Die Auswirkungen jener weltweiten Welle dunkler Magie, die bei der Vernichtung von Iaxathans Ankergefäß freigesetzt wurde, halten die ganze magische Welt in Atem. Schwarzmagische Gegenstände erwachen zu einem unheilvollen Eigenleben. Für dunkle Kräfte empfängliche Wesen schütteln jahrtausende alte Erstarrungszauber ab oder werden stärker. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zaubereiministerien und davon unabhängiger Eingreiftruppen gegen dunkle Künste kommen nicht zur Ruhe. Als dann durch das schwere Seebeben vom 26. Dezember 2004 ein auf dem Meeresgrund liegender Unlichtkristall zerbricht und deshalb eine weltweite Entladung von Erdmagie auslöst gerät die gesamte Gesellschaftsstruktur der magischen Menschheit ins Wanken. Denn die Welle aus Erdmagie trifft dafür empfängliche Wesen wie Kobolde und Zwerge hart bis tödlich. In Australien wird die Koboldbank Gringotts zerstört. Anderswo müssen Filialen schließen. Verschiedene Gruppen versuchen das auszunutzen, um das jahrhundertealte Goldwertbestimmungsmonopol der Kobolde zu beenden. Ebenso wittert in den Vereinigten Staaten ein einzelner Zauberer die Chance, der mächtigste in Nordamerika zu werden: Lionel Buggles. Als dieser dann von der obskuren Gruppe Vita Magica unterworfen wird hilft diese ihm, seinen Traum für einige Monate zu verwirklichen, ganz Nordamerika unter seiner Führung zu vereinen, bis ihm die Führerin der Spinnenhexen für immer Einhalt gebietet.
Julius Latierre wird von Ashtaria beauftragt, einen eigenen Sohn zu zeugen. Da er mit Millie von den Mondtöchtern gesegnet wurde kann er dies jedoch erst nach einer Wartezeit von zwölf Jahren, weil er schon drei Töchter mit Millie hat. Ashtaria schickt Millie einen höchst beängstigenden Traum von einer Zukunft, in der sowohl Lahilliotas neue Ameisenkreaturen, die Nachtschatten der selbsternannten Nachtkaiserin und die Vampire der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder die Menschheit auslöschen und Ashtarias Macht vollständig verschwinden mag, wenn es keine sieben Heilssternträger mehr gibt. Daher nutzen sie und Julius ein besonderes Gesetz, dass einem Ehemann erlaubt, mit einer unverheirateten Hexe ein Kind zu zeugen, welches die angetraute Frau nicht oder nicht früh genug bekommen kann. Als sogenannte Friedensretterin erwählen beide Millies Tante Béatrice, die seit dem unfreiwilligen Kindersegen in Millemerveilles die zweite Heilerin dort ist. Béatrice geht auf die Bitte ein und verbringt mit Julius mehrere Nächte, während Millie sich in den Künsten der Feuermagier aus dem alten Reich zu ende bilden lässt. Das Vorhaben gelingt. Béatrice empfängt einen Sohn. Kurz nach der erfolgreichen Zeugung wird Millie ebenfalls schwanger. Sie trägt Zwillingstöchter. Sie verzichtet auf ihr Recht, Béatrices Kind als ihres anzunehmen und überlässt den kleinen Félix seiner leiblichen Mutter. Sie selbst bringt in der Walpurgisnacht 2005 die beiden Töchter Flavine und Fylla zur Welt. Julius hat Ashtarias Auftrag ausgeführt. Er wartet darauf, ob und wo er den verwaisten Silberstern entgegennehmen kann. Er muss dafür noch eine gefährliche Aufgabe erledigen. Ashtaria stellt ihm drei zur Auswahl: Das verschollene Buch über das Geheimnis des großen, grauen Eisentrolls, den Zwerge und Kobolde gleichermaßen fürchten zu finden, einen mächtigen Dschinnenkönig finden und verhindern, dass dieser sich wieder zum Herren aller orientalischen Geisterwesen aufschwingt oder eine schwarzmagische Vorrichtung namens "Das Herz von Seth" unschädlich zu machen. Er entscheidet sich für die dritte gefahrvolle Aufgabe. Dank Goldschweif, seiner Temmie-Patrona und einer ausreichenden Dosis Felix Felicis übersteht er die auf dem Weg in die unterirdische Anlage lauernden Fallen und kann gerade noch rechtzeitig verhindern, dass der im Herzen des Seth angesammelte Hass und Zerstörungswille auf einen Schlag freigesetzt werden und damit alle fühlenden Wesen zu Mord und Krieg getrieben werden. . Um die unheilvolle, gewaltige Maschinerie der dunklen Kraft möglichst nie wieder in Gang zu setzen hilft ihm Madame Delamontagnes Hauselfe, den zentralen Raum unbetretbar zu machen. Weil Julius die ihm gestellte Aufgabe erledigt hat darf er das Geburtshaus von Hassan al-Burch Kitab aufsuchen, wo der verwaiste Silberstern liegt. Doch dieses wird von Ilithula, der Abgrundstochter mit Beziehung zu Windmagie bewacht. Er kann sie jedoch austricksen und den Heilsstern an sich nehmen. Zusammen mit den sechs anderen Sternträgerinnen und -trägern ruft er in Ashtarias Höhle des letzten Abschiedes die mächtige Formel aus, die die geballte Macht der sieben Sterne freisetzt. Damit wird er endgültig der sechste Sohn Ashtarias. Die Anrufung der Heilsformel bewirkt jedoch auch, dass die in Gestalt einer roten Riesenameisenkönigin gefangene Lahilliota wieder zur Hexe in Menschengestalt wird, allerdings immer nur im Wechsel mit ihrer Tiergestalt alle zwei Monate.
Wegen der Mordanschläge von London und Birmingham am 7. Juli regen Julius und seine Mutter eine internationale Zaubereikonferenz zum Thema elektronische Aufzeichnung und Verhüllung der Magie vor Videokameras an. Viele Zaubereiministerien gehen auf diesen Vorschlag ein. Die Konferenz findet Ende September Anfang Oktober in einer gesicherten Niederlassung des Japanischen Zaubereiministeriums statt. Dort werden fast alle Teilnehmer durch den Nebel des Mondfriedens darauf eingestimmt, einander zu vertrauen. Nur Julius und Nathalie entgehen diesem angeblich so friedlichen Vorbeugungszauber. Julius wird von Ashtarias Heilsstern geschützt, Nathalie durch den ihr aufgezwungenen Sonnensegen Euphrosynes. Nach einigen Tagen Beratung präsentieren die Japaner das gesuchte Mittel, den lautlosen Verberger, einen Gürtel, der seinen Träger für elektronische Aufnahmegeräte unsichtbar macht. Die Ministerien beschließen, für ihre Sondertruppen solche Gürtel anzuschaffen.
Catherine wird von Julius zu den Altmeistern Khalakatans gebracht, wo sie vollständig in Zaubern der alten Windmagier und Mondmagier ausgebildet wird. Während ihres Ausbleibens verfolgt Julius die Unruhen in den Vororten französischer Großstädte im November 2005. Als Catherine zurückkehrt bittet sie Julius, ihr die von ihm lange gehütete Flöte des Windkönigs Ailanorar zu überlassen. Er soll in der Zeit, die sie mit deren Schöpfer um den Besitz ringt auf ihre Kinder aufpassen. Mit dem Heilsstern verhindert er, dass Babette, Claudine und Justin von einem fremden Einfluss entseelt werden und hilft damit auch Catherine, Ailanorar zu bezwingen und somit die Flöte für sich zu erobern. Diese dient fortan nur noch ihr und ihren direkten Nachkommen.
Laurentine Hellersdorf nimmt eine Reise nach Amerika zum Anlass, sich in weiterführenden Abwehrzaubern ausbilden zu lassen. Hera Matine empfiehlt ihr Nachhilfestunden bei ihrer Nichte Louiselle Beaumont, die ihr auch in Beauxbatons ungern gesehene Zauber beibringt. Als Laurentine auf der Reise durch die Staaten wahrhaftig mit der Führerin der Spinnenschwestern zusammentrifft beschließen Louiselle und Hera, Laurentine in die Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern aufzunehmen. Bei diesem Zeremoniell erweist sich, dass Ladonna Montefiori bereits Gefolgshexen in diese Gemeinschaft eingeschleust hat. Doch diese versagen beim Versuch, die Stuhlmeisterin Hera Matine zu töten und werden durch Schutzzauber des Versammlungsortes körperlich und geistig zu Neugeborenen zurückverjüngt und sollen ein neues Leben beginnen. Der Tsunami vom 26.12.2004, der auch für die Erdmagieturbulenzen verantwortlich ist, nimmt der trimagischen Gewinnerin beide Eltern. Sie braucht eine Zeit, um darüber hinwegzukommen, bis sich ihr im Traum und bei der Beerdigung eine rot-golden leuchtende Erscheinung zeigt, die große Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Schulfreundin Claire Dusoleil hat. Von da an ist sie wieder zuversichtlich, weiterleben zu können.
Laurentine und Louiselle setzen ihre Übungen fort. Dabei erkennt Laurentine, dass sie die ältere Hexe nicht nur als Lehrerin schätzt, sondern sich auch in sie verliebt. Bei einer Übung zur Abwehr eines Unfruchtbarkeitszaubers wendet Laurentine einen anderen Weg an als bisher bekannt. Dadurch drängt sie den ihr geltenden Zauber nicht nur zu Louiselle zurück, sondern bewirkt auch eine der wenigen hellen Verkehrungen eines ursprünglich bösartigen Zaubers. Statt für Monate unfruchtbar zu werden entsteht aus einer Eizelle Laurentines und Louiselles eine gemeinsame Tochter in Louiselles Gebärmutter. Damit kommen die zwei Hexen sprichwörtlich wie die Jungfrau zu einem Kind und müssen überlegen, wie sie mit dieser Verantwortung umgehen.
Das neue Jahr beginnt. In Nordamerika soll die neue Föderation aus Kanada, den USA und Mexikos ihre Arbeit aufnehmen. Was dabei für den Rest der Welt herumkommt wird sich zeigen müssen.
Während all dieser aufwühlenden und unerwarteten Ereignisse bereitet sich Ladonna Montefiori darauf vor, ihr nächstes großes Ziel zu erreichen, mit dem sie ihre Todfeindin Sardonia endgültig überflügeln will. Sie schürt in verschiedenen Ländern Unruhen in der magischen Gemeinschaft und treibt die amtierenden Zaubereiminister dazu, sich zu geheimen Treffen zu verabreden. Über ihre Agentinnen erfährt sie, wann und wo solche Treffen stattfinden und schafft es, neue Feuerrosenkerzen dort einzuschmuggeln. So gelingt ihr doch noch, was sie schon längst erreichen wollte. Außer Frankreich, Griechenland und die afrikanischen Länder übernimmt sie alle Mittelmeeranrainer. Weitere Feuerrosenkerzen machen ihr zudem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der eroberten Zaubereiministerien gefügig. Allerdings entwischen ihr in Deutschland mehrere Dutzend Hexen und Zauberer mit Hilfe von bei Gefahr auslösenden Portschlüsseln und warnen die noch freien Zaubereigemeinschaften. Ladonna lässt verbreiten, dass die Zaubereiministerien wegen der vielen internationalen Feinde ein starkes Bündnis gegründet haben, die Koalition der Verbundenheit. Alle Behauptungen, sie seien unterwandert werden als böswillige Verleumdungen abgetan. Außerdem schafft es Ladonna, zwei weitere wichtige Niederlassungen von Vita Magica zu vernichten und sogar den amtierenden hohen Rat des Lebens auszulöschen, so dass Vita Magica stark geschwächt ist und zunächst den Fall "Dornröschen" ausruft, also das unbefristete Stillhalten. Ebenso kann sie die in Deutschland und Italien aufmuckenden Zwerge und Kobolde niederhalten, indem sie publikumswirksam vorführt, dass sie den großen grauen Eisentroll, den Urfeind aller Zwerge und Kobolde, aus der Erde hervorrufen und ihn wieder dorthin zurückschicken kann. Sie wähnt sich sicher, trotz der entwischten Opfer ihre weiteren Ziele erreichen zu können.
Julius Latierre bekommt mit, wie sich die offenkundig unterworfenen Zaubereiministerien positionieren. Die Veelas holen ihn zu einer nächtlichen Beratung in die Höhle der gesammelten Worte. Dort bekommt er nicht nur mit, dass Létos Schwester ihn weiterhin begehrt, sondern auch die spanische Veelastämmige Espinela Bocafuego ihn für sich haben will. Er kann sie jedoch mit dem erlernten Lied des inneren Friedens von sich fernhalten. Die Veelas teilen ihm und der magischen Menschheit unmissverständlich mit, dass sie nicht hinnehmen werden, dass Ladonna von Menschen getötet wird.
Derweil bahnt sich in den Nordamerikanischen Staaten etwas unausweichliches an. Der Mexikanische Zauberer Augusto Paredes, der auch als "El Aguila Roja", der rote Adler berühmt und berüchtigt ist, hat sich durch seine aztekischen Zauberkenntnisse zu einem schier unbezwingbaren Machthaber im internationalen Rauschgifthandel hochgekämpft. Er will aber auch in der US-amerikanischen Unterwelt Fuß fassen. Hierzu hat er sich den Mafioso Don Michele Millelli durch einen aztekischen Bluteid gefügig gemacht. Eigentlich will er sich in der Nähe der Grenze zwischen den USA und Mexiko einen wichtigen Standplatz sichern. Doch eine andere will das auch, die nicht minder mächtige und gefährliche peruanische Hexe mit Inka-Abstammung Margarita de Piedra Roja, genannt die Löwin von Lima. Um sie einzuschüchtern oder gleich zu erledigen schickt Paredes ihr mit einem altaztekischen Dunkelzauber belebte Leichname, die Feuerherzkrieger, deren Herzen er in seinem Keller am schlagen hält und die sich in zerstörerische Feuerbomben verwandeln können. Doch Margarita hat ihr Haus mit wehrhaften Zaubern aus der Mondmagie des Inkavolkes abgesichert und wehrt die Feuerherz-Zombies ab. Eine direkte Konfrontation erscheint unausweichlich. Doch vorher will Paredes sich ein Standbein in der New Yorker Mafia sichern, deren Führer sich in einem inoffiziell errichteten Atombunker treffen. Weil Margarita de Piedra Roja davon ausgeht, dass die Sekte der Vampirgötzin diese Gelegenheit nutzen will, um dort neue Helfershelfer zu rekrutieren schmuggelt einer ihrer Verwandten einen Zaubertrank dort ein, der jeden davon trinkenden gegen alle nach seinem Blut gierenden Wesen ein volles Jahr fernhält. Paredes richtet klammheimlich einen Sternenzauber ein, der das Erscheinen der Vampire mit Hilfe jener nachtschwarzen Abart eines Portschlüssels vereitelt. Alle Mafiosi trinken Margaritas Schutztrank. Dabei kommt es bei Michele Millelli, dem Müllkönig, zu einer unerwarteten Reaktion. Die in seinem Blut zusammentreffenden Zauber treiben seine Körpertemperatur über das erträgliche Maß hinaus. Millelli stirbt. Dadurch wird die in ihm wirkende Kraft des aztekischen Bluteides so heftig freigesetzt, dass sie auf ihren Urheber, den roten Adler zurückschlägt und auch ihn tötet. In einer höllischen Kettenreaktion werden dessen Diener vernichtet und alle nicht gerade in fliegenden Flugzeugen sitzenden Bluteidgebundenen von der magischen Bindung befreit. Ohne es direkt darauf angelegt zu haben ist Margarita de Piedra Roja den gefährlichen Widersacher los.
Der als Times-Reporter getarnte Laveau-Instituts-Mitarbeiter Jeff Bristol sorgt sich wegen jener Geschwister, die auf eine heimliche Eroberung der Welt hinarbeiten. Er bekommt auch mit, was Milelli und Paredes widerfährt. Über all dem schwebt die Warnung, dass Ladonna Montefiori auch die Zaubereiminister der beiden amerikanischen Teilkontinente unterwerfen will. Wie berechtigt diese Warnung ist soll sich schon sehr bald erweisen. Denn bei der alle drei Jahre stattfindenden Konferenz spanischsprachiger Zaubereiminister zündet der von Ladonna unterworfene Pataleón eine Feuerrosenkerze. Doch die Mexikaner, die der Konferenz beiwohnen setzen ein Gegenmittel ein, den magicomechanischen Gefahrenfänger. Dieser schafft die brennende Kerze mittels Portschlüssel fort. Die mexikanischen Delegierten erweisen sich als Agenten der Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Wesen und wollen Pataleón und seine Leute kampfunfähig machen. Dabei kommt es zu einer Zauberschlacht, an deren Ende die Mexikaner trotz Täuschzaubern den Tod finden. Die eigentlich für Mexiko und den Föderationsrat gedachte zweite Feuerrosenkerze vollendet, was die erste Kerze nicht geschafft hat. Diesmal kommt kein Gefahrenfänger zum einsatz.
Nachdem die südamerikanischen Zaubereiminister und ihre wichtigsten Mitarbeiter doch unter Ladonnas Einfluss geraten können sie auch Atalanta Bullhorn in eine Falle locken, wobei ein Gefahrenfänger die Feuerrosenkerze abfängt, aber dann alle anderen von einem Portschlüssel in eine von Ladonna vorbereitete Höhle geschafft werden. Weil Atalanta Bullhorn einen Schutzzauber auf ihren Geist gelegt hat, der solange hält, wie ihr Körper durchblutet wird, lässt Ladonna ihr alle Haare und überstehende Finger- und Zehennägel entfernen, um damit ihre treue Gehilfin Ashton Underwood auszustatten, die dann mit Vielsafttrank Atalantas Rolle übernimmt. Die wirkliche Ratssprecherin verschwindet in Ladonnas besonderem Rosengarten. Die nun falsche Atalanta lockt den gesamten Föderationsrat mit der Warnung vor einem Fliegerbombenangriff auf Viento del Sol aus der sicheren Zuflucht heraus und präsentiert eine weitere Feuerrosenkerze. Danach jagen die Föderationsadministratoren allen hinterher, die ihrer neuen Herrin gefährlich werden können. Darunter sind auch die Mitarbeiter des Laveau-Institutes. Um der Verhaftung und möglichen Versklavung zu entgehen inszenieren jene, die als Beobachter und Eingreiftruppler in der nichtmagischen Welt arbeiten ihren eigenen Tod und hinterlassen mit Hilfe ihrer Kollegen täuschend echte Leichname. Zu ihnen gehört auch Jeff Bristol, der mit seiner kleinen Familie in das vom Laveau-Institut errichtete versteckte Inseldorf Shady Shelter flüchtet.
Somit ist auch Amerika nicht mehr frei. Da demnächst die alle halbe Jahre anstehende Konferenz der internationalen Zaubererweltkonföderation ansteht fürchten die noch freien Zaubereiministerien, dass Ladonna auch dort eine Feuerrosenkerze entzünden lassen wird. Doch sie wollen Ladonnas Vormarsch stoppen. Hierzu reisen Belle und Millie mit der Gesandschaft der internationalen Zaubererweltkonföderation nach Genf. Dort wird Belle von einer auf Veelazauber ansprechenden Falle in eine gläserne Sphäre eingeschlossen. Millie, die als Feuervertraute Altaxarrois ausgebildet ist, kann die Quelle für diesen Zauber sehen. Doch muss sie zuvor sicherstellen, dass ein von den Veelas mitgegebenes Artefakt, eine Gegenkerze zu Ladonnas Feuerrosenkerze, in den Konferenzraum geschmuggelt wird. Als ihr das gelungen ist wendet sie einen nur ausgebildeten Feuervertrauten höchster Stufe beigebrachten Zauber an, der sie für eine subjektive Viertelstunde mit hundertfacher Geschwindigkeit denken und handeln lässt. In diesem Zustand entfernt sie die kristallinen Kraftquellen der Veelafalle, die Belle wegen des verbotenen Segens gefangen hält und die laut Léto Veelastämmige töten kann. Je mehr sie die Falle demontiert, desto heftiger erwehren sich die Kristalle. Nur der überhohen Geschwindigkeit verdankt Millie, nicht selbst vernichtet zu werden. Sie kann Belle befreien und mit der restlichen Delegation per Portschlüssel entkommen. Das Gästehaus der Franzosen verbrennt in einer unkontrollierten Feuermagie der destabilisierten Veelafalle. Wenige Zeit später treffen sich die übrigen Konferenzteilnehmer im Besprechungssaal. Dort entzündet sich die von Millie an Stelle der Feuerrosenkerze platzierte Kerze der Veelas und durchdringt alle mit einem goldenen Licht, das jeden von Ladonnas Einfluss befreit und gleichzeitig für ein Jahr gegen die Macht der Feuerrose immunisiert. So kommen auch der schweizer Zaubereiminister und seine engsten Vertrauten aus Ladonnas Bann frei. Wenig später kann auch der Rest des Ministeriumspersonals durch eine zweite Goldlichtkerze befreit werden. Es sieht danach aus, als wenn die freie Zaubererwelt endlich ein Mittel gegen Ladonnas Vormarsch in der Welt besitzt. Doch wissen die Eingeweihten, dass sich Ladonna das nicht lange gefallen lassen wird. Ein Ultimatum ihrer Unterworfenen an die noch widerstrebenden Zaubereiministerien lläuft am ersten Juni ab. Was wird dann geschehen?
Weil es dort, wo die wohnte, mit der sie jetzt in Verbindung treten wollte, schon später Nachmittag war, hatte sie sich sehr früh aus ihrem Bett erhoben und sich herzeigbar zurechtgemacht. Dann trat sie mit der anderen in Verbindung.
Die Grüne Mutter war nicht wirklich bei ihr, und sie war nicht wirklich dort, wo die grüne Mutter war. Dennoch sahen und hörten sich beide, als stünden sie einander unmittelbar gegenüber, die Führerin der Spinnenhexe und die Oberrste der Töchter des grünen Mondes.
"Jetzt, wo es sicher ist, dass es mehrere Gegenmittel gibt, die Versklavung durch die Feuerrose zu beenden, grüne Mutter, biete ich dir und den deinen an, die Untaten von Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten zu beheben und die dortigen Zaubereiministerien vom Führstrick der Feuerrosenkönigin zu lösen", sprach Anthelia/Naaneavargia, wobei sie das aus reinem Smaragd geformte Halbmondsymbol an die Stirn gedrückt hielt.
"Ja, mir gelangte durch den flüsternden Westwind zu Ohren, dass du die Macht jener in den frischen grünen Wäldern wohnenden Wesen nutzt, die halb Luftgeist, hhalb menschenfleischhungrige Erdgeister sind, die ihre Kraft aus dem Fleisch und Blut kleiner Kinder und der aus Erde und Sonne geschöpften Kraft hoher Bäume schöpfen", erwiderte Alia, die grüne Mutter. Die höchste Spinnenschwester brauchte ihre Gabe des Gedankenhörens nicht, um zu erkennen, wie angewidert Aliaa von der Vorstellung war. So überraschte es sie nicht, dass die lebende Führerin der orientalischen Schwesternschaft des grünen Mondes fortfuhr: "So verlockend dein Angebot auch sein mag, Naaneavargia, höchste deiner Schwesternschaft, so widerwärtig ist es auch. Denn wir, die Töchter des grünen Mondes, wollen nicht auf die Wirkung von Kräften vertrauen, für die hunderte unschuldiger Kinder haben sterben müssen. Daher muss ich auch im Namen aller mir vertrauenden Töchter des grünen Mondes dieses sicherlich sehr gut gemeinte und auf sicheren Erfolg bauende Angebot zurückweisen. Dennoch danke ich dir für deine Aufmerksamkeit, an uns zu denken, nachdem du mit diesem für uns nicht zulässigen Mittel viele von der Feuerrosenkönigin versklavte Zauberinnen und Zauberer befreit hast und wohl sicher weiterhin befreien wirst. Wir, die wir auf das Wissen von großen Reichen und Weisen zurückgreifen können, müssen und hoffentlich werden einen uns erträglicheren Weg beschreiten, die von der Feuerrosenkönigin unterworfenen Zauberinnen und Zauberer aus der Sklaverei zu befreien. Ich bin auch zuversichtlich, dass uns das bald gelingt. Denn sicherlich vernahmst du von deinen auf dem grünen Erdteil Europa wohnenden Mitschwestern, dass auch die abendländischen Zauberinnen und Zauberer einen Weg fanden, die Unterworfenen freizubekommen."
"Dies trifft zu, o grüne Mutter", sagte Anthelia/Naaneavargia. Die in Europa lebenden haben einen Pakt mit den Kindern Mokushas geschlossen, jenem alten Volk, dessen Töchter die verkörperte Schönheit in Aussehen, Bewegung und Stimme sind und dessen Söhne jeden Mann vor Neid erbleichen lassen, der auf gutes Aussehen und geschmeidige Bewegungen setzt. Doch um die Gunst dieser Wesen zu erwerben musst du deren Vertrauen erwerben und vielleicht auf Bedingungen eingehen, die dir und deinen Schwestern ebenso zu wider sein mögen wie mein eingeschlagener Weg", deutete Anthelia/Naaneavargia an. Die grüne Mutter machte ein nachdenkliches Gesicht. "Vielleicht müssen wir nicht selbst mit jenen Angehörigen dieses alten Volkes unterhandeln, um ihre Gunst zu erwerben. So die große Mutter allen Lebens und unsere am Himmel wachende Mutter allen Denkens und Fühlens es fügt können wir auch mit jenen unterhandeln, die bereits das Vertrauen zu den Angehörigen jenes Volkes haben, das sich für Nachkommen einer gottgleichen Königin der Elemente hält", erwiderte Alia, die grüne Mutter.
"Für dieses Vorhaben wünsche ich dir und den deinen alles Glück und jeden Erfolg, der daraus erwachsen mag", entgegnete die höchste Spinnenschwester ehrlich. Dann kam sie noch auf ein anderes Thema, das ihr einfiel, weil sie, als nur Anthelia in ihr gewirkt hatte, immer mal wieder daran gedacht hatte, selbst dergleichen zu unternehmen.
"Grüne Mutter, dir ist bekannt, dass die Anbeter magieloser Maschinen und Gläubigen scheinbar unendlich wachsenden Wohlstandes ihre großen Maschinen und ihre nicht von Muskelkraft oder Zauberwerk getriebenen Fuhrwerke, Schiffe und Flugmaschinen mit Auszügen des in der tiefen Erde eurer Heimatländer ruhenden Steinöls betreiben, was leider in den letzten Hundert Jahren zu einem ungeahnten Ausstoß von Gift- und Heizstoffen geführt hat. Da jene, die sich als Feuerrosenkönigin bezeichnet selbst die Vorherrschaft der Maschinenanbeter und Wachstumsgläubigen verachtet könnte ihr einfallen, die Schöpfung und die Verarbeitung des Steinöles zu verderben, um jenen, die davon abhängig sind, die Verwendung und ja auch Verschwendung jenes giftigen Stoffes aus der Tiefe der Erde zu vergellen. Selbst wenn ich weiß, dass euch die Verwendung des Steinöls ein Gräuel ist wie mir, dürfen wir nicht einfach zulassen, dass die davon wie von Wasser und Luft abhängig gewordene Maschinenwelt zusammenbricht und Wirrwarr und Not die Menschheit heimsuchen. Denn der Verlust des Öls würde zu blutigen Kämpfen zwischen jenen führen, die es noch gehortet haben und jenen, die keinen Zugang mehr dazu haben. Da bei euch Töchtern des grünen Mondes viele Herrscherhäuser die Förderung des Steinöls betreiben, um ihre Familien und ihre Völker reich und sorglos zu halten gibt es auch die meisten Förder- und Verarbeitungsstätten. Deshalb möchte ich dich in schwesterlicher Verbundenheit fragen, ob es dir und deinen Mitschwestern möglich ist, diese Stätten zu überwachen, um mögliche Anschläge der Feuerrosenkönigin zu erkennen und nach Möglichkeit zu vereiteln, bevor die von mir befürchteten Kriege um den Besitz der nicht verdorbenen Steinölmengen entbrennen kann."
"Ich bejahe, dass auch uns Töchtern des grünen Mondes die immer ausuferndere Nutzung der schwarzen Milch der großen Mutter allen Lebens lästig ist. Seitdem die nicht mit den hohen Gaben begüterten erkannten, dass in diesem hochgiftigen Stoff aus den Tiefen der Erde die Urkraft vieler tausend Sonnentage schläft und sie diese Kraft immer wieder wecken, um ihre ohne Kamele, Pferde oder Esel angetriebenen Fuhrwerke und großen Vorrichtungen anzutreiben beobachten auch meine Schwestern und ich die Orte, wo die schwarze Milch der großen Urmutter allen Lebens aus ihrem steinernen Leib hervorgemolken wird, auch um das zu verhindern, was du befürchtest, nämlich das mächtige Zauberinnen und Zauberer, die sich die Furcht und die Unterwerfung der davon genährten zu verschaffen etwas tun, um diese für natürliches Leben hochgiftige Flüssigkeit zu verderben. Daher kann ich deiner Bitte mit größter Zuversicht entsprechen und dir versichern, dass wir Töchter des grünen Mondes die Förder- und Weiterverarbeitungsstätten für die schwarze Milch der großen Urmutter bereits unter ständiger Beobachtung haben und bereit sind, jede von Zauberern und Zauberinnen geplante Verheerung zu vereiteln, wenn wir früh genug davon erfahren. Sei also bitte unbesorgt, Schwester Naaneavargia, Höchste deines Ordens der schwarzen Spinne!"
"So danke ich dir für dein Verständnis und für eure Hilfe, erste Mutter eures Ordens von den Töchtern des grünen Mondes. Auch ich werde meine Schwestern darum bitten, die auf dem Amerika genannten Erdteil zwischen zwei weiten Weltmeeren geschaffenen Förder- und Weiterverarbeitungsstätten für Steinöl zu überwachen, falls die Feuerrosenkönigin plant, die Reiche dieses Erdteils ins Verderben zu stürzen, jetzt wo meine Schwestern und ich einen sicheren Weg gefunden haben, ihr die Gefolgschaft zu entwinden", erwiderte Anthelia/Naaneavargia. Die grüne Mutter stimmte ihr zu. Dann verabschiedeten sich die zwei hohen Hexen aus Okzident und Orient voneinander. Anthelia nahm den grünen Halbmond von ihrer Stirn und verstaute ihn an seiner Silberkette wieder unter ihrer Kleidung. Alias Erscheinung verschwand wie disappariert.
Goldkehle fühlte die Angst, die in seine Knochen gefahren war wie einen Strom eiskalten Bergquellwassers. Er musste es seinem König mitteilen, was ihm der Verbindungszauberer Erlenhain mitgeteilt hatte.
Da er die violette Kluft der Botengilde trug und die Wächter auf dem Weg in den Saal des ehernen Herrscherstuhles mit ihren Waffenfindern keine am Körper getragene Waffe bei ihm entdeckten konnte er an allen vor der Halle wartenden vorbeihuschen und den Saal betreten. König Malin VII. saß auf dem ehernen Stuhl und hörte sich gerade an, was ein betagter Zwerg mit Bergschneeweißem Bart vorzubringen hatte. Als der ältere Zwerg, der höchste der Händlergilde, ordentlich vom König entlassen worden war lief Goldkehle bis zum Stufenpodest hin und warf sich beinahe auf den Boden. Gleichzeitig grüßte er den König ehrerbietig. "Steh wieder gerade, Bote Goldkehle! Was sagt Erlenhain?" wollte der König wissen.
"O König, Güldenberg will eine Wohnberechtigungsabgabe für vollständig andere oder durch Mischrassige Zeugung entstandeneWesen erheben, die sich nach Körperlänge, Bevölkerungsgröße und eigene Magie berechnen läst. Seitdem sie Giesbert Heller durch Ambrosius Ährenhaag ersetzt haben und damit die Spitzohren so richtig beleidigt haben ist Güldenberg der Ansicht, alle angeblichen Versäumnisse der letzten zweihundert Jahre auf einen Schlag aufzuholen und von uns menschenförmigen Zauberwesen eine Bleiberechtsabgabe zu verlangen."
"Was?! Wieviel genau, Bote Goldkehle?" schnaubte Malin VII.
"Ein hundertstel Pfund für jeden Erwachsenen Schwarzalb, gleich ob männlich oder weiblich, ein zweihundertstel Pfund für jeden ungeschmiedeten Knaben und jede noch nicht fruchtbare Jungfrau ... pro Monat, beginnend beim nächsten Vollmond."
"Eine Bleiberechtsabgabe? Zahlen die Spitzohren das etwa?" zischte Malin. Er war wütend. Doch der mit Gesichtsregungen bestens vertraute Goldkehle sah und hörte, dass der König aller deutschsprachigen Zwerge auch Angst hatte. Daher wagte er nicht, den seit bald einem halben Jahr regierenden König darauf anzusprechen. Er wiederholte nur die Botschaft und freute sich, dass die Hinrichtung von Überbringern unliebsamer Nachrichten auch im weiten unterirdischen Reich der Zwerge der Vergangenheit angehörte. Dennoch stammelte er ein wenig, bis er es geschafft hatte, dem König die vollständige Botschaft im ganzen mitzuteilen.
"Was droht Güldenberg uns, wenn wir nicht zahlen?" kam Malin VII. endlich auf den Punkt, der den Boten besonders betraf. "Er will nun, wo er weiß, dass es jenen gibt, der in den tiefsten Tiefen unser aller Urmutter Schoß gefangen ist mit Hilfe von schnell wechselnden Verformungen der Eisenweisekraft in der Erde herbeilocken, um ihn auf uns zu hetzen. Erlenhain deutete an, dass die Elektrostromfabriken der Magielosen genug Kraft dafür hergeben, um da, wo er gebraucht wird, auch ohne die Zauber Ladonnas Erfolg zu haben. Erlenhain sagte doch allen Ernstes: "Wer nicht zahlt wird gefressen. Mampf!""
"Der kann ihn nicht rufen. Er, der niemals gerufen werden darf hört nur auf mächtige Magierinnen und Magier, die so irrsinnig sind, ihn aus der Tiefe heraufzurufen. Wenn diese lächerlichen Magieersatzanstalten ihn wirklich aus der Erde rufen könnten hätte der sich längst über all die Menschen an der Erdoberfläche hergemacht, die diese künstliche Elektrizität und die dabei mitauftretende Eisenfangkraft erzeugen. Das hielt der König auch Goldkehle entgegen. Dieser erwiderte, dass die Menschen endlich wüssten, wo der erste Amboss niedergegangen sei und es den Deutschen, Österreichern und Schweizern gelungen sei, wirkmächtige Anteile davon abzuschlagen. Damit könnten sie jedes nichtmagische Eisenfangfeld mit einer in die tiefsten Tiefen der Erde reichenden Schwingung aufladen. So sei es möglich, ihn zu beschwören und durch die viele hundert Kilometer langen Kraftleitungen sogar an ganz gezielten Orten aus der Tiefe aufsteigen zu lassen.
"So, die Großen, die keinen Hauch von Ahnung haben, wo sich Gestein und Metall einander berühren, wollen mir, einem mehrfach erfahrenen Schmiedemeister erklären, wo Durins erster Ambos mit der jungen Erde zusammengestoßen war?" Er erwiderte kleinlaut: "Ihr und die anderen Schmiedemeister sucht doch schon seit der Geburt von Durins erstem Sohn nach diesem vom Himmel gestürzten Amboss. So könnte es doch sein, dass die Spitzohren den Ort kennen und so gierig sie sind was davon abschlagen wollten, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen."
"Hmm, ich will nicht damit enden, eine Warnung überhört zu haben, Bote Goldkehle. Ich danke dir für die Überbrachte Nachricht. Du darfst jetzt gehen." Goldkehle begriff, dass er hier nichts mehr verloren hatte. So verneigte er sich noch einmal vor seinem Herrn und König und verließ den Saal mit dem ehernen Herrscherstuhl.
Malin schickte einen seiner Leibgardisten aus, die Heerführer und die Meister der magischen Gerätschaften zu ihm zu bringen. Es dauerte solange, wie das sich selbst umwendende Stundenglas brauchte, um zwei weitere Teilstriche vollzulaufen, bis der Meister der Kriegergilde und die hohen Meister der Herstellung magischer Gerätschaften den Herrschersaal betraten.
Malin VII. nahm die ehrfürchtigen Grüße entgegen und berichtete, was Goldkehle ihm selbst berichtet hatte. Kriegsgroßmeister Schmetterhammer wollte wissen, ob die Behauptungen des Botens zuverlässig waren. Immerhin konnte der ja auch von Güldenberg eingeschüchtert worden sein, jetzt wo bekannt war, dass die widerwärtige Ausgeburt aus drei Blutlinien es gewagt hatte, ihn, den alle Zwerge vom Säugling bis zum Weißbart fürchteten zu rufen.
"Natürlich ist mir dies auch eingefallen, Kriegsgroßmeister Schmetterhammer", grummelte der König. "Deshalb sollen erst einmal unsere fähigsten Außenerkunder nachsehen, ob diese Elektrizitätserzeuger magisch gesichert sind oder nicht und falls nicht, ob sie irgendwas aussenden, was tief und noch tiefer in den Schoß unser aller Mutter hinabreicht. Ist dies bestätigt, so gilt es, diese riesigen Maschinen dauerhaft anzuhalten, falls nötig zu vernichten. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Güldenberg die Ungeheuermaschinen der magieunfähigen Großen benutzt, um uns zu bedrohen."
"Woher will Güldenberg wissen, wie diese riesenhaften Maschinen zu bedienen sind, um ihn, der im tiefen Schoße unserer aller Urmutter gefangen ist, daraus hervorzulocken?" wollte der Großmeister der Schmiedegilde wissen. Der Großmeister der Steinmetzgilde schloss sich dieser Frage an. Malin VII. erkannte, worauf Güldenberg wohl wirklich abzielte und sagte: "Er geht davon aus, dass wir ihm glauben und uns einschüchtern lassen. Doch wir werden es herausbekommen und zur Sicherheit alle Elektrizitätsvorrichtungen unbrauchbar machen. Denn deren Macht über die Eisenweisekraft unser aller Urmutter ist bereits zu groß. Nur die Notwendigkeit, mit Güldenbergs Leuten gut auskommen zu müssen hielt uns bisher davon ab, diese widerwärtigen Stätten außer Kraft zu setzen. Also sollen unsere Kundschafter aufbrechen, die uns durch unsere Vorarbeit zum Krieg gegen die Kobolde erkundeten Krafterzeugungsstätten und Leitungswege auf magische Besonderheiten zu prüfen. Wissen wir mit großer Wahrscheinlichkeit, dass Güldenberg keine besonderen Sicherungen darum herum eingerichtet hat können wir jede dieser Stätten mit Erdfeuerpumpen zu Asche und Staub zerblasen. Die von diesen Dingern abhängigen Magieunfähigen werden zwar in heillose Unordnung und wildeste Angst verfallen, aber damit können und müssen wir leben", erwiderte der König.
"Dein Wort ist uns Befehl, mein König", gelobte Kriegsgroßmeister Schmetterhammer. Ihm stimmten alle anderen zu.
"Prüfen Sie nach, ob an der Grenze was passiert, Monsieur Bernaud!" lautete der Befehl von Belenus Chevallier an seinen Mitarbeiter Hugo Bernaud. Dieser war nun auf seinem Ganymed 12 unterwegs, um die französische Landesgrenze im Abschnitt Cóte Dazur abzufliegen
die Sonne war schon seit zwei Stunden untergegangen. Die Nautische Dämmerung neigte sich ihrem Ende. Immer mehr Sterne traten am Nachthimmel hervor und wiesen dem für schnelle Besenjagden ausgebildeten Außendienstzauberer der Strafverfolgungsabteilung den genauen Weg. Er flog in dreitausend Metern Höhe. So hatte er laut Besennutzungshandbuch noch an die eintausend Meter nach oben frei, bevor der Ganymed 12 seine Höhenobergrenze erreichte. Unter ihm streuten die Küstenstädte Marseille, Cannes und Nizza ihr Licht weit ins Land. Es spiegelte sich im wogenden Mittelmeer, das nun, wo es Nacht war, nicht tiefblau schimmerte, sondern im Licht von Mond und Sternen wie ein von kleinen, silbernen Spiegeln und grauen Schaumkronen geschmückter Teppich aussah. Mit dem Tempo, mit dem der Ganymed 12 fliegen konnte, vermochte Hugo Bernaud in einer halben Nacht von der italienischen bis zur spanischen Grenze zu kommen und bis zum nächsten Sonnenaufgang wieder in Marseille einzutreffen. Trotz ständiger Eingaben Chevailliers, dass auch seine Außentruppe den neusten Hochgeschwindigkeitsbesen des Typs Ganymed 15 erhalten sollte waren bisher nur zehn solcher Superflitzer an die Strafverfolgungsabteilung ausgeliefert worden.
Vor sich auf dem Besen führte Bernaud ein hufeisenförmiges Gestell, , in dem mehrere seltsam anmutende Gerätschaften befestigt waren. Im Augenblick verrieten diese mit ablesbaren Skalen oder anderen Anzeigevorrichtungen versehenen Instrumente nichts wirklich verdächtiges. Nur der einfache Magnetkompass mit drehbarer Windrose und der sich an den Magnetfeldlinien der Erde ausrichtende Geschwindigkeitsanzeiger ruckten bei jeder kleinsten Richtungs- oder Tempoänderung.
Bernaud dachte an das dunkle Jahr zurück. Er hatte damals zu den armen Trotteln gehört, die sich von Pétain unter den Imperius-Fluch hatten nehmen lassen. Daher wusste er zu gut was von ihm abhing, nicht weniger als die Freiheit aller französischen Hexen und Zauberer einschließlich seiner Familie.
Hugo Bernaud erschrak nicht mehr, als es in der linken Brusttasche seines Außeneinsatzumhanges vibrierte. Elfmal zitterte es. Das war seine Taschenuhr mit eingebauter Stundenanzeigefunktion. Da er die einer kleinen Turmuhr ähnelnde Stundenglocke nicht haben wollte stand die Uhr auf Vibrationsanzeige. Nur wenn er ihr eine bestimmte Weckzeit befahl würde sie sich zum anbefohlenen Zeitpunkt mit lautem Trompetensignal melden und mit der herrischen Stimme eines Ausbildungsleiters losbrüllen, er solle aufstehen. Deshalb hatte er den Wecker seit seiner Schulzeit in Beauxbatons nie wieder benutzt. So wusste er zumindest, wie spät es war. Elf Uhr, und alles war gut. Gerade überflog er den Hafen von Cannes und war froh, dass die da unten genug mit sich selbst beschäftigt waren statt in den Nachthimmel zu sehen.
Es begann mit einem hektischen Ticken. Dann kam noch ein erregtes Klicken hinzu. Bernaud sah gleich, dass das ganz links verbaute Incantimeter aus sich heraus tiefrot leuchtete und alle vier für Wirkungsbereiche stehenden Zeiger dorthin gesprungen waren, wo auf einer Uhr die Sechs war. Nur dass an der bezeichneten Stelle eine schwarze Totenkopfmarkierung stand, was für höchstgradig bösartige Zauber stand. Der neben dem tickenden Incantimeter verbaute Wirkungsraumanzeiger verriet, dass was immer gerade war die gesamte erfassbare Breite erfüllte. Sein erregtes Klicken verhieß, dass der fremde Zauber so stark war, dass er jederzeit den patrouillierenden Besenflieger erreichen mochte. Daneben war noch der Zauberquellenkompass zum magicomechanischen Leben erwacht. Da Bernaud laut Magnetkompass gerade genauen Westkurs steuerte zeigte die leuchtende Quellenrichtungsnadel nach links, also in Südrichtung. Doch sie zitterte dabei auf und ab, als rüttelte was auch immer von unten an ihr.
Bernaud prüfte noch die rechts verbauten Geräte. Der rechte Incantimeter tickte ebenfalls, und die vier Zeiger für Flächenwirkung, Illusionszauber, Fluch- oder Abwehrzauber und jener für Zauberkraftquellen pendelten sich gerade auf der Acht-Uhr-Stellung ein, wo eine schräg nach rechts unten weisende rote Flamme eingeprägt war, die für bedenklich bis ziemlich gefährlich stand. Das mochte jedoch nur daran liegen, dass die Wirkungszone eben weiter links zu finden war, verriet Bernaud aber auch, dass der bedenkliche bis tödlich gefährliche Zauber nicht sehr weit streute, also an sich sehr dicht war. Weil die Anzeige sich trotz des Weiterfluges nicht änderte, also die Wirkungszone mehr als einen Kilometer weit in Ost-West-Richtung verlief, musste Bernaud davon ausgehen, dass er genau das gefunden hatte, was sein Vorgesetzter befürchtete. Jemand hatte was immer an der Grenze zu Frankreich in Kraft gesetzt. Doch wenn dem wirklich so war, dann war das eine verdammt hohe Leistung, einen so viel Raum einnehmenden Zauber zu wirken. Normalerweise drängte jeder Flächenzauber danach, sich um das Wirkungszentrum zu winden und einen Kreis oder eine Kugelzone zu bilden. Nur wenn genau an vorbestimmten Ecken Fokus- und Ankerkörper gesetzt wurden konnte ein räumlicher Zauber auch eine drei-, vier- oder sechseckige Fläche nachzeichnen. Ein geradliniger Zauber war dagegen schon was für Großmeister oder benötigte eine Menge hochpotenter Ankerkörper.
"Hier Suchpatrouille Cóte Dazur!" rief Bernaud in die vor seiner Brust hängende kleine Silberdose. "Habe geradlinig verlaufenden, in allen vier incantimetrisch als bedenklich bis höchst Gefährlich angezeigten Streckenzauber erfasst. Fremder Zauber verläuft genau entlang der Küstenlinie. Erbitte weitere Anweisungen!"
"Hier Patrouillenleitstelle. Bernaud, das könnte dasselbe sein, was der Kollege Brochet gerade am Rhreinufer entdeckt hat. Mit eingesetztem Großschild anfliegen und bei drohendem Schildversagen unverzüglich umkehren!" hörte er die Stimme des diensthabenden Einsatzleiters. Bernaud bestätigte die Anweisungen und änderte den Kurs.
Kaum wies das vordere Besenende in Richtung Süden, und der Ablesestrich des Magnetkompasses wies auf 180, wurde das Eigenleben der Magieanzeigevorrichtungen hektischer. Jetzt rückten auch die Zeiger des Steuerbordincantimeters auf die Stellung mit dem schwarzen Totenkopf. Bernaud bremste den Besen fast vollständig ab, um sich gegen was da auch immer lauerte abzusichern. Hierzu baute er den ihn kugelförmig umschließenden Amniosphaera-Zauber auf, den er zusätzlich mit dem Zauber für einen großen, silbernen Schild verschmolz. Nun in einer silbrig-rosarott schimmernden Leuchtblase eingeschlossen flog der Mitarbeiter Chevalliers seinen Besen mit doppelter Schrittgeschwindigkeit weiter. Weil er selbst einen starken Abwehrzauber um sich errichtet hatte ruckten die Incantimeterzeiger für Fluch- und Abwehrzauber immer wieder in den Bereich Schutzzauber, um blitzartig wieder in den Bereich höchst bösartiger Bezauberung auszuschlagen. Je näher Bernaud der erfassten Zauberkraftquelle kam, desto mehr blieben die Zeiger im Bereich übler Zauberkrafterfassung.
Unter ihm rauschte die Meeresbrandung. Er verließ das Festland. Wie weit musste er fliegen, um die volle Wirkung des bösartigen Zaubers zu erfahren? Er flog über dem die Nachtgestirne spiegelndem Mittelmeer. Das Rauschen der Brandung wurde leiser und leiser. Dann fühlte Hugo Bernaud das sanfte Vibrieren, dass sich von seiner Schutzblase auf seinen Körper übertrug. Er hatte Kontakt mit der dunklen Mauer, wie er diesen Zauber für sich getauft hatte.
Er gehörte zu den Glücklichen, die per Losverfahren einen der zehn Ganymed 15 erhalten hatten, natürlich nur als Dienstbesen. Doch als ehemaliger Sucher genoss er es, den zur zeit besten Flugbesen Frankreichs, ach was, Europas, fliegen zu dürfen.
Laertis Brochet war seit einer Stunde an der französischen Ostgrenze entlanggeflogen, ohne verdächtige Zauberkraftquellen zu erfassen. Dann hatte sich genau in Richtung Rheinufer eine Wand aus starker, in allen vier Erfassungsbereichen dunkle Magie entfaltet, die er fast selbst körperlich spüren konnte. Es war wie ein kalter Wind. Außerdem spürte er ein erhöhtes Unbehagen, als würde ihm der Besen gleich unter dem Po zerbrechen und er müsse aus tausend Metern Höhe abstürzen. Natürlich hatte er die Entdeckung sofort gemeldet. Er erhielt den Auftrag, die Kraftquelle zu erforschen.
Mit aufgebautem großen Schild vor sich flog er auf den im Mondlicht silbern glänzenden Rhein zu. Das er in tausend Metern über Grund noch diese starke dunkle Kraft messen konnte war schon beunruhigend. Die für fremde Zauber eingestimmten Messvorrichtungen wurden immer hektischer. Dann glühte der silberne Schild vor ihm weißblau auf und summte wie eine dauerhaft angestrichene Kontrabasssaite. Er hatte Kontakt.
Auch wenn er mit Schrittgeschwindigkeit flog argwöhnte Laertis Brochet, dass er immer noch zu schnell sein mochte. Er meinte von allen Seiten ein leises, bedrohliches Flüstern und Knurren zu hören. Der große Schild wölbte sich über ihm, unter ihm und um ihn herum zu einer Halbkugel um ihn herum. Er meinte, verschwommene Bilder in der Innenfläche des nun völlig undurchsichtigen Abwehrzaubers zu erkennen, als sähe er sich in einem Hohlspiegel. Ein lautes, triumphierendes Lachen klang hinter ihm, das Lachen einer höchst überlegenen Frauenstimme. Er riss seinen Kopf herum und sah, dass der ihn umschließende Schild auch hinter seinem Rücken wirkte, allerdings nun nicht mehr so undurchdringlich. Kleine, tiefrote Risse zogen sich durch das weißblaue Leuchten, das nun auch wie eine vom Wind angeblasene Kerzenflamme flackerte. Das stetige Summen des Schildzaubers schwoll zu einem lauten Brummen an, dass immer wieder in Tonhöhe und Lautstärke wechselte. Der Schild wurde offenbar bis aufs äußerste mit böser Magie belastet. Brochet dankte der Beharrlichkeit Monsieur Chevalliers, dass jeder seiner Außentruppler regelmäßige Abwehrzauberübungen machte und dass er das Mitführen einer Goldblütenphiole befohlen hatte.
Brochet zog die ihm zugeteilte Schallverpflanzungsdose frei und rief hinein: "Habe Kontakt mit dunkler Barriere. Schild äußerst belastet. Incantimeter durch Magiekollision unlesbar." Dannhörte er seine eigenen Worte mit einer rauhen, unheilvollen Klangfarbe aus der Dose zurückfluten und fühlte, wie das Fernverständigungsartefakt in seinen Händen vibrierte und sich erhitzte. Er versuchte es noch einmal, was hineinzurufen. Doch als er meinte, seine Worte würden ihm mit einem Schwall unsichtbarem Drachenfeuers gegen Mund und Ohren geschleudert erzitterte er merklich. Außerdem wurden die tiefroten Risse immer breiter und zuckten über den ihn laut dröhnend umschließenden Schild wie Verschmelzungen aus Schlangen und Blitzen. Noch immer flog er mit Schrittgeschwindigkeit nach Osten. War er schon über dem Rhein? Er hörte den Strom vor lauter Dröhnen nicht. Der weißblau flackernde Schild mit den immer zahlreicheren und breiteren tiefroten Schlangenmusstern vereitelte auch die Sicht. Dass er flog spürte er nur am sanft zwischen seinen Beinen pulsierenden besen und weil seine Füße keinen Bodenkontakt hatten. Doch der neue Ganni reagierte noch empfindlicher auf Gedanken und Handverlagerungen seines Reiters als alle Besen davor. Daher begann der hochgelobte Superrennbesen zu schlingern und zu schwanken. Nur die Übung und der Sicherungszauber gegen Abwurf hielten Brochet auf dem Besen und so weit es ging in beherrschbarer Fluglage.
Wieder hörte er lautes Frauenlachen, von einer, dann noch einer. Eine Stimme erkannte er. Das war Brunhilde, die ihn nach seinem Schulabschluss auf ihren Besen gehoben hatte, obwohl ihm das nicht wirklich gefallen hatte. Doch er wollte nicht undankbar sein und hatte sich darauf eingelassen, sie daraufhin auch zu heiraten. Doch sogesehen hätte er damals schon wissen können, dass es ihm nicht guttun mochte.
"Laertis, komm zu deiner Herzenshexe, gib ihr dein Fleisch und Blut!" hörte er die Stimme, die nun wie von einer reinblütigen Riesin klang. Zugleich erzitterte seine Goldblütenhonigphiole, und der ihn umschließende Schildzauber flackerte zwischen weißblau und tiefrot und gab dabei ein höchst alarmierendes Knistern und Prasseln von sich. Er spürte Wellen von Angst, von denen er nicht wusste, ob sie von außen auf ihn einstürmten oder von innen aus ihm hervorbrachen. Er wusste nur, dass wenn er jetzt nicht umkehrte er gnadenloses Grauen erleben würde. Der Schild würde nicht mehr halten. Der Schild würde gleich zerspringen und dannn!!!
Es war ein schnelles, tiefes Wummern, was Hugo Bernaud hörte, als er nach zwei Kilometer Flug in die unmittelbare Zone des dunklen Zaubers eindrang. Seine Kombination aus Amniosphaera und großem Schild pulsierte im Rhythmus seines Herzens. Er spürte auch, wie seine Goldblütenhonigphiole im gleichen Takt pochte. Was immer da auf den verstärkten Abwehrzauber einwirkte versuchte durchzubrechen. Zu seinem Verdruss musste Hugo Bernaud erkennen, dass sein Abwehrzauber ihm die Sicht versperrte. Denn die bis zum Kontakt mit dem bösen Zauber durchsichtige Leuchtblase umschloss ihn nun als golden-blaue Kugelschale, die mit jedem weitergeflogenen Meter immer lauter wummerte, als befände er sich selbst im Inneren seines eigenen Herzens. Was immer hier wirkte belastete seinen Zauber ganzflächig. Er konnte wohl nur darauf hoffen, dass die Kugelform des Abwehrzaubers den magischen Druck aushielt. Doch was, wenn nicht? Der Amniosphaera-Zauber wechselwirkte mit seiner eigenen körperlichen und geistigen Ausdauer. Wieviel ihm davon abging war abhängig von den auf ihn einwirkenden Zaubern. Doch er merkte schon, dass es ihn anstrengte, als müsse er den Weg zu Fuß zurücklegen.
Er sah, wie sich die von ihm beschworene Schutzblase immer enger um ihn legte. Nicht mehr viel, und sie würde die Reisigenden des Schweifes und die vordere Besenspitze berühren. Auch fühlte er, dass sich seine Goldblütenhonigphiole erwärmte. Das wilde sirrenund Rasseln der vor ihm angebrachten Magiemessvorrichtungen schwoll zu einem unheilvollen Geräusch an. Die auf magische Kräfte ansprechenden Geräte mussten den höchsten Belastungen überhaupt ausgesetzt sein. Sowas kam nur vor, wenn mehr als zwanzig feindliche Zauberer versuchten, mit Brechungszaubern und Flüchen auf ihn einzuwirken. Doch er flog noch. Was immer hier wirkte hatte den Besen nicht aufgehalten. Oder lag es daran, dass sein Abwehrzauber noch wirkte? Immerhin war es kein Feindesfeuer, dachte Bernaud. Denn der Zauber hätte die Blase unverzüglich hellrot eingefärbt.
Das laute Pochen der ihn umschließenden Schutzblase wurde immer lauter. Die Leuchtkugel um ihn herum zog sich bei jedem Wummern zusammen und dehnte sich wieder aus. Jeden Meter, den er weiter in die von böser Kraft erfüllte Zone eindrang zog sich sein eigener Abwehrzauber immer enger zusammen. Doch noch hielt er.
"Incantimetrische Messungen wegen Sättigung aller Vorrichtungen unmöglich!" rief er in die Schallverpflanzungsdose. Kaum hatte er das gerufen dröhnte ihm seine eigene Stimme als mehrfaches, metallisch nachhallendes Echo um die Ohren. Seine Worte wurden dabei vervielfacht, als würden sie von irgendwas immer wieder verstärkt und gegen die nächste verstärkende Wand geworfen. Bernaud erkannte, dass er nur noch Sekunden hatte, einer die Ohren und wohl auch alle Hohlorgane seines Leibes zerreißenden Lautstärke zu entrinnen. Er warf den Besen herum und versuchte im Geschwindstart aus der Gefahrenzone zu entkommen.
Brochet raste los, um dem bösen Zauber zu entwischen, der ihm trotz noch wirkendem Schild mehr und mehr Angst machte. Sein Blitzstart war erfolgreich. Der Ganymed 15 raste mit ihm wie eine Rakete nach Westen. Der große Schild flirrte. Die roten Schlieren irrlichterten darauf entlang. Das Geräusch wurde zu einem Schwirren wie von hundert auf höchsten Tönen gespielten Geigen. Dann ploppte es, und vor ihm lag das Land westlich des Rheinufers. Er meinte noch einen kurzen Wutschrei von hinten zu hören. Doch dann war alles ruhig. Der superschnelle Besen schoss in wenigen Sekunden einen Kilometer weiter ins Landdesinnere. Die Magiemessgeräte beruhigten sich ebenso schlagartig wieder.
Brochet bremste den rasenden Flug seines Besens und flog eine enge Wendekurve. Dann nahm er wieder Kurs auf den breiten, silbern glitzernden Strom. Er ging davon aus, dass er die Barriere mit zusätzlichem Schutzzauber und mit ausreichender Geschwindigkeit durchbrechen und nach Deutschland einfliegen konnte. Auch fragte er sich, wie hoch die Barriere reichte. Der neue Ganni konnte gerade mal bis viertausend Meter nach oben und dann mit gerade noch 300 Stundenkilometern weiterfliegen. Auch dieser Besen hatte seine Höhengrenze, abgesehen davon, dass Brochet sich für Flüge in größeren Höhen mit einem Kopfblasenzauber versehen und dann auch gleichwarm bezauberte Kleidung tragen musste. Deshalb beschloss er zu landen.
"Ich hoffe, jetzt komme ich durch", sprach er in die Schallverpflanzungsdose und atmete auf, dass seine Worte diesmal nicht zu ihm zurückgespien wurden. Er machte Meldung, was er bisher erlebt hatte und was er vermutete. Er verschwieg nur, dass er die Stimme seiner Ehefrau gehört hatte und dass ihm das albtraumhafte Angstvorstellungen bereitete. Er erwähnte nur, dass er den Eindruck habe, dass wer immer den Zauber gewirkt hatte auf Angst und Verlust der Selbstbeherrschung setzte.
"Und jetzt wollen Sie mit dem Besen schnellstmöglich durchfliegen, Monsieur Brochet?" fragte sein Einsatzleiter. Brochet bejahte das. "Gut, Erlaubnis zum durchfliegen in einer Stunde erteilt. Sie und Ihre Phiole müssen sich erholen. Vielleicht wissen wir bis dahin, was Ihr Kollege Bernaud herausfinden konnte."
"Ach, Monsieur Bernaud hat auch sowas gefunden?" fragte Brochet. "Vermutlich. Aber Sie müssen unbedingt bestätigen, ob die Grenze noch passierbar ist. Sie sind von der Schnellen Einsatztruppe. Sie können schneller fliegen als Bernaud und Laroche." Brochet bestätigte das. Also würde er die eine Stunde abwarten, um wieder genug Kraft zu haben, um seinen großen Schild zu zaubern. Zudem wollte er noch den Aura-Calma-Zauber wirken, der ihn gegen Gefühlsbeeinflussungszauber abschirmte. Er hoffte, dass sein Besen so schnell durch die Wirkungszone des bösartigen Grenzzaubers drang, dass seine Schutzmaßnahmen standhielten.
Bernaud riss den Besen herum, wollte in die Gegenrichtung flüchten. Da ertönte ein lauter, blecherner Knall, gefolgt von einem wilden Prasseln und Knistern. Schlagartig war es um ihn dunkel. Dann meinte er, auf eine lodernde Feuerwand zuzurasen, nein, keine Feuerwand, ein Meer aus haushohen, gelborangen Flammen. Bernaud wollte den Besen nach oben reißen, um den gierigen Glutfontänen zu entrinnen. Doch wo war sein Besen? Sein Besen war weg! Als ihm das bewusst wurde fühlte er, wie er in die Tiefe stürzte, der lodernden, laut grollenden Feuersee entgegen. Er schrie laut und hörte sein Echo aus weiter Ferne. Doch es klang wie das Triumphgeschrei siegreicher Krieger.
Schon spürte er die ihm von unten entgegenschlagende Hitze, erst die unbarmherzige Strahlung, dann auch die von der Glut ausgeatmete sengende Luft. Ihm wurde klar, dass sein Schild zerstört war und er hier und jetzt verbrennen würde. Ja, er würde gleich in diesem Flammenmeer vergehen, und nichts als Asche und Rauch würde von ihm zurückbleiben. Sein Herz galoppierte mit wild stampfendem Pochen in seiner Brust. Sein Kopf dröhnte von jedem Pulsschlag. Die ihm entgegenwehende Gluthitze fraß sich bereits durch seine Kleidung in seine Haut, trocknete Nase und Rachen aus. Wieviele Sekunden hatte er noch?
André Bouvier saß umringt von sechs silbernen Dosen in der Einsatzüberwachung der Außentruppe der Strafverfolgungsabteilung des Zaubereiministeriums. Er war eigentlich froh, dass er wieder an seinem gewohnten Arbeitsplatz Dienst tun konnte, statt sich wie ein verängstigtes Kind bei Gewitter im Schutz von Millemerveilles zu verkriechen. Doch diese gewisse Freiheit hatte ihren Preis, erhöhte Wachsamkeit. Nun, damit kam er sehr gut zurecht. Doch die ganzen Außentruppler, die statt auf bestimmte Ziele loszugehen an der langen Landesgrenze Frankreichs entlangfliegen mussten mochten diese Wachsamkeit als zu langweilig empfinden.
Dieser und ähnliche Gedanken waren in dem Moment verflogen, als erst Brochet und dann auch Bernaud die Ortung starker, eher bösartiger Zauberkräfte meldete, die sich ununterbrochen die Grenze entlang entfaltet hatten. Natürlich hatte er sofort die kleine rotlackierte Schallverpflanzungsdose hervorgeholt und Monsieur Chevalliers Namen hineingerufen. Denn der Leiter der Strafverfolgungsabteilung hatte deutlich befohlen, dass er unverzüglich informiert werden wollte, wenn sich an den Landesgrenzen irgendwas verdächtiges regte. Am Ende planten die von dieser Mischblüterin Ladonna Montefiori unterworfenen einen Einfall, um Frankreich zu erobern. Da sie im Grunde von allen Seiten zugleich kommen konnten war es fraglich, ob das französische Zaubereiministerium einem solchen Angriff standhalten konnte.
""Was ist passiert? Und beten Sie zu meinem Namensgeber und alle anderen Großen, dass es wichtig ist", hörte André Bouvier seinen Vorgesetzten aus der roten Dose grummeln.
"Patrouillenflieger Brochet am Rheinufer und Patrouillenflieger Bernaud an der Mittelmeerküste vermelden mehr als einen Kilometer lange, mutmaßlich dem Grenzverlauf angepasste Entfaltung bösartiger Magie mit besonderer Höhenausdehnung und prüfen auf genaue Wirkung."
"Was? Erbitte vollständige Meldung!" klang es blechern und grummelig aus der roten Dose zurück. Bouvier kam der Anweisung nach. Dabei meldete sich Brochet, der von äußerster Belastung seines großen Schildes und aufkommenden Angstzuständen berichtete. Bouvier, der alle zwei Monate selbst im Außendienst mitfliegen durfte ließ sich vollständig berichten, was Brochet berichten wollte. Er merkte natürlich, dass der Kollege nicht alles verriet. Sollte er ihm befehlen, alles zu berichten? Nein, das war Sache des Schichtleiters oder des Abteilungsleiters persönlich. So wies er ihn an, erst mal eine Pause von einer Stunde einzulegen. Falls dieser höchst beunruhigende Grenzwall dann immer noch da war sollte er ihn mit Höchstgeschwindigkeit durchqueren.
"Geben Sie an alle Grenzstreifen aus, dass sie bei Erfassung dieses Zaubers nur die Ausdehnung erkunden sollen, bis wir wissen, womit wir es zu tun haben!" befahl Chevallier. "Ich bin in zehn Minuten selbst bei Ihnen", fügte er noch hinzu. Bouvier bestätigte die Anweisung und die Bekanntmachung und gab die Anweisung über die große silberne Sammeldose weiter. Tatsächlich meldeten alle, die die restlichen Grenzen absuchten, dass sie ebenfalls überstarke Zauberkrafteinwirkung maßen. Der Streifenflieger im französisch-spanischen Grenzgebiet hatte sogar eine kurze Berührung mit dem Zauber gehabt, weil er offenbar schon ein paar Meter auf spanisches Gebiet vorgedrungen war. Er erwähnte keuchend, dass er für drei Sekunden meinte, ohne Besen durch einen seiner schlimmsten Albträume zu treiben, bis der offenbar ohne sein Zutun weiterfliegende Besen ihn aus dem Einflussbereich des Barrierezaubers herausgetragen hatte. "Möchten Sie mir mitteilen, was für ein Albtraum das war oder ist, Kollege Dubois?" fragte Bouvier. "Öhm, nur in Anwesenheit der HVD und Monsieur Chevalliers", erwiderte Dubois' Stimme.
Bouvier dachte daran, dass die Desumbrateure in ihrer Ausbildung immer und immer mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert wurden und lernen mussten, diese zu ertragen oder mit geistigen Gegenmaßnahmen niederzuhalten. Das war der Grund, warum er nicht wie sein großer Bruder in die Elitetruppe zur Bekämpfung dunkler Hexen und Zauberer eintreten wollte. Denn wenn die wussten, dass sein schlimmster Albtraum der war, dass er in einem Saal mit mehr als hundert schreienden Säuglingen gefangen war und die alle als Nährmutter zu versorgen hatte wollte er sich nicht dem Spott der anderen Anwärter aussetzen. Zumindest konnte er einen Irrwicht, der als zwei Meter großes, zahnloses Riesenbaby vor ihm auftrat und ihn beim lauten Schreien besabbern und bepieseln wollte gut gegenhalten, indem er dem Irrwicht als rosarotes Schwein mit blau-gelb geringeltem Schnuller erscheinen ließ. Pauline Dubois, die große Schwester des Kollegen, der gerade mit ihm gesprochen hatte, wollte wissen, was ihn an schreienden Säuglingen so Angst machte. Professeur Faucon hatte sofort eingehakt und darauf verwiesen, dass niemand aus der Klasse vor anderen Klassen- oder Saalkameraden verraten musste, warum er oder sie vor bestimmten Dingen angst habe, solange eer oder sie sich dieser Angst bewusst sei und sie nach möglichkeit niederzuhalten lernte und auf Madame Rossignol verwiesen, die Angstüberwindungssitzungen anbot.
"Die haben die ganze Atlantikküste mit diesem Zauber zugesperrt. Sobald ich das Hoheitsgewässer verlasse stoße ich auf diesen Zauber", meldete der den Atlantik abfliegende Kollege.
"Öhm, Was ist mit den vorgelagerten Inseln?" wollte Bouvier wissen. "Dann müsste ich durch diesen Zauber durch, wo immer wer immer den im Atlantik aufgebaut hat", war die Antwort. "Prüfen Sie die größte Höhenausdehnung!" befahl Bouvier. "Öhm, dass der Zwölfer nur bis viertausend Meter über Meeresspiegelhöhe flugstabil ist wissen Sie, Kollege Bouvier?" kam die ungehalten klingende Frage zurück. "Ja, weiß ich. Testen Sie gütigst, ob unsere Widersacher das auch wissen oder sie in unter viertausend Metern Höhe noch über die Barriere hinwegkommen!" bekräftigte Bouvier seine Anweisung.
Bouvier wartete eine Minute. Dann fand er, dass er mal nachfragen sollte, was aus Bernaud geworden war.
Er rief in die auf diesen abgestimmte Fernsprechdose. Doch er erhielt keine Antwort. Er wiederholte seinen Ruf. Wieder keine Antwort.
Er fiel immer schneller in die Tiefe. Die unter ihm aufragenden Flammen reckten sich ihm gierig entgegen, als wüssten sie, dass ihnen gerade ein wehrloser Zauberer entgegenfiel. Bernaud wusste, dass es sinnlos war zu schreien. Das Flammenmeer scherte sich nicht um seine Angst. Sein schlimmster Albtraum, hilflos in einer unentrinnbaren Feuersbrunst eingeschlossen zu sein, erfüllte sich gerade. Er hoffte nur, dass es schnell vorbei sein würde, dass er sofort ohnmächtig wurde, um den grenzenlosen Schmerz nicht aushalten zu müssen, lebendig verbrannt zu werden. Er versuchte noch, wen anzumentiloquieren. Doch er wusste, dass er nicht mehr die Zeit hatte. Das Lodern und Dröhnen der lauernden Flammen wurde wilder und lauter. Er meinte schon, noch vor dem Auftreffen zu verbrennen, da blitzte es um ihn auf, und er fand sich wild zitternd und bebend auf seinem Flugbesen in erfrischend kalter Nachtluft. Statt des wilden Tosens hörte er in beiden Ohren nur ein lautes Pfeifen. Also hatte es eben wohl doch sein Gehör erwischt. Er stellte fest, dass er die Fernsprechdose verloren hatte. Die dünne Kette, an der sie gehangen hatte, war zerrissen. Er fühlte, wie etwas links und rechts über seine Wangen tropfte. War das Blut? Die Angst kam zurück. Doch es war nicht die, in einem unendlichen Flammenmeer zu verbrennen, sondern die, unrettbar ertaubt zu sein. Immerhin konnte er sehen, dass er gerade auf den von Brandungswellen überfluteten Strand zutrieb. Sein Besen hatte ihn da herausgeflogen und gemäß der Zusatzbezauberung den noch eingeschlagenen Kurs beibehalten. Der Bergezauber hatte ihn auf dem Besen gehalten.
Er musste was machen, irgendwie um Hilfe rufen. Doch was brachte ihm dass, wenn er die antwort nicht hören konnte? Da fiel ihm ein, dass er wie alle anderen Außentruppler den Notrufzauber konnte, der unter freiem Himmel ausgeführt jeden Heiler im Umkreis von 1100 Kilometern erreichen konnte. Doch dazu musste er erst einmal landen.
Er fand eine geeignete Stelle. Um das unter schmerzhaftem Pochen aus beiden Ohren tropfende Blut sollte sich gleich ein Heiler kümmern. Er hoffte nur, dass sein Gehör wiederhergestellt werden konnte. Denn zu gut wusste er, dass magisch herbeigeführte Verletzungen nicht mit einfachen Heilzaubern zu beheben waren.
Dass sein Gleichgewichtssinn was abbekommen haben musste merkte er, als er fast mit dem vorderen Besenende voran auf den harten Felsboden eingeschlagen wäre. Er schaffte es gerade so, eine halbwegs saubere Landung hinzulegen. Immerhin waren seine Goldblütenhonigphiole und sein Zauberstab noch am Körper. Er zog den Zauberstab und hielt ihn senkrecht nach oben. "Advoco Medicum!" rief er und hörte sich selbst nur wie aus der Ferne und durch eine dicke Wand aus Watte rufen. Doch als eine rotgoldene Lichtfontäne aus dem Stabende schoss, die sich weiter oben zu einer immer weiter ausgreifenden Spirale drehte wusste er, dass er den Notrufzauber sauber hinbekommen hatte. Er atmete auf, was er wegen des von wildem Pochen unterbrochenem Pfeifens in beiden Ohren nicht hörte.
Wie viele Sekunden vergangen waren wusste er nicht. ER hörte auch nicht, wo genau der andere appariert war. Erst als er die im Mondlicht silbergrau bis dunkelgrau widerscheinende Gestalt sah wusste er, dass sein Notruf empfangen worden war. Er sah, wie die dazugekommene Person die Lippen bewegte und konnte daran die Worte "Ich bin Heilerin" ablesen, aber nicht, wie sie hieß. Es war irgendwas mit einem O-Laut. Dann erkannte er sie im Mondlicht. Das war Clémentine Eauvive, eine der ebenfalls in die Heilzunft aufgenommenen Töchter von Zunftsprecherin Antoinette Eauvive. Sie rief nun der Körperhaltung nach was lautes. Er verstand gerade noch so: "Können Sie mich hören?" Er rief so laut er konnte zurück: "Sehr sehr undeutlich. Habe lautes Pfeifen in beiden Ohren, möglicherweise Verletzungen."
Da nickte die Heilerin und trat zu ihm. Mit schnellen Zauberstabgesten verstopfte sie ihm beide Ohren mit etwas, dass das unablässig tropfende Blut auffing. Dann führte sie einen Reinigungszauber über Kopf und Gesicht aus. Danach praktizierte sie aus ihrer Heilertasche einen hauchdünnen Metallkranz. Diesen setzte sie ihm wie eine Krone auf den Kopf. Sofort meinte er, ein leises Summen in seinem Kopf zu hören. Dann holte sie noch etwas wie einen kleinen rosaroten Trichter aus ihrer Tasche und hielt sich diesen vor den Mund. "Eins - zwei- Bitte nicken, wenn Sie mich verstehen!" meinte er nun eine mittelhohe Frauenstimme klar und deutlich über das Dauerpfeifen in seinen Ohren hinweg zu hören. Er nickte.
"Gut, ich nehme sie in die Notaufnahme mit. Mit Trage geht das leichter." Bernaud nickte wieder. Er wollte sie nicht anbrüllen, nur um sich selbst antworten zu hören.
So geschah es, dass er auf einer heraufbeschworenen Trage gebettet in die Notfallabteilung der Delourdesklinik appariert wurde. Dort konnten sie ihn anhand der mitgeführten Personalmarke an der innenseite seines Umhanges identifizieren. Danach erhielt er ein Cogisonhalsband, um seine Gedanken zu vertonen. Das ersparte ihm und der Heilerin, dass er sie anbrüllen musste. Sie erwähnte dann, dass sie ihren Kollegen Grandbois hinzuziehen würde, einen Fachzauberer für Sinnesorganschäden. Er schaffte es wohl, ihr ein "Einverstanden" zuzucogisonieren.
Wie angekündigt erschien ein weiterer Mitarbeiter der Delourdesklinik, ein Zauberer von an die siebzig Jahren. Dieser ließ sich von Clémentine Eauvive den kleinen Trichter geben, über den sie ihm ohne Umweg über die geschädigten Ohren was direkt ins Gehirn sprechen konnte. "Guten Abend, Monsieur Bernaud. Ich bin Heiler Grandbois, Fachheiler für Sinnesorganschäden", hörte er eine beruhigend tiefe Männerstimme direkt im Kopf. "Ich untersuche jetzt Ihre Ohren und werde ermitteln, ob und wie ich Sie behandeln kann. Doch eins muss ich vorher wissen: Haben Sie sich die Verletzung auf magische Weise zugezogen?"
"Durch magisch verstärkte Rückpraller ausgerufener Botschaft für Schallverpflanzungsdose", schaffte es Bernaud zu denken und fühlte am Hals, dass das Cogison wohl was wiedergab.
Nun folgte die angekündigte Untersuchung. Bei dieser kam auch heraus, dass er sich innere Verletzungen im Bauchraum zugezogen hatte. Immerhin konnte das Lärmtrauma in beiden Ohren durch einen Trank und zwei auf jedes Ohr gezielte Zauber innerhalb von fünf Minuten behoben werden und die Gehörgänge von allen ausgetretenen Flüssigkeiten gereinigt werden. Danach nahm Grandbois dem Patienten den Metallkranz vom Kopf und gab ihn Clémentine Eauvive zurück. Diese reinigte den Metallring und sagte für Bernaud, der froh war, wieder piepfreie Ohren zu haben: "Der Ring ist sozusagen das Gegenstück zum Cogisonhalsband, um an den Ohren verletzte Patienten ansprechen zu können." Dann sagte Heiler Grandbois: "Ihre Goldblütenphiole hat Sie vor wirklich schlimmen bewahrt. Bitte berichten Sie uns nun, was Sie erlebt und wie Sie sich die Verletzungen zugezogen haben, während die Kollegin Eauvive Ihre anderen Verletzungen untersucht und hoffentlich heilen wird!"
"Öhm, Nehmen Sie bitte Kontakt zum Heiler vom Dienst des Zaubereiministeriums auf und bitten Sie ihn herzukommen. Falls der mir die Freigabe erteilt zu berichten werde ich das tun", sagte Bernaud. Diesem Wunsch wurde entsprochen.
Bernaud berichtete in Anwesenheit des Ministeriumsheilers vom Dienst, was ihm alles widerfahren war und schilderte auch seine Albtraumvisionen. Denn dem Heiler vom Dienst war bekannt, dass Bernaud in seiner Jugendzeit eine starke Angst vor Feuer hatte und daher in den Feuer abwehrenden Zaubern überragend abgeschnitten hatte. Warum seine Meldung über Fernsprechdose zu einem beinahe tödlichen Lärm ausgeufert war konnten sich die Heiler nur damit erklären, dass die in magische Schwingungen verwandelten Schallwellen an der wegen des anderen Zaubers stark verdichteten Schutzbezauberung gespiegelt wurden und in einer Hohlkugel unabgeschwächt vervielfacht wurden. Die Goldblütenhonigphiole hatte ihn vor den magischen Nachschwingungen der verstärkten Schallwellen beschützt, sonst wären womöglich nicht nur seine Ohren, sondern auch sein Gehirn, seine Lungen und seine Verdauungsorgane zerstört worden. Außerdem mochte es sein Glück gewesen sein, dass die Schutzblase unter der zweiseitigen Belastung zersprungen war. Jedenfalls wurde die dringende Empfehlung ausgegeben, nicht mit aufgerufener Schutzsphäre im Wirkungsbereich eines starken dunklen Zaubers über die Schallverpflanzungsdosen zu kommunizieren. Diese Anweisung erreichte die anderen Grenzstreifenflieger noch rechtzeitig, bevor diese meinten, durch die neuen Barrieren zu brechen.
Laertis Brochet verzog das Gesicht, als er erfuhr, was dem Kollegen Bernaud zugestoßen war und warum auch ihm seine eigenen Worte aus der Dose um die Ohren geflogen waren. Doch nun, wo er es amtlich hatte, was in der dunklen Barriere vor sich gehen mochte hoffte er, mit den entsprechenden Schutzzaubern gegen geistige Beeinflussung und Illusionen gewappnet zu sein. Denn sein Auftrag blieb trotz Bernauds Verletzung bestehen. Er sollte den Durchbruch nach Deutschland versuchen.
Kurz vor dem Ablauf der verordneten Ruhepause trafen noch drei Kollegen ein. Diese sollten den Durchbruchversuch mit Nachtsichtferngläsern beobachten und im Notfall nachrücken und ihn zurückholen. Da er nun wusste, dass er nicht mit der Fernsprechdose hantieren durfte, solange er einen Rundumschild benutzte, wirkte er den Aura-Calma-Zauber gegen Gefühlsbeeinflussungen. Dann wirkte er noch einmal den großen Schild, um die anderen Einwirkungen abzuwehren. Als er sich so auf den zweiten Versuch vorbereitet hatte saß er auf seinem superschnellen Besen auf und startete. Er trieb den Ganymed 15 zur größten Eile an und jagte auf den Rhein zu. Es war jetzt erst einmal egal, ob er in dreitausend Metern oder nur dreihundert Metern Höhe flog. Es ging nur um die Geschwindigkeit.
Wieder glänzte ihm der breite Strom im Mondlicht silbern entgegen. Er hörte das leise Rauschen der sich an den Ufern brechenden Fluten. Jetzt galt es wieder.
Der silberne Schild vor ihm wurde heller und umschloss ihn mit lautem Schwirren. Seine Goldblütenhonigphiole erbebte und erhitzte sich. Er meinte wieder, verschwommene Gesichter zu erkennen. Dann meinte er, auf ein unsichtbares Hindernis zu prallen, dass ihn schlagartig abbremste. Er versuchte rückwärts zu fliegen. Doch er kam nicht mehr von der Stelle. Der Ganymed 15 und er steckten wie in einer wachsartigen Masse fest, die nicht zu sehen war. Warum er diesen Aufprall überstanden hatte wusste Laertis Brochet nicht. Doch was er wusste war, dass er voll in der gestellten Falle steckte und der Besen sich nicht mehr bewegen ließ. Um Hilfe zu rufen brachte nichts. Er fühlte auch, dass die ihn unter dem Schild beschützende Aura gegen Gefühlsbeeinflussungen flackerte. Erste neue Angstvorstellungen tasteten sich in seinen Kopf. Er dachte wieder an die zur Riesin mutierte Brunhilde und ihre Schwestern und Cousinen, die ihn alle für sich haben wollten. Er muste wieder zurück. Doch der Besen wollte nicht. Er wollte abspringen, im freien Fall disapparieren. Doch der Bergezauber des Ganymed hielt ihn fest und sicher auf dem Besenstiel. Er konnte nicht einmal genau sehen, wo oben, unten, rechts, links, vorne oder hinten war. Um ihn herum glühte weißblaues Licht, durchbrochen von tiefroten, sich wie Aschwinderinnen schlängelnden Linien, die immer breiter und zahlreicher wurden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Schild vollständig aufzehrten und ihn dann wohl durchlässig für alles machten, was darauf einwirkte. Das Unbehagen wuchs, und die schützende Aura glomm golden flimmernd um ihn, flackerte bei jedem zweiten Herzschlag. Er meinte wieder aus der Ferne Brunhildes Stimme zu hören, lachend, lockend und fordernd. Er meinte, weitere riesenhafte Frauen um sich herum rufen zu hören. Er wusste, dass das nur eine von außen einwirkende Halluzination war. Doch diese Halluzination nährte sich von seinen geheimsten Ängsten, von denen er keinem Kollegen erzählt hatte, auch aus Angst, deshalb verspottet und nicht mehr für vollwertig gehalten zu werden. Doch wenn der Schild und die Schutzaura erloschen war er dem ausgeliefert, was diese Barriere da mit ihm und jedem der sonst noch so leichtsinnig war hineinzufliegen anstellte. Er war sich jetzt sicher, dass jeder oder jede da reinsteuernde den ganz persönlichen schlimmsten Albtraum erleben würde. Bernaud hatte wohl Riesenangst vor Feuer. Seine Angst bezog sich auf die erst spät erkannte Furcht vor einer intimen Begegnung mit einer Frau. Eigentlich musste er diese Gedanken sofort aus dem Bewusstsein verdrängen, damit sie nicht wie Unkraut wucherten. Doch woran sollte und durfte er denken? Er kam doch nicht von hier weg. Er würde hier hängenbleiben, bis der dunkle Zauber seinen Geist restlos zerstört hatte. Das war ein unüberwindlicher magischer Grenzwall, den nicht mal ein mit höchstgeschwindigkeit fliegender Ganymed 15 durchbrechen konnte. Bernaud hatte noch einmal Glück gehabt, dass er seinen Besen noch zum Rückflug getrieben hatte. Vielleicht war er da noch nicht weit genug in die Wirkungszone eingedrungen um festzustecken. Er würde kein Glück haben. Denn so wie es aussah konnte ihm keiner hier heraushelfen.
Die tiefroten Schlieren wurden noch breiter, verschmolzen zu immer dickeren und längeren Schlangen. Gleich würde das immer wilder flackernde Weißblau vollständig verschwinden. Er hörte sie schon wieder lachen. Sein Aura-Calma-Zauber half gegen diese geballte Unheilsmagie auch nicht mehr. Er war erledigt.
Belenus Chevallier hörte, dass die drei Beobachter einhellig bestätigten, dass Brochet auf dem Weg über den Rhein in einer weißblauen Kugel eingeschlossen worden und abrupt im Flug gestoppt worden war. Offenbar konnte Brochet nicht mehr zurückfliegen.
"Zum Himmel stinkender Drachenmist!" stieß Chevallier aus. "Das ist der Wall der dunklen Winde. Ich hätte doch darauf kommen können, dass dieses italienische Flittchen den kennt, wo Sardonia den schon kannte. Ich habe mich von diesem Albtraumzauber davon abbringen lassen, die anderen Komponenten zu bedenken."
"Öhm, welcher Wall der dunklen Winde?" fragte Bouvier.
"Ach, öhm, tja ..." druckste Chevallier herum. Denn ihm fiel soeben ein, dass dieses Wissen zu jenem gehörte, dass er als ehemaliges Mitglied des Dorfrates von Millemerveilles und einer der in die Geheimnisse der Quellsteine eingeweihter nicht preisgeben durfte. Sein Gesicht nahm unverzüglich die Farbe eines gekochten Hummers an und er war glatt versucht, Bouviers Erinnerung an seinen unbeherrschten Ausruf zu überlagern. Doch am Ende brachte er damit nicht nur den Mitarbeiter Brochet, sondern viele andere in Gefahr, in dieser wahrlich verfluchten Falle zu verenden, wenn nicht körperlich, dann auf jeden Fall geistig. So sagte er schnell: "Für Erklärungen ist keine Zeit. Wir müssen Brochet zurückholen, bevor sein Schild zusammenbricht und die anderen dunklen Zauber seinen Körper und Geist zerstören. Dann griff er nach den geschlossenen Dosen auf dem Tisch und öffnete die für die drei Beobachter: "Hier Chevallier an Sie alle. Brochet steckt in schwarzmagischem Luftzauber fest, der sowohl von seiner eigenen Abwehr wie von dem aufgebauten Schwung seines Besens genährt wird. Er kann aus eigener Kraft nicht mehr da weg. Fliegen sie mit nur Aura-Calma-Zauber zu ihm hin und warten Sie auf Zusammenbruch seines Schildes! Dann unverzügliche Schockbezauberung und danach Zerstörung des Flugbesens ohne ihn selbst zu verletzen. Öhm, noch was, nicht schneller als ein milder Wind fliegen! Wer schneller ist als ein Sturm bleibt auch stecken. Wiederhole: Brochet mit Untersturmgeschwindigkeit anfliegen, auf Zusammenbruch seiner Abwehr warten, ihn schockbezaubern und Besen flugunfähig machen. Dann Brochet auffangen und mit Untersturmgeschwindigkeit zurückkehren! Erbitte Bestätigung!"
Die Bestätigung traf sogleich ein. Dann erfolgte die Meldung: "Brochets Schild ist soeben zusammengebrochen."
Er hatte es gewusst. Er hatte es die ganze Zeit gewusst, dass ihn das erwarten würde. Als der sein ganzes Universum ausmachende große Schild von den tiefroten Schlangenlinien restlos aufgezehrt worden war und mit einem kurzen heftigen Wummern zu Nichts verging meinte er, auf einem bebenden Stück Erde zu stehen. Sein Flugbesen ruckelte und flackerte wie eine von wildem Wind angepustete Flamme. Er sah sofort die gewaltigen Schatten, die ihn umringten, riesenhaft, mindestens fünf Meter hoch. Es waren fünf nebelhaft wabernde Gestalten, Unwetterwolken, die sich immer mehr verdichteten und immer festere Formen annahmen. Er wusste, dass nur die ihn gerade noch umfließende Aura gegen Gefühlsbeeinflussungen davor bewahrte, sie überdeutlich zu sehen. Aber er hörte sie schon mit ihren Füßen auf dem Boden daherschreiten, ihn von allen Seiten einkreisend. Er hörte Brunhilde, die sagte: "Heute Nacht wirst du ganz mein sein. Noch mal lasse ich dich nicht weglaufen. Und wenn du mir alles von dir gegeben hast kriegen dich Gudrun und Klothilde. Und wenn dann noch von dir genug übrig ist dürfen Senta und Simone dich haben."
Brochet wagte nicht, darauf zu antworten, weil er noch wusste, dass das alles nicht wirklich geschah. Die fünf liebestollen Weiber, die seine innere Abneigung zu riesenhaften Ungeheuern aufblies, waren nicht wirklich da. Er stand auch nicht auf bebendem Boden, sondern hing immer noch in der Luft. Ja, er meinte zwischen den Erschütterungen etwas silbernes glänzen zu sehen, den Rhein. Doch er fühlte, dass seine Goldblütenhonigphiole immer kälter wurde und dass seine schützende Aura gegen Gefühlsbeeinflussungszauber immer mehr nachließ. Er wusste, dass eine durch dunkle Magie gefrierende Phiole ihren Schutz verlor. Dann war er fällig. "Gleich bist du fällig", sagte Brunhilde, die er nach dem Abschluss in Beauxbatons nur deshalb geheiratet hatte, weil die ihn für einen starken Zauberer hielt, wenn er auch kein guter Sucher war.
"Wenn du ihn zuerst nimmst, große Schwester, bleibt aber für Klothilde und mich nichts mehr übrig", erhob eine der vier anderen noch als schattenhafte Riesenfrauen erkennbaren Widerspruch. "Ich werde ihn gut für euch aufheben, wenn er wirklich schon alles hergeben muss, was er mir zu bieten hat", tönte die wabernde Erscheinung seiner Frau. Er dachte an die eigene Hochzeitsnacht, wo er erkannt hatte, dass er offenbar eine tiefsitzende Angst vor intimer Begegnung hatte. Brunhilde hatte es damit gelöst, dass sie ihm die Augen verbunden und sich an ihm zu schaffen gemacht hatte, ohne dass er sie mit seinen Händen berühren oder direkt ansehen musste. Doch sie hatte gemeint, dass das kein Dauerzustand bleiben würde. Ja, das würde es wohl auch nicht, dachte Brochet und fühlte, wie von hinten eine der vier anderen auf ihn zukam. "Bleibst du von ihm weg, Senta. Erst ich, dann Gudrun, dann Klothilde", brüllte die Angstversion von Brunhilde.
"Nichts da, kleine Base. Ich bin die älteste von uns allen hier. Ich habe ihn zu nehmen, weil ich auch schon Erfahrung habe. Er wird mein sein, sein richtiges erstes Mal!" tönte die andere und hockte sich halb über Brochet. Er fühlte, dass er gleich aufschreien würde. Alle Eindrücke wurden immer deutlicher. Gleich musste er sie richtig erkennen und ... "Stupor!"
Die drei Kollegen Brochets wussten nicht, warum sie keinen großen Schild zaubern durften und warum sie nicht schneller als ein auffrischender Wind fliegen durften. Doch ihr Vorgesetzter hatte so entschlossen und vor allem gebieterisch geklungen, dass keiner der drei Zauberer es wagte, ihm zu widersprechen. Paul Fouquet, der die Truppe anführte, dachte nur mit Bedauern an den brandneuen Ganymed 15, den Brochet unter seinem bibbernden Hintern hatte. Aber falls es stimmte, dass der Besen in diesem dunklen Zauber feststeckte muste der zerstört werden.
"Achtung, Kollegen, es könnten gleich doch Albtraumbilder oder unheimliche Laute durchkommen, weil wir nur mit Gefühlsschutzaura fliegen!" rief Paul Fouquet. "Lasst euch bloß nicht einschüchtern, sonst packt euch diese Albtraumwand auch noch!"
Brochet hatte immerhin einen ganzen Kilometer über den unter ihnen fließenden Rhein geschafft. Mit gerade mal 50 Stundenkilometern brauchten sie echt etwas mehr als eine Minute. Als sie sahen, dass sein Schildzauber in einem tiefroten Flackern erlosch hätte Fouquet gerne beschleunigt. Doch wo war die Grenze, an der er auch hängenbleiben würde? Er hörte wildes Quieken in der Ferne und dachte sofort an Ratten. Er dachte an den Irrwicht in der ersten Stunde der dritten Klasse, der ihm als zwei Meter große, struppige Riesenratte entgegengefaucht hatte und er ihn nur damit hatte besiegen können, indem er den nackten langen Schwanz verknotete und der drohenden Rattenschnauze eine bunte Harlekinmaske aufgesetzt hatte. Also fand dieser verflixte Albtraumzauber auch schon seine innere Angst heraus. Doch er wollte nicht hinhören, sich nicht weiter darauf einlassen, was er hörte. Da vor ihm hing sein Kollege auf einem wie in der Luft eingemauerten Besen fest und begann immer heftiger zu keuchen und zu zittern. Er sah dessen golden flirrende Schutzaura. Der Aura-Calma-Zauber war eigentlich völlig unsichtbar. Also funktionierte der auch nicht so wie er sollte. Schnell warf Fouquet einen Blick zu seinen beiden Kollegen hinüber. Auch sie wurden von einer golden flirrenden Aura umgeben.
"Sobald wir in Reichweite für einen wirksamen Doppelschocker sind draufhalten!" rief Fouquet und zuckte mit dem Kopf zurück, weil er meinte, etwas großes, dunkles spränge ihn an und quiekte dabei angriffslustig. Das konnte dieses Biest und ihr Marionettentheater doch niemals an einem Tag vorbereitet haben. Wenn sie das hier überlebten würde er zu denen gehören, die fragten, wer da wann geschlafen hatte. Am Ende konnte er mit dem Finger auf sich selbst zeigen und sich die Schuld geben.
"Nein, nicht das!" rief Fouquets Kollege Souville. Fouquet sah ihn an und rief: "Was immer Sie da heimsucht, nicht hinhören, nicht hinsehen. Die können Ihnen nichts tun!" Fast hätte er seine eigenen Worte bereut, als er gleich fünf Schatten mit verdächtig langen Schweifen auf sich zuspringen und in dem Aufflackern seiner eigenen Schutzaura verglühen sah. Er spürte, dass seine Phiole immer kälter wurde. Fror der Goldblütenhonig ein wirkte er nicht mehr.
Gleich haben wir's!" stieß Fouquet aus und sah, wie Brochet sich vor oder unter irgendwas wegduckte. Noch hielt dessen goldene Schutzaura die Hauptwucht der bösen Bilder von ihm ab. Aber es waren ja nicht nur Bilder.
"Jetzt!" rief Fouquet und zielte mit dem Zauberstab nach vorne. Er sah zwei lange Schnauzen mit abstehenden Barthaaren, die sich öffneten und zwei schwertlange Nagezähne zeigten. Dann hatte er auch diese Schreckensvision überstanden und rief mit Souville zusammen: "Stupor!"
Brochet zuckte zusammen und erstarrte. Seine goldene Schutzaura erlosch. "Das hat die Phiole nicht mehr weggesteckt", meinte Souville, als er neben Fouquet schwebte. "Ja, offenbar nicht. Aber jetzt den Besen zerlegen, ohne den Kollegen zu verletzen", knurrte Fouquet und sortierte seine beiden Kollegen so, dass der eine vorne und der andere hinten ansetzen konnte. "Passt auf, wenn der Besen zerbricht entlädt sich seine Flugbezauberung. Also mindestens zehn Längen abstand halten."
Mit einem genau abgestimmten "Difindo Lignum!" zauberten Fouquets Kollegen auf den Besen ein. Da sie dabei klar und deutlich auf dessen Holz abzielten hofften sie, Brochet nichts anzutun.
Mit zwei gleißenden blauen Blitzen brach der vordere Teil und das Hinterende mit dem Schweif in Stücke. Weitere blaue und silberne Blitze schlugen aus den nun drei Teilen. Doch sie schlugen nur nach oben und unten, nicht in Richtung Brochet oder seinen Kollegen. Zumindest begann Brochet nun in die Tiefe zu fallen. Fouquet tauchte ihm sofort hinterher, darauf bedacht, nicht zu schnell zu werden. Er bekam ihn mit einem Fangzauber gestoppt und fädelte sein vorderes Besenende zwischen Brochets schlingernden Beinen durch. Jetzt hatte er ihn in einer Soziushaltung, wo er von hinten steuern konnte. Da sah er sie auf Brochets Schultern sitzen, zwei dicke, fette, struppige Kellerratten, die ihn mit ihren glänzenden Knopfaugen böse anglotzten. Er wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Sie mussten umdrehen und weg hier, nicht zu schnell aber auf jeden Fall schnell genug.
Fouquet machte eine Wende und flog mit geschlossenen Augen los. Ja, das klappte. Er sah und hörte die Ratten nicht. Noch war sein Kopf frei genug, um diese schrecklichen Bilder aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Er durfte nur nicht zu schnell fliegen. Er hörte, wie die drei Stücke des Besens und die Messgerätschaften Brochets weiter unten ins Wasser plumpsten. Da fiel ihm ein, dass Chevallier nichts über die Messgerätschaften gesagt hatte. Wenn die wer fand und ... "Quiiieek!!" Das schrille Geräusch war genau von links gekommen. Einen Moment meinte er, den kleinen, widerlichen Körper auf seiner Schulter zu fühlen und argwöhnte gleich ins Ohr gebissen zu werden. Doch dann fegte er diese Angstvorstellung wieder aus seinem Gehirn. Noch flog er. Hier oben kamen keine Ratten hin, die ihm was antun konnten. Er hörte kurze Entsetzensschreie seiner Kollegen. Auch die hatten mit ihren persönlichen Dämonen zu tun. Hoffentlich konnten sie die auch noch fernhalten. Er konzentrierte sich nur auf den Weg zurück. Souville flog an ihm vorbei. "Nicht zu schnell, Souville, sonst bleiben Sie auch noch hängen!" rief Fouquetlaut und erschrak, weil sein Rufen ein vielfaches Echo um ihn herum erzeugte, das erst nach vier Sekunden in der Ferne verklang. Was zu allen grünfratzigen Sabberhexen, von denen eine dieses Unweib Ladonna oder wenigstens ihre Mutter ausgebrütet hatte, war das für ein verrückter Zauber?
In dem Moment, wo seine Phiole gefror und seine goldene Aura erlosch wusste er, dass sie kommen mussten. Ja, und er meinte, in jenem uralten Tunnel zu stehen, in den ihn seine achso tollen Freunde Jean und Frederic hineingeschickt hatten, um einen silbernen Schlüssel für die große rote Schatzkiste zu holen. Die hätten dem von der Kolonie Kellerratten erzählen sollen. Die waren auf ihn losgegangen und ... er hörte sie schon, nicht nur von vorne, sondern auch von hinten und von oben. Sie versperrten ihm schon den Rückweg. Er sah die vielen im Licht seiner Laterne glimmenden Augen. Gleich waren sie bei ihm und ....
Sternenklarer Himmel, beherrscht vom wandelhaften Nachtbegleiter, erstreckte sich über ihm und ergoss ein wohltuendes, beruhigendes Silberlicht über ihn und die beiden Kollegen, die eben noch so aussahen, als müssten sie gleich gegen den größten Schrecken überhaupt ankämpfen oder ihm davonlaufen. Die braven Besen hatten sie auch im Zustand der Geistesbeeinflussung weitergetragen und aus der Albtraumzone herausgebracht. "Los, übers Ufer und weg hier!" rief Fouquet und nahm sehr beruhigt zur Kenntnis, dass er diesmal nur ein einziges Echo erzeugte, was von den Uferböschungen des Oberrheins zu ihnen hinaufwehte.
"Mission erfolgreich beendet. Verluste, alle vier Goldblütenhonigphiolen, ein Ganymed 15 und ein Besengesteck Standardgerätschaft zur Überprüfung magischer Kraftquellen", hörten Chevallier und sein Mitarbeiter Bouvier Fouquets Meldung. ""Au Mist, die Ausrüstung!" knurrte Chevallier. Das war schon der zweite Patzer, den er sich innerhalb einer Stunde geleistet hatte. Beim dritten sollte er vielleicht doch seine Nachfolge klären. Doch dann entspannte er sich. "Wo ist das Zeug runtergekommen?" fragte er. "Da wo nach dem Volksglauben der Magielosen auch der Schatz der Nibelungen ist", erwiderte Fouquet.
"Auch das noch. Ich hasse Richard Wagnerrrr!" knurrte Chevallier. "Stimmt, wir hätten zwei unserer Walküren mitnehmen sollen, wo wir schon mal am Rhein waren", erwiderte Fouquet. "Wohl vom wilden Wichtel gebissen worden, wie, Monsieur Fouquet?" blaffte Belenus Chevallier. Darauf erfolgte diesmal keine Antwort. Offenbar hatte Chevallier bei dem frechen Mitarbeiter einen schmerzhaften Punkt getroffen.
Als Brochet wie Bernaud in der Delourdesklinik lag ersuchte Antoinette Eauvive, die wegen der Vorkommnisse aus ihrem stolzen Schloss im Loiretal herübergekommen war den Leiter der Strafverfolgungsabteilung, in ihr Büro zu kommen. "So, da wir zwei wohl keine ruhige Nacht mehr haben werden können wir gerne darüber sprechen, was genau die Landesgrenze für Besenflieger versperrt und nicht nur unsere Landesgrenzen, Monsieur Chevallier", sagte die Sprecherin der Heilerzunft. "Darüber darf Ihnen die Ministerin Auskunft erteilen, wenn ich mit ihr gesprochen haben werde", erwiderte Chevallier. Mit Heilerinnen war er noch nie gut ausgekommen. Seiner Mutter nach hatte er die, die ihm auf die Welt geholfen hatte schon mit einem Faustschlag in den Bauch begrüßt. Gut, im in Hexenbäuche Boxen hatte er da ja richtig gut Übung gehabt.
"Die Ministerin darf mir Auskunft erteilen. Sie sollen mir Auskunft erteilen, da ich hier zwei Ihrer sehr gut ausgebildeten Mitarbeiter habe, von denen einer fast einen Herzstillstand wegen zwei gleichzeitiger Schockzauber erlitten hat und der andere bis übermorgen hierbleiben muss, damit er alle erlittenen Verletzungen rückstandslos auskurieren kann. Also, was ist da passiert und wieso haben unsere Außenschutztruppen davon überhaupt nichts mitbekommen, Monsieur Chevallier?"
"Bis zu welcher Geheimhaltungsstufe sind Sie freigegeben?" fragte Belenus Chevallier die Heilerin. "Jetzt ist aber gut! Sie wissen genau, dass alle Approbierten Angehörigen der Heilerzunft bis zur ministeriellen Stufe s0 freigegeben sind, sofern sie mit Vorfällen zu tun bekommen, die auf dieser Geheimstufe einzuordnen sind. Das gilt auch und vor allem für die Bediensteten dieses Krankenhauses und für mich, ihre Chefheilerin und zugleich auch Zunftsprecherin. Also jetzt zum dritten mal, was bitte ist an den Landesgrenzen passiert? Nicht dass S0 morgen schon nichts mehr taugt, weil hundert arglose Besenflieger beim Verlassen unseres Landes in dieser Albtraumfalle stecken bleiben."
"Ich wollte nur sicherstellen, dass die rechtlichen Grundlagen ..." setzte Chevallier an und sah das sehr, sehr bedrohliche Funkeln in den Augen der Chefheilerin von ganz Frankreich. Dann packte er aus, was er argwöhnte, nämlich dass Ladonna sowohl jenen Albtraumzauber benutzte, mit dem auch die Keller der sogenannten Friedenslager gespickt gewesen waren, als auch einen von Sardonia in abgeschwächter Form in die berühmt-berüchtigte Kuppel über Millemerveilles eingewobenen Zauber namens Wall der dunklen Winde eingesetzt hatte. Antoinette wollte natürlich wissen, was für ein Zauber das war und wie man ihn errichten oder aufheben konnte, da sie ja wusste, dass Belenus Chevallier zu den Eingeweihten gehörte, die sich mit Sardonias dunklen Schutzzaubern vertraut machen durften. Er grummelte nur, dass Hera Matine ja auch zu denen gehörte und es somit auch gleich alles im Heilerherold hätte veröffentlicht werden können. Darauf reagierte Antoinette höchst unerwartet. Eine schnelle Handbewegung, ein lautes Klatschen und ein ziemlich gut vertrautes Brennen auf seiner rechten Wange. "Wagen Sie das niemals wieder in meiner Gegenwart zu behaupten, Belenus Chevallier. Auch bedenken Sie tunlichst, wer Ihrer Frau bei der Geburt ihrer drei jüngsten Kinder geholfen hat."
"Béatrice Latierre", stieß Belenus Chevallier aus. Antoinette Eauvive verzog ihr Gesicht und kniff sich selbst in die Nase. "Gut, abgesehen davon ist und bleibt es eine bodenlose Unverschämtheit, mir als Heilerin und jeder anderen Heilerin in diesem Land zu unterstellen, dunkle Zauber im nicht nur für Heiler zugänglichen Heilerherold zu besprechen und damit mögliche Nachahmer oder Leichtsinnige zum Ausprobieren zu verleiten. Auch die gerade bestehende Ausnahmelage rechtfertigt keine solche Behauptung, zumal ich auch sehr genau weiß, was meine in Millemerveilles niedergelassene Kollegin getan hat, um das dunkle Erbe Sardonias zu beseitigen, weshalb Sie eine gesunde Familie vorfanden, als Sie endlich wieder in Ihr Haus zurückkehren konnten, nur damit wir beide uns ganz klar verstehen, Monsieur Chevallier. Abgesehen davon wird jeder Zwist zwischen uns beiden und anderen hier Ladonnas Triumph nur steigern. Deshalb jetzt bitte noch Ihre Einschätzung, wie dieser hochpotente Zauber über mehr als tausend Kilometer weit ausgedehnt werden kann. Was muss dafür angestellt werden und wieviel Zeit ist dafür nötig?" Belenus Chevallier erwähnte was, dass er bisher nicht geglaubt hatte, eine ganze Landesgrenze auf diese Weise undurchlässig zu machen und dass Ladonna es ja dann auch den Nichtmagiern verwehren würde, aus Frankreich auszureisen.
"Nicht wenn der Zauber spezifisch auf Träger magischer Kräfte wirkt oder eben nur auf die Anwesenheit magischer Gegenstände anspricht. Dann kann sie das Zaubereigeheimnis weiterhüten, solange sie es für geboten hält. Wir beide wissen ja, dass sie erst die globale Zauberergemeinschaft unterwerfen will und dann den Nichtmagiern ihre Bedingungen zu stellen. Solange sie noch zu viele von uns gegen sich hat riskiert sie keinen offenen Zaubererweltkrieg um die Vorherrschaft über die Nichtmagier." Belenus Chevallier wollte dazu erst einmal nichts mehr sagen. Er überlegte selbst, wie Ladonnas Gefolgschaft es angestellt hatte, mal eben die Landesgrenzen abzuriegeln. Dann fiel ihm was ein. "Öhm, ich muss die Ministerin informieren und dann auch den Flohregulierungsrat fragen, ob die Grenzstation noch intakt ist. Nachher will noch wer nach Deutschland, Belgien oder gar Italien flohpulvern und bleibt mittendrin hängen. Ich hoffe, Sie wissen die Zeit zu schätzen, die ich mit Ihnen verbringen durfte, Madame Eauvive."
"Oh, offenbar gelüstet Sie nach weiteren Ohrfeigen", knurrte die Chefheilerin. "Aber ich erkenne an, dass Sie es jetzt überprüfen sollten."
Belenus Chevallier gab der Heilerin noch seine besten Genesungswünsche für Brochet und Bernaud mit. Dann verließ er die Delourdesklinik via Flohpulver. Das ging auf jeden Fall noch.
Eine halbe Stunde später hatte er auch die Zaubereiministerin über alles informiert, was er miterlebt hatte und was ihm dazu eingefallen war. "Das ist wie mit dem großen Feuer bei Catania, dass sie wohl entfacht hat um jemanden dort umzubringen", sagte die Ministerin. "Sie kann starke Zauber auf kleine Materieeinheiten verteilen. Ich pflichte Ihrer Einschätzung bei, dass sowas nicht mal eben an einem Tag beschlossen und vollstreckt werden kann. Diesen Plan dürfte sie seit Monaten vorbereitet haben, weil sie genau weiß, dass sie an uns nicht herankommt, solange die Damen Grandchapeau und ich das Ministerium absichern und wir mit den Veelas ein so gutes Verhältnis haben. Geben Sie unverzüglich eine Warnmeldung an die beiden Zeitungen heraus und erwähnen sie, dass ich um neun Uhr eine Pressekonferenz geben werde. Ich werde unsere Pressereferentin noch in dieser Nacht entsprechend vorbereiten", sagte die Ministerin. Wir verfahren nach einem ähnlichen Aktionsplan wie bei der dunklen Welle oder nach der Goldebbe. Vielleicht finden wir auch heraus, wie wir diese Abriegelung umgehen oder wieder aufheben können."
