele, eine kenianische Zauberin, die nicht für das Ministerium in Nairobi, sondern für die Versammlung von Stammeszauberern und -zauberinnen arbeitete und als Botschafterin der interkulturellen Magie zur kenianischen Delegation gehörte. Jedenfalls verschaffte sie mit ihrem rituellen Gesang allen anderen den unangefochtenen Abzug.
Sie sang solange, bis alle durch die beiden offenen Türen hinaus waren. Zum schluss verließen die Afrikanerin und die drei Hecatianerinnen den Dufour-Saal. Madam Mbalele sang weiter und weiter. Ihre Stimme übertönte sogar das Trompetensignal wegen der unerlaubt geöffneten Saaltüren.
"Wenn wir jetzt noch rauskriegen, wo unsere Zauberstäbe sind wird das echt noch ein wunderschöner Tag", sagte der Juniorassistent des australischen Delegationsleiters. Melana hörte es wohl und vollführte mit ihrer linken Hand einige Gesten. Ihr silberner Ring mit Mondsteinbesatz glomm dabei silber-bläulich auf. Dann entfuhr diesem ein stecknadeldünner Lichtstrahl, der allen Naturgesetzen zu wider in Kurven und Wellen durch den Rundgang außerhalb des Saales verlief und sich dann auf eine Stelle in der Wand festheftete. Diese flimmerte. Dann löste sich das Wandstück scheinbar auf und offenbarte eine vom Boden bis drei Meter hohe Regalwand, die mit mehreren Dutzend Fächern ausgestattet war. In jedem Fach lagen jeweils mehr als zehn flache Schachteln. Dann sah Kiriakos, wie genau aus einer Schachtel ein gleichfalls dünner Lichtstrahl zu Melanas Hand zurückführte. Sie drehte ihre beringte Hand und schien die leuchtenden Strahlen wie Wolle aufzuwickeln. Dann zog sie ihre Hand mit einem Ruck zurück. Die Schachtel, die durch Lichtstrahlen verbunden war, glitt aus dem Staufach heraus und flog an den Strahlen entlang zu Melana hinüber. Sie fing die Schachtel mit beiden Händen auf. Darauf erloschen die Lichtstrahlen. "Ah, die haben unsere Zauberstäbe in eine Schachtel gelegt, Kirios Kiriakos", sagte melana lächelnd. Da verschwand das Regal scheinbar wieder hinter einer Wand.
Die Griechen holten nun ihre von den Schweizern freundlicherweise noch mit Namenszetteln umwickelten Zauberstäbe aus der Schachtel. Danach konnten die drei Ordensschwestern die Verhüllung und Barriere vor dem Regal endgültig aufheben, was zu einem weiteren Alarmtröten führte. Doch weil Madam Mbalele weitersang erstarrten die apparierenden Hauselfen, bis keine mehr nachrückten.
"Okay, die anderen könnten gleich hier oben sein. Wir müssen raus und zusehen, von hier wegzukommen", sagte Summergate, der sich während des Rituals der Töchter Hecates sehr zurückgehalten hatte.
"Von hier oben kann keiner disapparieren, sonst wären Rheinquells und Felsentals Sicherheitsleute schon längst hier", schloss einer der anderen Delegierten ganz logisch. Doch vielleicht konnten die anderen noch nicht hier sein, wenn das goldene Licht sie ebenfalls besinnungslos gemacht hatte.
Tatsächlich konnten sie alle die nach Herkunftsländern sortierten Zauberstäbe aus dem Regal herausholenund wieder an sich nehmen. Da die Fahrstühle aus alarmtechnischen Gründen blockiert waren benutzten sie nach dem Wegdrücken der Barrieren durch den magischen Schlüssel, den Delia immer noch hielt, das Treppenhaus und eilten hinunter, bereit auf jeden einzufluchen, der einen Ministeriumsumhang aus der Schweiz trug. Doch wenn sie auf die hier arbeitenden Zauberer trafen waren die bereits besinnungslos. Die Macht der Kerze musste wesentlich weitergereicht haben als zu den Wänden des Dufour-Saales.
"Können Sie Ihre Delegationskollegin bitte fragen, wielange die erstarrten Elfen uns nicht hinterherjagen?" fragte Summergate seinen kenianischen Kollegen, der einen europäischen und einen afrikanischen Elternteil hatte. "Wenn es das Lied der Kriegsgöttin ist bleiben die Elfen jetzt mindestens einen Vierteltag lang handlungsunfähig", sagte der Herr aus Ostafrika.
"Wohl wahr, unterschiedliche Kulturen finden vielerlei Wege zur Magie", stellte Summergate fest. Darauf fragte ihn die Isländerin Inga Hendricksdottir, ob die Magie der kenianischen Stammeszauberer und -zauberinnen auch umgekehrt wirken und ohnmächtige wieder zur Besinnung bringen konnte. dazu sagte dann McKeith:
"Werte Madam Hendricksdottir, wie ich das erlebt habe wurden alle die von dauerhafter Ohnmacht betroffen, die wohl schon unter dem Bann der Hybridhexe Ladonna Montefiori standen. Da sind zwei gegensätzliche Magien kollidiert. Sowas kenne ich aus Erzählungen von unseren Verbindungsleuten zu den ersten Völkern Australiens, was ja leider auch weltweite Berühmtheit erlangt hat, als diese Erdmagiewoge nach dem Beben im indischen Ozean mit der Schutzbezauberung meines Heimatlandes zusammenprallte. Ob wir da zwischenfuhrwerken können oder gar dürfen sollen bitte Heiler und Experten für Veela- und Waldfrauenzauber klären."
"Oh, dann halten sie jenes magische Leuchten, das uns alle erfasst hat für Veelazauber? Schade dass die, die uns das genauer sagen könnten bewusstlos sind", erwiderte der kenianische Delegationsführer.
"Es ist auf jeden Fall erneut erwiesen, dass Ritualzauber, auch wenn sie in der Ausführung länger dauern und wesentlich mehr Übung und Genauigkeit verlangen als Zauberstabzauber in ihrer Wirkung mächtiger und dauerhafter sein können", sagte Kiriakos. Seine Kollegen aus anderen Delegationen nickten.
Als sie unten anlangten öffneten Melana, Delia und Eudokia das versperrte Portal, wodurch ein vielstimmiges Getröte loslegte und ein Feld aus purpurroten Blitzen den Durchgang zu versperren versuchte, bis Delia den magischen Schlüssel in das Feld hielt. Mit lautem Pritzeln zerfiel der flirrende Vorhang aus Purpurblitzen. Die Zeit nutzten Eudokia und Melana, sich links und rechts aufzustellen und mit Delia einen kurzen dreistimmigen Gesang anzustimmen. "So, der Durchgang ist nun bis zum Sonnenuntergang offen", sagte Delia. Dann hielt sie den silbernen Zauberschlüssel kurz nach obenund nach unten, um ihn dann in den Boden zu stoßen. Sofort verschwand das bis hier so wertvolle Artefakt, ohne ein Loch im Boden zu hinterlassen. Delia deklamierte auf Altgriechisch: "Von der großen Mutter erhielten wir Gnade. Zur Großen Mutter hin kehrt alles wider!" Die beiden anderen sangen diese Worte auf genau abgestimmten Tonlagen nach.
"Nun können sie alle durch das Portal!" rief Delia und machte für die ersten Platz. Kiriakos wunderte sich, dass die drei keine Anstalten machten, den Delegierten und in deren Windschatten mitreisenden Reportern ein magisch bindendes Versprechen abzunehmen, nichts zu verraten, wie die drei Töchter der Hecate sie alle aus dem Saal hinausgeführt hatten.
Als Kiriakos von Melana Selenoros aufgefordert wurde, durch das sperrangelweit geöffnete Eingangsportal zu treten erkannte er, warum sie so ein Versprechen nicht einfordern mussten. Denn als er genau zwischen Schwelle und oberem Bogen stand fühlte er ein leichtes Kribbeln unter der Schädeldecke und dachte daran, dass die drei Töchter Hecates sie aus dem Saal befreit hatten. Doch ihm fiel nicht ein, wie sie das gemacht hatten. Dieses Wissen verschwand aus seinem Gedächtnis, als er das blaue Haus verließ.
Kaum dass sie aus dem Haus waren tauchten Sicherheitsleute des Zaubereiministeriums bei ihnen auf und wollten sie kampfunfähig machen. Doch Madam Mbaleles Gesang ließ sie augenblicklich erstarren, noch bevor sie sie mit ihren Zauberstäben anzielen konnten. So schafften es alle im Schutze des afrikanischen Feindeslähmungsgesanges, zu ihren Bungalows zu gehen. Unterwegs sprachen sie davon, sich noch heute am alten Treffpunkt der IZKF-Beratungen zu versammeln, der vor Genf als ständiger Hauptsitz der IZKF benutzt wurde. Dort wollten sie genauer besprechen, wie es weiterging.
Kiriakos war nicht der einzige, dem auffiel, dass nicht nur die französische Delegation verschwunden war, sondern auch der ihnen zugeteilte Bungalow. Ob sie noch herausbekamen, was da passiert war? Mittlerweile hegte der griechische Delegationsleiter den starken Verdacht, dass die französische Delegation den Spieß umgedreht, und Ladonnas Leibeigenen das Kuckucksei des Jahrtausends ins verdorbene Nest gelegt hatten. Wenn nämlich wirklich Veelamagie im Spiel war und die Osteuropäer gerade auf Kriegsfuß mit diesen Zauberwesen standen blieben nur noch die Franzosen übrig, bei denen eine große Zahl von Veelastämmigen beheimatet waren. Natürlich hatten die damit gerechnet, dass Ladonna sie alle unter ihre Herrschaft zwingen wollte. Dann hatten sie wohl die Möglichkeit gehabt, was dagegen zu tun. Wie genau würde wohl erst mal deren Geheimnis bleiben, sowie es Delia und ihre Ordensschwestern angestellt hatten, alle aus dem verschlossenen Saal zu befreien und ihnen wie auch immer die Zauberstäbe wiederzubeschaffen.
Nur zehn Minuten später disapparierten die Delegierten außerhalb des Quartier prairie Arc-en-Ciel, um sich ohne die von Ladonna unterworfenen zu treffen, in einer vor zweihundert Jahren erschlossenen Höhle auf der Kanareninsel Tenerifa, auf der Route zwischen Europa und Amerika, auf einem Breitengrad der westafrikanischen Küste, also ideal als Treffpunkt der sogenannten alten und neuen Welt. Auch wenn die Spanier allesamt zu den Bewusstlosen gehörten und sie auf deren Hoheitsgebiet waren würden die es so schnell nicht mitbekommen. Vielleicht, so dachte Kiriakos, konnten sie sich demnächst in Millemerveilles, Frankreich treffen, einem Ort, von dem er wusste, dass dort derzeitig keine Feinde hinein konnten. Doch dann verwarf er selbst diese Idee wieder. Was, wenn Delegierte den dunklen Künsten verbunden waren und deshalb abgewiesen wurden? Das würde noch mehr Unmut bewirken. Nein, sie mussten sich hier auf Tenerifa beraten, vor allem darüber, wie sie mit den anderen Zaubereiministerien umgehen konnten. Das mochte Tage oder Wochen dauern. Doch es war nötig.
Millie saß ganz ruhig auf ihrem breiten Stuhl und fühlte die seltsame Spannung, die innerhalb des gleichseitigen Sechsecks aufkam. Gerade hatte sich die aus der Schweiz mitgebrachte Zauberkerze entzündet. Violetter Rauch drang aus dem schwarzen Docht. Jedoch schien er an Ornelle Ventvit und Belle Grandchapeau regelrecht zu kondensieren. Goldene Funken regneten um sie herum nieder. Dann ballte sich der violette Rauch nur zwei Meter von den sechs Veelastämmigen entfernt. Da stimmte Léto ein Lied an, das wohl außer Millie keiner verstand. Es war ein Lied in der alten Sprache von Altaxarroi. Damit hatte sie es amtlich, dass die Veelas ebenso aus diesem uralten Volk hervorgegangen sein mussten wie die Sonnenkinder und deren erbittertsten Feinde, die Vampire. Das Lied der Veelas klang überragend schön, sechs aufeinander abgestimmte Gesangsstimmen brandeten warm und kraftvoll wie die Wellen eines von der Sommersonne erwärmten Meeres dem violetten Rauch entgegen. Dieser erzitterte, versuchte nach oben zu entkommen und blieb doch auf Höhe der Veelastämmigen hängen, als hätten diese eine magische Glocke über sich ausgespannt, die alles schlechte und unreine zurückhielt.
Millie wusste nicht, ob es immer noch der Felix Felicis war, der ihr eingab, dass die Veelastämmigen gerade Ladonnas Lebensessenz mit ihrer eigenen durchdrangen und reinigten. Sie vermutete es wohl, weil sie mit dem Blick für schlafende oder wache Feuerquellen Ladonnas geisterhafte Erscheinung in der Kerze gesehen hatte, der Kerze, mit der hunderte von arglosen Menschen zu Ladonnas Marionettenarmee gemacht werden sollten.
Jetzt schlug eine rubinrote Flamme aus der Kerze heraus. Doch in dem Moment erglühte der bis dahin violette Rauch in einem immer helleren rot-goldenen Farbton. Die Kerzenflamme streckte sich nach oben und wurde von dort niedergedrückt. Sie krümmte und wand sich zu einer rubinroten Spirale, die im rot-goldenen Rauch selbst immer heller und goldfarbener wurde. Dann pulsierte die Flammenspirale, zog sich zusammen und blähte sich auf. Dann hörte Millie ein verzweifeltes Wehklagen von der Kerze her: "Lasst mich, ihr gemeinen Weiber!" Doch die sechs Veelastämmigen ließen sie nicht. So schmolz die Kerze im nun goldenen Schein der immer kleiner und dichter zusammengedrückten Flamme. Goldene Funken quollen aus ihr heraus, formten sich zu einer mehr als zwei Meter großen, goldenen Erscheinung, die mit einem sphärischen Wimmern und Schnauben gegen die sie bedrängende Kraft ansang. Dann erkannte nicht nur Millie die in einer Wolke aus goldenen Funken schwebende Erscheinung. Das war Ladonna Montefiori. Ihr nachtschwarzes Haar wurde von rotenund goldenen Funken durchflogen. Ihre kreisrunden, smaragdgrünen Augen sprühten Funken, die jedoch weit vor den immer dichter aufrückenden Veelastämmigen zerstoben. Die sechs umtanzten die immer noch brennende Kerze. Jetzt waren sie so eng zusammen, dass sie sich bei den Händen berührten. Da schrie Ladonnas geisterhafte Erscheinung laut auf und zerfloss zu einer Säule aus reinem, goldenem Licht, die sich bis zur Decke erstreckte, kurz dort verharrte und dann mit einem überirdischen Säuseln im Nichts verschwand. Mit einem dumpfen Knall schlug in der Mitte des Sechsecks ein pechschwarzer Klumpen auf den Boden, aus dem noch ein Rest violetter Qualm drang, der jedoch von den Stimmen der sechs Schönheiten in weißen Rauch verwandelt wurde. Dann lag der klägliche, wertlose Rest jener mächtigen Feuerrosenkerze wie ein plattgedrückter Wassertropfen am Boden. Léto und ihre fünf Verwandten hörten auf zu singen. Ihre glockenreinen Stimmen hallten noch eine halbe Sekunde lang nach. Dann lag Stille über Belles Büro.
Millie fühlte ihren Herzanhänger warm und regelmäßig pulsieren. Sie sah die Zaubereiministerin und Belle, die nassgeschwitzt und mit zerzausten Haaren in ihren Sesseln saßen, als hätten sie gerade eine höchst anstrengende Sportübung oder eine lange Liebesnacht beendet.
Immer noch lag Stille über diesem Ort. Millie fühlte sich an Tempel oder Kirchen erinnert, in denen auch kein lautes Geräusch und kein unfeines Wort erklingen durfte. Erst als Léto die beiden nicht von ihr abstammenden Hexen innerhalb des Sechsecks ansah und sagte: "Ich denke, für Sie beide war das eine ganz neue Erfahrung, oder?" war der Bann gebrochen, die Erhabenheit des Augenblicks beendet.
"Ich bitte darum, keinerlei Beschreibung von dem geben zu müssen, was mir in diesen Stunden widerfuhr", sagte Ornelle Ventvit. Belle nickte. Millie sah jedoch, dass ihre Ohren leicht gerötet waren. Dann war es keine Sportübung, die die beiden da erlebt hatten, befand Millie nun für sich selbst.
"Wie geht es dir, Millie?" fragte Léto unvermittelt in Millies Richtung. "Ich habe sowas schönes noch nie gehört. Und was ich gesehen habe war sehr heftig, teilweise gruselig, aber am Ende sehr beeindruckend", erwiderte Millie. Die amtierende Zaubereiministerin sah die junge Reporterin an und sagte: "Dann hat sie die exotische Magie nicht berührt? Sie konnten sozusagen von außen sehen, was mit den sechs Damen, uns beiden und der Kerze geschehen ist?" Millie nickte. Dann sagte sie schnell: "Tja, aber wenn Sie darum bitten, keinerlei Aussage über Ihr Erlebnis machen zu müssen möchte ich auch mein Erlebnis für mich behalten."
"wie ihre große Schwester, kess und schlagfertig", knurrte Belle. Millie nahm diesen früher ungern gehörten Vergleich mit ihrer Schwester Martine als Anerkenntnis, dass sie dieser doch gleichkam. Ihr fiel auch wieder ein, wie oft sich Martine und Belle bei Saalsprecherversammlungen in der Wolle gehabt hatten, mal wegen der Umgangsformen, mal wegen der Familien und deren Stammbäumen, mal wegen der unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Leuten aus dem Violetten und dem Kirschroten Saal von Beauxbatons. Tja, und Millie war sicher, dass Tine ihr längst nicht alles erzählt hatte, nur dass das Jahr, wo Belle in Hogwarts war zwar ruhig, aber auch ein wenig langweilig gewesen sein sollte. Doch das würde Millie Belle nur dann aufs Baguett streichen, wenn sie selbst mindestens ein Fass Met leergetrunken hatte.
"Darf ich zumindest fragen, was am Ende mit der Lichtsäule passiert ist?" wollte Millie von Léto wissen. "Wir haben Ladonnas von Waldfrauengier vergiftetes Sein gereinigt und es dorthin geschickt, wo unser Geschenk an die Vertreter eurer magischen Völker geschickt wurde. Dessen von meinen ältesten Töchtern geweckte Kraft dürfte sich dadurch noch vervielfacht haben. Mehr musst du dann auch nicht wissen, auch wenn Wissbegier und Kenntnisstreben dein Broterwerb sind, Mildrid", antwortete Léto.
"Dürfen wir den Rest dieser Kerze alchemistisch untersuchen?" fragte Ornelle Ventvit unerwartet behutsam. "Mehr als verkochtes Blut und verkohltes Haar werden Ihre Trankbrauer und Erforscher aller stofflichen Beziehungen nicht finden. O natürlich ist da auch Wachs in der Kerze. Doch was Ladonna tat, um sie zu ihrem Instrument der Unterwerfung zu machen ist von uns ausgetrieben worden."
"Ausgetrieben ist ...", grummelte Belle. Die Ministerin hörte es aber und räusperte sich sehr entschlossen. Dann sagte Ministerin Ventvit: "Auf jeden Fall bedanke ich mich bei Ihnen allen, dass wir der internationalen Zaubererkonföderation die Versklavung erspart haben und der dunklen Hexe Ladonna Montefiori endlich einmal die Grenzen ihres Tuns aufzeigen konnten. Vielleicht haben wir heute, am fünfzehnten Mai Menschenzeitrechnung einen Weg gefunden, auf dem wir die Freiheit aller magischen Menschen zurückgewinnen können. An uns liegt es jetzt nur, ob es ein mit Blumen oder den Gebeinen dahingeschlachteter Menschen gepflasterter Weg sein wird."
"Dann will ich für die Blumen hoffen, dass der Weg mit blühenden, sicher verwurzelten Blumen bewachsen ist, Ministerin Ventvit", erwiderte Léto. Millie verstand. Für Naturwesen wie die Veelas waren abgeschnittene Blumen genauso widerwärtig wie für Menschen die Leichen dahingeschlachteter Artgenossen. So wunderte es Millie nicht, als Ministerin Ventvit sagte: "Natürlich hoffe ich auf einen mit bunten, großen Blumen bewachsenen Weg, bei dem die Blumen jedoch weit genug auseinanderstehen, um ohne auf sie treten zu müssen zwischen ihnen den Weg entlanggehen zu können." Millie nickte. Schöner konnte man das einer Veela wirklich nicht sagen. Belle fügte dem noch hinzu: "Es liegt an uns, ob das ein Blumenweg oder ein Blut-und-Knochen-Pfad sein wird. Denn eines dürfen wir nicht verdrängen: Ladonna wird ihre bereits gewonnenen Gebiete nicht kampflos aufgeben. Wir müssen uns darüber klar werden, dass sie schon eine Menge früher argloser Leute in ihren Bann gezogen hat und sie zu willenlosen Erfüllungsmägden und -knechten macht, wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlt. Das gilt vor allem für Sie und Ihr Volk, Madame Léto." Léto und die Ministerin nickten. Im Grunde hatten die Veelas Ladonna endgültig den Krieg erklärt. Oder war es nicht schon längst so, dass die Veelastämmige mit den dunklen Haaren den Krieg mit ihren halbenoder Viertelartgenossinnen und Artgenossen führte? Dann hatte sie heute eine sehr wichtige Schlacht verloren. Doch der Krieg mochte dann um so gnadenloser geführt werden.
"Wir hatten es ja davon, dass die andere Kerze die Wirkung von Ladonnas Zauber wieder aufhebt. Sind die dann alle wieder frei im denken und handeln?" wollte Millie von Léto und ihren Töchtern wissen.
"Dass sie von Ladonnas Seelengift freigemacht wurden ist sicher. Doch wie ihr Geist das verträgt und wann sie wieder eigenständig handeln hängt davon ab, wie stark sie sich der anderen unterworfen haben und was sie für diese bereits getan haben. Es kann sein, dass die anderen jetzt erst einmal erkennen müssen, wo und wann sie sind und ob sie sich an alles erinnern, was sie vorher erlebt haben. Nur eines können wir garantieren, dass sie für mindestens ein volles Jahr nicht wieder unter Ladonnas dunklen Einfluss geraten können", sagte Léto. Millie wollte dann noch wissen, was diese Befreiten dann in einer Umgebung lauter Unfreier machen konnten oder ob sie sie alle zum Tode verurteilt hatten. Darauf sagte Laure-Rose Montété: "Es kann sein, dass unser Geschenk der Freiheit sie für die Unfreien unangreifbar gemacht hat. Doch das ist nur eine Hoffnung." Belle erwähnte noch einmal, wie sich die anderen ihr gegenüber verhalten hatten. "So kann es sein, dass die nun befreiten, die ja keinesfalls dumm sind, überlegen, möglichst weit von den Unfreien fortzugehen, um nicht zu sterben." Millie nickte. Der Einwandt, dass diese Leute auch Kinder hatten, die in Gefahr sein könnten, war ja schon vor vier Tagen erhoben worden. Doch sie waren darüber eingekommen, einen Weg zu finden, bedrohte Einzelpersonen oder Gruppen vor Ladonnas Bosheit zu schützen. Womöglich mussten sie das dann schon bald mit den Delegierten der IZKF tun.
"Auf jeden Fall danke ich Ihnen beiden, Madame Belle Grandchapeau und Madame Mildrid Latierre, dass Sie unserer Delegation geholfen haben, der Unterwerfung zu entgehen. Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle zum Mittagessen und verlieren über diesen Vorgang kein Wort. Madame Latierre, ich hoffe, Sie legen keinen Wert darauf, diesen Fall zum öffentlichen Gegenstand zu machen." Millie versicherte der Ministerin, über die Ereignisse vom Morgen des 15. Mai 2006 keine Zeile für die Temps zu schreiben, außer, dass die Delegation Frankreichs aus Gründen der internationalen Anfeindung gezwungen war, ultrakurzfristig wieder abzureisen. Dann fiel ihr ein, dass die Schweizer, die noch unter Ladonnas Einfluss gestanden hatten sicher nicht raushängen lassen wollten, dass ihnen die französische Delegation trotz Veelafalle und Feuerrosenkerze ausgebüchst war. Womöglich musste das französische Zaubereiministerium nur so tun, als hätte es die Reise nach Genf untersagt oder zumindest vorgeschlagen, die Reise zu machen. Dann fiel Millie jetzt, wo alles vorbei war ein, dass sie ja noch einen mottenzerfressenen Teppich in Genf hatten.
"Was den Portschlüssel angeht, so habe ich den mit einem Zauber meines Eherings gekoppelt", sagte Belle. Sobald mein Ring und ich mehr als tausend Meter von dem Teppich entfernt waren wurde ein flammenloser Einäscherungszauber ausgelöst", sagte Belle auf Millies Frage. Dann hörte sie Belles Gedankenstimme: "Es gibt auch noch neuere Feuerzauber." Das wollte Millie nicht abstreiten, aber auch nicht jetzt darauf hinweisen, dass ein mit einem Gegenstand verbundener Vernichtungszauber schon im alten Reich bekannt war, wenngleich der wie auch der Einhalt des Lebensfeuers eher von der Dunkelheit zugewandten Hexen und Zauberern ausgeführt wurde.
Nachdem auch das geklärt war verließen alle den Konferenzraum. Millie, die ja nicht hier arbeitete, verabschiedete sich von Belle und der Ministerin. "Grüßen Sie Ihren Gatten von uns", gab ihm die Ministerin noch mit auf den Weg. Millie nickte und sagte: "Der hat heute Wickeldienst, weil ich ja eigentlich für eine Woche Verreisen wollte."
"Dann freut er sich sicher noch mehr, wenn Sie vorzeitig heimkehren", erwiderte Belle grinsend. Millie nickte und lächelte. Dann fuhr sie hinunter ins Foyer und flohpulverte sich von dort ins Apfelhaus. Dort merkte sie endlich, wie ausgelaugt sie schon war.
Da sie vor den Kindern nicht über das gerade überstandene Abenteuer reden durften genoss Millie es nur, dass Aurore sich freute, dass ihre Maman doch schon wieder da war. Millie sagte nur: "Bei den Großen ist es manchmal schlimmer als bei den Kindern, Rorie. Wenn die sich zanken kann das so schlimm werden, dass sie sich entweder gegenseitig hauen oder schnell wieder nach Hause wollen. Tja, und die, mit denen ich losgezogen bin mussten ganz schnell wieder nach Hause, weil eine ganz gemeine Hexe die anderen gegen unsere Leute aufgebracht hat", fasste Millie die ganze Reise möglichst kindgerecht zusammen.
Millie gähnte im Verlauf des Nachmittags so oft, dass ihre Tante, Vertrauensheilerin und Mitbewohnerin sie in ihr Behandlungszimmer einbestellte. "Könnte es sein, Millie, dass du heute deine Tagesausdauer sehr drastisch aufgebraucht hast?" fragte Trice ohne langes Vorspiel. Millie bestätigte das. Mehr wollte sie aber erst nach dem Zubettbringen der Kinder erklären. Doch Béatrice bestand darauf, dass sie ihr jetzt schon alles haarklein erzählte. Da bestand Millie darauf, auch Julius zuhören zu lassen. Denn den ging es ja auch was an.
Julius schaffte es, Aurore, die "gaaanz große Schwester" dazu zu bringen, auf Chrysope, Clarimonde und die drei Kleinsten aufzupassen. Weil auch noch die Zwillinge Sandrines dazukamen konnte es ihr so nicht langweilig werden. Dann trafen sich alle drei in Béatrices Behandlungszimmer. Im schutze eines Klangkerkers berichtete Millie dann, was sie keinem Ministeriumsbeamten auf die Nase binden wollte. Als sie erwähnte, dass sie einen besonderen Zauber benutzt hatte, der sie für eine kurze Zeit hundertmal so schnell gemacht hatte wie üblich pfiff Julius durch die Zähne. Wenn das stimmte - und die Reaktionen des Herzanhängers hatten es ja gezeigt - konnte Millie etwas ähnliches wie den Temporipactum-Zauber, den er auf einem unbekannten Weg gelernt hatte und den er bisher nur zweimal im Leben benutzt hatte. Aber als Millie erwähnte, dass sie sich dafür einen Tag Ausdauer vorweggenommen hatte sah Béatrice sie sehr streng an. "Kann es sein, dass sowohl ich als auch meine Kollegin Madame Rossignol dir erklärt haben, dass dieser Zauber sehr riskant ist und deshalb von approbierten Heilkundigen nicht geschätzt wird? Und jetzt wage es bitte nicht, mir mit dem Zweck zu kommen, der die Mittel heiligt oder dem Drachenweibchen, dass in der Not die eigenen Eier auffrisst!""
"Gut, dann sage ich nur, dass du mich nicht ausschimpfen könntest, wenn ich diesen Ausdauervorwegnahmezauber nicht gemacht und nur mit dem bisschen Restausdauer den Beschleunigungszauber gemacht hätte", erwiderte Millie. Sie schlug vor, dieses Erlebnis in das Denkarium einzuspeichern. Darauf meinte Béatrice: "Ja, aber dann darfst du gleich ins Bett und einen vollen Tag verschlafen, Millie. Wir können es Aurore und den anderen erklären, dass du für die anderen was gemacht hast, was dir ganz viel Kraft weggenommen hat, dass du, wenn du einmal im Bett liegst, einen ganzen langen Tag durchschlafen musst. Bitte keine Diskussionen und auch keine Längeren Verhandlungen!"
"Ich seh es ja ein, dass ich was gemacht habe, dass sehr riskant war. Aber Risiko war in diesem Fall unser schwerstes Reisegepäck", erwiderte Millie darauf. Béatrice musste darüber grinsen. Immerhin hatte sie ja auch zugestimmt, dass Millie mit auf diese Reise ging. Dann fragte sie noch: "Beabsichtigen die Delegierten wieder dort hinzureisen, wenn sie wissen, ob alles wieder in Ordnung ist?" Millie verneinte es. Sie wollten jetzt so tun, als wenn die französische Delegation entweder gestorben oder geflüchtet sei. Julius nickte.
"Dann verordne ich dir ein leichtes Abendessenund eine Stunde danach den erforderlichen Erholungsschlaf!" sagte Béatrice sehr entschlossen. Millie nickte. Dann sagte sie: "Dann möchte ich haben, dass ich in unserem Elternschlafzimmer alleine schlafe. Für Julius und die Kinder wird es dann auch leichter sein, zu akzeptieren, dass die Schlafzimmertür den ganzen Tag zubleibt." Julius sah Millie verdutzt an. Doch dann begriff er, dass sie es ernst meinte. Natürlich brachte ein Gesundungsschlaf nichts, wenn andauernd die Tür zum Schlafzimmer auf- und zuging und zwischendurch die Fenstervorhänge auf und dann wieder zugezogen wurden.
"In Ordnung, meine Badezimmersachen sind ja noch im Badezimmer. Ich hole mir dann nur einen frischen Schlafanzug aus dem Schrank und die üblichen Klamotten für den Tag morgen", sagte Julius. Millie nickte. Julius sah, dass sie irgendwas überlegte und fühlte sowohl Verdruss als auch Vergnügen, etwas, was eigentlich nicht zusammenpasste, genausowenig wie Hass und Zuneigung im selben Augenblick. Dann sah sie ihn und ihre Tante mit entschlossener Miene anund sagte: "Ja, so geht es auf jeden Fall. und im Haus gibt es ja auch mit den drei Neuzugängen noch zwei Gästezimmer, von denen Julius eins nehmen kann." Sie zwinkerte ihm und ihr dann noch zu, als wenn sie den Satz nicht so meinte wie sie ihn gesagt hatte. Doch Julius wagte es nicht, sie darauf hinzuweisen.
Beim Abendessen nahm Millie nur von der warmen Vorspeise und ein Baguette mit Waldbeerenhonig aus den Beständen von Madame L'ordoux. Sie erzählte ihren größeren Töchtern, dass sie wegen der anstrengenden Reise bis übermorgen durchschlafen musste, weil sie was gezaubert hatte, um aus einer ganz gefährlichen Lage herauszukommen. Was genau das war wollte sie trotz Aurores Nachfragen nicht erwähnen. Chrysope wollte wissen, ob dann wenigstens der Papa zu Hause bleiben würde oder ob Tante Trice mit ihnen alleine bleiben würde. Julius erwähnte, dass er noch zwei Tage zu Hause arbeiten sollte. "Dann darfst du mit Rorie zur letzten Voruntersuchung bei Hera antreten, ob sie körperlich und geistig schulreif ist", sagte Millie. Julius fragte, ob Béatrice das nicht längst bestätigt habe. Darauf sagte Béatrice: "Ich werde hier in Millemerveilles als beigeordnete Heilerin und Hebamme geführt. Doch die Ansprechheilerin für die Ausbildungsabteilung ist und bleibt Hera Matine, so ungern Millie das hört."
"Nachdem wir so viele uralte und ganz neue Widersacher haben und die Tante Heilerin Hera dir und mir bei den ganz kleinen geholfen hat ist das Kein Problem mehr für mich, dass sie hier im Ort die Anlaufstelle für die Ausbildungsabteilung ist", sagte Millie. "Allerdings sollten wir der nicht erzählen, dass ich heute eine ganz große Menge Zeugs gemacht habe."
"Du bist lustig, Millie. Ich muss ihr wenigstens sagen, dass du einen Tag Auszeit hast", sagte Julius. Das sah Millie ein, auch wenn sie keine rechte Lust hatte, sich auch noch mit Hera Matine darüber zu unterhalten, was ihr passiert war und warum sie den Ausdauervorwegnahmezauber gemacht hatte.
So geschah es, dass Millie gleich nach der Bettgehzeit von Chrysope ins Elternschlafzimmer ging. Sie winkte Julius und Béatrice hinter sich her. "Ich hoffe, ich komme übermorgen früh wieder gut aus den Federn, Trice und Julius", sagte sie. Dann zog sie bei ihrer Nachtkommode die zweite Schublade von oben auf. Julius erstarrte fast, weil er genau wusste, was sie dort aufbewahrte. Als sie dann wwahrhaftig zwei kleine blaue, geriffelte Flaschen herausholte und sowohl Trice als auch ihm eine davon in die Hand drückte sagte sie: "Passt heute Nacht gut aufeinander auf und seid ganz lieb zueinander. Ich kann sicher gut schlafen, wenn ich weiß, dass ihr nur das tut, was mir auch recht ist." Kriegt ihr das hin?"
"Manchmal muss ich mich doch sehr wundern, wie wenig ich dich kenne, Millie", sagte Béatrice. Dann sagte sie: "Wir kriegen das hin, Millie." Julius sah seine Frau an. Hatte die ihn eben wieder an ihre Tante Trice ausgeliehen? Er musste es glauben. Denn die kleine blaue Flasche lag fest in seiner Hand und war randvoll mit dem Verhütungselixier, das nach einem Beischlaf in den Körper der beteiligten Hexe eingeträufelt wurde, um die in sie hineingelangten Samenzellen abzutöten, bevor sie ein fruchtbares Ei erreichen konnten. Für Millie und Julius gehörte das seit der Geburt der Zwillinge zum Nachspiel. So sagte er noch: "Wir werden aufpassen und nur das tun, was du uns erlaubst, Millie."
"Das ist sehr anständig von euch", sagte Millie. Dann bat sie die beiden, das Zimmer zu verlassen. Julius nahm sein Nachtzeug und Unterwäsche für den nächsten Tag mit und verstaute es genauso wie das Bild mit den Musikzwergen und die Mini-Temmie in ihrer Reisekiste in einem der Gästezimmer. Béatrice, die ihn schweigend beobachtete grinste. "Du wolltest nicht dorthin, wo die Brocklehursts immer schlafen, Julius?"
"gar nichts gegen dich, Trice. Aber immer wenn Britt und Linus in dem anderen Zimmer gewohnt haben ist Britt mit Extragepäck in die Staaten zurückgeflogen."
"Achso, und du meinst das läge am Bett und nicht an Britt?" fragte Béatrice ungewohnt kess. Julius wollte das nicht kategorisch ausschließen. "Seh ich ein, dass du dir da nicht so sicher bist", sagte sie. Dann mentiloquierte sie ihm: "Deine Frau ist echt süß, uns zwei eine gemeinsame Nacht zu verordnen, als wenn du die nötig hättest."
"Weißt du das so genau, ob oder ob nicht?" schickte Julius zurück. Dann kümmerte er sich um Aurore, die noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Bett hatte.
Als Aurore sich noch einmal die Geschichte von Madrashainorians erstem Schultag angehört hatte konnte Julius die Tür ihres Zimmers schließen und in den Musikraum gehen. Dort saßen er und Béatrice noch zusammen und spielten mehrere Flötenduette. Dabei tranken sie Traubensaft. Denn beide hatten die Erfahrung gemacht, dass Alkohol vielleicht die Stimmung hob, aber nicht selten die Ausdauer und das Erfolgsgefühl eintrübte. Als sie beide erkannten, dass sie mal wieder zeitgleich nach ihren Gläsern griffen grinsten sie sich gegenseitig an. "Wir sind wieder auf einer Linie, Julius", hauchte Béatrice. Dann umarmten sie einander und küssten sich leidenschaftlich. Béatrice raunte Julius zu: "Bitte schlafe heute nacht bei mir, Julius!"
So geschah es, dass Julius Latierre, ordentlich angetrauter Ehemann von Mildrid Latierre, mit Erlaubnis und auf ausdrückliche Aufforderung seiner Frau die Nacht zum 16. Mai 2006 in einem mit Klankerkerzauber bezauberten Schlafzimmer die Zeit im Juli 2004 wieder aufleben ließ. Er fühlte kein schlechtes, sondern ein reines Gewissen und freute sich, dass Béatrice sich so richtig freuen konnte.
So wurde es zwei Uhr, als beide endlich so müde waren, dass sie wohlig erschöpft nebeneinander lagen. Julius erkannte, dass er Béatrice auch nach ihrer erfolgreichen Rolle als Friedensretterin weiterlieben konnte. Er musste eben nur sicher sein, dass er es auch durfte. Ihr hatte er den langen Abend angemerkt, dass sie es auch wieder wollte, dass sie es über all die Monate schwer verheimlicht hatte, es noch einmal zu erleben. Dann fragte er sich, wie das weitergehen konnte. Denn nun stand für ihn fest, dass Béatrice ihn zwischendurch haben wollte. Ob Millie das immer erlauben oder wenigstens tolerieren konnte wusste er nicht. Sie mussten das zu dritt besprechen, nicht heute, nicht übermorgen, aber nicht so spät in der Zukunft.
Im Moment zählte nur, dass er mit der zweiten wichtigen Hexe seines noch jungen Lebens zusammengekuschelt lag und sie sich genauso einander in den Schlaf atmen konnten, wie er es eigentlich nur von Millie und sich gewohnt war. Mit dieser Mischung aus Befremden, völliger Befriedigung und Geborgenheit schlief er dem Klingeln des Weckers entgegen.
Ladonna Montefiori, die selbsternannte Königin aller Hexen, Zauberer und irgendwann auch aller Menschen, lag auf dem Boden, als sie wieder zur Besinnung kam. Dumpfe Schmerzen pochten in ihrem Kopf und ihrem Körper. Arme und Beine kribbelten, als seien sie eingeschlafen und würden erst jetzt wieder vollständig durchblutet. Immerhin spürte sie ihre Glieder noch. Ein kurzer heißer schreck durchzuckte sie, als sie dachte, womöglich einen schweren Gehirnschlag erlitten zu haben. Doch dann atmete sie auf. Sie konnte sich noch bewegen, ihre Gesichtszüge ändern und wusste, wo sie war. Doch wann sie war musste sie prüfen. Sie quälte sich auf ihre zitternden Beine und schritt auf ihren wie von vielen Nadelstichen gepiesakten Füßen aus dem Kellerraum, in dem sie sich wiedergefunden hatte. Hierhin hatte sie sich zurückgezogen, um dem auf Sonnenlicht gründenden Zauber zu entkommen, der sie betroffen hatte. So ganz war ihr das nicht gelungen. Dann sah sie auf eine Wanduhr im Lagerraum für ihre Zaubertrankzutaten. Sie hatte seit ihrer letzten wachen Zeit mehr als zwei Stunden verloren. Sie fühlte Angst, weil jemand ihr aus sicherer Entfernung durch den Blutfeuernebel hindurch so zugesetzt hatte. Wenn sich das herumsprach saß sie in ihrer für so sicher gehaltenen Festung wie die Maus in der Falle.
Sie dachte daran, dass sie im Moment nur in der Schweiz eine ihrer Feuerrosenkerzen hatte. Diese musste jemand beeinflusst haben, sich gegen sie zu wenden. Doch die einzigen, die das tun konnten waren die Veelas. Die kamen jedoch nicht einmal in die Nähe der Kerze, ohne im gläsernen Sonnenfeuer zu verbrennen. Aber irgendwie musste es ihnen doch gelungen sein. Dafür gab es zwei Erklärungen: Entweder hatte sich bei den Schweizern wer eingeschlichen, um die Einberufung zu vereiteln und die Kerze aus dem sicheren Haus geschafft, oder einer ihrer Getreuen musste sie verraten und die Kerze ausgeliefert haben. So oder so war sie wohl nicht dort entzündet worden, wo sie es haben wollte. Aus der Angst wurde nun lodernde Wut. Sie musste wissen, wer der Verräter oder die Verräterin war, der ihr diesen unverzeihlichen Schlag versetzt hatte.
Sie gedankenrief nach Urs Rheinquell. Doch als sie sich sein Gesicht vorstellte und versuchte, ihn zu erreichen fühlte sie eine ihr entgegenschlagende Kraft und sah goldene Blitze, die auf sie zujagten. Je mehr sie versuchte, ihn zu erreichen, desto schmerzhafter und häufiger zuckten die goldenen Lichtentladungen in ihrem Kopf auf. Sie versuchte Felsental zu erreichen. Doch dabei widerfuhr ihr dasselbe. Dann versuchte sie Tessa Feuerherd zu erreichen und prallte auf einen schmerzhaften Widerstand. Das machte sie noch wütender, sodass sie erst einmal keine Konzentration mehr aufbringen konnte. Erst als sie sich mehrfach zur Selbstbeherrschung ermahnt hatte brachte sie es zu Wege, an den Sprecher der italienischen Delegation zu denken. Doch als sie auch bei diesem auf einen stahlharten, goldene Entladungen in ihrem Kopf freisetzenden Widerstand stieß war ihr klar, dass jemand ihre Feuerrosenkerze dazu benutzt haben musste, um die ihr bereits unterworfenen Hexen und Zauberer von ihr loszureißen. Hätte man sie dabei getötet hätte sie nur ins Leere hineingerufen. So wusste sie, dass sie noch leben mussten.
Ihr Plan, die internationale Zaubererweltkonföderation zu unterwerfen, war mit Urgewalt auf sie zurückgeschlagen wie jenes hölzerne Wurfgeschoss, dass die Australier Bumerang nannten. Nur Veelastämmige wären im Stande, die Macht einer Feuerrosenkerze zu brechen oder gar gegen ihre Meisterin selbst zu wenden. Doch Veelas oder teilweise Veelas wie sie selbst eine war konnten nicht in das Haus mit der Kerze vordringen. Jedes Kind Mokushas wäre je nach Reinblütigkeit seiner Abstammung von dieser göttinnengleich verehrten Urmutter aus sich selbst heraus verbrannt, weil das gläserne Sonnenfeuer, das auf die Kraft von Veelablut gründete, jede von ihnen getötet hätte. Das Belle Grandchapeau nur in einer sonnengelben Lichtkugel eingeschlossen worden war lag daran, dass sie nicht von innen, sondern von außen mit Veelamagie erfüllt worden war.
Aus Ladonnas Wut wurde glühender Hass auf ihre Entfernten Verwandten. Die hatten ihr heute überdeutlich gezeigt, dass sie ihr gefährlich werden konnten. Hatte sie damals über Sternennachts Töchter und Nichten gelacht, so wusste sie nun, dass ihr großer Plan gerade zu ihrem größten Albtraum wurde, wenn sie diese Brut Mokushas nicht schnellstmöglich aus der Welt tilgte. Ja, wer immer denen geholfen hatte, sie derartig zu demütigen und um mehrere Schritte zurückzuwerfen sollte das büßen. Tod allen Veelas und ihren kurzlebigen Gehilfen!
Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich wieder soweit gefasst hatte, dass sie sich einen Gegenplan überlegen und ihn ausführen konnte. Sie wollte eine weltweite Jagd auf die Veelas befehlen, um all diese ihr widersetzlichen Geschöpfe zu töten. Noch hatte sie genug Getreue, um ihr bei diesem Vorhaben zu helfen. Vor allem ihr russischer Statthalter Maximilian Arcadi würde sich als sehr nützlicher Helfer erweisen. Die Schweiz musste sie einstweilen verloren geben. Doch sie würde sich jedes Land auf dieser Welt holen, auch die, die sich ihr von vorne herein widersetzten. Ihr kam sogar der aufmunternde Gedanke, dass mit dem Tod jener Veelastämmigen, die Ventvit und die beiden Grandchapeaus mit ihrem verbotenen Segen belegt hatte, eben jener Zauber von den dreien abfiel, ja die drei sterben mussten, wenn er nicht mehr wirkte. Dann war auch Frankreich kein uneinnehmbares Bollwerk mehr. Ja, so musste es gehen. Sie würde auf zwei Wegen vorgehen: Sie würde versuchen, nicht von ihr einberufene dazu zu bringen, die von Veelakraft durchdrungenen zu töten und zeitgleich alle Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen von der Erde verschwinden zu lassen. Sie wollte unverzüglich damit anfangen, um möglichst bald wieder frei handeln zu können.
Die Nachricht landete als Topmeldung auf Dunstons Tisch. "Dantes Inferno in peruanischer Drogenhölle", hatte eine ziemlich reißerische Schlagzeile gelautet. Dann hatte er die gesicherten Beobachtungen gelesen und mit seinem etwas eingerosteten Spanisch herausgelesen, dass Margarita de Piedra Roja offenbar von einer geballten Front aus Konkurrenten mit aus Armeebeständen abgezweigten Spreng- und Brandbomben angegriffen worden war. Die Fotos sahen aus wie im Vietnamkrieg oder einer Bombennacht im zweiten Weltkrieg. Der einzige Unterschied war, dass die heftigsten Feuerquellen blau leuchteten. Wie heiß musste das Feuer sein, um so zu leuchten?
Weil Dunston gerade keinen freien Mitarbeiter mit ausreichenden Spanischkenntnissen an der Hand hatte beschloss er, die Sache als "Weiteren brutalen Ausbruch von Gewalt im internationalen Drogenhandel" als Randnotiz in der Sparte "Auslandskriminalität" unterzubringen und schrieb den Text dazu selbst.
Léto alias Himmelsglanz hatte umgehend ihre Gefährtinnen und Gefährten vom Ältestenrat der Kinder Mokushas von der Umkehrung der Feuerrosenkerze Ladonnas in Kenntnis gesetzt. "Wir müssen jetzt jeden Tag mit einem Aufruf zur tödlichen Jagd auf uns rechnen", hatte sie über ihre Schwester Morgenglanz weitergemeldet. So war es für sie keine Überraschung, dass sie noch in der Nacht nach jenem entscheidenden Tag zu einer neuen Zusammenkunft in der Höhle der gesammelten Worte gerufen wurde.
"Es ist jetzt wohl eindeutig, dass die von gierigem Waldfrauenblut verdorbene Nachfahrin Nachtlieds das Geheimnis des gläsernen Sonnenfeuers kennt und gelernt hat, es so zu verstreuen, dass es aus vielen Richtungen zugleich auf unsereins wirkt", berichtete Léto ihren Ratsmitgliedern. Sommerwind fragte: "Dies ist eine ungeheuerliche Enthüllung, Himmelsglanz. Welche Beweise hast du dafür?" Léto erwähnte Millies Zeugenaussage und wie sich die von ihr gesehenen Kristalle verhalten hatten. "Ja, das kann sich keiner ausdenken, der oder die diese Mordwaffe nicht kennt", knurrte Sommerwind. Sarja alias Morgenröte sah ihre ältere Schwester an und fragte mit einem leicht verächtlichen Unterton: "Und du vertraust dieser jungen Hexe, die sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele Kinder von diesem sehr begabten und starken Jüngling zu bekommen, Schwester Himmelsglanz?" Léto bejahte das umgehend und wiederholte, was Sommerwind gerade gesagt hatte.
"Dann hat sie uns bereits den Krieg erklärt, bevor wir es wagten Ihren neuen Machenschaften entgegenzuwirken", seufzte Lebensfeuer. "Nur gut, dass diese Art von Vernichtungsmittel nur in überdachten Gebäuden verwendet werden kann und in der Nähe anderer im Feuer gebrannter Kristallkörper aufbewahrt werden muss, um nicht alle Kraft auf einen Schlag freizusetzen."
"Ja, nur wird sie, sobald sie erfährt, dass wir ihre Gemeinheit unschädlich gemacht haben, eine tödliche Jagd auf uns und unsere Kinder befehlen. Sicher, jene, die sie mit einer dieser Kerzen unterworfen hat können sich uns nicht nähern. Doch zum einen können Zauberstabträger aus mehr als zehn Schritten wider uns vorgehen und zum zweiten wird sie jene, die nicht von ihr unterworfen wurden gegen uns aufhetzen oder sie mit großzügigen Belohnungen ködern oder sie mit besonders grausamen Strafen bedrohen, wenn sie nicht gehorchen. Aber auch jene, die keine Kinder Mokushas sind wird sie jagen lassen, also jene Zauberstabträger, die wir oder unsere Kinder zu anvertrauten und Zeugungspartnern erwählt haben. Die könnten auf den Gedanken kommen, sich von uns loszusagen, um ihr eigenes Heil zu schützen", vermutete Sommerwind. Die anderen konnten dem nur beipflichten. Sowohl Létos Schwiegersöhne, als auch der Vermittler zwischen ihnen und den kurzlebigen Zauberstabträgern mochte genau wie die Kinder Mokushas gefährdet sein. Am Ende galt, wer seinen jeweiligen Widersacher schneller tötete würde die nächsten Jahre überstehen.
"Gut, wir haben der Unternehmung zugestimmt, bevor wir wussten, dass Sternennachts entfernte Verwandte das gläserne Sonnenlicht gegen uns einsetzt. Wir haben der Unternehmung zugestimmt, weil wir wussten, dass wir unsere eigene Freiheit verteidigen müssen. Wir wussten auch, dass die von Waldfrauenblut vergiftete uns sowieso schon für ihre größten Feinde hält. Doch nun hat sie noch mehr Anlass, unseren Tod, ja unsere vollkommene Auslöschung zu begehren. Wollen wir kämpfen oder flüchten. Wollen wir Bündnisse mit den Kurzlebigen schmieden oder uns vor ihnen verstecken?" fragte Lebensfeuer, der älteste derzeit lebende männliche Veela.
