Die Auswirkungen jener weltweiten Welle dunkler Magie, die bei der Vernichtung von Iaxathans Ankergefäß freigesetzt wurde, halten die ganze magische Welt in Atem. Schwarzmagische Gegenstände erwachen zu einem unheilvollen Eigenleben. Für dunkle Kräfte empfängliche Wesen schütteln jahrtausende alte Erstarrungszauber ab oder werden stärker. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zaubereiministerien und davon unabhängiger Eingreiftruppen gegen dunkle Künste kommen nicht zur Ruhe. Als dann durch das schwere Seebeben vom 26. Dezember 2004 ein auf dem Meeresgrund liegender Unlichtkristall zerbricht und deshalb eine weltweite Entladung von Erdmagie auslöst gerät die gesamte Gesellschaftsstruktur der magischen Menschheit ins Wanken. Denn die Welle aus Erdmagie trifft dafür empfängliche Wesen wie Kobolde und Zwerge hart bis tödlich. In Australien wird die Koboldbank Gringotts zerstört. Anderswo müssen Filialen schließen. Verschiedene Gruppen versuchen das auszunutzen, um das jahrhundertealte Goldwertbestimmungsmonopol der Kobolde zu beenden. Ebenso wittert in den Vereinigten Staaten ein einzelner Zauberer die Chance, der mächtigste in Nordamerika zu werden: Lionel Buggles. Als dieser dann von der obskuren Gruppe Vita Magica unterworfen wird hilft diese ihm, seinen Traum für einige Monate zu verwirklichen, ganz Nordamerika unter seiner Führung zu vereinen, bis ihm die Führerin der Spinnenhexen für immer Einhalt gebietet.
Julius Latierre wird von Ashtaria beauftragt, einen eigenen Sohn zu zeugen. Da er mit Millie von den Mondtöchtern gesegnet wurde kann er dies jedoch erst nach einer Wartezeit von zwölf Jahren, weil er schon drei Töchter mit Millie hat. Ashtaria schickt Millie einen höchst beängstigenden Traum von einer Zukunft, in der sowohl Lahilliotas neue Ameisenkreaturen, die Nachtschatten der selbsternannten Nachtkaiserin und die Vampire der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder die Menschheit auslöschen und Ashtarias Macht vollständig verschwinden mag, wenn es keine sieben Heilssternträger mehr gibt. Daher nutzen sie und Julius ein besonderes Gesetz, dass einem Ehemann erlaubt, mit einer unverheirateten Hexe ein Kind zu zeugen, welches die angetraute Frau nicht oder nicht früh genug bekommen kann. Als sogenannte Friedensretterin erwählen beide Millies Tante Béatrice, die seit dem unfreiwilligen Kindersegen in Millemerveilles die zweite Heilerin dort ist. Béatrice geht auf die Bitte ein und verbringt mit Julius mehrere Nächte, während Millie sich in den Künsten der Feuermagier aus dem alten Reich zu ende bilden lässt. Das Vorhaben gelingt. Béatrice empfängt einen Sohn. Kurz nach der erfolgreichen Zeugung wird Millie ebenfalls schwanger. Sie trägt Zwillingstöchter. Sie verzichtet auf ihr Recht, Béatrices Kind als ihres anzunehmen und überlässt den kleinen Félix seiner leiblichen Mutter. Sie selbst bringt in der Walpurgisnacht 2005 die beiden Töchter Flavine und Fylla zur Welt. Julius hat Ashtarias Auftrag ausgeführt. Er wartet darauf, ob und wo er den verwaisten Silberstern entgegennehmen kann. Er muss dafür noch eine gefährliche Aufgabe erledigen. Ashtaria stellt ihm drei zur Auswahl: Das verschollene Buch über das Geheimnis des großen, grauen Eisentrolls, den Zwerge und Kobolde gleichermaßen fürchten zu finden, einen mächtigen Dschinnenkönig finden und verhindern, dass dieser sich wieder zum Herren aller orientalischen Geisterwesen aufschwingt oder eine schwarzmagische Vorrichtung namens "Das Herz von Seth" unschädlich zu machen. Er entscheidet sich für die dritte gefahrvolle Aufgabe. Dank Goldschweif, seiner Temmie-Patrona und einer ausreichenden Dosis Felix Felicis übersteht er die auf dem Weg in die unterirdische Anlage lauernden Fallen und kann gerade noch rechtzeitig verhindern, dass der im Herzen des Seth angesammelte Hass und Zerstörungswille auf einen Schlag freigesetzt werden und damit alle fühlenden Wesen zu Mord und Krieg getrieben werden. . Um die unheilvolle, gewaltige Maschinerie der dunklen Kraft möglichst nie wieder in Gang zu setzen hilft ihm Madame Delamontagnes Hauselfe, den zentralen Raum unbetretbar zu machen. Weil Julius die ihm gestellte Aufgabe erledigt hat darf er das Geburtshaus von Hassan al-Burch Kitab aufsuchen, wo der verwaiste Silberstern liegt. Doch dieses wird von Ilithula, der Abgrundstochter mit Beziehung zu Windmagie bewacht. Er kann sie jedoch austricksen und den Heilsstern an sich nehmen. Zusammen mit den sechs anderen Sternträgerinnen und -trägern ruft er in Ashtarias Höhle des letzten Abschiedes die mächtige Formel aus, die die geballte Macht der sieben Sterne freisetzt. Damit wird er endgültig der sechste Sohn Ashtarias. Die Anrufung der Heilsformel bewirkt jedoch auch, dass die in Gestalt einer roten Riesenameisenkönigin gefangene Lahilliota wieder zur Hexe in Menschengestalt wird, allerdings immer nur im Wechsel mit ihrer Tiergestalt alle zwei Monate.
Wegen der Mordanschläge von London und Birmingham am 7. Juli regen Julius und seine Mutter eine internationale Zaubereikonferenz zum Thema elektronische Aufzeichnung und Verhüllung der Magie vor Videokameras an. Viele Zaubereiministerien gehen auf diesen Vorschlag ein. Die Konferenz findet Ende September Anfang Oktober in einer gesicherten Niederlassung des Japanischen Zaubereiministeriums statt. Dort werden fast alle Teilnehmer durch den Nebel des Mondfriedens darauf eingestimmt, einander zu vertrauen. Nur Julius und Nathalie entgehen diesem angeblich so friedlichen Vorbeugungszauber. Julius wird von Ashtarias Heilsstern geschützt, Nathalie durch den ihr aufgezwungenen Sonnensegen Euphrosynes. Nach einigen Tagen Beratung präsentieren die Japaner das gesuchte Mittel, den lautlosen Verberger, einen Gürtel, der seinen Träger für elektronische Aufnahmegeräte unsichtbar macht. Die Ministerien beschließen, für ihre Sondertruppen solche Gürtel anzuschaffen.
Catherine wird von Julius zu den Altmeistern Khalakatans gebracht, wo sie vollständig in Zaubern der alten Windmagier und Mondmagier ausgebildet wird. Während ihres Ausbleibens verfolgt Julius die Unruhen in den Vororten französischer Großstädte im November 2005. Als Catherine zurückkehrt bittet sie Julius, ihr die von ihm lange gehütete Flöte des Windkönigs Ailanorar zu überlassen. Er soll in der Zeit, die sie mit deren Schöpfer um den Besitz ringt auf ihre Kinder aufpassen. Mit dem Heilsstern verhindert er, dass Babette, Claudine und Justin von einem fremden Einfluss entseelt werden und hilft damit auch Catherine, Ailanorar zu bezwingen und somit die Flöte für sich zu erobern. Diese dient fortan nur noch ihr und ihren direkten Nachkommen.
Laurentine Hellersdorf nimmt eine Reise nach Amerika zum Anlass, sich in weiterführenden Abwehrzaubern ausbilden zu lassen. Hera Matine empfiehlt ihr Nachhilfestunden bei ihrer Nichte Louiselle Beaumont, die ihr auch in Beauxbatons ungern gesehene Zauber beibringt. Als Laurentine auf der Reise durch die Staaten wahrhaftig mit der Führerin der Spinnenschwestern zusammentrifft beschließen Louiselle und Hera, Laurentine in die Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern aufzunehmen. Bei diesem Zeremoniell erweist sich, dass Ladonna Montefiori bereits Gefolgshexen in diese Gemeinschaft eingeschleust hat. Doch diese versagen beim Versuch, die Stuhlmeisterin Hera Matine zu töten und werden durch Schutzzauber des Versammlungsortes körperlich und geistig zu Neugeborenen zurückverjüngt und sollen ein neues Leben beginnen. Der Tsunami vom 26.12.2004, der auch für die Erdmagieturbulenzen verantwortlich ist, nimmt der trimagischen Gewinnerin beide Eltern. Sie braucht eine Zeit, um darüber hinwegzukommen, bis sich ihr im Traum und bei der Beerdigung eine rot-golden leuchtende Erscheinung zeigt, die große Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Schulfreundin Claire Dusoleil hat. Von da an ist sie wieder zuversichtlich, weiterleben zu können.
Laurentine und Louiselle setzen ihre Übungen fort. Dabei erkennt Laurentine, dass sie die ältere Hexe nicht nur als Lehrerin schätzt, sondern sich auch in sie verliebt. Bei einer Übung zur Abwehr eines Unfruchtbarkeitszaubers wendet Laurentine einen anderen Weg an als bisher bekannt. Dadurch drängt sie den ihr geltenden Zauber nicht nur zu Louiselle zurück, sondern bewirkt auch eine der wenigen hellen Verkehrungen eines ursprünglich bösartigen Zaubers. Statt für Monate unfruchtbar zu werden entsteht aus einer Eizelle Laurentines und Louiselles eine gemeinsame Tochter in Louiselles Gebärmutter. Damit kommen die zwei Hexen sprichwörtlich wie die Jungfrau zu einem Kind und müssen überlegen, wie sie mit dieser Verantwortung umgehen.
Das neue Jahr beginnt. In Nordamerika soll die neue Föderation aus Kanada, den USA und Mexikos ihre Arbeit aufnehmen. Was dabei für den Rest der Welt herumkommt wird sich zeigen müssen.
Während all dieser aufwühlenden und unerwarteten Ereignisse bereitet sich Ladonna Montefiori darauf vor, ihr nächstes großes Ziel zu erreichen, mit dem sie ihre Todfeindin Sardonia endgültig überflügeln will. Sie schürt in verschiedenen Ländern Unruhen in der magischen Gemeinschaft und treibt die amtierenden Zaubereiminister dazu, sich zu geheimen Treffen zu verabreden. Über ihre Agentinnen erfährt sie, wann und wo solche Treffen stattfinden und schafft es, neue Feuerrosenkerzen dort einzuschmuggeln. So gelingt ihr doch noch, was sie schon längst erreichen wollte. Außer Frankreich, Griechenland und die afrikanischen Länder übernimmt sie alle Mittelmeeranrainer. Weitere Feuerrosenkerzen machen ihr zudem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der eroberten Zaubereiministerien gefügig. Allerdings entwischen ihr in Deutschland mehrere Dutzend Hexen und Zauberer mit Hilfe von bei Gefahr auslösenden Portschlüsseln und warnen die noch freien Zaubereigemeinschaften. Ladonna lässt verbreiten, dass die Zaubereiministerien wegen der vielen internationalen Feinde ein starkes Bündnis gegründet haben, die Koalition der Verbundenheit. Alle Behauptungen, sie seien unterwandert werden als böswillige Verleumdungen abgetan. Außerdem schafft es Ladonna, zwei weitere wichtige Niederlassungen von Vita Magica zu vernichten und sogar den amtierenden hohen Rat des Lebens auszulöschen, so dass Vita Magica stark geschwächt ist und zunächst den Fall "Dornröschen" ausruft, also das unbefristete Stillhalten. Ebenso kann sie die in Deutschland und Italien aufmuckenden Zwerge und Kobolde niederhalten, indem sie publikumswirksam vorführt, dass sie den großen grauen Eisentroll, den Urfeind aller Zwerge und Kobolde, aus der Erde hervorrufen und ihn wieder dorthin zurückschicken kann. Sie wähnt sich sicher, trotz der entwischten Opfer ihre weiteren Ziele erreichen zu können.
Julius Latierre bekommt mit, wie sich die offenkundig unterworfenen Zaubereiministerien positionieren. Die Veelas holen ihn zu einer nächtlichen Beratung in die Höhle der gesammelten Worte. Dort bekommt er nicht nur mit, dass Létos Schwester ihn weiterhin begehrt, sondern auch die spanische Veelastämmige Espinela Bocafuego ihn für sich haben will. Er kann sie jedoch mit dem erlernten Lied des inneren Friedens von sich fernhalten. Die Veelas teilen ihm und der magischen Menschheit unmissverständlich mit, dass sie nicht hinnehmen werden, dass Ladonna von Menschen getötet wird.
Derweil bahnt sich in den Nordamerikanischen Staaten etwas unausweichliches an. Der Mexikanische Zauberer Augusto Paredes, der auch als "El Aguila Roja", der rote Adler berühmt und berüchtigt ist, hat sich durch seine aztekischen Zauberkenntnisse zu einem schier unbezwingbaren Machthaber im internationalen Rauschgifthandel hochgekämpft. Er will aber auch in der US-amerikanischen Unterwelt Fuß fassen. Hierzu hat er sich den Mafioso Don Michele Millelli durch einen aztekischen Bluteid gefügig gemacht. Eigentlich will er sich in der Nähe der Grenze zwischen den USA und Mexiko einen wichtigen Standplatz sichern. Doch eine andere will das auch, die nicht minder mächtige und gefährliche peruanische Hexe mit Inka-Abstammung Margarita de Piedra Roja, genannt die Löwin von Lima. Um sie einzuschüchtern oder gleich zu erledigen schickt Paredes ihr mit einem altaztekischen Dunkelzauber belebte Leichname, die Feuerherzkrieger, deren Herzen er in seinem Keller am schlagen hält und die sich in zerstörerische Feuerbomben verwandeln können. Doch Margarita hat ihr Haus mit wehrhaften Zaubern aus der Mondmagie des Inkavolkes abgesichert und wehrt die Feuerherz-Zombies ab. Eine direkte Konfrontation erscheint unausweichlich. Doch vorher will Paredes sich ein Standbein in der New Yorker Mafia sichern, deren Führer sich in einem inoffiziell errichteten Atombunker treffen. Weil Margarita de Piedra Roja davon ausgeht, dass die Sekte der Vampirgötzin diese Gelegenheit nutzen will, um dort neue Helfershelfer zu rekrutieren schmuggelt einer ihrer Verwandten einen Zaubertrank dort ein, der jeden davon trinkenden gegen alle nach seinem Blut gierenden Wesen ein volles Jahr fernhält. Paredes richtet klammheimlich einen Sternenzauber ein, der das Erscheinen der Vampire mit Hilfe jener nachtschwarzen Abart eines Portschlüssels vereitelt. Alle Mafiosi trinken Margaritas Schutztrank. Dabei kommt es bei Michele Millelli, dem Müllkönig, zu einer unerwarteten Reaktion. Die in seinem Blut zusammentreffenden Zauber treiben seine Körpertemperatur über das erträgliche Maß hinaus. Millelli stirbt. Dadurch wird die in ihm wirkende Kraft des aztekischen Bluteides so heftig freigesetzt, dass sie auf ihren Urheber, den roten Adler zurückschlägt und auch ihn tötet. In einer höllischen Kettenreaktion werden dessen Diener vernichtet und alle nicht gerade in fliegenden Flugzeugen sitzenden Bluteidgebundenen von der magischen Bindung befreit. Ohne es direkt darauf angelegt zu haben ist Margarita de Piedra Roja den gefährlichen Widersacher los.
Der als Times-Reporter getarnte Laveau-Instituts-Mitarbeiter Jeff Bristol sorgt sich wegen jener Geschwister, die auf eine heimliche Eroberung der Welt hinarbeiten. Er bekommt auch mit, was Milelli und Paredes widerfährt. Über all dem schwebt die Warnung, dass Ladonna Montefiori auch die Zaubereiminister der beiden amerikanischen Teilkontinente unterwerfen will. Wie berechtigt diese Warnung ist soll sich schon sehr bald erweisen. Denn bei der alle drei Jahre stattfindenden Konferenz spanischsprachiger Zaubereiminister zündet der von Ladonna unterworfene Pataleón eine Feuerrosenkerze. Doch die Mexikaner, die der Konferenz beiwohnen setzen ein Gegenmittel ein, den magicomechanischen Gefahrenfänger. Dieser schafft die brennende Kerze mittels Portschlüssel fort. Die mexikanischen Delegierten erweisen sich als Agenten der Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Wesen und wollen Pataleón und seine Leute kampfunfähig machen. Dabei kommt es zu einer Zauberschlacht, an deren Ende die Mexikaner trotz Täuschzaubern den Tod finden. Die eigentlich für Mexiko und den Föderationsrat gedachte zweite Feuerrosenkerze vollendet, was die erste Kerze nicht geschafft hat. Diesmal kommt kein Gefahrenfänger zum einsatz.
Nachdem die südamerikanischen Zaubereiminister und ihre wichtigsten Mitarbeiter doch unter Ladonnas Einfluss geraten können sie auch Atalanta Bullhorn in eine Falle locken, wobei ein Gefahrenfänger die Feuerrosenkerze abfängt, aber dann alle anderen von einem Portschlüssel in eine von Ladonna vorbereitete Höhle geschafft werden. Weil Atalanta Bullhorn einen Schutzzauber auf ihren Geist gelegt hat, der solange hält, wie ihr Körper durchblutet wird, lässt Ladonna ihr alle Haare und überstehende Finger- und Zehennägel entfernen, um damit ihre treue Gehilfin Ashton Underwood auszustatten, die dann mit Vielsafttrank Atalantas Rolle übernimmt. Die wirkliche Ratssprecherin verschwindet in Ladonnas besonderem Rosengarten. Die nun falsche Atalanta lockt den gesamten Föderationsrat mit der Warnung vor einem Fliegerbombenangriff auf Viento del Sol aus der sicheren Zuflucht heraus und präsentiert eine weitere Feuerrosenkerze. Danach jagen die Föderationsadministratoren allen hinterher, die ihrer neuen Herrin gefährlich werden können. Darunter sind auch die Mitarbeiter des Laveau-Institutes. Um der Verhaftung und möglichen Versklavung zu entgehen inszenieren jene, die als Beobachter und Eingreiftruppler in der nichtmagischen Welt arbeiten ihren eigenen Tod und hinterlassen mit Hilfe ihrer Kollegen täuschend echte Leichname. Zu ihnen gehört auch Jeff Bristol, der mit seiner kleinen Familie in das vom Laveau-Institut errichtete versteckte Inseldorf Shady Shelter flüchtet.
Somit ist auch Amerika nicht mehr frei. Da demnächst die alle halbe Jahre anstehende Konferenz der internationalen Zaubererweltkonföderation ansteht fürchten die noch freien Zaubereiministerien, dass Ladonna auch dort eine Feuerrosenkerze entzünden lassen wird. Doch sie wollen Ladonnas Vormarsch stoppen. Hierzu reisen Belle und Millie mit der Gesandschaft der internationalen Zaubererweltkonföderation nach Genf. Dort wird Belle von einer auf Veelazauber ansprechenden Falle in eine gläserne Sphäre eingeschlossen. Millie, die als Feuervertraute Altaxarrois ausgebildet ist, kann die Quelle für diesen Zauber sehen. Doch muss sie zuvor sicherstellen, dass ein von den Veelas mitgegebenes Artefakt, eine Gegenkerze zu Ladonnas Feuerrosenkerze, in den Konferenzraum geschmuggelt wird. Als ihr das gelungen ist wendet sie einen nur ausgebildeten Feuervertrauten höchster Stufe beigebrachten Zauber an, der sie für eine subjektive Viertelstunde mit hundertfacher Geschwindigkeit denken und handeln lässt. In diesem Zustand entfernt sie die kristallinen Kraftquellen der Veelafalle, die Belle wegen des verbotenen Segens gefangen hält und die laut Léto Veelastämmige töten kann. Je mehr sie die Falle demontiert, desto heftiger erwehren sich die Kristalle. Nur der überhohen Geschwindigkeit verdankt Millie, nicht selbst vernichtet zu werden. Sie kann Belle befreien und mit der restlichen Delegation per Portschlüssel entkommen. Das Gästehaus der Franzosen verbrennt in einer unkontrollierten Feuermagie der destabilisierten Veelafalle. Wenige Zeit später treffen sich die übrigen Konferenzteilnehmer im Besprechungssaal. Dort entzündet sich die von Millie an Stelle der Feuerrosenkerze platzierte Kerze der Veelas und durchdringt alle mit einem goldenen Licht, das jeden von Ladonnas Einfluss befreit und gleichzeitig für ein Jahr gegen die Macht der Feuerrose immunisiert. So kommen auch der schweizer Zaubereiminister und seine engsten Vertrauten aus Ladonnas Bann frei. Wenig später kann auch der Rest des Ministeriumspersonals durch eine zweite Goldlichtkerze befreit werden. Es sieht danach aus, als wenn die freie Zaubererwelt endlich ein Mittel gegen Ladonnas Vormarsch in der Welt besitzt. Doch wissen die Eingeweihten, dass sich Ladonna das nicht lange gefallen lassen wird.
Ein Ultimatum ihrer Unterworfenen an die noch widerstrebenden Zaubereiministerien lläuft am ersten Juni ab. Als dieses endet umschließt sie alle ihr nicht folgenden Länder mit einem Wall aus dunkler Magie, der alle mit Zauberkraft begabten Wesen zurückhält. Sie geraten in einen Strudel ihrer schlimmsten Träume und können nicht mehr weiterreisen. Wer appariert wird als unbefugt markiert und so leichte Beute für Ladonnas hörige Ministeriumsbeamten.
Der Unmut über das Eingesperrtsein bringt die über viele Jahrzehnte still und zurückhaltend bestehende Gruppierung Sanguis Purus, einen Verbund aus sich für absolut reinblütig haltende Zaubereifamilien darauf, gegen die bisherige Amtsführung von Ministerin Ventvit aufzubegehren. Sie werfen ihr eine unerträgliche Bevorzugung menschengestaltlicher Zauberwesen vor. Da Ladonna veelastämmig ist wird Ministerin Ventvit als zu schwach gegen Ladonna betrachtet und ja, auch weil sie eine Hexe ist als angebliche Helferin Ladonnas bezeichnet. Weil sie dennoch nicht auf ihr Amt verzichten will will Sanguis Purus das Zaubereiministerium stürmen und besetzen. Doch dort weiß man sich zu wehren. Alle 3000 Aufständischen können gestoppt und lebendig festgesetzt werden.
Mit Hilfe der Veelastämmigen kann der von Ladonna errichtete dunkle Grenzwall niedergerissen werden. Die dabei freigesetzten Kräfte rauben Ladonna das Bewusstsein. Sie meint, die von ihr selbst getötete ältere Schwester Regina zu sehen und zu hören, die als Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen auf ihre jüngere Schwester wartet, um mit ihrer Seele zu verschmelzen.
Ladonna versucht auch, mit einem großangelegten Angriff auf die technische Zivilisation, die ihrer Meinung nach unnatürliche und anmaßende Lebensweise der magielosen Menschen zu ändern. Sie nutzt einen Kongress von Verkehrspiloten, um diese mit ihrem Feuerrosenzauber zu unterwerfen. Sie will sie dazu bringen, wie die Terroristen des 11. Septembers mit vollgetankten Flugzeugen in wichtige Gebäude hineinzufliegen, vor allem nicht mit Atomkraft betriebene Elektrizitätswerke und Stromverteiler. Gleichzeitig will sie mit einem besonderen Pilz, der jede Flüssigkeit vollkommen unentflammbar macht, sämtliche Erdölquellen der Welt verseuchen, damit das Öl nicht mehr als Kraftstoffquelle benutzt werden kann. Weil die Piloten sich im Internet nach ihren Zielen umsehen fällt es den damit arbeitenden Hexen und Zauberern auf, und sie senden ihnen gewogene Einsatzkräfte, um die Piloten von ihrem Auftrag abzuhalten. Was die Ölquellen angeht vereiteln die orientalischen Hexen von der Schwesternschaft des grünen Mondes die Verseuchung von Ölquellen und Öllagern. Die rein technische Welt entgeht der weltweiten Verheerung, ohne davon zu erfahren.
Weil Ladonna die Veelas und Veelastämmigen als ihre gefährlichsten Feinde betrachtet hetzt sie die ihr durch den Duft der Feuerrose unterworfenen Ministerien gegen diese Zauberwesenart auf. Beinahe bricht ein Krieg zwischen Veelas und osteuropäischen Zauberstabnutzern aus. Nur die Umsicht der ältesten Veelas kann dies noch verhindern. Die Veelas werden dazu gebracht, sich möglichst vor den magischen Menschen zu verstecken.
Nachdem diese sehr bedrohlichen Ereignisse überstanden sind hoffen die nicht unter Ladonnas Herrschaft stehenden darauf, weitere Ministerien zu befreien. Doch die Begehrlichkeit zweier nichtmenschlicher Organisationen droht die Welt wie wir sie kennen zu verheeren.
Gringotts und der Koboldgeheimbund Axdeshtan Ashgacki az Oarshui jagen nach den mächtigsten Hinterlassenschaften altägyptischer Zauberkunst. Sie senden die Fluchbrecher Bill Weasley und Rore McBane aus, um ein magisches Auge zu erbeuten. Die Mission gelingt zwar. Doch dabei wird Bill Weasley schwer verflucht und muss ins St.-Mungo-Krankenhaus. Erst mehrere Wochen später kann er durch ein vereintes Heilungsritual seiner angeheirateten Verwandten von den zwei in ihm widerstreitenden Flüchen erlöst werden.
Rore McBane soll in die in den Boden eingegrabene Pyramide eines aus dem allgemeinen Gedächtnis getilgten Pharaos mit dunklen Zauberkräften eindringen. Dies gelingt ihm auch. Doch damit liefert er sich dem dort über Jahrtausende ruhenden Geist des ungenannten Herrschers aus, der McBanes Körper übernimmt und nun danach trachtet, seine alte Herrschaft zurückzuerobern. Hierzu macht er sich magische Riesenschlangen und rastlose Geister untertan. Außerdem greift er die ägyptischen Gringottsniederlassungen an und nimmt trotz ihres Verratsvereitelungszaubers Mitglieder der koboldischen Geheimbruderschaft gefangen, um von diesen zu erfahren, wer wirklich hinter seiner Erweckung steht. das von Ladonna Montefiori unterworfene Zaubereiministerium will ihn aufhalten. Doch weil der Wiederverkörperte einen Unlichtkristallring trägt ist er schier übermächtig, so dass er es sogar wagt, sich mit mächtigen Wesen wie der Abgrundstochter Tarlahilia und der Nachtschattenherrscherin anzulegen. Ihm gelingt es, Tahrlahilia zu entkörpern und ihren Diener, den Sonnenläufer zu töten.
Jene aus mehreren Seelen verschmolzene Mutter aller Nachtschatten lässt sich zur Kaiserin der wahren Nachtkinder ausrufen und führt einen offenen Feldzug gegen die Vampirgötzin Gooriaimiria und die alle auf Dunkelheit gründenden Zauber verwendende Thurainilla. Als sie mitbekommt, wie ein weiterer Gegner versucht, ihre Untertanen zu beherrschen befiehlt sie, ihn zu überwältigen. Über einer Hochebene Algeriens kommt es zum Zusammenstoß zwischen dem umgenannten Herrscher und Birgutes Nachtschatten. Der dunkle Pharao kann die ihn bestürmenden Nachtschatten mit dem Zauber "Mantel des Seth" zurückschlagen und flüchten.
Der ungenannte Herrscher geht nun gegen die Kobolde vor. Dabei gelingt ihm ein mächtiger Schlag gegen deren geheimen Überwachungsdienst. Denn er kann den durch Perioden jahrzehnte langen Zaubertiefschlafes bis in die Gegenwart am Leben gehaltenen Gründervater Deeplook gefangennehmen und in seiner umgekehrten Grabstätte töten. Dessen Seele verbindet sich jedoch mit seinem Helm aus Seelenglas und ist somit für den dunklen Pharao unerreichbar.
Die Nachtschattenkaiserin gewinnt ebenfalls an Macht. Denn ihr gelingt es, ihre Widersacherin Thurainilla im magischen Zweikampf zu besiegen und ihre ganze Lebens- und Seelenkraft in sich einzuverleiben, wodurch sie deren Macht über Dunkelzauber und dunkle Wesen bekommt. Nun will sie sicherstellen, dass sie als einzig wahre Macht der Nacht anerkannt wird. Sie verlangt von den Menschen, keines ihrer eigenen Nachtschattenkinder und deren Diener mehr zu töten. Um zu zeigen, wie mächtig sie ist breitet sie die Kälte und Dunkelheit verströmende Aura, wie sie Dementoren besitzen und die den Ägyptern als "Mantel des Seth" bekannt ist in einem deutschen Einkaufszentrum aus. Nur die vereinte Kampfkraft der Ministeriumszauberer kann sie von dort vertreiben.
Ihrer neuen Macht bewusst will sie den ihr zu frech gewordenen dunklen Pharao vernichten und begibt sich zu dessen von dunkler Seelenmagie erfüllten Grabstätte. Sie kann dort eindringen und erreicht den Besitzer fast. Da wird sie von der gesamten Kraft der umgedrehten Pyramide hinausgeschleudert. Dabei geht ihr eine Menge der neuen Kraft ab. Doch da sie bereits einen Gutteil der gewonnenen Macht in ihr Ankerartefakt, den kristallienen Uterus, ausgelagert hat, wird sie räumlich stark verkleinert, dort hineingezogen und muss von der nur langsam in sie zurückströmenden Kraft zehren, bis sie wieder groß genug ist, um sich quasi selber wiederzugebären. Wie lange dies dauert weiß sie nicht. Ihre nichtstofflichen Untertanen führen den für den Fall ihrer Niederlage ausgearbeiteten Plan aus und vernichten alle in ihre Reichweite geratenden Vampire Gooriaimirias. Dadurch verliert auch diese an Gefolgschaft und Macht. Außerdem hat Birgutes Angriff auf die umgekehrte Pyramide noch eine Auswirkung.
Auch Ladonna geht gegen die Gringotts-Kobolde und den Koboldgeheimdienst vor und zerstört mehrere Niederlassungen der zehntausend Augen und ohren. Sie reist nach Ägypten, um den neuen Feind, den ungenannten Herrscher, zu vernichten. Sie nutzt aus, dass die Nachtschattenkaiserin eine Öffnung in die dunkle Grabstätte geschaffen hat und dass der darin wohnende Gegner zunächst nur mit jener Nachtschattenkaiserin beschäftigt ist. Als diese hinausgeschleudert wird merkt er, dass noch jemand in sein Reich eingedrungen ist. Ladonna entkräftet durch Zerstörung von Seelenauffangbehältern die Kraft der Pyramide und kann den dunklen Pharao in seiner zentralen Kammer stellen. Diese Kammer wird schwer beschädigt, wodurch die dunklen Kräfte immer unbeherrschbarer werden. Als Ladonna die Seele des gefangenen Ixandesh befreit kehrt diese in dessen vom dunklen Pharao erbeuteten Unlichtkristallring zurück und lässt dessen neuen Besitzer selbst zu Kristall erstarren. Dann setzt der Ring den ungenannten Herrscher in Schwingungen, dass sein Körper zerstört wird. Ladonna kann noch alle in der umgekehrten Pyramide aufbewahrten Dinge einsammeln, darunter den gläsernen Helm Deeplooks und einige der mächtigen Schätze des alten Ägyptens. Sie entkommt der sich aufschaukelnden Entladung der unbeherrschten Zauberkräfte. Diese vernichten in heftigen Entladungen die umgekehrte Pyramide.
Ladonna findet heraus, dass der gläserne Helm Deeplooks Seele aufgenommen hat und diese jedem kleinwüchsigen Wesen, das den Helm aufzusetzen wagt, Deeplooks Willen unterwerfen soll. Sie beschließt, dass ihre teilweise Koboldstämmige Gefolgshexe Diana Camporosso den Helm aufsetzt. Sie sichert jedoch mit dem magischen Griffel des ewigen Schreibers aus der Beute des ungenannten Herrschers, dass Diana nicht von Deeplook unterworfen wird, sondern dieser und all sein Wissen ihrem Geist unterworfen wird, bis dass sie stirbt.
Weil die Nachtschattenkaiserin vorerst keine Bedrohung für sie darstellt und auch von den Vampiren und Vita Magica kein Angriff zu erwarten ist beschließt Ladonna mit Hilfe des ihr noch unterworfenen russischen Zaubereiministeriums, alle Veelas und Veelastämmigen zu vernichten. Gelingt ihr das, so kann sie sich die restliche Welt Untertan machen. Eine Entscheidung um Sein oder Nichtsein steht unmittelbar bevor.
Zwei überragend schöne Frauen standen sich gegenüber. Rein äußerlich konnte ein unwissender Beobachter sie leicht für zwei Schwestern halten. Beide hatten dasselbe nachtschwarze Haar und dieselben Gesichtszüge. Nur die Augen waren unterschiedlich. Bei der älteren waren sie strahlendblau, bei der jüngeren smaragdgrün. Die ältere trug einen zu ihrer Augenfarbe passendes himmelblaues Gewand. Die jüngere der beiden hüllte sich in ein zu ihrer Haarfarbe passendes nachtschwarzes Samtkleid. Sie blickten einander verärgert an.
"Warum musstest du Ginella töten, Donnina?" fragte die Ältere die Jüngere. "Wie konntest du das überhaupt tun? Sie war deine Schwester!"
"Ja, und sie wollte meine Herrin sein, und ich sollte ihre treue und unterwürfige Dienerin sein, verehrte Nährmutter", erwiderte die Jüngere mit unüberhörbarer Verachtung in der Stimme. "Dabei bin ich von meiner Abkunft und meinem Wissen her wesentlich eher zur Herrin über alle Hexen außerhalb unserer Familie geeignet als sie es war. Sie bildete sich was darauf ein, dass du, Nachtlieds Tochter, sie in deinem Schoß getragen und aus diesem in die Welt geboren hast. Du wolltest ja nicht, dass ich ihr offenbare, dass ich alles Wissen meiner Gebärerin Giorgiana in mich aufgenommen habe, als ich aus ihr geboren wurde. Also musste ich es ihr auf andere Weise beweisen, dass ich die Vorrangstellung unter uns beanspruchen darf und nicht sie, nur weil ihr Körper gerade mal acht Jahre älter als der meinige war."
"Ihr hättet auf mich hören sollen und in schwesterlicher Eintracht zusammen die Vorherrschaft über alle reinrassig menschlichen Zauberkraftträger erringen und euch in euren Fähigkeiten ergänzen müssen. Doch du wolltest das Duell, Donnina. Du wolltest ihr zeigen, wie mächtig du bist."
"So, glaubst du das, meine verehrte Nährmutter?" fragte die in Schwarz gekleidete die in Himmelblau. "Wenn ja", legte sie nach, "wieso fragst du mich dann, warum es zum Duell kam und warum es nötig war, Ginella zu töten? Hättest du sie auch gefragt, wenn sie es vollbracht hätte, mich zu töten?"
"Natürlich hätte ich das gefragt, Donnina. Schließlich bist auch du mein Kind, auch wenn Giorgianas ganzes selbst auf dich übergegangen ist, bevor ihr Körper starb. Du weißt genau, dass ich dir auf die Welt geholfen habe. Du bist für mich genauso wichtig wie es Ginella war. Und sie sollte auch dir wichtig gewesen sein, Donnina. Immerhin war sie Giorgianas erstes Kind, also dein Kind, Ladonna! Du hattest kein recht, sie zu töten, nur um ihr deine Macht zu zeigen. Du hast dich gegen dein eigenes Blut vergangen."
"Ich habe eine mich bedrohende Todfeindin bekämpft, die meine Existenz niemals anerkannt und geachtet hat. Für deine achso unschuldig anmutige erste Tochter Ginella war ich ein zu tilgendes Übel, eine Widersacherin auf ihrem eigenen Weg zur Vorherrschaft. Deshalb wollte sie mich erniedrigen, mich zu ihrer ersten Dienerin machen, ohne Recht, in ihre Entscheidungen einzugreifen oder gar eigene Entscheidungen zu treffen. Wo warst du denn, verehrte Erzeugerin und Nährmutter, als Ginella mich vor den florentiner Schwestern als "noch zu formendes Wesen" bezeichnet hat, obwohl sie genau wusste, dass ich bereits eine Gruppe neuer Schwestern hinter mir versammelt habe? Du hast uns beide darauf hinerzogen, unsere Fähigkeiten bestmöglich zu nutzen und möglichst viel Macht über die magischen und magieunfähigen Wesen zu erringen. Also trägst du auch eine Teilschuld daran, dass Ginella sich ungerechtfertigt hoch über mir stehend empfunden hat. Du musstest doch damit rechnen, dass Ginella es auf eine endgültige Kraftprobe anlegen würde. Du hast ihr das genauso durchgehen lassen wie mir, und du wusstest, dass keine von uns beiden der anderen niedere Magd sein wollte, weder sie die meine noch ich die ihrige. Aber du hast einfach nur darauf vertraut, dass Mokushas Erbe in ihr und mir es verhüten würde, dass sie oder ich dabei den Tod findet, nicht wahr?" entgegnete Ladonna. Ihre Nährmutter sah sie erzürnt an. Dann stieß sie aus:
"Das Gesetz des Blutes verbietet und verhindert, dass Verwandte aus Mokushas edler Linie einander töten können. Darauf musste ich vertrauen, weil ich keiner von euch beiden den Eindruck vermitteln wollte, sie sei noch nicht reif genug, eigene Handlungen zu planen und deren Folgen zu bewältigen. Ich wusste es nicht, dass du vom Blut Giorgianas her doch dazu fähig warst, deine eigene Schwester zu morden"
"Ich habe Ginella nicht gemordet, sondern in einem offenen Zweikampf auf Leben und Tod besiegt. Sie hat es darauf angelegt, eine Entscheidung zu finden, ob ich ihre Dienerin oder eine weitere Tote auf ihrem Weg zur Alleinherrschaft war. Ginella war nicht einmal ein Viertel so unschuldig wie du sie gerne gesehen hast. Sicher, sie hat nie offen den Todesfluch gebraucht, um sie störende Widersacherinnen zu beseitigen. Aber sie hat diese Widersacherinnen gegeneinander aufgehetzt, ja teilweise mit der Kraft aus Mokushas Blutlinie unterworfen, in ihrem Auftrag zu töten, meistens ohne dass dem Angegriffenen in den Sinn kam, vom Tode bedroht zu sein. Das, meine achso erzürnte Nährmutter, ist vollendeter Mord. Aber du hast ihr geraten, auf dem Weg an die Macht keine Gewissensnot zu kennen. Denn nur wer zielgerichtet seinen Weg geht, ohne sich von Angst oder Bedenken verdrängen zu lassen ..."
"Ich habe euch beide dazu erzogen, eure besondere Abkunft zu nutzen, um die Vorherrschaft in der magischen Menschheit zu erlangen, nicht, dass ihr auf diesem Weg über jede sich bietende Leiche hinwegsteigt. Ja, und ich weiß, dass Ginella wie du selbst mit den Gaben, die euch in die Wiege gelegt wurden gefährliche Widersacherinnen und Widersacher beseitigt hat. Dennoch rechtfertigt dies nicht, dass du deine eigene Schwester getötet hast."
"Wenn sie jetzt vor dir stünde, würdest du ihr die selbe Vorhaltung machen, geehrte Nährmutter?" wollte Ladonna wissen. Die andere zögerte mit der Antwort. Dann sagte sie: "Sie hätte dich nicht töten können. Mokushas Blut floss stärker in ihren Adern, weil sie in meinem Schoß herangereift ist. Sie hätte dich nicht töten können und du sie eigentlich auch nicht."
"Du vertraust zu sehr auf die alten Überlieferungen, die dir Großmutter Nachtlied zugeflüstert hat. Jeder freie Mensch kann einen anderen, ob blutsverwandt oder vollkommen fremd, töten, wenn er die Notwendigkeit dazu sieht und die willentliche Kraft besitzt. Ja, und meine alleinherrschaftswillige große Schwester hat in mir die gefährlichste Widersacherin überhaupt gesehen. Daher wollte sie mich unterwerfen, genau wie ein Drachenwärter einen Drachen mit Schmerz und Freiheitsentzug davon abhält, seine ganze Kraft auszunutzen, ja ihm sogar verwehrt, zu erkennen, wie stark er ist, um sein ganzes Leben lang gebändigt und geführt zu werden. Das wollte Ginella auch auf mich anwenden. Du hättest ihr frühzeitig sagen müssen, dass ich nicht einfach ihre jüngere Schwester bin, sondern alles kann und kenne, was Giorgiana konnte und kannte, ja dass ich, als ich noch Giorgiana war, sie als kleines, um Nahrung und Schutz wimmerndes Wickelkind auf dem Arm hatte und sie auch an meinen nährenden Brüsten gelegen hat, als du mit Großmutter Nachtlied die achso hohen Dinge der Kinder Mokushas zu bereden hattest. Doch all das, was mich davon hätte abhalten müssen, Ginella im Duell zu überwinden wurde von ihrem überheblichen Anspruch auf alleinige Vorherrschaft zerschlagen. Falls es diesen ominösen Fluss der Rastlosen gibt, dann mag sie nun immer und ewig darin um die Welt schwimmen."
"Mag sein, dass sie im Tode Reue gezeigt hat und Mokusha sie in ihren warmen, ewigen Schoß zurückgenommen hat", grummelte die ältere der beiden. "Doch sollte ihr Mokusha nicht gnädig gewesen sein und sie wahrhaftig im Flusse der Rastlosen schwimmen, bis alle Welt vergangen ist, so wirst du ihr in nicht all zu ferner Zeit folgen, falls der Anteil einer grünen Waldfrau dich nicht in den Keim eines gerade erst wachsenden Baumes bannt oder du wegen des Schwesternmordes in den Abgrund des Vergessens hinunterstürzt."
"Ich sage es noch einmal, ich habe Ginella getötet, aber nicht gemordet. Sie wollte die Entscheidung im Zweikampf, ich habe mich diesem Kampf gestellt und die Entscheidung erfochten", sagte Ladonna laut und entschlossen.
"Du hast alles zerstört, von dem ich geträumt habe, Donnina. Du hast das Erbe deiner Mutter und mein Erbe verraten und damit alles vernichtet, was für Ginella und dich vorbestimmt war", schnarrte die Ältere. "So wirst du dein Leben in ständiger Angst um Entmachtung fristen, je größer du dich über alle anderen erheben wirst. Eines Tages wirst du dann diesen Körper verlieren und das von mir erwähnte Schicksal erfüllen."
"Werte Nährmutter Domenica Montefiori, wovon träumst du nun, wo du gerade beklagt hast, dass Ginella und ich deinen ursprünglichen Traum zerstört haben? Ich werde mir einen Mann suchen, dessen Kinder ich bekomme. Sollte mir der Tod drohen werde ich erneut das Lied des Überganges singen und im Körper meiner letzten Tochter neu zu leben beginnen, Leben nach Leben nach Leben. Der Fluss der Rastlosen wird meine Seele niemals in sich aufnehmen. Ebenso werde ich nicht in einem ereignislosen dunklen Schoß einer mythischen Urmutter einkehren, um dort die Ewigkeit in glückseliger Tatenlosigkeit dahinzutreiben. Jedenfalls werde ich dich und dein Andenken überleben. Ja, du hörst richtig, meine Dankbarkeit, die ich bis zu Ginellas Hochmut für dich empfand, schwindet, je länger du meinst, mich zur Übeltäterin zu erklären, obwohl du genau wolltest, dass Ginella und ich ohne jede Gnade den Weg zum Gipfel der Herrschaft beschreiten. Du zeigst mit deinem mahnenden Finger auf mich und heißt mich eine Schwesternmörderin. Doch du hast uns beide aufeinandergehetzt, weil du wolltest, dass wir unsere eigene Stärke ergründen und nutzen und weil du verabsäumt hast, Ginella früh genug davon zu unterrichten, dass ich die Erbin ihrer Erzeugerin und Stillmutter Giorgiana bin. Damit hast du ihr und mein Leben aufs Spiel gesetzt und es darauf angelegt, dass nur eine von uns beiden überlebt. Damit hast du meine Dankbarkeit für dich getötet. So bleibt mir nur, dieses Haus zu verlassen und meinen eigenen Weg fortzusetzen. Es sei denn, du legst es darauf an, meinem Leben ein Ende setzen zu wollen."
"So, du willst also nicht bereuen, was du getan hast, Ladonna? Dann verlasse mein Haus und kehre erst wieder, wenn ich nicht mehr bin! Mögest du im Strudel deiner eigenen unbesonnenheit ertrinken. Ich werde meine Hände nicht mit meinem eigenen Blut beflecken", knurrte Domenica. Ladonna sah sie mit Verachtung an. "Ich habe dich geliebt, als ich noch Giorgiana war. Wir beide hatten große Pläne mit Regina und mit unserer zweiten Tochter. Ich konnte nicht wissen, dass ihre Geburt mich tötet. Aber ich wollte und will das beste aus dieser Lage machen. Doch du wolltest mich demütigen, mich zu einem kleinen, folgsamen Anhängsel deiner eigenen Ausgeburt machen. Nur warst du nicht standhaft genug, ein zweites Mal Schwangerschaft und Geburt durchzustehen. Daher wollte ich unser beider zweite Tochter hervorbringen, was mir ja auch gelungen ist. Dass ich in ihr aufgehen musste war nicht deine Schuld. Aber du hättest bedenken müssen, dass ich jede Unterwerfung verachte, die unter das diktat der zweigeschlechtlichen Ehe, wie auch das Diktat der Männerwelt über uns Frauen. Willst du mich hier nicht mehr sehen so gehe ich fort und werde weit genug von dir fort mein eigenes Leben fortsetzen. So gehabe dich wohl, meine Erzeugerin und Nährmutter. Doch wage auch du es nicht, mir nachzustellen oder dich mir gar selbst in den Weg zu stellen. Denn mit meinem Abschied erlischt der letzte Funke Dankbarkeit für dich."
"Entschwinde aus diesem Haus und betrete es nicht mehr, solange mein Leben währt!" erwiderte Domenica mit glitzernden Augen. Ladonna nickte, zog ihren Zauberstab aus einer länglichen Tasche ihres Kleides hervor, richtete ihn senkrecht nach oben und vollführte eine rasche Drehung auf dem rechten Absatz. Mit vernehmlichem Knall verschwand sie aus Domenicas Wohnstube.
"Haus, lass Ladonna, mein Fleisch und Blut aus verdorbenem Schoße, nicht mehr in deine Nähe oder deine Räume, bis mein eigenes Leben endet!" rief Domenica der getäfelten Decke zu, in die zaubermächtige Runen eingeritzt waren. Dann ließ sie den mühevoll zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. Sie hatte gerade ihre zweite Tochter verloren. Ihr großer Traum, dass beide zusammen die Welt übernahmen und das jahrtausende alte Diktat der Männer beendeten war erloschen. Statt dessen empfand sie Angst, dass ihr Fleisch und Blut die Zerstörung der Welt herbeiführen mochte, dass sie sogar im Stande war, das alte Volk der zwölf Stämme Mokushas auszulöschen. Denn sie war so einfältig gewesen, ihr und Regina zu erzählen, dass jedes Kind Mokushas beim Ende des eigenen Körpers die darin verbliebene Kraft auf andere Kinder Mokushas übertragen konnte. Ihr wurde bewusst, dass wenn Ladonna eine andere Tochter Mokushas töten konnte, dann mochte sie den verheerenden Einfall haben, alle Kinder Mokushas zu töten. Dass sie sie, Domenica Montefiori, nicht hier und jetzt mit den zwei verächtlichen Worten des sofortigen Todes gefällt hatte lag sicher daran, dass Ladonna sie nicht für gefährlich genug hielt.
Die gerade erst über den Saum von Himmel und Erde steigende Sonne färbte sich bereits gelb und stand anderthalb Hände breit über dem Boden, als Domenica keine Tränen mehr vergoss. Ihre Augen brannten und schmerzten von der Tränenflut. Doch ihre Trauer und Wut waren einer bitteren Erkenntnis gewichen. Sie hatte wahrlich eine gefährliche Mörderin von Mokushas Blut gezeugt und nach der tragischen Geburt an ihrem Busen genährt. Sie hätte doch wissen müssen, dass das Blut einer grünen Waldfrau wie bei Giorgianas Großmutter die Wildheit und den unersättlichen Hunger nach Stärke und Vorherrschaft eines wilden Raubtieres entfachte. Damals hatten beide gedacht, dass es die vollkommene Menschenzucht sein würde, wenn die Trägerin von Mokushas Blut mit einer Trägerin von verdünntem Waldfrauenblut Nachkommen hervorbrachte, die sie ohne die Unzulänglichkeiten eines Mannes und dessen auf Unterwerfung der Töchter zielenden Einfluss großzögen. War dieser Versuch wirklich so fehlgeschlagen? Falls ja, dann trug sie, Domenica, an allem weiteren die Schuld, was Ladonna gegen ihr erhabenes Volk ins Werk setzte. Das durfte nicht geschehen.
Sie musste etwas unternehmen, um ihren großen Traum nicht zum Angsttraum aller fühlenden und denkenden Wesen ausreifen zu lassen. Sie dachte daran, wie gut es war, dass sie Giorgiana bis zu ihrem körperlichen Tode nicht verraten hatte, wo ihre eigene Geburtsstatt gewesen war. Dort hatte alles begonnen. Dort sollte es auch enden. Doch ihr war auch bewusst, dass dazu jemand in die Welt eintreten musste, die genauso frei von männlicher Unzulänglichkeit und Unterdrückung sein musste wie Regina und Ladonna.
Sie musste auf der Hut sein, dass Ladonna nicht erfuhr, was genau sie ins Werk setzen wollte. Sie wusste jedoch auch, dass am Ende ihres Vorhabens der Austritt aus dem Leben stand.
"Und das machen die jedes Jahr um elf Minuten nach elf Uhr?" grinste Louiselle ihre Mitbewohnerin und nicht mehr ganz so geheime Geliebte und Erzeugerin ihrer Tochter an. Laurentine grinste zurück und sagte: "Die Katholiken haben die vorchristliche Feier zum Austreiben der bösen Wintergeister als geniales Überdruckventil benutzt, um ihre Schäfchen bei Laune zu halten. Wenn nicht Weihnachten dazwischenfallen würde würden die fidelen Narren in Köln und den Rhein entlang von heute bis zum Aschermittwoch durchfeiern."
"Und dein Onkel Josef genannt Jupp wollte immer, dass du dir dieses Spektakel vor Ort ansiehst, Laurentine?" fragte Louiselle. Laurentine nickte und deutete auf den Bildschirm, wo die Videoaufnahme von der Karnevalssessionseröffnung aus Köln am Rhein abgespielt wurde. Sie deutete auf einen Mann im Piratenkostüm mit schwarzer Augenklappe. "Da ist er doch, der Jupp. Der ist Sitzungspräsident vom Karnevalsverein Rhingspringer 1881 und fährt beim Rosenmontagsumzug immer auf dem Mottowagen mit, der was mit dem Rhein zu tun hat", erklärte Laurentine. Louiselle wollte gerade was dazu sagen, doch da fauchte es im Kamin, und aus smaragdgrünen Funken wirbelte Millie Latierre heraus.
"Noch mal alles gute zum fünfundzwanzigsten, Laurentine. Julius kommt um sechs her. Der muss wegen dieser Sanguis-Purus-Saubande noch von Lepont bearbeitete Akten durchgehen, weil seine Chefin den Verdacht hat, dass Lepont nicht alles korrekt erfasst oder irgendwas mutwillig verfremdet hat. Rorie und Chrysope kommen gleich mit Tante Béatrice rüber. Die ganz kleinen sind bei meiner Oma im Sonnenblumenschloss", erstattete Millie Bericht.
"Und Sandrines Mutter hat keine Einwände, dass Aurore zu meiner Geburtstagsfeier dazukommt?" fragte Laurentine. Millie schüttelte den Kopf. "Hat sie dir was vorgeschrieben, wen du einladen darfst?" wollte Millie wissen. Laurentine verneinte es.
"Was läuft denn da auf dem Fernsehgerät ab. War das von Halloween?" fragte Millie. Laurentine lachte und erwähnte, dass das nicht so verkehrt war, aber es doch der traditionelle Karneval am Rhein sei und die jedes Jahr die Eröffnung der Karnevalszeit am elften im elften aus Köln im Fernsehen ausstrahlten, zumindest auf einem der deutschen Regionalsender. Dann spulte sie den Film einige Sekunden zurück und zeigte auch Millie ihren Onkel Jupp, den Millie ja von den Trauerfeiern kannte, an denen sie schon teilgenommen hatte. "Soll das ein Seeräuber sein, mit dem zugedeckten Auge? Ach ja, das Zeichen des Totenschädels mit den gekreuzten Knochen. Oder hat er sich als wandelndes Giftfass verkleidet, so üppig der sich ausgestopft hat?"
"Neh, das ist Natur, was der unterm Hemd trägt. Winterspeck sozusagen. Womöglich wird der meinen Cousin Lutz heute noch losschicken, um Martinsgaben einzusingen, fällt ja auf denselben Tag wie die Karnevalseröffnung und mein Geburtstag. Aber der wird hoffentlich nachher noch anrufen und fragen, wie ich zurechtkomme."
Als erst Aurore und dann Béatrice mit Chrysope zusammen aus dem Kamin kam schaltete Laurentine Videorekorder und Fernseher aus. Dann kamen noch Sandrine mit ihren Zwillingen und die Dorniers mit allen bis heute auf die Welt gekommenen Kindern. um Halb sechs klingelte es an der Wohnungstür. Die Familie Brickston stand vollzählig davor.
"Maman sagt, wenn sie und Papa bei mir sind darf ich auch mit einer Lehrerin meiner Schule zusammen feiern", sagte Claudine und übergab Laurentine ihr Geburtstagsgeschenk. Catherine grinste und fügte hinzu: "Wäre ja noch schöner, wenn wir uns von Geneviève Dumas vorschreiben lassen, ob wir mit dir weiterhin gutnachbarschaftlich weiterverkehren sollen oder nicht." Laurentine lächelte und ließ die Gäste in ihre Wohnung ein.
Dort begrüßten die Brickstons die bereits dazugekommenen und tauschten harmlose Erzählungen vom verbrachten Tag aus. Laurentine legte die Geschenke der Brickstons zu denen, die sie von den anderen bekommen hatte. Sie wollte sie später auspacken.
Das Telefon forderte die Aufmerksamkeit des Geburtstagskindes. Laurentine meldete sich und sprach dann auf Englisch weiter. Die Gäste erfuhren, dass sie mit ihrer Tante Suzanne sprach. Sie trug das schnurlose Telefon in das Arbeitszimmer hinüber und schloss die Tür. Damit war für alle klar, dass sie sehr persönliche Sachen besprechen musste. Vielleicht ging es auch nur darum, dass ihre der französischen Sprache fähige Tante mütterlicherseits nicht aus Versehen Worte aus der Zaubererwelt aufschnappte.
Louiselle überbrückte die Wartezeit der Gäste damit, dass sie ihnen die kleine Lucine vorführte, die mit ihren fast vier Lebensmonaten schon ordentlich gewachsen war. Millie und Béatrice fiel auf, wie sehr Lucines Augen denen Laurentines ähnelten oder besser Laurentines Mutter, als wenn Lucine das Enkelkind der verstorbenen Renée Hellersdorf war. Millie mentiloquierte ihrer Tante und Mitbewohnerin: "Kann jemand auch durch Stillen Erbanteile von wem anderen ausbilden?" Béatrice schickte zurück: "Dann würden aber viele, die von anderen Hexen als den eigenen Müttern gestillt werden so aussehen wie ihre Ammen. Nein, wenn du die Augen meinst, dann ist das schon merkwürdig. Aber kein lautes Wort darüber. Ich will hier und heute keine schlafenden Drachen kitzeln."
"Oh, dann vermutest du was ganz abwegiges?" schickte Millie zurück. Béatrice schickte nur ein: "Mehr muss ich nicht sagen", zurück. Millie unterdrückte eine sichtbare Geste.
Als Laurentine wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte gab sie Grüße ihrer Tante Suzanne weiter und dass ihre Cousinen Vicky und Hellen noch im Verlauf des Abends anriefen. Ihre Großmutter Monique hatte ja schon um sieben Uhr Morgens mitteleuropäischer Zeit angerufen.
Um kurz vor sieben kam endlich auch Julius Latierre dazu. Er wirkte erschöpft und besorgt zugleich. Als Millie ihn fragte, was genau los war meinte er: "Bitte nicht hier und jetzt, Millie. Ich will Laurentine nicht den Tag versauen, nachdem ich Rosey schon nicht zum Geburtstag gratulieren konnte."
"Gut, aber Trice und ich werden dich dran erinnern, uns das zu erzählen, was nicht über S1 ist", sagte Millie leise. Julius nickte.
Bevor das von Catherine und Louiselle zusammengekochuspokuste Geburtstagsmenü eröffnet wurde durfte Laurentine die ihr mitgebrachten Geschenke auspacken. Julius und Millie hatten für Laurentine Eintrittskarten für das letzte Heimspiel der Mercurios im Dezember besorgt, da sich Laurentine von denen, mit denen sie mal in der Schule war und die jetzt Kinder in ihrer Schulklasse hatten ein Erlebnis statt eines Gegenstands gewünscht hatte. Deshalb bekam sie von Sandrine auch einen Ausflug nach Avignon zum Hecate-Leviata-Konzert am achten Februar 2007. Sie konnte zwei Begleitpersonen mitnehmen. Claudine grummelte darauf, dass sie da wohl nicht mitgehen durfte, weil Laurentine ja ihre Lehrerin sei. Darauf meinte Catherine: "Dann gehst du mit Tante Madeleine dahin, Claudine. Die ist auch hellauf begeistert von Hecate Leviata." Damit war der Anflug von schlechter Stimmung auch schon wieder verflogen.
Die gemütliche Feier dauerte mit Abendessen und Unterhaltung bis kurz vor zehn. Doch als die anwesenden Kinder immer häufiger gähnten fanden alle, dass es doch langsam mal Zeit wurde, ins Bett zu finden.
Als alle fort waren und Laurentine den Abend damit ausklingen ließ, dass sie die kleine Lucine stillte sagte Louiselle: "Ich hatte bei den Latierres den Eindruck, dass sie langsam aber sicher dahinterkommen, wessen Kind die Kleine ist. Sie werden es dir nur nicht aufs Brot schmieren und es auch keinem anderen auf die Nasen binden."
"Weil sie Mamans Augen hat und das kleine Grübchen, dass meine Oma Monique links am Kinn hat. Gut zu wissen, dass wir sie dann nicht so freigiebig in der nichtmagischen Verwandtschaft herumzeigen dürfen, ohne das Leute wie Onkel Homer oder Vicky drauf kommen, dass wir uns die kleine "geklont" haben."
"Käme dem ja sehr nahe, wie sie wirklich zu uns gekommen ist", sagte Louiselle erheitert.
Gegen halb Elf abends lagen alle Kinder in den Betten. Da morgen wieder ein gerader Kalendertag war würde Julius gleich zu Béatrice ins Zimmer hinübergehen und bei oder auch mit ihr die Nacht verbringen. Doch so wie er aussah und wie er sich gerade fühlte mochte Millie diesmal nicht denken, dass es zu mehr als ruhig nebeneinander einschlafen kommen mochte. Sie wollte aber unbedingt vorher was von ihrem offiziell angetrauten Mann wissen.
"Du wirkst so, als hätten sie dir heute den Weltuntergang vorhergesagt. Was war denn los?" Julius nickte ihr und Béatrice zu und sagte: "Sowas ähnliches ist es auch, Millie und Trice. Es ist jetzt quasi amtlich, dass die noch nicht befreiten Ministerien alle Veelastämmigen und reinrassigen Veelas zu unerwünschten Wesen erklärt haben und dass der von Ladonnas Gnaden amtierende Zaubereiminister Russlands sogar eine eigene Armee aufgestellt hat, die nach Veelas und Veelastämmigen suchen und diese ohne Anruf töten soll. Léto meinte sowas, dass sie und ihre Verwandten sich bei uns bedankten, dass die Ligaleute uns das noch rechtzeitig mitgeteilt haben, dass Arcadis Thaumaturgen an einer ultimaten Anti-Veela-Waffe arbeiten, um die Blutrache der Veelas zu umgehen. Wenn sie wen finden, an dem sie die ausprobieren können wollen sie nach Mokushas Insel suchen, um die Waffe dort aus großer Höhe abzuwerfen wie eine Atombombe oder einen Chemischen oder biologischen Kampfstoff, also was ähnliches, was Pétain über Millemerveilles loslassen wollte. Falls die trotz aller Erwähnungen Létos, dass die Insel von Nichtveelas nicht gefunden werden kann, doch rauskriegen, wo sie ist, dann gnade uns allen jeder Gott, an den jemals wer auf diesem Planeten geglaubt hat oder immer noch glaubt. Denn da ist demnächst die alljährliche Versammlung der Ältesten. Sterben die und alle bis dahin noch auf die Insel geflüchteten Veelas und Veelastämmigen, dann haben wir den totalen Krieg mit den Veelas. Ja, und wenn sich das herumspricht begehren dann auch alle anderen Zauberwesen auf, die Waldfrauen, die Kobolde, die Zwerge, die Meerleute und natürlich auch die Vampire und Wergestaltigen. Die würden sich dann berufen fühlen, ihre Existenz zu verteidigen."
"Sag mal, ist bei denen jetzt endgültig der Kessel durchgerostet?" fragte Millie. Julius erwiderte darauf: "Ich habe das verdammt miese Gefühl, dass Ladonna jetzt die totale Auseinandersetzung mit den Veelas will, weil die ihr klargemacht haben, dass sie nicht mal soeben die Welt einsacken kann. Ja, und jetzt, wo ein Gutteil der Vampire der blutroten Götzin von den Nachtschatten ausgelöscht wurden meint sie wohl, dass nun auch die Veelas dran glauben sollen, damit sie sich die ihr entrissenen Zaubereiministerien zurückholen kann. Außerdem wäre das ein finaler Schlag gegen alle Veelas, vergleichbar der Zerstörung des Petersdoms für die Katholiken oder der Kahaba in Mekka für die Muslime mit Hilfe einer Atombombe oder einer Antimateriebombe, wie der Amerikaner Dan Brown es in einem Roman erzählt."
"Können die Russen diese Insel finden?" fragte Millie. Julius wiederholte, dass nur Veelas und Veelastämmige wüssten, wo sie ist. Aber mit modernen Massenvernichtungswaffen bräuchte man nur den ungefähren Ort zu kennen, um heftigsten Schaden anzurichten. Es würde ja schon genügen, die Insel unbewohnbar zu machen, um sie als allerheiligsten Ort der Veelas zu verderben.
"Du hast es doch hoffentlich Catherine weitergegeben, was ihr erfahren habt", sagte Béatrice. Julius erwiderte, dass er das Laveau-Institut informiert habe und Catherine am nächsten Morgen eine eigene Eulenpost von ihm bekommen würde, hochoffiziell.
"Wie wahrscheinlich ist es, dass Arcadis Leute die Insel oder die ungefähre Gegend in den nächsten Tagen erreichen?" fragte Béatrice. Julius räumte ein, dass er das nicht wisse, er aber schätze, dass erst feststehen müsse, ob es jene Veelavernichtungswaffe gebe, die den Überlebenden verheimlichen könne, wer ihre Angehörigen umbrachte. Er erwähnte in dem Zusammenhang noch einmal, wie einfach es für einen Menschen war, aus großer Entfernung tausende von anderen Menschen auf einen Schlag umzubringen, weil er oder sie den Sterbenden nicht zusehen müsse. Sonst hätte es die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki nicht gegeben.
"Das heißt, es muss erst einmal feststehen, dass es diese Waffe gibt und ob sie bereits einsatzbereit ist?" fragte Trice. Julius bejahte das. "Dann nutzen wir unsere Verbindungen auch zur Heilerzunft. Wir haben noch Freundinnen und Freunde in Russland, die durchaus verstehen, wie heikel es wäre, wenn ausgerechnet eine der mächtigsten Zauberwesenarten an ihrer Existenz bedroht wird. Ichkläre das morgen mit Babs, dass du in deiner Eigenschaft als Pflegehelfer auch mit der Heilerzunft über diese brisante Lage beraten musst. Sie wird mir da sicher zustimmen, vor allem, wenn Antoinette Eauvive und Hera Matine mir beipflichten, dass alle bestehenden Verbindungen genutzt werden sollten, um entweder diese Veelavernichtungswaffe zu finden und / oder zu verhindern, dass Arcadis Leute die Insel der Veelas finden. Am Ende könnte sogar was ähnliches passieren wie bei der dunklen Woge im Jahr 2003 oder dem Erdmagiesturm in Folge des Unterseebebens vor zwei Jahren. Wir sollten froh sein, dass die möglicherweise von der Nachtschattenkaiserin eingeleitete Vernichtung der dunklen Grabstätte in Ägypten keine weltweiten Auswirkungen hatte."
"Was wir jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen können, Trice. Immerhin sind die letzten Schlangenmenschen auch erst monate nach der Woge dunkler Magie aufgewacht, obwohl sie genau von dieser wiederbelebt wurden", unkte Julius. Millie und Béatrice sahen ihn sehr streng an. Millie übernahm es zu antworten. "Julius, Lass dich ja nicht von diesen heftigen Sachen ins lodernde Drachenmaul treiben! Tu, was du tun kannst und informiere alle die, die noch mehr machen können! Mehr musst du nicht und mehr erwartet auch keiner von dir. Aber ich verstehe, dass du das bei Laurentines Geburtstagsfeier nicht rumgehen lassen wolltest."
"Ja, da hast du recht, Millie", erwiderte Julius. Sie hatte ihn mal wieder daran erinnert, dass er nicht die ganze Welt auf seine Schultern laden konnte und es daher auch nicht nötig hatte, sie andauernd zu retten.
Gegen halb zwölf lag Julius neben Béatrice im Bett und kuschelte sich an sie. Die Wärme ihres Körpers, ihr ruhiger Atem und ihr gleichmäßig durch ihren in seinen Brustkorb dringender Herzschlag halfen ihm, selbst zur Ruhe zu kommen. Die Erschöpfung von Körper und Geist taten ihr übriges, ihn in einen tiefen, erholsamen Schlaf hinübergleiten zu lassen.
Die Tochter von Nachtlied kniete vollkommen nackt auf einem aus geflochtenem Veelahaar gewebten Teppich. Nachtlied hatte ihr erlaubt, den Teppich der Ahnen zu benutzen, um Mokushas große Gnade zu erbitten und sie um Hilfe bei ihrem Vorhaben zu bitten. Ähnlich wie die Christen kniete sie nun im Gebet an die große Urmutter. Allerdings hielt sie die Hände nicht gefaltet, sondern die linke Hand an ihren Bauchnabel und die rechte Hand zur Decke hochgestreckt. Sie sammelte die Kräfte aus Himmel und Erde, vom verlöschenden Feuer der Sonne und der das Wasser bändigenden Kraft des Mondes, die noch nicht vollständig am Himmel wirkte. Die Zeit, wo der Tag bereits vergangen war und die Nacht noch nicht wirklich begonnen hatte war wie der Morgen zwischen erstem Morgengrauen und vollständigem Sonnenaufgang dazu geeignet, die vier Säulen der Weltkräfte zu beschwören und im Einklang zwischen Erde und Himmelskörpern die nötige Kraft zu schöpfen.
Als sie fühlte, dass ihre Anrufung einmal mehr erfolgreich verlaufen war erhob sie sich von ihrem Gebetsteppich. Wenn die nächste Monatsblutung einsetzte konnte sie die in sich aufgenommene Kraft darüber abgeben. Sie hatte sich entschieden, auf ihren Platz in Mokushas ewigem Schoß zu verzichten und hoffte darauf, wegen ihrer Anmaßungen gegen die Natur und ihre Mitgeschöpfe nicht im ewigen Fluss der rastlosen Seelen zu landen. Doch die von ihr gewählte Form des Nachlebens mochte ebenso bedrückend sein, als mit anderen ruhelosen Seelen immer rund um die Welt schwimmen zu müssen, in einem ewigen Kreis aller bedrückenden und beklemmenden Erinnerungen. Doch sie musste etwas tun. Sie konnte nur hoffen, dass Ladonna noch zu viele menschliche Feindinnen und Feinde hatte, als daran zu denken, ihre Veelaverwandten auslöschen zu wollen. Falls sie dies jedoch begann, bevor sie, Domenica, ihren Einfall umgesetzt hatte, dann war ihr womöglich sogar der Abgrund des Vergessens sicher, die höchste Strafe für unsterbliche Seelen aus Mokushas Volk.
Sie ging unbekleidet in ihre Schlafkammer. Sie dachte daran, dass vielleicht auch tief in ihr der Schlüssel zur Berichtigung aller bisher gemachten Fehler ruhte. Doch so eine Zusammenstellung wie zwischen ihr und Giorgiana würde es so schnell nicht wieder geben. Nur wenn sie es schaffte, eine andere Hexe, reinrassig oder ebenfalls von Mokushas Linie abstammend, dazu zu bewegen, das diese mit ihr eine weitere Tochter zeugte und sie diese bis zur Geburt in sich herantrug konnte es gelingen, Ladonna doch noch den letzten Einhalt zu gebieten.
Mit diesem neuen Traum von einer befreiten Welt schlief Domenica ein. Ihr Haus war gegen alle möglichen Angriffe gesichert.
Die Melodie von "Flieg mich bis zum Mond" trällerte aus Ray Connors Telefon. Diese Nummer hatte er für einen besonderen Anrufer eingestellt. Wenn er dieses bestimmte Läuten hörte durfte er nur rangehen, wenn etwas nicht in Ordnung war. Da dem nicht so war ließ er es viermal läuten. Dann verstummte der besondere Klingelton wieder. Ray Connor wartete noch genau 30 Sekunden. Dann nahm er den schnurlosen Apparat aus der Basisstation und drückte die Taste für hauseigene Anrufe. Dann drückte er zwei Ziffern und wartete, bis jemand abnahm.
"Willy, der besondere Gast ist in einer halben Stunde am Tisch Nummer vier. Sieh zu, dass du dann auch da bist und alles wie üblich klappt!" befahl Connor dem Angerufenen. Dieser erwiderte: "Öhm, wenn der Gast noch einmal so viel abräumt kriegen Sie dann keinen Krach mit Mr. K. und Mr. T., Mr. Connor?"
"Das sollen die dann mit Mr. P. klären. Der hat seinem Junior schließlich die goldene Karte mit dem vierblättrigen Kleeblatt geschenkt. Und die ist noch sechsunddreißig Jahre lang gültig, hat Mr. P. ganz klar angesagt."
"Ich wollte auch nur sicherstellen, dass Sie keinen Grund haben, den Laden zuzumachen, Sir", erwiderte Willy. Ray Connor grummelte und sagte: "Mach du dir nicht meinen Kopf, sondern halte deine Finger schön geschmeidig, Willy. Außerdem weiß ich, dass dich Mr. K. schon angesprochen hat, ob du nicht rüber nach Vegas willst. Also tu nicht so, als läge dir dein Job bei mir so sehr am Herzen. Abgesehen davon fallen für dich immer fünf Prozent von dem ab, was unser Ehrengast erspielt. Also, in achtundzwanzig Minuten bist du auf Position und alles ist klar, ohne das wer anderes dumme Fragen stellt!" "Geht klar, Sir", erwiderte der Angerufene kleinlaut. Connor drückte die Auflegentaste und stellte den Apparat in die Basisstation zurück.
Jeden zwölften des Monats bekam sein Club diesen "hohen Besuch". Ja, und weil dieser noch bessere Beziehungen hatte als Connor galt es, es sich nicht mit dieser Beziehung zu verderben.
Der tiefgrün metallic farbene BMW 760I näherte sich der Zufahrt zur exklusiven Tiefgarage, in die nur hineindurfte, wer den entsprechenden Signalgeber hatte und per Abdruck von rechtem Daumen, Zeige- und Mittelfinger den Signalgeber auslösen konnte. Da der Junior im Fond des Wagens das Codegerät bei sich hatte und auch die goldene Chipkarte mit dem vierblätterigen Kleeblatt darauf brauchte der hinter dem lamafell bezogenen Steuerrad sitzende Benito Torrino nur vor dem versenkbaren Tor anzuhalten, das wie die darum herum verlaufende Hauswand gemustert war. Er lenkte den großen europäischen Luxuswagen auf die bezeichnete Stelle zu. Lorenzo Piazelli, Erstgeborener und somit irgendwann mal Firmen- und Familienerbe von Don Antonio Piazelli genannt Nino der Nugget, wurde durch Bens kurzes Winken darauf hingewiesen, dass sie da waren. Lorenzo grinste mal wieder mit dem Kühlergrill des BMWs um die Wette. Dann nahm er das Ding, das rein äußerlich ein silbernes Gasfeuerzeug war in die rechte Hand und legte Daumen, Zeige- und Ringfinger so, dass die filigranen Sensoren die richtigen Signale bekamen. Der bis zu fünfzig Meter weit reichende 3-Wellen-Sender schickte die korrekte Signalabfolge an den Funkempfänger in der Wand. Eigentlich, so wusste es Torrino, hatten die da drinnen ihn doch schon längst auf dem Bildschirm, auch wenn er die Kamera hinter der Wandverkleidung nicht erkennen konnte.
Ein Stück wand erbebte und versank dann beinahe lautlos im Boden, bis eine abgerundete Schwelle übrig blieb. Gemäß der Vorschrift, innerhalb von nur sechs Sekunden über diese Schwelle zu sein trat Torrino aufs Gaspedal und trieb den BMW über die Schwelle. Kaum war der Wagen vollständig auf die nach unten führende Rampe gelangt hob sich die versenkte Wand wieder und schob sich in die Öffnung, die gerade mal breit genug für zwei Luxuslimousinen war. Im Licht der Scheinwerfer und zusetzlich aufflammendem Neonlicht lenkte Torrino den Wagen drei Ebenen weit nach unten und fand die bevorzugte Parkbucht in der Nähe der Auffahrtsrampe unbesetzt vor. Mit geschmeidigen Lenkbewegungen bugsierte er den Wagen so hinein, dass kein Ruckeln entstand und es vor allem keinen Anstoß gab. "Junger Mann, wir sind da. Soll ich nicht doch mit raufgehen?" fragte Torrino über die Sprechanlage in der Trennscheibe. Der junge Mann im Fond, der wegen seiner pechschwarzen Igelfrisur von seinen Freunden Spikey gerufen wurde erwiderte, dass er wie üblich allein raufging. Keiner würde es wagen, ihn, den besonderen Gast des Golden-Chances-Clubs, dumm anzumachen. "Gut, aber lass bitte den Kragenknopf an, damit ich sofort raufkomme, wenn was sein sollte oder wenn du Krach mit wem kriegst, Lorenzo", sagte der Fahrer. Er durfte als einer der wenigen den Mann im Fond mit du und Vornamen anreden, weil er ihn schon als Kleinkind beschützt und gefahren hatte.
Lorenzo nickte und winkte mit der zweiten goldenen Chipkarte. Die mit dem Kleeblatt behielt er. Die mit der eingestanzten Nummer 15-12, die für einen Chauffeur stand, behielt der Fahrer, der außerhalb des Clubs auch als Leibwächter auftrat.
Lorenzo entstieg der Luxuskarosse, die er zwischendurch auch mal selber fahren durfte und ging mit beschwingten Schritten auf eine der drei Falttüren zu. Er steckte die mitgenommene Karte in den Leseschlitz, wartete, bis über der Tür ein grünes Licht aufleuchtete und die Tür leise surrend auseinanderglitt und zog die Karte aus der Lesevorrichtung.
Begleitet von einer Instrumentalversion von "Viva Forever" von den Spice Girls fuhr Lorenzo zum zweiten Obergeschoss des Clubs hoch, dorthin, wo zehn Roulettetische auf spielfreudige oder spielsüchtige Opfer warteten. Nur Lorenzo war kein Opfer, sondern der Fuchs im Hühnerstall, der davon ausging, an diesem Abend reiche Beute einzutreiben.
Am Zugang zur Halle der Roulettetische wechselte er mit Hilfe seiner Platinkreditkarte 10000 Dollar in Getons ein, von denen die mit dem kleinsten Wert das an jedem Tisch geltende Einsatzminimum darstellten. Endlich auf den Abend vorbereitet ging Lorenzo in seinem italienischen Maßanzug durch die links und rechts aufgestellten Tischreihen, tat so, als wäge er ab, an welchem Tisch er heute sein Glück versuchen sollte und steuerte dann den Tisch mit der Nummer vier an, wo gerade der brünette Croupier "Rieng nö va pluuh!" rief. Alles klar! Das war Willy Steinbeck, der für Spikeys Spieleabend extra eingestellte Croupier. Der hatte es bis heute nicht raus, die französischen Ansagen akzentfrei hinzukriegen. So verhielt es sich auch mit den angesagten Zahlen, die er in seiner exklusiven Version von Französisch und im New Yorker Englisch verkündete.
Von den vier Plätzen am Tisch waren drei besetzt, zwei Männer, vom Aussehen her wohl Kunden der Kortney-Firma. Die Lady im scharlachroten Seidenkleid mit dem die Taille noch heftiger hervorhebenden Glitzerperlengürtel kannte er dagegen nicht. Von der blassgoldenen Hautfarbe her konnte sie eine europäisch-asiatische Hybridin sein. Die runden, blaugrünen Augen und das dunkelblonde, schulterlang herunterwehende Haar passten aber nicht so ganz zu dieser Einschätzung. Jedenfalls strahlte diese Frau eine Menge Entschlossenheit und sexuelle Anziehungskraft aus. Lorenzo ärgerte sich ein wenig, dass Big Ben ihn nach dem Spieleabend alleine und nur ins New Yorker Stadthaus kutschieren sollte. Das war die goldene Langlaufleine, an der sein alter Herr ihn immer noch hielt. Wenn er wen für heiße Stunden wollte hatte die zu ihm hinzukommen. Eine von unterwegs mit nach Hause bringen war nicht drin. Also eben nur das übliche, sein ganz exklusives Monatsgehalt einspielen.
"Guten Abend Lady und Gentlemen, darf ich den freien Platz am Tisch benutzen?" fragte er und sah erst die anderen Spieler und dann Willy Steinbeck an. Der Croupier zahlte gerade die Gewinne aus. Die rassige Hybridin im roten Abendkleid hatte wohl auf Rot gesetzt und bekam Getons im Gesamtwert von 500 Dollar zugeschaufelt.
"Der vierte Platz ist noch frei, Mongsjur", sagte Steinbeck, der sich nicht anmerken ließ, dass er den neuen Spieler sehr gut kannte. Damit war sozusagen geklärt, dass Fortuna dem igelhaarigen Spieler drei Stunden lang hold sein würde.
"Wo liegt das Limit für diesen Tisch?" fragte Piazelli. "Zweitausend, Mongsjur", antwortete der Croupier. Lorenzo setzte 500 Dollar auf eine Fünfergruppe benachbarter Zahlen, zu denen die 19 gehörte. Hierfür musste er je 100 Dollar auf die betreffende Zahl setzen. Er wollte nicht gleich alles ausreizen.
"Fett wos dschjöh, bitte das Spiel zu machen", sagte Steinbeck. Dann ließ er den Kessel anlaufen und warf die Kugel entgegen der Drehrichtung hinein. Das bei vielen Spilern so vertraute Geräusch der rollenden Kugel verhieß Glück oder Pech, Freude oder Enttäuschung. Lorenzo sah, dass die Lady im roten Kleid erst ihn und dann die anderen Spieler genauer ansah und dass sie auf Schwarz setzte. Sie wollte offenbar nicht viel riskieren, dachte Lorenzo. "Riäng nö va pluuh, nichts geht mehr!" kündigte Steinbeck an. Dann rollte die Kugel aus und hüpfte noch ein paar mal zwischen den Einbuchtungen herum, bevor sie in einer davon zu liegen kam. "Kengs, nwar ompärr e monk, fünfzehn, schwarz ungerade untere Reihe!" sagte der Croupier das Ergebnis an. Da Lorenzo die Gruppe 32, 15, 19, 4 und 21 ausgewählt hatte gewann er genauso wie die Lady in Rot. Die beiden Kortney-Günstlinge, die auf rote Zahlen außerhalb der Gruppe gesetzt hatten gingen leer aus. Doch das machte denen offenbar nichts aus. Die armen Tröpfe dachten wohl, dass sie das Geld locker wieder reinholten.
Beim nächsten Spiel setzte Lorenzo je 200 Dollar auf die benachbarten Zahlen 27 Rot und 13 Schwarz, was bei einer der beiden Zahlen zum Einsatz den 17fachen Einsatz abwerfen konnte. Die Dame in Rot legte zwei 100er-Getons auf die 36. Offenbar wollte sie es doch mal wissen. Willy startete mit seinem höchst individuellen Französisch das Spiel, wobei er eine schon fast theatralische Geste mit dem Zeigerächen vollführte, wohl damit niemand sah, dass er mit der anderen Hand gerade was anderes anstellte. Die Kugel rollte rasselnd im kreisenden Kessel herum, bis Steinbeck wieder "Riäng nö va pluuh!" ausrief. Klackernd kullerte die Kugel in eines der Zahlenfächer - die 36 Rot. Die drei männlichen Mitspieler glotzten verdutzt. Doch Piazelli glubschte besonders überrascht auf die Kugel. Die war genau eine Zahl neben der gelandet, die er noch als Wettergebnis getippt hatte. Damit waren seine 400 Dollar futsch, und die rote Dame mit der blassgoldenen Haut räumte noch 7000 Dollar ab. Hatte Steinbeck sich irgendwie verschätzt?
Beim nächsten mal wartete Piazelli ab, worauf die Frau im scharlachroten Abendkleid setzte, 1000 Dollar auf Manque, also die Zahlen von 1 bis 19. Er setzte dann 500 Dollar auf die 19 Rot. Jetzt wollte er klarstellen, dass Fortuna auch ihm hold sein würde. Das Spiel begann. Diesmal ließ Steinbeck den Kessel fast eine Minute lang kreiseln und die Kugel laufen, bevor er "Riäng nö va pluuh!" ausrief. als die kleine verheißungs- und verhängnisvolle Kugel dann mehrfach durch den Kessel titschte und dann in einem der Zahlenfächer landete war es - die 17 Schwarz. Damit hatte die Dame in Rot zumindest ihren Einsatz dazugewonnen, während Piazelli seinen Einsatz komplett verspielt hatte. Irgendwas lief hier nicht so wie es eigentlich sein sollte, dachte der Sohn von Nino dem Nugget. Im letzten Monat hatte er mit fünf Einsätzen auf Einzelzahlen insgesamt eine knappe Million Dollar abgegriffen. Die beiden anderen Spieler hatten wenigstens mit dem Einsatz auf Schwarz ihren Einsatz behalten und dieselbe Summe noch dazugewonnen.
Wieder wartete er auf die Einsätze seiner Mitspielenden. Die beiden Männer, die wohl von Kortney in den Club eingeführt worden waren setzten auf Rot und auf obere Zahlenreihe, während die Lady im roten Kleid doch allen ernstes 1000 Dollar auf die grüne 0 setzte. So setzte Piazelli 1000 Dollar auf 27 Rot. Kaum hatte er "sein Spiel" gemacht ging auch schon nichts mehr. Der Kessel trudelte aus. Die Kugel hüpfte und kullerte zwischen den Zahlenfächern herum und landete auf "Zero 0. Mäss eng prisong. Null, alle Einsetze bleiben gesperrt!" verkündete Steinbeck, und Piazelli hörte ihm an, dass ihm das gerade sehr, sehr unangenehm war.
"Wie, gesperrt?!" rief einer der beiden anderen Gentlemen. "Öhm, bei einer null bleiben alle Einsetze auf einfache Chancen also Rot, Gerade oder hoch und niedrig für das nächste Spiel auf den Feldern und dürfen nicht geändert werden, bis das nächste Spiel vorbei ist. Kommt dann ein gewettetes Ergebnis bleibt der Einsatz erhalten und kann geändert werden. Kommt ein anderes Ergebnis geht der Einsatz verloren, so die hier im Club gültigen französischen Regeln", erwähnte der Croupier. Dann sah er die Dame im Abendkleid an. "Ma'am, sie haben aber gewonnen", sagte Steinbeck und schaufelte der scharlachroten Spielerin den auf der 0 gesetzten Betrag und die 35fache Summe desselben zu. Piazelli hatte auf jeden Fall seine 1000 Dollar verloren, weil er ja auf eine Einzelzahl gesetzt hatte.
"Pass mal auf, dass du nicht "eng prisong" landest, Willy Steinbeck", dachte Piazelli. Wenn das so weiterging konnten sich Connor und Steinbeck ganz ganz warm anziehen.
Die zwei anderen verloren im nächsten Spiel ihre Einsätze, weil weder Rot noch die obere Zahlenreihe kam, während Piazelli und die scharlachrote Dame auf Schwarz setzten und so zumindest ihren Einsatz verdoppelten. Ab dann beließ es Piazelli mehrere Runden lang mit Kolonnen, in denen die Zahlengruppen vorkamen, auf die die andere setzte, während die beiden Gentlemen immer noch auf der Verliererstraße waren. So konnte er zumindest sein Kapital wieder auf 10000 Dollar aufstocken. Die Taktik, erst die anderen setzen zu lassen ging jedoch nicht mehr auf, als er versuchte, immer eine der Zahlen mitzunehmen, die die Lady in Rot wählte. als er dann den Croupier ansah und halblaut verkündete, dass er beim nächsten mal sicher richtiges Glück haben würde und das Limit von 2000 Dollar auf die 4 Schwarz setzte sollte Steinbeck es wissen, dass er nun keinen Spaß mehr machte. Die Vier und ihre Vielfachen waren Piazellis Glückszahlen. Das hatte sein Vater mit Connor und Steinbeck klargemacht, dass eine der Zahlen, wenn er auf entsprechende Felder setzte, auf jeden Fall zu kommen hatte. Die zwei Gentlemen setzten auf Gerade und Rot. Die Kugel rollte leise rasselnd im Kessel. Die Lady im scharlachroten Abendkleid wartete noch mit einem Einsatz. Dann legte sie das für Einzelzahlen festgelegte Limit von 2000 Dollar auf die 16. Dann war mal wieder "Riäng nö va pluuh", und die Kugel kullerte. Es sah so aus, als hüpfe und schlingerte sie diesmal noch mehr im auslaufenden Kessel herum. Sie hüpfte noch einmal hoch und fiel ... ins Fach Nummer 16. Damit war Piazelli der einzige, der verloren hatte. Nun konnte auch jeder uneingeweihte an diesem Tisch sehen, dass der Croupier in der vorschriftsmäßigen Clubuniform verdutzt war. Doch was sollte der jetzt machen? Sollte der offen zugeben, dass Piazelli eigentlich zu gewinnen hatte? Das ging überhaupt nicht. Aber das ausgerechnet die 16 gekommen war, wo er gerade noch an die Vier und alle Vielfachen gedacht hatte war merkwürdig, vor allem, dass die Lady so lange gewartet hatte, bis sie auf diese Zahl setzte. Gut, er wollte jetzt wieder warten, bis alle anderen gesetzt hatten.
Nachdem die scharlachrote Dame so abgeräumt hatte wurde sie wieder vorsichtig und setzte auf die unteren Zahlen. Piazelli wählte eine Gruppe aus fünf benachbarten Zahlen aus, um zumindest etwas mehr als nur den Einsatz zurückzukriegen und legte je 200 Dollar in Getons auf die entsprechenden Zahlenfelder. Die beiden Gentlemen spielten nach wie vor sehr behutsam und blieben bei Einfachchancen. Als dann die 2 fiel gewann der eine, weil er auf Schwarz gesetzt hatte und der andere weil er wie die Dame auf untere Zahlenreihe gesetzt hatte. Doch die Kugel war genau eine Zahl außerhalb der von Piazelli gewählten Fünfergruppe gelandet, so dass er mal wieder 1000 Dollar verlor. Er sah Steinbeck an, der ihm ein Pokergesicht präsentierte, so dass er nicht erkannte, was in diesem Burschen gerade vorging.
Piazelli wurde nun ebenso überbehutsam wie die drei anderen. Er setzte nur das Minimum auf einfache Chancen. Dennoch ging jeder Einsatz verloren. An und für sich war es klar, dass er bei Zahlengruppen oder Einzelzahlen auf jeden Fall einen Treffer landen sollte. Doch irgendwas war heute anders. Doch jetzt aufzugeben und mit nur noch 4000 Dollar abzurauschen missfiel ihm. Er hatte die klare Ansage, dass er im Monat nur so viel Geld ausgeben durfte, wie er an einem zwölften "erspielte". Er durfte auch nur 10000 Dollar Startkapital abbuchen, weil alles andere bei seinem alten Herren eine rote Warnlampe zum leuchten gebracht hätte. Denn die Platinkarte lief über seine Immobiliengesellschaft und die Buchung wurde als "Seminarhonorar" abgebucht. Da durfte er nicht am selben abend zwei Buchungen tätigen. Jetzt merkte er, dass er, der achso gerissene Lorenzo Piazelli, immer noch am Gängelband seines alten Herren hing, ein goldenes Gängelband, aber immer noch ein verdammtes Gängelband. Nein, er musste das hier durchziehen, zumal er ja vorsorglich noch was vom zwölften Oktober schön weit an seines Vaters Bankverbindungen vorbei ausgelagert hatte, dass er in keiner Weise hungern musste. Ja, er dachte sogar daran, dass sein Vater ihm hier und heute eine üble Lektion erteilen wollte, dass eben nicht alles zu Gold wird, was er, Lorenzo, anfasste. Porca miseria!
Im Bewusstsein, dass er heute nicht selbstverständlich gewinnen würde spielte er nun weiter behutsam. Dabei bekam er mit, dass die Dame in Rot bei jedem Spiel gewann, egal wie sie setzte. Die Gentlemen riskierten es auch mal, die Einsätze auf Zahlengruppen oder Einzelzahlen zu wagen, was dann doch in in davonrutschenden Getons endete. Steinbeck, der nun doch einge gewisse Unruhe in der Körperhaltung zeigte, ließ die drei weiterspielen, bis die zwei Kortney-Bekannten aufgaben und mit dem kläglichen Rest ihres eingewechselten Startkapitals zur Kasse gingen.
Jetzt waren nur noch die Dame in Scharlachrot und Lorenzo Piazelli am Tisch. Die Dame sah dies wohl als Ansporn, nun wieder riskanter zu setzen. Dadurch vervierfachte sie in nur zwei Spielen ihr verbliebenes Kapital. Piazelli sah ihr an, dass sie wohl gerne mehr setzen würde. Doch der Club hatte trotz der betuchten Mitglieder das Limit pro Tisch auf 2000 Dollar für eine Einzelzahlwette festgelegt. Dennoch war es möglich, die Bank zu sprengen, wusste Piazelli. Ihm war das an seinem 25. Geburtstag, dem 12. April, gelungen. Allerdings hatte sein Vater ihm dann empfohlen, den zwölften Mai auszulassen, damit regelmäßige Spieler das nicht mitbekamen, wie gut er abräumen konnte. Denn sprach sich sowas herum kam die Glücksspielaufsicht und vielleicht sogar die Polizei auf den Dreh mit den steuerbaren Einzelmagneten in den Zahlentaschen.
Heute konnte er zumindest nicht mal an dieser Sensation schnuppern. Gemein war auch, dass er sich bloß nicht beklagen konnte. Wenn sein Vater ihn derartig drankriegen wollte würde der nur missbilligend mit der Zunge schnalzen. Steinbeck würde sich wohl darauf berufen, nur Befehle ausgeführt zu haben, dieses kleine Licht, und Connor konnte ihm sogar mit einer Unterredung mit den beiden anderen Partnern der Clubleitung drohen, wenn er sein Glückskleeglück überreizte.
"Gilt die Sonderregel, dass das letzte Spiel vor und das erste Spiel nach dem Zwölf-Uhr-Schlag kein Tischlimit kennt?" fragte die Frau in Rot den Croupier. Dieser sah sie verdutzt an und stand da wie versteinert. Erst nach drei Sekunden bewegte er sich wieder. Er sah die Spielerin an und sagte: "Wenn Sie mir verraten, welcher gute Geist Ihnen das zugeflüstert hat, Ma'am." Sie beugte sich zu ihm vor und wisperte ihm etwas zu. Steinbeck erschauerte. Sein bisher so sorgfältig gepflegtes Pokergesicht verrutschte nun sichtbar zu einer unsicheren Miene. Dann nickte er. "Ja, Sie sind richtig unterrichtet worden, Ma'am. Wer diese Person kennt und das von ihr erfahren hat darf das letzte vor und das erste Spiel nach Mitternacht beliebig hoch setzen, sofern er oder sie das doppelte Minimum setzen kann."
"Oh, gilt das nur für einen bestimmten Spieler oder eine bestimmte Spielerin?" wollte Piazelli wissen. Steinbeck sagte schnell: "Nein, das gilt für alle, die zum betreffenden Zeitpunkt bereits mehr als eine Stunde an diesem Tisch spielen und das erwähnte doppelte Minimum als Spielkapital haben, ohne zwischendurch mehr Geld eingetauscht zu haben, Sir. Also dürfen Sie von dieser Regel heute auchh Gebrauch machen. Sie dürfen aber nicht den Tisch verlassen, sofern sie keine Notwendigkeit verspüren, den Raum für Gentlemen aufzusuchen, Sir. Das gilt natürlich auch für Sie, Ma'am. Solange sie an diesem Tisch bleiben und nicht wegen was anderem als natürlicher Bedürfnisse unterbrechen müssen dürfen Sie das letzte Spiel vor und das erste Spiel nach Mitternacht über das sonst geltende Limit setzen. Die Bank kann Ihnen im Falle eines Gewinnes nur einen Scheck ausstellen, der innerhalb von 24 Stunden eingelöst werden muss, sofern der Gewinn das summierte Kapital der Bank um mehr als zehn Dollar übersteigt."
"Öhm, ich bin jetzt schon einige Jahre Mitglied Ihres Clubs, Mister und höre heute zum ersten mal von dieser Regel", grummelte Piazelli. "Heißt das, dass Mitgliedern mit goldener Mitgliedskarte nichts darüber erzählt werden darf?"
"Nun, ob sie die goldene oder die bronzene Mitgliedskarte haben zeigt ja nur Ihre Kreditwürdigkeit an, Sir", sagte Steinbeck. "Diese Sonderregel gilt nur für Gründungsmitglieder und gute bis sehr gute Bekannte derjenigen, die die entsprechenden Losungswörter erfahrenund benutzen, wie die Lady hier", sagte Steinbeck und deutete mit seinem Rateau auf die Frau im scharlachroten Kleid. Piazelli erkannte, dass sein Vater offenbar nicht zu jener erlauchten Gruppe gehörte oder, was wohl eher zutraf, ihm nichts davon sagen wollte, um ihn nicht übermütig zu machen. Doch jetzt war die Katze aus dem Sack. Da er noch an diesem Tisch war und noch an die 2000 Dollar hatte, also das zwanzigfache Minimum dieses Tisches, würde er solange durchhalten, bis diese beiden Spiele rund um den Zwölf-Uhr-Glockenschlag stattfanden. Um Eins wurde hier ja eh zugemacht. Also blieb er auf jeden Fall dran und wollte zusehen, so zu spielen, dass er sein eingewechseltes Startkapital zumindest verdoppeln konnte. Dann würde er seinem alten Herren sagen, dass er seine Lektion gelernt hatte, aber ihm zumindest nicht den nächsten Monat lang auf der Tasche liegen musste.
Tatsächlich schaffte er es, durch Einfachchancen und Nachbarschaftsgruppenspiele auf 4000 Dollar zu kommen. Die Dame in Rot indes hatte bald an die 100.000 Dollar in Getons vor sich liegen, weil sie entweder die 17fache Chance spielte oder zwischendurch doch wieder auf eine Einzelzahl setzte.
Steinbeck deutete mit dem Rateau auf die hinter Piazelli hängende Wanduhr. Sie zeigte eine Minute vor Mitternacht. Dann sah er die Dame in Rot an. "Setzen Sie auf Ihren guten Geist der Mitternacht, Ma'am", sagte er. Das gleiche riet er auch Piazelli. Dieser wollte jedoch nicht gleich alle 4000 Dollar auf eine Zahl oder Zahlengruppe setzen, sondern erst mal nur 3000 Dollar. Er hoffte, dass ihm Steinbeck nun doch noch das längst fällige Glück bescherte. Die scharlachrote Lady mit dem Glitzergürtel pickte sich aus ihrem Haufen Getons die mit den höchsten Werten heraus und warf sie alle auf eine der beiden Zahlen, auf die Piazelli gesetzt hatte. Der Haufen wuchs in eine schwindelerregende Höhe und endete bei 75000 Dollar. Wenn die Zahl kam konnte die Frau über zwei Millionen Dollar einstreichen. Er setzte die 3000 Dollar und würde bei einer der zwei Zahlen 51000 Dollar zu seinem Einsatz dazukriegen. Wenn Steinbeck das gute Verhältnis zu seinem Boss und Piazellis Vater wichtig war würde er also die andere verlieren lassen, so hoffte Lorenzo Piazelli. Dann rollte die Kugel. Steinbeck kostete die Minute bis Mitternacht fast bis auf die letzte Sekunde aus. Gerade bimmelte der Stundengong, als die Kugel in eines der Fächer viel. Es war die Zahl genau neben der, die die Dame in Rot genommen hatte, aber genau eine der zwei, die Lorenzo gewählt hatte. Damit hatte er gewonnen und bekam 51000 Dollar dazu. Da sah ihn die exotisch getönte Spielerin herausfordernd an und deutete auf ihren verbliebenen Getonbestand. "Na, wie viel wollen Sie jetzt davon riskieren, Monsieur?" fragte sie. Lorenzo Piazelli prüfte seinen Gewinn. Er könnte jetzt alles auf eine Zahl setzen. Doch eine innere Stimme warnte ihn, sich nicht verlocken zu lassen. Der Abend lief nicht so, wie er es gewohnt war. Die Dame wollte ihn garantiert verleiten, sein erspieltes Kapital zu verzocken. So setzte er gerade mal so viel, dass er sein doppeltes Startkapital zurückbehielt. Er setzte auf die 32, das achtfache seiner Glückszahl. Die Lady in Rot setzte auf die 27, schön weit von der 32 weg. Willy hatte es jetzt wortwörtlich in der Hand, ob er und sein Boss noch einmal Ärger mit Lorenzos altem Herren kriegen wollten oder nicht.
Der Kessel rotierte. Die Kugel kreiselte darin herum. Da die zwei die einzigen waren, die an Tisch vier spielten konnte Steinbeck das Spiel jederzeit beenden. Doch er kostete es aus, dieses eine Spiel laufen zu lassen. Dann sagte er endlich "Riäng nö va pluuh!". Der Kessel hörte sich zu drehen auf. Die Kugel kullerte und hopste vom Restschwung getrieben darin herum und landete auf "Vengsätt Rudsch Ömpär e pass, siebenundzwanzig Rot Ungerade und obere Zahlenreihe."
Piazelli Junior sah, wie sein Einsatz von 30000 Dollar von Steinbeck eingesackt wurde. Wenn der ihn hätte gewinnen lassen hätte dieser Volltrottel doch fünf Prozent vom Endgewinn als Sonderleistungshonorar einbehalten. Dafür bekam die Frau in Rot jetzt für 50000 eingesetzte Dollar 1,75 Millionen Dollar, nicht bar, aber immerhin, sofern sie das Geld nicht zum Weiterspielen einsetzen wollte. Piazelli starrte den Croupier und die andere Spielerin an und meinte zu begreifen, dass sie ihn hier gerade ganz heftig vorführten. Fast wäre er drauf eingestiegen, alles zu setzen. So hatte er wenigstens noch 20000 Dollar übrig. Doch er wusste, dass er die jetzt nicht noch verspielen würde. Heute sollte es nicht sein Spiel sein. Die andere hatte sicher bessere Referenzen als er, oder sein alter Herr hatte was mit den anderen Betreibern ausgekungelt, dass sein Kronprinz heute mal Lehrgeld zahlen sollte. Gut, dass er doch noch auf seine innere Stimme gehört und nicht alles verzockt hatte. Aber er würde sich mit seinem Vater noch mal unterhalten, ob der das echt so gefingert hatte.
"Die guten Geister waren mir heute nicht hold", sagte Piazelli. Er beglückwünschte die andere und riet ihr, den Gewinn möglichst schnell außer Landes zu schaffen, bevor Onkel Sam mitbekam, dass da mal wer eben bald zwei Millionen Dollar erspielt hatte. Dann verabschiedete er sich.
"Sir, Kommen Sie gut nach Hause, Sir, und vielen Dank, dass Sie unseren Club besucht haben", rief ihm Steinbeck in berufsmäßiger Höflichkeit hinterher, obwohl er diesmal keine Glücksbeteiligung für das Personal abgedrückt hatte wie beim letzten mal, wo er von knapp einer Million Dollar fünfzigtausend unter das Personal geworfen hatte. Aber diese 20000 Dollar, die er noch zurückbehalten hatte wollte er nach Hause tragen und bis zur Öffnung seiner Bank im Tresor verstauen.
Er verließ den Roulettesaal mit einem Pokergesicht, das nicht verriet, wie heftig er sich über diesen Abend ärgerte.
"Öhm, möchten Sie noch weiterspielen, Ma'am?" fragte Willy Steinbeck die verbliebene Spielerin. "Der junge Mann hat recht. Man soll sein Glück nicht überreizen. Wo und wie muss ich den Gewinn einlösen?" fragte sie. Der Croupier, der selbst mit etwas haderte notierte den Gewinn und verkündete, dass er gemäß der Vorschrift, bei Einzelgewinnen über 500000 Dollar den Tisch für wen anderes freigeben musste, die glückliche Spielerin zum Einwechseln ihres Gewinnes begleiten konnte.
Mit der Frau in Rot ging er zur Kasse, wo sie nach Hinterlegung ihrer Personaldaten und ihrer Wohnadresse in San Francisco einen Scheck über 1,8 Millionen Dollar erhielt. Den könne sie jedoch erst bei Öffnung der Banken einlösen und solle daher sehr, sehr vorsichtig auf dem Heimweg sein. Sie wurde gefragt, ob sie den Scheck nicht im Safe des Kasinos hinterlegen und morgen früh um neun Uhr wieder abholen wolle. Sie erwiderte darauf: "Morgen früh um neun geht bereits mein Flugzeug nach San Francisco. Da werde ich den Scheck einlösen. Wenn ich ihn gut genug verstaue ist er zwischen anderen Papieren unauffällig."
"Wir haben es Ihnen nur angeboten", sagte der Kassierer und rief noch bei Mr. Connor an. "Schecks in dieser Höhe müssen von unserem Geschäftsführer gegengezeichnet werden, damit alles seine Ordnung hat", sagte der Kassierer. Die Spielerin in Rot verstand. Sie wartete geduldig, bis Connor herunterkam. Er schien sich zu wundern, dass er die Frau in Rot sah. Diese begrüßte ihn höflich und erwähnte, dass sie es nicht bereute, von Mr. Silvermoon auf diesen Club gebracht worden zu sein. Steinbeck erkannte, dass Connor sichtlich unterwürfiger auftrat. Natürlich unterschrieb er den Scheck und bot der glücklichen Spielerin ebenfalls an, ihn bis zum nächsten Morgen zu verwahren. Doch sie lehnte es ab und erwähnte die frühe Rückreise nach San Francisco. Sie erwähnte auch, dass sie übermorgen schon in Shanghai erwartet würde. Das schien Connor noch mehr zu beeindrucken, erkannte Steinbeck. So durfte die fremde mit einem einfachen Stück Papier, das so viel wie ein herrschaftliches Haus an Floridas Küste wert war das Kasino verlassen. Connor winkte Steinbeck hinter sich her zum Personallift und fuhr mit ihm nach oben.
"Da hatten Sie wohl starke Gewissensnöte, wem von den beiden Sie heute zum Glück verhelfen durften, was, Willy? Aber ich wundere mich, dass Mr. T. mir nichts von einer von ihm empfohlenen Besucherin erzählt hat. Aber sie hat die richtigen Codewörter benutzt, um klarzustellen, dass sie von ihm kommt."
"Das hat sie vorhin bei mir auch. Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht von Mr. T.s guten Geschäftsfreunden kommen mag. Aber ich habe das erst nicht gewusst. Dennoch hat es nicht geklappt, dass der junge Piazelli wieder so abgeräumt hat wie beim letzten mal. Irgendwie war die Anlage nach dem Probelauf verstellt, und ich konnte sie unmöglich prüfen, wo die zwei Geschäftspartner von Mr. K. dabeistanden."
"Also, Sie haben die Frau nicht absichtlich gewinnen lassen?" fragte Connor. "Nein, bis die mir die Kennwörter für die beiden Mitternachtsspiele gab habe ich die für eine gewöhnliche Spielerin gehalten, die von unseren Mitgliedern eingeladen wurde. Ich kann Patti aus dem Sicherheitsteam fragen, von wem sie unsere Adresse und die grüne Gastmitgliedskarte hatte."
"Öhm, sie hat die Codwörter genannt, die Taggert mir für seine besonderen Gäste mitgegeben hat, Willy. Rühren wir besser nicht weiter im Kessel. Aber Sie haben die Kamera auf Vorgestern geschaltet, bevor Piazelli Junior an Tisch vier kam?" "Natürlich, noch bevor die Frau in Rot ankam. Das Abkommen ist ja so, dass besondere Gäste nicht auf unserer Überwachungsvideoplatte auftauchen dürfen."
"Gut, dann ist die halbasiatische Dame auch nicht auf den Bildern. Nicht, dass wir deshalb noch Krach mit Mr. T. bekommen hätten." Dann soll die mal den Scheck einlösen und wir schreiben es als Verlust ab. Wenn wir glück haben bleibt es ja in der Familie."
"Was an dem Satz "Sieh zu, dass Lorenzo immer einen Monat lang kein Geld braucht" ist so schwer zu verstehen gewesen, Raymondo?" hörte Ray Connor Don Antonio Piazelli fragen, als dieser ihn anrief. Ray erwiderte fast schon frech: "Dein Sohn hat doch mehr Geld mit aus dem Club genommen, als er hineingebracht hat, Don Antonio. Zwanzig Riesen sind als leicht erarbeitetes Monatsgehalt sehr, sehr komfortabel. Oder hat sich der Figlio bei seinem Pappa beschwert, dass der Goldesel diesmal nicht so viel abgeworfen hat?"
"Wer war die Frau in Rot, von der er mir was erzählt hat, die Willi mit ihrem Augenaufschlag und ihrer angeblich so höllisch scharfen Figur die Sinne vernebelt hat?" wollte Don Antonio wissen. "Eine gute Freundin meines Geschäftspartners vom Pazifikraum, Don Antonio. Zumindest hat sie die richtigen Codewörter gebraucht."
"Ja, und dann hat der gute Willi Steinbeck, der mir genau wie du noch einige Gefallen schuldet ohne Vorwarnung die Abendplanung geändert? - Sage deinem Freund aus dem Pazifikraum, dass an der Ostküste immer noch die guten alten Pionierfamilien aus Europa das Sagen haben und er seine Freundinnen an jedem Tag im Monat zu dir schicken soll, aber nicht an einem zwölften. Kriegst du das hin, ohne von ihm in Sojasoße ersäuft zu werden?"
"Natürlich", sagte Ray Connor. "Lorenzo wollte heute noch mal zu euch hin. Aber ich habe ihm klargemacht, dass er nur an einem Abend im Kalender so viel Glück hat. Ich verstehe aber dein Problem, wo Han Taggert und seine Opiumpfeifen sich über Kortney bei dir mit eingekauft haben. Aber du wolltest ja damals mein Angebot nicht annehmen, Amico mio. Sieh also zu, dass am 12. Dezember keine rote Dame meinem Kronprinzen den Abend verdirbt!"
"Natürlich, Don Antonio", sagte Connor. Dann durfte er sich verabschieden und das Gespräch beenden. Der Zerhacker schaltete sich automatisch ab.
"Ich denke, die Dame sehen wir so schnell nicht mehr im Golden-Chance-Club", dachte Connor.
Han Taggert verzog immer wieder das Gesicht, als er das von Connors Zerhacker heimlich mitgeschnittene Telefongespräch mit Don Antonio Lorenzo nachhörte, das über eine besondere Software in fünf E-Mails mit fünf Verschlüsselungen an ihn weitergeleitet worden war. "Ich soll eine Halbasiatin zu Connor an die Ostküste geschickt haben, damit die an einem frisierten Tisch gegen einen verzogenen Italo-Kronprinzen gewinnt?" dachte Taggert und wählte die Nummer seines Geschäftspartners. Natürlich würde er ihm nicht erzählen, dass der angeblich so supergut verschlüsselnde Schallzerhacker ein gemeiner Spion war. Nein, das stellte er anders an. Er fragte nach den Einnahmen gestern und ob besondere Gäste gespielt hätten. Connor erwähnte nur, dass sie an dem Abend eine Besucherin mit einem goldenen Händchen gehabt hätten, eines der Codwörter, wenn mal wer bei ihm spielte, den Taggert ihm empfohlen hatte. So fragte er, wer genau. Nur zwanzig Männer und drei ihm sehr zugetane Damen kannten die betreffenden Codewörter. Connor erwähnte den Namen, von dem er dachte, dass er für die Reise gewählt worden sei. Taggert erwiderte, dass er diese Frau lange nicht mehr gesprochen habe, aber sie seine grüne Karte wohl doch gerne mal benutzen wollte und wollte wissen, wie viel sie am Ende verspielt oder gewonnnen hatte. Als er die Summe hörte musste er stark mit seiner Selbstbeherrschung ringen. Dann sagte er: "Das ist wahrlich ein goldenes Händchen. Die Frage ist nur, wer es hatte, dein Croupier oder die besagte Dame. Öhm, wenn erstes zutrifft ist es sicher ganz leicht, ihm zu verdeutlichen, dass er bis zum Monatsende sicher die gestern verspielte Summe wieder reinholt. Sage ihm das mit besten Grüßen von Mr. T. Ach ja, und sollte irgendein Kronprinz aus der alten Welt oder ein arabischer Ölscheich bei dir vorsprechen, der mit einer grünen oder goldenen Karte winkt, dann sieh zu, dass der gerade mal einen schnuckeligen Riesen Gewinn macht oder besser sein Spielkapital bei dir im Club lässt. Großzügige Geschenke sollten nicht wie Entenfutter verstreut werden."
"Natürlich nicht", erwiderte Connor. "Gut, wir verstehen uns. Ach ja, und wenn sich wer beschweren sollte, bei euch im Club liefe etwas krumm zieh die rote Karte und sperr ihn oder sie für ein Jahr aus, egal wer es ist!"
"Du kennst die Hausverbotsbestimmungen, Han?" fragte Ray Connor. "Natürlich, Ray. Sieh zu, dass sie dann auch angewendet werden können, wenn es die Lage erfordert! Sonst winke ich dir mit der roten Karte mit der großen schwarzen Sieben drauf."
"Nicht, solange wir immer noch genug einnehmen", sagte Connor scheinbar ungerührt über die unverhohlene Drohung seines Geschäftspartners. Dieser musste sich weiterhin beherrschen. Denn zuzugeben, dass er keine seiner weiblichen Bekanntschaften nach Atlantic City geschickt hatte käme dem Eingeständnis eines Informationslecks gleich. Falls es ein solches gab wollte nur er es finden und gründlich zustopfen, selbst wenn dabei wer über Bord gehen mochte, der ihm bis dahin lieb und teuer war. So sagte Taggert noch einmal, dass es günstig sei, den Verlust vom Vortag im Laufe des Monats wieder hereinzuholen. Dann verabschiedete er sich von Connor. Der hatte jetzt genug zum nachdenken, dachte Han Taggert. Weder er noch Connor wussten, dass jene Dame in Rot bereits andernorts ähnlich hoch gewonnen hatte und über diverse Geheimkonten das erspielte Geld auf ein nicht minder geheimes Konto überwiesen hatte. Auch wussten die zwei Spielclubbetreiber nicht, wie gefährlich es sein mochte, sich mit jener Dame anzulegen.
Sie hatte es geschaft. Neunundvierzigmal hatte sie von dem jeden Monat ihrem Körper entströmenden Blut etwas für die große Mutter Erde und die großen Himmelswächter gegeben, um ihre Verwandten und Volksangehörigen vor der Willkür ihrer verbliebenen Tochter Ladonna zu beschützen. Doch jedesmal, wenn sie Mokusha erneut um Beistand anrief erkannte sie, dass es nicht reichen mochte, um Ladonna in ihre Schranken zu weisen. Lief es wirklich darauf hinaus, dass Ladonna sterben musste? Oder würde es reichen, dass jemand mächtigeres als sie Ladonna unaufweckbar in einen tiefen Schlaf versenkte? Darauf wollte sich Domenica nicht mehr verlassen.
Sie erinnerte sich an Nachtlieds Erzählungen von ihrem Vater Vittorio, den sie damals zum Mann genommen hatte, weil in ihm ein altes Erbe, die Verbundenheit mit den Zaubern von Feuer und Erde, schlummerte. Vittorio hatte behauptet, der Nachfahre jenes göttlichen Wesens zu sein, dass die Griechen Hephaistos und die Römer Vulcanus genannt hatten. Deshalb hatte er auch ein Vermächtnis alter Zeiten erhalten. Das konnte jedoch für Wesen wie die Kinder Mokushas so gefährlich sein, dass Nachtlied es ihrer Tochter Domenica untersagt hatte, danach zu suchen. Doch wenn Ladonna wahrlich auch die Kinder Mokushas vernichten wollte blieb wohl keine andere Wahl, dachte Domenica. Also würde sie, um die mit Giorgiana begangenen Fehler zu berichtigen, auf jenes sehr drastische Mittel zurückgreifen. Doch sie musste sicherstellen, dass kein Zauberer da herankam. Außerdem dachte sie, dass nur eine, die wie Regina und Ladonna die Tochter zweier Mütter war, stark und willens genug war, sich gegen Ladonna zu stellen. Es lag nun ganz und gar bei ihr, darauf hinzuwirken.
Um all das auch für alle Zeiten abzusichern galt es, das letzte Opfer zu bringen. Zur Tag-und-Nacht-Gleiche würde sie dies erbringen. Heute musste sie noch einmal die Mächte von Himmel und Erde anrufen, solange die Nacht noch nicht den Tag verdrängt hatte, doch der Tag schon längst auf dem Rückzug war.
Mit fremdartig klingenden, doch völlig klaren und reinen Tönen besang sie das ewige Band des Blutes und die ewige Verbundenheit zwischen den Kindern Mokushas und den großen Urkräften, die in Himmel und Erde wirkten. Sie fühlte bereits, wie ihr dabei eigene Kraft schwand und durch die ausgeatmete Luft und ihre auf dem Teppich aus Veelahaaren knienden Beine in die Erde abfloss. Sie fühlte das Spiel von Ladungen und Entladungen auf ihrer Haut, hörte das ganz leise Knistern in ihren Haaren, während sie sang und sah die grünen, roten und blauen Funken, die von ihr ausgingen und in den Boden oder in die Decke des Hauses hinaufstiegen. Sie wusste, dass diese Kräfte an einer fernen, nur ihr bekannten Stelle neu gesammelt wurden. Um sie zu erwecken musste sie dort selbst hin.
Als das letzte Licht des Tages im Westen verglomm und sich der dunkle Mantel der Nacht über ihre Heimat ausbreitete besang sie die feste Zusage, für ihr Volk und den Schutz des eigenen Blutes das große Opfer darzubringen, wenn Tag und Nacht sich die Waage hielten. Sie hörte noch, wie der Widerhall ihrer Stimme aus den Räumen ihres Hauses nachklang. Dann fühlte sie, wie sehr sie dieses Ritual angestrengt hatte.
Sie brauchte einige Herzschläge, bis sie sich auf ihre geschwächten Beine hochstemmen konnte. Mit wackeligen Schritten verlies sie den Raum, der als magischer Mittelpunkt ihres Hauses diente. Sie fühlte, dass etwas versuchte, die Schutz- und Verbergezauber ihres Hauses zu durchdringen. Das war ganz sicher ihre auf Abwege geratene Tochter Ladonna. Diese versuchte immer wieder, Spähzauber auf ihr Haus anzuwenden oder ein von ihr unterworfenes Tier als Kundschafter in die Nähe zu bringen. Domenica malte sich aus, wie wütend Ladonna war, dass sie es nicht schaffte, das Haus ihrer Kindheit zu überwachen, ja nicht einmal in dessen Nähe zu kommen. Erst wenn Domenicas Herz nicht mehr schlug würde sie wieder Zutritt erlangen. Doch das würde sie nicht lange erfreuen, dachte Domenica. Denn sie hatte bereits in den letzten vier Jahren, als sie jenes machtvolle Ritual ausführte, sämtliche Niederschriften über ihr Zusammensein mit Giorgiana und alle aufgezeichneten Geheimnisse der Waldfrauen und Kinder Mokushas an jenen Ort geschafft, der ihre geopferten Kräfte beherbergte. Wenn Ladonna nach dem letzten Schlag ihres Herzens in das Haus ihrer Kindheit zurückkehrte würde sie dort nichts vorfinden, was ihr noch mehr Macht geben mochte als das, was sie bereits erlernt und genutzt hatte.
Die Königin, der er diente, hatte ihm und seinen Mitarbeitern dringend geraten, die Zugänge zu den geheimen Beratungszimmern mit Spürzaubern gegen Veelamagie auszustatten, um jene auszusperren oder festzusetzen, die von Veelas abstammten oder bereits von jenem goldenen Licht durchdrungen worden waren, dass angeblich aus der Knechtschaft löste.
Maximilian Arcadi, der amtierende Zaubereiminister Russlands, war sich jedoch nicht sicher, ob diese Vorkehrung hielt. Gerade tappte er wie ein Tiger im viel zu kleinen Käfig in seinem fensterlosen Arbeitszimmer auf und ab. Er erwartete Pjotr Grolenkow, einen begabten Thaumaturgen. Der hatte zusammen mit fünf anderen Zauberschmieden und drei Zauberwesenexperten am Projekt "Reinigendes Feuer" gearbeitet. Heute wollte er den Abschlussbericht hören, ob die erste Vorrichtung, die ein Magielosenverehrer auch als Bombe bezeichnet hatte, fertig war und wie schnell weitere davon hergestellt werden konnten.
Endlich trafen Grolenkow und zwei seiner zugeteilten Fachkollegen und Mitarbeiter bei ihm ein. Arcadi deutete auf eine Karaffe aus kaukasischem Bergkristall, die randvoll mit Wodka gefüllt war und auf die Gläser, die er in weiser Voraussicht bereitgestellt hatte. "Lassen wir uns Nieder, Brüder und trinken auf den kommenden Erfolg, die Befreiung unserer Heimat von den Töchtern und Söhnen der falschen Göttin Mokusha!" sagte er.
Seine Mitarbeiter füllten ihre Gläser und tranken ihrem Vorgesetzten zu. Dann berichtete Grolenkow, dass die ersten drei Vorrichtungen vollendet waren und sie jederzeit auf eine Gruppe zwischen 10 bis 1000 Veelastämmiger angewendet werden konnten. Deshalb gab es erst einmal drei unterschiedlich große Vorrichtungen. Er ließ hierfür ein frei in der Luft schwebendes Abbild der erwähnten Vorrichtung erscheinen.
Die Apparatur, mit der große Veelagruppen ausgelöscht werden sollten, wirkte wie eine Kreuzung aus Klatscher, Schnatz und Quaffel. Sie war doppelt so groß wie der Kopf eines erwachsenen Mannes, kugelrund und glomm von innen her dunkelrot. Außen saßen vier tiefrote Flügel, die langsam auf- und abwippten. Grolenkow beschrieb, dass die Veelablutentzündungsvorrichtung auf ein Ziel auf der Erde eingestimmt und durch die Luft dorthin geschickt werden konnte. Hatte sie das Ziel erreicht konnte sie für Menschenaugen unsichtbar darüber kreisen, bis eine vorbestimmte Anzahl von Veelas oder Veelastämmiger am Ziel versammelt war. Dann würde sie wie ein niederstoßender Greifvogel herabsausen und in zehnfacher Menschenhöhe ihre vernichtende Kraft freisetzen. Sicher, dabei würde sie selbst vergehen. Doch alle mit Veelablut in den Adern würden wie aus einem inneren Feuer heraus entflammen und zu nichts als Asche und Dampf vergehen. Die Wirkungsfläche sollte laut Grolenkow die eintausendfache Ausdehnung des Weltmeisterschaftsendspielstadions von 1954 erreichen und bis zu einhundert Meter tief in den Boden reichen. Allerdings mochte es sein, dass alle Nichtveelas durch die freigesetzte Vernichtungskraft bestärkt oder verändert wurden. Ebenso räumte Grolenkow ein, dass die Vorrichtung nicht unter Wasser oder über einem großflächigem Gewässer eingesetzt werden sollte, da Wasser die Eigenschaften der Vernichtungskraft verändern konnte. "Es ist wie mit dem Vollmond, der von einer einfachen Wolkenbank verdeckt werden kann und so die im Mondlicht wirkende Zauberkraft unterbindet. Außerdem ist der Zauber eine Verschmelzung aus Wasser- und Feuerzauber, weil er auf bestimmtes Blut wirkt", sagte Grolenkow.
"Wir wissen, dass sich alle Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen aus den uns bekannten Gebieten zurückgezogen haben", sagte Arcadi. "Selbst die aus Bulgarien, Rumänien und Polen stammenden Veelas und Veelastämmigen haben sich irgendwo versteckt. Kann deine Vorrichtung nicht auch so wirken wie das blaue Todeslicht, das die Fortpflanzungserzwinger gegen Werwölfe entwickelt haben, Pjotr?" fragte Arcadi. Grolenkow schüttelte den Kopf. "Das war ja unsere erste Intention, Minister Arcadi. Wir wollten so eine lenkbare Strahlenquelle erzeugen, die wir bedenkenlos über das Land schicken und jeden von ihr getroffenen Träger von Veelablut erreichen können, ohne mehrere Vorrichtungen zu benötigen. Doch es scheiterte daran, dass die Vernichtungskraft immer spontan freigesetzt wurde. Wir haben es bis heute nicht erreicht, sie gleichmäßig aber dauerhaft freizusetzen. Daher haben wir diese Ausführung gewählt, die zu einem bestimmten Ziel hinfliegt, wartet und bei vorgegebener Anzahl von Zielwesen zündet. Öhm, darf ich fragen, ob unsere Kundschafter mittlerweile wissen, wo jene Insel ist, auf die sich die Veelas zurückziehen, die angeblich ihrer aller Geburtsstätte war?"