"Ich teile Ihre Zuversicht, Ministerin Ventvit", sagte Belenus Chevallier.
Es dauerte nur eine Viertelstunde, da stand fest, dass wahrhaftig alle mit der Grenzstation Frankreich verknüpften Flohnetzknoten in Europa abgekoppelt worden waren. Aus Frankreich konnten sie gerade noch nach Großbritannien, Griechenland und die Schweiz. Der Miroir Magique und die Temps de Liberté wurden zeitgleich über die neue Situation informiert, auch wenn dort zu dieser nächtlichen Stunde keiner war, der oder die die neue Unheilsmeldung entgegennehmen konnte.
Kappt eure Verbindung zu den Verweigerern!" lautete der Befehl der Königin. Die ihr dienenden Flohregulierungswächter gehorchten. Ab Mitternacht zum zweiten Juni wurden sämtliche nicht der Rosenkönigin unterworfenen Regionalflohnetze von den Grenzstationen der sogenannten Koalition der Vernunft und friedlichen Zusammenlebens abgetrennt, ohne die betreffenden Flohregulierungsbehörden vorzuwarnen. Dies war der erste von mehreren Schritten, mit denen die mächtige Königin die ihr widerstrebenden Ministerien doch noch auf die Knie zwingen und zur Unterwerfung zwingen wollte.
Der zweite drastische Schritt war die Einschließung der abtrünnigen Länder mit einem Wall, wie ihn die Erbauer der sogenannten Friedenslager verwendeten, um ihre Gefangenen zurückzuhalten und bei Fluchtversuchen derartig zu ängstigen, dass sie jeden weiteren Fluchtgedanken aufgaben. Hier spielte auch hinein, dass die Rosenkönigin seit der Machtübernahme in Italien die dunklen Archive des Zaubereiministeriums erforschen konnte und selbst ja schon einige Gemeinheiten erlernt hatte. So wuchs in derselben Nacht, in der die Flohnetzverbindungen gekappt wurden, um Frankreich, Griechenland und von heimlich unter Wasser um die britischen Inseln ausgesetzten Bojen ausgehend der Wall der abgrundtiefen Angst empor, der jeden Träger magischen Blutes in einen Strudel unerträglicher, albtraumhafter Halluzinationen stürzte, in denen schwächere Geister dem Wahnsinn verfallen und geschwächte Körper wegen Überlastung zusammenbrechen und sterben konnten. So konnten die Bewohner dieser Länder nur noch über die Grenze apparieren. Doch wer dies tat drohte als feindlicher Spion ertappt und auf unbestimmte Zeit fortgesperrt oder gar getötet zu werden. Wenn die Sonne aufging würde der heimlich hochgezogene Albtraumwall genug Dunkelheit und Sternenlicht in sich eingesammelt haben, um auch bei Tag alle zurückzutreiben oder um Verstand oder Leben zu bringen, die es wagten ihr ummauertes Land auf Besen oder Flugtieren zu verlassen.
Ebenso hatte die Rosenkönigin nach der Befreiung der Schweiz den Ausnahmeplan "Eckturm" in Kraft gesetzt, demnach jedes Zaubereiministerium sich in vier räumlich weit voneinander entfernten Gebäuden aufteilte. Jeder Teil sollte dann so weiterarbeiten, als wenn er noch dem ganzen Ministerium unterstand. Jeder Teil wurde von eigenen Abteilungsleitern betreut, die im Ernstfall auch als Barbaneras Nachfolger einspringen konnten. Dieses Konzept setzte sie nun auch in allen noch loyalen Ministerien um. Hier galt, je größer das Personal war, um so mehr eigenständig handlungsfähige Teile konnten entstehen. So war es in Russland sogar möglich, sechs redundante Verwaltungsabteilungen zu bilden. Sie alle konnten durch magische Schallverpflanzung miteinander in Verbindung stehen. Natürlich mussten die Bürger, die noch nichts von der Machtübernahme Ladonnas wussten weiterhin davon ausgehen, dass das ministerielle Hauptgebäude das einzig wichtige war. Um dort keine Veelastämmigen oder mit Veelazaubern geschützten hineinzulassen hatte sie gleich nach der Sicherung von Arcadis Leuten Scheiben mit dem Zauber des gläsernen Sonnenlichts angebracht, die mit dem Zauber von anderen Veelastämmigen außer ihr wechselwirkten. Doch sie wusste, dass diese Maßnahme nicht gegen das goldene Licht half, dass selbst ihr so zusetzen konnte. Daher war es ja so ungemein wichtig, dass jene, die es nutzen konnten, entweder nicht aus ihrem eigenen Land herauskamen oder demnächst von der Erdoberfläche verschwanden.
Seit dem 18. Mai 2006 galt ihr generelles Jagd- und Einkerkerungsgebot gegen Veelas und ihre Blutsverwandten. Doch seitdem die Schweiz ihrem Zugriff entzogen worden war wollte sie keine Schonung mehr üben. Sie befahl direkt in die Köpfe der zuständigen Minister, alle in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Veelas und Veelastämmigen zu jagen und zu töten. Sie wusste um die Blutrache der Veelas. Sollte dieses uralte Gebot noch gelten, so würden sich diese überschönen, auf ihre Abstammung von Mokusha stolzen Geschöpfe ins lodernde Drachenfeuer werfen.
Es war sechs Uhr Morgens. Der Trompetenzwerg trötete seinen Morgengruß zeitgleich mit dem Muhen der Miniaturausgabe von Temmie. Jetzt waren ausnahmslos alle wach im Apfelhaus.
Julius Latierre sah wieder einmal mehr, wie anstrengend es war, sechs Kinder gleichzeitig auf den neuen Tag vorzubereiten. Zwar gab sich Aurore als großes Mädchen, das schon vieles alleine konnte, auch sich waschen und anziehen. Doch dafür kehrten Chrysope und Clarimonde nun ihr Fürsorgebedürfnis heraus, wohl weil sie voll zwischen dem Eifer ihrer großen Schwester und den noch größeren Bedürfnissen der drei Kleinen hingen und nicht vernachlässigt werden wollten.
Kurz vor dem Frühstück teilte Millie ihm und Béatrice mit, dass das Zaubereiministerium in der Nacht eine Eilmeldung ausgeworfen hatte, dass die Landesgrenzen durch einen mächtigen, schwarzmagischen Wall versperrt worden waren. Es wurde jedoch nur erwähnt, dass Besenflieger diesen Wall nicht schneller als ein starker Sturmwind blies durchfliegen könnten und dass die ihn durchquerenden unter ihren persönlichen schlimmsten Albträumen zu leiden hätten. Das Ministerium würde noch in der Nacht entsprechende Warnhinweise an den üblichen Übergängen anbringen.
"Oha, die Ministerin will mit allen für sowas zuständigen Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern eine Pressekonferenz geben, steht hier. Dann Müssen wir die drei größeren vorher zum Kinderhort bringen", sagte Millie. Julius, der gerade die Mitteilung las überlegte, wie Ladonna und ihre Unterworfenen das angestellt hatten und warum man nicht mit einem schnellen Besen durch diesen Schutzwall brechen konnte. Vor allem dachte er an die nichtmagischen Leute, die die Landesgrenze überqueren wollten. Würden sie auch in diesen Albtraumwall hineingeraten? Falls ja war es mit der Geheimhaltung der Zauberei aus und vorbei, und vor allem würden jene, die in dieser tückischen Sperre hängenblieben vermisst werden. Ihre Angehörigen würden die Regierung aufscheuchen, etwas zu unternehmen. Die Krawalle vom November 2005 waren immer noch nicht ganz überwunden. Immer noch gab es viele Menschen, die sich wegen ihrer Herkunft abgehängt fühlten und jederzeit zu neuen Gewalttaten bereit waren. Denen standen jene gegenüber, die alle nichteuropäischen Leute aus Frankreich heraushaben wollten und die Krawalle vom letzten Spätherbst als die Bestätigung ihrer intoleranten Haltung betrachteten.
"Ich gehe am Besten erst in unser Rechenzentrum und lese mich schlau, ob es wegen dieses dunklen Walls schon Probleme mit nichtmagischen Reisenden gab", sagte Julius leise, bevor sie in die Wohnküche gingen, wo Aurore gerade mit Béatrice die anderen Kinder auf ihre Plätze gelotst hatte.
Sie ließen sich vor den Kindern nichts anmerken. Die Morgenzeitungen enthielten noch keine Meldung über die heimlichen Grenzabsperrungen, die nicht nur die Festlandsgrenzen betraf, sondern auch die Küstenbereiche abriegelten. Also hatte der Miroir Magique auch noch nicht reagiert. Doch die würden garantiert ein Extrablatt herausbringen. Insofern hielt sich Millie sehr kurz angebunden, was den Kindern natürlich auffiel. Deshalb erwähnte sie, dass sie eine Einladung von der Ministerin bekommen habe, zu ganz neuen Sachen zwischen Frankreich und den anderen Ländern zu sprechen und dass sie deshalb gleich noch in die Druckerei müsse, um eine Ankündigung auf die Reise zu schicken, damit die Leser der Temps wussten, dass da heute noch was wichtiges sein würde.
Für Aurore, die schon mit einem Bein in der Grundschule stand war der Kinderhort etwas, was nur noch irgendwie die Zeit vertrieb, wo ihre Eltern nicht zu Hause waren und Tante Béatrice der Heilerin Hera Matine half und deshalb auch nicht den ganzen Tag zu Hause sein konnte.
Brittany rief wie üblich um halb acht über das Armband an, um das alltägliche Begrüßungsritual einzuhalten. Die kleine Brooke sah nun nicht mehr so zerknautscht aus wie unmittelbar nach ihrer Geburt. Brittany wirkte so, als müsse sie was wichtiges erzählen, dürfe das aber nicht wegen der Kinder. So mochte sie auch mitbekommen, dass Julius und Millie was auf der Seele hatten, was sie wegen der Kinder nicht erzählen durften. So war es nicht verwunderlich, dass Brittany sich mit den Worten: "Bis bald", verabschiedete, statt "bis zum nächsten Mal" zu sagen.
Millie und Julius brachten Aurore, Chrysope und Clarimonde zum Kinderhort. Julius meldete sich und seine Frau bei Béatrice ab, weil sie gleich zusammen ins Zaubereiministeriumsfoyer apparieren wollten.
Während Julius unverzüglich nach der Ankunft im Ministerium ins Rechenzentrum hinübereilte und fragte, ob irgendwelche Nachrichten über Zwischenfälle an den Landesgrenzen im Internet kursierten bereitete sich Millie auf die um neun angesetzte Pressekonferenz vor.
"Was soll denn da an der Grenze passiert sein?" fragte Jacqueline Richelieu ihren Vorgesetzten. Julius erwähnte, was das Ministerium der Presse mitgeteilt hatte. "Im Netz gibt es nichts von Leuten, die wegen irgendwas durch den Wind sind, nachdem sie die Grenze überqueren wollten. Auch die Geheimkeller der Regierung, die deine Mutter für uns einsehbar gemacht hat verraten darüber nichts", sagte Jacqueline.
Zunächst holte sich Julius E-Mails. Pina schrieb, ob es in der Nacht auch zu Problemen an der Grenze gekommen sei, weil seit Mitternacht keine üblichen Reisemöglichkeiten mehr aus ihrer Heimat funktionierten. Er schrieb zurück, dass es deshalb gleich eine Pressekonferenz gebe, weil sie auch Schwierigkeiten bei der Ein- und Ausreise auf üblichen Wegen hatten.
Danach ließ er sich Ausdrucke aller Nachrichten anfertigen, die sich um die Landesgrenzen drehten, Flugbewegungen, Verkehrsmeldungen an den Festlandsgrenzen. Er sortierte die wichtigsten Meldungen aus, die sagten, dass in dieser Nacht nichts geschehen war, das von irgendeiner Stelle hätte kommentiert werden müssen. Dann war es kurz vor neun.
Julius ging in sein Büro zurück, wo er ein Memo fand, sich um neun Uhr im Presseraum des Ministeriums einzufinden und, falls noch zu beschaffen, Meldungen über die Landesgrenzen mitzubringen. Er nickte der gehaltenen Mitteilung Nathalies zu.
Seine Armbanduhr verriet, dass es nur noch zwei Minuten bis neun waren. So konnte er in aller Ruhe in den auf derselben Etage liegenden Presseraum hinübergehen, wo schon die Abteilungsleiter für Strafverfolgung, internationale Zusammenarbeit und Personenverkehr anwesend waren. Ebenso sah er seine Frau, die zwischen den Kollegen vom Miroir, dem Besenkurier und Bruno Dusoleil saß, der mal wieder den rasenden Radioreporter geben durfte.
Pünktlich mit dem Stundenschlag der hier aufgestellten Standuhr betrat Ministerin Ventvit den Presseraum. Sofort sprachen die Reporterinnen und Reportern zu ihren Mitschreibefedern oder in die Schallsammeltrichter für die Radioaufzeichnung, sofern sie nicht gleich direkt sendeten. Auch die Pressereferentin der Ministerin trat ein. Julius setzte sich zu Nathalie Grandchapeau, die es bei Brunos Vater und der Ministerin durchgesetzt hatte, ebenfalls direkt anwesend zu sein.
"Guten morgen, Messieursdames et Mesdemoiselles. Es ist sehr betrüblich, Sie hier und heute wegen etwas zusammenzurufen, was unsere Freiheit und womöglich auch unser aller Leben gefährden mag", sagte die Pressereferentin der Ministerin in die erwartungsvolle Stille hinein. Dann erwähnte sie, was in der Nacht passiert sei und dass nicht nur der Überflug mit Besen, sondern auch die Flohnetzpassage schwer bis unmöglich geworden sei. Dann übergab sie der Ministerin persönlich das Wort. Diese berichtete nun, was genau die Außendienstmitarbeiter entdeckt hatten und dass zwei von ihnen deshalb zur Behandlung in die Delourdesklinik eingeliefert werden mussten. Sie erwähnte, dass dieses wohl ein Vergeltungsangriff jener dunklen Hexe sei, die sich wegen ihrer Abstammung berufen fühle, über alle magischen Menschen zu herrschen. Ebenso teilte sie den anwesenden Reporterinnen und Reportern mit, dass es trotz erster Versuche nicht gelungen sei, die genauen Quellen jener dunklen Grenzbarriere zu finden, geschweige denn sie außer Kraft zu setzen. Dann erwähnte sie noch, dass seit Mitternacht keine Flohnetzverbindung ins Ausland mehr möglich war und dass Versuche, Posteulen zu versenden, damit geendet hatten, dass die verschickten Eulen vollkommen verängstigtzurückgekehrt seien, ohne ihre Botschaften überbracht zu haben. "Vom Leiter der Abteilung für magischen Personenverkehr erhielt ich vor zwei Stunden die betrübliche Mitteilung, dass wohl auch die magische Überseeschifffahrtslinie Fliegender Holländer ausgefallen sein muss. Näheres hierzu wird der Kollege gleich genauer darlegen. Es sieht ganz danach aus, als wenn uns jene, die von unseren erwiesenen Widersachern angeleitet werden, vollständig vom Rest der Welt abschneiden wollen. Doch ich kann Ihnen allen verbindlich zusichern, dass wir uns davon nicht einschüchtern lassen werden. Unserem Land geht es gut, wir können uns mit allem nötigen versorgen, und an Möglichkeiten, diese Ausnahmelage zu beenden, wird mit allem verfügbaren Wissen und können gearbeitet. Wie und was genau getan wird unterliegt jedoch zunächst einer hohen Geheimhaltungsstufe, um unsere Gegenspieler nicht darauf zu bringen, wie sie dem entgegenwirken können. Ich sehe es so, Messieursdames et Mesdemoiselles, dass vor allem Ladonna Montefiori sich in die Enge gedrängt fühlt und nun keine Scheu mehr hat, auch die schlimmsten Verbrechen zu begehen, zu denen sie fähig ist. Doch damit beweist sie einmal mehr, dass sie nicht für eine friedliche, sichere Zukunft unserer Welt steht, sondern für das Chaos und die Zerstörung all dessen was unsere Vorfahren und wir errungen und geschaffen haben. Wir dürfen ihr und ihren durch magischen Zwang unterworfenen Helfern und Helfershelfern nicht nachgeben, was immer sie an Verlockungen und Drohungen entbieten wird. Sie ist nicht unbezwingbar. Dass sie dies weis beweist sie uns dadurch, dass sie meint, uns dauerhaft in unserem eigenen Land einsperren zu können. Soviel von mir zu dieser hochbetrüblichen Lage. Ich übergebe das Wort an den Leiter der Abteilung zur Wahrung und Durchsetzung magischer Gesetze, Monsieur Belenus Chevallier." Die Ministerin zog sich zurück, obwohl sie mit ersten Fragen bestürmt wurde. Millie und Bruno hielten sich jedoch zurück.
Brunos Vater schilderte nun die Dinge, die nicht zur Geheimsache erklärt wurden. Er erwähnte, dass keiner auf einem Besen schneller als Schrittgeschwindigkeit durch die Grenzabsperrung fliegen könne, riet jedoch davon ab, langsamer zu fliegen, weil dann die tückische Zweitwirkung einsetze, den magisch begabten Menschen und Tieren ihre schlimmsten Angstvorstellungen ins Bewusstsein zu treiben wie ein wahrwerdender Albtraum. ER erwähnte auch, dass Ladonna Montefioris Leute keinen Wert auf weitere Verständigungsversuche legten, weil sie die Landesgrenzen vollständig versperrt hätten. Er schloss nicht aus, dass sie vielleicht ein Mittel kannten, von ihrer Seite aus durchzukommen, doch dann sicher nur für ganz wenige Leute und das nur zu dem Zweck, Kundschafter nach Frankreich einzuschmuggeln. Daher gelte es nun noch mehr, die Landesgrenzen zu überwachen und alle wichtigen Institutionen der französischen Zaubererwelt zu beschützen. Im Augenblick riet er allen, die von dieser Pressekonferenz erfuhren ab, auf eigenem Besen oder einen Flugtier durch die Grenzabsperrung zu fliegen. Dann bedankte er sich für die Aufmerksamkeit und zog sich einige Schritte zurück.
Wieder wollten die anwesenden Pressevertreter Fragen stellen. Doch die Pressereferentin wies darauf hin, dass nach den Mitteilungen der Abteilungsleiter Fragen gestellt werden dürften.
Der Leiter der Verkehrsabteilung erwähnte nun genauer, wie das Flohnetz beschränkt sei und dass auch kein Schiff der internationalen Überseelinie Fliegender Holländer mehr im heimlichen Hafen von Marseille oder der Normandie angelegt habe. Er vermutete, dass auch die Briten Probleme mit ihren Landesgrenzen hätten. Doch weil ja im Moment keine Eulen- oder Kontaktfeuerverbindung nach außen möglich sei wisse er das nicht genau. Apparieren sei wohl noch möglich, sei aber im Moment nicht zu empfehlen, da nicht sicher sei, ob französische Hexen und Zauberer nicht gleich am Zielort aufgegriffen und wegen unerlaubter Einreise festgesetzt würden. Dasselbe gelte für Portschlüssel. Allerdings bestehe noch die Überseeluftschiffverbindung mit Viento del Sol in den USA. Es sei also offenbar möglich, über die Barriere hinwegzufliegen, wenn man nicht auf einem Besen reise. Auch die Reisesphärenkreise mit den Überseegebieten seien noch nutzbar. Somit sei Frankreich nicht vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten.
Nachdem er diese zwischen Betrübnis und Hoffnung pendelnden Mitteilungen gemacht hatte überließ er die Pressebühne dem Abteilungsleiter für internationale magische Zusammenarbeit. Dieser erging sich nun in wilden Vorwürfen gegen jene, die die Grenze abgeriegelt hatten, ohne eine Verständigungsmöglichkeit offenzuhalten. "Wer eine Burg belagert hält zumindest den Weg für Unterhändler frei!" rief er. Doch dann behauptete er, die Ministerin und alle gleichrangigen Kollegen davor gewarnt zu haben, sich mit ganz Europa anzulegen und egal ob die meisten Zaubereiministerien von einer unerwünschten Macht beherrscht wurden oder nicht, auf offene Konfrontation zu setzen, statt auszuloten, welche Vorstellungen die anderen Zaubereiministerinnen und -Minister hätten. Dies verstieße ebenso gegen alle Regeln "vernünftiger Diplomatie" wie das, was nun als Konsequenz dieses Handelns zu ertragen sei, wobei er "inständig" hoffte, dass dieser Zustand nur von kurzer Dauer sei. "Mehr kann und will ich im Augenblick nicht dazu sagen", beendete er seinen kurzen, gefühlsgeladenen Auftritt und zog sich wieder zurück. Auch er wollte noch keine Fragen beantworten.
Julius mentiloquierte seine Frau an: "Der wollte schon die Ministerin und die Grandchapeaus loswerden. Das wird noch heftig mit dem."
"Kann ich dir nur leider beipflichten, Monju", gedankenantwortete Millie, während sie nach außen hin auf Reaktionen ihrer Kollegen lauschte und zusah, wie sich Chaudchamp mit einem vorwurfsvollen Blick von der Ministerin abwandte. "Hat der nicht die Glocke läuten gehört, dass Ladonna echt viele Länder gekapert hat?" fragte sich Julius. Schließlich hatten sie ja vor wenigen Tagen mit einer Goldlichtkerze alle Leute im Ministerium gegen die Feuerrose immunisiert. Das hätte dem doch zu denken geben müssen.
"Als letzte möchte nun Madame Grandchapeau aus dem Büro für friedliche Koexistenz magischer und nichtmagischer Menschen zu Ihnen sprechen", sagte die Pressereferentin der Ministerin. Sofort wurde es wieder still im Saal.
Nathalie, die wieder die ihre andauernde Schwangerschaft verhüllende Kleidung trug, erwähnte, dass die Absperrung der Grenze ein höchst riskantes Unternehmen sei, falls es den dafür verantwortlichen daran gelegen sei, die Zaubereigeheimhaltung zu bewahren. Doch bei einer so skrupellosen Widersacherin wie Ladonna Montefiori müsse davon ausgegangen werden, dass ihr die Zaubereigeheimhaltung unwichtig sei, ja sie diese als Hindernis auf dem Weg zu einer Herrschaft auch über die nichtmagischen Menschen ansah. Daher habe sie ihren Mitarbeiter Julius Latierre beauftragt, vor der Pressekonferenz Recherchen in den nichtmagischen Medien zu betreiben, ob die Abriegelung der Grenze sich auf die nichtmagische Welt auswirke. Sie winkte Julius zu sich heran. Er nickte den anwesenden Nachrichtenleuten zu und übergab ihr einen Packen Papier. Auf ihre stumme Aufforderung hin sprach er laut und deutlich aus, dass er für den Zeitraum der ersten Grenzabriegelungsmeldung bis zu seiner Recherche keinerlei Auffälligkeiten beim Grenzübertritt auf nichtmagische Weise gefunden habe, weder in den Zeitungen und Rundfunkanstalten, noch in Kreisen der französischen Regierung. Er konnte gerade noch hinunterschlucken, dass das Zaubereiministerium de jure der Staatsregierung unterstand, auch wenn es eigenständig handelte und der nichtmagischen Öffentlichkeit keine Rechenschaft ablegen musste. "Jedenfalls bin ich sehr erleichtert, dass es kein Chaos an den Grenzen gab und hoffe, dass das auch weiterhin nicht passiert. Mehr zu sagen liegt nicht in meiner Zuständigkeit", beendete Julius seinen kurzen Auftritt. Er sah alle hier versammelten Medienvertreter an. Da fragte ihn Bruno Dusoleil: "Woher wissen Sie das genau, ob die, die die Grenze abgeriegelt haben nicht auch Ihre Nachrichteneinrichtungen gekapert und mit Falschmeldungen abgefüllt haben, Monsieur Latierre?"
"Öhm, Fragen später, Monsieur Dusoleil", hakte die Pressereferentin ein. Julius wollte schon spontan antworten, wurde jedoch von Nathalie mit einer Geste davon abgehalten. Er durfte noch neben ihr stehenbleiben und ihren kurzen Abschluss mithören, dass sie ebenfalls froh sei, dass es keine Opfer magischer Gewalt auf Seiten der nichtmagischen Menschen gab.
Nun begann die von der Pressereferentin eingeräumte Befragung der einzelnen Referentinnenund Referenten. Die Ministerin wurde gefragt, was sie so zuversichtlich stimme, dass sie diesen höchst unangenehmen Zustand, der ja doch irgendwie an die Zeit nach der dunklen Woge im April 2003 erinnere, überstehen konnten. Sie erwiderte in ruhigem Ton: "Genau weil wir die damals so erschwerende Lage beheben konnten wissen wir, was zu tun ist und wie wir vorgehen, um die neue Lage zu beenden, ohne irgendwem den Krieg erklären zu müssen, die Damen und Herren."
Bruno fragte seinen eigenen Vater mit einem leicht verwegenen Gesichtsausdruck: "Erinnert sie diese Lage nicht auch an die Abschottung von Millemerveilles, nur jetzt für das ganze Land, Monsieur Chevallier?"
"Dis tut es in der Tat, Monsieur Dusoleil, und ich empfinde wie damals einen großen Unmut deswegen. Doch ich teile die Zuversicht der Ministerin, dass wir diesen Grenzwall wider Willen bald wieder los sind, ohne uns vor denen in den Staub werfen zu müssen, die ihn um unser Land errichtet haben."
Millie fragte nun Chaudchamp, was er damit gemeint habe, dass sich das Ministerium mit den anderen Zaubereiministerien besser hätte verständigen müssen.
"Erlauben Sie mir gütigst, diese Fangfrage von Ihnen nicht zu beantworten, da der diesbezügliche Kessel schon längst umgekippt und sein Inhalt im Boden versickert ist, Madame Latierre. Nächste Frage!" knurrte Chaudchamp. Bruno erhob sich und wurde von der Pressereferentin zurückgewisen, weil er schon was gefragt hatte. Dafür wollte der Kollege von Zaubererweltecho von Nathalie wissen, inwieweit sie in die Lösung dieser Ausnahmesituation eingespannt sei. Sie erwähnte, dass sie im Augenblick nur das tun könne, was ihre Abteilung hauptsächlich tat, nämlich die Nachrichten in der nichtmagischen Welt zu überwachen und mit dem Amt zur Umkehr magischer Katastrophen zusammenzuarbeiten, wenn wieder irgendwas vor nichtmagischen Augen- und Ohrenzeugen geschehe. Das brachte Bruno wieder darauf, seine Frage von eben zu stellen. Julius wartete, bis Nathalie ihm zuwinkte. Er trat vor und sagte:
"Ich möchte mich nicht zu breit über die neuartigen Nachrichten- und Informationsverbreitungswege der nichtmagischen Welt äußern, die Damen und Herren. Nur so viel, dort können viele tausend Quellen über ein und dasselbe Ereignis berichten, von denen die meisten jedoch sehr subjektiv und ja auch gezielt manipulativ berichten, um gewisse Stimmungen und Meinungen zu schüren. Daher müssen wir aus dem Nachrichtenüberwachungszentrum immer genau prüfen, wer wann was sagt und wer daraus einen Nutzen zieht. Wir prüfen daher immer alle uns zugänglichen, auf Seriosität angewiesene Quellen. Bei den vielen Quellen wäre es denen, die die Landesgrenzen verriegelt haben sehr, sehr schwer gefallen, auch die Nachrichten aus der nichtmagischen Welt zu beeinflussen, zumindest die in Frankreich. Deshalb kann ich mit 99,99 Prozent Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass wir wider alle Wirklichkeit beruhigende Meldungen über den weiterhin reibungslosen Grenzverkehr in unsere europäischen Nachbarstaaten erhalten, wenn dort das reinste Chaos toben würde."
"Ja, aber Sie können das nur sagen, weil Ihre Elektrorechner das so vermelden", sagte der Reporter vom Zaubererweltecho. "Och, wir können auch die nichtmagischen Radiosender und Fernsehsender mitverfolgen", sagte Julius darauf. Das brachte viele zum Lachen. "Bitte stellen Sie einfache Fragen!" forderte die Pressereferentin die versammelten Medienvertreter auf.
"Bedeutet das also, dass jemand mit einem nichtmagischen Flugapparat oder einem der Ölbestandteile verbrennenden Motorwagen über die Grenzen fahren kann?" wollte der Reporter vom Miroir wissen. Nathalie sah Julius an. Der antwortete: "Es muss noch geprüft werden, ob dieser Grenzwall nur auf magische Wesen wirkt. Unsere Posteulen kommen nicht durch, weil sie auf magische Hindernisse reagieren. Ich erinnere daran, dass es fast ein Jahr lang unmöglich war, als magischer Mensch in Großbritannien einzureisen und dass auch Italien eine derartige Grenzabsicherung betrieben hat. Die wirkte jedoch nicht auf nichtmagische Menschen. Spätestens mit den Todessern in Großbritannien und Irland hätte sich die Zaubereigeheimhaltung erledigt und womöglich sogar die ganze Menschheit, wenn die wirklich jeden nicht auf britischem Boden geborenen Menschen augenblicklich hätten sterben lassen. Deshalb mag es auch bei der Grenzabriegelung so sein, dass nichtmagische Menschen durchkommen, wo magische Menschen ... keine Möglichkeit haben." Beinahe hätte er "fast keine Möglichkeiten" gesagt. Doch im allerletzten Augenblick erkannte Julius, dass er den Gedanken, den er hatte, besser nicht zum öffentlichen Thema machte.
"Öhm, die Luftschiffe aus Viento del Sol landen noch bei uns. Also bräuchten wir nur mehr von denen, richtig?" stellte der Vertreter von Radio Zaubererweltecho eine Frage an den Leiter der Verkehrsabteilung. Dieser trat vor und sagte mit Bedauern in der Stimme: "Ich habe schon seit dem feststeht, dass diese Reisemöglichkeit nach Amerika sehr populär ist bei meinem Kollegenin den Staaten angefragt, ob es mehr Verbindungen geben könnte. Antwort: "Zwei reichen, mehr brauchen Sie nicht." Daher besteht eben nur die Möglichkeit, zweimal am Tag damit zu verreisen."
"Besteht wirklich keine Verbindung ins britische Zaubereiministerium?" wollte Millie wissen. Die Ministerin sah Julius an, der wieder vortreten durfte und dann sagte: "Ich konnte vorhin eine kurze Nachricht meiner Kollegin aus London lesen, dass es auch in Großbritannien zu Reiseschwierigkeiten an der Landesgrenze gekommen sei. Also besteht die Verbindung noch." Der Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit, der Hauptverantwortliche für magischen Personenverkehr und der Leiter der Gesetzesüberwachungsabteilung sahen Julius perplex an. Deshalb sagte er: "Sie haben mich nicht gefragt, meine Herren, und so konnte ich Ihnen allen zur gleichen Zeit die Antwort geben." Das löste wieder ein Lachen im Publikum aus. Jetzt konnte Julius an den Gesichtern ablesen, wie seine Antwort wirkte. Belenus Chevallier grinste, Chaudchamp wirkte sehr verärgert, während der Leiter der Verkehrsabteilung verlegen dreinschaute, weil er diese Möglichkeit bisher nicht genutzt hatte. Darauf sagte die Ministerin: "Gut, es wäre sicher sehr von Vorteil gewesen, wenn Sie mir diese Auskunft vor der Konferenz erteilt hätten, Monsieur Latierre. Aber ich erkenne auch an, dass Sie Ihren Auftrag hatten und es ja doch sehr kurzfristig war."
"Heißt das jetzt, dass wir nur noch über diese Elektrorechner Kontakt mit dem Ausland haben?" stieß Chaudchamp aus. Nathalie sah ihren Kollegen an und sagte: "Bis Sie, der Kollege Chevallier oder ich weitere Möglichkeiten erschließen können ist dies wohl so." Die Reporterinnen und Reporter hörten aufmerksam zu. "Dann sind wir von diesen fragwürdigen Nachrichtenmaschinen abhängig?" schnaubte Chaudchamp.
"Beschweren Sie sich bei Ladonna Montefioris Handlangern", gab Belenus Chevallier seinem Kollegen mit, bevor Nathalie was sagen konnte. "Würde ich sofort tun, wenn diese mir eine Möglichkeit belassen hätte, sie auf anständige, magische Weise zu kontaktieren. Oder verwendet diese Person auch diese Elektrorechner?"
"Das besprechen wir gerne unter uns", sagte Nathalie zu Chaudchamp, bevor Julius was dazu äußern konnte.
"Gibt es noch irgendwelche Fragen?" wollte die Pressereferentin der Zaubereiministerin wissen. Bruno Dusoleil stand noch einmal auf. "Nur noch an Monsieur Chaudchamp, falls es genehm ist: Was würden Sie der Ministerin vorschlagen, was sie denen anbieten soll, die unsere Grenzen abgeriegelt haben?" Millie hielt sich die Hand vors Gesicht. Julius fühlte über die Herzanhängerverbindung, dass sie sich amüsierte und es nicht zeigen wollte.
"Ich weiß, dass Sie mit Ihrer Kollegin Latierre in gewissen Verbindungen stehen und werte Ihre Frage als dieselbe wie die von ihr. Was ich der Ministerin zu sagen hatte ist längst gesagt und sie hat meinen Vorschlag nicht für erachtenswert befunden. Jetzt ist der große Kessel umgekippt und sein Inhalt versickert", sagte Chaudchamp missmutig. Sich hier und jetzt aus dem Fenster zu lehnen, dass er den Rücktritt der Ministerin "vorgeschlagen" hatte wollte er dann doch nicht erneut thematisieren.
"Wenn sonst keine Fragen mehr zu stellen sind ... dann möchte ich mich bei Ihnen allen Bedanken und die kurzfristig einberufene Pressekonferenz an dieser Stelle beenden. Vielen Dank für Ihre Anwesenheit und ihr reges Interesse!" sagte die Pressereferentin der Ministerin. Alle Anwesenden standen auf und winkten zum Abschied. "Mit dem kriegt ihr noch richtig Stress", hörte Julius Millies Gedankenstimme. Er achtete sorgfältig auf seinen Gesichtsausdruck und schickte ihr zurück: "Den Stress haben wir schon, Mamille. Viel Spaß beim Sortieren der wenigen Infos!"
"Danke!" bekam er zur Antwort.
Da es schon zehn Uhr durch war fand nur eine verkleinerte Konferenz statt. Vor allem ging es darum, dass Mitarbeiter aus Nathalies Büro nur noch mit hoch über den Wolken fliegenden Flugzeugen ins Ausland verreisen durften, statt mit Motorwagen oder Motorschiffen zu fahren. "Wie weit reichen denn diese Grenzsperren nach oben?" wollte Rose Devereaux wissen.
"Monsieur Chevallier teilte mir mit, dass die Grenzabriegelung wohl bis zu achttausend Meter Höhe wirksam ist. Er hat dafür eine von Monsieur Dusoleil entwickelte Luftprüfungssonde benutzt, die bis auf zwanzigtausend Meter aufsteigen kann, jedoch dafür nicht schnell fliegen kann und schon nach zehn Minuten wieder absteigen muss, um nicht abzustürzen. Also ist es möglich, mit weit genug aufsteigenden Flughilfen über diese Barriere hinwegzukommen. Posteulen gelangen jedoch nur bis auf fünftausend Meter Höhe, wenn sie müssen. Besen sind je danach, ob für große Lasten oder hohe Geschwindigkeiten gebaut zwischen viertausend und fünftausend Meter flugstabil, offenbar wegen der Wechselwirkung zwischen natürlicher Schwerkraft und Flugbezauberung."
"Und wenn ich mich am Rheinufer hinstelle und über den Fluss hinwegappariere?" wollte Monsieur Lepont wissen. "Dazu liegt mir noch kein Bericht vor und wir sind nicht gefragt worden, ob wir das ausprobieren", sagte Nathalie.
"Ja, aber was ich von der PK mitgehört habe heißt das doch, dass wir nur noch über die Elektrorechner in Verbindung mit der Außenwelt stehen. Das ist aber sehr unzuverlässig", meinte Lepont. Darauf meinte Primula Arno: "Eben nicht, weil unsere Geräte seit der Rückkehr aus Millemerveilles eine ganz eigene Stromversorgung und Weltraumsatellitenfunkanlagen haben, um ohne Kabelanschluss mit allen anderen Rechnern der Welt in Verbindung zu bleiben, Kollege Lepont." Dazu sagte Nathalie noch: "Außerdem bestehen noch die Verbindungen zwischen Familienporträts, weil die keine räumliche Durchdringung der Barriere nötig haben."
"Ja, doch wenn wir uns mit unseren Freunden und Verwandten im Ausland unterhalten wollen und keine solchen Zauberergemälde haben sind wir auf diese Elektrorechner angewiesen?" fragte Lepont.
Julius bat ums Wort. Er bekam es. "Seitdem in Beauxbatons bekannt ist, dass Eltern gerne ohne Eulen mit ihren Kindern in Verbindung bleiben gibt es in Paris eine Anlaufstelle, die mit nichtmagischen Mitteln versendete Post, ob Briefe oder per elektrischer Fernkopiervorrichtung erhaltene Dokumente mit Posteulen nach Beauxbatons weiterschickt oder von Eulen angelieferte Briefe an die nichtmagischen Adressaten weiterleitet. Soweit ich weiß untersteht diese Postverbindungsstelle der Ausbildungsabteilung. Vielleicht wäre es möglich, dass Zaubererweltbewohner mit ausländischen Freunden und Verwandten diese Postvermittlungsstelle mitnutzen dürfen, um mit ihren Freunden und Verwandten in Kontakt zu bleiben. Des weiteren können Zaubererweltbewohner in den Städten zu öffentlichen Fernsprechkabinen gehen und von dort aus mit Leuten sprechen, die eigene Fernsprechanschlüsse haben."
"Das fehlte noch", knurrte Lepont. "Abgesehen davon, dass meine Freunde in Belgien und der Schweiz kein solches Fernsprechding haben würden die sich in Grund und Boden schämen, dieses Muggelzeug zu benutzen, nur weil irgendwer meint, uns das Verschicken von Eulen zu verleiden, der oder die mit uns nicht klar kommt."
"Sie haben nur nach den Möglichkeiten gefragt, wie private Verbindungen hergestellt werden können, Monsieur Lepont", sagte Nathalie Grandchapeau an Julius' Stelle. "Ja, habe ich. Chevalliers Truppe soll das hinbiegen, dass die Eulen wieder durchkommen, zur dreigeschwänzten Gorgone", sagte Lepont.
"Gehen Sie bitte davon aus, dass er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genau dies tun werden!" sagte Nathalie Grandchapeau kühl.
Da ja wegen der bereits erwähnten Normalität in der nichtmagischen Welt keine weiteren Punkte zu besprechen waren beschloss die Büroleiterin die Konferenz. Julius entging nicht, dass Lepont ihn sehr kritisch ansah, als habe er diesen magischen Grenzwall hochgezogen. Doch er beherrschte sich gut genug, nicht darauf einzugehen. Denn er hatte Lepont immer als leicht reizbar erlebt. Der wollte seine gemütliche, unbekümmerte Welt haben und mochte es nicht, wenn ihm jemand die Gemütlichkeit verdarb.
Weil Nathalie ihm keine weiteren Anweisungen erteilt hatte kümmerte sich Julius bis zum Mittagessen um die Angelegenheiten der Veelastämmigen. Weil noch unklar war, wie sich die nordamerikanische Zaubereiadministration nach dem wie gut auch immer gemeinten Anschlag auf den Rat sortierte und ob Veelastämmige dort noch immer auf einer Todesliste standen hatten sich diverse Elternpaare der fünfzig herübergeholten noch nicht dazu geäußert, ob sie ihre Kinder nach den Sommerferien in eine französische Zaubererschule, womöglich sogar Beauxbatons, schicken wollten. Julius konnte sie sogar verstehen. Entweder war der Föderationsrat nun durch eine andere Methode als die Goldlichtkerzen befreit, es gab aber noch Unterworfene Ladonnas. Oder die Ratsmitglieder waren die einzigen Unterworfenen gewesen und mochten die Veelastämmigen wieder willkommen heißen. Ja, oder der Rat war zwar von Ladonnas Einfluss befreit, lehnte aber genau deshalb die Anwesenheit von Veelastämmigen ab und verweigerte deren Rückkehr. Schließlich gab es noch die Möglichkeit, dass die Regionalsprecher der nordamerikanischen Zaubererwelt den Rat vollständig absetzten und nur noch als eine große Verwaltungsinstanz auftreten wollten, weil sie die Nase von unterwürfigen Zaubererweltadministrationen voll hatten. Am Ende hatte Anthelia, die er hinter dem Befreiungsschlag gegen den Föderationsrat vermutete, den Nordamerikanern einen Bärendienst erwiesen, wie es bei den Nichtmagiern so schön hieß. Denn dann konnte es zu Kleinstaaterei kommen, wo es Dutzende von Interessensgruppen gab, die gegen die jeweiligen Nachbarn vorgingen, weil die angeblich grüneres Gras und helleren Sonnenschein hatten als sie selbst. Das hatte er doch schon in England mitbekommen, wie eifersüchtig manche Grafschaften sein konnten. Nur eine übergeordnete Führung hielt den großen Haufen in der Spur. Aber die Führung durfte nicht selbst am Nasenring oder einer langen Laufleine geführt werden.
Beim Mittagessen sprach er mit seinen Schwiegerverwandten Hippolyte und Barbara. Ihm fiel auf, dass Chaudchamp nicht an einem Tisch für höhere Angestellte saß.
"Oh, dann sollten wir aufpassen, dass unsere Kühe nicht über die Landesgrenze fliegen", sagte Barbara Latierre. "Ach ja, und was die Tierwesen in Beauxbatons angeht werde ich Professeur Fourmier auch eine Warnung zukommen lassen, falls sie diesen Juni noch einmal mit einer Klasse ins Ausland will. Zwar habe ich diesbezüglich noch keinen Antrag. Aber das kann ja noch kommen."
"Hmm, könnte sein, dass Viviane Eauvives Bild und das von Orion dem Wilden da schon weitergemeldet haben, was los ist, Tante Babs", vermutete Julius. "Ja, aber eine offizielle Warnung aus dem Ministerium ist auch wichtig", erwiderte Barbara Latierre.
"Mein werter Kollege Chevallier wollte es nicht bestätigen. Aber ich bekam über geheime Kanäle mit, dass einer seiner in der DK gelandeten Leute mit einem Fünfzehner voll in der Barriere steckengeblieben ist, obwohl er versucht hat, mit Höchstgeschwindigkeit durchzufliegen. Kennst du einen Zauber, der das macht, dass ein 600 Stundenkilometer schneller Besen abgefangen wird, ohne dabei zu zerschellen?"
"Wegen der Bemerkung, dass man nur noch im Schritttempo durchfliegen kann, Belle-Maman Hipp. Kann sein, dass die Barriere einen dunklen Windzauber enthält, der die von Besen und Reiter angeschobene Luft oder den Windumlenkungszauber des Besens als Bremswirkung nutzt. Technisch gesprochen könnte die Barriere die in ihrer Wirkung befindliche Luft mit einer Antiflugmagie aufladen, die aber nur bei bestimmter Geschwindigkeit wirkt. Aber das ist reine Spekulation, weil ich mit dem Besen hauptsächlich nur noch deine Enkel zum Kindergarten oder zu ihren Freundinnen und Freunden hinüberfliege", sagte Julius.
"Stimmt, für anständiges Quidditch habt ihr im Moment ja keine Zeit. Wir müssen mal wieder auf unserem Feld beim Sonnenblumenschloss spielen", sagte Hippolyte. Julius nickte. Bei dem ganzen Ärger, den sie gerade hatten wäre das sicher eine gute Ablenkung.
Nach dem Mittagessen kehrte Julius in den Computerraum zurück. Pina hatte einen umfangreichen Bericht gemailt, wie sich die Lage auf den britischen Inseln darstellte. Demnach kam dort nichts herunter, was ansatzweise mit Magie aufgeladen war oder ein magisches Lebewesen war. Sie erwähnte auch, dass die Abteilung für Gesetzesüberwachung und vor allem das Aurorenkorps damit beschäftigt seien die Quelle der dunklen Kraft zu finden. Doch sie gingen davon aus, dass diese Quellen auf dem Meeresgrund lägen.
Julius schrieb eine Antwort, in der er ihr von der Pressekonferenz erzählte und dass sich schon einige Leute beschwert hatten, weil die internationale Eulenpost nicht mehr klappte. Aber das mit den auf dem Meeresboden liegenden Quellen wollte er gerne weiterverfolgen, wenn er durfte.
Wo er schon hier war konnte er auch in Japan, Australien und beim LI anfragen, was gerade bei denen los war, jetzt wo feststand, dass er die einzige Kontaktmöglichkeit ins Ausland hatte.
Er bekam nach nur zehn Minuten eine Antwort aus Tokio, dass dort seit der Rückkehr der IZKF-Delegierten genau nachgeprüft wurde, was Ladonna Montefiori anstellen mochte. Auch hätten die Kollegen aus China über die bestehenden Zaubererweltkanäle angefragt, wie sie sich vor Übergriffen aus Russland schützen könnten.
Der australische Kontakt Kyle Benson schlief wohl gerade, weil es bei denen ja acht bis zehn Stunden später war als in Frankreich. Die hatten noch keinen Schichtbetrieb wie die Japaner und Franzosen. Also musste er Aurora Dawn fragen, ob die über ihre Verbindungen was mitbekam.
Das Laveau-Institut in Person Brenda Brightgate antwortete auf seine Anfrage, dass sie noch frei aus den Staaten und Kanada ausreisen konnten. Allerdings sei die gesamte Zaubererwelt Nordamerikas gerade durcheinander und es könne sein, dass in den nächsten Stunden wieder was neues zu vermelden sei. Mit dieser rätselhaften Mitteilung musste Julius erst einmal leben.
Als es fünf Uhr war kam die Ablösung. Julius wünschte den Kollegen, die mit ihm zusammen gehen konnten einen erholsamen Feierabend. Dann verließ er das Rechenzentrum und apparierte von der Rue de Camouflage aus direkt in die Wohnküche des Apfelhauses. Dort warteten Millie, Béatrice, Catherine, Camille und Eleonore Delamontagne auf ihn. Die größeren Kinder spielten draußen im Garten. Julius hörte Claudines Stimme, wie sie gerade den Dumas-Zwillingen ein Lied vorsang.
"Huch, halbe Vollversammlung?" fragte Julius. Millie umarmte und küsste ihren Mann erst einmal. Dann sagte sie: "Die haben sich vor einer Stunde angemeldet, Julius. Es geht um das von heute morgen und warum es für uns hier in Millemerveilles wohl bald wieder enger werden könnte."
"Wie, noch mehr Frühlingskinder?" tat Julius amüsiert. Eleonore Delamontagne räusperte sich laut, während Catherine, Camille und Millie kicherten. "Nein, das ist wohl nicht zu erwarten. Aber wenn das so weitergeht könnten wieder viele meinen, zu uns umzusiedeln", sagte die Dorfrätin für gesellschaftliche Anliegen.
"Wir haben die Pressekonferenz alle gehört, Julius, auch was sie dich alles gefragt haben, wobei deine Angetraute dir wohl Quaffel zuspielen wollte", sagte Catherine. "Ich habe sofort mit meiner Mutter, der respektablen Schulleiterin von Beauxbatons kontaktgefeuert, auch wenn ich da im Moment kein schulpflichtiges Kind habe. Sie hat die Pressekonferenz auch mitgehört, nachdem ihr Viviane Eauvive und Petronellus von den blauen Hügeln die frohe Botschaft übermittelt haben. Sie ist der Ansicht, dass Ladonna uns in eine ähnliche Bunkerstimmung versetzen will, wie Didiers Leute damals, die Beauxbatons abgeriegelt haben. Ihr Ziel, so Madame Faucon, sei die Uneinigkeit in unserer Gemeinschaft und eine mehrheitliche Ablehnung von Ministerin Ventvit. Allerdings bringt ihr das nur was, wenn sie auch erfährt, ob ihr neuer Plan gelingt und wer ihr nachfolgt." Julius nickte und erwiderte: "Vermutet Madame Faucon bereits installierte Agenten von ihr oder Gemälde zu Spionagezwecken in wichtigen Familien?"
"Vom eigenen Torraum direkt durch den gegnerischen Ring, Julius", sagte Catherine. "Wir müssen davon ausgehen, dass Ladonna schon längst ihr treu ergebene Kundschafter, beziehungsweise Kundschafterinnen in Frankreich hat. Die Bilderverbindung geht noch, und wer Zweiwegespiegel verwendet kann auch damit noch Kontakt halten. Da ich im Ausland niemanden kenne, die oder den ich von mir aus anmentiloquieren kann weiß ich nicht, ob dieser Grenzwall dagegen wirkt. Zuzutrauen wäre es ihr wenigstens. Meine Frau Mutter geht auch davon aus, dass diese Kundschafterinnen gezielte Stimmung gegen Ministerin Ventvit und alle die machen, die ihr, also Ladonna, gefährlich werden könnten, also auch uns, wie wir hier zusammensitzen. Das Chaudchamp schon angedeutet hat, er habe vorher schon entsprechende Anregungen gemacht, um den gerade erlebten Fall abzuwenden zeigt, dass er durchaus bereit wäre, sich auf einen fragwürdigen Handel mit der von Ladonna geschmiedeten Koalition einzulassen."
"Eine Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied", seufzte Julius. Die anwesenden Hexen nickten zustimmend. Dann fuhr Catherine fort: "Madame Faucon empfiehlt uns, darauf gefasst zu sein, wieder einmal ein Gegenministerium aufzubauen, hier in Millemerveilles. Hier kommt zumindest kein feindliches Wesen herein."
"Gegen- oder Exilministerium?" fragte Julius. "Stimmt, die Frage ist berechtigt", sagte Catherine. Dann fragte sie: "Habt ihr vom Ministerium veröffentlicht, dass die Veelas euch mit einer dieser neuen Goldlichtkerzen immunisiert haben?" Julius verneinte es, schloss jedoch nicht aus, dass Familienangehörige der Mitarbeiter das im Rahmen von C4, auf der das eingestuft war, erfahren haben mochten. Catherine wiegte den Kopf, als müsse sie eine darin kullernde Bleikugel in eine ruhige Lage bugsieren. Dann sagte sie: "Falls Ladonna über Umwege erfährt, dass im Ministerium niemand ihrem Feuerrosenzauber unterworfen werden kann könnte ihr einfallen, das Ministerium an sich abschaffen zu lassen. Sie braucht nur Lockvögel und Fürsprecher, die die magische Bevölkerung dazu treiben, die ganze Verwaltung aufzulösen oder komplett durch neue Leute zu ersetzen. Passiert das, dann hat sie wieder Zugriff auf Frankreich."
"Au weia!" erwiderte Julius. Millie sog Luft zwwischen den Zähnen ein. dann sagte Eleonore: "Catherine, du weißt, dass schon seit Grindelwald alle möglichen Schutzmaßnahmen getroffen wurden, um einen Sturm auf das Ministerium zu verhindern. Sicher können sie Stimmung gegen Ministerin Ventvit machen. Aber das Ministerium übernehmen kann nur, wer von mindestens jedem Abteilungsleiter in freier Abstimmung die Erlaubnis erhält."
"Nichts für Ungut, Eleonore, aber die Fälle Bokanowski, Didier und die im Ministerium eingeschleusten Agentinnen Ladonnas widerlegen dich gerade", sagte Catherine. Eleonore verzog ihr rundes Gesicht. Da sagte Camille: "Ihr geht von bereits im Land untergekommenen Kundschafterinnen aus. Was, wenn es keine Kundschafterinnen gibt und Ladonna uns alle wie in unserem eigenen Gefängnis auf Lebenszeit einsperren will? Dann kann ich dir nämlich vorhersagen, dass selbst bei einer völligen Neuordnung des Ministeriums mit ganz neuen Leuten keine Ruhe einkehren wird, weil dann alle hoffen, dass sie bald wieder frei reisen können. Wenn das nicht eintritt werden sich alle gegenseitig bekriegen, um die Macht zu haben, gegen diesen Wall anzukämpfen."
"Apropos, kann man da durchapparieren?" fragte Julius. Camille wiegte den Kopf und sagte: "Ja, kann man. Aber als man, also mein Mann, es mit der Insel Korsika ausprobiert hat und wieder zurückkam strahlte er für drei Sekunden hellblau und bibberte wie in eiskaltes Wasser geraten. Dann war wieder alles wie vorher. Er und ich vermuten einen von unserem Apfelbaumpentagon aus ihm herausgelösten Markierungszauber, der irgendwie unterwegs auf ihn aufgeprägt worden sein muss. Womöglich würde der bei anderen Zielorten als unseren Häusern und der Siedlung selbst nicht einmal auffallen."
"Aber für jeden, der nach der Markierung sucht superleicht zu orten sein", knurrte Julius. Jetzt verstand er auch, warum sowohl Belenus Chevallier als auch sein Kollege aus der Verkehrsabteilung kein Wort über das Apparieren verloren hatten. Offenbar hatte Brunos Vater das schon von seinen Leuten ausprobieren lassen. Millie fragte, wie das gehen konnte, wo jemand doch gar nicht durch die Barriere hindurch musste. Darauf wusste Julius die Antwort: "Ähnlich wie bei Sardonias Kuppel, die nichts rein oder rausgelassen hat, wirkt die Barriere wohl so, dass sie den Transitfeldaufbau zwischen Start- und Zielpunkt beeinflusst. Die Kuppel hat jeden zurückgeworfen, ähnlich wie der Würfelraum, in dem ich die ersten Übungen gemacht habe." Millie nickte bestätigend. "Zwar ist der Wall keine Kuppel, aber doch irgendwo wie ein magischer Kreis, der die Verbindung erfasst und statt sie umzukehren einen Markierungszauber aufprägt. Wer von uns da raus will kommt zwar durch, ist aber eben dann leicht ortbar. Offenbar hat Ladonna sich schlau gemacht, was Onkel Otto und Onkel Gilbert im Dunklen Jahr so alles angestellt haben und wollte das nicht noch einmal durchgehen lassen."
"Anders kann ich mir das auch nicht erklären. Aber Florymont hat dieses Etwas am Ende doch noch ausgetrickst. An und für sich müsste ich ihm das Lesen dieser Weltraummärchen verbieten, mit denen du ihn angefüttert hast, Julius. Eines Tages landet der noch auf dem Mond oder stürzt in die Sonne. Achso! Er hat eine neue Erweiterung des Duotectusanzuges mit Leviportpolster und einer Luftstrahlturbine erfunden, mit der ein einzelner Mensch mit bis zu zwanzig Kilo Gepäck für zwei Stunden doppelt so schnell wie der Ganymed 12 und angeblich bis zu zwölftausend Meter hoch fliegen kann. Der ist mit diesem Wahnsinnsanzug losgeflogen, weit über Millemerveilles disappariert und erst nach einer halben Minute zurückgekommen. Diesmal gab es keine magische Entladung. Er meinte auch, dass er diesmal beim Sprung nichts außergewöhnliches verspürt habe."
"Ja, nur hat nicht jeder diesen neuen Fluganzug oder den Kormoranflieger, den wir demnächst testen wollen", sagte Julius. Camille nickte. Dann grinste sie überlegen. "Ich kam aber locker nach Korsika zum Hof meiner Tante hin und wieder zurück, ohne dass ich markiert worden bin. Dann kannst du das garantiert auch."
"Ja, das wird wohl gehen", sagte Julius. "Nur was will ich wo?" fragte er.
"Weiß ich noch nicht und sollte auch noch nicht jeder andere wissen", meinte Camille. Eleonore und Millie nickten. Draußen sangen Claudine und Aurore gerade das Lied vom ABC-Tierpark. Womöglich würde sich Claudine wundern, wie gut Aurore das schon konnte.
"Jedenfalls habe ich über meinen Schwiegersohn gleich an dessen Vater weitergeben lassen, dass es wohl nicht angeraten sei zu apparieren", sagte Camille. Sie machte eine dramatische Pause und fuhr fort: "Er bekam die Antwort, ihm bitte mal was neues zu erzählen, aber es keinem außerhalb der Familie zu verraten."
"Oh, Eleonore, dann hättest du das jetzt nicht mithören dürfen", feixte Julius. "Nicht wirklich lustig, Monsieur Latierre", knurrte Eleonore Delamontagne.
"Dann müssen wir uns jetzt darauf gefasst machen, dass in den nächsten Tagen irgendwer anfängt, sich zu beklagen, dass wir ihm oder ihr das Leben schwer machen und das Ministerium dafür geradezustehen hat, sei es mit Gold oder mit personellen Veränderungen", seufzte Julius. Die anwesenden Hexen nickten bestätigend.
Eleonore wollte dann noch wissen, ob Julius mit dem Laveau-Institut Kontakt erhalten habe. Er fragte sie, woher sie wisse, dass er das LI angeschrieben habe. "Einfache Kombination. Du hast sicher alle Adressen ausprobiert, die außerhalb Ladonnas Reichweite sind."
"Noch nicht alle, Eleonore. Aber um auf deine Frage zu kommen, das Laveau-Institut hat erwähnt, dass die Landesgrenzen noch frei passierbar seien, aber die wohl wieder mit Veränderungen rechnen müssten, wohl wegen der Enthüllung, dass der Föderationsrat über mehrere Wochen unter Ladonnas Einfluss gestanden hat. Sie wollen sich auch nicht dazu äußern, wie genau der Rat aus diesem Bann befreit wurde, wohl weil es denen peinlich ist, was passiert ist. Kann sein, dass ich nachher noch im Baumhaus nachfrage, was los ist, falls Viviane dort nicht vorher was neues erfährt. Öhm, Aurora, der australische Internetkontakt schläft sicher noch genau wie deine natürliche Vorlage. Hast du was erfahren, ob jemand eure Landesgrenzen zugemauert hat?"
"Das hätte ich dir sofort mitgeteilt", sagte die gemalte Aurora Dawn, über die Julius Verbindung zu ihrem lebenden Vorbild in Sydney hielt. "Aber die Bilderverbindungen gehen noch?" fragte er. "Ja, die Mutter meiner Vorlage konnte die Botschaft deiner Frau erhalten und hat über deren Version von mir zurückgemeldet, dass es ihr dem Umstand entsprechend gut gehe, dass auch die britischen Inseln von dieser Grenzmauer umschlossen sind", erwähnte die gemalte Aurora.
"Sag noch mal wer, es gäbe keinen Kontakt nach anderswohin", erwiderte Millie. Julius überlegte gerade, ob er Eleonore in das Geheimnis des Orichalkarmbandes einweihen sollte, wo die schon sein Erbe aus dem Morgenland kannte. Dann beschloss er, es erst mal nicht zu erwähnen, weil sicher auch die gemalte Aurora es erwähnt hätte. Außerdem hätte er dann auch erklären müssen, woher er es hatte. Das wäre dann auch Camilles Angelegenheit.
Eleonore bedankte sich noch einmal bei Millie für die Tasse Kakao mit Honig und das Käsecroissant. Dann rief sie ihre Kinder Baudouin und Giselle und verließ mit ihnen auf einem Familienbesen wie der der Latierres das Grundstück Pomme de la Vie.
"Hast du auch mal versucht, durch die Barriere durchzufliegen, Camille?" fragte Julius. "Nein, bisher noch nicht. Noch sehe ich keinen Anlass dazu. Genau wie du müsste ich dafür wissen, wo die Reise hingehen soll. Könnte nämlich sein, dass die Barriere einen Meldezauber hat, der weitergibt, wenn jemand sie zu durchbrechen schafft", sagte sie.
"Wenn das eine Windmagie ist, die einen Besen abbremst komm ich da wohl locker drunter durch", grummelte Julius. "Es sei denn, die hat jeden Meter was aus gediegenem und geschmiedetem Eisen hingelegt."
"Dann stellt sich noch mehr die Frage, warum wir das nicht mitbekommen haben", meinte Camille. Julius fiel aus dem reichhaltigen Dossier über vergangene Diktaturen des letzten Jahrhunderts ein, dass die Menschen in Westdeutschland und vor allem Berlin auch nicht mittbekommen hatten, dass die DDR-Regierung mal eben eine Mauer durch die Stadt bauen wollte. Das erwähnte er nur so, dass wenn jemand heimlich was gegen andere durchführen wollte, es immer Gelegenheiten gebe, das zu machen. "Die hat sicher nur schon alle Quellsteine oder Quellkörper auslegen lassen, wo ihr auch die Schweiz unterworfen war. Die wollte nur sicherstellen, ob Ministerin Ventvit nicht unter dem Druck von allen Seiten zurücktritt und die Grandchapeaus mit nach draußen nimmt. So weiß sie jetzt, dass das nicht so schnell passieren wird und will nachhelfen."
"Könnte es sein, Julius, dass wir Ladonna doch mehr unterschätzt haben?" fragte Camille. Julius sah zu Catherine. Diese erwiderte: "Sie hat sich das Wissen einer nichtmagischen Frau aus dieser Zeit angeeignet, Rose Britignier. Darüber hinaus hat sie seit mehr als einem Jahr Zugriff auf das italienische Zaubereiministerium und dessen Archiv, vor allem dessen Abteilung für gefährliches Zauberwissen und gefährliche Artefakte. Da werden ihr die einen oder anderen Gemeinheiten zugänglich sein. Aber wo wir es vorher von einem Gefängnis hatten, in das sie uns mehr oder weniger eingesperrt hat, Camille, Millie und Julius; ich las noch einmal in ihrem Tagebuch, wie sie damals ihre Feinde bekämpft hat. Dabei fiel auch der Begriff "Haus des Friedlichen Miteinanders". Wo genau dieses Haus lag hat sie nicht aufgeschrieben. Sie erwähnte jedoch, dass sie dort wichtige Feinde "beherbergt" haben will, um sie zur Gefolgschaft zu bekehren. Könnte sowas wie Grindelwalds Kerkerturm Nurmengard gewesen sein oder immer noch sein. Sie erwähnte was, dass sie erst alle Zimmer dieses Hauses mit einem Gast oder zweien belegt hat, bevor sie sicher sein konnte, dass sie alle ihre treuen Freunde wurden. Wir sollten davon ausgehen, dass es dieses Haus immer noch oder jetzt wieder gibt, Julius. Sicher kannst du dir denken, was mit Beherbergen und Bekehren gemeint ist."
"Nachdem was wir jetzt wissen auf jeden Fall", sagte Julius. "Vor allem wenn sie was von wichtigen Feinden und nicht von gefährlichen Feinden erwähnt. Gut, kann mal dasselbe sein, kann aber auch bedeuten, dass ihr die Gegner zu wichtig sind, um sie gleich zu töten. Danke für die Warnung, Catherine."
"Häh?!" machte Millie. Camille seufzte. Dann sagte sie: "Catherine will damit wohl sagen, dass Ladonna sich für sie interessante Hexen und Zauberer ausguckt, die ihr bisher widerstehen, um sie dann, wenn es sich lohnt, auf einen Schlag mit ihrem verfemten Feuerrosenzauber zu unterwerfen."
"Haha, wo du mit allen anderen Ministeriumsleuten für mindestens ein Jahr abgesichert wurdest, falls Léto nicht übertrieben hat. Außerdem kannst du ja noch beim Verreisen dein Erbe aus dem Morgenland mitnehmen." Julius überlegte. Ashtarias Heilsstern war mächtig, aber eben auch zu mächtig, um in der Nähe von laufenden Computern getragen zu werden. Wenn er den immer umhängen sollte war es erstmal nichts mit Internet und E-Mails. Das sagte er auch seiner Frau. "Ja, noch bist du ja hier", sagte Millie. Julius nickte.
Da Chloé und Claudine gerne noch länger bleiben wollten, um Aurore was vom ersten Schuljahr zu zeigen, was sie noch nicht wissen mochte luden Aurores Eltern Camille und Catherine zum Abendessen ein. Danach konnten sich die drei ältesten Kinder in Aurores Zimmer noch über die anstehenden neuen Sachen unterhalten. Béatrice tat dies zusammen mit Camille, Catherine und ihren beiden Mitbewohnern. Julius fragte Catherine auch, wie es Joe ginge und was dessen Eltern machten. Catherine erwähnte dann, dass sich Joe wieder gutfühle und seine Eltern sich in der neuen Heimat Gloucester richtig gut eingelebt hatten. Die Nachbarn hätten zwar erst wegen der schnodderigen Sprechweise von James Brickston geguckt, dann aber doch eingesehen, dass er in ihrer Gegend wohnen dürfe, zumal er nach dem Dienst auch bei Reparaturen helfe. "Der erlebt jetzt wohl seinen zweiten Frühling", grinste Catherine. Julius vermied es noch, zu erwähnen, dass sowas meistens mit einem Partnerwechsel zusammenfiel. Aber auf das dünne Eis wollte er dann doch nicht.
Um neun Uhr war für Chloé und Claudine der Tag zu Ende. Ihre Mütter schafften es, sie von Aurore wegzukriegen, die mit ihnen noch im Musikzimmer gespielt hatte. Julius brachte Aurore ins Bett, während Millie Chrysope und Clarimonde nachtfertig machte. "Das mit den Rechenaufgaben wird nicht leicht. Aber ich freu mich auf die Schule, auch wenn Claudine meint, dass es im zweiten und dritten Jahr echt schwer wird."
"Dann warte mal ab, wenn du ins fünfte Jahr kommst. Dann ist alles vom zweiten Jahr völlig einfach gewesen", meinte ihr Vater. "Echt! Soll dann so. Hauptsache ich kann auch nach Beaux, wie Maman und du." Julius hoffte das auch.
Als Aurore ruhig im Bett lag schloss ihr Vater die Tür von draußen. Sie wurden echt schnell groß, dachte er und sah einen Moment Millie mit geöffnetem Unterleib, aus dem etwas mit rotblonden Haarstoppeln hervordrängte.
Julius nahm noch einmal sein Orichalkarmband und legte es sich um. Er hatte das Gefühl, dass er von der natürlichen Aurora oder von Brittany noch einmal angerufen werden mochte.
Tatsächlich vibrierte sein Armband kurz vor zehn Uhr abends. Brittanys räumliches Abbild erschien, als er den Finger auf den Kontaktstein legte. Millie und Béatrice waren bei ihm in der Wohnküche.
"Julius, die haben gerade im Radio gebracht, dass der Föderationsrat abgesetzt ist. Die Regionalbarone, wie unser Muntermacherfreund Roddy Krueger sie genannt hat, haben es echt gebracht und den Föderationsparagraphen zwanzig A gezogen. Achso, da steht drin, dass im Falle, dass die Mehrheit der Regionalsprecher das Vertrauen in mehr als die Hälfte des Rates verlieren sollte, der vollständige Rat abgesetzt wird und die Regionalsprecher eine Übergangsadministration einrichten dürfen, die mit aus ihren Reihen gewählten Leuten besetzt wird. Catlock, Picton und alle anderen dürfen jetzt Urlaub machen in Viento del Sol. Denn da sollen sie bleiben, bis entschieden ist, ob ein neuer Rat gewählt wird oder über die Zukunft der Föderation noch einmal neu verhandelt werden soll. Sind die doof."
"Du meinst wegen des Chaos', das dann Nordamerika heimsucht, weil sich jeder nur noch für das eigene kleine Königreich zuständig fühlt?" fragte Julius. "Yep", blaffte Brittany. "Gut, Stella gehört ja auch zu den Regionalbaronessen und -baronen. Die freut sich wohl, jetzt mehr Regionalpolitik machen zu dürfen, weil VDS der Sitz der Region Kalifornien ist, sofern die Nachbarn aus direkt südlich nicht meckern."
"Wer genau, Britt, die von Baja California?" fragte Julius. "Ui, noch wer, der einen amerikanischen Atlas gefuttert hat. Das meinte deine Mom, mit der und Conny Woodlane ich eine Stillgruppe habe, auch sofort. Ja, Stella meinte - aber nicht gleich in die Zeitung schreiben! -, dass heute schon der Regionalsprecher von Baja California, ein Señor Alvaro Murillo, angefragt habe, ob die beiden Regionen nicht zusammengelegt und in Unida California umbenannt werden sollten. Sie hat ihn damit vertröstet, dass sie ja erst mal bis zur Regionalsprecherversammlung hier in VDS die kalifornischen Mitbürger darauf einstimmen müsse, dass der Föderationsrat erst mal aus dem Spiel ist, wenn das Spiel nicht komplett abgepfiffen wird."
"Und sie meint, da könnte noch was nachkommen, von wegen Wiedervereinigung?" fragte Julius. "Angedeutet hat sie's zumindest, weil Murillo so entschlossen geguckt haben soll."
"Britt, wenn ich eine Digekanachricht kriege, dass es zwischen Kalifornien und Baja California scheppert komt das in die Zeitung", sagte Millie. "Ja, falls Roddy Krueger das nicht gleich durchs Frühstücksradio posaunt, wo der mit deiner Tante Linda so gut im Duett moderiert, seitdem das mit Buggles' Käseglocke war."
"Tante Linda ist auch deine Tante, nicht nur meine, Cousinchen", stellte Millie klar.
"Schwiegercousinchen", grinste Brittany. Dann hörte sie sich an, was in Frankreich los war. Ihr Kommentar fiel nicht so lockerflockig aus wie bisher. "Dann will sie es jetzt wissen, Béatrice, Millie und Julius. Passt bloß gut auf euch und die Kleinen auf. Du weißt ja, eure Rorie will ja immer noch Leo heiraten."
"Allein schon deshalb müssen wir ganz doll auf uns alle aufpassen", erwiderte Julius. Doch dann wurde er ernst. "Kann sein, dass die es nicht beim Abschotten belässt und versucht, die zu erledigen, die ihr zu gefährlich geworden sind. Womöglich setzt sie erst auf die Verunsicherung und auf eine steigende Missstimmung im Land. Doch wenn die mal eben so einen Albtraumzaun um das ganze Land hochziehen konnte, ohne dass irgendwer von uns das mitbekommen hat, dann muss ich dieser Sabberhexentochter alles mögliche zutrauen."
"Das ist wohl leider wahr", seufzte Brittany. Dann lächelte sie auf einmal verwegen. "Hast du von Mel schon einen Brief bekommen oder es von Glo ... ach neh, ist ja gerade Eulenschonzeit zwischen den beiden ... Also Mel wird wieder eine Mom, voraussichtlich im Februar. Titonus und sie haben es nicht lange durchgehalten."
"Och joh!" machten Julius und Millie. "Öhm, darf ich das von dir wissen oder muss ich warten, bis sie mir das schreibt?" fragte Julius. "Mel weiß, dass ich mit euch in Verbindung stehe. Ich habe der nichts von dem Armband gesagt, aber erwähnt, dass ich auch E-Mails schicken kann. Also kannst du es, wenn sie dich anschreibt ruhig erwähnen, dass ich dir das mit ihrer Erlaubnis weitererzählt habe."
"Ich las, dass alle Läden im Weißrosenweg wieder aufmachen konnten. Dann ist sie wieder oder immer noch im Kosmetikladen ihrer Tante Dione?" fragte Julius. "Das Ladenlokal an der bisherigen Adresse haben sie aufgegeben. Sie haben die Ausgleichszahlungen genutzt, sich auf einer Etage des dreistöckigen Kaufhauses zwei Häuser vom betrunkenen Drachen entfernt einzukaufen. in dem Laden gibt es Ober- und Unterbekleidung für Hexen und Zauberer und da auch eine Umstandsmodenabteilung. Mel darf wohl demnächst deren Sachen vorführen, während die ihre Kundinnen an sie weiterempfehlen, weil sie jetzt auch Säuglingspflegeartikel außer Windeln im Angebot hat", berichtete Brittany. "Und sind die Klamotten alle vegan?" fragte Julius frech. "Das weiß ich echt nicht und muss mich hier in VDS nicht kümmern, wo wir mittlerweile den größten Laden für Grünstaudentextilien und wasser- und feuerdichtes Schuhwerk ohne Lederverarbeitung in ganz Nordamerika haben", grinste Brittany.
Julius fragte sie noch einmal, wann diese Vollversammlung in Viento del Sol sein sollte. Sie erwähnte den vierten Juli. "Ach, der Unabhängigkeitstag? Wie symbolisch", ätzte Julius. Brittany nickte verbittert. Also einen vollen Monat lang sollten die Regionalsprecherinnen und -sprecher die Geschicke ihrer Regionen verwalten um dann zu entscheiden, ob sie das in Zukunft alleine hinbekamen oder nicht doch lieber wieder eine übergeordnete, alle Regionen gleichbehandelnde Instanz haben wollten. Anschließend verabschiedete sich Brittany von den Latierres. Die Bild-Sprechverbindung erlosch.
"Dieses Weib ist tausende von Kilometern von Amerika weg und schafft es doch noch, die durcheinanderzuscheuchen. Am Ende hat die von diesen ... Ach neh, der oder die könnte dann ja nicht nach VDS rein", grummelte Julius.
"So ähnlich habe ich gedacht, als das dunkle Jahr bei uns war, Julius", sagte Béatrice. "Ich war nur froh, dass ich im Château war und wir alles hatten und auch genug Bilderverbindungen, um nicht vom Geschehen abgehängt zu werden." Julius konnte sich auch noch zu gut an die Zeit vor neun Jahren erinnern, vor allem an die Friedenslager, den Sturm auf Beauxbatons und was er drei Monate lang erlebt hatte. Das war alles so gegenwärtig, als wenn es erst gestern geschehen wäre.
"Wo wir schon mal alle Kontaktmöglichkeiten ausprobieren, Julius, wolltest du nicht auch noch mal mit Gloria sprechen?" fragte Millie. Julius dachte eine Sekunde nach, wie sie das meinte. Dann nickte er. Er griff in seinen Practicus-Brustbeutel und tastete nach jenem Zweiwegespiegel mit eingeprägtem Sonnensymbol auf der Rückseite. Als er ihn zwischen den Fingern fühlte zog er ihn behutsam durch die Öffnung des magischen Lederbeutels. Damit entschrumpfte der Spiegel und erwachte zu seinem magischen Dasein. Jetzt galt es nur noch, Gloria zu rufen und zu hoffen, dass sie den Spiegel in Griff- und Hörweite hatte.
"Gloria, bist du da?!" Rief Julius der Spiegelfläche zugewandt. Noch sah er nur sein eigenes Spiegelbild. Nach einer halben Minute wiederholte er seinen Anruf. Danach dauerte es nur wenige Sekunden, bis sein Spiegelbild durch Gloria Porters Gesicht ersetzt wurde.
"Hallo, Julius, hat dich Mel oder Pina angeschrieben, dass du mit mir sprechen möchtest?" fragte Gloria ohne sich zu freuen, dass sie mal wieder von ihm hörte. Julius blieb ganz ruhig und antwortete: "Pina hat mich per Computer angeschrieben, weil bei euch wie bei uns gerade die Landesgrenzen durch einen schwarzmagischen Wall versperrt sind, durch den kein Besen schneller als Schrittgeschwindigkeit fliegen kann und der darauf sitzende Mensch unter schlimmen, albtraumhaften Halluzinationen leidet. Deshalb wollte ich prüfen, ob alle mir möglichen Kontaktverbindungen noch gehen. Wieso hätte mich Mel anschreiben sollen?"
"Punkt eins, die Spiegelverbindung klappt wohl noch, weil ich dich sehen kann und du mich wohl auch", erwiderte Gloria. Julius sah sie genau an. Ihre hellblonden Locken hingen ein wenig unordentlich herab. Hatte er sie gerade aus dem Bett gerufen? "Punkt zwei, hätte sein können, dass Mel gemeint hat, dich wegen mir anzutexten, weil sie und ich gerade nicht so gut miteinander können und sie dich als Vermittler angerufen hätte. Hat sie aber offenbar nicht", erwiderte Gloria. Dann erwähnte sie, dass sie bei ihrem Schreibtischjob in der Handelsabteilung mitbekommen habe, dass die aufs Festland verschickten Eulen nicht weiter als bis zur Landesgrenze von England und Irland gelangt seien. Nach Irland ginge es noch, aber irgendwer oder irgendwas habe einen Bannkreis um beide Inseln gezogen, der genauso wirkte wie Julius ihn beschrieben hatte. "Der wirkt aber nur auf magische Wesen oder mit Antriebsmagie bewegte Gegenstände, nicht auf Menschen in Booten, auf Schiffen oder in diesen Motorflugzeugen mit Dreflügeln oder Feuerstrahldüsen. Die kommen nämlich alle durch, hat mein Abteilungsleiter von der Verkehrs- und von der Strafverfolgungsabteilung erfahren. Ach neh, Millie ist auch da? Oder ist das deine Schwiegertante Béatrice, die bei euch eingezogen ist? Vertragen die beiden sich denn gut?"
"Ich bin das, Gloria", sagte Millie, die wirklich hinter Julius hingetreten war. Béatrice hatte sich so gesetzt, dass der magische Spiegel ihr Bild nicht erfassen und an Gloria weitergeben konnte. "Ich wollte auch nur wissen, ob es dir gut geht, wo Julius mal wieder mit dir reden möchte. Und ja, wir vertragen uns noch, meine Tante Béatrice und ich. Oder hast du gedacht wir drei würden im selben Bett schlafen?" An Glorias schlagartig errötendem Gesicht sahen Millie und Julius, dass sie wohl einen Volltreffer gelandet hatte. Gloria merkte, dass ihr Millies Frage die Schamröte ins Gesicht getrieben hatte und blickte sie und Julius wütend an. "Ihr Latierres habt echt die verdorbensten Gedanken. Es ist echt ein Wunder, dass Julius sich auf dich eingelassen hat und du ihm echt schon sechs Kinder ausgebrütet hast. Ach neh, sechs wären es ja. Aber deine Tante hat ja gemeint, das dritte in deinem Bauch lieber selbst auszutragen, weil du sonst geplatzt wärest.""
"Öhm, Gloria, bevor das hässlich wird möchte ich mich entschuldigen, falls Millie dich beleidigt haben sollte, weil ich ihr die Gelegenheit dazu bot", sagte Julius. "Und was sie und mich angeht wissen sie und ich, warum wir zusammen sind und wieso ich selbst das weiterhin schön finde, dass sie meine Kinder bekommen hat. Was Tante Béatrice angeht bin ich ihr sehr dankbar, dass sie meinen Sohn für uns drei ausgetragen und geboren hat, was ihr echt nicht leichtgefallen ist, kann ich dir sagen. Ich möchte deshalb darum bitten, dass ihr zwei euch nicht weiter beschimpft", hakte Julius ein. Millie knurrte verbittert, ließ ihm aber das Wort.
"Wie gesagt, ihr müsst das wissen. Aber dann hast du deiner Schwiegertante den bei Hexen doch achso wichtigen V.-I.-Status versaut, oder ist ihr Geschlecht so stabil gebaut wie bei der christlichen Gottesmutter nach der Geburt deren sogenanten Erlösers?" wollte Gloria wissen. Béatrice verzog erst das Gesicht. Doch dann musste sie lautlos grinsen. Gloria bekam davon nichts mit. Millie sprach nun doch: "Gloria, aus dir spricht, ja spritzt der blanke grüne Neid. Mel hat ein Baby, Brittany hat zwei, Pina ist Tante und von uns hatten wir's gerade. Nur du hast noch keinen gefunden, mit dem du das herrliche Gefühl erleben kannst, ein eigenes Kind heranwachsen zu fühlen, von jenem superherrlichen Gefühl, es zu empfangen ganz abgesehen."
"Ja, und dir die kleine Vordertür aus den Angeln reißen zu lassen, wenn das achso herrliche Geschöpf nach neun Monaten Parasitendasein aus dir raus will", erwiderte Gloria. Julius wollte was sagen. Doch Béatrice gebot ihm mit einem strengen Blick zu schweigen. Millie erwiderte: "Ich will nicht abstreiten, dass es sehr doll weh tut, ein Kind zur Welt zu bringen. Aber deshalb weiß ich von mir, was ich aushalten kann, du nicht oder besser noch nicht."
"So einen Unfug hat Mel auch behauptet, als ich sie das letzte mal besucht habe. Außerdem seid ihr nicht auf dem neuesten Stand. Die hat schon den nächsten Hosenscheißer im Bauch", stieß Gloria unüberhörbar verächtlich aus.
"Öhm, ich hatte eigentlich gedacht, mit meiner ehemaligen Schulkameradin Gloria Porter zu sprechen, die immer viel wert auf gepflegtes Aussehen und gesittete Ausdrucksweise gelegt hat. Habe ich mich vielleicht doch verwählt?" fragte Julius jetzt mit einer Mischung aus Unbehagen und Belustigung.
"Ach, weil ich mal sage, was jeder sofort versteht, ohne mich für überkandidelt zu halten, Julius? Also wusstet ihr das doch schon", knurrte sie noch. Julius sagte nur "Yep!" Millie grinste Glorias Gesicht im Silberrahmen überlegen an. Da fragte Julius: "Wenn du mit Mel gerade ein Beef hast, warum auch immer, woher hast du es dann, dass sie wieder was kleines erwartet?"
"Ein was? - Egal! - Von wem weiß ich das, von ihrer Tante, in der ich mal neun Monate dringesteckt habe und die mir zur Belohnung, dass ich es doch aus ihr hinausgeschafft habe, ein halbes Jahr lang ihre prallen Brüste zum Nuckeln hingehalten hat. Noch irgendwelche Fragen?"
"Nur noch die eine: Kann ich oder wer, den ich kenne dir bei irgendwas helfen?" Fragte Julius. "Mir helfen? Nein danke, nicht nötig", fauchte Gloria. "Kann sogar sein, dass ich den Spiegel jetzt doch zu Opa Livius zurückschicke, damit der den dahin gibt, wo Oma Jane den her hatte. Ach ja, über Opa Livius bist du ja dann über die zwei Tratschhexen aus Yankeeland sicher auch voll aufgeklärt worden, schätze ich", fauchte Gloria. Doch ihrem Gesicht, vor allem ihren Augen war anzusehen, dass ihr diese Bemerkung selbst sehr unangenehm war.
"Ich bin sehr beruhigt zu wissen, dass er sich gut von allem erholt hat, was mit ihm war", erwiderte Julius ruhig. "Vielleicht sehe ich ihn ja wieder, wenn ich mal wieder in den Weißrosenweg komme. Ob der dann noch in einer Föderation, in den USA oder einer ganz anderen Verwaltungshoheitszone liegt muss ja wohl geklärt werden, weiß ich aus dem Laveau-Institut." Julius merkte dass dieser Quellenhinweis bei Gloria nicht wirklich gut ankam. Sie verzog ihr Gesicht und grummelte: "Klar, deine Mutter arbeitet ja wohl seit der Kiste mit Buggles für das LI, obwohl sie nicht die entsprechende Ausbildung hat."
"Für das, was dort von ihr erwartet und gefordert wird hat sie die beste Ausbildung, so gut, dass sie schon anfängt, andere zu unterrichten", erwiderte Julius. Er hätte fast Millies Spruch vom Grünen Neid wiederholt.
"Dann schick ich den Spiegel hier zu dir und du gibst beide bei denen ab, wenn du immer noch ins Institut rein darfst."
"Öhm, ich weiß nicht, wo deine Oma Jane die Spiegel her hatte. Am Ende hat sie sie in eigenem Auftrag machen lassen. Außerdem wollte sie haben, dass wir zwei uns über die Entfernungen hinweg verständigen können, was mir damals das Leben gerettet hat und ich deiner Oma deshalb immer noch sehr, sehr dankbar bin", sagte Julius. Dass er damit eine schwere psychologische Keule schwang war ihm bewusst und auch seine Absicht. Er sah sogleich, wie heftig sie bei Gloria einschlug. Sie kniff merhmals die Augen zusammen, verzog ihr Gesicht und presste dann heraus: "Ist gut jetzt, Julius. Das sollte es jetzt wohl sein. Bis irgendwann. Aber warte drauf, dass ich dich anrufe nicht umgekehrt!" In dem Moment verschwand auch schon ihr Spiegelbild.
"Öhm, Julius, ob das jetzt so geschickt war?" fragte Béatrice, als Julius nach zehn Sekunden Wartezeit den Spiegel wieder fortpackte. "Das weiß ich nicht. Aber es erschien mir gerade nötig", erwiderte Julius verdrossen. "Ja, und das war es auch", klang von Vivianes Bild her die Stimme einer älteren Hexe, deren Abbild jedoch nicht zu erkennen war. "Öhm, wie lange sind Sie dort schon?" fragte Julius.
"Gerade erst vor einer halben Minute eingetroffen. Viviane hat mich abgeholt, als ihr es davon hattet, mit Glo zu reden, Honey", antwortete die Stimme der gerade unsichtbaren Jane Porter. "Sie finden also, es sei nötig gewesen?" fragte Béatrice. Millie nickte dem Bild zu. "Wer derartig biestig um sich beißt muss damit rechnen, zurückgebissen oder geschlagen zu werden, Mademoiselle Latierre. Das haben Di und auch ich ihr immer wieder erklärt, wenn sie meinte, sich mit anderen Mädchen anzulegen und die eine oder andere Kratzwunde oder heftig zerzaustes Haar abbekommen hatte. Es tut mir weh, dass sie diese so wichtige Lektion schon wieder verlernt hat. Ebenso tut es mir weh, dass sie sich so gehen lässt. Ich habe es nicht erst heute mitbekommen, wie Glo sich gerade verhält, die Damen und der junge Herr. Das Spiegelpaar habe ich übrigens wirklich im eigenen Auftrag herstellen lassen. Du müsstest es also wenn überhaupt an Livius abgeben. Aber dem habe ich damals schon gesagt, dass ich sehr viel besser schlafen kann, wenn ich weiß, dass du und Glo euch damit rufen könnt oder wo ich noch mit dir sprechen konnte. Ja, und was du ihr deshalb gesagt hast, Julius, war völlig richtig und somit auch wirklich nötig."
"Ja, und für Ihren Mann Livius schlafen Sie ja jetzt wirklich sehr viel besser", sagte Millie ein wenig vorwitzig. "Zumindest hoffe ich, dass ihm diese Vorstellung den nötigen Halt gibt, wieder auf sichere Beine zu kommen, Madame Latierre", erwiderte Jane Porter sehr ernst aber nicht ungehalten. Dann sagte sie noch: "Falls Glo dir echt ihren Spiegel schickt, oder sie den Spiegel zu Livius oder ins LI schickt warte ab, wer darüber mit dir Kontakt aufnimmt. Vielleicht kriegt deine Mom den Spiegel ja. Ach neh, ihr habt ja die alten Armbänder." Julius nickte Vivianes Bild zu. Er wollte nicht fragen, warum Jane Porter nicht sichtbar werden oder gar herübertreten wollte.
"Dann soll Livius entscheiden, ob er den zweiten Spiegel behält oder jemandem gibt, der mit euch gut auskommt. Vielleicht spricht er auch noch einmal mit Di und Glo, was da los war und die können sich aussprechen."
"Vielleicht ist das noch eine unvollständige Trauerbewältigung", vermutete Béatrice. "Das meine Mutter nicht mehr mit ihren zwei Brüdern spricht, oder besser, die nicht mit ihr sprechen wollen hängt auch daran, dass sie wegen dem, was mein Großvater hinterlassen wollte in Streit geraten sind und jeder und jede meinte, dieses oder jenes mehr verdient zu haben. Und als mein Vater starb hat es zwischen meinen älteren Geschwistern und mir auch mehr gekracht als für eine glückliche Familie gut war. Aber da hat meine Mutter uns alle zusammengerufen und jede und jeden von uns einzln sprechen lassen, warum dieses oder jenes so heftig war und dann gesagt, dass mein Vater nur dann wirklich nicht mehr da ist, wenn wir uns über irgendwas unrettbar zerstreiten. Danach war wieder Frieden. Das ist eben so, wenn jemand geliebtes scheinbar für immer gegangen ist und alle ihn oder sie vermissen."
"Gut, ich erkenne an, dass dieser letzte Satz wohl von Ihrer Seite her nötig war", erwiderte die unsichtbare Besucherin. "Aber jetzt gerade, wo dieses Spinnenweib sich mit der Dreiblütigen ein Duell um den Titel beste Dunkelhexe der Welt liefert kann und will ich denen nicht erklären, wieso es mich noch gibt. Es würde - das sehen Sie als Heilerin sicher ein - einen größeren Ballast auf die Seelen laden als wenn sie nachwievor davon überzeugt sind, ich sei gestorben und begraben worden. Ich kann mich ja nicht einfach bei denen in den Garten stellen wie Ihre Frau Großmutter mütterlicherseits, Mademoiselle Latierre."
"Touché", erwiderte Béatrice darauf. "Dann ist hoffentlich alles soweit besprochen, wie es nötig war", erwiderte Jane Porter. "Ich ziehe mich wieder in mein eigenes Reich zurück und wünsche euch und Ihnen das nötige Durchhaltevermögen, um die nächsten Wochen zu überstehen."
"Das wünschen wir Ihnen auch", sagte Julius und erhielt ein zustimmendes Nicken von Millie und Béatrice. Sie sahen zu, wie Viviane ihr Bild verließ und dabei einen Arm nach hinten gestreckt hielt, als zöge sie wen oder was hinter sich her.
"Am besten gehen wir jetzt auch schlafen. Wer weiß, was morgen los ist", sagte Béatrice. "Hoffentlich was besseres als heute", erwiderte Julius. Millie sang ihm dafür das Lied von jedem neuen Tag, der immer neue Hoffnung bringt. Er knuddelte sie innig und küsste ihr unter Béatrices Augen auf den Mund. Dann zogen sie sich in ihre jeweiligen Schlafbereiche zurück. Julius fand gerade nach dem Gespräch mit Gloria und ihrer für tot gehaltenen Großmutter Jane, , dass es heute immer noch nicht möglich war, ihre besondere Dreierbeziehung zu besprechen. Doch er wusste, dass es irgendwann sein musste, bevor es doch noch heftig knallen mochte, wobei er hoffte, dass es dann nicht erst recht krachte.
Bei ihrem Volk hieß sie Leuchtblüte. Die weibliche Veela war bereits zweihundert Jahre alt und hatte mit ihrem von den Ältesten ihres Landes zugesprochenen Mann sieben Kinder bekommen. Dafür, dass jedes reinrassige Veelakind fünf Jahre im Mutterleib heranwuchs war das schon beachtlich.
Leuchtblüte sorgte sich um ihre Familie. Seit einigen Wochen galten Veelas und Veelastämmige in ihrer Heimat Russland als geächtete, die bedenkenlos gejagt und bei Widerstand getötet werden durften. Dass sie bisher nicht behelligt worden war lag daran, dass sie im äußersten Osten des einstigen Zarenreiches lebte. Weiter westlich waren schon Veelas vor diesen quiekenden, pelzigen Biestern geflüchtet, die die Ministeriumszauberer aus den dunkelsten Tiefen der Erde hervorgelockt und unterworfen hatten. Versuche, mit Arcadi darüber zu verhandeln, wie das vorher so friedliche Verhältnis wiederhergestellt werden konnte waren mit beinahen Festnahmen der Unterhändler beantwortet worden. Arcadi wollte keine Veelas mehr im Land haben. Ebenso galt das wohl für die Brüder und Schwestern in Bulgarien, Rumänien und den Ländern des einstigen Zarenreiches, die sich von Russland losgesagt hatten und jetzt offenbar wieder heim ins Mutterland wollten.
Die Nacht war trotz des nahenden Sommers immer noch kühl. Deshalb brannte in Leuchtblütes Höhlenversteck ein kleines Feuer. Sein Knistern und Prasseln wirkte zudem beruhigend auf das Veela-Ehepaar.
Ein leises Knacken weckte die schlafenden Veelas. War das ein Zweig im Feuer? Nein, das kam von außerhalb der Höhle. Leuchtblüte und ihr Mann Flussgold waren sofort hellwach. Wieder knackte es laut und Scharf. Wieder war ein unter Erde und Moos versteckter Zweig zerbrochen. Sie kamen!
"Unsichtbar raus, meine Holde! Feuer brennen lassen, dass die denken, wir sind noch drin", wisperte Flussgold. Der nur fünfzig Jahre jüngere Ehemann Leuchtblütes war nicht auf Kampf aus. Das prägte viele männliche Veelas.
Ein verdächtiges, dunkles Knurren ertönte von draußen. Das klang nicht nach diesen schwarz-blauen Plagegeistern, die die Zauberstabträger gegen sie einsetzten. Knack! Wieder war einer der nur oberflächlich versteckten Zweige zertreten worden. Das klang nach jenem, der nur noch zwanzig Schritte vom Höhleneingang entfernt war.
Die zwei Veelas bündelten ihre Verbindung zur Luft. Sie wollten so durchsichtig sein wie reine Luft. Nach nur drei tiefen Atemzügen waren sie nicht mehr zu sehen. Auch ihre Körperwärme würde nicht zu sehen sein, wussten sie aus früheren Versuchen. Sie eilten lautlos an ihrer Feuerstelle vorbei zum Eingang hinaus. Da prallten sie fast auf das, was sich ihnen näherte.
Erst sahen sie einen Schatten, größer als ein Hirsch. Dann sahen sie die Pranken, die wie die eines viermal so großen Wolfes aussahen. Doch es war keiner jener mörderischen Riesenwölfe, sondern ein dreiköpfiges Ungetüm mit hängenden Ohren, ein übergroßer, magisch verfremdeter Wachhund. Sechs glühende Augenpaare glotzten in alle Richtungen. Breite, schwarze, feuchte Nasen sogen laut schnaufend Luft ein, um zu wittern, wo die gesuchte Beute war. Als sie diese erschnüffelten duckte sich das dreiköpfige Ungetüm und sprang mit lautem Knurren aus drei geifernden Mäulern los.
Leuchtblüte und Flussgold sprangen wie auf ein stilles Zeichen in zwei verschiedene Richtungen weg. Der erste Angriff der drei mörderischen Mäuler ging fehl. Doch das fremde Ungeheuer setzte mit laut auf dem Boden klatschenden Pranken nach, versuchte mit dem linken kopf nach links und mit dem rechten Kopf nach Rechts zuzuschnappen. Dabei erwischte das rechte Maul die Spitze eines Haares und zerrte daran. Leuchtblüte schrie laut auf. Der Schmerz unterbrach ihre Konzentration auf die Unsichtbarkeit. Das gepackte Haar riss ihr ab. Es war wie ein Dolchstoß in ihren Kopf, der zu einem schmerzhaften Schlag wie ein Blitz wurde und durch ihren Körper jagte. Deshalb war Leuchtblüte wie gelähmt, als das Ungeheuer mit drei Köpfen sich zu ihr hinwandte und gnadenlos zubiss. Doch als Leuchtblüte fühlte, wie vier Zahnreihen zugleich in ihren Leib drangen sah sie aus den Augenwinkeln einen Mann mit einer Armbrust. Doch sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil es hinter einem spiegelnden Visier verborgen war. Dann fühlte sie, wie der dreiköpfige Tod sie mit gnadenloser Grausamkeit zerfleischte. In ihren Schmerzen schaffte sie es noch, die letzte Botschaft ihres Lebens an ihre sieben Kinder zu senden: "Dreiköpfiger Riesenhund von Armbrustträger geschickt ist mein Tod!" Dann wurden die Schmerzen für sie unerträglich, und eine gnädige Ohnmacht beendete ihr Leid.
Flussgold war ebenfalls zur Seite gesprungen. Er entging einem heißen, nach verfaultem Fleisch stinkenden Atem ausstoßendem Maul und gewann mehrere Schritte Abstand. Er zuckte zusammen, als er seine Frau in den letzten Schmerzen ihres Lebens schreien hörte, das Reißen und Spritzen hörte, was nichts gutes bedeutete und dann die letzte Botschaft von ihr in seinem Geist hörte. Was sollte er tun? Konnte er ihr noch helfen? Ja, er musste was machen. Er musste den Armbrustträger töten. Blutrache für Leuchtblüte!
Doch zuerst galt es, das Ungetüm zu erledigen, dass seine Frau umbrachte. Er wandte sich mit geschlossenen Augen dem immer noch im Blutrausch schnappenden und reißenden Ungeheuer zu und besann sich auf den Zorn von Luft und Feuer. Er fühlte, wie die Kraft der Luft und die in ihr schlummernde Bewegung des Sonnenfeuers in ihn einströmte. Dann hatte er die Schwelle erreicht, wo er die Kraft auf ein Ziel loslassen konnte. Er blickte nach vorne und sah zwei der bluttriefenden Mäuler auf sich zujagen. Mit einem lauten Knall entlud sich ein grellblauer Blitz genau auf alle drei Nasen und Zungen des Angreifers. Einn dreistimmiger Schmerzensschrei gellte durch die Nacht. Flussgold unterdrückte einen Triumphruf. Noch war das Ungetüm auf den Beinen. Er sprang rückwärts und landete hinter einer sicheren Deckung. Genau in dem Augenblick sirrte ein bläulich flimmernder Armbrustbolzen durch die Luft und schlug klirrend gegen den Rand des Höhleneingangs. Flussgold fühlte die Wut, den Zorn, den tödlichen Hass auf den dreiköpfigen Mordhund und seinen Befehlshaber. Vielleicht sollte er den zuerst mit einem Feuerball treffen. Doch der Hund war näher und würde ihn vorher erwischen, wenn er ihn nicht sofort wieder zurückschlug oder gleich erschlug. So nutzte er seinen Hass als Kraftquelle für einen gewaltigen Feuerball. Er zielte mit halb geschlossenen Handflächen auf den Dreiköpfler, riss die Hände einen halben Meter auseinander und entließ einen hellgelb lodernden Feuerball, der laut fauchend auf den Riesenhund zuflog. Doch dieser schrak nicht zurück, duckte sich nicht einmal. Er bekam den Feuerball voll an die mächtige, struppig behaarte Brust und den mittleren Kopf. Das Feuer breitete sich aus, züngelte auch zu den beiden äußeren Köpfen, hüllte sie ein. Doch dann verlosch es. Fell und Körper des Ungeheuers blieben völlig unversehrt. Nur die dampfenden Riesennasen verrieten, dass sie etwas sehr heißes getroffen hatte. Das Ungetüm sprang weiter vor. Flussgold sah nur noch einen Ausweg. Er stieß sich vom Boden ab und fühlte, wie sein Körper sich veränderte. Wie aus dem Nichts erschien ein Graureiher, der mit schnellen Flügelschlägen in die Höhe stieg. Der ungeheuerliche Jagdhund riss seine drei Köpfe nach hinten, und tat einen gewaltigen Satz nach oben. Doch der Graureiher wich aus. Das mittlere Maul schnapte laut rasselnd an ihm vorbei. klebrige Speicheltropfen verfingen sich im wasserdichten Gefieder.
Der Mordhund fiel wieder in die Tiefe. Der zum Graureiher gewordene Flussgold wollte noch höher aufsteigen. Erst als er den auf ihn zuschwirrenden Armbrustbolzen hörte wurde ihm mit letzter Gewissheit klar, dass er durch die überhastete Verwandlung seine Unsichtbarkeit auffgegeben hatte. Nur die besondere Eigenschaft, viermal so schnell wie ein natürlicher Vogel der von ihm bevorzugten Art zu fliegen konnte ihn vor dem Treffer bewahren.
Er schwang die Flügel und zog zur seite. Da war das ihm geltende Geschoss heran ... und traf ihn am rechten Flügel. Ein Schmerz wie ein einschlagender Blitz durchzuckte den Verwandelten. Er konnte sich auf einmal nicht mehr bewegen und sackte weg. Dann sah er den Armbrustschützen, der mit einem Zauberstabstupser die glitzernde Sehne nachspannte, einen weiteren Bolzen auflegte und aus einer vielfach geübten Bewegung heraus auf den abstürzenden Flussgold zielte. "Smiert Vila!!" hörte Flussgold einen Ruf. "Tod den Veelas", dachte der Abstürzende.
Ein weiterer Bolzen schwirrte los und fand sein Ziel. Flussgold fühlte noch, wie der Treffer seine Brust zu zersprengen schien. Dann verlor er jedes Gefühl für seinen Körper. Dass auch er den letzten Ruf ausstieß bekam er am mehrfach nachhallenden Echo mit. Das was er nun wahrnahm war das Wimmern und Wehklagen seiner Gefährtin, das zu einem erleichterten Seufzer wurde. Auch er fühlte sich auf einmal ganz leicht und frei, ohne Schmerzen, ohne Angst. Er und Leuchtblüte kehrten heim! Das war der letzte Gedanke seines fleischlichen Daseins.
Sergej Borissewitsch Dorkin sah den von einem weiteren magischen Bolzen des verdichteten Feuers getroffenen Vogel, dessen Körper kurz silberblau aufleuchtete. Gleichzeitig erkannte er den nachtschwarzen Hadesianerhund Bolko, der gerade vorhin dieses widernatürliche Vilaweib zerfleischt hatte. Diese Gesinnungsschwester der schwarzen Königin aus Italien, die seine Heimat bedrohte, war tot. Laut klatschend fiel der Körper des toten Reihers auf den Boden. Bolko preschte sofort heran. Doch Dorkin pfiff ihm zwei schrille Töne entgegen und rief ihm auf Russisch zu: "Bolko, steh!" Der dreiköpfige Hund blieb fast auf der Stelle stehen. Seine lange, buschige Rute, die bei völliger Dunkelheit wie ein stacheliger Drache wirkte, zuckte auf und ab. Bolkos Mäuler knurrten ihm laut und hohl entgegen. Dann beruhigte sich das aus Griechenland stammende Tierwesen.
Der abgeschossene Reiher zuckte noch einmal. Dann verwandelte er sich langsam in einen Mann mit zerfetztem Oberkörper und zerschmettertem rechten Arm zurück. Dorkin sah mit Hilfe seiner Nachtsichtbrille das erleichtert wirkende Gesicht. Er schluckte. Der da sah aus wie gerade erst fünfzehn Jahre alt. Hatte er einen Halbwüchsigen getötet? Vielleicht war es der Sohn dieser langhaarigen Hure, deren Artgenossen für die schwarze Königin arbeiten sollten. Bolko stand mit bebenden Läufen, von denen jeder so dick wie ein junger Baumstamm war da und stierte mit allen sechs Augen auf den toten Veela. Dorkin wusste, was dem gnadenlos gründlichen Jagdgefährten durch die Köpfe ging. Er wollte ihm auch seine Belohnung lassen. Doch vorher musste er sicher sein, den Auftrag vollendet zu haben, Tod allen Veelas, den Dienerinnen und Dienern der schwarzen Königin.
Er lief an dem sich sehr schwer beherrschenden Riesenhund vorbei und sah mit einem weiteren Schock, was Bolko mit der Anderen angestellt hatte. Auch als er ihr Gesicht sah überkam ihn für einen Augenblick das anklagende Gewissen. Die da vor ihm in ihrem eigenen Blut liegende sah aus wie gerade erst zwanzig. Ihr einst so schönes langes Haar, dass mit Blut und Dreck besudelt war, um gab ihren Kopf wie ein Lichtschein. Und ihr Blick war anklagend auf ihn gerichtet, auf ihn, Sergej Borissewitsch Dorkin. Was hatte er mal gehört? Diese Naturweiber von Flüssen und Bergen konnten in der letzten Sekunde ihres Lebens noch ihre Blutsverwandten rufen und denen mitteilen, wer sie tötete. Gut, bei ihm mochte das nicht gelingen, weil er ein von außen undurchsichtiges Spiegelvisier trug.
Jetzt bibberte er, weil er dieses grausam zugerichtete Wesen am Boden sah. Dann setzte sich die Erkenntnis durch, dass er genauso hätte daliegen können, wenn der Reihermann nicht Bolko, sondern ihn mit seinem Feuerball angegriffen hätte. Doch wenn er Bolko jetzt freie Schnauzen ließ ... Doch die zwanzig Hunde aus den Beständen der russischen Tierwesenbehörde sollten auf diese Wesen abgerichtet sein, wie die großen Wölfe es waren. Doch die hielten nichts aus. Die Verfluchten konnten sie mit gezielten Eispfeilen oder Blitzen direkt in die Mäuler töten und dann verschwinden und ...
Bolkos dreistimmiges Bellen riss ihn aus dem schmerzvollen Zwiestreit zwischen Gewissen und Gewissenhafter Arbeit. Dann hörte er den Dreiköpfler losrennen. Er fühlte Dreck und Moosfetzen gegen seinen Rücken fliegen. Er wandte sich um und sah, wie der Hadesianer auf einen der hohen Bäume zuraste. Dann hörte er die zwei Worte, die er nur im Unterricht gehört und ausgerufen hatte, als sie an dicken Wasserratten das Töten von Feinden lernten. "Avada Kedavra!" Er wollte sich auf den Boden werfen, um dem von irgendwo vorne kommendem Fluch zu entgehen. Da hörte er schon das bedrohliche Sirren und dann das dreistimmige Aufheulen, dass nach einer Sekunde in ein letztes, gurgelndes Ausatmen überging. natürlich war er nicht das Ziel gewesen. Wie dumm war er doch! Doch jetzt musste er schnell gegenhalten. Er ging in den Vierfüßlerstand, griff nach seinem Zauberstab, weil die Armbrust zu lange dauerte, zielte und ...
Auf einmal konnte er sich nicht mehr bewegen. Es war, als sei er innerhalb einer Sekunde in Ton eingebacken worden, nicht warm und nicht kalt. Dann hörte er die Schritte, Schritte kleiner Füße. Da er gerade nach vorne blickte sah er sie.
Es war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte sehr wohlgeformte, lange Beine, schwang ganz sacht mit den unter einem gepunkteten Nachthemd verborgenen Hüften. Die Bekleidung enthüllte mehr als sie verhüllte. Ein Ausbund von Schönheit war sie mit einem Gesicht, wie es kein hochtalentierter Bildhauer je hätte fertigen können, langem, windhauchzartem Haar, dass bis zu ihren Hüften hinabwallte. Noch eine Veela, dachte er. Doch diese Veela hatte einen Zauberstab in der rechten Hand. "Accio Helm!" rief sie. Dorkin fühlte, wie sein Helm erbebte, um sich dem Aufrufezauber zu widersetzen. Dann war Ruhe. Doch die andere gab sich nicht damit zufrieden. Sie verfiel in einen geschmeidigen Lauf und war nur zehn Sekunden später bei ihm. Dann stand sie vor ihm, makellose Schönheit, getrieben von tödlicher Wut. Zwei schlanke Hände packten seinen Schutzhelm mit dem heruntergelassenen Visier und zogen daran. Der Helm knisterte und prasselte. Doch die Abwehrblitze, die jedes andere Wesen zurückgeprellt hätten, zuckten durch die auf Rache versessene Schönheit hindurch in den Boden oder zerstoben als knisternde Funken aus ihrem Haar. Dann hielt die andere seinen Helm in den Händen. Sie blickte nach unten und sah ihm ins gesicht. Sie sprach was, dass er nicht verstand. Doch dann wirkte es in seinem Kopf nach: "Sage deinen und deiner Eltern Namen!" Das war doch nicht der Imperius-Fluch. Der ging anders, dachte Sergej. Er wusste, dass er gerade nicht sprechen konnte. Deshalb machte er sich keine Gedanken. Da erfolgte der Befehl der überragend schönen Frau im Nachthemd zum zweiten mal. Er fühlte, wie die Gedanken in sein Hirn hineintasteten und hörte sich ohne Stimme sagen: "Sergej Borissewitsch Dorkin, Sohn von Boris Michailowitsch Dorkin und Anna Wladimirewna Dorkin geborene Radenkowa." Gleichzeitig sah er die Bilder seiner Eltern und seiner beiden jüngeren Brüder vor sich. Da wusste er, dass er gerade seine Familie verriet. Die Handlangerin der schwarzen Königin würden alle töten, weil er nicht schnell genug gehandelt hatte. "Sieh Sie dir noch einmal an!" knurrte die andere. Sie schwang den Zauberstab. Wie von der Hand eines unsichtbaren Riesens gepackt wurde Sergej Borissewitsch Dorkin emporgerissen und herumgedreht, so dass er die übel zerfleischte Veelafrau und den von zwei Zauberbolzen gefällten Gefährten sehen konnte, ja ansehen musste. "Was haben sie dir getan, dass du ihr Leben nahmst und dein Leben und das deiner Blutsverwandten dafür hergeben wirst?" fragte die andere. Da merkte er, dass die Starre nur noch seine Glieder betraf. Sein Sprechapparat funktionierte wieder. "Verrecke im tiefsten Pfuhl der Verdammnis, Hure der gierigen Königin, die von deinem Blut ist."