"Wir haben Verwandte aus dem Volk der Kurzlebigen. Wir können und dürfen sie nicht der Wut dieser Verdorbenen überlassen. Wir müssenund werden sie genauso verteidigen wie unser eigenes Leben", sagte Mittagslicht, eine mit für Veelas höchst seltener Lockenpracht verzierte Ratsangehörige. Himmelsglanz und ihre Schwester Morgenröte stimmten ihr zu. Doch weil die Angelegenheit so ernst und für das Überleben aller so wichtig war wurde darüber beraten. Am Ende standen vier Möglichkeiten zur Abstimmung: Flucht aller Kinder Mokushas vor den Kurzlebigen auf die Insel der Mokusha, die als einzige für die Kurzlebigen unbetretbar war, Verstecken in den eigenen Heimatländern, ein verstärkter Einsatz für die Befreiung von Ladonnas Macht unter Gefährdung des eigenen Lebens oder der offene Kampf gegen alle Kurzlebigen um die eigene Freiheit, in ihrer Urheimat zu bleiben. Weil für den Rat der Ältesten seit je her der Vorschlag umgesetzt wurde, für den mindestens 36 der 48 ständigen Ratsmitglieder stimmten dauerte es fast bis zum Morgen, bis einer der vier Vorschläge die nötige Stimmenzahl erhielt.
Léto atmete auf, als das Ergebnis feststand. Am Ende hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass die über dreitausend auf dem gesamten Erdenrund wohnenden Kinder Mokushas nicht alle auf Mokushas Insel wohnen konnten und vor allem, dass je schneller sie die von Ladonna geknechteten Kurzlebigen befreiten, desto früher und beständiger würde ihrer aller Sicherheit und Frieden erreicht werden. Hierzu musste nur ergründet werden, wie sich die nach Genf geschmuggelte Kerze auf die Unterworfenen auswirkte. Sicher war jedoch, dass die Veelastämmigen nur dort persönlich wirken konnten, wo sie nicht mit der tödlichen Falle Ladonnas rechnen mussten, also nicht in den Gebäuden, in denen Ladonnas Unterworfene walteten.
"Wer sagt es Rotstein?" fragte Sommerwind in die Runde, als alle das Ergebnis der Abstimmung bestätigt und anerkannt hatten. Léto bot an, selbst nach Spanien zu reisen, da die in Osteuropa wohnenden Kinder Mokushas immer noch in einer schwelenden Auseinandersetzung mit der rothaarigen Sonnengeborenen lagen. Lebensfeuer und Sommerwind stimmten dieser Entscheidung zu. Morgenröte grinste ihre große Schwester verwegen an. "Bedenke, werte Schwester, dass Rotstein ebenso Ansprüche auf deinen Schützling erhebt wie ich."
"Wobei du mir das Vorrecht gewährt hast, Schwester und Rotstein überhaupt kein Recht auf ihn geltend machen kann. Ihr geht es nur um mehr Ansehen in der Welt der Kurzlebigen, während du ja davon überzeugt bist, er habe dich persönlich beleidigt. Aber auch deshalb bin ich die richtige, um das mit Rotstein Feuermund zu klären, dass sie sich und ihre Nachkommen vor den Nachstellungen der Mägde und Knechte Ladonnas schützen muss, sofern sie nicht mithelfen möchte, ihren Einfluss zurückzudrängen."
"Möge Mokushas Geduld und Redekunst mit dir sein, große Schwester", erwiderte Morgenröte mit ein wenig Gehässigkeit in der Stimme. Léto alias Himmelsglanz überhörte jedoch diese Klangfärbung und bedankte sich mit einem warmen Lächeln bei ihrer Schwester.
Nun kehrten sie alle wieder in ihre Heimat zurück, um ihren direkten Blutsverwanddten die Warnung vor baldigen Angriffen als auch den Beschluss des Ältestenrates weiterzumelden. Vor allem galt es, noch mehr dieser Kerzen mit goldenem Docht zu fertigen, mit denen Ladonnas Bezauberung aufgehoben werden konnte.
Julius wachte auf, als ihn jemand sanft in die Seite stupste. Erst wollte er grummeln, dass Millie ihn bitte weiterschlafen lassen sollte. Doch dann erkannte er, dass er nicht neben seiner Frau im Bett lag. Schlagartig war er hellwach. "Ui, schon so spät am Morgen?" fragte er und sah auf seine Uhr. Er atmete auf. Es war gerade erst halb sieben.
"Es ist sehr schön, dass du neben mir aufgewacht bist, Julius. Aber ich höre schon Rorie in ihrem Zimmer herumsummen. Die ist nur noch nicht rausgekommen, weil sie die drei ganz kleinen nicht wecken will. Aber die muss nicht mitkriegen, wo du in der Nacht geschlafen hast", flüsterte Béatrice. Julius sah ein, dass sie recht hatte. Er küsste sie kurz auf die rechte Wange. Dann stand er so leise er konnte auf und schlich am neu eingerichteten Zimmer der Zwillinge vorbei. Flavine und Phylla schliefen noch tief und fest in ihrem Doppelkinderbett. Félix schlief auch noch.
Kaum dass Julius das eigentlich gewählte Gästezimmer mit seinen Sachen erreichte klang Béatrices wunderschöner Glasharfenwecker. Julius nahm sein Wasch- und Rasierzeug und verließ das Zimmer. Da hörte er kleine Füße die Wendeltreppe heruntertrippeln und sah seine erstgeborene Tochter Aurore mit zerzausten Haaren und noch leicht verschlafenen Augen. "Morgen, Papa!" grüßte sie leise. Julius fing die nicht mehr ganz so kleine Hexe auf, als sie sich ihm aus schnellem Lauf in die Arme warf. "Na hast du gut geschlafen, kleine Morgenprinzessin?" fragte er leise, während er sie knuddelte. Sie gluckste: "Ja, habe ganz doll geschlafen. Habe von der Schule geträumt, dass wir Buchstaben zusammenlegen können, um unsere Namen zu schreiben", wisperte sie. Julius dachte daran, dass für die größeren Träume vom Unterricht eher Albträume waren und musste grinsen. Dann sagte er: "Du weißt ja, dass wir heute noch mal zu Madame Matine gehen, damit die uns sagen kann, ob du auch wirklich im Sommer mit den anderen zur Schule gehen kannst. Wir wissen das zwar auch so schon, aber die nette Tante Heilerin muss dass einem Ministeriumsbeamten erzählen, weil sie eben eine Heilerin ist und deshalb auch untersucht, ob jemand groß genug für alles ist." Aurore, die immer noch in seinen Armen hing, grummelte, dass Madame Hera das doch auch schon wusste. Dann wollte sie ins Badezimmer.
Da Aurore schon ein großes Mädchen war brauchte sie keinen mehr, der ihr beim Waschen und Anziehen half. Darauf war sie ganz stolz, und auch ihr Papa und die im Elternschlafzimmer durchschlafende Maman waren da ganz stolz drauf. Sicher, sie wollte zeigen, dass sie eben kein Wickelkind mehr war. Das galt aber nicht für das abendliche Geschichtenvorlesen. Für sowas war Aurore noch nicht zu groß.
So konnte Julius sich um Chrysope und Clarimonde Kümmern, die aus ihren kleineren Zimmern herauswuselten und von ihm erst mal dazu angehalten werden mussten nicht so laut zu sein. Doch seine Ermahnung kam zu spät. Erst kieksten die Zwillinge, dann stieß Félix noch die ersten Rufe aus. Er konnte schon Sätze wie "Félix wach Aufstehen!" rufen. Aber ganze Sätze gingen in seinem Alter natürlich noch nicht. Dennoch war er weiter als seine wenige Wochen später geborenen Halbschwestern und Cousinen in Personalunion. Auf jeden Fall fühlte sich Julius mit den vielen Kindern gut ausgelastet aber nicht mehr überlastet, wie er es bei Clarimondes Geburt noch befürchtet hatte.
Die beiden Walpurgisnachtsängerinnen, wie sie von ihren Eltern und der dritten Großen hier im Haus genannt wurden, liebten es mit Wasser zu planschen. Daher dauerte es immer etwas länger, bis sie mal mit allem fertig waren und aus dem Badezimmer herausfanden. So kümmerte sich Julius auch noch um Félix Richard Roland, bei dem sie in den letzten Wochen eine erwähnenswerte Veränderung bemerkt hatten. Seine hellblauen Augen hatten einen leichten Grünstich angenommen. Hera und Béatrice waren sich darin einig, dass Félix' Augenfarbe sich noch weiter verändern würde. Womöglich würde er die grünen Augen seines verstorbenen Großvaters mütterlicherseits bekommen. dagegen hatten seine Halbschwestern Aurore, Chrysope und Clarimonde die hellblauen Augen behalten, mit denen sie geboren worden waren. Was vor allem Julius und seiner Mutter aufgefallen war war, dass Félix' Nase sich so ausgeformt hatte, dass sie der von Julius' Vater ähnelte. War also die Namensvergabe eine Art körperliche Vorprägung gewesen? In der Magie war nichts unmöglich, wusste Julius. Warum also nicht auch eine unbewusste Entwicklung hin zu Merkmalen der beiden Großväter, von denen keiner mehr mitbekommen konnte, wie ihr Enkelsohn sich entwickeln würde.
Weil ja Maman Mildrid schlafen musste schafften es die drei größeren Kinder, erstaunlich gesittet zu frühstücken. Kein Geschrei, kein Herumalbern, kein Zanken um leckere Honigbrötchen oder Croissants kam auf. Aurore strahlte wie ein Honigkuchenpferd, weil sie heute gesagt bekommen würde, dass sie im Sommer zur Schule gehen durfte und damit kein kleines Mädchen mehr war. Das würde ihr in der Rangfolge ihrer Geschwister noch mehr Achtung einbringen, dachte sie wohl. Aber vielleicht war es auch die Freude, was wichtiges lernen zu dürfen, obwohl ihre Eltern ihr ja schon einiges gezeigt hatten. Auch hatte sie schon gesehen, wie neue Geschwister von ihr auf die Welt kamen. Das gab ihr auch einen Wissensvorsprung.
Julius brachte Chrysope und Clarimonde zum Kinderhort von Millemerveilles. Danach apparierte er ganz leise vor seinem Haus. Dann flog er mit Aurore auf dem Ganymed 10 zu Hera Matine, wo schon andere Väter und Mütter mit ihren sechsjährigen Kindern warteten. Zu ihnen gehörte auch Sandrine Dumas, die ihre Zwillinge Estelle Geneviève und Roger Brian zur letzten Untersuchung vor Schulbeginn mitgebracht hatte. Aurore freute sich, die zwei mit ihr in Beauxbatons geborenen Kinder zu begrüßen. So konnte Julius sich mit Sandrine über die letzte Woche unterhalten, wobei er natürlich verschwieg, was seine Frau und er mit der IZKF angestellt hatten. Er erwähnte nur, dass wo er schon mal zur Heimarbeit abkommandiert war, Aurore zur offiziellen Beschulbarkeits-Enduntersuchung bringen konnte.
"Eure Rorie könnte glatt für sieben oder acht Jahre durchgehen, was die schon alles kann. Ich bin bei Estelle nicht so sicher, ob die echt schon dieses Jahr in die Schule kommen soll. Maman und Papa behaupten zwar, die sei nur sehr bequem und fände das toll, noch wie ein kleines Mädchen betüddelt zu werden. Aber falls das nicht so ist ..."
"Dann sieh dir mal an, wie Estelle mit Rorie herumtanzt und Roger nicht weiß, wie er da mithalten soll", grinste Julius. Dass Aurore stärker als die meisten anderen Kinder hier war wusste sie. Ihr Papa hatte ihr auch ganz ernst und immer mal wieder gesagt, dass sie deshalb immer aufpassen musste, den anderen nicht weh zu tun, weil die sonst dachten, sie sei böse. Doch als er sah, wie sie und Estelle Bocksprünge vollführten und wie Aurore die etwas kleiner geratene Estelle Geneviève beinahe in die Luft warf und Estelle gleich einer Eiskunstläuferin sicher auf den Füßen landete musste auch Sandrine anerkennen, dass Estelle offenbar eine gewisse Herausforderung nötig hatte. Falls Hera das auch so sah und Estelle auch die Tests ihrer geistigen Fähigkeiten bestand konnte sie sicher mit ihrem wenige Minuten älteren Zwillingsbruder Roger Brian eingeschult werden.
Die Termine waren nach Geburtstagen vergeben worden. So kamen erst die fünf Kinder dran, die im Zeitraum Februar bis April geboren worden waren. Dann kamen Aurore und Sandrines Zwillinge zur Untersuchung dran.
Als Julius Aurore zu Hera ins Behandlungszimmer begleitete sagte die hauptamtliche Heilerin von Millemerveilles, dass er bitte vor der Tür warten möge, um die Untersuchung völlig unbeeinflusst stattfinden zu lassen. Julius sah das ein, Aurore eher nicht. Erst als er ihr erklärte, dass Hera wissen wollte, ob sie auch alles das konnte, was sie machen konnte, wenn ihre Maman und ihr Papa nicht bei ihr waren schlug ihr leiser Unmut in Entschlossenheit um. Sie deutete auf die Tür. Julius grinste breit und verließ das Behandlungszimmer.
Nach einer Viertelstunde ging die Tür auf. Hera blickte Julius zufrieden an. Dann durfte er eine strahlende Aurore Béatrice Latierre begrüßen. "Sie erfüllt alle körperlichen und geistigen Grundvoraussetzungen für die Grundschule, Monsieur Latierre. Ich war sogar versucht einzutragen, dass sie womöglich schon für die erste Klasse zu weit ist. Aber ich habe dann zu Gunsten der sozialen Entwicklung nur "Übertrifft alle Grundwissenserwartungen" eingetragen. Bitte sehr, Ihre beiden Ausgaben des Einschulungsbefürwortungszeugnisses", sagte Hera und gab Julius zwei Pergamentzettel in die Hand. "Den einen davon bekommt direktrice Dumas am Ende des laufenden Schuljahres. Die andere behalten Sie für Ihre Dokumentensammlung. Ich schicke nachher eine Ausgabe an die Ausbildungsabteilung. Herzlichen Glückwunsch!"
Julius freute sich, weil Aurore sich freute. Sie durfte mit den anderen zur Schule gehen.
"Madame Dumas und Estelle und Roger bitte eintreten!" rief Hera Sandrine zu, die vor der Tür stand und nicht wusste, ob sie sich mit Aurore mitfreuen durfte oder doch die besorgte, alleinerziehende Mutter geben musste, die nicht wusste, ob ihre Kinder nach ihrer Geburt die nächste große Anforderung des Lebens schaffen würden.
Julius flog mit Aurore nach Hause. Unterwegs erzählte die ihm, was sie alles hatte machen müssen, eine Linie langlaufen, Sachen der Größe nach ordnen, mit einem Buntstift kleine Figuren malen, wobei sie auch schon erste Buchstaben gemalt hatte und noch so einiges mehr. Sie erzählte auch: "Die hat mir drei Haufen von Bauklötzen hingelegt und ich sollte der sagen, ob von den roten, den blauen oder grünen mehr da waren. Als ich der dann gesagt habe, dass da neun blaue, fünf grüne und vier rote Klötze waren meinte die, dass das eine Siebenjährige nicht besser hingekriegt hätte. Die hat dann auch noch in meine Augen reingekuckt, ob die ganz sind und mir Fragen gestellt, die ganz einfach waren. Dann hat sie gesagt, ich möchte ihr bitte noch mal sagen, was sie mich zuerst gefragt hat. Das ging auch noch."
"Dann darf sich wer auch immer dein Klassenlehrer oder deine Klassenlehrerin wird ja freuen, dass du schon so viel kannst", erwiderte Julius. Dann landete er mit seiner nun offiziell nicht mehr zu den Kleinkindern gehörenden Tochter auf der Landewiese.
Béatrice freute sich auch, dass Aurore es geschafft hatte. Julius durfte auch laut vorlesen, was Hera geschrieben hatte. Als er grinsend las, dass sie schon erste leichte Rechenaufgaben lösen konnte und den Kommentar fand, dass dies wohl auf die väterlichen Erbanlagen bezogen werden könne und darauf, dass sie die allererste von zeitnahe geborenen Geschwistern war musste Béatrice lachen. "Die werte Kollegin hat dabei unterschlagen, dass mein Vater, also Aurores Urgroßvater Roland einen unterstrichenen Ohne-Gleichen-UTZ in Arithmantik, sowie einen in Zauberkunst und Schutz vor dunklen Kräften erzielt hat, wo man ja auch räumliches Vorstellungsvermögen und Rechenbegabung braucht. Ja, und Hippolyte hat sich einen Mann ausgesucht, der ähnlich gut abgeschnitten hat. Also was Erbanlagen angeht haben die Mädchen und Félix eine Menge gute Sachen mitbekommen." Julius bestätigte das gerne, auch wenn sich mancher andere Mann durch Béatrices Bemerkung sicher zurückgestuft gefühlt hätte.
"Deine Chefin Nathalie hat ihren Kopf zu uns in den Kamin gesteckt. Ich habe ihr erzählt, dass du mit Aurore zur letzten Untersuchung bist, wo du schon einmal im Ort warst und Millie ja gerade den anstrengenden Ausflug verschlafen müsse. Sie wollte nachher noch vorbeikommen, gegen halb eins, wenn sie sich im Ministerium genug freien Zeitraum verschafft habe." Julius bestätigte es. Offenbar gab es da doch noch etwas nachzubereiten.
Aurore durfte mit Chrysope und Clarimonde im Garten spielen. Allerdings durften sie keine Besenflugübungen machen, solange keiner von den Erwachsenen dabei zusehen konnte. Béatrice und Julius bereiteten inzwischen das Mittagessen zu. Aurore hatte sich Apfelpfannekuchen gewünscht, etwas was Laurentine mal während ihres Weihnachtsurlaubs im Apfelhaus gemacht hatte.
Als Julius den sechsten Pfannekuchen in der großen Familienpfanne versenkt hatte rauschte es im Kamin der Wohnküche, und Nathalie Grandchapeau erschien aus einem smaragdgrünen Funkenwirbel. "Oh, ich wollte nicht all zu lange stören, die Mademoiselle und der Monsieur. Aber ich möchte mit Ihnen kurz die Auswirkungen des gestrigen Ereignisses besprechen, Monsieur Latierre", sagte Nathalie, wobei sie sich sehr anstrengte, sich ihr Unwohlsein wegen der Flohpulverreise nicht anmerken zu lassen. Dann sah und roch sie, was es zu Mittag gab. "Oh, als Nachtisch?" fragte sie. Béatrice meinte, dass Aurore sich das gewünscht habe, weil ja heute ihre letzte Untersuchung für die Einschulung war. "Ich gehe davon aus, dass Ihre Erstgeborene diese Untersuchung mit Erfolg überstanden hat, Monsieur Latierre. Julius bestätigte das. Dann bot er Nathalie, die ihren Hunger nicht ganz verbergen konnte, einen der Pfannekuchen an. Nathalie tat erst so, als müsse sie darüber nachdenken. Dann nahm sie das Angebot an.
Im dauerklangkerkerbezauberten Arbeitszimmer mampfte die Mutter von Belle und dauerhafte Trägerin von Demetrius Vettius den angebotenen Pfannekuchen so schnell in sich hinein, dass Julius nur staunend dabeisitzen konnte. Als sie dann die letzten Krümel aufgepickt und vertilgt hatte musste sie erst warten, bis sie überschüssige Luft aus dem Magen möglichst Leise aufstoßen konnte. Dann sagte sie: "Da fühle ich mich doch gleich besser. Aber was ich mit Ihnen zu bereden habe dürfte nicht ganz so wohltuend sein wie Eierkuchen mit Apfelstückchen."
"Gibt es Neuigkeiten aus Genf?" fragte Julius ahnungsvoll. "Nein, nicht aus Genf, zumal dann ja wohl eher Bern die richtige Adresse wäre, aber aus Rom, Madrid, Lissabon und Brüssel erhielt Monsieur Chaudchamp die Einladung, an einer Konferenz der Mittelmeerländer teilzunehmen, allerdings - und wen hätte es gewundert? - nur auf der Ebene der Leiter internationaler Zusammenarbeit, ohne die amtierenden Minister. Ja, und zwischen den diplomatischen Phrasen zur Ausräumung entstandener Missverständnisse und daraus entstandener Differenzen klang überdeutlich herüber, dass Frankreich die "Rückkehr in die große Gemeinschaft mediteraner Zauberergemeinschaften" angeboten werden möge, wenn die eindeutig erkannten "Unruheherde" erloschen seien. Als solche wurden dann die Kobolde, Zwerge und alle zur Zauberwesengruppe der Veelas gehörigen und deren Unterstützer gezählt, sowie jene, die von diesen Wesen auf irgendeine Art abhängig seien. Pataleóns Leiter für internationale Zusammenarbeit hat es sogar so formuliert, dass einer Rückkehr in einen dauerhaften Frieden und einer unerschütterlichen Sicherheit europäischer Zaubereigemeinschaften keine Hindernisse mehr im Weg liegen sollten, wenn Frankreichs Zaubereiministerium die bestehenden "unseligen Verhältnisse" mit eigensinnigen und für ihre Selbstsucht und Überheblichkeit hinlänglich bekannten Zauberwesen wie den Veelas schnellstmöglich beenden würde. In Deutschland habe dies mit den sogenannten Koboldhörigen im Ministerium ja auch funktioniert. Chaudchamp soll bis zum ersten Juni verbindlich bestätigen, dass Frankreich an einer Mitgliedschaft in der Mittelmeergemeinschaft tteilhaben wolle und dafür alle Anforderungen erfüllt habe. Na wofür halten wir das, Monsieur Latierre?"
"Die Frage könnte sogar ein Ungeborenes Kind beantworten", erwiderte Julius. Dann sagte er: "Die wollen uns ultimativ auffordern, Mademoiselle Ventvit, Sie und Madame Belle Grandchapeau aus dem Ministerium zu entfernen, öhm, ja mich wohl auch, weil ja alle Verbindungen zu den Veelas aufgekündigt werden sollen", sagte Julius. "Aber ich vermisse dabei die für ein Ultimatum typische Androh... öhm, Erwähnung der Folgen aus der Nichteinhaltung oder gar entschlossenen Ablehnung der Frist."
"Wirklich?" fragte Nathalie. "Abgesehen davon, dass die Nachricht aus Brüsselnicht in die Botschaft von reinen Mittelmeeranrainern passt ist es doch ganz offensichtlich, was bei Nichtbefolgung dieser unverschämten Forderungen geschehen wird." Julius wiegte kurz den Kopf und schlug sich an die Stirn. "Sie erwähnten was von einer Rückkehr Frankreichs in die Gemeinschaft der Mittelmeerländer. Das heißt dann ja wohl, dass wir gerade nicht dazugehören. Zweitens steht dann in Aussicht, dass unsere Mitbürger nicht mehr frei in die erwähnten Länder reisen können, wozu dann auch die Nachricht aus Brüssel passt. Wir wären dann sozusagen von argwöhnischen, ja potentiell feindlichen Nachbarn umgeben um nicht zu sagen umzingelt. Daraus ergeben sich eine Menge Möglichkeiten für die, die Ladonna unter Kontrolle hält. Gut, da sie uns wohl immer noch für intelligent halten gehen die davon aus, uns keine konkreten Auswirkungen ihres Ultimatums ankündigen zu müssen. Ja, und weil die Mittelmeerländer und Belgien ja wohl dieser fragwürdigen Friedenskoalition angehören gilt was die anmerken wohl auch für die anderen Zaubereiministerien. Also wird es jetzt konkret, dass wir außerhalb von Frankreich und auch innerhalb von Frankreich nicht mehr sicher sein können."
"Chaudchamp hat mir geraten, pro forma von meinem Amt zurückzutreten und auch Belle "anzuempfehlen", ihr Amt zur Verfügung zu stellen. Der Ministerin kann er das wohl nicht so unverhohlen empfehlen, wird sich aber sicher was ausdenken, um sie dazu zu kriegen, einen Nachfolger zu benennen."
"Huch, dass Vendredi zu einem Ameisenmenschen mutiert ist wusste ich ja. Aber dass Monsieur Chaudchamp zu einem Flubberwurm mutiert ist ist mir neu", erwiderte Julius. Nathalie räusperte sich laut. Doch als ihr wer kräftig von innen in den Bauch trat verzog sie ihr Gesicht. "Volltreffer, Julius. Das habe ich auch so gedacht, als Maman mir dieses Gemeinschaftsschreiben vorgelesen hat", vernahm Julius die Kleinjungenstimme von Demetrius.
"Also, der Monsieur vor und der Monsieur in mir, ich bitte mir aus, dass dieser Vergleich auch und vor allem in Beziehung mit dem unrühmlichen Schicksal von Monsieur Arion Vendredi nicht laut wiederholt wird, sobald wir uns mit diesem zugegeben sich sehr stark windenden und krümmenden Herren sprechen sollten. Natürlich werde ich mein Amt nur dann aufgeben, wenn es einen gewichtigen Grund dafür gibt, und damit meine ich nicht den kleinen Rüpel da unter meinem Herzen", erwiderte Nathalie.
"Dann sollten wir uns darauf einrichten, die Auswirkungen des nicht eingehaltenen Ultimatums auszuhalten. Öhm, gibt es konkrete Hinweise, dass Monsieur Chaudchamp Stimmung Gegen Sie und die beiden anderen von Euphrosyne bezauberten Damen macht oder ob er mich aus meinem Amt haben will?"
"Was den letzten Teil angeht weiß ich davon nichts. Er meinte nur zu mir, dass trotz der bekannten Umstände in Europa längst nicht alle Hexen und Zauberer unter dem verwerflichen Einfluss stehen könnten, aber von allen, die es tun dazu angestachelt werden könnten, alle geschäftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen mit uns zu beenden. Sie wissen, was über verletzte Raubtiere gesagt wird?"
"Ich habe Magizoologie bis zum UTZ belegt, Madame. Abgesehen davon gilt das für alle höheren Tiere einschließlich uns Hominiformen, wie alle Zauberwesen und wir Menschen bezeichnet werden: Es gibt fast nichts gefährlicheres als ein verwundetes Tier."
"Fast nichts gefährlicheres?" fragte Nathalie. Julius sah sie konzentriert an. "Noch gefährlicher als ein verletztes Tier ist eine Mutter, die ihren Nachwuchs verteidigt. Das musste eine gewisse Bellatrix Lestrange bei der Schlacht von Hogwarts als letzte Lektion ihres Lebens lernen", sagte er.
"Jetzt frage ich Sie, ob wir nicht davon ausgehen müssen, dass Ladonna alle Hexenund Zauberer für ihre Kinder halten mag und alle hominiformen Zauberwesen als deren Bedrohung sieht?"
"Dann wohl nur die Veelas, weil die ihr zu mächtig sind", erwiderte Julius darauf.
"Ja, die werdenwohl sehr schnell zu absoluten Unerwünschten erklärt. Sie wissen, was das heißt?" fragte Nathalie. Julius nickte. Er erwähnte auch, dass er das Léto so mitgeteilt hatte und die Veelas vom Ältestenrat das auch verstanden hatten.
"Ja, und wenn die Veelas zu Feinden erklärt werden gilt das auch für jeden, der es wagt, mit ihnen gut auszukommen oder gar von amtswegen für sie eintritt", erwähnte Nathalie etwas, das Julius ebenfalls schon klar war.
"Dann ist nur die Frage, ob ich mich nach dem ersten Juni noch außerhalb von Frankreich sehen lassen darf. Abgesehen davon, Madame Grandchapeau, die werden versuchen, Leute zu uns reinzuschicken, die deren oder besser ihrer Herrin und Meisterin Forderung durchsetzen wollen."
"Ach, wie es in der nichtmagischen Welt geschieht, wo geheime Agenten verfeindeter Länder zu Saboteuren und Auftragsmördern geworden sind?" fragte Nathalie. Julius nickte und erinnerte sie an das Château Trois Étoiles. Nathalie nickte. "Daran wird wohl auch der Kollege Chaudchamp denken, wenn er sich derartig besorgt um eine fragwürdige Aussöhnung mit den Nachbarn bemüht. Sie erkennen also, in welch gefährlichen Lage auch Sie sich befinden, solange wir keinen Weg finden, die von Ladonnas dunkler Macht gelenkten Zaubereiministerien zu befreien?" Julius bejahte es. Am Ende mochte es sein, dass er nicht mehr aus Millemerveilles hinaus konnte. Vor allem dachte er an den Alarmplan, den er mit der Ministerin, Nathalie und Léto ausgearbeitet hatte. Der Plan war unter dem Codenamen "Goldene Brücke" protokolliert worden und sollte vor allem die in Osteuropa lebenden Veelas und ihre Nachkommen vor wirklich drastischen Nachstellungen schützen, sofern die das wollten. Er wurde jedoch auch für die Veelastämmigen in Westeuropa und den USA ausgearbeitet.
"Gut, Sie bleiben hier in Millemerveilles. Ich werde gleich wieder nach Paris zurückkehren, um dort mit der Ministerin und Monsieur Chaudchamp zu Mittag essen. Zumindest werde ich da nicht so hungrig hinreisen, dank Ihrer Pfannekuchen", sagte Nathalie.
"Falls noch was dringliches ist bin ich auf jeden Fall hier zu erreichen", sagte Julius. Nathalie Grandchapeau nahm es erfreut zur Kenntnis, auch wenn der Anlass dafür weniger erfreulich war.
"Hoffentlich fällt ihr nicht gleich alles wieder aus dem Gesicht, was ihr ihr für mich mitgegeben habt", hörte Julius Demetrius' Gedankenstimme, als dessen Mutter in die smaragdgrüne Feuerwand eintrat, um sich ins Ministeriumsgebäude zurückzubegeben. Dann verschwand Nathalie in einem fauchenden Flammenwirbel.
Nach dem Pfannekuchenessen waren die größeren Kinder so vollgegessen, dass sie nur ruhig auf den Bänken sitzenblieben und Béatrice und Julius beim Spülen zusahen. Dann löste Sandrine den Türmeldezauber aus. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. "Sie haben beide die Bestätigung bekommen, Julius. Bei Estelle wurde nur festgestellt, dass sie ein wenig übergewichtig ist. Aber das gäbe sich bei ausreichender Bewegung, hat Hera gemeint", sagte Sandrine sehr erleichtert, dass auch ihre zwei im Sommer eingeschult werden konnten. Julius nutzte die Gelegenheit, dass Sandrine da war und bat sie für fünf Minuten die Aufsicht über die Kinder zu übernehmen. Diese Zeit nutzte er, um mit Béatrice über Nathalies Besuch und die möglichen Auswirkungen des gestrigen Tages zu sprechen. "Damit habt ihr doch gerechnet", meinte Béatrice sehr ernst. "Man wird die Veelas und ihre Nachkommen zur Jagd freigeben und womöglich Kopfprämien auf sie aussetzen, damit auch jene hinter ihnen herjagen, die dieser größenwahnsinnigen Furie noch nicht hörig sind."
"Ja,nur gilt außerhalb von Frankreich weiterhin das Blutrachegebot der Veelas. Wenn da echt wer meint, die alle umbringen zu wollen wird es auch viele tote Männer, Frauen und Kinder in der Zaubererwelt geben, die nichts damit zu tun haben."
"Das wird denen egal sein, besser, sie werden es nicht bedenken können, die von Ladonna Montefiori beherrscht werden. Sie sind nur Marionetten. Die können bei völliger Zerstörung jederzeit ersetzt werden. Aber was ihr getan habt, vor allem die Veelastämmigen und Millie, war richtig. Im Grunde treten die zu erwartenden Ereignisse früher ein als sonst."
"Wundere mich, dass Léto mich noch nicht gesucht hat", meinte Julius. Béatrice erwiderte darauf: "Hast du nicht erzählt, dass Veelas unter sich immer länger brauchen, um Sachen zu beschließen?" Julius nickte bestätigend. "Die wissen das längst, was ihnen bevorsteht. Die werden sich nur noch darüber beraten müssen, was sie deshalb tun sollen, Verstecken, uns weiter unterstützen oder Krieg mit der ganzen Zaubererwelt führen. Wenn Léto weiß, was genau beschlossen wurde wird sie sich bei dir melden, vielleicht sogar früher als dir am Ende lieb ist", vermutete Béatrice. Das konnte und wollte Julius nicht abstreiten.
Fünf Stunden nach Rheinquells letzter Mitteilung an die Zentrale der Sicherheitstruppen eilten 300 Hexen und 600 Zauberer der Abteilung für magische Sicherheit und Ordnung nach Genf. Zwar konnten sie nicht in die Maison Bontemps hineinapparieren, konnten jedoch durch die eine nicht verriegelt und versiegelt gehaltene Tür in das Versammlungshaus eindringen. Doch wenn sie sich den am Boden liegenden Kolleginnen und Kollegen näherten stellten sie fest, dass sie nicht näher als drei Schritte herankamen. Irgendwas strahlten die besinnungslosen Ministeriumsangehörigen aus, dass die vom Duft der Feuerrose einberufenen zurückdrängte wie ein glutheißer Wind.
Als sie es durch das Treppenhaus bis in die Kuppel geschafft hatten konnten sie nicht in den Dufour-Saal vordringen. Die Kraft, die die anderen umgab wie ein unsichtbarer Schild aus verdichteter heißer Luft wirkte auf die Sicherheitstruppen wie eine unsichtbare, glühendheiße Stahlwand. Was immer sie versuchten sie kamen nicht hinein. Sie sahen jedoch die über zweihundert reglosen Körper der hier versammelten Delegierten. Doch auch mit dem Ansehen war es nicht mehr so einfach. Je länger sie auf die Besinnungslosen blickten, desto heller und heißer erschienen sie ihnen zu werden, als erwache jedesmal, wenn sie angesehen wurden, eine kleine Sonne in ihnen. Die sonst so bewährten Transportzauber gelangen ebensowenig, weil jedesmal, wenn einer der treuen Diener der Königin einen Kollegen damit aufheben wollte, ein stechender Schmerz durch seine Zauberstabhand fuhr.
"Jemand hat unsere Leute und die Delegierten mit einer gegen uns gerichteten Magie erfüllt. Wer kann sowas?" fragte einer der Truppenführer. Doch keiner und keine konnte ihm darauf eine Antwort geben. Dann trafen sie Goldglöckli und ihre Hauselfen und erfuhren, dass mehrere hundert Fremde die Meister wohl betäubt hatten und dann gegen die Verschlusszauber der Eingangstür das Haus verlassen hatten.
"Da Hauselfen mühelos dort apparieren konnten, wo Zauberstabträger es nicht konnten ließ sich Hilmar Eckstein, der nach Klingenschmidt ranghöchste Sicherheitszauberer des eidgenössischen Zaubereiministeriums, in den Raum bringen, in dem Rheinquell lag. Doch kaum war er dort angekommen war ihm, als schlüge eine goldglühende Flutwelle gegen ihn und warf ihn gegen eine Wand. Den Anprall spürte er schon nicht mehr. Goldglöckli kreischte vor Angst und Verzweiflung und versuchte gleich noch mehrere Sicherheitstruppler dazuzuholen. Doch auch diese wurden ihr gleich nach der Ankunft entrissen und wie von einer unsichtbaren Welle gegen die Wand geworfen, wo sie haften blieben wie Fliegen am Fliegenfänger. Goldglöckli, die als Küchen- und Haushaltsführerin überragend war, kannte sich jedoch nicht in fremden Zaubern aus. Deshalb wusste sie nicht, warum die hier liegenden Männer, darunter der Zaubereiminister, ohnmächtig waren und warum Eckstein und die beiden Kollegen so gnadenlos an die Wand gedrückt wurden.
Goldglöckli holte ihre Artgenossen. Diese trugen die Ohnmächtigen aus dem kleinen Warteraum hinaus. Da geschah das für die diensbaren Zauberwesen unglaubliche. Die an der Wand hängenden Sicherheitstruppler verloren die Anhaftung und rutschten zu boden. Die Elfen brachten sie gleich ins Haus der heilsamen Kräfte, wie es einer ihrer Generalbefehle verlangte. Doch weil sie schon die anderen Ohnmächtigen dort abgeliefert hatten führte diese gutgemeinte und pflichtbewusste Handlung zu weiteren Schwierigkeiten.
Wenn einer der Ohnmächtigen unmittelbar in Armreichweite eines von Ladonnas Zauber durchdrungenem appariert wurde flog der noch wache Heiler oder Sicherheitszauberer wie von einer Schleuder geschnellt gegen die nächste Wand und blieb dort solange besinnungslos hängen, bis die nicht von Ladonnas Zauber durchdrungenen Heilerinnen und Heiler die bereits stundenlang bewusstlosen aus dem Raum trugen. Jene, die nicht von Ladonna beeinflusst waren - bei den Schweizer Heilkundigen über drei Viertel - erkannten rasch, dass es einen Zusammenhang zwischen der Ohnmacht ihrer Patienten und der von diesen ausgehenden Abstoßungskraft gegenüber den Sicherheitszauberern geben musste. auch als Bombastus Maiglock aus dem Heilerhaus der IZKF in Genf in das Haus der heilsamen Kräfte eingeliefert wurde flogen gleich zwei Sicherheitsbeauftragte an die nächsten Wände.
"Wir können konstatieren, dass es wohl stimmt, dass ein erheblicher Teil unseres Ministeriumspersonals mit einer den Körper und / oder den Geist verändernden Magie belegt wurde und dass die im Zustande völliger Bewusstlosigkeit von einer dieser Magie entgegenwirkenden Kraft erfüllt wurden", notierte der Leiter des Hauses der heilsamen Kräfte, nachdem er von zwanzig Kolleginnen und Kollegen auf diesen Zusammenhang hingewiesen worden war. Dann sprach er noch zu seiner Flotte-Schreibefeder: "Damit ist bestätigt, was vielerorts bisher als Gerücht oder scheinbar böswillige Unterstellung verbreitet wurde. Minister Rheinquell und ein Gutteil seiner Mitarbeiterschaft wurden Opfer einer unterwerfenden Kraft, womöglich ausgehend von jener Hybridin, die als Ladonna Montefiori bekannt ist. Da wir es hier nun mit zwei einander widerstreitenden Zaubern zu tun haben ist höchstwahrscheinlich, dass jemand einen Gegenzauber entwickelt hat, um die Mitglieder der Konferenz gegen Ladonnas Kraft abzusichern. Dabei muss es zwangsläufig zu jener Magiekollision gekommen sein, welche die bereits Unterworfenen betäubt und gefährlich nahe an die Grenze zum Exitus getrieben hat. Alle Bemühungen, die Ohnmächtigen aufzuwecken sind bisher misslungen. Auch fürchten die auf Körper- und Geistbeeinflussungszauber spezialisierten Kollegen, dass es nicht angeraten ist, die Bewusstlosen mit magischer Kraft aufzuwecken. Sie warnen vor möglichem Organversagen, wenigstens vor einer Schädigung des Gehirns und einer Zerstörung der bisherigen Erinnerungen und der Persönlichkeit. Daher habe ich um 17:35 Uhr den Befehl erteilt, die Bewusstlosen nur in gesicherten Betten unterzubringen und zu beobachten. Sollten sie in einem Tag noch immer bewusstlos sein wird neu beraten. Ende der Aufzeichnungg!"
Das Schweizer Zaubereiministerium stellte für diesen Tag alle Tätigkeiten ein. Die Presse wurde dazu angehalten, bis auf weiteres nichts zu berichten, um keine Unruhe und davon ausgehend auch kein Chaos ausbrechen zu lassen. Der Leiter des Hauses der heilsamen Kräfte schickte alle Mitschriften und die ihm zu Händen gelangten Behandlungsprotokolle zum Sprecher der eidgenössischen Heilerzunft. Vielleicht konnte der ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit eine Lösung finden.
"Euch ist klar, dass ihr in Eurer Heimat schnell zu Unerwünschten erklärt und eure Familien bedrängt und womöglich gequält oder getötet werden, um euch zu treffen", sagte Agathos Kiriakos zu den aus Amerika stammenden Delegierten der internationalen Zaubererweltkonföderation. Die hatten miterleben müssen, wie ihre Landsleute von jener überwältigenden Kraft in eine Art todesnahen Tiefschlaf versenkt worden waren, weil sie offenbar schon zu Ladonnas Hörigen gehörten. "Ich kann es immer noch nicht fassen, dass dieses Unweib es geschafft haben soll, Leute aus den Staaten zu unterwerfen", knurrte Waldon Bowman, einer der entkommenen Delegierten.
"Nur haben wir keinen Dunst, was mit denen jetzt is'", sagte Lorne Chestwood, der Juniorassistent des australischen Delegationsleiters McKeith.
"Entweder sind die gestorben, schlafen noch oder werden nach ihrem Erwachen entweder neu auf dieses Weib eingestimmt oder getötet, weil das nicht klappt", warf einer von Britanniens Delegationsleiter Summergates jüngeren Mitreisenden ein. Dann fragte Philipp Greyhorse, ein Reporter des Kristallherolds, wie sie sich denn nun verhalten sollten. Denn es stehe ja außer Frage, dass sie nicht mal eben in ihre Heimat zurückkehren konnten, ohne sehr heftige Nachfragen zu riskieren.
"Erst mal besprechen wir das hier zu Ende, was wir gestern nachmittag angefangen haben", sagte Summergate, der wegen seines Dienstalters zum Konferenzleiter gewählt worden war. "Es gilt, die nächsten Schritte genau zu erfassen und genug Ausweichmöglichkeiten zu finden, wenn es nicht gelingt, diesen personifizierten Albtraum Ladonna Montefiori in das Dunkel der Vergangenheit zurückzustoßen, in das sie gehört."
"Hört hört!" grummelte der südafrikanische Delegationsführer. "Wenn ich das richtig mitbekommen habe hat sich Ladonna Montefiori den Großteil Europas und mindestens die Hälfte Lateinamerikas untertan gemacht. Es ist nur dem Umstand zu verdanken, dass der Anschlag auf uns örtlich und zeitlich so genau vorhergesehen werden konnte, dass wer immer von den Franzosen diese Gegenaktion ausführen konnte, sonst wären wir jetzt alle nichts anderes als Puppen in einem düsteren Marionettentheater, und das alles, nachdem wir Südafrikaner so lange gebraucht haben, die unsäglichen Auswirkungen der Rassentrennungszeit zumindest auf den Pergamenten zu überwinden." Dabei sah der Südafrikaner den Leiter der britisch-irischen Delegation an. Dieser zeigte keine Regung. Er sagte nur: "Da die Franzosen und wohl auch die Griechen, wenn ich das richtig verstanden habe, Mr. Kiriakos, so erfolgreich gegen die Unterwerfung vorgehen konnten sollten wir überlegen, ob wir nicht eine Gegenkoalition gründen sollten. Hierzu müsste aber wer von uns nach Frankreich reisen und mit den dortigen Stellen verhandeln. Ob die uns trauen wissen wir nicht."
"Wir schicken eine Abordnung aus unser aller Delegationen nach Millemerveilles, sobald wir besprochen haben, wie es weitergeht", sagte Agathos Kiriakos. "Soweit ich weiß unterhalten das griechische und das französische Zaubereiministerium seit einigen Wochen einen ständigen Nachrichtenaustausch, weil sich um uns herum diese Mittelmeervereinigung gebildet hat, die mit den anderen Ländern eine sogenannte Friedenskoalition bildet. Was die mit uns gereisten Journalisten angeht, so könnten diese in ihren Heimatländern berichten, dass nach einer anfänglichen Unstimmigkeit alle Beratungen in friedlicher Atmosphäre stattfanden. Was Sie Ihren Leserinnen und Lesern berichten können Sie gerne mit uns abstimmen. Denn bedenken Sie bitte, dass jedes provokante Wort jene Personen, die bereits von Ladonna Montefiori unterjocht wurden zu Ihren Todfeinden macht."
"Als wenn wir das in Kenia nicht schon gewohnt wären", sagte ein junger Ureinwohner Ostafrikas. "Schreibe ich was über die Überheblichkeit der Weißen, kriege ich mit denen Ärger. Texte ich was über ein Entgegenkommen der Urbevölkerung schicken mir erboste Zauberpriester kleine Wachsnachbildungen von mir und drohen mir, sowas gegen mich einzusetzen. Also ändert sich nichts für mich."
"In Aussiland sind wir eh frei von diesem Dreck, den diese Veelastämmige da über die Welt ausgekippt hat", erwiderte Chestwood. Sein Vorgesetzter McKeith ermahnte ihn zu einer unter Diplomaten besser anstehenden Sprechweise. Doch Chestwood tat das nur mit einem Achselzucken ab.
"Ey, aber wir haben voll das Prob, wenn wir in unserem Land auf die Pauke hauen, was bei uns möglicherweise schon in der tiefsten Drachenkacke steckt", polterte der aus den Staaten mitgereiste Reporter vom Kristallherold und erntete ein amüsiertes Grinsen von Chestwood.
Nach dieser mehr als deutlichen Äußerung fanden die Delegierten wieder zu einem gesitteten Ton und dem nötigen Ernst zurück. Der Vorschlag von Kiriakos wurde einstimmig angenommen, die Beschlüsse der verbliebenen Delegationen nach Millemerveilles und Athen zu bringen.
Espinela Flavia Bocafuego de Casillas staunte nicht schlecht, als am Nachmittag des 16. Mai ein weißer Schwan vor ihrem Haus landete und sich in eine makellos schöne Frau mit hüftlangem, silberblondem Haar verwandelte. Natürlich kannte die rothaarige Veelastämmige, die als älteste ihrer Familie die Geschicke in Spanien lenkte Himmelsglanz, die bei den Franzosen Léto hieß. Was die wohl hier wollte?
Himmelsglanz schwenkte ein großes, weißes Taschentuch, als sie auf das Haus zuging. Da kam ihr Espinela bereits entgegen und grinste überlegen. "Möchtest du mir im Namen des Ältestenrates den Frieden anbieten oder was?" fragte Espinela in der gemeinsamen Sprache ihres Volkes.
"Dieses Zeichen der Unterhandlung dient dazu, dass wir uns nicht gegenseitig zerfleischen, Espinela. Denn dann hätte Ladonna gewonnen", sagte Léto. "Denn auch dir dürfte klar sein, dass unser Volk gerade am Rande eines tiefen, tödlichen Abgrundes steht, wenn Ladonna Montefiori beschließt, uns alle töten zu lassen."
"Soso, hat sie das nicht längst? Ach, offenbar wisst ihr nochnicht, wie sie das spanische Zaubereiministerium verseucht hat. Eine nicht aus meiner Familie stammende gute Bekannte hat mir den Gefallen getan und sich dort einmal umgesehen. Ladonna hat das gläserne Licht, auch das gläserne Feuer in das Ministeriumsgebäude geschafft. Du weißt, was das heißt, Himmelsglanz?"
"Besser als mir und dir lieb ist. Abgesehen davon wissen wir vom Ältestenrat das seit gestern auch ganz sicher. Auch wir wurden von einer, die keine Tochter Mokushas ist, auf diese heimtückische, unverzeihliche Tat hingewiesen."
"Ja, also will sie uns alle umbringen, Himmelsglanz. Also, was gibt es neues?" fragte Espinela. "Es tut mir in der Seele weh, dass du derartig überheblich auftrittst, obwohl du genauso wie ich weißt, wie ernst, ja todernst die Lage ist", seufzte Léto. "Aber was du noch nicht weißt ist, dass es uns gelungen ist, mit dem goldenen Licht des heilenden Liedes und Blutes Ladonnas Unterworfene zumindest bis auf weiteres zu bezwingen. Interessiert an der ganzen Geschichte?"
"Ich habe gerade nichts besseres zu tun, Himmelsglanz", entgegnete Espinela. Dann bat sie die unerwartete Besucherin in ihr Haus.
Léto erzählte ganz ruhig alles, was gestern geschehen war und dass es wohl gelungen sei, die Versammlung der Konföderation vor Ladonnas Zugriff zu schützen. "Ach, und ihr habt es dieser jungen Enkeltochter einer Zwergin überlassen, das alles für euch durchzuführen?" fragte Espinela immer scheinbar gelangweilt klingend. Léto bestätigte das. "Oh, da war es ja möglich, dass diese junge Legehenne dabei ihren Tod gefunden hätte. Wolltest du das oder deine kleine sibirische Schwester?"
"Nein, wollten und wollen wir nicht, auch Morgenröte nicht, Rotstein Feuermund", knurrte Léto. "Aber sie hat uns unser Vertrauen errungen, dass ihr bei diesem Vorhaben nichts geschehen möge. Dieses Vertrauen erwies sich als gerechtfertigt. Doch nun müssen wir alle damit rechnen, zur tödlichen Jagd freigegeben zu werden. Das wirst selbst du nicht lächerlich reden."
"Immerhin gut zu wissen, wie ich Pataleón aus dem giftigen Nebeldunst der mit Sabberhexenblut verunreinigten Nachfahrin Sternennachts befreien kann. Ja, und was uns hier in Spanien angeht, so hat die tödliche Jagd längst begonnen. Meine Töchter mussten mit ihren Familien fliehen, weil Pataleón ein neues Gesetz beschlossen hat, dass alle mischblütigen Menschen in Sammellager verbracht werden sollen, um dort nach Wert und Unwert für das Zaubereiministerium eingeteilt zu werden. Tja, und es ist durchgesickert, dass er nur die Zwerge und Kobolde leben lassen will, weil er sich von denen gute Beziehungen zu den Goldhütern in beiden Völkern verspricht."
"Dann kann und will ich dir nur den gutgemeinten Rat geben, dass ihr euch weiterhin gut versteckt haltet oder besser hier in deinem gesicherten Haus wohnt, solange Pataleón von Ladonna Montefiori abhängig ist", sagte Himmelsglanz. Espinela erwiderte darauf: "Jedenfalls war es sehr anständig, mir, der achso aufmüpfigen, der aus euren Reihen ausgeschlossenen, mitzuteilen, dass ihr diese Sabberhexenbrütige noch wütender auf uns alle gemacht habt. Das nennt man einen Drachen pieksen, Himmelsglanz. kanntest du diesen Spruch schon?"
"Mit mehreren Töchtern und Enkeln in der Welt der Zauberstabträger kam ich kaum darum herum, diesen Ausspruch und seine Bedeutung zu lernen", erwiderte Léto nun ebenfalls verächtlich. Dann wünschte sie der Mutter aller spanischenVeelastämmigen und ihren Verwandten ein langes Leben und dass sie alle diese Lage überstehen würden.
"Ich wünsche dir und deinen Verwandten auch ein langes, friedliches Leben, Himmelsglanz. Ach ja, und wenn dein Schützling, der so wunderbar stark gegen meinen Blick der Einforderung widerstehen konnte, doch mal wen neues suchen sollte und da gerade nicht in meinem Land unterwegs ist sage ihm gerne von mir, dass ich weiterhin auf ihn warte."
"Hat meine Schwester mir auch schon gesagt, und die ist eine Reinblütige, werte Rotstein Feuermund", grummelte Léto. Espinela verzog ihr Gesicht. Diese Abwertung, dass sie nur die Enkelin einer reinblütigen Tochter Mokushas war schmerzte in ihrer Seele. Fast war sie versucht, Léto dafür zu ohrfeigen. Doch das Zeichen der Unterhandlung zwang sie, ihr nichts anzutun.
