DER UNGENANNTE HERRSCHER (Teil 1 von 2)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Auswirkungen jener weltweiten Welle dunkler Magie, die bei der Vernichtung von Iaxathans Ankergefäß freigesetzt wurde, halten die ganze magische Welt in Atem. Schwarzmagische Gegenstände erwachen zu einem unheilvollen Eigenleben. Für dunkle Kräfte empfängliche Wesen schütteln jahrtausende alte Erstarrungszauber ab oder werden stärker. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zaubereiministerien und davon unabhängiger Eingreiftruppen gegen dunkle Künste kommen nicht zur Ruhe. Als dann durch das schwere Seebeben vom 26. Dezember 2004 ein auf dem Meeresgrund liegender Unlichtkristall zerbricht und deshalb eine weltweite Entladung von Erdmagie auslöst gerät die gesamte Gesellschaftsstruktur der magischen Menschheit ins Wanken. Denn die Welle aus Erdmagie trifft dafür empfängliche Wesen wie Kobolde und Zwerge hart bis tödlich. In Australien wird die Koboldbank Gringotts zerstört. Anderswo müssen Filialen schließen. Verschiedene Gruppen versuchen das auszunutzen, um das jahrhundertealte Goldwertbestimmungsmonopol der Kobolde zu beenden. Ebenso wittert in den Vereinigten Staaten ein einzelner Zauberer die Chance, der mächtigste in Nordamerika zu werden: Lionel Buggles. Als dieser dann von der obskuren Gruppe Vita Magica unterworfen wird hilft diese ihm, seinen Traum für einige Monate zu verwirklichen, ganz Nordamerika unter seiner Führung zu vereinen, bis ihm die Führerin der Spinnenhexen für immer Einhalt gebietet.

Julius Latierre wird von Ashtaria beauftragt, einen eigenen Sohn zu zeugen. Da er mit Millie von den Mondtöchtern gesegnet wurde kann er dies jedoch erst nach einer Wartezeit von zwölf Jahren, weil er schon drei Töchter mit Millie hat. Ashtaria schickt Millie einen höchst beängstigenden Traum von einer Zukunft, in der sowohl Lahilliotas neue Ameisenkreaturen, die Nachtschatten der selbsternannten Nachtkaiserin und die Vampire der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder die Menschheit auslöschen und Ashtarias Macht vollständig verschwinden mag, wenn es keine sieben Heilssternträger mehr gibt. Daher nutzen sie und Julius ein besonderes Gesetz, dass einem Ehemann erlaubt, mit einer unverheirateten Hexe ein Kind zu zeugen, welches die angetraute Frau nicht oder nicht früh genug bekommen kann. Als sogenannte Friedensretterin erwählen beide Millies Tante Béatrice, die seit dem unfreiwilligen Kindersegen in Millemerveilles die zweite Heilerin dort ist. Béatrice geht auf die Bitte ein und verbringt mit Julius mehrere Nächte, während Millie sich in den Künsten der Feuermagier aus dem alten Reich zu ende bilden lässt. Das Vorhaben gelingt. Béatrice empfängt einen Sohn. Kurz nach der erfolgreichen Zeugung wird Millie ebenfalls schwanger. Sie trägt Zwillingstöchter. Sie verzichtet auf ihr Recht, Béatrices Kind als ihres anzunehmen und überlässt den kleinen Félix seiner leiblichen Mutter. Sie selbst bringt in der Walpurgisnacht 2005 die beiden Töchter Flavine und Fylla zur Welt. Julius hat Ashtarias Auftrag ausgeführt. Er wartet darauf, ob und wo er den verwaisten Silberstern entgegennehmen kann. Er muss dafür noch eine gefährliche Aufgabe erledigen. Ashtaria stellt ihm drei zur Auswahl: Das verschollene Buch über das Geheimnis des großen, grauen Eisentrolls, den Zwerge und Kobolde gleichermaßen fürchten zu finden, einen mächtigen Dschinnenkönig finden und verhindern, dass dieser sich wieder zum Herren aller orientalischen Geisterwesen aufschwingt oder eine schwarzmagische Vorrichtung namens "Das Herz von Seth" unschädlich zu machen. Er entscheidet sich für die dritte gefahrvolle Aufgabe. Dank Goldschweif, seiner Temmie-Patrona und einer ausreichenden Dosis Felix Felicis übersteht er die auf dem Weg in die unterirdische Anlage lauernden Fallen und kann gerade noch rechtzeitig verhindern, dass der im Herzen des Seth angesammelte Hass und Zerstörungswille auf einen Schlag freigesetzt werden und damit alle fühlenden Wesen zu Mord und Krieg getrieben werden. . Um die unheilvolle, gewaltige Maschinerie der dunklen Kraft möglichst nie wieder in Gang zu setzen hilft ihm Madame Delamontagnes Hauselfe, den zentralen Raum unbetretbar zu machen. Weil Julius die ihm gestellte Aufgabe erledigt hat darf er das Geburtshaus von Hassan al-Burch Kitab aufsuchen, wo der verwaiste Silberstern liegt. Doch dieses wird von Ilithula, der Abgrundstochter mit Beziehung zu Windmagie bewacht. Er kann sie jedoch austricksen und den Heilsstern an sich nehmen. Zusammen mit den sechs anderen Sternträgerinnen und -trägern ruft er in Ashtarias Höhle des letzten Abschiedes die mächtige Formel aus, die die geballte Macht der sieben Sterne freisetzt. Damit wird er endgültig der sechste Sohn Ashtarias. Die Anrufung der Heilsformel bewirkt jedoch auch, dass die in Gestalt einer roten Riesenameisenkönigin gefangene Lahilliota wieder zur Hexe in Menschengestalt wird, allerdings immer nur im Wechsel mit ihrer Tiergestalt alle zwei Monate.

Wegen der Mordanschläge von London und Birmingham am 7. Juli regen Julius und seine Mutter eine internationale Zaubereikonferenz zum Thema elektronische Aufzeichnung und Verhüllung der Magie vor Videokameras an. Viele Zaubereiministerien gehen auf diesen Vorschlag ein. Die Konferenz findet Ende September Anfang Oktober in einer gesicherten Niederlassung des Japanischen Zaubereiministeriums statt. Dort werden fast alle Teilnehmer durch den Nebel des Mondfriedens darauf eingestimmt, einander zu vertrauen. Nur Julius und Nathalie entgehen diesem angeblich so friedlichen Vorbeugungszauber. Julius wird von Ashtarias Heilsstern geschützt, Nathalie durch den ihr aufgezwungenen Sonnensegen Euphrosynes. Nach einigen Tagen Beratung präsentieren die Japaner das gesuchte Mittel, den lautlosen Verberger, einen Gürtel, der seinen Träger für elektronische Aufnahmegeräte unsichtbar macht. Die Ministerien beschließen, für ihre Sondertruppen solche Gürtel anzuschaffen.

Catherine wird von Julius zu den Altmeistern Khalakatans gebracht, wo sie vollständig in Zaubern der alten Windmagier und Mondmagier ausgebildet wird. Während ihres Ausbleibens verfolgt Julius die Unruhen in den Vororten französischer Großstädte im November 2005. Als Catherine zurückkehrt bittet sie Julius, ihr die von ihm lange gehütete Flöte des Windkönigs Ailanorar zu überlassen. Er soll in der Zeit, die sie mit deren Schöpfer um den Besitz ringt auf ihre Kinder aufpassen. Mit dem Heilsstern verhindert er, dass Babette, Claudine und Justin von einem fremden Einfluss entseelt werden und hilft damit auch Catherine, Ailanorar zu bezwingen und somit die Flöte für sich zu erobern. Diese dient fortan nur noch ihr und ihren direkten Nachkommen.

Laurentine Hellersdorf nimmt eine Reise nach Amerika zum Anlass, sich in weiterführenden Abwehrzaubern ausbilden zu lassen. Hera Matine empfiehlt ihr Nachhilfestunden bei ihrer Nichte Louiselle Beaumont, die ihr auch in Beauxbatons ungern gesehene Zauber beibringt. Als Laurentine auf der Reise durch die Staaten wahrhaftig mit der Führerin der Spinnenschwestern zusammentrifft beschließen Louiselle und Hera, Laurentine in die Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern aufzunehmen. Bei diesem Zeremoniell erweist sich, dass Ladonna Montefiori bereits Gefolgshexen in diese Gemeinschaft eingeschleust hat. Doch diese versagen beim Versuch, die Stuhlmeisterin Hera Matine zu töten und werden durch Schutzzauber des Versammlungsortes körperlich und geistig zu Neugeborenen zurückverjüngt und sollen ein neues Leben beginnen. Der Tsunami vom 26.12.2004, der auch für die Erdmagieturbulenzen verantwortlich ist, nimmt der trimagischen Gewinnerin beide Eltern. Sie braucht eine Zeit, um darüber hinwegzukommen, bis sich ihr im Traum und bei der Beerdigung eine rot-golden leuchtende Erscheinung zeigt, die große Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Schulfreundin Claire Dusoleil hat. Von da an ist sie wieder zuversichtlich, weiterleben zu können.

Laurentine und Louiselle setzen ihre Übungen fort. Dabei erkennt Laurentine, dass sie die ältere Hexe nicht nur als Lehrerin schätzt, sondern sich auch in sie verliebt. Bei einer Übung zur Abwehr eines Unfruchtbarkeitszaubers wendet Laurentine einen anderen Weg an als bisher bekannt. Dadurch drängt sie den ihr geltenden Zauber nicht nur zu Louiselle zurück, sondern bewirkt auch eine der wenigen hellen Verkehrungen eines ursprünglich bösartigen Zaubers. Statt für Monate unfruchtbar zu werden entsteht aus einer Eizelle Laurentines und Louiselles eine gemeinsame Tochter in Louiselles Gebärmutter. Damit kommen die zwei Hexen sprichwörtlich wie die Jungfrau zu einem Kind und müssen überlegen, wie sie mit dieser Verantwortung umgehen.

Das neue Jahr beginnt. In Nordamerika soll die neue Föderation aus Kanada, den USA und Mexikos ihre Arbeit aufnehmen. Was dabei für den Rest der Welt herumkommt wird sich zeigen müssen.

Während all dieser aufwühlenden und unerwarteten Ereignisse bereitet sich Ladonna Montefiori darauf vor, ihr nächstes großes Ziel zu erreichen, mit dem sie ihre Todfeindin Sardonia endgültig überflügeln will. Sie schürt in verschiedenen Ländern Unruhen in der magischen Gemeinschaft und treibt die amtierenden Zaubereiminister dazu, sich zu geheimen Treffen zu verabreden. Über ihre Agentinnen erfährt sie, wann und wo solche Treffen stattfinden und schafft es, neue Feuerrosenkerzen dort einzuschmuggeln. So gelingt ihr doch noch, was sie schon längst erreichen wollte. Außer Frankreich, Griechenland und die afrikanischen Länder übernimmt sie alle Mittelmeeranrainer. Weitere Feuerrosenkerzen machen ihr zudem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der eroberten Zaubereiministerien gefügig. Allerdings entwischen ihr in Deutschland mehrere Dutzend Hexen und Zauberer mit Hilfe von bei Gefahr auslösenden Portschlüsseln und warnen die noch freien Zaubereigemeinschaften. Ladonna lässt verbreiten, dass die Zaubereiministerien wegen der vielen internationalen Feinde ein starkes Bündnis gegründet haben, die Koalition der Verbundenheit. Alle Behauptungen, sie seien unterwandert werden als böswillige Verleumdungen abgetan. Außerdem schafft es Ladonna, zwei weitere wichtige Niederlassungen von Vita Magica zu vernichten und sogar den amtierenden hohen Rat des Lebens auszulöschen, so dass Vita Magica stark geschwächt ist und zunächst den Fall "Dornröschen" ausruft, also das unbefristete Stillhalten. Ebenso kann sie die in Deutschland und Italien aufmuckenden Zwerge und Kobolde niederhalten, indem sie publikumswirksam vorführt, dass sie den großen grauen Eisentroll, den Urfeind aller Zwerge und Kobolde, aus der Erde hervorrufen und ihn wieder dorthin zurückschicken kann. Sie wähnt sich sicher, trotz der entwischten Opfer ihre weiteren Ziele erreichen zu können.

Julius Latierre bekommt mit, wie sich die offenkundig unterworfenen Zaubereiministerien positionieren. Die Veelas holen ihn zu einer nächtlichen Beratung in die Höhle der gesammelten Worte. Dort bekommt er nicht nur mit, dass Létos Schwester ihn weiterhin begehrt, sondern auch die spanische Veelastämmige Espinela Bocafuego ihn für sich haben will. Er kann sie jedoch mit dem erlernten Lied des inneren Friedens von sich fernhalten. Die Veelas teilen ihm und der magischen Menschheit unmissverständlich mit, dass sie nicht hinnehmen werden, dass Ladonna von Menschen getötet wird.

Derweil bahnt sich in den Nordamerikanischen Staaten etwas unausweichliches an. Der Mexikanische Zauberer Augusto Paredes, der auch als "El Aguila Roja", der rote Adler berühmt und berüchtigt ist, hat sich durch seine aztekischen Zauberkenntnisse zu einem schier unbezwingbaren Machthaber im internationalen Rauschgifthandel hochgekämpft. Er will aber auch in der US-amerikanischen Unterwelt Fuß fassen. Hierzu hat er sich den Mafioso Don Michele Millelli durch einen aztekischen Bluteid gefügig gemacht. Eigentlich will er sich in der Nähe der Grenze zwischen den USA und Mexiko einen wichtigen Standplatz sichern. Doch eine andere will das auch, die nicht minder mächtige und gefährliche peruanische Hexe mit Inka-Abstammung Margarita de Piedra Roja, genannt die Löwin von Lima. Um sie einzuschüchtern oder gleich zu erledigen schickt Paredes ihr mit einem altaztekischen Dunkelzauber belebte Leichname, die Feuerherzkrieger, deren Herzen er in seinem Keller am schlagen hält und die sich in zerstörerische Feuerbomben verwandeln können. Doch Margarita hat ihr Haus mit wehrhaften Zaubern aus der Mondmagie des Inkavolkes abgesichert und wehrt die Feuerherz-Zombies ab. Eine direkte Konfrontation erscheint unausweichlich. Doch vorher will Paredes sich ein Standbein in der New Yorker Mafia sichern, deren Führer sich in einem inoffiziell errichteten Atombunker treffen. Weil Margarita de Piedra Roja davon ausgeht, dass die Sekte der Vampirgötzin diese Gelegenheit nutzen will, um dort neue Helfershelfer zu rekrutieren schmuggelt einer ihrer Verwandten einen Zaubertrank dort ein, der jeden davon trinkenden gegen alle nach seinem Blut gierenden Wesen ein volles Jahr fernhält. Paredes richtet klammheimlich einen Sternenzauber ein, der das Erscheinen der Vampire mit Hilfe jener nachtschwarzen Abart eines Portschlüssels vereitelt. Alle Mafiosi trinken Margaritas Schutztrank. Dabei kommt es bei Michele Millelli, dem Müllkönig, zu einer unerwarteten Reaktion. Die in seinem Blut zusammentreffenden Zauber treiben seine Körpertemperatur über das erträgliche Maß hinaus. Millelli stirbt. Dadurch wird die in ihm wirkende Kraft des aztekischen Bluteides so heftig freigesetzt, dass sie auf ihren Urheber, den roten Adler zurückschlägt und auch ihn tötet. In einer höllischen Kettenreaktion werden dessen Diener vernichtet und alle nicht gerade in fliegenden Flugzeugen sitzenden Bluteidgebundenen von der magischen Bindung befreit. Ohne es direkt darauf angelegt zu haben ist Margarita de Piedra Roja den gefährlichen Widersacher los.

Der als Times-Reporter getarnte Laveau-Instituts-Mitarbeiter Jeff Bristol sorgt sich wegen jener Geschwister, die auf eine heimliche Eroberung der Welt hinarbeiten. Er bekommt auch mit, was Milelli und Paredes widerfährt. Über all dem schwebt die Warnung, dass Ladonna Montefiori auch die Zaubereiminister der beiden amerikanischen Teilkontinente unterwerfen will. Wie berechtigt diese Warnung ist soll sich schon sehr bald erweisen. Denn bei der alle drei Jahre stattfindenden Konferenz spanischsprachiger Zaubereiminister zündet der von Ladonna unterworfene Pataleón eine Feuerrosenkerze. Doch die Mexikaner, die der Konferenz beiwohnen setzen ein Gegenmittel ein, den magicomechanischen Gefahrenfänger. Dieser schafft die brennende Kerze mittels Portschlüssel fort. Die mexikanischen Delegierten erweisen sich als Agenten der Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Wesen und wollen Pataleón und seine Leute kampfunfähig machen. Dabei kommt es zu einer Zauberschlacht, an deren Ende die Mexikaner trotz Täuschzaubern den Tod finden. Die eigentlich für Mexiko und den Föderationsrat gedachte zweite Feuerrosenkerze vollendet, was die erste Kerze nicht geschafft hat. Diesmal kommt kein Gefahrenfänger zum einsatz.

Nachdem die südamerikanischen Zaubereiminister und ihre wichtigsten Mitarbeiter doch unter Ladonnas Einfluss geraten können sie auch Atalanta Bullhorn in eine Falle locken, wobei ein Gefahrenfänger die Feuerrosenkerze abfängt, aber dann alle anderen von einem Portschlüssel in eine von Ladonna vorbereitete Höhle geschafft werden. Weil Atalanta Bullhorn einen Schutzzauber auf ihren Geist gelegt hat, der solange hält, wie ihr Körper durchblutet wird, lässt Ladonna ihr alle Haare und überstehende Finger- und Zehennägel entfernen, um damit ihre treue Gehilfin Ashton Underwood auszustatten, die dann mit Vielsafttrank Atalantas Rolle übernimmt. Die wirkliche Ratssprecherin verschwindet in Ladonnas besonderem Rosengarten. Die nun falsche Atalanta lockt den gesamten Föderationsrat mit der Warnung vor einem Fliegerbombenangriff auf Viento del Sol aus der sicheren Zuflucht heraus und präsentiert eine weitere Feuerrosenkerze. Danach jagen die Föderationsadministratoren allen hinterher, die ihrer neuen Herrin gefährlich werden können. Darunter sind auch die Mitarbeiter des Laveau-Institutes. Um der Verhaftung und möglichen Versklavung zu entgehen inszenieren jene, die als Beobachter und Eingreiftruppler in der nichtmagischen Welt arbeiten ihren eigenen Tod und hinterlassen mit Hilfe ihrer Kollegen täuschend echte Leichname. Zu ihnen gehört auch Jeff Bristol, der mit seiner kleinen Familie in das vom Laveau-Institut errichtete versteckte Inseldorf Shady Shelter flüchtet.

Somit ist auch Amerika nicht mehr frei. Da demnächst die alle halbe Jahre anstehende Konferenz der internationalen Zaubererweltkonföderation ansteht fürchten die noch freien Zaubereiministerien, dass Ladonna auch dort eine Feuerrosenkerze entzünden lassen wird. Doch sie wollen Ladonnas Vormarsch stoppen. Hierzu reisen Belle und Millie mit der Gesandschaft der internationalen Zaubererweltkonföderation nach Genf. Dort wird Belle von einer auf Veelazauber ansprechenden Falle in eine gläserne Sphäre eingeschlossen. Millie, die als Feuervertraute Altaxarrois ausgebildet ist, kann die Quelle für diesen Zauber sehen. Doch muss sie zuvor sicherstellen, dass ein von den Veelas mitgegebenes Artefakt, eine Gegenkerze zu Ladonnas Feuerrosenkerze, in den Konferenzraum geschmuggelt wird. Als ihr das gelungen ist wendet sie einen nur ausgebildeten Feuervertrauten höchster Stufe beigebrachten Zauber an, der sie für eine subjektive Viertelstunde mit hundertfacher Geschwindigkeit denken und handeln lässt. In diesem Zustand entfernt sie die kristallinen Kraftquellen der Veelafalle, die Belle wegen des verbotenen Segens gefangen hält und die laut Léto Veelastämmige töten kann. Je mehr sie die Falle demontiert, desto heftiger erwehren sich die Kristalle. Nur der überhohen Geschwindigkeit verdankt Millie, nicht selbst vernichtet zu werden. Sie kann Belle befreien und mit der restlichen Delegation per Portschlüssel entkommen. Das Gästehaus der Franzosen verbrennt in einer unkontrollierten Feuermagie der destabilisierten Veelafalle. Wenige Zeit später treffen sich die übrigen Konferenzteilnehmer im Besprechungssaal. Dort entzündet sich die von Millie an Stelle der Feuerrosenkerze platzierte Kerze der Veelas und durchdringt alle mit einem goldenen Licht, das jeden von Ladonnas Einfluss befreit und gleichzeitig für ein Jahr gegen die Macht der Feuerrose immunisiert. So kommen auch der schweizer Zaubereiminister und seine engsten Vertrauten aus Ladonnas Bann frei. Wenig später kann auch der Rest des Ministeriumspersonals durch eine zweite Goldlichtkerze befreit werden. Es sieht danach aus, als wenn die freie Zaubererwelt endlich ein Mittel gegen Ladonnas Vormarsch in der Welt besitzt. Doch wissen die Eingeweihten, dass sich Ladonna das nicht lange gefallen lassen wird.

Ein Ultimatum ihrer Unterworfenen an die noch widerstrebenden Zaubereiministerien lläuft am ersten Juni ab. Als dieses endet umschließt sie alle ihr nicht folgenden Länder mit einem Wall aus dunkler Magie, der alle mit Zauberkraft begabten Wesen zurückhält. Sie geraten in einen Strudel ihrer schlimmsten Träume und können nicht mehr weiterreisen. Wer appariert wird als unbefugt markiert und so leichte Beute für Ladonnas hörige Ministeriumsbeamten.

Der Unmut über das Eingesperrtsein bringt die über viele Jahrzehnte still und zurückhaltend bestehende Gruppierung Sanguis Purus, einen Verbund aus sich für absolut reinblütig haltende Zaubereifamilien darauf, gegen die bisherige Amtsführung von Ministerin Ventvit aufzubegehren. Sie werfen ihr eine unerträgliche Bevorzugung menschengestaltlicher Zauberwesen vor. Da Ladonna veelastämmig ist wird Ministerin Ventvit als zu schwach gegen Ladonna betrachtet und ja, auch weil sie eine Hexe ist als angebliche Helferin Ladonnas bezeichnet. Weil sie dennoch nicht auf ihr Amt verzichten will will Sanguis Purus das Zaubereiministerium stürmen und besetzen. Doch dort weiß man sich zu wehren. Alle 3000 Aufständischen können gestoppt und lebendig festgesetzt werden.

Mit Hilfe der Veelastämmigen kann der von Ladonna errichtete dunkle Grenzwall niedergerissen werden. Die dabei freigesetzten Kräfte rauben Ladonna das Bewusstsein. Sie meint, die von ihr selbst getötete ältere Schwester Regina zu sehen und zu hören, die als Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen auf ihre jüngere Schwester wartet, um mit ihrer Seele zu verschmelzen.

Ladonna versucht auch, mit einem großangelegten Angriff auf die technische Zivilisation, die ihrer Meinung nach unnatürliche und anmaßende Lebensweise der magielosen Menschen zu ändern. Sie nutzt einen Kongress von Verkehrspiloten, um diese mit ihrem Feuerrosenzauber zu unterwerfen. Sie will sie dazu bringen, wie die Terroristen des 11. Septembers mit vollgetankten Flugzeugen in wichtige Gebäude hineinzufliegen, vor allem nicht mit Atomkraft betriebene Elektrizitätswerke und Stromverteiler. Gleichzeitig will sie mit einem besonderen Pilz, der jede Flüssigkeit vollkommen unentflammbar macht, sämtliche Erdölquellen der Welt verseuchen, damit das Öl nicht mehr als Kraftstoffquelle benutzt werden kann. Weil die Piloten sich im Internet nach ihren Zielen umsehen fällt es den damit arbeitenden Hexen und Zauberern auf, und sie senden ihnen gewogene Einsatzkräfte, um die Piloten von ihrem Auftrag abzuhalten. Was die Ölquellen angeht vereiteln die orientalischen Hexen von der Schwesternschaft des grünen Mondes die Verseuchung von Ölquellen und Öllagern. Die rein technische Welt entgeht der weltweiten Verheerung, ohne davon zu erfahren.

Weil Ladonna die Veelas und Veelastämmigen als ihre gefährlichsten Feinde betrachtet hetzt sie die ihr durch den Duft der Feuerrose unterworfenen Ministerien gegen diese Zauberwesenart auf. Beinahe bricht ein Krieg zwischen Veelas und osteuropäischen Zauberstabnutzern aus. Nur die Umsicht der ältesten Veelas kann dies noch verhindern. Die Veelas werden dazu gebracht, sich möglichst vor den magischen Menschen zu verstecken.

Nachdem diese sehr bedrohlichen Ereignisse überstanden sind hoffen die nicht unter Ladonnas Herrschaft stehenden darauf, weitere Ministerien zu befreien. Doch die Begehrlichkeit zweier nichtmenschlicher Organisationen droht die Welt wie wir sie kennen zu verheeren.

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Südliches Ägypten, zweiter Mondzustand im 3. Mond des 3. Jahr des Reiters der großen Schlange

Niemand dort unten sah ihn, den Lenker eines geflügelten Wagens, der von drei ebenso geflügelten Ochsen gezogen wurde. Tausend seiner Ellen tief unter ihm liefen abertausend Männer in der Gluthitze der weiten Wüste umher und gruben mit ihren Schaufeln an einem vierseitigen Loch, das immer tiefer in den Sand und das Gestein der hier herrschenden Wüste hineingetrieben wurde. An der tiefsten Stelle sah er fünf Männer, die mit Wasserwaagen und Richtungseisen hantierten, um die Ausrichtung zu prüfen. Dort unten, zwölf mal zwölf Manneslängen unter der Sandoberfläche, sollte in nur wenigen Jahren eine Kammer aus mächtigem Gestein errichtet sein, die von innen mit Platten aus purem Golde ausgekleidet sein sollte. Nach seinem ganz eigenen Bauplan würden von dort aus haardünne Stränge aus Gold in insgesamt 1200 verschließbare Kammern um die Tiefenkammer und darüber gehen, um die dort wirkenden Kräfte zu erfassen und in der goldenen Kammer zu bündeln.

Der Lenker des fliegenden Fuhrwerkes blickte durch die Sehschlitze seiner aus getriebenem Silber gefertigten, mit Wachs und Ruß geschwärzten Gesichtsmaske, die das einzige seinen Untertanen erlaubte Angesicht von ihm bot. Leise sprach er die Worte des Falkenblickes, die der Überlieferung der mächtigen Gilde der Zauberer nach vom falkenköpfigen Gott Horus selbst gelehrt worden sein sollten. So konnte er nun so sehen, als schwebe er in nicht einmal drei Ellen höhe über dem Geschehen. Dann berührte er mit dem Stab aus dunklem Holz und mit dem in einer kleinen Glaskugel eingelagerten Blut einer großen Feuerechse seine Ohren und dachte die Worte des flüsternden Windes. Seine Ohren erbebten. Dann meinte er, in ein unverständliches Gewirr von tausend direkt um ihn herum klingender Stimmen hineinzuhören. Er richtete sein rechtes Ohr nach unten. Jetzt vernahm er die Worte der fünf Arbeiter am tiefsten Punkt.

"Ich hätte nicht gedacht, dass wir dieses gewaltige Loch wirklich so schnell graben, Anophis. Hat der allmächtige Herrscher nie gesagt, warum er diese Grube haben will?"

"Nein, hat er nicht. Nur er kennt die Baupläne und nur er gebietet über die Bauherren, die uns gebieten. Jede Frage nach dem Sinn dieser Arbeit gilt als Verrat und wird mit dem Tod bestraft, heißt es."

"Anophis, du merkst doch, dass dieses Loch wohl ein Grab sein soll, ähnlich den steinernen Gebäuden, die unsere Vorfahren errichtet haben. Dann muss es auch entsprechend gebaut werden", sagte der andere Arbeiter. Sein Arbeitsgefährte legte seine Finger auf den Mund und zischte dann: "Frag bloß nicht weiter. Wenn einer der Zauberer des Königs in der Nähe ist hört der dich noch und könnte dir den Tod geben, weil du so neugierig bist, Noris."

"Irgendwann wird der König auch uns einfachen Arbeitern verraten, was genau er haben will", erwiderte Noris, während die drei anderen schnell und kraftvoll weiterarbeiteten.

"Mein Gebieter, Herr des Stromes und der Sonne, die wilden Völker aus den Mittagslanden rücken auf das Haus der Ruhe vor!" hörte der König die sehr beunruhigt klingende Stimme seines Getreuen Resophis in seinem Geiste. Wagten es wieder jene Könige aus den Reichen der dunkelhäutigen Stämme, seine Herrschaft zu verhöhnen? Doch wer hatte denen den Ort des Hauses der Ruhe verraten? Er musste dort hin. Die Arbeiten hier würden auch ohne ihn weitergehen. Was diesen neugierigen Gräber und Steineklopfer Noris anging würde er sich noch einmal mit dem hier tätigen Bauleiter beraten. Jetzt galt erst, vor Ort zu sein, um den frechen Überfall der Südländer zurückzuweisen, am besten so, dass diese niemals mehr wider ihn und seine Untergebenen vorrückten.

Wütend lenkte der König das geflügelte Gespann so, dass es mit fünffacher Mannesschrittgeschwindigkeit von der gewaltigen Baugrube fortflog. Er nahm über den Weg der sprechenden Gedanken Verbindung mit seinem Getreuen am Haus der Ruhe auf und fragte, wer genau die Frechheit wagte, dort anzurücken. "Es ist der Gebieter der Regenmacher, die aus den gewaltigen Wäldern tief in Mittagsrichtung stammen. Offenbar hat deren Knochenwerfweissagerei ihm eingeredet, jetzt einen entscheidenden Schlag zu vollführen, o mein Gebieter."

"Dann wird der Häuptling der Regenleute merken, wie unzuverlässig seine niederen Gottheiten die Zukunft verkünden", erwiderte der König und lenkte sein Gespann so, dass er in halber Mittags- und Abendrichtung weiterflog. Dann rief er über den Weg der sprechenden Gedanken nach einem seiner an der unsichtbaren Kette des gehorsamen Geistes hängenden Gildenbrüder. Denn nur solche konnten die geheim gezüchteten Zugtiere und den durch Windzauber flugfähig gehaltenen Wagen lenken. Er verabredete sich mit ihm an einer Stelle, wo bereits vor zweihundert Sonnenkreisen mächtige Zauberhandlungen betrieben worden waren. Als er dort landete traf der gerufene Mitbruder auf seinem geflügelten Streitross ein.

"Gott der hohen Künste, König des vereinten Reiches, ich bin dein Diener", begrüßte der gerufene Diener seinen Herren und verbeugte sich tief vor ihn. Der maskierte König wusste, dass nur die unsichtbare Seelenkette diesen Mann gefügig hielt und der ihm vor zwei Jahren fast in einem Zweikampf das Leben entrissen hatte.

"Du bringst dieses Gespann in die Festung der hohen Kräfte zurück. Ich muss an einen Ort, den ich dir nicht nennen werde", sagte der König mit seiner eines Sängers gebührenden Stimme, die durch die aufgesetzte Maske jedoch geisterhaft hohl hallte.

"Dein Wort ist mein Gebot, O Herr aller Bewohner des vereinten Reiches", sagte der Unterworfene und übernahm das Flugochsengespann.

Der König prüfte den Sitz seines silbernen Kopfschmuckes mit den blauen Steinen. Nur wenige wussten, dass diese Zierde gleichfalls ein mächtiger Schutz vor bewaffneten und zauberischen Angriffen war. Als er sicher war, dass er bestens beschützt war besann er sich auf einen in den Farben frischer Ufergräser gehaltenen Raum, dem einzigen, wo jemand nach dem zeitlosen Schritt erscheinen konnte. Dann hob er seinen Zauberkraftausrichter und vollführte eine schnelle drehbewegung, um die Ströme des Raumes und der Zeit um sich anzuregen. Keinen Herzschlag später stand er nach dem Durchstoß der pechschwarzen Enge im grasfarbenen Raum. Eine Klangschale ertönte und verkündete die Ankunft des Herrschers.

"Resophis, wo stehen die Unholde?" fragte der König in den Ankunftsraum hinein. "Unsere gehorsamen Beobachter schweigen. Womöglich sind sie von den Regenleuten vom Himmel geschossen worden. Denn die haben auch die Kunstfertigkeit von Pfeil und Bogen erlernt", hörte er aus einer der Wände die Antwort. Sofort lief der König zu einer in einen tiefen Schacht führenden Treppe und eilte hinunter. Dabei ließ er seinen Zauberstab mit den Worten des begleitenden Lichtes sonnenfarben erstrahlen. Als er vor einer steinernen Tür mit silbernen Beschlägen eintraf betrachtete er die darin eingravierten Zeichen, die einen mächtigen Zauber bedingten, der nur von jenem gebrochen oder zeitweilig eingeschläfert werden konnte, der ihn eingerichtet hatte. Der König, der sich selbst seit seiner Thronbesteigung Schlangenreiter oder Sohn der gefangenen Sonne nannte, trat an die Tür heran und zog den aus tiefschwarzem Stein geformten Opferdolch aus einer Scheide aus der Haut eines mächtigen Feuerbläsers. Mit der hauchdünnen Klinge brachte er sich eine blutende Armwunde bei und ließ das Blut vor der Tür in einen Kreis aus den Zeichen für Hingabe, Herrschaft und Bewahrung tropfen. Der Kreis glomm im Farbton des tropfenden Blutes auf. Dann erbebte die steinerne Tür. Leise schabend schob sie sich zur Seite und gab den Blick in eine mit Silberplatten ausgekleidete Kammer frei.

Im Zauberlicht des Königs sah dieser die am Boden befestigte Bettstatt, die in einem dunklen Rotton glomm und gerade wieder heller erstrahlte. Auf dem Bett lag, nur in ein dünnes Baumwolltuch gehüllt, ein junger Mann wie gerade erst verstorben. Doch er war nicht tot. Kurz vor dem Tode dessen Vaters hatte ihn der amtierende König unter dem Vorwand, ihn auf die Thronübernahme vorbereiten zu wollen, aufgesucht und dann mit den Worten des ewigen Schlafes belegt. Danach hatte er einen beinahe gleichaussehenden Knecht an die Stelle des Thronfolgers gesetzt. Als der letzte König Amenemhet endgültig zu den Göttern berufen worden war hatte jener Täuscher verkündet, dass der alte König nicht ihm, sondern dessen mächtigsten Zauberpriester die Königswürde zugesprochen habe und er, Sesostris, als Hüter der südlichsten Festung des wiedervereinigten Reiches walten sollte. Drei Sonnenkreise war das nun her. Seit dieser Zeit schlief der wahre Kronprinz im nur durch den Tod des Machtergreifers endenden Schlaf. Er durfte nicht sterben, weil das Blut der Königsfamilie nicht versiegen durfte. Das hatte der oberste Priester des Totengottes Seth verheißen. Nur solange das Blut der Erretter in den Adern eines würdigen floss würde das Reich bestehen.

"Es ist sicher kein Zufall, dass diese Regenleute das Haus angreifen wollen. Irgendwer hat deren Trommeltänzern verraten, dass es ein mächtiges Geheimnis birgt", dachte der Reiter der großen Schlange. Als er sah, wie alle fünf Atemzüge das magische Licht der Bettstatt heller und wieder dunkler wurde, also das Herz des verzauberten Prinzen ganz langsam schlug. So gebot der an seiner Stelle herrschende Zauberkönig der Tür, sich wieder zu verschließen. Nun konnte niemand mehr in diese Kammer, bis er, der König, ein neues Blutopfer brachte.

Er belegte sich mit dem Zauber des schnellen Jägers, der seine eigene Handlungsgeschwindigkeit verzehnfachte, jedoch zum Preis, dass er in diesem Zustand keine anderen Zauber wirken konnte. Derartig beschleunigt eilte er nun die Wendeltreppe hinauf und bis in die Spitze des mitten aus dem Haus ragenden Beobachtungsturmes. Dort erst hob er den Beschleunigungszauber wieder auf. Er fühlte, dass ihn dieser stark erschöpft hatte.

"Resophis, sind die Feuerlöwen erwacht?" fragte der König seinen Statthalter. Dieser sah das schwarzmaskierte Angesicht seines Herren an und erwiderte: "Die Hüter der Feuerlöwen haben schon zwanzig von ihnen aufgeweckt und um das Haus versammelt. Außerdem habe ich hundert steinerne Krieger aufgeweckt. Die Regenleute können kommen und werden dann eins mit dem Sand der Wüste sein." Sein Herr und Gebieter schwieg. Dass er überlegen lächelte konnte Resophis nicht sehen.

Die mächtige Sonne war bereits bis auf eine Handbreit über dem Saum von Himmel und Erde herabgesunken, als die Warnhörner tönten. Die Feinde kamen. Sie ritten auf Rüsselträgern, die durch irgendeine Macht ausdauernder und schneller gemacht worden waren. Also kannten auch die in den unergründlichen Riesenwäldern wohnenden Völker die Geheimnisse der formbaren Tierwelt. Also hatte auch dort das Götterreich seine Boten hingeschickt, um das alte Wissen zu lehren, dachte der König. Dann befahl er mit dem Zauber der überall hörbaren Stimme den Angriff der steinernen Krieger und der geflügelten, Feuer speienden Löwen.

Wahrhaftig waren auch Kundige der mächtigen Zauber der vier Grundkräfte unter den Angreifern, die aus heiterem Himmel gleißende Blitze herabriefen und Feuerkugeln auf die Gegner schleuderten. Doch die steinernen Krieger glühten nur sonnenaufgangsfarben auf, und die geflügelten Löwen labten sich an den ihnen entgegenfauchenden Vernichtungsfeuern.

Der König wandte erneut den Falkenblickzauber an, um zu erspähen, wer dieses freche Volk wider ihn führte. Gleichzeitig war er auf der Hut vor hinterhältigen Kleintruppen, die den großen Angriff als Ablenkung nutzten, um heimlich in das Haus der Ruhe vorzudringen. Der König sah einen dunkelhäutigen Mann in einem einfachen Umhang aus dem Fell einer dunkelfarbigen Großkatze. Dieser schlug mit Schlegeln aus geschnitzten Knochen auf eine Trommel. Offenbar trieb er damit seine Leute zum ausdauernden Kampf an. Dann hörte der König, wie rechts neben ihm ein Beobachter aufstöhnte. Er blickte ihn an und sah dessen Augen erglühen, als bestünden sie aus glimmenden Kohlen. Dann sah er, wie der Beobachter einen langen, schwarzen Dolch freizog und auf den König zusprang. Die Klinge schnellte nach vorne und traf auf den unsichtbaren, durch den Tod von zehn Geopferten errichteten Schutzwall. Blaue und rote Blitze zischten über die Klinge, den Griff und den führenden Arm hinweg und entluden sich laut krachend im Körper des heimtückischen Angreifers. Der König lachte. Dann sah er, wie aus dem Mund des Verräters grauer Dunst drang, der sich unter sonnenaufgangsfarbenen Funken zu einer geisterhaften Erscheinung formte. Der Verräter indes fiel tot und mit verkohlter Haut zu Boden. "Dann stirb eben durch meine ganze Kraft", hörte der König eine bedrohliche Stimme aus dem grauen Dunstwesen dringen. Blitze umtobten ihn krachend und knatternd. Doch sein unsichtbarer Schild hielt den nun rein magischen Gewalten stand. "Ah, haben dich die Trommeltänzer gerufen, um mich und die meinen zu töten, kleiner Geisterknecht?" fragte der König. Der gefragte schnaubte mit körperloser Stimme: "Ich bin nicht klein, unwissender Fleischling. Auch wenn du im Schutz der hingegebenen Leben stehst, werde ich dich zermalmen und dann den Schatz heben, den meine Gebieter in diesem Haus wissen."

"Du wirst mir wohl nicht verraten, wie du heißt, du rastloser Rachegeist?" fragte der König ungeachtet, dass nun silberne Flammenzungen nach ihm griffen und harmlos von ihm abglitten. "Nein, werde ich nicht. Den Namen kennen nur die mächtigen Hüter der alten Worte, und das sind schon zu viele", schnaubte der Rachegeist. "Ich bin der letzte Besucher, der Vollstrecker der Vollstrecker. Mehr hast du nicht zu wissen, bevor du stirbst und dein inneres Selbst in mir zerfließen wird."

"Das du nicht da dem größten Irrtum deines Daseins unterliegst, Rachegeistchen", erwiderte der mächtige König. Dann hielt er seinen Kraftausrichter vor sich und sprach die nur der Bruderschaft der Totenkrieger bekannten Worte des gehorsamen Geistes. Der Feind erbebte, stöhnte und knurrte. Dann flackerte er im Licht des freien Tageshimmels und blähte sich auf um wieder bis auf Fingerlänge zu schrumpfen. Er schrie und brüllte. "Verrate mir deinen wahren Namen, fleischloser Knecht!" gebot der König. Der vom Zauber des gehorsamen Geistes gepeinigte schrillte und röhrte, je danach, ob er gerade wieder winzig klein oder riesenhaft groß war. Mehrere Atemzüge lang dauerte der Kampf, dann presste der himmelsfarben leuchtende hervor: "O-Tschun-guuu!!" Er versuchte, den König mit seinen dunsthaften Händen zu ergreifen. Doch unter den zehn geopferten Menschen, die den Schutz des Königs boten, waren auch zwei, die durch Seelenkrafterschöpfung gestorben waren. Dagegen konnte kein Geist ankämpfen, ohne das eigene Dasein zu verwirken. Der König wunderte sich eh, dass dieser Gegner immer noch vorhanden war. Eigentlich musste der doch erlöschen, sobald er länger als zwei Herzschläge versuchte, den Leib oder die Seele des Königs zu peinigen. Also hatten diese Trommeltänzer einen wirklich mächtigen Gefolgsgeist beschworen.

"Gut, Otschungu, letzter Besucher, Vollstrecker der Vollstrecker, vergehe oder kehre in die Gefilde jenes Ortes ein, der deine Heimstatt ist und bleibe dort hundert Sonnenkreise!" befahl der König. Der gegnerische Geist erstrahlte noch heller und sprühte Funken. Er wehrte sich gegen den Befehl, zu vergehen. Dann knisterte es, und der Gegner war weg. In der Luft hing ein Geruch wie unmittelbar nach einem eingeschlagenen Blitz. Der König hatte jedoch auch verspürt, dass der körperlose Feind nicht erloschen war, sondern in Gedankenschnelle wie mit dem zeitlosen Schritt von diesem Ort verschwunden war, wohl um den zweiten Befehl zu befolgen und in seine Heimstatt zurückzukehren. Doch irgendwie war dem König, dass der kriegerische Geist keine hundert Sonnenkreise dort verbleiben würde. Der war irgendwie mächtiger als alle Geister zuvor.

Der König wollte nicht noch einen ihn bedrohenden Geist abwehren. Er befahl einer Rotte geflügelter Löwen, den Trommler anzugreifen und zu töten. Dieser versuchte noch, einen Wall aus kreisendem Wasser um sich zu erschaffen. Doch gegen die Flammenstöße der Feuerlöwen hielt dieser keine drei Herzschläge. Beim vierten Herzschlag verging der Trommler zu nichts als glühender Asche. Kaum war er vergangen, wich mit lautlosen blutroten Blitzen alles Zauberwerk aus den grauen Rüsselträgern. Diese erlahmten und wurden so zur leichten Beute der aus der Luft niederstoßenden Feuerlöwen. Die zu Fuß kämpfenden Krieger fielen den steinernen Kriegern des Hauses zur Beute. Nach zweihundert weiteren Atemzügen lebte kein Feind mehr. Auch war kein weiterer Kriegergeist erschienen, um den König zu bekämpfen. Dieser rief den Sieg aus.

"Finde mir den, der diesen Waldmännern verraten hat, dass es in diesem Haus was wertvolles zu finden gibt!" befahl der König seinem Statthalter Resophis. Er wollte nicht zugeben, dass ihm dieser Angriff mehr Unbehagen bereitete als er je gefühlt hatte. Allein schon dass die Feinde einen übermächtigen Geist in ihren Dienst zwingen konnten, den er nur vertreiben, aber nicht vernichten konnte, machte ihm sehr große Sorgen.

Als der König vom grünen Ankunfts- und Abreiseraum in seine eigene Herrschaftsstätte zurückgekehrt war rief er sofort den Rat der Kundigen zusammen, alles ihm treu ergebene Zauberpriester. Er erwähnte den Angriff der Regenleute und dass sie einen mächtigen Geisterkrieger in ihren Dienst gezwungen hatten. "Der letzte Besucher. Dieser Name ist mir bekannt, wenngleich ich ihn für eine reine Drohung hielt", bemerkte ein Vertrauter der rastlosen Seelen, von dem der König einst als Schüler die Worte der Seelen- und Geisterbeherrschung erlernt hatte. "Es heißt, dieser lebensraubende Geist könne in jeden lebenden Körper einfahren und ihn sich untertan machen, wie es auch von den Geistern ehemaliger Mitternachtszauberer beschrieben ist. Außerdem kann er mit der Kraft der bewegenden Gedanken an lebende und tote Dinge rühren und sie nach seinem Willen lenken, formen und zerstören. Er soll dabei Spuren wie von gewaltigen Löwen oder gefleckten Großkatzen hinterlassen. Aber dessen Namen wusste ich bis heute nicht."

"Ja, aber es war sein wahrer Name, weil er sonst nicht dem Befehl an die rastlose Seele gehorcht hätte", erwiderte der König.

"So müssen wir auf der Hut vor Otschungu sein", sagte ein anderer der mächtigen Zauberer. "Erst einmal haben wir Ruhe vor ihm", erwiderte der König nicht so sicher wie er klingen wollte. Doch niemand wagte, ihm zu widersprechen.

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An der künftigen Grabstätte des Reiters der großen Schlange, 2. Mondphase im 4. Mond des 5. Herrschaftsjahres

Die Arbeiten schritten schneller voran, seitdem der Nachfolger Amenemhets auch steinerne Krieger einsetzte, um die gewaltigen Steine heranzuschaffen. Die goldene Kammer war von ihm selbst vollendet und mit den ersten bindenden Zaubern besprochen worden. In der Mitte der von ihm von außen verschlossenen Kammer stand ein Tisch, der aus vergoldetem Stein geschaffen war. Einen Sonnenkreis hatten er und drei ihm hörige Steinmetze daran gearbeitet, bis die von ihm unterworfenen Goldschmiede den Tisch vergoldet hatten. Hier, in dieser Kammer, würde sein einbalsamierter und verbundener Leib ruhen, jedoch nicht in einem steinernen Totengefäß wie viele seiner Vorgänger. Die ersten zwei Dutzend Stockwerke waren auch schon fertig und von seinen hörigen Baumeistern mit jenen goldenen Strängen ausgestattet worden, die ihm einst helfen sollten, die mächtige Kraft zwischen Leben und Tod schwingender Seelen aufzunehmen und zu bündeln.

Um all dieses zu verrichten herrschte er sehr streng und gnadenlos. Niemand kannte noch seinen Geburtsnamen, auch die ihm zuarbeitenden Zauberer und Priester nicht. Einer von ihnen stand mit Seth selbst in Verbindung und beriet den König, wie er sich den mächtigen, wahren Gott gewogen halten konnte. Niemand wagte es, sich gegen ihn aufzulehnen, weil jeder fürchten musste, von den aufmerksamen Schatten belauscht und beobachtet zu werden, die dem König berichteten, wer in seinem Reich für oder gegen ihn sprach oder handelte. So hielt er das Reich zusammen, mit Feuer, Blut und abertausend Tränen. Dabei wussten die alle nicht, welche Gnadenlosigkeit er noch offenbaren würde, um sicherzustellen, dass seine Herrschaft ewig währen würde.

"Die Steinernen sind ein wahres Geschenk des allerhöchsten, mein König", pries sein ebenfalls zauberkundiger Baumeister die Arbeit der zwei Männer großen Steinkrieger. "Mit deren Hilfe können wir in nur sechs Sonnenkreisen das in die Erde getriebene Stufengrab vollenden und für deine letzte Ruhe vorbereiten, auf dass diese erst in hundert mal hundert Sonnenkreisen beginnen möge."

"Auch wenn mir die unbegabten Knechte und Mägde nicht gefährlich werden können muss ich doch jeden Tag mit meinem Ende rechnen", knurrte der König. "Daher soll dieser Bau so schnell es geht vollendet und vorbereitet werden." Der Baumeister bestätigte es. Denn er gehörte zu den wenigen, die um die übernatürlichen Feinde wussten, die dem König gefährlich werden mochten.

Nachdem der König die Kinder Akashas, der ersten Mutter der Nacht, aus seinem Reich vertrieben hatte mochten diese auf den Tag der Rache hoffen. Auch die Begegnung mit Otschungu hatte dem fast zu selbstherrlichen König verdeutlicht, dass es noch andere sehr mächtige Zauberkundige gab. Auch störte ihn, dass außerhalb seines Reiches auch Frauen lebten, die auf ihre eigene Weise die Pfade zur Macht über Zauber beschritten und ihn, den ungeliebten König, irgendwann mit ihrer der Neith oder der Isis entspringenden Kraft bedrohen konnten. Von einer bestimmten hatte er gehört, dass diese sich als Herrin des Lebens verstand und angeblich ohne männlichen Samen eigene Kinder hervorbrachte, natürlich nur Töchter. Aber seine Kundschafter, die er in die benachbarten Reiche ausschickte, hatten ihm bisher nicht verraten, ob an dieser Geschichte etwas dran war oder nicht.

Jedenfalls bereitete er sich darauf vor, seine Vorstellung von einem ewigen Leben zu verwirklichen. Weil das bisher niemand gewagt hatte wusste auch niemand, ob es wirklich gelingen mochte oder nur eine Wunschvorstellung war. Doch die alte Kunst der dunklen Zauberkundigen, durch die Opferung anderer, unschuldiger Leben einen eigenen Schutz zu erschaffen deutete darauf hin, dass genug an Stelle des zu schützenden sterbende Menschen den zu schützenden selbst vor jedem Tod bewahren oder ihn aus der Unterwelt zurückholen konnten, auf dass er ewig weiterleben konnte. Dafür ließ er jene den alten Grabmälern der Vorzeit nachempfundene Grabstätte errichten, die jedoch nicht dem Himmel zugekehrt war, sondern in den ewigen Schoß von Mutter Erde selbst hineinreichte. Dort wollte er zur Ruhe gebettet werden um wie ein ungeborenes Kind im Leibe der Mutter neu heranzureifen, um als wiedergeborener, ewiger Herrscher ans Licht der Sonne zurückzukehren, um den Lichtgöttern zu trotzen, ja ihre Macht auf Erden endgültig zu brechen. Er hoffte darauf, dass Seth, der einzig wahre Gott, mit ihm war. Doch nur wenn der einzige mit ihm in unmittelbarer Verbindung stehende Priester von Seth selbst heimgerufen werden würde, so durfte der König die alte Schrift lesen, die ihm verriet, wie er selbst zum obersten Priester des allmächtigen Herren über die Welt der Toten werden konnte. Er hoffte, dass dies noch vor seinem eigenen körperlichen Ende eintreten würde. Doch er durfte bloß nicht selbst Hand an den obersten Priester legen oder ihm mit Gift oder einem gedungenen Mörder das Leben entreißen, weil Seth ihm dies dann sicher übel vergelten würde. Weil der oberste Priester dies wusste konnte der sich in Ruhe im Schatten des Königs verbergen und seine eigenen Vorhaben vorantreiben, die über die Zeit des amtierenden Königs hinausreichen sollten.

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Am Stufengrab des finsteren Pharaos, Mitternacht nach der großen Flut im 12. Jahr seiner Herrschaft

Der König stand auf der vor dem Sand bewahrten Bodenplatte aus vielen hundert dunklen Quadern, in deren Oberfläche die Zeichen der Anrufung, des Lebens und der Bewahrung eingeschrieben waren. Vier mächtige Falltüren führten in das innere des Stufengrabes. Heute, nach Vollendung des Baus, konnte er endlich die letzten Vorbereitungen treffen, um dort nach seinem Tod neu zu erstehen. 400 der 1200 besonderen Kammern würde er heute ihrer Bestimmung zuführen.

Viele Eingeweihte in den hohen Künsten wussten, dass ein dem Himmel entgegengerecktes Stufengrab die Kräfte von Himmel und Erde bündeln konnte. Der finstere König ging davon aus, dass sein in die Tiefe Erde hineingebautes Grab die Kräfte der Erde aus allen Teilen der Welt zusammenfügen und auf ihn übertragen konnte. Doch dafür mussten laut seinen eigenen Nachforschungen genausoviele unberührte Knaben vom Tag der Geburt bis zur Mannbarkeit wie er selbst Monde alt war zeitgleich ihr Leben geben, auf dass ihre Seelen ihm die nötige Kraft gaben, um wieder aufzuerstehen.

Vierhundert Monde lebte er nun, jener, der sich auch Sohn der gefangenen Sonne nannte, weil er am Tage einer vollständigen Sonnenfinsternis geboren worden war. Also musste er nun vierhundert unberührte Knaben opfern. Seinen Nachforschungen nach mussten sie wie das Stufengrab selbst auf bestimmten Altersstufen sein. Zwölf Altersstufen vom Neugeborenen bis zum ersten sprießenden Gesichtsflaum galt es zu bedenken.

Ihm treue Heeresknechte brachten ihm die vierhundert in allen Teilen des Landes gesammelten Knaben. Er selbst hatte nach Sonnenuntergang einer hochschwangeren Magd ihr Kind aus dem Leibe geschnittenund es mit den Worten der Erstarrung vor dem vorzeitigen Tod bewahrt, bevor er die Magd selbst mit den Worten des Todes aus dem Leben gestoßen hatte. Er hatte erst gefürchtet, dass das Kind der Magd ein Mädchen sein mochte. Doch sie hatte einen Jungen unter ihrem nun nicht mehr schlagenden Herzen getragen, also genau das Leben, dass er jetzt opfern musste, bevor die vierhundert anderen Opfer in den Kammern der ewigen Bewahrung zeitgleich sterben mussten.

Durch eine der vier in die genauen Himmelsrichtungen weisenden Falltüren betrat der König mit dem in einem kugelförmigen Tongefäß eingebetteten Kind der Magd sein künftiges Grab. Er prüfte noch einmal die Kammern und Gänge. Die hier wirkenden und nach seinem Tod erwachenden Fallenzauber kitzelten seinen Geist. Wenn erst die letzte Tür über ihm geschlossen wurde mochte niemand mehr außer ihm in dieses Bauwerk vordringen und ihn stören oder ihm die geopferten Seelen entreißen.

In der goldenen Kammer vollendete er den ersten Abschnitt seines höchst grausamen Werkes, indem er den seiner Mutter noch vor der Geburt entrissenen Knaben erst aufweckte und dann in einer Abfolge von Sprüchen und Handlungen den dunklen Mächten darbbrachte, auf dass diese ihm dadurch und durch die kommenden Opfer neues Leben gewähren mochten. Dabei stieß der zwischen Reifung und Geburt entrissene Knabe den zugleich ersten und letzten Schrei seines Lebens aus. Als habe er damit die bereits lauernden Mächte in der Kammer gerufen erstrahlte der vergoldete Tisch in blutrotem Licht. Wie in flammenlosem Feuer verging der ausgeblutete Körper des vor der Zeit auf die Welt geholten und daraus hinausgestoßenen Knabens, wurde eins mit dem blutroten Schimmer, der den Tisch überzog. Dann pulsierte das Leuchten im Takt des Herzens des Schlangenreiters.

Bringt die anderen herein und schließt sie in den Kammern ein!" rief der König in leere Luft. Doch weil in dieser Kammer die Worte des weit tragenden Windes wirkten wurde er in allen Räumen und Gängen des unter die Erdoberfläche getriebenen Stufengrabes gehört.

Er sprach nun die worte des Lebensopfers und gab dafür eigenes Blut an den Tisch ab, um ihn endgültig auf sich einzustimmen. Als er hörte, dass alle vierhundert Knaben in vorbereiteten Kammern waren befahl er, die Kammern zu schließen. Dann gebot er, dass die eingeschlossenen Opfer im selben Augenblick den Tod fanden. Dies führte zu einem spürbaren Erzittern des gesamten Stufengrabes. Bahnen aus rotem Licht flossen aus allen Richtungen in die goldene Kammer hinein und verbanden sich am leuchtenden Tisch. Der König fühlte, wie in ihm der Drang erwachte, sich auf den Tisch zu legen und die nun fließende Lebenskraft in sich aufzunehmen. Doch das mochte seinen Körper zerstören und seine eigene Seele als rastlosen Geist in diesem Grab gefangenhalten. So verließ er schnell die goldene Kammer und schloss diese von außen. Er sah, wie pulsierende rote Lichtbahnen in den Wänden glühten. Die Kraft von vierhundert unschuldigen Knaben sammelte sich nun in der goldenen Kammer.

Da er nicht wollte, dass seine Heeresknechte weitergaben, was sie in seinem Namen hatten tun müssen gebot er den auf seine Stimme eingestimmten Türen, sich zu schließen. Seine hörigen Heeresknechte würden es nicht wagen, sich dagegen zu wehren. Dann befahl er noch, in die Gänge und Kammern, in denen keiner der gerade verstorbenen Knaben eingesperrt war, den Rauch des raschen Todes einzublasen. So mochten die ihm dienenden Heeresknechte ebenfalls sterben, auch wenn ihre Seelen nicht zu seiner Lebenserhaltung beitragen mochten. Was er nicht wusste war, dass sein Stufengrab nicht so versiegelt war, dass keine Angst- und Todesempfindungen hinausdringen konnten. Auch wusste er nicht, dass bereits jemand darauf wartete, ob sein Werk erfolgreich war oder nicht.

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einen Mondzustand später

Seitdem der Reiter der großen Schlange es verspürt hatte, dass sein dunkles Werk erfolgreich vollendet war war er eigentlich nicht mehr in Sorge. Doch als er fühlte, dass eine andere Kraft sich wie ein Blutegel oder wie eines dieser die Sonne fliehenden Kinder der Nacht daran labte und er nicht wusste, wieso dies geschah bekam er doch Angst. Aus der Angst wurde Vergeltungswut. Wer immer da seine Kraftquelle anzapfte wie ein Bierfass oder das Euter einer Ziege sollte das lassen oder sterben.

Als er mit einer Flugbarke mit sechs vorgespannten Feuerlöwen seine künftige Grabstätte erreichte sah er eine wunderschön gestaltete, blutjunge Nubierin. Er fühlte, dass sie eine besondere Ausstrahlung besaß und ahnte schon, mit wem er es zu tun hatte.

"Wer bist du, Schwarzhäutige? Was wagst du, die Stätte meiner langen Ruhe zu stören, in dem du ihre Kräfte anrührst?" rief ihr der finstere König mit durch die Kraft verstärkter Stimme zu. "Dies will ich von dir wissen, bevor meine getreuen Helfer dich in ihrem Atem verbrennen oder zerreißen."

"Deine Ruhestatt wird dich nicht neu erstehen lassen, Schlangenbändiger. Aber ihre Kraft nährt mich und hält mich am Leben", antwortete die Fremde. Dann blickte sie den ersten der vier Feuerlöwen an. Offenbar wollte sie ihm einen gedanklichen Befehl erteilen oder ihn mit ihrem Blick töten. Doch das gelang nicht. Da erkannte der finstere König, mit wem er es zu tun hatte.

"Du widerliche Ausgeburt der Unterwelt. Auch wenn du eine Tochter Seths bist werden meine Helfer dich töten, falls ich dich nicht töte. Du hast hier nichts verloren, Weib!"

"Doch, meine Geduld, Schlangenreiter!" rief sie zurück. Diese Frechheit durfte er nicht ungestraft lassen. Er löste die Halterungen für die geflügelten Löwen. Diese griffen sofort an. Doch die Feuerstrahlen aus den Mäulern der Löwen vernichteten die Fremde nicht. Diese wandelte sich sogar in eine überlebensgroße Fledermaus mit tiefschwarzem Fell und stieß einen in seinen Ohren stechenden, fast unhörbar hohen Schrei aus. Der verwirrte die angreifenden Löwen, deren Ohren noch empfindlicher waren als seine. Das nutzte dieses Ungeheuer aus, um einem der sechs Löwen die Kehle durchzubeißen. War die also eine Sendbotin der Urmutter aller blutsaugenden Nachtkinder?

Mit wachsender Angstwut sah der König, wie dieses Ungetüm einen weiteren seiner Feuerlöwen anblickte, der daraufhin in einem gleißenden blauen Feuerball verglühte. Dieses blaue Feuer war offenbar so heiß und mit Zauberkraft angereichert, dass es selbst die gegen natürliches Feuer gefeiten zwei nächsten Löwen erfasste und bei lebendigem Leib verbrennen ließ. Die beiden noch verbliebenen Löwen zerbarsten keine drei Atemzüge später im selben gleißenden blauen Feuer. Die überlebensgroße Fledermaus wurde von der Flammenkugel umschlossen. Doch ihr machte es nichts aus. Im Gegenteil. Sie schien sich an dieser Lohe zu laben.

"Du bist eine Sendbotin der Unterwelt, eine Tochter der dunklen Mutter, die die Menschen jagd, um ihre Seelen zu trinken", rief der finstere König der Fledermaus zu. "Doch die Worte des Todes werden dich treffen." Er hob seinen Zauberstab an. Er vertraute darauf, dass sein Kopfschmuck der fremden widerstehen mochte, welche Gewalt auch immer sie gegen ihn anwandte. Er rief das erste von drei Worten, mit denen er den schnellen Tod herbeiführen wollte. Doch diese Worte wirkten nicht. Als er das dritte Wort rufen wollte war die riesenhafte Fledermaus über ihm. Als er sah, wie sie ihr Maul um seinen Hals schloss erkannte er, dass irgendwas mit seinem Schildzauber nicht stimmte. Das war dann auch der letzte Gedanke, den er in seinem angeborenen Körper dachte. Denn er fühlte, wie sein Hals durchtrennt wurde und wie es ihn aus seinem Körper löste. Er sah als entleibter Geist noch seinen Zauberstab aufglühen und sah, wie sein silberner Kopfschmuck zerfiel. Da erkannte er, dass es nicht der Kopfschmuck war, den er bis dahin getragen hatte. Doch im Augenblick hatte er ganz andere Sorgen. Etwas zog ihn mit Urgewalt in Richtung seiner künftigen Grabstätte, in die er doch mit seinem Körper hineingelegt werden wollte. Er rief rein gedanklich: "Nein, nicht auf diesem Weg! Nein, Seth, großer Meister, sei mir gnädig!" Doch Seth, sein Gott und Schutzherr, erbarmte sich seiner nicht. So wurde die entleibte Seele des finsteren Königs bis in die goldene Grabkammer hinuntergezogen und prallte wie aus festem Stoff bestehend auf den rot leuchtenden Tisch. Er fühlte, wie er mit allem eins wurde, was in seinem Stufengrab von seinem Blut und seinem Wort berührt worden war. Er fühlte die gefangenen Seelen der vierhundert Knaben mit seiner Seele zusammenklingen und merkte, dass die dabei freiwerdende Kraft vervielfacht wurde. Da begriff er, dass er wohl doch noch nicht alle nötigen Vorbereitungen getroffen hatte. Denn ein Teil dieser Kraft floss nach außen ab. Das letzte woran er dachte, bevor er im ewigen Gleichklang der gefangenen Seelen einschlief war, dass dieses über hellblaues Feuer gebietende Unweib sich nun unangefochten an dieser Kraft laben konnte und ihm somit der Rückweg in die Welt versperrt bleiben mochte.

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Zur selben Zeit im Haus der Ruhe

Es war wie ein stechender Schmerz, der ihn durchbrandete. Er schrak auf und schrie laut. Als er merkte, wie unwürdig er sich benahm unterdrückte er den Schrei. Dann endlich ließ die Qual nach. Er konnte wieder zu sich finden. Er dachte an das Treffen, dass er mit Priestern seines Vaters verabredet hatte. Da war auch dieser Jüngling beigewesen, der in ein sonnengelbes Gewand gehüllt gewesen war. Dass der ein Zauberer war bekam der gerade erst wiedererwachte zu spät mit. Da hatte ihm der Verräter bereits mit einem Zauberstab erst die Bewegungsfreiheit und dann die Besinnung genommen. Ja, und nun lag er hier in einer Kammer ohne Lichteinlässe. Er war aber nicht gefesselt. Von außen hörte er Schreckenslaute und Todesschreie. Jemand rang mit dem Tode oder wurde von Feinden niedergemacht. Er musste hier heraus. Doch wenn die Kammer mit einem weiteren bösen Zauber verriegelt war? Sesostris, der wahrhaftige Kronprinz des zwölften Herrschergeschlechtes, sprang von jener Bettstatt herunter, auf der er eine ihm unbekannte Zeit gelegen hatte. Er untersuchte die Wände des dunklen Raumes, immer darauf gefasst, eine heimtückische Falle auszulösen, die seinem Leben ein jähes Ende machen konnte. Dann fand er eine Steintür. Wie konnte er die aufbekommen?

Er rief um Hilfe, auch wenn er nicht wusste, ob man ihm helfen würde. Niemand antwortete. Dann fand er die in der Innenseite eingeritzten Zeichen. Da er als künftiger Thronfolger auch in der Kunst des Lesens und Schreibens ausgebildet worden war verstand er die Bedeutung der Zeichen. Denen nach sollte alles was in dieser Kammer lebte solange unaufweckbar schlafen, bis das Blut des Machtvollen versiegte. War er der Machtvolle? Nein, er war der, der hier schlafen sollte. Doch das mit dem Blut brachte ihn auf einen Einfall. Er ritzte sich an einer Kante der ihn bis heute tragenden Bettstatt die Hand auf, dass sie blutete. Dann patschte er die rechte Hand in eine Vertiefung unter den Schriftzeichen. Er fürchtete erst, nun doch eine magische Falle auszulösen, die ihn tötete. Doch statt dessen erbebte die Tür und schob sich zur Seite. Schwacher Widerschein traf seine Augen, als blicke er in die helle Sonne selbst. Er erkannte, dass er wohl lange in diesem dunklen Raum eingesperrt gewesen sein mochte. Er schloss die Augen bis auf schmale Schlitze und verließ seinen Kerker, wohl wissend, dass er nichts am Leibe trug.

Sesostris stellte fest, dass er in einem kleinen Haus war und dass alle, die hier gewohnt hatten eines grauenvollen Todes gestorben sein mussten. Denn jeder, den er traf hatte erbleichtes Haar und lederartig getrocknete Haut. Jeder blickte aus weit aufgerissenen Augen, als sei ihm vor dem Ableben das schlimmste Grauen seines Lebens begegnet. Sesostris schüttelte sich selbst vor Grauen. Er wusste, dass wahrhafte Zauberkünstler des Seth und Diener des Götzens Apep Kenntnisse hatten, Mitmenschen ohne Klinge oder Speer zu töten, womöglich auch aus großer Ferne. Zumindest fand er in den Kleiderkammern Gewänder, die er tragen konnte. Denn ihn hielt hier nichts mehr.

Unangefochten verließ er das Haus. Kaum war er hundert Meter davon entfernt, schlugen helle Flammen daraus hervor und fauchten so hoch wie das Stufengrab des Cheops in den taghellen Himmel hinauf. Sesostris beeilte sich, von der entfesselten Urgewalt fortzukommen. Da krachte es in nicht einmal zwanzig Schritten von ihm entfernt. Ein Mann in den Gewändern eines Horus-Priesters stand dort wie aus dem Boden gewachsen. Dann krachte es erneut. Ein Mann in der Kleidung eines Seth-Priesters erschien. Beide hoben hölzerne Stäbe. Also waren es auch Zauberer. Der Horus-Priester machte eine schnelle Abfolge von Bewegungen und schaffte es, den anderen niederzuwerfen. "Er hat gedacht, dass sein Unlichtstein ihn vor der Gnade der Isis bewahrt. Aber genau diese hat ihn doch niedergeworfen", sagte der Horus-Priester. Dann sagte er noch: "Ich freue mich, Prinz Sesostris, dass ihr allen Angstreden zum Trotz nicht vom Schlangenreiter getötet wurdet. Ich bin Merapis, gehorsamer Diener der Isis und ihres alles sehenden Sohnes Horus. Ich bin hoch erfreut, dass unsere Suche ein Ende hat und dass die dunkle Prüfung endlich überstanden ist."

"Wer ist er dort, und wen meintet ihr mit dem Schlangenreiter, Priester der Isis und des Horus?" fragte Sesostris mit respektvollem Unterton. Der Priester, der zugleich auch Magier war berichtete nun in wenigen Sätzen, dass ein Thronräuber ihn, Sesostris, vor zwölf Jahren überwältigt und um sein Nachfolgerecht betrogen hatte. Offenbar hatte der jedoch Angst vor der Vergeltung des Amun, des Vorvaters aller Könige, dass er ihn nicht einfach ermorden konnte. Dann bot er dem erwachten Thronfolger an, ihn auf dem zeitlosen Weg in die Hauptstadt zurückzubringen. Sesostris hatte keine andere Wahl, als dieses Angebot anzunehmen.

Der Wiedererwachte erfuhr nun, was magieunfähigen während des zeitlosen Weges widerfuhr. Er erkannte, dass es ratsam war, sich mit wohlwollenden Zauberern gutzustellen, um nicht erneut von einem üblen Magier überwältigt oder gar getötet zu werden.

In der Hauptstadt stellte sich heraus, dass alle dem finsteren König unterworfenen im Augenblick dessen Todes innerhalb von wenigen Atemzügen um Jahrzehnte gealtert und gestorben waren, als habe jemand ihnen alle verbliebene Lebenszeit entrissen. Andere erwachten wie aus einem tiefen Traum und wussten nicht, was geschehen war.

Sesostris musste eine Probe seines Blutes erbringen, um sich als wahrer Königssohn zu bestätigen. Auch erfuhr er, dass mehrere Priester des Seth geflüchtet waren, als sie erfuhren, dass ihr König nicht mehr lebte. Er erfuhr auch, dass der finstere König eine besondere Grabstätte hatte errichten lassen, in der er noch mehr auf ein neues Leben hoffte als jeder vor ihm gestorbene Gottkönig.

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Resophis hatte eine besondere gedankliche Verbindung zu seinem Sohn, der ihm eines Tages im Amt des Hohepriesters des Seth nachfolgen und auch zum Haupt der mitternächtigen Zauberkundigen werden sollte. So hatte er mitbekommen, dass der König vor der Zeit verstorben sein musste. Der Priester hatte nur überlegen gelächelt. Es war also gelungen, die drei Verrätersteine in den Kopfschmuck des Königs einzusetzen, die nicht durch das Opfer unschuldiger Leben bezaubert worden waren, sondern durch die Worte der blutigen Sühne. Der Hohepriester hatte mitbekommen, was sein ehemaliger Schüler vorhatte. Ja, er hatte ihn sogar darin bestärkt, den dunklen Weg zu neuem Leben einzuschlagen. Hierzu würde auch die Tötung eines noch ungeboren dem Mutterschoß entrissenen Kindes gehören. Geschah dies, so verlor der Kopfschmuck seine allumfassende Schutzwirkung. Somit hätte jeder Angriff auf den König ihm den Garaus machen können und er, der Priester des Seth, hätte sein Nachfolger werden können. Er musste dazu nur den wahren Thronfolger töten lassen. Er durfte ihn nicht mit eigener Hand aus dem Leben stoßen. Doch sein Bruder konnte das tun. Allerdings hatten wohl die seit einem Dutzend Jahren im Verborgenen lebenden Zauberer der hellen Künste herausgefunden, wo der rechtmäßige Thronfolger verwahrt worden war. Er hatte den kurzen Zweikampf mit Merapis, dem Priester der Isis und des Horus, mitbekommen. Dabei war sein Bruder unter einem wie goldenes Licht erscheinendem Zauber in Ohnmacht gefallen, trotzdem er den einzig wahren Schutz gegen jedes schwächende und vernichtende Zauberwerk getragen hatte. Da wusste Resophis, dass auch sein Ring, den er nach alten Schriften selbst hergestellt hatte, ihn nicht vor der Vergeltung der Horus- und Isis-Anbeter beschützen konnte.

"Mein oberster Herr, König der längsten Nacht und Diener der alles endenden Finsternis, dein Gebot ist befolgt. Naira-Urapep, mein gelehriger Schüler, hat sein Ende gefunden. Doch unsere Gegner sind auf uns eingestellt. Jemand muss ihnen einen Weg verraten haben, auch deine Kraft des Unlichtkristalls zu überwinden. Was befiehlst du mir, deinem treuesten Diener?"

"Dieser Narr, der mächtiger als ich sein wollte hat es also gewagt, meinen Weg zu beschreiten und sich darauf eingelassen, hunderte von unschuldigen Knaben und ein Ungeborenes zu entleiben? Die Süße des ewigen Lebens ist eben doch unwiderstehlich", hörte Resophis die Stimme seines wahren Herren in seinem Geist. "Nun, er wird nicht mehr aus dem Gefäß seines andauernden Daseins entrinnen, solange niemand es vollbringt, in das von ihm befohlene Bauwerk einzudringen. Doch wenn deine Feinde wirklich mächtig sind so gilt, dass du und die dir treuesten euch sammeln und auf die neue Zeit vorbereiten möget, damit die alles endende Finsternis bald über diese Welt kommen mag."

"So soll ich nicht um den Erhalt deiner Macht kämpfen, mein Herr und Gebieter?" fragte Resophis nach. "Nicht jetzt sofort, sondern langsam und leise. Sammel deine Getreuen und verberge dich, bis ihr wisst, wie das Ende des Einfältigen eure Heimat verändert!" befahl die geistige Stimme jenes Urvaters dunkler Mächte, dem zu dienen Resophis vor über sechzig Sonnenkreisen geschworen hatte.

So befolgte Resophis den Befehl seines Herren und floh mit seinen zehn getreuen aus dem wiedervereinten Ägypten. Die Tage und Nächte des Seth würden kommen, wenn bekannt war, was nach dem Tod des finsteren Pharaos geschehen würde.

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Die folgenden Jahre

Sie hatten sich darauf geeinigt, die zwölf Regierungsjahre des Thronräubers als ungeschehen aus allen Aufzeichnungen herauszulöschen und all die Wände oder Gebäude, die Schriftzeichen aus dieser Regentschaft trugen einzureißen. Sesostris strebte nach einer anderen Ausrichtung seiner Macht als sein Vater oder jener dunkle König dies getan hatten. Die Priester der Sonne und der göttlichen Mutter Isis suchten nach den vertriebenen Sethpriestern, zerstörten all die bekannten Anbetungsstätten des Totengottes. Doch die wahrhaftig zauberkundigen Diener jener Gottheit waren geflohen. Nur die Kundigen der hohen Kräfte bargen noch Aufzeichnungen über den finsteren König, dessen Namen sie trotz verstärkter Suche nach alten Beschreibungen nicht ergründen konnten. So blieb den Zauberkundigen nur, den Bereich um das in die Erde hineingebauten Stufengrabes zum unbetretbaren Ort zu erklären, da alle davon wissenden darüber einkamen, dass dieser Ort verflucht war und jeder, der ihm zu lange zu nahe kam den Fluch wie eine ansteckende Seuche auf sich lud.

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Das Stufengrab des verdrängten Herrschers, Jahrhunderte nach dem Tod des finsteren Königs

Er fühlte, wie er aus einem ihn umschließenden Etwas freikam. Doch es war nicht das erhoffte neue Leben, dass er durch seine dunklen Handlungen angestrebt hatte. Er war körperlos und schwebte über dem vergoldeten Tisch. Dann fühlte er die Nähe mehrerer atmender Wesen, darunter eines Feuerlöwens und eines Mannes, der im Hauch einer mächtigen dunklen Kraft stand, wohl einer der ähnelnden, die ihn in der Welt hielt.

Jemand wagte es, ihn aufzusuchen. Endlich kam jemand, ihm zu helfen, in die Welt zurückzukehren. Denn er wusste, dass er nach dem vorzeitigen Verlust seines Körpers nur noch eine Möglichkeit hatte, wieder in die Welt zurückzukehren: Ein neuer Körper.

Er schaffte es, seine Gedanken auf die von ihm geschaffenen Zauber des Stufengrabes zu bündeln und die oberste Platte für einige Atemzüge zu öffnen. Er setzte den Zauber "Verschlingendes Fleisch" in Kraft, der eigentlich nur als Falle für unbefugte magisch begabte Grabräuber gedacht war. Damit fing er den Feuerlöwen und dessen Reiter ein und erfasste auch, dass dieser in Begleitung entkörperter Seelen reiste. Doch diese verschlangen die noch unerfüllten Seelenbilder in den Gängen und Kammern des Stufengrabes und erfüllten sie mit noch mehr Kraft. Der finstere König ließ den Reiter des Feuerlöwens durch einige Gänge hindurch. Dann löste er eine Falle aus, das Richtschwert der Götter. Damit tötete er den Feuerlöwen. Dessen tierhafte Seele wurde von dem Gewebe der Zauberkräfte wie unverdauliches Essen ausgestoßen und zerstreute sich in alle Winde.

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Ixandesh, ein wahrer Diener Seths, hatte gehofft, in die umgekehrte Pyramide einzudringen, die laut der geheimen Aufzeichnungen aus über tausend Jahren die Heimstatt einer mächtigen Seele sein sollte. Er wollte diese aufsuchen und sie als Bündnispartner im Kampf gegen die Kinder der Isis anwerben.

Als er seine Truppe aus Blutgeistern vorausschickte bekam er mit, wie diese wie von mächtigen Magnetsteinen angezogen in der Pyramide verschwanden. Gut, die hatte er ja auch nur als Leibwache mitnehmen wollen. Doch als dann der von ihm gerittene Feuerlöwe wie von einer unsichtbaren Hand in die Tiefe gerissen und durch einen leuchtenden Spalt im Wüstensand gezogen wurde war ihm klar, dass er nicht mehr nach einem Eingang suchen musste. Dann war sein Reittier jedoch von einem mondlichtfarbenen Lichtstrahl enthauptet worden. Auch ihn sollte diese Kraft treffen. Doch sein Unlichtkristallring prellte diesen Zauber zurück. Der zerfloss laut sirrend an den Wänden. Ixandesh hörte ein gequältes Stöhnen. War das Naira-Urapep, der Geist des ungenannten Herrschers?

"Reiter der großen Schlange, Sohn der gefangenen Sonne, Einer der Völker des Nils unter dem Banner meines Gottes Seth, sprich zu mir!" rief Ixandesh. Da hörte er die eines Sängers gleichende Stimme aus den Wänden hallen:

"Wer bist du, Diener des Seth?" Ixandesh wusste, dass er im Angesicht eines körperlosen Wesens nicht so rasch seinen wahren Namen aussprechen durfte. Am Ende trachtete der Geist danach, seinen Leib in Besitz zu nehmen. So sagte er: "Ich komme von einer Bruderschaft, die die alles endende Nacht herbeirufen wird, wenn wir uns all jener zum Bunde versichert haben, die dasselbe Ziel haben."

"Dein Gott hat mich verlassen. Er hat mir dieses Unweib geschickt, dass wohl über die Flammen der Sonne selbst gebietet. Außerdem trachte ich nicht nach der alles endenden Nacht, sondern nach dem ewigen Leben. Du wirst mir helfen, es zu erlangen, Diener eines verräterischen Gottes."

"Wie soll dies geschehen?" fragte Ixandesh. "Indem ich mit dir verschmelze und wir ein Leib und eine Seele werden und ich durch dich in die Welt zurückkehren kann." Doch Ixandesh dachte nicht daran, seinen Körper herzugeben. Er wollte statt dessen den hier wachenden Geist unterwerfen.

Es kam zu einem Kampf, bei dem der Geist des finsteren Königs als blutrot leuchtende Erscheinung auf Ixandesh zuraste, jedoch von dem Schutzmantel des Unlichtkristalls abprallte und schneller als ein Zwinkern verschwand. Dafür tat sich unter Ixandesh der Boden auf. Der Diener Seths fiel mehrere Klafter tief und prallte unsanft auf. Er merkte, dass er sich beide Beine gebrochen hatte und sich nicht mehr erheben konnte. "Lege deinen Ring ab und gib mir deinen Leib preis. Dann werde ich ihn mit der Kraft der geopferten Leben heilen und ihn zum Ruhm der höchsten Macht in die Welt zurücklenken."

"Niemals. Mein Leib ist mein Eigen", stöhnte Ixandesh, der den bohrenden Schmerz in beiden Beinen aus seinen Gedanken zu verdrängen suchte. "Tja, dann wirst du wohl qualvoll verenden, und dein Kaa wird in die Reihen der mich nährenden Kräfte eingehen. Schon jetzt meinen herzlichen Dank dafür, Diener des verräterischen Gottes."

"Mein Kaa und mein Leib werden dir nicht gehören, undankbarer Bursche. Ich rufe an die Gnade des höchsten!"

"Dein höchster hat in diesem Bauwerk nichts mehr zu gebieten", erwiderte der finstere König wie aus allen Wänden zugleich klingend. "Lege deinen Unlichtkristallring ab, damit die Kräfte des Heils deine gebrochenen Glieder heilen können und überlasse mir deinen Körper als neue Wohnstatt meiner Seele!"

"Ich sagte nein, weil Seth dies nicht will. Ihm allein gehören mein Leib und meine Seele", erwiderte Ixandesh. "Dann verende und überlasse mir dein Kaa, du achso treuer Diener des Verrätergottes", erwiderte der Reiter der großen Schlange. Ixandesh musste wider die Ausweglosigkeit seiner Lage grinsen. Er würde diesem Geist doch noch ein Schnippchen schlagen. Er hielt sich den Ring an die Stirn und murmelte Anrufungen in einer uralten Sprache, die Sprache des Götterreiches, in dem Seth einst geboren worden war. Und die Macht des höchsten der dunklen Götter wirkte. Der Ring erzitterte. Dann begann es in seinem Schädel selbst zu summen, wurde zu einem alles erfüllenden Ton, der alle Gedanken vertrieb. Dann fühlte er, wie mehr und mehr von ihm aus dieser Welt verschwand. Die in den Ring des Seth eingewirkten Zauber entfalteten ihre ganze Kraft, die Kraft des allerletzten Opfers. Unvermittelt fühlte er, wie starke Kräfte in ihm wirkten. Dann war ihm für einen Augenblick, als falle er in einen tiefen dunklen Schacht. Dann war da nur ein schwaches gleichmäßiges Rauschen, wie der Atem eines großen Tieres oder eine hundert Schritte entfernte Meeresbrandung. Dann versank der Geist Ixandeshs vollkommen in Untätigkeit. Doch er erlosch nicht und ging auch nicht in eine andere Welt über. Er wurde eins mit dem Ring des Seth. Gleichzeitig starb sein Körper, übersprang auf Seths machtvollen Zauber all die Jahre der Verwesung und zerfiel zu Staub. Somit bekam der hier lauernde Geist weder den Leib noch die Seele seines Besuchers zu fassen.

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Der körperlose König erwachte erst wieder, als er ein merkwürdiges Drücken und Saugen fühlte, als wolle jemand an ihm und der ihn haltenden Grabstätte rütteln. Er fühlte, wie etwas ihn aus dem goldenen Tisch heraushob und durch die gleichfalls vergoldete Decke nach oben zog, durch die steinernen Zwischendecken hindurch, aber nie in eine der Seelenkammern hinein, in denen die vierhundert zwischen Leben und Tod gefangengehaltenen Knaben eingekerkert waren. Eine gierige Gewalt riss ihn gnadenlos aus dem Stufengrab heraus hinein in das Licht der Sonne. Er fühlte, wie er in Richtung der Mitternacht und nach Abendrichtung gezogen wurde. Dann kehrte sich die unbändige Kraft um. Schlagartig wurde er in sein goldenes Grab zurückgeschmettert und brachte dieses zum erbeben. Dann kehrte sich die Kraft wieder um und riss ihn nach außen. Diesmal meinte er, noch schneller und noch weiter von seiner eigenen Überdauerungsstatt fortgerissen zu werden. Er sah die Welt um sich flimmern und flackern wie bei einem weit ausgreifenden Flächenbrand. Er fürchtete, dass da jemand einen gezielten Angriff auf ihn ausführte, jedoch nicht wusste, wie genau er ihn oder das Stufengrab mit den eingekerkerten Seelen zerstören konnte.

Dann rammte ihn etwas wie eine gleißendhelle Riesenkeule zurück in seinen goldenen Kerker. Er hörte die geistigen Stimmen der hier gestorbenen aufstöhnen. Also litten die gefangenen Seelen wie er unter dieser immer wieder die Richtung wechselnden Kraft. Dann erkannte der Schlangenreiter, dass es kein Angriff auf ihn war, sondern eine ständig atmende, nein wie ein großes Herz schlagende Macht, die alles ansaugte und wieder abstieß, was ebenfalls durch dunkle Taten bewirkt und verstärkt worden war. Je mehr dunkle Seelenkraft es an sich zog, desto stärker würde es sein. Dann würde was auch immer ihn genauso verschlingen, bevor die Gegenkraft frei wurde.

Wieder wurde der körperlose König aus der goldenen Kammer hinausgezerrt, durch die Steindecken des Stufengrabes ins Freie gerissen und mit einer beinahe unwiderstehlichen Geschwindigkeit über das land gezogen. Er fühlte bereits, wie der Halt mit seiner goldenen Kammer aufs äußerste Gespannt wurde. Wenn er abriss würde ihn diese Urgewalt ... Wie von einem schweren Gewitterblitz gepackt und mitgerissen schlug er förmlich in seiner Kerkerkammer ein, die unter der mit ihm kommenden Kraft hellrot aufglühte. Die Wände erbebten. Die gefangenen Seelen stöhnten noch lauter als zuvor. Da wusste der entkörperte Pharao, dass diese Macht ihn vertilgen würde, ob gezielt oder unbeabsichtigt. Er musste sich gegen sie stemmen.

Er besann sich auf seine Verbindung zu allen Räumen der in die Erde gebauten Grabanlage. Er bündelte die ihm geopferten Kraftströme in seinem Tisch, auf dem er eigentlich mit seinem toten Körper der Wiedergeburt entgegenwachsen wollte. Er stürzte sich in die rot glühende Tischplatte. Er strengte seinen ganzen Willen an, eins damit zu bleiben. Die von ihm angesaugten Seelenkräfte schossen wie ein Strom aus Wasser in den Tisch hinein, den er gerade beinahe körperlich fühlte. Dann spürte er, wie jene fremde Gewalt nach ihm griff. Doch er stemmte sich dagegen. Die Macht aller gefangenen Seelen half ihm, hier zu bleiben, auch wenn sein Stufengrab dabei erbebte. Dann war es wie ein Schlag, als die Gegenkraft einsetzte. Der entkörperte König nutzte diesen Rückfluss jedoch, um damit seine eigenen Kraftquellen nachzufüllen. Dass die Luft in seiner Kammer dabei bis auf die Siedehitze von Wasser erwärmt wurde fühlte er nicht. So bekam er nun eine gewisse Übung, Sog und Rückstoß der ihn bestürmenden Macht genau einzusetzen, um sich nicht erneut ins Freie ziehen zu lassen. Er dachte einfach nur: "Ich bin eins mit diesem Bau, dieser Kammer, diesem Tisch. Alles stoffliche ist mein. Ich bin alles stoffliche."

Die Abstände zwischen den richtungswechselnden Kraftströmen wurden kürzer. Entweder versuchte deren Quelle, ihn durch schnelle Abfolge aus dem Gleichgewicht zu werfen, oder die unbekannte Macht wirkte von sich aus immer schneller auf alles ein, was in ihrer Reichweite war. Jedenfalls konnte sich der Reiter der großen Schlange durch Gedanken an ein altes Zauberlied darauf einstimmen, dessen Tonfolge er mit den immer kürzeren Abständen der Kräfte beschleunigte. Dann meinte er, in einem wild und schnell klopfenden Herzen eingesperrt zu sein, dessen Schlag er mitbestimmte. Er schaffte es noch, die immer kürzere Abfolge der Schläge mit seinen Gedanken an das gewünschte Hiersein zu belegen. Endlich hörte die Beschleunigung auf. Doch nun war es, als schlüge das große Herz viermal so schnell wie das Herz eines ruhigen Menschen. Er spürte dabei jedoch genug Kraft in ihn einfließen, ohne davon weggetragen zu werden. Wie lange sollte er so aushalten? Würde es seine Gedanken verwirren, seinen Geist in unbeherrschten Aufruhr versetzen und dabei zerstreuen? Er hoffte, dass er nicht vom Wahnsinn verschlungen wurde, er, der sich zu Lebzeiten damit gebrüstet hatte, selbst Apep, die große Schlange der Unterwelt, beherrschen zu können.

Das rasend schnelle Wummern der wie ein großes Herz schlagenden Kraftquelle, die nun eins mit dem in die Erde gebauten Stufengrab war blieb auf Schnelligkeit und Kraft. So konnte sich der in seinem Aufbahrungstisch eingefahrene Geist des ungenannten Herrschers daran gewöhnen und verfiel nicht dem endgültigen Wahnsinn. Er dachte sogar einmal, dass er diese fremde Kraft nutzen konnte, um seine Rückkehr in die Welt zu vollziehen. Er musste dafür nur einen lebenden, von magischem Blute erfüllten Mann erspüren, in dessen Körper er eindringen konnte. Solange wollte und würde er aushalten. Ja, er musste aushalten. Denn sonst war alles umsonst, was er in seinem ganzen körperlichen Leben getan und veranlasst hatte.

Weil er sich auf den Halt in seiner Heimstatt besinnen musste kam er nicht darauf, die ihn durchwalkenden Schläge mitzuzählen. Das war für ihn auch irgendwie bedeutungslos. Er merkte nur irgendwann, dass die Schläge schwächer wurden und in wieder längeren Abständen folgten. Was immer sich seiner Kraft bemächtigen wollte erlahmte. Ja, es wurde immer schwächer, von Schlag zu Schlag. Dann merkte er, wie er erstarrte. Er fühlte den festen Stoff des Tisches, in den er eingedrungen war wie einen gefesselten und geknebelten Körper. Er meinte jedoch noch rote und grüne Lichter zu sehen, die im Gleichklang mit den unheimlichen Herzschlägen aufleuchteten. Doch auch diese Lichter wurden schwächer. Dann fühlte er, wie er selbst erstarrte. Er erkannte, dass er wieder in jenen Zustand verfiel, in dem er die Jahre oder Jahrhunderte überdauern würde. Was immer ihn an sich zu ziehen versucht hatte war entweder eingeschlafen oder gestorben. Er wusste, dass er es spüren würde, falls es wieder aufwachte. Das waren seine letzten Gedanken, bevor ihn die von ihm errichteten Zauber in einen neuerlichen Schlaf versenkten.

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Ladonnas Residenz bei Florenz, 25.07.2006, 23:22 Uhr Ortszeit

Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Vor ihnen lag die herrschaftliche Villa nach altrömischem Vorbild. Doch es war ein Nachbau, kein echtes altes Landhaus aus dem römischen Reich. Jedenfalls fühlten sie das sanfte Prickeln in sich, als sie die 100-Meter-Entfernungsgrenze zum Haus unterschritten. Falls jemand sie beobachtet hatte dann nur jemand, der ihrer Herrin und Königin gewogen war.

Gunilla Wellenkamm und ihre Base Alva Silberbach hatten zwei Wochen gebraucht, an die von ihnen ermittelten Unterlagen zu kommen. Beinahe hätten die aus dem Eid ihrer Königin herausgelösten Ministeriumszauberer sie erwischt, als sie in die tief unter dem Harz gelegenen Verliese der verschwiegenen Vermächtnisse hinabgestiegen waren, um dort nach drei Gegenständen zu suchen, die ihre Herrin und Königin unbedingt vor dem Zugriff der "ihrem Eide entrissenen" in Sicherheit wissen wollte.