"Willst du mich nicht um Gnade für deine Eltern und deine beiden Brüder und deren Blutsverwandte anflehen?" fragte die andere mit unüberhörbarem Hass in der Stimme.
"Sie werden dich und deine widernatürlichen Geschwister erwarten, Flittchen, was immer du mit mir anstellen wirst."
"Das werden wir erleben", knurrte die andere. Dann prallte Dorkin wieder auf den Boden. Im nächsten Augenblick fühlte er seine Bewegungsfreiheit zurückkehren. Er wartete einen Moment. Dann sprang er auf und zielte auf die nur zehn Meter entfernt stehende Feindin. Er riss den Mund auf, um jenen verbotenen Zauber zu wecken. Doch da zischte ein sonnenheller Lichtspeer auf ihn zu und schlug mit unbändiger Hitze durch seine Kleidung in seinen Brustkorb ein. Er meinte noch, sein Herz und seine Lungen zerkochen zu spüren. Dann fiel mit lautem Rauschen ein schwarzer Vorhang vor sein Gesicht nieder. Er fühlte noch den Sturz in unendliche Tiefe und dann ein Schweben im Nichts. Um ihn war nur noch Dunkelheit und stille. Dann sah er vor sich einen grellen Lichtpunkt wie einen explodierenden Stern im sternenlosen Weltraum. Dieses Licht dehnte sich aus und zog ihn immer schneller zu sich hin.
Malenka Gregorewna Karamasowa blickte auf den mit dem Speer der tödlichen Sonne gefällten Burschen hinunter. Sie lauschte, ob er noch wen dabei hatte. Doch der hatte sich auf seinen dreiköpfigen Köter da verlassen oder durfte wegen dem keinen anderen Mitnehmen. Jedenfalls war er jetzt tot. Doch ihm würden noch alle folgen, aus deren Blut er hervorgegangen war. So befahl es das uralte Gesetz der vollendeten Blutrache, weil er da ihre Großeltern umgebracht hatte und sich noch darin gesuhlt hatte, einen wichtigen Auftrag erledigt zu haben. Einen Auftrag! So einer hatte sein Ende selbst zuzuschreiben. Sie dachte an seine Verwandten. Hatten sie kleine Kinder? Egal, das alte Gesetz, von den ersten Töchtern und Söhnen Mokushas verkündet, musste befolgt werden. Sie und ihre Schwestern, Basen und Tanten würden zusammen mit den nicht ganz so kampfesfreudigen Vettern und Onkeln gegen Dorkins Anverwandte ziehen und sie bis zum letzten Mitglied töten. "Blut ruft nach Blut" lautete die uralte, eherne Regel. Niemand durfte es wagen, ein Kind Mokushas zu töten. Damit besiegelte er oder sie das Schicksal der eigenen Familie. Dorkin hatte das so gewollt, und ihre Eltern würden dann erst in Mokushas ewig schützenden Leib zurückkehren, wenn sie und die anderen ihre Mörder selbst dem Tod übereignet hatten. Mit diesen von Rache und Trauer getragenen Gedanken bewegte sie ihren Zauberstab und begrub die Leichen ihrer Großeltern. Dabei hörte sie ihre Schwester Irina in ihren Gedanken singen: "Sind Großmutter Flora und Großvater Roman wirklich tot?" Malenka Karamasowa bestätigte das. "Du hast den Namen des Mörders?" wurde sie von einer ihrer sechs Tanten gefragt. Sie bestätigte es. "Dann werden wir losziehen, sein Blut von der Erde zu tilgen."
Malenka Karamasowa vollendete die Begräbniszauberei. Dann ritzte sie sich mit einem ihrer Fingernägel die linke Handfläche an und ließ etwas von ihrem eigenen Blut auf die Grabhügel träufeln. "In Blut und erde ruht das Fleisch. Doch sei dein Sein von allem frei, auf das Mokusha unsere Mutter, dich zu sich nimmt in Ewigkeit", deklamierte sie bei beiden Gräbern und sang die Ahnenlinie rückwärts, die sie von ihrer Mutter immer und immer wieder vorgesungen bekommen hatte. So konnten die Vorausgegangenen die Toten nun sicher ans Ziel rufen, wo eine Ewigkeit ohne Sorgen in Gesellschaft aller anderen Vorausgegangenen wartete. Würde sie ihnen bald folgen? Die Zauberstabträger hatten zur tödlichen Jagd angesetzt. Wer würde am Ende überleben? Sie wusste, dass die nächsten Stunden, Tage und Wochen mit Blut gefüllt sein würden, etwas, dass sie niemals für möglich gehalten hatte, weil es doch wirklich jeder wusste, der ihre Abstammung kannte. Auch wenn sie nicht in Durmstrang, sondern bei einer veelafreundlichen Hexe alles nötige und auch unnötige gelernt hatte, so hatte sie doch bis heute keinen Grund gehabt, nach dem Leben irgendwelcher Menschen zu gieren, sie genauso gnadenlos auszulöschen, wie ihre Großeltern ausgelöscht worden waren. Doch dann sah sie wieder ihre von dieser Abart von Jagdhund getötete Großmutter und den von zwei zerstörerischen Geschossen getroffenen Großvater vor sich. Sie durften nicht umsonst gestorben sein.
Kundschafter Baldurin Schattenbruder hielt sich immer wieder die Hände an den Kopf. Trotz seines mit Unzerbrechlichkeits- und Unverglühbarkeitszauber belegtem Helm drang dieses wilde Gebrumm wie tausend Bienenschwärme auf einmal in seinen Kopf, ja seinen ganzen Körper ein. Er war froh, gerade völlig unsichtbar zu sein. Niemand sollte sehen, wie heftig er gerade zitterte. Das lag an der unmittelbaren Nähe eines gewalttigen, langgezogenen Hauses, in dem jene wild wirbelnden Maschinen standen, die mit Wasserdampf angetrieben wurden.
"Ich müsste da rein. Doch diese wiederwärtige Krafterzeugungsstätte strahlt einen überlauten Ton auf den Schwingungen der Eisenfangkraft aus", meldete Baldurin Schattenbruder seiner Leitstelle. "Habt ihr schon was magisches orten können, wollte sein Einsatzleiter im sicheren Höhlenreich unter dem Schwarzwald wissen. "Meine Erfassungsgeräte sagen nichts. Aber die Weisenadel ruckt im Gleichklang mit dem lauten Dröhnen, das mir fast den Schädel aufsprengt", erwiderte Schattenbruder. "Gut, wenn Ihr drin seid die Bildspeicheranwendung für die Kundschaftergläser einsetzen. Falls dort irgendwas ist, was Magie enthält müssen wir es wissen und im Bedarfsfall vorher zerstören."
"So sei es", erwiderte Baldurin Schattenbruder. Dann wagte er sich weiter voran, wohl wissend, dass auch dreißig andere Kundschafter auf ausgewählte Ziele zusteuerten. Wer da versagte mochte nie mehr im Leben befördert werden, wusste Schattenbruder.
Der Kundschafter des Königs näherte sich langsam dem Haus, aus dem es nun auch noch für die Ohren verdammt laut dröhnte. Er tippte sich an den Helm und dachte "Leiser stellen!" Sogleich wirkten die im Helm verbauten Ohrenschützer und dämpften den widerwärtigen Lärm herunter. Doch das wilde, auf einem einzigen Ton bleibende Brummen in seinem Kopf blieb. Sicher konnte er auch was machen, um sich gegen die Eisenweisekraft der Erde abzuschirmen und somit auch alle anderen Eisenfangquellen von sich fernhalten. Doch dann fehlte ihm die Richtungsklarheit. Näher und näher schlich er unsichtbar auf das Krafterzeugungshaus zu. Er sah die großen Türen, die verschlossen waren. Doch mit dem Aufmacher an seinem Gürtel bekam er die ganz schnell auf, dachte er. Einfach reingehen, alles aufnehmen und wieder raus und die Bilder zum Befehlsstand der Kundschaftergilde bringen, fertig.
Er war nur noch fünfzig Meter von diesem Haus entfernt, als er meinte, aus dem Haus eilten seine Feinde, die spitzohrigen Halunken, die dem Bund der zehntausend Augen und Ohren angehörten. Sofort meldete er, dass da fünfzig, nein hundert halbunsichtbare Gegner aus dem Tor kamen, ohne es zu öffnen. Der Befehlsstand forderte eine klare Bestätigung, dass es wirklich diese spitzohrigen Langfinger waren. Baldurin Schattenbruder stellte seine Kundschaftergläser auf Bildübermittlung ein. "Da sind keine Gegner. Das Tor ist zu und völlig verlassen", bekam er nach nur zwanzig Herzschlägen zur Antwort. "Wie, ich kann die doch sehen, weil meine Kundschaftergläser deren Unsichtbarkeit aufheben. Dann müsstet Ihr die doch auch sehen", widersprach Schattenbruder.
"Da sind keine hundert Kobolde, Kundschafter Schattenbruder", wiederholte der Befehlsstand die Meldung. Schattenbruder dachte, man wolle ihn für irrsinnig halten. So sagte er: "Ich sehe was ich sehe. Wenn die Gläser das nicht übermitteln haben die was an sich, was das stört."
"Wir schicken noch drei Kundschafter zu Euch", erfolgte die Antwort aus dem Befehlsstand.
Als dann noch die drei am nächsten eingesetzten Mitstreiter auf ihren fliegenden Sesseln anschwirrten betrachteten sie das Tor. Tatsächlich konnte Schattenbruder keine Kobolde mehr sehen. Er vermutete, dass sie wie es ihre Art war unter die Erde abgetaucht waren und jeden Moment auf ihrer Höhe nach oben schnellen und sie angreifen mochten. Die drei Kampfgenossen stellten ihre Kundschaftergläser auf Gesteinsdurchblick ein. Damit konnten sie je nach Härte des Gesteins zwischen fünf bis dreißig Längen weit durch festes Gestein sehen, ob nach vorne oder nach unten oder oben. Die Gilde der Erzsucher schwor auf diese Neuerung von vor hundert Jahren, weil sie damit auch Lagerstätten von Kohle oder Erz erkennen konnten. Dabei sahen sie dann auch die runden, im wilden Takt der schwingenden Eisenfangkraft erbebenden Körper tief unter sich. Doch kaum wurden sie derer gewahr, überkam erst Schattenbruder und dann seine drei Kameraden eine immer größere Angst. Er meinte, dass die zu sehenden Körper gleich mit lautem Getöse zerbersten und ihn und die anderen töten würden. Die ihm eingepaukte Furchtlosigkeit dem Tod gegenüber war nicht mehr vorhanden. Ja, und zu der steigenden Angst, die mit Bildern von zerstückelten Zwergen einherging, kam nun auch eine immer stärkere Wut auf die, die ihn in diese tödliche Falle geschickt hatten. Dann sah er seine drei Kameraden, die immer noch in die Tiefe starrten und fauchte: "Glotzt nicht so lange. Die Spitzohren wollen uns umbringen."
"Sagt wer?" fragte einer der drei dazugestoßenen, Bildur Windhorcher. Baldurin Schattenbruder fauchte: "Ich sage das, Kundschafter Windhorcher."
"Quatsch, nicht die Spitzohren wollen uns umbringen, sondern der König. Dieses Gedröhn soll uns die Hirne wegblasen."
"Heh, beleidige nicht unseren Herrn und König, Bildur Windhorcher", stieß Orgrin Spurenkenner aus. "Ach ja, beleidigen? Der hat uns doch hergeschickt, damit wir hier von diesem magielosen Mordgerät da die Köpfe zerbröseln lassen", stieß Windhorcher aus. Da merkte Schattenbruder, wie er anfing, Windhorcher immer mehr zu hassen, weil der den König beleidigte. Orgrin Spurenkenner schien ähnlich zu empfinden. Er zog den zweischneidigen Kundschafterdolch, in dessen Blutrinne winzige Kristalle des Eisblutgiftes hafteten, eines der fünf auch für Zwerge tödlichen Gifte. Windhorcher erkannte die Bedrohung und hielt ebenfalls seinen mit Eisblutgift behafteten Dolch in der Hand. "Komm du mir nur einen Schritt näher und du verwehst im Wind des Vergessens, Orgrin Spurenkenner!" drohte Windhorcher. Das war für Spurenkenner der entscheidende Auslöser. Er stieß einen kurzen Wutschrei aus und sprang auf Bildur zu. Dieser ging sofort in Abwehrstellung und hoffte, dass der leichte Lederpanzer den ersten Stoß mit der Dauereisenklinge abfangen würde. Schattenbruder erkannte, dass Bildur Windhorcher in der besseren Ausgangsstellung stand. Wenn Orgrin Spurenkenner so auf ihn zuflog konnte er ihn eher mit dem Dolch erwischen als der ihn. Er musste helfen. Er zog selbst seinen Kundschafterdolch und sprang los. Das wiederum veranlasste die zwei gerade einander anstarrenden Kameraden, sich ebenfalls in den Kampf zu stürzen. Mit wildem Geschrei stürzten die vier eigentlich auf Kameradschaft über den Tod hinaus eingeschworenen aufeinander los. Schattenbruder erwischte zwar Windhorchers rechten, ledergeschützten Arm und schnitt tief genug durch die Panzerung und auch seine für vieles undurchdringliche Haut. Doch er bekam dafür den von Grinur Steinhorcher geführten Dolch in den Hals gestoßen. Schattenbruder fiel zurück. Er spürte sein Blut aus einer Wunde austreten und auch, dass ihm an der Stelle immer kälter wurde, als habe jemand ihm pures Gletschereis darauf gelegt. Da wusste er, dass das Eisblutgift schon in seinem Körper war. In nun unbändigem Hass auf Steinhorcher stieß er seinen Dolch nach diesem und erwischte Windhorchers Schulter. Treffer! Sein Dolch drang tief genug in Windhorchers Fleisch ein, um auch ihm das Eisblutgift zu verabreichen. Dafür traf ihn Spurenkenners Dolch voll am Bauch und drang wegen seiner Dauereisenklinge bis zur Hälfte darin ein. Schmerz, Angst, Hass und die Erkenntnis, nicht mehr lange zu leben entfachten in Schattenbruder die letzten Kraftvorräte. Er teilte noch drei kräftige Stiche in jede Richtung aus und erwischte mit dem letzten Spurenkenners Hals. Mit der gewissen Genugtuung, nicht alleine von Mutter Erdes Angesicht zu schwinden fühlte er, wie das in ihn hineingejagte Eisblutgift seinen Bauch gefror und sich das Gift immer weiter in den Rest seines Körpers ausbreitete. Er sah noch, wie Spurenkenner zusammenbrach und Steinhorcher von Windhorchers letztem Verzweiflungsangriff am linken Bein geritzt wurde. Dann fühlte Schattenbruder, wie die Eiseskälte seinen Körper immer schwächer und zugleich steifer machte. Er fühlte, wie sein Herz immer langsamer schlug. Schmerzen spürte er jedoch keine mehr. Auch sein Gehirn arbeitete immer träger. Aller Hass, alle Furcht gefroren wie sein ganzer Leib unter der Wirkung des tückischen Eisblutgiftes. Dann rumpelte sein Herz ein letztes Mal. Er lag bereits steif und bretthart auf dem Boden. Dann flackerte seine Sicht. Die bereits steifgefrorenen Augen ließen ihn in seiner letzten Lebenssekunde noch eine grelle Lichtentladung sehen. Dann setzten alle seine Organe aus.
Der Befehlsstand rief immer wieder nach den vier Kundschaftern. Doch keiner meldete sich. Was erschreckend war: Auch aus den anderen Kundschaftergruppen kam keine Meldung, sofern es zusammenhängende Gruppen waren. Nur die Einzelkundschafter machten zwischendurch noch Meldung. Allerdings behaupteten die, von Kobolden oder ausgewachsenen Felsenwühlern oder feuerspeienden Drachen angegriffen zu werden.
Andur Schattenhut, Großmeister der königlichen Kundschaftergilde, erhielt die Berichte aus dem Befehlsstand für die Außentruppen und verzog sein graubärtiges Gesicht, wobei er nicht wusste, ob es Wut oder Angst war. Jedenfalls wusste er sofort, was die ganzen Meldungen bedeuteten. "Alle zurückrufen, die noch anzusprechen sind!" befahl er. "Diese Spitzohren haben uns mit den Stromerzeugerstätten eine gemeine Falle gestellt. Güldenberg will uns umbringen."
"Darf ich fragen, was ihr denkt, Großmeister Schattenhut?" wollte der Außentruppleiter wissen. "Diese von den Spitzohren ersonnene Falle, um Feinde zum gegenseitigen Angriff zu treiben", sagte Schattenhut und übernahm es selbst, alle noch einsatzfähigen Kundschafter von den Kraftwerken der Magielosen zurückzurufen. Nur fünf bestätigten diesen Befehl. Die anderen fünfundzwanzig schwiegen und würden wohl für alle Zeiten schweigen.
"Wir hätten damit rechnen müssen", schnaubte Schattenhut. Er war einer der wenigen noch lebenden Kundschafter, die es selbst miterlebt hatten, wie die Kobolde vor hundertfünfzig Jahren einen Stützpunkt in der Nähe des westlichen Zugangstores errichtet hatten und der damals amtierende Graubart der Kobolde die Forderung erhoben hatte, dass die Schwarzalben Wegzoll zu entrichten hätten, wenn sie mit den Zauberstabnutzern Handel treiben wollten. Der Versuch, die Frechheit der Kobolde auszuradieren hatte fünfhundert Kundschafter und Krieger das Leben gekostet. Denn die Kobolde hatten einen höchst widerwärtigen Trick angewandt, ihre Feinde zu gegenseitigem Hass und wilder Angst zu treiben, die darin gipfelte, dass sie sich gegenseitig totgeschlagen, erschossen und erstochen hatten. Selbst die unverbrüchliche Kameradschaft und Befehlstreue der Zwerge konnte nicht gegen diese mörderische Waffe der Kobolde bestehen. So war den Zwergen nur verblieben, den Stützpunkt der Feinde aus großer Entfernung mit fliegenden Brand- und Sprenggeschossen zu zerstören. Die Kobolde waren geflüchtet. Deren tödliche Vorrichtung hatte sich selbstvernichtet, als die Kundschafter einen Spähflügler dorthin geschickt hatten. Schattenhut ärgerte sich, nicht gleich auf dieses Mittel zurückgegriffen zu haben. Doch dann fiel ihm ein, dass Spähflügler noch empfindlicher auf Veränderung der Eisenweisekräfte der allgebärenden Urmutter ansprachen als lebende Kundschafter und dass es ja schon längst bekannt war, dass die von den Magielosen erzeugte gebändigte Elektrizität starke Eisenfangkräfte ausübte.
"Die Spitzohren haben ihre alte Falle von Angst und Hass um die Elektrizitätserzeugungsstätten ausgelegt. Die machen mit Güldenberg gemeinsame Sache", berichtete Andur Schattenhut dem König persönlich. Dieser fragte, ob es kein Mittel gab, diese Falle zu überwinden und erst recht die Stromerzeugungswerke zu zerstören. "Wir können immer noch mit den Erdfeuerpumpen versuchen ..." setzte Schattenhut an. "Und noch mehr Tiefenboote verlieren wie damals bei der Unternehmung "Tiefensonne"!" stieß der König aus. "Wenn die Spitzohren wirklich diese Zwergenfresserfallen aufgestellt haben, um die Elektrostromerzeuger zu beschützen haben die sicher auch wieder wen, der diese Tiefenbootzerstörunswaffe bedienen wird in den großen Stromerzeugungsstätten. Uns bliebe nur der Einsatz von Selbstvernichtungsflüglern mit eingelagertem Erdfeuer oder dem Steinverdrängungszauber, der alles was Stein ist aus einem bestimmten Raum verdrängt. Dagegen konnten die Spitzohren schon damals nichts machen."
"Werdet Ihr beschließen, diese Waffen einzusetzen, mein König?" fragte Schattenhut. "Erst wenn ich weiß, ob wir wieder genug davon vorrätig haben. Kriegsgroßmeister Schmetterhammer muss das erst ergründen", blaffte der König. "Aber wenn wir genug davon haben, um alle in unserem Hoheitsgebiet werkenden Maschinen zu vernichten ... Kann sein, dass Güldenberg das von uns erwartet, um eine Handhabe zu besitzen, uns von sich aus anzugreifen und mit den Spitzohren zusammen gegen uns vorzugehen. Da haben sie schon Giesbert Heller von seinem Stuhl gestoßen und haben noch mehr Koboldfreunde in ihren Reihen als uns lieb ist", schnaubte der König. "Dann wurde Goldkehle von diesem Erlenhain bewusst beschwatzt, dass wir in diese Falle tappen. Wieso hast du das nicht vorhergesehen, Großmeister Schattenhut?"
"Weil ich wie Ihr davon überzeugt bin, dass die Kobolde niemals mit wem gemeinsame Sache machen, der damit droht, ihn aus den Tiefen der Erde hervorzurufen. Deshalb war ich mir sicher, dass die Spitzohren nichts damit zu tun haben", sagte Schattenhut mit abbittender Stimme. Wie würde der König darauf antworten?
"Du hast bis heute untadelig gearbeitet, Andur Schattenhut. Mein in Durins ewigem Reich weilender Vater und Amtsvorgänger hat damals angesichts der Lage mit den Kobolden verfügt, dass ein Kundschaftergroßmeister nicht wie früher üblich sofort den Abschied von der Welt nehmen soll, solange er nicht mehr als drei Fehler begeht. Du hast einen solch schweren Fehler begangen, dass dieser für zwei zählt, Andur Schattenhut. Begehst du noch einen Fehler wirst du dir dein unwürdiges Leben nehmen", knurrte der König. Andur Schattenhut verstand. Er war auf Bewährung. Er fragte seinen Herrscher, was er tun müsse, um diesen Fehler zu berichtigen. "Finde heraus, ob es einen Pakt zwischen Güldenberg und den Spitzohren gibt. Falls ja, ist es an dir, einen Weg zu finden, Güldenberg und seine offenbar der italienischen Abgesandten des Unnennbaren dienenden Bande das Lebenslicht auszublasen und am besten die nur scheinbar aus dem Land vertriebenen Spitzohren gleich mit dazuzulegen. So, und jetzt geh und kümmere dich darum, den von dir mitverschuldeten Schaden zu beheben!"
Schattenhut verbeugte sich dienstbeflissen und verließ die Halle des Herrschers.
Malin haderte damit, dass ihm keiner auch nur angedeutet hatte, dass die Kobolde ihm und seinem Volk eine Falle gestellt haben mochten. Auch er war davon ausgegangen, dass Güldenberg diese ebenso kleinzuhalten suchte wie ihn und sein Volk. Doch nur Kobolde konnten diese mörderische Abwehrvorrichtung nutzen, die ganze Armeen von Feinden zu gegenseitiger Vernichtung treiben konnte, ohne dass die beschützte Festung einen Kratzer erhielt. Ihm wurde wieder bewusst, dass die Kobolde mit dieser Falle ein wirksames Gegengewicht zur Erdfeuerpumpe der Zwerge hatten und dass sie seit der Unternehmung "Tiefensonne" auch gegen die Tiefenkreuzer der Zwerge kämpfen konnten. Malin fühlte eine solche Wut in sich, dass er so leichtfertig auf Goldkehles Warnung eingegangen war und einfach geglaubt hatte, dass Güldenberg den nicht laut zu erwähnenden Erzfeind aller Zwerge beschwören könnte. Seine Wut wurde nicht weniger als ihm klar wurde, dass die Kobolde womöglich herausgefunden hatten, dass es gerade diese Stromerzeugungshäuser waren, die den gefräßigen Erzfeind im Schoß der Erde festhielten, weil deren Eisenfangkraft so laut für den war, dass er sich nicht mehr nach oben wagte. Warum hatte das keiner der anderen vor dieser leidigen Erkundungsunternehmung bedacht und im Rahmen der Befugnisse und Pflichten vor ihm ausgesprochen? Sicher hatten sie alle die größtmögliche Achtung vor ihm, dem König. Doch diese Achtung war wie ein Kohlefeuer, das nur solange brannte, wie genug Kohle, also Vertrauen, vorhanden war. Ging es aus erlosch auch das wärmende Feuer der Anerkennung. Schattenhut hatte einen Unterlassungsfehler begangen, nicht mit einer Falle der Kobolde zu rechnen. Doch er, Malin VII. hatte einen Fehler begangen, sich von den Worten eines Botens in eine unbedachte Handlung hineintreiben zu lassen. Eigentlich müsste er sich selbst den Tod geben. Doch dann würde ihm Durins Gnade versagt sein. Denn ein König, der aus eigener Versagensangst den Freitod wählte durfte nicht in Durins Reich weilen und die Früchte der eigenen Anstrengungen und Erfolge genießen. Seine Seele würde im Wind des Vergessens verwehen, von niederen Tieren und unwürdigen Zweibeinern immer wieder ein- und ausgeatmet werden, ohne eigene Freuden und eigene Wertschätzung mehr empfinden zu können. Nein, niemand außerhalb dieser Halle durfte wissen, wie er sich fühlte. Schattenhut hatte den Fehler gemacht, und er, der König, hatte ihm zu sehr vertraut, fertig. Dann gab Malin VII. einen neuen Befehl aus: "Haltet euch von den Stromerzeugungsanlagen fern! Güldenberg will, dass wir sie zerstören, um uns erst recht in Gefahr kommen zu lassen."
Brummback erfuhr von seinen Überwachungsbediensteten, dass es mehrere Zwergentode rund um die wild und laut dröhnenden Elektrostromherstellungsstätten gegeben hatte. "Haben die also echt versucht, die Dinger zu erkunden? Tja, jetzt sollte Malin das Großmaul es wissen, dass wir schon vor fünfzig Jahren unsere Zwergenabwehr darum herum gebaut haben, weil die Eisenfangkraft von den Dingern tief genug in die Erde reicht, um uns vor dem größten Feind zu schützen", sagte leitwächter Brummback bei einer kurz nach den Meldungen der Zwergenabwehrvorrichtungen einberufenen Sitzung. "Wahrscheinlich hat sie, die Güldenbergs neue Herrin ist, ihm den Steinfloh ins Ohr gesetzt, dass diese Elektrofabriken den größten Feind heraufrufen können", meinte Huckpack, einer von Brummbacks Fachleuten für die Zauberstabträger.
"Ja, wenn Güldenberg ernsthaft darauf hofft, dass die Saufbärte die Krafterzeuger kaputtmachen müssen wir aufpassen, dass die nicht auch noch gegen uns in den Krieg ziehen", erwiderte Krummhack, der als Fachkundiger für Zwerge und andere Zauberwesen galt.
"Das ist genau was die will. Sie will den totalen Krieg zwischen uns und den Saufbärten", grummelte Brummback. "Bei diesem hitzköpfigen König unter den Schwarzwaldbergen könnte sie erfolg haben. Dann können wir die Rückkehr in unsere Ämter und Würden voll vergessen, weil Güldenbergs Leute dann die großen Friedenserzwinger spielen und gegen uns Krieg führen werden. Das will sie erreichen. Wir müssen aufpassen, uns nicht in entsprechende Stimmung treiben zu lassen." Seine Zuhörer stimmten ihm zu. Dann erwähnte Brummback noch was: "Unsere in Britannien lebenden Waffenbrüder melden, dass die Kammer der Überdauerung in zwei Monden aufgeht, fünf Jahre vor der Zeit. Offenbar sind die dafür nötigen Voraussetzungen mehr als erfüllt. Wenn unser erster Meister aller Meister wieder aufwacht will er wissen, was geschehen ist und was wir tun, um unseren Stolz und unser Volk zu bewahren. Also, wir haben noch zwei Monde Zeit, bis der erste Meister der zehntausend Augen Deeplook wieder aufwacht und dann mindestens einen weiteren Mond lang die Geschicke unseres Bundes lenken wird, bevor er sich wieder zum Überdauerungsschlaf bettet. Also kriegt es gefälligst heraus, was die Zwerge genau umtreibt und vor allem, wie wir Güldenberg wieder zur Vernunft bringen können, ohne den von dieser schwarzhaarigen Koboldfeindin Montefiori erhofften Krieg zu verhindern!"
"Und was ist, wenn der erste aller Meister der Augen und Ohren bestimmt, dass wir doch den Krieg führen sollen, Leitwächter Brummback?" wollte Krummhack wissen.
"Dann muss er dies vor dem Rat der grauen Bärte bekräftigen. Sicher werden ihm die um ihr Land und ihren Stolz geprellten Brüder aus Amerika beipflichten und auch die aus Osteuropa werden ihm zustimmen. Also gilt es, genug Möglichkeiten zu erkunden, wie unser Volk diesem Krieg ausweichen kann, ohne sich vor den Zauberstabkundigen ducken zu müssen. Ihr wisst ja sehr gut, dass der erste Meister Deeplook damals sehr ungehalten war, als die um mehr Rechte streitenden Brüder vor dem damaligen Zauberrat Britanniens eingeknickt waren und er es sehr begrüßt hätte, dass wir von den zehntausend Augen und Ohren die Revolution unseres Volkes weitergeführt hätten."
"Ja, nur dass er da gerade selbst im Gemach der Überdauerung im steinernen Schlaf gelegen hat und die Vorzeichen noch nicht stark genug waren, es vorher zu öffnen und ihn damit aufzuwecken", erwiderte Krummhack mit einem gewissen Maß an Frechheit in der Stimme.
"Jedenfalls haben wir nur noch zwei Mondwechsel Zeit, uns auf Meister Deeplooks Erwachen vorzubereiten", sagte Brummback. Alle hier wussten, dass ihre Rangstellung in Gefahr war, wenn der alle zwanzig Jahre für wenige Monde wiederkehrende erste Meister unzufrieden mit der Lage war. Überhaupt, dass Deeplook, der vor über tausend Jahren den Bund der zehntausend Augen und Ohren begründet hatte, sich für so unersetzlich hielt, dass er sich das Gemach der Überdauerung hatte erbauen lassen, um darin zwanzig Jahre ohne zu altern zu schlafen galt bei allen anderen Wächtern, Augen und Ohren als Zeichen seiner Größe. Sein Wort galt immer noch, egal wie sehr sich die Zeiten geändert haben mochten. Er würde ganz sicher nicht damit zufrieden sein, wie sich die Lage in den letzten fünfzehn Jahren entwickelt hatte.
"Ach ja, wir sollten wen schicken, der nach den toten Zwergen sieht, bevor die noch mehr ihrer Kundschafter in unseren Festungsring um die Stromerzeuger reinschicken", sagte Brummback. "Schließlich dient uns die Geheimhaltung der magischen Welt ebenso wie den Zauberstabträgern und Zwergen", sagte Brummback.
"Am Ende glauben die Nichtskönner noch, dass Wesen von anderen Sternen ihre Krafterzeugungsanlagen angreifen wollten und von was auch immer umgebracht wurden", spottete Huckpack. "Die lieben ja Geschichten, in denen solche Geschöpfe von außerhalb der Lufthülle unserer großen Urmutter vorkommen."
"Das fehlt uns noch", knurrte Krummhack. Brummback nickte zustimmend. Also sandten sie Kundschafter aus, die die toten Zwerge und ihre zurückgelassenen Ausrüstungsgüter einsammelten. Bevor der Tag anbrach gab es keinen Hinweis mehr darauf, dass Malins Kundschafter es gewagt hatten, die Elektrizitätswerke anzugreifen. Doch würde der als aufbrausend und geltungssüchtig bekannte Zwergenkönig es darauf beruhen lassen, dass er fünfundzwanzig Kundschafter verloren hatte?
Julius Latierre erhielt am nächsten Arbeitstag die Nachricht aus dem Laveau-Institut, dass dieses bis auf weiteres nur noch im Bereich Louisiana tätig sein sollte, weil es eben in New Orleans registriert war. Die Vollversammlung am 4. Juli sollte entscheiden, ob es wieder in ganz Nordamerika arbeiten durfte. Direktor Davidson hatte laut Brenda Brightgate ausgegeben, dass sich seine Mitarbeiter "möglichst unauffällig" verhalten sollten. Julius hatte gegrinst, weil das auch so verstanden werden mochte, nicht gesehen, nicht gehört und daher auch nicht erwischt zu werden.
Was die Zaubererwelt in Frankreich anging gab es die ersten Beschwerden über den auf das eigene Land beschränkten Posteulenverkehr. Die an sich schlaue Idee, über den Ausgangskreis in Algerien Posteulen aus dem Bereich des Grenzwalls zu schaffen erwies sich als zu schlau. Denn in Algerien hatten sie den Reisesphärenkreis mit diebstahlsicher gezauberten Gegenständen blockiert, einfach und nicht von hier aus zu umgehen. Also gehörte Algerien auch schon Ladonna, war die einhellige Ansicht der Zuständigen Ministeriumsabteilungen. Da zaubererweltinterne Briefe nicht beliebig ins Ausland gefaxt werden durften war die Idee, die Postschnittstelle zwischen Faxen und Eulen für Beauxbatons zu nutzen schnell wieder verworfen worden. Weil alle Nachbarländer Frankreichs unter Ladonnas Einfluss standen war es auch nicht möglich, dorthin zu faxen. Dann war Barbara Latierre und dem Koboldverbindungsbeauftragten was ganz exotisches eingefallen: Gringotts sollte nicht nur Gold, sondern auch Post übermitteln. Denn, so erfuhr es Julius mit sehr großer Aufmerksamkeit, die Kobolde kamen locker unter dem Grenzwall durch. Also wirkte er nur auf an freier Luft hindurchwollende Besen, Flugtiere oder Gespanne. Jetzt standen die Hexen und Zauberer Frankreichs vor der Wahl, ob sie die Kobolde in Gringotts damit beauftragen wollten, ihre Privatpost zu übermitteln, die natürlich pro Postlauf eine Gebühr beanspruchten, oder lieber warteten, bis die Barriere wieder fiel.
Was den Leuten richtig übel aufstieß war die Sperrung des Flohnetzes. International handelnde Unternehmen konnten weder Mitarbeiter ins Ausland schicken noch Muster ausländischer Waren entgegennehmen. Die fehlende Geschäftskommunikation wog ebensoschwer.
Er erkannte, dass es immer noch in ihm kribbelte, wenn er das "Zauberwort" "Fußballweltmeisterschaft" las oder hörte. Die Deutschen durften ja dieses Jahr die große Fußballfete feiern, Dank Leuten wie Beckenbauer und anderen Prominenten, tja und vielleicht dem einen oder anderen Zugeständnis an den Weltfußballverband FIFA. Doch ob dem so war wusste er nicht. Die UNO wollte mit dem Iran über einen Verzicht auf Atomwaffenund Urananreicherung verhandeln. Er dachte daran, was los sein würde, falls der selbsternannte Gottesstaat auf Erden Atombomben bauen könnte. Israel würde sich das nicht lange ansehen und dann wohl auch nicht die USA. Das konnte sehr wichtig werden, dachte er.
Der Zwergenverbindungszauberer hatte am 6. Juni angemerkt, dass es den Zwergen im Ausland missfallen würde, wenn die Kobolde nicht nur Gold, sondern auch Postsendungen verwalten würden. Außerdem hatten sämtliche Unternehmer mit internationalen Beziehungen bei Handelsabteilungsleiter Fourier angeklopft und mitgeteilt, dass sie den Kobolden keine Postsendung anvertrauen wollten. Sie fürchteten Betriebsspionage und Erpressung seitens der Kobolde. Soweit zu dem großen Vertrauen, dass die Kunden von Gringotts in deren Angestellte hatten. Doch Julius konnte es verstehen. Die Versuchung war zu groß, geheime Geschäftspost zu lesen, verschwinden zu lassen oder im Sinne von wem anderen, nicht nur der Kobolde, umzutexten. Bank und Post sollten da doch gut voneinander getrennt bleiben.
Am siebten Juni erhielt Julius eine E-Mail aus Deutschland. Bärbel Weizengold berichtete, dass das Zaubereiministerium in Berlin auf vier Außenstellen aufgeteilt worden sei, jedoch die Anlaufstelle für Anträge und Gesprächstermine noch in Berlin stattfände. Sie erwähnte, dass wohl auch in Österreich, Italien und den Niederlanden, wohin Bärbel Kontakte hatte, solche Umorganisationen stattgefunden hatten, aber keiner wusste, wo die vier Außenstellen waren.
Damit ist die Idee ganz erledigt, dass wir diese neuen Goldkerzen, von denen du geschrieben hast in die Ministerien reinschmuggeln, Julius. Wäre auch zu einfach gewesen.
Was Julius unmittelbar betraf war eine Nachricht von Léto. Russische Hexen und Zauberer gingen mit Armbrüsten und auf Veeladuftspuren abgerichteten dreiköpfigen Hadesianerhunden auf Veelajagd. Bereits zwanzig reinrassige Veelas seien bei diesen Jagden getötet worden und vier Veelastämmige aus Moskau seien festgenommen worden und in der Haft verstorben. "Die russischen Geschwister fordern die Blutrache an den rot vermummten Jägern und den Gefängniswärtern der Zitadelle bei Nowosibirsk", teilte ihm Léto bei einer direkten Unterredung mit. .
"Léto, wenn die sich darauf einlassen laufen die denen voll in alle bereitgehaltenen Schwerter, Messer und Todesflüche", erwiderte Julius ehrlich besorgt. "Geht bitte bitte davon aus, dass Ladonna sich die Leute, die sie auf Jagd nach euch schickt so ausguckt, dass die wenig Familie haben und sie oder ihre Handlanger dieses gläserne Zeugs machen, von dem du mir nicht mehr als bereits bekannt erzählen möchtest."
"Ich will es dir glauben. Aber das alte Gesetz muss befolgt werden, Julius. Es darf nicht so aussehen, als wenn wir uns das einfach so gefallen lassen", seufzte Léto.
"Man kann einen Feind auch überwinden, ohne ihn zu töten", hielt Julius entgegen. "Weißt du und weiß ich. Doch die russischen und bulgarischen Geschwister werden nicht auf mich hören. Sarja selbst will den Tod ihrer Nichte Windlied rächen. Sie wollte, dass ich ihr beistehe. Doch diese Barriere hält auch mich zurück, weil ich den kurzen Weg nicht gehen kann und trotz meiner Fähigkeiten nicht hoch genug fliegen kann, um über die Barriere hinweg zu kommen."
"Was erwartest du von mir?" fragte er Léto. "Nichts außer, dass du weißt, dass das unsägliche von damals wieder aufgewacht ist und Blut nach Blut schreit. Ladonna will mein Volk, aus dem auch sie hervorging, opfern, Julius."
"Was können wir zwei tun, dass das nicht passiert?" fragte er. "Nichts, außer aus dem Weg bleiben, was uns beiden gerade sehr leicht fällt. Doch wenn die Barriere geöffnet ist und meine Verwandten tot sein sollten werde ich wohl selbst hinreisen und Arcadis Leute töten, die das getan haben", erwiderte Léto, die bei den Veelas Himmelsglanz hieß. Julius fühlte, wie ihn große Verzweiflung überkam. Ladonna war drauf und dran, hunderte, tausende oder zehntausende denkender, fühlender Leben zu opfern, weil die Veelas den Menschen halfen, diesen Feuerrosenfluch zu tilgen. Was geschah, wenn es auf der Welt außerhalb der Barriere keine Veelas mehr gab? Dann würde Ladonna versuchen, auch die hier lebenden zu töten und wohl auch ihn, weil sie ihn als Helfer der Veelas auf ihre Feindesliste gesetzt haben mochte.
"Sing deiner Shwester und euren Verwandten bitte, dass das gläserne Todeslicht auf sie wartet, wenn sie gezielt nach Verwandten derer suchen, die ihre Verwandten getötet haben!" bat Julius seine Gesprächspartnerin. "Das habe ich ihr und allen anderen Ältesten schon mehrmals zugesungen, nachdem deine Gefährtin herausfand, dass Sternennachts Blutsverwandte diese verwerfliche Falle benutzt."
"Dann will sie selbst sich noch nicht in den Kampf stürzen", dachte Julius und antwortete Léto: "Ich finde heraus, woher die Russen die Hunde haben. Die können durch wohlklingende Musik, gespielt oder gesungen besänftigt werden. Sing deinen Verwandten das bitte zu!"
"Ja, richtig. Hat Fleur auch erwähnt und Gabrielle. Ja, so können wir sie niederhalten. Doch die Rotvermummten, die Armbrusttschützen?"
"Ihr kennt nicht den Zauber des falschen Standortbildes?" fragte Julius. Léto überlegte wohl kurz. Dann erwiderte sie: "Wir können uns unsichtbar machen, wie du weißt. Mehr Tarnung geht nur bei denen, die auch Zauberstäbe führen können. Doch jetzt muss ich mich darauf besinnen, alle von uns hier in Frankreich zusammenzurufen. Denn wir sind ja alle mit meiner Schwester irgendwie blutsverwandt."
"Ich möchte dabei sein", äußerte Julius ein Anliegen. "Nicht jetzt schon, Julius. Wir kommen zu dir, wenn wir miteinander gesprochen haben, erst dann", wies Léto sein Ansinnen zurück. "Ich kann dich, Apolline, Gabrielle und die anderen vorladen", erwähnte Julius. "Ja, das Recht dazu hast du. Aber wenn du es dir nicht mit mir verderben willst solltest du es besser lassen. Immerhin stehe ich zwischen euch beiden und meiner Schwester oder der wilden Morgensonnengeborenen aus Spanien", hielt ihm Léto entgegen. Julius überlegte kurz, ob er nicht doch seine ganze amtliche Autorität in die Waagschale werfen sollte. Dann sagte er ruhig: "Ich vertraue dir, Léto, dass du deinen Verwandten keinen Massenselbstmord befehlen wirst." Léto ließ ein wunderschönes Lachen hören, das so rein war wie Silberglöckchen. Dann verabschiedeten sich die beiden voneinander. Léto durfte frei und ohne Anklage fortgehen.
"Jetzt habe ich sie nicht gefragt, was mit der Ministerin und den Grandchapeaus wird, wenn alle auch hier lebenden Veelastämmigen sterben sollten", dachte Julius ein wenig verärgert. Doch dann fiel ihm ein, dass Léto ihm schon häufiger Fragen nicht oder ungern und unzureichend beantwortet hatte. Am Ende gehörte diese eine entscheidende Frage auch dazu.
Um von der trüben Stimmung wieder in den üblichen Amtsrhythmus zurückzufinden sortierte Julius die Mitschrift seiner Flotte-Schreibe-Feder und schrieb einen möglichst sachlichen Kommentar über das Blutrachegebot der Veelas und dass Ladonna sich nicht darum scherte und es womöglich als letztes Massenvernichtungsmittel gegen die Veelas einsetzte, indem sie die einfach nur zu den Angehörigen derer hinkommen zu lassen, die Veelas getötet hatten. Dann notierte er noch:
Vermerk für Tierwesenabteilung und internationale Zusammenarbeit: Zu klären ist, woher das russische Zaubereiministerium ausgewachsene Hadesianerhunde hat und ob diese auf bestimmte andere Zauberwesen abgerichtet werden können, die sich unsichtbar machen können.
Der restliche Arbeitstag verlief mit der weiteren Überwachung des Internets. Noch immer hatte kein Nichtmagier bemerkt, welche tödliche Barriere das Land umschloss. Was hatte mal jemand aus Hogwarts gesagt "Die Muggels sind so stumpfsinnig, dass die selbst einen Drachen nicht mitkriegen, der vor denen Feuer speit." Er hatte sich auf Glorias stummen Blick hin mit einer Antwort zurückgehalten. Gloria! Was ging in der vor, dass sie derartig garstig geworden war? War sie am Ende unehelich schwanger und durfte das bloß keinem erzählen? Doch sie zu fragen brachte es jetzt wohl nicht, zumal er ja im Fall des Falles nicht dafür zuständig war und es ihn somit auch nichts anging, wenn ja. Sich noch so eine gehässige Tirade von ihr anzuhören hatte er jetzt echt keinen Sinn für, dachte er für sich. Am Ende hatte sie ihren Spiegel auch schon längst weggeschickt. Öhm, nur wie, wo auch um die guten alten britischen Inseln so eine Horrorwand lag? Er dachte wieder einmal an das alte Sandersonhaus, das eine so verängstigende Erinnerung in ihm hinterlassen hatte, dass selbst Madrashainorian gezwungen gewesen war, sie nachzuerleben. Wenn diese unsichtbare Wand wirklich die schlimmsten Angstvorstellungen und Erinnerungen aus einem hervorholte ... Er hörte es förmlich brummen und summen. Doch er sah keinen Wespenschwarm in einem Keller, sondern die monströsen Insektenmenschen vor und in Bokanowskis Burg, eben nur viele tausend mehr als damals. Oder würde er das Grauen von Garumitan wiedersehen, jenes teerschwarze Glibberwesen, das die Brutmutter aller Dementoren damals und Heute war? Wollte er das echt wissen?! Er sollte doch froh sein, nicht selbst durch diese Barriere geschickt zu werden. Doch irgendwas in ihm flüsterte, dass er wohl einer derjenigen sein sollte, der es doch wagen musste. Dann dachte er daran, dass eines der Luftschiffe reichen würde, hochgenug aufzusteigen und ihn jenseits der Barriere wieder herunterzulassen. Ja, vielleicht sollte er das mit Viento del Sol aushandeln. Wieso er jetzt erst darauf kam? Wohl weil er durch die bevorstehende Blutracheorgie der Veelas in Russland daran erinnert worden war, dass er von den Ältesten der Kinder Mokushas zum Gesamtbeauftragten aller europäischen Veelas und ihrer Nachgeborenen erwählt worden war. Irgendwas musste er machen, dass diese Zauberwesenart sich nicht selbst auslöschte und bei der Gelegenheit tausende unschuldiger Männer, Frauen und Kinder mit in den Tod riss. So tippte er noch eine Nachricht an Brittany, die er so aufsetzte, dass es offizieller nicht ging, dass der Siedlungsrat von Viento del Sol gebeten wurde, auf eine in einer noch nicht zu bestimmenden Zukunft erfolgenden Frage einzugehen, nämlich eines der jeweiligen in Millemerveilles liegenden Luftschiffe als Barrierenüberquerer zu nutzen. Denn ihm fiel ein, dass er dann nicht alleine über diese Albtraumwand hinüberfliegen wollte.
Als er den amtlichen Antrag formvollendet abgefasst und alle Tipp- und Formulierungsfehler berichtigt hatte schickte er das Schreiben als Anhang einer E-Mail an Brittanys Adresse in VDS und eine Kopie an seine Mutter, die ja auch gerade dort war, um sich um die kleine Rubia zu kümmern, die ende Juni genauso wie Brittanys Tochter Brooke Beverly ihr Willkommensfest erleben sollte. Gut, nach VDS kam er sicher mit dem Überseeluftschiff hin.
Wieder zu Hause freute er sich erst mal, dass er wieder Kinderspielstunde miterleben durfte. Wieder hatte Aurore ihre ältere Freundin Chloé Dusoleil und ihre Nichte Viviane zu Gast. Millie wirkte ebenfalls sehr glücklich im Kreis so vieler quirliger Kinder. Auch Sandrine, die ihre Zwillinge mitgebracht hatte, freute sich, dass sie nicht allein auf diesem großen Planeten war. So konnte er zum einen seine trüben Gedanken fürs erste verscheuchen und zum anderen seine eigenen Körperkräfte trainieren, weil die Kinder unbedingt mit ihm um die Wette laufen wollten und Aurore darauf bestand, dass er mit ihr das Juppiduppi-Hui-Spiel spielte. Dabei merkte er wirklich, wie groß und schwer sie schon war. Aber irgendwie ging es noch, erkannte er auch.
"Wenn du das noch mit ihr machen willst, wenn sie nach Beaux geht müssen wir dich aber noch tausend Stunden mit dem Schwermacher trainieren lassen", meinte Millie zu Julius, als er diesmal Claudine mit dem Ausruf "Juppi-duppi-duppi Huuiiiii!!" in die Luft warf. Claudine kiekste zwischen Entzücken und Angst. Dann fing er sie wieder auf. "Mach bloß meine Tochter nicht kaputt, Julius Latierre, du hast genug eigene", lachte Catherine Brickston, die gerade mit Laurentine und Louiselle um die Ecke kam. "Und war heute was weltbewegendes in den nichtmagischen Nachrichten?" fragte Laurentine. "Die ersten WM-Fans sind eingetroffen, irgendwo in Bayern streunt ein Bär herum, der weidende Schafe reißt und die UNO hofft darauf, dass sie die Ayatollah-Regierung im Iran davon abhalten kann, eigene Urananreicherungsanlagen für waffenfähiges U-235 zu bauen, womöglich noch mit russischer Technik à la Tschernobyl."
"Fußball, für sowas kommen Leute?" fragte Louiselle und dankte Millie, dass sie ihr einen faltbaren Umstandserleichterungssessel unter das gut aufgequollene Gesäß schob. Sie sah jetzt schon ziemlich rund aus. Dabei sollte die kleine Lucine, die sie von einem unbekannten, toten Zauberer im Bauch hatte, erst Mitte Juli (vielleicht zu seinem Geburtstag) auf die Welt kommen.
"Das mit dem Bären habe ich auch in den deutschen Nachrichten gehört", sagte Laurentine. "Die nennen den Bruno. Der kommt ursprünglich aus Italien, ist über Tirol nach Bayern eingewandert und hat leider leider gelernt, wie bequem das ist, harmlose Nutztiere anzufallen. Der bayerische Ministerpräsident will beraten, ob der Bär nur gefangen und anderswo ausgesetzt oder besser gleich erlegt werden soll."
"Naja, Laurentine, so ein Braunbär ist nicht ungefährlich", sagte Louiselle. Dann sah sie Julius an und wiederholte ihre Frage wegen Fußball. Julius erwähnte dann, dass sich Fußball überall auf der Welt spielen ließ, wenn nötig auch ohne Tore. Deshalb seien so viele davon begeistert und feuerten die Profimannschaften an. Er erinnerte sie, dass ein Jahr vor der nachgeholten Quidditch-WM 1999 ja auch in Frankreich eine Weltmeisterschaft war und dass die Franzosen die gewonnen hatten.
"Ja, das war wohl, als ich von Tante Hera gesagt bekam, besser nicht im Stadthaus zu übernachten, weil ich da eh keinen Schlaf bekäme, wenn die alle mit ihren Autos und Warntuten durch die Gegend lärmten. Muss ja wohl so gewesen sein", sagte Louiselle.
"Noch mal das Werf-Spiel, ich mach mich auch ganz leicht!" forderte Claudine. Julius sah Claudines Mutter an. "Du wurdest gefragt", erwiderte Catherine. "Ja, aber du hast gerade gesagt, dass es deine Tochter ist", konterte Julius. Catherine grinste. Das nahm er als Zusage.
Als Claudine, und dann noch Viviane endlich genug davon hatten, hochgeworfen und wieder aufgefangen zu werden genoss er den Frieden seines Grundstückes. Die Kinder spielten ohne zu schreien und zu zanken, die Elternteile saßen um einen aus dem Haus apportierten Gartentisch und genossen kalten Tee oder Kakao. Alles bedrückende war so weit weg.
Erst abends, als die Kinder müde genug für die Betten waren und Catherine mit ihren Mieterinnen auf dem Weg zum Reisesphärenkreis war seufzte Julius und verriet Béatrice und Millie die Unterhaltung mit Léto, die er als klassifikationsberechtigter Beamter auf C5 eingestuft hatte, also weitererzählbar aber nur innerhalb eines kleinen, vertrauenswürdigen Kreises.
"Wir haben noch fünfzig dieser Kerzen hier und die in Europa lebenden Veelas haben selbst an die hundert Goldlichtkerzen. Wenn wir die nicht aus dem Land kriegen und die sich lieber im Blutrachewahn gegenseitig umbringen hat Ladonna gewonnen", seufzte Millie. Béatrice sagte dazu: "Ich verstehe es bis heute nicht, wie vernunftbegabte Wesen, von denen viele mehr als vierhundert Jahre alt werden können und echt eine Menge Erfahrungen sammeln können, derartig barbarisch und kopflos reagieren können. Sicher ist ein Mord das schlimmste Verbrechen, was einem angetan werden kann, keine Frage. Aber man kann doch keinen Mord durch einen Massenmord vergelten, noch dazu an Leuten, die die Tat nicht ausgeführt haben, ja nichts mit der Planung zu tun hatten."
"Trice, das ist genau das, was mir immer und immer wieder hochkommt, wenn ich an diesen Blutracheschwur der Veelas erinnert werde, und ich bin verdammt froh und ja auch sehr stolz, mitgeholfen zu haben, dass wir das in Frankreich endlich aus der Welt geschafft haben. Gut, eigentlich bin ich für Russland nicht zuständig. Aber für die Veelas bin ich ja doch irgendwie zuständig."
"Du müsstest Arcadi regelrecht umdrehen, damit er die Jagd auf Veelas abbläst und auch alle anderen, die Ladonna unterworfen hat", sagte Béatrice. Julius zuckte bei dieser Bemerkung zusammen, weil ein jäher Geistesblitz ihn traf. Wenn die Feuerrose ein Fluch war konnte er ihn doch ... "Nicht bei so vielen auf einmal, Julius. Außerdem ist es kein rein gesungener Fluch", dröhnte Temmies Gedankenstimme in seinen Ohren wie ein fortissimo gestrichenes Cello. Der jähe Geistesblitz erlosch und ließ eine dunkle Frustration in ihm zurück. Denn Temmie hatte leider recht. Einen oder zwei konnte er mit dem altaxarroischen Übelwender vielleicht aus Ladonnas Bann entreißen. Doch wenn gleich hunderte von denen auf ihn zurannten war das noch hirnamputierter als die Blutracheorgie der Veelas. So sagte er: "Ich musste nur daran denken, dass ich ja einen starken Fluchumkehrzauber gelernt habe. Aber der wirkt nicht auf hundert oder tausend Verfluchte zugleich, und falls doch könnte der mir alle Lebenskraft aus dem Leib reißen. So früh wollte ich dann doch noch nicht sterben."
"Ach, wolltest du zu diesem Arcadi ins Büro, dem den Fluchumkehrer entgegenrufen und dann zusehen, ob er aus Ladonnas Traum vom Rosenkönigreich erwacht?" fragte Millie. Julius nickte. "Neh, lass das besser die Veelas mit den goldenen Kerzen machen. Die können hunderte auf einmal freibrennen", fügte sie hinzu. Julius nickte.
"Du kannst mir nicht einreden, dass Laurentine und Heras Nichte Louiselle nicht was miteinander haben und Laurentine sie deshalb mit der kleinen in der kleinen Wartestube bei sich wohnen lässt, Trice", sagte Millie. Béatrice erwiderte, dass selbst dann, wenn dem so sein sollte, es Heras Angelegenheit sei. Julius konnte dem nur beipflichten. Er verstand jedoch, was Millie umtrieb. Immerhin hatte sie genau wie er und die anderen damaligen Pflegehelfer und Pflegehelferinnen zugesehen, wie Laurentine völlig nackt mit Claire getanzt hatte, zumindest als die in der dritten Runde lauernden Traumfladen ihr das einsuggeriert hatten. Belisama hatte danach nicht mehr gewusst, wie sie mit Laurentine umgehen sollte. Tja, die Patin Chrysopes war laut Adele Lagrange gerade für den grünen Magier, das Fachblatt der magischen Kräuter- und Pilzkunde, auf den Kanaren, um da die nur auf Vulkanboden gedeihenden Zauberkräuter zu studieren. Sie wäre zwar gerne nach Hawaii gereist, aber wegen der Lage in den Staaten wollte sie lieber nur in Spanien forschen. Die hatte ja keine Familie im Rücken oder auch im Nacken oder wie Louiselle und Melanie Chimers im Bauch.
"Am besten beenden wir den Tag für heute. Julius hat sich heute geistig und dann noch mal körperlich gut angestrengt", kehrte Béatrice die hauseigene Heilerin heraus. Doch die beiden Mitbewohner widersprachen ihr nicht. Julius war wirklich müde und Millie hatte auch viel mit eigenen Händen gearbeitet, um in Form zu bleiben.
Dimitrij Dorkin begriff es jetzt, warum Minister Arcadi ihm und seinem Bruder und allen Blutsverwandten von ihm befohlen hatte, sich in der Burg der vor achtzig Jahren von den Oktoberrebellen ausgelöschten Großfürstenfamilie Borodin verstecken sollte. "Dein Bruder wurde getötet, als er uns gegen die Gehilfen der schwarzen Königin verteidigte. Deren Blutsverwandte werden dich und alle deine Blutsverwandten jagen und töten, wenn ihr weiter in euren Häusern bleibt", hatte Arcadis Sicherheitsbehördenleiter ihm und seiner Frau Milena persönlich mitgeteilt, bevor sie den zum Portschlüssel gemachten Teppich ergriffen und sich in dieser Burg wiedergefunden hatten.
Als in der Nacht vom zehnten zum elften Juni die kleine Warnglocke bimmelte wachte er auf. Milena schrak gerade auch aus ihrem Schlaf auf. "Feuer?" fragte sie. Er horchte. Nein, das war nicht die Feuerwarnglocke. Das war die Feindeswarnglocke. Die Bluträcher kamen.
"Es sind die Vila, die Verwandten der Feindin unseres Vaterlandes, Milena. Mögen uns Himmel und Erde gnädig sein, dass Arcadis Beteuerungen stimmen und in dieser Burg unüberwindliche Zauber gegen diese Brut wirken!"
"Woher wissen die, dass wir hier sind?" fragte Milena. "Die können alte Zauber, die in Durmstrang nicht bekannt sind, um Träger bestimmten Blutes aufzuspüren, Milena. Egal was die anstellen, wir dürfen auf gar keinen Fall aus der Burg raus."
"Ja, und wenn sie die Burg anzünden oder mit ihren alten Zaubern den Zorn der Erde wachrufen?" wollte Milena Dorkina wissen.
"Dann hoffe ich, dass die Abwehrzauber so schlagartig frei werden, dass wer immer uns das zumutet auf einen Schlag vernichtet wird", seufzte Dimitrij Borisewitsch Dorkin. Er bangte um das Leben seiner Frau und seiner drei Töchter, aber auch um die Leben seines Bruders Vasili und dessen zwei geborener und des im August erwarteten dritten Kindes. Vilas, so wusste er, hatten die Blutrache an der ganzen Familie jenes Menschen angedroht, der einen von denen umbrachte. Das war ein altes Gesetz, das angeblich auf eine grausame Zeit von vor dreitausend Jahren zurückging, als die magisch begabten Menschen die ersten Zauberstäbe gemacht und sich gegen die bis dahin überlegenen, langlebigen Wesen zur Wehr setzten, die sich als Kinder der alten Naturgöttin Mokosch oder Mokusha verstanden.
"Bleiben Sie bloß in den Häusern. Lassen Sie sich nicht ins Freie treiben!" rief der diensthabende Wächter von einem der Türme. Dann rief er: "Dreißig Bluträcherinnen vor unseren Mauern. Halten Sie ja aus!"
"Jetzt gilt es wohl", seufzte Dimitrij Dorkin. Seine Frau bejahte es und meinte, dass sie bei den Kindern wachen wollte, die in einem großen Schlafsaal mit ihren Vettern und Basen zusammenschliefen.
Der Gesang des rufenden Feindesblutes hatte nicht sofort gewirkt. Das hatte Sonnentanz, die älteste lebende Angehörige jener Linie, aus der Leuchtblüte hervorgegangen war, sehr verärgert. Eigentlich hatte sie beschlossen, die Blutsverwandten des Mörders ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes noch in derselben Nacht töten zu lassen. Doch die waren nicht auffindbar gewesen. Erst vor zwei Tagen, als sie und die anderen reinblütigen Blutsverwandten die Namen der Gesuchten und das Lied des rufenden Feindesblutes sangen hörten sie den mehrfachen Widerhall und dadurch die Richtung, in der sie suchen mussten. Da Veelas geistige Macht über ihnen nahestehende Vögel hatten war es ein leichtes gewesen, die in der Nähe der Gesuchten nistenden Vögel als Kundschafter einzusetzen. So hatten sie erfahren, dass alle Dorkins in der seit achtzig Sommern unbewohnten Burg des Großfürsten Borodin an einem Seitenarm des Amur zu finden waren. Natürlich wusste sie, dass die da nicht wegen der landschaftlichen Schöhnheit untergebracht waren. Sie waren die Köder einer Falle, die ihnen von Ladonna Montefiori gestellt worden war. Doch weil sie das wussten konnten sie sich darauf vorbereiten. Blut rief nach Blut, und deshalb mussten die Verwandten des Mörders ihrer Tochter sterben, weil sie dessen Schande geerbt hatten.
Sonnentanz sang ihren ältesten Töchtern zu, endlich die Pflicht ihres Blutes zu erfüllen. Fünfundzwanzig Töchter und fünf Söhne aus ihrem Stamm wurden ausgesandt, den Racheschwur zu erfüllen.
Malenka Gregorewna Karamasowa fühlte die Glut in sich, die sie antrieb, die da unter ihr liegende Burg mit allen darin versteckten in Schutt und Asche zu legen. Doch sie mussten sicher sein, dass niemand entkam. Kein Gewissen plagte sie, wenn sie daran dachte, gleich unschuldige Kinder zu töten. Die waren alle Erben der Bluttat an ihren Großeltern.
Malenka flog in Gestalt eines Schwans über die Burg hinweg. Dabei fühlte sie etwas, das wie heißer Wind von unten gegen sie anwehte und dabei prickelnde Sandkörner gegen sie schleuderte. Also stimmte es. Da unten lauerte etwas auf sie alle, dass ihnen zusetzen sollte. Doch sie war genauso zuversichtlich wie ihre Mutter, ihre sechs Schwestern, ihre sechs Tanten, deren insgesamt elf Töchter und fünf Söhne.
Anderswo wollte ein Trupp aus zwanzig weiteren Verwandten die Blutsverwandten von Sergejs Vater aus der Welt schaffen. Sonnentanz, die Stammesmutter, hatte vor dem Abflug noch einmal klargestellt, dass jedes Zögern und jede offene Verweigerung den letzten Schnitt zur Folge haben würde. Siegen oder Sterben lautete also die Losung.
Als sie alle um die Burg Aufstellung nahmen fühlten sie es, jenen heißen Windhauch, der von der Burg wegblies und unangenehm scharfkantige Sandkörner in ihre Richtung wehte. Je näher sie an die Burg heranrückten desto heißer und stärker wurde der Gegenwind und desto spitzer die von ihm getriebenen Sandkörner. Allen war klar, dass es keine Sandkörner waren, sondern eine gegen sie kämpfende Zauberkraft. Für unbezauberte Augen unsichtbar schlichen sie dennoch näher an die Burg heran. "Wirkt den Sonnenschild!" hörte Malenka die Stimme ihrer Tante Sonnenhauch in ihrem Geist singen. Ja, damit konnten sie sich gegen jede Erscheinungsform des Feuers schützen. Doch bei Nacht wirkte der nur ein Viertel so stark wie bei Tage, wo er sich an der belebenden Kraft der Sonne aufladen konnte.
Eigentlich war der Sonnenschild ein unsichtbarer Hauch, den nur die sehen konnten, die magische Kraftquellen sehen konnten. Doch hier an der Burg Borodin bewirkte er, dass die ihn nutzenden schlagartig sichtbar wurden und aus sich heraus in einem schwachen, sonnenaufgangsfarbenen Licht leuchteten. Das war so nicht beabsichtigt. Spätestens jetzt mochten die Leute in der Burg sie erkennen. Tatsächlich hörte Malenka aus der Burg das schnelle Klingen einer kleinen Glocke. Man wusste, dass sie da waren.
"Jetzt gibt es kein Zögern mehr, Schwestern und Töchter! Voran und alles töten, was vom Blute des Mörders Sergej Dorkin durchströmt wird!" rief Sonnenhauch, eine reinblütige Tochter Mokushas. "Zur Ehre unseres Stammes und zur ewigen Ehre unserer Urmutter Mokusha!" rief sie dann noch.
Da Malenka zu den Zauberstabnutzerinnen gehörte stürmte sie in vorderster Linie auf die Burg zu. Hinter ihr sangen ihre Begleiterinnen das Lied der Unentrinnbarkeit, dass jede Flucht auch durch Apparieren unterband.
Die Sonnenschilde flimmerten und glühten mal heller und mal dunkler. Doch das Gefühl eines aufkommenden heißen Wüstensturmes blieb aus. Was immer in der Burg lauerte kam nicht durch den Schild.
"Reißt die Mauern nieder!" rief Sonnenhauch. Dann sang sie fünf ihrer Schwestern zu, in Vogelgestalt von oben in die Häuser einzudringen. Malenka lief leichtfüßig wie ein wildes Steppenpferd auf die westliche Außenmauer zu und zielte mit ihrem Zauberstab darauf. "Confringo!" rief sie. Das Stück Mauer vor ihr glühte kurz grün auf. Dann knallte es metallisch und nachknisternd. Mehr geschah nicht. Also hatten die einen Schild gegen diesen Fluch hochgezogen. Auch der Reducto-Fluch wirkte nicht. Die ihn begleitende Leuchterscheinung zerstob prasselnd an der Mauer. Auch die anderen kamen mit diesen Zaubern nicht durch. Dann riefen sie jedoch die Kraft des Feuers in der alten Sprache. Gleißende, weißblaue Feuerbälle oder gelbrote Feuerwalzen fauchten auf die Mauern zu, blähten sich daran entlang auf und schlugen als turmhohe Feuersäulen in den Himmel. Die Außenmauern erglühten rot. Dann hörte Malenka etwas, was sie erst vor wenigen Tagen hatte hören müssen, den geistigen Todesschrei einer Blutsverwandten.
Sie sah sogar, wie ihre Base Ailina in einer weißgelben Feuersäule verging. Ailina hatte es geschafft, in eines der Häuser einzudringen. Doch das war ihr Verhängnis. Dann folgten auch die vier geistigen Todesschreie der anderen, die es von oben her versuchten, in die Häuser zu kommen. Gleichzeitig flackerten die Sonnenschilde stärker. Die in der Burg wirkende Kraft schlug auch aus den Häusern hinaus und versuchte, die auf die Burg losstürmenden zu treffen.
"Nein, das darf nicht sein! Das gläserne Licht stammt aus der Sonnenkraft. Der Sonnenschild müsste es doch eigentlich abhalten", schrie Malenkas Tante Sonnenhauch wütend. Dann folgte der Befehl, der das Verhängnis über die Dorkins oder die Veelas bringen sollte: "Alle über die Mauern und dann rein in die Häuser!"
Die nicht an der Absicherung gegen magische Flucht beteiligten beschleunigten ihren Lauf und stießen an die Mauern. Diese boten jedoch keine Fugen oder Vertiefungen zum erklettern. Allerdings strahlten die Sonnenschilde jener, die sie berührten noch heller auf. Malenka hörte ein gequältes Aufstöhnen. "Da kommen wir so nicht hinüber", grummelte Malenkas Schwester Irina. "Dann fliegt eben hinüber!" rief Sonnenhauch und ging mit bestem Beispiel voran. Als bei Tag weiße Möwe flog sie auf. Es wirkte, als brenne ihr Gefieder im sonnenaufgangsfarbenen Feuer. Sie überflog die Mauer. Es erfolgte keine Gegenwehr aus der Burg. Die verließen sich auf das geächtete gläserne Sonnenfeuer. Doch auch das mochte bei Nacht nicht die ganze Kraft aufbieten, um zwanzig Angreifer auf einmal zu vernichten.
Alle flogen nun in ihrer Vogelgestalt über die Mauern hinweg. Immer noch griff keiner sie an, obwohl Malenka sich sicher war, dass die Türme mit Wächtern besetzt waren. Jenseits der Mauer landeten sie und wurden wieder zu menschengestaltlichen Wesen. Malenka zielte auf einen der Türme. Ja, da sah einer der Wächter heraus. Doch das war keiner der Dorkins. Sie versuchte ihn zu lähmen, doch der andere hatte sich mit einem Schildzauber dagegen geschützt. Da sie wusste, dass die Mauern den Feuerzaubern widerstanden wendete Malenka den heftigsten Vernichtungszauber an, den sie kannte: "Avada Kedavra!" Als sie die beiden erbarmungslosen Worte ausgerufen hatte sirrte ein gleißender grüner Blitz aus ihrem Zauberstab und prallte mit lautem Knall gegen eine Hauswand. Diese erzitterte und bröckelte. Große Brocken brachen aus ihr heraus. Dann sank dieser Teil laut polternd und eine Staubwolke verbreitend in sich zusammen. Der Weg in das Haus war frei.
Nun stürmten sie vor, in das Haus hinein. Doch sie kamen gerade zehn Schritte weit. Malenka sah über sich eine an der Decke hängende Kristallkugel. Von ihr schien gleißend heller Regen niederzufallen. Dann fühlte Malenka, wie ihre Kräfte schwanden. Der Sonnenschild blähte sich noch einmal kurz auf, dann erlosch er. Sie hatte genau einen Atemzug zeit, das Verhängnis zu begreifen. Dann überkam sie das Gefühl, mitten in einer verzehrenden Feuersäule zu stehen, deren Glut von oben und unten und von vorne auf sie einwirkte. Sie fühlte den schlimmsten Schmerz ihres Lebens und wusste, dass sie versagt hatte. Der nächste Atemzug verbrannte ihre Lungen, ihr ganzes Inneres. Sie hörte nur noch den Widerhall ihres geistigen Aufschreis und den ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Dann war aller Schmerz und alles Leid vorbei. Sie meinte, in einem unendlichen Nichts zu treiben, bis etwas sie behutsam auf einen fernen Punkt zuzog. Ihr letzter Gedanke war, dass Ladonna sie getötet hatte.
Die in hinterster Linie mitstürmenden Veelas, die zugleich das Fluchtvereitelungslied sangen hörten die geistigen Todesschreie ihrer vorne weg stürmenden Verwandten und konnten sich nicht mehr recht auf ihren Gesang besinnen. Dann merkten auch sie, wie ihre Sonnenschilde erloschen. Sofort meinten sie, vom glühenden Feueratem eines wütenden Drachens angehaucht zu werden. Etwas aus dem Haus prallte nun mit ganzer gnadenlosen Gewalt auf sie ein, fraß sich in sie hinein und durch sie hindurch. Ihnen war es nicht vergönnt, genauso schnell wie ihre weiter vorne stürmenden Verwandten zu enden. Ihr Todeskampf dauerte mehrere Dutzend Atemzüge. Doch dann waren auch sie aller stofflichen Lasten und Leiden ledig. Ihre bis dahin vor Pein schreienden Seelen trieben davon, hinüber in eine Daseinsform, von der die meisten Veelas hofften, dass es Mokushas ewiger Mutterschoß sein mochte und nicht der Fluss der rastlosen Geister, in den stürzten, die nicht nach den Geboten der Urmutter gelebt oder zu viel von der irdischen und himmlischen Macht beansprucht hatten.
Dimitrij Dorkin hörte die lauten Schreie der in die Häuser eindringenden und ein kurzes, verheerendes Fauchen. Er fürchtete, dass Arcadis Leute magisch eingefangenes Drachenfeuer freigesetzt hatten, um die Eindringlinge zu töten und dass dieses Feuer auch das Haus vernichten würde, in dem er sich aufhielt. Doch die Feuerglocke läutete nicht.
"Mamuschka, die bösen Frauen verbrennen!" rief eines der Kinder, Dimitrijs Neffe Anatoli. Er rannte aus dem Rittersaal, in den sich alle zurückgezogen hatten und sah noch, wie vor der laut polternd niedergestürzten Westwand weitere überragend schön aussehende Frauen und Männer wie vom Blitz getroffen zusammenbrachen und dann wie aus sich selbst heraus in weißgelben Flammen vergingen. Nicht einmal verkohlte Knochen blieben zurück. Da wusste er, dass dieses Feuer nur Vilas tötete. "Tod den Vilas!" rief einer der Turmwächter mit überlegener Stimme. Der Ruf wurde von den anderen sieben Wachposten übernommen.
"Das gibt Krieg", dachte Dimitrij, der doch eigentlich nur als harmloser Besendrechsler arbeitete und nicht wie sein Bruder Sergej zu den Kampfzauberern gegangen war. Die Vila würden es sich nicht gefallen lassen, so viele von ihnen verloren zu haben. Sie würden wieder welche schicken, immer und immer wieder, bis entweder er und seine Familie oder alle Vila Russlands und der restlichen Welt ausgelöscht waren.
Die schrecklichen Bilder der in einem der Hölle entnommenen Feuer verbrannten Feindinnen vor Augen kehrte er in den Rittersaal zurück. Sein Bruder, seine Tanten und alle deren Ehepartner wollten von ihm wissen, ob es wahr war. Er musste sich auf einen Stuhl setzen, weil seine Beine auf einmal weich wie schmelzendes Bienenwachs wurden. Als er saß brachte er nur mit Mühe heraus, was er hatte ansehen müssen und was ihm dazu einfiel.
"Die überheblichen Vila werden sich an uns aufreiben. Wenn die Krieg wollen, werden sie das Ende ihres Volkes ernten", tönte Dimitrijs Bruder wassjili siegessicher.
Sonnentanz fühlte jeden geistigen Todesschrei einer blutsverwandten Seele wie einen Schwerthieb auf ihren Kopf niederfahren und darin nachwirken. Sie hatte dreißig ihrer Verwandten in die Falle geschickt, und die Falle hatte sie alle getötet. Also stimmte es, was ihr Sarja gesagt hatte. Die vom Waldfrauenblut verdorbene, widernatürliche Vierteltochter Mokushas verwendete das gläserne Sonnenfeuer, das sich am Lebenshauch und der im Blut eines Kindes Mokushas wirkenden Kraft entfachte, je reinblütiger je schneller und heftiger. Selbst die Sonnenschilde hatten das nicht aufgehalten. Ja, es war ein unverzeihlicher Trugschluss gewesen, dass der Sonnenschild gegen das gläserne Licht des Sonnenfeuers standhielt. Doch nun war es geschehen. Der loderne Speer des vernichtenden Feldzuges war geworfen. Wer immer Ladonna geholfen hatte, ihre Falle zu errichten war mitschuldig am Tod von dreißig erfahrenen und kampfstarken Blutsverwandten. Das Blutrachegebot verlangte von ihr, diese Schandtat zu ahnden. Doch sie würde es nicht mehr darauf anlegen, in wartende Fallen hineinzuspringen oder welche der noch fünfzig anderen Blutsverwandten dort hineinzuschicken. Als sie das dachte hörte sie die Aufschreie von zwanzig weiteren Verwandten. Da wusste sie, dass es nur noch dreißig Nachkommen von ihr gab. Doch sie und ihre Linie sollten die überleben, die Ladonna halfen, ob gewollt oder gezwungen. Das war ihr nun völlig gleich.
Als sie einige Zeit später erfuhr, dass auch aus Morgenrötes Linie zehn Verwandte dem gläsernen Sonnenfeuer zum Opfer gefallen waren stand ihr Plan fest. Sie wollte alle in Russland lebenden Ältesten davon überzeugen, jede kurzlebige Hexe und jeden kurzlebigen Zauberer zu töten, wo immer die Kinder Mokushas auf sie trafen.
Als sie ihren Plan an Morgenröte weitergab sang diese ihr zu: "Wir können sie nicht aus der nähe von Angesicht zu Angesicht töten. Außerdem besteht die Gefahr, dass wir dabei alle sterben und Ladonna ihren Sieg über uns verkünden kann. Also sollten wir schon ganz genau wissen, wie wir das anstellen."
"Wie lange sollen wir darüber nachdenken?" fragte Sonnentanz. "Nicht zu lange. Bis dahin sollten wir uns in die geschützten Wälder zurückziehen."
"Zurückziehen?!" stieß Sonnentanz eine überaus wütende Erwiderung aus. "Wir sollen uns verkriechen, damit diese unser Blut fordernden Kurzlebigen sich schon zu Siegern ausrufen können? Nein, das werden wir nicht, wenn es nach mir geht."
"Denk an deine Ururenkel, die noch nicht erwachsen sind und noch keine Gefährten gefunden haben!" schickte Morgenröte zurück. "Ich pflichte dir ja bei, dass wir die Zauberstabträger bestrafen müssen, die uns derartig gedemütigt haben. Doch wenn die nun einfach so weiter auf uns Jagd machen dürfen und jetzt erst recht unseren Tod wollen nützt unsere Ehre nicht mehr viel."
"Wir treffen uns am Beratungsstein im sicheren Wald des Südens", sang Sonnentanz der anderen zu. "Wir werden darüber beraten, wie wir den Kurzlebigen zuvorkommen können und sie aus unserem Land vertreiben oder sie töten werden."
"Du bist die in unserem Land älteste reinblütige, Sonnentanz. Sing mir den Zeitpunkt zu, und ich werde als älteste hier lebende Vertreterin meiner Blutlinie dazukommen. Doch solltest du allen bis dahin gebieten, in die schützenden Wälder zu gehen und dort zu warten!"
"Nein, wir lassen sie kommen und töten sie und ihre dreiköpfigen Ungeheuer, wie meine hoffentlich in Mokushas ewigem Schoß eingekehrte Urenkelin Malenka es uns vorgeführt hat. wir ziehen uns nicht zurück! Dies ist mein Gebot als erwählte Sprecherin der russischen Kinder Mokushas", erwiderte Sonnentanz. Sie wusste, dass sie im Rat der achtundvierzig Ältesten mit dieser Haltung sowohl Befürworter wie Gegenstimmen haben würde. Doch Russland war das Land ihrer Voreltern, ihr Heimatland. Sich in die schützenden Wälder, die kein Kurzlebiger betreten konnte zurückzuziehen kam einer Aufgabe gleich. Lieber wollte sie den vollkommenen Krieg über jene bringen, die ihrer Familie das angetan hatten. Morgenröte wusste das. Auch sie hatte ja Anverwandte verloren und musste den alten Geboten gehorchen. Die Kurzlebigen würden es bereuen, die Kinder Mokushas derartig beleidigt zu haben. Selbst wenn jene, die für diese Freveltaten zu büßen hatten in vom gläsernen Sonnenfeuer beschützten Burgen zusammenkauerten konnten sie dies nicht für alle Zeiten tun. Sonnentanz würde sie alle niederkämpfen lassen, die ihren Verwandten in den Weg gerieten.
Die nächsten Tage und Wochen würden die Entscheidung über Sein oder Nichtsein bringen, entweder die Zauberstabträger oder die Kinder Mokushas.
Der Lärm war bezeichnend. Flugzeuge jeder Größe und aller bekannten Antriebsarten hoben ab oder landeten. Hier am Rhein-Main-Flughafen Frankfurt herrschte die geschäftige Betriebsamkeit, die den Flughafen zu einem der wichtigsten der gesamten Welt machten. Hier würde gleich in einem der angeschlossenen Bürogebäude eine alle zwei Jahre stattfindende Zusammenkunft von Verkehrspiloten beginnen. Die Veranstaltung, die nur von wenigen Zeitungsleuten mitverfolgt wurde, behandelte die neuesten Erkenntnisse der zivilen Luftfahrt. Vor allem nach den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 galt es, die Piloten und Copiloten der großen Fluglinien immer wieder mit neuesten Sicherheitsmaßnahmen vertraut zu machen und den stetig wachsenden Flugbetrieb und dessen logistische und technische Anforderungen zu verdeutlichen. Zwar kamen längst nicht alle Flugkapitäninnen und -kapitäne zur alle zwei Jahre tagenden Versammlung für internationale Verkehrsluftfahrt (VIVA). Doch an die tausend waren es dann doch, meistens mit großzügigen Aufbesserungen geköderte ältere Piloten der großen Luftfahrtunternehmen.
Randolf Feldhofer, Professor für Luftfahrtlogistik und Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, durfte dieses Jahr die auf dem Papier unverbindliche Tagung einleiten. Er wollte über die Verbesserungen bei der Betankung, aber auch über die steigenden Anforderungen der Fluglotsen referieren. Hierzu arbeitete er seit zehn Jahren neben der Lehrtätigkeit als Aufsichtsassistent am Münchener Flughafen Franz Josef Strauß. Doch wenn er das für diese Tagung vorgeschriebene Englisch sprach hörte ihm niemand den Bayern an.
Feldhofer hörte schon aus fünfzig Schritten entfernung das stetige Raunen vieler Stimmen. Er fühlte sich einen Moment so wie im in einem der Abflugterminals. Doch vor ihm lag ein für gewöhnliche Fluggäste unzugänglicher Bereich des Flughafens. Er bog mit seiner Laptoptasche um die letzte Ecke und ging auf die weit offene Flügeltür des Nordeingangs zum großen Versammlungssaal zu, in dem er alles vorfinden würde, was er für seine anderthalbstündige Präsentation brauchte. Vor der Tür erwarteten ihn die beiden höchsten Mitarbeiter des Flughafens Frankfurt. Anders als er, der für seine Vorlesungen und Präsentationen gerne helle Anzüge trug waren die zwei in dunkelgraue Anzüge gekleidet. Ihre Krawatten trugen das Firmenzeichen der Fraport AG, die den Flughafen besaß und betrieb. Der Professor für Luftfahrtlogistik und -kommunikation nahm die Begrüßung mit der üblichen Ruhe hin, die ein altgedienter Akademiker längst gewohnt war. Dann begleitete er die beiden anderen Herren in den Versammlungssaal.
Außer dass an zwei von vier Wänden mehrere Zentimeter dicke, bodentife Panoramafenster waren, die das einfallende Tageslicht bestmöglich ausnutzten unterschied sich der Versammlungssaal nicht von einem gewöhnlichen Hörsaal an der Universität. Mehrere Sitzreihen waren auf ein Podium und eine Tafel ausgerichtet. Über der Tafel erkannte Feldhofer eine aufgerollte Leinwand, wie sie früher für Film- und Diavorträge benutzt wurde und heutzutage als Projektionsfläche für computergesteuerte Videoprojektoren, in Deutschland auch Beamer genannt, diente. Feldhofer sah sogleich, wo der Videoprojektor installiert war. Der dafür zuständige Techniker hatte ihn schon bereitgemacht. Außer dem Techniker hielten sich an die dreitausend weitere Personen im Saal auf. Feldhofer sah, dass es doch fünfzig Frauen in Pilotenuniformen waren, die die Firmenzeichen von British Airways, Lufthansa, Air France, Qantas, China Air oder Southwest Airlines trugen. Er hätte mit seinem Kollegen Forstreuter wetten sollen, dass es doch mehr als zehn Pilotinnen gab. Dennoch stellten die fünfzig Frauen eine fast verschwindende Minderheit dar. Eins zu sechzig, dachte der Münchner Professor. Dann wandte er sich dem Techniker am Videoprojektor zu.
Feldhofer sprach den Techniker auf Englisch an, weil das hier ja die Tagungssprache war. Der junge Mann erwiderte den Gruß und sprach in einem eindeutig US-amerikanisch gefärbtem Englisch, dass er den Projektor bereit hatte und sobald Feldhofer wollte über Bluetooth eine Verbindung herstellen konnte. Das ersparte ein viele Dutzend Meter langes Kabel. Feldhofer war darüber erfreut. Nicht überall hatte er seinen zuverlässigen Klapprechner drahtlos mit den nötigen Ausgabegeräten verbinden können. ER kannte auch noch die klassischen Diaprojektoren. "Ich musste einen Verstärker zwischenschalten, um die Bluetoothsignale zuverlässig zwischen Tafelbereich und oberster Sitzreihe zu gewährleisten", informierte der Techniker ihn. Feldhofer bedankte sich für diese Umsicht und erhielt die Zugangsdaten für den Beamer.
Vorbei an den leise miteinander redenden Piloten begab sich Feldhofer zu seinem Platz vor allen Teilnehmenden. Er baute seinen Rechner auf dem Vorlesepult auf und fuhr ihn hoch. Die anderen wurden leise. Offenbar erwarteten sie von ihm angesprochen zu werden.
Er begrüßte alle Anwesenden und bedankte sich bei der Fraport und dem internationalen Luftfahrtunternehmensverband, diese Tagung einleiten zu dürfen. Gleichzeitig tippte er das Anmeldepasswort für seinen Rechner ein. Feldhofer gab einen kurzen mündlichen Überblick über die von ihm abzuhandelnden Themen und dass er genug Zeit für die sicher aufkommenden Zwischenfragen eingeräumt habe.
Während er mit der im Rechner verbauten Maus die nötigen Programmaufrufe tätigte und unter dem Menüpunkt "Verfügbare Bluetoothgeräte" die vom Techniker erhaltene Adresse anwählte sagte er noch: "Einer unserer großen Liedermacher besang in den 1970er Jahren, dass über den Wolken die Freiheit wohl grenzenlos sein müsse. Nun, er räumte damals schon ein, dass es nur eine Wunschvorstellung sei. Heute würde er wohl ebenso vom Gedränge über den Wolken singen, wie es auf allen großen Straßen dieser Welt stattfindet. Doch anders als Verkehrsschilder und Ampeln benötigen Sie, Ladies and Gentlemen, Funkfeuer und fachlich auf der Höhe befindliche Fluglotsen, die Ihnen helfen, zwischen allen Flugzeugen über den Wolken nicht verloren zu gehen oder gar, was unbedingt zu vermeiden ist, eine Kollision mit anderen Maschinen bevorsteht. Hierbei ist nicht nur Richtungsdenken, sondern räumliches und zeitliches Denken gefragt, was auch gerne als 4-D-Denkweise bezeichnet wird. Denn Fluglotsen müssen nicht nur erfassen, wo zwei kollisionsgefährdete Maschinen zum Zeitpunkt 0 sind, sondern wo sie in X Minuten sein werden und entsprechende Kurskorrekturen übermitteln. Also, grenzenlose Freiheit über den Wolken ist im 21. Jahrhundert pure Utopie, Ladies and Gentlemen. Sofern die Videoprojektionstechnik zuverlässig mit meinem Rechner interagiert darf ich Ihnen allen zeigen, wie sich das Luftverkehrsaufkommen der letzten drei Jahre entwickelt hat und welche Anforderungen auf jeden von Ihnen einwirken."
Feldhofer sah mit gewisser Beruhigung, dass sein Rechner mit dem Videoprojektor eine drahtlose Verbindung hergestellt hatte. Er bat darum, die Leinwand abzusenken und den Raum zu verdunkeln. Der Techniker betätigte mehrere Schalter. Innerhalb von zwei Sekunden verdunkelten sich die Fenster so, als bestünden sie aus vollkommen lichtschluckendem schwarzen Marmor. Gleichzeitig surrte die an die fünf Meter breite Leinwand herunter und hielt knapp über dem Kopf Feldhofers. So konnte er keinen störenden Schatten werfen. Er wählte aus einer Bildergalerie einen kurzen Animationsfilm aus, der mehrere altehrwürdige Flugzeuge durch eine idyllische Berglandschaft fliegend zeigte. "Ich erbitte eine Rückmeldung, wie viele Farben Sie erkennen können", sagte er. Die geräuschlos über die Leinwand dahinschwebenden Maschinen, teilweise Doppeldecker, flogen wie bei einem Bildschirmschoner mal von links oben nach rechts unten, mal von links unten nach rechts oben. Einer der Piloten sagte mit unverkennbar britischem Akzent: "Damals war die Freiheit aber noch grenzenlos, Professor Feldhofer." Das löste ein Lachen und vereinzeltes Händeklatschen aus. Ja, die Atmosphäre kannte er. Es gab immer welche, die seinen Worten irgendwelche mehr oder weniger geistreiche Kommentare anfügten.
Die Tür ging noch einmal auf und ließ das Licht aus dem Flur hereinfallen. Eine Frau im hellen Kostüm trat ein. Sie machte keine anstalten, sich für ihr Zuspätkommen zu entschuldigen oder besonders schnell und unauffällig Platz zu nehmen. Der Techniker am Videoprojektor sah sie merkwürdig an, als ginge von dieser Frau etwas unheimliches aus. Feldhofer hatte sich angewöhnt, Zuspätkommer nicht extra zu kommentieren. Er klickte nun auf die Präsentationssoftware und wählte die vorbereitete Präsentation aus. Auf der Leinwand erschien eine kurze Inhaltsangabe der von ihm zu erläuternden Themen, natürlich alles auf Englisch. Er bekam nur am Tuscheln der versammelten Piloten mit, dass die offenbar nicht in einer Flugkapitänsuniform steckende Frau mit ihrem dunklen Rucksack zielbewusst in die Mitte der Sitzreihen vordrang und dort einen der noch freien Plätze aufsuchte. Dann setzte sie sich, während der Professor aus München sein erstes Thema einleitete.
Nun konnte er seine vorbereitete und immer wieder geübte Präsentation durchführen und hatte die Aufmerksamkeit fast aller Zuhörer auf seiner Seite. Doch jedesmal, wenn er von der Leinwand absah und das große Auditorium betrachtete blieb sein Blick an jener zu spät eingetroffenen und dreisterweise durch die Reihen der interessiert lauschenden gelaufenen hängen. Wer war sie? Doch sie musste eine Berechtigung haben, hier zu sein. Sonst wäre sie nicht ins Gebäude gelassen worden. Weil nicht nur er das dachte kümmerte sich keiner um die spät eingetroffene, die ihren großen, offenbar schweren Rucksack zwischen ihren Beinen abgestellt hatte.
Feldhofer dozierte gerade über die neuesten Bordsysteme, die mit anderen Flugzeugen kommunizierten und zugleich Signale aus dem Tower entgegenehmen konnten, als die Frau in einem gewöhnlichen Geschäftsleutekostüm sich bückte und ihren Rucksack öffnete. Das leise Zippen des Reißverschlusses passte genau in eine gedankliche Pause Feldhofers. Er wählte bereits das dreißigste Bild der Präsentation aus. Er setzte an, etwas zu sagen, als er genau wie alle anderen erstarrte. Denn was er sah konnte unmöglich geschehen.
Aus dem Rucksack hob sich eine armdicke und armlange Kerze und stieg wie eine Feuerwerksrakete in Zeitlupe bis auf halbe Höhe des Saales auf. Feldhofer wollte gerade etwas dazu sagen, als die Kerze im freien Schwebend rubinrot aufflammte und aus der Flamme mittelheller Rauch hervorquoll. Er verdrängte den Umstand, dass die Kerze von selbst aus einem Rucksack aufgestiegen war und sich von ganz alleine entzündet hatte und sagte: "Madam, das Zünden von Feuerwerk- und Rauchbomben ist hier streng verboten. Ich muss Sie ersuchen, diesen Feuerwerkskörper schnellstmöglich zu löschen und mit diesem den Saal zu verlassen."
"Das ist für Sie und die anderen Maglo-Eisenvogelflieger nicht mehr möglich", sagte die Frau, aus deren Rucksack die Kerze entstiegen war. Jetzt meinte Feldhofer, dass der Rauch schwach violett schimmerte. Vor allem sah er, wie sich der Dunst von oben her auf alle Zuhörenden absenkte. Die ersten sprangen auf und wollten zur Tür. Andere versuchten, die Frau zu überwältigen, die diese Rauchkerze hereingeschmuggelt hatte, wie auch immer sie das angestellt hatte. Doch die Fremde wurde von einer unsichtbaren Kraft beschützt, die die Angreifer zurückwarf. Dann holte sie auch noch einen dünnen Holzstab heraus und ließ diesen durch die Luft pfeifen. Die noch auf sie zuspringenden Piloten wurden wie von einer unsichtbaren Welle zurückgeworfen. "Nehmt es auf euch und erfreut euch, dass die Königin euch ausgesucht hat", sagte die Unheimliche auf Englisch. Dann vollzog sie eine schnelle Drehung auf dem Absatz und verschwand mit einem leisen Knall im Nichts. Feldhofer traute seinen Augen nicht. Da vor ihm schwebte eine violetten Qualm verströmende Kerze, und die, die sie hier entzündet hatte war einfach verschwunden, hatte sich wegteleportiert. Das konnte unmöglich echt sein. Er kniff sich in den Arm. Es zwickte unverkennbar. Also träumte er nicht. Doch das hier konnte es nicht geben. Die Physik schloss das alles aus, freies Schweben, die unsichtbaren Abwehrkräfte und der plötzliche Abgang der Unheimlichen. Dann fiel nicht nur ihm auf, dass sich der Rauch immer mehr im Raum verteilte. Wieso sprang kein Rauchmelder an? Er sah den Techniker an, der wie erstarrt an seinem Steuerpult stand und keine Anstalten machte, irgendwas zu unternehmen. "Versuchen Sie die Türen zu öffnen! Fenster hell machen!" rief einer der beiden Flughafenmitarbeiter dem Techniker zu. Gerade versuchten drei der dreitausend Piloten, eine der beiden großen Türen zu öffnen. Doch die war verschlossen. Das war nur möglich, wenn der Hörsaaltechniker die elektronische Verriegelung betätigte.
Einer der Mitarbeiter rannte auf das Schaltpult des Technikers zu. Da umwehte ihn der violette Rauch, ebenso wie alle anderen. Schlagartig wurde aus dem am Rande einer Panik entlangjagenden Aufruhr völlige Ruhe. Ja, es war Feldhofer, als seien alle hier weltentrückt wie im Drogenrausch. Da traf auch ihn der violette Rauch. Er kam zu spät darauf, das Zeug nicht einzuatmen. Als ihm sein Fehler bewusst wurde fühlte er sich bereits immer entspannter. Er roch eine Mischung aus Grillwürstchen, Zwiebeln und frischem Weizenbier und fühlte sich sofort in sein Stammlokal in Schwabing versetzt. Gierig sog er den für ihn gerade so anregenden Duft in beide Nasenflügel ein. Der violette Rauch füllte nun seine Lungen, drang in sein Blut und machte ihn bereit für das, was noch kommen sollte.
Als der violette Rauch den ganzen Versammlungssaal erfüllt hatte knisterte und krachte es. Die Leinwand wurde dunkel. Der Rechner mit eigenem Bildschirm sprühte Funken, die jedoch im violetten Rauch erloschen. Dann klackerte es laut. Feldhofer achtete nicht darauf, dass sein Präsentationsrechner gerade einen schweren Festplattenschaden abbekam, weil die für eine Notabschaltung nötigen Routinen wegen multiplen Programmabsturzes nicht mehr griffen. Als dann noch die Kerzenflamme zu einer drei Meter langen Rose wurde, die sanft kreiselnd in jede Richtung winkte, verabschiedete sich auch das letzte Stück Technik, das elektronisch gesteuert wurde. Die Fenster verloren ihre völlige Abdunklung und wurden wieder durchsichtig. Ob die Türen ebenfalls wieder zu öffnen waren wusste keiner, und im Moment betraf es auch niemanden. Denn gerade verkündete eine aus der Rosenblüte dringende Frauenstimme, dass sie alle die neuen Diener der Königin waren und dass ihre Königin Ladonna hieß und die Herrin aller Menschen war. Die Stimme befahl, der Königin bis über den Tod hinaus zu dienen und auf ihr Zeichen hin mit ihren Flugmaschinen alles schändliche aus der Welt zu tilgen, vor allem die großen Elektrizitätserzeuger, die auf Kohleverbrennung und Gas angewiesen waren. Diese Botschaft erreichte jede und jeden hier, sooft sie wiederholt wurde, mal auch auf Spanisch, was Feldhofer gut konnte und Deutsch, seine Heimatsprache. Immer wieder und wieder sprach die Rose aus purem Feuer von der Königin Ladonna, die alle Menschen beherrschte und dass sie alle ihr dienen sollten, bis über den Tod hinaus.
Die Zeit war unwichtig. Irgendwann ging die Kerze in einer letzten violetten Rauchwolke auf. Alle im Saal saßen oder lagen wie in tiefer hypnotischer Trance oder einem besonders starkem Opiatrausch. Der Rauch drang durch die Belüftungsritzen nach draußen. Die automatische Frischluftversorgung war jedoch beim Entfachen der Kerzenflamme ebenso ausgefallen wie Feldhofers Computer, der Videoprojektor und die elektrochromischen Komponenten in den Fenstern, die eine Totalverdunkelung herstellen konnten. Doch keinem hier schien das was zu bedeuten. Sie alle blickten mit verklärten gesichtern nach vorne, wo die frei schwebende Kerze verschwunden war. Ladonna Montefiori hatte dreitausendundvier neue Getreue gewonnen, die als ihre fliegende Armee gegen den Wildwuchs der Maschinennutzung ankämpfen sollten, wenn sie das Zeichen gab. Sie durften jedoch niemandem davon erzählen, dass sie zum Gefolge der Rosenkönigin gehörten.
Feldhofer weinte dem leicht angeschmolzenen und eindeutig unbrauchbar gewordenen Laptop keine Träne nach. Ebenso hielt es der Haustechniker mit den von ihn bedienten Geräten. Dennoch würden sie erklären müssen, wie es zu diesem Ausfall gekommen war. Die beste und griffigste Erklärung war eine Überspannung. Womöglich war auch genau das aufgetreten. Gut, dass dieses Gebäude nicht unmittelbar am Flugbetrieb teilhatte. Ja, und die hier versammelten Referenten, die zwischen den Piloten saßen konnten vielleicht auch ohne elektronische Hilfsmittel referieren. Zumindest galt es, den Anschein zu wahren, dass hier nichts nennenswertes außer eben einer Überspannung geschehen war.
"Gut, dass du den Feindeswehrzauber in deinem Gewand hattest, meine Tochter Milena", sagte Ladonna eine halbe Stunde nach der Vollzugsmeldung, dass die große Feuerrosenkerze an ihrem Bestimmungsort angekommen und entzündet worden war. "Ich lasse mich nicht von aufgebrachten Magielosen festnehmen", gedankensprach Milena Dornfeld zu ihrer Königin. Diese erwiderte auf dieselbe Weise: "Sie sollen sich bereithalten, auf den Ruf "Abendrose" über die Stromerzeugungsanlagen herunterzustürzen, unabhängig davon, wo sie gerade auf der Welt eingesetzt werden. Um die Wirkung möglichst großflächig und nachhaltig zu gestalten musste sie ihren lebenden Vernichtungswaffen genug Zeit geben, sich auch weit genug zu verteilen. Sie ging auch davon aus, dass keiner in der magischen Welt damit rechnete. Aber weil sie sich nicht nur auf diesen einen großen Schlag verlassen wollte plante sie bereits zwei weitere Unternehmungen, die weltweit wirksam sein würden. Für eine davon hatte Milena zusammen mit einer anderen treuen Mitschwester einen besonderen Kristall in den elektrischen Eingeweiden des Frankfurter Flughafens versteckt. Ebenso hatten in den letzten Wochen auch treue Mitschwestern weltweit solche Kristalle in den großen Flughäfen versteckt, einschließlich denen von Paris, London und New York. Wenn sie wollte konnte sie mit Hilfe eines passenden Auslösers alle Ziele zugleich verheeren. Doch das wollte sie erst tun, wenn ihre dreitausend magielosen Untertanen ihre selbstmörderische Aufgabe erledigt hatten.
Die dritte Unternehmung, die ihr den Sieg über die Maschinenanbeter der nichtmagischen Welt bringen sollte, lief gerade in mehreren arabischen Staaten und dem Iran, dass sie noch als persisches Reich kennengelernt hatte. Ja, es war sehr wichtig gewesen, gleich nach der Unterwerfung des gesamten italienischen Zaubereiministeriums die dunklen Archive zu durchstöbern. Dabei hatte sie das Gerücht bestätigt, dass bereits im alten Rom ein Gegenspieler zum Zunderschwamm gezüchtet worden war, ein Pilz namens Mitternachtstau. Dessen Fruchtkörper zerrieben konnten auf sonst brennbares Material gestreut dieses für alle Zeiten unbrennbar machen. Außerdem war der aus den Fruchtkörpern gepresste Saft in Harz und Olivenöl löslich, was hieß, dass er auch in Petroleum löslich sein mochte. Ladonna hatte nicht schlecht gestaunt, als sie unter den Archivmaterialien auch eine vor hundert Jahren beschlagnahmte Schrift gefunden hatte, in der ein mit der Entwicklung in der Magielosen Welt höchst unzufriedener Zauberer namens Mateo Cordracone beschrieben hatte, wie er "den Durst nach dem stinkenden Blut der Erde" aus der Welt schaffen wollte. Ja, mit Gefrierwasser in Verbindung zum Saft aus dem Mitternachtstau konnte es gelingen, die auf ihre Verbrennungsmaschinen versessenen Nichtmagier in fügsame, im Einklang mit der Natur lebende Bauern und Handwerker zu verwandeln, die wieder mit Esel, Ochsen und Pferden ihre Äcker pflügten und ohne elektrischen Strom Holz und Metall verarbeiteten oder sich von den gnädigen Herrscherinnen der Welt einige magische Hilfsmittel verdienen konnten, um ihr trübsinniges Dasein nicht ganz so trübsinnig zu bestreiten.
Demnächst würde Ladonna jeden Tropfen aus der Erde gepumptes Öl unbrennbar machen. Dann würde sie die in anderen Schwesternschaften tätigen Hexen vor die Wahl stellen, lieber ihr, der Handelnden, zu folgen oder wie alle anderen zu Staub zertreten zu werden.
Julius fühlte sich an die vielen Demonstrationen in London erinnert, wo es um atomare Abrüstung, eine bessere Überwachung der Atomkraft oder eben gegen die öffentlichen Videokameras ging. In der Zaubererwelt ging es um die Wiederherstellung der internationalen Handelswege, sowie die freie Eulenpost ins Ausland. Es gab einige kleine Gruppen, die offen den Rücktritt Ventvits und aller Abteilungsleiter forderten, welche die gegenwärtige Lage zu verantworten hätten. Doch noch gab es Gruppen, die Ladonna Montefiori anklagten, Frankreich aushungern zu wollen. Dabei war immer noch genug essbares da, sowie Trinkwasser in Hülle und Fülle vorhanden. Die Protestierenden forderten also die bisherige Freizügigkeit bei Reisen und Fernverständigung ein.
Julius wurde den Verdacht nicht los, dass einige Zauberer und auch Hexen diese Missstimmung schürten, um das Zaubereiministerium zu schwächen. Doch denen einfach vorzuhalten, sie würden genau in Ladonnas Sinne handeln mochte nach hinten losgehen.
Als Julius nach der Mittagspause das Ministeriumsgebäude verließ sah und hörte er die Parolen der Demonstranten: "Frankreich ist ein Teil der Welt. Weg was uns gefangenhält!" Dazwischen vereinzelt: "Dieses sei der Stümper Lohn, Ruhestand ohne Pension!"
Als er eine Gruppe mit hellroten Zaubererhüten einheitlich bekleideter Zauberer sah, die vor dem Zugang zum Ministeriumsgebäude vorbeimarschierten hörte er sogar eine Parole: "Muggelerbe, fremdes Blut, sind die Quellen unserer Wut!" Er las auf einem in hellroter Schrift mit drei stilisierten Blutstropfen bemaltem Transparent:
Maschinenknechtkinder und eigensinnige Zauberwesen verderben unsere Welt. Reine Zaubererwelt, reiner Zaubererstolz, Verbannung aller Nichtmenschen!
SANGUIS PURUS
Julius stellte sich selbst demonstrativ so hin, dass die Träger dieser Transparente ihn sahen. Denn diese Parolen galten auch ihm. Er wollte wissen, wie die Träger dieser Hetzschrift auf ihn reagierten. Tatsächlich sahen einige ihn an, als sei er der an allem die Schuld tragende Zaubereiminister. Einer rief sogar: "Veelaknechte sind Ladonnas Knechte! Elektrosklaven verderben unsere Welt!"
"Danke, Ihnen allen auch noch einen schönen Tag!" rief Julius laut zurück, wobei er aufpasste, dass sich kein Zauberstab auf ihn richtete. Doch weil hier auch genug Sicherheitszauberer herumliefen traute sich niemand. So passierte die unter der Bezeichnung Sanguis Purus auftretende Gruppierung das Ministeriumsgebäude. Julius dachte daran, wie schnell es doch ging, dass für jede Schwierigkeit ein Stall von Sündenböcken aus dem Boden gestampft oder passend zur Zaubererwelt aus dem Hut gezogen wurde. Dabei wussten hoffentlich alle, wem genau sie die Abschottung zu verdanken hatten.
"Wir sollten überlegen, das Rechenzentrum unterirdisch anzulegen, als richtigen Bunker", sagte Jacqueline Richelieu, als Julius den getarnten Eingang zum Rechnerraum des Zaubereiministeriums betrat. Er deutete nach oben und sagte: "Wegen der Solarmodule können wir das nicht, Jacquie. Aber fürchtest du, dass diese Ablehner unseres Zaubereiministeriums unser Haus angreifen und zerstören?"
"Öhm, so direkt hab' ich das nicht gemeint. Aber wenn du das für möglich hältst", grummelte Jacqueline. Pierre Marceau, der ebenfalls im Computerraum arbeitete deutete auf seinen Umhang. "Jemand hat mir vorhin, als ich frische Luft geschnappt habe einen Beutel mit Blut draufgeklatscht. Gut, dass ich Gabies Rat befolgt und mindestens einen weiteren Umhang mitgenommen habe. Ticken die echt nicht mehr sauber?"
"Außer, dass ich dir in der Frage voll beipflichte kann ich darauf nichts antworten", sagte Julius und dankte den vor dem Ministerium wachenden Sicherheitszauberern, dass er nicht derartig beehrt worden war. Denn auf Angriffe auf Ministeriumsbeamte im Dienst stand eine Strafe von zwei bis zehn Monatsgehältern oder zwei Wochen bis fünf Monate Ordnungshaft. wurde der Beamte oder die Beamtin verletzt war das eine doppelt bis dreifach so hart zu ahndende Straftat wie Verletzungsdelikte bei Zivilpersonen. Da Julius als Büroleiter ein mittelhohes Amt bekleidete wäre ein ihn treffender Farb- oder gar Blutbeutel schon eine sehr teure Angelegenheit für den Täter.
"Wir müssen unbedingt den Kontakt zu den anderen freien Zaubereiministerien verstärken, sozusagen deren Korrespondenzpartner sein", sagte Julius. "So bleibt das Ministerium handlungsfähig."
"Und was ist mit der Internetüberwachung?" wollte Pierre wissen. "Da haben wir genug Überwachungswerkzeuge. Die füttern wir noch mit mehr Stichworten, dann können die auch größtenteils ohne unsere direkte Aufsicht weiterwachen und früh genug melden, wenn was auffälliges passiert, das mit der Zaubererwelt zu tun haben könnte", erwiderte Julius.
Als seine Nachmittagsarbeitszeit vorbei war stellte er fest, dass immer noch genug Protestler vor dem Ministerium standen. Aber hellrote Hüte waren keine zu sehen. Offenbar trauten die sich nicht all zu lange vor dem Gebäude herumzustehen. Er disapparierte dann doch lieber im Foyer, um denen da draußen nicht zu verraten, ob er noch im Ministerium oder schon zu Hause war.
Julius begrüßte seine ganze große Familie. Da Félix und die Zwillinge mittlerweile auch besser auf ihren kurzen Beinen laufen konnten dauerte das knapp fünf Minuten. Dann meinte Millie zu ihm: "Florymont hat seinen Kopf zu uns in den Kamin geschickt. Er möchte dich fragen, ob du Zeit und Lust hast, heute abend dieses Phalacrocorax-Gerät auszuprobieren, von dem ihr zwei es immer wieder hattet", meldete Millie.