Als Himmelsglanz das Haus der rothaarigen Stammutter der spanischen Veelastämmigen wieder verließ und draußen in ihre Schwanengestalt wechselte dachte Espinela, dass es schon sehr anständig gewesen war, sie zu warnen. Doch weil sie einen Ruf zu verlieren hatte und weil sie den Ältesten immer noch wegen jener leidigen Angelegenheit aus der Vergangenheit grollte würde sie das nicht laut aussprechen. Zudem war sie ja die Stuhlmeisterin der entschlossenen Schwestern und konnte somit auch auf andere kundige Hexen zurückgreifen. Zu wissen, wie den Hörigen Ladonnas beizukommen war empfand sie als sehr beruhigend.
Julius nutzte den Nachmittag aus, einen kurzen Bericht über die Ereignisse des Vortages nach New Orleans und Viento del Sol zu mailen. Er unterließ es, über Millies besondere Zauber zu schreiben und beließ es bei der Erwähnung der Veelafalle dabei, dass diese durch die Störung der Gitterkonstruktion entladen worden war. Er deutete jedoch an, dass die Veelas wussten, wie diese Falle auf Wesen ihrer Art wirkte und markierte seine eigene Vermutung, dass hier eine Art Resonanzfeld erzeugt wurde, dass auf Veelastämmige wirkte wie ein hoher Ton auf sehr dünnes Glas oder eine Kompanie im Gleichschritt eine Brücke überquerender Soldaten mit dem Begriff "vorzeitige Hypothese bei noch unzureichenden Beweisen". Er wollte prüfen, ob wesentlich erfahrenere Hexen und Zauberer seine Ansicht teilten oder eine bessere Theorie zu bieten hatten.
"Julius, vor unserem Haus landet ein weißer Schwan. Könnte eine Clientin von dir sein", vernahm er Béatrices Gedankenstimme. Julius schickte zurück, dass er sofort käme. Er schickte die fertige Mail auf die Reise und wählte den Herunterfahrvorgang seines Baumhausrechners aus. Dann ließ er sich mit Hilfe seines Freiflugzaubers federgleich vom Baum heruntergleiten. Auf dem Boden angelangt apparierte er, um die wenigen hundert Meter zum Apfelhaus in einem Augenblick zu überwinden.
"Vorsicht, Rorie, nicht zu nahe rangehen!" hörte er Trices mahnende Stimme. Er eilte um das Haus herum und sah einen majestätischen Schwan, der auf der Landewise stand und den schlanken Hals in verschiedene Richtungen bog. Aurore stand nur einen Meter von dem besonderen Vogel entfernt, der keine Anstalten machte, die kleine Zweibeinerin anzufauchen oder gleich mit dem langen roten Schnabel zu picken. Dann kam auch noch Clarimonde angelaufen. Julius sah seine drittjüngste Tochter warnend an und sagte ruhig aber ernsthaft: "Clari, nicht auf denSchwan zurennen. Wenn der Angst vor dir kriegt beißt oder haut er dich. Das willst du nicht wirklich."
"Sie sind sehr gut geraten, eure Kinder", hörte er Létos Gedankenstimme. Julius schickte zurück: "Wenn du dich jetzt zurückverwandelst bekommen die einen Schrecken fürs ganze Leben."
"Keine Sorge, ich werde mich auf diesem mit Lebensbeschwörung gesättigtem Land nicht noch einmal in meine angeborene Gestalt wandeln, um dann von lauter Lust und Leidenschaft niedergeworfen am Boden zu liegen. In meiner geflügelten Form kann ich dieser unhörbaren Aufforderung, das Leben zu genießen und es zu mehren wwiderstehen, solange kein anderer gleichförmiger Vogel in meine Nähe gerät."
"Na, wo kommst du denn her? Hast du dich verflogen?" fragte Julius den Schwan. "Nie sollst du mich befragen", hörte er eine wunderschön tonreine Antwort in seinem Kopf singen. Julius musste lachen, als der Schwan sich zu ihm umwandte und ihm den Kopf entgegenstreckte. "Ich komme gerade aus Spanien zurück, wo ich der dem Rat nicht gewogenen Dame aus der Linie von Morgensonne die Kunde brachte, dass wir Kinder Mokushas ab sofort mit unserer Ächtung und versuchten Auslöschung zu rechnen haben müssen. Sie tat überlegen und von meiner Kunde gelangweilt, weil es für sie ja jetzt schon danach aussieht, dass ihre Familie und sie nur noch die Wahl zwischen Flucht, selbsterwählter Einkerkerung oder den Tod hätten. Zumindest habe ich meine Pflicht getan."
"Wie heißt der Schwan, Papa?" wollte Aurore wissen, die mit ihrem natürlichen kindlichen Einfühlungsvermögen erkannt hatte, dass der Schwan und ihr Papa sich kannten. "Na, wie heißt du?" gab Julius die Frage weiter an den weißen Vogel. Dieser öffnete den roten Schnabel und gab einen melodiösen laut wie von einer kleinen Trompete von sich. ""Melodie Blanche", sagte Julius, als würde er dieses Reviersignal als Eigennamen verstehen. "Blanche, wie die Blanche von Oma Line?" fragte Aurore. Die Schwänin wandte sich ihr zu und nickte. Dann kam Goldschweif angelaufen. Sie blieb fünf Schritte vor Léto stehen und krümmte ihren Rücken zum Buckel. Dann zog sie sich drei Schritte zurück. "Das ist eine von denen, die so widerlich stark singen. Pass auf, die ist bestimmt in Stimmung", hörte Julius alleine, was Goldschweif maunzte, bevor sie sich mit aufrechtgestelltem Schweif davonmachte.
"Möchtest du mir noch was wichtiges mitteilen, bevor noch Dusty ankommt und dich beschnuppern will?" gedankenfragte Julius, während er mit sanften Armbewegungen Aurore und Clarimonde auf Abstand hielt. Zwar wusste er, dass Léto den beiden nichts tun würde. Doch wenn die einem wilden natürlich geschlüpften Schwan begegneten und meinten, der sei ganz lieb konnte das blutig werden. Musste er nicht haben. Er hielt schließlich auch genug abstand.
"Nur soviel, wir werden euch weiter gegen Ladonnas Kräfte unterstützen und die Ältesten Mondpfad und Goldregen werden sich bei dir melden, obwohl sie nicht in Frankreich wohnen. Bitte sei morgen in deinem Sprechzimmer in Paris. Denn ich kann für nichts garantieren, wenn die beiden älteren Herrschaften herkommen und dann bei oder in deinem Haus vergessene Leidenschaften wiederentdecken. Das würde mir Goldregen vielleicht verzeihen, aber nicht Mondpfad."
"Wo wohnen die beiden und warum möchten sie mich sprechen?" gedankenfragte Julius, während Aurore versuchte, ihren Hals genauso lang zu strecken wie die Schwänin, was zu ihrem Verdruss nicht klappte.
"Sie wohnt in Rumänien, da wo einst der berüchtigte Pfähler Vlad Dracul gewohnt hat. Nein, sie trinkt kein Menschenblut und mag sowohl die Sonne, als auch knoblauchhaltige Speisen. Mondpfad kommt aus der Ukraine. Beide haben Verwandte in dem Land, das sich USA nennt und in Sonnenuntergangsrichtung liegt."
"In Ordnung, Terminanfrage erhalten, Léto. Teile ihnen wenn du kannst mit, dass ich morgen zwischen elf Uhr und Mittagszeit in meinem Sprechzimmer bin!" gedankensprach Julius. "Danke dir!" erwiderte Léto auf gedanklichem Weg. "Sage deinen Töchtern bitte, noch ein wenig zurückzutreten, wenn sie sehen wollen wie ich wegfliege!"
"Rorie, Clari, ein paar Schritte nach hinten, die Melodie Blanche will wegfliegen!" rief Julius. Aurore und ihre drittjüngste Schwester gehorchten ohne Murren. Da breitete der majestätische Wasservogel die breiten Flügel aus und stieß sich ab. Mit schnellen kräftigen Flügelschlägen stieg er in die Höhe und nahm Kurs auf den Farbensee.
"Ui, wie schön das aussieht, wie die fliegt. Kommt die jetzt immer her?" wollte Aurore wissen. "Nein, die hat sich hier nur ausgeruht. Ich kenne die von verschiedenen Sachen, die ich für das Ministerium gemacht habe. Daher kenne ich sie und sie kennt mich", sagte Julius voll und ganz wahrheitsgemäß.
"Achso, die gehört dann den ganz schönen Frauen, die Maman Veelas nennt und die machen können, dass große Jungs und Männer ganz verträumt aussehen", sagte Aurore. Julius fand, dass er das so stehen lassen musste, wenn er sich nicht eine peinliche Pause leisten wollte.
"Und welche Botschaft brachte die Schwänin?" wollte Béatrice wissen, als Aurore, Clarimonde und die anderen wieder auf dem hauseigenen Spielplatz herumtobten. "Dass sich die Ältesten von ihnen darüber im klaren sind, dass Ladonna jetzt alle Veelas jagen und umbringen lassen möchte, weil die sicher mitgekriegt hat, wer ihr da so kräftig in den Kessel ... uriniert hat"", erwiderte Julius. "Stimmt, das mag keine Hexe, wenn ihr irgendwer in den Trankkessel uriniert", grinste Béatrice. "Aber du hast ja erwähnt, was Nathalie dir mitgegeben hat, dass auch dann alle deren Angehörige und Helfer gefährdet sind." Julius bejahte es. "Dennoch werde ich mich nicht davon abhalten lassen, jetzt wo wir einen Weg kennen, wie wir diesem Weibsbild die weitere Tour vermiesen können. Sie werden uns auf jeden Fall weiter unterstützen", sagte er noch.
"Und deshalb werden zwei ausländische Veelas zu dir nach Paris kommen?" fragte Béatrice. Julius bejahte es. "Hat Léto sie bei den betreffenden Abteilungen angemeldet? Nicht dass du deshalb schon Ärger kriegst, weil du zwei illegal eingereiste Veelas in deinem Amtszimmer empfängst." Julius verzog kurz das Gesicht. Dann mentiloquierte er Léto an und fragte diese. "Ach, ja, ihr braucht ja für alles Pergamente, wo draufsteht, dass ihr das machen dürft", schickte Léto zurück. "Welche Abteilungen sollen das noch mal sein?" Julius zählte auf: "Die Abteilung für magischen Personenverkehr wegen der An- und Abreise, dann die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, dazu noch die Abteilung für die Erfassung und Betreuung magischer Wesen, um einen Überblick über die gerade im Land befindlichen Zauberwesen zu haben. Kann ich auch alles machen."
"Ja, aber müssen diese Schriftstücke nicht auch von den Ministerien der Heimatländer verschickt werden?" wollte Léto wissen. Julius überlegte kurz und bejahte es dann, dass die Einreisenden auch Bestätigungen ihrer Ministerien vorweisen müssten, die Reise angetreten zu haben. Léto räumte ein, dass sie für die Hochzeit Fleurs und die Gabrielles keine solchen Formulare hatte ausfüllen müssen. Julius legte das so aus, dass die Betreffenden ja als Hexen und Zauberer geführt wurden, die nur eine Ein- und Abreiseanmeldung vorweisen mussten, die aber dann auch von ihrem Heimatland bestätigt wurde. "Dann geh davon aus, dass Goldregen und Mondpfad keine solche Ausreisebestätigung erhalten werden, da in ihren Heimatländern Veelas keine Rechte mehr haben. Also was machen wir?"
"Ich schicke den betreffenden Abteilungen, dass du für diese beiden sprichst und sie auf Grund der Verfolgung ihrer Art keine ministeriellen Genehmigungen mehr erhalten, ja sogar ihr Leben riskieren, wenn sie sich dem jeweiligen Zaubereiministerium anvertrauen. Außerdem argumentiere ich mit Gefahr im Verzug und dem Hinweis, dass deren Nachkommen nach internationalen Gesetzen als Hexen und Zauberer geführt werden und deshalb all die Rechtsgüter besitzen, die reinblütig menschlichen Hexen und Zauberern gewährt sind. Oha, das wird noch ein langer Abend."
"Was würde passieren, wenn die beiden als unerlaubt eingereist erkannt werden?" wollte Léto wissen. "Sie würden festgenommen, bestenfalls bis zu einer Anhörung vor einem sich für zuständig erklärendem Ausschuss inhaftiert, schlimmstenfalls in ihre Heimatländer abgeschoben, und zwar in die Verwahrung der jeweiligen Zaubereiministerien. Was das heißt ist dir sicher klar."
"Sie werden sich nicht verhaften lassen. Gut, Schicke deine Ankündigungen raus, Julius. So oder so werden die beiden dich morgen aufsuchen", gedankensprach Léto. Julius bestätigte das.
Da noch genug Zeit bis zum Essen war zog sich Julius in sein Arbeitszimmer zurück und füllte die vorsorglich hier aufbewahrten Formulare aus. Er trug auch ein, dass die beiden Veelas wegen ihrer Abstammung in ihren Heimatländern zu unerwünschten Wesen erklärt worden seien, was aus der hinlänglich bekannten Lage in diesen Heimatländern resultiere und keinerlei Anhaltspunkt für eine Gefährdung der französischen Zaubererweltbürgerinnenund -bürger darstelle. Diese Formulare kopierte er und trug in die Kopien noch die Zuständigkeit und die Begründung für die verkürzte Anmeldefrist ein. Er konnte sogar begründen, warum Gefahr im Verzug bestehe. Dann schickte er seine Schleiereule Francis los, alle drei Briefumschläge in das Hauptpostfach des Zaubereiministeriums einzuwerfen. Die bereits vierzehn Jahre alte Posteule schuhute und flog davon. Julius dachte, dass er weder mit seiner Schwiegertante Barbara, noch mit dem Leiter der Verkehrsabteilung probleme haben würde. Bei Chaudchamp aus der Abteilung für internationale Zusammenarbeit war er sich dagegen nicht sicher. Dennoch galt für ihn, dass er als Veelabeauftragter alles tun musste, um den Schutz und die Wahrung der hier in Frankreich und anderen Ländern geltenden Rechte dieser intelligenten Zauberwesen zu wahren, ja sogar gegen jede Form von Anfeindung zu verteidigen. Ja, und eine Verfolgung und Ermordung dieser Wesen war eine sehr unbestreitbare Anfeindung.
Beim Abendessen sprachen Aurore und Clarimonde vom großen Schwan und dass das ein ganz schöner Vogel war. Das brachte Julius darauf, den Kindern das Märchen vom hässlichen Entlein zu erzählen, das er bei seiner Tante Monica gehört hatte. Béatrice meinte dazu, dass es sich eben erst am Ende herausstellte, wie gut, schön oder stark jemand sein würde, auch wenn er oder sie als Kind klein, hässlich oder schwach war. Es käme halt auf die Umgebung an und wie das Kind behandelt werde.
"Ich bin aber nicht hässlich?" fragte Aurore. Darauf antwortete Julius: "Nein, bist du nicht. Aber das Entlein in der Geschichte wusste ja nicht, dass es eigentlich ein Schwanenküken war und kein Entenküken", sagte Julius. Béatrice nickte ihm zu und ergänzte: "Da hat jemand der Mutter Ente ein falsches Ei untergeschoben. Deshalb waren die alle so garstig zu dem fremden Kind, nur weil es nicht so aussah wie die anderen Entenkinder. Dumme Enten eben."
"Wie erwähnt machtt es nicht das Aussehen, sondern die Leute, mit denen wer zusammen groß wird, ob der oder die sich am Ende kleinund hässlich oder dazugehörig und geliebt fühlt", erwähnte Julius und dachte, dass für die Veelas alle Menschen irgendwie hässlich aussahen. Aber die Veelas waren ja auch über die Maßen von sich überzeugt, was dann zu sowas wie Ladonna Montefiori geführt hatte. Vielleicht lernten es die jüngeren Veelas, dass Aussehen und schöne Stimmen alleine keine wahre Schönheit sein mussten, wenn der Charakter abstoßend und gemein war. Doch hier beim Abendbrottisch wollte er das Thema nicht aufmachen, wo vielleicht nur Béatrice verstand, was er damit meinte.
Nach dem Abendessen half er Béatrice noch beim Abwasch und brachte die drei ganz kleinen zu Bett. Dann durfte er Clarimonde, Chrysope und Aurore noch Geschichten erzählen und mit einfachen Bildillusionen unterlegen. Danach trafen Béatrice und er sich wieder im Musikzimmer. Er sah ihr an, dass sie darüber nachgrübelte, ob sie sich nicht noch eine wilde Nacht mit ihrem Schwiegerneffenund dem Vater ihres wohl einzigen Kindes erlauben mochte. Julius überlegte auch, ob Millies Aufforderung auch für die zweite Nacht galt. Doch weil das Elternschlafzimmer fest verschlossen war und Millie noch immer fest schlief konnte er sie nicht fragen oder sich gar zu ihr selbst ins Bett legen.
Als es kurz vor elf war entschied sich Béatrice, es drauf ankommen zu lassen und fragte ihn, ob er heute Nacht wieder bei ihr liegen wollte. Julius nahm sich zwei Bedenksekunden. Dann stimmte er zu.
Als sie gegen ein Uhr müde Genug waren, um das breite Bett von Béatrice zum eigentlichen Zweck zu nutzen sagte sie zu ihm: "Nur wenn Millie fragt sage ihr, dass wir auch die zweite Nacht beieinandergelagert haben. Wird für sie sowieso nicht leicht sein."
"Du meinst, es ist ihr nicht leichtgefallen, uns das zu erlauben?" flüsterte Julius, obwohl die Schnarchfängervorhänge zugezogen waren. "Nein, ich denke, es fällt ihr nicht leicht, dass ich dich genauso gerne bei mir habe wie sie. Das müssenwir mit ihr besprechen, ohne Druck, ohne Zwang und ohne Voreinstellung. Also lass ihr bitte die Wahl, wann und wo und wie!" erwiderte Béatrice darauf. Dann kuschelte sie sich an ihn, als wäre sie seine angetraute Ehefrau. Er ließ es sich gefallen. "Ich habe den kleinen leisen Wecker auf halb sechs gestellt, früh genug, damit du noch nebenmir aufwachen kannst, ohne dass die Kinder mitkriegen, wo du geschlafen hast." Julius bedankte sich bei der, die seine Mitbewohnerin war. Doch wie sollte er sie bezeichnen? Geliebte, Gespielin, Zeitvertreib? Alles irgendwie abwertend, fand er. Die Mutter seines Sohnes, die Bewahrerin seines Seelen- und Ehefriedens. Ja, das klang schön und erhaben, würdig und vor allem zutreffend.
Irgendwo zwischen den Welten trafen sich Mutter und Tochter und sprachen miteinander. "Wie lange meinst du, dass das so gutgeht, Mutter?" fragte die Tochter die viele irdische Jahrtausende alte Mutter.
"Das geht solange gut, wie alle drei wissen, was sie von- und miteinander haben", sagte die Mutter zur Tochter. "Nur könnte es Béatrice irgendwann einfallen, dass sie gerne noch ein Kind von ihm bekommen möchte. Dann könnte es unangenehm werden."
"Für ihn ist es aber schon jetzt schwer, weil er beide gleichermaßen liebt und nicht weiß, ob er die Liebesnächte mit Béatrice nicht genausowichtig findet wie die mit Mildrid", sagte die Tochter zur Mutter.
"Ich verstehe genau was du meinst, Ammayamiria", sagte die Mutter zur Tochter. "Das lebensrufende Beilager kann für viele Menschen zum größten Streitthema werden oder auch zur alles verbindenden Gemeinsamkeit. Er hat gelernt, dass er nur mit der Frau das Lager teilen und neues Leben mit ihr zeugen darf, die ihm ordentlich anvertraut ist. Für Mildrid gilt, dass nur sie die Mutter seiner Kinder werden möchte. Ja, und wir hatten das Gespräch schon, warum ich sie beide dazu drängen musste, davon abzuweichen, weil diese Mondanbeterinnen sie beide derartig festgelegt haben. Deshalb ist es ja auch für mich wichtig, wie diese Geschichte weitergeht, vor allem, dass sein Sohn und Erbe nicht zwischen Streit und Verachtung seiner Eltern hin- und hergerissen wird. Doch wir beide sollten ihnen die Fähigkeit zuerkennen, das zu erkennen und zu verhüten", sagte die Mutter zur Tochter.
"Denkst du, sie werden Ladonnas Irrweg beenden, ohne sie töten oder wieder in tiefen Schlaf versenken zu müssen, Mutter?" fragte die Tochter. Ihre Mutter antwortete: "Dies setzt voraus, dass Ladonna ihren Weg als einen Irrweg erkennt und noch die Möglichkeit hat, von ihm herunter und auf einen für alle und sich selbst erträglichen Weg überzuwechseln. Jedenfalls gilt es jetzt, dass ein großer, blutiger Krieg verhindert wird."
"Und wenn Ladonna doch siegt und sich die ganze Welt unterwirft?" fragte die Tochter ihre Mutter. Diese erwiderte: "Bei allen Fehlern, die aus Gier und Geltungssucht begangen werden und dem Irrglauben, jedes Jahr noch mehr als im Vorjahr zur Verfügung zu haben, wo die große Mutter Erde nur endliche Quellen und Schätze birgt, würde der Versuch, die auf immer mehr Gewinn versessenen mit Gewalt und / oder Magie aufzuhalten mehrere verfeindete Lager in beiden Welten erschaffen, jene die die hohen Kräfte als göttlliche Rettung feiern und mit ihnen alles von ihnen selbst geschaffene Übel aus der Welt tilgen, jenen, die weiterhin alle Magie für das Werk des Weltenvernichters und Menschenverführers halten und sie deshalb ablehnen, so wie es ja auch Glaubensgruppen gibt, die die Maschinen und von Elektrizität getriebenen Vorrichtungen und Nachrichtenübermittlungsgeräte ablehnen, die dann gegen die Befürworter der Magie Krieg führen, dann jene, die ihren Gewinnwahn nicht als Irrweg, sondern als ihren einzig wahrenLebenszzweck ansehen und deshalb alles bekämpfen, was ihre bisherige Lebensweise verändern will. Tja, und bei denen, die die hohen Kräfte Nutzen würde der Unmut laut, alle Fehler der magieunkundigen beheben zu müssen und somit deren bessere Hauselfen zu sein, was denen bestimmt gegenihren eigenen Stolz geht und sie daher dann eher dazu neigen, alle magieunkundigen Menschen selbst zu niederen Knechten zu machen, ganz wie Ladonna Montefiori es beabsichtigt. Im Augenblick ist sie alleine. Doch wenn die Frage aufkommt, ob nicht doch zur Rettung der großen Mutter Erde alles nichtmagische Menschenwerk durch Zauberwerk ersetzt wird, werden wahnhafte Geister wie Sardonia, Grindelwald, Riddle, Wallenkron und Ladonna Montefiori das Vermächtnis des finsteren Königs antreten und die Welt in die völlige Vernichtung führen. Jene, die ohne Magie zu leben gelernt haben werden dadurch nichts aus den Fehlern ihrer Voreltern und der des eigenen lebenden Geschlechtes lernen, aber miterleben, wie die Welt vernichtet wird. Der große Krieg, der meine Voreltern vernichtet und der Erde ein Stück aus ihrem Gesicht gerissen hat ist eine Warnung, die alle Zauberkundigen beachten müssen."
"Ja, aber wenn die Nichtmagier die Welt ohne die Zauberkundigen an den Rand der Vernichtung treiben, Mutter, was dann?"
"Dann werden sich die Zauberkundigen wohl wehren. Das ist der Drang zum Überleben. Entweder erleben wir dann eine Zeit der totalen Unterdrückung oder die völlige Ausrottung der Menschheit. Spätestens dann werden wir erfahren, wie unwichtig oder wichtig wir alle waren, die auf der Erde lebenden, die noch ungezeugten oder wir, die Vorausgegangenen", antwortete die Mutter. Sie klang nicht besorgt oder gar verbittert. Sie fürchtete nicht das endgültige Erlöschen, sondern sorgte sich nur um jene, die ihren Schutz genossen und in ihrem Geiste weiterwirkten.
Ich hoffe, wir erleben es noch mit, dass Julius' Ururenkel auf einer friedlich geeinten, im Gleichgewicht befindlichen Welt wohnen dürfen", sagte die Tochter. Sie hoffte natürlich auch, dass es dann noch genug Menschen gab, die sich ihrer erinnern konnten, damit sie weiterhin mitverfolgen konnte, was auf der Erde vorging. Weil ihre Mutter dies wusste und auch genauso dachte brauchte sie das nicht für sie vernehmbar zu äußern.
Die diensthabenden Heiler im Haus der heilsamen Kräfte im Wallis sahen immer wieder nach den zwischen Leben und Tod verharrenden Patienten aus Genf. Der Lebenszeichenanzeigezauber verdeutlichte zwar, dass die Betroffenen noch lebten. Doch deren Lebenszeichen waren schwach und stark verlangsamt, bis auf die Gehirntätigkeit. Es war, als würden sie träumen, ohne daraus zu erwachen. Die auf die Geistes- und Seelenbehandlung spezialisierten Kollegen versuchten, mit einem Seelenlotungsstein die Belastung der im ohnmächtigen Körper gefangenen Seele zu ermitteln. Doch die linsenförmigen Lotungssteine prallten nur einen Millimeter vor der berührung der Stirn auf einen unsichtbaren Widerstand und brummten wie in einer Phiole gefangene Hummeln. In den Patienten schien eine starke Kraft zu wirken, die jede von außen kommende Kraft zurückdrängte.
In nur noch zehn Stunden wollte Zunftsprecher Wiesengrün beschließen, ob weitere einschneidende Heilzauber versucht werden sollten.
Léto hatte sämtliche Nachkommen und Kindeskinder angesungen, um mit ihnen weitere Reinigungslichter herzustellen. Auch in den anderen Ländern, wo Veelastämmige wohnten würden die ältesten Weiblichen mit ihren Nachkommen und deren Nachkommen solche Kerzen herstellen. Jetzt wussten sie ja, wie Ladonna es angestellt hatte. Das eine Reinigungslicht musste seine Wirkung gehabt haben. Denn Laure-Rose Montété, die über Bilder aus der Schwiegerverwandtschaft mit Familien in der französischsprachigen Schweiz in Verbindung stand, hatte was von vielen in das Haus der heilsamen Kräfte eingelieferten Hexen und Zauberern erzählt, die besinnungslos waren und die aus sich heraus alle die zurückwiesen, die noch unter dem bösen Einfluss der von Waldfrauenblut verdorbenen Nachfahrin Nachtlieds standen.
"Ich weiß, es ist anstrengend. Aber nun geht es um unser aller Überleben. Selbst die spanische Kratzbürste sieht ein, dass wir uns wehren müssen. Je früher wir weitere Gefangene der Mischblütigen aus ihrem Einfluss lösen, desto sicherer können wir Kinder Mokushas weiterleben, ja können sogar auf Dankbarkeit und mehr Anerkennung hoffen", sagte Léto zu ihren Töchtern. Wichtig war es, dass immer vier verschiedene aus Wachs, unter dem Gesang des Heils und der Seelenfreiheit gespendetem Blut und eigenen Haaren geformte Kerzen drehten. Dabei mussten sie daran denken, jemanden aus rotglühenden Fesseln zu lösen und mit golden schimmerndem Wasser zu benetzen. Damit konnten Veelas viele den Körper und die Seele betreffenden Flüche aus einem Volksangehörigen oder einem kurzlebigen Menschen herausspülen. Das einzig unsichere dabei war die Folge der Reinigung. Mal konnten die damit behandelten unmittelbar danach freiund unbeschwert weiterleben und blieben einen vollen Sonnenkreis lang gegen den sie peinigenden oder fesselnden Zauber gefeit. Mal war die magische Beeinträchtigung so stark, dass nach der Reinigung Stunden oder Tage vergingen, bis die Behandelten frei und unbeschwert weiterleben konnten. Aber auch dann blieben sie einen vollen Sonnenkreis lang vor neuerlicher Verwünschung gefeit. Auch hieß es in den Geboten des Heils und des Schutzes, dass es auch wichtig war, wielange die zu tilgende böse Kraft bereits in dem zu rettenden wirken konnte. Ebenso konnte das Reinigungslicht, das auch als goldene Glut des reinen Lebens bezeichnet wurde, vorbeugend gegen dauerhafte Beeinträchtigungen von Körper und / oder Seele wirken.
Doch zunächst galt es, die bereits verwünschten und an Ladonnas Willen gefesselten Zauberstabträger zu befreien und ihnen die Möglichkeit zurückzugeben, aus eigenem Willen Entscheidungen zu treffen. Sie hatten keine Garantie, dass die Befreiten sich dafür auch bedankten oder auf irgendeine Weise erkenntlich zeigten. Das war genau der Punkt, an dem die Beratung des Ältestenrates fast einen Achteltag gedauert hatte, ob bei dieser unsicheren Lage diese Mühe aufgewendet werden sollte oder ob für diese Hilfe eine klare Gegenleistung eingefordert werden sollte. Schließlich hatten sich Himmelsglanz und Sommerwind mit ihrer Ansicht durchgesetzt, dass unerbetene Hilfe nicht in Rechnung gestellt werden durfte und sie ja nur von den Franzosen, die selbst noch unbelastet waren, um Hilfe für die anderen gebeten worden waren, diese aber aus den bekannten Gründen diese Hilfe nicht haben wollten.
Während der Mond auf die unter freiem Himmel in einem Wald der Bretagne werkelnden Veelas herabschien entstanden die Kerzen fünf und sechs. Wem die sechs neuen Kerzen und die bereits hergestellten vier großen Kerzen zugedacht wurden mussten die Kinder Mokushas mit den Zauberstabnutzenden besprechen. Vielleicht ging eine der großen Kerzen nach Italien, vielleicht auch über das Meer in Sonnenuntergangsrichtung. Wichtig war, dass das Reinigungslicht möglichst viele, bestenfalls alle von Ladonna verwünschten erleuchtete und durchdrang. Nur für einen oder zwei Betroffenen war es in der Herstellung zu aufwendig.
Die vierergruppen aus Létos Blutsverwandtschaft sangen und formten. Wenn die Reinigungskerzen fertig waren sollten sie noch vom Licht der lebensspendenden Sonne berührt und mit den letzten Worten des heilenden Feuers besungen werden. Ladonna hatte die dunkle Umkehrung benutzt, das verschlingende Feuer, gemischt mit ihren Vorstellungen, wie dieser Zauber sich äußerte. Überhaupt war nun klar, wie viele Zauber der Veelas Ladonna gelernt hatte. Doch sie mochte auch die unterwerfenden Kräfte einer grünen Waldfrau mit in ihre bösartigen Gegenstände eingewirkt haben.
Der Morgen graute bereits, als die siebte, eine mittelgroße Kerze fertig war. Léto sang eine Botschaft an die ihr nächste Älteste, die mit ihrer Verwandtschaft ebenfalls an weiteren Kerzen der goldenen Glut arbeitete.
"Wir haben schon fünf große Kerzen", bekam sie wenige Dutzend Atemzüge später zur Antwort. Also gab es nun elf verschieden große neue Kerzen, elf Lichter der Hoffnung und der Befreiung, wenn sicher war, dass sie auch so wirkten wie sie sollten.
Der 17. Mai 2006 begann für Julius schon um halb sechs. Er fühlte sich noch ein wenig müde, weil es so spät und so wild gewesen war. Doch er wollte seinen Kindern keinen Grund für merkwürdige Gedanken liefern. Ihm war nur wichtig, dass er neben Béatrice aufwachte und somit die gemeinsame Nacht ordentlich beendete. Wie oft hatte er davon gehört, dass der eine oder die andere einfach abgehauen war, während der oder die andere noch schlief? Außerdem wusste er als nun noch 99,99 Prozent treuer Ehemann, wie erhaben und beruhigend es sein konnte, neben einem geliebten Menschen einzuschlafen und wieder aufzuwachen, wissend, nicht allein zu sein und für jemanden da zu sein.
Da Félix wohl in der Nacht die nicht für eine Woche haltenden Windeln vollgemacht hatte übernahm er es, ihn zu baden und trockenzulegen. "Bis du so viele Jahre alt bist zeige ich dir, wie du das Stinkzeug loswerden kannst, ohne es dauernd in der Hose rumzutragen", versprach Julius seinem Sohn und zeigte ihm zwei Finger. Félix lächelte ihn an. Was für eine Macht war das Lächeln eines Kindes, dachte Julius.
Offiziell kam er bei der Musik von Béatrices Glasharfenwecker aus dem Gästezimmer heraus und wollte zum Bad, als er den nach dem Aufstehen wieder angelegten Herzanhänger pulsieren fühlte. Das hieß, dass Millie ihren Anhänger wieder umgehängt hatte. Doch er wollte seiner Frau nicht mit verwuscheltem Haar und Spuren von Béatrices Hautcreme auf dem Körper entgegentreten. Was für eine merkwürdige Begrüßung mochte das sein? Also ging er zuerst ins Badezimmer.
"Als er sich in der Badewanne abduschte hörte er Millies Gedankenstimme: "Guten Morgen Süßer. Wenn du fertig geduscht hast lass mir bitte Badewasser ein. Ich glaube, ich habe es nötig."
Julius mentiloquierte unter dem wohlig warmen Wasserstrahl zurück: "Guten Morgen, Dornröschen. Ich dachte, ich hätte dich erst wachküssen dürfen"
"Kannst du gerne machen. Aber denke daran, dass deine Feuerprinzessin zwei kleine Prinzessinnen hat, die gerne wissen möchten, was mit ihrer Maman ist", gedankensprach Millie.
Julius beeilte sich und machte sogar noch mit einem Trocknungszauber die beim Aussteigen aus der Wanne hinterlassenen Wasserpfützen weg. Tadellos gekleidet betrat er das Elternschlafzimmer und beugte sich über seine auf dem Rücken liegende Frau und strich ihr vorsichtig das Haar aus dem Gesicht. Sie hatte ihre augen wieder geschlossen, als schliefe sie. Julius küsste Millie ohne Anflug des schlechten Gewissens, dass er vor nicht einmal fünf Stunden Béatrice so leidenschaftlich geküsst hatte. Sie schlug die Augen auf und räkelte sich. "Oh, ist es schon wieder morgen", grummelte sie. Dann lächelte sie ihren Mann an. "Schön, dass du immer noch bei mir bist."
"Ja, ich bin immer noch bei dir", sagte Julius. "Hast du mir Badewasser einlaufen lassen?" fragte sie. Julius bejahte es. "Dann mach ich mir mal einen angenehmen Morgen. Wenn die beiden Kleinen wach werden zeige ihnen, dass es mich noch gibt!"
"Kein Problem", erwiderte Julius.
Während Millie sich ein heißes Bad gönnte bereiteten Béatrice, Aurore und Julius das Frühstück vor. Julius fragte sich, wielange diese Hilfsbereitschaft seiner großen Tochter anhalten würde. Er konnte sich zumindest an heftige Diskussionen mit seiner Mutter erinnern, wenn sie mal wieder wollte, dass er den Tisch deckte oder ihr beim Spülen half, wo er gerade was spannendes auf dem Gameboy spielte und kurz davorgestanden hatte, das nächste level zu erreichen.
Nachdem auch Millie gereinigt und gestriegelt in die langsam zu klein werdende Wohnküche kam freuten sich alle kleineren Hausbewohnerinnen und der kleine Mitbewohner. Klar, für die ganz kleinen waren Béatrice, Millie und Julius alle Eltern. Fehlte da einer war das nicht in Ordnung.
Während des Frühstücks lasen sich die großen gegenseitig Artikel aus der Temps und dem Miroir Magique vor. Über die anders abgelaufene Konferenz der IZKF stand da nichts. Also hielt sich Madame Duvent an die Absprache, erst einmal abzuwarten, was das Ministerium freigab und was nicht. Das kam bei Reportern selten vor. Womöglich wolte sie nur nicht diejenige sein, die den schlafenden Drachen wachkitzelte.
"Ich gehe dann heute wieder ins Büro. Da ich ja nicht mitgereist bin fällt es ja nicht weiter auf", sagte Julius. Millie bejahte es.
Um halb neun saß Julius an seinem Schreibtisch. Dort las er die am frühen Morgen eingegangene Eulenpost. Apolline Delacour hatte im Auftrag ihrer Mutter die schriftliche Bestätigung versandt, dass sie zwei Mitglieder aus dem Ältestenrat der Veelas für eine Besprechung eingeladen habe, die am 17. Mai im Büro des Veelabeauftragten stattfinden sollte. Außerdem fand er eine Bestätigung von Monsieur Delacour, dass er die Anmeldung zweier ausländischer Veelas zur Kenntnis nahm. Von Chaudchamps Abteilung fand er keine Bestätigung vor. So konnte Julius nur die eingegangenen Mitteilungen bestätigen. Außerdem hatte er noch einige Dokumente auszufüllen und an die betreffenden Stellen zu schicken, bevor er um neun Uhr im Rechnerraum war, wo sie ihn alle freudig begrüßten. Das lag vor allem daran, dass Martha Merryweather neue Arkanetunterprogramme verschickt hatte, die nur mit der entsprechenden Autorisierung installiert und mit den richtigen Kenntnissen konfiguriert werden konnten. Das besorgte er dann als Systemadministrator und schickte dann auch gleich eine E-Mail nach Übersee, um die Lage dort zu erfragen. So erfuhr er, dass Sheena O'Hoolihan mit Chrysope Honyfield gesprochen hatte, dass die fünfzig Veelastämmigen der USA ungern ihre Heimat verlassen würden, aber erkannten, dass sie dort dann wohl nicht mehr lange am Leben bleiben mochten. So verpasste er fast den zehn-Uhr-Termin im kleinen Konferenzraum.
Nathalie Grandchapeau freute sich, ihn nach den Tagen der von ihr verordneten Heimarbeit wiederzusehen. Er lieferte den von ihr bestellten Bericht ab und erwähnte auch, dass die Veelastämmigen in den USA sich darauf einrichteten, möglichst rasch das Land zu verlassen."Na,ob Monsieur Chaudchamp uns da nicht wieder Einmischung in seinen Zuständigkeitsbereich vorwirft?" wollte Rose Devereaux wissen. Julius sah Nathalie an. Die erwiderte darauf: "Nun, das mit den Veelastämmigen fällt in Monsieur Latierres Zuständigkeitsbereich, auch wenn er offiziell der Vermittler zwischen uns Zauberstabnutzenden und den Veelas in Europa ist. Aber wenn ich das richtig in Erinnerung habe gilt ein Antrag Madame Létos, sich auch um die Unversehrtheit der in Übersee lebenden Veelastämmigen zu kümmern, nicht wahr?" Julius bejahte das. "Außerdem hat er die schnellstmögliche Verbindung benutzt, die wir im Ministerium haben, und das ist nun einmal die über die mit Sonnenlichtkraft betriebenen Rechner. Daher geht es uns hier im Büro für friedliche Koexistenz etwas an, was er damit ausführt."
"Ich fragte es nur für das Protokoll", erwiderte Rose Devereaux. Doch ob ihr verschmitztes Grinsen mitprotokolliert werden würde wagte Julius nicht zu fragen.
Nathalie griff das Thema Chaudchamp auf, um dessen Anliegen zu erwähnen. Sie fragte dann in die Runde: "Wer ganz ehrlicher Meinung ist, wir würden eine friedliche und in Freiheit stattfindende Zukunft haben, sobald ich mein Amt niederlege möge dies bitte hier und jetzt kundtun, sofern auch alle hier wissen, was wir gegenwärtig zu befürchten haben."
Primula Arno wagte es, das Wort zu ergreifen. "Madame Grandchapeau, ich erkenne Monsieur Chaudchamps Besorgnis. Doch nur ein Flubberwurm kann sich vor einer Gefahr zusammenrollen oder sich im Boden verkriechen. Wir können das nicht. Außerdem bekomme ich über den Zwergenverbindungsbürokollegen mit, dass die Kinder Durins sehr kleinlaut geworden sind, seitdem in Italien die magische Todesgrenze wieder entfernt wurde. Die wollen es nicht erzählen, was denen da passiert ist. Aber im wesentlichen sind sie froh, dass wir sie hier leben lassen. Deshalb glaube ich nicht an eine bessere Zukunft, wenn Sie Chaudchamps Aufforderung nachkommen."
"Gibt es denn konkrete Ankündigungen, warum es nötig sein soll, dass Sie und wohl auch Madame Belle Grandchapeau ihre Ämter niederlegen sollen?" wollte Lepont wissen. "Nur den, dass da jemand ist, der oder besser die eine Veelazauberallergie hat und zu gerne bei uns vorbeisehen und ein paar rote Rosen verstreuen möchte, wenn sicher ist, dass weder die Ministerin, noch Madame Belle Grandchapeau noch ich in der Wurfbahn der Blumengrüße herumstehen", erwiderte Nathalie knochentrocken. Das kam bei allen an. Darum fragte Rose Devereaux: "Öhm, in dem Zusammenhang, haben Sie schon was von Madame Grandchapeau der jüngeren gehört, ob bei der Konferenz in Genf so ein Blumenstrauß aufgetaucht ist?"
"Da die Konferenz nicht in unser Ressort fällt müssten Sie einen Antrag auf Auskunftserteilungserlaubnis an Monsieur Chaudchamps Büro senden und begründen, warum Sie die Erlaubnis zur Erteilung einer Auskunft aus seinem Büro beantragen, Mademoiselle Devereaux."
"Wie .. öhm ... Danke für den rechtlichen Hinweis, Madame Grandchapeau", erwiderte Rose Devereaux. Julius kapierte es, dass dann auch er nichts aber echt nichts über Belles Dienstreise nach Genf rauslassen durfte.
Jedenfalls war niemand in dieser Runde der Ansicht, dass Nathalie Grandchapeau und alle anderen von Veelazaubern belegten gehen sollten. Im Gegenteil, sie erkannten, dass Frankreichs magische Gemeinschaft nur deshalb noch von Ladonnas Machtstreben unbehelligt blieb, weil die Ministerin eben gegen fremde Veelazauber immun war.
Julius bat ums Wort und erwähnte dann, dass Ladonna sich von ihr unbezauberte Helfer sichern konnte, die damit beauftragt werden mochten, die ihr lästigen Personen umzubringen, um einem nicht von Veelakraft bezauberten Zaubereiminister den Weg freizumachen. Er erwähnte die Machenschaften Vengors alias Wallenkron und dessen Vorbild, dessen Namen auch nach acht Jahren noch nicht jeder unbefangen aussprechen wollte.
"Ich weiß, dass ich da gerade einen großen Drachen Rufe, Madame Grandchapeau und die anderen Damenund Herren. Doch ich will das nicht noch einmal erleben, dass was passiert, von dem ich mir vorher sicher warr, dass es passieren könnte. Damals ging es um Verschwindeschränke, von denen einer in Hogwarts stand und ich dem damaligen Schulleiter schrieb, dass dadurch unerwünschte Besucher zu ihm und den anderen kommen könnten. Der meinte, dass das Ding doch eh kaputt sei und deshalb nicht funktionieren würde. Das sollte mich wohl beruhigen. Daran, dass das Ding jemand reparieren könnte wollte er wohl nicht denken oder hat es einfach hingenommen, um seine Schüler zu schützen. Da ging es auch um einen Auftragsmord, die Damen und Herren."
"Die Möglichkeit wurde bereits von den fraglichen Personen erfasst und die Sicherheitsstandards erhöht, Monsieur Latierre. Ebenso müssen Sie sich ja gefährdet fühlen, weil Sie ja das gute Verhältnis mit den Veelas und Veelastämmigen aufrechterhalten, nicht wahr?"
"Ich habe mir schon entsprechende Schutzkleidung von der in Millemerveilles ansässigen Madame Arachne schneidern lassen", sagte Julius. "Des weiteren werde ich bei Außeneinsätzen einen Frühwarner und einen Notfallschlüssel bei mir tragen. Weitere Maßnahmen unterliegen einer höheren Geheimstufe", sagte Julius. Er wollte denen hier nicht aufs Brot schmieren, dass er sich schon mit Florymont Dusoleil und seinem Schwiegeronkel Otto über weitere Schutzmaßnahmen wie unsichtbare Überwachungsdrohnen unterhielt. Einen großen Schwarm von Leibwächtern wollte er nach Möglichkeit vermeiden.
"Gut, was meinen Schutz und den der anderen erwähnten Damen angeht muss ich mich auch nicht weiter verbreiten", sagte Nathalie Grandchapeau. "Aber es ist wichtig, dass diese Möglichkeit zur Sprache gebracht wurde, Monsieur Latierre und die Mesdemoiselles et Messieurs."
Die restlichen Themen betrafen nur Verwaltungsangelegenheiten mit den Verwandten von Zaubererweltbürgern mit nichtmagischer Verwandtschaft. Vor allem ging es darum, die Listen neuer Schülerinnen und Schüler für Beauxbatons mit der Ausbildungsabteilung abzustimmen und Madame Faucon und Professeur Fixus zukommen zu lassen. Es konnte Julius auch passieren, dass er die Listen nach Beauxbatons bringen durfte, statt einfach nur eine Eule zu versenden. Vielleicht genügte es aber auch, nach Schuljahresende mit der Schulleiterin in Millemerveilles selbst zusammenzutreffen. Davor gab es ja noch die erste und zweite Zwischenprüfung, die für die hier anwesenden nicht wichtig war, da dies Sache der Ausbildungsabteilung war.
Um kurz vor elf kehrte Julius in sein eigenes Büro zurück. Er spürte bereits auf dem Weg dahin die Präsenz dreier reinrassiger Veelas, eines Männlichen und zweier Weiblichen. So war er ganz und gar nicht überrascht, als er vor seinem Büro neben Léto eine äußerlich gerade vierzig Jahre alt wirkende Frau mit hüftlangen, goldblonden Haaren und einen schlanken, aber mit genug Arm- und Beinmuskeln begüterten Mann mit schulterlangem dunkelblondem Haar traf. Léto trug ihr hellblaues Kleid, das mit ihrer Augenfarbe harmonierte. Die andere Weibliche trug ein wadenlanges, bernsteingelbes Kleid mit Stehkragen und rubinrote Schuhe mit Absätzen. . Der männliche Besucher trug einen altmodisch wirkenden mitternachtsblauen Frack über einem blütenweißen Hemd, eine dunkelgraue Hose und schwarze Lackschuhe.
"Guten Morgen, die Damen und der Herr. Ich bin sogleich für sie da", sagte Julius auf Französisch. Immerhin kannte er die beiden ja von den beiden Treffen des Ältestenrates, denen er beiwohnen durfte.
Um einen klaren Kopf zu behalten wendete er das Lied des inneren Friedens an. Denn die goldblonde Veela versuchte es echt, ihn mit ihrer besonderen Ausstrahlung zu benebeln. Als sie merkte, dass er sich auch gegen sie abschotten konnte verzog sie erst das Gesicht und nickte dann anerkennend.
Im Büro bot er den dreien die besten Besucherstühle an, die er hier stehen hatte. Dann bat er darum, dass sie ihre Anliegen vorbrachten.
Léto sagte höchst offiziell, dass ihre beiden Begleiter Goldregen und Mondpfad sie darum gebeten hätten, den Vermittler zwischen Menschen und Veelas zu bitten, mit ihnen über ihre Verwandten auf dem amerikanischen Kontinent zu sprechen und sie sie als hier lebende Angehörige der Veelas begleite, um der Angelegenheit die nötige Rechtfertigung zu verschaffen. Dann übergab sie das Wort an die beiden Veelas in ihrer Begleitung.
"Wir sind uns ja bei Ihrer Auswahlprüfung als unser Vermittler begegnet", setzte die Goldblonde namens Goldregen an. Sie sprach ein lupenreines Französisch. Mondpfad, ihr Begleiter, ließ doch einen gewissen osteuropäischen Akzent durchklingen, als er erwähnte, dass er sich sorgen um seine Enkeltochter Ophelia Longfellow mache, die seit einhundertfünfzig Jahren in den USA lebe, weil ihr damaliger Ehemann unbedingt dort nach Gold suchen wollte. Sie habe mit ihm fünfzig Jahre in der neuen Siedlung Viento del Sol gewohnt und sei nach dessen Tod vor hundert Jahren mit einem Jüngling von dort nach New York umgezogen, wo sie seines Wissens nach mehrfache Mutter und Großmutter geworden sei. Sie sei somit die Stammmutter von gegenwärtig neunundzwanzig Veelastämmigen, die über die USA verteilt wohnten. Goldregen erwähnte, dass ihre Enkeltochter Chrysope Honeyfield seit ähnlich langer Zeit in New Mexico wohne und vier Kinder und fünfzehn Enkelkinder hervorgebracht habe, die ebenfalls über die ganzen Staaten verteilt lebten. "Ja, und vor fünf Jahren hat einer meiner Ururenkel eine von Mondpfads Ururenkeltöchtern geheiratet. Damit haben wir beide nicht mehr gerechnet", sagte Goldregen lächelnd. Mondpfad nickte und fügte dem hinzu: "Hat sich meine kleine Vassjlissa geangelt einen sehr schenen Burschen mit große Zaubertalent und ganz berihmte Stammbaum."
"Das freut mich für Sie beide. Doch ich fürchte, die Freude könnte getrübt werden. Richtig?" Die beiden nickten Julius zu. Dann stellten sie offiziell den Antrag, dass er als europäischer Veelabeauftragter dafür sorgte, dass die erwähnten Veelastämmigen bei Anzeichen einer tödlichen Bedrohung durch die amerikanische Zaubereiverwaltung nach Europa, bestenfalls nach Frankreich übersiedeln könnten. Das hielt Julius dann auch schriftlich fest. Er belehrte die beiden, dass sie dafür Léto alias Himmelsglanz bevollmächtigen müssten, in ihrem Sinne zu verhandeln, da sie nun einmal nicht auf französischem Hoheitsgebiet lebten. Auch das sahen die beiden ein. Julius erkannte, dass sie sehr um ihre Angehörigen besorgt waren. Da könnte er denen sogar vormachen, er müsse für jedes gerettete Familienmitglied eine Schutzgebühr von tausend Galleonen eintreiben. Diese Unverfrorenheit leistete er sich dann doch nicht. ER war ja auch froh, wenn er helfen konnte. Er ließ die beiden noch die entsprechenden Einreiseformulare unterschreiben und sich von Léto bestätigen, dass sie von den beiden als Beauftragte erwählt worden sei. Damit war Julius nun amtlicher Beauftragter für die Rettung von Verfolgung und Tod betroffener Veelastämmiger auf dem Boden der USA. Damit konnte er beim Laveau-Institut vorsprechen und mit denen die Einzelheiten durchgehen. Denn bei der Föderationsregierung musste er erst gar nicht anklopfen.
Gerade wollten sich Goldregen und Mondpfad verabschieden, als es heftig an der Tür klopfte. Julius fragte, wer vor der Tür stand. "Monsieur Chaudchamp hier, Monsieur Latierre. Lassen Sie mich umgehend eintreten!" Julius hörte dem Kollegen aus der Abteilung für internationale Zusammenarbeit an, dass er keinen Höflichkeits- oder gar Freundschaftsbesuch machen wolle. Léto spannte sich an. Julius rief: "Ich bin noch in einem Gespräch. Danach habe ich für Sie Zeit, Monsieur Chaudchamp!"