"Glaubst du, dass sie im Haus ist, Gunilla?" fragte Alva ihre Base. Diese deutete wortlos auf das Hauptportal des im Mondlicht dunkelgrau schimmernden Hauses. Alva verstand. Gunilla, die jüngere Schwester von Gundula Wellenkamm, galt nach dem Verschwinden ihrer Schwester als aussichtsreichste Nachfolgerin ihrer Region, wenngleich die vermaledeiten Flüchtlinge aus den Reihen der Lichtwächterinnen eine üble Stimmung gegen sie und Alva machten.

Oh, das muss der Rosengarten sein, von dem Schwester Danuta ..." setzte Alva an. Doch Gunilla legte ihr schnell die Hand auf den Mund und zischte ihr ins Ohr: "Erwähne den Garten niemals, wenn die Königin es nicht darauf anlegt!" Ihr war anzumerken, dass sie sich nicht wohlfühlte, wenn es um den Rosengarten ging. Alva sollte nicht mitbekommen, dass sie sehr unangenehme Gedanken daran umtrieben.

Gunilla drängte ihre Base zur Eile. Selbst wenn sie innerhalb der Blutfeuernebelzone vor feindlichen Angriffen sicher waren musste man nicht beobachten, dass sie eine silberbeschlagene Ebenholztruhe dabeihatten.

Kaum standen sie vor dem Hauptportal tat sich dieses ohne weiteres vor ihnen auf. Sie wurden also erwartet und waren höchst willkommen. So überschritten sie die Marmortürschwelle und betraten den rechteckigen, von vier schlanken Granitsäulen getragenen Vorraum. Rotes Licht flammte aus kleinen kugelförmigen Glaskörpern an der Decke auf und ließ die beiden späten Besucherinnen wie von innen erglühend aussehen. Die mit Bannzeichen und Verbergerunen gravierten Silberbeschläge spiegelten das rote Licht vollständig, als würde die Truhe in flammenlosem Feuer brennen. Leise fiel hinter ihnen das Portal wieder zu. Das leise schaben sich schließender Riegel verkündete, dass die beiden Besucherinnen bis auf weiteres in diesem Haus verweilen mussten.

Eine Tür am oberen Absatz einer Marmortreppe schwang langsam auf, und sie erschien im Türrahmen. Die Rosenkönigin trug ein nachtschwarzes Samtkleid, dass bis zu ihren Waden hinabreichte. Die Ärmelsäume waren berüscht. Das ebenso schwarze Haar wehte ihr seidigweich fließend um den Oberkörper. Sie streckte ihre rechte Hand aus und winkte den zwei späten Besucherinnen auffordernd zu. Schweigend stiegen die beiden ausländischen Besucherinnen die Treppe hinauf. Auf dem Absatz angelangt verbeugten sie sich tief vor ihr, der Herrin und Königin der Feuerrosenhexen.

"Ich sehe, ihr wart erfolgreich, Schwester Gunilla", sagte die Hausherrin mit ihrer glockenreinen Stimme. "Dann gehen wir besser in meinen thaumaturgisch-alchemistischen Arbeitskeller, wo ich auch den Aufbewahrungsraum eingerichtet habe." Die Beiden Besucherinnen stiegen die Treppe wieder hinunter, warteten, bis ihre Herrin ebenfalls heruntergestiegen war und folgten ihr im respektvollen Abstand zu einer weiteren Tür, die nur durch Ladonnas Handauflegen aufging. Die Rosenkönigin ließ ihre beiden Gefolgsschwestern vorbei und deutete die steile Wendeltreppe hinunter. Im Schein ihrer Zauberstäbe fanden die drei Hexen den Weg nach unten bis zum Fuß der letzten Windung. Dort ragte eine fugenlose schwarze Wand auf. Ladonna überholte ihre Helferinnen und berührte die Wand an bestimmten Stellen mit ihren Händen. Leise Klackend entsperrte sich eine Verriegelung, und ganz leise schabend schob sich ein drei mal drei Meter messendes Wandstück zur Seite. Dahinter lag ein Korridor.

"Ihr gehört zu den wenigen, die in mein unterirdisches Reich eintreten durften", sagte Ladonna, als sie und ihre Besucherinnen in einer Schwarzen, fensterlosen Kammer standen, deren einziges Möbelstück ein Steinbehälter war, der wie der Sarkophag für einen Riesen wirkte. Ladonna winkte mit ihrem Zauberstab. Leise ploppend verstofflichten sich drei hochlehnige Stühle um den steinernen Riesenbehälter herum. Dann gebot Ladonna ihren Besucherinnen, die Truhe aus dem Transportzauber zu lösen und am Fuß des Gigantensarkophages abzusetzen.

"Ihr habt alles bekommen, hoffe ich doch sehr", sagte Ladonna. Gunilla Wellenkamm und Alva Silberbach nickten eifrig. "Lasst es mich sehen! Clavilumina totum revelate!" befahl Ladonna. Unvermittelt erstrahlten drei kugelrunde Lichtquellen unter der Decke und spendeten ein großflächiges Licht, das keinen Schatten duldete. Gleichzeitig schimmerten die Silberbeschläge an der Truhe bläulich-rötlich. Dann spiegelte die Truhe nur das weißgelbe Licht aus den drei Leuchtkugeln.

"Natürlich habt ihr die Truhe mit mehrfachen Verschlusszaubern gesichert, dass mein Befehl der vollständigen Erleuchtung nicht hineinwirkt. Also macht die Truhe für mich auf!" forderte Ladonna. Die zwei Besucherinnen wussten nicht, ob die Bemerkung ihrer Königin jetzt ein Lob oder ein Tadel war. Der Befehl war jedenfalls unmissverständlich und musste unverzüglich ausgeführt werden.

Nachdem Gunilla und Alva die mitgebrachte Truhe mit den passenden Schlüsseln und durch Stiche in die Handflächen hervorgerufenen Blutspritzern entsperrt hatten klappte der Deckel so heftig auf, dass er Gunilla fast einen Kinnhaken versetzte. Denn nun galt wieder der Befehl Ladonnas, alles hier im Raum zu erleuchtende zu erleuchten, also auch alle Behälter zu öffnen, die etwas vor dem Licht verbargen.

In der Truhe lagen ein großes, in grün-blaues Leder gebundenes Buch, eine beinlange und ebenso dicke Pergamentrolle, die von drei Silberringen zusammengehalten wurde und ein von grünen, honigfarbenen und wasserblauen runden Mosaiksteinchen umgebener runder Spiegel, der die Abmessung einer Suppenschüssel hatte. Als Gunilla in den Spiegel blickte meinte sie, ihre verschollene Schwester Gundula und ihrer Beider Mutter Genoveva zu sehen. Letztere blickte tadelnd aus der spiegelnden Fläche zu ihr auf, während Gundula von einem rosenroten Strahlenkranz umgeben wirkte. Als Alva hinzutrat und in den Spiegel blickte tauchte auch das Gesicht ihrer Mutter Alwine auf und dann noch das Gesicht von Großmutter Isolde, in das Alwines und Genovevas Gesicht hineingezogen und vollständig verhüllt wurden. Auch das Gesicht von Großmutter Isolde Silberbach blickte ihre Enkel vom Spiegel her sehr ungehalten an, als hätten sie eine unverzeihliche Tat begangen. Die zwei Gefolgsschwestern Ladonnas erbleichten unter diesem tadelnden Blick. Ladonna lächelte und drängte die beiden aus dem Blickfeld. Sie sah in den runden Spiegel hinein und schrak beinahe zurück. Denn sie sah erst sich selbst, und wie ihr Gesicht dann in der Mitte auseinanderklaffte und zu zwei weiteren Gesichtern wurde, denen von Domenica und Giorgiana. Hinter Giorgianas Gesicht tauchte geisterhaft grün flirrend das Grinsende Gesicht einer reinrassigen grünen Waldfrau auf, während hinter Domenicas Gesicht das von innen her golden schimmernde Gesicht von Domenicas Mutter Nachtlied erschien. Während die grüne Waldfrau überlegen grinste schüttelten Nachtlied und Domenica ihre Köpfe. Dann tauchte noch ein geisterhaft leuchtendes Wesen auf, Ladonnas ältere Schwester Regina. Diese blickte sie aus dem Spiegel heraus verächtlich an, bewegte ihre Lippen, als wolle sie was sagen. Doch kein Laut drang aus dem Spiegel. Ladonna wich zurück. Der Spiegel zeigte nun nur noch eine der Lichtkugeln und glänzte wie die Sonne.

"Der Spiegel ist schon einmal echt und wirkt, wie ich es erfahren habe", grummelte Ladonna. Dann zirkelte sie mit dem Zauberstab über das mit einem Lederriemen verschlossene Buch. Daraufhin erschien für drei Sekunden über dem Buch der durchsichtige Kopf einer anderen Frau, der sich in eine Reihe von goldenen Schriftzeichen verwandelte. Gunilla vermeinte spiegelverkehrt ausgerichtete griechische Buchstaben und die auf dem Kopf stehenden Runen für Erfassung, Bergung und die Machtrunen für Bewahren und Verstärken zu erkennen. Ladonna schien die goldene Schrift zu lesen. Deshalb kam Gunilla darauf, ebenfalls einen Versuch zu machen. Sich bewusst, mögliche offenbarte Zaubersprüche besser nicht laut aufzusagen las sie nur für sich:

Ich, Dysmonia Feuerkruger, Tochter der Drusilla Pfannenschmidt, schrieb dieses Buch der großen Geschichte der magischen Weiblichkeit zu Händen all jener, die das uralte Vermächtnis aller magischen Frauen auf machtvollen Wegen ergründen und gebrauchen wollen. Doch sei gewarnt, wer diesen Wegen nicht folgt und nur aus Neugier oder Arglist wieder die ehrenvoll erstarkenden magischen Frauen dieses Wissen schöpfen will, dem sei ein gnadenloses Leben voller verderblicher Träume und verzehrenden Schmerzen gewiss.

Ladonna zog ihren leicht golden leuchtenden Zauberstab zurück. Die goldene Schrift verschwand über dem Buch. "Ja, das alles erleuchtende und alles aufschließende Licht und mein Verfasserinnenerfassungszauber haben es bestätigt, dass auch der zweite Gegenstand der echte ist. Dann dürfte die Rolle auch das Verzeichnis aller für Hexen der machtvollen Pfade nutzbaren Naturkraftquellen das sein, dass ich vor dem Zugriff der aus meiner Obhut herausgerissenen schützen muss. Hat jemand bemerkt, dass ihr euch in den Besitz dieser Dinge brachtet, meine Schwestern?" wollte Ladonna wissen. Gunilla und Alva schüttelten die Köpfe. Ladonna sah sie genau an. Sie wirkten nicht verändert. Also logen sie nicht. Denn auch das konnte das alles erhellende Licht mit eingewirktem Enthüllungsschlüssel an den Tag bringen. Doch dann zuckte Alva zusammen. Sie griff sich unwillkürlich an den Unterleib und verzog ihr Gesicht vor Schmerzen. Etwas drängte scheinbar aus ihr heraus. Ladonna zielte mit dem zauberstab und rief "Nudato!" Innerhalb einer Sekunde fielen alle Kleidungsstücke von Alvas Körper ab. Im nächsten Moment entsprang mit leisem knall ein violetter Kugelblitz ihrem Schoß und zerplatzte auf dem steinernen Boden. An seiner Stelle stand da eine nackte Frau mit dunkelblonden Haaren und erzitterte. Sie öffnete den Mund, um was zu rufen. Da schlugen blutrote Flammen aus ihrem Körper. Ihr Todesschrei währte nur drei Sekunden. Dann lagen nur noch stark verkohlte Knochen auf dem Boden.

"Verdammt, das wusste ich nicht!" rief Alva verängstigt. "Meine Königin, ich habe nicht gewusst, dass Gesines Base Leonora sich in mich eingeschlichen hat. Ich weiß nicht, wann sie das getan hat."

"Dann ist es wohl wahr, dass die anderen achso geduldigen Schwestern dir und damit auch Gunilla nicht über den Weg trauen, ja es sogar für geboten hielten, eine höchst trickreiche Spionin auf euch anzusetzen, oder besser, in dich einzusetzen. Hast du es wirklich nicht verspürt, dass in deinem Schoß etwas fremdes nistet, Schwester?" Ladonna sah Alva und Gunilla an. Alva erbleichte, horchte offenbar schon in sich hinein, ob sie gleich ähnlich wie Gesine Feuerkiesels Base dem Blutfeuernebel zum Opfer fallen musste.

"Du hast es nicht gewusst. Du hast es nicht bemerkt", knurrte Ladonna. "Wie sorglos gehst du mit deinem Körper um, Schwester? Jedenfalls wird dieses in dich eingeschlichene Weibsbild einen Ortungszauber benutzt haben, damit ihre verfemte Base wusste, wo sie sich aufhielt. Ja, und die Idee, in einer nicht von Blut durchströmten Gestalt aufzutreten war an und für sich sehr schlau. Damit hätte sie dich auch unversehrt aus diesem Haus begleiten und dich weiter ausforschen können. Allerdings hat mein Licht der Enthüllung, als ich deine kleidung löste auch sie getroffen und zur schmerzvollen Rückkehr in die Welt und eine nicht minder schmerzvolle Abreise aus dieser bewirkt. Doch nun weiß Gesine, dass du und Gunilla in meinem Auftrag handeltet. Sie kann euch also jederzeit in Gewahrsam nehmen und verhören lassen. Das darf und werde ich nicht zulassen", sagte Ladonna. Die zwei Besucherinnen starrten ihre Königin verängstigt bis flehendlich an. Doch Ladonna Montefiori kannte keine Gnade, nicht mit ihren Feinden und auch nicht mit zwei wertlos gewordenen Gehilfinnen. Insofern klang ihre Ankündigung schon wie bissiger Spott: "So werdet ihr meine dauerhaften Gäste sein, meiner Pflege anvertraut und wohlbehütet vor allen Unbilden dieser hexenfeindlichen Welt." Alva wollte gerade noch ihren Mund öffnen, um um Gnade zu flehen. Da traf sie ein violetter Blitz. An ihrer Stelle lag eine langstielige gelbe Rose auf dem Boden. Gunilla wusste nun, was auch ihr bevorstand. Sie setzte zur Flucht an. Doch Ladonnas Zauberbanne vereitelten ein Disapparieren. Keine zwei Sekunden später lag an ihrer Stelle eine blaßrosa Rose auf dem Boden. Ladonna zeigte weder Vergnügen noch Triumph. Sie blickte auf die beiden Verwandelten und auf den kläglichen Rest von Leonora Mondregen, die sie eigentlich auch zu gerne zu ihrer treuen Schwester gemacht hätte. Doch die war an ihrer eigenen Schläue zu Grunde gegangen.

"Clavilumina dormite!" befahl Ladonna. Die drei magischen Lichtkugeln unter der Decke erloschen und tauchten die Kammer in völlige Dunkelheit. Ladonna konnte dank der von ihrer Waldfrauenvorfahrin ererbten Nachtsicht genug erkennen, um die Truhe wieder zu verschließen. Sie drehte alle Schlüssel mehrmals um und zog sie ab. Später würde sie diese Schlüssel durch eigene Blutstropfen auf sich abstimmen. Immerhin hatten ihr die zwei ahnungslosen Schwestern die gewünschten Gegenstände gebracht. Hoffentlich hatten die nicht unterwegs dauernd davon gesprochen, dass sie den matrilinearen Blutlinienspiegel, das Buch der machtvollen magischen Weiblichkeit und das Verzeichnis aller in Europa bestehenden Kraftquellen insbesondere für entschlossene Hexen, die anderswo als dunkle oder schwarzmagische Hexen bezeichnet wurden, zu ihr hinschaffen wollten. Falls Leonora den Zauber "Imprudentia impregnata benutzt hatte, ein zugegeben sehr schlauer Hexenzauber zur Überwachung der Sinneswahrnehmung eines Körpers, in den sich die betreffende hatte einpflanzen lassen, wusste die aber aus Alvas bildhaften Erlebnissen und erinnerten Worten, Geruchswahrnehmungen und Berührungen, was sie da mitgenommen hatte. Soviel zur achso friedvollen, menschlichen Verwendung der Zauberei, dachte Ladonna. Allerdings konnte der erwähnte Zauber leicht zur letzten Falle für die Anwenderin werden, wenn der benutzte Wirtskörper gründlich genug überwacht wurde. Rückverwandlungserzwinger oder Verwandlungshemmer konnten die Spionin dann an weiterem Verrat hindern, wie es sich vorhin gezeigt hatte.

Ladonna pflanzte die verwandelten Ex-Ordensschwestern noch in derselben Minute in ihrem Garten ein. Sollten sich Gunilla und Alva morgen über Gedankensprechen mit ihrer Verwandten Gundula unterhalten, wer da wie seltendämlich oder undankbar gewesen war. Hauptsache, sie hatte bekommen, was sie aus dem ihr abgetrotzten Deutschland noch bekommen wollte.

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Gesine Feuerkiesel saß auf einem bequemen Lehnstuhl in der Mitte eines aus silberner Tinte gezeichneten Pentagramms, an dessen Ecken je eine Kerze mit goldener Flamme brannte. Sie hielt ihre Augen geschlossen und lauschte in sich hinein. Als sie meinte, durch eine blutrote Lichtwand zu treten und danach nichts mehr zu spüren wusste sie, wo das Ziel ihrer Fernbeobachtung war. Wenige Minuten später erschütterte ein kurzer gedanklicher Aufschrei ihren Geist. Sie meinte, ihre Cousine Leonora Mondregen vor Schmerzen aufschreien zu hören und sah ihr von roten Flammen umtobtes Gesicht. Es war, als brenne sie wie ein knochentrockenes Reisigbündel nieder. Dann fühlte sie eine Art inneren Rückstoß. Ein kalter Wind schoss unter ihrem Lehnstuhl hervor und blies alle fünf magischen Kerzen auf einmal aus. Das war die Bestätigung, dass die Fernverbindung zu Leonora für alle Zeiten abgerissen war und Leonora in Erfüllung ihres freiwillig übernommenen Geheimauftrages gestorben war. "Noch ein Opfer mehr, dass auf dein Konto geht, du Ausgeburt des Größenwahns", knurrte Gesine verdrossen. Ihr war klar, dass die Feindin nun wusste, dass ihre Kundschafterinnen entlarvt worden waren und ja, dass auch bekannt war, was sie für diese selbsternannte Hexenkönigin gestohlen hatten. Also hatte nun Ladonna jenes brisante Buch, das damals aus Gertrude Steinbeißers Haus geholt worden war, nachdem ihr Tod festgestellt worden war und das dann in den Verliesen der verschwiegenen Vermächtnisse eingelagert wurde, nur zugänglich für ranghohe Ministeriumsmitglieder wie Gunilla Wellenkamm und eine von ihr als vertrauenswürdig markierte Begleitperson. Tja, da würden sich die aus Ladonnas Unterwerfungszauber gelösten Damen und Herren im Ministerium eine andere Archivarin deutscher Magiehistorie erwählen müssen, dachte Gesine Feuerkiesel. Dann wurde ihr klar, dass Ladonna dieses Buch nicht für alle Zeiten besitzen durfte. Doch Leonoras Tod hatte überdeutlich klargemacht, wo sie entlarvt worden war, im vom Blutfeuernebel des Rufus Vulpius Palantinus gesicherten Haus bei Florenz vor allen von Blut durchströmten Feinden und Feindinnen geschützt. Wie immer Ladonna Leonora enttarnt hatte, die wusste nun, dass sie das Buch nicht mehr aus dem Haus lassen durfte und würde entsprechende Vorkehrungen treffen. Wenn sie dann auch noch den Matrilinearen Blutlinienspiegel besaß konnte sie damit auch die Verwandten ihrer Feindinnen und Vertrauten aufspüren. Wie das ging stand in jenem verwünschenswerten aber unzerstörbaren und unverfälschbaren Buch.

Eigentlich müsste sie den wieder zur Vernunft gekommenen Minister Güldenberg und dessen Kettenhund Andronicus Wetterspitz früherer Eisenhut darauf bringen, dass jemand die drei für dunkle Hexen wichtigsten Artefakte des deutschsprachigen Raumes gestohlen hatte. Doch dann würde der fragen, woher sie das wusste. Auch wenn er einige der Schwestern kannte musste er doch nicht wissen, dass sie deren Stuhlmeisterin war. Es reichte schon aus, dass sie einigen mit ihren Schwestern vor Ladonnas Feuerrose geflüchteten Verschwiegenheitszauber auferlegen musste, dass sie das nicht weitergaben. Ihr musste was anderes einfallen. Ja, ihr fiel was anderes ein. Sie würde über Marga Eisenhut nachfragen lassen, ob Ladonna nicht von geheimen Artefakten gehört haben mochte, während sie das deutsche Zaubereiministerium kontrolliert hatte. Dann mochte der befreite Minister Güldenberg die Archive überprüfen lassen und feststellen, was fehlte. Ja so ging es.

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In einer verschlossenen Höhle des marokkanischen Atlasgebirges, 25.07.2006 menschlicher Zeitrechnung, kurz vor Sonnenuntergang

Bis auf sehr schmale Schlitze in den schwarzen, glasierten Wänden gab es keinen Zugang zu der an die 3000 Quadratmeter großen, im Scheitelpunkt 40 Meter hohen Höhle. Hier hatte einst der zweigeschlechtliche Schattenträumer Kanoras seinen Herrschaftssitz gehabt. Doch als er im Kampf gegen die Vampirgötzin Gooriaimiria seinen körperlichen Halt verlor hatte sich alles, was ihn in der stofflichen Welt hielt in einem einzigen gewaltigen Ausbruch von Zauberfeuer entladen und sämtliche brennbaren Gegenstände zerstört und das Gestein der Naturhöhle verflüssigt. Doch kaum als das Zauberfeuer seine ganze Kraft verbraucht hatte waren Decke, Boden und Wände wieder abgekühlt. So war die einstige Herrscherhöhle des Schattenträumers mit einem halbem Meter dickem Obsidian ausgekleidet.

Die fleischlichen Sonnenabhängigen gingen davon aus, dass es hier nichts mehr zu finden gab. Doch weil sie sich für die Erbin dessen hielt, der ihre beiden Ursprungsseelen zu seinen Sklavinnen gemacht hatte sah Birgute Hinrichter es als ihr Recht an, hier zu residieren. Auch wenn nur solche ihrer Diener und eigenen Kinder hineinkamen, die sich mal eben von einem dunklen Ort zum anderen nyctoportieren konnten hatte sie beschlossen, hier ihren Thronsaal zu haben. Sicher, früher hatte sie nichts vom Pomp und Gepränge adeliger Leute gehalten, sowohl als rationale Ärztin Birgit Hinrichsen, wie als freches, lebenslustiges Mädchen Ute Richter. Doch in der Welt, in die sie neu hineingeboren wurde, galten Pomp und umständliches Geprotze und Gepränge. Deshalb hatte sie weltweit nach Obsidian suchen und heimlich aus den Mienen holen lassen, um daraus einen Herrscherinnensitz zu formen, keinen Königsthron, sondern einen neun Meter hohen Sockel mit einer Sitzfläche und Aussparungen, in die die Erbin des Schattenträumers ihre feinstofflichen Beine legen konnte, wenn sie in dieser hohen Höhle Hof hielt.

Mittlerweile hatte sie wieder an die dreitausend Getreue, davon 1900 aus ihr selbst wiedergeborene Seelen jener Dorfbewohner, die der Expedition damals von Kanoras erzählt hatten, sowie Obdachloser, Wegelagerer und Rucksacktouristen, die das Dasein als tiefschwarze Schattenwesen erhalten hatten. Bald konnte die Herrscherin zum großen Vergeltungsschlag ausholen. Jetzt, wo ihre Residenz durch die Opferung unbedeutender niederer Nachtschatten zu einer unortbaren und für Lebewesen unbetretbaren Festung vollendet war wollte sie klare Verhältnisse schaffen, dass sie als die Mutter und Herrscherin der wahren Nachtkinder anerkannt wurde.

Auch wenn Birgute Hinrichter, so wie sie sich nach der unglückseligen Verschmelzung durch den machthungrigen Idioten Vengor selbst nannte, keine Freundin von Pomp und Adelsgepränge war riet die in ihr aufgegangene Dunkelhexe Morgause dazu, nach innen und außen klare Ränge zu bestimmen. Ja, und nachdem sich die von den Blutsaugern verehrte Macht als deren Göttin anbeten ließ, wollte, ja musste sie als Königin, nein besser als Kaiserin der wahren Nachtgeborenen bekannt, verehrt und natürlich auch gefürchtet werden.

Zum Anlass ihrer Ausrufung zur Kaiserin der Nachtkinder waren alle ihre Kinder und Getreuen aus aller Welt in die ehemalige Wohnhöhle von Kanoras gekommen. Für Wesen aus Fleisch und Blut war es dadurch so kalt, dass sie innerhalb einer Minute zu Eis gefroren. Zudem gab es nur wenige Dezimeter Zwischenraum zwischen den versammelten Nachtschatten unterschiedlicher Größe. Doch selbst die größten von ihnen wurden von der Herrscherin weit überragt.

"Heute, in dieser Nacht, habe ich alle zu mir hingerufen, um euch zu verkünden, dass ich ab heute nicht nur eure Mutter und Königin, sondern die einzige und einzigwahre Kaiserin der Nachtgeborenen bin", sprach Birgute Richter mit ihrer Stimme, die wie eine mittelgroße Bronzeglocke durch die Höhle und den sich daran anschließenden Gängen und Kavernen hallte. "Ab dieser Nacht ist es euch geboten, mich mit "meine erhabene oder höchste Mutter und Kaiserin Stella Nigra die einzige " anzusprechen, wenn ihr vor mich hintretet. Mit dieser höchst erhabenen Anrede zeigt ihr mir, euch und allen Fleischlichen und den leuchtenden Gestirnen nachhängenden, dass ihr mich als die höchste Herrin der Nachtgeborenen anerkennt. Auf das übliche Spiel mit einer Krone und einem Zepter können wir aus bekannten Gründen verzichten. Mir ist nur eins wichtig: Ihr alle, ob von mir in die Dunkelheit der Nächte geboren oder von mir und meinen Getreuen zu ewigem Dienst angeworben, sollt mich ehren, mir folgen und für mich einstehen, wo immer ihr seid. Was ich euch mit meinem Mund oder mit meinen Gedanken mitteile hat unbedingt und unverzüglich befolgt zu werden. So spreche ich, eure Mutter und Kaiserin!"

Hoch lebe unsere geliebte, erhabene Mutter und Kaiserin!" rief Remurra Nika, eine der ersten von der fleisch- und blutlosen Herrscherin geborenen. Alle dreitausend anderen Schattenwesen stimmten in den Ruf mit ein. Dreimal wurde er wiederholt. Dann legte die nun zur Kaiserin der Nachtgeborenen erhobene ihre weiteren Pläne dar. Alle hier versammelten hörten aufmerksam zu. Dann entließ sie ihr versammeltes Volk, um die weiteren Vorhaben der Kaiserin der Nachtschatten zu verwirklichen.

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Grimauld-Platz 12 in London, 31.07.2006, 16:20 Uhr Ortszeit

Bill Weasley hatte sich sehr gefreut, dass die junge Eule seines Schwagers Harry ihn noch rechtzeitig erreicht hatte, um ihm die Einladung zu seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag zuzustellen. So konnte er vor einer neuen Reise in das ägyptisch-sudanische Grenzgebiet noch einen schönen Nachmittag erleben. Dass seine kleine Schwester Ginny hochschwanger war konnte er nun mit eigenen Augen sehen. Laut seiner Mutter würde ihr Kind, Bills zweiter Neffe, zwischen dem 10. und 24. August zur Welt kommen. Ob das dem Erstgeborenen James gefallen würde, ein Geschwisterchen zu haben, wusste der selbst noch nicht. Bill dachte daran, dass es Ginnys und seiner Mutter sehr gefiel, noch mehr Enkel zu betüddeln. Hier war sie ja auch schon voll in ihrem Element und nahm Harry und Ginny alle Arbeiten ab. Auch hatte sie eine Geburtstagstorte groß wie ein Wagenrad gebacken, auf der sechsundzwanzig goldene Kerzen fröhlich flackerten.

"Auspusten! Auspusten!" skandierten alle Gäste, hauptsächlich Verwandte. Aber auch alte Mitstreiter wie Kingsley Shacklebolt und Neville Longbottom waren da.

Harry Potter nickte allen Gästen zu und holte tief Luft. Dann blies er mit einem kräftigen Puster alle Kerzen auf einmal aus. Alle klatschten Beifall.

"Dafür, dass du einen der gefährlichsten Jobs der Welt hast hast du aber schon eine Menge Lebensjahre angesammelt, Schwager", scherzte Bills Bruder George. Dafür blickten ihn alle erst verdutzt an, mussten dann aber wie das Geburtstagskind lächeln. Im Grunde waren sie froh, dass der ehemalige Chaosbruder nach dem Tod seines Zwillingsbruders Fred wieder zu seinen alten Frechheiten zurückgefunden hatte.

"Solange die schwarze Lady hier nicht auf der Matte steht und mir eine ihrer brennenden Rosen schenken will kann ich damit ganz gut leben, George", meinte Harry. Darauf sagte Bills Frau Fleur: "Wir 'aben das doch alles geregelt, dass ihr im Ministerium auch vor diesen widerlischen Feuerrosen sischer seid, 'arry." Der angesprochene nickte bestätigend. Seine Schwägerin und ehemalige Schulkameradin und Kampfgefährtin gegen den dunklen Lord verzog das Gesicht. Offenbar missfiel ihr, dass sie alle von der Gunst und den Kräften der Veelas abhängig waren, ob von Ladonna Montefiori oder den Verwandten Fleur Weasleys.

"Ja, nur wie wir die Botschaft des goldenen Lichtes auch in den Rest der Welt tragen wollen weiß noch keiner, ma Chere", antwortete Bill seiner Frau. "Ladonnas Unterworfenen haben nach den Befreiungsaktionen in den deutschsprachigen Ländern, Belgien und den Niederlanden beschlossen, nur noch über räumliche Abbilder mit ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu kommunizieren. Der Al-Assuani-Clan hat sich gleichmäßig über das Land verteilt und beruft sich auf massive Bedrohungen aus den Ländern südlich der Sahara. Dazu kommt noch, dass ich immer darauf gefasst sein muss, einkassiert und weggesperrt zu werden, weil sicher ist, dass Al-Assuanis Zaubereiministerium auch schon von dieser Schlampe eingewickelt wurde." Darauf sah ihn seine Mutter tadelnd an. Doch George meinte sofort: "Mum, du hast die Lestrange damals auch so genannt, und die Monttefiori ist um mehrere Besenlängen heftiger drauf."

"Ja, aber nicht vor den Kindern solche Ausdrücke", knurrte Molly Weasley ganz die gestrenge Großmama.

"Leute, ich wollte mal einen Tag Ruhe vor endlosen Diskussionen wegen dieser dunklen Lady haben. Wir sollten froh sein, dass Fleurs Verwandte das rausgekriegt haben, wie wir uns gegen deren Zauber absichern konnten. Das darfst du deiner Mutter gerne noch einmal ausrichten, Fleur. Ansonsten freue ich mich, dass auch alle anderen, die gefährliche Berufe haben, heute hier sein können." Dabei sah Harry zu Rons Frau, dann zu Charlie, Kingsley und Bill herüber.

"Wollte Hagrid nicht auch noch vorbeikommen?" fragte Neville Longbottom. Harry Potter nickte und antwortete: "Ja, wenn er und Professor McGonagall geklärt haben, ob er noch einmal eine Acromantulla-Kolonie im verbotenen Wald ansiedeln darf oder nicht. Die beiden sind da immer noch sehr uneinig."

"Meinetwegen können diese Biester da bleiben wo sie ursprünglich wohnen", grummelte Ron. "Die sollen in Hogwarts 'ne Abstimmung machen, ob die nochh mal solche Monster bei denen haben wollen."

"Man merkt, dass du mit George viel Zeit verbringst. Du machst schon die selben Witze wie der", grummelte Hermine Weasley. "Professor McGonagall hat uns von der Tierwesenbehörde angeschrieben, dass Hagrid wieder diese Riesenspinnen haben will. Seit der Einigung der IMAZOF 2000 gilt, dass nur noch da, wo vorher schon Zuchtkolonien gehalten wurden, Nachwuchs entstehen darf. Ansonsten gilt, dass wild lebende Tierwesen in ihren natürlichen Verbreitungsgebieten verbleiben sollen, es sei denn, es gilt ein Forschungsauftrag, dem die für die Aus- und Einfuhr zuständigen Zaubereiministerien genehmigen müssen. Tja, und Indonesien hat klargestellt, dass die damalige Ausfuhr mehrerer Acromantulla-Eier schon damals illegal war und somit jetzt erst recht untersagt bleibt. Deshalb verstehe ich nicht, was es zwischen Hagrid und Professor McGonagall noch zu debattieren gibt. Es steht alles in der magizoologischen Rundschau. Lesen kann Hagrid doch."

"Es sei denn, McGonagall geht auf die Begründung der Seelenflicker im St. Mungo ein, dass die Betreuung anspruchsvoller Geschöpfe eine gute Therapie gegen die Hilflosigkeit ist, die Hagrid unter dem Einfluss dieser grünen Riesenhexe erlebt hat", meinte Ginny Weasley.

"Neh, kleine Schwester, 'ne Spinnenzucht als Therapie gegen Seelenschäden", blaffte Ron. "Denk dran, dass der kleine James und wen du ihm als Geschwister bringen wirst irgendwann auch nach Hogwarts wollen und du da sicher ruhiger schlafen kannst, wenn du weißt, dass da längst nicht mehr alle Monster rumlaufen dürfen, die uns Hagrid damals im Unterricht vorgeführt hat."

"Dem kann ich mich voll und ganz anschließen, Ron", bestätigte Hermine.

"Och, wir haben Norbertas drittes Gelege durch. Da könnten wir auch ein junges Männchen nach Hogwarts rüberreichen", scherzte Charlie. Alle blickten ihn an. George grinste feist und meinte dazu: "Oh, hast du das schon bei McGonagall und Hagrid angesprochen. Die sind dann sicher ganz Ohr für diesen Vorschlag, vor allem McGonagall und Poppy Pomfrey."

"Die japanischen Bonsaidrachen sind auch interessant", sagte der Vater aller geborenen Weasleys unter vierzig Jahren. "Ich habe mir die bei unserem Ausflug nach Yokohama angeguckt."

"Haben die dir auch erzählt, was sie für einen einzelnen Bonsaidrachen nebst Ausfuhrgebühren und Zuchtlizenz haben wollen, Schwiegerdaddy?" fragte Hermine und legte gleich die Antwort nach: "Zwei Kubikfuß pures Gold, berechnet für einen Zeitraum von hundert Jahren, weil die Bonsaidrachen eine kürzere Lebenszeit haben als die natürlichen Vorlagen."

"Das wird Professor McGonagall nicht genehmigen, weil dadurch die anderen Schulsachen zu kurz kämen", meinte Bills Mutter dazu. Dem stimmten alle zu.

Weil das Thema Ausflüge in andere Länder gerade aufgekommen war schilderten die Anwesenden die Reiseerlebnisse der letzten Monate. Außer Arthur Weasleys Reise nach Japan und Bills regelmäßige Reisen nach Ägypten und Frankreich, um die Schwiegerverwandtschaft bei Laune zu halten, waren Hermine und Harry ebenfalls häufiger in den ehemaligen britischen Kolonien unterwegs gewesen. Percy Weasley haderte damit, dass die angespannte Lage wegen Ladonna Montefiori die seit einem Jahr geplante Rundreise durch Europa auf Eis gelegt hatte. Vor allem wolle er im Auftrag seines Vorgesetzten die Standards für Pergament aus Osteuropa klären. Daran sei im Moment jedoch nicht zu denken. Sein Bruder George meinte dazu: "Tja, dann solltet ihr besser aufhören, immer wieder Briefe an wen zu schicken oder viele Kilometer Pergament vollzuschreiben, weil euch das Zeugs bald ausgehen wird."

"Es geht nicht um die Verfügbarkeit, sondern um die Dauerhaftigkeit und die Dicke der Pergamente, du Kasper. Wenn die Pergamentseiten für den internationalen Schriftverkehr nicht standardisiert werden könnte das Eulenporto in ungeahnter Weise fluktuieren und damit die Finanzsicherheit jedes Ministeriums gefährdet werden", erwiderte Percy hörbar ungehalten.

"Ui, da bläst mal wieder wer einen Flubberwurm zum schwarzen Hebriden auf", lachte George. "Aber du kannst ja in Italien fragen, ob Ladonna Montefiori das regelt, dass jedes Pergamentblatt gleichdick und gleichschwer ist. Dann müssen wir alle keine Angst mehr vor'm Verhungern haben."

"Ist gut jetzt", schnarrte Molly Weasley. Ihr war klar, dass sich an Percys nicht ganz abgelegtem Übereifer für bürokratische Belange immer wieder die wildesten und zugleich unnötigsten Streitereien entzünden konnten. Insofern war Bill froh, da immer schön weit weg zu sein und dass es den Kobolden am Hinterteil vorbeiging, ob Pergamentblätter jetzt dünner oder dicker, unzerreißbar oder von Kleinkindern zu Confetti zerbröselbar waren. Immerhin schaffte es Bills, Percys und Georges Mum, die Debatte zu beenden, bevor sie richtig in Fahrt kam.

Vor dem Abendessen durfte Harry alle Geschenke auspacken. Bill hatte für ihn eine private Rückschaubrille besorgt, die er auch als für seine Sehstärke angepasste Brille nutzen konnte. "Fleur hat da ein paar Fäden gezupft, weil die wen kennt, der die Quelle kennt, wo die Brillen her sind. Keine Sorge, die Einfuhr ist völlig legal gewesen, alles mit den entsprechenden Stellen geklärt", wisperte Bill und deutete auf seine Frau und dann wieder auf Harry.

Ron und George schenkten ihrem Schwager einen geheimnisvollen grau-blauen Kasten. "Weasleys wilde Wetterbox mit allem was einen Tag so richtig kurzweilig macht", hörte Bill George flüstern, während Ron auf der Hut vor seiner Mutter war. "Och, das Zeugs, was ihr von den Forcas' in Frankreich in Lizenz vertreiben dürft, vom Sandsturmsack über den Schneesturm in Flaschen oder den Nebel?" fragte Harry. "Ja, und eine Regenrassel. Wer die schüttelt kann je nach Lautstärke und Anzahl einen Nieselregen oder einen monsunartigen Wolkenbruch herbeirufen", meinte George. "Damit hat Forcas sich den Zorn aller in Frankreich lebenden Hexengroßmütter eingehandelt, weil die Dinger gewöhnlichen Babyrasseln zu sehr ähneln."

"Oh, dann sollte ich das ganz gut wegtun, bevor James oder der neue Potter das in die Hände kriegen und uns das ganze Haus absäuft", meinte Harry. "Ach ja, und dass wir das peruanische Dunkelheitspulver verbessert haben, dass eine kleinere Dosis ausreicht um einen größeren Bereich zu verdunkeln weißt du ja auch. Ist auch in der Wetterbox", zischte George. "Ja, das Original war schon superdurchschlagend", grummelte Harry, jetzt nicht ganz so belustigt. Andererseits konnte er nie wissen, wann er nicht doch mal so ein Mittel zur Ablenkung und Tarnung nötig haben würde. Bill meinte dazu: "An und für sich gut mit deiner neuen Brille kombinierbar, Harry. Wenn du die Rückschau auf zehn Minuten vor der Verdunkelung einstimmst kannst du immer noch die Umgebung sehen, während es für alle voll finster ist." George sah seinen älteren Bruder höchst interessiert an und meinte: "Da spitz ich doch jedes Ohr, dass ich habe, großer Bruder. Wen muss ich fragen, um auch so eine Wunderbrille zu kriegen?"

"Die Strafverfolgungsabteilung in London und Paris, ob du von der Führung her geeignet bist, solche Hilfsmittel benutzen zu dürfen", meinte Bill.

"Eh, ich habe doch bei der Schlacht von Hogwarts mitgekämpft. Das reicht doch bestimmt als gute Führung. Dad gibt mir da bestimmt das nötige Pergament, und für die Pariser kannst du ja deine Holde einspannen, Bill."

"Klar, wo Forcas schon versucht, die ganzen Zauber zu knacken, die in der Rückschaubrille eingewirkt sind". grummelte Bill.

Weil noch andere wissen wollten, wie ihre Geschenke ankamen zogen sich die Brüder Bill, George und Ron zurück. Von Fleur bekam Harry einen neuen Festumhang aus Paris, der gegen alle Wettererscheinungen einschließlich Waldbrand gefeit war und eine eingewebte Gleichwärmebezauberung enthielt, dass er damit sowohl im heißesten Hochsommer als auch im bitterkalten Winter eine gute Figur machen konnte. Charlie schenkte Harry ein aus den Vereinigten Staaten stammendes Besenfutteral, das einen Besen auf ein Zehntel der Ausgangslänge schrumpfte und leicht am Gürtel und unter der üblichen Kleidung verborgen getragen werden konnte.

"Wie habt ihr die zwanzig Jahre Ausfuhrsperre umgangen?" wollte Arthur Weasley wissen. "Die dinger können in Mexiko frei gekauft werden. Ein Kollege aus Peru hat mir das besorgt, weil ich meinte, dass ich beim Drachenhüten doch schon häufiger das Gefühl hatte, jetzt mal eben einen Besen nötig zu haben", sagte Charlie. Hermine und Percy sahen erst ihn und dann einander an. Offenbar dachten sie daran, wie wenig doch internationale Gesetze galten, wenn sie derartig ausgehebelt werden konnten. Doch niemand sagte noch was, auch nicht die sonst so gestrengen Verwandten Hermine und Percy.

Das mehrgängige Abendessen schmeckte allen sehr, auch wenn Ginny immer wieder versucht war, die ihr zugedachten Komplimente zurückzuweisen, weil ihre Mutter die meisten Sachen gekocht und gebraten hatte.

Um zehn Uhr abends verabschiedeten sich alle von den Gastgebern. Bill dachte daran, dass er in wenigen Tagen wieder im Büro seines Chefs sein sollte, weil der sicher schon die nächsten Aufträge für ihn und die anderen auf dem Tisch hatte. Er wusste, dass die Kobolde nach der Erholung von der Goldebbe noch gieriger und dreister geworden waren und hatte schon überlegt, ob er nicht den Job hinwerfen und woanders einsteigen sollte. Doch das Abenteuer, dahin zu gehen, wo seit vielen tausend Jahren kein Zauberer mehr war, lockte ihn immer noch. Außerdem zahlten die Kobolde weiter großzügige Gehälter. Die Kleiderwünsche seiner Frau und die damit einhergehenden Ansichten, dass er auch immer gute Sachen tragen sollte, sowie die für die kleine Victoire anfallenden Ausgaben machten es doch leicht, über die unpassenden Begehrlichkeiten von Kobolden hinwegzusehen. Er durfte sich nur nicht von den ägyptischen Ministeriumszauberern erwischen lassen, vor allem jetzt nicht, wo sicher war, dass Al-Assuanis Leute unter Ladonnas Feuerrosenfuchtel standen.

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In der Residenz der Kaiserin der Nachtschatten, 02.08.2006, weit nach Ende der Abenddämmerung

Remurra Nika, eine ihrer ersten selbsterbrüteten Schattentöchter, erschien völlig geräuschlos vor ihrer Mutter und Kaiserin. Die Erscheinung, die gerade mal so groß wie zwei Menschen war, verneigte sich vor jener, die mittlerweile so groß wie acht ausgewachsene Menschen war.

"Meine Mutter und Kaiserin, meine Gepfändete hat gerade eine Begegnung mit einem dieser Blutsauger gehabt, die nicht von der roten Götzin gelenkt werden. Sie wäre fast von diesem Burschen hypnotisiert worden, wenn ich ihr nicht meine Kraft verliehen und den Spieß umgedreht hätte. Jetzt wissen wir, dass die selbsternannten freien Nachtkinder eine Gruppe am Niederrhein haben und wann sie sich das nächste mal treffen. Meine Gepfändete hat dem Langzahn dann ins Hirn gedübelt, dass es die Begegnung mit ihr nicht gab. War verdammt anstrengend für mich, genug Kraft in sie reinzuschicken."

"Wann lernst du es, Kind, dass du kein rotzfreches Mädchen mehr bist, dass derartig daherreden darf, Remurra Nika!" knurrte Birgute Hinrichter. "Aber ich danke dir für diese Kunde. Ich erlaube dir, dir eine der sterblichen Jungfrauen zu nehmen, um die von dir eingesetzte Kraft zurückzugewinnen, wenn du mir mitteilst, wann und wo sich diese Niederrheingruppe treffen wird."

"Die haben mit der Götzin doch nix zu tun, meine Mutter und Kaiserin", erwiderte Remurra Nika eingeschüchtert. "Hast du mir gerade berichtet, Remurra Nika. Doch die nicht zu ihr gehören wollen dich und mich loswerden, weil die sich für die einzig wahren Nachtkinder halten. Darum will ich auch alles wissen, was die so anstellen und ob es nötig ist, sie zu vernichten."

Remurra Nika blickte ihrer Mutter und Kaiserin genau in die großen Augen. Das reichte, um der Herrin aller Schattengeister innerhalb nur einer halben Sekunde alle ihr wichtigen Informationen zu übermitteln.

"Gut, dann werde ich mir diese Gruppe vornehmen. Sie werden entweder meine Vorrechte anerkennen oder erlöschen", beschloss Birgute Hinrichter. Sie dachte an alles, was sie über die in sich einverleibten Kräfte und Erinnerungen der schattenhaften Zwillingsschwester Thurainillas erfahren hatte. Thurainilla hatte auch Vampire unterdrücken können und sie zu ihren Knechten gemacht. Falls ihr das bei den nicht von der falschen Göttin beeinflussten gelang konnte sie diesen Blutsaugern anbieten, für sie weiterleben zu dürfen. Die selbsternannte Gottheit dieser Langzähne musste jedoch vergehen, wenn Birgute Hinrichter auch noch nicht wusste, wie sie das anstellen sollte.

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Im Club Golden Fountain in Tokios Vergnügungsviertel Roppongi, 04.08.2006, 23:59 Uhr Ortszeit

Gleich war Mitternacht. Er und seine Herrin, Gefährtin und Halbtante Thurainilla hatten es zur Tradition erhoben, jeden vierten Tag im Monat aus dem einen in den anderen Tag hinüberzufeiern. Hierzu suchten sie dann eines jener Vergnügungsstätten auf, in dem sich Paare oder Einzelmenschen zu hemmungslosem Sex mit wechselnden Partnerinnen und Partnern treffen konnten. Da fanden er und sie ihre bevorzugte Beute, menschliche Leibes- und Seelenenergie. Vor allem in den völlig abgedunkelten Räumen, wo sich die willigen Wechselpartner nicht ansehen konnten genossen sie dieses Labsal. Wichtig war nur, dass sie keinem dabei ausgesuchten Menschen zu viel Kraft aussaugten, dass er oder sie dann ohnmächtig oder gar tot zurückblieb.

Im Moment machten sich an die dreißig Männer und Frauen in diesem Club unter den Straßen von Tokio übereinander her, nicht nur Asiaten, sondern auch ausländische Besucher, Vergnügungstouristen, die das hemmungslose Nachtleben suchten und an Orten wie diesen Fanden.

Er hörte seine Herrin Thurainilla nur vier Meter weiter fort mit einem großgewachsenen Mann aus Amerika. Er selbst hatte sich dessen Schwester ausgesucht, die nur für einmal pro Monat guten oder abgedrehten Sex nicht heiraten wollte. Dabei bekam er nicht nur ihre leidenschaftliche Lebensenergie ab, sondern erfuhr bei der Gelegenheit auch, dass sie vor drei Tagen einem Mann ohne Schattenwurf begegnet war, das aber für eine optische Täuschung gehalten hatte. Er, der seit seiner Wiedergeburt als Schattenreiter gegen unheimliche Wesen der Dunkelheit kämpfen musste, fühlte sich bei der Erwähnung solcher unnatürlichen Zeitgenossen alarmiert.

"Thurainilla, Grace hat einen von den Schattenlosen gesehen, im Bezirk Nagatacho, wo die japanische Regierung ihren Sitz hat", gedankensprach er, ohne aus dem Rhythmus der leidenschaftlichen Vereinigung zu geraten.

"Ein Schattenloser in Tokio. Die wird echt langsam frech, ihre Marionetten bei so vielen Menschen rumlaufen zu lassen", erwiderte Thurainilla. Auch sie konnte gleichzeitig Gedankensprechen und sich ihre bevorzugte Nahrung verschaffen. Roger, Graces Bruder, bot ihr eine Menge, weil der als Angehöriger der Sondereinheit SEAL der US-Kriegsmarine besonders gut trainirte.

"Sollen wir uns dieses schattenlose Menschlein vornehmen, Thurainilla?" fragte der, der früher mal Aldous Crowne geheißen hatte. Seine Herrin und gewissermaßen Tante erwiderte: "Ja, das wirst du tun. Wenn Roger mir genug von sich gibt und du von seiner lebenslustigen Schwester auch genug kriegst kann ich dich mit einem Schild gegen die Explosion eines Schattenlosen abschirmen. Wir müssen wissen, wo dieses Unweib sich herumtreibt. Ich will Riutillia aus der wieder rausholen, auch und vor allem wenn ich dieses überhebliche Gespenst dabei auslöschen kann. Also halten wir uns ran. Gerade ist es Mitternacht!"

Tatsächlich läutete gerade eine kleine Glocke, und eine fröhliche Männerstimme verkündete auf Japanisch, dass es Mitternacht war. Eine leidenschaftliche Frauenstimme teilte dies auch auf Englisch mit, damit die Paare oder Dreiergruppen, die gerade miteinander beschäftigt waren wussten, dass sie es geschafft hatten, aus dem einen in den anderen Tag hinüberzukoitieren. Für viele von denen hier war das der Grund überhaupt, sich um diese Uhrzeit im Dark Room des Goldden Fountain auszutoben.

Aldous, der sich hier Dan nannte, erfuhr aus den Gedanken seiner Gespielin noch, wo genau sie den Schattenlosen gesehen hatte. Dann fand er, dass sie ihm genug Kraft zugeführt hatte.

Sie hatten das schon einmal hinbekommen, wenn sie Blutsverwandte beschlafen hatten, die von disen aufgenommene Kraft in einem von beiden zu bündeln. In dem Fall bekam er von Thurainilla, als er mit ihr die leibliche Vereinigung suchte, alle von Roger erbeutete Kraft ab, die sich mit der seiner Schwester Grace zu einer besonders wirkungsvollen Kraft verwob. Nun konnte Aldous Crowne, der Schattenreiter, jene fatale Explosion überstehen, die schon manchen neugierigen Zauberstabnutzer aus der Welt geblasen hatte. Tja, wer nicht die ganze Macht der ewigen Dunkelheit beherrschte sollte besser die Finger und was sonst noch von denen lassen, die keinen eigenen Schatten warfen.

"Sei bloß vorsichtig, wenn du dir den Kerl vornimmst, Schattenreiter! Am Ende ruft der noch den her, der ihm seinen Schatten weggenommen hat. Falls er aber die ruft, die deine zweite Mutter und meine Zwillingsschwester verschluckt hat reicht ein Gedanke an mich, und ich werde dieser Elenden den Garaus machen", dachte die kleine, zierliche Frau, die gerade mit ihrem Abhängigen leidenschaftliche Minuten erlebte. "Glaubst du, der Typ ist auch Nachts unterwegs, dass ich den mit Sharon finden kann?" fragte Aldous Crowne."

"Ich glaube gar nichts, mein ergiebiger, getreuer Gefährte der Nacht", gedankensprach Thurainilla, während sie immer leidenschaftlicher stöhnte. Gleich würden ihre und seine Energien in einer Explosion der höchsten Wonne zusammenfließen. Als dies geschah wusste der Schattenreiter, dass er auch bei Tag mit dem Schattenlosen fertig werden konnte.

Gegen ein Uhr verließen die zwei besonderen Nachtschwärmer den Club Golden Fountain. Sie bedachten die Sicherheitsleute mit einem kurzen Blick der Nichtbeachtung und verschwanden in unterschiedlichen Richtungen. Grace und Roger Middleton, die es genossen hatten, vom einen in den anderen Tag hinüberzufeiern verließen den Club erst um zwei, als Roger gerade noch rechtzeitig merkte, dass er fast mit der eigenen Schwester den Platz auf der Spielwiese teilte. Sie hatten das schon ein paar mal getan. Aber sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie bei "so viel Angebot" genug andere Gespielen finden konnten.

"Man bin ich platt", sagte Roger. "Die kleine Chinesin oder Japanerin, die mit mir in die Mitternacht reingevögelt hat hatte es voll drauf", keuchte Roger, als er seine unbekleidete Schwester streichelte. "Ich hatte wohl einen aus England. Der war aber richtig leidenschaftlich. Aber irgendwie bin ich jetzt auch richtig platt, Rogy Baby", erwiderte Grace. "Wird Zeit, dass wir Betten finden, in denen wir schlafen können." Roger war da ganz ihrer Meinung.

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Im Regierungsviertel von Tokio, 05.08.2006, 14:20 Uhr Ortszeit

Gilbert Walker hoffte, dass er bald von hier weg konnte. Jeden Tag musste er die ihn peinigende Sonne über sich ergehen lassen, nur weil sein dämonischer Führer Melir Betor mehr über die Geschäfte der japanischen Regierung mit westlichen Finanzfachleuten herausfinden wollte. Dabei konnte der, nachdem ihm Melir Betor seinen eigenen Schatten weggenommen hatte nur wenige Minuten in freiem Sonnenlicht aushalten und trug auch im Hochsommer langärmelige Kleidung. Gut, in einem Geschäfts- und Regierungsviertel fielen Anzüge nicht weiter auf. Aber dass er sein Gesicht auch noch mit zentimeterdicker Sonnencreme eingerieben hatte mochte einigen hier seltsam vorkommen.

Walker genoss jeden Schatten, der ihm geboten wurde. Wenn er nicht in der Sonne oder vor einer Lichtquelle vorüberlaufen musste war dieses neue Dasein auszuhalten.

Er passierte gerade das Innenministerium. Hier galt es besonders gut aufzupassen. Sein dämonischer Meister Melir Betor hatte ihm die Gabe des Heranhörens verliehen, also dass er wie bei einem immer stärker ausgefahrenen Richtmikrofon ferne Unterhaltungen mithören konnte, wenn er nicht gerade voll im Sonnenlicht stand. Also peilte er einen besonders schattigen Punkt an, von dem aus er seinen Lauschangriff durchführen konnte. Da fühlte er es.

Es war wie ein ganz leises, dunkles Summen, wie zwei auf unterschiedliche Frequenzen eingestellte Trafos, dachte Walker, der sich auch mit Elektroinstallationen auskannte. Doch das waren keine elektrischen, sondern übernatürliche Schwingungen, schwarze Magie, wie die, die ihn zur Marionette des Schattendämons Melir Betor gemacht hatte. Sein Heranhörsinn ließ ihn erfassen, wo der oder das Fremde gerade war. Es war nur hundert Meter weiter fort. Sollte er seinen Lenker oder gar dessen Mutter und Kaiserin rufen? Nein, er sollte erst ergründen, was ihn da störte.

Der Schattenlose brach den Lauschangriff ab und wandte sich der Quelle der unnatürlichen Schwingungen zu. Am Ende war das einer dieser Götzinnenanbeter, der mit einem Schutz vor Sonnenlicht angezogen herumlief. Sowas hätte er auch gerne, hatte er seinem Lenker einmal mitgeteilt. Doch der hatte erwidert, das es bisher nicht möglich war, diese besondere Schutzhaut nachzubauen, um auch Kundschaftern wie ihm ein unbeschwertes Herumlaufen in der Sonne zu ermöglichen.

Je näher Gilbert Walker der fremden Quelle kam, desto sicherer war er, dass es ein männliches Wesen war. Dann sah er den anderen. Er war mit einem nachtschwarzen Lederanzug bekleidet, wie ihn Motorradfahrer trugen. Als der sah, wer ihm da entgegenkam blickte er ihn triumphierend an. Gerade geriet Walker wieder ins Sonnenlicht. Er merkte, wie ihn das piekste.

"Ah, hast du mich doch gespürt, Mann ohne Schatten?" fragte der andere so leise, dass es ein normaler Mensch garantiert nicht gehört hätte. Der Schattenlose trat vor und besah sich den noch jungen Burschen in Motorradkluft genauer. Es war ein Weißer wie er. Aber der strahlte was aus, das zugleich unangenehm wie verlockend war.

"Wer bist du, Fremder. Gehörst du zu der Blutgötzin?" fragte er, als er dem anderen bis auf fünf Schritte nahegekommen war. Das war bis auf diese fremde Schwingung offenbar ein normaler Mensch.

"Wenn es so wäre, Schattenloser?" fragte der andere und sah ihn genau an. Da meinte er, das zweistimmige Summen erklinge direkt unter seiner Schädeldecke. Er merkte, wie er gegen dieses störende Summen andenken musste und erkannte zu spät, dass er damit dem anderen Dinge von sich weitergab. "Du bist einer von denen, die mit Zauberstäben herumwedeln", knurrte er. "Aber du kriegst mich nicht. Mein Herr wird mir beistehen."

"Wer, der, der dir den Schatten weggenommen hat oder das Überweib, dass meint, alle dunklen Wesen beherrschen zu dürfen?" fragte der andere. "Du weißt schon mehr als für dein Leben gut ist, Unbekannter. Auch wenn dir was anhängt, was mich kirre macht werde ich dich hier und jetzt umbringen, auch wenn mir dabei hundert Leute zusehen."

"Ach, denkst du das, kleine Marionette? Du kannst ja nicht mal husten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Aber du weißt Sachen ..." Der Schattenlose sprang vor, wollte den Fremden mit beiden Händen an die Gurgel. Doch dieser wich aus und landete seinerseits einen heftigen Karateschlag gegen die Stirn des Schattenlosen. Trotz seiner besonderen Beschaffenheit oder gerade deswegen kostete ihm dies die Besinnung. So bekam er nicht mit, wie der andere ihn mit einigen Gesten in eine Art schwarzen Dunst einhüllte, ihn anfasste und dann seiner Herrin zurief: "Ich habe den. Der hat gespürt, dass ich was an mir habe. Hol mich bitte zu dir!"

Nur eine Sekunde später verschwanden der Fremde und sein bewusstloser Gefangener in einer nachtschwarzen Lichtspirale.

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Zur Selben Zeit in einer Berghöhle in Westjapan

Melir Betor konnte nicht hinaus, weil die Sonne gerade so stark war. Er bekam jedoch mit, dass jemand die Verbindung mit seinem Schattengepfändeten störte. Er rief nach ihm und wollte wissen, was das war. Doch er bekam keine Antwort. "Mutter und Kaiserin, mein Gepfändeter wurde wohl angegriffen. Habe keine Verbindung mehr mit ihm. Soll ich den letzten Befehl ausrufen?"

"Du hast keine Verbindung mehr mit ihm, Melir Betor?" hörte er die Gedankenstimme seiner Wiedergebärerin und Kaiserin in seinem Geist. "Versuche den Standortruf und sage mir, wo er ist!" Melir Betor bejahte es und sandte den Standortruf aus. Doch dieser fand nicht die abgestimmte Widerhallquelle. Beide wussten, dass wer gefangengenommen wurde im Akt der letzten Abwehr explodierte und jeden im Umkreis von fünfzig Metern mit in den Tod riss. Doch dass er seinen Gepfändeten nicht erreichen konnte gefiel Melir Betor nicht.

"Er muss von irgendwem ohne Magie bewusstlos gemacht worden sein. Wenn jemand den bezaubert hhätte hättest du das gespürt. Also denken die, dass sie deinen Diener so gefangennehmen und aushorchen können. Die werden sich wundern. Sobald er wieder aufwacht wird er zerspringen und jeden mitnehmen, der zu nahe bei ihm steht."

"Ich soll ihm nicht helfen?" fragte Melir Betor. "Der hat vielleicht noch wichtige Sachen aus dem Innenministerium mitgehört, Mutter und Kaiserin."

"Solange er da ist, wo Sonne scheint bist du besser nicht da, wo er ist. Abgesehen davon müssen die nicht gleich merken, an wem er dranhängt, bevor er sich über die Umgebung verteilt ... Ey, spürst du das auch!" Melir Betor spürte es wirklich, dass etwas an einem unsichtbaren Faden an oder besser in ihm zerrte und aus diesem Faden was spann, was ihn schwindelig machte. Da er gerade mit seiner dunklen Mutter der Nacht verbunden war spürte sie das auch. "Das ist entweder diese Blutgötzin oder die andere, die mir Konkurrenz macht."

"Soll ich dann nicht doch hin, Mutter? Ich merke jetzt, wo er ist und ... Häh? Der ist jetzt ganz ganz woanders."

"Dann ist sie das. Dieses vaterlose Weib hat ihn sich geholt. Woher wusste die, wo dein Unterpfand war, Melir Betor?" Er erwiderte, dass er das nicht wisse und er auch keinem verraten habe. "Dann ist es ein Zufall. Aber sie wird ihn auch nicht ..." Melir Betor meinte, unvermittelt einen lauten, von einem wilden Gebrumm begleiteten Schrei zu hören, der wie eine vom Sturm getriebene Welle auf ihn zuraste und durch ihn hindurchbrandete und dann hinter ihm in tausende von bruchstückhaften Lauten zerfiel. Dann meinte er, in einen Sog geraten zu sein, der ihn fast aus seiner sonnengeschützten Behausung zerrte. Melir Betor raste auf eine Wand seiner Behausung zu. Er meinte schon, gleich daran zu zerschellen. Doch da ließ der Sog nach.

"Sie hat ihn in ihren Lebenskrug geworfen und einfach darin vertilgt, diese vaterlose Hure!!" gedankenbrüllte die Mutter aller Schattengeborenen. Melir Betor spürte, dass irgendwas aus ihm herausgerissen worden war. Klar, es war der im Tod des angestammten Besitzers zersprungene Schatten Gilbert Walkers. "Er könnte doch auch vergangen sein, Mutter und Kaiserin", keuchte er.

"nein, ist er nicht. Dann hättest du nur seinen Aufschrei und Gegenstoßwellen gespürt, weiß ich von mehr als genug deiner Geschwister, die ihre Gepfändeten schon aufgeben mussten. Nein, sie hat ihn schlicht in ihr Lebenskraftsammelgefäß geworfen und sich damit alles von ihm geholt, was er noch hatte. Dabei wird sie auch deinen Namen erfahren haben. Falls sie dich ruft und du ihr nicht widerstehen kannst, so ruf mich vorher. Dann kann ich endlich zu Ende bringen, was noch ansteht", gedankensprach die Kaiserin der Nachtschatten.

"Ich höre und gehorche, meine Mutter und Kaiserin", bestätigte Melir Betor.

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Zur selben Zeit in Thurainillas Zuflucht an den Chinesischen Ausläufern des Himalaya

Aldous Crowne alias Schattenreiter hatte von seiner magischen Herrin schon einiges mitbekommen und wusste, dass sie sehr schnell reagieren konnte. Doch als er mit dem betäubten Gefangenen in jenem dunstartigen schwarzen Kokon bei ihr in der kuppelförmigen Höhle erschien war sie blitzschnell wie eine angreifende Großkatze losgesprungen, hatte den Betäubten ergriffen und schleuderte ihn in den an die zwei Meter hohen, golden strahlenden Krub mit den zwei ausladenden Henkeln. Der Gefangene fiel kopfüber in jene orangerot wabernde Masse, die weder Flüssigkeit noch Gas war und verschwand vollständig darin. Wenige Sekunden später spotzten orangerote Funken und Blasen wie teerschwarzer Blaskaugummi aus dem Krug, zerplatzten und rieselten als schwarzer Regen zurück in den Krug. Noch einmal knisterten orangerote Funken heraus. Dabei fühlte der Schattenreiter, wie er von innen her erschüttert wurde. Als er seine zierliche, asiatisch aussehende Gefährtin ansah erkannte er, dass sie sichtlich erschöpft und erbleicht aussah, als habe sie gerade etwas sehr anstrengendes und unangenehmes überstehen müssen. Sie schnaufte hörbar. Dann nahm sie zur Kenntnis, dass ihr Abhängiger sie ansah und sagte mit leiser Stimme:

"Das wollte ich schon immer wissen und frage mich, ob ich das öfter wiederholen kann. Aber was ich dabei erfahren habe war zumindest dieses eine mal wert. Die Verschlingerin meiner Schwester stand über einen ihrer Unterlinge mit diesem Mann in Verbindung. Das schwarze Zeug, was du gesehen hast war die von ihrem Unterschatten in ihn eingeflößte Essenz seiner Herrin, die ihn wohl ähnlich erschaffen hat wie Riutillia dich in die Dunkelheit der Welt zurückgeboren hat. Das hat mich doch ziemlich gut ausgelaugt, was mir bei vollständigen Lebensgaben von erwachsenen Männern so nie passiert. Für ein paar sekunden habe ich den Unterschatten gesehen, dem der Bursche seinen natürlichen Schatten hat opfern müssen und seinen Namen erfahren: Melir Betor. Jetzt könnte ich hingehen und den beschwören wie einen rastlosen Geist. Aber ich denke, seine Herrin hat was dagegen und wird ihn zurückhalten. Nein, da gilt dann, dass der geduldigen Katze die fettesten Mäuse zur Beute fallen. Wir werden also weiter nach Schattenlosen jagen. Aber von denen werfe ich keinen mehr in meinen Lebenskrug."

"Der ist mit seinen Sachen an da reingefallen. Sind die jetzt auch weg?" fragte Aldous Crowne. Seine Meisterin verzog das Gesicht. Dann stellte sie den linken Fuß in den linken Henkel, zog sich über den Rand des Kruges und ließ sich die Füße voran hineingleiten. Nur eine Viertelminute später warf sie ein Bündel Kleidung heraus und entstieg dem Krug wieder. Dann durchsuchten sie die herausgeholte Kleidung. "Gilbert Walker hieß der Mensch, hat ursprünglich für eine britische Firma aus Manchester gearbeitet", sagte Aldous Crowne. "Und dieser Unterschatten, Mellie Beto oder wie du ihn nanntest ..." "Me-lir-Be-tor", erwiderte Thurainilla. "Im unmittelbaren Zusammenfluss seiner und meiner Magie erfuhr ich aus Walkers sich auflösenden Geist den Namen dieses Unterschattens. - Ja, der und / oder seine Herrin, Kaiserin und womöglich Wiedergebärerin wird gemerkt haben, dass die Verbindung abgerissen und ihnen ein winziger Teil der eigenen Kraft abgesaugt wurde. Auch deshalb darf ich diesen Versuch nicht ständig wiederholen. Es könnte sonst sein, dass sie erfasst, wo mein Versteck ist. andererseits böte sich bei Dunkelheit betrachtet auch die Möglichkeit an, ihre Unterschatten zu unterwerfen. Denn wenn sie nicht in der Nähe ist sind sie meiner eigenen Kraft sicher unterlegen."

"Ich hoffe das sehr, meine Herrin und Gefährtin", sagte Aldous Crowne ehrlich. Dann meinte er: "Könnte es sein, dass dieses Schattenweib, dass ... Riutillia aufgefressen hat, diese oder diesen Melir Betor jetzt aus dem Verkehr zieht, weil du weißt, wie er heißt?"

"Du meinst, dass sie ihn wieder in sich zurücknimmt, weil er uns beiden gegenüber enthüllt wurde?" fragte Thurainilla. Sie wiegte ihren Kopf mit den großen, tiefschwarzen Mandelaugen und sagte dann: "Nein, sie wird ihn nicht auslöschen. Sie wird ihn höchstens für eine gewisse Zeit in ihrer Nähe halten um zu erfassen, ob und wie wir auf ihn einwirken wollen. Dann wird sie ihn erneut losschicken, sich einen Menschen Untertan zu machen, jetzt wo er den von ihm gebändigten Gefolgsmann verloren hat."

"Stimmt, du und Tharlahilia haben erwähnt, dass diese Unterschatten diesen Schattenklauzauber nur mit je einem einzigen Menschen anstellen können, vorzugsweise vom selben Geschlecht wie die eigene verschattete Seele", erinnerte sich Aldous Crowne. Thurainilla bejahte es. Dann schlug sie vor, dass er zu seinem Motorrad zurückkehrte, das durch einen ungewollten Zufall die Seele einer geisteskranken Mörderin einverleibt hatte und trotz deren Entfernung ein weibliches Eigenleben entwickelt hatte. Er sollte nach weiteren Schattenlosen suchen, sie aber diesmal nicht zu ihr hinbringen, sondern zur Explosion bringen. Der ihm eingeprägte Schildzauber der Dunkelheit mochte mindestens zehn von denen überstehen.

Als Aldous sicher bei seiner schwarzen Yamaha eingetroffen war überlegte Thurainilla, dass sie nicht wie geplant die Vampire zuerst erledigen sollte, sondern tatsächlich jene Schattenfrau, die ihre fleischlose Zwillingsschwester Riutillia verschlungen und so doch viel zu viel über sie und womöglich die anderen Töchter Lahilliotas erfahren hatte. Sie musste es ausnutzen, dass ihre Mutter gerade wieder in ihrer menschlichen Gestalt und mit ihrer menschlichen Intelligenz unterwegs war. Ab Oktober würde sie wohl wieder in der Gestalt der roten Riesenameisenkönigin stecken. Es wäre zu schön, ihr bis dahin eine wichtige Erfolgsmeldung machen zu können.

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In Birgutes Höhlenversteck

"Melir Betor, komm her!" befahl die Herrin der körperlosen Nachtgeborenen. Keine Sekunde später erschien wie üblich völlig lautlos der von ihr gerufene Sohn Melir Betor, der vor zwei Jahren noch Robert Lime geheißen hatte und als Mitglied einer Ölbohrtruppe in der maarokkanischen Wüste unterwegs gewesen war. Ihn und seine acht Leute hatte sie zu ihren Kindern gemacht.

"Meine Mutter und Kaiserin, vergib mir mein Versagen", bat der herbeigerufene Nachtschatten seine Herrin. Diese sah ihn mit ihren mehr als Suppenschüsselgroßen blauen Augen an. Für sie leuchtete Melir Betor grün wie Frühlingsgras in der Mittagssonne.

Du konntest es nicht verhindern, oder du wärest im Sonnenlicht vergangen, Melir Betor. Ich habe dich hergerufen, um sicherzustellen, dass dich diese selbstherrliche Dame, die meint, die Herrin der Dunkelheit zu sein, nicht mal eben zu sich hinrufen kann. Los, rein da!" Er sah seine riesenhafte Regentin an und meinte erst, in diese zurückkehren zu sollen. Doch dann sah er die silberne Flasche mit Bügelverschluss. "Los, mach, du bist noch klein genug dafür. Oder willst du von der anderen erst zu ihr hingezerrt und dann lebendig verschluckt werden?" fragte Birgute Hinrichter unheilvoll klingend. Melir Betor erzitterte. Dann peilte er die Öffnung der bauchigen Flasche an. Leise seufzend ballte er sich zu einer gerade einmal haselnusgroßen Kugel zusammen und segelte durch die Luft. Er verschwand in der Öffnung der Flasche, unter deren Boden Birgute mit Hilfe auf ihre dunkle Substanz abgestimmter Werkzeuge den Namen Melir Betor eingeritzt hatte. Der ihr treue Schattendiener verschwand in der lichtundurchlässigen Flasche. Birgute streckte ihre linke Hand aus. ihre Finger streckten sich lang und länger, bis sie gerade einmal so dünn wie die Finger normalgroßer Menschen waren. Sie klappte damit den Bügelverschluss zu und sicherte ihn. Damit gefror für Melir Betor die Zeit, so dass er nichts mehr von außen wahrnahm. Birgute Hinrichter nahm die Flasche mit ihren immer noch grottesk verlängerten und ausgedünnten Fingern auf und stellte sie in eine ausgegrabene Nische in der Wand, wo noch andere Silberflaschen standen. Die in ihr aufgegangene Seele Morgauses hatte ihr eingegeben, für jedes einen eigenen schattenlosen Diener leitenden Kinder so eine "Überdauerungsflasche" anzufertigen, nur für den Fall wie diesen, dass jemand ergründete, wem ein Unterpfand diente, der nicht rechtzeitig genug explodierte. Sie dachte daran, dass sie all zu gerne auch die Seele der falschen Blutsaugergöttin in einer solchen Flasche einschließen würde. Doch die steckte eh schon in einem festen Gegenstand, der als unzerstörbar galt, so das Wissen Riutillias, das wie Morgause ein wichtiger Teil von ihr und ihrer innewohnenden Kraft war.

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Geheime Niederlassung von Gringotts 20 Koboldmeilen südlich von Alexandria, 09.08.2006, 09:50 Uhr Ortszeit

Chapknock der Sandsieber war der Leiter der geheimen Niederlassung bei Kairo. Die offizielle Niederlassung, in der auch europäische Hexen und Zauberer ihre Goldanweisungen tätigen konnten, diente nur zur Ablenkung. Zwar wussten die Leute des Ägyptischen Zaubereiministeriums, dass Gringotts auch alte Grabstätten ausplünderte. Doch weil von den dabei erbeuteten Dingen und Schriftproben ein großzügiges Bakschisch an die zuständigen Stellen weitergeleitet wurde hatten die Ägypter die Kobolde und ihre mit Zauberstäben hantierenden Angestellten bisher gewähren lassen. Doch seit einiger Zeit wehte den Kobolden ein eiskalter Wind ins Gesicht, der nichts mit dem hierorts bekannten Kamsin zu tun hatte. Chapknock gefiel das nicht. Als er dann auch von einem Verbindungskobold zu der Bruderschaft, die alles sieht und hört erfuhr, dass Ägypten wohl von dieser Mischlingshexe aus Italien gegängelt wurde galt noch mehr, dass keiner mitbekam, wo die Geheimniederlassung war.

Chapknock trug seine der Rangstellung angemessene rot-goldene Uniform, die seinen sehr gut gefütterten Bauch am Rande des Zerreißens überspannte. seine wenigen grauen Haare standen wie Kaktusstacheln ab. Er blickte von seinem mit silbernen Verzierungen geschmückten Chefsessel zu den zwei Menschen hinauf, die sich wie befohlen bei ihm eingefunden hatten. Beide Angestellten hatten flammenrotes Haar, wenngleich der längere der beiden ein glattrasiertes, mit weißlichen Narben verunziertes Gesicht präsentierte, während der zweite einen bis unters Kinn wallenden Vollbart darbot.

"Erst mal freue ich mich, dass Sie es noch geschafft haben, ohne an der Grenze aufzufallen zu uns zurückzukehren, Bill", grüßte Chapknock den bartlosen Bill Weasley. "Die Al-Assuani-Brüder haben die Flohpulverstation zugemacht und alle Häfen mit Zauberkraftaufspürern bepflastert. Quickjock, mein Laufbursche, wäre fast von einem von denen erwischt worden. Der konnte sich aber mit unserer Standardlegende da rausreden, dass er einen Eilauftrag nach Madrid bringen sollte. Aber offenbar haben Sie noch ein paar nette Wege, die Al-Assuani noch nicht kennt."

"Joh, habe ich", grinste Bill Weasley. Doch er würde es dem feisten Chapknock nicht verraten, dass er allen Ernstes auf dem Rücken seiner als Schwan auftretenden Schwiegermutter über das Mittelmeer gekommen war und somit auch von ihrem Unortbarkeitszauber profitiert hatte. Denn Fleur und ihre Mutter hatten trotz aller Gefahr für ihn entschieden, dass er als Kundschafter im Land des Nils und der Pyramiden wichtige Dienste leisten konnte.

"Und sie, Rore, haben Sie den Kater schnell wieder verdaut, den Sie sich in Kassims Kaschemme unter die Schädeldecke gesoffen haben?" fragte Chapknock Bills bärtigen Kollegen Rore McBane.

"Ich bin ein McBane. Ich wurde mit bestem Singel Malt Whisky gestillt, Mr. Chapknock", grinste Rore mit seiner angerauhten Stimme im besten schottischen Akzent.

"Gut, wo Sie offenbar mit Katern und Katzen so gut klar kommen und Sie, Bill uns vor kurzem den Ring des Horus aus dem Grab des Priesters Horem Bakar verschafft haben möchte ich Sie beide für eine heikle Aufgabe einteilen. Meine Jungs aus der Rechercheabteilung haben mitbekommen, dass die Sekte der Katzenmenschen so eine halbe Besenflugstunde von der Nilmündung entfernt einen Tempel haben, in dem eine ihrer größten Priesterinnen begraben sein soll. Natürlich ist das Ding gegen unbefugten Zutritt abgesichert. Aber das kennen Sie ja schon zur Genüge." Die zwei Zauberer nickten bestätigend. "Was wir von dieser Katzenpriesterin wollen ist das smaragdene Auge der Bastet, ein Smaragd, der so groß ist wie Ihre Hand, Rore. Angeblich soll dieser Smaragd die Eigenschaft besitzen, auch als Nichtkatzenwesen bei völliger Dunkelheit zu sehen, in tiefe Bodenschichten hineinzusehen, ob dort etwas metallisches oder lebendiges versteckt ist und bei Erwähnung eines bestimmten Wortes, dass im Totengewand der Priesterin eingewebt sein soll, Feinde im Umkreis von einem Tausendschritt zu erkennen. Es gehört zur Liste der zwölf Schätze des Nils, an denen unser Haus seit Jahrzehnten interessiert ist. Dieses Auge der Bastet gilt es zu beschaffen und zwar so, dass die Al-Assuani-Bruderschaft absolut nichts davon mitbekommt, dass Sie überhaupt in dieser Gegend unterwegs sind. Denken Sie einfach daran, dass Sie ja noch einmal Weihnachten mit Ihren Familien feiern wollen. Öhm, die Bastet-Schwesternschaft ist übrigens sicher auch nicht bereit, dieses wichtige Artefakt rauszurücken. Also gehen Sie ja nicht damit hausieren, dass Sie diesen Gegenstand kennen oder gar in Besitz bringen wollen. Diese Katzenbiester haben einen ähnlich guten Kundschafterdienst wie der Bund, der alles hört und sieht."

"Verstehe, Ihr Kundschafterdienst ist an diesem Artefakt interessiert", wagte McBane auszusprechen, was er und Weasley gerade dachten. "Hömm-ömm, wie erwähnt wollen Sie sicher noch das eine oder andere Weihnachtsfest mit Ihren Liebsten feiern und ich will keine Witwenrente an irgendwelche Veelastämmigen rausrücken. Also denkenSie sowas ja nicht einmal, Mr. McBane", knurrte Chapknock. Dann klopfte er auf seinen Schreibtisch. Wie daraus herauswachsend entstand eine halbdurchsichtige Landkarte. Die zwei Angestellten kannten den Trick schon. Der Chef konnte darauf die Stelle zeigen, wo das gesuchte Objekt vermutet oder sicher festgestellt worden war. So nahmen sie konzentriert zur Kenntnis, wie weit der geheime Katzentempel entfernt war und dass dort eine Gruppe von vier Priesterinnen und wohl fünf bis zehn Goldkatzen wachte. "Ui, die Miezen sind nicht ohne", meinte McBane. "Abgesehen davon, dass die verdammt schnell sind sind deren Krallen und Zähne so hart, dass sie selbst durch Eisenplatten dringen können. Da müssen wir mit Kopfblasenzaubern und Schlafdunst rein. Sonst frikassieren die uns."

"Ja, und dann sind da sicher eine Menge auf Männer abwehrend wirkende Zauber", sagte Bill Weasley. McBane deutete auf das Gesicht des Kollegen und fragte: "Öhm, war da nicht was, dass Bastet-Jüngerinnen mit Trägern des Lykanthropiekeims noch weniger anfangen können als mit unbelasteten Leuten?"

"Einmal mehr", setzte Bill genervt an: "Ich bin kein Werwolf. Dieser Irre Fenrir Greyback hat mich nicht in seiner Wolfsgestalt gebissen. Ich habe nur Narben zurückbehalten."

"Was längst und ausgiebig bestätigt ist", knurrte Chapknock. "Allerdings wurde dabei auch ermittelt, dass eine Art schlummernder Keim in Ihnen steckt, der sich ausbreiten kann, sobald Sie, Bill, mit einem Werwolf irgendwelche Körperflüssigkeiten austauschen, ob in Menschen- oder Wolfsgestalt. Aber Sie haben ja eine Veelastämmige geheiratet", erwiderte Chapknock. Den letzten Satz sprach er dabei mit einem unüberhörbaren Unmut. Dabei kapierte Bill es nicht, warum Chapknock so abfällig über die Veelas sprach, wo es gerade solche waren, die den versuchten Schwindel mit angeblich verschwundenem Gold in Gringotts aufgedeckt hatten. Aber er wusste auch, dass die größtenteils matriarchische Gesellschaft der Veelas und ihrer mit Menschen gezeugten Nachkommen den eher patriarchalischen Kobolden aufstieß wie faules Obst.

"Also, wir sollen diesen Tempel besuchen und mit dem Auge der Bastet da rausgehen, ohne dass die was davon mitkriegen, dass wir das waren", fasste McBane das noch einmal zusammen. Chapknock bejahte es. Dann erteilte er ihnen beiden höchst offiziell, wenn auch mit der höchsten Geheimstufe der Firma, den Auftrag, denTempel aufzusuchen. Danach sagte er noch: "Bill, wenn dieser Auftrag erledigt ist kümmern Sie sich um das Grab der drei Brüder, von dem wir vor einem Vierteljahr erfuhren. Dort sollen mehrere goldene Beigaben zu finden sein. Da die drei Brüder alle Zauberkundige waren ist sicher, dass ihre Grabstätte von starken Schutz- und Fallenzaubern gesichert ist und dass die drei vielleicht ihr Kaa an dort versteckte Gegenstände gebunden haben, die auf einen möglichen neuen Wirtskörper lauern. Aber das kennen Sie ja auch schon." Bill Weasley nickte.

Chapknock sah nun den schottischen Mitarbeiter an und sagte: "Rore, wenn Sie wiederkommen habe ich einen Auftrag im Sudan für Sie, der Ihre Fähigkeiten mit bewachenden Zaubertieren genauso fordern wird wie der Bastet-Tempel. Die da wachenden Katzen sind da aber noch eine ganze Nummer größer."

"So, dann wissen Sie, wo der Palast der Löwengottheit ist, von dem aus ein großteil des Gebietes südlich der Sahara beherrscht wurde?" fragte McBane.

"Ja, genau, der ist es. Aber erst einmal besuchen Sie den Katzentempel!" erwiderte Chapknock. Die zwei Zauberer willigten ein, weil der Auftrag ein Honorar von dreitausend Galleonen pro Nase einbringen würde. Bill dachte einmal mehr daran, dass seine Eltern nie was von den bisher abgeschöpften Honoraren haben wollten, weil sein Vater den ganzen Bereich Fluchbrechen und Erbeutung von dunklen Magiern versteckter Dinge für obskur hielt und seine Mutter der Ansicht war, dass an diesem alten Gold noch immer das Blut unschuldiger Leute kleben mochte. Aber er hatte sich damals schon nicht davon abbringen lassen, diesen Job zu machen. Also würde er auch dieses grüne Katzenauge anbringen und dafür kassieren.

"Öhm, irgendwer hat den Al-Assuanis wohl den Rat gegeben, Zaubersteine gegen fliegende Besen im Land zu verteilen. Wie die wirken, ob sie nur weitermelden, dass ein Besen drüber wegfliegt oder den Besen selbst aus der Luft herunterholen wurde mir noch nicht zugetragen. Deshalb kriegen Sie von uns die Rackashora mit Tarnbezauberung. Hier ist die Ausleiherlaubnis. Der Führer der Rackashora wartet schon zwei Meilen südlich von Alexandria."

"Oh, wir dürfen den Flussflitzer fahren, Bill", freute sich Rore McBane. "Ja, aber erst wenn wir die Steuerung beherrschen", meinte Bill. "Ich bin mit dem Kollegen Shorewood schon mal damit den Nil raufgefegt", sagte McBane. Chapknock wandte ein, dass der Hüter der Rackashora das wohl noch wusste. Daher habe er auch keine Bedenken, dass die beiden das aus Koboldfertigung stammende Flussboot benutzten, das von einem auch mit Wasserzaubern vertrauten Koboldzimmermann gefertigt worden war und von dem es nur zehn Exemplare auf der ganzen Welt gab, immer da, wo ein großer Strom floss, an dessen Ufern alte und wertvolle Schätze zu finden waren.

Als die zwei Zauberer das Büro von Chapknock verlassen hatten blickte der Leiter der Niederlassung in eine Ecke. Die Wand flimmerte. Dann stand ein Kobold in einer dunkelgrauen Uniform da. Auf dessen Nase ritt eine Brille mit dicken Gläsern und dünnem Goldrand.

"Sind Sie sicher, dass die beiden das Auge der Bastet beschaffen und hier auch abliefern werden, Chapknock?" fragte der gerade wie aus dem Nichts aufgetauchte Kobold. "Ich werde das ausgelobte Honorar um ein Zehntel anheben, wenn die zwei es mir innerhalb der nächsten drei Tage beschaffen und ohne weitere Fragen abliefern, Leitwächter Allbrick. Ich werde es Ihnen dann persönlich übergeben, wenn die beiden zu ihren Anschlussaufträgen abgereist sind."

"Das will ich hoffen, Chapknock, sonst müssen wir annehmen, dass Ihre Leute unzuverlässig sind und dass Sie, deren Chef, dafür die Verantwortung übernehmen müssen, wenn die beiden nicht mit der geforderten Beute heimkehren. Aber zu der Pyramide, da besteht noch einiges an Aufklärungsbedarf. Wir konnten bisher nicht einmal in die Nähe. Offenbar wirken da starke Erdzauber, die vor alllem uns fernhalten sollen. Deshalb ist es verdammt wichtig, dass wir das endlich klären, was dort zu finden ist, bevor Al-Assuani oder seine Unterleute im Auftrag ihrer neuen Herrscherin darauf kommen, sie aufzusuchen. Bisher haben die noch zu viel Angst davor, sich mit dem dort schlafenden Geist des ungenannten Herrschers anzulegen. Aber wenn dieses veelabrütige Abfallgrubenmädchen denen befiehlt, dahinzugehen, werden die hingehen."

"Ihr wolltet erst das Auge der Bastet, Leitwächter Allbrick. Wenn es hier ist schicke ich den Engländer Weasley dahin, nachdem er sich mit entsprechenden Schutzzaubern ausgestattet hat. Bitte habt solange Geduld, Leitwächter Allbrick", sagte Chapknock. "Gut, dann empfehle ich mich", sagte der andere Kobold und machte sich wieder unsichtbar. Chapknock hörte, wie er kräftig mit beiden Füßen aufstampfte. Also verschwand er gerade unter der Erde.

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Auf dem Nil weit südlich von Assuan, 09.08.2006, 22:30 Uhr Ortszeit

Wenn sie nicht gerade unsichtbar war sah die Rackashora, was auf Koboldogack Silberspeer hieß, wie ein Ruderboot aus dem alten Phönizien aus. Allerdings dienten die Ruder nur als Lageausgleicher, weil der Vortrieb durch ausgeklügelte Wasserzauber stattfand. Der Kiel bestand aus reinem Silber, in dem sämtliche für die Fahrt benötigten Zauber eingewirkt waren. Das Holz war mit einer geheimen Mixtur gegen Verrottung und Feuerschaden imprägniert und glänzte bei Sonnenlicht sandfarben und im Mondlicht silbergrau, wohl gemerkt, solange es nicht unsichtbar war.

Rore und Bill hatten nach einer Stunde alle wichtigen Steuerkommandos und Handgriffe verinnerlicht. Der Hüter des Bootes hatte sie noch darauf hingewiesen, dass das Fahrzeug so viel wie der Kopf eines Menschen wert war. "Wenn die Rackashora verlorengeht werde ich auswürfeln, wessenKopf ich dafür zum Zweigstellenleiter bringe", hatte er den beiden noch angekündigt. Bill und Rore hatten so getan, als seien sie ungemein eingeschüchtert. Doch sie wussten, dasss wenn ihnen das schnittige Schnellboot abhandenkommen mochte, sie garantiert nicht erst bei dessen Hüter vorstellig werden mochten.

"Geh davon aus, dass die zehntausend Augen und Ohren auch einen Findmich-Zauber in das Boot eingebaut haben", flüsterte McBane, während er das Boot aus Koboldfertigung mit mehr als hundert Stundenkilometern über den Nil trieb. "Dann werden die Brüder von der Firma Horch und Guck aber noch was zu staunen kriegen", meinte Bill dazu. Wenn ich nicht will, dass ich überall gefunden werde findet mich auch keiner mehr. Was immer in dem Boot drinsteckt kommt gegen das, was ich von meiner Frau zum achten Hochzeitstag bekommen habe nicht an, schon gar nichts aus Koboldfertigung."

"Echt, was genau?" wollte Rore wissen. "Was nur von mir benutzt werden kann. Mehr musst du echt nicht wissen, Rore, weil du sicher keinen Krach mit meiner Schwiegerverwandtschaft kriegen willst."

"Öhm, singen oder tanzen die mich dann so schwindelig, dass ich tot umfalle?" scherzte Rore. "Ja, und dann zerlegen sie dich und verputzen dich als Grillwürstchen und Ragout Fin, um deine besonderen Eigenschaften in sich aufzunehmen, Rore", trieb Bill den Scherz weiter. "Klar", knurrte Rore. Dann musste er eine schnelle Steuerbewegung machen, weil vor ihnen die lange, warzige Schnauze eines Nilkrokodils aus dem Wasser schnellte. "Steht deine Holde auf Krokotaschen?" fragte Rore, als sie es in einem wilden Manöver schafften, das schuppige Raubtier zu umfahren, ohne es umzufahren. "Wieso, wolltest du das Krok erlegen und häuten, Herr Großwildjäger?"

"Natürlich. Ich muss in Übung bleiben, wenn ich schon keine Elefanten und Erumpentenmehr erlegen darf", sagte Rore. "Die Antwort, meine Frau steht nicht auf Echsenleder, sondern auf Seide und Grünstaude. Außerdem hat sie noch ein paar unverheiratete Cousinen. Interesse?"

"Öhm, heiraten ist nicht meins", erwiderte Rore McBane darauf.

Als sie in der Nähe der auf der Karte gezeigten Position waren verankerte Rore das kleine Boot an einem aus dem Ufersand herausragenden Felsen und zog den silbernen Ring von der Nabe des Steuerrades ab. Auf Koboldogack befahl er: "Unsichtbar warten, keine anderen Menschen näher als zehn Schritte heranlassen!"

Rore schob den Silberring mühevoll über seine Hand und trug ihn nun als Armreif. Sofort verschwand das Boot vor ihren Augen. Mit zwei rauminhaltsvergrößerten Rucksäcken zogen die beiden in gegen Wüstensand und Hitze wirkenden Umhängen los, die letzten Kilometer zu Fuß zurücklegend. Denn sie mussten davon ausgehen, dass jede Form von Bewegungszauber und zeitloser Ortswechsel von den Tempeldienerinnen bemerkt werden konnte. Rore hatte nicht das erste mal mit den Bastet-Jüngerinnen zu tun. Er ging sogar davon aus, dass sie schon längst eine Art Steckbrief mit Geruchsspuren von ihm hatten. Daher zog er einen Kilometer vor dem Ziel eine Sprühdose hervor. "Ein Eigengeruchstilger, der einen vollen Tag jede Ausdünstung verschleiert, dass du selbst mit dem Wind in eine Herde scheuer Vierhornhufler reingehen kannst, ohne eines von denen aufzuschrecken", sagte Rore.