"Oh, ich dachte, er müsse noch die Abstimmung zwischen Flug- und Druckverträglichkeitszauber austüfteln", sagte Julius. Er wusste, dass die von verschiedenen Science-Fiction-Geschichten inspierierte Kombination aus Flugzeug und U-Boot Florymonts neuestes Projekt war. Der flugfähige Duotectus-Anzug, der zumindest den Luftunterdruck und die Kälte in großer Höhe ausglich war sozusagen ein willkommenes Nebenprodukt, ähnlich wie der Personalcomputer das Nebenprodukt der Raumflugtechnik war. Aber wenn er damit sowohl schnell fliegen wollte wie mit einem Ganymed 12 oder gar 15, aber auch so tief damit in einem Gewässer tauchen wollte wie mit dem wieder Nautilus heißenden gelben U-Boot, galt es, die entsprechenden, den gesamten Körper erfassenden Zauber aufeinander abzustimmen, was wegen der Zauberkraftaufnahmefähigkeit der Materie nach Pinkenbach sehr schwer war.
"Ich habe Zeit. Ich bin auf jeden Fall interessiert daran, dieses Fluggerät auszuprobieren."
"Ja, und du möchtest uns beide fragen, ob wir dir das erlauben", meinte Millie. Béatrice nickte ihr beipflichtend zu. Julius sah die beiden erwachsenen Hexen verwundert an. Da meinte Béatrice: "Wäre zumindest anständig, wenn du das mit uns abstimmst, wenn du außerhalb deines Berufes noch andere gefährliche Sachen anstellst. Glaube es mir, mit einer ganz großen Schwester, die ständig meint, die neusten Besen testen zu müssen weiß ich sehr gut, wie belastend das für Albericus ist. Aber der hat die Vernunft ja auch nicht erfunden."
"Okay, ihr möchtet das mit mir ausdiskutieren? Kein Problem", sagte Julius. Er setzte sich an den Tisch der Wohnküche und beorderte alle sechs Kinder noch mal zum Spielen raus. Millie bestätigte seine Aufforderung. Da wuselten die drei größeren und die drei kleinen aus der Küche und die gewundene Treppe in der gläsernen Mittelachse des Apfelhauses hinunter.
Julius erwähnte nun noch einmal, was der Kormoran oder auch Phalacrocorax für eine Konstruktion sei und dass Florymont wohl von einer Geschichte, wo ein fliegendes U-Boot vorkam, darauf gebracht worden sei, ein tieftauch- und flugfähiges Fahrzeug zu bauen. Zweck dieses Gerätes sei die schnelle Verfügbarkeit an jedem gewünschten Ort der Welt, ähnlich wie bei der Hilfe der Hurrikanopfer in New Orleans. Als er zu den Sicherheitsvorkehrungen befragt wurde erwähnte er ohne nachdenken zu müssen Duotectus-Anzüge, die auf Druckausgleich egal ob Tiefsee oder Stratosphäre sowie Kälteschutz eingestellt waren. Außerdem wollte Florymont die Kabine innertralisieren, um starke Flugbahnveränderungen aushalten zu können. Béatrice fragte ihn wegen der schon öfter erwähnten Höhenstrahlung. Er gab dazu nur das Wort "Fortiplumbumfolie" zur Antwort. Er wusste schließlich, dass ihr britischer Kollege Tim Preston das Patent dafür nicht nur den Heilern, sondern allen von ihm für fähig genug gehaltenen Thaumaturgen verpachtete, so ähnlich wie er seine wahrhaftige Laterna Magica.
"Und was macht ihr in der Tiefsee, wenn euch der Apparat den Dienst versagt?" wollte Béatrice wissen. "Die erwähnten Anzüge anlegen, sofern nicht schon vor Abflug geschehen, dann die Verriegelungen der oberen Notausstiegsschleuse öffnen, in die oben angebrachte Schleusenkammer für bis zu vier erwachsene Menschen reinklettern, Bountere Luke zumachen, Wasser einlassen bis Druckausgleich und dann durch obere Schleusenluke aussteigen. Das geht zumindest bis zu einer Tauchtiefe von 5000 Meter. Bis dahin ist der Kopfblasenhelm garantiert druckfest."
"Und wenn ihr nicht groß mentiloquieren wollt, wenn ihr mitten im Pazifik aussteigen musstet, was macht ihr dann?" wollte Millie wissen.
"Hmm, jetzt hast du mich", erwiderte Julius. Denn an eine nichtmentiloquistische Fernverbindung wie ein elektrisches Funkgerät war nicht gedacht worden. Da meinte Millie: "Hmm, wird schwer sein, dir das zu erlauben, wenn ich nicht weiß wo du bist und ob du auch wieder zurückkommst." Darauf meinte Béatrice: "Wörtlich auslösbare Portschlüssel gehen nur bis zu einer Wassertiefe von tausend zweihundert Menschenlängen. Du erinnerst dich an dein waghalsiges Unternehmen mit der schwarzmagischen Installation in Algerien?"
"Als wenn es gestern gewesen wäre", erwiderte Julius. Dabei fiel ihm ein, dass er mit den zwei großen Hexen auch durchgesprochen hatte, was er wie und mit welchen Hilfsmitteln machen konnte, bevor sie ihm das genehmigt hatten. So sagte er: "Im Zweifel müssen wir so oder so erst mal an die Wasseroberfläche. Da gehen die WARPs doch wieder. Sie brauchen ja Sichtkontakt zu den Gestirnen, um die Verbindung zwischen Himmel und Erde herzustellen."
"Gute Antwort. Und was macht ihr, wenn ihr aus großer Höhe raus müsst und nicht genau wisst, in welche Richtung ihr disapparieren müsst?" Darauf erwiderte Julius auch "Wörtlich auslösbarer Portschlüssel, wie damals bei meinem zweiten Besuch in Ailanorars Himmelsburg."
"Hat Florymont solche Portschlüssel vorrätig?" wollte Béatrice wissen. Julius räumte ein, dies nicht zu wissen. "Gut, dann baue ich dir welche. Als Heilerin darf ich grundsätzlich Portschlüssel machen, wenn ich jemanden wissendlich in eine gefährliche Lage hineingehen lassen will." Julius wusste das auch schon.
Er musste zwei seiner für Muggeltaugliche Anzughosen erworbenen Gürtel hergeben, Diese machte Béatrice zu wörtlich auslösbaren Portschlüsseln. "Einen davon gibst du Florymont zusammen mit dem Zettel mit dem von mir ausgesuchten Auslöser!" sagte Béatrice. Millie sagte dann noch: "Am besten nimmst du den Silberstern auch mit, falls Florymont meint, gleich durch die Barriere vor Marseille durchfliegen zu wollen." Julius bestätigte das. Zumindest hatte er jetzt die offizielle Genehmigung seiner Ehefrau und der für ihn zuständigen Heilerin.
Doch bevor er zu Florymont hinüberapparieren durfte wurde er gebeten, die übliche Spielstunde mit den Kindern abzuhalten. So schaffte er Béatrice die Zeit, um die leidigen Schreibarbeiten zu erledigen und Millie konnte ungestört das Abendessen kochuspokussen. Als Julius sichtlich geschafft mit den sechs Kindern ins Haus zurückkehrte war er froh, doch noch was essen zu können. Dann schickte er an Camille die Frage, wann er vorbeikommen durfte. "Florymont wartet wie auf glühenden Kohlen. Komm am besten in zwanzig Minuten vorbei, wenn unsere vier jüngsten Mitbewohner müde genug sind, um ihn nicht zu vermissen."
Julius bestätigte das. Hoffentlich war der Testflug nicht zu lange. Ob Aurore, Chrysope und Clarimonde es hinnahmen, dass ihr Papa sie heute nicht in den Schlaf sang würde er später herausbekommen.
Mit den zwei Portschlüsselgürteln und dem Zettel mit der Notiz von Béatrice apparierte er auf der Landewiese der Dusoleils. Florymont saß am herausgestellten Gartentisch und sah sehr erleichtert aus, als Julius erschien.
"Meine Frau hat mir in den Ohren gelegen, ich solle ja was mitnehmen, falls wir ganz weit oben oder tief unten aus dem Kormoran raus müssen", sagte Florymont. Julius grinste und winkte mit den zwei schmalen schwarzen Gürteln. "Meine hauseigene Heilerin hat darauf bestanden, von ihr für genau diesen Fall ausgerüstet zu sein", erwiderte er. Beide Zauberer lachten erheitert. Florymont besah sich die Gürtel und den Zettel. "Oh, beide bringen uns zu dir ins Haus zurück. Je danach wie spät das wird weiß ich aber nicht, ob Camille das so toll findet, wenn ich bei einer unverheirateten Hexe im Haus lande."
"Welche, da wohnen sechs", konterte Julius. "Öhm, die im heiratsfähigen Alter", erwiderte Florymont. Da trat Camille auf die Landewiese heraus und sah Julius an. Er spürte sofort die Wechselwirkung ihres und seines Heilssterns, ein warmes Vibrieren und ein Gefühl völliger Geborgenheit. "Ach, hast du auch Portschlüsselgegenstände mitgenommen?" fragte Camille. Julius bejahte es. "Gut, dann könnt ihr zumindest nicht verlorengehen, solange ihr noch Zeit habt, ein Auslösewort auszurufen." Florymont erzählte seiner Frau dann, dass er mit Julius' Portschlüssel bei Béatrice im Schlafzimmer landen würde. "Soso", grinste Camille. "Das wird aber dann stressig für die gute Trice, wenn sie sich entscheiden muss, mit welchem von euch beiden sie Ehebruch begehen möchte, mein Süßer."
"Im Zweifelsfall Florymont, weil meine Frau in dem Fall viel zu nahe ist, um mich in Versuchung zu führen", legte Julius nach. Camille sah ihn und dann Florymont an und musste dann lachen. "Das habe ich davon, wenn ich solche Bemerkungen mache", sagte sie. Dann umarmte sie ihren Mann und Julius.
Seit an seit apparierten Florymont und Julius in einem Versteck, wo Florymont seine größeren Errungenschaften untergebracht hatte. Wo genau das war wollte er auch Julius nicht verraten, von wegen Versuchung.
Der Phalacrocorax war kein künstlicher Vogel, sondern eher ein zehn Meter langes, fünf Meter hohes Ei mit einer sehr dünn zulaufenden Spitze vorne. Allerdings ruhte es auf zwei wirklich vogelähnlichen Beinen mit Füßen, zwischen deren drei zehen Schwimmhäute ausgespannt waren. An den Seiten lagen mehrfach gefaltete Flügel an. Am stumpfen Hinterende sah Julius etwas ähnliches wie das Leitwerk eines modernen Flugzeuges, wobei die Seitenflächen gut und gerne auch als Flossen dienen konnten.
"Jetzt sehe ich das Ding zum ersten mal im ganzen. Öhm, hast du keine Fenster eingebaut?" fragte Julius. "Nein, ich habe dafür Bildverpflanzungsflächen eingewirkt. Siehst du?" erwiderte Florymont und deutete auf fünf kreisrunde Stellen, die auf einer Linie hintereinanderlagen. Julius konnte die entsprechenden Runen für Licht, Ferne und Versetzung erkennen. "Vor allem habe ich meinen Gleitlichtzauber da einwirken können, dass wir von der Sonne nicht geblendet werden und unter Wasser ohne äußere Lichtquelle noch was zu sehen kriegen."
"Jau! Öhm, darf ich wissen, wie du die Unvereinbarkeit von schnellem Flugzauber und Druckverträglichkeit hingebogen hast?" wollte Julius wissen. Florymont strahlte ihn an und deutete auf die angelegten Flügel. Dann deutete er auf den Unbeobachtbarkeitskreis, in dem sie beim Apparieren angekommen waren und nickte. "Also, es ist zu einfach, als dass ich da sofort hätte drauf kommen können", setzte er an. "Ich ging ganz multifunktionalthaumaturgisch davon aus, was anstellen zu müssen, dass dieselbe Materie mehrere starke Zauber aufnehmen und aufrechterhalten muss. Damit ging es nicht. Der Flugzauber wollte den ganzen Körper für sich haben, ebenso wie der Druckausgleichszauber. Dann ist mir eingefallen, dass es möglich sein muss, zwischen den zwei Zaubern umzuschalten wie bei elektrischen Geräten. Tja, so habe ich die für einen gelungenen Flugzauber nötigen Komponenten in die Flügel gepackt. Der Flugzauber wirkt, wenn sie mindestens halb ausgespannt sind und erreicht sein Optimum bei voll ausgespannten Flügeln. Sind sie eingezogen und die Landebeine ausgefahren berühren zwölf wasseraffine Kontaktkörper von innen den Rumpf und bauen den Tiefendruckverträglichkeitszauber auf. Das Ei ist mit ausgefahrenen Flügeln Druckstabil bis zur Obergrenze der Wetterschicht der Lufthülle, also an die zwölftausend Meter wie mein bei der Gelegenheit mitausgebrüteter Strato-Anzug, wo ich mir von den Luftschiffern doch das eine oder andere abgeguckt habe, um den zu optimieren. Bevor wir ins Meer tauchen zieht der Kormoran die Flügel an. Dadurch bekommen die zwölf Speicherkörper Kontakt mit dem Rumpf und füllen ihn mit dem Druckverträglichkeitszauber. Ich habe das Probemodell vor der Schweinerei mit der Albtraumbarriere im Atlantik getestet, als Camille wegen Außenarbeiten unterwegs war und die Kinder bei Jeanne zwischengelagert hat. Rein empirisch kann der Kormoran bis zum Grund des Marianengrabens abtauchen, aber dort wohl gerade so schnell vorankommen wie ein gut schwimmender Mensch."
"Und im freien Flug?" fragte Julius. "Kriege ich den auf vierfache Sturmwindgeschwindigkeit. Aber psst, dass Catherine mir dabei geholfen hat muss Camille nicht wissen, weil die ihr sonst noch in den Ohren liegt, mich nicht noch bei meinen irrwitzigen Experimenten zu unterstützen." Julius nickte. Das Catherine zu den Windmeisterinnen von Altaxarroi gegangen und von diesen ausgebildet worden war hatten sie, und er den erwachsenen Dusoleils berichtet.
"Dann kannst du auf jeden Fall über die Albtraumbarriere hinweg", meinte Julius. Florymont nickte sehr entschlossen. "Ja, und natürlich ist in der silbernen Schutzlackierung die Radarschlucklackierung enthalten, mit der auch die Beauxbatons-Kutsche ausgestattet ist. Ja, und das mit der Fortiplumbumfolie hat auch geklappt. Ich konnte sogar zwei Schichten verwenden", sagte Florymont.
"Und das mit der kybermentischen Steuerung hat auch geklappt?" wollte Julius wissen.
"Das ist der Grund, warum die bei uns zwischenhaltenden Luftschifflenker das nicht wissen dürfen, dass ich den Phalacrocorax gebaut habe. Die haben sich immer was auf die Perfektion ihrer Kybermentikkapuzen eingebildet. Dabei sind die Grundlagen schon Jahrzehnte alt", grinste Florymont.
Nach dieser ganzen Vorbesprechung zeigte er Julius, wie die vordere Seitenluke entriegelt wurde und eine Teleskopleiter wie bei einem Feuerwehrauto ausfuhr. "Deine Frau meinte, du liest doch zu viel von den Technikphantasien der nichtmagischen Welt", grinste Julius. "Das mit der Leiter ist doch echt ein alter Hut, wenn den auch die Nichtmagier längst benutzen.
Die Kabine war für bis zu zwanzig Erwachsene und Ausrüstungsgüter bis zu fünf Tonnen Gewicht ausgelegt. Es gab sogar über jedem Sitz ein Staufach für einen Duotectus-Anzug. So konnten Florymont und Julius sich erst einmal sicherheitshalber umziehen. Als die Leiter wieder eingefahren und die Einstiegsluke verschlossen war glühten die vordere Aussichtsfläche und die für die Bildverpflanzung ausgelegten Kreisflächen auf, weil sie auf das noch vorhandene Restlicht von draußen ansprachen. Julius nahm neben Florymont in den Steuersitzen Platz. An jedem der Sitze war eine Metallkapuze angebracht, die einfach nur umgeklappt und übergestülpt werden musste. "Ich steuere besser erst mal alleine, weil du mir sonst unabsichtlich mit deinem höheren Potential dazwischenfuhrwerken könntest", legte Florymont fest. Julius war einverstanden.
Um aus dem Versteck zu kommen öffnete Florymont über einige Gedanken an die Kapuze ein Teleportal. Der Phalacrocorax stakste auf seinen künstlichen Vogelbeinen los und durchschritt dieses. Es führte an den Südrand von Millemerveilles. "Ich konnte es nicht über die Grenze hinaus ausrichten, weil damals noch Sardonias Kuppel wirkte und ich nicht weiß, ob euer gemeinschaftlicher Schutzbann nicht auch eine Teleportalverbindung stört", sagte Florymont. Dann konzentrierte er sich auf den Start. Julius hörte die leise arbeitende Mechanik, welche die Flügel ausspannte. Dann sah er, wie der Himmel in seine Richtung kippte. Tatsächlich aber hob das neue Fluggerät mit großem Steigungswinkel ab. Es surrte leise, klapperte und war still. "Ich habe nur die Beine eingezogen, wie sich das gehört", sagte Florymont, der nun über die Kapuze mit den magicomechanischen Steuerelementen des Testfahrzeuges verbunden war.
Julius stimmte sich auf das Erdmagnetfeld ein und erkannte, dass es ziemlich schnell in südliche Richtung voranging. Aber er konnte es auch auf dem kleinen Kompass mit frei drehender, in Fünferabschnitten eingeteilten Windrose ablesen. Kurs 180 lag an. Doch wie hoch sie flogen konnte er nur durch Augenmaß erkennen. Jedenfalls gab es kein spürbares Ruckeln. "So, wir sind aus Millemerveilles raus und schon zweitausend Meter hoch und mehr als vierhundert Stundenkilometer schnell. Wir fliegen erst mal ein paar Manöver aus. Wenn du irgendwas spürst sag's mir. Dann muss ich die IN-Bezauberung nachfeilen."
Julius konnte im Moment nur zusehen, wie sich das Zwischending zwischen Ei und Vogel um alle drei Achsen drehte, eine liegende und eine senkrechte Acht ausflog und dann wie beim Wronsky-Bluff in die Tiefe sauste, um an einem Punkt im selben Winkel wieder nach oben zu sausen, so dass ein unsichtbares V in die Luft geschrieben wurde. Dann ging es richtig nach oben. Florymont wollte es jetzt wissen. Julius spürte keinen Druck auf den Ohren. Für Höhenflüge reichte die nicht weiter erwähnte Außenhülle als Druckkörper völlig aus. Als wäre die Sonne noch immer über dem Horizont konnte Julius ein helles Stück Himmel im Westen erkennen. Die Bürgerliche Dämmerung war schon vorbei. Doch für die Gleitlichtsichtfenster reichte das Restlicht, um alles taghell abzubilden. "Sechstausend Meter. Oha, Da in zwanzig Kilometer entfernung ist ein großer Düsenflieger. Moment, ich mach die Außentarnung. Dann können wir nicht so schnell aufsteigen, sind aber für die Leute im Düsenflugzeug nicht zu erkennen."
Julius sah einen flirrenden Nebel auf der vorderen Sichtfläche, die wie eine Verschmelzung aus Plasmamonitor und Windschutzscheibe wirkte. Jetzt konnte er die gleißenden Abgasstrahlen einer Maschine erkennen. Es war ein vierstrahliger Verkehrsjet. Dieser kam scheinbar mit Überschallgeschwindigkeit angeschossen und fauchte mehr als dreitausend Meter über dem Phalacrocorax hinweg. Florymont grinste unter seiner Kybermentikkapuze. "Gleich kommt die Höchsbeschleunigung", sagte er. Danach verschwand das nebelhafte Flimmern vor Julius. Sofort meinte er, mitten in den vom Restlicht erleuchteten Himmel hineinzustürzen, den viermal so hell wie der Vollmond leuchtenden Sternen entgegen. "Neuntausend! - neuntausendfünfhundert! - zehntausend! ..." zählte Florymont. Julius achtete genau auf die Geräusche. Doch er hörte nur ein ganz leises Säuseln. Die Seitenflügel bewegten sich nicht. Sie waren wie gewöhnliche Flugzeugtragflächen. Doch bei einem Flugbesen brauchte es auch keinen sichtbaren Vortriebsmechanismus. "Doing! Zwölftausend Meter über Grund!" rief Florymont stolz aus. Damit spielte der Phalacrocorax in derselben Liga wie der gerade noch eben vorbeigeflogene Düsenflieger. "Ich kann zwar die Luftverpflanzung der Luftschiffer nicht nachbauen. Sonst könnten wir vielmal schneller als der Schall fliegen. Aber wenn ich das rrichtig mitkriege sind wir wenigstens achtzig Prozent so schnell."
"Geht das nicht auf die Reichweite?" fragte Julius. "Hatte ich auch erst gedacht. Aber dann habe ich von Catherine erfahren, dass die Kräfte von Mond und Luft kombiniert eine eigentlich unendliche Reichweite hergeben. Die einzige Beschränkung wäre, dass der Phalacrocorax nur bei Nacht fliegen kann. Aber vielleicht kriege ich den dazu, auch die Sonnennstrahlen als Auffrischung zu nutzen."
"Jau!" konnte Julius dazu nur sagen. Mit dem Gerät konnten sie in einer Nachtperiode von hier in die Staaten fliegen. Aber sie mussten dort übertagen, bevor sie wieder nach Hause konnten. Das mussten sie beide sich sehr gut merken.
"Die Reaktionszeit bei den Richtungsbefehlen ist mir noch ein wenig zu lang", grummelte Florymont, während die magische Flugmaschine noch weiter in den Himmel stieg, bis sie bei 14000 Metern in waagerechten Flug wechselte. "Bei der hohen Geschwindigkeit muss die Umsetzung mindestens doppelt so schnell sein", grummelte Florymont. Julius fragte, ob sein Heilsstern nicht vielleicht in die Gedankensteuerung hineinfuhrwerkte. Florymont überlegte und meinte: "Stimmt, dessen Aura könnte mit meinen Gedanken wechselwirken. Dann wundert es mich, dass wir überhaupt so flott unterwegs sind."
"Gut zu wissen, dass ich den Stern nicht beanspruchen darf, wenn wir mit Mach 0,8 durch die Stratosphäre fegen", sagte Julius. "Es könnte auch am Anzug liegen, weil dessen eingewirkte Zauber Kontakt mit dem Sitz und der Kapuze haben", meinte Florymont. "Das will ich später mal nachprüfen. Jetzt geht es mir nur um die Flug- und Taucheigenschaften."
Hierfür steuerte Florymont das neue Fluggerät zur Mittelmeerküste hin. Aus dieser Höhe wirkte sie völlig unberührt. Tatsächlich erfolgte auch kein Widerstand oder dergleichen. "Ich spüre nichts von meinem Heilsstern, Florymont. Wenn wir schon über die Grenzlinie hinweg sind ist das für die Barriere zu hoch."
"Das wusste ich schon", sagte Florymont. "Ich such uns eine möglichst tiefe Stelle aus und bring uns runter. Hör du bitte auf die Rumpfgeräusche! Nicht, dass doch noch was mit der Druckverträglichkeit ist", meinte Florymont.
Der Phalacrocorax fiel mehr als zu sinken in die Tiefe zurück, als Florymont ein geeignetes Stück Mittelmeer ausgemacht hatte. Sicher hatte er auch ein Tiefenlot oder eine Art Zauberradar eingebaut, wie es in den Überseeluftschiffen eingesetzt wurde. Kurz vor dem Aufschlag auf dem Meer fing Florymont das Fluggerät so abrupt ab, dass eigentlich jeder hier durch die virtuelle Windschutzscheibe geschleudert werden musste. Doch nichts war zu spüren. "Notauffang klappt auch. Dann wollen wir mal baden gehen", bemerkte Florymont und ließ die Seitenflügel einziehen. Mit ganz leise von außen dringendem Platschen tauchte Phalacrocorax ins Meer ein. Sofort klang etwas wie ein Pumpwerk. "Wassersaugrohre laufen wie gewünscht", bestätigte Florymont. Dann hörte Julius ein leises Dong. "Das sind die Druckverteilerkolben, die uns vor dem Druck der Tiefsee schützen."
Julius bestaunte derweil die sich vor ihm ausbreitende Unterwasserwelt. Er sah Fische, die im verstärkten Restlicht schimmerten. Er erkannte sogar einen mittelgroßen Hai, wenngleich er gerade nicht sagen konnte, welche Art es war. Den Meeresboden sah er noch nicht. Er lauschte auf weitere Geräusche. "Fünfhundert Meter!" sagte Florymont an. Kein Knistern, kein verdächtiges Knirschen. Der Rumpf blieb offenbar stabil. Auch als sie tatsächlich die tausend Meter erreichten blieb alles ruhig. Dann sahen sie den Meeresboden. Florymont bremste die einem sturzartige Tauchfahrt herunter, ließ surrend die künstlichen Vogelbeine ausfahren und landete in zweitausend Metern Wassertiefe. Der Unterwasserantrieb schwieg. Alles war still. "Um richtig tief zu tauchen müsste ich in den Atlantik rausfliegen. Aber ich kann auch so ablesen, dass die Druckverteilungszauber in dieser Tiefe noch nicht einmal halb ausgelastet sind. Also, unter Wasser zu landen geht auch. Jetzt fahre ich mal ein paar Manöver aus, und dann steigen wir wider auf", sagte Florymont.
Die Vogelbeine trugen den Phalacrocorax einige Dutzend Meter über den Meeresboden. Dann wollte Florymont den Unterwasserantrieb wieder anwerfen. Es klackerte mehrmals. Mehr passierte nicht. "Huch, Blockade der hinteren Ausstoßröhren. Mechanik blockiert."
"Das heißt, du kriegst den Antrieb nicht wieder zum laufen?" fragte Julius noch ganz ruhig. "Nicht auf die übliche Weise. Wenn ich die Beine einziehe plumpsen wir auf den Meeresgrund und können uns nicht mehr bewegen."
"Kann das Ding auch rückwärts?" fragte Julius. ""Öhm, das war es, was ich noch hätte einstellen müssen", knurrte Florymont. Doch dann sagte er: "Dann muss es eben doch der Notaufstiegsmechanismus richten."
"Der Phalacrocorax hat keine Tanks", sagte Julius. "Braucht er auch nicht. Wir Franzosen haben schließlich die Ballonfahrt erfunden. Notaufstiegsballon freigeben!" sagte er. Doch ob das ein erforderlicher Steuerbefehl war oder nur gedacht werden musste wusste Julius nicht. Jedenfalls sah er, wie über ihm etwas großes, dunkles, zigarrenförmiges wuchs und wie der Phalacrocorax vom Boden abhob. Das zu testende Vielzweckfahrzeug stieg wie mit einem Freiballon nach oben. Florymont erwähnte, dass er eine rauminhaltsvergrößerte Kammer mit Auftriebsflüssigkeit leichter als Wasser eingebaut hatte, so wie es der Technikpionier Jacques Piccard benutzt hatte, als er in den Marianengraben hinabgetaucht war. Dann sagte er noch: "Jetzt weiß ich auch, was die Ausstoßrohre verklemmt hat. Die Störquelle zuckt und zappelt. Offenbar hat sich einer von den kleineren Fischen hinten eingefunden und ist bis zum Ausstoß vorgedrungen. Dann müssen wir den wohl mit nach oben nehmen", sagte Florymont mit Bedauern in der Stimme. "Dann hätte auch ein Rückwärtsgang nicht geholfen", sagte Julius. Florymont bejahte es.
Die Unterwasserballonkonstruktion zog sie mit ihrem neuartigen Tauchfahrzeug schneller nach oben. Unterwegs erfolgte ein leises Ruckeln. Dann gurgelte der Antrieb, bevor er wieder ansprang. "Offenbar hat es unseren ungeladenen Gast zerfetzt", meinte Julius. "Stimmt, wir sind schon bei tausend Meter unter dem Meeresspiegel. Das macht einen heftigen Unterschied. Dann hole ich den Ballon wieder ein und blase das Antriebssystem mit maximaler Stärke durch, um es freizuspülen."
Florymont tat was er angekündigt hatte. Erst schrumpfte der übergroße Ballon über ihnen. Dann klackerte es kurz. Dann röhrte das Pumpwerk mit voller Stärke los. Wie schnell der Phalacrocorax durchs Wasser glitt erfuhr Julius von Florymont. Dann sah er die Wasseroberfläche wieder im Sternenlicht schimmern. "Jetzt wird's kitzlig. Zwischen Wasser- und Luftantrieb umschalten habe ich nur zweimal ausprobiert", kündigte Florymont an. Julius blieb ruhig. Zu gerne hätte er mal seine Steuerungskapuze aufgesetzt, um die ganzen Ortungsgeräte zu testen. Doch im Moment genügte es wohl, dass er dabei sein durfte.
Der Pumpantrieb brüllte noch einmal laut auf. Das Vielzweckfahrzeug durchstieß die Wasseroberfläche und spannte blitzartig die Flügel aus. Diese klatschten zweimal aufs Wasser. Dann war der Phalacrocorax wieder in der Luft.
"Wir sollten diesmal nicht zu hoch fliegen, weil das Wasser auf der Außenhülle vereisen könnte", sagte Julius. "Ui, da habe ich auch nicht dran gedacht. Am Ende friert die Mechanik ein. Gut, dann müssen wir wohl erst einmal wieder trocken werden." Was er damit meinte erfasste Julius, als der Phalacrocorax zwanzig Minuten lang in den unteren Luftschichten hin und hersauste, im Zickzackkurs über das Mittelmeer jagte, immer darauf bedacht, nicht von Schiffen oder Flugzeugen gesehen zu werden. Dann befand Florymont, dass alles Wasser fort war und beschleunigte das Fluggerät nach oben.
Als sie in nur neuntausend Metern Höhe die Cóte Dazur überflogen meinte Julius für einen winzigen Moment seinen Heilstern vibrieren zu fühlen. Doch dann war es wieder vorbei. Offenbar hatten sie die höchsten Ausläufer jener dunklen Barriere gestreift. Er sagte es Florymont. "Neuntausend Meter? Als ich mit dem Fluganzug drüber hinweggeflogen bin reichten noch achttausend Meter. Kann es sein, dass sich dieser Wall an irgendwas auflädt?"
"Da ich den nicht gebaut habe kann ich das nicht klar sagen. Ich möchte es aber nicht ausschließen", erwiderte Julius.
"Na wunderbar. Aber Nichtmagier mit nichtmagischen Fahrzeugen kommen durch, ohne Albträume."
"Dann könnten die Antisonden was bringen, die die Ruhekräfte ihres Trägers auf null senken", sprach Julius etwas aus, was ihm dazu gerade einfiel.
"Stimmt, wenn sich jemand völlig mit antimagischer Kleidung verhüllt könnte er oder sie mit einem unmagischen Boot oder Flugzeug durchkommen, falls die Barriere für den Phalacrocorax zu hoch werden sollte. Aber noch komme ich wohl locker drüber. Aber wieso sollte es nötig sein, von uns wen nach außen zu kriegen?"
"Wegen der Geschenke von Léto und den anderen Veelastämmigen. Wir wollen doch noch weitere Zaubereiministerien befreien", sagte Julius. "Ei, klar. Aber in dieses Fahrzeug passen nur zwanzig Leute rein. Reicht das?"
"Ich muss was prüfen, ob das gehen könnte, Florymont. Falls es geht brauchen wir die Luftschiffer nicht mehr zu bitten, uns zu den Grenzen zu bringen, wo deren neuer Regionalrat das untersagt hat", grummelte Julius. Er erwähnte, was er vorhatte. Florymont nickte und sagte: "Ich muss sicherstellen, dass die besondere Zuladung die Eigenschaften des Phalacrocorax nicht beeinträchtigt. Okay, ich konferiere mit Otto Latierre und Ramus Lachaise, ob das klappt, weil die in magischer Tischlerei mehr erfahrung haben als ich, der mit Metallen, Tierhäuten und Mineralien herumhantiert." Julius nickte nur.
Der Phalacrocorax flog unbehelligt durch die Außensicherung von Millemerveilles. Julius spürte nur ein leichtes Erwärmen des Heilssterns auf seiner Brust. Dann landeten sie wieder in jenem Abschnitt, in dem das von Florymont eingerichtete Teleportal aufgerufen werden konnte. Durch dieses ging es in das Versteck zurück.
Als sie ausstiegen wehte sie der Geruch von Fischblut und Salzwasser an. Julius schnupperte an den nun sichtbaren Klappen für den Unterwasserantrieb. "Das Ausspülen hat wohl nicht so ganz geklappt, Florymont. Da musst du wohl alles ausbauen und mit dem Ratzeputzzauber reinigen, wenn du nicht willst, dass der Kormoran in einer Woche nach vergammeltem Fisch stinkt."
"Drachendreck", knurrte Florymont. "Könnte beim richtigen Fisch hinkommen", meinte Julius dazu. "Ja, muss ich wohl machen. Wird dann ein Fall für meine selbstrotierenden Rundbürsten", sagte er. Dann meinte er: "Ich bring dich noch vor unser Haus, damit Camille sehen kann, dass es uns beiden gut geht. Dann kannst du von unserer Landewiese aus nach Hause apparieren."
"Millie meinte was, dass du noch was einbauen möchtest, mit dem man sich über größere Entfernung verständigen kann. Ich habe ja selbst einen Meloverstärker mit, wie du weißt. Aber für wen, der oder die sowas nicht mithat."
"Gut, ich habe noch genug Schallverpflanzer mit darauf abgestimmten TPKs für Radio freie Zaubererwelt vorrätig. Dann baue ich eine entsprechend weit reichende Sprechverbindung in das Fahrzeug ein. Das mache ich, bevor ich mit den zwei Tischlermeistern spreche und mir von denen anhören muss, dass Holz einn besonderer Stoff zur thaumaturgischen Behandlung ist."
"Ja, weil Holz mal der Stoff lebender Wesen war. Ähnlich wie die Bezauberung von Fleisch anders ausfällt als die von Gestein, weshalb viele Flüche und Verwandlungszauber abgedrehte Fehlwirkungen haben, wenn sie auf tote Hindernisse treffen", sagte Julius. "Ja, weiß ich doch", grummelte Florymont.
Camille freute sich, dass beide Kormoranreiter wohlbehalten zurückgekehrt waren. Florymont erwähnte, dass er noch ein paar Nachbesserungen einbauen musste, bevor er das Gerät für den Gebrauch patentieren und lizenzieren lassen wollte. Julius wies ihn darauf hin, das mit der öffentlichen Anmeldung erst mal aufzuschieben, bis sie das gemacht hatten, was sie unterwegs besprochen hatten. Camille wollte wissen, was das war. Er mentiloquierte es ihr zu, weil sie hier nicht in einem Fernbeobachtungsschutzkreis standen. Florymont sagte dann noch: "Ja, und wir müssen die Barriere durchlöchern, falls die sich immer mehr nach oben ausdehnt. Am Ende streut deren dunkler Halluzinationszauber noch weit ins Land hinein und lässt alle dafür empfänglichen Wesen nur noch schlimme Träume haben."
"Die Barriere muss sowieso weg, Florymont und Julius. Wenn Bruno das heute richtig berichtet hat wiegeln da einige Damen und Herren immer mehr Leute auf, man wolle sie in ihrem Land einsperren. Es soll sogar welche geben, die alle menschengestaltlichen Zauberwesen und die mit ihnen verwandten oder verkehrenden des Landes verweisen oder in Sammellagern unterbringen wollen. Wir müssen diese Barriere loswerden, Jungs."
"Bitte was?! Das ist doch jetzt nicht wahr. Davon hat Millie mir nichts erzählt."
"Weil sie den ganzen Tag hier war und sich mit uns jungen Eltern darüber unterhalten hat, ob wir das Kindergartenhaus mit dem Spielplatz vergrößern und zusätzliches Personal für die Kindergruppen unter vier Jahren anstellen. War eine verdammt zähe, an Engstirnigkeiten verschiedener Leute anstoßende Debatte. Kein Wunder, dass deine Frau dir davon nichts erzählen wollte."
"Ja, aber was soll das, dass alle menschengestaltlichen Zauberwesen und diejenigen, die mit ihren verwandt sind oder beruflich verkehren in Sammellager gehören. Will da wer die Pétain'schen Friedenslager wieder aufmachen?" ereiferte sich Julius.
"In die Richtung könnte es laufen, Julius. Außerdem sind laut Radio Zaubererweltecho dreißig Mitarbeiter von Handelsbetrieben verschwunden, die wohl dachten, sie könnten mal eben durch die Barriere apparieren. Jetzt wird behauptet, dass die Barriere auch Apparatoren frisst."
"Die Barriere vielleicht nicht. Aber sie hat die wohl für wen anderen vorverdaut", knurrte Julius. Er konnte sich denken, dass die dreißig ungeduldigen Händler erst ganz überlegen gegrinst hatten, als sie nach Belgien, Deutschland oder Spanien hinübergesprungen waren, bis sie von einem eifrigen Empfangskomitee begrüßt und bis auf unbestimmte Zeit in einer ihrer Exklusivherbergen einquartiert worden waren. Er erwähnte den beiden Dusoleils gegenüber, dass die Außendienstmitarbeiter der Firmen dazu gezwungen werden mochten, Firmengeheimnisse preiszugeben oder zu Agenten Ladonnas umfunktioniert zu werden, die dann in Frankreich Attentate oder andere Verbrechen begehen sollten. Camille stöhnte: "Da rufst du aber jetzt einen verdammt großen Drachen, Julius."
"Als wenn der Drache es nötig hätte, gerufen zu werden", unkte Julius. Camille und Florymont sahen es wohl genauso.
Als Julius wieder im Apfelhaus apparierte freuten sich Béatrice, Millie und Aurore, die nicht eher schlafen wollte, bis sie wusste, wo ihr Papa war. Entsprechend müde sah sie ihn an. Doch sie lächelte. "Gut, meine Große. Papa ist wieder zu hause. Aber jetzt geh bitte auch ins Bett. Maman, Tante Trice und ich gehen auch gleich schlafen", sagte Julius. Aurore nickte. Sie wankte wie angetrunken in ihr Zimmer und machte die Tür von innen zu.
"War es erfolgreich?" fragte Béatrice. Julius bat die beiden großen Hexen, mit ihm ins Musikzimmer zu gehen.
Er erzählte ihnen von der kurzen Reise und von der Erfahrung, dass die Barriere sich offenbar weiter nach oben ausdehnte, was auch heißen konnte, dass sie breiter und stärker wurde. Béatrice fragte ihn, ob er einen Erdzauber kenne, der eine solche Aufladung bewirkte. Er überlegte und verneinte es. Millie erwähnte, dass es an die Sonnenstrahlung gebundene Zauber gebe, die je stärker und länger die Sonne schien auch um so stärker wirkten. Womöglich gab es das auch für den Mond oder die beiden anderen eher beweglichen Elementarkräfte von Wasser und Luft. "Ja, und womöglich ziehen die Quellen auch geistige Ausstrahlung an, beziehungsweise saugen bestimmte Gefühlsregungen ab, sofern sie von magischen Wesen ausgehen, sowie die Abgrundstöchter, die Dementoren und die Nachtschatten das können." Dann fragte er Millie, was sie von außerhalb von Millemerveilles mitbekommen hatte. Sie erzählte ihm dasselbe wie Camille, dass sie auf der Tagung junger Eltern war, um die Vergrößerung des Kindergartens anzugehen, die zwar damals, als die Frühlingskinder unterwegs waren, beschlossen, aber noch nicht konkretisiert worden war. Béatrice erwähnte dann, was sie im Radio gehört hatte. Millie verzog ihr Gesicht. Julius wiegte den Kopf. Dann erwähnte er, was er Camille und Florymont als reine Vermutung mitgeteilt hatte. "Sähe diesem Biest ähnlich", meinte Béatrice. Julius erinnerte sie und sich an Catherines Bemerkung zum Haus des Friedlichen Miteinanders. Millie schnaubte: "Dann lass dir von Ministerin Ventvit und Demetrius' Trägerin besser eine Aufgabe zuteilen, die du auch von hier aus erledigen kannst oder nimm einen Portschlüssel mit, um noch rechtzeitig wegzukommen!"
"Ich kläre das mit dem stillen Dienst, was da genau los ist. Sicher haben Catherine und ihre Mutter über ihre Drähte zur Liga gegen dunkle Künste und Hera über ihre Drähte zur Heilerzunft mehr mitbekommen. Béatrice nickte.
Als er dann erwähnte, welche Einsatzmöglichkeiten er für das Vielzweckfahrzeug sah meinte Millie: "Ach ja, so könnte es gehen. Das sollte aber zumindest von der Ministerin abgesegnet werden."
"Hmm, aber die müsste im Falle einer Enthüllung jede Kenntnis von dieser Operation abstreiten, beziehungsweise leugnen, dass die damit betrauten für sie gearbeitet hätten, Millie. Das ist ja die leidige Kiste im Agenten- und Spionagegeschäft, bloß nicht erwischen lassen und falls doch kennt dich keiner mehr."
"Da kenne ich mich nicht so aus", murrte Millie. Béatrice sagte nur, dass die dafür auszuwählenden auch sehr vertrauensvoll sein müssten und dass sie alle mit dem goldenen Licht der Befreiungskerze gegen die Feuerrosenkerze immunisiert werden sollten. Da Julius schon zu jenen gehörte, die das goldene Licht und die darin wirkenden Kräfte über sich ergehen ließ nickte er. "Neh, aber du gehst nicht an vorderster Front dahin, Mon cherie", knurrte Millie. "Du hast Familie, und du hast was seltenes gelernt. Lass mal andere die Welt retten!"
"Hallo, Ma Chere, ich hatte das gar nicht vor, mich dafür einsetzen zu lassen. Falls Ladonna Agenten in Frankreich hat müssen die weiterhin davon ausgehen, dass ich nur meinen Job in Nathalies Büro und im Computerraum mache. Sobald ich verschwinde werden die Spione hellhörig und suchen mich."
"Auch richtig", sagte Béatrice. Dann sagte sie zu Millie: "Aber ich wage zu vermuten, dass mein größerer Bruder, dein Onkel Otto, sich zu gerne für dieses Sonderkommando hergibt, wie damals als er mit Gilbert die Druckerpresse gestoh... öhm, zu einem guten Zweck requiriert hat."
"Das ist unbestreitbar", sagte Millie. Schließlich hatten die erwachsenen Latierres ja auch mitgeholfen, die Apparierüberlagerungsvorrichtungen im Land zu verteilen.
"Heute kriegen wir das sowieso nicht mehr geregelt, zumal Florymont noch was am Phalacrocorax nachbessern muss, damit der für solche Einsetze taugt", sagte Julius. Millie und Béatrice stimmten dem zu. Es war schon spät genug, um ins Bett zu gehen.
Auch wenn die Ministerin wiederholt davor warnte, einfach so über die von außen versperrte Grenze zu apparieren meldete der Miroir Magique am Morgen des 15. Juni, dass wieder fünf Zauberer beim Versuch verschwunden waren. Wilde Spekulationen sprossen, ob die "Verlorengegangenen" an der dunklen Albtraumwand zerschellt waren, ob dieser Wall in Wirklichkeit eine Reihe von Palisadenpfählen war, in denen die Verschwundenen eingeschlossen waren und "womöglich" in ihren schlimmsten Angstvorstellungen gefangen waren, so wie es die katholische Kirche des Mittelalters allen androhte, die ein ihr missfälliges Leben geführt hattenund deshalb nach dem Tod in der Hölle landeten, oder ob die Verschwundenen zwar durch die dunkle Absperrung hindurchappariert waren, am Zielort jedoch sofort von Ladonnas Handlangern aufgegriffen und eingesperrt oder getötet worden waren.
Außerdem druckte der Miroir einen Leserbrief aus Colmar im Älsass ab. Der Schreiber, der nur mit den Initialen O. F. F. erwähnt werden wollte, bezichtigte die Zaubereiministerin der "von langer Hand vorbereiteten Kolaboration" mit Ladonna Montefiori, weshalb diese sich nicht um die Unterwerfung der französischen Ministeriumszauberer bemühen müsse. Außerdem zitierte die Zeitung O. F. F. mit den Worten:
Ornelle Ventvit hat schon immer die uns angeblich überlegenen Zauberwesen wie Kobolde und Veelas verehrt. Anders kann es auch nicht erklärt werden, dass diese verantwortungslose Person eine ausgewachsene, reinblütige Riesin in unserem Heimatland leben lässt, ja ihr sogar den Samen unbescholtener, aber dem Ministerium weisungsgebundener Zauberer zuführte, damit dieses Ungetüm auch noch neue Halbriesen ausbrüten konnte, die uns in frühestens zehn Jahren, spätestens wenn sie unangefochten heranwachsen dürfen, arge Schwierigkeiten machen werden. Dass sie dafür den wegen einer Absonderlichkeit zum überhochbegabten Zauberer herangewachsenen, muggelstämmigen Julius Latierre als ihren Handlanger benutzte passt da wunderbar zusammen. Offenbar ging es beiden darum, zu prüfen, ob eine für reinblütige Zauberer ungefährliche Besamung einer reinblütigen Riesin möglich ist, damit demnächst dieser von zwei Nichtmagiern stammende Gehilfe da selbst mit dieser Riesin eine neue Superrasse sowohl magisch hochbegabter wie körperlich allen reinblütigen Zauberern überlegener Geschöpfe züchten kann, die als eine Art Homo superior uns heute lebenden, angeblich so schwächlich gestalteten Hexen und Zauberer ablösen soll, wohl auch um die Welt zu erobern. Wir von der Gesellschaft zur wahrung reinen Blutes fordern hiermit die sofortige Entlassung Ventvits und ihrer von Veelazaubern Korrumpierter Untergebenen, so wie ihres offenbar zum Lieblingsknecht gewordenen Julius Latierre. Was dessen Nachnamen angeht ist offenkundig, dass beabsichtigt ist, sein exotisches Erbgut zur Verbesserung der alten Blutlinie der Latierres heranzuziehen, was auch erklärt, warum er im Alter von knapp 24 Jahren bereits sechs Kinder gezeugt haben soll.
"Wenn es nicht so lächerlich wäre müsste ich jetzt wütend auf den Tisch hauen", knurrte Julius. "Aber ich muss diese Behauptungen zumindest für gefährlich genug halten, dass sie bei anderen verfangen."
"Sanguis Purus", schnaubte Millie. "Das ist doch der gleiche Dreck wie die Todesser oder damals Grindelwalds Anhänger, die meinten, nur reinblütige Hexen und Zauberer dürften leben und die Welt regieren.""Ihr erinnert euch daran, was damals beim schmutzigen Wahlkampf zwischen Ventvit und Louvois ans Licht gekommen ist. Wundert euch das nicht, dass die Person, die den Brief geschrieben hat jetzt erst diese Hypothese in den Raum wirft?" fragte Béatrice. Millie und Julius bestätigten das. Warum hatte sich O. F. F. so lange Zeit gelassen, mit diesen Anschuldigungen an die Öffentlichkeit zu treten. Da fiel Julius was ein: "Kann es sein, dass die Redaktion vom Miroir erst jetzt solche heftigen Behauptungen für den Druck freigibt und solche Behauptungen schon früher ausgestoßen wurden?"
"An und für sich müssen alle Leserbriefe freigegeben werden, Julius. Der einzige Grund zum Auslassen solcher Briefe ist die Wortanzahl, damit der Brief auf einer Seite gedruckt werden kann", sagte Millie und nannte als Quelle ihren Onkel Gilbert. Tatsächlich fanden sie im Miroir Magique auch einen Kommentar zur Glaubhaftigkeit der Konkurrenzzeitung Temps de Liberté. Der Kommentator wies dezent darauf hin, dass der Gründer der Zeitung die Gelegenheit nutze, den magischen Menschen eine auf die Akzeptanz mit anderen Zauberwesen vermischter Kinder "anzuerziehen", da seine Familie ja auch dafür bekannt sei, bedenkenlos natürlich nicht zusammenpassende Tiere zu neuen magischen Nutztieren zu kreuzen. Was mit Tierwesen möglich sei konnte jederzeit auf menschengestaltliche Lebewesen übertragen werden.
"Gut, dass Maman unseren Stammbaum sicher unter Verschluss hält und die Abstammung von einer reinrassigen Riesin zu einem unserer Familiengeheimnisse erklärt hat", seufzte Béatrice. "Das wäre sonst genau die Propaganda, die diese Leute richtig groß rauskommen lassen."
"Es wundert mich, dass ich, der Supermenschenzuchtbulle, noch kein Kind mit Mademoiselle Maxime habe, wo ich doch drei Monate mit ihr im selben Zimmer übernachtet habe", ätzte Julius.
"Jedenfalls sollten wir gleich beim Frühstückstisch nur die Artikel laut vorlesen, die für die Ohren der Kinder harmlos genug sind", schlug Béatrice vor. Millie meinte dann: "Es könnte nur passieren, dass die Eltern von Rories und Chrysies Kindergartenkameraden diesen Unrat gelesen haben und den Drachendreck auch noch glauben, nach dem Motto, endlich sagt mal wer, was Sache ist und "Das haben wir doch schon immer geahnt, aber uns nicht getraut, das laut auszusprechen."
"Es ist echt beunruhigend, dass ein Wenig Beschränkung des bisherigen Lebens derartige Ansichten aus dem Sumpf der Unerhörtheiten hochblubbern lässt wie Faulgasblasen", schnaubte Julius. Béatrice und Mildrid konnten ihm da leider nur vollkommen zustimmen.
Beim Frühstück lasen die drei Erwachsenen ihren Kindern Artikel über neue Besen und die Beschlüsse zur Aufrechterhaltung und Unterstützung von Handelsunternehmen vor, die durch die Absperrung der Grenzen in Schwierigkeiten oder gar akute Not geraten waren. Doch auch hier gab es zwischen den Zeilen Vorwürfe an die Zaubereiadministration, dass sie nichts gegen die Beschränkungen tat und womöglich darauf hoffte, sich in alle größeren Handelshäuser der französischen Zaubererwelt einzukaufen, um an deren Einkünften zu verdienen. Es ab jedoch auch noch Leute, die klarstellten, dass es keine Hungersnot gab und auch kein Mangel an nötigen Gebraucchsgütern bestand. Seitdem es möglich war, Posteulen über die Reisesphärenkreise in die Überseegebiete zu schicken und von dort zu Adressaten im Rest der Welt zu schicken waren wenigstens die verstummt, die ihre Besorgnis und Verärgerung wegen der abgerissenen Kontakte geäußert hatten. Allerdings mochten die über den Atlantik fliegenden Eulen wesentlich länger unterwegs sein als die direkt von Frankreich nach Belgien, Luxemburg oder Spanien hinüberfliegenden Eulen.
Mit dem Morgenluftschiff aus Viento del Sol war eine Eule Brittanys eingetroffen, die gleich nach der Landung freigelassen wurde, um ihren Brief zu überbringen. So erfuhren die Latierres von der für alle großen und kleinen Bewohner des Apfelhauses gültigen Einladung, am 28. Juni 2006 die Ankunft von Brooke Beverly Brocklehurst zu feiern. Die stolzen Eltern hatten dafür den Saloon vom Sonnigen Gemüt gebucht und auch ein entsprechendes Unterhaltungsprogramm für Groß und Klein zusammengestellt. Die Gäste aus übersee konnten falls früh genug angekündigt in einem Großfamilienzimmer der Komfortstufe Silber wohnen, also nicht in jenen Luxuszimmern, in denen Millie und Julius damals mit Julius Mutter gewohnt hatten. Auch wollten Martha und Lucky Merryweather die Ankunft ihrer Tochter Rubia Eileithyia feiern. Weil dafür ja viele der Gäste eingeladen wurden, die auch Brittany und Linus eingeladen hatten konnten sie die beiden Feste ja gut hintereinander feiern. Julius überlegte, ob er das verlockende Angebot wahrnehmen konnte, bis zum ersten Juli in Viento del Sol zu bleiben. Doch sein Gewissen zwickte ihn, dass er gerade jetzt wegen der Veelas in Europa nicht mehr als ein oder zwei Tage von seinem Arbeitsplatz fernbleiben konnte. Da meinte Millie, als habe sie über die halben Goldherzen seine Gedanken mitgehört: "Wenn du jetzt dran denkst, was in der Zeit alles mit den Veelas passiert darfst du gar nicht von hier weg. Außerdem kannst du ja gerade nicht außerhalb von Frankreich in Europa herumreisen, wo die Feuerrosenimperatrix noch zu viele treue Anhänger hat. Wenn Britt und deine Mutter Martha meinen, wir könnten bis zum ersten Juli in VDS wohnen hängen wir noch eine ganze Woche auf eigene Kosten dran und machen anständig Urlaub. Öhm, Britt, kannst du das bitte für uns klären, ob das Großfamilienzimmer bis zum achten Juli verfügbar ist?"
"Falls Charlie Beam nicht wieder eine Abordnung vom Hexeninstitut von Salem da einquartiert", meinte Brittany mit verwegenem Lächeln. Dann nickte sie und meinte, dass sie das klären konnte. Julius fühlte sich zwar ein wenig von Millies Vorstoß überrumpelt, musste jedoch für sich selbst zugeben, dass sie recht hatte und er tatsächlich mal ein paar Tage Auszeit nehmen sollte. Allerdings wollte er sicherstellen, dass weder ihm noch seinen Familienangehörigen irgendwer dumm kam.
Nachdem Aurore und Leonidas sich voneinander verabschiedet hatten beendete Brittany die magische Bild-Sprech-Verbindung.
Julius flohpulverte kurz vor acht ins Ministeriumsfoyer. Hier konnte er schon erleben, wer alles die gegen Ventvit und ihn erhobenen Vorwürfe gelesen hatte und vor allem, wer dazu neigte, diese Hetze zu glauben. Denn jene, die weiterhin mit ihm gut auskommen wollten grüßten freundlich bis anspornend. Die anderen sahen ihn nur prüfend an und nickten als er grüßte.
In seinem Büro fand er ein Schreiben Madame Delacours vor. Diese äußerte eine gewisse Besorgnis, dass sie und ihre Familie von den reinblütig menschlichen Nachbarn verdächtigt werden mochten, gegen die reinblütigen Zauberer und Hexen zu arbeiten. Die giftige Saat Ladonnas schien auf dankbaren Boden gefallen zu sein. Er schrieb ein Memo an Nathalie und bat sie, ihm mitzuteilen, ob er vom 28. Juni bis zum 8. Juli Urlaub vom Rechnerraum erhalten könne. Dann schrieb er Apolline Delacour eine Antwort, dass er mit Madame Barbara Latierre und Monsieur Chevallier darüber konferieren würde, ob es nötig sei, die Veelastämmigen in Frankreich besser vor möglichen Anfeindungen abzusichern und vor allem auch ob er das veröffentlichen durfte, dass die Veelas und Veelastämmigen gerade dabei waren, die von Ladonna Montefiori unterworfenen Zaubereiministerien zu befreien.
"Julius, Sarja hat mir gerade zugesungen, dass morgen die russischen Kinder Mokushas darüber beraten, ob sie mit den russischen Zauberstabnutzern einen offenen Krieg anfangen oder sich bis auf unbestimmte Zeit zurückziehen sollen", hörte er die Gedankenstimme Létos in seinem Geist hallen. Er konzentrierte sich auf die überragend schöne Matriarchin der französischen Veelastämmigen und schickte zurück: "Deine Schwester weiß, dass wenn ihr euch gewaltsam mit den Zauberern anlegt alle Veelastämmigen in Russland und anderswo ausgelöscht werden?" Léto bejahte das. "Sie berufen sich auf Mokushas Gebot, dass das gewaltsam vergossene Blut ihrer Kinder mit dem Blut der Untäter getilgt werden soll."
"Meine Mutter hat mir das Zitat eines österreichischen Adeligen Namens Fürst von Metternich mitgeteilt, dass Blut nichts abwaschen, sondern nur besudeln kann. Dieser Adelige spricht sich eindeutig gegen Blutfehden aus. Will Sarja bei einem Krieg gegen die Zauberer und Hexen mitmachen?" fragte er.
"Sie hat zehn ihrer Neffen und Nichten bei einer Blutracheaktion verloren. Deshalb müsste sie Mokushas Gebot befolgen."
"Moment mal, hat Mokusha ausdrücklich befohlen, dass alle umgebracht werden müssen, die ihren Kindern Gewalt antun?" fragte Julius. "In der seit ihrem Leben auf der Welt von Geschlecht zu Geschlecht weitergegebenen Botschaften heißt es, dass wer eine wen von uns umbringt oder zulässt, dass jemand von uns gewaltsam stirbt und alle seine Angehörigen dafür sterben sollen", gedankensprach Léto. Da fiel Julius was ein: "Ich komme nicht nach Russland hin, abgesehen davon, dass deine Verwandten da mich nicht für voll nehmen, wenn der Ältestenrat mir keine entsprechende Vollmacht gibt. Aber wie ist das, wwenn jemand von einem anderen Kind eurer Urmutter dazu angestiftet wird, rivalisierende Familien anzugreifen? Weil nichts anderes macht Ladonna Montefiori."
"Diese Möglichkeit wurde nicht erwähnt, weil Mokusha zu gewaltlosem Miteinander aller ihrer Kinder auffordert. Wer sich nicht daran hält riskiert, dass deren oder dessen Seele im Fluss der rastlosen Geister endet oder gar in den endlosen Abgrund des Vergessens stürzt. Außerdem empfinden wir körperliche und seelische Schmerzen, wenn wir versuchen, einen anderen Nachfahren Mokushas körperlich anzugreifen. Das musstest du ja selbst erleben, als du Diosan davon abbringen musstest, junge Mädchen zu rauben, um ihnen seine Saat einzupflanzen."
"Ja, aber Ladonna ist keine reinrassige Veela, in ihr steckt auch Waldfrauenerbgut. Auch hast du mir erzählt, dass sie eigene Verwandte umgebracht oder in ihren Blutfeuernebel hineingelockt hat. Sie kann also wen dazu anstiften, gegen andere Veelas vorzugehen."
"Ja, kann sie wohl", gedankenseufzte Léto. Da meinte Julius: "Sing deiner kleinen Schwester Sarja bitte zu, dass ihr das unbedingt vorher ausgiebig beraten müsst, was eure Urmutter für den Fall, dass eine von euch fehlgeleitet wird und arglose Leute zu ihren Werkzeugen macht, verfügt hat und dass die in Russland und anderswo lebenden Veelas solange in sicheren Verstecken ausharren sollen, wo kein Zauberer und keine Hexe hinkommt. Ihr habt es nicht mit frei entscheidungsfähigen Leuten und somit nicht mit willentlich handelnden Mördern zu tun. Es hat in der nichtmagischen Welt schon viele Gerichtsverfahren gegeben, wo ein rein von den Tatsachen her eindeutig überführter Mörder deshalb nicht die für Mord angedrohte Höchststrafe erhalten hat, weil nachgewiesen wurde, dass er oder sie nicht aus eigenem Willen gehandelt hat, sondern instrumentalisiert wurde, weil er oder sie aus Krankheitsgründen oder einer unablegbaren Abhängigkeit von den wahren Mordentschlossenen benutzt wurde. Du weißt ja auch, wie viele Hexen und Zauberer vor neun Jahren für Didier gearbeitet haben, weil sie unter dem Imperius-Fluch gestanden haben. Die wurden auch alle freigesprochen, weil sie nicht aus eigenem Willen gehandelt haben. Wenn ihr mit den magischen Menschen einen offenen Krieg anfangt werdet ihr den verlieren, Léto. Wollte eure Urmutter das? Vor allem hat Ladonna dann gewonnen und kann die Welt nach ihren machtsüchtigen Vorstellungen umbauen, ohne dass jemand da ist, der sie wirksam aufhalten kann. Ihr könnt sie aufhalten. Deshalb hat sie ihre Unterworfenen ja angestiftet, ja wie seelenlose Werkzeuge gebraucht, um euch alle auszulöschen."
"Ich gebe es an meine kleine Schwester weiter. Aber ich muss es so ausdrücken, dass mir die Idee gekommen ist. Sonst kommt noch wer von den russischen Verwandten auf den unschönen Gedanken, du würdest für deine Volksangehörigen um Gnade winseln und hättest Angst vor unserer Entschlossenheit. Genau das würde die bestätigen, die lieber gestern als morgen zum vollkommenen Krieg ausziehen wollen."
"Der letzte, der einen totalen Krieg gefordert hat hat sein Land und sein Volk an den Rand der völligen Auslöschung getrieben, Léto", schickte Julius zurück. "Wollt ihr in diesen Abgrund springen wie Lemminge?"
"Oh, interessantes Bild", schickte Léto zurück. "Aber du hast nichts dagegen, wenn ich meiner Schwester deine Vorschläge als meine Ideen anbiete?" Julius schickte sofort zurück, dass er das eindeutig befürwortete. Denn ihm war klar, dass die Veelas in Russland sich im Augenblick von keinem Menschen mehr was vorschlagen oder gar vorschreiben ließen. Für Frankreich konnte er Vorschläge machen. Die Russischen Veelas lehnten seine Zuständigkeit ab. Ironischerweise stimmten sie damit auch Arcadi zu, ob der gerade aus eigenem Willen oder unter Ladonnas Feuerrosenfluch handelte.
"Wenn die in Russland einen Krieg anfangen springt das Feuer auch auf alle anderen Länder mit Veelabewohnern über", dachte Julius.
Er beriet sich nach kurzer Anmeldung mit Barbara Latierre und Belenus Chevallier, ob den Veelastämmigen in Frankreich unmittelbare Gefahr durch aufgebrachte Hexen und Zauberer drohte und erwähnte auch noch einmal das zwischen der Ministerin und Léto geschlossene Abkommen, einander zu achten und dass es bei einem gewaltsamen Tod einer Veela in Frankreich keine Blutrache geben würde. "Schön wär's, wenn wir diesen Vertrag eins zu eins auch in Bulgarien, Russland, Rumänien oder Südslawien einführen könnten", sagte er noch.
"Sie haben Léto darauf hingewiesen, dass die Veelas jeden offenen Krieg mit uns verlieren würden", sagte Belenus Chevallier. Julius bejahte das. "Ich habe ihr auch mitgeteilt, dass Menschen, die auf die eine oder andere Art zu Taten gezwungen werden und sich nicht dagegen wehren können keine willentlichen Mörder werden können", erwähnte er noch. Barbara fragte ihn, ob er das schriftlich und somit amtlich festgehalten habe. Er erwähnte, dass Léto sich im Augenblick wohl nicht ins Ministerium wagte, weil auch hierzulande eine miese Stimmung gegen andere Wesen geschürt wurde. "Dann schreiben Sie das für mich und den Kollegen Chevallier bitte so auf, als hätten sie mit ihr in Ihrem Büro gesprochen, Monsieur Latierre. Es muss für uns und alle unsere Nachfolger jederzeit nachlesbar sein, was wir tun", gemahnte ihn Barbara Latierre an etwas, was er in den ersten Monaten seiner Dienstzeit gelernt hatte. Über alles musste es schriftliche Aufzeichnungen geben, um sich später darauf berufen zu können oder zumindest zu wissen, warum wer damals was angeordnet oder umgesetzt hatte.
"Bis wann erwwartet Madame Léto die Benachrichtigung, wie sich ihre Verwandten in Russland entschieden haben?" fragte Belenus Chevallier. "Die Beratung soll am 16. Juni unseres Kalenders losgehen und hat noch keinen Abschlusstermin", erwähnte Julius.
"So oder so können wir aus bekannten Gründen und internationaler Rechte nicht in die Befugnisse des russischen Zaubereiministeriums eingreifen, Kollege Chevallier", sagte Julius' Schwiegertante mit gewissem Unmut. Julius erwähnte nur, dass die von der Ministerin abgesegnete Unternehmung "Goldene Brücke", die die in Nordamerika lebenden Veelastämmigen nach Frankreich und England geholt hatte, vielleicht auch für flüchtende russische Veelas genutzt werden konnte. Darauf sagte Belenus Chevallier: "Jetzt muss ich mich doch sehr wundern, einem von uns und den Veelas beauftragten Vermittler darauf hinweisen zu müssen, dass Veelas und ihre Nachgeborenen ein ausgeprägtes Heimaterdegefühl haben und höchst ungern aus ihrem Geburtsland flüchten. Dass die überhaupt sowas wie einen Krieg planen können zeigt überdeutlich, dass sie lieber sterben als sich aus ihrer Heimat verjagen lassen wollen. Zaubereiminister Arcadi weiß das garantiert, weil er ja sonst gleich ein Abschiebeverfahren für alle Veelas angeschoben hätte und keine Gefangennahme oder Tötung."
"Die aus Nordamerika geflüchteten Veelastämmigen haben auch erwähnt, sofort wieder in ihr Geburtsland zurückzukehren, wenn sich die Lage in ihrer Heimat verbessert haben sollte. Da der von Ladonna Kompromittierte Föderationsrat entmachtet wurde warten sie noch auf eine entsprechende Meldung, ob sie dort wieder sicher und friedlich leben können oder nicht", erwiderte Julius. Er dachte auch an Euphrosyne, die ja die Grandchapeaus und Ornelle Ventvit mit ihrem unerbetenen Segen bedacht hatte, um für sich und ihren Auserwählten ein unangefochtenes Wohnrecht in Frankreich zu erzwingen. Wie weit mochten reinrassige Veelas gehen, die seit mehr als zweihundert oder dreihundert Jahren in Russland wohnten?
"Es ist wichtig, dass wir die uns bekannten unterdrückten Zaubereiministerien befreien", stellte Barbara Latierre klar. "Auch müssen wir rauskriegen, wer diesen Grenzwall gemacht hat. Ladonna alleine kann das nicht gewesen sein."
"Am besten klären wir das gleich mit der Ministerin und dem Kollegen Chaudchamp ab", sagte Belenus Chevallier. Dann beschlossen sie zumindest für ihre Abteilungen, dass Veelastämmige in Frankreich eine Art Notrufartefakt erhalten sollten, das ausschließlich im Fall eines Angriffs auf sie benutzt werden sollte, um Ministeriumszauberer zur Hilfe zu rufen.
Da Belenus Chevallier und Barbara Latierre darauf bestanden, gleich alles andere abzuklären verpasste Julius die Konferenz um zehn Uhr morgens. Doch als sicher feststand, dass das französische Zaubereiministerium sich auf keinen Fall in russische Zaubereiverwaltungsangelegenheiten einmischen würde, was auch hieß, dass Julius nicht als Botschafter zu den russischen Veelas geschickt wurde, erstattete Julius Nathalie und Demetrius, der über Cogison-Ohrring "zugeschaltet" war, einen ausführlichen Bericht. Auch Nathalie empfahl ihm, alle noch gut erinnerten Gedankensprechkontakte mit Léto unmittelbar auf Pergament zu bringen, um für jeden Nachfolger, der oder die nicht so einen guten Mentiloquismuskontakt mit der lebenden Stammutter der französischen Veelastämmigen besaß, einen vollständigen Überblick der bisherigen Entwicklungen zu hinterlassen.
Da Nathalie darum bat, dass Julius ihr und ihrem ungeborenen Sohn wieder beim Mittagessen Gesellschaft leistete blieb er in ihrem Büro. Er erfuhr, dass wenn er es bis zum 23. Juni hinbekäme, die erwähnte Lage in Russland zumindest was seine Zuständigkeit anging zu regeln, er gerne den beantragten Urlaub vom 28. Juni bis zum 8. Juli erhalten würde. Er erwähnte auch, obwohl das nicht vorgeschrieben war, warum er diesen Zeitraum gewählt hatte. "Und noch ein Baby, dass weit vor mir auf die Welt gerutscht ist", cogisonierte Demetrius. Seine Mutter setzte dem eines drauf und sagte: "Ja, und das Baby kann sogar noch selbst eins kriegen, bevor du meinem warmen Schoß entschlüpfen kannst, mein Sohn." Darauf erfolgte nur ein frustriertes: "Und was gibt's neues?"
Julius nahm sich die Nachmittagsstunden, um mit Hilfe seiner Flotte-Schreibe-Feder alle ihm noch bekannten Kontakte zu Léto auf Pergament zu übertragen und auch, was heute morgen von ihr mitgeteilt worden war. Er schrieb es so auf, als habe sie ihn in einem mündlichen Gespräch darauf hingewiesen. Als er trotz der flinken Feder ganze drei Stunden gebraucht hatte, um alle Kontakte abzuschreiben und zu kommentieren beschloss er, nach Hause zu apparieren.
Als er im Aufzug stand traf er Monsieur Lepont aus dem Büro für friedliche Koexistenz. "Na, Kollege Latierre, schon Pläne für das Leben nach dem Ministerium gemacht?" fragte dieser ihn. Julius fragte, wer denn in Umlauf gesetzt habe, er wolle demnächst kündigen oder sei bei der Ministerin und Madame Grandchapeau in Ungnade gefallen. "Nun, unerheblich ob dieser dreckige Dunkelwall von Ladonna Montefiori gemacht worden ist, ohne dass irgendwer von uns das mitbekommen hat, wann und wie, steht doch jetzt außer Frage, dass die Beziehung zu überheblichen Zauberwesen wie Veelas, Riesen und Zwergen uns immer mehr schwächt. Abgesehen davon, was haben Sie und die Noch-Ministerin sich dabei gedacht, eine wilde Riesin aus dem Osten mit Zauberersamen zu schwängern? Wollten Mademoiselle Ventvit und Sie nur testen, ob das auch so geht wie bei den Milchkühen in der Muggelwelt?"
"Es ging und geht darum, denkfähigen Zauberwesen zu helfen, sich ohne Gewalt gegen uns anzuwenden bei uns aufhalten zu können, vor allem, wo es erwiesen ist, dass viele Zauberwesen uns bei der Lösung verschiedener Probleme helfen können", sagte Julius. "Und auf Ihre Fragen zurückzukommen, Kollege Lepont, weder habe ich meine Kündigung im Sinn, noch will ich meinen eigenen Samen einer Riesin zur Zucht von irgendwelchen Überwesen überlassen. Lassen Sie sich bitte nicht von diesen Scharfmachern einreden, die Ministerin und ich seien an allem Schuld und man müsse ja nur uns aus dem Amt jagen, um wieder Ruhe und Frieden, Wohlstand und Bequemlichkeit zu kriegen! Immerhin arbeiten Sie in einer Behörde, die deshalb besteht, weil es vor über hundert Jahren eingesehen wurde, dass eine völlige Abschottung von der nichtmagischen Welt die Zauberergesellschaft nicht schützt, sondern noch mehr gefährdet, irgendwann von nichtmagischen Aggressoren überrannt zu werden."
"Genau deshalb arbeite ich in diesem Büro, das gerne auch personell umgeändert werden kann, um diese Maschinenknechte zu überwachen, damit die mit ihren Elektrosachen und Motorfahrzeugen keinen Unsinn in unserer Welt anrichten können. Nur wenn wir wissen, wann wer von denen uns gefährlich werden kann, können wir dem Einhalt gebieten. Zumindest galt das noch, bevor Grandchapeaus Witwe den Laden übernommen hat und seitdem nicht mehr hergibt, obwohl es genug Leute gibt, die diesen alten Gedanken wieder zur Geltung bringen. Also sollten Sie sich das doch besser überlegen, ob Sie bei uns echt noch richtig sind. Ein Ministeriumsposten ist nicht für die Ewigkeit."
"Das ist richtig, Kollege Lepont. Doch solange so Leute, von denen Sie Ihre neuen Ansichten haben nicht offiziell an der Macht sind sehe ich mich genau deretwegen an dem Platz galleonenrichtig, an dem ich arbeite", erwiderte Julius uneingeschüchtert. "Und falls, was Himmel und Erde verhüten möchten, so rassistisch argumentierende Leute wieder mal das Ministerium übernehmen sollten werde ich das früh genug wissen, wohin ich gehe. Nur sind Sie nicht befugt, von mir darüber Auskunft zu erhalten, zumal man Sie in dem Fall sicher auch anderswo hinversetzen wird, weil solche Hetzer und Reinblütigkeitsfanatiker kein Kontaktbüro für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und Ohne Magie brauchen. Im Gegenteil, die behaupten ja, es sei gefährlich, mit den sogenannten Maschinenknechten in Verbindung zu stehen. Aber solange noch mehr als genug Leute sich an die Zeiten von Sardonia, Grindelwald und Voldemort erinnern ... Ach neh, macht Ihnen dieser selbstgewählte Name immer noch Angst, Kollege Lepont?" Sein Kollege Lepont war bei Nennung des einst so gefürchteten Namens zusammengefahren wie von einem Stromschlag getroffen. Mit erst bleichem und dann wutroten Gesicht sagte Lepont: "Halten Sie sich nicht für besonders Mutig, nur weil Sie diesen Namen aussprechen können. Das liegt bei Ihnen nur an der Unwissenheit, was dieser Unhold alles verbrochen hat", zischte er. Dann glitten die Türen auf Höhe des Foyers auf. Lepont sprang förmlich aus der Fahrstuhlkabine, drehte sich ohne Abschiedswort auf einem Absatz und disapparierte mit erhobenem Zauberstab. Julius nahm dieses abrupte Gesprächsende als Punktsieg für sich und verließ ebenfalls die Aufzugskabine und dann auch das Ministeriumsgebäude.
"Angst ist ein genialer Dünger für Unverschämtheiten", knurrte Béatrice, als Julius ihr und Millie von seinem Tag im Ministerium berichtet hatte. Millie meinte dazu: "Ja, und sie ist wie eine ansteckende Krankheit."
"Nur, dass Angst zu oft zu Hass wird und Hass in die Selbstzerstörung führt, wie die Geschichte der magischen und nichtmagischen Menschheit immer und immer wieder bestätigt hat", sagte Julius. "Wir müssen aufpassen, uns nicht von denen, die jetzt gegen die Ministerin und uns hetzen in so einen Hassstrudel hineinziehen zu lassen. Auch dann hat Ladonna gewonnen und muss nur abwarten, bis wir uns gegenseitig massakriert haben, um dann auf unserer Asche ihr großes Imperium zu errichten, wo nur noch ihre Meinung gilt und sonst keine andere und wo nur leben darf, wer ihr selbst nützt und sonst niemand mehr."
"Ja, da hast du leider recht, Julius. Aber so denkunwilligen Leuten wie deinem Kollegen Lepont ist das zu wider, darauf hingewiesen zu werden. Die fühlen sich damit ganz wohl, wenn sie einfache Lösungen für ihre Probleme angeboten kriegen. So Leute laufen auch in der Heilerzunft herum, also jetzt keine, die mal wieder die Reinblütigkeit zum höchsten Gut der Zaubererwelt erklären, sondern solche, die am liebsten alle Pflanzen und Tierwesen ausrotten würden, die Krankheiten hervorrufen können", sagte Béatrice. "Da sind jedoch die Beschlüsse der Heilerkongresse der letzten hundert Jahre vor, die sagen, dass weiterhin Paracelsus' Ansicht gilt, dass nur die Dosis bestimmt, was ein Gift und was ein Heilmittel ist und dass in jeder Pflanze und jedem magischen Tierwesen sowohl Heil als auch Unheil enthalten sein kann", erwähnte Béatrice. Millie und Julius konnten ihr da nur beipflichten. Allerdings konnten sie sich auch nicht von den Sorgen freimachen, dass auch in der bisher vor Ladonnas Zugriff sicheren Zaubererwelt Frankreichs ihre Saat aufgehen würde, wenn sie lange genug wartete. Es stand fest, dass dieser Grenzwall um das ganze Land und die verschwundenen Mitbürger diese Bunkerstimmung und ja, auch eine gewisse Hilflosigkeit provozierten. Doch einfach zu behaupten, die Veelastämmigen gehörten entmachtet und alle ihre Unterstützer gleich mit würde die Lage nicht zum besseren ändern. Julius machte sich jedoch Sorgen um seine Kinder. Wenn die in dieser immer mehr vergifteten Stimmung aufwuchsen konnten die in die Entscheidung getrieben werden, gegen die ganzen Aufwiegler und Patentlösungspropheten zu kämpfen oder denen erst nach dem Mund zu reden und dann noch im Namen des größeren Wohls gegen alle die zu kämpfen, die von den Sündenbocksuchern als Ursache allen Übels bezeichnet wurden. Eigentlich war er froh gewesen, dass Aurore in eine freie Welt ohne Angst hineingeboren worden war. Sollte er sich echt so geirrt haben?
"Es könnte darauf hinauslaufen, dass nicht nur gegen Werwölfe, sondern auch gegen die Träger von verschiedenem Erbgut Bewegungseinschränkungen verhängt werden, sobald jemand anderes die entsprechenden Abteilungen führt", argwöhnte Julius. Er sah Béatrice und Millie an, die ja von ihren Vorfahren her keine völlig reinblütigen Menschen mehr waren, sich aber völlig zu recht als vollwertige Menschen verstanden. Sollte die von Leuten wie Riddle und Vengor in die Zaubererwelt getragene Vorstellung von Reinblütigkeit wieder aufgehen würden auch die Latierres, egal was sie bis dahin für die Zaubererwelt erreicht hatten, zu unerwünschten Wesen erklärt, und dann waren auch alle sechs Kinder von ihm in Gefahr, interniert oder aus Gründen der Reinblütigkeit als zu tötende Missgeburten eliminiert zu werden. Das wollte und das musste er verhindern. Punkt eins war: Der Grenzwall musste entweder seine Wirkung verlieren oder ganz verschwinden. Punkt zwei war, dass sie bald die Unternehmung "Flohkiste" starteten, mit der Einsatzgruppen in den Nachbarländern nach Möglichkeiten suchen sollten, die unterdrückten Ministerien zu befreien. Dass es mit der Schweiz gelungen war nahmen Julius und alle, die daran beteiligt gewesen waren als Ansporn, auch die übrigen direkten Nachbarn Frankreichs aus Ladonnas Griff zu lösen.
"Eleonore und Hera waren noch mal bei uns, Julius. Sie sagten, dass der Dorfrat sich wegen dieser Sache mit Meglamora noch mal mit dir unterhalten wollte, die beiden jedoch nicht glaubten, dass du von der Ministerin dazu beauftragt seist, mit Meglamora eine neue Supermenschenrasse zu züchten. Der Dorfrat will sich übermorgen treffen, nur mit dir, Julius", teilte Millie ihrem Mann mit. Julius seufzte. Er erinnerte sich daran, wie abweisend Hera Matine auf Hagrids reinrassig riesischen Halbbruder reagiert hatte, als sie bei Dumbledores Beisetzung waren. Doch weil er mit ihr schon oft genug auch über Meglamora und ihren besonderen Nachwuchs gesprochen hatte und weil es sich als sehr hilfreich erwiesen hatte, Halbriesenblut zur Verfügung zu haben, um die in Australien aufgetauchten Skyllianri zu bekämpfen würde sie sicher nicht behaupten, er wolle mit Meglamora Hybriden aus Riesen und hochbegabten Zauberern zeugen, wobei das auch insofern völlig absurd war, weil es ja dann nur diese eine gemeinsame Blutlinie gab und eine wie auch immer beschaffene Krankheit alle auf einmal ausrotten konnte, wenn deren Immunsystem nicht durch verschiedene Erbgutträger gestärkt war. So sagte er zuversichtlich, dass er die Einladung zur Ratssitzung natürlich annehme.
Wie er und seine beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen es hinbekamen, den Kindern gegenüber einen Hauch von Ruhe und heile Welt aufrecht zu halten lag wohl daran, dass anders als im Rest des Landes die Bewohnerinnen und Bewohner von Millemerveilles zu gut wussten, was die Latierres für sie getan und erreicht hatten und wie die Saat von Angst und Misstrauen gedeihen konnte, nur weil jemand von außen einen tonnenschweren Deckel auf das ganze Land gelegt hatte.
Bei abendlicher Musik ließen Béatrice, Millie und Julius diesen Tag wortwörtlich ausklingen. Es stand fest, dass sie sich nicht einschüchtern lassen durften, um Ladonna und ihren wahrhaftigen oder indirekten Helfern und Helfershelfern nicht zu unterliegen.
Die Stimmung hatte sich bis zur angesetzten Dorfratssitzung nicht wesentlich verschlechtert, außer dass Lepont Julius bei jeder Gelegenheit so ansah, als würde der nur noch wenige Tage im Amt sein.
Von Léto wusste er, dass die russischen Veelas in einem "geschützten Wald" zu einer mehrtägigen Beratung zusammengekommen waren und dass Sarja Létos Einwände gegen einen Krieg als "ihre Ansichten" vorbringen wollte. Denn es hatte sich erwiesen, dass Mokusha wirklich nie daran gedacht hatte, was war, wenn sich zwei Nachkommen ihrer eigenen Kinder mit körperlicher Gewalt bedrohten. Julius hatte Léto gefragt, ob das bei Ladonnas erster Herrschaft nie zur Sprache gekommen war. Darauf hatte ihm die Mutter aller in Frankreich lebenden Veelastämmigen zumentiloquiert, dass Ladonna und ihre halb von Veelas stammende Nährmutter keine Anstalten gemacht hätten, gegen andere Veelastämmige vorzugehen und überhaupt dass Ladonnas reinblütige Veelavorfahrin Nachtlied immer ihre schützende Hand über ihre Nachkommen gehalten habe, auch als sich anbahnte, dass Ladonna ihre Fähigkeiten zum rücksichtslosen Machterwerb einsetzte.
Julius hielt sich über das Internet über den Verlauf der Fußballweltmeisterschaft auf dem laufenden. Vor allem die Artikel, dass die Deutschen ihren friedlichen Nationalstolz wiederentdeckt hatten und trotz der vielen Fangruppen ein überwiegend friedliches Gemeinschaftsfest stattfand gefielen ihm. Er musste grinsen, als er kurze artikel über öffentliche Fanzonen mit großen Livebildübertragungsleinwänden las. Das hatten sie in der Zaubererwelt doch schon 1999 bei der Quidditchweltmeisterschaft praktiziert.
Die Dorfratssitzung am frühen Abend verlief unerwartet harmonisch. Als Julius noch einmal dargelegt hatte, warum Meglamora mit dem Samen von vier verschiedenen Zauberern befruchtet worden war, nämlich dass sie sonst von sich aus auf Männerjagd gegangen wäre und dabei mindestens zwei oder drei Auserwählte hätten sterben können, erwähnte er auch, dass Meglamora keine wilde Bergriesin sei, sondern genug Intelligenz besaß, um ein Gewaltfreies Zusammenleben mit anderen menschengestaltlichen Wesen führen zu können. Auf die Frage Heras, ob das Experiment mit dem sogenannten Freudenspender wiederholt werden würde sagte Julius: "Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt weder bejahen noch ausschließen. Ich gehe nur davon aus, dass Meglamora mit der Aufzucht und ihrer Form von Erziehung der geborenen Zwillinge mehrere Jahre zu tun hat und solange keinen neuen Fortpflanzungstrieb mehr verspürt. Ich darf jedoch nicht ausschließen, dass sie jedoch dann, wenn es soweit sein sollte, einen echten, lebenden Besamer sucht und weder ich noch sonst ein lebender Zauberer sich dafür hergeben möchte, mit dieser Riesin den Befruchtungsakt zu vollziehen. Alle diesbezüglichen Behauptungen sind also blanke Hetze gegen andersartige Zauberwesen und jene, die ihnen ein gewisses Lebensrecht zugestehen."
Als all das erwähnt und begründet war erhielt Julius vom gesamten Dorfrat die unmissverständliche Mitteilung, dass keine der Familien in Millemerveilles den Auszug der Latierres forderte, eben weil diese Familie einen unschätzbaren Dienst für Millemerveilles erwiesen habe und dies sehr wahrscheinlich auch noch öfter geschehen werde. Dann erwähnte Florymont Dusoleil noch etwas wichtiges.
"Wir werden ab morgen an die zweihundert Antisonden an erfahrene Ministeriumshexen und -zauberer ausgeben, die mehrsprachig ausgebildet sind. Es hat sich nämlich wahrhaftig erwiesen, dass die albtraumhaften Angstvisionen beim Versuch, den dunklen Wall zu durchqueren, mit dem jedem magischen Menschen innewohnenden Ruhepotential wechselwirken und dass die Antisonden, die dafür gemacht sind, das Ruhepotential nach außen abzuschirmen, diese Wechselwirkung unterbinden. Denn bekanntlich können alle Menschen mit weniger als einem Ruhepotential unter 0,1 gefahrlos die Barriere durchdringen, sofern sie dafür keine magischen Fluggeräte benutzen. So können wir jene Vorgehensweise wiederholen, mit der wir uns der Schlangenmenscheninvasion erwehrt haben, also mit Ballons durch die Barriere. Da die Brenner von Heißluftballons bei Nacht zu weit sichtbar sind müssen wir die mit dem von Wasser abgeschiedenen Leichtgas befüllten Ballons nachbauen und das Wasserstoffgas in großen Mengen herzustellen schaffen, das zwar sehr brennbar ist aber den Ballon ohne ständig nachgeheizt zu werden in der Luft hält. Ich bin über den Nachbarn Belenus Chevallier schon dabei, einen entsprechenden Ausfall zu planen. Von euch brauche ich nur die Rückmeldung, ob ich so vorgehen darf oder nur auf Befehl der Zaubereiministerin in Aktion treten darf."
Natürlich stimmten ihm alle anwesenden Ratsmitglieder und Julius zu. Ebenso stimmten sie für die Unternehmung "Flohkiste", mit der an gut ausgesuchten Stellen in Belgien, Luxemburg und der Schweiz die Gegenstücke von Verschwinde- oder besser Ortswechselschränken aufgestellt werden sollten, um den eingesetzten Sondertruppen eine schnelle Fluchtmöglichkeit nach Frankreich zu gewährleisten oder zusätzliche, nicht mit Antisonden ausgestattete Hilfstruppen durch den dunklen Wall zu bringen.
"Wird nicht jeder markiert, der den dunklen Wall durchdringt?" wollte Roseanne Lumiere wissen. Florymont konnte ihr und allen anderen garantieren, dass nur Apparatoren markiert wurden, wenn sie den dunklen Wall durchsprangen. "Die die verschwunden sind galten oder gelten als wichtige Ministeriumsmitarbeiter und Angestellte erfolgreicher Handelsbetriebe", sagte Eleonore Delamontagne. "Daher gehen wir davon aus, dass sie nicht endgültig verschwunden sind, sondern nach dem Apparieren geortet, festgenommen und in vollkommen gegen alle magischen Fernverständigungsmöglichkeiten abgeschottete Einrichtungen gesperrt wurden, um sie demnächst unter Ladonnas Herrschaft zu zwingen und sie als ihre Erfüllungsgehilfen zurückzuschicken. Wir müssen also damit rechnen, dass bereits erste unfreiwillige Spione oder Saboteure in unser Land geschickt werden. Daher stimme ich dem Plan zu, unsererseits Kundschafter und mögliche Handlungsausführende in die noch von ihr beherrschten Länder zu schmuggeln, um eine mögliche Befreiung der versklavten Ministerien herbeizuführen." Diesem Vorhaben stimmten alle hier anwesenden zu. Julius dachte jedoch an Catherines Bericht über ein sogenanntes Haus des friedlichen Miteinanders. Wurden die Gefangenen dort zu Ladonnas unfreiwilligen Getreuen? Falls ja, kamen diese Unterworfenen dann auch nach Millemerveilles hinein? Falls sie herausfand, dass bereits sämtliche Ministeriumsmitarbeiter gegen ihren Einfluss immunisiert worden waren, was würde denen dann geschehen? Es gab schließlich immer noch den Imperius-Fluch oder die Möglichkeit, Angehörige zu bedrohen, um gewisse Gefälligkeiten zu erpressen. Keine wirklich guten Aussichten.
"So halten wir als Ergebnis dieser außerordentlichen Sitzung fest, dass wir der Zaubereiministerin mitteilen, dass der Dorfrat von Millemerveilles weiterhin an der Seite der ordentlichen Zaubereiverwaltung steht und alles ihm mögliche unternehmen wird, sowohl die unerwünschte Grenzabsperrung zu beseitigen, als auch die Lage für alle unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in Frankreich und aller ausländischen Zaubererweltangehörigen zu verbessern", sagte Eleonore Delamontagne. Alle stimmten ihr zu, so dass es auch im Sitzungsprotokoll verzeichnet wurde. Dann kehrten alle wieder in ihre Häuser zurück.
"Was darfst du mir offiziell mitteilen, Julius?" begrüßte Millie ihren Mann. Dieser erwiderte: "Das was Eleonore dir per schriftlicher Mitteilung weitergibt", und händigte ihr die entsprechende Notiz und eine Kopie des Sitzungsprotokolls aus. "Geh bitte davon aus, dass die Anhänger Ladonnas außerhalb Frankreichs und auch die, die gegen Ministerin Ventvit Stimmung machen die Grenzen überwachen. Wenn die vorher wissen, dass da demnächst eine Flotte Ballons gestartet wird könnten die finden, die Ballons vom Himmel herunterzufluchen." Millie nickte zustimmend.
Sie genossen das Abendessen im Freien, weil die Sonne noch so hell und warm schien. Seit den Monaten unter Sardonias mit dunkler Macht verstärkten Kuppel nutzten sie jeden Moment, wo das Sonnenlicht frei auf die Erde fiel.
Nachdem alle sechs Kinder in ihre Betten verfrachtet worden waren fragte Béatrice, ob Julius ebenfalls eine Antisonde erhalten würde. Julius grinste. "Ich habe doch noch die von damals, wo ich den Wächter von Garumitan besucht und dabei die Brutstätte des Grauens angesehen habe. Florymont führt genau Buch darüber, wem er seine Erfindungen überlässt." Béatrice nickte. Millie sagte dann: "Ich hoffe aber, dass du nicht mit diesen unsicheren, nur vom Wind gelenkten Ballons durch den dunklen Grenzwall fliegen willst."
"Du meinst um außerhalb Frankreichs zwischen die Fronten der russischen Veelas und der dort lebenden Zauberer zu springen? Neh, Millie, lebensmüde bin ich dann doch nicht", erwiderte Julius sehr entschlossen klingend. Doch innerlich dachte er daran, dass er und all die anderen vom stillen Dienst womöglich herausfinden konnten, wie dieser dunkle Wall entstanden war und wie er ohne weiteren Schaden anzurichten wieder eingerissen werden konnte.
In den folgenden Tagen wartete Julius mit Bangen auf einen Bericht von Léto, wie sich die russischen Veelas entscheiden würden. Er hatte Léto noch einen Vorschlag gemacht, nämlich den, dass doch mal überprüft werden sollte, ob die Urmutter aller Veelas wirklich eine gnadenlose Auslöschung aller Blutsverwandten jener forderte, die eines oder mehrere ihrer Kinder töteten. Denn was nicht aufgeschrieben wurde konnte sich im Laufe von wenigen Monaten ändern. Das galt dann natürlich auch vor siebentausend Jahren. Da die Veelas in Russland solange in den geschützten Wäldern versteckt blieben konnten sie dort wenigstens nicht von neuen Jagdkommandos angegriffen werden. Gegen die auf ihren Spuren wandelnden dreiköpfigen Hunde halfen mit Selbstspielzauber belegte Saiteninstrumente. Tauchte ein Hadesianerhund in Hörweite einer so bezauberten Harfe oder Balalaika auf spielte das Instrument eine langsame Melodie, die den Hadesianerhund einlullte und in Schlaf versenkte. Damit wurden die dreiköpfigen Züchtungen aus Griechenland als Veelajäger unwirksam. Nun galt es eben, die Blutrachegelüste der russischen Veelas auszuräumen, bis es möglich war, alle von Ladonna unterworfenen Ministeriumsmitarbeiter zu befreien. Da diese jedoch die von ihr beherrschten Ministerien so umorganisiert hatte, dass niemals alle Mitarbeiter an einem Ort waren und selbst bei einem gelungenen Einsatz der Goldlichtkerze nicht alle Mitarbeiter befreit wurden galt es, die einzelnen Gruppen zeitgleich zu erreichen.
Da Florymont ein Experte für aus magischen Solarzellen gewonnenen Strom galt hatte er bis innerhalb von einem Tag eine Anlage am Farbensee gebaut, die durch das "Wunder" der Elektrolyse die früher als Element bezeichnete Verbindung H2O in ihre Bestandteile auflösen konnte, so dass aus Wasser zwei Formen brennbarer Luft wurde. Der freie Sauerstoff wurde in einem Holzkohleofen verbraucht, während der Wasserstoff eingesammelt, mit einer magicomechanischen Pumpe verdichtet und in unzerbrechliche Druckbehälter umgefüllt wurde, mit denen dann, wenn genug für einen Vier-Mann-Ballon vorhanden war, die Ballonhülle aufgefüllt wurde. Allerdings galt hier, auf den richtigen Wind zu warten, um die Nachbauten der ersten Freiballons sicher durch die Grenzbarrieren auf dem Festland zu befördern. Es sollten Ballons für Belgien, Deutschland, Luxemburg und Spanien vorbereitet werden. Italien wollten sie erst angehen, wenn sicher war, dass die Operation "Flohkiste" wirksam war. Hatten sie erst einmal die Nachbarländer befreit konnten diese sich entscheiden, ob sie mit Frankreich eine neue, eine Freiheitskoalition gründen wollten oder sich auf sich selbst besannen.
Die Stimmung gegen die Ministerin wurde weiter von denen angeheizt, die unter dem Namen Sanguis Purus die Beendigung aller Toleranz denkfähiger Zauberwesen forderten. Julius musste jedesmal die von seinem Karatelehrer erlernte Selbstbeherrschungsformel denken, um sich von Lepont und ähnlich denkenden Kollegen nicht in Wut treiben zu lassen. Am 23. Juni rief die Ministerin alle ihre Beamten in den großen Versammlungssaal und hielt eine kurze Ansprache. Diese endete damit, dass die Barriere von außen errichtet worden sei, aber sie demnächst die Quellen dafür zerstören würden. Außerdem sagte Mademoiselle Ventvit: "Außerdem verbitte ich mir jede das Arbeitsklima vergiftende Äußerung gegen jene, die für unser aller Frieden und Sicherheit in Behörden mit Zauberwesenkontakt arbeiten und weise jeden Anspruch auf Wiederherstellung der völligen Reinblütigkeit als von der Geschichte mehrfach als selbstzerstörerisches Element erwiesen zurück. Allein, dass wir alle ein Mittel gefunden haben, um uns gegen den Zugriff Ladonna Montefioris zu schützen entstammt der gedeihlichen Zusammenarbeit mit jenen Zauberwesen, vor denen sie die meiste Angst hat. Jede Äußerung, die diese gedeihliche Zusammenarbeit lächerlich macht oder gar gefährdet dient Ladonna Montefiori. Jeder, und jede, der oder die solche Äußerungen von sich gibt oder schriftlich in Umlauf bringt dient Ladonna Montefiori. Erhoffen Sie keine Dankbarkeit von dieser Unperson. Denn sie wird sich nur darüber amüsieren, wie leicht einzuschüchtern und zu lenken die sind, die ihr helfen, die Veelas oder andere Zauberwesen zu vertreiben oder umzubringen, wie es derzeit in Russland versucht wird und zu unserem Glück wohl daran scheitert, dass die Wälder der Taiga so groß sind, dass es Jahre dauert, sie zu durchsuchen. Auch wenn um unser Land immer noch diese dunkle Grenzmauer steht sind wir weder in unmittelbarer Gefahr noch dazu verdammt, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Lassen Sie sich um des eigenen Stolzes und der eigenen Würde Willen nicht dazu erniedrigen, wie in die Enge gedrängte Tiere um sich zu schlagen und zu beißen. Denn dann müssen Sie es sich gefallen lassen, von Leuten wie Ladonna Montefiori nur als Tiere behandelt zu werden, die nach ihrem Nutzen oder Schaden eingeteilt und behandelt werden. Ich hoffe sehr, dass Sie nicht dazu bereit sind, sich zu verängstigten Tieren erniedrigen zu lassen. Danke!"
Nicht wenige im Publikum grummelten laut und forderten die Ministerin auf, ihre Beleidigungen gegen die auf den Zaubererstolz hinweisenden zurückzunehmen. Doch es gab auch welche, die ihr laut Beifall klatschten.
Am 24. Juni feierten die Bewohnerinnen und Bewohner von Millemerveilles den dritten Jahrestag der Befreiung von Sardonias dunkler Hinterlassenschaft. Für die Latierres war dieser Tag auf jeden Fall ein Feiertag. Denn sie durften Clarimonde zum dritten Geburtstag gratulieren. Irgendwann, so hatte es Julius für sich selbst beschlossen, würde er seiner dritten Tochter in einer Denkariumssitzung zeigen, was an ihrem Geburtstag geschehen war und dass sie unbewusst mitgeholfen hatte, dass Sardonias böser Geist endgültig aus der Welt verschwand.
"Der Urlaub ist übrigens genehmigt, Millie und Béatrice. Wir können bis zum 8. Juli nach Amerika. Der Feindeswehrzauber in VDS dürfte uns da genauso schützen wie die neue Schutzkuppel Ashtarias und Ammayamirias", sagte Julius zu Millie und Béatrice, als sie nach der Verleihung des Prix Millemerveilles an die in magischen Fachgebieten herausragenden Bewerber in das Apfelhaus zurückgekehrt waren, um mit Clarimonde und ihren Kindergartenfreunden zu feiern. Das Geburtstagskind durfte seine Geschenke aus der Wandelraumtruhe ziehen, darunter neue Kleider und mehrere Bilderbücher mit lustigen Geschichten aus der magischen Tierwelt.
Julius flog auf seinem Besen kurz zum Haus der Lumières hinüber, um auch den Zwillingen Été und Lunette zu gratulieren, die an diesem Tag ihren elften Geburtstag feierten und somit im kommenden Schuljahr nach Beauxbatons wechseln würden. Er überbrachte die Geschenke für die Zwillinge und unterhielt sich mit den Eltern über die Lage in Frankreich und Belgien. "Barbara wäre heute sicher gerne hergekommen. Aber sie und ihre Familie haben sich im Haus von Barbaras Schwiegertante verbarrikadiert, da in Belgien gerade alle Familien mit britischen oder französischen Mitgliedern als Spionageverdächtig eingestuft sind. Zumindest sind wir froh, dass wir über das Bild mit den drei Eichhörnchen Kontakt zu ihr halten", sagte Roseanne Lumière. Dann hauchte sie Julius zu: "Wenn das mit der Flohkiste klappt werden wir ihr und ihrer Familie Asyl in Millemerveilles anbieten. Einen von den blauen Schränken haben wir bei uns auf dem Grundstück verstaut."
"Wenn sie denn herüberkommen will", meinte Julius. Das würde sowieso interessant, wenn die Schülerinnen und Schüler aus dem französischen Teil Belgiens nicht mit der Reisesphäre nach Beauxbatons gelangten, weil das belgische Zaubereiministerium den Ausgangskreis mit diebstahlschutzbezauberten Gegenständen blockiert hatte. Er dachte auch an Kevin Malone, der garantiert auch wegen seiner Abstammung verdächtigt wurde. Doch im Moment konnte er ihn nicht anschreiben, solange Posteulen nicht durch die Barriere drangen.
"Ich gehe davon aus, dass das Ministerium, die Liga und die Thaumaturgen hier diese Barriere bald auflösen und hoffentlich die Befreiungskerzen nach Brüssel bringen können, Roseanne", sagte Julius, während die Zwillinge mit ihren gleichaltrigen Klassenkameraden sangen. Julius erinnerte sich noch gut daran, dass er sie für seine Pflegehelferabschlussprüfung hatte wickeln dürfen, um zu zeigen, dass er auch Säuglingspflege beherrschte und sich nicht zu heftig vor vollen Windeln ekelte. Été und Lunette würden sich das heute nicht mehr gefallen lassen, wie Babys gewickelt zu werden.
Mit schönen Grüßen für den Rest der Familie kehrte Julius rechtzeitig zum Abendessen ins Apfelhaus zurück.
Die Kinder durften heute alle länger aufbleiben, bis die Sonne vollständig untergegangen war. Danach genossen die Erwachsenen die feierliche Stille in ihrem runden Haus. Der 24. Juni, der Tag, an dem vor elf Jahren der Massenmörder Tom Riddle zurückgekehrt war stand nun doch für mehr freudige statt leidige Ereignisse. Vom Zentralplatz von Millemerveilles schimmerte das große Freudenfeuer bis zum Grundstück der Latierres herüber. Sicher nutzten es viele Bewohner, die keine minderjährigen Kinder hatten, um darum herumzutanzen wie bei Walpurgis. Doch würde in dieser Nacht vielleicht ein Ereignis stattfinden, das seinen Platz in der Zaubereigeschichte fand, auch wenn es zunächst streng geheim ablief.
Belenus Chevallier hatte es sich nicht nehmen lassen, auf einem der acht Besen mitzufliegen, die die erste Gondel und den noch zusammengefalteten Ballon und die stählernen Gasflaschen transportierten. Kurz vor der Französisch-belgischen Grenze landeten die Besen, und die besondere Fracht wurde losgebunden. Die Ministeriumszauberer, die sich mit mechanischen Gerätschaften auskannten und in den letzten fünf Tagen intensiv die Befüllung von Gasballons trainiert hatten arbeiteten Hand in Hand und richteten die Ballonhülle auf, nachdem die ersten Kubikmeter Wasserstoffgas hineingeblasen worden waren. Die Hülle war feuerfest und laut Florymont Dusoleil und Otto Latierre nicht elektrisch aufladbar, was verdammt wichtig war, um keine Wasserstoffgasexplosion zu riskieren.
Laut zischend strömte immer mehr Gas in die sich immer mehr aufrichtende Hülle hinein. Die Gondel wurde von vier Ankerseilen am Boden gehalten. Als die Hülle so voll Gas war, dass sie nach oben steigen wollte zog sie immer kräftiger an den Tauen, die sie mit der Gondel verbanden. Dann war es soweit.
"Liberation 1 bereit zum Aufstieg!" vermeldete der auserwählte Pilot des Ballons. Man hatte sich dafür entschieden, diese Ballons mit "Liberation" und fortlaufenden Nummern von 1 bis 25 zu benennen, weil es ja dem Zweck gerecht wurde.
Die Bauteile für einen blauen Ortswechselschrank wurden in die Gondel geladen, ebenso ein Vorrat Wasser und Lebensmittel für die vierköpfige Besatzung. "Windlage gerade ungünstig. Wind aus Nordost!" vermeldete einer der mitgereisten Zauberer. Die Besatzung des Ballons wusste, dass der Wind ihr Unternehmen entscheidend beeinflusste. Dennoch waren sie frohen Mutes. Sie trugen bereits die als hautenge anzüge getarnten Antisonden, die die nach außen strahlende Grundkraft verbergen konnten. Sie alle hofften, dass dies ausreichte, um sie durch die dunkle Barriere zu befördern, ohne dass diese reagierte.
Monsieur Chevallier machte sich nun doch Sorgen, ob die Zuversicht der Thaumaturgen und Experten für dunkle Zauber berechtigt war und die vier nicht doch in Panik gerieten, sobald sie in den Wirkungsbereich der dunklen Barriere gerieten. Würden die Antisonden der Barriere erfolgreich vorgaukeln, dass nichtmagische Ballonfahrer unterwegs waren?
Belenus Chevallier überlegte, ob er nicht auch noch zusteigen sollte. Doch dann fiel ihm ein, dass er zu wichtig im Ministerium war. Er durfte sein Leben nicht riskieren, solange er nicht in unmittelbarer Gefahr war. Eine Ballonfahrt ohne magische Hilfsmittel war selbst schon gefährlich genug. Da brauchte es keine schwarzmagisch aufgeladene, achttausend Meter aufragende Barriere. Sollten die Antisonden nicht gegen die Wirkung der Barriere schützen konnten die vier Zauberer nicht mal eben aussteigen und abspringen oder disapparieren. Sie waren der vollen Wirkung des Albtraumwalles ausgeliefert. Das konnte sie den Verstand oder sogar das Leben kosten. Daher ging das alles nur mit Freiwilligen, die vorher ein Testament aufgesetzt und zur Verwahrung und Veröffentlichung nach ihrem Tode eingereicht hatten.
Es dauerte bis zwei Uhr, bis die mitgeführten Windrichtungsmessgeräte eine Verlagerung des Windes vom Nordosten zum Südosten zeigten. Sogleich stiegen die vier Freiwilligen in die Gondel. Ihre Kollegen lösten die Ankertaue. "Viel Glück!" rief Monsieur Chevallier. Bis zur Grenze waren es nur noch hundert Meter.
Der Ballon stieg schnell auf, war nach einer Minute schon höher als der höchste Burgturm. Der Südostwind trieb das Luftfahrzeug aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt vor sich her, so dass bald nur noch ein winziger Punkt am Himmel zu sehen war.
Brian Deschamps und seine Begleiter fühlten sich nicht besonders wohl. Zum einen hatten sie auf den Flug so gut wie keine Kontrolle. Zum anderen spürten sie, dass die Antisondenkleidung ihnen sachte aber spürbar Kraft entzog. Zum dritten war es um sie herum so still. Nur die Haltetaue knarrten ganz leise. Sonst gab es hier nichts, was irgendeinen Laut von sich gab, als wenn die ganze Welt den Atem anhielte. Deschamps vermutete, das sämtliche Tiere, die sonst in der Nähe der Barriere wohnten, davon vertrieben worden sein mussten.
"Wir nähern uns der Barriere, Jungs. Jetzt gilt es", flüsterte Deschamps. Da sie gerade nur den in Einzelteile zerlegten Schrank mithatten und sonst nichts magisches dabei hatten würde es sich nun zeigen, ob die Barriere für sie wirklich durchlässig bis gar nicht vorhanden oder doch unüberwindlich sein würde.
Die Stille blieb. Laut mechanischem Höhenmesser waren sie schon mehr als eintausend Meter über Grund. Laut Kompass flogen oder fuhren sie genau auf die Grenze zu. Dann war es soweit.
Deschamps sah auf die Einzelteile des Verschwindeschrankes. Sie zeigten keine Reaktion auf von außen stammende Magie. Er spürte auch nichts. Doch er meinte, einen leisen, tiefen Ton zu hören. Der Ballon trieb derweil vor dem Wind her und hatte sicher eine beachtliche Geschwindigkeit gewonnen. Jeden Moment rechnete er damit, irgendwas ihn ängstigendes zu erleben. Doch es geschah nichts. Die Fahrt verlief ohne Ruckeln und irgendwelche Visionen. Dann hörte auch das leise, tiefe Brummen auf. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Sie waren von der Barriere nicht als magisch aktive Wesen erfasst worden. Die Einzelteile des Verschwindeschrankes hatten sich auch nicht bewegt. Der Ballon glitt noch weiter in mehr als tausend Metern dahin. Dann, nach zwei Minuten Schweigen, sagte Deschamps: "Die hatten recht. Die Antisonden haben uns vor den Wirkungen der Barriere beschützt. Sehen wir zu, dass wir einen der möglichen Landeplätze erreichen und dort unser Gepäck abladen!" Dem wollte keiner der anderen drei Zauberer widersprechen.
So fuhren sie die ganze Nacht hindurch, bis sie den Rand einer von Laternen erhellten Stadt streiften. Sie hatten es fast bis zur Nordsee geschafft. Deschamps ließ behutsam Gas aus der Hülle ab. Der Ballon sank sachte. Nun kam der gefährlichste Abschnitt, das Landemanöver. Denn anders als bei Flugbesen, Flugtieren oder dem magischen Überseeluftschiff konnten sie den Landekurs nicht steuern, sondern mussten darauf hoffen, genug Freifläche unter sich zu finden, um den mit einer gewissen Restgeschwindigkeit aufsetzenden Ballon größtenteils unbeschädigt auf den Boden zurückzubringen. Sie schafften es über ein unbeleuchtetes Dorf hinweg, ohne am Kirchturm anzustoßen. Da fanden sie eine große Weidefläche.