"Genau darum geht's, sofort einlassen, oder ich rufe den internen Sicherheitsdienst!" entgegnete Chaudchamp mit unmissverständlicher Drohung. Julius sah die drei Veelas an. Mondpfad straffte sich, während Goldregen und Léto nach kurzer Anspannung sehr entspannt wirkten, ja richtig überlegen dreinschauten. Julius nahm dies als Warnung, besser das Lied des inneren Friedens zu verstärken. Dann rief er: "Kommen Sie bitte herein, Monsieur Chaudchamp."
Die Tür flog förmlich auf, und ein sehr ungehalten dreinschauender Monsieur Chaudchamp trat ein. Doch als er die zwei weiblichen Veelas ansah verklärte sich sein Gesicht. Julius fühlte die Wirkung der besonderen Aura, die Veelas verbreiten konnten, wenn sie andersgeschlechtliche Menschen betören wollten. So wunderte es ihn nicht, dass der gerade noch wutentbrannte Kollege gerade wie in einem Glücksdrogenrausch lächelte. Julius musste ihn förmlich auffordern, die Tür von innen zu schließen und sich hinzusetzen. Er überlegte gerade noch, ob er Léto und Goldregen untersagen musste, einen anderen Menschen derartig zu benebeln. Doch er wusste, dass die zwei ihm da nicht folgen würden. So setzte sich Chaudchamp und sagte: "Ich wollte nur sagen, dass ich eine Beschwerde aus der Ukraine und Rumänien erhalten habe, ich würde schwerkriminellen Individuen aus ihren Ländern Unterschlupf gewähren. Aber die haben mir nicht erzählt, was die beiden angestellt haben sollen und auch keinen Haftbefehl mitgeschickt."
"So, wer hat den betreffenden Ministern denn erzählt, dass hier zwei Herrschaften aus deren Zuständigkeitsbereich sind?" fragte Julius, während Léto und Goldregen sich bei den Händen hielten, wohl um ihre Einzelpräsenzen zu verschmelzen. Julius fühlte, dass trotz des Liedes des inneren Friedens sein Körper auf diese ihn ebenso durchdringende Kraft reagierte. Noch mehr betraf es Gustave Chaudchamp, der völlig betört auf dem Stuhl saß.
"Das war mein Untersekkretär für Osteuropa, als ihm gestern abend noch Ihre Anmeldung zweier Besucher zuging. Ich habe ihm gesagt, die betreffenden Behörden zu fragen, ob wirklich Gefahr im Verzug gegeben sei, weil Veelas neuerdings als verfolgte Zauberwesenart gelten. Vor einer Stunde kam dann aus Kiew und aus Bukarest eine sehr lautstarke Beschwerde, dass wir kriminellen Elementen die Flucht ermöglicht hätten und uns wider alle internationalen Abkommen in deren innere Angelegenheiten einmischen würden. Offenbar haben die beiden Herrschaften da was angestellt, was den Kollegen in der Ukraine und Rumänien sehr missfällt. Ja, und Sie wissen doch, dass wir uns nicht in ausländische Angelegenheiten einmischen dürfen, oder?" Julius nickte, fügte aber gleich hinzu: "Wenn die Kollegen in Kiew und Bukarest keine klare Anschuldigung vorgelegt haben ist das nur eine unklare Behauptung, weshalb es auch keine unmittelbare Einmischung in innere Angelegenheiten derer Ministerien gibt. Die Dame neben Madame Léto und ihr Begleiter haben mich als offizieller Vermittler zwischen Menschen und Veelas und deren Nachkommen aufgesucht, um mir ihre berechtigte Besorgnis mitzuteilen, dass ihre Verwandten in außereuropäischen Ländern gezwungen sein könnten, ihre Heimat zu verlassen, weil sie dort nicht länger geduldet würden und ob es möglich sei, ihnen bei möglichen Asylanträgen innerhalb Europas im allgemeinen und unserem Land Frankreich im besonderen helfen zu können. Dies konnte ich zuversichtlich bejahen. Können Sie das auch?"
"Monsieur Latierre, Sie wissen ... Wir haben keinen Beweis, dass diesen Herrschaften in ihrer Heimat oder deren Verwandtschaft in Übersee Verfolgung oder gar der gewaltsame Tod droht. Deshalb kann ich da nichts machen", sagte Chaudchamp. Léto und Goldregen strahlten ihn an. Gustave Chaudchamp sagte mit weltentrückter Stimme: "Das Ministerium kann da nichts machen, und wir dürfen uns auch nicht mit anderen Ministerien überwerfen, weil wir dann selbst keine internationalen Rechte mehr geltend machen können. Verstehen Sie. Ich darf da nicht einbezogen werden, um nicht im Sinne unseres Ministeriums die Verhaftung und Rückführung der beiden Herrschaften ... Das Ministerium darf nicht in die Angelegenheiten anderer Ministerien hineinwirken. Aber die Heuler waren sehr laut."
"Wann haben Sie die denn bekommen?" fragte Julius. "Vor anderthalb stunden", sagte Chaudchamp. "Aber weil Sie da gerade nicht im Gebäude waren wollte ich erst herkommen, wenn ich Sie und ... ich meine, wenn die beiden .... Ich will ihnen nichts böses und weiß doch, was vorgestern in Genf geschehen ist. Doch ich habe die Verantwortung dafür, dass unser Ministerium mit allen anderen Ministerien gut zusammenarbeitet."
"Ja, und meine Aufgabe ist es, das friedliche Zusammenleben zwischen Menschen und Zauberwesen im allgemeinen und das friedliche Miteinander zwischen Menschen und Veelastämmigen im besonderen zu wahren", sagte Julius. "Außerdem habe ich alle relevanten Unterlagen hier. Madame Goldregen und Monsieur Mondpfad werden gleich wieder abreisen."
"Schreiben Sie den Herrschaften in Kiew und Bukarest, dass ich, Léto, die beiden für einen Besuch eingeladen habe und dass es um Familienangelegenheiten gegangen sei, die keine Auswirkungen auf die Arbeit der Ministerien in Kiew und Bukarest haben werden", sprach Léto mit ihrer betörenden Stimme. Julius fühlte, dass er kurz davor war, selbst in diese hingebungsvolle Stimmung abzugleiten, die Chaudchamp gefangenhielt.
"Ja, werde ich tun, Madame Léto. Ich werde schreiben, dass ich vom Besuch ihrer Verwandten im Ministerium nichts mitbekommen habe und deshalb keine Einmischung unseres Ministeriums in deren Angelegenheiten besteht." Léto lächelte. "Dann können Sie jetzt beruhigt in ihr eigenes Büro zurückkehren, Gustave Chaudchamp." Der namentlich erwähnte nickte hingebungsvoll und stand auf. Wie ein Schlafwandler schritt er zur Tür hin, öffnete sie und verließ ohne weiteres Wort Julius' Büro. Langsam schloss er die Tür von außen.
"Öhm, der wird wieder aufwachen und dann merken, dass ihr ihn überrumpelt habt", meinte Julius eine Minute nach Chaudchamps Abgang.
"Du weißt nicht, was wir ihm alles mitgegeben haben", sagte Goldregen unvermittelt. "Er wird nichts tun, was mein Leben gefährdet, solange sein eigenes Leben nicht unmittelbar bedroht wird. Er wird tun, was für mich richtig ist."
"Madame Léto, ich habe es damals, wo wir Ihre Enkeltochter Euphrosyne gesucht haben schon gesagt, wie froh ich bin, mit Ihnen gut klarzukommen. Aber Chaudchamp wird nicht zu lange in diesem Zustand bleiben. Der wird mich beschuldigen, ihn in eine Falle gelockt zu haben und vielleicht die interne Sicherheit auf mich ansetzen."
"So, dann müsste er ja doch zugeben, dass er vorhatte, Goldregen an Leib und Leben zu gefährden", sagte Léto. "Außerdem musste er ja nicht herkommen. Er hätte ja warten können, bis wir wieder weg sind." Diese Logik wollte Julius eigentlich nicht so gelten lassen. Doch er wusste auch, wie stur eine ältere Veela sein konnte, die einfach nicht einsah, dass ihr Veelazauber nicht überall angebracht war. Aber warum hatte er nicht eingegriffen? Er hätte Léto und Goldregen davon abbringen müssen, einen anderen Beamten derartig zu beeinflussen. Insofern waren seine Sorgen berechtigt. Da sagte Goldregen zu ihm: "Er kann froh sein, dass er diesen so beachtlichen inneren Schild nicht beherrscht, den du mir und Léto entgegengehalten hast, sonst wäre dieses Zusammentreffen wesentlich unschöner verlaufen. Wenn er mich hätte festnehmen lassen wollen hätten Mondpfad und ich uns gewehrt. Du weißt sicher, dass wir die meisten aus euren Zauberstäben geschleuderten Kampfzauber überstehen oder gar zurückwerfen können. Sternennachts abwegige Anverwandte kann das auch alles. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir überleben und euch gegen sie helfen, ohne sie zu töten. Das verstehst du doch sicher." Julius schaffte es, der Stimme und dem vereinnahmenden Lächeln zu widerstehen. Er sagte nur, dass ihm wichtig war, dass es weiterhin keinen Krieg zwischen Veelas und Menschen gab und dass eine massenhafte Tötung von Veelaverwandten einen zu guten Kriegsgrund lieferte. "Ich werde dir da nicht widersprechen, und Mondpfad ganz sicher auch nicht", säuselte Goldregen. Dann bedankte sie sich bei Julius für dessen amtliche Unterstützung und schloss ihn in eine lockere Umarmung. "Halt dich aufrecht und entschlossen, Julius Erdengrund!" sagte sie in der Hochsprache Altaxarrois.
Als die drei reinrassigen Veelas fort waren musste Julius selbst erst mehrmals durchatmen. Hoffentlich hatten die mit ihrem Auftritt bei ihm keine Lawine ins Rollen gebracht, die ihn überrollte. Doch sooft er darüber nachdachte, was die bessere Lösung war kam er immer darauf, dass er froh sein sollte, dass es keine blutige Schlacht in seinem Büro gab. Dennoch fühlte er sich gerade wie ein Tänzer auf einem Hochseil, dass immer heißer glühte.
Da er bis zum Mittagessen keinen unangenehmen Besuch von internen Sicherheitsleuten erhielt ging er davon aus, dass Chaudchamp im Sinne Goldregens und Létos handelte und keine weiteren Schwierigkeiten machte. Schließlich wusste er nicht, was die ganz bewusst nichts sagende Goldregen Chaudchamp möglicherweise für Visionen ins Gedächtnis gepflanzt hatte. Am Ende konnte der nicht gegen ihr Interesse handeln, weil er dann viele kleine Veelakinder grausam sterben sah. Julius erkannte einmal mehr, welche Macht Ladonna Montefiori besaß, die zu einem Viertel veelastämmig war.
Chaudchamp sah er dann beim Mittagessen wieder. Der saß zusammen mit den Damen Grandchapeau an einem Tisch. Er wirkte nicht mehr weltentrückt oder ungehalten, sondern nur ernst. Julius selbst nahm eine Einladung Barbara Latierres an, mit ihr und Hippolyte zusammenzusitzen. Da er nicht erzählen wollte und auch nicht durfte, dass er mit ihrer "kleinen" Schwester Béatrice die beiden letzten Nächte verbracht hatte beließ er es dabei, darüber zu sprechen, wie gut sich Millie von ihrer letzten Dienstreise erholt hatte und dass die drei ganz kleinen von Tag zu tag sicherer liefen und er mit deren Müttern vereinbart hatte, sie bis zum zweiten Lebensjahr trocken zu kriegen.
"Na ja, ob euch das gelingt will ich hier bei Tisch nicht vertiefen, Julius. Ich weiß nur, dass zwei Jahre schon ein sehr hoffnungsvolles Ziel sind", sagte Hippolyte. Julius verzichtete darauf, sie zu fragen, wie sie das meinte.
Barbara erwähnte, dass sie erfahren habe, dass Orion vom grünen Rain es geschafft habe, eine gewisse Windfairy von den blauen Bergen zu betören und Temmie dann wohl in zwei Jahren zum ersten mal Großmutter würde. Julius fragte, ob das für einen jungen Latierrebullen nicht noch sehr früh sei und ob er da nicht Krach mit älteren Männchen bekommen habe. "Da er der Leitbulle der jungen Herde in VDS ist und Windfairy aus der kleinen kanadischen Herde stammt, die Hipps und meine Mutter aufgelegt hat ist da nichts zu bedenken, außer dass zwischen den beiden zwanzig Lebensjahre liegen. Du bekommst dann demnächst entsprechende schriftliche Unterlagen, wie die Zuchtlinie fortgesetzt wird."
"Alles klar, Tante Babs", sagte Julius. Dann fragte er sie leise, ob Temmie das auch schon wisse. "Hat meine Mutter ihr wohl heute noch erzählt", erwiderte Barbara Latierre. Das nahm Julius als offizielle Bestätigung. Es gab doch noch erfreuliche Nachrichten in der Welt. Doch die Vorstellung, dass ein gerade mal sechs Jahre alter Latierre-Bulle eine sechsundzwanzig Jahre alte Latierre-Kuh geschwängert hatte brachte merkwürdige Saiten in ihm zum klingen. War diese Windfairy die erste von ihm begattete Kuh? Falls ja, wer hatte da wen rumgekriegt? Denn er wusste, dass Latierre-Kühe sich durchaus nicht nur das erfahrenste oder stärkste Männchen aussuchen mochten, wusste aber auch, dasss es zwischen Kühen oder zwischen Bullen zu Auswahlkämpfen kommen konnte, wenn zwei Bullen die selbe Kuh haben wollten oder zwei Kühe denselben Bullen. Dann der Altersunterschied. Dass sowas auch in der magischen Welt ging wusste er von seinen Schwiegerverwandten, vor allem von seiner Schwiegergroßmutter Ursuline, aber aus der Familienchronik auch von Millies Urururgroßmutter Pasiphae, die angeblich ihren künftigen Ehemann Sylvius drei Monate vor dessen Geburt kennengelernt haben sollte und ihn gleich nach dessen Abschluss in Beauxbatons geheiratet habe, wo sie da selbst schon fünfzig Jahre alt war. Bei Mensch-Veela-Beziehungen war das sogar völlig normal, dass ältere Veelas jüngere Zauberer für sich erwählten. Ja, Létos Schwester hätte kein Problem damit, ihn, der ihr Ururenkel sein konnte, als Fortpflanzungspartner zu nehmen. Damit er deshalb nicht in Verlegenheit geriet hatte sich Léto zwischen Sarja und ihn gestellt und das Recht der großen Schwester herausgekehrt, sollte Millie ihn warum auch immer nicht mehr haben wollen. Das wiederum brachte ihn darauf, dass Béatrice ihn dann an Millies Stelle für sich beanspruchen und damit Krach mit den beiden älteren Veelas bekommen könnte.
"Na, woran denkst du jetzt?" wollte Hippolyte wissen. "Daran, dass eure Urgroßmutter Pasiphae und eure Mutter Line auch keine Probleme damit hatte, sich einen jüngeren Partner zu erwählen", fasste Julius seine Gedanken so zusammen, dass die beiden Anverwandten es begriffen, warum er vielleicht gerade so nachdenklich ausgesehen hatte.
"Stimmt, insofern was völlig alltägliches", meinte Hippolyte und zwinkerte ihrer jüngeren Schwester kokett zu. Diese nickte nur schwerfällig. Dann ging es noch um die Quidditchsaison und dass die Pelikane aus Paris wohl wieder mit den Mercurios aus Millemerveilles um den Meistertitel spielen würden. Allerdings hielten die Dijoner Drachen Dank deren Sucherin Corinne Duisenberg immer noch zum Spitzenduo Kontakt. Die Drachen spielten ja am nächsten Samstag gegen die Pelikane.
Den Nachmittag verbrachte Julius dann wieder im Rechnerraum, wo er weitere Meldungen aus den Staaten und aus Australien erhielt. Der in Canberra arbeitende Kollege wollte wissen, ob Julius schon was aus Genf gehört habe. Da er auch dem Kollegen Kyle Benson nicht aufs Baguette schmieren durfte, was er von Belles und Millies Dienstreise erfahren hatte schrieb er nur, dass die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit bisher keinen öffentlichen Bericht über den Verlauf der IZKF-Konferenz in Genf herausgegeben habe. Das war nicht einmal gelogen. Offenbar dachte der australische Kollege wie er. Besser die schnellstmögliche Verbindung nutzen als wochenlang auf Antwort warten zu müssen.
Gegen fünf Uhr nachmittags übergab Julius die Rechnerabteilung an Primula Arno, die bis ein Uhr die kleine Spätschicht betreuen würde. Dann kam die Nachtschicht von eins bis neun Uhr, bis er dann wieder übernehmen konnte. In einem Büro, von dem aus die ganze Welt überblickt werden sollte musste eben ein 24-Stunden-Wachdienst vorgehalten werden, selbst wenn sie sich im wesentlichen auf das französische Hoheitsgebiet beschränken mussten. Aber eben dieses reichte ja auch um die halbe Welt.
Wieder im Apfelhaus genoss Julius den späten Nachmittag mit den Kindern und den beiden Hexen, die mit ihm das Haus und die Zeit und dann eben auch mal zwischendurch das Lager teilten. Gegen sieben gab es Abendessen. Damit ging für Julius ein weiterer Tag nach der vereitelten Übernahme der IZKF-Konferenz zu ende. Er wusste, dass die kommenden Tage heftig werden mochten.
"Es dürfen Wetten angenommen werden, ob und wann diese Rauschgifthändlerin wieder auftaucht", sagte Anthelia zu ihrer Mitschwester Portia, als diese ihr neue Nachrichten aus Peru besorgt hatte. Portia wollte dem nichts hinzufügen.
Zudem hatte der Orden der schwarzen Spinne die letzten Tage sehr intensiv genutzt, um einen Weg zu finden, die von Ladonna beeinflussten zu befreien oder zumindest davon abzuhalten, ihr weiter zu dienen. Anthelia hatte dreißig verschiedene Mineralien und Kristalle durchprobiert. Am Ende war tiefgrüner Malachit der beste Fokusstein geworden, um den mit freiwillig gespendetem Waldfrauenblut einhergehenden Zauber "Entbindung von der alten Herrin" zu wirken. Morpuora und ihre nach Amerika ausgewanderten Töchter hatten Anthelia erklärt, dass es möglich war, die Abhängigkeit von einer grünen Waldfrau zu beenden, wenn eine ältere Waldfrau den zu übernehmenden Geliebten im Mondlicht mit diesem Lied besang und dabei zwischen sich und ihrem Kraftbaum drückte, so dass die Macht der "Vorbesitzerin" durch den Baum nach oben abgeleitet wurde und ihre neue Macht aus der Erde in sie und dann den zu erwerbenden Geliebten übertragen wurde. Wichtig dabei sei, dass der vollständige Name der Vorbesitzerin bekannt sein musste. Tja, dem war ja so, dachte Anthelia. Sie hatte herausbekommen, dass das Lied der Entbindung von der alten Herrin mit einem altaxarroischen Erdzauber "Lied der mehrenden Erde" auch ohne direkte Anwesenheit einer Waldfrau und ihres Kraftbaumes wirkte, wenn der Zauber auf vier grüne Malachitsteine und einen Kranz aus dem Haar der spendablen Waldfrau gewirkt wurde. Weil Anthelia die von Ladonna beeinflussten nicht von einer an eine andere Herrin übertragen wollte hatte sie den Zauber so gewählt, dass nur die Lossagungsformeln wirkten. Sie musste jedoch damit rechnen, dass die Beeinflussten danach erst einmal besinnungslos wurden wie jene in Genf.
Außerdem hatte sie sich etwas aus dem Orient mitgebracht, das unter genügend Mondlicht ausreifen konnte. Denn sie argwöhnte, dass Ladonna nicht die echte Atalanta Bullhorn unterworfen hatte. Denn als Erbin Sardonias kannte sie jenes druidische Ritual, mit dem sich jemand für ein ganzes Jahr gegen jede Form alchemistischer oder zauberstabgebundener Beeinflussung schützen konnte, solange der Blutkreislauf ununterbrochen arbeitete. Also galt es, die Hexe, die als Atalanta Bullhorn auftrat einer Probe zu unterziehen. Dafür wollte sie gleich genug Malachitkränze flechten, um den vollständigen Rat zu entfluchen.
Melonia war nach der Loslösung des magischen Auftrages der Töchter Hecates ganz erholt. Es hatte sich herausgestellt, dass das Lied der starken Mutter Erde sie zwar im Haus Tyches Refugium vor den scheinbar in ihr schreienden ungeborenen Kindern beschützt hatte, dies aber eben nur innerhalb des Grundstückes. Daraufhin hatte Anthelia sie außerhalb davon, als ihr die bettelnden und fordernden Schreie und Rufe der angeblich für die griechische Schwesternschaft zu bekommenden Kinder den Verstand zu rauben drohten, in einen jungen Kirschbaum verwandelt. Aus dessen Zweigen und Blättern waren dann zehn Minuten lang kleine rote Lichtkugeln herausgeflogen, die im Flug wie durchsichtige Fruchtblasen mit zusammengerollten Föten aussahen. Als das magische Lichterspiel beendet war hatte Anthelia ihre Mitschwester wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt. Danach hatte sie kein ungeborenes Kind mehr in ihrem Geist und ihrem Unterleib schreien gehört. Somit war der magisch bindende Auftrag Hecates aus Melonia verschwunden.
"Dann muss ich mich ja doppelt bedanken, dass du mich zum einen nicht als was für einen Baum hast weiter herumstehen lassen und mir zum zweiten die ganze Plärrbabystation des HPK aus meinem Vestalinnenbauch herausgeholt hast", sagte Melonia.
"Von wegen Vestalin, Schwester Melonia. Ich weiß, dass du schon die Früchte der Liebe gekostet hast und sie dir nicht so bitter geschmeckt haben wie du tust. Ich kann dir gerne beibringen, sie zu genießen, ohne deinen kleinen Garten für größere Ernten darbringen zu müssen."
"Und die wollten echt haben, dass ich denen mit US-Zaubererweltblut veredelte neue Schwestern ausbrüte", knurrte Melonia. "Das wollen die immer noch. Deshalb bleibst du am Besten schon weit weg von denen, die wie du Nachfahrinnen der alten Hecatianerschwestern sind", sagte Anthelia. "Denn jetzt könnten die Verehrerinnen der hellenischen Hexengöttin auf den Geschmack gekommen sein, allein schon, um sich noch mehr Beachtung zu verschaffen als sie es in Genf schon getan haben und als sie es mit ihren 27 Grenzsteinen vollbracht haben, über die Ladonnas Lakeien nicht drübersteigen können. So geht es nämlich auch, nicht nur Klingsors Grenzwall", lachte Anthelia.
"Wann wirst du den Knarl aus dem Sack lassen, höchste Schwester?" fragte Melonia. "In sechs Tagen. Bis dahin habe ich genug Erlösungskränze. An die Haare ist leicht zu kommen. Aber an die grünen Steine ist nicht so einfach dranzukommen, ohne von irgendwem dabei beobachtet zu werden", sagte Anthelia.
"Warum ausgerechnet Malachit?" fragte Melonia. "Weil er zum einen durch seine Grünanteile eine optische Verbindung mit den Kraftquellen und der Hautfarbe der Sailvreyan hat und zum anderen durch seinen Kupferanteil mit den Übergängen zwischen Nacht und Tag verbunden ist. Außerdem besitzen grüne Waldfrauen neben Blattgrünhaltigen Hautfarbstoffen auch grünspanhaltiges Blut, nicht nur Eisenrosthaltiges wie die anderen hominiformen Wesen."
"Ach, grünes Blut, wie die meisten Drachenarten?" fragte Melonia. Anthelia bejahte das. Damit sah Melonia ihre Fragen als beantwortet.
Ladonna hatte ihrer Statthalterin in den USA eine Warnung zukommen lassen, dass jemand versuchen würde, sie zu besiegen, um ihr die Herrschaft über Nordamerika wieder wegzunehmen. Darauf bekam sie von ihrer Statthalterin die Antwort: "Meine Königin, wenn ihr es wollt lasse ich alle im Land wohnenden Veelastämmigen ergreifen und wegen Kolaboration mit den Vampiren hinrichten."
"Ja, tu es!" befahl die Rosenkönigin. Sollten die europäischen Veelastämmigen lernen, was es hieß,ihr Widerstand zu leisten.
"Ich habe nur noch bis zum ersten Juni genug von dem, was Ihr mir überlassen habt, meine Königin. Was soll danach geschehen?"
"Bis dahin muss jene, die sie immer noch für ihre Vorgesetzte halten entweder zurücktreten oder am besten auf eine spektakuläre Weise den Tod finden, so wie es die Narren dieses Laveau-Institutes vorgemacht haben", erwiderte die Königin.
"Ihr seid euch sicher, dass jene, die auf aufsehenerregende Weise starben und nachprüfbare Leichen hinterließen nicht wirklich verstorben sind?" wollte Ladonnas nordamerikanische Statthalterin wissen. "Mittlerweile kenne ich jenen Zauber, der einen täuschend echten Leichnam erschaffen kann, so dass weder die Anverwandten noch an der Person interessierten weitere Nachfragen stellen und sich nicht damit befassen, nach dem angeblich verstorbenen zu suchen. Schon sehr praktisch, dieser Similicorpuszauber", erwiderte die Königin.
"Gut, dann werde ich zusehen, dass die mir nachfolgende Sprecherin nicht zurücknehmen kann, was ich verordne, meine Königin. Die Veelastämmigen werden bis morgen sterben und ich werde es so hinstellen, dass wir sie bei der Ausübung eines Anschlages im Namen der blutigen Götzin ertappt und im harten Kampf niedergerungen haben. Wie lange wird es dann dauern, bis deren Bluträcher uns behelligen?"
"Die sich was auf ihre Reinblütigkeit einbildenden können weder apparieren noch durch das Flohpulverfeuer gehen. Die können höchstens mit halber Schallgeschwindigkeit fliegen und müssen zwischendurch auch mal Pausen machen. Über ein Weltmeer zu fliegen ist nicht einfach."
"Aber die Sibirischen könnten über Alaska und Kanada zu uns vorstoßen", erwiderte die Statthalterin. "Gut, dann postiere an der grenze mit Kältewiderstandstrank und kältefesten Flugbesen ausgerüstete Kampftruppen, sobald die alle Veelastämmigen erlegt haben. Ach ja, vielleicht kommen die auch nicht darauf, Blutrache zu üben. Denn sie müssen die Namen derer kennen, die ihre Verwandten getötet haben. Also lasse deine Leute unsichtbar und mit den ganzen Körper vermummt zuschlagen und zwar ohne Vorwarnung und möglichst zeitgleich, damit die Angegriffenen nicht die noch sicheren warnen können! Geh davon aus, dass die nämlich schon bereitstehen, das Land zu verlassen."
"Ich werde zusehen, Eure Anweisungen vollständig auszuführen, meine Königin. Öhm, soll ich dann auch weiter nach den so aufsehenerregend gestorbenen Laveau-Mitarbeitern suchen lassen?" wollte die nordamerikanische Statthalterin wissen.
"Nein, lass sie im Glauben, ihr Täuschungsmanöver sei erfolgreich verlaufen! Außerdem würdest du schlafende Drachen kitzeln, wenn du deine Leute darauf bringst, dass es möglich ist, gefälschte Leichname zu hinterlassen", erwiderte die Königin.
"Da habt Ihr sicher recht, meine Königin. Auch wenn ich mir denken kann, dass auch aus unseren Sicherheitstruppen welche diesen Zauber kennen muss ich sie nicht darauf bringen, dass das Laveau-Institut ihn benutzt, um uns und die Nomajs zu täuschen.
"Ich werde meinem Statthalter in Russland den gleichen Befehl erteilen wie dir. Womöglich wird es dann keine sibirischen Bluträcherinnen geben", erwiderte die Königin. Ihre nordamerikanische Statthalterin bestätigte das, wollte sich aber trotzdem auf einen Gegenschlag der europäischen Veelas vorbereiten. Ihre Königin erlaubte ihr das. Denn sie hatte ja gerade wegen der gescheiterten Unterwerfung der IZKF-Leute einmal mehr erfahren müssen, dass es keine absolut sicheren Pläne gab.
Nachdem Ladonna die Gedankenbrücke mit ihrer nordamerikanischen Statthalterin beendet hatte errichtete sie eine solche zu Maximilian Arcadi, um ihm den Befehl zu erteilen, alle in Russland lebenden Kinder Mokushas und deren Nachfahren ausfindig zu machen und wegen Beteiligung an einem Anschlag der Blutsaugersekte hinrichten zu lassen. Arcadi wies darauf hin, dass die Veelas sich dafür rächen mochten. "Um so besser, dann brauchen deine Leute nur zu warten, bis die Rächerinnen zu ihnen hinkommen. Das erspart ihnen die Suche in deinem so großen und weiten Land", erwiderte die Rosenkönigin verächtlich. Arcadi sah dies ein und bestätigte, den Befehl auszuführen.
Ladonna wollte nun den bulgarischen Zaubereiminister anrufen, um ihm denselben Befehl zu geben. Doch sie stellte fest, dass die beiden über tausende von Kilometern reichenden Gedankenbrücken viel Kraft gekostet hatten. Wollte sie nicht mitten in einer solchenSitzung besinnungslos werden musste sie mindestens eine Stunde Erholungspause einlegen. Sie ging davon aus, dass das ausreichte.
Heilzunftsprecher Arnicus Wiesengrün reiste aus der Zentrale bei Zürich ins Wallis und begutachtete die über hundert stationär aufgenommenen Patientinnen und Patienten. Er gehörte auch nicht zu jenen, die bereits Ladonnas Feuerrosenduft eingeatmet und ihre Unterwerfungsbotschaft gehört hatten. Deshalb machte er seinem Ärger sogleich Luft, als er sah, wer alles in den Betten lag.
"Hat dieses unselige Mischblutweib doch wahrhaftig unseren verehrten Zaubereiminister Rheinquell mit ihrer Giftkerze benebelt und unterworfen. Ich sehe hier einen Klaren Fall von Contraria contrariis curantur, also Gift und Gegengift. Es ist sehr beschämend, dass wir Heiler nicht mitbekommen konnten, dass der Minister und wer noch alles diesem dunklen Kombinationszauber unterworfen wurde und ebenso beschämend, dass wir nicht wissen, wer und wie den Gegenzauber appliziert hat. Ich kann nur den Attest von Ihnen, Kollege Heckenstrauch bestätigen, dass wir die von Ihnen betreuten Patientinnen und Patienten nicht mit eigener Magie aufwecken sollten, weil die in ihnen wirkenden Zauber sich erst erschöpfen müssen. Ich weiß nicht, wie lange die Betroffenen in diesem Zustand bleiben werden. Doch wenn wir jetzt versuchen, diesen Zustand mit magischen Mitteln zu beenden könnte es zum Tod der Betroffenen führen. Solange sie atmen und ihre Herzen schlagen leben sie noch. Daher sind ausschließlich Infektions- und Läsionsvermeidende Maßnahmen indiziert. Also jeden Tag Wechsel der Bett- und Nachtwäsche, überprüfung der Darmtätigkeit mit dem Auscultatum-Intestinalis-Zauber und bei Anzeichen von bevorstehender Defäkation und Exkretion Ausscheidungsauffangmittel zu applizieren, wie Sie dies ja schon gleich nach der Aufnahme ausgeführt haben. Die verminderte Atmung und Kreislauftätigkeit lässt auf eine Reduktion des Metabolismus schließen. Somit besteht derzeit keine Gefahr, dass die Patientinnen und Patienten verhungern oder verdursten werden. Dennoch könnte eine an den Blutkreislauf angeschlossene Flüssignahrungsversorgung nicht schaden. Des weiteren weise ich Sie an, mir unverzüglich Mitteilung zu machen, wenn der oder die erste wieder aufwacht. Stellen Sie zu diesem Zweck genug Personal mit ausreichenden Fremdsprachenkenntnissen bereit! Falls Sie noch wen für bestimmte Sprachen benötigen werde ich Ihnen entsprechend ausgebildete Kollegen oder Kolleginnen zuteilen."
"Sehr wohl, Zunftsprecher Wiesengrün", bestätigte der Leiter des Hauses der Heilsamkeit die gegebenen Anweisungen. Das war nicht nur Loyalität oder gar bedingungsloser Gehorsam, sondern das Wissen um die Erfahrungen Wiesengrüns mit allen Formen von körperlichen und geistigen Fluchschäden. So bereitete er alle ihm unterstellten Heilerinnen und Heiler auf eine längere Betreuung der aufgenommenen Hexen und Zauberer vor.
"Heilerin Palmer sagt, es kann bei mir jeden Tag losgehen", erwähnte Brittany Brocklehurst, als sie per Orichalkarmbandverbindung mit den Latierres sprach. Sie strich sich über den unübersehbar gerundeten Unterbauch und strahlte Millie und Julius an. Millie fragte sie: "Und, wisst ihr es jetzt sicher, wer da zu euch hinkommt?"
"Ja, absolut, Millie. Ich trag die kleine Brooke im Bauch. Dann kann ich bald vergleichen, ob ein Junge leichter zu kriegen ist als ein Mädchen." Sie grinste Millie an, die ja bisher nur Töchter zur Welt gebracht hatte.
"Das kannst du so nicht sagen, Britt. Jede meiner Töchter hat unterschiedlich lange gebraucht und mal hatte ich den Eindruck, dass mir das mehr zugesetzt hat und mal weniger. Außerdem war ich beim letzten mal mit Flavine und Phylla schwanger. Zwillingsgeburten sind da noch mal was ganz anderes. Aber ich hoffe, dass du die Kleine nicht all zu lange bitten musst, wenn sie erst mal aus dir raus will", erwiderte Millie. "Das hoffe ich auch. So oder so werde ich mir das genau überlegen, ob ich dann noch ein Kind kriege oder nicht. Allerdings habe ich von Chloe Palmer die Zusammensetzung jenes blauen Verhütungsgebräus erfahren und festgestellt, dass es nicht vegan ist. Da blieben dann nur die Körpertemperaturüberwachung oder diese komischen Gummiteile, die die Nichtmagier für möglichst risikoarme Stunden nehmen oder die Party vor dem Ausschank zu verlassen."
"Was die Temperaturmethode angeht kennen die Nichtmagier einen tollen Spruch, Britt: Knaus-Ogino ergo sum", erwiderte Julius darauf.
"Was soviel heißt wie?" wollte Brittany wissen. Millie nickte, obwohl sie diesen Spruch schon gehört hatte. "Meine Mom hat Knaus-Ogino benutzt, deshalb gibt's mich", übersetzte Julius die Abwandlung eines berühmten Zitats des Philosophen Descartes. Brittany musste lauthals lachen und wurde dafür von der kleinen, noch gut verstauten Brooke in den Bauch geboxt. "Ja, ist ja gut. Du wirst ein kalifornisches Mädchen, du musst Erdbeben aushalten können", grummelte Brittany. Dann beruhigte sich ihre ungeborene Tochter wieder. Millie grinste schadenfroh. "Aurore und Clarimonde konnten es auch nicht vertragen, als ich mit denen im siebten Monat war, wenn ich laut lachen musste. Aber dadurch wusste ich auch, dass sie mich mitbekamen, also quicklebendig waren."
"Stimmt, hast recht. Am Ende vermisse ich das auch noch, derartig geboxt und getreten zu werden und will auch jedes Jahr wen neues ausbrüten. Aber Linus meint, eins von jeder Sorte würde ihm auch reichen."
"Tja, er hat dir wohl nicht tief genug in deine braunen Augen gesehen, Britt", sagte Millie. Damit spielte sie auf Julius' Behauptung an, er habe eine ganze Quidditchmannschaft gemeinsamer Kinder in ihren Augen sehen können. Brittany kannte diesen Versuch eines Scherzes und grinste breit. Dann hörten sie ein Bimmeln im Hintergrund. "Das ist nicht die Türglocke", meinte Millie. "Nein, das ist mein Kaminmelder. Stella Hammersmith hat sich angemeldet. Wir haben vereinbart, nicht gleich zu kontaktfeuern oder durchzurauschen, wenn wir den jeweils anderen nicht bei intimen Handlungen sehen wollen."
"Huch, kann man das auch anmelden, wenn jemand kontaktfeuern will?" fragte Julius. Brittany nickte und erwähnte eine auf bis zu zehn Kaminen abstimmbare Vorrichtung, die selbst bei gesperrtem Flohpulverzugang benutzt werden konnte, um ein Kontaktfeuergespräch anzumelden oder den ganzen Körper durch den Kamin zu bringen. "Ich hör hier besser auf und frage sie, was los ist. Falls es was auch für euch wichtiges ist melde ich mich noch mal bei euch", sagte Brittany. Millie und Julius versprachen, die nächsten zwanzig Minuten auf die Antwort zu warten. Kam keine, war es auch nicht wichtig für sie.
Tatsächlich dauerte es nur fünf Minuten, bis Brittanys räumliches Abbild wieder auftauchte. "Julius, das ist eindeutig was für dich. Gerade ist eine Familie aus drei Veelastämmigen und deren menschlichem Anhang im Ortszentrum angekommen, aus einer grünen Portschlüsselspirale heraus. Die haben bei uns Zuflucht erbeten und angekündigt, dass die anderen aus ihrer Blutsverwandtschaft auch rüberkommen, wie mit dem LI und unserem Siedlungsrat vereinbart. Sie behaupten, sie würden von blaumaskierten Auftragsmördern verfolgt. Denen seien sie nur deshalb entgangen, weil sie vom LI eine Überwachungs- und Vorwarnungsvorrichtung erhalten haben", vermeldete Brittany. "Stella Hammersmith vermutet, dass da gleich noch mehr zu uns reinrauschen. Ich soll gleich in das Ratsgebäude, um die Registratur zu ergänzen. Ich wollte das euch nur sagen.""
"Ach, du bist noch nicht in der Babypause?" fragte Millie. "Gehe ich morgen rein, weil zwischen dem 20. und dem 30. Mai soll die Kleine ankommen. Vielleicht wird sie ja auch eine Walpurgisnachtsängerin wie eure zwei Zwillinge", erwiderte Brittany. Millie, Béatrice und Julius wünschten ihr auf jeden Fall alles gute und eine möglichst unkomplizierte Niederkunft. Dann verschwand Brittanys räumliches Abbild bis auf weiteres wieder.
"Ui, die sieht mit einer alleine so aus wie ich mit den zweien", grinste Millie. Béatrice erwähnte, dass ein einzeln wachsender Fötus eben mehr Nahrung von der Mutter aufnahm und Brittany ja selbst ziemlich hochgewachsen war. Das erkannten Millie und Julius an.
"Blaumaskierte Auftragsmörder, keine rosenroten Kapuzenhexen", grummelte Julius. "Eigentlich müsste mich das interessieren", sagte er zu den beiden erwachsenen Hexen. Béatrice fragte deshalb: "Hast du nicht den Auftrag, den Veelastämmigen in den Staaten zu helfen?" Julius bejahte das. "Dann wirst du sicher heute noch mehr erfahren", sagte Félix' Mutter.
Urs Rheinquell erwachte aus einem Traum voller Farben, Licht und schönen Klängen. Zwar tat ihm sein Kopf ein wenig weh und seine Arme und Beine kribbelten, als liefen Ameisenarmeen durch seine Adern. Doch irgendwie fühlte er sich nun ganz leicht, als habe ihm etwas einen schweren Ballast von Herz und Verstand genommen.
Er lag in einem weichen Bett und fühlte etwas weiches zwischen seinen Beinen und sein Hinterteil umschließend. Er riss die Augen auf und sah eine holzgetäfelte Decke über sich, die in heller Farbe lackiert war. Jetzt fühlte er auch, dass er ein leichtes Nachthemd trug, wie Patienten in einem Heilerhaus. Er war in einem Heilerhaus? Dann war das, was er im Schritt und um sein Hinterteil fühlte eine Windel. Die hatten ihn gewickelt wie einen Säugling. Da sah er eine junge Hexe in der hellgrünen Tracht einer approbierten Heilerin, die neben dem internationalen Heilersymbol, der um einen Stamm gewickelten Äskulapschlange, das Symbol eines blutroten Herzens von goldenem Lichtkranz umflossen zeigte. Er war also wahrhaftig im Haus der heilsamen Kräfte gelandet.
"Guten tag, Minister Rheinquell", sprach ihn die am Bett wachende auf Französisch an. "Ich bin Stationsheilerin Antoinette Reichenfeld und habe sie im Wechsel mit meiner Kollegen Hautbois die gesamte Zeit Ihres Aufenthalts hier betreut."
"Somit erübrigt sich die Frage nach dem Wo", brummelte Rheinquell. "Welchen Tag schreiben wir heute und welche Tagesstunde? Und bitte die volle Wahrheit", fügte er hinzu.
"Wir schreiben den achtzehnten Mai 2006. Es ist jetzt zwölf Uhr, drei Minuten und jetzt genau zwanzig Sekunden", beantwortete die Heilerin die gestellte Frage so präzise wie gefordert. Sie haben drei volle Tage bewusstlos bei uns zugebracht. Chefheiler Ignatius Weidenwurz wird sich gleich mit Ihnen unterhalten, ebenso Heilzunftsprecher Wiesengrün."
"Sie lügen. Ich muss länger außer Gefecht gewesen sein. Ich muss mindestens seit dem 15. März hier sein", knurrte Rheinquell. Doch die an seinem Bett sitzende Heilerin sah ihn ruhig an und erwiderte, dass er erst seit dem 15. Mai Patient sei. "Sie waren bei der Konferenz der internationalen Zaubererweltkonföderation", sagte sie. Dann hörten sie beide ein leises Ächzen. "Ah, Monsieur Klingenschmidt kommt auch zu sich", bemerkte die Heilerin dazu. Dann bat sie Rheinquell, noch solange liegen zu bleiben, bis die abschließende Untersuchung stattgefunden hatte. "Ich werde hier nicht herumliegen wie ein Säugling mit drei Monaten, junge Dame. Ich werde jetzt aufstehen und meinem Alter und meiner noch bestehenden Beweglichkeit gemäß eine anständige Toilette aufsuchen."
"Das werden Sie tun, wenn meine Vorgesetzten bestätigen, dass Sie und Monsieur Klingenschmidt genesen sind."
"Ach, dürfen Sie das nicht attestieren?" fragte Rheinquell verdrossen. "Attestieren darf ich das. Nur Großheiler Weidenwurz besteht darauf, alle durch diesen Vorfall im Versammlungshaus der internationalen Zaubererweltkonföderation besinnungslos gewordenen zu untersuchen und dass er den abschließenden Befund erstellt."
"Dann gehe ich zu ihm", knurrte Rheinquell und versuchte aufzustehen. Da schlug die heruntergezogene Decke bis zu seinem Kinn hoch und wickelte ihn fest ein. "Tut mir leid, Anweisung vom Leiter des Hauses. Alle Patienten des Maison-Bontemps-Zwischenfalls müssen bis zur Feststellung geistiger Unversehrtheit in ihren Betten bleiben", sagte Antoinette Reichenfeld. Dann wandte sie sich einfach von Rheinquell ab und Klingenschmidt im Nachbarbett zu. Rheinquell sah, dass er in einem Schlafsaal mit sechs Betten lag. Tja, für sowas war er Minister geworden, wie ordinäre Zauberhandwerker in großen Schlafsälen untergebracht zu werden.
"ey, Heilerin, öhm Reichenfeld. Sie machen jetzt diese verwünschte decke von mir runter und nehmen mir die Windeln ab oder der Rat der magischen Rechtsprechung wird Sie und Ihren Chef belangen wegen Freiheitsberaubung in erschwerender Tateinheit mit Behinderung einer Amtsperson in Ausübung ihres Dienstes!" rief Rheinquell. Da grummelte Klingenschmidt: "Drachendreck! Habe ich das dann doch nicht geträumt. Mein Schädel!"
"Die Heilerdirektiven überwiegen die nationale und internationale magische Rechtsprechung", erwiderte Reichenfeld ganz gelassen. "Und was die Windeln angeht: Wollten Sie lieber riskieren, in Ihren eigenen Ausscheidungen zu liegen? Das sind die für Blasen- und Enddarminkontinenz entwickelten Ausscheidungsauffangtextilien für bettlägerige. Da wir nicht wussten, wielange Sie ohne Bewusstsein bleiben würden war dies eine durchaus gerechtfertigte und vor allem auch die Würde des Patienten wertschätzende Behandlung."
"Urs, du bist auch hier? Drachendreck! Dann habe ich das echt nicht alles geträumt", wiederholte Klingenschmidt. Außer ihm und dem Minister wachten noch weitere auf, alles Beamte aus dem Ministerium. Da ploppten in Rheinquells wieder in Gang kommendem Bewusstsein Erinnerungen auf, von denen er gerade noch gedacht hatte, er habe das alles nur geträumt. Er erinnerte sich an ein Treffen mit Güldenberg und Rosshufler auf der dreieckigen Bodenseeinsel. Ja, da war diese Kerze, diese violetten Qualm verströmende Kerze. Dann war da diese rubinrote Feuerrose. Er erschrak. Er war in eine Falle Ladonna Montefioris geraten. Irgendwer hatte ihn und auch die anderen Verraten, damit die in diese Falle gehen konnten. Was danach war deuchte ihn wie ein bedrückender Traum, dass er auch im Ministeriumsgebäude so eine Feuerrosenkerze entzündet hatte, um möglichst alle seine Mitarbeiter unter Ladonnas Einfluss zu zwingen. Er hatte dieser dunklen Hexe seine Seele dargebracht. Doch wenn er jetzt so verächtlich von ihr denken konnte hieß das doch, dass dieser Einfluss wieder von ihm abgefallen war, ohne dass er deshalb starb. Ja, er erinnerte sich an die Zusammenkunft in Genf, wo er im Auftrag dieser herrschsüchtigen Mischblüterin aus der Vergangenheit weitere Gefolgsleute sichern sollte. Doch das war wohl irgendwie anders gelaufen. Er dachte daran, dass die französische Delegation zum Teil geflüchtet und zum Teil in einem Zauberfeuer verbrannt war. Ja, er hatte im Namen der Rosenkönigin mehrere Leute umgebracht. Sein Gewissen meldete sich, nachdem es so viele Wochen gefesselt und geknebelt in einem Verlies seines Verstandes eingekerkert gewesen war.
Während die Heilerin vom Dienst alle wieder aufwachenden Schlafsaalbewohner begrüßte und ihnen kurz die Fragen nach Ort und Uhrzeit beantwortete sah Rheinquell Klingenschmidt an. Der wirkte ebenso, als piesacke ihn das Gewissen, aber auch eine gewisse Furcht, dass die dunkle Königin Ladonna sich für das rächen würde, dass man ihn und die anderen aus ihrem magischen Zwinger befreit hatte. Hatte er nicht den Befehl erhalten, alles für sie zu tun oder zu sterben? Aber diese Träume von einer Waldlichtung mit unbekleideten Veelas, die ein helles, goldenes Licht herbeigesungen hatten, die mochten ihn befreit haben. Er musste nur herausbekommen, was genau geschehen war. Doch das ging nur, wenn er endlich aus diesem verwünschten Heilerbett aufstehen konnte. Dann fiel ihm was ein: Nur die, die jetzt hier waren und wohl genau dann wie er im Versammlungshaus der IZKF waren hatten dieses befreiende Licht gesehen und dessen Wirkung gefühlt. Doch im Ministerium liefen achthundert Hexen und Zauberer herum, die alle mit dieser verfluchten Zauberkerze in Berührung gekommen waren. Wehe wenn sie rausfand, dass er ihr nicht mehr unterworfen war. Sie würde den anderen befehlen, ihn zu töten. Es sei denn, wer auch immer ihn befreit hatte hatte ihn mit einem Schutz vor feindlichen Angriffen ausgestattet. Vielleicht war er hier im Heilerhaus gerade am sichersten Ort der Schweiz. Er entsann sich, dass die Heiler bis auf die Heiler vom Dienst im Ministerium alle nicht im Versammlungssaal des Ministeriums gewesen waren. Die waren also unbeeinflusst. Ahnten oder wussten die womöglich, was ihm und den anderen Beamten zugestoßen war? Falls ja hatten sie wohl kein Mittel dagegen gekannt und sich erst einmal zurückgehalten, um kein Blutbad anzurichten oder auf genau den Tag hinzuwirken, der heute gekommen war.
Eine halbe Stunde nach seinem Erwachen bekam Rheinquell Besuch von Wiesengrün. Dieser unterhielt sich kurz mit ihm und stellte dann fest, dass der Minister keinen geistigen Schaden erlitten hatte. Dann sagte Wiesengrün: "Ich denke, für Sie und die anderen ist es besser, wenn Sie weiterhin als bewusstlos gelten. Sie können sich sicher denken, dass jene, die Sie alle ihrem bösen Zauber unterworfen hat, jeden töten wird, der sich ihr aus eigener Kraft oder mit fremder Hilfe entwunden hat. Wenn wir reproduzieren können, was Sie und die anderen befreit oder geschützt hat können wir die Konfrontation mit den noch Unterjochten suchen und gewinnen", schlug Wiesengrün vor. Rheinquell musste nicht lange überlegen, als er hörte, dass sein dritter Stellvertreter in Bern bereits veranlasst hatte, alle ausländischen Hexen und Zauberer, besonders alle von menschenförmigen Zauberwesenarten stammenden je nach Gefährlichkeitseinstufung auszuweisen, zu inhaftieren oder wegen Gemeingefährlichkeit töten zu lassen. Da käme ihm ein aus der Gewalt ladonnas entrissener Minister Rheinquell gerade recht, um ein Exempel zu statuieren und den Ministerposten behalten zu können. Also stimmte Rheinquell zu, bis auf weiteres als noch nicht genesen im Haus der heilsamen Kräfte zu bleiben, allerdings in einem kleineren Zimmer und mit Zugang zu einem ordentlichen Badezimmer und vielfältiger und gesunder Ernährung. Heilzunftsprecher Wiesengrün ging auf alle diese Bedingungen ein.