"Ich weiß, wurde von dem französischen Alchemisten und Zaubertierexperten Guillaume Luc Grenouille erfunden und ist auch als Entdufter nach dem Umgang mit stark riechenden Zaubertieren oder Umgang mit schwefelhaltigen Essenzen zu haben", sagte Bill und sprühte sich von Kopf bis Zehen mit dem Geruchloselixier ein. Rore McBane vollführte darüber hinaus noch eine teilweise Selbstverwandlung. Er ließ seine Haupt- und Barthaare tiefschwarz werdenund dunkelte seine Haut nach. Bill verstand. Auch er veränderte sein Äußeres, dass er nun wie ein Einheimischer aussah. Da beide das in Ägypten übliche Arabisch und noch einige andere Sprachen dieser Gegend konnten mochten die Katzenschwestern nicht mitbekommen, dass einSchotte und ein Engländer ihnen auf die Bude rückten. Nur die Zauberstäbe könnten da ein wenig verdächtig wirken.

Da sie kein Licht zaubern durften wendeten sie neben dem Kopfblasenzauber auch noch den Strigoculus-Zauber für Nachtsicht an. Damit waren sie zumindest sehtechnisch den Katzenschwestern ebenbürtig, die den Zauber nicht nötig hatten.

Als sie vor einer Sanddüne standen, die im Mondlicht hellgrau schimmerte, prüfte Bill, der ausgewiesene Fluchexperte, eine Reihe von Enthüllungs- und Fluchfindezaubern. Tatsächlich erwies sich die Düne als reine Illusion über einer steinernen Falltür, in die Krallenspuren und Hieroglyphen eingeritzt waren. Da sie beide die alten Schriftzeichen der ägyptischen Hochkultur kannten konnten sie mühelos lesen, was in spiralförmiger Anordnung auf der Platte stand.

Bist du ein Sohn oder eine Tochter der lebendigen Göttin Bastet, so sei dir dieses Tor gewährt und du im Hause der Verehrung willkommen. Bist du ein schwächliches Menschenkind, so fliehe diesen Ort, bevor die Krallen der erzürnten Göttin dich ergreifen und in Stücke reißen!

"Wenn einer von uns die Platte anfasst löst er Alarm aus", sprach Bill auf Arabisch. Rore, der auch seine Stimme verstellt hatte erwiderte: "Ja, wenn er nicht sogar schon von dem Stein in der Platte aufgefressen wird." Er deutete auf eine stilisierte Gravur eines Katzenkopfes mit weit geöffnetem Maul. Bill prüfte das nach und nickte. In dem Stein war ein Verwandter des Decompositus-Fluches enthalten, der wohl auf bestimmtes Fleisch und Blut durchlässig und auf alles andere vernichtend wirkte. Doch Bill konnte einen altarabischen Fluchgefrierer, der in "Magien des Morgenlandes" erwähnt wurde und auf verfluchte Gegenstände wirkte, dass sie für mehrere Stunden unschädlich wurden. Dass der Fluchgefrierer wirkte sahen die zwei daran, dass die warnende Schrift und das gefräßige Katzenmaul verschwammenund scheinbar vom glattenStein überdeckt wurden. Dann konnten sie sogar noch mit einem vereinten Entriegelungs- und Schwebezauber die Platte nach oben steigen lassen. Bill balancierte die schwebende Platte lotrecht aus, weil er zurecht davon ausging, dass außer dem Abwehrzauber noch ein Alarmzauber darin steckte, der bei Verlagerung der Platte wirkte. Behutsam ließen sie die Platte absinken.

Rore spannte sich an. "Achtung, wir kriegen schon Besuch!" zischte er auf Arabisch und schleuderte im nächsten Moment eine Kristallphiole in den freigelegten Einstieg. Laut krachend zerbarst die Phiole im Flug und setzte eine dichte Dunstwolke frei, die sich nach untenund zu den Seiten ausbreitete. In dem Moment sprangen zwei Katzen von der Größe eines Schäferhundes aus demLoch und wollten die beiden Eindringlinge angreifen. Doch da erwischte sie schon die volle Wirkung der explodierten Schlafdunstbombe. Die im Mondlicht silbern glitzernden Raubtiere verloren die Balance ihrer Flugbahn und knallten mit ausgestreckten Gliedmaßen in den Sand. Rore verpasste den betäubten Katzenwesen einen Fesselzauber, bei dem hauchdünne aber ohne Magie unzerreißbare Ketten und ein dicker Knebel die Tiere handlungsunfähig machten. "Nur zur Sicherheit, wenn die vor der garantierten Wirkungsdauer wieder aufwachen sollten", sagte Rore in bestem Arabisch.

Als die beiden nun die Sprossen einer rundum laufenden Leiter hinabturnten sahen sie vier weitere Katzen, die wohl aus in das Mauerwerk eingelassenen Behausungen gekommen waren. Der Schlafdunst wirkte jedoch schon auf sie. "Wie viele Schlafphiolen hast du noch mit, Bruder?" fragte Bill.

"Genug um alle Katzen, Ratten, Mäuse und Hunde von Kairo in denSchlaf zu schicken, Bruder", antwortete Rore überlegen klingend.

"Da unten wartet übrigens Apeps tödliche Umarmung auf uns", sagte Bill, der immer wieder mit seinem Zauberstab nach unten peilte, ob und was ihnen auflauerte.

"Dann mach den bitte mal weg, Bruder", sagte Rore. Bill ließ sich das nicht zweimal sagen und beschwor mit dem Lied des siegreichenSonnengottes einen goldenen Lichtschein, der in die Tiefe drang und dort in einem befremdlichen Gewirr von Licht und Schatten auseinanderfloss. Dabei sah es so aus, als wolle eine nachtschwarze Riesenschlange eine schnell hin und herflitzende Lichtkugel umschlingen, bis die Lichtkugel sich schlagartig aufblähte und die schattenhafte Riesenschlange regelrecht verglühte. "Gut, weiter runter!" vermeldete Bill.

Als sie weiter in den Schacht hinabstiegen mussten Bill und Rore weitere Fallenzauber ausschalten, darunter den gnadenlosen Hauch, der ähnlich wie der Rotationsfluch wirkte und seine Opfer dabei zu ersticken versuchte. Zudem konnte Rore mit einem Erkundungszauber für gefährliche Hindernisse mehrere mechanische Fallen findenund mit Blockadezaubern unterbrechen, darunter auch das Pendel des Todes, das als Klassiker der ägyptischen Fallen galt.

Als sie einen Raum am Grund des Schachtes betreten konnten sahen sie zwei Frauen, die offenbar dem Schlafdunst anheimgefallen waren. Dass es Bastet-Schwestern waren erkannten Bill und Rore an deren vergrößerten Augen mit schlitzartigen Pupillen und den Haarreifen, die die Schriftzeichen der Katzengöttin trugen. Gerade wollte Bill Weasley prüfen, ob die Priesterinnen magische Gegenstände bei sich trugen, als aus einer Ecke zwei weitere Frauen in Ordensgewändern hervorsprangen. Ihre Hände wirkten wie die Pranken junger Löwinnen mit langen, messerscharfen Krallen. Die Gesichter waren bereits stark behaart. Felianthropinnen, also hochgeweihte Katzenschwestern, und die waren nicht betäubt!

In dem Moment, wo die beiden nur noch fünf Schritte von den beiden Gringotts-Angestellten entfernt waren schnellten auch die noch am Boden liegenden Bastet-Schwestern hoch und streckten ihre Finger vor, die innerhalb einer Sekunde zu tödlichen Pranken wurden. Es sah ganz danach aus, dass die hier wachenden Schwestern dem Schlafdunst widerstehen konnten und dass es den beiden Gringotts-Angestellten nun übel ergehen musste.

"Netter Versuch, ihr zwei", schnarrte eine der vier, die sich geschmeidig aus der unmittelbaren Ausrichtung der Zauberstäbe herausbewegten. "Ihr riecht nicht. Also habt ihr dieses verdammte Zeugs aus dem Frankenland auf euch geschüttet. Aber wir sehen euch und werden euch unserer lebendigen Gottheit als Opfer darbringen, weil ihr es gewagt habt, unseren heiligen Tempel zu betreten. Aber damit die Göttin euer Blut annimmt und eure Seelen einatmet werdet ihr uns verraten, wer ihr seid."

"Bei Allah und dem Propheten, wir werden uns nicht eurer unwürdigen Götzin opfern lassen", sagte Bill Weasley überaus tollkühn. Er glaubte weder an Allah,noch an dessen Propheten. Doch er hielt eine Vorlage der altägyptischen Bastet für durchaus möglich.

"Euer Allah ist nur eine Märchenerzählung, mit der ein kleiner Stammeshäuptling seine Leute beherrschen konnte. Unsere lebendige Göttin ist eben das, höchst lebendig. Doch ihr werdet uns jetzt verraten, wer ihr seid."

"Oder sonst?" fragte Rore McBane, der den kurzen Schreck, dass sein Betäubungsnebel nicht alle Gegner erwischt hatte gut wegsteckte. "Oder sonst zerfleischen wir euch Stück für Stück und werfen euch den Geiern und Schakalen zum Fraß vor und euer Kaa wird vom Wind der Wüste in alle Richtungen verstreut", sagte die Sprecherin der vier Katzenfrauen, die nun immer mehr zu wandelnden Großkatzen wurden.

"Das wird unser allerhöchster Gott verhüten", sagte Rore und sah Bill an. Dieser zwang sich, keine Regung zu zeigen. Als Rore zur Bekräftigung seines Schwures die rechte Hand mit drei ausgestreckten Fingern hob reckte Bill den Zauberstab nach oben und rief "Sensofugato!" Da er und Rore Kopfblasen trugen und sie beide ihre Augen schlossen wirkte der Flächenzauber nicht auf sie, der für eine Minute natürliche Menschen besinnungslos machte. Bei den Katzenwesen mochte die Wirkung sogar noch heftiger sein, weil ihre Sinne wesentlich empfindlicher waren. Tatsächlich fielen alle fvier Katzenfrauen laut kreischend zu boden. Sofort wirkten Bill und Rore den höheren Fesselzauber, der starke Ketten beschwor.

"Hoffentlich waren das die einzigen. Wieso hat der Hauch des Schlafes sie nicht betäubt?"

"Hast doch gehört, dass sie damit gerechnet haben, dass wer ihren Tempel heimsucht, Bruder", erwiderte Bill. Dann suchte er nach weiteren Flüchen und fand tatsächlich eine unsichtbare Mauer, die bei Berührung etwas wie eine Versteinerung herbeiführte. DiesenFluch konnte er nur kontern, als er dessenQuellsteine fand und mit demFluchgefrierer belegte.

Der Zauber sollte wohl Träger des richtigen Blutes durchlassen", meinte Bill. Rore nickte.

Hinter der Barriere lag der Altarraum. Bill sah wegen eines Erkennungszaubers die unsichtbare Statue einer kauernden Katze, mindestens zwei Meter groß. Er konnte auch entdecken, dass diese Statue durchaus zum Leben erwachen mochte, wenn sie mit den richtigen Ritualworten bedacht wurde. Sowas ähnliches kannte er auch von anderen Heiligtümern, in denen dunkle Zauber verwendet wurden. Dann erkannten sie, dass das rechte Auge eine besondere Ausstrahlung besaß. Das war das Objekt der koboldischen Begierde.

"Sind da noch Fallenzauber oder was mechanisches?" wollte Rore wissen. Bill prüfte es nach. Doch seine Flucherkenner prallten diesmal als silberne Blitze ab, als sie die Statue trafen. "Das Ding hat eine Panzerraura gegen Such- und Beeinflussungszauber, Bruder. Das das rechte Auge magisch ausstrahlt kriegen wir nur deshalb mit, weil diese Strahlung über die Panzeraura hinausreicht."

"Gut, ich riskiere es mit einem Schildzauber", sagte Rore. "Sicher mich ab, falls noch was von irgendwo lauert!"

"Bruder, du weißt sehr gut, dass es höchst gefährlich ist, etwas magisches aus einem Schutzzauber herauszulösen, ohne zu wissen, ob es noch eine Abwehr aufbietet", warnte Bill. Doch Rore zog sich bereits Handschuhe gegen Flüche an. "Das Abbild könnte auch in dem Moment lebendig werden, wenn du dich ihm näherst", sagte Bill. "Versuch lieber den Aufrufezauber!"

"Accio rechtes Katzenauge!" rief Rore. Doch der Aufrufezauber zerstob knisternd keinen halben Meter vor der Statue der Bastet. Rore vertraute auf die Kopfblase und die Handschuhe. Er trat vor. Bill wandte sich ab und hielt mit seinem Zauberstab den Eingang unter Kontrolle, falls doch noch eine der Katzendamen auftauchen mochte. Daher bekam er nur am Rande mit, wie Rore mit beiden Händen an das Gesicht der Statue griff und das rechte Auge zu drehen begann, um es aus der Fassung zu lösen. Natürlich war dieser Stein herausnehmbar, weil er ja diese besonderen Eigenschaften besaß. Er zog ihn behutsam zu sich heran.

Es passierte ohne Vorwarnung. Mit einem lauten Knall zerbarst das freigezogene Katzenauge in Millionen seltsam silbern leuchtender Splitter, die in alle Richtungen des Raumes schossen. Zwar hatten die zwei einenSchildzauber um sich errichtet und trugen die Kopfblasen. Doch die leuchtenden Splitter überluden diesen Schild. Tausende von ihnen zerstoben zu weißen Blitzen. Doch es kamen noch welche durch und schlugen wie winzige Schrotkugeln in die Körper der beiden Tempelräuber ein. Rore schrie auf. Bill jedoch erstarrte. Vor seinen Augen fiel ein tiefschwarzer Vorhang. In seinen Ohren klang erst ein immerlauteres Rauschen. Dann war es auch still um ihn. Er fühlte nichts mehr.

Rore krümmte sich vor wilden Schmerzen. Er meinte, von glühenden Nadeln gestochen zu werden und dann wie von Eisstücken getroffen zu werden. Er bibberte und keuchte. Seine Kopfblase hatte ihn zunächst davor bewahrt, Splitter ins Gesicht zu bekommen. Aber dann zerplatzte sie mit einem leisen Plopp. So geschah es auch bei Bills Kopfblase. Wo die Splitter ihn sonst getroffen hatten wirkten sie nach.

Sich dessen Bewusst, jetzt völlig wehrlos zu sein kämpfte Rore um seine Selbstbeherrschung und sein Gleichgewicht. Als seine Knie weich wurden fiel er mehr als dass er es kontrollierte auf die Knie, als wolle er die nun golden erstrahlende Statue der Katzengöttin in tiefster Demut anbeten. In der rechten Augenhöhle glomm ein rotes leuchten. Das linke Auge erstrahlte im smaragdgrünen Licht. Nun begriff er die letzte Falle. Sie beide hatten sich am Ende doch noch wie blutige Anfänger benommen und den Gegenstand zu fassen versucht, der am auffälligsten war, statt erst einmal abzusichern, ob nicht das andere Auge das gesuchte Objekt war. was für ein gemeiner Zauber wirkte in dem zersplitterten Auge, der ihn stechende Schmerzen und dann Eiseskälte fühlen ließ? Wieso konnte er sich nicht mehr bewegen? Wieso hörte er nun auch noch sanft klingende Frauenstimmen, die auf Altägyptisch sangen:

"Sei unser, starker Freier!Nimm uns und zeuge mit uns neues Leben für die Göttin des Lebendigen."

Man hatte ihn also vergiftet, mit einem ihm als Kenner der Tierwesen bis dahin unbekannten magischen Toxin, das ihn für einen anderen Zauber empfänglich machte. Doch er würde sich nicht kleinkriegen lassen. Er zielte mit dem Zauberstab auf sich selbst und sprach die Worte der eisernen Treue, einer Abwandlung des Devoluptus-Zaubers, der neben einer Abstumpfung des eigenen Geschlechtstriebes auch einen Schutz vor geistigen Verlockungen bewirkte. Doch als er den Zauber auf sich anwendete meinte er, jemand halte ihm den Mund zu und lähme seinen Zauberstabarm. Dieser verdammte Fluch oder das verdammte Gift waren also dagegen abgesichert, gekontert oder gar aufgehoben zu werden. Dann fiel ihm ein, dass er ja noch einen Schluck Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit mithatte. Er griff mit seiner freien Hand in seine Außentasche und fühlte die absichtlich angerauhte Phiole. Diese zog er mit zitternder Hand hervor, wobei er merkte, wie sein Unterleib auf die immer noch lockenden Stimmen reagierte und ihm nun nicht mehr eiskalt, sondern wohlig warm und wie ein leichter Alkoholrausch die Erregung ins Blut drang, mit der ersten willigen Frau zusammenzufinden. Er zog mit den Zähnen den Korken aus der Phiole und stürzte deren Inhalt mit einem angestrengten Schluck hinunter. Danach meinte er erst, noch mehr zu hören und zu sehen als vorher. Doch dann hörte er die in ihm klingenden Stimmen leiser und leiser werden. Er fühlte weder Angst, noch Wut, noch geschlechtliche Begierde. Der Trank verdrängte alle Gefühle. Dafür bot er die Möglichkeit, sich an alles bisherige in allen Einzelheiten zu erinnern und / oder alles neue nach nur einem Ansehen, anhören oder Ausführen zu erlernen und es für lange Zeit nicht mehr zu vergessen, auch wenn die Wirkung des Trankes nachließ. Als alle Gefühle und die lockendenStimmen nachließen verging auch die bereits einsetzende Regung in seinem Unterleib. Er konnte wieder frei denken und atmen. Er sah, wie das goldene Standbild zu leuchten aufhörte. Nur das linke Auge glühte noch grün. Rore schaffte es trotz geschwächter Beine, wieder aufzustehen. Dann sah er seinen Kollegen. Dieser stand da wie versteinert. Aus seinen Armen, Beinenund dem Körper ragten kleine Splitter wie Eiskristalle. Rore empfand kein Unbehagen, keine Angst aber auch kein Mitgefühl für den Erstarrten. Er nahm es einfach nur zur Kenntnis, dass die Wirkung des falschen Auges auf Bill eine ganz andere war als auf ihn. Rore berührte den Kollegen am Arm. Dieser fühlte sich kühl an wie tot, aber nicht wie Eis oder Stein. Er fühlte Haut unter seinen Fingern, geschwollene Arterien und Venen und ein langsames, sehr schwaches Pulsieren an der Halsschlagader. Bill lebte noch. Auch das nahm er nur als Tatsache zur Kenntnis, ohne erleichtert zu sein oder sich zu freuen. Also wirkte dieses tückische Material nicht sofort tödlich auf ihn.

Da er Bill so oder so hier heraustragen musste beschloss er zunächst, sich das richtige Auge der Bastet zu beschaffen. Diesmal fiel ihm ein, dass er vor zehn Jahren einmal ein goldenes Amulett des Horus aus einem tiefenBrunnenschacht gezogen hatte, in dem handtellergroße Skorpione herumgekrabbelt waren. Da hatte er eine Stange mit einem Saugnapf benutzt, die er aus einem Holzsplitter gezaubert hatte. Er griff schnell nach seinem Rucksack und zog einen Federkiel hervor. Diesen machte Rore ungesagt zu einer zwei Meter langen Stange mit einem glockenförmigen Sauger am vorderen Ende. Diesen Sauger rammte er aus einer geschmeidigen Bewegung heraus in die linke Augenhöhle der Statue und bekam das noch schwach grün leuchtende Katzenauge zu fassen. Er drehte die Stange behutsam und löste das faustgroße Auge aus seiner Höhlung. Eine weitere Falle vermutend ließ er sich zu boden fallen, als das Auge gänzlich freikam. Tatsächlich schlug die Statue mit der rechten Pranke aus und verfehlte Rore. Dann erstarrte Bastets Abbild wie es sich für ein solches gehörte.

Rore prüfte, ob das erbeutete Auge noch eine Gemeinheit barg und legte es in die mitgebrachte silberne Schachtel, die gegen alle von innen und außen wirkenden Flüche abschirmte. Sie war von Kobolden gemacht. Damit war das Auge der Bastet für Gringotts erbeutet.

Rore ließ aus der Stange mit dem Sauger wieder eine Schreibfeder werden. Dann wandte er den Mobillicorpus-Zauber auf seinen Kollegen an. Dieser gelang. So konnte er ihn nun vor sich her nach draußen steuern. In dem Moment, wo Rore durch die Tür trat schrillte ein katzenschreigleicher Warnlaut durch den Tempel. Er hörte, wie sich die vier überwältigten Katzenschwestern gegen ihre Fesseln wehrten. Doch er beachtete es nicht. Er ging einfach weiter.

"Du hast den Ruf zur Hochzeit verschmäht und der da ist mit dem Keim der Mondheulerbruderschaft behaftet, aber nicht vollständig verseucht. Ihr werdet nicht weit kommen, Frevler. Das Auge unserer Göttin wird uns sagen, wann ihr seine Kraft ruft und uns sagen, wo ihr seid. Und dein Raubgefährte wird solange zwischen Leben und Tod gefangenbleiben, bis sein Leib dem Hunger erliegt oder jemand sich erbarmt, ihn zu töten!" schnaubte eine der vier gefangenen Katzenfrauen. "Und du wirst wiederkommen, um mit einer von uns unter Bastets Augen die heilige Hochzeit zu feiern. Ihr Lockruf mag gerade nicht in dir erklingen. Aber er wird wiederkehren, Frevler. Hörst du? Du gehörst uns!"

Rore McBane hörte es, nahm es zur Kenntnis und empfand nichts dabei. Er wurde nicht körperlich oder magisch angegriffen. Also konnte er die aufgetragene Arbeit fortsetzen. Denn es galt noch, die geheimen Worte zu ergründen, mit denen die Feindessicht des Smaragdauges aktiviert wurde. Doch vorher musste er Bill aus dem Tempel bringen. Er wendete auf ihn und sich denDeterrestris-Zauber an, um wie prall aufgepumpte Gasballons nach oben zu steigen. Erst als sie außerhalb des Schachtes waren und der Wind sie vor sich herzutreiben anfing hob er den Zauber wieder auf. Sanft landeten beide im Sand. Doch Bill war weiterhin bewusstlos und wie totenstarr.

Rore bewegte ihn weiter vor sich her zu der Stelle, wo die Rackaschora lag. Niemand war ihnen gefolgt, auch keine goldenen Katzen. Die Geruchlosmixtur schirmte sie beide vor empfindlichen Nasen ab. Er enttarnte das Boot und legte Bill hinein. Hoffentlich hatte er noch die nötigen Minuten, um das Gewand der Bastet-Priesterin zu beschaffen. Sonst konnte er die dreitausend Galleonen vergessen.

Im schnellen Lauf eilte er zum immer noch offenen Einstieg des Tempels zurück und warf zur Sicherheit noch eine Schlafdunstbombe hinein. Von unten hörte er ein verdrossenes Fauchen und Knurren. Dann war es wieder still. Schnell erneuerte er seine Kopfblase. Er prüfte, ob der Zugangsschacht noch frei von den bisherigen Fallen war und sprang einfach hinunter. Er wendete den Fallbremsezauber auf sich selbst an, so dass er sanft wie eine sinkende Feder hinunterglitt.

Der Trank würde noch um die vierzig Minuten vorhalten. Hoffentlich bekam er das früh genug mit, bevor ihn das, was die vier Katzenfrauen als Hochzeitsruf bezeichnet hatten, seinen Verstand überflutete und ihn alles um sich herum vergessen machte. Körperlich fühlte er das Prickeln in seinem Blut, weil er staubkorngroße Splitter des falschen Auges eingeatmet hatte. Die trieben nun in seinem Blut und könnten ihm noch übel zusetzen. Doch er wollte den Auftrag erledigen, auch und vor allem, weil Bill dabei verletzt wurde.

Es dauerte jedoch zwanzig Minuten, bis Rore McBane die Grabstätte der mächtigen Priesterin gefunden hatte. Diese war von mehreren Siegeln verschlossen, von denen jedes einzelne einen sehr üblen Fluch auf den Erbrecher schleudern konnte. Doch weil er sich gerade an jeden einmal erlernten und verwendeten Zauber erinnerte und noch besser die auch geheimen Hieroglyphen verstand, die auf der steinernen Tür mit den eingelassenen goldenen Katzenköpfen zu lesen waren konnte er jedes Siegel mit einer entsprechenden Gegenbeschwörung entkräften. Weil jedes Siegel unterschiedlich bezaubert war leuchtete es in einer unterschiedlichen Farbe auf: Blutrot, Himmelblau, Smaragdgrün und Mondlichtsilberweiß. Endlich war die Tür frei. McBane las noch einmal die in einer gegen den Uhrzeigersinn verlaufenden Spirale geschriebenen Zeilen und veränderte dann seine Stimme, dass sie wie die seiner Mutter klang, sanft und tief wie ein zärtlich gespieltes Cello. Mit dieser Stimme sagte er die von ihm für richtig erkannten Worte, die das Wesen der von Ra geliebten Tochter, der mächtigen Göttin der Fruchtbarkeit priesen und ihre Gunst erbaten, ihm, beziehungsweise ihr Zutritt zur geheiligten Ruhestatt der Priesterin Mehneth Bastetri zu gewähren.

Die Tür ging auf. McBane blickte in eine quaderförmige Kammer hinein, an deren Ende ein Sarkophag stand, auf dem zwei Statuetten der Bastet saßen. Rore fühlte im Moment weder Angst noch Unmut. Er dachte ganz sachlich, dass es zu erwarten gewesen war, dass die Ruhestatt der Priesterin noch von weiteren Schutzzaubern gesichert war. Als die Augen der beiden Katzenstatuen zu glühen begannen dachte er ohne hektisch zu werden an einen Prüf- oder Abwehrzauber. Er dachte daran, dass ihm seine Schwester Maura was von einem Lebensaurenverdunkelungszauber erzählt hatte, aber nicht, wie der gehen sollte. Doch er konnte was anderes machen, um den letzten Flüchen zu widerstehen. In dem Moment, wo vier grüne Strahlen auf ihn zufuhren baute sich zwischen ihm und dem Sarkophag eine von seiner Seite halbdurchsichtige schwarze Wand auf. Mit lautem prasseln trafen die grünen Strahlen darauf und schlugen auf ihre Quellen zurück. Es erklang ein lautes, schmerzhaftes Kreischen, als die beiden letzten Wächterinnen in ihren nun viel helleren Strahlen gebadet wurden und dann mit zwei dumpfen Schlägen zu giftgrün schimmernden Wolken auseinanderplatzten. Der grüne Dunst traf auf die schwarze Wand und zerstob mit lautem Knattern und krachen in blauen Blitzen. Die gegenüberliegende Wand glühte rot auf, ebenso der Sarkophag. McBane dachte daran, dass er diesen allerletzten Strafzauber der Bastet doch hätte voraussehen müssen und dass die steinerne Ruhestatt der Priesterin davon beschädigt werden mochte. Dann ließ die Glut nach. An den Wänden und dem Steinsarg haftete ein Film aus feiner Asche.

McBane ließ den schwarzen Spiegel wieder verschwinden, den er in Bills Anwesenheit wohl nicht beschworen hätte, weil Bill zu sehr der Sohn seines gegen alles dunkelmagische eingestellten Vaters war. Er wartete einige Sekunden. Dann war er sicher, dass kein weiterer Fluch auf ihn lauerte. Doch es konnte noch was bösartiges im Sarkophag stecken. Die alten Ägypter waren verdammt versiert im Einrichten tödlicher Fallen mit und ohne Magie. Vielleicht würde etwas aus dem Sarkophag schießen, wenn er es schaffte, den Deckel aufzustemmen. Also ging er anders vor.

Mit dem Excavatus-Zauber trug er ganz behutsam den Stein unterhalb des Deckels ab. Als er ein kopfgroßes Loch hineingebohrt hatte zischte es laut. Dann klickte es, und der Deckel erbebte unter einem lauten Schlag. Dann war Ruhe. Da McBane noch die Kopfblase trug machte er sich keine Gedanken um ein giftiges Gas oder gar die Sporen tödlicher Giftpilze. Er ging in die Kammer, wobei er sehr darauf achtete, wo er hintrat, um keine weiteren Fallen auszulösen. Dann erreichte er den angebohrten Sarkophag. Er löste nun den Deckel mit dem behutsamen Gesteinsauflösungszauber auf und legte damit den mumifizierten Körper einer Frau frei, die von zwei dito einbalsamierten Katzen flankiert im Sarkophag lag. Sie trug kein Gewand am Leib. Doch Chapknock hatte erwähnt, dass die geheimnisse des Smaragdauges im Gewand der toten Priesterin eingewebt sein sollten. Hieß das, dass die Mumie ausgewickelt werden sollte? Dann erkannte er das, was unter dem Leichnam der Priesterin war, ein Zipfel hellblauen Stoffes. McBane trat näher heran. Womöglich barg dieser Sarkophag noch eine Falle. Er wandte den allgemeinen Mechanetus-Zauber an, der alle elektrischen und / oder mechanischen Werke blockierte. Tatsächlich hörte er noch ein leises Klicken aus dem Sarkophag. Dann prüfte er noch, ob unheilige Lebenskraft in den drei toten Körpern schlummerte. Er hatte es einmal erlebt, dass die einer Mumie beigelegten Wächter aufgesprungen waren, als er sich an dieser zu schaffen gemacht hatte. Seitdem belegte er jeden Leichnam in einer magischen Grabstätte mit dem eigentlich nur dunklen Zauberern bekannten Austreibungszauber dunkler Scheinlebenskraft, mit der alle Arten von Zombies, Skelettkriegern und auch den chinesischen Seelenkraftsaugern eingeflößte Lebenskraft verpuffte. "Mortuus mortuorum!" sprach er leise erst auf die Mumie der Priesterin, dann jede ihr beigegebene Katzenmumie. Tatsächlich zuckte jeder damit angezielte Körper kurz zusammen. Doch nun hatte er Gewissheit, dass er nach dem blauen Stoff greifen konnte, der unter dem bandagierten Leichnam der Priesterin herauslugte.

Tatsächlich holte er ein Gewand hervor, dass in seinen Händen zu prickeln begann. Schnell warf er es in ein silbernes Gefäß, dass er vorsorglich aus dem Rucksack gezogen hatte. Er sah, wie das Gewand sich zu winden begann und meinte ein erbostes Zischen zu hören. Dann schlug er den Deckel über dem erbeuteten Kleidungsstück zu und verschloss diesen mit sechs Spangen. Sollten doch die Kobolde damit fertig werden. Die wollten das ja haben.

Als er die Kammer wieder verließ hörte er die vier gefesselten Katzenfrauen. "Du elender Dieb. Das wird die Gemeinschaft der mächtigen Göttin dir heimzahlen. Dir sei der Tot gewiss, wenn dich der ruf zur Hochzeit wieder erreicht!"

"Ihr mich auch, Miezekatzen", dachte McBane nur für sich, während er den Weg durch das unterirdische Labyrinth zurückeilte, das in die Tempelhalle und zum Einstiegsschacht führte. Wie vorhin schoss er sich selbst mit dem Schwereumkehrzauber durch den Schacht nach oben und landete außerhalb auf weichem Sand. Dann lauschte er. Von irgendwoher drangen schrille Schreie. Er erkannte sie als Wutschreie von Katzen. Da wurde ihm klar, dass die hier gefangenen Schwestern Verstärkung bekommen würden. Er musste sich beeilen.

Er belegte sich mit dem Velociactus-Zauber, der ihn auf die achtfache Geschwindigkeit beschleunigte. Davon durchdrungen rannte er gegen den nun wie ein dicker Vorhang gegen ihn wehenden Wind zurück zur Rackashora.

Er schaffte es, nach Aufhebung des Zaubers mit dem Boot zu flüchten. Doch er konnte noch zehn halbnackte Frauen sehen, deren Gesichter denen übergroßer Katzen glichen. Doch als sie am Ufer waren konnten sie ihn nicht mehr sehen, weil er den Tarnzauber des Bootes in Kraft gesetzt hatte.

Nun galt es, seinen Kollegen schnellstmöglich in heilmagische Behandlung zu bringen. Hierfür musste er jedoch erst zum Startpunkt der Reise zurück.

Als er nach knapp einer Stunde wieder am Liegeplatz ankam wurde er bereits vom Hüter der Rackashora erwartet. "Ah, da sind Sie beiden ja schon, und das Boot ist heil geblieben. Öhm, was ist mit dem Kollegen?"

"Mischung aus Fluch und magischer Vergiftung, fürchte ich. Ich muss ihn ganz dringend in ein Krankenhaus schaffen", sagte McBane.

"Gut, ich kann die Blutmondorder geltend machen, wenn ich weiß, was mit dem Kollegen nicht stimmt", sagte der Kobold und hielt eine Art Vergrößerungsglas über Bill. Dieses erbebte. Dann erschien eine frei schwebende, silbern leuchtende Blase, in der sich ein Wesen halb Mensch halb Wolf mit drei Katzenwesen schlug. "Urgux", knurrte der Kobold. Bei den Kobolden war dies das Wort für eine unangenehme Sache, wusste McBane. "Öhm, Am besten lassen Sie bei mir, was Sie beschaffen sollten, falls Sie es beschaffen konnten. Dann kann ich Ihnen den Notschlüssel für Ihr St.-Mungo-Krankenhaus geben."

"Ich habe Weisung, nur Zweigstellenleiter Chapknock die zu beschaffenden Dinge auszuhändigen und keinem anderen", sagte McBane. Er dachte daran, dass die Wirkung des Gedächtnistrankes nur noch eine Viertelstunde anhalten mochte. War er bis dahin nicht noch weiter vom Katzentempel entfernt konnte der Fluch des falschen Auges ihn dort wieder hintreiben.

"So, hat Zweigstellenleiter Chapknock das befohlen? Dann sagen Sie das für sowas nötige Kennwort!"

"Ulburdack", erwiderte McBane völlig gefühlsfrei. Der Hüter des magischen Nilbootes nickte und wandte sich seinem Wartehäuschen zu. McBane empfand immer noch keine Furcht, zu spät zu sein oder Wut, weil es so lange dauerte. So sah er zu, wie der Kobold nach zwei Minuten in Begleitung von Capknock zurückkehrte. "Der Kollege Weasley muss sofort behandelt werden. Geben Sie mir was sie erbeuten konnten. Ich hoffe, Sie haben alles angeforderte besorgt." McBane bestätigte es und übergab Chapknock den großen Rucksack, in dem das richtige Auge der Bastetstatue und das Gewand der Priesterin verstaut waren. "Vorsicht mit dem Gewand. Es hat noch eine Art eigenleben!" warnte McBane. Chapknock nickte. Dann nahm er die geforderten Gegenstände entgegen und winkte dem Hüter des Bootes.

McBane bekam einen für solche Fälle erschaffenen wörtlich auslösbaren Portschlüssel überreicht. Es war ein ausgefranstes Sofakissen. Dieses hielt er so, dass es auch mit Bill Weasley in Berührung kam und rief das Auslösewort "Blutmondaufgang!" Dann trug ihn und Bill der Portschlüsselzauber davon.

McBane fand sich und Bill vor dem eingetrübten Schaufenster des längst geschlossenen Kaufhauses Reinig & Tunkunter. Er wandte sich der durch den Staubfilm gerade noch erkennbaren Kleiderpuppe zu und wisperte: "Notfall Gringotts, Kollege durch magische Vergiftung halbtot. Dringende Aufnahme erbeten."

Die Puppe nickte unmerklich und krümmte einen ihrer sonst so starren Finger. McBane ergriff seinen Kollegen beim Arm und zog ihn schnell durch die gerade flüchtig wie luft wirkende Scheibe und landete im geschäftigen Foyer des St.-Mungo-Krankenhauses.

Drei Heiler eilten ihm und Bill entgegen und begutachteten ihn. Der ranghöhere von ihnen, Bartholomew Blackwood, gab Anweisung, Bill in einen Notbehandlungsraum zu vbringen. Dann prüfte er auch McBane mit einem Diagnosezauber. "Offenbar haben Sie auch was abbekommen. Näheres in Behandlungsraum drei! Falls sie können folgen Sie mir!"

McBane folgte dem Heiler. Unterwegs merkte er, dass der getrunkene Gedächtnistrank nachließ. Er meinte, ferne, säuselnde Frauenstimmen zu hören und empfand es so, dass diese irgendwo im Süden klangen. Sie wurden immer lauter und forderten von ihm, im Namen der lebendigen Göttin der Fruchtbarkeit mit ihnen Hochzeit zu halten. Er musste sich sehr konzentrieren, seine Umgebung noch wahrzunehmen.

Im Behandlungsraum drei gab er ohne weitere Umschweife Auskunft, was ihm und Bill widerfahren war und dass er nicht wisse, warum Bill heftiger betroffen war als er. Er wusste zwar, dass er es eigentlich nicht ausplaudern durfte, was genau er gesucht und gefunden hatte. Doch wenn ihm und Bill geholfen werden sollte musste er sich auf die Schweigepflicht der Heiler verlassen. Da er ja keines der entwendeten Artefakte nach England eingeführt hatte galt seine Tat höchstens in Ägypten als strafbar. Auch hatte ihm Chapknock ja indirekt gestattet, alle Fragen zu beantworten, um Bill zu heilen.

"Und als dieses falsche Artefakt, dass Sie natürlich ganz im Einvernehmen mit dem Ägyptischen Zaubereiministerium sicherstellen sollten, vor Ihren Augen explodierte leuchteten die Splitter silbern?" fragte Heiler Bartholomew Blackwood. Rore bejahte es.

"Könnte ein auf den Mond abgestimmter Zauber sein. Und dieser Splitterregen lässt Sie nun Stimmen von willigen Frauen hören, die mit Ihnen die geschlechtliche Vereinigung suchen?" Rore bestätigte auch das. "Tja, da werden Sie wohl einige Tage bei uns verbleiben, bis wir wissen, wie wir die Kombination aus Fluch und Gift auskurieren können. Solange werden Sie im Tiefschlaf zubringen."

"Öhm, mein Boss erwartet mich aber schon morgen wieder in Ägypten", sagte Rore McBane. "Was glaubenSie, wie viele Bosse ihre Angestellten erwarten, die bei uns mehr als eine Woche behandelt werden müssen?" grinste Blackwood. "Wollen Sie für alle Zeiten mit diesen lockenden Stimmen im Kopf herumlaufen und sich von der ersten Bastet-Jüngerin aufs Lager locken lassen, die Ihnen über den Weg läuft, womöglich deren Hohepriesterin?" Rore verneinte es. "Meine ich doch", erwiderte Blackwood. Dann begann er, mit einer Pincette alle noch in Rores Körper steckenden Splitter herauszuziehen. Jedesmal meinte er, ein lautes, wütendes Kreischen einer Katze zu hören. Er versuchte, sich gegen die Behandlung zu wehren. Das trug ihm einen sofortigen Schlafzauber ein.

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Millemerveilles und Paris, 09.08.2006

Der Morgen begann für die Bürgerinnen und Bürger der französischen Zaubererwelt mit Zeitungsmeldungen, demnach es dem Ministerium gelungen war, weitere Angehörige der Sanguis-Purus-Verschwörung aufzugreifen und in Haft zu nehmen. Heute, am neunten August 2006, sollten die Oberhäupter der Verschwörung zum ersten mal vor Gericht erscheinen.

Es war schwer gewesen, die für einen großen Zaubergamot nötigen Mitglieder zusammenzubekommen, die weder in Sympathie für Sanguis Purus noch in vollständiger Ablehnung jener selbsternannten Bewegung zur Wiederherstellung der reinen Zaubererwelt urteilen mochten. Am Ende waren aus verschiedenen Ministeriumsabteilungen zwanzig Hexen und Zauberer nachnominiert worden, die mindestens zehn Dienstjahre vorweisen konnten, jedoch bis dahin keine für die Vollmitgliedschaft im Gamot nötigen Leistungen erbracht hatten.

So kam es, dass alle Abteilungen mit eingeschränkter Personalstärke arbeiten mussten, als um neun Uhr morgens Belenus Chevallier, der Leiter der Strafverfolgungsabteilung, zusammen mit den zwölf hauptamtlichen Richterinnen und Richtern der französischen Zaubererwelt den ersten Gerichtstag eröffnete. Heute sollten Barabbas Mardirouge, Gerome Lepont, Hector Louvois und Cassius Chaudchamp die über fünf Pergamentrollen lange Anklageschrift vorgelesen bekommen. Wenn sie sich schuldig bekannten mochten sie statt Lebenslänglich wegen massiven gewaltsamen Umsturzversuches mit zwanzig Jahren Zauberergefängnis und Enteignung von zwei Dritteln des eigenen Vermögens davonkommen. Bekannten sie sich nicht schuldig würde es wegen der vielen Zeugen mindestens zwanzig Gerichtstage lang dauern, bis die ersten Urteile gesprochen wurden. Weil insgesamt 3000 aktive Umstürzler vor den Gamot geführt werden sollten gingen alle davon aus, dass sich die Verhandlungen wegen der versuchten Erstürmung des Zaubereiministeriums bis nach Weihnachten hinziehen würden. Spätestens nach einem halben Jahr, so die international vereinbarte Strafgerichtsordnung, mussten alle Beklagten vor Gericht erschienen sein, falls sie weiterhin in Untersuchungshaft gehalten werden sollten. Immerhin hatten Ministerin Ventvit und Strafverfolgungsleiter Chevallier das Angebot gemacht, dass die, die nachweislich unfreiwillig mitgemacht hatten, durch ein volles Geständnis gleich zum Verhandlungsbeginn mit einer verkürzten Haftstrafe und weniger Strafzahlung rechnen durften, sofern ihnen nicht bewiesen werden konnte, dass sie doch aus fester Überzeugung mitgemacht hatten. Man wollte nicht denselben Fehler wiederholen, der nach der ersten Zeit Tom Riddles alias Lord Voldemort begangen wurde, allen Angeklagten durchgehen zu lassen, unter dem Imperius-Fluch gestandenund deshalb gegen die Zaubereigesetze gehandelt zu haben.

Als sich Julius, Millie und Béatrice am späten Nachmittag wieder im Apfelhaus trafen beließen sie es nur bei "Gut, dass dieser Tag rum ist." Denn im Beisein der Kinder wollten sie nicht über ihre heutigen Erfahrungen reden. Erst nach dem Zubettbringen von Aurore und Chrysope sprachen die drei erwachsenen Apfelhausbewohner darüber, was sie erlebt hatten. Julius war von Nathalie dazu verdonnert worden, im Koexistenzbüro zu sein, da ja ein Mitarbeiter zu den Beklagten gehörte und zwei Außendienstmitarbeiter zu zeitweiligen Gamotsmitgliedern berufen worden waren. Daher musste er die Arbeit im sogenannten Elektrozelt, wo die ganzen Arkanetrechner betrieben wurden, an Primula Arno delegieren, die wegen eines uralten Strafprozessparagraphens wegen ihrer offen erkennbaren Zwergenstämmigkeit nicht in den Gamot berufen wurde. Julius empfand das zwar als von der Zeit überholte Diskriminierung, hatte aber bisher keine Möglichkeit, was dagegen einzuwenden, da die nötigen Gesetzesänderungen nur von zwei Dritteln der dauerhaften Gamotsmitglieder beschlossen werden konnten.

Millie, die dem ersten Tag als begleitende Reporterin beigewohnt hatte erwähnte, dass die Hauptangeklagten sich tatsächlich schuldig bekannt hatten, da ja nun wirklich hunderte von Leuten mitbekommen hatten, dass sie bei der versuchten Erstürmung des Ministeriums dabei waren. Allerdings hatten Mardirouge und Chaudchamp versucht, vor allen Gamotsmitgliedern und dem Publikum ihre Ansichten über eine starke, reinblütige Zaubererwelt zu verteidigen. "Die haben erwähnt, dass wir Menschen nur mit klarer Einteilung, wer wohin gehört, sicher in die Zukunft kommen und das sogenannte Gefasel von der Freiheit des Einzelnen nur in Chaos und gegenseitigen Neid führt", sagte Millie.

"Klar, wir verbieten das freie Denken und sprechen, weil es ja so viele gibt, die davon eh keinen Gebrauch machen, weil man ja ohne eine eigene Meinung nur das nachplappern muss, was irgendwelche Lautsprecher vorplappern", ätzte Julius.

"Mardirouge hat sich allen Ernstes darauf berufen, dass die französische Zaubererwelt bis zum Ausbruch der Revolution bei den Nichtmagiern ein stabiles, zielgerichtetes Dasein geführt hat, wo jede Hexe wusste, was sie zu tun hatte und jeder Zauberer seine klaren Aufgaben zum Erhalt der Weltordnung bewältigt hat. Er hat dabei jedoch Sardonias dunkles Jahrhundert und all die vor und nach ihr aufkommenden dunklen Hexen oder Zauberer weggelassen, die ähnlich wie er eine eigene, nur von ihrer Meinung geleitete Weltordnung durchsetzen wollten. Das hat Eleonore Delamontagne ihm dann um die Ohren gehauen und ihm Geschichtsvergessenheit unterstellt."

"Geschichtsverdrehung trifft es wohl eher, Millie", grummelte Julius. "Nach dem Ende der Faschisten in Italien, Österreich und Deutschland und deren Eroberungskrieg haben auch immer wieder Leute behauptet, dass es mit Hitler, Mussolini und deren Komplizen nicht so schlimm war wie es die angebliche jüdische Weltverschwörung und die sogenannte Siegerjustiz an die Wand gemalt haben und dass sich viele Menschen in den betreffenden Ländern ganz gut damit zurechtgefunden haben, von dem einen starken Führer regiert zu werden. Die wollten und wollen auch nichts von den Gräueltaten wissen, die unter diesen eher lauten wie starken Führern begangen wurden. Ja, und der Boden für solche Behauptungen ist eben immer noch fruchtbar. Ja, und ich behaupte mal, dass viele von denen, die da mitmarschiert sind, echt geglaubt haben, wenn sie ein neues Ministerium kriegen würde es ihnen besser gehen. Die von denen zu trennen, die gezwungen wurden wird verdammt schwierig. Deshalb werde ich bestimmt nicht meckern, wenn ich wegen der zeitweiligen Personalausdünnung mehr ranklotzen muss als bisher."

"Wem sagst du das, Julius. Wo Hera sich von Antoinette hat überreden lassen, einen der fünf freien Plätze für zertifizierte Großheilerinnen und -heiler beim zeitweiligen Gamot zu besetzen habe ich ihre ganze Arbeit mit auf dem Tisch", erwiderte Béatrice. "Längst nicht alle finden das so gut, dass Hera wegen dieses Prozesses nicht die ganze Zeit in Millemerveilles ist."

"Ja, und wir haben sechs Kinder zu versorgen", meinte Millie dazu. "Gut, dass wir die ganz kleinen im Château unterbringen können, solange wir drei was um die Ohren haben."

"Womit wir beim Thema sind, das ich noch ansprechen wollte", sagte Béatrice. Millie und Julius erstarrten vor Überraschung. "Meine Mutter, Madame Ursuline Latierre, schlägt vor, dass wir alle, solange dieser Prozess dauert und wir deshalb mehr um die Ohren haben, ins Château Tournesol umziehen, bis wir wieder unseren gewohnten Arbeitstrott zurückbekommen. Was Aurore angeht, so kann sie, wenn das Schuljahr anfängt, von mir nach Millemerveilles mitgenommen werden und am Nachmittag wieder ins Château zurückgebracht werden. Maman hat mich gebeten, euch das schon mal anzukündigen. Offiziell vorschlagen will sie es euch morgen beim Abendessen, wenn auch die kleinen Hausbewohner dabei sind. Gehen wir darauf ein, können wir gleich am selben Abend rüber ins Sonnenblumenschloss. Sie hat das übrigens auch Hippolyte, Barbara, Charles und Patricia angeboten."

"Kommt ihr wohl nicht so ungelegen, alle bei sich zu haben, wie?" fragte Millie. Julius war heilfroh, dass er diese Frage nicht hatte stellen müssen. Béatrice erwiderte darauf: "Sie meint, sie wolle sich das nicht länger als nötig ansehen, dass wir die Kinder vernachlässigen, nur weil eine Zitat "Horde von inzüchtigen Zauseln" Zitat Ende beschlossen hat, die ganze Zaubererwelt umwerfen zu wollen und dass die Kinder nicht darunter zu leiden haben dürfen, dass ihre Eltern mithelfen, diesen noch einmal Zitat "zum himmel stinkenden Kehrricht" Zitat Ende wieder auszumisten", erwähnte Béatrice.

"Na ja, nur dass Aurore jetzt mit allen anderen Vorschulkindern zusammen auf den großen Tag hinfiebert und es vielleicht doch böses Blut gibt, wenn sie für längere Zeit wieder aus Millemerveilles wegzieht", warf Julius ein. Béatrice nickte und sagte, dass es ja deshalb so laufen solle, dass sie Aurore morgens mit hier nach Millemerveilles bringe und sie abends wieder mitnehmen könnte, wenn Hera auch wieder im Dorf sei.

Julius und Millie nickten. Dann straffte sich Millie und sah Julius und dann Béatrice an. Dann sagte sie: "Vielleicht sollten wir jetzt, wo wir wieder mal über zeitweiliges Umziehen und sowas reden auch darüber reden, wie das mit uns dreien außerhalb von Arbeit und Kinderbehütung weitergeht. Julius, ich weiß, du möchtest das noch nicht auf den Tisch bringen. Aber ich denke, wir sollten das doch endlich klären, wie es weitergeht, wo wir drei jetzt offiziell am gemeinsamen Tisch essen."

Béatrice war so klug, nicht nachzufragen, was genau Millie meinte. Julius, dem auch klar war, was Millie meinte und warum sie diese Gelegenheit nun nutzte nickte nur behutsam. Er bat dann ums wort. Die zwei mit ihm unter einem Dach lebenden Hexen gewährten es ihm.

"Ich habe erst gedacht, nachdem du und ich Félix hinbekommen haben, Trice, würden wir halt mit ihm und den anderen so wie vor seiner Zeugung zusammenleben, also wie unter der Dämmerkuppel, wo wir ja klar hatten, wer bei wem schläft. Ich möchte auch keine von euch beiden verletzen, Millie und Trice. Aber ich merke doch, dass mich das irgendwie - hmm, nicht so kalt lässt, dass wir, Trice, ein paar superherrliche Nächte hatten, ohne jetzt auf einzelne Sachen einzugehen." Millie sah ihren Mann ruhig an. Er fühlte von ihr auch keine Verärgerung oder Unsicherheit. Daher sprach er weiter: "Mir selbst ist auch klar, dass du durch das, was wir im Auftrag Ashtarias zusammen getan haben davon abgebracht wurdest, selbst wen zu finden, mit dem du was gleichwertiges erleben kannst. Ich wiederhole mich gerne, dass ich dir sehr dankbar bin, dass du Millie und mir geholfen hast, dass dieser Auftrag Ashtarias doch erledigt werden konnte. Ich habe nur nicht daran gedacht, was es aus uns dreien macht. Aber ich will auch nicht abstreiten, dass ich mich zu dir genauso hingezogen fühle, Trice, wie zu Millie. Sicher, ich habe mit Millie wesentlich mehr erlebt und hingekriegt, weshalb ich ganz klar sage, dass ich weiterhin mit dir, Millie, zusammensein möchte, wenn du das auch immer noch willst." Die erwähnte nickte heftig, sagte aber immer noch nichts. Offenbar hatte sie diese Aussprache genauso herbeigesehnt wie Béatrice oder Julius. "Ich weiß nur nicht, wie wir das ohne bei unseren Kindern oder den Leuten da draußen komische Gedanken anzustoßen hinkriegen, dass ich ab und an mit dir, Trice, genauso intim werden kann wie mit dir, Millie. Denn was ich auf jeden Fall nicht will ist, dass unsere Kinder sich dummes Gerede von anderen Leuten anhören müssen oder selbst Angst kriegen, dass irgendwas nicht mehr stimmt. Aber ich kann denen auch nicht erklären, wie es gerade zwischen uns ist, wo ich ja wie ihr zwei mitkriegt schon verdammt weit aushole, um das irgendwie hinzukriegen, wie ich euch meine Ansichten und Gefühle beschreiben kann."

"Och, das hast du aber gerade gut hingekriegt, Süßer", sagte Millie darauf. "Du hast gesagt, dass du zwischendurch gerne mit Trice ins Bett willst und dass du mit mir, deiner offiziellen Ehefrau, klären möchtest, ob und wie ich dir das erlauben kann, vorausgesetzt, Trice geht selbst darauf ein." Béatrice sah ihre Nichte und den Schwiegerneffen an, der zugleich auch mal ihr Liebhaber und der Vater ihres ersten und bisher einzigen Kindes war. Dann sagte Julius: "Wie erwähnt will ich nicht, dass wegen mir irgendwelches dummes Gerede aufkommt, dass dann auf euch zwei ziemlich fies zurückschlägt. Ihr habt ja beide mitgekriegt, wie strickt die hier in Millemerveilles sind. Du, Trice, bist dazu noch den Heilerdirektiven unterworfen, die dir einen sogenannten soliden Lebenswandel vorschreiben. Ja, und ich will ja auch nicht von dir weg, Millie."

"Jetzt bitte ganz klar und deutlich, Julius. Möchtest du, dass ich dich mit Tante Trice teile und wenn ja, dass wir beide weiterhin trotzdem ohne Angst und Eifersucht zusammen sind?" fragte Millie. "Klingt irgendwie komisch, jemanden Teilen", setzte Julius an, wurde jedoch durch ein gemeinsames Räuspern von Millie und Béatrice darauf gebracht, nicht auf Zeit zu spielen. "Du bist mir gleichermaßen wichtig, Trice, und du, Millie, bist weiterhin für mich ganz wichtig, dass ich keine von euch verlieren oder vergraulen will. Aber mir fällt nicht ein, wie wir das regeln können."

"Weißt du nicht?" fragte Millie irgendwie merkwürdig klingend. "Dann geh bitte vor die Tür und komm erst wieder ins Musikzimmer, wenn wir zwei dich wieder hereinbitten!" sagte sie. Julius sah seine Frau an und dann Béatrice. Beide sahen ihn errnst aber auch entschlossen an. Da dämmerte ihm, dass die zwei mit ihm Haus und Tisch teilenden Hexen schon irgendwie über das Thema gesprochen haben mochten. Denn keine wirkte unangenehm berührt oder überrumpelt. Er nickte beiden zu und stand auf.

Leise verließ er das als Dauerklangkerker bezauberte Musikzimmer und zog sich in die Bibliothek zurück. Es war so still im Haus, als sei niemand da. Bisher war es eine angenehme Stille, die zeigte, wie friedlich es hier zuging und wie sicher sich hier alle fühlten. Doch jetzt lag eine gewisse Anspannung darin. Julius erkannte jedoch, dass es nicht von den Hausbewohnern ausging, sondern nur von ihm. Denn Millie blieb laut Herzanhänger ganz ruhig, als wenn sie mit Trice nur den Einkaufsplan der laufenden Woche durchging.

Julius nahm sich aus einem der Regale das Buch "Wunder und Schrecken der Japanischen Inseln" von Asuka Kobayashi, in dem die japanischen Zauberwesen und die bekanntesten Vertreter japanischer Thaumaturgie, meistens Waffen- und Rüstungsschmiede, beschrieben wurden. Er hatte das Buch erst vor kurzem zum Geburtstag bekommen und wollte schon längst nachlesen, was die Zaubererwelt dort für die Weltöffentlichkeit an Wissen zugelassen hatte. Dabei las er, dass es laut Erhebungen der letzten zehn Jahre mehr Hanyos, also Abkömmlinge von Menschen und Zauberwesen in menschlicher Gestalt gab, als die offizielle ministerielle Erfassung zugeben wollte. Die Autorin selbst erwähnte in der Einleitung, dass ihre Urgroßmutter eine Kitsune, also eine Fuchsfrau gewesen sein sollte.

Doch auch wenn es schon spannend losging war Julius mit seinen Gedanken im Musikraum. Er fühlte zwischendurch eine gewisse Anspannung. Doch dann war es wieder ruhig. Millie regte sich nicht auf und ärgerte sich auch nicht. Dann hörte er ihre Gedankenstimme: "Monju, wir sind fertig. Komm bitte zu uns zurück!"

Julius steckte das ans Buch angebundene Lesezeichen zwischen die Seiten, die er gerade las und stellte das Buch ins Regal zurück. Dann kehrte er zum Musikraum zurück, wo ihn beide mit ihm lebenden Hexen begrüßten. Es wirkte so, als hätten die zwei sich ganz ruhig unterhalten und wollten nun wissen, was er noch dazu zu sagen hatte. Julius fragte sich, ob die bisherigen Eindrücke, die er von den gefühlsbetont lebenden Latierres bekommen hatte noch stimmten.

Als er die Tür von innen zugedrückt hatte deutete Millie auf den von ihm benutzten Lehnstuhl. Er setzte sich. Dann sagte Millie: "Da Trice und ich keine Schulmädchen mehr sind und wir beide wissen, welche offizielle Rangstellung wir haben konnten wir uns ganz friedlich miteinander aussprechen. Wir möchten dir gerne was vorschlagen. Ob du darauf eingehst liegt dann ganz bei dir", begann Millie. Béatrice fügte noch hinzu: "Ich fühle mich keinesfalls von dir zurückgestellt oder verstoßen, wenn du nicht darauf eingehst, sondern schätze dich weiterhin als jemanden, mit dem ich sehr gerne unter demselben Dach wohnen möchte."

"Kann es sein, dass ihr schon früher darüber gesprochen habt, wie das mit uns weitergehen kann?" fragte Julius. Er bekam von beiden ein Nicken zur Antwort. Dann sagte Millie: "Bitte hör unseren Vorschlag erst mal an und entscheide dich dann erst, wenn du alle Einzelheiten kennst." Julius nickte.

"Ich erlaube es Trice, mit dir jede Nacht zu einem geraden Kalendertag im selben Zimmer zu übernachten, das nicht dasselbe ist, in dem wir beide übernachten", begann Millie. Béatrice setzte fort: "Dafür bist du dann in jeder Nacht zu einem ungeraden Tag bei Millie in eurem Elternschlafzimmer."

"Da wir ja auch nicht jede Nacht nach dem kleinen bunten Vogel rufen musst du nicht auch mit Trice jede Nacht, die du bei ihr bist was mit ihr erleben, außer nebeneinander einzuschlafen und wieder aufzuwachen", sagte Millie. Béatrice fügte dem hinzu: "Wir zwei haben das damals, als wir wegen Félix zusammen waren auch gut hinbekommen, nicht jede Nacht miteinander eins zu werden. Das wäre ja auch langweilig. Deshalb denke ich, wir beide kriegen das auch hin, wann wir zwei, wenn du und ich das zusammen wollen, auch zusammen Liebe Machen, wie du das mit Millie hinkriegst." Julius war sich sicher, dass das noch nicht alles war. Deshalb schwieg er noch. So sprach Millie weiter: "Was die Kinder und den Rest der Welt angeht machen wir das so, dass wir keinem außerhalb dieses Raumes was davon erzählen und wenn wir im Château oder sonst wo sind, wo es mehr als ein hauptamtliches Schlafzimmer gibt erst abwarten, bis alle Kinder im Bett sind und keiner mitkriegt, wer zu wem hingeht. Deshalb sollten wir immer zusehen, dass Trices Schlafzimmer neben dem von uns ist und dass in jedem ein Bett mit Schnarchfängervorhang und Schalldämpfungsfüßen steht, damit niemand, den es nichts angeht mitkriegt, was dort abgeht." Béatrice setzte fort: "Und wenn du darauf eingehen solltest, deponieren wir entsprechend Kleidung von dir in den beiden Schlafzimmerschränken, dass du nicht erst ins jeweils andere Zimmer rüberrennen musst. Ach ja überhaupt, da du mehr als vier Pyjamas für jede Jahreszeit hast wäre es günstig, wenn du bei der jeweils gerade an der Reihe befindlichen einen eigenen Schlafanzug trägst, falls du nicht unbekleidet schlafen möchtest." Julius sah Béatrice jetzt doch verwundert an, suchte nach einem Anflug von Scherz oder Ironie. Doch sie sah ihn ganz ruhig an, auch Millie. Dann begriff er, warum sie das gerade gesagt hatte und nickte. Dann erwähnte Millie den wohl für sie und ihn wichtigsten Punkt dieses Übereinkommens.

"Da wir beide ja geklärt haben, dass ich deine Kinder kriege und wir das nur wegen Ashtaria abgeändert haben und da irgendwo in mir noch zwei ungezeugte Töchter warten kriegt Trice alle gerade noch bei mir lagernden blauen Flaschen und kümmert sich drum, dass ihr, wenn sie und du mehr als nur nebeneinander Einschlafen und Aufwachen wollt jede Empfängnis verhütet. Deine Kinder kriege weiterhin nur ich, Julius." Dem fügte Béatrice noch hinzu: "Ja, und was noch für mich und sicher auch für euch beide wichtig ist, Julius: was wir zwei erleben bleibt unter uns und was du mit deiner offiziell angetrauten Herzenshexe erlebst bleibt unter euch." Julius nickte. Das passte ja genau zu der Bedingung, dass er für die unterschiedlichen Schlafzimmer auch unterschiedliche Schlafanzüge bereitlegen sollte. Dann sagte Millie noch: "Ja, und deshalb legst du nachts bitte das goldene Herz ab, damit es auch nicht die eingewirkte Untreuebezauberung auslöst und ich allein nicht alles mitkriege, was du mit Trice erlebst, sofern wir nicht doch mal auf antispießige Ideen kommen und zu dritt im gleichen Bett zusammen sind." Sie grinste dabei kurz. Doch dann wurde sie wieder so sachlich wie trotz des gefühlsaufgeladenen und bei vielen anderen schwer bis gar nicht aussprechbaren Themas ganz ruhig. Sie sagte: "Ja, und wenn ich unsere sechste und / oder unsere siebte Tochter im Bauch habe möchte ich gerne, dass du jede Nacht von der Feststellung bis nach der Stillzeit bei mir im Bett übernachtest, damit wir zwei es zusammen mitkriegen, wie die neuen Latierres sich entwickeln, zumal du den Herzanhänger dann ja auch nicht abnehmen kannst."

"Was wäre rein hypothetisch, falls du trotz der erwähnten Verhütungsmittel noch mal von mir schwanger werden solltest, Trice?" fragte Julius, um den Ernst der beiden mit ihm lebenden Hexen zu prüfen. Béatrice sah Millie an. Diese sollte also antworten. Also sagte sie: "Wenn es ein Mädchen wird wird mir Trice die Kleine dann in meinen Bauch übertragen, damit ich sie als dein und mein Kind austragen und zur Welt bringen kann. Falls ihr zwei trotz der sehr guten Verhütungsmittel doch noch einen Bruder für Félix hinkriegen solltet und ich da gerade nicht schwanger sein sollte sieh zu, dass du mit mir die nächste Tochter auf den Weg bringst. Dann müssen wir das halt mit Hera klarkriegen, dass unser dreier körperlich-seelisches Gleichgewicht davon abhing, dass du auch noch einmal Mutter werden durftest, Heilerdirektiven hin oder her. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Klein Alain mit Mademoiselle Maximes Tante zehn Kinder hat ist hundertmal größer."

"Bring die zwei nicht auf Ideen", meinte Julius. Millie grinste. Dann sagte er: "Und ich dachte schon, wenn Trice noch mal ein Baby von mir im Bauch hat müsste ich dein besonderes Kleid anziehen und dürfte es für die nächsten zwölf oder sechzehn Monate nicht mehr an Aurore, Chrysie oder Mum abgeben."

"oh, das wäre interessant, wie wir deine Abwesenheit deiner Vorgesetzten gegenüber begründen müssten und dass du doch noch eine erwachsene Schwester hast, die solange bei uns wohnt, bis dein Neffe abgestillt ist", meinte Millie. Trice sagte dazu: "Oder legst du es gar darauf an, Millies und meine Erfahrung am eigenen Leibe nachzuvollziehen?" Julius schüttelte behutsam den Kopf. Ihm war eben nur die Vision in Marie Laveaus Grabkammer durch den Kopf gegangen und was Millie über die Wirkung von Kailishaias Kleid erzählt hatte.

"Ja, und jetzt möchtet ihr beiden hübschen wissen, wie mir dieser Vorschlag mit allen erwähnten Bedingungen gefällt?" fragte er. Millie und Béatrice nickten. Er schaffte es, nach denken seiner Selbstbeherrschungsformel wieder ganz ruhig zu sein und sagte: "Wie erwähnt möchte ich keiner von euch weh tun. Mir ist eben nur wichtig, dass alles, was wir zusammen erleben keine üblen Auswirkungen auf euch beide hat. Nach außen hin müssten wir ja weiterhin klarstellen, dass du, Millie und ich das einzige Paar sind, das jede Nacht miteinander verbringt." Millie nickte und fragte ihn dann noch einmal, was er von diesem Vorschlag hielt. Er überlegte noch. Ihm war gerade eingefallen, dass es ja auch Feiertage gab, die auf gerade oder ungerade Tage fielen. Sein Geburtstag und der von Béatrice fielen auf einen geraden Kalendertag, der von Millie auf einen ungeraden. Dann erkannte er mit gewisser Erheiterung, warum Millie und Béatrice es so ausgeheckt hatten, dass er die Nächte zu geraden Tagen mit ihr im selben Bett liegen durfte, weil Weihnachten, Silvester und Neujahr ungerade Kalendertage waren. Dafür dürfte er laut dieser noch von ihm zu entscheidenden Übereinkunft mit Béatrice in ihren Geburtstag und in seinen hineinfeiern, obwohl sein Geburtstag ja auch Millies und sein Hochzeitstag war. Das brachte er dann auch noch zur Sprache. "Na und, dann wiederholen wir eben jedes Jahr unsere Hochzeitsnacht", erwiderte Millie darauf. Er erwähnte, dass das ja dann die Nacht vom 28. zum 29. März sei und stutzte. Das hatten die offenbar auch bedacht, erkannte er. Jetzt sah er auch ein Lächeln in Millies und Béatrices Gesicht. So lächelte er auch. Dann sagte er: "Ich bin mit allen Bedingungen einverstanden, sofern wir, Trice, das mit der Verhütung echt hinkriegen."

"Wie erwähnt sind die modernen Verhütungsmittel sehr, sehr zuverlässig und multiplizieren sich in der Wirksamkeit bei entsprechender Kombination. Die ganzen Goldröschen wollen ja auch nicht jedes Jahr neue Kinder bekommen", sagte Béatrice. Julius verstand. "Die können aber im Zweifelsfall den Trank der folgenlosen Freuden schlucken und ihren Kunden was geben, dass die keine fruchtbaren Samenzellen bei denen einlagern", erwiderte er.

"Stimmt, den Trank der folgenlosen Freuden darf ich nicht trinken, weil das eindeutig gegen die Heilerdirektiven verstößt. Alles andere kann und werde ich mit der seelischen und körperlichen Balance zwischen euch beiden, dir und mir begründen können", sagte sie noch. "Abgesehen davon müssen sich berufsmäßige Beischlafanbieterinnen jeden Monat von einer amtlichen Heilerin untersuchen lassen, ob sie ihren Beruf noch ausüben dürfen. Sollte dabei eine Schwangerschaft festgestellt werden, bevor sie den Trank der folgenlosen Freuden eingenommen hat, muss sie wie jede andere Hexe auch das bestätigte Kind austragen und gebären, sofern sie es nicht mit einer Heilerin ihres Vertrauens vereinbart, dass sie aus heilmagischen Gründen die erkannte Leibesfrucht übernimmt und unter ihrem Namen zur Welt bringt und als ihr eigenes Kind aufzieht. Das jedoch kam bisher nur fünfmal in der Geschichte der magischen Heilzunft vor."

"Okay, mehr muss ich nicht wissen. Wie gesagt, ich nehme euren Vorschlag unter allen von euch geäußerten Bedingungen an, solange wir drei sicherstellen können, dass unsere Kinder es nicht mitbekommen und es außerhalb dieses Zimmers keiner erfährt. Das hheißt dann aber auch, dass wir da keinen schriftlichen Vertrag machen", gab Julius seine Entscheidung bekannt.

"Das versteht sich von selbst, weil es ja eine Absprache zwischen nur uns dreien ist", sagte Béatrice. Millie nickte. Julius nickte dann auch. Damit war es endlich auf dem Tisch und geklärt, was er so viele Wochen vor sich hergeschoben hatte. Er erkannte, dass es Millie und Béatrice zu wichtig war, um es noch weitere Wochen hinauszuzögern. Der im Raum stehende Vorschlag, bis zum Ende der ganzen Gerichtsverhandlungen im Sonnenblumenschloss zu wohnen war eben die günstige Gelegenheit, das endlich zu klären.

"Ab wann gilt das Abkommen?" fragte Julius. "Falls wir zu Oma Line ins Schloss ziehen ab da, falls Rorie und die anderen Wuselhexen und -wichtel doch lieber hier schlafen wollen ab der Eingliederung von Félix, Flavine und Phylla in den Kinderhort von Millemerveilles", sagte Millie. Julius und Béatrice stimmten zu.

Um den Abend noch zu dritt gut ausklingen zu lassen spielten sie im Schutz des Dauerklangkerkers noch ein paar Musikstücke. Dann zogen sie sich in die jeweiligen Schlafräume zurück.

Als Millie und Julius im Ehebett nebeneinander lagen sagte Millie: "Bin ich froh, dass wir das endlich geklärt haben, wie es mit dir, mir und Trice weitergeht." Julius erwiderte, dass es ihm halt wichtig war, mit ihr und Béatrice gleich gut auszukommen. Millie meinte dazu nur, dass er sich wiederhole und schloss seinen Mund mit einem Kuss. Diesen erwiderte er. So tauschten sie mehrere Liebkosungen aus, jedoch ohne es bis zum äußersten zu bringen. Dann lagen sie nebeneinander, atmeten ruhig und glitten in den nötigen Schlaf hinüber.

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St.-Mungo-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen, 10.08.2006, 15:30 Uhr Ortszeit

Fleur Weasley stand an einem Krankenbett. Als sie am letzten Abend noch erfahren hatte, dass ihr Mann Bill wie in Totenstarre in das St.-Mungo-Krankenhaus eingeliefert worden war hatte sie schon befürchtet, er sei wirklich tot. Doch die Heilerin Sweetwater, die ihren Mann behandelte, war zuversichtlich, dass was immer ihren Mann betroffen hatte nicht tödlich war. "Nach unseren bisherigen Untersuchungsergebnissen leidet Ihr Mann an zwei widerstreitenden Kräften, deren Gemeinsamkeit der Mond ist. Jetzt wissen wir, dass Ihr Mann von einem in menschlicher Form steckenden Lykanthropen mehrmals ins Gesicht gebissen wurde. Dadurch hat sich der Werwutkeim nicht vollständig in ihm entfaltet, sondern inaktiv in seinem Fleisch und Blut eingelagert. da sein ebenfalls von uns behandelter Kollege nicht derartig betroffen ist muss es bei Ihrem Mann mit dem eingelagerten Lykanthropiekeim zusammenhängen."

"Bill hat eine schnelle Blutreinigungsbegabung und ist deshalb sehr gut gegen Vergiftungen und Krankheiten geschützt. Die Werwolfkrankheit hat ihn auch deshalb nicht betroffen", sagte Fleur. Sie sprach hier völlig akzentfreies Englisch, wo sie in der Familie gerne noch die geborene Französin heraushängen ließ. Die Heilerin nickte und lächelte verstehend. Fleur nahm es als gegeben hin, dass die Heiler wussten, dass eine jungfräuliche Veela oder Veelastämmige schlummernde Begabungen in einem jungfrräulichen Mann oder Veelastämmigen erspüren konnte. Der Fall Lundi hatte sich ja leider in der ganzen Welt herumgesprochen.

"Wir haben erst einmal alle Splitter aus seinem Körper entfernt, die nicht in die Lungen und damit ins Blut geraten sind. Wenn wir wissen, worauf die Vergiftung beruht suchen und finden wir das entsprechende Antidot", versicherte Heilerin Sweetwater.

"Vielleicht geht dies schneller, wenn Sie wissen, wie es den Kollegen meines Mannes betroffen hat", hoffte Fleur. "Das ist durchaus denkbar", räumte die Heilerin ein. Dann kam ihr die Idee, einen Untersuchungszauber der Veelas zu verwenden, der besonders zwischen denen gelang, die blutsverwandt waren oder ihr Fleisch und Blut in gemeinsamen Nachkommen vereinigt hatten. Sie erklärte der Heilerin, dass dieser Zauber nur verraten konnte, was passierte, aber nicht unbedingt, was dagegen unternommen werden konnte. Heilerin Sweetwater war einverstanden.

Fleur berührte ihren immer noch wie tot daliegenden Mann an denWangen und summte alte Worte der Einfühlung und Erkenntnis. Dann überkam sie eine Vision. Sie sah im hellen Silberlicht eine große goldene Katze gegen einen blutroten Wolf kämpfen. Dabei fühlte sie eisige Kälte in ihre Finger Kriechen. Sie schaffte es gerade noch, ihren Geist aus der beklemmenden Vision zurückzuziehen und ihre Hände von Bills Wangen zu lösen. Dann keuchte sie. "Es stimmt, ein Zauber, der den Mond als eine Quelle und die Natur von Katzen als zweite Quelle hat kämpft gegen den Werwutkeim. Doch weil der nicht so stark ist halten sie sich die Waage und schaukeln sich nicht gegenseitig auf. Aber das heißt, dass Bill zwischen Leben und Tod feststeckt."

"Dann müssen wir zusehen, beide einander bekämpfenden Kräfte behutsam zurückzudrängen und aufzuheben. Eine Verschiebung in die eine Richtung könnte den Werwutkeim vollends aktivieren. Eine Verschiebung in die andere Richtung könnte Ihren Mann töten. Ich hoffe, ich habe Sie nicht all zu sehr erschreckt, Mrs. Weasley", sagte die Heilerin. Fleuer beteuerte, nicht all zu erschrocken zu sein. Dann bedankte sie sich bei Sweetwater und ihren Kollegen und kehrte ins Shell Cottage zurück.

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Rore McBane erwachte aus dem ihm auferlegten Tiefschlaf. Er merkte, dass er gefesselt war. Sein ganzer Körper schmerzte. Außerdem meinte er, dass es kalt war. Doch er hörte keine fremden Stimmen in seinem Kopf. Offenbar hatten die Trankpanscher und Heile-Heile-Zauberer und -hexen was angestellt, dass er gerade keine willigen Katzenfrauen begehrte.

"Ah, der junge Mann ist aufgewacht", sagte Heiler Blackwood, der sich über ihn beugte. "Wieso haben Sie mich fixiert? Denken Sie, ich würde sie angreifen?" knurrte McBane.

"Nachdem, was wir aus den Ihnen entnommenen Splittern, der incantimetrischen Messungen und der Analyse Ihres Blutes erfahren mussten bestand und besteht durchaus die gewisse Gefahr, dass Sie zu einem Angriff auf uns getrieben werden. Gut, wir haben Ihr Blut vollständig ausgetauscht und die Reste der mit Felianthropenessenz verunreinigten Silbersplitter aus allen Gewebeschichten Ihres Körpers entfernt. Aber ob dies die vollständige Heilung ist können wir eben erst jetzt feststellen, wo Sie wieder bei Bewusstsein sind.

"Ich höre keine verlockenden Stimmen mehr in mir und habe auch keine Lust, mich mit rolligen Katzen zu paaren. Ist es das, was Sie hören möchten?" knurrte Rore McBane. "Da dies offenbar die Wahrheit ist freut es mich sehr, dies zu hören", erwiderte der behandelnde Heilmagier.

"Woher wollen Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage? Haben Sie mir etwa Veritaserum eingeflößt?" fragte Rore McBane. "Nein, haben wir Heiler nicht nötig, wo wir Mendatiometer und Seelenlote verwenden können. Die Lampe da über Ihnen enthält die Komponenten, um die Anstrengungen und denStress beim Lügen aus Ihrem Gehirn zu erfassen. Wäre sie aufgeleuchtet hätte ich gewusst, dass Sie mich belügen wollten. Veritaserum hat ein paar unfeine Nebenwirkungen, abgesehen von der Ausschaltung der Willensfreiheit", erwiderte Blackwood. Dann erklärte er Rore, was genau sie alles angestellt hatten, vor allem, dass sie seine Haut mit dem vielseitigen Rückverwandlungstrank auf Alraunenbasis eingerieben hatten, nachdem sie alle Splitter entfernt und sein Blut ausgetauscht hatten.

"Dann können Sie das auch bei meinem Kollegen machen?" wollte Rore wissen. "Nun, da er Ihr Kollege ist gilt leider die Heilerschweigepflicht gegenüber Nichtangehörigen. Es sei denn, Sie legen uns eine von Mr. Weasley unterschriebene Auskunftserlaubnis vor", sagte Blackwood. "Nein, sowas habe ich nicht. Netter Versuch, Rore Laddy", knurrte Rore McBane. "Aber Sie hoffen, ihm helfen zu können?"

"Solange niemand endgültig tot auf unserem Obduktionstisch liegt besteht immer die Hoffnung auf Heilung", sagte Blackwood.

"Ja, aber mich können Sie dann losmachen und wieder ins Leben zurückschicken, oder?"

"Sie werden die Nacht noch bei uns zubringen, um sich von den körperlichen Auswirkungen des Fluches und Giftes zu erholen. Morgen wird mein Vorgesetzter sie noch einmal begutachten. Stimmt er mit meiner Diagnose überein können wir Sie wohl dann entlassen."

"Und diese Biester haben ernsthaft ihre Spucke an diesem falschenAuge angebracht. Dann hätte ich auch zu einem von denen werden können?" wollte Rore wissen.

"Die Wergestaltigkeit ist so mannigfaltig wie die Formen der Winterkrankheiten. Bei den Felianthropen, wie sie dem Kult der Bastet angehören, ist mehr erforderlich, als der Biss eines in Tiergestalt wandelnden Individuums. Soweit mein Kollege aus der Abteilung für exotische Mutationsinfektionen mir mitgeteilt hat tauschen Felianthropen Blut miteinander aus,ähnlich wie es die Vampire tun. Wenn ein bis dahin unbetroffener Mensch einem solchen Blutaustausch unterzogen wird zieht er sich die Wergestaltigkeit zu. Allerdings mag der Speichel von Felianthropen auf einen Menschen des jeweilsanderenGeschlechtes eine aphrodisierende Wirkung haben, also wie ein hochpotenter Liebestrank wirken. Jenes dürrfte Ihnen widerfahren sein. Wie viele Katzenfrauen trafen Sie noch einmal an?" "Vier stück", schnaubte Rore. "Ja, dann hätten sie mit einer von denen oder jeder von ihnen den Geschlechtsakt vollziehen wollen, wenn Sie sich nicht durch die Kur mit Bicranius' Trank aller Emotionen entledigt hätten."

"Na supergut. Die hättenmich dann auch nichtmehr weggelassen."

"Sagen wir so, die vier felinen Damen hätten Ihnen die Wahl zwischen ständiger Paarungsverfügbarkeit oder Tod und Ernährung der vier Schwestern geboten. ja, vielleicht hättenSie Ihnen angeboten, Ihrem Kult und damit ihrer Daseinsform beizutreten, allerdings dann auch eher als Zuchtmännchen, da dieser Kult seit dem Niedergang der Pharaonen ja hundertprozentig matriarchalisch strukturiert ist", antwortete Blackwood.

"Hat man Ihnen schon gesagt, dass Sie den Humor eines Fleischerhundes Haben?" wollte Rore wissen. "Ja, einige haben mir dies wahrhaftig unterstellt. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass bei einigen Patienten sanftes und beruhigendes Zutun nicht ausreicht, um einen nachhaltigen Therapieerfolg zu erzielen. Sie gehören zu jenen, denen unsereins erst die Auswirkungen der eigenen Unvorsicht vorhalten muss, um Sie zum Umdenken zu bewegen."

"'tschuldigung, Mr. Blackwood, aber diese Einflussnahme steht Ihnen nicht zu", knurrte Rore. "O doch, das tut sie, solange jemand sich unserer Hilfe anvertrauen muss", widersprach der Heiler.

"Ja, aber nur solange wie ich hier bei Ihnen in Behandlung bin. Für alles danach sind Sie dann nicht mehr zuständig", wagte McBane einen Widerspruch.

"Ja, bis die nächste Behandlung geboten ist", hielt Blackwood demPatienten entgegen. "jedenfalls behalten wir Sie noch eine Nacht bei uns. Selbstentlassungen gibt es nur bei den Muggeln."

"wie überaus witzig", brummelte McBane. Doch weil er sonst nichts mehr sagen oder tun konnte fügte er sich in sein Schicksal. Immerhin wurden ihm die Fesseln abgenommen, und er durfte auf eigenen Füßen zur Toilette gehen. Doch dass sein Körper echt noch Erholungsbedarf hatte spürte er in jedem Schritt und bei jeder Bewegung. Ob es Bill genauso erging? Er wusste es nicht.

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Château Tournesol, 10.08.2006, später Nachmittag

Die Kinder freuten sich sehr, mit ihren gleichaltrigen Verwandten spielen und toben zu können. Millie, die bereits den ersten Artikel über den eröffneten Prozess gegen die vier Hauptverschwörer geschrieben hatte, wirkte ein wenig ausgelaugt. Deshalb überließ sie es ihren Tanten Béatrice und Patricia, die schon gut lauffähigen Kinder zu bespaßen, während sich Julius mit Barbara Latierre unterhielt, die am zwölften August nach Tokio reisen wollte, um dort mit mehreren Zaubertierexperten zu konferieren. Zu diesem Zweck trug sie seit einigen Tagen eine hauchdünne Silberkette, die mit dem Zauber Freiheit des Himmels bezaubert war, für den Fall, dass das japanische Zaubereiministerium es wieder mit dem Mondfriedensnebel versuchen mochte, alle Teilnehmenden für sich zu vereinnahmen. Er lieh ihr auch jenes Buch, in dem er gestern noch gelesen hatte.

"Ihr wollt dann bis zum letzten Gerichtstag oder bis zur Aufkündigung des Personalengpasses hier im Schloss bleiben?" fragte Barbara Latierre. Julius räumte ein, dass das nicht von Millie oder ihm, sondern im wesentlichen von Aurore, Chrysope und Clarimonde entschieden würde, da es ihren Eltern wichtig war, dass sie weiterhin mit ihren Kindergartenfreunden und künftigen Klassenkameraden jederzeit zusammentreffen konnten. Vor allem wo Aurore ja mit den Dumas-Zwillingen eingeschult werden würde trafen die sich fast jeden Tag. Sandrine nutzte das auch gerne, um nicht nur bei ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Véronique zu sein. Dann waren Chloé und Claudine auch häufig da, um Aurore so gut es ging auf den nächsten großen Lebensabschnitt nach der Reifung im Mutterleib, der Zeit zwischen Geburt und Sprechenlernen und der Kleinkindzeit vorzubereiten.

"Also, ich habe Callie und Pennie vorgeschlagen, Temmie und Clarabella hier hinzubringen, falls ihr echt hier zeitweilig einzieht", sagte Barbara. "Falls es nicht so ist sind die beiden großen Mädchen bei uns auf dem Hof weiterhin gut versorgt." Julius nahm dies mit der gebotenen Dankbarkeit zur Kenntnis.

Beim Abendessen unterhielten sie sich alle über die nun eingetretene Lage, warum viele von ihnen gerade mehr zu tun hatten. Dann wurden die Kinder gefragt, ob sie, wenn ihre Eltern gerade so viel mit den wichtigen Sachen der Großen zu tun hatten, nicht lieber im Sonnenblumenschloss weiterwohnen wollten. Erst dachte Julius, Aurore und Chrysope würden dem zustimmen. Doch dann sagte Chrysope, dass sie in Millemerveilles neue Freunde hatte, die nicht mal eben herüberkommen könnten. Aurore erwähnte Claudine und Chloé Dusoleil, mit denen sie schon erste Lese- und Schreibsachen ausprobierte und die auch nicht immer ins große Haus von Mémé Line kommen konnten, zumal Aurore ja auch schon öfter bei Claudine im Haus in Paris war, wo sie die ganzen Elektrosachen ausprobieren konnte, an denen sich Kinder nicht verbrennen oder schneiden konnten. Deshalb waren die beiden älteren dafür, lieber weiter in Millemerveilles zu bleiben, wo sie eher mit ihren alten und neuen Freundinnen und Freunden zusammentreffen konnten. Ähnliches sagte auch Clarimonde, dass sie nach dem Kinderhort gerne weiter mit denen spielte, die mit ihr da hingingen. Damit stand fest, dass die Hexen und Zauberer aus dem Apfelhaus weiter im Haus Pomme de la Vie bleiben würden. Ursuline akzeptierte das ebenso wie Martines und Alons Entscheidung auch weiterhin für sich selbst zu wohnen. So fanden alle befragten großen und kleinen Latierres, dass es schön war, zwischendurch ins Château Tournesol zu kommen und da zusammen zu sein. Doch sie fanden es noch schöner, ihre eigenen Freundinnen und Freunde zu haben, die auch mal zu ihnen zu Besuch kommen konnten. Patricia und Marc bedankten sich für das Angebot, gingen aber ebensowenig darauf ein. Das musste die gerne von ihren Nachkommen und Kindeskindern umgebene Ursuline Latierre einsehen, zumal selbst das große Schloss für so viele Bewohner doch zu voll werden mochte.

Nach dem Abendessen kehrten alle nicht im Château wohnenden Erwachsenen und Kinder in die jeweiligen Häuser zurück. Somit galt das heimliche Abkommen zwischen Millie, Béatrice und Julius erst ab dem ersten Tag, wo Félix, Flavine und Phylla in den dorfeigenen Kindergarten gingen, was eine Woche vor dem ersten Schultag Aurores lag.

Julius dachte erst, dass Millie es darauf anlegen mochte, bis dahin noch einmal schwanger zu werden, weil sie den Abend des zehnten Augustes unbedingt in leidenschaftlichster Zweisamkeit beenden wollte. Doch er ging darauf ein, weil es ja dann eben die Natur entschied, wie es weiterging.

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St.-Mungo-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen, 11.08.2006, 12:00 Uhr Ortszeit

Blackwoods Vorgesetzter Silvanus Heatherbloom hörte sich noch einmal an, was Rore McBane erlebt hatte und verglich die Untersuchungsergebnisse und Auswertungen vorher und nachher. Dann befand er, dass Rore McBane vollständig geheilt war und wieder seiner Arbeit nachgehen durfte. Auf die Frage, was mit Bill Weasley passierte bekam er die Antwort: "Wenn wir auch Ihren Kollegen wiederherstellen konnten wird er sich sicher sofort bei Ihnen melden. Dann obliegt es ihm, was Sie über seinen Zustand und die Heilung erfahren dürfen."

McBane bekam die Entlassungspapiere, die er auch seinem Chef Chapknock zeigen durfte. Als er durch das Foyer das Krankenhaus in London verlassen hatte fühlte er seine Lebensfreude zurückkehren. Diese Bastet-Schwestern hatten es nicht geschafft, ihn fertig zu machen. Er hatte denen ihr Heiligtum abgejagt. Falls stimmte, dass es petzte, wann wer es benutzte hatten jetzt die Kobolde das Problem, nicht er. Er wollte nur schnell wieder an den Nil und sein Honorar einstreichen und dann den Erben des Löwenkultes seine Aufwartung zu machen.

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In einem fensterlosen Blockhaus fünf Kilometer von Xanten am Niederrhein entfernt, 11.08.2006, eine halbe Stunde nach Ende der Abenddämmerung

Viermal wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und je dreimal herumgedreht. Dann tat sich die schmale aber mit Durolignumlösung stahlhart gemachte Tür auf. ein schlanker Mann im hautengen schwarzen Zweiteiler schlängelte sich durch die Tür. Sein im von außen hereinsickernden Mondlicht bleich widerscheinendes Gesicht kehrte sich dem dreieckigen Tisch und einem der drei Stühle zu. Dann folgte noch ein Mann, etwas untersetzter als der erste. Der dritte war ein wahrer Hühne mit breiten Schultern, der nur mit angewinkelten Beinen und weit vorgebeugtem Oberkörper durch die niedrige Tür passte. Er schloss sie von innen und steckte einen Schlüssel in das unterste der vier Schlösser. Er schloss einmal herum.

"So sind wir drei wieder zusammen", sagte der erste auf Deutsch. Der zweite ergänzte: "In freiem Blut und ungebundenem Geiste vereint." Der größte von ihnen beschloss diese Begrüßung mit: "Auf dass wir ewig freies Blut und ungebundenen Geist unser Eigen nennen mögen. "Sit hic et nunc per existentiam nostram!" sprachen sie dann alle drei. Dann setzten sie sich.

Auch wenn es so aussah als sei der Hühne der Sprecher und Anführer dieser kleinen Gruppe war es doch der zuerst eingetretene, Mondpfad, der diese Gruppe führte. Der etwas untersetztere, Waldesdunkel, war zwanzig Jahre jünger als Mondpfad. Der Hühne indes, Mitternachtswall, war der jüngste von ihnen und nur deshalb noch ein freier Sohn der Nacht, weil die anderen ihn noch rechtzeitig vor den Werbern der falschen Göttin gefunden und in Sicherheit gebracht hatten. Denn Mitternachtswall war einer der seltenen Nachtsöhne, dessen Vater ein Neumondgeborener und dessen Mutter eine Vollmondgeborene war. Üblicherweise waren Nachtkindeheleute unter derselben Mondphase in ihr zweites Leben getreten. So war Mitternachtswall ein Zwischenwanderer, ebenso wie Mondpfad. Nur dass es bei ihm die Mutter war, die unter dem Neumond zur Tochter der Nacht wurde und sein Blutsvater, der unter dem Vollmond zum Sohn der Nacht wurde.

"Brüder, ich will nicht zu lange drum herumreden. Die falsche Göttin wird richtig gierig, und ihre sogenannte Hohepriesterin hat es gewagt, uns von der Liga freier Nachtkinder ein Ultimatum zu stellen", kam Mondpfad gleich auf den ersten Punkt dieses heimlichen Treffens. "Wenn wir nicht bis zur längsten Nacht des Jahres alle Ansprüche auf Eigenständigkeit aufgeben und sie als unser aller Herrin und Göttin anerkennen, so will sie uns von ihren grauen Kriegern jagen und töten lassen."

"Woher hast du das, Mondpfad", wollte Waldesdunkel wissen." "Von Sprecher Mitteldonau, Waldesdunkel. Der wiederum hat es von Sprecher Arno. Nyctodora muss einen von denen der Arno-Zelle enttarnt haben und ihm diese Botschaft wortwörtlich auf den Leib geschrieben haben, mit einer brennenden Feder."

"Autsch!" stieß Mitternachtswall aus. Nachtsöhne wie er konnten vieles ertragen, wo Menschen vor unerträglichen Schmerzen schreien mussten. Doch fließendes Wasser, offenes Feuer und über dem allem die ungefilterten Strahlen der Sonne konnten auch ihnen unerträgliche bis tödliche Qualen bereiten.

"Heißt das, die Arnogruppe ist vollständig aufgeflogen?" wollte Waldesdunkel wissen. "Nein, das dann nicht ganz. Zwei der Kernzelle haben ihren Kameraden wohl gefunden, bevor die Sonne aufging und den Körper zu Asche verbrennen konnte. Der Gezeichnete hat dann noch erwähnt, dass er wohl in eine Falle der Blutgötzin gegangen sei und ihm diese Hohepriesterin Nyctodora die Wahl gelassen habe, zu sterben oder seinen Kameraden dieses Ultimatum zu überbringen.