"Achtung, da unten liegen hundert Kühe rum, kleine, magielos gezüchtete Hausrinder. Wenn wir denen ins Schlafzimmer knallen könnten die vor Angst rammdösig werden", warnte Deschamps' Mannschaftskamerad Bouvier. So blies Deschamps noch ein wenig Gas in den Ballon ein, damit er nicht zu schnell sank. Als sie über die Rinderherde hinweggeglitten waren und sahen, dass die Weide nur noch zweihundert Meter lang war ließ Deschamps einen Großteil des Wasserstoffgases aus der Hülle entweichen. Das abenteuerliche Fluggerät sank schnell nach unten und kam mit drei heftigen Hopsern auf der Weide auf. Dabei durchpflügte die Gondel zwei frische Kuhfladen und scheuchte die darauf schlafenden Fliegen auf. Die Mannschaft wurde vom Aufsetzen heftig durchgeschüttelt. Nur weil sich alle gut festhielten geschah nicht mehr. Dann endlich war der Restschwung aufgebraucht. Mit einer ganz leichten Schräglage blieb die Gondel liegen. Der Gestank von Kuhmist wehte nun mit dem wieder spürbaren Wind zu ihnen hinein.
"Würg! Das wäre was für die Latierres", knurrte Deschamps. "Passt beim Aussteigen bloß auf, nicht in den Mist reinzutreten!"
"Ich fürchte, wir haben einen großen Fladen voll über die halbe Wiese gebügelt", meinte Bouvier naserümpfend. "Das kommt ins Geschichtsbuch, dass das Kommando Liberation eins in einem Haufen Kuhmist gelandet ist. Aber sehen wir zu, dass wir alles ausgeladen und aufgebaut kriegen, bevor die weiter hinten schlafenden Rindviecher aufspringen und uns von ihrer Weide runterjagen. Denkt daran, dass wir im Moment nicht zaubern können!"
"Echt, ja stimmt! Mit den Antisonden am Körper soll das ja unmöglich sein", grummelte Morel, der dritte in der Mannschaft.
Sie schafften es wegen der mehrtägigen Übung, den Schrank aufzubauen und auch die eigentlich illegalen Spürsteinüberlagerer aus dem ebenfalls mit der Antisondenbezauberung belegten Jutesack zu holen und in der richtigen Weise auszubreiten. Sie waren gerade damit fertig, den Schrank zusammenzubauen, als ein unmissverständliches Brüllen in mehr als hundert Metern Entfernung erklang. Drei aufgewachte Stiere wähnten zurecht unerwünschte Eindringlinge in ihrem Revier und waren auf dem Weg zu ihnen.
"Oha, die Bullen kommen", meinte Bouvier. Da zog Morel aus der rechten Anzugtasche ein zusammengeschobenes Blasrohr. "Wollen doch mal sehen", sagte er und zog das Rohr aus. Dann steckte er einen gefiderten Pfeil in das eine Ende und zielte damit auf den ersten heranpreschenden Stier, der nur noch fünfzig Meter entfernt war. Es machte kurz Pfft! Dann strauchelte der wütende Bulle, schlingerte einige Meter weiter und kippte im vollen Lauf zur Seite um. Er schlidderte noch fünf Meter weit durchs hohe Weidegras. In der Zeit hatten die beiden anderen Stiere nur noch zwanzig Meter bis zu den anderen. Morel schaffte es noch, den zweiten davon mit einem weiteren Pfeil zu betäuben. Der dritte wütende Bulle wollte gerade zum entscheidenden Stoß ansetzen, als Bouvier ihn mit einem roten Blitz von den Beinen holte. Alle sahen, dass er sich mal eben den Antisonden-Anzug vom Leib gerissen und darunter seinen Eichenholz-Zauberstab verborgen gehalten hatte. "Ich lass mich garantiert nicht vom rammdösigen Rindvieh niedertrampeln", knurrte Morel, als ihn alle fragend ansahen.
"Die Rindviecher sind wir selbst, oder hat außer dem Kollegen noch wer daran gedacht, die Zauberstäbe unter der Antisondenkleidung zu verstauen?" fragte Deschamps in die Runde. Morel grinste, weil er immerhin ein Blasrohr mit Betäubungspfeilen mitgenommen hatte, die selbst die mehr als 300 Kilogramm schweren Stiere niederwerfen konnten.
Deschamps überprüfte den Schrank und die nun noch darum ausgelegten Spürsteine. Dann sagte er: "Ich prüfe die Verbindung. Wenn ich sicher am Zielort ankomme schicke ich die dort wartende Verstärkung mit dem Tarnzelt herüber. Falls ich nicht sofort laut schreiend wieder zurückkomme oder nach zehn Minuten immer noch verschwunden bleiben sollte wird der Schrank sofort wieder abgebaut und der Ballon mit der zweiten Gasladung flugfähig gemacht. Ihr müsst dann damit so weit es geht von hier fort und landen. Verstanden?""
"Ich kann die Zwei anderen hier mitnehmen, wenn wir nach Frankreich reinapparieren. Ob die Barriere uns markiert ist dann völlig egal, wenn wir nach Millemerveilles apparieren", sagte Bouvier. "Gut, falls ich entweder nicht von hier wegkomme und vor Angst oder sonst was rumschreie baut ihr den Schrank ab, betäubt mich und bringt mich mit dem Ballon wohin, von wo aus wir alle vier mit einem Sprung auf den Zentralplatz von Millemerveilles gelangen können."
"Vier auf einen Sprung", sagte Bouvier. Dann nickte er.
Deschamps blickte in den Verschwindeschrank. Als er statt einer Rückwand nur finstere Leere sah stieg er in den Schrank und zog die Tür zu. Seine Kollegen warteten. Da er nicht unmittelbar sofort wieder zurückgekehrt war mochte das heißen, dass er sicher angekommen war. Doch die Minuten vergingen, und Morel musste eine neugierige Kuh betäuben, die auf sie zugetrottet kam. Bald würden die betäubten Stiere wieder aufwachen und dann noch rammdösiger sein als vorhin.
Es war drei Minuten vor der gesetzten Frist, als die Schranktür wieder aufging und gleich ein fremder Zauberer und zwei gleichaussehende Hexen heraustraten. Die eine sagte zur anderen: "Wenn die Unspürsteine das sicher abgeschirmt haben kann uns das Geflacker eben nicht beeindrucken, Callie." Die Angesprochene sagte: "Hast recht, Pennie. Wir dürfen nur nicht sofort aus dem Kreis, bevor wir das nicht entfernt haben, wenn uns was aufgeprägt wurde."
"Entschuldigung, die Damen. Seit wann arbeiten Sie im Ministerium?" fragte Bouvier die Zwillinge, während der Zauberer, Belenus Chevallier, ganz ruhig umherblickte. "Sie arbeiten auf dem Gutshof von Madame Barbara Latierre und kennen sich mit rammdösigen Rindviechern aus", sagte Chevallier. "Ich habe sie sozusagen als freiwillige Helferinnen angefordert, nachdem der leicht bibbernde Kollege Deschamps, der sie alle schön grüßen lässt, aus dem Schrank gepurzelt ist."
"Der soll sich nicht so haben. So kalt war das unterwegs nicht. Nur das grüne und blaue Geflacker hat mich irritiert und dass wir fast eine halbe Minute unterwegs waren", sagte Calypso Latierre. Dann deutete sie auf zwei der drei betäubten Stiere. "Och joh, Handtaschengröße", sagte sie.
"Klar, wo Ihre Frau Mutter mit Viechern größer als Elefanten zu tun hat", knurrte Bouvier. Dann sahen sie, dass die mit Pfeilen betäubten Bullen wieder aufwachten. Die Zwillingsschwestern zielten sofort mit ihren Zauberstäben auf die Tiere und belegten sie mit einem neuen Schlafzauber. Dasselbe machten sie mit der ebenfalls am Boden liegenden Kuh.
Es stellte sich heraus, dass während des Übergangs zwischen den Schränken eine leichte Veränderung der Eigenmagieaura passiert war. Doch Belenus Chevallier kannte den Trick, mit der das wieder behoben werden konnte, Eine zeitweilige Selbstverwandlung in einen toten Gegenstand und wieder zurück. "Na, wer hat bei euch die besseren Verwandlungsnoten kassiert?" fragte er Bouvier, Morel und Maribeau. Die sahen einander an und ließen die Köpfe hängen. "Madame Faucon hat mir empfohlen, bloß nichts mit Verwandlungszaubern zu machen, wenn ich nicht vor meinem zwanzigsten Geburtstag als irgendwie verunstaltetes Etwas in der Delourdesklinik landen wollte", sagte Morel. Bouvier erwähnte, dass er gerade mal den ZAG in Verwandlung geschafft hatte, aber wegen der Auswahlhürde erwähnter Lehrerin lieber nur Zauberkunst und Verteidigung gegen dunkle Künste weitergemacht habe. Dafür sei er eben besser in Herbo und Zaubertränken aus der Abschlussprüfung herausgekommen.
"Gut, dann sollen nur die durch den Schrank und die, die wir noch aufbauen, die sich nach der Ankunft hier für eine Minute in etwas verwandeln können, um diese Markierung loszuwerden. Dann können die erst von hier oder woanders ungeortet apparieren."
"Wo ist das eigentlich hier?" wollte Calypso Latierre wissen. ihre wenige Minuten jüngere Zwillingsschwester nahm es zum Anlass, aus ihrer winzig wirkenden Umhängetasche ein Naviskop hervorzuholen und die Werte abzulesen. "Das hier dürfte zum Dorf Six Chauraves bei Lüttich gehören. Ich schreibe die genauen Werte noch ab und gebe sie dem nächsten mit, der durch den Schrank geht, oder kannst du mit Ma meloen?"
"Neh, klappt nicht. Die Barriere blockiert das verdammt heftig", knurrte Calypso Latierre.
Aus den mitgebrachten Umhängetaschen förderten die ersten Neuankömmlinge das Tarnzelt plus Verankerungen, sowie mehrere Feldbetten. Bis zu zwanzig Leute sollten hier unterkommen. Die Latierre-Schwestern begutachteten die Größe der Rinderherde und zogen mit Harken einen Bannkreis um das Zelt, in den sie Zauber zum Fernbleiben von Säugetieren einwirkten, der ein oder zwei Wochen halten würde, bis sprichwörtlich Gras darüber gewachsen war. "Der klappt bei unseren Kühen nur, wenn mindestens zehn konzentrische Kreise gezogen werden und die Tiere nicht zu neugierig sind, was im Kreis ist", sagte Penthesilea Latierre. "Aber für die Kühe hier reicht es völlig aus."
Weitere Zauberer und Hexen erschienen, um den Stützpunkt Liberation 1 zu vervollständigen. Dann kehrten die Latierres wieder zurück, da sie ja nur wegen der Rinder hergekommen waren. Deschamps kam auch wieder aus dem Schrank und erwähnte, dass es das Gefühl sei, durch einen Eissturm zu fliegen, bei dem es andauernd grün und blau blitzte. Jedenfalls stand nach nur einer Stunde der erste provisorische Geheimstützpunkt des französischen Zaubereiministeriums auf ausländischem Gebiet. Der Ballon und die zu ihm gehörenden Gerätschaften wurden zerlegt und durch den Schrank abtransportiert, nachdem sie vom angetrockneten Dung gereinigt worden waren. Was aus der Expedition Liberation 2 geworden war, die in der Nähe von Deutschland gestartet war bekamen die Beteiligten an Liberation 1 nicht mit.
Ministerin Ventvit erfuhr, dass die Liberation 2 um ein Haar einer Bruchlandung und der vorzeitigen Entdeckung entgangen war, als der Ballon in der Nähe von Magdeburg an der Elbe niedergegangen war. Immerhin konnte die Mannschaft den Schrank dort montieren und auch das Tarnzelt herüberholen. Wegen der Rückmeldung, dass die trotz der Schrankverbindung eintretende Markierung der Reisenden durch zeitweilige Verwandlung ausgelöscht werden konnte wurden entsprechend ausgebildete Hexen und Zauberer ausgewählt, natürlich alle bereits gegen die Kraft der Feuerrose immunisierte.
So wurden von der magischen Bevölkerung unbemerkt in Luxemburg, Deutschland, Belgien und dem spanischen Baskenland zwanzig Geheimstützpunkte angelegt. Zwei weitere konnten in der Schweiz und Österreich errichtet werden. Weil die Barriere den Mentiloquismus blockierte war gleich von anfang an ein Botendienst eingerichtet worden. Damit war die Flohkiste erfolgreich eingerichtet und Phase eins der Hauptunternehmung Liberation, also Befreiung abgeschlossen.
Julius teilte am 27. Juni den Abteilungsleiterinnen und Leitern der Behörden für magische Geschöpfe und internationale Zusammenarbeit mit, dass die russischen Veelas immer noch darüber berieten, ob sie nun einen Krieg gegen die magischen Menschen in Russland führen sollten, bei dem auch Unschuldige sterben mochten oder ob die russischen Veelas bis auf weiteres in ihren Wäldern versteckt blieben. Immerhin hatten die Veelas in Bulgarien, der Ukraine, Rumänien und Weißrussland rechtzeitig die schützenden Rückzugsgebiete erreicht, so dass es dort zu keinen gegenseitigen Opfern gekommen war. Allerdings legten die dortigen Zaubereiverwaltungen es so aus, dass sie die Veelas aus ihrem Zuständigkeitsbereich vertrieben hatten. Sternennacht war von Sarja und vier anderen Stammesmüttern wütend angegangen worden, Ladonna nicht gleich aus der Familie ausgeschlossen und somit zur legitimen Feindesperson erklärt zu haben, die im offenen Kampf auch getötet werden durfte.
Julius Vorschlag, Mokushas Gebote genau zu hinterfragen, war von Sarja weitergegeben worden. Beinahe hätte sie dabei einen heftigen Streit mit Sonnentanz vom Zaun gebrochen, weil diese darauf beharrte, dass Mokushas Wille nicht hinterfragt werden durfte und jeder oder jede dagegen handelnde im Fluss der rastlosen Geister enden würde.
Die Nachrichten aus Nord- und Südamerika berichteten davon, dass geheime Kommandos "von unsicherer Herkunft" die von Ladonna unterworfenen Ministerien nach und nach vom Bann der Feuerrose befreiten. Die vollständige Gewissheit, wer dahintersteckte erhielt Julius am Nachmittag des 27. Juni, als er in seinem Büro einen Eulenpost-Briefumschlag fand. Als er las, wer ihn geschrieben hatte und es mit den beiden Prüfzaubern für Verfasserbild und -stimme bestätigt hatte fragte er er sich nicht, wie die es unter der Barriere hindurch geschafft hatte.
Hallo Julius!
Da ich wohl zurecht davon ausgehe, dass dich das Schicksal der Veelas betrifft und du auch gerne wissen möchtest, warum wir in Amerika schneller mit der Säuberung von Ladonnas Feuerrosendunst vorankommen hier nur drei Dinge, die du nur denen weitermelden darfst, deren Vertrauen du hast:
Zum ersten habe ich mit meinen mir auch ohne Feuerrosendunst treuen Schwestern einen anderen Weg gefunden, den Einfluss Ladonnas zu beenden, da diese ja nicht nur von Veelas abstammt, wie du sicherlich weißt. Daher bin ich nicht auf die Gunst und die Mithilfe von reinblütigen Veelas angewiesen, zumal meine Eigensicherungsmaßnahme gegen Sternennachts Sippschaft mir bei denen keine Freundinnen und Freunde verschafft hat.
Zum zweiten dürfte es dich interessieren, dass der dunkle Wall, von dem meine treuen Schwestern mir berichtet haben, aus drei hochpotenten Zaubern besteht, die sich am Leid und Schmerz der sie betretenden auflädt. Es ist wohl ein Zauber, der im dunklen Gedächtnis Roms, dem magischen Geheimarchiv unter den Caracallathermen lagert und aus dem Sardonia über vier italienischstämmige Mitschwestern einige höchst beeindruckende Zauber erlernt hat. Die erste Komponente ist der Wall des dunken Windes, der jedes magische Wesen oder Flugobjekt schneller als der schwächste Sturm abbremst und festhält, wobei dem Opfer körperliche und seelische Kraft entzogen wird, bis die Bewusstlosigkeit oder der Tod eintritt. Die zweite Komponente dürfte der Zauber Fundament des Feindesblutes sein. Auch dieser Zauber ist ein mit eigenem Blut unterstützter Erdzauber. Die dritte Komponente wird ein Veelazauber sein, der die beiden ersten miteinander vereint und sogar immer weiter bestärkt. Sicher hat dir Léto längst nicht alles erzählt, was ihr Volk so zaubern kann. Du hast ja schon genug mitbekommen, was Veelas anstellen können. Grüß bei der Gelegenheit die Damen Grandchapeau von der Spinnenhexe, dass diese über ihr Netz treuer Schwestern über das Schicksal des kleinen Demetrius informiert ist. So weit ich unterrichtet bin hat er sich mit seiner eingeengten Lage gut arrangiert.
Doch noch einmal zu dem dunklen Wall. Wenn diser von einer weiblichen Veelastämmigen errichtet wurde, indem sie den Zauber auf Ankerartefakte verteilt hat, kann eine andere Veela ohne in ihn eindringen zu müssen erspüren und durch freiwilliges Blutopfer und einen Zauber, der Frieden für den Nachwuchs heißt, einen mit Veelablut gewirkten Fluch aufheben. Die Erdkomponente kannst du dann mit vorbehandelten roten Steinen aufheben, wodurch sich dann auch die Windkomponente verflüchtigt. Hier gilt, je reinblütiger die Veela und je mehr eigenen Nachwuchs sie schon geboren hat, desto mehr übertrifft sie den Fluch Ladonnas. Dein Teil ist das Lied der reinigenden Erde, du kannst es in jeden nicht aus lebendigem entstammendem Stoff einlagern, wie du hoffentlich von Agolar oder seiner Mutter Madrashmironda erlernt hast. Wichtig ist dabei, so viele vorbehandelte Steine zu bezaubern, wie es spürbare Ankerkörper im Boden oder Meer gibt. Jedenfalls konnte Ladonna ihren Wall mit unsichtbaren Getreuen innerhalb einer Nacht errichten. Dann könnt ihr den auch innerhalb einer Nacht wieder niederreißen. Es wird nur so sein, dass Ladonna den Bruch ihres Fluches bemerken wird und dass es weithin sicht- und spürbare Entladungseffekte geben kann, wenn der Wall wirklich so lang und hoch ist. Auch sollte sich in dieser Zeit kein magisches Lebewesen in der Nähe des Walles aufhalten, da die Erschütterungen auf dessen Körper oder geist einwirken, sofern es keine Veelas sind. Also prüft besser erst einmal nach, wie viele Säulen oder Anker dieser Wall enthält, bevor ihr einfach drauflos hext und zaubert! Das ist nur mein Vorschlag und kein Befehl, da du ja keine meiner treuen Schwestern bist. Falls du jedoch Sorge hast, es allein nicht hinzubekommen magst du mich auch gerne dazubitten, und wir tilgen diesen dunklen Wall zusammen aus der Welt und bereiten Ladonna damit eine weitere große Niederlage, nachdem es den Veelastämmigen ja schon gelungen ist, ihr die Schweiz abspenstig zu machen und nachdem ich ihren Traum von einem amerikanischen Imperium verdorben habe. Nicht, dass ich mir sowas nicht auch erträume. Doch habe ich durch unterschiedliche Erfahrungen lernen müssen, dass zu schnelles Vorpreschen mit zu groben Mitteln immer mehr Widerstand als Beistand erweckt.
Zum dritten möchte ich dir mitteilen, dass falls die russischen Veelas sich auf einen unsinnigen Vernichtungskrieg mit den Hexen und Zauberern einlassen, ihre ganze Kraft über die Erde verteilt wird und von anderen Veelastämmigen eingeatmet werden wird, somit auch von Ladonna Montefiori. Wenn die werten Töchter Mokushas ihrer Erzfeindin gerne ihre Leben opfern möchten sollen sie das gerne tun. Woher ich das weiß? Ich habe das Erbe Sardonias angetretenund daher einiges von dem, was sie über gewöhnlichen Hexen überlebene Zauberwesen erlernte, zu meiner Verfügung. Also darfst du über Léto gerne schöne Grüße an die russischen Veelas ausrichten, dass sie nur Ladonnas Blutvieh sind, wenn sie sich wegen ihrer Provokationen mit den magischen Menschen bekriegen. Kann sein, dass sie dir das nicht glauben. Kann aber auch sein, dass du und ich damit tausende unschuldiger Leben retten. Dir sollte es aus den dir anerzogenen Moralvorstellungen die Sache wert sein, mir aus dem Grund, dass ich alles vereiteln will, was Ladonna noch stärker macht als sie eh schon ist.
Sei dir gewiss, dass ich weiterhin darüber informiert werde, wie du deinen Weg in der vielfältigen magischen Welt, die mehr als nur zwei Seiten kennt, fortsetzt.
Mit bundesschwesterlichem Gruß
Anthelia
Julius überlegte, wem er diesen Brief zeigen oder auch nur davon erzählen sollte. Sicher, Léto sollte er schon fragen, ob das stimmte, was Anthelia/Naaneavargia schrieb. Er selbst hatte das unbestimmte Gefühl, dass er der obskuren, aus zwei mächtigen Hexen zu einer einzigen verschmolzenen Meisterin der Erdzauber und der dunklen Künste in diesem Fall vertrauen konnte. Sie hatte ihm nicht verhohlen, warum sie ihm das alles schrieb. Im Moment verfolgten sie dasselbe Ziel, nur aus unterschiedlichen Gründen, Ladonnas Macht zu brechen. Auch nahm er ihr ab, dass sie nicht so rigoros vorging wie Sardonia, selbst wenn diese es immerhin auf ein Jahrhundert geschafft hatte, die französische Zaubererwelt zu beherrschen und zu tyrannisieren, etwas, was kein Hitler, kein Stalin und kein Saddam Hussein hinbekommen hatte. Außerdem hatte die Vereinigung aus Naaneavargia und Anthelia viel viel mehr Zeit, um ihre eigenen Pläne voranzutreiben, weil sie durch die Tränen der Ewigkeit relativ unsterblich war. Da konnte jemand auch gerne mal ein Jahrhundert lang locker abhängen, ohne nach dem Rest der Welt zu greifen und eben jenes ganz langsam, möglichst unbemerkt anstellen, sofern kein Grund entstand, sich zu beeilen, zum Beispiel durch den nicht mehr abzustreitenden Klimawandel oder die immer noch nicht ganz ausgeräumte Gefahr eines Atomkrieges.
Er bat Léto, zu ihm zu kommen und lies sie den Brief von Anthelia nachhören. Da sie die oberste der Spinnenschwestern ja schon persönlich gesehen hatte war sie sofort überzeugt, dass sie den Brief geschrieben hatte. Als sie hörte, was Anthelia an möglichen Veelageheimnissen andeutete verzog Léto das Gesicht. Doch dann musste sie nicken. "Du brauchst blutfarbene Steine, Granate, Rubine, Spinelle, um deinen Teil der Aufgabe zu erledigen. Doch weil du sowieso erst einmal in die Staaten reisen möchtest werden meine Töchter und ich uns die Zeit nehmen, die ausgebrachten Ankerkörper des dunklen Walls zu zählen, jetzt wo ich weiß, wie ich danach suchen muss. Du kannst ja Madame Grandchapeau fragen, ob sie das mit den roten Steinen veranlassen kann. Jedenfalls hat dieses Spinnenweib zum Abgrund des Vergessens noch einmal recht, dass hunderte oder tausende von sterbenen Veelas mehr der eigenen Lebenskraft freisetzen als einzelne, die im Kreise ihrer Angehörigen einschlafen und somit ihre Kräfte mit diesen teilen. Woher Sardonia das auch immer alles erfahren hat", schnaubte Léto. Julius vermutete für sich, dass Anthelia noch eine Menge mehr über die Veelas wissen mochte und dass dies Léto gerade so zusetzte. Am Ende wurden sie Ladonna los, um einer noch mächtigeren Feindin Platz zu verschaffen. Er konnte sich deshalb gut vorstellen, dass Léto vielleicht sogar auf einen Handel mit der Rosenkönigin eingehen würde, um Anthelia in Schach zu halten. Sollte er da mitziehen? Verdammt! Am Ende hing er voll zwischen mehreren Stühlen.
"Du kannst durch die Barriere singen, vielleicht weil es eine von Veelazaubern errichtete Barriere ist", sagte er. "Dann teile deiner Schwester bitte mit, was du gerade erfahren hast, bevor die Falken bei den russischen Veelas die Abstimmung gewinnen."
"Die was? Stimmt, da sind einige bei, die als Wanderfalken erscheinen können. Aber ich verstehe, was du meinst. Pygmalion hat den Begriff für einen Kriegstreiber auch schon mal erwähnt und erklärt", sagte Léto. "Ach ja, und du erzählst Nathalie nur, dass du mit mir und meinen bereits Mutter gewordenen Töchtern den dunklen Wall aufheben kannst, weil ich dir aus Furcht vor dem Vernichtungskrieg in Russland verraten habe, dass Veelas so einen Fluch auf mehrere Körper legen und diese verteilen können. Von Anthelias brief erzählst du ihr besser nichts, wenn du nicht morgen schon mit meinen Haaren an Sarjas Körper gefesselt sein möchtest und erst dann freikommst, wenn euer gemeinsames Kind geboren ist. Ich meine das todernst, Julius." Julius sah verdutzt in Létos wild entschlossenes Gesicht. Er bemerkte kleine weiße Daunenfedern, die ihr auf den für ihr alter sehr jugendlich wirkenden Wangen sprossen. Das war bei Veelas ein Zeichen großer Verärgerung, wenn sie die Balance zwischen ihrer menschlichen und tierischen Gestalt vernachlässigten. Er rang um die richtigen Worte. Den Frechheitswichtel, ihr zu sagen, dass sie ja gerade nicht aus Frankreich rauskam verscheuchte er mit dem Gedanken, dass sie ihn ja auch solange in Tiefschlaf singen konnte, bis die Grenze wieder offen war. Mit ihr kämpfen wollte er auch nicht, zumal er nach der Sache mit Diosan einen gehörigen Respekt vor der Gewandtheit und Zauberresistenz der Veelas hatte. So sagte er nach mehreren Sekunden Bedenkzeit: "Es wird nicht nötig sein, dass Sarja fünf oder mehr Jahre mit mir im Schlepptau herumlaufen muss. Ich respektiere deinen Wunsch, eure Geheimnisse zu hüten. Aber der Brief kam mit der Eulenpost, wohl weil Anthelia es unter der Erde hindurch geschafft hat, die Barriere zu überwinden beziehungsweise zu unterqueren. Wie die das macht hast du ja miterlebt."
"Ja, und dass du das wohl auch kannst und deine eigenen Gründe hast, es keinem zu verraten", erwiderte Léto. "Sage einfach, dass Anthelia dir und uns Hohn und Spott zugedacht hat, weil sie meint, in Amerika schneller mit Ladonnas armen Opfern fertig zu werden als wir in Europa und sich der Brief danach selbstzerstört hat!"
"Hat er das?" fragte Julius. Da sah er, wie schnell auch ältere reinblütige Veelas sein konnten. Denn in der nächsten Sekunde hatte Léto den auf seinem Schreibtisch liegenden Brief geschnappt und drückte ihn sich an die Stirn. Sie presste auch die andere Hand dagegen und verfiel in eine konzentrierte Starre. Silberne Flammen schlugen aus dem Pergament und umloderten Létos Kopf. In den Flammen meinte Julius feurige Buchstaben herumwirbeln zu sehen, bis sie alle in Létos Kopf eindrangen und davon verschluckt wurden. Danach rieselte nur noch graue Asche zwischen Létos schlanken Fingern hindurch. Zwei Sekunden stand sie da, ihre Augen schnell hin und herbewegend wie in einem aufwühlenden Traum. Dann entspannte sie sich wieder. "So, was dieses Weib geschrieben hat ist jetzt in meinem Kopf und geht von da nur noch zu Sarja, damit die weiß, worauf wir uns gefasst machen müssen. Wir machen es so wie besprochen. Du sagst Nathalie und Belle, das dieses Spinnenweib uns verhöhnt hat, weil sie wohl mit den grünen Waldfrauen paktiert, von denen Ladonna ja auch abstammt und deshalb einen anderen nicht ganz so schonenden Weg gefunden hat, ihre Opfer zu befreien und ich werde mit meinen Töchtern nach den Ankerkörpern in der Erde suchen und dir bei deiner Rückkehr mitteilen, wieviele rote Steine du brauchst. Bedenke dabei bitte auch, dass wir so auch dein Geburtsland aus Ladonnas Umklammerung lösen können!"
"Ja, mach ich, Léto", sagte Julius. Dann umarmte sie ihn und gab ihm die zwei landesüblichen Wangenküsse. Er erwiderte die Handlung. Dann verließ Léto sein Büro.
Als er bei Nathalie im Büro saß hängte sie ihm gleich den Cogison-Ohrring an, damit Demetrius ihn klar verstehen konnte. Er erwähnte, was Léto ihm "offenbart" hatte und dass sie seine Urlaubsreise nutzen wollte, um die Beschaffenheit der Barriere zu prüfen und dann, wenn er wiederkam, mit seinem Wissen um Entfluchungszauber der Erde diese Ankergegenstände zu entzaubern, damit die Barriere wieder verschwand. "Das aber nur unter der Voraussetzung, dass in der Zwischenzeit kein Umsturz stattfindet und die Ministerin, Sie und Belle nach Millemerveilles flüchten müssen."
"Ruf da bloß keinen großen Drachen", cogisonierte Demetrius. "Wir wissen ja jetzt, dass mein Wachstum in Millemerveilles schneller abläuft."
"Haben Sie ihn vernommen, Monsieur Latierre, mein Sohn wünscht dieses Jahr noch nicht geboren zu werden. Daran Dürfen Sie sehen, welchen Komfort mein Uterus ihm bietet. Nicht dass er sich am Ende gegen seine Geburt entscheidet."
"Ja, weil ich die in Millemerveilles womöglich nicht mehr geistig nachvollziehen kann", cogisonierte Demetrius. "Irgendwas wirkt da auf Veelamagie ein."
"Hast du gehört, ich darf ihn überall bekommen außer in Millemerveilles", cogisonierte nun Nathalie mit einer Spur Erheiterung.
Julius kehrte zurück in das Apfelhaus und berichtete dort, was er heute erlebt hatte. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erwähnte er, was Anthelia wirklich geschrieben hatte und dass er Léto versprochen hatte, keinem Ministeriumsbeamten zu erzählen, was sie alles über Veelas wusste. "Das hätte die sich doch denken können, dass Sardonias Erbin alles mitbekommt, was Sardonia erfahren hat. Die hat garantiert ein Denkarium von der aus Millemerveilles rausgeholt, als sie Riddle dazu gebracht hat, ihr diese Kiste aus dem Dorf herauszuholen", grummelte Millie. Natürlich, so musste es sein, dachte Julius. Doch dann wurde ihm klar, dass die Spinnenhexe dadurch eine ganze menge mehr dunkler Geheimnisse kannte, von denen die Überlebenden des Sardonia-Regimes gehofft haben mochten, dass sie für immer verschwunden waren.
"Dann lass die werte Léto mal die ganzen Ankerkörper zählen. Wir können ja darüber hinwegfliegen", meinte Millie.
Die Überfahrt mit dem überschallschnellen Überseeluftschiff verlief so wie gewohnt. In mehr als 40.000 Metern Höhe über Grund war die dunkle Barriere überhaupt nicht vorhanden. Die Stimmung an Bord war gelöst, weil viele US-Bürger froh waren, dass ihr Land befreit war, auch wenn sie nicht zu sehr darüber nachdenken wollten, wer und wie das hinbekommen hatte.
Alle Apfehaus-Latierres wurden um sieben Uhr Pazifikstandardzeit von Brittany und Linus, Leonidas und seinen Großeltern Lorena und Daniel und auch den weiblichen Mitgliedern der Viento del Sol Windriders begrüßt.
"Es ist schön, dass ihr es einrichten konntet und auch dass du, Julius, eine Woche Urlaub bekommen hast", sagte die junge Mutter Brittany. Julius flüsterte ihr zu: "Ich bin froh, erst einmal nichts mit Ladonna und ihrer dunklen Barriere zu tun zu haben. Viele von denen in Frankreich drehen jetzt am Rad und meinen, dass das alles nicht passiert wäre ohne die Toleranz für Zauberwesen und Leuten aus nichtmagischen Familien. Es sind zwar sehr wenige, aber dafür sind die verdammt laut wie Papageien im Zoo oder die Cockaburras in Australien", seufzte Julius. Dann begrüßte er Venus Partridge. Diese strahlte ihn an und sagte geheimnisvoll: "Ich habe Neuigkeiten, die nur meine Familie und du wissen dürft, Julius. Mehr morgen."
"Ach, hast du auch wen kleines in Aussicht?" fragte Julius. "Nein, dazu muss ich erst noch wen finden, der den oder die kleine dann auch mit mir großziehen will. Ich bin noch ganz froh, bei den Windriders eintopfen zu dürfen, wo wir dieses Jahr wieder den goldenen Pot erspielt haben."
"Und, musst du hungern oder kriegst du noch genug für Quodpot, wenn ich mich an das erinnere, was Britt mir so über die Gehaltsdiskussionen erzählt hat?" fragte er Venus. "Nein, wir müssen nicht hungern. Und für einige Damen und Herren war das eine heilsame Kur, dass sie nicht unendlich viel Geld verlangen können. Da hat sich die Spreu vom Weizen getrennt und wir haben jetzt nur noch die in den Mannschaften, die das Spiel auch wegen des Spiels spielen."
"Na, junger Mann. Wenn ich Sie mir so ansehe würde ich es nicht glauben, dass du schon sechs Kinder gezeugt hast", sagte der nun zweifache Großvater Daniel Forester. Julius hielt dem Entgegen, dass das alles weitere Verwandte für Brittany waren, wo sie doch als Einzelkind großgeworden sei.
"Touché", knurrte Daniel Forester und überließ es seiner Frau, Julius zu begrüßen. Lorena Forester hatte von ihrer Chefin Wright zwei Tage Urlaub erhalten, um die Ankunft ihrer Enkeltochter zu feiern, die natürlich auch schon als Zaubererweltkind registriert war, wie auch bei der Willkommensfeier für Rubia Eileithyia Merryweather dabei zu sein.
"Und du hast jetzt mit Millie eine Woche Urlaub?" fragte Lorena Forester ihren verschwägerten Neffen. Dieser bejahte es und ergänzte, dass es eigentlich zehn Tage seien. Sie hofften, in der Zeit noch einige Leute besuchen zu können, die in den Staaten wohnten, sofern das wieder erlaubt war.
"Oh, da bist du noch nicht auf dem neuesten Stand. Die Regionalsprecher haben sich um der Freiheit des Handels wegen darauf verständigt, dass als Besucher registrierte Reisende nur ein Meldezertifikat und eine Bescheinigung der Aufenthaltsdauer auf dem Gebiet der Assotiation nordamerikanischer Zauberergemeinschaften braucht. Können wir gleich an der Landeregistratur erledigen. Dann könnt ihr für die angegebene Dauer eures Aufenthaltes in Nordamerika an jeden Ort reisen. Bei der Abreise müsst ihr euch dann aber wieder entsprechend abmelden, egal von wo ihr abreist. Das ist im Moment das kleinere Übel, wie es der Westwind und der Herold gleichermaßen nennen."
"Ich hatte schon befürchtet, wegen der Regionalisierung müsste ich für jede Region erst eine Einreiseerlaubnis beantragen."
"Da lagst du nicht mal so schlecht, Julius. Gerade einige Herrschaften aus den Grenzstaaten zu Mexiko wollten das gerne haben, damit "keine unerwünschten Einwanderer" über die mexikanische Grenze "einsickern."
"Die haben voll die Probleme. Wir Franzosen sind von einem kilometer hohen, die ganze Grenze entlangreichenden Wall aus Antiflugzauber und Albtraumerzeugungsmagie umschlossen und die Texascowboys und Georgianische Baumwollbarone haben Angst, ihnen könnten über Mexiko unerwünschte Einwanderer einsickern", knurrte Julius.
"Und ihr wisst immer noch nicht, wie diese Rosenfurie das angestellt hat?" wollte Lorena Forester wissen. Julius und Millie verneinten es, obwohl Julius es tatsächlich wusste. Doch weil Léto ihn mehr oder weniger gebeten hatte durfte er das nicht ausplaudern.
"Wir sind auf jeden Fall froh, dass wir noch mit dem Luftschiff herüberkommen konnten und ihr nicht auch alles dichtgemacht habt", sagte Millie. Dem konnten alle zuhörenden nur zustimmen.
Die Touristenregistratur lag gleich neben dem Wartehaus für Überseefluggäste. Hier konnten sich die Reisenden an- und abmelden, sofern nicht in den nordamerikanischen Regionen wohnhaft. Julius ließ sich gleich ein Besucherzertifikkat für New Orleans und die Region um den Glashutturm ausstellen. Wann er und seine Familie davon gebrauch machen wollten konnte er noch nicht sagen. Erst mal wollte er die zwei Tage hier abfeiern, die sie mit der Einladung von den glücklichen Großeltern geschenkt bekommen hatten. Als dieser bürokratische Akt erledigt war ging es zum Ort der Feier.
Julius traf seine Mutter, Stiefvater Lucky und die vier Halbgeschwister vor dem Haus zum sonnigen Gemüt. Aus der offenen Schwingtür klang bereits fröhliche Westernmusik. Lucky verkündete stolz, dass er Old Firehat Felix und seine wilden Lassospringer engagieren konnte, ohne Gage bei ihnen aufzuspielen.
"Er wollte zwar die Mittagströter mit ihren beiden gehörnten Maskottchen haben, weil die mehr Instrumente spielen können, aber da haben die Beams protestiert, nicht schon wieder Kuhfladen von der Bühne schaufeln zu müssen. Dabei hätten wir die hier draußen auftreten lassen können", sagte Lucky, der zur Feier des Tages einen Himmelblauen Umhang mit gelben Sonnenblumen und einen sonnengelben Zaubererhut trug.
Es ging in den Herbergsbereich, wo die Gäste aus Übersee sich ordentlich anmeldeten. Der Betreiber der Herberge sagte: "Haben Sie auch eine Touristenlizenz erhalten?" Julius zeigte diese für sich, seine Frau, seine Schwiegertante und alle sechs mitgereisten Latierre-Kinder vor. "Ich muss das seit dieser Kiste mit Atalanta Bullhorns Doppelgängerin und dem verdrehten Rat machen, sagt Gemeinderätin Hammersmith. Es gibt zu viele Erbsenzähler, die ihr zu gerne eine zu lasche Handhabung mit Ein- und Ausreisenden unterstellen möchten, vor allem die Sombreroträger aus Baja California und die Nachbarn aus Arizona, Texas und New Mexico", erwähnte der Betreiber des Hauses, das sowohl Hotel, Restaurant und Saloon war. Dann reichte er Millie, Béatrice und Julius je einen Zimmerschlüssel. "Sie haben die silberne Familiensuite, die Ladies und der Gentleman. Kelly hat schon alle Betten bezogen und Prunella hat unsere Küchengang beauftragt, für Kleinkinder verdauliche Sachen zu kochen. Ui, aber die drei Kleinsten, sind die schon zwei oder drei?" Julius erwähnte, dass die drei Jüngsten gerade mal vierzehn Monate alt waren. Dass Flavine und Phylla fast einen Monat jünger waren als ihr Halbbruder und Cousin in Personalunion brauchte er dem Eigentümer der Herberge nicht auseinanderzudröseln. "Natürlich, Ihre herausragende Körpergröße, elterliches Erbgut", stellte Charlie Beam fest. Dann begrüßte er die Cottons, die ebenfalls zu Brookes Willkommensfeier eingeladen waren.
Die "Familiensuite" bestand aus einem Wohnzimmer, einem Elternschlafzimmer, einem Kinderzimmer und zzwei Badezimmern mit allem, was im Sanitärbereich so komfort war. Sogar ein höhenverstellbares Urinal war vorhanden. Béatrice meinte, dass das für Félix doch noch nicht niedrig genug gesetzt werden konnte. Aber sie hatten den kleinen die Jumboreisewindeln für Kinder zwischen einem und zwei Jahren angezogen, so dass sie eine Woche lang nicht neu gewickelt werden mussten, auch wenn sie natürlich zwischendurch gebadet werden sollten. Immerhin konnte Clarimonde schon unfallfrei aufs Klo gehen, worauf sie verdammt stolz war.
Nachdem alle die mitgebrachten Sachen in die Schränke einsortiert hatten durften Aurore und Chrysope auswürfeln, wer in einem der Etagenbetten im Vierbettzimmer oben und unten schlafen durfte. Aurore gewann. "Da musst du aber beim Aufstehen immer aufpassen, dass du nicht runterfällst, Rorie", ermahnte Julius seine Erstgeborene. "Ich kenn das doch, Pa", grummelte Aurore verdrossen. Prunella sagte darauf: "Wir sind hier möglichst kindersicher ausgestattet. Der Teppich wirkt wie eine dicke Luftmatratze, wenn jemand aus dem oberen Bett fällt."
"Oha, das hätten sie mal besser nicht gesagt", raunte Julius. Denn Aurore hatte das gehört und auch verstanden. Sie turnte wieselflink zum oberen Bett hoch, stieß sich davon ab und fiel kieksend nach unten. Julius unterdrückte gerade noch den Reflex, sie aufzufangen. Aurore prallte auf den Teppich und wurde von diesem zurückgefedert. Sie hopste zweimal, dann stand sie sicher. Als sie absprang und wieder aufkam landete sie etwas härter. "Häh?!" machte sie. "Der Auffangteppich fängt dich nur so auf, wenn du aus Versehen oder weil du das willst von oben runterfällst", sagte die Nichte von Charlie Beam. "Achso", erwiderte Aurore.
als Béatrice ihre Schlafcouch im Elternschlafzimmer auf die für sie genehme Länge ausgefahren und das entsprechende Laken aus dem Bettwäschefach unter dem breiten Doppelbett hervorgeholt und mit einem Zauberstabschlänker über die Couch gebreitet hatte traf sich die ganze Familie im Wohnzimmer, wo es sogar ein Radio gab. Was dieses Zimmer zur Komfortklasse Silber machte war der auch bei den Goldzimmern sprachgesteuerte Dienst. "Fehlt nur die selbstreinigende Badewanne und das verstellbare Aussichtsfenster", meinte Millie in Erinnerung an ihre erste Reise nach Viento del Sol, die ihr und auch Julius in sehr lebhafter Erinnerung war.
Das Radio konnte auf zwanzig Zaubererweltsender eingestellt werden. Sie wählten den Sender VDSR 1923 und hörten da gerade die Morgensendung mit Rude Roddy Krueger, den "Albtraum der Morgenmuffel". "Howdy, Ladies and Gentlemen, ob schon länger hier zu Hause oder auf eine kurze Tour durch unser sonniges Kalifornien eingereist. Heute geht einiges Ab, denn unser Regionalrat wird mit den Abgeordneten des Regionalrates aus dem schönen Baja California endgültig klären, ob wir weiterhin der goldene Staat oder das nördliche Anhängsel von Mexiko sein werden. Damit ihr schon mal mitkriegt, wie es dann klingt hier die Hijos del Campo mit ihrem Wecklied "Venga Aurora! Arrrrrribaaaaa!!""
Eine beschwingte Mariachigruppe spielte nun auf, und vier scheinbar junge Männer sangen vierstimmig den Text, dass endlich die Neue Morgenröte kommen sollte. "Kuck Rorie, extra für dich", scherzte Julius und schaffte es tatsächlich, den nicht zu schweren Text für seine Erstgeborene zu übersetzen. "Ist das spanisch, was die Singen, Pa?" fragte Aurore. Millie und Julius nickten.
"Ah, die neuesten Nachrichten", sprach Roddy nach einem passendem Kennzeichen mit tickender Uhr und Glockenschlag. Er erwähnte nun in seiner lockeren Art, dass nicht nur das Gipfeltreffen der zwei kalifornien stattfand, sondern auch das Wadditchmatch zwischen den San Francisco Sealions und den Honululu Humuhumunukunukuapua'as. Dann brachte er noch die Meldung, dass immer noch nach Perus Zaubereiminister Costacalma gesucht wurde und bis dahin sein Unteruntersekretär die Amtsgeschäfte führte. "Ja, in unseren Staaten und weiter südlich in der schneller als erbaut zerfallenden Föderation südamerikanischer Hexen und Zauberer ist immer noch einiges zu reparieren. Denn immer noch weiß keiner, ob wirklich alle Ministerien von jener achso dunklen Lady Namens Ladonna Montefiori unterworfen wurden und falls ja, wer ihr da so kräftig an den Haaren zieht und ihr die ganzen geklauten Zaubereiministerien wieder wegnimmt. Leute, das kann noch ziemlich übel werden, wenn das mal rauskommt."
"Auch hier werden wir nicht vor ihr verschont", grummelte Julius. Millie erwiderte, dass er das doch "aus erster Hand" wusste, was hier gerade abging.
Endlich machte der für Chrysie und Clarimonde viel zu schnell und quäkig sprechende Radioonkel wieder flotte Musik für alle Frühaufsteher.
Da sie schon so früh hier waren konnten sie alle nach dem Ortszeitanpassungstrank mit den anderen hier übernachtenden Gästen aus Übersee, zu denen auch die britischen Brocklehursts gehörten frühstücken. Danach ging es hinaus in die Gemeinde. Julius kam sich vor wie der Leiter einer Kindergartengruppe, als zu seinen eigenen Kindern noch die vielen Nachbarskinder dazukamen, die wie seine Halbgeschwister eins bis drei durch die Machenschaften Vita Magicas auf den Weg ins Leben gebracht worden waren. Millie hatte damit weniger Schwierigkeiten. Er bewunderte einmal mehr, wie sie mit ruhigen Worten und Gesten die Gruppe zusammenhielt. Béatrice hielt Félix an der Hand.
Der Spielplatz der Gemeinde war vergrößert worden, so dass von allen bisherigen Spielgeräten zwei mehr dazugestellt worden waren und ein Sandkasten mit Deckel zu ersten kreativen Übungen einlud.
Hier konnten sie bis halb elf aushalten, wobei noch Kinder unter dem Grundschulalter dazukamen, unter anderem die Zwillingstöchter von den Partridges. Die wirkten ganz fröhlich, als sie von ihrer Mutter am Spielplatz abgesetzt wurden.
Als die berühmte Turmuhr die Mittagsstunde schlug trafen sich alle Gäste aus Übersee im Speisesaal der Klassen Bronze bis Drachenhorn, der für die nächsten zwei Tage für geschlossene Gesellschaften reserviert war und genossen ein leichtes Mittagessen. Danach besuchten die Latierres erst den Tierpark, wo sie Temmies hier wohnende Verwandte besuchten und gingen noch kurz durch den botanischen Garten, um sich die in Nordamerika wachsenden Zauberkräuter anzusehen. Gegen vier trafen sie sich dann alle wieder im Haus zum sonnigen Gemüt, und zwar im Saloon, weil da auch genug Platz zum Tanzen war. Die lauten Lassospringer, jene fünf-Mann-Band, die auch schon bei der Verlobung und Hochzeit von Julius' Mutter aufgespielt hatte, stimmte noch die Instrumente. Danach kam die feierliche Willkommenszeremonie.
Brittany trug die neue Erdenbürgerin stolz durch die Reihen aus Freunden und Verwandten zur Bühne. Dort wartete bereits der in hellblau gekleidete Zeremonienmagier Pericles Bell, in Kalifornien für alles zwischen Geburt und Tod zuständig. Er sprach von der Liebe, die immer wieder neues Leben schuf und der Hoffnung, die in jedem neuen Menschenkind Gestalt gewann. Darüber hinaus wünschte er der kleinen Brooke Beverly Brocklehurst ein glückliches und langes Leben mit mehr freudigen Ereignissen als Trübsal. Julius sah die gestandenen Großmütter, sowie seine Stiefgroßmutter Hygia, die sich den Nachmittag freinehmen konnte, um das Willkommensfest ihrer Urgroßnichte mitzuerleben. Auch sah er die Chimers. Dass Melanie bereits Kind nummer zwei trug war ihr nur deshalb anzusehen, weil er wusste, worauf er zu achten hatte.
"So heiße ich dich im Namen aller redlichen Hexen und Zauberer Kaliforniens, Nordamerikas und der Welt in deinem Leben willkommen, Brooke Beverly Brocklehurst", vollendete Zeremonienmagier Bell die Ansprache. Die lauten Lassospringer spielten einen Tusch, wobei Ben, der Banjomann diesmal ein Akordeon bediente. Dann wurde die kleine Brooke, die zur Feier des Tages ein roséfarbenes Kleid ähnlich einem Taufkleid trug, in eine Sonnengelb lackierte Wiege gebettet. Wie in Frankreich durften nun die Gäste an der Wiege vorbeiparadieren um der neuen Hexe ihre Wünsche für's Leben zuzuflüstern. Natürlich kamen erst die Großeltern, Urgroßeltern, Tanten, Groß- und Urgroßtanten dran. Doch gleich hinter seiner Stiefgroßmutter durfte Julius an der Wiege vorbeigehen. Brooke wusste offenbar nicht, was das alles sollte. Sie quengelte. So stieß Hygia die Wiege sachte an, dass sie einige male hin- und herschaukelte. Dann war Julius bei ihr und flüsterte ihr zu: "Ich wünsche dir eine friedliche, lebenswerte Welt mit vielen guten Freundinnen und Freunden." Er ging weiter. Jetzt flüsterte Millie der gerade einen Monat und eine Woche alten Hexe etwas zu. Dann kamen die drei größeren Kinder, die einfach nur sowas wie "Hallo, Brooke!" sagten. Dann kam Béatrice. Was sie der Kleinen wünschte bekam nur diese mit.
Die Lassospringer spielten dazu ein leises, ouverturentaugliches Stück. Als Julius erkannte, dass es der für die Westerninstrumente genial umgearbeitete erste Satz von Händels Feuerwerksmusik war musste er grinsen. Musik war eben die Universalsprache aller fühlenden und denkenden Wesen.
Nachdem alle Gäste der neuen Erdenbürgerin ihre besten Wünsche für das hoffentlich sehr lange Leben zugeflüstert hatten gab es Kaffee und Kuchen, wobei die hier anwesenden Veganer eier- und milchfreien Kuchen essen konnten. Da die Tischordnung nicht nach Verwandtschaftsgrad oder Nachbarschaft, sondern Generationen eingeteilt war konnte sich Julius zwischen seiner Frau und Mel Chimers hinsetzen, die links von ihrem Mann Titonus flankiert wurde. So konnten Millie und er den Beiden zum baldigen Nachwuchs gratulieren. "Immerhin welche, die mir Freude wünschen", meinte Melanie Chimers.
"Ja, ihr habt sehr schnell nachgelegt. Tacitus ist doch gerade erst sieben Monate auf der Welt", meinte Millie. "Habe ich auch nicht gedacht, dass ich so schnell wieder rund werde", sagte Melanie dazu. Wenn es ein Mädchen wird haben Tony und ich das Etappenziel erreicht, mindestens von jedem Geschlecht ein Kind zu haben."
"Wer hat sich denn nicht gefreut, dass du wieder Mutter wirst?" fragte Julius ahnungslos tuend. Titonus grummelte, nickte dann aber. "Willst du mich doch noch ärgern, Julius? Oder hast du bis heute nicht mehr mit meiner achso vernünftigen Cousine Gloria geredet. Die missgönnt mir den oder die Kleine. Die hat mich auch mit einigen sehr derben Begriffen bedacht, die ihrem Getue von vernünftiger Dame voll widersprechen. Na ja, vielleicht erzählt die dir von sich aus, was sie im Moment umtreibt oder besser, warum sie gerade ziemlich verbittert drauf ist, dass selbst Tante Di nicht mehr weiß, was sie ihr noch sagen soll. Deshalb mache ich hier lieber den Punkt, Julius." Julius und Millie nickten.
Sie unterhielten sich über alles andere in den Staatenund Europa, nur nicht über Ladonnas letzte Untaten und Vorhaben. "Hat Britt euch sicher schon ofenwarm serviert, dass ihr Dorfclub wieder den goldenen Pot erspielt hat, nur hundert Punkte vor den Ravens", sagte Melanie. Millie erwähnte, dass es in Frankreich zu einem sehr engen Rennen zwischen den Pariser Pelikanen und den Millemerveilles Mercurios kam. Wer da den nächsten Schnatz fing war Ligameister.
So verging der Nachmittag. Als es dann abend wurde gab es ein mehrgängiges Menü. Danach durfte wer wollte tanzen. Julius zeigte Aurore die ersten tanzschritte und beobachtete sie, wie sie mit dem großen Bruder von Brooke tanzte. Dann war er wieder einmal fällig. Denn bei so vielen tanzwilligen und tanzfähigen Damen zwischen achtzehn und hundert Jahren konnte er sich nur für kurze Trinkpausen von der Tanzfläche zurückziehen. Mit Mrs. Hammersmith tanzte er noch einmal zu einem Cajun-Stück, wofür Ben wieder das Akordeon spielte und Gordy, der Gitarrenspieler die zweite Fidel spielte. Old Firehat Felix sang dazu in einem sehr US-amerikanisch eingefärbten Französisch, bis Stella Hammersmith ihn bat, sie singen zu lassen und sie dann das Lied vom Silbermond über dem Bayoo in ihrem Cajun-Französisch sang, das dem Westfranzösischen ähnelte. Dabei durfte Julius mit Venus Partridge tanzen, die die entsprechenden Figuren auch konnte.
Gegen elf waren endlich alle Kinder müde genug, dass sie nur noch ins Bett wollten. Alle Gäste verabschiedeten sich voneinander und wünschten sich noch schöne Ferientage oder einen unfallfreien Heimweg.
"Jetzt hast du uns zwei mal im selben Zimmer", scherzte Millie, die sich einen der kleineren Cocktails gegönnt hatte. Julius meinte: "Dann können wir uns gegenseitig was vorschnarchen." Die Zwei mit ihm lebenden Hexen kicherten leise.Als er neben seiner Frau lag und auch Trices gleichmäßiges Atmen hörte dachte er daran, wie gut er doch untergekommen war. Nicht jeder aus einer nichtmagischen Familie stammende Junge hatte es so gut getroffen wie er. Wem sollte er dafür danken? An den Gott der Katholiken und Anglikaner glaubte er nicht mehr wirklich. Was blieb dann noch? Das Schicksal, die Macht, das Universum, Himmel oder Erde? Ja, natürlich die Erde! Denn ohne die große Urmutter allen Lebens gäbe es ihn ja gar nicht. So dachte er nur für sich das Dankeslied der Erdvertrauten, dass Madrashainorian jeden Abend nach dem Abendessen mit seinen Mitschülern im Haus der Erdvertrauten gesungen hatte.
Julius wurde von Venus persönlich eingeladen, zu ihrer Familie mitzukommen, nachdem er mit seiner Familie im Speisesaal für die Gäste der Bronze- bis Drachenhornklasse gefrühstückt hatte. Sie bat Millie, solange auf die Kinder aufzupassen.
So traf es sich, dass Julius im Haus der Partridges in einem kleinen Zimmer mit besonderen Aussichtsfenstern jemanden traf, der offiziell verschollen war und noch nicht gefunden werden durfte, Venus Vater, Silvester Partridge, den verschwundenen Heiler. Dieser begrüßte Julius und beglückwünschte ihn zu seiner Familie. Dann erzählte er ihm, was vor drei Jahren passiert war, warum er das mit Dime im Alleingang erledigen wollte und wie er einen an und für sich gutartigen Zauber falsch eingeschätzt hatte. Dieser sei der Grund, warum er für den Rest der Welt für tot gehalten werden musste. Julius erfuhr, was Silvester Partridge in der Festung von Vita Magica widerfahren war und wie er von einer übergroßen goldenen Frauengestalt entführt und dann in einer Art magischem Traum ein völlig neues Leben begonnen hatte. Dabei hatte er auch erfahren, dass er, Julius, ebenfalls in einige alte Künste eingewiesen worden sei, jedoch nicht so, wie Silvester Partridge.
"Als ich endlich wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte musste ich mich entscheiden, mein altes Leben wieder aufzunehmen und mich und meine Familie allen Nachstellungen auszuliefern, angefangen von Phoebe Gildfork und ihrer ungewollten Zwillingsschwester über Vita Magica bis hin zu den Ministeriums- oder besser Föderationszauberern. Es gelang mir, mich hier im Ort zu verbergen. Ich habe mich nur Chloe Palmer anvertraut. Die verlangte jedoch von mir, mich auch Eileithyia Greensporn anzuvertrauen. Ui, die Backpfeifen, die die mir verpasst hat spüre ich heute noch. Aber ihre verbalen Prügel trafen noch heftiger. Ich habe unsere Zunftsprecherin selten so wütend erlebt, nicht wegen meines Alleingangs, sondern weil ich was angestellt habe, was kein vernünftiger Heiler sich und anderen antun darf." Julius wollte das jetzt wissen. Silvester Partridge erzählte es ihm. Julius wusste nicht, ob er jetzt erschrocken dreinschauen, verdrossen oder belustigt antworten sollte. Nein, so weit würde er dann doch nicht gehen. Dann fragte er Silvester Partridge, warum er ihm von seiner neuen Bestimmung als Lichtfolger berichten durfte, wo er kein ausgebildeter Lichtfolger, sondern Erdvertrauter war. "Weil mir Ianshira, die mich von einem geistig ausgereiftem Fötus bis zum Jüngling als meine Mutter versorgt hat erwähnt hat, wem sie damals vier alte Zauber des Lichtes beigebracht hatte und dass du am Ende doch bei den Erdverhafteten gelandet seist, wohl weil das Konzil befunden hatte, dass du mit deinen Fähigkeiten nicht nur die Zauber des Lichtes benutzen müsstest, sondern wohl auch mal den einen oder anderen Fluch aussprechen müsstest. Ja, und von Ianshira erfuhr ich auch, dass Ashtardarmiria, die goldene Riesenfrau, ihre Seele dir zu verdanken hat und deshalb die Botin des Konzils werden konnte. Daher seist du einer der ganz wenigen, denen ich mich anvertrauen dürfe, ja in einem Fall, wo wir alle am Rande eines Abgrundes stehen, anvertrauen müsste. Nach der Sache mit der Sperrglocke über VDS, wo ich alleine nichts hätte gegen ausrichten können und der Machenschaften Vita Magicas mit Buggles und später dem Aktionismus von Bullhorn und was wohl mit ihr passiert ist stehen wir magischen Menschen vor einer solchen Entscheidung, ob wir ins dunkel hinaustreten und auf die schmale Brücke hoffen können oder gnadenlos in einen fast bodenlosen Abgrund hineinstürzen. Denn glaubst du, dass Ladonna sich mit der Herrschaft über alle magischen Menschen und menschengestaltlichen Wesen abfinden wird?" Julius schüttelte den Kopf. "Eben, und der Weg, den sie dabei beschreitet wird mit tausenden, wenn nicht sogar millionen Leichnamen gepflastert sein. Dann könnte uns dieselbe Katastrophe drohen, die Altaxarroi in den Untergang gerissen hat, nur dass dann unser ganzer Planet unbewohnbar werden dürfte. Ich übertreibe nicht. Die Magielosen haben sehr heftige Waffen erfunden. Wenn sie sich von einer fremden, ja überlegenen Macht bedroht wähnen können sie davon Gebrauch machen. Daher müssen wir, die wir das alte Wissen erworben haben, zusammenstehen, ohne uns zu vielen anderen zu offenbaren. Gut, meine Familie weiß, dass es mich noch gibt und auch Chloe und Eileithyia Greensporn. Sonst dürfen es nur die wissen, die mit den alten Künsten vertraut wurden und nicht zu den Mitternachtsfolgern gehören."
Julius überlegte kurz, ob er dem unverhofft wieder aufgetauchten Familienvater Silvester Partridge aufzählen sollte, wer noch alles die alten Künste erlernt hatte. Dann fiel ihm ein, dass es erst einmal besser war, wenn er nichts davon wusste und die anderen nichts von ihm wussten, außer Millie und Béatrice, weil Millie Feuervertraute war und Béatrice ihrer beider Hausheilerin und Vertraute. Er erzählte jedoch, dass er nun zu den Erben Ashtarias gehörte und zeigte ihm den silbernen Heilsstern, den er nicht bei der Touristenanmeldung angegeben hatte. Der Stern leuchtete leicht golden, als er sich Silvester Partridge näherte. "Ich hörte von diesen Artefakten. Doch dann müsstest du aus der Blutlinie eines früheren Trägers stammen, nicht wahr?" Julius antwortete: "Ja und nein. Ich wurde der Erbe, weil ich schon früher von Ashtarias Kraft berührt und beschützt wurde und weil einer der lebenden Nachfahren Ashtarias starb und die Siebenheit wiederhergestellt werden musste. Ich musste dafür eine schwere und gefährliche Aufgabe erledigen, die ich ohne meine wahrhaftige Exosymbiontin Goldschweif und einem guten Schluck Glückstrank nicht geschafft hätte. Außerdem weiß ich jetzt, dass die Mutter der neun Abgrundstöchter zwischen Menschengestalt und überlebensgroßer Ameisenkönigin pendelt und dass irgendwo auf der Welt eine von Hironimus Pickman erfundene und mit gewisser Macht ausgestattete falsche zehnte Tochter lauert. Auch deshalb wollte Ashtaria unbedingt die Siebenheit ihrer Erben wiederherstellen." Silvester Partridge begriff, dass nicht nur er wirklich heftige Veränderungen erfahren hatte.
Die beiden in alte Geheimnisse eingeweihten sicherten sich gegenseitig zu, keinem Uneingeweihten von der Bestimmung des jeweils anderen weiterzuerzählen. Dann verließ Julius den zum Dauerklangkerker ausgebauten Aufenthaltsraum von Silvester Partridge.
Als er wieder bei seiner Frau Millie war mentiloquierte er nur: "Habe wen getroffen, der für den Rest der Welt tot und Verschollen ist. Näheres dann, wenn nur Trice, du und ich miteinander reden können."
"Ach, dann ist der verlorene Vater doch wieder aufgetaucht, und keiner darf das wissen?" gedankenfragte Millie. An Julius' Gesicht konnte sie ablesen, dass sie den Quaffel vom eigenen Torraum mit Schwung durch den mittleren Ring des gegnerischen Tores geschleudert hatte. "War der auch in der Stadt, die tief im Meer versteckt ist?" legte sie noch nach. "Ja, war er", mentiloquierte Julius. "Lichtfolger?" fragte Millie. "Genau, Lichtfolger", bestätigte Julius für alle Ohren unhörbar. "Dann ist genug gesagt", schickte Millie zurück. Denn sie konnte sich denken, dass jemand, der nach langem Verschwundensein plötzlich wieder auftauchte sehr verdächtig war, zumindest für alle Zaubereiministerien der Welt. Doch wenn Julius so sicher war, dass er Silvester Partridge trauen konnte konnte sie dem auch trauen.
Am Nachmittag feierten sie im Saloon die Ankunft von Rubia Eileithyia Merryweather. Rubias Patin war Brittanys Mutter Lorena Forester. Eileithyia Greensporn, deren Vornamen die dritte Halbschwester von Julius erhalten hatte, kam ebenfalls dazu. So konnten sich die Latierres auch mit ihr über die Veränderungen in der Zaubererwelt unterhalten.
Auch bei diesem Fest spielten die lauten Lassospringer auf. Doch ebenso trat ein Streichquartett aus Cloudy Canyon auf, das flotte Barockmusik intonierte, weil Julius' Mutter eine große Verehrerin von Johann Sebastian Bach war.
Nachdem Pericles Bell die kleine, ihrem spanischen Namen ehre machend hellblonde Tochter Marthas und Luckys willkommengeheißen hatte paradierten wieder alle an der diesmal kirschblütenrosa gefärbten Wiege vorbei. Julius wünschte seiner neuen Halbschwester: "Sei aufgeweckt und immer bereit für andere Dinge!" Millie wünschte ihrer neugeborenen Schwägerin: "Lass dich nie von dem Weg abbringen, den du für richtig hältst!"
Abends gab es wieder genug Gelegenheit zum tanzen. Millie tanzte einmal mit Titonus, während Julius mit Melanie tanzte. "Zwei zum Preis für eins, die Feier und mein Bauch", grinste Melanie. Julius sah ihr kurz auf den Unterleib. "Ja, es sind tatsächlich Zwillinge in Mels molligem Mutterbauch", sagte sie lächelnd. "Habe ich heute von der guten Pia Goldfield erfahren." Julius meinte dazu: "Wenn das beides Mädchen werden musst du beim Regenbogenvogel aber noch ein Brüderchen für Tacitus bestellen." Melanie grinste. "Hat Britt mir auch schon gesagt. Bist du sicher, dass die nicht doch deine große Schwester ist?" Julius war sich da ganz sicher.
Mit dieser Neuigkeit und vielen schönen Eindrücken von der amerikanischen Lebensfreude verging der Abend. Wieder im Dreibettzimmer meinte Millie zu Julius: "Tja, muss Britt wohl auch nachlegen, um auf drei Kinder zu kommen."
"Vier, wenn Mel bei zwei Mädchen noch einen Jungen dazukriegen muss. "Tja, oder drei Mädchen, wenn sie zwei kleine Jungen im Bauch hat", legte Millie nach. Béatrice meinte erheitert: "Ihr zwei seid einfach nur süß, und ich bin sehr froh, dass ihr mit mir so gut auskommt. Aber jetzt möchte ich gerne schlafen."
Belenus Chevallier saß auf seinem Stuhl im großen Möbellager des Gemeindehauses. Klammheimlich hatten die Bewohner Millemerveilles' das Lager zu einer Art magischer Bahnhofshalle umfunktioniert. Denn hier standen alle 25 von Otto Latierre und Ramus Lachaise im Eiltempo gebauten Ortsversetzungsschränke. Jeder war mit einem großen L und einer Nummer von 01 bis 25 beschriftet. Der tagsüber für die Durchsetzung magischer Gesetze zuständige Familienvater und vierfache Großvater wusste, dass er so jemanden wie ihn sofort wegen Spionage und möglicher Anschläge auf sein Ministerium festnehmen würde. Doch irgendwie prickelte auch die alte Abenteuerlust in ihm, die er zwischen dem UTZ-Ball und der Hochzeit mit Célestine ausgelebt hatte. Er tat was eigentlich verbotenes. Denn um als Geheimdienstchef zu arbeiten hätte die ganze Aktion im Zaubereiministerium erörtert und unter Ausschluss der Öffentlichkeit genehmigt werden müssen. Doch wem im Ministerium konnten sie noch trauen? Nein, von hier aus würde die entscheidende Unternehmung laufen, die Operation "Lieberation Europe". Er war von allen Beteiligten zum Chef, zum Direktor dieses geheimen Geheimdienstes erwählt worden. Ziel der Operation war, die von Ladonna aufgesplitteten Verwaltungszentren der Zaubererwelt zu finden und dann, wenn sicher war, dass alle höchst wahrscheinlich von Ladonna unterworfenen anwesend waren, vier Goldlichtkerzen zu entzünden, um das jeweilige Zaubereiministerium auf einen Schlag zu befreien. Das zweite Ziel war, die dunkle Barriere um Frankreich zu zerstören und sicherzustellen, dass Ladonnas Handlanger keine neue Sperrwand errichten konnten.
Belenus Chevallier las mal wieder den Miroir Magique. Der Ton gegen das Ministerium und den gegenwärtigen Führungsstab wurde rauher. Auch wenn alle im Ministerium arbeitenden Hexen und Zauberer wussten, dass sie durch die Goldlichtkerze vor der Unterwerfung geschützt worden waren verfingen Parolen derer, die die Abkehr von allen nichtmenschlichen Zauberwesen und die Abschottung gegen den "Giftigen Geist der unmagischen Umtriebe" forderten. Eine nur dem Namen nach bekannte Gruppierung namens Sanguis Purus maßte sich immer mehr an, sich als Wächter der reinen Zaubererwelt und des Friedens durch Abkehr von allen nicht reinblütig menschlichen Wesen aller Probleme zu entledigen. Er vermutete alte Familien, die damals nicht mitgeholfen hatten, dass Ventvit zur Ministerin wurde und jetzt, wo eine kleine aber lästige Unanehmlichkeit bestand, mal nicht eben über die Grenze zu können und die Post umständlich über die Überseebesitzungen verschicken zu müssen, ihre Chance witterten, die Macht zu übernehmen, nicht mit körperlicher und geistiger Gewalt wie die Todesser und Didier es getan hatten, sondern durch die Verwirrung und Aufwiegelung der Bevölkerung. Sie sollten glauben, dass das Ministerium die Barriere begrüßte, um die eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger besser überwachen zu können. Aus solch gefährlichem Unsinn war schon manch düsteres Imperium erblüht, wusste Chevallier. Ja, und dass der Zaubererstolz immer noch ein verdammt fruchtbarer Boden für Misstrauen, Willkür und offene Ablehnung war wusste er als Leiter der Strafverfolgungsbehörde auch zu gut. In Großbritannien und Deutschland war das sogar noch schlimmer, weil deren Zaubereischulen Häuser besaßen, die genau jene aufnahmen, die ihre eigenen Machtbestrebungen über das Miteinander stellten und sich als Angehörige reinblütiger Familien über allen anderen erhaben fühlten. Die konnten dann die alten Netzwerke bilden, die auf den neuen Heilsbringer, den neuen starken Führer warteten. Von sowas bezogen die dunklen Hexen und Zauberer ihre Gefolgschaft.
Die kleine Wanduhr, die Belenus Chevallier sich in diesen Raum gehängt hatte tickte die Sekunden weg. Jetzt war es elf Uhr. Ein leises Ping erklang elfmal. Eine Stunde vor Mitternacht, Zeit für die täglichen Berichte.
Aus dem mit L-01 gekennzeichneten Schrank entstieg der Bote des ersten von vier Geheimstützpunkten in Belgien. Dann klappte auch der mit L-02 gekennzeichnete Schrank auf, dann auch der von L-03, L-04 und L-05.
Sie warteten noch, bis weitere Schränke aufgingen. Als alle 25 Boten eingetroffen und in goldenem Licht gebadet den Schränken entstiegen waren begrüßte Belenus Chevallier die Boten und bat sie einen nach dem anderen zu berichten. L-14 wäre fast aufgeflogen, weil einer der Erkunder in einen Enthüllungszauber hineingeraten und sichtbar gemacht worden war. Doch wie verabredet hatte er sein Äußeres durch eine Dosis Vielsaft-Trank derartig geändert, dass wer immer ihn damit getroffen hatte nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte. Vorsichtshalber war der Stützpunkt um zehn Kilometer näher an die Deutsch-polnische Grenze verlegt worden. Die in Österreich gelandeten "Flohkisten" konnten berichten, dass sie drei von wohl vier größtenteils eigenständigen Zaubereiverwaltungsgebäuden aufgespürt hatten. Doch erst wenn sicher war, dass sie wussten, wie viele redundante Verwaltungsgebäude es gab und wo genau diese standen sollten die Goldlichtkerzen zum Einsatz kommen, die Belle Grandchapeau in Genf eingesetzt hatte und die auch in Paris im Ministerium entzündet worden war, um alle Mitarbeiter vor Ladonnas Feuerrosenkerze zu schützen. L-16 vermeldete, dass sie in Spanien auf eine Gruppe von Hexen getroffen waren, die wohl Veelastämmig waren, aber statt der blonden Haare flammenrotes Haar besaßen, aber ansonsten eine ähnliche Ausstrahlung und dieselbe übernatürliche Schönheit besaßen wie die in Frankreich wohnhaften Veelastämmigen. "Unser Erkunder in Bilbao musste fast den Notfallportschlüssel benutzen, weil die fünf Damen ihn umzingelt haben, obwohl er unsichtbar war und ein Lied gesungen haben, dass ihn von innen her golden hat aufleuchten lassen. Doch als eine von ihnen das sah haben sie den Angriff abgebrochen und sind disappariert", vermeldete der Bote von L-16.
"Gibt es Veelas in Spanien, die so aussehen, und sind die für Ladonna oder für uns?" fragte der Bote Chevallier.
"Was die erste Frage angeht muss ich mich mit dem offiziellen Veelabeauftragten beraten, und der ist wegen einer Einladung im Urlaub. Was die zweite Frage angeht hat erwähnter Beauftragter vor den Abteilungsleitern des Zaubereiministeriums klar geäußert, dass die Veelastämmigen alle gegen Ladonna sind, weil die sie auch erledigen will. Wenn das wirklich Veelastämmige waren haben die wohl gemerkt, dass da ein Eindringling mit einer besonderen Aura herumläuft, den angesungen und dabei festgestellt, dass er von einem anderen starken Veelazauber beschützt wird. Dann wissen die, dass jemand in ihrem Hoheitsgebiet herumspioniert, der von anderen Veelas beschützt wird. Ob das gut für unsere Sache ist weiß ich nicht. Es ist auf jeden Fall gut, den Stützpunkt zu verlegen. Öhm, haben Sie wenigstens herausgefunden, wie viele spanische Redundanzgebäude es gibt?"
"Ja, haben wir, aber auch nur, weil es meinem Kollegen gelungen ist, einen unsichtbaren Spion in der Bilderwelt des Zaubereiministeriums einzuschleusen. Nochmal unser Kompliment an den Maler oder die Malerin, die diesen unsichtbaren Kundschafter gemalt hat, wie auch immer sowas geht. Jedenfalls wissen wir jetzt, dass es sechs Redundanzgebäude gibt und Minister Pataléon zwischen diesen Pendelt, womöglich auch mit Verschwindeschränken. Jedes Gebäude könnte im Fall, dass die fünf anderen ausfallen die volle Administration übernehmen."
"Gut, dass wissen wir leider schon von Belgien und Deutschland, wobei in Deutschland fünf Untereinheiten bestehen", sagte Chevallier und nickte dem Boten von L-07 zu. Dieser schilderte noch einmal, was seine Einsatzgruppe herausgefunden hatte und dass deshalb die Stützpunkte L-09 und L-11 verlegt wurden, um näher an die Zielgebäude heranzurücken. Dafür gab es in Österreich nur vier Untergebäude. "Gemäß unseres Operationsplanes erinnere ich daran, dass es äußerst wichtig ist, alle Redundanzgebäude eines Landes zu kennen und sicherzustellen, wann alle dort arbeitenden Ministeriumsbeamten vor Ort sind, also möglichst keine Außeneinsetze stattfinden. dann und nur dann muss an allen erkundeten Stellen zugleich die Goldlichtkerze entzündet werden, am besten so, dass sie jeden Mitarbeiter erreicht. Aus den Erfahrungen in Paris und in der Schweiz wissen wir, dass das goldene Licht auch durch feste Wände dringen kann, wenn die Kerze groß genug ist. Wie groß die Kerzen sein müssen muss erkundet werden. Soweit für Ihre Gruppen. Vielen Dank für die Berichte und Ihnen weiterhin alles nötige Glück!"
Die Boten bedankten sich und verschwanden wieder durch die Versetzungsschränke. Belenus Chevallier grübelte nach, ob es wirklich möglich war, alle Redundanzgebäude gleichzeitig zu erreichen, die Goldlichtkerze möglichst zentral zu platzieren, was bei einem Antiapparierwall ganz schwierig bis unmöglich war und dann auch zeitgleich die Kerzen zu entzünden. Am Ende mussten sie noch einmal zwanzig solcher Schrankpaare bauen und damit zwanzig weitere Stützpunkte errichten. Belenus Chevallier dachte an die Hydra. Schlug man der einen Kopf ab wuchsen zwei neue nach, wenn die geschlagene Wunde nicht sofort mit einer heißen Fackel ausgebrannt wurde. War Ladonnas Rosenimperium so eine Hydra? Das würde sich erst bei der direkten Konfrontation herausstellen.
Viele in den Staaten saßen zusammen und lauschten der Direktübertragung der Vollversammlung der Regionaladministratoren, die gerade in Viento del Sol stattfand. Auch wenn für Aurore, Chrysope, Clarimonde und die drei jüngsten Politik, noch dazu nichtfranzösische Staatsangelegenheiten, noch unverständlich und somit eher langweilig waren machten sie keine Anstalten, ihre Eltern zu stören.
"Welchen Beschluss hat die Regionalversammlung Michigan gefällt?" fragte Pericles Bell, der als neutraler Zeremonienmagier die Abstimmung leitete. Der Sprecher von Michigan sagte laut und deutlich: "Regionalverwaltung!" Das hieß, dass die magischen Bewohner Michigans die jetzt geltende Regionalverwaltung beibehalten wollten. Dasselbe verkündeten auch die Sprecher von Maryland, Virginia und Georgia. Der von New York sollte weitergeben, dass sie wieder eine gesamte nordamerikanische Administration haben wollten. Ebenso stimmte der Vertreter von Louisiana und Stella Hammersmith aus Kalifornien. Doch es war die Minderheit. Die Regionen der USA und die Mexikos und Kanadas hatten die Gelegenheit genutzt, ihre ganz eigenen Interessensgebiete abzustecken und sich keiner übergeordneten Bundesverwaltung oder gar dreistaatlichen Föderation zu unterwerfen.
"Super, ein Sieg für die Kleinstaaterei", dachte wohl nicht nur Julius. "Somit beschließen bis auf zehn Regionalverwalter, dass Nordamerika bis auf weiteres als Assoziation Nordamerikanischer Magiebefähigter fortbestehen soll und die Regionaladministrationen weiterhin ihre Befugnisse behalten dürfen", sagte Zeremonienmagier Bell. Damit war diese so wichtige Abstimmung erledigt. Wie sie sich auf die magischen Bürgerinnen und Bürger auswirken würde stand in den Sternen.
Louiselle Beaumont hatte es bis hier her trotz mancher Bauchschmerzen und Gefühlswogen gut ausgehalten, weil das Experiment so spannend war. In ihrem Leib wuchs ein Kind, das keinen Vater, aber zwei Mütter haben würde, ein kleines Mädchen namens Lucine. Von wegen mit der Geburt begann das Leben. Die Kleine war schon sehr quirlig, als wüsste sie, dass sie nicht auf gewöhnliche Weise in den Bauch ihrer Trägerin und Gebärerin geraten war.
Laurentine, die zweite werdende mutter, empfand ebenso Aufregung wie Besorgnis, als wenn sie das Kind trüge. Das wäre ihr auch fast passiert, dass sie Lucine auszutragen hätte. Außer der erwählten Hebamme und Catherine Brickston wusste keiner außer den beiden, wie sie das angestellt hatten.
Es war am Morgen des fünften Juli, als Louiselle die erste heftige Vorwehe spürte. Sie konnte nicht sagen, wann sie mal solche Schmerzen erlitten hatte. Ihr ganzer Körper reagierte auf dieses Vorzeichen mit erhöhtem Herzschlag und Schweißausbrüchen. Sie keuchte, während sich ihr Bauch steinhart anfühlte. Oder war das keine Vorwehe, sondern eine Senkwehe? Ging es etwa schon los?
"Laurentine, bleib heute bitte bei mir, für den Fall ... Ahhaua!" Louiselle fühlte die Schamröte ins Gesicht steigen. Wieso konnte sie diese Schmerzen nicht so veratmen wie alles, was sie davor auszuhalten gelernt hatte? Dann war es auch wieder vorbei. Ihr Unterbauch entspannte sich. Die Schmerzen wichen einem rauschartigen Glücksgefühl. Ihre Tante Hera hatte ihr das prophezeit, dass heftige Schmerzen solch einen Rausch auslösen konnten. Das gehörte zu Mutter Naturs Belohnungen, wenn eine Mutter die größten Schmerzen ihres Lebens aushalten musste. Deshalb, so Tante Hera, würden sich viele Frauen nach der Niederkunft eher an die Freude erinnern, das kleine aus ihnen herausgepresste Wesen in den Armen zu halten, statt nur, wie weh ihnen das getan hatte. Ja, das half auch bei der postnatalen Mutter-Kind-Bindung, zumindest in den meisten Fällen.
"Ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde", meinte Laurentine. "Wieso, du hast doch immer gut mit mir mitgehalten, wenn wir gegessen haben", grinste Louiselle. Laurentine lief nun auch rot an. Ja, sie hatte neun Kilo zugenommen, weil sie aus Sympathie mit Louiselle mitgefuttert hatte. Hatte sie damals, wo Julius während Millies erster Schwangerschaft ihre Hungerattacken mitgenommen und sich heftig dick und schwer gefuttert hatte gedacht, sowas würde ihr nicht einfallen war ihr das dann doch passiert. Ja, und sie meinte auch, dass ihre Brüste gewachsen waren, als sei sie die künftige Nährmutter. Hera Matine hatte gemeint, dass es auch ohne Magie Fälle von Schwangerschaftssymptomen bei Nichtschwangeren Verwandten der werdenden Mutter gab, ob männlich oder weiblich. Doch weil Lucine durch einen kombinierten Zauber entstanden sei mochte ähnlich wie beim Catena-Sanguinis-Fluch eine Verbindung zwischen ihnen beiden und Lucine bestehen, die mit voranschreitender Schwangerschaft stärker wurde. Laurentine hatte aber keine Vorwehen verspürt.
Hera Matine kam aus Millemerveilles in die Rue de Liberation 13 herüber und untersuchte ihre Patientinnen, erst die, die das Kind trug und dann die, die es unfreiwillig gezeugt hatte und trotzdem körperliche Begleiterscheinungen zeigte. "Also, das war nur eine Vorwehe. Aber nach dem Wehenwarnband war die schon so stark wie eine Eröffnungswehe. Da müssen wir also aufpassen, dass es keine Sturzgeburt bei nicht weit genug geöffnetem Muttermund gibt, Louiselle."
"Hältst du immer noch den Termin um den zwanzigsten bis fünfundzwanzigsten, Tante Hera?"
"Jetzt erst recht. Es könnte sogar schon vor dem zwanzigsten passieren."
"Am zwanzigsten Hat Julius, am dreiundzwanzigsten hätte Claire Geburtstag gefeiert und der fünfundzwanzigste ist der Geburtstag von Louise Brown", murmelte Laurentine und wischte sich schnell ein paar Tränen aus den Augen, weil sie an Claire dachte. Doch dann überkam sie wieder jene unglaubliche Zuversicht, dass Claire nicht weg war, sondern immer in der Nähe war, um sie weiterhin zu beobachten, genauso wie ihre Verwandten und den, den sie bis zu ihrem viel zu frühen Tod geliebt hatte. Würde sie auch auf die kleine Lucine aufpassen? Warum nicht!
Ladonna wusste nun, dass die Zwerge die Stromversorgungseinrichtungen nicht angreifen würden, nicht in Deutschland und nicht in Österreich. Einerseits war es ganz in Ordnung, weil die kleinen Draufgänger sicher auch laufende Atomkraftwerke beschädigt hätten. Gut, dann sollten es eben die von ihr unterworfenen Verkehrsflugzeugspiloten richten. Wann genau? Ja, der elfte Juli sollte die Entscheidung bringen. Danach würde sie die zwanzig größten Flughäfen Europas zerstören und auch die Ölförderung in den arabischen Ländern verderben. Bis zum ersten August sollten dann alle die Welt verpestenden Maschinen lahmliegen. Sie wollte es jetzt hinter sich bringen. Auch wenn sie bis dahin nicht alle Zaubereiministerien der Welt unter ihre Kontrolle gebracht hatte.
"Und, halten sich die Veelas immer noch versteckt?" fragte sie über ihre Gedankenbrücke bei ihrem Statthalter Arcadi in Moskau an.
"Meine Königin, die Veelas verstecken sich entweder so gut, dass meine Leute sie nicht finden oder locken die Hadesianerhunde in Fallen. Ich habe nur noch fünf von denen, und die Griechen haben wegen deiner Barriere keine Möglichkeit mehr, mir neue zu liefern, selbst wenn sie das wollten."
"Warum greifen Sie euch nicht an? Mokushas Gebot ist doch so eindeutig." fragte Ladonna. "offenbar beraten sie noch, wie viele von denen sterben dürfen, bevor sie sich geschlagen geben", vermutete der von ihr kontrollierte russische Zaubereiminister.
"Stimmt, davon hörte ich, dass sie sehr lange Beraten, wenn etwas strittig oder lebensentscheidend ist", erwiderte die Rosenkönigin. "Um so sicherer ist es wohl, dass sie sich was ausdenken, wen sie zuerst angreifen sollen. Wechsel immer gut zwischen den sechs Außenstellen, damit sie dich nicht gleich beim ersten Angriff erwischen, mein Statthalter!"
"Wie du befiehlst, meine Königin", erwiderte Arcadi.
Der Lärm war fast unerträglich. Aber der Gestank und der Qualm waren wie ein Einblick in jene Hölle, wie sie sich die Gläubigen des Propheten ausmalten. Hier an einer der größten Ölraffinerien Saudi-Arabiens wurde das schwarze Blut der technischen Weltordnung geschöpft, aufbereitet und in seinen Unterarten weitergereicht, über lange Rohrleitungen oder in Bäuchen riesiger Tankschiffe über das Meer gefahren, nach Westen, aber auch nach Osten, Indien, China, Japan. Überall wo von Verbrennungsmotoren betriebene Maschinen liefen oder Fahrzeuge aller Art vorantrieben wurde das aus der tiefen Erde gemolkene Steinöl gebraucht.
Leila Samira Bint Ismail bin Al-as-suryyi konnte jede anständige Zauberin verstehen, die diesem widernatürlichen Treiben lieber heute als morgen Einhalt gebieten wollte. Doch sie wusste auch, dass mit dem Versiegen des Erdöls noch mehr Elend über die Menschen kommen würde. Streitigkeiten um die noch bestehenden Vorräte, Lebensmittelknappheit, das Ausbleiben weiterer lebensnotwendiger Güter. Es war nicht damit getan, einfach einen Hebel umzulegen und die ganze immer mehr aus den Fugen geratende Welt wieder ins Lot zu kippen oder mit einem Zauberspruch allen Menschen die Rückkehr zu einer erdölunabhängigen Lebensweise einzugeben. Sicher, mit dem Zauber der bedingungslosen Unterwerfung konnten einzelne Menschen zu gehorsamen Sklaven gemacht werden. Doch nur dunkle Magier und Magierinnen erlagen der Versuchung, dieses Mittel anzuwenden. Außerdem konnten damit keine Milliarden Menschen weltweit umgestimmt werden. Doch offenbar glaubte die im weiten Abendland wohnende Mischblütige, deren Zeichen der Macht eine brennende Rose war, dass sie diesen Umschwung herbeizwingen konnte, wenn sie die Ölförderung oder das Öl an sich verdarb.
"Schwester Jamila, da hinten wird gerade ein Fass verladen, dass zu den großen Tanks gefahren werden soll. Das sieht aber nicht wie ein übliches Ölfass aus", gedankensprach die unsichtbare Leila unter Zuhilfenahme eines halbmondförmigen Smaragden, den sie an einer Silberkette um den Hals trug.
"Ich sehe es auch, Schwester Leila. Das kam eben aus einem der Lagerhäuser. Und der, der es auf den langen Tragezinken vor sich herfährt bewegt sich auch so, als sei er nicht mehr Herr über seinen Körper."
"Ich sichere dich ab, Schwester Jamila", schickte Leila zurück.
Die Halbmondsymbole hatten mehrere Verwendungsformen. Sie dienten als Fernverständigungs- oder Gedankenverstärkungsmittel, konnten die mit dem Mond verknüpften Zauber fünfmal stärker wirken lassen und auch die mit ihrer Hilfe unsichtbar gewordenen Trägerinnen einander sehen lassen, wo andere sie nicht sehen konnten. Leila hielt sich ihr Mondsymbol zwischen die Augen. Jetzt konnte sie Jamila eingehüllt in eine smaragdgrüne Lichtwolke erkennen, wie sie neben dem vierrädrigen Lastenbeförderungsfahrzeug ankam und mit ihrem Zauberstab über das Fass strich. "Das ist kein Öl. Die Nachschwingungen des Beschaffenheitsprüfzaubers sind anders als bei Rohöl. Komm bitte zu mir und bestätige das!"
Leila wechselte mit dem zeitlosen Schritt zu Jamila hinüber. Der Fahrer des Lastenbeförderers beachtete sie nicht. Leila schwang ihren Zauberstab über ihn und erzeugte ein leichtes Erbeben in ihrer Zauberstabhand. "Der Mann steht unter einem Gehorsamkeitsbann, Schwester Jamila", gedankensprach sie zu ihrer Bundesschwester. "Ich werfe den Schlaf des Vergessens auf ihn. Dann untersuchen wir das Fass."
Da Leila zehn Jahre älter als Jamila war galt sie als eine der "großen Schwestern". Was sie sagte galt als Befehl, solange keine noch ältere Einspruch erhob. So geschah es, wie Leila befohlen hatte. Erst wirkte sie den tiefen Schlaf des Vergessens, der nicht nur für Stunden anhielt sondern auch alle magisch erteilten Anweisungen aus dem Gedächtnis fegte. Dann hoben die zwei Töchter des grünen Mondes das Fass mit einem Schwebezauber von den stählernen Riesenzinken und ließen es zwischen sich davonschweben. Als plötzlich immer wider schmetternde Trompeten auf demselben Ton geblasen wurden ahnten die zwei Schwestern des grünen Mondes, dass ihr Tun nicht unbeobachtet geblieben war. "Eh, das ist Sheitanswerk. Das Fass fliegt alleine!" rief einer der hier arbeitenden Nichtmagier. Sofort kamen weitere wie er gekleidete angelaufen und wollten das Fass fassen. Doch Leila belegte sie mit einem Schwung mit dem Zauber der duldsamen Verharrung. Sie konnten sich nicht mehr rühren, empfanden dabei jedoch weder Angst noch Wut, sondern schienen auch im Denken eingefroren zu sein. Nur die Atmung und die lebenswichtigsten Körpertätigkeiten blieben ungestört.
Die zwei Mondschwestern ließen das Fass auf einem unsichtbaren Flugteppich niedersinken. Mit diesem brachten sie nun unsichtbar für fremde Augen das besondere Beutestück in das unterirdische Geheimlabor der Mondschwestern irgendwo in der großen Wüste. Dort nahm die sich auf morgen- und abendländische Alchemie verstehende Mitschwester Akila Bint Hadschi Abdul Amir al-Kahiri das erbeutete Fass entgegen. Sie sah sogleich, dass es so stark versiegelt war, dass nicht ein Hauch Luft hinein oder hinausdringen konnte. Auch fand sie das mit einem Bleisiegel versperrte Ventil, aus dem sicher der Inhalt herausgepumpt werden konnte. Ein Prüfzauber zeigte ihr, dass das Fass auf eine besondere Weise schwang. Es war bezaubert.
"Das Fass besteht aus einem Stoff, der sehr aufnahmefähig für Zauber der sternenlosen Nächte und tiefer Kammern gemacht ist. Es muss mit sehr großer Vorsicht gehandhabt werden", sagte Akila.
Noch behutsamer als vorher ließen die Mondschwestern das Fass in das Labor der höchsten Sicherheitsstufe schweben, dorthin, wo mit den gefährlichsten Gebräuen und Stoffen gearbeitet und auch die Suche nach Krankheitserregern aller Art betrieben wurde. Dort bugsierten sie das Fass in ein Gestell vor einem Tisch, über dem eine große gläserne Glocke mit Gummidichtung schwebte.
Akila ließ nur ihre drei Lehrschwestern im Labor. Sie gebot ihnen an dem unter einer versenkbaren Glasglocke mit Gummidichtungsring stehenden Tisch zu arbeiten und dabei den vollen Schutz vor übelwirkendem Dunst und Odem zu tragen. Denn Akila argwöhnte eine höchstgefährliche Mixtur, die dem Petroleum unerwünschte Eigenschaften zufügen sollte, um dessen Verbraucher zu schädigen und am besten in solch große Furcht zu versetzen, dass sie vom weiteren Kauf abließen.
"Vermutest du Feuerrufwasser, Meisterin Akila", wollte Jamila, eine der drei Lehrschwestern, wissen.
"Das Fass ist mit einem Zauber der Dunkelheit belegt. Der Inhalt könnte davon durchdrungen sein und ebenso dunkle Eigenschaften haben. Seid also auf der Hut!" sagte Meisterin Akila.
Nachdem sie das offenbar auf- und zudrehbare Auslassventil begutachtet hatte verband sie es mit einem Luft- und Flüssigkeitsdichten Schlauch, der in einen größeren Probenbehälter führte. Dann löste sie ohne Hitzeeinwirkung das Bleisiegel, so dass der Hahn frei drehbar wurde. Nun füllte sie den Probenbehälter mit der pechschwarzen, zähen Flüssigkeit aus dem Fass. Kein Rauch und keine anderen Dunstwolken stiegen auf, wie es beim Feuerrufwasser üblich war, das auf etwas gegossen dessen Brennbarkeit vervielfachte. Im Schutz des vollen Atemschutzes, der ihre Köpfe wie große weiße Kugeln mit leicht flimmernden runden Gesichtsmasken aussehen ließ entnahm Akila dem Probenbehälter eine winzige Menge und betrachtete diese unter einem dreistufigen Vergrößerungsglas, dass durch drehbare Regelstufen zwischen zehn- und zweitausendfacher Vergrößerung eingestellt werden konnte. Dabei sah die Alchemistin gleich, dass in der öligen Flüssigkeit viele tiefschwarze, schlauchartig hohle Fadengebilde schwammen, die Fäden von wuchernden Pilzen. Sie fand auch die ovalen Fruchtkörper, die ein Hundertstel so groß wie eine Stecknadelspitze waren. An Beschaffenheit von Stiel und Pilzhut erkannte sie das schimmelartige Gewächs: "Mitternachtstau oder auch Feuerschlingerschwamm", knurrte Akila. Denn ihr wurde sofort klar, was der Pilz in dieser Flüssigkeit sollte.
Der Mitternachtstaupilz galt im alten Ägypten und Assyrien als Brandhemmungsmittel. Doch wer ihn getrocknet zu sich nahm kühlte innerlich ab, weshalb er auch als Gefrierpulver verwendet wurde. Wer jedoch seine alle zwei Neumonde freikommenden Sporen einatmete erfror selbst in der heißesten Wüste, weil der Körper statt innerer Wärme eisige Kälte erzeugte. Daher wurde das Geheimnis dieses Gewächses und dass es am besten auf in der Sonnenglut verschmachteten Tieren oder Menschen wuchs, die in einer Neumondnacht im freien lagen sehr streng gehütet. Dass dieser Pilz nun hier vor Akila und ihren drei Lehrschwestern in öliger Flüssigkeit wuchs und sich wohl von der Flüssigkeit nährte war sehr beunruhigend.
Versuche mit der Probe ergaben, dass sie das völlige Gegenteil des Feuerrufwassers war. Jedoch war es anders geartet als das der bewanderten Alchemistin vertraute Gefrierwasser, mit dem Dinge weit unter Gefrierkälte von Wasser heruntergekühlt werden konnten. Offenbar hatte die im Abendland aufstrebende dunkle Meisterin der Feuerrose einen Weg gefunden, die Feuer und Glut verschlingenden Eigenschaften des Mitternachtstaus erheblich zu verstärken und den Pilz dahingehend umgewandelt, dass er nun auch in jener öligen Flüssigkeit bestehen konnte. Als es ihr gelang, Pilz und Flüssigkeit voneinander abzuscheiden stellte sie fest, dass die Flüssigkeit aus tierischen Fetten bestand, die anders als natürlich bei üblicher Raumwärme flüssig blieben. Hatte Ladonna möglicherweise die Körperfette verdursteter oder an Überhitzung verendeter Tiere ausgenutzt, um dem Pilz eine gedeihliche Nährlösung zu bieten?
Versuche mit der Vermengung aus Pilz und Flüssigkeit ergaben, dass schon ein Tropfen von der Hundertstelmenge eines Regentropfens ausreichte, ein Feuer restlos auszulöschen. Also darauf hatte die Herrin der Feuerrose es abgesehen, dachte Akila. Wenn der mehr als zweihundert Pfund schwere Inhalt des Fasses in das Steinöl aus den Tiefen der Wüste gegeben wurde mochte dieser sich darin so verteilen, dass das Steinöl nicht mehr brannte, ja die im heutigen Maschinenbetrieb üblichen Brennstoffe völlig unbrauchbar und womöglich auch schädlich für die damit gefüllten Maschinen waren.
Um sich und die anderen vor möglicherweise freigesetzten Sporen zu schützen ließ Akila die entnommene Flüssigkeit mit einem Warmgefrierzauber erstarren, wobei sie jedoch drei Durchgänge brauchte, bis im Probenbehälter ein steinharter schwarzer Klumpen steckte. Diesen konnte sie nun auch verschwinden lassen, weil die darin gefangenen Pilze sich nicht mehr regen konnten und somit kein lebendiges Gebilde mehr darstellten. Die Kleidung der vier Zauberinnen wurde von Reinigungswasser von allen anhaftenden Gift- und Schadstoffen freigespült. Dann wurde die Luft unter der Glocke durch den Zauber der verpflanzten Luft viermal hintereinander völlig ausgetauscht, bevor Akila die große Glocke wieder vom Boden löste und in ihre Wartestellung unter der Labordecke anheben lassen konnte. Das Fass wurde vollständig versiegelt, um den hochgefährlichen Inhalt nicht auch nur mit wenigen Tröpfchen entweichen zu lassen.
"Warnung an alle Schwestern", begann Meisterin Akila, über ihr eigenes smaragdenes Halbmondsymbol zu allen ihren Mitschwestern zu sprechen. Sie schilderte die Ergebnisse ihrer Versuche und wies darauf hin, was Ladonna damit vorhatte. "So muss ich befürchten, dass dieses Fass nur eines von vielen ist, die überall dort, wo rohes Erdöl gefördert und verfrachtet wird zum Einsatz kommen sollen, um das Öl unbrauchbar zu machen. Erhöhte Suche und erhöhte Vorsicht sind geboten", beendete sie ihren magisch übermittelten Rundruf an alle Töchter des grünen Mondes.
"Vermagst du zu sagen, seit wielange diese verhängnisvolle Mischung schon benutzt werden könnte?" wollte die grüne Mutter Alia persönlich wissen. "Grüne Mutter, dies weiß ich nicht zu bestätigen", erwiderte Akila. "So müssen wir darauf gefasst sein, dass dieses Gebräu bereits Opfer fand und irgendwann in naher Zukunft die mit Brennöl betriebenen Maschinen und Fuhrwerke der Magiielosen schädigt. Unter gewöhnlichen Umständen wäre das eine hochwirksame Lehre an die Maschinenanbeter, das in den Tiefen der Erde lagernde Öl nicht mehr zu verheizen. Doch ich erkenne wie Leila an, dass die bestehende Abhängigkeit von diesem giftigen Zeug zu groß ist, um sie mal eben an einem einzigen Tag abzuwerfen wie der Falter die Hülle seiner Puppe. Krankheit, Hunger, Krieg und Tod würden die vom Erdöl zehrende Welt überrennen und Millionen Menschen niederstrecken wie der Schnitter das Korn mit der Sense mäht. Doch für Ladonna zählt dies nicht. Sie will die Menschheit wieder in den Zustand zurückwerfen, den sie zur Zeit ihres ersten Wirkens hatte, schwächlich, nur mit Händen arbeitsfähig, auf die Zahl und Gesundheit von Last- und Zugtieren angewiesen. Sucht nach den Fässern des Unfeueröles! Wo ihr sie findet lasst deren Inhalt mit dem Zauber Erstarre fließendes versteinern und dann einfach im die Welt durchdringenden Gefüge alles Magischen vergehen, auf dass sie keinen Schaden mehr anrichten können! Falls ihr auch bereits verdorbenes Öl findet handelt an diesem genauso!"
Damit begann die von allen Töchtern des grünen Mondes durchgeführte Such- und Beseitigungsunternehmung, um Ladonnas erfolgversprechenden Schlag gegen die technische Welt zu verhindern, falls es dafür nicht schon zu spät war.
"Schwört dem Mischblut endlich ab, sonst bringt es uns noch ins Grab!" riefen die in hellrot gekleideten vor allem männlichen Teilnehmer an jener für den Mittag des siebten Juli angesetzten Protestkundgebung. Es war nur eine kleine Gruppe, die den allgemeinen Unmut in der französischen Zaubererwelt ausnutzte, um sich nach vielen Jahren bitteren Schweigens zu Wort zu melden. Jetzt fanden sie, dass es Zeit war, auf die achso guten alten Werte hinzuweisen, die die Zaubererwelt einst groß und erhaben gemacht hatten.
Da die Millemerveilles Mercurios es mit nur zehn Punkten Vorsprung vor den Pariser Pelikanen geschafft hatten, die diesjährige Quidditchmeisterschaft zu erringen, konnte Bruno Dusoleil nicht als Reporter für den Sender Freie Zaubererwelt auftreten. So beobachtete und beschrieb Alfonse Dubois die Kundgebung. "Die Bewegung Sanguis Purus", was aus dem ehrwürdigen Latein als "Reines Blut" übersetzt werden darf, nimmt für sich in Anspruch, dass sie die Zauberergemeinschaft Frankreichs aus der gerade bestehenden Lage herausführen kann, wenn alle Hexen und Zauberer mit nicht bis zur zwölften oder darüber hinaus zurückreichenden Generation zaubererblütigem Stammbaum aus allen Ämtern, Würden und Anstellungen verdrängt werden und am besten auch alle menschengestaltlichen Zauberwesen in tierparkähnlichen Gehegen und Käfighäusern eingesperrt würden", sprach Dubois in den Schallsammeltrichter. "Gleich wird der nach vielen Veröffentlichungen ausschließlich im Miroir Magique ans Licht getretene Sprecher der Gruppierung, der an die hundertvierzig Jahre alte Monsieur Barabbas Mardirouge, eine kurze Ansprache halten. Die im Vorfeld erhobenen Vorwürfe seitens der Abteilung für magische Gesetzesüberwachung wegen möglicher Aufwiegelung gegen das Ministerium oder Anstiftung zu strafbaren Handlungen gegen nicht den Vorgaben von Sanguis Purus entsprechenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern reichten nicht aus, diese Kundgebung zu verbieten, so der Zwölferrat des Zaubergamots vom sechsten Juli. So können oder müssen wir nun hören, was Monsieur Mardirouge zu verkünden hat und hoffen, danach keine Handgreiflichkeiten miterleben zu müssen.
"Eh, Dorfherold, wir sind keine Gruppierung, sondern eine Bewegung, und Paris ist unsere Hauptstadt", tönte ein an die sechzig Jahre alter Zauberer im hellroten Umhang.
"Wer bitte sagt das?" fragte Dubois nach außen hin ganz ruhig bleibend. "Ich sage das, Bartholomé Mardirouge", erwiderte der Rufer. Dann sah sich Alfonse Dubois von fünf Zauberern in Hellrot umstellt. Er ahnte, dass die jetzt darauf aus waren, ihn einzuschüchtern, damit er die achso großartige Bewegung nicht lächerlich machte. Doch Dubois war genau auf solche Versuche vorbereitet. Es war nicht das erste mal, dass Rundfunkmoderatoren von denen angegangen wurden, die nicht wollten, dass sie im Sender heruntergemacht wurden.
"Soeben besteigt Monsieur Barabbas Mardirouge das hellrote Podest auf Höhe der Apotheke. Für seine hundertvierzig Jahre sieht er noch sehr kräftig aus, und sein bis auf den Brustkorb wallender weißer Patriarchenbart weht wie eine angewachsene Parlamentärsflagge im leichten Sommerwind. Ich zähle an die hundert auf seine Ansprache wartende Zauberer und so an die zehn Hexen, einschließlich der sechs Herren, die sich erboten haben, mein Wohlergehen zu behüten", beschrieb Dubois die Lage. Er ignorierte die halbherzig auf ihn zielenden Zauberstäbe. Die ihn umstellenden sahen ihn zwar sehr erbost an, hatten aber wohl die Anweisung, nicht vor Mardirouges Ansprache irgendwas zu zaubern, obwohl sie das nach den wütenden Blicken gerne wollten.
Weitere Protestgruppen marschierten vorbei. Doch viele von denen hatten für die offen sichtbar zur Gruppierung Sanguis Purus gehörenden nur Pfiffe und Schmähungen übrig. Einer der in Hellrot gekleideten Zauberer zückte vor Wut den Zauberstab und wollte auf den an allen anderen vorbeiparadierenden Hexen und Zauberern einen Fluch schleudern, als gleich vier Zauberer in der Bekleidung der Strafverfolgungsbehörde um ihn herum auftauchten und ihn mal eben mit dem Entwaffnungszauber davon abhielten. Dann verschwanden sie einfach wieder. Welchen Eindruck es machen sollte wusste Alfonse Dubbois nicht. Doch friedlicher sahen die das Geschehen mitverfolgenden nicht aus.
Barabbas Mardirouge stakste auf seinen Stock gestützt auf das mal eben hingezauberte Podest und wandte sich an die seinen Namen rufenden Zuhörer. "Freunde, Kameraden, Mitbrüder im Geiste der Reinheit!" begann er mit magisch verstärkter Stimme zu sprechen. "Seit Jahrzehnten schon müssen wir uns das ansehen, wie unsere glorreiche Zaubererwelt von den Vielfaltspredigerinnen und Predigern verschiedener Zaubereiministerbehörden mehr und mehr auf den Abgrund der Hilf- und Bedeutungslosigkeit zugetrieben wird. Sie rechtfertigen ihr Tun mit der Ablehnung jener, die um der eigenen Machtgier wegen das Wort vom Zaubererstolz missbraucht haben, um für sich selbst, nicht für das größere Wohl, schalten und walten zu dürfen. Sie haben uns nach Grindelwald niedergehalten, unsere edle Abstammung für unbedeutend erklärt und sich von jenen Familien gängeln und am unsichtbaren Nasenring führen lassen, die keinen Wert auf reinblütige Zaubererweltbewohner legen, weil in diesen achso altehrwürdigen Familien nicht nur Kinder aus magieunfähigen Familien eingekreuzt wurden, sondern sogar der eine oder andere Kobold, Zwerg, Riese oder sogar Veelas. Wen wundert es da noch, dass diese Familien eine Hexe auf den Ministerstuhl gesetzt haben, die sich für ein friedliches und respektvolles Miteinander von Menschen und Zauberwesen einsetzt und aus Dankbarkeit für diese Haltung von einer verbrecherischen Veela mit einem fragwürdigen Segen belegt wurde? Dann haben die im Ministerium es auch noch zugelassen, dass Vampire, Werwölfe und mischblütige Dunkelhexen die Welt unsicher machen durften und dass die Magieunfähigen sich immer weiter und weiter mit Maschinen ohne Zauberkraftantrieb umgeben konnten. Ach ja, das Zaubereigeheimnis muss ja um jeden Preis erhalten bleiben. Die Versuche auf Macht ausgehender Einzelleute wie jener, der nicht genannt werden darf bis heute wurden von den Mischblutbefürwortern als die Beispiele ausgenutzt, dass die Beharrung auf reines Blut schädlich für uns alle sei. Doch was haben wir von euch erhalten? Wir sind von der Außenwelt abgeschnitten, weil unsere Nachbarn fürchten, dass wir deren Bemühungen um ein friedliches Miteinander der europäischen Hexen und Zauberer verderben können. Wir sollen nicht mehr bei denen herumlaufen, und das alles, weil sich wer gezeigt hat, die von sich behauptet, Sardonias große Feindin zu sein. Statt mit den anderen Zaubereiministerien eine friedliche Übereinkunft zu treffen und dafür auf entsprechende Bedingungen einzugehen fordert unsere doch so mächtige Zaubereiministerin, dass wir uns von jenen fernhalten, die sich gegen diese Missgeburt Ladonna zusammengetan haben. Wenn sie wahrhaftig gegen Ladonna Montefiori ist müsste sie doch gerade dann mit allen zusammengehen, die in diesem Ziel einig sind. Unsere Ministerin scheut die Zusammenarbeit mit männlichen, wohl auch reinblütigen Zaubereiministern, die nicht wie sie das achso schmusige Miteinander mit Trollen, Sabberhexen, Veelas und Vampiren verachten. Sie behauptet, die anderen hätten im Auftrag Ladonnas unsere Grenzen von außen versperrt. Doch woher wissen wir das? Es hätte doch auffallen müssen, wenn da mal eben eine Truppe Zauberer und Hexen aus Italien, der Schweiz, Deutschland, Luxemburg, Belgien und Spanien an unserer Landesgrenze diesen Zauber veranstaltet hat, der keinen Besen durchlässt und Apparatoren verschlingt wie der phönizische Moloch." Zustimmende Zurufe und aufgebrachtes Johlen aus seinem Publikum unterbrach ihn hier. Für Alfonse Dubois klang das jedoch inszeniert statt frei heraus. Dann kamen die beiden heftigsten Sätze. "Es mag genausogut sein, dass diese ihre Karriere über jede eheliche Pflicht stellende Dame im Ministeriumsbüro erkannt hat, dass sie auf kurz oder lang der vereinten Entschlossenheit unserer Nachbarn unterliegen muss und uns deshalb von ihren um ihre Macht fürchtenden Handlangern hat einpferchen lassen wie dumme Schafe und Rindviecher. Ja, sie, die Eauvives, Latierres und alle anderen sogenannten hochanständigen Zaubererfamilien, die sie auf den ninisterstuhl gehoben haben, wissen, dass sie verspielt haben und greifen deshalb zu diesen verwerflichen Mittel, uns alle einzusperren, weil nur sie den Schlüssel zu jenem meilenhohen Burgwall in ihren Händen zu halten glauben. Aber diese Rechnung geht nicht auf, Mademoiselle Ventvit! Entweder, sie öffnen bis übermorgen die Grenze, oder wir werden Ihren Rücktritt erzwingen und endlich wieder einen Minister ernennen, der sich nicht nur über seine Macht freut, sondern auch die Werte und Tugenden schätzt, die unsere besondere Rasse der magischen Menschen wertschätzt, fördert und gegen alle Unvernunft und Träumereien durchzusetzen versteht. Sie sind hiermit gewarnt. Und glauben Sie nicht, uns mundtot machen zu können. Denn wir, die Bewegung Sanguis Purus, seien nur ein kleines, armseliges Häuflein von Menschen. Nein, wir sind viele und werden jeden Tag mehr, den Sie uns ihre weltfremden Ideen aufzwingen wollen. Sanguis Purus!!" Wieder johlten alle Zuhörenden. Alfonse fragte sich, warum keiner der Ministeriumszauberer eingriff. Womöglich hatten sie die Anweisung, ihn aussprechen zu lassen, um zu wissen, woran sie waren. So sprach er, als die anderen immer wieder den Namen ihrer Gruppierung riefen: "Wie damals unter der Dämmerkuppel von Millemerveilles erweist sich eine andauernde Isolation nach außen als genialer Nährboden für Unmut, Misstrauen und Aufruhr gegen jene, die in Verantwortung sind. So wissen wir nun, wielange die Ministerin noch zeit hat, den angeblich von ihr geschaffenen Grenzwall zu öffnen. Dies waren die ersten Direkteindrücke von der Protestkundgebung der Gruppierung Sanguis Purus von der Rue de ..." Die ihn umzingelnden Hellroten wollten auf ihn los, ihm den Schallsammeltrichter wegreißen. Da spannte sich über ihm eine Glocke aus blau flirrendem Licht. Als die fünf ihn umstehenden die Glocke berührten wurden sie unter heftigen Blitzen zurückgeworfen und stießen Schmerzenslaute aus. Für Alfonse hieß das, jetzt doch ganz schnell zu verschwinden. Er zog seinen Zauberstab frei und disapparierte. Keine Sekunde später zerfiel die blau flirrende Lichtglocke mit lautem Prasseln. Die von ihr abgewiesenen mussten sich erst erheben.