Als Julius am Morgen in sein Büro kam fand er zwei Briefe auf seinem Schreibtisch, die mit einem Namenssiegel versehen waren, so dass nur der Besitzer des adressierten Namens sie öffnen konnte, wenn er die unbehandschuhte Hand auf das Siegel legte und laut und deutlich seinen wahren Namen nannte. Vom Inhalt her waren die beiden Schreiben so unterschiedlich wie Gletschereis und aus einem Vulkanschlot entströmende Lava. Chaudchamp schrieb:
Monsieur Latierre,
sicherlich haben Sie die Zeit genutzt, über den massiven Eingriff in meine Entscheidungsfreiheit nachzudenken, den Sie und die von Ihnen geladenen Veelas an meiner Person begangen haben. Eigentlich kam ich zu Ihnen, um sie ultimativ aufzufordern, jede mit ausländischen Stellen in Konflikt geratenden Unternehmungen zu unterlassen und bereits begonnene Unternehmungen zu beenden und deren bereits entstandenen Auswirkungen umzukehren. Denn mir war und ist sehr an der Fortsetzung unserer Beziehungen zu anderen Zaubereiministerien gelegen. Ebenso missfällt es mir nach wie vor, wie Sie und die beiden Damen Grandchapeau sich immer und immer wieder anmaßen, internationale Vereinbarungen oder Arbeitsprojekte zu beschließen oder durchzuführen, ohne meine Abteilung als für die friedliche und gedeihliche Zusammenarbeit mit anderen Ministerien verantwortliche Dienststelle auch nur zu fragen, ob wir derartige Vorhaben billigen oder gar tatkräftig unterstützen können. Diese ständige Präsentation vollendeter Tatsachen kann von mir nicht mehr länger hingenommen werden. Dies zu vermitteln galt mein direkter Besuch bei Ihnen. Dass ich darauf verrzichtet habe, Sie gleich danach von der inneren Sicherheit festnehmen und wegen mutwilliger Beeinträchtigung einer Amtsperson in leitender Stellung in Tateinheit mit magischer Geistesmanipulation in Untersuchungshaft nehmen zu lassen beruht auf folgenden Dingen. Zum einen habe ich keinen Beweis dafür, dass Sie mir diese heimtückische Falle gestellt haben, dass mich gleich zwei weibliche Veelas mit ihrer besonderen Kraft niederrangen und mir ihren Willen aufzuzwingen wagten, so dass ich wahrheitswidrig meinen Kollegen in Kiew und Bukarest mitteilte, dass ich diese beiden fremden Veelas nicht bei Ihnen antraf. Sie mögen das für eine Abwertung Ihrer Person ansehenoder nicht, doch ich traue Ihnen nicht zu, dass sie diesen unverfrorenen Individuen auch nur einen kleinen Befehl erteilen können. Somit muss ich zu meinem größten Bedauern davon ausgehen, dass Sie von diesem Angriff keine Vorahnung hatten und ich auch noch so seltennaiv war, nicht auf Ihre Warnung zu hören, dass Sie sich ja noch "im Gespräch" befanden, als ich bei Ihnen anklopfte. Des weiteren kann und will ich mich nicht der Peinlichkeit preisgeben, mir von einem Heiler oder einem anderen vorhalten zu lassen, die Kräfte einer Veela zu unterschätzen. Da mir zudem wohl die vereinte Kraft zweier oder dreier Veelas entgegengeschleudert wurde wäre eine öffentliche Anklage wider Sie gleichbedeutend mit einem Schuldeingeständnis meinerseits, mich so unbedacht in diese Lage gebracht zu haben, dass mir die drei alles mögliche hätten abverlangen können. Zum dritten muss ich nach den Berichten Madame Belle Grandchapeaus und Monsieur Champverds zumindest für möglich halten, dass jene dunkle Hexe, die sich laut einigen Aussagen schon Italien und Deutschland Untertan gemacht haben soll, auch die internationale Zaubererweltkonföderation unterwerfen wollte. Dennoch gilt es weiterhin, dass wir mit allen Zaubereiministerien in vertrauensvoller, friedlicher Koexistenz leben müssen und daher jede von uns ausgehende Beeinträchtigung deren interner Arbeit unterlassen müssen. Eigentlich wäre mir das Schicksal der Veelas in Osteuropa und sonstwo auf dieser Erde gleichgültig, weil wir dafür nicht zuständig sind. Doch diese drei Besucher von Ihnen haben mir unauslöschliche Angstvisionen in mein Gedächtnis getrieben, dass jede gegen sie zielende Unternehmung deren unschuldige Nachkommen an Leib und Leben gefährde. Somit kann ich jetzt nicht mehr gegen Sie vorgehen, weil Sie der einzige Sind, der zwischen uns und denen vermitteln kann. Die Ministerin erwähnte uns Abteilungsleitern gegenüber, dass nur die Veelastämmigen uns gegen ihre entartete entfernte Verwandte helfen können. Dabei bin ich persönlich mir nicht sicher, dass diese Ladonna Montefiori wirklich entartet ist, wo es behauptet wird, sie sei die Nachgeborene aus den Linien von Menschen, Veelas und Sabberhexen. Auch habe ich keine weitere Lust, mich ständig als Ignorant und indirekter Kollaborateur dieser dunklen Hybridin Ladonna Montefiori behandeln zu lassen, nur weil ich im Gegensatz zu manchen anderen höheren Beamten der Auffassung bin, dass wir uns an die geltenden Gesetze halten müssen, auch und vor allem, um uns nicht von anderen in der Ausübung unserer Tätigkeiten beeinträchtigen oder zu Gunsten von Einzelpersonen beeinflussen zu lassen. Daher nur noch dies: Die Veelas und ihr Schicksal sind Ihr alleiniges Zuständigkeitsfeld, und wohl noch das von Madam Barbara Latierre. Sollte ich jedoch erfahren, dass Sie in anderen Angelegenheiten an meiner Abteilung vorbei mit ausländischen Stellen konspirieren, um die Arbeit anderer souveräner Zaubereiadministrationen zu beeinträchtigen werde ich nicht umhinkommen, sie doch noch vor den Ausschuss zur Ahndung von Gesetzesverstößen im Amt vorladen zu lassen. Wie Sie wohl hoffentlich wissen kann der Ausschuss Strafen von sofortiger Entlassung aus dem Amt einschließlich Verlust aller Pensionsansprüche und Rückzahlung erstatteter Gehälter bis zu fünf Jahren Rückwirkend bishin zu einer zehnjährigen Haftstrafe in der Festung Tourresulatant und die Einziehung aller von Ihnen im Zeitraum der Gesetzesverstöße angesammelten Vermögenswerte aussprechen. Sie sind hiermit gewarnt.
In der Hoffnung, nicht so schnell wieder mit Ihnen zu tun zu bekommen verbleibe ich
mit besten Wünschen für eine für uns alle erfolgreiche Arbeit
Gustave Chaudchamp, Leiter AIMZ
Barbara Latierre schrieb:
Sehr geehrter Monsieur Latierre,
noch einmal vielen Dank für Ihre Mitteilung, dass die von Verfolgung und gar physischer Vernichtung bedrohten Veelas aus Rumänien und der Ukraine Sie als europäischen Veelabeauftragten aufsuchten, um mit Ihnen die Lage derer Verwandter in Übersee zu besprechen. Da jede sich daraus ergebende Unternehmung eine gewisse rechtliche Brisanz in sich birgt, nämlich jene, der bewussten Einmischung in innere Angelegenheiten ausländischer Zaubereiministerien angeklagt werden zu können empfehle ich Ihnen als Gesamtleiterin der Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Wesen, alle nicht mit den Veelastämmigen auf unserem Hoheitsgebiet und den Überseeterritorien befassten Angelegenheiten als von den Veelas auf unserem Hoheitsgebiet erachtete Familienangelegenheiten einzuordnen und bei jeder Angelegenheit, wo auswärtige Stellen einzubeziehen sind, diese unverzüglich auf eine mögliche Gefahrenlage hinzuweisen, aber ansonsten denen die Einschätzung und Abwicklung zu überlassen. wie Sie das tun möchte ich Ihrer eigenen, doch schon hinreichenden Erfahrung überlassen. Auch wenn mir persönlich die Gegenwart vor allem weiblicher Veelas einen naturgemäßen Widerwillen bereitet muss ich gerade in meiner Verantwortung für alle Zauberwesen unseres Landes darüber klar sein, dass auch diese Wesen ein Lebensrecht genießen, solange Einzelwesen nicht gegen unsere Gesetze verstoßen und dann natürlich entsprechend zu belangen sind, sofern die es nicht gleich so dreist anstellen, dass eine Verfolgung oder gar Bestrafung unschuldige Leben gefährden kann. Sie wissen ja, worauf ich mich beziehe.
Auch ist unstrittig, dass jedes Zauberwesen, einschließlich Vampir, Troll oder Waldfrau, gewisse Eigenschaften besitzt, die in vergangenen Zeiten bereits konstruktive Möglichkeiten für die Zaubererwelt erschlossen und diese vielleicht auch in der Zukunft tun werden. So haben wir ja zusammen mit Mademoiselle Ventvit darauf hinwirken können, dass die Riesin Meglamora auf französischem Boden leben kann und es sogar ermöglicht, dass sie hier zwei weitere Kinder zur Welt brachte. Denn ohne das Blut von Riesen wäre der Schlangenmenschenplage in Australien nicht so schnell beizukommen gewesen. Da haben Sie, wenn ich richtig unterrichtet bin, einen gewissen Anteil dran. Ja, und gerade jetzt, wo wir von einer teilweise veelastämmigen an Freiheit, Leib und Leben bedroht werden gilt, dass alle Mittel genutzt werden sollten, ihrer Macht entgegenzuwirken. Da sie ihre teilweisen Veelakräfte zur Ausübung ihrer Macht missbraucht ist es sehr von Vorteil, wohlgesinnte reinblütige Veelas oder deren Nachkommen auf unserer Seite zu wissen, um die bestehende Bedrohung von uns und anderen abzuwenden. Daher dürfen Sie sich der vollen Unterstützung meiner Abteilung sicher sein, wenn es gilt, die Existenz der Veelas auf unserem Hoheitsgebiet und derer Familienangehörigen in anderen Ländern zu schützen. Wie erwähnt im Rahmen familiärer Anliegen der hier lebenden Veelas und Veelastämmigen. Ich bin mit der Ministerin darüber eingekommen, dass die Veelas eine einzige große Familie sind, wie die Clans in Schottland oder die Volksstämme in Afrika, Asien oder Australien. Daher darf ich in meiner Eigenschaft als höchstverantwortliche Amtsperson für menschengestaltliche Zauberwesen klarstellen, dass alle Veelas in gewisserweise miteinander verwandt und somit in maximaler Ausschöpfung des Begriffes Familienangehörige sind. Da Sie als Büroleiter für die Vermittlung zwischen Menschen und Veelastämmige nur einen Rang unter meinem stehen dürfen Sie diese Entscheidungshilfe auch gerne als verbindlichen Auftrag verstehen. In Absprache mit Ihrer direkten Vorgesetzten, Mme. Nathalie Grandchapeau, spreche ich Ihnen mein Vertrauen aus, die gegenwärtigen und zukünftigen Angelegenheiten der Veelas innerhalb und außerhalb Frankreichs zur vollsten Zufriedenheit zu erfüllen.
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Latierre, Leiterin AEBMW
Julius steckte die beiden Schreiben sorgfältig fort. Gerade das von Chaudchamp wollte er im Bedarfsfall griffbereit haben.
Julius ging in den Rechnerraum und begann dort die Tagesschicht zusammen mit Louis Vignier und Jacqueline Richelieu. Als er auf seinem eigenen Benutzerkonto eine E-Mail seiner Mutter fand fühlte er die Anspannung. Er las:
Hallo mein Sohn!
Sicher wirst du die Nachricht erst in deinem Büro lesen. Doch ich möchte, bevor ich mich zur Ruhe lege sicher wissen, dass du es erfährst.
Da ich ja noch im Mutterschaftsurlaub weile ist das hier nichts wirklich offizielles. Ich weiß aber nicht, wann dir eine offizielle Mitteilung zugeschickt wird, falls überhaupt jemand befindet, dich informieren zu müssen.
Um 22:20 Uhr Ortszeit landete der erste von insgesamt acht Portschlüsseln im Zentrum von Viento del Sol. Nachdem, was mein Mann Lucky mir erzählt hat leuchteten die alle nicht blau, silbern, gelb oder Sonnenaufgangsrot, sondern smaragdgrün. Woran das liegt könnte dir der Ausrüstungswart des Laveau-Institutes erklären, falls er will und darf. Jedenfalls brachten die acht Portschlüssel fünfzig veelastämmige Männer, Frauen und Kinder mit. Sie alle wirkten so, als seien sie gerade noch vor einer Katastrophe geflüchtet. Wir hatten es ja davon, dass die Veelas in Europa fürchten, dass sie und ihre Verwandten hier bei uns zum Abschuss freigegeben werden könnten. Dies dürfte wohl in den Staaten und dem Rest der Föderation eingetreten sein. Jedenfalls wirkten sie laut meinem Mann sichtlich erschöpft und wollten sofort ins sichere Haus, dass der Gemeinderat für diesen Fall eingerichtet hat. Laut Lucky scheint ihnen irgendwas zuzusetzen, vielleicht die kalifornische Luft oder der über unserer Gemeinde wirkende Feindesabwehrzauber. So genau weiß das gerade keiner. Wenn ich wieder wach bin - was nach der Erfahrung mit deiner ganz kleinenSchwester um halb vier unserer Ortszeit der Fall sein dürfte - werde ich hoffentlich mehr erfahren und es dir ungeachtet dessen, dass du es bis dahin vielleicht schon von mehreren Stellen übermittelt bekommen hast, mehr berichten können. Ich gehe aber davon aus, dass der mit dem LI ausgemachte Fall "Goldene Brücke" eingetreten ist. Vielleicht ist es nicht unpraktisch, schon mal die nötigen Vorbereitungen zu treffen.
Bis dann!
deine dich liebende und achtende Mutter
Dann fand Julius noch ein Schreiben von Brenda Brightgate, die seit ihrem spektakulären Abschied aus dem Dienst der CIA und dem Mutterschaftsurlaub seiner Mutter die hauptamtliche Korrespondentin des LIs war. Auch sie bestätigte, dass acht gesondert ausgegebene Portschlüssel eingesetzt wurden, um alle fünfzig Veelastämmigen nach Viento del Sol in Sicherheit zu bringen. Den Aussagen verschiedener Ankömmlinge nach seien sie gerade so noch vor auf ihre Wohnhäuser losstürmenden Truppen blau vollvermummter Leute geflüchtet, die sie mit dem Todesfluch und Armbrustbolzen angegriffen haben sollen. die Überprüfung der betreffenden Wohnorte ergab, dass dort wirklich magische Zerstörungskräfte freigesetzt worden waren. Bei einer Familie aus Seattle sei sogar eine veritable Boden-Luft-Rakete mit einem kombinierten Brand-Sprengsatz eingeschlagen. Dieser hätten sie nur entgehen können, weil das Geschoss als feindlicher Gegenstand erkannt wurde und alle Angehörigen der Familie zehn Sekunden vor dem Einschlag den Portschlüssel erreicht und ausgelöst hatten. Sie seien jedoch mit nichts als der bereits getragenen Nachtkleidung am Leib entkommen und hätten alle ihr bewegliches Eigentum zurücklassen müssen. Dies konnte durch die vom LI eingerichteten Überwachungsmaßnahmen bestätigt werden.
Laut der hinzugezogenen Heilerin Mia Silverlake und der Ortsansässigen Heilerin Chloe Palmer steht zu befürchten, dass die nach VDS geflohenen Veelastämmigen die dortige Atmosphäre oder den dort wirkenden Schutzzauber nicht vollständig vertragen. Sie verloren rasch an Körperausdauer und mussten zur Wahrung ihrer Unversehrtheit in magischen Tiefschlaf versetzt werden, was sich bei den erwachsenen Flüchtlingen als schwierig erwies, da diese eine natürliche Immunität gegen Körper und Geist betreffende Zauber besitzen und somit nicht so tief schlafen wie es der Zauber sonst bewirkt. Bei Sonnenaufgang werden die besagten Heilerinnen das noch einmal genauer untersuchen. Sollte sich erweisen, dass die Geflüchteten nicht dauerhaft in VDS bleiben können müssen wir wohl den Fall "Goldene Brücke" ausrufen. Mein Vorgesetzter hat mich beauftragt, Sie über diesen Umstand zu informieren.
"Oha, könnte echt sein, dass die den alten Indianerzauber nicht vertragen können, den die Leute in VDS aufgerufen haben", dachte Julius und las dann noch ein Rundschreiben aus Kanada, das im wesentlichen eine Fahndungsmeldung war. Angeblich hätten zwanzig Bewohner der Föderation zusammen mit den zu Todfeinden erklärten Angehörigen der Sekte der Mutter der Nachtkinder Anschläge auf ranghohe Administrationsangehörige verübt und hätten sich durch die Anwendung nichtmenschlicher Magie der Festnahme entzogen. Es werde dazu aufgerufen, die Gesuchten unverzüglich handlungsunfähig zu machen oder bei Widerstand gegen die Festnahme maximale Gewaltmittel einzusetzen, da die betreffenden höchst gefährlich seien und versuchen könnten, arglose Menschen zu ihren willenlosen Gehilfen zu machen. Es wurde in dem Zusammenhang erwähnt, dass die Veelastämmigen sich mit den Vampiren verbündet haben sollten, um eine Allianz der Übermenschlichen zu gründen. Diesbezügliche Hinweise seien im Zaubererviertel von Chicago gefunden worden, wo die gesuchte Helianta Bluewater lebte. Auch wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jegliche Unterstützung der Flüchtigen im In- und Ausland als Akt der Kolaboration mit den Mitgliedern der Vampirsekte und damit als feindlicher Akt gegen die Administration der Föderation und gravierende Einmischung in die Angelegenheiten der Föderationsländer betrachtet werde.
"Oh, ihr Schweinepriester habt ja gar kein Kopfgeld auf die Gesuchten ausgesetzt. Habt ihr in Yankeeland kein Gold mehr?" fragte Julius leise. Jedenfalls war die Ungewissheit vorbei. Die Veelas galten in den Staaten als Todfeinde, die am besten tot abgeliefert werden sollten. Am Ende setzten diese von Ladonna unterworfenen noch Skalpprämien aus wie in der nordamerikanischen Kolonialzeit. Auch ging die Mitteilung, dass jede Unterstützung der Gesuchten als feindlicher Akt eingestuft wurde gegen das Laveau-Institut und auch gegen die noch frei handlungsfähigen Ministerien Frankreichs, Großbritanniens und Griechenlands. Ob Chaudchamp ihm deshalb doch noch eine Aufforderung schickte, sich aus allem rauszuhalten. Ihm juckte es in den Fingern, den Kanadiern eine Antwort zu schicken, dass die nur Angst vor den Veelastämmigen hatten, weil die als einzige die von Ladonna unterworfenen Hexenund Zauberer entlarven konnten und dass die wahre Todfeindin in Italien in einer Villa bei Florenz wohnte. Doch er besann sich, dass es der Vereinbarung mit dem LI und den Veelastämmigen nicht nützen würde, derartig provokant zu texten. Abgesehen davon wusste er nicht, wie viele Föderationsbeamte schon von Ladonna unterworfen worden warenund wie viele noch frei handeln konnten, wenn sie denn wüssten, wem ihr Rat jetzt diente. Zumindest würden es viele Bürgerinnenund Bürger innerhalb der Föderation abkaufen, wo die immer schon auf die Pauke schlugen, dass die Vampire und Werwölfe ihrer aller größten Feinde waren.
Das klingende Signal für eine neue Mail brachte Julius darauf, den Posteingang zu prüfen. Er fand eine Nachricht von Pina Watermelon, die ihm im besten Amtsenglisch die Frage stellte, ob er auch die Meldung aus Kanada gelesen habe und ob er die Auffassung teile, dass die Veelastämmigen mit den Vampiren gemeinsame Sache machten. Er schrieb ihr ebenso hochamtlich zurück, dass er die Nachricht aus Kanada als Aufruf zur Tötung der Gesuchten verstand und dies aus dem Grund, dass die Kanadier und überhaupt viele in Amerika befürchten mussten, dass die Veelastämmigen herausfanden, wie viele geheime Unterstützer und Gefolgsleute Ladonna Montefiori bereits habe. Daher müsse er als Veelabeauftragter sehr behutsam auf diese Meldung reagieren, bis er einen der Gesuchten persönlich sprechen könne. Doch dies sei ja schwierig, wenn diese als überaus gefährlich beschrieben wurden und sie sich dann wohl erst einmal vor allen Hexen und Zauberern versteckten.
Bärbel Weizengold schrieb ihm in nicht ganz so amtlicher Schreibweise, ob jetzt "die Endlösung der Veelafrage" umgesetzt werde. Das war heftig, fand Julius. Er schrieb zurück, dass Ladonna Montefiori die Veelas als ihre größten Feinde ansah und sie deshalb von ihren Gefolgsleuten umbringen lassen wollte, wobei jedoch wohl nicht die unmittelbar von ihr unterworfenen dies tun durften, weil sie sich Veelas wohl nicht auf die nötige Reichweite nähern konnten. Er erwähnte nicht, dass die von Ladonna beeinflussten Föderationsbeamten sogar nichtmagische Fernlenkwaffen einsetzten, was hieß, dass es bei denen Leute gab, die sich mit sowas auskannten.
Fast hätte er den 10-Uhr-Termin verpasst. Er musste sich beeilen, die eingetroffenen E-Mails auf Papier zu drucken. Eine Ausgabe bekam Nathalie, eine seine Schwiegertante Barbara und der Zauberwesenbüroleiter Delacour, und eine Ausgabe bekam Chaudchamp, auch wenn ihn das vielleicht doch zu einer Blockadehaltung verleiten mochte, wo gerade er erfahren hatte, wie mächtig entschlossene weibliche Veelas sein konnten. Doch Julius musste davon ausgehen, dass Chaudchamp die kanadische Rundmail als Eulenpost serviert bekam, vielleicht nicht heute, aber doch sehr zeitnahe. Besser wenn er ihm zeigte, wie schnell sein Büro an neue Nachrichten kam und dass er auch die Nachrichten weiterleitete, die ihm nicht sympathisch waren.
"Erläutern Sie uns allen bitte noch einmal die Funktionsweise einer Luft-Boden-Rakete, Monsieur Latierre", bat Nathalie den Veelabeauftragten und Leiter der Unterbehörde für elektronische Nachrichtenerfassung und Überwachung. Dieser nutzte die im Konferenzraum vorhandene Laterna Magica mit räumlichen Bildillusionen, die er damals für Claire erfunden hatte, um die Kriegswaffen der nichtmagischen Welt zu erklären. als er eine Luft-Boden-Rakete zwischen ihnen allen einschlagen ließ und sie alle den lauten Explosionsknall hörten sagte er: "Mit diesen Waffen können Hitzequellen am Boden, mit Laserstrahlen, also extrem gebündeltem Licht markierte Ziele oder bestimmte geographische Koordinaten angegriffen werden. Jedenfalls können so auch bewegliche Ziele aus einer Entfernung zerstört werden, dass der Schütze, meistens ein Flugzeugpilot, die Wirkung des Treffers nicht mit eigenen Sinnen erfährt. Daher eignet sich eine lenkbare Rakete genausogut wie eine einfach auf ihr Ziel abgeworfene Bombe zur skrupellosen Vernichtung von Gebäuden und vielfachen Tötung von nicht am Kampf selbst beteiligter Menschen, also ziviler Opfer. Das größtmögliche Unheil richten Kernspaltungssprengköpfe auf Marschflugkörpern an, die von Landfahrzeugen, Schiffen, Unterseebooten oder auch von Flugzeugen aus abgefeuert werden können." Hierfür ließ er noch eine aus Dokumentarfilmen erstellte Atombombenexplosion über Paris simulieren. "Also, wer solche auch schon die rein durch Verbrennungsprozesse wirkenden Fernwaffen benutzt nimmt den Tod der davon getroffenen Menschen und Lebewesen in Kauf oder will ihn bewusst herbeiführen."
"Ui! Öhm, Moment, aber dann müssten die in den Föderationsländern doch Leute haben, die sich mit sowas auskennen." Julius erinnerte alle hier an den gerade noch vereitelten Giftgasanschlag auf Millemerveilles, den der um seine Macht und seine Freiheit fürchtende Sebastian Pétain versucht hatte. "auch wenn das eine höchst gewagte Behauptung und Unterstellung ist, Madame Grandchapeau, werte Kolleginnen und Kollegen, wer den Imperius-Fluch kann kann sich an diesen Waffen ausgebildete Soldaten unterwerfen und sie zwingen, diese Waffen gegen jedes gewünschte Ziel einzusetzen. Ob die Mitarbeiter des Föderationsrates derartig skrupellos sind und ob sie nicht selbst über Kollegen verfügen, die solche Waffen einsetzen können weiß ich nicht. Ich erwähne dies nur, um klarzustellen, wie nichtmagische Kriegswaffen von magischen Menschen eingesetzt werden können", sagte Julius.
"Die könnte auch die Kampfflugzeuglenker mit ihrem Feuerrosenkerzenbann belegen", hörte er die Kleinjungenstimme von Demetrius in seinem Kopf. So sagte er: "Auch wissen wir nicht, ob es in der Föderation nicht sowohl magische wie auch nichtmagische Erfüllungsgehilfen Ladonnas gibt, möglicherweise ohne Wissen des Föderationsrates."
"Glaubst du doch selbst nicht", bekam er die Gedankenantwort von Demetrius. Ein paar Sekunden später sagte Nathalie:
"Werte Kolleginnen und Kollegen, ich zweifle an, dass Veelastämmige, auch wenn sie in Bedrängnis geraten, mit Vampiren konspirieren oder gar mit diesen auf eine neue Weltordnung hinwirken. Da will jemand von sich selbst ablenken, und wer das ist wurde hier ja schon hinlänglich besprochen. Monsieur Latierre, falls Sie von Madame Léto gebeten werden sollten, die in VDS angekommenen Veelastämmigen nach Frankreich herüberzuholen haben Sie meine Erlaubnis, die Mittel unserer Behörde auszuschöpfen, um dieses Vorhaben so schnell, so leise und so gründlich es geht durchzuführen und abzuschließen. Hierzu werden Sie und ich gleich mit der Ministerin persönlich konferieren, um alle nötigen Schritte auf möglichst kurzen Dienstwegen zu vollziehen. Auf jeden Fall vielen Dank für Ihre Beschreibung der angewandten Kampfmittel."
"Öhm, wenn die italienische Dunkelhexe auf solche Mittel zugreift könnten nicht auch wir in Paris damit angegriffen werden?" wollte Monsieur Lepont wissen. Nathalie Grandchapeau überlegte oder hörte in ihren unter der Umstandsverhüllungskleidung versteckten Babybauch hinein. Dann sagte sie: "Ja, sie könnte zu solchen Mitteln greifen. Doch damit würde sie ihre Ablehnung nichtmagischer Gerätschaften widerlegen und vor allem zugeben müssen, dass sie mit ihrer eigenen Magie nicht weiterkommt, weil sonst hätte sie längst auf diese Kampfmittel zurückgegriffen." Julius nickte. Das war logisch. Wenn Ladonna keine Skrupel hatte, nichtmagische Waffen zu benutzen wäre Paris wohl schon längst bombardiert worden. Er erwähnte deshalb das Wort vom Zauberer- und Hexenstolz und fügte dem unter Bezug auf eine Aussage Catherine Brickstons hinzu, dass Ladonna Sardonia überlegen sein wollte. Wenn sie dafür nichtmagische Mittel benutzen müsse war sie es nicht.
"Hmm, könnte dann nicht jemand ohne ihre Einwilligung so eine Rakete benutzt haben?" fragte Rose Devereaux. Julius nickte heftig. Nathalie überlegte wieder. Dann sagte sie: "Dann hätte der oder diejenige aber heute einen schlechten Tag. Aber sogesehen muss sie ja laut Monsieur Latierre auf die Leute zurückgreifen, die sie nicht mit ihrer Feuerrosenkerze unterworfen hat. Die kann sie wohl nur durch großzügige Belohnungen oder die Androhung von schlimmen Zerstörung und Mord gegen Familienangehörige lenken aber nicht unmittelbar wissen, welche Mittel sie zur Durchführung des Auftrages verwenden."
"Aber was passiert jetzt mit den Veelastämmigen, wenn die echt nach Europa kommen? Die können doch nur in England, Griechenland und bei uns unterkommen?" sagte Rose Devereaux.
"Da haben Sie Recht, Mademoiselle Devereaux", sagte Nathalie. "Und zu Ihrer Frage: Die Geflüchteten werden wohl bei anderen Veelastämmigen Unterschlupf suchen. Es könnte nur sein, dass nicht nur die amerikanischen Veelastämmigen zu uns fliehen, wenn es stimmt, dass die Verfolgung aller Veelas weltweit ausgerufen wurde."
"Ja, und noch was", setzte Julius an, nachdem er noch einmal ums Wort gebeten hatte. "Die Behauptung, dass die Veelas sich mit den Vampiren zusammengetan haben sollen könnte eine selbsterfüllende Prophezeiung werden. Nicht dass die Veelas auf die Vampire zugehen. Aber diese könnten von ihrer Abgöttin dazu beauftragt werden, die Veelas als ihre Verbündeten zu gewinnen. Außerdem gibt es ja noch etliche hundert freie Vampire, die nicht dieser falschen Göttin huldigen. Aber das darf dann gerne das Vampirüberwachungsbüro von Monsieur Charlier bearbeiten."
"Dann kommen wir zu den drei weiteren Tagesordnungspunkten", sagte Nathalie, die die anderen Sachen auch noch gerne heute abhandeln wollte.
Um Elf Uhr trafen Nathalie und Julius bei der Ministerin ein. Dort waren auch Barbara Latierre und Gustave Chaudchamp, der seinen Unmut gerade so beherrschte, Julius nicht gleich anzuflaumen.
"So dürfen wir davon ausgehen, dass die in Viento del Sol untergekommenen Veelastämmigen vielleicht nach Europa überwechseln müssen, falls stimmt, dass sie etwas dort vorhandenes nicht vertragen", sagte Ministerin Ventvit. "Besteht ein Aktionsplan, wie die Betreffenden herübergeholt und bei wem sie untergebracht werden sollen, Monsieur Latierre?" Julius bejahte die Frage und legte dar, was sie vor dem 15. Mai besprochen hatten. "Ja, aber dazu brauchen Sie klare Anträge auf Unterbringung namentlich erwähnter Personen", sagte Chaudchamp. Die Ministerin nickte. Julius bestätigte, dass die betreffenden Formulare bereits an alle in Frankreich beheimateten Veelastämmigen versandt wurden, da gerade nach dem 15. Mai damit zu rechnen war, dass überall dort, wo bereits eine Verfolgung von Veelastämmigen stattfand, entsprechende Flüchtlingswellen ausgelöst werden mochten. "Im Grunde liegt es nur an der Verbundenheit zu ihrem Geburtsland, dass die reinblütigen Veelas noch nicht aus Russland, Bulgarien, Polen oder Rumänien geflüchtet sind. Es darf jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sie unter einem genügend hohen Druck aus ihren angestammten Lebensräumen flüchten. Dann müssten wir alle, die wir hier gerade sitzen, ein für unsere Mitbürger erträgliches Asylverfahren festlegen. Wir müssten uns dann auch bewusst sein, dass wir von allen gegen Veelas vorgehenden Zaubereiministerien geächtet werden, was auch heißt, dass wir und alle unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht mehr ohne Gefahr für Freiheit oder Leben über unsere Hoheitsgrenzen verreisen können."
"Ja, und dann haben wir genau die Lage, die ich zu vermeiden suche, Ministerin Ventvit und alle Anwesenden. Die Nachbarländer wollen uns als Mitglieder einer Koalition gegen alle Feinde der magischen Menschheit gewinnen. Gleichzeitig drohen sie uns zwischen den Zeilen an, dass sie uns aus allen bisher geltenden Vereinbarungen ausschließen. Wenn ich nicht verbindlich erfahren hätte, dass es diese Rauchkerzen Ladonnas wirklich gibt müsste ich Sie alle hier darauf hinweisen, dass ich bei Nachfrage den Aufenthalt von ausländischen Veelastämmigen preisgeben muss. Komme ich dem nicht nach werden wir alle in unserem Land eingesperrt sein. Denn was im dunklen Jahr in Großbritannien und vor kurzem in Italien geschehen ist könnte sich in allen Nachbarländern wiederholen und wir somit von einer Todeszone eingeschlossen werden. Außerdem gibt es Handelsbeziehungen mit den anderen Zaubereigemeinschaften. Brechen die zusammenwird Monsieur Fourier laut aufschreien."
"Das bezweifel ich, dass die Kobolde sich von Ladonna Montefiori diktieren lassen, mit wem sie handeln", sagte Barbara Latierre. "Da müsste Ladonna schon mit dem großen, grauen Eisentroll drohen oder das ominöse Bannwort kennen, mit dem jeder Kobold zum gehorsamen Gehilfen gemacht werden kann." Julius zwang sich, nicht zustimmend zu nicken. Denn er gehörte zu den ganz wenigen, die jenes Bannwort kannten und schon verwendet hatten.
"Somit halten wir drei Dinge fest", begann die Ministerin. "Wir gewähren den in Viento del Sol untergeschlüpften Veelastämmigen Asyl bei uns, sofern hier lebende Veelastämmige Ihnen Obdach anbieten und für ihre Integrität bürgen. Zweitens beobachten wir die Entwicklung in Europa, ob dort wirklich eine Verfolgung aller Veelas und ihrer Nachkommen stattfindet. Ist dem so, werden wir uns entscheiden, ob wir für die fliehenden Auffang- und Unterbringungsstätten errichten und wie wir dies mit allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zusammen hinbekommen. Ich möchte darauf verweisen, dass Veelas und ihre Nachkommen nicht bei allen beliebt sind. Es muss also etwas geben, was uns in allen Augen berechtigt, sie zu schützen. Drittens gilt es weiterhin, geheime Hilfskräfte Ladonnas in Frankreich aufzuspüren und Anschläge auf uns zu verhindern. Ja, Monsieur Latierre?" Chaudchamp stöhnte verdrossen. Julius sah die Ministerin und dann alle Anwesenden an und sagte:
"Was die Begründung für den Schutz aller Veelas angeht haben wir diese schon im Einsatz erlebt, Messieursdames et Mesdemoiselles. Da sie, Ministerin Ventvit, den Einsatz der gefälschten Rauchkerze in Genf erwähnt haben möchte ich unter dem Siegel der Vertraulichkeit darauf hinweisen, dass diese Kerze von Veelastämmigen gefertigt wurde. Sollte sich erweisen, dass damit unterworfene Zaubereiministerien befreit und in ihre gerechtfertigte Eigenständigkeit zurückgeführt werden können, so geht dies nur mit Hilfe der Veelas und ihrer Blutsverwandten."
"Klar, Sie werfen die Kerzen über jedes Ministerium ab, das Sie verdächtigen, dieser Unholdin untertan zu sein", grummelte Chaudchamp. Die Ministerin räusperte sich und sagte dann: "Bringen Sie in Erfahrung, wie viele solcher Kerzen in einem Zeitraum von einem Monat gefertigt werden können, Monsieur Latierre. Wie wir sie dann wo zum Einsatz bringen können müssen wir danach beschließen. Denn wie wir auf geheime Hilfskräfte Ladonnas in unserem Land achten müssen wird sie sicherlich auch auf geheime Einsatztruppen unsererseits vorbereitet sein." Julius nickte. Er ärgerte sich, dass er am Ende genau da gelandet war, wo er nie hinwollte, in einen heimlichen Krieg zwischen Spionen und Gegenspionen, wie ihn sein Beinahe-Patenonkel Rodney Underhill jahrelang mitgemacht hatte. Doch weil er wusste, dass sein eigenes Lebenund die Leben seiner Familienangehörigen unmittelbar bedroht war musste er wohl bei diesem höchst fragwürdigen, wohl auch schmutzigem Spiel mitmachen. Er konnte nur hoffen, dass er am Ende keinen Schaden an der eigenen Seele davontrug.
Da er nun die Erlaubnis der Ministerin hatte, den in VDS gelandeten Veelastämmigen Asyl in Frankreich anzubieten nutzte er die Nachmittagsstunden, sich mit Léto und ihren ältesten Töchtern zu treffen. Sie sagten sofort zu, die fünfzig Geflüchteten in ihrer Nähe oder in ihren eigenen Häusern unterzubringen. Das teilte er dann den zuständigen Abteilungsleiterinnen und -leitern mit, darunter auch Belenus Chevallier, dem Leiter der Abteilung für magische Gesetzesüberwachung und Strafverfolgung.
Er wusste, dass es spät war. Doch er ging noch einmal in den Rechnerraum und schickte an das Laveau-Institut eine Meldung, dass sich alle in Frankreich lebenden Abkömmlinge der Urmutter Mokusha besorgt zeigten, ihren in Übersee lebenden Verwandten ginge es gerade nicht gut und sie ihnen daher Unterkunft anboten. Kurz vor halb sechs bekam er zwei Nachrichten, eine aus Viento del Sol und eine aus dem Sumpfland von New Orleans. Seine Mutter schrieb, dass die fünfzig Geflüchteten nur bei Sonnenlicht unbeschwert in Viento del Sol verweilen konnten und bei Nacht statt erholsamem Schlaf eine zusätzliche Erschöpfung erleiden mussten und sie deshalb mit dem letzten noch bei Sonnenlicht startendem Luftschiff nach Millemerveilles ausgeflogen würden.
Brenda Brightgate schrieb ihm, dass nach mehreren Heilergutachten erforderlich sei, die fünfzig Geflüchteten außerhalb von Viento del Sol unterzubringen, da der dort immer noch wirksame Protectio-Nativorum-Zauber auf die magische Beschaffenheit der Veelastämmigen wie ein unsichtbarer Vampir wirke, der ihnen in der Nacht langsam aber sicher Lebenskraft entziehe und die Veelastämmigen wohl nur bei Sonnenlicht dort verweilen durften. Insofern danke das LI den Veelastämmigen in Frankreich, dass diese es kurzfristig beschlossen hatten, die Geflüchteten aufzunehmen. Laut Brenda würden die Geflüchteten am 19. Mai um 07:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Millemerveilles eintreffen. Julius druckte diese klare Mitteilung mehrfach aus und verteilte sie an die zuständigen Stellen. Dann übergab er Primula Arno die Abendschicht im Rechnerraum.
Als Julius im Apfelhaus apparierte fand er einen Zettel auf dem Tisch der Wohnküche. Seine Mitbewohnerinnen und der kleine Mitbewohner waren bei den Dumas. Er verzog das Gesicht. Wegen dieses langen Tages mit allen nötigen Amtshandlungen hatte er den Zwillingsgeburtstag von Estelle und Roger nicht richtig mitkriegen können. Sofort zog er sich einen helleren Umhang an, griff sich seinen Ganymed 10 und apparierte vor das Haus der Dumas'. Dort empfing ihn fröhliches Lachen und Singen. Er hörte seine Tochter Aurore heraus, die mit Sandrines Zwillingen sang.
Geneviève Dumas und Sandrine freuten sich, dass er es doch hatte einrichten können, dazuzukommen. Er entschuldigte sich für die Verspätung und hoffte, dass er die beiden noch beglückwünschen dürfe. "Wir haben dir sogar noch was von der Geburtstagstorte übriggelassen", grinste Sandrine. Dass sie alleinerziehende Mutter und junge Witwe war sah ihr heute keiner an. Sie freute sich, dass ihre beiden bisher einzigen Kinder jetzt auch zu den etwas größeren Kindern dazugehören durften.
Julius beglückwünschte die beiden Kinder, bei deren Geburt er vor sechs Jahren mitgeholfen hatte. Er erkannte einmal mehr, wie schnell die Zeit vergehen konnte, wenn genug Kinder da waren, an denen die Großen das ablesen konnten.
Die Latierres blieben bis um halb neun. Dann mussten alle Kindergartenfreunde von Aurore, Estelle und Roger nach Hause. Auch für Clarimonde und Chrysope war es Zeit. Sandrine bedankte sich noch einmal bei Julius, dass er es doch noch hatte einrichten können, herzukommen. Da er ihr und ihren Eltern nicht erzählen durfte, warum er heute so lange im Büro gewesen war sagte er nur, dass er jetzt wegen der neuen Aufgaben schnell die vergehende Zeit aus den Augen verlor und froh sei, wenn ihn jemand daran erinnerte, wann Feierabend sei. Das brachte Sandrine zum grinsen.
Millie brachte die drei kleinen im Korb des Familienbesens mit, während Julius mit Aurore auf seinem Ganymed 10 flog und Béatrice Clarimonde und Chrysope auf ihrem Ganymed 15 bugsierte. Behutsam ging es wieder zum Apfelhaus zurück. Dort wurden die Kinder nacheinander zu Bett gebracht. Am Ende des Tages trafen sich die drei erwachsenen Hausbewohner wieder im Musikraum, um kurz über das zu reden, was Julius heute erlebt hatte.
"Und, hast du es schon mitbekommen, dass wir morgen Früh wen dazukriegen", fragte Millie. Julius bestätigte das und hielt ihr einen der noch erstellten Ausdrucke hin. "Die fliegen um acht Uhr ihrer Zeit los und sind um zehn Uhr ihrer Zeit bei uns, also um sieben Uhr morgens unserer Zeit. Da das in ganz Millemerveilles rum ist werde ich da morgen früh hingehen und beobachten." Julius nickte ihr zu. Sollte doch die magische Öffentlichkeit erfahren, dass in der achso freien Föderation nordamerikanischer Hexen und Zauberer eine Verfolgung von andersartigen Zauberwesen stattfand, weil diese einer bestimmten Dame zu ebenbürtig waren. Die würde das natürlich auch mitbekommen und sicher reagieren. Doch vor ihr zu kuschen war keine Lösung, fand nicht nur Millie Latierre.
Spät abends rief Julius seine Mutter noch mal über das Armband. Brittany war bei ihr. "Tante Martha meinte, du würdest dich entweder noch mal bei ihr oder bei mir melden, Julius", sagte Brittany aus dem halben Hintergrund heraus. "Du hast es also mitbekommen, dass wir unsere Flüchtlinge nicht bei uns unterbringen können, weil die uns trotz voller Bäuche verhungern und verdursten könnten." Julius bestätigte das. "Im Moment tanken sie reichlich Sonnenlicht", sagte Julius' Mutter, während sie die kleine Rubia in ihren Armen wiegte und die nicht mehr ganz so kleinen Drillinge ihr wortwörtlich zu füßen saßen. Auch Leonidas war da, der wohl noch nicht wusste, ob er echt ein kleines Schwesterchen haben wollte. Als er das sagte meinte Julius: "Leo, sei froh, dass deine Eltern das jetzt schon beschlossen haben. Ich musste erst mal ganz groß werden und mit der Millie Aurore kriegen, bevor meine Mom noch einmal wen dazubekommen hat."
"Wie lustig, Julius", knurrte Martha Merryweather. Millie musste wirklich leise kichern. Dann erwähnten Millie und Julius, dass sie heute den Geburtstag von Sandrines Zwillingen gefeiert hatten. Martha erinnerte sich. "Oh, stimmt, ist ja zwei Wochen nach Rories Geburt passiert. Gérard hätte auf dich hören sollen, mein Sohn." Julius konnte ihr da leider nicht widersprechen. Dann ging es wieder um das eigentliche Thema.
"Jedenfalls wird Linda für den Westwind mitreisen und die Ankunft der fünfzig bezeugen", sagte Julius' Mutter. Millie grummelte, dass die doch in nur zwei Stunden nach der Ankunft den kompletten Artikel für die Temps nachlesen könnte. "sie will es mit eigenen Augen und natürlich auch Ohren verfolgen, wie die fünfzig Veelastämmigen empfangen werden", sagte Brittany. Julius nickte beipflichtend. "Und wo kommt die Kleine Lydia Barbara unter?" fragte Millie. "Die bleibt mit Gilbert bei uns in VDS, Millie", sagte ihre Schwiegermutter. Damit war auch dieser Punkt abgehandelt.
Da es in Millemerveilles bereits später Abend war verabschiedeten sich alle voneinander.
Es war Abend über Washington DC. Die tausend elektrischen Leuchtquellen schienen im Dunst aus tausenden von Auspuffanlagen wider. Aus allen Richtungen war das stete Brummen und Rauschen vieler Automobile zu hören. Zwischendurch wimmerte die Sirene eines Polizei- oder Ambulanzwagens und hallte von den turmhohen Stahlbetonbauten wider wie die Echos in einer Höhle schreiender Ungeheuer.
Sie kannte das alles, weil sie das Wissen einer Tochter dieser Zeit gestohlen hatte. Aber genau deshalb verabscheute sie es um so mehr, weil diese Licht- Gestank- und Geräuscheindrücke überdeutlich verrieten, wie all zu nachgiebig die Träger magischer Kräfte diesen Verpestern gegenüber waren. Sie dachte, dass sie das alles verhindert hätte, wenn diese französische Metze Sardonia sie nicht überrumpelt und in den Versteinerungsschlaf versenkt hätte. Also war auch Sardonia schuld an diesem Ausbund von unnatürlichen Sinneseindrücken, die ihr, die die empfindlichen Sinne einer grünen Waldfrau und einer Veela geerbt hatte, sichtlich zusetzten. Dennoch hatte sie ihrer Statthalterin befohlen den Föderationsrat in diese von Lärm, Licht und Gestank überquellenden Stadt zurückzuverlegen, weil das die Hauptstadt der hier lebenden Magieunfähigen war und ihr Orden der Feuerrose diese Magieunfähigen gründlich überwachen und später auch in ihrem Sinne lenken wollte.
Die völlig in schwarzen Samt gekleidete Führerin des Feuerrosenordens blickte sich mit schmerzenden Augen um. Ja, da war der geheime Einstieg. Dort war der festungsartige unterirdische Schutzraum, wo der Föderationsrat tagte, der seit dem vierten Mai ganz und gar ihrem Willen unterstand.
Die Rosenkönigin hatte sich nicht angemeldet. Sie wollte die hier tagende Versammlung gänzlich unvorgewarnt aufsuchen, weil ihr über ihre Späherinnen in den Staaten sehr unerhörte Dinge zu Ohren gekommen waren.
Weil die dunkle Königin natürlich alle Passwörter kannte konnte sie die Tür enthüllen, sie öffnen und unangefochten durchschreiten, ohne auch nur einen Meldezauber zu nutzen. Lautlos wie eine Katze auf der Pirsch stieg sie die aus Beton gegossenen Stufen hinab. Sie hörte den langen Nachhall des erregten Wortwechsels, der dort unten stattfand. Kein anderer Mensch war gerade in den Gängen.
"Ja, doch wenn sie Sie fragt, Sprecherin Bullhorn, dann werden wir nicht mehr drum herumkommen, ihr die Wahrheit zu sagen. Die waren alle vorbereitet. Selbst Hovergates Einfall mit der Nomaj-Hellfiere-Rakete hat nichts eingebracht außer einem zerstörten Haus und die Arbeit von zwanzig Obleviatoren, die alle Zeugen suchen und gedächtnisumformen mussten", hörte sie Catlock, den einst gegen jemanden wie sie vorgehenden Strafverfolgungsleiter.
"Ich habe sie zu rufen versucht", hörte sie Bullhorns Stimme und verzog ihre Lippen zu einem boshaften Lächeln. "Doch sie hat mich nicht angehört. Vielleicht ist sie noch wegen der Sache in Genf beschäftigt. Schließlich müssen wir wissen, ob jemand diesen Anschlag überstanden hat."
"Sie wird sich schon bei Ihnen melden, erste Administratorin Bullhorn. Nur dann sollten wir ihr erklären können, wieso uns diese Veelabrütigen entwischen konnten."
Ladonna befand, dass sie trotz ihrer Wut und des daraus folgenden ersten Impulses, wie eine Furie aus den alten Sagen in die Versammlung hineinzufahren erst mal warten sollte. Die waren gerade dabei, genau die Fragen zu beantworten, die sie gestellt hätte. Natürlich konnte sie eine Gedankenbrücke zu ihrer Statthalterin aufbauen. Doch das hätte diese bemerkt und wäre vorgewarnt. Nein, sie wollte sie alle überraschen. So schlich sie weiterhin näher an den geschlossenen Versammlungsaal, um weniger Widerhall aushalten zu müssen. Wieso hatten diese Kolonialnachfahren keinen Klangkerker errichtet?
"Wie sie entkommen sind ist doch völlig klar", tönte Catlock. "Jemand hat sie mit Vorwarnartefakten und Portschlüsseln versorgt, beziehungsweise, das LI und die SL haben das gemacht. Die brauchten nur zu warten, bis sie angegriffen wurden. Die sind nach Viento del Sol entkommen, dem einzigen Ort neben Misty Mountain, wo wir sie nicht ergreifen können."
"Ja, und die Königin wird fragen, warum wir das nicht verhindert haben", sagte Ladonnas Statthalterin. "Ich bitte um Verzeihung. Aber längst nicht alle unsere Untergebenen sind auf die Königin eingeschworen. Es wird noch viele geben, die uns sofort festnehmen oder töten werden, wenn sie erfahren, wem unsere grenzenlose Loyalität gilt. Ja, und wir und die wenigen anderen, die ihr bereits verbunden sind können uns diesen Abartigen nicht nähern. Das haben Hovergate und Alameda doch herausgefunden, als sie diese Chrysope Honeyfield aufsuchen wollten."
"Ja, und deshalb habe ich einen der Nomaj-Kriegsflugmaschinenlenker beauftragt, Honeyfields Haus mit einer dieser selbstlenkenden Raketen zu vernichten, bevor die merken, was passiert", sagte einer der anderen Räte, Max Hovergate, Mitarbeiter in Catlocks Abteilung und einer der drei Räte aus der US-Gruppe des Rates. "Das hat ja auch geklappt. Denn das Ding war so schnell und hatte keine eigene Magie oder Gedankenkraft ausgestrahlt."
"Sie Stümper. Honeyfield konnte entkommen, genau zehn Sekunden bevor das von Ihrem Kriegsflieger abgefeuerte Raketengeschoss einschlug. Sonst hätte sie wohl kaum zusammen mit der Dorfschulzin Hammersmith ein Interview auf VDSR 1923 geben können!" keifte die, die alle für Atalanta Bullhorn hielten. "Sie hat behauptet, eine "gute Vorsehung" habe sie und ihre Familie rechtzeitig gewarnt. Also haben die von Ihnen, Rat Catlock, erwähnten Vorwarnhilfen das Ding weit genug vom Haus entfernt erfasst."
"Ichhielt diese Methode für narrensicher, weil diese Raketen nicht von Magie oder denkenden Wesen gelenkt werden. Meine Informationsquelle berichtete, dass das Ding acht Kilometer weit fliegen und mit seinem verbesserten Sprengkopf mit Aluminiumpulverummantelung ganze Häuser zerstören kann. Deshalb haben die Honeyfields es nicht überlebt, weil sie es nicht mitbekamen, dass sie damit angegriffen wurden oder schnell genug hätten verschwinden können."
"Sie sind alle entwischt, fünfzig Veelabrütige. Die können sich jetzt in VDS verstecken und gegen unseren Rat Stimmung machen. Das könnte die Bemühung um die panamerikanische Magiekoalition zum scheitern bringen", sagte Ladonnas Statthalterin. "Die Bevölkerung ist noch nicht soweit, den Zusammenschluss zu akzeptieren, ohne einen offenen Krieg mit dem Süden zu riskieren. Außerdem hat die Königin verlangt, alle Veelabrütigen zu töten, gerade weil wir uns ihnen nicht nähern können.
"Ja, aber nicht so auffällig. Das Drehflügelding, dass die Rakete abgeschossen hat wurde sicher schon vermisst", sagte Catlock. "Und es wurde gefunden. Der Lenker dieses Drehflüglers hat sich damit gegen einen Brückenfeiler geflogen, damit er nicht verraten kann, dass er von mir unter den Imperius genommen wurde", sagte Hovergate.
"Ja, toll. Nur dass diese Aktion überhaupt nichts genützt hat", knurrte Catlock.