"Und warum hat er sich nicht töten lassen?" fragte Mitternachtswall. "Weil der vielleicht noch ganz jung ist, du Mückenhirn", erwiderte Waldesdunkel. Mitternachtswall hob die rechte Faust, die halb so groß wie Waldesdunkels Kopf war. "Kannst du auch mit einem Fangzahn genug Blut erbeuten, Waldesdunkel?" fragte er drohend. "Nimm deine Pranke runter, Mitternachtswall. Jeder gegen einen von uns ausgeteilte Schlag stärkt unsere Feindin und ihre willfährigen Leibeigenen", zischte Mondpfad. Mitternachtswall knurrte wütend und ließ dann die sich entspannende Rechte sinken. Dann meinte der Sprecher: "Vielleicht hat sie ihm auch gedroht, ihn ihrer gefräßigen Götzin zum Fraß vorzuwerfen. Wie wir leider alle erfahren haben beliebt dieses Scheusal ihr missliebige Nachtkinder zu verschlingen und sich an deren Qualen zu weiden, bis sie in ihr zerrinnen und ihr so mehr Kraft und Wissen geben. Jedenfalls halte ich das Ultimatum für echt."

"Warum kommt sie jetzt erst damit? Ich meine, seitdem wir den Lykanthropen geholfen haben, deren Sonnenschutzhautfabriken zu sprengen wissen deren Lakeien doch, wie gefährlich wir für die sein können. Warum ausgerechnet jetzt erst dieses Ultimatum, und warum diese noch lange Frist? Was ist an diesem Jahr so besonderes?"

"Welche Frage soll ich zuerst beantworten?" wollte Mondpfad wissen, während Mitternachtswall den rundlicheren Kameraden verdutzt ansah. Dann sagte Mondpfad: "Wenn ich keinen Mondstich abbekommen oder aus Versehen das Blut einer tollwütigen Waldfrau getrunken habe steht die falsche Göttin unter sehr hohem Erfolgsdruck, eben auch weil wir viele ihrer Fabriken zerstört haben oder zumindest die Mondheuler dazu angestiftet haben. Es gibt die Vaterlosen Töchter, von denen es heißt, dass die Welle aus Mitternachtskraft auch die schlafenden wieder aufgeweckt hat. Die Mondheuler und Pelzwechsler haben sich alte Sonnenzauber angeeignet, mit denen sie ziemlich üble Waffen bauen können, mit denen sie uns Nachtkindern ganz gemein einschenken können. Im Moment haben die sich wortwörtlich auf die Götzinnenanbeter eingeschossen, was denen garantiert übel aufstößt. Dann sind da natürlich die eingestaltlichen Rotblütler, die rausgekriegt haben, wie sie die grauen Überwesen umbringen können. Außerdem gibt es da wohl eine aus den Reihen der Schattengeister, die durch bestimmte Zauber so mächtig geworden sein soll, dass sie sich selbst als Königin der "wahren Nachtkinder" bezeichnet, also so armseligen unruhigen Seelen wie sie eine ist. Offenbar hat die falsche Göttin einige Rückschläge verdauen müssen oder ist mit ihrem Zeitplan für die Eroberung der Welt sehr stark in Verzug geraten, dass sie jetzt unbedingt einen Erfolg braucht. Da wir von der Liga freier Nachtkinder genauso wie ihre Leibeigenen neue Mitglieder zusammenkriegen könnte sie uns für das leichter zu beseitigende Übel und eine Auffrischung ihrer Streitkräfte halten. Tja, und jetzt die Frage nach der längsten Nacht. Es heißt, dass große Eide auf Fürsten der Nacht nur unter freiem Himmel auf einem in alle Richtungen freiem Feld mit Blut umfriedet gesprochen werden. Sie weiß nicht, wie viele wir sind und somit auch nicht, wie viele von uns Gruppensprecher sind, die ihr welchen Eid auch immer schwören sollen. Daher muss es schon die längste Nacht des Jahres sein. Wie ihr ja alle wisst beinhaltet unsere Liga derzeitig an die fünftausend bekennende Mitglieder in eintausend weltweiten Gruppen, nach Bergen und Flüssen benannt."

"Außer in Ostasien, weil die da mit uns nichts anfangen wollen", knurrte Mitternachtswall. Mondpfad nickte verdrossen. Er erinnerte sich noch zu gut an die Flüsterpostmeldung, dass eine japanische Berghexe die Gruppe Fuji zwei ausgehoben und getötet hatte. Von den chinesischen Gruppen Huang He eins und vier hatte er seinen Kameraden auch besser nichts erzählt. Natürlich galten für Japaner und Chinesen alle Nachtkinder als Feinde und für die dort lebenden Zauberwesen als Konkurrenz oder lästiges Ungezifer. Dann gab es ja noch sieben Tempel der falschen Göttin, von denen aus sie ihr Reich ausdehnen wollte. Aber den Zahn hatten die Freien ihr gezogen, weil sie die Standorte ausgekundschaftet und an die Rotblütler weitergereicht hatten, die wiederum die Gegenden besonders unter Beobachtung hielten.

"Und was ist mit dieser Nachtschattenkönigin? Wenn die die falsche Göttin erledigt hat sind wir dran", unkte Waldesdunkel. "Das steht zu befürchten. Auch deshalb dürfen wir uns der falschen Göttin nicht ergeben", erwiderte Mondpfad. Mitternachtswall knurrte: "Wir dürfen uns dieser falschen Göttin aus keinem Grund überhaupt ergeben und ... Eh, was ist das denn?!" brüllte Mitternachtswall. Auch Mondpfad hatte es gespürt, eine plötzliche Änderung der umgebenden Nachtdunkelheit.

"Was ist?" wollte Waldesdunkel wissen. Doch dann hörten sie die geisterhaften Stimmen außerhalb der Hütte. "An euch selbsternannten freien Blutsauger da drinnen, unsere erhabene Mutter und Kaiserin wünscht mit euch zu sprechen. Besser ihr kommt raus, weil die Hütte für sie zu klein ist. Wenn sie zu euch reinkommt seid ihr nicht mehr da."

"Woher weiß das weib, wo wir uns treffen?" schnaubte Mitternachtswall. Auch Mondpfad wollte auf diese Frage all zu gerne eine Antwort haben. Dann sahen beide, dass Waldesdunkel wie ein nasser Sack in sich zusammengesunken war. Schuld und Angst standen ihm ins bleiche Gesicht geschrieben. "Na los, wird das noch heute was?!" rief eine donnerwetterartige, gerade noch als weiblich erkennbare Stimme.

"Wir kommen raus", knurrte Mondpfad und schloss die Tür auf. "Vielleicht hat die sich mit der falschen Göttin geeinigt, uns abzuservieren", schnarrte Mitternachtswall und hob beide Fäuste. Waldesdunkel zitterte. "Komm, was immer du mit denen da zu schaffen hast, du hängst jetzt mit drin", schnarrte Mondpfad den beleibteren Kameraden an. Ihm gefiel es überhaupt nicht, dass dieses Schattenungetüm von ihrem Treffpunkt erfahren hatte. Am Ende wartete da draußen auch die falsche Göttin oder deren Leibeigene auf sie, um die ganze Gruppe auf einen Streich aus der Welt zu fegen.

Um die Hütte verteilt schwebten an die zehn tiefschwarze Gestalten von menschenüblicher Größe. Doch über ihnen allen schwebte, hoch wie ein zweistöckiges Haus, eine Riesin mit großen, tiefblau glimmenden Augen, die wie verächtlich auf sie alle herabblickte. Wohl wahr, die Riesin war viel größer als die ganze Hütte. Mondpfad wurde klar, dass dieses Ungetüm auch ganz ohne Vorwarnung die Hütte hätte zusammendrücken und sie alle auf einen Schlag auslöschen können.

"Wer von euch beiden anderen ist Mondpfad?" fragte die Überriesin, während ihre Begleiter erwartungsvoll die drei Vampire betrachteten. Mondpfad reckte den Arm und sagte: "Wie immer du oder deine Untertanen das aus Waldesdunkel herausgeholt habt, selbsternannte Königin der ruhelosen Schatten, ich bin Mondpfad."

"Sehr mutig, dich nicht hinter deinen Kameraden zu verstecken", lobte ihn die Riesin aus tiefschwarzer Zauberkraft. "ich bin mit meinem Gefolge gekommen, um euch und eurer Liga freier Blutsauger ein Angebot zu machen, dass ihr nicht ablehnen solltet. Ihr hört damit auf, übliche Menschen zu euren Artgenossen zu machen und legt euch in einen Überdauerungsschlaf, wie ihr das alle mal gelernt habt und verschlaft die nächsten sagen wir mal zweihundert Jahre. Dann können wir gerne noch mal darüber reden, wer die wahren Nachtkinder sind und wer da wem Untertan ist. Falls ihr nicht darauf eingeht oder euch gar mit meiner Hauptfeindin, dieser blutroten Scheingöttin verbündet, werden meine Kinder und Getreuen euch genauso aus der Welt tilgen wie die Dienerinnen und Diener der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder. Da ihr euch in weit verstreute Kleingruppen aufgeteilt habt und es sicher dauert, bis ihr alle von meinen Auswahlmöglichkeiten wisst gewähre ich dir und den beiden anderen da Zeit bis sagen wir mal zweieinhalb Monaten, bis zu dem von den Menschen als Gruselfest gefeierten Tag Halloween oder Samhain oder wie ihr Blutsauger den Tag auch immer nennt. Die zehn hier, die mich begleiten, werden die Herolde sein, die mir eure Entscheidung berichten. Entscheidet ihr euch für den Überdauerungsschlaf, so dürft ihr und alle die bis heute zu euch gehören weiterleben. Hört ihr aber nicht sofort auf, Menschen zu beißen und mit denen Blut auszutauschen verfällt mein Angebot, und ich lasse euch von meinen treuen Kindern und Getreuen abtöten wie einen Haufen ekliger Bazillen."

"Das ist aber sehr respektvoll, dass du uns das selbst in die Gesichter sagst, Schattenkönigin. Und was, wenn wir uns mit den Normalleuten zusammentun um dich und deine blutlosen Gehilfen abtöten zu lassen?" fragte Mondpfad. "Werde ich das früh genug erfahren, um mein Angebot zu widerrufen, ihr das aber erst erfahren, wenn es zu spät für euch ist. Also gebt meine Botschaft weiter und seht zu, dass ihr euch richtig entscheidet!"

"Ich pieks dich mal an und lass dir die stinkende Luft raus, die irgendwer in dich reingefurzt hat, Schattenschlampe!" rief Mitternachtswall und griff unter seinen Mantel. Er zog etwas hervor, das im selben Augenblick silberweiß wie der Mond, aber viermal so hell wie der Vollmond aufleuchtete. "Der Dolch des Mani", triumphierte Mitternachtswall und sprang los, um aus dem Laufen heraus die Riesin damit zu treffen. Natürlich schnellten ihm gleich vier kleinere Schattengeister in den Weg und wollten ihn festhalten. Da vollführte er eine blitzartige Drehung mit weit nach vorne gestreckter Klinge. Diese durchdrang mit sphärischem Schwirren jeden Schatten, der daraufhin silbern aufblitzte und verging. Vier weitere Schatten erschienen aus dem Nichts heraus bei Mitternachtswall. Der hatte den Angriff jedoch vorausgeahnt und wirbelte ebensoschnell herum. Wieder durchschnitt die leuchtende Klinge die Angreifer, die augenblicklich in silbernem Licht vergingen. Jetzt waren nur noch zwei Schatten übrig. Da sauste völlig geräuschlos und ohne Luft zu verdrängen die rechte Hand der Schattenriesin herunter und packte den wild um sich stechenden und hauenden Blutsauger. Dieser verlor den Boden unter den Füßen. Doch er versuchte noch, die immer noch leuchtende Klinge in die ihn hochreißende Hand zu rammen. Doch diese war offenbar für die Klinge so hart wie Stahl und Eisen. Sie glitt laut singend und knisternd ab und flackerte. Wieder und wieder wollte er die Klinge in die ihn haltende Hand rammen. Doch offenbar war die Klinge zu schwach dafür. "Spricht er da für euch oder du, Mondpfad?" wollte die Schattenriesin wissen.

"Ich bin der Sprecher dieser Gruppe. Aber er ist ein freier Sohn der Nacht, der sein Blut und seinen freien Geist verteidigen darf", sagte Mondpfad.

"Kennst du den aus einer Nachbargruppe, den er kennt?" fragte sie, während Mitternachtswall laut brüllend mit dem leuchtenden Dolch um sich stieß und dieser immer wieder laut klirrend und schabend von der ihn haltenden Hand abglitt.

"Nein, ich kenne natürlich nicht den, den er kennt", sagte Mondpfad. "Dann muss ich den aufsuchen, den er kennt. Wenn der genauso angriffslustig ist wie er hier", wobei sie Mitternachtswall wild herumschlenkerte, "bricht eure achso filigrane Verständigung aber bald in sich zusammen", sagte sie noch. Dann drückte sie kurz zu. Mitternachtswall erstarrte. Der leuchtende Dolch sprühte silberne und weiße Funken. Dann löste er sich aus der erstarrten Hand des Festgehaltenen und fiel nun völlig lichtlos auf den Boden zurück. "Das Spielzeug darfst du dir holen, Mondpfad. Vielleicht kannst du damit welche von deinen Feinden töten", sagte die Schattenriesin. Dann warf sie den von ihr gehaltenen Mitternachtswall durch die Luft zu einem der noch verbliebenen Schatten. Dieser fing ihn auf und hüllte ihn ein, noch ehe Mondpfad und Waldesdunkel eingreifen konnten. Der Schatten sprühte rote Funken und erbebte. Dann löste er sich von Mitternachtswall. Der lag nun am Boden, starr und fest wie Stein oder Eis. "Ich habe den Namen, meine Mutter und ... Urrgg ... meine Kaiserin", keuchte der Nachtschatten, der Mitternachtswall endgültig getötet hatte. "Gut, wir gehen!" rief sie ihm und seinem verbliebenen Artgenossen zu. "Ach ja, für die acht, die er getötet hat werde ich noch sieben von euch erlegen lassen, die mit dem verwandt waren. Leib um Leib, Seele um Seele, Mondpfad." Mit diesen Worten verschwand sie mit den beiden verbliebenen Nachtschatten. Zurück blieb ein völlig erstarrter Mitternachtswall und dessen am Anfang beeindruckend wirksamer Dolch. Mondpfad besah sich die Klinge und spürte, dass diese wahrhaftig die Macht des Mondes in sich bündeln konnte, und zwar, wie er durch behutsame Berührungen feststellen konnte, der Kraft von zwölf Vollmonden zugleich. Deshalb konnte er damit von Dunkelheit erfüllte Wesen vernichten. Mondpfad erkannte auch, dass dieser Dolch, von einem Menschen geführt, durchaus auch Nachtkinder wie ihn vollständig zerstören konnte. Deshalb nahm er ihn schnell an sich, bevor Waldesdunkel es tat.

"Wieso wusste dieses Ungetüm und seine Brut, wo wir zu finden sind, Waldesdunkel?"

"Weil mir einer von den Schattenlosen mein Wissen entnommen und mir den Befehl erteilt hat, nichts davon zu wissen, bis die Kaiserin selbst erscheint. Ich wollte euch nicht verraten, Mondpfad. Ich wollte ganz sicher auch nicht, dass Mitternachtswall stirbt und ..."

"Mach dich ganz schnell auf, deinen Verbindungsbruder in der Nachbarzelle zu sprechen, bevor ich finde, dir Mitternachtswalls Dolch in deinen dünnblütigen Körper zu rammen", schnarrte Mondpfad. Waldesdunkel nickte heftig und hockte sich hin, um sich durch die transformative Trance in eine Riesenfledermaus zu verwandeln. Mondpfad ließ ihm die Zeit und sah ihn mit Wut und Enttäuschung eilig in die Nacht davonflattern.

Er kehrte selbst noch einmal in die Hütte zurück und stellte eine unter Blutsverwandten hoher Macht mögliche Gedankenverbindung zu seiner Blutsschwester Himmelsschatten her. Dieser teilte er den nächtlichen Besuch und das nun auch von der Schattenkönigin gestellte Ultimatum mit.

"Damit ist es bestätigt, dass die Schattenkönigin mit der falschen Göttin im offenen Krieg liegt. Wir sollen uns entscheiden, ob unser Leben mehr wert ist als unsere Ehre", hörte er Himmelsschattens Gedankenstimme. "Ich gebe das gleich an meine Gruppenmitglieder weiter, vor allem dass dieses Schattenweib mit ihren Untergebenen offenbar den Willen von Nachtgeborenen brechen und sie aushorchen kann wie es die falsche Göttin auch vermag. Das ist leider sehr wichtig, dass wir das heute gelernt haben. Mach dich besser auch auf, weit weg von der Hütte!"

"Schon weg!" erwiderte Mondpfad. Lohnte es sich noch, die Hütte abzuschließen? Er tat es doch. Denn hier gab es noch einige Unterlagen, die er jetzt nicht so schnell zusammensuchen und wegtragen konnte. Zumindest wusste er jetzt, dass die Liga freier Nachtkinder von mehreren Seiten zugleich bedrängt wurde. Welche Überlebensmöglichkeiten hatten die freien Nachtkinder noch?

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Büro des ägyptischen Zaubereiministers Karim Al-Assuani, 12.08.2006, 11:20 Uhr Ortszeit

Der älteste von ihnen war der Zaubereiminister. So war das schon seit zwanzig Jahren, als er in einer gewissen Anlehnung an die glorreichen Zeiten der Pharaonen das Amt von seinem Vater geerbt hatte. Karim Al-Assuani überwachte die Geschicke und Vorgänge in der Zauberergemeinde von Ägypten. Wenn anderswo Minister erwählt oder von Ältestenräten ernannt werden konnten galt bereits seit der Römerzeit dass immer einer aus den sechs ältesten Zaubererfamilien den obersten Rat der Zaubererschaft führte. Daraus hatte sich während der osmanischen Herrschaft über Ägypten eine Form von Dynastie pharaonischer Vorlage entwickelt, und die Al-Assuanis hatten es geschafft, das Zaubereiministeramt als Erbtitel zu erringen.

Karim Al-Assuani hörte sich gerade an, was sein für innere Ordnung und Gefahrenabwehr zuständiger bruder Kaya zu berichten hatte, als er ihre Stimme in seinem Geist hörte:

"Karim, mein getreuer Diener, sorge dafür, dass jene umgekehrte Pyramide entmachtet und zerstört wird, bevor eure Dunkelmagier sie noch für sich erobern!"

"Öhm, Bruder?" fragte Kaya, als er sah, wie geistesabwesend der Zaubereiminister dreinschaute. "Kaya, ich erhielt gerade von unserer Königin den Auftrag, endlich was gegen die vergrabene Pyramide zu tun. Offenbar sorgt sie sich deswegen."

"Du machst Scherze, großer Bruder", sagte Kaya, der nie die förmliche Anrede benutzte, wenn sie alleine waren. "Nein, ich scherze nicht, Brüderchen. Sie, die unsere Königin ist, hat wohl herausbekommen, dass es diese umgekehrte Pyramide gibt und will jetzt, wo wir ihr dienen, dass diese vernichtet wird."

"Wahrhaftig?" fragte Kaya. Da hörte auch er die Stimme seiner obersten Herrin in seinem Geist: "Wagst du es, die Worte deines Bruders anzuzweifeln? Los, geh mit deinen Knechten los und zerstöre dieses alte Grab, bevor was auch immer noch darin verwahrt wird freigesetzt wird!" Kaya Al-Assuani erblasste. Dann dachte er demütig: "Ich höre und gehorche, meine Königin."

Die nächsten Minuten verbrachten die beiden nun damit, alles bisher bekannte Wissen über die umgekehrte Pyramide und den aus den Erinnerungen der nichtmagischen Menschen getilgten Herrscher zu besprechen. "Sicher wurde sie ebenfalls durch jene dunkle Kraftwelle erstarkt, die vor drei Jahren durch unsere Welt wogte", meinte Karim Al-Assuani. "Wohl deshalb ist unsere Herrin so besorgt." Kaya Al-Assuani konnte das nicht abstreiten. Doch auch er fühlte sich mehr als unwohl. Denn es hieß, dass in der in die Erde hineingebauten Pyramide der rachsüchtige Geist des dunklen Pharaos auf einen Träger magischen Blutes wartete, um diesen als seinen Sklaven oder Wirtskörper zu benutzen. Genau deshalb gab es ja das Verbot, sich dem mutmaßlichen Standort auf weniger als fünfzig Kilometer anzunähern. Also galt es, herauszufinden, wie sie die Pyramide bestürmen und vernichten konnten, ohne sich selbst einer weiteren Gefahr auszusetzen.

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Geheime Zweigstelle von Gringotts in Ägypten, 13.08.2006, 09:30 Uhr Ortszeit

McBane dachte, dass Chapknock so verbittert dreinschaute, weil er zum einen mehr als einen Tag fortgeblieben war und zum anderen hier und jetzt das fällige Honorar einfordern mochte, auch wenn der Anstellungsvertrag beinhaltete, dass das Honorar an alle an ein und demselben Auftrag arbeitenden bei zeitgleicher Anwesenheit auszuzahlen war, sofern einer oder mehrere Mitarbeiter nicht durch Krankheit, Unfallfolgen oder gar den vorzeitigen Tod entschuldigt waren.

"Sie und Bill Weasley haben den letzten Auftrag nicht richtig erfüllt", grüßte Chapknock seinen zurückgekehrten Mitarbeiter. Dieser sah den Kobold ein wenig verunsichert an. Da sprach Chapknock weiter: "Sie beide haben versäumt, die an dem zu beschaffenden Gegenstand anhaftenden Abwehrzauber gegen Fremdbenutzung zu beseitigen. Damit ist es für unseren Kunden derzeitig unbenutzbar. Sollten dessen eigene Fremdzauberfachkräfte die von Ihnen versäumten Handlungen nicht erfolgreich nachvollziehen könnte das Artefakt sogar gänzlich zerstört oder aller erhofften Eigenschaften entblößt und somit vollkommen wertlos werden. Letzteres ist gleichbedeutend mit einem vollkommenen Versagen Ihrerseits. Seien Sie froh, dass wir Ihnen nicht dafür das Gehalt sperren oder gar ein bis vier ausgezahlte Gehälter zurückfordern, wie es der Sicherheits- und Zuverlässigkeitsabschnitt des mit uns geschlossenen Anstellungsvertrages erlaubt."

"Augenblick bitte. Ich warnte Sie und damit auch den Kunden vor noch vorhandenen Absicherungen des Artefaktes. Diese zu beseitigen hätte es womöglich gleich vor Ort vernichtet. Also gilt mein Auftrag solange als erfüllt, solange das Artefakt im vollen Umfang an Sie oder einen Auftraggeber von Gringotts übergeben werden konnte. Ebenso gehe ich davon aus, dass die Fremdzauberfachkräfte unseres Kunden die unerwünschten Zauber aufheben können, ohne das Artefakt zu zerstören. Da Mr. Weasley auf unbestimmte Zeit wegen des Arbeitsunfalls ausfällt bestehe ich laut Anstellungsvertragsartikels sieben, Unterabschnitt acht auf die Auszahlung des ausgelobten Erfolgshonorares. Danach werde ich sehr gerne den an mich erteilten nächsten Auftrag ausführen, den Löwenpalast im Sudan.""

"Frechheit!" schrillte Chapknock. "Sie haben es zugelassen, dass Sie und der Kollege Weasley zu Schaden kamen. Damit haben Sie seine Arbeitsfähigkeit fahrlässig beeinträchtigt. Da Sie Ihre eigene Arbeitsfähigkeit ebenso, wenn auch nicht für so lange beeinträchtigt haben gilt Artikel zwanzig, Abschnitt fünf, fahrlässige oder mutwillige Beeinträchtigung eines Kollegens, demnach Sie alleine keinen Anspruch auf die Auszahlung des Honorares erheben dürfen, bis der geschädigte Mitarbeiter zeitgleich mit Ihnen wieder hier vor mir stehen kann. Für diese Dreistigkeit von Ihnen kann ich die Sperrung der Bereitschaftsgehaltszahlung aussprechen, sofern Sie nicht bereit sind, sich für einen sofortigen Auftrag mit höchster Gefahrenstufe bereitzuerklären."

McBane fühlte sich nun verschaukelt. Arbeitsunfälle konnten passieren. Dass Chapknock ihm nun Fahrlässigkeit oder gar mutwillige Gefährdung seines Kollegens unterstellte war selbst schon dreist. Er sah darin nichts anderes als eine Ausflucht, ihm das versprochene Honorar vorzuenthalten. Ja, und was für ein "sofortiger Auftrag mit höchster Gefahrenstufe" sollte das sein? Das fragte er nun den Zweigstellenleiter. Als dieser es ihm sagte meinte er erst, sich verhört zu haben. Doch als Chapknock nachsetzte, dass es an der Zeit sei, auch diese hohe Herausforderung zu meistern wies ihn McBane darauf hin, dass seitens des vom Al-Assuani-Clan geführten Zaubereiministeriums seit mehr als zweihundert Jahren ein Verbot für Hexen und Zauberer galt, sich dem vermuteten Objekt bis auf vier mal zwölf altägyptische Meilen zu nähern hieb Chapknock auf seinen Schreibtisch und donnerte: "Natürlich weiß ich das auch und habe bisher auch keinen Anlass gehabt, dieses Verbot zu hinterfragen oder gar zu umgehen. Aber wenn die Al-Assuani-Bande wirklich von dieser Ladonna Montefiori am Nasenring geführt wird werden die sich selbst nicht mehr dran halten, sondern zusehen, ihrer neuen Herrin und Gebieterin zu bringen, was drin ist, auch wenn welche von deren Untergebenen dabei umkommen. Die könnten auch auf die Idee kommen, einfach alles zu zerstören, was dort ist, um es bloß niemandem in die Hände fallen zu lassen. Also müssen wir das jetzt klären. Das heißt, Sie sollen das klären, Mr. McBane."

"Eine Begründung für das absolute Annäherungsverbot ist, dass stark vermutet wird, dass der Auftraggeber jener Stätte als mächtiger Geist dort spuken soll und darauf warte, jeden ihm nicht erwünschten Magier zu töten oder sich dessen Körper zu unterwerfen, um darin auf neue Ziele auszugehen. Der Geist könnte ähnlich stark sein wie der afrikanische Dibbuk, der als letzter Besucher bezeichnet wurde bis ihn jemand doch noch austreiben konnte und wir bis heute nicht wissen, wer das war und wie er, sie oder alle zusammen es gemacht hat oder haben. Außerdem bin ich Tierwesenfachzauberer, kein Geister- und Dämonenaustreiber. Damit kennt sich der Kollege Weasley besser aus als ich, ja und der Kollege Warren Thybone ist der unbestrittene Experte für sowas."

"Ja, und genau deshalb ist der Kollege Thybone auch im Grenzgebiet zu Palästina tätig und wird wohl noch mehrere Wochen dort zubringen, um einen Auftrag zu erledigen, bei dem er keinen Kontakt zu uns oder seinen Angehörigen halten darf. Mehr zu wissen steht Ihnen nicht zu, weil der Auftrag die höchste Geheimhaltungsstufe hat. Dieselbe Geheimhaltungsstufe wird auch Ihr Auftrag haben, Mr. McBane."

"Falls ich ihn annehme, Zweigstellenleiter Chapknock", sagte McBane. "Ich sagte genau wenn Sie ihn annehmen", schnarrte Chapknock bedrohlich. "Andernfalls kann ich nicht nur die Rückzahlung von vier Gehältern einfordern, sondern Sie auch noch wegen unverzeihlicher Arbeitsverweigerung entlassen. Dann dürfen Sie gerne in Ihre schottische Heimat zurück und da mit den vergleichsweise harmlosen Gespenstern um die Wette heulen. Also, Sie finden sich beim Ausrüster ein und nehmen die nötigen Hilfsmittel entgegen. Mit diesen erfüllen Sie den Auftrag und bringen zurück, was dabei zu erbeuten ist und von Ihnen fortgetragen werden kann. Ein Rauminhaltsvergrößerter Rucksack sollte auch zur Ausrüstung gehören. Ach ja, vorher beeiden Sie mir, dass Sie alles, was Ihnen von uns anvertraut wurde, erfolgreich gegen Verlust durch Raub oder Vergessen oder Zerstörung verteidigen oder Ihr Leben dabei geben werden. Dieser Auftrag ist sehr, sehr heikel, wohl der wagnisreichste Auftrag, den jemals ein Gringotts-Mitarbeiter erhalten hat." McBane dachte jedoch, dass die Suche nach der Kralle der Anat wesentlich gefährlicher wäre, er diesen Auftrag aber wohl eher annehmen würde als die Reise zur umgedreht gebauten Pyramide.

"Das kommt doch von Ihren Freunden von den zehntausend Augen und Ohren, nicht wahr. Die meinen jetzt wohl in Torschlusspanik, alles bisher für zu gefährlich gehaltene zu riskieren, bevor doch noch wer dran rührt, der kein Koboldfreund ist", schnarrte McBane.

"Das ist völlig unwichtig, ob Gringotts oder sonst wer diesen Auftrag vergibt, Mr. McBane. Ich erteile Ihnen die klare Aufforderung, diesen Auftrag zu übernehmen und diesmal vollständig erfolgreich zu erledigen oder dabei den Tod zu finden. Das und die Aussicht, dafür dreißigtausend Galleonen Honorar zu erhalten ist allein für Sie wichtig", schnarrte Chapknock höchst ungehalten. Dann zog er eine Schublade auf und zog eine erbsengroße, dunkelgrüne Steinkugel heraus. McBane erbleichte. Das war ein Pfandstein. Von denen hatte ihm Bill schon erzählt. Kobolde konnten die für sie per Vertrag arbeitenden damit dazu verdingen, alles geforderte auszuführen oder ihr Leben an dieses kleine, scheinbar harmlose Kügelchen abzugeben, dass dann mal eben mit einem Rückkehrzauber durch die Erde zu seinem Hersteller zurückraste wie ein Kobold, der einen Auftrag erledigt hatte.

"Dreißigtausend Galleonen?" fragte McBane und rechnete nach, ob sein Leben diese summe wert war. Eigentlich war es unbezahlbar.

"Ja, nur bei vollständiger Auftragserfüllung", erwiderte Chapknock. "Falls Sie weiterhin ablehnen gilt meine Ankündigung, Sie zu entlassen." Chapknock griff in die gleiche Schublade und zog noch einen Hammer mit silbernem Kopf hervor. McBane erbleichte nun. Auch dieses Instrument kannte er. Das war der Hammer der Tilgung. Damit konnten Kobolde jemandem das Gedächtnis aus dem Kopf schlagen, wobei im Hammer festgelegt war, zu welchen Bereichen Erinnerungen getilgt werden sollten. Wenn McBane Pech hatte konnte damit alles, was er in den letzten zwanzig Jahren erlebt hatte aus dem Kopf gehämmert werden. Sich dagegen zu wehren war in diesem Raum unmöglich, weil Chapknock eine Schutzwand gegen feindliche Zauber runtersausen lassen konnte und die Tür nur dann aufging, wenn Chapknock jemanden ausdrücklich hereinrief oder einen Anwesenden ausdrücklich verabschiedete.

Einige Sekunden war McBane zwischen allen Gefühlen und Auswahlmöglichkeiten gefangen. Dann schnaubte er: "Ich nehme den Auftrag an und werde ihn so Merlin und alle großen Erzmeister der Magie wollen erfüllen." Chapknock nickte bestätigend. Er ließ den silbernen Hammer wieder in der Schublade verschwinden. "Dann vollziehen wir jetzt den Eid", sagte er und hielt McBane die erbsengroße Steinkugel entgegen.

Als Rore McBane missmutig und sicherlich auch sehr beklommen das unabhörbare Büro von Chapknock verließ wandte sich der Zweigstellenleiter wieder jener Ecke zu, aus der ihm schon einmal Leitwächter Allbrick entgegengetreten war. Auch diesmal flimmerte die Luft und der hiesige Befehlshaber des allgegenwärtigen Geheimbundes der zehntausend Augen und Ohren wurde sichtbar.

"Er musste es wortwörtlich schlucken, Chapknock", sagte Allbrick überlegen lächelnd. "Teilen Sie mir unverzüglich mit, wenn der Schotte oder der Pfandstein wieder da sind. Wir können ja leider nicht in die verbotene Zone eindringen."

"Ich werde Ihnen unverzüglich Mitteilung machen, wenn er oder der Pfandstein wieder bei mir sind, Leitwächter Allbrick", sagte Chapknock diesmal sehr unterwürfig klingend.

"Ach ja, noch etwas, Zweigstellenleiter Chapknock, falls meinen Bundesgenossen in England nicht gelingt, die widerlichen Verräterzauber des grünen Auges zu tilgen, ohne auf weitere Zauberstabträger zuzugreifen und falls das Auge dabei entweder völlig unbenutzbar wird oder es uns seine Schöpfer und Hüter auf den Hals lockt sind Sie als Vorgesetzter der beiden Versager mitverantwortlich und sollten dann sehr schnell einen Nachfolger für Ihren Posten bestimmen."

"Ich vertraue in die Fertigkeiten Ihrer Bundesgenossen", grummelte Chapknock. Natürlich wusste der Zweigstellenleiter, dass bei den Kobolden der Befehlshaber einer Truppe von Leuten, die bei einem Auftrag versagten für diese Versager einzustehen hatte, genauso wie er ja auch bei Erfolgen seiner Leute Lob und Anerkennungen bekam. Deshalb war er ja so wütend auf McBane und Weasley. Dann hellte eine Erkenntnis seine Stimmung wieder auf. Er sagte: "Ich gehe davon aus, dass wenn Ihre Leute versagen, und ich einen neuen Nachfolger für diese Zweigstelle berufen muss, Sie selbst diesem nicht mehr begegnen werden, nicht wahr?"

Allbrick merkte, dass dieser durchtriebene Goldhorter leider richtig lag und verzog sein Gesicht. Was für den Gringotts-Filialleiter galt traf dann ja wortwörtlich auch auf ihn zu. Denn er hatte ja die Beschaffung des Auges der Bastet in Auftrag gegeben und würde für ein Versagen mitverantwortlich erklärt. "Wie erwähnt, Zweigstellenleiter Chapknock, von unseren kundigen Leuten hängt Ihre Zukunft ab. Das alleine ist für sie wichtig. Chapknock grinste jedoch verächtlich. Er hatte dem all zu überlegen auftretenen Allbrick getrotzt und musste nicht einmal eine Bestrafung fürchten.

Als Allbrick nicht ganz so selbstsicher wie sonst das Büro wieder verlassen hatte lehnte sich Chapknock in seinen Steingrauen Sessel zurück und dachte mit großem Unbehagen daran, dass von McBanes Auftrag sein eigenes Leben abhing. Versagte dieser erneut konnte er sich eigentlich selbst von einer alten Pyramide stürzen und hoffen, dass die allererste Mutter Erde sein Leben gnädig aufnehmen würde, bevor der Bund der alles sehenden Augen und alles hörenden Ohren ihn zu fassen bekam und zur Abschreckung aller anderen Kobolde hinrichtete. Ja, sein Leben hing von einem Zauberstabträger ab, und das ärgerte ihn.

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Südliches Ägypten, 13.08.2006, nach Sonnenaufgang

Sie war ihm entkommen. Dieses den dunklen Kräften Ras verbundene Weib hatte es gewagt, mit seinem Überdauerungskrug bei ihm einzudringen, wobei es sich an den Strängen der machtvollen Kräfte entlanggehangelt hatte. Die vaterlose Tochter hatte einen Unterworfenen bei sich. den hatte er übernehmen und zu seinem eigenen neuen Träger machen wollen. Da war die doch einfach mit ihrem Kruge verschwunden und hatte ihn zurückgelassen. Weil sonst niemand in der Nähe war, auf den er sich hätte einstimmen können war der Reiter der großen Schlange wieder in seine Wohnstatt zurückgekehrt und wieder in den Schlaf der fliehenden Zeit verfallen.

Als dann eine machtvolle Woge vieler hundert Todesqualen, begleitet vom Angstschrei eines durch die Finsternis rasenden Mannes seine Ruhe unterbrach fühlte er, wie er und seine von dunkler Kraft erfüllte Wohnstatt die Woge aus vielhundertfacher, ähnlicher Kraft trank wie ein dem Verdurstungstod naher Wanderer in glühendheißer Wüste. Die zusätzliche Kraft schleuderte ihn da selbst aus seiner Heimstatt hinaus, weit nach oben. Erst als die Sonne über der Wüste aufging gelang es ihm, zurückzukehren. Er erkundete, wie weit er nun reisen konnte. vier mal zwölf Tausendschritte. Doch wenn er den Bereich verließ, auf den die Kraft seiner eigenen Wohnstatt einwirkte kam er keinen Schritt mehr vorwärts. Nur der Wunsch, in seine Wohnstatt zurückzukehren half ihm, in Gedankenschnelle in die goldene Kammer zurückzukehren. Nun wusste er, dass er mehr Reichweite hatte. Doch was nützte ihm die, wenn sich dort niemand mit magischem Blut zeigte?

Eine weitere unbekannte Zeit später hatte ihn wieder jene Kraft berührt, die erst mit starkem Sog und gleichstarkem Rückstoß wirkte. Sie wirkte sogar stärker auf ihn als vorher. Doch bevor er aus seinem eigenen Wirkungsbereich hinausgesogen wurde konnte er sich wieder mit dem Aufbahrungstisch verbinden und darin festklammern. Dass der Tisch hellgelb glühte und nur deshalb nicht zerschmolz, weil in ihm die Dauer der Sonne eingewirkt war bekam der finstere König nicht mit. Er spürte nur wieder, wie die saugende und abstoßende Kraft im kürzeren Abstand aufeinanderfolgte, immer schneller, bis er sie wie ein dröhnendes Sirren wahrzunehmen dachte. Er fürchtete nun, dass ihn doch der Wahnsinn überwältigen würde. Geschah das, war dies sein Ende.

Auf einmal ebbte das Sirren ab, wurde erneut zu immer langsameren Pulsschlägen. Diese wurden auch immer schwächer, bis er sie gar nicht mehr verspürte. Es war beinahe wie damals, vor ihm unbekannter Zeit, als er das zum ersten mal erlebt hatte. Doch ganz so war es dann eben doch nicht. Denn damals waren die Pulsschläge in einem gemächlichen Maße verebbt. Hier und jetzt war es, als bremse etwas oder jemand die auf ihn einwirkenden Pulsschläge herunter, bis sie wie eine verlöschende Flamme erstarben. Was blieb war jene Dunkelheit und Stille, in die er sich selbst zur Ruhe gebettet hatte. Wieder fiel er in einen tiefen Schlaf.

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Die Sonne wechselte ihre Farbe von orange zu gleißendem weißgelb. Ihre Strahlen begannen, die schier unendlich scheinende Wüste aufzuheizen.

Unter einer Sanddüne versteckt reckte sich eine aus Granit gefertigte Steinsäule wie eine spitze Nadel in den Himmel. Sie war eine von zweihundertvierzig, die das ägyptische Zaubereiministerium seit drei Jahren hier aufgestellt hatte und mit einem Sandansaugzauber unter ständiger Bedeckung verborgen hielt. Kam ihr jemand mit magischer Ausstrahlung näher als einen Kilometer schüttelte sie bei Sonnenschein allen Sand ab und erstrahlte hell, wobei sie einen aufgezeichneten Warnruf an den Eindringling sendete und zugleich das Ministerium per Fernmeldezauber unterrichtete. Außerdem wurden alle benachbarten Meldesäulen in Tätigkeit versetzt, die den Eindringling über gerichtete Suchzauber weiterverfolgten. Wer nicht innerhalb einer Minute den abgesicherten Bereich verließ musste damit rechnen, von einem Einsatztrupp Sandfalken gestellt und je nach Eindringtiefe wieder herausgebracht oder zur Sicherheit des Landes getötet zu werden, bevor die Sandfalken wieder disapparierten. Bei Mondschein blieben die Meldesäulen unter Sand verborgen, riefen dafür aber nur nach dem Ministerium. Die dann auf genaue Erfassung der Meldesäulen ans Ziel gerufenen Sandfalken erledigten dann den Eindringling ohne Anruf und waren wieder weg, bevor sie möglicherweise noch jenen aufweckten, der nicht aufgeweckt werden sollte. Schon das Aufstellen der 240 Meldesäulen war sehr gewagt gewesen, nachdem die Augen der Sandfalken gemeldet hatten, dass sich die Wirkung der dunklen Grabstätte wahrhaftig ausgedehnt hatte und sowohl turmhoch in den Himmel bis weit in die Erde reichend wirkte.

Der Mann auf dem ihn und sich unsichtbar machenden Teppich wusste das alles. Immerhin hatten er und seine Kollegen das vor drei Jahren in einem Rundschreiben aus Kairo zu lesen bekommen. Doch jetzt wollten seine Arbeitgeber, dass er sich über das Verbot hinwegsetzte, ja riskierte, von den gnadenlosen Krallen der Sandfalken getötet zu werden, wenn er nicht auf den magischen Ruf hörte und umkehrte. Außerdem behauptete dieser dickbäuchige Gridblock aus der Ausrüstungsabteilung, dass er ihm was mitgeben konnte, um ihn für die Meldesäulen unortbar zu machen. Es war ein unscheinbarer, mattgrauer Quader mit silbernen Einschlüssen. "Probieren Sie nicht aus, dessen Zauber zu ermitteln, wenn Sie keinen gehörigen Krach mit mächtigen Leuten von uns kriegen wollen!" hatte Gridblock ihn gewarnt. "Jedenfalls kann der in Verbindung mit einem der wenigen Teppiche vom Typ "Sohn des Windes" jede Lebensausstrahlung eines Magiefähigen verbergen, wenn der mit ihm und dem Teppich Körperkontakt hat. Also lassen Sie den Stein nur los, wenn er nicht mehr zittert!"

Tatsächlich hatte der graue Stein erst schwach und dann immer stärker gezittert, als sich der Teppichreiter dem Ring der 240 Meldesäulen näherte. Dann erreichte er den Rand der verbotenen Zone. Der Stein bebte nun regelrecht zwischen seinen Fingern. Hoffentlich zerbrach der nicht noch. Dann mochte er nur noch eine Minute leben, bevor der von ihm runtergeschluckte Pfandstein in seinem Bauch ihm alles Leben aussog und dann einfach runterfiel und dann wie an einem viele dutzend Kilometer langen Gummiband zu seinem Ausgangsort zurückflitschte. Das gleiche würde ihm passieren, wenn er den Teppich oder die Silberkette mit dem in Silber gefassten Miniaturtotenschädel verlor, der bösartige Geisterwesen sichtbar machen und sie bei voller Aufladung einen vollen Monat von ihm fernhalten konnte.

"Werde ich die Sonne auch wieder untergehen sehen?" fragte sich Rore McBane, nachdem er den unsichtbaren Begrenzungsring der 240 Meldesäulen durchbrochen hatte, ohne dass links und Rechts von ihm gleißende Obelisken sichtbar wurden und er zur Umkehr aufgerufen wurde. Obwohl er hundertmal in tödlicher Gefahr geschwebt hatte war er immer zuversichtlich gewesen, auch noch den nächsten Tag zu erleben. Hier und jetzt war das nicht so, und das gefiel ihm nicht. Ja, er meinte eine widernatürliche, Unheil verströmende Aura zu spüren, die diesen Teil der Wüste durchdrang und überdeckte. Wie hoch konnte dieser Flugteppich steigen, ohne seine Flugeigenschaften zu schwächen?

McBane dachte wieder daran, dass er besser noch in London geblieben und sich auf den Rat der Heiler im St. Mungo eingelassen hätte. Die hätten ihn gerne noch zwei Tage dabehalten. Er beneidete seinen Kollegen Bill Weasley, dass der wohl immer noch von jenem gemeinen Streich der Katzenschwestern kuriert werden musste. Er war jetzt als Helfershelfer des Koboldgeheimdienstes unterwegs, weil die selbst nicht fliegen wollten und dieser eine Flugteppich sozusagen als Zahlungsunfähigkeitsausgleich eines über seine Verhältnisse lebenden Zauberers einbehalten worden war.

McBane ging davon aus, dass der Ring der 240 Meldesäulen so platziert war, dass das geächtete Bauwerk im Zentrum lag. Wo da genau war denen sicher bekannt, aber natürlich auf der höchsten Geheimhaltungsstufe klassifiziert. Wenn die Al-Assuani-Brüder schon solch eine Angst vor diesem im Sand verbuddelten Bauwerk hatten, dass sie jedem magischen Wesen den Tod androhten, das ihr Verbot missachtete, dann würde wohl auch jeder sterben, der oder die den genauen Standort herausfand um gleich dort zu apparieren oder von ganz weit oben wie ein niederstoßender Greifvogel herabzusausen, bevor die Krallen der Sandfalken ihn oder sie zu fassen bekommen mochten. Doch wie nahe konnte wer auch immer an dieses Unheilsgrabmal heranapparieren?

Unangefochten erreichte McBane das Zentrum des verbotenen Bereiches. Der graue Stein erzitterte nicht. Also konnte er ihn loslassen um beide Hände freizuhaben. Er landete den Teppich und hob damit dessen Tarnung auf. Jetzt konnte jeder sehen, dass er eine gleichwarm bezauberte Tracht des hier wohnenden Wüstenstammes und die passende Kopfbedeckung trug. Der Flugteppich wirkte wie ein wildes Muster aus verknoteten und spiralförmig angeordneten Farblinien. Ihre Muster waren das Geheimnis, wieso der Teppich beim fliegen sich und seine Passagiere unsichtbar machte.

McBane zog den kleinen Silberschädel mit kristallenen Augen unter seinem Umhang hervor und ließ ihn nun frei baumeln. Wenn hier ernsthaft ein bösartiger, dibbukartiger Geist war würde ihm der Geisterpreller, das Erzeugnis eines genialen Kobold-Zauberschmiedes, das früh genug anzeigen. Nun holte er noch kleine Instrumente aus seinem gewaltigen, sandfarbenen Rucksack hervor und las sie ab. Doch alle Zauberanzeigegeräte rasselten laut und zeigten eine überall gleichstark bis zum Anschlag wirkende Kraft an. So konnte er die im Sand verborgene Pyramide des unerwähnt gemachten Pharaos nicht anpeilen. Mit mechanischen Gerätschaften war nichts zu machen. Er musste die ihm bekannten Zauber verwenden, die verborgene Kräfte innerhalb von Luft und Erde zeigten und dabei riskieren, wen auch immer wachzukitzeln oder durch die ihm offenbarte Kraft die Besinnung zu verlieren. Deshalb wirkte er zunächst einen Zauber, der seine Kopfbedeckung zu einer Art Dämpfer machte, Dann wirkte er einen Aura-Resonanzzauber, um die um ihn wirksame Ausstrahlung in Schwingungen zu versetzen. Meistens hatten er und seine Kollegen damit die Quelle der Ausstrahlung finden können, auch wenn sie unter Unortbarkeitszauber lag. Das Ergebnis war jedoch, dass er nur ein unerträglich lautes Gebrumm erzeugte, dass mit einem viele Sekunden ausklingenden Nachhall um ihn herum verklang. Wenn er seine Kopfbedeckung nicht vorbehandelt hätte wäre ihm womöglich der Schädel geborsten. Er verwendete nun Lotungszauber der Erde, um nach Unregelmäßigkeiten oder besser starken Echos in der Erde zu suchen. Dabei bekam er heraus, dass im Nordosten des Zentrums etwas tief im Boden war, das seinen Suchzauber wie eine Granitwand zurückwarf. Also da war was.

Auf dem Flugteppich ging es in die ermittelte Richtung. Dann landete er wieder und wiederholte den Zauber. Jetzt meinte er, sein Zauberstab wolle ihm aus der Hand springen, und etwas wolle den Flugteppich vom Boden heben. Ja, hier war er richtig. Wenn in den nun viele Dutzend Kilometern entfernt stehenden Säulen keine Spürsteine für weit entfernte Zauber eingewirkt waren konnte er nun mit Ausgrabungszaubern hantieren.

Mit dem Ausgrabezauber Effodius hob er eine dreißig Meter tiefe, kreisförmige Grube aus, bis der Zauber auf einen magischen Widerstand traf und er nur durch schnelles hochrecken des Zauberstabes dessen Zerstörung verhindern konnte. Er schwebte nun über einer tiefschwarzen, glatten Oberfläche, die wahrhaftig wie eine gigantische Grabplatte aussah. Das musste die Bodenplatte jener verfluchten Grabstätte sein, an die er sich sonst nicht herangetraut hätte, wenn ihm dieser Gierhals Chapknock nicht den Tilgungshammer unter die Nase gehalten und ihm als andere Lösung 30000 Galleonen Belohnung angeboten hätte. Er war womöglich der erste Mensch seit Fertigstellung dieses monströsen Maosoleums, der es zu sehen bekam. Doch er konnte sich nicht darüber freuen. Denn das hieß auch, dass was immer dort unten lauerte ihn als Feind oder Opfer einstufen würde. Kehrte er jetzt um war das wie ein Versagen und er starb auch so. Also musste er in dieses unheilvolle unterirdische Bauwerk eindringen.

Er versuchte es mit einem Bollidius-Zauber, um zu prüfen, ob die Bodenplatte gegen Feuerzauber gepanzert war. Der grünblaue Feuerball zerbarst mit lautem Knall auf der schwarzen Oberfläche. Doch keine rotgoldenen Flammen schlugen heraus, sondern nur ein wenige Sekunden schimmerndes, violettes Licht. Dann war die freigelegte Stelle wieder so schwarz wie zuvor. Also war mit Feuerzaubern nichts auszurichten. Das galt dann sicher auch für Sonnenlichtzauber. Dann fiel ihm ein, dass dieses Bauwerk doch von Menschen ohne Magie errichtet worden sein musste. Er kannte da einen Trick, mit dem magisch verschlossene Türen gegen den Willen ihrer Erbauer aufgemacht werden konnten. Das war geheimes Wissen, dass außer Fluchbrechern nur noch Leuten aus der Liga gegen dunkle Künste bekannt war. Er brauchte nur nach Verschlusszaubern zu forschen und diese durch einen Verstärkungszauber zu überlasten, dass sie mit der von ihnen gesicherten Tür vergingen. Das war zwar eindeutig gegen die magischen Strafgesetze, bei uralten Gebäuden aber doch das Mittel der Wahl, solange man sich dabei nicht erwischen ließ.

McBane horchte erst auf seinen Geisterpreller. Wenn der stärker zitterte oder gar zu summen und zu glühen anfing wurde es wirklich brenzlig. Als er sicher war, im Moment nicht behelligt zu werden packte er seinen Flugteppich in den Rucksack. Auch sein Frühwarn-Armband, dass er wegen der möglichen Ministeriumszauberer trug, reagierte noch nicht.

McBane schaufelte mit dem Ausgrabezauber noch mehr Sand fort. Dann wendete er die morgenländischen Zauber zum Finden verschlossener Türen an. Bei einem von ihnen "Ruf des Upuaut" war er erfolgreich.

Tatsächlich glomm eine kreisrunde Stelle in der freigelegten Oberfläche himmelblau und sprühte Funken. Da war also eine Einstiegsluke, sicher mit einer tonnenschweren Platte verschlossen. Jetzt wandte er die Aufspürzauber für Verschlusszauber an, bis er den richtigen Fand: "Riegel der Nacht", eine dunkle Verkehrung vom "Schloss des Himmels". Davon ausgehend, dass er bei hellem Sonnenlicht und zusätzlich gewirktem Schild gegen Nachtwesen und dunkelheitsbezogene Zauber vor der bekannten Abwehr jenes dunklen Verschlusszaubers sicher war sprach er die Auslöseformel für den Verschlusszauber immer und immer wieder und zielte auf die Mitte der entdeckten einstiegsluke. Ihm kam sogar die Idee, auch die genaue Himmelsrichtung in die Zauberformel einzubauen. Die Folge war, dass die Luke erbebte und eine nachtschwarze Wolkensäule darüber aufstieg. Die düsteren Wolken, an und für sich verstofflichte Todesqualen, prallten laut zischend und fauchend von der ihn umfließenden, von seiner Seite her durchsichtigen Sphäre aus konzentrierter Sonnenkraft ab oder zerfaserten weit über ihm im hellen Sonnenlicht. Ja, es war schon richtig, bei Tag an dieses Bauwerk heranzugehen.

Die dunklen Wolken wurden immer wilder. Fast glaubte er, gleich doch die Belastungsgrenze seines eigenen Schildzaubers zu erreichen, als die Luke mit lautem Knall in die Höhe flog und noch vor Erreichen des oberen Randes der Grube mit lautem Getöse in Millionen Scherben auseinanderplatzte, die in alle richtungen davonwirbelten. Mit einem lauten Pfeifen jagten noch einmal dunkle Wolken aus der freigesprengten öffnung heraus. Dann kehrte für genau drei Sekunden eine völlige Stille ein. Dann hörte McBane den Schrei, laut und durchdringend wie das Wutgebrüll eines schwarzen Hebriden, der sein Revier verteidigen muss. Sein Geisterpreller erbebte und glühte für eine Sekunde weiß auf. Das war für den schottischen Fluchbrecher und Artefaktbeschaffer das klare Zeichen, dass da gerade etwas aufgewacht war, dass besser hätte weiterschlafen sollen. McBane wusste, dass es nun zum Kampf kommen würde.

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Zur selben Zeit im geheimen Stützpunkt des koboldischen Geheimbundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui in Ägypten

"In zwei Wochen wird er aufwachen, Leitwächter Allbrick. Gut, dass wir weit genug weg sind, wenn der erst mal erfährt, was alles geschehen ist", sagte 100-Augen-lenker Knoblook zu Allbrick. Dieser ließ sich nicht anmerken, was er darüber dachte. Mittlerweile wussten die Hüter des ewigen Schlummers, dass der erste Meister der zehntausend Augen und Ohren am 27. August Menschenzeitrechnung wieder aufwachen würde. Der würde ganz sicher nicht erfreut sein, erstens vor der vorgeprägten Zeit aufzuwachen und zweitens zu erfahren, wie heftig die Kobolde und vor allem deren alles überwachender Kundschafter- und Vollstreckungsdienst geschwächt worden war. Doch er würde seine Wut an den britischen Bundesgefährten auslassen und dann erst an denen von Europa. Sie hier in Ägypten hatten da zunächst einmal Ruhe. Deshalb wollte Allbrick unbedingt das Geheimnis der umgekehrten Pyramide lösen, bevor die Handlanger der Al-Assuani-Brüder das taten oder die Pyramide gleich mit irgendwelchen Zaubern zerstörten, womöglich sogar noch mit jenen Erdfeuerpumpen der Zwerge. Deshalb hoffteAllbrick darauf, dass der von ihm in Marsch gesetzte Zauberstabträger Erfolg hatte oder wenigstens einen Zugang schuf, den seine Leute dann nutzen konnten, auch wenn das hieß, dass sie mit irgendwelchen widerwärtigen Fluggegenständen über die Wüste fliegen mussten.

"Noch schläft Meister der Augen Deeplook, 100-Augen-lenker Knoblook. Was ist mit dem Zauberstabträger?"

"Nun, er hat den Schutz des Unfindbarkeitssteines verlassen und ist jetzt genau hier", sagte Knoblook und tippte mit seinem langen rechten Zeigefinger auf die große Wandkarte, die ganz Ägypten darstellte. Sofort glühte ein roter Kreis auf, in dessen Mittelpunkt ein grünes Licht blinkte. Das kam von jenem Pfandstein, den der gedungene Zauberstabträger verschlucken musste, um die Ausführung des Auftrages zu garantieren. Nun hörte das Blinken auf, und das Licht erstrahlte dauerhaft im satten Grün. "Er hat Bodenberührung", bemerkte Knoblook.

"Da ist sie also, die umgekehrte Pyramide, an die keiner von uns näher als dreißig Tausendlängen herankommt, weil sie einen koboldfeindlichen Schwingungszauber ausstrahlt, der uns die Erdreise vergellt", knurrte Allbrick. Zu gerne hätte er schon vor zwanzig Jahren, als er zum Leitwächter ägyptens ernannt worden war, dieses uralte Grabmal untersucht. Doch es wehrte alle durch die tiefe Erde reisenden Wesen ab. Womöglich hatten deren Erbauer Gleichschwingungssteine verbaut, die eigentlich nur Kobolde kennen durften.

"Achte mit deinen Untergebenen ganz genau darauf, was mit dem Pfandstein geschieht. Wenn sich der Träger wieder entfernt will ich das wissen. Wenn der Stein den Träger tötet und zu uns zurückkehrt will ich das wissen, bevor der bei uns eintrifft."

"Verstanden, Leitwächter Allbrick", bestätigte Knoblook die Anweisung.

Es vergingen mehrere Minuten. Dann änderte sich das Leuchten des Pfandsteines. Allbrick wurde herbeigerufen und sah selbst, was geschah. Der Leitwächter verzog das Gesicht. Das war so nicht vorgesehen und damit alles andere als erwünscht.

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Bei der Umgekehrten Pyramide

McBane holte eine Sonnenlichtkugel hervor und setzte sie in Tätigkeit. Dann schickte er mehrere Fluchbrecherzauber durch die aufgesprengte Luke. In der Zeit blieb es still. Wer oder was auch immer laut geschrien hatte hielt sich verdächtig unauffällig. McBane war klar, dass es ihn belauerte. Jetzt hätte er noch die Gelegenheit, wieder loszufliegen. Doch dann würde er nur noch eine Minute lang leben, bevor dieser bleischwer im Magen liegende Pfandstein ihm alles Leben aussaugen würde. Wie selten irrsinnig war er, sich auf dieses Abkommen einzulassen? Gut, er konnte es nicht ungeschehen machen. Also runter da und nachgesehen!

Mit dem Fallbremsezauber, die auf ihn eingestimmte Sonnenlichtkugel genau über ihm schwebend, glitt er durch die aufgesprengte Luke in einen Schacht hinein. Dass dort Trittlöcher zum Hinein- und Hinausklettern angebracht waren ignorierte er. Das gesammelte Sonnenlicht über ihm schien dunkelgrau von den Wänden wider. McBane meinte nun die hier wirkende Aura noch deutlicher zu spüren. Es war wie ein immer kälterer, immer stärker wehender Gegenwind. Sein Geisterpreller erschuf um ihn eine grünlich-silberne Leuchtspähre. Also war das hier unten eine bösartige Seelenmagie. Als seine Füße auf dem Grund des Schachtes aufsetzten meinte er, ein leises Wispern zu hören. Es drang aus den Wänden und dem Boden und aus der Decke. Sein Geisterpreller erbebte nun spürbar vor seiner Brust.

McBane war in einem Gang angekommen, der sich nach süden und Norden erstreckte. Links und rechts konnte er steinerne Türen erkennen, die mit beindicken Riegeln versperrt waren. Womöglich lauerten hier unten auch mechanische Fallen. Daher besah er den Boden, die Decke und die Wände zwischen den Türen. Er versuchte, einen Fluchbrecher zu zaubern. Doch dieser prallte keine Handlänge vor dem Zauberstabende auf einen Widerstand und wurde zu einer die ganze Breite und Höhe ausfüllenden Wand aus blauem Licht. Sein Zauberstab erbebte und bog sich immer weiter durch. Gleich würde er brechen. Schnell riss er ihn senkrecht nach oben. Der Fluchbrecher entlud sich mit einem lauten Pfeifen durch den geöffneten Einstiegsschacht. Damit stand fest, dass er mit den üblichen Abwehrzaubern nicht weiterkam. Das ganze Bauwerk war bis zum Überlaufen mit dunkler Magie erfüllt, die einer alleine nicht zerstreuen konnte oder nur, wenn er alles hier vernichten und sich selbst dabei umbringen wollte. Konnte er es so riskieren, weiterzugehen? Er musste es. Denn je weiter er kam, desto sicherer war, dass jeder Rückzug sein Tod sein würde.

An und für sich wäre es ihm ganz recht, wenn der hier schlummernde und jetzt wohl lauernde Geist vor ihm erscheinen und mit ihm kämpfen würde. Doch der ließ sich nicht blicken. Womöglich hielt ihn die Schutzaura des Geisterprellers davon ab. So war es an ihm, Rore McBane, den Feind zu finden, wohl wissend, dass dieser hier auf heimischem Gebiet war und somit alle Vorteile auf seiner Seite hatte.

Er wirkte Zauber zur Blockade mechanischer Fallen, die laut klatschend an den Wänden und dem Boden abprallten. Doch er hatte noch einige Möglichkeiten, solchen Fallen zu entrinnen. Er zog aus seinem Rucksack mehrere Eisenzylinder und stellte sie vor sich hin. Dann berührte er sie mit seinem Zauberstab. Die Objekte erwachten zu einem befremdlichen Eigenleben. Sie bekamen je acht dünne Beine und je vier Ärmchen mit drei Ellenbogengelenken, an deren Enden Greifzangen klackerten. "Und sucht!" sagte er. Die bezauberten Objekte flitzten nun los, um nach auffälligen mechanischen Vorrichtungen zu suchen und diese auszulösen. Das war die von den Kobolden gefundene Antwort auf alle nicht mit Magie auffindbaren und magielos wirkenden Fallen und gehörte zur Standardausrüstung der Mitarbeiter mit und ohne spitze Ohren.

Immer auf jede Reaktion der drei Fallensucher achtend folgte McBane seinen Spürgeräten bis zur ersten verschlossenen Tür. Er lauschte. Ein leises, wehklagendes Stöhnen drang durch die steinerne Tür. Das Flüstern in den Wänden wurde lauter. Er meinte einzelne altägyptische Worte zu verstehen. "Noch ein Opfer für den König", hörte er aus dem Gewirr der wispernden Stimmen heraus. Also stimmte es, dass dieser Wahnsinnige damals mehrere unschuldige Menschen in diesem Grabmal hatte einschließen lassen, um sich an ihrem Kaa, ihrer Seelenkraft, zu laben wie eine Abart von Vampir. Sollte er die Tür öffnen und nachsehen, was dort war? Nein, er wollte erst einmal nach unten vordringen, bis zur tiefsten Stelle, auch wenn er damit in den Schlund des gefräßigen Drachen kroch.

Unvermittelt summte sein Geisterpreller. Die ihn umgebende Schutzsphäre erstrahlte noch heller. Dann sah er unmittelbar vor sich eine dunkelblau leuchtende Erscheinung, die so hoch wie der Gang war. Keine Sekunde später schoss ihm ein gleißender Blitz entgegen, der genau auf den Geisterpreller traf. Einen Moment lang stand McBane in einem Mantel aus hellgrünem Licht da. Dann fühlte er, wie etwas auf seiner Brust glühendheiß wurde. Dann hörte er ein sehr unheilvoll von den Wänden und aus dem Gang widerhallendes Klirren. Im selben Augenblick erlosch das grüne Licht, und er stand nur noch dem blutroten Phantom gegenüber.

"Erdgebundenes Zeug!" brüllte eine höchst überlegen klingende Stimme in der Sprache jenes Reiches, dass vor über zweitausend Jahren vor den Phöniziern und lange vor den Römern die Mittelmeerküste und große Teile Nordafrikas beherrscht hatte.

Als McBane erkannte, dass der blutrote Dämon gerade den Geisterpreller zerstört hatte fühlte er den geschluckten Pfandstein immer schwerer werdend. Er wusste, dass er nur noch eine Minute zu leben hatte. Der mörderische Meister dieses unterirdischen Bauwerks hatte sein nächstes Opfer gefunden, Rore McBane.

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Es war, als griffe jemand ihn an der rechten Schulter und versuche, zwischen Schlüsselbein und Schulterblatt einen Keil zu treiben, der die beiden Knochen auseinandertreiben sollte. Es mutete seltsam an, dass er, der keinen lebenden Körper mehr hatte, solche Empfindungen fühlte. Dann hatte er den durch seine ganze Daseinsform jagenden Stoß verspürt. Er war förmlich aus seinem Aufbahrungstisch herausgeschleudert worden und hatte seinen Unmut über diesen Angriff in die vielen Gänge und Kammern hinausgebrüllt. Dann erst war ihm klar geworden, dass dort draußen ein Mensch mit Zauberkräften eine der vier magisch verriegelten Einstiegstüren aufgebrochen hatte. Er spürte, dass den Fremden etwas umgab, dass ihn daran hinderte, den Geist des Eindringlings zu ertasten. Offenbar trug er etwas bei sich, dass jemanden wie ihn abhalten sollte. Das war unerhört, eine Beleidigung dessen, der hier herrschte und darauf hoffte, bald auch wieder über das ganze Reich des Nils zu gebieten. Zumindest zeigte ihm der magische Schutzmantel, wo der Fremde war. Ja, der wagte es ernsthaft, gegen die in den Wänden wohnende Kraft aus aberhundert Todesqualen zu kämpfen. Doch der merkte schnell, dass er diesen Kampf verlieren musste. Doch nun stand fest, dass es ein Kundiger der hohen Kräfte war, also genau einer, den er schon seit langer Zeit erwartet hatte. Dass der sich einfach in sein Reich hineingekämpft hatte konnte er ihm deshalb verzeihen. Doch den mitgeführten Schild gegen seine fernen Tastversuche durfte er ihm nicht verzeihen. Denn wenn er ihn ergreifen und in Besitz nehmen wollte musste er dessen inneres Selbst berühren und durchdringen können. Also wartete er, bis der Eindringling vor der Tür zu einer der oberen Seelenkammern stand. Ja, dort konnte er ihm begegnen.

Mit einem einzigen Gedanken wechselte der Herr des unterirdischen Grabmals zu jenem Fremden hinüber. Er konnte mit seinen körperlosen Augen das gleißende Licht sehen, eingefangenes und künstlich widergegebenes Sonnenlicht. Das mochte einem üblichen Rachegeist wie denen des Ixandesh den Garaus machen. Doch ihm konnte es nichts anhaben, weil die Macht des Stufengrabes ihn stärkte und schützte. Er besah sich den in sandfarbene Gewänder gehüllten Fremden. Der war größer als die Menschen seiner eigenen Zeit. Ja und dieses widerwärtige Etwas, das ihn mit einem Schild umhüllte wirkte gegen ihn. Das wollte er gleich beenden. Er erspürte, dass dieses Ding seine Kraft aus den Tiefen der Erde bekam. Da kam ihm die Idee, genau dieselben Kräfte freizumachen. Er sog die Kraft der im Stufengrab gefangenen Seelen in sich ein und bündelte sie zu einer einzigen Entladung von Erdzauber. Diese richtete er auf den Fremden. Sein Schildgegenstand sog die freigemachte Kraft in sich auf und überfraß sich daran. Nur wenige Atemzüge später zerbrach die stoffliche Umhüllung, und alle ihr innewohnende Kraft versickerte im Boden und ging im Geflecht der Kräfte innerhalb des Stufengrabes auf. Nun lagen die Gedankenund Gefühle des Fremden völlig frei vor ihm. Er griff danach und erfasste, dass etwas in dem Fremden wirkte, das ihn töten sollte. Doch genau das durfte er nicht zulassen. Er sprang vor, zog dabei weitere Kraft aus den Wänden und der hinter der Tür eingekerkerten Seele und umschlang den Körper des Fremden. Kein Blinzeln später drang er schon darin ein. Es erfolgte ein kurzer, innerer Kampf. Denn der andere wollte seinen Leib nicht hergeben. Er bekam dabei mit, was diesen Mann zu ihm trieb und dass er bereits mit seinem Leben abschloss. "Nein, dein Leib wird mein. Nichts wirrd ihn mir entreißen!" rief der ungenannte Herrscher. Dann schaffte er es, die Seele des rechtmäßigen Besitzers dieses Körpers hinauszudrängen und in Richtung der goldenen Kammer zu schleudern. "Verweile dort, wo ich verweilte!" rief er ihr noch nach. Dann begann er mit Hilfe der gefangenen Seelen, den in ihm aufquellenden Bestrafungsstein zu schwächen. Dieser wehrte sich mit bohrenden Bauch- und Darmschmerzen. Doch der einst so mächtige König drückte sich gegen eine der Wände und leitete so die darin steckende Kraft durch seinen Körper. Die quälenden Bauchschmerzen ließen nach. Dafür überkam den, der gerade Halt in diesem Leib gefunden hatte, ein wildes Würgen und lautes Aufstoßen. Er wandte sich von der Wand ab und spie mit drei Auswürfen eine Ladung kleinster Steinsplitter von sich. Dann war ruhe. Er fühlte, wie sein Kopf von den heftigen Schmerzen der gewaltsamen Inbesitznahme dröhnte. Deshalb konnte er bis auf weiteres keinen klaren Gedanken denken. Er brauchte eine Zeit, um zu erfassen, wessen sterbliche Hülle er da übernommen hatte.

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Er würde sterben, wusste McBane. Auch wenn der blutrote Dämon geradewegs auf ihn zukam und ihn wie ein roter Kugelblitz umschloss änderte das jetzt nichts mehr an seinem Ende. Dann hatte Rore McBane es gefühlt, wie ein fremder Wille in ihn eindrangt, wie mit glühenden Nadeln in seinen Kopf stach und dann, ganz ohne Übergang in ihm Halt fand. Er versuchte noch, sich dagegen zu wehren, um diesen Überdibbuk lange genug aufzuhalten, bis der Pfandstein ihn tötete. Doch dieses Unwesen hieb mit einer mörderischen Kraft auf seinen Geist ein, bis ein greller Blitz ihn förmlich davonriss, durch eine Vielzahl erleuchteter Gänge, durch Ebenen aus rotem und goldenem Licht, hinein in eine glänzende Kammer, auf einen glänzenden Tisch zu. "Verweile dort, wo ich verweilte!" hörte er eine gebieterische Stimme auf Altägyptisch befehlen. Diese Worte warfen ihn wie starke Arme auf den goldenen Tisch. Er fühlte, wie er darauf prallte und dann nichts mehr. Kein grelles Licht, keine sonstigen berichteten Vorboten des nahen Todes. Er war einfach nur in einem dunklen Raum eingeschlossen und hörte wie aus großer Ferne ein leises Wispern von Gedanken, die Gedanken jenes, der ihn aus dem eigenen Körper geschleudert hatte, um darin weiterzuleben. Doch der Dämon würde unterliegen. Der Pfandstein würde den gerade erst erbeuteten Körper in wenigen Sekunden töten.

Die Zeit verging. Doch McBane fühlte nicht, dass sein Widersacher unterlag. Im Gegenteil, er fühlte, dass dieser offenbar triumphierte. Hatte der nach dem Schlag gegen den Geisterpreller auch einen Weg gefunden, den Pfandstein zu entmachten? So musste es sein. Damit stand für den ausgestoßenen Rore McBane fest, dass er einem neuen Feind der Menschen die Tür zu seiner Welt geöffnet hatte, und alle die, die ihm dazu den Auftrag erteilt hatten, würden es bitter büßen, ihn dazu gezwungen zu haben. Er spürte, wie seine Gedanken immer träger wurden. Das, was ihn aus dem Körper gerissen hatte schläferte ihn ein. Er bekam nur noch mit, wie der böse Geist, der seinen Körper erbeutet hatte, mit überlegenen Gedanken davonging. Dann versiegten seine Gedanken, womöglich für alle Zeiten.

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Zur selben Zeit im ägyptischen Geheimstützpunkt des Bundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui

Das grüne Licht des Pfandsteines hatte sich urplötzlich bis zum Rand des roten Ortungskreises ausgedehnt, war dann zweimal blendend hell aufgeflackert und dann mit dem Ortungskreis verloschen. Leitwächter Allbrick sah den 100-Augen-lenker Knoblook an, der sichtlich verunsichert dreinschaute. Beide wussten, dass das keine übliche Pfandsteinauswirkung war. Starb der Träger eines Solchen wegen der Nichterfüllung des Auftrages, füllte das erst grüne Licht als blutrotes Licht den Kreis aus, blinkte fünfmal und wurde zur Abkürzung für "Träger vergangen". Danach hätte sich ein blauer Punkt mit Erdstoßgeschwindigkeit entfernen und Richtung Stützpunkt eilen müssen. Dies trat jedoch nicht ein.

"Zehnohrenhüter Rootknock, übliche Erderschütterungsmeldung eines gewaltsam zerstörten Pfandsteines?" wandte sich Leitwächter Allbrick an einen im Überwachungsraum sitzenden Untergebenen, der glockenförmige Silberschalen auf den besonders großen Ohren trug. Der Gefragte schrak zusammen und nahm die beiden Silberschalen von den etwas länger ausgeformten Spitzohren. "Leitwächter Allbrick, melde keine für sich entladende Pfandsteine übliche Erderschütterung. Träger kann jedoch in einen gegen unsere Erdzauber abgesicherten Bereich eingedrungen sein, wo der übliche Erdstoß geschluckt wurde."

"Danke, weitermachen!" sagte Allbrick. Zehnohrenhüter Rootknock bestätigte und stülpte sich die beiden Horcherschalen wieder über seine Ohren, um auf allels erdmagische im Umkreis von tausend Tausendschritten zu lauschen.

"Jedenfalls muss der Träger bei was auch immer den Tod gefunden haben. Ein Pfandstein lässt sich nicht ohne die sachkundige Ausführung von Untätigkeitszaubern aus dem Träger entfernen, ohne ihn dabei zu töten", wagte 100-Augen-lenker Knoblook einen Einwand. Allbrick ließ ihm das durchgehen, auch wenn er ihn hätte maßregeln können, ihm nichts zu sagen, was er sowieso schon wusste. Der Leitwächter dachte daran, dass der Bund der zehntausend Augen und Ohren womöglich die Bezauberung der umgekehrten Pyramide unterschätzt hatte, obwohl die von ihr ausstrahlende Erdmagie schon Warnung genug war.

"Wir dürfen nicht nur vom Tod des Pfandsteinträgers ausgehen, sondern müssen auch einbeziehen, dass er vor seiner Auslöschung noch irgendwem irgendwas über den Auftrag verraten hat und die uns noch unbekannten Gegenspieler diese Kenntnisse ausnutzen könnten. Ich werde diesen Goldsammler Chapknock vorwarnen müssen", grummelte Allbrick.

"Halten Sie es für möglich, dass im unterirdischen Stufengrab wirklich noch jemand denkfähiges ist, wie die Gerüchte innerhalb des Zaubereiministeriums das vermuten?" wollte Knoblook wissen.

"Das herauszufinden war ja Teil des Auftrages an McBane. Daher kann und will ich dazu nicht mehr sagen", erwiderte Leitwächter Allbrick. Knoblook verstand. Allbrick fürchtete, dass etwas in jenem unterirdischen Stufengrab den Zauberstabträger überwältigt und hoffentlich sofort getötet hatte.

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Südägypten, eine Unbekannte Zeit nach McBanes Eintreffen

Es waren nicht nur die bohrenden Kopf- und Leibschmerzen, die ihn daran hinderten, seinen neuen Körper vollständig zu übernehmen. Er wollte und musste auch die beim Austreiben der angeborenen Seele versteinerten Erinnerungen wiedererwecken, um zu wissen, wessen Leib er sich angeeignet hatte. Denn wenn er das wusste konnte der Reiter der großen Schlange in dieser weit nach seinem Leben wirkenden Zeit weiterherrschen.

Er lehnte sich an eine der goldenen Wände seiner Grabkammer, um alle Kräfte seines Stufengrabes in sich hineinzurufen. Dabei fand er jedoch heraus, dass es sehr gefährlich war, die volle Kraft in den übernommenen Körper hineinzurufen. Das Herz schlug schneller. Der Leib erhitzte sich wie im wilden Fieber. Schweiß strömte aus allen Poren. Er hörte das Blut in den Ohren Rauschen. Endlich hatte er es heraus, die mächtigen Kraftströme zu heilsamen Kräften umzuwandeln und die den erbeuteten Körper erschütternden Schmerzen niederzuringen. Dann gelang es ihm auch, die einzelnen Erinnerungen aufzuweichen, auf dass er sie für sich verwenden konnte. Schwierig dabei war, dass diese urtümlichen Erinnerungen aus der frühesten Kindheit des eroberten Körpers in einer ihm völlig unbekannten Sprache verknüpft waren. Zumindest konnte er den wahren Namen dessen erfahren, dessen Leib er sich gewaltsam angeeignet hatte.

Es kostete eine Menge Geduld, Zeit und Kraft, sich durch alle wieder auftauenden Erinnerungen aus Bildern, Worten, Geräuschen und Gefühlen zu wühlen, bis er an die Stelle kam, wo sein unfreiwilliger Körperspender die Sprachen des erhabenen Reiches am Nil erlernt hatte. Ab da war es, als würde er die Fäden eines Teppichs aufräufeln und auf eine große Spule aufwickeln. Nun konnte er alle bereits durchwanderten Erinnerungen neu verknüpfen, übersetzen, was vorhin unverständlich war und somit all die Dinge lernen, die sein Körperspender gesammelt hatte. Der frühere König des Reiches am Nil erkannte nun, dass es nicht so einfach war, mal eben einen neuen Körper zu erobern und auch dessen Erinnerungen zu nutzen. Auch gelang ihm das wohl nur, weil die angestammte Seele nicht in die Totenwelt übergetreten war, sondern in dieser Kammer eingekerkert wurde und somit über die direkte Berührung mit dem ganzen Stufengrab noch mit ihrem Körper verbunden war. Das war im Augenblick hilfreich, mochte jedoch auch gefährlich werden, falls der wiederverkörperte Reiter der großen Schlange die Gewalt über seine mächtige Heimstatt verlor. So galt es, behutsam zu wirken, keine Unaufmerksamkeit aufkommen zu lassen und erst dann zu entscheiden, was er weiterhin tun wollte, wenn er auch wirklich alles wichtige wusste.

Es dauerte noch eine geraume Zeit. Doch die Geduld zahlte sich aus. Er wusste nun, wessen Körper er sich angeeignet hatte. Nun wusste er auch, wo er ursprünglich hergekommen war. Er erfuhr, warum er es trotz aller Berichte über ihn, den Reiter der großen Schlange, gewagt hatte, in dessen Grabstätte einzudringen. Er erkannte, dass nur die Macht von vierhundert unschuldigen Seelen den tödlichen Stein besiegt hatte, den der Fremde, Rore McBane, hatte verschlucken müssen, um nicht in Schande von diesen kleinwüchsigen Männern verjagt zu werden, die sich Kobolde nannten und für ein Goldsammel- und Verwahrungshaus namens Gringotts arbeiteten. Ja, es hatte sich wohl einiges getan, auch dass die alten Götter gegen einen einzigen, unsichtbaren Gott ausgetauscht worden waren, den die Verehrer eines Heilspredigers namens Jesus Vater Unser im Himmel nannten und viele hier in seinem Land lebenden Allah, den einen Gott nannten und dessen Verkünder als ihren Heilsbringer verehrten. Also waren Amun, Re, Isis, Osiris und die anderen doch nicht so mächtig gewesen, wie die einfachen Leute seines Volkes es angenommen hatten. Doch er würde ihnen den Glauben an die alten Götter zurückbringen, die Anhänger der falschen Propheten verjagen oder im Wüstensand verscharren. Doch vorher musste er jene strafen, die meinten, sein Stufengrab plündern zu dürfen, nur weil sie es zu können meinten. Wo sie wohnten und arbeiteten erfuhr er durch die von ihm geknüpfte Verbindung zwischen McBanes Körper und der Zauberkraft des Stufengrabes. Doch er erfuhr dabei ebenso, dass diese Wesen mächtige Abwehrzauber beherrschten, um sich und ihre Besitzungen zu schützen. Mit dem neuartigen Holzstab, den Rore McBane mitgebracht hatte, konnte er viel aus- und anrichten, sowohl mit seinen alten Kenntnissen als auch jenen, die in den Erinnerungen McBanes schlummerten. Doch wenn er wirklich mächtig sein wollte brauchte er stärkere Mittel. Er war sich dessen bewusst, dass er in der Ferne nicht auf die Kraft seines Grabmals zurückgreifen konnte. Doch ihm fiel ein, dass er damals den Krieger Seths gefangengenommen hatte, der meinte, ihn und sein Grabmal erobern und beherrschen zu dürfen. Ixandesh hatte dieser Krieger geheißen. Der hatte sich jedoch der Unterwerfung verweigert, indem er sich selbst getötet hatte und sein Kaa von irgendwas an seinem Körper aufgefangen und weggesperrt worden war. Was das war wusste er schon, ein goldener Ring mit einem nachtschwarzen Kristall. Doch erst jetzt hatte er die Möglichkeit, diesen Ring genauer zu untersuchen, ja ihn möglicherweise für sich zu erobern, wie es ihm mit dem Körper Rore McBanes gelungen war.

Da die Grabstätte seinen Gedanken gehorchte konnte er mühelos durch alle Gänge hindurch, die für ihn angelegt worden waren. Er hörte das Wispern und Stöhnen der eingekerkerten Seelen unschuldiger Knaben und Jünglinge aus den Seelenkammern. Für ihn waren sie wie erbauliche Musik und nährende Speise. Dann stand er vor der verschlossenen Tür einer Kammer, die verriet, dass etwas darin eingeschlossen war. Er erinnerte sich, dass er schon einigemale hier gewesen war und jenen goldenen Ring neben dem zu Staub zerfallenen Körper Ixandeshs gesehen hatte. Mit seinen Gedanken brachte er die Tür dazu, sich für ihn aufzutun. Leise schabend glitt die aus hartem Stein geschlagene Platte bei Seite.

Der Körperdieb und ehemalige König ließ am Ende des miteroberten Zauberstabes ein sonnengelbes Licht aufleuchten, da er mit seinen neuen Augen nicht in völliger Dunkelheit sehen konnte. Jetzt konnte er die grauen Wände erkennen. An einer davon war eine vergoldete Platte befestigt, deren Ränder mit Zeichen für mächtige Seelenzauber beschrieben waren. Von der Platte aus führten feine goldene Adern durch die Wände und verbanden sie mit Boden und Decke und damit mit dem Rest des Stufengrabes. Auf dem Boden lag ein kleiner tiefschwarzer Aschenhaufen. Darin halb eingegraben lag der goldene Ring der Söhne des Seth. Der tiefschwarze, zwölfflächige Kristall reckte sich dem Wiederverkörperten entgegen, als wolle er ihn einladen, danach zu greifen. Doch der Reiter der großen Schlange spürte eine schlummernde Bedrohung. Wenn er den Ring nahm mochte Ixandeshs darin eingebetteter Geist versuchen, in McBanes Körper einzufahren und ihn zu erobern. Das wollte der Körperdieb jedoch nicht zulassen. Er rief mit ausladenden Zauberstabbewegungen die ihm dienenden Kräfte an und forderte die zwischen Leben und Tod gefangenen Seelen der vierhundert unschuldigen Knaben und Jünglinge, ihm zu helfen.

Der Ring glühte hellrot auf. Der Kristall blieb jedoch erst einmal völlig dunkel. Tatsächlich sprühten schwarze Funken daraus hervor, die auf McBanes Zauberstab zuflogen. Mit schnellen Wischbewegungen fegte er diese Funken aus der Bahn und ließ sie an den Wänden zerstieben. Dann begann der Kristall im Takt der gemurmelten Beschwörungen blau-rot zu flackern. Ein leises Stöhnen klang von dort, wo der Ring lag. Dann schien sich der Kristall aufzublähen, schleuderte weitere Funken durch den Raum, die jedoch allesamt von den Wänden und dem Boden angesaugt und verschluckt wurden. Schließlich drangen graue Funken daraus hervor, die sich über dem Ring zusammenballten. Erst war es eine schwach pulsierende Wolke aus nebelgrauem Dunst, die immer kugelförmiger wurde. Dann sah es wie der Kopf eines Mannes aus. Aus den schemenhaften Formen schälte sich mehr und mehr ein klar erkennbares Gesicht heraus, das Gesicht eines verärgerten Mannes, der offenbar gegen irgendwas ankämpfte. Der Reiter der Großen Schlange bündelte die ihm zufließenden Kräfte und jagte sie so schnell durch den Zauberstab, dass weder er noch der Stab vor angestauter Kraft zerplatzen konnten. Dem nun klar und deutlich sichtbaren Kopf folgte ein Hals, dann Schultern, Arme und Hände, ein Rumpf und schließlich zusammengedrückte Beine. Aus dem Mund der nun dunkelgrau flirrenden Erscheinung drang ein wie von fernem Wind getragenes Wutschnauben. Der Körperdieb meinte auch Worte zu hören: "Du elender Verräter an Seth. Wieso vermagst du dies?" Dann schnellten goldene Lichtstrahlen aus der Platte an der Wand heraus, umschlangen den aus dem Kristall hervorgezwungenen und rissen ihn gänzlich aus dem Kristall heraus. Innerhalb eines einzigen Atemzuges schnellte die dunkelgraue Schattenform Ixandeshs gegen die goldene Platte und brachte sie zum leuchten. Ein nur gedanklicher Angstschrei erfüllte die Kammer. Dann formte sich in der Platte die Erscheinung eines erwachsenen Mannes. Einen Augenblick lang zuckte diese. Dann erstarrte sie. Das sie umfließende Licht dunkelte ab, bis nur noch ein schwaches, rotes Glimmen in der goldenen Platte zu sehen war. Ixandesh, dessen Namen der Wiederverkörperte während seiner Beschwörungen immer wieder genannt hatte, war nun doch ein Gefangener des umgekehrten Stufengrabes. Dessen Bewohner und Herrscher fühlte nun die auf ihn einströmenden Erinnerungen und erfuhr auf diese Weise, was es mit dem Ring auf sich hatte. Dieser konnte nun, wo seine Seelenfangbezauberung aufgehoben war, von ihm genommen und als Verstärker für mächtige Kampf- und Strafzauber verwendet werden. Der Reiter der großen Schlange zögerte nicht mehr. Er bückte sich, griff nach dem Ring und steckte ihn an einen Finger seiner linken Hand. Sofort fühlte er ein im Takt seines neuen Herzens gleichmäßiges Pochen. Dann merkte er, wie ihm weitere Kraft zufloss. Ja, er hatte die Macht des Unlichtkristalles für sich erobert. Jetzt hatte er die vervielfachende Kraft zur Verfügung, mit der er seine alte Herrschaft zurückerlangen und sie ausdehnen würde. Außerdem holte er sich aus den heimlich in das Stufengrab geschafften Truhen, die nur auf bestimmte Zauberwörter reagierten, den Opferdolch des Seth mit einem Griff aus in Menschenblut gehärteter Bronze und einer mit dem Blut gehörnter Feuerdämonen getränkter Klinge aus Obsidian und den Umhang der Verborgenheit, den er damals selbst gewebt hatte, um unsichtbar zu wandeln. Als er den Dolch ergriff fühlte er wie die kleinen hohlen Dornen, aus dem Griff stachen und ihm in die Hand drangen. Sein neuer Ring pochte nun wild und jagte heiße und kalte Ströme durch seinen Körper. Doch der Wiederverkörperte hatte keine Furcht. Im Gegenteil. Er sprach den geheimen Namen des Opferdolches aus und erlaubte ihm, den Blutpakt mit ihm zu schließen. Auch wenn er ein Zehntel seines neuen Blutes opfern musste ließ er sich dies gefallen, wo er gerade die innige Verbindung mit dem Dolch, seiner Grabstätte und dem Unlichtkristallring hielt. Endlich hatte der Dolch genug Blut von ihm getrunken. War er vorhin noch so schwer wie vier Laibe Brot gewesen lag er ihm nun griffig und federleicht in der Hand. Er konnte ihn zielgenau werfen oder damit blitzschnell zustoßen, wenn er daran dachte, dass Seth das feindliche Leben dargebracht bekam.

Der finstere König überlegte, wen er zuerst angreifen sollte. Er wusste aus McBanes Erinnerungen, dass die Mitglieder des sogenannten Zaubereiministeriums seit einiger Zeit unter der Herrschaft einer dunklen Magierin standen, die ihren eigenen Weg beschritt. Doch McBane und dessen Bandenmitglieder wussten nicht, wo die Al-Assuanis versteckt waren. Dann war da noch dieses vaterlose Unweib, dass Sonnenzauber verwenden konnte und ihn damit entkörpert und so seine frühzeitige Wiederkehr vereitelt hatte. Sie durfte nicht erfahren, dass er wieder da war, bevor er nicht an die versteckten Machtgegenstände gelangte, mit denen er ihren Sonnenzauber überwinden und sie vernichten konnte. Dann dachte er daran, dass jene, die McBane zu ihm hingeschickt hatten, sehr darauf bedacht waren, nicht entdeckt zu werden und dass sie McBane diesen Bestrafungsstein in den Leib getrieben hatten. Also wollte er jene kleinwüchsigen, spitzohrigen Fremdlinge strafen, die sich anmaßten, die Schätze seines Reiches zu erbeuten. Er dachte vor allem daran, dass er sich von denen auch das Auge der Bastet zurückholen konnte, das McBane und sein Mitstreiter geraubt hatten. Damit und mit weiteren Gegenständen alter Macht würde er unbesiegbar sein.

Ihm fiel ein, dass auf der obersten Bodenplatte noch ein tarnfähiger Flugteppich lag, wie er ihn damals selbst sein eigen nennen durfte und jener Quader, der ihn für Fernerkundungszauber unsichtbar und unauffindbar machte. Ja, diese kleinwüchsigen Missgeburten hatten schon sehr beachtliche Hilfsmittel ersonnen.

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Geheimer Gringottsstützpunkt in Ägypten, 14.08.2006, 09:30 Uhr Ortszeit

Chapknock war froh, dass der Bund, der alles sieht und hört ihn nicht für das Versagen McBanes zur Verantwortung gezogen hatte. Denn sie hatten ja damit rechnen müssen, dass in jener umgekehrten Pyramide alte Kräfte wirkten. Doch warum Allbrick hundert handelnde Hände seines Bundes um den Stützpunkt herum postiert hatte und in die bezauberte Ecke seines Büros zehn mit silbernen Rüstungen gepanzerte Vollstrecker gestellt hatte gab ihm zu denken. Allbrick hatte nur erwähnt, dass Al-Assuani mitbekommen haben mochte, dass jemand sich über sein Verbot hinweggesetzt hatte, die in den Boden eingegrabene Pyramide aufzusuchen. Also mussten sie auch damit rechnen, dass die Al-Assuani-Brüder nach ihnen suchen würden. Doch Gringotts Ägypten durfte nicht verlorengehen. Sie hatten bereits zu viele Gebiete verloren, vor allem an die sogenannte Koalition der Verbundenheit und des friedlichen Miteinanders, und die Franzosen hatten es doch allen Ernstes hinbekommen, heimliche Kundschafter des Bundes aufzugreifen und wahrhaftig wegzusperren. Die alles sehenden Augen wussten bis heute nicht, wie die das anstellten. Von Australien und Neuseeland wollte er erst gar nicht anfangen.

Es klopfte dreimal kurz und zweimal lang. Das war Nachrichtenschläger Orepick. Dessen Standardbericht sollte doch erst um halb zwölf erfolgen. Chapknock rief ihn herein.

Der Bedienstete verbeugte sich vor seinem Vorgesetzten und präsentierte zwei Mitschriften erhaltener Zauberglockenschlagfolgen. Eine las er halblaut vor: "London macht druck wegen ausbleibender Goldlieferungen und verlangt eine persönliche Stellungnahme von Ihnen oder Kairos Zweigstellenleiter Wittrock."

"Soso, wollen unsere obersten Vorgesetzten mehr Gold von uns? Dann sollen die sich bei den Al-Assuani-Brüdern beklagen, die die Bergungserlaubnisgebühren erhöht haben und da wo wir sie lassen Beobachter hinschicken, die klären, wieviel wir rausholen", grummelte Chapknock.

"Ja, und damit bin ich auch bei Nachricht zwei. Wittrock warnt davor, dass Feriz Al-Assuani seine Goldeintreiber in die Zweigstelle Kairo schicken will, um zu prüfen, wo die von uns geborgenen Gold- und Edelsteinvorräte hingehen und dass bei Unregelmäßigkeiten die Bergungserlaubnis widerrufen wird und wir sogar mit Verfolgung und Aburteilung rechnen müssen, sollten die was rauskriegen."