Alfonse unterhielt sich wenige Minuten später mit den Machern von Radio freie Zaubererwelt über die Kundgebung und den versuchten angriff auf ihn. Florymont Dusoleil seufzte: "Die hätten die drei Monate unter Sardonias Dämmerkuppel nicht überlebt. Entweder hätten die sich aus lauter Verzweiflung da hineingestürzt oder sich und andere umgebracht."
"Kann mir bitte wer verraten, wie diese Gruppierung so klammheimlich so schnell so groß werden konnte?" fragte Alfonse Dubois.
"Ich frage mich eher, ob das wirklich so gut war, die Kundgebung direkt zu übertragen, damit sie im ganzen Land gehört wird und einen Haufen schlafender Drachen kitzelt", erwiderte Bruno. Florymont fügte dem hinzu: "Nein, es war schon richtig und wichtig, dass wir diese Kundgebung direkt übertragen haben. Sonst hätten die unserem Sender noch Parteinahme für die Ministerin unterstellt und ihren Leuten geraten, uns nicht mehr zuzuhören. Aber die Frage nach dem angeblich so lautlosen Aufstieg von Sanguis Purus kann ich beantworten, , Alfonse." Alle lauschten nun. Florymont holte einige Pergamente hervor und sagte: "Catherine Brickston, die auch das Tagebuch Ladonna Montefioris entschlüsselt hat, konnte in den Archiven der Liga gegen dunkle Künste Hinweise auf eine 1582 gegründete Zauberervereinigung finden, die ursprünglich zum Widerstand gegen Sardonia gegründet worden war, sich aber dann auf die gewaltlose Wahrung der Zaubererehre eingeschworen hat. Es ging denen darum, die Familien mit reinen Zaubererweltstammbäumen auf eine Linie zu bringen, weil es damals noch viele Fehden gab, bei denen immer mal wieder Angehörige der Familien starben, meistens Zauberer. Das, was heute als Zaubererstolz ausgegeben wird, diente damals der reinen Lebenserhaltung magisch begabter Menschen. Aber Sardonias Nachfahrinnen haben diese Bewegung mit ihrer Form von Intrigen und lautloser Gewalt niedergehalten, Misstrauen zwischen jene Familien gesäht, die sich für Sanguis Purus begeistert haben und bis zur Gründung erst europäischer und dann interkontinentaler Zaubereiorganisationen kleingehalten. Ja, und weil Sanguis Purus die französischen Hexen und Zauberer mit über mehr als zwölf Generationen aus Zauberern und Hexen bestehenden Stammbäumen bevorzugen haben jene Familien, die nicht auf dieses bedenkliche Prinzip setzen im Vorläufer des ersten Zaubereiministeriums verabredet, diese Organisation weder mit Gold noch Arbeit zu unterstützen. Das hat bis zu jener Menschenkatastrophe, die als französische Revolution bezeichnet wird, zu einer gegenseitigen Belauerung jener Familien geführt, die dafür oder dagegen waren. Dann, weil wegen der Zaubereigeheimhaltung kein Eingreifen zu Gunsten der in die nichtmagische Aristokratie eingeheirateten Hexen und Zauberer stattfand, zogen sich acht Familien auf die Elfenbeininsel zurück und tarnten diese. Von den einst zwölf Gründungsfamilien von Sanguis Purus blieben somit nur vier übrig, die äußerst ungehalten waren, dass die acht mächtigeren von ihnen sich ohne Absprache mit ihnen abgesetzt und verborgen haben. Seit da war erst einmal Ruhe, mal davon abgesehen, dass die vier verbliebenen Familien nur noch untereinander geheiratet haben. Jedenfalls, so Catherine, stellten sie für den großen Rest der Zaubererwelt keinerlei Bedrohung dar, zumal sie auch keine Unterstützung von der Elfenbeininsel erhielten. Aber wo ein glühendes Kohlestück glimmt kann immer wieder neues Feuer entfacht werden, wenn neuer Brennstoff darauf gelegt wird. Sicher haben die vier Familien gehofft, mit Grindelwald den Durchbruch zu schaffen. Tatsächlich war Guillaume Lepont ein treuer Anhänger Grindelwalds, bis er bei seinem gewählten Herren in Ungnade fiel, weil er nicht das deutsche Mädchen heiraten wollte, das Grindelwald ihm zur Auffrischung der Blutlinie zuteilen wollte. Mit dem britischen Massenmörder, dessen Namen ihr alle noch zu gut kennt, wollten sie nichts zu schaffen haben, weil sie keinen Stammbaum von ihm erfahren konnten und es immer mehr durchgesickert ist, dass er ein Halbblüter gewesen sei, der den Umstand, in keiner der Welten richtig zu Hause zu sein als Ursache für seinen Macht- und Rachewahn angeführt haben soll. Catherine erwähnte, dass im Archiv stand, dass zumindest Barabbas Mardirouge es begrüßt hätte, mit jenem Massenmörder ein Abkommen zu schließen, bevor dieser nach dem Anschlag auf die Familie Potter spurlos verschwand und erst dreizehn Jahre später wieder auftauchte. Was dessen am Ende sehr schnell gescheiterten Nachfolger anging war der eben noch zu schwach, um die vier Familien hinter sich zu scharen. Dazu kam, dass sie ja nicht wussten, wo er herkam und sie keinem ausländischen Heißsporn hinterhertrotten wollten. Zumindest hat Eugène Chaudchamp, der Onkel des derzeit für internationale Zusammenarbeit tätigen Auguste Chaudchamp, das behauptet, als er sich mit Vertretern der Liga gegen dunkle Künste über Sinn und Unsinn von Zaubererstolz und althergebrachter Blutsreinheit unterhalten hat. Tja, und offenbar haben sie jetzt, wo wir von möglichen Feinden umzingelt sind befunden, die Gunst zu nutzen, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger aufzuwiegeln, die bisher geltenden Gesellschaftsregeln außer Kraft zu setzen.""
"Hat Catherine auch erwähnt, wer diese vier Familien sind, Florymont. Drei Namen hast du ja schon genannt, Chaudchamp, Lepont und Mardirouge", fragte Sylvie Vignier, die als Beschaffungsbeauftragte für die Ausrüstung des Senders tätig war.
"Aus dem Umland von Breste stammt die seit 1050 bekannte Familie Mardirouge, die sich nach einer verheerenden Zaubererschlacht an einem Dienstag im November des Jahres benannt hat. aus Avignon stammt die seit 1085 urkundlich bekannte Familie Lepont, die früher sogar Dupont geheißen hat. Aus der Auvergne entstammt die seit 1234 urkundlich erwähnte Familie Chaudchamp und aus dem Quartier Soleil Caché, von dem heute nur noch die Rue de Camouflage übrig ist, stammt die seit 1358 urkundlich erwähnte Familie Louvois. Ihr hört richtig, jene, der wir beinahe einen Zaubereiminister mit äußerst fragwürdigen Aufstiegsambitionen zu verdanken hatten", dozierte Florymont, mal in einem ganz anderen Bereich unterwegs als üblich.
"Und die haben sich Barabbas Madirouge als Sprecher oder gar Anführer ausgesucht?" fragte Sylvie Vignier.
"Wir wissen nicht, wie die sich organisiert haben. Selbst die Liga gegen dunkle Künste hat da keinen Überblick, außer, dass die vier Familien eben untereinander heiraten und es auf so insgesamt fünfhundert lebende Mitglieder bringen, die wiederum eine uns nicht bekannte Zahl von Lohnabhängigen beschäftigen, die denen vielleicht auch nach dem Mund reden", erwähnte Florymont, der immer noch Catherines Bericht in den Händen hielt.
"Und sowas nennt sich dann Bewegung", spottete Bruno Dusoleil. Sein Schwiegervater sah ihn sehr ernst an und meinte: "Bruno, wir haben es doch mit Didier erlebt und von den Besuchern aus Großbritannien erzählt bekommen, dass wenn genug Leute überzeugt sind, dass die Gruppe das richtige tut und der andere Teil eingeschüchtert ist eine kleine Gruppe von Leuten ausreicht, um das ganze Land zu drangsalieren. Sardonia hatte in der Blütezeit ihres dunklen Hexenreiches gerade mal dreitausend handelnde Anhängerinnen und sicher eine Unmenge heimlicher Zuarbeiterinnen, um ihr finsteres Reich zu regieren. Wissen wir, wie viele Sympathisanten Sanguis Purus schon hat? Wissen wir, wen die nicht schon alles mit irgendwelchen Verlockungen und Drohungen auf ihre Seite gezogen haben? Am Ende haben die genauso wie Ladonna in all der Zeit, die sie nichts taten über zehntausend Leute hinter sich geschart, die jetzt nach und nach tätig werden, wo der Nährboden bereitet ist."
"Ich ziehe meine Frage zurück", knurrte Bruno. Er wusste noch zu gut, wie schnell sich sowohl auf Seiten Sardonias als auch der Goldblütenhonigverweigerer Anhänger der Fürsprecher vermehrt hatten, als die Dämmerkuppel über Millemerveilles stand.
"Heißt das jetzt, dass da übermorgen zehntausend Leute ins Zaubereiministerium einmarschieren und Ministerin Ventvit aus dem Amt jagen?" wollte Alfonse wissen. Bruno meinte: "Sollen die mal versuchen. Dann gibt's jede Menge blutiger Nasen, ob reinblütig oder mischblütig. Gerade weil das Ministerium mit Angriffen von Ladonnas Truppen rechnen muss sind die Sicherheitsmaßnahmen erheblich verstärkt worden. Außerdem dürften die meisten dort arbeitenden diesen Hetzer Mardirouge ablehnen, weil die allermeisten sich noch zu gut an das dunkle Jahr erinnern und weil sie selbst Vorfahren aus der magielosen Welt haben. . Abgesehen davon dass diese Banditen auch nicht wissen, wie sie die Barriere um unser Land knacken können und dann ziemlich bedröppelt dastünden, wenn ihre Anhänger fordern, die Barriere aufzulösen."
"Tut mir leid, das so sagen zu müssen, mein lieber Schwiegersohn, aber da liegst du sowas von daneben", knurrte Florymont Dusoleil. "Sollte denen das gelingen, Ministerin Ventvit abzusetzen, dann werden die einfach behaupten, dass die Ministerin ihnen den Schlüssel zum Öffnen der Barriere nicht ausliefern wollte und ihnen "bedauerlicherweise" nur die Hoffnung bliebe, mit den Nachbarn zu unterhandeln, ob die wissen, wie diese Barriere von Außen zerstört werden kann. Sie werden sich Barbanera, Pataleón und den anderen anbiedern, die als gesichert von Ladonna unterworfen gelten. Die werden Sanguis Purus anbieten, die Barriere zu öffnen, wenn die neue französische Zaubereiadministration ihnen garantiert, ihrer Friedenskoalition beizutreten und sicherzustellen, dass alle angeblich schädlichen Subjekte aus dem Ministerium entfernt werden. Passiert das wird über nacht die Barriere fallen und die meisten französischen Hexen und Zauberer der neuen Administration zujubeln, die ihnen die Freiheit wiedergegeben hat, bis sie erfahren, dass sie der eigenen Versklavung applaudiert haben. Wenn Mardirouge schon damit Stimmung machen kann, die Barriere sei von unserer Zaubereiministerin errichtet worden kriegt er das auch hin, die Unterwerfung unter Ladonnas Macht als Befreiung der französischen Zaubererwelt zu verkaufen."
"Ich hoffe verdammt, dass du da falsch liegst, Schwiegerpapa", knurrte Bruno. "Rate mal wer noch", sagte Florymont darauf nur.
"Jetzt noch einmal die Frage des furchtlosen Direktreporters: Warum hat Monsieur Chevallier diesen Hetzer Mardirouge und sein hellrotes Umsturzballett so unbehelligt auftreten lassen?" wollte Alfonse Dubois wissen. Darauf meinte Sylvie: "Ganz einfach, weil die Ministerin wissen wollte, wi lange man ihr noch Zeit lässt und wie Mardirouge seine Ansichten vertritt. Was er gesagt hat wurde nicht nur von uns, sondern auch vom Zauberweltecho direkt übertragen. Er kann also nicht mehr behaupten, niemals zum Umsturz des Zaubereiministeriums aufgerufen zu haben, wenn der Angriff darauf hoffentlich scheitert und seine Leute wegen gewaltsamem Umsturzes angeklagt werden. Auch hätten die Ministeriumsleute seine Ansichten bestätigt, dass sie uns alle unterdrücken und dummhalten wollen, wenn sie ihn und seine Leute festgenommen hätten. Er wäre zum Märtyrer geworden und hätte den Unmut gegen die Ministerin und ihre Führungsleute noch gesteigert. Nein, Alfonse, der musste seinen Auftritt störungsfrei über die Bühne bringen, um zu klären, welches Lied er singt und ob alle danach tanzen wollen oder nicht. Erst wenn es echt zum Sturm auf das Ministerium kommt werden Ventvits Leute zugreifen, sofern sie nicht schon zu viele Verräter in den eigenen Reihen haben."
"Ui, jetzt rufst du da aber einen verdammt großen Drachen", grummelte Bruno der Schwester seines Freundes und Quidditchkameraden zu. "Ich weiß. Aber da wir den schon hören können macht das jetzt auch nichts mehr aus, ob ich den rufe oder der sowieso zu uns hinfliegt", erwiderte Sylvie.
"Leute, der Dorfrat will in einer halben Stunde eine Stellungnahme zu Mardirouges kurzem Auftritt abgeben", verkündete Florymont Dusoleil. "Wer will bei der Sitzung dabei sein?" Bruno meldete sich schneller als die anderen. "Gut, dann mach du das. Alfonse, die Tonaufnahme von Mardirouges Ansprache kommt in den Sicherheitsschrank, für den Fall dass später wer meinen könnte, alle Aufzeichnungen beseitigen zu wollen", sagte Florymont. Alfonse bejahte das.
Eine halbe Stunde später erwiderte Madame Delamontagne ebenfalls in Direktübertragung an alle Hörerinnen und Hörer von Radio freie Zaubererwelt: "Wir, die magischen Menschen aus Millemerveilles, hören mit gewisser Sorge, dass die wegen unseres Widerstandes gegen den Kurs einer angeblichen Friedenskoalition errichtete Barriere zu einem gewissen Unmut in einem Teil unserer magischen Bevölkerung führt. Jetzt finden wieder welche, dass es natürlich die Ministerin schuld sein soll und dass sie den Schlüssel zum Öffnen dieser Barriere hat. Warum, so frage ich als amtierende Sprecherin des Dorfrates von Millemerveilles, hat sie dann diese Barriere errichtet, wo ihr doch hätte klar sein müssen, welche Ablehnung dies hervorruft. Warum hat sie nicht schon wesentlich früher diese Barriere errichtet, wo sie immer wieder betont hat, dass sie der seit Ende März bestehenden Koalition europäischer Zaubereiministerien nicht traut? Die Antwort auf beide fragen lautet: Nicht sie hat die Barriere errichtet, sondern jene, die auf Befehl einer sich aus guten Gründen noch im Hintergrund aufhaltenden Machthaberin unsere Freiheit beendenund unseren Zusammenhalt zerstören wollen. Demnach kann sie die Barriere auch nicht wieder aufheben, solange wir nicht wissen, wie genau sie errichtet wurde. Auch die aus dem allertiefsten Winterschlaf erwachte Gruppierung Sanguis Purus hat diesen Schlüssel nicht in Händen und wird ihn auch nicht bekommen. Denn mit der ablehnenden Haltung gegen andere Zauberwesen, unter anderem auch die unser Gold hütenden Kobolde, werden sie keinen finden, der oder die ihnen hilft, die Barriere zu öffnen oder gänzlich niederzureißen. Es ist also ein Trugschluss, durch den Austausch der führenden Ministerialbeamten eine schnelle oder gar sofortige Öffnung der Barriere zu erwirken. Am Ende wird sich Sanguis Purus dazu herablassen müssen, mit den Angehörigen der angeblich freien Koalition, aus der mittlerweile die Schweiz wieder ausgetreten ist, lieb und brav zu sein, um deren heimlicher Herrscherin genug Anlass zu bieten, die Barriere von außen zu öffnen, so wie ihre Handlanger sie auch außerhalb Frankreichs errichtet haben.
Wir Bürgerinnen und Bürger Millemerveilles wissen was es heißt, über Wochen und Monate von der restlichen Welt abgeschnitten zu sein. Auch wir hatten mit Widerständen in den eigenen Reihen zu ringen, die aber auch durch den Einfluss von Sardonias dunklem Erbe genährt wurden. Am Ende siegte jedoch der innere Zusammenhalt jener, die mit Vernunft, Überblick und Menschlichkeit gegen Sardonias dunkles Vermächtnis angingen. Wir hoffen, dass unsere in anderen Zauberergemeinden lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger jene Übersicht, Geduld, Menschlichkeit und den Zusammenhalt aufbringen werden, um uns nicht von einer unser Land umschließenden schwarzmagischen Mauer ins lodernde Drachenmaul und dann in die Sklaverei unter der Herrschaft einer machtsüchtigen Hexe aus Italien treiben zu lassen. Ich kann Monsieur Mardirouge, der vor einer Stunde die Ministerin ultimativ zum Öffnen der Barriere aufgefordert hat nur raten, darüber nachzudenken, ob er allen ernstes eine gewaltsame Auseinandersetzung sucht. Wer immer diese gewinnt wird danach so geschwächt sein, von auswärtigen Mächten mühelos beseitigt werden zu können. Wer immer die Auseinandersetzung verliert wird mit allem bisher erreichten und allem für die Zukunft vorgesehenen vergehen. Wer glaugbt, die jetzige Lage als genialen Ausgangspunkt für einen Umbau des Zaubereiministeriums nutzen zu können sägt am Besenstiel, auf dem er hoch über allen anderen zu schweben meint.
Wir Bürgerinnen und Bürger Millemerveilles erklären hiermit ganz offen wie Monsieur Mardirouge und seine Gruppierung, dass wir für die amtierende Zaubereiministerin eintreten, der wir aus Dankbarkeit für die Hilfe gegen die Isolation unter Sardonias dunkler Kuppel sehr viel schulden. Wir bekennen uns zum friedlichen Fortbestand der Zaubererwelt ohne Bedrohung und Gewalt gegen anderslebende Mitmenschen. Wir rufen alle Seiten in dieser unnötigen wie unschönen Auseinandersetzung dazu auf, sich darauf zu besinnen, wer die wahre Bedrohung ist, nicht die Barriere an sich, sondern jene dunkle Hexe, die den krankhaften Trieb hat, mehr und mehr Macht erlangen zu müssen. Wir die Bürgerinnen und Bürger von Millemerveilles und all unsere Blutsverwandten in anderen magischen Siedlungen wissen, wohin ungezügelter Machttrieb und gewaltsame Unterdrückung von Menschen führen, nämlich immer in die eigene Selbstvernichtung. Da wir keinen Anlass haben, der amtierenden Zaubereiministerin den Hang zur Selbstvernichtung zu unterstellen und hoffen, dass auch kein anderer magischer Mensch in unserer großen Nation dieses Verlangen hegt, sind wir zuversichtlich, dass alle hitzigen Wortgefechte der letzten Tage beigelegt werden und wir alle unabhängig von unseren Stammbäumen den Sinn friedlichen Zusammenseins wiederentdecken und uns gegen die unsichtbare Belagerung durchsetzen werden, wie lange sie auch dauern mag. Ich weise darauf hin, dass wir alle immer noch genug zu Essen und zu trinken und auch viel Bewegungsfreiheit haben, um uns nicht wie Mäuse und Ratten in einem immer enger werdenden Käfig gegenseitig anfallen zu müssen."
Belenus Chevallier hatte Monsieur Alfred Lafite vom Rundfunksender Zauberweltecho zu sich gebeten, um ihm ein Interview wegen der kurzen aber heftigen Ansprache Mardirouges zu geben. Er ließ sich nicht darauf ein, warum er den öffentlich gegen das Ministerium und seine politische Ausrichtung aufbegehrenden Anhängern von Sanguis Purus keinen Einhalt gebot, sondern legte ihm Listen von Leuten vor, die seit Bekanntwerden der dunklen Barriere verschwunden waren. Davon stammten fünf aus der Familie Mardirouge und vier aus der Familie Louvois, die nach dem Verschwinden von Oreste Louvois lange Zeit sehr unauffällig gelebt hatte. "Wir gehen davon aus, dass die Verschwundenen nicht von der Barriere aufgefressen wurden, wie es die hier noch lebenden Angehörigen behaupten, sondern dass sie die Barriere durchdringen konnten, jedoch an ihrem Zielort geortet und ergriffen wurden, um sie gegen ihre Angehörigen und unser Zaubereiministerium einzusetzen. Aber natürlich ist es viel leichter, zu behaupten, die Verschwundenen seien tot, um mit ihnen Stimmung gegen die Zaubereiadministration zu machen."
"Sehen Sie in Sanguis Purus eine zeitweilige Auflehnung gegen die Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit oder eine ernstzunehmende Bedrohung unseres Friedens in Frankreich?" fragte der Reporter des Nachrichtensenders Zauberweltecho. Belenus Chevallier antwortete sofort:
"Jede organisierte Wut kann zur Gefahr werden, wenn die Wütenden sich nach der Wut auch dem Hass hingeben. Ob Sanguis Purus bereits diese fatale Grenze überschritten hat weiß ich nicht, muss aber auf jede Eventualität vorbereitet sein."
"Monsieur Chevallier, da ist gerade Madame Delamontagne auf Sendung bei ihrem Haussender in Millemerveilles!" meldete Belenus' Sekretär. Monsieur Chevallier nickte und tippte das büroeigene Zauberradio an. So hörten er und der ihn interviewende Reporter des Konkurrenzsenders die Ansprache der Gemeinderatssprecherin und Rätin für gesellschaftliche Angelegenheiten. Danach fragte Belenus Chevallier: "Pflichten Sie dem bei, was Madame Delamontagne bekundet hat?"
"Öhm, das wollte ich Sie gerade fragen", entgegnete der Reporter verdutzt. Dann sagte er: "Sie ist aber sehr, sehr zuversichtlich, dass sie eine Mehrheit der Bürger ihres Dorfes hinter sich hat."
"Dorf halt, Monsieur Lafite. Da kennt jeder und jede die Nachbarschaft ganz genau. Außerdem sind da viele untereinander verwandt. Sicher wird sich Madame Delamontagne nicht so weit über das vordere Besenende lehnen, wenn sie nicht wüsste, dass sie nicht herunterfällt. Das dürfen Sie so zitieren."
"Wird die Ministerin mit Monsieur Mardirouge sprechen?" wollte Alfred Lafite wissen. "Sie hat zu viel zu tun, als ihre Zeit mit nochmaligen Wiederholungen längst verlautbarter Erkenntnisse und Beschlüsse zu vertun", sagte Belenus Chevallier. "Außerdem wird Monsieur Mardirouge wohl nach seinem Ultimatum einen großen Bogen um das Ministeriumsgebäude machen, weil er befürchten könnte, verhaftet zu werden. Dazu besteht derzeitig noch kein Anlass", erwiderte Belenus Chevallier. Er verschwieg dem Reporter, dass er schon nachprüfte, auf welcher magischen Rechtsgrundlage er Mardirouge vor den Zaubergamot zitieren konnte. Das wollte er lieber nicht zum öffentlichen Gegenstand machen.
"Nun, aber wenn Monsieur Mardirouge die Demission der Ministerin und der führenden Beamten, also auch Ihnen verlangen wird sollte es Ihnen und der Ministerin die Zeit wert sein, ein klärendes Gespräch mit ihm zu führen."
"Den Rücktritt der Ministerin haben immer wieder welche gefordert, ob nach der Goldebbe 2004 bis Frühjahr 2005, im März, als die anderen Zaubereiminister sich zu einer angeblich frei beschlossenen Koalition friedlicher Zusammenarbeit zusammengetan haben und natürlich jetzt, wo einigen Herrschaften der Urlaub im europäischen Ausland vermiest wurde. Denen kann ich nur raten, Ruhe zu bewahren und nicht wie eingesperrte Raubtiere hin und her zu rennen oder gar mit den Köpfen gegen jede sich anbietende Wand zu stoßen."
"Wie werden Sie vorgehen, falls sich Hexen und Zauberer berufen fühlen sollten, das Ministerium zu stürmen, um die Absetzung der Ministerin mit Gewalt durchzusetzen?"
"Natürlich werden wir uns dann alle kollektiv in die Unterhosen machen und hoffen, dass der davon ausgehende Gestank ausreicht, die Angreifer zu verscheuchen", erwiderte Belenus Chevallier mit verschmitztem Grinsen. "Ich werde hier und jetzt keine Angaben dazu machen, was wir für Gegenmaßnahmen gegen einen möglichen Sturmangriff treffen werden, Monsieur Lafite. Am Ende müssen Sieund ich uns noch schuldig bekennen, genau dazu und den damit verbundenen Opfern eingeladen zu haben. Wollen Sie nicht wirklich."
"Immerhin konnte ich mit meiner Reporterplakette noch ungehindert bis zu Ihnen vordringen", sagte Alfred Lafite. "Ja, konnten sie", erwiderte der Leiter der Strafverfolgungsabteilung mit ernster Miene.
"Gibt es noch etwas, was Sie mir sagen wollen und sagen dürfen?" wollte der Reporter wissen. "Nein, das war alles", erwiderte Belenus Chevallier. "Dann danke ich für das Interview und hoffe auf eine friedliche Einigung." Dem schloss sich der Strafverfolgungsleiter an.
Ein wenig bedauerte es Oganduramiria, dass an diesem Tag im Sonnenturm die vor über einem Jahr geborenen Kinder allesamt den Schnellalterungsprozess zu erwachsenen Hexen und Zauberern durchleben durften, den sie bereits durchlaufen hatte. Irgendwie hatte ihr das Muttersein trotz der leidigen Windelei gefallen. Sie dachte nicht einmal mehr daran, dass es ihr unglaublich heftige Schmerzen bereitet hatte, Ashtaryanan zu gebären.
Entschlossen, es endlich zu vollenden tapste der kleine Junge, der im Ersten Leben Aroyan geheißen hatte, auf jene gläserne Säule zu, in der die Alterung vom Kleinkind zum jungen Mann erfolgen sollte. Sein leiblicher Vetter Canurdarian hatte es bereits geschafft und war zu einem jungen Mann mit rotbraunem Haar herangewachsen.
Orangerotes Licht erfasste Ashtaryanan und ließ ihn schwerelos in der Mitte der Säule schweben. Innerhalb weniger Sekunden wuchs er und verlor alle Merkmale eines Kindes. Als das orangerote Licht erlosch fiel der neu ausgereifte Sonnensohn auf seine Füße und federte durch. Dann klaffte die gläserne Säule der schnellen Reifung auf und gab ihn frei. "Schon ein seltsames Gefühl, gerade noch ein hilfloses Kleinkind zu sein und jetzt wieder als ausgewachsener Mann stehen und gehen zu können", sagte er mit der nun ohne Zwischenhalt von Kleinjungenstimme zur sonoren Baritonstimme entwickelten Stimme.
"Du hättest ja auch auf natürliche Weise groß werden können, Ashtaryanan", sagte Canurdarian, der von der Stimmlage her ein Tenor sein konnte. Es machte also offenbar doch was aus, wer Vater und Mutter waren, erkannte Oganduramiria.
Alle im letzten Jahr geborenen Daisirin der Sonnenkinder durchliefen den Schnellalterungsvorgang. Die Mädchen wurden zu ansehnlichen jungen Frauen, die kleinen Jungen zu bereits athletisch wirkenden jungen Männern. Wie die Alterungsvorrichtung das anstellte wusste Oganduramiria nicht und würde es wohl nur erfahren, wenn sie irgendwann in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen würde, die über die magisch-technischen Einrichtungen des Worakashtaril, dem Sonnenturm, unterrichtet werden durften.
Gwendayandaria, Faidarias zwiegeborene Tochter, sah zwischen Candurdarian und Ashtaryanan hin und her. Offenbar suchte sie sich gerade den Erzeuger ihres ersten Kindes aus. Gemäß der Anordnung Faidarias sollte jeder zeugungsfähige Sonnensohn mit drei fruchtbaren Sonnentöchtern das Lager teilen, um möglichst bald möglichst viele neue Sonnenkinder zu erbrüten, am besten so oft, bis in der Halle der ruhenden Seelen keine wartende Seele mehr schlummerte.
"So kehren wir zurück auf unser trautes Eiland", befahl Faidaria, als auch die letzte Daisiria zur empfängnisfähigen Jungfrau herangereift war. Oganduramiria dachte daran, dass sie bald wieder wen finden musste, von dem sie das nächste Kind bekommen sollte.
Als sie alle durch die Kraft der Sonnenkinder auf die kleine Insel Ashtaraiondroi zurückgekehrt waren suchte Oganduramiria die kleine Hütte auf, in der der kleine, leistungsstarke Laptop stand, der mit Solarzellen betrieben wurde und gegen die jede andere Elektronik durcheinanderbringende Aura der Sonnenkinder abgeschirmt war. Die nun als Mutter eines jungen Erwachsenen geltende sah auf die Wiege, in der Ashtaryanan vor einer Woche noch gelegen hatte. Wer von den noch auf ihre Wiedergeburt wartenden würde der oder die nächste sein?
Oganduramiria verdrängte alle Gedanken an ihre körperlichen Pflichten den Sonnenkindern gegenüber, als sie die Zwischenergebnisse der Internetüberwachungsprogramme abfragte, die nach besonderen Ereignissen suchten, die was mit der Schattendämonin, den Vampiren oder anderen dunklen Wesen zu tun haben mochten. Dabei meldete ihr Arachnobot, dass es ein Update von sich gemacht und dabei gerade so noch eine Identifikationsmarkierung der NSA assimiliert hatte, um nicht aufzufliegen. Außerdem hatte Argos "20XX eine zu prüfende Häufung von Anfragen erhalten. Weltweit suchten immer mehr Leute nach Elektrizitätswerken in der Nähe von Großflughäfen, wobei es vorkam, dass ein und dieselbe IP-Adresse nach solchen Einrichtungen auf der Ganzen Welt forschte. Es kam sogar zu Überschneidungen mit zeitgleich danach suchenden. Oganduramiria ließ sich den genauen Bericht ausdrucken und stellte fest, dass die Suchanfragen vor fünf Tagen begonnen hatten und über Proxyserver erfolgten, die eine Ursprungserkennung erschwerten. Doch das Suchmuster deutete darauf hin, dass mehr als eintausend Leute von verschiedenen Orten der Erde aus solche Anfragen stellten und natürlich nicht ihre Klarnamen angaben. Oganduramiria musste an den elften September denken. Die Terroristen damals hatten ihre Angriffe wohl auf Grund von analogen Karten und Offline-Flugsimulationen geplant, jedoch auch einige Internetanfragen gestellt, um die richtigen Flüge zu finden, mit denen sie ihre Ziele ansteuern konnten. Lief sowas wieder ab? Falls ja, wie viele Leute waren daran beteiligt? Oganduramiria dachte dann, warum ausgerechnet E-Werke betroffen waren? Zumindest wurden alle sich anbietenden Atomkraftwerke aus der Suche ausgeschlossen, wie die wohl im nächsten Jahr wieder Mutter und erstmalig Großmutter werdende Daisiria feststellte, als sie selbst über einen der angezeigten Proxyserver unter dem Namen Sunrise2002 die Anfrage wiederholt hatte. Diejenigen, die nach E-Werken im Bereich Tokio suchten hatten das Atomkraftwerk Fukushima ausgelassen.
"Die wollen die Dinger mit Flugzeugen plattmachen, ohne die halbe Erde zu verstrahlen", dachte Oganduramiria. Das Schlagwort "Blackout" für einen großflächigen, lange anhaltenden Stromausfall klang wie eine laut angeschlagene Glocke in ihrem Bewusstsein auf. Konnte es echt möglich sein, dass jemand nach dem Anschlag auf das Welthandelszentrum in New York ein viel heftigeres Ding plante? Wenn die ganzen Anlagen, nicht nur E-Werke, sondern auch große Trafos, zerstört würden hätte das einen monate- oder jahrelangen Stromausfall zur Folge. Geschah das sogar gleichzeitig an vielen Orten der Welt, ob New York, Kapstadt, Sydney oder Shanghai brach alles zusammen, was die magielosen Leute, zu denen sie mal selbst gehört hatte, in den letzten hundertzwanzig Jahren aufgebaut hatten. Die Erde würde mindestens ins Dampfmaschinenzeitalter, vielleicht aber auch ins Mittelalter oder die Steinzeit zurückfallen. Ähnliche Szenarien wurden auch bei einem schweren Sonnensturm an die Wand gemalt. Davon konnte doch keine Terrororganisation profittieren, keine nichtmagische.
"Leute, ich habe hier was hereinbekommen, das sollten wir uns mal vornehmen", schickte Oganduramiria an alle Sonnenkinder. Wenige Minuten später trafen sich alle nun erwachsenen Mitglieder der besonderen Gemeinschaft im nun doch etwas eng werdenden Versammlungssaal. Oganduramiria las die ausgedruckten Texte und Karten vor und unterlegte alles mit reinen Gedankenbildern von einem weltweiten Stromausfall. Dann fragte sie in die Runde, wer einen Vorteil von soetwas hätte. Alle hier dachten sofort an eine Verschwörung magischer Wesen, die der wild wachsenden Maschinenzivilisation überdrüssig waren. "Die Erbfeinde können die nächtliche Dunkelheit zurückerobern, die ihnen die elektrische Beleuchtung entzogen hat. Dasselbe gilt für die ruhelosen Schatten", sagte Faidaria. "Außerdem könnten sich die nichtmagischen Leute nicht mehr so schnell absprechen, wo wer hineilen kann."
"Ja, doch werden dabei auch alle Versorgungseinrichtungen ausgeschaltet, von der Trinkwasserversorgung bis zur Sicherheitsüberwachung an Flughäfen. Gekühlte Nahrungsmittel würden verderben. Menschen könnten wegen ausbleibender Treibstoffversorgung nicht mehr in Krankenhäuser gebracht werden, zumal die Heilmittel ebenfalls nicht mehr angeliefert werden könnten. Die Nahrungsversorgung würde zusammenbrechen. Milliarden Menschen müssten verhungern und verdursten. Wie skrupellos muss jemand sein, der oder die das vorhat?"
"Alle die ich aufzählte können das sein", erwiderte Faidaria. Da fragte Dailangamiria, wie eine Terrorbande mehr als tausend weltweit stattfindende Anfragen durchgeführt hatte, wenn die Anschläge wirklich mit großen Flugzeugen durchgeführt werden sollten.
"Ja, und dass diese Flugzeuge nur von ausgebildeten Piloten geflogen werden können. Seit dem elften September können Passagiere nicht mehr in die Steuerkabinen der Flugzeuge reingehen, um die Piloten zu bedrohen oder gar selbst die Steuerung zu übernehmen", wandte Oganduramiria ein. Die Schlussfolgerung traf sie genauso heftig wie ihre Wiedergebärerin Dailangamiria. "Dann müssten die Terroristen legitime Flugzeugführer unter ihrer Kontrolle haben, die auf ein Zeichen oder einem vorher ausgearbeiteten Plan folgend möglichst gleichzeitig losschlagen. Geht sowas mit wenigen Terroristen? Öhm, könnte diese Schattenkönigin das mit ihren Ablegern anstellen?" fragte Oganduramiria.
"Wir haben ihr mehr als dreitausend Diener entrissen und von ihrem dunklen Sklavendasein erlöst", erwiderte Faidaria. "Falls sie wirklich wieder mehrere hundert neue Diener hat könnte sie das tun. Aber dann müssten die Flugmaschinenlenker alle als schattenlose Unterdiener herumlaufen. Hast du entsprechende Meldungen über Menschen ohne Schattenwurf erfasst, Oganduramiria?"
"Nein, die darauf abgerichteten Suchprogramme haben den letzten Schattenlosen vor vier Monaten bei Norwegen gemeldet und gerade so noch an mich weitergemeldet, bevor jemand die entsprechenden Mitteilungen aus dem Netz gefischt und gelöscht hat", sagte Oganduramiria. "Aber die Anbeter dieser Vampirgötzin könnten das auch mit ihrem Hypnoseblick, richtig?"
"Falls sie einen Vorteil hätten, so viele Menschen auf der Erde zu töten", erwiderte Geranamiria. "Nein, ich denke da eher an Jemanden, die es eilig hat, alle ihrer Meinung nach unrechtmäßig und widernatürlich Magie ähnende Kräfte zu verwenden bestrafen will und dann als Herrin einer neuen, fügsamen Welt aus der Dunkelheit zu treten."
"Anthelia/Naaneavargia?" fragte Oganduramiria. "Dafür hat die zu wenige Anhängerinnen", schloss Geranamiria die Spinnenschwestern aus. Dailangamiria erwiderte: "Aber Ladonna Montefiori könnte die Idee verfolgen, die rein technische Zivilisation zu zerstören, auch wenn dabei Millionen oder Milliarden Menschen sterben müssten. Der Wächter von Garumitan ist es jedenfalls nicht. Das hätten unsere Horcher im Sonnenturm ganz sicher mitbekommen. Nein, ich denke auch, dass es Ladonna Montefiori ist. Die kann, wie wir ja mittlerweile wissen, mehrere hundert Menschen zugleich in ihr bedingungslos folgsame Sklaven verwandeln."
"Stimmt, diese Feuerrosenkerzen", zischte Oganduramiria. "Aber woher weiß die, wen aus der nichtmagischen Welt sie für sowas anheuern muss?"
"Das darfst du gerne nachforschen, Oganduramiria", sagte Faidaria und erhielt allgemeine Zustimmung der versammelten Sonnenkinder. "Forsche nach, ob sich jemand in den letzten Mondwechseln für eine Zusammenkunft von Flugmaschinenlenkern interessiert hat und es eine solche Zusammenkunft gab, wo sie stattfand und wieviele daran teilnahmen! Falls du es noch schaffst, herauszubekommen, wer daran teilgenommen hat wüssten wir, ob es ein Anschlag Ladonnas ist und können ihn hoffentlich noch verhindern."
"Gut, ich prüfe das nach", sagte Oganduramiria. Sie dachte daran, dass ein solcher Anschlag auch zu einem weltweiten Atomkrieg ausufern konnte, wenn die Atommächte von einem Angriff ihrer jeweiligen Opponenten ausgingen. Sie konnte nur hoffen, dass sie noch rechtzeitig herausfanden, was geplant war, wer damit zu tun hatte und wie die Anschlagsserie verhindert werden konnte und das alles ohne die magische Welt zu enthüllen. War das überhaupt möglich, die Geheimhaltung zu wahren, wenn mehrere hundert oder tausend Piloten auf einmal von ihrer Arbeit abgehalten werden mussten? Das würde ja schon auffallen.
Oganduramiria kehrte in den Rechnerraum zurück. Ihr Sohn Ashtaryanan begleitete sie. "Jetzt kann ich mir endlich ansehen, wie dieses Wissenssammelgerät arbeitet", sagte er.
"Ja, wenngleich das jetzt eine sehr aufwühlende, reine Sucherei wird", sagte Oganduramiria. Sie fühlte die gewisse Angst in sich steigen. Was würde geschehen, wenn es wirklich keine harmlosen Suchanfragen sondern gezielte Vorbereitungen eines apokalyptischen Anschlages waren und sie zu spät dran waren, ihn zu verhindern?Hing es am Ende an ihr, Oganduramiria, ob die Welt, die ihr erstes Leben hervorgebracht hatte, bald unterging oder fortbestehen durfte? Gegen diese tonnenschwere Unsicherheit und Verantwortung war die Schwangerschaft mit Ashtaryanan nur ein leiser Leibwind, dachte sie. "Eh, das habe ich gehört", knurrte Ashtaryanan.
"'tschuldigung, ich habe nicht zugemacht", knurrte seine Mutter. Dann sagte ihr Sohn: "Als ich noch in deinem Bauch war habt ihr öfter von Julius Erdengrund gesprochen, mit dem ihr Kontakt habt. Der hat doch Verbindungen zu anderen mit der Kraft begabten Leuten. Wenn wir das alleine nicht hinbekommen sollten wir uns Hilfe suchen."
"Dann wäre Faidaria längst drauf gekommen, ihn einzuspannen", sagte Oganduramiria. "Nicht solange sie nicht weiß, ob es nur eine Häufung von harmlosen Anfragen war oder nicht", erwiderte Ashtaryanan und erinnerte daran, dass zu frühes Handeln nicht selten zu ungewollten Folgen führen konnte. Oganduramiria zuckte zusammen, weil dieser Ausspruch sie daran erinnerte, was alles nicht passiert wäre, wenn Ben Calder damals nicht gemeldet hätte, dass er Anthelias Erweckungsritual mitgehört hatte. "Sie hätte dich auf jeden Fall zu sich geholt, beziehungsweise mich hinter dir hergeschickt", drang Dailangamirias Stimme in seine Gedanken. Oganduramiria verstand. Antehlia hatte es mitbekommen, dass Ben Calder ihr Erweckungsritual mitbekommen hatte. Es hätte halt nur länger gedauert, ihn zu finden.
Als die Suchprogramme pingelten, auf etwas der neuen Suchanfrage entsprechendes gestoßen zu sein meldete es die Computerfachfrau Oganduramiria sofort weiter.
Julius hatte bei einem Ausflug in ein Internetcafé in Los Angeles nachgelesen, dass Deutschland im Halbfinale gegen Italien ausgeschieden war und somit nicht das Traumfinale im eigenen Land spielen durfte. Frankreich durfte jedoch auf den nächsten Weltmeistertitel hoffen, ebenso wie Italien.
Die Latierres hatten abwechslungsreiche Tage erlebt und würden in zwei Stunden wieder nach Millemerveilles zurückkehren. Millie hatte es bei einem Solobesuch in Melanie Chimers Kosmetikstudio herausbekommen, was mit Gloria wirklich los war. Das hatte sie sehr betrübt, wie Julius über den goldenen Herzanhänger mitfühlen konnte. Doch er hatte bisher nicht danach gefragt, ob sie ihm alles erzählen wollte, wo sie noch zu sehr von den Bewohnerinnen und Bewohnern von Viento del Sol mit Beschlag belegt wurden.
Sie waren dabei, ganz ohne Packzauber ihre Sachen zu verstauen, als Julius' Mutter an die Tür der Familiensuite klopfte. Als sie hereinkam schwenkte sie eine dünne Papierseite mit perforierten Rändern. "Das habe ich gerade aus dem Rechner gezogen, eine Ankündigung von Jacqueline Richelieu, dass der Computerraum gerade noch so einem Angriff von fanatisierten Leuten in hellroter Kleidung entgangen ist und Nathalie Grandchapeau sofort verfügt hat, alle Geräte herunterzufahren und in der bereits bewährten Behausung in Millemerveilles wieder aufzubauen. Nathalie hat auch verfügt, dass alle, die mit dem Rechnerraum zu tun haben, dauerhaft in Millemerveilles unterkommen sollen. Der Angriff könnte der Auftakt zu einem größeren Vorhaben sein."
"Wie bitte?!" stieß Julius aus und zog fast zu schnell an dem Ausdruck. Seine Mutter konnte ihn gerade noch loslassen, um die Seite nicht in zwei unregelmäßige Stücke zu zerreißen. Julius las die im Telegrammstil abgefassste Mitteilung, die ausdrücklich an seine Mutter und ihn gerichtet war.
"sanguis Purus, reines Blut. Nicht schon wieder solche Möchtegernherrenmenschen, die meinen, weil sie sich durch Inzucht frei von angeblich falschem Blut gehalten haben die Welt beherrschen zu wollen", grummelte Julius.
"Ja, ist wohl leider wahr. Ich habe Catherine angerufen und gefragt, was da in Frankreich los ist. Sie sagte, dass die Ministerin bis zum neunten Juli Zeit habe, die angeblich von ihr errichtete Barriere zu beseitigen oder ihr Amt zu verlieren. Es gibt offenbar Leute, die wollen nichts aus der Geschichte lernen."
"Du hast mit Catherine geredet? Ich möchte das gleich von ihr hören", sagte Julius. Millie schnaubte verdrossen. "Millie, wenn die in Frankreich "nur" wegen eingeschränkter Reisefreiheiten wieder so am Rad drehen, dass sie wieder alles was nicht absolut muggelfrei ist mit Gewalt plattmachen wollen betrifft uns das ganz unmittelbar."
"Ja, mann, hast ja leider verdammt recht", fauchte Millie verärgert. Sie deutete von ihm zur Tür und grob in die Richtung, wo Marthas Haus stand. "Wir packen zu ende. Wenn du nichts anderes vermeldest treffen wir uns am Luftschiff", sagte sie missmutig. Julius bestätigte das und folgte seiner Mutter hinaus auf den Gang zu den anderen Zimmern der Silberklasse.
Da im Haus zum Sonnigen Gemüt nur im Notfall appariert und disappariert werden konnte mussten Mutter und Sohn erst einmal vor die Haustür. "Kann ich bei dir so einfach ins Haus reinapparieren?" fragte Julius. "Wir könnten Seit an Seit, wenn ich die Zielausrichtung mache", sagte seine Mutter. Keine Spur mehr davon, dass sie das eigentlich nie lernen wollte.
Im neuen Haus der Merryweathers in VDS krachte es im Foyer, als Mutter und Sohn erschienen. Ein kurzes rotes Flackern sprang von ihr auf ihn und von ihm zu ihr über. Dann ließ sie seine Hand los. "So, du bist als mein Fleisch und Blut erkannt und akzeptiert worden, Julius. Das Satellitentelefon ist aufgeladen."
Julius sah auf seine Armbanduhr. Hier in Kalifornien war es zehn Uhr. Dann war es in Paris sieben Uhr abends. Julius rief über einen Anbieter für kostenarme Internettelefonie die Nummer der Brickstons an und bekam gleich Catherine an den Apparat. Er fragte sie, was genau passiert sei und erfuhr, was in den letzten Tagen in Frankreich geschehen war und dass Sanguis Purus offenbar gedacht hatte, den Rechnerraum stürmen und die dort arbeitenden außer Gefecht setzen oder mit dem Imperius-Fluch unterwerfen zu können. "Der sogenannte Uralte Zaubererweltadel lässt den viele Jahrzehnte getragenen Schleier fallen, Julius. Die haben nicht damit gerechnet, dass ein Haus voller Elektronik dermaßen gut beschützt ist, dass sie nicht unauffällig hineingelangen konnten. Kann sein, dass sie auch nur testen wollten, welche Absicherungen das Hauptgebäude entgegensetzt", vermutete Catherine. Jedenfalls sind die wohl jetzt alle nach Millemerveilles unterwegs."
"Und da wohnen keine von denen?" fragte Julius argwöhnisch. "Nicht aus den vier Familien, die als Kern von Sanguis Purus bekannt sind", erwiderte Catherine. "Öhm, Julius, falls du möchtest frage ich Nathalie, was du machen sollst. So wie Mardirouge gerade tönt will er eine Abkehr von allen sogenannten Mischblütigen herbeiführen. Ich habe Babette schon aufgefordert, in unser Haus zurückzukommen, solange die Saison pausiert."
"Und, hat sie sich das gefallen lassen?" fragte Julius. "Nein, hat sie nicht. Sie hat entgegnet, dass sie dann lieber in den Chapeau du Magicien in Millemerveilles zieht als sich noch einmal mit Joe darüber zu haben, ob sie was für den Haushalt beisteuern soll."
"Wenn die überhaupt noch was verdient, das sie bezahlen kann", erwiderte Julius unüberlegt. Da erst fiel ihm auf, dass das genausogut für ihn gelten konnte.
"also, ich habe ihr gesagt, dass das eine Notlage sei und Joe garantiert nicht will, dass seine erste Tochter in einem teuren Gasthaus wohnen müsste, wo ihr Zimmer noch frei sei. Der meint aber, dass dieses Hin und her ihm langsam auf seine Intimteile ginge. Näheres später."
"Und dieser Mardirouge hat echt behauptet, dass Ministerin Ventvit die Barriere gebaut hat?" wollte Julius wissen. Catherine bestätigte das. "Ja, und seine Anhänger und die es sonst noch werden könnten glauben ihm das auch noch. Super! Wann schwenken wir die weiße Fahne gen Italien und liefern unser Land an Ladonna aus?" fragte er sehr biestig. "Überhaupt nicht, Julius", schnarrte Catherine. "Mardirouge weiß nicht, auf welche Selbstmordmission er sich und seine Anhänger begibt."
"Zumindest gut, dass ich nicht voll ins offene Drachenmaul reinfalle, wenn ich nach Hause komme. Soviel zur Erholung im Urlaub", seufzte Julius. "Ihr habt euch erholt, mit sechs Kindern?" fragte Catherine schnippisch. "Die Kinder auf jeden Fall, auch wenn Rorie immer wieder sehr müde wurde, weil sie jetzt viel mehr Englisch reden musste als zu Hause. Aber sie meint, dass sie Leonidas vielleicht doch noch heiraten könnte."
"Oh, dann hat sie sich erholt", bemerkte Catherine. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
"Julius, Nathalie schreibt, dass du dich ab morgen nur noch im sogenannten Elektrozirkus von Millemerveilles oder einem mit Sanctuafugium-Zauber geschützten Gebäude aufhalten möchtest. Die Desumbrateure der Ministerin haben ein konspiratives Treffen zwischen Leuten von Sanguis Purus und einer Delegation der sogenannten Koalition des friedlichen Zusammenseins aufgespürt und nachbetrachtet, was dabei besprochen wurde. Es geht darum, dass du festgenommen und in Zaubertiefschlaf versenkt werden sollst, da du angeblich einer friedlichen Übereinkunft zwischen Sanguis Purus und der Koalition im Wege stehst."
"Ach, meine Ermordung ist nicht geplant?" fragte Julius verdrossen. "Soweit die Rückschauer das mit ihren Lippenlesekenntnissen nachbetrachten konnten sollst du lebendig "sichergestellt" werden. Öhm, vielleicht bleibst du besser mit Millie, Trice und den anderen hier in den Staaten."
"Gut gemeint, Mum. Aber wenn die schon dermaßen hinter mir her sind heißt dass, ich kann oder weiß was, was der sogenannten Koalition gefährlich werden kann oder werde es bald erfahren. Das muss ich ausnutzen, Mum." Seine Mutter wiegte den Kopf und nickte verdrossen. "Stimmt, aber warum dann nicht gleich ein Mordauftrag?"
"Tja, warum wohl nicht, Mum? Ich sage nur Bokanowski." Seine Mutter zuckte von der Erkenntnis dieses Stichwortes heftig zusammen. "Natürlich, jemand will dich lebendig in die Hände bekommen, um entweder Versuche mit dir anzustellen oder dich für seine oder besser ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wie selten einfältig muss dieses Frauenzimmer sein, uns so mit der Nase darauf zu stoßen?"
"Torschlusspanik, Mum?" verkleidete Julius eine Vermutung als Frage.
"Ja, oder sie hofft darauf, dass du ihr helfen kannst, an Dinge zu kommen, an die sie auch mit allen Unterworfenen nicht drankommt, beispielsweise an die Veelas von Frankreich."
"Da wird sie aber blöd kucken, wenn sie meint, mich mit ihrem Feuerrosenzauber benebeln zu können. Aber sie könnte auf die Idee kommen, mich mit dem Leben der Kinder erpressen zu wollen. Gib mir bitte die Mail, damit ich sie Millie und Trice zeigen kann!"
"Natürlich", erwiderte Martha Merryweather und ließ Nathalies E-Mail in zweifacher Kopie ausdrucken.
Wieder zurück im Haus zum Sonnigen Gemüt gab er Millie und Béatrice die neue E-Mail. "Sanguis Purus macht gemeinsame Sache mit den Unterworfenen?" fragte Millie. "Wenn das rauskommt knallt deren ganze Propaganda gegen die Ministerin in sich zusammen. Denn dann könnten die ihnen beweisen, dass es denen nicht um die Interessen französischer Hexen und Zauberer, sondern um reinen Machtgewinn geht", sagte Millie. Béatrice sagte: "Gut, dann bleiben wir eben nur noch in Millemerveilles, bis wir genau wissen, wie wir diesem Unkraut an die Wurzeln können. Jedenfalls lasse ich nicht zu, dass die Kinder wegen dieser Missgeburt gefährdet werden." Julius erschauerte, weil Béatrice das so zornig ausgesprochen hatte. Einen Moment meinte er sogar Hass in ihren Augen leuchten zu sehen. Doch dann beruhigte sie sich wieder. Auch Millie hatte einen winzigen Moment der größten Wut, bevor Entschlossenheit und Trotz ihren Geist beherrschten. Zumindest wussten sie jetzt, worauf sie gefasst sein mussten. Dabei hatten sie keine Ahnung, was Ladonna Montefiori schon alles in die Wege geleitet hatte und was in diesen Momenten in Russland vorging.
Es war eine kreisrunde Waldlichtung. Sie wurde von turmhohen Nadelbäumen umstellt. Da wo bei Tag das Sonnenlicht und bei Nacht das Licht von Mond und Sternen hinfiel wuchs kniehohes Gras. Dazwischen reckten farbige Wildkräuter ihre Halme und Büschel heraus.
Ein Schwirren von vielen Dutzend Flügelpaaren erklang aus der Höhe der kegelförmig aufragenden Wipfel. Störche, Schwäne, kleine und große Greifvögel schwangen sich aus dem freien Himmel herab und suchten sich Landeplätze auf der Lichtung. Als sie Bodenkontakt bekamen wuchsen sie an und verloren ihre Federkleider. Nun standen an die sechzig makellos schöne Frauen mit langen, hellen Haaren auf der Lichtung und nickten einander zu. "So habt ihr die Zeit genutzt, euch für eure Sippen zu entscheiden, ob wir das uns angetane Unrecht vergelten oder uns weiterhin verborgen halten sollen?" fragte die älteste, Morgenröte. Sie wirkte dabei nicht gerade erfreut oder entschlossen.
"Ja, wir haben uns entschieden, Morgenröte", sagte Sonnentanz, die wiederum sehr entschlossen wirkte. Auch die anderen wirkten entschlossen. Dann fragte Morgenröte, wie genau sich wer entschieden hatte. Darauf öffneten die neunundfünfzig anderen Frauen ihre rechten Hände und streckten sie vor. Auf den Handflächen lagen Kieselsteine, weiße und blutrote. Da öffnete auch Morgenröte ihre rechte Hand und zeigte einen weißen Kieselstein vor. So konnte nun jede zählen, wie viele weiße und rote Steine gezeigt wurden. Hierfür hielten sie ihre Hände hundert Atemzüge lang ausgestreckt, bis eine nach der anderen sagte: "Ich habe gezählt." Als jede das gesagt hatte sagte jede noch etwas: "fünfzig für Blut, zehn für Verstecken." Morgenröte war die letzte und bestätigte das. Also wollten fünfzig der anwesenden den vollständigen Kriegszug, obwohl sie sich lange darüber unterhalten hatten, dass die dabei freiwerdende Lebenskraft der sterbenden Veelas um die ganze Welt verteilt wurde und somit auch der erklärten Hauptfeindin zufloss. Dann sagte Sonnentanz zu denen, die für Verstecken stimmten dass sie sich noch entscheiden konnten, der Mehrheit zu folgen oder damit leben sollten, für alle Zeit vom Rest der Welt abgeschnitten zu bleiben. Sonnentanz sagte mit unheilvoller Betonung: "Jene, die sich gegen Mokushas Gebot der Blutrache entschieden haben verdienen es nicht, ihre Kinder zu heißen. Wenn wir siegreich zurückkehren, auch wenn es hunderte oder tausende von uns kosten mag, so müsst ihr eure Kräfte geben. Verlieren wir den Feldzug und kehrt keine mehr von uns zurück, so mögt ihr zwar unsere freigesetzte Lebenskraft in euch aufnehmen und mehr als die Feindin in Italien erwerben. Doch werdet ihr den Rest eures Lebens von unserem Tod zehren. Noch habt ihr einen Tag Zeit."
Morgenröte nickte. Dann sagte sie: "Ob wir, die wir das Weiß der Reinheit gewählt haben und nicht das Rot vergossenen Blutes nicht mehr die Kinder Mokushas heißen dürfen steht nur dem Rat der allerältesten zu. Ich berufe mich auf meinen dort befindlichen Platz und erbitte eure Geduld, die Zusammenkunft aller Mitglieder und deren Entscheidung abzuwarten."
"Aller Mitglieder? Deine älteste Schwester Himmelsglanz ist in ihrem selbstgewählten Land im Westen eingesperrt", schnaubte Sonnentanz. "Der Rat kann also nicht vollzählig zusammentreten. Aber wenn du hoffst, dass sie doch noch aus ihrem Gefängnis freikommt und der Rat zusammentreffen kann, so werden wir bis dahin die Schmach getilgt haben, die meiner Familie und auch deiner angetan wurde, Himmelsglanz. Ob der Rat das gut findet, dass du und die neun anderen mit euren Familien Mokushas Gebote missachtet und euch an unserem Opfer gelabt habt ist sehr, sehr unwahrscheinlich, auch wenn alle anderen Schwestern und Brüder aus Mokushas Schoß von unserem ehrenvollen Opfer genährt werden."
"Was ist daran ehrenvoll, kleine, unschuldige Kinder umzubringen, die noch niemandem etwas angetan haben?" fragte Wolkenlicht, eine der neun, die einen weißen Kieselstein vorgezeigt hatte. "Das wir die wahrhaft würdigen sind, die Mokushas Wort und Erbe wahren", knurrte Sonnentanz. Da sagte Wolkenlicht: "Und wenn der Rat der Ältesten beschließt, dass wir uns gegen Mokushas Gebote vergangen haben, Sonnentanz. Ihr Gebot heißt: Blut ruft Blut und nicht: Tötet alle Kurzlebigen! Außerdem würde unschuldiges Blut wieder nach unserem Blut rufen.""
"Ihr habt versprochen, dass wir nicht mehr weiter darüber unterhandeln, wenn die Entscheidung gefallen ist", knurrte Sonnentanz. Darauf sagte Morgenröte: "Du hast dieses Versprechen gebrochen, als du uns mit der Drohung uns aus den Reihen von Mokushas Kindern auszuschließen zu einer neuen Entscheidung drängen wolltest, Sonnentanz."
"Ich habe euch nur die zwei Auswahlmöglichkeiten genannt", schnaubte Sonnentanz. Doch da sahen sie und Morgenröte, wie zehn, die rote Steine in den Händen hielten, diese mit Schwung hinter sich warfen, statt sie fortzustecken und dafür weiße Steine hervorholten und vorzeigten. Das war gleichbedeutend mit einem Widerruf der Entscheidung. Jetzt stand es nur noch vierzig zu zwanzig für den Krieg. Sonnentanz blickte die an, die sich gerade umentschieden hatten und schnarrte: "Also wollt ihr ebenfalls aus Mokushas Reihen getilgt werden, ohne den Kampf für ihre Ehre zu führen?"
"Wir wollen die Anrufung des Rates. Wir wussten nicht, dass du den Ausschluss aus den Reihen unserer Geschwister androhen wolltest, Sonnentanz", sagte Feuerschein, einne, die ihren roten Stein fortgeworfen hatte. "Also, der Rat soll das entscheiden, ob jene, die den Krieg ablehnen weiterhin Mokushas Kinder sein dürfen oder von jenen, die den Krieg überleben den letzten Schnitt erfahren sollen. Du alleine darfst es auf jeden Fall nicht entscheiden, Sonnentanz."
"Ich verstehe. Du hoffst darauf, dass deine Töchter, Enkeltöchter und Söhne nicht für Mokushas Ruhm und Ehre sterben müssen, Feuerschein. So ruft den Rat an und wartet, bis er zusammentreten kann! Doch wir, die wir uns schon entschieden haben, werden unseren ehrenvollen Weg gehen. Wie es der Brauch für einen größeren Vergeltungskampf gebietet habt ihr zwei Tage zeit, den Rat zusammenzubekommen. Gelingt euch das nicht, bleibt ihr alle hier und seid dazu verdammt, zwischen Schuld und Ehrverlust eingezwengt zu sein wie Getreidekörner zwischen den Mühlsteinen. Wir, die wir zu unserer Entscheidung stehen, reden ab nun nicht mehr mit euch und singen euch auch nichts mehr zu. Gehabt euch wohl, solange ihr noch könnt!" Als sie diese Worte eher hingespieen als gesprochen hatte verwandelte sich Sonnentanz in den Wanderfalken zurück, als der sie hergekommen war und flog davon. Ihr folgten all jene, die sich für den Blutrachefeldzug entschieden hatten. Es blieben nur Morgenröte, Wolkenlicht, Feuerschein und all die siebzehn anderen, die sich gegen den vollständigen Krieg entschieden hatten.
"du weißt, dass Himmelsglanz im Augenblick nicht aus ihrer Wahlheimat herauskann?" fragte Wolkenlicht. "Sonnentanz hat es ja überdeutlich gesagt, Wolkenlicht. Es war ein Versuch, das unumkehrbare noch einmal hinauszuzögern. Denn euch ist ja klar, dass mit dem ersten nicht an der Ermordung unserer Kinder beteiligten Zauberstabträger die gesamte magische Welt unseren Tod will, ob von der von Waldfrauenblut verdorbenen gelenkt oder noch frei im eigenen Handeln und Denken. Ich stand ja auch kurz davor, dem vollständigen Krieg gegen alle Zauberstabträger zuzustimmen. Doch ist mir ja eingefallen, welchen Verlust er für uns bedeutet und ob Mokusha uns dann auch wirklich in sich aufnehmen und behüten wird, wenn wir alle Nachgeborenen auf einmal in den Kampf führen. Aber was ich Sonnentanz sagte halte ich aufrecht. Nur der vollzählige Rat der ältesten darf bestimmen, ob familienfremde Kinder Mokushas ihr Haar und damit ihre Kraft lassen müssen. Würde der Rat so entscheiden hätte die Widerspenstige aus Spanien längst ihr ganzes Haar eingebüßt. Doch was hat der Rat beschlossen, sie darf nicht auf die Insel der Beratung und auch nicht aus ihrem eigenen Land hinaus, zumindest nicht so, dass sie von einer von uns angetroffen werden kann."
"Woran sie sich nicht gehalten hat", sagte Wolkenlicht, die wie Morgenröte einen festen Platz im Ältestenrat besaß und sich gut an das Treffen in der Schlucht der schwarzen Berge erinnerte, wo auch der zauberstarke junge Mann Julius anwesend war. "Das ist wahr. Doch weißt du auch, dass der Rat diesen Besuch als unüberlegte Handlung gewertet hat. Ich habe wenigstens ein reines Gewissen, wenn ich es dem Rat der Ältesten vorbringe, ob Sonnentanzes Drohung gültig ist und nach ihrem sehr schwer zu erringenden Sieg vollstreckt werden darf", sagte Morgenröte. Dann gebot sie als gerade älteste von ihnen, dass sie sich wieder zu ihren Familien zurückzogen und ihnen beistanden.
Nun flogen sie alle wieder davon, die einen nur wenige hundert Schritte weit, die anderen in großer Höhe über das weitläufige Waldgebiet im Norden Russlands oder in Richtung Süden an den Rand der unendlich erscheinenden Steppe. Alle wussten, dass es nur noch zwei Tage dauerte, bis die Entscheidung über Sein oder Nichtsein fiel.
Béatrice verbot Julius, gleich nach der Rückkehr aus den Staaten in das wieder aufgebaute Zelt mit den gerade wieder zum Laufen gebrachten Arkanetrechnern zu eilen. "Du kommst erst mal mit uns allen ins Haus zurück und übernachtest mit uns. Heilerinnenanweisung!" hatte sie gesagt. Julius hatte erst widersprechen wollen. Doch die Unerbittlichkeit in Béatrices rehbraunen Augen gemahnte ihn, sich nicht doch noch mit ihr anzulegen, wenn es nicht wirklich sein musste. Abgesehen davon kamen die gerade im Rechnerraum arbeitenden auch noch eine Nacht ohne ihn aus. Er schickte nur seine auf jeden Fall sehr gut erholte Eule Francis zu Nathalie Grandchapeau, dass er wieder in Frankreich war und ihre Post erhalten hatte. Dann mentiloquierte er Catherine an und meldete sich auch bei ihr zurück. "Gut, bleib bitte in Millemerveilles oder komm nur zu uns oder in eines deiner beiden Familienstammschlösser an der Loire", war Catherines Gedankenantwort.
Es war, als hätte der Umzug nach Paris nicht stattgefunden. Die Rechner in dem gegen magische Einwirkungen abgeschirmten runden Zelt liefen stabil und hielten über die angeschlossenen Satellitenrouter Verbindung zum Inter- und Arkanet. Als er sein eigenes Postfach überprüfte fand er dort eine erschütternde Nachricht.
Hallo Julius!
Erbitte schnellstmögliche Antwort auf diese Nachricht. Eile geboten! Es besteht die Möglichkeit, dass die schwarze Dame alle großen Lichtschalter der Erde auf einmal ausdrücken will. Anzeichen sprechen für einen feindlichen Übernahmevorgang verschiedener Fachleute für Zivilluftfahrt zum Zwecke einer dauerhaften Beeinträchtigung der gesamten Welt. Da nicht bekannt ist, wann der Plan ausgeführt wird ist höchste Eile geboten! Gefahr im Verzug!!
Oganduramiria geb. Olarammaya
Im Anhang dieser mit der Adresse der Sonnenkinder versehenen Botschaft in der alten Sprache fand Julius mit einem zwischen ihm und den Sonnenkindern vereinbarten Passwort verschlüsselte Texte in einer Archivdatei. Als er die PDF-Dateien entpackte musste er jede einzelne von denen mit dem Passwort öffnen, dass er mit Gwendartammaya vereinbart hatte. So las er nun, was Oganduramiria geschrieben hatte. Aber wenn das mal Olarammaya gewesen sein sollte hieß dass, dass das kleine Mädchen, in dem der Geist eines ehemaligen Kundschafters Anthelias wiederverkörpert worden war, mittlerweile selbst Mutter geworden sein musste, weil nur dann die Endung -miria vergeben werden durfte. Ja, und Oganduran hieß Anerkennung, Zustimmung. Also hatte ihm eine Frau geschrieben, die ihre Mutterschaft anerkannte. Ja, es musste sich wohl einiges bei den Sonnenkindern getan haben. Er verschob die E-Mail-Anhänge in einen für wichtige Zwischenergebnisse angelegten Ordner und löschte die Originalmail. Dann prüfte er den Zeitunterschied zwischen hier und der Insel der Sonnenkinder. Danach beschloss er, erst einmal selbst zu recherchieren, was Oganduramiria herausgefunden hatte. Als er das Ergebnis überprüft hatte und leider zur selben Schlussfolgerung gelangt war druckte er die von ihm erzielten Rechercheergebnisse in mehreren Kopien aus und verließ mit der für Direktgespräche mit Nathalie bereitgestellten Schallverpflanzungsdose das Elektrozirkuszelt.
"Madame Grandchapeau, wurde darauf hingewiesen, dass möglicherweise jemand mit Hilfe von mehr als zweitausend Verkehrsflugzeugführern eine Serie von Anschlägen auf die Elektrizitätsversorgung auf der ganzen Welt planen könnte. Ich erbitte einen sicheren Treffpunkt zur Dokumentenübergabe."
Verstanden. Treffen im Château Florissant in fünf Minuten, falls ich hier noch disapparieren kann."
"Wieso, machen diese Fanatiker von Sanguis Purus echt schon Stress?"
"Auf den Punkt, Julius. Vor dem Ministeriumsgebäude steht ein zwei Meter hohes Stundenglas, an dem ein Wechselschriftplakat hängt, auf dem steht: "Noch drei Stunden, fünfzig Minuten und dreißig Sekunden bis Fristende."
"Und Monsieur Chevallier lässt das Ding nicht wegräumen?" fragte Julius. "Doch, hat er versucht. Aber diese unverschämte Restzeitanzeigevorrichtung ließ sich nicht abtransportieren, nicht einmal umdrehen. Verschwindezauber verpufften daran. Das Ministerium wurde für den Publikumsverkehr geschlossen. Aber ich sehe zu, in fünf Minuten im Schloss der Eauvives zu sein. Ich habe das schon mit Antoinette Eauvive abgestimmt, dass wir uns dort zu direkten Konsultationen treffen, weil Demetrius und ich nicht all zu lang nach Millemerveilles kommen dürfen."
"Gut, ich bin in fünf Minuten da", bestätigte Julius und klappte die Silberdose wieder zu.
Zur vereinbarten Zeit traf er Nathalie im kleinen Besprechungszimmer des Château Florissant, das Julius von den Familientreffen her kannte. Dort berichtete er ihr und dem mithörenden Demetrius, was er herausgefunden hatte. Er berief sich auf einen sogenannten Suchdämonen, der nach sich häufenden Merkwürdigkeiten suchte und diese zurückmeldete. Nathalie nahm ihm das sofort ab. "Der Kongress internationaler Zivilluftfahrt in Frankfurt am Main wurde von dreitausend ausgebildeten Piloten und Copiloten besucht. Während des Kongresses kam es zu einem kurzfristigen Stromausfall im Bürogebäude. Der Flugverkehr wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Allerdings mussten mehrere Rechner wegen Festplattenschäden neu eingerichtet und mit den zum Glück vorhandenen Sicherungskopien bespielt werden. Als Ursache wurde eine Energieverteilungsstörung in der Nähe des Kongressraumes ausgemacht. Jetzt kommt's, darüber wurde kein Wort in den Medien berichtet, obwohl der Stromausfall und die Wiederherstellung des Computernetzwerkes eine Stunde gedauert hat. Laut dem Gastgeber, der Fraport AG, also der Firma, die den Flughafen betreibt, sollte eine Panik vermieden werden, sofern ja keine Störung des Flugbetriebes stattfand. "Mein Rechner wurde darauf angesetzt, alle Teilnehmer zu ermitteln und deren gegenwärtigen Standort zu finden, was jedoch dauern kann, weil diese Daten nicht so frei im Internet herumliegen. Aber kurz nach dem Kongress häuften sich die Anfragen im Internet, wie weit ein nichtnukleares Kraftwerk von einem Flughafen entfernt ist und in welcher Richtung anzufliegen ist. Natürlich wurde darauf geachtet, es nicht so einfach zu fragen, sondern in Form von Landkartenabfragen gemacht. Aber die Häufung, dass eine Wegbeschreibung zwischen Flughafen und E-Werk abgefragt wurde ergibt über 2900 Treffer. Die Fragen kamen über Stellvertreterrechner, die wohl mit weiteren abgesicherten Rechnern korrespondieren. Wenn ich da jetzt eine Suche starte könnte das der NSA in den Staaten oder vergleichbaren Überwachungsdiensten in Russland, China und Großbritannien auffallen und im Gegenzug Suchen nach der Quelle der Abfrage eingeleitet werden. Die Arkanetroutinen hängen zwar die meisten Suchprogramme ab und können gut tarnen und verstecken. Aber wenn schon eingegrenzt werden kann, woher die Suchanfragen kommen ist das zu viel. Abgesehen davon müssten die bei den erwähnten Überwachungsdiensten auch drauf kommen, dass da ein paar Anfragen zum Thema Flughäfen und Stromversorgung zu viel im Netz herumfliegen. Aber offenbar findet dazu nichts statt."
"Moment, für kleine Bauchturner", cogisonierte Demetrius. "Wenn du jetzt nach diesen Flugzeuglenkern suchst würde es trotz aller Tarn- und Spurtilgungsfunktionen auffallen, weil es so viele auf einmal sind und damit die Geheimhaltung der Zauberei gefährdet?"
"Genau. Ja, und so wie meine Programme das bisher rausgefunden haben interessiert sich sonst keiner für diese Häufung von Anfragen, obwohl die NSA da eigentlich genau drauf gucken muss. Aber deren Schlagwortsuchprogramme sind wohl nicht darauf abgestimmt."
"Haben wir noch Kontakt zum LI?" wollte Nathalie wissen. Julius bejahte es. "Dann geben Sie die Anfrage bitte an die weiter. Soweit ich weiß sind dort auch Leute, die an geheime Rechenzentren herankommen."
"Maman, die Frage ist doch, was wir machen, wenn wir wissen, wo die ganzen Flugzeuglenker sind? Wenn die in England oder Frankreich oder den Staaten sind könnten wir und die anderen freien was machen. Aber die in Deutschland, Italien und den anderen Ländern unter Ladonnas Fuchtel werden uns da nicht helfen, sollte sie wirklich dahinterstecken."
"Dann ändern wir das Einsatzprofil von Operation "Liberation Europe"", erwiderte Nathalie. "Das müssen wir eh, weil für den Fall, dass diese Piloten von Ladonna unterworfen wurden muss jemand in deren Nähe, der selbst schon immunisiert wurde. Wie wir mittlerweile wissen erspüren sich Feuerrosenabhängige und Goldlichtgeprägte gegenseitig." Julius nickte zustimmend. "Ja, und was passiert dann mit denen?" fragte Demetrius. "Wenn die einfach so verhaftet werden und verschwinden werden sich alle für die zuständigen Leute fragen, warum sie verschwunden sind. Wann war dieser Kongress?" Julius nannte das Datum und schickte sofort nach, dass es zu lange her sei, um die Piloten wegen Verdachts auf Viruserkrankungen in Quarantäne zu stecken. "Aber unsere Agenten könnten denen irgendwas anhängen, dass sie bis auf weiteres nicht arbeiten können, bis wir sie alle zusammen haben und dann den Unterwerfungsvorgang umkehren können."
"Wir, kleiner Kullerwichtel?" fragte Nathalie ihren ungeborenen Sohn. "Gut, die, die schon alleine laufen, atmen und essen können", cogisonierte Demetrius. Offenbar boxte oder trat er seiner Mutter in den Bauch, weil diese kurz zusammenzuckte. "Frechling", schnaubte sie. "Doch so schlecht ist die Idee nicht. Die, die wir losgeschickt haben können alle kleineren und größeren Körpergemeinheiten. Ich hasse es, wenn Machiavelli recht kriegt", knurrte Nathalie. Julius musste erst überlegen, wen oder was Nathalie meinte. Dann fiel ihm ein, was seine Mutter über diesen italienischen Staatstheoretiker erwähnt hatte. Dann fiel ihm noch was ein: "Ladonna kann unmöglich mit 3000 Piloten Gedankenkontakt halten, um denen gleichzeitig zu befehlen, ihre nächsten erreichbaren Anschlagsziele anzufliegen, am besten noch mit vollgetankten Maschinen wie beim elften September. Das heißt sie muss Koordinatoren haben oder bereits bei der Rekrutierung einen Angriffszeitpunkt ... Klar, wieder ein elfter. Deshalb häufen sich auch die Anfragen im Internet, immer von woanders aus. Ich kann Anfragen an die noch freien Zaubereiministerien schicken."
"Ja, und schicke denen gleich, wie sie die Verdächtigen verschwinden lassen können, ohne dass es auffällt!" ergänzte Demetrius. "Hallo, ich bin seine Vorgesetzte, ich gebe Anweisungen", entgegnete Nathalie. Dann erarbeiteten sie einen detaillierten Plan wie die betroffenen Piloten gefunden und bis zu einer Umkehr des Unterwerfungsvorgangs in Gewahrsam genommen werden konnten.
Wieder zurück im Rechnerraum in Millemerveilles schrieb Julius alle dafür nötigen E-Mails und hängte die von ihm recherchierten Ergebnisse an. Wenn jetzt dutzende von Suchprogrammen anliefen konnte sich die NSA dumm und dämlich suchen.
Nur wenige Minuten später traf eine Mail aus dem LI ein. Brenda Brightgate erwähnte darin, dass sie mit M. M. ein Suchlaufüberdeckungsprogramm erarbeitet hatte, mit dem sie bei direktem Zugriff auf die Rechner der CIA, NSA, DEA und des FBIs die USA unbemerkt nach bekannten Verdächtigen absuchen konnte. Für die europäischen Länder galt, dass die Widerstandsbewegung in Deutschland mithelfen mochte, die Gesuchten zu finden und einstweilen dienstunfähig zu machen, aber so, dass keine bleibenden Schäden entstanden.
Als er das alles erledigt hatte empfing er Létos betrübte Mitteilung, dass sich vierzig Familienmütter der russischen Veelas für den Krieg gegen alle Zauberstabnutzer entschieden hätten und es übermorgen losginge, wenn sie bis dahin nicht den Ältestenrat einberufen konnten. Dann teilte sie ihm mit, dass sie 294 Kraftbündel erspürt hatte, als sie mit ihren Kindern und Enkeln die Landesgrenzen abgesucht hatte. Also brauchte er 294 rote Steine. Da er die Anweisung hatte, nach Möglichkeit nicht außerhalb von Schutzbezauberungen herumzulaufen brauchte er Rückendeckung und seinen Heilsstern. Doch um die Steine zu bezaubern konnten die ihm auch angeliefert werden. Er suchte im Internet nach mehreren Filialen von Juwelieren, die Modeschmuck mit roten Steinen anboten. Er stellte fest, dass selbst billige Imitationen zusammen mehr als zehntausend Euro kosten mochten. Auch wenn Machiavelli bei den Piloten noch angewendet werden konnte musste er nicht echt zum Dieb werden, um die Mittel zu bekommen, die der Zweck heiligte. Da kam ihm die Idee, bei allen noch vertrauenswürdigen Hexen Frankreichs nach roten Schmucksteinen zu fragen. Das konnte er über Vivianes Bild machen, das über die Bilder in Beauxbatons auch mit den anderen Familien verbunden war.
"Mittagszeit!" meinte Jacqueline, die Julius in Ruhe hatte werkeln lassen. "Schon! Ui, stimmt, heute war keine Konferenz, weil Nathalie Grandchapeau diese abgesagt hat.
Als Julius zum Mittagessen in das eingerichtete Kantinenzelt ging hörte er schon von draußen die aufgeregten Stimmen aus dem Radio. Er beschleunigte seine Schritte. Dann verstand er genau, was gerade gesagt wurde.
"An die dreitausend hellrot gekleidete Leute, fast alles Zauberer umstehen das Ministerium und versuchen, dort einzudringen. Alle Türen sind zu. Wieder versuchen sie es mit Sprengzaubern. Keine Wirkung. Oh, blaue Blitzstrahlen. Fünfzig Leute weichen laut schreiend zurück."
"Ruhe!" rief einer aus dem Hintergrund und versuchte wohl einen Schweigezauber. "So'n Pech aber auch, Dickblüter", bemerkte der Radiosprecher. "Für alle, die später zugeschaltet haben. Sanguis Purus hat vor zwei Minuten ein großes Stundenglas zum Teleportal umgewandelt und an die dreitausend .. Ja, brecht euch doch die Zauberstäbe ab", hörte Julius Brunos Stimme. "Jedenfalls soll das Ministerium gestürmt werden. Der Kollege vom Zaubererweltecho und ich stehen hier im Schutz einer besonderen kleinen Kuppel, die zwar Schall durchlässt aber keine hundsgemeinen Flüche. Oh, gerade sind wieder fünfzig böse Jungs in hellroten Umhängen ...." Rums! "Hui, das war ein Mondlichthammer. Aber wir sind noch da und direkt dabei, werte Damen und Herren. Die Rue de Camouflage wimmelt von Zauberern in Hellrot, die alle versuchen, in das Ministeriumsgebäude reinzukommen. Viele von denen sehen sehr verstört aus, weil das nicht klappt und ..." Ein lauter Pfeifton erklang. Dann war Bruno wieder zu hören. "Die haben uns mit dem Sirennitus-Zauber beharken wollen. Aber die Gleitschallohrenschützer aus der Zwirnsstube von Millemerveilles sind ihr Gold wert, meine Damen und Herren. Jetzt stehen schon hundert von den Hellroten um uns herum und zielen mit ihren Zauberstäben. Also, wenn es gleich knallt und dann nur noch rauscht wurden wir ermordet. Ich erkenne mindestens zwei Mardirouge-Angehörige und den erst vor einem Jahr mit Beauxbatons fertig gewordenen Martin Lepont. Ah, sie testen unsere Pressekabine auf Erdbebentauglichkeit!" Ein lautes tiefes Dröhnen klang. Dann prasselte es mehrmals. "Ja, Leute, habt ihr echt gedacht, wir hätten nichts von Sardonias Kuppel gelernt?!" rief Bruno provozierend. Dann hörte Julius mindestens zehn Stimmen zugleich "Stupor!" rufen. Es bollerte laut. Dann klangen verstörte Ausrufe. "Diese Saubande hat einen schwarzen Spiegel in ihre Zwergkuppel eingewirkt." "Episkye!" Es blubberte mehrfach. "Danebengetippt, werte Reinblutrebellen. Die Kuppel leitet alles um sie herum was uns böses tun soll. Heilzauber zerblubbern daran", sagte Bruno und kommentierte weiter. "Ui, gerade ist aus dem Ministeriumsgebäude eine violette Feuerwalze herausgerollt und hat alle im Weg stehenden umgerissen. Öhm, die liegen da wie tot. Ob sie es wirklich sind ..." "Avada Kedavra!" rief eine entschlossene Stimme. Julius fuhr zusammen. Der Todesfluch galt als unabwehrbar, wenn man ihm nicht vorher ausweichen konnte. Es knackte und säuselte. Dann war für einige Sekunden Totenstille im Radio. "Verdammt, die haben Bruno ermordet!" rief Pierre Marceau. Doch dann brauste es im Radio wie ein vorbeijagender Tornado. Es klapperte und rumpelte. Dann keuchte Brunos Stimme: "Hier ist Radio freie Zaubererwelt vom Zentralplatz von Millemerveilles mit einer neuen Meldung. Robert Mardirouge und sein Bruder Reinier haben versucht, uns mit dem unverzeihlichen Fluch zu ermorden und dabei den Notfallportschlüssel ausgelöst, den ich mir und meinem Kollegen vom anderen Sender umgebunden habe. Offenbar hat die Führungsetage der Reinblutrebellen beschlossen, keine Reporter mehr in ihrer Nähe zu dulden. Das sind jetzt Mordverdächtige, Verbrecher. Bleibt zu hoffen, dass diese Kriminellen nicht am Ende des Tages das Zaubereiministerium leiten. Dann, meine geschätzten Zuhörerinnen und Zuhörer, kann ich nur raten, innerhalb unseres Landes nach guten Verstecken zu suchen, solange die Barriere um unser Land noch besteht. Das Zaubereiministerium wird gerade von über dreitausend entschlossenen Zauberern angegriffen. Wer die alle sind konnten wir nicht erkennen. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass viele von denen nicht ganz freiwillig mitmachen. Da Sie sicher mitbekommen haben, dass jemand uns mit dem unverzeihlichen Todesfluch angreifen wollte steht dringend zu befürchten, dass auch die beiden anderen Unverzeihlichen angewendet werden. Leute, das ist kein netter Witz mehr. Was ihr da macht ist superkriminell und durch echt nichts zu rechtfertigen."
"Mein Sender wird gerade gestürmt!" rief eine andere Zaubererstimme. Julius kniff sich mehrmals in seinen Arm. Das passierte doch nicht echt!
"Bin ich hier im Kino?" fragte Jacqueline Julius von hinten. Er fuhr zusammen und wandte sich um. Dann sagte er: "Hui, hast du mich erschreckt, Jacquie. Nein, das ist kein Kinofilm und leider auch kein Albtraum. Das passiert echt gerade."
"Monju, bist du im Kantinenzelt?" hörte er Millies Gedankenstimme. "Ja, bin ich. Wir hören hier gerade den Untergang der französischen Zaubererweltkultur mit", schickte er zurück. "Die haben das große Besteck ausgepakt, nachdem denen keiner die Tür aufgemacht hat, Monju. Offenbar haben die mit wem gerechnet, der ihnen von innen aufmacht. Jetzt wollen die es wohl wissen."
"Ja, nur dass die Kollegen im Ministerium jetzt in der Falle sitzen", gedankenantwortete Julius.
"Ja, oder die stärkste Festung der Welt verteidigen. Ich komm mal eben rüber, falls es in eurem Kantinenzelt keine Zutrittsbeschränkung gibt."
"Als Reporterin darfst du den Koch jederzeit interviewen", schickte Julius zurück. Statt einer Antwort ploppte es neben ihm, und Mildrid stand in ihrer vollen Lebensgröße von 1,95 Metern neben ihm. Nicht wenige fuhren zusammen. "Keine Panik, ich will nur sicherstellen, dass mein Süßer auch genug zu Essen abbekommt, wo sich hier alles drängelt", sagte sie in die Runde. Einige lachten, darunter Jacqueline Richelieu und Pierre Marceau.
"Haben Sie noch Verbindung, Kollege Dusoleil?" hörten sie den Reporter vom Zauberweltecho. Bruno bestätigte es. "Offenbar hat wer versucht, meinen Sender zu übernehmen. Aber Sicherheitsvorkehrungen des Ministeriums haben die Angreifer zurückgeschlagen. Allerdings will man im Moment keine Direktübertragung schalten, bis klar ist, was beim Ministerium geschieht."
"Ich halte Meloverbindung zu Ma. Die haben beim ersten Ansturmversuch die meisten mit Portschlüsseln in den Musikpark geschickt, wo sie laut Alarmplan Paukenschlag auf das Signal Schlussakkord warten sollen. Kommt es nicht in einer Stunde, ist das Ministerium überrannt worden."
"Haben die anderen auch noch Fluchtschlüssel?" fragte Julius. "Ja, nur dass die gerade nichts bringen, weil die Saubande einen Arrestdom hochgezogen hat. Da geht gerade noch Melo zwischen Mutter und Kind durch."
"Öhm, wieso haben wir alle das nicht mitbekommen, dass da so eine Kampftruppe aufgestellt wurde?" fragte einer der älteren Zauberer aus dem Ministerium, der wohl die Kantinenelfen überwachte.
Millie wusste darauf keine Antwort. Sie sah nur auf das Buffet. "Julius, du bist glaub ich zum essen hier, richtig?" Er bejahte das. "Dann iss bitte was!" sagte sie. Die anderen hier grinsten. "Ihr bitte auch. Ich bin Pflegehelferin und habe zwei Heilerinnen in Rufweite, die mir das nicht verzeihen, wenn ihr hier alle verhungert, weil in Paris die Hütte brennt. Da haben die auch nichts von."
"Wie lustig", knurrte der ältere Zauberer. "Außerdem stehen wir gerade nicht für Interviews zur Verfügung."
"Das habe ich auch gar nicht behauptet", erwiderte Millie ruhig. Dann verfiel sie in konzentrierte Haltung. Julius gebot dem älteren Herren durch ein Antippen seiner Lippen Schweigen. Dann wartete er darauf was sie sagte. Sie sah sehr angespannt aus. Julius fürchtete schon, gleich sehr schlechte Nachrichten zu hören zu kriegen.
"Wieso hat dieser Dickwanst die Tür nicht aufgemacht. Der hat doch nicht geplaudert, oder?" zischte Barabbas Mardirouge, der zusammen mit seinen ältesten Söhnen und Neffen den Vormarsch der Gedungenen beobachtete. Dann hörte er, wie zwei seiner Söhne den Todesfluch ausriefen und hörte zeitgleich mit dem unheilvollen Sirren einen scharfen Knall. "Ihr vollidioten!" rief er und rannte in die Richtung, wo seine jüngeren Söhne und zwei Leponts standen. "Öhm, die sind mit ihrer mistigen Abwehrglocke weg, geportschlüsselt", stieß einer der um einen leeren Kreis stehenden. "Wörtlich auslösbarer Portschlüssel, eingestellt auf das Wort Avada, ihr Volltrolle. Die sind garantiert in Millemerveilles und posaunen herum, dass ihr die umbringen wolltet. Wen hat der Wichtel geritten, den Todesfluch zu benutzen?"
"Das war ich, weil Sie doch gesagt haben, keine Reporter zusehen und erst recht nicht berichten zu lassen", sagte der Enkel von Gerome Lepont, dem Familienpatriarchen einer der ältesten reinblütigen Familien Frankreichs.
"Soso, habe ich das gesagt, dass wir jeden Umbringen, der uns stört? Wir wollen nach Möglichkeit nur Gefangene machen. Warum hat das mit dem Schallverpflanzungshemmer nicht geklappt, ey?!"
"Weil die Rumblöker vom Radio einen Gegenzauber haben. Die waren darauf gefasst, und diese mistige Kuppel hat echt alles geschluckt oder auf uns zurückgespuckt."
"Tja, da dürft ihr froh sein, dass die lieber den schnellen Absprung gemacht haben, statt dass euch euer grüner Todesblitz nicht in die eigenen Eingeweide gefahren ist. Wir wollen Gefangene, die uns verraten können, wie und wo im Ministerium an die Akten heranzukommen ist. Ohne diese Zugänge können wir gleich unser Land an die Spanier, Italiener und Belgier abtreten. Leute, wir stehen unmittelbar davor, Geschichte zu schreiben und die Drecksentwicklungen der letzten hundert Jahre zu bereinigen. Wir haben jetzt genug Leute, die für uns durch alle Feuer gehen. Da werden wir nicht wegen solcher Idioten wie euch auf den letzten Metern aus der Bahn fliegen."
"Monsieur Mardirouge, der Arrestdom steht. Wenn da noch wer im Gebäude ist kommen die nicht mehr raus", sagte einer der Chaudchamps. "Hat sich dein Vetter gemeldet, warum er uns nicht den Seiteneingang aufgemacht hat?" fragte Mardirouge. "Nein, kein Kontakt, nicht über Melo und auch nicht über die Signalmanschette. Entweder hat der sich in den Umhang gepinkelt oder ist von Chevalliers Leuten noch vor dem Umdrehen des Schlüssels kassiert worden. Aber gleich haben wir die Haupttür offen. Dann gehen wir mit den Fluchbrechern durch alle Etagen."
"Wie ich den zwei Flubberwurmhirnen hier gerade gesagt habe machen wir nur Gefangene, keine Toten. Ich will mir das nicht ans Bein hängen lassen, über Leichen braver Beamter gestiegen zu sein, um auf den Ministerstuhl zu kommen."
"Verstanden, Monsieur Mardirouge", rief der aus dem Haus Lepont stammende Einsatzgruppenleiter.
Inzwischen hatten hundert von Mardirouges Mitstreitern die vorbehandelten Steine für einen Arrestdom ausgelegt und alle ausgewählten und durch die eine oder andere Art zum Mitmachen gebrachten Kämpfer sich in einem hundert Meter durchmessenden Kreis versammelt. Nun schoss aus den Ankersteinen weißblaues Licht, das sich zu einer immer dichteren Kuppel aufspannte. Wer jetzt noch nicht aus dem Ministerium verschwunden war kam nun auch nicht mehr heraus. Doch was brachte es, wenn sie nicht hineinkamen? Der eigentliche Plan war in dem Moment hinfällig geworden, als weder François Lepont noch Auguste Chaudchamp es geschafft hatten, die Notfluchtausstiege von innen zu öffnen und den Haupteingang zu entriegeln. So mussten sie sich gegen weiterhin starke Rückprellzauber wehren. Selbst die großen Schilde der Mitstreiter halfen nichts gegen diese violetten Feuerwalzen, die in unregelmäßigen Abständen aus dem Gebäude rollten und alles niederwarfen, was ihnen in den Weg kam. Dann erschütterten diese Feuerwalzen auch noch den Arrestdom und brachten ihn wie eine riesenhafte Glocke zum nachschwingen. Dabei wurde die darunter festgehaltene Luft miterschüttert, dass die Kämpfenden sich wie von sprunghaft ihre Richtung wechselnden Sturmböen gepackt und herumgeworfen wähnten. Doch noch hielt der Arrestdom.
"Barabbas, ich denke, wir sollen es lassen. Wir wurden verraten und erwartet", knurrte Gerome Lepont, der älteste seiner Familie und somit der alten Tradition nach deren oberster Befehlshaber.
"Hat dir ein Wichtel ins Hirn gekackt, Gerome? Jetzt wo die uns alle hier zu sehen bekommen haben sollen wir uns zurückziehen und womöglich auf Chevalliers Fangtruppen warten?! Nein! Wir brechen da jetzt durch und zwingen die Ventvit, ihren Stuhl zu räumen. Wenn wir schon den Reporter vom Zauberweltecho nicht mehr zur Verfügung haben sendet eben Edmond die Rücktrittsankündigung von Ventvit und ... Obacht!!" Wieder rollte eine violette Feuerwalze aus dem Gebäude und erwischte hundert vorausstürmende Mitstreiter hinter silbernen Schilden. Diese wurden einfach niedergeworfen und blieben reglos liegen. Barabbas wusste nicht, ob sie tot waren. Falls ja hatte er die legitime Begründung dafür, die noch im Ministerium steckenden Leute festnehmen und wegen Verrates am magischen Volk aburteilen zu lassen. Die mit magischem Recht befassten Angehörigen der vier Familien würden den Kern des neuen Gamots bilden und als Notfalltribunal wirken, wenn es gelang, die restliche Zaubererwelt von den Verfehlungen und Unterlassungen der amtierenden Administration zu überzeugen. Immerhin war denen im Ministerium keiner von außen zu Hilfe gekommen. Hieß das, dass man ihn eigentlich gewähren lassen wollte? Oder hieß es, dass die Ministerin und ihre Günstlinge aus den Familien, die ihr die Macht ermöglicht hatten, sich ihrer Sache sicher waren? War er sich seiner Sache noch sicher?
Wieder walzte eine violette Flammenwand über den Hauptplatz. Auf die Idee, einfach die Schildzauber aufzuheben kam keiner der Anstürmenden. Erneut wurden alle wie von mehreren innerhalb einer Sekunde die Richtung wechselnden Sturmböen herumgeworfen und kamen aus dem Rhythmus.
Da ist der Güterversorgungsschacht!" rief der Älteste aus der Louvoissippe, dessen Neffe eigentlich Zaubereiminister hatte werden sollen, wenn sich die anderen alten Familien nicht gegen ihn verschworen hätten.
Als keine weitere Feuerwalze mehr aus dem Gebäude rollte und sich der Arrestdom fest und undurchdringlich über allen wölbte gingen die noch über zweitausend mehr oder weniger motivierten Angreifer mit Reducto-Flüchen gegen das gebäude vor. Doch diese hinterließen an dem Eingangstor nur gezackte Schrammen. Als sie es mit Aufweichungszaubern und dem schnellen Rostzauber versuchten prallten die Zauber wie von einer meterdicken Spiegelfläche ab und krachten in die weißblaue Arrestkuppel. Goldene Leuchtsphären jagten wie ungestüme Feuerräder um die aufgespannte Kuppel, um im Scheitelpunkt zu goldenen Funkenschauern zu werden, die laut prasselnd und knisternd auf den Boden schlugen. Fünf Mitstreiter von Sanguis Purus wurden von Ausläufern dieser Entladung getroffen und brachen zusammen. Mardirouge sah, dass sie sich verformten, als hätten sie kein festes Knochengerüst mehr. "Nicht die Aufweicher, die lösen auch den Kalk in den Knochen auf!" rief Mardirouge. Louvois dirigierte seine Abteilung nun so, dass drei Reihen entstanden. Die vorderste Reihe fächerte aus, dass sie die vierfache Torbreite einnahm. Die mittlere Reihe stellte sich so, dass sie genau in en Lücken der vordersten Reihe standen und jeder mit je zwei aus der Vorderreihe ein Dreieck bildete. Die hintere Reihe stand am dichtesten zusammen, so dass alle drei Reihen ein mit der Breitseite zum Ministerium ausgerichtetes Trapez nachbildeten. Mardirouge apparierte die fünfzig Meter bis zu Hector Louvois hinüber und fragte ihn, was er vorhatte. "Wirst du gleich sehen, Barabbas", tat der Patriarch der Louvois-Sippe geheimnisvoll. Dann sprach er für Mardirouge unhörbar, offenbar über den Vocamicus-Zauber. Jetzt erschufen die in der Mittleren Reihe stehenden tiefschwarze, halbdurchsichtige Wände, die drei mal drei Meter maßen. Als eine Reihe solcher Wände entstanden war klafften zwischen denen noch Lücken von einer Mannesbreite. Jetzt errichteten die Kämpfer der hintersten Reihe ebenfalls solche Wände, die genau die verbliebenen Lücken abdeckten. Zwei Reihen schwarzer Spiegel wiesen nun auf das Haupttor. Die aufgestellten Angreifer zauberten noch die bläulich schimmernden kopfblasen gegen schädlichen Qualm und Gase. Louvois grinste überlegen. Sein silberweißer Bart erbebte in vorfreudiger Erwartung. Er sah seinen Mitstreiter Mardirouge an und empfahl ihm, ebenfalls eine Kopfblase zu zaubern, allein schon wegen des erwarteten Lärms. Mardirouge musste nicht fragen, was Louvois damit meinte. Er befolgte den Ratschlag. Auch die anderen Streiter zauberten Kopfblasen.
"Und los!" rief Hector Louvois nun ohne Vocamicus-Zauber.
Nun schleuderten die am nächsten zum Tor postierten Streiter gezielte Flüche gegen die schwarzen Spiegelwände. Dabei wählten sie Winkel, die die mit fünffacher Wucht zurückprallenden Zauber nicht auf sie selbst treffen ließen, sondern gemäß dem gültigen Reflektionsgesetz im entgegengesetzten Winkel auf das Tor schleuderten. Es krachte und donnerte wie Dutzende abgefeuerte Kanonen. Unter dem Dauerbeschuss der fünffach stärker zurückprallenden Flüche platzten glühende Splitter vom Hauptzugangstor. Mit jeder magischen Salve wurden diese größer, bis das Tor nur noch aus gelbglühenden Einzelteilen bestand, die nach der zehnten Salve endgültig aus der Toröffnung platzten. Unvermittelt flutete bläulicher Nebel aus dem freigesprengten Tor. Jetzt wusste Mardirouge, warum sie alle Kopfblasen hatten zaubern sollen. Denn der blaue Nebel dehnte sich so schnell aus, dass ein Weglaufen nicht möglich war. Außerdem sank er während der Ausdehnung zu Boden, so dass anders als bei einem natürlichen Feuer ein Wegducken unter den Dunst sinnlos war. Zwar waren die Streiter mit ihren Kopfblasen vor der Schadwirkung des Nebels geschützt. Doch der ihnen entgegenwehende Brodem besaß zwei weitere unangenehme Eigenschaften. Er wirkte wie eine immer schwerere Decke aus mit Eiswasser getränktem Leinenstoff. Die Mitstreiter Mardirouges merkten, dass sie sich immer schwerfälliger bewegen konnten. Das war niemals üblicher Rauschnebel.
"Ich drehe Chaudchamps Burschen den Hals um, wenn ich ihn in die Finger kriege", bibberte Mardirouge, der merkte, wie seine Glieder immer steifer wurden. Dieser vertückte Nebel drohte sie alle einzufrieren. Tatsächlich sah er kleine Eiskristalle auf seinem Umhang wachsen und meinte auch, dass ihm die Sicht eintrübte, weil auf der Kopfblase Reif wuchs. Am Ende mochten sie kompakte Eiskugeln zwischen den Schultern tragen. Atmen war wegen des Kopfblasenzaubers noch möglich, aber mit der Sicht war es dann nichts mehr.
"B-b-o-l-li-d-d-dius!" bibberte Mardirouge mit schräg nach oben weisendem Zauberstab. Doch er brachte nur einen Strahl aus grün-blauen Funken zustande, die auf Halbem Weg zum immer undeutlicher zu sehenden Scheitelpunkt des Arrestdomes zu faustgroßen Feuerbällen anwuchsen und auseinanderplatzten. "Bist du völlig vom wilden Wichtel gebissen", knurrte Louvois scheinbar ohne Auswirkungen des Eisnebels. Dann schlug er über Mardirouge einen Kreis mit seinem Zauberstab. Im nächsten Moment stand dieser in einer purpurnen Flammensäule. An dieser zerstob der Nebel nun knisternd und knackend. Mardirouge fühlte, wie die lähmende Eiseskälte langsam nachließ. Es dauerte mehrere Minuten, bis Louvois ausrief: "Okay, der Vereisungsdunst ist erledigt! Weiter vorrücken!"
Mardirouge sah, wie die Feuersäule um ihn zerstob und erkannte, dass nur Louvois' Verwandte und die von ihnen geführten Mitstreiter durch das nun freie Tor traten. Gleichzeitig lösten sich die schwarzen Spiegel wieder auf.
"wie hast du dich gegen diese Eiseskälte abgesichert, Hector?" wollte Barabbas Mardirouge wissen. "Tja, in meinem Alter sind Hitze und Kälte gefährliche Gegner. Daher trage ich immer gleichwarm bezauberte Kleidung vom Umhang über das Unterzeug bis zu den Schuhen. Würde ich dir für deine hundertvierzig Lenze auch empfehlen", erwiderte Louvois. Mardirouge hatte das nicht ganz angenehme Gefühl, als wolle sich sein Waffenbruder über ihn lustig machen und ihn als unterlegenen, nur aus Sympathie mitgenommenen Mitläufer mitschleppen. Da bestand sicher noch Klärungsbedarf, dachte Mardirouge.
Um aus mehreren Richtungen einzudringen befahl Mardirouge seinen besten Fluchexperten, die verriegelte Luke zum Güterversorgungsschacht nicht direkt anzugreifen, sondern den Bereich darum herum zu bezaubern. Doch die zum Sturm auf das Ministerium entschlossenen Sanguis-Purus-Mitglieder mussten bis zu zehn Meter weit von der Luke wegrücken, bevor ihre auf den Boden treffenden Flüche und der Ausgrabungszauber Effodius ihre volle Wirkung entfalteten. Dann gelang es ihnen doch, die Luke soweit freizulegen, bis mehrere Mitstreiter mit Kopfblasen um sie herum in die ausgehobene Grube stiegen und den Bereich unter der Luke freilegten, bis die Luke in der Luft hing. Ab da reichte ein von zehn Mann auf Kommando zeitgleich ausgeführter Schwebezauber, um sie mit dem umgebenden Boden anzuheben und zur Seite gleiten zu lassen. Um sicherzustellen, dass im Schacht keine Fallenzauber lauerten wirkten die die für die Luke eingeteilten Zauberer verschiedene Fluchbrecher. Farbige Fontänen und bunte Lichtwirbel erstrahlten im Schacht. Dann glühte ein silbernes Licht darin wie eine aus verstofflichtem Mondlicht geformte Abdeckplatte. Diese wölbte sich nach innen und außen. Dann zersprang sie. Unvermittelt wurden die um den Schacht verteilten Zauberer von einer Urgewalt in die Tiefe gerissen. Auch durch die immer noch wirkende Kopfblase hörte Mardirouge es laut fauchen und heulen, als bliese ein wütender Sturm aus der Luke heraus. Nein, nicht aus der Luke heraus, sondern in die Luke hinein. Die im Ministerium hatten den Schacht völlig luftleer gezaubert. Einer der Absicherungszauber und die Luke hatten die Umgebungsluft ausgesperrt. Doch beides war nun weg, und so stürzte sich die ausgesperrte Luft mit aller Macht in den evakuierten Schacht und riss dabei alles und jeden mit sich, der zu nahe am Schacht stand. Auch Barabbas Mardirouge fühlte den Sog hin zum Schacht. Diese hinterhältige Bande hatte eine gemeine Falle gestellt. Dann schalt er sich selbst einen Narren. Die unter dem Ministerium angelegten Lagerhallen waren aus dauergehärtetem Granit. Wenn da niemand drin war und die schweren Türen zu waren konnten die alle Luft daraus aussperren.
"Wie kommt man auf sowas?" blaffte Louvois, der wie sein Kampfgefährte Mardirouge gegen den immer noch wirkenden Sog des unter der Straße lauernden Vakuums ankämpfte. Zugleich hörten sie, wie weiter unten krachend und prasselnd irgendwelche Zauber wirkten. Waren das die in die Tiefe gesaugten Mitstreiter. "Wenn die draufgehen überlege ich mir das aber noch mal mit den Gefangenen", knurrte Mardirouge.
Immerhin konnte die Hauptmacht der hellroten Streitmacht durch das freigesprengte Tor in das Gebäude eindringen und dabei mit Fluchbrechern weitere Fallen beseitigen.
Als der Sog aus der Tiefe nachließ schickte Lepont seine Leute zum Schacht hin, wo sie die fahrbaren Strickleitertrommeln enttarnten, die am Rand der Arrestdombegrenzung bereitgehalten worden waren. Die über mehr als tausend Meter abrollbaren Strickleitern wurden in den trichterförmigen Schacht hinabgelassen. "Falls ihr unsere Leute zerschmettert am Schachtgrund findet habt ihr meine Erlaubnis, jeden, der bei Sichtung nicht auf die einzige Aufforderung den Zauberstab fallen lässt zu töten", sagte Mardirouge, der wegen seines Alters und der Größe seiner Sippschaft als Oberkommandierender anerkannt wurde, zumindest bisher. "Öhm, jetzt dürfen wir den Todesfluch benutzen?" fragte einer von Mardirouges Großneffen. "Ich sagte ausdrücklich, falls ihr unsere Leute tot und zerschmettert am Schachtgrund antrefft, Marc-Antoine", wiederholte Barabbas Mardirouge seinen Befehl. "Ansonsten gilt weiterhin nur Gefangene zu machen."