"Wir müssen VDSR 1923 und die Überseeluftschiffverbindung nach Frankreich unterbinden, irgendwie", knurrte Ladonnas Statthalterin. "Sie wissen selbst, dass das nicht geht, weil der Protectio-Nativorum-Zauber zu weit reicht, um wirkungsvolle Arrestdomzauber zu wirken. VM ... die haben es doch mit ihrer Auf Mond- und Erdmagie gründenden Glocke auch nur wenige Wochen geschafft, und VM wird uns jetzt garantiert nicht mehr helfen, falls die Königin noch wen von denen übriggelassen haben sollte", sagte Catlock.
"Was die können werden wir auch schaffen. Wir haben genug Thaumaturgen", sagte einer der mexikanischen Räte. "... die aber erst noch auf die Feuerrose eingeschworen werden müssen", sagte Catlock. "Solange können sie in VDS gegen uns Stimmung machen, uns als Feiglinge bezeichnen oder gar jetzt, wo die Veelabrütigen zu denen geflüchtet sind völlig zurecht behaupten, wir stünden wieder einmal unter fremdem Einfluss."
"Ja, und die Königin wird wissen wollen, warum wir es zuließen, dass die Besserwisser vom LI und der SL ausgerechnet den Veelabrütigen so brauchbare Warn- und Fluchtmittel überlassen haben. Wieso wissen wir immer noch nicht, wo das LI genau zu finden ist?"
"Häh?! Hat Ihnen das der Chef von denen nicht mal erzählt, Madam Bullhorn?" fragte Catlock nun argwöhnisch. Er wusste schließlich nicht, dass er nicht mit der richtigen Atalanta Bullhorn sprach. "Ja, ist schon eine Zeit her. Ich werde mich sicher wieder daran erinnern, wenn es nötig ist, dieses Widerstandsnest im eigenen Sumpf zu versenken", schnarrte Ladonnas Statthalterin.
"Wird wohl was mit Voodoomagie zu tun haben", grummelte Catlock. "Aber jetzt, wo wir wissen, wo die Veelabrütigen sind, können wir sie von denen, die noch nicht auf die Königin eingeschworen wurden, festnehmen lassen." Alle lachten.
"Guter Witz, Kollege Catlock. Nur dass diejenigen, die jemanden gewaltsam aus VDS herausholen wollen, als Feinde eingestuft werden. Warum hatten wir uns dort eigentlich einquartiert? Wir dachten, dort von niemandem bedroht oder angegriffen zu werden", knurrte Ladonnas Statthalterin. "Jetzt sind wir die Feinde von denen, weil wir der Königin folgen. Die können da nun bleiben, solange sie wollen oder sich mit einem der nächsten Überseeluftschiffe absetzen, falls deren entfernte Blutsverwandte in Europa sie aufnehmen, woran ich nicht zweifle."
"Veelas und deren Brut sind Heimaterdentreue wie Sabberhexen und Vampire. Die verlassen ihr Land nicht so einfach", warf einer der kanadischen Räte ein. "Ach ja, und warum sind sie dann aus ihren Häusern geflüchtet, Sie Schlaumeier?" wollte Hovergate wissen. Die angebliche Atalanta Bullhorn rief ihn zur Ordnung. "Uns bleibt nur, Viento del Sol weiterhin weiträumig zu überwachen. Solange wir keine echten Kampfmittel der Nomajs darauf niederfallen lassen können bleibt uns nur die Beobachtung, bis wir wissen, wie deren auf Blut und Heimatboden gründender Zauber aufzuheben ist. Ja, und wir werden an einer Neuauflage dieser Sperrglocke arbeiten, wie diese Fortpflanzungserzwinger und Hexenverächter von Vita Magica sie erschaffen konnten. Soweit dazu. reden wir jetzt über die weitere Vorgehensweise für den Zusammenschluss von Nord- und Südamerika."
Ladonna wollte aber noch mehr über den gescheiterten Vernichtungsschlag gegen die Veelastämmigen wissen. Deshalb flog sie mit der Kraft einer grünen Waldfrau lautlos durch die Gänge und war in nur drei Sekunden vor der massiven Metalltür. Mit zwei Zauberstabgesten brachte sie die Tür dazu, sich zu öffnen.
Alle blickten verdutzt bis erschrocken zur Tür, als die Königin nur wenige Zentimeter über dem Boden hereinschwebte und dann in ihrer Mitte mit beiden Füßen aufsetzte. "Ich bin hergekommen, um mit eigenen Augen und Ohren zu erfahren, wer für das Versagen bei der Tilgung aller Veelastämmigen auf nordamerikanischem Boden verantwortlich ist", sagte sie sehr streng klingend. Sie sah dabei jeden und jede an. Bei Catlock verhielt ihr Blick. Der Strafverfolgungsbeauftragte versuchte, ihrem durchforschenden Blick auszuweichen. Es misslang. "Lass mich deine Erinnerungen sehen, Varus Catlock!" befahl sie und dachte "Legilimens!" Sofort sah sie alles, was Catlock in den letzten Stunden erlebt hatte und hörte, was er gesagt hatte oder was ihm gesagt wurde. Dann wandte sie sich Hovergate zu. "Woher hast du die unglaubliche Vermessenheit geschöpft, die Waffenlenker der Magieunfähigen in meinem Namen handeln zu lassen, Max Hovergate?" zischte sie und blickte auch in Hovergates Erinnerungen. "Ah, nur weil dein Oheim bei der Armee ist hat dich der rabenschwarze Wichtel gebissen, dessen auffällige Vernichtungswerkzeuge gegen die Veelastämmigen zu verwenden? Das war dir nicht erlaubt. Ich hieß sie, die eure Sprecherin ist, alle uns vertrauten Mittel einzusetzen, die nicht auf mich vereidigten zur schnellstmöglichen Beseitigung der Veelastämmigen einzusetzen. Damit meinte ich ausdrücklich jene, die unseren hohen Künsten verbunden sind, Max Hovergate. Wir sind Hexen und Zauberer. Wir wirken mit den hohen Kräften, die wir erfühlen und beherrschen können, nicht mit unbeseelten Maschinen und Knallkörpern. Du hast meine Ehre als Königin der hohen Mächte besudelt. Das kann ich dir nicht durchgehen lassen.""
"Meine Königin, Ihr sagtet, alle uns bekannten Mittel", wimmerte Hovergate. "Diese Mittel sind sehr zuverlässig und schnell", legte er noch nach. "Nicht schnell und zuverlässig genug", knurrte Ladonna. "Ich werde dir und euch allen zeigen, was schnell und zuverlässig ist", sagte die Königin.
Alle sahen sie vor dunkler Vorahnung an. Alle blieben starr auf ihren Plätzen. Niemand wagte, sich zu bewegen. Alle dachten, dass die Königin ihren Zauberstab zücken und Hovergate einen der unverzeihlichen Flüche, womöglich den tödlichen Fluch auferlegen würde. Doch sie lächelte ihn nur überlegen an und ließ ihre rechte Hand locker nach unten baumeln. Zwei bange, lautlose Sekunden vergingen. Dann riss sie ihre Linke hand hoch, deutete in der Bewegung auf Hovergate. Ein rubinroter Blitz schlug auf ihn über und hüllte ihn in rotes Licht ein. Er schrie für nur eine volle Sekunde laut auf, dann löste sich sein Körper auf. Nicht einmal Asche blieb von ihm. Alles woraus er bestand löste sich in seine Gruntteilchen auf und stob von der mörderischen Hitze beschleunigt in alle Richtungen davon, ohne dass jemand es sah. Die rote Lichtsäule, in die Hovergate eingehüllt worden war erlosch übergangslos. Die Königin ließ ihre Hand wieder sinken. "Das ist wahres Höllenfeuer, meine fügsamen Vertrauten. Das ist schnell und zuverlässig. Und was Viento del Sol angeht, so werde ich mich darum kümmern, wenn ihr die panamerikanische Koalition vollendet habt. Wenn die Veelastämmigen nach Europa entkommen werden meine dortigen Getreuen sie eben dort jagen und töten, weil ihr das nicht konntet, ihr Stümper. Ja, und noch was: Versagt ihr noch einmal, wird euer Tod nicht so schnell und gnädig sein wie der von Hovergate. Ach ja, holt seinen Stellvertreter her, der bereits auf mich eingeschworen ist! Er soll den Platz im Rat ersetzen."
"Meine Königin, wir haben es versucht, die fünfzig Veelabrütigen zu erlegen, wie Ihr es befohlen habt", wimmerte Catlock. Zur Antwort versetzte ihm die Königin mit der rechten Hand einen Schlag aus der Karatekampfkunst. Catlock fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. "Ihr solltet es schaffen. So schwer war die Aufgabe doch nicht", keifte die Königin. Sie hoffte, dass keiner von denen hier ihre eigene Angst bemerkte. denn jede Veelastämmige, die ihrem weltweiten Aufruf zur Auslöschung der Kinder Mokushas entging war eine tödliche Gegnerin, ja noch gefährlicher als Sardonia oder dieses Weibsbild mit dem Flammenschwert.
Ohne Worte des Abschiedes verließ die Königin den Versammlungsraum wieder. Niemand hier wagte, ihr hinterherzurufen oder gar sie zurückzuhalten. Die blitzartige Tötung von Hovergate ohne den üblichen grünen Todesblitz hatte sie alle gewarnt, sie nicht weiter zu verärgern.
Die Rosenkönigin flog knapp unter der Decke bis zur Treppe, schwebte diese hinauf und verließ den Bunker. Sie ließ die Luke wieder zufallen. Dann disapparierte die Königin, um in mehr als dreißig Sprüngen über den Atlantik zu reisen, bis sie endlich wieder in ihrem vom Blutfeuernebel beschützten Haus bei Florenz ankam. Sofort errichtete sie eine Gedankenbrücke zu Arcadi und erfuhr so, dass seine Einsatztruppen versuchten, die Veelas in den weiten Wäldern der Taiga, den Schluchten und Tälern des Uralgebirges und den Flussauen von Volga, Don und Amur nachzujagen. Diese ihr entfernten verwandten mussten sterben, um sowas wie das vom 15. Mai nicht mehr zu wiederholen.
Ebenso prüfte sie den bulgarischen Zaubereiminister, den sie nicht zu einem Statthalter gemacht hatte und bei dem sie deshalb mehr Kraft einsetzen musste, um die Gedankenbrücke zu errichten. Der hatte erfahren, dass die auf seinem Hoheitsgebiet gemeldeten Veelas ihre Waldsiedlungen verlassen hatten und sich in kleinen Familiengruppen in die weiten Wälder seines Landes zurückgezogen hatten. Offenbar hatte wer immer sie sich nutzbar machen konnte sie vorgewarnt, wie auch die in Amerika. Sie dachte an diesen Zauberer, Julius Latierre, der laut ihren Kenntnissen der Vermittler zwischen Veelas und Menschen war und somit in gewisser Weise auch für sie zuständig sein mochte. Lächerlich! Sie wusste, dass er in Millemerveilles wohnte, jenem Dorf, das einst die Residenz der verhassten Todfeindin Sardonia war. Dort gelangte sie nicht hin, ja konnte auch keinen ihrer treuen Diener dort hineinschicken. Ebenso war ihr der Zugang zum Zaubereiministerium verwehrt, weil dort weiterhin die französischen Abkömmlinge dieser Veela Léto durch die Gänge schlichen und nach allen suchten, die sie an sich gebunden hatte. Doch irgendwann würde dieser vorwitzige Bengel, der nicht wusste, dass die älteren Veelas ihn nur als ihr Werkzeug benutzten, aus seiner sicheren Zuflucht herauskommen. Dann würde sie ihn sich holen. Sollte sie ihn töten oder zu einem treuen Untertan machen? Das würde sie entscheiden, wenn sie ihn in ihrer Gewalt hatte. Frankreich würde sowieso bald genau wie Großbritannien und Griechenland darum betteln, der Koalition des Rosenfriedens beizutreten. Von missgestimmten Nachbarn umgeben zu sein hielt kein Reich ohne gewaltsame Auseinandersetzung lange durch.
Vor allem musste sie den Fehlschlag von Genf ausbügeln und statt der Konföderationsmitglieder eben weniger hochrangige Hexen und Zauberer zu ihren Gefolgsleuten in Asien und Afrika machen, bis ein Zaubereiministerium nach dem anderen in ihrer Hand war. Viel Zeit hatte sie nicht. Allein dieser widerwärtige Versuch Hovergates, eine nichtmagische Kriegsmaschine einzusetzen verriet ihr, wie sehr die Zaubererwelt bereits kompromittiert war. Auch musste sie die nichtmagische Menschheit daran hindern, die Erde unbewohnbar zu machen. So viel Zeit hatte sie also nicht mehr übrig. Doch um das alles zu schaffen brauchte sie weitere Feuerrosenkerzen. Die musste sie erst einmal herstellen.
Sie alle waren früh auf, Béatrice, Millie, Julius, Aurore, Chrysope, Clarimonde, Félix, Flavine und Phylla. Denn alle im Haus befindlichen Wecker gingen um sechs Uhr los. Da Millie und Julius beruflich um sieben Uhr am Landeplatz für die Überseeluftschiffe aus Viento del Sol sein mussten beeilten sich alle, zumindest soweit angezogenund herzeigbar zu sein, dass die ankommenden Veelastämmigen keinen Schrecken bekamen.
Um viertel vor sieben waren Millie und Julius am Landeplatz. Béatrice hütete solange die sechs Kinder. Ebenso fanden sich Léto und ihre Töchter Laure-Rose, Apolline und Lucille dort ein. Julius stimmte das Lied des inneren Friedens an, während Millie ganz bewusst nach oben in den Himmel blickte. Außerdem waren noch die Dorfräte Delamontagne und Pierre dazugekommen. Auch Eleonore Delamontagne sah Julius an, dass sie in der Nähe vieler Veelastämmiger sichtlich mit ihrer Selbstbeherrschung ringen musste, während Monsieur Pierre sich dem wohligen Gefühl hingab, dass die Veelas verbreiteten.
Dann endlich kam das Überseeluftschiff. Es sauste erst raketenschnell aus den Wolken hernieder, flog eine weite Bremsschleife aus und sank dann waagerecht über dem üblichen Landepunkt herunter. In nur noch fünf Metern Höhe stoppte der Sinkflug. Florymonts Neuschöpfung, die fahrbare Ausstiegstreppe, rollte heran und verband sich mit der seitlichen Ausstiegsluke. Früher hatten die Fluggäste eine Strickleiter hinauf- und hinunterklettern müssen. Doch seit einem halben Jahr konnten die Reisenden auch auf eine Treppe mit Geländer umsteigen, wenn sie es nicht so sportlich hatten.
Die Seitentür ging auf, und zwei Bewohner von Viento del Sol, die Julius drüben schon mal als Sicherheitsleute getroffen hatte, verließen das zigarrenförmige Fluggerät. Dann folgten in einer Zweierreihe die ankommenden Flüchtlinge. Weitere Schaulustige, die von der Landung mitbekommen hatten traten neugierig dazu. Julius sah ein, dass es unmöglich geworden wäre, die Ankunft der fünfzig zu verheimlichen.
Nach den fünfzig Flüchtlingen verließen die aus den Staaten zurückkehrenden Franzosen das Luftschiff. Diesen folgte die wieder zu ihrer schlanken Figur zurückgekehrte Linda Latierre-Knowles, die zufrieden lächelte. Offenbar hatte sie unterwegs schon Interviews machen können.
Als alle fünfzig Veelastämmigen von der Treppe herunter waren begrüßten Julius und der in Millemerveilles ansässige Einreisebeauftragte des Zaubereiministeriums die Ankommenden auf Englisch, weil die meisten von ihnen kein Wort Französisch konnten. Julius lernte Chrysope Honeyfield kennen, die ihrer Großmutter Goldregen sehr ähnlich sah, nur dass ihr Harr ein wenig dunkler war. Ophelia Longfellow war fast so groß wie Millie und Julius trug ihr hüftlanges, dunkelblondes Haar in unzähligen Zöpfen. Ihre Angehörigen ließen ihre Haare frei wehen.
"Madame Léto ist die Sprecherin und Stammmutter aller in diesem Land lebenden Kinder Mokushas", sagte Julius zu den Ankömmlingen. "Sie hat mit unserer Zauberwesenbehörde und der Behörde für Familien geklärt, dass Sie alle dort unterkommen dürfen, wo sie wohnen werden. Die allermeisten hier lebenden Nachfahren Ihrer Urmutter sprechen neben Französisch auch Englisch und Spanisch. Sie werden also hoffentlich keine Sprachschwierigkeiten haben."
"Ich hörte, mein Großvater hat diese Dame da beauftragt, uns hier unterzubringen", sagte Ophelia Longfellow. Julius bejahte es. "Er musste aber noch nicht vor diesen Veelakillern fliehen, oder?" Julius sagte dazu nur, dass er in seine Heimat zurückgekehrt sei.
"Jedenfalls bedanken wir uns für die rasche Rettung und die hoffentlich friedliche Aufnahme bei Ihnen", sagte Chrysope Honeyfield. Dieser Hoffnung schlossen sich Léto und Julius an.
Da kamen fünf Kutschen mit je zwei Abraxanerpferden vorgespannt herbeigeflogen. . "Das französische Zaubereiministerium entbietet Ihnen diese Reisemöglichkeit, um möglichst bequem zu ihren Unterbringungen zu gelangen", verkündete Julius, während die fünf Kutschen in der Nähe des Luftschiffes landeten. Die vorgespannten, elefantengroßen Pferde schnaubten und wieherten, als sie sahen, dass es noch was fliegendes gab, dass größer war als sie.
"Öhm, darf ich, bevor Sie alle in ihre wohlverdiente Unterkunft reisen und sich dort erholen, einige Fragen stellen, die nicht zu persönlich sind?" fragte Millie auf Englisch, nachdem sie sich als Lokalreporterin und Lokalredakteurin der Temps de Liberté vorgestellt hatte. Die Ankömmlinge deuteten auf ihre Sprecherin Honeyfield. So bekam Millie nur von ihr ein Interview, das im wesentlichen darauf abzielte, seit wann die Veelastämmigen wussten, dass sie verfolgt wurden und ob sie die ihnen nachstellenden erkannt hatten. "Die meinten erst, unsichtbar gegen uns kämpfen zu können. Aber wir Töchter Mokushas beherrschen den Blick der Enthüllung. Der hebt fast alle Unsichtbarkeitszauber auf. Doch die Feiglinge waren vollvermummt und maskiert. Sie trugen mitternachtsblaue Kleidung und griffen sofort mit dem verbotenen Todesfluch an. Wir konnten ihnen nur entwischen, weil wir den Gesang der Verharrung beherrschen. Darauf waren die nicht gefasst", sagte Chrysope Honeyfield, die wirklich eine Stimme wie aus Gold hatte. Was würde ihre kleine Namensvetterin sagen, wenn sie die hören konnte?
"Haben Sie bei den Angreifern außer dem Willen zum Töten noch etwas anderes verspürt, was diese angetrieben haben könnte?" fragte Millie. "Wenn Sie darauf anspielen, dass einige von uns bei Mitgliedern der Föderationsverwaltung eine überdeutliche Ausstrahlung einer anderen Tochter Mokushas verspürt haben, allerdings eine von dunklen Schwingungen durchsetzte, dann gilt das nicht für die, die uns angegriffen haben. Denn die anderen mieden uns sofort, wenn sie spürten, dass wir in der Nähe waren, als wenn wir ihre dunkle Ausstrahlung überstrahlen oder anderswie auslöschen würden", sagte Honeyfield. Julius nickte. Also stimmte es, dass auch in den Staaten Ladonnas Agenten herumliefen, ja sie bereits Erfüllungsgehilfen im Föderationsrat besaß. "Dann vermuten Sie, dass man Ihnen und Ihren Angehörigen deshalb nach dem Leben trachtete, weil sie es erspüren können, wer von einer dunklen Ausprägung umhüllt ist?" fragte Millie scheinbar völlig ahnungslos.
"Ja, so ist es", grummelte Chrysope Honeyfield. "Sie und der Herr da sind verheiratet und tragen das Goldherz der langjährigen Verbundenheit?" fragte Chrysope. Julius wollte wissen, ob sie eine Auravisorin sei. "Nein, nicht direkt. Aber ich kann gefühlsverbindende Zauber erspüren", sagte Honeyfield. "Mein Vater konnte das auch", fügte sie hinzu. Julius nickte wieder. Dass sich Veelas oder Veelastämmige Partner mit schlummernden Fähigkeiten aussuchten, die in der gemeinsamen ersten Liebesnacht geweckt wurden wusste er ja auch schon.
"Möchten Sie noch etwas erfahren, Madame Latierre?" fragte Eleonore Delamontagne verdrossen. Millie schüttelte den Kopf und bedankte sich für das kurze Interview.
Die fünfzig Flüchtlinge bestiegen mit Léto und den anderen Veelastämmigen die fünf Reisekutschen. Die vorgespannten Riesenpferde zogen an und stießen sich ab. Mit kräftigen Flügelschlägen brachten sie die ihnen angehängten Fahrzeuge zum fliegen. Dann drehten sie in verschiedene Richtungen ab und beschleunigten.
"Damit haben wir es wortwörtlich amtlich, warum Ladonna Montefiori alle anderen Veelastämmigen umbringen will", sagte Julius zu seiner Frau. "Ja, und sie wird nicht erfreut sein, das zu hören, dass wir das jetzt wissen."
Eleonore Delamontagne entspannte sich sichtlich, als die Präsenz so vieler weiblichen Veelastämmigen verschwunden war. Dann sagte sie: "Ich hoffe sehr, Julius, du kriegst es hin, dass wir diese Kanallie Montefiori bald aus Belgien, Spanien und Italien rausbekommen."
"Oha, Eleonore. Ich bin dafür nicht direkt zuständig. Ich koordiniere nur den Einsatz der neuen Abwehrwaffe, sofern das wirklich eine Abwehrwaffe ist."
Eleonore wollte gerade was dazu sagen, als eine Eule zu ihr hinflog und ihr einen Zettel hinhielt. "Oh, interessanter Besuch. Ein gewisser Monsieur Rheinquell und sein Sicherheitsfachzauberer Klingenschmidt sind gerade mit Madame Eauvive bei Hera Matine eingetroffen."
"Rheinquell? Urs Rheinquell?" fragte Julius. Eleonore bejahte es. "Der kann also jetzt zu uns reinkommen, durch das schützende Netz? Das ist in der Tat interessant", sagte Julius noch.
"Ich werde ihn begrüßen. Öhm, Julius, du kommst am besten nach und bring bitte dein orientalisches Erbe mit!" Julius nickte. Eleonore disapparierte mit vernehmlichem Knall. Monsieur Pierre saß lieber auf seinem Besen auf.
Millie und Julius apparierten erst im Apfelhaus. Dort holte Julius den Heilsstern aus der Schatulle im Blutsiegelschrank. Das hochpotente Kleinod leuchtete, als er es sich umhängte in einem warmem Goldton. Dann glänzte es nur noch silbern. Julius nickte seiner Frau zu, dass er hoffentlich zum Frühstück wieder da sei und disapparierte mit Ziel Heras Landewiese.
Julius kannte den schweizer Zaubereiminister nur von Bildern von der Quidditchweltmeisterschaft. Beim trimagischen Turnier in Beauxbatons war er nicht dabei gewesen. Zumindest spürte er von ihm keine feindliche Ausstrahlung, weder über den Frühwarner, noch über die eingesteckte Goldblütenhonigphiole und auch nicht über den Heilsstern, den er vorsorglichunter seiner Kleidung trug. Sollte an Rheinquell doch noch was bösartiges haften mochte der Heilsstern darauf reagieren.
Der schweizer Zaubereiminister begrüßte Eleonore Delalamontagne und auch Julius Latierre. Dann bedankte er sich bei Heilzunftsprecherin Eauvive, dass sie ihn hergebracht hatte. Er sprach das Französisch seiner Heimat, allerdings auch mit einem leichten Akzent, der ihn als Deutschschweizer auswies. Als dann noch Ministerin Ventvit bei Hera Matine eintraf erzählte Rheinquell seine Geschichte, wie er in den Bann der Feuerrose geraten war, woran er sich aus der Zeit bis zu jenem goldenen Licht erinnerte und dass er wohl den Franzosen seine Befreiung zu verdanken habe. Er räumte jedoch ein, dass er im Auftrag Ladonnas alle im schweizer Zaubereiministerium arbeitenden Hexen und Zauberer mit einer weiteren Feuerrosenkerze beeinflusst habe und er somit wohl gerade auf einer Feindesliste stand, wenn die wüssten, dass er wieder aufgewacht sei und nicht mehr für die "verruchte Mischblüterin" handeln würde.
"Nun, Ihre Leute werden sicher von eben jener dunklen Hexe erfahren, dass sie für sie nicht mehr zugänglich sind", sagte Antoinette Eauvive. "Soweit ich aus den Aufzeichnungen einer hier in Frankreich lebenden Zaubereigeschichtlerin und Fachhexe für die Abwehr dunkler Kräfte und Wesen weiß konnte Ladonna zu allen, die sie sichUntertan gemacht hat eine kombinierte Gedankensprech- und Sinneswahrnehmungsverbindung knüpfen." Rheinquell bestätigte das all zu ungern und auch, dass sie ihn und jeden, der gerade für sie wichtig war, auf diese Weise ferngelenkt hatte, auch wenn das nach der Feuerrosenkerze nicht nötig gewesen wäre. Julius nickte. Auf die Frage, was er dazu zu sagen hätte antwortete er: "Wir wissen aus allen Berichten über dunkle Hexen und Zauberer, dass sie sich nicht immer darauf verlassen wollten, dass die Ihnen unterworfenen auch immer genau das taten, was sie wollten und sie sie deshalb auch aus der Ferne überwacht und gelenkt haben. Bei Riddle alias Voldemort ... Ach nein, bitte nicht immer noch! ... Also bei dem, der anders als Ladonna, Sardonia und Grindelwald immer noch nicht bei seinem Kampfnamen genannt werden will war es ein magisches Brandmal am linken Arm. Sardonia hat, soweit ich aus der Nacherzählung ihrer Geschichte von bereits erwähnter Expertin für Geschichte und Abwehrzauber weiß ein nur von ihr lösbares Halsband verwendet, über das sie auch Sinneswahrnehmungen ihrer Untergebenen mitbekam. Also hat Ladonna - komisch, den Namen kann ich ohne wen zu erschrecken aussprechen - was gleichwertiges gefunden."
"Nun, lassen wir dieses Weib noch zehn Jahre grausam und Brutal wirken, und Sie werden ihren Namen nicht zu nennen wagen", knurrte Klingenschmidt, der am heftigsten zusammengezuckt war. "Dem möchte ich mich nur dahingehend anschließen, dass es einen Unterschied macht, ob jemand die Taten eines grausamen Zauberers persönlich miterleben musste oder ihn nur aus den Geschichtsbüchern kennt und dass Ladonna Montefiori eine andere Form von Grausamkeit an den Tag legt als besagter britischer Massenmörder Tom Vorlost Riddle", sagte Antoinette Eauvive. Julius wollte schon sagen, dass ihm die drei Jahre gereicht hatten, wo sicher war, dass er wieder aufgetaucht war und das dunkle Jahr in Frankreich und Großbritannien überdeutlich gezeigt hatte, wohin Angst arglose Leute treiben konnte. Auch kannte er ja die Geschichte der Diktaturen in Europa und Südamerika und hatte auch Sardonias letzten großen Auftritt in Erinnerung. Doch Ladonna übte auf andere Weise dunkle Macht aus. Sie unterdrückte den Geist der Leute und konnte sie so dazu treiben, ganz in ihrem Sinne zu entscheiden. Das bestätigte auch Rheinquell, als er davon berichtete, was er unter Ladonnas Einfluss mit Güldenberg, Rosshufler, Barbanera und Pataleón besprochen und beschlossen hatte. Auch wusste er genau, dass Pataleón einen Großteil Südamerikas und auch wichtige Leute der nordamerikanischen Föderation unterworfen hatte. "Das Geplänkel, dass gerade zwischen Nord- und Südamerika stattfindet ist eine von ihr befohlene Theatervorstellung, um die Bürgerinnen und Bürger der Länder darauf einzuschwören, dass sie mit einer gesamtamerikanischen Föderation besser leben als in getrennten Vereinigungen."
"Wer genau gehört ihr aus den Staaten schon?" wollte Ministerin Ventvit wissen. Da packte Rheinquell aus, dass nicht Atalanta Bullhorn den Rat führte, sondern eine Gefolgshexe Ladonnas. Julius achtete bei diesen Worten immer auf seinen Heilsstern und sah auch den schweizer Zaubereiminister an, ob der wegen seines Verrates bestraft werden mochte, so wie die, die in der zum Generationenraumschiff umfunktionierten Hohlwelt Yonada lebten, wenn sie gegen die Gesetze ihres Orakels verstießen. Doch kein Zucken, keine schmerzhafte Grimasse und kein Tropfen Schweiß zeigten, ob Rheinquell von seiner ehemaligen Herrin gepeinigt wurde. Sicher, in Millemerveilles kam keine böse Fernbezauberung hinein. Sein Heilsstern verbreitete eine schützende Aura, und womöglich wirkte der Zauber der anderen Kerze auch abschirmend auf Rheinquell.
"Jetzt muss ich sie fragen, was mit Atalanta Bullhorn geschehen ist", wandte sich Ministerin Ventvit an den Überraschungsbesucher. Er sagte, dass die Königin ihrem Statthalter Pataleón verraten habe, dass die ungebärdige Inobskuratorin Atalanta Bullhorn eine Zierde ihres Gartens geworden sei. Julius nickte schwerfällig, ebenso Hera, Antoinette und Eleonore. Dann kam Julius der Gedanke zu fragen, ob die andere Vielsaft-Trank benutzte um Atalanta Bullhorn zu verkörpern. Rheinquell wiegte den Kopf und nickte dann. "Was anderes kann es nicht sein." "Dann wird ihr wohl irgendwann das von der Originalperson gestohlene Körpermaterial ausgehen. Das wiederum heißt, dass sich die falsche Atalanta Bullhorn demnächst einen großen Abgang leisten wird, bei dem sie angeblich stirbt. Aber vorher will sie sicher die panamerikanische Außenstelle der dunklen Königin vollenden."
"Ja, das wird wohl passieren", seufzte Rheinquell. Da fragte die Ministerin ihn, ob er wisse, wann sich sämtliche Mitglieder des schweizer Zaubereiministeriums am selben Ort treffen könnten oder ob dafür irgendwas unternommen werden könnte, ohne dass die Erzdunkelhexe Ladonna das mitbekäme. Rheinquell überlegte. Dann sagte er: "Das wird wohl erst wieder geschehen, wenn ich offiziell für amtsunfähig erklärt werde und der neue Minister offiziell vereidigt wird."
"Ja, dann schlage ich vor, dass Sie sich für an den Folgen ihrer Bewusstlosigkeit verstorben erklären lassen", sagte die Ministerin. "Falls Ladonna weiterhin versucht, mit Ihnen in Kontakt zu treten müssten sie sich quasi totstellen."
"Wie bitte soll das gehen, die Heiler haben verschiedene Zauber ausprobiert, um mich aufzuwecken, hat Heiler Reichenfeld gesagt. Da wird Perithanasia wohl nicht viel helfen."
"Aber der Lentavita-Zauber", meinte Hera. Antoinette probierte es aus. Tatsächlich wirkte der Körperverlangsamungszauber nicht auf Rheinquell. Julius fürchtete, dass das an seinem Talisman läge. Deshalb zog er sich einige Meter weit zurück. Doch auch dann gelang es nicht. Die Macht der anderen Kerze hatte ihn mit einem ähnlichen Schutz versehen wie der verbotene Segen die Ministerin, Nathalie und Belle. Dann probierte es Hera mit Morgauses Tränen, dem wohl heftigsten Schlaftrank, der einen ohne Zauberstabeinsatz so nahe an den Tod herantrieb, dass unkundige Menschen einen wirklich für tot halten konnten. Das war ja das perfide an diesem Trank. Jemand konnte seinen Widersacher damit vergiften, und der jenige konnte Tage lang in einem todesnahen Zustand bleiben, ja sogar beerdigt werden. Es hatte schon Fälle gegeben, wo auf diese Weise Leute gefoltert wurden, dass sie über Stunden in einem vergrabenen Sarg eingesperrt gewesen waren.
Der Trank wirkte. Klingenschmidt fiel von einem winzigen Tropfen für zehn Minuten in einen so tiefen Schlaf, dass er nur einmal in der Minute atmete und sein Herz nur fünfmal in der Minute schlug.
"Dann ist die Sache klar. Sie lassen sich von meinem Kollegen Reichenfeld für tot erklären, verstorben an den Folgen jener Magie, die Sie ohnmächtig gemacht hat. Wir werden dann erfahren, wann der neue Minister offiziell vereidigt wird. Öhm, muss er nicht vom ganzen Volk gewählt werden?" fragte Antoinette. Rheinquell schüttelte den Kopf. "Nach dem Tod eines amtierenden Ministers übernimmt dessen Stellvertreter das Amt bis zum nächsten offiziellen Wahltermin", sagte der schweizer Zaubereiminister. Julius fragte dann, ob die Ladonna unterworfenen überhaupt eine Vereidigung brauchten, wenn ihre sogenannte Königin denen befahl, dem oder der zu folgen. "Für die Mitarbeiter mag das gelten, aber nicht für die im Land wohnenden Bürgerinnen und Bürger. Die Vereidigung ist eine vollkommen öffentliche Angelegenheit auf dem Feld der großen Bruderschaft", sagte Rheinquell. Ornelle Ventvit nickte eifrig. Damit stand es fest, dass dort wohl eine Vorentscheidung fallen würde, ob Ladonnas Siegeszug weitergehen oder enden würde.
"Monsieur Latierre, ich bitte Sie um unser aller Freiheit und auch Überleben willen, Ihre Frau davon zu überzeugen, nichts von dem allem hier zu veröffentlichen", sagte die Ministerin. Julius sah sich um. Da sie in Heras dauerklangkerker bezaubertem Behandlungszimmer saßen hatte Lino auch nichts davon mitbekommen. Also versprach er es, auch um der Kinder willen, die Millie von ihm bekommen hatte.
So sagte er ihr bei seiner Heimkehr nur: "S0, Millie. Nur die fünfzig Flüchtlinge sind gekommen. Das sollte reichen."
"Verstehe", sagte Millie und mentiloquierte: "Und sprudelt die schweizer Bergquelle oder ist das alles alter Käse?" Julius schickte zurück: "Der ist vielleicht der Schlüssel, zumindest schon mal die Schweiz aus Ladonnas Zugriff zu lösen, Mamille. Deshalb psst!" Sie sah ihn an und mentiloquierte: "Wie erwähnt, verstehe."
Ansonsten verlief der Tag für die Latierres wie viele andere Tage zuvor. Inwiefern sie Ladonnas Vormarsch stoppen konnten würden die kommenden Tage zeigen.
Am 21. Mai 2006 fanden drei Ereignisse statt, die jedes für sich eine Welt bewegen konnten.
Das erste Ereignis kündigte sich dadurch an, dass Brittanys Morgenbegrüßung ausblieb. Offenbar trug sie auch das Armband nicht. Millie und Julius vermuteten, dass es um die kleine Brooke ging. Kam sie heute zur Welt?
Ereignis Nummer zwei war eine Nachricht aus dem Laveau-Institut, dass nach den beinahe zu einer offenen Schlacht ausgearteten Differenzen an der Südgrenze Mexikos ein Friedenspakt zwischen der nördlichenund südlichen Föderation geschlossen worden war. Es wurde von einer neuen Wahl gesprochen, die eine Zusammenführung aller amerikanischen Staaten zu einer panamerikanischen Magierkonföderation (PAMKo) führen sollte oder die bisherigen Verhältnisse beibehalten sollten. Das Laveau-Institut und die Sociedad contra herencias tenebrosas y bestias peligrosas waren wegen fortgesetzter Störversuche zu unerlaubten Vereinigungen erklärt worden.
Ereignis Nummer drei war die Meldung, dass der seit dem 15. Mai wegen eines "hinterhältigen Anschlages" auf die internationale Zaubererweltkonföderation im Haus der heilsamen Kräfte liegende schweizer Zaubereiminister Rheinquell seinen letzten Atemzug getan habe. Offenbar sei sein Herz der auf es wirkenden "bösen Magie" erlegen. Auch Klingenschmidt und zwei weitere schweizer Ministeriumsangehörige seien gestorben. Die vielen anderen ohnmächtigen Konföderationsdelegierten lägen noch im magischen Tiefschlaf. Wie es die sechshundert Jahre alten Bräuche der parallel zur Eidgenossenschaft gegründeten Bruderschaft hoher Künste besagte musste am Tag der offiziellen Beisetzung der stellvertretende Minister vor allen Mitarbeitern und der Öffentlichkeit den Amtseid als Minister schwören. Zumindest galt dies, falls Ladonna keinen Pressetrick benutzte, um die Vereidigung zu verhindern.
Abends um Zehn mitteleuropäischer Ortszeit meldete sich Brittany Brocklehurst bleich und abgekämpft aber überglücklich strahlend. In ihrem Linken Arm lag ein kleines, in rosaroten Stoff gehülltes Bündel mit einem großen, noch runzeligen Kopf, an dem jedoch schon erste weizengoldene Haarstoppeln herausstachen. "Hallo zusammen! Tut mir leid, dass ich den üblichen Morgengruß von euch nicht einhalten konnte. Aber es hat sich jemand angekündigt, die unbedingt noch heute zu uns wollte. Brookie, das sind die Millie, der Julius und die Tante Béatrice. Gehört hast du sie ja schon. Leute, das ist Brooke Beverly Brocklehurst. Sie kam vor zehn Stunden nach einer Reise von fünf Stunden zu uns und wird hoffentlich gaanz lange bei uns bleiben." Die vorgestellte Brooke Beverly Brocklehurst gluckste und versuchte, die nur als räumliche Bilder erkennbaren Anverwandten anzusehen, was natürlich noch nicht gelang, da sie gerade mal eine Handbreit entfernt sehen konnte. Deshalb rückten Millie und Béatrice etwas näher heran und strahlten mit der jungen Mutter um die Wette. Julius fragte, was Brookes großer Bruder sagte. "Der hat mich doch glatt gefragt, ob er auch so zerknautscht ausgesehen hat und wenn nicht, warum ich ihm "sowas wie die da" als seine Schwester ausgesucht hätte", lachte Brittany. "Aber Linus ist hin und weg von der kleinen, auch wenn er meint, sie sehe im Moment wie meine Uroma Ivy aus. Das hat ihr hier nicht gefallen. Sie hat ihm dafür fast ein Bächlein auf seinen Umhang gemacht. Jedenfalls ist sie jetzt bei uns, und wenn die sich hier bei uns mal einkriegen wegen diesem Gezerre um Mexiko könnt ihr pünktlich zum Sommerbeginn zur Willkommensparty zu uns rüberkommen."
"Vielleicht sieht sie dann nicht mehr zerknautscht aus", meinte Julius frech. "Wenn ich nicht wüsste, dass du weißt, wovon du redest. Aber zumindest wisst ihr jetzt, wen wir bei euch zu uns eingeladen haben. Ihr bekommt noch eine offizielle Einladung. Bis dahin könnt ihr euch ja überlegen, was ihr der Kleinen alles gutes wünschen möchtet. So, Mom Britt muss jetzt wieder was trinken, damit die neue Mitbewohnerin nicht gleich am ersten Tag verhungert. Schlaft gut!"
"Ihr auch", sagte Millie heiter. Julius nickte und wünschte ihr auch mehr Freude als Verdruss mit der neuen Mitbewohnerin.
"Dann ist das Rätsel um Brookes Geburtstag auch gelöst", meinte Millie. Julius bejahte es und erinnerte sie und sich daran, dass er vor zehn Jahren gegen Slytherins Bilderspuk gekämpft hatte.
"Hoffentlich wird die kleine Brooke in einer friedlicheren Welt aufwachsen als es im Moment aussieht", meinte Julius. Millie pflichtete ihm bei.
"Meine Königin, wir müssen die Vereidigung durchführen, nachdem Rheinquell und die wichtigsten von uns an dieser Erschöpfung gestorben sind", hörte die Rosenkönigin die Gedankenstimme von Rheinquells drittem Stellvertreter.
"Ja, damit diese Brut, die mir entwischt ist einen neuen Versuch wagen kann, auch alle anderen von euch mit diesem Mittel zu überwältigen", gedankengrummelte Ladonna Montefiori. "Ja, aber die Bevölkerung. Da kommen eine Menge Zuschauerinnen und Zuschauer hin", argumentierte der Stellvertreter Rheinquells.
"Ja, und je mehr es sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spion oder Attentäter darunter ist", schickte Ladonna zurück. Sicher, die Aussicht, mehr als tausend weitere Hexen und Zauberer zu ihren treuen Dienern zu machen war ein Anreiz. Doch wenn sich Rheinquells Tod herumsprach hörten es auch die Hinterleute vom Anschlag am 15. Mai. Dessen Auswirkungen hatte sie über ihre Statthalter bisher noch unter allen Decken halten können. Doch wenn jetzt eine große Öffentlichkeit wegen Rheinquells Tod mitbekam, was wirklich vorging ...
"Schreiben die Gesetze vor, dass Rundfunk dabei sein darf oder soll?" fragte Ladonna ihren treuen Untertanen in Bern. "Das hängt von der Lage ab. Wenn wir bedroht werden können wir die Vereidigung ohne große Öffentlichkeit stattfinden lassen. Wir brauchen dann nur von jeder Magierzunft hundert Leute einzuladen, die bezeugen, dass der Zaubereiminister ordentlich vereidigt wurde. Die Gesetze der magischen Bruderschaft der Schweiz sind da auslegbar. Nur als Rheinquell zum Zaubereiminister vereidigt wurde war immer unser Rundfunksender Zauberhorn mit dabei."
"Mit welcher Begrünndung soll ich das Zauberhorn ausladen, meine Königin? Nicht alle von uns sind Euch verbunden."
"Was du nicht denkst, Hanno Dufour", schickte Ladonna zurück. "Ja, du begründest es so, dass Rheinquell von ausländischen Feinden ermordet wurde und daher keine Möglichkeit geschaffen werden darf, dass seine Mörder auch dich umbringen und gleich noch tausend honorige Mitbürger von dir dazu. Daher wird die Vereidigung nicht unter freiem Himmel stattfinden, sondern im Hochsicherheitsbereich des Ministeriums, wo niemand herein kann, der nicht zehn Kontrollstellen passieren muss."
"Euer Wille geschehe, meine Königin", erwiderte Hanno Dufour.
Das fehlte ihr noch, dass der magische Rundfunk berichtete, wie sie sich neue Untertanen schuf, dachte Ladonna.
Sie inspizierte den Vorrat an Feuerrosenkerzen. Seit der Einberufung der meisten europäischen Länder hatte sie bei den beiden letzten Regelblutungen genug von sich nutzen können, um zwölf neue Kerzen zu fertigen, von denen vier groß genug für mehr als tausend Leute waren, sofern sie nicht unter freiem Himmel zusammenkamen. Eine von diesen großen Kerzen wollte sie nutzen, um die Vereidigung des neuen schweizer Zaubereiministers auszunutzen. Wichtig war nur, dass alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. Wahrheitssonden sollten dafür sorgen, dass sich niemand einschleichen konnte. Auf feindliche Gefühle abgestimmte Barrierenzauber sollten selbst unsichtbare Feinde zurückhalten. Außerdem wollte sie den von ihr entwickelten Schildfangzauber auf die Wände des Vereidigungsraumes übertragen, damit jeder, der einen Zauberschild wirkte handlungsunfähig an die nächste Wand gedrückt und angeheftet wurde. So würde sie mögliche Fallensteller, die der Festnahme entwischen wollten unschädlich machen. Natürlich wusste sie, wie hauchdünn die Grenzlinie zwischen Jäger und gejagtem war.
Gestern hatte May Baywater die neuen Sicherheitsroutinen zur Absicherung des Stimme-über-Internet-Programms geschickt, damit auch Echtzeitkonferenzen über dieses neue Programm namens Skype möglich wurden, ohne dass dessen Entwickler oder gar die elektronischen Ohren von Geheimdiensten mitbekamen, worüber gesprochen wurde. Das ging vor allem über ein System rotierender IP-Adressen und Phantomservern, die so taten, als übertrügen sie Klangdaten.
Gerade konferierte Julius mit Bärbel Weizengold, Pina Watermelon und May Baywater vom Laveau-Institut. Trotz der verbesserten Verschlüsselung und der ständig wechselnden IP-Adressen hatten sie sich Decknamen ausgedacht. Bärbel nannte sich Greengras, May Baywater hieß gerade Riptide67 und Pina firmierte unter dem Decknamen Flowerpot. Julius hatte sich den Namen Tuvok82 ausgesucht, nach dem Vulkanier vom Raumschiff Voyager. Sie sprachen über die ersten an die verbündeten verteilten Kerzen aus der Veelaproduktion. Eine davon war gestern von Arthur Weasley bei einer spontan einberufenen Hauptversammlung im britischen Zaubereiministerium entzündet worden. Dabei hatten sich zwei Dinge erwiesen. Zum einen wirkte das goldene Reinigungslicht der Veelas gegen böswillige Artgenossen auch als Vorbeugungsmaßnahme. Gut, dass hatte Ministerin Ventvit von ihrem Kollegen Alexios Anaxagoras erfahren, dessen IZKF-Delegationsleiter Kiriakos am 21. Mai nach Athen zurückgekehrt war und Bericht erstattet hatte. Zum anderen waren im Ministerium drei Agentinnen Ladonnas, die durch die Feuerrose auf sie eingestimmt worden waren, in eine tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Würden sie ebenso mehrere Tage in diesem Zustand bleiben hieß das, dass auf diese Weise keine vollständig von der Feuerrose befallenen Zaubereiministerien "gereinigt" werden konnten. Denn die würden dann tagelang lahmliegen und womöglich zu Chaos und Ausschreitungen in der magischen Welt führen, weil viele zurecht davon ausgehen mussten, dass ihre Länder angegriffen würden und sich somit jeder oder jede selbst der oder die Nächste war. Somit konnte die Operation "Rosentau", die in Genf begonnen worden war, nicht mal eben auf alle unterworfenen Zaubereiministerien angewendet werden.
"Ja, aber die vorbeugende Schutzwirkung sollten wir denen gönnen, die uns helfen können, gegen dieses Unheilsweib vorzugehen", sagte Bärbel alias Greengrass. Pina alias Flowerpot erwiderte:
"Immerhin ist unsere Aurorentruppe jetzt gesichert. Für wielange noch mal, Tuvok82?"
"Laut unserer edlen Spenderinnen einen vollen Sonnenkreis, also ein tropisches Jahr, Flowerpot", sprach Julius ins kleine Mikrofon seines Sprechbestecks.
"Und, macht ihr das in Paris auch so?" wollte Riptide67 alias May Baywater wissen. Julius bejahte es und fügte hinzu: "Durch unsere Veelapatrouille hat sich die Wirkung sogar über unser Verwaltungsgebäude hinweg ausgebreitet und ein Viertel der Rue de Camouflage betroffen. Gut, dass unser Rechnerraum mittlerweile gegen von außen wirkende Zauber abgeschirmt ist, sonst hätte es hier wohl alle Geräte zerlegt. Jedenfalls ging hier fünf Minuten lang nichts mehr. Unsere Ministerin spricht gerade in einer Pressekonferenz darüber, dass die hier beiuns lebenden Veelas uns mit einem erweiterten Schutz vor Ladonna Montefiori versehen haben und jeder magische Mensch, der das goldene Licht gesehen oder dessen Wirkung verspürt hat vorerst nicht von ihr behelligt werden kann. Na ja, ob das für von ihr bezahlte Gangster gilt wird sich noch zeigen."
"Gut zu wissen", sagte Bärbel Weizengold alias Greengrass. "Da wo ich bin ist ja der besondere Schutz, den auch einige Schlösser im Loiretal haben. Deshalb weiß ich nicht, ob das so eine gute Idee wäre, dieses goldene Licht auch hier leuchten zu lassen. Aber wenn eure Ministerin jetzt der Presse was erzählt weiß Ladonna doch, worauf sie in der Schweiz gefasst sein muss."
"Stimmt, davon müssen wir ausgehen, dass sie deshalb keine Vereidigung des neuen Ministers unter freiem Himmel zulässt. Auch gehen wir, Riptide67s Firma und ich davon aus, dass die dunkle Lady Ladonna versuchen wird, ihrerseits neue Untertanen zu gewinnen. Wie zwei gegensätzliche Kräfte zur gleichen Zeit wirken weiß ich nicht. Nachher ist das so ähnlich wie bei Materie und Antimaterie", erwiderte Julius.
"Ja, oder die zwei einander bekämpfenden Kräfte fokussieren sich auf eine Quelle und löschen diese aus. Wäre doch was, wenn diese selbsternannte Königin davon aus der Welt geschafft würde", sagte Riptide67. Julius erbleichte, was zum Glück nur Jacqueline und Louis sehen konnten, die neben ihm saßen und über Mithörohrstecker die Unterhaltung verfolgten, ohne sich daran beteiligen zu können.
"So gefährlich und verbrecherisch dieses Weib ist, Leute, wenn sie stirbt nimmt sie die Zusammenareit mit den Veelas mit."
"Hallo, von wem haben wir denn die Kerzen?" hakte Bärbel ein. Pina bestätigte das. Darauf sagte Riptide67: "Wissen wir, ob die Veelas das nicht genauso haben wollen, dass ihre gebündelte Kraft diese, wie nanntest du sie, Tuvok82, dunkle Lady von ihrer eigenen zurückschlagenden Magie getötet wird, wie damals Tom Riddle, als er sich mit Harry Potter bei der Schlacht von Hogwarts duellierte?"
Julius überlegte. Das war natürlich auch möglich, dass die Veelas genau diese endgültige Konfrontation mit ihr suchten, wenn sie schon nicht selbst an sie herankamen. So sagte er: "So oder so haben wir endlich was, um uns vor ihrem Zugriff abzusichern und ihr wichtige Leute und Stützpunkte wegzunehmen. Vielleicht rückt sie dann von ihrer Weltherrschaftsidee ab und findet sich mit einem Leben als eine von Millionen anderen ab."
"Soll ich dich mal kneifen, damit du wieder aufwachst?" fragte Jacqueline ihn leise und zwickte ihm in die Wange. Er vermied gerade noch einen kurzen Unmutslaut. Außerdem sprach Pina: "Nein, Jul..., Tuvok82, das kannst du vergessen. Die Frau ist wegen ihrer Abstammung überzeugt, uns Normalmenschen überlegen zu sein, sowie viele Menschen früher gedacht haben, die Krone der Schöpfung zu sein und es immer noch welche gibt, die das heute noch denken. Gerade wir Hexen und Zauberer sind dauernd versucht, heftig vom Boden abzuheben und die anderen für minderwertig zu halten. Ja, und einige von uns geben der Versuchung nach, wie du und ich ja bei der Party damals mitbekommen mussten." Julius bestätigte das.