"Wir sind immer noch dabei, sie zu finden. Da sie vor Nichtveelas verborgen wurde müssen wir herausfinden, wie die Unortbarkeit überwunden und ihr Standort genau erkannt werden kann", grummelte Arcadi. "Dazu verteilen andere Arbeitsgruppen gerade unsichtbare Spähvorrichtungen über dem schwarzen Meer. Bulgarien, die Türkei, Rumänien und die Ukraine haben uns erlaubt, auch über ihrem Hoheitsgebiet solche Flugspäher einzusetzen. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass deine Arbeit nicht ganz so geheim stattfand wie wir es hofften. Also könnten die Veelas und ihre Sympathisanten bereits wissen, dass wir eine großangelegte Vernichtungsaktion planen. Denen wird daran gelegen sein, die Pläne und die bereits fertigen Vorrichtungen zu erbeuten, um sie zu erforschen oder besser gleich weit ab von Veelabluttragenden zu vernichten. Daher ist es ja so wichtig, diese Insel von denen zu finden, wo sich gerade in dieser Jahreszeit auch deren Ältestenrat treffen soll. Es wäre ein überragender Erfolg, wenn wir nicht nur einfache Veelablutträgerinnen und -träger erwischen, sondern gleich alle Mitglieder jenes Ältestenrates auslöschen könnten. Doch offenbar unterliegt jene geheime Insel anderen Schutz- und Verhüllungszaubern als das, was wir kennenund was Grandchapeau damals genutzt hat, um seine Gegenspieler von der Elfenbeininsel aufzuspüren. Doch ich bin zuversichtlich, dass wir diese Verhüllung auch noch durchdringen werden. Ab dann können wir die Botschaft verbreiten, dass wir jede uns feindlich gesinnte Veela oder deren Nachkommen an jedem Ort der Welt finden und vernichten können", sagte Arcadi. Dass er innerlich sehr angespannt war, weil Mokushas Insel eben nicht so leicht gefunden werden konnte behielt der auch ohne Ladonnas lenkenden Einfluss durchtriebene Zaubereiminister für sich. Auch verriet er nicht, dass er mit dem Gedanken spielte, die erste Vorrichtung über Frankreich einzusetzen, um den dort lebenden Veelastämmigen den Boden unter den Füßen wegzuziehen und dem dortigen Zaubereiministerium zu zeigen, dass sein Inseldasein nicht mehr lange währte. Dieses wäre jedoch auch eine Warnung an jene, die sich auf Mokushas Insel zurückzogen. Diese wollte er jedoch auf jeden Fall treffen. Es mochte reichen, den ungefähren Standort zu kennen. Doch mit der doch nicht so großen Flächenabdeckung war es schwierig, alle dort versteckten Veelas auf einen Schlag zu erledigen. Am Ende musste er doch über seinen langen und breiten Schatten springen und sich aus dem Wahnsinnsarsenal der Nichtmagier einer jener auf Wasserstoffkernverschmelzung gründenden Massenvernichtungsbomben beschaffen und diese über dem schwarzen Meer zünden.
"Ihr habt die drei Vorrichtungen, von der kleinen Familienbombe bis zur Großflächenabdeckungswaffe. Wie viele von den großen könnt ihr in den nächsten Wochen nachbauen, Pjotr?" wollte der russische Zaubereiminister wissen.
"Es wäre günstig, wenn wir die kleinste Vorrichtung testen, ob sie auch tut, was wir wollen", warf Pjotr Grolenkow ein. Das Veelaverzeichnis hat doch sicher Berichte, wo außerhalb Russlands Familien mit Veelaanteil wohnen, England oder Frankreich."
"Ich dachte, ihr hättet die Waffe schon an einzelnen Veelas ausprobiert", wandte Arcadi ein. Grolenkow nickte schwerfällig. Dann sagte er: "Ja, bevor die Massenflucht einsetzte. Das waren aber Laborbedingungen, kein Feldergebnis."
"Tja, dann müsst ihr eben warten, bis ein lohnendes Ziel erfasst wurde", erwiderte Arcadi. Dann wiederholte er seine Frage nach der Produktionsrate. "Also, wenn die Waffe tut, was sie soll, Gosbodin Arcadi, dann können wir, vorausgesetzt der Handels- und Finanzleiter des Ministeriums rückt jedesmal ein Viertelpfund Gold für die größten Ausführungen heraus, in einem Monat bis zu fünf Vorrichtungen herstellen. Allerdings haben wir in den Archiven von konservierten Proben von Veelas gerade nur Material für zehn weitere Vorrichtungen der größten Ausführung, falls Sie nicht hundert auf kleinere Gruppen anwendbare Vorrichtungen wünschen. Mehr geht dann nicht", erwiderte Grolenkow.
"Gut, Pjotr. Du hältst die ersten Vorrichtungen und die Bau- und Bezauberungspläne weiterhin unter Verschluss, bis wir sicher wissen, wo sich mindestens hundert Veelas verstecken, bestenfalls deren Insel erkannt haben", legte der russische Zaubereiminister fest.
"Minister Arcadi, wenn die Insel von einem Ausschlusszauber umgeben ist, der nur durch Träger von Veelablut teilweise durchlässig gemacht werden kann?" fragte einer von Grolenkows Mitarbeitern. "Wir haben bis heute noch keine Möglichkeit, einen vollständigen Exklavenzauber zu orten und ohne genaue Einhaltung der vorbestimmten Bedingungen zu durchdringen."
"Natürlich, dann wäre die Insel nicht im gewohnten Raum-Zeit-Gefüge, sondern in einer Ausbuchtung davon, einer Blase außerhalb der übrigen Raumrichtungen. Können die reinrassigen Veelas sowas?" fragte Arcadi einen seiner Zauberwesenexperten. Dieser nickte heftig. Grolenkow bat noch einmal ums Wort. "Das wäre kein Problem, weil unsere Vorrichtung ja eben auf Veelablut abgestimmt ist und eine entsprechende Ausstrahlung abgeben kann, wenn wir das wollen. Doch dann will die in ihr enthaltene Kraft innerhalb einer Stunde freigesetzt werden, haben wir bei unseren Versuchen ergründet."
"Gut, ich will diese Insel treffen. Also gilt, dass wir den ungefähren Standort kennen und die Vorrichtung selbstständig dort hinfliegen lassen, richtig?" wollte der russische Zaubereiminister wissen. Seine Mitarbeiter bejahten dies. Somit wurde beschlossen, dass bis zum Monatsende der mögliche Lageort der Insel Mokushas ermittelt und in die Steuerungsbezauberung der ersten Veelavernichtungsvorrichtung eingeprägt werden sollte.
Die Rosenkönigin durchwanderte den tief unter der Villa angelegten, stets auf einer angenehm kühlen Temperatur gehaltenen Keller. Vorher hatten hier meterlange und -hohe Regale mit einträchtig nebeneinander und übereinanderliegenden Weinflaschen gestanden. Dann hatten in den Ecken auch vier große Fässer gestanden. Ja, ihr Leibeigener Luigi hatte vor dem Zusammentreffen mit ihr immer wieder ausschweifend und feuchtfröhlich gefeiert. Doch seit er ihr gehörte und sowieso jeden Sinn für ausgiebige Feiern verloren hatte brauchte er seine vielen teuren Weine nicht mehr. Ladonna hatte sie allesamt in einer wahren Nacht-und-Nebel-Aktion in den Arno gekippt, bis auf zehn besonders wertvolle Flaschen, die für besondere Gelegenheiten aufbewahrt werden sollten. Der so freigewordene Platz im Weinkeller diente ihr nun als private Schatzkammer und Arbeitsstätte für alchemistische und thaumaturgische Studien.
Im Lichte ihres Zauberstabes sah Ladonna den sarkophagähnlichen Steinbehälter, der durch starke Erdzauber gegen Feuersglut und Zerstörungskräfte geschützt war. Darin lagerten ihre wichtigsten Errungenschaften wie die Schätze aus Ägypten, sowie das Buch aller Hexensprüche von Dysmonia Feuerkruger und die beiden Zauberspiegel und die zusammengerollten Karten der magisch wirkmächtigsten Standorte Europas, Afrikas und westasiens.
"Bald wird Mokushas Volk vom Erdboden getilgt. Alle seine Kraft wird dann nur noch mir zufließen. Dann werde ich den Frieden der Feuerrose endlich auch in alle noch dagegen aufbegehrenden Länder tragen können", dachte Ladonna. Sie dachte daran, dass ihre Anweisungen an Arcadi und seine Leute umgesetzt wurden. Allerdings mochte die daraus entstandene Waffe nicht die große Durchschlagskraft haben wie eine nichtmagische Wasserstoffbombe. Doch sie setzte auf die Seelenwirkung dieser Waffe. Wenn diese an wichtigen Plätzen der Veelas eingesetzt wurde mochte das Angst, Schrecken und Frustration in die Herzen der anderen treiben. Vielleicht boten sie ihr dann sogar Unterwerfung an. Doch Ladonna wollte sich nicht in diese Illusion versteigen, dass Mokushas Kinder von heute sie am Ende doch noch als ihre wahrhaftige Königin anerkennen würden.
Auch wenn sich Ladonna sicher war, dass ihr Schatzkeller durch den Blutfeuernebel größtenteils unbetretbar für ihre Feinde war musste sie doch Vorkehrungen treffen, wenn doch mal wer wenn auch für kurze Zeit hier eindringen mochte. Hierfür wendete sie jenes Mittel an, mit dem sie vor sieben Monaten Angst und Chaos in Europa verbreiten konnte, um die Ministerien dazu zu treiben, doch noch Zusammenkünfte zu vereinbaren, auf denen sie ihre Feuerrosen hatte erblühen lassen.
Als sie damit fertig war kehrte sie in die oberen Etagen zurück. Dort weckte sie das Hauspersonal, damit sie und ihr Leibeigener, der offiziell noch der Hausherr dieser Villa war, frühstücken konnten.
Es war ihre eigene Entdeckung. Nicht mal Giorgiana hatte davon was gewusst. Und das kam ihr nun zu Pass. Denn diese viele tausend Jahre alte Höhle tief unter den Bergen im Nordosten der dreieckigen Insel südwestlich der italienischen Halbinsel bündelte die natürlichen magischen Kräfte des Meeres und der Tiefen der Erde. Auch Stränge der unbändigen Feuer, die auf dieser Insel immer wieder aus dem großen Berg entfuhren, führten unter dieser Höhle hindurch. Damit war sie ein vollkommener Ort für die auf die vier Weltkräfte ausgerichteten Zauber der Kinder Mokushas. An diesem Ort hatte Domenica ihre ganz eigenen magischen Erzeugnisse untergebracht, die noch aus der Zeit stammten, wo sie nicht mit Giorgiana zusammen war. Ebenso verbarg sie hier das Erbe ihres reinmenschlichen Vaters Vittorio.
Höher als das Hauptschiff einer christlichen Bischofskirche, weitläufiger als das Forum Romanum, erstreckte sich Domenicas geheime Höhle in das Gesteinsmassiv. Nur drei schmale Eingänge führten hier hinein und wieder hinaus und sorgten für eine stetige Frischluftzufuhr. Vor zehn Jahren hatte sie vor jeden Eingang einen Vorhang aus Neumondkraft und Windzauber gewoben, der auf nur ihr Blut allein abgestimmt war. Zusätzlich war dieser Ort mit einem Zielabweisezauber versehen, der die Ankunft des zeitlosen Schrittes vereitelte. Nur wer den richtigen Ort kannte, um aus dem zeitlosen Sprung herauszukommen vermochte näher als eine halbe Meile an diese geheime Höhle heranzukommen.
Domenica Montefiori durchquerte ihr ganz eigenes Reich. Sie fühlte die von ihr mit Blut und Gesang verstärkte Magie. Dann näherte sie sich im Schein ihres Zauberstablichtes einem aus Granit herausgearbeiteten Sockel, auf dem eine aus schwarzem Marmor geschaffene Statue thronte, die anderthalbmal so groß wie Domenica war und ihre Körperformen und Gesichtszüge trug. Die steinerne Nachbildung war in Hockstellung geformt, als stehe sie unmittelbar vor einer Niederkunft. Das von Domenica in fünf Jahren sorgfältig geschaffene Standbild begann zu glühen, als seine Erschafferin näher als zehn Schritte kam. Die Augen der steinernen Nachbildung schienen zum Leben zu erwachen und richteten sich auf die Eigentümerin dieses unterirdischen Saales. Domenica sah, wie die Statue immer stärker erglühte. Das aus ihr strahlende Licht schwankte im Gleichmaß mit ihrem eigenen Herzschlag.
Hier und jetzt würde sie vollziehen, was sie eigentlich für nicht nötig gehalten hatte. Ein wenig bangte sie davor. Denn wenn sie diesen Schritt tat wurde sie selbst zur ewigen Gefangenen ihres eigenen Werkes.
Domenica lauschte. Sie wollte nicht ausschließen, dass Ladonna oder deren neue Schwestern sie weiterhin überwachten, sobald sie das schützende Haus bei Florenz verließ. Doch sie erfasste keine fremde Ausstrahlung. Auch wenn sich veelastämmige Wesen vor ihresgleichen verbergen konnten würde dies in der weitläufigen Höhle nicht gelingen, weil diese von der Lebenskraft Domenicas durchtränkt war.
Domenica dachte noch einmal daran, dass sie in den letzten drei Jahren heimlich kleinere Nachbildungen ihrer Selbst, in die sie Blut- und eigenes Haar eingeschlossen hatte, auf diese große Statue abgestimmt hatte. Sollte eintreten, was sie eigentlich nicht erhoffte, so würden diese ihre Aufgabe erfüllen. Doch dafür musste sie hier und jetzt den entscheidenden, unumkehrbaren Schritt vollziehen.
Dieser begann damit, dass sie aus nur von ihr zu berührenden Truhen drei Gegenstände nahm und diese zwischen die Füße der hockenden Statue legte. Wenn das nun folgende den gewünschten Erfolg hatte würden die drei Gegenstände in den Leib ihres marmornen Ebenbildes hineingezogen und dort bis zum Tag der Entscheidung aufbewahrt.
"Mutter Mokusha, erste und größte deines erhabenen Volkes, ich erbitte deinen großen Segen und deine Gnade für das, was ich nun zu tun habe", rief Domenica laut, dass es von den fernen Wänden und der Decke mehrfach widerhallte. Dann näherte sie sich der Statue auf dem Sockel. Dabei zog sie aus einer Schlangenlederscheide an ihrem Gürtel einen Dolch, dessen Klinge aus dem Eisen stammte, das bei der Schmelzung von Feuerbergerz freigelegt wurde. Somit besaß die Klingenwaffe eine Beziehung zwischen Feuer und Erde.
Andächtig schritt Domenica auf ihre Schöpfung zu, immer darauf lauschend, dass die Stammmutter Mokusha ihr doch noch Einhalt gebieten mochte. Domenica hielt es wenigstens für möglich, dass der Geist der ersten Mutter doch noch irgendwie über ihre Kinder und Kindeskinder wachte. Doch hier und jetzt erhielt sie keine Antwort, nicht mal einen gestrengen Zwischenruf. So konnte sie den knapp eine ganze Länge aufragenden Sockel besteigen und zwischen den Füßen der Statue niederknien. Neunundvierzigmal hatte sie bisher den Mund des Standbildes mit ihrem Monatsblut gefüllt und die nötigen Beschwörungen des fruchtbaren Lebens gewirkt. Nun galt es, ihr auch den ganzen Rest ihres Blutes und damit ihres Lebens zu übergeben.
Sie begrüßte die Statue, die ihre Arme weit ausgebreitet hielt und deren Hände wie die Schalen einer im Gleichgewicht befindlichen Waage flach und genau waagerecht nach oben gekehrt waren.
Noch einmal sah Domenica alle guten und weniger angenehmen Zeiten vor ihrem inneren Auge. Die Schulzeit in der Gattiverdi-Akademie, wo sie als Tochter einer schwarzhaarigen Veela seltsam bis verächtlich angesehen und behandelt worden war, ihre Erkenntnis, dass sie sich geschlechtlich zu Frauen hingezogen fühlte, die Entdeckung, dass Giorgiana ebenso wie sie empfand, die Versuche, die am Ende zu Reginas und acht Jahre darauf zu Ladonnas Zeugung und Geburt geführt hatten, wie Giorgiana ihren Geist in den gerade ihrem Schoß entkriechendem Mädchen verankerte und somit von Geburt an allen anderen überlegen war. Sie sah das ihrer Meinung nach völlig widersinnige Duell zwischen Ladonna und ihrer leiblichen Schwester Regina. Sie hörte Reginas geistigen Todesschrei, der abrupt endete, wohl weil ihre Kraft auf die siegreiche Schwesternmörderin übersprang. Wegen dieses ungewollten Schwesternduells war sie nun hier in ihrer Schatzhöhle.
"So lebt denn wohl, alle Freunde und Verwandten. Hoffet, dass jene, die ich mit erbrütete, niemals mein Vermächtnis offenbaren und zur Geltung bringen mag", sagte Domenica. Erste Tränen standen in ihrem Gesicht. Jetzt wusste sie, worauf sie sich da einließ. Doch wenn sie es nicht tat mochte Ladonna wortwörtlich Blut lecken und alle ihre Veelaverwandten umbringen. Besser war es, sie gab sich selbst den Tod.
Ohne eine weitere Verzögerung rammte sich Domenica die Klinge zwischen Brustkorb und Bauchnabel in ihren Körper. Danach warf sie sich der von ihr geschaffenen Statue in die Arme. Ihr Blut übergoss die Füße der Statue und die dazwischen ausgelegten Gegenstände, die Beine, den Unterleib und den Oberbauch der Frau aus Stein. Dann drückte sie ihren ganzen nackten Körper gegen das Gestein, das sich jetzt nicht kalt anfühlte, sondern wohlig warm wie von der wärmenden Morgensonne beschienen. Sie schrie vor Schmerz und Freude auf, als sie erkannte, dass die mächtige Statue ihre Arme bewegte und Domenica umschloss. "Una simus! Una in Nomine vitae filiarum et filiorum Mokushae!" rief sie in einer Mischung aus Todesqual und Entschlossenheit aus. In der Veelasprache dankte sie ihrer Mutter und beschwor ihre Gnade, ihre Lebensgabe nicht selbst einzufordern. Dann umarmte die Steinerne die aus Fleisch und Blut bestehende Domenica. Für außenstehende Beobachter bot sich ein sowohl grauenvolles wie faszinierendes Schauspiel. Domenicas Körper schien im blutroten Schein der Statue zu zerfließen, und alles, was ihr entfloss verschwand unter der steinernen Oberfläche der Statue. Diese wurde noch heller, hielt die in sie einfließende Domenica in einer scheinbar liebevollen umarmung umschlungen. Dann wurden die beiden wirklich und wahrhaftig eins. Domenica und ihre Statue wurden zu einer geisterhaft durchscheinenden Erscheinung, in der Domenicas letzte Lebensströme wie mehrere verkleinerte Flüsse wirkten. Die von ihrem letzten Blutopfer getränkten Dinge schwebten nach oben und drangen in den durchscheinenden Unterleib der Marmorstatue ein. Dann, mit einem letzten Ruck, riss die auf dem Sockel aufgestellte Statue ihre Arme auseinander und stieß einen langen, vielfach widerhallenden Freudenschrei aus. Dann erstarrte sie wieder zu leblosem Gestein. Auch das Glosen aus ihrem Körper war fort. Das letzte Opfer, die freiwillige Gabe des eigenen Lebens an ein mit dem Blut der Fruchtbarkeit getränktes Abbild einer Hexe, stand nun bereit. Keiner von außen konnte sehen, dass Domenicas Sinne aus jener steinernen Erscheinung heraus ihre weitere Umgebung überwachten. Bestimmte Schwingungen würden veranlassen, dass jemand Alarm schlug. Außerdem würden die kleinen Mitbringsel dann ihre Tätigkeit aufnehmen, wenn der Zeitpunkt dafür sicher feststand.
Das siebte Treffen ihrer neuen Schwesternschaft war ein voller Erfolg. die Länder der italienischen Halbinsel gehörten praktisch nun ihr, auch wenn die magielosen Herren in Neapel, Pisa und Venedig und vor allem die Götzenanbeter aus Rom dies noch nicht gewahrten. Ladonna Montefiori, die Königin der Hexen, war fast am Ziel ihrer Wünsche, ihrer Vorbestimmung.
Sie hatte diese Höhle mit allen ihr bekannten Zaubern gegen Feinde und feindliche Angriffe gesichert. Hier konnte sie ihre Mitschwestern hinbestellen, wann immer sie wollte. Von hier aus würde eine neue, freie Weltordnung Gestalt annehmen. Doch sie wusste auch, dass sie Widersacher und Widersacherinnen hatte, die ihren Weg versperren und ihr nach Freiheit, Leib und Leben trachten würden. Darum war es ja für sie so wichtig, eine sichere Festung zu besitzen. Sicher, als naturverbundene Hexe, die vom Leben gesunder Bäume und dem frei wehenden Wind unter freiem Himmel zehren mochte war der Rückzug in eine unterirdische Zuflucht ein gewisses Schwächeeingeständnis all denen gegenüber, die sie am liebsten gestern schon entmachtet hätten. Doch hier unten konnte sie alle von Erde, Wasser und Feuer herrührenden Kräfte bündeln und ihr dienstbar machen.
Gerade wollte Ladonna in jenes Waldstück zurückkehren, in dem sie ein Baumhaus gebaut hatte, als sie den aus der Ferne klingenden Schrei einer Frau hörte. Sie erkannte die Stimme, die Stimme ihrer zweiten Mutter, die sie mit ihrem früheren Sein Giorgiana gezeugt hatte. Der Schrei erklang nicht durch die Luft, sondern klang in ihrem Geist, ließ ihre Seele und damit auch ihren Leib nachschwingen. Sie sah für wenige Herzschläge das Gesicht ihrer Mutter vor sich, von blutroten Blitzen umzuckt. Dann löste sich das Gesicht in eine Wolke aus frei schwebenden Blutstropfen auf, die in alle Richtungen davonwirbelten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Ladonna fühlte einen stechenden Schmerz durch Kopf, Herz und Unterleib gehen. Da wusste sie, dass ihre zweite Mutter gerade gestorben war. Ihr rein geistiger Todesschrei hallte vielfach und langsam leiser werdend in ihrem Inneren nach. Doch sie hatte auch den Eindruck, dass es nicht nur der Schmerz des eintretenden Todes war, die Loslösung der Seele ihrer Mutter, sondern auch eine Spur von Triumph, ja Euphorie mitschwang. Dann, als der immer weiter verhallende Schrei knapp über der Lautstärke ihrer eigenen Gedanken war, endete der Widerhall so plötzlich, als habe jemand ihrer aus dem Leben geschiedenen Nährmutter den Mund verschlossen. Ja, sie meinte auch, nicht einen Namen zu hören, wer ihr den tödlichen Schlag zugefügt hatte. War es so, dass ihre Mutter Domenica sich etwa selbst den Tod gegeben hatte, wohl um Buße für angebliche Untaten zu tun? Ladonna horchte auf. Da vernahm sie die Stimmen von Nachtlied und anderen Blutsverwandten von ihr. "Domenica! Wer hat dich getötet?" Ladonna lauschte und hielt ihre eigenen Regungen zurück. Falls diese dummen Weiber aus Mokushas Nachtvolklinie dachten, sie, Ladonna, hätte nach der großen Schwester auch ihre Nährmutter gemordet, würde sie womöglich von blutrachewütigen Veelastämmigen heimgesucht. Doch die geistigen Rufe, die wie gesungene Töne klangen, brachten Domenica nicht dazu, etwas zu verkünden. Ja, üblicherweise konnten Veelastämmige beim Tod von Blutsverwandten deren letzten drei Herzschläge im Leben als losgelöste Bilder- und Wortfolge sehen, um zu wissen, wie der Tod zu einer der ihren getreten war. Doch Ladonna und die anderen hatten nur ein von roten Blitzen umzucktes und sich in eine Wolke aus verdampfendem Blut auflösendes Gesicht sehen können. Als Ladonna selbst eindeutig angesungen wurde erwiderte sie:
"Auch wenn ihr es nicht glauben werdet, meine werten Anverwandten. Ich empfand zu viel Dankbarkeit meiner zweiten Mutter gegenüber, als selbst meine Hand oder Zaubermacht gegen sie zu erheben. Außerdem hätte sie dies euch dann auch so verkündet. Was oder wer immer ihren Tod herbeirief war nicht von mir beschlossen oder gar ausgeführt." Für sich selbst dachte sie noch: "Ich habe auch wichtigeres zu tun, als mich mit blutrachedurstigen Veelas herumzuschlagen.
"Dass du es nicht warst wissen wir wohl. Doch kannst du nicht leugnen, dass du deiner zweiten Mutter das Herz brachest, als du es wagtest, das Blut deiner Schwester zu vergießen", klagte Nachtwind sie an. Ladonna wartete einige Herzschläge lang, ob eine andere sich dazu äußern mochte. Weil dem nicht so war schickte sie zurück: "Regina und ich waren uneins, wem die Führung unserer Familie nach Domenicas Tod zustand und wem von uns beiden mehr vom Erbe unserer beider Nährmutter zustand. Sie wollte den Zweikampf und unterlag. Sonst wäre ich wohl gestorben, Großmutter Nachtlied."
"So verweile in deiner Umhüllung aus Geltungssucht und Herrschsucht, Ladonna Montefiori, vom Blute einer grünen Waldfrau verdorbene Ausgeburt eines unredlichen Unternehmens!" sang Nachtlied.
"Wie du meinst, achso erhabene, auf ihre Abkunft so stolze Großmutter Nachtlied", sang Ladonna zurück. Dann war die magische Fernunterhaltung auch beendet.
Ladonna überlegte, ob sie diesen Tag in ihr geheimes, in der von ihr erfundenen Rosenbildschrift geführtes Tagebuch eintragen sollte. Doch irgendwas in ihr widersprach. Solange sie nicht wusste, wodurch ihre Mutter verstorben war wollte sie keine Bemerkung in ihr Tagebuch eintragen.
Was sie auf jeden Fall nachprüfen wollte war, ob ihr immer noch der Zugang zum Haus ihrer Kindheit verwehrt war. Daher rief sie das Bild von der Tür zu jenem Haus vor ihr inneres Auge und wünschte sich, dort selbst zu sein. Dann vollführte sie die rasche Eigendrehung mit erhobenem Zauberstab und durchstieß das dunkle, viel zu enge Zwischengefüge zwischen Ausgangsort und Zielort. Da sie nicht sofort zurückgeworfen wurde, sondern leibhaftig vor der erinnerten Haustür erschien wusste sie, dass der Bann gegen sie vergangen war. Sofort öffnete sie die Tür mit zwei Blutstropfen an die bestimmten Stellen und hörte erleichtert das Aufspringen von vier Türriegeln. Dann betrat sie das Haus ihrer Kindheit.
Sie hatte damit gerechnet, den Leichnam ihrer Mutter hier zu finden. Doch das Haus war vollkommen leer. Nichts hier deutete darauf hin, dass hier jemand den vorzeitigen Tod gefunden hatte. Als Ladonna die Bibliothek betrat, in der ihre Nährmutter hunderte von alten und neuen Büchern aufbewahrte, fand sie auch nichts, was ihr verriet, ob Domenica Aufzeichnungen über ihren bevorstehenden Tod angefertigt hatte. Sie stellte jedoch fest, dass die Amphore mit den handschriftlichen Aufzeichnungen leer war. In dieser hatte ihre zweite Mutter all die nur mündlich übermittelten Geheimnisse der Kinder Mokushas mit einem Blutsiegelzauber aufbewahrt. Offenbar hatte Domenica beschlossen, diese Aufzeichnungen zu vernichten, um sie nicht in Ladonnas Hände fallen zu lassen. Das war an sich schon einfältig, weil Ladonna die allermeisten Geheimnisse der Veelas quasi mit der Muttermilch in sich aufgenommen und über Jahrzehnte hinweg immer besser verinnerlicht hatte. Sicher, ihre zweite Mutter, die ihre ältere Schwester Regina empfangen und geboren hatte wollte ja, dass beide Schwestern die Fähigkeiten ihrer Vorfahren nutzten, um als angeblich gleichberechtigtes Herrscherinnenpaar die magische und damit auch die nichtmagische Welt zu regieren. Doch das Fehlen der schriftlichen Aufzeichnungen verriet Ladonna, dass ihre zweite Mutter irgendwas daraus herausgelesen und damit irgendwas heimliches angestellt hatte, etwas, das ganz sicher gegen sie gerichtet war. Dieser Gedanke reichte aus, um sie davon abzubringen, den Tod ihrer Nährmutter in ihrem eigenen Tagebuch festzuhalten. Sie musste herausfinden, was ihre Mutter wider sie ins Werk gesetzt hatte oder zumindest ins Werk setzen wollte. Dazu musste sie jedoch wissen, wo sie ihren Tod gefunden hatte. Sie fragte sich nun, ob Domenicas Tod das Ziel ihrer geheimen Taten war oder eine von ihr nicht beabsichtigte Abweichung ihrer Pläne. Doch um das ganz klar zu erkennen musste sie ja wissen, wo und wie ihre Nährmutter Domenica gestorben war.
Sie suchte hektisch nach weiteren Aufzeichnungen. Doch sie fand keine. Das einzige, was sie fand war der Stein des Vermächtnisses, den Domenica mit Giorgiana im Stumpf einer im Garten gefällten Eiche versteckt hatte. Ladonna und / oder Regina konnten mit ihrer aufgelegten Hand bekunden, dass sie das Erbe ihrer verstorbenen Mutter antraten. Dann wurden alle gegen Feinde und unerwünschte Beobachter wirksamen Zauber auf sie alleine eingestimmt, und sie hatte eine weitere sichere Zuflucht, noch dazu eine mit Zugang zu freiem Himmel und einer Hundertschaft großer, gesunder Bäume, die sie, das Waldfrauenkind, so dringend brauchte. Also legte sie die Hände auf den schwarzen, porösen Stein und murmelte die Worte der Selbstvorstellung. Der Stein erwärmte sich und begann, im Gleichmaß ihres Herzschlages zu pochen. Heiße und kalte Ströme jagten aus dem Stein durch ihren Körper und aus ihren Händen in den Stein zurück. Dann erzitterte der Stein. Die Luft um sie herum knisterte wie von unsichtbaren Funken erfüllt. Dann verschwammen für zwei Herzschläge alle Formen und Gegebenheiten wie in einem aus sich silbern leuchtendem Nebel. Dann war es vorbei. Alles um sie herum war wieder so, wie es ihr aus beiden bisherigen Leben vertraut war. Der Stein des Vermächtnisses hatte sie als rechtmäßige und alleinige Erbin anerkannt und alle auf Feuer, Wasser, Luft und Erde gründenden Schutz- und Verhüllungszauber auf sie abgestimmt. Sie hatte nun eine neue, sichere Zuflucht, wo sie ihre eigenen Pläne durchdenken und vor allen noch lebenden Feinden sicher ausarbeiten konnte. Zumindest hoffte sie, dass ihre Mutter den Stein nicht verfremdet hatte, um sie, Ladonna in eine trügerische Sicherheit zu wiegen und in eine Falle hineinzulocken.
Als sie jedoch mit allen ihr bekannten Prüfzaubern nachgeforscht hatte, ob die das Haus durchdringenden und umgebenden Zauber ihr jetzt oder später schaden mochten wusste sie, dass ihre Nährmutter nichts mit dem Stein angestellt hatte. So konnte Ladonna ihre Habe, die sie in ihrem Baumhaus versteckt hatte, in dieses Haus herüberholen.
Als sie bei Tageslicht den Garten betrachtete kam ihr eine Idee, wie sie sich und allen ihren Freunden und Feinden ein bleibendes, lebendiges Denkmal setzen konnte. Ja, sie würde nicht mehr töten müssen, um ihre Widersacher zu entmachten. Es würde reichen, sie hier in diesem Garten zu versammeln, ihr zum Ergötzen für Augen und Seele, ihrer Pflege anvertraut wie Ungeborene und Säuglinge ihren Müttern. Womöglich bekam sie so auch heraus, was genau ihre Mutter, die ja noch einige gute Freundinnen hatte, wider sie ins Werk setzen wollte. Ja, so würde sie es machen. Die Königin der Feuerrose würde bald in allen italienischen Landen gefürchtet und geachtet sein. Dann konnte sie auch in die nachbarlichen Lande eindringen und die dort lebenden Hexen unter ihrem Banner der brennenden Rose vereinen. Das Zeitalter der Rosenkönigin würde unauslöschlich in die Annalen der magischen Weltordnung eingehen.
Hiro Yamakaze, der neue Hüter des Hauses der Gefahren und Schätze, die von den seit der unehrenvollen Schmach gegen den dunklen Wächter im Untergrund wirkenden Händen der Amaterasu zusammengetragen wurden, blickte auf die tiefschwarze Erscheinung in einem aus Windglas gefertigtem Schaukasten. Es war der vollständig tiefgefrorene Körper eines wohl noch jungen Europäers, der wie von lichtschluckendem Pech oder Ruß überzogen worden war. Das war der ehemalige Diener jener gefürchteten Herrin der Dunkelheit und deren Wesen, die im Zweikampf mit einer anderen, wesentlich stärkeren Ausgeburt der dunklen Nacht ihr Leben verloren hatte. Eigentlich hätten die Hände Amaterasus diesen Körper auch Takaharas Leuten überlassen können. Doch der hohe Rat der Hände der Amaterasu hatte beschlossen, den gefrorenen Diener in ihre Obhut zu nehmen, wohl weil außer der augenfälligen dunklen farbe auch eine erkennbare Ausstrahlung der Dunkelheit irgendwo zwischen Leben und Tod schwingend vorhanden war. Das hieß, dass der zu ewigem Eis gefrorene nicht wirklich tod war. Hieß das, dass seine Herrin auch noch irgendwie lebte. Falls ja, war es vielleicht möglich, ihn als stofflichen Anker für eine Beschwörung eben jener zu nutzen, wenn genug Mittel vorhanden waren, sie selbst gefangenzusetzen oder unschädlich für alle umstehenden zu vernichten.
"Yamakazesan wird gebeten, den Schrein der Fernverständigung aufzusuchen!" klang eine wie aus leerer Luft entstehende Männerstimme. Hiro Yamakaze deutete eine Verbeugung an. Er prüfte die Beschaffenheit der Zauberzeichen, die den Behälter gegen alle auf Worten hörbaren oder geistigen Worten beruhenden Zauber undurchdringlich machten. Dann eilte er in jenen Raum, in dem ein silberner Schrank mit zwei Türen stand. Er bestätigte seine Anwesenheit. Die Schranktüren taten sich auf, und er sah die frei schwebende Nachbildung des amtierenden Ratsvorsitzenden. Er verbeugte sich tief und blieb in der Haltung, bis sein oberster Dienstherr ihm gebot, sich wieder aufzurichten.
"Wir haben die Berichte geprüft und darüber befunden, wie es mit dem geborgenen Diener der vaterlosen Tochter der Dunkelheit weitergehen soll. Alle sich mit Yokai und rastlosen Seelen auskennenden Mitglieder unseres erhabenen Ordens sind sich nun darüber einig, dass die Kaiserin der Schattengeister die vaterlose Tochter der Dunkelheit in sich aufgenommen und zu einem Teil von sich selbst gemacht hat. Das ist es, was den in deiner Obhut verwahrten Diener nicht leben und nicht sterben lässt. Wäre seine Herrin vollständig aus der Welt verschwunden oder als körperloses Sein in den fruchtbaren Leib einer ihrer Schwestern eingekehrt, so wäre er sicher selbst verstorben. Doch weil er sowohl von ihr wie auch von der Macht der Kaiserin der Schattengeister durchdrungen ist und beide nun eins sind wird er weiterhin vorhanden sein, nicht lebendig und nicht tod, gefroren im untaubaren Eis."
"Ja, heißt dies, dass wir die verschmolzene Erscheinung mit seiner Hilfe zu uns rufen können, um sie zu bändigen oder zu vernichten?" fragte Hiro Yamakaze.
"Nein, das wäre für alle, die dies wagen der sichere Tod. Denn wir müssen davon ausgehen, dass die verschmolzene Daseinsform durch die Vereinigung so viel eigene Macht besitzt, dass sie jede sie umschließende Geisterfessel zerreißen kann. Unsere Auslandskundschafter brachten vor einer Stunde die neuesten Berichte aus dem Westen. Demnach drang jene Schattenkaiserin in eine von vielen dunklen Zaubern erfüllte Grabstätte am Nil ein, um dort selbst den wiederverkörperten Geist eines den Todeskünsten zugetanen Königs alter Zeiten zu bekämpfen. Sie wurde zwar von diesem hinausgetrieben. Doch dabei muss sie genug Vernichtungskraft freigesetzt haben, um ihn und seine von Flüchen und Todesbannen getränkte Heimstatt zu zerstören. Also müssen wir davon ausgehen, dass diese Schattenkaiserin sehr mächtig ist. Sie vermag sicher auch etliche Zauber der Sonne abzuwehren oder zu überstehen. Daher haben wir befunden, dass wir den Diener der Vaterlosen Tochter in einen der mit Mondblei ausgekleideten Keller verlagern, wo er von keinem Suchzauber berührt und gefunden werden kann. Ihn als feststofflichen Quell für eine Anrufung der finsteren Kaiserin zu nutzen erachten wir zum jetzigen Zeitpunkt als zu gewagt. Erst wenn wir wissen, wie wir uns gegen sie schützen und wie wir sie dauerhaft an einem Ort festsetzen können soll es gewagt werden, den zu lichtschluckendem Eis erstarrten hervorzuholen."
"Ich habe gehört und verstanden, Sprecher des hohen Rates", sagte Hiro Yamakaze. "Ich werde alles befohlene veranlassen und euch den Vollzug melden."
"Das hören wir gerne", sagte der Sprecher des hohen Rates. Dann verabschiedete er sich mit einer nur angedeuteten Verbeugung. Yamakaze hingegen verbeugte sich wieder so tief er konnte. Dann verschwand das räumliche Abbild des Ratssprechers.
Der aufbewahrte Körper des gefrorenen Dieners wurde unverzüglich in einen der neuen Mondbleikeller geschafft und hinter einer dicken, innen wie außen mit dem mächtigen und seltenen Metall verkleideten Tür weggesperrt wie alle anderen höchst gefährlichen Dinge, die im Laufe vieler Jahrhunderte angesammelt wurden und die beim Ausbruch des Schwertes Ryu no Kiba ein mörderisches Eigenleben entfaltet hatten, bis es gelang, neues Mondblei herzustellen und all die gegen beseelte Dinge wirksamen Bannzauber wiederherzustellen. Yamakaze fragte sich, ob er es noch erleben würde, dass diese nun mehrfach verriegelte Tür wieder geöffnet wurde. Er hoffte nur, dass es den Händen der Amaterasu gelingen mochte, die neue Bedrohung aus dem Westen von ihrer geliebten Heimat fernzuhalten.
Es war wie eine ständige abfolge einprägsamer Träume. Es war, als schwebe sie selbst als unsichtbarer Geist über allem, was sich ihr in Bild, Wort und Gedanken darbot. Denn über die geistige Ausstrahlung von Nachtlied und ihren Kindern und auch Ladonna selbst konnte sie mitverfolgen, was ihre zweite Zwei-Mütter-Tochter unternahm. Die bange Furcht, dass Ladonna einen Vernichtungsfeldzug gegen die Kinder Mokushas unternahm bewahrheitete sich zunächst nicht. Ladonna mied die Auseinandersetzung mit Nachtlied und ihren anderen Blutsverwandten. Dafür schuf diese sich eine weit verzweigte Gemeinschaft von reinblütig menschenstämmigen Hexen, die wie sie das Diktat der männlichen Vorherrschaft beenden und als große Schwesternschaft über alle Welt herrschen wollten. Ladonna hatte ihre lieblingsblume, die Rose, als Wappen und Machtsymbol erwählt. Wo sie doch mit magischer Gewalt gegen ihre Widersacher wirkte hinterließ sie oder eine von ihr befehligte Gruppe Gesinnungsschwestern das Zeichen einer lodernden Rose über dem Ort der Gewalttat.
Was die zur untätigen Beobachtung verurteilte etwas verstörte war, dass Ladonna den Garten des von ihrem früheren Ich Domenica geerbten Hauses dazu nutzte, ihr missliebige Hexen in langstielige, ihrer eigenen Lebensausstrahlung und geistigen Ausprägung nach gefärbte Rosen zu verwandeln und in sorgsam bereitete Beete einzupflanzen und sie durch ein Eigenblutopfer an sich zu binden, so dass sie die von ihr zu lebenslanger Gefangenschaft verurteilten jederzeit befragen und wahrheitsgemäße Antworten erlangen konnte.
Die Beobachterin, die sich auch nach ihrer Verschmelzung mit Domenicas Leben und Sein als steinerne Wächterin verstand, verfolgte mit, wie Ladonna Montefiori ein Mittel ersonn, um auf einen Streich mehrere hundert oder tausend arglose Hexen und Zauberer zu ihr allein hörigen Mägden und Knechten zu formen, die Feuerrose. Hierfür verwendete sie eigenes Haar und Blut und nutzte die Macht der Kinder Mokushas, große Mengen durch die eigene Stimme zu bändigen. Auf diese Weise verschaffte sie sich die heimliche Herrschaft über die italienische Halbinsel. Immer wieder haderte die Beobachterin damit, dass Ladonna und Regina zusammen dieses große Werk in weniger Zeit vollendet hätten, wenn sie ihre schwesterliche Verbundenheit geheiligt und ihre Kräfte gebündelt hätten.
Als Ladonna andere Länder unter ihre Herrschaft zwingen wollte traf sie jedoch auf starke Widersacherinnen und Widersacher. So gelang es ihr nicht, die deutschen Lande zu unterwerfen, da zu jener Zeit bereits der Nord- und der Süddeutsche Bund von Hexen und Zauberern die Geschicke der magie lenkten und jede Eroberung aus dem Norden, Osten, Westen oder eben Süden zurückschlugen. Selbst wenn sich auch nördlich der majestätischen Alpen Hexenschwesternschaften gegründet hatten, die mit der Vorherrschaft der Zauberer unzufrieden waren hielten diese aber auch nichts von der Unterwerfung unter das Diktat einer einzelnen Hexe, nur weil diese die Eigenschaften von Waldfrauen und Veelas in sich vereinte. Dennoch gelang es ihr, kleine Gemeinschaften ihr höriger Menschen mit und ohne Magie zu begründen, die ihr helfen sollten, die seltene Eintracht zwischen deutschen Hexen und Zauberern zu durchbrechen und die kleinen und großen Königreiche, Fürstentümer und Bischofsdomänen zu erobern. Weiter nördlich stieß Ladonna auf die Vertreterinnen alter Künste aus dem Norden, die sich auf ein Geschlecht von Göttern beriefen und auch das Wissen von Meermenschen und Zwergwüchsigen nutzten. Sie sandten die auf den Duft der Feuerrose eingestimmten Handlanger Ladonnas abgerichtete Trolle aus, jene den Magien von Erde und Wasser verbundene Riesenwüchsige. Ja, sie schafften es auch, die seit Anbeginn der Menschenzeit wie Veelas, Kobolde und Zwerge lebenden Riesen zu ihren Vollstreckern zu machen und die mächtigen Drachen zu Kriegstieren zu machen. Daher konnte Ladonna auch nördlich der deutschen Lande nicht vorankommen.
Weil sie direkt nördlich der Alpen nicht Fuß fassen konnte bündelte sie all ihr Machtstreben auf das im westen liegende Frankenland. Dieses wollte sie unterwerfen, um nach dem Vorbild des römischen Großreiches Europa und Afrika zu unterwerfen. Auch hatte sie davon gehört, dass westlich des atlantischen Ozeans neue Lande entdeckt worden sein sollten. Beherrschte sie jene Lande, die die sogenannte neue Welt erforschten und unterwarfen, konnte sie auch den Rest der Welt übernehmen. Allerdings erwies sich auch das Königreich Frankreich als schwerer Gegner. Ihre Wiedersacherin dort selbst war eine Großmeisterin der dunklen Künste, Sardonia vom Bitterwald. Wider sie wollte Ladonna doch die Kraft der Kinder Mokushas wenden. Da diese sich gegen die Macht der Feuerrose gefeit erwiesen ging Ladonna darauf aus, die nicht aus Nachtlieds Volksstamm der Nachtgeborenen zu jagen, um in direkten Kämpfen deren Kräfte in sich aufzunehmen. Bei dreien gelang ihr das. Doch dann hatte es sich herumgesprochen. Ladonna wehrte die auf Blutrache ausgehenden Veelas ab. Die steinerne Wächterin bangte bereits, dass das, wozu sie bestand, nicht ins Werk gesetzt werden konnte und sie tatenlos zusehen musste, wie Ladonna doch noch sämtliche Kinder Mokushas tötete. Doch diese erkannten, dass es sinnlos war, sich gegen eine zu stellen, die sie unmittelbar bei ihrer Wahrnehmung erledigen konnte. So kam es zum vollständigen Rückzug aller Kinder Mokushas aus Süd- und Westeuropa. Sie zogen sich in die Wälder und Gebirge des Ostens und Südostens zurück und errichteten wohl Bollwerke gegen jene, die von Ladonnas Feuerrosenzauber erfüllt und gelenkt wurden. Es kam damit zu einer ehernen Abgrenzung.
Als Ladonna erkannte, dass es ihr nicht gelingen würde, die Kräfte aller Veelas in sich einzuverleiben setzte sie auf die Unterwerfung grüner Waldfrauen und skrupelloser Mordhexen und -zauberer, um Sardonia zu überwinden. Doch jene hatte ihre Schwestern bereits auf die Feuerrosenausstrahlung der Unterworfenen eingestimmt, so dass diese erkannt und gebannt werden konnten, die Ladonna auf Sardonia und ihre Schwestern hetzte. Am Ende blieb ihr nur die direkte Entscheidung, der Zweikampf auf Leben und Tod.
Sardonia wusste jedoch, dass sie auch bei einem offenen Zweikampf die Blutrache von Ladonnas Verwandten zu fürchten haben würde. Ladonna, die ihren mit zwei Bruchstücken ihrer eigenen Seele versehenen Ring als mächtige Waffe zum Angriff und zur Verteidigung nutzte, unterlag Sardonia, weil diese alle in Rufweite stehenden Bäume vernichtete und Ladonna somit die Kraft starker Holzgewächse entriss. Dann zog sie dieser auch noch mit Gedankenkraft den Ring vom Finger, so dass sie für ihren Zauber des dauerhaften Schlafes zugänglich wurde. Als Ladonna einschlief erlosch auch die seit ungezählten Monaten bestehende Fernbeobachtungsverbindung zwischen ihr und der steinernen Wächterin. Sie verfiel selbst in einen traumlosen, todesgleichen Tiefschlaf. Der letzte Gedanke von ihr war, dass Sardonia die große Schmach verhindert hatte, Domenicas Werk zu zerstören.
Es war zwar die übliche Zeit im Jahr, wo sich die 48 ältesten reinrassigen Kinder Mokushas zur Beratung trafen. Doch diesmal war es was anderes. Tausende von Blutsverwandten waren auf die geheiligte Insel der großen Urmutter geflüchtet um hier vor den Nachstellungen der Ministeriumszauberer sicher zu sein. Daher ging es nun vor allem darum, wie diese vielen Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder behütet und genährt werden konnten. Denn es war vollkommen klar, dass die kleine Insel, die unter vielen miteinander verzahnten Schutz- und Bergezaubern lag, nicht genug für alle hergab.
Gerade traf eine weitere Abordnung aus Bulgarien in einem fliegenden Boot ein. Lebensfeuer, der älteste reinrassige Sohn Mokushas auf Erden, begrüßte die aus hundert Männern, Frauen und Kindern bestehende Flüchtlingsgruppe. Deren erwählte Fürsprecherin Windlied bedankte sich für das Willkommen und bat um Verzeihung, wenn ihre Anwesenheit die Gegebenheiten der heiligen Insel belasten würde.
"Wir, die ältesten, sprechen bereits darüber, wie wir euch alle auf Mokushas Insel sicher unterbringen können, ohne ihre Tier- und Pflanzenwelt restlos zu vertilgen", sagte Lebensfeuer. Dann kam Sommerwind, die älteste lebende Tochter Mokushas, von einer anderen Gruppe herüber und begrüßte Windlied und ihre Gruppe, die aus fünf vollständigen Familien bestand, zu denen auch mit Menschen gezeugte Nachkommen gehörten.
"Wir hörten unterwegs, dass Arcadi, der der missratenen Tochter Sternennachts unterworfen ist, eine Waffe gegen möglichst viele auf einmal ersinnt. Wie gefährlich ist diese Waffe?" wollte Windlied wissen.
"Wir lassen prüfen, ob die Berichte über diese verderbliche Waffe nur gezielte Angstmacherei oder todernste Tatsache sind, Windlied. Auch wissen wir, dass Arcadis Leute nach der heiligen Insel suchen und weitere fliegenden Boote ihm zeigen könnten, wo sie ist. Auch darum geht es bei unseren Beratungen."
"So fürchtest du, dass sie uns aufspüren und verfolgen, Sommerwind?" wollte Windlied wissen. "Ich möchte es zumindest nicht völlig ausschließen", seufzte Sommerwind.
Die 48 ältesten Kinder Mokushas trafen sich in der heiligen Höhle von Mokushas Niederkünften unter der gewaltigen Nachbildung ihrer Stammmutter. Leises raunen von tausenden von Flüchtlingen drang bis hier hinein.
"Die Unortbarkeit der Boote schützt vor Aufspürzaubern. Doch wenn Arcadi und seine Bundesgenossen fliegende Beobachter über dem gesamten Meer in Stellung haben könnten diese weitermelden, wo ein fliegendes Schiff oder Boot das Meer überquert und vor allem, wenn es einfach verschwindet." Die anderen nickten beipflichtend. Himmelsglanz erwähnte, dass es nicht möglich sei, eines jener vorzüglichen Ferntore oder Reisezielkreise auf der Insel einzurichten, die in ihrer Wahlheimat Frankreich eine schnelle und unbeobachtbare Beförderung großer Menschengruppen ermöglichten. Denn Mokushas Insel läge ja außerhalb der Strömungen von Raum und Zeit, bilde eine eigene schützende Blase für sich, die gerade mal von Licht und Wärme durchdrungen werden könne. Das war den anderen keineswegs neu. Doch sie nickten, weil es eben nur bestätigte, dass sie es schwer hatten, eine ganze Flüchtlingswelle unbemerkt genug auf ihre Insel zu lassen. Doch noch wichtiger war, was mit all den geflüchteten geschah. Die brauchten Nahrung, Trinkwasser, Orte, um ihre Notdurft zu verrichten und auch genug Bewegungsfreiheit. Es stand fest, dass gerade einmal zehntausend Kinder Mokushas und ihre halbblütigen Nachkommen auf dieser Insel unterkommen konnten. Sie mit Nahrung zu versorgen würde sehr schwer sein. Da wandte Sarja ein, dass es vielleicht gelang, alle um Zuflucht bittenden aufzunehmen, wenn sie alle in den Schlaf der dauerhaften Geborgenheit versenkt wurden, bis jemand mit entsprechender Berechtigung und Abstimmung verkündete, dass die Notlage vorbei war. Nur zehn Wachende sollten die Schlafenden behüten und zugleich die schützenden Zauber der Insel überwachen, falls Arcadis Mördertruppe wahrhaftig mit einer alle bedrohenden Waffe anrückte. Da nur Familienälteste ihren Nachkommen den Schlaf der dauerhaften Geborgenheit auferlegen konnten sollte es eine Abstimmung geben, wenn alle Familienältesten auf dieser Insel waren. Doch einige rumänische und bulgarische Familien zogen es vor, sich lieber in tiefen Höhlen oder undurchdringlichen Wäldern zu verstecken, als ihre Heimat auch nur für einen Monat lang zu verlassen. Darum wurde beschlossen, dass die Familienältesten, die schon hier waren, für sich und ihre Angehörigen beschließen durften, ob sie in den Schlaf der dauerhaften Geborgenheit eintreten sollten. Da die 24 weiblichen Ältesten ja zugleich auch die Ältesten ihrer Familien waren konnten sie das sofort beschließen. Morgenröte wandte noch ein, dass die in Frankreich, England, Spanien und Amerika lebenden Kinder Mokushas bisher keine Veranlassung sahen, ihre Heimat zu verlassen oder besser, dass sie dort wieder leben durften, nachdem Ladonnas Feuerrosensaat vernichtet worden war. Vor allem die spanische Matriarchin Rotstein Feuermund würde sich nicht dazu bereiterklären, mit ihrer Familie für unbestimmte Zeit in den Schlaf der dauernden Geborgenheit zu versinken.
Dies alles bedenkend stellten sie es zur Abstimmung, ob den nun hier eingetroffenen Familienältesten angewiesen oder nur vorgeschlagen werden sollte, ihre Angehörigen in den dauerhaften Schlaf zu versenken und sich dann selbst derartig gegen Hunger, Durst und alle anderen körperlichen Bedürfnisse abzusichern. Die Abstimmung ergab, dass 36 von 48 dafür waren, dass es denen, die auf diese Insel kamen, auferlegt wurde, um die von Mokushas Erbe behütete Tier- und Pflanzenwelt nicht unnötig zu vertilgen. Dieses Ergebnis teilten die 48 Ältesten dann auch all denen mit, die bereits auf Mokushas Insel waren. Wie zu erwarten stand fand dieser Beschluss nicht nur Zustimmung. Mehrere Familiensprecherinnen bekundeten Bedenken, dass ihre Angehörigen womöglich nie wieder aufwachen durften, wenn es nicht gelang, Ladonna zu besiegen. Denn natürlich war allen klar, dass nur ihre Entmachtung die Gefahr der völligen Vernichtung beseitigen konnte. Dennoch ergaben sich alle in die Notwendigkeit, für unbestimmte Zeit in den mitgebrachten, Wind und Wetter trotzenden Zelten auszuharren. Vor allem als einige Luxusverwöhnte Söhne und Töchter Mokushas sahen, wie erste Notdurftgruben ausgehoben wurden, um die Masse der zu erwartenden Ausscheidungen aufzunehmen stimmten doch alle zu, dass sie nicht in ihren eigenen Hinterlassenschaften ersticken wollten oder vor Hunger umkamen, wenn keine essbare Frucht mehr da war. Die meisten Kinder Mokushas, die nicht in der Menschenwelt lebten, ernährten sich ausschließlich von pflanzlichen Erzeugnissen. Doch wenn sie den hier lebenden Tieren alles wegaßen würden diese ebenfalls sterben.
Was die Anreise der Flüchtlingsgruppen anging wurde beschlossen, dass die, die Zauberstäbe verwenden konnten, ihre Boote zu Portschlüsseln machten, die sie über einen Gutteil der Strecke hinwegbeförderten, jedoch ohne angemessen zu werden. Denn das Geheimnis der unortbaren Portschlüssel war den teilweise Veelastämmigen schon seit Jahrhunderten vertraut. Nur auf die Insel selbst konnte kein Portschlüssel versetzen, eben weil sie in einer schützenden Unerreichbarkeitsblase schwamm, die nur von Wesen mit reinem oder teilweise Veelablut in den Adern durchdrungen werden konnte.
So hörten die Ältesten, sofern sie nicht gerade selbst Familienangehörige in den tiefen Schlaf versenkten, wie die Worte der Dauer, der Ruhe und der geringen Körpertätigkeiten über Mokushas heilige Insel drangen. Mehr und mehr der bereits eingetroffenen Flüchtlinge versanken so in die bis auf unbestimmte Zeit vorhaltende Untätigkeit.
Die Schwestern Himmelsglanz und Morgenröte saßen am Eingang der Versammlungshöhle und lauschten auf die beschwörenden Gesänge der anderen und mussten aufpassen, nicht selbst in einen schläfrigen Zustand zu versinken. Morgenröte sagte zu Himmelsglanz: "Was werden Arcadis Leute tun, wenn sie keine mehr von uns vorfinden? Die werden dann sicher versuchen, euch in Frankreich und deine Verwandten in England zu treffen, um ihr sogenanntes Exempel zu statuieren. Willst du dann nicht lieber doch auch deine Nachkommen in Sicherheit bringen?"
"Die Abstimmung besagt, dass jemand, die nicht in einem der bedrohten Länder lebt, die Erweckung aller anderen Verkünden muss, Schwester. Das können dann im Moment nur Rotstein Feuermund und ich tun."
"Weiß Rotstein schon davon, dass Arcadi zur entscheidenden Jagd auf uns geblasen hat?" wollte Morgenröte wissen. Himmelsglanz bestätigte es. "Sie teilte Égléee, die ich als Unterhändlerin zu ihr schickte mit, dass sie ihre Familie in völliger Sicherheit wisse. Selbst Ladonna sollte nicht an sie herankommen. Mehr wollte sie meiner Tochter nicht sagen." Morgenröte nickte. Himmelsglanz sah ihr an, dass sie nicht gut auf Rotstein zu sprechen war, seitdem diese sie in einem Zweikampf der Unterwerfungsblicke besiegt hatte, obwohl sie da beide in der Höhle der gesammelten Worte also auf zu achtendem Boden gewesen waren, auf dem keine Körper und Geist bedrängende Auseinandersetzung stattfinden durfte.
Als Morgenröte feststellte, dass sämtliche Mitglieder ihrer Familie eingetroffen waren versenkte sie erst Diosan, der sich nicht damit abfinden wollte, auf unbestimmte Zeit aus seiner Heimat vertrieben zu sein, zuerst in den Schlaf der dauerhaften Geborgenheit. Danach wandte sie diesen Zauber auf alle anderen Angehörigen an.
Himmelsglanz wartete, bis all jene, die auf die Insel geflüchtet waren schliefen. Auch die Familienältesten hatten sich von älteren als sie in diesen Schlaf singen lassen. Morgenröte jedoch bestand als Mitglied des Ältestenrates darauf, zu den Wachen zu gehören. Himmelsglanz sollte dafür in ihrer Wahlheimat verweilen und dort verfolgen, wie die Auseinandersetzung zwischen den freien Ministerien und Ladonnas Hörigen weiterging. Immerhin hatten all die, die nun in wetterfesten Zelten schliefen noch genug goldene Kerzendochte hergestellt, um bei sich bitenden Gelegenheiten weitere Unterworfene aus Ladonnas Einfluss zu lösen. Denn allen hier war klar, dass es Ladonna nicht nur um die freiwerdende Veelakraft ging, sondern auch darum, das einzige Mittel gegen ihren Feuerrosenzauber zu beseitigen, um diesen ungehindert über andere Gruppen auszubreiten.
Himmelsglanz alias Léto nahm noch an der abschließenden Beratung des Ältestenrates teil, die sich darum drehte, unter welchen Bedingungen die schlafenden Kinder Mokushas wieder aufgeweckt werden konnten. Dann kehrte sie unsichtbar in Gestalt einer Schwänin in ihre Heimat zurück.
Für einen Moment erwachte sie aus langem, tiefen Schlaf. Die Augen glommen im blauen Licht. Der steinerne Körper erbebte sanft. Laute Schreie waren aus dem sie seit Zeiten begleitenden kaum vernehmbaren, sanften Summen und Singen hervorgeklungen. Diese hatten sie geweckt. Viele der Schreie klangen fast gleichzeitig. War es soweit? Sie lauschte. Durch die magischen Stränge, die sie in neunundvierzig Monden gewebt hatte suchte sie nach dem Ursprung der Todesschreie. Ja, das war irgendwo im Norden der Halbinsel. Jemand tötete mehrere Kinder Mokushas auf grausame Weise. War es Ladonna? War diese doch noch einmal aus dem auferlegten Schlafzauber erwacht? Wieso konnte sie sie nicht mehr wie eine unsichtbare Beobachterin direkt betrachten und belauschen? Ja, und wie viel Zeit war seit damals vergangen? Sie besaß kein Zeitgefühl. Das hatte sie damals, wo sie diesen mächtigen Wachzauber eingerichtet hatte versäumt, einzufügen. Waren es nur Monate, oder waren es gar Jahrzehnte, die vergangen waren? Sie lauschte und hörte, wie weitere Kinder Mokushas den gewaltsamen Tod fanden. Dann trat wieder beinahe Ruhe ein. Nur das fast unhörbare, sanfte Singen vieler hundert geistiger Stimmen der lebenden Kinder Mokushas drang zu ihr vor. Dieses gleichmäßige Summen und Singen beruhigte sie mehr und mehr und mehr. Es ließ ihre gerade erst erwachten Sinne wieder einschlafen. Nun hockte wieder eine völlig leblose, steinerne Nachbildung auf einem Sockel in tiefster Dunkelheit und Stille, beschützt von mehreren Sperrzaubern, die sich alle Zeit aus der Bewegung der Gestirne aufluden. Jene, die wachte, schlief wieder. Wie lange dies dauerte konnte keiner sagen.
"Kriegst du das Bild nicht schärfer, Boris?" wollte Walter Pickford wissen. Der Manager des nicht ganz legalen Spielclubs End Of Rainbow bei Nassau zwinkerte immer wieder, weil das völlig verschwommene Bild auf dem zweiten LCD-Monitor von links ihn irritierte. Er konnte gerade erkennen, dass an drei Tischen zwischen drei und sechs Leute standen und gerade so zwischen Männlein und Weiblein unterscheiden. Die Gesichter der Menschen blieben völlig unscharf.
"Ich habe schon alles durchgecheckt, was Kamera zwei angeht, Software, Linsenstellung und den lichtempfindlichen Chip. Es sieht ganz danach aus, als hätten wir die Kamera in ein lange nicht mehr gesäubertes 1000-Liter-Aquarium reingehängt, Mr. Pickfort, und das seit drei Stunden. Da die Spieler nicht wissen dürfen, dass sie beobachtet werden kann ich keinen reinschicken, um die Kamera komplett auszutauschen."
"Und du bist dir sicher, dass es nicht an der Bildübertragung selbst liegt?" wollte Pickford wissen. Sein Sicherheitsüberwacher deutete auf die fünf anderen Monitore, die alle Roulettetische, die zwei Black-Jack-Tische und die Automatenhalle abbildeten. "Dieselben Kameras, dieselbe Aufnahme- und die selbe Darstellungssoftware, Mr. Pickford", sagte Boris Koslowsky, der Sicherheitsüberwacher. "Im Grunde hat das mit dem verschwommenen Bild angefangen, als diese Frau im mitternachtsblauen Abendkleid und den weißen Seidenhandschuhen reinkam, die sich als Anna Taylor ausgewiesen hat, als hätte die ein Bildstörgerät dabei oder sowas."
"Ach, dann wurde die Dame nicht auf elektronische Geräte durchsucht, die bei möglichen Spielmanipulationen helfen könnten?" wollte Pickford wissen. "Kein Mobiltelefon, keine Kameras, auch keine Hörgeräte oder einen Herzschrittmacher. Die ist sauber durch unsere heimliche Sicherheitsschleuse gestiefelt", sagte Koslowsky. "Ja, aber du wolltest mir zeigen, dass sie alle zwei Spiele heftig abräumt und auch schon bei drei Einzelzahleinsätzen abgeräumt hat", sagte Pickford. Koslowsky nickte. "Die hat jedesmal, wenn sie auf Einzelzahlen gesetzt hat das Tischlimit ausgereizt und dann voll abgeräumt, sogar einmal die 0 getippt. Carlos Romero ist der Croupier am Tisch drei."
"Wie viel hat sie schon abgeräumt, Boris?"
"Öhm, laut der heimlich mitlaufenden Gewinnregistratur schon zusammen 100.000 Bahamadollars. Es sieht nicht so aus, als sei sie damit schon zufrieden und ..." Eine Glocke bimmelte. Das hieß dass die Gewinnregistratur einen Einzelgewinn über 700.000 Dollar ermittelt hatte. Boris Koslowsky sah schnell nach, auf welchem Tisch dieser hohe Gewinn verbucht wurde. "Das war sie. Sie muss das Codewort für das Goldtopflimit genannt haben, also dass sie eine Empfehlung von Ihnen oder einem der stillen Teilhaber hat", sagte Koslowsky.
"Bist du dir sicher, dass es nicht Charlie Hamstead ist, der den Goldtopf gezogen hat?" fragte Pickford. "Nein, der spielt zwei Tische weiter, hat aber auch schon 50.000 Bahamadollar gewonnen", sagte Koslowsky.
"Das Goldtopflimit darf jemand nur dreimal am selben Spielabend nutzen", sagte Pickford. Er beobachtete auf dem unklar darstellenden Bildschirm, wie die Spieler am Roulettetisch erneut setzten. Die laufende Kugel konnte er nicht erkennen. Erst als der Kessel nicht mehr kreiselte blickte er auf die Gewinnregistratur, die an und für sich unzulässig war, den Betreibern aber half, mögliche Unregelmäßigkeiten festzustellen. Wieder bimmelte die Gewinnmeldung, dass jemand mehr als 500.000 Dollar gewonnen hatte. Pickford verzog das Gesicht. "Da hat wohl noch wer das Goldtopflimit gezogen und zwei Drittel des verfügbaren Kapitals gesetzt", stöhnte er. Dann wurde ihm klar, dass es wieder an jenem Tisch war. "Ich fürchte, ich muss Carlos und den Tisch austauschen, wenn das so weitergeht", knurrte er. Die schwindelerregend vielen Stellen der erspielten Summe ließen ihn fast taumeln. "Drei Millionen Dollar. wer immer das war hat gerade die Bank gesprengt."
"Dann lassen Sie doch Carlos ablösen. Ich schicke Ben an den Tisch. Der kennt sich mit allen möglichen Manipulationsversuchen aus und kann heimlich eine neue Kugel ins Spiel bringen."
"Vorschlag angenommen", sagte Pickford. Boris gab die Ablösungsanweisung an den Croupier des gerade so gewinnträchtigen Tisches in den Kurznachrichtensender. Nur eine Minute später war der Austausch erfolgt.
Da auch die Croupiers nicht wissen durften, dass die Tische überwacht wurden traf Pickford Carlos Romero in seinem Managerbüro. Dort unterhielt er sich mit ihm über den bisherigen Abend und ließ sich die achso von Fortuna geküsste Spielerin beschreiben. Er fragte ihn, ob er irgendwas mitbekommen hatte, dass sie mit etwas hantierte oder gegen den Kessel stieß, um bestimmte Zahlen zu kriegen. Nichts dergleichen hatte sie angestellt. Er erfuhr, dass sie das Codewort "Grüner Leprechaun" geflüstert hatte, was sie dazu berechtigte, dreimal am Abend ein Drittel des bisher erspielten Kapitals auf eine Einzelzahl zu setzen. Als sie das zweimal in Folge erfolgreich getan hatte war Carlos klar, dass er wohl abgelöst wurde. Denn die Gewinnregistratur 500.000 Plus kannten auch die Croupiers.
Eine halbe Stunde lang geschah nichts weiter, außer dass auch Charlie Hamstead, der Neffe von Pickfords Teilhaber Bunton den grünen Leprechaun und damit die Aussicht auf den Topf voller Gold versucht hatte. Der hatte jedoch nicht jenes goldene Händchen wie die Dame im blauen Abendkleid. als dann kurz vor Mitternacht Ben Willes wohl auch einen entsprechenden Einsatz annehmen musste und die Fremde eine Halbe Million auf 27 Rot setzte war Pickford hinter einem Einwegspiegel Zeuge, wie die andere voll konzentriert den Kessel und die Kugel beobachtete. Als dann "Rien ne va plus!" ausgerufen wurde blickten alle Spielerinnen und Spieler und der Croupier Ben auf den auslaufenden Kessel und die nun darin herumtitschende Kugel. Dann blieb sie im fach 27 Rot liegen. Damit bekam die Spielerin im mitternachtsblauen Abendkleid und der sonnenbankgebräunten Haut und den tiefgrünen Augen 17,5 Millionen Bahamadollars zu ihrem Einsatz dazu. Damit war die Bank schon mehr als gesprengt. "Wetten, die hört jetzt auf?" fragte Koslowsky seinen Boss. "Hoffe das mal, Boris. Wenn die noch weiter so spielt trägt die zwei Monatserlöse hier raus", sagte Pickford.
Tatsächlich schaufelte die überglückliche Spielerin eine Million in das Fach für die Spende an die Angestellten und ließ sich von Ben eine Bestätigung geben, dass sie 17,5 Millionen gewonnen hatte. Damit und den erspielten Getons ging sie zur Kasse und ließ sich einen Scheck ausstellen. Der Wechselkassierer klingelte nach dem Manager, weil der alles über einer halben Million gegenzeichnen musste. So bekam Pickford die Gelegenheit, die andere genau anzusehen. Sie wirkte rein äußerlich sehr entspannt. Er beglückwünschte Anna Taylor zu ihrem Erfolg und fragte, auf wessen Empfehlung sie seinen Club beehrt hatte. Sie erwähnte den Namen Albert Southgate. Pickford musste sich anstrengen, nicht zu schlucken. Southgate war der König aller illegalen Glücksspielhäuser auf den Bahama-Inseln. Wenn der die Dame hergeschickt hatte war klar, dass er sich an der nicht vergreifen durfte. Also hatte Soutghgate ihn auf dem Schirm und wollte ihn offenbar abzocken. Wie auch immer die das angestellt hatte, es war ihm gelungen. Mit insgesamt 20,59 Millionen Bahamadollars in Form eines Schecks verließ Anna Taylor den Spielclub wieder. Sie ging zumindest auf Pickfords Vorschlag ein, sich standesgemäß in ihr Hotel chauffieren zu lassen. So rief er eine Mietwagenfirma seines Vertrauens an und ließ ihr einen diamantschwarzen Rolls Royce mit goldenen Zierleisten und Schutzblechen vorfahren. Die glückliche Spielerin stieg winkend in den Fond und wartete, bis der Chauffeur die Tür wieder geschlossen und sich ans Steuer gesetzt hatte. Leise brummend verließ die Nobelkarosse den Vorhof des Spielclubs. "Der Rolls hat einen GPS-Sender an Bord. Mal sehen, ob die echt ins Hotel zur blauen Lagune fährt", sagte Pickford zu Koslowsky. "Hmm, glauben Sie echt, dass Southgate sie hergeschickt hat, Mr. Pickford?"
"Ich werde den Teufel tun, ihn zu fragen. Wenn die echt in ihr Hotel fährt kriege ich raus, in welchem Zimmer die wohnt. Morgen lasse ich sie dann von Teddy Swiftfinger anrempeln, um den Scheck wiederzukriegen", sagte Pickford.
Über die Fahrtroute des Rolls Royce bekamen sie mit, wie die Frau, die sich als Anna Taylor vorgestellt hatte zu jenem Hotel der blauen Lagune hingefahren wurde. Von dort fuhr der Rolls Royce wieder zurück. Pickford grinste. Wie gut, dass er in einigen Herbergen seine Leute hatte. So klingelte er eine gute Bekannte, die im Hotel arbeitete, aus dem Schlaf und trug ihr auf, wenn sie 20.000 Dollar Wiederbeschaffungslohn haben wolle herauszufinden, wo eine gewisse Anna Taylor logierte. Dann traf es ihn wie ein Dampfhammer. Im Hotel zur blauen Lagune war keine Anna Taylor und keine so ähnlich klingende Besucherin abgestiegen, nicht heute, nicht gestern und auch nicht vor einem Jahr. Er wollte wissen, ob die Außenkamera die Ankunft der Fremden mitgefilmt hatte. Da kam der nächste Schlag. Der Rolls Royce war angekommen. Der Chauffeur war ausgestiegen und hatte dem Nachtportier einen Umschlag übergeben, angeblich eine Vorbestellung von zwei Gästen aus New York, die nicht im Computer geführt werden wollten und war dann wieder losgefahren. Die Kamera hatte nicht erfasst, ob jemand im Fond des Nobelautos gesessen hatte. Es sah danach aus, als habe sich die Dame im blauen Abendkleid unterwegs abgesetzt und den Chauffeur mit diesem ominösen Umschlag weitergeschickt. Doch wo auf der Fahrtroute konnte sie ausgestiegen sein, um an einem für sie sicheren Ort zu gelangen?
"Der dritte Schlag erfolgte dann am nächsten Morgen, als er erfuhr, dass ein Scheck mit umgerechnet 20,59 Bahamadollar in einer Bank in Singapur eingelöst worden war und der Angestellte ihn anstandslos vom betreffenden Konto abgebucht hatte. Offenbar musste die Fremde den Scheck per sehr gutem Fax nach Singapur weitergeleitet haben, wo ein Komplize von ihr nur noch zur vertrauten Bank gehen und ihn einlösen musste. Pickford hätte vielleicht doch besser seine eigene Hausbank anmailen und den Scheck sperren lassen sollen. Er hatte sich zu sehr auf seine Verbindungen verlassen. Jetzt eine Suche nach der Frau, die sich Anna Taylor nannte einzuleiten würde nichts mehr bringen. Denn die hatte sicher die Inseln mit einem Boot oder Schiff verlassen, bevor der Scheck eingelöst worden war. "Wieso kann ein eindeutig gefaxter Scheck akzeptiert werden?" fragte Pickford seinen Buchhalter Hanson.
"Der ist nicht gefaxt worden. Die müssen den durch einen hochleistungsscanner gejagt, digitalisiert, an eine vertrauenswürdige Mailadresse verschickt und dort auf entsprechendem Papier neugedruckt haben, und zwar mit einem Plotter, der genaue Linien nachzeichnen kann. So kann mal eben ein Scheck rund um die Welt gebeamt werden, mit freundlichen Grüßen von Arthur C. Clarke. Ich denke, Boss, wir sollten die Praxis mit den Schecks aufgeben, wenn sowas Mode wird, dass jemand den einfach einscannt, per Mail an einen Ort mit noch möglichen Banköffnungszeiten weiterschickt und dann problemlos weil mit guten Kontakten zur Scheckabteilung was abheben lassen kann."
"Das sieht Southgate ähnlich", knurrte Pickford. Doch seine Teilhaber würden das wohl genausowenig komisch finden wie er, dass an einem einzigen Abend mehr als zwanzig Millionen Bahamadollar abgeräumt worden waren. Dann fragte er Hanson, wer Arthur C. Clarke war. "Ein Science-Fiction-Schreiber, der behauptet hat, dass weit genug fortgeschrittene Technologie nicht von Magie unterscheidbar ist, Mr. Pickford", erwiderte Hanson, der viele saubere und schmutzige Tricks der Buchhaltung kannte und dem Pickford deshalb jedes Wort glaubte.
Die Rosenkönigin hielt Hof im großen Salon ihrer Villa. Die sieben Statthalterinnen waren gekommen. Sie wollten wissen, wann es endlich gegen die dreisten Veelas ging, die Diana Camporosso ermordet hatten. Ladonna erwähnte ohne Einzelheiten, dass sie die russischen Hörigen damit beauftragt hatte, dieses Problem zu lösen und dass es schon hoffnungsvolle Ansätze gab. Doch genaueres ließ sie nicht heraus. Sie befahl ihren sieben Regionalstatthalterinnen, vor allem unerwünschte Grenzüberschreitungen sofort zu ahnden. Denn sie konnte sich zu gut vorstellen, dass die über Schwärme von Ungeheuern gebietenden Menschen ihr bereits den Krieg erklärt hatten. Wenn sie kamen sollte die Schwesternschaft die Zauberer festsetzen, während Ladonna weitere Rekruten für ihren Orden der Feuerrose anwerben würde. Ja, so und nicht anders wollte sie vorgehen.
Seit mehr als acht Monaten galt sie als tot und begraben, Doña Margarita Isabel de Piedra Roja, die einstige Königin des Kokainhandels in Peru. Doch ihr Tod war für Freund und Feind inszeniert worden, um aus der Schusslinie einer anderen mächtigen Widersacherin zu verschwinden, der Feuerrosenkönigin Ladonna Montefiori. Sie hatte es zugelassen, dass sich für sie früher kleine und schwache Neider um ihr territoriales Erbe zankten und dabei vier von sechs auf der Strecke blieben, bis zwei wirkliche Alphamännchen, Luiz Rafael Costa Dorada genannt El Torrero und Agosto Sebastian Ribera, genannt El Dragón Verde, übrig geblieben waren. Die meinten jetzt, sie hätten Peru und die an dessen Grenzen liegenden Gemeinden klar aufgeteilt. Auch in Mexiko war ein Beben durch die Unterwelt gegangen, weil der rote Adler mit brennenden Flügeln vom Himmel gefallen war. Doch die dortigen Verhältnisse hatten sich dadurch eher verschlechtert, weil mehrere große gegen viele kleine Banden Krieg führten. Doch Mexiko war ihr egal. Peru würde sie sich bald zurückholen, aber nicht offen von den Toten auferstehen, sondern über Mittelsleute, am Besten, indem sie einen der zwei Übrigbleiber unterwarf und den als ihren Statthalter weitermachen ließ, ähnlich wie es die Feuerrosenkönigin mit Zaubereiministerien angestellt hatte.
Mittlerweile wusste sie, dass Ladonna Montefiori ihre Veelaabstammung nutzte, um jene gemeine Feuerrose zu erschaffen. Sowas ähnliches gab es auch bei den Völkern, die zusammen das Reich der Vier Weltecken bewohnt hatten. Einen solchen Trick, den Stein der Folgsamkeit, würde sie bald an den Auserwählten schicken, falls sie nicht sogar beide verbliebenen Scheinerben damit bedachte.
Zwar gefiel es der einstigen Löwin von Lima nicht, sich wie eine Maus im Loch zu verstecken und zu hoffen, dass die davor herumschleichenden Katzen bald weiterzogen. Doch wenn sie so mitbekam, was in der magischen Welt gerade los war blieb sie besser noch eine Zeit lang tot. Allein das mit der neuen Nachtschattenkaiserin und der ausufernden Vampirplage mahnte sie, dass auch sie gewisse Grenzen hatte. Da sie es sich mit dem Zaubereiministerium verscherzt hatte würde sie im Fall eines Angriffes dieser beiden Nachtgezüchte auf sich alleine gestellt sein. Da wollte sie erst sicherstellen, dass sie einen Kampf auch überstehen konnte. So spann sie ihr Netz von vertrauten Hexen heimlich weiter über Südamerika. Längst nicht alle von denen waren mit der Entwicklung in der Zaubererwelt einverstanden. Einige von denen erwähnten auch, dass sie zu Ladonnas Konkurrenz, also der Spinnenschwesternschaft oder den schweigsamen Schwestern gehen wollten, um sicher zu sein.
Neben der geplanten Rückkehr in den Kokainhandel betrieb die Doña de Piedra Roja auch den Ausbau eines Finanzimperiums, dass sich schön fern von Panama und Liechtenstein hielt. Denn dort waren ein wenig zu viele Lecks aufgebrochen, durch die Reporter und Finanzministerien in aller Welt Dinge erfuhren, die andere nichts angingen. Aber es gab ja noch genug Länder mit sehr freizügigem Finanzwesen und sehr verschwigenen Bankangestellten, in die sie ihre Ersparnisse transferieren und die Mäuse jungen lassen konnte. Zu diesen Vorhaben gehörte auch die Beteiligung an verschwiegenen Spielkasinos in den Vereinigten Staaten, Mexiko, sowie den Bahamas und Bermudas. So erfuhr Margarita Isabel de Piedra Roja an jenem Morgen des 17. Novembers des in den letzten Zügenliegenden Jahres 2006, dass es einer einzelnen Frau gelungen war, den Club von Pickford, Bunton und Hudson um über zwanzig Millionen US-Dollar zu erleichtern. Dabei musste die Spielerin das Kunststück vollbracht haben, einen Scheck in Nassau zu bekommen und nur eine halbe Stunde später in Singapur einzulösen. Für Margarita de Piedra Roja stand fest, dass eine Hexe den Club abgezockt haben musste, die mit dem Gewinnscheck mal eben um die halbe Welt appariert war, um ihn auf ein diskretes Konto einzuzahlen. Doch sie wusste, dass gerade um magische Manipulationen zu vermeiden alle öffentlichen Spielbanken mit Spürsteinen ausgestattet waren. Gut, Pickfords Club war nicht öffentlich. Das hatte er dann davon. Sie fragte sich nur, wozu eine andere Hexe so viel Magielosengeld brauchte. War es nur, um die Magielosen zu ärgern, weil die so geldhörig waren? Oder plante da wer was mit Eingriffen in die nichtmagische Welt? Sie selbst und der von ihr erledigte mexikanische Bandit Augusto Xocotl Paredes hatten ja nichtmagisches Geld erwirtschaftet, um damit auch in der magielosen Welt mächtig zu werden. Wollte nun auch Ladonna Montefiori auf diesen Besen aufsteigen? Nein, vielmehr mochte es jene wegen Ladonna in den Hintergrund geratene Dame sein, die sich in eine schwarze Spinne verwandeln konnte. Wenn die sich die Clubs ausguckte, die nicht mit Spürsteinen überwacht wurden konnte die womöglich Millionen am Roulettetisch abräumen. Margarita de Piedra Roja überlegte, was sie tun würde, wenn diese Hexe auch in einem der von ihr mitbetriebenen Spielclubs auf Beutezug ging. Sie wollte das erst einmal im Auge behalten und sich auf die beiden peruanischen Kokainfürsten einstellen, die meinten, sie beerbt zu haben. Bis Weihnachten wollte sie zumindest was ihre Vorherrschaft auf dem Drogenmarkt angeht wieder oben auf sein.
Es waren keine Schreie, die sie erneut weckten. Es war ein heranjagendes Brüllen wie von abertausend wütenden Stieren, begleitet von einem Tosen wie von zwanzig aufeinanderfolgenden Sturmflutwellen gegen eine Steilküste. Ihr steinerner Körper, das Behältnis ihrer Aufbewahrung, erbebte heftiger denn je. Wer sie sehen konnte mochte ein grün-gelbrot flackerndes Leuchten erkennen, dass ihren Leib umfloss. Über alle von ihr ausgeworfenen Stränge der Wahrnehmung jagte eine aus Leid, Wut und gewaltsamem Tod geborene Kraft in sie hinein und wieder aus ihr hinaus. Der Sockel schwankte bedenklich. Die in ewiger Hockstellung angewinkelten Beine federten durch wie aus Fruchtgelee. Aus den Augen der steinernen Wächterin schossen grüne, gelbe und rote Lichtlanzen und zerbarsten zu Wolken aus glimmenden Funken, wenn sie gegen die Felswände stießen. Das Tosen und Brüllen drohte ihren Leib zu zersprengen. Es trachtete danach, ihr den Kopf von den steinernen Schultern herunterzureißen. Doch zugleich erfuhr sie eine Zunahme ihrer Aufmerksamkeit und Kraft. Einen winzigen Augenblick sah sie wie durch fremde Augen in dunkle Räume hinaus, meinte die geistigen Stimmen träumender Wesen zu hören. Dann schwoll das Getöse ab. Das Beben ließ nach und verebbte schließlich vollständig. Die steinerne Wächterin erspürte wieder jenes leise Summen und Singen, dass von dort kam, wo die lebenden Verwandten ihrer Schöpferin weilten. Für wenige Augenblicke konnte sie wieder frei denken. Etwas mächtiges, bedrohliches, dunkles war durch ihre Höhle gerast und hatte versucht, sie zu zerstören. Doch zugleich hatte es jenen Anteil in ihr, der aus Blutopfer und eigenem Tod der Schöpferin geboren war, bestärkt, noch aufmerksamer zu sein, noch machtvoller wirken zu können, wenn die Zeit gekommen war. Doch wann die Zeit reif war konnte die steinerne Wächterin nicht vorhersehen. Ihr Körper war wieder so starr und kalt wie es die Natur von Stein war. Das gleichmäßige Summen und Singen der noch viele tausend lebenden Kinder Mokushas wirkte erneut beruhigend auf sie ein. Was immer sie da bedrängt hatte, es hatte denen, über deren Wohl sie wachte nichts getan. Mit diesem beruhigenden Gedanken verfiel sie erneut in jenen Zustand, der weder Leben noch Tod war, um die Zeit zu überdauern, ob Tage, Monate, Jahre oder Jahrhunderte.
Louisette Richelieu sah ihre höchste Schwester und Heimstattgeberin fragend an. Diese nickte ihr zu. "Wenn das stimmt, dass die Russen eine Waffe gegen Veelas bauen, die ähnlich wirkt wie die blauen Todesstrahlen gegen Werwölfe, meinst du, dass es dann einen totalen Krieg der Veelas gegen die Zaubererwelt gibt, höchste Schwester?"
"Hat dein Verbindungsbild das so vermeldet, Schwester Louisette? Es steht zumindest zu befürchten, dass die Veelas sich das nicht gefallen lassen und einen massiven Gegenschlag ausführen werden, vor allem wo deren Blutrachementalität im Spiel ist. Aber soweit ich von meinen Verbindungen mitbekommen konnte ziehen sich alle Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen in Verstecke zurück und gehen den Ministeriumsleuten aus dem Weg, wo sie können. Nur die in Spanien und Frankreich lebenden Nachkommen jener gottgleich verehrten Mokusha wagen es noch, ihr bisheriges Leben fortzusetzen."
"Du meinst, die verstecken sich und bleiben für Jahre oder gar Jahrzehnte versteckt, höchste Schwester?" fragte Louisette nach. Anthelia sah sie an und erwiderte: "Ich denke, sie werden ähnlich den Vampiren einen Überdauerungsschlaf bevorzugen, um nicht verrückt zu werden, weil sie über viele Monate oder gar Jahrzehnte in einem selbstgewählten Schutzkerker ausharren müssen. Du bist ja auch noch bei klarem Verstand, obwohl wir nicht wissen, ob und wann du nach Frankreich zurückkehren kannst."
"Das ist wohl richtig, höchste Schwester. Dennoch denke ich immer mehr daran, dass ich was versäume, je länger ich hier bei dir bin. Sicher, ich bekomme alles direkt mit, was hier besprochen und beschlossen wird, auch deine Ausflüge in die Glücksspielhäuser der Muggels. Aber selbst tun kann ich im Moment nichts. Das kann einen schon um den Verstand bringen."
"Ja, und damit das nicht so kommt habe ich dir ja so viele Aufgaben zugeteilt, unter anderem die Überwachung aller Bilderverbindungen, die wir in den letzten Jahren einrichten konnten. Und was die Glückspielhäuser angeht, so hat Schwester Romina vor einem Tag vermeldet, dass es offenbar zu gewissen Unstimmigkeiten zwischen einer Verbrecherfamilie in New York und einem ebenso gesetzlosen Herren aus San Francisco gekommen ist, weil der aus New York behauptet, sein Sohn sei von ihm um seinen Lohn betrogen worden und der aus San Francisco das abstreitet, weil er natürlich nicht weiß, wer die Dame im roten Abendkleid war, die in jenem Spielclub in Atlantic City so hoch und glücklich gewonnen hat. Gut, jetzt weiß ich wenigstens, dass ich bei meinen weiteren Ausflügen gut verkleidet auftreten muss, also geschminkt und mit getöntem Haar, damit deren Verbindungsleute mich nicht erkennen. Ach ja, ich habe über Romina alle Unterlagen zusammentragen lassen, die mich und einen gewissen jungen Darsteller namens Sunnydale betreffen. Es war schon gut, dem nach dem Ende unserer kurzen Affäre alles Wissen um mein Aussehen zu nehmen. Aber mir wurden diese Bilderjäger doch langsam lästig, und ich wollte ihn nicht dauerhaft bei mir einquartieren wie es die Mischblüterin Ladonna mit ihrem Bettwärmer getan hat."
"Welchem Bettwärmer, höchste Schwester?" wollte Louisette wissen. Anthelia erzählte ihr noch einmal, was sie über Ladonnas Haus bei Florenz herausbekommen hatte und dass dieses ursprünglich einem jungen Lebemann namens Luigi Girandelli gehörte. Den mochte sie wohl weiter als Liebhaber kultivieren. Das verstand Louisette. Ihre Gedanken schweiften zu Albertine Steinbeißer. Louisette wusste immer noch nicht, dass diese durch das Testament ihrer Vorfahrin eine neue Persönlichkeit erhalten hatte und nun nicht mehr ausschließlich auf weibliche Liebespartnerschaften bezogen war. Anthelia und Albertrude hatten vereinbart, dass nur Albertrude ihrer einstigen Dauergeliebten Louisette verdeutlichen durfte, was mit ihr los war. Doch offenbar war dieser Zeitpunkt noch nicht da.
"gehst du heute noch einmal aus?" fragte Louisette. Anthelia wiegte den Kopf und schüttelte ihn dann. "Ich darf nicht zu viel auf einmal wagen. Dass ich den Spielclub mehrerer Verbrecherbanden besucht habe sollte mir zu denken geben, dass diese Unholde sich untereinander abstimmen, wann jemand mit einer hohen Glückssträne bei ihnen spielt. Mit dem, was ich bis dahin erspielt habe können wir, sollte das wahrhaftig nötig sein, mehr als zehn Jahre in der magielosen Welt leben. Aber bisher ist dies ja nicht nötig. Insofern kann ich meine Beutezüge durch die Spielhäuser bis auf weiteres aussetzen."
Vera Barkowa apparierte im Salon von Tyche Lennox' ehemaligem Wohnhaus. Sie verbeugte sich vor der höchsten Schwester und meldete, dass das russische Zaubereiministerium jetzt darauf ausging, mindestens zwanzig oder dreißig Veelas auf einem Haufen mit dem Prototypen ihrer Massentötungswaffe zu erledigen. Anthelia nickte und fragte, ob Arcadis Mordbuben die Suche nach Mokushas Insel aufgegeben hatten.
"Soweit ich weiß, und das sind Angaben um drei oder vier Ecken herum, wird immer noch nach flüchtenden Veelas gesucht, die sich in eine bestimmte Richtung bewegen. Aber weil die Veelas das auch wissen wählen sie andere Fluchtrouten, nicht den direkten Weg. Außerdem können die sich unsichtbar machen, und Unortbar sind sie eh."
"Ja, aber einige von denen haben rein menschliche Familienangehörige. Was passiert mit denen?" wollte Louisette Richelieu wissen. "Sie werden die Methode kopieren, mit der sich der europäische Veelakontaktzauberer von seiner direkten Verbindungsperson zu geheimen Treffen tragen lässt", sagte Anthelia. Louisette nickte. Auch sie hatte über eine Bilderverbindung zu ihrer Nichte Jaqueline ohne deren Wissen erfahren, wie Julius Latierre im selbstgeschrumpften Zustand auf Létos Schwanenrücken geritten war, wie der tragische Held der Geschichte um Nils Holgersson. "Stimmt, wenn Léto dies an ihre Angehörigen und die an deren Veela-Angehörigen weitergegeben hat haben die echt einen Weg, um unortbar zu verreisen", meinte Vera Barkowa.
"Hüte dich weiter vor Entdeckung und behalte die Nachrichten im Blick, Schwester Vera!" befahl Anthelia. Dann fragte sie, wie es Anastasia gehe. "Die ist froh, dass sie mehr von ihrem Wissen und Können zeigen kann alls vor sechs Jahren noch, höchste Schwester. Sie hofft darauf, eines Tages in deine Schwesternschaft eintreten zu dürfen", sagte Vera Barkowa. Anthelia nickte. Wie wichtig Mitschwestern in umkämpften und überwachten Gebieten waren zeigte sich ja gerade jetzt wieder.
Vera kehrte in ihre Heimat zurück, um aus sicherer Entfernung und über drei jederzeit von ihr abtrennbare Verbindungsstellen die Vorgänge im russischen Zaubereiministerium zu überwachen. Anthelia dachte an die Monate zurück, wo sie Vera in der jetzt nicht mehr existierenden Daggers-Villa beherbergt hatte und die in ihrem Leib auf ihre Wiedergeburt hinwachsende Dido auf die Welt geholt hatte. In zehn oder zwanzig Jahren mochte Anastasia Barkowa eine weitere Mitschwester von ihr werden. So schnell verging die Zeit.
Die drei Wachsfackeln brannten in ihrem weißgelben Licht auf ihrer jeweiligen Seite des neun Ellen messenden Tetraeders. Alle drei Mitglieder des Trimetrion Hecateion saßen auf ihren Beratungsstühlen. Wie es die uralte Vorschrift ihres Ordens war trug jede einen silbergrauen Schleier vor dem Gesicht. Sicher wusste jede, wer die andere war. Doch galt, dass nur die große Mutter Hecate selbst die Gesichter ihrer obersten Dienerinnen sehen sollte, wenn diese zur Beratung zusammenkamen.
Nach dem üblichen Begrüßungsritual sprachen die drei Mütter davon, welche Gefahr am Horizont heraufzog wie eine Unwetterfront. Mutter Trioditis, die Hüterin der drei Wege, die zugleich auch Lauscherin weltweiter Nachrichtenverbindungen war, erwähnte, dass sie erfahren hatte, dass Arcadis Ministerium wahrhaftig eine Waffe zur flächendeckenden Tötung von Veelabluttragenden erbaut hatte. Mutter Trigonia, die Hüterin der drei Lebensabschnitte, stellte fest, dass wenn die Waffe gegen Mokushas Kinder wirklich wirkte diese zum Vernichtungszug gegen alle Trägerinnen und Träger magischer Kräfte aufrufen würden. Mutter Triformis, die Wissende um gegenständliches, lebendiges und nichtstoffliches fragte, wie wahrheitsgetreu die Berichte waren. Immerhin hätte Ladonna ja über Arcadi eine bewusste Falschmeldung verbreiten lassen können, um die Veelabluttragenden einzuschüchtern. Darauf entgegnete Mutter Trioditis:
"Meine heeren Weggefährtinnen und Blutsverwandten haben ausgeschlossen, dass es sich um eine bewusste Täuschung der dreiblütigen Widersacherin handelt. Die Waffe soll wahrhaftig geschmiedet und mit entsprechenden Zaubern belegt worden sein. Eine Kundschafterin aus meinen Reihen hat über die heimlichen Verbindungen nach Moskau erfahren, dass Minister Arcadi höchst selbst den Einsatz dieser Waffe befohlen hat. Ja, und einer seiner Getreuen hat unwissentlich hinterlassen, wo sich diese Waffe befindet und wo deren Baupläne aufbewahrt werden."
"Ach, so hat deine Enkeltochter ihre alten Verbindungen wiederbeleben können, Mutter Trioditis?" fragte Mutter Triformis, die Mutter des Wissens um gegenständliches, lebendiges und nichtstoffliches. Mutter Trioditis bejahte dies. "Und sie ist sicher, dass es kein bewusst ausgelegter Köder Arcadis ist, um Verräter in den eigenen Reihen zu enthüllen und bei der Gelegenheit gleich zu töten?" wollte Mutter Trigonia wissen. Mutter Trioditis erwiderte unverzüglich: "Genau die Frage habe ich meiner Enkeltochter gestellt. Sie prüfte die ihr zugegangenen Nachrichten nach und schaffte es auch, eine weitere, heimliche Quelle auszuschöpfen. An dem von ihr erfahrenen Ort bei Tomsk in Sibirien gibt es ein solches Haus, das im Ruf steht, von starken Zauberkräften umhüllt zu sein und dass Arcadis Waffenschmied Grolenkow dort seine geheimsten Entwürfe verstaut hat, verschlossen in Blutsiegelkerkern. An und für sich kann dort niemand heran, bei der oder dem nicht das vorgeprägte Blut in den Adern fließt. Aber ich habe schon eine Idee, wie wir ihn dazu bringen können, die Pläne herauszugeben, wenn wir diese nicht aus dem Haus herausholen können."
Die nächsten Minuten erläuterte Mutter Trioditis, welchen Einfall sie hatte. Mutter Triformis ergänzte die Ausführungen um nötige Nachbesserungen. Denn um einen erfahrenen Kundigen der Thaumaturgie dazu zu bringen, die Urschriften geheimer Pläne aus der eigentlich vollkommen sicheren Verwahrung hervorzuholen und weiterzureichen bedurfte es schon einer sehr glaubhaften Begründung. Die schliff Mutter Trigonia noch zurecht, indem sie einwarf, dass die Ergebnisse des Versuches mit einfachen Probanden noch ausstanden und die Pläne gegebenenfalls nachgebessert werden müssten und zwar so, dass auch alle Kopien davon entsprechend nachgebessert werden mussten.
"Bisher haben sie ihre Waffe noch nicht erfolgreich erprobt", sagte Mutter Triformis. Mutter Trioditis nickte. Das deckte sich auch mit ihren Erkenntnissen. Dann sagte sie: "Aber wir kommen an die bestehenden Vorrichtungen heran. Drei sollen es sein? Dann werden wir diese erbeuten und unschädlich machen."
"Ja, und spätestens dann müssen sie die Pläne wieder hervorholen, um neue Vorrichtungen zu erschaffen", sagte Mutter Trigonia. Mutter Trioditis bejahte das. Dann sollte der gerade ausgefeilte Plan in Kraft treten, die Urschriften der Fertigungspläne zu erbeuten.
"Was spricht dagegen, diese Pläne nicht zu erbeuten, sondern nur so abzuändern, dass weitere Vorrichtungen unbrauchbar sind, Schwestern?" fragte Mutter Triformis. Mutter Trigonia sah ihre gleichrangige Mitschwester an. Durch die Schleier konnte keine das Gesicht der anderen lesen. Doch Trigonias Stimme klang unüberhörbar verdrossen: "Das eine kleine Abänderung der Pläne zur Folge hat, dass nicht Veelabluttragende, sondern Menschenbluttragende verheert werden. Mein Ansehen als Heilerin und die Unterwerfung unter die zehn Hauptvorschriften der magischen Heilkunst verbieten es mir und meinen Anvertrauten, Menschenleben zu gefährden, Mutter Triformis."
"Ich stimme dir Zu, Mutter Trigonia. Unser Ziel muss die vollständige Beseitigung der Waffe und ihrer Herstellungspläne sein, kein Blutbad unter deren Herstellern", erwiderte Mutter Trioditis mit entschlossener Stimme. Mutter Triformis fügte sich dem Beschluss ihrer beiden Mitschwestern. So wurde beschlossen, die geheimen Pläne und die fertigen Waffen zu erbeuten und deren Erfinder auf eine von vier erörterten Arten die Erinnerung an deren Vorhandensein und Herstellung zu nehmen. Damit konnte Mutter Trigonia leben, weil die Heilervorschriften ebenso vorgaben, erkannte Gefahren für andere Menschen und menschengleiche Wesen mit Zauberkräften abzuwenden.
Nach dieser Beratung beendeten die drei obersten Töchter Hecates ihre Versammlung mit dem üblichen Abschiedsritual. Die drei für jede einzelne der Mütter brennenden Fakclen loderten noch einmal für drei Atemzüge hell auf, bevor sie zu einem roten Glosen abdunkelten, das gerade hell genug war, dass die drei ihren Weg nach draußen finden konnten. Als keine mehr in der Beratungshöhle war erloschen die Fackeln vollständig. Völlige Dunkelheit erfüllte die Höhle.
Selene war heilfroh, dass sie wieder frei lesen und schreiben durfte. So konnte sie auch auf Berichte antworten, die sie von ihrer Mutter erhielt. Sie hatte sich schriftlich zu der Vernichtung der sieben Tempel der Vampirgötzin geäußert und davor gewarnt, die Gefahr durch deren Anhänger geringer einzuschätzen. Vielmehr mussten alle mit Vampiren befasssten Stellen und Gruppierungen davon ausgehen, dass die angebliche Göttin der Blutsauger bereits Nachwuchs rekrutieren ließ, und zwar dort, wo wenige bis gar keine Ministeriumszauberer überwachten, was geschah.
Als ihre Urgroßmutter Eileithyia Greensporn zu Besuch war sagte sie dieser: "Sie wird es weiter so machen wie mit den grauen Kristallstaubvampiren. Sie wird in Kriegsgebieten oder in von keinem Gesetzeshüter überwachten übervölkerten Elendsvierteln weltweit ihre Erfüllungsgehilfen hinschicken, um nach und nach Stadtviertel zu kleinen Kolonien ihrer Art zu machen. Daher ist es sehr wichtig, dass die vom Laveau-Institut erfundenen Vampirblutresonanzkristalle in größerer Stückzahl hergestellt und nicht nur in den US-amerikanischen Armenvierteln, sondern weltweit verteilt werden. Ich fürchte, dies geht nur über die Weitergabe der Herstellungsart. Die Frage ist, ob die Leiter des Laveau-Institutes sich darauf einlassen."
"Ich muss dir leider zustimmen, Selene", seufzte Eileithyia Greensporn. Aber vielleicht geht es auch mit dem, was wir ursprünglich gegen das Vampirwerdungsagens entwickelt haben. Meinst du, es wirkt auch gegen die traditionelle Vampirwerdungspraxis an?"
"Ich fürchte, das wird nicht gelingen, Uroma Thyia", sagte Selene. Dass sie körperlich erst sieben Jahre alt war und eine entsprechende Kinderstimme hatte täuschte nicht darüber hinweg, wie viel mehr sie wusste. "Ich fürchte, dass es eben ohne diese VBR-Kristalle nicht mehr möglich ist, eine unkontrollierte Vampyrogenese zu stoppen. Du kennst welche vom Laveau-Institut?"
"Ich kenne natürlich deren residente HeilerinMia Silverlake und kann über diese auch Anfragen an deren Direktor Davidson oder dessen Stellvertreterin O'Hoolihan stellen. Aber ich müsste sie dazu bringen, es zu einem Befehl der Institutsleitung zu machen, dass deren universalbegabter Ausrüstungsmeister sein Wissen um diese sehr brauchbaren Kristalle mit anderen Kollegen teilt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die wahre Dienstherrin des Laveau-Institutes eben jene Marie Laveau ist, der Geist einer unter uns Heilmagierinnen nicht unumstrittenen Voodoomeisterin, der durchaus befinden kann, welche Erkenntnisse des Institutes mit der restlichen Welt geteilt werden und welche nicht. Aber ich werde deine Warnung als meinen Einfall ausgeben und im Rahmen der Heilerdirektiven verlangen, dass meine Kollegin Silverlake die Herstellungspläne für die Vampirblutresonanzkristalle erhält."
"Ja, und wenn deren Spielzeugmacher nicht mitspielt, Oma Thyia?" fragte Theia. "Immerhin kannte meine selige Frau Mutter diesen universalbegabten als Schüler. Der hat schon immer sein ganz eigenes Verständnis von Mitteilsamkeit gepflegt."
"In dem Fall werde ich Mia Silverlake wohl androhen müssen, sie wegen mutwilliger Verweigerung höchst wichtiger Kenntnisse aus der Heilzunft auszuschließen. Die dicke Keule wollte ich als Zunftsprecherin eigentlich nicht schwingen. Aber mein Vorgänger hat es schon mal durchgezogen, einen Heiler zu exapprobieren, der meinte, nur auf eigene Rechnung wertvolle Erkenntnisse nutzen zu dürfen. Unsere Zunft lebt und gedeiht von der Mitteilung wichtiger Forschungs- und Behandlungsergebnisse, ob Erfolge oder Misserfolge."
"Dann müssen die sich vom LI eine neue Heilerin suchen?" fragte Selene. "Offiziell müssten sie das. Inoffiziell kann Mia weiterkurieren, nur eben in ständiger Gefahr, bei Fehlschlägen von uns wegen mutwilliger Gefährdung von Menschenleben belangt zu werden", sagte Eileithyia und war froh, dass ihre Blutsverwandten nicht mitbekamen, wie sie an Silvester Partridge und seinen dreisten Selbstversuch mit einem gefährlichen Endoparasiten dachte.
"Vielleicht können wir deiner Kollegin ja auch helfen, selbst hinter die Herstellung der VBR-Kristalle zu kommen, Oma Thyia", meinte Selene. "Im Grunde braucht sie dafür nur einen funktionierenden Kristall, eine Probe Vampirblut und einen Nachbau eines Herzens, in dem das Vampirblut kreist, sowie den Kristallofortis-Trank von Grundsand und Gerstenwurz."
"Hmm, dir ist hoffentlich bekannt, dass die Züchtung von Kristallen auf Basis des erwähnten Trankes zu unkontrollierter Raumgreifung des nachzuzüchtenden Kristalls führen kann und dass ein auf magische Agentien angewiesener Kristall für das Wachstum eben jenes Agens in exponentiell zunehmender Menge benötigt und bei Nichtverfügbarkeit ungewünschte Abweichungen hervorbringt?" fragte Eileithyia Greensporn. Selene nickte schwerfällig. Denn ihr wurde gerade klar, dass zur Nachzüchtung von VBR-Kristallen immer frisches Vampirblut benötigt werden mochte, eben um eine magische Resonanz zu erzeugen. Der von ihr erwähnte Trank mochte mit der entsprechenden Umwälzpumpe einen schnell unbeherrschbar werdenden Bedarf an Vampirblut erzeugen. Doch eben da haperte es am Ende. Magische Kristalle waren nicht zu unrecht ein eigenständiger Unterzweig der Thaumaturgie und Alchemie. Sie konnte sich in dem Zusammenhang an interessante Diskussionen am Lehrertisch von Beauxbatons erinnern, obwohl ihr früheres Ich Austère Tourrecandide eher für die Abwehr dunkler Zauber zuständig war. So sagte sie weniger enthusiastisch: "Natürlich hätte sonst schon jeder im Besitz eines solchen Kristalls den Kristallwachstrank benutzt, um eine beliebige Menge davon nachzuzüchten. Womöglich hat der Ausrüstungsmeister des LIs seine Erfindung zusätzlich gegen derartige unerlaubte Vervielfältigungen abgesichert. Um so wichtiger sollte es sein, die Freigabe seiner Kenntnisse zu erbitten, um eine alle Pestepidemien der Weltgeschichte übertreffende Vampirplage zu vermeiden. Das dürfte auch im Sinne jener Voodookönigin aus den Sümpfen von New Orleans sein."
"Finde ich auch, Selene", pflichtete Eileithyia Greensporn ihr bei.
Es ging dann noch um die Nachtschattenkaiserin und wie diese einzudämmen war. Selene wollte dann noch einmal wissen, was genau in Ägypten geschah. Eileithyia hatte über das Netzwerk der Heilerzunft alle von mitgereisten Heilern gemachten Beobachtungen erhalten. So sagte sie: "Es dürfte sicher sein, dass jene Entität nicht vollständig ausgelöscht wurde, aber derartig geschwächt ist, dass sie wohl eine geraume Weile keine Gefahr darstellt. Wie lange diese geraume Weile dauert können wir jedoch nicht sagen und sind daher darauf gefasst, dass sie wieder auftaucht oder ihre Diener ausschickt, wenn sie diese wieder vollständig befehligen kann." Dem konnte Selene beipflichten. Immerhin reichte es hier, Häuser mit gegen Nachtschatten wirksamer Sonnenmagie abzusichern, die ebenfalls in den von der Sonne verwöhnten Ländern entwickelt worden war.
"Das LI hat doch auch Verbindung zu den Sonnenkindern. Besteht die Möglichkeit, dass über diese sowohl gegen die Vampirbrut als auch die Nachtschattenkaiserin und ihr Gefolge etwas wirksames zu bekommen ist?" wollte Selene wissen. Theia verzog ihr Gesicht. Eileithyia schüttelte den Kopf mit dem silbergrauen Haar. "Das hüten die, die mit diesen Sonnenkindern zu tun haben als ihr höchstes Geheimnis. Ich denke, dass das LI nur dann mit den Sonnenkindern in Verbindung tritt, wenn es selbst was von denen will. Hmm, ich hoffe jedoch, dass deine Frage auch schon bei denen selbst auf dem Tisch liegt und sie von sich aus handeln, um eine Plage von Vampiren und Nachtschatten zu verhüten. Denn laut der alten Sagen und Mutmaßungen sind sie ja genau deshalb entstanden, um die Menschen vor Geschöpfen der Dunkelheit zu beschützen", sagte die Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft. Theia nickte beipflichtend, ebenso Selene.
So beschlossen die drei, dass es erst einmal nur um eine möglichst freie und zahlreiche Verbreitung der Vampirblutresonanzkristalle gehen sollte. Im Gegenzug wollten die Hemlocks über Eileithyia die Rezeptur für den Immunisierungs- und Reinigungstrank weitergeben, der von jenem Vampyrogenkeim von damals befallene Menschen vor der Vampirwerdung schützte oder sie durch intensive Blutreinigung wieder zurückverwandelte. Bei durch klassischen Blutaustausch zu Vampiren gewordenen gelang das zwar nicht, aber wer wusste schon, ob die selbsternannte Göttin der Vampire nicht erneut auf das Vampyrogen zurückgreifen würde, um den Verlust an Gefolgschaft zu kompensieren.
Ein langer Augenblick des Wachens. Ihre Augen glühten blau. Ihre ausgebreiteten Arme erbebten. War es wahr oder ein kurzer Traum? Sie hörte die lauten, kräftigen Schreie eines neugeborenen Kindes über das im Hintergrund beruhigend andauernde Summen und Singen hinweg. Ja, ein neues Kind war auf die Welt gekommen, ein Mädchen. Ob es ein reines Menschenkind war oder aus der langen Linie Mokushas stammte war nicht zu hören. Doch warum hatte sie seine ersten Schreie im Leben gehört? Als die Schreie nachließen kannte sie die Antwort. Ein wichtiges Ereignis war eingetreten. die Hoffnung ihrer Schöpferin mochte sich doch noch erfüllen, sofern es kein Traum war, kein in Hoffnung wiegender, flüchtiger Traum. Wieder kehrte Ruhe ein und ließ die steinerne Wächterin in ihren Überdauerungsschlaf versinken. Wer sie hier sehen konnte mochte sie nur für die Nachbildung einer auf die Niederkunft wartenden Mutter mit einladend ausgebreiteten Armen halten. Doch kein Wesen mit Augen war hier, das sie hätte ansehen können. Sie blieb allein, wartend, hoffend, bereit, die Aufgabe zu erfüllen, für die sie erschaffen worden war.
Um nicht alle wichtigen Zauberer und Hexen des Ministeriums auf einen Haufen zu treffen verständigten sich die Abteilungen seit der gescheiterten Konföderationssitzung in der Schweiz und den ersten großen Losreißungsaktionen in der Schweiz und den deutschsprachigen Ländern über vergrößerte Zweiwegespiegel, von denen jeder so groß wie ein erwachsener Mann war. So konnte Ilja Anatoliewitsch Mogorow den amtierenden Zaubereiminister so sehen, als stünde er gleich hinter einer silbern gerahmten Glastür. "Gosbodin Minister, wir haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, wo die Insel der Veelas sein muss, Ungenauigkeit um die 1000 Quadratseemeilen Sicher, die meisten von denen reisen wohl unsichtbar dahin. Doch wir haben an die dreißig geflügelte Boote gezählt, die vor allem aus den Anrainerländern Bulgarien, Rumänien und der Ukraine losgefahren sind und dann wortwörtlich im Dunkel der Nacht verschwanden. Ich kann das Gebiet jetzt mit einem großen Kreis bezeichnen, in dem am Rand oder in der Mitte die Insel Mokushas sein mag. Was sollen wir damit machen?"
"Die Karte schicken Sie mir. Ich gebe die weiter an die richtigen Stellen, um die nächsten Schritte zu unternehmen", sagte der Zaubereiminister im großen Zweiwegespiegel. Mogorow bestätigte diese Anweisung.
Der berühmt-berüchtigte sibirische Winter schickte seine Vorboten. Ein klirrendkalter Nordwind blies den drei Zauberern in ihren dicken pelzen um die nicht bedeckten Wangen und in die Augen. Grolenkow deutete schnell auf die Stelle, wo die getarnte Blockhütte stand. Dort hatten sie die erste von drei Vorrichtungen versteckt. Der Kundschafterdienst des Ministeriums hatte die ungefähre Lage der Insel Mokushas ermittelt, weil er mehrere geflügelte Fahrzeuge, die nicht aus der nichtmagischen Welt stammten überwacht hatte. Allerdings war das betreffende Meeresgebiet noch mehr als 1000 Quadratseemeilen groß. Wie groß die Insel da selbst war wusste kein Mensch. Daher war es nötig, noch genauere Angaben zu erhalten. Grolenkow und Arcadi hatten eine andere Herangehensweise beschlossen. Wenn Veelablut den Durchlass zu jener Insel öffnete konnte eine Vorrichtung, die selbst ein winziges Quantum Veelablut enthielt als Aufspürgerät wirken und vielleicht auch einen Durchschlupf erzeugen, wenn die eingebaute Funktion Kraftquellumwälzung eingeschaltet wurde, der magischen Barriere um die Insel also vorgegaukelt werden konnte, jemand mit in den Adern strömendem Veelablut würde sich nähern. "Der Minister will in vier Tagen verkünden, ob die Gefahr durch aufständische Veelas gebannt werden kann oder nicht, Igor. Also los, versuchen wir es erst mal mit Aufspüren!"
Die Hütte enttarnte sich auf die abgestimmte Zauberstabbewegung und das festgelegte Losungswort. Es sah so aus, als würde im Wald ein schmaler Riss entstehen, der sich immer weiter ausdehnte und sich auf die Größe eines kleinen Hauses ausdehnte. Darin flirrte es. Als der Riss die Endgröße erreichte stand fest und für jeder Mann sichtbar ein Blockhaus mit vier Räumen da.
Im Schein ihrer entzündeten Zauberstablichter betraten die drei russischen Ministeriumszauberer die Hütte, nachdem Grolenkow noch den Bakunin'schen Vorhang vor der Tür beseitigt hatte. Im zweiten Raum stand eine pechschwarze Truhe mit goldenen Beschlägen und drei Schlössern. Grolenkow sperrte jedes Schloss auf. Er machte Handzeichen, dass seine Mitarbeiter Igor und Anatoli zwei Schritte zurücktreten sollten. Dann öffnete er die Truhe. Eine Wolke aus silbernem Dunst entstieg der Truhe, umwaberte das Möbelstück und Grolenkow und zog sich wieder in die Truhe zurück. Grolenkow trat vor und griff in die Truhe. Er zog eine rot-schwarz karierte decke hervor. Dann lag sie vor ihm, die Vorrichtung, die zum Schrecken aller aufmüpfigen Kinder Mokushas werden sollte.
Ähnlich wie in der vorgeführten Darstellung war das Artefakt eine zwei Männerköpfe durchmessende Kugel, die aus sich heraus sacht rot leuchtete. Vier wie bei einem Schmetterling angebrachte Flügel, allerdings mit spitzen Enden, lagen an den Seiten an. Als das Licht der Zauberstäbe auf die Vorrichtung traf zuckten die vier tiefroten Schwingen und entfalteten sich. Grolenkow betrachtete die geflügelte Vorrichtung, die wie eine dreißigmal größere Schwester eines Quidditchschnatzes anmutete, eben nur, dass sie nicht golden schimmerte, sondern in einem ins Schwarz übergehendem Rot glomm.
"Igor, die Karte mit der Zielmarkierung bitte!" forderte Grolenkow. Sein Kollege Igor Borisewitsch Tupulew reagierte erst nicht. So heftig war er vom Anblick der geflügelten Kugel gefangen. Doch dann kam er der Aufforderung nach. "Also die Größe des Zielgebietes schafft unser geflügelter Bote nicht. Aber wenn wir von außen nach innen hineinfliegen wird es vielleicht was. Anatoli, den Transportsack!"
Anatoli Sergejewitsch Borzow befolgte die erteilte Aufforderung, während Grolenkow an nur ihm gerade sichtbaren Stellen der Kugel den Zauberstab auftippen ließ, um die Zielbestimmung einzustellen. Dann übernahm er den pechschwarzen Transportsack, der weder Licht noch Wärme durchließ und so bezaubert war, dass er Transportgüter bis zu zwei Tonnen Gewicht an zwei Flugbesen befördern konnte.
Mit vereinten kräften hoben die drei die an die zweihundert Pfund wiegende Kugel aus der Truhe. Nur sie wussten, warum die so schwer war. Sie schafften es, sie ohne die vier sanft wippenden Flügel zu beschädigen, sie in den Transportsack zu legen. Dann trugen Igor und Anatoli ihn hinaus, während Grolenkow die Decke in die Truhe zurücklegte und diese wieder vollständig verschloss. Dass in zwei Wandelraum-Staufächern noch zwei gleichartige Vorrichtungen waren wussten nur er und der Minister. Die anderen sollten glauben, dass die beiden anderen Vorrichtungen in ähnlichen Blockhütten irgendwo in der Taiga versteckt waren.
Grolenkow wollte gerade hinaustreten, da hörte er Igors lauten Ausruf: "Anatoli, noch nicht losfliegen!" Er rannte durch die aufschwingende Tür und sah gerade noch, wie Anatoli auf seinem Buran-Besen auf Höhe der Baumwipfel dahinjagte, den schwarzen Transportsack hinter sich herziehend. Pjotr Grolenkow rief ihm nach, wieder zu landen, da er in die falsche Richtung flog, nämlich nicht nach Süden, dem schwarzen Meer zu, sondern nach nordosten. Doch Anatoli achtete nicht auf den Anruf. Grolenkow und Tupulew griffen ihre eigenen Besen, um hinterherzufliegen. Sie riefen ihren Besen die Worte für stürmischen Start zu und jagten raketengleich nach oben. In nur zwei Sekunden überwanden sie die höchsten Baumwipfel und bogen nach Nordosten ab. Doch auch Borzow hatte seinem Besen ein Kommando gegeben, dass ihn wesentlich schneller fliegen ließ. Dennoch holten seine Kollegen ihn Länge für Länge ein. Es war nur eine Frage einer Minute, bis sie bei ihm waren, da das Gewicht und die ausladenden Bewegungen des Transportsacks ihn schlingern ließen. "Anatoli, wo willst du hin?" rief Pjotr Grolenkow. Da rief Anatoli zurück: "Zur Windburg!" Die ihm folgenden Kollegen wussten eine Sekunde lang nicht, was dieser Ausruf sollte. Doch als Borzows Buran-Besen blau aufleuchtete und mit ihm in einer wirbelnden Lichtspirale verschwand war es offensichtlich. "Drachendreck! wieso war sein Besen ein Portschlüssel?" fragte Igor. Dann sah er, wie auch Igors Besen blau aufstrahlte und mit seinem Reiter verschwand. In großer Sorge, dass er ebenfalls gleich in einen Portschlüsselwirbel hineingezogen würde verkrampften sich Grolenkows Hände um den Besenstiel. Doch ihm widerfuhr kein Portschlüsselzauber. Dann hörte er Stimmen weiter unten, Stimmen von drei Männern, die sich etwas auf Italienisch zuriefen. Italienisch? Das konnte nur heißen, dass die Rosenkönigin jemanden geschickt hatte. Natürlich, nur diese wusste außer ihm, seinen Mitarbeitern und dem Minister, dass es die Veelavernichtungswaffe gab. Er hörte, wie die drei sich zuriefen, dass das gesamte Blockhaus versetzt werden sollte, um an "Das Objekt" zu gelangen. Grolenkow argwöhnte, dass die Rosenkönigin ihre Gefolgsleute geschickt hatte, um Arcadi die fertigen Vorrichtungen zu entwenden. Doch wieso auf diese Weise? Sie hätte doch nur befehlen müssen, ihr die Vorrichtungen auszuhändigen, ja und auch die Pläne herauszurücken. Warum also sowas? Dann dämmerte es ihm. Die da unten waren Verräter an der Königin. Sie hatten herausbekommen, was diese plante und hatten sich in das russische Zaubereiministerium eingeschlichen. Doch diesen dreisten Verrat würde er ihnen vereiteln. Sicher, sie hatten sich eine der Vorrichtungen gesichert, stand für ihn fest. Aber die beiden anderen würden sie nicht bekommen. Er musste nur einen Feuerball auf die Hütte abfeuern. Wurde die Wandelraumtruhe zerstört verschwand all ihr Inhalt unrückholbar im magischen Fluidum, dass alles stoffliche und nichtstoffliche tränkte.
Wie ein auf Beute ausgehender Greifvogel stieß er auf seinem Besen hinunter. Da ploppte es vor ihm, und er fand sich ohne Übergang in einer silbern leuchtenden Sphäre, die seinem Besen innerhalb eines Herzschlages allen Schwung raubte. Nun schwebte er innerhalb jener Silberblase wie ein Blatt im Wind zu Boden. Die hatten ihn wieder reingelegt und ihm die Argyrosphaera Meteora entgegengeschleudert, einen altgriechischen Zauber, um herabstürzende Körper abzufangen und federleicht zu Boden gleiten zu lassen. Aber dieser Zauber galt als Hexenmutterzauber und wurde in Durmstrang nicht unterrichtet. Womöglich wurde er in der Gattiverdi-Akademie italienischsprachiger Hexen und Zauberer unterrichtet, dachte Grolenkow, bevor die ihn tragende Silberblase auftippte und mit leisem Plopp zerplatzte. Grolenkow musste beide Hände nehmen, um seinen Sturz zu verhindern. Das verschaffte seinen Widersachern die Gelegenheit, ihm einen Schockzauber aufzubrennen.
als er wieder aufwachte sah er, dass die Hütte lichterloh brannte. Er erinnerte sich, dass er mit Igor und Anatoli gerade noch entrinnen konnte, bevor die außer Balance geratenen Vorrichtungen in drachenfeuerheißer Glut explodierten. Offenbar wirkte die magische Entladung auf Gegenstände mit Flugzaubern. Denn ihre Besen waren ohne Berührung mit dem Feuer wie Zunder verbrannt. Igor und Anatoli waren disappariert um den Vorfall zu melden, während er, Pjotr Grolenkow, das Ausmaß der Vernichtung dokumentieren wollte. Wie konnte er einen derartigen Fehler begangen haben? Doch nun musste er zusehen, dass er sich selbst in Sicherheit brachte. Denn das magische Feuer brannte immer heißer. Die Flammen wurden immer heller und nahmen einen immer blaueren Farbton an. Der heiße Atem des Brandes verblies die sibirische Kälte und trieb ihn immer weiter zurück. Er musste zu Arcadi, ihm Bericht erstatten. Dann galt es, die versteckten Pläne hervorzuholen und nachzuprüfen, was zu dieser spontanen Entladung geführt hatte. Vielleicht war es mutwillige Beschädigung, aus der Magieunfähigenwelt auch als Sabotage bekannt. Doch er hatte die Fertigung der Waffe von A bis Z beaufsichtigt, rund um die Uhr und in allen Entwicklungsphasen darauf geachtet, dass keine mutwillig ausgeführten Verfremdungen einflossen. Am Ende lag es an dem verwendeten Material. Doch dann hätte jede Vorrichtung bereits bei Fertigstellung derartig heftig reagieren müssen. Er musste das klären, bevor ihm der Minister oder gar die Königin selbst mutwillige Beeinträchtigung ihrer Ziele vorhalten mochten. So warf er sich herum und disapparierte.
Über den Wipfeln kreisten drei Eulen. Eine von ihnen warf noch einen Blick in das lodernde Feuer und verlor fast die Flugbeherrschung. "Obacht, Schwester, nicht in das Feuer fallen!" hörte sie eine Stimme in ihrem Geist. Sie stimmte sich auf die Absenderin ein und sandte zurück: "Ich vergesse immer wieder, wie grell Phlegetons Fluten leuchten können, Schwester Pamphile"
"Ja, vor allem für Eulenaugen, Schwester Chrysagora", bekam sie zur Antwort.
"Und ihr seid euch ganz sicher, dass dieser Pjotr Grolenkow alles glaubt, was ihr ihm ins Gehirn gepflanzt habt?" fragte eine zweite Stimme in Chrysagoras Geist. "Vollkommen. Er wird keinen logischen Fehler in seiner Erinnerung finden", schickte Chrysagora der Fragerin zurück. Chrysagora gehörte zu Mutter Trigonias besten Gedächtniszauberinnen und war wie Pamphile und Triselenia eine Eulen-Animaga klassischer Ausprägung.
"Gut, dann bringen wir die beiden anderen Mörderkugeln zum anempfohlenen Zielpunkt. Die anderen überwachen Pjotr Grolenkow weiter und passen auf seine Mitarbeiter auf."
"Gut, dass ichnicht zur zweiten Gruppe gehörte", dachte Chrysagora nur für sich, während sie mit ihren Bundesschwestern zu einer Lichtung flog, auf der sie nach behutsamer Aufhebung des Diebstahlschutzzaubers die schwarze Wandelraumtruhe abgesetzt hatten. Pamphile hatte sichergestellt, dass die beiden noch als einsatzbereit beschriebenen Vorrichtungen wirklich in den zwei verfügbaren Wandelraum-Staufächern lagen.
"Ihr wisst, dass der Wald abbrennen wird, wenn wir das Feuer nicht löschen?" fragte Chrysagora, als sie die Truhe zwischen ihren Besen eingeschirrt hatten und den Luftzauber "Haus des unspürbaren Windes" darum errichtet hatten, der von drei ihn beherrschenden Hexen zusammen eine Blase der Unsichtbarkeit und Windablenkung erzeugte.
"So mahnt die Heilkundige, Schwester Chrysagora. Aber sei unbesorgt. Schwester Pamphile und ich haben genug Eismuschelperlen um die Hütte ausgelegt. Die sind alle mit dem Wall des untaubaren Eises bezaubert. Sobald das Feuer eine bestimmte Ausdehnung erreicht kommt es nicht weiter, bis die Kraft von Phlegetons Tropfen restlos aufgebraucht und alles Brennbare im Schutzkreis verbrannt ist. Denkst du, wir fackeln die Taiga ab?"