"Gut, so neu ist das nicht, vor allem nach bereits erwähnter Erhöhung der Gebühren und der Gewinnbeteiligung. Aber wenn die es wagen sollten, in die Verliese zu steigen werden die Kunden unruhig, und dann haben wir denselben Zwergendreck an den Füßen wie die Kollegen in den USA oder Frankreich, falls die uns nicht gleich aus dem Land werfen oder in einer der von uns freigeräumten Grabstätten einschließen."

"Was soll ich London berichten. Die wollen bis zu deren Mittagszeit einen klaren Bericht."

"Ich gestatte die Kopie der Nachricht aus Kairo und ergänze sie mit folgenden Worten", setzte Chapknock an und diktierte dem Nachrichtenschläger die Botschaft. Dieser schrieb sie gleich in der Glockencodeabfolge auf, um sie direkt vom Blatt abzuspielen wie besondere Musiknoten. Dann verbeugte er sich erneut und verließ das Büro.

Der Verbindungskobold zum Zaubereiministerium klopfte an die Tür und wurde hereingerufen. "Feriz Al-Assuani macht ernst. Er schickt heute noch eine Truppe Bestandsprüfer in die offizielle Niederlassung von Kairo. Angeblich hat er eine Vollmacht von Sicherheitsbeauftragtem Kaya Al-Assuani und dem Zaubereiminister selbst, auch die Verliese zu inspizieren, die ägyptischen Zaubererfamilien gehören. Wenn die die Verliese der Doppel-Eins-Reihe untersuchen könnten sie wohl versteckte Wertgegenstände aus den letzten Erschließungen finden."

"So, könnten sie das. Wann sollen die Inspektoren dort eintreffen?" wollte Chapknock wissen. "Um elf Uhr. Aber Wittrock befürchtet, dass sie bereits als gewöhnliche Kundschaft getarnt unterwegs sind, um mögliche Vorkehrungen unsererseits mitzuverfolgen, wenn Sie wissen ..."

"Ja, weiß ich!" brüllte Chapknock. "Ich spreche mit Wittrock. Wir lassen uns doch nicht unter die Kleider gucken und dann vollständig ausziehen."

"Öhm, was soll ich Feriz Al-Assuani rückmelden?" wollte der Verbindungsbedienstete wissen. "Dass er nur seine Zeit und die seiner Leute verschwendet, wenn er meint, bei uns Sachen zu finden, die uns belasten", sagte Chapknock. Wenn sein Plan aufging war das nicht einmal gelogen.

Kaum war der Bedienstete fort zog Chapknock eine der fünf Schubladen an seinem Schreibtisch auf und fischte eine kleine Silberpfeife hervor. In diese blies er zweimal kurz und einmal lang. Dann hörte er aus dem vorderen Ende die Stimme Wittrocks. "Macht die Tauschtüren klar. Wir legen gleich ein paar leere Kisten in die Kammern. Wenn die die Doppeleinser besichtigen wollen, sollen sie da leere Kisten finden. Aber macht schnell, bevor doch noch wer Sachen wie die Brosche der Unantastbarkeit oder den Kristallstab des Geisterlenkers finden!"

"Meine Leute hatten gerade Besuch von drei sehr ungehaltenen Damen, die behaupteten, wir hätten eine ihrer Grab- und Kulturstätten ausgeplündert und sollten die gestohlenen Dinge sofort wieder zurückgeben, weil sonst kein Kobold mehr frei unter Ägyptens Sonne herumlaufen könnte. Öhm, hat das was mit dem Ausfall von Bill Weasley zu tun?"

"Drei Damen? Was sagten die Gläser des wahren Blickes?" wollte Chapknock wissen."

"War schon beängstigend, als stünden drei Wesen halb Löwin halb Frau im raum. Also Wergestaltige, sicher vom Katzenorden der Bastet. Öhm, habt ihr denen echt was wichtiges wegnehmen können?" fragte Wittrock. Er und Chapknock waren gleichrangig und duzten sich.

"O ja, das haben wir, und das ist auch schon übers Mittelmeer und auch schon über den Wassergraben zwischen Festland und Heimatinsel. Stellt besser eure Sicherheitsvorkehrungen nach, damit die Katzendamen euch nicht die schönen Marmorsäulen zerkratzen!"

"Geht klar, Chapknock. Und was ist mit den Leuten von Feriz Al-Assuani?"

"Die Aufforderung hast du ja. Sehen wir zu, dass wir das in einer Stunde hinkriegen." Wittrock bestätigte das.

Die siebartige Fernrufvorrichtung surrte. Jemand rief nach Chapknock. Er legte beide hände auf den weißen Marmorschreibtisch und rief: "Wer spricht?" Eine blecherne, hohe Stimme sagte: "Ruf von der Torwache!" "Ich höre", erwiderte Chapknock. Das silberne etwas in der Wand, das wie ein besonders feines Sieb aussah erbebte kurz. Dann schwebte die Stimme eines Mitarbeiters in den Raum: "Zweigstellenleiter, Hindernisausräumer und Gegenstandsbeschaffer zweiter Ordnung Rore McBane steht vor dem Tor und hat gerade die Einlasswörter gesprochen. Ist er also nicht tot?"

"Das sollen unsere zusätzlichen Schutzleute prüfen", sagte Chapknock. Er musste sich sehr anstrengen, nicht beunruhigt zu klingen. Eigentlich dachten alle, McBane sei seit einem Tag tot, beim Versuch, die unterirdische Pyramide zu betreten verstorben. Konnte es also ein Betrüger sein, der sich in seiner Gestalt Zutritt verschaffen wollte?

Chapknock blickte in die Ecke, wo die zehn silbern gepanzerten Sonderwächter standen. Würde er die wohl doch brauchen? Da klopfte es, dreimal kurz, zweimal kurz, dreimal kurz. Das war das übliche Zeichen für einen Zauberstabträger aus dem Personal. Doch von den fünfen, die für ihn arbeiteten waren vier weit fort oder in heilmagischer Behandlung. "Sichern Sie mich bitte ab", wisperte er in die Ecke, wo die für Augen unerkennbaren Wächter warteten. Er wandte sich der Tür zu, legte seine linke Hand auf den Schreibtisch und sagte: "Herein!"

Die Tür ging auf und herein trat Rore McBane in zerschlissener, angerußter Kleidung. Es war jedoch zu erkennen, dass er unter dem Umhang einen quaderförmigen Gegenstand trug. "Guten Morgen, Herr Chapknock. Ich freue mich, Ihnen zu begegnen", sagte McBane mit einem merkwürdig fremden Akzent, nicht dem rauhen schottischen Akzent wie üblich.

"Wie sind Sie hier hereingekommen?" fragte Chapknock, bereit, den Alarmruf zu äußern. "an Ihren neuen Außenwächtern vorbei war nicht einfach. Aber weil ich die Torwache schon unterworfen habe konnte ich die drei, die mir unstatthaft nahe kamen dauerhaft zurückweisen", sagte McBane und hielt unvermittelt seinen Zauberstab in der Hand. In der besonderen Zimmerecke flimmerte die Luft. Doch als zwei silbern gepanzerte Wächter sichtbar wurden baute sich mit einem Laut wie ein umgekehrter Knall eines großen platzenden Luftballons eine vollkommen undurchsichtige, nachtschwarze Wand auf, die die besondere Ecke vollständig abriegelte. Es klirrte vielfach. Danach war es Still. Statt dessen fiel laut prasselnd eine grün-rot flackernde Lichtsäule aus der Decke und versuchte den Eindringling einzuschließen. Doch diesem entstieg eine tiefschwarze Wolke, die die grün-rote Lichtsäule von innen her auseinanderdrückte, bis diese laut knatternd und krachend in grüne und Rote Funken zerstob. In der Decke tat sich knackend ein kreisrundes Loch auf, aus dem Staub niederrieselte. Da fiel die Tür hinter McBane zu. Schlagartig wurden alle Wände von einer smaragdgrün leuchtenden Lichtwand ausgekleidet. Wer jetzt im Büro war und kein Kobold mit Erdeintauchbegabung war saß in der Falle. Aus dem Rest des Stützpunktes drang das Blöken der Warntonvorrichtung. Womöglich würden gleich weitere Schutzwächter auftauchen, und zwar durch den Erdboden. Da zielte der Eindringling auf den Boden und murmelte altägyptisch klingende Worte. Chapknock fühlte körperlich, wie sich unter seinen Füßen eine finstere Kraft ausdehnte. Er sah den Boden flimmern und dann im dunkelvioletten Licht schimmern. Ihm war, als stoße etwas prickelndes seine Füße vom Boden ab und wolle ihn aus seinem grauen Sessel heben.

Chapknock starrte auf McBanes rechte und dann linke Hand. Da sah er ihn, den goldenen Ring mit dem zwölfflächigen, nachtschwarzen Kristall und wurde kreidebleich.

"Natürlich hat Ihnen der sogenannte alles sehende Bund Schutztruppen zugeteilt, nachdem Sie davon ausgehen mussten, dass es keinen Rore McBane mehr gibt. Aber gegen den Wall der Mitternacht kommt auch kein mit Zauberkraft getränktes Metall an. Die unsichtbaren Panzerkrieger haften nun wie eingebacken an der Wand und aneinander. Womöglich werden sie, wenn ihre Rüstung nicht dauerhaft starr geschmiedet wurde, von ihrer eigenen Wehr zerdrückt", grinste McBane. Ach ja, die Grenzschicht aus Erdgestein und Mitternacht hält uns beiden die übereifrigen Gefolgsleute vom Hals. Danke für den Smaragdkerker. Dann haben wir nun genug Zeit."

"Sie sind nicht McBane. Aber wie konnten sie trotz Ihrer Täuschung hereinkommen?" wollte Chapknock wissen, der fand, nicht all zu verängstigt zu erscheinen.

"Das hier half mir, mein wahres Sein zuverlässig zu verbergen. Nur als diese drei Außenwachen mich ergreifen wollten musste ich sehr ungehalten wie entschlossen gegenwirken. Ihre Torwache dient mir bereits. Dem Wort der Unterwerfung, wie es die jetztzeitigen Zauberkundigen kennen ist mit meinem Erbe nichts entgegenzusetzen. Auch du, Chapknock, wirst mir dienen. Damit du weißt, wer dein Herr ist. Ich bin der Sohn der gefangenen Sonne, der Reiter der großen Schlange, der Nachfolger von Amenemhet, der einen Bund von Kriegern und Zauberkundigen begründet hat und mir vertraute, seinen Sohn zu unterweisen und nicht wusste, wie gut ich ihn mir gewogen hielt", erwähnte der Mann, der wie Rore McBane aussah, dessen Stimme hatte, aber nicht dessen Akzent sprach. Ja, überhaupt konnte Chapknock sehen, dass der Eindringling wesentlich entschlossener, überlegener und angriffslustiger auf ihn nniederblickte.

"Der Imperius-Fluch wird mich nicht unterwerfen, Fremdling. Meine Leute sind gleich hier und werden Sie töten. Denn Sie haben dunkle Magie in meinem Büro benutzt."

"Ich könnte dich auch mit dem ebenso brauchbaren Streich des schnellen Todes niederstrecken. Doch ich habe ihn noch nicht an niederen Zielen versucht und weiß daher nicht, ob dabei nicht wichtige Dinge und Aufzeichnungen beschädigt oder zerstört werden. Und deine Leute kommen hier nicht mehr herein, solange ich die Schicht aus Erde und Mitternacht auf dem Boden ausgebreitet habe."

Tatsächlich bebte die Erde mehrmals, und der magische Bodenbelag flirrte kurz. Doch nichts und niemand brach aus dem Boden hervor. Da riss der andere den Zauberstab hoch und ließ mit einem Wort eine ähnliche violette Lichtfläche unter der Decke entstehen. "Stimmt, die könnten ja auch von oben kommen", knurrte er. Chapknock blickte auf die grüne Lichtwand, die vor ihm heruntergefallen war. Von sich aus konnte er diese durchdringen. Doch dann war er dem Eindringling ausgeliefert. Doch er hatte für so einen Fall noch was.

Der Zweigstellenleiter griff so schnell er konnte unter die Schreibtischplatte und zog einen silbernen Dolch mit einer schmalen Klinge und einem blutroten Griff hervor. Er holte aus und schleuderte die Waffe dem anderen entgegen. Dieser nahm den Angriff ruhig hin. Laut klirrend und rote und schwarze Entladungen versprühend prallte der nicht fehlende Blutgefrierdolch von einer unsichtbaren Panzerung ab und klirrte zu Boden. "Oh, netter Versuch, kleiner Räuberhauptmann", erwiderte der Eindringling. Dann zielte er auf Chapknock und rief: "Imperio!"

Die zwischen Chapknock und ihm stehende Lichtwand flackerte, summte und prasselte laut. Dann war Chapknock, als stürze er kopfüber in ein Meer aus vollkommener Glückseligkeit. Alle Angst und Sorge wurde mit einem Schlag aus seinem Bewusstsein geschleudert. Nur diese unbändige Glückseligkeit und Sorglosigkeit herrschten vor. Dann hörte er die Stimme des Gegners so laut in seinem Kopf dröhnen und schmerzhaft nachhallen: "Sei mir unterworfen und befolge alle meine Befehle!" Diese überlaute Anweisung drängte ihn förmlich in den Hintergrund. Kein Widerstand regte sich. Als der Befehl ein zweites mal ertönte meinte Chapknock, wie in einen starken Rausch oder befremdlichen Traum geraten zu sein. Er hörte sich antworten, dass er dem Meister gehorche.

"Händige mir alles aus, was an Aufzeichnungen über eure letzten Raubzüge wider die Hinterlassenschaften meiner Landsleute angehäuft wurde. Dann wirst du mich zu euren Geheimverliesen begleiten und mir alle Schätze herausgeben, die ich für meiner würdig befinde!" sagte der Eindringling. Dabei hielt er den Zauberstab weiter auf Chapknock gerichtet. Die Grüne Trennwand flackerte knisternd und zerfiel mit einem leisen Knacklaut.

Chapknock fühlte, wie seine Hände die nötigen Berührungen ausführten, um die geheimen, gegen Feuer- und Sprengzauber gesicherten Schubladen zu öffnen, die auf seine Körpereigenschaften eingestimmt waren. Schnell und ohne zu zögern beförderte er an die zwanzig mit je drei silbernen Ringen zusammengehaltene Pergamentrollen zu Tage und legte sie auf den Tisch. Währenddessen klang von draußen wilder Aufruhr. Er hörte einmal die erboste Stimme eines Allbrick-Dieners: "Der Raum ist völlig versiegelt. Chapknock ist gefangen oder tot."

"Wo ist das Auge der Bastet jetzt, dass mein Körperspender für euch kleinen Räuber beschafft hat?" wollte der Eindringling wissen. Weil Chapknock nicht antwortete stieß er noch aus: "Antworte wahrheitsgetreu auf diese Frage." Da griff jene in Chapknocks Geist hineingerammte Bezauberung. Er hörte sich ohne Anwandlung von Trance oder Schlafwandelei antworten, dass das Smaragdauge von Leitwächter Allbrick entgegengenommen und in den Hauptstützpunkt des Bundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui verbracht worden war. Der Eindringling verzog das Gesicht. "Sage mir wahrhaftig, wo dieser Stützpunkt ist!" befahl der Unheimliche, der wie Rore McBane aussah und klang.

"Ich weiß nicht, wo der Stützpunkt ist. Ich weiß auch nicht, wo der Stützpunkt des Bundes in Ägypten ist. Leitwächter Allbrick und seine Männer kommen zu mir, wenn sie was von uns wollen."

"Er wird sicher weitere Streiter senden, weil die dort nicht mehr für ihn handeln können", sagte Chapknocks neuer Gebieter. Dann sah er auf die Pergamente. "Was habt ihr noch bei euch, dass meinem Land gehört?" fragte er. Chapknock antwortete nicht. Wieder rief der Fremde das Zauberwort "Imperio!" Chapknock fühlte, wie er beinahe die Besinnung verlor. Er hörte noch, dass er auch alle Fragen wahrheitsgemäß beantworten und alles ihm bekannte Wissen darbringen sollte. Dann hörte er sich wie in weiter Ferne sprechen und berichten, dass sie vor einem Monat den gläsernen Stab des Seelenfeldherren erhalten hätten, der zu den legendären zwölf Schätzen des Nils gehörte. Warren Thybone, der Experte für alle auf Geisterwesen bezogenen Zauber, hatte den auch als Zepter der Totenwelt bezeichneten Gegenstand aus dem verborgenen und von blutroten Rachegeistern und an Gegenstände gefesselten Nachtschatten bewachten Grab eines geisterkundigen Erzmagiers entwendet. Es war jedoch für Nichtmenschen unberührbar und sog jeden Geist, der ihm näher als Armeslänge kam in sich ein und löschte ihn aus, dass der Träger alles Wissen des Geistes in sich aufnahm und einen vollen Monddurchlauf vor gleichartigen Geisterwesen sicher war. Nur reinblütige Zauberstabträger konnten den Stab länger als zwei Herzschläge lang in der Hand halten. Deshalb hatte Allbrick, der sonst jeden besonders starken Zaubergegenstand für seinen Bund einbehielt, verfügt, dass er in einer außen versilberten Bleischatulle aufbewahrt und im tiefsten Geheimverlies versteckt bleiben sollte. Denn Allbrick fürchtete, dass damit auch Kobolde entkörpert und deren Seelen zum Dienst für den Träger gezwungen werden konnten. Auch hatte die geheime Zweigstelle den Schild des Horus erbeutet, der alle auf Sonne und Mond gründenden Kampf- und Wehrzauber zurückprellte. Doch die Aufzeichnungen, wie dieser Schild zu nutzen war, waren bei dessen Bergung verbrannt. Darüber hinaus lagerte seit zehn Jahren auch das Ohr des Anubis in den tiefen Kerkern, mit dem Geisterwesen aus großer Ferne "gehört" werden konnten. Es konnte aber nur von Zauberstabträgern berührt und genutzt werden, die bereits ein Wesen hatten sterben sehen können oder gar selbst ein fühlendes Wesen getötet hatten. . An die Silberkette der Isis kamen sie nicht heran, weil diese an einem Ort lag, der nur von zauberkundigen Frauen betreten werden konnte. Zwei männliche Fluchbrecher und Gegenstandsbeschaffer waren beim Versuch von einer übermächtigen Kraft gepackt und weit fort in einem alten Tempel der ägyptischen Muttergöttin abgesetzt worden.

"Sehr beeindruckend. Und was habt ihr euch noch widerrechtlich angeeignet?" hörte er den Fremden wie aus weiter Ferne fragen. Sich selbst hörte er dann antworten, dass sie verschiedene Grabbeigaben erbeutet hatten, die gegen Rohgold aus dem südlichen Afrika eingetauscht und dann verkauft worden waren. Wenn sie nur Goldmünzen oder Schmuck ohne Verzierungen fanden wurde alles eingeschmolzen, das Gold von den anderen Metallen geschieden und das reine Gold in handlichen Barren an die Hautstelle in London weitergeschickt. "So wirst du mit deinem dreifachen Gewicht und deine Handlanger mit ihrem einfachen Gewicht in Gold oder gleichwertigem Ersatz dafür sorgen, dass meine Schatzkammer wieder aufgefüllt wird. Ich nehme alle Pergamente an mich. Verrate mir noch, wie ich sie lesen kann!"

"Nur ein Kobold kann sie lesen, weil sie mit einer Tinte geschrieben wurden, die nur sichtbar wird, wenn ein Kobold das Pergament berührt. Wer die Schrift auf andere Weise erzwingen will zersetzt das Pergament zu Feinstaub."

"So brauche ich dich, um für mich zu lesen und zu schreiben", hörte er den fremden. "So bist du ab heute mein Schreibsklave. Hebe nun die Wandsperren auf, damit jene, die hier herein wollen ebenfalls zu meinen Dienern werden!" befahl der Eindringling.

"Friedensglocke!" rief Chapknock in Koboldsprache. Darauf erloschen die grünen Lichtwände. "Ruf deine höchsten Gehilfen her!" erteilte der Eindringling ihm den Befehl. Dann stellte er sich so, dass er die Tür im Auge hatte und wirkte einen Chapknock unhörbaren Zauber, worauf die Tür erst bläulich flackerte und dann halbdurchsichtig wie Milchglas wurde. "Ah, der eigentliche Zauber gelingt wohl nicht, weil eure Türen mit zu viel Schutzzaubern gefüllt sind", hörte Chapknock seinen Überwinder sagen. Doch beide konnten nun sehen, wie mehrere schattenhafte Gestalten sich vor der Tür aufstellten und sie an mehreren Stellen berührten. Doch bevor die Tür aufklappte rief der Eindringling erneut das Zauberwort "Imperio!" Die hinter der Tür werkenden Schatten erstarrten. Vier davon blieben stehen, drei von ihnen zuckten zusammen und schlugen dann wie umgestoßen zu Boden. Chapknock meinte Entsetzenslaute von weit fort zu hören. "Ihr kommt herein!" rief der Eindringling. Chapknock gab die Tür frei. Die vier, die stehengeblieben waren traten wie an unsichtbaren Fäden geführt herein. Es waren Sicherheitsleute seiner eigenen Firma, keine Mitglieder des Bundes. Doch als schattenhafte Wesen nachdrängten wusste der Eindringling, dass die draußen gelauert hatten. Doch er reagierte unverzüglich und rief ihnen ebenfalls das Wort "Imperio!" zu. Die Schatten stoppten wie gegen eine massive Wand geprallt, wurden dann zu leibhaftigen Kobolden und brachen unter blutroten Lichtexplosionen zusammen. Chapknock konnte nun sehen, dass den Nachzüglern die Köpfe abhandengekommen waren, als habe eine brutale Macht sie ihnen förmlich von den Schultern gebrannt. Doch weder der Anblick noch die Erkenntnis konnten ihn schrecken und ihn zum Widerstand bringen. Er verfolgte alles wie ein unbeteiligter, unter starken Beruhigungsmitteln stehender Zuschauer.

Eine nachtschwarze Wand entstand im Türrahmen. Als noch mehr Schatten dagegenprallten krachte es, weil wer auch immer gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde.

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Zur selben Zeit im geheimen Stützpunkt des koboldischen Geheimbundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui in Ägypten

Leitwächter Allbrick erbebte. Gerade war von den Meldern in der verborgenen Zweigstelle von Gringotts weitergegeben worden, dass drei Außenwächter vergangen waren und die zehn Sonderwächter in Chapknocks Sprechzimmer wie erstarrt waren. Dann fielen nach und nach immer mehr von den dorthin eilenden Vollstreckern aus. Die letzten Zeichen wiesen auf versuchten Unterwerfungszauber hin. Üblicherweise waren die Mitglieder des Bundes gegen den Imperius-Fluch geübt. Doch wenn etwas noch stärkeres sie traf oder sie gar Fügsamkeitselixiere oder Wahrheitstränke eingeflößt bekamen wirkte der endgültige Verratsabwehrzauber, für Unwissende sehr grauenvoll anzusehen, aber für den Bund der alles sieht und alles hört unverzichtbar.

"Noch drei Mitstreiter ausgelöscht, Leitwächter Allbrick. Jemand nutzt unsere eigene Verratsabwehr als Austilgungsmittel."

"Durchkommen durch Erdreise?" fragte Allbrick. "Nicht möglich", erwiderte Knoblook. "Weitere Verlöschungen. Öhm, Nachrücker werden jetzt durch überstarken Rückprellzauber mit Wechselwirkung zwischen Eigenrüstung und dunklem Wehrzauber gegen Wände geschleudert und Handlungsunfähig wie bereits die zehn Gardisten bei Chapknock.""

"Fordere Mitbetrachhtung!" befahl Allbrick. Daraufhin bekam er etwas wie eine übliche Brille, nur dass die Gläser undurchsichtig waren und aus schwarzem Marmor zu bestehen schienen. Doch als er die besondere Sehhilfe aufsetzte war ihm, als flöge er über einem Gang dahin, immer dorthin, wo gerade weitere auf den Bund eingestimmte Kämpfer unsichtbar oder sichtbar vorrückten. So konnte und musste er mit ansehen, wie weitere seiner Leute gegen eine nachtschwarze Wand anstürmten und davon je nach mitgeführter Schildbezauberung stark zurückgeworfen wurden. Zwei silbern gepanzerte prallten so heftig von dieser Wand ab, dass sie gegen die Rückwand knallten und sich dabei das Genick brachen. Dies wurde mit "Vollstrecker 2-20 im Dienst erloschen" gekennzeichnet. Nur als blau flimmernde Erscheinungen erkennbare Kämpfer versuchten, die Wand mit silbernen Ansaugtrichtern zu bearbeiten. Da barsten ihre Köpfe in blutroten Feuerbällen und wurden unverzüglich zu Asche, während die enthaupteten Körper leblos zu Boden fielen. "Erlöschung auf Grund wirksam werdender Unterwerfungsbezauberung", glomm in blutroter Koboldschrift über den Gefallenen auf.

"Alle verbliebenen Vollstrecker und Augen Rückzug und Stützpunkt von außen gegen Flucht verriegeln!" befahl Allbrick, der erkannte, dass wer immer in Chapknocks Büro war jeden Gegner erledigen würde. Da in den Wänden schmiedeeiserne Streben verbaut waren konnte auch niemand durch die Wände hindurch. Ein zu den Augen gehörender Untergebener Allbricks vermeldete über den Fernrufknopf an der gegen viele Gewaltarten schützenden Uniform: "Einzelner, wie für erloschen eingeordneter McBane aussehender Eindringling hält Chapknock als Geisel. Chapknock ruft weitere ihm unterstehende Mitarbeiter, darunter auch Nachrichtenschläger Orepick."

"Alle mit Lähmzaubern aufhalten, die Ruf folgen, da Rufer wohl fremdbestimmt!" befahl Allbrick. Er hoffte, den Eindringling so aus seiner Überlegenheit zu reißen und ihn zu einem Ausfall zu reizen. Der konnte nicht ewig in Chapknocks Sprechzimmer hocken bleiben, dachte Allbrick.

Zu seiner Zufriedenheit sah er, wie seine über den eingerichteten Sammelruf angewisenen Mitarbeiter den Befehl ausführten und die zu Chapknock hinstrebenden mit Lähmnadeln außer Gefecht setzten. Wenn der Eindringling sich alle wichtigen Mitarbeiter unterwerfen wollte war ihm dies nun verwehrt.

"Soll ich die Hauptstelle anläuten, Leitwächter Allbrick?" fragte der bei Allbrick sitzende Nachrichtenschläger vom Dienst. "Wagen Sie das nicht, bis ich Ihnen dies ausdrücklich befehle, oder ich schwöre bei den Augen Deeplooks und unserer mächtigen Urmutter, dass Sie noch vor mir erlöschen werden", schnarrte Allbrick. Wenn die Hauptstelle wusste, was hier los war und fand, dass dies sein höchst eigenes Versagen war konnte er froh sein, wenn sie ihm die Selbstentleibung erlaubten und seinen Körper danach verbrannten und die Asche gleichmäßig über das Land verstreuten. Sie konnten ihn aber auch vor den Augen aller herbeirufbaren Wächter, Augen und Vollstrecker in ein Fass mit Fleischtilgesäure stopfen und sein verbleibendes Gerippe mit Kupfer überziehen und in der Halle der Versager aufhängen. Nur wenn ihm gelang, diesen Fremden zu ergreifen und herauszufinden, wieso der so mächtig war konnte er die bisherigen Opfer als "Im Dienste nötiger Erkenntnisgewinnung gefallen" rechtfertigen.

Gerade sprang die Ansicht wieder auf die nachtschwarze Absperrung vor Chapknocks Sprechzimmer. Eines der unsichtbaren Augen hatte sich dort postiert. "Hier Auge 3-37. Feindlicher Eindringling fordert von Chapknock Auskunft über Verbleib und Zustand der einbestellten Mitarbeiter." Allbrick grinste. Sein Plan gewann Fahrt. Durch das Überwachungsnetzwerk, an das alle Gringottsmitarbeiter angebunden waren, würde der Fremde nun erfahren, dass die von ihm gerufenen bewusstlos am Boden lagen und ganz sicher den richtigen Schluss ziehen. Dann musste er handeln, ob er wollte oder nicht. Sollte er sich über einen seiner Vollstrecker in das hausweite Rufnetzwerk einfädeln und den Eindringling zur Aufgabe auffordern? Noch wollte er den lebendig haben, um zu wissen, warum der so mächtig war.

Es vergingen mehrere Dutzend Sekunden. Dann flimmerte die schwarze Wand. Mehr geschah nicht. "Leitwächter Allbrick, Eindringling nicht mehr erfassbar, weil Unter Unortbarkeit."

"Wenn der unseren Unortbarkeitsquader benutzt QuellkraftGrundschwingungsmesser einsetzen!" befahl Allbrick. Nur die Zauberstabträger sollten keinen mit dem Quader ausgestatteten orten können. Der Bund der alles sehenden Augen und alles hörenden Ohren hatte selbstverständlich einen Weg eingebaut, den damit reisenden aufzufinden und zu stellen. Doch vorher geschahen noch mehrere unerwünschte Dinge hintereinander.

Das erste war, dass der Beobachter vor der Tür offenbar erkannt und ausgelöscht wurde. Denn schlagartig wurde das Bild hellrot und dann völlig schwarz, bis auf die blutrote Meldung "Auge 2-37 in Erfüllung des Einsatzes gefallen."

"Quellschwingungen nicht zu erfassen. Fremder weiterhin nicht auffindbar undd ..." meldete ein anderer Kundschafter. Da fielen gleich drei weitere Mitglieder des Bundes der zehntausend Augen und Ohren aus. Allbrick fragte sich, ob der Eindringling es geschafft hatte, den Unortbarkeitsquader zu verfremden, dass dessen Quellschwingungen von den eigentlich darauf abgestimmten Findesteinen nicht mehr erfasst werden konnten. Doch nur ein Kobold aus dem Bund konnte sowas tun.

Wieder fielen mehhrere Mitstreiter aus, vor allem wachende Augen, die unsichtbar die Gänge und Wegkreuzungen überwachten. Die Überwachung wurde immer lückenhafter. Wenn der Fremde auch noch den Verbindungshut von Zehn-Augen-Lenker Quicklook erwischte konnte der die gesamte Fernüberwachung mit einem Schlag auslöschen. Überhaupt, wieso der nun so gezielt und dabei unortbar auf die Kundschafter stoßen und sie töten konnte ... Beinahe entschlüpfte Allbrick ein typisch koboldischer Kraftausdruck. Er selbst hatte diesem Zauberstabträger das Mittel zur Ortung und Auslöschung seiner Leute übergeben, als er die Quellschwingungsortung befohlen hatte. Weil jeder Kundschafter und jeder Vollstrecker einen auf den Quader abgestimmten Stein trug, um dessen ganz genauen Standort auf die Handbreite genau zu erfassen nutzte der deren Suchzauber, um diese selbst zu finden, wenn sie unsichtbar waren. Außerdem bewegte der sich offenbar sehr schnell und sehr gezielt durch das Gebäude und war dabei selbst für Augen unsichtbar. Wieder vergingen drei Vollstrecker, die eine wichtige Abzweigung überwacht hielten.

"Suchsteine wegwerfen und neue Stellungen suchen!" befahl Allbrick. "Bitte noch einmal bestätigen, um ..." rief einer der erreichten Mitarbeiter, bevor ein kurzes Fauchen und Knistern die Verbindung überlagerte und eine weitere Ausfallsmeldung angezeigt wurde. Allbrick rief den Befehl noch einmal. Wenn der Feind nach den Suchsteinen suchte sollte er die finden, ohne weitere Bundesmitglieder zu töten.

Doch die Gegenmaßnahme kam zu spät. Der Eindringling schlug offenbar mit jenem Unterwerfungszauber um sich, den er gegen die Torwache verwendet und mit der er wohl auch die drei Außenwächter ausgelöscht hatte. Er zielte dabei schnell und sorgsam in alle Richtungen und wiederholzauberte wohl. Auf diese Weise bestrich er alle in seiner Rufweite liegenden Abteilungen von Gringotts in allen Himmelsrichtungen. So traf er auch ohne zu zielen weitere Bundesmitglieder und löste deren Verratsunterdrückungszauber aus. Allbrick ließ von Knoblook berechnen, wie breit der unbekannte Unterwerfungszauber streute. "Trichterförmige Ausbreitung, bei Höchstabstand wohl zwanzig Menschenbreiten breit, abzüglich möglicher Abwehrzauber in den Wänden, Leitwächter Allbrick."

Wieder hatte Allbrick ein für Kobolde typisches Schimpfwort auf der Zunge und konnte es gerade so noch hinunterschlucken. Mit dieser einfachen aber viel zu wirkungsvollen Methode konnte der Eindringling sich den Rücken freihalten, über und unter sich freie Bahn schaffen und nebenbei wohl noch einige reguläre Kobolde von Gringotts gefügig machen. So blieb Leitwächter Allbrick und 100-Augen-späher Knoblook nur, weiterzubeobachten, wie ihre Bundesgenossen gruppenweise erloschen, bis schließlich auch Quicklook erwischt wurde. Da er den Hut der Verknüpften Augen und Ohren trug fiel damit jede Überwachung und jede Fernleitung aus.

"Stufen Sie den Gegner auf F-10 ein, Rockneck. Wer den Feind sieht muss ihn unverzüglich ohne Anruf auslöschen!" befahl Allbrick. Sein oberster Vollstreckerführer gab die neue Anweisung unverzüglich an alle Unterführer weiter, die noch in Ägypten postiert waren und gab auch eine genaue Beschreibung von Rore McBane weiter. Wehe dem, wenn einer des Bundes ihn erblickte. . Doch was würde es bringen, wenn der Eindringling in Gestalt von Rore McBane unsichtbar und mit einem wie immer verfälschten aber weiterhin brauchbaren Unortbarkeitsquader ausgestattet war?

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Zur gleichen Zeit in der geheimen Gringotts-Zweigstelle in Ägypten

Er hatte genug von diesen wider ihn arbeitenden Spähern und Störern dieses Allbrick. Nachdem er herausgefundenhatte, dass sie sich seinem mit dem Unlichtkristall erheblich verstärkten und weiter ausgreifenden Imperius-Fluch durch Selbstvernichtung entzogen zögerte er nicht mehr und schickte jenen sonst nur zur Versklavung dienenden Zauber durch alle Decken und Wände, um jeden davon berührten in den Tod zu treiben. Er befahl dabei immer wieder: "Ergebt euch meinem Willen!" Er fühlte es fast körperlich, wenn Widerstände aufkamen und ebenso schlagartig zusammenbrachen. Er bekam Verbindung mit mehreren denkenden Wesen zugleich. Wenn er denen denselben Befehl erteilte brauchte er keine Einzelanweisungen zu erteilen. So arbeitete er sich mit den eingeschrumpft in seiner Umhangtasche eingelagerten Gehilfen Chapknocks durch das Gebäude, erst hinauf und dann wieder hinunter, um einen der Schienenwagen zu nutzen, um zu den geheimen Lagerstätten hinunterzufahren. Vielleicht konnte er danach einen der gefährlicheren Gegner kampfunfähig machen und in seine Grabstätte bringen. Dort würde ihm der Selbsttötungszauber nichts mehr nützen. Er wollte diesen Allbrick und damit Zugriff auf dessen gesamte Bande, vielleicht sogar Zugang zu dessen wahrer Befehlsstelle im fernen England, einem in den letzten Jahrhunderten unverschämt rasch aufgestiegenen Königreich auf einer vom wilden Nordmeer umspülten Insel. Ja, womöglich würde er alle als Kobolde bezeichneten Goldräuber und ihre menschlichen Helfershelfer töten. Doch zunächst wollte er sich die von diesen geraubten Zaubergegenstände beschaffen.

Im Schienenwagen entschrumpfte er den ihm unterworfenen Chapknock. Diesem befahl er, ihn zu jener Kammer zu bringen, wo der Herrscherstab des Geisterlenkers verwahrt wurde.

Unterwegs streute er weiter den Imperius-Fluch aus, falls auch hier unten diese Handlanger Allbricks lauerten. Chapknock hatte die freie Passage befohlen, sodass keine der hier auf Unbefugte lauernden Fallen und Ablenkungszauber wirkten. Als sie dann weiter unten in einen breiten Stollen einfuhren hörte der Körperräuber in McBanes Leib das unverkennbare Fauchen und Schnarren von Feuerbläsern und erfuhr aus McBanes Erinnerungen, dass sie hier unten fünf ungarische Hornschwanzdrachen hielten. Mit Feuerspeiern hatte der ungenannte Herrscher keine Schwierigkeiten. Er würde ihnen einfach den unzerbeißbaren Knebel in die Mäuler stopfen, bis er wieder weit genug von ihnen fort war. Chapknock griff unter einen der Sitze und holte metallische Scheiben an einer Kette hervor. Diese schüttelte er nun, worauf die Scheiben einen ohrenbetäubenden Lärm machten. Die Drachen brüllten auf, eher gepeinigt als wütend klingend. Da verstand der Wiederverkörperte. Die Lärmklappern hielten ihm die Drachen ebenso wirksam vom Hals wie sein Zauber des unzerbeißbaren Knebels.

Sie erreichten die von flackerndem Drachenfeuer erleuchteten Enden der Gänge. Die dort angeketteten Drachen wwimmerten, weil die Lärmklappern schepperten. Der ungenannte Herrscher entschrumpfte zwei weitere Gehilfen Chapknocks. Diesen befahl er, dem früheren Vorgesetzten zu helfen, die gesuchten Gegenstände aus den Verliesen zu holen. Denn bei fünf mehr als mannshohen Toren mussten zwei Zutrittsberechtigte hantieren, bis die Tore aufgingen. Auf diese Weise ließ sich der Körperdieb die verbleite Rolle mit dem milchigweißen, leicht bläulich schimmernden Geisterzepter, den aus legiertem Silber und Gold gemachten Schild des Horus, das silberne Ohr des Anubis zum Hören und Aufspüren rastloser Geisterwesen und auch noch ein ellenlanges Bronzeschwert des Kriegspriesters herausholen und verpackte alles in seinem Rucksack.

"Fall "Herzstoß". Unsere Zweigstelle wird vernichtet", seufzte Chapknock.

Der Falsche McBane unterdrückte gerade so noch einen Wutanfall und fragte: "Hast du das angewiesen, bevor ich dich traf?" Chapknock verneinte es. "Der Fall "Herzstoß" kann von meinem Amtsgenossen Wittrock und dem Leitwächter des Bundes der zehntausend Augen und Ohren ausgerufen werden, wenn sie beide wissen, dass unsere Zweigstelle in Feindeshand ist und wichtige Unterlagen oder Gegenstände in unbefugte Hände fallen könnten und ...."

Über ihnen erzitterte die Decke, und grüne Lichtentladungen zuckten wie waagerecht verlaufende Gewitterblitze die Decke entlang. Der falsche McBane erkannte, dass hier wohl wie bei vielem aus Koboldhand mit starker Erdmagie gewirkt wurde. Die grünen Entladungen wurden zahlreicher. Wo sie entlangliefen hinterließen sie Risse in der Decke. Damit stand fest, dass jeder hier unten gleich von vielen Kriegselefanten schweren Steinbrocken erschlagen werden musste. "Geht der Zeitlose Weg hier heraus?" fragte McBane.

"Nein, das .... Aarg!" Der ungenannte Herrscher sah, wie Chapknocks Uniform auf einmal hellgrün aufstrahlte und er wie von einer Riesenschleuder davongeschnellt wurde. Er spürte den Unlichtkristall an seiner linken Hand erbeben und sah einen tiefschwarzen Dunstschleier vor seinen Augen. Er fühlte, wie die eingeschrumpften Gefangenen aus den Taschen schossen und als grün-schwarze Flackerkugeln durch die Luft flogen.

Der ungenannte Herrscher erkannte, dass auch alle anderen Kobolde dieser Vernichtung anheimfielen und nur der von ihm getragene Unlichtkristall ihn vor der Zerstörung bewahrt hatte. Doch wenn die Decke zusammenbrach mochte sein neuer Körper ebenso sterben und seine Seele wohl in Gedankenschnelle in das Stufengrab zurückschnellen, falls sie nicht doch zu weit davon entfernt war.

Ein sehr, sehr bedrohliches Knirschen und Knacken, Prasseln und Rieseln verriet ihm überdeutlich, dass er keine Zeit mehr vertun durfte. Der Wiederverkörperte änderte die Flugrichtung und näherte sich einem der angeketteten Drachen. Er sprengte die Ketten und wich einer Garbe gelbroten Feuers aus. Doch dann landete er mit seinem Flugteppich auf dem Rücken des Ungetüms. Es blickte sich um. "Imperio!" rief er und zielte dem Drachen damit voll ins aufklaffende Maul. "Tu mir nichts und bring dich in Sicherheit!" befahl er. Durch den Schlund unmittelbar in den Schädel des Drachens drang der Unterwerfungsfluch in seiner vervielfältigten Stärke. Der Drache klappte das gerade zum Feuerstoß aufgesperrte Maul wieder zu und rannte los. Der Körperräuber hielt sich an einer der Rückenschuppen fest. Wieder zuckten grüne Blitze über die Decke. Da polterten die ersten freigelegten Brocken nieder. Der gekaperte Drache brüllte vor Wut auf und beschleunigte seinen Lauf. Dann breitete er seine pechschwarzen Flügel aus und stieß sich vom Boden ab. Grün flackernde Gesteinsbrocken regneten nieder. Der Drache wich ihnen aus oder versetzte ihnen mit heißen Feuerstößen eine neue Flugrichtung. Immer mehr des geheimen Stützpunktes zerbröckelte und stürzte mal mehr mal weniger Laut zusammen. Der falsche McBane fluchte auf ihn zujagende Brocken mit dem Sprengzauber aus dem Weg. Der von ihm gerittene Drache wich zwei weiteren Brocken aus. Beinahe hätte ein hinter ihm niedergehender Gesteinsbrocken den mit vier langen Stacheln bewehrten Schwanz eingequetscht. Doch der Ungenannte Herrscher teilte schnell genug die nötigen Zauber aus. Grün flackernd und laut donnernd und tosend brachen alle Wände und Decken des geheimen Standortes von Gringotts zusammen. Immer wieder mussten der Drache und sein Reiter gefährlich nahe bei herabstürzenden Trümmern ausweichen oder sie im letzten Augenblick zersprengen. Der Drache brüllte wütend, schlug mit seinem stachelgespickten Schwanz um sich und teilte Hiebe mit den krallenbewehrten Pranken aus. Doch er flog schnell und zielgenau nach oben, bis sie vor einem Wall aus Trümmern ankamen. Diesen blies der ungenannte Herrscher mit fünf gezielten Zaubern zu Staub. Dann konnte der Drache entschlüpfen und stieß im haarsträubenden Steigwinkel fast senkrecht in das gleißendhelle Tageslicht hinaus. Hinter und unter dem schuppigen Zaubertier brachen die verbliebenen Gänge, Räume und Kerker des geheimen Gringottsstützpunktes donnernd und dröhnend in sich zusammen. Fein gemahlener Gesteinsstaub wölkte wie ein aufziehendes Unwetter auf und stieg meilen hoch in den Himmel. Von Druckwellen aufgewirbelter Sand wehte wie vom Sturm getrieben in alle Richtungen davon. Der flüchtende Eindringling wagte noch einen Blick zurück. Gerade brach der Rest von Gringotts in einem wild flackernden grünen Licht in sich zusammen. Dort, wo die geheime Niederlassung gewesen war, gähnte nun ein viele hundert Meter breites und ebenso tiefes rundes Loch, dessen schräge Wände aus nicht beständigem Gestein bestanden und bereits nachzurutschen begannen. Noch ein grüner Blitz, noch ein lauter Donnerschlag und eine ausgespiene Staubwolke, dann hatte sich die Vernichtungsgewalt restlos ausgetobt. Ihr Werk war vollendet. Die geheime Zweigstelle von Gringotts gab es nicht mehr.

Der Drache, nun gewahr, dass ihm nichts mehr auf den Kopf krachen konnte, flog nun ruhig und schnell dahin. Da der ihm wortwörtlich in den Schädel gerammte Unterwerfungszauber ihm gebot, sich in Sicherheit zu bringen würde das schuppige Ungetüm sicher nach einem Ort suchen, wo es nicht so leicht gesehen wurde und wo es womöglich auch was zu fressen und zu trinken finden mochte. Was mit den vier anderen Drachen geschehen war kümmerte weder den entkommenen Drachen noch dessen Reiter.

"Und ich kriege doch alles, was ich euch abverlange", schwor der ungenannte Herrscher leise. Immerhin hatte er die Pergamentblätter eingesammelt. Da er zu recht davon ausging, dass die anderen Kobolde nicht das Land preisgaben brauchte er eben nur einen anderen Kobold zu fangen, ja am besten einen von diesem Allbrick und ihn in eine der noch freien Seelenkammern einzusperren. Er würde sie alle besiegen. Er war gekommen um zu bleiben.

Der Drache flog noch eine gute Stunde weiter, bis er zielgenau eine fruchtbare Insel in der Wüste ansteuerte, deren Mittelpunkt eine mindestens zehn Ellen breite Quelle war. Das aus dieser sprudelnde Wasser plätscherte durch üppige Grasflächen und benetzte hoch aufragende Breitblattbäume, die von den heutigen Zauberern Palmen genannt wurden. Der Drache schwenkte auf eine kleine Gruppe Elefanten ein. Die hatten keine Abwehr gegen ihn. Doch für den Drachenreiter wurde es gefährlich, wenn sein Reittier auf Beutezug ging und dabei wilde Bewegungen machte. So schwang er sich vom Rücken seines mächtigen Reittieres herunter und ließ sich einige Längen in die Tiefe fallen. Der nun reiterlose Drache bemerkte ihn nicht oder nahm ihn nicht mehr zur Kenntnis. Nun breitete der falsche McBane den Flugteppich aus, befahl diesem in der Luft anzuhalten und erklomm ihn, als das gewebte Flugartefakt wie auf einer mehrere Baumstämme dicken Säule befestigt in der Luft stehenblieb. Mit den von McBane erlernten Befehlen brachte er den nun sich und ihn unsichtbar machenden Teppich auf den Weg zu seiner ewigen Wohnstätte. Er wollte dort die gerade noch eingesammelten Beutestücke erforschen. Hinter und weit unter sich hörte er das wilde Trompeten der Elefanten und das Angriffsschnauben des über diese herfallenden Drachens. Das Ungetüm war also ausreichend beschäftigt. Würde man nach ihm suchen? Hatte es gar einen Ortungsgeber am Körper? Der ungenannte Herrscher dachte daran, dass der Einfall, auf einem Drachen aus Gringotts zu entkommen, von drei jungen Zauberkundigen ausgeführt worden war. Nur deshalb wusste McBane und somit er davon, dass es gelingen konnte.

"Allbrick, du wirst bald mein Gast sein, und dann wird Seth die deinen bekommen", knurrte der ungenannte Herrscher, der zu seinen vielen Beinamen nun auch Feuerbläserbändiger dazuzählen konnte.

Auf dem tarnfähigen Flugteppich raste der Räuber von McBanes Körper zu seiner Grabstätte zurück. Unterwegs fing er sich fünf Ziegen von einer Weide auf einer Oase und füllte ein rauminhaltsvergrößertes Fass mit frischem Wasser auf. So ein lebender Körper hatte schließlich seine Bedürfnisse.

Als er mit den eingeschrumpften und in Zauberschlaf versenkten Ziegen und mindestens fünf Zubern Wasser in einem gerade mal eine Elle großem Fass in seiner goldenen Schlafkammer ankam fühlte er sich erst wirklich sicher. Er überlegte, wie er einen der auf Selbstvernichtung eingestimmten Gehilfen Allbricks lebendig zu fassen bekam und herbringen konnte. Hatte er den erst mal hier im unterirdischen Stufengrab konnte er alles erfahren, was er über diese Bande erfahren wollte.

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Frei zugängliche Zweigstelle von Gringotts in Kairo, 14.08.2006, 11:20 Uhr Ortszeit

Er wusste, dass er gerade mehrere Dutzend treue Mitarbeiter und Getreue umgebracht hatte. Doch wenn er das nicht getan hätte wären womöglich zehn hochgeheime Dinge in die Hände des Eindringlings gefallen. Zweigstellenleiter Wittrock und Axdeshtahn-Leitwächter Allbrick saßen vor dem grünen Quader, der vorhin die verhängnisvollen Schwingungen in die geheime Zweigstelle hinübergeschickt hatte. Nur der Zweigstellenleiter und der amtierende Leitwächter des Bundes, der alles sieht und hört, konnten diesen mörderischen Quader einsetzen.

"Sind Sie sicher, dass es McBane war, der uns da heimgesucht hat?" fragte Wittrock, der das lastende Schweigen nicht mehr aushielt. Allbrick wiegte den Kopf und schüttelte ihn dann. "Er mag in der Erscheinung McBanes aufgetreten sein und wohl einiges von ihm erfahren haben, was ihm half, sich in der Zweigstelle zurechtzufinden. Aber meine Auswertungsgruppe und ich sind sicher, dass es nicht Rore McBane war. Deshalb bestand ich ja darauf, den Stein des letzten Anrufs zu benutzen, Zweigstellenleiter Wittrock."

"Wenn es nicht McBane war, wer bitte soll denn das gewesen sein, der mal eben mehrere von uns umbringen konnte?" knurrte Wittrock. Allbrick sah den Zweigstellenleiter sehr ernst an und sagte: "Wir wurden ja gewarnt, dass sowas geschehen kann. Doch es gewissermaßen amtlich zu haben ist schon bedenklich. - Nun, wir müssen davon ausgehen, dass McBanes Körper von einem böswilligen Geist übernommen wurde, der in jener in die Erde hineingebauten Grabstätte auf Beute gelauert hat. Das haben wir zwar für unmöglich gehalten, weil wir McBane den Geisterpreller mitgaben. Doch das Ausbleiben McBanes und sein unverhofftes Auftauchen und sein Auftritt in der geheimen Zweigstelle lassen leider keinen anderen Schluss zu, als dass der lauernde Geist stärker als der Geisterpreller war und / oder sich einer Kraft bedienen konnte, dieses Schutzmittel zu entkräften oder mit Gewalt zu überwinden. Wenn ein solcher Übernahmevorgang gelingt ist davon auszugehen, dass der Eindringling erst einmal den neuen Körper erkunden muss, um sich in ihm zurechtzufinden. Vermag er auch die beim Seelentausch eingefrorenen Erinnerungen des rechtmäßigen Eigentümers zu lesen musste er sich erst einmal damit vertraut machen, wessen leibliche Hülle er übernommen hat und was den anderen zu ihm geführt hat. In diesem Fall heißt das, wer ihn zu ihm hingeschickt hat. Die Urgewalt, mit der der Körperdieb in der versteckten Zweigstelle wirkte lässt vermuten, dass er entweder um ein vielfaches stärker ist als ein gewöhnlicher Mensch oder sich eines Hilfsmittels bediente, das ihm mehr Macht über die verwendeten Zauberstabzauber gibt. Wir hoffen, dass wir durch den letzten Anruf, der den in den Tragesteinen verbauten Zorn der Erde erregt hat, jeden Diebstahl angesammelter Machtgegenstände vereiteln konnten. Die als unzerstörbar gekennzeichneten Gegenstände sollen noch heute geborgen werden, noch bevor irgendwelche Späher Al-Assuanis erfahren, dass es diese geheime Zweigstelle gab."

"Das kann jeden Augenblick geschehen, Leitwächter Allbrick. Feriz Al-Assuani und sein Bruder Kaya, der für die Zaubereigesetze zuständig ist, haben sich bei mir angekündigt. Die werden in einer halben Stunde hier sein und fragen, ob wir uns nicht mehr an die Vereinbarungen halten. Mit großzügigen Bakschischs kommen wir da wohl nicht mehr raus", schnarrte Wittrock. "Dann sollten wir den Stein des letzten Anrufes besser nicht hier herumliegen lassen", erwiderte Allbrick. Er winkte zweien seiner Leibwächter. Einer kam mit einer silbernen Decke und wickelte den grünen Quader darin ein. Darauf wurden Quader und Decke völlig unsichtbar. Dann packten beide Wächter die Enden des magischen Steines und hoben ihn auf. "Rückzug durch Sonderzugang eins!" befahl Allbrick. Die Wächter gehorchten. Nun blieb noch ein Allbrick begleitender Wächter im Raum. "Verraten Sie den Al-Assuanis nichts von der geheimen Zweigstelle, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, Zweigstellenleiter Wittrock. Denn wenn die Al-Assuanis erfahren, dass wir sie über Jahrzehnte hintergangen haben werden Sie und alle anderen Mitarbeiter des Landes verwiesen oder gleich wegen verbotener Handlungen hingerichtet. Das wollen Sie sicher nicht wirklich." Wittrock beteuerte, dass ihm wahrhaftig nicht daran gelegen war, von den ägyptischen Ministeriumszauberern umgebracht zu werden. Als Allbrick von der Aufrichtigkeit dieser Beteuerung überzeugt war verließ er selbst mit seinem verbliebenen Wächter das Büro des Zweigstellenleiters direkt durch den Erdboden, um über den Sonderzugang zwei zu ihrem geheimen Stützpunkt zurückzueilen. Sie ließen einen sichtlich angeschlagen wirkenden Wittrock zurück, der gleich einer Prüfungsgruppe Rede und Antwort stehen musste, die hoffentlich von den im Gebäude verteilten Mitgliedern des Bundes von wirklich verräterischen Gegebenheiten abgelenkt worden war.

Wittrock empfing die beiden angekündigten hohen Beamten und je drei ihrer Mitarbeiter in einem großen Besprechungsraum, in dem auch für Menschen geeignete Stühle aufgestellt wurden. Diese bestanden darauf, dass dieser Raum schalldicht war, um Außenstehenden keine Einzelheiten dieser Befragung zukommen zu lassen. Wittrock versicherte, dass der Raum vollständig schalldicht war. Dabei verschwieg er, dass in der Wand kleine Steine verbaut waren, über die alle gesprochenen Worte an eine Mitschreibefeder auf einer meterdicken Pergamentwalze weitergeleitet wurden und dass der Bund der alles sehenden Augen und alles hörenden Ohren Zugriff auf diese Aufzeichnungen hatte. Um so verdutzter war er, als die Al-Assuani-Brüder einen mit einer hellroten Flüssigkeit gefüllten Glaszylinder in die Tischmitte stellten und durch zweifaches Anstupsen mit dem Zauberstab die Flüssigkeit zu glühen begann. Augenblicklich schimmerten die Wände, die Decke und der Boden im selben Farbton. "Die verdichtete Kraft verschwiegenen Blutes", sagte Kaya Al-Assuani, als Wittrock den leuchtenden Zylinder ansah. "Alles was hundert meter um ihn herum gesprochen wird kann von Außenstehenden nicht gehört oder aufgezeichnet werden. In geschlossenen Räumen ist dieser Schutz sogar noch stärker, weil auch alles zu sehende von Außenstehenden nicht mehr fernbeobachtet werden kann. Kommen wir also nun zu den Gründen, warum wir an der Aufrichtigkeit und Vertragstreue Ihres Hauses zweifeln müssen und ob es Ihnen gelingt, diese Zweifel auszuräumen", sagte Kaya. Wittrock starrte auf den Glaszylinder. Was würde passieren, wenn er den umstieß oder gar zerstörte? Dann sah er etwas, wovon er schon gehört hatte, bisher aber glaubte, dass sie in Gringotts dagegen geschützt waren.

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Zur selben Zeit am Krater der zerstörten Zweigstelle von Gringotts Ägypten

Allbricks Leute hatten sich unsichtbar gemacht und überwachten die Umgebung mit Feindspürgeräten. Wer sich näher als hundert Schritte an sie heranwagte, sichtbar oder unsichtbar, würde gemeldet. "Der Leitwächter will, dass wir möglichst schnell die bereits hier lagernden Gegenstände bergen und in unser eigenes Lager schaffen", sagte Vollstreckungstruppunterführer Logbrock seinen Leuten. "Wenn klar ist, dass hier kein denkfähiges Wesen mehr ist begibt sich Bergungstrupp eins bis zu den Vollhartstollen hinunter und verschafft sich Zugang zu den verschlossenen Verliesen. Wir haben nicht viel Zeit. Also los!"

Dass sie überhaupt keine Zeit mehr hatten bekamen die Mitarbeiter Allbricks jedoch in wenigen Sekunden zu spüren, als von weiter oben glitzernder Silberstaub auf sie herabregnete und auch in den geschlagenen Krater hineinfiel. Die bei der Zerstörung der Zweigstelle entstandenen Erdstöße und Erdmagiestreuungen hatten die darauf eingestimmten Messgeräte des Zaubereiministeriums alarmiert und den genauen Standort verraten. So konnten auf zehn mit Illusionszaubern verwobene Flugteppiche mit je zehn Beamten darauf den angemessenen Erdaufruhrherd anfliegen.

"Horlnuck!" fluchte einer der niederen Erfüllungsgehilfen Logbrocks, als ihn die ersten Körner des Silberstaubs trafen. Da wo er unsichtbar stand flackerte die Luft silbern und blau. Dann wurde der getroffene Kobold vollkommen sichtbar. So erging es auch den anderen, die gerade die richtige Stelle suchten, um mit großen Truhen in der Erde zu verschwinden. Sie flackerten, wurden Sichtbar und zuckten unter jedem weiteren Staubkorn zusammen wie von Schlägen getroffen. Zwar regnete der tückische Silberstaub hauptsächlich in den Krater hinein. Doch dass die ihn umlagernden Mitglieder des Geheimbundes ihrer Unsichtbarkeit beraubt wurden wog schwer genug. Nun konnten sie auch sehen, wie mehr als hundert Längen über ihnen zehn Flugteppiche sichtbar wurden und sich herabsenkten. Dabei wurde weiterer Silberstaub aus großen Kübeln auf sie herabgeschüttet. Logbrock versuchte, in der Erde zu verschwinden. Doch es war, als hielte ihn eine unsichtbare Hand gepackt und reiße ihn jedesmal nach oben, wenn er aufzustampfen versuchte. Von dieser gemeinen Methode hatte er bis dahin nichts gewusst. Woher sollte er auch wissen, dass alle gegen kobolde aufgebotenen Zaubereiministeriumsmitarbeiter von den zehntausend Augen und Ohren unbemerkt das Rezept für den Staub des alles enthüllenden Mondes zugespielt bekommen hatten, mit dem unsichtbare Gegner auch bei Tageslicht sichtbar gemacht und solange an einer schnellen Flucht gehindert werden konnten, bis jemand ihnen den Staub vom Körper wischte.

"Auch wenn es überflüssig ist Sie dazu aufzufordern, die Herren Geheimkobolde, bleiben Sie am Ort und unterlassen Sie jeden Versuch des Widerstandes!" rief jemand von oben mit magisch verstärkter Stimme, die in den empfindlichen Ohren der Kobolde blechern nachhallte. Logbrock versuchte, die Arme zu bewegen. Doch die waren auf einmal schwer wie mit zentnern von Blei behangen. Er konnte sich nicht einmal auf den Füßen halten. Er schlug der Länge nach hin und fühlte, wie der auf ihn niederregnende Silberstaub ihn wie mit einer immer schwereren Decke überzog. Er war enttarnt, erkannt und gefangen. Diese drei Gedanken reichten nicht nur ihm, sondern allen anderen hier anwesenden Kobolden zu verdeutlichen, dass sie keine Ausweichmöglichkeit mehr hatten und dass jemand sie mit Folter oder anderen Methoden zur Preisgabe geschützten Wissens zwingen wollte. Das löste die Verratsabwehrvorkehrung aus. Ohne weitere Vorwarnung verglühte Logbrocks Kopf im roten Zauberfeuer. Seinen Untergebenen erging es ebenso.

"Sphinxenkacke, die Behauptungen stimmen doch, dass diese Burschen sterben, wenn sie unausweichlich in die Enge getrieben werden", knurrte der Führer des Flugteppichtrupps. Sein Kollege sagte dazu: "Zumindest haben sie uns verraten, dass ihr Geheimbund sehr an diesem Krater oder was vorhin dort war interessiert ist und dass es hier offenbar noch was wichtiges zu finden gibt."

"Prüfen wir nach, ob die noch Schall- und Bildaufzeichnungsgeräte dabei haben. Wenn deren Geheimbund erfährt, dass wir jetzt doch was gegen seine Mitglieder machen können werden die sich sehr gut verstecken."

Die Teppiche landeten. Mit Prüfzaubern wurden die kopflosen Leichen untersucht. Tatsächlich hatte einer von ihnen eine Vorrichtung in den Knöpfen seiner hitzefesten Jacke, die Umgebungsbilder, Worte und Geräusche aufzeichnen konnten. Ob diese weitergemeldet wurden war so nicht zu ermitteln, musste aber angenommen werden.

Die Ministeriumszauberer saugten den silbernen Staub mit handlichen Vorrichtungen wieder ein. Zwar hatte der durch die Berührung der Kobolde alle Kraft aufgebraucht. Doch der Silberanteil darin war zu wertvoll, um in der Wüste zu versickern. Daher wurden auch die sichtbaren Staubhaufen im Krater abgesaugt. Einen gewissen Verlust gab es trotzdem. Doch der hielt sich in engen Grenzen.

Was wichtiger war waren die mit Tiefenlotungszaubern erkannten Stollen, die zwar die Lotungszauber abwiesen aber sich eben dadurch als intakt verrieten. Da die Ministeriumszauberer selbst nicht wie Kobolde im festen Gestein untertauchen konnten bemühten die hundert Einsatzkräfte die bewährten Ausgrabezauber, um sich an die unter der Kratersohle verborgenen Stollen heranzuarbeiten. "Wir müssen davon ausgehen, dass dort noch wirksame Menschenfallen lauern, Leute. Also immer die Prüfgeräte vorschicken, bevor ihr irgendwo reingehen wollt!" warnte der Truppenführer. Doch er wusste, dass sie Stunden brauchten, um den ersten Stollen und mögliche Verliese zu öffnen. Hatten sie die Zeit, bevor der Bund der zehntausend Augen und Ohren Entsatzkräfte schickte? Zur Absicherung der Umgegend wurden vier Teppiche mit je drei Mann Besatzung nach oben geschickt und mehrere Spickoskope so aufgestellt, dass sich niemand ob unsichtbar oder sichtbar anschleichen konnte, der den Benutzern feindlich oder zumindest widersetzlich gesinnt war. Geschah sowas sollten die noch mitgeführten Silberstaubvorräte eingesetzt werden. Vielleicht gelang es doch, eines der angeblich zehntausend Augen oder Ohren festzunehmen und jene Verratsabwehrbezauberung zu unterbinden.

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Eine rubinrote, handlange Kerze lag in Feriz Al-Assuanis Hand. Er stellte sie auf den Tisch. Wittrock wusste, was die Kerze mit dem schwarzen Docht sollte und wusste auch, dass die Vermutungen grausame Wirklichkeit waren. Er wollte flüchten, sich einfach durch die Erde in Sicherheit bringen. Doch da hatte einer der Ministeriumszauberer ihn schon mit einem Erstarrungszauber getroffen. Jetzt konnte er nicht mal mehr aufstampfen. Er konnte nur mit ansehen, wie aus dem schwarzen Docht eine rubinrote Flamme entsprang und violetter Rauch aufkam. Wie lange konnte er die Luft anhalten, um den nicht einzuatmen?

Dichter und dichter wurde der Rauch, während die acht Ministeriumsmitarbeiter erwartungsvoll auf Wittrock blickten. Der Zweigstellenleiter versuchte, die Luft anzuhalten. Doch er musste feststellen, dass er keine willentliche Herrschaft mehr über seine lebenswichtigen Körpervorgänge hatte. Seine Lungen sogen die rauchgeschwängerte Luft ein und bliesen sie wieder auf. Dabei wuchs die Kerzenflamme auf Handlänge, Armlänge und dann zu einer langstieligen, dornigen Blume mit brennendem Blütenkelch, der Feuerrose. Wittrock fühlte, wie alle seine Angst und Ablehnung verflog, je mehr er von dem nach Steinofenkeksen und Koboldlikör duftenden Rauch einatmete. Er entspannte sich vollkommen. Es gab für ihn keinen Grund, von hier zu fliehen. Hier war es sehr schön und höchst angenehm.

Der brennende Blütenkelch neigte sich ihm zu, dem einzigen, der noch nicht unter der Herrschaft der Rosenkönigin stand. Dann hörte Wittrock andächtig eine sanfte Frauenstimme im akzentfreien Koboldogack befehlen, sich ihr, der Rosenkönigin Ladonna, voll und ganz zu unterwerfen, ihre Befehle ohne Widerstand und Widerspruch auszuführen und denen, die sich als ihre Helfer ausweisen konnten bedingungslos zu gehorchen, was immer diese von ihm verlangten. Diese Befehle wurden fünfmal wiederholt, sodass Wittrocks Geist davon regelrecht verstopft wurde. Dann verging die Feuerrose in einem letzten Schwall violetten Rauchs. Die Kerze war restlos heruntergebrannt. Wittrock atmete den noch in der Luft schwebenden Qualm ein und aus. Dann hörte er wie aus großer Ferne Feriz Al-Assuani sagen: "Die Königin Ladonna befiehlt durch meinen Mund, dass du mir alle Schlüssel und Lagepläne, Fallenaufhebungsvorkehrungen und Aufzeichnungen über geheime Transporte übergibst und meinen Leuten freien Zugang zu den geheimen Lagern deines Hauses gewährst." Wittrock fühlte, wie der Bewegungsbann von ihm genommen wurde. Er straffte sich und sagte ohne Anflug von Geistesabwesenheit in der Stimme, dass er alles tun würde, was die Königin befahl. Da er kein Mitglied des Koboldgeheimdienstes war trug er auch keinen Verratsunterdrückungssplitter unter seiner Schädeldecke. So blieb ihm nichts anderes, als den Befehlen seiner neuen Herrin zu gehorchen.

"Ja, und die Königin befiehlt durch meinen Mund, dass du bis zum zwanzigsten August alle menschlichen Mitarbeiter von Gringotts hier in diesem Raum versammelst, damit auch sie der einzig wahren Herrscherin anvertraut und unterworfen werden. Denke dir einen Grund für die Vollversammlung aus, am besten einen, der mit der angespannten Lage in unserem Land zu tun hat."

"Wenn ich die Mitarbeiter hierher rufe wird es auffallen, weil die sonst immer in der Geheimniederlassung anzutreten haben, bei Chapknock", sprach Wittrock etwas aus, dass er sonst niemals ausgeplaudert hätte. So musste er auch die Frage nach dem genauen Standort der Geheimniederlassung beantworten. Kaya sah seinen Bruder an und gedankensprach ihm zu: "Dann haben die den Krater verursacht. Die haben ihre eigene Geheimniederlassung zerstört."

"Ja, und wohl deshalb, weil wir denen auf der Spur sind", gedankenerwiderte Feriz.

Wittrock übergab Kopien der Mitarbeiterliste, auf der auch die Namen Rore McBane und William Weasley standen und auch, dass der eine verbotenerweise die im Boden vergrabene Pyramide untersucht hatte und der andere gerade wegen eines anderen Geheimauftrages im britischen St.-Mungo-Krankenhaus behandelt werden musste. Er erwähnte auch, was er mit Allbrick besprochen hatte. Er konnte ja nicht wissen, dass der Leitwächter der ägyptischen Mitglieder des geheimen Bundes eine Vorrichtung in jeden Mitarbeiterraum von Gringotts hatte einbauen lassen, die über verdächtige Rauchentwicklung und Feuerzauber Auskunft gab, sobald eine freie Verbindung bestand. Im Moment wirkte noch der Zylinder mit der Essenz des Blutes der verschwiegenen. Doch wenn diese Vorrichtung fortgenommen wurde würde das gerade verzweifelt nach einem Durchlass für Informationen suchende Warngerät seine Erbauer benachrichtigen, dass Wittrock jetzt wohl zu Ladonnas Unterworfenen gehörte.

Doch zunächst unterrichtete der Zweigstellenleiter seine Besucher über alles, was die wissen wollten, erwähnte auch das Auge der Bastet und den Stab des Geisterfeldherren und dass das Auge der Bastet bereits in London untersucht wurde und die Dienerinnen der Katzengöttin davon ausgingen, dass Gringotts ihnen das wertvolle Artefakt entwendet hatte.

"Und dieser Allbrick ist der oberste Befehlshaber des Geheimbundes in Ägypten?" fragte Kaya Al-Assuani. "Ja, ist er. Doch wo sein Stützpunkt ist weiß nur, wer für den Bund arbeitet."

"Können Sie ihn herrufen?" fragte Kaya Al-Assuani. "Ja, kann ich. Aber ihn zu verhören würde ihn töten. Die Mitglieder des Geheimbundes sind gegen freiwilligen oder unfreiwilligen Verrat abgesichert."

"Das ist uns schon bekannt", sagte Kaya. Doch wir denken, dass wir ihn dazu bringen werden, uns den geheimen Stützpunkt zu verraten. Also rufen Sie ihn herr!"

"Das wird Ihnen nicht gelingen", warf Wittrock ein. "Schon andere haben versucht, ein Mitglied des Bundes, der alles sieht und hört zum Verrat zu bringen, Sardonia, ihre Nichte Anthelia, Grindelwald und der dunkle Lord aus England."

"Die Königin kennt weitere Mittel, jemandem zum Verrat seiner Geheimnisse zu bringen. Sie wird ihn in ihre Obhut nehmen und verhören. Erzählen Sie mir noch was über McBanes Mission und was er in Ihrer Geheimzweigstelle angerichtet hat!" forderte Kaya Al-Assuani. Als er die Antworten auf diese Fragen hatte sagte er: "Gut, dann verfügen Sie jetzt alles, was die Königin von Ihnen verlangt, Wittrock!"

Die Unbelauschbarkeit und Unbeobachtbarkeit blieb anders als beim Klangkerkerzauber in Kraft, als Wittrock die Tür öffnete und seinen Mitarbeitern per Kurieren die Anweisungen erteilte. Dass er das Fernrufnetz nicht benutzen konnte begründete der damit, dass er mit den Besuchern über sehr vertrauliche bis geheime Angelegenheiten sprach, die nicht mitgehört werden durften. Jedenfalls erteilte er seinen Mitarbeitern den Befehl, die Prüfer in die geheimen Lager zu führen. Die Mitarbeiter wagten es nicht, zu hinterfragen, warum sie Zauberstabträgern die verborgenen Verliese zeigen sollten.

Zwei stunden später wussten die Besucher alles von den geheimen Transporten der letzten Tage und auch, was Gringotts in den letzten dreißig Jahren so am Ministerium vorbei zusammengerafft hatte. Allerdings wog die Nachricht sehr schwer, dass ein lebender Zauberer womöglich der Wirt jenes unheimlichen, aus der nichtmagischen Geschichtsschreibung herausgetilgten Herrschers war, der zwischen Amenemhet I. und Sesostris I. Ägypten zwölf Jahre lang tyrannisiert hatte. Diese Mitteilung musste die Königin unbedingt sofort erhalten. Jedenfalls hatten sie auch genug Beweise, um die Auseisung aller Kobolde aus Ägypten zu verfügen. Doch darüber sollten die Königin und ihr Statthalter, Karim Al-Assuani, entscheiden. Erst galt es, die bbei Seite geschafften Gegenstände zurückzuholen und sich mit dem möglicherweise wiederverkörperten Geist des finsteren Pharaos zu befassen.

Nachdem die hohen Beamten des Zaubereiministeriums alle Unterlagen, Beweise und Beutestücke aus den geheimen Lagern zusammen hatten verließen sie Gringotts. Sie nahmen den Zylinder mit dem Blut der Verschwiegenen mit. Die Warnvorrichtung des Geheimbundes erwachte aus der magischen Starre und jagte die Meldung über den Feuerrosenangriff auf Wittrock durch die Wände und den Boden mit Erdstoßgeschwindigkeit in alle Richtungen.

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Zur selben Zeit im geheimen Stützpunkt des koboldischen Geheimbundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui in Ägypten

Allbrick nahm die gehäuften Todesmeldungen der ausgeschickten Vollstrecker mit großer Besorgnis auf. Das Ministerium hatte sie mit irgendwas festgesetzt und damit den Verratsabwehrzauber ausgelöst. Also wussten die, was es mit dem Krater auf sich hatte. Weitere Leute dorthin zu schicken erwies sich als Fehler. Denn offenbar nutzten die Ministeriumsleute jene vertückten Vorrichtungen, die auf feindliche oder zumindest vertrauensunwürdige Annäherungen ansprachen. Die aus der Erde schießenden Vollstrecker wurden ebenso festgesetzt und damit dem Verratsabwehrzauber unterworfen. Allbrick stellte mit großem Unbehagen fest, dass er es innerhalb weniger Tage geschafft hatte, zwei Drittel seiner zugeteilten Bundesgenossen zu verlieren und zwar ohne wirklichen Erkenntnisgewinn. Auch wenn er nach seiner Rückkehr in den Stützpunkt die neue Hauptstelle in England über McBanes unverhoffte und verhängnisvolle Rückkehr unterrichtet hatte schwebte das alles wie ein tonnenschwerer Felsbrocken an einem hauchdünnen Faden über seinem Kopf und konnte jederzeit auf ihn niederstürzen. Vor allem wenn der erhabene Vater aller Augen demnächst aus seinem vorzeitig endenden Überdauerungsschlaf aufwachte würde dieser es nicht hinnehmen, dass Allbrick die Lage in Ägypten derartig verschlechtert hatte.

Als er dann auch noch erfuhr, dass es wider alle Vorkehrungen gelungen war, eine Feuerrosenkerze nach Gringotts zu schmuggeln und sie Wittrock betroffen hatte wusste Allbrick, dass er sein Leben nur noch in Stunden, höchstens in Tagen zählen konnte. Entweder würde der Bund ihn als Versager und Gefährder der eigenen Sache töten, oder Ladonna Montefiori würde ihn und vielleicht noch andere mit ihrem Feuerrosenzauber zu unterwerfen trachten und ihn auf diese Weise töten, falls ihr nicht noch dieser auferstandene Dunkelzauberer aus der vergrabenen Pyramide zuvorkam. Flucht war sinnlos, weil der Bund alle seine Mitglieder fernorten konnte. Außerdem wäre Flucht gleich Verrat und auf Verrat stand der Tod durch den eingeprägten Abwehrzauber. Er musste also am befohlenen Platz bleiben, bis der amtierende Meister der Augen ihn auf die eine oder andere Weise von dort abberief.

Als Wittrocks Anruf über die geheime Schallverpflanzungsvorrichtung eintraf wusste Allbrick schon, warum Wittrock ihn sprechen wollte. Diese verfluchten Zauberstabträger wollten ihn lebend fangen. Tja, dann würden sie ihn halt so töten. Vielleicht war das besser, als sich vor dem Rat des Bundes oder gar dem ersten Vater der Augen rechtfertigen und eine weitaus schmerzvollere Bestrafung erleiden zu müssen. Also tat er so, als ahne er noch nicht, dass Wittrock einer anderen Herrin diente.

Er vergab die laufenden und anstehenden Aufgaben an seinen Stellvertreter Buttrock und reiste durch festes Gestein bis ins moderne Kairo.

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Unterwegs über der ägyptischen Wüste

Der ungenannte Herrscher raste auf dem unsichtbar machenden Flugteppich in Richtung Kairo. Der Quader der Unortbarkeit machte ihn unauffindbar. Er hatte es sich genau überlegt. Er wollte den Leiter der Zweigstelle von Gringotts aufsuchen und gefangennehmen, um ihn in seiner Heimstatt auszuhorchen. Vielleicht konnte der ihm auch diesen Allbrick herbeirufen. Den musste er dann schneller als ein Gedanke besinnungslos bekommen, damit dieser Verratsunterdrückungszauber nicht wirkte. Er ging davon aus, dass sie vorgewarnt waren, hoffte jedoch darauf, dass sie ihn für tot hielten, nachdem sie ihre Geheimaußenstelle in der Wüste zerstört hatten. Womöglich fand er in der allen bekannten Niederlassung von Gringotts auch noch Dinge aus seiner Heimat, die er gebrauchen konnte.

Während er die Hauptstadt des modernen Ägyptens überflog verwünschte er die schwächlichen Magier, dass sie es zugelassen hatten, dass die Magielosen derartige Giftqualmmaschinen bauen konnten und sie hemmungslos benutzten. Wenn er erst einmal wieder auf dem Thron saß würde er diese Eingottanbeter und Geldgierigen vor die Wahl stellen, sich auf die alte Lebensweise zurückzubesinnen oder zu sterben. Lieber wollte er über ein Volk von nur hundert Männern und Frauen herrschen, als einem Millionenheer von Giftqualmausstoßern und Müllerzeugern zuzusehen, wie sie sein Land vernichteten.

Er erreichte die Seitenstraße im Geschäftsviertel Midan et-Tahrir, die ausschließlich magischen Wesen bekannt und zugänglich war. Das wie ein Pharaonenpalast protzende Gebäude aus weißem Stein fiel ihm sogleich auf. Er wusste aus Rores Erinnerungen, dass kein Zauberer, ob sichtbar oder unsichtbar, an den ganzen Sicherheitsvorrichtungen innerhalb von Gringotts vorbeikam, wenn er keinen Kobold bei sich hatte, der diese Vorrichtungen alle für ihn außer Kraft setzte. Er wusste aber auch, wie jene drei gerade erwachsen gewordenen Magiekundigen aus England es angestellt hatten, zumindest bis in ein Verlies von Gringotts hineinzukommen, trotzdem sie unterwegs enttarnt wurden. Da er durch den getragenen Unlichtkristallring stärker als jeder andere Zauberer war und zudem auch vor fremden Flüchen geschützt wurde sah er seinen Besuch in Gringotts als nicht ganz so anstrengend an. Doch unterschätzen durfte er ihn auch nicht.

Er landete mit dem Teppich im Hinterhof einer Garküche, die für die Besucher der Einkaufsmeile warme Speisen aus der Region zubereitete. Der Qualm der Herdstellen und die Ausdünstungen der zubereiteten Speisen machten die ohnehin heiße Luft noch schwerer zu atmen. Der Körperdieb dachte kurz daran, sich eine Kopfblase zu zaubern. Doch dann überwand er das Unbehagen und rollte den Flugteppich zusammen. Er hatte sich vorsorglich ein anderes Aussehen verliehen, so wie es der frühere Eigentümer seines Körpers immer wieder getan hatte, um unerkannt zu bleiben. So sah er aus wie ein hier beheimateter Zauberer mit dunklem Haar und bis auf die Brust reichendem Vollbart, als er mit seinem Rucksack auf dem Rücken die Schalterhalle von Gringotts betrat. Noch gab es keine Warnung.

Zehn Kobolde hielten sich im Schalterraum auf. Es gab jedoch im Augenblick keinen Kunden. Das sollte ihm recht sein.

"Friede und Freundschaft, die Herren!" grüßte er auf Arabisch, dass Rore McBane ebenso fließend beherrscht hatte wie Englisch, schottisches Gälisch und Koboldogack. Er stellte sich als Mustafa Hassan ben Muhammad Abdel iben Namik Al-Vasiri aus dem Grenzland zum Sudan vor und bekundete seine Absicht, ein neues Verlies in dieser Gringottsfiliale einzurichten. Der mit ihm sprechende Kobold sah ihn prüfend an. Da erinnerte sich der Körperräuber, dass die Kobolde die Gläser des wahren Blickes trugen, mit dem sie Täuschungen und Verhüllungen durchschauen konnten. Sofort riss er seinen Zauberstab hoch, zielte so, dass er alle zehn Kobolde in der Ausrichtung hatte und rief: "Imperio!" Die Kobolde versuchten noch, dem Zauber zu entrinnen. Doch der breite Fächer aus unsichtbarer Zauberkraft erfasste sie und ließ sie erstarren. Dann erteilte er ihnen den Befehl, ihn nach Ausschaltung aller Warn- und Abwehrmittel zu ihrem Zweigstellenleiter Wittrock zu bringen. Die Kobolde vollführten in völlig zeitgleicher Bewegung den erteilten Befehl. Der Rausch von Macht und Überlegenheit drohte den Eindringling zu übermannen. Er musste sich beherrschen. Zehn Kobolde zu unterwerfen hieß nicht, dass er hundert Zauberstabträger auf dieselbe Weise überwinden konnte. Als alle Kobolde ebenso zeitgleich meldeten, dass sie alle Warn- und Abwehrvorrichtungen auf dem Weg zu Wittrock unterbrochen hatten pickte sich der falsche McBane einen der Kobolde aus der Gruppe. Er befahl, dass alle hier auf ihn warten sollten, bis auf den, den er beim Arm ergreifen und als seinen Führer wählen würde.

So blieben neun willenlose Kobolde in der Schalterhalle zurück, während der ungenannte Herrscher mit dem zehnten durch die Tür ging, die in den Bereich für Mitarbeiter führte.

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Allbrick ließ sich nicht anmerken, dass er schon wusste, was mit Wittrock los war. Er begrüßte ihn mit der üblichen Herablässigkeit, die einem ranghohen Mitglied des geheimen Bundes eigen war. Arglos setzte er sich auf den bequemsten Besucherstuhl. "Und, wie ist die Unterredung mit den Al-Assuanis verlaufen?" fragte er scheinbar arglos.

"Sie haben mich mit Fragen nach unseren letzten Aktivitäten gelöchert, wollten wissen, ob es stimme, dass wir den Katzenfrauen etwas weggenommen haben und ob Ihr Bund damit zu tun hat. Ich habe denen erzählt, dass wir keine Veranlassung hätten, lebenden Leuten etwas zu stehlen, das kein von Kobolden angefertigtes Ding ist und dass nach der Erdmagiewoge unzählige böswillige Behauptungen in die Welt gesetzt worden seien, dass wir uns gegen die Vorherrschaft der Zauberstabträger verschworen hätten. Ich verwies sie darauf, dass wir nichts zu verbergen hätten und erlaubte ihnen sogar, die unverfänglichen Lager im zehnten Tiefgeschoss zu untersuchen, da ja dort nichts mehr ist, was Verdacht erregen kann."

"So, und ich dachte, Ihr hättet mich hergerufen, um mir zu verraten, wie es angeht, dass ein Bergungstrupp aus meinem Bund bei seiner Arbeit empfindlich gestört wurde."

"Nein, ich rief euch her, Leitwächter Allbrick, weil ich nach diesem unangenehmen Besuch allen Grund zur Sorge habe, dass die Al-Assuanis einen schwerwiegenden Zwischenfall hervorrufen könnten, um uns doch noch aus dem Land jagen zu dürfen. Ich möchte mit Ihnen abstimmen, wie wir uns gegen solche Zwischenfälle absichern können, ohne das Ministerium darauf zu bringen, dass wir ihm nicht mehr trauen können."

"Natürlich können wir den Al-Assuanis nicht mehr trauen, weil sie bereits von wem anderen unterworfen wurden", preschte Allbrick vor. "Deshalb trauen die uns ja auch nicht mehr oder besser, sie legen keinen Wert mehr darauf, von uns großzügig beschenkt zu werden. Am Ende versuchen die noch, eine dieser Feuerrosenkerzen hier hereinzuschmuggeln, trotz unserer Sicherheitsvorrichtungen", sagte Allbrick.

"Das würde doch die Vorwarnung auslösen, wenn sie das in einem dieser Räume tun", sagte Wittrock ganz ruhig. Allbrick erkannte, wie abgebrüht Wittrock auftreten konnte. Eigentlich hatte er damit gerechnet, ihn zu erschrecken. Doch der Zweigstellenleiter blieb nach außen hin völlig selbstbeherrscht.

Allbricks Gefahrensinn sprang an. Dass er in eine Falle gehen sollte wusste er ja schon. Doch nun hatte er das Gefühl, dass diese jeden Moment zuschnappen sollte. Er spannte sich an und sagte: "Ich gehe eher davon aus, dass die Al-Assuanis Sie bereits für sich vereinahmt haben, Wittrock. Sie helfen denen. Also verraten Sie mir besser gleich, was ich hier soll und ..."

Allbrick spürte den Luftzug noch, fuhr herum und sah den silbernen Pfeil aus dem Unsichtbaren. Er versuchte ihm noch auszuweichen. Doch er schaffte es nicht, weil das Ding seiner Bewegung folgte. Da traf es ihn auch voll am Hals. Keine Sekunde später verlor er die Besinnung, zu früh, um noch an eine Gefangennahme und mögliche Folter denken zu können. Er kippte nach hinten über.

Ein Mitarbeiter Al-Assuanis enttarnte sich und deutete auf den wie totenstarr daliegenden Allbrick. "Wenn dich seine Leute fragen, wo er ist sagst du, dass er sich die umgekehrte Pyramide ansehen wollte. Das wird erklären, warum er für seine Leute unortbar wird."

"Wie wollen Sie das hinkriegen?" fragte Wittrock. Da holte der Besucher ein Stück Leinenstoff mit silbernen Fäden aus seinem Umhang, tippte es kurz mit dem Zauberstab an und ließ es genau über Allbrick niedersinken. Als es den besinnungslosen Leitwächter berührte leuchtete es bläulich-silbern auf und schien zu zerlaufen. In Wirklichkeit wuchs es blitzartig zu einem magischen Kokon an, der den Betäubten passgenau umschloss und einspann. Dann hob sich Allbricks Körper einen halben Meter in die Luft. "Das kennt ihr noch nicht. Ist auch gut so. Das haben wir nämlich vor kurzem erst von unseren Freunden aus Saudi-Arabien erhalten. Der Verwahrungssack. Er macht auch, dass unbewusst ausgesendete Ortsangaben unterdrückt werden und der darin eingeschlossene in einen tiefen Schlaf fällt. Außerdem kann er wegen des Schwebezaubers gut transportiert werden und ..."

Es klopfte an der Tür. Sie hörten, wie draußen eine männliche Stimme fragte, ob dies wirklich Wittrocks Büro sei. Eine Koboldstimme erwiderte, dass es so sei. Wittrock starrte auf die Tür, ebenso der Besucher aus dem Ministerium. Sie beide rechneten damit, dass wer immer um Einlass bat. Doch statt dessen wurden beide zugleich von einer unsichtbaren Woge unbändiger Glückseligkeit überflutet, dass jeder Gedanke hinweggespült wurde. Dann erklang in ihren Köpfen der Befehl: "Wittrock und wer noch, ergebt euch mir und befolgt alle gesprochenen Befehle!"

Unvermittelt erhitzten sich die Köpfe und die Eingeweide der beiden wachen Büroinsassen. Zwei mächtige Unterwerfungszauber fochten einen Kampf um Körper und Geist von Wittrock und dem Zauberer aus dem Ministerium. Einem unverstärkten Imperius-Fluch vermochten Feuerrosensklaven zu widerstehen. Doch jener Fluch war um ein vielfaches stärker. er drohte die Oberhand zu gewinnen. Das würde den Tod der beiden bedeuten. Doch noch hielten sich beide die Waage.

"Öffne die Tür, Wittrock! Lass mich eintreten!" rief die Männerstimme von hinter der Tür. Doch Wittrock und der Ministeriumszauberer saßen nur da und erbebten immer stärker, weil zwei Zauber gegeneinanderwirkten. Noch einmal überflutete sie beide völlige Glückseligkeit und spülte alle Gedanken aus ihren Köpfen. Doch diesmal erhielten beide noch einen kräftigen Schlag wie von einem elektrischen Aal. Sie erstarrten und verloren die Besinnung. Das rettete sie vorerst vor der Vergeltung der Feuerrose.

Sie bekamen nicht mehr mit, wie jemand wutschnaubend auf die Tür zielte und diese mit einem ungesagten Sprengfluch aus den Angeln fegte. Da alle Warnzauber außer Kraft waren blieb der Alarm aus.

Einen anderen Kobold vor sich hertreibend betrat ein Zauberer mit dunklen Haaren und Vollbart das Büro von Wittrock, aus dessen Ohren und Nasenlöchern violetter Dunst quoll. Dann sah er noch den in der Luft schwebenden silbernen Kokon mit dem Gefangenen darin. "Ist das Wittrock?" fragte der Fremde den ihn führenden. Dieser deutete auf den besinnungslosen Zweigstellenleiter. "Und der da ist aus dem Ministerium?" fragte er weiter. "Ja, der war bei den Prüfern, die unsere Verliese untersucht haben", antwortete der unter dem Imperius-Fluch stehende Kobold. "Warum sind die beiden Betäubt?" fragte der Besucher. Dann sah er den violetten Dunst aus Ohren und Nasenlöchern beider Bewusstlosen steigen. "Ah, die Feuerrose. Ichhörte davon. Ich dachte, ihr lasst hier nichts rein, was verdächtig nach dunkler Magie aussieht", sagte er mit einem ironischen Unterton.

"Ich weiß nichts von einer Feuerrose. Die hätte sicher den Alarm ausgelöst", beteuerte der geistig unterworfene Kobold. Dann sah er den Kokon. Der Kopf und die Gesichtszüge des darin eingesponnenen waren deutlich zu erkennen. "Wer ist das da und warum ist er in dieses silberne Spinnengewebe eingesponnen?" fragte der Fremde. Der ihn führende Kobold erbebte einen Moment. "Du sagst es mir, wenn du es weißt!" blaffte der bärtige Besucher. Da sagte der Kobold leise: "Das ist Leitwächter Allbrick, der Befehlshaber der alles sehenden Augen und alles hörenden Ohren in Ägypten. Wer ihn beleidigt verschwindet für immer."

"Allbrick?!" Der Fremde rief diesen Namen so laut, dass es aus dem Gang hinter ihm lange nachhallte. Dann musste er lachen. "Zwei zum Preis von einem", grinste er dann noch. "Wie kann ich dieses Schwebegewebe lenken, ohne es zu berühren?"

"Öhm, das weiß ich nicht. Das ist mir bisher nicht bekannt", sagte der Kobold. "Ja, und die zwei da sind offenbar zwischen den Mühlsteinen meines und Ladonnas Fluches eingequetscht", knurrte der Besucher. Dann vollführte er mehrere Prüfzauber. Dabei leuchteten einzelne Bänder innerhalb des Kokons blau und dann weiß auf. "Och joh, ein Gewebe aus Verschwindeaffenfell, Wüstenspringspinnen und extra hauchdünn ausgezogenen Fäden aus gediegenem Silber, offenbar zum Transport gefährlicher Gefangener gedacht. Gut zu wissen", sagte der Fremde und deutete dann auf Wittrock. Dieser erstarrte nun vollends und schrumpfte dann ruckartig bis auf Daumenlänge. Den Ministeriumszauberer bedachte der Eindringling mit einem einfachen Schockzauber direkt in die Brust. Doch da dieser mehr als viermal so stark wirkte war dieser Zauber ebenso tödlich wie ein glühendheißer Speer direkt ins Herz. Der Ministeriumszauberer klappte zusammen. Der violette Dunst aus seinen Kopföffnungen versiegte.

Da er Allbrick in seiner Verpackung nicht bezaubern konnte blieb ihm nichs anderes übrig, als ihn hinter sich herzulenken. Immerhin erlaubte das Gewebe Fernlenkzauber. Dass der Ministeriumszauberer ein kleines Hilfsgerät dabei hatte, das auf das Gewebe abgestimmt war wusste der Besucher nicht. Ihm war nur wichtig, dass er gleich beide zu fangenden Kobolde erwischt hatte.

Der Ungenannte Herrscher ließ sich von seinem Führer wieder nach draußen geleiten. In der Schalterhalle warteten drei Kunden. Der Eindringling ließ sie alle erstarren. Dann bugsierte er Allbrick hinaus ins Freie. Den geschrumpften Wittrock hatte er in einer Conservatempus-Innentasche seines Umhanges verstaut, wo ihn kein Zauber von außen erreichen konnte und er auch keinen Ortungszauber nach außen senden konnte. Er wusste nur nicht, ob der silberne Kokon solche Meldezauber ausstrahlte. Doch das musste er wagen, zumal er sich in seiner eigenen Heimstatt allen Angriffen überlegen fühlte.