"Also, es steht fest, dass bereits unterworfene tagelang ohnmächtig sind oder wegen Überlastung sogar sterben könnten. Deshalb können wir nicht mal eben den Föderationsrat damit beehren, bis wir keine gescheite Gegenadministration haben", sagte Riptide67. "Ihr wisst wohl, dass sich die nordamerikanische und die neue südamerikanische Föderation so heftig in Rage geredet haben, dass es jederzeit zum offenen Krieg kommen kann. Die Bevölkerung soll abstimmen, ob die beiden Gebilde weiterhin so bleiben wie sie sind, einschließlich Mexiko oder ob es einen gesamtamerikanischen Zusammenschluss gibt, der sich dann panamerikanische Magierkoalition nennt. Meine Firma geht davon aus, dass das auch eine ganz große Bühnenschau ist, um Amerika unter einer einzigen zentralen Herrschaft zusammenzuschmieden, den angelsächsischen und den spanisch-portugiesischen Block. Tja, wer würde von sowas profittieren?"
"Die gleiche, die auch halb Europa unterworfen hat", grummelte Bärbel Weizengold. "Aber wenn wir die Ministerien nicht gleich befreien können, was machen wir?"
"Das was in Frankreich gelaufen ist. Gegenminister in Stellung bringen und dann, wenn eine Notstandsadministration für mehrere Tage möglich ist, die Goldenen Kerzen zünden", sagte Riptide67. Julius bejahte das. So und nicht anders mussten sie vorgehen. Dann fiel ihm was ein: "Öhm, wenn echt so eine Gesamtamerikanische Koalition entsteht, müssen die dann nicht auch eine große Vereinigungszeremonie abhalten?" Riptide67 bestätigte das. "Bis dahin könnten regionale Zaubereiverwaltungen stabil genug arbeiten. Dann ginge das." Alle Konferenzbeteiligten verstanden sofort, was er meinte. So einigte man sich darauf, zwei ganz große Lichter über den Atlantik zu reichen, um für diesen besonderen Fall gewappnet zu sein.
"Moment, ich bekomme hier gerade einen Zettel hingelegt", sagte Bärbel. Es raschelte kurz. "Ui, der Terminund der Ort stehen. Die Vereidigung des neuen schweizer Zaubereiministers soll am 25. Mai stattfinden. Die Einladungen gingen an ausgewählte Leute heraus, die durch die Briefe zu Stillschweigen verpflichtet werden sollen. Die Beteiligten sollen per Portschlüssel in einen Vorraum der Versammlungshöhle befördert werden, die für diesen Anlass gegen Apparieren und körperliche Zugänge abgesichert wird. Womöglich werden da auch diese Kristalldinger hingehängt, von denen ihr es hattet, Tuvok82." Julius bestätigte das.
"Dann wird es nicht leicht sein, dort unser Geschenk zur Vereidigung hinzuschaffen. Sicher werden alle durchsucht", erwiderte Pina alias Flowerpot.
"Also geht sie von einem neuerlichen Angriff aus. Vielleicht ist der Ort aber auch nur eine Falschmeldung, um uns in die Irre zu führen."
"Wenn sie davon ausgeht, dass der Sprecher der schweizer Heilerzunft ein Verräter ist hätte sie ihn sicher gesondert behandelt, obwohl das noch kommen könnte", sagte Bärbel. "Wir müssen eben noch andere Verbindungen prüfen, ob die das gleiche hergeben."
"Gut, machen wir das so. Zeit genug haben wir ja noch. Es sei denn, der Termin ist auch schon eine Falschmeldung."
Die Skypekonferenz einigte sich darauf, jede und jeder für sich den Ort und den Termin zu überprüfen. Am Ende hatten sie vielleicht nur Minuten Zeit, um zu handeln.
Eine Stunde nach der Konferenz erfuhr Julius von Millie, dass die Zaubereiministerin erwähnt hatte, dass die Veelastämmigen im Ministerium einen vereinten Zauber gewirkt hatten, um den Einfluss bösartiger Artgenossen auszusperren. Dass das so gut gelungen sei hätten die sechs Beteiligten nicht gewusst." Julius musste grinsen. Millie nickte. "So weiß Ladonna nur, dass ihre Aktion gegen die Veelas zwar von ihrer Seite her völlig richtig ist, aber auch, dass wir uns davon nicht abhalten lassen. Wie aber die Veelas das angestellt haben weiß sie dadurch nicht. Ich habe nämlich einige von den leuten gefragt, ob die mir sagen konnten, was genau gemacht wurde. Die meisten beriefen sich auf die Geheimhaltungsstufe S0, also dass nur die unmittelbar beteiligten und der oder die amtierende Zaubereiminister oder die Zaubereiministerin davon wissen darf."
"Ja, so wird die dunkle Lady Ladonna rotieren, wie genau die Veelas das anstellen. Vor allem wird sie sich fragen, wie Veelas in die mit ihrer Falle gegen Veelas gespickten Gebäude in Genf reinkamen und da ihren großen Zauber machen konnten."
"Soll sie mal machen", erwiderte Millie darauf.
Ladonna hörte durch die Ohren ihres italienischen Statthalters Pontio Barbanera mit, was in Frankreich geschehen war und dass die dortige Zaubereiministerin den Veelas dankte. Sie überlegte, ob sie vor der Vereidigung des neuen schweizer Zaubereiministers nicht eine ihrer berüchtigten Feuerballzauberbomben oder den von ihr modifizierten Schmelzfeuerfluch anbringen sollte. Doch das würde zu hohe Wellen schlagen. Erst wenn das Zaubereiministerium in Paris das gestellte Ultimatum verstreichen ließ würde sie Maßnahmen zur Beseitigung der drei von Euphrosyne gesegneten Hexen ausführen. Erst galt es, Amerika zu sichern und die Schweiz zu halten.
Die Versammlungshöhle des schweizer Zaubereiministeriums war mit üblichen Kristallsphären geschmückt. Die scheibenförmigen Kristallplättchen über den Leuchtsphären würde niemand sehen. Also wenn es Veelas schaffen sollten, die Prüfstellen zu durchbrechen würden sie vom gläsernen Sonnenfeuer getötet, egal ob es nur eine Veela war oder eine ganze Hundertschaft. Portschlüssel gelangten nur bis vor die Hauptversammlungshöhle. Dort würden alle kontrolliert, mit Seriositätssonden, Feindspürern und Verwandlungsnachweisern. Niemand unsichtbares würde durchkommen, dafür hatte sie mit den Feindesfangbarrieren gesorgt. Zudem hatte sie den Schildfangzauber in die Wände eingewirkt. An ihre weitere Rosenkerze kam so niemand heran. Aber hatte sie das nicht auch für Genf geglaubt? Nein! Sie wollte und sie durfte jetzt nicht zaudern, nicht zurückweichen. Sie war im Recht, weil sie wusste, dass die nichtmagische Menschheit die ganze Welt in die Vernichtung treiben wollte. Allein wie kaninchengleich die magieunfähigen Geschöpfe sich vermehrten sprach für die Rosenkönigin dafür, diesem Treiben endlich einhalt zu gebieten, auch wenn ihr vollkommen klar war, dass es am Ende ein sehr, sehr blutiger Feldzug werden würde. Anders als Vita Magica fühlte sie keine Veranlassung, die Nichtmagischen Menschen am Leben zu lassen, nur weil von tausend geborenen Kindern eines mit der Befähigung zur Magie sein mochte. Vielleicht, wenn sie alle Zaubereiministerien Europas, Amerikas und Afrikas unterworfen haben würde, konnte sie Gesetze durchbringen, alle Menschen im Hoheitsgebiet auf ruhende Grundkräfte zu testen und die, die keine solchen besaßen für Mutter Erde verträglich auszusondern.
Drei Tage hatte es gedauert, bis Anthelia/Naaneavargia wusste, wo der Bunker bei Washington war und wo der Versammlungsraum war. Hineinapparieren konnte sie nicht. Das gleiche galt für Portschlüsselreisen. Mit ihrem Feuerschwert konnte sie zwar wie ein Phönix in einer orangeroten Feuersphäre an für Apparatorinnen unerreichbare Orte überwechseln, jedoch nur an jene, die sie einmal leibhaftig besucht und / oder gut genug gesehen hatte. Da der Rat wohl auch mit Koboldeindringlingen rechnete hatten die garantiert geschmiedetes Eisen im Boden verteilt. Deshalb konnte sie auch nicht durch festes Gestein reisen wie eben die Kobolde oder die hoffentlich endgültig erledigten Skyllianri. Wie sollte sie also in einen verschlossenen und gegen alle bekannten Versetzungszauber abgeschotteten Raum hineinkommen? Wie sollte sie das Wasser der Wahrheit über derjenigen Auskippen, die sich als Atalanta Bullhorn ausgab? Um diese Fragen zu beantworten hatte sie zwei Tage überlegt und Versuche angestellt. Dann hatte sie einen mit mehreren Ausweichmöglichkeiten versehenen Aktionsplan und führte ihn aus.?
Zunächst eilte sie mit der Macht durch festes Erdgestein zu reisen von Boston nach Washington. Dort suchte sie die Nähe des Bunkers auf. Dort legte sie sich im Schutze eines Unsichtbarkeitszaubers auf die Lauer. Sie beobachtete und belauschte die Ein- und ausgehenden aus sicherer Entfernung. Sie selbst war für die Meldezauber unortbar. Dann erfasste sie eine Hauselfe, die als Saaldienerin tätig war. Da sie mit mehreren dieser unterwürfigen Wesen geübt hatte fiel es ihr nicht schwer, eine Exosenso-Verbindung zu Flicky, der Küchenelfe, aufzubauen. Behutsam tastete sie sich in die Sinneswelt des kleinen Wesens. Elfen konnten bei brachialer Magie spüren, von wo ein magischer Vorstoß kam und womöglich Alarm schlagen. Doch Flicky merkte nichts. Es zahlte sich doch aus, dass Anthelia über mehrere Jahre einen von ihr fernüberwachten Kundschafter besessen hatte. So nahm sie ganz behutsam alles wahr, was Flicky sah. Endlich durfte die Elfe in den Saal, um dort Tee und Sandwiches zu servieren. Anthelia prägte sich alles genau ein. Sie musste sich ja auf die eigenen Bewegungen der Elfe einlassen, durfte sie nicht zwingen. So dauerte es mehr als dreißig Sekunden, bis sie alle räumlichen Merkmale genau gesehen und sich eine Vorstellung von der Größe des Raumes gemacht hatte.
Als sie den Saal mehrmals genau genug hatte sehen können und die Elfe sich von sich aus in die Küche zurückgezogen hatte löste Anthelia sich aus ihrer Sinneswahrnehmung. Sie überwand das leichte Schwindelgefühl, weil sie so lange in einer fremden Wahrnehmung gesteckt hatte. Doch dann grinste sie. "So sei es", dachte sie und entzündete Yanxothars Klinge.
"Ich habe es mit Euren anderen treuen Dienern außerhalb des Rates vorbereitet. Morgen werde ich von der Spinnenhure und ihren Schwestern hingeschlachtet, weil sie keine Vereinigung der panamerikanischen Zaubereiministerien wünscht", gedankensprach Ladonnas Statthalterin in Nordamerika. "Ich weiß jetzt, wie das mit dem Similicorpus genau geht und werde mit dem, was ihr mir überlassen habt einen klar erkennbaren Leichnam hinterlassen. Es sei denn, Ihr befehlt mir etwas anderes zu tun."
"Wie genau soll das ablaufen, meine Statthalterin?" fragte die Rosenkönigin und tastete sich behutsam in dieErinnerungen ihrer obersten Helferin Nordamerikas vor. Während diese berichtete, wie sie es angehen wollte und dass der Spinnenorden ja auch schon den ehemaligen Zaubereiminister Wishbone ermordet hatte, erfuhr Ladonna die genauen Einzelheiten in Worten und bildhaften Erinnerungen. "Es sei dir erlaubt, so zu verfahren. Fünf unserer neuen Schwestern der Rose sollen es für alle so aussehen lassen, dass die achso einsatzfreudige und mutige Atalanta Bullhorn nach Verkündung eines Abkommens für die Befragung zur Zukunft ganz Amerikas von einer Gruppe Attentäterinnen getötet wurde."
"So sei es!" erwiderte Ladonna. Sie hatte mit einem ähnlichen Vorhaben und der entsprechenden Begründung gerechnet. Dabei dachte sie auch an die Unterhändler in Südamerika. Wenn einer der hochrangigen Unterhändler ebenfalls getötet wurde ... Ja, so würde es aussehen, als dass sich der Spinnenorden bereits auf beiden amerikanischen Teilkontinenten eingenistet hatte und nicht nur im Norden. Das würde die Zustimmungsbereitschaft der magischen Menschen womöglich verstärken. Außerdem würde der Spinnenorden auf beiden Teilkontinenten endgültig zur meist gesuchten Feindesgruppe erklärt, deren Mitglieder bei Widerstand gegen die Festnahme auch getötet werden durften. Das hieß drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie ahnte nicht, dass bereits jemand andere Pläne verfolgte.
Alberto Lorenzo Costacalma traute dem magischen Frieden nicht. Zwar war seit seinem aufopferungsreichen Angriff auf das Anwesen de Piedra Rojas nichts mehr passiert, was auf die magischen Kräfte der gefährlichen halbindigenen Hexe zurückzuführen war. Doch so jemanden wie sie mochte es noch in den Bergen und Wäldern seiner Heimat geben. Daher reiste er zu öffentlichen Auftritten immer im Schutz von vier unsichtbaren Leibwächtern und trug einen Portschlüssel für einen schnellen Rücksprung am Körper.
Gerade sprach er zu einer Versammlung postkolonialer Zauberer, die ihn lautstark als "Helden der Reunion" feierten und ihm einen Forderungskatalog übergeben wollten, was mit den indigenen Hexen und Zauberern zu geschehen hatte und ob es wirklich begrüßenswert war, mit den Gringos und Yankees im Norden eine gesamte Föderation zu gründen.
"Die Jahrhunderte der Trennung einstiger Bruderländer in einzelne Interessensgebiete, getrieben von erratischen Gewinn- und Machtbestrebungen der nichtmagischen Erben der spanischen Kolonialzeit haben uns, die Träger hoher Kräfte, in diesen Sumpf des Misstrauens und gegenseitiger Konkurrenz getrieben, als wenn wir ängstliche Lämmer auf der Flucht vor zwei jungen Wölfen wären", sagte Costacalma. Endlich sind wir erwacht. Wir haben uns erhoben, um unsere Gemeinsamkeit zu bekennen, uns aufeinander zuzubewegen und einander die Hände zu reichen, auf dass wir im Angesicht weltweiter Feindesgruppen keine ängstlichen Lämmer, sondern selbst ein Rudel starker Wölfe sind, dass mit Krallen und Zähnen das gemeinsame Revier gegen äußere Feinde verteidigt", sprach Costacalma mit dem Brustton der vollen Überzeugung. "Auch die wahren Wolfsmenschen, die mondhörigen Mörder und Verstümmeler, werden vor unserer gemeinsamen Entschlossenheit niederfallen oder mit eingeklemmten Ruten laut heulend davonrennen. Auch hat uns die Geschichte unserer hohen Künste ein solch gewinnträchtiges Blatt in die Hand gespielt, dass selbst die sonst so besserwisserischen Anglos nördlich des Rio Bravo erkennen müssen, dass es zu viel Blut kosten wird, wenn sie unser aus der alten Welt herübergetragenes und mit den Erkenntnissen der neuen Welt bereichertes Gemeingefühl unterschätzen und es auf einen Krieg ankommen lassen, nur um Mexiko in ihren Reihen zu halten. Entweder kehrt dieses Land zurück in den Schoß der hispanoamerikanischen Gemeinschaft oder die Anglos in den Staaten und der ehemaligen Kolonie Britanniens erkennen an, dass es nur noch ein mit uns und kein gegen uns mehr geben kann. Darauf, Brüder, sollten wir stolz sein!" rief Costacalma. Brausender Beifall belohnte den kleinen, runden, willd gestikulierenden Redner. als der erste Begeisterungssturm verebbte erhob sich einer der Anwesenden und fragte für alle im Saal hörbar:
"Was machen wir mit Spanien? Die haben doch diese ganzen Unterschiede von uns genutzt, um uns alle schwach zu halten, um sich weiterhin als die uns beherrschende Macht feiern zu können." Viele der anderen Anwesenden sahen den Fragenden verdutzt bis abschätzig an. Denn viele hier konnten Familienstammbäume bis zu den höchsten Familien Spaniens nachweisen und hofften darauf, durch den Zusammenschluss ihr angebliches Adelsvorrecht zurückzuerhalten. Da hätte eine Margarita de Piedra Roja sicher ganz gut hineingepasst. Aber nein, die war ja nur eine eingeheiratete, noch dazu halbindigene Frau aus dem einfachen Volk gewesen.
"Pataleón, der spanische Zaubereiminister, wird uns anerkennen", sagte Costacalma. "Wir werden nicht mehr die Kolonie Spaniens werden können, weil unsere Zaubereigesetze gebieten, dass wir die von der Mehrheit der bei uns lebenden Menschen erwählte Staatsform anerkennen müssen. Denn werte Mitbrüder, um weiterhin unser magisches Blut frisch zu halten ist es nötig, in den Reihen der Moglos jene aufzuspüren und zu unterweisen, in denen die hohen Kräfte wirksam sind. Doch wir können und wir werden mit Spanien und allen anderen europäischen Ländern einen weltweiten Friedenspakt schließen. Wir werden mit einer gemeinsamen Stimme verkünden, dass wir die Zukunft der magischen Menschheit gestalten werden, nicht im Gegeneinander der Unterschiede, sondern im vielstimmigen, die gleiche große Hymne singendem Chor vieler Stimmen, die am Ende wie eine einzige klingen. Dann wird sich auch die angloamerikanische Zauberergemeinschaft des Nordens mit uns zusammentun, um für Frieden, Fortschritt und Sicherheit einzutreten."
"Ja, und wenn Mexiko mit Guatemala Krieg führt oder es den Yankees einfällt, Mexiko zu erobern haben wir nichts von der tollen Eintracht amerikanischer Zauberer", warf ein anderer Anwesender ein. Das führte zu Unmut in den Reihen der meist männlichen Zuhörerschaft. Der Sprecher der Bruderschaft, der als Gastgeber auftrat sprang von seinem Platz neben Costacalma auf und rief: "Brüder! Seine Exzellenz, Zaubereiminister Costacalma, hat leider recht, dass es nicht mehr möglich ist, eine staatliche Einheit mit Spanien zu gründen. Außerdem, Brüder, wer will schon eine Kolonie sein, wenn er Kolonialherr werden kann? Wir unterwerfen uns mit allen anderen die noch unbewohnten Inseln im Atlantik und Pazifik und verbreiten das große Erbe unserer Gründerväter über den ganzen südlichen Erdball. Dann brauchen wir keine Kolonie Spaniens mehr sein. Unsere von dort ererbten Vorrechte können wir auch so zurückerhalten, wenn wir ..."
Was er noch sagen wollte ging in einem scharfen Knall, gefolgt von einem grellen Blitz unter. Costacalma fühlte zwar, wie sein gegen Geschosse und Zauberflüche bezauberter Umhang erbebte. Doch gegen das silberweiße Licht, dass seine Augen traf, half seine Schutzkleidung nicht. Es war ihm, als spüle eine Flutwelle polarkalten Wassers alle seine Gedanken fort. Dass er und alle anderen hinfielen oder von den Stühlen kippten bekam er nicht mehr mit.
Mit dem nur gedachten Auslösewort für einen Feuersprung wünschte sich Anthelia genau in die Mitte des Versammlungssaales. Kaum war sie dort sah sie sich von mehreren Dutzend Zauberstäben angezielt. Sie zielte mit ihrem gleichfalls bereitgehaltenen silbergrauen Zauberstab lotrecht nach unten und rief "Kirdun Madrai!" Was "Verharret auf der Erde" hieß und alle in Hörweite, die gerade festen Boden unter den Füßen hatten, solange festhielt, bis die Zauberkundige aus ihrem Blickfeld verschwand. Die anderen blieben wie erstarrt stehen, auch Atalanta Bullhorn, die gerade ihren Zauberstab freiziehen wollte. Anthelia fühlte sich nun bestätigt, es mit keiner Inobskuratorin zu tun zu haben. Denn die konnten ihre Zauberstäbe mindestens doppelt so schnell freiziehen und ausrichten.
Nun nahm Anthelia die kleine, bauchige Flasche aus Kokospalmenholz und pflückte den Korken telekinetisch heraus. Silberner Dunst entstieg der Flasche und wand sich zu einer wabernden Spirale. Es wirkte so, als wolle ein in der Flasche steckender Dschinn entweichen. Doch der Silbernebel reagierte bereits mit den Gefühlen von Verheimlichung, Willensunfreiheit und Anthelias abgedunkelter Lebensaura.
Die Spinnenhexe trat an die erstarrt stehende Atalanta Bullhorn heran und kippte ihr die Hälfte des Flascheninhaltes über den Kopf. Es war wie ein kleiner Wasserfall, der über der angeblichen Ratssprecherin niederstürzte. Die Flüssigkeit schimmerte mondlichtfarben und bildete funkelnde Tropfen wie von innen her leuchtendes Quecksilber. Außerdem begann Atalanta Bullhorns Haar zu flirren, ihr Gesicht zu zerlaufen und ihr Körper zu pulsieren. Die durch Anthelias Fesselzauber bewegungsunfähig gehaltene konnte sich dem über sie ausgeschütteten Zauberwasser nicht entziehen. Die Menge der Tropfen reichte aus, alle unnatürlichen Merkmale in ihre Ursprungsform zurückzuführen. So konnte Anthelia sehen, wer sich in Atalanta Bullhorns Erscheinungsform versteckt und hervorgetan hatte. Sie erkannte die Hexe auf Grund verschiedener Bilder, die Portia Weaver ihr besorgt hatte. Außerdem fiel ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit einer alten Rivalin auf, die zu einer der ersten unterworfenen Mägde Ladonnas geworden war. Die andere da war eine Nichte Ursina Underwoods. dann endlich war die Rückverwandlung vollendet. Anthelia hörte die um Hilfe rufenden Gedanken der enttarnten Hexe und reagierte unverzüglich. Sie errichtete um sie die grüne Säule des Verweilens, die vom Boden bis zur Decke reichte. Sie würde die andere auch am Disapparieren hindern, weil sie jede Transitsäule verzerrte und auflöste, bevor sie stark genug war, um den darin stehenden Menschen an den Zielort zu bringen. Außerdem befahl sie ihrem Feuerschwert, alle magischen Feuer in Sichtweite niederzuhalten. Sie kannte schließlich Ladonnas Vorliebe für infernalische Feuersbrünste.
Vier Tage hatten Margarita und Esmeralda daran gezaubert. Zwei Flaschen hatten sie mit verflüssigtem Mondlicht gefüllt und darauf die Zauber "Nachtruhe" und "Offene Tore" gewirkt. Nun hatte der von Margarita unter den Imperius-Fluch genommene Hauself Choco eine der beiden Flaschen in den Versammlungssaal der Hermanos grandes del Sur mitgenommen und nach dem apparieren hinter Costacalma fallen lassen. Dadurch war der Inhalt in alle Richtungen auseinandergespritzt und hatte sich in gesammeltes Mondlicht zurückverwandelt und damit die fünfzigfache Kraft eines einzelnen Zaubers in nur einem Augenblick entfesselt. Keine Portschlüsselabwehr, kein Apparierwall und kein Zauberschloss konnten dem so intensiven Zauber der offenen Tore widerstehen. Ja, und alle im Sichtbereich des explosionsartig freigesetzten Mondlichtes mussten in todesnahen Tiefschlaf fallen, weil sie der zigfache Zauber der Nachtruhe ereilte, je danach wie viele Personen er im Raum traf für eine halbe bis zehn volle Stunden vorhaltend. Zu den auf diese Weise in Soforttiefschlaf versetzten gehörten neben den ewiggestrigen Kolonialzeitnachweinern wie Montealto und Lagoplateado auch der amtierende Zaubereiminister, der Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit und vier unsichtbare Leibwächter, die durch das schlagartig freigesetzte Mondlicht enttarnt wurden. Doch würden die es erst merken, wenn der unaufweckbare Tiefschlaf von selbst endete.
"Sage noch einmal wer, dass die alten Priesterinnen Mama Killas keine mächtigen Zauberinnen waren", gedankensprach Esmeralda, als sie mit ihrer Tante in den nun sperrangelweit offenen, totenstillen Saal eintrat. Sämtliche Anwesenden saßen wie erstarrt auf ihren Plätzen. Nur an den schwach grün schimmernden Lebensauren konnte Esmeralda sehen, dass sie alle noch lebten.
Margarita eilte zu Minister Costacalma und berührte ihn mit einem von ihr gefertigten Amulett. Es glomm rubinrot und vibrierte. "Aha, er wurde von außen mit einem Fremdzauber belegt, womöglich einem Unterwerfungsbann", sagte sie. Dann vollführte sie an ihm einen Verwandlungszauber und machte ihn zu einem rosaroten Taschentuch. Auch die anderen, die sie mit ihremAmulett der Fremdzaubererkenntnis auf aufgeprägte Zauber testete nahm sie auf diese Weise an sich. Die anderen übernahm Esmeralda.
"Da liegt ja der kleine Choco. Nicht dass der verrät, was er für uns tun musste", sagte Margarita. Sie zielte mit ihrem Zauberstab auf den Hauselfen und zischte "Avada Kedavra!" Ein gleißendgrüner Blitz sirrte unheilverheißend aus ihrem Zauberstab und traf den von ihr als Türöffner missbrauchten Hauselfen. Der zigfache Zauber der Nachtruhe gewährte Choco die Gnade, seinen Tod nicht mitzuerleben. Aber nur so war es Margarita auch möglich, ihn anschließend in einen Kieselstein zu verwandeln. Denn lebende Hauselfen besaßen einen sehr hohen Fremdverwandlungswiderstand. Damit war der unnfreiwillige Verräter verschwunden.
Wie abgesprochen, Esmi. Wir holen uns gleich noch die gesamte Belegschaft des Zaubereiministeriums in das Ausweichquartier und führen die Versuche durch, sie wieder zu befreien, solange sie schlafen. Wenn sie erst einmal wieder wach sind werden sie ihre Herrin um Hilfe rufen. Die könnte ihnen dann befehlen, sich und ihre Umgebung in Brand zu setzen. Das brauchen wir dann doch nicht."
So brachten sie die Gefangenen in den verborgenen Inkatempel der Mama Killa, den Margarita de Piedra Roja vor zwanzig Jahren entdeckt und als persönlichen Kraft- und Zufluchtsort ausgebaut hatte. Hier würde sie ergründen, auf welche Weise Ladonna Montefiori sich Leute gefügig machte.
Nur zwanzig Minuten später erwischte auch die gesamte Belegschaft des peruanischen Zaubereiministeriums jene besondere Bombe aus verflüssigtem Mondlicht. Auch hier hatte Margarita einer Hauselfe durch den Imperius-Fluch befohlen, in den Versammlungssaal einzudringen. Anders als bei Choco hatte Margarita dieser unfreiwilligen Helferin jedoch nach verübtem Anschlag das Gedächtnis genommen und sie wegen der weggebrochenen Apparierwälle in eines der Zimmer getragen, wo sie mit dem Wissen erwachen sollte, gerade die Möbel zu polieren. Erst später würden alle Elfen erfahren, dass die gesamte Belegschaft des Ministeriums entführt worden war. Doch wenn keiner von denen nach ihnen rief konnten sie nicht herausfinden, von wem und wohin.
"Meine Königin, ich bin entlarvt!" jagte Ashton Underwoods angstvoller Gedankenschrei durch Ladonnas Bewusstsein. Die Rosenkönigin fühlte augenblicklich die Hitze der Wut und die Lähmung des Entsetzens. Wer hatte das gewagt und geschafft? Sie baute eine Gedankenbrücke zu Ashton auf und sah sofort, dass sie von Ratsmitgliedern umringt war, die alle wie erstarrt dasaßen. Auch sah sie eine grüne, glasartig durchsichtige Säule, die Ashton vollständig umschloss und bis zur Decke reichte. Dann sah sie durch Ashton Underwoods Augen die Feindin, die ihr bereits zwei heftige Niederlagen beschert hatte.
Sie trug jenes hautenge, scharlachrote Kostüm, mit dem Sie auch schon im Castello Moravito aufgetreten war. Darüber trug sie den Mantel, mit dem Sardonia schon gegen sie angetreten war. In der rechten Hand hielt sie ihren silbergrauen Zauberstab. In der linken hielt sie das orangerot lodernde Flammenschwert, mit dem sie Feuerrosenkerzen zerstören und sogar auf sie geschleuderte Todesflüche parieren konnte.
"Ah, die kleine schwarze Nachtfee ist auch zugegen, wenn auch nur im Kopf ihrer achso einsatzfreudigen Schwester", sprach die Widersacherin mit ihrer warmen, tiefen Stimme. Ladonna übernahm Ashtons Körper vollständig und versuchte, aus der grünen Säule zu entkommen. Doch die erwies sich so hart wie eine meterdicke Granitwand. "Ich habe deinen neuen Untergebenen gezeigt, dass diejenige, die sie für Atalanta Bullhorn hielten eine deiner wohl treuesten Schwestern ist. Wie genau das ging verrate ich nicht, wo du gerade ihren Körper und Geist besetzt hast."
"Möge das ewige Nichts deinen Leib und deine Seele verschlingen, Dirne Sardonias", knurrte Ladonna durch Ashtons Mund. Dann kam ihr die Idee, die letzten Minuten vor dem Hilferuf aus Ashtons Erinnerungen zu saugen. So erfuhr sie, wie die Spinnenhexe in den Bunker eingedrungen war und wie sie Ashtons wahre Gestalt enthüllt hatte. Woher konnte die sowas alles?
"Oh, ihr wolltet es so drehen, dass meine Schwestern und ich die da umgebracht hätten, damit sie nicht länger in Atalantas Körperform herumlaufen musste? Heißt das, dass du die wahre Madam Bullhorn in deinem Garten eingepflanzt hast, Rosengärtnerin?"
"Du speist große Töne, weil ich nicht selbst anwesend sein kann, um dich endlich in den grundlosen Abgrund zu stoßen, in dem deine Vordenkerin Sardonia immer noch der Vergessenheit entgegenstürzt."
"Du hast sehr, sehr viel nicht mitbekommen, selbst dann nicht, als du schon wach warst, kleines Dornröschen", spöttelte die Widersacherin. "Ich diene nicht mehr Sardonia, auch wenn ich ihren Mantel errungen habe. Der gehört mir jetzt aber endgültig, nachdem seine Schneiderin und erste Herrin endgültig in handlungsunfähige Geistesfetzen zerrissenund in alle Richtungen der Nachwelt verstreut wurde. Ein Schicksal, dass dir genauso zu denken geben mag wie mir, schwarzes Sabberhexenprinzesschen."
"Der Tag ist nahe, wo ich dich aus dieser, meiner Welt stoße und deinen Schwestern nur die Wahl lasse, mir zu folgen oder dir ins Vergessen hinterhergeworfen zu werden, Metze!"
"Das hast du schon bei Morgauses Kessel und bei deinem ersten Versuch, dir Zaubereiminister untertan zu machen behauptet, schwarzes Prinzesschen. Vielleicht sollte ich sie hier fragen, ob sie nicht lieber mir folgen möchte, um die Welt vom Gewinnsucht getriebenen Zerstörungswahn der Nichtmagier zu befreien."
"Du? Das hättest du längst erledigen können, ja Sardonia hätte diesen Maschinenknechten und Goldhortern längst die Grenzen aufgezeigt, wenn sie wahrhaftig so mächtig war, wie sie tat. Du bist doch nur eine kleine zögerliche Zimperliese, die zufällig an alte Artefakte und damit verbundenes altes Wissen geraten ist und meint, mir meinen von Geburt an bestimmten Platz fortnehmen zu können. Du hast nicht die Mittel, die den selbsterschaffenen Götzen Wachstum anbetenden Magieunfähigen aufzuhalten. Das kann nur ich mit der Macht der Feuerrose, und alle entschlossenen Schwestern der Welt wissen das auch und werden sich unter der Flagge der Feuerrose um mich scharen und mir auf allen Wegen folgen. Du und deine lächerliche Bande seid mir im Weg, und was mir im Weg liegt kommt weg", sprach Ladonna durch Ashton Underwoods Mund.
"Wie die Tante jener, deren Körper du gerade ausborgst, aus dem falschen Loch entfallene Notdurft einer kinderfressenden Sabberhexe?"
"Ich werde dich und deine dummen Nachläuferinnen und ihre Familien vertilgen, auslöschen, für alle Zeiten aus dem Gedächtnis der Welt ausradieren", zeterte Ladonna mit Ashtons Stimme. Ihr war es egal, dass die anderen Ratsmitglieder gerade stocksteif auf ihren Stühlen saßen und wie mit versteinerten Gesichtern auf die grüne Säule blickten, in der Ashton eingeschlossen war.
"Nur weil in dir ein Viertel Veelafleisch und Veelablut steckt bist du nicht die Königin aller Hexen und Zauberer, das wiegt das Viertel Sabberhexenfleisch und -blut vollständig auf. Außerdem werden die Töchter Hecates und die Töchter des grünen Mondes dich ebensowenig als ihre Königin anerkennen wie mich. Apropos Sabberhexen", sagte die Führerin des Spinnenordens und berührte mit ihrem Zauberstab etwas unsichtbares, dass sie wohl auf dem Rücken trug. "Seid gekrönt!" rief sie. Da flogen wie aus dem Nichts aufgetauchte mehr als ein Dutzend schwarze, biegsame Gebilde hervor, die wie dünne Kränze aus einem dunklen Material wirkten. Ladonna sah durch Ashtons Augen, dass in die Gebilde dunkelgrüne Steinkügelchen eingeflochten waren, Smaragde oder Malachite. Jedenfalls flogen die aus dem Nichts hinter der Widersacherin schwirrenden Kränze zielgenau zu allen hier versammelten Räten hin und senkten sich auf deren gerade bewegungslose Köpfe herab. Ladonna wusste erst nicht, was dieser Vorgang bedeutete. Doch dann verriet es ihr die Feuerschwertträgerin.
"Die Veelas machen es mit ihrer Kraft, ich habe mir andere Verbündete erwählt, die dich genauso fürchten wie die meisten Menschen. Sieh her!"
Ladonna fühlte in dem Moment, wie eine Woge aus unbändiger Widerstandskraft durch ihren Geist flutete, sobald die hervorgeholten kreisrunden Geflechte ihre Ziele berührten und sich sacht um die Köpfe der Föderationsräte schmiegten. Sie sah die grünen Steine aufleuchten und wie das Licht sich wie flüssige Lava in schmalen Strömen über die Körper der Belegten ergoss. Sie spürte, wie ein zunehmender Widerwille gegen sie aufbrandete. Da wurde ihr klar, dass dieses widerliche Weibsbild was wahrhaft wirksames gegen ihren Feuerrosenzauber gefunden haben musste. Denn das nun blattgrüne Licht hüllte die Bekränzten oder Gekrönten wie in einen Mantel aus flüssiger Glut ein und ließ sie erbeben. Ihr war klar, dass sie jetzt nur noch eines tun konnte.
"Tut euren letzten Dienst für die Königin Ladonna!" rief sie durch Ashtons Mund, als gerade die grüne Lichtsäule verschwand, die Ashton umschlossen hatte. Sie fühlte die schlagartig ansteigende Hitze in Aschtons Körper und zog sich gedankenschnell in ihre eigene Empfindungswelt zurück, um nicht in die Agonie des Verbrennens hineingezogen zu werden. Sie erwartete Ashtons geistigen Todesschrei. Doch der blieb aus. Ebensowenig vernahm sie die geistigen Todesschreie der Anderen. Dafür vernahm sie ein erst fernes Grollen, das zu einem tiefen Rauschen wurde und auf ihren eigenen Geist zuraste wie die Flutwelle eines Seebebens, auch Tsunami genannt. Sie schaffte es gerade noch, sich mit Okklumentik und dem an die Stirn gedrückten Feuerring zu sichern, als die Flut aus entfesseltem Widerwillen um sie und über ihr zusammenschlug. Sie meinte trotz ihrer Anstrengungen eine Woge aus grünem Licht zu sehen, in der entschlossene Gesichter dahinjagten, die Gesichter grüner Waldfrauen mit weißgelben bis goldbraunen Katzenaugen. Dann war die grüne Gedankenflut über sie hinweggegangen und verklang als dumpfer Schmerz und tiefes Grummeln in der unendlichkeit des Geistesraumes. Da wusste Ladonna, dass dieses viel zu schön für eine Menschenfrau geformte Weibsstück ihr wahrhaftig ihr treue Untertanen entrissen hatte. Doch was hatten die Gesichter von wildentschlossen dahinjagenden Waldfrauen damit zu tun? Die hatte doch nicht ernsthaft mit denen einen Pakt geschlossenund sich von denen irgendwas erbeten, um gegen sie, die wahrhaftige Königin aller magischenWesen, kämpfen zu können. Es durfte nicht sein, dass nach ihren teilweise Blutsverwandten aus Mokushas fruchtbarem Schoß auch die Töchter der grünen Mutter aller Wälder den Krieg erklärt hatten. Falls dem so wwar, bei ihrem mächtigen Ring des unbesiegbaren Feuers, so würde sie auch die ihr widersetzlichen Waldfrauen vernichten müssen, auch wenn sie sich eher als eine von ihnen empfand als als Tochter Mokushas. Doch wie genau hatte diese scharlachrote Dirne das angestellt? Waren wirklich alle ihre nordamerikanischenGefolgsleute, die von diesen schwarzen Malachitbändern bekränzt worden waren von ihr losgelöst, ohne zu sterben? Warum war Ashton nicht augenblicklich im beschleunigten Lebensfeuer verglüht?
Sie dachte daran, dass die Feindin mit dem Flammenschwert sicher nicht hunderte oder tausende von Malachitsteinen oder das Haar von grünen Waldfrauen ergattert haben konnte, um alle ihre Untertanen von ihr loszureißen. Auch würde dieses Unweib sicher nicht riskieren, ganze Zaubereiministerien handlungsunfähig zu machen. Oder doch? Ihr fiel mit Schrecken ein, dass dieses Weib gleich nach seinem kleinenErfolg in Nordamerika auch nach Südamerika weiterziehen konnte. Wie viele von den missachtenswerten Malachitkränzen hatte sie vorrätig?
Sie musste ihr zuvorkommen. Sie rief in Gedanken den chilenischen, argentinischen und brasilianischen Zaubereiminister und befahl ihm, bis auf weiteres keine Vollversammlungen mehr abzuhalten. So verfuhr sie mit den meisten südamerikanischen Zaubereiministern und spürte, wie anstrengend das war. Daher wollte sie ihren südamerikanischen Statthalter aus Peru erst zum Schluss rufen. Doch den erreichte sie nicht. Sie fand überhaupt keine geistige Regung von ihm vor. Aber sie hatte ihn nicht im letzten Augenblick seines Lebens aufschreien gehört. Lag das an der Entfernung oder an ihrer bereits großen geistigen Erschöpfung? Sie rief ihn und rief ihn, versuchte eine Gedankenbrücke zu ihm zu errichten. Doch ihre Bemühungen gingen ins Leere, als sei Alberto Costacalma niemals ihr Untertan gewesen. Hatte die andere den Aufruhr im nordamerikanischen Föderationsrat genutzt, um einer ihrer eigenen treuen Schwestern freie Bahn zu verschaffen, um Costacalma zu töten? Sie versuchte auch die anderen peruanischen Untertanen zu erreichen. Doch da diese nicht zu ihren Statthaltern gemacht worden waren mochte es sie viel mehr Kraft kosten. Doch ihre Bemühungen blieben erfolglos. Die anderen waren ebensowenig vorhanden wie Costacalma selbst. Wenn die alle getötet worden wären hätte sie den mentalen Todesschrei vernehmen müssen. Wenn dieses scharlachrot gewandete Flittchen die mit weiteren Malachitkränzen bepflastert hätte wäre doch sicher auch von denen eine Welle aus Widerstandskraft zu ihr hingebrandet. Das hätte sie auf jeden Fall verspürt. Ein seit Monaten nicht mehr untergekommenes Gefühl von Verunsicherung, Zweifel am eigenen Können und auch ein unliebsames Unbehagen füllten Ladonnas Bewusstsein aus. Offenbar hatte nicht nur sie die letzten Monate genutzt, um sich vorzubereiten, erkannte sie. Dann dachte sie daran, was die offenbar mentalauditorisch oder naturlegilimentorisch begabte Hexe alles aus Ladonnas Gedanken herausgehört haben mochte.
"Hoffentlich hat die nicht mitbekommen, was ich in der Schweiz vorhabe", dachte die Rosenkönigin mit aus Angst geborener Wut. Denn ihr war nun bewusst, dass dieses widerwärtige Weib mit dem Phönixsprung durch apparierwälle brechen konnte und dass Feuerzauber ihr nichts anhaben konnten, genauso wenig wie ihr selbst. Dann kam ihr die Lösung: Sie muste noch einmal in die Höhle der eidgenössischen Zaubererbruderschaft - was für ein schändlicher Name für eine Vereinigung, die auch von Hexen gebildet wurde. Sie wollte dort noch zusätzliche Fallen einrichten.
Da sie selbst die Schutzvorkehrungen getroffen hatte dauerte es für sie nur eine Viertelstunde, um zu tun, was sie noch zu tun hatte. Zwar mochte die Widersacherin über Erdmagie gebieten und hatte mit dem Flammenschwert ein umfangreiches Machtwerkzeug für Feuermagie, doch genau das hieß, dass sie für Wasser-und Luftzauber angreifbar sein musste. Wichtig war wie beim gläsernen Sonnenlicht, das Veelastämmige anderer Ausstrahlung als ihrer eigenen von innen her verbrannte, dass die Zusatzfallen in einem räumlichen Gitter angeordnet waren. Die Spinnenhexe würde morgen ihren letzten Tag auf dieser Welt erleben, wenn sie es wagen sollte, die Vereidigung des neuen Zaubereiministers zu stören.
Es war am Vorabend der Vereidigung des neuen schweizer Zaubereiministers, als Julius' Orichalkarmband heftig vibrierte. Gleichzeitig rief die gemalte Viviane Eauvive aus ihrem Bild heraus: "Julius, der föderationsrat wurde vollzählig im Honestus-Powell-Krankenhaus eingeliefert." Julius tippte gerade den Verbindungsstein des Armbandes an. Wie eine eingeschaltete Glühbirne war Brittanys räumliches Abbild vor ihm, und aus dem Armband klang ihre Stimme: "Julius, irgendwer hat den kompletten Föderationsrat in die HPK eingeliefert. Die wollten heute noch mal über diese Bühnenschau namens Vereinigung der Föderationen beraten. Da muss irgendwas passiert sein. als ein Meldezauber reglose Leute im neuen Versammlungshaus gemeldet und die Heiler hinbestellt hat wurden die alle ohnmächtig auf dem Boden liegend gefunden. Und jetzt kommt's, statt Atalanta Bullhorn haben sie eine kanadische Hexe namens Ashton Underwood gefunden, die Bullhorns Kleidung trug und auch ihren Zauberstab bei sich hatte. Habt ihr das gemacht?"
"Moment mal, Moment mal!" Der komplette Föderationsrat ist besinnungslos in das HPK eingeliefert worden?" wollte Julius wissen, während Millie und Béatrice aufmerksam zuhörten.
"Ja, die sind alle dort eingeliefert worden wegen totaler Erschöpfung. Mehr weiß ich noch nicht. Stella und Tante Martha haben mich nur gefragt, ob ihr da wieder was dran gedreht habt wie mit den IZKF-Delegierten."
"Also wenn dann ist das ganz ohne mein Wissen über die Bühne gegangen", sagte Julius. "Aber wenn der ganze Rat ohnmächtig ist, wer administriert dann eure Föderation?"
"Die gewählten Gemeindevorstände in den Zauberersiedlungen an und in den Städten oder eigenständiger Siedlungen wie VDS. Es herrscht auf jeden Fall Alarmstimmung, weil rasende Reporter behaupten, die Spinnenschwestern hätten das angestellt, um die Föderation handlungsunfähig zu machen. Stella hat alle Bewohner von VDS aufgerufen, bis zu einer eindeutigen und glaubhaften Klärung des Vorfalls zu Hause zu bleiben. Gut, fällt uns vieren nicht schwer, wo ich jetzt erst anfange, mich richtig von Brookes Geburt zu erholen. Aber hier sind wir vor allen sicher, die uns an Freiheit oder Leben wollen könnten."
"Öhm, Viviane, du hast gerade die gleiche Meldung gemacht wie Brittany. Weißt du mehr, was du uns auch verraten darfst?" fragte Julius der gemalten Gründungsmutter des grünen Saales von Beauxbatons zugewandt.
"Also, was ich dir von Antoinette ausrichten darf und von meiner Doppelgängerin im Haus einer gewissen Peggy Swann nachgereicht bekam ist, dass sämtliche Ratsmitglieder des Föderationsrates, sowie deren Beigeordnete vor einer Viertelstunde in das Honestus-Powell-Krankenhaus eingeliefert wurden, was die junge Dame dort auch schon erwähnt hat. Es wurde festgestellt, dass sie offenbar einer übermächtigen geistigen Anstrengung erlagen und gerade so noch am leben blieben. bei einem betagten Zauberer aus Kanada musste jedoch der Gehirnberuhigungszauber gegen nervlichen Kolaps benutzt werden und sein Herz wurde zur Sicherheit auch von außen auf einen verträglichen Rhythmus eingestimmt. Ob es sich bei der Bewusstlosigkeit nur um eine Totalerschöpfung handelt oder es sich um ein Koma handelt prüfen Antoinettes nordamerikanische Kollegen gerade."
"Womöglich hat da noch wer anderes eine Methode ge- oder erfunden, um Ladonnas Getreue handlungsunfähig zu machen", sagte Béatrice. "Falls du uns das mitteilen darfst, Viviane, bitte informiere uns, wenn Zunftsprecherin Eauvive von Ihren Überseekollegen unterrichtet wird! Am Ende gilt das, was den Föderationsräten zustieß auch für die aus dem Boden gestampfte Südföderation."
"Ihr vermutet die Spinnenschwestern, nicht wahr?" fragte Viviane. "Zumindest hat meine Doppelgängerin in Viento del Sol diese Vermutung aufgeschnappt", sagte Vivianes Bild-Ich. Julius, Millie und Béatrice nickten beinahe synchron. Brittany musste wider den Ernst dieser Lage grinsen. Dann nickte auch ihr Abbild. "Na klar, die wohnt doch irgendwo bei uns und hat ja eine Menge treuer Schwestern. Aber die steht schon seit dem ersten Januar auf der Gesuchtliste ziemlich weit oben, gleich hinter der Blutgötzin.
"Ich könnte mal eben an meinen Privatrechner und beim LI anfragen, was die mitbekommen haben", schlug Julius vor.
"Da brauchst du doch nicht an deinen Elektrorechner, Julius. Da kennen wir beide doch eine wesentlich schnellere und ausgiebigere Nachrichtenquelle", sagte Vivianes Bild-Ich. Julius nickte und bestellte Viviane, dass diese Quelle gerne mehr berichten dürfe, wenn sie was erfuhr. Viviane versprach, es auszurichten.
"Wen oder was meint ihr bitte?" fragte Brittany neugierig. Julius erwähnte, dass Viviane Eauvive auch eine Mehrlingsschwester in einer kleinen Bildersammlung hatte, wo auch Verbindungsstellen zum Laveau-Institut waren. Das war nicht gelogen und auch nicht die vollständige Wahrheit und reichte Brittany für's erste aus.
Ups! Gerade bekomme ich von Antoinette, dass auch das peruanische Zaubereiministerium größtenteils handlungsunfähig ist. Der Minister und zwanzig seiner Abteilungsleiter und deren Stellvertreter sind verschwunden, ohne sich abzumelden. Weil Zunftsprecherin Greensporn ihren südamerikanischen Amtskollegen auf mögliche Angriffe hingewiesen hat hat der seine Verbindungen spielen lassen. Jetzt suchen sie nach den Verschwundenen."
"Oha, sieht echt nach einem gut vorbereiteten Schlag aus, und das so kurz vor der großen Wahl über den Zusammenschluss von Nord- und Südamerika", meinte Julius. Alle auf ihre Art gerade anwesenden stimmten ihm zu.
"Gut, ich horche weiter auf das, was ich von Stella oder Chloe kriege, Julius. "Doch wenn ich was erfahre schicke ich es dir als E-Mail, damit die Kinder das nicht alles mitbekommen." Julius stimmte Brittany zu. Dann verabschiedeten er und seine erwachsenen Mitbewohner sich von ihr. Das räumliche Abbild verschwand wieder.
"Wenn das die Spinnenhexe war kennt die noch einen Trick, um Ladonnas Leute aus dem Umhang zu hauen", meinte Millie. Julius war sich da ganz sicher. Anthelia/Naaneavargia war zum einen eine Erdmagievertraute wie er beziehungsweise Madrashainorian und über das Feuerschwert Yanxothars auch fähig, einige Feuerzauber zu wirken wie Millie alias Pangyanimiria. Auch wenn Ladonna mit ihrem soforttigen Befehl zur Ausrottung aller Veelas sehr schnell reagiert hatte war ihr das alles wohl noch nicht so klar.
"Es ist bedauerlich, dass man mit dem Phönixfeuersprung nicht überall hin kann, wo eine noch nicht war. Sonst müsste Ladonna sich doch richtig heftig Sorgen machen." Julius wusste was Millie meinte. Sie selbst hatte ihm damals, wo sie Kailishaias Kleid "geerbt" hatte erzählt, dass sie mit dessen Bezauberung wie ein Phönix in Feuersphären den Ort wechseln konnte, aber nur dorthin, wo sie schon einmal war und wo sie genau wusste, wie der Ort aussah. Wenn Anthelia/Naaneavargia das mit Yanxothars Schwert auch konnte galt diese Einschränkung auch für sie. Also konnten weder sie noch Millie mal eben in die Vereidigungshalle des eidgenössischen Zaubereiministeriums hineinfauchen, die Kerze mit der Veelabezauberung ablegen und wieder abrauschen. Hineinapparieren ging ganz bestimmt nicht, und jeder unabgestimmte Portschlüssel wurde entweder abgewisen oder durch Taranis' Riegel gleich nach der Ankunft zerstört. Dennoch würde morgen eine der Kerzen dort hingelangen. Wie genau hatten die Thaumaturgen des Zaubereiministeriums mit Urs Rheinquells Sicherheitsbeauftragtem Klingenschmidt erörtert. Jedenfalls musste sich weder Julius noch Millie deshalb in Gefahr bringen, wie das noch in Genf der Fall war.
alle zehn Sekunden glühte eine wild wirbelnde blaue Lichtspirale auf, stand rotierend eine Sekunde im gemeinsamen Mittelpunkt von Fünf auf dem Boden gezeichneter Kreise und gab zwischen zwei und fünf erwachsene Menschen frei. Fans von Zukunftsmärchen hätten jetzt ihre Helle Freude gehabt, weil das aussah, als würden Außerirdische per exotischen Energiestrahlen lichtschnell auf die Erde transportiert. Doch es waren eher unansehnliche Fußabtreter, verbeulte, angerostete und innen zerkratzte Kessel, wurmstichige Küchenbänke oder löcherige Hüte, Schuhe oder mottenzerfressene Umhänge, die für dieses Lichterspiel in Blau verantwortlich waren. Diese Gegenstände wurden von eifrigen Herren in Umhängen der schweizer Nationalfarben übernommen und in langenund hohen Regalen verstaut, um später die mitgebrachten Menschen wieder an den Ort zurückzubringen, von dem sie kamen.