"Ich wollte nur sicher sein, dass ihr nicht unschuldige Tiere und Pflanzen umbringt", sagte Chrysagora.
"Ich erhalte einen Ruf unserer Mitstreiterin der zweiten Gruppe. Abschnitt drei der Unternehmung "Veelafrieden" hat begonnen", vermeldete Pamphile.
"Öhm, dann sollten wir mit Abschnitt zwei aber ganz schnell machen, damit er noch in der richtigen zeitlichen Abfolge abgeschlossen wird", gemahnte Mitschwester Triselenia. Chrysagora konnte dem nur beipflichten.
"Gut, dann sei es! Stilles Wasser!" rief Pamphile. Darauf erstrahlte der silberne Ring am Ende ihres Flugbesens silbern und hüllte sie alle in eine silberweiße Lichtspirale ein. Dann wurden sie von einem silberweißen und hellblauen Wirbel verschluckt, der sie mehrere Sekunden lang dahinzog, um sie nur zwei Kilometer über einem im Mondlicht glitzernden Meer herauskommen zu lassen.
"Ach neh, auch schon da?!" wurden sie von einer anderen Frauenstimme angerufen, deren Trägerin jedoch ebenfalls unsichtbar war. Pamphile lachte und grüßte zurück: "Woran hast du gesehen, dass wir es sind, Schwester Taygete?!" rief Pamphile. "Weil mein Mondzauberglöckchen in der Weise gebimmelt hat, dass nur einer von unseren Mondportschlüsseln in der Nähe erschienen sein kann. Aber ansonsten kann uns und euch keiner Orten. Wir können uns also sichtbar machen."
"Bist du sicher, dass diese Kugel keinen Standortanzeigezauber enthält?" fragte Triselenia. "Ich habe es geprüft, sagte Taygete. Dann wurden sie alle vier sichtbar.
Taygete erwähnte, dass sie die bereits wirksame Zielanflugbezauberung mit einem Verzögerungszauber unterbrochen hatte. Ein Standortanzeigezauber sei nicht vorhanden. Sie habe auf alles geprüft, Localisatus Inanimatus, Lococlamantus, Relatus terrestris und die anderen euch sicher noch bekannten Ortbarkeitszauber. Im Gegenteil, ich konnte feststellen, dass diese Kugel einen Unortbarkeitszauber ähnlich unserer Beratungsinsel hat, eng gebündelt, aber eindeutig nachweisbar. Mag mit der Zusammensetzung und Bezauberung zusammenhängen. Diese Kugel kann zwar auf bestimmte Zielpunkte eingestimmt werden wie ein Portschlüssel, aber nicht mit Aufspürzaubern oder Ortungszaubern gefunden werden."
"Und du hast den Zielanflugszauber unterbrochen, Schwester Taygete?" fragte Triselenia. Taygete bestätigte das. "Dann wirken wir den verzögerten Auslöser", sagte Pamphile, die von allen drei anderen als Leiterin dieser Unternehmung anerkannt wurde.
Sie holten die schwere, geflügelte Kugel aus dem schwarzen Sack. Sie erbebte. Die Flügel spannten sich halb auf und klappten wieder zusammen. Pamphile zielte auf die Kugel und wirkte den verzögerten Auslösezauber, der jede in einem Gegenstand schlummernde Zauberkraft nach Ablauf der gedanklich festgelegten Zeit bewirkte, egal was für ein Zauber es war. Dann ließen sie die Kugel einfach fallen. "Von jetzt an dreihundert Sekunden oder fünf Minuten", sagte Pamphile.
Auf ihren Besen, die eingeschirrte Wandelraumtruhe zwischen sich, stiegen sie weitere tausend Meter nach oben. Die in Gang gesetzte Vorrichtung schlug mit einer kurz aufschießenden Wassersäule in die wogende See einund versank darin. viereinhalb Minuten später erblühte weit unter ihnen ein Farbenspiel aus roten, blauen und hellgrünen Lichtern, die sich von einem gemeinsamen Ausgangspunkt in alle Richtungen ausbreiteten und dabei wie schnell dahinjagende Wasserschlangen durch die Meerestiefe eilten. Alles in allem sah das Lichtspektakel aus wie ein tief im Meer leuchtendes Polarlicht. Vorhänge und Wellen aus Licht, Netzwerkartige Verflechtungen und aufgehende Feuerblumen erhellten das Meer von unten her. Die an der Oberfläche auf und absteigenden Wellen störte das nicht. Der Lichterspuk hielt eine volle Minute vor. Dann verging er übergangslos.
"Oh, interessant. Offenbar bedingt die Tiefe, in der die Waffe entladen wurde, dass ihre Entladungen eine eher belebende, das Wachstum fördernde Kraft ausüben", sagte Chrysagora, die mehrere mitgeführte Geräte ablas. "Zum teil waren Blutanregungszauber dabei, zum Teil auf die eigene Lebensaura verstärkend wirkende Strahlen dabei. Sie waren jedoch durch das Meer schon so stark zerstreut, dass wir hier oben nichts davon zu spüren bekommen haben. Ich gehe jedoch sehr stark davon aus, dass meine Messgeräte zerstört worden wären, wenn die Vorrichtung in freier Luft gewirkt hätte. Ja, ich gehe davon aus, dass sie die Atemluft mit einer für Veela tödlichen Bezauberung vergiftet hätten. Insofern war es die richtige Entscheidung, sie im tiefen Meer auszulösen."
"Dann machen wir das mit den zwei anderen Waffen auch", sagte Pamphile. Im Abstand von fünf Minuten wurden die zwei weiteren einsatzfähigen Veelavernichtungswaffen entladen. Jedesmal bot sich den vier Hexen das rot-blau-grüne Farbenspiel unter dem Meer.
"Gut, dann vermelde ich Abschnitt Zwei der Unternehmung "Veelafrieden" erfolgreich beendet", erwähnte Pamphile und mentiloquierte die am nächsten zu ihrem jetzigen Standort postierte Empfangsstelle an.
Mike Woodworth war der diensthabende Satellitenkontrolleur des nationalen meteorologischen Institutes an der Ostküste von Australien. Er überwachte fünf landeseigene und drei aus den USA stammende, mitbenutzungserlaubte Satelliten auf unterschiedlichen Umlaufbahnen, davon einen eostationären Satelliten über Punkt Nemo, dem Punkt im Pazifik, der von allen Küsten gleich weit entfernt war und wegen der dort vorhandenen Wassertiefe gerne als Abladeplatz für ausgediente Satelliten, Raumkapseln und Raketenstufen diente. Von dort ausgehende Wetterereignisse, Strömungsänderungen und Temperaturwechsel konnten auch für die australische Ostküste wichtig sein. Entsprechend elektrisiert starrte Woodworth auf ein plötzlich auftretendes Farbenspiel, das dem beobachtenden Satelliten nach in knapp 500 Metern Meerestiefe stattfand und sich über mehr als einen Quadratkilometer weit ausdehnte. Als denn im Abstand von je fünf Minuten zwei weitere Ereignisse dieser Art, nur um etwa einen Kilometer vom ersten Ausgangsort entfernt erfolgten wusste Woodworth, dass es weder ein Satellitenfehler noch eine Halluzination war. Er prüfte, ob es sich um eine mögliche Spiegelung eines Südlichtes handelte. Doch die darauf angesetzten Satelliten hatten keine Aurora Australis zu den fraglichen Zeitpunkten verzeichnet. Ebenso lag keine Meldung über erhöhte Sonnenwindaktivitäten vor. So rief Woodworth seinen Schichtvorgesetzten an und meldete ihm die drei fremdartigen Leuchterscheinungen. Dieser wollte natürlich die Aufzeichnungen sehen und erhielt sie über die Bildleitung des Institutes. "Temperaturanzeigen?" fragte Woodworths Vorgesetzter. "Kein Grad Unterschied. Die Lichtentladungen sind scheinbar ohne Hitze entstanden. Vielleicht sind wir noch nicht entdeckten luminiszierenden Tieren oder Plankton aufgesessen. Durch die langsame Erderwärmung könnten bis dahin unbekannte Organismen aus dem Südpoleis freigesetzt worden sein und ..."
"Ich merke, dass Sie am falschen Platz sitzen, Woodworth. Aber überlassen Sie die mögliche Erklärung lieber den Kollegen bei uns in Canberra. Öhm, haben die Spionagegeräte aus den USA das auch mitgeschnitten?" fragte Woodworths Vorgesetzter. "Ja, haben sie. Am Ende meinen die Yanks noch, da unten würden Außerirdische feiern."
"Ja, könnten die glatt glauben. Nachher schickt deren Präsident noch eine Flotte dahin, um die Tiefseetaucher aus dem All mit Wasserbomben zu bewerfen. Am besten ist es, wir kriegen raus, was da unten passiert ist, bevor echt solche Gerüchte in den Himmel schießen wie Jackys Bohnenranke." Woodworth verstand. Bis jemand es klar benennen konnte, was er da mitbeobachtet hatte durfte er es keinem anderen sagen.
Maximilian Arcadi erwachte von einem wilden Glockengebimmel. Alarm?! Er sprang auf und eilte im Nachtgewand in den angrenzenden Nachrichtenraum, wo fünf verhängte Spiegel an den Wänden hingen. In der Raummitte stand ein dreibeiniger Tisch, auf dem eine silberne, berunte Glocke stand, die ohne Klöppel läutete. Er fasste die Glocke an. Darauf erschien an ihrem unteren Rand die rot leuchtende Meldung: "Spiegel Grolenkow!" Er trat an den zweiten schwarzen Samtvorhang von rechts und zog diesen bei Seite. Ein junger Mitarbeiter Grolenkows stand in voller Lebensgröße im silbernen Spiegelrahmen. "Erst einmal Entschuldigung, Gosbodin Arcadi, Sie geweckt zu haben. Zweitens melde ich, dass alle drei einsatzbereiten Vorrichtungen zerstört sind. Fehlkonstruktion führte zu Brand im Aufbewahrungshaus. Gosbodin Grolenkow und Mitarbeiter noch unterwegs, um Schaden zu dokumentieren."
"Wie bitte?! Alle drei Vorrichtungen zerstört? Wie genau und warum?" wollte der Minister wissen. "Ursache unbekannt, könnte Fehlkonstruktion sein", sagte Grolenkows junger Gehilfe. "Wenn Ihr Herr wieder bei Ihnen ist soll er zum Treffpunkt roter Abendstern kommen. Geben Sie das so weiter", sagte Arcadi. Sein Gesprächspartner bestätigte das.
Grolenkow, Borzow und Tupulew trafen sich am vereinbarten Ort und erfuhren, dass sie zum geheimen Besprechungsraum sollten, wo der leibhaftige Zaubereiminister auf sie wartete. Grolenkow fühlte sich alles andere als behaglich. Wenn er Maximilian Arcadi jetzt gestehen musste, dass er womöglich Pfusch beim Bau der neuen Vernichtungswaffe gemacht hatte konnte ihm das den Arbeitsplatz kosten. Igor Tupulew und Anatoli Borzow wirkten dagegen so, dass sie sich keiner Schuld bewusst waren.
Als der Minister wahrhaftig in Begleitung von zwei Leibgardisten erschien und erst mal abwartete, ob die Gardisten unerwünschte Bezauberungen oder Artefakte fanden legte sich Grolenkow die Worte zurecht, die er sagen wollte. Erst als die Leibgardisten dem Minister gestatteten, den Raum zu betreten und der Grolenkow ansah sagte dieser: "Gosbodin Arcadi, offenbar ist meiner Arbeitsgruppe bei der Balance der Vernichtungszauber ein Fehler unterlaufen. Die lange Lagerung mag dazu geführt haben, dass bei der ersten Bewegung eine unbeherrschbare Überladung einsetzte. Näheres kann ich erst durch die genaue Nachprüfung der Bauabschnitte bestimmen. Die Pläne liegen noch in meinem Sicherheitsschrank."
"Warum ist es jetzt erst geschehen und nicht schon bei der Herstellung?" fragte der Minister. Grolenkow verstand nicht, was daran nicht verständlich war, dass er erst alle Abschnitte durchgehen musste, um den Fehler und damit das "wie" zu finden. Doch weil der Minister eine Antwort verlangte sagte er: "Weil die Vorrichtungen über Tage ruhig gelagert wurden und dann wieder bewegt wurden. Dabei könnte eine Verschiebung im inneren Gefüge geschehen sein, also durch die Zugwirkung der Schwerkraft einer der mit der Erde korrespondierenden Zauber aus dem Lot geraten sein. Doch wie genau was ins Ungleichgewicht geriet muss meine Untersuchung zeigen."
"Mit anderen Worten, Sie drei wissen nicht, ob sie wirklich eine Veelavernichtungswaffe oder nicht doch nur eine bewegungsempfindliche Feuerbombe gebaut haben?" fragte Arcadi. Grolenkow bestätigte das mit einem Nicken. Darauf erwiderte Anatoli Borzow ungefragt: "Die Waffen hätten bei einer Ungenauigkeit von tausend Quadratseemeilen auch nicht viel gebracht."
"Was so nicht richtig ist", warf Grolenkow ein. "Wir hätten sie als Zielfindungshilfen einsetzen und den Suchbereich damit erheblich einschränken können. Doch jetzt müssen wir erst herausfinden, warum die Magiebalance so instabil war und ob das bei späteren Waffen wieder so sein wird."
"Was du nicht sagst, Pjotr", erwiderte Arcadi. "Dann solltest du dich womöglich mit besseren Kennern von ruhenden Zauberkrafteinlagerungen zusammensetzen als mit diesen beiden leeren Wodkaflaschen da."
"Ach nein, wird der Herr ob seiner Rangstellung jetzt persönlich?" begehrte Tupulew auf. "Ich habe Grolenkow und Borzow immer gesagt, dass Veelablut und Veelahaar sehr unvorhersehbare Magieträger sind und je mehr davon zusammengebracht wird um so unbestimmbarer die Wirkung." Grolenkow verzog das Gesicht. Was gab Tupulew da von sich? Der hatte ihm nie so eine Ansage gemacht. Der hatte nur gesagt, dass die bei Veelahaaren so unberechenbare Auswirkung damit ausgeführter Zauber dadurch ausgeglichen werden konnte, dass Kraftspeicher aller vier Weltkräfte eingesetzt werden mussten und vor allem im Bereich Feuerzauber pures Gold der beste Speicher überhaupt war. So fragte er schnell: "Wer hat mir denn den Rat erteilt, vier Elementarspeicher um den Wirkungskern anzuordnen, dass die aufgestaute Veelamagie nicht in unbeherrschbarer Form freigesetzt wird? Wieso kommen Sie uns jetzt damit, dass Sie immer schon vor der Verwendung von Veelabestandteilen gewarnt haben?"
"Weil das so ist", erwiderte Tupulew. Als wenn das nicht schon mehr als genug war hieb auch Borzow in die geschlagene Kerbe und sagte: "Ein kurzes Ruckeln, und schon ist eine auf Erdschwerkraft reagierende Bezauberung im Fluss oder gerät ganz aus dem Tritt. War wohl eine Schnapsidee, die Dinger in einer Wandelraumtruhe zu lagern. Rein thaumaturgietheoretisch können Körper, die in solchen Behältern eingeschlossen werden über eine Zeit hinweg die erdmagiebezogenen Eigenschaften verändern und beim Herausnehmen ganz anders reagieren."
"Jetzt mal Ruhe im Saal!" brüllte Arcadi. "Warum haben Sie drei Könner das nicht schon längst vorher geklärt und abgestellt? Pjotr, du hast mir bei unserer Sitzung vor einigen Tagen zugesichert, dass die Vorrichtungen beherrschbar sind und tun, was wir von ihnen wollen. Also was wusstest du da noch nicht?"
Grolenkow straffte sich und sagte: "Dass es wohl doch günstiger gewesen wäre, die drei Vorrichtungen wirklich an drei weit voneinander abgelegenen Orten zu lagern, statt sie in derselben Truhe einzuschließen. Es könnte nämlich auch eine interspatiale Resonanz aufgetreten sein, die das Gefüge der Wandelraumtruhe unspürbar zum Schwingen gebracht und die Waffen dadurch angeregt hat. Näheres wird wie schon mal erwähnt eine Nachprüfung der Bauabschnitte ergeben. Ich baue einfach noch eine große Vorrichtung und unterziehe sie bewusst Belastungen, die sie im Normalfall nicht auszuhalten braucht. Wenn wir dann wissen ..."
"Ja, und dann ist eine Vorrichtung weniger verfügbar. Du hast was von gerade mal bis zu zehn Vorrichtungen des großen Typs gesagt. Außerdem könnten die Veelas bis dahin herausfinden, dass das schwarze Meer mit Spähflüglern überwacht wird und sich unsichtbar davonmachen, um weit entfernt unterzukommen."
"Ja, aber wenn wir die Insel von denen treffen ist es egal, ob da nur zehn oder tausend von denen sind, wegen des symbolischen Treffers", sagte Grolenkow. "Dann findet heraus, woran es gelegen hat!" grummelte Arcadi.
"Nur wenn Sie die gegen mich und Gosbodin Borzow benutzte Beschimpfung "leere Wodkgaflasche" zurücknehmen", begehrte Tupulew auf. "Ja, am dreißigsten Februar", knurrte Arcadi. "Nun, dann brauchen wir da nicht weiter drüber zu verhandeln, Herr Minister. Leere Wodkaflaschen können keine Wunderwaffen bauen", sagte Tupulew. Borzow nickte heftig. Arcadi sah die beiden und dann Grolenkow an. "Pjotr, bring den beiden Benehmen bei und krieg sie dazu, sich zu beeilen!"
"Wir setzen uns sofort dran und ..." setzte Grolenkow an. Doch Tupulew und Borzow schüttelten die Köpfe. "Nicht ohne die Rücknahme der Beschimpfung", fuhr ihm Tupulew dazwischen.
"Gut, Pjotr, die zwei hier wollen nicht. Dann teile ich dir zwei neue Leute zu. Du baust mit denen fünf kleine Vorrichtungen und prüfst die alle durch! Die zwei hier werden sich einem Disziplinarverfahren stellen, weil Sie gegen meine Anweisungen aufbegehren und mich offenbar nicht respektieren. Leute, ihr wisst, was das heißen kann", sagte der Minister.
"Ja, dass die Königin uns töten könnte", grummelte Borzow. Arcadi nickte heftig. Tupulew wirkte nun auch so, als wenn er einsah, dass er wohl auf sehr dünnem Eis balancierte. "Also, hol die Pläne aus deinem Hochsicherheitsschrank und geh es mit den zwei Könnern da durch, was bei den nächsten Vorrichtungen beachtet werden muss!" befahl Arcadi. Grolenkow bejahte es.
"Mir fällt ein, dass ich vor kurzem noch mit meinem Amtskollegen Pataleón darüber gesprochen habe, dass er gerne ein Exempel an den bei ihm lebenden Veelastämmigen statuieren würde. Doch er kommt nicht an ihr Anwesen heran. Kein feindlicher Eindringling, kein Brechungszauber kommt zu ihnen durch. Er hat es nicht so ausgedrückt, aber mir ist nicht entgangen, dass er nach den ganzen widerlichen Goldlichtern in der Schweiz und den Deutschen Ländern Angst hat, ihm könnte auch sowas geschehen. Die Mitglieder der spanischen Sektion der internationalen Zaubererkonföderation haben sich ja auch irgendwo versteckt, wohl in einem Fidelius-Versteck. Aber wenn wir wirklich eine wirksame Waffe gegen die Veelastämmigen haben, dann könnten wir sie auch in Spanien einsetzen und herumgehen lassen, dass alle Koalitionsministerien sie besitzen und gegen die erklärten Unruhestifter einsetzen werden, wenn diese keinen Frieden geben. Also baut erst einmal die fünf Waffen und testet sie. Wenn mindestens eine, bestenfalls alle fünf diese Prüfungen überstehen erhaltet ihr die Ortsbezugspunkte, die Pataleón mir mitgeteilt hat. Dort dürft ihr dann am lebenden Objekt prüfen, ob eine neue große Vorrichtung einen Sinn hat", raunte Arcadi. Grolenkow verstand. Dann fragte er, warum sie nicht gleich auf dieses Ziel einwirken wollten. Darauf sagte der Minister: "Weil ich bis vorhin noch davon ausging, dass ihr diese versteckte Insel finden und entvölkern werdet. Das wäre ein wesentlich heftigerer Schlag gegen diese selbstherrlichen Wesen. Aber so musste ich meine Ansprüche verringern. So, und jetzt macht, dass ihr an eure Arbeit zurückkehrt!"
Grolenkow nickte und winkte seinen beiden Mitarbeitern. Diese erhoben sich ein wenig missmutig dreinschauend und folgten ihm hinaus. Vor der zwischen hohen Felsen versteckten Steinhütte disapparierten sie.
Arcadi vertat selbst keine Zeit und kehrte in seine eigene, gesicherte Zuflucht zurück. Bald würde er wieder als Minister in das amtliche Gebäude in Moskau zurückkehren können, ohne Angst, als Versager getötet zu werden oder als Feind der einzig wahren Königin einen blutigen Krieg gegen alle anderen Zauberer und Hexen führen zu müssen.
Erst wusste sie nicht, was sie diesmal geweckt hatte. Es waren keine Todesschreie, keine Klagelaute, kein ihr entgegenflutendes Getöse und auch keine ersten Schreie im Leben eines neuen Menschenkindes. Nein, es war eine fast vollkommene Stille. Das sonst ihr Dasein begleitende, sie in jenem Zustand völliger Untätigkeit haltende Summen und Singen war beinahe verklungen. Nur wenige Dutzend, so wirkte es, sandten ihre gleichmäßigen Schwingungen des Lebens in die Welt hinaus, brachten die aberdutzend von ihr ausgelegten Stränge zum klingen. Doch es waren eben keine abertausend mehr.
Die steinerne Wächterin brauchte ungezählte Augenblicke, um sich ihrer Lage bewusst zu werden. Ihre Augen glommen wieder in jener Farbe, welche die Augen ihrer sich aufopfernden Schöpferin besessen hatten. Ihre ausgebreiteten Arme erbebten. Warum waren es nur noch so wenige? Warum war sie nicht erwacht, als so viele auf einmal den Tod fanden. Waren die etwa alle eines natürlichen Todes gestorben und waren friedlich in Mokushas ewigen Schoß eingekehrt? Doch wenige waren noch da, wohl gesund an Leib und Seele. Diesmal reichte das gleichmäßige Singen der Lebenden nicht mehr aus, um sie erneut in tiefen Schlaf zu versenken. Diesmal überwog die Sorge der in der steinernen Wächterin aufgegangenen Seele, dass doch jemand die von ihr zu schützenden aus der Welt stoßen wollte. Ja, und sie wusste auch, dass es Zeit war, um den Traum ihrer Schöpferin, deren Geist in ihr Halt gesucht und ihr ihr Leben dargebracht hatte, zu erfüllen, wollte sie nicht weiterhin untätig bleiben, bis kein Kind Mokushas mehr auf der Erde weilte. Was würde ihr widerfahren, wenn sie dies zuließ? Also galt es zu handeln.
Als ob Julius es geahnt hätte, dass heute was besonderes passierte hatte er es geschafft, schon um halb vier aus dem Rechnerzelt in sein Haus zurückzukehren. Da hörte er das laute Stöhnenund gequälte Wimmern aus dem kleinen Haus an einem der Bäume. Goldschweif kam nieder. Vier Junge würde sie bekommen, wenn alles gut ging. Denn Goldschweif war nicht mehr die jüngste. Doch offenbar ging es ihr wie Ursuline Latierre, solange sie konnte, bekam sie Kinder.
Julius, Aurore, Claudine und Béatrice postierten sich rund um die Alterslinie, die Julius extra um den Baum gezogen hatte, damit die kleinen Kinder nicht zu Goldschweif hinrennen konnten, solange sie bei den Jungen sein würde. Er hatte es einmal erlebt, wie rabiat Goldschweif ihre Kinder gegen Eindringlinge verteidigen konnte. Das musste er nicht am eigenen Leib erleben und erst recht nicht seine Kinder spüren lassen, wie scharf Knieselkrallen sein konnten.
"Tut der das auch so weh wie Maman, als sie Flavine und Phylla aus ihrem Bauch gedrückt hat?" fragte Aurore leise. Julius vermutete, dass es so war, auch wenn Kniesel beim Kinderkriegen anders standen als Menschenmütter. Dann wurde es auf einmal ganz still. Julius blickte zu dem Baum hinüber. Mehrere Sekunden lang war nichts mehr zu hören. Er dachte schon, Goldschweif sei unter der Geburt ohnmächtig geworden oder gar erstickt oder verblutet. Das konnte alles passieren. Doch jetzt schon loszulaufen und nachzusehen war vielleicht zu früh. Er sah Béatrice an. Die nahm ihren Zauberstab und ließ einen ungesagten Aufspürzauber über den Baum streichen. "Ui, Goldie ist ganz erschöpft. Drei einzelne Leben kann ich erfassen. Ah, jetzt ein viertes", flüsterte Béatrice. Da begann Goldschweif wieder zu keuchen und zu wimmern. Dann erklang noch ein kurzer Aufschrei. Dann war wieder stille. Julius wollte schon losspringen, doch da hörte er das erste zaghafte Maunzen von winzigen Kätzchen und dann ein vernehmliches Schnaufen. Goldie, bist du noch da?" fragte er leise. "Ich noch da. Ganz müde. Alles tut weh. Alle Klopfer draußen", hörte nur er Goldschweifs antwort. "Brauchst du Hilfe?" fragte Julius. "Nur müde. Muss wach sein. Klopfer wollen meine Milch", ächzte Goldschweif. Béatrice ließ noch einmal den Zauber über den Baum streichen. "Fünf Leben, alle ganz erschöpft", sagte sie. "Sag der Trice, die soll das Schwirren nicht machen. Tut in den Ohren weh", quengelte Goldschweif. Julius gab es weiter. "Das kriegt sie also auch mit", meinte Béatrice. "Dabei wird der Vitoscillus-Zauber als die schonenende und vor allem unsichtbare Variante des Lebensquellenanzeigers empfohlen. Na ja, habe ich was für den nächsten Heilerherold, dass der Zauber bei magiesensitiven Tierwesen nicht unbedenklich ist."
"Die Trice hatte nur Angst, du wärest zu müde, um die Klopfer aus dir rauszulassen", sagte Julius zu Goldschweif. "War diesmal ganz schwer. Tat mehr weh und hat mich noch müder gemacht als sonst. Aber alle trinken jetzt. Alle sind lebend."
Dieser Vitoscillus-Zauber ist mir auch neu, Trice. Hast du den in der Heilerausbildung gelernt?" wollte Julius wissen.
"Der war sozusagen ein Mitbringsel beim letzten Kongress, eben um auf Entfernung zu prüfen, ob es einem Wirbeltierr gut geht oder nicht. Dass ein Kniesel die Magie schwingen hören kann wusste die Kollegin da noch nicht. Heilerin Bromelia Honeycutter aus Alberta, Kanada. Sie hat damit tatsächlich versteckte Polarfüchse, ein Wolfsrudel und einen Eisbären aus mehr als zweihundert Metern Entfernung überwachen können, hat sie erwähnt."
"Ach, die Eiselfe?" fragte Julius. Béatrice grinste. "Ja, so hat sie ein enthusiastischer Eislandforscher genannt", sagte sie. Dann bat sie darum, dass Julius nachfragte, was für vier neue Knieselkinder Goldschweif denn hatte. Wie er das schon mehrmals getan hatte fragte er Goldschweif, ob sie schon erzählen konnte, wie viele männliche und wie viele weibliche Junge sie bekommen hatte. Es dauerte ein wenig. Dann kam die Antwort, dass es zwei Männchen und zwei Weibchen waren. Ihm gefiel es nicht, wie erschöpft Goldschweif klang. Bei den letzten Würfen war sie fast gleich nach dem Loslösen der Nabelschnüre rausgekommen und hatte Julius mitgeteilt, dass sie es wieder überstanden hatte. Béatrice und Millie merkten, wie sich Julius sorgte. "Das könnten die letzten sein, die Goldie bekommen hat", mentiloquierte Millie, um weder von Aurore und Claudine, noch von der scharfohrigen Goldschweif gehört zu werden. Er schickte zurück: "In ihrem Alter noch mal vier Stück zu kriegen war auch anstrengend. Eigentlich müsste das mit ihrer Rolligkeit, der Stimmung dann auch mal nachlassen." Millie schwieg dazu. Sie wollte auf keinem Weg mitteilen, ob sie Julius' Hoffnung teilte oder sich doch eher Sorgen machte, dass Goldschweif tatsächlich einmal unter der Geburt starb. Dass dies möglich war hatten verschiedene Berichte über magische Wirbeltiere ergeben.
"Am besten lassen wir sie jetzt in Ruhe, damit sie und die Kleinen sich erholen können", schlug Béatrice vor. Aurore und Claudine waren etwas enttäuscht, weil sie gehofft hatten, die neuen Maunzebällchen gleich nach der Geburt sehen zu können. Doch die Erwachsenen brachten ihnen im ruhigen Ton bei, dass keine Mutter, die nach einer ganz anstrengenden Geburt müde ist, sofort Besuch haben möchte. Da Aurore und Claudine ihren Müttern bei einer Geburt zugesehen hatten verstanden die Mädchen, dass es da besser war, erst einmal abzuwarten.
Im Laufe der weiteren Stunden erholte sich Goldschweif jedoch. Julius hatte ihr Wasser hingestellt und rohes Hühnerfleisch. Sie konnte wieder gehen. Ihr Hinterleib war auch wieder ganz sauber. Offenbar hatte sie während des Säugens alle Spuren der Niederkunft von sich abgeleckt und die Reste von Fruchtblasen und Mutterkuchen gefressen, wie das bei halbzahmen Fleischfressern oft vorkam. Jedenfalls freute sie sich, es wieder geschafft zu haben. Julius freute sich, dass sie es geschafft hatte. Wie die vier neuen Heißen sollten wollte er später festlegen, wenn er sie selbst ansehen durfte.
Morgenröte, Sommerwind und Lebensfeuer waren als Wachende zurückgeblieben. Sie blickten auf eine Stadt aus Zelten, in denen all die tausende Kinder Mokushas und ihre menschnlichen Anverwandten im tiefen Schlaf der dauerhaften Geborgenheit ruhten. Morgenröte blickte in die gelbroten Strahlen der Sonne, die den Saum zwischen Himmel und Erde berührte und lautlos darunter versank. Ein weiterer Tag ging zu ende. Lebensfeuer, der älteste lebende Sohn Mokushas, badete sich im vergehenden Licht des Tagesgestirns, dem sein Volksstamm geweiht war. Sommerwind blickte auf die wogenden Meereswellen, die das Licht der sinkenden Sonne goldenrot widerspiegelten.
"Es war wohl gerade noch rechtzeitig, dass die letzten rumänischen Brüder und Schwestern zu uns kamen", sagte Sommerwind. Morgenröte fragte, ob sie damit die am Himmel kreisenden, durchsichtigen Vierflügelvögel meinte, die in großen Kreisen über dem Meer herumflogen wie auf Beute ausgehende Greifvögel. "Das sind Späher, die für Menschenaugen unsichtbar sind. Sie sollten sehen, wo unsere Insel ist und haben alle beobachtet, die unvorsichtigerweise sichtbar über das Meer zu uns kamen. Wir können nur hoffen, dass unsere Feinde nicht erkennen, wo unsere heilige Insel zu finden ist und dass es keinen Weg gibt, Mokushas Schutzmantel darum herum zu durchbrechen."
"Meine ältere Schwester Himmelsglanz hat mir zugesungen, dass die uns wohlgesinnten Menschen bereits daran arbeiten, die Bedrohung aus Russland zu beseitigen. Vielleicht, so Himmelsglanz, erhalten sie dabei auch eine Gelegenheit, die von der verdorbenen Tochter geknechteten Kurzlebigen aus der Knechtschaft zu befreien."
"Himmelsglanz ist sehr zuversichtlich, nicht wahr?" fragte Sommerwind. Morgenröte nickte. Immerhin war es ja gelungen, einige Zaubereiministerien aus Ladonnas Gewalt zu lösen. Noch gab es an die fünfzig Kerzen mit goldenem Docht, die darauf warteten, entzündet zu werden und damit das Licht der Befreiung über alle jene zu bringen, die noch unter Ladonnas dunklem Unterwerfungszauber standen. Diese Hoffnung hielt ihr Volk am Leben. Ein russisches Sprichwort sagte, dass die Hoffnung immer zuletzt starb. Daran glaubte Morgenröte nicht nur was das Überleben ihrer Verwandten anging.
Eine schwarze Störchin segelte mit ausgebreiteten Flügeln heran. Sie flog so schnell, dass der Luftstrom unter ihren Flügeln reichte, sie sicher auf Höhe zu halten. Erst als sie noch wenige Dutzend Schritte von den drei Wachenden entfernt war zog sie die Flügel zur Hälfte ein und ließ sich durchsinken. Dann bremste sie Vorwärtsschwung und Sinkrate und landete sicher auf ihren langen Beinen. Keine zwei Sekunden später stand statt der Störchin eine überragend schöne Frau im mitternachtsblauen Kleid mit nachtschwarzen Haaren da, Sternennacht, Ladonnas älteste noch lebende Verwandte.
"Und, was sagt Rotstein?" fragte Sommerwind statt einer Begrüßung. Sternennacht blickte die älteste lebende Tochter Mokushas an und erwiderte: "Erst einmal hat sie mir die Schuld daran gegeben, dass ich bei Ladonna immer noch nicht den letzten Schnitt ausgeführt habe. Dann hat sie eine Minute lang lauthals gelacht, als ich ihr die Entscheidung des Rates und die Bitte um Beistand überbracht habe. Dann sagte sie, dass du, Sommerwind, noch einmal zu ihr hinreisen mögest, um ihr das Angebot noch einmal zu verkünden. Erst dann würde sie es glauben und natürlich dann auch darauf eingehen, vor allem wo sie weiß, dass die Russen nicht nur Mokushas heilige Insel, sondern auch Rotsteins gegen körperliche Eindringlinge geschütztes Haus mit jener Vernichtungswaffe angreifen könnten."
"So sei es", grummelte Sommerwind. Sie konzentrierte sich. Innerhalb weniger Sekunden wurde aus der übermenschlich schönen Frau mit langen, goldenen Haaren eine Adlerhenne mit goldenem Gefieder. Diese wurde dann auch noch unsichtbar. Ein kurzes regelmäßiges Rauschen, das immer schneller und immer ferner klang. Dann war Sommerwind in Richtung Sonnenuntergang verschwunden.
"Sie hat es aber sehr eilig", sagte Sternennacht leicht verächtlich. Morgenröte erwiderte, dass dies ja vollkommen verständlich sei. Immerhin gelte es, Mokushas heilige Insel zu beschützen.
"Öhm, gut, dann muss sie auch nicht hören, dass Rotstein darauf beharrt, die Mutter des nächsten Kindes des von uns ausgewählten Zauberstabträgers zu werden. Ich fürchte, deine Schwester wird sich sehr beeilen müssen, wenn sie Rotstein zuvorkommen will."
"Du bist ein kleines, bissiges Biest, Sternennacht", knurrte Morgenröte. Warum musste Ladonnas lebende Verwandte sie wieder an jene schmerzvolle Niederlage in der Höhle der gesammelten Worte erinnern, als Rotstein sie im Duell des niederwerfenden Blickes besiegt und ihr damit auch körperliche Qualen zugefügt hatte? "Du hast ja deine Ansprüche an ihn verworfen, weil du meinst, er hätte sich mit Anthelia gegen dich verschworen, um dich zu demütigen", legte Himmelsglanzes Schwester noch nach. Mit gewisser Befriedigung sah sie, dass ihr worthafter Gegenschlag sein Ziel erreichte.
"Ja, hat er. Auch wenn alle anderen von euch meinen, ich hätte es ja darauf angelegt, von dieser aus zwei Seelen zusammengefügten Zauberstabträgerin gedemütigt zu werden. Deshalb will ich seine Saat nicht mehr in meinen Schoß aufnehmen und fünf Jahre an seinem Kind tragen."
"Vielleicht nur drei Jahre. Himmelsglanz hat an Apolline nur drei Jahre tragen müssen, und ich trug Diosan nur vier Jahre in mir", erwiderte Morgenröte. Sternennacht verzog ihr Gesicht und schnaubte, wieso sich reinblütige Töchter Mokushas überhaupt dazu herabließen, Kinder von kurzlebigen, unansehnlichen Menschenkindern auszubrüten. Morgenröte grinste mädchenhaft. "Weil es sehr vergnüglich und erregend ist, mit ihnen das Lager zu teilen und ihre ganze Ausdauer zu wecken, um die vollendete Vereinigung zu erzielen, Sternennacht. Nachtlied hat dies auch sehr genossen, wie wir ja alle wissen."
"Ja, und deshalb steht unser ganzes Volk am Abgrund der Vernichtung und ist vom Wohlwollen dieser kurzlebigen, hässlichen Menschenkinder abhängig", zischte Sternennacht. Doch Morgenröte hörte heraus, dass sie nur wütend war, weil der vom Ältestenrat auserwählte Vermittler sie, Sternennacht, zurückgewiesen hatte. Sicher, sie hatte er auch abgelehnt und ihr sogar noch vorzuhalten gewagt, das Beilager mit dem machtstrebenden, für einen Menschen sehr gut gestalteten Zauberer Grindelwald unrechtmäßig herbeigeführt, ja ihn dazu gezwungen zu haben. Dennoch träumte sie noch davon, ihn, der durch das Blut einer Halbriesin stärker und ausdauernder geworden war, auf ihr Lager zu holen und von ihm ein Kind zu empfangen. Dass er sich gegen sie und andere Töchter Mokushas so eisenhart verschließen konnte tat dieser heimlichen Begierde keinen Abbruch, sondern schürte sie weiter, wie ein gleichmäßig brennendes Kohlefeuer, ja vielleicht auch die Glut eines schlafenden Feuerberges, der darauf wartete, sein glutheißes Inneres ins Freie schleudern zu können. Doch ihre große Schwester hatte vor Zeugen klargestellt, dass sie das erste Recht an ihm beanspruchte. Nur wenn sie darauf verzichtete durfte sie, Morgenröte, sich noch mehr Hoffnungen machen. Aber wie war das? Die Hoffnung starb immer zuletzt.
"Sternennacht, dir ist doch bewusst, dass wenn deine eigene Verwandte, auch wenn sie nicht in direkter Linie von dir abstammt, uns anderen mutwillig schadet, das auch auf dich zurückfallen kann", sagte Morgenröte noch, um die gehässige Sternenveela noch weiter zu bedrängen. Sternennacht verzog ihr Gesicht und bejahte es. "Was meinst du, warum mir das so wichtig ist, dass diese Veelavernichtungswaffe nicht zum Einsatz kommt?" schnaubte sie. "Deshalb müssen wir uns ja alle vor ihr verbergen. Denkst du, mir gefällt das?" Morgenröte stellte klar, dass sowas niemandem gefiel. "Na also", knurrte Sternennacht. Doch Morgenröte hatte es gesehen, das Flackern von Angst in Sternennachts Augen. Sollte Ladonna über ihre Unterworfenen wirklich mehrere Veelas und ihre Blutsverwandten töten, so konnte Sternennacht selbst zum Ziel der Vergeltung werden. Natürlich wusste sie das.
Anthelia vernahm die tierhaften Gedanken eines fliegenden Wesens. Sie kannte diese Art von Gedanken. Da kam eine Posteule.
Die Führerin der Spinnenhexen öffnete eines der großen Fenster im ersten Stockwerk des durch Fidelius-Zauber und mächtigen Erdzaubern geschützten Hauses und sah einen majestätischen Uhu heranfliegen. Als der Vogel sich bis auf zwanzig Meter näherte konnte sie erkennen, dass es ein weibliches Tier war. Ebenso erkannte sie die am rechten Bein befestigte Papierrolle. Sie kannte den Vogel nicht und war angespannt. Wer schickte ihr diese geflügelte Briefbotin?
Der Uhu nahm die Einladung an und flog durch das geöffnete Fenster herein. Er flog auf eine lange, daumendicke Stange an der Wand zu und ließ sich darauf nieder. Mit einem raumfüllenden "Wuhuuu!" bekundete der Postvogel, dass er etwas abzugeben hatte. Anthelia blickte dem weiblichen Uhu in die Augen und dachte "Legilimens!" Unverzüglich sah sie, wie eine Frau mit schwarzen haaren und dunkelgrünen Augen ein Blatt Papier zusammenrollte, mit dünnen Holzringen zusammensteckte und dem Vogel die Rolle entgegenhielt. Anthelia musste fast lachen. Denn sie erkannte die andere Hexe. Das war Doña Margarita Isabel de Piedra Roja, die für tot und eingeäschert erklärte peruanische Rauschgiftkönigin, die eindeutig eine Hexe war. Wie hatte die das angestellt, ihren Postvogel zielgenau zu ihr hinzuschicken. Da hörte sie unter der Wirkung des Legilimens-Zaubers die entschlossene, ihrer Macht bewusste Stimme der anderen auf Spanisch sagen: "Bring das hier ins Land der Gringos und suche nach einem Ort, der für Menschen nicht sichtbar und stark verzaubert ist, Kukamama! Da suche nach der, die sich die höchste Schwester des Spinnenordens nennt!"
Anthelia stellte sich vor dem wartenden Eulenvogel hin und sagte auf Spanisch, wer sie war und dass sie die höchste Schwester des Spinnenordens war. Die Uhu-Henne gab noch einmal ihren Revierlaut von sich. Dann streckte sie das rechte Bein mit der Papierrolle aus. Anthelia prüfte lieber noch mit einem Zauber, ob an dieser Rolle nicht ein Portschlüssel gekoppelt war. Sie fand jedoch nur etwas, das dem Zauber Clavis Veritatis entsprach, mit dem ein Schloss oder ein Verschluss nur dann geöffnet werden konnte, wenn der Mensch, der es berührte seinen wahren Namen geäußert hatte. Auch wusste Anthelia, dass die Tränen der Ewigkeit jeden Fluch von ihr fernhielten, einschließlich Avada Kedavra. So löste sie die Papierrolle und griff nach dem ersten dünnen, blütenweißen Holzring. Dieser erbebte kurz. Doch dann ließ er sich widerstandslos von der Rolle abziehen. Sein Geschwister verhielt sich genauso. Nun konnte Anthelia die Rolle ausbreiten, die ebenfalls keinen Portschlüsselzauber enthielt. Dennoch wollte sie nicht laut lesen, was da in einer energischen, wunderbar geschwungenen Handschrift aufgeschrieben war. Da sie sehr gut Spanisch konnte verstand sie jedes Wort.
An die höchste aller Schwestern im Orden der schwarzen Spinne!
Vielleicht ist dir noch nicht bekannt, wer ich bin. Daher möchte ich mich kurz vorstellen. Ich bin Doña Margarita Isabel de Piedra Roja, Erbin eines alten Geschlechtes von zauberkundigen Menschen, die Vorfahren im erhabenen Reich der vier Weltecken, von den Europäern auch Reich der Inkas genannt, besaßen. Ich lebe in Peru und unterhalte dort einträglichen Handel mit Nutzpflanzen zur Erheiterung der Sinne. Ich genieße meine Freiheit und Eigenständigkeit und pflege gute bis sehr gute Beziehungen mit mächtigen Menschen innerhalb und außerhalb der magischen Gemeinschaften. Wer so viel erreicht hat wie ich hat bedauerlicherweise nicht nur Freunde in der Welt. Eine meiner über den Horizont der Beachtsamkeit emporgestiegenen Feindinnen ist eine, in deren Adern dreierlei Blut fließt, das von grünen, flugfähigen Waldfrauen aus Nordeuropa, das von einem Volk das sich als Söhne und Töchter Mokushas bezeichnet und das von zauberisch begabten Menschen wie Sie und ich. Ihr Name lautet Ladonna Montefiori, und sie trachtet danach die ganze Welt als Königin zu regieren. Dabei scheut sie nicht, ihr zu mächtig werdende Feinde zu töten oder als lebende Trophäen in ihrem Garten einzugraben. Gut, warum schreibe ich das Ihnen? Ich weiß, dass diese aus drei Blutlinien geborene Hexe auch die Feindin aller freien Schwesternschaften von Hexen ist, somit auch Ihre tödlichste Feindin sein muss. Ich weiß auch, dass Sie sich ihr bisher erfolgreich verweigern und widerstehen konnten, weil ich sonst sicher nicht so einfältig wäre, mich an Sie zu wenden.
Jetzt kam mir zu Ohren, dass Sie auch danach trachten, nichtmagischen Reichtum anzuhäufen. Das lehne ich nicht ab. Doch könnten Ihre Unternehmungen mit den meinen zusammenprallen und einen hässlichen, für uns beide höchst unerfreulichen Konflikt entzünden. Dieser würde Ladonna Montefiori mehr nützen als Ihnen und mir. Daher möchte ich im Respekt einer Hexe vor einer anderen machtvollen Hexe vorschlagen, dass wir uns auf einem von Ihnen erwählten Wege miteinander verständigen, wie wir gemeinsam gegen Ladonna Montefiori vorgehen können, ohne unsere eigenständigen Leben aufgeben zu müssen. Wenn Sie die Zeit, den Ort und den Anlass für eine solche unmittelbare Unterredung erwählt haben senden Sie mir meine wackere Botin Kukamama zu mir zurück. Ich vertraue darauf, dass Sie nicht danach trachten, mir eine mich schädigende Dreingabe mitzuschicken. Denn wie erwähnt würde es Ladonna Montefiori mehr nützen, eine Feindschaft zwischen uns beiden zu entfachen als es Ihnen nützt, mir Ihre Macht und Überlegenheit zu demonstrieren.
In hochachtungsvoller Erwartung grüße ich Sie
Doña Margarita Isabel de Piedra Roja
Anthelia lächelte. Offenbar hatte die Kokainkönigin aus Lima mitbekommen, dass jemand sich in halblegalen Spielbanken mehrere Millionen US-Dollar verschafft hatte. Womöglich gehörten diese Geldabschöpfungsgeschäfte denen, mit denen sie diese wichtigen Verbindungen unterhielt. Vielleicht hatte Anthelia auch einen von der peruanischen Kokainkönigin mitgeführten Club erleichtert, was einem Beinahezusammenprall von Interessen entsprach. Vielleicht wollte die Doña aber auch nur ihre eigenen Machtverhälgnisse aufbessern, wenn sie ein Bündnis mit ihr, der höchsten Spinnenschwester einging. Denn die Kokainkönigin aus Lima mochte sich denken, dass die Spinnenschwestern auch in Peru präsent waren, was auf kurz oder lang einen weiteren Interessenskonflikt entfachen mochte. Auch hatte Margarita de Piedra Roja zwischen den Zeilen eingeräumt, Angst vor Ladonna Montefiori zu haben und suchte deshalb nach einer starken, dieser widerstehenden Verbündeten. Andererseits betonte sie unmissverständlich, dass sie nicht darauf ausging, sich Anthelia zu unterwerfen, ja wohl eher im Kampf den Tod finden wollte, als von dieser unterworfen zu werden. Früher, das wusste Anthelia/Naaneavargia, hätte sie eine derartige Äußerung zum Anlass genommen, die auf Eigenständigkeit pochende Hexe zu belehren, entweder unter ihrer Führung weiterzuleben oder tot zu ihren Füßen zu liegen. Doch sie hatte lernen müssen, dass reine Gewalt, ob körperlich oder geistig, manchen Weg verschütten konnte statt ihn zu ebnen. Insofern war sie durchaus bereit, die Eigenständigkeit dieser Hexe, die genauso skrupellos wie sie selbst war, zu achten. Die Frage war nur, ob sie ein reines Zweckbündnis gegen Ladonna eingehen oder eine Vereinbarung zwischen gleichberechtigten Hexen treffen sollte, die darin bestehen mochte, klare Interessenssphären einzuteilen und einen Nichteinmischungspakt zu beinhalten. Ja, sie hatte in Peru einige treue Mitschwestern. Außerdem gehörte ihr dort der zum Werdrachen gewordene Diego Vientofrio. Sollte sie das alles aufgeben, um einer Hexe das Feld zu überlassen, der es um materiellen Reichtum und aus Angst und Unterlegenheit erwachsene Anerkennung ging? Am Ende wollten die in Peru lebenden Ordensschwestern von ihr, dass sie sie vor dieser nicht vor Unterdrückung und Mord scheuenden Hexe beschützte. Ja, das wiederum könnte in einem blutigen Konflikt ausufern. Sie wusste, dass die DoÑa alte Zauber der indigenen Völker beherrschte und dass sie einen nicht minder mörderischen Konkurrenten, den Mexikaner Paredes, vernichtet hatte. Sie hatte selbst schon genug Widersacher und Widersacherinnen in der Welt, dass sie es sich aussuchen konnte, ob sie wirklich noch eine Feindin mehr haben wollte oder nicht. Also warum sollte sie nicht auf das Gesprächsangebot eingehen? Sie wollte nur sicherstellen, dass sie nicht in eine Falle tappte, der sie nicht mehr entwischen konnte. Die Monate im Bauch von Daianira Hemlock waren ihr ein warnendes Beispiel, sich nicht zu überlegen zu fühlen. Sie lächelte erheitert, weil sie sich vorstellte, dass die DoÑa sich beim Absenden ihrer Eule genau dieselben Gedanken gemacht hatte. Gut, da alle Hexen Schwestern waren wollte sie ihr auch schwesterlich entgegenkommen. Sie überlegte, wo und wann sie sich mit ihr treffen und welche Sicherheitsvorkehrungen sie treffen musste, auch wenn ihr neuer Körper die meisten Flüche abwehren konnte. Als sie sich sicher war, dass sie alles bedenken konnte schrieb sie auf die Rückseite des zugestellten Briefbogens:
An Doña Margarita Isabel de Piedra Roja!
Ich, Anthelia, ex gratiae matris magarum höchste Schwester des freien Ordens der schwarzen Spinne, entbiete dir meinen schwesterlichen Gruß.
Es erfreut mich, lesen zu dürfen, dass du dich aller anderslautenenden Nachrichten am Leben und bei bester Gesundheit befindest und den Nachstellungen des peruanischen Zaubereiministeriums bislang entrinnen konntest. Selbstverständlich ist mir auch bekannt, welch hohen Rang du in deinem vielschichtigen Heimatland erworben hast, auch wenn viele deiner Mitmenschen wohl mit Ablehnung und Verachtung darauf blicken. Doch da mir selbes bei meinen Unternehmungen entgegengebracht wird beurteile ich diese mir mitgeteilten Dinge nicht. Wichtig für dich und für mich ist, dass wir einander leben lassenund so gegen die uns Hexen wie alle anderen bedrohende Machtgier einer Ladonna Montefiori ankämpfen, ob Seit an Seit oder jede für sich, dies möchte ich gerne in Erfahrung bringen. Daher freut es mich, dass du ein unmittelbares Gespräch zwischen uns beiden vorgeschlagen hast und nehme diesen Vorschlag mit der allerhöchsten schwesterlichen Zuneigung an. Da du mir die Wahl des Ortes und der Zeit zugestanden hast schlage ich vor, dass wir uns zwei Meilen vom Berge genannt "Der alte Riese" entfernt treffen, da wo die drei wachenden Brüder in den Himmel ragen. Da du die Landeskunde deiner Heimat sicher kennst wirst du diesen Ort sicher finden. Da dein Blut auf Verehrer der Sonne und des Mondes zurückgehen und ich der Mutter Erde, die bei deinen Vorfahren Pachamama genannt wurde verbunden bin, schlage ich als Zeitpunkt . den 25. November christlicher Zeitrechnung, die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Mondaufgang vor, wenn sich Sonne, Mond und Erde am nächsten sind. Ich werde keine andere meiner Mitschwestern als Begleiterin mitnehmen. Ob du jemanden mitbringen möchtest bleibt dir überlassen. Bedenke dabei nur, dass was wir zu besprechen haben vielleicht nicht für jedes Ohr bestimmt sein mag!
In schwesterlicher Achtung und Zuneigung grüßt dich
Anthelia vom Bitterwald
Als sie dieses Schreiben vollendet und auf Schreibfehler geprüft und die auftretenden mit dem Corrigus-Zauber berichtigt hatte rollte sie das Papierstück zusammen und steckte die beiden weißen Ringe darauf. Dann winkte sie dem stattlichen Eulenvogel zu. Dieser hielt ihr sein rechtes Bein hin. Sie band die Antwort daran fest und befahl ihm auf Spanisch, die Nachricht zu ihrer Herrin zurückzubringen. Die geflügelte Botin spannte ihre beachtlichen Flügel aus und flog für Menschenohren unhörbar zum Fenster hinaus. Anthelia/Naaneavargia blickte ihr noch einige Sekunden lang hinterher. Dann schloss sie das Fenster wieder. Sie hoffte, dass es übermorgen keine Schwierigkeiten geben würde.
Sternennacht hatte abgewartet, bis Espienela Flavia Bocafuego de Casillas ihr Sonnenbegrüßungsritual vollendet hatte. Sie wusste um die Wichtigkeit von naturverbundenen Ritualen, wobei es bei ihr die Begrüßung des Neu- und des Vollmondes war. Nun sprach sie mit der spanischen Veelastämmigen, die trotzdem sie keine reinblütige Tochter Mokushas war sehr viel mehr Kraft ausstrahlte als eine andere Mischblütige. "Der Rat ist damit einverstanden, dass deine Verfehlung von damals für abgegolten erklärt wird, wenn du und die Deinen uns bei der Absicherung des geheiligten Eilandes helft. Auch steht zu fürchten, dass die von Ladonna unterworfenen Russen jene Waffe gegen unser Blut auch gegen dein Anwesen einsetzen mögen, weil sie wissen wo es liegt."
"Das hat was für sich, Sternennacht", erwiderte Espinela in der Sprache der Veelas und Veelastämmigen. "Ich habe alle meine Blutsverwandten und deren reinkurzlebigen Angetrauten in den dauerhaften Schlaf der Geborgenheit versenkt. Doch ich kann sie alle daraus erwecken, wenn du als Vertreterin des Ältestenrates den heiligen Eid auf Mokushas mütterlichen Schoß ablegst, dass ich und die meinen wieder freien Zutritt zu der Insel und auch freien Zutritt zu allen Landen erhalte, in denen unsere Schwestern und Brüder leben. Ansonsten bliebe mir nur, mich für deine Warnung zu bedanken und mich und die meinen an einem anderen Ort zu verbergen, den ich keinem mitteilen werde."
"Ich schwöre bei der Wärme, der Fruchtbarkeit und dem Schutze von unserer erhabenen Stammmutter Mokusha geehrtem Schoße und unser aller Hoffnung, einst dorthin zurückzukehren, dass wir, der Rat der zwei mal vierundzwanzig Ältesten lebenden Kinder Mokushas, dir, Rotstein Feuermund und den aus deinem fruchtbaren Schoße entstammten das Recht gewähren, unbescholten und frei auf das heilige Eiland unser aller Erstgebärerin zurückzukehren und dort im Frieden und in gegenseitiger Achtung mit den dort weilenden zusammenzutreffen und zusammenzuwirken", sagte Sternennacht, wobei sie Verbeugungen nach Osten ausführte, dahin, wo die heilige Insel ihrer aller Stammmutter zu finden war. Espinela Bocafuego de Casillas fühlte die Kraft, die durch diesen Schwur zwischen ihr und Sternennacht schwang. Sie bedankte sich für dieses ehrenvolle Zugeständnis und erwähnte, dass sie sich dieser Ehre würdig erweisen würde. Ob das immer so bleiben würde wusste Sternennacht nicht. Doch sie dachte daran, dass sie es bis heute nicht geschafft hatte, Ladonna zu überwältigen und an ihr den letzten Schnitt zu vollziehen, der sie aus den Reihen der Kinder Mokushas ausschließen und deren Gaben von ihr lösen würde.
Nur wenige Minuten später war das bis dahin totenstille Haus mit lebendigen Wesen erfüllt, die ob Veelastämmige oder Menschen, erst einmal begreifen mussten, wie viel Zeit vergangen war. Dann rief die Matriarchin der spanischen Veelastämmigen zum Aufbruch. Sie ging jedoch davon aus, nur einen halben Monat auf der Insel bleiben zu müssen. Blieb sie zu lange aus mochten ihre Verbindungen zu anderen Hexen und Hexenorden abreißen. Sie stellte ihren Verwandten Sternennacht vor. Diese sahen sie mit verständlichem Misstrauen an. Denn sie sah fast genauso aus wie Ladonna Montefiori. Konnten sie ihr wirklich trauen? Dann beratschlagten sie, wie sie von hier in die Nähe der Insel reisen konnten, am besten so, dass sie die über dem schwarzen Meer kreisenden Spionagegeräte des russischen Zaubereiministeriums nicht bemerken würden. Schließlich kamen sie darüber ein, dass sie Menschen im eingeschrumpften Zustand auf den Rücken der zur Verwandlung in Vögel fähigen Verwandten reitend unsichtbar über die Meere flogen. Hierbei wollten sie das Mittelmeer entlang, Italien tunlichst meidend über die Dardanellen zum schwarzen Meer fliegen.
Als die Sonne bereits auf halber Mittagshöhe über Spanien stand raste ein Schwarm unsichtbarer Vögel vom Landhaus de Casillas fort. Ob sie gerade noch rechtzeitig aufgebrochen waren wusste keiner.
Er hatte die silbern beschlagene Tasche aus dem mit Blutsiegelzauber gesichertem Ferrifortissimus-Schrank herausgeholt, die Pläne sortiert und die mit Körperspeicherschlössern gesicherte Tasche mit in sein unterirdisches Laboratorium an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien gebracht. Dort warteten bereits Igor Tupulew und Anatoli Borzow auf ihn. Über verschiedenfarbigen Feuerstellen hingen Kessel aus Zinn, Silber und sogar purem Gold, in denen die ersten Vorstufen der zu brauenden Tränke vor sich hin köchelten. Ein silberner Schrank mit zwei Türen spiegelte den Zuckenden Feuerschein in schillernden Regenbogenfarben, und vier Schmiedefeuer, bereit, die gestapelten Silber-, Gold-, Eisen- und Kupferrohlinge zu erhitzen. Doch vor allem eine aus unzerbrechlichem Glas bestehende Säule, die wie die Weinkaraffe für Riesen aussah, zog die Blicke der hier bereitstehenden an. Darin befand sich das in fünf Jahren mühevoller Geheimarbeit gesammelte und mit Conservatempus-Zauber haltbar gemachte Blut von Veelastämmigen, die für eine geheime Operation des Ministeriums ihre besonderen Eigenschaften zur Verfügung stellen wollten. Ebenso war ein blauer Leinensack bereitgehängt worden, in dem bündelweise abgetrennte Haare veelastämmiger aufbewahrt wurden. Die selbsternannten Kinder Mokushas wussten nicht, dass das Zaubereiministerium über fünfzehn Jahre diese Körperbestandteile gesammelt hatte. Bald sollte es ihnen egal sein.
"Igor, die berunten Formen für die kleineren Einheiten sind schon aktiviert?" fragte Grolenkow. "Habe ich gerade erledigt, Meister Grolenkow", erwiderte Igor Tupulew mit einer Spur Gehässigkeit in der Stimme. Grolenkow sah ihn an und wollte schon fragen, was dieser Ton sollte. Doch da kam Anatoli Borzow und deutete auf die Glassäule. "Vielleicht lag es auch an den Blutproben, dass die ersten Vorrichtungen instabil wurden", sagte er. Grolenkow wiegte den Kopf. Dann schüttelte er ihn. "Nein, das hätte die Vorabuntersuchung ergeben, wenn das Blut nicht mehr für diese Art von Zauberwerk verwendbar gewesen wäre. Ohne den CT-Zauber hätte sich das Blut nur einen Monat lang nutzen lassen. Mit dem Zauber sind es acht Jahre und vier Monate, von denen gerade fünf Jahre um sind. Außerdem hat Igor doch diesen Auffrischungstrick benutzt, um mittelaltes Blut wie gerade gewonnen aufzuladen. Es lag sicher an einem der Erdzauber und ein Ungleichgewicht im Auslösevorgang, der die Blutfeueräquivalenz einleitete. Aber ich habe die Pläne mit. Wir gehen das beim Herstellen der kleineren Geschwister noch einmal durch."
"Ich brauche einem Thaumaturgen und Alchemisten und Mitglied der Congregatio Arcanorum materiae nicht zu verraten, dass der Rauminhalt bei trankbasierten Zaubern genauso entscheidend sein kann wie die Dosierung der Zutaten", warf Anatoli ein. Grolenkow verzog das Gesicht. Er deutete zu einer Wand, an der vier tapetenartige Pergamentbögen hinter einer impervierten Glasscheibe angebracht waren. Ein Pergament zeigte das Periodensystem der chemischen Elemente nach Dmitri Mendelejew, das auch von den magischen Alchemisten hoch geschätzt wurde, weil sie hier auch Grundeigenschaften der vier Elementarkräfte vorhersehen konnten. Das zweite Pergament bildete die 96 häufigsten magischen Ingredentien gemäß ihrer Zuordnung zu den vier Elementarkräften Feuer, Wasser, Luft und Erde, so wie den drei Hauptzuständen belebt, unbelebt und feinstofflich ab. Das dritte Pergament zeigte eine grafische Darstellung der Elementarverbundenheiten im Bezug zur Stellung der sieben beweglichen Himmelskörper Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn nach und gab einen Anreiz, bei welcher Planetenstellung welche Stoffe mit welchen Zaubern bestmöglich belegt werden konnten. Das vierte Pergamentstück enthielt die wichtigsten Runen für dauerhaft bezauberte Gegenstände, so dass hier arbeitende Thaumaturgen für ihre Arbeit die richtigen Runen abschreiben oder einüben konnten. Alles in allem konnten hier Alchemisten, Thaumaturgen, Herbologen und Magizoologen ihre Versuche machen und eigene Erfindungen auf ihre Verwendbarkeit prüfen.
"Trennwände hochfahren!" rief Grolenkow. Die in das Laboratorium eingebauten magicomechanischen Komforteinrichtungen gehorchten unverzüglich. Zwischen der Schmiedeabteilung und den siedenden Kesseln fuhren einen halben Meter dicke Wände aus Ferrifortissimum-Stahl hoch und rasteten in der vier Meter hohen Decke ein. Sie boten eine Deckung, wenn es zu unerwünschten Entladungen kam.
"Die Pläne sind da im Koffer?" fragte Igor. Pjotr nickte und legte den Koffer auf einen der granitenen Vorbereitungstische. Mit drei Fingern an jedem Schloss ließ er die vier Körperspeicherverriegelungen aufspringen. Tupulew trat zu ihm, während Borzow bereits das Besteck holte, um eine Probe konserviertes Veelablut abzuzapfen und in den natürlichen Zeitfluss zurückzuführen. Grolenkow breitete die Pläne auf dem Tisch aus. Sie gaben vor, erst eine Hohlkugel aus einer Legierung aus drei Teilen Gold und sieben Teilen Silber herzustellen, in die dann im zweiten Schritt der als Blutfeueräquivalenz ermittelte Trank eingefüllt und mit einem aus im umgekehrten Verhältnis legierten Stift verschlossen wurde. Die weiteren um den Kern herum anzulegenden Bestandteile mussten dann nach genauen Zeitabständen in einer genauen Ausrichtung der Himmelsrichtungen und der Ausrichtung auf Sonne und Mond angefügt werden. Zum Abschluss wurde dann die Kugelschale mit der Flugsteuerung und den vier einem Schnatz nachempfundenen Flügeln darum herumgebaut und mit Kaltverschweißungszauber verschlossen. Soweit die Pläne. Was aber wo schief gegangen war mussten sie nun bei jedem Arbeitsschritt überprüfen.
Der Zauberwesenbeauftragte des russischen Zaubereiministers saß nach getaner Arbeit in seinem kleinen Landhaus und genoss die Ruhe ringsumher. Seitdem die allermeisten Mitarbeiter Arcadis dem Zauber der Feuerrose unterworfen waren balancierte Andrej auf einem hauchdünnen Drahtseil über einer Grube aus flüssiger Lava. Denn er hatte festgestellt, dass der Zauber der Feuerrose ihn nicht vollständig unterworfen hatte. In gewissen Grenzen konnte er Ladonnas Befehle noch hinterfragen und sich auch dagegen auflehnen, von ihr als Feind erklärte Menschen und Zauberwesen als seine Feinde anzusehen. Er wusste auch genau woran das lag. Vor zwei Jahren hatte er im Zuge einer damals noch möglichen Geheimunternehmung mit Sarjas Tochter Ludmilla zur Erforschung eines Blutschutzes gegen Vampire und Werwölfe etwas Blut von ihr entnehmen dürfen. Doch als Gegenleistung hatte sie ihm ein gemeinsames Kind abverlangt. Auch wenn der dazu führende Akt einprägsam und überwältigend schön war hatte er sich irgendwie benutzt gefühlt, wie ein Deckhengst, den man zu einer Gruppe bestimmter Stuten stellte, um neue Rassepferde zu züchten. Doch seitdem die aller meisten Kolleginnen und Kollegen von ihm die Hörigen Ladonnas waren dachte er nicht mehr so schlecht von sich. Die waren jetzt vollständig von einer Veelastämmigen abhängig. Er hingegen empfand es sogar als Glücksfall, dass Ludmilla, Sarjas jüngste Tochter, sein Kind im Leibe trug und ihn dadurch sozusagen gegen andere Veelazauber immunisiert hatte.
Er wusste, dass sein älterer Bruder Igor mit Pjotr Grolenkow und einer Gruppe anderer Zauberwesenexperten und Thaumaturgen an einer Waffe forschte, um Veelas und Veelastämmige zu töten. Einerseits konnte ihm das recht sein, aus Ludmillas Teilabhängigkeit freizukommen. Andererseits würde bei einem Erfolg dieser Forschungen auch sein ungeborenes Kind sterben. Da sie durch das Beilager mit ihm die Fähigkeit wachgekitzelt hatte, ohne Zauberstab und Zauberspruch eine Exosensoverbindung mit jedem Blutsverwandten herzustellen, ja mit seiner Mutter und mit Igor sogar eine geistige Gegensprechverbindung schaffen konnte, hatte er bereits mehrmals in die sich langsam entwickelnde Sinneswelt seines ungeborenen Kindes hineinlauschen können. Ludmilla hatte ihm gesagt, dass er wohl spüren würde, wenn ein Blutsverwandter starb. Würde er es also auch spüren, wenn das Kind, das noch an die drei Jahre in Ludmillas Leib heranwachsen musste, mit ihr getötet wurde? Doch was sollte er dagegen tun? Begehrte er gegen Ladonnas Befehl auf, würde sie merken, dass er ihr nicht unterworfen war. Ja, er hatte keine Angst, tot umzufallen, wenn er versagte oder sie bewusst verriet. Also hatte sie keine Macht über ihn. Erfuhr sie dies würde sie ihn sicher töten. Doch er selbst wollte nicht sterben, nicht wegen eines ihm abgerungenen Kindes, das er wohl niemals zu sehen bekommen würde.
Was machte sein Bruder gerade? War der mit den anderen wieder unterwegs wie vor zwei Tagen? Andrej wollte es wissen. Er besann sich darauf, eine leichte, nicht zu tief gehende Exosensoverbindung mit ihm herzustellen.
Er brauchte nur mit geschlossenen Augen an ihn zu denken. Doch statt nun alles so zu sehen und zu hören, jede von Igor ausgeführte Berührung zu spüren und durch seine Nase zu riechen meinte er, durch einen rot-schwarzen Lichterwirbel geschleudert zu werden. Dann meinte er, im inneren einer zimmergroßen Luftumwälzungspumpe zu stecken und durch eine mehrere Zentimeter dicke Glasscheibe in einen mit trübem Wasser gefüllten Raum hineinzublicken. Er hörte Igors körperliche Stimme dumpf in sich und fühlte ein wildes Kribbeln auf der Haut, als wenn ganze Legionen von Waldameisen einen Sturmlauf darauf probten. Irgendwas stimmte hier nicht. Er wagte es, die vollständige geistige Verbindung zu seinem Bruder zu suchen. Doch er hörte seine Gedanken nicht. Er meinte immer noch, hinter einer dicken Glaswand zu stehen und das laute Fauchen und Pochen von Pumpen zu hören. Er dachte den Loslösungsgedanken: "Wieder ich! Wieder bei mir!" Als die fremden Eindrücke verebbten öffnete er die Augen. Er war immer noch in seinem eigenen Haus. War Igo an einem Ort, wo geistige Fernzauber gestört wurden? Immerhin meinte er in der Ansicht wie durch trübes Wasser einen weitläufigen Laborraum gesehen zu haben. Womöglich war er mit Grolenkow im geheimen Laboratorium des Ministeriums, wo die geheimsten Experimente gemacht und ganz geheime Erfindungen gebaut und erprobt wurden. Doch seit der Aktivierung seiner besonderen Begabung hatte er Igor schon dreimal in dieses Labor folgen können und mit ihm sogar Gedanken ausgetauscht, ohne dass Grolenkow und die anderen das merkten. Dann fiel es ihm ein, dass er seit der Feuerrosenbezauberung keinen intensiven Kontakt mehr mit Igor gesucht hatte. Womöglich störte die Feuerrosenmagie die brüderliche Fernverbindung. Ja, das musste es sein. So blieb ihm wohl nur, dass Igor ihm den Vollzug des Waffenversuches meldete und / oder er den Tod seines ungeborenen Kindes in Ludmillas Leib miterleben musste. Keine erfreulichen Aussichten.
Igor Tupulew erstarrte für einige Sekunden. Dann wiegte er den Kopf. Grolenkow sah seinen Mitarbeiter an und fragte, was sei. "Mir ist nur eingefallen, wo es geklemmt hat. Sie sagten was von Erdzauberverschiebung? Ich bin mir jetzt sicher, dass wir bei dem der Sonne zugewiesenen Verstärkungszauber um einige Grade von der vollkommenen Ausrichtung abgewichen sind. Hier bei der kleinen Schwester unserer geflügelten Todesbotinnen konnte ich das gerade nachvollziehen, weil da die Abstände zwischen den Längen und Breitengraden noch geringer sind. Wir haben bei der großen Version die Ausrichtungswerte der kleinen Version übernommen. Das war wohl verkehrt. Daher ist die Balance zwischen dem im Gold eingelagerten Feuerzauber und der Ausrichtung zur Erde verfälscht worden", antwortete Tupulew und demonstrierte Grolenkow an dem Auszug des ausgebreiteten Bauplanes, was er meinte."
"Schwester? Wir haben die geflügelten Boten als Brüder bezeichnet", sagte Grolenkow. "Immerhin arbeiten ja ausschließlich Zauberer an ihrer Herstellung, weil es sich erwiesen hat, dass die Lebensauren von Hexen die Empfindlichkeit für Veelaweibchen stören kann", sagte Grolenkow argwöhnisch. Tupulew nickte und meinte, dass er wohl an seine eigene kleine Schwester Sascha hatte denken müssen, die im Vergleich zu ihm und Andrej ja wirklich klein geblieben war. Grolenkow grinste belustigt. Dann hörte er Borzow rufen: "Drachendreck, das Feuer schlägt um! Schnell, Grünwurzasche her!"
Grolenkow blickte sofort zu Borzow, der an der Schmiede stand und eine der kleinen Kernhohlkugeln herstellte. Das Feuer hatte gerade seine Farbe von orangerot zu violettrot geändert. Wie immer das passiert war. So durfte es nicht bleiben. Grolenkow sprang auf, hastete zu einem Vorratsschrank mit vier Türen und öffnete die rechts oben, die mit "Kalmierungsaschen" beschriftet war. Er zog ein feuerfestes Gefäß mit der Aufschrift Grünwurzasche hervor und wetzte zu Borzow hinüber, der das Werkstück vorsorglich aus dem Feuer genommen hatte. Die violettroten Flammen züngelten bereits laut knatternd mehr als zwei Meter hoch. Mit vielfach geübter Bewegungsabfollge öffnete Grolenkow den herbeigeholten Behälter und streute mit einer im Uhrzeigersinn ausgeführten Kreiselbewegung den Inhalt in die Flammen. Diese spotzten noch einmal blaue Funken. Dann filen sie orangerot flackernd auf ihr vorgesehenes Maß zurück. "Hast du vielleicht nicht ganz zufällig ein Stück Blaukiefernholzkohle ins Feuer geworfen? Bei magischen Feuern schlägt das zu einer metallzerstörenden Art um. Damit hättest du fast das Werkstück verhunzt", knurrte Grolenkow. "Kannst froh sein, dass Gold ein so schwerfällig bezauberbares Metall ist. Aber die Form hättest du sicher zerstört, du Flasche!"
"Selber Flasche", knurrte Borzow verärgert. "Oder warum liegen hier Blaukieferholzkohlestücke herum, die von den üblichen Kohlestücken nur durch Gewicht und Maserung zu unterscheiden sind?" Grolenkow grummelte und prüfte den weit genug von der Feuerstelle entfernt liegenden Haufen Holzkohlestücke. Dabei fand er tatsächlich weitere Stücke aus dem Holz der Blaukiefer, eines nur in der Taiga wachsenden Zauberbaumes, der auch als Eisenfresserbaum und Eiskauer bezeichnet wurde, weil er jedes gediegene Metall durchrosten machte und jedes Eis, dass ihn befiel in seine Rinde hineinsaugen konnte. "Wer legt denn Blaukieferholzkohle in eine Schmiede oder in ein Zaubertranklabor. Jeder Pimpf in Durmstrang lernt im Jahr des Feuers, dass damit nur Hitzewiderstandstränke angerührt werden, die in Kesseln aus purem Gold angerührt werden müssen. Welcher Trottel hat das Zeug hier reingeschafft? Leute, prüft die Kohle für die Essen. Noch so'n Tanz brauchen wir echt nicht!" rief Grolenkow.
Da klang Tupulews Stimme aus nur zwei Metern Abstand: "Stimmt, brauchen wir nicht. Stupor!" Grolenkow wirbelte herum, hatte seine Hand schon am Zauberstab. Doch da schlug der rote Schockzauberblitz in seinen Bauch wie eine Eisenfaust, und er verlor seine Besinnung.
"Hast du die Pläne geprüft, Schwester!" mentiloquierte die Person, die wie Borzow aussah. Die wie Igor aussehende Person erwiderte auf demselben Weg: "Ich habe den getarnten Originiscriptus-Zauber drübergeführt. Es sind Grolenkows Originalpläne. Sie sind vollständig."
"Gut, dann räumen wir die Schränke aus, bevor wir uns ganz zurückziehen", mentiloquierte die wie Borzow aussehende Person.
Sie griffen sich an die Hälse und zupften etwas für Menschenaugen unsichtbares unter ihrer Kleidung hervor. Damit gingen sie an jeden der Schränke, strichen in bestimmten Figuren über die Oberflächen und stupsten dann jede Ecke einer Tür an. Es ploppte leise, und statt der silbernen Tür waberte ein silberner Dunst im Türrahmen. Der Schrank erbebte, weil ein Einbruchsmeldezauber versuchte, das unerlaubte Öffnen an eine bestimmte Stelle zu verraten. Doch mit den unsichtbaren Gegenständen hatten die beiden, die gerade dabei waren, das gesamte Projekt "Veelawaffe" zu zerstören jede Weitermeldung blockiert. So konnten sie mit einfachen Einsammelzaubern jedes Dokument und jede fest verschlossene Phiole, Flasche und jeden Tontopf verschwinden lassen. So gingen sie rasch von Schrank zu Schrank, räumten alles aus und ließen die Türen danach wieder verfestigen. Die Schränke brummten laut wie ein in einem Kessel eingeschlossenes Hornissennest. Beide prüften, ob sie alle Schränke leergeräumt hatten. Als sie sich sicher waren nickten sie einander zu.
"Gut, dann den feurigen Abgang", mentiloquierte die Person, die wie Borzow aussah.
Grolenkows betäubter Körper verwandelte sich unter einem violetten Blitz in ein magentafarbenes Spitzentaschentuch und flog wie an einer unsichtbaren Angelschnur hängend in die freie Hand der Person, die wie Tupulew aussah. Die wie Borzow aussehende Person holte in der Zeit alle ausgelegten Fertigungspläne und Entwicklungsergebnisse zu sich hin und ließ sie in das Feuer fallen. Dann zielte sie mit dem Zauberstab auf die Feuerstelle und rief: "Engorgio Maxima!" Mit lautem Getöse schossen beindicke Flammenzungen bis unter die Decke nach oben. Zu den Seiten weg konnten sie sich nicht ausbreiten, weil dort eine im Boden eingelassene Feuerschutzlinie gegenhielt. Doch bei dem heraufbeschworenen Feuer mochte diese gerade eine Minute lang halten.
Die wie Tupulew aussehende Person warf derweil grünlich-rot gefärbte Würfel in die köchelnden Zaubertrankkessel, in Harz eingeschlossenes Drachenblut. Dann zielte die wie Borzow aussehende Person auf die Glassäule mit dem gesammelten Veelablut und murmelte einen altgriechischen Zauberspruch, der übersetzt bedeutete, dass alle Wirkung in ihr Gegenteil verkehrt werden sollte. Die Säule erzitterte und begann, dunkelrot zu glühen. Als das gescheen war plärrten die ersten Warnzauber los, weil ein gefährlicher Anstieg von Feuermagie erfasst wurde. Doch das störte die zwei nicht, die gerade dabei waren, den letzten Akt des Unternehmens "Veelafrieden" zu vollenden. Sie eilten auf eine der Türen zu, die bereits fest verschlossen waren. Die wie Borzow aussehende Person griff in die äußere Umhangtasche und holte etwas scheinbar unsichtbares hervor. Sie berührte damit das flimmernde Türschloss. Da ploppte es, und die Tür wurde zu einem milchigweißen Dunstvorhang. Durch diesen liefen die beiden nun hinaus. Wieder ploppte es, und die Tür war wieder so massiv und scheinbar unverrückbar wie zuvor.
Erste Löschzauberversuche begannen. Doch gerade zersprang die nun gelbglühende Glassäule. Das in ihr zum Kochen getriebene Veelablut verpuffte in einer orangen Dampfwolke in alle Richtungen. Wo es auf magisches Feuer traf führte es zu einer verheerenden wechselwirkung. Weißgelbe Flammen schossen empor. Die Feuerschutzlinien im Boden sprühten noch einmal blau auf. Dann zerfielen Sie. Mit lautem Donner schlugen die nicht mehr auf einen bestimmten Raum beschränkten Feuer um sich, erfüllten das ganze Laboratorium, fraßen alles was frei herumlag zu Asche und erzeugten weitere Feuerquellen. Die mit Drachenblut verpanschten Zaubertränke explodierten in grünen, blauen oder violetten Feuerbällen, die wiederum zu weiteren leuchtstarken Entladungen führten. In einer jedes Gehör überlastenden Folge von Donnerschlägen, Zischlauten und fauchendem Getöse verwandelte sich das gesamte unterirdische Labor in ein veritables Abbild christlicher Höllenvorstellungen. Jeder freie Kubikzentimeter des Raumes glühte heißer als die Oberfläche der Sonne. Zwar hielten die Dokumenten- und Vorratsschränke dem Inferno eine Zeit lang stand. Doch sie glühten immer heller, bis auch ihre Unzerbrechlichkeits- und Hitzewehrbezauberung überreizt wurde. Im Getöse und Donnerwetter der ungebändigten Feuerzauber konnte niemand das leise Davonspritzen und zischen der schlagartig verflüssigten Metalle hören. Dann regneten gelbglühende Tropfen von oben herab. Die steinerne Decke zerschmolz. Mehr und mehr stürzte alles in sich zusammen. Dabei schufen die neuen Spalten den immer noch tobenden Flammen neue Wege. Anderswo wurde die wütende Lohe unter geschmolzenem Stein verschüttet. Das geheime Laboratorium unter dem Ural war nicht mehr.
Die zwei, die das Inferno heraufbeschworen hatten waren zu diesem Zeitpunkt längst durch die äußere Schutztür und disappariert. Sie trafen sich an einem vorbestimmten Punkt und grinsten einander an. "Mutter Triformis sei dank für die Türschwindeschlüssel", sagte die wie Tupulew aussehende Person. Die wie Borzow aussehende Person erwiderte: "Ja, und Dank sei Mutter Trioditis für die Blaukieferholzkohle und die Drachenblutharzstücke."
"Ja, und Mutter Trigonia wird sich sicher über alle geheimen Unterlagen der letzten zwanzig Jahre freuen, was die Russen so alles mit Veela-, Riesen- oder Drachenblut angestellt haben."
"Wir können froh sein, dass die Schränke nicht mit dem Blutsiegelzauber versperrt waren. Den können Mutter Triformis Türschwindeschlüssel nicht überwinden, weil dabei ein aus lebendigem geschöpfter Zauber eingeflossen ist." Beide grinsten. Immerhin hatten sie eine Kopie aller Pläne und die Originale nun restlos vernichtet. Da beide in ihre Umhänge Unaufspürbarkeitszauber eingewirkt hatten, die die gewisse Frechheit besaßen, die Feuerrosenaura flüchtig zu imittieren, jedoch nicht länger als einen Tag vorhielten, würde auch keiner mit Rückschaubrille klar erkennen, was im Laboratorium vorgefallen war.
"Trinken wir auf den Erfolg der Unternehmung "Veelafrieden!" sagte die wie Tupulew aussehende Person und zog aus einer rauminhaltsverzauberten Winztasche ihres Umhanges zwei Phiolen hervor. Sie prüfte die Beschriftung und gab eine davon an den zweiten Mitverschwörer weiter. Sie entkorkten die kleinen Flaschen und schluckten den unterschiedlich gefärbten Inhalt todesverachtend hinunter. Dann schüttelten sie sich und verzogen ihre Gesichter. Diese schienen wie Butter in der Pfanne zu zerlaufen. Die Körper veränderten sich. Aus zwei Männern wurden in kurzen, heftigen Schüben zwei Frauen mit nachtschwarzen Haaren, üppiger Oberweite und kräftigen Armen und Beinen. Die sich nun wieder verfestigenden Gesichter zeigten, dass beide leibliche Schwestern waren, Alkyone und Asterope Leukanthos, eines der schlagkräftigsten Gespanne der verhüllten Wegefinderinnen aus dem Orden der Töchter der Hecate.
"Los, bringen wir alles nach Hause", sagte Alkyone, die drei Jahre ältere von beiden. Mit einer abgestimmten Zauberstabfolge schufen sie eine silberne Leuchtblase, aus der wiederum ein himmelblaues, mit adlergleichen Schwingen geflügeltes Boot entstand. Sie bestiegen es und befahlen ihm in der erhabenen Sprache ihrer Vormütter, den Heimweg über die Dardanellen ins Ägäische Meer anzutreten. Das Boot wurde mit seinen Insassen und aller Beute unsichtbar, bevor es doppelt so schnell wie ein wilder Sturmwind über Land und Meer dahinjagte. Unterwegs gaben die beiden Schwestern die frohe Botschaft weiter, dass sie die Originalpläne vernichtet und eine heimliche Kopie davon angefertigt hatten und obendrein das geheime Laborarchiv des Zaubereiministeriums geplündert hatten. Das mochte mit den Moralvorstellungen der Liga gegen dunkle Kräfte und dem Nichteinmischungspakt aller Zaubereiministerien kollidieren. Doch außer den Töchtern der großen Mutter aller Hexen würde es eh niemand erfahren. Die drei russischen Ministeriumszauberer Grolenkow, Tupulew und Borzow wurden sicher verwahrt, dass selbst eine Ladonna Montefiori sie nicht aufspüren mochte. Für die restliche Welt sollten sie erst einmal für tot und zu Asche verbrannt gehalten werden.
"Ich muss zugeben, dass mir mulmig war, als ich den Conservatempuszauber in sein völliges Gegenteil umkehrte. Was wenn alles in seiner Erfassung gleich nach Aufruf durchgezündet hätte?" fragte Asterope ihre Schwester.
"Tja, dann gäbe es uns nicht mehr", sagte Alkyone. Mit dieser klaren und unumstößlichen Antwort musste Asterope nun leben.
Maximilian Arcadi war gerade dabei, mit seinem Handelsabteilungsleiter die Tauschgutvereinbarungen mit Ägypten und Tunesien zu erörtern, als einer der fünf Zweiwegespiegel vibrierte und wie durch ein Metallrohr Arcadis Name gerufen wurde. Der Zaubereiminister zog den Vorhang vor dem Spiegel vor, in dem die Gestalt seines Handelsabteilungsleiters stand und berührte das Symbol des durchgestrichenen Ohres. Nun wirkte der Vorhang wie eine meterdicke Wattewand, die jeden Laut verschluckte und nicht bis zum Spiegel vorließ. Nun zog er den Vorhang vor dem erbebenden Spiegel fort und blickte hinein. In der mannshohen Glasfläche erschien sein Sicherheitsüberwacher vom Dienst. "Minister Arcadi, gerade bekomme ich auf allen dafür eingerichteten Verbindungen die Mitteilung, dass unser alchemistisch-thaumaturgisches Geheimlaboratorium unter dem Ural in einer spontanen Verkettung einander verstärkender Feuerzauber vernichtet wurde. Das über dem Laboratoriumskomplex ruhende Bergmassiv rutscht nach. Offenbar wurde der Schmelzpunkt der dort vorkommenden Gesteinsarten weit überschritten. Die Meldezauber wirkten nur drei volle Sekunden lang."
"Wie bitte?! In dem Laboratorium wollten Grolenkow und seine sogenannten Experten die Vorrichtung S6-66 prüfen. Besteht die Möglichkeit, in das Laboratorium vorzudringen?"
"Zum jetzigen Zeitpunkt auf keinen Fall. Ob sich ein Vorstoß zu einem späteren Zeitpunkt lohnt ist fraglich", erwiderte der Mann im Spiegel. Arcadi, der selbst schon eine Menge beunruhigender, ja erschreckender Dinge erlebt hatte, erbleichte dennoch. Wenn die Veelawaffe gescheitert war, dann hatte auch er versagt. Die Königin würde ihn und alle Mitschuldigen, sofern noch am Leben gnadenlos bestrafen. Vielleicht hatte er nur noch wenige Minuten zu leben. Doch er wollte genauso aufrecht sterben, wie er alle bisherigen Gefahren des Lebens aufrecht überstanden hatte.
"Vorerst keine Weitergabe von Meldungen, auch keine Beileidsbekundungen an die Angehörigen von Pjotr Grolenkow, Igor Tupulew und Anatoli Borzow. Die Angelegenheit unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Nur Sie und ich dürfen davon wissen!" befahl Arcadi. Vielleicht konnte er damit den Druck auf die Veelas aufrecht erhalten, dass die geheime Vernichtungswaffe immer noch gebaut wurde. Womöglich konnte er damit den Kreis jener, die bestraft wurden auf sich und die vier Konstrukteure des Laboratoriums beschränken. Denn das Grolenkow bei dieser Verheerung gestorben war durfte sicher sein. Dann fiel ihm noch was ein: Hoffentlich hatte Grolenkow noch Kopien der Fertigungspläne für die Waffe. Dann bestand doch noch eine kleine Chance, sie in einem der kleineren Geheimlabore fertigzustellen. Allerdings mochte das dann erst im neuen Jahr geschehen. Vielleicht verloren die Veelas ihre Geduld, weil sie zu lange von ihrer Heimaterde abgeschnitten waren. Dann konnten seine Leute sie immer noch in einem offenen Krieg besiegen. Der würde dann aber auch seine Leute töten und ganz sicher auch unschuldige Hexen und Zauberer dahinraffen. Das war nicht das, was er sich wünschte. Doch wenn die Königin ihn vorher wegen seines Versagens tötete konnte es ihm auch egal sein. Mit dieser schon schicksalsergebenen Einstellung wandte sich Arcadi wieder seinem Handelsabteilungsleiter zu.
"Und, was gravierendes, Max?" fragte dieser seinen Vorgesetzten, den er wegen der gemeinsamen Schulzeit in Durmstrang weiterhin duzte. "Ja, einiges. Aber das ist nicht deine Zuständigkeit, Boris", sagte Arcadi wahrheitsgemäß. Sogleich fand er wieder in die halbtrockene Routine üblicher Handelsberatungen. Immerhin bekam das russische Zaubereiministerium vergünstigte Zaubertrankzutaten aus Ägypten und konnte die für Lizenzerzeuger freigegebenen höheren Zauber aus der vorislamischen Zeit einhandeln. Damit würden sie einen großen Vorteil gegenüber westlichen Ministerien erhalten. Dass Al-Assuanis Leute auch mit den Italienern, Spaniern, Portugiesen und Türken solche Geschäfte abschlossen band Arcadis Gesprächspartner ihm nicht auf die Nase. Er gab seine Genehmigung, den Handel mit fliegenden Teppichen für Russland und die Ukraine freizugeben und erlaubte die Einrichtung einer Teppichmanufaktur und Betriebsprüfstelle an der Schwarzmeerküste.
Seine mit dem Duft der Feuerrose eingeatmete Treue zur mächtigen Königin gebot ihm nach dem Gespräch mit seinem alten Schulfreund Boris einen geistigen Ruf an diese auszustrahlen. Tatsächlich vernahm er nach nur fünf Rufen ihr Tasten in seinem Geist. Er gab sich diesem hin und fühlte, wie die Königin ihre Gedankenbrücke mit ihm vollendete. Keine zehn Sekunden später wusste sie alles was er wusste. "Bring in Erfahrung, ob dieser Stümper Grolenkow noch Abschriften der Fertigungspläne hat und bring mir diese! Falls nicht, sieh dir die untergehende Sonne an. Mit ihr wirst du auch erlöschen!" gedankenschnaubte die Rosenkönigin.
Pamphile war mit ihren beiden Mitstreiterinnen Chrysagora und Triselenia zu Grolenkows Haus geeilt und hatte nachgeprüft, ob es außer den Blutsiegelschränken noch was anderes gab. Sie hatten rings in den Bäumen Vorwarnzauber eingeflochten. Als zwei davon nur für ihre Ohren vor einem apparierten Eindringling warnten hüllten sich die drei in Unsichtbarkeitszauber ein. Als sie dann erkannten, dass es der russische Zaubereiminister höchst selbst war, der die Hütte aufsuchte war Chrysagoras erster Impuls, ihn wie Grolenkow sicherzustellen. Doch dann erkannte sie durch ihre Aurensichtbrille, dass die bei allen Feuerrosengebundenen wirksame Aura erheblich verstärkt war. Er stand also unmittelbar unter Beobachtung der Rosenkönigin. Er durchsuchte schnell und gründlich das Haus nach allen Dokumenten, die er so ergreifen konnte. Der Blutsiegeltresor bot ihm jedoch ein scheinbar unüberwindliches Hindernis. Da hörten sie, wie er Worte aus einer Sprache murmelte, die weder Russisch, Lateinisch oder alltgriechisch war. Er ließ damit die Wand des Tresores rot erglühen. Sie pulsierte. Er nickte irgendwem zu. Dann holte er mit dem Aufrufezauber ein scharfes Küchenmesser zu sich und ritzte sich damit den linken Unterarm. Das nun heraustropfende Blut verteilte er auf der glühenden Tresorwand und murmelte dabei weiter was in jener unbekannten Sprache. eine blutrote Leuchtspirale umschloss seinen Zauberstab, dehnte sich aus und traf auf die Wand des Tresores. Diese erbebte. Das Leuchten wurde heller und dann dunkler, bis es mit einem lauten Knistern ganz erlosch. Dann rief er noch drei Worte in jener fremden Sprache. Zwischen ihm und dem Tresor entstand für drei Sekunden eine aus sich heraus blau leuchtende Geistererscheinung, die durch die Wand ging und nach nur zehn weiteren Sekunden zurückkehrte, um in Arcadis Körper einzudringen. Er zuckte zusammen und keuchte. Dann blickte er sich genau um. Er schien auch auf was zu lauschen. Dann erstarrte er wie versteinert. Im nächsten Moment begann er aus sich heraus blau zu glühen. Da traf ihn ein orangeroter Blitz. Das Leuchten färbte sich zu Samtbraun. Es blähte sich auf und schrumpfte wieder auf seine Körpergröße zusammen, blähte sich auf und schrumpfte erneut. Es dehnte sich wieder aus. Da traf noch ein orangeroter Blitz Arcadis erstarrten Körper. Nun wechselte das Leuchten erst zu Sattgrün, flackerte und färbte sich sonnenaufgangsorange. Dann erlosch es. Arcadi klappte zusammen wie eine Marionette, der die Fäden durchgeschnitten worden waren.
"Eine Sekunde später und uns gäbe es nicht mehr, Schwester Chrysagora", sagte Pamphile aus dem Unsichtbaren. Arcadi lag reglos am Boden. Chrysagora wurde sichtbar und führte ihren Zauberstab über ihn. Dann sagte sie "Lentavita!" Danach beschwor sie eine Trage herauf und bettete den nun wie tot daliegenden darauf.
"Knapp vor dem Übergang, Schwestern. Der Verzögerer hält diesen jetzt erst mal für eine Minute auf. Ich muss an meine Sachen, um ihn am Leben zu erhalten."
"Dann mach das", sagte Pamphile und wurde selbst wieder sichtbar. Zusammen brachten sie den verlangsamt gezauberten und ohnmächtigen Minister nach draußen und disapparierten mit ihm. Triselenia verließ ebenfalls die Hütte und verschwand aus dieser Gegend.
Die Stimme seiner Königin drang in seine Gedanken ein. "Minister Arcadi fiel einer Falle in Grolenkows Haus zum Opfer. Er ist tot. Du übernimmst nun seine Amtsgeschäfte, Wladimir."
Was für eine Falle, meine Königin?" fragte Wladimir Borisewitsch Rodenkow. "Die Veelas. Sie haben ihm unsichtbar bei Grolenkows Haus aufgelauert, als er diesen wegen des Projektes S6-66 befragen wollte. Ihr Feuerzauber hat ihn getötet, bevor ich ihm beistehen konnte", klang Ladonnas erboste Gedankenstimme in Rodenkows Kopf. "Rufe alle über die verabredeten Verbindungen zu einer Spiegelkonferenz und verkünde den Fall "Sibirischer Eismond"! Dann findet heraus, wo die Veelas sich versteckt haben!"
"Wie du befiehlst, meine Königin", erwiderte Rodenkow unterwürfig.
Felicia Fiumargento, Ladonnas Regionalstatthalterin von Ligurien, hatte um eine außerordentliche Versammlung der sieben Regionalstatthalterinnen bei der Königin gebeten. Diese hatte die Sitzung genehmigt, als sie was von einem "Erwachten Nachlass" erfuhr.
Nun saßen sie an jenem Tisch, an dem acht Hexen sitzen konnten. Ladonna thronte wie üblich in ihrem hochlehnigen Stuhl vor Kopf. Felicia Fiumargento präsentierte einen grünen Seeschlangenlederrucksack mit eingewirkter Rauminhaltsbezauberung und Schutzzaubern gegen Feuerschaden und Nässe. "Du hast doch nicht die Truhe da reingestopft, von der du mir zumentiloquiert hast, Schwester Felicia", meinte Ladonna. Felicia schüttelte den Kopf. Die anderen sechs wollten nun wissen, welche Truhe gemeint war, ja, worum es überhaupt ging.
"Ihr erinnert euch sicher an meine Großmutter, Donna Luisa Fiumargento", setzte Felicia an. Alle nickten, auch Ladonna. Denn die erwähnte hatte zu jenen gehört, die sich nicht zu ladonna bekennen wollten und es vorgezogen hatten, nach Leisten des Verschwiegenheitseides von dannen zu ziehen. "Sie ist vor zwei Monaten verstorben. Erst haben sie mich verdächtigt, sie vergiftet zu haben. Aber die Heiler und Thanatologen haben mich von diesem Vorwurf entlastet." Ladonna nickte. Natürlich hatten sie Felicia für unschuldig erklärt, selbst wenn sie schuldig gewesen wäre. "Auch hat mich ihr Haus unbehelligt eingelassen. Wäre ich ihre Mörderin gewesen ..."
"Worum geht es, Schwester Felicia", knurrte Schwester Cordelia, die Statthalterin aus der Region Rom. Ladonna räusperte sich und warf der Zwischenruferin einen zur Vorsicht gemahnenden Blick zu. Dann nickte sie Felicia zu, sie möge fortfahren. Diese straffte sich und sagte: "Gut, ich durfte den Nachlass von Nonna Luisa übernehmen, da meine Eltern beide darauf verzichtet haben. Bei dem Nachlass war auch eine schwarze Truhe mit silbernen Beschlägen, die mit Machtrunen verziert waren, die aber kein Scharnier im Deckel besitzt. Es war mir nicht möglich, die Truhe mit Öffnungszaubern, den im Nachlass auffindbaren Schlüsseln oder eigenem Blut zu öffnen. Mein Blut perlte von dem Holz ab und hinterließ nicht einmal Flecken. Heute morgen dann hörte ich ein lautes Brummen aus dem Speicherraum, wo ich Nonna Luisas Nachlass untergebracht habe. Als ich dem nachging sah und hörte ich, dass die Truhe wie wild vibrierte und dabei dieses Brummen von sich gab wie zehn zeitgleich angestrichene Kontrabässe, die denselben tiefen Ton spielen. Ich habe es gewagt, die Truhe zu berühren. Da rasselten mindestens zwanzig oder dreißig verborgene Verriegelungen, und der Deckel klappte auf. Da hörte die Truhe zu brummen auf. Dafür hörte ich eine von einer Frauenstimme aus winzigem Mund gesprochene Botschaft auf Lateinisch, die ich nur so auslegen kann, dass eine dritte Tochter die unrechtmäßige oder unerwünchte Tochter besiegen kann. Auch lagen in der Truhe eine Pergamentrolle und eine alte Karte. Das wichtigste aber war wohl die Statuette einer kleinen Fruchtbarkeitsgötzin oder Darstellung einer gebärenden Frau. Jedenfalls kam mir dieser Eindruck. Diese Statuette gab die erwähnte Botschaft von sich. Ich vermute, irgendein Ereignis hat mir die Truhe und den Inhalt zugänglich gemacht. Deshalb ist mir wichtig, dass Ihr, meine Königin und ihr anderen von ihr eingesetzten Statthalterinnen davon erfahrt."
"Hast du den Inhalt der Truhe in deinem Rucksack, Schwester Felicia?" wollte Ladonna wissen. Felicia nickte. "Die Botschaft wurde solange ausgesprochen, bis ich die Statuette berührte, natürlich erst, nachdem ich sie allen Flucherkennungszaubern unterzogen habe, die mir bekannt sind. Doch vielleicht könnt ihr sie zum reden bringen, meine Königin."
Ladonna musste sehr darum ringen, ihre Aufregung zu verbergen. Es war von einer dritten Tochter geredet worden. Das erinnerte sie an ihre beiden Albträume, die sie durch die Beseitigung ihres Grenzwalls um Frankreich und England erlitten hatte. Das konnte unmöglich ein Zufall sein.
Felicia fragte, ob sie den Inhalt der Truhe auf den Tisch legen sollte. Ladonna sah sie sehr entschlossen an. "Lege alles hin, was diese auf irgendeine Situation abgestimmte Truhe dir freigegeben hat, Schwester Felicia! Falls etwas davon deinen oder meinen Tod will wird es gleich vernichtet." Felicia nickte und öffnete den Rucksack.
Zunächst holte sie die Pergamente heraus. "Die Rolle ist mit zwei Ringen gesichert, die ich nicht abziehen kann, warum auch immer", sagte sie und legte die Rolle hin. Dabei änderte sich jedoch nichts. Dann breitete sie die mehrfach gefaltete Karte aus dünnem Pergament auf dem Tisch aus. Sie zeigte die italienische Halbinsel und die vorgelagerten Inseln bis runter nach Malta. Die in grünen Punkten dargestellten Grenzverläufe bezeichneten die einstigen Stadtstaaten und Kleinkönigreiche, wobei Rom von einem Doppelkreis aus roten Punkten umschlossen wurde. Auffällig war, dass die Markierungen auf der Karte nicht in lateinischen, sondern griechischen Buchstaben angefertigt worden waren. Doch da hier ausnahmslos alle das griechische Alphabet konnten war dies kein Hindernis. Dann griff Felicia tief in den Rucksack und mühte sich sichtlich ab, einen offenbar sehr schweren Gegenstand hervorzuholen. "Drachendreck! Als ich sie aus der Truhe nahm war sie gerade mal so schwer wie eine Flasche Wein. Jetzt scheint sie so viel wie ein ganzes Fass voll Wein zu wiegen", knurrte Felicia. Endlich schaffte sie es, eine etwa handlange, aus schwarzem Stein gefertigte Statuette hervorzuholen, die eine Frau mit in Hockstellung gekrümmten Beinen darstellte. Die Augen der steinernen Figur glommen aus sich heraus in einem blauen Licht. Ladonna erstarrte, als sie die Augen und das fein gearbeitete Gesicht erkannte. Das durfte nicht sein. Doch sie musste ihren Augen trauen. Sehr angestrengt brachte Felicia die Statuette ganz aus dem Rucksack heraus und stellte sie auf den Tisch. Kaum war dies vollbracht entfuhr dem halboffenen Mund des kleinen Standbildes ein wütender Aufschrei. Dabei sahen die blauen Augen genau auf Ladonna. Sie meinte, dass die Statuette ihr Gesicht zu einer wütenden, aber auch entschlossenen Miene verzog. Dann schossen grün-orange Lichtstrahlen aus den Augen der kleinen Figur heraus, stießen wenige Finger lang in den Raum, um dann zu einem einzigen, flimmernden Lichtkranz zu zerfließen. Dieser hüllte die Statuette vollständig ein und verlieh ihr eine grün-orange flirrende Aura, die in schneller Abfolge heller und dunkler wurde. Dabei riselte immer mehr von dem Gestein herunter, aus dem die Statuette bestand. Sie wurde kleiner und kleiner, bis sie in einem letzten grünen Lichtblitz zu einem kleinen, schwarzen Staubhaufen zerfiel. Im selben Moment flirrte auch die ausgebreitete Karte in jenem grün-orangen Licht und zerfiel innerhalb einer Sekunde ohne Flammenbildung zu grauer Asche. Als die hier sitzenden nach der Pergamentrolle sahen stellten sie fest, dass diese ebenfalls zu Asche zerfallen war. Die silbernen Halteringe waren zu schwarz angelaufenen Metallklumpen zusammengeschmolzen.
Schweigen breitete sich aus. Keine wagte, das erste Wort zu sagen. Ladonna, die das Vernichtungsspiel mit schwer unterdrückter Erregung verfolgt hatte, nickte verdrossen. Dann brach sie das bleierne Schweigen.
"Das ging eindeutig gegen mich, Schwester Felicia. Wie immer deine Großmutter zu diesen Dingen kam, sie waren dazu gedacht, mich zu bekämpfen oder sollten jenen helfen, die wider mich anzutreten wagen. Was genau hat die zur Selbsvernichtung getriebene Statuette gesagt, Schwester?"
"Sie sagte was von der dritten Tochter, die die unwürdige Tochter besiegen kann", wiederholte Felicia leicht eingeschüchtert. Ladonna nickte und sagte dann: "Offenbar hat sich jemand der Illusion hingegeben, ich hätte noch eine jüngere Schwester gehabt, die dazu ausersehen sein sollte, mich zu vernichten. Tja, falsch gedacht."
"Ja, aber warum hat sich die Statuette und alles andere dann vernichtet?" wollte Schwester Cordelia wissen. "Wohl weil sie auf meine Lebensaura abgestimmt war und erkannt hat, dass ich immer noch am leben bin. Womöglich sollte sie mich dann selbst vernichten, was meine Abwehrzauber in der Höhle jedoch vereitelt haben. So konnte sie sich nur selbst vernichten. Aber an ihr hingen alle anderen Beigaben."
"Dann hätte Euch dieses Ding außerhalb der Höhle vernichten wollen?" fragte Felicia erbleicht. "Ja, hätte sie wohl versucht, oder sie sollte mich selbst zu Stein werden lassen, wie es die widerwärtige Französin einst vollbracht hat. Jedenfalls gibt es keine dritte Tochter aus meiner Blutlinie, die als Hoffnungsträgerin meiner Feindinnen und Feinde auserwählt sein mag", sagte Ladonna mit fester Stimme. Dabei verbarg sie tunlichst, wie tief diese Botschaft sie doch getroffen hatte. Hatte diejenige, die für das Gesicht der Statuette Modell gestanden haben musste, darauf gehofft, noch eine wie Giorgiana zu finden? Hatte sie womöglich noch eine wie Giorgiana gefunden und von dieser eine weitere Zwei-Mütter-Tochter geboren? Falls ja, dann hatte diese wohl nach Sardonias Sieg über Ladonna ihre Aufgabe als erledigt angesehen. Oder hatte sie diese Aufgabe weitergegeben, weil sie wusste, dass Ladonna nicht gestorben war? Fragen über Fragen.
"Es war auf jeden Fall richtig, dass du diesen Nachlass hier herbrachtest und mich damit konfrontiert hast, Schwester Felicia. So kann er dir und mir nicht mehr schaden", sagte die Rosenkönigin. Felicia atmete sichtbar auf. Sie hatte wohl befürchtet, dass die Königin sie für diese Mitbringsel bestrafen würde.
"Könnte es sein, dass es doch eine Schwester von euch gibt oder eine Eurer Tanten mit einer Hexe eine Tochter zeugte, welche diese Gegenstände angefertigt hat, um sie als eine Art Hinterlassenschaft für Eure Rückkehr weiterzuvererben?" fragte Cordelia. Ladonna sah sie erst verdrossen und dann zustimmend an. "Willst du damit andeuten, es könnten noch mehr solcher Hinterlassenschaften geben, Schwester Cordelia?" fragte die Rosenkönigin sehr ungehalten.
"Wäre dies so abwegig?" wollte Cordelia ungeachtet der sichtbaren Verärgerung bei ihrer Königin wissen. Die Oberste des Feuerrosenordens wiegte ihren Kopf. Ihr seidenweiches, nachtschwarzes Haar wehte dabei sanft von links nach rechts und wieder zurück. Dann sagte sie: "Ich muss dir leider zustimmen. Es könnten mehrere solcher Hinterlassenschaften existieren, Schwester Cordelia. Doch wenn sie bei unseren Feindinnen und Feinden sind wird es schwer, sie alle zu finden und ihren wahren Zweck zu ergründen. Doch ich gebiete hiermit, danach zu suchen und jene zu fragen, die ihr für mögliche Erben und Erbinnen haltet. Wenn ihr davon Kenntnis erhaltet, teilt mir mit, wo eine solche Hinterlassenschaft zu finden ist. Sie muss aufgeteilt werden, damit sie sich hier in der Höhle nicht sofort selbstvernichtet."
Mit diesem klaren Auftrag entließ die Rosenkönigin ihre sieben Regionalstatthalterinnen. Als sie alleine in der Versammlungshöhle war dachte sie daran, dass ihre zweite Mutter Domenica diese Statuette geschaffen hatte. Diese Hinterlassenschaft war sicher für irgendwas bezaubert worden. Allerdings piesackte sie der dunkle Gedanke, dass die Antwort auf diese Frage auf dem verschwundenen Pergament zu finden gewesen wäre. Und warum hatte sich auch die alte Karte der italienischen Halbinsel und der umgebenden Inseln vernichtet? War auf dieser Karte etwas wichtiges markiert, dass nur Feindinnen der Feuerrose nutzen durften. Sie schalt sich einfältig, dass sie die Karte nicht eingehender betrachtet hatte. Zumindest glaubte sie nicht, dass das von roten Punkten umzirkelte Rom ein wichtiger Standort für die Lösung des Rätsels war. Rom war eben die bedeutsamste Stadt aus dem Altertum bis heute. Damals gehörte die ganze Stadt und das Umland jener frauen- und hexenfeindlichen christlichen Bruderschaft, die sich römisch-katholische Kirche nannte. Womöglich sollte der rote Doppelkreis Hexen davor warnen, sich in diese Stadt zu wagen. Nein, wenn die Karte einen wichtigen Standort bezeichnete, dann war es nicht Rom. Das Domenica Montefiori eine Sympathisantin der altgriechischen Schwesternschaft der Hecate war wusste Ladonna. Nur dass die Hecatianerinnen damals nur reinblütige Menschenfrauen mit magischen Kräften als ihre Mitschwestern guthießen. Aber zumindest erklärte es die Verwendung griechischer Buchstaben auf der Karte. Womöglich ging Domenica damals davon aus, dass eine der Hecatianerinnen diese Botschaft erhalten und den damit verbundenen Auftrag erfüllen mochte. Doch am meisten peinigte sie die Behauptung, dass eine dritte Tochter den Sieg über die unerwünschte, in Ungnade gefallene Tochter erringen würde. Das passte zu sehr zu den Albträumen von ihrer Schwester Regina, die angeblich am Fluss der rastlosen Seelen wachte und auf sie wartete, wenn die dritte Tochter geboren war. Das hieß doch, dass diese damals eben noch nicht geboren sein konnte. Denn Regina hätte sicher dann anders gesprochen. Da fühlte sie, wie der Funke der Erkenntnis entflammte. Diese Truhe, vielleicht auch noch anderswo hinterlassene Truhen, reagierten, wenn es irgendwo auf der Welt eine Tochter gab, die wie sie, Ladonna, keinen Vater, aber zwei Mütter besaß. Wie immer Domenica oder ihr treue Mitschwestern dies ermitteln wollten, es mochte die Situation sein, bei der sich die Truhe öffnen konnte. Solange war sie wie ein mit Härtungszauber mehr als diamanthart bezauberter Granitblock oder ein mit Ferrifortissimum-Zauber verstärkter Stahlschrank mit einem halben Meter dicken Wänden, wie der von Pjotr Grolenkow. So wie ihr Ring ihre Rückkehr ermöglicht hatte, so mochte es neben der von Felicia geöffneten Truhe weitere Hinterlassenschaften geben. Dann mochte es auch jene dritte Tochter geben. Hätte sie ihre Schwestern auf die Suche nach ihr schicken sollen? Dann hätte sie begründen müssen, was daran so wichtig für sie war. Auch wenn sie ihre Schwestern vollständig unter Kontrolle hatte mochten andere, die ihr noch nicht vollständig unterworfen waren, ihre Schlüsse aus einer solchen Suche ziehen. Nein, es galt erst einmal, weitere Hinterlassenschaften ihrer velastämmigen zweiten Mutter zu finden und das lesbare noch vor der Vernichtung der Gegenstände zu lesen. Die grün-orange Aura, die die Statuette umgeben hatte war eindeutig jene durch den entsprechenden Zauber sichtbar gemachte Lebensaura ihrer Still- und Ziehmutter Domenica. Alles passte. Sie erkannte, dass sie seit dem Bruch mit Domenica vieles auch für sie lebenswichtiges nicht mitbekommen hatte. Das durfte sie keine ihrer Schwestern spüren lassen.
Espinela Bocafuego de Casillas, die in der Sprache der Veelas Rotstein Feuermund genannt wurde, stand auf jenem Hügel, unter dem die Höhle mit der überlebensgroßen Statue Mokushas lag. Sie fühlte die von dort auf alle Kinder der ersten Mutter ausstrahlende Kraft. Sie hatte mal davon gehört, dass solche, die dem Volk der zwölf Kinder Mokushas zu wider handeln mochten, nicht getötet wurden, sondern in einem nimmer endenden Schlaf in den steinernen Unterleib jener riesigen Nachbildung gebettet wurden, nicht lebend und das sterben verwehrt. Wie nahe war sie selbst an dieser Bestrafung entlanggeschrammt? Wahrscheinlich dachten viele, dass die von Grünfratzenblut vergiftete Italienerin dieses Schicksal erfahren würde, um niemals wieder gegen ihresgleichen Hand und Zauberkraft zu erheben. Gut, für sie, die einst gegen Gebote der Ältesten aufbegehrende Tochter einer reinblütigen Veela und eines kurzlebigen Zauberers hatte das hier einen Vorteil. Man hatte ihr und ihren Nachkommen verziehen und ihnen wieder erlaubt, diese Insel und alle Lande, wo Kinder Mokushas lebten, zu betreten. für sie war das insofern sehr wichtig, dass sie dann auch in Himmelsglanzes Reich einreisen durfte, wenn sie das wollte. Noch wollte sie nicht. Aber sie behielt es sich vor, eine Ankündigung wahrzumachen, die sie in der Höhle der gesammelten Worte ausgesprochen hatte.
"Großmutter, ist was los?" hörte sie die Gedankenstimme ihres Enkelsohnes Ignacio Lucio Bocafuego Escobar singen. Sie erwiderte auf dieselbe Weise: "Ich betrachte die Sterne und den Mond und hoffe, dass wir eine weitere friedliche Nacht erleben. Eigentlich hätten Sternennachts Nachkommen auch hier sein müssen. Aber der Ältestenrat hat beschlossen, dass die alle im Überdauerungsschlaf liegen sollen, um Ladonna davon abzuhalten, die Insel durch Blutsverwandtschaftszauber zu finden. Deshalb ist Sternennacht auch nicht mehr auf der Insel."
"Soll ich zu dir auf den Hügel kommen? Ich kann gerade nicht schlafen."
"Dann komm zu mir herauf, Ignacio", schickte Espinela zurück.
Als Ignacio auf die Kuppe des Hügels hinaufstieg fühlte Espinela, dass eine andere Tochter Mokushas in Tiergestalt anflog. Sie blickte in Richtung zwischen Mitternachtund Sonnenaufgang. Da sah sie das schwache Schimmern, das eine unsichtbar anfliegende Tochter Mokushas für Ihresgleichen bildete. Als es näher kam wurde die Erscheinung zu einem das Mondlicht hell wiederspiegelndem Schwan. Dann erkannte sie die andere, Himmelsglanz. Diese segelte mit weit ausgebreiteten Flügeln auf den Hügel zu und landete sanft. Keine drei Herzschläge später stand Himmelsglanz züchtig bekleidet vor der Wachhabenden und ihrem Enkelsohn.
"Ah, Rotstein, du darfst wachen. Ist wer durch Mokushas Schutzwall gedrungen, der dies nicht darf?" fragte Himmelsglanz. "Nein, ist niemand", sagte Espinela. "Dann wird das wohl auch nicht mehr passieren. Eine Zauberstabträgerin in Frankreich erhielt vor einer Stunde die schriftliche Botschaft, dass es gelungen ist, alle gegen uns einsetzbaren Waffen und die Herstellungspläne zu vernichten. Die Griechinnen haben den Russen die Pläne und Waffen fortgenommen."
"Wie zuverlässig ist diese Mitteilung, Himmelsglanz?" fragte Rotstein. "Es wird wohl noch genauer nachgefragt, wer wie und was. Doch sehr wahrscheinlich werden die Griechinnen nicht alles verraten, wie sie es angestellt haben", sagte Himmelsglanz.
"Also sollen wir solange noch alle hier in Schlaf halten?" fragte Espinela. Himmelsglanz erwiderte, dass dies nur der Ältestenrat mit einstimmigem Beschluss festlegen mochte. Dann stieg sie den Hügel hinab, um sich in einem der noch freien Gästezelte auszuruhen, bevor sie am nächsten Morgen mit dem Ältestenrat darüber sprechen würde. Espinela und Ignacio waren alleine auf dem Hügel. "Was meinst du, Abuelita, ist die Gefahr vorbei?"
"Die unmittelbare wohl, aber solange diese mit Waldfrauenblut vergiftete Mischblüterin frei herumlaufen und ihre eigenen Sachen machen kann wird sie es weiterversuchen. Am Ende haben sie nur die russischen Kopien der Pläne erwischt, aber nicht die Kopien, die in anderen Ländern herumliegen könnten. So oder so haben wir immer noch die Last, dass wir uns nicht offen zeigen dürfen, ohne von den ihr hörigen Ministeriumszauberern getötet zu werden, egal ob dies unsere Rache entfacht oder nicht. Nein, dieses Unweib muss weg, zumindest da unten in die Höhle in den Steinbauch von Mokushas ganz großer Nachbildung", knurrte Espinela. "Das sagt die, die fast selbst vor dem Gericht der ältesten zu einer derartigen ewigen Strafe verurteilt worden wäre", sagte Ignacio. "Heh, Nietito, willst du frech werden?" fragte Espinela und zeigte drohend mit dem Finger auf Ignacios Gesicht. "Höchstens bleib ich frech, immerhin stamme ich ja zu einem Teil von dir ab", konterte Ignacio grinsend.
"Ja, mein Kleiner, und das macht deine liebe Abuelita Nela ganz ganz stolz, dass du nicht einer von diesen verschüchterten reinblütigen Jüngelchen bist", schnurrte Espinela und knuddelte ihren Enkel.
Louiselle versorgte die kleine Lucine, während Laurentine mit ihrer Großmutter Monique sprach. Beide hatten sie beschlossen, dieser noch nichts von ihrer lesbischen Wohngemeinschaft und schon gar nichts von einer kleinen Tochter zu erzählen. Deshalb hatte sich Louiselle mit der Kleinen in einen provisorischen Klangkerker eingeschlossen. "So, kleine Badenixe, jetzt bist du wieder frisch und sauber für die nächste Nacht in deinem hoffentlich noch ganz langen Leben", säuselte Louiselle, während Laurentine gerade über die weltpolitischen Ereignisse in der nichtmagischen Welt sprach. Es ging wohl um die Affäre eines in London verstorbenen Russens, der früher beim sowjetischen Geheimdienst gearbeitet hatte. Es war noch zu ermitteln, ob es eine seltene Krankheit oder doch ein Mordanschlag war. Dann ging es noch um die Irakpolitik von George W. Bush, die nach den neuen Mehrheitsverhältnissen im US-Kongress zur Debatte stand. Das alles betraf Louiselle Beaumont recht wenig. Ihr war in den letzten Tagen nur wichtig gewesen, dass es offenbar einer Gruppe von griechischen Hexen gelungen war, die Massenvernichtungswaffe des russischen Zaubereiministeriums zu verhindern. Wie genau dies geschehen war behielten die Töchter der Hecate tunlichst für sich. Die wussten sicher auch warum, dachte die durch einen umgekehrten Unfruchtbarkeitszauber zur Mutter gewordene.
"Louiselle, hörst du mich?" klang unvermittelt Hera Matines Stimme in ihrem Geist. Louiselle Beaumont erstarrte für einen Moment. Dann schickte sie zurück: "Ja, ich höre dich, Tante Hera. Was möchtest du?"
"Kommt beide nach zehn uhr zu mir, wenn ihr das einrichten könnt. Es könnte sehr wichtig sein!" erfolgte Hera Matines Antwort.
"Natürlich muss sich Bush das gefallen lassen, ob er nicht doch zu weit übers Ziel hinausgeschossen ist, Mémé Monique", hörte sie Laurentine am Telefon sagen. "Klar, ich sitze in Frankreich, schön weit weg. Aber wir Europäer hängen irgendwie immer noch an einer wirtschaftlich-politisch-militärischen Nabelschnur von euch. Da geht es uns schon was an, wie sich euer Präsident verhält. ... Schön, dass du das auch so siehst, Mémé Monique."
"Laurentine spricht über Fernsprechgerät mit ihrer Großmutter in Amerika, Tante Hera. Kann noch dauern. Heute ist ja wieder der Jahrestag, wo ihr Großvater Henri gestorben ist", schickte Louieselle ihrer Tante zu.
"Verstehe. Könnte trotzdem für euch beide wichtig sein. Ach ja, kommt in die Versammlungshöhle der Schwestern, Schwester Louieselle!" Das wirkte auf Louiselle. Doch sie konnte schlecht hinausrufen, dass Laurentine fertig werden sollte. Denn für ihre amerikanische Verwandtschaft war sie immer noch alleinstehend und alleinwohnend.
Es ging dann noch um die Verkettung von Stromausfällen am Monatsanfang und wie stabil das Stromnetz in den Staaten und das in Europa war. Dann tauschten sie weitere Erinnerungen über den an diesem Tag vor fünf Jahren mit einem Flugzeug abgestürzten Verwandten aus, für den eine Firma in Amerika einen eigenen Weltraumsatelliten in die Erdumlaufbahn geschickt hatte, was sich später als eine halbe Mogelpackung entpuppt hatte.
Nach mehr als einer Stunde Gesprächsdauer konnte Laurentine sich endlich verabschieden. Sie kam leise in das zum Kinderzimmer umfunktionierte ehemalige Arbeitszimmer von Martha Merryweather, worauf der ockergelbe Klangkerker erlosch.
"Ui, ich weiß immer noch nicht, wann genau ich meiner werten Großmutter sagen kann, dass ich eine Mutter mit Kind in der Wohnung habe, Lou. Ich hoffe, du hast dich nicht gelangweilt."
"Gelangweilt? Morgen bist du wieder mit Wickeln dran, und wie ich das sehe kannst du die Kleine sogar noch anlegen. Ab dem 6. Dezember möchte ich sie langsam abstillen", sagte Louiselle und ging mit Laurentine hinaus, um Lucine erst einmal schlafen zu lassen. Draußen erzählte sie Laurentine, was ihre Tante ihr zumentiloquiert hatte. "Und wir sollen in die Versammlungshöhle", mentiloquierte Laurentine. "Hat sie mir so unters Haar gejubelt", erwiderte Louiselle auf dieselbe Weise. "Gut, ich schicke noch die Mail an meine Cousinen raus, dann können wir auch", sagte Laurentine laut.
Da Laurentine von Florymont ein bis zu zehntausend Kilometer weit reichendes Artefakt zum Melden von Babyschreien erhalten hatte konnten sie Lucine in Ruhe weiterschlafen lassen. Im Haus Rue de Liberation 13 wirkte ja der Sanctuafugium-Zauber.
Chrysagora traf ihre Mentorin, die im Rat der Töchter Hecates als Mutter Trigonia benannt war und erstattete Bericht über die Unternehmung "Veelafrieden". Dass ihnen dabei der russische Zaubereiminister persönlich in die Hände gefallen war und fast durch Schmelzfeuer sich und sie getötet hatte hatte Mutter Trigonia erst erschüttert. Doch nun war sie sehr zuversichtlich, die Gefahr eines von Russland ausgehenden Veelamassakers vollständig auszuräumen.
"Der hat gemerkt, dass noch wer da war, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, der hat die magischen Stränge der Warnzauber erfasst, weil seine Marionettenspielerin mit ihm geistig verbunden war", sagte jene, die im Rat der Mütter Trigonia hieß und sich auf die drei großen Lebensbereiche der Menschen verstand. Chrysagora erwiderte: "Natürlich. Die Warnzauber hielten ja mit uns Verbindung. Wenn die Sabberhexenbrütige ihn für sowas sensibilisiert hat ... Stimmt, Veelas, Vampire und Auravisoren können magische Stränge wahrnehmen, für die wir sonst Aufspürzauber ausführen müssen. Es war auf jeden Fall sehr hilfreich, dass wir und Schwester Triselenia den Zauber Morgenfrieden geübt haben, der jeden zerstörerischen Feuerzauber niederkämpfen kann, auch den Schmelzfeuerfluch. Aber dass der solange brauchte und von zwei von uns ausgeführt werden musste ist schon beunruhigend", sagte Chrysagora.
"Ich habe Arcadi und die drei, die ihr noch eingesammelt habt erst einmal mit dem Vitricorpuszauber erstarren lassen, bis wir wissen, wie es weitergeht", sagte Mutter Trigonia.