"Heh, Barri, kommst du auch mal?!" rief Hector Louvoise, der schon auf dem Weg war, das Ministeriumsgebäude zu stürmen. Barabbas Mardirouge erkannte, dass er jetzt besser mit der Hauptmacht der vereinten Streitmacht von Sanguis Purus in das Ministerium einmarschieren sollte. Sonst kam der alte Louvois noch darauf, sich vor ihm auf den Ministerstuhl zu pflanzen, aus später Rache für seinen Großneffen Oreste.
Eigentlich erwarteten sie auf erbitterten Widerstand der noch verbliebenen Sicherheitstruppen zu treffen, als sie durch das mit vergitterten Kaminen ausgestattete Foyer vordrangen. Auch hätte Mardirouge ein Alarmgeheul oder wild anschlagende Glocken zu hören erwartet. Doch außer den Schritten der im Sturmschritt vorpreschenden und deren zischende und prasselnde Fluchbrecherzauber hörte er nichts. Zumindest sah er an der Decke die walzenförmigen Glasbehälter mit nach unten weisenden Ventilen. Aus denen war also der blaue Vereisungsnebel entströmt. Um auf weitere alchemistische Gemeinheiten vorbereitet zu sein behielten sie alle die magischen Frischluftblasen um ihre Köpfe.
Vor den Türen zu den Fahrstühlen waren spiegelnde Wände herabgelassen worden. Mardirouge erkannte sie sofort, Mondspiegel. Wieso hatte ihm das keiner seiner Kundschafter im Ministerium verraten, dass die diese teuren und schier unaufbrechbaren Absicherungen eingebaut hatten?
"Die Aufzüge könnt ihr vergessen. Bis wir die Mondspiegel müde genug geflucht haben, dass sie zerbrechen graut schon der nächste Morgen", grummelte Lepont. "Optimist!" rief Hector Louvois.
"Großvater Barabbas, unsere Leute liegen nicht auf dem Schachtgrund", hörte Mardirouge einen seiner in den Güterversorgungsschacht eingestiegenen über Vocamicus-Zauber. "Wie, da liegt keiner? Wo sind die dann?" wollte er von dem Melder wissen. "Hier auf jeden Fall nicht", kam die nichtssagende Antwort. "Gut, aus den Lagerhallen ins Hauptgebäude. Fluchbrecher immer vorausschicken!" befahl Mardirouge weiter.
Er blickte sich um. Hinter ihm eilten gerade die letzten hundert mitgebrachten Kämpfer in Hellrot durch das Tor herein. Im Foyer kam es zu einem immer dichteren Stau. "Klopft die Wände ab, wo die Nottreppen sind!" befahl Mardirouge. Seine Leute rückten vor und benutzten den Resonobstaculum-Zauber, der bei festen Hindernissen eine Vibration des Zauberstabes erzeugte, die stärker wurde, wenn das Hindernis einen Hohlraum enthielt. Doch keiner der eingesetzten Zauberstäbe erbebte. "Häh?! Die Wände schlucken den Tastzauber", stieß einer überrascht aus. Barabbas Mardirouge prüfte das selbst nach. Tatsächlich reagierte sein Zauberstab nicht, als er ihn gegen die nächste Wand richtete. Als er ihn nach unten richtete spürte er eine sehr deutliche Vibration. Also waren die Wände wirklich bezaubert. Jetzt auf gut Glück die Wände aufzubrechen, um die Treppen zu finden, die nur von hochrangigen Beamten oder im akuten Notfall benutzt werden konnten hieße das ganze Gebäude instabil zu machen. Am Ende krachte noch alles auf sie herunter. Doch Lepont hatte noch was auf Lager. Er nahm seine Goldrandbrille ab und tauschte sie gegen eine mit Silberrand. Dann trat er näher an die Wände heran. "Aha, da ist ein Treppenaufgang", frohlockte er und markierte den Bereich mit einem Einfärbezauber. Dann suchte er den nächsten Aufgang. Tja, so eine Durchblickbrille hatte schon Vorteile. Lepont markierte noch drei weitere Zugänge zu Nottreppenhäusern. "So, jetzt alles einsetzen, was ... Drachendreck!!" Warum er diesen derben Fluch ausstieß erwähnte er, als er seine drei Waffenbrüder Louvois, Chaudchamp und Mardirouge mit hektischen Handbewegungen zu sich hinwinkte. "Ich hätte mir fast die Augen verbrannt. Hinter den Zugängen, die ich gesehen habe sind auf einmal grelle Wände runtergerauscht. Ich wurde gewarnt, dass Mondspiegel Durchblickzauber wie grelles Licht auf ihre Anwender zurückspiegeln. Die haben sich voll mit diesen sündteueren Barrieren ausgestattet und ... Drachendreck zum zweiten!" stieß er aus. Denn gerade sank hinter ihnen allen da, wo das Tor gewesen war eine die ganze Raumbreite einnehmende, silbern spiegelnde Wand herunter, die eine viel zu große Ähnlichkeit mit denen vor den Fahrstuhltüren hatte, um kein Mondspiegel zu sein. Innerhalb von nur sechs Sekunden schloss die herabgesenkte Spiegelwand fugenlos mit dem Boden ab.
"An Schachtgruppe, sitzen ..." versuchte Mardirouge über den Vocamicus-Zauber seine Leute zu erreichen. Doch seine Stimme kam als laut klirrendes, vierfaches Echo zu ihm selbst zurück und stach ihm schmerzhaft in die Ohren. Auch seine auf ihn eingestimmten Mitstreiter zuckten unter den Schmerzen zusammen. Da erinnerte er sich wieder, dass Mondspiegel alle auf Licht und Schall basierenden Zauber reflektierten. Dann sah er nach oben und hegte doch noch eine Hoffnung. Denn in der Decke erkannte er die Schlitze der Belüftungsanlage. Vielleicht gelang es denen, die gut in Selbstverwandlung waren, in Nebelform da durchzukommen. Leider war er kein Verwandlungsgroßmeister. Doch vier seiner jüngeren Blutsverwandten konnten das gut. Diesen befahl er, es zu versuchen.
Die nun ganz dicht im Foyer gedrängten Zauberer mussten sich an die Wände drücken, um denen Platz zu machen, die sich in Nebelform verwandeln wollten. Es gelang neben vier Mardirouges siebzehn Leponts und zehn Chaudchamps, die weiß wabernde Dunstgestalt anzunehmen und sich nach oben vorzutasten. Doch als die ersten die Lüftungsschlitze erreichten schlugen violette Blitze daraus hervor und trafen sie. Mit kurzen Aufschreien fielen sie in ihre Feste Form zurückverwandelt zu Boden und konnten von ihren Kameraden gerade noch mit Auffangzaubern vor dem Aufprall bewahrt werden. Alle sich an die Lüftungsschlitze wagenden wurden auf diese Weise in ihre natürliche Form zurückverwandelt. Dabei sahen alle, dass denen wegen der Nebelverwandlung die Kopfblasen fehlten. Bevor sie diese erneuern konnten erschlafften sie und wurden ohnmächtig. "Netter Versuch!" hörten sie die Stimme von Belenus Chevallier wie aus leerer Luft. "Sie alle, wie Sie hier und im Schacht vollzählig versammelt sind sind hiermit verhaftet", sprach Chevallier weiter. Mardirouge wollte jedoch noch nicht aufgeben. Er zielte auf eine der Wände, hinter der das Nottreppenhaus lag. Mondspiegel hin oder her, dem Todesfluch würde auch sowas nicht lange standhalten. Da zuckten unter der Decke blaue Lichtblitze entlang. Augenblicklich umstanden blaue Lichtsäulen die im Schein der Blitze stehenden. Mardirouge wollte noch "Avada ..." rufen, als ein blauer Blitz vom Mondspiegel hinter dem Torzugang zurückstrahlte und ihn und alle in seiner Bahn in diese blauen Lichtsäulen einschloss. "Célestrias Säule", dache Mardirouge. Dieser Luftzauber erzeugte eine steinharte Walze um jeden Luftatmer, den er traf und verhinderte, dass er nach außen wirksame Zaubersprüche ausführen konnte. Innerhalb von wenigen Sekunden war über die Hälfte der Streitmacht in derartige blaue Säulen eingeschlossen. Wer noch frei zaubern konnte versuchte, die Quellen der blauen Blitze zu treffen und kassierte heftige Rückpraller, die nur wegen der in die Umhänge eingewirkten Schildzauber nicht voll durchschlugen. Dann standen sämtliche über zweitausend Sanguis-Purus-Zauberer in blauen Lichtsäulen eingeschlossen. Mardirouge erkannte, dass sein Weg zur Macht hier zu Ende war. All die Jahre des geduldigen Wartens, des taktierens, der umsichtigen Verheiratung seiner Kindeskinder mit wichtigen, reinblütigen Zauberern oder Hexen lösten sich gerade in nichs als eine frustrierende Erkenntnis auf: Er hatte zu viel gewagt. Dann dachte er daran, dass Hector Louvois bereits Unterhändler zu jenen Hexen entsandt hatte, die als mögliche Agentinnen von Ladonna Montefiori arbeiteten. Er hatte es leider zu spät erfahren, dass Louvois' Enkeltochter zu den Rosenschwestern gehörte und hatte sich heftig mit ihm gestritten, wie er die Werte des reinen Blutes derartig verraten konnte, mit dieser Bande zu paktieren. Doch Louvois hatte versichert, dass er, Mardirouge, dann unangefochten Zaubereiminister sein konnte, wenn es gelang, die durch den unbrechbaren Eid eingeschworenen Knechte und Waffenhelfer ins Ministerium zu bringen. Jetzt stand er hier in Célestrias blauer Säule fest und konnte nichts mehr machen.
"Wir kommen jetzt runter und nehmen Sie einzeln in Gewahrsam", verkündete nun Chevalliers Stimme. "Wer sich dem verweigert wird nach Verteidigungsbeschluss als für alle schwerwiegenden Zauber mitschuldig gesprochen, die wir bei Ihrem Vormarsch registriert haben, einschließlich der unerlaubten Unterwerfung argloser Hilfskräfte zu bedingungslos kämpfenden Gehilfen. Die drei unverzeihlichen Flüche erwähne ich erst gar nicht."
Mardirouge konnte seine Arme nicht so bewegen, um den Kopfblasenzauber zu lösen. Er musste hilf- und tatenlos abwarten, bis die vor den Fahrstühlen herabgelassenen Mondspiegel nach oben glitten und wenige Minuten später fünfzig Hexen aus allen vier Fahrstühlen heraustraten. Es war schon lächerlich, fünfzig gegen über zweitausend. Doch Célestrias Säule machte jede weitere Kampfhandlung unmöglich.
Durch die simple Berührung einer Hexenhand von außen zerfiel die blaue Säule. Doch bevor der davon festgehaltene reagieren konnte trafen ihn auch schon drei Schockzauber zugleichh. Das hielt auch die in den Hellroten Umhang eingewebte Schildmagie nicht ab. Mardirouge dachte daran, dass sein heilkundiger Großneffe, den er nur durch den Familienpakt zum Mitmachen hatte bringen können, ihn vor schwerwiegenden Körperbeeinträchtigungszaubern gewarnt hatte. Wenn er also jetzt drei Schockzauber zugleich abbekam mochte ihn das genauso töten wie der Todesfluch Avada Kedavra. Dann hatten sie ihn auf dem Gewissen, diese Banditen.
Doch als er sah, dass die eindeutig älteren Gefangenen nicht mit dem ruppigen Schockzauber, sondern drei Bewegungsbannzaubern gelähmt wurden wusste er, dass die Ministerin ihn lebendig haben wollte. Natürlich, denn er kannte alle Familiengeheimnisse, hatte alle Zugänge zu den versteckten Reichtümern. Starb er, war das alles unerreichbar. Er wusste jedoch, dass er nicht mehr freikommen würde. Louvois, der ihm zu dieser Aktion geraten hatte, Lepont, der sich zu sehr auf seinen jüngeren Verwandten im Muggelverbindungsbüro verlassen hatte, Chaudchamp, der wohl ebenfalls von seinem Blutsverwandten im Stich gelassen wurde und er, den sie auf den Schild gehoben hatten, um die Bewegung aus der jahrzehnte langen Bedeutungslosigkeit ans Licht des Ruhmes zu führen, bezahlten nun den Preis für ihren Hochmut.
Er hörte von weiter draußen einen Chor von mehreren hundert Stimmen die Litanei zum Aufheben des Arrestdomes singen. Also hatten Ventvit und Chevallier ihre Kampftruppen strategisch aufgeteilt. Diese Erkenntnis war ein weiterer bitterer Schluck aus dem Kelch der Niederlage. Man hatte sie gewähren lassen. Man hatte sie ungestüm vorpreschen lassen. Man hatte ihnen einige Abwehrzauber entgegengeworfen, um ihnen den Eindruck zu bieten, um die Macht zu kämpfen. Doch dann waren sie alle wie Mäuse auf der Jagd nach Speck und Käse in eine lauernde Falle gerannt, die sie alle gleichzeitig gefangen hatte.
Nun war die Reihe an ihm, dem eigentlich zukünftigen Zaubereiminister. Die blaue Säule verschwand, weil eine von vier Hexen sie berührte. Zeitgleich flimmerte um ihn der magische Schild, blitzte auf und zerstob. Dann fühlte er seinen Körper erstarren, ohne dass sein Herz überanstrengt wurde. Hätte er sich doch an die Losung seines Urgroßvaters Boniface gehalten: "Si victus numquam captivus vivus!" Wirst du besiegt lass dich nicht lebendig fangen. Doch er wollte den Rekord seines Großvaters überbieten, mehr als zweihundertzehn Jahre alt zu werden. In siebzig Jahren mochte er das schaffen, doch wohl nicht als freier Zauberer.
Wie alle zuvor wurde er mit den Fahrstühlen in den keller hinabgefahren und durch zwei Teleportale in ein von dunkelroten Leuchtkristallsphären erhelltes Höhlenlabyrinth verbracht. Er dachte daran, dass dies die Festung Tourresulatant war, das französische Askaban. Dann dachte er mit einer gewissen Verachtung, dass selbst diese Festung keine dreitausend Gefangenen aufnehmen konnte, bis er in eine Höhle geschafft wurde, in der fünfzig Zentimeter große Glaswürfel, nein Glaskästen neben- und übereinander aufgereiht waren. Als er sah, was in den Kästen war wusste er, dass die Festung es doch konnte.
Er hatte mit seiner Urgroßnichte Charlotte ein Puppenhaus gebaut, in das er ausgediente Schachmenschen zu einer Drei-generationen-Puppenfamilie aus einem Großelternpaar, dem Elternpaar, drei größeren Kindern und drei Säuglingen umgezaubert und einquartiert hatte. Als er nun eine ähnliche Ausstattung hinter jeder Glaswand sah und erkannte, dass ein gerade fünf Zentimeter großes Menschenwesen in blaugrauer Sträflingskleidung darin auf einem Stuhl hockte war ihm klar, dass dies seine persönliche Zukunft sein würde. Damit klärte sich das wahrhaft grauenvolle Geheimnis der Festung, die ohne Dementoren auskam und die nur für die kurzzeitig dort einsitzenden wie ein normales, mit ausnahme glitzernder Gitter versehener Zellen bestücktes Gefängnis aussah. Die Lebenslänglichen kamen weiter unten unter, hatte sein Großneffe mal erwähnt. Dann sah er noch Metallkisten, die wie Blechsärge aussahen und las ein Namensschild: Janus Didier. Das mochte ihm auch noch blühen, wahrhaftig lebendig begraben zu werden, ohne noch irgendwas denken, fühlen und tun zu können, bis der Tod nach ach wie vielen Jahren gnädig war.
Millie entspannte sich wieder. "Sie haben alle gekriegt", sagte sie erleichtert. "Die mussten erst alle ins Gebäude reinlassen, um sie endgültig festzusetzen. Hat gedauert, weil die ja erst alle Abwehrzauber durchbrechen mussten, um nicht sofort wieder in alle Winde auseinanderzuschwärmen."
"Wie haben die das denn gemacht?" fragte Julius. "Öhm, wird dir Ma mitteilen, wenn wir uns im Familienschloss treffen. Jetzt heißt es erst mal, alles aufzuräumen und zu reparieren und vor allem zu prüfen, ob nicht doch noch wer entwischt ist."
"Die haben über dreitausend Mann einkassiert. Wie viele Tote?" fragte Julius betrübt. "Ministerium null, Sanguis Purus auch null. Allerdings hat das eine Riesenmenge Gold gekostet, das hinzukriegen. Aber psst."
"Meine Damen und Herren, hier spricht Ministerin Ventvit über alle mir zugänglich gemachten Rundfunkübermittlungswege", klang die Stimme der Ministerin aus dem immer noch auf Empfang stehenden Zauberradio. "Heute um die Mittagsstunden versuchte eine große Streitmacht unter der Führung der Messieurs Mardirouge, Louvois, Lepont und Chaudchamp, das Zaubereiministerium zu erstürmen, um uns, die Zaubereiadministration, zu entmachten und durch ihnen genehme Zauberer zu ersetzen. Da wir vorgewarnt waren und den betreffenden Herrschaften auch früh genug kundgetan haben, dass ein solches Vorgehen sehr schwer bis unmöglich sei konnten wir besten Gewissens die für einen solchen Großangriff getroffenen Vorkehrungen einsetzen und alle Widersacher ohne Verluste gefangennehmen. Wie genau die Vorkehrungen aussehen werde ich nicht verraten. Nur so viel, wir sind und bleiben weiterhin wachsam und bereit, jeden gegen uns zielenden Ansturm zurückzuschlagen. Der Zaubergamot wird in den nächsten Tagen und Wochen befinden, wer die Schuld an diesem Sturmangriff trägt und wie die für schuldig befundenen Rädelsführer und ihre Getreuen dafür bestraft werden sollen. Auf gewaltsamen Umsturz in Tatmehrheit mit schwerer Sachbeschädigung und magischer Körperverletzung steht lebenslängliche Haft in Tourresulatant. Das war jenen, die diesen Angriff planten und befahlen bewusst. Somit kann nicht von einer verminderten Schuld gesprochen werden. Wir, die Abteilungsleitenden des Zaubereiministeriums und ich, Ihre frei gewählte Zaubereiministerin, hoffen sehr, dass wir nun gegen die eigentliche Bedrohung vorgehen dürfen, den Versuch Ladonna Montefioris, unser aller Freiheit zu rauben. Ich grüße Sie alle und wünsche Ihnen da draußen noch einen angenehmen Tag."
Lauter Jubel brandete durch das Kantinenzelt. Millie umarmte ihren Mann und küsste ihn innig auf den Mund. Dann winkte sie allen Anwesenden zu und verließ das Zelt wieder.
Julius erfuhr nach den Turbulenzen vom Mittag, dass Léto eine Einladung zur Sitzung des Ältestenrates erhalten hatte. Sollte es bis übermorgen nicht gelingen, die Barriere niederzureißen, so würde es den befürchteten Krieg geben. Das galt es zu verhindern.
Als Julius vom Elektrozirkuszelt in das Apfelhaus apparierte umarmte ihn auch Béatrice. "Ich hörte, du hast es auch mitbekommen, dass dieser Sturmangriff vorbei ist. Jetzt sind sie dabei, weitere Hinterleute zu finden. Bei den ersten Verhören unter Veritaserum kam nämlich heraus, dass Hector Louvois durch die Überseeverbindungen Kontakte zu Angehörigen der angeblichen Friedenskoalition aufgenommen hat. Offenbar ging es entweder darum, die Macht bei uns an sich zu reißen und dann o Wunder mit Spanien oder Belgien lieb zu sein oder durch ein unbehebbares Chaos die Amtsführung von Ministerin Ventvit lächerlich und unmöglich zu machen, dass viele nach Neuwahlen gerufen hätten. Tja, und Lepont, also nicht dein künftiger Ex-Kollege, sondern der Patriarch der Lepont-Familie, hat wohl schon erwähnt, wie die Hinterleute von Sanguis Purus verteilt sind. Es soll neben den 3000 bereits gefangengenommenen noch fünfzig Festnahmen von nicht am Angriff beteiligten Handelsleuten gegeben haben. Jetzt wissen sie nicht, ob es die Spitze des Eisberges ist oder ob es noch einzelne Nutznießer einer möglichen Machtübernahme sind, die im Land leben. Fünf von denen sind dem Zugriff durch Disapparition entgangen und wohl im Ausland angekommen. Tja, das könnte der Fall ins offene Drachenmaul sein."
"Deine große Schwester meinte, sie wollte uns das noch genau erzählen, wie die mal eben dreitausend Leute mit Zauberstäben mattgesetzt haben, ohne dass auf einer Seite jemand starb", erwähnte Julius. "Ja, deshalb sind wir gleich mit unseren ganzen kleinen Mitbewohnerinnen und dem Mitbewohner im Sonnenblumenschloss eingeladen, wenn Hippolyte ihren Arbeitstag anständig beenden konnte", sagte Béatrice.
So trafen sich alle in Frankreich lebenden Latierres um sechs Uhr im Sonnenblumenschloss. Dort hatte Hippolyte Latierre die volle Aufmerksamkeit, da Martine bereits am Morgen bis zum nächsten Tag freibekommen hatte. Hippolyte erzählte nun unter Verweis auf das Familiengeheimnis, dass sie und alle anderen Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter im großen Konferenzraum zusammengekommen waren, nachdem die Sicherheitstruppen Auguste Chaudchamp und François Lepont dabei erwischt hatten, wie sie die Notausgänge manipulieren wollten, um das Apparieren im Foyer zu ermöglichen und zugleich alle von der Straße her bestehenden Zugänge zu öffnen, so dass die Aufständischen einfach so ins Ministerium hineingelangt wären. Dass diese dann mit dreitausend Leuten anrückten sei zwar unerwartet gewesen, ließe sich so Belenus Chevallier noch gut überwachen. Er hatte dann bis auf fünfzig Sicherheitstruppler alle anderen über die ganze Rue de Camouflage verteilt postiert und Notfallportschlüssel ausgegeben, falls die Investitionen nicht greifen würden. Dann erzählte sie, dass der Konferenzraum zu einem magischen Bunker gemacht worden war, mit dünnen Mondspiegeln vor den beiden Türen und einer von einer Belüftungsanlage unabhängiger, durch regelmäßigen Luftaustausch ermöglichter Frischluftversorgung.
"Ich dachte erst, das mit den Notportschlüsseln klappt niemals, als diese Bande einen Arrestdom über das Grundstück des Ministeriums gespannt hat. Doch Belenus, also Monsieur Chevallier, hat uns versichert, dass er genau daran gedacht habe, weil einige der Reinblütigkeitsrebellen, wie Bruno sie nannte, gute Arrestdomkundige seien." Dann erklärte sie ihren Angehörigen das mit den in den Wänden verbauten Mondspiegeln, die einfach nur heruntergelassen und verankert werden mussten. Julius hatte von diesen besonderen Spiegeln schon gehört. "Da hat das Ministerium aber sehr tief in die Schatztruhe gegriffen", meinte er dazu. "Aber gelohnt hat es sich", erwiderte Hippolyte. Dann erwähnte sie, wie genau die Aufständischen festgesetzt, handlungsunfähig gemacht und abtransportiert worden waren. Auf Millies Frage, wie die alle im Gefängnis platzfanden meinte ihre Mutter, dass es eine Frage des nötigen Raumes sei. Julius argwöhnte da, wie genau die Gefangenen verwahrt wurden. "Also, da die Ministerin und Nathalie Grandchapeau, die zu dem Zeitpunkt im Château Florissant war, wissen, suchen wohl einige in Frankreich tätige Feuerrosenschwestern nach dir. Sie vermuten welche vom Villefort-Clan, konnten sie aber nicht finden. Deshalb bleiben du und die Rechnerabteilung bis Ende des Monats in Millemerveilles." Sie gab Julius eine schriftliche Anweisung die von der Ministerin und Nathalie Grandchapeau unterschrieben worden war.
Da sie hier alle so schön zusammensaßen berichtete nun Julius, was er von Léto erfahren hatte und dass er womöglich morgen und übermorgen keinen regulären Dienst an den Rechnern machen könnte, das aber noch mit Nathalie klären würde, die ja wisse, welche besonderen Zauber er ausführen konnte.
"Zweihundertvierundneunzig rote Steine, Julius. Müssen das Rubine sein oder reichen auch Granate?" fragte Ursuline Latierre. Julius wiederholte, was Léto erwähnt hatte. Daraufhin beorderte die amtierende Hausherrin des Château Tournesol vier Hauselfen in den tiefen Keller des Schlosses, wo sie aus den dort aufgestellten Gold- und Schmuckbeständen alle mit roten Steinen besetzten Schmuckstücke heraufbringen sollten. Julius erwähnte, dass er das nicht annehmen konnte. "Wollen wir die Barriere wieder loswerden, Julius?" fragte Ursuline. Er nickte. "Willst du weiterhin, dass die russischen Veelas keinen blutigen Vergeltungskrieg gegen alle Zauberstabträger führen?" Auch das bejahte Julius. "Dann nimmst du soviele Steine von uns wie nötig sind", sagte Ursuline kategorisch.
Bevor das Abendessen serviert wurde türmte sich ein großer Haufen Schmuck und Kleidung mit roten Steinen, darunter auch vier Rubine. Julius würde nach dem Essen durchzählen, wie viele das waren. Jedenfalls hatte er jetzt nicht mehr die Gewissensfrage zu klären, woher nehmen, wenn nicht stehlen?.
Nach dem fünfgängigen Abendessen holte Millie für die sechs Kinder Nachtzeug herüber, weil die sechs natürlich solange sie konnten mit ihren hier lebenden Großtanten und Großonkeln spielen wollten. Béatrice hatte ja noch genug Kleidung für sich selbst hier im Schloss.
Im beidseitig bezauberten Dauerklangkerker der Bibliothek zählte Julius die Steine durch und kam auf dreihundertzehn. Er nahm nur die billigsten Steine von Armbändern, Taschen und Kleidungsstücken. Er warnte Ursuline, dass sie diese Steine nicht mehr wiedersehen würde. "Ich lasse die alle ersetzen und stelle sie, falls es klappt, der Ministerin beziehungsweise Monsieur Fourier in Rechnung, nicht dir", erwiderte die Familienmatriarchin mit warmherzigem Lächeln.
Julius fiel aus Madrashainorians Wissen ein, dass er den Zauber Lied der reinigenden Erde auf ein Granitgefäß ähnlich wie ein Aschenbecher übertragen und ihn dann in einem Durchgang auf sieben Steine gleichzeitig übertragen konnte. Als er gefragt wurde, was die altsprachliche Formel bedeutete und er Ursuline und Béatrice das erklärte lachten beide. Millie kannte die Formel noch nicht, verstand sie aber, weil sie ja als Feuermagierin Altaxarrois auch die alte Sprache erlernt hatte.
So brauchte er zweiundvierzig Durchgänge, um alle Steine mit diesem Zauber zu belegen. "Öhm, die Steine haben immer grün aufgeleuchtet, Julius. Wären da nicht grüne Steine wie Malachite oder Smaragde besser gewesen?" wollte Millie wissen. Julius erinnerte sie und sich daran, dass Léto ausdrücklich nach Steinen von der Farbe des Blutes verlangt habe.
"Als er alle 294 Steine bezaubert hatte fühlte er, wie müde ihn das gemacht hatte. So trugen ihn Béatrice und Millie in eines der Gästezimmer für Ehepaare und machten ihn gegen seinen halbherzigen Widerstand bettfertig. "Na, nicht strampeln, sonst windel ich dich noch", drohte Millie ihm an, musste aber dabei verwegen lächeln. "Wollen wir hoffen, dass keiner von uns das je beim anderen regelmäßig machen muss", erwiderte Julius. "So rüstig Oma Line ist mache ich mir da keinen Kopf, dass ich vor dem hundertsten Jahr Bettlägerig werden könnte. Aber natürlich kann immer was passieren, Julius. Aber jetzt schläfst du bitte."
"Ohne Zähne zu putzen?" fragte er. Da führte Millie an ihm den praktischen Zahnputzzauber aus, mit dem Leute ohne Wasser und Zahnbürsten ihr Gebiss sauber und rein halten konnten. "Na, hab ich es noch drauf, oder kann ich das noch?" fragte sie ihren Mann. Dieser bestätigte beides. Dafür bekam er einen langen Gutenachtkuss, bevor seine Frau sich neben ihn hinlegte und ausstreckte. Béatrice zog sich in ihr früheres eigenes Zimmer zurück. Jetzt merkte Julius, wie fertig er echt war. Heute war fast das Ministerium umgekippt. Was wäre passiert, wenn die Reinblutrebellen den Sturm aufs Ministerium gewonnen und Ministerin Ventvit gewaltsam abgesetzt hätten? Dann wäre er als einer der nächsten gefeuert oder gleich eingesackt und als Friedensgeschenk an Ladonna übergeben worden. So hatte er nun die Gelegenheit, mit Léto und den anderen Veelas und Veelastämmigen die Barriere zu knacken. Dann musste er an die Piloten denken, die vielleicht von Ladonna unterworfen worden waren. Hoffentlich waren die alarmierten Stellen auf Draht und fingen die noch diskret ab. Tja, und würde Frankreich heute die Fußballweltmeisterschaft gewinnen? Heute konnte er das nicht mehr herausfinden.
Ingolf Hofreiter, Flugkapitän bei der Deutschen Lufthansa, blickte wie in den letzten vier Wochen nach dem Aufwachen auf den himmelblauen Umschlag des zum Abschluss des Kongresses in Frankfurt geschenkten Notizbuches. Er hatte es niemandem erzählt, dass er einer wahren Magierin, einer Königin der Hexen unterworfen war. Das Buch besaß einen verwandlungsfähigen Umschlag. Wenn sie, die Königin ihm was mitteilen wollte, so würde sich der Umschlag entsprechend ändern. Ihre mächtige Feuerrosenkerze hatte es verkündet, dass er am Tag nach der Erinnerung das ihm anvertraute Flugzeug in das nächste nicht mit Atomkraft betriebene E-Werk hineinsteuern und bestenfalls dessen Generatoren zerstören sollte, egal wo er war. Nur wer ihr, der Königin unterworfen war, konnte mit den Augen lesen, was auf und in dem Notizbuch stand.
Abendrose! Morgen soll es geschehen! Sei folgsam und erfülle deine Pflicht an deiner Königin!
Es sollte also am elften Juli geschehen, wieder ein elfter. Da er morgen von München aus starten sollte durfte er nicht das AKW Isar 2 angreifen. Doch er hatte genug Ausweichmöglichkeiten, je danach, ob er mit der Zeit zwischen Start und Zielankunft schnell genug vorankam. Denn seitdem auch bei der Lufthansa sogenannte Skymarshals mitreisten konnte es ihm passieren, dass auch auf jenem Flug einer eingesetzt wurde und ihn gerade so noch davon abhalten konnte, den Auftrag zu erfüllen. Es reichte schon, den Copiloten bewusstlos zu schlagen und die Maschine aus großer Höhe ins Ziel hineinstürzen zu lassen. Unter Umständen mochten Kampfjets der Bundesluftwaffe versuchen, ihn noch abzuschießen, bevor er das Ziel erreichte. Doch die Königin befahl es, und er war ihr treuer Diener und musste gehorchen.
Hofreiter verstaute das besondere Notizbuch, in das er alle in den letzten Wochen an vielen Orten der Welt gesammelten Entfernungs- und Richtungsangaben von den meistens angeflogenen Flughäfen zu den nächsten nichtnuklearen Kraftwerken eingetragen hatte. Er wusste, dass er eine Selbstmordmission fliegen sollte wie die Attentäter vom elften September 2001. Doch er konnte sich nicht dagegen auflehnen. Alle Fluggäste, die auf dem Flug München - Rom an Bord waren, würden mit ihm in den Tod stürzen. Ebenso mochten beim Aufschlag am Ziel Ingenieure und Techniker sterben. Das musste eben so sein, wenn er den Himmel von unsauberen Fluggeräten, die Nächte von viel zu hellem Kunstlicht, die Luft von Treibhausgasen und die Erde von Schmutz und Lärm säuberte. Er war auserwählt, die Menschheit von ihrem Vernichtungskurs abzubringen und ihr mit einer gehörigen Portion Schmerz eine neue Richtung zu geben.
Heute galt es noch, einen Inlandsflug vom Flughafen Franz Josef Strauß nach Hamburg zu machen. Keiner durfte wissen, dass er morgen zum Massenmörder und Vernichter eines wichtigen Kraftwerkes werden sollte.
Fong Huang blickte auf die besondere Ansicht der Megastadt Shanghai. Er war als Pilot für China Air schon in so vielen Städten gewesen, dass er meinte, alles gesehen zu haben. Doch immer wenn er in Shanghai Zwischenstation machen durfte stellte er fest, wie sich die pulsierende Handelsstadt wieder mal verändert hatte. Dennoch würde er am kommenden Tag, wenn er von hier aus nach Neudheli fliegen wollte, das nächste Elektrizitätswerk anfliegen und die Maschine im Namen der allmächtigen Königin dort hineinstürzen. Dass er dabei starb war die große Ehre, die er der künftigen Herrin der Welt und Lenkerin aus dem untraditionellen Irrsinn seines Landes erweisen würde. Dann würde die nachts so hell wie die Sonne strahlende Handelsmetropole in völlige Dunkelheit fallen. Alles was dort mit Strom lief würde versagen. Shanghai würde einen schmerzvollen Wiedergeburtsvorgang durchlaufen, an dessen Ende die Bewohner zu den alten Werten der ruhmreichen Kaiserzeit zurückfinden würden. Doch statt eines Kaisers würde die Königin der Zauberei sein Land regieren und es zu einem friedlichen, nicht mehr mit Argwohn und Marktstreben auf seine Nachbarn schauenden Reich machen.
Noch einmal blickte er auf das blaue Notizbuch, auf dem in englischer Sprache die Worte "Abendrose! Morgen soll es geschehen" stand. Morgen würde er mit seinem Tod die Wiedergeburt der erhabenen Zeit vollenden. Welche Ehre!
Francisco Perinho las die auf Englisch geschriebene Mitteilung auf dem blauen Notizbuch, dass er zum Abschluss des Pilotenkongresses in Frankfurt geschenkt bekommen hatte. An dem Entscheidungstag würde er von Sao Paolo aus nach Bahia fliegen. Wo da Kraftwerke standen hatte er in seinen Freistunden im Internet herausgefunden, wobei er schon aufpasste, dass er nur solche Rechner benutzte, die über mindestens zwei Proxyserver mit dem Netz der Netze verbunden waren. Er konnte nur hoffen, dass kein westlicher Geheimdienst ihm draufkam, dass er eines der größten Kraftwerke seiner Heimat zerstören sollte, nur um einen großflächigen Stromausfall zu verursachen. Das mochte ihm auch egal sein. Denn so lange er lebte gehörte er der Königin. Versagte er, würde die Strafe noch höher ausfallen als wenn er den Auftrag ausführte.
Susanne Knoop, die für die Lufthansatochter Condor Ferienflüge durchführte, blickte mit einer Mischung aus Erleichterung und Vorfreude auf das blaue Notizbuch. Endlich hatte ihre neue Königin, der sie durch den Pakt der Feuerrose verbunden war den Zeitpunkt genannt, wann sie ihr den großen, entscheidenden Dienst erweisen sollte. Weil ihr Wille und somit ihr Selbsterhaltungstrieb und ihr Gewissen gelähmt waren empfand sie keine Schuld und auch keine Angst, dass sie morgen auf dem Flug von Düsseldorf nach Antalya in der Türkei das größte Wasserkraftwerk Nordrhein-Westfalens zerstören sollte. Sie dachte auch nicht an all die ahnungslosen Männer, Frauen und Kinder, die sie mit in den Tod reißen würde. Ja, am Ende würden die noch froh sein, den durch ihre Handlung eingeleiteten Prozess nicht mehr miterleben zu müssen. Denn die Stimme aus der ihr unheimlich gut gefallenden Feuerrose hatte auf Englisch verkündet, dass durch ihre Tat und die aller anderen neuen Mitstreiter die Welt von ihrem Irrweg abgebracht und mit viel Schmerzz und Unerbittlichkeit auf einen neuen, besseren Weg geführt werden sollte. Nur wenn die auf widernatürliche Errungenschaften setzende Menschheit ihre naturschädlichen Erzeugnisse einbüßte würde sie umlernen oder untergehen, noch bevor sie die Welt zu Grunde gerichtet hatte.
"Allein der Umstand, dass mich Ihre Feindeswehr reingelassen hat sollte Ihnen allen klarmachen, dass ich kein Agent Ladonnas bin", grummelte Catlock, der bis vor wenigen Wochen noch unter dem Bann Ladonnas gestanden hatte. "Also, welche verflixte Geheimoperation führen Sie und ihr nonkonformistisches Institut wieder durch, Mr. Davidson?"
"Welche Befugnisse haben Sie vom Regionalrat, mich das fragen und auch noch eine ausführliche Antwort von mir erfahren zu dürfen?" erwiderte Davidson mit einer Gegenfrage.
"Spekulieren Sie etwa darauf, dass die Föderation endgültig zu Grabe getragen wird und wier nur noch ein Haufen regionaler Kleinstaaten sind, wir die großartigen USA?" schnarrte Catlock. "Ich gehe von dem aus, was gerade ist und muss erkennen, dass nur die Magielosen noch eine großartige Staatenunion haben. Außerdem wollten Mrs. Bullhorn und auch Sie ja eine Verschmelzung mit den zwei anderen großen Flächenstaaten Nordamerikas halten. Also reden Sie bitte nicht von den großartigen USA!"
"Ich bin hier weil ich über drei Ecken erfuhr, dass Sie wieder eine Extratour reiten, Direktor Davidson. Da ich mich nur für derzeitig freigestellt betrachte und jederzeit wieder in mein Amt zurückzukehren trachte ..."
"Also haben Sie keine Kompetenz", würgte Davidson den Redefluss des Besuchers ab. "Also darf und will ich Ihnen nicht verraten, ob wir wieder etwas zum Wohle aller Menschen dieses Landes unternehmen oder nur die Scherben aufsammeln, die Ladonnas Übergriff auf Sie und den Föderationsrat angerichtet hat", fügte er noch hinzu. Dann deutete er auf die Tür. "Seien Sie sich sicher, dass wenn die Menschen in unserem Land wieder vernünftig sind und ich wieder in Amt und Würden bin, werde ich mich sehr gut an diese unverschämtheit erinnern, Direktor Davidson. Gehaben Sie sich bis dahin wohl!" brüllte Catlock und verließ das Laveau-Institut.
"Hätten Sie ihn nicht in die Aktion Flugsand einweihen können?" fragte Sheena O'Hoolihan. "Nicht solange nicht restlos geklärt ist, dass wirklich alle ehemaligen Ratsmitglieder wieder in Amt und Würden kommen", entgegnete Davidson.
"Direktor Davidson, ausgehend von der Theorie, dass die Feindin mit einem für Nichtmagier unauffälligen Mittel Kontakt zu ihren Unterworfenen hält konnten wir fünfzig Verdächtige mit entsprechenden Kraftquellen ausfindig machen. Bei New York sind gleich drei, bei Los Angeles zwei und in Washington ist vor einer Stunde noch einer Gelandet, der bis morgen da bleibt. Sollten die echt was vorhaben wird's finster in den Staaten."
"Wortwörtlich", knurrte Davidson. Dann rief er alle Außendienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter zu sich und erteilte die Anweisung, mit den von Quinn Hammersmith ausgegebenen Aufspürgeräten nach den besonderen Kraftquellen zu suchen und diese so diskret wie möglich in Gewahrsam zu nehmen, ohne dass die magischen Regionaladministrationen davon erfuhren."
"Nur eine Frage, was sollen die Nomajs davon wissen?" fragte Rick Talbot, einer der Fachzauberer für urbane Umgebungen. "Das die entsprechenden Flugzeugführer auf Grund einer plötzlichen Kreislauferkrankung und Verdacht auf Innenohrproblemen bis auf weiteres am Boden bleiben müssen. Mrs. Merryweather arbeitet noch eine für die Öffentlichkeit verdauliche Erklärung aus, dass es sich um eine Viruserkrankung handelt. Je danach, ob wir und unsere Bündnispartner alle dreitausend erwähnten Flieger einfangen und sichern können sollen die dann ohne Wissen der Nomajs in eine Höhle im französischen Baskenland verlegt werden, wo sie laut des Büros für friedliche Koexistenz in Frankreich einem Gegenmittel zugeführt werden, um aus Ladonnas Einfluss gelöst zu werden", sagte der Direktor des Laveau-Institutes. "Wenn das gelingt könnten die Flugzeuglenker wieder in ihre Berufe zurückkehren, als von einem schleichenden Virus genesene, topfitte Flugkapitäne. Falls das Antidot gegen die Feuerrose eine Gedächtnisbereinigung zulässt bekommen sie auch die Erinnerung, dass sie eben wegen einer solchen über Lebensmittel zugezogenen Krankheit gelitten haben, ohne sich an ihren Auftrag für Ladonna zu erinnern."
Als die hundert Außentruppler aufbrachen hoffte Davidson, dass es noch nicht zu spät war.
Julius wusste, wie riskant es war, sich außerhalb gesicherter Bereiche aufzuhalten. Aber verdammt noch mal, er konnte doch nicht den ganzen Tag in Millemerveilles oder dem Sonnenblumenschloss bleiben, wo es für ihn da draußen viel zu tun gab.
Er traf sich mit Léto in einem Waldstück bei Avignon, dass sie ihm beschrieben hatte. Dort übergab er ihr die 294 roten Steine mit besten Grüßen seiner Schwiegergroßmutter. Er erwähnte noch einmal, was gestern geschehen war und dass er bis auf weiteres nur für ganz kurze Ausflüge aus seinem Wohnort hinaus konnte. Dass er mal eben ins Sonnenblumenschloss überwechseln konnte musste sie nicht wissen.
"Dir und deinen Anverwandten ist bewusst, dass wir diese herrlich gearbeiteten Steine verbrauchen werden, also sie nicht mehr zurückgeben können?" fragte Léto. Julius bestätigte das. "Ich spüre den schlummernden Zauber, den du in diese Steine hineingebettet hast. Mit meinem Blut und dem meiner Anverwandten wird er auf jene Kraft geprägt, die in den zweihundertvierundneunzig Kraftquellen steckt. Du musst auf jeden Fall veranlassen, dass zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang niemand näher als einen Tausendschritt an die Barriere heran darf", erinnerte ihn Léto an die Gefahr, die bei der Entladung der Barrierenzauber bestand.
"Ich habe das mit den zuständigen Abteilungsleitern geklärt, Léto", bekräftigte Julius. Dann verabshiedeten sich die beiden voneinander. Julius vertat keine weitere Sekunde und apparierte in das Apfelhaus zurück. In drei Stunden würde die Sonne untergehen. Ab da galt es dann.
Als das Abendessen beendet war genossen sie alle den Sonnenuntergang vor dem Apfelhaus. Wie friedlich dieses jeden Tag wiederkehrende Naturereignis war und wie oft es damit verbunden wurde, dass wieder ein Tag vollbracht war und die Lust und Furcht während der Nachtstunden aufkam. Würden Léto und ihre bereits erwachsenen Töchter und Enkeltöchter die Barriere um Frankreich zerstören? Falls dies klappte konnten sie auch die um die britischen Inseln zerstören. Julius wusste von Pina, dass die britischen Hexen und Zauberer sich auf die Belagerung gut eingestellt hatten. Mit dem typisch britischen Humor hatte Fredo Gillers im Tagespropheten geschrieben: "Wer eine Schwiegermutter auf dem Festland hat muss Ladonna danken, dass er eine geniale Begründung hat, sie nicht zu besuchen und darf beruhigt sein, dass sie nicht unverhofft mit ihren drei Schrankkoffern vor seiner Tür steht. Ladonna ist und bleibt die Freundin aller frustrierten Schwwiegersöhne."
"Du glaubst, du kannst von hier aus sehen, was passiert, wenn du in Richtung Süden guckst?" fragte Millie. Julius schüttelte den Kopf. "Ich würde es einfach zu gerne sehen, ob es wirkt", sagte er. "Ich weiß nur nicht, wann Léto und ihre Verwandten den Gegenzauber ausführen."
Aus dem Apfelhaus klang die Stimme der gemalten Viviane Eauvive: "Julius, deine Mutter möchte mit dir sprechen!"
"Oha, könnte was passiert sein", unkte Julius und apparierte im Haus, wo er schnell das Orichalkarmband aus der Villa Binoche hervorholte und anlegte. "Mum, ich rufe dich!" sprach er, während er wie damals bei den Pflegehelferarmbändern einen bestimmten Stein berührte. Sofort erschien das räumliche Abbild seiner Mutter. "Ah, gut, Viviane sagte, ihr seid noch alle draußen und genießt den Sommerabend. Wir sind ja noch mitten am Tag", sagte Martha Merryweather. "Auf den Punkt: Das LI konnte anhand der von dir, mir und Quinn Hammersmith erstellten Hypothese wie kleine Funkgeräte aussehende Spürgeräte bauen, die auf die besonderen Schwingungen der Feuerrosenmagie ansprechen und zugleich noch auf die schwache, langsam pulsierende Aura von Proteus-Zauber-Artefakten anspricht. Da wo beides zusammenfällt müssen Ladonnas Abhängige sein. Ja, und es gelang damit, wahrhaftig alle sechzig gerade in den Staaten befindlichen Piloten aus der Liste zu erwischen und bis auf weiteres in Gewahrsam zu nehmen. Für die Nichtmagier sind sie als Opfer einer auf Kreislauf und Gleichgewichtssinn wirkenden Erkrankung in Quarantäne. Ich habe mit Pina und Jacqueline, Bärbel und der Japanerin Daidoji vereinbart, dass sie kleine Suchkommandos aus den Staaten in ihre Länder einlassen, um dort auch nach Piloten zu suchen. Doch die Zeit drängt, denn trotz der Gegenwehr der bei diesen gefundenen Proteus-Notizhefte konnte Hammersmith ergründen, dass wohl für morgen ein Massensuizid stattfinden soll, egal, wo die Piloten gerade eingesetzt werden. Wenn dreitausend Kraftwerke oder Umspannwerke zerstört werden wird das ein weltweiter Blackout, Julius. Das ist genau wie nach einer Serie von EMPs oder einem geomagnetischen Sturm durch coronale Massenauswürfe von der Sonne."
"Also genau das, der globale technische Supergau, den Ladonna haben will, um ihre Ansichten von einer anständigen Menschheit durchzusetzen", erwiderte Julius. Er sagte dann auch, dass wohl hoffentlich noch in dieser Nacht die dunkle Barriere um Frankreich fiel. Seine Mutter wünschte den Veelas alles nötige Glück.
Als er das Armband wieder abnehmen wollte vibrierte es. Es war Aurora Dawn. "Hallo Julius. Noch einmal Danke für die Tipps, wie wir diese unterjochten Piloten finden können. So konnten wir bei uns im Land unten drunter fünfzig von denen aufspüren. Unsere Freunde von den indigenen Magiern konnten uns da sogar noch besser helfen, weil sie ein Ritual der Erde und des Feuers beherrschen, dass von bösen Geistern besessene Menschen meldet. Ob wir damit noch mehr von ihnen erwischen weiß ich nicht. Wir von der Zunft haben sie erst einmal wie damals die Schlangenkrieger in unserer Isolierstation untergebracht, Tiefschlaf und in abgedunkelten Räumen, damit ihre Sklavenhalterin nicht durch deren Sinne mitbekommt, wo sie sind und was mit ihnen ist. Aber geht bitte davon aus, dass sie gewarnt werden mag, wenn sie eine Art Rundblick ausführt, um den Zustand ihrer Marionetten zu prüfen!"
"Danke für die Warnung. Dann könnte die nämlich darauf kommen, deren Proteus-Artefakte mit neuen Befehlen zu spicken, die sie amok laufen lässt. Brauchen wir auch nicht", seufzte Julius. Immerhin hatte sich das mit der verfremdeten Aura nach einem Feuerrosenkontakt und einem zur Fernübermittlung geeigneten Proteus-Gegenstand offenbar bewährt. Er wünschte Aurora Dawn noch einen schönen Tag, weil bei ihr ja schon der elfte Juli war.
"Hundertzehn, sechzig in den Staaten und fünfzig in Australien", meldete Julius. "Eigentlich müsste ich noch mal ins Zirkuszelt, um ..."
"Nein, du hast jetzt frei", sagte Béatrice kategorisch. Millie nickte ihr sehr entschieden zu. "Hatten wir es nicht immer wieder davon, dass auch andere die Welt retten können, Julius?" fragte Millie. Julius bejahte das. Zu Millies und Béatrices Hohn apparierte in dem Moment Jacqueline Richelieu vor dem Apfelhaus und winkte mit mehreren Computerseiten. "Das Ding mit dem Auroskop und dem Proteus-Finder von Monsieur Dusoleil klappt, Julius. Chevalliers und Grandchapeaus Außentruppler haben schon vierzig von den gesuchten Piloten gefunden und wissen auch, wo noch hundert andere sind, in Belgien, wo die heute abend hingeflogen sind. Da waren unsere Leute ein wenig spät dran. Aber wegen der Barriere kommen wir da nicht raus, und in Belgien haben wir gerade keine Freunde."
"Ja, aber Agenten, Jacquie. Geh zum Gemeindehaus und klopf da dreimal kurz und viermal lang an die Tür des tiefsten Kellergeschosses. Da wird dir wohl ein ungehalten wirkender Monsieur Chevallier aufmachen. Gib ihm die Daten, die du reinbekommen hast!"
"Alles roger", sagte Jacqueline. Julius besah sich kurz die bedruckten Seiten. "Öhm, sollte das so, dass die Schrift schweinchenrosa ist, Jacqueline Richelieu?" Die Gefragte grinste und bejahte es. "Ja, ich habe meinen Briefschreibedrucker drangehängt, weil die anderen Laserdrucker gerade voll im Stress sind wegen der langen Liste. Nacht!" Julius winkte seiner jungen Arbeitskollegin. Diese winkte den zwei erwachsenen Hexen und verschwand.
"Du hast die nicht hermentiloquiert, oder, Julius?" wollte Millie wissen. "Neh, musste ich nicht. Wusste auch nicht, dass sie mit Tante Pri die Schicht getauscht hat."
"Tante Pri kann unseren neuen Schutzzauber nicht so ab, weil der ihr die Füße kribbeln lässt, sagt sie", meinte Millie. "Redet die sich ein, weil wir ihr ja erzählt haben, dass es im wesentlichen ein Erdzauber ist und Zwergenstämmige ein Gespür für Erdmagie haben. Lutetia, sofern sie sich dazu bequemt, herzukommen, fühlt nur ein warmes Strömen durch den Körper und meint, sie könnte sich vorstellen, dass sie hier sicher wen für den vierten oder fünften Frühling finden könnte, so gut ihr das tut."
"Die eine so die andere so", erwiderte Julius.
"So, und damit nicht noch wer deinen freien Abend versaut gehen wir besser rein, Julius. Es ist ja jetzt auch schon nach halb elf", sagte Millie.
Um elf Uhr lagen alle in den vorgesehenen Betten. Julius dachte daran, dass sie es immer noch nicht hinbekommen hatten, darüber zu reden, wie es geschlechtlich zwischen ihm und Béatrice und ihm und Millie weitergehen konnte. Natürlich war und blieb Millie seine Frau und würde die zukünftigen Kinder von ihm bekommen. Doch nachdem er zwei weitere Liebesnächte mit Béatrice verbracht hatte wusste er, dass sie das zwischendurch begehrte. Doch ihre anerzogene Disziplin und die Rücksicht auf Millies Gefühle machten es schwer, darüber zu reden.
"Falls die Barriere heute noch wegkommt, Julius und falls die Veelas das in Pinas und Glorias Heimat wiederholen können, dann können wir sicher deinen Geburtstag feiern." Julius bestätigte das. Die alle wieder da zu haben, auch Gloria, von der er gerade nicht wusste, was diese derartig bedrückte, dass sie selbst ihre Schönheitspflege vernachlässigte, würde er gerne persönlich sprechen. Millie hatte es ihm bisher nicht erzählt, was Melanie ihr erzählt hatte, weil sie fanden, dass Gloria ihm das selbst berichten sollte.
Das Meer rauschte. Ein wunderschöner, weißer Schwan glitt pfeilschnell durch die Sternennacht. Der Vogel spürte die Gefahr, die wenige Tausendschritte vor der Küste des mittleren Meeres lauerte. Er spürte auch, dass die meilenhohe unsichtbare Mauer immer stärker wurde. "Apolline, bin jetzt an meinem ersten von sieben Stellen. Ich muss nur weit genug aufs Meer hinaus, um meine Botschaft zu übergeben."
"Gut, Maman. Ich bin auch an meinem ersten Ansatzpunkt. Viel Erfolg", sang Apollines Stimme zurück.
Der Schwan landete und wurde zu jener überragend schönen Frau, die bei den kurzlebigen Menschen Léto hieß.
Sie holte aus ihrem bei Tag himmelblauen Kleid ein verkleinertes Bootsmodell hervor und setzte dieses behutsam auf das Wasser. Das Meer begann um das kleine Boot herum zu sprudeln. Die nächste Welle die kam warf es ans Land zurück. Doch es war jetzt schon viermal so groß wie gerade eben noch. Léto bückte sich und schob das Boot erneut ins Wasser. Sofort begann das Meer wieder zu sprudeln. Das Boot wuchs weiter, bis es so groß war, dass Léto bequem darin einsteigen konnte. Sie kletterte hinein und stieß sich vom Ufer ab. Mit beiden Händen an der Bordwand nutzte sie ihre Beziehung zu den Elementen, um das Boot ohne Ruderkraft und Motor aufs Meer hinauszutreiben.
Schon von weitem hörte sie das unheilvolle Schnauben und kreischen und meinte zwischen Himmelsrand und Himmelsscheitel glutrote Flammengarben zu sehen. Dort vorne lauerte ihre schlimmste Angstvorstellung, seitdem sie als junges Mädchen einmal einer brütenden Feuerspeierin zu nahe gekommen war und nur mit Hilfe ihrer Mutter dem Verhängnis entgehen konnte. Dieses Ungeheuer lauerte nun in der unsichtbaren Wand, deren Kraft sie wie ein ständiges schnelles Pochen hören und fühlen konnte. Dann fühlte sie, dass sie am Ziel war. Vor ihr ragte nur für ihre besonderen Augen sichtbar eine meilenhohe, dämmerblaue und waldgrüne Säule aus den Wellen und schraubte sich ganz gemächlich in die Höhe. Von dieser Säule strahlten die Angstempfindungen aus, die sie davon abhielten, noch näher heranzufahren. Sie warf den Anker des Bootes und wartete, bis dieser sicheren Halt fand. Dann zog sie aus einer kleinen Lederscheide ein Messer mit einer Klinge aus geschliffenem schwarzen Stein, den die Menschen Obsidian nannten. Metall wäre für dieses Vorhaben verkehrt. Was an Feuerbestandteilen dazukommen musste ruhte in ihrem Blut und dem roten Stein, den sie aus einer weiteren Tasche zog. Sie brachte sich einen kreuzförmigen Schnitt in ihrem linken Arm bei und drückte den Stein in die entstandene Wunde. Dann sang sie mit ihrer glockenhellen Stimme eine Annrufung der reinen Kraft, die den Willen zur Angst und den Willen zum Töten vertrieb, den Wind der Reinheit und das alles reinigende Wasser beschwor, dass es in ihrem Blut seine Macht entfaltete und eins mit der befreienden Macht der Erde das Unheil vertrieb. Ohne es zu wissen, ähnelte diese Anrufung sowohl dem Lied des freien Atems, der schädliche Luftbestandteile verschwinden ließ und dem Lied der reinigenden Erde, mit dem Julius den roten Stein vorbehandelt hatte. als sie sah, wie der Stein rot erglühte wartete sie und spürte, wie er im selben Regelmaß pochte wie das Pochen der vor ihr himmelwärts ragenden Lichtspirale. als sie sicher war, dass sie den Stein mit der ganzen Kraft angereichert hatte rief sie: "So wirke dort, wo Wirkung nötig!" und schleuderte den roten Stein über fünfzig Armlängen weit von sich, hinein in die Säule. Der Stein glühte hell auf und klatschte ins Wasser. Dampf stieg auf und wurde eins mit der leuchtenden Säule. Da meinte sie, das riesige Maul jener Feuerbläserin zu sehen, deren Nest sie einst gefunden und es fast mit ihrem Leben bezahlt hätte. Das Ungetüm flog urplötzlich in ihre Richtung. Doch sie durfte nicht ausweichen. Sie durfte die bestehende Verbindung mit dem Stein nicht trennen. Das Ungeheuer riss seinen Rachen auf. Léto riss beide Hände hoch und stieß die Worte des Einhaltes aus, mit dem feindliche Wesen auf der Stelle gebannt werden konnten. Tatsächlich verschwamm das gefährliche Schuppentier und wich mehrere Längen zurück. Doch ein weiteres Feuerwesen löste sich aus der Spirale und kam laut brüllend und fauchend auf Léto zu. Wieder rief sie die Worte des Einhaltes. Doch das zweite Ungeheuer blieb festkörperlich und flog weiter auf sie zu. Dann geschah es.
Léto meinte, dass in der Tiefe jemand laut aufschrie. Das Meer leuchtete grün. Dann schossen grüne und weißgoldene Blitze aus dem Wasser nach oben. Die zwei bedrohlichen Bestien schwankten im Flug. Dann stürzten sie nach unten. Als sie auf dem Wasser aufschlugen zerplatzten sie in millionen grüne Funken, die alle wie in einem gewaltigen Strudel nach unten gesaugt wurden. Die aufragende Spirale wurde immer grüner und heller. Dann schrumpfte sie zusammen. Das laute Wehgeschrei aus der Tiefe schwoll noch einmal zu einem endgültigen Kreischen an. Dann verschwand die leuchtende Säule unter wasser. Wenige Atemzüge später strahlte noch einmal grünes Licht auf. Dann war dieser Abschnitt der See ruhig und ungefährlich. Zumindest blieb dies zehn weitere Atemzüge so. Dann spürte Léto, wie von links und rechts neue Unheilskraft in die geschlagene Lücke einströmte. Die dunkle Barriere schloss langsam aber sicher die Bresche. Doch nun war sie nicht mehr so stark wie gerade eben noch, erfasste Léto.
Mit dem Boot fuhr sie erst nach links und suchte die zweite Kraftsäule. Als sie sich dieser näherte hörte sie das wilde Wutgebrüll einer Feuerbläserin. Doch jetzt hatte Léto keine Angst mehr. Sie drückte den nächsten vorbezauberten Stein in die noch bestehende Wunde und beschwor erneut die vereinte Kraft der Reinigung durch Wind, Wasser und Erde. Dann warf sie den mit ihrem Blut getränkten Stein in die nächste Säule. Wieder meinte sie, schmerzvolle Schreie zu hören, als befände sich eine Frau zwischen Niederkunft und Todesqual. Natürlich hatte dieses Unweib die Kraftquellen mit ihren eigenen Ängsten und Schmerzen erweckt, und diese entluden sich nun in die Erde hinein, wurden vom Wind verweht und vom Wasser der See davongespült. Als auch die zweite Säule in einem letzten Aufbäumen aus grünem Licht verging fühlte Léto erst nach hundert weiteren Atemzügen das Nachströmen, "Es geht, Maman. Dieser Zauber der reinigenden Erde ist einfach genial", hörte sie ihre Enkeltochter Gabrielle singen. Da wusste sie, dass die dunkle Barriere schon an anderen Stellen durchbrochen wurde. So musste es weitergehen, ohne nachzulassen.
Nun fuhr sie wieder nach rechts und fand die von ihr als dritten Zwischenhalt vorgeplante Säule, die jedoch nicht mehr so breit und hell strahlte wie die erste. Wieder benetzte sie unter dem Gesang für reinigenden Wind, Wasser und Erde einen roten Stein und warf diesen in die Säule. Diesmal dauerte es nur zehn weitere Atemzüge, bis auch diese Säule im grünen Schein verging.
"Auf dem Festland geht das richtig schnell", hörte sie ihre Tochter éGlée singen, die gerade an der belgischen Grenze unterwegs war. Offenbar wirkten hier die sich direkt berührenden Kräfte von Wind und Erde zusammen.
Säule um Säule erhielt einen vorbezauberten Stein. Jedesmal wurde die restliche Barriere schwächer. Das lag auch an den sechs anderen, die ihre Abschnitte bearbeiteten. Als sie dann die siebte ihr zugeteilte Säule fand flogen ihr aus dieser fünf adlergroße Feuerbläserinnen entgegen, wollten sie zurücktreiben. Doch sie hielt stand und bezauberte den letzten von ihr mitgenommenen Stein. Als dieser in der Tiefe des Meeres versank zerbarst die dem Himmel entgegendrehende Säule in viele kleinere Flammen speiende, kreischende Feuerbläserinnen, die auf sie zujagten und Anstalten machten, ihr Boot in Brand zu setzen. Sie wich ihnen nach links und rechts aus. Dann berührte der letzte Stein den Meeresboden dort, wo der siebte Ankerkörper lag. Die auf sie zujagenden Feuerbläserinnen kreischten noch einmal laut auf und wurden wie von einem gierigen Sog aus der Luft in die Tiefe gerissen. Sie zersprühten zu grünen Funken, die der Drehachse der siebten Säule entgegenstrudelten. Dann glühte das Meer an dieser Stelle noch einmal grün auf. Danach war Ruhe. Nur die sanft auf- und absinkenden Wogen wiegten das Boot. Léto wartete und wartete. Doch sie fühlte keine nachströmende Kraft mehr. Sie sang, dass sie ihre sieben Säulen des Unheils zerstört hatte. Dasselbe sangen nun auch Apolline, Églée, Gabrielle, Laure-Rose und deren erwachsene Töchter. "Wir haben immer ein leichtes Erdbeben gespürt", meldete Laure-Rose ihrer Mutter. "Gut, verschwindet da, bevor jemand von der anderen Seite nachforscht, was geschehen ist!" befahl Léto. Dann trieb sie das Boot zur höchsten Eile an und jagte dem Strand zu. Sicher würde es irgendwer erfassen, dass hier gerade eine Menge böser Zauberkraft erst aufgestrahltt hatte und dann in die Tiefe der Erde gestürzt war.
Léto landete mit dem Boot auf dem Strand. Sie fühlte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Denn von weiter in Mittagsrichtung näherten sich mehrere fliegende Körper. Jemand aus dem südlichen Erdteil hatte etwas bemerkt. Sie verließ das Boot und zielte mit ihren Händen darauf. Dann explodierte ein lodernder Feuerball genau da, wo das Boot gelegen hatte. Léto wurde unsichtbar. Dann wechselte sie in die Gestalt des Schwanes und hob ab. Schneller und schneller flog sie in Richtung Landesinnere davon, während das von ihr benutzte Boot, das Apolline ihr gemacht hatte, in orangeroten Flammen verging.
Sie schrak aus dem leichten Schlaf. Irgendwas stach ihr in den Unterleib und pochte hinter ihrer Stirn. Sie meinte, ihre eigenen Angstlaute zu hören, als sie sich für den Zauber des dunklen Walls in ihre schlimmsten Angstvorstellungen hineingesteigert hatte, die Augenblicke zwischen dem Tod Giorgianas und ihrem Erwachen als ihre eigene Tochter Ladonna. Ja, das hätte damals auch danebengehen können, dachte sie. Doch warum überfiel sie diese Angstvision so stark? Dann geschah es noch mal. Diesmal meinte sie durch einen viel zu engen, grün erleuchteten Tunnel zu kriechen. Ihr Unterleib pochte so wild, als wolle er gleich zerbersten. Ihr Kopf dröhnte lauter als eine wuchtig geschlagene Kesselpauke. Immer und immer wieder geschah das. Ihr Kreislauf geriet in Aufruhr. Sie wusste nicht mehr, ob sie gerade wieder im Geburtskanal steckte oder bereits ihr Leben verlor. Angst und Todesqual wirbelten sie durch einen Raum der bösen Träume. Sie sah ihre größten Niederlagen vor sich und meinte, von gewaltigen Kiefern zermalmt zu werden. Sie meinte, eine grüne Riesin zu erkennen und glaubte sie rufen zu hören: "Komm in meinen Leib, kleines leckeres Mädchen! Wenn ich es richtig hinkriege darfst du dann als mein kleines Mädchen wieder aus mir rauskrabbeln." Das war die grüne Urmutter, gezeugt von einem Baumgeist mit einer Kurzlebigen, Gebärerin aller Waldfrauen.
Die Visionen und Schmerzen trieben Ladonna an den Rand des Irrsinns. Jeden Moment rechnete sie damit, ihren Verstand zu verlieren. Wieder und wieder meinte sie, ihr Unterleib müsse gleich zerreißen und ihr Kopf zerplatzen. Dann auf einmal übermannten sie Dunkelheit und Stille. Die Todesangst und die Schmerzen waren fort. Doch da war eine unbestimmte Angst, nicht mehr zu wissen wo sie war und wer sie war. In der Ferne meinte sie, einen sonnenhellen Stern zu sehen. Sie fühlte, wie sie auf diesen zugezogen wurde. Dann hörte sie das leise Singen: "Komm, kleine Schwester, ich warte auf dich. Nach langer Zeit endlich erhörest du mich. Der Lichtpunkt wurde zur Lichtscheibe, die immer größer und heller wurde. Dann sah sie eine schattenhafte Gestalt. Diese wurde immer größer und klarer zu erkennen. Das war ihre große Schwester Regina! Diese winkte ihr zu und sang weiter ihr lockendes Lied. Dabei wuchs sie immer weiter an. Ladonna fühlte auf einmal, dass sie gerade auf dem Weg in den Tod war. Sie fühlte auch, dass sie freiwillig diesen Weg betreten hatte. Regina glühte nun vor der weißgoldenen, immer größer werdenden Lichtscheibe, nein, dem Ausgang aus einem sich tiefschwarzen, sich drehenden Tunnel.
"Komm, Schwesterlein. Ich lass dich ein, so sind wir zwei dann eins!" rief Regina. Ladonna schlug um sich, suchte nach Halt. Doch sie fand keinen. Ihre Schwester löste sich aus der leuchtenden Scheibe. "Komm zu mir, werde eins mit mir, auf dass wir unsere beiden Mütter ehren, als Wächterin von Licht und Schatten!" rief Regina. Ihre Stimme hallte aus allen Richtungen wider. Ladonna schrie auf, um nicht zu hören, was die andere ihr zurief. Sie fühlte den Sog, der von der nun blaugrün leuchtenden Gestalt ausging. Regina war zu einem Lichtgeist geworden, einer Erscheinung jenseits des Fleischlichen. "Komm und sei eins mit mir, damit der Schmerz der Niedertracht, den du mir zugefügt hast, getilgt werde!"
"Nein, lass mich. Nein!" rief Ladonna, die nicht mehr wusste, ob sie noch Fleisch und Blut oder daraus abgeschiedener Geist war. "Komm zu mir, damit wir den Fluss der Rastlosen bewachen, wie unsere Urmutter Mokusha es mir auftrug, als du mich in die nächste Welt gestoßen hast", sang Regina. Es klang nicht böse oder verärgert, sondern ermutigend, lieblich. Dennoch wirkte es auf Ladonna wie die Trommeln, die ihre eigene Hinrichtung begleiteten. Sie konnte nun auch erkennen, was hinter ihrer Schwester war, der Rand einer schier unendlich tiefen, steilen Schlucht, an deren Grund das Ufer eines wild dahinfließenden Stromes lag, der Fluss der rastlosen Geister.
Es fehlten nur noch wenige Dutzend Schritte. Immer deutlicher sah sie das Ufer des die ganze Breite des hellen Tunnelausgangs ausfüllenden Stromes, der im Licht einer nicht sichtbaren Sonne widerschien. Sie erkannte nun winzige, darin treibende Schatten, als würde jemand vom Meeresgrund aus über sich dahinschwimmenden Fischen zusehen. Ja, das war der unendliche, im Kreis um alle Welten fließende Fluss der rastlosen Geister, Angstort all jener reinblütigen Veelas, die fürchteten, die Gunst ihrer abgöttischen Urgebärerin Mokusha zu verlieren und dann für alle Ewigkeit im Strom aus allen je geweinten Tränen aller fühlenden Wesen damals bis irgendwann in der Zukunft schwimmen zu müssen, immer darum kämpfend, nicht von den anderen Seelen geschwächt und vertilgt zu werden oder darauf hoffend, von einer, die sich offen gegen Mokushas Willen vergangen hatte, in die Welt zurückgehoben und im Körper seines oder ihres nächsten Kindes wieder Fleisch und Blut zu werden. Sie hatte es bisher nie geglaubt, es für eine Fügsamkeit erzwingende Behauptung gehalten, wie die Behauptungen der Christen, Juden und Muslime, um ihre Anhänger zu beherrschen.
Vor diesem Unheil und Elend verheißenden Hintergrund stand ihre blaugrün leuchtende Schwester und sang ihr lockendes Lied. Sie wollte sich mit ihr, der Rosenkönigin, ihrer jüngeren Schwester vereinen. Doch das wollte sie nicht. Aber der Sog trieb sie immer näher zu ihr hin. Die Stimme lockte sie, verhieß ihr endlich die Erfüllung ihres Daseins. Doch die Angst, dann für immer zu vergehen überwog diese Verheißung. Sie musste sich davon freimachen, entfliehen, entrinnen. Dann fiel ihr was ein, was ihre Nährmutter Domenica ihr einmal geraten hatte: "Wenn du was träumst, dass dir Angst macht, kehre ihm den Rücken zu und sieh es nicht mehr an!" Ja, das musste sie tun. Sie schaffte es mit einer vollendeten halben Pirhouette herumzukreisen und blickte nun in den finsteren Tunnel zurück, aus dem sie ins Licht getrieben wurde. Sie spürte sofort, dass sie in die Gegenrichtung trieb, weg von jenem meilentiefen Tal, in dem der dutzende Meilen breite und meilentiefe Fluss der rastlosen Geister rauschte.
"Nichts da, komm zu mir!" hörte sie ihre verstorbene, riesenhafte Schwester rufen. "Wir haben eine Aufgabe! Du musst mit mir zusammen sein! Komm her und sei eins mit mir! Nein! Komm wieder zurück, du undankbares Geschöpf! Komm zu mir zurück!" Jetzt klang die vorher so verlockende Stimme alles andere als freundlich und wohltuend. So klang die nackte Enttäuschung. "Komm gefälligst zu mir hin. Wir müssen eins sein, um Mokushas Gebot zu befolgen. Komm gefälligst zu mir! Ich bin die ältere, die vorausgegangene!" Reginas Stimme hallte immer noch aus allen Richtungen. Doch sie wurde immer leiser. Dann rief die hinter ihr zurückfallende: "Nur kurz währt noch dein Glück, dann kehrst du wohl zu mir zurück. Denn wenn die dritte Tochter kommt zur Welt, bald nichts mehr ist, was dich dort hält! Ichwart auf dich, kleine Schwester, undankbares Mädchen, Schwesternmörderin!!"
Unvermittelt stach ihr etwas in die Lungen. Lungen! Sie hatte schmerzende Lungen! Sie musste atmen! Sie holte laut Luft und stieß sie mit einem Schrei aus, der wie ihr allererster Schrei als Ladonna Montefiori klang. Sie stemmte die schweren Lider auf und sah sich um. Sie lag in ihrem Bett. Nachtgewand, Haar, Laken, Decke und Kissen waren von ihrem Schweiß getränkt. Ihr Herz rumpelte und wummerte, musste wohl sein Gleichmaß wiederfinden. Dann beruhigte sie sich wieder. Hatte sie das gerade alles nur geträumt?
Sie wandte sich herum. Gut, dass sie gerade nicht mit Luigi im Bett lag. Ihr Liebesknecht lag im Tiefschlaf, weil sie nicht wollte, dass er ihren Plänen im Weg war. Dann hörte sie eine ferne Stimme und erschrak. Doch es war nicht ihre tote Schwester, die ihr als ihre Seele begehrender Riesengeist begegnet war. Es war ihre Kundschafterin in Frankreich.
"Meine Königin, die Barriere ist zerfallen. Jemand oder etwas mächtiges hat sie niedergerissen und ihre Kräfte in alle Winde verstreut. Meine Königin!"
"Ich höre dich, Élise. Die Barriere ist zerstört! Das ist unmöglich. Niemand kann sich ihr nähern, um irgendwas zu tun, um sie ... Mokushas Brut!!" Sie wusste jetzt, wer die Barriere so gezielt angreifen konnte, wer bis auf wenige Dutzend Schritte an die ausgebrachten Ankerkörper, die Steine mit ihrem Blut und ihren aus erinnerter Angst entfachten dunklen Kraft, herangehen konnte, ohne sofort in den Sog der eigenen schlimmsten Angstvorstellungen zu geraten. Ja, die französischen Veelas waren das. Sie hatten die Barriere vernichtet. Doch so einfach ging das auch nicht. Sie mussten einen mit starkem, der Erde verbundenen Reinigungszauber belegten irdenen Träger benutzt haben, der ihre eigenen Kräfte aufgenommen und dann auf den Ankerkörper übertragen hatte. Jetzt wusste sie, was ihr da gerade widerfahren war. Ihre eigenen durch einen Mondwechsel gesammelten Kräfte hatten sie wahrhaftig an den Rand des Abgrundes zwischen dieser und der nächsten Welt getragen und schon hineingestoßen, wo Regina, ihre vorausgegangene Schwester, auf sie wartete, um sich zur Vergeltung für ihren Tod mit ihr zusammenzufügen, um mit ihr zu einem einzigen Dasein zu verschmelzen. Aber das hieß, dass sie dann nicht mehr die Herrin der Hexenheit und Gebieterin aller Menschen sein konnte. Sie würde nicht mehr als eigenständiges Wesen bestehen. Sie konnte nie wieder fleischliche Form erlangen. Das sollte ihre persönliche Strafe für das sein, was sie Regina angetan hatte.
Was hatte diese ihr zugerufen, als sie es noch mit letzter Willenskraft geschafft hatte, sich an ihren beinahe getöteten Körper zu klammern? "Denn wenn die dritte Tochter kommt zur Welt, bald nichts mehr ist, was dich dort hält!" Welche dritte Tochter meinte sie? Sie, Giorgiana, die in Ladonna aufgegangen war und Domenica waren schon seit Jahrhunderten tot und vergangen. Hieß das, sie durfte selbst nicht die dritte Tochter gebären, weil in ihr Giorgianas Geist und Bluterbe steckte? Aber dann konnte sie auch nicht von einem Leben ins nächste hinüberwechseln. Womöglich war das auch nur alles ihre ganz persönliche Einbildung, ein lauter Aufschrei ihres eigentlich schwachen, daniederliegenden Gewissens, weil sie ihre eigene Schwester entmachtet und getötet hatte. Ja, so und nicht anders konnte, ja durfte dieser Ausruf an sie gedeutet werden. Außerdem wollte sie sicher nicht in der nächsten Welt am Ufer des Flusses der rastlosen Seelen wachen, nur um eine alte Behauptung zu bedienen, dass alle Veelastämmigen, die nach den Geboten ihrer Urmutter gelebt hatten, in deren ewigen, unendlich großen Schoß zurückkehren würden, wo sie mit allen vorausgegangenen Brüdern und Schwestern friedlich ruhen konnten, während jene, die eben nicht nach Mokushas Geboten gelebt hatten, ewig rastlos einander bedrängend im Strom aller je geweinten Tränen zubringen mussten. . Alles ein Mythos, eine Legende. Wahr war, dass sie als Trägerin von Waldfrauenblut die Kraft hatte, in einer von ihr geborenen Tochter neu aufzuwachsen. Falls Regina ihr das ausreden wollte durfte sie sich nicht beirren lassen. Doch die Barriere war zerstört und hatte sie fast getötet. Es bestanden noch zwei davon. Wenn die auch vernichtet wurden konnte sie wirklich sterben, ob Regina auf der anderen Seite oder dem harten Boden des Abgrundes auf sie wartete oder nicht.
Sie beschloss, sich wieder umzudrehen und weiterzuschlafen, um neue Kraft zu schöpfen. Jetzt wo sie wusste, dass die Veelastämmigen ihre mächtige Grenzmauer niederreißen konnten, durfte sie sich nicht noch einmal davon entkräften lassen. Außerdem wollte sie es miterleben, wie ihre Boten der Vernichtung und des weltweiten Chaos' ihre Reise antraten und nur wenige Stunden danach die Feuersteine in den großen Flughäfen aufloderten und diese Gebäude widerrechtlicher Anmaßungen magieloser Menschen hinwegfegten. Auch würden sich morgen alle russischen Veelas in den Krieg stürzen wie Lemminge in das wild tosende Meer und ihr damit einen Gutteil ihrer gemeinsamen Lebenskraft überlassen. Ja, hatte sie diese erst, konnte sie die wenigen Überlebenden überwinden, knechten oder töten, wie sie es mit ihren lebenden Verwandten schon vorgeführt hatte. Sie würde die Spinnenschwestern jagen und dieses Weib mit dem Feuerschwert in der Luft zerreißen, um ihre Klinge zu erlangen und ihre Meisterin zu werden. So viel gab es für sie zu hoffen. So viel gab es für sie zu tun. Dafür musste sie stark werden, stärker als bisher.
Léto alias Himmelsglanz musste eine gewisse Zeit ausruhen, bevor sie die französisch-luxemburgische Grenze überquerte und froh war, dass die Barriere nicht mehr bestand. Sie jagte mit vierfacher Fluggeschwindigkeit eines auf Zug befindlichen Schwans über Süddeutschland dahin und fand den Donaustrom bei Passau. Diesem folgte sie nun bis zu den vielen Mündungsarmen auf den Staatsgebieten von Ukraine und Rumänien. Beim ersten Schimmer des neuen Morgens erreichte sie das schwarze Meer. Als die Sonne ihre ersten Strahlen über den östlichen Himmelsrand streckte sank sie aus ihrer Reiseflughöhe nach unten und suchte das scheinbar unendlich große Meer nach einem winzigen Flecken Land ab. Als es im Lichterspiel gespiegelter Sonnenstrahlen vor ihr flimmerte und sie eine von weißem Brandungsschaum umschlossene, birnenförmige Insel sah landete sie an deren westlichem Strand. Sie blieb noch in ihrer Schwanengestalt als sie ihrer Schwwester Morgenröte zusang, auf der Insel Mokushas angekommen zu sein.
"Also habt ihr den Wall der Angst niedergerissen? Darfst du mir erzählen, wenn wir es noch rechtzeitig schaffen, unsere Verwandten vom größten Irrtum ihres Lebens abzubringen", erwiderte Morgenröte auf dieselbe magische Weise.
Der Ruf an die Ältesten war von allen gehört worden. Wie üblich trafen sich alle unbekleidet in jener Höhle, aus der der die Insel bewässernde Fluss zwischen den steinernen Schenkeln der gewaltigen Statue Mokushas entsprang. Dann berichtete Morgenröte, dass sie es nicht geschafft hatte, die anderen russischen Familien vom vollständigen Kriegszug abzubringen und diese noch an diesem Tag die kurzlebigen, magischen Menschen angreifen würden.
Die anderen Ältesten hörten geduldig und aufmerksam zu, was Morgenröte mitteilte. Dann sagte Sommerwind: und du, Sonnentanz, berufst dich auf Mokushas Gebot, Blut mit Blut zu vergelten? Aber wenn du das Blut derer vergießt, die noch keiner und keinem von uns was angetan haben ist das gegen das Gebot!"
"Nein, O Sommerwind, ist es nicht. Denn derzeit sind alle Zauberstabträger meiner und Morgenrötes Heimat auf der Jagd nach uns und wollen unseren Tod", widersprach Sonnentanz, der alle ansahen, dass sie ungern hier war und wohl darauf gehofft hatte, dass der Rat nicht vollständig zusammentreten konnte. So entspann sich ein immer leidenschaftlich werdender Streit, was genau Mokusha geboten hatte, ab wann die von ihr befohlene Blutrache gelten sollte und wie mit denen zu verfahren war, die eindeutig ohne eigenen Willen, ja von missgünstigen Nachfahren Mokushas gefügig gemacht worden waren. Sonnentanz beharrte darauf, dass durch Sternennachts Blutsverwandte alle in Amt und Würde stehenden Zauberer und Hexen Russlands ohne eigenen Willen waren und somit als Werkzeuge der Missgunst Ladonnas betrachtet werden mussten. Aber genau deshalb, so die Gegenreden Morgenrötes und Himmelsglanzes, konnten deren Blutsverwandte nicht für deren Taten mitbestraft werden. Sonnentanz und fünf andere der Ältesten sahen dies anders und wiesen auf frühere Streitigkeiten innerhalb der zwölf Stämme hin, bei denen es beinahe zu offenen Kriegen mit verhängnisvollen Folgen gekommen wäre. Sommerwind und Lebensfeuer, die beiden ältesten Mitglieder des Rates und somit dessen Sprecherin und Sprecher, wiesen darauf hin, dass genau deshalb der Ruf der Schlichtung eingeführt wurde, den Morgenröte gewählt hatte, um die außerordentliche Ratszusammenkunft zu erwirken. Sie sahen alle Sternennacht an, die einzige, die tiefschwarzes Haar besaß. "Wollt ihr anderen mir und meinen Blutsverwandten damit unterstellen, wir hätten die Russen zur tödlichen Jagd gegen euch angetrieben, Morgenröte und Sonnentanz?"
"Wenn du es so auslegen magst, Sternennacht, so werde ich dir da nicht widersprechen", erwiderte Sonnentanz schnippisch. Sternennacht errötete vor Zorn. "Dies lasse ich mir nicht vorwerfen. Ladonna Montefiori, Enkeltochter meiner selig im Schoße Mokushas ruhenden Urmutter Nachtlied, ist vom Blute einer kinderfressenden Waldfrau verdorben und damit unbeherrscht. Ich hätte schon längst den letzten Schnitt an ihr vollzogen, wenn ich an sie herankäme. Doch sie hat ihr Versteck mit einem bösen Dunst umkleidet, der das Blut jedes darin eintauchenden Feindes zu Feuer werden lässt und verbrennt. Immerhin hat sie mit eigenen Kräften und Worten mehr als zwanzig meiner Blutsverwandten getötet und sich damit gegen die Gebote Mokushas vergangen. Ihre Werkzeuge, die sie durch ihre verwerfliche Zauberei hergestellt hat, sind ihre Schuld, nicht meine oder die meiner anderen redlichen Blutsverwandten. Dies fordere ich zu beachten."
"Ja, aber diese Knechte von ihr sind somit keine freiwillig handelnden Menschen, die uns aus eigenem Antrieb nach dem Leben trachten, Schwester Sternennacht", hakte Himmelsglanz ein. "Also unterliegen sie nicht dem Vergeltungsgebot unserer Urmutter."
"Natürlich tun sie das, Schwester Himmelsglanz", widersprach Sonnentanz erneut und eröffnete die nächste Runde der hitzigen Unterredung, ob die russischen Hexen und Zauberer noch als freiwillig handelnde oder wie lebende Marionetten geführte Erfüllungswerkzeuge Ladonnas zu behandeln waren, die selbst vernichtet werden durften, aber deren Blutsverwandte unberührt bleiben sollten. Sonnentanz beharrte darauf, dass jeder Zauberstabträger bald zum Mittäter an Ladonnas Vernichtungsplan werden würde und / oder einen Blutsverwandten besaß, der an der Verfolgung und Vernichtung der Veelas beteiligt war und somit bereits schuldig war, ohne die Tat selbst verübt zu haben.
"Meine Blutsverwandten stehen bereit und auch alle die, die den Vergeltungsfeldzug mitmachen werden", sagte Sonnentanz. "Gebietet ihnen zu warten, bis wir endgültig entschieden haben, wie wir die Lage bewerten!" befahl Sommerwind. Als älteste der Weiblichen des Rates hatte sie ja die Befehlsgewalt über jüngere Ratsmitglieder. Doch Sonnentanz und alle anderen Ratsmitglieder mit russischen Verwandten wollten diesen Befehl verweigern. Da meinte Lebensfeuer, der älteste der Männlichen: "Dann hat sie endgültig obsiegt. Denn wenn ein Ratsbeschluss nicht mehr gilt zerfällt unser Volk. Es wird sich in Stammesfehden zerstören und die dabei freigegebene Kraft Mokushas über die ganze Welt verbreiten. Wer wird dann da sein, um sich daran zu laben wie an frischer Nahrung, Luft und Wasser? Genau das will sie, dass alle von euch den Tod finden und ihr damit ihren Anteil von Mokushas hoher Kraft zuführen. Das dürfen wir nicht zulassen."
"Richtig, und deshalb müssen wir mit aller Macht den Krieg gewinnen", legte Sonnentanz die Worte Lebensfeuers aus. "Wir müssen weiterleben, um die Gefahr, die uns allen droht aus der Welt zu schaffen und dann ladonnas Versteck niederzureißen. Stirbt sie dabei ist auch dem Gebot Mokushas gedient, das gestörte Gleichgewicht zwischen den Stämmen wiederherzustellen. Aber dazu soll Sternennacht sie endlich aus ihrem Stamm ausstoßen. Dann braucht sie den letzten Schnitt nicht mehr zu tun."
"Dass ich dir nicht gleich sämtliche Haare vom Kopf reiße, Sonnentanz", stieß Sternennacht wütend aus. "Solange sie lebendig ergriffen werden kann will ich im Namen meines Stammes die fällige Bestrafung an ihr vollziehen und sonst niemand. Meine Blutsverwandten kennen ihr Versteck. Sie werden es umringen und den Blutfeuernebel auflösen, um sie dort herauszuholen."
"Du wagst es, mir mit dem Entreißen aller Haare zu drohen, Sternennacht?" ereiferte sich nun Sonnentanz mit wutrotem Gesicht, aus dem bereits erste weiße Vogelfedern sprossen. Sommerwind und Lebensfeuer riefen zeitgleich "Einhalt!" und geboten den beiden, sich wieder zu beruhigen.
So drehte sich die angeheizte Unterredung im Kreis wie ein loderndes Feuerrad. Keine Seite wollte der anderen nachgeben. Schließlich schlug Himmelsglanz vor, die Entscheidung der zwei ältesten zu erbitten, da sie ja keine mehrheitliche Abstimmung hinbekamen. Damit waren vierzig der achtundvierzig einverstanden. So beschlossen Sommerwind und Lebensfeuer:
"Um die Vernichtung unserer Brüder und Schwestern zu verhüten und dabei die Gebote Mokushas zu achten, kein unschuldiges Blut zu vergießen gebieten wir, dass alle in Russland lebenden Kinder Mokushas entweder in den geschützten Waldstädten verbleiben, bis die Entmachtung der lebenden Werkzeuge Ladonnas möglich und vollzogen ist oder zumindest der eigenen Kinder wegen in friedlichere Lande auswandern, bis die Vorherrschaft von Ladonnas lebenden Werkzeugen beendet wurde. Wir verbieten den gnadenlosen und alle betreffenden Kriegszug, weil er nicht die trifft, die ihn entfachen will, sondern nur unschuldige kurzlebige Menschen, von denen viele keinen Anlass hatten, uns zu schaden, bis Sternennachts Verwandte die Saat der Vernichtung in ihnen aufgehen ließ. Dieses Gebot gilt mit den Stimmen jener, die uns zu dieser Entscheidung ermächtigt haben. Mögen der Frieden und der Schutz unserer machtvollen und liebenden Urmutter unsere dunklen Gedanken vertreiben und uns mit ihrem Licht und ihrer Wärme erfüllen wie die Sonne die Wälder und Wiesen bedenkt!"
"Wir sollen uns also verstecken, warten, bis irgendwann irgendwer Ladonna aus ihrem eigenen Versteck zerren und uns ausliefern kann?" stieß Sonnentanz aus. Ihre Heimatgenossin Windflug spie allen hier hin, dass sie statt des Feuers Mokushas nur noch Wasser in ihren Herzen trugen. Das war die Veelaumschreibung für Feigheit oder Schwermut. Doch wenn sie damit die anderen verärgern und zu einer anderen Entscheidung aufbringen wollte verfehlte sie ihr Ziel. Sich die langen Haare raufend und mit leicht gefiderten Gesichtern zähneknirschten die soeben vom Vergeltungskrieg zurückbefohlenen. Doch sie mussten die Entscheidung der Ältesten mittragen. Denn es stimmte ja. Wenn sich welche dagegen auflehnten und der Rat somit die eigene Macht verlor würde der Frieden zwischen den Stämmen erlöschen und die zwölf großen Stämme Mokushas einander bekämpfen und vernichten. Das wollten sie natürlich alle nicht. Sternennacht fühlte sich von diesem Beschluss gestärkt und sagte: "Und mein wird die Bestrafung der vom rechten Weg abgekommenen sein. Kann ich sie ergreifen werde ich unverzüglich den letzten Schnitt an ihr tun, meine Schwestern und Brüder. Bis dahin gilt sie als von meiner Familie beschützt und unantastbar. Nur meine Blutsverwandten und ich dürfen sie strafen."
"Dann sieh zu, dass du sie findest und bestrafst!" befahl Sommerwind. Das gab wiederum Sonnentanz aufwind. "Du kannst mir natürlich auch erlauben, sie für dich zu finden und zu strafen, Sternennacht. Immerhin hast du mich und die meinen ja gerade davon abgehalten, die uns feindlich begegnenden Zauberstabträger zu richten."
"Dies würde dir so passen, Sonnentanz", erwiderte Sternennacht. "Nein!" bekräftigte sie noch.
"So ist denn diese Sitzung zum Wohle aller Kinder Mokushas beschlossen und beendet", sagte Lebensfeuer.
Die 48 Ratsmitglieder verabschiedeten sich noch so voneinander, wie es die jahrtausende alte Sitte gebot. Dann verließen sie die Beratungshöhle, um in ihren flugfähigen Tiergestalten in ihre Heimatländer zurückzukehren.
Über Mokushas birnenförmiger Insel mit den saftig grünen Strandwiesen senkte sich bereits die rötlich angehauchte Abendsonne, als Himmelsglanz und Morgenröte nebeneinander her in Sonnenuntergangsrichtung flogen. Unterwegs sang Himmelsglanz ihrer jüngeren Schwester zu, wie genau sie die Barriere um Frankreich niedergerissen hatte und dass sie und Fleur ergründeten, wie auch die Barriere um die beiden britischen Inseln beschaffen war.
"Dann vermag dein Schützling und Vater meines nächsten Neffens oder meiner nächsten Nichte die Anrufung der heilenden Erde zu wirken und in irdenen Trägern auszulagern? Gut zu wissen, Schwester. Halt ihn dir auf jeden Fall schön gewogen. Schließlich willst du ja sein Blut mit unserem verbinden. Oder hast du es dir überlegt und willst ihn mir wieder überlassen?"
"Mein Wort in der Höhle der gesammelten Worte bleibt gültig, Schwester", erwiderte Himmelsglanz darauf.
"Glaubst du, Sonnentanz und Windflug bleiben so duldsam, keine Blutfehde mit Arcadis Leuten zu führen?" wollte Morgenröte wissen. "Falls sie dies nicht sind werden ihre Seelen eines Tages im Fluss der rastlosen Seelen enden, wie vielleicht auch die Seele von Euphrosyne, wenn sie ihr neu aufblühendes Leben nicht dazu nutzt, die Schande auszuwetzen, die sie begangen hat."
"Grüß sie mal nett von ihrer großtante aus Sibirien", sang Morgenröte. Himmelsglanz versprach, dies zu tun. Dann trennten sie sich, um den Heimflug fortzusetzen.
Albertrude Steinbeißer hatte über verschiedene Umwege eine Liste deutschsprachiger Piloten zugespielt bekommen. Wie die freien Lichtwächterinnen, die dank ihrer Hilfe dem Feuerrosenzauber entgangen waren suchten auch alle anderen deutschsprachigen Schwestern nach jenen womöglich von Ladonna unterworfenen Flugzeuglenkern. Albertrude hatte sich mit ihren vorgeblichen Mitschwestern Lina Eichenkork, Heidrun Glockenstuhl und Elsa Wiesengrün abgesprochen, wo wer zu suchen hatte. Denn es gab vier mögliche Anlaufpunkte für die beeinflussten Piloten: Den Rein-Ruhr-Flughafen Düsseldorf, den Rhein-Main-Flughafen Frankfurt, den Flughafen Hamburg Fuhlsbüttel und den Flughafen München Franz Josef Strauß. Sie hatte sich für den Flughafen Düsseldorf entschieden.
Nachdem Italien Frankreich im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft besiegt hatte und die enttäuschten Deutschlandfans und ebenso enttäuschten Frankreichfans ihre Heimreisen angetreten hatten gehörte der Flughafen wieder den normalen Ferienreisenden und Geschäftsleuten.
"Ach neh, kai Distelwurz passt auf die mit diesen lärmigen Feuerstrahlflugmaschinen reisenden Träger von Magie auf, die nicht nach Frankreich, Griechenland oder England wollen", dachte Albertrude, als sie einen ihrer derzeitigen Nicht-Kollegen erkannte, der nur hundert Meter von ihr entfernt an einer Sicherheitsschleuse Dienst at. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Barriere um Frankreich und Griechenland mit Verkehrsflugzeugen der Magieunfähigen locker und dreimal so schnell wie auf einem Besen überquert werden konnte. Daher nutzten jene, die vom Ministerium die Genehmigung hatten diese Reisemöglichkeit, um dorthinzureisen.
Albertrude hatte sich mit einer teilweisen Selbstverwandlung für alle nach ihr fahndenden unkenntlich gemacht und sah auch, wo magische Melder versteckt waren, die sie anhand ihrer eigenen Magieausstrahlung verpetzen konnten. Sie umging diese kleinen aber fiesen Fallen und postierte sich so, dass sie in der Nähe des Bereiches blieb, in dem Flugbesatzungen zwischen den Flügen zubrachten. Dabei sah sie durch die Betonwände auf die uniformierten Piloten, die in ihrer Körperhaltung und Gestik vermittelten, wie privilegiert sie gegenüber den Flugbegleiterinnen waren. Jeder, der ins Blickfeld ihrer magischen Augen geriet wurde mit den briefmarkengroßen Bildern verglichen, die sie in ihrer Jeansstoffjacke mitführte. Sie ärgerte sich ein wenig, dass ihre Augen ihr nicht auch ein schnelleres Sehen wie bei einem Selbstbeschleunigungszauber ermöglichten, um nur eine Hundertstelsekunde auf jedes Bild zu sehen.
Gerade betrat eine Frau in figurangepasster Pilotinnenuniform mit dem Firmenzeichen von Condor den Warte- und Vorbereitungsbereich und steuerte einen jungen Mann in ähnlicher Aufmachung an. Offenbar war das ihr Copilot. Albertrude prüfte beide Gesichter nachund sog Luft zwischen ihren Zähnen ein. Die Pilotin stand auf der Liste! Susanne Knoop hieß sie. Doch um sicher zu sein, auch wirklich eine beeinflusste Magd Ladonnas vor sich zu haben musste sie durch die Betonwand und ihre Augen auf die Erkennung magischer Auren umstimmen. Sie ging schnell, mit einem Auge die Pilotin im Blick behaltend, in einen Seitengang. Dort suchte und fand sie eine verschlossene Zugangstür. Die war für den Alohomora-Zauber kein Hindernis. Albertrude betrat den für Fluggäste verbotenen Bereich und trickste die Sicherheitsschleuse aus, die auch Angestellte prüfte, damit sie keine verbotenen Dinge an die Flugbesatzungen verteilten. Nun stand sie im für Condor-Mitarbeiter reservierten Bereich und hörte die nachhallende Unterhaltung der Pilotin und ihres ersten Offiziers mit. Es ging um den Flug nach Antalya, der in einer Stunde starten sollte. Der Außencheck war bereits abgeschlossen. Die Maschine, eine Boeing 737, wurde gleich für den Direktflug betankt. Doch für Albertrude war nur wichtig, dass sie ein rubinrotes Pulsieren um Susanne Knoops Körper sah. Das war eindeutig magischen Ursprungs. Konnte die Frau damit tatsächlich eine dieser mit hochempfindlichen Elektronikapparaten bestückten Maschinen fliegen?
"Frau Knoop, wir müssen vorher wissen, wie viel Gepäck die Passagiere mitnehmen", sagte der Copilot gerade. "Letztes mal hatten wir einen Witzbold, der ein Segelboot in vier Kisten eingecheckt hat."
"Die Mitteilung über das eingecheckte Gepäck bekommen wir gleich an Bord, wie üblich, Herr Kuhn", sagte die Pilotin. Albertrude wusste nicht, ob sie sich das nur so einbildete oder ob die andere wirklich so gefühllos sprach, als sei sie keine lebende Frau mehr, sondern ein täuschend ähnlich nachgebautes Automaton, was die Magielosen auch Androidin nannten. Wichtig war jedoch, dass die Frau unter einem fremdem Zauber stand. Sie war gefährlich, das was die Magielosen als Zeitbombe bezeichneten.
Albertrude machte sich erst unsichtbar, um sich an die beiden heranzuschleichen. Wie sie vorgehen sollte hatte sie mit ihren Mitschwestern abgesprochen. Demnach sollte sie die Zielpersonen betäuben und durchsuchen, um zu erfahren, wo sie sich umkleideten und ob es Stellen gab, wo sie sich an- und wieder abmelden mussten. Doch zuerst die Sicherstellung der verwunschenen Pilotin.
Sie schlich sich leise an die beiden heran. Knoop unterhielt sich mit Kuhn über den Wetterbericht für die Flugstrecke. Sie entschieden, für eine halbe Stunde mehr Treibstoff zu fassen, um dem vorhergesagten Südwind entgegenzuwirken. Dann war Albertrude nur noch vier Schritte von ihnen entfernt. Sie benutzte einen von Gertrude Steinbeißer erfundenen Kombinationszauber, mit dem ein Opfer zugleich betäubt und verwandelt wurde, um es besinnungslos für unbestimmte Zeit aufbewahren zu können. Dieser Zauber, "Somnimutatus immediatus konnte von ihr, der Erfinderin mit zusätzlicher Seelen- und Zauberkraft, mühelos ungesagt ausgeführt werden. Susanne Knoop erstrahlte in einem kurzen roten Blitz, gleich gefolgt von einem violetten Blitz. An ihrer Stelle lag nun ein Nadelkissen ohne Nadeln auf dem Kunststoffüberzogenen Boden. Knoops Kollege Kuhn wollte gerade seine Überraschung hinausrufen, als er mitten in der Mundbewegung erstarrte. Gleich darauf flog das kleine Nadelkissen durch die Luft und verschwand in einer für einen winzigen Augenblick flimmernden Luftsäule. Dann berührten ihn unsichtbare Hände und räumten ihm die Uniformjackentaschen leer. Er konnte nichts dagegen tun, dass jemand seinen Dienstausweis, eine Kopie seines heutigen Dienst- und Flugplanes und die Telefonnummern seiner Dienststelle entwendete. Ebenso bekam jenes unsichtbare Wesen heraus, wo sich die von hier abfliegenden Piloten an- und abmelden mussten, um ordentlich registriert zu werden. Dann wurden ihm alle seine Dokumente wieder in die richtigen Taschen praktiziert.
Als Albertrude alles wusste, was sie wissen musste belegte sie Ewald Kuhn mit einem Gedächtniszauber, dass er hier auf den Ersatz für die kurzfristig krankgemeldete Susanne Knoop warten musste. Danach zog sie sich aus dem Besatzungsbereich an die Zugangspforte für Bedienstete zurück und löschte alle Bilder der hereinkommenden Susanne Knoop. Dann belegte sie den solange in magischer Starre gehaltenen mit einem Gedächtniszauber, dass Knoop sich kurzfristig abgemeldet hatte. Die von ihm bereits eingetragenen Daten änderte sie ebenso.
Wieder auf ihrem Posten außerhalb des Pilotenbereiches blickte sie sich genauer um. Dabei fiel ihr auf, dass in der Mitte des Hauptterminals ein fremdartiges Licht pulsierte. Sogleich apparierte sie so leise sie konnte in die Nähe der Quelle und sah nun, dass es etwas in der Decke war, ein eiförmiger Gegenstand, der wie ein schlagendes Herz pochte und dabei immer jenes gold-blaue Licht ausstrahlte. Das war auch eindeutig magisch. Da sie dabei nicht erkannte, was das Licht genau bedeutete überlegte sie, ob sie einen Prüfzauber darauf anwenden sollte. Doch sofort riet sie sich selbst davon ab. Wenn das da oben in der Decke eine weitere Schurkerei Ladonnas war konnte die bei Berührung mit einem Prüfzauber vorzeitig losgehen. Sie dachte an eine weitere Zeitbombe und erinnerte sich daran, dass Ladonna all zu gerne mit großflächigen Feuerzaubern hantierte. einer Eingebung folgend holte sie die verwandelte Knoop aus ihrer Tasche und blickte sie mit ihrem Aurensichtvermögen an. Ja, sie sah die Originalaura der Verwandelten und einen rubinroten Schimmer, der von ihr ausging und ganz im Takt jener fremden Präsenz in der Decke pulsierte. "Ach, die Abwesenheitsfalle", dachte Albertrude. Sie kannte diesen Zauber aus dem 15. Jahrhundert. Damit konnte ein vorgeprägter Gegenstand mit hohem Magieaufnahmevermögen auf die An- und somit auch Abwesenheit einer bestimmten anderen Magie oder Präsenz geprägt werden. Je danach, was beabsichtigt war lud sich der vorbehandelte Gegenstand ab dem Moment mit einer Zerstörungskraft oder anderes Unheil wirkenden Zauberkraft auf und ging nach einem bestimmten Zeitpunkt los. Diese Falle konnte auch gegen magisches Aufspüren und Entfernen abgesichert werden. Also hatte hier jemand in den letzten Tagen dieses Ding angebracht, dass auf Knoops besondere Aura angesprochen hatte und jetzt nicht wusste, ob sie noch da war oder schon weg war. Dann musste sie grinsen. Eine Abwesenheitsfalle konnte überlistet werden, indem man sie einfach mit einem Versetzungszauber an einen anderen Ort schickte. Dort würde sie zwar sofort auslösen, konnte aber bestenfalls nur einen lauten Knall oder ein buntes Lichterspiel entfalten.
Die aus zwei Hexenseelen zu einer mächtigen Hexe vereinte zielte zur Decke, sah das hühnereigroße Ding an, stellte sich vor, wie es weit über den Wolken schwebte und dachte "Ad locum imaginatum sit!" Es machte leise Piff. Putz rieselte von der Decke, und ein eiförmiges Loch kam zum Vorschein. Doch der Fallengegenstand war weg. Wenn es wirklich ein Feuerzauber war zündete der gerade genau zehn Kilometer über der Nordsee.
Albertrude suchte sich schnell einen Schrank. dort versteckte sie sich. Dann nahm sie die kleine von Gesines fleißiger Goldschmiedin Hanni Sternentau für jede angeworbene Mitschwester gefertigte Goldbrosche aus der gegen Suchzauber abgeschirmten Innentasche ihrer Jacke und tippte sie dreimal kurz hintereinander mit dem Zauberstab an. "An Alle! Warnung! Bin an Düsseldorfer Flughafen auf eine Pilotin aus der Liste gestoßen und habe dabei auf diese abgestimmte Abwesenheitsfalle nach Cornelius Ranalingua und Afranius Petrofragus vorgefunden. Äußerste Umsicht und nur auf Auravisorische Erfassung eingestimmte Spürgeräte verwenden! Wenn Falle gefunden durch sofortigen Teleportationszauber an weit von Menschensiedlungen entfernten Ort, bestenfalls Tiefsee oder höhere Luftschichten versenden!" Sie bestrich die Brosche kreisförmig mit dem Zauberstab. Diese vibrierte kurz. Dann war sie so wie sonst. Jetzt hörten alle ihre deutschen Mitschwestern ihre Botschaft wie beim Vocamicus-Zauber, egal, wo sie gerade waren. Sofort steckte sie die Brosche wieder fort.
Andronicus Wetterspitz geborener Eisenhut hasste diese langweilige Zusatzarbeit. Seitdem sich Weizengolds komplette Abteilung zusammen mit zwanzig Lichtwächterinnen abgesetzt hatte musste er auch Leute für die Überwachung von öffentlichen Reisestellen einteilen, um sicherzustellen, dass keine und keiner der Gesuchten sich mit den Verkehrsmitteln der Magielosen absetzte. Besonders jetzt, wo seine neue und wahre Herrin ihm den Auftrag erteilt hatte, Reisen von und nach Frankreich, England und Griechenland zu überwachen ödete ihn dieser Zweitberuf an. Er musste jeden Tag die von den postierten Lichtwächtern erstellten Berichte lesen und unterzeichnen. Als wenn es in Deutschland nichts wichtigeres gab, als ob vielleicht ein Magieloser so töricht war, mit einem dieser unsicheren, viel zu lauten, stinkenden Qualm ausstoßenden Flugzeuge oder einem dieser Elektrozüge über Schinen zu verreisen. Von Frankreich konnten vielleicht welche mit den Flugzeugen herüberkommen, aber nicht mit Schiffen oder gar den Eisenbahnzügen.
"Andi, kommst du bitte zu mir ins Büro!" klang Güldenbergs Stimme aus leerer Luft. "Bin gleich da!" rief Wetterspitz zurück.
Im Büro des Ministers fragte Güldenberg ihn, ob er heute schon Berichte von den Flughäfen erhalten hatte. Andronicus verneinte das. Die kamen erst gegen Abend, oder wenn wirklich wer gesuchtes dort ein- oder ausreisen wollte. "Die Barriere ist weg, Andi. Wie immer die verwünschten Veelas das gemacht haben, Frankreich ist wieder frei zugänglich und vor einem Monat nicht mehr abzuriegeln, hat mir unsere Königin gerade mitgeteilt."
"Ich dachte die von ihren Gardistinnen ausgelegten Ankergegenstände verwüchsen mit der Erde und dem Grund von Gewässern und würden jeden, der ihnen auf halbe Sichtweite nahekommt seine oder ihre schlimmsten Angstvorstellungen oder entsprechende Erlebnisse ins Hirn schleudern. Wie konnten die Veelas das dann aufheben?"
"Sie hat erwähnt, dass denen wohl jemand mit einem mächtigen Erdzauber geholfen hat, der dunkle Kräfte in die Erde ableitet. Kennst du so einen Zauber?"
"Interessant. Ein Erdzauber, der dunkle Kräfte in die Erde ableitet wie ein Blitzableiter der Magielosen? Vorstellbar ist mir das. Aber wie der ausgeführt werden kann wäre gerade nur Spekulation, Heinz. Aber ich habe da so einen ganz miesen Verdacht, dass die Kinder Ashtarias dahinterstecken. Immerhin gibt es bei uns einen von denen und in Frankreich wohl eine, die sich dazu zählt und einen, der zumindest ein paar Tricks von denen lernen durfte und der zugleich auch noch deren Veelasprechstundenbeauftragter ist. Passt!"
"Ja, passt!" schnaubte Güldenberg. "Klar, nachdem sie diese Gelegenheitsjäger von Sanguis Purus mattgesetzt haben konnten die sich mit der Barriere befassen. Hat der Königin überhaupt nicht gefallen, Andi."
"Kann ich mir gut vorstellen, wo die lange gebraucht hat, um die Barriere hochzuziehen."