Er schaffte es, den Kokon auf seinen Flugteppich zu bringen und mit diesem abzuheben. Der Kokon blieb genau einen halben Meter über dem steigenden Teppich schweben. Als der ungenannte Herrscher vorsichtig nach vorne flog glitt der Kokon erst bis zum hinteren Ende. Dann erzitterte er und blieb genau über dem Rand des Teppichs schweben. Der Körperdieb ließ den Teppich ein wenig zurücktreiben, drehte ihn und hatte nun den Kokon genau vor sich liegen. Er berührte ihn mit der linken Hand. Das Gewebe erzitterte und erwärmte sich kurz. Der Kristall auf dem Ring pochte. Dann erstarrte das silberne Gewebe zu einer harten Form wie gebrannter Ton. Der Kokon landete auf dem Teppich. Jetzt erst wurden er, sein Reiter und der gefangene Allbrick unsichtbar. Der ungenannte Herrscher begriff, dass der Unlichtkristall dem fremden Gewebe einen Gutteil der Kraft entrissen haben musste. Doch das sollte ihn jetzt nicht mehr kümmern.

Da er nicht wusste, wielange die Betäubung halten mochte beeilte er sich, seinen Fang nach Südägypten zu bringen. Er musste Allbrick schnellstmöglich in einer der freien Kammern einsperren, ja und auch Wittrock. Denn nur dort war es gleichgültig, ob sie beim Aufwachen starben oder erst, wenn er dies ausdrücklich befahl.

Er war schon in der Nähe seines Stufengrabes, als er weit hinter sich einen Schwarm weiterer Flugteppiche sah, der ausfächerte und offenbar die Gegend absuchen wollte. Also hatten sie ihn wegen dieses Allbricks doch irgendwie verfolgen können. Doch jetzt war es zu spät für sie, dachte der Körperdieb. Er brauchte nur noch zu landen und den Gefangenen mit der beringten Hand zu ergreifen. Dann konnte er mit ihm in das in die Erde gebaute Stufengrab. Allerdings sah er, wie die Flugteppiche unvermittelt zurückblieben. Hatten deren Reiter etwa Angst, sich der erhabenen Grabstätte zu nähern? Der Wiederverkörperte musste laut lachen. Ja, sie dachten wohl, dass er von hier aus alle auf einmal vernichten konnte. Ja, möglich wäre das, fiel es ihm ein. Immerhin hatte er bereits vor der dunklen Woge, von der er nun wusste, dass sie mit Seths Entmachtung zusammenfiel, mehrere Feuerlöwen und blutrote Geisterwesen auf einmal vernichtet. Doch das ging nur, wenn er auch wirklich in seiner goldenen Kammer war, ob mit oder ohne Körper. Bei der Landung war der Teppich noch unsichtbar. Doch als er aufsetzte wurde er und alles darauf sichtbar. So schnell der ungenannte Herrscher konnte rollte er den Teppich zusammen und ergriff dann den Gefangenen mit der beringten Hand. Dann wechselte er zeitlos durch die für ihn nicht geltenden Absperrungen in das Stufengrab. Er zog den sich gerade hart anfühlenden Kokon hinter sich her zu einer offenen Kammer. Er merkte, dass der Gefangene langsam wieder zu sich kam. Wachte er hier auf, bevor er in einem Seelenkerker steckte, würde er bei seinem Tod aus dem Stufengrab entkommen. Das durfte nicht gelingen.

Mit ganzer Kraft zerrte der Ungenannte seinen Gefangenen in die freie Kammer und befahl rein gedanklich, sie zu verschließen. Dann brachte er den eingeschrumpften Wittrock in eine Kammer daneben und entschrumpfte ihn. Wittrock begann bereits sich wieder zu regen. Als die von innen mit Symbolen der Einkerkerung beschriebene Platte sich zwischen Wittrock und den Herren dieses magischen Gefängnisses schob atmete dieser auf. Er hatte beide noch rechtzeitig eingeschlossen. Er musste jedoch schnellstmöglich in die goldene Kammer, um zu ernten, was er gerade gesäht hatte.

Zeitlos wechselte er in jene Kammer, wo der goldene Tisch stand und nahm sofort Verbindung mit dem Rest des Grabes auf. Sogleich fühlte er, wie die Kraft der gefangenen Seelen in ihn einströmte. Doch die neuen Gefangenen waren noch nicht dabei.

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Allbrick fühlte sich sehr müde, als er aufwachte. Erst langsam kam ihm zu Bewusstsein, was passiert war. Als er dann fühlte, dass er in einem nachgiebigen Gewebe steckte und um sich herum nur Dunkelheit sah wusste er, dass er wohl eingesperrt war. Aber wo war er, und was war das für ein gemeines Zeug, dass ihn von Kopf bis zu den Füßen umgab? Er versuchte, sich aufzusetzen. Doch das Gewebe hielt ihn fest umwickelt. Er konnte seine Arme nicht bewegen. Er dachte daran, dass wer immer ihn überwältigt hatte nicht lange was von ihm haben würde, ja womöglich mit ihm zusammen sterben mochte. Er versuchte, zumindest seinen Kopf so zu heben, dass er in den obersten Kragenknopf seiner Uniform sprechen konnte. Doch zum einen hielt das ihn umgebende Gewebe auch seinen Kopf fest und zum anderen fühlte er, dass er gerade noch ein- und ausatmen, aber weder Kifermuskeln noch seine Lippen bewegen konnte. Damit fiel ein Hilferuf an seine Leute weg. Wirkte der ihm ins Blut eingewirkte Findezauber noch? Dann mochten seine Überwinder sehr bald sehr unangenehmen Besuch erhalten. Denn einen Leitwächter des Bundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui fing man nicht ungestraft ein. Das wussten eigentlich alle, die mit dem mächtigen Volk der Erdkinder zu tun hatten. Dennoch hatte jemand diese Frechheit begangen, und da kamen gerade nur zwei in Frage: Ladonna Montefiori und der in McBanes Körper aus seinem alten Gefängnis entflohene finstere König. Wenn er daran dachte, dass er den Auftrag erteilt hatte, diese verfluchte Grabstätte zu untersuchen war es schon eine Ironie des Schicksals. Ja, es konnte wirklich angehen, dass ihn dieser Körperräuber erwischt hatte. Das passte aber nicht zu dem, was er über Wittrock gehört hatte, dass der nun auch der Feuerrosenkönigin unterworfen war. Als dem Leitwächter klar wurde, dass er zum Zielobjekt zweier gegnerischen Kräfte geworden war hätte er laut losgelacht. Doch lachen konnte er ja im Augenblick nicht und würde es wohl auch nie wieder tun.

"Ich spüre, dass du erwachst, Allbrick, Führer einer Gruppe von Sandräubern, die sich anmaßen, die mächtigen Schätze meines erhabenen Landes zu stehlen", hörte er unvermittelt eine Stimme aus allen Richtungen zugleich. Er schwieg, zumal er im Moment eh nicht hätte sprechen können. "Womöglich hält das, womit sie dich eingesponnen haben dich vom sprechen ab. Aber das ist mir gleich. Ich weiß auch, dass euer Geheimbund seine Leute mit endgültigen Mitteln gegen Versagen oder Verrat versehen hat", sprach die Männerstimme weiter. "Deinen Körper mag dies töten, aber den brauche ich nicht mehr. Denn ich habe schon einen. Aber vielleicht kann ich es ja doch umgehen, was euch die Köpfe von den Schultern brennt. Du musst nur die Antworten auf die Fragen denken, die ich dir jetzt stelle."

"Du bist der dunkle Pharao, der ungenannte Herrscher", dachte Allbrick. "Ah, es gelingt. Ja, der bin ich, Leitwächter Allbrick. Also weißt du, dass mir das Leben eines Koboldes noch weniger wert ist als das eines Menschen. Du wirst mir also alle Fragen beantworten, die ich jetzt stelle."

"Ich werde dir nicht dienen und dir nichts verraten. Nur meine Leiche wirst du haben, und mit der kannst du nichts anfangen", dachte Allbrick. "Das trifft zu, Allbrick. Mit deinem toten Körper kann ich wirklich nichts mehr anfangen. Aber wie erwähnt brauche ich den auch nicht mehr", erklang die Antwort. Dann kam die erste Frage: "Wo genau finde ich das Versteck deiner Diebesbande namens Axdeshtan Ashgacki az Oarshui?? Wage nicht zu lügen!"

Allbrick fühlte, wie etwas ihm von Kopf bis in die Zehenspitzen schoss, eine wild pochende Kraft, die ihm große Schmerzen bereitete. Er versuchte, nicht an die Antwort zu denken. Doch die Schmerzen wurden immer schlimmer. Dann endlich trat ein, was jedem Gefangenen seines Bundes widerfuhr. Er fühlte nur einen kurzen Hitzeschauer. Dann gleißendes Licht. Er sah in diesem Licht, wie sein Körper in einem silbernen Gespinnst lag, von dem ein Teil in schwarzen Rauch und verkohlte Asche zerfallen war, der Teil, der seinen Kopf umschlossen hatte. Doch warum sah er sich von oben in dieser golden gleißenden Halle? Warum fühlte er sich so leicht wie eine im Wind treibende Feder? Dann fühlte er einen pulsierenden Sog und merkte, dass er auf eine der Wände dieser kleinen Kammer zutrieb. Er versuchte sich zu drehen. Doch weil er keine Arme, ja überhaupt keinen Körper mehr fühlte ging das so nicht. Dann fühlte er einen Ruck durch das gehen, was er statt eines Körpers besaß. Jetzt meinte er, fest auf eine Unterlage gedrückt zu werden, Arme, Beine, Rumpf und Kopf wie von einer kräftigen Presse an die Wand gedrückt. Er fühlte, wie er tiefer und tiefer in das eindrang, wogegen er gestoßen oder gezogen wurde. Dann fühlte er, dass er nicht alleine war. Viele viele Gedanken flossen zu ihm und in ihn hinein, durch ihn hindurch. Er erkannte, dass er gerade Teil eines Netzes aus denkenden Wesen wurde. Dann hörte er alle Stimmen zugleich auf ihn einsprechen: "Wo ist euer Versteck? Sprich die Wahrheit!" Als wenn ihm jemand den Imperius-Fluch und Veritaserum zugleich verpasst hätte hörte sich Allbrick die Frage beantworten. Er erkannte, dass er sie wahrheitsgemäß beantwortete, ja wie ihm die genauen Richtungs- und Standortkenntnisse aus dem Kopf herausflossen und in jenem Geflecht aus verbundenen Seelen weitergereicht wurden. Da wusste er, dass sein körperlicher Tod nichts genützt hatte. Der Unheimliche konnte Seelen in der stofflichen Welt festhalten, sie einkerkern und unterwerfen. Er konnte nichts mehr dagegen tun. Als er dann auch gefragt wurde, wie viele es von seinem Bund noch gab, wo die Hauptstelle des Geheimbundes lag und wer dort das Sagen hatte erkannte er, dass der Bund der zehntausend Augen und Ohren zum ersten mal seit vielen hundert Jahren in ernsthafter Gefahr war, ausgelöscht zu werden. Jede ihm abgepresste Antwort war ein Dolchstoß in das Herz des Bundes. Er hörte sich selbst noch sagen, dass die obersten Hüter das Erwachen ihres Gründervaters Deeplook erwarteten und dass dieser die geheimsten Kenntnisse hatte, die den Bund zur unschlagbaren Macht in der Welt der Kobolde machten. Dann fühlte er, wie der Strom der ihn durchflutete nachließ. Er merkte, wie er erstarrte. Man hatte ihm alles entrissen, was er wusste. Jetzt brauchte der ungenannte Herrscher ihn nicht mehr. "O doch, deine Kraft wird mir weiter dienen, mich mächtig und unbesiegbar machen. Doch sei beruhigt, dass ich deinen obersten Führern zunächst nicht die nötige Aufwartung machen werde, bis ich mein Königreich wiederhabe und die falsche Königin daraus vertrieben habe." Diese regelrecht durch ihn hindurchbrausenden Worte waren die vorerst letzten, die er klar verstand. Dann verlor sich sein Denken in der Vielfalt der anderen, in ewigen Träumen und Knechtschaft gefangenen Seelen.

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Wittrock spürte, dass die Macht des Fluches nachließ, die ihn wie mit einem Betäubungspfeil gelähmt hatte. Er hatte es mitbekommen, wie Allbrick in die Falle ging und dass da dieser andere Zauberer war, der ihn und den Getreuen des Ministeriums mit dem Imperius-Fluch getroffen hatte. Doch er diente der Königin. Der Fluch durfte ihn nicht unterwerfen. Endlich konnte er wieder frei genug denken, dass er sich umsehen konnte. Doch er sah nur Dunkelheit. Er lag in einem steinernen Raum. In völliger Dunkelheit konnte er zwanzigmal so gut hören wie sonst. Doch das einzige was er hörte war ein ganz leises Knistern wie riselnder Sand und einen weit über sich wehenden Wind, der den Sand zum leisen Summen brachte. Er befand sich also mitten in der Wüste. Dann wurde ihm klar, was ihm geschehen war. Jener, vor den Allbrick ihn gewarnt hatte, war gekommen und hatte ihn mitgenommen, ihn, den Diener der Königin. Er würde ihn zu unterwerfen versuchen. Doch er würde ihm nicht folgen. Sein Leben gehörte der Rosenkönigin.

"Nein, deine Seele gehört jetzt mir, Wittrock", hörte er aus allen Richtungen zugleich eine überlegen klingende Männerstimme. Dann fühlte er, wie ihm die Luft wegblieb. "Deinen Körper und das darin steckende Gift brauche ich nicht mehr. Ich will nur deine Seele, kleiner Goldsammler", klang die Stimme seines Überwinders. Dann fühlte er, wie sein Körper erschlaffte. Er konnte nicht mehr atmen. Dieser grausame Mensch ließ ihn elendiglich ersticken. Die Angst vor dem Tod und die Angst vor dem Versagen der Königin gegenüber versetzte ihm den endgültigen Todesstoß. Er fühlte, wie er förmlich aus seinem Körper hinausgeschleudert wurde. Doch er prallte gegen eine feste Wand, flog in eine andere Richtung davon, prallte gegen die nächste Wand und sah im nun erstrahlenden Licht um sich herum den eigenen Körper am Boden liegen, reglos, leblos. Dann fühlte er, wie er auf eine weitere Wand zuflog und mit dem Rücken dagegenstieß. Er blieb fest haften, ja verschmolz mit der Wand. Er fühlte, wie eine Vielzahl fremder Gedanken in ihn einströmte und erfuhr, dass er nun auch ein Teil jenes Geflechtes aus vielen hundert Seelen war, die in diesem unheimlichen, ausbruchssicheren Gefängnis eingekerkert waren. Als ihm dann von ihn durchbrausenden Gedanken Fragen zu Gringotts Ägypten und Gringotts in London gestellt wurden hörte er sich die Antworten denken und sah die dazu gehörigen Bilder an ihm vorbeirasen. Er wusste, dass er gerade alles preisgab, was er zu verschweigen geschworen hatte. Die einzige Genugtuung dabei war, dass sie ihn dafür nicht in ein Bad aus flüssigem Gold eintunken und zu tode sieden würden. Dann wurde auch er ganz eins mit den vielhundertfachen Gedanken, die in diesem unheimlichen Kerker erklangen.

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Der ungenannte Herrscher brauchte seine Zeit, um die neuen Erkenntnisse einzuordnen. Ihm war klar, dass trotz des Unlichtkristalls zu viele Gegner auf ihn warteten. Stürmte er den Stützpunkt Allbricks würde er mit an die dreihundert kampferprobten Kobolden zu tun bekommen. Der Kristall an seinem Ring schützte ihn vor feindlichen Zaubern, aber nicht gegen Klingenwaffen oder Geschossen, Streithämmern oder anderen körperlich wirkenden Waffen. Griff er das Zaubereiministerium an hatte er hunderte von kampferprobten Zauberern und Hexen gegen sich, die alle der verwünschten Rosenkönigin gehorchten. Auch wenn die Zeit drängte, sich seinen rechtmäßigen Herrschaftsanspruch wiederherzustellen durfte er nicht zu viel wagen. Er hatte nur diesen einen Körper. Ob er nach dessen Tod mühelos zum nächsten überwechseln konnte wusste er nicht und wollte nicht warten, bis er in die entsprechende Lage geriet. Jedenfalls erkannte er, dass er alleine nicht viel ausrichten konnte. Er brauchte Hilfe, ein schlagkräftiges, bedingungslos gehorsames Heer, dass für ihn focht und jederzeit verstärkt werden konnte. Dazu brauchte er Zeit und die Kenntnisse, wo willige Diener auf ihn warteten. Dabei fiel ihm noch etwas ein. Es galt, eine alte Rechnung zu begleichen, endlich die Schande wettzumachen, über Jahrzehnte von einer niederen, vaterlosen Dirne ausgesaugt zu werden wie von einem Blutegel. Er musste dieses Weib finden und es vernichten. Vielleicht konnte er sie auch unterwerfen und zu seiner Leibdienerin, Lustsklavin und Leibwächterin machen. Er wusste, dass sie den Kräften des Sonnengottes verbunden war. Mit dem Schild des Horus konnte er diesen jedoch trotzen. Ja, er konnte nun, wo er den Unlichtkristall trug, auch den Mantel des Seth ausbreiten, der alles Licht und alle Wärme verschlang und die Gegner trübsinnig machte. Als er daran dachte purzelten Erinnerungen aus McBanes Leben in sein Bewusstsein. Der hatte mal mit überlebensgroßen, schwebenden Geschöpfen zu tun gehabt, die ähnliches vermochten. Dementoren, so hatten diese Wesen geheißen, weil sie den Geist ihrer Opfer eintrübten, ihm alles Glück entzogen und nur die schlimmsten Erinnerungen zurückließen. Also hatte Seth damals schon eine unbesiegbare Armee aufstellen wollen, die seinen Mantel als Waffe gegen ihre Feinde nutzen konnten. Ja, er würde dieses Weib, dass die Sonne als Kraftquelle nutzte, finden und besiegen. Sklavin oder Tote, das sollte ihr Schicksal sein. Doch wie sollte er sie suchen? Oder sollte er sie zu sich hinlocken? Dann konnte er ja gleich alle seine Feinde einladen, sich an ihm zu versuchen. Nein, er musste diese Gegnerin überraschen. Sie durfte nicht wissen, dass er wieder einen Körper hatte und dass er mächtig war. Mächtig, ja, er konnte Drachen unterwerfen. Wo gab es noch Feuerlöwen? Ach ja, im Land, das Algerien hieß und weiter im Westen dieses Erdteils zu finden war. Dann dachte er daran, wie der letzte Kampf mit jener der Sonne verbundenen Dirne verlaufen war. Konnte er ihre Spur wiederfinden, sie vielleicht in ihrer eigenen Heimstatt ...? Nein, besser nicht da, wo sie auf weitere Kraftquellen zugreifen konnte. Er hatte es bei der letzten Begegnung gespürt, dass sie einen starken Kraftsammler benutzte, in dem sie wie er die Leben ihrer Opfer einlagerte. Also durfte er sie nicht dort treffen, wo sie auf dieses Behältnis zurückgreifen konnte. Womöglich würde ihm der Schild des Horus helfen, die Reste einstiger Sonnenzauber in der Umgebung zu erkennen und ihnen nachzugehen. Ja, dieses Ziel wollte er zuerst angehen. Dann wollte er seine Armee aufbauen.

Er prüfte noch einmal nach, ob die von ihm gegen neuerliche Eindringlinge aufgespannten Zauber wirklich hielten. Da war der kurz nach seiner Wiederverkörperung aufgespannte und von den versklavten Seelen aufrechterhaltene Feindeswutzauber, der alle ihn angreifenden Wesen dazu trieb, gegen andere Wesen zu kämpfen, die im selben Wirkungsbereich weilten. So konnte selbst eine Armee von Feinden ihn nicht angreifen. Die Kobolde kamen eh nicht bis zu ihm durch, weil die in die Erde streuenden Zauber deren Erdreisebefähigung vereitelten. Wer es dann doch noch zu ihm schaffte, ohne in Angriffslust auf andere Wesen zu entbrennen kam auch nicht mehr in sein Stufengrab. Die Frechheit, einen Verriegelungszauber durch einen anderen Verriegelungszauber zu überlasten, würde keiner mehr vollbringen. Ab seiner Widerverkörperung schluckte die Pyramide jeden nicht von ihm ausgehenden Zauber und zerstreute ihn unschädlich in der Erde. Nur er konnte bestimmen, wann wer neues eingelassen wurde oder nicht, wie damals, als er Ixandesh zu sich geholt hatte. Mit dieser gewissen Sicherheit legte er sich in einer freien Kammer auf ein weiches Bett. Sein neuer Körper konnte auf keiner harten Unterlage ruhen. Außerdem wollte er nicht in Gefahr geraten, dass der in seinen Aufbahrungstisch gebannte McBane aufwachte und meinte, sich seinen Körper zurückholen zu können.

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Zur selben Zeit im geheimen Stützpunkt des koboldischen Geheimbundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui in Ägypten

Es klang schauerlich, wie eine Mischung aus übergroßer Kuhglocke, sowie einer wohl damit behängten, grausam hingeschlachteten Kuh. Alle Lichter der weitläufigen Halle der Wachsamkeit färbten sich rotbraun, wie der sogenannte Blutmond, der nur bei totalen Mondfinsternissen sichtbar werden konnte. Dann erklangen drei magisch aufgezeichnete männliche Stimmen: "Es ist verkündung und Bedauern. Leitwächter Allbrick verschied in Erfüllung seiner Treue und Pflicht. Ehre seinem Andenken! Der von ihm bestimmte Nachfolger wird gebeten, sich innerhalb des fließenden Sandes durch Handabdruck, Stimme und Blutprobe zu erkennen zu geben."

Unvermittelt erschien die geisterhaft durchsichtige, golden leuchtende Abbildung einer anderthalb Kobolde hohen Sanduhr. Der in ihr nach unten rieselnde Sand glomm mondlichtsilbern. Dann wurde auch das blutmondfarbene Licht wieder hell.

"100-Augen-späher Knoblook, wo starb unser Leitwächter? War es Gringotts?" fragte Buttrock, der sich von der betrüblichen Nachricht angesprochen und aufgefordert fühlen musste.

"Er wurde von der Erde gelöst, da hat er noch gelebt. Dann bekamen wir nur den letzten Ruf von ihm herein. Dieser war jedoch so verzerrt, dass der genaue Ausgangsort nicht klar bestimmt werden konnte. Es war aber auf jeden Fall viel weiter südlich von Kairo. augenblick, 100-Wächter-Lenker, ich meine Herr Leitwächter Buttrock, es muss jener Landesabschnitt sein, in dem jene in die Erde eingebuddelte Pyramide zu finden sein soll. Ich wage die Vermutung, dass unser in Treue und Pflichterfüllung dahingegangener Leitwächter dort in den Schoß der großen Urmutter zurückgerufen wurde."

"Machen Sie davon eine Aufnahme für die Hauptstelle! Ich muss zum Erkennungstisch, um mich als neuer Leitwächter zu bestätigen. Allbrick hat das in weiser Voraussicht schon geklärt, dass ich das übernehmen soll."

"Selbstverständlich", sagte 100-Augen-späher Knoblook. Er war schließlich selbst dabei gewesen, als Allbrick Buttrock zu seinem Stellvertreter erklärt und im wahrscheinlichen Fall seines gewaltsamen Todes als legitimen Nachfolger eingetragen hatte.

Der Tisch der Erkennung stand nicht in Allbricks Sprechzimmer, sondern im tiefsten Geschoss in der Halle des Gedenkens. Buttrock sah beim Betreten, dass an einer der Wände mehr als zwanzig blutmondfarbene Augensymbole mit darunter prangenden Namen leuchteten. Das waren die erst vor kurzem verstorbenen Mitglieder des Bundes hier in Ägypten. Auch in der neuen Hauptstelle mochten nun die Blutmondaugen leuchten, nachdem die Anbindung an die geheimen Zweigstellen gelungen war. Sicher würde die Hauptstelle ihn demnächst fragen, was passiert sei. Auch hier schwebte eine anderthalb Kobolde hohe, durchsichtige Sanduhr, deren mondlichtfarbener Sand ruhig und unaufhaltsam weiterrieselte.

Der Erkennungstisch war aus einem einzigen Basaltstein herausgeschlagen worden und mit einer blutmondfarbenen Decke und darauf eingestickten Silberfäden gedeckt. Die Symbole zeigten die Macht von Augen und Ohren, Wachsamkeit und Bundestreue. Buttrock trat von Osten her an den Tisch heran und schlug die dicke Decke zurück. Daraufhin erzitterte der Tisch. Aus unsichtbarer Quelle klang eine Stimme: "Bist du der, der dem Leitwächter Allbrick folgt? Dann lege deine beiden Hände auf die Platte und erwarte die nächste Anweisung. Bist du es nicht breite die Decke wieder über den Tisch! Hüte dich, die Hände an die Platte zu legen, weil dies als Verrat erkannt würde!

Buttrock zögerte erst. War er wirklich Allbricks rechtmäßig vorbestimmter Nachfolger? Dann klatschte er entschlossen beide Hände auf die Tischplatte. Sofort begannen sie silbern zu leuchten und hafteten wie angewachsen. Buttrock fühlte das Zittern des erweckten Tisches durch seinen Körper in den Boden übergehen. Dann erklang die magische Stimme erneut: "Du hast die Hände des rechtmäßigen Nachfolgers. Sprich nun deinen Namen und das dritte Geheimnis des Bundes aus! Nur du darfst es tun. Jeder andere würde für diese Handlung mit lebenslänglichem Sprechverbot bestraft."

"Ich bin Buttrock Illdruck Moddonzork, 1000-Wächter-Lenker der Niederlassung Ägypten und kenne das dritte Geheimnis des Bundes. Es lautet: Nur der Vater aller Erdkinder, erster König unseres Volkes, kann uns vom erhabenen Bund der zehntausend Augen und Ohren mit dem Wort der Unterwerfung binden und darunter ausgesprochene Befehle erteilen. Dies ist das dritte Geheimnis des erhabenen Bundes der zehntausend Augen und Ohren", sprach Buttrock laut und deutlich aus. Es vergingen mehrere seiner Herzschläge. Dann erklang jene aufgezeichnete Koboldstimme erneut.

"1000-Wächter-Lenker Buttrock Illdruck Moddonzork, du wurdest als rechtmäßiger Nachfolger erkannt. Siegel dein neues Amte mit deinem Blute!" Buttrock wollte schon fragen, wie er das machen sollte, wo seine Hände fest an der Tischplatte klebten. Da stach ihm eine wild erbebende Nadel in die linke und in die rechte Hand. Er fühlte, wie das Zittern der Nadeln durch seine Adern ging und fühlte, wie etwas durch seine Arme in die Hände kroch und dann verebbte. Er wusste nun, wie der Tisch sein Blut entgegennahm. Dann zogen sich die zwei Nadeln wieder zurück. Dafür fühlte er etwas heiß und kalt an die Einstichstellen drücken. Dann war es so wie vor dieser Vorgehensweise. Da sagte die Stimme: "Dein Blut ist rein und kraftvoll. So sei du der neue Leiter dieser erhabenen Niederlassung, Leitwächter Buttrock!" Danach klang die magische Stimme offenbar in allen Räumen der Zweigstelle: "Aufgemerkt, alle Augen und Ohren Ägyptens. Euer neuer Leitwächter heißt Buttrock, Sohn des Dashmock. Lang lebe Leitwächter Buttrock! Möge die allererste Mutter seine Schritte stets zu Ruhm und Erfolg für unser Volk lenken!" Als diese allgemeine Bekanntmachung verhallte verschwand die bis dahin sichtbare Sanduhr. Gleichzeitig lösten sich Buttrocks Hände von der Tischplatte. Dann erhielt er noch die Anweisung, den Erkennungstisch wieder zu bedecken oder gleich seinen rechtmäßigen Nachfolger zu bestimmen. Das konnte er aber auch zu jedem späteren Zeitpunkt. Doch in einem Monat wollte er das tun, falls er bis dahin nicht wegen der vielen gefallenen Bundesgenossen bestraft und von der Hauptstelle seines gerade erst bestätigten Amtes enthoben wurde, was gleichbedeutend mit seinem Lebensende war.

"Bevor uns die Hauptstelle fragt, was gerade bei uns los ist müssen wir Klarheit haben. Wir müssen bestätigen, dass der seit Jahrtausenden für begraben aber nicht gänzlich aus der Welt verschwundene dunkle König zwischen Amenemhet I. und Sesostris I. wahrhaftig einen lebendigen Körper übernommen hat und in dessen Hülle gegen uns und womöglich andere zu Felde zieht", lautete die erste klare Anweisung des neuen Leitwächters. Alle die ihn hörten verstanden.

"Hier ist gerade hereingekommen, dass Wittrock wohl auch gestorben ist", meldete 100-Ohren-Horcher Rootknock. "London hat schon durchgeläutet, dass es eine Anhörung in drei Wochen geben wird. Solange soll Verliesmeister Richback Wittrocks Amtsgeschäfte führen."

"Der also auch", grummelte Leitwächter Buttrock. Damit sagte er so viel auf einmal, dass es ihm selbst unheimlich wurde. Denn wenn Wittrock und Allbrick am selben Ort und zur selben Zeit verstorben waren, dann hieß dies, dass sie auch auf dieselbe Weise umgekommen waren. Hieß das nicht dann auch, dass jemand ihre Lebenskraft für sich erbeutet hatte, ja vielleicht auch deren Seelen in mit dunkler Zauberkraft getränkten Räumen oder Gefäßen eingefangen hatte? Doch was sich daraus ergab wollte Buttrock jetzt nicht weiterspinnen. Er hoffte, dass sie genug Zeit hatten, sich auf alles vorzubereiten, was durch das offenkundige Erwachen des finsteren Pharaos ins rollen geraten war.

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Geheimer Versammlungsraum des ägyptischen Zaubereiministers, 14.08.2006, 22:30 Uhr Ortszeit

Nur die Brüder kannten den kleinen Besprechungsraum. Sonst sollte niemand wissen, wo sie sich trafen. Karim Al-Assuani ließ sich von Schatzhüter Feriz und Sicherheitsüberwacher Kaya berichten, was geschehen war und dass die Kobolde davon ausgingen, es mit jenem unheimlichen dunklen Pharao zu tun zu haben, der sich vor mehr als dreitausend Jahren eine in die Erde hineingegrabene Pyramide hatte bauen lassen. Deshalb hatten die Al-Assuani-Brüder auch sämtliche Unterlagen aus der Kammer der dunklen Geheimnisse hervorgeholt. Namik Abdel Al-Assuani, der ministerielle Hüter der Aufzeichnungen, las die in Hieroglyphenschrift in Tontafeln eingeritzten Texte, die auch Bestandteil der magischen Abteilung der versunkenen Bibliothek von Alexandria gewesen waren. Gerade las er die Warnung vor der Wiederkehr des finsteren Königs, dessen Namen die Schreiber nicht notiert hatten:

"Wehe jenem Träger des mächtigen Blutes, der es wagt und vermag, die finstere, den Göttern frevelnde Grabstätte unter dem Sande der großen Wüste zu betreten! Derjenige wird dankbares Opfer des durch eigene Untaten zum Verweil in der Welt verwünschten. Er wird sich nehmen den leib des Frevlers und eins mit diesem werden. Ist dieses vollbracht seid auf der Hut vor seiner blutigen Rache! Darum meidet besser jenen Ort, wo die vergrabene Grabstätte unter dem Sand der Zeit verborgen liegt."

"Meine Vorvorvorvorgänger bis hin zu mir selbst haben das klare Verbot, diesen Bereich zu betreten, immer und immer wieder bekräftigt. Jeder, der in unserem Land als zauberkundiger Mensch lebt und arbeitet hat mindestens einmal davon erfahren, da nicht hinzugehen. Die Sandfalken sollten jeden ergreifen oder töten, der es dennoch tut. also Kaya, jetzt mal unter uns Brüdern: Warum haben die Falken nicht gewacht?" wollte Karim wissen.

"Sie haben natürlich gewacht, großer Bruder. Doch der Ring der Warnsteine hat nicht gemeldet, dass mal wieder wer in den verbotenen Bereich hineinflog oder da einfach hineinappariert ist. Nachdem, was ich aus Wittrock herauskitzeln konnte muss dessen geheimer Zweigstellenkollege Chapknock und der nicht minder verdächtige Bund der zehntausend Augen und Ohren dem Burschen McBane einen koboldischen Unortbarkeitsklunker mitgegeben haben. Als es ein Zeichen an die Falken gab war es schon zu spät. Der hat die Bodenplatte der Pyramide ausgebuddelt und sich wohl Zutritt verschafft. Dann wissen wir wenigstens, dass an der alten Warnung was dran war."

"Ja, wissen wir", knurrte Karim. Dann wandte er sich an Feriz: "Mit wem müssen wir jetzt in Gringotts reden?" Feriz erwähnte es. "Es wird sie nicht freuen, dass eine ihrer Begrüßungskerzen verschwendet wurde. Sie sagt mir, dass wir versuchen müssen, diesen wiederverkörperten Dunkelkönig an einen abgesicherten Ort zu locken, um ihn dort entweder in unsere großartige Gemeinschaft der Rose einzugliedern oder ihn zu töten."

"Bis wann?" fragte Kaya. "Wird sie mir und wohl auch dir mitteilen. Feriz, du sorgst inzwischen dafür, dass alle Kunden von Gringotts ihre Vermögenswerte bis zum 20. August herausgeholt haben. Wer bis dahin nicht da war wird dann vor verschlossenen Türen stehen. Denn dann machen wir Gringotts Kairo wegen mehrfachen Vertrauensbruches und nachweisbarer Verstöße gegen unsere Handels- und Strafgesetze haftbar", sagte der Zaubereiminister.

"Und was ist, wenn die Kobolde nicht mitmachen?" fragte Feriz. "Wir erhalten aus Spanien jene frei schwebende Magnetstrahlvorrichtung, die in den Staaten schon gegen Kobolde eingesetzt wurde. Die Königin hat die Pläne von ihren damaligen Untertanen dort erbeuten, kopieren und zu ihren Händen schicken lassen. Wenn die Kobolde uns frech kommen werden wir sie damit züchtigen." Die versammelten Al-Assuani-Brüder machten zustimmende Gesten.

"Weiß die Königin auch, wohin wir diesen Dämon oder was er ist locken sollen? Ich meine, sie könnte ja beabsichtigen, ihn bei sich in Italien zu unterwerfen", wandte Namik Abdel ein.

"wir sollen das vorbereiten. Wir sollen prüfen, ob er sich überhaupt an einen bestimmten Ort locken lässt oder wir lernen, vorherzusagen, wo er sich zeigen wird. Nachdem er offenbar Gringotts ausgiebig heimgesucht hat könnte ihm einfallen, alle dort verborgenen Artefakte zu entwenden. Auch deshalb sollen alle dort gelagerten Wertgüter herausgeholt und bis auf weiteres in privaten Schatzkammern versteckt werden. Namik, bist du sicher, dass kein Kobold mitbekommen hat, dass du gleich nach deinem Amtsantritt das eiserne Buch der Weltsäulen aus dem Verlies Nummer 1101 geholt hast und wo du es hingebracht hast?" fragte Karim Al-Assuani. "Du meinst, einer von den Spitzohren könnte es verraten, wenn die es wüssten. Wissen die aber nicht, mein erstgeborener Bruder", erwiderte Namik Abdel zuversichtlich. "Ich habe das Buch damals in einer auch gegen Koboldmagie undurchsichtigen Truhe mit hundert Gold- und Silberbarren rausgeschafft. Als ein Kobold mich doch neugierig gefragt hat habe ich erwähnt, dass wir alte Aufzeichnungen aus anderen Ländern zurückkaufen, die eindeutig aus Ägypten stammen. Das hat der mir sicher geglaubt", sagte Namik. "Ja, ich weiß noch, dass du mich wegen eines halben Scheffels Gold und Silber angesprochen hast, o Weiser aller alten und neuen Schriften", knurrte Feriz. Darauf sagte Karim: "Das Gold und das Silber sind dann auch sicher für wichtige Dinge ausgegeben worden."

"Steht alles im damaligen Rechenschaftsbericht meiner Behörde für alte und Neue Aufzeichnungen, Kunstwerke und Kenntnisse, erhabener Zaubereiminister", erwiderte Namik Abdel. Er ließ immer wieder gerne heraushängen, dass er sich immer schon am meisten für das alte Wissen und die Erkenntnisse der vergangenen Jahrtausende begeistert hat. Das war auch nach der Einberufung in die Reihen der wunderschönen, grünäugigen Gebieterin über Leben und Tod nicht anders geworden.

"Vielleicht brauchen wir das Buch, um den zum Dibbuk in einem ausländischen Grabräuber gewordenen Pharao an einen bestimmten Ort zu locken", meinte Kaya Al-Assuani.

"Nur über meine Leiche", stieß Namik aus, und Feriz blickte seinen älteren Bruder verdrossen an. Karim sagte deshalb: "Brüder, am Ende gilt, was die Königin befiehlt. Sollte sie befehlen, das Buch als Köder zu benutzen, Bruder Namik, so wird dies geschehen, das weißt du. Sollten wir bis dahin was besseres finden oder das Übel auch ohne Ihre letzte Entscheidung aus der Welt tilgen, so darfst du das Buch gerne weiter hüten und zwischendurch darin lesen."

"So sei es, Bruder Karim", seufzte Namik.

Die nächsten Minuten berieten sie noch, wie genau sie die Räumung von Gringotts organisieren mussten, um den Kobolden nicht zu viel Spielraum zu lassen, die Verliese verschlossen zu halten. Dann verabschiedeten sie sich zur Nacht. Jeder reiste an den von Ladonna genehmigten Schlafplatz. Denn schließlich wollte die Königin nicht auch noch die treuen Untertanen am nil an die Veelafreunde verlieren.

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In einer Berghöhle im Bosnisch-serbischen Grenzgebiet, 14.08.2006, Nach Ende der Abenddämmerung

"Auch wenn das Prinzip der Dreierzellen bewährt und für die Einzelgruppen leicht zu handhaben war hatte sich Eisenzahn, der Patriarch der bosnischen Vampirbruderschaft, damit durchgesetzt, seine vier obersten Statthalter, die er Hochbrüder nannte, als seine ausführende Zelle zu bestimmen. Er war ein Zwischenmondwanderer, wie es nur wenige auf der Welt gab. Sein Blutzwillingsbruder war Mitternachtswall, der sich bei den Deutschen eingenistet hatte und deshalb zu einer ihrer Gruppen eingeteilt worden war. Doch gerade von ihm hatte er in den letzten Tagen nichts mehr gehört. Wollten die sich nicht in ihrer Beratungsstätte treffen?

"Brüder, ich habe seit mehreren Nächten einen Bericht meines Blutzwillings erwartet. Doch bis heute ist nichts angekommen. Der wollte uns erzählen, wie die Rotblütler jetzt, wo ihnen dieses verfemte Feuerrosenjoch wieder von den Schultern genommen wurde, auf uns zu sprechen sind, nachdem sie unter der Fuchtel dieser Dreiblütigen hundert deutschsprachige Mitbrüder von uns abgeschlachtet haben."

"Ja, und das wir bis heute von den Jagdtrupps des südslawischen Zaubereiministers gesucht werden", knurrte Felsenpranke, ein muskelbeladener Nachtsohn, der die Bruderschaft im Norden Südslawiens verwaltete. "Wolltest du Mitternachtswall nicht fragen lassen, ob wir nicht Unterstützung kriegen, um diese Eichenholzbolzenbanditen zu erledigen, die immer da ihre selbstschießenden Armbrüste hinsetzen, wo wir unsere Hauptbeute jagen?"

"ja, das sollte Mitternachtswall seinen Gruppenmitgliedern mitteilen. Angeblich ist da auch ein Zwischenmondler bei wie ich einer bin, Bruder Felsenpranke. Aber wenn der sich nicht bald meldet gilt der Fall Wintermondfinsternis. Dann müssen wir davon ausgehen, dass der auf die andere Seite gewechselt ist oder unter der Folter alles ausgespuckt hat, was der über mich und damit auch von euch weiß. Der könnte die ganze Bruderschaft hochgehen lassen."

"Mitternachtswall stirbt doch eher, dass er was ausplaudert. Selbst wenn sie den in die Donau hängen oder in der Sahara aussetzen, wenn die Sonne aufgeht würde der nichts verraten", sagte Felsenpranke.

"Bruder, du weißt zur Sommermittagssonne ganz genau, was die falsche Göttin drauf hat. Wenn die auch nur einen von uns erwischt kann die aus dem raussaugen, wen der kennt. Darum haben wir das ja mit den Zellen eingeführt."

"Und was gibt's neues unter dem Nachthimmel?" fragte Silberschwinge, der den Osten Südslawiens verwaltete, sofern dort noch freie Nachtkinder lebten.

"Was schon. Nichts neues unter dem Nachthimmel", knurrte Eisenzahnn. Da fühlten sie alle die fremde Anwesenheit. Etwas hatte sich ohne Laut und ohne Annäherung unmittelbar in ihrer Höhle eingefunden. Doch es strömte keinen Geruch von leben oder gar Blut aus. Dann sah Felsenpranke den Eindringling, einen fleisch- und blutlosen Fremdling aus geformter Dunkelheit mit blauen Augen. Das Etwas hielt einen dünnen Stab in der Hand, an dessen Ende eine tiefschwarze Flagge hing, das Unterhandlungszeichen der Nachtkinder.

"Verdammt! Ein Nachtschatten. Wie kommt dieses Geistergesocks hier rein?" fragte Felsenpranke. Eisenzahn winkte schnell ab und besah sich den fremden. Die Fahnenstange und die Flagge flirrten ein wenig. Die waren nicht echt. Deshalb konnte dieses Nachtgespenst völlig lautlos hier auftauchen. Es konnte zwischen zwei von Dunkelheit erfüllten Orten wunschreisen, sowie die Rotblütler mit ihren Zauberstäben das konnten, nur viel zu laut.

"Gruß dir, Eisenzahn, Haupt der südslawischen Bruderschaft des Blutes. Ich bin Träger des Wissens deines ehemaligen Bruders Mitternachtswall. Er gab sein Wissen in die Hand meiner Herrin, Mutter und Kaiserin. Diese betraute mich damit, euch ihre Botschaft zu verkünden. Wie ihr seht führe ich die Fahne der Verhandlung mit mir."

"Zumindest strengst du dich gut an, sie aus deiner eigenen blutlosen Masse herauszustrecken", meinte Eisenzahn. Dann erfasste er, was dieser Nachtschatten da gerade gesagt hatte. Mitternachtswall hatte sein Wissen in die Hand jener unheilvollen Überschattenmutter gegeben? Hieß das nicht, dass er tot war?

"Hat deine Kaiserin Mitternachtswall umgebracht, um sein Wissen zu erbeuten?" schnaubte Eisenzahn. Seine vier Mitbrüder blickten erbost auf den blutlosen Unterhändler. Dieser wiederholte seinen Spruch von eben und dass er Mitternachtswalls Wissen anvertraut bekommen hatte. Das hieß für Eisenzahn und seine Brüder genau das, dass Mitternachtswall umgebracht und dabei seines Wissens beraubt worden war. Dass Nachtschatten sich beim Aussaugen von Lebenskraft auch das Wissen ihrer Opfer einverleiben konnten wussten sie alle hier. Sie waren ja nicht erst seit letzter Nacht auf der Welt.

"Wir verhandeln nicht mit einer Mörderin. Sage deiner selbsternannten Kaiserin, wir werden sie vernichten, auslöschen, in die unendliche Dunkelheit der längsten aller Nächte verstreuen wie Sand über der Wüste", sagte Eisenzahn. "Ihr habt doch noch gar nicht gehört, was meine rechtmäßige Kaiserin euch allen bietet", sagte der Schatten mit der schattenhaften Unterhändlerflagge. "Ist uns völlig gleich. Die will uns umbringen, wenn wir nicht drauf eingehen. Wir wollen sie umbringen oder besser aus der Welt tilgen, weil die ja schon tot ist." Eisenzahns Brüder lachten. "Was soll da noch irgendein aberwitziges Ultimatum?" legte er noch nach.

"Weil meine Kaiserin womöglich Gnade üben würde, wenn ihr alle euch von den Menschen fernhaltet und euch für die nächsten zweihundert Jahre in Überdauerungsschlaf versenkt. Bis dahin hat sie die euch ebenso gerne fressende falsche Göttin sicher erledigt und kann sich vielleicht vorstellen, mit den weniger ungebärdigen von euch einen gegenseitigen Nichtangriffspakt zu schließen. Ist das nicht viel besser als der Tod?"

"Was bist du denn für ein Nachthauch?" fragte Felsenpranke. "Unsere Freiheit ist unser Leben. Freies Blut und ungebundener Geist, Herrschaft in der Nacht über alles was Leben und Blut hat. Ihr gehört da nicht zu und gehört deshalb aus der Welt geknipst!" sagte er und schnippte bezeichnend mit den Fingern der rechten Hand.

"Nachthauch hast du mich genannt, Felsenpranke, Mückenhirn im Tanzbärenkörper? Diese Beleidigung muss ich nicht hinnehmen, da ich als Unterhändler unantastbar für Angriffe mit Worten, Waffen oder Zaubern bin. Außerdem weiß ich von Mitternachtswall, dass deine leiblichen Blutsbrüder lieber in den Überdauerungsschlaf gingen, als sich von den Heerscharen der Tatjana Illica pfählen zu lassen, in Memoriam Vlad Tepes, dem Verräter."

"Hast du mich gerade ein Mückenhirn im Tanzbärenkörper genannt? Tanzbär??!!" brüllte Felsenpranke. Offenbar hatte dieser Nachtschatten genau die Stelle in seiner Seele getroffen, die am meisten schmerzte, wusste Eisenzahn. Denn Felsenpranke hatte wahrlich ein Jahrhundert lang als blutgebundener Handlanger eines dunklen Magiers arbeiten und ja auch die abgedrehtesten Kunststücke aufführen müssen, bis Gellert Grindelwald seinen Peiniger im Duell besiegt hatte. "Komm, willst du mir Blut aussaugen, mir die Knochen brechen oder was auch immer, Tanzbär-chen?" fragte der Nachtschatten nun ganz und gar kein Unterhändler mehr. Felsenpranke sprang auf. Doch Eisenzahn hielt ihn zurück. "Du willst mit einem fflüchtigen Nachtgespenst kämpfen, dass dir durch bloße Berührung die Lebenskraft aus dem Leib saugen kann, Felsenpranke. Bei der Mittwintermitternacht, lass dich doch nicht von ihm dort so leicht ärgern!"

"Gib mir was, mit dem ich solche schwarzen Schmutzflecken von der Wand wegputzen kann", knurrte Felsenpranke wild bebend. Doch nicht nur Eisenzahn hielt ihn sicher fest, während der Nachtschatten die bis dahin getragene Flagge einfach in sich hineingleiten ließ und vor dem provozierten Vampir hin- und hertänzelte. Dann prallte eine weitere, viel stärkere Präsenz auf die übernatürlichen Sinne der Blutsauger wie eine Riesenwoge auf eine Felswand. Dann sahen sie alle die vom Boden bis zur Decke reichende Erscheinung.

"Ich habe gehofft, mein Unterhändler könnte sich besser beherrschen. Dasselbe hoffte ich von euch. Aber euch fehlt es an Achtung dem Unterhändler gegenüber", donnerte die Stimme einer erbosten, riesenhaften Frau. Dann sprach sie weiter: "Ich, die Herrin der einzig wahren Nachtkinder, wollte euch anbieten, euch aus den kommenden Zusammenstößen mit der falschen Göttin herauszuhalten. Ich wollte euren Willen nach Freiheit achten, zumindest anerkennen, dass ihr im Moment nicht mit mir und meinen Kindern und Getreuen streiten wollt. Aber womöglich braucht ihr alle eine wichtige Lehre, um zu wissen, wo euer Platz in der Welt ist."

"Du nennst dich eine Kaiserin, Ungeheuer. Doch Kaiserinnen haben üblicherweise Namen", sagte Eisenzahn. "Ja, den habe ich. Aber nur wer mir Untertan ist darf ihn kennen", erwiderte die Kaiserin der Nachtschatten. "Aber vielleicht bist du es ja gleich, Eisenzahn." Sie sah den Sprecher der fünf hier versammelten Vampire an. Ihre suppenschüsselgroßen Augen glommen in einem violetten Farbton. Die fünf meinten, von grlühenden Pfeilen getroffen zu werden. Sie fühlten, wie etwas sich von innerhalb ihrer Köpfe um ihre Gehirne wand und auch wie ihr Blut immer schwerfälliger durch ihre Adern rann. Eisenzahn erinnerte sich an alte Schreckensgeschichten, dass es eine Macht gab, die Vampire auch ohne den Raub oder den freiwilligen Austausch von Blut unterwerfen konnte, nicht der Imperius-Fluch oder ein anderer Zauberstabzauber. Es war eine Kraft, welche die den Nachtkindern Leben und Schutz bietende Dunkelheit selbst als Träger nutzte. Konnte dieses Ungetüm da... er schrie auf, weil seine sie ablehnenden Gedanken wie kleine Feuerbälle in seinem Kopf zerbarsten und ihm Schmerzen bereiteten. Ja, sie konnte ihn und die anderen mit ihrem Blick zwingen, mit ihren zur Sommermittagssonne violetten Augen. "Nun seid mir alle Untertan, Träger des nächtigen Blutes!" hörte Eisenzahn die Stimme der anderen in sich nachhallen. Sie verwendete die Ursprache der Altvorderen, die nur die höchsten Würdenträger der Nachtkinder erlernten. Diese Sprache barg zugleich eine starke eigene Zauberkraft in sich. Doch er wollte sich nicht unterwerfen. Er wollte frei sein. Er war ein freier Sohn der Nacht. Er wehrte sich. Doch diese Gegenwehr führte erst recht dazu, dass sein Kopf wie von hunderten kleiner Feuerstöße aufgeheizt wurde. Sein Blut wurde immer träger. Wenn es erstarrte war er eingekeilt zwischen Leben und Tod. Angst und Wut trieben ihn und die seinen noch einmal zu äußerstem Widerstand. Sie sprangen vor, wider besseres Wissen und griffen die Peinigerin mit bloßen Händen an. Doch ihre Erscheinung war so kalt wie die Leere zwischen den Sternen. Wo ihre Hände auf sie prallten durchfuhr sie die alle Wärme raubende dunkle Zauberkraft, aus der das Ungeheuer bestand. Es dauerte nur drei Schläge, da erstarrten die fünf südslawischen Vampirbrüder zu nichts als eis. Sie fielen zu boden und zerschellten auf dem nackten Fels.

Birgute ließ es geschehen, dass die Seelen der getöteten Blutsauger entfleuchten und in die ihnen vorbestimmte Nachwelt überwechselten. Sie selbst durfte nur geschlechtsgleiche Seelen in sich einverleiben, sofern sie sie nicht in ihre künstliche Gebärmutter einsog, um sie dort zu eigenen neuen Kindern auszureifen.

Sie betrachtete das von ihr angerichtete Gemetzel. Die Körper der vereisten Vampire waren wie alte Teller zersprungen. Wenn sie wieder auftauten würden sie höchst unansehnliche Überreste bilden. Doch sie hatten sich ihrem Blick der wahren Macht der Nacht widersetzt. Sie hatte sie nicht halten und nicht unterwerfen können, obwohl sie spürte, dass sie auf dem richtigen Weg gewesen war. Riutillias Wissen hatte ihr die richtigen Worte und auch einen Gutteil der nötigen Kraft verschafft. Doch sie hatten nicht ausgereicht. Dieser Versuch war nicht wunschgemäß ausgegangen. Doch wie alle Experimente durfte er auch nicht als reiner Fehlschlag abgetan werden, sondern als Gewinn wertvoller Erkenntnisse anerkannt werden. Sie wusste jetzt, dass sie trotz Riutillias einverleibter Kraft und Kenntnisse noch nicht stark genug war, die Vampire unter ihre Herrschaft zu zwingen. Thurainilla konnte das, wusste sie. Doch die hatte sich ihr bisher entzogen, schickte wohl lieber ihren halbumgeformten Lakeien vor. So konnte es nicht bleiben, dachte die Kaiserin der Nachtschatten. Sie winkte ihrem Begleiter Lergu Hatoh zu, der vor einem Jahr noch Hugo Thaler geheißen hatte und gerade mal neunzehn Jahre alt auf eine Entdeckungsreise durch das wilde Afrika gezogen war, wo sie ihn gefunden und wegen seiner Kenntnisse des Finanzmarktes zu ihrem nächsten Sohn erwählt und in die Nacht zurückgeboren hatte.

"Komm, Bürschchen, deine Nettigkeiten haben hier mehr Dreck als Freude hinterlassen", sagte sie. Dann verschwand sie ganz geräuschlos. Denn sie hatte beschlossen, bei wirklich wichtigen Kämpfen ihr wichtigstes Ankerartefakt in der sicheren Höhle des ehemaligen Schattenträumers zu belassen.

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Auf dem Hof Valle des Vaches, 16.08.2006

Callie und Pennie Latierre hatten ihre Verwandten wieder zu ihrem Zwillingsgeburtstag eingeladen, auch wenn ihre Mutter selbst in Japan weilte. Da ja auch die Montferre-Zwillinge an diesem Tag Geburtstag feierten kamen sämtliche nähere und ferneren Verwandten der vier Geburtstagskinder an diesem Tag auf dem weitläufigen Bauernhof Barbara Und Jean Latierres zusammen.

Für Julius und Millie bot sich dadurch auch die Möglichkeit, Temmie leibhaftig zu besuchen und sich nach ihren bisher geborenen Nachkommen Orion und Clarabella zu erkundigen. "Irgendwas schwingt im Gefüge von Licht und Schatten", teilte Temmie ihnen mit, als sie ihr das für Latierre-Rinder angefertigte Cogison umgehängt hatten. "Offenbar trachten jene, die sich für mächtige Geister halten danach, noch mächtiger zu werden", fügte Temmie noch hinzu. Julius fragte, ob es mit den Dienern der angeblichen Vampirgöttin oder mit den Nachtschatten zu tun hatte. "Das kann ich nicht genau erkennen, Julius. Ich fühle nur, dass das gesamte Gefüge leicht aufgewühlt wird."

"Würdest du es genauer mitbekommen, wenn es von den Abgrundstöchtern ausgeht?" fragte Julius. Temmie wiegte ihren gewaltigen Kopf mit den mehr als einen halben Meter langen Hörnern und erwiderte über das Cogison: "Deren Verbindungen und die der Kinder Ashtarias sind miteinander verquickt. Du würdest es wohl auch miterleben, wenn diese wieder etwas anregen wollen."

"Na ja, immerhin weiß ich nicht, ob Hallitti mittlerweile wiedergeboren wurde. Nur vom Termin her müsste sie wieder auf der Welt sein", sagte Julius. Millie meinte dazu noch: "Es kann uns auch ganz recht sein, wenn diese vaterlosen Weiber und ihre als Riesenameisenkönigin wiedergeborene Mutter sich weiter zurückhalten." dem stimmten Temmie und Julius zu.

Nachdem sie noch ein paar nicht ganz so bedrückende Einzelheiten ausgetauscht hatten nahm Millie Temmie wieder das Cogison ab. Da hörten sie und Julius Temmies Gedankenstimme wie ein sanft angestrichenes Cello in ihrem Geist sprechen: "Es ist sehr mitfühlend, dass ihr eurer Friedensretterin Béatrice weiterhin Zugang zu den Freuden der leiblichen Liebe gewährt, Mildrid und Julius. Bedenket dabei immer, dass ihr drei dadurch auch auf Lebenszeit füreinander einzustehen und miteinander alles von den Mächten der Zeit zu euch gebrachte annehmen und bewältigen müsst. Ja, und du Millie solltest bedenken, dass auch Béatrice ein Anrecht darauf erworben hat, von Julius eine Tochter zu bekommen, genauso wie du darauf gehofft hast, mindestens einen Sohn von ihm auf die Welt bringen zu dürfen. Sei ihr also nicht böse, falls sie dein Vorrecht auf seine Kinder doch irgendwann umgehen sollte. Gewähre es ihr irgendwann, wenn du es spürst, dass dies ihr fehlen mag. Du und Julius und somit alle eure Kinder verdankt ihr euren Frieden und Ashtarias großzügige Gabe, die euch und euer Haus beschützt."

"Das wird mir nicht leichtfallen", sagte Millie für Julius unerwartet gefasst. Früher, da war er sicher, hätte sie irgendwas trotziges erwidert. Doch er spürte weder Verärgerung noch Auflehnung über die Herzanhängerverbindung. Darauf gedankensprach Temmie: "du bist verwundert, dass deine Angetraute so ruhig mit derlei tiefgreifenden Angelegenheiten umgeht? Bedenke dass sie wie du wesentlich mehr erlebte Zeit vorzuweisen hat als eure Körper selbst erlebt haben! Immerhin wart ihr beide bei mächtigen Altmeisterinnen in der langjährigen Ausbildung. Auch jener, den meine sonst so auf ihre Unberührtheit stolze Mutterschwestertochter Ianshira im Akt des Neuanfanges neu empfangen und als ihren Sohn großgezogen hat erlebte somit mehr Jahre im Geiste als sein Körper selbst alterte. Viele Sommer und Winter lassen große Bäume wachsen und reifen, außen wie innen."

"Du meinst, weil ich es kapiere, dass Béatrice nachdem Julius mit ihr Félix gezeugt hat auch ein gewisses Anrecht auf körperliche Liebe mit ihm hat?" gedankenfragte Millie ein wenig ungehalten. Doch dann entspannte sie sich. Offenbar erkannte sie in dem Moment, dass Temmie recht hatte. Immerhin konnte die mit Darxandrias Seele verstärkte Latierre-Kuh nach der Zeremonie mit dem Pokal der Freundschaft in ihren und Julius Geist hineinsehen wie ein Großmeister der Legilimentik, dem eine Stunde Zeit gewährt wurde. So nahmen sie und Julius Temmies Begründung als Erkenntnis zur Kenntnis. Es stimmte ja. Millie hatte sieben Jahre in Kailishaias Ausbildung mehr erlebt obwohl sie nur wenige Wochen fort war. Julius hatte als Madrashainorian ebenso mehr als fünfzehn Jahre und die Gründung einer Familie erlebt, als er auch nur wenige Wochen fort war.

Am Abend überbrachte ein Kurier Geburtstagspakete für die zwei superstarken Schwestern Callie und Pennie. Sie kamen aus Japan, wo ihre Mutter mit den Zaubertierexperten konferierte. Als die Zwillinge die Pakete auspackten fanden sie goldene Scheiben, dreimal so groß wie eine Galleone, die an seidigweichen Ketten befestigt waren. In Begleitschreiben wurde erklärt, dass es Sonnenfriedensamulette waren, die durch kleine Blutopfer von Mutter und Tochter oder Vater und Sohn ähnlich wirksam vor dunklen, die Sonne fürchtenden Wesen schützten wie entsprechende Zauber wie der Sonnensegen oder der Patronus, eben nur dauerhaft, solange das betreffende Amulett jeden Tag am Körper getragen wurde und immer in der Mittagsstunde frei sichtbar war, um die Sonnenstrahlen aufzunehmen.

Millie mentiloquierte Julius, dass sie wahrhaftig starke Feuerzauber von den Amuletten spürte, die in direkter Verbindung mit der Sonne standen. Als Callie und Pennie gemäß der Anleitung ein wenig eigenes Blut in die dafür vorgesehenen Gravuren träufelten verdunkelten sich die Amulette einen Moment. Dann erbebten sie kurz. Danach glänzten sie wieder wie bisher. "Jetzt strahlen die Dinger eine ziemlich heftige Aura schlafenden Zauberfeuers aus, Monju. Könnte so ähnlich sein wie bei den Sonnenkindern."

"Also wenn die jetzt so wirken, wie eure Mutter es erzählt seid ihr zwei jetzt vor allen Blutsaugern und niederen Nachtschatten geschützt", meinte Julius zu Pennie. Diese nickte. "Falls man Maman keinen Touristenschrott angedreht hat." Millie wollte dazu nichts laut sagen. Dass sie die Feuerzauber des alten Reiches erlernt hatte sollte außerhalb des stillen Dienstes niemand wissen.

Spät abends kehrten alle Gäste wieder in ihre eigenen vier Wände zurück. Julius dachte dabei daran, dass in vier Tagen das Kindergartenjahr losging und eine Woche später das neue Schuljahr anfing. Aurore war schon entsprechend aufgeregt. Dann würde sie zu den großen Kindern gehören, nicht mehr zu den Wickelhexen und Wuselwichteln.

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In den geheimen Niederlassungen der Liga freier Nachtkinder, 15. bis 20.08.2006

Die Vernichtung der Kernzelle der südslawischen Bruderschaft des Blutes, wie auch die Enthüllung der Niederrheingruppe der Liga freier Nachtkinder, warf hohe Wellen innerhalb des heimlichen Bündnisses gegen die selbsternannte große Mutter der Nachtkinder. Der Umstand, dass die Schattenkönigin, die durch einen dummen Umstand ein mehrfaches an Macht wie andere Schattengeister hatte, herausbekommen konnte, wo sich die Gruppen der freien Nachtkinder trafen und das von ihr gestellte Ultimatum verstimmten und verängstigten die auf ihre eigene Freiheit pochenden Nachtkinder. Es lag in der Natur der Heimlichkeit, dass die Berichte über die Vorkommnisse bei Xanten und in der Höhle der südslawischen Bruderschaft nicht in einer Nacht um die Welt gereicht werden konnten. So dauerte es bis zum 20. August, bis es wirklich alle Gruppen wussten, was die Schattenkönigin verlangte. Es deutete sich jedoch schon bei der Weitergabe des Ultimatums an, dass eine überwiegende Mehrheit aller Mitglieder es ablehnen würden, sich für zweihundert Jahre in Überdauerungsschlaf zu versenken und dann mit einer noch unüberschaubareren Lage konfrontiert zu sein. Jene, die bereits Erfahrungen im jahrzehntelangen Überdauern hatten rieten davon ab, weil es ein unübersehbares Wagnis war, ganze Generationen zu verschlafen und den Verlauf der Geschichte der rotblütigen Menschen mit und ohne Magie nicht mitzuverfolgen. Außerdem wollten die Südslawen blutige Rache für den Tod ihrer Führer, auc wenn die Feindin und ihre Untergebenen keinen Tropfen Blut in sich hatten. Selbst wenn sie keine dem Sonnenlicht entspringenden Waffen benutzen konnten blieb ihnen immer noch die Möglichkeit, auf Geisterwesen wirkende Waffen zu beschaffen und einzusetzen. Ein Mitbruder aus den Vereinigten Staaten hatte sogar über seine Kontakte in die anderen Zellen rumgehen lassen, man könne ja wie bei der Sprengung der Sonnenschutzhautfabriken die Pelzwechsler einspannen, um sich die Schattenbrut vom Leib zu halten, ja möglicherweise auch die verheerenden Waffen der Magielosen benutzen, um die Schattenkönigin zu vernichten, weil diese Waffen ein Feuer tausendmal heißer als Drachenfeuer entfesseln konnten. Über diesen Vorschlag sollten die Gruppen in den kommenden Wochen abstimmen. Wenn bis zur Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche eine Mehrheit von über 750 von 1000 befragten dafür war sollte der Unterschlupf der Schattenkönigin ermittelt und am Halloweentag ungeachtet zu Schaden kommender Menschen und Tiere eine solche Kernfeuerbombe dort zum Einsatz kommen, selbst wenn der Stützpunkt sich mitten in einer Millionenstadt unter einem harmlosen Unterhaltungs- oder Speiselokal der magielosen Rotblütler befinden sollte.

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Gringotts in Kairo, 20.08.2006, 10:10 Uhr Ortszeit

Der stellvertretende Zweigstellenleiter von Gringotts in Kairo hätte fast wieder aufgestampft vor Wut. Doch beim letzten mal war er glatt zwei Meter in die Tiefe gesackt und schmerzvoll gegen einen der schmiedeeisernen Blöcke geprallt, die so im Boden verteilt waren, dass kein Kobold auf dem schnellsten Weg in die Gänge und Kundenabfertigungsräume vordringen konnte.

"Wie viele sind es schon?" fragte er die Schalterbediensteten über die silberne Schallverpflanzungsader aus seinem Büro. "Öhm, im Moment sind wir bei dreihundert durch Schlüssel bestätigte rechtmäßige Kunden, wie gestern auch schon, Meister Richback. Wird der Zentrale in London überhaupt nicht gefallen und Meister Gischtbart erst."

"Zerbrechen Sie sich bloß nicht meinen oder Meister Gischtbarts Kopf, sie junger Hüpfer", knurrte Richback in die siebartige Hör-Sprech-Vorrichtung an der Wand des Zweigstellenleiterbüros. Er dachte daran, dass es jeden Tag an die dreitausend Hexen und Zauberer gewesen waren, die mit großen Truhen, Rucksäcken und sogar Handkarren nach Gringotts gekommen waren, um ihre Verliese leerzuräumen, ganz so, wie es das Zaubereiministerium in einem Rundbrief und einem Zeitungsartikel in der Tagessphinx gefordert hatte. Spätestens um acht Uhr abends am zwanzigsten August sollte der letzte Kunde Gringotts verlassen haben. Dann sollten die Kobolde die Tore schließen oder zusehen, wie die Tore versiegelt wurden. Als Richback es gewagt hatte, gegen dieses "zu tiefst verletzende Misstrauen" zu klagen hatten diese Zauberstabträger doch wahrhaftig eines jener vielarmigen Geräte über dem Gebäude erscheinen lassen, das schon im Ruhezustand die Eisenweisekraft der Erde störte. Richback wusste aus den Berichten aus London zu gut, was das für ein Ding war und was es anrichten konnte. Der große graue Eisentroll mochte dieses abartige Kreiselding erfunden haben. Jedenfalls kam er nicht darum herum, die Kundinnen und Kunden, die ihre Verliese leerräumen wollten, gewähren zu lassen.

"Wir brauchen noch mehr Verliesbegleiter, zum stinkenden großen Zeh des Zwergenvaters!" klang eine sehr ungehaltene Stimme aus dem Schallverpflanzungsgerät, offenbar als Rundruf.

"Hallo, ich bitte mir gehöriges Sprechen aus, Schaltermann Deskfoot!" rief Richback in das silberne Sieb hinein, nachdem er die Finger der rechten Hand so darauf platziert hatte, dass er nur in den Ohren der Schalterleute zu hören war.

"Die werden wiederkommen und uns ihr Zeugs förmlich aufdrängen", knurrte Richback. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch von hier zu verschwinden haben würden wie in den amerikanischen Staaten, allen Mittelmeerländern außer Frankreich und Osteuropa. Sollten sie wirklich alle auf die britischen Inseln zurückgedrängt werden, alle Errungenschaften der letzten vierhundert Jahre verlieren? Das würde viel Unmut unter den Kobolden geben und die alte Feindschaft zu den Zwergen verstärken, die schon darauf lauerten, sich die Goldwertbestimmungsrechte zu sichern.

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Über der Grabstätte des ungenannten Herrschers, 20.08.2006, um die Mittagszeit

Er hatte es sich gut überlegt und die nötigen Anrufungen geübt. Dabei war wichtig, diese nicht unter freiem Himmel und schon gar nicht bei hellstem Sonnenlicht auszusprechen. Denn mit dem goldenen Schild des Horus durfte er Sonnenbeschwörungen nur machen, wenn er es auch wollte. Jetzt wollte er es.

Er hatte erst herumprobieren müssen, wie die selbsttätige Unsichtbarkeit des Flugteppichs willentlich unterbrochen werden konnte. Denn nur sichtbar konnte er mit dem Schild und der Sonne als Quelle seiner Anrufung arbeiten.

Den goldenen Schild genau in die Mittagssonne haltend besang er das alles sehende Auge des Osiris und den über alle Welt wachenden Gott Horus, dass sie ihm zeigen mögen, wo die letzte große Macht der Sonnenanrufung gewirkt worden war. Er wusste, dass es schon Jahre her war. Doch wie die Sonne und der Mond ewig waren vergaßen diese Gestirne auch nichts, was in ihrem Namen und mit ihrer Macht bewirkt wurde. Er fürchtete nur, dass der Unlichtkristall diese Anrufung überlagern und damit unwirksam machen würde. Doch er hatte den Ring nicht mehr vom Finger ziehen können. Die darin eingewirkte Kraft hatte den Ring an seinem Finger förmlich anwachsen lassen. Da er sich den Finger nicht abschneiden wollte fand er sich damit ab, bis zum Tode dieses Körpers mit Ixandeshs Unlichtkristall verbunden zu bleiben.

Wieder und wieder beschwor er auch Ra, den Sonnengott selbst, da er zurecht davon ausging, dass ihm Osiris wegen seiner Anbetung Seths nicht hold sein würde. Doch wie ein ungeliebtes Kind beachtet wird, sobald es laut ruft hatte auch Osiris hören müssen, was er vorhatte.

Der Schild spiegelte das Sonnenlicht. Dann entstand eine Art halber Torbogen aus purem Gold, der vom Schild bis zur Sonne reichte. Der Schild erbebte und begann auf einem mittelhohen Ton zu summen, erst ein- und dann dreistimmig. Da fühlte der Ungenannte Herrscher, der den Schild mit der Zauberstabhand hochhielt, wie sich der uralte Ritualgegenstand sacht drehte, bis er eine bestimmte Stellung einnahm. Im gleichen Maße wanderte der goldene Lichtbogen und schien eine Art Weg zu bilden, dem der Sonnenbeschwörer folgen sollte. Dieser rief noch mehrmals die alte Sonnengottheit an. Der Schild erbebte noch stärker. Dann stieß aus der gleißenden Sonnenscheibe ein zweiter goldener Lichtpfad wie ein ganz langsam niederfahrender Blitz zur Erde nieder und berührte sie. Dort war der Punkt, wo die letzte große Sonnenzauberei ausgeführt worden war. Der ungenannte Herrscher staunte. Er hatte geargwöhnt, mehrere Stunden lang rufen und bitten zu müssen. Laut Rore McBanes Weltzeit-Armbanduhr hatte es nur eine Viertelstunde gedauert.

Der wiederverkörperte finstere Pharao befahl dem Teppich, zu steigen. Er folgte nun dem gleißenden Pfad erst nach oben und hielt den Schild dabei so, dass die Verbindung fortbestand. Durch die von McBane "geerbte" Gleitlichtbrille aus dem Rucksack war er vor der Blendwirkung der Sonne selbst sicher. So konnte er immer wieder in die leuchtende Scheibe hinaufblicken, aus der jener Gegenpfad entsprang, dem er nur zu folgen hatte, um dort anzukommen, wo die Schlafstätte jener Unseligen gewesen sein musste.

Als er dem zweiten Lichtpfad wieder hinunterfolgte fühlte er es fast körperlich, dass hier mal starke Sonnenzauber gewirkt worden waren. Doch er fühlte auch die im Sand vergrabenen Spuren dunkler Zauberkraft im linken Ringfinger. Ja, hier war er genau richtig.

als er wieder auf festem Boden war begann er mit der eigentlichen Anrufung. Er stimmte sich auf die Schwingungen der Sonnenkraft ein und stellte sich dabei jene dunkelhäutige Frauenperson vor, die ihm damals den Körper genommen hatte. "Die Abrechnung ist nahe, vaterlose Metze", dachte der Ungenannte Herrscher. Dann besann er sich. Hass und Vergeltungswunsch mussten einstweilen schweigen. Er musste sich voll und ganz auf das Ziel der Anrufung besinnen. Entweder kam das Unweib zu ihm, weil es seinen Zauber fühlte, oder er fand sie und konnte zu ihr hin.

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Zur selben Zeit in Thurainillas Versteck

"Geliebte Mutter, werte Schwestern. jemand macht irgendwas, das mich zu ihm hinruft, eine Beschwörung oder eine ähnliche Frechheit", gedankenschnaubte Tarlahilia. Thurainilla, die eigentlich den Tag verschlafen wollte, um zu ihrer Zeit wieder ganz munter zu sein, horchte auf. Hatte nicht auch Ullituhilia mal erzählt, dass jemand sie wie einen niederen Dienstgeist zu sich hinbeschworen hatte? Allerdings hatte sie das denen sehr, sehr nachhaltig vergolten.

"Wer kann es wagen, dich zu sich hinzurufen, Tarlahilia?" fragte die gerade für weitere zwei Monate als Menschenfrau lebende Lahilliota.

"Weiß ich nicht. Aber der oder die kriegen gleich Antwort. Ich weiß jetzt wo das herkommt. Oha, bei der im Boden vergrabenen Stufengrabstatt, wo der Geist des finsteren Königs eingesperrt ist? Hoffentlich hat keiner es gewagt, sich von dem in Besitz nehmen zu lassen. Ich schicke meinen Diener hin."

"Wer immer das ist, Sonnenschein, guten Appetit!" wünschte Ullituhilia.

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In der Wüste bei der vergrabenen Pyramide

Es war nicht sie selbst. Aber jemand, der oder die mit ihr zu tun hatte, womöglich einer ihrer vielen Abhängigen. Der mochte nur eine halbe Flugstunde entfernt sein, dachte der ungenannte Herrscher. Falls er seine Rufe vernahm war der gewarnt. Doch jetzt wollte und musste er es wagen. Ja, er konnte doch von hier aus den zeitlosen Weg gehen. Er war dazu berechtigt. Also rollte er den Teppich zusammen, als er sich den Weg genau eingeprägt hatte. Er hielt den Schild mit der linken Hand vor sich. Mit der rechten hob er McBanes Zauberstab und warf sich in die Drehung hinein in das dunkle Zwischenreich ohne Raum und Zeit, aus dem heraus er an einem weit entfernten Ort erscheinen konnte.

Als er erfolgreich in die Welt zurückgekehrt war hob er den Schild und wiederholte die letzte Anrufung. Der Schild glühte auf und erbebte. Er drehte ihn und lauschte. Endlich stimmte der Schild das dreistimmige Summen an, diesmal wesentlich lauter als vorher. Die Quelle jener, die damals viele Sonnenzauber gewirkt hatte, war in der Nähe.

Plötzlich summte der Schild viermal so laut und erstrahlte noch heller als vorher. Gleichzeitig fühlte der Ungenannte, wie sein Ring erbebte. Er sah auf ihn zujagende Sandwolken hochschleudern. Dann sah er ein geisterhaft durchsichtiges, sonnengelb schimmerndes Etwas, das wie ein menschenförmiger Blitz auf ihn zujagte. Aus hundertfach geübten Abwehrhandlungen heraus riss der Ungenannte den Schild des Horus vor seine Brust. Was immer da kam prallte mit solcher Urgewalt darauf, dass der Wiederverkörperte nach hinten fortgeschleudert wurde. Gut, dass er McBanes Zauberstab fortgesteckt hatte. Er landete auf dem Rücken und hörte eine höchst verärgerte, leicht schmerzvoll klingende Stimme. Offenbar hatte er den Angreifer ebenso zurückgeworfen wie der ihn niedergeworfen hatte. Dann sah er wieder jenes gelbe Gespenst, das flimmernd auf ihn zujagte. Er riss den Schild vor sich und rief "Ra!" Der Name des Sonnengottes setzte die gesamte Abwehrkraft des Schildes frei. Sonnenfeinde konnten davon verbrannt werden. Sonnendiener wurden zumindest zurückgedrängt. In dem Fall prallte der Angreifer von einer sonnengelben Mauer zurück und überschlug sich einmal. Jetzt wurde der scheinbare Sonnengeist zu einem hellhäutigen Mann in sandfarbener Kleidung. Dieser sprang auf und lief wieder auf seinen Gegner zu. Dieser hielt ihm den immer noch mit ganzer Kraft wirkenden Schild entgegen. Das wirkte wie eine unsichtbare Sanddüne auf den Gegner. Er wurde langsamer und kam nur noch bis auf zwei Armeslängen heran. "Und ich krieg dich doch", knurrte der Gegner auf Englisch, McBanes Muttersprache.

"Erst wenn die Sonne gefriert und in die Unendlichkeit der Sterne davontreibt", erwiderte der Sohn der gefangenen Sonne.

"Eher friert die Hölle zu", schnaubte der Andere. Die Hölle, wie lustig, fand der Ungenannte. Der Bursche da verwendete Sonnenzauber aus uralter Zeit und glaubte an das Märchen von der Feuerwelt, wo angeblich alle Seelen hingerieten, die sich gegen die Gebote einer der Eingottanbetereien hielten.

Der Gegner belauerte den finsteren Pharao. Dieser ließ ihn nicht mehr aus den Augen. "Na komm, renn mich noch mal um, Feigling!" rief er dem anderen zu. Dieser versuchte es wirklich. Doch der Schild strahlte ihm entgegen und bremste ihn erneut. "Wer ist hier der Feigling?" schnaubte der Unbekannte. "Ich kämpfe ohne Waffen gegen dich. Also wirf diese Pseudosonne da weg und versuch mich ohne das Ding abzuwehren."

"Na klar, du kämpfst ohne Waffen", lachte der finstere Pharao. "Du wurdest von einer Frau, die nicht sein darf mit ihrer Sonnenzauberei gemästet und meinst, ich bekäme das nicht mit, wie?"

"Dann eben so!" rief der Andere, bückte sich blitzschnell und warf dem Ungenannten zwei Handvoll Sand entgegen. Laut prasselnd zerstob dieser auf dem Schild. Der andere nutzte die Abwehr aus, um in die gleißende Sonne zu blicken. Offenbar lud er sich an ihr mit neuer Kraft auf. Denn der Schild summte lauter aber in unregelmäßigen Tonschwankungen. "Ah, willst du mich jetzt mit dem Sonnenfeuerblick rösten?" fragte der Ungenannte und hoffte, dass Schild und Ring das verhindern mochten. "Gute Idee, du schottischer Dummschwätzer", klang die Stimme des anderen. Er blickte den Wiederverkörperten an. Plötzlich sirrte der Schild so laut, dass es in den Ohren des Körperdiebes klirrte. Gleichzeitig sah er nur noch eine weiße, flirrende Lichtwand vor sich. Er spürte zwei unterschiedliche Kräfte, eine heiße, die von seinem Schild in ihn einschoss und eine eiskalte, die von seiner linken Hand durch seinen Arm in den Körper raste und sich dort zu allen Körperstellen ausdehnte. Der Ungenannte Herrscher bangte ernsthaft, dass der andere länger durchhielt als Schild und Kristallring.

Die weiße Wand bestand mehr als fünf Herzschläge. Dann zerfiel sie in zwei lodernde Lichtspiralen, die zu glosenden Lichtbündeln schrumpften. Jetzt konnte der Wiederverkörperte seinen Feind wieder sehen. Dessen Augen glühten wie zwei kleine Sonnen. Der Fremde wirkte jetzt nicht mehr so gewandt und schnell wie eben. Doch der Wiederverkörperte ahnte, dass der andere nur wieder in die Sonne blicken musste, um neue Kraft zu schöpfen. Diesen Moment nutzte er aus, um seinen Zauberstab zu ziehen. Er rief den Schleier der Mitternacht, einen altägyptischen Blendzauber, der durch die Gnade des Ra aufgehoben werden konnte. Wie er erhofft hatte verhüllte sich das Gesicht des anderen mit einem tiefschwarzen Schleier, der keinen Funken Licht mehr durchließ. Das machte dem anderen sichtlich zu schaffen. Mit diesem Angriff hatte er nie gerechnet. Er packte an sein Gesicht, versuchte den nur aus verdunkelter Luft bestehenden Schleier von den Augen zu reißen. Doch es gelang nicht. "Na, Engländer, da warst du jetzt nicht drauf vorbereitet wie. Du bist die Sonne, ich bin der Schatten, der Schatten, der dich in den Abgrund des Verderbens hinabzieht", spie der finstere Pharao ihm entgegen. Dass er dabei dem Gegner verriet, in welcher Richtung er stand war Absicht. Als der andere dann zielgenau auf ihn zurannte lachte er sogar noch. Denn diesmal rannte der Gegner nicht übermenschlich schnell.

Fast wie appariert tauchten zwei gekrümmte Hände vor dem Wiederverkörperten auf und versuchten, sich um seinen Hals zu legen. Da pochte der linke Ringfinger des Körperräubers, und der andere erzitterte, als jagten Schmerzenswellen durch seinen Körper. Er stöhnte und quengelte wie ein gepeinigtes Kleinkind. Weil dem das auffiel ließ er den Hals seines Feindes los. "Wieso kannst du sowas?" schnaubte der Feind und schlug aufs Ggeratewohl nach seinem Gegner. Eigentlich hätte der Schlag den Wiederverkörperten am Hals treffen müssen. Doch die gekrümmte Hand prallte keinen halben Meter vor ihm auf ein tiefschwarzes Hindernis und wurde leise Prasselnd zurückgeprellt.

"So, jetzt ich, ganz ohne Zauberstab", knurrte der Ungenannte und sprang vor. Als der Feind wieder hochschnellte versetzte der Körperdieb ihm einen Faustschlag an den Kopf. Es war, als blähe sich die Faust des finsteren Pharaos zu einer schwarzen Riesenpranke auf, als sie ihr Ziel traf und nicht nur den Kopf, sondern auch die Brust des Feindes voll traf. Wie von einer mächtigen Schleuder wurde der Abhängige der vaterlosen Tochter mehrere Schritte zurückgeschnellt. Er fiel um und blieb mit immer noch schwarz verschleiertem Gesicht auf dem Rücken liegen. Offenbar hatte ihm der Wiederverkörperte die letzte Kraft aus dem verwünschten Leib geschlagen. "So, dich nehm ich jetzt mit und lagere dich bei mir ein, bis dein Kaa freigelegt und von meiner Heimstatt aufgesogen wird", dachte der ungenannte Herrscher. Da merkte er, dass noch jemand gekommen war.

"Du unlichtkristallverseuchter Bastard lässt die verseuchten Pfoten von meinem Geliebten", hörte er eine sehr ungehaltene Frauenstimme und erkannte sie. Die, die er eigentlich suchte, war gekommen.

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Zur selben Zeit in Thurainillas Höhlenversteck

Die Tochter der kosmischen Dunkelheit hörte die leisen, vielfach nachhallenden Wut- und Angstschreie eines Mannes in ihrem Geist. Das war Tarlahilias Diener, der Sonnenläufer. Er konnte den anderen nicht bezwingen. War der etwa zu schnell? "Es ist ein Europäer, rothaarig, strahlt eine starke dunkle Kraft aus", gedankenknurrte Tarlahilia. "Oh nein, er kann ihn nicht mit der Kraft der Sonne niederkämpfen", hörte Thurainilla die wütende Gedankenstimme ihrer Schwester. "Der ist zu schwach. Ich muss das selbst beenden", gedankenschnaubte Tarlahilia noch. Thurainilla warnte sie jedoch, falls der andere gesammelte Kräfte der Dunkelheit verwendete. "Dann braucht der die gleich auf, und dann kommt der in meinen Lebenskrug", gedankenschnaubte Tarlahilia. Thurainilla erinnerte sich noch zu gut an den Schattenlosen, den sie in ihren eigenen Lebenskrug geworfen hatte. "Denk dran, was ich euch über den Schattenlosen erzählt habe, Schwester", mahnte sie. Lahilliota fügte dem hinzu: "Er könnte auch Unlichtkristallstaub im Körper haben. Spiel nicht mit ihm, sondern erlege ihn so schnell du kannst, Tarlahilia!"

"Dein Wunsch ist mir Bedürfnis, Mutter", gedankenschnarrte Tarlahilia.

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In der Nähe des vergrabenen Stufengrabes

Sie sah immer noch makellos schön aus, wie eine nubische Königstochter, dunkelhäutig, mit rubinrotem, gekräuselten Haar. Ihre großen Augen glänzten bernsteingolden und funkelten vor unbändiger Wut.

"Da bist du ja, Sonnendirne. Ich habe gehofft, mein Ruf hätte dich erreicht und mich gleich zu dir geführt. Aber dein Abhängiger bot mir einige nette Augenblicke der Kampfesübung. Tag der Abrechnung, Metze!" rief der ungenannte Herrscher, wobei er die letzten Worte in der Sprache des alten Ägypten ausspie.

"Kennen wir uns?" fragte die viel zu schöne Unheilsfrau. Dann nickte sie. "Dann hast du wahrlich einen Narren gefunden, dessen Seele du fressen und seinen Körper ausfüllen konntest", schnarrte sie. "Auch wenn dein angewachsener Unlichtring deine Gedanken verschleiert verstehe ich die lautesten von ihnen doch ganz gut. Dann fühlst du dich stark genug, mit mir zu kämpfen, ohne zu wissen, was dir dann widerfährt?"

"Oder dir, Dirne. Sieh her, das ist der Kriegsschild des Horus. Meinen neuen Ring hast du ja schon gesehen. Er weist mich als einen wahren Sohn des Seth aus. Seth, der der Sonne trotzt und alle Menschenseelen in sein Reich holt."

"Du meinst Iaxathan, den dunklen Hochkönig des versunkenen Landes, der sich selbst als Diener der längsten Nacht bezeichnet hat. Dessen Beistand suchst du? Da hast du einiges in deinem Steinhäuschen nicht mitbekommen, Körperschlüpfer. Dein Seth wurde von einer widerwärtig mächtigen Geisterfrau verschlungen, die sich für die Göttin aller Blutsauger hält."

"Akasha, die Blutkönigin?" fragte der Ungenannte. Er erinnerte sich an die Berichte von der Mutter des Blutmondes, die Herrin der bleichen Heerscharen, Mutter aller Nachtkinder des Nils, Feindin der Neith. Dann sagte die Feindin: "Nein, es ist nicht eure mythische Blutmondkönigin, sondern eine, die das fragwürdige Glück hatte, den Mitternachtsstein zu erobern, von ihm abhängig zu werden und ihn dann, als ihr Körper starb, darin einkehrte und alle Seelen der von ihr vergifteten und gestorbenen in sich einverleibt. Sie hat deinen Seth aus der Welt gerissen und trägt ihn wie ein ungeborenes Kind in sich, hilflos, wehrlos, machtlos. Soviel dazu, kleiner Körperdieb. Du bist weit weg von deinem Steinhaus. Ich werde mir dein ganzes Leben einverleiben und deine verdorbene Seele in meinen Lebenskrut ausscheiden, wo sie mir Labsal und Rückhalt sein wird."

"Sehr erheiternd, Frau, die nicht sein darf. Genau das wollte ich dir auch gerade verkünden. Wenn ich dich wie den da niedergestreckt habe bin ich schneller in meinem steinernen Heim als du blinzeln kannst."

"Du wirst mich nicht so besiegen wie ihn hier. Ihn konntest du der Sonne entziehen und mit deinem unlichtkristallgiftgeladenen Händen die Besinnung nehmen. Aber gleich werde ich ihm diesen lächerlichen schwarzen Schleier von den Augen wischen und ihm das Licht der Sonne zurückgeben."

"Ach ja?!" rief der Wiederverkörperte und wiederholzauberte ohne Vorwarnung den Mitternachtsschleier. Kopf und Brustkorb verschwanden hinter dem tiefschwarzen Schleier. Die andere Lachte jedoch nur, griff sich mit beiden Händen ins Gesicht und strich mit ihren unvermittelt violett leuchtenden Fingern über den Schleier. Dieser zerfaserte und löste sich dann vollständig auf. "Na, gesehen?!" fragte sie. "Dann nehm ich dir jetzt deine Kraft weg", knurrte sie. Sie sah ihn an und konzentrierte sich. Doch der Unlichtkristallring pochte wild dagegen an. Er hüllte ihn in einen tiefschwarzen Hauch, der alle Körperformen nachzeichnete. Die Feindin bekam immer hellere Augen. "Dann eben wie bei deinen Feuerlöwen damals!" rief sie. Da riss er den Schild des Horus hoch. Wieder meinte er, gegen eine nahtlos weiß glühende Wand zu blicken. Wieder schrillte der Schild in seiner Hand und der Kristallring jagte kalte Ströme durch seinen Körper. Doch diesmal hielt dieser Zustand vor. Er fühlte, wie ihm selbst Kraft entzogen wurde, nicht von außen. Sie floss von innen her in den Ring hinein, damit dieser weiterhin seinen schützenden Mantel um ihn legen konnte. "Na, gleich habe ich dich. Dann gehörst du mir", hörte er die andere schon überlegen klingend. "Dein Schild ist stark. Aber dein Körper verliert Kraft. Gleich wirst du den Schild nicht mehr hochhalten können", verhieß sie ihm sein Unheil. Doch er hatte zwei Hände. Er musste den Schild nicht mit einer Hand hochhalten. Aber vertückterweise hatte sie recht. Der Ring an seinem Finger sog ihm Kraft ab, um ihn zu schützen. Es war die entscheidende Frage, wer länger durchhielt. Ihm wurde bewusst, dass sie das wohl war, weil sie sicher vor ihrem Eintreffen die Kraft mehrerer unschuldiger Leben in sich hineingesogen hatte. Wenn er den Schild nicht mehr halten konnte war es nur noch eine Frage von Sekunden, wann der Kristallring ihm den letzten Rest Kraft entzog. Starb er dann? Besser als ein weiterer Diener dieser Dirne zu werden oder in ihrem Seelensammelkrug zu vergehen. Nein! Er wollte nicht sterben, nicht von diesem Unweib getötet werden! Er stemmte den Schild mit der linken Hand hoch, griff nach McBanes Zauberstab, hob ihn mit zitterndem Arm an und rief Worte seiner Muttersprache, die er bis dahin nur viermal ausgestoßen hatte: "Seth, bedecke uns mit deinem Mantel!"

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In Thurainnillas Höhlenversteck

Keine sandte Gedanken aus. Keine wagte es, Tarlahilia abzulenken. Offenbar konnte sie den anderen nicht so leicht erledigen wie sie gedacht hatte. Dann brach das Schweigen im unendlichen Raum der gemeinsamen Gedankenverbindung.

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In Thurainnillas Höhlenversteck

Keine sandte Gedanken aus. Keine wagte es, Tarlahilia abzulenken. Offenbar konnte sie den anderen nicht so leicht erledigen wie sie gedacht hatte. Dann brach das Schweigen im unendlichen Raum der gemeinsamen Gedankenverbindung.

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In Thurainillas Höhlenversteck

"Der Mantel der verschlingenden Dunkelheit! Wieso kann der deinen mächtigsten Zauber, Thurainilla!!" gedankenschrie Tarlahilia. Dann fügte sie hinzu: "Trotzdem werde ich mir den jetzt holen, ihn mit bloßen Händen erwürgen."

Thurainilla erschauderte. Ein einfacher Zauberer konnte den Mantel der verschlingenden Dunkelheit, der in Japan auch "Nachthauch von Yomi" und im alten Ägypten als Mantel des Seth bezeichnet wurde. Doch der war bei Tag ungleich schwerer auszuführen als bei Nacht. Sie wollte ihrer Schwester zurufen, ihr zu helfen, weil sie ja mit Dunkelheitszaubern sehr gut klar kam. Doch da gellte bereits ein lauter, in der Tonhöhe schwankender Aufschrei ihrer Schwester Tarlahilia. Dann fühlte sie und sicher auch jede andere den Kraftstoß, dass das körperliche Leben einer ihrer Schwestern endete. Sie hörte noch einen aus Wut und Angst geborenen Aufschrei, der scheinbar einmal um sie herumschwirrte. Da war ihr klar, dass Tarlahilias freigelegte Seele gerade eine von ihnen suchte, um darin als vaterlose Tochter empfangen zu werden. Einige Herzschläge bangte Thurainilla, dass sie die Auserwählte sein würde. Doch dann klang erst Tarlahilias dumpfe Gedankenstimme und dann die wie aus einem tiefen Traum aufgeschreckte und dann sehr zufriedene Stimme Ilithulas. Ilithula? Sollte die nicht auf Befehl ihrer Mutter solange schlafen, bis ein Mann mit ungeweckter Zauberkraft den Weg zu ihrer Heimstatt fand?