"Die hätte ihn sicher nicht auf diese Weise umzubringen versucht, wenn in dem Haus nicht noch was sehr wichtiges gewesen wäre", sagte Chrysagora. "Ja, und wir wissen mittlerweile auch was", grinste Mutter Trigonia. "Deine Berufskollegin Eurykleia hat den Tresor noch einmal überprüft, nachdem wir sichergestellt haben, dass das Haus noch stand. Diese Sabberhexenbrütige hat es wahrhaftig verstanden, einen Blutsiegelzauber zu brechen. Allerdings konnte Arcadi die Tür nicht öffnen, weil die auf ein nur Grolenkow bekanntes Passwort zu öffnen war, zumindest ohne Türschwindeschlüssel. Eben diesen hat Pamphile dann noch verwendet und gemeint, durch einen Vorhang aus fliegenden Eisenspänen dringen zu müssen. Aber immerhin hat sie gefunden, was Ladonna und Arcadi unbedingt vernichten wollten, die genaue Lagekarte der geheimen Treffpunkte des Zaubereiministeriums. Ich denke, die zwanzig Kerzen, die uns die französischen Veelas überlassen haben reichen aus. Wir müssen nur den richtigen Zeitpunkt erwischen, wo wir möglichst viele von denen zusammenkriegen. Wir gehen allerdings davon aus, dass Ladonna Montefiori bei der Befreiung von so vielen Abhängigen zugleich in Mitleidenschaft gezogen wird."
"Dann hoffen wir, dass wir ihrem Spuk bald ein Ende machen können", sagte Chrysagora."
"So einfach wird es nicht. Sie könnte die, die ihr noch unterworfen sind zu einem offenen Kriegszug gegen uns alle aufrufen, wie sie es ja schon getan hat, als wir ihr den Zutritt zu unserem Land versperrt haben", sagte Mutter Trigonia. Das erkannte Chrysagora auch.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Nur eine Minute nachdem Louiselle und Laurentine in der weitläufigen Versammlungshöhle mit dem Brunnen der ersten Mutter der Schwesternschaft eingetroffen waren apparierte auch Hera Matine. Sie deutete statt einer Begrüßung auf eine scheinbar nahtlos geschlossene Wand und ging beiden voran. Dann berührte sie mit der rechten Hand, an der der unsichtbare Ring der ersten Mutter steckte das Wandstück. Dieses erzitterte und versank beinahe lautlos im Boden. Dann konnten sie drei die leise Frauenstimme hören, die wie aus einem kleinen Lautsprecher klang. Sie sprach auf Lateinisch. Die Stimme sagte: "Tertia filia potest devincere filiam non gratam." - Die dritte Tochter kann die unerwünschte Tochter besiegen.
Die beiden jungen Hexen brauchten einige Sekunden um zu sehen, wo diese Worte herkamen. Sie stammten von einer kleinen in Hockstellung geschaffenen Frauenstatue, die wie eine Mutter in glücklicher Erwartung wirkte. Die Statuette besaß kleine, blau schimmernde Augen. Der Mund der Figur vibrierte. Ansonsten zeigte die Statuette keine Regung. Sie wiederholte nur den gerade gewisperten lateinischen Satz: "Tertia filia potest devincere filiam non gratam."
"Hmm, diese Statuette sehe ich zum ersten mal, Mutter Hera", sagte Louiselle. "Du warst ja auch noch nie in der Kammer der Geheimen Vermächtnisse, Schwester Louiselle", sagte Hera Matine und deutete auf mehrere verschlossene Schränke, säulenartige Metallbehälter, die wie Zwischendinger zwischen Ölfässer und Blumenvasen aussahen. Die Statuette mit den blau schimmernden Augen, die unablässig jenen lateinischen Spruch von der dritten Tochter wiedergab stammte laut Hera aus einer alten Reisetruhe, die einer der Vormütter im Jahre 1481 überantwortet worden war. In der Truhe befanden sich außer der teilweise zum Leben erwachten Statuette noch eine alte Landkarte und eine von silbernen Ringen zusammengehaltene Pergamentrolle. "Nur die amtierende Mutter der Schwesternschaft kann für sich und bis zu drei vertrauenswürdige oder unmittelbar an vererbten Dingen beteiligte Schwestern diese Kammer öffnen, Louiselle und Laurentine."
"Woher wusstest du, dass diese Statuette da eine Botschaft hat?" fragte Laurentine. Hera deutete auf ihre rechte Hand. "Wenn irgendwas in der Kammer erwacht oder von sich aus den Standort wechselt vibriert der Ring. So hat es die erste Mutter Rosmerta verfügt. Wenn etwas schädliches erwacht bekomme ich ein heftiges Pochen in den Finger, wenn es was gutartiges ist wohlige Schauer, und bei was unbestimmbarem oder neutral wirkendem vibriert der Ring nur. Ja, und mein Ring weiß offenbar nicht, ob es was gutes oder böses ist, weil sich das warnende Pochen und das wohlige Erschauern abwechseln."
"Dann gehst du davon aus, dass bei dieser Statuette dunkle Magie verwendet wurde?" fragte Louiselle. Hera wollte das nicht grundweg ausschließen. "All das ist erst zum Vorschein gekommen, als ich den Truhendeckel öffnen konnte. Der war bis dahin versperrt, ob mit einem Blutsiegel oder einem Situationszauber. Ich gehe von letzterem aus", sagte Hera. Laurentine nickte. Sie dachte an die Lieblingsweltraumserie ihres Vaters. Da hatten die Helden auf einer Zeitreise zehntausend Jahre zurück eine verschlossene Metallkapsel gefunden, die sich in ihrer eigenen Gegenwart von selbst öffnete. Zeitschloss- und Situationszauber, ja auch Situationsflüche hatten sie in Beauxbatons ja durchgenommen, und den Clavilocus-Zauber, der Behälter nur an einem ganz bestimmten Ort öffnen ließ, kannte sie aus ganz eigener Erfahrung beim trimagischen Turnier in ihrem Abschlussjahr. Das erwähnte sie alles. Darauf sagte Louiselle: "Also ist ein Ereignis eingetreten, was die Truhe entsperrt und die Statuette da zum reden gebracht hat. Aber wessen dritte Tochter soll über eine unerwünschte, in Ungnaden gefallene Tochter siegen?"
"Da kann ich nur vermuten, dass mit der unerwünschten Tochter Ladonna gemeint ist. Laut dem von Catherine entzifferten Tagebuch war sie die Zweitgeborene zweier Hexen, die wie ihr ohne einen Mann gemeinsamen Nachwuchs hinbekommen haben. Ladonna hat ihre ältere Schwester später in einem Duell getötet, weil sie sich angeblich nicht darüber einig waren, wer von beiden die Vormacht haben sollte", erwähnte Hera, während die Statuette weiterhin ihren lateinischen Vers von sich gab. "Aber eine dritte Tochter hat es nie gegeben, zumindest nicht laut Ladonnas Aufzeichnungen."
"Ja, und du hast uns das hier zeigen wollen, weil wir eine gemeinsame Tochter hinbekommen haben, Mutter Hera", erwähnte Louiselle Beaumont. Laurentine nickte ihr zu. "Ja, nur dass unsere Lucine unsere erste Tochter ist. Außerdem ist die noch viel zu weit davon weg, Ladonna ernsthaft zu bedrängen, geschweige denn zu besiegen."
"Dies ist mir natürlich auch klar, Schwester Laurentine", erwiderte Hera. Dennoch vermute ich, dass diese Statuette und alles andere nur deshalb jetzt verfügbar ist, weil ihr die kleine Lucine in die Welt gesetzt habt. Denn laut dem Heilerregister und allen mir sonst noch verfügbaren Quellen gab es seit Ladonna und ihrer älteren Schwester, die Reina oder Regina geheißen haben muss, keine Konstellation, bei der zwei Hexen aus Versehen oder in voller Absicht eine gemeinsame Tochter hervorgebracht haben."
"Apropos Heilerregister", setzte Laurentine an: "Außer dir und Madame Faucon weiß keiner von Lucines Abstammung, richtig?"
"Zumindest habe ich dies bisher so gehalten, schon weil ich nicht will, dass Lucine zum heilmagischen Curiosum wird. Die offizielle Lesart bleibt, dass der Vater der kleinen weit vor der Geburt verunglückt ist", bestätigte die erste Hebamme von Millemerveilles.
"Nur können schon einige sehen, dass die Kleine die Augen meiner Mutter hat", erwähnte Laurentine. "Ja, aber nur die, die deine Mutter auch mal persönlich gesehen haben", sagte Hera darauf. Laurentine wollte schon aufzählen, wer aus ihrer Jahrgangsstufe das war. Doch Hera würgte diesen Vorstoß mit einer Handbewegung ab. "Wenn Lucines Geburt wirklich der Auslöser für das hier sein sollte, dann ist fragwürdig, warum die Truhe sich erst heute geöffnet hat. Womöglich mussten noch weitere Bedingungen erfüllt werden", vermutete Hera. Dem konnten Laurentine und Louiselle nur beipflichten.
"Da ich von meiner Nachhilfelehrerin in der Abwehr dunkler Kräfte gelernt habe, nichts anzufassen, was ich nicht kenne und was sich eindeutig unnatürlich verhält, bis eine Fluchbestimmung erfolgt ist weiß ich nicht, was ich von dem allen hier halten soll", gestand Laurentine ein.
"Ja, und jene Nachhilfelehrerin interessiert sich dafür, wie diese Truhe zu uns Schwestern hinkam und ob sie die einzige ihrer Art ist, Mutter Hera", sagte Louiselle.
Hera erwähnte, dass damalige Verbindungen zwischen den Stuhlmeisterinnen Südeuropas einen regen Austausch von niedergeschriebenen Einfällen, erprobten Erfindungen oder eben auch Warnungen vor bestimmten Zeitgenossen oder Artefakten ausgetauscht hatten. Die Truhe sei demnach von Sizilien nach Marseille gelangt. Es habe sich herausgestellt, dass nur Hexen sie berühren und tragen konnten und dass sie gegen alle damals bis heute bekannten Öffnungszauber abgesichert war.
"Jedenfalls muss eindeutig geklärt werden, ob diese Hinterlassenschaft einen schlummernden Fluch enthält. Du hast erwähnt, dass du über den Ring der ersten Mutter sowohl gute wie böse Strömungen mitbekommen hast", sagte Louiselle.
"Ich habe bereits eine erste Fluchprüfung durchgeführt, Louiselle. Denn auch ich als Heilerin fasse nichts an, was magisch aktiv ist und von dem ich nicht weiß, was es antreibt und wer es hervorgebracht hat."
"Es könnte ja auch passieren, dass wer immer diese dritte Tochter sucht diese mit der Statuette unterwirft und instrumentalisiert", sagte Laurentine und erntete ein heftiges bestätigendes Nicken ihrer Mitbewohnerin und Mutter ihrer Tochter.
"Ich verstehe ganz genau, was du meinst, Laurentine. Natürlich hat es schon Vorfälle mit erst einmal harmlos wirkenden Gegenständen gegeben, die sich als verderblich für die entpuppt haben, die sich ihnen zu sehr anvertraut haben. Meine Kollegin Poppy Pomfrey in Hogwarts erwähnte den Fall mit der Kammer des Schreckens im Schuljahr 1992-1993, bei dem ein von Tom Riddle während dessen Schulzeit verhextes Tagebuch eine entscheidende Rolle gespielt hat. Natürlich will ich nicht, dass ihr beide und eventuell auch Lucine auf ein derartig dämonisches Artefakt hereinfallt. Daher wollte ich ja auch mit dir, Louiselle, eine intensive Prüfung auf Flüche durchführen und dann, sozusagen als ultimativen Test, die Truhe mit Inhalt an einen eindeutig mit gutartiger Magie erfüllten Ort bringen um zu sehen, ob die Statuette dann immer noch ihre Botschaft verkündet und die ihr beigegebenen Pergamente unversehrt bleiben."
"Die einzigen Orte, die mir da einfallen wären Millemerveilles und die Rue de Liberation 13", erwiderte Laurentine.
"Immerhin haben Catherines Haus und Millemerveilles mich und Lucine willkommen geheißen, als ich sie trug", meinte Louiselle dazu. Sie wiegte den Kopf. "Es kann auch sein, dass hier ein exotischer, nicht von zauberstabnutzenden Menschen gewirkter Zauber in Kraft ist. Kobolde, Zwerge und andere menschengestaltigen Zauberwesen wenden Magie auf andere Weise an. Aber in die Rue de Liberation würde ich die Truhe nicht mitnehmen. Am Ende erfolgt wirklich eine Gegenreaktion, und wir müssten es Catherine erklären, woher wir die Ursache haben", sagte Louiselle vor allem an Laurentine gewandt.
"Gut, dann prüfen wir die Truhe und den Inhalt mit allen dir und mir bekannten Flucherkennungszaubern, Louiselle. Anschließend schaffen wir sie hier aus der Kammer und hängen sie an zwei Besen. Mit denen fliegen wir nach Millemerveilles. Werden wir dort hineingelassen, ohne dass uns die Truhe zerfällt oder deren Inhalt vernichtet wird, landen wir beim Entbindungsheim. Das ist gerade leer und ist eine der Kraftsäulen des die Siedlung überspannenden Schutzzaubers. Falls die Statuette dort immer noch ihre Botschaft verkündet und die Pergamente nicht verändert sind erkunden wir sie in einem der Dauerklangkerker-Arbeitszimmer", bestimmte Hera.
"In Ordnung, Mutter Hera", sagte Louiselle. Laurentine war auch einverstanden. "Laurentine, bitte kehre zu Lucine zurück und warte da auf meine oder Louiselles Gedankenbotschaft!" ordnete Hera noch an. Laurentine schluckte erst. Sollte sie nicht dabei sein? Konnte es sein, dass diese Truhe und ihr Inhalt doch gefährlich waren und es besser war, dass wenigstens eine der zwei Mütter bei Lucine in Sicherheit war? Sie nickte schwerfällig.
Sie verließen mit der Truhe die Kammer der geheimnisvollen Vermächtnisse. Hera winkte mit der rechten Hand. Lautlos glitt die im Boden versenkte Wand wieder nach oben. In nur vier Sekunden schloss sie mit der Decke ab und verschmolz mit der inneren Mauer, damit niemand mehr sah, dass dahinter eine geheime Kammer lag.
Zurück in der Versammlungshöhle, wo das Apparieren und Disapparieren für eingeschworene Schwestern möglich war winkte Laurentine ihrer Partnerin und der Hexe, die sie beide mehr oder weniger verkuppelt hatte und disapparierte mit Ziel Wohnzimmer im ersten Obergeschoss des Hauses Rue de Liberation 13.
"Gut, dass ich das möglichst leise Apparieren trainiert habe", dachte Laurentine, als sie lauschte, ob jemand im unteren Stockwerk von ihrer Ankunft wach geworden war. Dem war nicht so.
Nun hieß es warten. Denn sie wusste ja nicht, wie weit die Versammlungshöhle entfernt war und wann sie die erlösende Melonachricht erhalten würde. Sie hoffte wenigstens, dass es noch in dieser Nacht war.
Sie musste ganze drei Stunden warten, bis Louiselles Gedankenstimme in ihrem Geist erklang: "Laurentine, alles klar! Die Truhe hat erst komisch gebrummt, als wir beim Entbindungshaus gelandet sind, blieb aber intakt. Komm bitte noch mal zu uns!" Laurentine bestätigte es und besann sich darauf, möglichst leise zu disapparieren.
Die Gewinnerin des in Beauxbatons veranstalteten trimagischen Turnieres apparierte punktgenau vor der Zugangstür zum Entbindungsheim von Millemerveilles, wo alle die Hexenmütter unterkamen, die nicht zu Hause gebären wollten. Sie läutete die Türglocke. Keine zwei Sekunden später ging die Tür auf und Hera Matine winkte sie herein.
"Ich dachte erst, dass die Statuette sich gegen Millemerveilles wehren wollte. Sie strahlte dauernd grünes und oranges Licht aus. Doch dann beruhigte sie sich wieder", sagte Hera. "Louiselle und ich haben Truhe und Inhalt erst mit allen uns bekannten Fluchprüfern getestet. Wenn dabei etwas beschädigt oder zerstört worden wäre wäre es eben klar gewesen, dass wir es ausschließlich mit dunkler Magie zu tun haben", sagte Hera, als sie und Laurentine bei Louiselle in Heras hiesigem Besprechungsraum ankamen. Dort lagen auf dem Tisch die Statuette, die gerade keine Botschaft von sich gab, die zusammengefaltete Pergamentkarte und die von den Silberringen zusammengehaltene Pergamentrolle, alle scheinbar unverändert.
"Hallo, Laurentine. Die Truhe muss wohl mit dunkler Magie angereichert worden sein, womöglich ein Zauber, der verhindern soll, dass sie gewaltsam geöffnet werden kann", sagte Louiselle. "Ich bin mir mit unserer heilkundigen ersten Mutter sicher, dass wir es mit einem Veelazauber zu tun haben. das, was in der Statuette wie dunkle Magie wirkte ist magisch aufgeladdenes Blut, womöglich ähnlich wie beim Clavimensum-Zauber, aber wohl Blut von jemandem, der oder die ein gewaltsames Ende gefunden hat, ob aus freien Stücken oder gegen den eigenen Willen konnten wir so nicht klären. Sicher ist nur, dass es kein Erfüllungsfluch, kein Seelenfeuer und auch kein Horkrux ist."
"Hmm, ein Horkrux?" fragte Laurentine.
"Einer der übelsten dunklen Zauber, Laurentine. Damit kann jemand einen selbstständig wirksamen Teil der eigenen Seele an einen beliebigen Gegenstand oder an ein Lebewesen binden. Voraussetzung, er oder sie hat wenigstens schon einmal ein denk- und empfindungsfähiges Wesen aus Fleisch und Blut getötet oder tut dies unmittelbar vor der Bezauberung des Gegenstandes und der Abspaltung eines Seelenfragmentes."
"Oha, und die Statuette ist kein solcher Seelenteilbehälter?" fragte Laurentine.
"Nein, sie wird offenbar von etwas größerem ferngesteuert, wechselwirkt also mit einem anderen Artefakt. Wo die Statuette es von einer dritten Tochter hatte kam ich auf die Idee, den Mater-Sinistra-Zauber zu verwenden, also den, bei dem ein Gegenstand darauf geprüft wird, ob er von einer schwarzmagischen Quelle Kraft erhält und gesteuert wird."
"Mater Sinistra? Den hast du mir aber bisher nicht beigebracht", meinte Laurentine.
"Den kann auch nur ein magiekundiger Mensch ausführen, der sowohl schon jemanden hat sterben sehen als auch selbst einen neuen Menschen gezeugt oder geboren hat", sagte Hera etwas ungehalten. "Es gibt durchaus noch genug höchst fragwürdige Zauber, die du noch nicht lernen musstest, Laurentine."
"Wieso, ist der so brutal in der Ausführung, mit Blut- oder Lebendopfern?" fragte Laurentine scheinbar naiv, aber alles andere als einfältig. "Na ja, der Zauberkundige oder die Hexe muss wahrhaftig etwas eigenes Blut dafür hergeben und sich dabei auf den miterlebten Todesfall einstimmen und dann auf das Kind oder die Kinder, die er oder sie ins Leben gebracht hat", sagte Louiselle. "Gut, er hat auf jeden Fall gezeigt, dass die Statuette mit einer größeren Schwester von sich verbunden ist, die wiederum irgendwo östlich von hier sein muss, aber keine rein bösartigen Absichten gegen uns hat. Allerdings, so Mutter Hera und ich, müssen wir davon ausgehen, dass diese große Schwester durch ein Lebensopfer vollendet wurde und dass der Zweck ihrer Entstehung ein Todeswunsch ist und kein Schutzbedürfnis."
"Will sagen, irgendwo östlich von hier, vielleicht in Italien, Russland oder der Türkei steht in einem Versteck eine größere Statue wie die kleine Figur da und wartet, dass die dritte Tochter zu ihr hinkommt oder wie?" fragte Laurentine. Hera nickte und deutete auf die zwei Pergamente auf dem Tisch. "Louiselle und ich sind zwar der Meinung, dass wir selbst von dieser magischen Verknüpfung nichts zu befürchten haben, sie aber eben dazu erschaffen wurde, um jemandem zu schaden. Tja, und diejenige ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Ladonna Montefiori. Irgendwer hat die Ankunft einer dritten Zwei-Mütter-Tochter erwartet und ein Aufspürnetz gewebt, dass deren Ankunft erfassen kann, wie der Neotokograph, der in Beauxbatons die Geburt eines von magischen Eltern stammenden Kindes oder das Erwachen von Magie in einem bereits geborenen Kind erfasst und dokumentiert", sagte Hera. Laurentine und Louiselle nickten, auch wenn sie nicht wussten, was genau ein Neotokograph war und wie er funktionierte.
"Will sagen, die dritte Tochter muss es darauf anlegen, als Erfüllungsgehilfin von dem oder der aufzutreten, wer immer die Statuette und ihre große Schwester gemacht hat?" fragte Laurentine. Louiselle nickte heftig. Hera sah Laurentine anerkennend an. "Ja, mit diesem Bewusstsein muss jene dritte Tochter sich dieser größeren Statue anvertrauen um nicht zu sagen ausliefern. Kann sein, dass sie dabei unter einen zielführenden Einfluss, einen Erfüllungszauber gerät, der sie ab einem bestimmten Punkt dazu treibt, Ladonnas Entmachtung oder Tod herbeizuführen. Es kann aber auch sein, dass dieser dritten Tochter die Wahl gelassen wird, Ladonna am Leben zu lassen oder ganz von diesem Auftrag zurückzutreten, eben zu dem Preis, dass Ladonna auch weiterhin Unheil anrichtet."
"Hmm, womöglich verrät die Rolle da, worum es geht", sagte Laurentine. Louiselle nickte, ebenso Hera.
Hera wagte es, nach der Pergamentrolle zu greifen. Die Ringe waren laut Louiselle nur mit Zaubern belegt, dass sie nur von einer erwachsenen Hexe berührt und entfernt werden konnten. Hera entrollte das Pergament. Laurentine und Louiselle erkannten die mit silberner Tinte aufgeschriebenen Zeilen. "Och joh, der Umgedrehte Spiegel, einfach aber für Leute, die keine Runenschrift können wie ägyptische Hieroglyphen", meinte Louiselle. "Ja, und so wie die Schrift aussieht mit einer Mondfeder geschrieben, also nur in Abwesenheit von Feuer und Sonnenlicht lesbar", meinte Hera.
"Ach so was wie Mondbuchstaben, die nur bei Mondlicht gelesen und bei der Erweiterung auch nur zu einer bestimmten Mondphase im Jahreslauf entziffert werden können?" fragte Laurentine. Louiselle sah sie fragend an. Hera musste lächeln. "Ach, auch Tolkiens Einsteigerbuch zu seinem Opus Magnum gelesen?" fragte sie. "Nicht das Buch vom kleinen Hobbit, aber das Hörspiel nach dem Buch", meinte Laurentine leicht wehmütig. Denn es erinnerte sie an die Zeit, wo sie noch was über magische Wesen und Welten hören und lesen durfte, solange ihre Eltern davon ausgingen, dass das eben alles nur erdichtet war.
"Für Louiselle, ein britischer Altsprachenforscher hat vor Jahrzehnten Geschichten auf Grundlage nordischer Mythen erfunden, in denen verschiedene Rassen menschenähnlicher Wesen vorkommen, unter anderem Zwerge, die die von Laurentine erwähnte Mondschrift gebraucht haben. Der Gelehrte, ein Professor Tolkien, hat da wohl bei seinen Studien und Recherchen einiges mitbekommen, dass es tatsächlich möglich ist, nur bei Mondlicht lesbare Texte aufzuschreiben. Ja, und die Zwerge und Kobolde können sowas auch ohne Zauberstab."
"Gut, also ich kann die Runenschrift im umgekehrten Spiegel lesen", meinte Louiselle. "Aber ich werde ihn nicht laut vorlesen, wenn da womöglich eingewirkte Zauber sind", fügte sie hinzu. . Laurentine nickte. Dann holte diese jenes Gerät hervor, dass sie selbst erfunden und eine Version davon an Louiselle und eine an Julius Latierre weitergegeben hatte, das Xenographophon. "Das könnte gehen", sagte Louiselle. "Die nachbesserung mit dem eingewirkten Fluchunterdrücker schützt dich zusätzlich, wenn dir der Text vorgelesen wird, sofern du damit außerhalb von Millemerveilles oder einem Sanctuafugium-Zauber zu tun hast", sagte sie. Dann übernahm sie das entrollte Pergament. Sie las eine Minute lang, las dann noch einmal und gab es Laurentine. Diese führte das stetoskopartige Aufsatzstück über das Pergament, bis es vibrierte. Dann lauschte sie über die beiden kleinen Kugeln in ihren Ohren.
"In dem Wissen, dass meine damalige Vertraute und ich nicht nur gegen die freie Natur gesündigt haben, sondern auch zwei unaufhaltbar machtheischende Nachkommen auf diese Welt gebracht haben verfasse ich, Domenica Montefiori, Tochter der Veela Cantanotte und des Zauberers Vittorio Montefiori, diese Zeilen, auf dass es möglich sein wird, dass die Fehler meiner Vergangenheit berichtigt und deren Auswirkungen umgekehrt werden können. Doch weiß ich, dass es keinm Menschen aus zweigeschlechtlicher Zeugung vorbehalten sein wird, dies zu vollbringen. So hoffe ich darauf, dass wo schon ich es nicht vermochte, eines nicht zu fernen Tages ein Paar einander vertrauender und liebender Hexen es vollbringt, eine gemeinsame Tochter zu zeugen und auf die Welt zu bringen. Nur wer frei von männlicher Vormachtideen selbstbewusst und rein weiblich in Dingen des Leibes und der Seele beschaffen ist vermag, die gegen das eigene Blut wütende Tochter aus dem Schoße meiner dahingegangenen Gefährtin zu bändigen und entweder in tiefen Schlaf zu versenken, den der irgendwann eintretende Tod beenden soll oder sie auf andere Weise zu entmachten, dass ihr nicht die Blutrache meiner Vorfahrin Cantanotte droht. Dieses Vermächtnis soll jener dritten Tochter helfen, meine missratene Tochter Ladonna Montefiori von ihrer Wut abzubringen, die ganze Welt zu verheeren. Vor allem sorge ich mich um meine eigenen Vorfahren, den Kindern Mokushas, von denen sowohl ich als auch Ladonna abstammen. Seitdem ich weiß, dass Ladonna auch ihre eigenen Blutsverwandten zu töten vermag bange ich darum, dass sie auf dem Weg zur Vorherrschaft jedes andere Kind Mokushas zu Tode bringen mag, das sich ihr in den Weg stellt. So habe ich an einem nur mir vertrauten Orte eine Wächterin eingesetzt, die durch meine eigene Lebensgabe erwachen und die Welt belauschen wird. Sollte es zu vielen gewaltsamen Toden von Veelas kommen, und es gibt eine dritte Tochter, so mag sie diese Zeilen lesen und sich entscheiden, ob sie den Kampf aufnehmen oder lieber der Vernichtung der Welt zusehen will. Sollte sie da noch völlig unbelehrt und schwach sein, so mag es an ihren beiden Müttern sein, diese Entscheidung zu treffen. Diese müssen jedoch erst der Wächterin beweisen, dass sie wahrhaftig eine gemeinsame, die dritte Tochter hervorgebracht haben. Für diesen Fall habe ich in eigener geheimer Handarbeit aus meinen losen Haaren und dem Schweife eines in hohem Alter verstorbenen Einhorns die Gürtel der gemeinsamen Frucht hergestellt. Wie sie zu nutzen sind dürfen nur die beiden Mütter erfahren, wenn sie der Wächterin den Beweis für ihre gemeinsame Nachkommenschaft erbracht haben. Ist die dritte Tochter bereits erblüht und in den hellen wie dunklen Künsten mehr als zufriedenstellend geübt, so mag sie sich einen der Gürtel auswählen, wenn sie der steinernen Wächterin bewies, dass sie das Kind zweier Mütter ist. Alles weitere soll dann mein in jene Wächterin eingeflossenes Vermächtnis verdeutlichen. Trachtet jedoch eine danach, die steinerne Wächterin zu befragen, die keine dritte Tochter oder eine von zwei Müttern einer solchen ist, so wird diese Botin vergehen und der Schwindlerin alles Wissen um dieses Vermächtnis entreißen und sie an einem anderen Ort aussetzen. Nimmt gar eine von Ladonna unterworfene oder zur Unterwerfung gezwungene die Botin in die Hand, so wird diese sich vernichten und auch diese Aufzeichnung tilgen, auf dass Ladonna selbst nicht erfahren möge, dass ich ihrem Treiben Einhalt zu bieten trachte.
Ich wünsche Glück der- und denjenigen, welcher gelingt, die Veelaschlächterei zu verhindern und damit einen unsäglichen, blutigen Krieg von dieser schönen Welt abzuwenden. So hab ich dies nidergeschrieben, Domenica Montefiori im von den Christenmenschen eingeführten Kalenderjahre vierzehnhunderteinundachtzig.""
"Okay, eine Dame namens Domenica Montefiori will, dass eine von zwei Hexen stammende Tochter gegen Ladonna kämpft oder ihre beiden Mütter dies tun. Dafür gibt es irgendwo eine von ihr beseelte Wächterin und zwei Gürtel mit Einhornhornschließen", sagte Laurentine. Louiselle nickte. Das hatte sie wohl auch gelesen. Hera wies darauf hin, dass das Pergament noch eine Rückseite hatte. Laurentine drehte es um. Doch sie sah keinen Text. Hera grinste. Da fiel Laurentine auf, dass die Poren der dünnen Tierhaut nicht gleichmäßig verteilt waren. Sie nahm noch einmal das Xenographophon und setzte es so an, dass der stetoskopartige Teil genau in der Mitte ruhte. Als es dann vibrierte lauschte sie auf die Nachricht.
"Diese Nachricht ist für jene, die durch das Lesen und Verstehen des ersten Teils erkannt haben, um was es geht. Ich stellte in der Zeit, die ich mich vorbereitete vier dieser Texte her und sandte sie mit einer magischen Vervielfältigung der Landkarte in alle vier Hauptrichtungen. Ob im Norden, Osten, Süden oder Westen, falls es mehr als die eine Tochter zweier Mütter geben sollte, so mag es ihnen gemeinsam noch besser gelingen, die in Ungnade geratene aufzuhalten. Wisset, dass ihr sie nicht töten dürft. Mehr dazu in der Höhle der steinernen Wächterin. Doch jene kann nur finden, die meine Bedingungen erfüllt und den fleischlichen Beweis erbringt, dass es die geeignete ist oder deren beiden Mütter. Sucht mich auf Trinakría! tragt die kleine Verkünderin mit euch, auf dass sie euch und nur euch Weg und Zugang weisen mag! Die steinerne Wächterin wird dich oder euch prüfen. Befindet sie zu euren Gunsten, so werdet ihr oder wirst du die nötigen Kenntnisse erhalten. Befindet sie zu euren oder deinen Ungunsten, so verliert ihr oder verlierst du das Wissen um dieses Geheimnis und wirst dazu verdammt sein, auf der Insel herumzuirren, bis sich dir jemand erbarmen möge. Dies sei meine Warnung an alle, die nicht die gebotene Bedingung erfüllen."
Danach kam nichts mehr. "Gut, dass ich das Gerät auch auf Zusammensetzungsunterschiede eingepegelt habe, dass es weiße Farbe auf weißem Untergrund noch als Text erkennen kann", sagte Laurentine. Louiselle lächelte anerkennend. Hera fragte, als sie den zweiten Teil zusammengefasst hatte: "Wo Trinakría zu finden ist wisst ihr?" Laurentine schüttelte den Kopf, während Louiselle nickte. So sagte Louiselle, dass dies eine der altgriechischen Bezeichnungen für die Insel Sizilien war. Laurentine nahm dies wortlos zur Kenntnis. Daraufhin sagte Hera: "Dann liegt es bei euch, ob ihr euch darauf einlassen wollt, ein Mittel gegen Ladonna zu finden. Doch bedenkt, dass es eben noch drei andere Botinnen gibt und dass vielleicht eine von denen Ladonnas Leuten in die Hände geraten sein mag!" Louiselle nickte heftig. Laurentine verzog ihr Gesicht. Doch dann nickte sie auch. "Da stand nichts von gebotener Eile oder Gefahr im Verzug", sagte sie. Deshalb möchte ich das gerne noch überschlafen, Mutter Hera." Louiselle stimmte ihrer Lebenspartnerin und zweiten Mutter ihrer Tochter Lucine zu. So steckte Hera die beiden Silberringe wieder auf die Rolle, legte Statuette, Karte und Rolle in die Truhe zurück und verschloss diese wieder. Damit verstummte auch die ständig wiederholte Botschaft der Statuette. "Glaubst du, du bekommst die Truhe wieder auf, Mutter Hera?" fragte Louiselle. "jetzt wo offenbar die Bedingungen erfüllt sind, weshalb der Inhalt freigegeben wurde dürfte das kein Problem sein. Oder habt ihr was davon gelesen, dass sich die Botschaft und die Statuette selbstzerstören?" Die beiden jungen Hexen schüttelten ihre Köpfe. "Na also", beschloss Hera diesen Punkt.
Sie verließen das Besprechungszimmer. Hera und Louiselle würden die Truhe und ihren Inhalt wieder in die Kammer der geheimen Vermächtnisse zurückbringen. Da war sie besser aufgehoben als hier in Millemerveilles.
Als Louiselle und Laurentine nebeneinander im Bett mit Schnarchfängervorhängen lagen meinte Louiselle: "Kann mir vorstellen, dass Ladonnas Veelastämmige Zweitmutter gehöriges Bibbern bekommen hat, als sie merkte, dass Ladonna auch über die Leichen ihrer eigenen Verwandtschaft geht. Da würde ich auch alles tun, um mein Kind ohne es umzubringen zurückzuhalten."
"Der Mann, der bis heute die Sendung mit der orangen Maus für Kinder macht hat das so ausgedrückt: Was du deinen Kindern heute als Milch einschüttest schmieren sie dir morgen als Butter auf's Brot. Er meint damit, dass wir unseren Kindern vorleben müssen, wie wir wollen, dass sie mit uns und anderen umgehen müssen und was von dem, was wir ihnen Beibringen, uns selbst guttut oder wichtig ist. Wenn wir Lucine in dem Gedanken großziehen habe ich keine Angst vor ihr."
"Du hattest sie auch nicht im Bauch und musstest dich dauernd von ihr treten oder boxen lassen", grinste Louiselle. "Das ist richtig, Louiselle. Aber dafür habe ich sie schon hundertmal wickeln dürfen und weiß, wie laut sie schreien kann." Das sah auch Louiselle so. Dann kuschelten sie sich aneinander, um im Rhythmus ihres Atems in den nötigen Schlaf zu finden. Lucine mochte bereits um vier Uhr wieder was wollen.
Auch wenn Sternennacht die frohe Botschaft verkündet hatte, dass die von Ladonna geplante Veelavernichtungswaffe zerstört worden sein sollte hielten die Ältesten die Gefahr immer noch für groß genug, um eine weitere Dringlichkeitssitzung einzuberufen. So trafen sich am Morgen des Tages, der in den Kalendern der Menschen als 25. November verzeichnet war, alle 48 Mitglieder des Ältestenrates, einschließlich Sternennacht. Es gab zwei Tagesordnungspunkte: Sollten alle auf der Insel schlafenden Kinder Mokushas wieder erweckt werden? Wie sollte verhindert werden, dass Ladonna andere Hexen und Zauberer dafür einsetzte, ihr eine solche Waffe zu bauen?
Der erste Tagesordnungspunkt war für eine der üblichen Ratssitzungen rasch abgehandelt. Da immer noch die Gefahr bestand, frei herumlaufende Veelas in den von Ladonna beherrschten Ländern zu tötenund damit eine Folge von Rache- und Gegenschlag auszulösen und wegen der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass die Russen die Pläne für die Vernichtungswaffe bereits an mit ihnen verbündete Ministerien weitergereicht hatten, ebenso weil tief und fest schlafende Veelas keinen Hunger und keinen Durst empfanden wollte der Rat die auf der Insel Schutz genießenden Angehörigen weiterschlafen lassen, bis die eindeutig zuverlässige Meldung erfolgte, dass Ladonna Montefiori keine Bedrohung mehr für die Kinder Mokushas war. Himmelsglanz brachte sogar ein, dass es bereits Versuche von italienischen Ministeriumszauberern gegeben hatte, die Wohnstätten von französischen Veelas aufzusuchen. Die seien jedoch dadurch, dass sie eben den Hauch der Feuerrose um sich verbreiteten frühzeitig genug erkannt worden. Doch allen war klar, dass Ladonnas Unterworfene einen offenen Krieg mit Mokushas Kindern und ihren halbblütigen Nachkommen entfachen wollten.
Als es darum ging, wie sie Ladonnas Treiben endlich beenden konnten, ohne sie zu töten erkannte Sternennacht, dass es an ihr und ihren Nachkommen sein würde, Ladonna zu ergreifen. Auch wenn alle hier wussten, dass sich die von Waldfrauenblut verdorbene Enkelin Nachtliedes in einem Landhaus mit bösartigem Blutfeuernebelzauber verbarg, wenn sie nicht gerade selbst irgendwo etwas anstellte galt, dass sie nicht mehr so weitermachen durfte. So wurde Sternennacht von allen anderen Ratsmitgliedern aufgefordert, Ladonna bis zum Mittwintervollmond aus ihrer sicheren Festung herauszulocken und gefangenzunehmen. Falls es ihr möglich war sollte Sternennacht als älteste von Ladonnas Veelaanverwandten den letzten Schnitt, die Höchststrafe an den gegen die eigenen Verwandten handelnden Kindern Mokushas, vollstrecken. Die russische Ratsangehörige Sonnentanz sah Sternennacht sehr eindringlich an und sagte: "Ich habe mehr als dreißig meiner Angehörigen an Ladonnas unterworfene Mordknechte und -mägde verloren. Schafft ihr das nicht, dieses nur zu einem Viertel von Mokusha abstammende Geschöpf für alle Zeiten zu entmachten, berufe ich mich auf das Gebot des zweiten Treffens nach Mokushas Abschied von der Welt, demnach wir um jeden Preis blutige Gewalt untereinander zu vermeiden haben. Wenn eine Familienälteste zulässt, dass ein Mitglied ihrer eigenen Familie Mitglieder einer anderen Familie aus Mokushas Volk verletzt oder tötet, kann selbst für das restliche Leben gefangengesetzt oder getötet werden. Ich habe mich bisher zurückgehalten. Doch wenn deine Anverwandte jetzt wahrhaftig zum Vernichtungsfeldzug gerufen hat und bereits viele von uns starben, so mache ich diesen Ratschluss als mein Recht geltend. Ihr alle hier seid meine Zeugen."
"Dann berufe ich mich auf die vierte Jahresversammlung nach Mokushas Abschied von der Welt und fordere das Recht auf einen Zweikampf um die Führerschaft deiner Familie, Sonnentanz", sagte Sternennacht. Solltest du es wagen, mich und die meinen vor diesem Rat zu Mittätern Ladonnas zu erklären, wo du genau wie alle anderen hier weißt, dass ich in Ladonnas ersten Tagen nach ihrer Wiederkehr bereits über zwanzig eigene Blutsverwandte verlor, so beanspruche ich das Recht auf Genugtuung, Sonnentanz."
"Dies ist gehört und verzeichnet", sagte Sommerwind. "Doch rufe ich als älteste des Rates und somit erste unter gleichen dazu auf, diesen Zwist solange ruhen zu lassen, bis wir wissen, ob es gelingt, Ladonna Montefiori aus ihrer Blutfeuernebelfestung herauszuholen, ohne weitere von uns dabei umkommen zu sehen. Die Frist ist verkündet. Bis zum Mittwintervollmond soll es gelingen, die Todfeindin unserer Stämme zu entmachten, nach Möglichkeit ohne sie zu töten. Doch sollte ihr vorzeitiger Tod nicht gänzlich ausgeschlossen sein, wenn es gilt, unser großes Volk vor dem blutigen Kriege zu bewahren. Es liegt nun bei dir, Sternennacht, deine wiedererwachte Verwandte dazu zu bringen, von allem abzulassen, was unser Dasein gefährdet. Sonnentanz, ich verstehe zu gut, wie groß dein Schmerz ist, so viele geliebte und geschätzte Angehörige verloren zu haben. Doch bitte ich dich, dass du das Feuer deiner gerechtfertigten Wut noch klein hältst. Denn wenn du mit Sternennacht kämpfst nützt dies Ladonna mehr als dir oder Sternennacht. So halte du bitte die von uns beschlossene Frist ein!"
Sonnentanz und Sternennacht blickten sich einander an, versuchten wohl, den Blick der Niederwerfung anzuwenden. Doch beide waren wohl gleichstark. Das einzige was geschah war, dass in den Gesichtern der beiden Vogelfedern sprossen und zwischen ihnen silberne und goldene Funken zerstoben, ohne jedoch Schaden anzurichten. Dann ließen beide voneinander ab und verbeugten sich vor den anderen Ratsmitgliedern. "Ich erkenne die mir und den meinen gewährte Frist an und werde die Schmach tilgen, die meinen und euren Angehörigen zugefügt wurde", sagte Sternennacht. Sonnentanz kam nicht umhin, ebenfalls was zu sagen. Sie entgegnete: "Ich erkenne, dass auch Sternennacht Verluste erlitten hat und dass ihr die Zeit gegeben sei, das von ihrer Verwandten begangene und noch nicht beendete Unrecht zu beenden und solange auf jede Vergeltung gemäß der gesprochenen Beschlüsse seit Mokushas Wirken auf Erden verzichte. Möge Mokushas Macht und Weisheit mit dir sein auf deinem dornigen, dunklen Pfad, Sternennacht!"
Alle Ratsmitglieder atmeten auf. Einige hatten schon geglaubt, die beiden Familienältesten würden hier in der geheiligten Höhle Mokushas gegeneinander kämpfen. Himmelsglanz und ihre Schwester Morgenröte sahen einander an und dachten sich zu, wie groß der Schaden war, den Ladonna bereits angerichtet hatte.
Immerhin gelang es Dank der Besonnenheit der meisten Ratsmitglieder, die Versammlung noch zu einem friedlichen Abschluss zu bringen. Um das hier gesagte für alle Zeiten zu sichern würden jene, die in Montenegro wohnten, am nächsten Tag in die Höhle der gesammelten Worte reisen und die Ergebnisse dieser Sondersitzung an die hörenden Steine weitergeben, auf dass künftige Familienälteste es bei Bedarf noch einmal nachhören konnten.
Als sie nach dem vorgeschriebenen Abschiedsritual die Höhle Mokushas wieder verlassen hatten trat Rotstein Feuermund zu Himmelsglanz hin. "Na, wirst du deinem Schützling ausrichten, was wir beschlossen haben oder willst du ihn in Unkenntnis lassen, Himmelsglanz?"
"Gemäß der Vereinbarungen werde ich ihm mitteilen, dass wir Ladonna nur noch Zeit bis zum Mittwinter lassen. Allerdings gilt weiter, dass keine Hexe und kein Zauberer Ladonna töten darf, auch wenn er oder sie die Gelegenheit dazu bekommen sollte. Mein Schützling, unser Verbindungszauberer zu den Kurzlebigen, weiß das und hat dies auch schon längst an alle Stellen weitergegeben, die Ladonnas Treiben Einhalt gebieten wollen. Wieso fragst du mich das also?" erwiderte Himmelsglanz.
"Nun, es könnte nötig sein, dass jemand ihm und den seinen beisteht, damit sie nicht wegen Mitschuld an Ladonnas vorzeitigem Tod bestraft werden. Falls du ihn immer noch als Vater deines nächsten Kindes haben willst solltest du zusehen, ihn auf dein Lager zu bitten, Himmelsglanz. Doch wenn es dich zu sehr anficht, eine zwischen zwei Kurzlebigen getroffene Vereinbarung zu missachten kann ich dies gerne übernehmen."
"Wie du schon sagtest, er ist mein Schützling. Das heißt auch, dass jede, die ihn gegen seinen Willen einfordert erst einmal an mir vorbei muss, Rotstein. Wage nicht die dir gerade erst wiedergegebenen Freiheiten zu verspielen, indem du dir Sachen anmaßt, die dir nicht zustehen. Oder willst du dir vorwerfen lassen, genauso unerträglich zu sein wie Ladonna Montefiori?" Rotstein blickte Himmelsglanz an. Diese wappnete sich sofort gegen den Blick der Niederwerfung. Das spürte Rotstein und zog sich zurück. "Falls seine Leute Ladonna vor Sternennacht erwischen und im Kampf oder aus Vergeltungswut töten verfällt er der Blutrache Sternennachts", sagte Rotstein. "Es sei denn, er wurde bis dahin durch vereintes Fleisch und Blut ein Mitglied einer unserer Familien. Du kennst das Gesetz genauso wie ich. Ja, und ich werde meine eben erst wiedererhaltenen Freiheiten nicht aufs Spiel setzen, ihn ebenso zu mir zu zwingen wie es deine kleine Schwester mit Grindelwald getan hat. Was dabei wortwörtlich herauskam ist ein warnendes Beispiel auch für mich. Aber du weißt auch, dass ich immer bekommen habe, wen und was ich wollte, und die Männer, die ich wollte haben es nie bereut, mit mir das Lager zu teilen. Noch einen von der Sonne erwärmten Tag, Himmelsglanz!" Mit diesen Worten entfernte sich Rotstein.
"Die ist keine ganze und bildet sich ein, mehr als eine ganze zu sein", dachte Himmelsglanz, die bei den Menschen Léto hieß. Sie wusste aber auch, dass Rotstein Feuermund, die in ihrer Heimatsprache Espinela Bocafuego de Casillas hieß, immer ihren Willen durchgesetzt hatte und dass sie in Spanien eine sehr mächtige Frau geworden war, bis Pataleóns Ministerium von Ladonna Montefiori übernommen worden war. Ja, das war Rotsteins ganzer Schmerz, der Verlust der Macht und die Angst um ihre eigenen Leute. Sie wollte wieder was gelten. Zumindest sah Himmelsglanz dies so. Ob es stimmte wusste sie nicht mit Sicherheit.
Laurentine war zum einen sehr stolz und zum anderen sehr erschöpft. Sie hatte die von ihr geleitete erste Klasse an diesem Tag durch den magischen Tierpark von Millemerveilles begleitet, um den Kindern die magischen Nutztiere zu erklären. Als Höhepunkt war Madame Barbara Latierre mit der geflügelten Kuh Demeter genannt Demmie herübergekommen. Sie hatte es hinbekommen, dass keines der Kinder sich irgendwie ungehörig benommen hatte. Allerdings hatte sie auch erkennen müssen, dass kleine Menschen, ob Zaubererkinder oder gewöhnliche Menschenkinder, sehr schnell rennen konnten, wenn es was ganz tolles zu sehen gab und sie da mithalten musste, wenn sie nicht alle durch lautes Gebrüll zusammenhalten wollte, wie eine ihrer Kolleginnen das mit der dritten Klasse versucht und nur teilweise geschafft hatte. Sie hatte nun eine größere Achtung vor Schäferhunden, die immer wieder durch die Herde laufen mussten, um alle Schafe zusammenzuhalten. Immerhin war ihr das von Barbara Latierre hoch anerkannt worden.
"Was soll ich Tante Hera mitteilen?" mentiloquierte Louiselle an Laurentine, als sie beide mit Lucine wieder in der gemeinsamen Wohnung waren. "Wir müssen das wissen, wer die steinerne Wächterin ist und was die von uns oder Lucine will", schickte Laurentine zurück. "Gut, dann schicke ich ihr ein Ja zu", erwiderte Louiselle auf gedanklichem Weg. "Ja, aber nicht unter der Woche", fügte Laurentine hinzu. "Versteht sich", erwiderte Louiselle. "Ach ja, du bist ja heute mit Lucine dran", sagte Louiselle noch mit körperlicher Stimme. Laurentine nickte. Ja, sie hatte sich darauf eingelassen, dass Louiselle und die Kleine bei ihr wohnten und auch ja, sie hatte sich bereitgefunden, bei der Pflege mitzuhelfen, so gut sie konnte, wobei sie erstaunt war, wie gut sie es nach Heras Unterweisungen tatsächlich konnte. So sagte sie: "An den Riesenfladen, den Demmie uns zum Abschied auf die große Wiese geklatscht hat kommt Lucine im Leben nicht mehr dran. Ich bin also vorgewärmt."
"Da könnte ich jetzt noch einen draufsetzen und sagen, dass du selbst aber auch nicht im Ansatz an das rankommst, was Madame Latierre aus Demmies Euter herausgepumpt hat." Laurentine verzog ihr Gesicht. Doch dann grinste sie und gab ein leises "Muuuuh" von sich. Beide Hexen lachten über diesen kindlichen Schabernack. Keine von beiden dachte daran, dass von ihnen und Lucine womöglich die Zukunft der Zaubererwelt, ja der gesamten Menschheit abhing.
Da noch nicht eindeutig bestätigt war, dass die Gefahr für alle Veelastämmigen vorbei war wohnte die rothaarige Urenkelin der vor 40 Jahren in Mokushas ewigen Schoß eingekehrten Veela Sonnenkuss mit zweien ihrer Töchter und deren Familien zusammen in einem großen Zelt. Sie hatte aber Wert auf eine eigene kleine Unterbringung gelegt, ein Schlafzimmer mit kleinem Schreibtisch, ein Waschzimmer mit aus verwandeltem Meerwasser befüllbarem Sanitärtank und eine kleine Wohnküche mit einer als Herd und Wärmequelle nutzbaren Feuerstelle.
Espinela Flavia Bocafuego de Casillas hatte aus ihrem Landhaus bei Madrid die wichtigsten Dinge mitgenommen, die nur sie benutzen konnte. Zu diesen gehörte das goldgerahmte Porträtbild einer Bergwiesenschäferin, die von zwölf weißen Schafen umringt dargestellt war. Hierbanera, wie die Schäferin genannt wurde, war in der traditionellen tracht kastilischer Bergbäuerinnen abgebildet. Ihr Schöpfer hatte ihr neben den zu hütenden Schafen einen Holzeimer für Milch, einen Hirtenstab und eine geschnitzte Flöte dazugemalt. Kaum hatte Espinela das Bild aus der körperspeichergesicherten Reisetruhe gefischt blökten die Schafe, als das Mondlicht auf sie fiel, um dann wie vom Todesfluch gefällt niederzustürzen und liegenzubleiben. Hierbanera, die auf dem an die Tageszeiten gekoppelten Bild im Mondlicht badete reckte sich und sah die wunderschöne Frau in der natürlichen Welt an. "Ah, Espinela", wisperte Hierbanera. Espinela deutete auf das sanfte ockergelbe Licht, das Boden, Decke und alle Wände ihres kleinen Schlaf- und Arbeitszimmerchens auskleidete. "Du kannst in manierlicher Lautstärke sprechen, Hierbanera. Hast du mir was zu verkünden?" wollte Espinela wissen. "Ja, Espinela. Adelia, die Hüterin eurer geheimen Vermächtnisse, hat mein Gegenstück benachrichtigt, dass die Unaufbrechliche sich freiwillig aufgetan und ihr inneres entblößt hat. Mehr dazu will sie dir aber nur von Angesicht zu Angesicht erzählen."
"Die Unaufbrechliche hat sich selbst geöffnet?" fragte Espinela. "Wann genau?" wollte sie noch wissen. Hierbanera überlegte. "Hmm, mein Gegenstück konnte erst zu mir, nachdem du mich dem natürlichen Licht ausgesetzt hast. Sie weiß aber, dass da gerade die Sonne auf halbem Weg zum Horizont stand", erwiderte Hierbanera.
"Gut, dann werde ich sie wohl aufsuchen müssen. Ist sie im sicheren Haus?" fragte Espinela. "Ja, sie will dort bis zum achtundzwanzigsten warten."
"Gut, dann suche ich sie jetzt auf, damit sie dort nicht vor Langeweile umkommt", sagte Espinela. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Adelia ihr keine Falle stellte. Denn sie hatte es geschafft, sich eine der Golddochtkerzen aus Frankreich und Bulgarien zu besorgen, mit dem sie alle ihre wichtigsten Mitschwestern vor Ladonnas Feuerrosenzauber geschützt hatte. So verstaute sie das Bild der jungen Bergschäferin wieder in ihrer Reisetruhe und öffnete die schmale Zimmertür. Der zeitweilige Klangkerker erlosch unverzüglich.
"Almalucia, ich muss fort. Sollte mir was zustoßen stoße ich den Warngesang aus", sagte Espinela zu ihrer mittelalten Tochter Almalucia Ignacia, die bereits bettfertig war.
Da kein Wesen auf der Insel den zeitlosen Schritt tun oder aus diesem Heraus hier ankommen konnte blieb Espinela vorerst nur, in ihrer eigenen Vogelgestalt als große Adlerhenne fortzufliegen. Der Wache hatte sie mitgeteilt, dass sie eine Nachricht aus ihrer Heimat erreicht hatte, der sie nachgehen müsse.
Als sie unsichtbar an der Schwarzmeerküste landete prüfte sie, ob es in der Umgebung Spürsteine gab. Sie erkannte, dass im Abstand von eintausend Schritten ein Spürstein für alle möglichen Zauber angebracht war. So blieb ihr nur, noch eine gehörige Strecke weiterzufliegen und erst aus dem Landesinneren heraus zu disapparieren.
In zehn wohlbedachten Sprüngen erreichte sie ein scheinbar unberührtes Waldstück. Doch als sie einen bestimmten Baum ansteuerte und mit der linken Hand über dessen Rinde streichelte verschwanden vier Bäume scheinbar im Nichts und machten einem von einer halbhohen Mauer umfriedeten Grundstück mit einem einstöckigen Haus Platz. Espinela berührte das bei Tageslicht grasgrün angestrichene Gartentürchen ebenfalls mit der linken Hand. Es erbebte und ging auf. Sie betrat das Grundstück und ging zwischen den sehr sorgfältig angelegten und gepflegten Blumen- und Gemüsebeeten hindurch zum Hauseingang. Dort zog sie an der Schnur der Türglocke. Nur eine eingeschworene schweigsame Schwester, die von Espinela oder einer ihrer Amtsträgerinnen einmal hierher mitgebracht wurde konnte die Türglocke läuten.
Wenige Sekunden nach dem melodischen Bimmeln von vier aufeinander abgestimmten Glocken erschien eine kleine, kugelrunde Hexe mit dunklem Lockenhaar im Türrahmen. Sie verbäugte sich sofort ganz tief. Espinela fühlte die schützende Aura, die alle denen anhafteten, die das goldene Licht der Befreiung genossen hatten. Wortlos folgte sie der kleinen Hexe ins Haus.
In einem fensterlosen Raum stand ein heftig verbeultter, mit handtellergroßen Rostflecken verunzierter Zinnkessel der internationalen Normgröße eins auf einem eisernen Dreifuß. "Ich habe den Pendelschlüssel schon auf den Keller der geheimen Erbschaften eingestimmt, Mutter Espienela", sprach die kleine runde Hexe die ersten Worte nach dem Öffnen der Haustür.
"also konntest du nicht mitbringen, was in der Unaufbrechlichen drin ist?" fragte Espinela. "Offenbar kann eine Hexe, die problemlos wilde Einhörner fangen kann nicht das nehmen, was die Unaufbrechliche in sich bewahrt", sagte die Hexe, Adelia Alva Torrefina de Monte Bravo.
"Gut, dann müssen wir wohl", sagte Espinela und deutete auf den abgenutzt wirkenden Kessel. Adelia legte ihre rechte Hand auf den rostigen Rand. Espinela tat es ihr nach. "Morgenwind!" rief Espinela. Da stürzten sie und ihre Begleiterin in einen unendlich scheinenden Raum aus bunten Farben hinein. Sie trieben im wirbelnden, leise säuselnden Gefüge dahin, bis der Kessel mit lautem Scheppern auf hartem Stein aufschlug und die zwei an ihm hängenden Hexen fast zu Boden fielen.
Durch zwei nur für eingeschworene Schwestern zu öffnende Türen und Prüfzauber, ob sie beide wahrhaftig auch Hexen waren, betraten sie einen unterirdischen Saal, an dessen Decke ein silbern glimmender Vielflächler hing. Dieser erstrahlte nach zwei Herzschlägen in warmem Gelb und beleuchtete mehrere Regale und Behälter. Einer davon war eine nachtschwarze Truhe, die leise brummte, und deren Deckel nur locker auflag. Espinela sah das Möbelstück mit steigender Erregung an. Das war "die Unaufbrechliche", eine vor fünfhundert Jahren von einer aus Italien flüchtenden Hexe mitgebrachte Truhe, die durch keine Gewalt und keinen der vielfältigen Öffnungszauber zu öffnen war. Es hieß immer, die Truhe sei auf mindestens eine von ihr zu erspürende Bedingung abgestimmt und würde sich nur öffnen, wenn alle Bedingungen erfüllt wurden. War dies also nun soweit?
Espinela öffnete den leicht aufliegenden Deckel. Das Brummen in der Truhe verstummte. Dafür erklang nun eine wie aus einer kleinen Quelle klingende Frauenstimme, die eine in lateinischer Sprache gehaltene Botschaft verkündete." Espinela, die der altrömischen Verkehrssprache, die bis heute auch die Sprache stabbasierter Zauberei war mächtig war horchte, bis die Botschaft zweimal wiederholt worden war. Dann sah sie in die Truhe und erkannte, was die Quelle jener Botschaft von einer dritten Tochter war, die eine unwürdige Tochter besiegen könne. Sie fand nicht nur eine in Hockstellung dargestellte Frauenstatuette, sondern auch eine zusammengefaltete Landkarte und eine von mehreren Silberringen zusammengehaltene Pergamentrolle. "Und das alles konntest du nicht aus der Truhe nehmen?" fragte Espinela über die immer noch wiederholte lateinische Botschaft hinweg. Adelia bestätigte es. Espinela prüfte schnell, ob an den Gegenständen Portschlüsselzauber oder Körperkontaktflüche hingen. Sie erkannte nichts dergleichen. Allerdings erkannte sie, dass die Pergamente offenbar so bezaubert waren, dass jungfräuliche Hexen sie nicht vom Ort bewegen konnten. Die Statuette besaß eine Espinela gut vertraute Ausstrahlung. Die kleine Frauenfigur mit den blau glimmenden Augen war mit einem starken Veelazauber belegt worden, der nur unter Gabe von eigenem Blut zu wirken war. Sowas konnte sie trotz ihrer nicht gänzlich reinrassischen Abstammung auch noch bewirken. Sie ergriff die Statuette. Diese hörte zu sprechen auf und erwärmte sich spürbar. In dem Moment fühlte Espinela ein merkliches Beben in ihrem Unterleib und sah vor ihrem geistigen Auge die Gesichter ihrer eigenen Töchter, die sich in die ihrer beiden Väter verwandelten. Dann hörten das Erbeben ihres Unterleibes und die Vision auf. Die Statuette kühlte sich wieder ab. Doch sie ließ sich leicht wie eine Feder aus der Truhe herausziehen. Ebenso konnte Espinela die beiden Pergamentstücke herausholen. Als sie die Karte auf dem in der Raummitte stehenden rechteckigen Steintisch entfaltete erkannte sie, dass sie die stiefelförmige italienische Halbinsel mit allen ihr vorgelagerten Inseln zeigte. Die Halbinsel selbst war mit Linien aus grünen Punkten in die Grenzen früherer Stadtstaaten und Fürstentümer eingeteilt.
"Sieh an, da wollte uns jemand offenbar sagen, dass es in Italien was wichtiges zu finden gibt", sagte Espinela. Dann zog sie die Halteringe von der Pergamentrolle ab und entrollte diese. Als sie die mit dunkler Tinte beschriebene Vorderseite las musste sie fast grinsen. "Dieses einfältige Weib", grummelte sie. Adelia las über ihre Schulter mit. "Sie hat den Schlüssel des Sonnenspiegels benutzt, um die Nachricht zu schreiben", meinte Adelia. Espinela nickte. Diese vor Jahrhunderten von mächtigen Hexen gebräuchliche Verschlüsselung war für die schweigsamen Schwestern und vor allem deren Archivarinnen ein uralter Hut. Doch als Adelia darauf hindeutete, dass die Nachricht wohl noch nicht vollständig war drehten sie das Pergament. Dann kam Espinela der Einfall, den Clavilumina-Zauber zu verwenden, der alle nicht durch starke Zauber verschlossenen Behälter und Türen öffnete und alles in der Wirkungszone mit einem goldenen Licht beleuchtete, das versteckte Botschaften ebenso enthüllen konnte wie Verschlüsselungen in Klartext umwandelte. Damit war es sofort möglich, den Text auf der Rückseite in modernem Spanisch zu lesen. "Also da hat sie etwas versteckt, was einer dritten Tochter oder ihrer beider Mütter helfen soll. Tja, nur dass weder du noch ich noch sonst wer in unserer Schwesternschaft mit einer anderen Hexe eine gemeinsame Tochter hervorgebracht hat. Mich hat diese Statuette sogar darauf geprüft, ob ich bereits Kinder bekommen habe und wohl erkannt, dass diese von gestandenen Mannsbildern gezeugt worden sind", grummelte Espinela. "Aber das Ding ist eindeutig von einer Hexe mit Veelaabstammung hergestellt worden.
"Will sagen, du kannst damit trotzdem nichts anfangen?" fragte Adelia. "Ich nicht, du noch weniger, weil du bisher noch kein einziges Kind bekommen hast und sicher auch alle anderen nicht, die bereits Mutter wurden. Dieses dumme Weib Domenica Montefiori hat damals wohl gehofft, dass sie nach Ladonna noch eine vaterlose Tochter bekommt, der sie dieses Vermächtnis anvertrauen kann. Offenbar geht sie davon aus, dass nur eine solche etwas gegen Ladonna ausrichten kann. Tja, und weil sie damit rechnete, dass diese dritte Tochter noch zu klein und schwach ist hat sie für ihre beiden Mütter diese schmucken, mit wohl ihren eigenen Haaren geflochtenen Gürtel mit Einhornhornschließen angefertigt. Hmm, gut zu wissen, wie wir dieser nachtschwarzen, von Waldfrauenblut verunreinigten Widersacherin beikommen können, Schwester Adelia. Wir müssen nur herausfinden, wie Domenica es angestellt hat, mit Ladonnas zweiter Mutter Nachwuchs zu zeugen und zwei Hexen aus unseren Reihen dazu bringen, diesen Vorgang zu wiederholen. Vielleicht könnte ich mir vorstellen, von dir eine Tochter zu kriegen."
"Öhm, müssen die beiden dafür nicht freiwillig ihr Fleisch und Blut vereinigen?" fragte Adelia verunsichert. Espinela bejahte das. "Es darf also nicht erzwungen werden. Wir müssten nur herausbekommen, wie sie es damals angestellt hat."
"Das steht da nicht drauf, und sonst ist auch nichts in der kleinen Truhe, was darauf hinweist, oder?" fragte Adelia. Espinela blickte noch einmal in die Truhe, die vom alles entschlüsselnden und enthüllenden Licht taghell ausgeleuchtet wurde. Doch es fand sich kein Hinweis darauf, auf welchem Weg Domenica mit ihrer offenbaren Geliebten zwei körperlich gesunde Töchter gezeugt hatte und wie es angestellt wurde, wer sie dann austragen und gebären sollte. Genau da sah Espienela auch einen weiteren Haken.
"Selbst wenn wir es herausbekommen müsste jene dritte Tochter wohl die übliche Zeit im Schoß der auserwählten Gebärerin heranwachsen und so natürlich es geht ans Licht gegeben werden. Sie kann nicht durch eine Verpanschung von gemeinsamen Körperbestandteilen als erwachsenes Menschenwesen hergestellt werden wie ein Homunculus oder ein Simulacrum."
"Ja, dann bräuchten du und ich oder wer sich von unseren Mitschwestern freiwillig dafür hergibt neun Monate, um sie auszutragen. Dann erst könnten die zwei Mütter die Statuette da als magische Aufspürvorrichtung benutzen, um Domenicas letztes Vermächtnis zu finden, jene ominösen Gürtel der gemeinsamen Frucht", sagte Adelia. "Hmm,"der Text sagt was über Truhen in allen vier Himmelsrichtungen, weil sie nicht wissen konnte, wo die dritte Tochter geboren werden würde", erwähnte Adelia. "Sollten wir da nicht nachforschen, wer noch so eine Schatztruhe bekommen hat?"
"Das könnten wir tun, um zu wissen, ob es nicht doch eine solche dritte Tochter gibt", erwiderte Espinela. "Doch werden die, die davon wissen das sicher nicht in die Welt hinausposaunen. Daher sollten wir auch nicht so einfältig sein, es laut in die Welt hinauszurufen, dass wir eine solche Truhe haben. Auch kann ich dies nicht den achso auf ihre Reinblütigkeit versessenen Kindern Mokushas mitteilen, dass eine dritte Tochter der Schlüssel zu Ladonnas Untergang sein soll. Denn genau wegen ihr und weil sie in der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung einen der heiligsten Akte des Lebens sehen würden sie jede Hexe verdammen, die es wagt, gegen dieses natürliche Grundprinzip der Nachwuchserzeugung zu verstoßen."
"Damit sagst du aber auch, dass du eine Tochter von zwei Müttern nicht bekommen darfst, solange du dich mit den reinblütigen Veelas gutstellen musst, Mutter Espinela", stellte Adelia fest und erschauerte über das, was sie da gesagt hatte. Espinela verzog ihr Gesicht. "Ich hoffe, bald wieder in mein geschütztes Landhaus zurückkehren zu können, Schwester Adelia. Sobald ich dies tue werden wir nachforschen, wie eine nur von zwei Hexen erzeugte Tochter entstehen kann und nach Freiwilligen suchen, die eine solche auf den Weg ins Leben bringen. Denn soweit ich das Vermächtnis Domenicas verstehe reicht es ihr schon, wenn zwei Hexen eine lebende gemeinsame Tochter in die Welt gesetzt haben."
"Aber wenn es noch andere solche Truhen gibt sollten wir doch fragen, ob uns wohlgesinnte Schwestern sie haben oder zumindest wissen, wo die anderen Truhen sind", sagte Adelia. Espinela musste grinsen. "Ja, nur dass genau wie du auch andere Hüterinnen alter Hexenerbschaften nicht jeder anderen verraten, was sie in ihren tiefen Kellern hüten. Wir können nur herumfragen, ob einer der anderen Stuhlmeisterinnen in den letzten Tagen etwas seltsames zu Ohren kam oder sie gar selbst etwas seltsames erlebt hat, das sie mit anderen teilen möchte. Erst wenn ich weiß, dass dem so ist werde ich offenbaren, was wir haben und welchen Schluss wir daraus ziehen. Vorher nicht."
"Ja, und wenn Schwestern aus Ladonnas Feuerrosenorden eine solche Truhe bekommen haben?" fragte Adelia. "Dann kann ich nur hoffen, dass Domenica noch vorausschauend genug war, dies einzuplanen und dass sich solch ein für Ladonna gefährliches Vermächtnis ihr nicht offenbaren, ja sie womöglich selbst vernichten kann."
"Hmm, da fällt mir noch was ein, Mutter Espinela. Kann es nicht sein, dass die unaufbrechliche Truhe deshalb ihr Geheimnis preisgab, weil es diese dritte Tochter schon gibt? Ich denke da an das Glas des neuen Lebens in der Lehrstatt junger Hexen, das bei Geburt einer von einer Hexe geborenen Tochter den Namen von Eltern und Kind verkündet oder die verschiedenen Anmeldungsvorrichtungen, die in den Zaubereischulen Europas die Geburt eines neuen Zaubererweltkindes verzeichnen."
"Hmm, dann bleib tnur zu hoffen, dass diese dritte Tochter von zwei Müttern stammt, die mit uns von der Sororitas Silenciosa sehr gut zurechtkommen", sagte Espinela. Dann fiel ihr auch noch was ein: "Aber es könnte jenen Müttern auch in den Sinn kommen, die Zeugung einer gemeinsamen Tochter zu verheimlichen, um nicht zum Ziel von Schimpf und Schande oder heilmagischer Neugier zu werden. Dann sieht es jedoch sehr düster mit einer Kontaktaufnahme aus."
"Also was tun wir?" fragte Adelia. "Ich werde mich bei den mir vorgestellten Stuhlmeisterinnen umhören, ob diese ähnliche Enthüllungen erfahren haben. Falls mir eine von denen was entsprechendes mitteilt können wir uns überlegen, ob es noch nötig ist, eine Zwei-Mütter-Tochter zu zeugen oder einer, die bereits auf der Welt ist beizustehen. Hmm, das könnte ich wenigstens den achso auf ihre reinblütige Herkunft stolzen Nachfahren Mokushas unter die hübschen Nasen reiben, dass Ladonnas Nähr- und Ziehmutter auf eine dritte unnatürlich entstandene Tochter als Schlüssel zur Entmachtung Ladonnas setzt. Das wird denen sicher den Tag versüßen", sprach Espinela mit unüberhörbarem Sarkasmus. Dann fiel ihr noch was ein. Doch das wollte sie hier und jetzt nicht verraten, sondern dem Rat der Ältesten auf Mokushas Insel vorlegen. "Du verrätst erst mal keiner anderen, was du mir gerade gezeigt hast. Ich packe alles wieder in die Truhe zurück", sagte Espinela und tat dies auch. Als der Clavilumina-Zauber erlosch konnte sie auch die Truhe wieder verschließen. Dabei hörte sie, dass zwanzig Riegel in dem mit keinem Außenscharnier bewegten Deckel einrasteten und diesen so wie festgebacken mit der Truhe verbanden. Diesmal brummte die Truhe nicht. Sie hatte ja ihre Botschaft verkündet.
Espinela kehrte zusammen mit Adelia ins sichere Haus zurück. Danach beeilte sie sich, wieder auf Mokushas Insel zu gelangen. Sie war gespannt, wie die 48 Ratsmitglieder darauf ansprangen, dass Nachtlieds Tochter Domenica auf eine dritte vaterlose Tochter gehofft hatte, ja es eine solche vielleicht jetzt erst gab.
Anthelia hatte ihren Unterworfenen, den Werdrachen Diego Vientofrio, angewisen, in fünfhundert Metern Nähe zu warten. Wenn sie ihn brauchte würde sie ihm einen Ruf zudenken. Allerdings hatte sie einmal mehr das von Yanxothar geschmiedete Schwert einsetzen müssen, um den mit einem peruanischen Viperzahn verschmolzenen Zauberer gehorsam zu stimmen. Sie wollte sich jedoch nicht darauf verlassen, dass Margarita de Piedra Roja sie mit einer Übermacht von Handlangern überwältigte.
Anthelia fühlte die Annäherung fremder Gedanken. Dann erkannte sie, dass es die Gedanken einer auf einem Harvey-Besen anfliegenden Hexe waren. Ja, da kam sie, die Löwin von Lima, die Königin der Kokainschmuggler von Peru. Sie kam alleine, ohne Rückendeckung. Dann erkannte sie, dass sie offenbar einen wörtlich auslösbaren Portschlüssel am Körper trug. Also galt es für sie, sie nicht zu berühren um nicht mit ihr mitgerissen zu werden, wenn sie den auslöste. Sie musste grinsen, als sie aus den ihr zuwehenden Gedanken heraushörte, wo sie diesen Portschlüssel verstaut hatte. Dann erheischte sie noch den Gedanken an einen Jungen namens Aurelio, der auf seine Mutter wartete. Hatte dieses Frauenzimmer ernsthaft noch einen Jungen bekommen? Beachtlich, fand die dem Geschlechtsakt nicht abgeneigte Führerin des Spinnenordens.
Der Besen umflog den Treffpunkt viermal. Anthelia zeigte sich ganz offen und tat so, als bemerke sie den unsichtbaren Besen nicht. Sie fühlte jedoch, dass da Aufspürzauber nach ihr tasteten. Offenbar suchte die andere nach unsichtbaren Begleitern der höchsten Spinnenschwester. Dann landete die peruanische Hexe und wurde sichtbar.
"Ich grüße dich, Doña Margarita Isabel de Piedra Roja!" rief Anthelia ihr zu. Die für ihr Alter noch sehr attraktiv aussehende, schwarzhaarige Frau schritt majestätisch auf Anthelia zu. "Ja, ich erkenne dich. Du bist die neue Führerin der Spinnenschwestern, nachdem die angebliche Wiedergeburt Anthelias einer üblen Erkrankung zum Opfer fiel", preschte die Doña voran. Anthelia grinste: "Sie kam nicht um. Ich bin sie. Wie dies möglich war soll mein Geheimnis bleiben. Aber ich erkenne wohlwollend, dass du dich gut auf dem laufenden hältst. So wird dich sicher nicht wundern, was ich alles von dir weiß", sagte Anthelia und zählte alles auf, was sie bereits von Margarita gehört hatte. Die andere übte sich derweil in Okklumentik, weil sie wohl davon ausging, dass Anthelia sie nur auf Sicht geistig ausforschen konnte. So unterließ es Anthelia, ihr auf den Kopf zuzusagen, dass sie von ihrem späten Mutterglück wusste. Das würde Margarita als Bedrohung auffassen.
Beide sprachen nun darüber, wie Ladonna sich die beiden amerikanischen Teilkontinente unterworfen hatte und welche Ziele sie womöglich noch hatte. Sie erwähnte auch, dass die Rosenkönigin wohl auch schon versuchte, die nichtmagische Zivilisation zu vernichten, indem sie deren Kraftversorgungsanlagen angreifen wollte. Nur der Aufmerksamkeit der mit nichtmagischen Mitteln hantierenden Hexen und Zauberer sei es zu verdanken, dass diese Angriffe nicht zum Erfolg geführt hatten.
"Würde es nicht genau dem zuarbeiten, was du und dein Orden erstreben, Doña Anthelia?" fragte Margarita de Piedra Roja. Anthelia erwiderte, dass sie durchaus die Abkehr der nichtmagischen Menschen von den Giftstoff ausstoßenden Maschinen wünschte. Aber sie habe lernen müssen, dass dies nur zum Preis eines weltweiten, blutigen Vernichtungskrieges geschehen würde, wenn sie es so machte wie Ladonna es vorhatte. "Ladonna hat es eilig. Sie ist nach vielen hundert Jahren Schlaf in eine Welt zurückgekehrt, die ihr völlig fremd und widersinnig ist. Sie will den Zustand herbeizwingen, den sie von ihrer Zeit her gewohnt war."
"Mag sein, aber sie kennt sich wohl auch in der nichtmagischen Welt aus", erwiderte Margarita de Piedra Roja. Das konnte Anthelia nicht bestreiten.
Nachdem das geklärt war sprachen die beiden davon, wie sie neuerliche Übergriffe Ladonnas abwehren konnten und dass es nicht um eine Vereinigung der beiden Hexen ging, sondern um einen gegenseitigen Stillhaltepakt, einen Burgfrieden, die Anerkennung der jeweiligen Hoheitsgrenzen. Anthelia wurde zugestanden, alles nördlich des Rio Grande verwalten zu dürfen, sofern es nicht mit den aus Hispanoamerika stammenden Hexen und Zauberern zu tun hatte. Sie hingegen gestand Margarita zu, ihre bisherigen Aktivitäten wieder aufzunehmen, zumal Anthelia keinen Wert auf unerlaubten Rauschgifthandel legte und bot ihr an, keinen Anspruch auf die Führerschaft der Hexen und Zauberer in Peru zu erheben. Doch sie behielt dabei für sich, wie viele Schwestern sie in Peru hatte. Als diese Vereinbarung beschlossen war vollzogen die zwei Hexen den uralten Bluteid der gegenseitigen Unantastbarkeit, der auch alle bereits lebenden und künftigen Nachkommen bis ins dritte Glied umfasste. Anthelia hatte das vorgeschlagen, weil ihr wichtig war, dass Margarita de Piedra Roja nicht auf die Idee kam, nach Ladonnas hoffentlich irgendwann erfolgender Entmachtung ihre eigene südamerikanische Hexenföderation zu gründen. Als beider Blut auf einem Stein in rotem Licht verdampfte erlosch der letzte Funke Abenddämmerung, und nur der Mond regierte den Nachthimmel.
Ohne Umarmung, nur durch Verbeugung verabschiedeten sich die beiden Hexen voneinander. Wann Margarita wieder unter die Lebenden zurückkehren wollte musste sie noch genau planen. Anthelia hingegen wollte bald zusehen, Ladonnas letzte Anhängerschaft in Nordamerika auszuheben. Dass sie bereits danach trachtete, auch in Europa wieder fuß zu fassen hatte sie Marggarita nicht verraten. Sollte die doch denken, ihr ging es gerade nur um Amerika, weil Europa gerade zu unsicher war.
Als Margarita wieder davonflog öffnete diese ihren geistigen Schutz. Anthelia konnte nun erfassen, dass Margarita den peruanischen Zaubereiminister in ihrer Obhut hatte und diesen demnächst, wenn feststand, ob Ladonna entmachtet werden konnte oder nicht, zu ihrem Unterworfenen machen würde. Auch erfuhr sie, von wem sie den kleinen Aurelio bekommen hatte. Also unterhielt Margarita auch Beziehungen zu den Clans des organisierten Verbrechens in den USA und Italiens und würde darüber sicher noch mehr Macht ausüben. Anthelia war sich sicher, dass der heute geschlossene Blutpakt nur solange halten mochte, wie es Margarita nicht einfiel, ihr in Peruu lebende Schwestern zu töten. Jedenfalls war Margarita beruhigt, dass Anthelia vorerst keine weiteren Beutezüge durch Spielkasinos mehr machen würde. Denn Unruhen unter den illegalen Betreibern würden ihrer Rückkehr an die Macht sicher nicht guttun.
Anthelia wartete noch einige Minuten. Dann mentiloquierte sie Vientofrio, dass er wieder schlafen konnte. Es bestehe keine Gefahr mehr für sie. Danach disapparierte sie, um in nur drei weiten Sprüngen in ihre sichere Festung zurückzukehren.
"Bis wann habt ihr Sternennacht Zeit gegeben?" fragte Julius, als Léto ihm die für seine Ohren und Aufzeichnungen bestimmten Neuigkeiten vom Ältestenrat mitteilte. bis zum Vollmond in der Wintermitte. Länger will der Ältestenrat nicht mehr warten, wo alle fürchten, dass Ladonna die Pläne für eine Vernichtungswaffe auch anderen ihr unterworfenen Ministerien zuspielt", sagte Léto. "Entweder schaffen sie und ihre verbliebenen Verwandten es, Ladonna aus ihrem vom bösen Blutfeuernebel geschützten Haus herauszulocken und gefangenzunehmen oder locken sie irgendwo hin, wo sie ihnen unterlegen ist oder töten sie in einem offenen Kampf. Ja, du hörst richtig. Sternennacht wurde beauftragt, Ladonna um jeden Preis zu entmachten, und sei es durch den Tod."
"Öhm, war da nicht was, dass sie sowieso ausführen könnte?" dachte Julius ihr zu, damit seine Flotte Feder es nicht mitschrieb. "Ja, dazu wurde sie nun höchst amtlich beauftragt. Wenn sie sie zu fassen bekommt und das überlebt soll sie an ihr den letzten Schnitt ausführen und ihr so alle Gaben Mokushas entreißen."
"Das kann aber leicht nach hinten losgehen, Léto", schickte Julius zurück. Léto wollte wissen, wie er das meinte. "Weil nach dem Auslöschen der Veelaeigenschaften wohl die Waldfrauenanteile um so stärker durchschlagen können. Ich habe mich mit meiner Schwiegertante Barbara und mit meiner Schwiegertante Béatrice mal darüber unterhalten, was wäre, wenn jemand die Eigenschaften mehrerer Zauberwesen in sich hat und das Gleichgewicht zu einer bestimmten Seite hin verschoben wird."
"Und was haben deine fachkundigen Tanten befunden?" gedankenfragte Léto mit unverkennbarem Unmut. "Das wenn wie bei meiner Frau sowohl Zwergen- als auch Riesenanteile im Erbgut sind und der Riesenanteil ausgelöscht würde, die Natur der Zwerge durchbrechen könnte und womöglich ihre Persönlichkeit verändert. Gleiches gilt bei dem Auslöschen der Zwergenanteile, dass die Riesenanteile durchschlagen und Millie dadurch noch weiter wachsen und wesentlich unbeherrschter sein könnte. Deshalb sollte Sternennacht das vielleicht überdenken."
"Gut, ich gebe das so weiter. Doch nun noch was für die Feder", gedankenantwortete Léto. Dann sagte sie laut und mitschreibbar: "Ich bin auch befugt, dir Grüße der in Spanien wohnhaften Familienältesten Espinela Bocafuego zu überbringen. Wenn sich die Lage zwischen uns Kindern Mokushas und euch Menschen wieder entspannt möchte sie in deiner Eigenschaft als für alle europäischen Veelas zuständiger Vermittler mit dir sprechen. Bisher sei dies ja wegen der Lage nicht möglich gewesen."
"Gegen ein amtliches Kennenlernen ist nichts einzuwenden, Léto. Aber da könnte das spanische Zaubereiministerium was gegenhaben, unabhängig, ob es weiterhin Ladonnas Zauber unterworfen ist oder wieder frei handeln kann", erwiderte Julius ebenfalls für die Mitschrift. "Wie läuft es denn mit Fleur?" fragte Léto, die genau wusste, dass Julius mit Fleur Weasley in England ohne ständige Einbeziehung von Amos Diggory und seiner Abteilung korrespondierte. "Da liegt eine Abstimmung mit der britischen Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Wesen zu Grunde. Die habe ich aber eben nur, weil Fleur mit Ihnen verwandt ist, Madame Léto", erwiderte Julius. Léto bejahte das und räumte ein, dass sie keine Verwandten in Señora Bocafuego de casillas' Familie habe. Insofern verstehe sie, dass er da erst einmal abwarten müsse, wie sich die angespannte Lage entwickle. Dann mentiloquierte sie ihm: "Wenn Espinela das Gespräch mit dir sucht sieh bloß zu, diesen famosen Schutzgegenstand zu tragen." Sie deutete auf Julius Brust. Seitdem er sich bewusst war, dass Ladonna es nun sehr ernst meinen mochte trug er außerhalb des Rechnerraumes immer Ashtarias Heilsstern. Er verstand auch, was Léto meinte. So brauchten sie beide auch nicht weiter darauf einzugehen.
Nach dem Informationsgespräch zwischen ihm und Léto besprach er sich mit den Kollegen aus dem Koexistenzbüro, wie mögliche Übergriffe Ladonnas auf die nichtmagische Welt bestmöglich dargestellt werden konnten. Danach traf er sich mit Nathalie und somit auch Demetrius, um die Lage zu erörtern. Das Gespann aus dauerschwangerer Hexe und geistig ausgereiftem Fötus argwöhnte, dass Ladonna noch in den nächsten Monaten eine Entscheidung auf Sein oder Nichtsein suchen würde. Das mit der Veelavernichtungswaffe sei schon eine überdeutliche Kriegserklärung auch an die Unterstützer und menschlichen Verwandten dieser Zauberwesenart. Immerhin war es Dank der Veelas in Frankreich möglich geworden, die von Ladonnas Zauber befallenen zu erkennen und zu verjagen oder festzunehmen. Hatte man mehr als zwanzig zusammen konnten sie durch die Kerze mit dem Goldlicht aus Ladonnas Abhängigkeit herausgelöst werden. Allerdings verschliefen sie dann wohl einen vollen Tag. "Besser ist es, wenn du nur noch zwischen dem Ministerium hier und Millemerveilles oder Catherines Haus pendelst, Julius", cogisonierte Demetrius. "Sicher hat sie außerhalb des Ministeriums noch Spioninnen oder unter dem Imperius stehende Menschen, die ihr zuarbeiten."
"Das fürchte ich auch, Demetrius", dachte Julius zurück. Nathalie nutzte ebenfalls die dreiseitige Cogisonverbindung, um für Ohren unhörbar mitzuteilen: "Womöglich hatte sie einen genauen Zeitplan, wann sie wo sicheren Fuß fassen wollte. Der Plan ist gescheitert. Da wir nicht wissen, unter welchem Druck sie steht könnte sie um so brutaler zuschlagen, wenn sie dadurch einen Vorteil erhofft. Die Sache mit diesem wiederauferstandenen dunklen Pharao hat sie erst einmal beschäftigt. Jetzt dürfte sie wieder an ihre ursprünglichen Ziele denken."
"Wie brutal sie zuschlagen kann haben die von Vita Magica mitbekommen. Von denen hören wir ja auch schon länger nichts mehr."
"Was nicht heißt, dass sie sich völlig zurückgezogen haben, Julius", erwiderte Nathalie. "Es sind wieder einige Hexen und Zauberer verschwunden, die auf der Suche nach Verbindungen zu VM waren. Aber das lassen Monsieur Chevallier und dessen Amtskollegen aus anderen Ministerien nicht an die Öffentlichkeit dringen. Sicher, die Aktivitäten dieser Gruppierung wurden wohl wegen Ladonna eingefroren. Aber die Mitglieder sind deshalb wohl nicht alle abgetaucht."
"Ich denke auch, dass Vita Magica seine geheimen Beobachter auf ihren Posten hat, um zu wissen, ob Ladonna noch mächtig ist oder nicht, Julius. Wir könnten ein hässliches kleines Wetterhäuschen bekommen", cogisonierte Demetrius. Julius verstand sofort, was der im Körper seines ungeborenen Sohnes steckende Ex-Minister meinte. Wenn Ladonna erledigt war, würde Vita Magica wieder sein übles Spiel spielen. Die könnten finden, noch was nachholen zu müssen.
"Bleibt uns am Ende also nur die Wahl zwischen Pest und Cholera?" fragte Julius das Mutter-Kind-Gespann. Nathalie antwortete: "das kommt in kein Protokoll. Aber wenn es auf die Entscheidung hinausläuft, ob wir lieber eine unberechenbar größenwahnsinnige Veela-Waldfrauen-Hybridin erdulden sollen oder uns mit den Einmischungen in private Lebensplanungen einer von intelligenten, planvoll handelnden Menschen auseinandersetzen sollten müsste ich die zweite Möglichkeit bevorzugen. Immerhin konnten wir ja schon einiges gegen die Machenschaften von VM tun."
"Finde ich auch, auch schon, weil ich ja am eigenen Leib mitbekommen habe, wie drastisch eine aus dem Tritt geratene Veelastämmige handeln kann, Julius." Julius musste zu seinem Bedauern zugeben, dass Demetrius aus seiner warmen Dauerbehausung heraus leider recht hatte. Das er dort war wo er war verdankte er einer eigensinnigen, um ihr Prestige geprellten Veelastämmigen, daran war nicht zu rütteln. Am Ende musste er sogar fürchten, dass er sterben musste, sobald die, die ihn zu diesem Dasein als Nathalies dauerhaft innewohnendem Ungeborenen verwünscht hatte von Ladonna getötet werden mochte. Doch offenbar hatte sich Demetrius wirklich gut damit arrangiert, mit Nathalie in einer körperlichen Zweckgemeinschaft zu leben, solange er wie jetzt an Besprechungen und Entscheidungen beteiligt werden konnte.
Nach dem Mittagessen apparierte Julius nach Millemerveilles, wo er im Rechnerzelt des Zaubereiministeriums die eingetrudelten Nachrichten aus aller Welt las. In Japan suchten sie immer noch nach den Händen der Amaterasu, weil das Ministerium es sich nicht gefallen lassen wollte, dass man ihm den ehemaligen Abhängigen der Abgrundstochter der Dunkelheit entführt hatte. Mit Frau Daidoji chattete Julius, ob es eine Chance gebe, den zu einem Eisblock erstarrten Schattenreiter wieder aufzutauen und wiederzubeleben. Seine japanische Kollegin erwiderte, dass daran wohl nicht zu denken sei. Dass die Hände der Amaterasu ihn entführt hatten lag sicher daran, dass sie ihn als Hilfsmittel für eine Beschwörung der Schattenkaiserin missbrauchen wollten, wenn sie sich sicher waren, diese Beschwörung auch zu überleben. Julius textete zurück, dass dies ein immer wieder gerne genommenes Thema in Grusel- und Horrorgeschichten war, wenn Dämonen, allen voran der christlich-jüdisch-muslimische Teufel, beschworen wurden, ob der Beschwörer am Ende nicht das Opfer wurde. Derartige Geschichten kannte auch seine japanische Korrespondenzkollegin.
Als sein Arbeitstag beendet war kehrte er ins Apfelhaus zurück, wo er gerade rechtzeitig kam, um Miriam, Claudine und Aurore bei den Hausaufgaben zu helfen. Béatrice war unterwegs, die vielen Hexen besuchen, denen sie bei der Geburt der Frühlingskinder geholfen hatte. Die ganz kleinen wurden von Millie betreut, die bereits die Artikel für die morgige Ausgabe der Temps fertig hatte.
"Und, Claudine und Rorie, kommt ihr immer noch gut miteinander aus?" fragte Julius seine älteste Tochter und Catherines Zweitgeborene. "Es gibt noch viele Sachen, die lerne ich auch von Rorie, obwohl die erst in der ersten ist", sagte Claudine. Julius ließ sich das erklären. Gestern war ja der Ausflug der ersten und der dritten Klasse in den magischen Tierpark gewesen. Da hatte Claudine von Aurore noch einiges zu den dort gehaltenen Zaubertieren mitlernen können, weil sie ja in Paris nicht einmal Kniesel halten durften. Er verstand sie ganz gut.
Mittlerweile hatten Goldschweifs vier jüngsten Kinder auch ihre Namen sicher. Da sie vom Fell her wieder wie Goldschweifs und Sternenstaubs erster gemeinsamer Wurf aussahen hießen die beiden Knieselmädchen Patita Dorada, was spanisch für Goldpfötchen war und Heliokore, was altgriechisch für Sonnentochter oder Sonnenmädchen stand, wie Béatrice mitgeteilt hatte. Aurore, die sich einen Jungennamen für einen der zwei jüngsten Söhne Goldschweifs ausdenken durfte hatte ihn Goldbauch, französisch Ventredoré genannt, während Claudine, die eingeladen worden war, den zweiten Jungen zu benennen den Namen Honigmund, also Bouchemiel ausgewählt hatte. Diese vier Namen waren dann an das von der Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Wesen, Unterbüro für magische Tierwesen weitergeleitet worden, wo sie in das dort verwaltete Zuchtregister eingetragen wurden. Claudine arbeitete noch daran, ob sie nicht doch einen der vier neuen für sich bekommen konnte. Vielleicht ging das ja, wenn einem ein Ich-seh-nicht-recht-Zauber auferlegt werden konnte, ohne die natürlichen Sinne und Verhaltensarten eines Kniesels zu beeinträchtigen.
"Tja, wenn bei Goldie und Dusty nicht darauf wert gelegt worden wäre, dass sie möglichst viele reinrassige Kniesel in ihren Stammbäumen hätten würde ich sagen, das Junge, das sich dich als seine Vertraute aussucht kann bei dir wohnen, Claudine. Aber zum einen haben deine Eltern da auch noch mitzubestimmen, ob sie überhaupt ein Haustier in ihrer Wohnung halten wollen, und zum anderen würde eine goldfellige Katze, die größer als andere Hauskatzen wird und den Schwanz wie ein Löwe und etwas längere Ohren hat jedem auffallen, der oder die schon mal echte Katzen gesehen hat", sagte Julius. "Aber ich kann dich da vollkommen verstehen. Kniesel sind verdammt gute und nützliche Wegbegleiter, wenn sie nicht als dumme kleine Tiere und erst recht nicht als lebendes Spielzeug behandelt werden. Das siehst du ja, wie viel Verantwortung so ein lebendes Wesen macht, ob an den Knieseln oder bei den Babys, die du schon kennst."
"Ja, aber wenn ich nach Beaux gehe kann ich doch ein Tier haben, sagen Mamam und auch Mémé Blanche", erwiderte Claudine.
"Das wird dann eh interessant, wenn da jemand mit einem Nachkommen von Goldschweif XXVI hinkommt", meinte Millie dazu. Dem konnte Claudine nicht widersprechen. Doch Julius sah in ihren saphirblauen Augen die Hoffnung, doch noch eines von Goldschweifs vielen Kindern zugeteilt zu bekommen.
Catherine und Hippolyte kamen kurz vor der Abendessenszeit herüber, um nachzusehen, wo ihre Töchter abgeblieben waren. Weil Julius und Millie genug vorgekocht hatten luden die Apfelhausbewohner die zwei Hexennmütter ein, mitzuessen, zumal Joe wieder heute wieder zu seinen Eltern nach Gloucester gereist war, um seinem Vater den Umgang mit dem neuen Rechner zu erklären, den er sich ohne groß zu überlegen zugelegt hatte, um das schnellere Internet auszunutzen, was sein Telefonanbieter ihm bereitstellte. Er würde bei der Gelegenheit noch alte Bekannte in England besuchen.
"Claudine, du weißt doch, dass wir um unser Haus den Sanctuafugium-Zauber haben", meinte Catherine, als Claudine meinte, dass Miriam ja eins von Goldschweifs goldfelligen Maunzebällchen kriegen könnte. "Kniesel können wirkende Zauber spüren und sind sehr empfindlich, was die auf sie wirkenden Zauber angeht. Kann sein, dass ein Kniesel bei uns dann irrsinnig wird oder keine Lust zu leben hat, weil der Schutzzauber alle zu seinem Leben wichtigen Instinkte unterdrückt. Willst du doch nicht wirklich", sagte Catherine. Claudine sah Julius an. Der erwiderte, dass sie es in Beauxbatons auch mal davon hatten, warum dort kein Sanctuafugium-Zauber gewirkt worden war, unter anderem eben auch wegen der dort zum Unterricht gehaltenen Tiere. "So knuddelig kleine Kniesel aussehen und so nützlich die erwachsenen Kniesel wie Goldie sind, Claudine, es sind Raubtiere, also Tiere, die andere Tiere totmachen müssen, um sie zu essen. Dieses Verhalten kann von einem Zauber, der gegen böse Taten und Zauber wirken soll bei Zaubertieren unterdrückt werden. Da kann ich deiner Maman nur zustimmen, dass du das nicht wirklich willst, dass ein Kniesel in eurem Haus einfach verhungert."
"Ja, und deshalb gab es ja auch im Sonnenblumenschloss keinen einzigen Kniesel, aber auch keine Knarls oder Gnome, weil der Zauber die verjagt oder so trübsinnig macht, dass die sich da nicht wohlfühlen", wandte Hippolyte ein. Miriam deutete um sich und sagte: "Aurore sagt, dass im Apfelhaus aber auch ein ganz starker Beschützerzauber ist, Ma. Hippolyte nickte. Julius erwähnte aber sofort, dass der ganz anders wirkte als der Sanctuafugium-Zauber und Goldschweif es auch immer vermied, zu lange im Haus zu sein, weil ihre Sinneswahrnehmung davon eingetrübt wurde. Damit hatte Miriam den Knut gewechselt, und für Claudine stand fest, dass sie in der Rue de Liberation 13 keinen Kniesel halten konnte. Das enttäuschte die zwei nicht mehr ganz so kleinen Hexenmädchen, ließ sich aber nicht ändern.
Louiselle hatte sich für diesen Abend vorgenommen, in ihrer umfangreichen Bibliothek in ihrem kleinen Schloss an der Rhone nachzuschlagen, was es zu Ladonnas zwei Müttern gab und ob es vor Loucine Beaumont schon eine Tochter zweier Mütter gegeben hatte. Das wiederum nutzte Laurentine, die die gemeinsame Tochter versorgte, um über den besonderen Zweiwegespiegel Gesine Feuerkiesels mit ihrer deutschen Mitschwester Helga Säuselbach zu sprechen. Lanatera, so hieß dieser besondere Spiegel, konnte um zwanzig vor zehn abends eine Verbindung von Angesicht zu Angesicht herstellen. Laurentine erwähnte, dass es ihr soweit ganz gut gehe. Sie erwähnte nicht, dass sie und Louiselle eine gemeinsame Tochter hatte. Doch sie fragte, ob Helga ihr irgendwas mitteilen mochte, was für die französischen Schwestern wichtig sein mochte, insbesondere was Ladonna anging. Die blonde Hexe Helga Säuselbach erwähnte, dass sie von den Griechinnen aus der Hecate-Schwesternschaft erfahren hatten, dass diese die von den Russen entwickelte Veelavernichtungswaffe beseitigt hattenund es nun Dank anderer Schwesternschaften ziemlich sicher wussten, dass es keine weiteren Kopien der Herstellungspläne gab.
"Wir haben gerade eine höchst seltene Eintracht zwischen verschiedenen Hexenschwesternschaften, Schwester Laurentine", klang Helgas Stimme aus Laurentines Spiegel. "Die Töchter des grünen Mondes aus dem Orient, die von ihrer Männlichkeit und Vormachtstellung überzeugten Brüder des blauen Morgensterns aus den arabischen Ländern und Indien, die von sich so überzeugten Töchter Hecates aus Griechenland und ehemaligen Teilen des byzantinischen Reiches, die Liga gegen dunkle Künste und wohl auch die Spinnenschwestern, die einer angeblichen Wiedergeburt Anthelias folgen haben nach Plänen dieser Veelavernichtungswaffe gesucht. Meine Großmutter hat sogar Kontakt mit Mitschwestern in Australien gehabt. Die wiederum haben ganz behutsam die Verbindungen zu deren Naturmagierinnen und -magiern bemüht, obwohl es im Känguruhland keine Veelastämmigen gibt. Aber dafür bekamen die im Ministerium tätigen Mitschwestern spitz, dass es wohl ein besonders heftiges Lichterspiel im Pazifik gegeben hat, als wenn unter Wasser Polarlichter geleuchtet hätten. Das Ministerium musste Vergissmichs mit technischen Kenntnissen losschicken, um die ganzen Aufzeichnungen einzukassieren und den Leuten, die diese Beobachtungssatelliten bedienen davon abbringen, solche Aufnahmen gemacht zu haben."
"Oh, und von diesen Unterwaasserpolarlichtern ist nichts im Internet gelandet? Da haben die aber schnell geschaltet, die Aussis", erwiderte Laurentine. "Ja, aber auch nur, weil die da eine so gut ausgebaute Internetüberwachung haben wie ihr in Frankreich oder in Deutschland und England", erwiderte die dunkelblonde Helga Säuselbach. Laurentine fragte, wer die Bruderschaft des blauen Morgensterns sei. "Die halten sich für eine alle Landesgrenzen übergreifende Schutz- oder Wachtruppe gegen dunkle Zauberer und schwarzmagische Vermächtnisse aus alten Zeiten, als die Völker im Orient noch viele Götter hatten und die Dschinns, Ghule und anderen Zauberwesen noch allgemeinbekannter waren als heute. Die haben sich vor allem auf die neun Töchter des Abgrundes festgelegt, denen sie Einhalt gebieten wollen. Du kennst die sicher auch."
"Zum Glück nicht persönlich", erwiderte Laurentine. "Aber ein ehemaliger Schulkamerad von mir ist diesen Biestern schon begegnet", erwiderte Laurentine. "Stimmt, hat meine Großmutter auch erwähnt, und dass es von denen nun wohl nur noch sechs oder sieben gibt, weil ein wiederauferstandener Finsterling aus Ägypten und diese Übermutter aller Nachtschatten zwei von denen erledigt haben wusstest du auch schon?"
"Das hat mir unsere Stuhlmeisterin vor wenigen Tagen mitgeteilt und vor allem, dass die übriggebliebenen jetzt stocksauer auf diese Nachtschattenkaiserin sind, weil die eine von ihren Schwestern besiegt haben soll. Das mit dem Centro in Oberhausen habe ich auch mitbekommen. Aber seitdem scheint dieses Ungeheuer erst mal Ruhe zu geben."
"Klar, wenn stimmt, was von den Morgensternbrüdern und Töchtern des grünen Mondes weitergereicht wurde. Demnach hat sich diese Nachtschattenkönigin mit dem finsteren Pharao angelegt und wurde dabei aus dessen dunkler Grabstätte hinausgeschleudert. Das kann ihr einiges an Kraft genommen haben. Ob sie dadurch nicht auf das Niveau gewöhnlicher kleinerer Nachtschatten zurückgeschrumpft ist wird noch ziemlich innig von den Experten für alte und neue Geisterwesen diskutiert. Ich bekomme da nur Kurzfassungen ohne genaue Erklärungen zu hören."
"Ja, und wenn dieser dunkle Pharao jetzt erledigt ist mag sich Ladonna ganz und gar auf die Vernichtung aller ihrer Feinde konzentrieren. Da sollten wir uns alle sehr warm anziehen", erwiderte Laurentine. Helga stimmte dem zu. Immerhin sei es Dank der Veelas und der Hecatianerinnen möglich geworden, die vom Feuerrosenzauber betroffenen zu erkennen und frühzeitig festzusetzen. Dann fragte sie Laurentine, wie das Verhältnis zwischen den Kobolden und den französischen Hexen und Zauberern bestellt sei. Laurentine erwähnte, dass sich seit der Übereinkunft nach der Goldebbe nichts neues mehr getan hatte. "Bei uns mucken die Kobolde immer noch auf, weil Güldenberg, trotzdem er aus Ladonnas Würgegriff gelöst wurde, nicht dran denkt, den halben Kobold Giesbert Heller wieder zum Leiter der Handels- und Finanzabteilung zu berufen. Es kam nämlich heraus, dass Heller einige Geschäfte zum Nachteil des Ministeriums gemacht hat. Daher will Güldenberg von ihm nichts anderes mehr wissen als, was der sonst noch angestellt hat oder dass er im Gefängnis verschwindet. Die Kobolde sahen Heller ja immer als ihren Vertrauensmann und Fürsprecher, so wie dein Schulkamerad Julius Latierre ja der Fürsprecher der Veelas ist. Dann zündelt auch noch der deutsche Zwergenkönig Malin zwischen Kobolden und magischen Menschen, weil der meint, dass sein Volk die Goldverwertungsrechte zurückbekommen soll. Insofern können wir froh sein, dass wir noch alle an unser Gold und unsere Wertsachen kommen", erwiderte Helga.
"Da wünsche ich euch Glück", sagte Laurentine. Danach sagte sie: "Falls ihr was ungewöhnliches mitbekommt, von dem ich was wissen darf schick es mir als Nachricht!"
"Das gleiche erbitte ich von dir, Schwester Laurentine", sagte Helga. "Ich wünsche dir noch eine erholsame Nacht. Beenden!"
"Danke gleichfalls! Beenden!" erwiderte Laurentine. Helgas Gesicht verschwand aus dem Spiegelglas. Nun sah sich Laurentine selbst. In ihrem Kopf erklang die wie von einem sanft angestrichenen Weinglas erzeugte Stimme: "Verbindung beendet." Sie legte den auf den Geheimnamen Lanatera hörenden Spiegel wieder in ihre jeden Monat neu mit dem Clavimensum-Zauber gesicherte Handtasche zurück, dass nur sie ihn herausnehmen konnte. Dann genoss sie aus der Stereoanlage leise Balladen der internationalen Popmusik, bis kurz vor Mitternacht Louiselle durch den Kamin hereinfauchte. Sie mentiloquierte: "Wir haben es amtlich. Lucine ist die seit Regina und Ladonna Montefiori erste Tochter zweier Mütter. Also hängt es an uns, Domenicas Vermächtnis zu erfüllen."
"Weiß deine Tante das schon?" fragte Laurentine. "Ich habe es ihr auf dem Rückweg mitgeteilt", schickte Louiselle zurück. Dann sagte sie leise mit körperlicher Stimme: "Und, hat die Kleine mich vermisst?"
"Zuerst ja. Aber weil sie mich ja fast genausogut kennt wie dich war nach einigen Minuten Ruhe. Ich habe sie um zehn noch mal angelegt. Aber langsam sollten wir echt was beifüttern, um sie auf feste Nahrung einzustellen, sonst zutzelt die mir noch die Nippel lang."
"Tja, kannst du mal sehen, wie gern sie von dir trinkt, Ma Chere", erwiderte Louiselle. Dann beschlossen beide, sich hinzulegen. Falls nichts eintrat, was ein rasches Handeln erforderte wollten sie mit Hera Matine klären, dass sie erst bei Ferienbeginn nach Italien reisten, um Domenicas ganzes Vermächtnis zu erhalten.
Es war nicht einfach, gleichzeitig schnell und unsichtbar zu sein. Denn beides forderte ihre Verbundenheit mit dem flüchtigen Lebenselement Luft. Doch sie schafften es, bei vollständiger Unsichtbarkeit für fremde Augen zumindest doppelt so schnell durch die Luft zu reisen wie ihre natürlichen Vorbilder.
So flogen unsichtbar dreißig Schwäne und fünfzehn Störche über dem Umland von Florenz dahin. Jeder und vor allem jede von ihnen besaß gerade nachts ein Sehvermögen, als wenn man die Nachtsicht von Eulen mit der Weitsicht von Greifvögeln vereint hätte. Ja, und sie konnten bei Abwesenheit von Sonnenstrahlung auch die unsichtbare Ausstrahlung gleichwarmer Lebewesen als dunkelrot bis hellgelbroten Schein sehen. Auf diese Weise war es ihnen möglich, in großer Höhe dahinzufliegen, um möglichst viel zu erkennen, ohne selbst erspürt zu werden.
Allen voran flog eine bei Sichtbarkeit nachtschwarze Störchin, die älteste des außergewöhnlichen Schwarms, die reinblütige Veela Sternennacht, eine direkte Nachfahrin der ersten Nachtvertrauten Tochter Mokushas, die Mittwintermondnacht geheißen hatte, und von jener auch Nachtlied abstammte, deren mit einem kurzlebigen Zauberstabnutzer gezeugte Tochter Domenica ihnen allen mit oder ohne Absicht so viel Ungemach bereitet hatte. Über die den Veelaverwandten eigene Art der Verständigung hielt Sternennacht Verbindung mit allen Mitgliedern ihres großen Schwarmes. Sie hatte auch die männlichen Nachfahren der Mittwintermondnacht-Blutlinie dazu aufgerüttelt, einen Weg auf das von Blutfeuernebel umhüllte Grundstück zu finden. Sicher musste sie auch davon ausgehen, dass ihre missratene Anverwandte jenes gläserne Todeslicht um ihr Haus verteilt hatte, um gerade sie abzuwehren oder gar vollständig zu vernichten. Doch sie durften sich nicht mehr verstecken. Die vom Ältestenrat der Kinder Mokushas verhängte Handlungsfrist galt und sollte besser eingehalten werden. Denn der Mittwintervollmond war nicht mehr so weit fort.
Da unten ist das Haus", meldete die in Gestalt eines Schwanes reisende Mondglanz, die von allen hier die besten Augen für magische Ausstrahlung besaß, weil sie die Enkeltochter eines hochbegabten Kraftausstrahlungssehers war. Sternennacht befahl, dass sich alle gerade so nahe um das Grundstück herum verteilen sollten, dass ihnen der auf sie stark einstrahlende Blutfeuernebel nichts anhaben konnte. Natürlich wusste sie, dass es erst einmal unmöglich war, einen engen Kreis um das Haus zu schließen. Doch der war wichtig, um es von allen Seiten zu bezaubern.
Der unsichtbare Schwarm fächerte auseinander. Alle mussten bis auf dreihundert Längen über Grund nach unten sinken, um zu spüren, wie weit der Blutfeuernebel bereits seine tödliche Kraft ausstrahlte, ohne selbst hineinzugeraten. So bekam Mondglanz heraus, dass der über dem Grundstück liegende Dunst auf sie und andere Kinder Mokushas wie eine Folge von Entladungsblitzen wirkte. Fast wäre sie von einem für sie dunkelrot erscheinenden Entladungsblitz getroffen worden. Der Nebel war durch die Tode ihrer Blutsverwandten besonders auf sie abgestimmt. Sie beorderte alle weiter zurück. "Der Nebel wechselwirkt mit unserem Lebenshauch und auch unserem Blut. Wir können nicht näher als dreihundert Meter an das Haus heran", sang Mondnacht allen zu.
"Wir haben ihr einfach zu viel Zeit gelassen", hörte Sternennacht das schon an Verzweiflung grenzende Gedankenseufzen ihrer noch lebenden Nichte Abendstille.
"Wir haben einfach zu sehr darauf gehofft, dass es unter den Kurzlebigen genug mächtige Gibt, die ihr Einhalt gebieten. Soweit die Verlässlichkeit von Kurzlebigen", gedankenschnarrte Sternennacht. Sie musste einmal mehr an die Demütigung denken, die ihr die unheimliche Spinnenfrau zugefügt hatte, nur weil sie, Sternennacht, ihr klarmachen wollte, dass Ladonna von keinem Kurzlebigen getötet werden durfte. Da hätte sie es doch eigentlich schon wissen müssen, dass sie nicht auf diese äußerlich unscheinbaren und kurzlebigen zählen konnte, die nur mit Hilfe von Körperteilen von Zaubertieren und abgeschnittenen Teilen starker Bäume ihre Zauber ausführen konnten. Doch sie wies jede alleinige Schuld zurück. Der Ältestenrat hatte beschlossen, dass Ladonna nicht weiter von den Kindern Mokushas verfolgt werden durfte, solange diese einfach jedes davon töten konnte, auch wenn in ihren Adern ein Viertel des hochedlen Blutes strömte.
"Unser Gesang reicht nicht weit genug auf das Grundstück. Außerdem schluckt dieser wabernde Todesnebel jeden auf Tönen reisenden Zauber, wenn der nicht stärker ist als die in diesem Nebel aufgelösten Leben", stellte Sternennacht fest, als sie sich alle um das Grundstück herum versammelt hatten.
Mondglanz warnte über die für Menschenohren unhörbare Verständigung, dass sie zehn unsichtbare Besenflieger sah, die gerade so noch über der wabernden Nebelwolke hinweg das Haus umflogen. Dann fühlte Sternennacht, wie um sie herum die Luft erbebte und hörte einen in seine Einzeltöne zerlegten Widerhall aus zwanzig Schritten entfernung. "Lotungszauber!" warnte Mondglanz. "Die prüfen den Boden auf magische Ausprägungen!"
"Die können uns damit nicht erfassen", sang Nachtrufer, Sternennachts reinblütiger Enkelsohn.
"Eben. Deshalb werden sie schnell erfahren ... Alle weg von hier! Sie kommen!"
Sternennacht stieg als erste zum Himmel auf. Sie fühlte es noch, dass ihr alle anderen folgten. Da jagten die zehn Besenflieger heran. Auf ihren mit wild singenden Flugzaubern getränkten Holzstielen steckten kleine, silberne Trichter, deren breite Öffnungen nach vorne zeigten. Aus denen kam sicher jener Suchzauber.
"Abendstille, schnell nach links weg!" rief Mondglanz ohne Rücksprache mit Sternennacht. Da hörte die Älteste die zwei verderbenden Wörter "Avada Kedavra!" Sie hörte das unheilvolle brausen und konnte rechts von sich das grüne Leuchten sehen, das diesen Worten folgte und dem Wesen, das es berührte den sofortigen Tod brachte. Doch sie fühlte nicht den letzten Aufschrei einer sterbenden Anverwandten. Der tödliche Fluch hatte sein Ziel verfehlt.
Doch nun musste Sternennacht einem in ihre Richtung fliegenden Besen ausweichen. Sie sah, wie der silberne Trichter sich auf sie ausrichtete und hörte um sich herum ein Pfeifen wie durch Türritzen dringenden Wind. Sie zog ihren Storchenhals ein und schraubte sich mit wild schwirrenden Flügeln weiter nach oben. "Avada Kedavra!" hörte sie die ihren Tod verlangenden Worte. Das gnadenlose grüne Licht sauste sirrend keine fünf ihrer Längen unter ihr hindurch ins leere. Dann erkannte sie, dass der auf dem Besen sitzende in jenen rosigrot schimmernden Strahlenkranz eingehüllt war, der einen Knecht Ladonnas kennzeichnete. Da überkam sie eine wahnwitzig annmutende Idee. Sie stieß mit angezogenen Flügeln wie ein niederstoßender Adler auf den Gegner zu, der gerade mit Hilfe seines Suchzaubers prüfen wollte, wo die Gegnerin war. Als sie ihm auf bis nur noch zehn Längen nahe kam verlor er die Körperbeherrschung. Er schlingerte auf seinem Besen herum. Sie wich ihm gerade noch aus. Dabei durchdrang ihr Lebenshauch den seinen. Er schrie vor Schmerzen auf und verlor den Halt auf seinem Besen. Er fiel in die Tiefe. In nicht einmal zehn Herzschlägen würde er aufschlagen und tot sein. Wollte sie das?
Ladonna Montefiori unterhielt sich gerade mit der Statthalterin der Region Neapel darüber, dass es unmöglich war, alle Erinnerungen an den geflüchteten Anselmo Pontidori zu löschen, da dieser zu viele Veröffentlichungen, Vorlesungsmitschriften und andere auf ihn hinweisende Unterlagen hervorgebracht hatte. Außerdem hatte er gute Freunde im Ausland, die sich wundern würden, warum in Neapel niemand mehr was von ihm wissen wollte. Aber sie konnten auch keinen Leichnam von ihm präsentieren, um ihn einfach für tot zu erklären. Tja, und die Franzosen, Engländer und US-Amerikaner hatten im Internet verbreitet, dass Pontidori wegen eines offenbaren Geheimunternehmens im Ausland weilte, wo genau war eben geheim.
"Müssen wir diesen Halbzwerg also weiterleben lassen?" wollte Ladonnas Statthalterin wissen. Die Rosenkönigin wollte gerade darauf antworten, als sie etwas verspürte, was sie einen Augenblick innehalten ließ.
"Moment, meine Tochter. Ich vernehme gerade Unruhe von Barbaneras wachsamen Leibgardisten. Offenbar meint jemand im Schutz von Unortbarkeit auf meine Residenz zuschleichen zu können. Ah, offenbar sind es viele, also wohl die verärgerte Verwandtschaft. Na, ja, dann sollen die Gardisten sie eben erledigen", sagte Ladonna. Sie stellte eine Gedankenverbindung zum Befehlshaber der zehn Leute starken Erkunder- und Wachmannschaft her und gab den Befehl, bei Erfassung von Veelastämmigen den tödlichen Fluch zu benutzen.
Nun lauschte sie und hörte die verbotenen Worte zweimal. Doch sie fühlte keine sterbende Anverwandte. Das konnte auch am Blutfeuernebel liegen. Dann hörte sie mit den Ohren des von ihr gelenkten Gruppenführers, dass einer von ihnen vom Besen geworfen wurde. Ladonna überlegte schon, ob sie befehlen sollte, ihn aufzufangen oder fallen zu lassen. Doch da war die Entscheidung schon gefallen.
Ricardo Lorenzini wusste nicht, was ihn da so heftig traf. Es war eine Mischung aus plötzlichem Schwächeanfall, in ihm aufwallender Hitze und der Gedanke, dass er gerade gegen seinen Willen handelte. Alles zusammen bewirkte, dass er laut aufschrie und vom Besen herunterrutschte. Er fiel in die Tiefe. Dann war das Gefühl von innerer Hitze und Schwäche weg, und er meinte, von einem Nebel im Kopf erfüllt zu sein, dass er seine Umgebung anders sah als gerade eben noch. Da waren seine nahebei fliegenden Kollegen Palestrina und Cordracone bei ihm und fingen ihn mit einem Fallbremsezauber auf. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich wieder. Er wusste, dass er fast mit einem veelastämmigen Wesen zusammengestoßen wäre, das jedoch unsichtbar war. Doch dessen widerwärtige Aura hatte ihn durchdrungen und ihm fast alle Kräfte entrissen. Das war wohl die, die er eigentlich mit dem Todesfluch eliminieren wollte. Dann schwanden ihm doch noch die Sinne.
Sternennacht wollte den anderen nicht töten. Sie wollte ihn nur handlungsunfähig machen. Doch nun war er abgestürzt. Mit gemischten Gefühlen verfolgte sie mit, wie zwei seiner Kameraden herbeiflogen und ihn mit einem Bremszauber abfingen und sicher zu Boden brachten. Somit war der Weg zum Haus gerade frei. Doch Sternennacht wusste, dass sie dort nicht hingelangen konnte. Daher stieg sie noch weiter nach oben. Weitere Todesflüche brausten durch die Nacht. Doch keiner fand ein Ziel. "Nicht nachmachen, was ich gemacht habe. Wenn wir wen von denen töten lädt sich dieser Nebel womöglich mit ihrer verwehenden Lebenskraft auf!" gedankenrief Sternennacht ihren Verwandten zu. Diese hatten ohnehin damit zu tun, den anfliegenden Besen auszuweichen. Endlich waren sie alle so hoch und so schnell unterwegs, dass die zur Wache eingeteilten Zauberer zurückfielen.
"Rückzug ins Hinterland, Gruppen von nur vier bilden!" befahl Sternennacht.
"Verstanden, wir ziehen uns zurück!" gedankenrief Abendstille.
Zusammen mit Mondglanz und den Zwillingsschwestern Winternacht und Winterstille bildete Sternennacht eine Vierergruppe. Sie hatten sich vor ihrem gemeinsamen Flug hierher darauf verständigt, im Bedarfsfall in den Wäldern der Umgebung Schutz zu suchen. Kein Ortungszauber konnte sie genau erfassen. Dass die Erkundungsflieger über dem Nebelhaus ihre Annäherung mitbekommen hatten lag daran, dass deren Spürzaubertrichter offenbar eine magische Wechselwirkung mit der Luft und der Erde vor ihnen erzeugten. Blieb diese Wechselwirkung aus, weil der Zauber umgeleitet wurde, war da wer unortbares, also eine Todfeindin Ladonnas. Dieses Viertelblütige, von Sabberhexenblut vergiftete Weibsbild hatte sich das schlau ausgedacht. So würden sie nicht an die turmlose Festung der Widersacherin herankommen. Also erst einmal Rückzug und Beratung, was sie bisher herausbekommen hatten! Da es um ihrer aller Leben ging konnten sie es nicht einfach darauf beruhen lassen, nicht in das Haus zu kommen. Wenn es sein musste, so Sternennacht, wollten sie es mit zerstörerischer Gewalt versuchen, mit den Kriegswaffen der magielosen Kurzlebigen. Sie konnte ja nicht wissen, dass Ladonna ihr Haus auch gegen diese Art von Gewalt abgesichert hatte.
Ladonna erkundigte sich, was genau geschehen war und warum sie Lücken in der Abriegelung gelassen hatten, um einen vom Besen gefallenen aufzufangen. Der Leiter der Wachgruppe beteuerte, dass sie alles so gemacht hatten, wie sie, die Königin, es befohlen hatte. Dann sagte sie: "Wenn einer fällt ist es sein Schicksal. Wenn er zwei andere auf sich zieht, um Hilfe zu bekommen fallen drei Wachen aus. Das ist mir zu fiel. Wieso hast du den Bergezauber deines Besens nicht benutzt, Ricardo Lorenzini?"
"Hmm, geht der nicht selbsttätig?" fragte Lorenzini, der wusste, dass Ladonna ihn mit zwei Worten, ach was, mit einem Fingerzeig den gerade noch von ihm ferngehaltenen Tod bringen mochte.
"Öhm, stimmt, der hätte eigentlich gehen müssen", wagte ein anderer Wächter einzuwerfen. Ladonna war dicht davor, vor Wut loszukeifen. Da fiel ihr etwas auf. Sie nahm den von den Kollegen zurückgeholten Besen Lorenzinis genauer in Augenschein. Ja, so war das! Der Flugzauber war nicht mehr im Gleichgewicht, und durch den Luft-Erde-Wechselwirkungstrichter war die einen Besenreiter umschließende Bergebezauberung geschwächt. Also konnte Lorenzini sich nicht auf den Besen verlassen. So tadelte sie ihn, weil er sich nicht richtig festgehalten hatte. Doch innerlich war sie auch wütend auf sich selbst, dass sie das mit der Wechselwirkung nicht vorher überprüft hatte. So befahl sie den Erkundern, sich mit einer Kombination aus Trageriemen an den Besen zu binden, damit sie beim nächsten Beinahezusammenstoß mit einer Veela nicht herunterfallen konnten. Dann kehrte sie in das Haus ihres Leibeigenen Luigi Girandelli zurück. Sie verabschiedete sich noch von ihrer neapolitanischen Statthalterin und gebot ihr, weiterhin aufzupassen, ob sich Pontidori bei seinem früheren Arbeitgeber meldete. Wenn es möglich war, ihn zu fangen und zu töten würde das ihre im Ausland lebenden Feinde verunsichern. Tja, für irgendwas musste Pontidoris Berühmtheit gut sein, dachte die Rosenkönigin.
Der Zauberer mit dem verstruwelten schwarzen Schopf blickte auf den zweifachen konzentrischen Kreis aus silberner Zaubertinte. In der Mitte des Kreises stand ein Dreifuß. Auf diesem stand wiederum ein ein Meter hoher Glaszylinder, in den gerade aus daranhängenden Lederbeuteln Flüssigkeiten eingefüllt wurden, eine grünlich-rote und eine rötlich-violette. Die beiden Flüssigkeiten vermengten sich innerhalb des Zylinders, der gegen Hitze und Druck bezaubert war und durch eingeprägte Grundschwingungen die Feuerbestandteile der Flüssigkeiten anregte. Es galt, herauszufinden, ob die beiden Flüssigkeiten zusammen die Erhitzung verzögerten oder vollständig unterbanden oder gar umkehrten.
Als ein voreingestelltes Mischungsverhältnis erreicht war warf der Zauberer außerhalb des Kreises einen in Linsenform geschliffenen Rubin in den Kreis. Kaum kullerte dieser zwischen die Beine des dreifüßigen Statives erbebte der Zylinder. Die in seinem Boden eingeritzten Zauberzeichen für Erweckung von gespeicherter Wärme glommen auf. Der Glaszylinder vibrierte stärker und schneller, so das ein immer lauter werdender, in der Höhe ansteigender Ton erklang. Das Gemisch der beiden Flüssigkeiten, dem Blut eines peruanischen Viperzahnes und das Blut einer atlantischen Nixe, reagierten durch Blasenbildung. Die Flüssigkeit schäumte. Aus dem Schaum hüpften schillernde Blasen heraus, die unter dem eingeschraubten Glaspropfen zerplatzten und kleine grüne, rote und blaue Funken freisetzten, die leise knisternd an der Glasinnenwand zerstoben. Der Rubin unter dem Dreifuß glühte derweil im sonnenaufgangsfarbenen Orangerot.
"Das geht auch wieder schief", dachte der hellhäutige Zauberer mit dem schwarzen Struwelhaar. Tatsächlich schäumte das Gemisch immer stärker, und immer mehr Funken entstanden, die wegen ihrer Farbvielfalt ein flirrendes Licht erzeugten, bis zwischen Glasdeckel und brodelnder Flüssigkeit ein weißblaues Licht schimmerte. Der diesen Vorgang überwachende Zauberer war froh, dass er die Gleitlichtbrille trug. Deren magische Gläser dunkelten sofort nach, wo das Licht zu hell war, ohne dass der Träger einen Sekundenbruchteil lang Schmerzen in den Augen spürte. Doch nun konnte der Überwacher sehen, wie immer mehr Licht aus dem Zylinder quoll und hörte einen immer lauter werdenden, schrillen Ton. Er hätte vielleicht auch Gleitschall-Ohrenstöpsel in die Ohren stecken sollen, dachte er. Dann sah er, wie der Rubin unter dem Dreifuß einen fingerdicken Lichtstrahl aussandte, der mit dem Gemisch im Glaszylinder zu einer einzigen weißen Säule verschmolz. Das gleichwarm bezauberte Glas färbte sich langsam rot. Der Gleichwärmezauber wurde also überwunden. Wenn das Glas zu heiß wurde würde auch die Unzerbrechlichkeit schwinden. Was dann passierte kannte der Überwacher aus unzähligen vorausgegangenen Versuchen. Deshalb deutete er auf den silbernen Doppelkreis. Aus diesem schossen weiße Funken, die eine erst flirrende und dann massive, größtenteils durchsichtige Lichtsäule bildeten, die bis zur Decke reichte. Der Schrille Ton wurde zu einem dumpfen Wimmern abgemildert.