Eine der Gruppen, die an einer zerschlissenen, mit handgroßen Löchern übersäten Bettdecke gehangen hatten, trugen die Tracht der Heiler vom Haus der heilsamen Kräfte im Wallis. Bei ihnen war auch Zunftsprecher Arnicus Wiesengrün. Er wirkte nicht so, als wohne er einem wichtigen Akt der Zauberergemeinschaft bei, sondern müsse sich einer Gerichtsverhandlung stellen, die mit seinem Freispruch oder seiner sofortigen Hinrichtung enden konnte. Seine vier Kollegen wirkten ähnlich angespannt.
Zwei Reporter der schweizer Zaubererzeitung Alpenwindkurier waren auch da, um nach der Vereidigung einen Artikel zu schreiben. Allerdings fehlte der kleine, kugelrunde Eckbert Silbersteiger vom Nachrichtenrundfunk Zauberhorn. Denn Hanno Dufour hatte darauf bestanden, die Vereidigung ohne Direktübertragung zu veranstalten. Er hatte sich auf die Gefahrenlage berufen, die durch einen noch zu ermittelnden Anschlag auf die IZKF-Konferenz und den bisherigen Zaubereiminister Rheinquell entstanden war. Daher durfte niemand wissen, wo genau die Vereidigung des Nachfolgers stattfand, bis die Schuldigen gefunden und sicher verwarht waren.
Ohne es groß mitzubekommen wurden die Ankömmlinge beim Durchqueren des mit einem dicken Teppich ausgelegten Ganges von gut versteckten Erfassungsvorrichtungen und Zauberfeldern überprüft, ob irgendwer von denen böse Absichten hegte, mit Flüchen oder Portierungszaubern belegte Gegenstände bei sich trug oder nicht der oder die war, als welcher er oder sie angemeldet war. Zehn Stellen mussten überstanden werden. Irgendwo in den Tiefen des Bergmassives, in dem Steinhärtungszauber eingewirkt waren und unter dickenGranitplatten engmaschige Gitter aus geschmiedetem Eisen verliefen, um Kobolde aufzuhalten, saßen die Sicherheitszauberer des Ministeriums und überwachten die Prüfung der Geladenen Gäste. Die neunte und zehnte Station bestand aus hinter einseitig durchsichtigen Wänden sitzenden Hexen und Zauberern, die mit Durchblickgläsern unter die Kleidung der Ankommenden blickten, ja sogar die geladenen Gäste als wandelnde Skelette sahen, um sicherzustellen, dass sie keine unerwünschten Dinge in ihren Körpern trugen. Nicht dass am Ende wer einen mit Schmelzfeuer belegten Gegenstand im Bauch, Darm oder falls weiblich im Schoß versteckt hatte. Mit den Zeigefingern beide Hände über auf Berührung reagierenden Auslöseflächen warteten die letzten Prüfer, bis alle an ihnen vorbei waren. Bei keiner und keinem war was verdächtiges erkannt worden.
Die in den letzten Tagen vorbereitete Vereidigungshalle war eine größtenteils naturbelassene Tropfsteinhöhle, die nur dadurch besonders auffiel, dass wasserdichtes Parkett in ihr ausgelegt war. Dass unter dem Parkett schmiedeeiserne Platten verlegt waren konte so keiner sehen. Auch die Gegen unerwünschte Portschlüssel, Apparitionen oder Translokalisationszauber wirkenden Zauber, die in den von der Decke hängenden Stalaktiten eingewirkt waren konnte keiner ohne den entsprechenden Erkennungszauber erfassen. Im Zentrum der großen, von vielen frei schwebenden Kerzen beleuchteten Halle stand ein rechteckiges Stufenpodest. Darauf stand ein antiquiert wirkendes Schreibpult und ein schon fast thronartiger hoher Lehnstuhl. Hier würde gleich die feierliche Amtseinführung von Hanno Dufour stattfinden, vorgenommen vom obersten Richter des Schweizer Zauberrechtsenates und dem ganz in hoffnungsgrün gewandeten Zeremonienmagier Gianni Finavoce.
Endlich waren an die 600 geladene Gäste vollzählig erschienen. Ddarunter waren sämtliche Ministeriumsangestellten und Vertreter wichtiger Zaubererweltunternehmen, der Heilerzunft und den Vereinigungen zur Erforschung magischer Gebiete wie Thaumaturgie, Verwandlungskunst, Abwehr dunkler Bedrohungen und Alchemie. Alles in allem war dies die oberste Spitze der schweizer Zaubererwelt.
In den Reihen der Gäste saß auch Elsa Grauwieler, die im Ministerium für die Komfort- und Gebrauchszauber zuständig war. Dass sie seit nun zehn Minuten eine innere Mitbeobachterin bei sich hatte wusste sie ganz genau. Denn ihre Herrin und Königin hatte sich ganz behutsam in die Wahrnehmungswelt und Gedanken ihrer treuen Helferin eingefädelt. Elsa sollte die Vereidigung beobachten, die nach dem Willen der Königin auch zu einer Vereidigung aller noch nicht auf sie eingestimmten führen sollte. Dafür war unter dem Podest ein kleines Gelass verbaut, aus dem nach der Bezeugung der Vereidigung eine große, rubinrote Kerze herausfliegen und die ganze Halle mit violettem Feuerrosenhauch und einer in allen vier Amtssprachen gehaltenen Botschaft der Feuerrose bestreichen sollte. Dann würde die Schweiz endlich ihr gehören, der einzig rechtmäßigen Herrin aller Hexen und Zauberer.
Der Zeremonienmeister betrat das Podest und sprach auf Schwizerdütsch, Französisch und Italienisch zu den Anwesenden. Er erwähnte die bedauerliche Lage, dass der langjährige Zaubereiminister Urs Rheinquell das Opfer einer ausländischen Intrige geworden sei und diese wohl das Ansehen und die Stellung der eidgenössischen Zaubererwelt beschädigen sollte. Er war sich sogar nicht zu schade, Frankreich dieses "schändlichen Anschlages" zu verdächtigen. Daher sei es nötig gewesen, die sonst voll und ganz öffentliche Amtseinführung eines neuen Zaubereiministers nur teilöffentlich zu vollziehen. doch dieser Tag würde zeigen, dass die weiterhin eigenständige Schweiz ihre neutrale Rangstellung und Selbstsicherheit bewahrt habe und sich nicht von böswilligen Machenschaften entmutigen lasse. Dann stellte er den derzeitigen Stellvertreter Rheinquells vor, den er gleich dem obersten Richter vorstellte, der bereits das Eidesbuch aufgeschlagen vor sich hingelegt hatte. "So erheben Sie sich alle zur höchstamtlichen Vereidigung unseres neuen und bis zur regulären Wahl im Juni 2007 amtierenden Zaubereiministers, Herr, Signore, Monsieur Hanno Dufour.""
Alle klatschten Beifall, als der neue Minister durch den mit rotem Teppich ausgelegten Zugang aus Südrichtung das Podest erklomm und sich nach Osten wandte, wo der Richter und die an der Ostseite weilenden Hexen und Zauberer saßen. "Geloben Sie, Hanno Dufour", begann der Richter auf Französisch, weil das Dufours Muttersprache war, das Ihnen von der eidgenössischen Bruderschaft der hohen Künste angetragene Amt nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben, sooft der Tag beginnt?" hanno sagte "Dies gelobe ich bei meiner Ehre." Der Zeremonienmagier deutete auf die im osten Sitzenden. Diese antworteten: "Die, die wir im Morgenlicht sitzen, bezeugen diesen Schwur."
Nun wandte sich Dufour nach Süden. Der Richter blieb an seinem Platz und fragte: "Geloben Sie, Hanno Dufour, jede ihnen für die Dauer Ihrer Amtszeit zugewisene Aufgabe zum besten aller magischen Mitgeschwister zu erfüllen, sooft das Licht der Sonne Ihr Haupt berührt?" Dufour sagte laut: "Dies gelobe ich bei meiner Seele." Nun bekundeten die im Süden sitzenden: "Wir, die wir im Licht der Mittagssonne sitzen, bezeugen diesen Schwur."
Nun wandte sich Dufour nach Westen. Der Richter fragte ihn: "Geloben Sie, Monsieur Hanno Dufour, dass Sie jeden Tag, den das Ihnen angetragene Amt beschert, zum Nutzen und zum Schutze aller magischen Geschwister vollenden werden?" Dies gelobe ich bei der Unversehrtheit meines Leibes", schwor Dufour. Jetzt durften die im Westen sitzenden Zeuginnen und Zeugen bekunden, dass sie den Schwur gehört hatten.
Abschließend wandte sich Dufour vollständig nach Norden. Nun fragte ihn der Richter: "Und geloben Sie, Hanno Dufour, dass Sie jede Nacht, die sie über unser aller Wohl und Frieden wachen, die Sicherheit, die Unversehrtheit und das am Tage erarbeitete Gut zu schützen, wenn unsere magischen Geschwister ihren wohlverdienten Schlaf schlafen?" Dufour zögerte einen Moment. Doch dann dachte er wohl, dass Rheinquell nichts zugestoßen war, als er von seinem Eid abgewichen war und schwor: "Dies gelobe ich bei meinem Leben." Die im Norden sitzenden sagten nun: "Die, die wir unter dem Mantel der Mitternacht geborgen sind, bezeugen diesen Eid."
Elsa wusste, dass jetzt der entscheidende Text gesprochen wurde, um die Gabe der Königin aus ihrem Versteck zu befördern.
"Die im Morgenlicht weilenden, jene unter der Mittagssonne, jene im Abendlichte hoffenden und jene unter dem bergenden Mantel der Mitternacht ruhenden haben bezeugt, dass Sie, Hanno Dufour, das von der eidgenössischen Bruderschaft der hohen Künste angetragene Amt des Ministers für magische Angelegenheiten und Wesen nach bestem Wissenund Gewissen ausüben werden, im Namen der Ehre, der reinen Seele, der leiblichen Unversehrtheit und des eigenen Lebens wegen. Somit begrüße ich Sie, Hanno Dufour als neuen eidgenössischen Zaubereiminister. Sei beglückwünscht, Bruder der hohen Künste!" sprach der oberste Richter. Der Zeremonienmagier Finavoce winkte in alle Richtungen. Das in allen vier Himmelsrichtungen stehende Publikum rief "Lang lebe Hanno Dufour, unser Minister für die hohen Künste!" Während sie das riefen klappte im Podest eine kleine Luke auf. Jetzt musste sie erscheinen, die Feuerrosenkerze. Doch in dem Moment, wo die Luke aufklappte erstrahlte das Podest im sonnengelben Licht. Das Licht wurde zu einer vom Boden bis zur Decke reichenden Spirale. Dann war das Podest weg. Doch die drei darauf stehenden waren noch da, als habe sie wer auf einer unsichtbaren Plattform abgestellt. Zwei Herzschläge lang schwebten sie verdutzt und erschrocken wie alle anderen dreinschauend da. Dann erschien genau unter ihnen ein weiteres Podest, aus dem gerade eine schlanke, honiggoldene Kerze emporfuhr und mitten in der Luft stehenblieb. Alle Zuschauenden starrten zwischen totaler Verwunderung bis zu heftigem Schrecken auf die schwebende Kerze. Da flogen von allen Seiten blau flirrende Eisbolzen heran und versuchten, die Kerze zu treffen. Doch diese sprühte Funken, an denen die Eisbolzen laut knackend zerbarsten und als bläulich flirrende Dampfwolken davonwehten. Gleichzeitig senkte sich der wild kreisende Dunstrüssel einer Windhose von der Decke hernieder um den Fremdkörper zu ergreifen. Doch die Kerze blieb auf ihrer Höhe und verströmte nun rot-goldenen Dunst, der von der künstlichen Windhose in alle Richtungen verteilt wurde. Elsa und die in ihrem Geiste verankerte Rosenkönigin ahnten, was geschah. Elsa hörte Ladonnas lauten Wutschrei: "Die haben die Bühne verdreht und die Kerze mit Gegenzaubern gespickt. Raus mit euch! Alle raus da!!" gedankenrief die Königin. Doch dafür war es zu spät. Der rot-goldene Rauch traf die ersten im Publikum und umhüllte sie. Selbst wenn es einige Schlauköpfe gab, die meinten, durch Luftanhalten nichts davon einzuatmen und versuchten, den Kopfblasenzauber zu wirken, kamen gerade mal bis zur zweiten von vier nötigen Gesten. Dann husteten sie und sogen den auf sie einströmenden Dunst ein. Elsa schaffte es noch, eine Kopfblase zu vollenden und wollte zur Tür hinter sich. Doch da erschienen zwanzig Hexenund Zauberer mit vorgestreckten Zauberstäben. "Ihr bleibt alle da wo ihr seid!" rief einer von ihnen. Alle erstarrten in der Fluchtbewegung. Das war doch Urs Rheinquell, der für tot erklärte und gerade eben durch Hanno Dufour ersetzte Zaubereiminister. "Der war nicht tot!" schrillte es in Elsas Kopf. Dann sah sie, wie der rot-goldene Rauch mit ihrer Kopfblase wechselwirkte. Die magische Frischluftblase begann zu erbeben und dabei einen tiefen Brummton zu erzeugen, der Elsa in beiden Ohren dröhnte. Je mehr Rauch sie traf, desto lauter wurde das Brummen ihrer Kopfblase. Dann zerplatzte sie in einem Schauer goldener Funken mit lautem Knall wie ein übermäßig aufgeblasener Luftballon. Ähnlich erging es auch denen, die eine Kopfblase erschaffen hatten. Als Elsa den Rauch einatmete meinte sie, in einen Strudel aus Lärm und Lichtblitzen zu stürzen. Sie glaubte, von drei oder vier Seiten gleichzeitig mit dem Cruciatus-Fluch gequält zu werden. Sie schrie auf, mit körperlicher Stimme und innerlich. Sie hörte nicht mehr, dass sie nicht alleine war. Die der Königin verbundenen erlebten das, was Christen als Fegefeuer bezeichneten, die Pein einer Reinigung von einem schweren Übel, das ihnen gegen ihren Willen aufgeladen worden war.
Jene, die nicht den Duft der Feuerrose genossen hatten, erlebten dagegen etwas wie einen glückseligen Traum von einer friedvollen Waldlichtung im Sonnenlicht, auf der vier wunderschöne, naturbelassene Frauen einen anmutigen Tanz aufführten und dazu mit vollendeten Stimmen mehrstimmige Verse sangen, in denen sie die innere Freiheit priesen und die Abkehr von Ladonnas Macht und Willen forderten. Wo die bisherigen Hörigen der Königin unter dem Zusammenprall zweier gegensätzlicher Kräfte litten wurden die bisher nicht von ihr unterworfenen bestärkt und an Leib und Seele erfrischt. Für alle gleichermaßen endete die magische Tour in einem Meer aus hellem, goldenen Licht, dem reinigenden Licht des Lebens und der Lebensfreude, gestärkt von der jeden Tag neu geborenen Sonne, deren Licht und Wärme das Leben auf der Erde nährt. Die von den sich einander bekämpfenden Zaubern an Leib und Seele erschöpften fielen in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Jene, die nur vom reinigenden goldenen Licht betroffen wurden glitten für eine nicht fassbare Zeit in jener goldenen Geborgenheit dahin, bis sie durch eine Öffnung im unendlichen Licht auf die Welt zurückfielen wie bei einer zweiten Geburt. So fühlten sich jene, die nach dem Abklingen des Zaubers wach blieben auch wie gerade erst geborene Kinder, hilflos und ausgestoßen, auf der Suche nach Halt in dieser für sie zu groß erscheinenden Welt, bis sie erkannten, dass ihnen eine sehr große Gnade und ein starker Segen zuteilgeworden war.
"Alle von Ihnen, die noch bei Bewusstsein sind bitte herhören", sprach Rheinquell, wobei er Französisch sprach, weil das hier die allermeisten konnten. "Sie alle sollten eigentlich durch einen höchst verwerflichen Zauber unter die Herrschaft einer in Italien ansässigen dunklen Hexe gezwungen werden, Ladonna Montefiori." Alle noch bei Besinnung befindlichen verzogen die Gesichter, als der Name fiel, mit dem sie Verachtung und Widerwillen verbanden. "Doch es ist einer kleinen Gruppe von Mitgliedern der internationalen Zaubererweltkonföderation, der eidgenössischen Zunft magischer Heilkunst und uns, Monsieur Klingenschmidt und mir, gelungen, diese Machenschaft zu vereiteln und ja, sie sogar durch einen ihr überlegenen Gegenzauber für absehbare Zeit zu vereiteln. Wir alle, die wir in diesem goldenen Licht gebadet wurden und die Essenz spendabler, machtvoller Wesen atmen und in diesem Atem eins mit ihnenund miteinander wurden, können nun vor Ladonnas Kräften sicher weiterbestehen, unsere Tätigkeit frei von ihrem Willenund Streben ausüben und anderen helfen, die ihr verfallen sind. Jene, die jetzt gerade in einer tiefen Ohnmacht gefangen sind, werden in wenigen Tagen wiedererwachen und wie wir frei vom Zwang sein, dieser dunklen Hexe dienen zu müssen. Sie werden uns dann helfen, unser Land wieder zu einer Festung der Freiheit und Eigenständigkeit zu machen, nicht zu einem Anhängsel einer italienischen Größenwahnsinnigen, die im Stile einer altrömischen Imperatrix die ganze Welt in einem höchst fragwürdigen Frieden vereinen wollte. Wir, die Bruderschaft und Schwesternschaft der hohen Künste auf dem Hoheitsgebiet der Confoederatio Helvetica, lehnen eine neue Zwangsherrschaft von außerhalb ab. Das ist mein klares Wort als Ihr immer noch amtierender Zaubereiminister."
"Aber Sie wurden für tot erklärt", sagte einer der beiden Reporter. "War das eine Finte?"
"Genauso war es. Denn mir war genauso wie allen mit mir aus dem Würgegriff der dunklen Möchtegernkönigin befreiten klar, dass wir unmöglich wieder unter all die treten durften, die ihr noch hörig sind. Wir hätten keine Minute länger gelebt als bis sie wussten, dass wir nicht wieder zu Hörigen werden konnten. So blieben nur die Täuschung und der Gegenangriff, der für uns alle ein Befreiungsschlag werden sollte. Ja, und ich bin froh, dass es gelang, die argwöhnische Möchtegernkönigin zu überlisten, die meinte, sich gegen Schmuggler und plötzliche Eindringlinge behaupten zu müssen und dabei übersehen hat, dass sich ein winziger Nagel im Podest bei Auslösen einer magicomechanischen Abfolge zum Portschlüssel mausert und das Podest an einen anderen Ort befördert. Dass der Kollege Dufour, der Maestro Finavoce und der höchst ehrenwerte Richter Kernholz nicht zu Boden sanken, bis die Gegenbühne hier ankam lag an einem Ortsverharrungszauber, der von einer Stelle unter dem Podest aufrechterhalten wurde, bis das Gegenstück eintraf. Ich bin froh, dass dies alles gelang und wir nun alle befreit aufatmen können. Es lebe die eidgenössische Zaubereigemeinschaft!"
Erst wiederholten es nur wenige sehr zögerlich. Dann riefen es alle bei Besinnung verbliebenen laut aus. Erst als alle wieder ruhig wurden fragte der zweite Reporter: "Glauben Sie alle, wir lebten jetzt friedlicher? Wenn stimmt, was der von den Toten auferstandene Minister erzählt hat wird sich diese Ladonna Montefiori rächen. Sie wird uns alle genauso bedrohen wie sie Frankreich und Griechenland bedroht hat. Oder finden genau jetzt, wo wir hier stehen, weitere solcher Befreiungszauber statt?"
"Wir müssen damit rechnen, dass sie diese Niederlage nicht verwinden wird. Wir müssen leider auch darauf gefasst sein, dass sie die ihr noch unterworfenen Ministerien gegen uns aufwiegeln wird. Doch lieber für die Freiheit zu sterben als in ewiger Sklaverei zu leben, werte Mitbrüder und -schwestern. Ich weiß, wovon ich spreche. Denn ich kann mich zu gut an die Dinge erinnern, die sie mir und den anderen Unterworfenen auferlegt hat. Servamus libertatem non servamus tyranni. Der Freiheit dienen wir, den Gewaltherrschern dienen wir nicht, so lautete der Wahlspruch der Bruderschaft der hohen Künste, kurz nach der Begründung der Eidgenossenschaft. Ladonna Montefiori hat diesen unseren Leitspruch verächtlich gemacht, uns gedemütigt, wir, die wir Gellert Grindelwald widerstanden, wir, die wir uns von den Verlockungen des hochgradig wahnhaften britischen Massenmörders mit dem dort selbst immer noch ungern genannten Namen widersetzen konnten. So müssen und werden wir uns auch Ladonna Montefiori widersetzen, nachdem wir erfahren mussten, wie und warum sie so mächtig wurde und wohin ihr Weg führen wird. Sie will keinen Frieden, sondern Gehorsam bis über den Tod hinaus. Sie will keine Sicherheit, sondern die Abweisung ihr nicht gefallender Ideen und Handlungen ohne zu überzeugen, sondern durch Unterdrückung ihr widerstrebender Ansichten. Sie will keine Bewahrung der Welt, sondern eine Entscheidung zwischen angstvoller Erstarrung oder blutigem Zerstörungswerk."
"Jetzt noch eine Frage, wenn es gestattet ist. Wo ist die eigentlich für uns bestimmte Kerze gelandet?" fragte ein Mitglied aus der schweizer Sektion gegen dunkles Zauberwerk.
"weit weit von hier über dem pazifischen Ozean. Dort mag sie niederbrennen und ihr tückisches Gift in alle Winde versprühen, bis es zu sehr ausgedünnt ist, um noch wem zu schaden", sagte Klingenschmidt.
"Ja, und wie sichern wir uns dagegen ab, dass diese herrschsüchtige Hexe uns gleich in den nächsten Minuten bestürmt oder ihre noch hörigen Untertanen gegen uns schickt?" fragte Heilzunftsprecher Wiesengrün laut genug, dass es alle hören konnten. "Indem wir sie auf die Liste der Unerwünschten setzen. Jeder bekommt einen Feindesmelder. Wer sie sieht und den Feindesmelder betätigt kann sofort hundert Sicherheitszauberer von uns zu sich hinrufen. So haben wir Grindelwald und seine Schergen zurückgewiesen. So konnten wir die drei Versuche vereiteln, dass der britische Massenmörder auf unserem Hoheitsgebiet Getreue werben konnte, und so werden wir Ladonna Montefiori und ihre Gefolgsleute zurückweisen oder in Tiefschlaf versenken, bis wir wissen, wie mit ihnen zu verfahren ist.""Die Halle des steinernen Schlafes?" fragte einer der Reporter. "Dort wurde seit hundert Jahren niemand mehr eingekerkert, und die da noch sind könnten in der Zeit vollends gestorben sein, weil seit dreißig Jahren keiner von den Sicherheitsleuten mehr da runtergestiegen ist."
"Ja, diese zugegeben sehr drastische Bestrafung gedenken Monsieur Klingenschmidt und ich wieder in Vollzug zu setzen", sagte Rheinquell. Er sah in die Reihen der bei Besinnung gebliebenen und dann über die Reihen der vielen hundert Ohnmächtigen hinweg. Die wachgebliebenen boten Gesichter zwischen Anerkennung und Bestürzung. Denn es hieß, wer in der Halle des steinernen Schlafes landete, dem wurde das Recht auf das Leben und den Tod verweigert. Als dann das Strafgesetz reformiert worden war galt die Pflicht, selbst die grausamsten Schwerverbrecher noch als lebende Wesen zu behandeln oder sie im Extremfall ihrer Straftaten schnell und endgültig zu töten. Wer das Zaubereimuseum der Schweiz in der Nebeltalstraße in Zürich besuchte konnte dort die Guillotine mit dem Ferrifortissimus-Fallbeil besichtigen und erschauern, dass mit ihr fünfzig verurteilte Mörderinnen und Mörder enthauptet worden waren. Deren abgetrennte Köpfe wurden gleich daneben als magisch getrocknete und eingeschrumpfte Überbleibsel im Kasten der Abschreckung ausgestellt.
"So gehen wir es an, die Zukunft unseres großartigen Bundes wieder in unsere eigenen Hände zu nehmen, Brüder und Schwestern!" rief Rheinquell seinen Landsleuten zu.
Sie hatte es gerade noch geschafft, sich aus Elsa Grauwilers Empfindungswelt zu lösen, als sie schon jene goldgelbe Lichterflut fühlte, die ihr wie eine Woge aus flüssigem Sonnenlicht entgegenbrauste. Dann hatte es sie erneut heiß am Hinterkopf getroffen. Sie meinte, dass gleich ihr rückenlanges Haar in Flammen aufgehen würde. Sie war sich auch sicher, dass es unter freiem Himmel und außerhalb des Blutfeuernebelzaubers so geschehen mochte. Dann war sie von heftigen Kopfschmerzen, die Blitze hinter ihren Augen auslösten, in eine gnädige Ohnmacht gestürzt worden. Der letzte klare Gedanke war, dass jemand sie verraten hatte. Jemand hatte das Podest überprüft und ein Gegenstück davon an einem anderen Ort bereitgehalten.
Anders als Rheinquell es seinen Landsleuten erzählt hatte war das Podest mit der Feuerrosenkerze nicht über dem Pazifik aufgetaucht, sondern auf einer Waldlichtung im süden Frankreichs gelandet, wo alle gerade abkömmlichen Töchter und Enkelkinder Létos es erwarteten und in einer machtvollen Formation umstellten. Die gerade aus der Luke springende Kerze verströmte violetten Rauch, der jedoch Meter vor den Veelastämmigen zerfaserte und verblasste. Als dann noch die rubinrote Feuerrose aus dem schwarzen Docht entflammte zogen sich Léto und ihre Blutsverwandten immer enger darum zusammen und beschworen die Gegenkraft. Die Kerze zerstob schließlich in orangerot-goldenen Funken.
"Julius, es ist geschafft. Die große Kerze wurde von uns niedergesungen und in alle Winde zerstäubt", gedankensprach Léto zu Julius, der in seinem Büro saß und auf jene erlösende Nachricht wartete.
Aus den Staaten erfuhr er im laufe des Nachmittags, dass die ins HPK eingelieferten Hexenund Zauberer wieder zu sich gekommen seien und sich an ihre Zeit unter Ladonnas Zauberbann wie an einen Albtraum in Violett und malachitgrün erinnerten. Es war nicht jenes goldene Licht, dass die Mitarbeiter des LIs eigentlich einsetzen wollten, um die Vereinigung von Nord-und Südamerika zu bedenken. Wer immer die bis dahin unterworfenen Hexen und Zauberer mit dieser neuen Variante behandelt hatte griff auf andere Quellen zurück. Julius textete eine Antwortmail und wagte die Vermutung, dass die Spinnenhexen Ladonnas andere Abstammung als Grundlage für ihren Gegenzauber nutzten und dass es ja bei den Waldfrauen Mittel zur Unterwerfung von mehreren Menschen gab und somit womöglich auch einen Gegenzauber, um die Unterwerfung zu beenden. Nur fünf Minuten später bimmelte sein Arkanet-Mailprogramm, dass eine Antwort eingetrudelt war. Er las von Sheena O'Hoolihan, dass sie ihm zustimme und die Spinnenhexe sicher einen besseren Draht zu den grünen Waldfrauen habe als das Laveau-Institut. Also wurde Ladonna von zwei Seiten beharkt. An eine Fusion der Nord- und südamerikanischen Föderationen war zumindest nicht mehr zu denken. Denn die Wiedererwachten Patienten berichteten einhellig, dass dieser Streit um Mexiko von Ladonna befohlen worden war. Für die Reporter aller Zeitungen und Rundfunksender war das ein gefundenes Fressen, über die neue, diesmal aus den Staaten selbst abgewehrte Unterwanderung der nordamerikanischen Zaubererwelt zu berichten. Gilbert textete:Auch wenn jetzt alle Wichtel auf den Dächern sind und die Gefahr sehr groß ist, dass keiner hier mehr "denen da oben" vertraut, ob aus Iowa oder Kalifornien, New Yorker Stadtzauberer oder Sumpfhexe aus Louisiana, so muss ich doch der Wahrheit willen einräumen, dass wir alle jeden Tag aufs neue darum kämpfen müssen, unsere Freiheit zu bewahren, sie nicht als Selbstverständlichkeit hinzunehmen und immer darauf zu achten, wie die von uns erwählten Amtsträger in unserem Sinne handeln. Nur muss ich wohl fürchten, dass der Glaube an eine starke Führung Nordamerikas gehörig in Schieflage geraten ist und die Zauberergemeinschaft in kleine Regional oder gar Lokalvertretungen zerbrricht, die argwöhnisch auf ihre Nachbarn schauen und sich von anderen wenig bis gar nichts vorschreiben lassen wollen. Ja, ich weiß, ich rufe einen großen Drachen, obwohl ich nicht will, dass er kommt. Doch Höre ich sein Fauchen schon seit Monaten in der Ferne und muss darauf hinweisen, dass wir alle uns gerade wegen der übermächtigen Feinde zusammenraufen müssen. Meine Anverwandten in Frankreich wissen dies seit Jahrhunderten, dass Einigkeit stark macht. Hier in den Staaten, wo ich dank der alles vereinenden und leitenden Macht namens Liebe eine neue und erfreuliche Heimat gefunden habe und bereits eine Tochter im Leben begrüßen durfte, bange ich um die Zukunft. Wir dürfen sie nicht aus Misstrauen in übergeordnete Institutionen verspielen. Kleinstaaterei oder Stammesdenken werden uns angreifbarer machen als es Vita Magica und jetzt auch Ladonna gezeigt haben. Selbst wenn jetzt bekannt ist, dass Atalanta Bullhorn wohl in Erfüllung ihrer Pflicht ihr Leben geben musste und eine Spionin Ladonnas ihren Platz einnahm, um erst Zwietracht zu sähen und dann als Friedensbringerin und Friedensbewahrerin aufzutreten, gilt es, standhaft und kameradschaftlich zu bleiben, im Nachbarn keinen Feind, sondern einen Verbündeten in der gemeinsamen Sache des friedlichen Fortbestehens zu sehen. Wir in Viento del Sol hoffen zuversichtlich, diese wichtige Grundhaltung leben zu können.
Über die Bilderverbindung nach Australien, sowie über Viviane Eauvive erfuhren die Latierres, dass die noch unter Ladonnas Kontrolle stehenden Ministerien darüber einkamen, dass die Veelas und Vampire gemeinsame Sache mit den Spinnenschwestern machten und daher gleichermaßen als Unerwünscht zu gelten hatten, als dann bekannt wurde, dass alle französischen Ministerialzauberer und -hexen als Unterstützer dieser drei feindlichen Gruppierungen "enthüllt" worden seien erhielten Julius und Millie klare Warnungen, nicht mehr offiziell in Länder auszureisen, in denen Ladonnas Macht noch wirkte. "Man will einen Steckbrief aushängen, der dich als Koordinator zwischen Veelas und feindlichen Hexengruppen darstellt und bei deiner Sichtung ungefragt mit Fang- und Lähmzaubern gegen dich vorgeht", sagte Vivianes Bild-Ich. "Außerdem hörte Donatus vom weißen Turm, dass sein Gegenstück in Belgien eine Unterhaltung mitverfolgt hatte, dass eine Reihe von Melde- und Arretierzaubern entlang der französischen Grenze gezogen werden soll. Die Schweiz sollte aufgefordert werden weiterhin in der Koalition der vernunftgemäßen Einigkeit zu verbleiben oder ähnlich belangt werden wie Frankreich. Es sei bereits von einem Handelsstop zwischen den Koalitionsländern und den "Friedensfeinden" die Rede. Julius hatte mit so einem Schritt gerechnet. Er war deshalb froh, dass Australien Ladonnas Zugriff entgangen war. Auch hatte er aus Japan erfahren, dass die IZKF-Delegierten von dort berichtet hatten, was ihnen in Genf widerfuhr und das sie es wohl den Franzosen zu verdanken hatten, nicht zu "ehrlosen" und "unwürdigen" Spielpuppen Ladonnas geworden zu sein.
Ob oder wann Deutschland und Österreich aus Ladonnas Herrschaft befreit werden konnten stand leider noch nicht fest. Denn so wie es in der Schweiz gelungen war würde es nicht noch einmal laufen. Denn jetzt mochte Ladonna, auch wenn ihr die Beobachter und Gehilfen vor Ort rar geworden waren, wissen, was die Schwachstelle in ihrem Plan gewesen war, zwei paarig angefertigte Portschlüssel, die solange nicht als solche erkennbar waren, solange keine andere auf Materie wirkende Magie ihren Träger berührte. Auch würde sie ihre Unterworfenen dazu anhalten, sich nicht zu großen Versammlungen zu treffen, ja ihre Marionetten in kleine Gruppen aufteilen, um im Falle, dass eine Gruppe befreit wurde, immer noch genug Rückhalt zu haben.
"Wir haben die ersten Siege errungen, sagte Julius ganz offiziell zu seiner Frau, die als Reporterin eine Meinung des amtierenden Veelabeauftragten mitschreiben wollte. "Doch dürfen wir uns nicht darauf ausruhen. Ladonna ist davon ausgegangen, einen glatten Durchmarsch durch alle Länder zu schaffen. Dieser Durchmarsch wurde gestoppt, ob dauerhaft oder nur vorerst wird die Zukunft zeigen. Dass ich als Helfershelfer gleich dreier Zaubererweltfeindesgruppen hingestellt werden könnte muss ich vorerst in Kauf nehmen und meine Reiseplanungen sehr sorgfältig abwägen. Doch ich bin hoffnungsvoll, dass die Befürworter einer freien Welt die heimlich begonnene Unterwerfung der Welt erkennen und dagegen vorgehen können. Die Schweiz hat es schon geschafft. Was ich als Veelabeauftragter tun kann, um uns alle friedlich aus der Lage zu befreien werde ich tun."
"Was wäre Ihnen als Veelabeauftragter die willkommenste Lösung, Monsieur Latierre?" fragte Millie. Julius überlegte und sagte dann: "Dass Ladonna Montefiori ihren Drang überwindet, die mächtigste und beste Hexe aller Zeiten sein zu wollen. Jede die das wwollte trieb ihre Anhänger an den Rand der Selbstvernichtung. Sardonias Vermächtnis hat uns in Millemerveilles gezeigt, dass aus dunklen Taten am Ende nur die eigene Vernichtung erwachsen kann. Ich halte Ladonna Montefiori für sehr intelligent. Deshalb hoffe ich, dass sie es erkennt und einsieht, dass sie auf dem bisherigen Weg nur in den eigenen Untergang läuft."
"Halten Sie Ladonna für wahnsinnig?" fragte Millie. "Da ich kein auf Seelen- und Geistesheilkunde spezialisierter Heiler bin steht mir auf diese Frage keine festlegende Antwort zu. Sicher wird noch darüber diskutiert, ob Sardonia geisteskrank war. Viele Zeitzeugen der beiden britischen Zaubererweltkriege in den 1970ern und den dunklen Jahren zwischen 1994 und 1998 sind sich einig, dass Tom Riddle geisteskrank gewesen sein muss und führen Beispiele für diese These an. Ob Ladonna, die ja weit weit vor meiner Geburt schon gelebt hat krank ist oder nur einen übersteigerten Ehrgeiz besitzt und sich was auf ihre beiden hominiformen Verwandtschaftslinien einbildet dürfen gerne andere beurteilen. Mir ist nur wichtig, dass die Veelastämmigen und wir Menschen, die wir beide fühlende und denkfähige Lebewesengruppen sind, diesen Planeten gemeinsam bewohnen können, ohne uns gegenseitig auszurotten. Was ich für dieses Ziel tun kann werde ich tun."
"Dann bedanke ich mich bei Ihnen für die Zeit, die Sie meiner Zeitung gewidmet haben, Monsieur Latierre", beendete Millie das Stegreifinterview am Abend des 25. Mai 2006. Danach pflückte sie ihre Flotte-Schreibefeder vom Pergamentblatt und gab es Julius zur Durchsicht. Als er las, dass die Feder alles ohne irgendwelche begleitenden Kommentare zu seiner Betonung und Körperhaltung notiert hatte nickte er Millie zu. "Das dürfen Sie so in den Druck geben, Madame Latierre." Sie lächelte ihn an. Dann rollte sie die zwei Pergamentseiten zusammen und verließ damit das Dauerklangkerker-Arbeitszimmer von Julius, um damit zur nicht weit vom Haus stehenden Druckerpresse zu reisen, um dort das Interview und die anderen zehn kleineren und größeren Artikel ausdrucken zu lassen.
Als sie wieder zurückkehrte sagte sie: "Auch wenn sie dich in Italien, Spanien oder Belgien als Verbrecher bezeichnen solltest du stolz sein, dass du mitgeholfen hast, dass diese schwarzhaarige Furie uns nicht zu ihren Spielpuppen gemacht hat. Ich bin jedenfalls stolz, diesem dunklen Dornröschen die süßen Träume von der Weltherrschaft versalzen zu haben. Aber denkst du echt, die kriegt sich noch einmal ein? Wir haben es an Sardonia gesehen, dass die bis zu ihrem Ende nicht davon abkam, dass sie richtig gehandelt hat. Wir haben diesen rotäugigen Irren mitbekommen, wie der in Hogwarts trotz klarer Worte von Harry Potter den letzten Kampf gesucht und sich dabei selbst für alle Zeiten aus der Welt geschossen hat. Was macht dich so zuversichtlich, dass Ladonna von diesem brennenden Besen abspringt, bevor er mit ihr abstürzt?"
"Dass Anthelia, die ja damals als Sardonias wiedererwachte Nichte durchgestartet ist, irgendwann oder irgendwie klargekriegt hat, dass sie sich damit nur selbst aus dem Spiel haut, wenn sie Sardonias Weg weitergeht. Die ist jetzt nicht unbedingt gutartig geworden, und dass sie neue Entomanthropen gezüchtet hat spricht auch nicht für viel Menschlichkeit. Aber wenn sie echt noch meinen würde, mit Brachialmagie die Welt umkrempeln zu müssen hätte die mit dem ganzen Wissen aus Altaxarroi den Globus quer durch das Sonnensystem gebolzt. Die hätte mit genug Wissen über die nichtmagische Welt an wenigen Stellen ansetzen müssen, um allen Nichtmagiern wortwörtlich das Licht auszuknipsen. Kann sein, dass Ladonna das irgendwann anstellt, wenn sie sicher ist, genug Leute für die Machtübernahme am Start zu haben. Nur dann haben wir einen weltweiten Zaubererkrieg mit ungewiss hoher Opferzahl und Dauer. Stell dir bitte mal den dreißigjährigen oder den hundertjährigen Krieg vor, bei dem jedes Jahr so viele nicht am Kampf selbst beteiligte Leute sterben wie in jedem Jahr des zweiten Weltkrieges. Dann bleibt am Ende von der Weltbevölkerung nicht mehr viel übrig. Wenn es nur zwischen uns magischen Menschen knallt ist es ziemlich wahrscheinlich, dass wir magischen Menschen alle dabei draufgehen. Tja, und die Magielosen kriegen davon womöglich nur mit, dass es ungewöhnlich viele Naturkatastrophen gab. Will ich nicht wirklich und du und alle unseren Verwandten hier und in Übersee garantiert auch nicht."
"Das ist sicher wahr, Julius. Aber sowas ähnliches gilt doch auch für die ganze Menschheit im Bezug auf irgendwo da draußen lebende intelligenten Lebensformen. Wenn wir uns auslöschen kriegen die das womöglich gar nicht mit und wundern sich nur, dass ein blauer Planet auf einmal in dunklen Wolken verschwindet oder nur noch von Wüsten bedeckt wird." Julius nickte. Das Beispiel passte auch. So oder so, er wollte lebenund helfen, dass seine Kinder ebenfalls ein erfülltes, sicheres und erfreuliches Leben führen konnten. Deshalb hoffte er weiter, dass selbst eine skrupellose Hexe wie Ladonna doch noch begriff, dass der dunkle Weg nur in den Abgrund führte. Er dachte an Darth Vader, denHandlanger des galaktischen Imperators. Der hatte in den letzten Minuten seines Lebens auch erkannt, welchem zerstörerischen Irrweg er all die Jahre gefolgt war.
Anthelia/Naaneavargia stieß mit ihren Mitschwestern im haus Tyches Refugium an. Sie hatten es geschafft, den vollständigen Föderationsrat von Ladonnas Zauberbann zu lösen und per suggestivem Gedächtniszauber dazu gebracht, wieder in den Schutz von Viento del Sol zurückzukehren. Dass sie dort wieder hineinkonnten bewies allen, die den Feindesabwehrzauber kannten, dass die Ratsmitglieder nicht von einem fremden Zauber beherrscht wurden. Lediglich wegen Atalanta Bullhorn hatten sie was machen müssen. Sie hatten in Umlauf gesetzt, dass Ashton Underwood versucht habe, im Auftrag Ladonnas zu infiltrieren und auszuloten, ob es sich lohne, auch in Amerika Fuß zu fassen. Da nun jedoch auch klar war, dass die südamerikanische Föderation ein Konstrukt Ladonnas war konnten die von ihr beeinflussten Minister und Abteilungsleiter derzeit nichts unternehmen, weil ein Großteil der Bevölkerung gegen die beinahe vollendete Rekolonisierung aufbegehrte. Nur jene aus Europa stammenden Hexen und Zauberer, die der Kolonialzeit nachtrauerten versuchten die schöne Utopie vom mit einer Stimme sprechenden südamerikanischen Zaubererstaat in bester Beziehung zu Spanien hochzuhalten. Doch die dagegen sprechenden Stimmen waren lauter.
"Offenbar waren wir nicht die einzigen, die sich Gedanken um Südamerika gemacht haben, Schwestern", sagte Anthelia. "Das peruannische Zaubereiministerium ist zur Zeit vollständig handlungsunfähig. Es gibt dort keinen mehr, der die Geschicke dieses Landes lenken kann. Ich weiß noch nicht wie sie das angestellt hat und werde das vielleicht nicht erfahren. Aber ich weiß mit sicherheit, dass es eine halbindigene Hexe namens Margarita de Piedra Roja gewesen ist. Sicher hat sie einen Zauber aus der Zeit vor Kolumbus benutzt, um alle Anwesenden zugleich zu betäuben und dann in Ruhe zu entführen, wohl mit Verwandlung in kleine, leicht transportable Gegenstände. In dieser Form bleiben die Gefangenen in jenem Zustand, den sie vor der Verwandlung hatten. Waren sie vorher bei Bewusstsein bleiben sie es auch in der Verwandlung. Waren sie bewusstlos oder schliefen, werden sie erst wach, wenn die Fremdverwandlung wieder aufgehoben wird. Insofern hat die werte Doña de Piedra Roja jezt zeit, mit jedem einzelnen herumzuhexen, wie sie den Feuerrosenzauber wieder lösen kann."
"Höchste Schwester, wollen wir ihr nicht dabei helfen? Wir wissen doch jetzt, wie dieser Zauber zu lösen ist und auch, wie sich bisher davon unbetroffene Leute vor ihm schützen können", sagte Romina Hamton, die froh war, dass die US-Abteilung der Föderation nordamerikanischer Hexen und Zauberer vor weiteren Übergriffen Ladonnas beschützt werden konnte.
"Sicher könnten wir ihr helfen, meine Schwestern. Doch werde ich keiner Hexe helfen, die es mir nicht danken wird und die mich nicht als gleichberechtigte Schwester oder gar als ihr übergeordnete Schwester anerkennen wird", sagte Anthelia. "Nein, die soll sich in ihrer Vormachtstellung in Peru suhlen, bis sie merkt, dass ihr Land ein kleines Land auf dieser großen Welt ist. Auch giert sie mir zu sehr nach dem Geld der Nichtmagier, indem sie denen Rauschgift verkauft und sie damit noch mehr in den Irrsinn treibt als sie es eh schon sind. Nein, Schwestern. Falls das Laveau-Institut, dass lieber auf die Veelas zurückgreift den Südamerikanern Hilfe anbieten sollte sollen die die Verantwortung übernehmen, wenn Margarita de Piedra Roja mit ihrer Hilfe nur Unfug anstellt", erwiderte Anthelia.
"Nur wenn sie einen eigenen Weg findet, den Zauber zu lösen. Ich meine, vielleicht ist das, was Ladonna mit ihren gefangenen Feinden anstellt auch die Patentlösung, um die von ihr bezauberten zu erlösen, wenn sie bis auf weiteres in lebende Pflanzen verwandelt werden und dann, wenn die aufgeladene Unterwerfungsmagie verflogen ist wieder als normale Menschen weiterleben können", sagte Melonia. Sie wusste wovon sie sprach. Anthelia überlegte. "Das mag auch funktionieren. Aber mit den grünen Befreiungssteinen heben wir den Zauber nicht nur auf, sondern beschützen die Träger auch vor Neubezauberung. Ob eine vorübergehende Mensch-zu-Pflanze-Verwandlung diesen Schutz bietet weiß ich nicht und will es auch nicht herausfinden. Ich weiß jedoch, dass diejenigen, die starke Seelen haben, gegen Ladonnas Kräfte gefeit sind. Doch von denen gibt es sehr wenige." Sie dachte an sich und Albertrude Steinbeißer, die ganz in Anthelias Sinne mit den deutschsprachigen Schwestern den Weg mit dem Loslösungslied der grünen Waldfrauen einschlug. Bald würde Ladonnas erlangte Macht wieder schwinden, womöglich schneller als sie gebraucht hatte, um alles vorzubereiten. Auf diesen Tag wollte sie, Anthelia/Naaneavargia hinarbeiten.
Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, Faszination, Trauer, Erhabenheit und Abenteur, dachte Mike Dunston. Der Kriminalredakteur der Times war extra am Vorabend nach Pasadena geflogen, um hier und heute um elf Uhr Pazifikstandardzeit einer nicht so üblichen Beisetzung beizuwohnen. Ein gewisser Obadiah Woodworth sollte die von jeder Religion entkoppelte Trauerrede halten und dann die Asche der drei Bristols in einem feierlichen Akt aus einer Seitenluke des 30-Meter-Luftschiffes in den blitzeblauen Pazifik hinunterstreuen. Erst Feuer, dann Wind, dann wasser", so hatte es der im altmodischen schwarzen Frack auftretende Trauerredner formuliert, bevor er noch einmal auf Jeffs beharrlichen Kampf um Wahrheit und Vollständigkeit einging. Auch bedauerte er, dass es seiner Tochter Laura Jane nicht vergönnt war, die Welt richtig kennenzulernen, weil es zu viele böse Menschen auf ihr gab. Dann war es so weit.
Die Motoren des besonderen Luftschiffes stoppten. Das mit vollgepumpten Heliumzellen in der Schwebe gehaltene Luftfahrzeug wurde langsamer. Dabei streute Woodworth unter live gespielten Dudelsackklängen die Asche von Jeff, seiner Frau Justine und seiner Tochter Laura Jane in die Tiefe. 500 Meter freier fall und dann die Wogen des Pazifik. Hier, 20 Kilometer von der Küste entfernt, würde die Gabe an das Weltmeer womöglich in den Kreislauf der Meeresströmungen einfließen. "aus dem Staub verloschener Sterne wurde unsere Welt und wurden auch wir. Einst wird unsere Sonne sich zum letzten Gruß aufblähen und ihre Kinder, die Planeten in sich zurücknehmen, bevor sie selbst erlischt. Dann werden wir zurückkehren in das unendliche Universum, Sternenstaub zu Sternenstaub", deklamierte Woodworth. Ja, so ging es auch ohne Gott und einen Jesus Christus oder einen Gott Abrahams oder Allah", dachte Dunston. Er selbst wollte nicht so beigesetzt werden. Er wollte an einen Ort, an dem ihn seine Angehörigen und hinterbliebenen Freunde jederzeit besuchen und ihn mit dem Ballast eines noch stattfindenden Lebens beladen konnten. Auch wenn die Vorstellung erhaben sein mochte, Teil des weltweiten Stoffkreislaufes zu werden, nicht nur ein paar Quadratmeter Wiese mit Steinplatte drauf, wollte er doch was von sich bleibendes hinterlassen.
"Also gut, dass die sich für eine Seebestattung entschieden haben. Mein Onkel Fred wollte seine Asche unbedingt in Opas Obstgarten beerdigen lassen. Seitdem habe ich keine Erdbeere und keinen Apfel mehr bei dem gefuttert", tönte ein Reporterkollege vom New York Herald, als Woodworth die Seitenluke wieder zugemacht hatte. Darauf meinte ein anderer Kollege, der für den Pasadena Prospektor schrieb, dass eine Seebestattung einem auch das Fischessen verleiden konnte. "Die werden jetzt Dünger für das Phytoplankton. Das wird von den kleinen Krebsen gefuttert. Die werden von den größeren Fischen verputzt und so weiter bis zu den größeren Thunfischen und sonstigen Flossenträgern. Guten Appetit!"
"Nichts für ungut, Gentlemen. Sie atmen gerade die Luft ein, die Julius Cäsar vor dem letzten Messerstich in seine Lungen eingesogen hat", sagte Woodworth. Das saß. Denn vielen hier war bekannt, dass jedes im Umlauf befindliche Sauerstoffmolekül schon milliardenfach verstoffwechselt und wieder freiphotosynthetisiert worden war. Somit könnten sie gerade Moleküle der Atemluft einatmen, die Mörder wie Charles Manson oder Jack The Ripper während ihrer Bluttaten in sich eingesaugt hatten. Wollten sie dann nicht mehr atmen? Dunston beschloss, diese naturphilosophische Grundsatzdebatte besser nicht weiterzuführen. Ihm war wichtig, dass sie gerade einen guten Kollegen von ihm verabschiedet hatten und dass er jederzeit selbst damit rechnen musste, dass jemand für ihn Dudelsack spielte. Nein! Er wollte keinen Dudelsack auf seiner Beerdigung. Das musste er unbedingt in die Verfügung hineintexten. Wandergitarre, keinen Dudelsack.
Der Zeppelin ruckte wieder an, beschrieb eine weit ausladende 180-Grad-Kurve und surrte in Richtung Festland davon. Für Mike Dunston würde dieser Tag noch in einem spontanen Besuch im touristischen Teil der Antriebslabore der NASA ausklingen, von wegen Sternenstaub zu Sternenstaub. Morgen wollte er dann wieder zurück nach New York zu seiner Frau Muriel und den beiden Mädchen Sally und Jill. Er hoffte, dass er die drei besser beschützen konnte als Jeff es mit seiner Familie gekonnt hatte. Doch was dachte er da schon wieder? Sicher, Jeff hatte einen gefährlichen Job gemacht. Aber er war in eine Falle gelockt worden und hatte sich nicht vor einen Trupp Gangstern mit MPs hingeworfen und seine Familie gleich mit. Das Kleeblatt war schuld und würde dafür büßen, dachte Dunston. An ihm lag es, mitzuhelfen, dass Cardigan und seine beiden Mitgangster für diese Untat verurteilt wurden.
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