"Verwünschter Finsterling. Ich bin in einer von euch eingekehrt. Der Kerl hat meinen Körper vernichtet, einfach so", klang Tarlahilias Stimme dumpf und langsam in der Tonhöhe nach oben gleitend.

"Das darfst du annehmen. Du bist in meinem wohlig warmen, willigen Leib eingekehrt, meine zweite Mutter Tarlahilia", gedankenantwortete Ilithula. Dann darf ich mich wegen der für mich ausgehaltenen Unannehmlichkeiten erkenntlich zeigen."

"Warum bin ich nicht bei einer der wachen?" fragte Tarlahilias Gedankenstimme. "Weil du und Ilithula eine enge körperliche Beziehung zueinander hattet", gedankenknurrte Lahilliota. Dann hörten sie noch, wie ein Mann immer leiser und im Rauschen verklingend um Hilfe und Gnade rief. Das ging nur wenige Herzschläge. "Mein Diener!" gedankenkrakehlte die entkörperte Tarlahilia dumpf wie hinter einer dicken Wand. "Sieh ja zu, mich wieder auf die Welt zurückzubringen, Ilithula! Ich will diesen Kerl tot vor meinen Füßen liegen haben."

"Du hast es gehört, meine achso gestrenge Mutter. Tarlahilia muss wiedergeboren werden, um wen auch immer umbringen zu können. Also verzichte darauf, mir noch einmal den Zauberschlaf aufzuzwingen!" gedankensprach Ilithula.

"Ja, aber du bist jetzt verpflichtet, sie wiederzugebären, Ilithula. Deshalb darfst und wirst du nichts wagen, was dies vereiteln kann", erwiderte die Mutter der unsterblichen Töchter sehr ungehalten. "Ja, und dass mir keine von euch diesen Finsterling, diesen wiederverkörperten König aus der Vergangenheit anrührt. Der gehört mir und vielleicht noch meiner künftigen Mutter Ilithula. Kriege ich raus, dass eine von euch den umbringt und seine Seele in sich reinschlingt wenn ich aus Ilithulas Bauch rauskomme ..."

"Du wirst schon zum kleinen Kind, Tarlahilia. Du stößt wirkungslose Drohungen aus", gedankensprach Lahilliota hörbar verdrossen. "So gib dich meinem Segen hin und vertraue dich der einstigen Schwester an, der du selbst einst das Leben gabst. Und Ilithula, ich warne dich erneut: Wage nichts, was die Wiedergeburt Tarlahilias gefährdet! Es wäre sehr, sehr undankbar ihr gegenüber."

"Kümmer dich um deine Ameisenkinder, Mutter", gedankenknurrte Ilithula. Doch die anderen Schwestern bekräftigten, dass sie Zeuginnen waren. Thurainilla bot noch einmal an, dass sie Tarlahilia rächen könnte. Doch mit einer schon fast nicht mehr verständlichen Gedankenstimme erwiderte Tarlahilia: "Du rührst den nicht an, falls der nicht auch zu dir hinkommt, Schattenspielerin! Der gehört nur mir ... nur m...." Das waren die letzten noch hörbaren Äußerungen Tarlahilias für die nächsten neun Monde.

"Thurainilla, komm bitte zu mir!" hörte Thurainilla die Gedankenstimme ihrer Mutter in ihrem Geist alleine. Sie bestätigte und reiste auf zeitlosem Weg zum Berg der ersten Empfängnis.

Es war immer noch unheimlich, die erstarrten Ameisenmenschen zu sehen, darunter auch jenen Zauberer, der Arion Vendredi hieß und neben denen, die sie und die anderen Töchter Lahilliotas damals gefangen und zu ihr hingebracht hatten als Begatter weiterdienen würde, wenn in zwei Mondwechseln Lahilliota wieder zur roten Riesenameisenkönigin wurde. So der teilweise Fluch und Segen der verächtlichen Tante Ashtaria und die in ihr eingeflossene Kraft von Erithalillia.

Die gerade wieder als Menschenfrau denkende und handelnde Lahilliota begrüßte ihre der Macht über Dunkelheit anvertraute Tochter in einem der gemütlich eingerichteten Empfangsräume, die wie aus dem alten Ägypten oder einer römischen Villa eingerichtet waren. Thurainilla sah ihr tief in die Augen und prallte dabei auf eine silberweiße Lichtwand. Sie zuckte zurück. "Ihr versucht es immer wieder, mein inneres zu sehen, seitdem ich dieses Wechselleben führe", grinste Lahilliota und bedeutete ihrer Tochter, sich zu setzen. Dann besprach sie mit ihr das gerade mitverfolgte Ereignis und dass Tarlahilia nun für ein Jahr und neun Monate nicht mehr ihre alte Macht einsetzen konnte. Daraus hörte Thurainilla, dass Tarlahilia anders als Halitti in nur einem Jahr nach der Wiedergeburt zur erwachsenen Frau ausreifen durfte. Sie fragte, warum Lahilliota da einen Unterschied machte. Die Mutter der neun Vaterlosen lächelte überlegen. "Weil nur die ihr auferlegte Aufgabe, die entkörperte Schwester neu auszutragen, zu gebären, zu pflegen und ihre Wiederreifung zu begleiten sie wach hält. Sobald Tarlahilia ihre Eigenständigkeit wiedererlangt wird mein Wort wieder wirksam werden und die Tochter des düsteren Windes wird erneut in Schlaf fallen. Doch gebiete ich dir, deine Mutter, dass du deinen anderen Schwwestern nichts davon berichtest. Wenn ich dies für geboten halte werde ich dies jeder einzelnen von euch mitteilen außer Ilithula."

"Warum erzählst du mir das, falls ich fragen darf, geehrte und geliebte Mutter?" wollte Thurainilla wissen. "Weil ich fürchte, dass du diejenige sein musst, die die Schmach tilgen wird, die Tarlahilia zugefügt wurde, nicht aus Rache, sondern aus Notwendigkeit, dich und uns anderen zu schützen. Das darfst du aber nicht von dir aus tun, sondern ausschließlich dann, wenn jener neue Feind uns gemeinsam oder dich alleine angreift. Dann hast du das Recht und die Pflicht, ihn niederzuringen und darfst seine Lebenskraft beanspruchen. Sonst nicht."

"Sie erwähnte den Wiederverkörperten, also den, der diese umgedrehte Pyramide in der Wüste eingraben ließ. Kann es sein, dass der wie Tarlahilia die Kraft für alles was er tut aus seiner Grabstätte bezieht?" Lahilliota schloss es nicht aus, wies aber auch auf Unlichtkristallstaub hin. Dann hörte sie wie Thurainilla Ilithulas Gedankenstimme: "Mutter und Schwestern, sie hat mir, bevor sie in den Schlaf der Wiederreifung fiel noch alle Bilder der letzten Dutzend Atemzüge übermittelt. Öffnet euer inneres Auge für mich, damit ihr auch diese Bilder seht. Mehr bekommt ihr dann erst einmal nicht mehr von mir zu sehen und zu hören."

Lahilliota nahm Thurainillas Hände in ihre. Damit schuf sie auch eine gedankliche Verbindung. Dann sahen sie, was in den letzten Sekunden von Tarlahilias körperlichem Dasein geschehen war und dass der andere einen Unlichtkristall an einem Ring an der linken Hand trug. Dann waren die Bilder auch schon vorbei und konnten höchstens noch aus den eigenen Erinnerungen zurückgerufen werden.

"Diese Kristalle können durch die Eigenschwingung in Form schwingender Dunkelkraft zersprengt oder durch die Berührung von einem unschuldigen Kind zerstört werden, sobald der Kristall nicht den Körper eines seiner würdigen berührt", gedankensprach Lahilliota zu allen.

"Ja, und wenn ihm der Ring durch den Anpassungszauber wie angewachsen am Finger steckt, Mutter?" Lahilliota verzog ihr Gesicht. "Dann bleibt wie erwähnt nur die Suche nach dessen Eigenschwingung und die Übersteigerung derselben wie bei den überzüchteten Blutsaugern. Bedenke bitte, dass ein Unlichtkristall jeden seinem Träger schaden zufügenden Zauber von ihm abwehrt und den Schaden auf den Verursacher selbst zurückwirft. Genau daran ist Tarlahilia gescheitert. Deshalb wollte sie noch, dass wir das wissen, damit wir nicht in dieselbe Falle gehen."

"Das heißt, selbst meine Macht über Dunkelheitszauber kann ihm nichts anhaben?" Lahilliota bestätigte das. "So ärgerlich das für dich und für mich klingt, meine Tochter, nur reine Lebenserhaltungs- und aus unschuldiger Liebe entspringende Zauberkraft vermag etwas gegen einen Unlichtkristallträger auszurichten. Doch ich sehe nicht ein, jetzt mit jenen in Verbindung zu treten, die dazu im Stande sind. Die sollen es von alleine erfahren."

"Die Vettern und Basen, die aus den sieben Linien der ... der ..."

"Schwester deiner Mutter, Kind", vollendete Lahilliota Thuranillas von Verachtung gefärbte Rede. Thurainilla nickte nur schwerfällig. "Was dich selbst betrifft, meine Tochter: Jetzt wo wir den neuen Feind haben sieh zu, dass du die Angelegenheiten mit der Blutgötzin und der Verschlingerin deiner Zwillingsschwester erledigst. Dies und nur dies sei deine vordringliche Aufgabe!" Nun verzog Thurainilla das Gesicht. Die übermächtige Schattenfrau, die ihr Riutillia weggenommen und in sich einverleibt hatte musste vergehen, Riutillia wieder freikommen, bestenfalls mit ihrer Zwillingsschwester aus Fleisch und Blut verschmolzen werden. Dann würde sie nicht nur zweimal sondern viermal soviel Macht haben wie derzeitig. Somit war der Kampf gegen Kanoras' Erbin ihr höchst eigenes Anliegen.

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Erst dachte er, er habe sich selbst restlos verausgabt. Er fühlte, wie ihm Kraft entströmte. Der Kristallring erzitterte in schneller Folge und Heftigkeit. Der Schild des Horus wurde schlagartig eiskalt und so schwer, dass er ihn nicht mehr halten konnte. Scheppernd fiel das mächtige Hilfsmittel in den Sand. Er sah nicht, wohin. Denn um ihn herum war es stockfinster. Die Sonne, der blaue Himmel, der hell widerscheinende Sand, alles weg. Die Hitze der Wüste, die ihn bisher begleitet hatte, so wie die Glut der Sonne waren auf einmal nicht mehr da. Eisige Kälte hauchte ihn an. Zugleich hörte er einen gellenden Schrei, von dem er erst nicht wusste, ob er ihn ausgestoßen hatte, seine Feindin oder sie beide zusammen. Dann, als die ersten zwei Atemzüge kalte Luft durch seine Lungen gepumpt waren, konnte er Dank der auch Restlicht verstärkenden Brille auf dunkelgrauem Grund zwei tiefschwarze Schatten sehen. Einer davon bewegte sich und gab schmerzvolle Laute von sich. Der andere lag da wie erstarrt. "Wieso? Woher kannst du das. Das ist der Mantel der verschlingenden Dunkelheit", keuchte die andere. Der Ungenannte fürchtete, dass sie nun flüchten mochte. Die Unwesen konnten ohne Zauberhilfsmittel den zeitlosen Weg gehen. Er wollte aber ihre verbliebene Kraft, ihr ungewöhnliches Kaa. Da er gerade eine freie Hand hatte griff er an die verschließbare Außentasche seines Umhanges. Dabei sagte er: "Ich sagte ja, ich bin ein wahrer Sohn des Seth geworden, und damit stehe ich unter seinem Schutz, vaterlose Hure."

"Meinst du, mir macht das was aus, mal keine Sonne um mich zu haben. Meinen Geliebten magst du damit an den Rand des Todes getrieben haben. Aber mich wirst du so nicht besiegen. Ich zerfetz dich mit bloßen Händen, wenn ich die Schwingungen deines Unlichtkristalls ausgleiche", knurrte sie und stemmte sich hoch.

Der ungenannte Herrscher sah durch seine Gleitlichtbrille das schwache Flimmern, dass die Unheimliche umgab. Konnte sie den Unlichtkristall wirklich überlagern, ihn ergreifen und dann ... Da fiel ihm ein Zauber ein, den McBane in Nordschweden erlernt hatte und der ihm bei der Erfassung seiner Erinnerungen schon beeindruckt hatte. Er stellte sich den Vollmond mit eisblauem Überzug vor und sprach die für ihn ungewohnten Worte des gefrorenen Mondes. Gerade als die vaterlose Tochter auf ihn zusprang, um ihn ihre schimmernden Hände um den Hals zu legen prallte sie auf eine silberne Wand, die zu einer leuchtenden, ihren ganzen Körper umschließenden Schale wurde. Keine Sekunde später färbte sich diese Schale tiefblau. Er hörte noch ein entsetztes Aufschreien. Doch dann konnte die Feindin keinen Laut mehr äußern. Sie war vollständig von dunkelblauem Eis umhüllt, das immer dunkler wurde, wohl auch genährt von der dunklen Kraft des Seth.

"So, jetzt bist du erledigt. Körper um Körper, Metze!" zischte der ungenannte Herrscher, als er sicher war, dass die andere gerade nichts gegen ihn unternehmen konnte. Ja, er ging davon aus, dass sie selbst zum Eisblock geworden war. Er hielt den kristallenen Stab des Geisterlenkers in der linken Hand und den Zauberstab McBanes in der rechten. Wenn er es geschickt genug anstellte konnte er die Seele der anderen gleich mit dem Kristallstab einfangen und festhalten, bis er sie an einem Ort seiner Wahl wieder freiließ, an sich band oder in ein anderes Gefäß übertrug. Er sprach die Worte des zerspringenden Eises, die McBane auch in Nordschwweden erlernt hatte und die bei tiefgefrorenen Körpern dieselbe Wirkung hatte wie bei zugefrorenen Gewässern. Es knirschte, knackte und krachte. Dann klirrte es laut und endgültig. Sein Seelenstab erbebte. Er riss ihn vor sich, zielte und sprach die ersten Worte der Einkerkerung. Doch da war es auch schon vorbei. Die Seele der Feindin war schneller aus dem Leib getreten als er gedacht hatte. Er senkte den Seelenstab wieder. Sollte er den anderen dafür nehmen? Der lag noch starr da. Doch aus dem Körper flogen nun orangerote und violette Funken heraus.

Der ungenannte Herrscher fühlte, wie ihm trotz des Sieges weiter Kraft schwand. Seine Knie zitterten merklich. Sein Zauberstabarm wurde immer schwerer. Gleich mochte er selbst vor Erschöpfung hinfallen und dann vom Unlichtkristall bis zum Tod ausgesaugt werden, solange der Mantel des Seth nicht zurückgenommen wurde. Er keuchte und schnaufte. Mit allerletzter Anstrengung rief er noch aus: "Seth, sei bedankt für deine Gnade! Alle Feinde sind besiegt!" Fast schlagartig kehrten der helle Himmel, die gleißende Sonne und der hell widerscheinende Sand in die Welt zurück. Auch schlug ihm der heiße Atem der Sahara ins Gesicht, wärmte seine Hände, den Körper und die Beine. Der Kristallring pochte nicht mehr. Doch für den finsteren Pharao schien es zu spät zu sein. Er konnte sich nur noch schwer auf den Beinen halten. Dann sah er, was er angerichtet hatte.

McBane hätte bei diesem Anblick vielleicht an mehrere Portionen rohes Haggis gedacht oder sein Frühstück ausgespuckt. Er hingegen sah in dem, was vor ihm im Sand lag nur seinen bisher größten Triumph: Körper um Körper, wie er es sich erhofft hatte. Dann sah er, wie der andere sich regte. Der Mitternachtsschleier war verschwunden. Natürlich, denn mit dem Mantel des Seth waren auch alle anderen Verdunkelungszauber erloschen, ob auf ein Wesen begrenzt oder auf großer Fläche. Dann sah er noch etwas beinahe ebenso grauenvolles. Der erste Gegner, der ehemalige Abhängige der vaterlosen Tochter der finsteren Sonne, wurde von Atemzug zu Atemzug älter. Als der letzte orangerote Funke aus ihm entwich waren ihm zwei Drittel seiner Haare ausgefallen. Was blieb wurde erst silbergrau, dann grauweiß, weißgrau und dann so weiß wie frischer Schnee. Sein Gesicht und seine Hände wurden immer trockener und faltiger. Dann, mit einem letzten Röcheln, entschwand das Leben aus dem geknechteten Körper. Der ungenannte Herrscher wusste nicht, wer der Fremde gewesen war und wie er in die Abhängigkeit der nubischen Unheilstochter geraten war. Doch jetzt war es endgültig vorbei. Jetzt wusste er, dass er gesiegt hatte. Er sah, wie der Fremde langsam immer mehr austrocknete. Dann hörte er das begehrliche Krächzen in der Luft. Die Geier hatten das Aas erblickt. Da fiel ihm ein, dass dieses Unweib noch Schwestern hatte. Wenn sie denen in ihrer Todessekunde noch eine Nachricht zugesandt hatte ... Er musste ganz schnell von hier weg.

Er ergriff den Schild des Horus. Der fühlte sich immer noch sehr schwer an. Er kämpfte sich förmlich in eine aufrechte Haltung. Doch so konnte er unmöglich disapparieren. Da fiel ihm ein, dass er sich Ausdauer für mehrere Tage vorwegnehmen konnte. Ja, das musste er tun. Er zielte auf sich selbst und sprach die Worte "Praecipio Dies!" Im Nächsten Moment fühlte er einen heftigen Stoß durch seinen Körper gehen. Um ihn wurde es wieder völlig schwarz, und er meinte, in einen unendlich tiefen Schacht hineinzustürzen. Dann fühlte, hörte und sah er nichts mehr.

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Im umgekehrten Stufengrab in Südägypten, 21.08.2006

Gleißendes Licht stach ihm in die Augen. Unter ihm bebte etwas hartes, glattes, kaltes. Er hörte hunderte von Stimmen, die teils flüsterten und teils gepeinigt aufstöhnten. Dann hörte er noch eine Stimme. "Lass mich da wider rein, du mieser kleiner Dibbuk. Das ist mein Körper. Meiner!" Er fühlte, wie etwas in ihn hineintastete und fühlte auch, dass etwas an seiner linken Hand pochte. Dann begriff er. Das Licht dämpfte sich zu einem angenehmen goldenen Schimmer. Er sprang munter und kraftstrotzend von jenem goldenen Tisch herunter, auf dem er wohl die ganze Zeit gelegen hatte. Er stellte fest, dass er noch alles bei sich hatte, womit er in jenen Kampf gegen die vaterlose Tochter gezogen war. Doch warum war er wieder hier? Er drehte sich um und sah eine rotgoldene, geisterhafte Erscheinung in der Tischplatte. Das war Rore McBanes geisterhaftes Ebenbild. Er hörte seine fordernden Worte leiser und leiser werden und im großen Gesamtchor aller gefangenen Seelen verstummen. Die Erscheinung verblasste, gefror wieder mit dem magisch durchtränkten Gold der Tischplatte.

"Fast hätte der mich wieder aus diesem Körper hinausgetrieben. Nur mein Ring hat das wohl verhindert. Wie lange war ich besinnungslos?" Er dachte die Fragen an die gefangenen Seelen. Da er es so eingerichtet hatte, dass die Stellung der Gestirne spürbar wurde erfuhr er, dass er fast einen vollen Tag hier zugebracht hatte. Dann fiel ihm ein, dass er ja versucht hatte, seine Ausdauer zurückzuholen. Offenbar hatte er sich dabei gründlich vertan und sich die ganze restliche Ausdauer entzogen. Doch wie war er dann wieder in der goldenen Kammer gelandet? Ja, er musste fast tot gewesen sein. Wenn er starb kehrte er in dieses Grabmal zurück. Da in seinem erbeuteten Körper noch ein winziger Rest Leben steckte hatte er ihn dabei eben mitgerissen. Oder war es die immer noch bestehende Verbindung zu Rore McBane, die den Körper hierher zurückgebracht hatte? Wollte er das jetzt so genau wissen? Er war hier und wieder wach, nicht verletzt und immer noch Herr dieses Körpers, eines lebenden, atmenden Körpers, dessen kraftvolles Herz er Schlag für Schlag spüren konnte. Was für ein herrliches Gefühl war das! Noch herrlicher war die Erinnerung, dass er jene vaterlose Tochter besiegt hatte. Zumindest ging er nach allem erlebten und gesehenen davon aus, dass er eine der neun Vaterlosen aus dieser Welt gestoßen hatte, er, der von seinen Nachfahren aus der Erinnerung getilgte König.

Nun, wo er den nächsten größeren Sieg errungen hatte wollte er sein Vorhaben angehen, eine Armee gehorsamer Geschöpfe, lebendig oder tot, aufzustellen, um damit das widerwärtige Zaubereiministerium zu überrennen. Dann wollte er sich den Geheimstützpunkt der Kobolde vornehmen, erst den in Ägypten und dann den in England. Oder nein, vielleicht sollte er, wenn er Ägypten von den Sklaven dieser Mischlingskönigin Ladonna befreit hatte, gleich die Wurzel des Übels ausreißen, Gringotts und den Bund Axdeshtan Ashgacki az Oarshui. Denn dort lag sicher jetzt das Auge der Bastet, dass McBane und Weasley für diese Bande geraubt hatten. Es gehörte in ägyptische Hände, in die Hände eines Königs, nicht in die von kleinwüchsigen, spitzohrigen Räubern.

Zunächst einmal musste er unbedingt etwas essen und trinken. Er hatte leider lernen müssen, dass der Unlichtkristall ihm nur tagesfrisch getötete oder geerntete Tiere und Pflanzen vertragen ließ. Daher musste er ausziehen, auf Hühnerjagd zu gehen. Was für ein Abstieg für einen wahren König, als Hühnerdieb durch stinkende Ställe zu schleichen.

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Irgendwo in der kenianischen Savanne, 22.08.2006, 22:03 Uhr Ortszeit

Trevor Bailey hatte mit seinen drei Expeditionskollegen Jack Holland, Becky Rothman und Eugene Michelsen die Aufstellung aller mit Bewegungsmeldern ausgestatteten Infrarotkameras und Infrarotscheinwerfer geprüft und sich mit ihnen in den Schutz des gepanzerten Wohnmobils begeben, das Einsatzfahrzeug und Überwachungszentrale in einem war. Sie erwarteten den Durchzug einer Antilopenherde, bei der zehn Kühe mit Peilsendern ausgestattet waren. Die Filmcrew ging davon aus, dass diese Herde von einem Löwenrudel verfolgt wurde, das seit einem Monat diese Gegend beherrschte und ausschließlich aus Löwinnen und Jungtieren bestand. Bailey hatte mit einem Konkurrenten darauf gewetttet, dass der Kitcatclub, wie er dieses rein weibliche Rudel nannte, demnächst wieder gegen einen männlichen Führungsanwärter kämpfen musste um die eigenen Jungtiere zu beschützen. Dafür brauchten sie Nahrung.

"Trev, da ist eine Elefantenherde am südlichen Perimeter. Vier erwachsene Kühe und drei halbjährige Kälber", meldete Becky Rothman, die allen Spottreden zum trotz in der Wildnis ihre Frau stand.

"Ah, der Kasten Bier kommt zu mir", freute sich Bailey. Er hatte mit seinem aus Deutschland stammenden Kollegen Toni Seidl eine Wette laufen, wer die Herde von Granny Bonanga durch das abgesteckte Revier laufen sah.

"Ja, es ist Bonanga", sagte Becky und vergrößerte die besten Bilder aus der gefunkten Serie. Die Leitkuh der kleinen Herde war besonders gut zu erkennen, weil ihr rechtes Ohr angeffressen aussah. Wie die geschätzt fünfzig Jahre alte Elefantenmatriarchin sich diese Verunstaltung zugezogen hatte konnte nicht mehr herausgefunden werden. Üblicherweise mieden Großkatzen den Kampf mit ausgewachsenen Elefanten.

"Was für'n Bier hast du mit dem Seidl-Toni ausgehandelt?" fragte Eugene Michelsen, der zugleich Fahrer und Mechatroniker der Crew war. "Was wohl: Löööööwenbräu", erwiderte Bailey, wobei er die im Markennamen enthaltenen Umlaute korrekt deutsch aussprach. Seine drei Kollegen lachten.

"Okay, Becky, schick unsere Busy Lizzy los, dass die weit genug über denen patrouilliert. Öhm, Ist die Kombi aus Infrarott- und Restlicht jetzt ausbalanciert, dass wir keine Überlagerungen mehr kriegen?"

"Da, angucken, Boss!" knurrte die Bild- und Funktechnikerin der Truppe, die zugleich einen Doktor der Veterinärmedizin und somit eine Lizenz zum Schießen mit Betäubungspfeilen hatte. Bailey blickte auf den kleineren Bildschirm, der eine Falschfarbendarstellung der Savanne aus der Vogelperspektive zeigte. Bailey klicte das Bild des kleinen Schirms auf den großen Hauptschirm und stellte auf höchste Bildauflösung. "Joh, diesmal kein überhelles, verwischtes Bild", sagte er. "Wusste nicht, dass du die japanische Gebrauchsanweisung von der Lizzy entziffert hast, Becky."

"Nichts ist unmöglich", flötete Becky Rothman. Die Busy Lizzy war eine eigentlich für Militär und Sicherheitsleute entwickelte Aufklärungs- und Überwachungsdrohne. Doch Baileys Team hatte es geschafft, dem Hersteller zwei davon abzuluchsen, allerdings zu einem Preis, der ihm als Tierfilmer eigentlich zu hoch sein musste, die Heranführung angeblicher Forschungsschiffe Japans an eine pazifische Walschule. Doch dafür hatten sie nun eine der modernsten, teilautonom operierenden Drohnen der Welt und konnten bei zu jeder Tageszeit spannende Aufnahmen von wandernden, jagenden und flüchtenden Tieren machen und sogar in kleine Höhlen hinein, die für die Filmmannschaft zu eng waren.

"Ah, da ist die Herde. Bring die Lizzy über die Herde und lass sie zwei von den besenderten Kühen verfolgen, Becky!"

"Wird gemacht, Boss. Öhm, wegen Granny Bonanga, soll ich die GPS-markieren und eine Aufnahme an die Seidl-Crew rausgehen lassen?"

"Danke der Nachfrage, ja bitte", erwiderte Bailey. Dann blickte er wieder auf den Schirm, der die herannahende Herde zeigte. Diese war gerade in heller Aufregung und lief scheinbar völlig chaotisch durcheinander. Offenbar wurden sie bereits bejagt. Dann verwischte das Bild. Der Schirm wurde völlig schwarz, und aus den kleinen Lautsprechern des Überwachungslaptops klang ein vielstimmiges Piepsen und Bimmeln verschiedener Störungsmeldungen. "Häh?! Ausfall aller Sender. Kontaktverlust mit Lizzy Alpha und Kontaktverlust mit Kameraperimeter Nordwest. Das alles auf einmal. Wie geht das denn?" knurrte Bailey.

"Augenblick, unsere Telekamera auf dem Dach fängt was ganz komisches ein", sagte Becky und klickte auf ein betreffendes Symbol. Nun sahen sie, dass eine von merkwürdigen Schlieren umspielte, kreisrunde schwarze Wolke vom Himmel herabglitt. Diese wurde von mehreren Kugeln umkreist, die wie niederfallende Steine auf das Wohnmobil zurasten. Wurden sie etwa bombardiert?

""Schwerer Ausnahmefehler an Speicheradresse 8e22d5", blinkte eine Meldung auf dem nun schlagartig blauem Bildschirm auf. Der Klapprechner klapperte mit der Festplatte. Gleichzeitig bemerkte Bailey, dass auch das elektronische Außenthermometer verrücktspielte. Also störte irgendwas massiv die Elektronik der Filmleute. Dann sah er, wie eine pechschwarze, faustgroße Kugel auf das linke Fenster zuraste. Was immer das war musste jetzt gegen das mehrschichtige Panzerglas krachen. Doch es schwirrte einfach hindurch. Dann schossen auch drei Kugeln von rechts heran und durchdrangen ohne Knall und ohne Splittern das rechte Fenster. In dem Moment erlosch auch die letzte Anzeige auf den Bildschirmen. "Bleibt einfach ruhig und empfangt in Demut die Gnade unserer Kaiserin", hörten sie eine geisterhafte Stimme. Dann sah Bailey etwas, das er als Naturwissenschaftler niemals anerkannt hätte, wenn ihm das jemand erzählt hätte. Vor ihm und seinen Kollegen schwebten vier völlig schwarz gefärbte Erscheinungen, die wie eine vollendete Verschmelzung aus Schatten und Geisterwesen aussahen.

"Das gibt es doch nicht", sagte Eugene Michelsen. Doch als eines der dämonischen Schattenwesen sich genau auf ihn warf und ihn auf seinem Sitz regelrecht zu Eis gefror wusste er, dass es sowas doch gab. Bailey sah, wie auch auf ihn einer der unheimlichen zuflog. Dann wurde es schlagartig unerträglich kalt. Er fühlte seinen Körper erstarren und dann gar nicht mehr. Dann meinte er, ganz leicht zu sein. Er hörte und sah jedoch noch, wie Becky Rothman mit einem letzten Aufschrei zum vorletzten Opfer dieser Unheimlichen wurde. Dann empfand er wieder eine Bewegung, einen Sog, der ihn immer schneller auf das rechte Fenster zuzog und wie er hindurchglitt wie durch feinsten Dunst. Dabei hörte er die erst ferne und doch eindringliche Stimme in seiner Heimatsprache sagen: "Komm zu mir! wachs in mir!

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Dass die Menschen sie Granny Bonanga nannten wusste die erfahrene Elefantenkuh nicht. Es wäre ihr wohl auch völlig gleichgültig gewesen. Für ihre Herde war sie einfach die Älteste und die Erste. Sie hatte vor drei Trockenzeiten ihre Herde gegen zwei herumstreunende Löwenmännchen verteidigt, die noch nicht wussten, dass solche wie sie besser nicht gegen eine wie sie kämpfen sollten. Zwar hatte einer von den Frechkatern ihr das rechte Ohr angefressen und ein Stück herausgebissen. Doch der dabei zugefügte Schmerz hatte sie so wütend gemacht, dass sie die beiden laut trompetend niedergewalzt und zu Tode getrampelt hatte. Die Jäger waren so zur Beute der Totenfresser geworden.

Gegen Löwen kämpfen oder hungrigen Panzerechsen in Flüssen zeigen, dass sie besser ihre Zähne von ihr, ihren Töchtern und Enkeln lassen sollten war keine Angelegenheit mehr. Doch nun verspürte die Älteste und Erste einen tödlichen Hauch, wie sie ihn bisher nie empfunden hatte. Etwas von oben kommendes machte ihr und ihren Familienangehörigen solche Angst wie ein weit ausgedehntes Feuer, vor dem nur Weglaufen half. Also trompeteten die großen Familienangehörigen laut den Gefahrenruf und trieben die gerade einmal wenige Hell und dunkel gewordenen Nachtlichter alten Kinder an, mit ihnen zu fliehen. Das seltene Gefühl größter Todesangst verlieh Granny Bonangas Herde eine überragende Kraft.

Auch andere hier lebende Geschöpfe fühlten die nahende Todesgefahr, die Antilopen, die bereits wild durcheinanderliefen, weil ein ganz dunkles, ihnen böses wollendes über sie hinweggeflogen war, sowie die ihnen wie gefährliche Schatten folgenden Mitglieder des Löwinnenrudels. Alle flohen, ohne zu erkennen wovor. Sie folgten nur ihren angeborenen Trieben, bei gefühlter Gefahr ganz schnell davor wegzulaufen, ob Antilope, Löwin oder Elefantenkalb. Die hier beheimateten Wesen konnten nicht wissen, dass sie nicht die ausgesuchte Beute der unheimlichen Kraft waren. Doch sie mussten fliehen.

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Anton Seidl, im Auftrag des Bayerischen Rundfunks aus München in der kenianischen Savanne unterwegs, hatte zum zehnten Mal bei seinem Kollegen Joseph Hinteregger angefragt, ob es was neues von Granny Bonanga gab. Er wusste doch, dass die sich mit ihrem Clan hier in der Gegend herumdrückte. Falls er sie zuerst filmen konnte würde ihm dieser kalifornische Technikfetischist Bailey eine Kiste Buttweiser spendieren müssen."

"Toni, irgendwas bringt die Sender von den Antilopen aus dem trott", sagte Hinteregger. Sie verfolgten nun die Flucht der Antilopen. "Wahrscheinlich der Weiberclub, den der Yankee auch schon mal vor den Linsen hatte", vermutete Toni Seidl. Er konnte sich nicht vorstellen, dass in dieser Gegend jemand anderes jagte, auch weiblich, aber wesentlich gefährlicher als hundert Löwen, Krokodile oder Nilpferde zusammen, tödlicher als zehn Bisse einer schwarzen Mamba. Das sollten er und seine zwei Kollegen in nur einer Viertelstunde erfahren. Doch sie würden es niemandem weitermelden können.

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Auf dem Grund des Atlantiks, irgendwo im Golfstrom, 22.08.2006 Menschenzeitrechnung

"Mittagssonne, die haben uns in eine Fall-aaaaaaa!" Das waren die letzten Worte eines treuen Kundschafters der einzig wahren Göttin der Nachtkinder, als sie die Unterhaltung einer ihrer Kundschafter in Europa fernüberwachte. Dann fühlte sie, wie die Verbindung mit der Seele des Kundschafters abriss. Jemand hatte ihr diesen Kundschafter vollständig entrissen. Durch die Augen eines anderen Kundschafters konnte sie sehen, wie durch Ritzen und Löcher schwarze Kugeln von blau-silbernem Flackern umgeben hereinschossen und einfach auf die hier versammelten Nachtkinder einschlugen. Diese erbebten und erstarrten. Dann lösten sich pechschwarze Schatten von ihnen und ballten sich wieder zu Kugeln zusammen. "Dieses in der heißesten Mittsommermittagssonne verbrennen gehörende Schattenweib!! Es hat uns einen Köder hingeworfen", gedankenknurrte Goriaimiria und versuchte zugleich, ihre in Gefahr geratenen Kundschafter mit Schattenstrudeln zu bergen. Doch die Angreifer hielten sie mit vereinten Kräften zurück, zerfetzten die wild kreisenden schwarzen Spiralarme. Eine Nachtkindseele nach der anderen erlosch, ohne wie an einem zurückschnurrenden Gummiband zu ihr und in sie hineinzuspringen. Ja, diese Schattenbrütigen rissen einfach die Verbindungen durch. Sie sandte schnell genug eigene Kraft dorthin, um ihr blutrotes Ebenbild entstehen zu lassen. Das gelang ihr zwar. Doch als sie fühlte, dass sie sich an jenem Ort manifestiert hatte tauchten noch zwanzig weitere Schatten auf. Die gestaltliche Anwesenheit der Göttin schlug um sich. Vier Schatten konnte sie zerschlagen. Doch die anderen stürzten sich auf ein unhörbares Zeichen auf die verbliebenen und saugten ihnen innerhalb von zwei Sekunden alles Leben und ihre Seelen aus. Schlagartig verlor Gooriaimiria die letzte Verbindung. Ihr Abbild verging in der Unendlichkeit des Raum-Zeit-Gefüges. Sie spürte nur die davon ausgehenden Zerfallswellen.,

"Die Nacht wird kommen, wo ich dich blutleeres Schattengezücht in Millionen Stücke zerreiße und deine widerliche Mehrfachseele verschlinge oder wenigstens in alle Richtungen wegpusten werde", schwor Gooriamiria nicht zum ersten mal. Sie war wütend, weil sie mal wieder nicht früh genug mitbekommen hatte, wie vertrauenswürdig Informanten sein konnten. Sie musste den laufenden Krieg mit dieser arroganten Schattenkönigin beenden, dieses blutlose Ungetüm vernichten, wollte sie ihr neues Nocturnia errichten. Sie wusste jedoch auch, dass die Schattenkönigin dieselben Feinde wie sie und ihre Glaubensgemeinschaft besaß. Die Ein- und wechselgestaltlichen Geschöpfe würden sie genauso vernichten wollen wie sie. Doch sie würde sich nicht die Blöße geben, mit diesen armseligen Geschöpfen, die ihr bestenfalls als Auswahlangebot für neue Nachtgeborene dienen konnten, gegen dieses Schattenungeheuer vorzugehen. Noch fühlte sie sich mächtig genug, sie mit ihren eigenen Kräften und Anhängern zu erledigen.

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In Birgutes neuer Herrschaftshöhle, 23.08.2006, eine Stunde nach Sonnenuntergang

Sie hatte ihre sieben neuen Kinder, darunter eine Tochter, gleich nach der Wiedergeburt nach Europa und in die USA zurückgeschickt. Reeto Vylibar, den sie zuerst geboren hatte, sollte ihr einen möglichen Kundschafter bei der kenianischen Regierung verschaffen, entweder durch Schattenpfand oder durch die Zuführung in ihren dunklen Schoß der wahren Macht der Nacht, wie sie das einzige feststoffliche Stück ihres neuen Körpers nannte.

"Mutter und Kaiserin, diese Vampirgötzin ist jetzt sicher noch wütender auf uns als so schon", frohlockte Garnor Reeko, der vor einer Minute bei ihr in der Höhle erschienen war. "Soll sie. Dann können wir ihre Anhänger noch leichter finden. Weiß sie immer noch nichts von den sogenannten freien Nachtkindern?" fragte sie.

"Die, die wir kassiert haben und die ja bis zur letzten Sekunde noch an der geistigen Langlaufleine ihrer großen Meisterin gehangen haben wussten nur, dass sie versucht, Spione bei denen einzuschleusen, Mutter und Kaiserin", sagte Garnor Reeko, der nach dem großen Sonnenlichtmassaker sowas wie ein General ihrer europäischen Streitkräfte war.

"Deine Ausgewählten haben aber keine Verbindung mehr zu dieser Blutsaugergötzin, oder?" fragte Birgute Hinrichter. "Nein, nachdem du uns beigebracht hast, dass diese Vampirgötzin ihre ehemaligen Leute auch nach dem körperlichen Ende noch zu sich hinziehen und jeden der dranhängt mitreißen kann passen meine Auserwählten auf, dass die nicht den Hauch eines Haares von denen an ihr dranhängen lassen."

"Gut, dann streben wir es an, genug eigene Volksangehörige zu haben, die dann gemeinsam das Unternehmen "Schlagschatten" durchführen können. Die Zusammenballung der rangniederen Brüder und Schwestern wird uns da sehr gut helfen. Außerdem werden wir uns diese sogenannte Liga freier Nachtkinder genauer vornehmen. Denn sicher kennen die von euch geschluckten Blutsaugerseelen weitere von ihrem Haufen. Wenn wir schnell genug sind kann die langzähnige Eidechse ihren Schwanz nicht mehr rechtzeitig abwerfen. Dann ziehen wir die ganze Eidechse aus ihrer Erdhöhle heraus und verputzen sie", legte Birgute unmissverständlich fest. Dass sie immer noch wütend war, weil die Sonnenkinder ihr viertausend Getreue, darunter zweihundert aus ihr herausgeborene Kinder ausgelöscht hatten wusste hier jede und jeder. Wie weit wären sie wohl schon heute, wenn diese weiteren Todfeinde der Kaiserin nicht diesen Schlag gelandet hätten? Darüber nachzudenken brachte aber nichts, wusste Garnor Reeko. Er dachte an sein fleischliches Leben zurück, wo er hunderte von Geschichten über rivalisierende Dämonen und Dämonenfürsten gehört hatte und das als reine Unterhaltung abgehandelt hatte. Doch seitdem er selbst ein Schattenwesen war wusste er, dass an diesen alten Kämpfen viel mehr dran war, als sich die Menschen vorstellen wollten.

"Uluran Guthurrab", mein treuer General Afrikas. Wissen wir mittlerweile mehr über den Bund der Akashiten?" fragte Birgute. "Ja, wissen wir. Wir konnten eine von deren Töchtern fangen und verhören. Diese Gruppe von Blutsaugern maßt sich an, dass ihnen alle Afrikaner gehören, auch wenn sie seit Jahrhunderten in Amerika leben. Befiehl es, und wir rupfen dieses Unkraut aus, O Mutter und Kaiserin!"

"Wenn wir wissen, dass dieser Bund sich mit den sogenannten Freien oder den Jüngern der kleinen Götzin zusammentun will ganz sicher. Aber erst mal sollen die sich gegenseitig beharken", erwiderte Birgute. Dann fragte sie ihren afrikanischen Heerführer noch: "Was ist an den Gerüchten von einem Tal der Mitternachtsbruderschaft dran, in dass nur freie Schatten oder männliche Menschen reinfinden?"

"Das gibt es. Es soll in Ägypten irgendwo am Oberlauf des Nils zu finden sein, Mutter und Kaiserin. Aber wo genau wissen wir noch nicht. Wir suchen jedoch nach ihnen."

"Wenn dort nur solche Nachtkinder reinkommen, die nicht von mir oder wem anderes überwacht werden bleibt uns nur, das Tal zu belagern wie eine widerstrebende Festung und zu hoffen, dass wir einen Weg finden, denen das Wasser abzugraben. Es sei denn, ich kann doch auf eine Streitmacht zugreifen, die eine sehr mächtige Rivalin von mir für sich eingespannt hat. Aber dann darf sonst niemand von euch in der Nähe dieses Tales sein, wenn wir wissen, wo es ist."

"Welche Streitmacht, o meine Kaiserin?" fragte Uluran auf der Hut vor einer harschen Zurechtweisung. "Wirst du erfahren, wenn ich weiß, dass sie mir dienen wird, vorher nicht", schnarrte die Kaiserin leise. Dann fragte sie noch danach, ob die Leute der nordafrikanischen Zaubereiministerien immer noch mit Sonnenlichtwaffen gegen ihre Kundschafter vorgingen.

"Ja, vor allem in Ägypten und Tunesien haben sie Waffen, die gezielt auf Geisterwesen wirken. Meinen Leuten, die es können, bleibt dann nur die Flucht in den Wunschsprung, meine Kaiserin."

"Ja, wir haben wirklich viele Fronten", schnaubte Birgute. Doch sie dachte dabei auch daran, dass sie und ihre Leute bei behutsamem Vorgehen all die überleben konnten, die gerade Jagd auf sie machten. Am wichtigsten war für sie erst einmal die Entscheidung im Krieg gegen die Möchtegerngottheit der fleischlichen Nachtschwärmer. Hatte sie den gewonnen und auch die fleischliche Schwester der in ihr aufgegangenen Riutillia besiegt, am besten auch zu einem Teil von sich gemacht, gehörte ihr die Welt bei Tag und bei Nacht. Das war ihr Ziel, das war Kanoras in ihr aufgegangenes Vermächtnis.

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In einer tiefen Höhle im Südwesten Ägyptens, 23.08.2006, nach Ende der Abenddämmerung

Das Geräusch war ihm so vertraut, das es trotz der verheißenen Gefahr schon was beruhigendes an sich hatte. Wie lange war es her, dass er eines von Apeps Enkelkindern unter seine Herrschaft gezwungen und damit ein aufständisches Dorf bestraft hatte? Doch das war jetzt wirklich unwichtig. Wichtig war, dass da vor ihm in der Grube bei der leise plätschernden Quelle eine gewaltige, mit eisenharten Schuppen bewehrte Spirale aus sieben aufeinanderliegenden Windungen und acht Männerschritten Durchmesser am Boden lag. Oben lag der mehr als ein Mann lang war breite und flache Kopf mit den seitlich angesetzten, mehr als Wagenrad großen Augen. Ein leises Schnaufen und Zischen entfuhr dem furchtbar bezahnten Maul. Dann schob sich die gespaltene Zunge von mehr als drei Manneslängen hervor und schmeckte die Umgebungsluft. Noch erkannte das Ungeheuer nicht, dass jemand in seine Schlafhöhle eingedrungen war. Denn der Eindringling hatte sich das Geruchloselixier über den Körper und alle angelegten Kleidungsstücke geschüttet, mit dem der Vorbesitzer seines Körpers schon die Töchter der Bastet ausgetrickst hatte.

Nun öffnete er den Mund und sprach mit zischenden und fauchenden Lauten: "Kind der großen mächtigen Urmutter und des großen starken Urvaters, höre mich und gehorche mir, weil ich dein Herr bin!" Mit seiner auch wenigstes Restlicht verstärkenden Gleitlichtbrille auf der Nase sah er, wie das Ungetüm den Kopf hob und mit seinen bleichen Augen mit senkrechten Pupillen zu ihm hinüberblickte. Wieder schnellte die gespaltene Zunge hervor, streckte sich bis zum Anschlag und suchte die Umgebung nach einer Duftquelle ab. Dann schnarrte und schnaufte das gewaltige Kriechtier: "Ichchch sssehe deine Wärme, doch schschschmeck ichchch dichchch nichchcht. Bisssst du wirklichchch?"

"Ja, ich bin wirklich. Und dass du meinen Geruch nicht schmeckst ist mein Zeichen, dass ich mächtiger bin als du. Also gehorche und folge mir!" erwiderte der ungenannte Herrscher in der uralten Sprache der Schlangen, die seine Vorfahren schon beherrscht und damit Apeps Kinder und Enkel gelenkt hatten. Er spürte, wie seine Worte im Kristall seines Ringes nachschwangen. Offenbar verstärkte er die durch die Schlangensprache geknüpfte Verbindung.

"Wasss willsssst du von mir, Ssstimme des Meisters?" fragte die ungeheure Riesenschlange ihren neuen Herren. "Deine Gefolgschaft und deine Stärke im Kampf gegen meine Feinde", verriet der Besucher der Schlangenhöhle. Dann sprach er noch den wahren Schlangennamen jener magischen Kreatur aus, womit er sie endgültig in seinen Bann schlug. So erhielt er die Antwort, die er erhofft hatte. "Ichchch folge dir, Meisssterrr!"

Wenige Minuten später, nachdem er dem uralten, durch Überdauerungsschlaf Jahre oder Jahrzehnte überwindendenEnkel Apeps in einfachen Begriffen verdeutlicht hatte, was er von ihm wollte, verließ er die Höhle wieder. Eine hatte er sicher, von zwölf Schlangenhöhlen wusste er noch.

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Die alte Felsenburg des Ibarisha-Clans im südlichen Bergland Albaniens, 24.08.2006, zwischen Abenddämmerung und Mitternacht

Der alte Drachenauge Ibarisha hockte in seinem quadratischen Studierzimmer und schmollte wie eine beleidigte Hofdame. Die Göttin der Nacht hatte ihn mal soeben als Clanführer entthront und seine missratenen Blutenkelinnen Iruna, Milena und Sanya zum Triumfeminat des Ibarisha-Clans erhoben. All zu gerne hätte er das alte Henkersschwert aus dem Keller geholt und jeder der Thronräuberinnen eigenhändig den Kopf abgehauen. Doch die hatten die bildliche Erscheinung der Göttin heraufbeschworen, die ihm dann die schändliche Aussicht bot, entweder als einfacher Burgverwalter den Stammsitz des über achthundert Jahre alten Clans zu pflegen oder vorzeitig das irdische Dasein zu verlieren, ohne die Gnade zu erhalten, in den Kreis der mit der Göttin vereinten Ahnen einzutreten. Er hatte dann auch noch einen Bluteid schwören müssen, die drei Thronräuberinnen nicht an Hab und Gut, Leib oder Leben zu bedrohen.

Gnädigerweise hatten sie ihm sein Studierzimmer und die dort verwahrten Bücher gelassen, wohl auch weil die wussten, dass keine von denen ein Buch aus dem Regal ziehen konnte und das Studierzimmer eine gewisse Abneigung gegen dort zu lange weilende Frauenspersonen hatte.

Der alte Drachenauge Ibarisha lauschte. Weiter unten im Ehrensaal, wo früher sogar erblühte Jungfrauen und Jünglinge als Opfer der Gemeinschaft dargebracht wurden, tagten nun die drei Schwestern und die fünf Clanführer Osteuropas. Na, ob die wussten, dass sie auch bald nichts mehr zu bestimmen hatten? Es ging um die immer gnadenloser werdende Bejagung von nichtmenschlichen Zauberwesen durch die osteuropäischen Zaubereiministerien. Diese, so hatte es Milena gerade wiederholt, seien doch nur Marionetten einer einzelnen, doch sehr mächtigen Hexe, die sich als Kaiserin von allen Rotblütlern aufspielte. Die Idee, einen Krieg der Rotblütler anzuzetteln klang interessant, würde jedoch wegen Ladonnas Einfluss nicht gelingen. Denn die wollte keinen blutigen Krieg, sondern eine zielgerichtete, mehr auf Listen und Falschmeldungen setzende Eroberung erreichen. Die Russische Abordnung, geführt von Collja Schattenhaupt, bestand jedoch auf eine klare Vereinigung zwischen allen slawischen Nachtgeborenen, auch wenn die Göttin das bisher nicht für nötig hielt. Der abgesetzte Clanführer grinste breit, wenn er daran dachte, dass Collja Schattenhaupt als Neumondgeborener sicher mehr Widerstandskraft gegen die Göttin aufbot. Konnte aber auch sein, dass der alte sibirische Raffzahn noch vor Monduntergang auf nimmer Wiedersehen vom Angesicht der Erde verschwand, wie es ihm ja selbst angedroht war.

"Wir dienen nur der Göttin, dann auch noch ihren Priesterinnen, Collja Schattenhaupt. Bedenke, dass die Göttin gerade zuhört und jederzeit das Wort ergreifen mag", hörte er Milena, die wegen ihres halmdünnen Körpers auch Nachtgras genannt wurde. Collja Schattenhaupt grummelte nur missmutig. Also wusste der schon, dass die Göttin bei mehr als zwei treuen Anhängern gestaltlich erscheinen konnte.

Es ging noch ein wenig hin und her, warum die russischen Clans über alle anderen slawischen Clans herrschen sollten und am Ende auch die wenigen noch in Griechenland lebenden Nachtkinder anleiten sollten. Für die drei neuen Herrinnen von Burg Ibarisha war es doch längst klar, dass sie sich Collja nicht unterordnen würden.

Eine leise Glocke unter der Decke bimmelte. Der ehemalige Clanführer blickte besorgt durch jedes der beiden Fenster. Kam es ihm nur so vor oder kroch gerade ein tiefschwarzer Nebel den felsigen Burgberg herauf? Seine Glocke warnte jedenfalls vor einer feindlichen Kraft. Doch dann schepperte sie nur kurz und verstummte.

Der ehemalige Clanführer sprang zur wand neben dem Bücherregal und pflückte ein Langschwert mit schmaler Klinge von der Wand. "Mondzahn" hieß dieses Schwert und blinkte wahrhaftig im Mondschein, als strahle es diesen aus und spiegele ihn nicht. Mit diesem Schwert, im Blut von zehn Ibarisha-Kriegern gehärtet, konnten Werwölfe durch eine leichte Schnittwunde getötet werden und Nachtkinder, denen die Klinge einen Körperteil abtrennte oder für mehr als zwei Herzschläge in den Leib getrieben wurde, verbrannten in einem unheimlichen Silberfeuer. Wer immer nun anrückte sollte ihn nicht wehrlos finden.

"Was geht da oben vor, alter?" rief Sanya, die wegen ihrer fülligen Gestalt Blutfass genannt wurde. "Das ist die Feindeswarnglocke des Ibarisha-Clans, Blutfass. Irgendwer greift uns gerade an", krächzte Drachenauge Ibarisha verächtlich. "Wenn ihr an die Waffen wollt, ich kenn wen, der den einzigen Schlüssel zur Waffenkammer hat", fügte er noch hinzu.

"Dann rück ihn raus oder vergehe im Zorn unserer Göttin", klang Milena Nachtgrases Befehl. Drachenauge wollte schon einwenden, dass er sich von ihr nichts befehlen lassen würde, als die Stimme der Göttin selbst in ihm dröhnte: "Tu was sie dir sagt, denn sie spricht für mich!"

Angewidert kleinlaut eilte er mit dem Schwert unter seinem Umhang nach unten. Dabei merkte er, dass die Luft immer dichter wurde. Ja, und sie wurde dunkler. Für ihn als Nachtsichtigen war das noch keine Belastung. Doch die immer dichtere Luft gefiel ihm nicht.

Er gab der stämmigen Iruna Blutstern den klobigen, zweibärtigen Schlüssel zur Waffenkammer von Burg Ibarisha. Doch als die Anwesenden vor der mit dicken Eisenbeschlägen verstärkten Tür aus zweilagigen Holzbohlen stand wurde es so dunkel, dass sonnenabhängige Wesen nichts mehr gesehen hätten. Die Nachtgeborenen sahen einander noch, weil die Dunkelheit ihr Reich und ihr Schutz war. Doch die schwere der Luft machte ihnen zu schaffen. Dann sagte Milena: "Das sind Dementoren." Ihre Stimme klang unheilvoll tief und verwaschen. Sanya Blutfass versuchte, die Tür zur Waffenkammer zu öffnen. Doch die war wie festgebacken. Nein, festgefroren. Über die Tür, die Wände und wohl jede andere Oberfläche zog sich eine immer dickere Eisschicht. Ja, es war offenbar sehr kalt hier.

"A'f d'n T'rm 'nd weggefl'g'n!" dröhnte die Stimme der Göttin sehr fremdartig verzerrt in Drachenauges Geist und wohl nicht nur in dessen.

"Los, wir müssen wegfliegen!" rief Milena. Doch ihre Stimme klang wie das Angstgebrüll einer Kuh vor der Schlachtung. Als Drachenauge was erwiderte klang seine Stimme zerhackt und ebenso unheilvoll tief und befremdlich. Dann legte sich etwas wie ein Eisenring um sein Gehirn. Nicht von außen, sondern von innen!

"Verweilt und unterwerft euch!" dröhnte eine dreifach widerhallende Frauenstimme in Drachenauges Geist. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Die Luft schien zu Brotteig verdichtet zu werden.

"Weg hi'i'i'ier!" rief eine Stimme, die jedoch wegen der unheimlichen Verfremdung nicht mehr zu erkennen war.

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Aldous Crowne alias Schattenreiter sollte nur beobachten und bei einer möglichen Flucht der Belagerten mit Sharon eingreifen. Die in der Schattenform mit einem unheimlichen Eigenleben erfüllte Yamaha, die unter seinem Hinterteil angewachsen schien, witterte bereits die Beute, alles Blutsauger. Den einen, der da vorhin noch im Turmzimmerchen gehockt hatte, hätte sie schon gerne gefressen. Doch was die Gebieterin befahl galt. Die griff nun mit ihrer eigenen stärksten Waffe an, dem Mantel der Dunkelheit.

Der Schattenreiter bekam mit, wie die Burg von völliger Dunkelheit eingehüllt und unter einer lichtlosen Halbkugel eingeschlossen wurde. Er spürte seine Herrin, die gerade in Gestalt eines überdimensionalen Nachtfalters über die Mauer hinwegflog. Sie würde sich die hier versammelten Blutsauger einen nach dem anderen vornehmen und so auch deren Wissen erhalten, um der angeblichen Göttin eine entscheidende Niederlage beizubringen.

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Die Gelegenheit musste sie nutzen. Sie wusste zwar, dass die Götzin der Blutsauger jeden ihrer Diener mit mehr Kraft aufladen konnte. Doch gegen den Mantel der Dunkelheit kam das nicht an. Ebenso konnte sie ihre langzähnigen Marionetten nicht einfach so wegholen, weil die von Thurainilla ausgebreitete magische Finsternis jede andere dunkle Kraft schluckte oder abwies. Sie meinte schon, dass die Blutsauger ihr sicher seien. Doch sie irrte sich.

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Zur selben Zeit irgendwo auf dem Grund des Atlantiks mitten im Golfstrom

Gooriaimiria fühlte den Angriff auf ihre Vertrauten in Albanien und wollte sie zu Gruppen zusammenrufen, um sie fortzuholen. Doch da merkte sie, dass sie wegen der großflächigen Bezauberung keinen Schattenstrudel erschaffen konnte. Schlimmer noch, nur eine einzige Quelle dieser Dunkelkraft reichte aus, um alle davon durchdrungenen in Gleichschwingung zu bringen und diese Kraft zu verstärken. Sie wusste, wer das war, keine Dementoren, sondern die Erzfeindin aller Nachtgeborenen, jene, die die Dunkelheit selbst formen und lenken konnte, solange keine Sonne schien. Sie wollte offenbar die versammelten Nachtkinder unterwerfen.

Diese drohten ihr auch mehr und mehr zu entgleiten, ihr, der noch über 900 Seelen starken Gesamterscheinung Gooriaimiria. Sie hörte die magisch verstärkte Stimme der Feindin in den Gedanken der von ihr überwachten nachschwingen. Die wollte jeden von ihnen einfangen um ihn oder sie auszuforschen, mehr über sie, die wahre Göttin aller Nachtgeborenen, herauszubekommen. Wieso war die so stark? Nein! Keiner und keine ihrer Getreuen durfte ihr in die Hände fallen. Sie stieß mit all ihrer gebündelten Kraft den Befehl zum letzten Dienst aus: "Endet im Namen der Gemeinschaft! Gebt mir eure Leben!"

Die wagten es erst, sich dagegen aufzulehnen. Doch nach dem dritten Befehl gehorcchten sie. Ihre Körper versagten den Dienst. Ihre Seelen schrien noch einmal auf. Dann traten sie aus den Körpern der Getreuen aus. Sie bekam sie zu fassen und zog sie durch die dunkle Macht hindurch zu sich hin. Dann sprangen sie schnell wie ein Gedanke auf sie über und wurden eins mit all jenen neunhundert Seelen, die bereits in ihr verwoben waren. Dreißig treue Seelen, die sie hatte an sich reißen müssen, um einen Verrat an ihr und ihrer Sache zu verhindern. Wut und Unsicherheit durchwogten das aus neunhundert und mehr bestehende Wesen, dass im Mitternachtsdiamanten eingebettet war.

Die Göttin dachte daran, dass sie in dem Augenblick, wo sie die Seelen der Getreuen zu sich hinrief, noch einen kurzen, wütenden Aufschrei einer einzigen Frauenstimme gehört hatte. Ja, sie hatte dieser Erbfeindin einen gehörigen Streich gespielt. Die hatte wirklich gehofft, mit ihrem Dunkelheitsverdrehungszauber gegen die Kraft und den Willen der Göttin bestehen zu können. Doch die große Mutter der Nacht erkannte zu ihrem Verdruss auch, dass sie gerade einen heftigen Rückschlag hingenommen hatte. Ein Gutteil der slawisch-albanischen Getreuen war mit diesem einen Schlag ausgelöscht. Sicher, sie hatte deren ganzes Wissen und alle Erinnerungen in sich aufgenommen. Doch was nützte das, wenn gerade keine Erfüllungsgehilfen aus Fleisch und Blut verfügbar waren? Somit hatte die andere einen Punktgewinn erzielt, auch wenn sie das eigentliche Ziel nicht erreicht hatte.

Dann erfuhr sie auch noch, dass die Aufrührer der angeblichen Liga freier Nachtkinder mal wieder einen ihrer nicht gesondert gesicherten Stützpunkte mit dieser vermaledeiten Freisetzung von gesammeltem Sonnenlicht in die Luft gesprengt und dabei zwanzig weitere ihrer Nachtkinder umgebracht hatte. Das schlimme dabei war, dass die freigesetzte Sonnenlichtzauberei die Verbindung zu ihr durchbrannte und die so aus ihren Körpern gerissenen Seelen nicht zu ihr hinsprangen, um eins mit ihr zu werden. Das würden diese Widersetzlichen bald büßen und auch jene, die ihnen diese verachtenswerten Waffen in die Hände gaben, damit Nachtkinder andere Nachtkinder umbringen konnten.

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Bei der Burg Ibarisha in Albanien

Die gerade als mehrere Meter großer Nachtfalter über den Burghof flatternde Thurainilla fühlte, dass ihr Mantel der verschlingenden Dunkelheit Wirkung zeigte. Gleich konnte sie sich die Götzinnenanbeter vornehmen. Sie spürte, dass diese von ihrer Götzin noch Kraft erhielten, aber nicht von dieser fortgeholt werden konnten. Dann erteilte die denen allen Ernstes den Befehl, zu sterben. Bei denen, die keine Sekunde vom Befehl bis zur Ausführung brauchten fühlte sie, wie ihre Seelen in der verdichteten Dunkelheit trieben. Sie musste sie an sich bringen. Doch ohne Riutillia, ihre geisterhafte Zwillingsschwester, ging das nicht so wie früher. "Aldous, sag Sharon die entwischenden Weibchen einzusaugen!" dachte sie ihrem Abhängigen zu. Dieser bestätigte es. Doch Sharon bekam die aus der Dunkelheit entweichenden Seelen nicht mehr zu fassen. Ihr Unlichtstrahl konnte sich nicht schnell genug in die betreffende Richtung drehen, bevor die angezielte Seele zeitlos den Standort wechselte und womöglich irgendwo im Atlantik in den Seelenverbund ihrer Herrin und Meisterin eintauchte und darin aufging wie Wachstropfen in offenen Flammen. Innerhalb von nur zehn Herzschlägen gab es in dieser Burg kein lebendes und denkendes Wesen mehr. Thurainilla holte den aus zehn einverleibten Leben geschöpften Mantel der erdrückenden Dunkelheit in ihren Körper zurück. Dann rief sie dem Schattenreiter zu, in seinem Höhlenversteck zu verschwinden. Sicher würde die Blutgötzin noch ihre Superkrieger herschicken, sobald die wieder ihre Schattenstrudel erschaffen konnte.

Thurainilla versetzte sich noch in ihrer Tiergestalt in ihre Höhle. Sogleich glühte der rot glosende Krug weißgolden auf, weil seine Herrin wieder da war.

"Hast du es nicht geschafft?" wollte Ullituhilia wissen, als Thurainilla ihren noch verbliebenen Schwestern von ihrem Angriff erzählte. "Nein, sie hat ihnen allen den sofortigen Tod befohlen", schickte sie zurück. "Wäre auch zu schön gewesen, wenn wenigstens du ein Erfolgserlebnis gehabt hättest, gedankenschnaubte Ilithula. Nachdem feststand, dass sie durch die Einkehr Tarlahilias in ihren Körper aus Lahilliotas Schlafbann erweckt worden war wussten die verbliebenen Schwestern, dass sie noch einen Feind mehr dazubekommen hatten. Da galt es, mit denen, die zu besiegen waren schnellstmöglich aufzuräumen.

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Millemerveilles, 24.08.2006

Es Brannte Julius den ganzen Tag auf den Nägeln, an einen Rechner zu gehen und sich die Nachricht zu holen, wie die internationale astronomische Union über den Status von Pluto entschieden hatte. Die Frage war ja, ob der von Clyde Tombaugh am 18. Februar 1930 entdeckte Himmelskörper ein anständiger Planet war oder eben nur einer von vielen hundert Kleinkörpern am Rand des Sonnensystems. Doch weil wegen der Gerichtsverhandlungen gegen die Sanguis-Purus-Anführer eben mit eingeschränktem Personal gearbeitet werden musste und wegen des bald beginnenden Schuljahres noch Formalitäten bei den Kindern aus reinen Nichtmagierfamilien anstanden kam Julius nicht dazu, nachzufragen.

Als er endlich wieder im Apfelhaus ankam begrüßten ihn neben seinen beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen und den Kindern auch Laurentine Hellersdorf und Uranie Dusoleil. Laurentine wirkte selbst so, als sei sie vor einigen Wochen erst Mutter geworden. Julius und Millie wussten ja, dass sie auch als Amme für die kleine Lucine eintrat.

"Ich habe mir als an Astronomie interessierte und für das Schulfach Sach- und Naturkunde zuständige Fachkraft erlaubt, die Neuigkeit an Mademoiselle Dusoleil von Amici Stellarum und Ihre Vereinsmitglieder weiterzugeben", sagte Laurentine. "Die in Prag haben es jetzt amtlich gemacht. Pluto ist kein großer Planet mehr. Sie haben ihn mit Ceres, Vesta, Pallas und allen anderen nach ihm entdeckten Körpern zu Zwergplaneten erklärt und bei der Gelegenheit gleich neue Grundbedingungen festgelegt, was ein Planet ist. Damit haben die Nichtmagier mit den magischen Astronomen gleichgezogen, die Pluto bis dahin als Miniaturplaneten bezeichnet haben."

"Okay, dann kuck ich mir das mal im Internet an, wie das abgelaufen ist und wie diese neue Definition von Planeten lautet", sagte Julius.

"Als ich das von Laurentine erfahren habe und das meinen Sternenguckerkameradinnen und -kameraden weitergemeldet habe haben viele laut gelacht und gemeint, dass den Yankees der Spaß an ihrer achso großen Entdeckung genommen worden war", sagte Uranie Dusoleil. "Es war ja immer schon sehr umstritten, wie Pluto einzuordnen ist, wo es mehr als hundert gleichartige Himmelskörper wie ihn gibt."

"Ja, und die Abstimmung ist auch mit knapper Mehrheit ausgefallen. Es gab durchaus auch Abgesandte, die um der Jahrzehnte alten Weltanschauung und weil sie es sich wohl nicht mit den Kollegen aus den USA verderben wollten alles so gelassen hätten", meinte Laurentine. "Aber du brauchst nicht an deinen Rechner, Julius. Ich habe alle relevanten Daten ausdrucken lassen."

"Na ja, aber du weißt, dass Live-Berichte lebendiger sind als bloße Zeitungsartikel", erwiderte Julius.

"Wie bitte?!" schaltete sich Millie ein. "Das kannst du nicht abstreiten, Millie, dass etwas direkt mitzuerleben mehr hergibt als es in der Zeitung zu lesen, auch wenn du oder wer sonst sich noch so reinkniet, alles möglichst detailgenau und gefühlsbezogen rüberzubringen", blieb Julius bei der gerade geäußerten Ansicht. Millie meinte dazu: "Deshalb ist es ja auch immer gut, wenn Interviews und Fotos beigefügt werden können. Aber wir wollen gleich essen, und du siehst gerade sehr hungrig aus." Julius wollte dem nicht widersprechen. Uranie meinte dazu: "Ich will dann auch gleich wieder zu Jeanne und meine fünf Nachkommen einsammeln, bevor Bruno denen noch irgendwelchen Unfug beibringt."

"Bleibt es dabei, dass ich mit dir und deinem Kollegen Canopus Messier noch über diese welterschütternde Sensation reden darf, Uranie?" fragte Millie.

"Ja, morgen früh um zehnn, hat Canopus Messier zugestimmt", sagte Uranie Dusoleil. Dann verabschiedete sie sich von Laurentine und den Latierres.

"Wolltest du mit uns essen, Laurentine?" fragte Julius die ehemalige Klassenkameradin. Diese schüttelte den Kopf. "Ich esse mit Louiselle und den Brickstons zusammen. Joe hat sich damit abgefunden, dass Louiselle und Lucine jetzt mit dazugehören. Mal gucken, wie lange das gut geht. Aber weil Babette gerade auf Urlaub von den Löwen ist will Joe sich nicht wegen Louiselle oder der Kleinen zu weit aus dem Fenster lehnen."

"Und du kommst mit Lucine auch noch gut zurecht?" fragte Julius. "Ohne jetzt intime Einzelheiten auszuplaudern kann ich sagen, dass mir das bisher gut gelingt, mit Lucine klarzukommen und dass ich durch sie und Louiselle auch einen besseren Halt im Alltag habe, auch wenn Lucine merkwürdige Schlaf- und Wachzeiten hat. Aber da erzähle ich dir ja echt nichts neues."

"Ja, dann wünsche ich euch noch einen erholsamen Abend und dir und deinen beiden Mitbewohnerinnen mal eine Nacht ohne zu frühes Wachwerden", sagte Julius. Millie meinte dazu noch: "Vielleicht willst du ja auch mal so was quirliges wie Lucine selbst ausliefern. Dann hast du die ganze Erfahrung, die Béatrice, Uranie und ich schon gemacht haben."

"Bei allem Respekt, aber die Erfahrung von Uranie Dusoleil brauche ich echt nicht", erwiderte Laurentine. "Die hängt sich jetzt voll in alle astronomischen Sachen rein, um nicht damit hadern zu müssen, dass sie als alleinerziehende Mutter von fünf von ihr eigentlich nicht geplanten Kindern zurechtkommen soll. Ich würde mich da auch nicht so drüber auslassen, wenn ich nicht dauernd mit Philemon und seinem Verhalten biparental erzogenen Kindern gegenüber zu tun hätte. Auch deshalb sehe ich zu, dass Lucine nicht den Eindruck kriegt, unerwünscht zu sein. Bis dann demnächst wieder", sagte Laurentine noch. Dann flohpulverte sie in die Wohnung "Pontt des Mondes".

"Laurentine blüht richtig auf, seitdem die Kleine bei ihr in der Wohnung ist", meinte Millie. Béatrice nickte und sagte: "Ja, und wie ihr beiden sehen konntet ist dies auch körperlich zu verstehen." Dem wagten Millie und Julius nicht zu widersprechen.

Nach dem Abendessen ging Julius noch einmal in sein Baumhaus, um sich doch noch Originalaussagen von der IAU-Zusammenkunft anzuhören und auch Originaltöne aus den USA mitzuhören, wie die Wissenschaftler dort über die Degradierung des Pluto sprachen. Immerhin hatte man ihnen ja "Ihren Planeten" weggenommen. Aber gemessen an den umgestürzten Weltbildern der letzten drei Jahrtausende war das mit Pluto noch ganz harmlos.

Seitdem die drei jüngsten Familienmitglieder ihre ersten Tage im Kinderhort von Millemerveilles zubrachten galt die ganz geheime Absprache zwischen Béatrice, Millie und Julius, wann er bei welcher der beiden großen Hexen die Nacht verbrachte. So hatte er gestern neben Béatrice geschlafen, ohne mit ihr zu schlafen. Sie hatten es beim Kuscheln belassen und sich leise noch Sachen aus dem erlebten Tag zugeflüstert. Da er Millie nicht erzählen durfte, was er mit der gemeinsamen Mitbewohnerin erlebt hatte ging diese wohl davon aus, dass er es gleich mit Trice getrieben haben mochte und forderte das ein, was konservative Familienleute als eheliche Pflichten verstanden. Vielleicht ging es ihr auch wirklich darum, jetzt, wo die tägliche Unterbringung der drei kleinsten sicher war, wieder auf wen neues hinzuarbeiten. Da er sich trotz der sechsfachen Belastung noch nicht zu überfordert fühlte wollte er nicht die Spaßbremse vom Dienst sein, ihr das auszureden oder sich nur deshalb von ihr zurückzuhalten, damit er nicht schon im nächsten Jahr Tochter Nummer sechs im Leben begrüßen musste.

"Kriege ich raus, dass du nicht mehr gut mithalten kannst kläre ich das mit Trice noch einmal, ob das so eine gute Idee war, dich mit ihr zu teilen", meinte Millie, nachdem sie beide es noch einmal so richtig hatten wissen wollen. Er erwiderte darauf: "Wie, warst du jetzt nicht zufrieden, Mamille."

"Doch, auf jeden Fall. Nur ob das nach einem halben Monat oder einem halben Jahr noch so ist weiß ich noch nicht. Deshalb sagte ich das gerade." Julius hütete sich davor, darauf zu antworten. Er küsste seine offiziell angetraute Ehegattin noch einmal. Dann lagen sie nebeneinander, erschöpft aber glücklich, bis sie in den wohltuenden Schlaf fielen.

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In der Grabkammer des Hofmagiers Nessamun Toothep, 26.08.2006, kurz vor Mitternacht

Das war einer der nächsten Aufträge gewesen, den die Bande von Gringotts McBane und dessen Mitverschwörern aufgetragen hätte. Dieses Grab am westlichsten Rand vom Tal der Könige, wo neben goldenen Grabbeigaben und ein mit silbernen Spangen verschlossener Sarkophag zu finden waren, beinhaltete mehrere Dutzend Wandreliefs aus purem Silber, verflucht und mit dem Blute unschuldiger Mädchen und Knaben beschrieben. Diese Gruft beherbergte eine Armee von zwanzig gefangenen Seelen, Widersacher des Hofzauberers von Amenophis III.

Es war nicht einfach gewesen, all die Flüche zu finden, die das Grab vor unbefugten Augen verschlossen hatten. Doch dann hatte er mit Hilfe des Unlichtkristalls die Siegel brechen, die Wirrsalfallen überwindenund sogar die lebendig gewordene Anubisstatue besiegen können, die vor dem Eingang zur Grabkammer stand. Er hatte das leise Stöhnen aus den Wänden gehört und auch das ganz leise, geisterhaft an- und abschwellende Klopfen aus einem der vielen Eingeweidegefäße im steinernen Regal gehört. Also stimmte es. Nesamun Totheps Herz war wieder lebendig und beherbergte dessen Geist, weil der alte Magier, mit dem sich der gerade hier herumstrolchende Eindringling sicher sehr gut verstanden oder bis aufs Blut bekämpft hätte, nicht ins andere Land überwechseln wollte. Hinzu kam sicher, dass auch hier die Kraft der dunklen Welle eingeflossen war. So erschrak er nicht, als er eine wispernde Stimme hörte, die eine ähnliche Sprache wie er sprach, aber doch schwerer zu verstehen war, da McBane sie nicht erlernt hatte.

"Ich fühle deine Nähe, Suchender. Willst du meine Macht? Ich gebe sie dir gerne. Du musst nur den tönernen Kerker öffnen, in dem mein Herz liegt und es an deine bloße Brust legen, und mein Wissen und meine Kraft werden dein sein."

"Netter Versuch, Gesinnungsbruder. Aber der Trick war schon zu meiner Zeit alt und mich gab es schon weit vor deinem Herren und dir", gedankensprach der ungenannte Herrscher in seiner altvertrauten Sprache.

"So, was soll dir schon schlimmes widerfahren, Suchender?" hörte er die Stimme des gebannten Magiers im Takt des leise klopfenen Herzens. "Dass du mit deinem Herzen in meine Brust eindringst, dich dort breit machst, mein Herz hinausdrängst und dann meinen Geist hinterherschleuderst, auf dass ich an deiner Stelle in diesem Töpfchen dort darben soll. Ich bin der, der nach Amenemhet König wurde, der ware Nachfolger von Amenemhet, nicht dieser Weichling Sesostris. Ich will nur deine körperlose Leibgarde auf mich einschwören. Dann bin ich wieder weg.

"Du wirst meine Garde nur gewinnen wenn du die richtigen Worte kennst, und die weiß nur ich. Also wirf ab dein Misstrauen und vereine dein Leben mit meiner Macht!"

"Ich sagte nein", antwortete der ungenannte Herrscher. Dann nahm er im Schutze seines Unlichtkristallringes alle Reliefs von den Wänden. Die darin schemenhaft sichtbaren Geister heulten in seinem eigenen Bewusstsein und machten Versuche, ihren flachen, silbernen Kerkern zu entschlüpfen.

"Aufschneider. Wenn du wirklich der wärest, als der du dich ausgibst wüsstest du, dass du meine Gardisten nicht von hier fortbringen kannst, ohne dass sie an meiner Statt deinen Leib ergreifen und sich darin einnisten werden. Also wähle das kleinere Ungemach und gewähre mir Einlass in deinen Leib."

"Denkst du, ich wäre eine deiner Bettgespielinnen, Herzchen? Du bleibst da wo du bist. Vielleicht darf dich einer der Spitzohren von Gringotts ja bei sich reinlassen, wenn du auf spitze Ohren und lange Finger stehst. Es sei denn, ich erledige diese Schakale vorher."

"Der Tag wird kommen, wo dein Herz gewogen wird und es der Amut zum Fraße vorgeworfen wird." Der ungenannte Herrscher wusste von Rore McBane, dass während der späteren Dynastien der Glaube an ein Totengericht in Gebrauch war, bei dem das Herz des Verstorbenen gegen eine Feder gewogen wurde. War es schwerer, wurde der Tote nicht ins Totenreich gelassen, sondern sein Herz, der Sitz der Seele, der gefräßigen Göttin Amut oder Amit zum Fraß vorgeworfen, auf dass der Tote endgültig verging. "Ach, hattest du vielleicht Angst, diese erheiternde Mischform von Löwe, Panzerechse und Breitmaulflusspferd hätte dich gefressen, Herzchen? Dann bleib besser da, wo du jetzt bist, bevor du mit einem anderen Körper noch einmal stirbst und dann doch verfüttert wirst. So, und deine Silbertafeln nehme ich jetzt alle mit. Vielen Dank dafür und auf dass das alte Reich in ganzer Größe und Erhabenheit wiedererstehen möge."

"Du wirst es nicht überleben, meine Wächter. Ergreift den Frevler!" rief die Stimme des an sein eigenes Herz gebundenen Nesamun Toothep. Da glühten die Tafeln auf. Doch der Ungenannte strich nur kurz mit dem Unlichtkristall darüber. Die Tafeln gefroren wieder. Doch sie würden sich in einem Tag wieder erholen und dann ihre schaurigen Bewohner freigeben, wenn sie weit ab von dem sie bannenden Quellstein und dem schlagenden Herzen des Nesamun Toothep waren.

Er gewährte dem auf Ewig in seinem Grab eingeschlossenen Magier keinen weiteren Gedanken. Er verließ die Grabkammer und schloss sie mit eigenen Flüchen und Siegelzaubern, damit wer immer herkam keinen Verdacht schöpfte, hier sei nichs mehr zu holen. Es würde sicher erheiternd sein, wer so einfältig sein mochte, vielleicht Bill Weasley, falls sie den schon wieder arbeitsfähig geschrieben hatten. Tja, nur dass dann kein Chapknock und kein Wittrock mehr da waren, um ihm neue Aufträge zu geben.

Wieder in seiner eigenen Grabstätte legte er die Tafeln in eine Kiste, so, dass er immer eine zur Zeit hervorholen konnte. Er musste aufpassen, dass die Grabstätte die freikommenden Geister nicht selbst verschlang. Er brauchte frei bewegliche Geisterkrieger.

Dann fiel ihm ein, wo er noch starke rastlose Seelen finden würde. McBanes Gedächtnis enthielt ein Gespräch mit Chapknock, der von einem Tal der Schatten gesprochen hatte, in das sich eine Bruderschaft von mächtigen Zauberern des Anubis zurückgezogen hatte, um dort ihrem Gott neue Seelen zuzuführen. Sie waren schattenhafte Wesen, schwarz wie die Nacht. Doch er musste sich gut erholen, bevor er gegen diese Wesen kämpfte.

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Millemerveilles, 27.08.2006

Aurore hatte es sich gewünscht, dass ihre beiden Großelternpaare auch dabei sein sollten. Daher war Martha Merryweather mit Lucky herübergekommen und hatte die vier kleinen Merryweathers mitgebracht.

Traditionell trugen alle angehenden Erstklässler der Grundschule bunte Umhänge oder Kleider, um die Vielfalt des nun beginnenden Lebensabschnittes zu zeigen. Aurore Béatrice Latierre, die heute vom Vorschulkind zur Grundschulerstklässlerin wurde, trug dazu noch eine silberne Haarspange in Form einer Apfelblüte, die sie zum sechsten Geburtstag bekommen hatte. Sandrines Zwillinge Estelle Geneviève Fantine und Roger Brian trugen farblich aufeinander abgestimmte Umhänge. Estelle zeigte, dass sie ein Mädchen war, indem sie sechs sorgfältig gedrehte Zöpfe trug, die von sonnengelben Bändern zusammengehalten wurden. Roger trug einen sonnengelben Zaubererhut mit abgerundeter Spitze und den goldenen Buchstaben ABC-JAGDLEHRLING. Ähnlich wie in nichtmagischen gemeinschaften bekam jedes neue Schulkind eine Schultüte mit Süßkram und allem, was ein Kind noch nötig hatte und ein Schulkind schon gut gebrauchen konnte. Vor allem das morgenrotfarbene Heft für die ersten selbst gelernten Buchstaben und Übungen damit machte Aurore Stolz, wohl weil sie mit fünf schon ihren eigenen Namen in Druckbuuchstaben und in hierzulande gebräuchlicher Schreibschrift schreiben konnte. Von ihrer in dem großen Land Amerika wohnenden Mémé Martha hatte Aurore ein Buch "Von Zahlen und vom Zählen" bekommen, in dem bildhafte Beispiele für immer wieder auftauchende Mengen enthalten waren, die, so Martha Merryweather, helfen konnten, Zahlenfolgen besser auswendig zu lernen.

"Gleich geht es los. Dann läutet die Glocke, und wir haben ein großes Mädchen mehr im Haus wohnen", sagte Julius. Dass er den Spruch seines Vaters zu seinem ersten Schultag abwandelte wusste wohl nur noch seine Mutter, die neben Hippolyte stand, die froh war, heute nicht im Ministerium arbeiten zu müssen, da die Einschulung eines Blutsverwandten des ersten bis dritten Gliedes ein Beurlaubungsgrund war. Anderswo waren dies nur Hochzeiten, Kindeswillkommensfeiern und Beerdigungen.

"Weißt du schon, wer der Lehrer oder die Lehrerin ist?" fragte Aurore ihren Vater. "Wie, haben dir das Estelle und Roger nicht gesagt?" fragte Julius zurück. Denn er wusste es selbst nicht. "Die meinten nur, dass ihre Mémé Genni das nur dann erzählte, wenn auch wirklich alle neuen Schulkinder da sind, nicht vorher."

"Könnte es Laurentine sein?" fragte Millie mentiloquistisch. Julius schickte ihr zurück, dass es möglich wäre, wenn es nur nach Geneviève Dumas ginge. Sie sei zwar Direktrice, müsse aber bei solchen Sachen immer das Kollegium befragen, wer für so eine wichtige Aufgabe genug Zeit habe. Ob Laurentine da genug Zeit hatte, vor allem jetzt mit Lucine wusste er nicht.

"Die Patinnen und Paten bitte hier auf die Bühne!" trällerte die erwähnte Schuldirektrice, die ein himmelblaues Kleid und einen weißen Hexenhut trug. Julius kannte das noch nicht, weil er bisher keine Einschulung mitbekommen hatte. Er hatte nur davon gehört, dass ältere Mitschülerinnen und Mitschüler die Erstklässler durch das erste Vierteljahr begleiteten, um ihnen die Umgewöhnung zu erleichtern. Dabei war wichtig, dass eine neue Schülerin von einer älteren, nicht direkt verwandten Schülerin und ein Schulanfänger von einem älteren, nicht direkt verwandten Schuljungen betreut wurde. Die Patenschaft konnte, so wusste es Julius aus seinen Stellvertretungsstunden, bei erfolgreicher Eingliederung auf die Notenwerte aufgeschlagen werden, so wie es in Beauxbatons auch war, wenn wer sich in Freizeitgruppen oder für die Schule selbst ausgezeichnet hatte.

"Clau...", setzte Aurore an, als Claudine Brickston in der Reihe der Patinnen und Paten auf die runde Bühne stieg. Doch Julius zischte: "Nicht die Stimmung stören, Rorie."

Insgesamt standen nun fünf Mädchen und vier Jungen auf der Bühne. Von den anderen Schulkindern zwischen zweiter und fünfter Klasse standen die meisten bei ihren Eltern. Doch es gab auch welche, die sich links und rechts vom Tor zum Pausenhof aufgestellt und verschiedene Musikinstrumente bereitgelegt hatten. Da konnte Julius auch seine Schwägerin Miriam sehen, die stolz, hier dazuzugehören ihre Kinderharfe in den Händen wiegte und wohl noch einmal die zu spielenden Akkorde und Melodien durchging. Dann sah er noch Viviane und Chloé Dusoleil, die Philemon einrahmten, der eine große Zugpauke vor seinem Bauch trug. Dann hatte das also doch geklappt, ihn dazu zu kriegen, die neuen Schulkinder musikalisch zu begrüßen. Musik konnte viele Menschen vereinen, wenn es keine aufhetzerischen Märsche waren, wusste Julius. Aber Willkommensmärsche wie das Schullied von Beauxbatons halfen doch, auch Skeptikern ein Lächeln abzuringen. Julius sah, wie Viviane eine kleine Blockföte warmblies, ohne ihr einen Ton zu entlocken. Sie folgte also der Tradition der Dusoleils.

Die Schuldienerin nickte die aufgestellten Reihen der Patinnen und Paten und die Begrüßungsmusikanten ab und betrat das Schulgebäude. Auch sie würde, so wusste es Julius aus eigener Erfahrung, in vier Jahren drei eigene Kinder als Schulanfänger willkommenheißen.

Madame Dumas winkte wie mit einem unsichtbaren Zauberstab zur Musikgruppe hinüber. Diese straffte sich und schmetterte mit allen sichtbaren Instrumenten einen Tusch über den Schulhof. "Meine Damen und Herren, liebe Mädchen und Jungen. Wieder beginnt ein Schuljahr. Die die im vergangenen Jahr gezeigt haben, dass sie für die nächst höhere Stufe geeignet sind, sind gestern nach Beauxbatons aufgebrochen, um dort unsere Ansiedlung würdig zu vertreten. Doch es wird nicht langweilig werden. Denn fünf Töchter und vier Söhne aus unseren Familien haben endlich das Alter und die Reife erreicht, von uns Lehrerinnen und Lehrern dieser Grundschule die ersten ganz wichtigen Dinge des Lebens zu lernen." "Aufs Klo zu gehen?!" verkleidete Philemon einen derben Kommentar als Frage. Einige lachten, andere blickten verschämt weg. Philemons Mutter lief knallrot ann. Lucky, der seinen Sohn Eurypides auf den Schultern trug kämpfte um seine Selbstbeherrschung, nicht laut loszulachen. Geneviève Dumas blieb jedoch gefasst, während ihre Kolleginnen angestrengt zu Boden blickten, um sich nicht anmerken zu lassen, wie dieser freche Ausruf sie beeindruckte. "Monsieur Dusoleil, da keiner von uns sie in den Jahren, die Sie schon bei uns lernen dürfen jede zweite Stunde in frische Windeln wickeln musste dürfen wir davon ausgehen, dass nicht nur Sie diese wohl wirklich lebenswichtige Fertigkeit vor dem Schulbeginn erlernt haben, zumal unsere geschätzte Heilerin Matine ja auch auf solche Grundfertigkeiten achtet, bevor sie empfiehlt, wer schon für die Schule geeignet ist und wer besser noch ein Jahr warten möge. Insofern haben wir sicher genug Zeit, um Ihnen und allen anderen hier die über die körperlichen Notwendigkeiten hinaus genug für das eigene Denken und Wissen mitzugeben. - Gleich wird unsere langjährig bewährte Schuldienerin Madame Clairmont zum ersten mal in diesem Schuljahr die Stundenglocke läuten. Dann bitte ich alle neuen Schülerinnen und Schüler auf diese Bühne, um ihre Einschulpaten zu begrüßen, die sich bereiterklärt haben, euch bei allem bis zu den Weihnachtsferien zu helfen, was an Hilfe nötig ist. Wer wem zugeteilt wurde werden die freiwilligen Einschulpatinnen und -paten durch ein Schild mit dem Bild des zugeteilten Kindes zeigen. Ich weiß zwar von einigen hier, dass ihr eure Namen schon lesen könnt. Aber weil das doch noch nicht alle können müssen und wollen wir gerecht sein und allen gleichermaßen zeigen, wer für wen eingeteilt ist. Ich darf Ihnen, liebe Eltern, und euch, liebe neuen Schülerinnen und Schüler, schon mal voerstellen, wer die erste Klasse als Klassenlehrerin beziehungsweise Klassenlehrer unterrichten darf und euch, sofern ihr euch immer fleißig anstrengt und alles lernt, was in einem Jahr zu lernen angeboten wird, bis zur Reife für Beauxbatons betreuen wird. Trommelwirbel bitte!"

Philemon und zwei Jungs aus der Musikergruppe ließen ihre beiden Schlegel über das Fell ihrer Schlaginstrumente tanzen, bis ein gleichförmiger Wirbel erklang. Dann tat die Direktrice so, als müsse sie in einem unsichtbaren Buch blättern. Den Gag hatte Julius bei Pierres und Gabrielles Hochzeit auch gebracht. Dann straffte sie sich und gebot mit einer Handbewegung ruhe. Auch Philemon hörte zu trommeln auf. "Die für die Klasse des Einschuljahrgangs 2006-2007 zuständige Klassenlllehrerin ist - Mademoiselle Laurentine Hellersdorf!"

Bumm! Das war doch noch ein Paukenschlag, dachte Julius. Er sah Laurentine an, die ganz gefasst neben die Direktrice trat, ins Publikum blickte und die neun neuen ABC-Jjagdlehrlinge ansah. Julius konnte ihr nicht ansehen, dass sie von dieser Mitteilung überrascht worden wäre.

"Mademoiselle Hellersdorf, bitte rufen Sie die Schülerinnen und Schüler Ihrer Klasse zu sich hin. Die Patinnen und Paten stellen sich mit den Bilderschildern bereit, die neuen zu begrüßen, bevor sie in die Klasse gehen!" legte Madame Dumas fest.

"So, ich hoffe, ich bin gut zu hören", sagte Laurentine laut und den ganzen Hof füllend, ohne mit dem Sonorus-Zauber hantieren zu müssen. "Ich rufe nun auf, Beaufort, Suzanne Stephanie!" Ein schwarzgelocktes Mädchen mit Kugelbauch trippelte vor und erkletterte die Bühne, wo ihre Patin ein Schild mit ihrem Bild hochhielt. Das Mädchen auf dem Schild winkte seinem Original fröhlich zu. "Dumas Estelle Geneviève Fantine und Roger Brian!" setzte Laurentine den Aufruf fort. Sandrines Zwillinge verabschiedeten sich von ihrer Mutter und gingen auf die Bühne, wo sie von Rudolphe Brussac und seiner Cousine Andreée Beaufort erwartet wurden. Dann kamen drei Nachnamen mit G. So blieben noch drei übrig. "Latierre, Aurore Béatrice bitte zu mir!" rief Laurentine. Aurore hüpfte kurz auf beiden Beinen. Dann umschlang sie erst ihren Papa und dann ihre Maman. "Sei immer aufmerksam und hör immer gut hin, was dir jemand erzählt und pass gut auf, was dir jemand zeigt", gab Julius seiner Erstgeborenen noch mit auf den Weg. Millie, die kleine Tränen in den Augen stehen hatte riet ihr: "Lass dir nur das gefallen, womit du selbst zurechtkommst und keinem anderen weh tust, meine Kronprinzessin."

"Na, wer wird wohl ihre patin sein, Madame Latierre, Mildrid Ursuline?" fragte Julius seine Frau. "Wie viele Schokofrösche kriege ich für die richtige Antwort?" fragte Millie. Doch da hielt schon wer Aurores Bild auf einem Schild hoch. "War klar", sagten beide Eltern Aurores. Béatrice Latierre, die hinter ihnen stand meinte: "Alles andere wäre wohl eine Überraschung gewesen."

Julius blickte erst zu der strahlenden Patin mit Aurores Bilderschild und dann zu deren nicht minder strahlenden Mutter hinüber. Dieser mentiloquierte er: "Seit wann wusstet ihr das, Catherine?"

"Jedenfalls lange vor dem, dass Laurentine deine erste Tochter als Klassenlehrerin betreuen darf", erhielt er die Antwort. Dann winkten Millie und er ihrer Kronprinzessin hinterher, während deren Patin, Claudine Brickston, ihr einladend zuwinkte, sowie Aurores Bild auf dem hochgehaltenen Schild es tat. Dann erkannte Millie, dass sie auf jeden Fall Fotos machen wollte und brachte ihre Kamera in Anschlag. Sicher würde sie gleich noch die gesamte erste Klasse fotografieren. Aber wie Aurore Claudine auf der Bühne begrüßte wollte sie für Aurores eigenes Lebensbuch festhalten, so wie ihre Mutter Hippolyte das ja auch mit ihr gemacht hatte.