Jetzt mischte sich in das von der Gleitlichtbrille auf die Helligkeit von Schnee in der Morgensonne herabgedunkelte Licht ein orangerotes, dann gelboranges und dann weißgelbes Licht. Dann bildeten sich erste Blasen im Glas. Die weiße Lichtwand wurde nun vollständig undurchsichtig und färbte sich tiefschwarz ein. Dann erfolgte ein dumpfer Knall, und trotz der schwarzen Lichtwand konnte der Überwacher einen weißblauen Lichtblitz erkennen, der die magische Kraftsäule erschütterte. Sogleich zischten die Absaugvorrichtungen in der Decke los, um den plötzlich entstandenen Überdruck und die entstandene Hitze zusammen mit dem entweichenden Dampfgemisch und verdampftem Glas aus dem Labor abzusaugen. Nach einer Minute war dieser Vorgang beendet. Die schwarze Kraftsäule verschwand übergangslos. Der Doppelkreis war noch da. Er hatte jedoch seinen Silberglanz eingebüßt. Das hieß, dass er nicht mehr als Bollwerk gegen explosionsartige Magieentladungen benutzt werden konnte.
"Versuch drei zwo drei mit Viperzahnnblut zu vierzig und atlantischem Nixenblut zu sechzig Hundertsteln endete in explosiver Entladung in der Probe enthaltener Eigenkraft in Form magischer Überhitzung. Entladung überstieg maximale Wirkung von Aequicalorus und Infragilis-Zauber. Genaue Auswertung nach Einsicht der Aufzeichnungen.
Der Dreifuß in der Kreismitte war zu einem rotglühenden Klumpen zusammengeschmolzen. Annsonsten war von der Versuchsanordnung nichts übriggeblieben.
"Wir sollten vielleicht doch besser auf das Knacken der Antibelagerungszauber ausgehen, Mr. Hammersmith", sagte eine Stimme wie aus leerer Luft. Der Angesprochene wandte sich einem Wandspiegel zu, in dessen Oberfläche das Gesicht seines Direktors Elysius Davidson zu sehen war.
"Daran arbeiten wir auch, Sir. Allerdings ist es sicher einfacher, eine schnelle Eingreiftruppe zu dieser Villa hinzuschicken als eine langwierige Belagerung zu etablieren, die von Ladonnas Marionetten permanent bekämpft und womöglich durchbrochen werden kann. Das hatten wir doch schon bei der vorletzten Abteilungsleiterkonferenz", sagte Quinn Hammersmith. Davidsons Gesicht im Spiegel erwiderte: "Leider haben Sie recht. Solange es keinen rechtlich bindenden Beschluss der globalen Magierkonferenz gibt, dass das italienische Zaubereiministerium beschluss- und handlungsunfähig ist ist jeder Einfall von außen ein Bruch des internationalen Nichteinmischungsgebotes. Da würde auch das Argument der Präemptiven Abwehr einer bestehenden Bedrohung unseres Staates nicht gelten. Doch wenn Ihre Blutpanschereien keinen Erfolg haben bleibt nur die Belagerung."
"Ja, und die nur, wenn sicher ist, dass Ladonna zum Zeitpunkt der Einschließung auch in diesem Haus ist. Sonst können wir da Jahre drum herumsitzen und darauf warten, dass sie nach Hause kommt", meinte Hammersmith und traf genau den wunden Punkt in Davidsons Überlegungen. Ladonna konnte am Ende noch frühzeitig aus der Villa bei Florenz verschwinden und so die Belagerung ins Leere stoßen lassen, ja die Belagerer selbst zu legitimen Todfeinden des italienischen Zaubereiministeriums erklären und beseitigen lassen. Am Ende mochte es eben nicht auf einen Feldzug, sondern ein klandestines Kommandounternehmen mit ungewissem Ausgang hinauslaufen.
"Gut, führen Sie Ihre Versuche durch, Mr. Hammersmith. Aber denken Sie auch an die Produktion der bereits bewährten Ausrüstungsgüter für unsere Feldeinsatzkräfte gegen Vampire und Wergestaltige!"
"Keine Sorge, Herr Direktor. Die Nachschubproduktion läuft weiterhin auf vollen Touren", versicherte Hammersmith seinem Vorgesetzten. Dann ging er daran, einen neuen Schutzkreis gegen magische Explosionen zu ziehen und einen neuen Versuch einzuleiten. Den geschmolzenen Dreifuß gab er in die Rohstoffwiederverwertung, die ihm dafür einen neuen Dreifuß bereitstellte.
Elysius Davidson beendete die Zweiwegespiegelverbindung zum Versuchslabor der höchsten Gefahrenstufe und wendete sich den schriftlichen Anfragen zu. Trotz der fragwürdigen Absprache der Regionaladministratoren gab es noch genug magische Beamten, die das LI um Beistand gegen bösartige Zauberwesen anriefen und mit Sachen wie den VBR-Kristallen beliefert werden wollten, um wichtige Einrichtungen und Personen vor der Annäherung von Vampiren zu beschützen. Davidson wollte es heute noch alles aus dem Kopf haben. Denn morgen, dem 30. November, wollte er zu seinem älteren Bruder Pancratius nach Montana, um dessen sechzigsten Geburtstag mitzufeiern. Die durch ihn unbeabsichtigt ausgelöste wiederholte Rückbesinnung auf erlebte Ereignisse hatte ihm offenbart, wie wenig er sich seit Eintritt in das LI mit seiner Familie befasst hatte. Pancratius und seine Frau Mathilda konnten bereits den dritten Enkelsohn im Leben begrüßen und standen kurz davor, das Universalverzeichnis nordamerikanischer Zaubereigeschichte zu veröffentlichen, von der heimlichen Einreise der Zaubereifamilie Moonriver an Bord der Mayflower, das Verhältnis zwischen europäischen Zauberern und Hexen zu naturverbundenen Magiern der indigenen Völker Nordamerikas, die unsäglichen Hexenverfolgungen in Salem und anderen Orten, die darauf versuchte Repatriierung in Nordamerika geborener Hexen und Zauberer in die europäischen Kolonien, das magische Schulwesen bishin zur wechselhaften Geschichte der Zaubereiadministration vom ersten Makusa bis zur gegenwertigen Regionalisierung nordamerikanischer Zaubereiverwaltung. Da war so ein Geburtstag schon eine willkommene Ablenkung, auch für die Verwandten wie ihn, Elysius Davidson. Er ging davon aus, dass seine Stellvertreterin Sheena O'Hoolihan ihn für die Urlaubswoche wieder zuverlässig vertreten würde.
Kurz vor dem leisen Stundenschlag seiner Wanduhr hörte er einen aus großer Ferne tönenden dumpfen Knall, der sooft widerhallte, dass er zu einem unwetterartigen Donnergrummeln verschwamm. "Anfrage, Ort und Ursache soeben erfolgter Detonation!" rief Davidson und wunderte sich, dass das Alarmtröten nicht eingesetzt hatte. Fünf Sekunden später schob sich der blaue Vorhang vor dem Zweiwegespiegel von alleine zur Seite, und im Spiegelglas erschien Hammersmiths verstruwelter Kopf. Der Fachzauberer für besondere Ausrüstungsgüter wirkte sehr erschöpft. "Ui, bin ich froh, dass ich die Asportatio-urgentis-Zauber in den Detonationsabwehrkreis eingezogen habe. Da wären wir fast auf einem sonnenheißen Feuerball gen Firmament geritten", sagte Hammersmith. "Offenbar habe ich eine neue Methode zur Herstellung der SNG gefunden, Direktor Davidson. Zumindest kam die Explosionswucht in zehn Kilometern entfernung dem ziemlich nahe, was der selige Minister Sandhearst angestellt hat, um sich und sein altes Ministeriumsgebäude in die Luft zu sprengen."
"Was haben Sie angestellt, um eine derartige Detonation hervorzurufen?" wollte Davidson wissen.
"Noch einmal Viperzahnblut, allerdings gemischt mit zwei Tropfen Einhornblut. Das sollten wir besser lassen."
"Einhornblut? Gut, dass Sie eine Form von Wahnsinn haben wissen wir ja. Aber dass Sie derartig selbstzerstörerisch sein können sorgt mich doch nun sehr, Mr. Hammersmith."
"Zum ersten, ich habe genau wegen solcher unliebsamen Auswirkungen immer den Asportationszauber eingewirkt, der eine Zehntelsekunde in die Zukunft tastet und eine bevorstehende Detonation über das Schutzlimit hinaus durch Verschickung des Versuchsobjektes in den Sumpf verhütet. Also so irre bin ich dann doch nicht, alles mal eben so auszuprobieren, ohne mich und uns alle abzusichern. Daraus ergibt sich auch, dass ich nicht auf meine Selbstvernichtung ausgehe. Ich sehe Ihre Vorhaltung so, dass Sie auf die verfluchende Eigenschaft vergossenen Einhornblutes anspielen. Diese galt bisher als nur durch direkte Aufnahme in einen lebenden Körper gesichert. Insofern habe ich gerade bewiesen, dass Einhornblut ein zu instabiles und zu wirkmächtiges Agens für auf Blut basierende Zauber ist, um es noch weiter gegen den Blutfeuernebel einsetzen zu wollen. Obwohl wir mit der Mischung ggarantiert Ladonnas gekapertes Landhaus bei Florenz von der Erdoberfläche fegen könnten."
"Hallo, das verbiete ich Ihnen, das auch nur weiter zu erwägen, Mr. Hammersmith. Unser Auftrag lautet, Menschen vor magischen Feinden und Auswirkungen dunkler Zaubereien zu schützen, nicht, sie durch eben solche zu gefährden. Das behalten Sie gütigst als unsere Hauptdirektive im Blick, Mr. Hammersmith." Der Ausrüstungsspezialist nickte eingeschüchtert.
"Gut, räumen Sie auf, was aufzuräumen ist und machen Sie weiter unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen!" befahl Davidson. Hammersmith bestätigte diese Anweisung.
Wladimir Borisewitsch Rodenkow hatte in den vergangenen Tagen viel zu koordinieren gehabt. Es durfte noch keiner draußen wissen, dass Minister Arcadi tot war. Da es von ihm auch keinen Leichnam gab konnte er die Nachricht auch noch weiter zurückhalten. Womöglich hatte auch die allmächtige Königin mit ihren geistigen Einflüsterungen geholfen, dass Arcadis alte Truppe bis auf weiteres auf ihn hörte. Sicher, die alten Durmstrangverbindungen hielten ein Leben lang, und ohne die Königin hätte man ihn sicher gleich nach Arcadis Verschwinden ausgefragt, was er darüber wusste und ihm empfohlen, jemandem Platz zu machen, der das schnell und gründlich herausfinden konnte.
Es war ihm etwas mulmig, in Arcadis Schlafraum zu übernachten. Daher saß er gerne zwei Stunden länger als üblich in diesem Büro. Er sortierte die Unterlagen, die Arcadi für den Fall angelegt hatte, dass er unvorhersehbar arbeitsunfähig werden sollte. Hatte er alles für die anstehenden Verwaltungsmaßnahmen vorbereitet?
Ganz ohne Vorwarnung begann der Boden zu erbeben. Erste Alarmglocken bimmelten los. Das Beben nahm an Stärke zu. Doch hier, nur 20 Kilometer von St. Petersburg entfernt, kam eigentlich nie ein Erdbeben vor. Die Erdstöße wurden noch stärker. Die Wände dröhnten mit einem an den Eingeweiden rüttelnden Ton. Alles was an den Wänden hing geriet in heftige Pendelbewegungen.
"Mischa, Frage Ursache!" rief Rodenkow den Befehlshaber der Ministerleibwache. "Einsturz von bisher nicht bekanntem Hohlraum in mehr als zweitausend Metern Tiefe. Einsturzbeben!" hörte er die von den Erdstößen zerhackte Antwort von Michail Antonow. Die Erdstöße wurden noch heftiger. Dann erfolgte Mischas ausruf: "Schweres Erdbeben. Einsturz des Ministeriumstraktes steht unmittelbar bevor. Alle raus hier!"
"Wladimir, was ist bei euch los?" hörte er die Stimme seiner Königin in seinen Gedanken. Er brauchte nicht zu antworten. "Zwerge oder Kobolde. Raus und Gegenmaßnahmen einleiten!" befahl die Rosenkönigin über viele tausend Kilometer hinweg. Rodenkow prüfte, ob das Notapparieren möglich war. Da jagte Ladonnas Stimme durch seine Gedanken: "Eine Falle!" Rodenkow hatte sich schon auf einen Sprung hinaus aus dem unterirdischen Komplex eingestimmt und schaffte es gerade noch, nicht zu disapparieren. Da knirschte und krachte es in der Decke. Laut polternd schlugen erste Bruchstücke daraus auf Möbel und Boden. Rodenkow warf sich unter seinen Schreibtisch, um vor weiteren Trümmern so sicher wie möglich zu sein. Der Schreibtisch war aus Durolignumelixier verstärktem Holz. Da bollerte es auch schon über seinem Kopf. Aber der Boden knisterte sehr unbehaglich. Kleine Splitter wurden herausgesprengt und prasselten herunter. Weitere Steinbrocken krachten aus der Decke nieder und schlugen die bereits entstandenen Risse noch breiter.
"Wenn du disappariert wärest hätten sie dich in einer Locattractus-Falle eingefangen. Das sind keine Kobolde und Zwerge, bei allen Basilisken", hörte er die Stimme seiner immer noch mit ihm verbundenen Königin. Da donnerte es so laut, dass es in seinen Ohren hoch klirrend nachhallte. Der Schreibtisch bog sich knarzend immer weiter durch. Ein schwerer Trümmerbrocken hatte ihn getroffen. Es blitzte um ihn herum, als habe sich zu den Erdstößen noch ein Gewitter in den geheimen Ministeriumstrakt bei St. Petersburg verirrt. Dann ließen die Erdstöße nach. Das tiefe Dröhnen in den Wänden schwoll zu einem Grummeln ab und verstummte dann vollständig. Das Knirschen, Knarzen und Knistern verriet jedoch, dass die Gefahr noch nicht vorbei war. Der Ministeriumstrakt war schwer beschädigt. Weitere Trümmerstücke brachen von der Decke herunter. Rodenkow fühlte, wie knapp hinter seinen unter dem schweren Schreibtisch liegenden Beinen ein weiterer schwerer Brocken aufschlug. "Meine Königin, ich werde verschüttet, wenn ich hier nicht rauskomme", dachte er.
"Harre noch aus. Ich ... Nein! Neeiin!!" Die geistige Stimme der Königin schrillte in seinem Kopf wie das Wutgeschrei einer Hundertschaft Kikimoras. Dann fühlte er, wie die Gedankenbrücke zu ihm abriss. Er meinte, grelle Blitze vor seinen Augen zu sehen und fürchtete, dass der rasende Kopfschmerz ihm das Hirn durch die Schädeldecke drückte. Dann ebbte auch der Aufruhr in seinem Kopf ab. Rodenkow rief nach seiner Königin. Doch sie meldete sich nicht. Statt dessen hörte er ein lautes Plopp wie von einem großen Sektkorken. Als er sich umsah sah er einen Mann in einem dunklen Umhang, der rechts einen Zauberstab in der Hand hielt und links eine handlange Kerze. Rodenkow erkannte den, der in sein verwüstetes Büro hineinappariert war.
"Max?! Minister Arcadi?" fragte er. Die Sekunden, die er für diese Frage brauchte genügten dem unverhofft erschienenen, mit dem Zauberstab die Kerze anzuzünden. Er ließ sie los, als der helle Docht in einer goldenen Flamme aufleuchtete. Die Kerze blieb auf der gehaltenen Höhe schweben. Der Zauberer, der wie Maximilian Arcadi aussah sprang einen Schritt zurück und zielte auf die Decke. "Impervius Maximus!" rief er. Dann disapparierte er. In dem Moment schwoll die goldene Flamme zu einem hellen Licht an. Goldener Dunst breitete sich aus, während in der Decke weitere Trümmerstücke gegen den unsichtbaren Abhaltezauber drückten. Rodenkow sah das Licht und roch unvermittelt den Duft von am Spieß gebratenem Ochsen und den verheißungsvollen Dunst von Gregori Illiuschins extrastarkem Wodka. Dann überkam ihn wieder jener heftige Schmerz, den er vorhin gespürt hatte, als die geistige Brücke zu seiner Königin gewaltsam eingerissen wurde. Seine Lungen brannten wie entflammt. Sein Herz hämmerte wie ein zentnerschwerer Schmiedehammer gegen seinen Brustkorb. Er hörte schrill singende Stimmen. Dann jagte eine solche Schmerzwelle durch seinen Kopf, dass er darüber die Besinnung verlor. Seine Lungen sogen weiter jenen goldenen Dunst in sich ein, seine Ohren hörten, ohne dass er es bewusst wahrnahm, die auf Russisch, Ukrainisch und Georgisch klingende Botschaft von der Befreiung und der Erleichterung.
Jene, die nicht mehr von der Königin gewarnt wurden disapparierten und landeten alle in einem großen Zelt ohne Sichtluken und ohne besondere Inneneinrichtung. Der einzige Einrichtungsgegenstand war eine in einem silbernen Halter steckende Kerze mit einem golden schimmernden Docht, als habe der Kerzenmacher feinstes, glänzendes Haar zu diesem Docht geflochten. Alle die hier appariert waren blickten sich erst verdutzt und dann verärgert und dann verängstigt um. Da flammte die Kerze golden auf und verströmte ihr Licht im ganzen Zelt. Der dabei ausdünstende Rauch umfing die hierher flüchtenden. Einige versuchten noch, zu disapparieren oder sich mit einer Kopfblase vor dem Dunst zu schützen. Doch niemand konnte von hier disapparieren, und der Dunst drang bereits in die Atemwege der hier zusammengekommenen. Sie zuckten heftig zusammen. Dann wanden sie sich auf dem Boden und schrien, bis ein heftiger Stoß durch ihre Körper fuhr und ihnen allen die Sinne raubte. dennoch wirkten der magische Rauch und das magische Licht der goldflammigen Kerze. Die Zeltwände erstrahlten nun selbst im goldenen Schein. Die reinigende Kraft des goldenen Lichtes, geschöpft aus der vereinten Stärke vieler Veelas, vertilgte den Zauber der Feuerrose. Ladonna hatte eine weitere Schlacht verloren.
Sie gingen davon aus, dass zehn Kerzen reichten, falls nicht alle in den geheimen Räumen weilenden in ihre Locattractus-Zelte apparierten. Die Idee mit dem durch Auflösen größerer Gesteinsmengen in der Tiefe erzeugten Erdbeben war ein voller Erfolg. "Gaias Aufschrei" hieß jener Zauber, bei dem zwei unsichtbare Strahlen aus purer Erdmagie schadlos in die Erde hinabfuhren und sich an einer genau vorherberechneten Stelle kreuzten. Dort setzte dann ihre vernichtende Wirkung ein. Alles feste Gestein löste sich in halbflüssigen Sand auf oder verschwand ganz, um in einem irgendwo weiter weg bestehenden Hohlraum zu verstofflichen. Was dann folgte war ein klassisches Einsturzbeben. Auf diese Weise konnten die auf höhere Erdmagie spezialisierten Töchter Hecates die unterirdischen Ministeriumsverstecke erschüttern und deren Insassen in die Flucht treiben oder warten, bis keiner mehr herauskam, aber alle Absicherungen durch das Beben aufgehoben waren. Als sie dann mit eigenen Augen sahen, was mit den eingesammelten geschah fragte sich doch die eine oder andere, ob es wirklich die richtige Vorgehensweise war, um Ladonnas Macht zu brechen. Nur die Gewissheit, dass die aus dem Bann der Feuerrose gelösten wieder aufwachen würden und sich dann auch wirklich befreit fühlten beruhigte die Zweiflerinnen.
Innerhalb von nur zehn Minuten war die gemeinschaftlich und möglichst zeitgleich durchgeführte Unternehmung beendet. Sie hatten an die dreihundert Ministeriumsbeamte befreit und wussten auch, wie sie die weiteren russischen Ministeriumsbeamten in ähnliche Befreiungsfallen hineinlocken konnten. Drei Stunden nach der ersten Unternehmung erfuhren die drei obersten Mütter der griechischen Schwesternschaft, dass alle russischen Zaubereiministeriumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter von Ladonnas Einfluss befreit waren. Sicher, das russische Zaubereiministerium war gerade führungslos und handlungsunfähig. Doch wenn auch Minister Arcadi, den sie mit einer separaten Golddochtkerze behandelt hatten, in sein Ministeriumsgebäude in Moskau zurückkehren würde mochte sich zeigen, dass es die Sache wert war.
"Und wie war es, für eine Stunde Zaubereiminister von Russland zu sein?" fragte Asterope ihre Schwester Alkyone, als diese sich unter Stöhnen und Winden in sich selbst zurückverwandelt hatte. "Erst mal, der mit seinem Haar angesetzte Vielsaft-Trank schmeckte wie vergohrene Milch. Zweitens hat die Hinverwandlung mich heftig ausgelaugt. Drittens habe ich nur eine Sekunde in den Spiegel gucken können, um nicht vor mir selbst zu erschrecken. Ja, und viertens war die Rückverwandlung oben und unten sehr schmerzhaft, als wollte der alte Körper Arcadis nicht wieder weggehen. Bin ich froh, dass diese hin und herwandelei erst einmal vorbei ist, Schwester", murrte Alkyone Leukanthos. "In Zukunft wieder anständige Frauenzimmer, ob Wickelhexe oder morsches Knochengerüst. Aber nicht noch einmal alte slawische Kampftrinker", fügte sie hinzu. Asterope nickte ihr beipflichtend zu.
Natürlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann das Ministerium darauf zurückgriff, dass er seit seiner Hochzeit mit Gabrielle ein Auravisor war. Damit kam Pierre Marceau gut klar. Das er jedoch für die erste Sonderaufgabe als Auravisor in die Nähe der Beauxbatons-Akademie zurückkehren sollte war ihm neu. Auch dass sein Sonderauftrag, für den ihn Monsieur Chevallier von Madame Grandchapeau "ausgeborgt" hatte, auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe S9 klassifiziert war erstaunte ihn etwas. Doch als er nach Unterschrift des Stillschweigeabkommens erfuhr, warum der Auftrag so geheim sein musste staunte er nicht mehr.
"Wir haben sehr starken Grund zu der Annahme, dass Ladonna Montefiori alle ihr nicht unmittelbar unterworfenen Personenregistraturstätten ausspionieren lässt, um zu erfahren, ob seit Beginn ihrer Machtergreifungsunternehmung mächtige Hexen und Zauberer ausgebildet wurden oder noch werden. Sie zielt vor allem auf Hexen, die wie sie von menschengestaltlichen Zauberwesen abstammen, also auch Ihrer Tochter Cécilie", hatte ihm Belenus Chevallier erklärt. Nathalie Grandchapeau hatte dem noch hinzugefügt: "Insofern handeln Sie auch im höchst eigenen Interesse, Monsieur Marceau."
Seit dem frühen Morgen führten Pierre und fünf weitere Hexen und Zauberer, die als Auravisoren zertifiziert waren, Patrouillengänge aus. Dabei galt es, die eigenen Gesichter hinter dunkelblauen Masken zu verhüllen und nie zweimal hintereinander dieselbe Erkundungsstrecke abzulaufen. Madame Faucon und alle Saalvorsteher von Beauxbatons wussten um diese besondere Patrouille. Doch die Schülerinnen und Schüler, die wohl schon mit den Gedanken in den Ferien weilten, durften davon nichts mitbekommen. Da es sich leider erwiesen hatte, dass jede Form von Unsichtbarkeits- und Tarnzauber die Aurensicht wie dicker Nebel eintrübte blieb den sechs Sondererkundern nur, die Deckung von Büschen und Bäumen des ringförmig angelegten Forstes um die Gebäude der Akademie auszunutzen.
Pierre dachte daran, wie der an die Machtgelangte Minister Didier Beauxbatons von fliegenden und auf dem Boden laufenden Untergebenen hatte belagern lassen. Die hatten sogar Hadesianerhunde eingesetzt, dreiköpfige, mehr als Pferdgroße Hunde aus griechischer Züchtung. Doch diese Hunde waren zu auffällig und konnten nicht von jedem gebändigt werden.
Pierre passierte auf einem per Würfelwurf bestimmten Weg um seine frühere Schule die Hexe Claudette Moureau, die bereits seit früher Kindheit die Lebens- und Kraftauren von Menschen, Tieren und anderen Lebewesen oder bezauberten Gegenständen sehen konnte. Ihre eigene Lebensaura schimmerte in einem kirschroten Licht. Pierre konnte aber auch sehen, dass Claudette nicht alleine unterwegs war. Er sah eine leicht ins Grün übergehende Leuchterscheinung auf Höhe ihres Unterbauches. Da es nicht verboten war, einander anzusprechen begrüßte er die Hexe, die offiziell in der Abteilung für Erfassung und Betreuung magischer Geschöpfe arbeitete. Sie grüßte freundlich zurück und gab die übliche Meldung, das nichts außergewöhnliches zu sehen war.
So ging er weiter und behielt die von magischen Illusionszaubern überdeckten Zuwege im Blick. Sicher, die meisten Besucher konnten über den Reisesphärenkreis anreisen. Doch einige zogen es doch vor, an einem der vier verschiedenfarbigen Tore zu apparieren und sich dem Türhütungszauber gegenüber zu erkennen zu geben.
Als Pierre am sonnengelben Südtor vorbeikam, hinter dem eine Brücke über den kleinen Fluss in Richtung Beauxbatons führte, merkte er auf. Irgendwo über ihm war was. Er blickte nach oben. Zuerst sah er nur den von grauen Wolken bevölkerten, bleichen Herbsthimmel über Beauxbatons. Doch dann erkannte er einen von blauen Lichtwirbeln gebildeten stabförmigen Gegenstand mit einer blau-silbern flimmernden Kugel in der Mitte und silbernen Leuchtbahnen am Ende. So sah ein unsichtbar machender Flugbesen Marke Bronco Harvey ab Typ 5 aus, wusste er aus vom Ministerium heimlich geförderten Unterrichtseinheiten. Irgendwer flog getarnt auf die Akademie zu. Tja, der oder die würde gleich gegen die dreifach verwobene Flugsperre knallen, die bis in eine Höhe von hundert Metern eine unsichtbare Kuppel über Beauxbatons bildete. Dann sah er sich schnell um, ob vielleicht noch am Boden wer war. Fast hätte er zu spät auf den ihm geltenden Zauber reagiert. Doch unbewusst musste er wohl noch das in der Ferne klingende Wort "Impedimenta" mitbekommen haben. Jedenfalls sprang er zur Seite weg und sah einen von blauen und roten Funken umflogenen Fächer aus violettem Licht, der einen der Bäume traf und in jenes violette Licht einschloss wie in einen Panzer aus Eis.
Pierre konnte nun eine überlebensgroß wirkende Erscheinung aus silbrig-blauem Flimmerlicht sehen, die einen besenstiellangen Zauberstab neu ausrichtete. Er zielte blitzschnell mit seinem Zauberstab in die Richtung und rief: "Stupor!" Die Erscheinung wollte ihm selbst noch was entgegenschleudern, als Pierres Zauber traf. Die Gestalt flackerte auf und fiel um. Doch sie wurde nicht enttarnt. Eher aus Intuition als aus Überlegung sprang Pierre einen Schritt nach hinten und nach links weg. Er blickte dabei nach oben. Ja, der Besenflieger hatte ihn auch bemerkt und stieß nieder. Pierre zielte auf die kugelförmige Ausbuchtung der für ihn sichtbaren Harvey-Besen. Diese Erscheinung blähte sich auf und strahlte für ihn in einem Licht, doppelt so hell wie der wolkenlose Himmel am Mittag. Der Besen schnellte mit seinem Reiter immer weiter nach oben, drehte sich um die Hoch- und dann um die Querachse, stieg weiter und weiter nach oben. Das war ein eigentlich gemeiner Trick, der nur im Fall unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben benutzt werden durfte, wusste Pierre. Aber anders als mit dem "Amplifivolans-Zauber konnte er den Sturzflug des Besens nicht früh genug kontern. Zumindest würde der Besen nicht wie eine Mondrakete ins All davonfliegen, sondern gerade mal auf die von ihm noch zu schaffende Höhe steigen, aber eben nicht vor einer halben Stunde landen können.
Pierre sah sich schnell um, ob er noch wen unbefugtes sah. Er lauschte und hörte weiter fort von ihm das Schwirren von Zaubern. Sollte er eingreifen? Noch wurde er nicht zu Hilfe gerufen. Also galt es, den von ihm betäubten Eindringling zu enttarnen und ihn genauer anzusehen.
Auf der Hut, nicht in einen vernichtenden Feuerzauber hineinzugeraten lief er auf die immer noch unsichtbare Erscheinung zu. Als er nur noch zehn Schritte davon entfernt war hob er den Zauberstab. Da knallte es neben ihm. Er erschrak so heftig, dass ihm fast der Zauberstab entfiel. "Kein Enthüllungszauber, junger Mann. Der könnte auch bei Betäubung einen Verratsunterdrückungsfluch aufwecken", sagte Claudette Moureau, die neben ihm appariert war. ""Das machen wir anders", fügte sie hinzu und zielte auf die am boden liegende, silbrigblau flimmernde Gestalt. Pierre erlebte nun mit, wie der Incapsovulus-Zauber wirkte. Die scheinbar überlebensgroße Erscheinung schrumpfte zu einer erst blauweiß und dann ohne Schimmern aushärtenden Schale, die gerade so groß war, um einen erwachsenen Menschen völlig einzuschließen. Dann leuchtete die Schale auf einmal himmelblau auf und hüpfte wie ein auf glühenden Kohlen herumspringender Frosch auf und ab. Dann plumpste das eiförmige Gebilde auf den Boden und kullerte noch zwei Meter weiter. Das blaue Licht erlosch.
"War das Schmelzfeuer?" fragte Pierre. Claudette Moureau nickte bestätigend. Dann hob sie die Einschließung wieder auf. Zum Vorschein kam eine Frau in einem stumpfgrauen Umhang. Als sie frei zu sehen war konnten Pierre und Claudette die rosarote pulsierende Leuchterscheinung erkennen, die Kopf und Brustkorb umgab. Ansonsten umhüllte sie ein eher königsblauer Lichtschein.
"Da haben wir doch eine von denen", sagte Claudette. "Im Moment dürfte keine Gefahr mehr von ihr ausgehen, solange sie betäubt bleibt", sagte sie. "Öhm, den Besen da oben haben Sie wohl auf dem Gewissen, wie?" fragte sie noch. Er bejahte es. "In Ordnung, Sie besorgen den Abtransport ihres Fanges. Ich setze den Rundgang fort." Pierre wollte es bestätigen, da disapparierte die Kollegin auch schon wieder. "Öhm, darf die das mit dem Baby im Bauch?" fragte er eher sich als wen anderen. Er hatte immerhin gelernt, dass die für eine werdende Mutter zuständige Heilerin das Apparieren ab dem zweiten oder dritten Monat bis nach der Geburt verbieten konnte und bei Verstoß gegen dieses Verbot Strafanträge wegen magischer Gefährdung schutzbefohlenen Lebens stellen konnte. Doch das war nicht seine Baustelle. Er musste den Einsatzleiter der Sektion Beauxbatons verständigen und dann auch mit Madame Faucon sprechen.
Als die betäubte Hexe von drei Sicherheitszauberern abgeholt und fortgeschafft worden war vollendete Pierre seinen Rundgang. Dann meldete er sich per Schallverpflanzungsdose bei Madame Faucon. Ihre Stimme antwortete:
"Sie sind jetzt schon der dritte, der einen mit der Aura der Feuerrose umhüllten Eindringling meldet. Damit steht fest, dass Ladonna es wahrhaftig auf die Schule abgesehen hat, aber nur einzelne Untergebene ausgesandt hat. Bitte bleiben Sie weiter auf Ihrem Posten, Monsieur Marceau!" Pierre bestätigte das.
Nachdem sie noch den auf dem Besen fliegenden bei einem neuerlichen Landeversuch betäuben konnten und ebenfalls durch zeitweilige Einschließung vor dem Ausbruch des Schmelzfeuers bewahren konnten rückte niemand mehr nach. Die Betäubten wurden an einen Pierre und den Anderen nicht mitgeteilten Ort geschafft. Was dort weiter mit ihnen geschehen sollte erfuhr er auch nicht. Zumindest würden sie keinen der Gefangenen töten, soviel hatten ihm Monsieur Chevallier und Madame Grandchapeau zugesichert.
So konnte er im guten Gewissen, gefährliche Eindringlinge sicher auf Abstand zu halten seinen geheimen Patrouillendienst für Beauxbatons und das Zaubereiministerium fortsetzen.
Als Julius in seinem Büro die Korrespondenz mit Léto und ihren Verwandten durchging empfing er Létos Gedankenstimme. "Julius, Arcadis Leute sind aus dem Bann Ladonnas gelöst worden. Offenbar hat jemand doch noch die geheimen Versammlungsstellen gefunden und unsere goldenen Lichter der Befreiung dort entzündet."
"Wie?!" schickte Julius zurück. "Das habe ich von Sonnenkuss und Morgenröte, also meiner Schwester. Die haben die Woge unserer Kraft mitbekommen, die über Russland und die Ukraine hinweggegangen ist. Das wird Ladonna sicher nicht lange unbeantwortet lassen."
"Unsere Leute haben seit Monaten nach diesen geheimen Verwaltungszentren gesucht. Die Russen haben ihre Mitbürger nur noch über räumliche Bilddarstellungen und Eulenpost verwaltet, weil die eben nicht wollten, dass denen die goldenen Lichter aufgehen. Wer also hat das hinbekommen?"
"Das wissen wir nicht. Kann sein, dass ihr das von wem anderen erfahrt. Sicher ist nur, dass wir solange weiter versteckt bleiben, bis sicher ist, dass Ladonna keine weiteren Angriffe mehr gegen uns unternehmen kann", gedankensprach Léto. Julius bestätigte das.
Nur zehn Minuten später wurde er von Nathalie Grandchapeau in ihr Büro gerufen. Dort traf er auch die Zaubereiministerin selbst an.
"Da Sie der Veelabeauftragte von uns sind und auch mit anderen Veelastämmigen in Europa zu tun haben möchte ich ihnen zunächst unter Vertraulichkeitsstufe C5 mitteilen, dass es inoffiziellen Mitarbeiterinnen des griechischen Zaubereiministeriums gelang, die Standorte der geheimen Verwaltungszentren des russischen Zaubereiministeriums ausfindig zu machen und nach Prüfung der Besatzungsstärke die von den Veelas angefertigten Goldlichtkerzen dort zu entzünden. Ich erfuhr das sozusagen über Direktverbindung zu meinem Amtskollegen in Athen", berichtete die Ministerin. Julius sah sie und Nathalie sehr konzentriert an. "Heißt das, dass die russischen und ukrainischen Veelas jetzt außer Gefahr sind?" fragte er. "Das mag sein. Aber sicher ist es nicht. Denn noch wissen wir nicht, wo die Geheimverstecke des bulgarischen, rumänischen und türkischen Zaubereiministeriums zu finden sind. Ladonna kann und wird wohl ihre dort tätigen Unterworfenen dazu anstiften, weiterhin Jagd auf Veelas und ihre Nachkommen zu machen", erwiderte die Ministerin.
"Ja, aber die Russen haben diese Veelavernichtungswaffe ausprobiert. Aber die werden sicher erst mal damit zu tun haben, sich wieder klarzukriegen", sagte Julius. Er erinnerte daran, dass es in der Schweiz, Deutschland und Österreich beinahe zwei Tage gedauert hatte, bis die befreiten Ministerien wieder ihre übliche Arbeit erledigen konnten und dass dort immer noch nach Verbündeten Ladonnas gesucht wurde.
"Sie dürfen Madame Léto, nur sofern die es nicht schon viel viel früher als ich erfahren haben sollte mitteilen, dass wir auch weiterhin darauf hinwirken, alle für ihre Verwandten wichtigen Ministerien aus Ladonnas Abhängigkeit zu befreien, damit sie wieder ihr gewohntes Leben führen können", sagte die Zaubereiministerin. Nathalie Grandchapeau fügte dem hinzu: "Ladonna wird jetzt mit allem um sich schlagen was sie noch zur Verfügung hat, Monsieur Latierre. Da sie weiß, dass wir nur mit Hilfe der Veelastämmigen gegen sie bestehen könnte sie gegen alle die vorgehen, die mit Veelas verwandt sind oder mit diesen friedlich unterhandeln. Dabei wird es ihr nicht mehr darum gehen, sie unter ihren Bann zu zwingen, sondern sie gleich zu töten, Monsieur Latierre. Gut, das dürfte Ihnen nicht neu sein. Ich muss Sie nur als Ihre direkte Vorgesetzte darauf hinweisen, dass es nur noch drei Orte gibt, an denen Sie völlig sicher sein dürften, Ihr Wohnsitz in Millemerveilles, die Ansiedlung da selbst und ein mit Sanctuafugium umfriedetes Haus wie der Stammsitz ihrer Schwiegerfamilie. Wir können Ihnen auch Personenschutz zur Verfügung stellen. Doch das trägt die Gefahr in sich, dass Sie diesen Mitarbeitern in einer es erzwingenden Lage vorführen müssten, welche machtvollen Zauber Sie erlernt haben. Besteht Ihrerseits die Möglichkeit, auch von Millemerveilles aus mit Léto und den anderen französischen Veelastämmigen zu sprechen?"
"Solange ich die nicht bei mir nach Hause vorlade kann ich ein schalldichtes Zelt in der Nähe des sowieso schon da untergebrachten Rechnerzeltes nutzen", sagte Julius. "Aber Sie beide sind doch auch in Gefahr und Monsieur Delacour, Monsieur Marceau und alle anderen, die mit Veelastämmigen zu tun haben."
"Monsieur Marceau wurde von Monsieur Chevallier und Madame Faucon für eine Sonderaufgabe ausgeliehen. Welche das ist unterliegt einer hohen Geheimhaltungsstufe", sagte Nathalie. "Außerdem haben wir nach den Vorschlägen seines Schwippschwagers Bill Weasley erweiterte Sicherheitsvorkehrungen um sein Haus einrichten lassen. Dasselbe gilt für das Anwesen der Familie Delacour. Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Monsieur Latierre."
"Es kann aber auch sein, dass die russischen Kollegen, wenn sie wirklich wieder frei von Ladonnas Einfluss sind, weiterreichen, wo sich die noch unterjochten anderen Ministeriumsmitarbeiter verstecken", erwiderte Julius. "Aber das erachte ich doch eher als sehr unwahrscheinlich, weil Ladonna sicher nach der Aktion in der Schweiz noch paranoider geworden ist und die ihr unterworfenen Minister dazu aufgefordert hat, keinem ausländischen Amtskollegen zu verraten, wo sich die wichtigsten Personen aufhalten, falls auch anderswo die goldene Kerzenflamme aufleuchtet." Ornelle Ventvit und Nathalie Grandchapeau nickten beipflichtend. Julius fragte sich selbst, ob Ladonna bald im Schachmatt stand oder ob sie nicht noch was ganz gemeines aus dem Ärmel zog, um ihren Machtverlust wieder wettzumachen.
Nach der Morgenkonferenz, in der es auch darum ging, dass die letzten Teilnehmer am Erstürmungsversuch des Ministeriums noch vor Weihnachten ihre Urteile erhalten würden, durfte Julius nach Millemerveilles zurückkehren, wo er erst einmal bis zum Neujahrstag 2007 weiterarbeiten sollte.
Als er nachmittags ins Apfelhaus zurückkehrte präsentierten ihm Claudine und Miriam kleine blaue Papierflugzeuge mit einer gelben Aufschrift.
Das musst du nun machen! Bau 1000 gleiche wie mich, schreib darauf was du gerade liest und gib jeden Nachbau an jemanden weiter, den du kennst oder triffst!
AUSFÜHRUNG OHNE PAUSE!
"Öhm, häh?!" machte Julius. "Das hat Mademoiselle Hellersdorf uns heute im Unterricht gemacht, weil ich die gefragt habe, wieso Leute Schnupfen, Grippe oder Drachenpocken kriegen können", sagte Miriam. "Da hat die uns diese Flügeldinger hier hingereicht und gesagt, dass wir sie noch mal fragen sollen, wenn wir das gemacht haben, was draufsteht."
"Achso, und ich soll das jetzt auch machen, nur noch so Papierflieger bauen und die an jemanden weitergeben, den ich zufällig oder ganz absichtlich treffe?" fragte Julius grinsend. "Die Miriam wollte nicht glauben, dass so'n winziges Teil wie ein Virus mal eben machen kann, dass tausend andere Leute es abbekommen", sagte Claudine. "Dabei wird das in "Es war einmal ... Das Leben" genau erklärt.
"Was immer das für ein Buch sein soll, Claudine. Das ist jetztunsere Hausaufgabe, sagt Mademoiselle Hellersdorf."
"Ich glaube ehrlich nicht, dass die euch das aufgegeben hat, nur noch tausend Papierflugzeuge mit der Anweisung drauf zu bauen, tausend Papierflugzeuge zu bauen und die unschuldigen Leuten in die Hand zu drücken", sagte Julius grinsend. "Nein, hat die auch so nicht gesagt. Sie meinte nur, dass wir sie nur dann noch mal fragen sollten, wie das möglich ist, wie sich Schnupfenvirusse und die von Grippe und Drachenpocken so schnell weitervermehren."
"wie viel musst du noch, junge Schwägerin?" fragte Julius. "Öhm, ich habe schon dreißig gebaut und bemalt. Ich habe auch Aurore gezeigt, wie das geht, weil die ja schon große Buchstaben schreiben kann. Dann habe ich noch, öhm - Wie viel sind tausend weniger dreißig?"
"Neunhundertsiebzig", trällerte Claudine. "Ich habe aber nur zwanzig gebaut", sagte sie. "Die schenke ich Maman, Papa, Babette und ihren Quidditchkameraden", sagte sie noch.
"Dann bist du ein Antikörper, der macht, dass sich die blauen Flieger mit gelber Schrift nicht einfach so überall ausbreiten", sagte Julius. "Was ist denn ein Antokörper?" wollte Miriam wissen. Da kam Béatrice herein. Miriam warf ihr schnell einen von ihr gebauten blauen Papierflieger zu. "Behalte deine Papierviren bei dir, Miriam. Ich habe schon von Hera zwei bekommen, und deine Ma hast du offenbar auch schon damit beehrt", lachte Béatrice. "Ach ja, und was ein Antikörper ist darf euch Pflegehelfer Julius Latierre erklären. Ich muss zu Madame Bouvier und Mademoiselle Uranie Dusoleil, weil dieses blaue Virus auch schon bei ihnen ausgebrochen ist."
"Halt mal, Laur.., öhm, Mademoiselle Hellersdorf hat die Dinger doch nicht etwa mit einem Ausführungsfluch belegt", erschrak Julius. "Oha, dann hätten Madame Matine und ich sie schon längst zum Putz- und Wickeldienst in der Säuglingsabteilung der Delourdesklinik verdonnert, Julius. Nein, hat sie nicht. Aber wenn die von ihr unterrichteten Kinder meinen, dass das einerseits Spaß macht, so viele von den Dingern zu bauen und dass das eine Hausaufgabe ist, die sie locker erledigen können, um gute Noten zu kriegen brauchst du keinen Ausführungszwangfluch mehr."
"Oha, öhm, hoffentlich kriegt Mademoiselle Hellersdorf deshalb keinen Krach mit Madame Dumas und mit euch von der Heilerzunft."
"Wie erwähnt, wenn wir das klären, dass es eben nur ein Erklärungsbeispiel ist und kein Auftrag, wirklich diese blauen Dinger in tausendfacher Kopie nachzubauen."
"Ja, wozu soll das dann gut sein, Tante Béatrice?" wollte Miriam wissen. "Hast du nicht zugehört, Miriam? Das soll nur erklären, wie das mit Schnupfen, der Grippe und anderen fiesen Krankheiten läuft", erwiderte Béatrice. "Ich muss zugeben, dass die Idee was für sich hat, das so zu veranschaulichen. Aber Miriam wollte noch was wegen Antikörpern wissen."
"Also, das ist so, dass bei gefährlichen Sachen im Körper eine Art Körperschutzpolizei anfängt, was dagegen zu machen ..." fing Julius an und zerknüllte den Papierflieger, den Miriam ihm gegeben hatte. Er erwähnte dann, dass ein Antikörper ein genau auf einen bestimmten Krankheitserreger abgestimmtes Gebilde war, das wie ein Handschuh die Hand das gefährliche Virus oder Bakterium umschloss um es unwirksam zu machen. Claudine grinste und zerknüllte die vor ihr auf dem Tisch liegenden Papierflieger. "Ey, da habe ich 'ne ganze Stunde dran gebaut", beschwerte sich Miriam.
"Ja, und darum geht's, nicht nur, dass die ganzen Kopien weitergereicht werden, sondern dass du nichts anderes mehr machen sollst, als neue davon zu machen und weiterzugeben und deshalb das, was sonst wichtig ist nicht mehr machen kannst", sagte Julius. Claudine meinte noch, dass es in den echten Körperzellen sogar noch gemeiner sei, weil die die Nachbauviren in sich drin ausbrüteten und irgendwann so voll damit waren, dass sie auseinanderplatzten. Erst dann würden die ganzen Viruskopien weiterschwirren und neue Zellen suchen, die sie dazu bringen konnten, nur noch Kopien von ihnen auszubrüten.
"Ja, das ist das, wo sich Biologen, also Leute, die sich mit allem Lebendigen befassen und Heiler immer wieder in die Haare kriegen, ob so ein Virus ein eigenständiges Lebewesen ist oder nicht. Die Biologen sagen nein, weil es nicht alleine laufen, Luft holen, essen und Trinken und auch kein Pipi oder Kacka machen kann. Viele nichtmagischen Heiler sagen, dass Viren doch Lebewesen sind, weil sie sich ja irgendwie vermehren können, nicht wie ein übliches Gift, das nur so stark wirkt, wie es davon in einen Körper schafft."
"Ja, aber die magischen Heiler haben das mit den Viren so nie richtig rausgefunden. Die haben irgendwann den Keimbanntrank hingekriegt und damit alles plattgemacht, was krank macht, ohne zu wissen warum", warf Claudine ein.
"Hat dir wer gesagt?" fragte Béatrice nun nicht so erheitert. "Maman hat das mir so gesagt, dass ihr das Tante Hera so erzählt hat, als ich noch in Mamans Bauch gewesen bin", erwiderte Claudine.
"Gut, dann geschieht es der respektablen Madame Matine mal ganz recht, dass eine Flut blauer Papierflieger durch Millemerveilles schwirrt", grinste Béatrice. "Ja, und es ist leider richtig, dass in dem Moment, wo was wirksames er- oder gefunden wurde, nicht länger weitergeforscht wurde, warum es so wirkt wie es soll und der Keimbanntrank schon seit mehr als tausend Jahren bekannt ist und die Heilhexen und Zauberer damit sogar die großen Pestepidemien überstanden haben."
"Was ist eine Pedimedie?" fragte Miriam. Claudine lachte glockenhell. Julius erklärte, dass damit die Ausbreitung einer Ansteckungskrankheit über mehrere hundert oder tausend Leute hinaus gemeint war, also etwas, was das Volk, Griechisch Demos, betraf. Béatrice nickte. Millie notierte gerade was.
"Ja, und seit einigen Jahrzehnten, wo supertolle Vergrößerungsgläser gemacht werden können, kriegen es die Heiler auch zu sehen, wie so Krankheitserreger aussehen und wie die in wen wie dich oder mich reingeraten und da ihr fieses Ding machen können", sagte Julius.
"Gut, ich sammel mal alle nicht mehr benötigten blauen Papierflieger ein und bringe denen, die sie zusammenbasteln bei, dass sie deshalb nicht schlechter benotet werden, wenn sie keine Kopien mehr von denen machen", sagte Béatrice und verließ die Wohnküche der Latierres.
Da zumindest Claudine und Miriam erkannt hatten, dass es doch besser war, zu essen, statt nur noch Papierflieger zu bauen und die irgendwem anzudrehen konnten die Latierres wie üblich mit ihren Gästen aus Paris zusammen Abend essen. Danach durften Claudine und Miriam noch eine Stunde bei den Latierres im Apfelhaus bleiben. Claudine baute noch vier Papierflieger, die sie nach Gloucester zu ihren Großeltern schicken wollte, um zu testen, ob die darauf einstiegen. "Freches Mädchen", grinste Julius. Dann sagte er: "Dann wirst du lernen, was mit Immunität also natürlichem oder vorsorglich gemachtem Schutz gemeint ist. Denn dein Opa James kann soweit ich weiß kein Französisch lesen oder schreiben, ist also gegen das blaue Hellersdorf-Papiermakrovirus immun."
"O, danke, muss ich das auf Englisch schreiben", sagte Claudine verschmitzt grinsend. "Ja, dann hast du aber eine Mutation gemacht, nicht die Originalvorlage nachgebaut, sondern eine Veränderte Ausgabe in die Welt gesetzt. Wäre genauso, als wenn deine Maman ein Baby mit grünen Haaren bekäme."
"Oder Babette", meinte Claudine. Julius konnte es gerade noch vermeiden sie zu fragen, wieso sie das gesagt hatte. Am Ende plauderte Claudine noch was aus, was Babette ihr im schwesterlichen Vertrauen zugeflüstert hatte. So sagte er nur: "Also, der Kamin ist klar. Komm gut nach Hause und ärgere die anderen nicht, die dich alle lieb haben!" Claudine wünschte ihm auch noch einen guten Abend. Dann fauchte sie im smaragdgrünen Flohpulverfeuer aus dem Apfelhaus hinaus in Richtung Paris.
"Und deine Direktrice hat dir das erlaubt, den Kleinen sowas beizubringen?" fragte Louiselle, als sie mit Laurentine aus blauen Papierblättern schnuckelige kleine Papierflieger faltete und die dann mit gelben Bundstiften beschriftete. "Als deine Tante Hera gemeint hat, sie sei es leid, andauernd den Kindern erklären zu müssen, dass sie ihre Triefnasen nicht mit bloßen Händen abwischen und damit andere Leute anfassen sollten habe ich die gefragt, ob sie denen erzählen wollte, wie ein Virus geht. Da meinte die glatt, dass das in der Pflegehelferausbildung oder der vollständigen Heilerausbildung dran sei und wenn ich wollte, dass "meine Kinder" das schon jetzt lernten ich denen das irgendwie erklären könne."
"Was du ganz genial hingekriegt hast, Laurentine", sagte Louiselle. Dann hörten sie von unten Joes genervte Stimme: "Claudine, ist gut jetzt! Ich hab's kapiert mit diesen mistigen blauen Fliegern."
"Du hast sie provoziert, Joseph Brickston", erwiderte Catherine ebenfalls sichtlich genervt. "Du hast ihr gesagt, dass sie das mit den tausend Kopien eh nicht durchzieht."
"Sag das unserer Hauptmieterin da oben, dass die das Claudine wieder ausreden möchte."
"Genau neunzig!" trällerte Claudine laut durch das Haus.
"Ja, dann fehlen nur noch neunhundertzehn", grinste Louiselle. "ich fürchte, das wird doch ein Selbstläufer. Aber die gute Hera ist das selbst schuld, was musste die mich provozieren", sagte Laurentine.
"Gut, dass die uns beide und Lucine noch braucht", mentiloquierte Louiselle. "Spätestens übermorgen denke ich, dass der Spuk vorbei ist. Dann haben es alle kapiert, und wir zwei können uns darauf vorbereiten, wie wir das Erbe von Domenica suchen und richtig benutzen können."Es klopfte an die Wohnungstür. Louiselle zwinkerte Laurentine zu. Diese stand auf und war in drei Sekunden an der Tür. "Ja, hallo Joe. Will eure Tochter noch nicht schlafen?" fragte sie verwegen grinsend, als sie Joe mit einem großen Stapel blauer Papierflieger in den Armen vor der Tür sah.
"Bitte widerruf diesen Unfug morgen wieder. Claudine hat's eh längst kapiert, was du ihr und den anderen erklären wolltest. Ach ja, die sind für euch beide, falls ihr heute Nacht nichts anderes vorhabt."
"Ach ja, und was sollen wir damit? Wir haben doch schon selbst fünfzig davon nachgebaut, weil Louiselle wissen wollte, wie jemand ohne Zauberkraft aus blauem Papier und mit gelben Buntstiften so Dinger hinkriegt."
"Dann fehlen ihr ja noch neunhundert plus von den Dingern", knurrte Joe. "Hier, die dürft ihr zu Confetti für deine Yankeeverwandten zerbröseln. Ich brauche keine blauen Papierflieger mit gelber Aufschrift. "Einhundert!" rief Claudine. "Ich geh jetzt ins Bett! Nacht Papa, Nacht Laurentine und Louiselle, Nacht Lucine!" rief Claudine aus dem Hausflur.
"Super, jetzt hat sie Justin wohl auch wachgemacht", knurrte Joe. "Stimmt, der kann auch noch ein paar Flieger bauen", meinte Louiselle, die züchtig verhüllt mit drei gerade gefalteten Papierfliegern aus dem Wohnzimmer trat. "Könnte mir vorstellen, dass jemand schon längst so'n Programm für Microsoft-Rechner verbrochen hat, dass nur noch blaue Papierflieger über den Bildschirm fliegen lässt", grummelte Joe und ließ die mitgebrachten Papierflieger einfach in Laurentines Flur zu Boden fallen. "Nacht ihr zwei", grummelte er und zog die Tür von außen zu.
"Na, morgen oder übermorgen?" fragte Louiselle. Laurentine überlegte, ob sie nicht schon morgen die Papierfliegerepidemie beenden sollte.
"Gut, dass mir Nathalie aufgetragen hat, nur noch von hier aus zu arbeiten. Will nicht wissen, ob nicht morgen im Ministerium auch der eine oder andere blaue Flieger herumschwirrt", meinte Julius zu seinen Mitbewohnerinnen.
"Stimmt, Julius. Ein Scherzbold von den ehemaligen Blauen könnte finden, dass das vor Weihnachten noch die geniale Idee ist, die Memoflieger alle blau umzufärben und zum ständigen Nachbau aufzufordern", meinte Béatrice.
Sie fühlte großen Durst, Kälte und Angst. Wie aus heiterem Himmel war es über sie gekommen und hatte sie mit schmerzhaften Versengungen in der Kopfhaut und todesqualähnlichen Schmerzn im Unterleib niedergeworfen. Sie hatte noch gesehen, wie ihr Rubinrosenring einen schwirrenden Strahl aus aberhundert rubinroten Blitzen in Decke und Wände geschossen hatte, dann war ihr, als wenn kochendheiße Flutwellen sie aus ihrem Körper rissenund in jenen dunkelgrünen Strudel sogen, an dessen Ende jenes unheilvoll leuchtende Licht glomm. Sie hörte aus dem Tosen der sie mitreißenden Kraft die verlockende Stimme ihrer verstorbenen Schwester heraus. "So leg ab dein Bangen und auch dein Verlangen. geselle dich aufrecht zu mir. Komm lass uns behüten, die hierher gerieten in ewiger Wachsamkeit hier."
Sie schrie vor Wut und Angst. Dann hörte sie noch Ginellas Stimme: "Nun weil die Dritte Tochter in der Welt, gibt's nichts mehr wohl, was dich dort hält."
Ladonna stemmte sich gegen die sie mitreißenden Fluten aus heißem, golden und rot flimmernden Etwas. Sie sah, wie ihre aus sich heraus blaugrün leuchtende Schwester ihre Arme ausbreitete und im Verhältnis zur hellen Tunnelöffnung immer größer wurde, als wolle sie den Ausgang vollständig ausfüllen. Da ließen die sengenden Wogen nach. Ladonna warf sich herum und rannte los. Sie konzentrierte sich auf ihren Ring, den sie auf mehr als dreißigfache Größe aufgebläht am gegenüberliegenden Tunnelende sah. Die kreisende Wand glühte hell auf und drehte sich immer schneller. Es entstand wieder ein Sog richtung Ginella. Ladonna hörte ihre Schwester ausrufen: "Gib es endlich auf, Donnina. Wir zwei gehören zusammen. Wir zwei werden eins sein!!" Die Stimme der verstorbenen Schwester klang unheimlich laut und nahe und hallte durch den ganzen kreisenden Tunnel.
Ladonna fühlte, wie jemand ihr hinterhereilte. Doch sie wagte nicht, sich umzusehen, aus Angst, dann wahrhaftig am Ende zu sein. So hatte sie nur Augen für den ebenfalls rotierenden Ring. Die zwei rosenförmigen Rubine leuchteten ihr entgegen. Sie meinte, ihr eigenes Gesicht in jedem der beiden Steine aufleuchten zu sehen. Dann fühlte sie den Sog zu ihrem Ende des Tunnels. Ginellas Rufe gingen in einen wütenden Aufschrei über: "Nein, du bleibst bei mir!" Doch es trieb die Rosenkönigin erst recht in Richtung ihres eigenen Tunnelausganges. Sie warf sich laut jauchzend hinein in den immer schneller wirbelnden goldenen Kreis. Ihr Freudenschrei übertönte den Wutschrei ihrer zur geisterhaften Wächterin gewordenen Schwester. Sie fühlte, wie sie durch einen Vorhang aus Feuer und kaltem Wasser gerissen wurde. Dann verließen sie ihre Sinne.
Nun war sie wieder wach. Der Ring an ihrer linken Hand pochte im Takt ihres Herzens. Sie meinte erst, dass der auf der Schwelle zum Totenreich lauernde Geist ihrer Schwester die Reise in ihre Welt mitgemacht hatte. Doch als sie einige Minuten lang bangend auf dem Boden gelegen hatte wusste sie, dass sie allein war. Sie wusste auch, dass ihr Ring sie in die Welt zurückgeholt hatte. Die zwei ausgelagerten, eigenständigen Bruchstücke ihrer Seele gaben ihr den Halt in dieser Welt und vor allem in ihrem angeborenen Körper. Doch wenn stimmte, was die blaugrün leuchtende Erscheinung Ginellas immer wieder sang musste es irgendwo auf diesem nicht mehr ganz so übersichtlichen Erdenball eine Tochter zweier Mütter geben, die demnächst oder in etlichen Jahren gegen sie aufbegehren und obsiegen konnte. Nein, sie war gekommen um zu bleiben. Sie würde Domenicas Traum von der alle Hexen und Zauberer beherrschenden Königin wahrmachen. Falls es diese dritte Tochter gab, so war diese ja erst geboren worden. Ihre treuen Rosenschwestern würden sie finden. Dann würde sie, Ladonna Montefiori, die einzig wahre Regina Magarum, dieses von zwei Hexen hervorgebrachte Balg töten und all die Kraft, die es enthalten mochte, in sich selbst aufnehmen.
Aus der Angst, die sie beim Aufwachen gepeinigt hatte, war nun wieder wilde Entschlossenheit geworden. Doch eine kleine Unsicherheit blieb. Diese Sie zurückwerfende Woge Zauberkraft bedeutete, dass wieder welche von den Unterworfenen Hexen und Zauberern durch den widerlichen Veelazauber aus der Verbundenheit herausgerissen worden waren. Es galt herauszufinden, wer das war. Sie hoffte sehr innig, dass es nur die Nordafrikaner waren, die zu sorglos mit ihren Unterredungsstätten umgegangen waren.
Sie prüfte ihre Statthalter. Arcadi war ja von ihr selbst getötet worden, als dieser von diesen Götzinnenanbetern aus Griechenland gestellt worden war. Doch als sie auch keine Verbindung zu anderen wichtigen Ministeriumszauberern aus Russland knüpfen konnte wusste sie, dass es diesen widerwärtigen Weibern aus Thessallien, Sparta und Athen gelungen sein musste, sie alle an einem Ort zusammenzutreiben oder, was leider nicht auszuschließen war, die Angaben über die Verstecke aus anderen gefangenen Ministeriumszauberern herauszufoltern, noch bevor sie Ladonnas letzten Willen erfüllen und sterben konnten. Jedenfalls wusste sie nun, dass ihr Vorhaben, eine Massenvernichtungswaffe gegen Veelas zu fertigen, größtenteils undurchführbar geworden war. Sicher, sie konnte nun ihre noch treuen Ministeriumszauberer und -hexen dazu drängen, diese Waffe nach den von ihr gegebenen Anregungen zu bauen und zu versuchen, sie in Frankreich einzusetzen. Doch die Russen hatten die dafür nötigen Proben von Veelablut und Veelahaar gehabt.
Um allenihren Getreuen zu zeigen, dass sie immer noch lebte befahl sie denen, die ihr noch gehorchten, alle Handelsbeziehungen zu den von ihr als verloren zu sehenden Ländern aufzugeben und zugleich nach möglichen Agenten der sogenannten freien Ministerien zu suchen, die versuchen wollten, diese widerlichen Gegenzauber der Veelas in die geheimen Besprechungszimmer zu schmuggeln, um ihr diese Ministerien zu entreißen. Zugleich beauftragte sie auch die Ministeriumsangehörigen, die ihr noch folgten, nach einer Hexe zu suchen, die vor nicht länger als einem halben Jahr zur Welt gekommen war und bei der es merkwürdige Angaben über die Eltern gab. Dabei sollte es gleich sein, ob jene neugeborene Hexe in ihrem Machtbereich zur Welt kam oder im Feindesland. Natürlich war die im Feindesland geboren worden. Denn sonst hätten die ihr bis heute gehorchenden Ministerien längst gemeldet, dass es außer ihr noch eine Hexe gab, die zwei Mütter besaß.
Sie würde in Auftrag geben, die Voranmeldevorrichtungen der europäischen Zauberer- und Hexenschulen zu überprüfen. Denn sicher mochten die eine künftige Schülerin, die statt Vater und Mutter zwei Mütter hatte erfassen. Wenn es eine Italienerin wäre hätte ihr Statthalter Barbanera ihr das sicher längst mitgeteilt, auch wenn die Lehrerinnen und Lehrer der Academia artium magicarum Gattiverdi noch nicht ihrem Feuerrosenzauber unterworfen worden waren, weil sie zurecht annahm, dass es wirksame Aussperrzauber gegen stark verfluchte Wesen gab. Es würde sicher etwas dauern, bis sie Zugriff auf die anderen Voranmeldungen bekam.
Nur hier im Haus Luigis oder ihrer Versammlungshöhle war sie vor Feindinnen und Feinden sicher genug, um weiterzuherrschen. Aber was für eine Königin war sie, eine Königin in einem Kerker, nur dazu fähig, Botschaften an ihre Untertanen zu versenden und die ihr treuen in ihrem Auftrag handeln zu lassen. Ja, das mit der dritten Tochter musste so bald wie möglich bereinigt werden, damit sie wieder frei umherreisen und mit eigener Kraft und eigenem Augenschein walten konnte.
Laurentine hatte sich gleich zu Beginn des Schultages vor alle bei ihr lernenden Mädchenund Jungen hingestellt und verkündet, dass es nicht mehr nötig war, weitere blaue Papierflieger zu falten, da das, was sie damit erklären wollte, von allen verstanden worden war. Dabei erfuhr sie, dass es schon so weit voranschritt, dass die Mädchen und Jungen aus den Klassen zwei bis fünf einen regelrechten Wettbewerb daraus machten, wer ganz ohne Zauberei mehr als fünfhundert Nachbildungen hinbekam. Das dafür viel blaues Papier und gelbe Schreibstifte gebraucht wurden blieb nicht aus. So blieb Direktrice Dumas und ihren Kolleginnen und Kollegen nichts anderes, als alles blaue Papier und alle für Kinder der Vorschlule und der ersten Klassen gedachten Buntstifte einzukassieren. Direktrice Dumas sagte kurz vor dem Schultagesende: "Ich verstehe, dass es euch richtig viel Spaß gemacht hat, euch gegenseitig zu überbieten. Aber genau das ist ja, was so ein Erkältungs- oder Grippevirus anrichtet, alles wichtige zu stören und alle sonst für Leben und Gesundheit wichtigen Stoffe aufzubrauchen, nur um sich weiterverbreiten zu lassen. Ich muss gestehen, dass es tatsächlich sehr einprägsam war, es auf diese Weise erklärt zu bekommen. Dafür danke ich Mademoiselle Hellersdorf. Aber ab morgen macht ihr bitte wieder das, was ihr in den Unterrichtsstunden zu malen, zu basteln und zu schreiben aufbekommt. Sonst müssten wir wohl ganz stark darüber nachdenken, ob wir euch nicht alle durch die Bank hinweg unterhalb von Befriedigend benoten müssen, weil ihr nur noch blaue Papierflugdinger machen wollt. Ich hoffe, das ist bei jeder und jedem angekommen und muss nicht noch mal laut gesagt werden. Denn wenn ich das noch mal laut sagen muss mach ich das auch so, wie ich es gerade gesagt habe. Verstanden?" Die in mehreren Reihen aufgestellten Mädchen und Jungen erwiderten im Chor: "Ja, Madame La Directrice Dumas!"
Im Elektrozelt des Rechnerraumes hatten sich die wahrhaftigen Programmierexperten einen Bildschirmschoner ausgedacht, bei dem viele viele blaue Papierflieger über den Monitor flitzten, auf deren Rücken in Sonnengelb stand: "Warnung, jede Kollision erzeugt einen Abkömmling!"
So geschah es dann auch, dass jene blauen Flugdinger, die es nicht bis zu einem der Bildschirmränder oder durch eine der Ecken schafften und im Flug zusammenstießen kurz zu einer blau-gelben Kugel verschmolzen und dann statt nur zwei drei blaue Flieger über den Bildschirm flogen.
Julius war froh, dass ein Tastendruck oder Mausklick reichte, um "das blaue Geschwader" solange vom Bildschirm zu schubsen, bis er mehr als eine Minute lang nichts an Tastatur oder Maus machte. Gut, moderne LCD-Monitore benötigten eigentlich keinen Bildschirmschoner mehr. Da reichte es eigentlich, sie bei längerer Untätigkeit des Nutzers herunterzudunkeln. Aber irgendwie fanden Jacqueline, Primula und auch Julius es witzig, Laurentines Papiermakrovirus auch in digitaler Form nachzubauen. Dabei konnten sie auch gleich testen, ob sie selbst einfache Antivirenwerkzeuge programmieren konnten.
Gegen Mittag traf eine Posteule aus Paris ein. Nathalie Grandchapeau erwähnte, dass auch im Hauptgebäude des Zaubereiministeriums jene blauen Flieger aufgetaucht waren und sie einige ihrer Mitarbeiter dabei ertappt habe, wie sie in den Wartepausen mit und ohne Zauberkraft Abkömmlinge davon herstellten. Julius durfte antworten und schrieb, dass diese blauen Papierobjekte die greifbare Erklärung für die Ausbreitungsweise von Krankheitserregern war, die nicht aus eigenständig lebenden Zellen bestanden.
Als Julius nach dem Arbeitstag wieder ins Apfelhaus zurückkehrte traf er auf Heiler Champverd, dem gerade dienst tuenden Residenzheiler des Ministeriums. "Ihnen ist dieses Objekt bekannt, wie ich vorhin von der Kollegin Latierre erfuhr", meinte Heiler Cahmpverd mit verschmitztem Grinsen und präsentierte einen der blauen Papierflieger mit gelber Aufschrift. Julius bejahte es. "Ich musste durch alle Abteilungen gehen und an die zweihundert Nachbildungen davon einsammeln. Einige Scherzbolde haben in der Kantine einen Wettbewerb ausgelobt, wer bis zur Weihnachtsfeier am 20. Dezember die meisten blauen Flügeldinger hergestellt und weitergegeben hat. Öhm, ich hörte sowas, dass es ein für Grundschüler entwickeltes Erklärungsmodell für Krankheitsausbreitungen sei. Ich fürchte nur, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten wird das selbst zur Krankheit."
"Sie brauchen denen doch nur die blauen Papier- und Pergamentvorräte wegnehmen, oder auszuhängen, dass die Anfertigung zum Kopieren auffordernder Papierflieger auf Heileranweisung und Befehl der Ministerin selbst verboten sei", sagte Julius.
"Ich werde die Verbreitungswege noch ein wenig verfolgen. Sollte das in den nächsten beiden Tagen nicht wieder nachlassen muss ich wohl sowas verkünden, auch wenn es an und für sich lächerlich ist", sagte Heiler Champverd.
"Verbreitungswege? Prüfen Sie besser erst, wer die ersten Patientinnen und Patienten waren", sagte Julius. "Das ist schon bekannt. Ich werde das aber nicht aufschreiben, allein schon um mein wertvolles Schreibmaterial zu schonen."
"Das sehe ich ein", meinte Julius dazu und dachte, dass Champverd froh sein konnte, dass keiner die Tribbles aus dem Star-Trek-Universum ins Ministerium eingeschmuggelt hatte.
Claudine erzählte dem Miministeriumseigenen Heiler noch, dass Mademoiselle Hellersdorf und die Schuldirektrice verboten hatten, die blauen Fliger weiterzubauen. Julius erwähnte, dass es in Japan eine Tradition gab, mit Hilfe der Origamitechnik eintausend Papierkraniche für einen geliebten Menschen zu falten, um ihm lebenslanges Glück zu verschaffen. Darauf meinte der Heiler: "Oha, wenn das noch wer bei uns im Ministerium weis wird's aber sehr schwer, das blaue Papiergeflügel wieder loszuwerden.
"Gehen Sie besser davon aus, dass Leute aus der Abteilung für internationale Zusammenarbeit da mal von gehört haben", sagte Julius. Claudine grinste ihn dafür an.
"Gut, dann bin ich mal wieder weg, um zu überwachen, wo noch welche von den Dingern herkommen." Er verabschiedete sich von seiner Kollegin Béatrice und von den Eheleuten Latierre und den drei Schulkindern. Dann reiste er mit Flohpulver ins Ministeriumsfoyer zurück.
"Man sollte doch meinen, dass wir Großen nicht alles nachmachen, nur weil es auf einem Stück gefaltetes Papier draufsteht", meinte Julius. "Aber offenbar denken viele, dass es ein Riesenspaß ist, sowas völlig belangloses zu treiben, nur um zu zeigen, dass es geht."
"Ich weiß nicht, ob Mademoiselle Hellersdorf sich freut, dass ich diese Verbreitung als Hellersdorfs blaues Makrovirus betitelt habe", meinte Millie dazu.
"Damit muss sie jetzt leben", sagte Julius. Béatrice grinste. "Du hättest es auch als Erreger der Matine-Hellersdorf-Papyrocopiatis bezeichnen können", sagte Béatrice. "Neh, das ist für Leute, die keine Heilmagie erlernt haben zu hoch, Trice", widersprach Millie.
Die Haustürklingel läutete. Vor der Tür stand Hera Matine. "War der Kollege aus dem Ministerium schon hier?" fragte sie irgendwie zwischen Belustigung und Angespanntheit. Julius bejahte das. "Gut, dann wisst ihr das schon, dass es im Ministerium auch schon blau und gelb herumschwirrt. Ich habe gerade zwei Briefe nahe an der Heulergrenze von der Kollegin Rossignol und Madame Faucon erhalten, wie es möglich war, dass jemand solchen Schabernack bis nach Beauxbatons hineintragen konnte."
"Oh, haben die Abwehrzauber gegen böses Zauberwerk nicht dagegen geholfen?" fragte Julius erheitert. "Offenbar nicht", erwiderte die erste residente Heilerin und Hebamme von Millemerveilles. "Am Ende finden welche von den blauen Dingern ihren Weg bis nach Belgien, die Schweiz oder gar Kanada."
"Oha, und wenn in Belgien oder Kanada welche auftauchen und wer immer das zugeschickt kriegt findet, weitere Abkömmlinge zu bauen kann auch die USA oder Großbritannien damit beliefern", meinte Julius. "Gut zu wissen. Da schicke ich morgen gleich eine Mitteilung raus, dass diese blauen Fliger an sich harmlos sind, aber die aufgemalte Anweisung nur ein Erklärungsbeispiel und keine verbindliche Anweisung ist. Sonst bringt euer blaues Makrovirus noch die ganze Ministeriumsarbeit durcheinander, wo es Ladonna bisher nicht geschafft hat."
"Was heißt hier "euer Makrovirus"?" grummelte Hera. "Weil das so ist, werte Kollegin. Immerhin hast du Laurentine motiviert, auf diese Art die Ausbreitung von Viruserkrankungen zu verdeutlichen", erwiderte Béatrice sehr ernst. Hera Matine musste eingestehen, dass dies leider stimmte. Dann wünschte sie allen im Apfelhaus wohnenden noch einen erholsamen Abend.
"Ich fürchte, die gute Blanche Faucon fand das nicht so witzig", meinte Louiselle, als ihr Laurentine am Abend erzählte, dass Madame Faucon am Nachmittag persönlich vorbeigekommen war, um sich zu erkundigen, was für ein Experiment sie da gestartet habe. Doch sie war nicht nur wegen der blauen Papierflieger mit gelber Aufschrift aus Beauxbatons herübergekommen.
"Die hat sich mit mir nach den Nachmittagsstunden in einem provisorischen Klangkerker über dich und Lucine unterhalten und wer genau es darauf angelegt hat, dass du die Kleine ausgetragen und geboren hast, Lou", seufzte Laurentine. "Und, was hast du ihr geantwortet?" fragte Louiselle. "Dass ich im Rahmen erweiterter Schutz- und Abwehrzauber gegen den Unfruchtbarkeitszauber Ovulatio Inhibita angekämpft und den umgedreht auf dich zurückgeschickt habe und habe einige Beispiele für derartige Rückpreller genannt. Sie meinte dann, wir sollten es weiterhin geheimhalten, dass wir zwei Mütter einer Tochter sind. Denn sie habe über ihre Verbindungen in die Liga erfahren, dass das italienische Zaubereiministerium offenbar nach einer gerade erst wenige Monate alten Hexe sucht, die von zwei Hexen abstammt."
"Ja, das habe ich auch gehört und zwar von einer Ligakameradin aus Belgien. Könnte sein, dass die über eigene Kundschafter an die Voranmeldungen in Beauxbatons und anderen Schulen heranzukommen versuchen."
"Das meinte Madame Faucon auch", raunte Laurentine. "Sie sagte mir aber auch, dass Beauxbatons keine unangemeldeten Fremden, sichtbar oder unsichtbar, hereinlasse. Sie habe auch wegen des Wetters die Strandbesuchszeit beendet, damit auch keiner durch das Teleportal auf das Schulgelände kommt. Den Reisesphärenkreis hat sie genauso blockiert wie es damals im dunklen Jahr gemacht wurde. Reinapparieren kann in Beaux eh keiner. Ja, und wegen möglicher Spionage durch die gemalten Würdenträger in Beauxbatons hat sie ein paar Bilder aus ihrem Sprechzimmer entfernen lassen. Dann meinte sie was, wo ich höllisch auf meine Gesichtszüge achten musste, nämlich dass offenbar eine Botschaft im Umlauf sei, dass eine dritte Tochter zweier Mütter Ladonna besiegen soll. Woher sie das auch immer hat. Ich wollte nur nicht bestätigen, dass ich genau weiß, was sie meinte."
"Oh, interessant. Dann ist es amtlich, dass noch weitere dieser Verkündungsstatuetten in erst jetzt zu öffnenden Truhen auf der Welt herumliegen. Ladonna hat da sicher was von mitbekommen", grummelte Louiselle. Laurentine nickte. "Ja, wir müssen echt aufpassen, dass wir nicht erwischt werden, bevor wir nicht wissen, wie wir diesem Weibsbild beikommen können, falls das jetzt überhaupt noch möglich ist."
"Immerhin haben die Töchter Hecates es geschafft, die Antiveelawaffe zu zerstören und das russische Zaubereiministerium aus dem Feuerrosenbann zu lösen", meinte Laurentine. Louiselle bestätigte das, fügte dem aber sogleich hinzu, dass Ladonna dadurch jetzt richtig angeschlagen war und noch wilder um sich beißen und schlagen würde. Das konnte Laurentine nicht abstreiten. Sie ärgerte es, dass es an ihr hängen sollte, ob dieses Höllenweib noch mehr Macht bekam oder demnächst außer Gefecht gesetzt werden konnte. Aber wenn es das Schicksal so wollte, dass sie nur deshalb Mutter einer vaterlosen Tochter war, weil sie aus Angst vor Ladonna und anderen Dunkelhexen bei Louiselle Kampfzauberunterricht genommen hatte, dann sollte es eben so sein.
Anthelia/Naaneavargia bot der durch Gertrudes Testament mächtiger und eigenständiger gewordenen Hexe einen freien Stuhl an. Albertrude Steinbeißer hatte es geschafft, in den nächsten noch sechs Stunden nicht vermisst zu werden. Sie hatte einiges zu berichten, was seit dem letzten heimlichen Direktgespräch geschehen war.
"Schwester Anthelia, auch wenn die achso alles überblickende Stuhlmeisterin Gesine Feuerkiesel es mir nicht direkt sagen wollte erfuhr ich doch über einige Nebenstellen der Schwesternschaft, dass die Unauftubare Truhe ihr Geheimnis preisgegeben hat, die seit 1491 im Haus der Heimlichkeiten verwahrt wird. Offenbar gibt es nun irgendwo auf der Welt eine Hexe, die wie Ladonna die Tochter zweier Mütter ist. Tja, und wie es bei Wunderkindern üblich ist wurde dieser wohl vorhergesagt oder in die Wiege gelegt, gegen Ladonna anzukämpfen. Zumindest habe ich das so von meiner geheimen Ansprechstelle im Umfeld von Stuhlmeisterin Feuerkiesel."
"Noch eine Tochter zweier Mütter? Hat da ein Paar Hexen experimentiert, wie Ladonna und ihre ältere Schwester entstanden sein müssen?" fragte Anthelia/Naaneavargia. Albertrude nickte. "Zumindest scheint sowas die verborgenen Verriegelungen der Truhe entsperrt zu haben."
"Was weißt du über den Inhalt dieser Truhe, Schwester Albertrude?" fragte Anthelia/Naaneavargia. "Sie enthält mehrere Pergamente, darunter einen Text und eine spätmittelalterliche Landkarte Italiens sowie eine schwarze Statuette, die eine Frau in Hockstellung darstellt", erwiderte Albertrude und erwähnte auch die mit magischer Stimme gesprochene Botschaft der Statuette. Anthelia hörte genau hin. Albertrude gab eine Zusammenfassung des gefundenen Textes wieder, der nur von einer Hexe gelesen werden konnte, die bereits Mutter wurde. Anthelia nickte. Derartige Absicherungen waren auch zu Sardonias Zeit im Gebrauch. Dann sagte die höchste Spinnenschwester: "Soso, Trinakría, wieso hat sie den altgriechischen Namen von Sizilien genommen?"
"Warum wohl?" erwiderte Albertrude mit einer Gegenfrage. "Weil Domenica Montefiori ihr Leben lang die Töchter der Hecate verehrt haben soll, so meine eigenen Kenntnisse von damaligen Hexenschwesternschaften. Aber die wollten keine Hexe bei sich aufnehmen, die zum einen keine geborene Griechin oder auch Hellenin war und zum zweiten zum Teil von einer menschengestaltlichen Zauberwesenart abstammte, die nicht mit den olympischen Göttern verwandt war. Tja, und weil die Urmutter der Veelas ja aus einem Land östlich von Griechenland stammte galten ihre Kinder nicht als Nachfahrinnen der Olympier. Abgesehen davon wollen die Töchter Hecates zu viel Ungemach mit Nachkommen von Menschen und humanoiden Zauberwesen erlebt haben, Riesen, Zwerge, Meerleute. Womöglich hat die Veelastämmige Domenica Montefiori ihr ganzes Leben mit dieser ehernen Abweisung gehadert. Doch das hat sie offenbar nicht davon abgebracht, nach dem Wissen und Können der Hecatianerinnen zu streben. Ich kann ihr da nur beipflichten."
"Wohl wahr, diese Schwesternschaft hat sich viele große Künste aus all den Jahrtausenden bewahrt. Aber dann hätten die wissen können, dass die Veelas sich womöglich auf eine Nachfahrin der über die Welt verstreuten Überlebenden des alten Reiches berufen", erwiderte Anthelia.
"Also dort selbst soll liegen, was die dritte Tochter finden und nutzen kann?"
"Ja, und nur eine solche oder deren beiden Mütter können Zutritt zu diesem Wissen erhalten, selbst wenn der ungefähre Standort bekannt ist", sagte Albertrude Steinbeißer.
"Und was widerfährt der, die nicht die Bedingung erfüllt?" wollte Anthelia wissen. Albertrude gab wieder, was sie dazu erfahren hatte. "So würdest du es nicht wagen, diese Statuette zu nehmen und den Ort suchen, an dem Domenicas Vermächtnis aufbewahrt wird?" wollte die höchste Spinnenschwester wissen.
"Auch wenn ich mir meiner eigenen Macht bewusst bin, ja gerade weil dem so ist werde ich nicht den Fehler begehen, die magische Kraft einer Veelastämmigen zu unterschätzen. Allein schon, dass die Truhe erst dann zu öffnen war, als diese ominöse dritte Tochter geboren wurde beweist, dass Domenica eine Menge über Fernortungszauber und magische Verriegelungen und Unzerstörbarkeitszauber wusste. Daher nehme ich ihre Warnung sehr ernst, Schwester Anthelia. Auch wenn deine Natur etwas besonderes ist könntest auch du der Bestrafung unterliegen, die Domenica allen Täuscherinnen angedroht hat", entgegnete Albertrude Steinbeißer.
Anthelia/Naaneavargia überlegte, ob sie es nicht darauf ankommen lassen sollte. Immerhin schützten die Tränen der Ewigkeit sie vor Fremdverwandlungen und allen mächtigen Flüchen, einschließlich Avada Kedavra. Somit konnte ihr auch kein eingespeicherter Erinnerungsauslöschungszauber was anhaben. Doch dachte sie daran, dass Domenica für diesen Fall womöglich eine weitere Sicherung eingebaut haben mochte, um ihr Vermächtnis zu schützen oder es im Zweifelsfall zu vernichten, um es keinem oder keiner Unbefugten in die Hände fallen zu lassen. So sagte sie:
"Falls Ladonna nicht alle anderen dieser Statuetten erwischt hat und diese sich mit den Unterlagen zerstört haben könnte Gesine Feuerkiesel und ihre treuen Mitschwestern überlegen, dort hinzureisen und abzuwarten, wer sich traut, dort aufzutauchen. Vielleicht sollten wir genau das tun, Schwester Albertrude."
"Tja, das hat einen Haken, Schwester Anthelia. Ich weiß nicht, ob Gesine Feuerkiesel die Statuette und die Pergamente irgendwo versteckt hat. Wenn ich sie angreife zerstöre ich meine bisherige Tarnung und werde womöglich als Kundschafterin in den Reihen des Ministeriums und der zögerlichen Schwestern wertlos. Aber was ich vorschlagen kann, Schwester Anthelia, wir sollten uns in der Nähe von Ladonnas angeeigneter und vom Blutfeuernebel eingehüllten Villa postieren und abwarten, wer sich dorthin wagt."
"Wer immer diese dritte Tochter in die Welt gesetzt hat kommt wohl genausowenig durch den Blutfeuernebel wie alle anderen zuvor", mutmaßte Anthelia. Albertrude überlegte, wie der Blutfeuernebel dauerhaft oder nur für wenige Minuten ausgehalten werden konnte. Beide kamen darauf, dass nur nichtdurchblutete Wesen wie Geister und Golems den abgeschirmten Bereich betreten konnten. Warum dies bisher nicht versucht wurde lag daran, dass die Italiener offenbar keine guten Beziehungen zu Geisterwesen hatten oder weil Ladonna noch was anderes bewirkt haben mochte. So mochte am Ende nur übrigbleiben, Ladonna aus ihrer schwarzmagischen Festung herauszulocken, um sie im freien Kampf zu besiegen. Vielleicht gab Domenicas Vermächtnis das her, so wie Gertrudes Testament ja auch wichtige Kenntnisse vermittelt hatte. Anthelia/Naaneavargia verzog ihr Gesicht, weil sie daran dachte, dass die wichtigste "Erkenntnis" darin bestand, dass Gertrude Steinbeißers Seele überdauert und sich einen neuen Körper auserwählt hatte, den von Albertine Steinbeißer. Insofern konnte Domenicas Vermächtnis etwas ähnliches bedeuten. Ja, vielleicht war es für Anthelia und Albertrude deshalb nicht möglich, jenes Erbe entgegenzunehmen, weil sie entweder gegen in ihren Geist einfließende Kenntnisse gefeit waren oder durch jene Erkenntnisse in ihrer eigenen Persönlichkeit verändert werden konnten. Letzteres wollte keine von beiden riskieren. Doch die Überwachung der Girandelli-Villa mochte sich lohnen. Da Albertrude mit ihren magischen Augen bis zu zwei Kilometer weit sehen und dabei unbezauberte Wände oder magische Verhüllungen so durchblicken konnte, als wenn sie nicht vorhanden wären, bot sie sich als Kundschafterin an. Außerdem kannte und konnte sie eine Menge mächtiger Zauber, um sich vor Entdeckung zu schützen oder gegen die allermeisten Gegner zu verteidigen. Doch das Vorhaben scheiterte an einem höchst bedauerlichen Umstand: Albertrude war bereits für eine Überwachungsmission eingeteilt worden. "Malins Zwerge mucken weiterhin auf, weil sie nach Hellers Entlassung Morgenluft wittern und unbedingt das Goldwertbestimmungsrecht beanspruchen. Daher sollen alle Träger magischer Augen sich im 2-Tage-Rhythmus in der Nähe seiner unterirdischen Stadt im Schwarzwald postieren und wenn möglich erkennen, wann Malins Truppen ausrücken und wohin. Du hörst richtig, Schwester Anthelia. Das Zaubereiministerium geht von einem neuerlichen gewaltsamen Übergriff der Zwerge unter ihrem König Malin VII. aus."
"Ja, und deine 2-Tage-Schicht beginnt morgen, richtig?" fragte Anthelia ein wenig enttäuscht klingend. Albertrude bejahte das.
"Gut, dann möchte ich dich bitten, danach diese Villa bei Florenz zu überprüfen, ob Ladonna sich darin aufhält und ob sie außer mit dem Blutfeuernebel noch von weiteren Absicherungen beschützt wird", sagte die höchste der Spinnenschwestern im ruhigen Ton. "Ich derweil werde mich unter den anderen Mitschwestern umhören, ob noch wer von Domenicas Vermächtnis erfahren hat. Möchtest du mir noch etwas berichten, Schwester Albertrude?"
"Ja, offenbar haben zwei Kundschafterinnen Ladonnas das Archiv der hochmächtigen Erzeugnisse betreten und die drei mächtigsten Hexenartefakte enwendet, das Buch von Dysmonia Feuerkruger, den Spiegel der matrilinearen Blutlinie und die Karte der kräftigenden Quellen für Hexen. Gesine hat Kenntnisse, dass die beiden Kundschafterinnen Ladonnas ihr diese Gegenstände beschafften, weil ihr das deutsche Zaubereiministerium nicht mehr unterworfen ist. Womöglich hat sie diese Gegenstände in ihrer Villa eingeschlossen, da es in Italien gerade keine Gringottsfiliale gibt und sie wohl keinen sichereren Ort wüsste."
"Soso, dann hatten also die Deutschen dieses Buch in ihrem Besitz", sagte Anthelia. "Wieso wusste keine von euch dies vorher?" fragte sie. "Weil es eines der Geheimnisse der Hüter der hochmächtigen Hinterlassenschaften ist, das nur erfährt, wer mindestens sechzig Jahre alt ist, davon vierzig in der Archivabteilung des Zaubereiministeriums verbracht hat und schließlich die magisch beeidete Genehmigung des amtierenden Zaubereiministers erhält, alle dort lagernden Hinterlassenschaften anzusehen oder im Auftrag des Ministeriums hervorzuholen. Soweit ich weiß gibt es sowas auch in Frankreich, Italien, Spanien und England."
"Wohl wahr", erwiderte Anthelia. Dann sagte sie: "Womöglich hat Ladonna sich schnell all die Schätze angeeignet, die in der Obhut der von ihr unterworfenen Ministerien lagen und hortet sie alle. Daher sollte es uns sehr interessieren, die Villa Girandellis nicht zu zerstören sondern zu betreten und zu durchsuchen. Aber wahrscheinlich hat sie die entwendeten Dinge und Aufzeichnungen in einem mit ihrem eigenen Blut versiegelten Raum eingesperrt. Du hast das als Gertrude gemacht, Sardonia und ich taten dies ebenfalls. Der Blutsiegelzauber kann nicht gebrochen werden." Albertrude nickte bestätigend. Erst wenn jene magische Person oder Personengruppe, die den Zauber ausgeführt hatte bis zum letzten starb erlosch der Zauber innerhalb eines Monats. Galt es also doch, Ladonna zu töten, um an die von ihr gesammelten Artefakte zu gelangen?
"Ich werde nach meiner Schicht bei den Zwergen nachsehen, ob Ladonna in ihrer Villa ist."
"Sehr gut, Schwester Albertrude. Ich werde derweil nachforschen, ob eine der anderen treuen Schwestern etwas von einer weiteren Zwei-Mütter-Tochter weiß", verkündete Anthelia. Albertrude nahm dies zur Kenntnis. Danach verabschiedete sie sich von der höchsten Spinnenschwester und verließ den mit Dauerklangkerkerbezauberung und Fernbeobachtungsabwehr versehenen kleinen Besprechungsraum.
Irgendwie war er stolz darauf, ein Gefolgsmann der allerersten Stunde zu sein. Pontio Barbanera, seit Romulo Bernadottis frühem Tod amtierender Zaubereiminister Italiens, durfte im Namen seiner Herrin ein großes Bündnis aus anderen Zaubereiministerien leiten. Doch seitdem die Herrin ihre Macht ausgedehnt hatte erfolgte ein Rückschlag nach dem anderen. Ihre Feinde ließen sich nicht entmutigen und hatten eine sehr wirksame Methode gefunden, die treuen Gefolgsleute von ihr abzubringen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Denn ihre Hauptfeinde waren nicht mehr die Vampire der falschen Göttin oder die Wergestaltigen, sondern die aus Osteuropa stammenden Veelas, von denen die Herrin einen Gutteil der Eigenschaften geerbt hatte. Deshalb mussten alle ihr treuen Zaubereiministerien sich verbergen, waren nicht mehr für andere Mitbürger frei zugänglich. Das schürte doch einen gewissen Unmut in der magischen Gemeinschaft. Er, der Gefolgsmann der allerersten Stunden, spürte das auch, dass die Bevölkerung mehr und mehr dagegen aufbegehrte, ein fast vollständig verschlossenes Ministerium zu haben und wagte es sogar, die getroffenen Entscheidungen zu hinterfragen, obwohl die italienischen Zaubererweltzeitungen allesamt der Herrin unterworfen waren und nur jene Meinungen vertraten, die sie für angebracht hielt. Ja, immer mehr magische Mitbürger glaubten nicht mehr, dass Barbanera gegen Ladonna und die anderen Veelastämmigen ankämpfte. Obwohl die Zeitungen es immer so dargestellt hatten, dass die in der Koalition vertretenen Ministerien von "Feinden des friedlichen Miteinanders" angegriffen und für Tage handlungsunfähig gemacht wurden. Es äußerte sich auch darin, dass italienische Hexen und Zauberer, die noch nicht den Duft der Feuerrose genossen hatten, aus den Nachbarländern zurückkehrten und ihren Angehörigen begreiflich machten, dass die ganze verbliebene Koalition der Verbundenheit und des friedlichen Miteinanders eine einzige große Lüge war. Nun galt es nicht nur, vor den ausländischen Feinden in Deckung zu gehen, sondern mehr und mehr gegen mögliche Verräterinnen und Verräter aus dem eigenen Land gewappnet zu sein. Diese Belagerungshaltung führte in den letzten Wochen dazu, dass der Minister und seine wichtigsten Mitarbeiter ohne kampfstarke Truppe nicht mehr aus ihren Machtbereichen hinaus konnten. Ja, sie mussten sogar damit rechnen, dass sie und ihre Leibwächter jenem tückischen Gegenzauber zur Feuerrose zum Opfer fielen und dann den Feinden unterworfen waren. Wenn das so weiterging mochten sie alle noch dem Wahnsinn verfallen. Wie wichtig wäre es da, wenn die Herrin endlich alle ihre Feinde besiegte und dem Rest der Welt ihr Angebot für ein friedliches Leben auf klar erkannten Plätzen unterbreitete.
Der Kalender im Büro des italienischen Zaubereiministers zeigte den zweiten Dezember 2006. In wenigen Wochen würde das Jahr enden. Doch es war längst nicht mehr genug Hoffnung wie im März und April dieses Jahres.
"Pontio, mein treuer Statthalter, was haben deine Kundschafter wegen der Behauptung, es gebe eine vor wenigen Monaten geborene Tochter zweier Hexen ergeben?" hörte er die noch nicht wieder mit voller Stärke wirkende Gedankenstimme seiner Herrin.
"Unser Versuch, in die Nähe von Beauxbatons und Greifennest zu gelangen wurde enthüllt und vereitelt, meine Herrin und Königin. Unsere Feinde haben wohl mit solch einem Vorstoß gerechnet und jene ihrer Gefolgsleute dort in Stellung gebracht, welche an der Lebensaura eines Menschen erkennen können, ob er ungeführt und dem eigenen Unvermögen ausgeliefert ist oder bereits Eurer sicheren und entschlossenen Führung anvertraut ist. Es ist uns bisher nicht gelungen, die magische Prägung der Feuerrose zu überdecken, ohne die damit belegten körperlich und geistig zu ermüden. Dennoch war unser Vorstoß nicht vergebens. Denn es gelang zweier der nicht direkt von euch geführten Mitarbeiter, das Verzeichnis geborener und für magische Ausbildungsstätten anzusprechende in Berlin, Wien und Bern einzusehen. bis September diesen Jahres geborenen Kinder besitzen sowohl Väter wie Mütter. Wie dies in Frankreich ist steht noch aus."
"Meine anderen Verbindungen haben auch nichts ergeben, ob es eine Tochter zweier Mütter gibt. Doch erfuhr ich, dass die Griechen und Franzosen immer ungestümer gegen uns vorgehen. Der Schlag gegen das russische Zaubereiministerium hat ihnen noch mehr Auftrieb verliehen."
"Besteht die Gefahr, dass sich Russland mit den Veelas versöhnt?" wollte Barbanera wissen. "Nun, es sind doch einige von diesen selbstherrlichen Geschöpfen gestorben, sodass es sehr schwer sein dürfte, einen auf gegenseitigem Vertrauen gründenden Frieden zu schließen. Da besteht für uns noch die Möglichkeit, einen Zusammenschluss gegen uns zu vereiteln und auch ohne meine lenkende Hand Leuten wie Rodenkow und anderen begreiflich zu machen, dass sie die Veelas und Veelastämmigen loswerden müssen, allein schon, weil sie ja wissen, das ich zu einem kleinen Teil von diesem Volk abstamme."
"Was sollen wir tun, uns ruhig verhalten oder in die Offensive gehen?" wollte Barbanera wissen.
"Es sind noch jene im Land, die es gewagt haben, meine Residenz anzugreifen. Sieh zu, dass deine Leute sie einfangen, lebendig. Denn wir brauchen sie, um unsererseits das Mittel der Vergeltung zu entwickeln, mit dem alle Veelastämmigen, die sich nicht zu mir bekennen wollen, aus der Welt verschwinden."
"Meine Leute sind weiterhin unterwegs. Dein weiser Vorschlag, die Unortbarkeit als solche zu orten wird uns helfen, unsere Feinde zu finden. Doch werden sie sich nicht so einfach ergreifen lassen, meine Herrin und Königin."
"Das ist mir durchaus bewusst", antwortete seine Herrin hörbar ungehalten. "Da sie jedoch nicht disapparieren können mag es erst einmal reichen, sie in ihren Verstecken einzukesseln und sie am Fortfliegen zu hindern. Deine Leute kennen sicher den Ignis-Carnisolvens-Zauber. Damit können selbst Veela an der Flucht gehindert werden, wenn sie nicht den genau vorbestimmten Gegenzauber ausführen können oder den Carnisalvus-Trank vorrätig haben, um unbeschadet durch die roten Flammen zu schreiten."
"So möge es geschehen, dass wir jene fangen, die es wagten, dein herrschaftliches Haus anzugreifen", gedankensprach Barbanera unter dem Einfluss seiner Herrin und Königin.
"Ihr sichert eure Amtsräume noch mehr, vor allem gegen Erdbebenzauber!" befahl die Königin. Der aus ihren Gnaden amtierende Zaubereiminister bestätigte es. "Lasst niemanden zu euch, der nicht eindeutig in meinem Auftrag unterwegs ist, vor allem keine Hexen!" befahl die Königin noch. Barbanera bestätigte auch diese Anweisung. Dann zog sich seine Herrin aus seinem Bewusstsein zurück und vertraute darauf, dass er weiterhin ihr treuester Gefolgsmann war.
So veranlasste der italienische Zaubereiminister per Memoflieger und Kontaktfeuer alle nötigen Schritte, um den Willen seiner Herrin zu vollstrecken. Dazu gehörte auch, dass er im respektvollen Abstand zur Villa bei Florenz eine Hundertschaft Ministeriumszauberer postierte, die mit den neuartigen Unortbarkeitsaufspürern einen ständigen magischen Widerhall zwischen Luft und Erde hervorrief. Wo jemand im Schutz von natürlicher Unortbarkeit auftauchte wurde diese Abdeckung gestört. Selbst wenn es nicht möglich war, zielgenau zu erfassen, wo die Quelle der Unortbarkeit war mochte es gelingen, den davon betroffenen Kreis zu bestimmen und gegen die Außenwelt abzuschirmen. So hoffte er, dass er die Veelas und Veelastämmigen doch noch erwischte. Die Aufforderung, sie unter allen Umständen lebend festzusetzen und sich bloß nicht näher als Armeslänge an sie heranzuwagen waren die wichtigsten Anweisungen.
Der kleine, lebende Wecker namens Lucine Beauumont ging an diesem Morgen schon um halb vier los. Louiselle und Laurentine waren sofort hellwach. Da Louiselle die Morgenfütterung übernahm nutzte Laurentine das frühe Aufstehen, um nach E-Mails zu sehen. Ihre Cousine Vicky hatte geschrieben, dass sie wohl ab dem ersten Januar einen festen Semesterjob in einer Firma für Solaranlagen haben würde. Die Firma arbeitete an mobilen Photovoltaikmodulen, die nicht nur in der Raumfahrt, sondern auch bei Veranstaltungen und vielleicht auch auf Seeschiffen zum Einsatz kommen sollten. Sicher, die großen Stromerzeuger waren das dann nicht, konnten aber helfen, Strom einzusparen und Batterien Stromnetzunabhängig wieder aufzuladen. Mehr konnte oder durfte Vicky dazu nicht mitteilen.
als Laurentine wieder bei Louiselle und Lucine war meinte Louiselle: "Morgen früh darfst du wieder die erste Runde machen, Laurentine." Das war ja schon sicher.
"Dafür darfst du heute ein Päckchen vom Adventskalender pflücken, Louiselle", erwiderte Laurentine.
"Das ist aber nett", grinste Louiselle. Die beiden bezogen sich auf den im Wohnzimmer aufgestellten Holzpfahl, der wie ein Laubbaum aussah. Das Laub waren nun noch 23 bunte Päckchen, die an den Ästen hingen und mit kleinen Naschereien gefüllt waren, von Fruchtschaumschnecken, Lakritzzauberstäben, Schokofröschen und kleinen verschlossenen Schokoladenkesseln mit Gelee oder Honig gefüllt. Es gab aber auch beliebte Süßigkeiten aus der nichtmagischen Welt, ob aus Frankreich oder Deutschland. Was genau in welchem Paket drin war wusste nur Laurentine, die in ihrer Freizeit dieses Kalenderbäumchen gebastelt und bestückt hatte. Sie hatten es mit den Brickstonkindern verabredet, dass jedes von ihnen alle zwei Tage ein Päckchen vom Advenskalenderbaum abpflücken durfte
Als Louiselle nach dem offiziellen Aufstehen das Päckchen mit der großen goldenen Zwei von einem Ast herunterpflückte und öffnete fand sie drei längliche, gerippte Riegel. "Och joh, hast du es darauf angelegt, dass ich die erwische. Jamm", sagte Louiselle und wickelte den ersten davon aus seiner glänzenden Umhüllung. "Okay, die Kunststoffverpackungen sind zwar bedenklich, aber unsere Alchemisten können alles Plastik in seine Grundstoffe zurückverwandeln und neu verwerten", sagte sie und schob sich den ausgewickelten Schokoriegel in den Mund. Laurentine grinste dazu nur.
Sie saßen gerade beim Frühstück und lauschten der eher lockerflockig auftretenden Morgenmannschaft des pariser Lokalradios, als Louiselle zusammenfuhr und einige Sekunden wie erstarrt dasaß. Laurentine wusste, dass sie wohl eine Melonachricht von irgendwem bekam. Da entspannte sich Louiselle auch schon wieder. Dafür empfing Laurentine nun eine lautstarke Gedankenbotschaft von Hera Matine:
"Schwester Laurentine, komm gleich zu mir und lass dich für heute arbeitsunfähig schreiben! Es eilt sehr!"
"Sind Ladonnas Sklaven doch auf unsere Spur gekommen?" gedankenfragte Laurentine.
"Nicht direkt. Aber Ladonna argwöhnt einen Angriff auf sich und lässt ihre Unterworfenen um ihrem Haus Posten beziehen. Also komm du zu mir rüber und bleib bei mir. Louiselle kommt in einer Stunde mit der Kleinen nach."
"Verstanden, ehrwürdige Mutter", erwiderte Laurentine auf rein geistigem Weg. Dann mentiloquierte sie Louiselle an. Diese schickte zurück, dass sie sich auf alles vorbereiten müsse.
Nach dem Frühstück machte Louiselle Lucine transportfertig und hängte sie in ihrem federleicht bezauberten Tragebeutel vor ihren Bauch. Laurentine flohpulverte sich zu Hera und begleitete sie in ihr Sprech- und Behandlungszimmer. "Wir müssen uns doch beeilen. Offenbar ist doch die eine oder andere von Domenicas Statuetten bei Ladonnas Getreuen angekommen. Ich habe gerade erst vor einer halben Stunde erfahren, dass es wohl auch in Deutschland eine Truhe gab, die sich erst am 24. November entriegeln ließ. Mutter Gesine hat die Statuette und die Pergamentrolle ausgewertet. Sie weiß aber noch nichts von Lucine. Das ist in dem Fall auch sehr gut, weil sie meint, dass eines ihrer Familienbilder offenbar mit wem Kontakt hält, der oder besser die im Verdacht steht, zu Ladonnas Unterworfenen zu gehören. Daher sollten wir zusammen mit Lucine gleich nach Louiselles Eintreffen losziehen. Ich habe den entsprechenden heimlichen auf Sonnenlicht abgestimmten Portschlüssel schon hergestellt. Das Zaubereiministerium muss nichts davon mitbekommen und die Leute hier ebensowenig", sagte Hera im Schutz der Klangkerkerbezauberung. Laurentine verstand. "Wenn noch weitere Statuetten von Ladonnas Leuten gefunden wurden konnte es geschehen, dass die dunkle Hexenkönigin ständig irgendwo in ihrem langsam wieder schrumpfenden Reich herumreiste und sich jeder Auseinandersetzung entzog. Hera erwähnte Laurentine gegenüber, was sie Louiselle mitgeteilt hatte, nämlich dass sie auf drei Möglichkeiten gefasst sein sollten: Ladonna verschanzte sich in der von ihr besetzten Villa und ließ nichts und niemanden mehr an sich heran. Oder sie versteckte sich an einem anderen, ihr möglichst sicheren Ort und überließ ihren versklavten Helfern und Helfershelfern die echten oder scheinbaren Gegner. Die Dritte Möglichkeit bestand darin, das Ladonna auf Sizilien lauerte, wer Domenicas Versteck aufsuchen würde, sofern sie wider Domenicas Vorkehrungen eine der Statuetten als Zielfinder benutzen konnte. "Das du in Selbstverwandlung sehr gut bist hat sich nicht geändert, hoffe ich. Louiselle kann das auch ganz gut. Wir werden als Gespann Großmutter und zwei Enkeltöchter auftreten und uns daher möglichst ähnlich zurechtmachen. Lucine bekommt eine dunkle Haarfarbe, die für Säuglinge verträglich ist. Ich werde keinen Verwandlungszauber an ihr vornehmen." Laurentine nickte. Sie fragte sich bereits, welche der drei aufgezählten Möglichkeiten die wahrscheinlichste war und ob es nicht noch eine vierte oder fünfte Möglichkeit gab. doch wie die aussehen sollte konnte sie sich gerade nicht vorstellen.
Jedenfalls schickte Hera eine Eule mit einer bereits vorbereiteten Krankmeldung zu Madame Dumas. Der zu Folge hatte Laurentine sich eine heftige Darmverstimmung eingehandelt, möglicherweise ein Virus. Daher sollte sie mindestens einen Tag lang den Kontakt mit Kindern unter zwölf Jahren meiden.
Als dann noch Louiselle bei ihrer Großtante und obersten der hiesigen Sektion der schweigsamen Schwestern eintraf schlief Lucine tief und fest. Hera färbte das Haar der kleinen Tochter zweier Mütter mit einem Mittel, dass das Haar bis zum Auswaschen mit einer Gegenlösung oder dem Auswachsen nachtschwarz färbte. Dieselbe Haarfarbe verschafften sich die drei erwachsenen Hexen mit teilweiser Selbstverwandlung. "Wichtig ist, dass wir in einer einheimischen Menschenmenge möglichst unauffällig sind."
"Mir gefällt es nicht, die Kleine da mit hinzunehmen", grummelte Louiselle. "Wenn dieses Biest doch schon am Zielpunkt wartet wird sie sie gleich töten."
"Ruf bitte keinen großen Drachen, Louiselle", seufzte Laurentine. "Genau deshalb begleite ich euch überall dorthin, wo ich hingehen darf", erwiderte Hera. "Ach ja, für Lucine habe ich noch was vorbereitet." Sie zog aus einem der Schränke ihres Behandlungszimmers eine blattgrüne, mit verschiedenen Früchten bestickte Babytragetasche mit eingearbeiteter Kapuze. "Du darfst die Kleine da reinstecken, Louiselle", sagte Hera Matine und deutete von Lucine zu dieser neuen Tasche. "Oha, hast du dich in der Mutter-Kind-Abteilung von Madame Esmeraldas Boutique umgesehen, Tante Hera?"
"als zertifizierte Hebamme bekomme ich immer wieder Muster neuer Säuglingspflegeutensilien zugeschickt. Die Tasche ist eindeutig was für Mütter aus goldreichen alten Familien wie die Eauvives, Latierres oder Champverds. Aber ich habe die Genehmigung von den Schwestern Sarah und Soraya Sixarbres, ihre hochpreisigen Luxusprodukte an ausgewählte Familien weiterzugeben, die sie dann sozusagen für die beiden weitertesten." Laurentine sah zwischen den Pflaumen, Birnen, Zitronen, Mirabellen, Kirschen, Äpfeln und Apfelsinen einen sonnengelben Kreis, in dem nebeneinander sechs kleine Bäume mit rosaroten Blättern dargestellt waren.
"Ich ziehe meine Anmerkung zurück, Tante Hera. Ähm, ist das diese Tasche mit eingewirkten Halbfederleichtzauber, Gleichwärmezauber, Regen-, Schnee- und Hagelschutz und Stoßunempfindlichkeit? Wenn ich richtig vermute soll das der Portschlüssel für die Kleine sein. Aber bei den ganzen Komfortbezauberungen kriegst du doch keinen Portschlüssel mehr eingewirkt."
"Da hast du recht, meine Nichte Überschlau. Aber an der Tasche sind Ösen und Schlaufen, an die noch alles mögliche drangehangen werden kann", erwiderte Hera und deutete auf die entsprechenden Bestandteile. An einer Öse hing ein goldener Reif, der bei einer Riesin glatt als Fingerring durchgehen mochte, aber für einen Schmuckgürtel oder einen Tanzreifen noch zu klein war. "Da rein habe ich den Portschlüsselzauber gewirkt. Entweder trage ich die kleine, solange ihr wo auch immer unterwegs seid oder eine von euch übernimmt sie. Im höchsten Gefahrenfall oder wenn das Wort sowieso von jemandem gerufen wird soll der Portschlüssel sie und ihre Trägerin hierher zurückbefördern, soodass mindestens eine von uns mit ihr in Sicherheit gelangt."
"Okay, Laurentine, du nimmst sie, falls wir doch mit ihr zusammen irgendwo hin müssen", legte Louiselle sofort fest. Laurentine sah ihre Partnerin verdutzt an. Doch der entschlossene Blick der kampfzaubererfahrenen Hexe duldete keinen Widerspruch. Also packte Louiselle die kleine Lucine in die neue Tasche um, die sich sogleich den Körperformen des unschuldigen Mädchens anglich. "Ich empfehle, die Tasche auf dem Rücken zu tragen, wenn du nicht willst, dass sie was von vorne abbekommt. Aber die Tasche kann auch vor dem Körper getragen werden, wenn eine von euch sie unterwegs stillen will."
"Öhm, ich will nicht wieder frech werden, werte Großtante. Aber dann darfst du die Kleine nicht tragen, wenn sie Hunger hat", kiebitzte Louiselle.
"Ich sag's ja, Mademoiselle Überschlau. Ich habe immer eine für drei volle Tage wirksame Ration Nutrilactus-Trank in meiner Heilertasche. Die nehme ich übrigens auch noch mit."
Laurentine und Louiselle prüften noch, ob sie alle wichtigen Dinge dabei hatten. Laurentine hängte sich die von ihr ungewollt gezeugte Tochter in ihrer neuen Luxustragetasche über den Rücken. Dann bezauberten sie und Louiselle ihre Kleidung noch mit mehreren Schildzaubern. Den Trick hatte Louiselle von Schwester Solange gelernt. ein thaumaturgischer Weber oder Schneider konnte sogar konservierende und verstärkende Zeichen in ein Kleidungsstück einarbeiten, die das Kleidungsstück dauerhaft gegen magische Angriffe schützte. Sie vergewisserten sich, dass sie alles aus der Truhe dabei hatten. Dann apparierten sie unter Heras Führung Seit an Seit an die Côte d''azur, um nicht all zu fern vom Zielort zu sein.
"Dann hoffen wir mal, dass wir schnell wieder nach Hause kommen", sagte Louiselle.
Hera gab jeder der beiden ein Ende Seil in die Hand und ergriff es bei der Mitte. Laurentine stülpte Lucine die in die Tragetasche eingewirkte Kapuze über und band sie unter ihrem kleinen runden Kinn fest. Dann sagte Hera: "Sonnenlauf!"
Laurentine kannte das schon zur Genüge. Sie stürzte in eine unendlich erscheinende Farbenflut, die um sie herumwirbelte. Wie von einem Haken im Bauchnabel vorangezogen jagte sie zusammen mit Hera, Louiselle und der nun erschreckt aufschreienden Lucine durch diesen Wirbel hindurch. Laurentine war es mulmig, dass Lucines Schreie wie aus weiter Ferne und allen Richtungen widerhallten. Dann fielen alle drei auf sandigen Boden. Über ihnen ragte ein schroffer Felsüberhang hinweg und schützte sie vor Entdeckung von oben.
"Das ist die Ostküste von Sizilien. Wenn ich das richtig verstanden habe können wir ab hier die Statuette benutzen, um unseren Weg zu finden", sagte Hera Matine. Louiselle holte die Statuette aus der Handtasche. Diese gab sogleich ihre lateinische Botschaft zum besten. Laurentine berührte die Statuette am Kopf. Die Botschaft verstummte. "Wir müssen die beim rausholen immer zusammen anfassen", meinte Laurentine. "Ja, auch wenn mir nicht ganz wohl dabei ist", erwiderte Louiselle.
Dann begann die Statuette in einem grün-orangen Licht zu leuchten und gab einen sanften, mittelhohen Summton ab. Louiselle hatte das Gefühl, sie jetzt auf den Boden setzen zu müssen. Sie tat es. Sogleich drehte sich der Oberkörper der Statuette mit sich nach oben streckendem rechten Arm im Kreis und zeigte dann mit dem Zeigefinger in eine bestimmte Richtung. "Duo Dies per pedes!" zischte die Statuette. Dann senkte sie den ausgestreckten Arm wieder.
"Wie war das? Nichts anfassen, was sich bewegt, ohne dass du weißt warum", widerholte Laurentine eine der drei N-Regeln, die sie von Louiselle gelernt hatte. "Ja, haben wir schon gegen verstoßen, ebenso wie gegen die Grundregel nichts zu trauen, was von alleine denkt, wenn wir nicht sehen, wo es sein Hirn hat", erwiderte Louiselle.
"Zwei Tagesmärsche sollten wir nicht auf uns Nehmen", sagte Hera. "Versuchen wir es mit einem Sprung in zwanzig Kilometer weiter nach Nordwesten!" legte sie fest. Laurentine umfing die Babytragetasche mit dem linken Arm, während Louiselle die Statuette wieder aufhob und fortsteckte.
Jede für sich apparierte die angegebene Strecke. Entfernungssprünge hatte Laurentine im Apparierkurs gut eingeübt, wo sie dort als Naturtalent erkannt worden war.
"Un Dies perpedes!" vermeldete die Statuette, als sie sie am Zielort wieder auf den Boden stellten. Laurentine vermutete stark, dass das kleine Standbild eine Vorläuferversion des praktischen Naviskops in sich trug. Louiselle berichtigte sie, dass Veelas und Kobolde einen natürlichen Standortsinn besaßen, der wohl auf das Erdmagnetfeld ansprach.
Nun, wo sie wussten, dass sie mit einem 20-Kilometer-Sprung einen Tagesmarsch einsparten ging es in die angezeigte Richtung weiter. Als sie die Statuette noch einmal befragten hob sie den rechten Arm nur noch um dreißig Winkelgrade an und deutete quer zur Blickrichtung der drei Hexen. Lucine war derweil wieder in tiefen Schlaf gefallen. Laurentine argwöhnte, dass die aufgesetzte Kapuze wohl einen sanften Schlafzauber auf das Baby ausübte. Doch es konnte ihr auch recht sein, dass Lucine nicht mehr schrie.
Sie wagten noch einen Appariersprung auf die Kuppe eines vorwinterlich kahlen Hügels. Dort deutete die Statuette bei erneuter Befragung nach links, hob den Arm jedoch nur noch um zehn Grad aus der Senkrechten und sagte: "Media pars decimalis dies per pedes."
Sie gingen nun zu Fuß. Laurentine war froh, dass sie keine hochhackigen Stöckelschuhe, sondern ihre wadenhohen Laufschuhe angezogen hatte. Denn es ging über unebenen Felsgrund, Geröll und vereinzelte Grasflecken hinweg, bis die Statuette hell erstrahlte und mit einem mittelhohen Dreiklang summte. Offenbar waren sie hier richtig.
Louiselle zielte mit ihrem Zauberstab auf den Boden und murmelte eine Laurentine noch unbekannte Zauberformel. Der Boden erbebte ganz sacht. Dann zielte Louiselle mit dem Stab in einem Neigungswinkel von 45 Grad nach vorne und drehte sich einmal ganz im Kreis herum. Dann riss sie den Stab senkrecht nach oben. Die Luft Flimmerte. Gleichzeitig erklang ein merkwürdiges Geräusch, wie ein direkt bei ihnen pustender Windstoß, der in nur wenigen Sekunden bis zu zweihundert Meter weit davonbrauste. Dann waren das Beben und das Flimmern vorbei. "Was bitte war das?" mentiloquierte Laurentine an ihre Lehrmeisterin, als diese den Zauberstab wieder senkte. "Ein Hexenzauber aus dem Morgenland. Poetisch übersetzt heißt er: "Mutter Erde, Vater Wind, ist es hier sicher für mich und mein Kind", mentiloquierte Louiselle. Laurentine begriff, dass dieser Zauber offenbar nur von bereits Mutter gewordenen Hexen gewirkt wurde. von einigen Mondzaubern kannte sie das schon.
"Das erfreut dich, dass du diesen Zauber nun voll ausnutzen kannst, wie?" fragte Hera erheitert lächelnd. "Das darfst du aber sehr stark annehmen", erwiderte Louiselle. "Und vor allem, wenn da wer mit Unortbarkeitszauber ist kommt es zu Lichtentladungen im Grenzbereich zwischen unbezaubertem und vom Unortbaren Zauber durchdrungenen Raum. Da nützt einer Veelastämmigen auch ihr Unortbarkeitszauber nichts. Aber bei der Gelegenheit, irgendwo da unten ist eine starke Magiequelle. Sie hat eine Verbindung zu etwas, genau da", sagte Louiselle und deutete mit ihrer leeren hand nach süden. Jetzt konnte Laurentine die beiden oben flachen Erhebungen sehen, die wie natürlich entstandene Plattformen aussahen.
"Was immer wir hier tun müssen, wir sollten uns beeilen", sagte Hera. Laurentine wollte schon fragen, was sie meinte. Da fiel ihr ein, dass großflächige Zauber auch großflächig angemessen werden konnten. So liefen sie bis zu den beiden direkt nebeneinander stehenden Plattformen. Die statuette erklang nun in einem aufsteigenden Ton, der Laurentine an die auf Überlastung eingestellten Phaserpistolen bei Star Trek denken ließ. "Oha, wir sollten die Figur hier absetzen, nicht das die uns um die Ohren fliegt!" rief sie. Louiselle tat, was Laurentine sagte. Da hörte das in ein Sirren übergehende Geräusch auf, und die Statuette sagte: "Matres vel filia tertia ascendete vel ascende ad Postamentum probae!"
"Sie meint, dass entweder Lucine oder wir zwei da raufsteigen sollen, richtig?" fragte Laurentine. Hera und Louiselle bejahten das.
Die Warnung bedenkend, dass niemand anderes als die dritte Tochter oder eine ihrer Mütter sich der Probe stellen durften wollte Laurentine Hera Lucine übergeben. Doch die Heilerin schüttelte den Kopf und deutete auf den Zwischenraum zwischen den zwei flachen Plattformen. Jetzt konnte Laurentine erkennen, dass dort mehrere verschlungene Linien verliefen, in die magische Symbole eingefügt waren. Darüber standen die zwei Plattformen in Verbindung. "Womöglich braucht ihr die Kleine als Bestätigung, dass ihr wirklich ihre Mütter seid", sagte Hera mit hörbarem Unmut. Natürlich behagte es ihr nicht, ein gerade vier Monate altes Kind in eine unübersichtliche, vielleicht sehr gefährliche Lage zu bringen. Doch sie überwand ihre Bedenken und deutete auf die beiden Plattformen. Louiselle nahm die Statuette wieder an sich, weil sie den Eindruck hatte, dass deren Daseinszweck noch nicht erfüllt war.
Laurentine und Louiselle bestiegen zur gleichen Zeit je eine der beiden Plattformen. Kaum standen beide sicher auf der flachen Oberfläche erbebten beide Erhebungen. Laurentine meinte, dass ein schwacher elektrischer Strom durch ihr linkes Bein in ihren Unterleib hinaufjagte und dann gleich durch ihr rechtes Bein wieder in die Erde abfloss. Sie meinte, Louiselle unbekleidet vor sich zu sehen, wie sie ihr eine wortlose Einladung bot, mit ihr das Lager zu teilen. Dann erkannte Laurentine, wie sie und Louiselle den Zauber ausführten, dessen Auswirkung sie auf dem Rücken trug. Dann verschwanden diese Erinnerungsblitze aus ihrem Bewusstsein. Nun umspielten hellblaue Funken Lucines Tragetasche, was jedoch nur Hera und Louiselle sehen konnten. Dafür sahen alle, dass die Statuette in Louiselles Hand grün-orange aufleuchtete und einen Ton wie von drei unterschiedlich großen Streichinstrumenten von sich gab, der immer lauter wurde. Die Statuette Domenicas erglühte, jedoch ohne sich zu erhitzen. Die blauen Funken um Lucines Tragetasche sammelten sich zu einer hellblauen Wolke über den beiden Müttern und ihrer gemeinsamen Tochter. Das sanfte Beben und das Gefühl von nur durch Beine und Unterkörper fließendem Strom verstärkte sich. Laurentine versuchte, einen Fuß anzuheben und stellte erschrocken fest, dass ihre Füße am Boden festhafteten wie angeschraubt. Dann erkannte sie, dass dies sein musste, um nicht absichtlich oder aus Versehen die Probe vorzeitig abzubrechen. Die magische Kraft durchfloss sie und wohl auch Louiselle weiter. Um Lucine bündelte sie sich, um nach oben aufzusteigen. Als dann die Wolke die beiden Plattformen überdeckte erreichte der Fluss der magischen Energie seinen Höhepunkt. Laurentine fürchtete schon, dass ihre untere Körperhälfte gleich überhitzen mochte. Dann begann die über ihnen aufquellende Lichtwolke zu singen wie drei Glasharfen. Danach geschahen drei Dinge in nur zwei Sekunden.
Hera sah, wie die Wolke aus blauem Licht sich zur oberen Wölbung eines Torbogens verformte. Von dieser schnellten zwei Schenkel aus blauem Licht nach unten und schlugen links und rechts von den zwei flachen Plattformen in den Boden ein. Im nächsten Moment verschwammen die festen Gestalten von Laurentine, Louiselle und Lucine zu blau leuchtenden Schemen, die in der nächsten Sekunde übergangslos verschwanden. Der blaue Torbogen blieb noch genau eine weitere Sekunde bestehen. Dann brach er an seinem Scheitelpunkt auseinander. Seine blauen Seitenschenkel schnellten wie zurückschnurrende Gummibänder in den Boden. Nun war nicht mehr zu sehen, dass hier gerade eben noch zwei Frauen und ein Baby gestanden hatten.
"Das war zu befürchten", seufzte Hera. Sie wusste, dass sie für's erste nichts mehr tun konnte außer zu warten und zu hoffen, dass ihr unter dem Umhang getragener Gürtel gegen magische Spürsteine sie weiterhin vor unerwünschtem Besuch schützen konnte.
Geneviève Dumas war erst ein wenig verärgert, als ihr Heras Krankmeldung für Laurentine ins Büro flatterte. Doch dann atmete sie tief durch. Hera war nicht die Heilerin, die sich von jemandem eine Krankheit vorgaukeln ließ. Ja, und mit einem echten von Laurentine verbreiteten Virus wollte sie um der Kinder Willen keinen Ärger kriegen. So stellte sie kurzerhand ihren heutigen Arbeitsplan um und übernahm Laurentines Sach- und Naturkundestunden. Die Rechenstunden konnte bei den erstklässlern wer anderes übernehmen.
Sie merkte, dass es doch ein Unterschied war, ob sie mit Achtung auf ordentliches Betragen und strickten Lerneifer zwar den nötigen Zwang ausübte, aber nicht den bei den Kindern so willkommenen Spaß am Lernen an sich hervorrief. Zwar warnte sie einmal zwei freche Drittklässler, die ihr nicht zuhören wollten, dass sowas in Beauxbatons gleich mit vielen Strafpunkten geahndet wurde. Doch die zwei Lausbuben grinsten nur und meinten, dass sie da ja erst in zwei Jahren hingehen würden.
In der zweiten großen Pause schickte sie eine Eule nach Paris, um Laurentine ihre besten Wünsche für eine schnelle Genesung zu übermitteln.
Es war kein freier Fall, sondern ein Schweben in einer erst hellblauen und dann grün-orange wechselfarbigen Lichtsäule. Laurentine hatte den Torbogen noch über sich entstehen sehenund sofort an einen Materietransmitter gedacht, eine Maschine zur zeitlosen Ortsversetzung lebender und toter Körper. Doch dann hätte sie gleich nach dem Entstehen des Lichtbogens am Zielort auftauchen müssen. Es dauerte jedoch mehrere Sekunden, bis das grün-orange Lichterspiel um sie herum zu einer sonnengelben Lichtsäule wurde. Dann fühlte sie einen kurzen Ruck durch die Füße und Beine gehen und meinte, auf einer trampolinartig nachfedernden Unterlage aufzukommen. Die Lichtsäule erlosch wie eine ausgeschaltete Glühlampe. Dunkelheit umfing Sie, Lucine und wohl auch Louiselle. Dann glomm grün-oranges Licht und wieder ein Ton wie von drei Glasharfen gleichzeitig angestimmt, nur geschätzt eine halbe Oktave tiefer als zuvor.