"Ja, vor einem Monat kann die keine neue Barriere hochziehen, Andi. In der Zeit können die Froschfresser uns Agenten ins Land schicken, ohne dass die markiert werden. Die Königin will die dreißig die wir und die anderen Mitstreiter eingesammelt haben erst zurückschicken, wenn sie drei besondere Gäste dazukriegt, die das jedoch genau wissen und sich deshalb immer schön in ihren Schutzzaubern aufhalten."
"Wenn die Barriere weg ist können wir doch genauso nach Frankreich rüber. Wen will sie denn unbedingt noch einladen, Heinz?"
"Eine Catherine Brickston aus Paris, die sich anmaßt, als Expertin für unsere Königin aufzutreten, deren Mutter Blanche Faucon, die wir ja schon ein paarmal gesprochen haben und den von dir erwähnten Veelabeauftragten Julius Latierre geborener Andrews. Aber sie hat klargestellt, dass nur ihre Gardistinnen die drei jagen und zu ihr schaffen dürfen, weil die garantiert was mit sich führen, um uns, die wir mit der Feuerrose eingeschworen wurden, aufzuspüren und / Oder auf Abstand zu halten. Sie hat eindeutig befolen: "Bleibt den drei erwähnten fernn oder verbrennt sofort zu Asche!"
"Öhm, und wenn genau die drei uns nicht fernbleiben wollen?" fragte Wetterspitz. "Es ist ein Unterschied, ob ich auf jemanden zugehe oder der auf mich zukommt, Andi. Du wirst also nicht beim Anblick der gestrengen Blanche Faucon zu Asche verbrennen, wenn sie es wagen sollte, sich hier blicken zu lassen. Aber wenn du zu ihr nach Beauxbatons oder nach Millemerveilles reisen würdest kämst du gerade mal auf Sichtweite an sie heran. Das meint unsere Königin damit."
"Kommen wir denn noch nach Millemerveilles rein?" fragte Andronicus Wetterspitz. "Vergiss das, Andi! Deren neuer, rein weißmagischer Zauber sperrt jeden aus, der von einem dunklen Fluch erfasst oder von sich aus gegenüber den Bewohnern feindlich gestimmt ist, ähnlich wie bei den Amis von Viento del Sol."
"Ja, und meine Leute knabbern seit dem die diesen neuen Zauber haben daran, wie der gemacht wurde, damit wir auch sowas über unseren Zauberersiedlungen aufspannen können. Zumindest wollten wir das, bevor uns die Königin doch noch in ihre Reihen einberufen hat. Jetzt können wir das wohl vergessen."
"Auch von den Kindern Ashtarias, Andi", erwiderte Güldenberg vergrätzt. Vor nicht einmal vier Monaten hätte er lauthals hurra gerufen, wenn ihm jemand diesen Zauber als neue Schutzmaßnahme angeboten hätte. Doch jetzt reagierten er und alle der Feuerrose unterworfenen auf sowas wie Vampire auf Knoblauch, fließendes Wasser oder gar Sonnenlicht.
"Die Königin hat übrigens ersucht, die Flughafenbediensteten alle halbe Stunde um Rückmeldung zu ersuchen. Gib das bitte an die entsprechenden Unteroffiziere weiter, mein Generalissimus!"
"Sehr wohl, Herr Minister", sagte Andronicus Wetterspitz. Dann durfte er wieder in sein Büro zurückkehren.
Dem Befehl der Königin folgend, ohne zu wissen, dass sie diesen Befehl auch allen anderen für magische Sicherheit und Verkehrsüberwachung weitergegeben hatte, schickte er über die kurze Befehlskette zu den postierten Lichtwächtern, dass diese jede halbe Stunde eine Routinemeldung oder unaufgefordert bei erkannten Störungen melden sollten. Dabei erfuhr er um 13:00 Uhr, dass auf vier Großflughäfen fünfzig flüge verschiedener Linien verspätet starteten, die alle eine mittlere Strecke im Direktflug zurücklegen sollten und dass in allen Fällen der eingesetzte Pilot nicht zum Dienst erschienen war. Doch was davon zu halten war wusste er nicht. Auffällig war es allemal. Deshalb meldete er das an den Minister weiter. Der wiederum rief in Gedanken nach der Königin. Als sie ihm hold war und ihm geistige Audienz gewährte meldete er es weiter. Daraufhin zuckte er wie vom Blitz getroffen zusammen, keuchte und verdrehte die Augen. Dann beruhigte er sich wieder. "Sie ist höchst erzürnt", seufzte der Minister. "Man hat einen ihrer Pläne durchkreuzt, welchen hat sie mir nicht gesagt. Sie schalt mich einen Versager und dich einen blinden Narren, weil du und deine Leute es nicht mitbekommen haben, dass da wer ihre Pläne mit den Flughäfen vereitelt hat und nicht früh genug eingeschritten ist. Sie befiehlt uns, sämtliche brummenden Eisenhäuser zu zerstören, in denen die Maglos ihren Elektrostrom aufbereiten und verteilen und alle Elektrizitätswerke, die mit Kohle, Wasser oder Windrädern angetrieben werden von Grund auf zu zerstören, wenn ihr Zeichen "Mitternachtsblitz!" erfolgt. Wir sollen unauffällig ohne Benutzung von Internetrechnern nachforschen, wo die den meisten Strom erzeugenden Kraftwerke sind."
"Öhm, Heinz, war das nicht der Auftrag an die Zwerge, über Erlenhain und dessen Kontakt Goldkehle an seine Rammdösigkeit König Malin weitergeleitet?" frage Andronicus Wetterspitz.
"Natürlich hast du davon Wind bekommen, Andi. Du bist ja auch mein hellstes Licht am Sternenhimmel. Tja, weißt du was passiert ist? Die zehntausend Augen und Ohren haben sich zu Schutzherren dieser Elektrostromfabriken erklärt und um die Zwergentöter-Fallen errichtet, und zwar so tief unter der Erde, dass wir Oberflächentrampler da nicht ohne langes Bohren und Buddeln herankommen."
"Was haben die von uns aus dem Land gejagten Kobolde damit zu schaffen, ob die Elektrostromfabriken arbeiten?" fragte Wetterspitz. "Weil die Zwerge das schon mal vorhatten, die Dinger auszuschalten und die Kobolde denen wegen Gringotts eins auswischen wollten. Also sollen wir das nun übernehmen. Sie will noch abwarten, ob nicht anderswo ihr Plan aufgeht, den sie ursprünglich mit den Flughäfen und Piloten hatte und ... Ja, mehr nicht!" stieß Güldenberg wieder wie von heftigen Schmerzen gepeinigt aus. Dann hörte Wetterspitz die Stimme seiner wahren Herrin in seinem Geist:
"Und du wage es nie wieder, meine Befehle zu hinterfragen, kleiner Torwächter. Du konntest ja nicht einmal mitbekommen, dass unsere Feindinnen und Feinde sich frei auf den Flughäfen herumtreiben und da gegen mich handeln konnten. Also, du beschaffst dir und für deine Leute alle Lagepläne jener Elektrostromanlagen, die auf gar keinen Fall mit Uran betrieben werden, sondern nur die, in denen Leuchtgas, Stein- oder Braunkohle verbrannt wird oder deren Stromerzeugungsmaschinen von Wasser- oder Windmühlen angetrieben werden. Außerdem sucht ihr die großen Stromverteilungsanlagen, über die die erzeugte Elektrizität an die zuständigen Endstellen weitergeleitet wird! Bis zum Monatsende habt ihr Zeit. Dann haltet euch bereit, dass ich deinem Vorgesetzten das Kennwort "Mitternachtsblitz" übermittle. Hörst du dies, zerstört alle die beschriebenen Anlagen."
"Wie kann man mit diesem krank machenden Uranstein elektrischen Strom machen?" dachte Andronicus Wetterspitz. "Ach ja, du kleiner Torwächter hast ja keine Ahnung von diesen Maschinen", hörte er die Stimme seiner Königin im Geist. "Uranstein kann auf besondere Weise zubereitet Hitze erzeugen, die Wasser so heiß macht, dass der davon ausgehende dampf die Flügel einer Stromerzeugungsmühle wirbeln macht. Doch Uran kann, wie du ganz richtig erkannt hast, sehr, sehr krank machen und die Landschaft vergiften, wenn es zerstäubt und übers Land verteilt wird. Also nur die Strommühlen, die nicht mit Uranstein befeuert werden Ja, am besten fällt ihr auch die hohen Masten, über die die brummenden Drähte gespannt sind, die den Strom an ferne Orte weitergeben. Wenn das Kennwort fällt soll die Elektroversorgung vollständig ausfallen."
"Ja, aber die können dann immer noch mit ihren Motor... - Aaahauuu!!" Er wollte ihr doch nur zudenken, dass die Magielosen dann doch immer noch mit ihren Autowagen herumfahren und sich anderswo tragbare Elektrobatterien holen konnten. Doch ihr lauter Wutschrei verbunden mit einem vom Kopf bis zu den Zehen stechenden Schmerz hielt ihn davon ab, seinen Gedanken konzentriert zu formulieren. "Ihr gehört alle mir. Wenn ich rufe kommt ihr. Wenn ich befehle, mir die Füße abzulecken tut ihr das. Wenn ich sage: Stirb, stirbst du, Andronicus Wetterspitz. Also wage es nicht erneut, mich wütender zu machen als ich schon bin!"
"Ja, meine Königin. Verzeih mir", dachte Andronicus Wetterspitz, während er meinte, dass ihm jemand glühend heiße Eisenklingen in den Schädel und von da durch den Körper trieb. Das war wie der Cruciatus-Fluch nur von innen und nicht von außen, dachte Wetterspitz.
Als die wütende Königin endlich von ihm abließ keuchte er angestrengt. "Jetzt hast du auch mal ihre ganze Wut zu spüren bekommen", bemerkte Heinrich Güldenberg dazu. Es klang weder schadenfroh noch mitfühlend, sondern einfach nur sachlich.
"Also, wir halten fest, dass wir alle Piloten noch Rechtzeitig gefunden haben, um zu verhindern, was sie in Ladonnas Auftrag ausführen sollten. Offenbar ging es ihr darum, einen wahrhaft apokalyptischen Massenanschlag auf die weltweite Stromversorgung durchzuführen", dozierte Blanche Faucon, die ganz in ihrem Berufsmodus war, als sie alle Mitglieder des stillen Dienstes am Abend des zwölften Julis im Haus der Brickstons begrüßte. "Dank der sehr gut koordinierten Verständigung zwischen den Computerabteilungen Frankreichs, der freien Zauberergemeinschaft Deutschlands, des Laveau-Institutes in den USA, Australiens und Japans konnten alle auf der Teilnehmerliste des Pilotenkongresses vom elften bis dreizehnten Juni gerade noch rechtzeitig gefunden und handlungsunfähig gemacht werden. Die Kreativität dabei ist ebenso breitgefächert wie die Nationalitäten der Flugzeugführerinnen und -führer", setzte Blanche fort. Die einen haben die Verdächtigen mit dem dreifachen Lentavita-Zauber verlangsamt, die anderen nur in magischen Tiefschlaf versenkt, wobei hier zwei Ausführende simultan zaubern mussten, weil doch ein gewisser Widerstand vorhanden war. Die freien Hexen und Zauberer des deutschsprachigen Raumes haben die in ihrem Zuständigkeitsbereich aufgetauchten Piloten mit Verwandlungszaubern belegt, so dass sie sich nicht mehr rühren können, bis die Verwandlung widerrufen wird. In meiner Eigenschaft als hohe Beauftragte der internationalen Liga gegen dunkle Künste habe ich, nachdem ich den Rat meiner aufmerksamen Tochter befolgt und mit dem wackeren Mitstreiter Phoebus Delamontagne das goldene Kerzenlicht der Veelas in mich aufgenommen habe, alle an der Unternehmung "Himmelsfrieden" beteiligten erreicht habe, darum gebeten, die dreitausend Piloten in unsere Beratungshöhle bei Bayonne, wo auch mächtige Zauber gegen dunkle Künste wirken, zusammenzubringen. Julius, wie groß ist die derzeitig verfügbare größte Kerze des goldenen Lichtes?" Julius sah in die Runde und antwortete: "Madame Léto hat mir eine Kerze mitgegeben, die mindestens einen Meter lang ist und nach den bisherigen Erfahrungen einen Bereich von mehr als 200 Metern Umkreis abdecken kann, Mad..., Blanche."
"Dies dürfte mehr als ausreichend sein", erwiderte Blanche Faucon mit einem seltenen Lächeln. Ihr Mitstreiter bei der Liga grinste sogar. "Ladonna hat keine Ahnung, wo ihre zwangsrekrutierten Attentäter abgeblieben sind, da wir sie alle in Tiefschlaf oder bewusstloser Verwandlung übernommen haben. So könnten wir die Flugzeuglenker alle auf einmal aufwecken und dann, wenn sie wach sind, mit der Goldlichtkerze, die übrigens sehr angenehme Halluzinationen erzeugt, aus der Abhängigkeit von Ladonna lösen. Dabei könnte folgendes geschehen: Das goldene Licht könnte eine Rückstoßkraft erzeugen, die auf die Urheberin der Feuerrosenkerze zurückschlägt und sie vorübergehend handlungsunfähig macht. Ich beziehe mich da auf eine Passage aus dem von unserer jungen Mitstreiterin Catherine Brickston übersetzten Aufzeichnung. Darin erwähnt Ladonna, dass sie durch den Duft der Feuerrose immer weiß, wie es ihren Getreuen ergeht. Das heißt, sie stellt gewollt oder ungewollt eine sympathetische Verbindung zu ihren Opfern her, ähnlich wie es Harry Potter widerfuhr, als er vom Segen seiner todgeweihten Mutter beschützt dem tödlichen Fluch Riddles entging, aber dafür einen Bruchteil dessen Seele aufgeprägt bekam. Mit anderen Worten, eine Hundeleine hat immer zwei enden. Deshalb habe ich, dein Einverständnis mal einfach vorausgesetzt, Blanche, angeregt, die Piloten erst dann wieder aufzuwecken, wenn Unternehmung "Frühstücksgruß" in der Endphase ist. Näheres gleich dazu, wenn Julius uns die Botschaft der Veelas mitgeteilt hat."
"Haben wird, Phoebus. Futur II", korrigierte ihn Blanche.
"Ja, und der Dativ ist dem Genitiv sein Tod", grinste Phoebus Delamontagne. Die anderen wussten nicht, ob sie grinsen oder verschämt die Augen niederschlagen mussten. Nur bei Demetrius konnte sich Julius vorstellen, dass der frei heraus grinste, weil das keiner sah. Julius nickte und erstattete den erwünschten Bericht, nachdem Catherine ihm durch Handbewegung das Wort erteilt hatte. Er erwähnte auch, dass der totale Krieg russischer Veelas gegen die russischen Hexen und Zauberer gerade noch abgewendet worden sei, weil der Ältestenrat der Veelas beschlossen hatte, dass die Ministeriumszauberer in Russland keine aus eigenem Willen handelnden Menschen und somit nicht schuldfähig waren. "Die Barriere um die britischen Inseln wird noch in dieser Nacht beseitigt, da sie nur von 56 Ankerartefakten aufrechterhalten wird. Außerdem konnten auf Grund der Idee von Großbritanniens Zaubereiminister Shacklebolt und Fleur Weasley mehrere Resonanzringe hergestellt werden, die durch Veelahaar verstärkt auf die Veelafallen wie in Genf und auf magische Menschen im Bann der Feuerrose reagieren. Das Laveau-Institut ist an einem Bericht über Einsatz und Auswirkung höchlichst interessiert", beschloss er den Bericht.
"Ja, und da ist der Quaffel auch schon wieder bei mir, Julius", sagte Phoebus, ohne auf Catherines Worterteilung zu warten. "Wenn wir genau wissen, wo die nach unserem Streich in Genf aufgeteilten Zaubereiministerien untergebracht sind und alle zugleich angehen können wird Unternehmung "Frühstücksgruß" anlaufen, auf die mich unsere erhabene Mitstreiterin, die zufällig meine Schwiegertochter ist, gebracht hat." Phoebus schilderte nun, wie erst möglichst viele Goldlichtkerzen mit unterschiedlicher Reichweite hergestellt werden sollten, was durch Julius' Bericht schon gut dargelegt worden war. Dann erwähnte er, wie die Kerzen durch alle bestehenden Sicherheitsbarrieren geschmuggelt werden konnten, wobei er klarstellte, die hierfür einzusetzenden Überbringer nicht gegen ihre eigenen Kollegen kämpfen würden und auch nicht durch körperliche oder magische Gewalt gegen ihre Dienstherren aufgehetzt werden konnten. Das sahen alle die es hörten ein, auch Demetrius, der über den Cogison-Ohrring seiner Mutter verstehen konnte, was gesprochen wurde.
"Wie sichern wir ab, dass wir nicht auf diese Weise überrumpelt werden?" fragte Hera Matine, die merkwürdig häufig zur Decke hinaufblickte, als wolle sie ähnlich wie Moody oder Albertine Steinbeißer durch die Decke sehen, wie es den zwei Hexen im Obergeschoss ging.
"Wie erwähnt, sie können nicht dazu gezwungen werden, gegen die Interessen ihrer Dienstherren zu handeln und würden auch einander nicht bekämpfen, weil deren Daseinscodex dies verlangt. Nachdem meine Schwwiegertochter die Idee auf den Tisch brachte haben wir, Blanche, Nathalie und ich, gleich alles geklärt, was uns gegen eine ähnliche Unternehmung seitens Ladonna absichert und dabei auch von der Erfahrung des Laveau-Institutes profitiert, die in der Zeit von Buggles unrechtmäßiger Amtsführung gesammelt wurden."
Julius bat noch einmal ums Wort. Catherine, die als Hausherrin auch den Vorsitz innehatte erteilte es ihm. "Wenn das echt so ist, dass die beeinflussten Piloten Elektrizitätswerke zerstören sollten, um Chaos und Elend in die magielose Welt zu treiben, dann könnte ihr einfallen, dass ihre Unterworfenen diesen Auftrag erledigen sollen. Ich fürchte, wir stehen gerade alle am Rand eines ganz tiefen Abgrundes."
"Du meinst, dass sie statt unbescholtene Flugzeugführer zu zwingen, das zu tun sie das auch mit ihr ebenso hörig gewordenen Hexen und Zauberern machen kann?" fragte Catherine, die genau nachvollziehen konnte, was Julius meinte. Er bejahte es.
"Tja, dann sollten wir uns beeilen", meinte Phoebus Delamontagne. So wurde beschlossen, gleich nach Öffnung der Barriere um die britischen Inseln die Unternehmung "Frühstücksgruß" voranzutreiben. Die Ministerin sollte entscheiden, welche eigenen Leute sie dafür abstellen mochte.
Sie wusste, dass man ihren Plan mit den Piloten durchkreuzt hatte. Diese Dummköpfe hatten offenbar bei ihrer Suche nach den Zielen zu viele Datenspuren erzeugt, und jene, die sich wider aller Zaubererehre doch mit Computern und dem Internet befassten hatten diese Datenflüsse ausgewertet und deshalb alle dreitausend Piloten und ihre Ausbilder in Gewahrsam genommen und wohl in Tiefschlaf versenkt. Sie musste jeden Moment damit rechnen, dass jemand auf die Idee kommen mochte, dieses wiederliche goldene Licht einzusetzen, mit dem sie ihr in Genf ihre treuen Untertanen entrissen hatten. Bevor das mit den Piloten geschah musste sie sie aus der Ferne töten. Doch eben daran scheiterte es, dass die Piloten selbst nicht wussten, wo sie waren. Ganz sicher hatte man sie auch an einem Ort versteckt, der gegen Suchzauber, Gedankensprechen und Fernbeobachtungszauber abgeschirmt war. Ohne geistige Regungen der Piloten konnte sie nichts machen. Doch das schwere Damoklesschwert der plötzlichen zweiten Woge dieser widerlichen Gegenkraft baumelte über ihrem Kopf. Sie wusste, dass nur der Blutfeuernebel und der Rückzug in den tiefsten Keller sie vor den Auswirkungen beschützte. Das hieß, dass sie sich selbst zur Gefangenen ihrer eigenen Macht gemacht hatte.
Als es wieder Nacht war und sie grübelnd auf ihrem Bett lag überkam sie erneut jene Welle aus Schmerzen im Unterleib und im Kopf, mit der sich das Niederreißen des dunklen Grenzwalls um Frankreich angekündigt hatte. Wieder meinte sie, von den Gegenwellen in einen erst grünen und dann dunklen Tunnel geschleudert zu werden. Als sie erneut jenes helle Licht erblickte und Reginas Stimme hörte wandte sie sich gleich um. Doch nun schwebte sie in jenem dunklen Tunnel, der sich um sie drehte. "Schwesterlein klein, Schwesterlein mein, bald werden wir wieder zusammen sein", flötete Regina, und ihre Stimme hallte unheilvoll durch den ganzen unendlich lang wirkenden Tunnel. Wieso fand sie nicht in ihren eigenen Körper zurück? War sie am Ende doch gestorben und ihres Leibes ledig dazu verdammt, zwischen der langsam kreisenden Röhre oder der Seelenverschmelzung mit ihrer Schwester wählen zu müssen?
"Komm zu mir, Schwester. So im leeren Raum zu hängen ist doch unter deiner Würde", hörte Ladonna ihre Schwester. Kam ihr das nur so vor, oder klang ihre Stimme schon näher als vorher? Konnte sie durch den Tunnel, den ihre eigene Todesnähe geöffnet hatte zurückkehren, sie auf halbem Weg abholen oder gar mit ihr in die stoffliche Welt zurückkehren und dort mit ihr verschmelzen? Aber dann würde sie nicht mehr sie sein. Mit zunehmender Angst erkannte Ladonna auch, dass Regina Jahrhunderte in der nächsten Welt zugebracht haben mochte, Jahrhunderte, in denen sie vieles dazugelernt hatte und ihr somit weit, weit überlegen war. Dann konnte sie sie regelrecht einverleiben und verdauen, ihr ganzes Wissen und Können zu einem Teil von sich machen, sie jedoch zu einem unwichtigen Randerlebnis verkümmern lassen, zu einem kurzen Traum in einem sehr langen Leben.
"Willst du echt noch warten, bis die dritte Tochter auf der Welt ist, meine kleine Schwester! Du hast uns beide durch den gemeinen Todesfluch verbunden. Bringen wir es nun zu Ende und erstarken beide als Hüterin von Licht und Schatten an den Gestaden des ewigen Flusses."
"Niemals!" rief Ladonna, während weitere wilde Wirbel um sie herumkreiselten. Sie musste doch hier wieder wegkommen! Dann hatte sie eine Idee. Sie fragte: "Wer soll das sein, die dritte Tochter. Unsere beiden Mütter sind tot und vergangen, die eine wohl in Mokushas ewigen Schoß gezogen worden und die andere bin ich selbst."
"Wenn du eins mit mir bist wirst du wissen, wen ich meine. Also komm zu mir und werde eins mit mir."
"Ich treibe keine Inzucht mit meiner eigenen Schwester", stieß Ladonna aus und hörte mit großer Beklommenheit, wie ihre Stimme als vielfacher Widerhall durch den langen langen Tunnel antwortete.
"Mir ist nicht nach fleischlicher Lust, kleine Schwester. Denn nachdem du mich aus meiner eigenen Hülle gestoßen hast habe ich die Freuden des fleischlosen Daseins erfahren und schätze diese. Auch das wirst du sofort wissen, wenn deine unreine Seele mit meiner geläuterten Seele zu einer Wächterin von Licht und Schatten geworden sein wird. Gleich bin ich bei dir. Je länger du dich mir verweigerst, desto weiter kann ich von dem mir zugewiesenen Ort fort. Also gib deinen Widerstand auf! Dein Schicksal ist es, dass wir beide eine Seele, ein Wesen, ein Wirken werden. Also, her mit dir!"
Ladonna stemmte sich gegen die Aufgabe. Sie wollte nicht so einfach von einer anderen, starken Seele verschlungen und ihrer eigenen Persönlichkeit entledigt werden. Doch die Neugier war groß, wer denn bitte jene dritte Tochter sein sollte. War das vielleicht ein inneres Geheimnis, dass sie als Giorgiana mit Domenica geteilt hatte? Doch dann hätte sie sich doch daran erinnern müssen.
"Gleich ist es so weit. Gib dich mir hin und erstarke mit mir!" hörte sie Regina fordern. Da warf sie sich nach links und traf auf die wild kreisende Wand. Sofort geriet sie in Drehung. Als dies geschah durchflog sie alle Jahre ihres Lebens als Giorgiana und als Ladonna Montefiori, sah all die, die sie entweder getötet oder in langstielige Rosen verwandelt hatte. Dann hörte sie die Stimme von Domenica, ihrer gleichgeschlechtlichen gefährtin als Giorgiana und als Nährmutter ihres Lebens als Ladonna. "Ihr hättet beide großes vollbringen können. Ich bin sehr, sehr traurig, dass dies nicht geschah." Dann fühlte sie wieder jenes Stechen in den Lungen, den Drang, Luft zu holen. Wieder schrie sie ihre Pein, auf dieser Welt zu sein in die Nacht hinaus. Ihr Herz rumpelte und hämmerte dann mit hoher Geschwindigkeit. Dann beruhigte es sich wieder. Wie aus sehr großer Ferne hörte sie noch Reginas Lachen: "Beim dritten mal bleibst du bei mir."
Ladonna blieb noch eine Weile unter der Bettdecke im schützenden Kellerraum. Sie meinte noch das gequälte Schreien und Stöhnen jener vier Menschen zu hören, mit deren Toden sie den Blutfeuernebel um ihre Villa gelegt hatte. Wieso hörte sie das jetzt auch noch? Dann dachte sie daran, dass sie so schnell wie möglich die um das griechische Festland errichtete Barriere aufheben musste, bevor diese wiederlichen Veelas das auch noch taten. Sie konnte die Barriere aufheben, ohne erneut in einen Strudel aus Irrsinn und schlechtem Gewissen zu geraten oder wahrhaftig zu sterben. Ja, sie musste sofort los, wenn sie ausgeruht genug war. Aber das sollten sie ihr alle büßen. Ihre Untertanen würden für sie Schwert und Schild sein, auch wenn irgendwer die russischen Veelas zurückgehalten hatte, sich für sie zu töten.
Der Zaubergamot hatte beschlossen, die vier Hauptanführer des Aufstandes vom neunten Juli am neunten August anzuklagen. Vorher sollten noch alle verfügbaren Beweise zusammengetragen und ausgewertet werden.
Julius verfolgte die Vereidigung des neuen Leiters der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit im magischen Rundfunk, als er um viertel vor zehn eine von Nathalie Grandchapeau anbefohlene Frühstückspause einlegte. Wie zu erwarten war wurde Alain Dupont, der Großonkel der ehemaligen Quidditchspielerin Janine Dupont, der neue Abteilungsleiter. Julius war bisher gut mit ihm ausgekommen, zumindest besser als mit dessen Vorgänger. Wieso das so war wusste er ja jetzt genau wie viele andere auch. Die Meldung, dass auch die britische Barriere niedergerissen war bedeutete für alle, die Verwandte dort hatten, dass sie nun auch wieder ohne Umwege Eulen über den Ärmelkanal senden konnten. Damit wurde auch die letzte Rechtfertigung von Sanguis Purus hinfällig, man wolle die französische Zauberergemeinschaft dumm und abgeschottet halten. Sicher, einige behaupteten immer noch, dass Ventvit die Barriere errichtet hatte. Doch es gab doch genug logisch argumentierende Zeitgenossen, die hinterfragten, was die Barriere der Ministerin gebracht hätte. Marie van Bergen erinnerte an die Berliner Mauer und dass sie denen, die sie gebaut hatten, am Ende nichts eingebracht hatte.
"Jetzt müssen wir dranbleiben, dass diese machtgierige Frau nicht mit allem um sich schlägt, kratzt und beißt, was sie noch hat", meinte Julius zu Millie, als er von seinem Arbeitstag zurückkehrte. "Stimmt, nachdem was über die Piloten bekannt wurde hätte sie den Tod von mehr als hundert Millionen Menschen verursacht, wenn das geklappt hätte." Julius stimmte ihr da zu. "Zumindest kannst du jetzt, wenn du möchtest, alle Leute zum Geburtstag einladen, die du einladen möchtest", stellte Millie fest. Julius überlegte, ob er angesichts der noch bestehenden Bedrohung durch eine angeschlagene Ladonna Montefiori echt seinen Geburtstag feiern sollte. Doch dann erkannte er, dass gerade bei solch einer Lage eine Feier wichtig war, um allen zu zeigen, dass es weiterging.
Er apparierte vor das Postamt und verschickte mehrere Eulen nach England und drei in die Staaten, eine zu seiner Mutter, eine zu den Brocklehursts und eine zu den Chimers. In England lud er Gloria und deren Eltern, Pina und die Hollingsworths ein. Ebenso fragte er über die Bilder-Verbindung mit Aurora Dawn an, ob sie herüberkommen wollte.
Was den immer noch gekappten Flohpulveranschluss der französischen Grenzstation anging schlug er den britischen Gästen vor, sich an einem Punkt zu treffen und sich gemeinsam mit dem Fahrenden Ritter nach Callais übersetzen zu lassen, wo Catherine, die er mit allen bereits geborenen Kindern einlud, sie abholen konnte, falls sie Zeit und Lust hatte.
Dass es ein großes Wagnis war wusste Ladonna Montefiori. Doch die Gefahr, bei den 196 ausgebrachten Grenzfeilern wieder in einen todesnahen Zustand zu geraten und nicht mehr daraus zu erwachen war zu groß. Also apparierte sie in mehreren Etappen von Italien bis nördlich der Türkisch-griechischen Grenze. Sie musste den Weg der Ausbringung in umgekehrter Richtung abschreiten und dabei immer ihren Zauber Segen des Mondfriedens auf sich legen, um von den Entladungen unbehelligt zu bleiben.
Vor über einem Monat hatten 28 treue Schwestern, die sie nicht mit dem Duft der Feuerrose, sondern der Vereidigung in ihrer Versammlungshöhle an sich gebunden hatte, je sieben Eisenkugeln mit Silberüberzug an den thaumaturgisch entscheidenden Stellen des Grenzlandes und Meeres versenkt. Dabei hatten sie die Ankerkörper gegen die Sonnen- und Mondlaufrichtung ausgebracht. Am Ende hatte Ladonna über den mit ihren Dienerinnen gewirkten Blutzauber die 196 Ankerkörper in Tätigkeit versetzt, die sich danach nur noch an den Wechselkräften zwischen Erde, Sonne und Mond aufluden. Jetzt musste sie selbst die bereits hoch aufgeladenen Ankerkörper wieder außer Kraft setzen, sie ganz alleine. Denn wenn sie wieder ihre Dienerinnen geschickt hätte wäre denen trotz der magischen Unterwerfung bewusst geworden, dass ihre Königin doch nicht so unfehlbar und unbesiegbar war. Diesen Ansehensverlust wollte und durfte sie nicht hinnehmen.
In der Sprache der Veelas, die diese von ihrer Stammmutter Mokusha erlernt hatten, beschwor sie unter Gabe weniger Tropfen ihres eigenen Blutes, dass die Zeit der gnadenlosen Wache beendet sei. Der von ihr verwendete Eigenschutz bewahrte sie zumindest für einige Minuten vor den Angstvisionen, die sonst jeden in die Nähe des Ankerkörpers geratenden überfielen und niederrangen.
Der Boden bebte ganz leicht. Blutrotes Licht glühte an der Stelle, wo die von Ladonna gegebenen Blutstropfen den Boden berührten. Das Licht wurde immer Heller. Die darin erglühende Fläche wuchs von Augapfelgröße bis zu einem leicht pulsierenden Kreis mit einem Halbmesser von Ladonnas eigener Körperlänge. Dann wölbte sich der Boden auf. Ladonna, die bis dahin in einer von innen nach außen führenden Spirale um den Ankergegenstand tief im Boden herumgewandert war, zog sich mehrere Dutzend Schritte zurück. Dann brach der Boden auf, und eine blutrote Lichtspirale schraubte sich erst langsam und dann immer schneller in die Höhe. In nur zwanzig Sekunden ragte die immer schneller wirbelnde Säule höher als der Pariser Eiffelturm, den Ladonna aus Rose Britigniers Erinnerungen kannte. Immer höher schoss die rote Lichtspirale in den Himmel empor. Ladonna wusste, dass dieses Licht über Dutzende von Kilometern hinweg gesehen werden mochte. Doch das tat jetzt nichts mehr zur Sache.
Eine Minute, nachdem die Lichtsäule aus dem Boden aufgestiegen war, entlud sie sich in einer Legion in den Himmel hinaufschlagender roter, silberner und grüner Blitze. Einige von denen schossen auch in alle Himmelsrichtungen und jagten mit leisem Sirren über Ladonnas Deckung hinweg. Noch einmal flackerte es. Dann war es wieder dunkel. Die erste Säule von 196 war vergangen.
Ladonna überlegte, wie viel Zeit ihr blieb und wi lange es dauern mochte, alle 195 verbleibenden Säulen auf die gleiche weise zu entladen. Wenigstens hatte sie diesmal keine Auswirkungen davon gespürt. Das lag daran, dass sie selbst mit den richtigen Worten eine sanftere Entladung herbeigeführt hatte, während die Veelas wohl eine heftige, nur wenige Sekunden dauernde Entladung ausgelöst hatten, die dann auch mit der vieldutzendfachen Wucht auf sie eingewirkt hatte.
Ladonna sah aus südlicher Richtung anfliegende Körper. Sie blickte sich schnell um. Nein, aus Norden kam nichts. Das lag daran, dass das von ihr unterworfene türkische Zaubereiministerium die klare Anweisung hatte, sich dem neuen Grenzwall zu Griechenland nicht auf weniger als zwei Meilen zu nähern. Doch die aus dem Süden mochten Grenzüberwacher der Griechen sein, die nachsehen wollten, was die rote Lichtsäule und das Gewitter aus Blitzen bedeutete.
Ladonna apparierte zum zweiten Grenzfeiler und setzte dort die nächste Entladung in Gang. Sie wartete nicht mehr, bis die Säule ihre größte Höhe erreichte, sondern apparierte gleich zur nächsten Stelle, wo ihre Dienerinnen einen von ihr bezauberten Ankergegenstand ausgebracht hatten. Auch diesen brachte sie durch eine Blutgabe und die Gegenbeschwörung zur langsamen Entladung.
Bei Grenzfeiler vier meinte sie, fünf bereits in der Nähe wachende Zauberer oder Hexen auf fliegenden Besen zu sehen. Doch wenn die wollten, dass die Barriere wieder fiel sollten die es nicht wagen, sie zu stören.
Sie bezauberte das im Boden steckende Artefakt solange, bis rotes Licht aufglühte und sich bis zu jener Kreisfläche ausdehnte, die den doppelten Durchmesser von Ladonnas Körperlänge besaß. In dem Moment, wo die rote Lichtspirale entstand disapparierte Ladonna. Das Ankerartefakt würde sich nun entladen und dabei restlos ausbrennen. Das konnten sich die fünf Beobachter gerne ansehen. Womöglich würden sie den richtigen Schluss daraus ziehen, dass Ladonna die von ihr anbefohlene Grenzsperrung aufhob. Warum sie das tat sollten die Schlauköpfe dann gerne raten.
So reiste Ladonna in Sonnenlaufrichtung entlang der Festlandgrenze und entlud einen Grenzfeiler nach dem anderen. Sie musste immer wieder ihren Mondsegen erneuern, um nicht doch von den Auswirkungen der Entladungen betroffen zu werden.
Als sie die Hälfte geschafft hatte merkte sie, dass sie erst einmal eine Pause machen musste. Sie suchte sich ein Waldstück weiter im Landesinneren und nutzte ihre Waldfrauenerbanteile, um sich an der Kraft der hier wachsenden Bäume aufzuladen. Ihre Erholungspause dauerte eine halbe Stunde. Dann setzte sie die Entladung der Grenzwallartefakte fort.
In der Mitte der uralten Tropfsteinkaverne in Form eines gleichseitigen Dreieckes ragte ein aus glitzerndem Himmelssteineisen geschlagener Tetraeder, dessen Seiten je neun Ellen der erhabenen Mutter lang waren. an jeder der drei sichtbaren Flächen war ein aus Vulkangestein geformter Halter, in dem eine weißgelb flackernde Wachsfackel steckte. Davor erhob sich jeweils ein sechsstufiges, eiförmiges Podest. Auf dessen glatter Oberfläche stand ein hochlehniger Stuhl aus dunklem Holz. Auf jedem Stuhl lag ein mit den Daunen junger Schwäne, Hennen und Adler gefülltes Federkissen. Auch die Rückenlehnen waren derartig gepolstert. Auf jedem dieser thronartigen Stühle saß eine Frau in mitternachtsblauem, bis zu den nur von Sandalen bedeckten Füßen reichendem Kleid. Ein silbergrauer Schleier verhüllte jedes Gesicht bis unter den Brustkorb. Die drei Frauen konnten sich über die Spitze des Vierflächlers mühelos ansehen und ansprechen.
"Wieder einmal treffen wir drei zusammen", begann die erste auf Altgriechisch. Die zweite antwortete: "Wo Feuer und Stein und Himmelsgebein sind wie wir vereint." Darauf fügte die dritte hinzu: "Zu dieser Stunde in vertrauter Runde." Dann vollendeten alle drei im Chor: "So sind wir drei Mütter zum Ratschluss beisammen." Darauf leuchteten die Fackeln noch eine Spur heller. Ihr Licht schien flirrend von den freiliegenden Eisenanteilen des Vierflächlers wider. Drei ruhige, gleichzeitig getane Atemzüge lang blieb dieses Licht so. Dann dunkelten die Fackeln wieder auf ihre bisherige Leuchtkraft herunter.
Mutter Triformis, Mutter Trigonia und Mutter Trioditis, die obersten Hexen des Ordens der Hecate, sahen einander an. "So ist es sicher, dass jene selbst, die unser Land mit eherner, aus verstofflichten Albträumen gemachten Grenzmauer umschloss, dabei ist, diesen Wall wieder einzureißen, Mutter Triformis, wollte Mutter Trigonia, die Wissende der drei Abschnitte wissen. Jene, die von allen Töchtern Hecates nur als Mutter Triformis angesprochen wurde, bejahte es. "Offenbar ist ihr in den Sinn oder zu Bewusstsein gekommen, dass jemand vermag, ihre Grenze mit magischer Gewalt einzureißen, und das bekommt ihr nicht."
"Davon ist auszugehen, Mutter Triformis, erwiderte Mutter Trioditis, die Mutter der drei Entscheigungswege. Es mag sein, dass sie durch die gewaltsame Zerstörung der beiden anderen Grenzwälle Schaden genommen hat und dies nicht ein drittes mal erleben will."
"Das ist es, was die den dunklen Pfaden am Rande des Abgrunds der völligen Selbstvernichtung entlangwandelnden längst wissen, dass zu mächtige Beschwörungen dunkler Gewalten die eigene körperliche oder seelische Vernichtung bringen könnten."
"Und dennoch gehen viele auch von uns diese in Dunkelheit liegenden Wege", erwiderte Mutter Triformis. Dann gebot sie mit einer Handbewegung, erst einmal nichts mehr zu sagen und legte ihre Hände an die verschleierten Schläfen. Sie verharrte in dieser konzentrierten Haltung, bis sie sich wieder entspannte. "Meine Urenkelin und ihre fünf Begleiterinnen haben beobachtet, wie die Tochter aus den Linien Fraimoras, Pyrrhas und Mokushas unsichtbar eine bestimmte Stelle umtanzte und dabei blut vergoss, wohl ihr eigenes, bis was immer sie im Boden darunter vergraben hat oder vergraben ließ blutrot erglühte. Aus dem Boden stieg dann eine immer schneller kreisende Lichtsäule in den Himmel. Meine Urenkelin meinte darin die Ausgeburten ihrer schlimmsten Ängste zu sehen und deren Laute zu hören. Daher zogen sie sich schnell mehrere hundert Schritte zurück. Das rettete sie offenbar vor dem Verhängnis. Denn urplötzlich sei die Lichtsäule in abertausend Blitze zerfallen, die weit in den Himmel und über das Land schossen. Meine Urenkelin und ihre fünf Begleiterinnen haben dieses Entladungsgewitter heil überstanden."
"Offenbar muss sie jeden vergrabenen Gegenstand einzeln entladen und nicht alle zugleich", vermutete Mutter Trioditis. "Ist abzuschätzen, wie viele dieser Kraftquellen sie noch auf diese Weise ausbrennen muss, falls ihr daran gelegen ist, den Wall niederzureißen?"
Es sind bisher sechsundfünfzig solcher Leuchtsäulen entstanden und haben sich entladen, Mutter Trioditis", berichtete Mutter Triformis. "Gemäß der Abstände und des Grenzverlaufes müssen es bei gleichem Abstand noch 140 solche Kraftquellen sein, davon etliche in der Ägäis, dem libyschen und dem ionischen Meere."
"Gut, dann beobachten wir sie weiter, ob sie diesen Wall von sich aus niederreißt oder nur schwächt", schlug Mutter Trioditis vor.
"Sollten wir nicht herausfinden, wie genau dieser Grenzwall errichtet wurde, werte Mütter?" fragte Mutter Trigonia, die als Wissende der drei großen Abschnitte jedes Lebens galt.
"Anders als unsere siebenundzwanzig Grenzsteine", erwähnte Mutter Trioditis darauf. "Es mag ein Zauber der Kinder Mokushas sein", vermutete Mutter Triformis. Daher konnten die in Frankreich lebenden Kinder Mokushas ihn so schnell und gründlich aufheben."
"So beobachten wir sie weiter", wiederholte Mutter Trigonia, was Mutter Trioditis bereits erwähnt hatte.
Brenda Brightgate hatte Nachtschicht im Computerraum des Laveau-Institutes. nur vier Rechner standen hier. Doch nur ihrer war besetzt. Sie hatte Marthas unglaublich geniales Einwahlprogramm mit den ihr bekannten Zugriffscodes auf die von der CIA betriebenen Satellitenüberwachung, die sogenannte Vogelwarte, aufgeschaltet, um sich einen Rundblick über die Erde zu gönnen. Dabei sah sie im Bereich des griechischen Festlandes merkwürdige rote Lichtsäulen, die bereits von den beobachtenden Satelliten als unbekannte Erscheinung markiert worden waren. Fast hätte einer der Überwachungssatelliten die Raketenwarnung von NORAD, dem nordamerikanischen Luftraumverteidigungskommando, ausgelöst. Brenda erschrak bei der Vorstellung, dass es wegen eindeutig magischer Vorgänge einmal mehr beinahe zu einem Atomkrieg gekommen wäre. Doch weil die Weltlage gerade überschaubar genug war, alles doppelt und dreifach zu prüfen und weil die Satelliten zusätzliche Vorkehrungen besaßen, einen Lichtreflex besser einzustufen, statt gleich Raketenalarm zu geben, hatte die jetzige Beobachtung in Griechenland keine übereilte Abwehrbereitschaft ausgelöst.
"Nachricht an die Desinformationsabteilung der Region Virginia, mögliche magische Aktivitäten im Bereich Griechenland. Bilder und Daten sollten besser unter Verschluss gebracht werden", protokollierte sie und sandte dann einen Boten aus, der die entsprechende Eule verschicken konnte. Dann holte sie Quinn Hammersmiths Mitarbeiter Quentin Carstairs aus der Ausrüstungsabteilung und zeigte ihm die Bilder. "Offenbar entlädt da wer starke magische Quellen. Von den bisherigen Punkten her liegen die alle entlang der Festlandsgrenze, im Moment auf Höhe der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien. Und hier, die ersten Säulen zersprühten zu Blitzen. Das zu begründen wird sehr spannend für die Desinformatoren. Da wäre es besser, die Bilder verschwinden vollständig."
"Also entlädt sich auch der letzte dunkle Grenzwall in Europa, nachdem die französische und die britische Abschottung beseitigt wurden", vermutete Brenda.
"Ja, aber hier sieht das richtig kontrolliert aus, als wenn jemandem sehr darang gelegen ist, keine wilden und weltweit spürbaren Entladungen auszulösen", sagte Carstairs. Er ließ sich eine Vergrößerung einer roten Lichtsäule zeigen. "Ah, kann der Clarke'sche Zauberkasten noch ein Längen- und Breitengradnetz drüberlegen?" fragte er. Brenda nickte und wählte aus einem Untermenü das Symbol eines Radnetzes mit der Bildüberschrift GPS. Jetzt lag ein feines Netz mit nummerierten Knotenpunkten über der Bildansicht. Quentin Carstairs betrachtete es nun genauer und sagte dann: "Aha, die Entladungsfolge verläuft vom exakten Norden im Uhrzeigersinn oder auch in Sonnenlaufrichtung oder gegen die Erdrotationsrichtung, wie es auch genannt wird. Das heißt, jemand muss die Bewegung der Erdoberfläche im Bezug zu den großen natürlichen Himmelskörpern beachten. Die Säule dreht sich ebenfalls in Sonnenlaufrichtung weiter nach oben. Geht da auch was, was die Höhe der Säulen angeht?" fragte er, weil er bisher noch nicht mitbekommen hatte, was so ein Computerding alles konnte. Brenda suchte im Menü und fand den Eintrag "Altitude". Sie musste die Maus auf die Leuchtspirale führen und dann doppelklicken. Darauf ploppte ein Sechseck über der Säule auf, in dem die Angabe "4000 m über Grund" zu lesen war. Dann bekamen sie noch eine Momentaufnahme sich in alle Richtungen entladender Blitze, wobei es keine typisch verzweigten Blitze wie bei einem Gewitter waren, sondern in Einzelstücke zerbrochene Lichtbögen und Wellenzüge.
"Ich möchte da jetzt nicht im Satellitenauswertungszentrum sitzen und mir überlegen, was der Vogel da gerade zu sehen bekommen hat", meinte Brenda. Carstairs wollte wissen, welchen Vogel sie meinte. Sie erwähnte, dass die CIA alle Beobachtungs- und Überwachungssatelliten als mehr oder weniger große Vögel bezeichnete. Carstairs wollte wissen, ob noch wer anderes die Bilder zu sehen bekam. "Sollte sich wer auf anderen Wegen in die Überwachung gehackt, also sich Zugang dazu verschafft haben könnten das alle möglichen Leute sein", sagte Brenda.
Zwei Stunden später, sie hatten noch weitere rote Lichtsäulen und Entladungsblitze verzeichnet, kam die Meldung aus der Regionalverwaltung Virginia, dass die betreffenden Aufzeichnungen aus den Speichern der Auswertungszentrale gelöscht worden seien. Der zuständige Desinformationsbeauftragte wies darauf hin, dass er dankbar war, dass das LI sich nicht erst an die für es zuständige Kontaktstelle der Regionalverwaltung Louisiana gewandt habe und dass diese auch nicht über diesen Vorgang Kenntnis erhalten müsse.
"Es gibt doch noch ein paar vernünftige Leute", meinte Sheena O'hoolihan, die sich die Aufnahmen selbst noch einmal angesehen hatte. "Wollen wir hoffen, dass die immer noch eine ausreichende Mehrheit bilden, dass wir wieder eine große Union werden und nicht als unübersichtlicher Flickenteppich durch die weitere Geschichte flattern", meinte Brenda Brightgate dazu.
Ladonna spürte, wie anstrengend es wurde. 170 Ankerpunkte hatte sie schon entladen. 26 fehlten noch. Doch mit ihrer Vorgehensweise war das in nur noch einer halben Stunde erledigt. Sie hatte mittlerweile die seeseitige Landesgrenze Griechenlands erreicht und benutzte ein Schlauchboot, um die nötige Ruhe zu haben, um die auf dem Meeresgrund liegenden Ankerkörper zu entladen. Das war nicht so einfach wie an Land, wo sie um die ausgelegten Artefakte herumtanzen konnte. Doch mit dem Vortriebszauber konnte sie das Boot ähnlich schnell um die bewusste Stelle herumlenken. Hier musste sie sehr aufpassen, den unter Wasser aufglühenden Schein rechtzeitig zu erkennen, bevor eine rote Lichtspirale aus dem Wasser schoss und umwabert von flirrenden Dampfwolken in den Himmel schnellte.
Sie war gerade bei der hundertfünfundsiebzigsten Ankerstelle, als um sie herum mehrere muschelschalenbehelmte Köpfe aus dem Wasser schnellten, gefolgt von Speerspitzen, die mit haardünnen Geflechten umwickelt waren. Ladonna verzog ihr Gesicht. Mit denen hätte sie doch rechnen sollen.
"Sie da, sofort damit aufhören, unser Königreich anzugreifen. Sonst wird sie sterben", sprach einer der Wasserkrieger mit blubbernder Stimme.
"Verschwindet in die Tiefen die euer Reich sind und lasst mich in Ruhe!" rief Ladonna und hielt ihren Zauberstab bereit. "So sei es dein Tod, Fremde", rief der Anführer der Wasserkrieger. Da schossen von Ladonnas linker Hand her zwei dünne, rubinrote Lichtbündel hervor und trafen den Anführer und dessen Begleiter rechts. Deren behelmte Köpfe erglühten und zerflossen in rotem Licht, ohne dass die beiden noch die Gelegenheit hatten, aufzuschreien. Danach umschloss Ladonna eine rote Aura, gerade noch rechtzeitig, um die ihr entgegengeschleuderten Speere abzuwehren. Die Wurfgeschosse prallten auf das rote Licht und verloren die Spitzen. Die Schäfte loderten auf wie pulvertrockenes Reisigholz und klatschten ins Wasser zurück, wo sie laut zischend im Meer versanken. alle noch fünf bewaffneten Krieger erstarrten. Das war auch das letzte, was sie im Leben taten. Denn nun ließ Ladonna die rote Lichtaura erlöschen und statt ihrer wieder rote Strahlenbündel aus ihrem Ring schnellen. Je zwei auf einmal verloren die über Wasser aufragenden Körperhälften. Dann war nur noch einer übrig. Der wollte in Sicherheit tauchen. Doch die roten Todesstrahlen durchdrangen das Wasser, ohne es aufzuheizen und fanden in zehn längen Tiefe ihr Ziel. Das Meer glühte an dieser Stelle rot auf. Blasen blubberten aus der leicht geschäumten Oberfläche. Dann wurde es wieder dunkel.
"Niederes Wassergetier", knurrte Ladonna Montefiori. Dann erspürte sie mit dem Instinkt der Waldfrauen, dass weitere Feinde von hinten auf sie zuhielten. Ihr war klar, dass sie im offenen Kampf keine Chance gegen eine wesentlich größere Truppe Wasserkrieger hatte. Doch warum sollte sie offen kämpfen? Sie sprang auf die Füße, wirkte gegen die irdische Schwerkraft und entflog dem Boot. Dieses ließ sie mit einem Schwebezauber aufsteigen und ihr hinterherfliegen. Zugleich schloss sie ihren ganzen Körper in eine rubinrote Lichtkugel ein. Da flogen die ersten Nesselfadenspeere und zerschellten zischend an der Schutzblase. Zehn, zwanzig, dreißig giftige Speerspitzen zerbarsten. Die Schäfte flammten auf und trudelten aus zwanzig Metern höhe nach unten. Noch im Fluge zerfielen sie zu einzelnen brennenden Bruchstücken. Diese schlugen laut zischende Dampfwolken gebärend ins Wasser. Noch einmal zwanzig Speere schwirrten ihr aus allen Richtungen außer von oben entgegen und zersprangen an ihrem feurigen Abwehrschild, der zweiten machtvollen Wirkung ihres Rubinrosenblütenringes. Dann tauchten die vierzig Wasserkrieger aus den aufgewühlten und noch dampfenden Fluten auf und blickten nach oben. In den Händen hielten Sie Dolche mit Klingen aus Haifischzähnen. Wollten sie die etwa auch nach ihr werfen? Nein, sie versuchten wie ihre Kraft und Gewandtheit vorführende Delphine, weit nach oben zu springen. Doch sie kamen nicht hoch genug, um Ladonna zu erreichen. Doch sie brauchten lange genug zum fallen, dass Ladonna zwei von ihnen mit Avada Kedavra treffen konnte. "Ich will nicht gegen euch kämpfen. Aber ich werde euch besiegen, wenn ihr mich dazu zwingt!" rief Ladonna den lebenden Kriegern zu, die gerade wieder ins Wasser klatschten. Deren Anführer, erkennbar an blauen Muschelsplittern im Helm, rief mit seiner leicht blubbernden, krächzenden Stimme: "Du bist die giftblütige, die keinem Volk richtig angehört. Du hast unser Reich mit deiner bösen Kraft besudelt, unseren allwasserweit herrschenden König beleidigt und sieben von uns mit deiner bösen Feuerzauberei getötet. So stirb nun selbst!"
"Hatten wir schon. Eure Quallengiftspeere haben mich nicht erreicht. Wie wollt ihr mich mit euren Haifischzähnchen da erreichen?" rief Ladonna. Da flogen ihr doch allen ernstes zwanzig Dolche entgegen und zersprangen funkensprühend an jener roten Leuchtblase um ihren Körper. Darauf antwortete sie mit dem Todesfluch auf den Anführer. Dieser riss beide Arme auseinander. Seine senkrechte Schwanzflosse zuckte noch einmal hoch, dann versank er wie ein Stein unter den Wellen. Die Krieger rückten zusammen, um wohl einen konzentrierten Angriff auf sie zu führen. Das war jedoch die völlig falsche Taktik, fand die Rosenkönigin. Sie sah, wie die Krieger große Schilde aus Muschelschalen und Korallen über sich hielten. "Wie niedlich, Testudo!" rief Ladonna nach unten, als statt frei schwimmender Wasserkrieger eine scheinbar kompakte Kuppel aus Muschelschalen und Korallen auf- und abwippte. Dann schossen weitere Dolche hervor und flogen wild wirbelnd auf sie zu. Doch auch diese Wurfgeschosse überstanden den Aufprall auf die rote Leuchtblase nicht. Ladonna zielte nach unten und rief "Bollidius!" Aus zwanzig Meter Höhe stürzte ein fauchender, blaugrüner Feuerball in die Tiefe und schlug genau in der Mitte der scheinbar schützenden Schildergruppe auf. Goldrotes Feuer barst aus der Feuerkugel und hüllte alles ein, was ihr im Weg lag. Brodelnde, spotzende Dampffontänen schossen aus dem gerade vom Feuer verdrängtem Wasser. Mehrere Sekunden blieb dies so. Dann fiel der Feuerball wieder in sich zusammen. Laut gluckernd und blubbernd wölkten noch mehrere Dampfschwaden nach oben. Dann schloss sich die aufgewühlte See über dem Geschehen.
Ladonna sank tiefer und lauschte auf ihren Gefahreninstinkt. Dieser schwieg. Also gab es hier in Sichtweite keinen Feind mehr.
Nach einer halben Minute ließ sie das Boot wieder auf die Wasseroberfläche sinken und landete punktgenau darin. Danach machte sie da weiter, wo die Meereskrieger sie gestört hatten.
Offenbar hatte es sich in den Tiefen der Ägäis, des Libyschen und Ionischen Meeres herumgesprochen, dass die bitterböse Rosenkönigin, Gebieterin über ganz gemeine Massenvernichtungsfeuerzauber, gerade in der Gegend war und der gerade regierende Meerkönig vielleicht mal davon gehört hatte, wie sie damals, wo sie ihre Macht in Italien und den östlichen Inseln ausgebaut hatte, mehrere Zenturien des Meerkönigs ausgelöscht hatte. Die konnten also froh sein, dass sie nicht zum Kämpfen hergekommen war, dachte Ladonna.
Ziemlich erschöpft aber erleichtert und zufrieden sah sie, wie Kraftquelle einhundertsechsundneunzig in einer wirbelnden Lichtsäule entladen wurde. Sie stieg mit ihrem Freiflugzauber wieder auf, ließ das gegen Haifischzähne und Stahlharpunen gepanzerte Schlauchboot luftleer laufen und zusammenfalten. Dann holte sie es zu sich heran und apparierte aus fünf Metern über dem Meer direkt in den Keller ihrer Residenz bei Florenz. Mochten die Hecatianerinnen, die sie bei der Aufhebung der einzelnen Grenzfeiler beobachtet hatten, das für einen Sieg halten, dass die äußere Barriere zerstört war! Sie hatte doch noch ihre getreuen Diener und Dienerinnen. Da brauchte sie Griechenland nicht. Vielleicht war es für diese eingebildeten Göttinnengläubigen auch eine lehrreiche Erfahrung, dass Griechenland in der neuen Weltordnung keine Rolle mehr spielte.
Anthelia erfuhr von der grünen Mutter der orientalischen Mondtöchter, dass sie wahrhaftig mehrere Versuche vereitelt hatten, die Erdölförderung in den arabischen Ländern zu verderben. Als sie vom Mitternachtstaupilz erfuhr seufzte sie: "Der kann auch als flächendeckende Seuche eingesetzt werden. Wie irrsinnig ist dieses Hybridweib?"
"Deshalb haben wir auch über die Gefährten meiner Töchter im Geiste Hinweise an die noch nicht unterworfenen Zaubereiministerien der arabischen Welt versendet. Die sollen alle Ölfördereinrichtungen und Weiterverarbeitungsanlagen überwachen", antwortete Alia. "Doch mag es den einen oder anderen Fall geben, wo ein solches Fass sein Ziel erreicht", fügte sie noch hinzu.
"Immerhin konnten die von ihr zwangsgeworbenen Flugmaschinenlenker ergriffen werden, bevor sie als ihre Todesboten über die ganze Welt hergefallen wären", erwähnte Anthelia und schilderte, welchen Auftrag diese wohl gehabt hatten. "So mag Ladonnas Feldzug wider die Maschinenwelt der Nichtmagier noch nicht vorbei sein." Anthelia bejahte das.
"So bleiben wir wachsam, ihr bei euch und wir bei uns", meinte Anthelia/Naaneavargia noch. Alia bestätigte das. Dann beendeten sie die magische Verbindung wieder.
Brittany hatte darum gebeten, mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern wieder das Gästezimmer im Apfelhaus bewohnen zu dürfen. Aurora Dawn hatte für die Tage bis zum 23. Juli Urlaub erhalten, da aus ihrer Niederlassung Sydney viele ebenfalls in die Ferien gereist waren.
Da Catherine mit ihrer Familie Urlaub in Millemerveilles machte war es keine Frage, dass sie auch herüberkam. Selbst Joe, der eigentlich nicht so gerne mit so vielen anderen Hexen und Zauberern zusammen war sah ein, dass er nicht im Haus seiner Schwiegermutter herumsitzen wollte, während seine Frau und seine Kinder sich amüsierten.
Der Morgen begann für Julius schon um fünf Uhr. Vor dem Apfelhaus sangen ihm mehrere Leute ein Ständchen. Als er mit Millie, Béatrice und der hinter ihnen herlaufenden Aurore das Haus verließ sah er beide Familien Dusoleil, Blanche Faucon zusammen mit Catherine, Babette und Claudine Brickston, Hera Matine, flankiert von Laurentine Hellersdorf und Louiselle Beaumont, die so aussah, als wolle sie jeden Moment niederkommen, sowie Belisama Lagrange, Céline und Robert Dornier und deren Kinder.
"Jedes Jahr immer mehr", lachte Julius, als er sich bei den Gratulanten bedankt hatte. "Und Joe wollte nicht so früh aufstehen?" fragte er noch. "Ich habe ihn und Justin schlafen lassen", sagte Catherine. "Aber ich bin gleich wieder bei denen."
"Gut, schlaft besser noch ein wenig. Denn wenn ich euch heute Nachmittag alle wiedersehe wird's abends sicher spät." Alle lachten, vor allem die Kinder.
Er sah noch, wie Laurentine und Louiselle auf einem Familienbesen aufsaßen und im gemächlichen Tempo von nur 30 Stundenkilometern davonflogen.
Um sieben Uhr Morgens mitteleuropäischer Zeit trafen die Gäste aus den Staaten zusammen mit Aurora Dawn und ihrer nur äußerlich drei Jahre und acht Monate alten Tochter Rosey ein. Julius hatte sich schon gefragt, wie die beiden Australierinnen herüberkommen wollten, wo das französische Flohnetz immer noch vom Rest der Welt abgeschnitten war. Rosey war schon wieder um einiges größer geworden. Doch sie achtete sehr auf die Rolle des kleinen Mädchens.
Die Brocklehursts bekamen das gewünschte Gästezimmer. Julius' Mutter und sein Stiefvater Lucky mit allen vier Nachkommen bekamen das einzige noch wirklich als Gästezimmer nutzbare Zimmer. Lucky meinte dazu: "Wenn noch wer neues bei euch dazukommt wird das aber eng mit der Unterbringung."
"Dann bauen wir draußen unser Reisezelt auf, dass wir von Hipp und Berrie bekommen haben", erwiderte Julius.
Am späten Vormittag trafen auch die britischen Gäste und die Malones mit ihren beiden Kindern ein. Kevin erwähnte, dass das belgische Zaubereiministerium seit Anfang Juli alle aus anderen Ländern eingewanderten oder eingeheiratete Hexen und Zauberer gesondert betreute und er schon häufiger das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden. Julius tat so, als wisse er nicht, was in Belgien gerade los war. Am Ende kam Kevin noch auf die glorreiche Idee, einer Widerstandsgruppe beizutreten. Er sagte nur: "Das geht nicht gegen dich allein, Kevin. Die behaupten ja, sie müssten sich gegen dunkle Hexen wie Ladonna Montefiori und die Vita-Magica-Gruppe absichern."
"Stimmt, haben die immer behauptet. Aber warum jetzt erst, und wieso haben die euch und Irland vom Flohnetz abgeschnitten. Ich weiß, dass du in Sachen eingeweiht wirst, die nicht jeder wissen darf. Deshalb frage ich besser nicht weiter nach. Vielleicht will ich das dann auch nicht wirklich wissen, wenn du es mir erzählst. Aber wenn die jetzt erst meinen, sich gegen diese Trulla absichern zu können, dann haben die doch schon voll verspielt. Wir haben das doch selbst mitgekriegt, als Du-weißt-schon-wer wieder da war und das Zaubereiministerium es erst nicht zugeben wollte und dann allen Murks der Welt gemacht hat, der den nicht aufgehalten hat. Läuft das bei den Belgiern jetzt genauso?"
"Ich wohne da nicht, deshalb weiß ich das nicht", brachte Julius einen Spruch, von dem er dachte, dass der unverfänglich genug war. Kevin wertete es jedoch als eine gewisse Zustimmung und nickte. "Jedenfalls bin ich froh, dass Pina uns angeboten hat, mit einem Düsenflugzeug der Muggels von Brüssel nach London zu kommen, wo wir dann in den Fahrenden Ritter umgestiegen sind. War ein tolles Erlebnis, wenngleich diese Kabine im Flieger ein wenig eng war und die beiden Malonies sich gelangweilt haben und nicht dauernd durch den schmalen Gang rennen durften, weil die netten Damen in den Uniformen da immer mit ihrem Verkaufswagen rumgefahren sind. War ähnlich wie im Hogwarts-Express, nur dass der größere Abteile hat."
"Und die haben euch aus Belgien rausgelassen? Also steht ihr nicht auf einer Liste von gesuchten Verbrechern", meinte Julius. Dann fragte er: "Habt ihr am Flughafen oder im Rappelbus irgendwem erzählt, wo ihr hin wollt?"
"Aber für keinen Knut, Julius. Ich erwähnte nur, dass wir eine Reise nach Frankreich machen. Die Muggel kennen Millemerveilles doch gar nicht. Außerdem hat Pina sowas gesagt, dass wir das nicht in der Zaubererwelt rumgehen lassen sollen, wen wir im Ausland besuchen."
"Ja, besser ist das, Kevin", sagte Julius.
Gloria Porter sah jetzt wieder ganz adrett aus. Ihre blonden locken ringelten sich ganz geordnet. Sie hatte sich mit dezenter Schminke aufgehübscht und ein Sommerkleid aus hellgrünem Stoff angezogen. Doch wenn Julius ihr in die Augen sah erkannte er eine gewisse Verbitterung, als wenn sie mit ihrem Leben unzufrieden sei. Er wusste, dass sie am liebsten in die Fußstapfen ihrer Großmutter Jane getreten wäre. Doch das Laveau-Institut hatte ihr bisher den Zutritt verweigert. Besser, Marie Laveau hatte ihr wohl keine Erlaubnis erteilt, dort einzutreten.
Die Kinder freuten sich, so viel Platz zum Spielen und Toben zu haben. Da Aurore und Claudine Französisch und Englisch konnten beaufsichtigten sie alle, die entweder nur die eine oder andere Sprache konnten.
Fast wäre es zwischen Gloria und Laurentine Hellersdorf zu einem handfesten Krach gekommen, weil Gloria gemeint hatte, sie würde niemals im Leben eine Hexe mit Umstandsbauch bei sich einziehen lassen und sich jeden Tag anhören müssen, wie anstrengend das sei oder wie toll das sei, ein eigenes Baby im Bauch zu haben. Laurentine hatte darauf geantwortet, dass Gloria ja so reden müsse, da sie bis heute offenbar keinen gefunden habe, von dem sie ein eigenes Baby kriegen konnte. Millie und Pina hatten die Lage dann geklärt, indem Pina Gloria was zugeflüstert hatte und Millie laut auf Französisch gesagt hatte: "Ich gehe sehr davon aus, Gloria, dass Laurentine ihre Gründe hat, warum sie Louiselle bei sich wohnen lässt. Wir müssen das nicht wissen, aber zumindest akzeptieren, dass sie das weiß."
Um Halb vier setzte sich Julius auf den Willkommensstuhl, den Florymont Dusoleil für ihn und alle in diesem Haus lebenden gebaut hatte, damit sie die Geburtstagsgäste stilvoll empfangen konnten. "Tritt ein, o Gast, genieß' die Rast", meldete sich eine freundliche Männerstimme aus dem Nichts. Dann betrat Martha Merryweather als erste das Foyer des Apfelhauses, wo auch die Geburtstagstruhe aufgestellt war.
Nach ihr kamen Lucky, Linda, Hillary und Euripides. Die kleine Rubia lag ja in einem Tragetuch auf dem Rücken ihrer Mutter. Dann betraten die Brocklehursts das Haus. Wie Martha die kleine Rubia trug Brittany die kleine Brooke auf ihrem Rücken. "Sie will das voll durchziehen, sie so lange zu tragen, bis sie anfängt sich an den ersten Stühlen hochzuziehen", sagte Brittany und deutete auf Julius' Mutter.
Danach kamen die Dawns, dann die Malones und dann die älteren Dusoleils mit allen noch bei ihnen im Haus lebenden Kindern. Danach kamen die Brickstons und Blanche Faucon mit ihrer großen Schwester Madeleine.
Die Willkommensparade dauerte eine halbe Stunde. Dann gab es Kaffee und Kuchen. Julius durfte die nun schon 24 Kerzen auf der farbenfrohen Geburtstagstorte auspusten. Dabei wünschte er sich, dass Ladonnas Irrsinnsherrschaft bald zu Ende ging und sie endlich wieder in Frieden ohne Angst zusammen leben konnten. Natürlich sprach er das nicht laut aus.
Jede und jeder hier bekam ein Stück von der Torte. Damit war sie aber auch schon erledigt. Natürlich gab es noch mehr Kuchen und kleine Schokoplätzchen für die kleinen Kinder, Kaffee, Kakao und Tee. Sie sangen noch mehrere französische, englische, amerikanische und irische Geburtstagslieder und unterhielten sich, wobei Gloria sich sehr auffällig von den jungen Müttern fernhielt, während Pina sich mit Millie und Aurora über den Unterschied der Kinderbetreuung in Australien und Frankreich unterhielt. Hera Matine unterhielt sich mit Béatrice und Hygia Merryweather über die internationale Heilmagiezunft. Joe hatte sich von Albericus Latierre und Bruno Dusoleil dazu beknien lassen, eine Paparunde zu bilden, um über ihre nicht mehr ganz so kleinen Kinder zu reden.
Gegen halb sechs stimmten Albericus und Bruno die Parole "Auspacken!" an. Die Kinder quiekten es nach. Dann stimmten alle ein. Julius bekundete, dieser mehrheitlichen Aufforderung unverzüglich nachzukommen.
Neben neuen Flugbesenzubehör und neuen Musiknoten von Hecate Leviata bekam er auch drei neue Präsentationsumhänge, Familienkarten für das Eröffnungsspiel der nächsten Quidditchsaison sowohl in Millemerveilles als auch Paris, sowie weitere Bücher. Besonders beeindruckt war er vom gemeinschaftlichen Geschenk Laurentines und Louiselles. Dabei handelte es sich um einen Instantantransskriptor, der ohne die Beeinträchtigung von Elektronik den auf dem Bildschirm sichtbaren Text oder den Text auf einer Wandtafel über eine dicke Rolle auf Pergament übertrug und voreinstellbare Seitengrößen einhielt. "Dabei ist es völlig egal, ob du den kompletten Text auf dem Bildschirm hast oder eine von mehreren Seiten davon", erklärte Laurentine. "Louiselle und ich haben das mit deinem Schwiegeronkel Otto zusammen ausgeknobelt. Du kannst damit sofort Pergamentkopien von ellenlangen Computerdateien ziehen, und das tollste ist, du musst die nicht sofort ausschreiben lassen, sondern kannst dem Umschreiber mit Tippen an die eingeprägte Sanduhr mitteilen, ob du die Kopie sofort oder später haben willst. Ach ja, und wenn du vorher den Knopf mit dem M drückst und hier am Stellrädchen die Zeit einstellst bleiben die letzten drei erfassten Texte komplett bis zum Ablauf der voreingestellten Zeit gespeichert. Das heißt, du kannst das Ding an eure Bildschirme halten, den Text einlesen, abspeichern und dann bei einer Vorführung in bis zu zehn Kopien auf Pergament werfen lassen. Louiselle und ich haben das Ding vor zwei Wochen patentieren lassen. Die Behörde wollte zwar nicht so recht was mit der Begründung anfangen, auch nichtmagisch erfasste Texte damit für amtliche Verwendung ausschreiben zu können, aber Louiselle kennt wen in der Behörde, und als die Person hörte, wer den funktionsfähigen Prototypen erhalten soll war das rubbel die Katz patentiert. Die Person erinnert sich noch gut an die Laterna Magica von dir."
"Jau! Danke! Ich komm ja vor lauter Tastendrücken und Mausklicks nicht mehr dazu, alchemistisch und thaumaturgisch zu experimentieren, obwohl es da eine ganze Menge gibt, was ich machen könnte", sagte Julius und bedankte sich bei Laurentine und bei Louiselle, die er trotz seiner Körpergröße und Armlänge gerade noch so umarmen konnte. "Ja, war auf jeden Fall eine sehr gute Idee von Laurentine, dass wir unser Wissen über Schreibzauber und Computer anwenden konnten. Laurentine hat ihren alten Klapprechner zum Experimentieren genommen. Der ist zwar fünfmal fast kaputtgegangen, aber dann hatten wir es raus, die Magiestreuung klein genug zu halten, dass sie kein Gerät mehr stört oder zerstört."
"Die Experimente habt ihr sicher nicht in Catherines und Joes Haus gemacht, oder?" fragte Julius. "Doch, haben wir, in Catherines Zaubertranklabor. Besser war das, wo mir der Schlepptop fast in Flammen aufging, weil der Umschreiber die komplette Platte einlesen wollte, bis wir das raus hatten, dass er den Namen des Textes miterfassen und die damit verknüpften Zeilen alleine lesen soll."Stimmt, bei der Gelegenheit fanden wir auch heraus, dass er auch nur den Namen der Textdatei ausgibt, wenn er umschreibt."
"Wie erwähnt, ich habe im Ministerium mehr als genug zu tun, und dann habe ich ja mit Millie eine ausreichend große Versicherung gegen Langeweile zusammenbekommen." Millie grinste und knuddelte ihren Mann.
"Das klingt sehr aufmunternd", meinte Louiselle dazu.
Der Abend war wieder einmal eine Grillparty. Brittany bot wieder vegane Alternativen zu den Frikadellen, deutschen Bratwürsten und Steaks, so wie den Kartoffelecken, Maiskolben und Zucchini. Babette und Claudine bedienten die Fässer mit den Fruchtsäften. Die erwachsenen Männer lösten sich beim Met und beim Wein ab. beim Tanzabend konnte das Geburtstagskind mal wieder keinen Tanz auslassen.
Um halb elf stöhnte Louieselle laut auf und wirkte sehr beschämt. Hera war sofort bei ihr und prüfte nach, ob mit ihr alles in Ordnung war. Offenbar ging es bei Louiselle los. "Flohpulver ist untersagt, Besen dito! Millie, Julius, habt ihr noch einen Raum frei, wo ich mit ihr hin kann?"
"O, geht es los", sagte Millie. Alle anderen Mütter sahen die hochschwangere Louiselle erwartungsvoll an. "Wenn meine Großtante das sagt ist es wohl soweit", keuchte Louiselle. "Aber vielleicht könnten wir noch zu dir hin, Tante Hera."
"Wie erwähnt, Besenflug ist nicht mehr empfohlen." Jeanne erwähnte, dass sie ihren Flugteppich holen könnte. "Gut, den lasse ich noch als Transport zu, wo es gerade noch Senkwehen sind, Jeanne. Laurentine, du möchtest dabei sein. Millie, Julius, und ihr anderen Pflegehelfer, ihr habt genug mit den Gästen zu tun."
Jeanne holte den Regenbogenprinzen aus dem Schuppen, wo alle mitgebrachten Flugbesen standen. Sie brachte Hera und die beiden Wohnungsnachbarinnen der Brickstons im langsamen Flug in das Entbindungsheim von Millemerveilles.
"Dann wird die bald wissen, ob das wirklich so eine gute Idee war, sich von irgendso einem brünftigen Bock begatten zu lassen", grummelte Gloria. Doch alle hier hörten das, weil sie noch hinter dem Teppich hersahen.
"Glo, nur weil du so gehirnverklemmt warst, dich auf das Honigtropfengerede von Superrosengärtner Humbert Steadford einzulassen und dich von ihm nur aus Spaß hast begatten lassen und der dich dann wie eine ausgelutschte Avocado weggeworfen hat und du deshalb das Kind, was er dir in den Bauch geschupst hat mit dem Trank der folgenlosen Freuden in die Toilette spülen musstest musst du echt nicht über alle herziehen, die Kinder kriegen", erwiderte Mel Chimers. Rums! Eine Atombombe hätte nicht heftiger einschlagen können, dachte Julius. Alle starrten erschüttert auf Gloria, deren Kopf vom Hals bis unter die Haarwurzeln knallrot anlief. Ihre Augen flatterten, ihr Körper bebte. Sie schien zwischen Wut und totaler Scham festzustecken. Sie schlug die Augen nieder und kämpfte sichtbar darum, nicht laut loszuheulen. Sofort waren alle Heilerinnen, die noch hier waren in ihrer Nähe. Blanche Faucon sah Melanie an, die sich von Brittany, Martha Merryweather und Hygia Merryweather sehr strafende Blicke einfing. Blanche Faucon sagte ganz leise aber unbestreitbar streng klingend: "Mrs. Chimers, ich möchte doch um Ihres eigenen Anspruchs auf Respekt und Wertschätzung sehr dringend darum ersuchen, dass Sie diese Ihre harsche, ja zu tiefst verletzende Aussage entweder in einer familienkonformen Weise umformulieren oder bei Mademoiselle Porter um Entschuldigung bitten, sofern die Schwere Ihrer wörtlichen Verfehlung dies noch ermöglicht. Bedenken Sie gütigst, dass Sie für ihren Sohn und für alle hier anwesenden Damen und minderjährigen Kinder als gewisses Vorbild zu gelten beanspruchen dürfen und dieser Anspruch mit einer derartigen Behauptung hoch gefährdet wird.""
"Die hat angefangen. Dann hat die das so gewollt, Madame Faucon", erwiderte Melanie. "Die hat doch gerade was von einem Brünftigen Bock getönt und wie dumm jemand sei, sich von so einem begatten zu lassen. Ich habe die schn..., öhm, Nase voll davon, mir von ihr da andauernd anhören zu müssen, wie seltendämlich alle Hexen sind, die sich auf ein Baby einlassen und sich da auch noch drüber freuen, auch wenn die wissen, dass es nicht nur Kutschiku ei dadada ist."
"Sie möchten also nicht von der Gelegenheit gebrauch machen, die zu tiefst verletzende Behauptung gegenüber Ihrer Cousine zurückzunehmen oder zumindest um ihre Verzeihung bitten?" fragte Blanche Faucon.
"Wir sind hier nicht in Ihrer Strammsteheranstalt, Madame Faucon. Wenn Sie selbst Respekt erwarten bedenken Sie das bitte, dass Sie mir hier nichts androhen oder als Strafarbeit abverlangen können. Also was soll das jetzt?""Mel, beruf dich auf deinen eigenen Zustand", meinte Titonus Chimers und sagte dann noch: "Meine Großeltern sind Farmer. Die sagen: Was du sähst wirst du ernten. Gloria hat vor mehreren Wochen gesäht und jetzt geerntet."
"Genauso ist es, Tony", gab Mel zurück. "Dann respektieren Sie wenigstens, dass unser Gastgeber eine Familienfeier geplant hat und keinen Wettstreit von Gossenhexen", sagte Blanche Faucon.
"Das gilt dann ja auch für die da", erwiderte Melanie und deutete auf Gloria. Dann fuhr sie fort: "Außerdem habe ich schon Rücksicht auf die Wortwahl genommen, sonst hätte ich nicht das Wort "Begatten" und "Kind" benutzt sondern die Wörter, für die wir in Thorntails locker fünfhundert Schimpfwortpunkte gezogen hätten", entgegnete Mel Chimers ungerührt. Darauf meinte Glorias Mutter: "Ja, aber du arbeitest für mich und in einer sehr anspruchsvollen Stellung, und ich höre mir eine derartige Unverschämtheit gegen meine Tochter nicht an. Also ..."
"Mum, lass es bitte!" stieß Gloria aus und schloss schnell wieder den Mund. Dione Porter funkelte Melanie an, sah aber auch Gloria an, als könnte sie nicht glauben, dass sie sich auf ein derartiges Abenteuer eingelassen haben sollte.
Gloria hielt sich die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. Béatrice stand vor ihr. "Möchtest du dich zurückziehen, Gloria?" fragte sie ganz ruhig. Gloria sagte gar nichts. Offenbar presste sie ihren Mund ganz zu, damit ihr bloß kein lauter Schrei oder irgendwelche weiteren undamenhaften Äußerungen entfleuchten. Dann nickte sie. Béatrice nahm sie in eine behutsame halbe Umarmung und geleitete sie ohne weiteres Wort fort.
"Gut, da ich als Gastgeber erwähnt wurde, heute ja nicht das erste mal, möchte ich dich, Melanie doch nur fragen, ob das jetzt echt nötig war, auch vor Tacitus oder all den anderen Kindern hier, die jetzt nicht wissen, was du so schlimmes gesagt hast.
"Ja, und auch wenn Gloria erwachsen und eigenverantwortlich entscheidet, was sie sich von wem bieten lassen will oder nicht bestehe ich darauf, dass du sie um Entschuldigung bittest, falls ich noch guten Gewissens mit dir arbeiten soll", sagte Dione Porter, die selbst nicht wusste, ob sie sich ein Loch zum verkriechen suchen sollte.
"Was hat die ehrwürdige Dame hier gerade gesagt, das ist eine Familienfeier, tante Dione. Es besteht also deinerseits keine Handhabe, mir berufliche Schwierigkeiten anzudrohen, nur weil du nicht mitbekommen hast, wie deine einzige Tochter in den letzten vier Monaten drauf war oder vielleicht auch .. na ja, Kinder hier!" knurrte Melanie.
"Die Damen, ich möchte als oft erwähnter Gastgeber darum bitten, dass wir das hier besser beenden. Sogesehen müsste sich Gloria bei den Damen Hellersdorf und Beaumont entschuldigen, dass sie sie in Abwesenheit beleidigt hat, Madame Faucon und Mrs. Porter. Der Abend war lang, alle sind müde. Die Konzentration ist nicht mehr hoch genug und damit auch die Selbstbeherrschung. Mel, du und Gloria seid erwachsen, dann klärt das bitte unter euch und ohne zusätzliches Publikum! Danke!"
"Die Gloria wollte das aber so", erwiderte Mels Ehemann. "Die hätte doch einfach nur ihren Kommentar zu Louiselles vorzeitigem Abschied von der Party runterschlucken müssen und fertig."
"Fertig! Das ist das passende Stichwort. Ich beschließe als heutiger Gastgeber, dass die Party sehr schön und sehr abwechslungsreich war und verweise auf die Gemeinderegel, ab Mitternacht keine lauten Feste im Freien mehr zu feiern. Daher möchte ich mich bei euch allen bedanken und euch allen einen angenehmen Heimweg wünschen, sofern ihr nicht bei mir um Gastquartier gebeten habt. Es ist noch genug zu Essen übrig. Falls wer was mitnehmen möchte ist er und auch sie herzlich eingeladen."
Alle halfen mit, die Tische abzuräumen und was noch an essbarem bereitlag zu verpacken. Dann verabschiedete sich Julius von jeder und jedem Einzeln. Als er Melanie Chimers traf meinte er: "Ich hoffe, ihr kriegt das mit Gloria wieder hin. Ich weiß echt nicht, ob das jetzt nötig war."
"Glo hat das selbst angerichtet, Julius. Aber Tony, Tacitus und die beiden kleinen Chimers bedanken sich für die nette Party und ich tu es auch", sagte Melanie.
Gloria kam mit Béatrice aus dem Haus. Sie wirkte nun erleichterter und hatte auch frische Schminke aufgelegt, wohl weil die alte zerlaufen war. Sie bedachte Melanie Chiemers nur mit einem verächtlichen Seitenblick und umarmte Julius: "'Tschuldigung, dass die Party noch von Mel und mir zerstört wurde. Du bist nicht schuld dran. Ich hätte es wissen müssen, dass sie eine Gelegenheit sucht, um es mir heimzuzahlen, ich dummes Huhn! Ich hoffe, ihr habt alle noch den Spaß, den ihr kriegen könnt und verdient habt."
"Du kannst noch mit Aurora sprechen, Gloria. Sie warten wohl auf Jeanne, weil sie nicht genug Besen für die ganzen Kinder mithaben", sagte Béatrice. "Ich nehme Ihren Vorschlag wahr, Mademoiselle Latierre", sagte Gloria. "Danke und es heißt du und Béatrice. Wir sind ja doch alle schon länger bekannt", sagte Béatrice.
Gloria ging zu Aurora Dawn hinüber und bat sie sich noch einmal in eine ruhige Ecke zu setzen. Melanie duellierte sich derweil mit Dione Porter, wenn auch nur mit Blicken. Hoffentlich verlor sie ihren einträglichen Beruf nicht, dachte Julius.
Aurora zauberte das, was ein Belauschen im Freien unmöglich machte und spannte um sich und Gloria einen Sichtschirm auf.
"Und ihr kommt jetzt nicht nach Hause, wenn Jeanne nicht zurückkommt?" fragte Julius Camille. "Ich habe mit ihr Mentiloquiert. Sie sind bei Hera im Entbindungshaus angekommen. Alles ist gut. Sie kommt uns gleich ..." Plopp! Aus dem Nichts heraus trat Jeanne zu den noch verbliebenen Gästen. Der Flugteppich hing zusammengerollt und mit Stricken gesichert über ihren Rücken.
"So, bin wieder da. Wir bekamen die beiden Mütter noch gerade in ein Geburtszimmer", sagte Jeanne. Julius stutzte. Dann grinste Jeanne. "Ups! Das war nur ein Scherz, Julius. Oh, schon Abschiedsstimmung? Ach, Ja, Maman meinte, hier habe sich wer zu heftig im Ton vergriffen, aber nicht wer. Aber ich sehe es gerade. Krach mit oder Krach wegen Gloria?"
"Beides", erwiderte Julius. "Näheres aber nur von ihr, falls sie das will. Es ist schon genug Porzellan zerdeppert worden. Dabei habe ich Geburtstag gefeiert und keinen Polterabend."
"Bruno kann dir das erzählen, wenn er nicht gleich vom Teppich fällt", sagte Camille. "Eh, Florymont, Bruno, hört bitte auf, euch von Albericus unter den nächsten Tisch trinken zu lassen, ihr habt Familie!"
"Hasch' r-recht, mein grünes Zuckerschneck-schen", lallte Florymont. Dann trank er den Metkrug noch bis zum letzten Tropfen leer.
"Hoffentlich würgt er das nicht gleich alles wieder auf deinen Teppich, Jeanne", unkte Julius. "Gute Idee, Julius. Ich häng dem gleich eine Spucktüte um. Hera hatte welche mit, die meinte, nicht nur Schwangere brauchen sowas, wenn ein halber Zwerg zum Wetttrinken aufruft."
"Camille, darf sie heute bei mir im Gästezimmer übernachten?" fragte Aurora Dawn, als Julius gerade die beiden heftig schwankenden Dusoleil-Väter auf den Teppich geführt hatte. "Ja, darf sie", sagte Camille. "Wasch isch?" fragte Florymont und musste würgen. Wie hingezaubert hielt ihm Jeanne eine Spucktüte vor Mund und Nase. Florymont machte umgehend Gebrauch davon. "ich würg gleich aus Sympathie mit", grummelte Julius. Hatte er sich jemals derartig abgeschossen?" Jedenfalls konnte er sich gesittet von Gloria verabschieden. "An dir hat's nicht gelegen, Julius. Entschuldige, dass ich heute deine Party zerstört habe. Sonst ist das ja Kevins Vorrecht."
"Kevin, oh! Liegt der ... Och nöh!" sagte Julius. Er deutete auf den Herrentisch, wo die jungen Väter den ganzen Abend fröhlich gezecht hatten. Tatsächlich lag Kevin sturzbetrunken im sommerlichen Gras und sägte im Traum an einer Gruppe irischer Eichen. Nur Joe war noch nüchtern genug, um einigermaßen geradeaus laufen und sprechen zu können.
"Ach, hat er mal wieder mit wem gewettet, Jedesmal wenn er ein bestimmtes Wort sagt einen heben zu müssen?" fragte Patrice, die ihre beiden Kinder Shivaun und Maurice an den Händen hielt. Julius dachte, dass er vor seinen Kindern nicht so knülle daliegen wollte. Dann sagte er: "Wenn das stimmt war das Wort ganz sicher "und"."
"Joh, kommt hin. Aber so fliege ich den nicht auf unserem Familienstecken zum Gasthaus."
"Wir könnten das Reisezelt aufbauen, dass ihr vier darin schlaft", bot Julius an. "Besser nicht. Nachher lallt der was, und das Zelt fliegt mit uns drin weg. Lass mal, der hat das schon mal gemacht und kennt das. Halt die Zwei mal bitte!" Damit drückte sie Julius die kleinen Hände von Shivaun und Maurice in seine Hände. Die zwei sahen auf ihre Maman und ihren Papa.
Patrice schüttelte Kevin. Der wurde jedoch nicht wach. Dann zog sie ihren Zauberstab frei. Sie bückte sich, riss den offenbar total weggetretenen Kevin halb nach oben und disapparierte mit vernehmlichem Knall. Nur fünf Sekunden Später war sie wieder da. Shivaun wollte gerade losweinen, weil ihre Maman und ihr Papa weggeknallt waren. "Maman ist wieder da, und wir fliegen jetzt dahin, wo der Papa ist", sagte Patrice.
"Ich denke, heute haben genug Leute den Besen über den Ring gefegt", meinte Millie zu Patrice, als sie sich die beiden Kinder auf den großen Familienbesen lud.
"Hast du rausgekriegt, was die jungen Väter angestellt haben?" fragte Julius. "Ich nicht, aber Ma. Die haben voll die Nogschwanzwette abgezogen, wer ein von den anderen bestimmtes Wort ausspricht muss einen Schluck gewürzten Met trinken. Kevin hat sich darauf eingelassen und das Wort "Und" abbekommen, während Florymont das Wort "Mir" und Bruno das Wort "Ja" nicht aussprechen durfte. Pa hat von den anderen, weil "Und" schon vergeben war das Wort "Ich" verboten bekommen."
"Toll, das Wort, was du durch umständliche Formulierungen locker aussparen kannst oder von dir in der dritten Person redest wie mein römischer Namensvetter beim gallischen Krieg."
"Danke, Julius. Wir bringen unsere Sieger des Abends nach Hause", sagte Jeanne und winkte ihm zu.
Als auch die latierres ganz leise durch den Verschwindeschrank abgereist waren sagte Julius: "Toll, ich das Geburtstagskind bin der einzige Bursche, der sich nicht halb im Metfass ertränkt hat."
"Du hast einfach mit zu vielen netten Damen getanzt, die dich nicht an die großen Fässer rangelassen haben", scherzte Millie. "Stimmt, und deshalb werde ich morgen wohl den Kater in den Beinen haben und nicht im Kopf."
"Das wüsste ich aber, dass du derartig schnell erschöpft wärest", meinte Millie. "Aber wir haben Besuch, da müssen wir morgen gute Gastgeber sein."
So war kurz nach zwölf Uhr Mitternacht jeder und jede im zugeteilten Bett. Julius fragte Millie, ob Mel ihr das mit Gloria so erzählt hatte. "Ich wollte das nicht glauben, aber dann hat mir Mel von diesem Humbert Steadford erzählt. Jedes amerikanische Mädchen weiß, dass der damit angibt, jedes nur mit dem Kopf lebende Mädel beschlafen zu können, fast so einer wie Cyril Southerland", sagte Millie. "Jedenfalls hat Gloria den Humbug geglaubt, dass er sie für eine supertolle, kultivierte und begehrenswerte Frau hält, die er lieben und ehren möchte. Wenn die das Austauschjahr bei uns im roten Saal gewohnt hätte hätte die gelernt, dass solche Sprüche nur dazu dienen, wen flachzulegen. Die hat wohl gedacht, endlich den Mann getroffen zu haben, der nicht nur ihren Körper will. Tja, und am Ende wollte der nichts anderes, und die hat nicht mal den kleinen Blauen dabeigehabt. Klar, dass das ihr heute abend so richtig tief in die Seele gestochen hat, das Mel ihr das vor allen anderen an den Kopf geballert hat."
"Was echt nur auf ihre eigene Schwangerschaft geschoben werden könnte", sagte Julius. Millie überlegte, was sie dazu sagen konnte. Dann antwortete sie: "Die hat alles runtergeschluckt und es heute abend bei der sich bietenden Gelegenheit ausgekotzt, genau wie Florymont das halbe Metfass."
"Gewürzter Met ist doch, wenn du noch klaren Trinkalkohol reintust. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir den geordert haben."
"Mein Herr Erzeuger hat immer welchen mit, wenn er abends mit anderen Herren feiert. Das ist die volle Angebertour, auch wenn's mein Vater ist. Der darf womöglich heute wieder im Keller auf der Pritsche schlafen, wenn ich Ma richtig verstanden habe."
"Psychologen würden das auch als überkompensierten Minderwertigkeitskomplex wegen seiner geringen Körpergröße bezeichnen. Ich bin zwar klein und ein halber Zwerg, kann dafür aber jeden großen Mann unter den Tisch saufen", sagte Julius.
"Hmm, du redest von meinem Vater. Aber leider leider hast du recht. So Gelegenheiten, es allen zu zeigen nutzt er gerne aus, und da er sich ja nicht mit jedem Mann prügeln darf, um dem zu zeigen, dass er wesentlich schneller und stärker ist muss er den halt im Wettsaufen besiegen", grummelte Millie.
"Bei einer Quidditchpartie hätten die die ganze Mannschaft wegen unbeherrschten Fliegens ausgewechselt, so viele Ringfeger. Dabei war ich froh, die alle hier hinzukriegen, auch die aus England und den Staaten und Aurora Dawn."
"Haben wir doch, und das war eine sehr schöne Party, und die kleine Lucine, die vielleicht mit dir Geburtstag feiert hat sich sicher auch gefreut, dass du mit ihrer Maman so gut und behutsam tanzen konntest, und dass es sich doch lohnt, diese ganze Laute Welt zu erforschen."
"Das nehme ich mal als wunderschönen Gutenachtgruß", sagte Julius. Millie Knurrte kurz. Dann zog sie ihn an sich und küsste ihn. "So, das war ein wunderschöner Gutenachtgruß. Mehr sollten wir heute nicht verlangen", sagte sie. Er gab ihr recht.
Laurentine schwankte zwischen Ekel und Faszination, Angst und Freude, Scham und Entschlossenheit. Dabei war nicht sie es, die da auf dem Hocker mit der vorne ausgeschnittenen Sitzfläche hockte und immer wieder stöhnte und schrie. Als dann Lucines Kopf zu erkennen war schaffte sie es gerade noch, ihr gutes Abendessen bei sich zu behalten. Dann kam Lucines hellblonder Kopf frei. Dann dauerte es noch einmal eine Viertelstunde, und sie war auf der Welt. Louiselle keuchte und schluchzte über die überstandene Anstrengung und Schmerzen. Lucine schrie noch, bevor Hera ihr einen Klaps auf das nasse Hinterteil versetzen musste. Da war ein kleiner Mensch, der seinen Unmut in die Welt schrie, was, dass von ihr stammte, was nur da war, weil sie mit Louiselle ein abgedrehtes magisches Experiment gemacht hatte. War sie jetzt Vater oder Mutter, Comutter oder Erzeugerin? Was für einen Begriff konnte sie für sich nehmen.
"Komm, ich zeige dir, wie du eure Kleine von der Nabelschnur losmachen kannst, Laurentine", sagte Hera Matine. So konnte sie den Akt der Entbindung vollenden. "Vollendung der Geburt eines kleinen Mädchens am einundzwanzigsten Juli 2006 um ein Uhr und neununddreißig Minuten!" rief Hera der mitprotokollierenden Schreibefeder zu.
Lucine wog genau 3645 Gramm. Ihr Kopfdurchmesser betrug 12,6 Zentimeter, und sie maß 50,4 Zentimeter. Laurentine sah das kleine, vom Weg durch Louiieselles Schoß leicht eingedellte Gesicht. Doch sie konnte die Blauen Augen sehen, sie dachte gleich im aufgeweichten Boden zu versinken. Denn das waren die Augen ihrer Mutter, die sie sah. Einen winzigen Moment lang dachte sie, dass es in der Magie möglich sein konnte und ihre Mutter in Lucines Körper wiedergeboren sein konnte. Doch dann erinnerte sie sich wieder an das Lächeln, dass sie ihr in jenem Traum geschenkt hatte, als sie und ihr Vater von jener engelsgleichen Erscheinung an die Hand genommen und fortgeführt wurde, die wiederum so aussah wie Claire. Nein, da wo sie war wollte sie sicher auch bleiben und hatte sicher auch nichts angestellt, weshalb sie noch mal auf die Welt zurückkommen musste, wie es bei den Hindus und Buddhisten geglaubt wurde. Doch die kleine, laute, noch ganz von der überstandenen Tortur verängstigte Lucine hatte die Augen ihrer Großmutter René Hellersdorf. Renée hieß doch die Wiedergeborene. Nein, Laurentine durfte das nicht weiterdenken, sonst verrannte sie sich in diese abwegige Vorstellung. Das Mädchen da auf dem gepolsterten Tisch war ihre Tochter, nicht ihre Mutter. Sie hatte auf sie aufzupassen.
"Ob der Geburtenschreiber in Beaux jetzt aus den Fugen gerät?" fragte Louiselle und holte Laurentine damit aus ihrem Gedankenlabyrinth heraus.
"Ich habe das mit Blanche und Madame Rossignol geklärt. Die müssen das alleine wissen oder deren Nachfolgerinnen", sagte Hera Matine. Dann legte sie die immer noch ihre Verunsicherung in die viel zu große, kalte, helle Welt schreiende Lucine auf den Bauchihrer Gebärerin. Laurentine fühlte auf einmal ein leichtes Pulsieren an ihren Brustwarzen. Hera meinte, durch die Annahme des Kindes könnte auch sie die Kleine stillen. Falls das stimmte musste sie das unbedingt erleben, doch nicht jetzt, nicht jetzt!
Hera half Laurentine, sich zu reinigen. Dabei stellte sie fest: "Oh, du tröpfelst ein wenig. Ich mach mal einen Abstrich und prüfe, ob du Lucine auch satt bekommen kannst."
Es stellte sich heraus, dass Laurentine wahrhaftig die übliche Vormilch schwangerer Frauen ausschied, wenn entsprechend stark gedrückt oder gezogen wurde. Louiselle meinte dazu: "Dann kriegen wir sie schneller groß als die anderen Eltern ihre Kinder. Lustig!" Laurentine bejahte das. Als Hera Matine dann alles für die erste Nacht von Mutter und Neugeborener eingerichtet hatte umarmte sie Laurentine noch einmal und flüsterte: "Danke, dass du das so gut durchgehalten hast und dich nicht vor der Verantwortung drücken willst." Dann küsste sie sie links und rechts und hauchte ihr zu: "Und ab heute sagst du Tante Hera zu mir." Rein mentiloquistisch fügte sie hinzu: "Solange wir nicht in unserer Versammlungshöhle sind, Schwester." Laurentine schickte zurück: "Erhaben und befremdlich, und dass das auch mein Kind ist ist schon merkwürdig."
"Offenbar hat deine Seele es auch längst als auch dein Kind angenommen, sonst würde dein Körper nicht so darauf ansprechen." Dem konnte Laurentine nur beipflichten.
Die Latierres im Apfelhaus erfuhren am Morgen nach dem Frühstück, dass die kleine Lucine doch ihren eigenen Geburtstag feiern durfte, dass die Wetttrinker von gestern von ihren Frauen ordentlich ausgeschimpft worden waren und dass Gloria mit Aurora Dawn am 23. Juli nach Australien reisen würde, um eine von Aurora vorgeschlagene Behandlung und vor allem einen gewissen Abstand von England und der Verwandtschaft zu haben. Immerhin durfte Melanie ihren Job behalten, nachdem Gloria ihrer Mutter die leidige Angelegenheit gebeichtet hatte. Aber die wirklich erfreulichste Nachricht des Tages war, dass es den Flohkisten-Agentinnen und -Agenten gelungen war, alle Nebenstellen des österreichischen, des Deutschen und des belgischen Zaubereiministeriums ausfindig zu machen und dass auch das Isländische Zaubereiministerium, das nur in zwei Untergebäude aufgeteilt worden war, golden "erleuchtet" werden würde. Wenn der koordinierte Angriff wie geplant stattfinden konnte, so würden sie ab übermorgen, an Claires Geburtstag, nicht mehr nur von Feinden umzingelt sein. Um sicherzustellen, dass Ladonna die Befreiung der Ministerien nicht mitbekam sollten im gleichen Zeitraum je fünfhundert der in Quarantäne gesteckten Piloten aus ihrem Bann befreit werden, und zwar in der Nacht zum 22. Juli.
"Wir helfen da mit, auch wenn wir nicht immer ganz vorne voranmarschieren, Julius", hauchte Millie ihrem Mann ins Ohr. Sie dachte, dass er das jetzt brauchte, und er freute sich über diese Rückmeldung. Vielleicht war es doch möglich, die dunkle Bedrohung durch Ladonna genauso zu beenden wie ihre dunkle Barriere um Frankreich. Die Sanguis-Purus-Aktivistinnen und Aktivisten waren verstummt, nachdem sich viele auch reinblütige Zauberer wegen ihrer Machenschaften von ihren Ideen distanziert hatten. Die Ministerin durfte also weitermachen. Es gab also doch noch Hoffnung für die Zaubererwelt, dass mehr vernünftige Menschen als durchgeknallte Hass- und Angstprediger und machtgierige Irre unter ihnen waren. Julius wünschte sich das auch für die Nichtmagische Welt.
Sie hatte seit dem Niederfall der letzten Barriere damit gerechnet, sich niemals weiter als bis zur Grundstücksgrenze ihrer Residenz entfernt. Doch als es in der Nacht begann war sie wütend und ängstlich zugleich. Hatten sie es gewagt, eines der Ministeriumsgebäude mit diesen widerlichen Goldlichtern zu blenden? Sie hörte die Schmerzenslaute näherkommen, die dann aber in Laute der Verzückung und unbändigen Erleichterung übergingen. Sie sah in ihrem Geist das immer hellere Licht. Dann erkannte sie, dass es die Piloten waren, die sie eigentlich als Boten des Weltuntergangs und des Neuanfangs aussenden wollte. Sie spürte, wie sie ihrem magischen Griff entzogen wurden, erst gegen den inneren Widerstand und dann mit immer mehr Hingabe. Ja, und es waren so viele auf einmal, dass sie die Woge der freigesetzten Kräfte nicht ertrug. Ihr Kopf brannte wieder. Wäre sie draußen vor dem Grundstück gewesen hätte ihr Haar sicher Feuer gefangen. Doch so war der Schmerz auch unerträglich. Ihr Kopf drohte zu zerplatzen, ihr Unterleib pochte wild, als wollten sich mehrere ungeborene Kinder dort herauskämpfen. Ladonna fühlte, wie sich ihr Schweiß mit den heißen Tränen vermischte, die sie weinte. Sie erkannte, dass es töricht gewesen war, davon auszugehen, dass es gegen den Duft der Feuerrose kein Mittel gab. Jetzt zahlte sie den Preis dafür. Dann hörte sie auch noch diese Stimme, die Stimme ihrer Ängste und inneren Schuld.
"Kleine Schwester, wehr dich nicht, komm zu mir ins helle Licht, denn wenn die dritte Tochter in der Welt, es nichts mehr gibt, was dich dort hält."
Ladonna schrie auf, als die Hauptwucht von fünfhundert freikommenden Seelen ihr die Besinnung raubte. Ohnmächtig blieb sie liegen. So spürte sie nicht, dass der ersten Welle bereits eine zweite folgte. Nur ihr Leib spürte es. Wie von Blitzschlägen getroffen zuckte er immer wieder zusammen. Aus ihrem Rubinrosenring schlugen rote Blitze in die Kellerdecke, wo sie jedoch nichts anrichten konnten. Nur dem Rubinrosenring verdankte Ladonna Montefiori, dass die Wucht der ihr entrissenen Seelen sie nicht tötete und in jenes Reich verbannte, in dem sie wartete, die vorausgegangene Schwester, die darauf wartete, dass sie ihr endlich nachfolgte.
Es war wie jedes Jahr. Morgens gingen sie zum Gemeindefriedhof von Millemerveilles. Dort besuchten sie Claires Grab. Wo es für Julius früher ein Gang der Buße und Trauer war war es jetzt sowas wie ein Ritual, dass er mit seiner Familie wieder ein schönes, wenn auch aufregendes und beruflich nicht ganz ungefährliches Jahr zugebracht hatte. Doch diesmal trafen Millie, er und Aurore auch Camille, Jeanne, Viviane und Laurentine, die bis zum Monatsende noch bei Louiselle und der kleinen Lucine im Geburtshaus bleiben wollte. Sie sprachen mit Claire, als sei sie noch da. Sogesehen stand der mittlerweile ausgewachsene Apfelbaum für sie und ihre Liebe zu roter Kleidung und roten Dekorationsstücken. Camille hatte es zum Ritual erhoben, im Herbst die Äpfel zu pflücken und an alle die zu verteilen, die in Freundschaft und Liebe mit Claire verbunden waren. Die ersten Anzeichen, dass es eine gute Ernte werden würde zeigten sich schon an den Zweigen, und die nicht mit den üblichen Sinnen wahrnehmbare Aura des Friedens, der Ruhe und der Geborgenheit durchdrang sie alle, wie sie hier waren. Vor allem jetzt, wo Julius wieder mehr gute als schlechte Nachrichten aus der Zaubererwelt zu hören bekam wirkte diese Aura um so mehr, weil jetzt die meisten derer hier waren, mit denen Claires Leben verbunden gewesen war.
Um nicht jedem zugleich was zu erzählen, was nur Claire wissen sollte zogen sie sich bis auf je eine oder einen einzelnen zurück. Julius fiel dabei auf, dass Laurentine sich vor dem Grabhügel hinkniete und die Hände zum Gebet faltete. Dabei hatte sie doch erwähnt, dass sie mit der katholischen Kirche nichts mehr am Hut hatte. Dann erkannte er, dass sie nicht zum Gott der Katholiken betete, sondern zu jener Schöpfungsmacht, die ihr und ihm die Zeit mit Claire ermöglicht hatte. Sie machte Frieden damit, dass Claire nicht mehr zurückkommen würde. Was so ein winziges kleines Mädchen in einer Wiege doch in einem Menschen verändern konnte, dachte Julius. Dann fiel ihm auch ein, dass Laurentine erwähnt hatte, dass sie und Louiselle sich beim Stillen abwechselten, weil sie, Laurentine, sich wie Loucines zweite Mutter empfand. Er hatte beschlossen, das nicht breiter zu treten. Es war zu schön, wie es war, als dass es noch mit einem unbedachten Spruch zerschmettert werden sollte. Wie schnell sowas ging hatte er ja an Gloria und ihrer Cousine Melanie miterleben müssen. Er hoffte auch, dass die beiden irgendwann, hoffentlich bald, ihren Frieden wiederfinden konnten.
23.07.2006
Hallo Wendy!
Ich habe dir ja berichtet, dass Gloria Porter sich Béatrice Latierre und mir gegenüber ausgesprochen hat, dass sie auf die Verlockungen und Komplimente eines offensichtlich triebgesteuerten Vagabunden hereingefallen ist und sich ihm körperlich hingegeben hat. Aus Angst und Wut wollte sie das dabei empfangene Kind nicht austragen und hat es mit einem unzureichend gebrauten Trank der folgenlosen Freuden zusammen mit ihrer funktionierenden Gebärmutter abgestoßen. Die dabei entstandenen Blutungen hat sie selbst behoben. Es ist echt traurig, dass so intelligente junge Hexen auf solche Dummschwätzer hereinfallen und sich dann nicht trauen, sie zur Verantwortung zu ziehen, wenn dabei mehr als eine achtlos erlebte Liebesnacht entsteht. Jedenfalls habe ich ihr bei Julius' Geburtstag angeboten, sie mit der vor zwei Jahren wegen ähnlicher Fälle erfolgreich etablierten Freshwood-Honeydew-Therapie zu heilen, wofür sie wohl vier Tage in die Sana-Novodies-Klinik muss. Da könnte sie sich auch was von der Kollegin Amalthea Honeydew anhören. Du weißt ja noch, wie sehr sie darauf achtet, dass fruchtbare Hexen verantwortlich mit ihrem Körper umgehen. Immerhin konnte ich ihr hier bei mir, wo ich sie behandeln darf, schon die notwendigen Vorbereitungen treffen. Ich bin zuversichtlich, dass Glorias Uterus wiederhergestellt werden kann und sie darauf hoffen darf, doch mal den richtigen Zauberer oder Muggel zu finden, mit dem sie aus ganzer Überzeugung und in Liebe eigene Kinder zur Welt bringen kann. Vielleicht kann sie bei der Gelegenheit mit Ireen sprechen, warum ihr das passiert ist, was ihr passiert ist. Ich bin zumindest froh, dass ich zur rechten Zeit am rechten Ort war.
Ich bin nur ein wenig traurig, dass ich es Julius nicht erzählen darf. Doch natürlich achte ich die Schweigepflicht der Heiler. Sollte Gloria ihm und Millie das erzählen wollen, dann wenn sie und nur sie das will. Hoffentlich kann sie dann auch wieder Frieden mit ihrer Cousine Melanie schließen.
Bis morgen, Wendy!
Anthelia/Naaneavargia hatte wieder alle ihre Schwestern in das gemeinsame Hauptquartier eingeladen. Es gab einiges zu verkünden und einiges an neuen Informationen zu erfragen. Am Ende waren sie sich darin einig, dass Ladonna Montefiori sich von dem erholen würde, was ihr widerfuhr. Würde sie dann noch heftiger zurückschlagen? Außerdem gab es ja noch mehr als genug, was die magischen Menschen bedrohte. Ladonnas Aktivitäten hatten die Zaubererwelt zu sehr in Anspruch genommen. Andere mochten das ausgenutzt haben oder sich auf ihren großen Auftritt vorbereiten. Darauf mussten sich die Spinnenschwestern einstellen.
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