"Lavoisier, Lara-Louise", setzte Laurentine die Aufrufezeremonie fort, während nicht nur Millie sondern auch andere Elternteile ihre soeben in den Rang eines Schulkindes erhobenen erklärten Söhne und Töchter knipsten. Auch Lucky Merryweather fotografierte. Allerdings quoll bei ihm grasgrüner Rauch aus der Kamera statt purpurroter wie bei den anderen Zauberkameras. "Häh, grüner Rauch, Lucky. Wie kommt das denn?" fragte Julius.

"Tja, eine neue Entwicklung aus New York, soll vor allem bei Kinder- und Zaubertierfotos gestochen scharfe und vollkommen farb- und Gefühlsechte Aufnahmen liefern. Damit habe ich unsere vier schon mehrmals für die Nachwelt eingefangen, auch deine kleine Halbschwester Ruby, als sie noch in Marthas warmem Wanst getanzt hat."

"Nicht frech werden, Lucky. Du verdirbst deine Vorbildfunktion", grinste Martha Merryweather. "Erstens kann ich nur frech bleiben und zweitens kann ein Vorbild auch dann funktionieren, indem man ihm nicht nacheifert."

"Faszinierende Logik", erwiderte Julius und zog dabei die Augenbrauen hoch. "Auch du mein Sohn Brutus", grummelte Martha. "Häh? Brutus? Hast du mich nicht Julius genannt?" fragte Julius.

"Gut, seine Frechheit hat er wohl von seinem Vater im Erbgut", grinste Julius Mutter. Während dessen wurden Aurores verbliebene Klassenkameraddinnen und -kameraden aufgerufen. Als alle bei ihren Patinnen und Paten standen bildete Laurentine neun Zweierreihen. Dann rief Madame Dumas mit magisch verstärkter Stimme: "Madame Clairmont, bitte läuten Sie die Glocke!"

Der melodische Ton der Stunden- und Pausenglocke erscholl über den Schulhof. In dem Augenblick spielten die für Musik zuständigen Kinder noch einen Tusch und dann einen beschwingten Marsch, das Schullied von Millemerveilles. Wie es bei Märschen Natur ist verfielen alle ihm folgenden in weniger als zwei Sekunden in einen Gleichschritt, wenngleich sie nicht militärisch steif und im Stechschritt in die Schule einrückten. Millie und Lucky verknipsten noch mehrere Fotos, bis die neuen Schüler im Gebäude waren. Die Musik spielte ihnen noch eine Minute hinterher. Dann verstummte der Marsch. "Ich bedanke mich bei Ihnen allen, die sie diesen für Ihre Kinder und Kindeskinder so wichtigen Akt miterlebt haben und verspreche Ihnen allen, dass wir Ihre Kinder und Kindeskinder mit der gleichen Sorgfalt und der gleichen Ansprache behandeln wie alle Kinder, die bisher in dieser Schule lernen durften und jenen, die ab dem nächsten Jahr hier lernen dürfen", sagte Madame Dumas. Dann winkte sie den anderen Klassenlehrerinnen und -lehrern zu, sich in Richtung Schulgebäude zu bewegen. Danach bedankte sie sich bei den Musikerinnen und Musikern für das Willkommen der neuen Mitschüler und bat sie, sich mit den anderen Schulkameraden zusammenzustellen und die zweite Glocke abzuwarten.

Als die Glocke dann zum zweiten mal läutete marschierten alle ab der zweiten Klasse ohne lautes Wort aber ohne Gleichschritt in das Schulgebäude ein. Die Direktrice nahm die Parade der einrückenden Schülerinnen und Schüler ab, vergewisserte sich, dass keiner fehlte. Als dann noch Jean-Jacques Peltier aus der fünften Klasse das Gebäude betreten hatte winkte die Direktrice den Eltern der neuen Erstklässler zu, mit ihr noch einen Schluck Kaffee auf den Beginn des neuen Lebensabschnittes zu nehmen. Zu den Eltern gehörten auch jene der Patinnen und Paten, somit auch Catherine. Martha und Lucky kehrten derweil mit Béatrice ins Apfelhaus zurück, wo Martine und Alon auf die kleineren Kinder aufpassten.

Da sich hier alle sowieso schon kannten beglückwünschten sich alle mit Vornamen und der Hoffnung, dass sie in fünf Jahren auch gemeinsam zusehen durften, wenn ihre Kinder in den Ausgangskreis der Reisesphären eintraten.

"Mademoiselle Hellersdorf wird nach der ersten Doppelstunde noch einmal zu euch allen hingehen und sich persönlich bei denen vorstellen, die sie noch nicht kennen", sagte Geneviève. Julius vermied es zu fragen, wie Madame Dumas Laurentine dazu bekommen hatte, als Klassenlehrerin einzuspringen, wo sie doch eigentlich nur nichtmagische Natur- und Sachkunde und einfachen Rechenunterricht gab. Das wollte er dann von Laurentine selbst hören und zwar außerhalb des Schulgebäudes.

Er sprach mit Sandrine, die wie Millie kleine Tränen hatte verdrücken müssen, aber nicht weil sie schon so große Kinder hatte, sondern weil sie es gerne gehabt hätte, dass Gérard mit dabei gewesen wäre. Julius wisperte ihr zu, Bilder von den Beiden über Hera an Patience Moonriver weiterzuleiten, da Sandrine ja keinen eigenen Kontakt mit jenem jungen Zauberer haben durfte, der bei Heilerin und Berufsamme Patience Moonriver unter dem Namen Stephen Moonriver aufwuchs.

"Ob Hera da mitzieht, Julius. Ich muss den beiden weiterhin vorleben, dass sie keinen Papa mehr haben. Das ist schon anstrengend genug für mich."

"Ich kann nur für mich sprechen, Sandrine. Aber wenn dir das wegen irgendwas zu viel wird kannst du mit den beiden gerne zu uns kommen, und wir helfen dir wobei auch immer." Sandrine verdrückte noch zwei Tränen und seufzte: "Das haben mir Millie und eure Béatrice angeboten.

Julius musste daran denken, wie Aurore und wenige Tage später Estelle und Roger auf die Welt gekommen waren und dass Millie und Sandrine mehrere Wochen lang im selben Zimmer gewohnt hatten, ohne sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Auch Sandrine erinnerte sich noch gut daran und musste grinsen, als sie sich und ihn daran erinnerte, wie schüchtern er war, als er ertasten sollte, ob der erste der Zwillinge schon auf dem Weg auf die Welt war. Er fragte dann noch, wie es ihren auswärts lebenden Verwandten ginge.

"Was mich echt traurig gemacht hat war, dass Gérards Eltern nicht hergekommen sind, obwohl meine Mutter und ich sie offiziell eingeladen haben. Als ich dann mitbekommen habe, dass deine Mutter mit ihrem zweiten Mann aus den Staaten herübergekommen ist hätte ich fast losgebrüllt, ob Gérards Eltern sich echt nicht mehr dafür interessieren, zwei Enkel zu haben. Aber ich wollte vor den beiden nicht als unbeherrschte Krawallhexe rüberkommen."

"Ich fürchte, da kann ich dir im Moment nicht helfen und will mich auch nicht zu Vermutungen hinreißen lassen. Ich kann nur die Tatsache festhalten, dass die beiden nicht da waren. Mehr geht im Moment nicht", erwiderte Julius. Er hätte fast gesagt, dass Laurentines Eltern ja auch nicht zur dritten Runde des trimagischen Turniers nach Beauxbatons gekommen waren und Célines Eltern sie vertreten hatten. Sicher meinten Madame und Monsieur Laplace, einen wichtigen Grund zu haben, ihre Enkelkinder nicht bei der Einschulung begleiten zu können. Doch er kannte diesen Grund nicht.

Madame Dumas Senior kannte den Grund jedoch. Als Sandrine sich mit Millie über das Patenprinzip unterhielt und darüber sprach, ob sich das bei Aurore schon angekündigt hatte, dass Claudine ihre Einschulpatin werden würde meinte er zu ihr: "Sandrine war traurig, dass Gérards Eltern nicht herkommen konnten, wo meine Mutter dafür extra aus Kalifornien angereist ist und morgen früh wieder losfliegt."

"Ich weiß es, und ich muss sagen, Leider, was meine Ex-Kollegin Laplace und ihren Mann davon abgehalten hat, herzukommen. Sie wollten sich nicht von allen bedauern lassen, dass ihr Sohn bei diesem so wichtigen Akt nicht dabei sein kann und dass sie keine Lust hatten, denen die trauernden Eltern vorzuspielen", flüsterte Geneviève. "Die gute Quintilia hat es wohl gerade noch geschafft, mir keinen Heuler zu schicken, als sie mir vorhielt, mich als die große Familienretterin aufzuspielen. Ich möge meine Aufgaben, von denen ich ja wohl mehr als genug hätte, umsichtig erfüllen, dann würden sie auch beruhigt sein, sofern ich es hinbekäme, meine eigenen Enkelkinder genauso gleichzubehandeln wie die anderen Schulkinder. Frechheit!" zischte Geneviève.

"Oha, das ist auch ein seelischer Kinnhaken, vielleicht sogar schon ein Tiefschlag", raunte Julius. "Aber dass sie Sandrine so in der Luft hängen lassen ist auch fies. Vor allem haben sie noch Kontakt mit den beiden. Die fragen sicher auch, warum die nicht herkommen wollten."

"Wie erwähnt, meine werte Ex-Kollegin Quintilia Laplace hält es nicht für angebracht, bei der Einschulung ihrer Enkel dabei zu sein, fertig. Bitte nichts davon an Sandrine. Ich will, dass die beiden Herrschaften ihr das selbst ins Gesicht sagen und miterleben, wie es sie trifft, nicht um Sandrine weh zu tun, sondern um denen zu zeigen, dass ihr Sohn jemanden zurückgelassen hat, die genauso wichtig für sie ist wie er."

"Psychologische Tricks klappen nicht immer wie gewünscht", erwiderte Julius ruhig. Er hatte es im Bezug auf Gérard ja selbst lernen müssen. Deshalb fragte er schnell, wie das genau mit den Paten lief.

"Du hast es ja mitbekommen, dass nur gleichgeschlechtliche, nicht mit dem betreffenden Kind verwandte ältere Schülerinnen und Schüler dafür in Frage kommen. Darüber hinaus können sich alle Schülerinnen und Schüler in den Ferien eine Liste der Schulanfänger ansehen und sich schriftlich auf die Patenschaft bewerben. Die Bewerbungen werden auf Inhalt und Rechtschreibung geprüft, die Leistungen der Bewerberinnen und Bewerber in den bisherigen Jahren im Durchschnitt ermittelt und dann so viele ausgewählt, wie Schulanfänger zu betreuen sind."

"Echt, ihr könnt den Durchschnitt berechnen?" erwiderte Julius spitzbübisch grinsend. "Ja, junger Mann, das konnten wir schon bevor deine Mutter bei uns ausgeholfen hat", erwiderte die Direktrice streng dreinschauend. "Aber die Methoden, wie das noch greifbarer geht hat sie uns erst am besten vermittelt. Bei der Gelegenheit grüße sie schön von mir und bedanke dich auch in meinem namen, dass sie trotz der großen Entfernung zwischen hier und Viento del Sol noch die Zeit findet, sich für ihre Enkeltochter zu interessieren."

"Werde ich ausrichten. "Ach ja, und sollte da noch einmal sowas laufen wie vor anderthalb Jahren darf sie sich gerne daran erinnern, dass sie hier bei uns sehr wichtige Erfolge feiern konnte und wir sie sofort wieder hier angestellt hätten und dass wir in vier Jahren eine notwendige Aufstockung des Lehrpersonals vornehmen müssen. Sollte sie bis dahin wieder einen beruflichen Freiraum erleben darf sie sich gerne bei mir melden."

"Du gibst nie auf, Geneviève", meinte Julius. "Dafür bin ich schon zu sehr mit meinem Beruf verwachsen, um das nur eine Sekunde in Erwägung zu ziehen, kompetente Nachwuchskräfte zu ignorieren. Mein Angebot an dich steht ja schon seit der Sitzung damals, wie es nach der Geburt der ganzen Frühlingskinder weitergeht und ... Ja, ich komme zu euch, Evangeline." Geneviève ging hinüber zu den Lavoisiers.

Millie und Julius unterhielten sich noch mit Catherine über die Einschulungspatenschaft. Catherine erwähnte, dass sie es Claudine vorgeschlagen hatte, Aurores Patin zu werden, weil das im Begleitschreiben zum Fünftklässlerabschlusszeugnis mit aufgeführt würde und in Beauxbatons fünfzig Bonuspunkte auf den aus dem Notenwert errechneten Bonuspunktekonto einbringen würde. "So bin ich damals auch gut in Beauxbatons eingestiegen, bis meine Verwandlungs- und Abwehrzauberlehrerin der Meinung war, mir klarzumachen, dass ich mir nichts auf meine familiäre Rangstellung etwas einzubilden habe. Ich hoffe, die gute Geneviève gerät nicht in diese seelische Schieflage, die Zwillinge härter fordern zu müssen, nur um nicht als überbehütsame Großmutter herüberzukommen."

"Ja, wo es auch gar keinen gibt, der ihr das bisher vorgeworfen hat", erwiderte Julius leise. Catherine las es von seinem Gesicht ab und hörte den triefenden Sarkasmus aus seinen Worten. "Ach, hat sie dir das von Sandrines Schwiegereltern erzählt? Klar, Millies und deine Eltern waren da. Das hat Sandrine natürlich erst recht zugesetzt, auch wenn ihr das überhaupt nicht beabsichtigt habt", erwiderte Catherine. Julius nickte bestätigend.

"Oh, dann hätte ich Sandrine besser nicht fragen sollen, warum Gérards Eltern nicht gekommen sind", grummelte Millie, als Julius es ihr so leise sagte, dass es im Raunen der laufenden Unterhaltungen unterging.

Nach der ersten Doppelstunde kam wie angekündigt Laurentine Hellersdorf dazu und stellte sich den Eltern offiziell vor. Natürlich wussten alle, dass sie das trimagische Turnier in Beauxbatons gewonnen hatte. Sie wussten aber auch noch, dass sie sich in den ersten dreieinhalb Jahren gegen die Ausbildung gewehrt hatte und dass sie vor einem Jahr und neun Monaten ihre Eltern an den Tsunami im indischen Ozean verloren hatte. Sie sagte dann: "Gerade weil ich weiß, wie wichtig es ist, jemanden davon zu überzeugen, dass ein bestimmter Lernstoff für einen selbst wichtig ist, nachdem ich mitbekommen musste, wie schnell sich das Leben ändern kann gehen Madame La Directrice Dumas und die Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen davon aus, dass ich für Ihre Kinder ein gutes Vorbild sein kann. Da ich diese besondere Arbeit dieses Jahr zum ersten mal mache möchte ich mich erst nach diesem Jahr selbst dazu einschätzen. Im Augenblick kann ich Ihnen allen nur zusagen, mein möglichstes zu tun, um Ihre Söhne und Töchter nicht nur durch dieses erste Jahr, sondern bis zur Beauxbatonsreife zu bringen. Denn wie Sie ja alle wissen bleibt der Klassenlehrer ja von der ersten bis zur Grundschulabschlussklasse gleich. Also, wenn ich von heute an in fünf Jahren immer noch Ihre Söhne und Töchter als Klassenlehrerin betreuen darf habe ich zumindest die Anforderungen der Direktrice und meiner Kolleginnen und Kollegen erfüllt und hoffe, dass auch Ihre Anforderungen an Ihre Söhne und Töchter erfüllt sein werden." Die sieben Elternpaare, die mit Laurentine nicht so bekannt waren wie Sandrine und die Latierres glubschten sie komisch an. Julius sprach halblaut in die Stille hinein: "Immerhin beherrschen Sie die grammatikalische Form Futur II, das gibt zur großen Hoffnung mehr als nur Anlass, sondern auch Berechtigung, dass unsere Kinder diese für für noch abzuschließende Handlungen so wichtige Zeitform bis Beauxbatons auch erlernt haben werden."

Sandrine und Millie lachten, und auch die anwesende Direktrice musste schmunzeln.

"Was zur dreigeschwänzten Gorgone ist ein Futur und wieso wird das mit römischen Zahlen gezählt, die kein Mensch mehr braucht?" knurrte Lara-Louises Vater. Darauf sagte die Direktrice: "Monsieur Latierre gebrauchte den akademischen Begriff für die Zeitform der vollendeten Zukunft, also wenn etwas das morgen geschieht voraussetzt, dass wir bis dahin genug Schlaf gehabt haben werden. Die römische Zwei steht dafür, dass die erwähnte Handlung die Vollendung, also den Abschluss, das Ende einer anderen Handlung bedingt." Die Väter verzogen ihre Gesichter, während die Mütter die Direktrice beipflichtend ansahen. Laurentine meinte dann noch: "Nun, als Klassenlehrerin werde ich natürlich auch überwachen, wie gut Ihre Kinder lesen, schreiben und Sprechen lernen, bin und bleibe aber vordringlich die lehrerin für einfache Naturkunde und Grundrechenarten. Auch wenn Monsieur Latierre meine Sprachkenntnisse lobt sehe ich mich in dem Fach, dass ich hauptberuflich unterrichte doch noch besser aufgestellt als in akademischer Sprachenpflege wie die Mitglieder der arkanen Sektion der Académie Française. Ich wünsche Ihnen allen noch einen angenehmen Tag und viel mehr Freude als Last mit Ihren nun großen Kindern. Ich muss gleich zur fünften Klasse und da weiter unterrichten. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben."

Sie nickte der Direktrice zu, die sie in den weiteren Unterricht entließ.

"Der Papa von der Lara-Louise mochte das aber gar nicht, dass Laurentine und du ihm seine sprachlichen Unkenntnisse um die Ohren gehauen habt", meinte Millie, als sie mit Julius auf dem Familienbesen zurück zum Apfelhaus flog. "Dabei wollte ich den nicht veralbern, den guten Sebastian", sagte Julius. "Ich wollte als Vater einer nun schulpflichtigen Tochter nur bekunden, dass ich der für diese zuständigen Lehrerin vertraue. Mehr sollte das nicht."

"Weiß ich, weiß Sandrine und Laurentine sowieso. Ich wollte dich auch nicht kritisieren, sondern nur eine Tatsache feststellen. Das nahm Julius zur Kenntnis.

"Und Claudine darf Aurores Einschulpatin sein. Hat Miriam wohl blöd dreingeschaut", meinte Martine zu Aurores Eltern. "Neh, die war froh, mit den anderen Musik machen zu dürfen und so wie Claudine einen Grund dafür zu liefern, hier weiterlernen zu dürfen."

Als es Mittag war holten Millie und Julius Aurore wieder ab. Mit hochroten Wangen sprudelte es aus ihr heraus, was sie in den ersten Stunden schon alles gemacht hatten. Tja, noch war der Schulstress nicht so groß, dass er ihre Begeisterung für das tägliche Lernen vergiften konnte, dachte Julius. Er sah und hörte sich selbst in Aurores begeisterten Erzählungen, dass sie Abzählspiele gespielt hatten, dass sie mit in der Luft herumfliegenden Buchstaben fangen gespielt hatten, bis jeder den eigenen Namen in einem Drahtkäfig sicher hatte. "Die Laurentine, zu der wir in der Schule Mademoiselle Hellersdorf sagen sollen, hat dabei rausgekriegt, dass die zwei von Sandrine und ich die eigenen Namen schon buchstabieren können und hat gesagt, dass sie das der Madame Bleulac sagen möchte, dass wir schon mit den Lesesachen der dritten Stunde anfangen, wenn sie weiß, ob wir unsere Namen auch schon selbst schreiben können."

"Schreiben konnte ich meinen Namen da noch nicht, als ich den ersten Schultag hatte. Aber mit Holzbuchstaben legen konnte ich den schon", sagte Julius.

Claudine kam dann noch mit ihrer Mutter zum Apfelhaus. "Claudine, bitte frage sie das selbst!" gab Catherine das Wort an ihre zweite Tochter weiter. Claudine fragte, ob sie Aurore jeden Schultag mittags zum Apfelhaus bringen und von ihren Eltern bezahlt was vom Mittagessen abhaben konnte, da sie ja jetzt auch Nachmittagsstunden hatte. Sie dürfte jetzt auch durch den Flohpulverkamin gehen, um nach Hause zu kommen. Millie und Julius lehnten es ab, sich feste Beträge von Catherine oder Joe zu erbitten und luden Claudine ein, jeden Mittag herüberzukommen, allerdings müsste sie dann wohl mit Miriam das Essen teilen, weil Miriam ja eben wegen der Nachmittagsstunden auch bei ihrer halbgroßen Schwester und der ganzen Rasselbande essen durfte.

"Ja, aber Joe wird das nicht auf sich sitzen lassen, kein Geld für das Mittagessen zu bezahlen, wo ihr so viele seid, Millie und Julius. Ich sage ihm, dass ich das mit euch geklärt hätte, was ihr bekommt, zumal das ja eh in Galleonen abgerechnet werden müsste."

"Wundert mich, dass er jetzt darauf kommt, wo Claudine schon so häufig bei uns gewesen ist", meinte Julius. "Ja, nur dass Claudine jetzt einen offiziellen Anlass hat, die Nachmittage mit eurer Erstgeborenen zu verbringen", erwiderte Catherine. Dann kam auch Miriam zusammen mit Jeanne und Viviane herüber. "Ihr seid zuckersüß, eure Tochter abzuholen und die junge Dame hier verhungern zu lassen", meinte Jeanne. "Aber ich verstehe, dass Aurore erst mal eine ganze Menge zu erzählen hatte. Tja, nur dass Laurentine jetzt nicht mehr zu euch zu Besuch kommen darf, weil sie Aurores Klassenlehrerin ist, so die Vorschriften."

"Ui, wurde die Schulwoche jetzt zur sieben-Tage-Woche verlängert?" tat Julius verdutzt. Jeanne lachte. Dann lud sie Miriam ab, die ihre "halbgroße Schwester" verdrossen anglubschte. Jeanne brauste mit Viviane davon. Chloé war bei ihrem Vater auf seinem schnittigen Besen mitgeflogen.

So feierten sie mit allen extra wegen Aurore angereisten Gästen noch den ersten überstandenen Schultag. Keiner der Erwachsenen brachte die Phrase vom Ernst des Lebens an. Denn alle die hier waren wussten, dass die Schule das kleinste aller Übel im Leben war und der wirkliche Ernst des Lebens dort auftrat, wo andere meinten, mehr Rechte und Machtansprüche zu haben als der Rest der Welt. Doch viel zu wissen und sich gescheit ausdrücken zu können konnte auch gegen solche Unwesen helfen, wusste Julius von seinem unfreiwilligen Besuch in Bokanowskis Monsterburg und Millie von ihrer Arbeit als Reporterin.

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HEUTE IST AURORES GROßER TAG. DA KANN ICH IHREN ELTERN NICHT GLEICH VERRATEN, DASS ICH EINE STARKE VERLAGERUNG VON KRAFT GESPÜRT HABE. DAS WAR SOWIESO WEIT VON HIER IN MITTAGSRICHTUNG. DANN SOLLEN SICH ANDERE DARUM SORGEN. ICH DENKE AUCH AN DARXANDRIAS ERSTEN TAG IM HAUS DES LICHTES. WIE AUFGEREGT WAR ICH DA. SCHÖN ZU WISSEN, DASS SICH IN ALL DEN VIELEN TAUSENDERSONNEN NICHT VIEL VERÄNDERT HAT.

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Dusty ist gleich weggerannt, angeblich weil er irgendwo ein nest voller Mäuse gefunden hat. Aber der wollte nur nicht mit den ganzen Zweifußläufern zusammen sein, die sich ganz heftig freuen, dass Aurore jetzt noch mehr Sachen lernen und ausprobieren darf als vorher. Schule nennen die das und sowas war das auch da, wo ich Julius zum ersten mal gesehen und gerochen habe. Nur haben da viele so geklungen und sich bewegt, als hätten die jeden Tag kämpfen müssen. Sicher müssen die auch kämpfen lernen, je größer die werden. Das ist bei denen so wie bei uns, sonst verhungert man ja, wenn man das nicht gelernt hat.

Jedenfalls hat Julius erkannt, dass er auch mit dem Weibchen Béatrice im gleichen Nest schlafen kann und mit ihr die Stimmung erlebt. Es ist also doch nicht so steinhart, dass ein Männchen nur mit einem Weibchen zusammen sein und eigene Nachkommen haben darf. Ich habe Angst, dass ich das nie wirklich verstehen kann, wie die Zweifußläufer miteinander klarkommen. Vielleicht wissen die das selbst ja auch nicht.

Die Claudine von Catherine ist bei mir und streichelt mich. Ja, ich habe vier neue Klopfer im Bauch. Deshalb hängt mein Bauch wieder weiter runter. Sie ist ganz vorsichtig, dass sie mir nicht weh tut oder mir Angst macht. Ich mache die Laute, die zeigen, dass es mir gut geht und ich mich wohlfühle. Dann höre ich Claudine ganz laut rufen: "Maman, wenn die Goldie wieder kleine Maunzebällchen hat, kriege ich dann auch eins von denen?!" Ich fauche sie kurz an. Sie merkt, dass sie wohl viel zu laut für meine Ohren gerufen hat und sagt, dass ihr das leid tut. Dann höre ich Catherine zurückrufen: "Jedesmal das gleiche. Da wo wir wohnen können wir keins von Goldies Kindern haben, weil die nur dann glücklich sind, wenn die draußen herumlaufen können. Du weißt doch, dass die keiner außer unseren Freunden und Familienangehörigen sehen darf."

"Schade", höre ich Claudine zurückrufen, diesmal nicht so laut, dass mir die Ohren weh tun. Sie streichelt mich noch einmal und krault mir mit ihren ganz kurzen Krallen hinter den Ohren. Ich mache wieder die Wohlfühlgeräusche. Dann geht Claudine weg. In zwei ganzen Mondwechseln sind die vier Klopfer in mir groß genug, um meine Kinder zu werden. Ich verstehe, dass Claudine einen davon bei sich wohnen haben will. Wir können ganz gut auf die Zweifußläufer aufpassen, und die Claudine weiß das.

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In der Kammer der Überdauerung, irgendwo unter den walisischen Bergen, 27.08.2006 Menschenzeitrechnung, kurz vor Mittag

Weedwax war der dienstälteste Heiler des Bundes der zehntausend Augen und Ohren. Er hatte selbst nach dem Aufruhr der Erde Ende 2004 drei Wochen in einem Heilbad schlafen müssen, weil er sonst gestorben wäre. Jetzt war er dabei, wenn gleich die eiförmige Kammer aus koboldgeschmiedetem Silber aufklappen und er wieder aufstehen würde.

Eigentlich war es noch zu früh für den Vater der Augen, dem einzigen, der diesen Titel tragen durfte. Seine amtierenden Stellvertreter hießen Herren der zehntausend Augen.

"Ist Buttrock auch da?" wollte der neue Herr der zehntausend Augen wissen. Die vier Anwesenden nickten. "Er wartet im Vorraum, weil sein Rang noch nicht hoch genug ist, um einem Erwachen beiwohnen zu dürfen", sagte Tickflock, leitwächter von Irland.

"Ist er jetzt Leitwächter oder nicht", knurrte der neue Herr der zehntausend Augen. So holten sie ihn auch herein, Buttrock, den Statthalter in Ägypten, zumindest von dem, was noch da war.

Eine kleine Bronzeglocke läutete einmal. Es vergingen mehrere Minuten. Dann läutete die Glocke zweimal. Dann verstrichen weitere vier Minuten. Nun erklangen drei helle Glockenschläge. Beim dritten Schlag rasselten die zwanzig eingebauten Verriegelungen im zwei Koboldlängen langen Silberei. Die obere Hälfte klappte laut auf. Da sahen sie ihn, den etwas dünn wirkenden Kobold, dessen Lebensalter bei 150 Jahren eingefroren und alle zwanzig Jahre für höchstens drei Monate fortgesetzt wurde. Das war vor eintausend Jahren geschehen, als die zehntausend Augen und Ohren sich als die Sicherheits- und Ordnungsgruppe unter den sonst sehr selbstbezogenen Kobolden durchgesetzt hatte. Der Meister aller Meister, Vater der Augen, lag in seinem vergoldeten Nachtgewand und mit über die Augen gezogener hellblau-goldenen Nachtmütze auf samtbraunen Kissen auf einer altarabischen Matratze, die wie er in der silbernen Schlafkammer die Jahre überdauern konnte. Es ruckelte noch einmal. Dann streckte der Überdauerer seine Arme und Beine aus und gähnte. Dabei sahen sie, dass er noch alle Zähne im Mund hatte. "Ich bin erwacht. Wer wacht mit mir?" sprach der soeben aufgewachte Vater der zehntausend Augen, der Meister aller Meister, die von ihm eingeführte Grußformel.

Ich wache mit dir, Vater der Augen, Herr der zehntausend Augen und Ohren Brummback aus dem deutschen Land", sagte der Herr der zehntausend Augen. Dann nannte Heiler Weedwax seinen Namen, dann Tickblock aus Irland, Brookdrop aus England, Hegnag aus Wales und schließlich Buttrock aus Ägypten. Als der gerade erwachte die Namen hörte brummte er: "Was in zwanzig Jahren doch alles geschieht." Da wurde ihm erst erzählt, dass er nur fünfzehn Jahre und fünf Monate überschlafen hatte, weil wohl durch den Erdmagieaufruhr 2004 die Schlaferhaltung verstellt worden war.

"Moment, wir schreiben 2006, nicht 2011?! Ich hoffe bei euren Bärten, dass ihr mir alle einen ausführlichen Bericht geschrieben habt. Vor allem will ich wissen, was ein Leitwächter aus der ägyptischen Kolonie hier bei meinem Erwachen zu suchen hat." Der Vater aller Augen zog die Nachtmütze vom Kopf. Alle hier sahen den glasartig durchsichtigen, ganz fein gearbeiteten Helm, der auf Ohrenhöhe feinmaschige Abdeckungen aufwies, um das Gehör freizuhalten. Unter dem gläsernen Helm schimmerten die ersten Silbergrauen Strähnen in seinem dunklen Haupthaar und seinem Spitzbart. Seine tiefgrünen Augen wirkten jedoch jugendlich klar und sehr willenstark. Seinen Namen Deeplook verdankte der Gründer des Bundes, weil er die Lebensausstrahlung von Lebewesen und Wirkungsausstrahlung bezauberter Gegenstände erkennen konnte. Außerdem konnte er mit seinem Blick in die Erinnerungen und Gefühlswelt seines Gegenübers hineinsehen, also das, was die Zauberstabträger Legilimentik nannten, nur ohne einleitendes Zauberwort. Von dieser Sonderbegabung machte er bei Brummback und Buttrock umgehend Gebrauch. So erfuhr er gleich in der zweiten Minute seiner Wachzeit, was im Dezember 2004 über die Koboldwelt hereingebrochen war, dass Australien vollkommen koboldfrei war und es auch bleiben wollte und dass Gringotts Kairo und dessen geheime Zweigstelle für besondere Geschäfte von einem wiedererwachten Dunkelmagier und ehemaligem König aus dem alten Ägypten heimgesucht worden war und dabei Leitwächter Allbrick im Dienste für den Bund gefallen war. So fragte Deeplook erst Buttrock aus, was genau geschehen war und las das was dieser nicht sagte aus dessen bildhaften Erinnerungen. "Dann mach, dass du wieder an den Nil kommst, Buttrock und sichere deinen Posten, bevor dieser Körperräuber vielleicht noch herausfindet, wo der ist und da auch noch einfällt wie in Gringotts."

"Wie du befiehlst, Vater aller Augen, Meister aller Meister der zehntausend Augen und Ohren", katzbuckelte Buttrock und verließ mit einer einfachen Abschiedsgeste den Raum mit der Dauerschlafkammer.

"So, in einer halben Stunde im großen Saal. Alle die Innendienst haben sollen dabei sein", sagte der Wiedererwachte. Da nur er in die Gedanken anderer hineinsehen konnte bekam keiner mit, dass Deeplook zwischen hilfloser Wut und großer Angst festhing. Er hatte sich zum Schlafen gelegt, als die Zaubererwelt im zehnten Jahr nach dem Verschwinden des rotäugigen Tyrannen war. Dessen Wirken hatte er zu einem winzigen Teil noch mitverfolgt und anweisungen erteilt, wie im Falle seiner Machtausdehnung zu verfahren sei. Er hatte damit gerechnet, dass dieser oder seine Erben ein neues dunkles Zeitalter einleiten wollten, wie damals Sardonia und Anthelia. Doch in all den düsteren Zeiten hatte es niemand geschafft, die Mitglieder des Bundes der zehntausend Augen und Ohren derartig zu bedrängen. Ja, und dass eine simple Woge von Erdmagie das ganze Volk der Erdkinder an den Rand des Erlöschens, aber auf jeden Fall an den Abgrund zur Bedeutungslosigkeit geworfen hatte gefiel dem gerade erst erwachten auch nicht. Da würde er die nächsten Monate wohl einiges regeln und vor allem richten müssen.

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Unter dem Mont Blanc im Italienisch-französischen Grenzgebiet, 27.08.2006, 21:30 Uhr Ortszeit

An die zweihundert männliche und weibliche Nachtkinder standen andächtig schweigend in der großen Zeremonienhalle des geheimen Tempels der Nacht. Alle europäischen Untergruppen der Gefolgschaft der großen Mutter der Nacht waren erschienen, um von der residenten Priesterin Rosanegra neue Anweisungen zu erhalten. Denn es galt, die Stimmung zwischen den von Ladonna unterworfenen Ministerien und jenen, die sich ihr entzogen hatten weiter anzuheizen, um aus dem Chaos ihre ganz neue Ordnung zu formen. Zugleich würden sie vor den Rotblütlern sicher sein und konnten auf die Vergrößerung ihrer Gemeinschaft hinwirken. Zudem wollten sie alle die gestaltliche Anwesenheit der Göttin genießen, die hier in einem der sieben Zentren ihrer neuen Macht und bei so vielen getreuen Anhängern unübertrefflich sein würde.

Eine Nachtgeborene in knöchellanger, weiter Robe trat in das blutrote Licht von winzig kleinen Lampen. Ihr dunkles Haar wehte bei jedem ihrer andächtigen Schritte sanft wie in einer lauen Brise. Ihre Augen waren so schwarz wie eine sternenlose Nacht. Sie trug die Kette mit dem Symbol der Nachtgöttin um den Hals. Das Symbol glomm blutrot und schuf um die Dazugekommene eine deutliche Aura der Macht und Erhabenheit. Das war sie, Rosanegra, die residente Priesterin der Nachtgöttin, Hüterin dieses Tempels und somit die Statthalterin der Göttin in ganz Europa. Zwischen ihr und der Göttin stand nur noch Nyctodora, die Hohepriesterin der Nacht. Doch die weilte in Afghanistan, um weitere graue Paladine für die Göttin zu erschaffen.

Rosanegra trat durch die wortlos entstandene Gasse der Wartenden hin zum dunklen Altar. Sie stellte sich so, dass sie nun alle kleinen Lichter im Rücken und die Menge der Glaubensgeschwister vor sich hatte. Sie hob die rechte Hand und deutete ein Hinknien an. Die hier versammelten beugten ihre Häupter und ließen sich auf die Knie sinken. Sie warteten einige Sekunden. Dann sagte die residente Priesterin: "Ehre und ewige Herrschaft der Göttin, alle Liebe dir, große Mutter der Nacht! Erhebt euch wieder!"

Die hier versammelten standen wieder auf. Von jeder und jedem von ihnen flog nun ein blutroter Funke in die Höhe und glitt über den Altar. Dort trafen die winzigen Kraftladungen zusammen und ballten sich innerhalb von wenigen Herzschlägen zu einer gewaltigen Wolke aus blutrotem Licht zusammen. Die bereits von allen verspürte Aura der dunklen Erhabenheit wurde stärker. Von der roten Wolke ging nun auch ein immer stärkerer Hauch von Macht und Überlegenheit aus. Die Wolke selbst wuchs mit den ihr zufliegenden Funken weiter und weiter und bildete nun Formen aus. Eine riesenhafte, menschlich gestaltete Erscheinung nahm immer mehr Form an. Jeder und jede hier konnte die unübersehbaren Merkmale einer unbekleideten Frau erkennen, einer Frau mit leicht vorgetriebenem Unterbauch. Das immer deutlichere Gesicht lächelte und zeigte dabei lange Fangzähne. Die Körperformen traten immer deutlicher zu Tage. Alles in allem wuchs das aus sich selbst leuchtende Abbild der von allen hier verehrten Göttin vom Boden bis zur zehn Meter hohen Decke. Mit zwei letzten Funken vollendete sich die verbildlichte Anwesenheit der großen Mutter der Nacht. Die Göttin war vor ihrer Gemeinde erschienen.

Rosanegra sank noch einmal auf die Knie. Da sagte die blutrote Erscheinung: "Deine Treue und dein Dienst sind mir wohl vertraut, Priesterin Rosanegra. Erhebe dich wieder und empfange wie ihr anderen meine Worte und Weisungen!"

Die Göttin sprach nun davon, dass Europa, Afrika und Asien bald unter der Flagge der großen Göttin zusammenfinden würden. Selbst wenn japanische Yokai und chinesische Gespenster, Widergänger und Dämonen sich dagegen wehrten, die Göttin aller Nachtkinder zu achten und zu preisen würde diesen am Ende keine andere Möglichkeit bleiben, um ihre eigene Existenz zu sichern. Dann sprach sie von den immer noch widerstrebenden Nachtgeborenen, die sich selbstgefällig und leichtfertig zugleich als Liga freier Nachtkinder bezeichneten und in Wirklichkeit nur ein sehr schwach gewebtes Netz aus vielen kleinen Grüppchen seien. Allerdings, so warnte die Göttin, hätten diese über die Torheit eines verliebten Blutsohnes die Kenntnis über alle Tempel erstohlen. Außerdem machten sie mit den Wergestaltigen und den Rotblütlern gemeinsame Sache. Sie ließ mit scheinbar verspielten Handbewegungen eine helle Fläche hinter sich entstehen, auf der das was sie sagte in bewegten Bildern nachgestellt wurde wie bei einem besonders aufwändigen Schattenspiel oder einem dieser modernen Laufbildvorführungen in der nichtmagischen Welt. "Das wir bisher nicht von ihnen in den Tempeln heimgesucht wurden liegt an der starken Verbundenheit der Nacht und der hier wirksamen Zauberkräfte, die durch die Weihe der letzten Opfer verstärkt wurde. Kein feindliches Wesen vermag, näher als einhundert Schritte heranzutreten, ja kann auch keinen Tempel sehen. Niemand kann uns hier angreifen."

Sie schilderte nun auch, dass die freien Nachtkinder versuchten, mit einer über ganz Afrika verteilt lebenden Gruppierung Verbindung aufzunehmen, die sich Kinder Akashas nannte. Diese mussten noch davon überzeugt werden, dass sie die wahre Göttin der Nacht sei und somit deren angebeteter Urmutter nicht nur glich sondern überlegen war. Doch mussten sie darauf achten, dass die sie ablehnenden Nachtkinder denen nicht einreden konnten, dass die Unterwerfung unter die Göttin vernichtend sei. Daher galt es, die Liga freier Nachtkinder sobald es ging zu zerschlagen, sie bestenfalls auf die richtige Seite zu holen. So müssten die afrikanischen Getreuen, zu denen sie genau in diesem Augenblick im dortigen Tempel sprach, vorarbeiten.

"Kommen wir zu meinen gefährlichsten Feindinnen, ja Feindinnen. Die eine ist jene vaterlose Tochter der Unaussprechlichen, die von ihrer verdammenswürdigen Mutter die Gaben erhielt, alle Dunkelheit zu lenken und alle davon und darin lebenden Wesen zu ihren Dienern zu machen. Sie hat es vor kurzem wieder versucht, welche von uns zu fangen. Doch ich entzog sie ihr durch die Gnade der Heimrufung. Allerdings bleibt sie uns gefährlich, weil sie andere Nachtgeborene gegen uns einsetzen und auch die Seelensauger mit den weiten Mänteln der inneren und äußeren Wärme verschlingenden Dunkelheit lenken kann. Doch sie hat nur einen Diener, den sie mit ihrer Macht in ein Halbwesen zwischen Mensch und Schatten umgewandelt hat. Hingegen hat jene, die aus dem Schaffensdrang Kanoras entstand ein Heer von Untergebenen, die auf jeden einzelnen von uns tödlich einwirken können. Sie muss ebenfalls ein Versteck haben, in dem sie zwischen ihren Taten verweilt. Dieses gilt es zu finden und dann mit uns eigentlich verpönten Waffen ihr Dasein zu beenden. Wir müssen das Versteck dieser Schattenfürstin finden.

Einen Krieg der Rotblütler anzuzetteln, wie es viele von euch für eine kluge Lösung halten, wird nur gelingen, wenn wir Ladonnas Herrschaft brechen können. Denn sie wird sofort davon ausgehen, dass jemand von einem Krieg profitieren wird und dann ganz schnell und ganz richtig auf uns kommen. Ja, es besteht sogar die Gefahr, dass sie und die ihr bisher widerstrebenden sich gegen uns verbünden. Die Russen sind ja jetzt schon darauf aus, ihr riesiges Reich zur nachtkindfreien Gegend zu machen. Das betrifft natürlich auch die selbsternannten freien Nachtkinder. Doch durch etwas, was nur wenige Nächte zurückliegt, besteht beim ewigen Strom frischen Blutes die günstige Gelegenheit, eure Brüder und Schwestern in Ost- und Nordosteuropa zu vernichten, weil ihnen die Führungskräfte fehlen. Ich gebiete deshalb, dass sich alle russischen, ukrainischen und weißrussischen Getreuen entweder in tiefen Höhlen in einen Überdauerungsschlaf begeben, der von mir beendet wird, wenn die Lage wieder günstig ist oder ihre Heimat verlassen und dort neu siedeln, wo Ladonnas Macht nicht wirkt, auch wenn ihr von den dortigen Rotblütern nicht willkommengeheißen werdet.

Wir brauchen alle Kräfte, um die großen Feindinnen zu vernichten, die Tochter der Unaussprechlichen und die aus Kanoras' Machtträumen geborene selbsternannte Kaiserin aller Schattengeister. So spreche ich, die wahre Mutter aller Nachtkinder."

Die Erscheinung erstarrte wie eine von innen her leuchtende Statue. Dann löste sie sich wieder in eine Wolke roter Funken auf. Jeder Funke flog zu einem der Anwesenden hinüber. Auch die leuchtende Fläche, auf der die bildhaften Darstellungen erschienen waren verschwand. Alle hier fühlten sich wie nach einem labenden Blutmahl. Dann sprach die Priesterin: "Ihr habt die Göttin gehört. Sie ist in jedem von uns und immer bei uns. So lasst uns bereden, wie wir ihren Willen vollstrecken können

Die Besprechung zog sich noch anderthalb Stunden hin. Es gab an die zwanzig Vorschläge und Gegenvorschläge. Am Ende stand ein Plan, die aus dem russischen Hoheitsgebiet stammenden Geschwister in Nordamerika, vor allem den Weiten Kanadas und Alaskas anzusiedeln. Wichtig dabei war, dass die Rotblütler nicht mitbekamen, dass die Nachtkinder umsiedelten. Hier sollten die britischen Geschwister mit den nordamerikanischen Geschwistern unterhandeln, wie diese wortwörtliche Nacht-und-Nebel-Aktion durchzuführen war. Denn feststand, dass die Göttin keine an die dreitausend Nachtkinder mal eben in einem einzigen Schattenstrudel versetzen würde, wenn es kein unmittelbares Anliegen die Zukunft der Gemeinschaft betreffend gab, welches dies verlangte.

Was die Tochter der ewigen Dunkelheit anging, die alle über sechshundert Jahre alten Nachtkinder noch von ihren Bluteltern und -großeltern kannten, so galt es, ihr Versteck zu suchen, wo den Berichten nach ein zwei Meter hoher Henkelkrug stand, in dem die Feindin geraubte Lebenskraft einlagerte. Wurde dieser Krug zerstört starb die Feindin, so erzählten es die Vorfahren. Mehr sollte in Niederschriften der heiligen Bibliothek der Nachtkinder zu finden sein. Allerdings konnten sie dort nicht mehr hinein, weil die achso freien Nachtkinder es mit den Rotblütlern hinbekommen hatten, den von der Kraft der Göttin durchdrungenen den Zutritt zu versperren. Auch deshalb galt es, die Liga freier Nachtkinder auszulöschen, um endlich wieder ungehinderten Zugang zu den Schätzen des Wissens zu bekommen. Man würfelte aus, welche zwanzig hier versammelten versuchen sollten, sich als freie Nachtkinder in die Reihen der Rebellen einzuschmuggeln. Das Ziel sollte sein, möglichst viele Dreiergruppen zu erkunden, um dann auf ein Zeichen der Göttin einen vereinten Schlag gegen alle zu landen. Die Göttin selbst würde dann entscheiden, wem sie das Leben ließ und wer sterben sollte.

Was die Schattenkönigin anging wollten sie den verbotenen Pfad beschreiten und sich Wissen über die Zauber der Sonne aneignen, auch auf die Gefahr, dass sie dabei sich und andere treue Söhne und Töchter der Göttin töteten. Ausschlaggebend war, dass die sich selbst für freie Nachtkinder haltenden diese eherne Grenze bereits überschritten hatten und nicht nur gegen die Getreuen der Göttin Sonnenzauber einsetzten, sondern dass sie sich auch damit die Untergebenen jener Schattenfrau von den Hälsen halten konnten und dadurch einen unverzeihlichen Vorteil den Getreuen der Göttin gegenüber hatten. Am Ende konnten die noch einen neuen Stillhaltevertrag mit den Rotblütlern aushandeln, wie er in vielen Ländern vor dem Erscheinen der Göttin zur Anwendung kam.

Jemand aus der Versammlung fragte, wie schnell sich Schattengeister vermehren konnten oder ob das überhaupt ging, wo er nur davon erfahren habe, dass Schattengeister lebenden Wesen das Leben und die Seele aussaugen würden. Aber die Schattenkönigin sollte eigene Kinder bekommen haben. Wie ging sowas an? Darauf konnte ihm keiner eine Antwort geben, ebensowenig, wie schnell sich dieses fleisch- und blutlose Volk vermehren konnte. Vielleicht hatten die Nachtkinder noch den Vorteil, dass jeder von ihnen durch Blutzeugung fünf bis sechs Nachkommen pro Nacht hervorbringen konnte. Doch war das noch ein Vorteil? Denn von diesen verfluchten Vampirbluterhitzungsmitteln gab es auch immer mehr, in Amerika am meisten, aber in Ländern wie Großbritannien und Frankreich wurden diese Mittel auch schon mehr als erträglich verwendet. Der Vorschlag, ein Mittel dagegen zu erfinden wurde mit gewisser Verdrossenheit besprochen und dann als "Muss ja auch sein" angenommen.

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Im Tal der Mitternachtsbruderschaft, Oberlauf des Nils in Ägypten, 28.08.2006, kurz vor Mitternacht

Dieser Flugteppich war nach seinem eigenen Körper die beste Gabe, die Rore McBane dem ungenannten Herrscher darbringen konnte. So konnte er zusammen mit dem Unortbarkeitsquader mühelos durch alle Überwachungsnetze schlüpfen, um seine neue Streitmacht aufzustellen.

Nachdem er alle dreizehn schlafenden Schlangen geweckt und unter seinen Bann gestellt hatte und nun auch die zwanzig Geister aus Nesamun Tootheps Grab in seinen Dienst gezwungen hatte wollte er höhere Geisterwesen an sich binden. Im Tal der Mitternachtsbruderschaft wollte er fündig werden.

Der Teppich glitt lautlos und für Menschenaugen unsichtbar durch die Nacht. Links und rechts ragten schroffe Hänge auf, Zeugen eines früheren Nebenflusses des Nils, der jedoch seit über hundert Jahren nicht mehr geflossen war. Er wusste, wie gefährlich es war, sich mit höheren Nachtschatten anzulegen. Damals zu seiner Regentschaft hätte ihn die so überdauernde Daseinsform eines Rivalen fast das Leben entrissen, weit bevor sein dunkles Grabmal vollendet war. Zwanzig unter einem Eid vereinte Schatten sollten hier weilen, immer auf dem Sprung, ein Reich der dunklen Geister zu gründen. Warum die das seit hundert Jahren nicht hinbekommen hatten lag wohl daran, dass immer wieder welche von denen zerstört oder eingefangenund versklavt wurden. Gut, nichts anderes hatte er heute auch vor.

Sein Kristallring pochte sacht. Er witterte dunkle Zauberkräfte. Ebenso hörte er in beiden Ohren ein dunkles Wummern. Das kam vom schakalohrförmigen Silbergegenstand, der an einer Lederschnur um seinen Hals hing, dem Ohr des Anubis. Also waren hier wirklich rastlose Seelen zu finden.

Er gebot dem Teppich flüsternd, niederzusinken. Wenn der Quader zwischen seinen Beinen auch seine Lebensausstrahlung verbarg würden diese Schattenbrüder gleich eine Überraschung erleben. Als er jedoch vier auf ihn zufliegende schwarze Kugeln so groß wie ein Säuglingskopf sah und das dunkle Wummern zu einem mehrstimmigen Summen anschwoll wusste er, dass die Brüder ihn längst wahrgenommen hatten.

Das Pochen seines Unlichtkristallringes wurde immer schneller und stärker. Es zeigte ihm die Nähe dunkler Kräfte immer deutlicher. Er griff zu seinem von McBane "geerbten" Zauberstab und den gläsernen Stab des Geisterlenkers, mit dem er zwanzig ungebärdige Geisterkrieger zu handzahmen Gefolgsgespenstern gemacht hatte. Dann sah er, dass auch von weiter oben Schattenkugeln anflogen. Der gläserne Stab der Geisterlenkung erzitterte nun auch, weil er mögliche Beute witterte.

Die Schattenkugeln umzingelten ihn und blockierten den Rückweg und die Flucht nach oben. Lächerlich. Wenn er wollte konnte er von hier aus disapparieren. Er müsste dann nur den Teppich zurücklassen. Nein, das wollte er nicht. Das Summen in seinen Ohren schwoll derweil zu einem beinahe unerträglich lauten Chor aus in tiefer Lage singenden Männerstimmen an, die scheinbar sinnlose Laute durcheinanderbrummten, die dann zu einem einzigen Klangteppich verwoben wurden. McBanes Körperdieb dachte die altägyptischen Worte: "Ich vernehme euch Rastlosen." Da verhallte der Chor aus warnenden Männerstimmen in seinen Ohren, als befände er sich in einer sehr großen Höhle unter der Erde.

Vier mehr als zwei Meter durchmessende Schattenkugeln entstanden übergangslos und geräuschlos genau in der Flugbahn des Teppichs. Die anderen Schattenkugeln wichen den größeren Neuankömmlingen aus.

Der Körperräuber verhielt den Flugteppich mit einem Haltebefehl auf der Stelle. Die großen Kugeln wippten auf und ab. Offenbar waren sie es nicht gewohnt, dass jemand im Flug auf der Stelle anhalten konnte. Dann glommen blaue Lichter auf, die Augen der Unheimlichen. Eine der größeren Kugeln glitt flankiert von zwei kleineren auf den unsichtbaren Teppich zu. "Zeig uns deinen Körper. Wir wollen ihn sehen, bevor wir ihn unter uns aufteilen", schnarrte eine geisterhaft schwebende Stimme.

"Ich habe sehr lange gewartet, ihn zu bekommen und bin nicht hier, um ihn Nachtgespenstern wie euch abzugeben", sprach der ungenannte Herrscher. Dass beide sich auf Arabisch unterhielten war keine Sache.

"Denkst du Fleischling, dass wir deine Fleischlichkeit nicht schon von weitem gerochen hätten. Also zeig dich uns, den Brüdern der Mitternacht."

"Oh, stimmt, es ist wohl schon Mitternacht. Unsichtbare Uhren lesen gelingt wohl doch nicht", sagte der Teppichreiter. "Also gut, ihr sollt sehen, wer euer neuer Herr und Meister sein wird", sagte der Unsichtbare völlig von sich überzeugt. Er gebot dem Teppich, sichtbar zu werden. In dem Augenblick leuchtete auch der gläserne Herrscherstab im gleichen Blau wie die Augen der Nachtschatten. Die Kugel vor ihm blähte sich zu einer riesenhaften Gestalt von fünf Manneslängen Größe auf. Das Leuchten des Geisterlenkerstabes wurde stärker und traf genau die Augen des Nachtschattens.

"Du bist ein Nordländer. Sowas hatten wir selten", lachte der sich in ganzer Ausprägung zeigende Nachtschatten. "Verrate mir deinen Namen!" befahl er. Doch der Ungenannte grinste nur. "Erst verrate du mir deinen, großer Bruder!" befahl er und zielte mit dem gläsernen Zepter auf den Sprecher oder Anführer.

"Damit du mich mit deinen lächerlichen Geisterschreckzaubern zurücktreiben kannst? Gut, kannst du ja versuchen. Ich bin Uruku-Rok, der König der Mitternacht. So und jetzt du!"

"Ich bin der Sohn der gefangenen Sonne", erwiderte der ungenannte König. Dann hob er Zauberstab und gläsernes Zepter zu gleich und sprach die Worte der gehorsamen Seele. "Sei mir untertan von jetzt bis nach meinem Tode, Uruku-rok. Sei mir Untertan, Uruku-Rok! Befolge alle meine Befehle, Uruku-Rok!"

Der Nachtschatten glühte nun ganz himmelblau. Seine Begleiter stoben laut heulend auseinander, weil das Licht sie peinigte. Doch die schlimmste Qual erlitt Uruku-Rok. Er blähte sich auf, schrumpfte zusammen und erzitterte. Seine Erscheinung flackerte, verdrehte sich und zerfloss beinahe. Er heulte und wimmerte. Dann erlosch das blaue Licht. "Herr, ich bin dein Diener", seufzte der besiegte Nachtschatten.

"Er hat unseren Bruder versklavt, dieser frleischliche Frevler!" brüllte ein anderer Nachtschatten. "Auf ihn!!" "Halt mir deine Mitbewohner vom Leib, Uruku-Rok!" rief der ungenannte König dem gebannten Geisterwesen zu. Gleichzeitig zielte er auf die anderen und dachte an den größten Triumph seines Lebens, die Übernahme der Königsherrschaft. "Expecto Patronum!" rief er. Aus seinem Zauberstab schoss ein silberweißer Strahl, der sich im freien zu einer meterlangen, beindicken Schlange mit drei, nein vier Köpfen formte. Kaum war das silberweiße Kriechtier dem Zauberstab entschlüpft warf es sich den ersten Nachtschatten entgegen und biss nach ihnen. Die Getroffenen Nachtschatten schrien geisterhaft verwaschen klingend auf und verschwanden im Nichts. Zwei der größeren Schatten versuchten, der silbernen Schlange entgegenzutreten. Diese schwang sich wie eine Peitsche um die beiden und wickelte sie ein. Dabei schrumpften die Geisterwesen unter lauten Schmerzenslauten. Dann bekamen sie auch noch die Worte der gehorsamen Seele in Verstärkung mit dem gläsernen Zepter zu spüren. Sie mussten erst ihre Namen preisgeben und dann ihre Unterwerfung bekunden. Die silberne Schlange glitt mit wellenförmigen Bewegungen um ihren Beschwörer herum und schnappte nach kleineren Nachtschatten. Eine winzige Kugel flog auf den König zu, prallte jedoch von einem unsichtbaren Hindernis ab und sauste angstvoll quiekend direkt ins erste Schlangenmaul von links. Es blitzte blau auf, und ein leiser werdender Aufschrei verklang. Die Silberschlange hatte einen der niederen Nachtschatten ausgelöscht. Dieser Patronus-Zauber war wahrhaft mächtig.

Der König schaffte es, noch vier weitere niedere Schatten zu bannen. Die größeren hatten sich nach oben zurückgezogen. Sie spürten, dass sie hier unterliegen mussten. Doch als die bereits gebannten sie anflogen verschwanden sie im Nichts. "Du hast unsere Bruderschaft zerstört, Frevler. Dafür werden wir deine Seele fressen", krakehlte ein noch im Kampf verbliebener Nachtschatten und stürzte sich auf den ungenannten König. Dieser hielt ihm den blauen Stab entgegen und bannte auch ihn. Die Schlange indes löschte die winzigen Schattenwesen aus. Die größeren zogen sich nun zurück.

"Acht von euch habe ich. Wer nicht auch noch in das Nichts verstoßen werden will sollte sich mir lieber freiwillig unterwerfen!" rief der König. Da sauste noch eine winzige Kugel auf ihn zu, prallte vor seinem Gesicht auf ein unsichtbares Hindernis und schwirrte quiekend davon. Die silberne Schlange warf sich dem fortgeschleuderten Geisterwesen entgegen, bekam es mit dem zweiten Kopf von rechts zu fassenund löschte es auch aus.

"Du könntest gegen sie kämpfen", hörte der ungenannte König einen der bereits unterworfenen. Er fragte, wen dieser meinte. "Sie ist die Hoffnung oder die Vernichtung, die Befreiung oder die Versklavung. Sie wütete in den anderen Ländern und unterwarf sich dort solche wie wir sind. Es geht die Rede, dass sie es auch vollbringt, die Seelen von ihren Leuten getöteter in sich aufzunehmen und zu ihren eigenen Kindern auszureifen, die dann sind wie wir, aber auch ohne zweite oder dritte Nahrung mächtig. Wir konnten uns bisher gut vor ihr verbergen, weil dieses Tal nur Männer und männliche Seelen ein- und ausfliegen lässt."

"Eine Königin der Geister, eine Dämonenfürstin?" fragte der ungenannte König. "Ja, eine Königin oder Göttin will sie wohl werden, so wie die der Blut trinkenden Bleichgesichter mit den langen Fangzähnen", sagte Uruku-Rok. "Wir müssen auf der Hut vor ihr sein. Denn es heißt, sie wurde aus zwei Seelen geboren, nicht aus einer und hat sich bereits weitere mächtige Seelen einverleibt."

"In welchen Ländern soll sie suchen?" fragte der ungenannte Herrscher. "Ich kenne die neuen Namen nicht, die die Länder tragen. Doch ich kann dir sagen, dass sie in Sonnenuntergangsrichtung liegen", erwiderte der gebannte Schattengeist. Das genügte dem Schlangenreiter. Er versicherte sich dann noch der Dienste der niederen Mitternachtsbrüder. Dann flog er davon. Eine mächtige Nachtschattenkönigin. Gewann er sie zur Dienerin brauchte er kein weiteres Geisterheer aufzustellen. Dann würde er zum Angsttraum des Landes und vor allem des Zaubereiministeriums.

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In der Höhle im Atlasgebirge, 29.08.2006, später Abend

Garnor Reeko hatte um eine Aussprache vor der Mutter aller wahren Nachtkinder gebeten, weil ihm der afrikanische Statthalter vorgeworfen hatte, dass die Europäer sich zu häufig in Afrika herumtrieben, um dort auf Lebenskraft auszugehen.

Uluran Guthurrab strahlte bereits eine gewisse Feindseligkeit aus, als er noch alleine mit der erhabenen Mutter war, die vor einer Nacht noch einmal acht neue Kinder geboren hatte.

"Die, welche du in Kenia in dich aufnahmst, Mutter und Kaiserin, sind von meinen Kriegern auf den Weg zu dir geführt worden. Warum hast du sie nicht bei uns belassen?"

"Möchtest du jetzt wirklich, dass ich, deine Mutter und Kaiserin, mich für das rechtfertige, was ich sage, tue oder befehle, Uluran Guthurrab? Das möchtest du doch wirklich nicht. Aber gut, weil es ja eine Ausnahme war, dass die Tierbeobachter und -aufzeichner aus Europa stammen. Wer dort geboren wurde und aus mir heraus wiedergeboren wird soll und wird dort auch wieder hingehen, um meine Anweisungen auszuführen. Selbst wenn ihr in meinem steinernen Schoß alle gleich wurdet, ob Afrikaner, Europäer oder Asiaten, so gilt es, die dort einzusetzen, die sich am Ort und mit der Lebensweise der zu werbenden oder zu pfändenden am besten auskennen. Nur damit du, mein treuer Heerführer in Afrika, nicht weiterhin von deinen Brüdern und Schwestern belagert wirst, warum ich die von mir wiedergeborenen Filmleute nicht in Afrika lassen wollte.

"Ich wollte mir nicht anmaßen, mehr wissen zu dürfen als mir zusteht, meine Mutter und Kaiserin", entgegnete Uluran Guthurrab zwischen Abbitte und berechtigter Forderung. Da erschien Garnor Reeko aus dem Nichts heraus.

"Verzeiht mir, meine Mutter und Kaiserin, dass ich nicht gleich bei euch erschien. Doch die Leute vom italienischen und russischen Zaubereiministerium haben was neues am Start, ich meine, sie haben was neues im Einsatz, mit dem sie unsereins schneller orten und dann mit irgendwelchen Sonnenlichtzaubern auslöschen können. Bisher haben sie so zehn von uns erwischt. Aber ich wurde gefragt, ob Ihr was davon gespürt habt."

"Was, die haben was neues gebaut, mit dem sie uns findenund vernichten können? Nein, ich habe nichts davon gespürt. Aber danke für diese Mitteilung. Ich werde nachher einen Sammelruf schicken, dass sich alle melden, die im betreffenden Gebiet unterwegs sind. Falls das wirklich Überhand nimmt werden wir darauf antworten müssen, wenn wir nicht für die nächsten tausend Jahre Winterschlaf halten wollen, falls das überhaupt geht."

"Ach, kommt ihr deshalb jetzt häufiger zu uns und überfallt kleinere Dörfer und Städte, um euch mit neuer Lebenskraft vollzusaugen?" fragte Uluran Guthurrab Garnor Reeko. Dieser schwieg. Die gemeinsame Mutter antwortete: "Uluran Guthurrab, ich habe gerade mit Garnor gesprochen, weil der mir was wichtiges zu vermelden hatte. Wage es nicht mehr, einfach so Zwischenfragen zu stellen, ohne von mir die Erlaubnis abzuwarten!"

"Ich möchte die Frage gerne beantworten und gleich eine eigene stellen, Mutter und Kaiserin", erwiderte Garnor Reeko. es wurde ihm gestattet. "Ich werde von den alteingesessenen aus Spanien, die nicht aus Mutters steinernem Schoß geboren wurden andauernd missachtet. Die denken jetzt, was die Vampire machen dürften sie erst recht, nämlich mal eben über die Straße von Gibraltar und nach Nordafrika rüber, solange es Nacht ist. Ich habe denen mehrmals erzählt, dass es klare Reviergrenzen gibt. Aber die berufen sich auf die Zeit vor Kanoras' Wiedererwachen, dass sie ein jahrtausende altes Gewohnheitsrecht haben, überall da, wo sie in einer halben Nacht hinkommen, beute machen zu dürfen. Sollte das nicht mehr gelten müsstet Ihr, Mutter und Kaiserin, Jagdreviere vergeben und klarstellen, wer wann und wo wieviel jagen darf."

"Ah, ich weiß, welche fünf Gewohnheitsrechtler du meinst, Garnor Reeko. Die haben sich mir nur verpflichtet, weil sie gemerkt haben, dass ich sie besser vor Nachstellungen schützen kann als wenn sie allein auf sich gestellt sind. Aber sie haben mir Gehorsam geschworen, solange sie bestehen und solange ich bestehe. Muss ich die echt noch einmal einzeln herrufen, um ihnen das zu erklären? ja, is' wohl so."

"Du kannst nicht führen, Garnor Reeko. Du bist zu schwächlich. Drohe denen an, sie im Notfall selbst zu vertilgen. Es sind ja keine Brüder von uns, oder?"

"Wenn das eine macht bin ich das", schnarrte Birgute Hinrichter unmissverständlich. "Und Uluran Guthurrab, wenn du noch einmal einen deiner Brüder oder Schwestern derartig verächtlich redest wo ich zuhöre werde ich dir zeigen, wie schwächlich du selbst bist. Haben wir uns verstanden, Uluran Guthurrab?"

"Ja, ich verstehe und befolge, meine Kaiserin", knurrte Uluran Guthurrab. Garnor Reeko wähnte sich nun oben auf, doch war zu klug, es frei herauszulassen. Er wartete geduldig, bis er wieder etwas sagen durfte. So erwiderte er: "Wir sind bisher sehr gut damit gereist, dass wir uns nicht gegenseitig umbringen, ja dass wir im Gegensatz zu Menschen und Vampiren eine Gemeinschaft haben, die ohne Brudermorde und Bruderkriege auskommt. Deshalb verstehe ich ja zum einen, dass Bruder Uluran Guthurrab besorgt ist, dass seine auf diesem Erdteil geborenen Brüder und Schwestern nicht genug Lebensenergie erbeuten können, wenn da wer in deren Revier jagt. Anndernfalls weiß ich aus eigener Erfahrung, dass wir nicht jede Nacht jagen müssen, sondern auch mal drei Monate am Stück ohne unsere besondere Nahrung auskommen, wie es Krokodile und Schlangen auch können. Das hebt Uluran Guthurrabs Grund zur Besorgnis wieder auf. Was mich selbst aber mehr belastet oder auch belästigt, werter Bruder, das ist dieser ständige Tonfall, dass du mich nicht für fähig hältst, die Aufgaben unserer Mutter und Kaiserin zu erledigen. Ich hoffe sehr, dass ich mir derartiges nicht gefallen lassen muss. In Europa sind meine Mehrlingsschwester Remurra Nika und ich hoch anerkannte Koordinatoren, 'tschuldigung, Verwaltungs- und Zuteilungsvertraute. Auch die, die nicht unsere unmittelbaren Geschwister sind schätzen, dass das ständige Gezänk und Gezerre um Jagdreviere vorbei ist und wir uns endlich wieder - jetzt kommt's - zu einer aus klugen Einzelwesen mit Fähigkeit zur Gemeinschaft bestehenden Gesellschaft entwickelt haben und es nicht sofort zum Kampf kommt, wenn zwei von uns sich näher als einen halben Kilometer kommen. Falls das in Afrika oder Asien noch nicht so ist hoffe ich sehr, dass ihr alle die Lernfähigkeit habt, das hier auch hinzukriegen."

"Wir jagen dort, wo wir seit Jahrtausenden siedeln. Zwischendurch werden welche von uns von denen ausgelöscht, die uns nicht ernähren wollen. Daran konnten wir uns gewöhnen, wie Löwen und Schlangen gefürchtet und gehasst zu sein und deshalb auch mal den einen oder anderen von uns zu verlieren. Aber deine unbeherrschten weil ohne starke Führung herumstreunenden Landsleute missachten dieses alte Recht, ja sie behaupten selbst, so ein altes Recht zu haben, uns in unserem Land alles wegnehmen zu dürfen. Darin sind die nicht besser als die Fleischlinge, die vor zweihundert Jahren Afrika einfach so unter sich aufgeteilt haben und die, die meine lebenden Vorfahren waren, sogar verschleppt haben, damit sie in einem ganz anderen Land als sprechende Arbeitstiere gehalten werden. Wenn das eure Vorstellung von Gemeinschaft ist, dass ihr meint, dieses Unrecht der Fleischlinge jetzt auch für eure Erdteilgruppe anwenden zu dürfen werden wir uns wehren. So spreche ich, Uluran Guthurrab."

"Hast du gerade wieder behauptet, Garnor könne seine Leute nicht führen, Uluran Guthurrab?" fragte Birgute. Der Gefragte bejahte es. "Und du hast ihm gedroht, dass seine und deine Geschwister und deren von mir zugeteilten Helfer von deinen Helfern zurückgeschlagen werden?" fragte die Kaiserin noch. Auch das bestätigte Uluran Guthurrab. "Dann bist du wohl zu früh in die Welt zurückgekehrt. Ich hätte es gleich spüren müssen, dass dein Hang zur Auflehnung gegen Obrigkeiten nicht in einer einzigen Nacht vergeht." Der afrikanische Nachtschatten sah die ihn um viele Längen überragende Kaiserin an. Dann sagte er trotzig: "Tja, Mutter, so bin ich halt. Ich habe nicht darum gebeten, von dir umgewandelt zu werden. Aber du musstest ja unbedingt kriegserfahrene, landeskundige Kinder kriegen. Tja, jetzt bin ich so wie ich bin und du kannst mich zwar auslöschen, aber ändern kannst du mich nicht."

Garnor Reeko flackerte kurz, ein Zeichen, dass er heftig erschrak.

Die Kaiserin erstarrte, aber nicht vor Angst oder Verwirrung. Sie rief in Gedanken zehn weitere auf dem afrikanischen Erdteil weilende Getreue, davon fünf von ihr wiedergeborene. Nach nur einer halben Minute erschienen sie. Dann forderte sie von Ulurran Guthurrab, seine Anschuldigungen gegen Garnor noch einmal vor Zeugen zu wiederholen. Er begriff offenbar nicht, dass er sich gerade um Kopf und Kragen redete, dachte zumindest Garnor Reeko. Als er dann anfing, die Authorität der Kaiserin was die Vergabe von Posten anging offen zu bemängeln pulsierte der für Schattenkinder rotgolden schimmernde Körper der Kaiserin, vor allem in ihrem Unterleib. Dann sagte sie: "Kehr zurück in einem Stück, weil die Welt dich nicht mehr hält, Uluran Guthurrab!" Mit diesen Worten spreizte sie ihre Beine, als wolle sie mit einem Geliebten zusammenfinden oder gleich ein Kind gebären. Doch es war ganz anders.

Garnor und die anderen Nachtschatten mussten leicht flackernd mit ansehen, wie Uluran Guthurrab von einem spiralförmigen roten Lichtstrahl aus dem Leib der Kaiserin getroffen wurde, darin wie in einen Kokon eingesponnen und zu einer Kugel zusammengedrückt wurde und dann wie von einem zurückschnarrenden Gummiband in den Unterleib der Kaiserin hineingezogen wurde. Dabei schrie er laut auf, verwünschte die Kaiserin, bevor seine Stimme dumpfer und höher klang, bis sie vollständig verklang. Das Pulsieren im Leib der Mutter der Schattengeborenen hielt noch einige Sekunden an. Dann schloss sie ihre Beine wieder und saß ganz ruhig da. "Ist noch einem von euch die Welt zu groß und Ungerecht, als dass er nicht mehr darin weiterbestehen möchte?" fragte die Schattenkaiserin mit unüberhörbarer Drohung in der Stimme. Doch keiner hier war Ulurans Ansichten. Garnor wunderte sich sogar, dass Uluran derartig aufsässig sein konnte, obwohl er doch wie er selbst im kristallinen Uterus der Kaiserin herangewachsen war und damit eine unerschütterliche Hingabe zu ihr eingeflößt bekommen hatte.

"Warum habt Ihr ihn auf diese Weise wieder zu euch genommen und nicht einfach so ausgelöscht, meine Kaiserin?" fragte einer der anderen Afrikaner. "Weil ich das kann, und weil er so für alle nach ihm kommenden Brüder und Schwestern genug Seelenkraft bereitstellen kann, dass sie stärker aber zugleich auch einsichtiger zur Welt kommen als er", erwiderte die Kaiserin. Birgute wollte nicht zugeben, dass sie auf Grund ihrer vielfältig weiblichen Seelenzusammensetzung keine männlich ausgerichteten Seelen mal eben so hinunterschlucken und wie feststoffliche Nahrung verdauen konnte. So hatte sie Ulurans Entwicklung vollständig zurückgedreht, die dabei aber freiwerdende Energie in ihren kristallinen Uterus eingelagert, um bei den nächsten Geburtsvorgängen wirklich stärkere Nachkommen hervorzubringen. Abgesehen davon fand die aus einer Ärztin und einer lebenslustigen Studentin mit einer nicht minder kreativen wie machtgierigen Hexenlady zusammengewachsene Gemeinschaftsseele, dass es schon Stil hatte, wenn eine Mutter ihre all zu undankbaren und aufrührerischen Kinder in sich zurücknehmen und sie sozusagen ungeschehen machen konnte. Ja, Riutillias Erinnerung an manche Rebellengruppe hätte sie beachten sollen. Wer immer schon alles ablehnte, was ihm Führung und Richtung geben wollte konnte dies wohl auch nach einer Wiedergeburt weitertreiben.

Sie dankte ihren Kindern, dass sie den kurzen Strafprozess und das vollstreckte Urteil bezeugt hatten und schickte sie wieder fort außer Garnor. "Du darfst jenen fünf Streunern mitteilen, dass sie jederzeit und vollständig zu mir kommen dürfen, sollten sie finden, dass sie irgendwas vermissen oder sie von etwas zur Wut auf ihre Geschwister getrieben werden. Wir haben zu viele Feinde in der Welt. Ich werde es nicht zulassen, dass ihr euch untereinander streitet oder gar anfeindet. Ich habe die verdammt schwere Aufgabe, unsere Daseinsform zu bewahren und zu mehren. Das geht nur, wenn wir uns nicht gegenseitig umbringen. Sage das denen, die meinen, du hättest kein Recht, sie zum Maßhalten aufzufordern! So, mein kleiner Dämonenfreund, jetzt kannst du auch verschwinden."

Garnor Reeko bestätigte es und verschwand wie alle anderen völlig geräuschlos im Nichts.

Die Kaiserin wollte gerade einen Sammelruf nach Italien und Russland senden, um alle die Getreuen herbeizuzitieren, um das mit den neuartigen Nachtschattensuch- und -vernichtungsvorhaben zu bereden, als sie die Gedankenrufe eines ihrer hier in Afrika weilenden Kinder hörte. Der Inhalt dieser Botschaft machte sie wütend.

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In der Nähe der algerischen Stadt Tinduf auf dem Hochplateau Hammada du Draa, 29.08.2006 christliche Zeitrechnung, anderthalb Stunden vor Mitternacht

Er war auf fremdem Hoheitsgebiet. Das wusste er ganz genau. Doch er war überzeugt, dass dieses Land eines nicht all zu fernen Tages dem neuen Großreich am Nil Untertan sein würde. McBanes Erinnerungen verrieten ihm, dass diese karge Felsenwüste da unter ihm zum Land Algerien gehörte und zwischen dem seit 1962 eigenständigen Zaubereiministerium und dem im nordwestlichen Nachbarland Marokko umstrittenes Gebiet war, bis sich eine gemeinsame Verwaltungsgruppe gebildet hatte, die die wenigen magischen Menschen und ein Reservat von wüstenstämmigen Zaubertieren überwachte und regelte. Unter anderem hier sollte er einen von denen finden, die angeblich einer mächtigen Königin der Schattengeister dienten. Da die Schattengeister die Sonne scheuten wie die Kinder Akashas musste er eben bei Nacht nach ihnen suchen.

Das Ohr des Anubis und sein Unlichtkristallring schwiegen bisher. Auch als er sich einer neuzeitlichen Stadt näherte blieben die beiden Vorwarngegenstände ruhig. Urukuru-Rok hatte ihm verraten, dass hier wohl einige von denen nachts auf Beute ausgingen oder forschten, wer ihrer Königin wichtig genug sein mochte.

Der ungenannte Herrscher flog an die eintausend Klafter über den mal mehr und mal weniger erleuchteten Häusern dahin. Er hörte aus der Tiefe das Brummen und Rauschen jener ohne Ochsen oder Esel betriebenen Wagen, die die Kraft aus altem Feuer nutzten. Er sah die winzigen Lichtpunkte der Straßenbeleuchtung. Sollte er die Gelegenheit nutzen, eine jetztzeitige Stadt zu besuchen, um sich zu überzeugen, was er alles ändern musste, wenn er die alte Königswürde zurückerobert hatte? Nein, er suchte nach den Schattengeistern, die hier ab und an herumschleichen mochten.

So überflog er die Stadt Tinduf und horchte weiter. Ja, da war etwas, ein ganz fernes Wummern wie ein mit unterschiedlicher Lautstärke gespieltes Musikinstrument. Es kam von Rechts vorne. Doch es war noch weit weg. Der ungenannte Herrscher schwenkte auf seinem Flugteppich in die Richtung ein, bis er das vom Ohr des Anubis in seine Gehörgänge übermittelte Geräusch unmittelbar vor sich vernahm. Nun trieb er seinen Teppich zu schnellerem Flug an, bis er hörte, wie das Wummern lauter wurde und nun irgendwie von weiter unten zu ihm hochdrang. Ja, Anubis war dem Erfinder jener Vorrichtung hold gewesen, der diese Geisterfindevorrichtung ersonnen hatte. Der unrechtmäßige Besitzer von McBanes Körper steuerte den Teppich mit wohlplatzierten Berührungen wortlos. Er musste nur die Befehle denken. Jetzt hatte er den genauen Anflugwinkel, aus dem heraus er die Anwesenheit des Schattengeistes wieder unmittelbar vor sich hörte. Jetzt galt es.

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Er war mal wieder hier in dieser Gegend. Hier kannte er sich aus. Deshalb durfte er laut Uluran Guthurrab und der Kaiserin auch exklusiv hier jagen und sich weiterentwickeln.

Warum er jetzt einen dieser Frachtgutbeförderer ausgewählt hatte lag daran, dass er nicht noch einmal riskieren durfte, in einem Haus der Stadt gesehen zu werden. Den Fahrer des pferdelosen Fuhrwerks konnte er während seiner Fahrt überdecken, leersaugen und den aller Wärme ledigen Leichnam einfach so weiterfahren lassen. Er musste sich nur vor den viel zu hellen Lichtern hüten, die dem Fuhrwerk den Weg erleuchteten.

Die Lebensausstrahlung der Beute sicher erfassend glitt er behutsam hinunter. Er hatte doch Zeit.

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Als der dunkle Boden auf ihn zuraste merkte er, dass er wohl zu schnell unterwegs war und in jenem Winkel gleich mit großer Wucht auf den kargen Boden prallen musste. Noch bevor er den Bremsbefehl an den Teppich dachte erzitterte dieser und blieb in der Luft stehen. Nur vier Ellen unter ihm lag das von Wind und Sand abgeschmirgelte Gelände. Der Teppich kippte von alleine in eine waagerechte Lage zurück, verharrte jedoch in der Luft. Der Ungenannte erinnerte sich, dass McBane was von einer Nothaltevorkehrung mitbekommen hatte, die den Teppich vor Aufprall bei überhöhter Geschwindigkeit bewahrte und ihn gefährlichen Geschossen oder Zaubern ausweichen lassen konnte, schneller als sein Reiter dies befehlen mochte. Das hatte dem Körperräuber wohl das gestohlene Leben gerettet. Er brauchte mehrere schlagartig beschleunigte Herzschläge, bis er seinen Schrecken und die Wut auf seine Nachlässigkeit überwunden hatte. Dann lauschte er wieder auf das immer schnellere, schon in ein gleichmäßiges Summen übergehende Warngeräusch vom Ohr des Anubis. Ja, jetzt hatte er wieder die Richtung. Der Schattengeist bewegte sich. Er näherte sich der Stadt Tinduf, wohl um wieder Beute zu machen.

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Irgendwas war da, nicht nur der Fuhrmann in seinem laut dröhnenden Fuhrwerk. Er horchte mit seinen besonderen Sinnen. Ja, hinter ihm war etwas, das näherkam. Da er aus eigener Erfahrung und unmissverständlichen Anweisungen wusste, dass ein ohne lautes Geräusch durch die Luft fliegendes Etwas Verdruss bedeutete besann er sich darauf, das Etwas genauer zu erkunden.

Er flog zurück. Doch er sah nichts. Doch die Ausstrahlung war überdeutlich. Da kam ein erwachsener Mann mit einem besonders starken Willen. Das war sicher ein Zauberer. Hatten die ihn etwa gesucht? Wenn ja, wie hatten sie ihn gefunden? Sollte er das nicht erst herausfinden, bevor er sich die Lebenskraft des Fremden einverleibte? Nun war er nicht mehr weit weg. Gleich wusste er, woran er war.

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Irgendwas war da, nicht nur der Fuhrmann in seinem laut dröhnenden Fuhrwerk. Er horchte mit seinen besonderen Sinnen. Ja, hinter ihm war etwas, das näherkam. Da er aus eigener Erfahrung und unmissverständlichen Anweisungen wusste, dass ein ohne lautes Geräusch durch die Luft fliegendes Etwas Verdruss bedeutete besann er sich darauf, das Etwas genauer zu erkunden.

Er flog zurück. Doch er sah nichts. Doch die Ausstrahlung war überdeutlich. Da kam ein erwachsener Mann mit einem besonders starken Willen. Das war sicher ein Zauberer. Hatten die ihn etwa gesucht? Wenn ja, wie hatten sie ihn gefunden? Sollte er das nicht erst herausfinden, bevor er sich die Lebenskraft des Fremden einverleibte? Nun war er nicht mehr weit weg. Gleich wusste er, woran er war.

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Der ungenannte Herrscher flog nun keine hundert Klafter über dem Boden dahin. Er hielt genau auf die von ihm mit dem Ohr des Anubis gehörte Quelle zu. Dann sah er ihn.

Der Nachtschatten flog als tiefschwarze Wolke über einem dieser Selbstfahrfuhrwerke dahin, dessen beiden vorderen Lampen wie gleißende Augen in der Dunkelheit glommen. Gleich würde das Geisterwesen durch eines der geschlossenen Fenster in das große metallene Fuhrwerk eindringenund dort seinen Hunger auf Seelenkraft stillen. Das Fuhrwerk würde dann ungelenkt weiterrasen und irgendwann und irgendwo vom Weg abkommen oder gegen ein Hindernis krachen.

Das schon wie ein großer Bienenschwarm klingende Summen wurde lauter und lauter. Es übertönte das Geräusch jener mit altem Feuer aus Steinöl betriebenen Vorrichtung. "Ich vernehme euch, Rastlose", dachte der Körperdieb und trieb zugleich mit einem Klaps auf eine bestimmte Stelle den unsichtbaren Teppich zu größter Beschleunigung an. Wie ein kraftvoll von der Schleuder geschnelltes Geschoss jagte der Teppich auf das immer noch arglos dahinbrummende Gefährt zu. Dabei hielt er mit der linken den Herrscherstab des Totenrichters Amun-Min. Dieser kühlte fühlbar ab und erbebte. Er witterte ein starkes Geisterwesen.

"Einhalt!" rief der Ungenannte der schwarzen Wolke zu, die gerade beschloss, in das neuzeitliche Fuhrwerk einzudringen. Das körperlose Geschöpf ballte sich schlagartig zu einer einen Männerkopf großen Kugel zusammen. Zwei blaue Lichter, dunkler als die grellen Lampen, leuchteten dem Teppichflieger entgegen. Dieser zielte so gut er es unsichtbar konnte auf den Schattengeist und rief die Worte des Gehorsams. Das Fuhrwerk glitt unbehelligt unter der Kugel davon und brummte auf der befestigten Straße weiter Richtung Stadt. "Verwünscht seist du, feiges Aas!" brüllte ihm eine verzerrte, wie von starkem Wind verwehte Stimme auf Arabisch entgegen. Die Schattenkugel schwang hin und her, während sie von blauen Blitzen getroffen wurde. Keiner der Blitze fand Halt. Doch das durfte nicht sein. Jeder Geist musste den Worten des Gehorsams unterliegen und erstrahlte dann im blauen Licht des Zepters. Der Ungenannte rief die Worte noch einmal aus. Die Blitze wurden zahlreicher. Doch der Schattendämon wurde davon nur herumgeschleudert, nicht eingesponnen und erfüllt. Statt dessen blähte sich die Kugel weiter auf und wurde zu einem zwei Manneslängen großen Schattengeist mit dunkelblau glimmenden Augen.

"Zeig dich, du feiger Fleischling, damit ich weiß, wen ich jetzt fresse", brüllte der Schattengeist unter Knisternund Prasseln heraus. "Niemand greift einen Sohn der höchsten Königin der Nacht an!"

"Wer soll das sein?!" rief der Reiter der großen Schlange zurück und versuchte, den Schattendämon weiterhin mit der ganzen Kraft des Zepters zu bändigen. "Meine Mutter, meine Herrin und dein Tod, wenn ich dich nicht gleich verschlinge. Dein Fangzauber kann mir nichts."

"Natürlich kann er das", knurrte der Wiederverkörperte und näherte sich dem Schattengeist. Dieser versuchte, ihn genau zu sehen. Er konnte die blauen Blitze sehen, die ihm entgegenschlugen. Deshalb konnte er sich nun ausrichten.

Der ungenannte Herrscher rief die Worte der Geisterbindung, auch wenn er den wahren Namen des Gegners noch nicht kannte. Doch zumindest konnte er ihn vorübergehend bannen, dachte er. Doch der Schattengeist blitzte nur kurz silbern auf und zerfloss dann zu jener nachtschwarzen Wolke, als die er gerade vorhin das ochsenlose Fuhrwerk belauert hatte. "Dann eben so", hörte der Teppichreiter. Sein Teppich beschleunigte ohne weiteren Befehl, weil er die Gefahr erfasste. Da der ungenannte Herrscher beide Hände voll hatte, links das Zepter, rechts den Zauberstab, konnte er den Teppich nicht bremsen. So musste die schwarze Wolke ebenfalls beschleunigen. Doch dabei sank sie bereits bedrohlich tief herunter. Dem Teppichreiter wurde sehr unangenehm klar, dass er diesen Schattengeist nicht unterwerfen konnte, obgleich der nicht so stark aussah wie Uruku-Rok. Sollte er hier und jetzt wahrhaftig diesem körperlosen Dämon zum Opfer fallen?

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Zur selben Zeit in der großen Höhle der Nachtschattenkönigin

Erst hatte Lutras Dibam selbstsicher verkündet, einen unsichtbaren Verfolger erbeuten zu können. Dann hatte er vor Wut und auch Schmerz gebrüllt, weil der oder die fremde ihn mit durch ihn durchschlagenden und ihn verformenden Kraftentladungen traf. Er hatte laut gedacht, den Anderen gleich zu erwischen. Ja, es war ein männliches Bewusstsein. Doch dann war das unglaubliche passiert. Lutras Dibam schrie vor Todesangst. Seine Schreie glitten in der Tonhöhe immer höher, und seine Laute schienen in eine immer weitere Ferne durch ein himmelhohes Gebirge zu verschwinden, von dem sich die Echos seiner Schreie brachen, bis von seinem Schrei nur noch ein klägliches Wummern blieb, als wolle jemand den eigenen Herzschlag lauter als den Todesschrei des mittleren Nachtschattens überlagern.

Einen winzigen Augenblick bedauerte sie, Urulan Guthurrab wieder in sich zurückgeholt und invers getötet zu haben. Doch dann dachte sie, dass sie noch genug treue Helfer in Afrika hatte. Von denen rief sie zwanzig Krieger der mittleren Stufe zusammen und leitete sie genau dort hin, wo sie Lutras Dibams wie durch ein laut klopfendes Herz wimmernde Stimme hörte. Wer immer ihn so erledigt hatte würde gleich selbst vergehen. Vielleicht würde sie bald beide in sich neu herantragen und als Zwillingsbrüderpaar wiedergebären.

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Es fehlten noch vier Klafter alter Maße, bis die gefährliche schwarze Wolke den Teppich und dessen Reiter einhüllen konnte. Der Schattengeist erfasste sehr wohl die Lebensausstrahlung des ungenannten Herrschers. Die Wolke verdrehte sich unter den blauen Blitzen des immer kälter werdenden Geisterzepters. Jetzt fühlte der Körperdieb auch das wilde Pochen seines Unlichtkristallringes. Würde der ihn auch vor dem Unhold schützen wie bereits vor dessen Artgenossen? "Du kannst mir nicht entwischen", hörte der Ungenannte durch den immer lauter singenden Fahrtwind. "Ich kann so schnell wie ein lauter Ruf fliegen. Jetzt gehörst du mir."

Der in Rore McBanes Körper eingenistete finstere Pharao riss eher aus Abwehrverhalten als aus Absicht den linken Arm nach oben und stieß das blitzende Zepter in die nun niedersausende Wolke hinein. Der Ring an seinem Finger erzitterte mit hörbarem Brummen. Ebenso erbebte der Stab des Totenrichters. Ja, der blähte sich auf und zog sich wieder zusammen wie ein wild schlagendes Herz. Doch das wahrhaft erstaunliche war, dass die schwarze Wolke nun aus sich heraus silberweiß erstrahlte. "Nein, was ist das?" hörte er den Schattengeist rufen. Dann ging der Ruf in ein angstvolles Schreien über, das immer leiser wurde und in der Tonhöhe immer weiter anstieg. Die Wolke schrumpfte unter silbernen Lichtentladungen. Das Zepter des Totenrichters pochte weiter wie ein stark erregtes Herz und schien ihm in der Hand zu gefrieren. Dann war die silberne Wolke restlos verschwunden. Er fühlte noch ein wildes Ruckeln des Zepters und dass es für einen Augenblick zehnmal so viel wog wie vorher. Doch er hielt es fest. Dann war ihm, als jagte ihm eiskaltes Wasser durch den Arm in den Körper und breitete sich bis in alle entlegenen Bereiche aus. Dabei stürzte er in eine Flut von Bildern und Geräuschen, als habe er einen Portschlüssel ausgelöst. Sein Kopf erbebte. Das Ohr des Anubis schlug mehrmals gegen seine Brust. Er war gefangen in dieser Flut aus Bildern und Klängen. Er verlor jedes Zeitgefühl.

als er wieder im Hier und Jetzt war erkannte er, dass er mit seinem Flugteppich viele Dutzend Tausendschritte zurückgelegt haben musste. Gleichzeitig entfalteten sich in seinem Verstand ganz neue Eindrücke wie Blüten im europäischen Frühling. Es waren die Erinnerungen eines einstigen denkenden Wesens, das sowohl einmal gelebt hatte als auch eine Zeit lang als räuberischer Schattendämon bestanden hatte. Der ungenannte Herrscher erinnerte sich nun, wie jener, Abdul Samit als Mensch und Lutras Dibam als Nachtschatten, von jener als höchste Königin der Nacht bezeichneten Erscheinung wie ein neues Kind im Leibe getragen und daraus geboren wurde und den Auftrag erhielt, ihr weitere wichtige, weil gelehrte Menschen zu bringen, die sie zu ihren Kindern und Dienern machen konnte. Zugleich sollte er sich einen Mann aussuchen, den er selbst fernlenken konnte, indem er ihm den eigenen Schatten stahl. Der Wiederverkörperte erkannte, dass er da gerade einem sehr gefährlichen Wesen den Garaus gemacht hatte und dass die selbsternannte höchste Königin der Nacht wahrlich keine einfache Schattendämonin war. Vor allem aber wusste er nun, dass er mit dem Zepter der Geisterlenkung gerade noch diese neuen Schattenkinder auslöschen konnte, wenn sie ihm zu nahe kamen. Mehr war scheinbar nicht möglich, solange er nicht den wahren Namen des Schattendämons kannte, den er an sich binden wollte. Denn daran war er letztendlich gescheitert, dieses Wesen weiterbestehen und als seinen Diener wirken zu lassen. Gut, nun wusste er eine Menge mehr über die Königin der Nachtschatten, aber das was er wusste gefiel ihm überhaupt nicht. Konnte es gelingen, sie an sich zu binden oder sollte er sie nicht besser ebenfalls vernichten? Keiner ihrer Schattenkinder kannte ihren wahren Namen. Hätte er den erfahren wäre er im Vorteil gewesen. So blieb ihm nur, nach weiteren Getreuen zu suchen.

Das Ohr des Anubis regte sich wieder. Er hörte ein von hinten klingendes wummern und Brummen, das schnell näherkam. Er sah sich um und erkannte zehn, nein zwanzig ihn jagende Schattenkugeln, die nun, wo sie seinen Standort kannten auf ihn zurasten. Lutras Dibam musste unmittelbar vor seinem Erlöschen noch einen Hilferuf ausgesandt haben. Würde der Unlichtkristallring ihn vor der gebündelten Wut dieser Geisterwesen schützen, oder würde er gleich selbst zum Fraß fallen?

Ende des 1. Teils

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