Erst einmal entzündeten die beiden erwachsenen Hexen ihre Zauberstablichter. Dann loteten sie mit dem Vier-Punkte-Zauber die genaue Nordrichtung aus. Sie wussten nun, dass sie in einer zylinderförmigen Kammer angekommen waren, in deren Decke zwei halbkugelige Unebenheiten zu sehen waren. Womöglich war das die Empfangs- und Rücksendevorrichtung dieser magischen Transportvorrichtung, dachten Louiselle und Laurentine.
Noch mal die Statuette hinstellen?" verkleidete Laurentine einen verbindlichen Vorschlag als Frage. Louiselle nickte und führte es aus. Wieder drehte sich die kleine Nachbildung Domenicas, wobei ihre in Hockstellung herausgearbeiteten Beine fest auf dem Boden blieben. Dann hatten sie die Richtung. Sie mussten in den südlichen der drei verfügbaren Gänge. Louiselle hob die Statuette wieder auf und übernahm die Führung. "Im Zweifelsfall erwischt mich was immer so, dass du mit Lucine noch den Notabsprung hinkriegst", mentiloquierte sie. "Das Wort ist übrigens "Avada"." Laurentine verzog wider alle Anstandsregeln des Mentiloquismus das Gesicht. Das erste Wort des tödlichen Fluches sollte der Auslöser des an Lucines Tragetasche hängenden Portschlüssels sein? Dann erkannte Laurentine die bestechende Logik dahinter. Wenn irgendwer sie mit dem Fluch angriff und das erste Wort rief würde der Portschlüssel beim zweiten Wort auslösen und sie noch vor der tödlichen Wirkung des Fluches in Sicherheit bringen. Dafür das Louiselle die meiste Last mit Lucines Entstehung hatte war sie doch dafür, dass Laurentine mit ihr überlebte, was immer sie zu vernichten trachtete. Doch Laurentine wusste auch, dass sie dann alleine nichts mehr gegen Ladonna unternehmen konnte und mehr als zwanzig Jahre mit Lucine nur noch in besonders geschützten Gebäuden leben durfte. Keine wirklich wünschenswerten Aussichten.
Der gewählte Gang verlief zunächst schnurgerade. Dann schlängelte er sich mal nach links und wieder rechts. Dann gabelte er sich in gleich vier weitere Gänge. Wieder befragte Louiselle die Statuette. Diese wies in den zweiten Gang von links.
Während sie dem gewiesenen Gang folgten überkam Laurentine wieder ein Erinnerungsblitz. Diesmal meinte sie, mit Louiselle auf dem bequemen Sofa zu kuscheln und wie sie einander mit ihren Händen erforschten und liebkosten. Dann war da nur der dunkelgrau widerscheinende Gang mit ebenem Boden. Dieser endete gerade in drei möglichen öffnungen.
"Und noch einmal die kleine Domenica", meinte Louiselle. Dann sah sie Laurentine und die immer noch wie selig schlummernde Lucine an. "Hattest du eben auch so eine Blitzvision, wie wir uns auf meinem Sofa gegenseitig erforscht haben?" Laurentine nickte. "Offenbar wird immer noch geprüft, ob wir die Kleine aus freien Stücken ins Leben gerufen haben", grummelte Louiselle.
"Das kann hinkommen. Immerhin haben Domenica und die andere ja ihre zwei Töchter auch ganz absichtlich ins Leben gerufen", bekräftigte Laurentine.
Der nächste zu nehmende Gang war der in richtung osten. Diesem folgten sie, bis sie vor einer Wand ankamen. Hier ging es offenbar nicht mehr weiter. Als sie nur noch einen Schritt davon entfernt waren schob sich leise schabend eine zweite Wand hinter ihnen aus dem Boden und verband sich leise knirschend mit der Decke. Nun standen sie in einer gerade mal drei mal zwei mal zwei Meter großen Granitkammer.
"Lustig, Louiselle, wie in deinem Prüfungsschlösschen", bemerkte Laurentine dazu.
"Ja, und deshalb ist mir das bisher sehr sympathisch, wenngleich ich die Rätsel vermisse", meinte Louiselle.
"Das Rätsel ist, dass wir irgendwie durch die Wand müssen, ohne Lucine zu gefährden", sagte Laurentine. Louiselle nickte. Dann prüfte sie erst, ob die Wand hinter ihnen wirklich aus festem Gestein oder nur eine Illusion war. Die wand war wahrhaftig fester Stein. Auch die vor ihnen liegende Wand war fest. Doch als Laurentine einer Eingebung aus früheren Erlebnissen folgend den Resonobstaculum-Zauber verwendete fand sie mehrere Hohlräume in der Wand und wähnte auch eine weitere größere Aushöhlung dahinter. Louiselle prüfte derweil auf magische Strömungen. Dabei fanden beide Hexen heraus, dass an zwei verborgenen Hohlräumen starke Magieströme zusammenflossen. Dann fühlten beide, wie ein unsichtbarer Kraftstoß sie durchzuckte. Laurentine meinte eine Inschrift zu erkennen. Doch sie war nicht in lateinischen Buchstaben verfasst.
Louiselle stieß ein erfreutes "Hah!" aus. Laurentine fragte, was ihr eingefallen war. "Der Text in der Wand. Das ist griechisch, o Wunder, wo wir es bisher mit Latein zu tun hatten. Aber offenbar will unsere vorausgegangene Auftraggeberin die Altsprachenkenntnisse prüfen. Auf jeden Fall ist es eine alte Anrufung der Erde und der altgriechischen Geburtshelfergöttin. Moment, mal sehen, ob ich das richtig ausspreche." Dann konzentrierte sich Louiselle und sang etwas in absteigenden Tönen, aus dem Laurentine die Namen Gaia für Erde, Eileithyia für die Göttin der Geburt und der Hebammen und das Wort Meter hörte, von dem sie wusste, dass es im Griechischen dem lateinischen "Mater" also "Mutter" gleichkam. Da leuchtete es wieder in jenem grün-orangen Farbton, der auch schon die Statuette und den Weg zwischen ihrem Ausgangsort und der Empfangskammer in diesem Höhlensystem erhellt hatte. Dann entstand vor ihnen beiden die räumliche erscheinung einer unbekleideten Frau mit nachtschwarzen haaren und strahlendblauen Augen. In dem Moment erbebte auch die Tragetasche auf Laurentines Rücken. Lucine erwachte und stieß einen kurzen Schreckensschrei aus. Die Erscheinung vor der Wand streckte nun beide Arme aus. Eine Hand deutete auf Laurentine und Lucine, die andere auf Louiselle. Sie traten beide vor. Lucine quengelte noch einmal. Dann beruhigte sie sich wieder. Die geisterhaft durchsichtige Erscheinung winkte behutsam mit den Händen und drehte sie dann so, dass die Handflächen nach oben wiesen. Louiselle und Laurentine wussten, was sie tun sollten. Sie streckten ihrerseits die Hände vor und legten sie in die Geisterhände. Wieder meinte Laurentine, einen elektrischen Strom zu empfinden, nicht schmerzhaft aber kribbelnd. Dieser tastete sich durch den Arm in ihren Brustkorb und durch ihren Hals in ihren Kopf. Unvermittelt sah sie sich im Zimmer des Geburtshauses von Millemerveilles und hörte Louiselles Schmerzensschreie. Sie sah, wie Lucines Kopf aus dem Leib ihrer Gebärerin hervordrängte. Dann hörte sie die ersten Schreie der Neugeborenen und zugleich erneute Schreie der von ihr gerade auf dem Rücken getragenen Lucine. Sie fühlte ein Beben durch ihre Lungen und Brüste gehen und dann, wie der geheimnisvoll prickelnde Strom durch ihre andere Hand aus ihrem Körper hinausfloss. Dann waren die Sicht- und Höreindrücke vorbei. Die Wand vor ihnen versank leise schabend im Boden. Dahinter öffnete sich eine gewaltig große Höhle.
Hera Matine hatte beschlossen, sich unsichtbar zu machen. Dann zauberte sie sich einen bequemen Stuhl herbei. Als sie saß wanderten ihre Gedanken zu Louiselle und Laurentine und der kleinen Lucine, deren Schicksal sie ungewollt bestimmt hatte. Würde sie erfahren, ob die beiden Erwachsenen erfolg hatten? Oder würde sie von einer der beiden anmentiloquiert, dass sie den Notfallportschlüssel hatte benutzen müssen und die andere zurückgeblieben war? Sie dachte daran, wie viel sie selbst gerade riskierte um Ladonna endlich zu entmachten. Sie hatte ihre gesamte Heilerinnenlaufbahn aufs Spiel gesetzt, um ihrer Eingebung und ihrem von ihrer verstorbenen Großtante Zoé Beaumot erteilten Auftrag zu folgen. Sollte Antoinette Eauvive es jemals mitbekommen, was sie angestellt hatte mochte ihr die Entlassung aus der Gilde und eine hohe, sehr schmerzhafte Strafe drohen. Andererseits wusste sie, dass Ladonna Montefiori endlich Einhalt geboten werden musste und sie, Hera Diane Matine, den Schlüssel dazu in die Hand gelegt bekommen hatte. Was ihr als Heilerin, Hebamme und mehrfache Mutter und Großmutter die größten Sorgen bereitete war eben, dass sie ein kleines, unschuldiges Kind in eine unvorhersehbare Lage gebracht hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Notfallportschlüssel noch rechtzeitig wirkte, um die kleine Lucine zu retten.
Julius Latierre sprach über den Sprachverständigungsdienst Skype mit Bärbel Weizengold. Die Kobolde drohten, die Tore von Gringotts vor dem Weihnachtstag zu schließen und erst wieder zu öffnen, wenn Giesbert Heller als wieder eingesetzter Abteilungsleiter für Handel und Finanzwesen vor den Ältesten der deutschsprachigen Sektion trat und formell um die Wiedereröffnung von Gringotts bat. Außerdem muckten die von König Malin VII. regierten Zwerge immer mehr auf und verlangten die vollständige Ausweisung aller von der Insel Britannia stammenden Kobolde und die Überantwortung des Goldwertbestimmungsrechtes bis zur Wintersonnenwende, ansonsten würden seine Truppen alle lebenswichtigen Einrichtungen der magischen und nichtmagischen Welt unbrauchbar machen.
"Und ihr wisst nicht, wessen Ultimatum heftiger ist?" fragte Julius, der sich sicher war, dass die von seiner Mutter geschriebenen Verschlüsselungsalgorithmen für Skype die davon bereits angebotene Verschlüsselung verstärkten.
"Also, ich bin berechtigt jedem Fachkollegen und jeder Fachkollegin in anderen Ministerien mitzuteilen, dass Minister Güldenberg es langsam leid ist, sich mit einem macht- und Erfolgssüchtigen Zwerg herumärgern zu müssen und wegen der angedrohten Beschädigungen von nichtmagischen Einrichtungen die Notfallklausel neun des geheimhaltungsstatutes anwenden wird. Er empfiehlt allen nicht von Ladonna unterjochten Ministerien, es ihm gleich zu tun und die auf ihren Hoheitsgebieten lebenden Zwerge in ihrer Bewegungsfreiheit maximal einzuschränken. Will heißen, er will sie alle in ihrer Höhlenstadt einsperren, und zwar so, dass die da vor einhundert Jahren nicht mehr rauskommen, falls sich ihr König nicht per Durins Blutschwur dazu verpflichtet, alle nicht mit ihm zu tun habenden Dinge und Einrichtungen in Frieden zu lassen. Ich denke mal, eine schriftliche Bekanntmachung schwirrt eurer Abteilung für internationale Zusammenarbeit und Verwaltung von Zauberwesen und Tierwesen demnächst ins Haus."
"Hat dieser König Malin immer noch die fixe Idee, den Nichtmagiern allen Strom abzuklemmen? Das wollte Ladonna doch im Juli schon machen."
"An die Elektrostromfabriken kommen seine Leute nicht ran, weil da die Zwergenverängstigungs und -aufhetzungsfallen der Kobolde lauern. Aber er könnte finden, dass es in Deutschland zu viele Automobilstraßen gibt oder die summenden Drähte durchschneiden, die an hohen Masten ausgespannt sind."
"O, das sollte er besser lassen. Es sei denn, der sieht eine Mission auch dann als Erfolg an, wenn bei der Durchführung zehntausend Soldaten sterben", erwiderte Julius. "Das wird unser Zwergenbeauftragter deren Boten sicher auch schon mitteilen. Herr Weizengold, also mein direkter Vorgesetzter, hat es dem Zwergenverbindungskollegen sicher schon mitgeteilt. Aber so genau weiß ich das nicht."
"Gut, wir können hier von uns aus nichts machen. Außerdem haben wir einen tragfähigen Friedensvertrag mit Kobolden und Zwergen, der allen Seiten bisher sehr gut dient. Also müssen wir keine Zwerge in ihrer Höhlenstadt einsperren. Aber das darf die Ministerin eurem Minister selbst mitteilen", erwiderte Julius. Dann beendete er das über Internet geführte Direktgespräch mit Bärbel Weizengold. Ihr Bild verschwand mit dem für Skype typischen Abmeldesignal vom Bildschirm.
"Öhm, und du weißt echt nicht, wofür sie den jungen Pierre Marceau abgestellt haben, Julius?" fragte Primula Arno den jungen Ministeriumszauberer. Diesem fiel jetzt auf, dass sie ihm wohl die ganze Zeit zugehört hatte. Falls sie noch eine gewisse Loyalität mit den französischen Zwergen hatte könnte sie diese warnen. Er sagte dann aber nur: "Wenn ich das von Nathalie richtig mitbekommen habe geheime Kommandosache. Also irgendwas zwischen S7 und S0, wo längst nicht jeder was von wissen darf."
"Es ist nur so, Julius, dass da draußen eine sehr gemeine, gnadenlose Ausgeburt des Irrsinns und der Überheblichkeit herumläuft, die jeden, der mit Veelas gut auskommt entweder an die Kette legen oder aus der Welt schaffen will."
"Geh davon aus, dass Madame Grandchapeau und wer da sonst noch mit dranhängt das wissen, Tant-chen", erwiderte Julius. "Außerdem, warum machst du dir Sorgen? Pierre wird hoffentlich wissen, worauf er sich da einlässt."
"aus dem ganz einfachen Grund, dass Ladonna Montefiori ihn genausogut gegen uns einsetzen könnte, wie du sicher auch weißt. Da sie was gegen andersrassige Wesen hat könnte er dazu dienen, Leute wie mich, meine Mutter Lutetia, meine Brüder und Schwestern und auch alle Nachkommen von ihr umzubringen."
"Ich versteh das", erwiderte Julius. Ja, er verstand es zu gut. Doch er hoffte, dass Millemerveilles jeden abwies, der von einem bösen Zauber getrieben wurde, also auch einen möglicherweise umgedrehten Pierre Marceau. Primula nickte ihm zu und kehrte dann an ihren Arbeitsplatz zurück.
Laurentine und Louiselle betraten die weite Höhle. Ihre Zauberstablichter reichten nicht bis zum anderen Ende hinüber. Dafür erstrahlte die von Louiselle getragene Statuette in jenem grün-orangen Licht. Dieses schien von weiter weg widerzuscheinen. Laurentine ließ Louiselle wieder den Vortritt. Beide gingen auf das andere Licht zu. Dann sahen sie ihr Ziel.
Vor ihnen ragte ein Granitsockel auf, der halb so hoch wie sie selbst war. Darauf hockte eine genaue Nachbildung jener kleinen Statue, die Hera für eine Nachbildung von Domenica Montefiori hielt. Die mehr als lebensgroße Steinfigur bestand aus schwarzem Marmor und sandte oberhalb ihres wie zur Niederkunft entblößtem Unterleib jenes grün-orange Licht aus, dass ihre kleine Schwester in Louiselles Hand ausstrahlte. Sie hatte ihre Arme weit ausgebreitet und ihre Handflächen nach oben gekehrt. Louiselle hatte auf einmal Schwierigkeiten, die kleine Nachbildung der großen Statue festzuhalten. Sie musste sie absetzen, wenn sie sie nicht fallen lassen wollte. Kaum stand die Statuette auf dem Boden öffnete ihre große Schwester ihren Mund, als sei sie ein Wesen aus Fleisch und Blut. Die Augen der beiden Nachbildungen begannen nun blau zu leuchten. Das grün-orange Flirren verlosch. Dann hörten sie die selbbe Stimme, die auch schon die kleine Statue benutzt hatte. "Vor mein Angesichte ihr getreten seid, zwei Trägerinnen der hohen Kräfte. Doch werdet ihr einmal mehr erweisen müssen, ob ihr vereinet habt euer Fleisch und Blut in einem gemeinsamen Kinde. So leget nun eure Hände in die meinen, um euer Blut zu erkunden, ohne es zu trinken!" klang die Stimme der großen Statue in einer jahrhunderte alten, schwer verständlichen Form von Französisch.
Louiselle wagte es trotz der Nichts-unbekanntes-anfassen-Regel, ihre Hand zuerst in eine freie Hand der großen Statue zu legen. Als ihr nichts widerfuhr tat es ihr Laurentine mit der anderen Hand nach.
Wieder erfüllte ein Beben die beiden Hexen. Lucine erwachte erneut und weinte lauthals. Laurentine sah Lichter über sich und Louiselle huschen. Dann entstanden über ihrem und Louiselles Kopf Lichtkugeln, die miteinander verschmolzen.
"So leget auch die Frucht eurer gemeinsamen Mühe und Liebe in meine Hände, auf dass ich erfahre, ob sie wirklich euer gemeinsames Fleisch und Blut und noch zu jung für eigene Taten ist!" Mit diesen Worten bewegten sich die beiden bis dahin steinharten und kalten Arme der Statue aufeinander zu und verschränkten sich ineinander. Laurentine und Luiselle sahen einander an. Laurentine sah Entschlossenheit in den Augen der Geliebten. So nahm sie Lucine aus ihrer Tragetasche. Die kleine strampelte erst und zeterte. Doch Laurentine hielt sie sicher und schaffte es, sie in die zusammengeführten Hände der großen Steinfigur zu legen.
Es war nicht mit den Augen zu sehen. Doch sie fühlten, wie etwas von ihnen beiden in Lucines wimmernden, zitternden Körper einströmte und dann daraus wieder zu ihnen zurückfloss. Offenbar bewirkte was auch immer, dass Lucine immer ruhiger wurde, bis ihr großer Babykopf sachte an den rechten Unterarm der Statue lehnte. Offenbar war es der kleinen weder zu kalt noch zu hart. Dann hörten sie aus demMund der Statue ein leises Lied. Über Lucines Körper entstanden grüne und rote Funken, die immer weiter nach oben stiegen und sich mit jener Lichtkugel vereinten, die vorhin aus Laurentines und Louiselles eigenen Kräften entstanden war. Die Kugel glomm in sattem Grün und summte auf einer erträglichen Tonhöhe und Lautstärke und pulsierte im Takt des kleinen Herzens, das in Lucines Brust schlug. Das alles dauerte eine Minute. Dann sagte Domenicas steinernes Abbild: "So nimm jene zurück, die aus deinem Schoße entstand, aber im Schoße deiner Gefährtin heranreifte und ihm unter Schmerz und Freude entkroch!" Laurentine griff schnell aber noch sanft genug zu, um ihre Tochter aus den sich voneinander lösenden Händen der Statue zu nehmen. Schnell verstaute sie sie wieder in der Tragetasche.
"Ihr seid als zwei Mütter einer gemeinsamen Tochter erkannt. So kann und werde ich nun erfüllen, weshalb ich all die Zeit hier ausharrte, ich, die steinerne Wächterin", sagte die große Statue nun. Dann schien ihr Körper zu verkrampfen. Sie begann laut zu stöhnen. Aus dem Stöhnen wurden Schreie, die die gesamte Höhle ausfüllten. Nun konnte Laurentine sehen, wie aus dem einer lebenden Frau nachempfundenen Unterleib ein grünes und oranges Licht erstrahlte, bis sich unter den einer echten Niederkunft gleichenden Lauten der steinernen Wächterin eine mehr als kopfgroße Leuchtblase löste, die nach dem Austritt an einer dünnen, pulsierenden Lichtschnur hängend in den Raum hineinschwebte. Laurentine sah, dass in der durchscheinenden Lichtkugel drei Gegenstände schwebten, zwei aufgerollte schwarze Gürtel mit silbern glänzenden Schnallen und ein grün-blau geschuppter Lederbeutel. "Dies sei euch und euerem Fleisch und Blut dargebracht aus meinem duldsamen Schoße, Laurentine und Louiselle", sprach die große Statue ohne weitere Schmerzenslaute. "Ergreift beide die Ausgeburt meiner und eurer letzten Hoffnung!"
"Auf drei!" sagte Louiselle. "Eins - zwei- drei!" Laurentine und sie griffen gleichzeitig an die frei schwebende Leuchtblase. Sie fühlten einen gummiartigen, mehr als handwarmen Widerstand. Dann ploppte es, und die Leuchtblase zerplatzte in eine Wolke Funken, die in den Leib der Statue zurückschwirrten. Beide fingen nun je einen der zusammengerollten Gürtel auf. Laurentine bekam auch den Ledersack mit klapperndem Inhalt zu fassen und wusste sofort, dass es ein altes Schlüsselbund sein musste. Tatsächlich führte eine Gliederkette aus einem im Zauberstablicht rosig glänzenden Material in den mit mehr als sieben Knöpfen verschlossenen Lederbeutel. Als Laurentine ihn öffnete legte sie neun Schlüssel aus einem nichtmetallischen Material frei, die unterschiedlich groß waren und mal nur einseitig und mal beidseitig bezahnt waren.
"Schlüssel aus Obsidian", stellte Louiselle fest. Dann schien eine Erkenntnis in ihrem Kopf aufzublitzen. "Ich habe immer gedacht, das sei ein Zaubererweltmärchen, geschöpft aus der griechisch-römischen Mythologie", sagte sie. "Aber wenn das da kein Märchen ist, dann hältst du gerade die Schlüssel zu den neun Toren zu Vulcanus' oder Hephaistos' Werkstatt in den Händen. Oder die Dame, die diese Statue hier geschaffen und bezaubert hat, will uns noch einen Streich spielen."
"Die Gürtel sind die Schlüssel zum Wissen, die aus schnell erkaltetem Feuerberggestein geschaffenen Schlüssel sperren euch den Weg zum Erbe meines Vaters auf. Bitte leget an die Gürtel der gemeinsamen Frucht! Hegt weder Arg noch Furcht vor üblem Spiele! Ich möchte euch nicht verderben, sondern bestärken."
Louiselle untersuchte ihren aufgefangenen Gürtel vorsorglich mit Flucherkennungszaubern, auch den von Laurentine. Sie konnte dabei eine merkwürdige Erscheinung hervorrufen, eine große, schlanke Frau mit dunklen Haaren, die auf einem strahlendweißen Einhorn mit silbern funkelndem Horn ritt. Die Erscheinung blieb jedoch nur solange sichtbar, wie Louiselle die Formel "Agens originis revelio!" murmelte. Dann besahen sie und Laurentine sich die zwei erbeuteten Gürtel. Jeder von ihnen bestand aus dicht verflochtenem Haar zweierlei Art und schimmerte im Zauberstablicht schwarz und silbern. Laurentine konnte deutlich eingewebte Zauberzeichen erkennen. Doch vor allem die Gürtelschnalle war etwas besonderes. Sie glänzte silbern. Doch es war kein Silber. Als Laurentine den ihr zugefallenen Gürtel betastete fühlte sie es warm und glatt unter ihren Fingern. Es war wahrhaftiges Einhornhorn!
"Die hat aus feinem Frauenhaar, womöglich von Veelastämmigen und dem Schweifhaar eines erwachsenen Einhorns den Gürtel geflochten und aus dem Horn, womöglich desselben Tieres, hat sie die Schnallen gemacht", stellte Louiselle mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung fest.
"Moment mal, ich hatte keinen Tierwesenunterricht. Aber ist es nicht so, dass man Einhornhorn nur bekommt, wenn das daran hängende Einhorn stirbt? Deshalb ist das doch sein zehnfaches Gewicht in Gold wert."
"Das achtfache, weil es in den letzten Jahrzehnten gelang, mehr Einhörner nachzuzüchten und den Bestand von vor sechshundert Jahren fast wieder erreicht hat. Mehr später, wenn wir das alles hier überstanden haben, Laurentine", sagte Louiselle. Laurentine sah ihr an, dass sie zu dem Thema wohl noch eine Menge zu sagen hatte. Aber da draußen wartete eine besorgte Hera Matine und irgendwo anders noch eine lauernde, machtsüchtige Viertelveela Namens Ladonna Montefiori.
"Tja, wenn wir die Gürtel umschnallen schließen wir wahrscheinlich einen bindenden Vertrag, wie beim Einwerfen des Namens und der Schule in den trimagischen Feuerkelch", meinte Laurentine. Ihr war immer noch etwas mulmig, sich derartig einer ihr unbekannten, womöglich nicht so vertrauenswürdigen Quelle auszuliefern.
"Ich weiß verdammt genau was du meinst, Laurentine", sagte Louiselle. "Wenn es nicht gerade darum ginge, Ladonna Montefiori endlich Einhalt zu gebieten würde ich auch sagen, dass wir an dieser Stelle abbrechen und die Dinger hier zurücklassen. Das Gefühl, am Ende doch von der in dieser Statue eingeflossenen Domenica instrumentalisiert zu werden gefällt mir auch nicht. Aber wie gesagt, womöglich ist dies die einzige reelle Chance, Ladonna Montefiori aufzuhalten, ohne noch mehr Blut zu vergießen."
"Du hast keinen Fluch in den Gürteln gefunden, auch keinen Erfüllungsfluch?" fragte Laurentine. "Keinen Fluch in dem Sinne, der uns zu bösen Taten treibt oder körperlich oder seelisch schädigen soll, Laurentine. Aber wie du sagtest, wir würden ganz sicher eine Einwilligung erklären, Domenicas Erbe vollständig zu erfüllen. Das hätte dann auch eine erwachsene Tochter zweier Hexen auf sich zu nehmen."
"Ich habe von dir gelernt, dass es nötig ist, auch mal unangenehme Dinge zu tun oder nicht nur auf gutartige Mittel zu hoffen, um das eigene Leben zu schützen. Am Ende sind da draußen schon welche, die diese Höhle suchen und diese Statue vernichten wollen, damit Ladonna ungefährdet weitermachen kann. Da will ich auch nicht diejenige sein, die behaupten muss, das zugelassen zu haben. Wie machen wir's?"
"Okay, wir machen das auch wieder gleichzeitig", sagte Louiselle. Laurentine bejahte es und legte sich ihren Gürtel um die Taille. "Eins - zwei - drei!" zählte Louiselle. Dann schloss sie die besondere Schnalle. Laurentine tat es ihr gleich. Unverzüglich passte sich ihr Gürtel ihrem Taillenumfang perfekt an. Die Schnalle vibrierte sanft. Dann überkamen die beiden Hexen Bilder und eine von Domenicas Stimme geschilderte Geschichte.
"Wie, ihr findet nicht raus, wo das herkam? Irgendwer hat einen zwischen Erde und Luft schwingenden Flächenzauber gemacht und ihr könnt das nicht rauskriegen?" fragte Ladonna Montefiori, die bereits damit haderte, bis auf weiteres in ihrer eigenen Residenz eingesperrt zu sein wie eine Strafgefangene.
"Wir wissen nur, dass es irgendwo auf Sizilien ist. Aber weil alle Spürsteine dort angesprochen haben ist eine genaue Ortung unmöglich, meine Königin", beteuerte Barbanera, mit dem Ladonna eine Gedankenbrücke hielt.
"Sizilien. Mein Großvater mütterlicherseits kam von dort. Womöglich ist dort ihr letztes Vermächtnis begraben. Sucht es und bringt es mir, und falls nötig auch jene, die meinen, daran rühren zu dürfen!" befahl Ladonna Montefiori. Ihr Statthalter und einer der ersten treuen Knechte bestätigte, dass er alles tun würde, um den Befehl seiner Herrin zu befolgen.
"Sizilien also. Ich hätte es mir denken können", dachte Ladonna, nachdem sie die Gedankenbrücke mit Barbanera gekappt hatte. Dann nahm sie Fernkontakt zum bulgarischen Zaubereiminister auf und fragte ihn, ob er wisse, wo die bei ihm gemeldete Sternennacht gerade sei. "Alle Veela sind fort, meine Herrin und Königin", erwiderte der Zaubereiminister Bulgariens. "Und jetzt habe ich russische Ministeriumszauberer an der Grenze, die versuchen, meine Leute zu fangen. Soll ich sie töten lassen?"
"Nein, du Narr. Die sind mit einem Zauber belegt, der die Nähe deiner Männer verrät und sie gegen sie in Stellung bringt. Sucht weiter nach Sternennachts Wohnstatt. Ich will wissen, wo sie gerade zu finden ist", erwiderte Ladonna. Ihr getreuer Statthalter bestätigte das.
"Wenn es wirklich stimmt, dass Domenica noch weitere dieser kleinen Statuen ausgestreut hat hat irgendwer rausgekriegt, wo die herkamen und was sie sollen. Ich will das wissen", knurrte Ladonna. Im tieffsten inneren fühlte sie jene Angst lauern, die sie bei ihren Träumen von der Wiedervereinigung mit ihrer Schwester gefühlt hatte. Ihr war bewusst, dass ihre Mutter sich damals nicht ohne Sinn und nur aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Irgendwas hatte sie hinterlassen, was ihr, Ladonna, zum Verhängnis werden sollte. Sie konnte nur hoffen, dass sie es früh genug herausfand und dann womöglich den Spieß umdrehen und mit dem Vermächtnis ihrer toten Nährmutter alle gegen sie aufbegehrenden Menschen und anderen Zauberwesen unterwerfen konnte. Doch weil es ihr ebenso den Garaus machen oder sie zumindest entmachten könnte musste sie wissen, worum es ging.
Sei gegrüßt, rechtmäßige Erbin meiner letzten großen Hinterlassenschaft! Wie du wohl schon erfahren durftest lautet mein name Domenica Montefiori. Ich wurde als Tochter von Vittorio Montefiori und der Tochter Mokushas namens Nachtlied als erste von drei Töchtern und erstes von fünf Kindern geboren. Ich wurde von Nachtlied im Glauben an die große Kraft und den Vorrang vor den kurzlebigen Menschen erzogen und sollte, nachdem ich unter großen Schwierigkeiten die Academia Gattiverdi besuchen durfte, darauf hinwachsen, einen meine Fähigkeiten ergänzenden Sohn der Menschen oder der Mokusha zu ehelichen. Wie es unsere innere Veranlagung ist können wir Töchter Mokushas verborgene und noch zu weckende Begabungen in mit den hohen Kräften begabten oder diese wie ein grummelnder Feuerberg zurückhaltenden Menschen erspüren. Doch ich fühlte mich immer schon zu anderen Frauen hingezogen, auch wenn diese meine Nähe scheuten oder mich mit Abscheu und Eifersucht zurückwiesen. Eines Tages traf ich Giorgiana, deren Mutter eine grüne Waldfrau war, welche von denen, die im Rufe standen, kleine Kinder zu fangen und zu verzehren. Wir beide fühlten uns zueinander hingezogen. So vereinten wir unsere Körper und brachten uns gegenseitig unsere Unschuld dar. Wir beschlossen, miteinander zu leben.
So ging dies viele Jahre, bis wir erkannten, dass dieses allein uns nicht wirklich erfüllte. So stellten wir Versuche an, ohne von einem Manne berührt zu werden empfangen zu können. Dann fanden wir den Weg, den ich hier nicht weiter erläutern werde, weil du ihn ja selbst erfahren hast oder einen anderen Weg gefunden hast, um zu empfangen oder dass es dich nun gibt.
Erst gebar ich eine Tochter, die von Schönheit, Stärke und Klugheit strotzte. Wir nannten sie Regina, weil wir beide erhofften, dass sie dereinst Königin aller Magi und Magae und Verwalterin des magielosen Menschenvolkes sein möge. Doch weil ich fühlte, dass meine mir mit Leib und Seele zugetane Gefährtin damit haderte, dass sie die Schmerzen und Wonnen der Mutterschaft nicht erfahren hatte, schritten wir in Reginas achtem Lebensjahr ein zweites mal zur vaterlosen Zeugung. Diesmal ließen wir es so geraten, dass Giorgiana schwanger wurde. Doch das in ihr reifende Kind, natürlich auch eine Tochter, wuchs zu schnell, so dass es am Tage der Geburt zu groß war, um ohne Schaden anzurichten aus dem Schoße meiner Liebsten zu entschlüpfen. Deshalb sang sie ihr das Lied des Überganges, mit dem von Waldfrauen geborene in der Stunde der letzten Niederkunft und der Stunde ihres eigenen Todes ihren eigenen Körper verlassen und in den der gerade erst zur Welt kommenden Tochter neuen Halt finden können. Dies vollbrachte Giorgiana und wurde eins mit ihrer Tochter, die wir Ladonna, die Herrin nennen wollten, weil sie gleichberechtigt mit ihrer großen Schwester herrschen sollte.
Die Jahre flogen dahin. Regina und Ladonna wuchsen und gediehen. Doch als sie beide die Frauenreife erlangten wuchs wie tückisches Unkraut die immer stärkere Eifersucht in beiden von ihnen, die jeweils andere könne ihr überlegen sein. Regina, die wir, ich muss dies gestehen, darauf hinerzogen haben, dass sie als die Ältere die Vorherrschende werden sollte, trieb mit diesen Gewissheiten Ladonna in immer größere Wut, zumal Ladonna mit Giorgianas Wissen und Erfahrung gesegnet oder auch verflucht war.
Ich bereue dies wie vieles andere, dass ich nicht früh genug erahnte, dass es zum blutigen Zweikampf der Schwestern kommen konnte. Als ich davon erfuhr, war es schon zu spät. Ladonna hatte den Sieg davongetragen und Regina, ihre ältere Schwester, zu tode geflucht. Dies sah sie als ihr zustehendes Recht an, da Regina sie vorher oft genug beleidigt und bedroht haben sollte. Ab diesem Tage wusste ich, dass Ladonna mehr von der Raubtiergesinnung einer grünen Waldfrau als vom Miteinander im Blute vereinter Kinder Mokushas geerbt hatte. Ich musste davon ausgehen, dass sie nun, wo sie ihre eigene Schwester getötet hatte, auch anderen Kindern Mokushas nach dem Leben trachten würde. Dies galt es zu verhindern.
Da meine beiden Brüder Ignatius und Adamas in einer Schlacht der kleineren Völker gegen die ungeschlachten und Blut saufenden Riesen ihre jungen Leben ließen hat mir mein Vater sein wertvollstes Vermächtnis hinterlassen, die Schlüssel der neun Tore der Beständigkeit. Sie führen in die aus den Tiefen der Zeit hallenden Geschichten erwähnten Werkstätten eines mächtigen Meisters von Feuer und Erz, dessen Gaben und Künste so urgewaltig waren, dass ihn die Hellenen als Gott der Schmiedekunst verehrten und die das hellenische Wissen und Werk erobernden Söhne Italiens, die das gewaltige Imperium Romanum begründeten, als ihren Gott Vulcanus verehrten. Nach ihm wurden alle Feuerberge der bekannten Welt benannt, so auch jener, in dessen glühendem Schoße jener Erzmeister von Feuer und Schmiedekunst seine Werkstätten unterhielt und mit dem ewigen Feuer aus Gaias glühendem Schoße seine mächtigen Waffen schuf. Viele davon sind in den alten Geschichten besungen. Darunter ist auch eine Klinge aus dem Erz des Himmelsberges von Atlantis, ein Schwert, das alle durch Zauberwerk und Nachzucht aus unterschiedlichen Wesen entstandene Nachkommen in ihre ursprünglichen Wesen zurückverwandeln kann. Haben sie eine Seele, so heißt es, dass diese dabei zwar den Körper verlassen muss, aber nicht die Qualen des Todes verspürt und die Entscheidung treffen kann, in der stofflichen Welt zu verbleiben oder ohne Arg und Furcht in die ihr vorbestimmte Nachwelt übertritt.
ich weiß, dass ich als Mutter nicht nach dem Leben eines meiner Kinder trachten darf. Doch mag ich auch nicht wähnen, dass jenes meiner Kinder alle meine Vorfahren und deren Verwandten meucheln mag, um sich an deren Lebenskraft zu laben. Daher lege ich dir oder deinen Müttern die Schlüssel zu den neun Toren in die Hände. Nutzt jene kleine Nachbildung von mir, der steinernen Wächterin, als die ich solange wache, wie mein Auftrag wären mag, , um jenes Schwert zu finden und wider meine missratene, dem Abgrund entgegeneilende Tochter von ihren dunklen Trieben zu erlösen und die Welt vor ihrem unstillbaren Hunger nach Machtund Geltung zu bewahren.
Hinter jedem der Tore werden Wächter unterschiedlicher Art lauern. Sie dürfen bekämpft und niedergerungen, aber nicht getötet oder vernichtet werden. Wenn du die dritte Tochter bist, so kennst du hoffentlich alle Wege, die Wächter der Tore zu überwinden, ohne sie zu töten. Doch einen wichtigen Rat muss ich dir oder deinen beiden Müttern erteilen: Wenn es erreicht ist, das neunte Tor zu durchqueren, so nehmet den glänzenden Wächterinnen den Boden unter den Füßen, weil sie sonst zu schnell für dich oder euch sind und gegen das allermeiste Zauberwerk gefeit sind.
Ich, Domenica Montefiori, nun die steinerne Wächterin, wünsche dir Glück und Erfolg, auf dass deine Welt von jenem von mir mitgezüchteten Alpdrucke errettet werde.
Barbanera wusste, dass er bloß nicht noch mal so mit seiner Herrin sprechen durfte. Er hatte ihr eingestanden, dass er gerade nicht weiterkam. Doch das war genau das, was sie nicht hören wollte. Auch wenn er der treue Untertan der ersten Stunde war und der Königin alles erklärt hatte, was sie brauchte, um ihre ganze Macht zu entfalten, konnte sie ihn wegen Versagens ebenso töten wie einen erklärten Feind. Ja, sie war angeschlagen, weil es den Veelafreunden gelungen war, Russland aus der Koalition der Verbundenheit zu reißen. Wenn sie jetzt noch fürchten musste, dass irgendwer irgendwo in Italien selbst gegen sie aufstehen und sie niederkämpfen konnte war sie um so gefährlicher und gnadenloser.
Immerhin hatte er ihren Befehl befolgt und eine Hundertschaft um ihr Anwesen postiert. Da kam nun niemand mehr hin, ohne auf erbitterten Widerstand zu treffen. Ja, und am Ende wartete der Blutfeuernebel.
Laurentine und Louiselle erfuhren außer Domenicas Lebensgeschichte in Worten und Bildern noch, was es mit dem Gürtel der gemeinsamen Frucht auf sich hatte. Diesen hatte sie aus dem eigenen Haupthaar und dem Schweifhaar ihrer Lieblingseinhornstute Mondblitz geflochten. Als Mondblitz nach dem siebten Fohlen ihr Horn abwarf, um ein neues auszubilden hatte Domenica daraus die Gürtelschnallen gemacht und in diese mächtige Zauber des Schutzes von Fleisch und Blut und eine Bestärkung der eigenen Gewandtheit eingewirkt. Sie warnte jedoch davor, den Gürtel mehr als einen Tag und eine Nacht am Leibe zu tragen, weil der Körper sonst davon so abhängig werden mochte wie von seinem eigenen Herzen. Doch er konnte nach der Ruhe von einem Tag und einer Nacht erneut angelegt werden. Außerdem vermochte er die Erinnerungen an alle mächttigen Schutzzauber, die je erlernt wurden, zu stärken, dass diese bei Gefahr zur Hand waren. Jenes in der angeblichen Werkstatt des Schmiedegottes versteckte Schwert der Entschmelzung, das wie ein römischer Gladius aussah, aber leichter und härter war, konnte jedoch nicht von einer Hexe geführt werden, die bereits ein Kind empfangen und geboren hatte. Sollte jene dritte Tochter dies bereits erlebt haben so sollte sie einen männlichen Vertrauten dazu bewegen, sie in Ladonnas Versteck zu geleiten und statt ihrer das Schwert wider sie zu führen, auf dass ihr Körper in die drei Ausgangsformen aufgeteilt und ihre Seele daraus gelöst werden möge, um ohne weiteren Schaden anzurichten zu entschwinden. Doch sollte wer immer das Schwert führen gewiss sein, es niemandem zu verkünden, dass er es in Händen gehalten habe. Denn von ihm berichteten versteckte Bücher und mündlich weitergegebene Geschichten. Wer das Schwert der Entschmelzung besaß und dies anderen erzählte machte sich zum Ziel von begehrlichkeiten. Besser sei es, die Waffe nach der erfüllten Aufgabe in ihr Versteck zurückzubringen und es zum Geheimnis zu erheben, wo es sei.
Als all diese Bilder und Berichte in Laurentines und auch Louiselles Geist eingeflossen waren vergingen die Visionen. Laurentine fühlte nur noch den um ihre Taille liegenden Gürtel der gemeinsamen Frucht. Würde der ihr wirklich helfen, gegen Ladonnas mächtige Mordzauber zu bestehen?
"nun wo ihr alles erfahren habt möget ihr ausgehen, das gefahrvolle Werk zu vollenden", sprach nun die große Statue Domenicas.
Laurentine und Louiselle verließen die Höhle der steinernen Wächterin wieder. Mit hilfe der kleinen Nachbildung Domenicas fanden sie die richtigen Gänge wieder und konnten zur Kammer der Ankunft gelangen. Dort brauchten sie sich mit umgeschnallten Gürteln nur unter die beiden Halbkugeln an der Decke stellen. Diese erstrahlten im blauen Licht. Ein neuer Torbogen entstand. Sie wurden erneut in eine Säule aus erst blauem, dann grün-orangen und dann wieder blauem Licht eingehüllt. Dann fanden sie sich zusammen mit Lucine auf jenen Plattformen wieder, von denen aus die Reise begonnen hatte. Dort enttarnte sich Hera Matine.
"Ich habe schon befürchtet, ihr wäret unrettbar verloren, ihr zwei. Aber jetzt erst einmal weg von hier. Ich habe über einige passive Fernspürzauber mitbekommen, dass offenbar jemand versucht, nach der Quelle deines großflächigen Suchzaubers zu suchen, Louiselle."
"Oh, dann wird es Zeit! Wir müssen in die Nähe des Ätna und da in eine unterirdische Höhle eindringen", sagte Laurentine. "Erklärungen dann, wenn wir aus dem Feindesland wieder raus sind."
"Dann los", trieb Hera die eiligen zu noch größerer Eile an.
Sternennacht beobachtete über die Sinne eines von ihr bezauberten Waldvogels, wie sich um das vom tödlichen Nebel verhüllte Grundstück der in Dunkelheit getriebenen Verwandten an die hundert Hexen und Zauberer versammelten. Einige davon bestiegen Besen, die unsichtbar machten. Damit konnten sie unbemerkt die Gegend überwachen und alles angreifen, was sich dem Haus näherte.
"Sie schart ihre Knechte um ihr Haus, wohl aus Angst vor weiteren Angriffen von uns", sang Sternennacht. "Doch genau damit bietet sie uns die Gelegenheit, ihr getreue Gefolgszauberer und unterwürfige Hexen zu entreißen."
"Sie kann jederzeit aus ihrem sicheren Haus verschwinden. Sie kann den zeitlosen Weg gehen", sang Sternennachts Tochter Abendstille.
"So sei es, dass wir sie dazu bringen, an einem Ort zu erscheinen, wo wir überlegen sind und sie dort zum Kampf stellen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Zauberstabträger sie töten und uns damit ungewollt zur Blutrache verpflichten. Auch wenn wir allen, die mit uns sprechen die Warnung verkündeten, sie nicht zu töten oder sie gar nur uns zu überlassen, so dürfte die steigende Angst und der aus dieser geborene Hass mittlerweile groß genug sein, unsere Warnung zu missachten und unsere Rache als kleineres Übel zu betrachten", sang Sternennacht. Wo so viele von ihren Unterworfenen gerade um ihrem Haus versammelt sind gilt es, die Errungenschaft unserer Verwandten zu nutzen. Vielleicht gelingt uns damit auch, Ladonna aus ihrer dunklen Festung zu locken."
"Du meinst, wir sollten die Träger des goldenen Lichtes über den Wachen herunterlassen?" fragte Abendstille. Sternennacht bejahte dies.
"Wir können aber nur in unserer gefiderten Gestalt fliegen", wandte Abendstille ein. Sternennacht verzog ihr Gesicht. Ja, das traf zu. Aber wie sollten sie die Kerzen sonst ins Ziel bringen? Vor allem hatten sie selbst gerade vier stück, die von ihnen und anderen bulgarischen Volksangehörigen hergestellt worden waren. Um mehr zu erhalten müssten sie ins Ausland. Doch weil der Ältestenrat ihre Sippe dazu verurteilt hatte, die Schande namens Ladonna Montefiori aus der Welt zu schaffen durften sie sich keiner anderen Sippe der Kinder Mokushas anvertrauen. Das käme einem Schwächeeingeständnis und damit einem erklärten Versagen gleich. Dann blieb ihr nur, sich im Namen ihrer Familie selbst zu entleiben und darauf zu hoffen, dass Mokusha sie in ihren ewig warmen Schoß zurücknahm und ihre restliche Sippe nicht aus der Gemeinschaft der Sippen Mokushas ausgeschlossen wurde. Nein! Sie wollte nicht wegen dieser von Waldfrauenblut vergifteten, machthungrigen Missgeburt ihr noch lange währendes Leben hingeben. Also blieb ihr nur, die vier im eigenen Besitz befindlichen Kerzen zu verwenden. Dann hatte sie den Einfall, von dem sie hoffte, dass er sie retten und Ladonna einen weiteren schmerzhaften Schlag versetzen konnte.
Il Mongibello, so nannten die Sizilianer den immer wieder Feuer und Lava speienden Berg, der zugleich die höchste Erhebung ihrer Insel war. Die Benennung sollte die Wut des Feuerberges beschwichtigen. Doch dem Berg war dies genauso egal, wie es einen Kind egal ist, ob ein Regentropfen eiförmig oder kugelrund vom Himmel fällt.
An den Hängen des Berges hatten nichtmagische Wissenschaftler Horchgeräte aufgestellt, die in seine feurigen Eingeweide hineinlauschten, und wagemutige Forscher hatten es geschafft, am Kraterrand Schnüffelgeräte aufzustellen, die die dem Berg entweichenden Gase auf ihre Zusammensetzung prüften. All diese Messungen und Erkenntnisse wurden über Satellitenfunk in die nächste Beobachtungsstation und an alle am Leben und Wirken des Berges interessierte Stellen weitergemeldet. Es galt, seinen nächsten Ausbruch möglichst zeitnahe vorherzusagen und der in seinem Hoheitsbereich wohnenden Menschen genug Zeit zu verschaffen, vor seiner Wut zu flüchten.
Was nur ganz ganz wenige, darunter ein kleinwüchsiger, gerne aufsässiger Professore aus Neapel wussten war, dass der Ätna noch ein Geheimnis barg, das so alt wie die Geschichte menschengestaltlicher Wesen war. Vor Jahrtausenden hatte ein Nachkomme der legendären Feuerkönige des alten Reiches eine gegen Feuer und Erdstöße gepanzerte Werkstätte geschaffen, in der er zusammen mit von ihm gebändigten an die Kräfte der Erde und des Feuers gebundenen Riesen aus einem hohen Gebirge in Sonnenaufgangsrichtung machtvolle Gegenstände erschaffen hatte. Einige davon waren auch den Magieunfähigen zu Ohren gelangt. Da diese alle übernatürlichen Taten mit Göttern verbanden entstand die Geschichte, dass der Gott des Feuers und der Schmiedekunst selbst unter dem Berg seine Werkstatt und seine drei einäugigen Schmiedeknechte besessen hatte. Dort sollte er Wunderdinge und Zauberwaffen geschaffen haben, von denen die Sagen der Griechen und Römer berichteten.
Die italienischen Ministeriumszauberer wussten zwar, dass an den alten Sagen etwas dran war. Doch es war ihnen bis heute nicht gelungen, den Eingang zu jenen untervulkanischen Werkstätten zu finden oder gar zu betreten. Nur Anselmo Pontidori sollte es einmal angeblich aus Versehen geschafft haben, das Eingangstor in die unruhigen Innereien des Ätna zu finden. Doch er hatte feststellen müssen, dass er ohne einen passenden Schlüssel nicht hindurchkam. Das hineinapparieren wurde mit einem glutheißen Rückstoß verwehrt. Nur wegen seiner besonderen Konstitution hatte es der Sohn einer reinblütigen Zwergin überstanden. Doch seitdem hütete er das Geheimnis des äußeren Tores und schmunzelte immer, wenn seine Studenten ihn nach der Schmiede von Vulcanus oder Hephaistos befragten. Er hatte diese Frage damit beantwortet, dass er selbst kein Nachfahre des römischen Schmiedegottes war und dass die Griechen selbst meinten, ihr Schmiedegott habe auf der vulkanisch ebenso interessanten Insel Lemnos seine Werkstätten besessen.
Dann war 2003 der Spielfilm "The Core - Der innere Kern" in den Kinos gelaufen, wo eine Gruppe verwegener Forscher mit einem gegen Druck und Hitze beständigen Erdschiff bis zum Kern der Erde vorgedrungen war, um das abgeschwächte Magnetfeld neu zu stärken. Andere hatten das für mehr Märchen als wissenschaftlich fundierte Spinnerei gehalten. Doch Pontidori kannte die Tiefenboote der Zwerge und ihre Versuche, das Feuer aus dem Erdinneren zu nutzen. Doch die Tiefenboote konnten auch nicht in die glühenden Kaldaunen des Ätna oder eines anderen Feuerberges eindringen. Somit blieb der Zugang zu den sagenumwobenen Schmiedestätten jenes Erzmagiers versperrt, der gottgleiche Macht und Kunstfertigkeit besessen hatte.
Weil sie ihn vertrieben hatten hatte Anselmo Pontidori auch das Geheimnis des äußeren Zugangstores mit sich genommen. Er ging wie alle anderen davon aus, dass es nie wieder geöffnet werden mochte.
Sternennacht ließ von ihren Anverwandten Tragenetze besorgen, die sie sich um die Körper binden lassen konnten. Dann teilte sie vier Gruppen zu fünf Angehörigen ein. Vier der Gruppe sollten eine Kerze mit Annäherungsentzündung tragen, die bei Witterung einer Feuerrosenbezauberung das goldene Licht ausstrahlen sollte. Der oder die fünfte blieb in menschlicher Gestalt, um das Netz mit der Kerze an den Rümpfen der vier anderen festzubinden.
Es dauerte mehr als eine Stunde, bis alle vier Gruppen bereit waren, loszufliegen. Sie sollten aus je einer Haupthimmelsrichtung anfliegen. Andere angehörige wollten derweil die aufgestellten Wachen dazu bringen, in jene Richtungen auszuschwärmen, um den über ihnen herabfallenden und dann entflammenden Kerzen voll ausgesetzt zu sein.
Als Hera Matine, Laurentine Hellersdorf, Louiselle Beaumont und Lucine in der Nähe des hoch aufragenden Ätna anlangten prüften sie erst, ob hier in der Nähe Spürsteine waren. Heras mitgenommener Unortbarkeitsstein vibrierte. Also gab es hier in der Gegend ein dichtes Aufkommen von Spürzaubern. "Da haben wir aber noch Glück, dass wir nicht gleich einer Beobachtertruppe vor die Füße appariert sind, ihr zwei Süßen", sagte Hera leise. Dann forderte sie Louiselle auf, die Statuette noch einmal zu befragen. Als diese auf dem Boden stand drehte sich ihr Oberkörper. ihr Rechter Arm wies wie eine Kompassnadel in eine bestimmte Richtung. Sie mussten wohl noch einige Kilometer weiter östlich. Da in der Nähe eines Vulkans jeder Appariersprung auf unsicherem Boden enden konnte blieb ihnen nur, in kleinen Sprüngen zu sichtbaren Zielen zu wechseln wie im Apparierkurs. So fanden sie nach drei Sprüngen und Befragungen von Domenicas Statuette heraus, dass ihr gesuchtes Ziel auf einem Viertel der Berghöhe sein musste. Sie übersprangen die Hindernisse aus erkalteter Lava und die im Boden verlaufenen Erdspalten, die von früheren Ausbrüchen zeugten, bis Domenicas Statuette ihren rechten Arm nicht mehr anhob und dafür laut summte und in hellem grün-orangen Licht erstrahlte. Laurentine und Louiselle sahen sich an. Dann nahm Laurentine die bezauberte Tragetasche mit Lucine vom Rücken. Die Kleine quengelte. Hera verstand, was Laurentine und Louiselle vorhatten. Sie schlug vor, dass die kleine Hexe noch einmal gefüttert wurde. Um nicht dabei beobachtet zu werden zog Hera ein kleines, silbernes Päckchen aus ihrem Umhang und entfaltete es. Ein kleines Zelt entstand, dessen sechs Heringe sich wie von selbst in das rissige Vulkangestein krallten. Sie betraten das Zelt und schlossen es von innen. Damit trat ein Tarnzauber in Kraft, der das Zelt von außen unsichtbar machte und zugleich einen Schildzauber gegen Fernbeobachtungen errichtete.
"Während Laurentine Lucine stillte meinte Louiselle: "Hier soll das Eingangstor sein. Wir werden vielleicht die ersten Menschen seit Domenicas Vater sein, die da runtergehen und hoffentlich wieder lebend zurückkehren."
"Was genau sollt ihr da unten tun?" wollte Hera wissen. Louiselle und Laurentine erzählten es, während Lucine gierig trank, was Laurentine ihr bot.
"Hmm, natürlich, die Sage vom alten Schmiedegott, von dem sich einige Zauberer irgendwie abzustammen rühmen wie Kallergos von Korint, der vor zweitausend Jahren gelebt hat. Er hat behauptet, Hephaistos' unsterblicher Geist sei in ihm wiedergeboren und er könne daher alles nachschmieden, was der hinkende Gott hatte schmieden können. Gewitzte und neidische Thaumaturgen haben ihn deshalb gerne veralbert. Im Mittelalter hat jemand sogar drei Bilder gemalt, auf denen Kallergos als Inkarnation des Schmiedegottes in seiner Werkstatt sei und dort alles habe, was er den anderen als dessen Werke verkündet hatte, die in den Bildern wohl auch genauso hätten wirken sollen. Ich weiß nur, dass eines der drei Gemälde von einem griechischen Zauberer an Galahad Gryffindor, einem Nachfahren eines der vier Gründer von Hogwarts, verkauft worden sein soll. Seitdem soll es irgendwo in Hogwarts in einer Reihe dem Element Feuer zugeordneter Bilderwerke aushängen. Aber dass es diese Schmiedewerkstatt wirklich geben soll hat kein ernstzunehmender Heiler oder Thaumaturg geglaubt."
"Tante Hera, ich denke, dass die italienischen Zauberer schon wussten, dass hier diese Werkstatt ist. Zum einen muss sich das bei denen ja eher herumgesprochen haben. Dann gab es offenbar diese Vorfahren von Domenica Montefiori, und zum Schluss haben die hier um den Ätna herum Spürsteine aufgestellt, die wir nur deshalb nicht gekitzelt haben, weil du gänzlich illegal einen Ruhestein mitgenommen hast, Tante Hera."
"Nicht meckern, Nichte Louiselle! Ohne diesen Ruhestein hätten uns die Rosensklaven von Ladonna wohl schon längst erwischt", sagte Hera Matine. Laurentine horchte auf. Wie ging so ein Ruhestein? Sollte sie das Hera fragen, oder war das womöglich ein S0-Geheimnis des Zaubereiministeriums? Dann mochte Hera eine Menge Ärger bekommen, wenn das rauskam. So sagte sie nur: "Ich hoffe nur, dass der Unortbarkeitsstein nicht so schnell vermisst wird. Denn ich weiß nicht, wie lange sie hier noch braucht", wobei sie Lucines Rücken streichelte, "und wie lange wir danach durch diese neun Tore müssen." Hera erwiderte darauf, dass sie keinen registrierten Ruhestein mitgenommen habe, sondern einen von einer ihrer Mitschwestern hergestellt bekommen hatte. "Nachdem ich den Ring der ersten Mutter erhalten habe war mir klar, dass ich mal in die Lage geraten könnte, unnachverfolgbar zu sein, Laurentine und Louiselle. Sonst hätte ich wohl auch nicht vorgeschlagen, euch zu begleiten, sondern erst einmal zugesehen, dass wir so einen stein kriegen. Behaltet das also bitte für euch, ein Geheimnis der Schwesternschaft." Die zwei jüngeren Hexen nickten bestätigend. Sogesehen war ihre ganze bisherige Unternehmung illegal, weil sie dafür unerlaubt in ein anderes Land reisten und es sich abzeichnete, dass sie dort was erschütterndes anstellen würden. Tja, dann brauchten sie so einen Ruhestein, der andere Spürsteine betäubte, damit sie in Ruhe zaubern konnten.
Lucine sog Laurentine sämtliche Milch aus der linken Brust, als wisse sie, dass es von ihr nichts mehr gebe. Doch Laurentine hoffte, dass ihre und Louiselles kleine Tochter bald wieder mit ihren zwei Müttern zusammensein konnte. Als Lucine satt und zufrieden aufstieß und keine Minute später tief und fest schlief zog Laurentine ihr wieder die Kapuze mit der Schlafbezauberung über den runden Kopf. Dann übergab sie sie ihrer Vertrauensheilerin und obersten Mitschwester.
"Ich bleibe mit dem Stein hier im Zelt. Sollten sie mich wider aller Vorkehrungen doch auffinden muss ich wohl verschwinden, bevor sie einen Arrestdom errichten können. Aber dann müsst ihr beiden auch gut aufeinander aufpassen, dass keine von euch ihr Leben verliert", sagte Hera. Die beiden jüngeren Mitschwestern versprachen es.
Als sie beide das Zelt verließen wurde es auch für sie unsichtbar. Im Moment war kein Feind in der Nähe. Die vorletzte Etappe auf dem Weg zur Befreiung der Welt konnte beginnen.
Ladonna Montefiori hatte nicht übel Lust, selbst nach Sizilien zu apparieren, um nach jener Quelle zu suchen, die eine nicht auf den Meter genauen Suchzauber verwendet hatte. Dann wurde sie jedoch von einem Ruf des bulgarischen Zaubereiministers beansprucht. Der behauptete, die Wohnstatt von Sternennacht gefunden zu haben. Ladonna gab ihm mit, seine Leute dort zu postieren, um Sternennacht umgehend festzunehmen, sobald sie dort auftauchte.
Als sie sich wieder auf ihre unmittelbare Umgebung besinnen konnte bekam sie mit, dass Schwärme von Vögeln über die um das Grundstück aufgestellten Ministeriumszauberer herfielen, alles kleinere Wald- und Wiesenvögel, die nicht nach Süden geflogen waren. Dann meldete der Einsatzleiter der im Norden erkundenden Gruppe, dass auf dem Hügel eine Frau im blauen Umhang aufgetaucht sei, die Sternennacht ähnelte. "Betäuben und fesseln, aber die Gegend sichern! Es könnte sein, dass sie unsichtbare Begleiterinnen mitgebracht hat. Diese dürft ihr töten, wenn sie es darauf anlegen", befahl Ladonna. Wer sollte noch Angst vor der Blutrache der Veelas haben? Bald würden die alle entweder im Rachewahn in jede auf sie wartende Falle tappen oder von der Veelavernichtungswaffe ausgelöscht werden.
Tatsächlich mussten einige unsichtbare Zauberstabträger auf die Gruppe gelauert haben. Zugleich meldete der Gruppenführer im Osten, dass dort zwei wunderschöne Frauen aufgetaucht waren. Als man sie mit Schockzaubern treffen wollte duckten sie sich fort und schlugen Haken. Die gesamte Ostgruppe rannte los und geriet selbst in eine Zauberschlacht mit unsichtbaren Gegnern. Ladonna ärgerte sich, dass sie keine alle erreichenden Fernverständigungsvorrichtungen ausgegeben hatte. So blieb ihr nur, die dritte Etage der Villa zu ersteigen und auf den südlichen Balkon hinauszutreten. Mit dem Sonorus-Zauber rief sie alle Gruppen zur Wachsamkeit vor Hinterhalten auf und verlangte, nie näher als äußerste Hörweite beieinander zu stehen. Sie ahnte, was Sternennachts Sippe im Schilde führte. Doch wenn sie ihre Leute lautstark warnte hörten das auch ihre Gegner.
So begann ein wildes, gefährliches Katz-und-Maus-Spiel zwischen den unsichtbaren Veelastämmigen und den Ladonna vollkommen hörigen Angehörigen des italienischen Zaubereiministeriums.
Erst als Laurentine den Schlüsselbund aus ihrer diebstahlsicheren Handtasche hervorholte und die ersten Knöpfe öffnete enthüllte sich ein Stück des Hanges als mattgrau glänzende Steinplatte, die in Form eines Dreiecks gehauen worden war. In der Platte erkannte sie lateinische Lettern:
HOC EST PORTA AD DIVITIAS IGNIS AERISQUE.
SIC PORTAS CLAVES MEAE INTRARE POTES:
CAVE CUSTODINES!!
"Hast du es verstanden, was da steht?" mentiloquierte Louiselle. Laurentine gedankenantwortete: "Dies ist das Tor zum Reichtum von Feuer und Erz. Trägst du meinen Schlüssel darfst du eintreten. Hüte dich vor den Wächtern."
"Sehr braves Mädchen! Hast echt eine Menge von der achso toten Sprache gelernt", schickte Louiselle zurück.
"Meine Eltern wären da auch richtig stolz, dass ich neben Geige noch was gelernt habe, was in der magischen Welt echt gebraucht wird", erwiderte Laurentine. Dann sah sie am linken Schenkel des Dreieckes eine ovale vertiefung und in dieser einen schmalen Schlitz, ein Schlüsselloch.
Jetzt hieß es, gleich den richtigen von neun unterschiedlich großen Schlüsseln auszuwählen. Am Ende gewährte einem das Tor nur drei Versuche, es zu öffnen, ähnlich einem Zugangskonto eines Internetanbiters. So brauchte Laurentine eine Minute, um aus den neun Schlüsseln die zwei in Frage kommenden hervorzuholen. Als sie den ersten an das Loch heranführte merkte sie jedoch, dass der doch nicht passen würde. Der zweite glitt ohne Widerstand hinein. Laurentine fühlte, wie sich der Griff des Schlüssels erwärmte. Ebenso merkte sie, wie der von ihr umgelegte Gürtel der gemeinsamen Frucht erbebte. Wechselwirkte der etwa mit dem Tor? Am Ende durfte das Tor nur einen Mann oder Zauberer durchlassen. Dann war es wohl vorbei. Doch nein! Das hätte Domenica in ihrem Geistesvideo über ihre Herkunft und den Grund für das alles sicher erwähnt. Nein, sie ging eher davon aus, dass nur bestimmte Blutsverwandte das Tor öffnen durften. Sie drehte den Schlüssel.
Dreimal klickte es. Dann klackte es laut, und das dreieckige Tor sprang auf. Louiselle eilte sofort an Laurentines Seite. "Du den gegen Körperzauber und ich den gegen Verwirrungs- und Gefühlsflüche", sagte Louiselle. Laurentine begriff. So hatte sie ja auch beim trimagischen Turnier gehandelt. Erst den Raum mit Fluchbrechern fluten, dann erst eintreten.
Zwei breitfächernde Zauberlichter fegten durch die Toröffnung. Tatsächllich erfolgte eine Reaktion. Ein blauer Lichtvorhang glühte auf und zerriss mit lautem Prasseln. Dahinter zuckten mit hektischem Knattern rote Blitze von links nach rechts und umgekehrt. Dann trafen die zwei Breitbandfluchbrecher auf eine Wand und ließen diese mit dumpfem Knall erzittern. Danach sprangen die zwei Hexen durch die Toröffnung. Louiselle merkte dabei, dass ihr Gürtel richtig heiß wurde und sie meinte, in einen vorgewärmten, dicken Ganzkörperanzug gesteckt worden zu sein. Laurentine fühlte nur ein gleichmäßiges Vibrieren und eine leichte Erwärmung des Gürtels.
Laurentine schickte nun einen noch in Beauxbatons erlernten Zauber zum Fernauslösen mechanischer Fallen aus. Tatsächlich krachte ein schwerer Stein von der Decke und eine Gruppe Lanzen schoss links und rechts vor ihr aus den Wänden. Louiselle wendete derweil den Zauber zum Auffinden von feindlichen Wesen an. Dabei scheuchte sie wahrhaftig einen Schwarm rot flammender Wesen aus den Wänden. "Lange keine mehr gesehen!" rief sie und schickte den zischenden und schrill zwitschernden Feuerfeen einen breiten, eiskalten Wasserstrahl entgegen. Laut kreischend und quiekend flüchteten die getroffenen Gegner dampfend zurück in ihre Wandnischen. Laurentine übernahm Louiselles Feuerfeenvertreibezauber, allerdings mit dem Brandlöschzauber und den Gedanken an flüssigen Stickstoff, wie sie es von Julius erfahren hatte. Zwei Feuerfeen versuchten von oben niederzustoßen und gerieten laut quiekend in Laurentines eisblauen Löschstrahl. Sie fielen nur noch glosend zu boden und zuckten wie sterbende Fliegen. "Nicht töten, Laurentine. Am Ende kriegen wir trotz Fluchabwehr doch noch die volle Bestrafung ab!"
Laurentine verlangsamte die Körperfunktionen der frierenden, gerade nicht lodernden Feuerfeen. Dann sprach sie einen verzögerten Wiederbeschleunigungszauber, der erst in zwei Stunden in Kraft treten sollte. Louiselle indes verschloss die Schlupflöcher der Feuerfeen mit wasserblauen Lichtvorhängen. "So, da kommen die vor unserer Abreise nicht mehr raus", meinte Louiselle.
Sie erreichten nach fünf Minuten und der Befragung von Domenicas Statuette die richtigen Richtungen findend das zweite Tor, diesmal ein rechteckiges. Laurentine suchte nach dem passenden Schlüssel und erkannte, dass jeder Griff ein kleines Symbol besaß. Als sie den Schlüssel mit dem quadratischen Symbol wählte und ausprobierte passte dieser tatsächllich. Nur musste sie hier viermal drehen, bis offenbar in allen vier Seiten versteckte Riegel aufsprangen und das Tor nach innen aufging.
Wie vorhin jagten die beiden erst mal Fluchbrecher durch die Toröffnung. Nun schien der Gang ffrei zu sein. doch Laurentine rief "Halt, nicht weiter! Abgrund!" Louiselle zuckte zurück. Sie stampfte auf und hörte von vorne und von weit unten ein klares Echo. "Illusionszauber. Gut, aufheben oder nur Wirklichkeitssicht?"
"Wie war das, je größer der Rauminhalt, desto mehr Kraft wird gebraucht? Besser nur den Wirklichkeitssichtzauber", sagte Laurentine und führte ihn aus.
An Stelle eines scheinbar harmlosen, breiten Korridors tat sich vor ihnen ein rechteckiger Raum auf, an dessen Schmalseiten steinerne Figuren aufgereiht waren und an dessen gegenüberliegendem Ende ein weißglühendes vergittertes Tor wartete. Dazwischen gähnte jedoch ein unabsehbar tiefer Abgrund über die ganze Breite. "Oha, Dank deinem Gehör, dass wir da nicht reingefallen sind", wisperte Louiselle. Laurentine nickte. Doch wie sollten sie da rüberkommen? Ein legitimer Nutzer dieser geheimen Einrichtung musste da ja auch durch. Dann sah sie die antwort in Gestalt von der Decke hängender Seile.
"Hooohuauoooohua, Tarzan ist da!" witzelte Laurentine. Louiselle betrachtete die Seile. "Sieht mir verdammt nach Sinistros Mörderstricken aus, harmlose Seile, die sich beim bewegen in Schlangen verwandeln und jeden anfallen, der sie berührt. Öhm, und das Symbol des Totenkopfes mit den Feuerzungen da oben deutet auf einen Elementarzauber hin, den ein Fluchbrecher nicht im Vorbeigehen wegmacht. Aber ich mach erst mal den Schlangenzauber unwirksam", sagte sie. "Inhibito transmutationem!" Eines der Seile glühte grün auf und erzitterte. Dann kam das zweite Seil dran. Irgendwie schienen die vier anderen Seile mitzubekommen, dass hier jemand die von ihnen gebildete Falle aushebeln wollte und verwandelten sich gleich in viele Meter lange rot-gelb geschuppte Schlangen. Sie schnellten auf die beiden Hexen zu. Da traf Laurentines "Elementa Recalmata" den Raum. Die lodernden Schlangen erloschen, aber blieben gefährlich lebendig. Sie versuchten, nach den beiden zu schnappen. Doch diese wichen intuitiv aus und verpassten jeder einen Erstarrungszauber. Dann holten sie die zwei in ihrer harmlosen Form gebannten Seile mit Fernlenkzaubern zu sich heran und schwangen sich über den Abgrund.
"Das freut doch sicher deine Leibesübungslehrerin", meinte Louiselle. Laurentine bejahte das, als sie geschmeidig auf der gegenüberliegenden Seite aufkam. "Wir hätten auch eine zeitweilige Brücke bauen können", meinte Laurentine. Doch Louiselle deutete auf eine Gruppe von Zeichen auf dem Boden. "Ein Unterbrechungszauber für beschworene Materie. Die Brücke wäre unter unseren Füßen zerbröselt", sagte sie. Dann mussten sie sich sehr schnell auf die unvermittelt lebendig werdenden Steinfiguren einstellen, alles geflügelte Ungeheuer mit messerscharfen Krallen. Doch die beiden Hexen schlugen sie mit Lähmflüchen zurück. Drei der geflügelten Gegner stürzten in den Abgrund. Laurentine belegte sie blitzschnell mit dem Fallbremsezauber, damit sie unten nicht zu Tode kamen. Dann war auch dieser Weg von Fallen und Feinden befreit.
Trotz des Elementarkraftberuhigungszaubers glühten ihnen die Gitter des dritten Tores immer noch orangerot entgegen. Laurentine erinnerte sich an ein Märchen, die Geschichte von der Regentrude. Sie löschte die Glut des Gitters mit Wasserstrahlen und fand unter den neun Schlüsseln einen mit dem Symbol eines hinter Gittern lodernden Feuers. "Kann sein, dass hier noch ein echter Drache haust", meinte Laurentine. Louiselle nickte.
"aura Sanignis!" wisperte Laurentine, als sie den Schlüssel zweimal umgedreht hatte. Um sie entstand eine Sphäre aus goldenen Flammen. Auch Louiselle hüllte sich in den starken Schild gegen natürliche und magische Feuer ein. Dann drehte Laurentine den Schlüssel noch zweimal um. Das Gittertor ging auf.
Unvermittelt begann es auf der anderen Seite des Raumes laut zu fauchen, und mehrere orangerote Feuerbälle rasten auf sie zu. Die zwei Hexen jagten den Flammenbällen den Brandlöschzauber entgegen. Laurentine konnte den sie direkt anfliegenden Feuerball zu einer grün flackernden Seifenblase umwandeln, die mit lautem Poff zerplatzte. Louiselle konnte den ihr geltenden Feuerball mit ihrem Zauber zurückdrängen. Der dritte Flammenball fegte laut fauchend zwischen den beiden hindurch und verging mit einem lauten Knack hinter ihnen. Seine Flammen hatten die goldenen Schutzauren ein wenig zum flackern gebracht. Doch die Feuerschilde hielten.
"Wie kann das sein, dass du diesen Brandlöscher stärker hinkriegst als ich?" fragte Louiselle mit gespielter Entrüstung. Doch sie lächelte anerkennend. "ich denke immer an das kälteste, was ich kenne, flüssigen Stickstoff oder jetzt gerade an flüssiges Helium", erwiderte Laurentine sehr kampfeslustig. "Denk an eine Rose oder andere Blume, die in einer durchsichtigen Flüssigkeit zu Glas gefriert", sagte sie noch. Da hatte Louiselle den ihr entgegendrängenden Feuerball an die gegenüberliegende Wand getrieben. Die Flammen erloschen mit einem vernehmlichen Wuff. Sogleich schossen sechs weitere Feuerbälle aus der gegenüberliegenden Wand. Die zwei Hexen schwangen schnell und beherrscht ihre noch den eisblauen Kegel des Flammenlöschzaubers aussendenden Zauberstäbe. Plopp! Plopp! Plopp! vergingen die von Laurentine unmittelbar angezielten Feuerbälle. Nun ploppte es auch vor Louiselle. Ein weiterer Feuerball färbte sich von orangerot zu hellgrün um, schwebte wie eine Seifenblase in der Luft und zerplatzte mit vernehmlichem Plopp. Die beiden noch nicht getroffenen Feuerbälle fauchten zwischen den zwei Hexen hindurch und brachten deren Feuerschilde zum heftigen Nachflackern. Laurentine fühlte, wie von rechts Hitze und von innen Kälte durch ihren Körper jagte. Dann meinte sie, einen 1000-Meter-Lauf hinter sich zu haben. Sie keuchte.
"Also, die müssen im Flug erledigt werden, nicht zur Wand zurückgeschickt werden", stellte Louiselle fest, als keine weitere Feuerballsalve auf sie zuflog.
"Vielleicht sollten es aber auch nur neun sein, die in der Wand gespeichert waren", vermutete Laurentine. Doch genau wissen konnte sie das nicht.
"Gut, bevor das Tor wieder zufällt müssen wir weiter", erwiderte Louiselle. Dann jagte Laurentine noch den Elementarberuhigungszauber und die üblichen Fluchbrecher durch den Raum. Der Wirklichkeitssichtzauber hielt ja noch vor, wenngleich der schon etwas an der Ausdauer nagte.
Außer den Feuerbällen lauerte in diesem Raum eine Reihe von Gemälden, deren Motive aus der christlichen Hölle zu stammen schienen. Tatsächlich loderten die gemalten Flammenwelten auf, und eine Horde roter, affenartig gestalteter Dämonen mit glühenden Fangzähnen machte Anstalten, aus den Bildern herauszuspringen. "Congelanto Omnimagines!" rief Louiselle, als die ersten drei Höllenwesen laut kreischend aus den Bilderrahmen sprangen und dabei einen Geruch von Schwefel und verbranntem Fleisch verbreiteten. Schlagartig erstarrten die freigekommenen Dämonenwesen und wurden in ihre Bilder zurückgesaugt, die daraufhin zu völlig unbewegten, nur vom Hingucken gruseligen Gemälden erstarrten.
"Den hast du mir noch nicht beigebracht", meinte Laurentine. "Wäre noch drangekommen, wenn Lucine nicht entstanden wäre. Gut, dass du noch den Elementarberuhiger gemacht hast. Das waren nämlich eigentlich die in Vulkanen des Pazifikraumes lebenden Lavataucher, magizoologisch Pyropongo magmaticus. Sobald sie an die frische Luft kommen breiten sie eine ihre fünffache Lebensgröße erreichende Aura aus rotgoldenen Flammen aus, die eine Stunde lang brennt und dabei so heiß wie das Feuer eines ungarischen Hornschwanzdrachens werden kann. Wasserstrahlen und Eisbälle können sie runterkühlen, aber nur, wenn es nicht drei auf einmal sind. Dann vereinen die nämlich ihr Feuer und verbrennen alles und jeden zu Asche, die sie dann verzehren", erwiderte Louiselle. Laurentine erinnerte sich an die zweite Runde des trimagischen Turnieres. Da hatte sie mit Julius die heftigsten Vertreter von elementarkraftgebundenen Zauberwesen und Tierwesen durchgenommen.
Wielang hält der Bildergefrierzauber vor?" wollte Laurentine wissen.
"Immer solange, wie Licht auf die damit belegten Bilder fällt. Bei Dunkelheit erlischt der Zauber."
Laurentine wusste, dass sie also auf dem Rückweg wieder diese Nummer mit dem Bildergefrierzauber machen mussten. Dennoch war sie zuversichtlich, dass sie tatsächlich auch den Rückweg antreten konnten.
Das vierte Tor war ein klassisches Rundbogentor, auf dem jedoch Flammensymbole prangten. Laurentine vermeinte aus diesen Symbolen die Warnung vor dem östlichen Feuerwächter "Custos ardens orientalis" herauszulesen. Womöglich ein Feuerdschinn, wie sie ihn in der zweiten Runde des trimagischen Turnieres bekämpfen durfte.
Da Laurentine die Schlüsselmeisterin war suchte und fand sie den passenden Schlüssel, einen handlangen Obsidianschlüssel mit zwei Bärten. Fünfmal musste sie ihn im Obsidianschloss des Tores drehen. Klackend glitt das Tor nach außen auf. In dem Moment setzte ein lautes Tosen wie von mehreren Gasbrennern gleichzeitig ein. Louiselle und Laurentine wichen mit dem Tor zusammen nach hinten und überquerten dabei wohl eine Schutzlinie. So konnte ihnen das, was da toste, nichts anhaben.
Hera Matine lauschte. Sie hörte das leise Grummeln des aktiven Kraters weit über ihr. Hoffentlich fiel es dem Ätna nicht gerade jetzt ein, mit ganzer Wucht auszubrechen. Dann würde ihr womöglich nur die Flucht mit Lucine bleiben. Der Boden vibrierte kurz, aber harmlos. Das innere Feuer des Ätna zeigte, dass es da war. Doch es wollte noch nicht an die Luft drängen.
Die erste Kerze fiel und fiel. Da rief einer der Wächter: "Achtung, Falle!" Er zielte wohl mit dem Zauberstab und rief "Hibernevo!" Die Kerze schien von einem Moment zum anderen von Eis überzogen zu sein. Doch als sie auf den Boden schlug zerbarst sie in grellen goldenen Flammen, die zu einer einzigen weißgoldenen Lichtwolke auseinanderflogen. Alle die in diese Lichtwolke hineingerieten schrien laut auf und fielen wie von einer Sturmböe gettroffen zu Boden. Das Licht war so hell wie fünf oder sechs nebeneinander erstrahlende Sonnen. Es bedeckte eine Fläche von mehr als hundert Metern Durchmesser. Die weiter oben fliegenden Verwandten Sternennachts meinten, den Aufschrei von zehn Frauenstimmen zugleich zu hören und von einer unbändigen Kraft nach oben geschleudert zu werden. Dann schrumpfte die Lichtwolke, ohne an Helligkeit zu verlieren, bis sie nur noch so groß wie die hinabgeworfene Kerze war. Für einen Herzschlag zuckte eine goldene Flamme so hoch wie ein Baum in den Himmel. Dann erlosch diese. Von der Kerze war nichts mehr übrig.
Die in das Licht hineingeratenen Wächter lagen wie tot auf dem Boden. Auch welche, die außerhalb der unmittelbaren Fläche waren schienen betroffen zu sein. Denn sie torkelten wie nach dem Genuss von zehn Krügen Met umher und wussten wohl nicht, wo sie waren und was sie tun sollten.
Dann erreichten die anderen drei Kerzen die Höhe, in der sie zünden sollten. Diese erstrahlten nun wie vorgesehen in goldenem Licht und verbreiteten ihren goldenen Rauch, der die von Ladonnas Feuerrosenzauber betroffenen von diesem Einfluss befreite.
"Könnt ihr noch was sehen?" fragte die Führerin der Vierergruppe, welche die schlagartig zerstörte Kerze abgeworfen hatte. Sie bestätigten es. "Wir müssen prüfen, ob die Betroffenen noch leben und ob sie verletzt sind", sang die Führerin der Vierergruppe. "Nein, wartet ab, bis die drei ordentlich entzündeten Kerzen ihr Werk verrichtet haben", sang Sternennacht sehr eindringlich an alle, die mit ihr verwandt waren.
Ladonna erschrak, als ihr klar wurde, dass die von ihr einbestellten Wächter gerade von den verhassten Veelas angegriffen wurden. Da traf es sie wie ein Blitz, der ihre Sinne betäubte.
Es war ein Feuerdschinn. Ja, dieser aus dem Morgenland stammende Feuerdämon war größer als der, gegen den Laurentine hatte kämpfen müssen. Er füllte fast den ganzen Raum hinter dem Tor aus und loderte in gelborangen Flammen. Er besaß einen menschlichen Rumpf, aus dem stämmige Beine mit Kniegelenken herausragten. Doch statt nur zwei Armen besaß er sechs Arme wie eine Hindu-Gottheit, und aus dem oberen Ende ragten drei totenschädelartige Köpfe heraus. "Die Linie ist die Wand der Verweilung, eine wirksame Mauer gegen geisterhafte Wesen", dozierte Louiselle, nachdem sie das zu sehende verdaut hatte. "Der Geist soll in dem Raum bleibenund nicht durch die anderen Kammern spuken."
"Morituri, vos salutamus!" dröhnten drei Stimmen von lautem Prasseln und Knattern durchsetzt zu den zwei Hexen nach draußen. "Wie lange hält der Elementarkraftberuhigungszauber?" fragte Louiselle. "Lange genug, um uns zu entscheiden, wie wir an dem Dreikopf da vorbeikommen, ohne ihn mit Wasser abzulöschen oder anderswie auspusten", meinte Laurentine. Irgendwie fühlte sie diesen Willen, sich einer ihr aufgedrängten Ausnahmelage mit aller Macht entgegenzustellen, wie sie es beim trimagischen Turnier gefühlt hatte. Das war an sich ein herrliches Gefühl. Doch es verriet auch, dass es für sie gerade wortwörtlich brandgefährlich war. Sie erinnerte sich auch, dass sie den in der zweiten Runde auf sie lauernden Feuerdschinn mit der weißen Flamme von Luxor an einen Schürhaken gebunden hatte und erst nach zähem Ringen um die Willenshoheit befehlen konnte, dass er an ihr vorbei nach draußen und in sein Herkunftsland zurückkehren sollte. Louiselle sah den hinter dem Geisterrückhaltewall lauernden Feuerdschinn an. Womöglich dachte sie auch daran, wie sie ihn bannen konnte. Dann versuchte sie wohl was zu apportieren. Doch das gelang nicht. Offenbar war diese unterirdische Anlage gegen Teleportationszauber abgeschirmt.
Laurentine sah sich um. Irgendwas aus Eisen oder was anderem von Feuer geformtes und / oder davon berührtes. Dann sah sie, dass die Gemälde mit den Lavatauchern in der Feuerhölle an je drei eisernen Nägeln hingen, die mindestens fünf Zentimeter aus der Wand ragten. "Clavextractus!" rief Laurentine mit auf einen der mittleren Haltenägel zielend. Es knirschte vernehmlich, und sich um sich selbst drehend schob sich der angezielte Nagel heraus. Leise klirrend landete der insgesamt zwölf Zentimeter lange Nagel auf dem Boden. Louiselle sah Laurentine verblüfft an und strahlte sie an. Laurentine wiederholzauberte den Nagelzieher, einen der vielen nützlichen Alltagszauberaus der Wand. "So, jetzt ich!" sagte sieund schob mit den Füßen die zwei Nägel zusammen. Dann zielte sie mit dem Zauberstab darauf. "Similis cum simile unificanto!" beschwor sie. Die zwei langen Nägel, die gut und gerne von Zimmerleuten benutzt werden mochten, glommen silbern auf und fügten sich lautlos zu einem einzigen großen Stück Metall zusammen. Es entstand ein doppelt so großer Nagel. Dabei entstand keine Hitze. Louiselle hob den Nagel auf und trug ihn zur Tür. "Ich weiß, dass du damals einen Feuerdschinn mit der weißen Flamme von Luxor gebändigt hast. Kannst du den Zauber noch gut genug?" Laurentine überlegte. Da meinte sie, durch ihre Taille und ihren Bauch einen warmen Schauer zu spüren, der in ihr aufstieg und ein leichtes Kribbeln in ihrem Kopf verursachte. Sofort hatte sie wieder den vollständigen Wortlaut des altägyptischen Zaubers im Kopf und wie sie ihn auf einen mit Feuer geformten Gegenstand aufsprechen konnte. Sie zielte auf den aus zwei einzelnen zu einem Nagel verschmolzenen Metallgegenstand und sang die Worte ein, die zusammen ein dreiteiliges Mantra bildeten, das durch ein auf das Anfangswort bezogenes Schlusswort einen geschlossenen Kreis bildeten. Eine kleine strahlendweiße Flamme züngelte aus der Spitze des Nagels empor. Laurentine wiederholte die altägyptische Anrufung. Die Flamme wurde schlagartig größer. "Gut, den Nagel zu dem Feuergeist da rein und die Flamme solange wirken, bis ich ihm seinen wahren Namen entlockt habe", sagte Louiselle.
Laurentine ließ die Flamme kurz erlöschen und schob den Nagel mit den Füßen über die glimmende Linie durch den Geisterschutzwall, der bereits bedenklich rot flackerte. "Nos vos anmimas vostras devoramus!!" brüllten die drei flammenden Schädel des Feuerdämons.
Laurentine sang die Anrufung der weißen Flamme von Luxor nun lauter. Da bekam der auf seinen Ausbruch hinwirkende Feuerdschinn die magische Flamme zu spüren. Er brüllte dreistimmig gegen Laurentines Anrufungen an. Doch es half nichts. Die weiße Flamme von Luxor züngelte um sein linkes Bein herum, breitete sich daran aus, erfasste auch sein rechtes Bein und band beide zusammen. Der Feuerdämon versuchte mit allen sechs hell lodernden Händen zugleich, die weißen Flammen von seinen Beinen abzureißen. Doch dabei verhedderten sich die feurigen Finger in der immer mehr Raum einnehmenden weißen Flamme. Laurentine spürte jedoch, dass je mehr die weiße Flamme brannte, je mehr erschöpfte es sie. Doch sie hhielt durch. Sie schaffte es, die weiße Flamme zu einem strahlenden Kokon zu spinnen, der den Feuerdämon einwickelte. Diser brüllte und drohte auf Lateinisch, offenbar seiner Muttersprache. Laurentine hatte keine Zeit sich zu wundern, warum der Geist kein Arabisch oder Persisch sprach.
Louiselle wartete, bis auch die drei brennenden Schädel von der weißen Flamme eingeschlossen waren und das laute Wutgebrüll des lodernden Wächters zu einem ungehaltenen Knurren abschwoll. "uod est nomen tuum verum?!" rief Louiselle über Laurentines altägyptisches Kreismantra hinweg, mit dem diese den Dschinn gefesselt hielt. Die drei Köpfe stießen ein wütendes Heulen aus und schnaubten. Mehr geschah erst mal nicht. Laurentine unterbrach die laute Aussprache ihres Zaubers und flüsterte: "Der spricht von sich in der Mehrzahl." Louiselle verzog ihr gesicht und nickte.
"Quod sunt nomina vera vostra?!" rief sie nun, während Laurentine schnell wieder den Flammenkokon anheizte, der bereits weißgelb flirrte. Der dreiköpfige Feuerdschinn brüllte und heulte mit einem jede westliche Harmonielehre missachtenden Dreiklang. Louiselle wiederholte ihre Frage nach "den waren Namen. Wieder brüllte der Dreiköpfige, doch diesmal auf derselben Tonlage. Nach der dritten Auffordderung Louieselles sprachen die drei Schädel: "Expectatorius, Ignatiocustos et Pyrocephalos!" Es klang verzweifelt, so als würde jemand um sein Leben flehen. "Heius, hic vadete ad dormiere, expectatorius, Ignatiocustos et Pyrocephalos! Dormi, Expectatorius! Dormi Ignatiocustos! Dormi Pyrocephalos! Dormite, Expectatorius, Ignatiocustos et Pyrocephalos!Dormite, dormite, dormite!" befahl Louiselle.
Der Feuerdschinn schrumpfte. Der weiße Flammenkokon schrumpfte mit und wurde kompakter. Er wurde zu einer beinahe blendend hellen flirrenden Kugel, die am Ende gerade anderthalb Meter durchmaß. Dann zielte Louiselle auf die Flammenkugel und wisperte "Ignes Arcani ex sole et igne pro fundis Terrae duranto ad noctem!"
Die weiß flirrende Kugel erstarrte wie ein großer, von innen erleuchteter Schneeball. Laurentine meinte durch das nun nicht mehr so helle Weiß ein zusammengerolltes, menschliches Wesen zu erkennen, das wie ein Insekt in einem Bernstein erstarrt war. Die vom Nagel ausgehende Flamme schnurrte wie ein langgezogenes und losgelassenes Gummiband zu jener weißen Kugel zurück und verstärkte diese.
"Du brauchst nicht mehr weitersingen. Die beiden magischen Feuerquellen bleiben jetzt bis zum Sonnenuntergang so. Außerdem schläft dieser Dreifachgeist nun solange, bis er andere als unsere Körper und Seelen wittert. Also weiter!" erklärte Louiselle.
Außer dem dreiköpfigen und sechsarmigen Feuerdämon lauerte nichts und niemand auf die beiden Hexen. Dafür fanden sie das fünfte Tor.
Nach bewährter Manier schickten die zwei Hexen Fluchbrecher und Elementarkraftberuhigungszauber in den langen Gang hinter dem Tor. Ebenso blockierten sie alle mechanischen Auslöser in den Wänden. Denn tatsächlich waren in diesem Gang mehrere Fallen altägyptischer Prägung installiert, Doch als sie am Ende des Ganges zwei zusammengerollte Drachen aus Stein sahen, deren Augen unvermittelt rot aufleuchteten wussten sie, dass sie die Wächter dieses Abschnittes vor sich hatten. Noch ehe Louiselle den Verwandlungshemmer ausrufen konnte erlangten die Drachen ihre volle Lebendigkeit zurück und wuchsen zu fünf Meter großen, rubinrot geschuppten Ungeheuern heran. Die beiden Bestien besaßen dreigehörnte Schädel ähnlich wie der Saurier Triceratops. Nur hatten sie nicht dessen Nackenschild. Die zwei entsteinerten Drachen rissen ihre mit dreieckigen Haifischzähnen bezahnten Mäuler auf, um Feuer oder schlimmeres auf die zwei Eindringlinge zu speien.
Die bewusstlosen Wächter waren am Leben. Auch wenn es erklärte Feinde waren beruhigte das Sternennacht. Da sie hier gerade nicht willkommen waren und so schnell keine Unterstützung aus dem Ausland bekamen blieb den Veelastämmigen nur, die Bewusstlosen mit Stricken zu fesseln und weit genug von dem Grundstück entfernt zu schaffen. Dabei mussten immer zehn aufpassen, ob von dort neue Gefahr drohte. Wenn Ladonna zu Hause war würde sie das alles andere als erheiternd finden, dass ihre Gegnerinnen ihr hundert kampferprobte Zauberer weggenommen hatten.
Es erwies sich, dass die hundert Wächter leicht in kleinere, unbelebte Gegenstände verwandelt werden und daher leichter eingesammelt werden konnten. Womöglich wachten sie wieder auf, wenn sie rückverwandelt wurden. Doch vorerst wollten die Blutsverwandten Sternennachts sie aus allem heraushalten.
Sie meinte diesmal keinen Körper mehr zu haben. Sie glaubte, in einem Raum aus blaugrünem Licht zu schweben. Dann hörte sie die Stimme ihrer inneren Angst und ihres über Jahrzehnte niedergehaltenen Gewissens zu ihr sprechen: "Ah, du bist zu mir gekommen, um endlich eins mit mir zu sein. Doch dein Ring stört die fällige Vereinigung, Donnina. Er muss von deiner Hand herunter und im verzehrenden Feuer oder durch das alles zersetzende Gift des Basilisken zerstört werden, sonst kann ich dich nicht so bei mir behalten, wie du jetzt bist. So bist du ein ungeduldiges Ungeborenes, ein ans Licht drängender Fötus."
"Dich kann es nicht geben. Du bist nur ein Traumgespinnst, eine unterbewusste Regung meines innersten Selbst", widersprach Ladonna. Da sah sie an sich herunter. Ihr Körper leuchtete in hellem Blau. So, das wusste sie, leuchtete ihre Lebensaura, wenn sie mit dem Zauber Lux animae berührt wurde. War sie nur noch ihre Seele? War ihr Körper tot? Ja, aber genau dann musste ihr doppelter Horkrux, der Ring des unbesiegbaren Feuers, sie doch in der natürlichen Welt halten. In dem Moment, wo sie das dachte fühlte sie, wie etwas sie in eine bestimmte Richtung trieb. "So kann und werde ich dich nicht bei mir behalten. Wir müssen eins sein, ein Geist, ein Sein!" hörte sie die wütende Stimme ihrer älteren Schwester Regina. Dann fühlte Ladonna, wie sie auf einen weißblauen Lichtkreis zutrieb, der in einen weißblauen, kreisenden Tunnel führte. Sie hörte die wohl aus Wut und Schmerz entstehenden Schreie ihrer älteren Schwester. Dann durchzuckte sie ein heißer Schauer. Sie fühlte ein Stechen in der Brust. Sie riss ihren Mund auf und sog lautstark Luft in ihre Lungen. Sie besaß wieder ihren Körper. Sie fühlte das Pochen an der linken Hand. Der Ring mit den beiden Rosenrubinen hatte sie wahrhaftig in die Welt und ihren angestammten Körper zurückgeholt. Dann sah sie, dass sie nicht mehr in ihrem geheimen Kellerlaboratorium war. Sie befand sich in einem von Jahrhunderten gezeichneten Zimmer mit verrotteten Möbeln und rissigen Wänden. Doch sie erkannte das alles noch. Sie war in Reginas Geburtszimmer, im Haus ihrer gemeinsamen Mutter Domenica. Doch wie war sie hierhergekommen?
Sie wollte aufstehen, prüfen, ob sie noch alles bei sich hatte. Da überkam sie eine so große Erschöpfung, dass sie da wo sie stand zu Boden sank und einschlief.
Unvermittelt schien Louiselle auf zehnfache Größe zu wachsen und dabei in silbernen Flammen zu stehen. Laurentine wusste nicht ob es nur Schein war oder echt. Doch sprang sie hinter Louiselle in Deckung. Zwei laut tosende, gelborange Flammengarben fuhren durch den Raum. Sie verfehlten Laurentine. Louiselles Körper erstrahlte im goldenen Licht. Dann war der erste Feuerschlag vorbei. Dafür drangen wehklagende Heultöne von den gefährlich aussehenden Ungetümen zu ihr vor. Immer noch riesenhaft vergrößert und über alle Quadratzentimeter des Körpers mit Silberflammen bedeckt tat Louiselle einen Schritt nach vorne. Der Boden erbebte unter diesem Schritt. Laurentine sah zwischen den mehrere Meter aufragenden Beinen ihrer Partnerin hindurch, wie diese auf jeden Drachen einzeln zielte und diesem eine rosarote Lichtkugel in das nur noch wehklagende Maul schoss. Augenblicklich erstarb das Angstgeheul der Drachen. Die zwei Ungetüme sanken zu boden. Laurentine hatte den Eindruck, zwei prall aufgeblasene Gummidrachen zu sehen, aus denen nun die Luft wich. Die Drachen schrumpften wieder zusammen, waren beinahe leblos. Dann erreichten sie wieder jene Größe, als die sie beim Betreten dieses Raumes gelauert hatten. Ja, und dann wurde aus den schrumpfenden Ballontieren wieder Steinfiguren, Statuen von zusammengerollten, ganz entspannt wirkenden Dreihorndrachen. Noch etwas erkannte Laurentine. In den Mäulern und Nüstern der nun wieder zu Stein gewordenen Wächter glühte ein rosarotes Licht, dass sie auch sehr gut kannte. So sah jenes Licht aus, das den Zauber Amatas Ruhestatt bildete. Dann sah sie, wie ihre Nachhilfelehrerin und Lebenspartnerin von einer silbern brennenden Riesin wieder zu jener Frau wurde, die sie seit dem Mai 2004 immer besser kennenlernen durfte.
"Wie bitte hast du das gemacht?" fragte Laurentine leise, als gelte es, die versteinerten Drachen nicht sofort wieder aufzuwecken. louiselle wandte sich ihr zu. Sie wirkte etwas ermüdet. Offenbar hatte dieser Vergrößerungszauber ihr doch zugesetzt. "Bellatrix Lunae und dann Tranquillivivus, den Kern von Amatas Ruhestatt", sagte sie. "Beides geht nur, wenn du bereits ein Kind geboren hast. Ich wurde nicht wirklich zur Riesin. Aber für die zwei Möchtegerndrachen war ich zu groß und wegen der Flammen, die ihr Feuer wie der Flammengefrierzauber neutralisiert haben unbesiegbar. Da konnte ich ihnen dann den rosaroten Zauber in die Mäuler legen. Der wirkt aber auch nur einen halben Tag. Treffen wir dann wieder auf sie muss ich das wiederholen."
"Oha, da gibt es offenbar noch einiges, was ich von dir lernen muss, Louiselle. "Ja, aber die zwei gehen eben nur, wenn du unsere zweite Tochter zur Weltgebracht haben wirst, vorher nicht", sagte Louiselle. Laurentine erbleichte. Meinte Louiselle das etwa ernst?
"Öhm, falls das ein Antrag war möchte ich dazu noch nichts sagen. Falls nicht, nehme ich das erst mal als Tatsache zur Kenntnis, dass ich das derzeitig nicht zaubern kann", erwiderte Laurentine. Louiselle bedachte das mit einem verwegenen grinsen.
Sie fanden heraus, dass Tor Nummer sechs eine Falltür war. Es war sechseckig wie eine geschlossene Bienenwabe. Laurentine argwöhnte schon, dass darunter stechlustige Insekten lauern mochten. Doch Louiselle, die mal eben einen Lotungszauber machte, erwähnte, dass es dort unten wohl eine andere, auch mit Feuer verbundene Hürde zu nehmen galt.
Laurentine suchte und fand den passenden Schlüssel und entsperrte die Falltür. Vorsorglich zauberten beide noch einmal den Aura-Sanignis-Schild. Dann klappte sie die Luke auf und jagte unverzüglich mehrere Fluchbrecher dort hinunter. Die blieben tatsächlich in etwas hängen, das golden widerschien und wie ein engmaschiges Netz wirkte, fast wie ein Fliegengitter, dachte Laurentine. Dann sah sie weiter unten das rote Glosen und kleine blaue Flammen, die über eine langsam wogende Oberfläche tanzten. sengendheiße Luft, geschwängert mit dem Gestank von Schwefel und erhitztem Stein wehte ihnen entgegen. Dann blubberten Blasen aus der rotglühenden, halbflüssigen Masse. Da unten war ein Feld aus Lava!
"Klar, der Ätna", grummelte Laurentine. Louiselle zauberte derweil eine Kopfblase. Laurentine tat es ihr nach und hüllte sich dann auch in einen blau leuchtenden Flammengefrierzauber ein. dann mentiloquierte Louiselle: "Das Netz auf halbem Weg macht mir mehr sorgen als die Lava da unten. Das ist so feinmaschig und reagiert garantiert auf jede direkte Berührung. Erinnert mich an eine Geschichte der griechischen Mythologie."
"Du meinst die Geschichte mit der ehebrüchigen Aphrodite und ihrem Liebhaber Ares, die beide von Aphrodites angetrautem in so ein feines Netz eingeschnürt wurden, als sie es mal wieder heftig trieben?" fragte Laurentine ebenfalls mentiloquistisch. Louiselle bejahte das. Dann grinste sie: "Direkte Berührungen." Sie öffnete ihre eigene Tasche und förderte eine Walnuss zu Tage. Laurentine fragte nicht erst, wozu das gut sein sollte. Louiselle legte die Nuss am Rand der sechseckigen Luke ab. "Engorgio maxima!" zischte sie und stieß die Nuss in die Öffnung. Die Nuss blähte sich schlagartig auf, wurde mindestens zwanzigmal so groß wie zuvor und prallte auf ein unsichtbares Hindernis. Louiselle dirigierte mit ihrem Zauberstab Bewegungszauber. Die Nuss überschlug sich so oft, bis sie festhing und in einem nun leicht golden schimmernden Geflecht hin und her schwang, bis das Netz an einer Seite ausgehakt wurde. Es fiel mit seinem Inhalt an die drei Meter tief bis knapp über die köchelnde und flammende Lavafläche. "Oha, ein ausgewachsener Mensch wäre da womöglich bis unten durchgereicht worden", meinte Laurentine. Dann wurde sie aufgefordert, die Lava mit Eiswasserstrahlen zu beschießen, wobei sie sich ruhig wieder das kälteste vorstellen mochte, was ihr bekannt war.
Sie brauchten an die zehn Minuten, bis die Lavafläche vollständig erstarrt und verkrustet war. Dann ließen sie einander mit dem Fallbremsezauber in das untere Stockwerk hinunter. Zur Sicherheit trugen beide noch ihre Feuerschilde. Tatsächlich federte die Kruste noch beunruhigend nach, und am Rande des Raumes glomm noch rote Glut. Immerhin bewahrten die Kopfblasenzauber die zwei vor den giftigen Gasen, die sich hier unten angesammelt hatten. "Die hier reingehen dürfen müssen noch einen Trick mehr kennen als wir, um diesen Lavateppich zu betreten", meinte Laurentine. Louiselle betrachtete die Wände und nickte dann. "Ja, ein passwortgesteuerter Sofortgefrierzauber. Die Symbole da stehen für den Instantifrigiduszauber, der wahrscheinlich mehrfach in diesem Raum ist. Aber da ist auch ein Ohr, um das herum in griechischer Sprache steht, dass "das helfende Eis" nur dem Wort des Freundes gehorcht. Somit weiß ich nicht, wie viel Zeit wir haben, bevor die nachgelieferte Lava die dünne Decke wieder aufbricht", meinte Louiselle.
Laurentine nahm diese Aussage als Anweisung, sich zu beeilen. Sie fanden Tor Nummer sieben, das diesmal wieder quadratisch war. Als es aufging rumorte der Boden, und die dünne Lavakruste knisterte sehr besorgniserregend. Dennoch jagten die beiden Hexen ihre üblichen Fluchbrecher durch die Toröffnung, bevor diese groß genug war.
Hinter Tor Sieben trafen sie erneut auf gemalte Widersacher. Diesmal waren es die Nachbildungen geflügelter Krieger mit flammenden Schwertern, die Engeln aus der Bibel ähnelten. Doch mit Louiselles Bildergefrierzauber konnten die sieben Wächter sogleich wieder gebannt werden. "Jeder Krieger steht für einen Aspekt des Elements Feuer, Hitze, Licht, Gefräßigkeit, Zersetzung, Verschmelzung, Trocknung und Schmelzung. Wer deren Namen kennt kann sie offenbar in ihre Bilder zurücktreiben. Ansonsten ergeht es denen übel, die keinen Aura-Sanignis-Zauber oder den Bildergefrierzauber verwenden können, beide erst ab dem elften nachchristlichen Jahrhundert beurkundet."
Gut, falls die sieben die einzigen waren hin zu Tor Nummer acht.
Doch bevor sie dieses Tor öffneten sahen sich die zwei in der Kammer um. Dabei fanden sie eine feuerfeste Vitrine mit mehreren Flaschen. In einigen flackerte es wie eingesperrtes Feuer. In einer Flasche meinte Laurentine eine pechschwarze Flüssigkeit zu erkennen, in der es immer wieder hell aufblitzte, als entlüden sich elektrische Ladungen darin. Die anderen Flaschen eenthielten verschiedenfarbige Flüssigkeiten. Alle waren mit Symbolen gekennzeichnet. Laurentine erkannte zwei zusammenstoßende schwarze Wolken auf der Flasche mit der pechschwarzen, immer wieder aufblitzenden Flüssigkeit.
"Kuck mal da, so alt ist diese Mixtur schon, die magische Keimessenz eines Gewitters, Laurentine. Wer die in freier Natur ausbringt kann am Standort ein Unwetter mit starken Regenfällen, Hagel und Blitzschlag heraufbeschwören. Ist aber sehr aufwändig und langwierig herzustellen", beschloss Louiselle, die sich immer noch in der Rolle der Lehrerin gefiel, zumal Laurentine eine dankbare Schülerin war. Dafür meinte Laurentine die eingesperrten Feuer zu erkennen. "Da hat jemand Feuergeister eingesperrt. Womöglich um mit ihnen zu experimentieren und sie zu Dienstleistungen zu zwingen. Die anderen Flaschen enthalten sicher Zaubertränke, die auch was mit Feuer zu tun haben."
"Auch was mit Feuer? Das bringt mich auf eine Idee", meinte Louiselle und besah sich die Flaschen und die Symbole. "Dachte ich es mir doch. Die Flaschen, die gegen bestimmte Zauberfeuer schützen sind natürlich nicht gekennzeichnet. Aber ich erkenne sie trotzdem, Carnisalvus, Acidipersistus, auch als Säureblockiertrank bekannt oder hier diese Flüssigkeit sieht nach dem Winternachtbrandhemmer aus, mit dem jemand durch die schwarzen Flammen des Mitternachtsfeuers gehen kann, das ein kleiner Bruder des dunklen Feuers ist", dozierte Louiselle und begutachtete vier schlösser. Sie bat Laurentine, nach dem kleinsten Schlüssel zu suchen, der am Schlüsselbund hing. Laurentine suchte und fand tatsächlich zwischen den neun großen noch zwei kleine. Damit ließen sich die vier Schlösser aufschließen und die Vitrine öffnen. Louiselle nahm drei Flaschen heraus. Danach prüfte sie mit dem Specialis Revelio den Inhalt. Laurentine sah zwar einige Leuchterscheinungen und einmal sogar sowas wie eine kleine Krone aus schwarzen Flammen. Doch sie wusste nicht, ob das die für die Bestimmung der Tränke nötigen Auswirkungen waren.
"Schön, so wie ich gehofft habe", wisperte Louiselle erleichtert. Sie prüfte noch die Menge der entnommenen Tränke und nickte. "Dürfte für uns beide reichen, falls nötig hin und zurück", sagte sie. Dann durfte Laurentine das achte Tor öffnen.
Pontio Barbanera fand sich selbst unter seinem Schreibtisch wieder. Was hatte ihn da gerade so heftig niedergestreckt? Keiner war bei ihm im geheimen Sprechzimmer. Alles war mit erweiterten Feindeswehrzaubern bestückt. Ja, selbst diese unheimlich anmutenden Kristallscheiben, die einen gegen Veelastämmige wirksamen Zauber ausüben konnten waren noch da. Also was war das eben?
Als sich der im Namen der Rosenkönigin amtierende Zaubereiminister zurückbesann, was er vorher gemacht hatte kam er gerade mal bis dahin, dass er einen Antrag seines Finanzabteilungsleiters durchlas, die die Gringottsgebäude in Mailand, Rom, Neapel und Palermo notfalls doch gewaltsam durchsuchen zu lassen, auch wenn viele Kunden die Befürchtung geäußert hatten, dass dabei ihre Gold- und Wertguteinlagen verlorengehen würden. Andere Kunden hatten sich beschwert, dass das Ministerium wohl darauf ausgehe, die Besitzverhältnisse aller italienischen Zaubererweltbewohner zu erfassen und danach neue Abgaben verlangen konnte. Wieder andere, die von den Eingreiftruppen nicht rechtzeitig zum schweigen gebracht worden waren hetzten gegen Barbanera und seine Leute, weil er doch nur eine Marionette der dunklen Hexe Ladonna Montefiori sei und Ladonna ihnen allen erst das Gold und dann die Freiheit, einigen wohl dann auch das Leben nehmen würde. Deshalb hatte der Sicherheitsleiter auch verlangt, mehr kampfzaubererfahrene Ministeriumsangehörige aus anderen Abteilungen zu übernehmen, um die schwelenden Unruheherde auszulöschen.
Barbanera hatte beim Durchlesen des Antrages gedacht, dass die Königin sich wohl doch geirrt hatte, als sie die Entfernung aller Kobolde aus Italien befohlen hatte. Da hatte er ihren lauten Aufschrei gehört und dann gemeint, ein lavaheißer Feuerball wäre mitten in seinen Gedärmen explodiert und hätte ihn zerrissen. Von da an musste er wohl ohnmächtig gewesen sein. Jedenfalls stellte er fest, dass er anderthalb Stunden Zeit verloren hatte. Er fragte sich, ob sein Gedanke an einen möglichen Irrtum seiner Herrin diesen Schlag ausgelöst hatte, als Strafe für seinen Zweifel an ihren Entscheidungen.
Als er sich wieder gänzlich im Hier und Jetzt wiederfand rief er in Gedanken nach ihr, die seine Herrin und Meisterin in allen Bereichen war. Doch sie meldete sich nicht. Warum schwieg sie? Wollte sie ihn durch ihr Schweigen noch mehr bestrafen, ihm zeigen, wie wertlos er war? Noch einmal rief er in Gedanken: "Meine Herrin und Königin, bitte erweist Eurem treuesten Diener die Gunst einer Auskunft!" Doch die Königin schwieg weiter. Gab es sie überhaupt noch? War das, was ihn getroffen hatte die Auswirkung ihres eigenen Todeskampfes? Seine Körperhaare stellten sich auf. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn. ER fühlte ein leichtes Zittern. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Wenn die Königin tot war waren er und alle anderen selbst dem Tode geweiht. Denn sie hatte sie an ihr Leben gebunden, ihre Seelen ihrem Willen unterworfen. Wenn sie tot war mussten er und alle ihr treuen Hexen und Zauberer folgen. Oder sie würden von denen heimgesucht und grausam niedergemacht, die sich immer noch der Herrin verweigerten und blutige Vergeltung üben wollten.
Weil die Herrin nicht auf seine Rufe antwortete raffte er sich auf und rief über die eingerichteten Zweiwegespiegelverbindungen nach seinen Leuten. Dabei kam heraus, dass jene, die am längsten der Königin dienten, wie er selbst für anderthalb Stunden außer Gefecht waren. Ebenso bekam er keine Antwort der von der Herrin angeforderten Wachzenturie, die um ihre Residenz bei Florenz stationiert worden war. Dann fiel es ihm ein, dass jemand diesen Wächtern eine Falle gestellt hatte und sie alle getötet oder zumindest handlungsunfähig gemacht hatte. War das die Folge eines möglichen weiteren Irrtums seiner Herrin? Allein der Gedanke jagte ihm einen siedendheißen Schrecken ein. Was, wenn er gleich wegen dieses widersetzlichen Gedankens starb? Doch diesmal brach kein heftiges Ungemach über ihn herein. So beschloss er, zwei Kundschafter zu entsenden, die die Residenz bei Florenz überprüfen sollten.
Laurentine schickte nach dem Aufschließen von Tor Nummer acht den Elementarkraftberuhigungszauber aus. Doch statt des kurzen Flimmerns in der Luft, wie bei den Räumen zuvor erfolgte nur ein lautes Piff, gefolgt von einem leisen Knistern, das drei Sekunden lang immer leiser werdend den Raum erfüllte. Louiselle, die bereits in den Raum hineinblickte meinte: "Ich habe mehrere Runen am Boden gesehen. Kann sein, dass dein Paradezauber diesmal pariert wurde, Laurentine."
"Häh?! Wieso hier und nicht bei den anderen Räumen?" fragte Laurentine. "Ich habe da so einen Verdacht. Moment, da an der linken Wand steht was." Laurentine blickte an die linke wand und sah eine feuerrote Leuchtschrift. Sie lautete:
IN ISTE LOCO SOLUM SIT
CUM CLAVIBUS LIQUIDAE.
VEL DE FAME SITEQUE
IN AGONIA MORIBIT!!
"Oha, was war noch mal Clavibus?" gedankenfragte Laurentine, weil sie nicht durch ein lautes Wort irgendeinen Zauber auslösen wollte. "Die Ablativform von Claves, der Mehrzahl von Clavis, der Schlüssel", schickte Louiselle zurück und präsentierte die aus der Vitrine entnommenen Flaschen. "Gehen wir also rein", dachte sie Laurentine zu.
"Flüssige Schlüssel", dachte Laurentine für sich. Also mussten sie wohl mit den Tränken was aufschließen oder durchlässig machen oder sich gegen dessen Auswirkungen immunisieren. Wenn Louiselle sich sicher war, dass sie die richtigen "Schlüssel" eingesteckt hatte wollte Laurentine ihr vertrauen. Sie folgte ihr in den achten Abschnitt.
Kaum waren sie durch das Tor schnellte hinter ihnen eine rote Feuerwand hoch und blockierte den Rückweg. Laurentine sah nach links. Die Leuchtschrift war verschwunden. Klar, wenn sie die Warnung vorher nicht beachtet hatten war sie jetzt auf jeden Fall sinnlos. Denn eine Warnung war es ja, soweit Laurentine es für sich übersetzt hatte. Jemand möge nur an diesem Ort weilen, wenn er oder sie die flüssigen Schlüssel, also mehrere, bei sich trüge, oder er oder sie musste an der Todesqual von Hunger und Durst sterben. "Ich prüfe mal, ob die auch echt jeden Ausweg zugemacht haben", mentiloquierte Louiselle und schlug mit ihrem Zauberstab einen Kreis um jede der drei Raumachsen. "Gut, disapparieren geht schon mal nicht, weil Locattractus-Zauber", schickte sie an Laurentine zurück. Dann prüfte sie noch was. "Portschlüssel gehen auch nicht, weil zu viel Gestein und sich bewegendes, von Erdfeuer erhitztes Material über uns", bemerkte sie, nachdem sie einen weiteren Prüfzauber ausgeführt hatte. "Wollen wir hoffen, dass die Tränke für uns beide reichen", dachte sie noch. Dann zuckte sie zusammen und deutete in die Mitte des betretenen Raumabschnittes. Laurentine sah erst nur eine Mulde. Doch dann fiel ihr weißes Zauberstablicht auf die Mitte der Grube. Dort stapelten sich mindestens fünfzig oder hundert vom Widerschein des roten Feuers blutigrot schimmernde Knochenstücke, teilweise ganze Knochen und lose verteilte Totenschädel. "Das waren die, die nicht die Warnung beachtet haben oder meinten, gleich in den gesuchten Zielraum reinapparieren zu können", bestätigte Louiselle Laurentines schreckliche Vermutung. "UUarrrg! Ein Massengrab", bemerkte Laurentine mit hörbarer Bestürzung und Ekel. "Nicht ganz, dann wäre es zumindest zugeschaufelt", erwiderte Louiselle abgebrüht, um nicht zu sagen knochentrocken.
"Hoffentlich sind die echt alle tot und nicht schwarzmagisch belebt", schickte Laurentine ihrer Mentorin und Lebenspartnerin zu. "Dann würden die schon aufstehen und uns entgegenklappern", gedankenantwortete diese immer noch völlig unerschüttert von dem, was sie hier vorfanden.
Die Wände begannen in einem silberweißen Schein zu flimmern. Dann sahen sie beide etwas nicht minder beängstigendes. In den Wänden bildeten sich durchsichtige Gesichter, Männer verschiedenen Alters. Dann traten durchsichtige Köpfe aus den Wänden hervor. Dann erfolgte ein hämisches lautes Hohnlachen aus mehr als zwanzig Mündern. Doch Louiselle blieb ganz ruhig. "Clausa contra Umbrae Animarum!" rief sie erst der linken, dann der rechten Wand zu, wobei sie bei jedem Wort den Zauberstab weit ausladend vor der betreffenden Wand kreisen ließ. Dann zielte sie noch nach oben und wiederholzauberte die letzte Anrufung. Die aus den Wänden herauswachsenden Geistererscheinungen wurden flirrend zurückgetrieben und stießen laute Wutschreie aus. Laurentine belegte derweil auch den Boden vor sich mit jener zeitweiligen Geisterrückhalteformel.
"Da bleibt ihr jetzt erst mal", knurrte Louiselle, während die in den Wänden eingesperrten Gespenster leise stöhnten, wimmerten und wehklagten. "Der Boden ist auch geisterdicht?" fragte sie Laurentine. Diese nickte. Nun galt es, um die Knochengrube herumzugehen, was nicht so einfach war, da ihr Rand nur eine halbe Körperbreite von der Wand fort war. Damit war für Laurentine klar, dass das Geisterheer aus den Wänden sie derartig erschrecken sollte, dass sie in die Grube rutschten und am besten dort gefangenblieben, bis Hunger und Durst sie getötet hatten und ihre Körper der Knochensammlung hinzugefügt und ihre Seelen dem Geisterheer eingegliedert wurden. Doch daraus wurde hoffentlich nichts.
Die Grube der Gerippe, wie Laurentine sie für sich nannte, erstreckte sich über zwei Drittel der Breite und über die Hälfte der Länge des schlauchartigen Ganges. Laurentine sah nur auf Louiselle, die mit schwingendem Zauberstab voranschritt. Sie hörte das Klagen und Wimmern der in die Wände gebannten Geister nicht mehr.
Der Gang bog sich einmal nach links und dann wieder nach rechts. und dann wieder nach links wie ein großes S. Am Ende des Ganges sahen sie ein weiteres Hindernis.
Eine wand aus schwarzen Flammen loderte vor ihnen die gesamte Breite des Ganges und bis zur Decke hinauf. "Da ist die Wand aus Mitternachtsfeuer, dem kleinen Bruder des dunklen Feuers, das allels Leben, alle Magie und alles Metall frisst. Das Mitternachtsfeuer verschlingt nur alles langsame oder schnell brennende Feuer in Körpern oder Gegenständen", dozierte Louiselle ganz ruhig, als wenn sie nur im Zoo vor einem Käfig standen und der darin eingesperrte Löwe ihnen nichts anhaben konnte.
"Und einer von den Tränken macht, dass wir da durchkommen?" fragte Laurentine. "Wenn ich richtig gesehen und geprüft habe ja", sagte Louiselle und holte eine der mitgenommenen Flaschen hervor. Dann nickte sie. "Gut, Wenn hinter der Wand das neunte Tor liegt musst du es aufschließen. Hoffentlich wartet da nicht noch ein ganz gemeiner Gegner auf uns."
Louiselle entkorkte die für richtig befundene Flasche und nahm kleine Schlucke daraus. Dann gab sie die Flasche an Laurentine weiter. Diese trank ebenfalls. Ob der Trank wirkte fühlte sie nicht.
Als Louiselle losging und in scheinbarer Todesverachtung in die schwarzen Flammen hineintrat stockte Laurentine einen Moment der Atem. Doch als sie sah, dass ihre Liebes- und Lebenspartnerin unbeschadet dahinter verschwand folgte sie ihr mit dem unerschütterten Vertrauen in das Wissen und die Erfahrung der älteren Mitschwester. Als sie die lautlos lodernden Flammen berührte fühlte sie erst einen Kälteschauer auf dem Körper. Doch dann erfüllte sie ein wohliger Schauer, und sie durchschritt das flammende Hindernis.
"Wielange hält die Wirkung an?" fragte Laurentine, als sie hinter der schwarzen Feuerwand noch zehn Meter Gang vor sich hatten. "Sie vergeht beim Durchschreiten der Mitternachtsflammen. Wer vorsorglich den Trank nimmt hat wie beim Vielsafttrank eine Stunde pro Dosis, bis die Wirkung vergeht", meinte Louiselle. Dann deutete sie auf das letzte Tor.
Laurentine betrachtete die beiden zwei Meter hohen Torflügel, die in der Mitte mit zwei schräg gegenüber angebrachten Schlüssellöchern ausgestattet waren. In die Türplatte waren griechische Buchstaben eingraviert. Da Laurentine sie wegen ihrer Astronomiebegeisterung kannte konnte sie zwar die Buchstaben erkennen, doch die von ihnen gebildeten Worte verstand sie nicht, weil sie in einer ihr unbekannten Sprache geschrieben waren.
"Ach, mal wieder altgriechisch", grinste Louiselle, die hinter Laurentine stand. Mentiloquistisch übersetzte sie noch: "Berg und Meer wiesen dem Meister den Weg zu Wissen und Ruhm."
"Ach, der Hephaistosmythos", schickte Laurentine zurück. "Seine Mutter, die übrigens Hera hieß, warf ihn wegen seiner hässlichen Gestalt vom Olymp ins Meer, wo er von Meernymphen gerettet und auf eine Insel gebracht wurde, wo er die Schmiedekunst erlernt hat", mentiloquierte Laurentine und merkte, dass das trotz der unmittelbaren Nähe ihrer Zielperson gut anstrengte. Louiselle fragte: "Also, in welcher Reihenfolge müssen die Schlösser aufgeschlossen werden?" Laurentine wandte sich ihr zu und grinste überlegen. Denn die Antwort war nach diesem Text ganz klar.
Die von Barbanera ausgesandten Kundschafter erreichten nach einem Appariersprung und fünf Minuten Besenflug das Grundstück der Girandelli-Villa, in der ihrer aller Königin wohnte und residierte. Das in altrömischem Stil erbaute Haus mit seinen Gartenanlagen stand noch unversehrt da. Von oben war nicht zu erkennen, dass ein tödlicher zauber es umhüllte, der jeden blutdrurchströmten Feind der Herrin innerhalb von Sekunden vernichtete. Doch die hier hinbeorderten Wachen waren nicht mehr da. Auf die Anrufe ihrer Kollegen erfolgte keine Antwort. Doch auch die Herrin selbst schwieg sich aus. War sie wahrlich noch am Leben?
Die Kundschafter landeten ohne Furcht vor Vernichtung direkt vor dem Eingangsportal der Villa. Sie fühlten eine leichte Erwärmung in ihren Körpern. Doch mehr widerfuhr ihnen nicht. Allerdings konnten sie auch das Portal nicht öffnen. Denn sie besaßen keinen passenden Schlüssel, und der Alohomorazauber blieb wirkungslos. Durch die Fenster des Landhauses konnten die Kundschafter in ihren Betten schlafende Menschen sehen, den Liebesknecht der Königin und dessen Dienstpersonal. Also wollte die Herrin was immer anstand ungestört unternehmen. Doch wo war diese? Durch das Fenster des weitläufigen Wohnraumes konnten sie niemanden sehen. Die Fenster waren ebenso unaufzauberbar und besaßen unzerbrechliche Glasscheiben. Als einer von ihnen es wagte, den Erkundungszauber Mentijectus einzusetzen war diesem, als träfe ihn eine unsichtbare Steinkeule voll gegen die Stirn. Er verlor das Bewusstsein. Doch sein Kollege stellte fest, dass ihm nicht mehr zugestoßen war. Allerdings war nun klar, dass niemand mit diesem Erkundungszauber in die Villa hineintasten konnte. An und für sich war dies doch zu erwarten gewesen. Denn die Königin hatte eine Menge Geheimnisse und vor allem wollte sie nicht bei ganz intimen Verrichtungen beobachtet werden.
"Melde, die Residenz unserer allmächtigen Königin ist unversehrt, doch die Herrin selbst ist durch die verfügbaren Fenster nicht zu sehen", leitete der noch wache Kundschafter weiter und fügte dem hinzu, dass er die hier wachende Zenturie nicht angetroffen hatte. Waren die Wachen alle auf einen Schlag getötet worden oder nur an einen anderen Ort verschlagen worden?
"Beziehen Sie Wachposten außerhalb der Nebelgrenze!" kam der Befehl. "Mein Kollege Bertulo wurde bei Mentijectus-Versuch durch Gegenzauber bewusstlos", meldete der noch wache Kundschafter. "Ist aber nett, dass Sie uns das jetzt schon mitteilen, Bernecelli", klang aus der Schallverpflanzungsdose die zu erwarten ungehaltene Antwort. So musste Kundschafter Barnecelli seinen ohnmächtigen Kollegen auf dem Flugbesen anbinden und dessen Besen mit zwei Halteschlaufen mit seinem Besen zusammenbinden. Dann konnte er mit ihm bis jenseits der Blutfeuernebelgrenze zurückkehren, wo er befehlsgemäß damit begann, das Grundstück zu umkreisen und zu überfliegen, um mögliche Annäherungen zu erkennen.
Laurentine schloss erst das Schloss rechts oben und danach das Schloss links unten auf. Jeweils viermal klackte es. Dann sprangen laut schnarrend mehrere innere Rigel zurück. Die zwei Torflügel schwangen völlig geräuschlos nach innen. "Die haben ihre Scharniere aber immer gut geölt", dachte Laurentine, bevor sie sah, was hinter dem neunten Tor lag.
Es war eine Schmiedewerkstatt mit Öfen, Essen, verschiedengroßen Ambossen, Werkbänken mit metallenen Backen, Abkühlbecken, in denen aber schon lange kein Wasser oder eine andere Kühlflüssigkeit gewesen war. Die Wände verschwanden hinter meterhohen Regalen und Schränken. An einer langen Stange mit langen Nägeln hingen alle möglichen Werkzeuge, vor allem unterschiedlich große Hämmer, Raspeln, Feilen und Zangen. In einem Regal stapelten sich kleine und große Schachteln und Kisten, in denen sicher eine Menge Kleinkram wie Nägel, Schrauben, Nieten oder Zahnräder aufbewahrt wurden. Laurentine fiel vor allem die Reihe haushoher Ambosse auf, neben denen Ständer mit gewaltigen Werkzeugen standen. Dann sah sie an der Rückwand die drei riesenhaften Statuen. Sie erkannte sofort, dass diese Standbilder nur ein großes rundes Auge in der Stirn besaßen und wahre Muskelberge waren, die so abgebildet waren, dass sie wie mit Lederschürzen bekleidet aussahen. Wie war das mit Hephaistos oder Vulcanus? Hatte der nicht drei Zyklopen als Schmiedegehilfen befehligt? Als Laurentine das dachte sah sie, wie die kreisrunden Augen der steinernen Riesen, die denen auf Rapa Nui locker das Wasser reichen konnten rot, gelb und Grün aufglühten, wie bei einer besonders exotischen Verkehrsampel. Da wurde ihr klar, dass diese Zyklopen gleich erwachen und garantiert auf sie losgehen würden. Louiselle sah das auch und wirkte schnell den Inhibitus-Transmutatus-Zauber auf den von ihr aus ersten Steinzyklopen links. Der in der Mitte wurde von Laurentine auf gleiche Weise bezaubert. Doch der Dritte begann sich schon zu recken und strecken. Aus grauem Stein wurde mittelbraune, von dicken Borsten besetzte Haut. Das wagenradgroße, grüne Rundauge des erwachenden Riesens glomm noch heller und öffnete das Lid. Währenddessen erloschen die Augen der beiden anderen Kolosse.
Als Laurentine ihn noch mit dem Verwandlungshemmer bezaubern wollte sprang der erwachte Zyklop laut schnaubend von seinem Wartepodest herunter und landete mit einem die Erde erschütternden Donnern auf seinen nackten Füßen. Laurentine dachte an die Griechensagen, mit denen sie vor Beauxbatons gefüttert worden war. Odysseus hatte dem Zyklopen Polyphem das Auge ausgebrannt und sich damit Poseidons Zorn eingehandelt. Sie durfte den Riesen nicht töten. Doch der Riese würde sie töten ... und auffressen. Das wollte sie nicht wirklich.
"Obscura!" rief Laurentine dem ihr entgegenstampfenden Riesen zu. Ein pechschwarzes Tuch entstand und wickelte sich blitzartig um den gewaltigen Schädel des Einäugigen. Sein kreisrundes Auge verschwand völlig hinter der sich mehrfach um den Kopf wickelnden Binde. Der Riese konnte nichts mehr sehen. Er stolperte über einen für ihn gerade mal hackenhohen Amboss und strauchelte. Er brüllte so laut, dass Laurentine meinte, ihre Ohren müssten ihr vom Kopf brechen. Louiselle zielte nun selbst auf den Giganten und verpasste ihm einen meterdicken Knebel und belegte diesen mit einen Anklammerzauber, so dass der Riese ihn sich nicht aus dem Mund ziehen konnte. Wieder verstolperte der Zyklop einen Schritt und geriet endgültig aus dem Gleichgewicht. Mit einem alles und jeden in diesem Raum durchrüttelnden Donnerschlag knallte er bäuchlings auf den Boden, wobei er genau zwischen zwei Werkbänken zu liegen kam. Louiselle stieß ein siegessicheres "Hah!" aus und führte ungesagt mehrere Zauber aus, die zur Folge hatten, dass der gefallene Rise mit Armen und Beinen an die ihm nächsten Werkbänke und Ambosse gefesselt wurde. Laurentine sah fasziniert zu, wie schnell und zielgenau ihre Partnerin den Zyklopen fixierte. Doch als sie das Klacken eines aufspringenden Schrankes hörte blickte sie schnell dorthin, wo ihrer Meinung nach das Geräusch herkam. Dann sah sie sie.
Sternennacht hatte noch einige Wald- und Wiesenvögel als Kundschafter um die Villa bei Florenz in Stellung gebracht. So konnte sie die beiden ankommenden Kundschafter sehen und lächelte. Noch hatten sie einige Kerzen übrig. Doch der eine Kundschafter wurde von seinem Kollegen neben einem der Bäume abgelegt, bevor dieser auf seinem Besen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit über dem Grundstück zu kreisen begann. "So kriegen wir den nicht. Der fliegt genau auf Höhe des Nebelzaubers", dachte sie. Auch der zweite Kundschafter lag zu nahe an der für Veelastämmigen liegenden Gefahrengrenze um ihn dort zu ergreifen. also blieb nur, ihn und seinen wovon auch immer bewusstlos gemachten Kollegen weiterzubeobachten.
Sie sahen wunderschön aus und glänzten im Licht der plötzlich aufstrahlenden Lampen an der hohen Decke. Es waren Frauen aus goldenem Metall, die in feuerroten Kleidern steckten, deren Saum bis zu den Knien reichten. Sie besaßen sogar feines, golden schimmerndes Haar, das bis auf die bloßen Schultern herabwehte. Ihre Augen glänzten im Schein der Deckenbeleuchtung wie Bergseen im Sonnenlicht. "Die glänzenden Wächterinnen!" dachte Laurentine. Die wie aus lebendigem Gold bestehenden Frauengestalten rannten los, schneller als jeder Olympiasprinter. Laurentine erinnerte sich an die Warnung Domenicas und ihren Rat. Sie zielte auf die beiden. Ja, so und nicht anders ging's, dachte sie. "Deterrestris!" dachte sie konzentriert. Die ihr nächste Goldfrau war nur noch zwanzig Meter von ihr fort, als diese wie von einem unsichtbaren Kran in die Höhe gerissen wurde und vom eigenen Vorwärtsschwung weitergetragen nach oben schnellte. Die zweite erkannte den Angriff und sprang im Lauf weit nach links weg. Doch Laurentine führte mit einer selten geäußerten Schnelligkeit den Zauberstab nach und rief erneut "Deterrestris!" Die zweite Frau aus Gold stürmte aus nun noch zehn Metern Entfernung auf sie zu. Fast bekamen ihre vorschnellenden Glitzerhände Laurentines Hals zu fassen, als der Schwerkraftumkehrzauber sie in die Luft riss. Laurentine ließ sich nach hinten überfallen und entging einem wuchtig ausgeführten Tritt, der ihr garantiert den Schädel zertrümmert hätte. Der Windstoß der kraftvollen bewegung blies ihr kalte Luft ins Gesicht. Sie rollte sich gerade noch so ab, dass sie keinen Schaden nahm und auch ihr Zauberstab unversehrt blieb. Gut, dass Julius ihr und Céline die Grundlagen für waffenlose Selbstverteidigung gezeigt hatte. Aber wieso konnte sie das alles noch so gut wie am ersten Tag, obwohl es schon Jahre her war? Egal. Die zwei goldenen Androidinnen waren auf jeden Fall erst einmal hilflos. Gegen den Schwerkraftaufheber waren sie offenbar nicht gefeit. Laurentine dachte, dass sie sonst wohl alle auf Lichtstrahlen basierenden Zauber gespiegelt und jede körperliche Gewalt locker weggesteckt hätten. So flogen die zwei Goldenen bis zur mehr als zehn Meter hohen Decke hinauf, klirrten dagegen, schabten leise noch etliche Meter daran entlang, dass Ruß und Putz abgerieben wurde und blieben dann mit Rumpf und Gliedern an der Decke kleben wie Fliegen am Fliegenfänger. Zwar versuchten sie, sich wieder davon nach unten zu stoßen, es gelang jedoch nicht.
Laurentine hörte nun die Stimmen der beiden überwältigten Kunstgeschöpfe. Sie klangen zwar rein und klar wie kleine Glocken. Doch sie verstand sie nur unzureichend, weil sie in einer Mischung aus Latein und Altgriechisch zeterten. Laurentine hörte nur Begriffe wie "Hecate" und "Amazones" heraus. Wer Hecate oder Hekate war wusste sie aus der Sagenwelt, die Lehrmeisterin und Urmutter aller Hexen. Aber für eine Amazone hätte sie sich gerade nicht gehalten.
"Sie schimpfen, weil du ihnen mit Hexerei kamst und nicht ehrenvoll wie ein Held oder eine Amazone gegen sie gekämpft oder dich ihnen gleich ergeben hast", meinte Louiselle amüsiert, nachdem sie sah, was Laurentine mal eben in nur drei Sekunden ausgerichtet hatte. "So, unser gerade nicht zurückverwandelbarer Freund ist erst einmal fest angeschmiedet, wie es sich für einen unbeherrschten Schmiedeknecht gehört. Oh, und die zwei da oben habe ich nicht mitbekommen. Was für vollkommene Automata."
"Ja, und die hätten uns fast mit ihren puren Körperkräften zerlegt, Louiselle", meinte Laurentine.
"Oh, so schnell und stark sind die? Stimmt, das wäre das Ende der Reise geworden."
Die zwei an der Decke festhängenden Metallfrauen zeterten noch einige Sekunden. Dann schwiegen sie und versuchten nur noch, sich von der sie scheinbar anziehenden Decke loszustoßen. Doch offenbar verstärkte die von mehreren Metallstreben durchzogene Decke die Wirkung von Laurentines Schwerkraftumkehrzauber noch.
Suchen wir nach dem Schwert und sehen zu, dass wir hier wieder wegkommen", mentiloquierte Louiselle.
Während der gefangene Zyklop mit lautem Ächzen und Grummeln versuchte, die von Louiselle über ihn verlaufenden Metallträger wegzudrücken, aber wegen der an ihm festgemachten Ambosse und Werkbänke nicht genug Kraft aufbringen konnte und die beiden goldenen Mädchen sich gerade mal für eine halbe Sekunde pro Versuch von der Decke losreißen konnten suchten die beiden Hexen nach dem Schwert der Entschmelzung.
Laurentine stellte fest, dass sie wahrhaftig mit den Schlüsseln, mit denen sie vorher die Vitrine aufgesperrt hatte auch die Schränke öffnen konnte. Tatsächlich lagen dort silberne, goldene und eiserne Schmuckstücke, Geschirrteile und Waffen. Doch ein römischer Gladius war nicht dabei. Den fanden sie erst, als sie mit einem gewissen unbehagen bei den zwei Meter hohen Sockeln der Zyklopen ankamen. Zwischen dem ganz links und in der Mitte ragte ein Steinblock in Form einer Pyramide auf, der aus purem Diamant zu bestehen schien. Aus der Oberseite des Vierflächlers ragte ein Schwertgriff heraus, und ein Teil der Klinge war zu erkennen. Sie schimmerte in einem rosigen Farbton, anders als pures Gold, Messing, Silber oder Kupfer. Laurentine dachte daran, dass die gesuchte Waffe aus dem legendären Metall aus Atlantis, also Orichalk bestehen sollte. Doch wenn das stimmte, dann mochten auch die Geschichten um das versunkene Reich aus grauer Vorzeit stimmen. Vielleicht hätte sie doch Zaubereigeschichte bis zu den UTZs behalten sollen.
"Das da ist unser Ziel", meinte Louiselle. "ah, da an der uns abgewandten Seite liegt ein grüner Drachenhautgürtel mit einer kurzen Schwertscheide, eindeutig für das Schwert im Tetraeder."
"Excalibur lässt grüßen", grummelte Laurentine. Ihr war sofort klar, was die letzte Aufgabe war. Jemand musste dieses Schwert aus dem Diamanttetraeder herausziehen. Doch nur der oder die Würdige konnte das. War sie würdig? Es hieß, dass das Schwert nur von einem magischen Menschen benutzt werden durfte, der kein Kind aus sich herausgeboren hatte. Gut, für sie traf das zwar zu, aber ob es nicht doch hieß, dass das Ding auf das männliche Geschlecht allein festgelegt war wusste sie nicht. Dann musste sie es ausprobieren.
Louiselle prüfte den Tetraeder und das aus ihm ragende Schwert und erkannte, dass kein Prüfzauber anschlug. "Der Tetraeder und das Schwert absorbieren von außen kommende Zauberkräfte", grummelte Louiselle. Sie mochte es wohl nicht, wenn sie etwas nicht eindeutig auf schädlich oder unschädlich prüfen konnte.
Lucines Mütter sahen einander an. Sollte Laurentine es mit bloßen Händen versuchen? Wenn sie es nicht taten hieß es, dass das Schwert hierbleiben musste und sie für nichts und wieder nichts hierhergekommen waren. Da trat Laurentine vor und ergriff ohne weiteres Wort mit beiden Händen den Griff des Kurzschwertes.
Es war, als heize sich die im Stein steckende Waffe auf. Doch sie wurde gerade mal wenige Grad wärmer als Laurentines Hände. Sie fühlte jedoch, dass ihr Kraft entzogen wurde. Sie stemmte sich dagegen. Da fühlte sie, wie etwas ihr von der Hüfte her neue Kraft zuführte. Kleine silberne Funken schwirrten zwischen dem Tetraeder und ihr hin und her. Sie fühlte, wie das im Stein steckende Schwert freikam. Ja, langsam aber sicher konnte sie mehr und mehr von der Klinge herausziehen, während irgendwas an ihr gegen die magische Wirkung des Steines ankämpfte. Dann hatte sie die einmalige Waffe zur Hälfte herausgezogen. Mit einem entschlossenen Ruck riss sie am Griff. Metallisch schabend kam die letzte Hälfte der Klinge aus dem Stein frei. Der Tetraeder erbebte heftig. Laurentine sah, dass der Schlitz, in dem das Schwert gesteckt hatte, von silbernem Licht erfüllt wurde und dann zusammenwuchs, bis die Diamantpyramide völlig unversehrt vor ihr stand. Dann fühlte sie das sanfte Pulsieren in ihren Händen. Sie blickte auf die rosig glänzende Klinge, die sehr scharf geschliffen war und keinen Makel aufwies. Dann hörte sie eine tiefe Männerstimme wie aus allen Richtungen zugleich: "Junge Tochter der Hecate aus einem Land der Nachfahren. Du hast gegen meinen Wunsch, dass nur ein Sohn meines Blutes diese Waffe erhalten sollte, Schwert und Stein überwunden und damit die Klinge der Entschmelzung gewonnen. Doch nun, da du ihre Herrin bist, so bist du auch die Gejagte ihres Ruhmes und ihrer Macht. Gewahre dies alle Tage, dass wenn du diese Klinge nutzt davon berichtet werden mag und jene, die diese Waffe immer schon gewinnen wollten in räuberischer Weise danach trachten werden. So überdenke, ob du sie wahrlich behalten und benutzen oder sie nicht doch besser wieder dem Stein zurückgeben sollst. Dies kannst du gerne auch tun, wenn du die Tat, die du meinst, mit ihr vollbringen zu müssen, vollendet hast und dabei nicht dein Leben verlierst. Dies sei dir verkündet von mir, Ignaureus Phlegetonius, erbe des mächtigen Meisters aller Meister von Feuer und Erz."
"Laurentine, wir sind hier fertig", mentiloquierte Louiselle, ohne auf die Botschaft weiter einzugehen. Laurentine nickte. Sie hob den neben dem nun wieder ruhigen Tetraeder liegenden Schwertgürtel auf und band ihn sich über den Gürtel der gemeinsamen Frucht um ihre Taille. In die daran hängende Scheide schob sie das erbeutete Kurzschwert. Sollte das die Waffe sein, mit der Ladonna besiegt werden konnte, ohne sie tödlich zu treffen? Noch wusste sie es nicht. Vielleicht waren sie auch einem groß angelegten Betrug aufgesessen, einem perfiden Spiel, von dem nur die es veranstalteten wussten, wie es ausgehen sollte. Doch bisher hatte alles gestimmt. Sie mussten einfach darauf vertrauen, dass auch alles andere Stimmte.
"Sollen wir die beiden Goldies da oben hängen und Einauge verhungern lassen?" fragte Laurentine, als sie durch die hallengroße Schmiedewerkstatt zum letzten Tor zurückkehrten.
"wir dürfen niemanden töten, hat die große Marmordame gewarnt. Also muss ich Freund Einauge wieder freigeben, aber nicht unmittelbar", sagte Louiselle und belegte die aus den hier vorhandenen Eisenstücken geformten und verstärkten Schellen, Ketten und Jochstangen mit einem verzögerten Loslösungszauber, während der darin eingezwengte und gefesselte Riese immer noch versuchte, sich herauszusprengen. Laurentine zauberte mit "Retardo Terra Firma" und der in ihrem Geist erklingenden Zahl "sechshundert" die beiden an der Decke herumzappelnden goldenen Dienerinnen. Dann sah sie in einer Ecke noch den unter einer weichen blauen Seidendecke verborgenen hohen Stuhl, wie einen Thronsessel. War das jener goldene Thron, an den der Schmiedegott der Antike aus reiner Vergeltungswut seine eigene Mutter gefesselt hatte? Das musste sie jetzt nicht wirklich noch herausfinden, dachte sie.
Sie durchschritten das Tor zurück in den vorletzten Abschnitt dieses unterirdischen Bauwerkes. Die zwei Torflügel schwangen hinter ihnen wieder zu und verriegelten sich von selbst.
als sie von der anderen Seite her auf die schwarze Feuerwand zugingen fühlten sie die davon ausströmende Kälte. Louiselle holte den für diese Barriere nötigen Trank hervor. Sie tranken beide und durchquerten unbehelligt die Flammenwand.
"So, weil wir damit die Wirkung des Trankes wieder aufgehoben haben können wir gleich, wenn wir die rote Feuerwand vor uns haben den anderen Trank nehmen", legte Louiselle fest.
"Ähm, wo sind denn die ganzen Geister geblieben?" fragte Laurentine, als sie sich an der Knochengrube entlangschoben. "Die werden wohl in die tieferen Schichten der Wand zurückgewichen sein. Der Geisterrückhaltezauber wirkt einen halben Tag, egal wie groß die damit zu bedeckende Oberfläche ist", sagte Louiselle.
als sie vor der roten Feuerwand standen tranken die zwei Hexen von dem Carnisalvus-Trank, der ihr Fleisch und Blut davor schützen sollte, in den Flammen zu vergehen, so dass nur noch ihr Skelett übrigblieb.
Als sie vom Trank gestärkt in die rote Flammenwand eindrangen fühlte Laurentine, wie ein Kälteschauer von ihrem Bauch aus durch ihren Körper jagte und hörte das laute Tosen der roten Flammen in ihren Ohren. Dann war sie durch und lebte noch. Das vorhin geöffnete Tor war noch offen. Als beide Hexen es passierten fiel es ebenso zu und verriegelte sich von alleine.
Die beiden Drachen waren immer noch versteinert. In ihren Mäulern und Nasenlöchern glühte das rosarote Licht von Amatas Ruhestatt weiter.
Auch die anderen Räume waren nun mühelos zu passieren, wobei sie nur im Raum mit der Lava diese erneut erstarren lassen mussten. die unheimlich lebendig werdenden Bilder wurden von Louiselle im Vorbeigehen neu eingefroren. Laurentine sprach noch einmal den mechanischen Blockierschutz gegen ihnen auflauernde Fallen aus.
Der Feuerdschinn steckte immer noch in der weiß leuchtenden Kugel und gab keinen Laut von sich.
So verließen die beiden Mütter Lucines die geheime Werkstatt des angeblichen Gottes Vulcanus wieder und suchten das Zelt, in dem Hera und Lucine warteten.
Léto suchte Julius in Millemerveilles auf und teilte ihm mit, dass Sternennacht und ihre Familie offenbar zum großen Befreiungsschlag gegen Ladonna Montefiori ausholten. Immerhin sei es ihnen gelungen, an die hundert Ministerialzauberer mit den Goldlichtkerzen zu überwältigen und noch schnell genug fortzuschaffen, bevor Barbaneras Leute nachsehen kamen, was geschehen sei.
"Ja, aber Sternennacht kommt nicht in die Villa rein, wegen des Blutfeuernebels", wies Julius auf die Schwäche im Plan hin. "Das weiß Sternennacht natürlich. Aber ihr geht es nun darum, möglichst viele von Ladonnas Hörigen zu befreien. Wenn sie nur in ihrem sicheren Haus hockt kann sie das nicht verhindern. Das wird sie wütend machen und wie Sternennacht hofft, zum Gegenangriff hinaustreiben", sagte Léto.
"Ja, nur dass Ladonna keine Rücksicht auf ihre Blutsverwandten nimmt und die Ministeriumsleute vielleicht doch den Befehl bekommen könnten, sie alle umzubringen, Blutrache hin oder her", seufzte Julius. Léto konnte dem nur zustimmen.
"Wie war es bei diesem Prinzen aus Dämenark, der davon überzeugt war, dass der Geist seines Vaters ihn dazu trieb, ihn zu rächen?" fragte Léto. Julius überlegte erst und nickte. Dann zitierte er die von Léto angedeutete Passage in der Sprache ihres Schöpfers. "Sein oder nichtsein? das ist hier die Frage ..."
Fünf Minuten später erfuhr er auch von Catherine, dass offenbar jemand dem italienischen Zaubereiministerium einen heftigen Schlag versetzt hatte. Denn mehrere Ministeriumsmitarbeiter waren aus unersichtlichen Gründen ohnmächtig geworden, so dass der Verwaltungsbetrieb über eine Stunde lang ruhen musste.
Konnte es wirklich sein, dass die Veelas es nun ein für alle mal klären wollten, ob sie weiterleben oder sterben mussten, ob sie frei in ihren angestammten Wäldern und Bergen wohnen durften oder für noch viele hundert Jahre auf Mokushas Insel schlafen mussten, bis es doch mal jemand schaffte, Ladonna aufzuhalten. Er dachte an das von Sternennacht geforderte Treffen zwischen ihr und Anthelia, an die Sonnenkinder, an die Feuerrose und ihre Auswirkungen und auch dass er wegen seiner Befähigungen und wegen seines Berufes nur noch zwischen Millemerveilles und einem mit dem Sanctuafugium-Zauber geschützten Ort pendeln konnte. Er dachte an die Aussagen jener, die nach dem elften September 2001 wieder in Flugzeuge gestiegen waren. Sie wollten sich nicht von solchen Verbrechern einschränken lassen, ihr Leben zu führen. Er wollte das auch nicht. Auch wollte er nicht, dass Seine mittlerweile alle auf die eigenen Beine kommenden Kinder wie Tiere in einem großen aber doch begrenzten Gehege herumlaufen mussten. So blieb ihm im Moment nur zu hoffen, dass es doch eine Möglichkeit gab, Ladonnas Machtstreben aufzuhalten. Mit Tom Riddle alias Lord Voldemort und dessen nicht minder irrsinnigen Nachahmer Hagen Wallenkron alias Lord Vengor hatte es auch geklappt, und er hatte an wichtiger Stelle mithelfen können, den bösen Geist Sardonias endgültig aus der Welt zu vertreiben. Er war zu einem vollwertigen Sohn Ashtarias geworden und hatte dabei mitgeholfen, dass auch die sechs anderen Kinder Ashtarias die volle Stärke erreicht hatten. Womöglich mussten es dann er und die sechs anderen Kinder Ashtarias richten, wenn sie einen Weg fanden, Ladonna zu entmachten, ohne sie zu töten. Es musste einfach wen oder was geben, der, die oder das Ladonna Montefiori überlegen war. Allein schon, dass sie zum Vernichtungsfeldzug gegen alle Veelas rief zeigte, dass sie sich ihrer Allmacht und Unbesiegbarkeit nicht mehr so sicher war.
Louiselle mentiloquierte Hera Matine an. Diese wies ihr und Laurentine den Weg. Um nicht doch noch von da draußen herumsuchenden Ministeriumszauberern gefunden zu werden machten sich die zwei Hexen unsichtbar und hielten einander bei der Hand, um sich nicht zu verlieren.
Jede Deckung ausnutzend fanden sie nach fünf Minuten eine Stelle, an der mitten in der Luft ein Riss entstand, der zu einem frei in der Luft schwebenden Zelteingang wurde. Ohne weitere Worte schlüpften sie hinein. Dabei verloren sie jedoch ihre selbstgewählte Unsichtbarkeit.
Hera umarmte ihre Nichte und deren Lebensgefährtin. Lucine lag in ihrer luxustragetasche und schien fest zu schlafen. Hera gab ihren beiden Mitschwestern genug zu essen und zu trinken. Dabei ließ sie sich erzählen, was die beiden unterhalb des Ätnas erlebt hatten. Dann beschlossen sie, in den nächsten zwei Stunden nach Florenz zu reisen um die Entscheidung zu suchen. Ihnen war nun bewusst, dass der zweite Dezember 2006 ihr gemeinsamer Schicksalstag war. Es gab nur drei Möglichkeiten, Gefangenschaft, Tod oder Freiheit. auf eine dieser drei Möglichkeiten würde dieser Tag hinauslaufen.
Die sieben Regionalstatthalterinnen der Königin waren beunruhigt. Seit mehr als zwei Stunden hörten sie nichts mehr von ihrer Herrin. So wussten sie nicht, ob die vorübergehende Ohnmacht die Folge des Todes ihrer Königin war oder was diesen Schlag gegen sie bewirkt hatte.
Weil sie nicht wussten, was aus ihrer Herrin geworden war beschlossen sie in einer kurzen Mentiloquismusabfolge, sich in der Versammlungshöhle zu treffen, um dort über die Gründe für ihre zeitweilige Ohnmacht und das Schweigen ihrer Königin zu sprechen. Ihnen war klar, dass sie ohne die Rosenkönigin jenen Mächten ausgeliefert sein würden, welche die Rosenkönigin zu ihren Feinden erklärt hatte, den Veelas, den Kobolden, den Vampiren, den Werwölfen, Vita Magica und natürlich all den Zauberern und Hexen, die sich nicht von einer einzigen Hexe beherrschen lassen wollten.
Auch wenn die Königin sie nicht ausdrücklich dazu eingeladen hatte trafen sie sich gegen drei Uhr am Nachmittag in der Tropfsteinhöhle in der Toscana und nahmen am achteckigen Tisch platz. "Die Lupi Romani, auch wenn sie so gut wie ausgerottet sind, könnten sich erholen", warf jene aus Rom ein. "Ja, die Nuvolebianche-Sippe konnte sich zum Teil in Sicherheit bringen, und die Feuerbändiger haben sich nach dem Sturm auf ihre Burg in den Dolomiten in ihre südamerikanischen Niederlassungen zurückgezogen und hoffen, dass wir sie dort nicht erwischen. Wir müssen bereit sein, denen zu zeigen, dass sie nicht wieder hochkommen werden, selbst wenn die Königin nicht mehr mit uns sein sollte", erwiderte die Statthalterin Neapels. Dann wurde jene aus der Region Sizilien gefragt, was an einem Gerücht dran sei, jemand außerministerielles sei dort unterwegs. Am Ende wollten die Fulminicaldi, die an jedem Vulkan Italiens einen Beobachtungsstand hatten, von dort ins Land zurückkehren.
"Jemand muss einen Luft- und erdgebundenen Zauber angewendet haben, um eine große Fläche abzusuchen, wohl auch auf Unortbarkeit gefasst. Doch weder meine Mitschwestern noch das Ministerium haben herausgefunden, wer da wo gewesen ist. Ich will jedoch nicht ausschließen, dass der- oder diejenige was mit dem Schweigen der Königin zu tun hat. Am Ende muss sie sich vollständig darauf konzentrieren, einen bisher unbekannten Feind abzuwehren."
"Unbekannter feind? Das ich nicht lache", stieß die für die Toskana erwählte und somit in gewisserweise Hausrecht ausübende Rosenschwester aus. "Das sind die Veelas, jene, von denen die Mutter unserer Königin abstammt. Sie wollen sich rächen, weil sie mitbekommen haben, dass die Königin dieses selbstherrliche Volk vor die Wahl stellen wollte, entweder folgsam und unterwürfig zu sein oder bis zum letzten Nachkommen ausgelöscht zu werden. Natürlich lassen die sich sowas nicht einfach gefallen. Daher denke ich, dass unsere allmächtige Königin deren Vergeltungsfeldzug aufhalten will und daher nicht gestört werden darf."
"Und wenn die Veelas sie schon getötet haben?" fragte die für Legurien eingesetzte Statthalterin.
"Wir rufen sie noch einmal alle zusammen und verraten ihr, wo wir gerade sind. Lebt sie noch, wird sie uns antworten", schlug jene für Rom zuständige Rosenschwester vor.
Alle sieben fassten sich bei den Händen und stellten so eine körperliche und dann auch geistige Verbindung miteinander her. Aus dieser heraus riefen sie nach ihrer Königin.
Sie riefen dreimal, viermal und fünfmal. Erst dann erfolgte die Antwort ihrer Herrin. Sie klang sehr schwach aber angriffslustig. "Was ruft ihr mich. Wurden die Ministeriumsniederlassungen von diesen Veelafreunden erstürmt, während meine Anverwandten aus Mokushas Blutlinie meinen, heute sei ein guter Tag zum Sterben und meine Residenz belagern?"
"Wir wussten nicht, ob du bei einem Angriff nicht getötet wurdest", erwähnte die Statthalterin der Toskana und schilderte das, was alle sieben erlebt hatten. "Ach so und weil ihr in Verbindung mit mir die Besinnung verloren habt fürchtet ihr, diese selbstherrlichen Langhaarkreaturen hätten mich wahrlich aus der Welt gestoßen? Dazu müssen sie mehr aufbieten als ein paar mit Brachialmagie aus meiner mütterlichen Obhut entrissene Ministeriumszauberer."
"Dann bist du jetzt in der Residenz? Brauchst du unsere Hilfe, o Königin?"
"Die Residenz ist ein Bollwerk, auch und vor allem gegen jene, die von der gleichen Art sind wie die Vorfahren meiner Nährmutter Domenica. Dort kommen die nicht rein. Aber wo ihr schon mal in der Höhle seid, meine treuen und besorgten Statthalterinnen: Befehligt alle euch untergeordneten Schwestern, sich sobald es geht abzusetzen und zu euch zu stoßen. Es darf nicht geschehen, dass diese Brut euch mit mir zusammen ohnmächtig macht und ihr da wo ihr dann seid zur Beute dieser Brut werdet. Trefft euch in der Höhle und erwartet dort meinen Siegesruf oder mein persönliches Erscheinen, um die Zeit nach dieser unerwünschten Auseinandersetzung zu planen und ins Werk zu setzen!"
"Wie Ihr befehlt, unsere Herrin und Königin", bestätigten die sieben Statthalterinnen. "Dann führt aus, was ich euch auftrug, bevor diese Bande noch weitere mir unterworfene Ministeriumszauberer mit ihrem widerwärtigen Goldlicht niedermacht!" befahl Ladonna Montefioris Gedankenstimme.
So riefen die sieben ranghöchsten Feuerrosenschwestern alle Hexen ihres Ordens eine nach der anderen hier hin, um abzuwarten, wie Ladonnas Kampf gegen die Veelas enden würde. Die meisten waren zuversichtlich, dass die Königin den Sieg davontragen würde. Nur wenige bangten, was sein würde, wenn die Königin verschied. Die zum Teil von Riesen abstammende Celestina Quatroventi, die nicht durch Ladonnas Magie unterworfen werden konnte, überlegte schon, mit welcher grausamen Vergeltungswut all die von ihnen bekämpften Gruppierungen zurückschlagen würden, Vita Magica, die Werwölfe, die kläglichen Reste der Lupi Romani, die Vampire und natürlich alle noch verbliebenen Veelastämmigen. Celestina dachte tunlichst nur für sich, wie schnell die anderen es drehen mochten, niemals unter Ladonnas Führung gehandelt zu haben.
jedenfalls fanden sich im Laufe einer Stunde sämtliche Hexen ein, die Ladonna in Italien in ihre große Gemeinschaft einberufen hatte. Die nichtitalienischen Hexen sollten vorerst dort bleiben, wo sie waren, weil zu wichtig war, was sie taten, so hatte es Ladonna befohlen. Von nun an hieß es auf die befreiende Nachricht zu warten.
Ladonna Montefiori war einerseits dankbar, dass ihre sieben Statthalterinnen sie aus dem tiefen Schlaf herausgerufen hatten. Doch sie fühlte immer noch diese gewisse Erschöpfung. Diese verwünschten Blutsverwandten Sternennachts hatten eine neue Taktik gewählt. Statt ihr treu ergebene Hexen und Zauberer mit diesen goldenen Lichtern zuzusetzen ließen sie einfach solche Kerzen an einem Ort in einer Sekunde zerbersten und alle Kraft auf einen Schlag entweichen. Das hatte sie so heftig betroffen, dass nicht mal der unbesiegbare Rosenrubinring das abfangen konnte. Wenn die so weitermachten würden die bald merken, dass ihr das mehr zusetzte als die bisherigen Versuche.
Immerhin hatte sie nun die Gewissheit, dass ihr Ring sie in der Welt halten würde, was auch immer passieren sollte. Wenn es stimmte, dass Ginella als Geisterwächterin am Fluss der Rastlosen wartete würde die ihr nichts anhaben können. Also konnte sie sich mit ganzer Kraft gegen ihre Blutsverwandten stellen und die alle bis zum letzten Nachkömmling auslöschen. Ja, wenn die Russen ihr schon nicht die Vernichtungswaffe bauen würden sollten es eben die Italiener und Bulgaren tun. Ihre ware Sache war die Rache.
Sie musste zurück in ihre Residenz bei Florenz und dort den Abwehrkampf gegen diese Brut einleiten. Doch so wie sie sich gerade fühlte ging das nicht. Hatte sie noch Wachhaltetrank vorrätig? Hier jedenfalls nicht. Hier war sie seit ihrem Wiedererwachen vor bald vier Jahren nicht gewesen. Konnte sie sich darauf konzentrieren, in ihre Residenz hineinzuapparieren? Nein, im Moment schwirrte ihr immer noch der Kopf zu sehr. Also blieb nur ein Weg, sie musste den umstrittenen Tagesausdauervorwegnahmezauber anwenden. Ja, so und nicht anders konnte sie ihren Feindinnen und Feinden entgegentreten.
Sie zielte mit ihrem Zauberstab auf sich und sprach die Worte des bei Heilmagiern umstrittenen Zaubers aus. Sie fühlte, wie aus dem Zauberstab neue Kraft in sie einströmte und zählte in Gedanken vierundzwanzig Sekunden ab. Dann beendete sie den Zauber. Sie trug nun die Ausdauer von zwei vollen Tagen in sich. Das sollte reichen, die den Sieg über ihre gerade gegen sie aufbegehrenden Anverwandten zu erringen.
Sie apparierte punktgenau in ihrem Salon in der Villa ihres Leibeigenen Luigi, welche sie zur unbestürmbaren Festung gemacht und zur Residenz ihres Königreiches erhoben hatte. Dort wechselte sie zunächst ihre Kleidung. Das schwarze Seidenkleid war für ein offenes Gefecht mit Veelastämmigen zu anfällig. Sie zog das von Zwerginnen gefertigte Mieder an, dass sie ihrer einstigen Hörigen Gundula Wellenkamm abgenommen hatte und schlüpfte in ein zweiteiliges Kostüm aus Drachenhaut. Dieses hatte sogar den Vorteil, metallische Waffen abzuhalten, wo das Mieder an sich schon alle möglichen Zauber abwehrte, ohne einen zusätzlichen Schildzauber zu wirken. Sie fühlte, dass das eng anliegende Stück Unterkleidung sich erst zu eng um sie schloss und dann gerade mal so anlag, dass sie es fühlte, aber sich weiterhin frei und geschmeidig bewegen konnte wie eine Raubkatze. Weil Mieder und Drachenhautpanzerung aufeinander abgestimmt waren konnte sie ihr rückenlanges, nachtschwarzes Haar offen tragen, ohne Angst vor einem Angriff mit fliegenden Scheren haben zu müssen. ansonsten brauchte sie nur noch ihren Zauberstab und ihren Ring. Die Feinde konnten kommen.
Sie setzte sich in ihren großen Ohrensessel und schlug die Beine übereinander. Dann hörte sie die Rufe ihres Statthalters und Ministers Pontio Barbanera: "Meine Herrin und Königin: Die Veelas haben deinen Getreuen Albano Ventoforte entführt. Es steht zu befürchten, dass sie aus ihm herausholen, wo alle geheimen Verstecke des Ministeriums sind."
"Wie, der hat sich entführen lassen?" fragte Ladonna den vor mehr als drei Jahren unterworfenen Statthalter. "Ja, er wurde zu einer Sitzung mit zwei Brigadeführern im Grenzgebiet gerufen. Wir dachten uns nichts dabei. Doch offenbar war das eine Falle der Veelafreunde. Wenn sie den mit ihrem Goldlicht betören verrät er alles, was er weiß."
"Ich werde das verhindern", erwiderte Ladonna. Sie wurde wütend. Eigentlich musste jeder sterben, der sie zu verraten trachtete, ob freiwillig oder unter Zwang. Doch den Veelas traute sie zu, dass sie ihren Zauber unterbrachen. Außerdem brauchte sie ihn noch. Er war bei denen, die noch nicht den Duft der Feuerrose eingeatmet hatten immer noch als durchgreifender Strafverfolgungszauberer bekanntt und streckenweise auch geachtet. Also galt es, ihn da herauszuholen. Sollte sie ihre Rosenschwestern einsetzen? Nein, Sie würde diese Veelabrut nun höchst selbst bekämpfen, wo sie so viel Vorweggenommene Ausdauer in sich trug.
Sie versuchte, eine Gedankenbrücke aufzubauen. Das ging schon mal nicht. Also war er ernsthaft in Bedrängnis oder bereits ... Nein, das hätte sie auf jeden Fall mitbekommen. Aber ihr blieben noch ein paar Mittel. Das zweite davon, der Pfad des Getreuen, verriet ihr, wo Ventoforte sich aufhielt. Jetzt würden diese selbstherrlichen Weiber was erleben.
Sie konzentrierte sich auf die Richtung und die Entfernung, die sie ermittelt hatte. Dann disapparierte sie aus dem Salon.
Die drei schweigsamen Schwestern Hera, Louiselle und Laurentine hatten sich mit Lucine auf das italienische Festland zurückziehen müssen. Denn über Sizilien flogen eindeutig zu viele Zauberer und wohl auch Hexen mit Suchzaubervorrichtungen herum. In der Nähe der Grenze zur Schweiz fanden sie eine bessere Ausgangsbasis.
"Und es bleibt dabei, dass Lucine mit dir nach Millemerveilles geht, falls wir beide nicht mehr zurückkommen", sagte Louiselle. Laurentine stimmte dem Zu. Hera Matine, die wusste, auf welch dünnes Eis sie sich selbst gewagt hatte nickte verhalten. Im Moment war keine Spur von der gestrengen, alles und jeden überblickenden Heilerin und ersten Mutter der französischen Schwesternschaft zu erkennen. Da fiel Laurentine noch was ein, was sie unbedingt noch klären musste. Louiselle sog pfeifend Luft zwischen ihren Zähnen durch und nickte heftig. Hera verzog ihr Gesicht. Offenbar hatte sie nicht daran gedacht. Dann meinte Louiselle, dass sie das Problem lösen könne, allerdings könnte das mit Heras Auffassung von rechtschaffenen Hexen kollidieren. "Lieber eine ethische Kollision als euer Begräbnis", erwiderte Hera nach nur drei Sekunden Bedenkzeit. Louiselle nickte. "Gut, ihr habt beide recht. Daran hätte ich als Kampfzauberhexe früher denken können. Aber gut, dass du noch drauf gekommen bist, Laurentine. Ich müsste mich eigentlich ärgern, das nicht gleich und in eigener Person erkannt zu haben. Aber es dürfte noch nicht zu spät sein."
"Gut, Louiselle, wir warten genau hier. Nutz den Zauber Sanguis in loco ssanguine, um dich auf diesen Zielort einzustimmen", sagte Hera. Louiselle bejahte es und verschwand mit leisem Plopp.
Es dauerte eine Minute. Da flimmerte es rötlich in Lucines Nähe. Es ploppte, und Louiselle war wieder da. "Du hast völlig recht, Tante Hera, dass der Sanguis in Loco Sanguine ein genialer Zielhelfer ist", sagte sie. Laurentine wollte wissen, ob sie hatte, was sie holen wollte. "Joh, habe ich, Süße. Wir können los."
Ladonna erschien vor einem Waldgrundstück. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand gefangengehalten wurde. Doch sie kannte die Tricks, mit denen Häuser und andere Unterbringungsmöglichkeiten getarnt werden konnten. Außerdem konnte sie die Kraft der Bäume für sich nutzen. Das tat sie nun auch. Siehe da, in den Bäumen steckte ein Illusionszauber, der eine Waldlichtung mit einem Blockhaus darauf versteckt hatte. Ladonna prüfte noch schnell, ob das Haus ähnlich gesichert war wie ihr eigenes Haus. Dem war nicht so. Sie zauberte sich vorsorglich noch eine Kopfblase. Dann tastete sie die Umgebung ab. Ja, da fühlte sie mehrere Präsenzen von Veelas. Die mochten sie jetzt auch wahrnehmen. Aber Gundulas Mieder und ihre eigenen Zauberkräfte würden die Veelazauber zurückprellen. Die dreisten Abkömmlinge von Sternennacht würden gleich mit lautem Geschrei in den Seelenverschlingenden Schoß ihrer aller Urmutter hineinrasen und der zur Muttergöttin erhobenen sicher gehörige Bauchschmerzen bereiten.
"Sie ist alleine! Die ist aber frech, oder tollkühn", gedankenknurrte Sternennacht. Der Vorschlag von Abendstille, einen wichtigen Ministeriumszauberer zu entführen und ihn als Köder zu gebrauchen oder aus ihm die Standorte der geheimen Verwaltungshäuser zu holen hatte was für sich. So war es möglich, die Widersacherin aus ihrer unbestürmbaren Festung herauszuholen. Zwar bestand die Gefahr, dass sie ihn aus der Ferne umbrachte, indem sie einen in ihm schlummernden Vernichtungsfluch wachrief. Doch dagegen konnten Sternennachts Töchter und Enkeltöchter was machen, den Mantel des leiblichen Friedens. In diesem Fall war dieser Mantel eine Decke, die aus unzähligen kurz abgeschnittenen Veelahaaren bestand und mit freiwillig gegebenem Schweiß und Blut zum Träger jenes Flucheinsperr- oder Fernhaltezaubers wurde. Darin eingewickelt und mit Drachenlederriemen an ein Bettgestell geschnallt blieb Albano Ventoforte im fensterlosen Vorratsraum des gegen Feuer und Blitzschlag gehärteten Blockhauses.
"Sie prüft nach, wo ihr Sklave ist", meldete eine Wächterin. "Oh, sie fühlt uns, Schwestern und Töchter. Bleibt es beim Plan?"
"Je nach ihrer Entscheidung handeln wie vorabbesprochen!" schickte Sternennacht zurück. Ihr war klar, dass Ladonna bereit war, jeden und jede zu töten, der ihr lästig fiel. Doch sie mussten es riskieren. Sie mussten dieses fleisch gewordene Übel ein für allemal aus der Welt schaffen, oder ihr Volk würde niemals mehr Frieden haben. Es ging so oder so um ihrer aller Leben. Denn versagten sie galt womöglich auch die Blutrache der Veelas gegen Sternennachts Blutlinie.
"Sie rückt vor. Sie läuft auf mich zu", sang Dämmerstunde, eine gerade erst dreißig Jahre alte Veelastämmige, die in Greifennest gelernt hatte. "Nicht treffen lassen", sang Sternennacht. Ab jetzt würde alles sehr schnell gehen. Zu langes Singen und nochlängeres Nachdenken war nun nicht mehr möglich.
Ladonna wollte die Wache, eine wohl noch junge Veelastämmige ausschalten. Deren Tod würde die anderen erst einmal betäuben und so konnte sie die restlichen Wachen erledigen. Sie rannte auf die erkannte Gegnerin zu. Ja, da war eine schwarzgelockte Frau in einem waldgrünen Trikot mit einem Zauberstab, also eine Mischblütige wie Ladonna selbst. Die Rosenkönigin riss ihre linke Hand hoch und dachte "Ignis Invictus!" Aus ihrem goldenen Ring schossen zwei haarfeine rubinrote Strahlen auf die andere zu, schlugen in ihren Oberkörper und gingen durch diesen hindurch. Der getroffene Körper flimmerte nur rubinrot. Doch mehr geschah ihm nicht. "Ach, das Spiel spielen wir", dachte Ladonna, der klar war, dass die Gegnerin den Dislocimaginus-Zauber benutzt hatte, um ihren wahren Standort zu verheimlichen. Doch Ladonna schwang einfach die Hand mit dem immer noch strahlenden Ring hin und her. Die ihm entfahrenden Todesstrahlen entzündeten die Bäume hinter und neben der sichtbaren Gestalt. Doch die wahre Gegnerin trafen sie nicht. Drei Bäume, die eine Sekunde zu lange in der Bahn der rubinroten Todesstrahlen standen zerbarsten mit lautem Knall und einem Schwall aus Wasserdampf und verkohlten Holzsplittern. Ladonna spürte den Tod der großen Pflanzen beinahe körperlich. Sie fühlte auch, dass sie gerade ein Waldstück in Brand gesteckt hatte, von dessen Kraft sie eigentlich noch zehren wollte. Sie lauschte und fand die Gegner weiter oben. Sie riss die beringte Hand nach oben, als von links und rechts zwei rote Lichtstrahlen auf sie eindroschen und mit lautem Peng und kurz nachfolgendem Geprassel von ihr abgeprellt wurden. Sie fühlte, dass da noch zwei waren. Die machten sich für sie gerade mal so erfassbar, dass sie wusste, dass sie da waren. Gerade zerbarsten die unteren Äste jenes Baumes, auf dem sie die Wache wähnte. Weitere rote Blitze schossen auf sie zu und prallten ab. Würden die sich trauen, sie mit dem Todesfluch anzugreifen?
Damit nicht gleich jemand sah, womit sie ausgerüstet waren trugen Lucines zwei Mütter die Gürtel der gemeinsamen Frucht unter ihren Umhängen. Den grünen Schwertgürtel musste Laurentine jedoch über dem Umhang tragen, um das Schwert jederzeit blankziehen zu können. Um nicht von grellen Blitzen geblendet zu werden und auch um in völliger Dunkelheit sehen zu können, ohne verräterisches Licht machen zu müssen trugen sie die für Außentruppen hergestellten Gleitlichtbrillen mit Elastikbändern, die sie an ihren Hinterköpfen befestigten. Die Brillen konnten nicht mit dem Aufrufezauber fortgeholt werden.
Sie verabschiedeten sich noch von Hera und hofften, dass dies kein Abschied für immer war. Dann brachen sie auf, um den letzten Akt jenes Dramas zu erleben, in das sie durch die Zeugung von Lucine hineingeraten waren.
Louiselle und Laurentine machten nicht den Fehler, direkt auf dem Grundstück von Ladonna bei Florenz zu apparieren. Sie stimmten sich auf den Vocamicus-Zauber ein, bei dem sie ohne anstrengendes Mentiloquieren über zehnfache Rufweite hinweg für andere unhörbar miteinander sprechen konnten. Danach bestiegen sie zusammen einen Harvey-Besen, den Hera über ihre ganz geheimen Kanäle der Schwesternschaft aus den USA organisiert hatte. Damit flogen sie die letzten zehn Kilometer in mehr als zweitausend Metern Höhe dahin. Der Besen machte dabei so gut wie kein Geräusch.
"Domenica hat behauptet, wir kämen mit den beiden Gürteln auch durch den Blutfeuernebel", sagte Laurentine. Louiselle, die den Flug steuerte antwortete: "glaub ich erst, wenn ich's ausprobiere." Für Laurentine klang es, als höre sie ihre Lebens- und Liebespartnerin wie durch Kopfhörer direkt in den Ohren.
Die Vorgehensweise war klar, erst versuchen, in den Gefahrenbereich einzufliegen und ein paar Sekunden auszuhalten. Wurde ihnen zu heiß sollte der Gefahrenfluchtzauber des Besens genutzt werden, auch wenn es hieß, dass dafür die Unsichtbarkeit von ihm abfiel.
Der Harvey-5-Besen steuerte auf das Anwesen zu, das sich auf einem niedrigen Hügel befand. als sie noch zwei Kilometer davon entfernt waren verlangsamte Louiselle den Flug auf unter 100 Stundenkilometer. Wie sie das bei einem unsichtbaren Besen hinbekam lag an einem Tachometer-Ohrring, den die Fabrikanten von Bronco als Extra für ihre Sonderbesen entwickelt hatten. Ein kurzes Tätscheln des vorderen Besenstiels löste eine leise Geschwindigkeitsansage in Louiselles linkem Ohr aus. In einem flachen Neigungswinkel flogen sie auf das Grundstück zu. Laurentine konnte die Villa schon sehen. Das war ein Haus, wie es ihre Großtante Väterlicherseits bewohnt hatte, weil die einen Landjunker in Brandenburg geheiratet hatte, bis die DDR-Regierung den beiden klargemacht hatte, alles abzugeben oder im Gefängnis auf den Tod zu warten. Ja, da hätte auch ein römischer Senator drin wohnen können. sie wischte schnell die Gedanken fort, wie Ladonna an diese Behausung gekommen war. Wenn da so viele Zimmer drin waren wie im Château Beaumont konnte das noch sehr kitzlig werden, Ladonna und ihre dort wartenden Handlangerinnen aufzuspüren.
Louiselle verzögerte den Besen weiter. Laurentine merkte es daran, dass der Wind ihr immer noch schwarz gefärbtes Haar nicht mehr so zerzauste. jetzt meinte sie, von dem Besen überhaupt nichts mehr zu hören, als schwebten sie in einem Freiballon über dem Land dahin. Nur spürte man bei einer Ballonfahrt keinen Fahrt- oder Flugwind.
Jetzt waren es nur noch zweihundert Meter. Sie flogen noch an die dreihundert Meter über Grund. Falls jemand auf diesen Besentyp abgestimmte Spürvorrichtungen besaß konnte es jetzt krritisch werden, dachte Laurentine. Sie hielt sich jedoch aufrecht hinter Louiselle. Sie vertraute ihr vollkommen. würde sie gleich mit ihr zusammen sterben oder den Tag und vielleicht auch die Welt retten?
"jetzt wird's kritisch", warnte Louiselle. Laurentine fand, dass sie sich wohl an dieses Kopfhörergefühl gewöhnen konnte.
Sie sahen unter sich mehrere freie Wiesen. Dann überflogen sie die unsichtbare Grenze, die für Ladonnas Feinde Leben und Tod trennte.
Der Wald brannte lichterloh. Das wollte sie so eigentlich nicht. Zum einen konnte ein Feuer aus großer Entfernung und Flughöhe gesehen werden. Zum anderen wollte sie die Bäume nicht umbringen, die hier wuchsen. Zum dritten wollte sie nicht riskieren, dass auch die Blockhütte und der darin gefangene Ventoforte verbrannten. Sie fühlte nur, dass sich alle hier lauernden Veelastämmigen in höchster Eile von ihr entfernten. Natürlich floh jede in eine eigene Richtung. Welche sollte sie verfolgen? Sollte sie überhaupt hinter einer von denen herfligen, ohne Besen? Sie konnte das schon, aber nicht wenn die dazu nötige Kraftquelle gerade laut prasselnd niederbrannte. Sie konnte auch nicht in ihrer Storchenform hinter wem herjagen, weil sie Gundulas magisches Mieder trug, das sich nicht mitverwandeln wollte. also wollte sie nur im Schutz ihres Ringes in die Hütte eindringen, Ventoforte herausholen und hoffen, dass er noch nicht aus ihrem Bann gelöst worden war. Denn sie wusste, dass sie ihn dann nicht mehr so schnell unterwerfen konnte.
Sie lief auf die Hütte zu und hüllte sich in eine rubinrote Aura ein, die mindestens doppelt so stark wirkte wie der Aura-Sanignis-Zauber und auch sonst vieles von ihr abhielt, was ihr schaden wollte.
Vor der Hütte prüfte sie noch einmal, ob eine gemeine Spreng- oder Feuerfalle auf sie lauerte, wenn sie die Tür öffnete. Sternennacht würde jetzt keine Rücksicht mehr auf sie nehmen.
Die Tür war weder mit einem Fluch noch mit einer Sprengfalle versehen. Allerdings bestand die Hütte aus feuerfestem Holz, und die zwei Türschlösser waren gegen magisches Öffnen abgesichert worden. Sie lauschte. Ja, da drinnen lag Ventoforte. Doch sie spürte auch, dass sie nicht in seine Gedanken eindringen konnte. Etwas schirmte ihn gegen sie ab. Frechheit!
Sie löste die rote Aura auf. Der heiße Atem des brennenden Waldes wehte ihr unheilvoll entgegen. Doch sie brauchte den Ring für seinen ursprünglichen Zweck. "Ignis Invictus!" dachte sie und hielt ihn nur zehn Zentimeter von einem der Schlösser fort. Der Ring erglühte rubinrot. Dann erbebte das Schloss und erglühte. Es sprühte Funken. Dann zerschmolz es zu weißglühendem Metall, das bei seinem Weg nach unten die gegen normales Feuer gehärteten Wände stark verkohlte und zum dampfen brachte. Dann behandelte sie auch das zweite Türschloss auf diese Weise. Dabei hörte sie, wie sich ihr von mehreren Seiten geflügelte Wesen näherten. Aha, darauf hatten die es also angelegt! Doch das zweite Türschloss verging gerade im konzentrierten Feuer des magischen Ringes. Mit einem Tritt stieß sie die Tür auf. Sie wollte gerade hinein, als sie vier Veelastämmige fühlte, die in ihrer Nähe apparierten. Sie wirbelte mit dem nun wieder seine nadelfeinen Strahlen verschießenden Ring herum, um die vier Frechlinge zu vernichten. Doch die hatten mit diesem Angriff gerechnet und duckten sich. Zu sehen waren sie nicht. Außerdem fächerten sie sofort auseinander. Ladonna erkannte, dass sie mit dieser Taktik eine kleine Chance hatten, sie zu überrumpeln. "Discovobscuro!" rief sie mit erhobenem Zauberstab. Sie zielte damit in den nicht brennenden Teil des Waldes, während sie noch zwei weitere Bäume in Brand steckte. Da waren die Gegner weg. Die waren einfach disappariert. Was sollte das also? Sie hörte, wie über ihr mehrere Vögel herumflogenund riss ihre linke Hand nach oben. Da flogen ihr aus dem Nichts mehrere Schlingen entgegen und prallten kurz vor ihrem Arm ab. Also das sollte es! Die wollten sie fesseln. Aber nicht so. Ladonna sprang zurück und zielte mit der linken Hand nach vorne. Sie hörte ein lautes Plopp. Dann gingen zwei weitere Bäume in Flammen auf. Sie riss wieder den Arm hoch, um die fliegenden Vögel zu töten. Doch ihre roten Vernichtungsstrahlen brannten nur leise zischend glühende Linien in leere Luft. Sie fühlte auch keine Veelastämmigen mehr in der Nähe. Doch die mussten da sein. Allerdings hatten die wohl nicht damit gerechnet, dass ihre Drachenhautkleidung jeden körperlichen Schlag abfälschte und Gundula Wellenkamms Mieder jeden magischen Angriff abwehrte. Die Schlingen waren sicher magisch aufgeladen gewesen.
Ladonna rannte in das Blockhaus hinein und sah ihren Hörigen mit breiten Riemen an ein Bettgestell gefesselt. Er lag unter einer nachtschwarzen Wolldecke, in die magische Muster eingewebt waren und kleine rostbraune Flecken, die in ganz bestimmter Weise angeordnet waren. Sie wusste, was die Decke bewirkte. Sie musste nur die Riemen lösen und die Decke dann möglichst schnell fortziehen, bevor sie ihr Kraft aus dem Körper zog. Denn diese Decke war eigentlich als Schutz von Veelamüttern für von bösen Zaubern gefährdete Kinder erfunden worden.
Die Rosenkönigin bückte sich und schickte aus ihrem Ring kurze Blitze, die die Schließen zerstörten. Sie zog die leicht erbebenden Lederriemen weg und packte die Decke mit der rechten Hand. Tatsächlich meinte sie, dass ihr jemand die Kraft aus dem Arm saugen wollte. Da fühlte sie unter ihrem Lederkostüm ein starkes Beben, und der Sog an ihren Fingern verebbte. Mit Schwung riss sie die aus Veelahaaren gewebte Wolldecke weg und warf sie in eine Ecke. Ventoforte war nun frei. Ja, und sie fühlte auch seine Gedanken. Noch gehörte er ihr.
Plötzlich fühlte sie die unmittelbare Nähe mindestens zwölf nahezu reinrassiger Veelastämmiger, die um die ganze Hütte verteilt waren. Sie hörte ein leises Plumpsen auf dem Dach und fühlte auch von dort die altvertraute Ausstrahlung ihrer Blutsverwandten. Vor der Hütte sank mit kurzem Zischlaut eine Wand aus blauen Blitzen, die zu einer flirrenden, himmelblauen Feuerwand verfestigt wurde. Sie war umzingelt und offenbar auch eingeschlossen.
Sie wusste nicht, wie es sich anfühlen sollte. Auf jeden Fall fühlte es sich merkwürdig an. Erst dachte Laurentine, dass alle ihre Adern vibrierten. Dann spürte sie einen kalten Schauer, der durch ihre Hüften in ihren Bauch und von da aus zu allen Stellen ihres Körpers jagte. Dann meinte sie, ein Kribbeln wie über die Haut hinweglaufende Ameisen zu spüren. Danach empfand sie es so, als habe ihr jemand eine vorgekühlte Folie über die ganze Haut gezogen. Dennoch behielt sie das Tast- und Wärmeempfinden in Fingern, Händen, auf den Wangen oder an den Gesäßbacken auf dem schmalen Besenstiel. Schmerzen oder gar das Gefühl, gleich lichterloh zu brennen hatte sie jedenfalls nicht. Louiselles Stimme vermeldete: "Das wirkt tatsächlich gegen den Blutfeuernebel an. Kann aber sein, dass unsere Unsichtbarkeit drunter leidet." Laurentine sah sogleich, was ihre Partnerin meinte. Denn sie konnte ein leichtes Flimmern erkennen und dass Louiselle vor ihr wie ein hauchzarter, annähernd menschenähnlicher Nebelsttreifen aussah. Sie schloss daraus, dass sie genauso aussah, solange sie auf dem Unsichtbarkeitsbesen unterwegs waren.
Wir landen zwischen Haus und Garten", bestimmte Louiselle und brachte den Besen nach unten. Ohne lautes Geräusch setzten sie auf.
Als sie vom Besen abstiegen wurden sie beide wieder sichtbar. Jetzt konnte Laurentine die silbern schimmernde Aura sehen, die scheinbar von ihrer Körpermitte ausstrahlte und sie trotz züchtiger Kleidung wie eine nackte Frau aus silbernem Licht aussehen ließ.
"Ups! Das hätte uns die gute Domenica aber mal sagen dürfen, dass uns ihre Gürtel durch die Kleidung leuchten lassen", meinte Laurentine.
"Ich denke, das ist ein Zauber, der unser Blut gegen die äußere Welt abschirmt und diese Aura ist sozusagen die Grenzschicht, so wie bei Gewässern die Wasseroberfläche. Oder es liegt an den Gleitlichtbrillen, dass wir mehr von uns sehen als mit natürlichen Augen zu erkennen ist. Ich lote schnell aus, ob die dunkle Dame des Hauses anwesend ist."
Laurentine hielt sich hübsch ruhig, als Louiselle ihre Zauber wirkte. Dabei sah Laurentine, dass ihr Zauberstab sich immer wieder bog und danach trachtete, sich zu verdrehen. "Drachendreck! Dieser Blutfeuernebel überlagert alles mit seiner tödlichen Magie. Gut, die kann auch unortbar sein. Wenn sie jetzt weiß, dass wir da sind wird sie gleich rauskommen und nachsehen, wieso wir noch leben."
Es dauerte jedoch eine Minute. Dann verging noch eine Minute. Keine Ladonna Montefiori verließ das Haus. So beschlossen die beiden, sich einen Weg hinein zu suchen, natürlich unter Anwendung der ihnen bekannten Sicherheitsmaßnahmen wie Fluchbrecher und Fallenfindezauber, sofern die bei der vorherrschenden finsteren Zauberkraft noch halfen.
Sie wollten nicht direkt durch das Eingangsportal. Wenn sie aus der Ferne beobachtet wurden konnte ja jeder sehen, dass die Villa ungebetenen Besuch erhielt. So verstaute Louiselle den Besen in einem Rauminhaltsveränderten Futteral, während Laurentine ihre neue Erwerbung aus der untervulkanischen Schmiedewerkstatt an der linken Seite hängen hatte.
Als sie um das Haus herumgingen sahen sie den Garten. Laurentine erschauerte, als sie ein zu einem Drittel bepflanztes Rosenbeet sah. Rosen im Dezember? Ihr fiel sogleich ein, dass Ladonna eine besondere Faszination für diese Blumenart hatte und dass sie ihre Gegner, die sie nicht töten wollte, in langstielige Rosen verwandelte und in ihrem Garten einpflanzte. Offenbar machte sie sie dabei gleich gegen die kalte Jahreszeit immun.
Mit einer Mischung aus Grauen, Bewunderung und Neugier betrachtete Laurentine die verschiedenen Rosen. Sie waren nicht einheitlich rot, rosa oder weiß. Es gab die roten, die schon eher ins Rosa übergehenden, sonnengelbe und honiggoldene, und dazwischen auch Rosen weiß wie Apfelblüten. Sie fragte sich mit einem Anflug von Gänsehaut, ob Ladonna vorbestimmte, wie ihre Opfer als Rosen aussahen oder diese durch bestimmte Eigenschaften das Aussehen vorbestimmten. Sie dachte mit Unbehagen, dass vielleicht sie und / oder Louiselle am Ende dieses Tages in diesem Beet stehen mochten und von Ladonnas Launen und Zuwendungen abhängig sein würden.
"Schon heftig, sich vorzustellen, dass die da alle Menschen waren und durch einen unglücklichen Zufall oder durch ihren Mut in Ladonnas Gewalt gerieten. Aber bevor du dich fragst, ob wir zwei da auch noch gut hinpassen suchen wir besser einen nicht ganz so auffälligen Zugang", sprach Louiselle über den Vocamicus-Zauber. Laurentine begriff. Das hier war kein Gartenspaziergang, sondern eine brandgefährliche Mission, ein Himmelfahrtskommando, das sie beide locker in die tiefste Hölle schleudern konnte.
"Also wenn die finstere Hausherrin zu Hause wäre hätte die uns schon längst abgepasst", stellte Louiselle fest.
"Vielleicht wartet sie auch wie die Spinne im Netz oder wie ein Ameisenlöwe in seinem Sandtrichter, bis wir ihr endgültig in die Falle gehen", argwöhnte Laurentine.
"Huch, ihr Stadtmädchen wisst noch was ein Ameisenlöwe ist?" wunderte sich Louiselle. Laurentine antwortete darauf nur: "Die Biene Maja, Zeichentrickversion aus den Siebzigern."
"Gut, sollten wir später noch genauer bereden. Erst mal zusehen, dass wir dieses Unglücksweib finden oder es dazu bringen, dass es uns findet", meinte Louiselle. "Wobei das gefunden werden meistens übel ausgeht", stellte Laurentine fest. "Du hast das bei mir gelernt. Die Grenze zwischen Jägerin und Jagdbeute kann in der magischen Welt sehr fließend sein."
"Wohl wahr. Hallalli!" erwiderte Laurentine.
Sie umwanderten die Villa und warfen kurze Blicke in die Fenster. Sie mussten damit rechnen, von dort aus beobachtet und bei der ersten günstigen Gelegenheit angegriffen zu werden. Doch sie sahen nur leere Zimmer oder mit Vorhängen verhängte Fenster. Laurentine vermutete, dass Ladonna ihre Leibeigenen in diesem Haus in Schlaf versenkte, wenn sie unterwegs war. Das wollte Louiselle nicht abstreiten. Dann deutete sie auf den Boden. "Oh, eine Kohlenklappe. Kennt ihr Stadtmädchen das auch noch?"
"Du magst es nicht glauben, aber meine Großeltern väterlicherseits hatten noch einen Kohlenkeller und bekamen jede Woche Breketts zum Heizen geliefert. Da bin ich als sechsjähriges Gör auch gerne die Kohlenrampe runtergerutscht. Oma Finchen hat dann zwar immer geschimpftt. Aber trotzdem durfte ich immer wieder gerne zu Besuch kommen. Ist auch schon wieder zu lange her", erwiderte Laurentine leicht wehmütig.
Louiselle prüfte die Luke, ob sie gefahrlos oder überhaupt zu öffnen war. Tatsächlich hielten drei Verschlusszauber die Luke fest mit dem steinernen Rahmen verwachsen. Laurentine wies darauf hin, dass Verschlusszauber durch ihresgleichen überlagert und aufgehoben werden konnten. Louiselle grinste und probierte es aus. Tatsächlich erbebte die Luke. Dann warf sie laut knirschend Wellen. Dann klackte es laut, und die Luke klappte nach außen weg. Die Wellen glätteten sich wieder. "Gewusst wie", meinte Louiselle und lotete das innere der Kohlenschütte aus. "Kein Netz, keine Zauberflüche, soweit dieser Blutfeuernebel das erkennen lässt. Schick vorsorglich einen Schmalband-Fluchbrecher durch. Womöglich wird der mit dem Blutfeuernebel interagieren. Aber wenn da noch was ist können wir es hoffentlich damit niederhalten", schlug Louiselle vor. Laurentine befolgte das.
Sie begannen zu singen. Diese feigen, hinterhältigen Weiber wollten ihr nun doch das Lied der Fesselung aufhalsen. Sie sang sogleich dagegen an und fühlte, dass sie gerade so noch gegenhalten konnte. Ihr Mieder spannte sich und wurde schmerzhaft eng. Offenbar kämpfte die eingewebte Zwergenmagie gegen die vielfache Veelamagie an. Ladonna bekam vor Atemnot und Brustschmerzen keinen sauberen Ton mehr heraus. Sie fühlte, wie sich die ihr entgegenwehenden Worte wie unsichtbare Klammern um ihren Kopf und ihre anderen Glieder zu legen begannen. Das Mieder knirschte und kniff. Es konnte die auf seine neue Trägerin wirkende Macht nicht mehr länger von ihr abhalten. Ladonna argwöhnte auch, dass sie nicht von hier disapparieren konnte. Doch für den Fall hatte sie vorgesorgt. Sie griff nach Ventofortes Arm. Der Ministerialzauberer war unter den auch ihn berührenden Tönen erschlafft. Dann rief sie mit letztem Atem: "Honigsee!" Ihr linker Strumpf erbebte. Dann stürzten sie und Ventoforte in einen bunten Farbenwirbel. Die sie umklammernden Töne verebbten zu einem letzten schrillen Quietschlaut. Dann fielen sie fern jeder Veela-Betörung durch ein Zwischenreich zwischen Ausgangsort und Zielort. Ladonna konnte wieder völlig ruhig atmen. Nach einer nicht ermessenen Zeit fielen sie und ihr Höriger aus dem Wirbel heraus. Sie landeten in der Nähe des geheimen Besprechungszimmers von Minister Barbanera.
"Damit haben diese Weiber nicht gerechnet. Sie wollten mich wahrhaftig mit dem Lied der Fesselung bannen, damit dieses Geschöpf, mit dem ich zu allen Übeln verwandt bin, mir alle Haare vom Kopf schneiden und sie unseren gemeinsamen Vorfahren opfern kann. Pass mal auf, Sternennacht, dass ich das nicht bald schon mit dir mache", dachte die Rosenkönigin.
Ladonna versuchte, Ventoforte aufzuwecken. Doch das Lied der Fesselung hatte den von ihr beeinflussten schon völlig in seinen Bann gezogen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm Schmerzen zuzufügen. Da sie nicht gleich den Cruciatus-Fluch benutzen wollte begnügte sie sich damit, ihm sooft in die Wangen und die Arme zu kneifen, bis er endlich "Autsch!" rief und mit flatternden Lidern um sich blickte. "Herrin und Königin, was ist mir passiert?" fragte Albano Ventoforte.
"Die Strafe für Leichtsinn, Albano Ventoforte. Du hast gemeint, an vorderer Front gegen unsere Feinde ziehen zu müssen und geritest wohl in einen Hinterhalt dieser Brut um Sternennacht. Die haben dich als Köder hingehängt um mich zu angeln, du Wurm. Ab sofort bleibst du wie jeder auf deiner Rangstufe im sicheren versteckten Befehlsstand und überlässt es den unteren Rängen, ihr Leben für mich zu riskieren. Wenn sie dich noch einmal entführen hast du den Befehl, augenblicklich zu sterben. Hast du das verstanden?" schnarrte die Königin. Ihr Höriger Albano Ventoforte bestätigte bibbernd, alles verstanden zu haben.
Ladonna verriet ihm, wo sie ihn hingebracht hatte und befahl ihm, schnellstmöglich wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Er gehorchte.
Wo Ladonna schon einmal unterwegs war und sich nun sicher war, dass die Veelas um Sternennacht sie so schnell nicht mehr in eine derartige Falle hineinlocken mochten suchte sie alle ihr wichtigen Untergebenen auf und schärfte diesen ein, ab sofort keine Ausflüge mehr zu machen, solange das Problem mit den rachsüchtigen Veelastämmigen nicht gelöst war. Natürlich gehorchten ihr alle. So konnte sie eine halbe Stunde nach Ventofortes Rettung in ihre eigene Residenz zurückkehren, nicht wissend, dass die Kämpfe des Tages noch nicht beendet waren.
Es war wie ein Feuerwerk in reinen Rottönen, als Laurentine den ersten Fluchbrecher durch die geöffnete Kohleneinfülltür schickte. Die Wände leuchteten in allen Tönen von Orange bis Rotviolett, von hellroten Blitzen und blutroten Lichtwirbeln. Louiselle führte in der Zeit einen unsichtbaren Prüfzauber aus. "Falls sie es bisher nicht mitbekam, dass wer auf ihrem Grundstück ist weiß sie es jetzt", hörte nur Laurentine Louiselles Stimme sprechen.
"Reagiert der Blutfeuernebel?" fragte Laurentine. "Ich weiß jetzt, wo sie ihn verankert hat. Die Fluchbrecher bringen ihn zum erbeben und dass er sich neu ausbalancieren muss. Wir merken nichts, weil wir durch diesen Schutz Domenicas vor seinen Einflüssen sicher sind."
"Wenn auf dem Weg darunter noch was war ist es jetzt hoffentlich außer Kraft. Aber richtig weit in den Keller rein kamen die Fluchbrecher nicht", erklärte Laurentine. "Dann müssen wir es eben riskieren", grummelte Louiselle.
Sie rutschten die Rampe der Kohlenschütte hinunter. Sie hatten zu Hause ja eine hochwertige Waschmaschine. Doch die Kohlenschütte war wohl seit fünfzig Jahren nicht mehr genutzt worden. Daher kamen sie nicht im Ansatz so schmutzig an wie sie befürchtet hatten.
Das einfallende Tageslicht reichte dank der Gleitlichtbrillen aus, um den Kellerraum wie hell beleuchtet zu sehen. Hier war nichts, was eine nähere Untersuchung wert war.
Um keine bösen Überraschungen zu erleben prüften Lucines Mütter die Tür und fanden mehrere Flüche, mit denen sie vor unbefugtem Öffnen versiegelt waren, darunter einen Körperschwächungszauber, der bei Berührung mit der Bloßen Hand zuschlug. Louiselle konnte diese Flüche mit zwei wirksamen Aufhebungszaubern beseitigen. Der dritte Zauber war ein simpler Colloportus-Zauber. Weil das Türschloss gegen Alohomora gesichert war schlug Laurentine vor, den ganzen Türrahmen aus der Wand zu lösen. Hierzu nahm sie den Excavatus-Zauber, der ein flirrendes grünes Licht auf ein Ziel warf und dieses, sofern totes Gestein oder Erz, behutsam aber gründlich zu Staub zersetzte. Auf diese Weise löste sie das den Türrahmen haltende Wandstück aus dem Rest heraus. Die Tür fiel, wurde aber von Louiselles Auffangzauber am zu lauten Aufschlagen gehindert. Die Türöffnung flirrte und blitzte kurz auf. Dann war Ruhe. "Toller Einfall, auch wenn es länger dauert", meinte Louiselle anerkennend. Dann durchschritten sie die bloßgelegte Türöffnung.
Hinter der Tür führte ein gerade mal für einen erwachsenen Menschen ausreichend breiter gang entlang, von dem links und rechts mehrere Türen abzweigten. Dank der Gleitlichtbrillen konnten sie die kleinen Beschriftungen auf den Holztüren lesen. Das alles waren Vorratskeller. Auf einer Stahltür prangten die internationalen Symbole für Feuergefahr und das Bildsymbol für einen Brennofen. Da lag also der Brenner für die sicher im Haus installierte Zentralheizung. "Die wird aber nicht mehr funktionieren", erwähnte Louiselle. "Wenn der Blutfeuernebel wirkt erschwert er jedes nichtmagische Feuer, bis keines mehr entzündet werden kann. Das ist der Nachteil dieser größtenteils umfangreichen Feindesabwehr."
Laurentine öffnete die Stahltür, nachdem sie die zwei Versiegelungsflüche unterbrochen hatte und die Tür aus sicherer Entfernung aufzaubern konnte, ohne sie mit dem Rahmen aus der Wand zu lösen. In der Kammer war ein wuchtiger Metalltank mit den üblichen Gefahrensymbolen, der an einen untätigen Brenner angeschlossen war, der einen gewaltigen Kessel beheizen sollte. Louiselle interessierte sich gerade nicht für die technische Ausstattung, sondern für die Decke. Sie wies mit der linken Hand nach oben. Im gleitlichtverstärkten Restlicht aus der Kohlenschütte war nur eine tiefschwarze, merkwürdig körnige Decke zu sehen. Laurentine dachte erst an einen verkohlten Streuselkuchen. Dann sah sie auch, dass sich die dicht an dicht gedrängten Erbsengroßen Streusel regten. Sie erbebten leicht. "Ich zieh eine Schutzdecke ein", sagte Laurentine, die nicht wusste, was es war, aber dennoch eine unangenehme Vorahnung hatte. Sie zielte auf die Gegenüberliegende Wand und zwar so, dass ihr Zauberstab gerade einmal zehn Zentimeter unter der unheimlich bibbernden, pechschwarzen Körnerdecke zielte. "Instantectus Immediatus!" zischte sie, wobei sie sich ein Dach mit großen Löchern dachte, die alle verschlossen wurden. Da wo ihr Zauberstab hinzeigte entstand ein bleigrauer Lichtstreifen, der nach einem Kurzen Wackeln mit dem Zauberstab die gesamte Raumbreite ausfüllte und dann zu einer sich in Sekunden über die ganze Decke ausbreitenden Fläche anwuchs und dann zu einer stumpfgrauen, nicht mehr leuchtenden Abdeckung abdunkelte. Laurentine hatte für diesen Zauber nur drei volle Sekunden gebraucht.
"Was immer da oben lauert kommt so nicht mehr zu uns runter. Die zeitweilige Abdeckung hält ohne den Aufhebungszauber einen vollen Tag durch."
"Gut, den machst du bitte auch im Gang. Da habe ich auch so schwarze Dinger gesehen, die mir verdächtig vorkommen", erwiderte Louiselle.
Laurentine wiederholzauberte den zeitweiligen Abdeckungszauber auch im Gang. Dabei merkte sie mal wieder, dass die Anstrengung mit der Größe der zu bezaubernden Fläche zunahm. Dabei sah sie auch, wie sich die im Gang angebrachten schwarzen Kügelchen immer wilder bewegten. Sie reagierten offenbar auf die Eindringlinge. "Ich habe den Verdacht, dass wir die schon längst am Hals hätten, wenn wir unsere Lebensaura nicht abgedunkelt hätten", meinte Louiselle.
"Die reagieren auf Helligkeit und sicher auch auf Luftveränderungen", erwiderte Laurentine.
Sie untersuchten und sicherten schnell die weiteren Räume. Als sie in einen nur noch sehr wenig vom Tageslicht erreichbaren Gang abbogen sahen sie, wozu die vielen schwarzen Kügelchen an der Decke dienten, und es bereitete den beiden an gruselige Zauber gewöhnten Hexen einen kurzen Schrecken.
"Wie konnte sie unserem gemeinsamen Gesang widerstehen?!" schimpfte Sternennacht. "Ja, und wieso konnte sie einen Portschlüssel aufrufen, wo ihr mir zugesagt habt, dass sowas unter dem Gesang der Fesselung nicht mehr gelingt?" wollte sie noch wissen. Ihre weit außerhalb des brennenden Waldes versammelten Anverwandten blickten einander an. Dann sagte Abendstille: "Was das erste angeht habe ich gespürt, dass sie etwas am Körper trägt, das eine starke Widerstandskraft direkt aus der Erde zieht und wie einen mehrere Daumen dicken Panzer um alle Körperstellen bildet. Was den Portschlüssel angeht hatte die den sicher schon am Körper und musste ihn nur mit einem Wort auslösen. Zusammen mit dem, was sie gegen unseren Gesang gepanzert hat entkam sie der Fesselung."
"Das heißt, dass sie viel mächtiger ist als wir es uns vorstellten", erwiderte Sternennacht wütend. Sie hatte gehofft, sie mit allen Verwandten unter einem festen Dach umzingeln und dann mit dem Fesselungsgesang bannen zu können. Wenn das nicht ging, was ging dann überhaupt noch?
"Wir haben die Erlaubnis, ja den vom Ältestenrat erteilten Auftrag, sie aufzuhalten oder für unser Versagen den Tod zu erleiden. Also müssen wir sie töten, mit allen Mitteln. Sicher ist sie wieder unterwegs zu ihrem Haus bei Florenz. Wir organsieren uns weitreichende Kriegswaffen der kraftlosen Kurzlebigen und versichern uns, dass sie in ihrem verwünschten Versteck ist. Dann schießen wir dieses in Schutt und Asche", beschloss Sternennacht. Alle hier sahen sie bange an. Für gewöhnlich war rohe Gewalt für Kinder Mokushas undenkbar. Ihre Waffen waren die Betörung, die sanfte oder eindringliche Unterwerfung und Beherrschung ohne körperliche Waffen. Doch nun schlug Sternennacht vor, die brutalen, blutigen Waffen, ja sogar die ehrlos tötenden Fernwaffen mit großer Vernichtungskraft einzusetzen, die bereits einige ihrer Volksangehörigen im Wahnsinnsgewitter vor siebzig Jahren getötet hatten und wo bis heute nicht enthüllt werden konnte, wer die in diesen ausufernden Krieg der Nichtmagier hineingeratenen genau getötet hatte. Alle sahen Sternennacht an. Doch weil sie die Älteste ihrer Familie war galt das was sie beschloss. Sie sah alle anderen entschlossen an und wiederholte ihre Aufforderung. "In Russland gibt es Armeen, die solche weitreichenden Schusswaffen mit Sprenggeschossen haben, falls ihr könnt unterwerft euch auf unsere sanfte Weise die damit vertrauten Krieger und leitet sie auf heimlichen Wegen hierher. Bis übermorgen will ich genug Kanonen um das vernebelte Haus haben. Wissen wir, dass sie drinsteckt, werden wir es vernichten", sagte sie noch ganz klar. Alle sahen ihr an, dass sie keine Hemmungen hatte, das zu tun, was sie anordnete. Sie meinte es im wahrsten Sinne des Wortes todernst.
Die Blutsverwandten Sternennachts bestätigten, dass sie den Auftrag erfüllen und solche weitreichenden Sprenggeschosswaffen beschaffen würden, notfalls mit jenen, die sie bedienen konnten. Womöglich konnten sie das auch gerade nur, weil es in Russland keinen wachen Ministeriumszauberer mehr gab, der sie davon abhalten mochte. Fünf von ihnen sollten aber weiterhin Ladonnas Festung beobachten, um sicher zu sein, dass die Todfeindin aus der eigenen Verwandtschaft auch wirklich dort sein würde, wenn sie ihr den letzten Schlag versetzen wollten.
Es klang wie berstende Knallerbsen, als vor ihnen jene schwarzen Kügelchen auf den Boden prasselten. Doch das schlimmste daran waren nicht die scharfen Knälle, sondern die den zersprungenen Kügelchen entweichenden schwarzen Erscheinungen, die sich innerhalb einer Sekunde zu menschengroßen Gestalten wie frei schwebende Schatten auswuchsen. Laurentine und Louiselle dachten an Nachtschatten und wussten, wie sie denen beikommen konnten. "Murus Solis Maxima!" rief Louiselle, als die aus den zerspringenden Kügelchen freigesetzten Unheilserscheinungen suchend von links nach rechts durch die Tür glitten. Zwischen ihnen und den beiden Hexen entstand eine Breite und Höhe ausfüllende Wand aus verdichtetem Sonnenlicht. Die Gleitlichtbrillen bewahrten die zwei Hexen vor der Blendwirkung. So konnten sie sehen, wie die entstandenen Schattengebilde aufschreiend zurückwichen. Doch dann stürzten sich welche in der Art von Kamikazekriegern auf die magische Lichtwand. Mit dumpfem Plopp zersprühten sie in gelben und weißen Funken und stießen dabei kurze Aufschreie aus. Die aus den weiterhin niederprasselnden Kügelchen freikommenden Schattengestalten drängten sich in dem Raum, den sie gerade untersuchen wollten. Weitere stürmten vorund fanden ihr Ende an der Sonnenlichtmauer. Doch auch diese war nicht ewig. Sie flackerte, wenn mehr als vier Schatten gleichzeitig gegen sie prallten und ihr Dasein aushauchten. Sie begann zu flimmern und veränderte ihre Farbe von weißgelb zu zitronengelb und hellgelborange. Es war abzusehen, dass die natürliche Sonne, die sie mit neuer Kraft belieferte, hier unten zu schwach war, um den Ansturm mehrerer dieser Schattenwesen zu überstehen. Doch gerade, als die Sonnenlichtwand zu einer orangeroten, wild flackernden Barriere abgeschwächt war, zersprühte der letzte Schattenkrieger aus der schwarzen Erbse an ihr. Die zwei Hexen warteten noch. Die Sonnenlichtwand erholte sich innerhalb einer halben Minute vollständig. Es kam aber nichts mehr nach. Dafür hörten sie hinter den noch verschlossenen Türen das scharfe Knallen zerspringender Kügelchen. Von der bereits mit einem magischen Überzug abgesicherten Decke knisterte es nur. Offenbar wollten die in den Kügelchen gefangenen Schattenkrieger ebenfalls auf die Eindringlinge losgehen. Doch sie konnten sich nicht befreien.
"Ich habe ja schon einiges mitbekommen. Aber das gerade eben ist neu", grummelte Louiselle. "Vor allem dürfen wir die Türen nicht aufmachen", sagte Laurentine. "Öhm, kuck, da dringt schwarzer Qualm durch ein Türschloss." Louiselle sah es und zauberte rasch eine weitere Sonnenlichtwand davor. Es knisterte und brutzelte. Ein von heftigen Knisterlauten durchsetzter Aufschrei folgte. Dann war wieder ruhe.
"Gut, alle Kellertüren mit Sonnenlichtwänden versperren!" bestimmte Louiselle. So sicherten sie alle noch nicht geöffneten Türen mit den weißgelb gleißenden Lichtwänden.
"Wenn da in den Räumen irgendwas für uns wichtiges ist kommen wir da so nicht ran", meinte Laurentine. "Aber besser, als von diesen Nachtschattenglobuli umgebracht zu werden."
"Da wo die Tür mit dem Fass, den Trauben und der Flasche drauf war könnte ein Weinkeller sein, aber auch ein geheimes Zaubertranklabor. Aber da haben sich schon diese Biester von der Decke gelöst. Offenbar haben wir durch die Bezauberung der Decke eine Welle des Erwachens ausgelöst. Nein, kein Vorwurf. Das war ganz richtig von dir, die Decke zu versiegeln. Wo hast du den Zauber eigentlich her?"
"Katastrophen - Vorbeugung und Behebung von Auswirkungen", verriet Laurentine den Titel des Buches, aus dem sie den Zauber mit der künstlichen zweiten Decke hatte. "Ist dazu da, einsturzgefährdete Räume und Gänge abzusichern und Löcher in Dächern zeitweillig zu flicken, wenn sie nicht magisch repariert werden können."
Es ging nun nach beseitigung eines unsichtbaren Vorhangs, den Louiselle als "Atem der Angst" bezeichnete und der auch auf eine Person bestimmten Blutes gewirkt werden konnte eine Treppe hinauf in das Erdgeschoss. Hier lauerten offenbar keine dieser in schwarzen Kügelchen gefangenen Nachtschatten oder was sie auch immer darstellen sollten. Sie waren gerade dabei, den Salon zu untersuchen, als es unverkennbar Ploppte und sie erschien.
Barbanera erfuhr, dass sein Sicherheitsabteilungsleiter befreit werden konnte und ließ sich berichten, was ihm zugestoßen war. "Alle an die Landesgrenzen. Wenn diese Brut das Land verlassen will aufhaltenund ohne Vorwarnung mit tödlicher Magie eliminieren!" befahl er. "Wer mit Schusswaffen umgehen kann soll von diesen Gebrauch machen!" fügte er hinzu. Die Jagd auf die hinterhältigen Veelas war nun eröffnet. Sicher, die von Hexen und Zauberern abstammenden Anverwandten konnten wohl disapparieren. Die meisten von denen konnten sich in große Vögel verwandeln und viermal so schnell wie ihre natürlichen Vorbilder fliegen. Dennoch hoffte Barbanera darauf, die Feinde zu besiegen. Die Königin wollte es so.
Laurentine hatte sie bisher nur auf Bildern gesehen. Sie war überirdisch schön mit ihren nachtschwarzen Haaren, dem Gesicht wie eine griechische Göttin, den kreisrunden, smaragdgrünen Augen und der vollkommenen Figur. Sie steckte in einem schwarzen Lederkostüm, das wie eine Mischung aus Motorradfahrerkluft und Sportanzug wirkte, und sich hauteng um alle Körperformen schmiegte. Laurentine fühlte sogleich die von einer Veela stammende Ausstrahlung. Doch noch was fühlte sie, der Gürtel der gemeinsamen Frucht pulsierte wie ein schnell schlagendes Herz, und die silbern schimmernde Aura um ihren Körper glomm heller.
Ladonna fragte etwas auf Italienisch, das Laurentine nicht konnte und nur soweit verstand, wie sie es vom Lateinischen herleiten konnte. Daher wollte sie es Louiselle überlassen, zu antworten. Doch diese reagierte nicht. Laurentine sah die Wut in den grünen Augen der anderen auflodern. Diese zischte was. Dann sprach sie unvermittelt Englisch: "Wer immer ihr seid, ihr kommt hier nicht mehr weg, bis ich weiß,wie ihr meinen Schutzbann durchbrechen konntet."
"Tja, das möchtest du gerne wissen, Ladonna Montefiori, Tochter einer grünen Waldfrau. Aber wir haben einen Bluteid geleistet, das nicht zu verraten, und der Eid verstärkt den Schutz gegen Palatinus' Blutnebel. Tja, in den vielen Jahren, die du Dank unserer großen Meisterin verschlafen hast ist viel neues entdeckt und erfunden worden."
"Lehrmeisterin? Du willst nicht behaupten, du dienst Sardonia. Das wäre dein Todesurteil, Fremde", knurrte Ladonna, der Laurentine ansah, dass sie die zwei all zu gerne gleich über den Haufen geflucht hätte, aber von ihrer Neugier zurückgehalten wurde, wie jemand ihren bis jetzt so unüberwindlichen Blutfeuernebel ausgetrickst hatte. Louiselle erkannte das auch und nutzte das aus.
"Sind wir das nicht sowieso schon, weil wir es gewagt haben, in das von dir gestohlene Haus einzudringen, Möchtegernkönigin?" fragte Louiselle höchst provokant.
"Das hängt davon ab, was ihr noch wisst und könnt, unbebärdiges Weib. Ich habe immer bekommen, wen und was ich wollte", sagte Ladonna. Dann sah sie Laurentine an. Diese okklumentierte unverzüglich. Gleichzeitig fühlte sie, wie von ihrer Taille warme Schauer ihren Rücken hinaufjagten und in ihrem Kopf zu wohlig warmen Wogen auseinanderflossen, die jeden von außen eindringenden Gedanken wegschwemmten. Ladonna zuckte zurück. "Hast du gedacht, meine Schwester im Vorbeigehen auszuhorchen, Donnina?" fragte Louiselle. Ladonna Montefiori funkelte erst Laurentine und dann Louiselle an, wobei sie ihren Zauberstab auf sie gerichtet hielt. "Wie erwähnt, ich bekomme alles und jeden, was und wen ich immer haben will. Ihr wäret schon längst tot, wenn mich nicht interessieren würde, wie ihr den Blutfeuernebel aushalten könnt. Denn dass euch ein starker Zauber absichert sehe ich. Offenbar schützt der euch auch vor anderen Dingen. Aber das wird euch nicht helfen, wenn ich euch erst in meinen Garten eingepflanzt habe."
"Frau, denk logisch. Wenn wir vor deinen Zauber geschützt sind dann auch vor deinem Lieblingszauber", erwiderte Laurentine unvermittelt frech und wunderte sich fast selbst, dass sie derartig riskant daherredete. Louiselle räusperte sich, wagte aber nicht, zu ihr hinüberzusehen. Dann nickte sie sogar. Natürlich, es konnte nicht schaden, Ladonna von zwei Stellen her zu verunsichern.
"So, glaubst du, mein Röschen? Mal sehen, welche Farbe du hast", knurrte Ladonna und schwenkte ihren Zauberstab auf Laurentine ein. Diese dachte an tennisballgroße, flauschig weiß, beige oder braun behaarte Kugelwesen, die beruhigende Gurrlaute von sich gaben und dachte an die Zauberworte des Plurimagines-Zaubers. Da schlug ein violetter Blitz auf sie über und zerfaserte prasselnd an jenem unsichtbaren Schild, den Louiselle auf Laurentines und ihre Oberbekleidung aufgeprägt hatten, den Repulsus-Transmutandus-Zauber. Zeitgleich schien Laurentines derzeitiges Erscheinungsbild zu explodieren und sich in erst zehn, dann dreißig, und dann hundert gleichaussehende Abbillder zu teilen, und es wurden noch mehr. Innerhalb von zwei Sekunden bevölkerten über dreihundert teilverwandelte Laurentines den Salon und schienen jeden Kubikzentimeter Raum ausfüllen zu wollen. Ladonna zielte auf die einzige, die noch einheitlich aussah. Diese llächelte sie überlegen an und nahm den violetten Verwandlungsblitz auf sich. Zuerst erschien das aus Funken bestehende Bild einer menschengroßen goldgelben Rose. Doch dann standen da fünf, dann zehn, dann zwanzig Louiselles im Salon und begannen, sich mit den Laurentine-Mehrlingen um den vorhandenen Platz zu streiten. Doch die waren bereits in einer so erdrückenden Überzahl, dass sie die entstehenden Louiselles einfach durchdrangen und mit diesen zu zwei oder drei neuen Laurentine-Abbildern wurden.
Für Ladonna waren es gerade zu viele falsche Eindringlinge im Raum. Sie versuchte sie mit Aufhebungszaubern zu treffen. Doch das brachte nur einzelne Ebenbilder zum Erlöschen, die innerhalb einer Sekunde durch neue Abbilder ersetzt wurden. Laurentine und Louiselle wussten, dass sie im Sichtbereich der von ihnen erzeugten Ebenbilder bleiben mussten. Sie liefen nun ebenfalls im Raum umher, um Ladonna weiter zu verwirren. Laurentine fühlte jedoch, dass dieser Wahnsinss-Selbstvervielfältigungszauber ihr Ausdauer abverlangte.
Ladonna gab es auf, die körperlosen Ebenbilder einzeln auszulöschen. Sie zielte auf ihren Kopf und wollte wohl den Wirklichkeitsblickzauber wirken. Laurentine überlegte, ob das die Gelegenheit war, die Feindin zu überrumpeln. Da sah sie, wie Louiselles Betäubungszauber auf Ladonna zuraste, gefolgt von zehn weiteren Betäubungszaubern. Doch Louiselles Zauber prallte ab und schwirrte knapp an der echten Laurentine vorbei und schlug krachend in die holzgetäfelte Wand ein. Also hatte auch Ladonna einen Schildzauber, der sie vor Angriffen schützte. Mit einem Verwandlungszauber brauchte man ihr erst gar nicht zu kommen. Laurentine duckte sich, als Ladonna ihre linke Hand hochriss und auf sie zielte. Sie sah den im Licht der hereinscheinenden Sonne glänzenden Ring und die aufleuchtenden Rubine und ahnte, was das für sie bedeutete. Mit einer im Kampfsport typischen Seitwärtsfallrolle entging sie dem Vernichtungsstrahl , der ihr entgegenraste. Mit einem lauten Knall zersprühte ein Teil der Wand in hellrotem Licht. Dampf und Kohlenstaub wehten durch den Raum. Laurentine musste schnell noch weiter ausweichen und brachte einen der großen Sessel zwischen sich und der Feindin. Der Sessel erzitterte und erstrahlte im roten Licht. Laurentine robbte unerwartet schnell zur Seite, ehe der Sessel restlos verglühte. Der jungen Hexe wurden zwei Dinge klar. Ladonna konnte sie von den vielen hundert Abbildern unterscheiden, und sie hatte eine besonders gefährliche Waffe. Ja, und drittens, Ladonna brauchte nur eine von ihnen beiden lebend, um zu erfahren, wie sie dem Blutfeuernebel widerstanden.
Louiselle nutzte es jedoch aus, dass Ladonna sich auf Laurentine besann und griff sie mit nicht auf Lichtstrahlen basierenden Flüchen an, sondern mit materialisierten Geschossen, wie glühenden Dolchen, Feuergeißeln und anderen für magisch untrainierte Leute gefährlichen Dingen. Ladonna erkannte, dass sie auch die andere mit ihrem Ring angreifen musste, dann hatte sie die jüngere als die, die sie aushorchen konnte. Es sah so aus, als würde Louiselle gleich im tödlichen Strahl des magischen Ringes vergehen. Da baute sich zwischen ihr und Ladonna eine die Breite und Höhe ausfüllende Wand aus tiefblauem Eis auf. Diese erbebte und gab ein merkwürdig anmutendes Singen von sich. An der Stelle, wo Ladonnas Ring hinzielte entstanden zwei winzige Ausbeulungen. Dann platzte etwas von dem Eis weg. Die Wand bekam Risse. Doch irgendwas machte, dass diese sofort wieder verschwanden und das Loch wieder zuwuchs. Louiselle, die sah, wer die Eiswand beschworen hatte nickte und hielt ihren Zauberstab ebenfalls auf die Eiswand gerichtet. "Rückendeckung!" gedankenrief sie Laurentine zu, weil sie gerade den Vocamicus-Zauber unterbrochen hatte. Laurentine verstand und sprang zur Wand hinüber. Ihre vielen hundert Ebenbilder durchquerten einfach die Eiswand und verwirrten Ladonna auf der anderen Seite. Doch diese versuchte immer wieder mit ihrem Ring die Eiswand zu durchbrechen. Allerdings hielten Louiselle und Laurentine dagegen, indem sie sie immer wieder neu beschworen und somit die noch bestehende Wand verstärkten. Doch beide wussten, dass Ladonna nicht mehr lange damit aufzuhalten war.
Ja, da knallte es vernehmlich, und die Rosenkönigin stand diesseits der Eiswand und suchte ihre beiden Gegnerinnen, die wegen ihrer Silberaura unschwer zu übersehen waren. Doch nun hatte sie ein Problem. die eine stand weiter links, die andere weiter rechts von ihr. Wohl weil sie die jüngere immer noch für das schwächere Glied in der Angriffskette hielt zielte sie wieder mit ihrem Zauberring auf Laurentine. Da entstand zwischen dieser und Ladonna eine nachtschwarze Kugel, die sich in kurzen Schüben immer mehr aufblähte, als bliese jemand einen nachtschwarzen Luftballon mit einer schnellen Pumpe auf. Die Kugel glomm an ihrem Rand tiefrot und spie hellrote Flammen in den Raum. Doch Laurentine blieb unversehrt. Die aus der schwarzen Kugel schlagenden Protuberanzen zischten meterlang durch die Luft und trafen auf die Wände. Funken stoben, kohlschwarze Risse und Löcher entstanden. Doch dann erloschen die Feuerfontänen, die nur in die Breite schlugen. Die schwarze Kugel blies sich noch mehr auf.
Louiselle sprang zu Laurentine und zielte auf die Kugel. Laurentine berührte ihre Partnerin sanft mit der freien Hand am Zauberstabarm. Da blähte sich die schwarze Kugel auf mehr als drei Meter Größe auf. Dabei fühlten beide eine eisige Kälte.
Ladonna wurde von einer unsichtbaren Kraft aus der Bahn geschoben, als die Kugel sich weiter aufblähte. Sie wurde gegen die Wand gedrückt. Als die Kugel die Eiswand berührte erhielt sie noch einen Vergrößerungsschub. Louiselle und Laurentine sprangen nach hinten weg. Die Eismauer löste sich auf. Die in ihr enthaltende Zauberkraft wurde von der schwarzen Kugel absorbiert. Ladonna selbst klebte förmlich an der Wand wie ein Kaugummi unter einer Schuhsohle oder eine Fliege am Fliegenfänger.
"Danke, Louiselle! Der ist ja heftig, wie ein schwarzes Loch."
"Du meinst eine schwarze Sonne", erwiderte Luiselle und achtete darauf, sich nicht zu weit nach vorne zu lehnen. Es wurde immer kälter und kälter. "Asenaths schwarze Sonne, eine der mächtigsten nur von Hexen wirksamer Nacht- und Kältezauber", schickte Louiselle zurück, als sie sah, dass Ladonna sich gerade nicht mehr bewegen konnte.
"Schwarze Sonne passt. Es wird immer kälter hier", gedankenantwortete Laurentine. Da sahen sie, wie aus Ladonnas nach unten weisender Linken haardünne rote Strahlen schossen und sich durch den Boden fraßen. Unter der Rosenkönigin tat sich ein Loch auf, in das diese hineinsank und verschwand.
"Damit war zu rechnen", knurrte Laurentine mit körperlicher Stimme. ""Raus aus dem Raum hier!" mentiloquierte Louiselle. Denn die schwarze Kugel begann sich noch weiter auszudehnen. . Die beiden Hexen rannten zur Salontür. Laurentine ließ sie mit einem Alohomorazauber aufspringen und rannte hinaus. Louiselle zielte auf die schwarze Kugel, riss dann aber den Zauberstab wieder nach unten und rannte hinter Laurentine her.
"Drachendreck, der Zauber saugt sich an dem Blutfeuernebel immer größer wie ein Blutegel", zischte sie Laurentine zu. "Und du kannst ihn nicht widerrufen?" fragte sie ihre Partnerin. "In der Größe nicht mehr. Das kann jetzt nur noch die natürliche Sonnenstrahlung. Ich hätte das eigentlich wissen müssen", schnarrte Louiselle. Sie rannte mit Laurentine Hand in hand durch die Gänge und versuchte das Eingangsportal aufzuzaubern. Doch das gelang nicht.
"Euer gemeiner Feuerverkehrungszauber wird euch beide fressen. Dann erfahre ich zwar nicht, wieso ihr dem Blutfeuernebel widerstehen konntet, bin euch aber auf jeden Fall los!" schallte Ladonnas magisch verstärkte Stimme verhöhnend durch das Haus.
"Wir sind noch nicht durch", wisperte Louiselle Laurentine auf Englisch zu, um weiterhin zu verbergen, wo sie herkam.
Laurentine kam ein Einfall. Wenn Ladonna schon den Ring von Ming dem Gnadenlosen benutzte, warum sollte sie da nicht Luke Skywalkers Lichtschwert verwenden? Sie zielte auf die nicht von Zauberflüchen zu zerstörende Tür und wisperte "Glaradius Viridis!" Ohne das typische Geräusch seines in Laurentines Geist aufleuchtenden Vorbildes schoss eine grün leuchtende Lichtklinge aus ihrem Zauberstab bis auf einen Meter Länge. Damit schlug Laurentine nun auf die Tür ein. Diese sprühte Funken und ächzte. Dann durchschnitt die Lichtklinge die dicken Bretter im linken Flügel des eingangsportals. Die Bretter brachen auseinander und polterten zu Boden. Der Weg war frei.
"Superidee, Süße", mentiloquierte Louiselle. Dann liefen sie nach draußen ans Licht. Hier waren sie zwar auch von oben her angreifbar, falls Ladonna einen Besen nahm oder wie eine Sabberhexe ohne Flügel schweben oder fliegen konnte. Doch sie mussten aus der Villa hinaus, bis die schwarze Sonnenkugel von genug natürlichem Sonnenlicht getroffen wurde, um nicht mehr weiterzuwachsen oder zusammenzusinken. Sonst würde sie solange wachsen, bis sie das ganze Grundstück überdeckte und dabei alles einfrieren.
Dann sahen sie die Gegnerin. Sie saß auf dem Schornstein der Villa. Laurentine erkannte, wie sie mit der beringten Hand auf Louiselle zielte und hielt die noch bestehende Lichtklinge dazwischen. Die roten Strahlen prallten auf die grüne Lichtklinge. Diese bog sich knisternd, hielt aber stand. Da entzündete auch Louiselle eine solche Lichtklinge, eine himmelblaue und parierte die nächsten ihr geltenden roten Todesstrahlen. Es entspann sich ein kurzes aber heftiges Gefecht, bei dem Ladonna immer wieder versuchte, entweder eine der beiden oder beide zusammen auf einmal mit ihren roten Todesstrahlen zu treffen. Doch die beiden reagierten immer so schnell, dass sie die ihnen geltenden Angriffe zurückschlugen. Laurentine erkannte sogar, dass Louiselles Lichtklinge die roten Strahlen noch wirkungsvoller zurückprellte und wechselte ihre grüne zu einer himmelblauen Klinge. Ja, damit konnte sie noch schneller und wirksamer die ihr entgegenschießenden Strahlen parieren. Sie hatte irgendwie die Intuition, wohin Ladonna als nächstes zielte und hielt den zum Lichtschwert gemachten Zauberstab goldrichtig zur Parade. Als Ladonna erkannte, dass sie so den beiden Hexen nicht beikam disapparierte sie. Die zwei warfen sich sofort zu Boden. Keine halbe Sekunde später zischten die zwei haardünnen, tödlich gefährlichen Strahlen über sie beide hinweg und bohrten sich links und rechts in die Tragesäulen des Portalvordaches. Diese platzten auf wie zu lange im kochenden Wasser liegende Brühwürste. Doch sie zerbrachen nicht.
"Feigling, dein Name ist Ladonna", stieß Louiselle mit magisch verstärkter Stimme aus.
"Sagt die, die Verstärkung braucht, um mit mir zu kämpfen", schnarrte die Rosenkönigin zurück. Doch offenbar wirkte Louiselles Schmähung. Denn unvermittelt stand die wunderschöne, aber lebensgefährliche Hexe vor den beiden Eindringlingen und wartete, bis sie sich ihr zuwendeten. Ladonna hob ihren Zauberstab und rief etwas aus. Laurentine hielt ihre Lichtklinge in den ihr zufliegenden Zauber und fälschte ihn leise schwirrend ab. Mittlerweile wusste sie, dass ihre Lichtklinge fast alle auf Licht getragenen Zauber wie eine Metallklinge abfangen und abfälschen konnte. Louiselle konnte in derselben Sekunde einen roten Todesstrahl mit ihrer Lichtklinge abfangen. Ladonna Montefiori erkannte, dass sie so Stunden lang weiterkämpfen konnten. Da umfloss sie eine Halbkugel aus rubinrotem Licht. Aus dieser heraus griff sie nun mit ihrem Zauberstab an. Die beiden Gegnerinnen hielten sich auseinander, um kein einheitliches Ziel zu bieten und trotzdem zeitgleich gegen die mächtige Gegnerin zu fechten.
Da die Lichtklingen nur im Nahkampf oder zur Abwehr von Zaubern taugten mussten Laurentine und Louiselle sie erlöschen lassen, um in die Ferne wirkende Angriffs- und Abwehrzauber auszuführen. Nun entspann sich ein übliches Hexenduell, bei dem Ladonna zeigte, dass sie für wahr den Anspruch auf die Führerschaft der dunklen Hexen beanspruchen durfte. Doch ihre zwei Gegnerinnen waren nicht minder erprobt. Sie erzeugten Schilde, schleuderten ihrerseits materialisierte Geschosse oder in schillernden Farben oder unsichtbar auf ihre Ziele treffende Flüche. Doch die rote Lichthalbkugel löste all die beschworenen Dolche, Speere und Glutbälle auf. Als Ladonna genug davon hatte, sich mit zweien zugleich anzulegen zielte sie auf Laurentine und rief ihr die zwei geächteten Worte zu: "Avada Kedavra!"
Minister Barbanera", unsere Königin steht im Gefecht mit zwei dunkelhaarigen Hexen, die in silbernen Lichtumhüllungen stehen und bisher nicht vom Blutfeuernebel getötet wurden", vermeldete der Beobachter, der von einem weit über dem Grundstück fliegenden Besen auf die Villa hinabblickte.
"Wie bitte?! Kein Feind kann im Blutfeuernebel überleben. Nur wenn jene, die ihn beschwor nicht mehr lebt oder sie in etwas ohne Blutkreislauf verwandelt wird verliert der Nebel seine Macht. Deshalb konnte Palatinus' Festung auch erst betreten werden, als dieser vor Hunger und Durst starb", erwiderte Barbanera. "Lassen Sie sich ablösen, Valentino!" forderte der Minister über die Schallverpflanzungsdose.
"Signore Ministre, ich bin nüchtern und habe auch keine Halluzinationen", erwiderte Valentino Angelotti, einst ein gefeierter Quidditchstar der Bologna Bussards und der italienischen Nationalmannschaft. "Die Königin duelliert sich mit zwei anderen dunkelhaarigen Hexen, vom Aussehen her zwei unterschiedlich alte Schwestern oder Mutter und Tochter in silbernen Lichtauren. Womöglich schirmen diese den Blutfeuernebel ab."
"Silbern, wie poliertes Silber oder wie Quecksilber oder Mondlicht?" wollte Barbanera wissen. wie ein im Mondlicht leuchtendes Einhornhorn, Signore Ministre", erwiderte Angelotti.
"Einhornhorn? Vielleicht auch Einhornblut?" fragte der Minister. "Ichhabe bisher kein Einhornblut zu sehen bekommen. Soll auch nicht gut für den sein, der sich das beschafft, heißt es", erwiderte Angelotti. "Ja, stimmt. Gut, beobachten Sie weiter. Nur beobachten, nicht eingreifen. Nur wenn die Königin Hilfe anfordert darf ihr geholfen werden. Alles andere ist Missachtung ihrer Überlegenheit und Vorherrschaft", erwiderte der Minister. "Oh, die Königin hat genug, sie ruft den Todesfluch."
Laurentine hätte damit rechnen müssen. Dennoch erschrak sie beim ersten der beiden verbotenen Wörter. Als das zweite erklang wollte sie sich hinwerfen. Doch dazu kam sie nicht. Ein greller grüner Blitz sirrte genau auf sie zu. Da durchraste sie ein heftiger Kraftstoß. Laurentine verlor den Boden unter den Füßen und meinte in einem unendlich tiefem Ozean aus silbernem Licht zu schweben.
Louiselle bekam mit, dass ihrer Partnerin der Todesfluch auferlegt werden sollte. Doch sie war zu weit fort, um sich zwischen sie und Ladonna zu werfen. Starr vor Schreck und Selbstvorwürfen stand sie da und sah, was geschah.
Der gleißende grüne Blitz des sofortigen Todes sirrte auf sein ausgewähltes Opfer zu. Im genau selben Moment erstrahlte dessen silberne Aura gleißend hell. Es knallte laut. Dann sah Louiselle nur noch, wie der grüne Todesblitz auf die Hauswand zujagte und darin mit einem Donnerknall einschlug. Wo war Laurentine? Sie lag nicht als Leiche auf dem Boden. Irgendwas oder irgendwer hatte sie in genau der Sekunde des Verhängnisses gerettet.
"Friss dich die neunköpfige Urmutter der Ungeheuer", knurrte Louiselle und zielte auf die immer noch überrascht auf die leere Stelle starrende Ladonna. Dann sollte es eben auch der Todesfluch sein, dachte sie noch und sammelte alle Wut und all den Vernichtungswillen in sich, um den dritten unverzeihlichen Fluch auf die Gegnerin zu schleudern.
Laurentine fühlte auf einmal wieder den Boden unter den Füßen und spürte ein heftiges Pulsieren um ihre Hüften. Der unendliche Ozean aus silbernem Licht hatte sich in eine große Wise verwandelt, die von einer zwei Mann hohen Hecke umschlossen wurde. Sie erinnerte sich, dass sie so eine Wiese beim Anflug auf die Villa gesehen hatte. Dann hörte sie den kanonenartigen Donnerschlag. Als sie sich umdrehte konnte sie die Südwestecke der Villa erkennen. Dann hörte sie ein lautes mehrfaches Klirren. Ihr wurde bewusst, dass der Gürtel der gemeinsamen Frucht irgendwas mit ihrer unverhofften Rettung zu tun hatte. Was genau der gemacht hatte wusste sie nicht. Sie wusste jedoch, dass sie Louiselle beistehen musste, falls Ladonna nun sie mit dem Todesfluch angreifen wollte. Sie lief auf einen schmalen Weg zu, der durch die ringförmig gepflanzte Hecke führte und schlängelte sich mal vorwärts und mal seitwärts durch die überstehenden Zweige der Anpflanzung. Dann rannte sie um die Villa herum richtung Osten, wo das Portal lag. Dabei sah sie, was da gerade geklirrt hatte. Die großen Panoramafenster des Salons die nach Süden blickten waren aus ihren Rahmen gesprengt worden. Eine nachtschwarze Masse versuchte, durch die entstandenen Öffnungen ins Freie zu quellen. Doch sobald etwas davon ans reine Sonnenlicht geriet zerfloss es in einem blau-silbernen Funkenschauer. Eisige Kälte atmete ihr aus der Villa entgegen. Da wusste sie, dass es immer noch Louiselles Zauber einer schwarzen Sonne war, der versuchte, noch mehr Raum zu erobern. Hatte Louiselle den Teufel mit dem Beelzebub oder den Drachen mit dem Basilisken ausgetrieben?
Laurentine rannte unter den pechschwarzen Auswüchsen des finsteren Abwehrzaubers gegen heftige Feuerzauber hindurch und sah Louiselle, die auf Ladonna zielte. Würde die ihr nun den Todesfluch überbraten oder gleich selbst damit angegriffen?
"Das werden Sie mir nicht glauben, Minister Barbanera. Aber die jüngere der beiden ist in einer Art silbernem Kugelblitz verschwunden, bevor der Todesfluch sie traf. Jetzt eilt sie zurück zum Kampfplatz. Die Königin ist offenbar noch verdutzt. Die zweite Gegnerin zielt auf sie. Soll ich eingreifen?"
"Nein, Angelotti. Nicht eingreifen, habe ich befohlen. Es sei denn, die Königin befiehlt es ihnen ausdrücklich", stieß Minister Barbanera aus. Wo ist der Kampfort?"
"Vor dem Portal im Osten des Grundstückes", vermeldete Angelotti. "Gut, da landen. Ich komme zu Ihnen. Ich will das selbst sehen", sagte Barbanera. Dann klappte er die silberne Dose zu und rief: "Notausgang Icarus!" Die Luft flimmerte kurz. Dann ertönte eine Männerstimme: "Notausgang Icarus für dreißig Sekunden!" Barbanera pflückte seinen Zauberstab vom Schreibtisch und sprang von seinem bequemen Bürostuhl hoch. Er stellte sich das Eingangsportal der Girandelli-Villa vor. Ja, noch etwa hundert Meter davon weg, jetzt hatte er seinen Zielort. Er hob den Zauberstab senkrecht über den Kopf und drehte sich auf dem rechten Absatz.
Ladonna Montefiori hatte viel gesehen, erlebt und getan. Doch wie dieses nichtunbegabte schwarzhaarige Ding ihrem Todesfluch entwischt war war neu für sie. Deshalb brauchte sie trotz der noch bestehenden Gefahr mehrere Sekunden, um sich darüber klar zu werden, dass eine fremde Macht die junge Hexe gerettet haben musste. Sie blickte sich um. War die andere noch in der Nähe oder an einem Ort, mit dem diese etwas wichtiges verband, wie sie vor kurzem in das Haus ihrer Kindheit zurückgeschleudert worden war? Dann erkannte sie, dass sie trotz der vom Ring des offenbar doch nicht unbesiegbaren Feuers gebildeten Schutzaura gerade in tödlicher Gefahr schwebte. Sie wirbelte herum. Ja, da stand die ältere der beiden und zielte gerade mit ihrem Zauberstab auf Ladonna. Die wollte ihr jetzt doch nicht auch den Todesfluch überbraten? Sie musste ihr zuvorkommen.
Angelotti, ein Sinnbild des römischen Heldentypen, breitschultrig, mit schulterlangem, nachtschwarzen Haar und tiefbraunen Augen, landete gerade mit seinem Besen außerhalb der Grundstücksgrenze, als Barbanera apparierte. Er winkte dem Minister zu. Dieser deutete auf die zwei Hexen, die zwanzig Meter vom Portal entfernt einander gegenüberstanden. Gerade hob die Königin ihren Zauberstab um die in ein geheimnisvolles Silberlicht gehüllte anzugreifen.
"Nein, nicht so!" brüllte Domenicas Stimme in Louiselles Geist. Gerade hatte sie das erste der beiden geächteten Worte rufen wollen. Ihre Zauberstabhand erzitterte, die ganze Wut und der ganze gegen Ladonna gerichtete Vernichtungswille waren mit einem Mal verflogen. Doch da hob Ladonna ihren Zauberstab. Sie würde wohl nicht aufgehalten, dachte Louiselle. Doch da irrte sie sich.
"Avada Kedavra!" rief Ladonna ihrer scheinbar verbliebenen Gegnerin entgegen. Doch beim ersten Wort flimmerte ihre rote Aura, und sie flog wie von einem Katapult abgefeuert in die Höhe. Dabei schloss sich die rote Halbkugel zur vollständigen Sphäre. als gelte für Ladonna keine Schwerkraft mehr, ja als wäre diese für sie umgekehrt worden stieg sie immer weiter nach oben, wobei sie merkwürdigerweise nicht vom Wind, sondern von den von Süden her kommenden Sonnenstrahlen nach Norden getrieben wurde. Der grüne Blitz, der eigentlich Louiselle hätte treffen sollen, krachte mit lautem Getöse ins Dach der Villa und sprengte ein mehrere Meter großes Loch hinein. Funken stoben. Doch es entstand kein Brand.
Louiselle sah, wie Ladonna noch weiter nach oben stieg und wohl gegen das anzukämpfen suchte, was sie da getroffen hatte.
"Geliebte, das ging aber gerade noch mal gut", hörte sie eine ihr wohlbekannte Stimme von links.
"Ich dachte, dich hätte was immer wer weiß wohin teleportiert", sagte Louiselle, die keinen Moment den Blick von Ladonna ließ.
"Ich weiß nicht was genau, aber es muss mit dem Gürtel zu tun haben", flüsterte Laurentine. "Ach ja, ich habe Ladonna mit einer Kombination aus Deterrestris und Speculum Ignis belegt, weil mir klar wurde, dass ihr Ring hauptsächlich Feuerzauber kann."
"Bitte was? Die zwei sind meines Wissens nach noch nie kombiniert worden. Aber dann fliegt sie jetzt irgendwo hin, ohne landen zu können", raunte Louiselle. Doch dann erkannte sie, dass sie da irrte. Denn gerade erlosch die rote Sphäre um Ladonna. Sie fiel in die Tiefe. Laurentine und Louiselle konnten dem nur zusehen. Beide dachten, dass Laurentine Ladonna auf dem Gewissen haben mochte, wenn sie beim Aufschlag starb. Da bremste die Rosenkönigin ihren freien Fall ab, ohne ihren Zauberstab einzusetzen. "Jetzt kommen ihre Sabberhexeneigenschaften zum Einsatz", raunte Louiselle. Laurentine sagte erst mal gar nichts. Sie sah nur zu, was weiter geschah.
Was zur neunköpfigen Mutter aller Ungeheuer war dass? Gerade als sie den Todesfluch auf die verbliebene Gegnerin schleudern wollte hatte etwas mächtiges ihre rote Schutzaura erschüttert und sie wie von einer Riesenhand gepackt nach oben gerissen. Dabei hatte sie überdeutlich gespürt, wie ihr magischer Ring erzitterte und versuchte, der Sonne auszuweichen. Sie war etliche Dutzend Meter aufgestiegen, bis ihr einfiel, gegen alle Duellvernunft den Schutz des Ringes zu widerrufen. Ja, das war die Rettung. Zwar fiel sie erst einmal in die Tiefe. Doch dagegen konnte sie wirklich was tun. Sie ließ die Kräfte einer grünen Waldfrau in ihren Körper schießen und bremste damit den freien Fall. Als ihr dies gelungen war besann sie sich darauf, ohne die rote Schutzblase zum Portal zurückzufliegen. Dabei sah sie, dass die jüngere der beiden frechen Eindringlinge wieder bei ihrer Partnerin, Schwester oder Mutter eingetroffen war. Ja, die hatte ihr diesen hinterhältigen Schleuderzauber aufgehalst, der sich jedoch in der roten Aura ihres Ringes verfangen und diese durchwirkt hatte. Das würden die zwei ihr büßen. Sie konnte auch ohne den Schutz des Ringes Zauber abwehren. Noch trug sie Gundulas Mieder.
Doch als sie auf die zwei Gegnerinnen zuflog fühlte sie, wie sich unter ihrem Lederkostüm etwas regte. Das Mieder, das bisher ihren Bauch und Brustkorb bedeckt hatte, löste sich von ihr und drängte nach außen. Ja, es sprengte die vielen Knöpfe ihres Lederkostüms auf, obwohl die mit Acromantulafäden vernäht und aus Drachenhorn waren. Knopf um Knopf flog davon. Dann blies sich das von ihr getragene Mieder wie vom Atem eines Riesens auf und löste sich von ihrem Körper. Das Oberteil des Drachenhautkostüms und das im Ganzen von ihr loskommende Mieder rutschten in die Tiefe und fielen frei flatternd nach unten.
"Das kann nicht sein", dachte die nun am Oberkörper völlig freie Rosenkönigin und sah den beiden auf unheimliche Weise von ihr abgelösten Kleidungsstücken zu. Dabei versäumte sie fast, ihren Sinkflug zu steuern. Als sie fühlte, dass sie selbst frei fiel überlegte sie, ob sie ihr Mieder wieder einfangen sollte. Da flog es von einer anderen Kraft als Wind und Schwerkraft bewegt davon und wurde immer schneller. Das nun unbrauchbar gewordene Drachenlederoberteil flatterte dagegen in der umströmenden Luft und wurde dadurch abgebremst.
"Das Mieder ist von Zwergenschneiderinnen gemacht und bezaubert worden, dass es jeden Zauber von ausßen abhält. Aber es hat einen Nachteil. Der Schutz wirkt nur bei Bodenberührung. Auf Wasser oder im freien Flug ist das Mieder unzerreißbar, aber kein dauerhafter Allzweckschildzauber", erinnerte sich Ladonna an das, was Gundula Wellenkamm ihr erzählt hatte. Ja, und sie erinnerte sich auch, dass Gundula davon gesprochen hatte, dass das Mieder auf sie allein abgestimmt war und nicht mit dem Aufrufezauber oder Apportierzaubern gestohlen werden konnte. Das Ladonna es nach Gundulas Verwandlung in eine ihrer Rosen hatte anlegen können lag wohl daran, dass Gundula sie bis dahin als ihre Herrin hatte anerkennen müssen und damit auch das Mieder ihr unterworfen war. Doch warum hatte es sie jetzt verlassen und flog geradewegs zu ihrem Rosenbeet hinunter?
Gerade als Ladonna erkannte, dass sie nun völlig schutzlos war umschloss sie wieder jene rote Sphäre, die ihr Ring erzeugte. Das war noch rechtzeitig, um zwei unterschiedliche auf sie zujagende Zauber abzuweisen, einen roten Schockzauber und einen Impedimentazauber. Ladonna begriff, dass sie sich nur noch auf den Ring verlassen konnte, den sie selbst hergestellt und auf sich allein abgestimmt hatte. Sie war jedoch entschlossen, dieses Dreifachduell zum bitteren Ende fortzusetzen. Sie glaubte trotz der Rückschläge der letzten Minuten an ihren Sieg. Sie hoffte, dass es ihr doch noch gelang, eine der beiden am Leben zu halten und als weitere Rose in ihrem Garten einzupflanzen. Die musste ihr dann alles verraten was ihre Königin erfahren wollte.
Ladonna sah, während sie aus der Luft heraus das Dreifachduell fortsetzte, ohne den Todesfluch zu benutzen, wie das Mieder zielgenau über dem Rosenbeet herunterfiel und in der Nähe einer weißgelben, langstieligen Rose liegenblieb.
"Huch, was war das denn?" fragte Laurentine, als sie sah, wie Ladonna von irgendwas am Oberkörper entblößt wurde. "Das war ein Mieder, dass sie einer anderen unserer Mitschwestern gestohlen und es für sich sicher geglaubt hat", mentiloquierte Louiselle. Dann erkannte sie, dass sie die Gegnerin nun kampfunfähig zaubern konnte. Doch als Laurentine und sie auf die frei fliegende Ladonna zielten baute sich wieder jene rote Lichtkugel um sie herum auf. Diese prellte nun wieder alle Zauber zurück oder zerstreute sie. Ladonna ihrerseits griff mit anderen Kampfzaubern an, die jedoch an den magischen Schilden der beiden Lebenspartnerinnen aus Paris abprallten. Das ging solange, bis erst Louiselle und dann Laurentine mmerkten, wie etwas ihnen Kraft entzog. Offenbar forderte der ständige Schutz gegen den Blutfeuernebel seinen Tribut. Laurentine und Louiselle erkannten zu spät, dass die Gürtel der gemeinsamen Frucht offenbar die ganze Zeit von ihrer Körper- und Geistesausdauer zehrten, um sie am Leben zu halten. Jeder weitere von Ladonna ausgeführte Zauber erschütterte ihre Kräfte.
Laurentine schaffte es nicht, sich noch einmal auf diese ultrageniale Kombination zu konzentrieren, mit der sie vorhin Ladonna zum fliegen gebracht hatte. Sie musste die ihr entgegenschwirrenden Zauber blocken oder Gegenflüche ausführen. Obwohl sie oder gerade weil sie eine perfekte Abstimmung mit ihrem Zauberstab hatte kostete sie jeder damit ausgeführte Zauber noch mehr Ausdauer, vor allem wenn er quasi auf sie zurückprallte und sie ihn gerade noch abblocken konnte, um sich nicht selbst außer Gefecht zu setzen. Schlag und Gegenschlag, Angriffsversuch und Abwehr zehrten ihren Körper immer mehr aus. Und die da oben, die es mittlerweile genoss, frei zu fliegen, schien eine unendliche Ausdauer zu besitzen. Nein, sie musste sich den Ausdauervorwegnahmezauber verpasst haben, den Hubert Rauhfels beim trimagischen Turnier benutzt hatte und dafür mehr als einen Tag unaufweckbar durchschlafen musste.
Louiselle erkannte ebenfalls, dass ihr die Kraft schwand. Ebenso erkannte sie, dass Ladonna offenbar auf ein heftiges Zaubergefecht vorbereitet gewesen war und sich deshalb den Praecipio-Dies-Zauber auferlegt hatte. Damit konnte sie für zwei oder drei zugleich kämpfen. Louiselle Beaumont, die Hexe, die anderen Hexen starke Kampf- und Schutzzauber beibrachte, dachte daran, dass sie Ladonna trotz allem Vorwissen unterschätzt hatte. Diese frei fliegende Sabberhexentochter mit Veelaanteilen würde sie fertigmachen, sie und Laurentine, die sie quasi mit in diese Bredullie hineingezogen hatte. Würde Ladonna sie beide leben lassen und zu weiteren Allwetterrosen in ihrem verfluchten Garten machen? Oder würde sie eine der beiden töten und die andere zum Dasein als lebende Trophäe verurteilen? So oder so würde Lucine heute noch beide Mütter verlieren, und Domenicas letzte Hoffnung würde verpuffen wie jeder ihrer gerade ausgeführten Zauber an Ladonnas roter Schutzblase.
Doch nein, noch konnte und noch wollte sie kämpfen. Wenn die da oben sie erledigen wollte, dann sollte sie es nicht leicht haben. Dass Laurentine das ebenso dachte sah und hörte Louiselle, wenn sie Laurentines Zauber mitbekam. Sie würden sich nicht aufgeben. Ladonna musste sie schon vollständig niederringen, um zu triumphieren.
"Wusste nicht, wie gut gebaut unsere Königin ist", meinte Valentino Angelotti zum Minister. Dieser funkelte ihn an und zischte: "Wagen Sie es nie wieder, so über unsere erhabene Herrin und Königin zu reden, Angelotti, oder bei meiner Seele, ich werde sie persönlich in das tiefste Loch sperren, das wir zu bieten haben."
"Oh, höre ich da Eifersucht aus Ihrer Stimme, Signore Ministre", flachste Angelotti unerschüttert. "Klar, wahrscheinlich hat die Königin Sie schon häufiger an ihren prallen ..." Knall. Ein aus unbändiger Wut heraus erfolgter Kinnhaken traf Angelotti auf den Punkt und beförderte ihn bis auf weiteres ins Land der Träume.
Als der ehemalige Quidditchchampion reglos am Boden lag und Barbanera die Knöchel seiner rechten Hand pochen fühlte erkannte er, wie heftig er sich hatte verleiten lassen. Ja, Angelotti hatte zur dreifach geschwänzten Gorgone noch einmal recht, er war eifersüchtig. Ja, die Königin hatte ihn erwählt, ihn zu ihrem allerersten Statthalter und Liebespartner gemacht. Doch wegen ihrer vielen Unternehmungen der letzten Monate hatte sie ihm keine wonnevollen Stunden mehr gewährt. Ja, er war eifersüchtig auf diesen Mogglo Luigi Girandelli, den die Königin als ihren allzeit verfügbaren Liebhaber kultivierte, in dessen Haus sie wohnte, das eine Festung und ihre Residenz war. Aber das hätte er diesem ehemaligen Frauenhelden da nie so deutlich zeigen dürfen wie gerade eben. Er wusste, dass er bald wieder mit einer willigen Frau das Bett teilen musste, wollte er nicht noch einmal derartig aus der Rolle fallen, die sie, die Königin, ihm gewährt und auferlegt hatte. Denn versagte er, dann starb er. Das musste er sich immer und immer bewusst machen. Doch jetzt war es eben passiert.
Er sah mit steigender Erregung und größer werdender Hoffnung, dass die zwei in silberne Auren gehüllten Hexen immer langsamer wurden, ihre Zauber nur noch in längeren Abständen erfolgten und sie gerade so noch die Angriffe und Gegenstöße der Königin parieren konnten. Ja, die Königin hatte es gewusst, dass sie heute einen harten Kampf führen musste. Die hatte sich garantiert zusätzliche Ausdauer verschafft. Sie war eben doch vorausschauend und hatte auf jede Lage bereits die passende Antwort. Barbanera wollte ihr zusehen, wie sie die zwei widersetzlichen fremden Hexen bezwang. Vielleicht durfte er dann auch Zeuge werden, wie sie sie oder zumindest eine von denen in eine ihrer Rosen verwandelte. Er blickte kurz zum Beet hinüber und sah das von ihr abgelöste Mieder. Er wusste nicht, warum dieses Unterwäschestück von ihr abgegangen war und dabei auch ihr Drachenhautoberteil abgelöst hatte. Doch vielleicht würde es ihm seine wirklich sehr gut gebaute Herrin und Liebesmeisterin irgendwann verraten, wenn er alles tat, um ihr noch mehr zu gefallen.
Sie strauchelten, fingen sich aber immer wieder. Sie hielten noch gegen ihre Zauber. Doch sie konnten nur noch parieren. Die Jüngere, die sie wohl zum Fliegen gebracht hatte, musste eine sehr hohe Abstimmung mit ihrem Zauberstab haben. Das mochte unter anderen Umständen eine sehr brauchbare Mitstreiterin sein. Die ältere kannte offenbar viel mehr offensive Zauber und war entsprechend frustriert, weil die alle an der kugelförmigen Aura ihres mächtigen Ringes verpufften. Ladonna wähnte sich endgültig auf dem Siegespfad.
Als sie die jüngere ansah fragte sie sich erneut, was für eine Waffe die an der Seite trug. Es sah aus wie ein Schwert aus einem ihr unbekannten Metall, das in einer Drachenhautscheide steckte. Wo hatte die das her, und wieso hatte sie es ausgerechnet hierher mitgebracht? Überhaupt hatte die Königin eine Menge Fragen. Dann fiel ihr ein, was sie machen würde. Sie würde die ältere in eine ihrer Rosen verwandeln, wenn sie deren Fremdverwandlungsschutz durchbrochen hatte und die jüngere würde sie mit dem Duft der Feuerrose in eine ihrer willfährigen Mitstreiterinnen verwandeln. Ja, so bekam sie auch die Kenntnisse, die sie haben wollte. Also wollte sie keine von ihnen töten. Sie brauchte sie nur niederzuringen. Lange würde das nicht mehr dauern.
Da! Die ältere stolperte, als sie den auf sie zufliegenden Eisendarmzauber parierte. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht. Die silberne Schutzaura flirrte. Ladonna war sich sicher, dass dann auch der unbekannte Schutz gegen den Blutfeuernebel erlosch. Dann würde die ältere sterben. Doch das wollte sie ja nicht mehr. Also konzentrierte sie sich auf die Jüngere, die noch beachtliche Zauber gegen sie ausführte. Welche genau war der Rosenkönigin egal, weil ihr Ring sie alle zurückprellte. Sie konnte deshalb mit Angriffszaubern antworten, gegen die die andere sich dann wehren musste. Dann war es soweit, die Jüngere brach in die Knie, versuchte sich mit der freien Hand aufzustützen und schaffte es noch, einen Eisballzauber auf sie zu hetzen. Dieser zerbarst jedoch an der Aura ihres Ringes. Doch da merkte sie, dass auch sie keine unendliche Ausdauer hatte. Der Ring sog ihr Kraft ab, der freie Flug ebenso. Nur die im Garten stehenden Bäume hielten sie noch bei Kraft. Doch diese gingen bereits in ihren Winterzustand über.
Die Königin schickte noch einmal einen Betäubungszauber auf die Reise. Dieser wurde von der anderen mit dem entsprechenden Blockadezauber pariert. Doch das nahm ihr den Rest an körperlicher Ausdauer. Sie erbebte, brach wieder in die Knie und rollte auf den Rücken. Die Silberaura flirrte, doch sie blieb erhalten.
Die Ältere versuchte noch, ihrer Gefährtin beizustehen und stellte sich vor sie, um den Zorn der Königin von ihrer niedergerungenen Partnerin abzuhalten. Mit vier addirten Flüchen hintereinander schaffte es Ladonna, auch diese Gegnerin von den Beinen zu holen, ohne sie gleich zu töten. Auch ihre Silberaura flirrte bedenklich, blieb aber immer noch erhalten. Offenbar sog ein am Körper getragener Zaubergegenstand ihr die nötige Kraft ab, so wie es der Ring bei Ladonna tat.
Normalerweise würde sie einer so aufmüpfigen Gegnerin jetzt anbieten, sie zu töten oder sich von ihr einberufen zu lassen. Aber das erübrigte sich sicher. Sie landete und versuchte, die ältere gleich in eine weitere ihrer Rosen zu verwandeln. Doch offenbar hielt der Verwandlungsschutz noch. Also trug sie wirklich was am Körper, sowas wie Sardonias verwünschten Mantel, der ihre Niederlage besiegelt hatte. Was hatten die beiden von ihrer Lehrmeisterin getönt? Hielten die sich etwa für die Erbinnen Sardonias? Dabei hatte Ladonna doch aus verschiedenen Quellen erfahren, dass Sardonias mächtiger Geist mit dem Ende ihrer Schutzkuppel über Millemerveilles endgültig vergangen war.
Die Rosenkönigin ging noch im Schutz ihrer roten Aura auf die beiden besiegten Hexen zu. Diese versuchten es immer wieder, sich auf die Knie oder gar auf die Füße hochzustemmen. Doch sie wurden wie von Zentnerlasten immer wieder zu Boden gedrückt. "Beachtlich, dass ihr zwei unterdurchschnittlich aussehenden Schwestern es nicht wahrhaben wollt, dass ihr verloren habt", sprach Ladonna wortwörtlich von oben auf sie herabschauend. "Ihr habt mir einen langen, ausgiebigen Kampf geboten und mir eine Menge Fragen vorgelegt, die ich all zu gerne von euch beantwortet haben möchte.
"Du kannst uns nicht in deine Rosen verwandeln, Sabberhexentochter. Jemand gab uns einen mächtigen Schutz vor deinen Kräften", keuchte die ältere. Die Jüngere hingegen schwieg erst einmal.
"Wenn ich herausbekomme, wie dein Fremdverwandlungsschutz durchbrochen werden kann. ohne dich dem Blutfeuernebel auszuliefern wirst du neben denen in meinem Beet stehen, die auch gemeint haben, mich besiegen zu können oder die meinten, mich mit den wildesten Beschimpfungen belegen zu können. Du wirst lange Zeit haben, dich mit denen allen zu unterhalten, mit der selbsternannten Königin der Cosa Nostra, mit Gundula Wellenkamm, einer starken aber doch einfältigen Hexe, mit ihrer einfältigen Nichte, die nicht gut genug auf ihren eigenen Körper aufgepasst hatte und jetzt froh sein darf, bei mir im Garten zu gedeihen, ohne zu verblühen und mit jener jungen Dame, deren raffgieriger Galan mich mit ihr zusammenbrachte und damit half, dass ich aus dem Bann eurer großen Sardonia erweckt wurde. Doch ich werde noch da sein, wenn Sardonia längst vergessen ist."
"Wer spricht denn von Sardonia, dieser Versagerin?" meinte da die Jüngere, die offenbar meinte, Jugend sei eine Generalerlaubnis für Frechheit und Widersetzlichkeit. "Wir kommen im Auftrag der schwarzen Spinne und ihrer Anführerin."
"Ach die!" lachte Ladonna. Doch sie fühlte sich nicht so überlegen, wie sie auftreten wollte. "Auch sie wird entweder zu deiner älteren Schwester mit ins Rosenbeet gepflanzt oder tot zu meinen Füßen liegen. Was war Sardonias Parole? "Zu meinen Füßen oder darunter!" Ja, ich weiß das, weil es lange genug gedauert hat, bis ich dieser Kanallie gegenübertreten durfte."
"Ja, und sie dich in Schlaf gezaubert und ins tiefe Meer geworfen hat wie ein Stück Unrat", keuchte die jüngere Hexe und versuchte einmal mehr, auf die Beine zu kommen. Die Ältere hatte diesen Kampf nun doch aufgegeben. Doch ihre Augen leuchteten noch entschlossen und kampfeslustig.
"Tja, nur das ins Meer geworfener Unrat irgendwann wieder an Land kommt, du freches Mädchen. Ach ja, du wirst bald noch ganz anders von mir denkenund reden. Denn dich behalte ich und mache dich zu meiner treuen Mitschwester. Gewöhn dich besser dran, mich gleich als Herrin und Königin anzusprechen."
"Wie Heinrich Güldenberg und Urs Rheinquell?" fragte die Jüngere. Ladonna funkelte sie aus ihren smaragdgrünen Augen unheilvoll an. Dann sagte sie: "Falls sie dir diesen widerwärtigen Zauber mitgaben, um dich mir vorzuenthalten, Mädchen, werde ich dich nicht in meinen Garten pflanzen, sondern deinen Liebsten deine Leiche schicken, als Warnung, mich nicht zur Feindin zu gewinnen."
"Tja, wie lange meinst du, dass du selbst noch lebst, wo alle Welt hinter dir her ist, Sabberhexentochter?" fragte nun die ältere. "Länger als ihr beide auf jeden Fall und länger als alle die, die nach euch noch geboren werden. Ich erfahre alles. Legilimens!"
Ladonna blickte der Jüngeren in die Augen. Doch als wenn sie kopfüber in eine weißgoldene Flammenwand hineinstürzte und einen Chor aus laut schreienden Ungeheuern hörte prallte sie erneut zurück. Die jüngere hatte auch einen inneren Schutzzauber, der ihren Geist bewachte. Auch die ältere erwies sich gegen einen Zugriff auf ihre Gedanken geschützt. Also blieb nur die Verwandlung und die Einberufung. Da fiel Ladonna was ein. Sie beugte sich zu der jüngeren hinunter, behielt die Ältere dabei aber im Blick. Sie tastete nach jenem grünen Schwertgürtel, den sie trug. Dabei meinte sie, eine Horde wilder Ameisen renne ihr über die Hand und den Arm. Gleichzeitig prasselten rubinrote Blitze wie Elmfsfeuer aus ihrem magischen Ring auf den Boden.
"Ah, das ist dein Geheimnis, wiederspennstiges Mädchen. Ein magisch aufgeladener Schwertgürtel. Aber den kann ich anfassen, siehst du?" Sie fingerte trotz der in sie einströmenden Entladungen an der Schließe und löste diese. Mit einem Ruck zog sie den Gürtel mit dem Gehänge von der sich noch einmal aufbäumenden fort. Ladonna drückte die andere zu Boden und schwang den Gürtel vor ihrem freien Oberkörper. Die Entladungen piesackten sie nicht mehr. "Du bist nicht die erste, die meint, magische Schutzkleidung würde mich aufhalten, Mädchen."
"Sardonia hat es offenbar geschafft", keuchte die Ältere, die ebenfalls versuchte, sich in eine würdigere Körperhaltung zurückzukämpfen.
"Was ist das für ein Schwert, widerspenstiges Wesen? Wo hast du es her und wieso hast du es hierher mitgebracht."
"Das Schwert habe ich aus der Werkstatt deines Großvaters", erwiderte die jüngere Hexe. Wieso war die immer noch frech, obwohl sie sich kaum noch rühren konnte und gerade entwaffnet wurde.
"Welcher Großvater?" fragte Ladonna lachend. "Vittorio Montefiori", stieß die Jüngere unerwartet kräftig aus. "Das Schwert wurde gegen solche wie dich gemacht, Zauberwesenbrütige, die meinen, ihre reine Geburt mache sie zum Beherrscher aller anderen Wesen. Damit können alle nichtmenschlichen Geschöpfe bezwungen werden. Ich dachte, ich könnte es dir in den Leib stoßen oder dir zumindest einen gehörigen Schmiss verpassen, der deine unnatürliche Schönheit wegputzt."
"Verrate ihr nicht alles, meine Schwester", keuchte die Ältere. "Wir haben verspielt. Da muss die da nicht noch alles wissen, was wir nicht verraten dürfen."
"Hältst du dein gehässiges Mundwerk, du undankbares Frauenzimmer!" blaffte Ladonna und widerstand gerade noch der Versuchung, der Älteren den Cruciatus-Fluch zu verpassen. Doch falls die davon irrsinnig wurde taugte sie als neue Rose in ihrem Garten nichts mehr.
"Das Schwert ist dafür gemacht, sowas wie dich aus der Welt zu schaffen. Ich bezweifel dass du es überhaupt anfassen kannst", provozierte die Jüngere sie.
"Ach! Meinst du?" Dann sieh her. Wenn ich es ziehen und führen kann kann ich dir ja mein Zeichen in die Stirn ritzen, als Vorstufe, dass du bald mein persönliches Eigentum sein wirst", knurrte Ladonna.
Sie griff nach dem Griff aus dem ihr fremdartigen Metall. Dabei spürte sie eine starke Erwärmung in der Hand. Doch dafür schien ihr magischer Ring zu erkalten. Dann zog sie das Kurzschwert blank. Die Scheide und der Gürtel fielen auf den Boden zurück. Sie hielt es der Sonne entgegen. Doch sie fühlte, wie es warme Kraftstöße in ihren Körper schickte und fühlte auch, dass ihr Ring darauf reagierte. Er wurde kälter. Die rote Aura, die sie umgab begann zu flirren und sich zu verkleinern. Offenbar mochten sich das Schwert und der Ring nicht leiden. Doch sie konnte es halten. Ja, als sie es anhob war ihr, als flösse eine starke Kraft durch ihre Hand in ihren Arm und den Rest ihres Körpers. Das war wie die Auswahl ihres Zauberstabes, dachte die Rosenkönigin. Ja, dieses Kurzschwert war magisch und mächtig und ihres. Sie hob es und schwang es, immer wieder Kraftstöße durch ihren Körper fühlend. Dass ihr magischer Ring dadurch immer kälter wurde nahm sie zwar zur Kenntnis, tat es aber als eine vernachlässigbare Schwächung ab, die einfach nur dadurch behoben werden konnte, dass sie das Schwert nicht immer bei sich trug. Aber hier und jetzt wollte und musste sie zeigen, dass es nun ihr allein gehörte, ein Schwert aus rosigem Metall. Rosiges Metall? Wurde so nicht in den Geschichten von Atlantis deren besonderes Metall Orichalk beschrieben? Ja, das war es. Das Schwert war aus dem Metall aus dem versunkenen Reich, in dem die Magier gottgleiche Kräfte und höheres Wissen besaßen. Damit stand fest, dass auch ihre ärgste Feindin, die Spinnenhexe, solch einen Schatz aus dem versunkenen Reich besaß. Ja, dieses Schwert konnte womöglich gegen das Feuerschwert bestehen, es niederkämpfen und zerstören. Ja, sie hatte die Waffe, nach der sie seit der ersten Begegnung mit der Spinnenhexe fieberhaft gesucht hatte. Siegesgewissheit, Überlegenheit, immer mächtiger werdende Glückseligkeit wogten in Ladonnas Bewusstsein. Dann fiel ihr ein, dass sie mit dem Schwert ja noch was erledigen wollte, um dieser törichten, frechen Magd da zu ihren Füßen die erste Lektion in Sachen Unterwerfung zu erteilen.
"Verletz dich nicht mit dem Schwert, sonst zerfällst du noch zu Staub", provozierte dieses junge Ding sie immer noch. Die Ältere sagte: "Wenn du meiner Schwester was damit zufügst wird das Schwert sich gegen dich wenden, weil sie eine Reinblütige ist, von dem Volk, dem dieses Schwert gebührt."
"Das wollen wir erleben", knurrte Ladonna und hob die Klinge weit genug, um die scharfe Spitze auf die bleiche Stirn der Jüngeren hinabzusenken.
War alles aus? Louiselle wusste es nicht. Vielleicht hatte Domenica sie beide hereingelegt, und die Gürtel dienten nur dazu, Ladonna das Erbe ihres Großvaters auszuliefern. Nicht anders war es zu erklären, dass sie sich nicht mehr aufrichten konnte, als wenn sie sechs oder siebenmal so viel wöge als zuvor. Auch Laurentine schaffte es nicht mehr, sich in eine würdevollere Haltung aufzurichten.
Laurentine war mutig, ohne Zweifel. Sie gab keine Ruhe. Das hatte sie noch einmal bewegt, dieser vor Arroganz triefenden Mischblüterin da noch eine letzte Warnung mitzugeben. Sie wusste nicht, ob stimmte, was sie ihr mitgab. Doch sie hoffte es, bei Hecate und allen Hexen des Lichtes, der Dämmerung und der Dunkelheit. Dann sah sie, wie Ladonna Montefiori, die selbsternannte Königin aller Hexen, das erbeutete Orichalkschwert zu Laurentines Stirn hinführte. Diese hielt merkwürdigerweise still, als Akt des letzten Aufbegehrens gegen dieses selbstverliebte, selbstherrliche, größenwahnsinnige Geschöpf.
Pontio Barbanera konnte ohne Angst vor Vernichtung in den vom Blutfeuernebel erfüllten Bereich eindringen, da er ja der erste Statthalter und Beilagergespiele der Königin war. So schlich er sich an die drei Hexen heran und hörte das Hin und Her gegenseitiger Anfeindungen und die völlig gerechtfertigten Antworten seiner Königin. Dieses Kurzschwert, das wie ein altrömischer Gladius aussah, das war schon eine beachtliche Beute. Wenn die Königin herausfand, wie es wirkte würde sie es zu ihren anderen Beutegütern legen. Wenn stimmte, was die freche Göre da behauptet hatte, dann musste sie dieses Schwert sogar sicher fortschließen, um es keinem anderen Feind in die Hände geraten zu lassen. Er wusste, dass sie einen mit Blutsiegelzauber verschlossenen Raum hatte, in dem sie alle ihre mächtigsten Schätze verwahrte. Da würde sie das Schwert aus Atlantis verwahren, bis sie wusste, gegen wen sie es noch führen wollte. Womöglich konnte sie damit alle ihre veelastämmigen Verwandten töten, vielleicht auch alle Vampire der Blutgötzin und vielleicht auch die Spinnenhexe, die ein ähnlich mächtiges Schwert des Feuers besaß. Er sah genau hin, wie seine Herrin, Königin und Liebesgöttin der aufmüpfigen jungen Hexe die erste Lektion in Sachen Unterwürfigkeit erteilen würde.
Laurentine dachte ähnlich wie Louiselle. hatte Domenica sie beide veralbert? War das mit der dritten Tochter nur, um sicherzustellen, dass nur eine, die ähnlich erfahren hatte wie sie selbst dieses Schwert beschaffte? War es Domenicas Absicht gewesen, Ladonna dieses Schwert zuzuspielen, und das mit den beiden Gürteln war nur, um in den Blutfeuernebel reinzukommen? Vielleicht mussten sie sogar gegen sie kämpfen und verlieren, damit sie das Schwert auch annahm und nicht selbst an eine Falle glaubte.
Sie lag neben Louiselle, ihrer Lehrerin und Geliebten. Tja, schon einmal hatten sie gemeinsam etwas angestellt, von dem keine ahnte, was dabei herumkam. Immerhin hatte das, was dabei aus ihr herauskam Hand und Fuß. Hoffentlich würde Lucine von Hera dazu ausgebildet, die drei N-Regeln besser zu beherzigen als Louiselle und sie, Laurentine Hellersdorf. Doch sie wollte sich dieser Rosenkönigin da nicht als um Leben oder Freiheit bettelndes winselndes kleines Mädchen darbieten. Nein, die sollte es bis zum Schluss schwer mit ihr haben, auch wenn sie ihr gleich mit dem Schwert die Stirn verschandeln würde.
Die Schwertspitze senkte sich über ihrem Kopf herunter. Es fehlten nur noch Zentimeter. Da hielt Ladonna inne. Offenbar wollte sie den Augenblick hinauszögern. Tja, die Bösen genossen es immer, wenn sie oben auf waren. Aber die allermeisten von denen vertaten genau dadurch ihre Chance, echt zu gewinnen.
Ladonnas rechte Hand zitterte. Die rote Aura, die sie bis dahin umfloss flackerte heftig. Dann erlosch sie. Die Tochter zweier mütter erbebte. Der bis dahin so unerträglich überlegene Blick ihrer smaragdgrünen Augen war dem Ausdruck großer Unsicherheit und Anspannung gewichen. Was passierte da?
Es fehlten nur noch wenige Fingerbreiten, bis die Schwertspitze die blasse Haut der besiegten Feindin traf. Vielleicht musste sie stärker zustoßen, um durch die immer noch schimmernde Silberaura durchzukommen. Sie spürte die Wärme im Schwertgriff. Die Waffe wartete auf Feindesblut. Doch dann passierte es. Unvermittelt erstarrte ihr rechter Arm der das Schwert führte. Ihr magischer Ring wurde eiskalt und hörte auf, seinen Schutz auszustrahlen. Dann meinte Ladonna, dass etwas in ihrem Kopf umhertastete und ihr Schwertarm darauf reagierte. Er zitterte und zuckte. Sie fühlte, wie sie den Griff noch fester umfasste, ja ihn krampfhaft umklammerte. Dann merkte sie, wie sich ihr rechter Arm beugte. Sie hob die Klinge gegen ihren Willen an. Etwas in ihrem Kopf schrie laut: "Nein, Loslassen!" Doch etwas anderes zwang sie, die Waffe so fest sie konnte zu halten. Schlagartig war alle Überlegenheit vfort, die sie bis vor wenige Sekunden auf ihre niedergerungenen Gegnerinnen hatte regnen lassen. Sie merkte, dass das Schwert ihren Arm führte und nicht umgekehrt. Ihr Arm war zu einem Fremdkörper geworden, der wie ein blutgieriger Blutegel an ihr hing und sich mit seinem einzigen, rosig glänzenden Zahn immer weiter ihrem freigelegten Oberkörper näherte. Sie führte den linken Arm so vorsichtig sie konnte zu ihrer rechten Hand. Sie musste das Schwert davon abhalten, sich in sie hineinzubohren. Doch ihre linke Hand prallte auf ein unsichtbares Hindernis. Ihr Ringfinger erbebte heftig, und sie meinte, einen Schwall Eiswasser durch die linke Hand jagen zu fühlen. Das Schwert stieß den Ring ab, und der Ring war zu schwach. Das hatte sie doch vorher schon gespürt. Wieso hatte sie das nicht als das verstanden, was es war? Eine deutliche Warnung. War es schon zu spät? Sie musste das Schwert in den Boden rammen, es so tief in den Boden stoßen, dass sie sich von ihm losreißen konnte, ohne sich an der Klinge zu verletzen.
"Verletz dich nicht mit dem Schwert, sonst zerfällst du noch zu Staub", das hatte ihr diese junge, freche Hexe da zugerufen. Frech? Bei allen Ungeheuern der Welt, vielleicht wusste die es wirklich besser und wollte sie aus einer falsch verstandenen Fairness heraus warnen. War es nun zu spät?
Ladonna warf sich herum, versuchte, den gegen ihren Willen immer weiter durchbeugenden Arm wieder auszustrecken, das Schwert weit von sich zu strecken, um es dann mit einem Ruck in den Boden zu rammen. Doch da zuckte ihr rechter Arm in Richtung ihres Gesichtes, und sie spürte einen scharfen Schnitt an ihrer blanken linken Brust.
Es war, als erhielte sie einen elektrischen Schlag. Sie ließ das Schwert fallen. Dann starrte sie mit vor entsetzen weiten Augen auf die Schnittwunde, die sie sich unfreiwillig zugefügt hatte. Es kam kein Blut. Das war sicher die Schockwirkung. Gleich würde sie bluten wie ein angestochenes Schwein, dachte sie. Doch dann sah sie etwas, was wohl schon da war, als sie sich den Schnitt verpasst hatte, etwas, das deshalb bis jetzt nicht zu sehen war, weil es dieselbe Farbe hatte wie der helle, über ihr ausgedehnte Himmel. Aus der Schnittwunde an ihrer Brust quoll blaues Licht hervor und breitete sich immer weiter aus. Sie fühlte keinen wirklichen Schmerz, nicht mal ein Ziepen an ihrer empfindlichen Brust. Es war wie ein Gefühl von Wärme, das in sie eindrang und ihr das Gefühl zunehmender Leichtigkeit bereitete. sie wusste, dass irgendwas mit ihr geschah, etwas nicht mehr rückgängig zu machendes. Das Schwert hatte sich gegen sie gewendet und einen Vorgang eingeleitet, um sie für ihren Hochmut und ihre Besitzgier zu bestrafen. "Verletz dich nicht mit dem Schwert, sonst zerfällst du noch zu Staub", hörte sie wie ein Echo die provokant betonte Warnung der vor ihr am Boden liegenden Gegnerin. Diese sah zu ihr hoch, überrascht, verwundert, aber auch irgendwie erleichtert. Erleichtert? Die da hoffte, dass sie gleich ein grauenvolles Ende nehmen musste! Dann sollte sie zuerst sterben, dachte Ladonna. Sie zog den Zauberstab frei, den sie wegen dieses verfluchten Schwertes fortgesteckt hatte. Sie versuchte, ihren Arm zu heben. Doch ihr Arm gehorchte ihr nicht mehr. Er bebte, zitterte, wackelte heftig. Sie fühlte, wie der Griff um ihren Zauberstab nachließ. Klappernd fiel das eine Instrument ihrer Macht zu boden. Das zweite, der Ring, pochte wild gegen das an, was in ihr ablief. Doch dabei fühlte sie, dass der Ring bereits verloren hatte. Die blau leuchtende Magie, die nun ihre linke Brust überdeckte und sich bereits über ihre rechte Brust und ihren Oberbauch ausdehnte, rang den Ring endgültig nieder. Die zwei Seelenbruchstücke von sich, die sie darin eingelagert hatte, würden sie hoffentlich noch als eine Art von Geist in der Welt halten, sowie es die dunkelsten Kenntnisse der hohen Mächte versprachen. Konnte sie auf eine Rückkehr hoffen, ja durch den Ring selbst in ein neues Leben in einem anderen Körper zurückgerufen zu werden. Dann geschah es ganz schnell.
Das blaue Licht erfasste ihren ganzen Oberkörper, jagte wie flammenloses Feuer an ihren Armen entlang und wurde zu einem himmelblauen Schleier vor ihren Augen. Sie fühlte, wie ihr Körper in einer unglaublichen Mischung aus Hitze und Kälte zerging wie Butter in der heißen Pfanne oder schmolz wie eine Schneeflocke im Kaminfeuer. Sie wollte noch was rufen, ihren letzten Fluch in diesem Leben ausstoßen. Doch sie hatte keine Stimme mehr. Sie hatte keinen Hals mehr. Ihr Kopf löste sich auf, ohne dass sie Schmerzen fühlte. Im gleichen Moment vergingen wohl auch ihr Unterleib und die Beine in diesem vernichtenden blauen Leuchten. Sie schrie, doch nur noch in Gedanken. Sie fühlte, wie sie jeden Bezug zu dieser Welt verlor. Dann merkte sie, dass etwas in ihr auseinanderbrach. Sie hörte ein fernes, sphärisches Säuseln. Dann meinte sie, die laut schreienden Stimmen ängstlicher Säuglinge zu hören. Sie meinte einen Augenblick, aus drei verschiedenen Richtungen zu sehen. Dann riss das letzte Stück der Verbindung ihrer Seele mit dem, was einmal ihr Körper war.
"So ist es dein Werk gewesen, Schwesterchen. Du bist nun aus diesem vergifteten Körper heraus. Also komm zu mir und werde eins mit mir", hörte sie eine Stimme, die sie zu gut kannte, die sie in den letzten Monaten immer dann gehört hatte, wenn ihr mit Gewalt mehrere treue Unterworfene entrissen worden waren. Das war Ginella.
"Donnina, es gibt für dich keinen Halt mehr in dieser Welt. Sei nun eins mit mir und bewache mit mir jene, die darauf lauern, noch mehr Unheil in die Welt zu bringen als du und ich zusammen! Komm zu mir!"
"Nein, niemals!" rief Ladonna in Gedanken. Dann sah sie, was unter ihr geschah. Sie sah drei nackte Körper, die Körper von drei gerade erst geborenen Mädchen. Eines hatte helle Haut und tiefschwarzes Haar und strahlendblaue Augen. Das andere besaß auch helle Haut und hatte rotbraunes Haar und kreisrunde, blaugrüne Augen. Das dritte nun laut schreiende Kind besaß blassgrüne Haut und goldgelbe Augen mit senkrechten Schlitzen. Dieses Kind schrie am leisesten, aber mit einer Stimme wie eine Ente, der man auf die Füße getreten hat. Als Ladonna erkannte, was sie da sah und was demzufolge mit ihr geschehen war durchzuckte sie eine höchst bittere Erkenntnis: Das alles, diese drei nun laut plärrenden Bündel Leben, war sie einmal gewesen, alle drei in einem Körper. Alle drei hatten ihre leiblichen und seelischen Gaben in ihr vereinigt. Doch wozu? Sie hatte sich für die Ausgeburt einer überlegenen Herrin gehalten, mehr als die Summe all der Wesen, aus denen sie hervorgegangen war. Sie hatte geherrscht und wollte herrschen. Sie war sicher gewesen, dass ihr niemand gewachsen sein würde. Ja, und am Ende war sie auf das zurückgestutzt worden, was sie immer schon war, drei wimmernde Wesen, die sich in einem einzigen Körper behaupten mussten und deshalb nie wirklich groß werden konnten. Doch warum zerriss es sie nicht selbst? War es die Strafe des Schwertes, sie die ganze Ewigkeit hindurch mitzuverfolgen, wie diese aus ihr herausgeschnittenen Leben neu aufwuchsen, nicht mehr wissend, wer sie war oder, was noch schlimmer war, immer damit hadernd, was ihnen fehlte? Dann sah sie den Ring, der zwischen den von ihr abgefallenen Kleidungsstücken schimmerte. Seine Rubine leuchteten. Sie sah ihr eigenes Gesicht in jedem dieser Steine. Das war ihr Halt, ihr Anker auf dieser Welt. Deshalb hatte es sie nicht in ihrer Seele aufgespalten wie ihren Körper. Der Ring hielt sie in dieser Welt. Sie würde überleben, einen neuen Körper bekommen, wie damals, als der Ring von Körper zu Körper gereist war, um bei Rose Britignier zu landen, die seiner rechtmäßigen Besitzerin zu neuem Leben verhalf. Ja, das würde er wieder tun, auch wenn sie ihren mächtigen, mit den Gaben von zwei nichtmenschnlichen Zauberwesen begüterten Körper nicht zurückbekommen konnte. Wieso eigentlich nicht? Sie erinnerte sich an das, was sie über Tom Vorlost Riddle alias Lord Voldemort gelernt und es belächelt hatte. Der hatte seinen Körper wiedererhalten. Aber der war am Schluss über seine eigene Überlegenheitsvorstellungen gestürzt, weil er den legendären Schicksalsstab erbeutet haben sollte. Der hatte sich gegen ihn gewendet ... wie sich das Kurzschwert aus Atlantis gegen sie gewendet hatte. Wie selten einfältig war sie, dieses Schwert überhaupt anzurühren. Es hätte da bleiben sollen wo es war. Aber dann hätte dieses freche Mädchen, deren Namen sie bis zum Schluss nicht erfahren hatte, ihr damit jenen schicksalhaften Stoß versetzt, um sie zu töten oder eben auf jene nicht minder grauenvolle Weise aus der Welt zu schaffen. Doch sie würde sich rächen. Sie würde in den Ring einfahren und als drittes Fragment ihrer unsterblichen Seele darin wohnen, bis ihn jemand anzustecken wagte und ihn oder besser sie dann genauso schleichend übernehmen, wie sie es mit dieser ahnungslosen Magd Rose Britignier gemacht hatte.
"Denk nicht mehr daran, Schwester. Du gehörst zu mir. Wir werden eins sein", hörte sie aus nicht mehr all zu großer Ferne die Stimme Ginellas. War die etwa durch ihre teilweise Entkörperung fähig, zu ihr in diese Welt hinüberzuwechseln? Sie musste eins werden, ja aber nicht mit Ginella, sondern ihrem Ring des unbesiegbaren Feuers, dessen wahren Namen sie ihm eingeprägt hatte und den sie nun laut und beschwörend dachte: "Pyronike, nimm mich auf in dich! Pyronike, lass uns eins werden! Pyronike, reise mit mir zum nächsten Leben!"
Als Ladonnas Körper in einem schon gruselig wirkenden blauen Licht aufgelöst wurde fühlten Laurentine und Louiselle, wie ihre Erschöpfung verflog. Durch die umgelegten Gürtel strömte ihnen neue Kraft in die Körper. Das Gefühl, ein vielfaches des üblichen Gewichtes zu haben verschwand in nur zwei Atemzügen. Dann sahen sie, wie aus dem blauen Licht vier klar erkennbare Körper entstanden. Drei davon waren gerade wenige Tage alt wirkende Säuglinge, die sofort laut losplärrten, wobei jener mit der hellgrünen Haut eher quakte wie eine gequälte Ente und das Baby mit den nachtschwarzen Stopeln schon glockenreine Töne ausstieß wie eine Operndiva, die eine laute, schnelle Arie sang, wie die Königin der Nacht aus Mozarts "Zauberflöte", aber eben nicht dieses Stück, sondern ein ganz eigenes, von der Natur in sein Erbgut geschriebenes. Das dritte Baby, wie die zwei anderen ein Mädchen, plärrte wie jedes andere neugeborene Menschenkind, einschließlich Lucine und womöglich auch damals sie selbst. Der vierte Körper war ein wahrhaftiger Astralleib, kein Geist wie sie ihn in Beauxbatons schon gesehen hatte, sondern ein aus sich heraus saphirblau leuchtendes Etwas, das die Körperformen und Gesichtszüge Ladonna Montefioris hatte. Laurentine bekam einen heißen Schreck. Wenn das da Ladonnas übermächtiger Geist war, dann hieß das, dass sie noch in der Welt verbleiben würde und nun, wo niemand mehr sie töten konnte, noch mehr Unheil anrichten würde. Ja, am Ende konnte dieses blaue Gespenst da wie ein Dibbuk in andere Körper fahren und sie in Besitz nehmen, womöglich auch sie selbst!
"O Mist, was haben wir gemacht?" fragte sie Louiselle. "Wir haben uns nicht an alle Ns der 3-N-Regeln gehalten, wo ich selbst dachte, dass ich sie wirklich verinnerlicht habe", stöhnte Louiselle. Dann erhob sie sich auf zwei völlig ausgeruhte Beine.
"Komm, wir müssen hier weg, bevor die da merkt, was mit ihr los ist." Doch Laurentine winkte ab. Denn sie sah, dass Ladonnas blaues Geistergesicht vor Angst und dann vor wilder Entschlossenheit verzogen war. Die blaue Gestalt schrumpfte und näherte sich einem glitzernden Gegenstand. "Verdammt, sie ist an den Ring gebunden. Sie will wieder mit ihm eins werden", knurrte Louiselle. "Nicht, Liebes. Am Ende springt sie dir in den Körper, wenn du den Ring nimmst", warnte Laurentine. Sie dachte selbst daran, dass dieser verwünschte Ring Ladonna schon einmal ins Leben zurückgeholt hatte, wie den Bösewicht aus einer ihrer Lieblingshörspielserien ihrer Kindheit und den sich auch als dunkler Lord anreden lassende phantomartige Oberschurke aus Tolkiens Meisterwerk. Louiselle begriff. "Hätte ich fast wieder gegen eines der drei N verstoßen, meine Süße. Ich fürchte, wenn wir das hier doch an Leib und Seele unbeschadet überleben sollten ziehe ich mein Angebot, euch jungen Dingern stärkere Kampfzauber beizubringen zurück und lasse mich von meiner Tante zur Pflegehelferin umschulen."
"Sieh, was passiert da?" lenkte Laurentine die Aufmerksamkeit Louiselles auf das, was gerade geschah.
Der blaue Astralkörper Ladonnas - was anderes konnte das nicht sein - versuchte, durch Selbstschrumpfung in den goldenen Ring einzudringen, um mit ihm eins zu werden. Die zwei Rubine leuchteten dem blauen Geisterwesen entgegen. Laurentine meinte, darüber verkleinerte Gesichter aufleuchten zu sehen, die Gesichter Ladonnas. "Dieses Weib hat einen Doppelhorkrux geschaffen", stöhnte Louiselle. Laurentine konnte das nicht anders empfinden. Es sah danach aus, als würde die Vereinigung zwischen Ring und entkörperter Seele gelingen. Da strahlte ein blaugrünes Licht auf, das zwei Meter über dem Ring schwebte. Es blähte sich zu einer drei Meter großen blaugrün strahlenden Geistererscheinung auf, die Ladonna sehr ähnlich sah. "Nein, meine Schwester. Noch einmal lauerst du keinem arglosen Wesen auf, um durch seinen Leib dein Werk zu treiben. Es wird Zeit, den Fehler unserer Mütter zu berichtigen. Her mit dir!" hörten sie eine wirklich geisterhaft sphärische Stimme. Dann sahen sie, wie das blaugrüne Wesen mit einer Hand nach unten langte und das gerade playmobilgroße blaue Gespenst ergriff. Dieses schrie mit Ladonnas Stimme, nur eben wie in weiter Ferne aber nicht wie bei geschrumpften Stimmbändern. Dann blähte sich die blaue Erscheinung schlagartig aus und sprengte den Griff der sie haltenden Geisterhand. Aus dem Ring schnellten saphirblaue Strahlen, keine rubinroten wie vorhin. Sie gaben der blauen Geistererscheinung Kraft. Sie wuchs und wuchs, bis sie die blaugrüne Erscheinung eingeholt hatte. Doch dann wuchs diese auch weiter. "So sei es unser letzter schwesterlicher Streit, bevor ich dich in Gnade unserer Vormütter in mich aufnehme und wir endlich unserer aus Mokushas Volk geborenen Mutter Traum erfüllen, die Vereinigung unserer Kräfte zum Vorteil der Welt."
"Niemals, du überhebliches Geschöpf. Nur weil du Regina genannt wurdest werde ich dir nie Untertan sein. Das war damals so und bleibt auch so", widersprach Ladonna Montefiori, deren in drei scheinbar unschuldige Einzelkörper zerlegte Ausgangsformen weiterhin plärrten und Quengelten. Dann begann der letzte Kampf zweier einst zur Beherrschung der Welt geborenen Schwestern.
Barbanera hatte mit größter Bestürzung mit ansehen müssen, wie seine Königin sich mit einem verfluchten Schwert selbst entleibt hatte. Nein, nicht entleibt, sondern in drei unabhängige Körper und ihre Seele aufgespalten hatte. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Etwas in ihm, das lange unterdrückt war, begehrte dagegen auf, Trauer um Ladonna zu empfinden. Etwas in ihm jubelte laut.
Diese beiden Hexen da hatten seine Königin umgebracht. Er musste sie rächen, ja und er musste ihren Ring an sich nehmen, um ihn einer von ihr erwählten Nachfolgerin zu übergeben. "Nein, tu das nicht. Die hat dich vergiftet und versklavt. Lass sie vergehen, diese Hure", tönte seine eigene Gedankenstimme dagegen an. Sein Körper erbebte. Er schaffte es nicht, sich von der Stelle zu bewegen. Wenn der Ladonna treue Teil seiner Seele vorwärts wollte brüllte der ihr widerstrebende Teil dagegen an und lähmte ihn. So kämpften die von der Feuerrose vergifteten gegen die durch Ladonnas merkwürdiges Ende wiedererwachenden Gedanken seines eigenständigen Geistes um die Vorherrschaft in seinem Körper, wie nun die beiden schimmernden Geisterwesen oder besser TVEs darum stritten, ob sie weiterhin zwei eigenständige Wesen oder ein vereinigtes Wesen waren. Zugleich erbebte die Erde, weil etwas nach außen drängte, was über Jahre darin verankert war und seine grauenhafte Macht über dieses Anwesen ausgebreitet hatte.
Laurentine sah zu, wie die blaue und die blaugrüne Geisterfrau miteinander rangen. Die blaugrüne wollte die blaue zusammendrücken und wie durch einen Strohhalm in sich einsaugen oder wie bei einem innigen Liebesakt in ihren Unterleib hineinziehen. Eigentlich hätte Ladonna etwas ähnliches versuchen können. Doch offenbar wollte sie gerade die Verschmelzung mit ihrer aus dem Jenseits zurückgekehrten Schwester verhindern. Der am Boden liegende Ring gab ihr dazu die Kraft.
"Louiselle, wie zerstört man einen Horkrux, der mit Feuerzaubern gespickt wurde?" fragte Laurentine ihre Lehrmeisterin und Lebenspartnerin.
"Bei nicht ausdrücklich mit Feuer verbundenen geht Dämonsfeuer. Bei an Feuer gebundene ginge wohl auch kein Witterwasser. Aber Das hier wird es tun", knurrte Louiselle und holte ihre rauminhaltsvergrößerte Handtasche hervor. Sie holte erst zwei silberne Handschuhe hervor. Dann fischte sie aus den schier unergründlichen Tiefen ein weißgelbes, langes Etwas, dass wie ein vergrößerter Giftzahn einer Schlange aussah. "Damit geht das", knurrte Louiselle noch einmal, wartete ab, bis die zwei streitenden Schwestern sich von dem Ring entfernt hatten und sprang vor. Mit der rechten behandschuhten Hand stieß sie das weißlichgelbe Etwas, das wie ein Zahn aussah nach unten und traf damit genau einen der rosenblütenförmigen Rubine. Dieser zersplitterte in roten Funken. Ein lauter Aufschrei ertönte, und wie eine zurückschnurrende Gummischnur sauste einer der vom Ring ausgehenden Lichtstrahlen in Ladonnas blauen Geisterkörper hinauf. Dann rammte Louiselle den Zahndolch in den zweiten Rubin. Auch dieser zersprang in tausenden roter Funken. Wieder erklang ein lauter Aufschrei. Der zweite blaue Kraftstrahl schnalzte blitzartig in den blauen Körper Ladonnas. Diese schrie nun selbst laut auf. Dann sah sie, was geschehen war. Gerade als Louiselle den Zahn in den Ring selbst hineinbohrte wollte sich die blaue Erscheinung auf sie stürzen. Doch da schossen von ihr und Laurentine silberne Strahlen auf die blaugrüne Erscheinung zu. Sie hörten einen lauten, freudigen Aufschrei, der rasch näher klang. Dann sahen sie einen orangeroten Kugelblitz aus Westen heranjagen, der völlig geräuschlos in die blaugrüne Geistergestalt hineinfuhr und diese von einem Augenblick zum anderen um die dreifache Größe anwachsen ließ. Ladonnas blaue Erscheinung prallte vor der unvermittelt heller strahlenden Silberaura um Louiselles Körper zurück und wurde in Richtung der nun bernsteingelben riesenhaften Geistererscheinung zurückgeworfen. Diese breitete ihre meterlangen Beine aus, und Ladonnas blaue Erscheinungsform drang vollständig in den Unterleib der anderen ein. Diese schlug die Beine wieder zusammen. Laurentine und Louiselle hörten einen lauten Angstschrei, der immer leiser wurde und dann als höchst erleichterter Ausruf aus dem Mund der nun smaragdgrün umgefärbten Gesamterscheinung erscholl. In dem Moment erloschen die silbernen Auren. Laurentine fühlte, wie das, was sie bis dahin als zweite Haut empfunden hatte, in ihren Körper eingesogen wurde und wie ihr Gürtel der gemeinsamen Frucht wohlig warm pulsierte.
"so ist der Traum Domenicas doch am Ende noch erfüllt worden. Zwei Töchter zweier Mütter, geboren um die Welt der magischen und nichtmagischen Wesen zu einen und zu beherrschen, und der für viele über Jahrhunderte ein Angsttraum war, ist nun wahr geworden. Ich bin nun vollendet, die Mutter aus reinem Schoße und die Töchter gereinigt vom Gifte der gefräßigen und machtgierigen Wesen. So werde ich wachen über alle, die aus dem Blute derer sind, von denen ich einst stammte, ich, die ewige Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen. Jetzt, wo die Mutter ihre Aufgabe als steinerne Wächterin vollendet hat und ihr, die Mütter einer gemeinsamen Tochter, uns zu mir gemacht habt, entbiete ich euch meinen Dank und bitte euch um Verzeihung für die Angst und das Ungemach, das Ladonna und Domenica euch bereiteten. Ladonna ist nun in mir untergeordnet vereint. Was sie wusste, konnte und wollte weiß nun ich. Aber ich weiß auch, dass grenzenloses Machtstreben mit den Mitteln gnadenloser Gewalt gegen Leib und Seele in die eigene Vernichtung führen. Daher ist Ladonna nicht gestorben, sondern in mir wiedergeboren, doch nicht als von körperlichen Befindlichkeiten getriebenes Wesen, sondern als eigenständiges Sein, das die Welt beobachten kann, ohne sie zerstören und neu schaffen zu müssen. Danke, Louiselle, dass du den letzten Anker von Ladonnas Überheblichkeit und Macht zerstört hast. Danke Laurentine, dass du es durch deine Beharrlichkeit und Aufsässigkeit vollbrachtest, Ladonna ohne länger nachzudenken an das Schwert rühren zu lassen. Danke euch beiden, dass ihr füreinander da seid und dass ihr trotz der nicht beabsichtigten Zeugung einer gemeinsamen Tochter miteinander leben und einander weiterhin lieben wollt. So werde ich nun dorthin gehen, von wo aus ich die Welt durch die Augen und Ohren der Blutsverwandten Sternennachts weiterbeobachten kann und gleichzeitig darauf achte, dass keine ungebärdige rastlose Seele aus dem ewigen Kreis der eigenen Schuld entrinnen kann, um im Körper eines anderen Wesens neuen Halt und neues Streben nach Umsturz der Welt zu erhalten. Ja, Laurentine, sowas wie mich hat deine und auch Louiselles Vorfahren daran glauben gemacht, dass es göttliche Boten gibt, die Angeli, die zwischen den Lebenden und der höheren Ordnung aller Welten vermitteln, ob sie nun als ein Gott, viele Götter oder das Universum als ganzes bezeichnet werden. Die Antworten auf die noch in dir schlafenden Fragen finde bitte selbst heraus. Denn nun ist meine Zeit gekommen, Ladonnas Unrecht aus dieser Welt zu tilgen und dann auf meine Wacht zurückzukehren."
Laurentine fühlte auf einmal Tränen in die Augen steigen. Sie musste daran denken, wie sie um Claire und ihre Eltern getrauert hatte, bis sie eine ähnliche leuchtende Erscheinung in Claires Gestalt gesehen hatte, wie sie ihre Eltern abholte und ohne Angst und Trauer an den irgendwo oder irgendwie liegenden Zielort geleitete. War Claire Dusoleil, die erste Freundin in Beauxbatons, auch zu solch einer Erscheinung geworden?
Die Gedanken an Claire und ihre Eltern vergingen ihr zunächst, als sie sah, wie aus dem leuchtenden Astralleib der sich nun als ewige Wächterin am Fluss der Rastlosen verstehenden rosenrote Lichtwolken quollen, die im schnellen Flug auseinanderflossen und dabei über das Beet mit den Rosen hinwegstrichen und auch immer weiter flogen. Rosenrote Funken sprühten in die Villa, während die Erde erbebte. Laurentine hörte einen erst schmerzhaften und dann befreit aufjuchzenden Schrei. Dann sah sie dort, wo Osten war, die geisterhafte Erscheinung einer Frau gerade mal so alt wie sie selbst aus einer aufschießenden Erd- und Gesteinsfontäne entsteigen und nach kurzem Aufleuchten vergehen. Laurentine sah nun nach Süden und erkannte, wie dort ein Geist wie ein Mann um die Fünfzig herum aus einer weiteren Erdfontäne entstieg und laut jubelnd im Nichts verschwand. Der Boden bebte weiter, als müsse er eine viel zu lange in ihm festsitzende Last loswerden. Dem war wohl auch so, dachte Laurentine. Denn mit Ladonnas körperlichem Ende war auch der Blutfeuernebel vergangen. Die zwei Geister, und wohl noch die beiden, von denen sie gerade nur die Freudenschreie hörte, waren wohl die Seelen der dafür geopferten Menschen. Dann sah sie, was die roten Funken und Wolken noch verrichteten.
Die verschiedenfarbigen Rosen in jenem Beet wuchsen und wurden dabei immer mehr zu menschlichen Gestalten, alles bekleidete Frauen. Eine von denen war noch sehr Jung, ebenfalls nicht älter als Laurentine. Ihr Bild erkannte sie. Das war Rose Britignier, die verschwundene und wegen Mordes an ihrem festen Freund oder Verlobten gesuchte Lehramtsstudentin, die im Zusammenhang mit Ladonnas Rückkehr erwähnt worden war. Eine andere war sehr untersetzt und wirkte höchst verärgert. Doch dann sanken sie und alle anderen, die gerade aus Ladonnas magischer Gefangenschaft erlöst wurden zu boden und schienen in einen tiefen Schlaf zu fallen. Da sah Laurentine, wie das von Ladonnas vergangenem Körper abgelöste Mieder auf eine der Zurückverwandelten zuflog und sich wie eine schützende Decke auf sie legte.
Von irgendwo erklang ein höchst unappetitliches Würgen und Spritzen. Laurentine spürte selbst, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie wollte nicht sehen, wer da sein Frühstück und Mittagessen von sich spie. Das erfuhr sie, als Louiselle sich umdrehte. "Oh, der Signore Pontio Barbanera, der italienische Zaubereiminister höchstpersönlich. Aber jetzt sieht er sehr elend aus."
"Kotzelend", entfuhr es der selbst mit Übelkeit ringenden Laurentine. "Na, das sagt eine anständige Hexendame nicht, Mademoiselle Hellersdorf", tadelte Louiselle sie. Doch sie grinste dabei. Laurentine traute sich nun doch, sich umzusehen. Da sah sie den italienischen zaubereiminister, der wirklich seinen gesamten Mageninhalt von sich spie. Das Zeug leuchtete rubinrot, wie der Ring Ladonnas. Auch aus seinen Ohren entwich rubinroter Qualm und aus seinem Enddarm. Laurentine war froh, unter freiem Himmel und an die fünfzig Meter von ihm fort zu sein. Dann blieb der von Übelkeit und anderen Unpässlichkeiten gebeutelte Zauberer liegen. "Ich helfe ihm, zumindest für den Abtransport sauber genug zu sein", sagte Louiselle. "Oh, da liegt noch einer am Boden, aus dessen Ohren roter Qualm kommt. Ach neh, Valentino Angelotti, Starjäger der Bologna Bussards und hundertfacher Torschütze bei der Quidditchweltmeisterschaft 1986", kommentierte Louiselle Beaumont.
"Die Frauen, die mal Rosen waren, schlafen die?" fragte Laurentine ins Blaue oder besser smaragdgrüne hinein.
"Wie die beiden Männer müssen sie sich davon erholen, was ihnen widerfuhr. Diejenigen die selbst Magie gebrauchen können werden sich wohl damit zurechtfinden. Doch diejenigen die Magie für Lug und Trug hielten werden ihr Leben damit hadern, Ladonnas Gefangene gewesen zu sein. Entscheidet richtig, wie sie weiterleben sollen!" sagte die ewige Wächterin. Dabei sonderte sie immer noch jene roten Lichtwolken ab, die im Flug zu Funken wurden und da wo sie trafen wohl Ladonnas böses Zauberwerk tilgten.
Niemand war da, der es sehen konnte. Niemand war da, der oder die es hören konnte. Doch es geschah.
Die hockende Statue der steinernen Wächterin erbebte immer stärker. Dann begann sie aus sich heraus grün-orange und dann nur orange zu glühen. Es schien, als wüchse sie noch um zwei ganze Größen. Sie streckte ihre in Hockstellung gekrümmten Beine durch und stand mit weit ausgebreiteten Armen aufrecht. Dann öffnete sie den Mund und stieß einen laut und lang hallenden Jubelschrei aus. Danach löste sich die übergroß angewachsene orange Erscheinung von der unter ihr verborgenen Marmorstatue. Sie schwebte in die Höhe, bis fast unter die viele Dutzend Menschenlängen hohe Decke. . Die Leuchterscheinung ballte sich im Aufsteigen zu einer flirrenden Kugel und verschwand. Das Beben der Statue schwoll zu einem letzten, heftigen Stoß an. Dieser ließ die schwarze, für wenige Augenblicke aufrechtstehende Statue mitsamt ihrem Sockel in abertausend Stücke zerspringen. Die Bruchstücke rasten wie von einem Wüstensturm gepeitschte Sand- und Staubkörner durch die weitläufige Höhle und trafen auf die Wände, die Decke und den Boden. Da wo sie trafen vergingen sie in grünen, orangen und goldenen Funken. Noch einmal erzitterte die Höhle. All die zu ihr führenden Gänge schwangen auf einem für Menschenohren unhörbar tiefen Ton. Dann, ohne Übergang, endete der Aufruhr im Boden. Die natürliche Dunkelheit eroberte die Höhle zurück. Doch die freigesetzte Magie hatte einen letzten Dienst versehen. Das geschriebene und in Artefakten erschaffene Erbe Domenicas harrte nun jener, die ihr geholfen hatten, den entscheidenden Akt zu vollziehen, den Akt, auf den die steinerne Wächterin mehr als fünfhundert Jahre gewartet hatte. Es oblag den beiden Müttern oder ihrer gemeinsamen Tochter, dieses verborgene Erbe anzunehmen und hoffentlich besser zu verwenden, als es Ladonna hätte tun wollen.
Karim Al-Assuani und seine Brüder saßen zusammen, als sie den letzten lauten Aufschrei ihrer Herrin und Königin hörten. Sie fühlten, wie ihnen Kraft entzogen wurde und merkten, dass sich in ihnen unbeschreibliche Wut und Verachtung erhoben. Wieso hatten sie es zugelassen, dass dieses widerwärtige Feuerrosending bei ihnen eingesetzt werden konnte? Dann schwirrten rubinrote Funken von irgendwo durch alle Wände und trafen wie magnetisch angezogen auf die von Ladonna unterworfenen. Wo sie trafen, lösten sie eine rubinrote Ausdünstung und eine sofort eintretende Bewusstlosigkeit aus. Die Al-Assuani-Brüder fielen dort um, wo sie gerade saßen oder standen.
Wie ihnen erging es ihren Kollegen in Tunesien, Algerien, Marokko, Spanien, Portugal, Rumänien, Bulgarien und der Türkei. Überall dort, wo magische Menschen unter dem Einfluss der Feuerrose gestanden hatten, erlosch dieser Einfluss. Aber die Befreiten würden erst einmal tief schlafen um die Auswirkungen der in ihnen vorherrschenden Bezauberung zu überwinden. Sofern vollständiges Personal eines Zaubereiministeriums betroffen war blieb dieses Ministerium bis auf weiteres handlungsunfähig. Es blieb nur zu hoffen, dass die in der magischen Gemeinschaft lebenden Menschen nicht in Gesetzlosigkeit und gegenseitige Zerwürfnisse verfielen.
Während Louiselle den bewusstlosen Minister mit gründlichen Säuberungszaubern von seinem Auswurf reinigte und ihn so bettete, dass er von Heilern transportiert werden konnte beobachtete Laurentine die smaragdgrüne Geisterriesin und fühlte den Gürtel der gemeinsamen Frucht. Als keine roten Wolken mehr aus der Erscheinung entfuhren beugte diese sich zu Laurentine herunter. Diese wich zurück, um bloß nicht mit der Unheimlichen, doch überirdisch Schönen in Berührung zu kommen. "Ich will dir nichts tun. Im Gegenteil. Ich möchte dir und deiner Geliebten und der Gebärerin eurer ersten gemeinsamen Tochter mitteilen, dass ich euch die beiden Gürtel schenke und ihr sie weiterhin als Verstärker eurer körperlichen und geistigen Beweglichkeit benutzen könnt, wenn ihr euch an das haltet, was die steinerne Wächterin euch mitgeteilt hat. Über diesen Gürtel können du, Louiselle, Lucine oder wer da noch immer von euch zu euch kommen mag Wissen erfragen, sofern ich erkenne, dass es weder zur Versklavung anderer Menschen dient noch zur Zerstörung der Welt erworben werden soll. Außerdem dienen sie euch als Friedenssymbol, um mit meinen noch lebenden Blutsverwandten friedlich zusammenzuleben. Sie werden erfahren, dass ihr Ladonna nicht getötet, sondern erlöst und zu höherem Leben verholfen habt. Die drei Kinder, die aus ihrem Körperlichen Sein verblieben sind gebt bitte an jene Völker, aus denen sie reinblütig abstammten! Keine Furcht, sie werden sich nicht daran erinnern, dass sie einst vereint die Trägerin von Ladonnas Seele waren und werden daher nicht auf Vergeltung ausgehen. Doch seht zu, dass sie leben, um diese Welt mit ihrem Dasein und ihrem Tun zu bereichern!"
"Ein Sabberhexenkind", dachte Laurentine. "Oh, das habe ich wohl gehört, junge Zauberin. Bedenke bitte, wenn du Verachtung vor einem anderen Wesen empfindest, wie groß die Verachtung ist, die vor dir und dem was du bist empfunden wird. gerate nicht in die Fänge von Überheblichkeit, Fremdenangst und daraus erwachsenem Fremdenhass oder Vorherrschaftsirrsinn. Der hat die in mir vereinten Seelen an den Rand der Selbstvernichtung getrieben. Regina hatte nur Glück, dass Ladonna sie frühzeitig aufhielt, bevor sie ihre Seele durch einen schändlichen Frevel beschädigte. Ladonna hatte nur glück, dass sie im Augenblick, in dem sie eins mit mir wurde erkannte, welche große Verschwendung ihre Sucht nach Macht war und dass sie bereut, nur mit Angst und Verachtung im Gedächtnis der Menschen zu verbleiben. Du hast viele gute Freunde und deine geliebte Gefährtin, die dir helfen werden, deinen Weg durch die reichhaltige Welt der Zauberei und außerhalb davon fortzusetzen, ohne ihn mit Tränen, Tod und Trauer zu bedecken. Ah, da kommt deine geliebte Gefährtin. Auch dir Gruß und vielen herzlichen Dank, Louiselle Beaumont. Sei bedankt für deinen Rat an Laurentine, für dein Durchhaltevermögen, das euch Lucine bescherte und wegen der ihr beide mir zur Reifung als Wächterin des Flusses der Rastlosen verhelfen konntet. Mein Werk in dieser Welt ist vollbracht. Ladonnas dunkle Taten sind soweit getilgt, sofern sie keine Tode betrifft. Doch seid auf der Hut vor jenen, die ihr nachahmen wollen, die sie beerben möchten oder bereits von ihr von mir unerreichbar zu möglichen Nachfolgerinnen herangezogen wurden. Die allermeisten von ihnen konnte ich heilen. Doch die eine, die Jägerin mit dem gläsernen Helm und dem silbernen Bogen, vermochte ich nicht zu befreien, weil in ihr bereits etwas eingenistet ist, das bei ihrer Befreiung selbst zur noch größeren Bedrohung geworden wäre. Sie mag finden, Ladonna zu beerben. Doch mag sie nach der Nachricht ihres Vergehens auch in sich gehen und erkennen, welche Wahl sie treffen kann, ob in den tiefsten Abgrund der Qualen und Zerstörung oder den steinigen, sehr schmalen Pfad zu bleibendem Reichtum für die davon berührten Seelen. Geht alle eure Wege in Frieden und friedvollem Miteinander, wo immer sie sich kreuzen werden!"
Als die smaragdgrüne Erscheinung diese Worte gesprochen hatte hob sie die rechte Hand, winkte huldvoll und war einfach weg, ohne ein Geräusch, ohne Übergang, ohne eine in sich zusammenstürzende Luftsäule.
"Haben wir das jetzt echt erlebt?" fragte Laurentine und kniff sich in den Arm. Louiselle kniff ihr in die Nase. Dann deutete sie auf die zurückverwandelten Frauen.
"Da sind all die Hexen, die sie besiegt hat. Ach, da ist also die echte Atalanta Bullhorn, die wollte sie also offenbar nicht als ihre Mitstreiterin nach Amerika zurückschicken. Och joh, da ist ja die, der das Mieder gehört", trällerte Louiselle. Mentiloquistisch fügte sie hinzu: "Gundula alias Gundi Wellenkamm, eine von uns. Aber das darf ich nur laut sagen, wenn sie aufwacht."
"Die ist das. Ach, die also auch", erwiderte Laurentine rein gedanklich. Dann half sie Louiselle dabei, die zurückverwandelten transportfertig zu machen. Denn sicher mochten gleich weitere Zauberer und Hexen herbeifliegen oder apparieren. Denn was hier passiert war musste sämtliche Spürsteine des Mittelmeerraumes durchgerüttelt haben.
"Wenn die alle weggetreten sind können wir lange warten, Louiselle. Soweit ich diese grüne Geistermutter verstanden habe müssen alle von der Feuerrose betroffenen und noch nicht wieder befreiten erst mal ausschlafen", fasste Laurentine die Botschaften der ewigen Wächterin zusammen.
"Das ist gar nicht mal so schlecht. Gibt uns das die Möglichkeit, uns auf Englisch zu verabschieden", sagte Louiselle. "Du meinst Französisch", wagte Laurentine sie zu berichtigen. "In Frankreich auf Englisch", hielt Louiselle entgegen. "Ja, aber wir sind in Bella Italia in der wunderschönen Toskana", hielt Laurentine dagegen. "Ja, aber geboren sind wir als Französinnen. "Also hoffen wir, dass hier alles unortbar ist und ... Ach neh, wer oder was kommt denn da?"
Durch die Luft drang das Schwirren von schnellen Flügelschlägen. Laurentine fühlte ein Beben in jenem Gürtel, der Ladonnas und der Welt Schicksal geworden war. Dann landeten unsichtbare Wesen, die erst flimmerten und dann als überirdisch schöne Männer und vor allem Frauen erschienen. Die meisten von denen hatten nachtschwarzes Haar und strahlendblaue Augen, wie das eine der drei Babys, die immer noch quengelten.
Louiselle übernahm es, mit Sternennacht zu sprechen, die Ladonnas Übergang von der lebenden zur höheren Daseinsform fast körperlich mitgefühlt hatte. Dann deutete sie auf das Mädchen, dass wegen seiner glockenhellen Stimme und des für einen gerade erst neugeborenen Menschen bereits überaus schön gestaltet war. "Ich denke, die junge Dame möchte in eine Familie aus gleichartigen Wesen, um dort im friedlichen Miteinander mit Menschen und Natur groß werden zu dürfen", sagte Louiselle. Laurentinenickte. Sternennacht nickte auch, winkte eine ihrer Töchter herbei und gebot ihr: "Nimm diese unschuldige Tochter Mokushas zu dir und nähre und lehre sie, dass sie unser Volk bereichern möge!" Die Veela, Sommernacht, nickte ihrer Mutter zu und hob das aus blauem Licht geborene Veelamädchen behutsam auf. Es hörte sofort zu wimmern auf.
Da nicht mit Ministeriumsleuten zu rechnen war nahmen Laurentine und Louiselle die zwei anderen Säuglinge. Laurentine übernahm das blassgrüne Mädchen. Die Worte der ewigen Wächterin hatten ihr doch zu denken gegeben. Nur weil jemand anders aussah und eine für Menschen befremdliche Lebensweise hatte musste nicht jeder von ihnen abgrundtief böse sein. Vielleicht hielt sie da gerade eine von denen in den Armen, die eines Tages mithelfen konnten, den ewigen Traum vom friedlichen Miteinander denk-und empfindungsfähiger Wesen doch noch zu erfüllen.
Das reine Hexenmädchen wollte Louiselle Hera übergeben, um es zu einer magischen Pflegefamilie zu geben. Vielleicht war sie sogar schon in Beauxbatons registriert, dachte Laurentine leicht erheitert.
Das Schwert und den dazu gehörigen Gürtel wollten die zwei Hexen nicht in die Werkstatt unter dem Ätna zurückbringen. Da mochte es jemand suchen und finden, der um diese Anlage wusste. Wer wusste schon, wozu diese Waffe noch alles fähig war. Auch hatte Laurentine nicht vergessen, wie das Schwert sich Ladonnas Arm bemächtigt hatte. Am Ende wollte es sich gegen die Person wenden, die es ahnungslos ergriff oder ganz gezielt damit Schaden anrichten wollte. So hatten die zwei beschlossen, diese uralte Wunderwaffe aus dem legendären Metall Orichalk in die Kammer der geheimen Vermächtnisse gleich neben der Versammlungshöhle der Schwestern zu bringen. Dort war es allemal sicherer aufgehoben.
Diese Entscheidung veranlasste die beiden auch, mit den Veelas zusammen die Villa zu durchsuchen und die Kellerräume zu durchforsten. Dabei gelang es den Veelastämmigen und den zwei Hexen mit vereinten Sonnenlichtzaubern, die hinter den Türen lauernden Pseudonachtschatten auszulöschen. Doch eine Tür, die zum Weinkeller, bekamen sie nicht auf. Der Blutsiegelzauber Ladonnas würde sie noch einen ganzen Monat verschlossen halten. Erst dann konnten sie nachsehen, was dahinter verborgen lag. Doch alle hatten schon die Vorstellung, magische Schätze und Aufzeichnungen machtvoller und gefährlicher Zauberwerke zu finden. Denn Ladonna hatte während ihrer dreijährigen Herrschaft in Italien und der halbjährigen Herrschaft in Europa und Nordafrika genug Gelegenheit gehabt, an dunkle oder mächtige Vermächtnisse zu gelangen und sie zusammenzutragen.
Sie fanden die vier rechtmäßigen Bewohner der Villa in ihren Betten schlafend, schon fast im Koma. Doch sicher würden auch sie irgendwann aufwachen und dann nicht wissen, was geschehen war oder nicht wissen, was sie mit dem erlebten anfangen konnten. Sicher war, dass sie fast vier volle Jahre eigenes Leben verloren hatten. Das war so oder so nicht aufzuholen. Doch da sollten sich dann die Heiler drüber verständigen.
Als sie die Villa weitestgehend durchsucht und die Löcher in den Wänden, die zerbrochenen Fenster und die zerstörten Täfelungen repariert hatten verschwanden Louiselle und Laurentine Hand in Hand disapparierend. Denn nun ging das von hier aus ja wieder.
Hera Matine, zu der die beiden hinapparierten, erzählte erst, dass die Miniaturausgabe von Domenicas Statue in einem grün-orangen Licht zerfallen war und das Licht wie ein faustgroßer Kugelblitz davongerast war, ohne weiteren Schaden anzurichten. Dann ließ sich die Stuhlmeisterin der französischen schweigsamen Schwestern die Geschichte um die Villa Girandelli und Ladonnas besonderes Ende beziehungsweise ihre Wiedergeburt als ewige Wächterin genauestens erzählen. Sie nickte immer wieder und musste dann lächeln.
"Louiselle, du weißt, was eine transvitale Entität ist?" Louiselle nickte ihrer Tante bestätigend zu. Dann wurde Laurentine erklärt, dass damit im Leben oder durch die Zufuhr starker Zauberkräfte machtvoll magische Menschen gemeint waren, die als Einzelwesen oder in vollkommener Verschmelzung mit anderen entkörperten Seelen eine höhere Daseinsform als eine gewöhnliche, in der Welt der Lebendigen verbleibende Existenz wurden. Sie erwähnte auch, dass solche Entitäten, auch TVE abgekürzt, über die noch lebenden Verwandten oder den einst lebenden Vorlagen wichtige Wesen die Welt beobachten und in gewissen Grenzen darin wirken konnten und solange zwischen der lebenden Welt und der der vollständig in die Totenwelt übergetretenen Seelen verweilten, bis der letzte sie kennende Mensch oder Veela verstarb und sich dafür entschied, hinüberzugehen, als Geist zu verweilen oder mit jener Entität zu verschmelzen. Wieso sie dabei wohlwollend lächeln musste wusste Laurentine nicht. Sie war sich nun jedoch sicher, dass Claire Dusoleil und womöglich ihre mit ihr verstorbene Großmutter Aurélie zu so einer transvitalen Entität geworden waren und sie, Laurentine, sie hatte sehen dürfen, weil sie ganz intensiv um Claire und später um ihre Eltern getrauert hatte und diese TVE, wie immer sie sich nennen ließ, wollte, dass sie keine Schuldgefühle mehr empfand, weder wegen ihrer manchmal üblen Bemerkungen zur Zaubererwelt gegenüber Claire, noch wegen des Todes Ihrer Eltern, die vielleicht wegen ihr auf diese Insel im Indischen Ozean verreist waren, um weit weit fort zu sein.
Sie fragte sich, ob auch Julius diese besondere TVE sehen konnte oder vielleicht schon früher als sie gesehen hatte, weil Claire und er doch ein noch innigeres Verhältnis zueinander hatten als sie zu ihr. Das würde auch erklären, warum er nach der großen Trauer in Beauxbatons und zeitweiligen Gefühlsabstürzen doch mit sich im Reinen geblieben war und warum er nie daran gedacht hatte, Claires Mörder zu jagen um sich wie auch immer an ihnen zu rächen wie die Helden aus den Karl-May-Romanen, die den Tod ihrer Liebsten mit Blut zu rächen ausgingen. Aber sie wollte ihn nicht darauf ansprechen. Denn das hieße, dass sie ihm und wem sonst noch verraten musste, was es mit Lucine auf sich hatte und wieso sie und Louiselle Ladonnas letzte Gegnerinnen werden mussten. Jetzt verstand sie, warum sich die schweigsamen Schwestern die schweigsamen Schwestern nannten. Ja, und sie war eine von ihnen.
"Ich habe wirklich gezweifelt, ob wir das richtige tun", gestand Laurentine Hera und ihrer Partnerin ein. "Vor allem wo ich dachte, mich nicht mehr bewegen zu können."
"Ja, Laurentine, da habe ich auch an unserem Verstand gezweifelt", räumte Louiselle ein. "Aber als Ladonna sich selbst mit dem Schwert geritzt hat kam meine Kraft wieder zurück, wie bei dir auch. Kann das sein, dass Domenicas Vermächtnis genau darauf abgezielt hat?"
"Du meinst, dass die Gürtel uns solange Kraft gaben, wie es nötig war, um Ladonna davon abzuhalten, uns direkt umzubringen und dann, wo die Entscheidung nicht mehr aufgeschoben werden sollte, uns extra total geschwächt haben, damit keine von uns sie mit dem Schwert angreifen kann?" fragte Laurentine und gab sich gleich die Antwort: "Das wurde mir in dem Moment klar, wo Ladonnas aus den drei einzelnen Körpern gelöste Seele mit ihrer verstorbenen Schwester wiedervereinigt wurde. Es geht wohl darum, dass nicht wir den letzten Schlag gegen sie geführt haben und so keine Blutrache der Veelas befürchten müssen."
Hera Matine nickte bedächtig. "Es ist im Grunde das passiert, was wir drei befürchtet haben", sagte die Stuhlmeisterin der französischen Sektion der Schweigsamen. "Weil ihr Lucine in die Welt gesetzt habt wurde Domenica auf euch aufmerksam. Weil Lucine unmöglich für Domenica in den Kampf ziehen konnte hat sie euch beide dazu auserwählt und ja, zum Gutteil instrumentalisiert. Sie konnte alleine nichts gegen Ladonna ausrichten, und ihr beide hattet mehr als einen Grund, euch gegen sie zu stellen. Wenn ihr euch ihr verweigert hättet hätte sie aus ihrer Warte zusehen müssen, wie erst alle Veelas und Veelastämmigen und dann alle von deren Magie betroffene Dinge und Wesen vernichtet worden wären. Aber jetzt ist Ladonnas Macht gebrochen. Domenicas Erbe hat seinen Zweck erfüllt."
"Ja, aber diese Gürtel haben wir noch, die uns stärken und uns an nötige Abwehrzauber erinnern", sagte Louiselle. "Heißt das, dass Domenica ... Natürlich, sie kann darüber zu uns Kontakt halten, als Anker der stofflichen Welt. Vernünftiger wäre es, die Dinger mit dem Kurzschwert der Entschmelzung wegzupacken und nie mehr anzurühren. Aber wissen wir, ob wir nicht irgendwann wieder in so eine Lage geraten, wo wir mehr Ausdauer und flexible Erinnerungen brauchen?"
"Sogesehen haben wir dem geschenkten Gaul ins Maul gesehen, Louiselle", erwiderte Laurentine. "Doch ich bin mir gerade sicher, dass wir die Gürtel jetzt nur noch für uns haben und nicht an Domenicas Langlaufleine geführt werden."
Beide miteinander lebenden Hexen sahen sich an. Sie trugen die mit Einhornschnallen verzierten Gürtel nicht mehr. Also musste was Laurentine sagte von ihr selbst kommen, dachte Louiselle. Dann nickte sie. Ja, Domenica hatte ihnen die beiden Gürtel der gemeinsamen Frucht geschenkt, als Belohnung dafür, dass sie für sie die nötige Drecksarbeit erledigt hatten. Aber nein, sie hatten nur dafür zu sorgen gehabt, dass Ladonna sich selbst entkörperte.
"Also wenn wir weiterhin mit diesen Gürteln beweglicher und was Kampfzauber angeht fitter sind sollten wir sie behalten. Wir dürfen uns nur nicht damit gegen andere Veelastämmige wenden", stellte Laurentine fest. Louiselle überlegte und nickte dann. Natürlich, darum ging es. Diese Gürtel durften benutzt werden, um Feinde zu bekämpfen, nur nicht gegen die Blutsverwandten Domenicas.
"Mich als Heilerin interessiert, wie diese silberne Aura entstand und wie genau sie euch gegen die kontinuierliche Flächenwirkung des Blutfeuernebels abgeschirmt hat", sagte Hera.
"Womöglich liegt das an der Kombination aus Veelahaar und Einhornschweifhaar und dass diese Kraft in den Schnallen aus Einhornhorn gebündelt und auf die Trägerinnen übertragen wird", erwiderte Louiselle. "Aber ich denke, dass weder du noch ich mehr an den Gürteln herumexperimentieren sollten als nur um zu prüfen, ob sie verflucht waren", sagte sie noch.
"Apropos Einhornhorn, meine kenntnisreiche geliebte", griff Laurentine ein Stichwort auf. "Du wolltest mir erklären, warum für ein Horn nicht gleich ein ganzes Einhorn getötet werden muss. Ja, und in der Rückschau, die uns die steinerne Wächterin in die Gehirne eingespielt hat war von abgeworfenen Hörnern nach der siebten Trächtigkeit die Rede."
"Stimmt, du hast ja keinen Magizoologieunterricht gehabt", setzte Louiselle an und fing sich ein verdrossenes Funkeln ihrer Lebenspartnerin ein. "Gut, es ist so, dass Einhörner ihr Horn abstoßen, sobald sie das siebte Fohlen gezeugt oder geworfen haben. So kann ein Hengst bereits nach den Geburten von sieben Fohlen bereits sein Horn abstoßen. Allerdings tragen Einhornstuten dreimal so lange wie nichtmagische Huftiere. Das liegt daran, dass sie auch siebenmal so lange leben wie solche. Es heißt, dass dieser Siebenerzyklus von den sieben beweglichen Himmelskörpern kommt und vor allem von der Stellung des Mondes zur Sonne, der Erde und den fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Deshalb ist Einhornblut auch silbern und besonders heilkräftig, allerdings zu dem Preis, dass jemand, der es gewaltsam nimmt verflucht ist. Einhornhüter wie die Fachlehrer in den Zauberschulen oder den großen Reservaten in Europa müssen jedoch immer nach den Hörnern suchen. Die verwittern zwar nicht, aber die Einhörner lassen sie auch nicht einfach so herumliegen, sondern, und jetzt kommt's, versenken sie in ruhenden Gewässern, weil die alle Himmelskörper spiegeln. Aber die Einhornhüter wissen, wann sie wo nach abgestoßenen Hörnern suchen können. Doch wegen der Seltenheit und der in den Hörnern gebündelten Zauberkräfte sind diese eben auch so viel wert, derzeitig weniger als die Hörner von Drachen oder die Häute von Meeresschlangen oder Phönixfedern."
"Ich muss zu meinem Leidwesen feststellen, dass ich schon viel viel früher hätte recherchieren können, was für eine Natur das Tier hat, dessen Schweifhaar ich in meinem Zauberstab habe", sagte Laurentine leicht verdrossen. Dem konnten und wollten Hera und Louiselle nicht widersprechen.
Laurentine sah ihre Partnerin und dann ihre Handtasche an und fragte: "Was bitte war das eigentlich für ein Ding, das wie ein Zahn aussah, mit dem du die Horkruxrubine von Ladonnas Ring zerstoßen hast, Lou?" Louiselle sah Hera an und die wieder Louiselle. Dann antwortete Louiselle: "Das, meine geliebte Tisch- und Bettgenossin, war der Zahn eines vierhundert Jahre alten Basilisken, der vor sechshundert Jahren in der nähe von Konstantinopel, also dem heutigen Istanbul gehaust hat. Die damaligen schweigsamen Schwestern haben dem Tier, nachdem es von vier Hahnenschreien zu Tode gebracht wurde, alle Zähne ausgerupft und daraus Dolche gemacht, weil sie davon ausgingen, dass sie irgendwann mit Gegnern zu tun haben mochten, die gegen alle anderen Gifte gefeit sind. Außerdem gilt das Gift des Basilisken als magische Träger zerstörendes Agens, sobald es in diese eindringt, also nicht einfach nur darüber streicht. Es durchdringt jedoch auch jede Schildbezauberung, also auch Drachenhautpanzerschilde. Da wir damit rechnen mussten, dass Ladonna einen Drachenhautpanzer trägt, ja und da wir ja schon wussten, dass ihr Ring ein Horkrux war habe ich den mir in Obhut gegebenen Basiliskendolch mitgenommen. Es hätte jedoch die Gefahr bestanden, dass ich aus Versehen dich oder mich damit tödlich verletze oder Ladonna damit tödlich verletze. Daher meinte ich vorhin, dass es gegen die zehn Heilerdirektiven ist, die einzuhalten unsere erste Mutter geschworen hat."
"Also doch! Ich habe sowas gedacht, aber wusste nicht, ob das nicht auch der Zahn eines Drachens oder Meeresungeheuers gewesen war. Oha, und das Gift zersetzt sich nicht?" fragte Laurentine. Hera und Louiselle schüttelten ihre Köpfe. Hera übernahm es zu antworten.
"Es ist kristallin und ein Teil des Zahnschmelzes. Doch wenn es in lebendes Gewebe oder mit Zaubern aufgeladene Stoffe eindringt entlädt es seine tödliche Kraft. Es ist nicht nur ein hochtoxisches Tiergift, sondern ein antimagisches Agens, das vorhandene Zauberkraft zerstört. Deshalb ist es eines der wenigen jedes für sich gefährlichen Mittel, einen Horkrux zu zerstören. Es gibt nur drei wirksame Gegenmittel. Zum einen das nicht minder gefährliche Dämonsfeuer, das sich mit dem Gift eines Basilisken aufhebt. Dann das im grünen Feuer von Koboldschmieden bearbeitete Silber, das die Basiliskenkraft in sich einlagert und dadurch bestärkt wird. Schließlich wirken noch die Tränen eines Phönix, die wirklich alles heilen können." Louiselle nickte bestätigend.
"Das heißt, da liegen jetzt in verschiedenen Geheimkellern dieser Welt wieviele dieser Mordsbeißerchen rum?" wollte Laurentine wissen. "Da ein ausgewachsener Basilisk zweiundfünfzig Giftzähne besitzt eben so viele von dem einen", sagte Louiselle. "Aber wer weiß, wo es noch tote Basilisken gibt kann dessen Zähne ebenfalls ernten und verwenden. Weil das eben gemeine und schwer bis gar nicht zu konternde Mordwaffen sind bitte pssst, dass ich so einen Giftzahn im Besitz habe. Ich verspreche dir und Lucine, dass der so gut gesichert gelagert wird, dass Lucine den nicht aus versehen in die Hand bekommt." Laurentine musste mit dieser verbindlichen Aussage leben. Ihr fiel nur wieder ein, wie viele Räume von Louiselles kleinem Lustschlösschen an der Rhone sie nicht kannte. Da mochte noch etliches geheimnisvolles wie gefährliches drin sein, wovon sie besser nichts wissen wollte. Zumindest fand sie nun, dass alle ihre Fragen beantwortet waren.
Wieder zurück in Paris fand Laurentine mehrere Briefe vor. Einer war von Geneviève Dumas. Sie wünschte ihr gute Besserung und dass Lucine und Louiselle nicht auch noch krank wurden. Der andere Brief war von ihrer Tante Maren. Die würde zu Weihnachten eine Kreuzfahrt durch das Mittelmeer machen. Das Schiff hieß Costa Concordia und war gerade erst vor wenigen Monaten auf Jungfernfahrt gegangen. Der dritte Brief stammte von Céline Dornier. Sie teilte der ehemaligen Schulkameradin mit, dass sie schon wieder schwanger war und wohl im nächsten August das fünfte Kind bekommen würde, ja diesmal nur eines. Laurentine musste laut lachen, weil Céline schrieb, dass sie Millie Latierre dann fast eingeholt habe. Laut Julius und seinen beiden Mitbewohnerinnen hatte Millie ja nur fünf Kinder selbst geboren. Der kleine Felix war ja wegen der Besorgnis von Hera und Béatrice in seine eigentliche Großtante umgezogen und von dieser als deren Sohn geboren worden. Tja, vor einem Tag hatte sie derartige Geschichten noch für total abgedreht gehalten. Doch gegen das, was sie selbst erlebt hatte war das Umbetten von ungeborenen Kindern von Hexenbauch zu Hexenbauch echt schon Alltagszeug.
Julius Latierre empfing am Nachmittag des zweiten Dezembers Létos Gedankenbotschaft: "Julius, die Schande aus Mokushas Linie ist getilgt, die selbsternannte Königin aller Wesen und Todfeindin unseres Volkes ist nicht mehr. Näheres morgen bei eurer Ministerin und deiner weiterhin geduldig tragenden Vorgesetzten."
Über das Arkanet erfuhr Julius auch, dass die von der Feuerrose beherrschten Ministerien urplötzlich ihre Arbeit eingestellt hatten und es an manchen Orten zu Beinahe Besenabstürzen in nichtmagisches Wohngebiet oder Zusammenbrüchen von Hexen und Zauberern in nichtmagischen Wohngegenden gekommen war. Nur dem wie geölt funktionierenden Verständigungsnetzwerk der Heilerzunft auf nationaler und internationaler Ebene sei es zu verdanken, dass die Geheimhaltung der Zaubererwelt gewahrt bleiben konnte und dass alle Betroffenen von den Ministeriumselfen und den Heilzunftmitgliedern in die magischen Krankenhäuser verbracht wurden, wo sie beobachtet und gegebenenfalls nachbehandelt werden würden. Um die verwaisten Ministerien sollten sich Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste, die Heilzunft und die nicht von der Feuerrose betroffenen Hexen und Zauberer der betroffenen Länder kümmern. Julius druckte all diese Informationen aus und heftete sie für die am nächsten Tag stattfindende Konferenz mit der Ministerin und Nathalie Grandchapeau ab.
Als er abends mit seinen erwachsenen Mitbewohnerinnen im Musikzimmer des Apfelhauses zusammensaß meinte er: "Ich weiß noch nicht, wie Ladonna von der Bühne abgetreten ist und wer das gemacht hat. Ich weiß auch nicht, ob wir darüber froh und glücklich sein sollen oder uns schon wieder sorgen machen müssen, weil sie ein großes Vakuum hinterlässt. Allein schon dass Dutzende Ministerien gerade führungs- und Handlungsunfähig sind ist schon gruselig. Ja, und wie die dann wieder in Gang kommen, wenn alle Opfer Ladonnas wieder aufwachen muss auch noch geklärt werden."
"Ja, aber du kannst froh und auch stolz sein, mein geliebter Ehemann Julius, dass du hast mithelfen können, dass sie nicht auch bei uns gewütet hat und einen Scherbenhaufen angerichtet hat", sagte Millie. Dabei wussten es alle hier gerade sitzenden Erwachsenen, was Millie dazu beigetragen hatte, dass die internationale Zaubererkonföderation vor Ladonnas Zugriff verschont worden und ein Dominoeffekt ausgeblieben war. Doch darüber wollte Millie nicht sprechen.
"Ihr dürft davon ausgehen, dass die, die Ladonnas Ende oder was auch immer herbeigeführt haben sehr darauf achten, dass keiner außer denen das erfährt", meinte Béatrice. "Wie es leider immer war gibt es auch bei Ladonna sicher freiwillige Anhängerinnen und auch Anhänger, die sie beerben wollen und die finden, ihren Tod oder wie immer das bezeichnet werden soll zu rächen. Denkt daran, dass diese Leute im Windschatten von Ladonnas Macht mitgereist und groß geworden sind und jetzt Angst haben müssen, verhaftet und verurteilt zu werden!"
"Du hast leider Recht, Trice. Es soll ja sogar noch einige untergetauchte Todesser geben, die immer noch glauben, dass ihr Herr und Meister irgendwann wiederkommt, obwohl es zweifelsfrei feststeht, dass er weg ist. Genauso gibt es in der nichtmagischen Welt Anhänger der Nazi-Ideologie, die auf einen neuen Adolph Hitler oder einen anderen Faschisten warten, mit dem sie wieder durchstarten können. Ebenso trauern etliche Leute in Russland und Osteuropa noch der Sowjetunion nach, und was da über den früheren Geheimagenten in den Nachrichten war, der in London umgekommen ist, graut mir, dass in Moskau wieder wer sitzen könnte, der die alten KGB-Methoden anwendet und nach einer Neuauflage des russischen Großreiches oder der Sowjetunion strebt, ob es Putin selbst ist oder einer seiner Mitarbeiter. Aber gerade wo Weihnachten vor der Tür steht und wir, ob superfromme Christen oder nicht, jeden Sonntag eine Adventskerze anzünden sollten wir uns erst einmal freuen, dass dunkle Herrschaften endlich sind und wir immer wieder neu hoffen, glauben und lieben dürfen."
"Da hast du ganz und gar recht, mein Süßer", sagte Béatrice und küsste Julius vor Millie auf den Mund. "Eh, der ist immer noch mein Süßer", knurrte sie. Doch dann musste sie lachen. "Du bist groß, stark und ausdauernd genug für uns beide, Monju."
Weil dem so war verbrachte Julius die Nacht zum dritten, einem ungeraden Kalendertag, wieder mit seiner offiziell angetrauten Frau im gemeinsamen Bett. Allerdings beließen sie es beim wohligen Aneinanderkuscheln.
Himmelsglanz freute sich. Ja, sie durfte es tun. Gleich nachdem Sternennacht ihr und den wachen Mitgliedern des Ältestenrates berichtet hatte, dass die Feindin aus eigenem Blute ihre irdische Macht verloren hatte war sie losgeflogen, um auf der heiligen Insel Mokushas die frohe Botschaft zu verkünden. Denn so hatte der Ältestenrat es beschlossen: Eine aus einem Land, das nicht von Ladonnas Macht unterworfen worden war, sollte es laut ausrufen, dass die Zeit der Unterdrückung, der Angst und der Gefahr vorbei war.
Himmelsglanz landete in Gestalt eines wunderschönen weißen Schwanes auf der Kuppe des Hügels, unter dem die Versammlungshöhle des Ältestenrates lag. Als sie in ihre menschliche Erscheinungsform zurückkehrte streifte sie ihre Kleidung ab. Frei von künstlicher Bedeckung stellte sie sich genau dort hin, wo die Mitte der Insel war, von wo aus Mokushas große Lebenskraft in die Welt ausstrahlte. Sie blickte in den sternenklaren Himmel hinauf. Aus der Ferne hörte sie die anbrandenden Wogen des schwarzen Meeres. Sie nahm das Geräusch als Taktgeber für ihren eigenen Atem. Sie stimmte sich mit den Augen auf den Mond, die Wächterin der Nächte, ein und fühlte, wie die Kräfte der Erde durch ihre nackten Füße in sie einströmten. In ihrer Körpermitte trafen sich all diese naturmagischen Strömungen und wurden zu sich immer stärker aufschaukelnden Wellen. Dann, als sie fühlte, dass die gesammelte Kraft ihren eigenen Körper überladen würde, wenn sie sie nicht beherrschbar freisetzte, öffnete sie den Mund und sang mit ganzer Lautstärke und in jedem Winkel der Insel vernehmbar:
"Ich, die Tochter Himmelsglanz aus dem unbesudelten Lande der Franken rufe aus, dass unsere Feindin nicht mehr ist. Ladonna Montefiori ist vergangen. So ist auch die Gefahr vergangen, die uns alle bedrohte. Wachet auf, meine Schwestern! Wachet auf, meine Brüder! Das freie Leben hat uns alle nun wieder!"
Diese Worte sang sie immer wieder. Sie fühlte, dass sie gehört wurden. Sie hörte, dass die ersten jubelten. Dann ergoss sich die gesamte von ihr gesammelte Kraft in Wind und Boden zurück und beendete den Zauber des tiefen, bewahrenden Schlafes bei allen anderen. Himmelsglanz fühlte die Glückseligkeit, weil sie fühlte, wie das Leben in all diejenigen zurückkehrte, die hier Schutz gesucht hatten. Sie hatte es tun dürfen. Sie hatte es getan. Die Stämme Mokushas kehrten ins Leben und die Welt zurück.
Julius war doch froh, dass er sich nun wieder außerhalb geschützter Bereiche bewegen durfte. Als er bei der Konferenz mit der Ministerin erfuhr, dass zwei dunkelhaarige Hexen, die augenscheinlich Schwestern waren und ihre Namen nicht hatten nennen wollen Ladonna mit einem Vermächtnis ihrer Mutter Domenica Montefiori entmachtet hatten meinte Nathalie Grandchapeau: "Ja, und Ihre Artgenossin Sternennacht wird sicher nicht verraten, wer genau und wie genau, richtig?"
"Sagen wir es so, wer die zwei bescheidenen Schwestern sind, die es geschafft haben, uns alle von einem schweren Übel zu befreien ist Geheimsache des Ältestenrates der Veela. Sie wissen ja, dass wir darauf beharrt haben, dass Ladonna unsere Angelegenheit ist. Letzthin hat sich dieses ja dann auch Dank Domenica Montefioris Hinterlassenschaft erfüllt", erwiderte Léto. Damit stand für die drei Menschen fest, dass die Veelas genau wussten, wer Ladonna wie zur Strecke gebracht hatte. "Die beiden müssen und werden deshalb aber kein schlechtes Gewissen bekommen, denn sie haben Ladonna nicht getötet und ohne weiteren Sinn in die Nachwelt verbannt, sondern ihr und ihrer bereits vorausgegangenen Schwester zu einer vereinten, sinnvollen, auch mächtigen Daseinsform verholfen." Julius horchte auf. Ornelle Ventvit sprach es aus, was er dachte: "Dann wurde Ladonna zusammen mit ihrer Schwester zu dem, was wir eine transvitale Entität nennen, einer über normales Geisterdasein hinausreichende Erscheinungsform?"
"Ja, so wurde das wohl von einer der beiden genannt. Wir kennen sowas eigentlich nicht, weil es in unserer Weltenlehre, die von den Menschen auch gerne als Religion bezeichnet werden darf, die Welt der wartenden, die Welt der waltenden, und von dieser abzweigend Mokushas ewigen Schoß, den um die Welt fließenden Fluss der rastlosen Seelen und den Abgrund des Vergessens gibt. Wenn die, in der Ladonna nun aufgegangen ist als ewige Wächterin zwischen den Welten weilt kann sie helfen, dass die verdorbenen Seelen im Fluss der Rastlosen nicht darauf ausgehen, in den Körper eines Ungeborenen zu schlüpfen und mit einer aus der Welt der wartenden stammenden Seele verschmolzen werden, um als neue lebendige Wesen neues Unheil anzurichten."
"Altes reicht da auch völlig aus", hörte Julius Demetrius' Gedankenstimme in sich.
"Die Kinder Ashtarias erwähnen, wenn auch nicht konkret, dass ihre Vormutter wohl so eine Entität ist, und ich weiß aus den Ministeriumsfällen der vergangenen Jahre, dass es eine aus fünf Geisterfrauen gibt", sagte Ornelle Ventvit. Julius hütete sich davor zu nicken oder eine Ergänzung zu erwähnen. Er war nur froh, dass ein großes Kapitel der dunklen Magie endlich geschlossen werden konnte. Was das von ihm befürchtete Machtvakuum anging und wer dieses ausfüllen mochte wollte er im Moment nicht weiter durchdenken. Er hoffte, dass sie alle in Ruhe und neuer Hoffnung das Jahresende feiern durften. Ja, er wusste zwar, ddass es mehr als genug zwielichtige oder dunkle Mächte gab, die Ladonnas Abgang feiern und neue Pläne für ihre eigenen Gruppierungen schmieden würden. Doch er hoffte auch, dass es vielleicht mal ein Jahr oder mehrere Jahre ohne dunkle Bedrohungen geben mochte. Ob 2007 ein solches Jahr war wusste er nicht. Aber falls nicht doch dann die folgenden Jahre, vielleicht jene, in denen Aurore, Chrysope, Clarimonde, Félix und die Zwillinge Flavine und Phylla ihre Schulzeit erleben würden. Was er dazu beitragen konnte würde er tun, ebenso Millie, Béatrice, die vom Laveau-Institut, die Kollegen in den anderen Zaubereiministerien, darunter Pina und Bärbel, die Brocklehursts, und natürlich auch die Heilerinnen und Heiler von Eileithyia Greensporn über Hera Matine, seiner Mitbewohnerin Béatrice und seiner langjährigen Bekannten Aurora Dawn.
Mittags aß Julius mit Nathalie zusammen und deshalb auch mit Demetrius. Dieser nutzte die Dreifachcogisonverbindung, um seine Hoffnung auszudrücken, dass Ladonnas Vermächtnis, was immer es sein mochte, bis zu seiner Geburt aus der Welt sein würde.
Am Nachmittag erfuhr er von Sandrine, dass Laurentine gestern und heute wegen einer heftigen Magen-Darm-Erkrankung von Hera für arbeitsunfähig erklärt worden war. Immerhin hatte Madame Dumas die erste Klasse gut durch diese beiden Tage gebracht, wusste Julius von Aurore und Sandrines Zwillingen.
Es war nicht einfach, die Zaubereigeheimhaltung aufrechtzuhalten, wenn die dafür gegründeten Institutionen komplett ausfielen. Es war auch nicht einfach, dass die auswärtigen Hexen und Zauberer die Betriebe in ihren Ländern solange aufrechterhalten mussten, ohne an die Ministeriumsakten heranzukommen. Versuche der Ägypter, ihre Ministeriumsleute durch Verwandlung und Rückverwandlung aufzuwecken scheiterten daran, dass eine starke Fremdverwandlungsresistenz die in einer Art Tiefschlaf liegenden nicht verwandelbar machte. Eine internationale Heilerkonferenz hatte beschlossen, dass die für Sicherheit und Handel eingetragenen Hexen und Zauberer in Zusammenwirken mit den Heilzunftmitgliedern Anträge bearbeiten oder vorübergehende Maßnahmen veranlassen und durchführen durften. Inwieweit diese später gesetzlich geregelt wurden oder widerrufen wurden sollten die dann hoffentlich wieder wachen und einsatzfähigen Beamten befinden.
Was die um die Villa Girandelli gefundenen Frauen, die vormals Ladonnas Rosen gewesen waren anging war von solchen Interimsbeamten folgendes beschlossen worden. Jene Nichtmagier, die bereits für tot und begraben gehalten wurden, sollten durch vollständige körperliche und geistige Rückverjüngung und Unterbringung in nichtreligiösen Kranken- und Waisenhäusern die Chance auf ein neues Leben erhalten. Ein italienischer Heiler hatte es auf den Punkt gebracht: "Wir haben eine gefunden, die früher zur sogenannten ehrenwerten Gesellschaft Siziliens gehörte. Um deren Erbe wurde bereits ein blutiger Krieg oder zähe Verhandlungen geführt. Sie nun wieder im Vollbesitz ihres Wissens auftauchen zu lassen wäre fatal für uns und die nichtmagische Welt.
So war auch der seit Jahren von der großen Bühne verschwundene Luigi Girandelli der Vollverjüngung unterzogen worden. Er wäre sicher dem Wahnsinn verfallen, wenn er weiter damit hätte leben müssen, dass er Lustknabe und lebendes Eigentum einer echten Hexe gewesen war. Julius und Pina hatten im Arkanet erwähnt, dass es schon mehr als genug Menschen gäbe, die bis heute fest davon überzeugt waren, mindestens einmal von Außerirdischen entführt und fragwürdigen Versuchen unterzogen worden zu sein. Was davon auf das Konto der Zaubererwelt ging war wohl geheimes Aktenmaterial.
Aurore hatte nach Laurentines Rückkehr in den Schulbetrieb am vierten Dezember verkündet, dass sie Claudine auch nach den Weihnachtsferien weiterhin als ihre Schulpatin bis zum Ende des ersten Schuljahres oder Widerruf durch Claudine oder die Lehrerschaft der Grundschule behalten wollte. Möglich war das, wenn die Schulpaten und -patinnen ihre Schularbeiten ordentlich erledigten.
Nicht nur Julius hatte befürchtet, dass Vita Magica gleich nach Ladonnas Verschwinden aus der Welt wieder aktiv werden würde. Doch womöglich waren mit Ladonnas Ende auch die Agenten in den Zaubereiministerien ausgefallen und konnten es den wohl im Bunkermodus befindlichen Mitgliedern von VM nicht aufs Butterbrot schmieren. Doch so richtig glauben wollte Julius es nicht. Er dachte eher daran, dass Ladonna schwere Schäden in der physischen Struktur von VM angerichtet hatte und die Babymacherbanditen diese Schäden erst einmal reparieren mussten, um wieder ihr Unwesen treiben zu können.
Weil das italienische Zaubereiministerium gerade nur im Notbetrieb stattfand wurden Anfragen von Kobolden auf Rückkehr ihrer italienischen Artgenossen auf die Zeit vertagt, dass es auch wieder gesetzlich rechtmäßige Entscheidungen der ordentlichen Beamten geben würde. Das gefiel den Kobolden zwar nicht wirklich. Doch als diese damit drohten, bis zu dieser Entscheidungsfähigkeit alle Filialen von Gringotts weltweit zu schließen drohten die nichtfranzösischen Zauberergemeinschaften damit, das amerikanische Magnetkarussell über Gringotts oder den Wohnstätten der Kobolde kreisen zu lassen. Das reichte, zumal mittlerweile durchgesickert war, dass Ladonna und wohl auch der dunkle Pharao aus Ägypten dem Koboldgeheimdienst einen schier irreparablen Schaden zugefügt hatten und die Kobolde somit frei entscheiden konnten, mit wem sie Handel trieben und mit wem nicht. Zwar blökte der deutsche Zwergenkönig Malin VII, dass er sofort alles übernehmen würde, was die "gierfingrigen Spitzohren" hinwarfen, doch besonnene, frühzeitig aus dem Feuerrosenbann befreite Ministerien konnten Malin bis auf weiteres davon überzeugen, dass Übergriffe der Zwerge ähnliche Ausweisungswellen nach sich ziehen mochten wie bei den Kobolden. Doch jeder damit befasste wusste, dass Malin sich noch nicht geschlagen geben würde.
Julius verbrachte am 20. Dezember eine sehr schöne Weihnachtsfeier mit seinen Kollegen in Paris. Er spielte mit Kolleginnen zusammen französische und britische Weihnachtslieder. Auch wenn er die Weihnachtsgeschichte nach dem Lukasevangelium nicht mehr so recht glaubte war er auf jeden Fall davon überzeugt, dass die Geburt eines Kindes eine neue Hoffnung für die Welt war, auch wenn die beiden Töchter von Domenica und Giorgiana diesen festen Glauben stark erschüttert hatten. Er freute sich aber, dass alle, die ihm hier im Ministerium sympathisch waren noch lebten und alle, die es sich unbedingt mit ihm verscherzen wollten entweder nun den Preis für ihren angeblichen Stolz zu zahlen hatten oder sich ein mahnendes Beispiel an Mardirouge und seinen 3000 Spießgesellen nehmen mussten, es diesen nicht nachzutun.
Die Auswirkungen Vita Magicas auf Millemerveilles waren unüberseh- und unüberhörbar. Bei der alljährlichen Heiligabendfeier wuselten fast dreimal so viele Kinder wie Erwachsene umher, waren nicht so leicht ruhigzukriegen und stachelten sich immer wieder gegenseitig an, wenn es für sie zu langweilig zu werden drohte. Wie würde das werden, wenn die gerade zwei und drei Viertel Jahre alten Kinder größer waren?
Immerhin schaffte es Roseanne Lumière, die allljährliche Tradition aufrechtzuerhalten. Am Ende der Feier trugen alle ein an einer großen Kerze entzündetes kleines Licht nach Hause, um damit die eigenen Herdstellen und Kerzen zu entzünden. Nur diesmal war keine werdende Mutter dabei, die das erste Licht anzündete.
Aurore freute sich wie eine Schneekönigin auf ihren neuen Flugbesen, einen Superbo 12, ähnlich dem, den damals Claire gehabt hatte, nur mit mehr Sicherheitsbezauberung und einer doppelt so hohen Höchstgeschwindigkeit. Von Julius bekamen Millie und Béatrice ihren großen Interessen entsprechende Geschenke. Er selbst erhielt von seiner offiziellen Ehefrau Konzertkarten für Triple A und die Klangdrachen, bei denen Apollo Arbrrenoir der rappende Frontmann geworden war. Claudine bekam von Millie und Julius Karten für ein Alizée-Konzert im Januar, das sich Julius und Millie gleich auch noch mitschenkten, weil Millie unbedint wissen wollte, was an jener korsischen Jungsängerin dran war, die sie damals in der Reihe der Trauergäste für Henri Lacroise gesehen hatte. Gegenseitig schenkten sie sich einen wunderschönen Musikabend mit Weihnachtsliedern aus Frankreich und der Welt und einen Weihnachtsgruß nach Australien zu den Dawns und nach Viento del Sol zu den Brocklehursts und Merryweathers.
Am folgenden Tag besuchten die Latierres mit Hilfe der Luftschiffverbindung Julius' Mutter und ihre Familie und genossen den Rundflug durch Viento del Sol und was es da alles an typisch US-amerikanischem Weihnachtsschmuck gab. Aurore wünschte sich für nächstes Weihnachten auch einen Frosty, der auf dem Dach vom Apfelhaus stehen sollte.
Es fühlte sich immer noch sehr trübe an, als Laurentine und Louiselle mit Lucine am 26. Dezember in das kleine Dorf St. Joseph im Älsass reisten, um dort das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Doch sie hatten beschlossen, diesen Tag wenn nicht zu ehren, dann wenigstens im Gedenken zu halten. Als Laurentine und Louiselle mit ihrer gemeinsamen Tochter am Grab von Renée Hellersdorf standen flüsterte Laurentine der Graberde zugeneigt: "Auch wenn du nie mit der Welt, in der ich lebe einverstanden warst, Maman, es tröstet dich hoffentlich, dass dein Erbe mithelfen durfte, diese Welt ein wenig heller und friedlicher zu machen. Lucine ist deine Enkelin, Maman. Sie wird dein Erbe weitertragen. Sie hat deine Augen, Maman. Du bist nicht wirklich weg. Grüß mir Papa und, wenn du ihr noch mal begegnen solltest, Claire Dusoleil!" Dann vergoss sie kleine Tränen auf das Grab. Louiselle hielt Laurentine in einer halben Umarmung. Da kam der Küster der am Friedhof stehenden Kirche an und meinte: "Mademoiselle Hellersdorf,, ich möchte doch im Namen unserer Gemeinde sehr darum bitten, nicht mit einer Frau in solch vertrauter Körperhaltung auf einem Grab zu stehen. Außerdem ist das Tragen von Säuglingen auf bepflanzten Grabstätten untersagt."
"Punkt eins, Monsieur Bernard: Fröhliche Weihnachten nachträglich und ein hoffentlich friedliches neues Jahr", setzte Laurentine an. "Punkt zwei, Meine eingetragene Partnerin und die leibliche Mutter dieses Kindes hat alles Recht, mich in meinem Gedenken an meine Mutter zu unterstützen und mir zu zeigen, dass es sich lohnt zu leben. Punkt drei: Die durch Adoption auch als meine Tochter anerkannte junge Dame trägt vollkommen dichte Windeln, anders als Ihre inkontinente Katze, die unter anderem das Grab von Monsieur Vacherin und das von Madame und Monsieur Bouvier bekotet und bespritzt hat. Ach ja, Punkt vier: Ich hoffe, Sie finden doch noch einen oder zwei Menschen, mit denen Sie ebenso lebensbejahende Zeiten erleben können wie Madame Beaumont und ich. Ach ja, ich habe die Mademoiselle beim Standesamt abgegeben, als die Dame und ich uns amtlich zueinander bekannt haben, auch wenn es Ihrem Arbeitgeber nicht gefällt. Wie erwähnt noch einen friedlichen und erfreulichen Übergang."
"Sie wissen, dass Abbé MMorel und ich Zutrittsverbote erteilen dürfen, Mademoiselle Hellersdorf?" fragte der Küster. Laurentine sah Louiselle an und meinte: "Ja, und Sie wissen, dass nach dem unrühmlichen Akt, wer die Grabpflege bezahlt ich jedes Jahr einen kleinen Teil beisteuere. Darf ich hier nicht mehr herkommen, weil meine Partnerin und unsere Tochter hier nicht mehr herkommen dürfen, entfällt für mich der Grund zur weiteren Finanzierung", erwiderte Laurentine leise. Da sah der Küster die Augen des kleinen Mädchens, das neugierig und ein wenig verunsichert umherblickte, weil seine andere Maman sich gerade mit dem älteren Mann, der kein Papa von ihr war unterhielt. Der Küster erstarrte. Dann bekreuzigte er sich. Louiselle erkannte sofort, was los war und zückte ihren Zauberstab. "Obleviate!" zischte sie, bevor der Küster irgendwas unternehmen konnte. Dann nickte sie Laurentine zu, am besten die Grabstätte zu verlassen.
"Ich musste ihm das ganze Gespräch aus dem Hirn wischen, sonst hätte der uns gleich wieder aufgesucht", mentiloquierte Louiselle. "Das ist das wirklich traurige an der Kiste, dass Maman ihr ganzes Leben lang diesen Heuchlern hinterhergejachert ist", gedankenschnaubte Laurentine. "Di predigen Liebe und spucken allen ins Gesicht, die nicht ihre Auffassung davon leben wollen. Na ja, vielleicht gibt's ja anderswo Geistliche, die es mittlerweile kapiert haben, dass Liebe nicht nur zwischen Mann und Frau, Vater, Mutter und Kind stattfinden darf, und dass ein friedliches Miteinander auch im Anderssein die wahre Gottesnähe ist. Aber in diesem Dorf muss da wohl erst das jüngste Gericht stattfinden, um denen das klarzumachen."
"Nicht verbittert sein, Laurentine. Die leben in ihrer kleinen, heilen, wenn auch nicht immer einfachen Welt. Du musst ihnen dieses Vorrecht genauso gönnen wie unseren Anspruch auf Zusammensein. Aber leider hast du recht, dass diese Institution katholische Kirche eine Bande von Heuchlern und machtversessenen Herrenmännchen ist und wir in unserer Geschichte wahrlich genug dunkle Kapitel haben, die von diesen Leuten mit dem Blut unschuldiger Menschen geschrieben wurden."
Laurentine fand es schade, dass der Ausflug zum Friedhof in dieser Verbitterung enden musste. Sie hoffte jedoch, dass ihre Eltern in Wirklichkeit ihren Frieden gefunden hatten, mit ihr und der Zaubererwelt.
Quinn Hammersmith traf sich am 27. Dezember mit seinen Vorgesetzten. Dabei war auch Mia Silverlake, die residente Heilerin des Laveau-Institutes.
"Mr. Hammersmith", setzte Elysius Davidson an, "erst einmal hoffe ich, dass sie einen friedlichen Weihnachtstag hatten und mit großer Zuversicht dem neuen Jahr entgegensehen. Unsere heilerin hier hat Mrs. O'Hoolihan und mich sehr eindringlich davon überzeugt, dass es für die ganze von uns zu schützende Welt sehr vorteilhaft ist, wenn Sie sich mit ihr zusammensetzen und ihr als Vertreterin der Heilerzunft die Herstellung der Vampirblutresonanzkristalle beibringen. Ansonsten müssten wir wohl darauf verzichten, eine residente Heilerin in unseren Reihen zu haben." Mia Silverlake nickte verdrossen. Quinn Hammersmith sah sie und dann Davidson an und fragte:
"Hat die Königin der Hebammen Ihnen ein Ultimatum gestellt, Mia, VBR-Kristalle für die Zunft oder Ausschluss aus der Heilerzunft?"
"Voll auf den Punkt", knurrte Mia. "Ja, und ich muss mich Madam Greensporns Argumenten voll und ganz anschließen. Wir müssen damit rechnen, dass die Vampire der angeblichen Nachtgöttin sich von der Aktion der Nachtschatten erholen und um so rigoroser zurückschlagen werden, was auch heißt, dass sie die Versuche, Menschen ohne den klassischen Blutaustausch mit einem Vampir zu einem solchen zu machen wiederholen werden, wie damals, als noch Lamia die Organisation Nocturnia leitete. Dass die VBR-Kristalle den Prozess der virulenten Umwandlung verhindern können wissen wir ja längst. Madam Greensporn besteht darauf, dass wir in den Staaten und von uns aus auch in der gesamten Welt eine neuerliche Vampyrogeneseseuche pandemischen Ausmaßes verhindern müssen, sofern wir das können. Also wurde ich als Vertreterin der Heilzunft im Marie-Laveau-Institut dazu aufgefordert, Sie als Kollegin zu bitten, Ihr Geheimnis der VBR-Kristalle mit mir und der Heilerzunft zu teilen."
"Sie haben das schriftlich?" fragte Quinn Hammersmith und legte nach: "Nur, damit ich nicht später erfahre, dass Madam Greensporn von nichts gewusst haben will."
Mia holte auf diese Anfrage eine Pergamentrolle hervor. Sie breitete sie aus. Quinn las, dass dies die Endform eines vertraulichen Vertrages zwischen dem LI und der Heilerzunft war, das Wissen und die Herstellungsmöglichkeiten von VBR-Kristallen zu teilen und ohne langwierige Rücksprachen mit der Führung des LIs herzustellen und anzuwenden.
"Tja, da fehlt dann ja nur meine Unterschrift", sagte Quinn Hammersmith trocken. "Aber dass mir keine Heuler ins Labor schwirren, wenn Ihre Heilerkolleginnen und -kollegen erfahren, dass dafür auch Vampirblut benötigt wird, also die Herstellung der Kristalle an dessen Verfügbarkeit gebunden ist. Das kann und werde ich Ihnen dann auch schriftlich geben, Mia. Verstehe ich das richtig, dass Sie, Mr. Davidson, dieser Vereinbarung zustimmen? Ach ja, da steht ja Ihre Unterschrift. Gut, dann stimme ich dem auch zu", sagte der Ausrüstungsspezialist des Laveau-Institutes. Er unterschrieb den Vertrag, der ab dem ersten Januar 2007 in Kraft treten sollte.
Laurentine war auf Einladung von Julius und Béatrice mit Louiselle und Lucine herübergekommen, um mit ihnen und den anderen zusammen den Jahreswechsel zu feiern. Als sie wie üblich zehn Minuten vor Mitternacht ihre Sorgen des alten Jahres auf Zettel schrieben schrieb Julius, dass er nicht wusste, was mit den Vampiren und der Nachtschattenkaiserin sein würde und dass die Mondtöchter immer noch auf die zwei Kinder der bei ihnen im Tiefschlaf liegenden Ex-Werwölfinnen warteten und er nicht wusste, wo die waren. Ja, und dass es wieder zu viele durch dunkle Machenschaften viel zu früh verstorbene Menschen gab, die alle noch ein schönes langes Leben hätten führen können. Als große Hoffnung schrieb er auf, dass das Verhältnis zwischen Veelas, Menschen und Kobolden sich wieder einränken möge.
Als dann Punkt Mitternacht alle auf das neue Jahr 2007 anstießen und dem bunten Feuerwerk aus Florymont Dusoleils Fertigung zusahen war Julius froh, wieder ein abwechslungsreiches, teilweise auch gefährliches, aber im ganzen doch glückliches Jahr hinter sich gebracht zu haben. Er dachte an Gloria, die seit seinem Geburtstag in der australischen Handelsabteilung arbeitete und hoffentlich mehr Grund zur Freude hatte. Er dachte an den Ex-Planeten Pluto, dem es völlig egal war, ob er der neunte große oder der bekannteste Zwergplanet des Sonnensystems war. Der würde seine Bahn noch etliche Milliarden Jahre lang ziehen, selbst dann noch, wenn die ihm ferne Sonne zum weißen Zwergstern zusammengeschrumpft sein würde. Was spielten da die wechselseitigen Ereignisse in der magischen und nichtmagischen Welt für eine Rolle? Für Aurore spielten sie eine Rolle. Denn sie war jetzt kein kleines Mädchen mehr. Wenn er daran dachte, wie er 1999 den Jahreswechsel hier in Millemerveilles gefeiert hatte und sie da ein hoffnungsvoll angeschwollener Bauch Millies war. Tja, damals hatte er auch kräftig zugelegt. Sieben Jahre war das schon wieder her, eine ganze Schülergeneration, wie er an Babette Brickston und Melanie Odin mitbekommen konnte. Wie schnell verflog die Zeit. Und wenn ihn dieses turbulente Jahr eines gelehrt hatte, dann wie wichtig es war, mit alle denen so friedlich wie möglich auszukommen, die mit ihm zusammenlebten und -arbeiteten. Anders als Madonna es vor nun zwei Jahren gesungen hatte verging die Zeit nicht so langsam, sondern viel zu schnell. Wie sie genutzt wurde entschied darüber, ob sie Lebenszeit oder Effekttivzeit genannt wurde. Er wollte so gut er konnte darauf achten, dass er mehr Lebenszeit als Effektivzeit verbuchen konnte. Hier in Millemerveilles und mit seiner besonderen Familie ging das garantiert ganz gut.
Anthelia und ihre nordamerikanischen Schwestern feierten im Haus Tyches Refugium in das neue Jahr hinein. Auch wenn sie wussten, dass sich durch die Ereignisse um den zweiten Dezember vieles verändert hatte und dass es noch genug gab, um dass sie sich sorgen mussten freuten sie sich doch, dass sie nun wieder an ihre selbstgesteckte Aufgabe gehen konnten, die Welt vom Wahnwitz einer zu maschinellen, giftstoffüberladenen und nur an ein geldliches Wachstum gläubigen Gesellschaft wegzuführen und eine auf Jahrhunderte oder Jahrtausende lebenswerte und geordnete Gemeinschaft aus magischen und nichtmagischen Menschen hinzuführen, mit Überzeugung oder sanftem Druck. Unterdrückung, so hatten es Sardonia, Riddle, Wallenkron und Ladonna Montefiori bewiesen, schlug am Ende doch auf jenen zurück, der meinte, durch Sie die Welt nach seinem oder ihrem Bild neu erschaffen zu müssen. Sie hatte es auch vorgehabt und lernen müssen, dass es so nicht ging. Wie viele wie sie und die anderen erwähnten musste es noch geben, damit alle Menschen der Welt es endlich begriffen?
Die, die gerade keine Säuglinge zu stillen hatten oder selbst wieder neu aufzuwachsen hatten tranken auf das gerade zwanzig Minuten alte Jahr. Sie hofften, dass es nun wieder richtig aufwärts für sie alle ging.
Perdy und seine Frau Eartha freuten sich, dass sie dieses Jahr wieder als freie, hoffentlich erfolgreiche Mitglieder der magischen Gemeinschaft angehen konnten. Wenn sie wussten wie die Ministerien über den Schock des 2. Dezembers hinwegkamen konnten sie alle wieder planen, wie es mit ihrer Organisation weiterging.
Lucille Moreland wandte sich ihrem Weggefährten durch Jahrzehnte zu und sagte mit ihrer Kleinmädchenstimme: "Und wurdet ihr schon gefragt, wann wir den Fall "Dornröschen" für beendet erklären können?"
"Ich habe die neuen Ratsmitglieder alle darauf eingeschworen, dass wir erst wieder richtig loslegen, wenn wir mindestens ein neues Karussell fertig haben und wir sicherstellen können, dass nicht noch einmal jemand uns Schmelzfeuer in die Bude bringen kann. Abgesehen davon sollen die von den Ministerien glauben, Ladonna hätte uns doch noch alle aus der Welt geschafft. Um so besser können wir neue Kundschafter in die Ministerien einschleusen. Außerdem bauen wir bei den noch vorhandenen Niederlassungen gerade erweiterte Sicherheitsvorkehrungen gegen geisterhafte Wesen ein. Das Ding mit dem deutschen Einkaufszentrum hat mir doch sehr zugesetzt. Falls diese Schattenkönigin oder -kaiserin wieder auftaucht sollten wir ihr schnellstns Einhalt gebieten", sagte Perdy, der oberste Thaumaturg und Alchemist der Organisation. "Ja, und dann besteht noch die Gefahr oder Nutzungsmöglichkeit, dass es noch weitere Artefakte wie Mjölnirs großen Bruder gibt. Jetzt, wo wir wieder etwas freier atmen können sollten wir herausfinden, was genau es mit diesem Ding und möglichen Geschwistern auf sich hat." Lucille Moreland nickte verhalten. "Ich möchte bis zum ersten Juni 2007 ungeachtet der Beschlüsse wegen der Ministerien vier neue Karussells haben. Die Meldungen über die neusten Bevölkerungszahlen bei den Muggels stößt mir auch ohne Brechmittel auf."
"Ich werde zusehen, in den von Ladonna nicht verheerten Niederlassungen welche einzurichten", sagte Perdy. Dann fragte er: "Und, was sagen die südamerikanischen Heldenkinder?"
"Sofern man ihnen ein Cogison genehmigt hat ärgern sich die meisten der ehemaligen Mannsbilder, dass sie ausgerechnet von ihren ihnen ständig Widerworte gebenden Anverwandten wiedergeboren wurden. Dass Fernando sein eigener Neffe wurde und seine neue Mutter durch ihn zur fast erblühten jungen Frau zurückverjüngt wurde ärgert ihn am meisten", berichtete Lucille, die wegen ihrer eigenen Wiederverjüngung selbst mehr in der Abteilung für Säuglinge und Kleinkinder unterwegs war. "Fernando meint sogar, dass er und die anderen alle zwischen den jungen Müttern ausgetauscht werden sollten und sie deshalb eine Sondersitzung des neuen hohen Rates des Lebens fordern, der beschließt, dass die von ihren Schwestern, Tanten und Basen wiedergeborenen eben nicht von ihren Blutsverwandten großgezogen werden sollten."
"Oh, dann hast du den kleinen Plärrlingen noch nicht mitgeteilt, was der hohe Rat des Lebens wegen ihnen beschlossen hat?" fragte Perdy. Lucille nickte. "Dass die Kuh bestimmt, welches Kalb ihre Milch trinkt und nicht umgekehrt, vor allem wenn es um das Kalb geht, das sie selbst geworfen hat", erwiderte Lucille. "Das werde ich denen erst unter die kleinen Nasen jubeln, wenn die nächste Ratssitzung ist.""
"Stimmt, dann sieht das so aus, als hätten wir das nicht schon vor deren Wiedergeburt festgelegt, sondern auf deren Antrag hin ausdiskutiert und beschlossen", grinste Perdy. "Gut, ich kümmere mich dann darum, dass wir so heimlich es geht die neuen Karussells einrichten, damit wir ab Juni schon "Ihr Kinderlein kommet" singen können."
"Vielleicht kriegen du und Eartha ja bis dahin auch euer zweites Kind hin, Jungspund", meinte Lucille.
"Das glaubst du aber, dass mir das auch sehr wichtig ist, Töpfchenstrullerin", erwiderte Perdy. Dann lachten er, der alte Streiter im Körper eines sehr jung zum Vater gewordenen Teenagers und das Kleinkind, das in zwei früheren Leben schon zusammen 22 Kinder geboren hatte.
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