VERHANDLUNGSSACHEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Ladonnas Macht ist gebrochen. Vier Jahre hatte sie mit Hilfe ihres einzigartigen wie unheilvollen Feuerrosenzaubers viele Zaubereiministerien unterjocht. Nach ihrer Entmachtung fielen die noch nicht aus ihrem Bann befreiten in einen unaufweckbar erscheinenden Tiefschlaf. Die Ministerien werden bis auf weiteres von außenstehenden Hexen und Zauberern aus der Liga gegen dunkle Künste betrieben. Doch das kann und soll kein Dauerzustand bleiben. Außerdem müssen viele durch Ladonnas Treiben aufgeworfene Fragen abschließend geklärt werden, unter anderem was mit den von ihr gesammelten Zaubergegenständen und Aufzeichnungen geschieht oder was den Umgang mit anderen Zauberwesen wie Kobolden und Veelas angeht.

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Es war riskant, das wusste Diana Camporosso. Doch sie musste die Versammlungshöhle Ladonnas aufsuchen, um zu ergründen, ob dort noch was war, das für sie nützlich war.

Als sie am 14. Dezember 2006 um halb elf abends in der Höhle zu apparieren versuchte wurde sie mit einem kräftigen Stoß zurückgeworfen. Danach meinte sie, ein aufgescheuchtes Hornissennest auf dem Kopf zu tragen, so wild brummte der ihr von Ladonna auf den Kopf gesetzte Helm aus Seelenglas. Die reine Gedankenstimme des in ihrem Geist eingekerkerten ehemaligen Gründervaters des einst allgegenwärtigen Koboldgeheimdienstes heulte vor Schmerzen. Erst als Diana sehr energisch "Gib Ruhe!" dachte schwieg der in ihrem Bewusstsein eingekerkerte Geist des Gründervaters des Bundes der zehntausend Augen und Ohren. War sie nur von der Versammlungshöhle abgewiesen worden, weil sie Deeplooks gläsernen Helm tragen musste und somit einen winzigen männlichen Geistesanteil in sich trug? Oder wurde sie grundweg am Apparieren gehindert, weil Ladonna sie offiziell für tot und begraben erklärt hatte? Sie musste herausfinden, ob sie die Höhle überhaupt noch betreten konnte oder nicht.

Diana, in deren ahnenlinie sowohl Zwerge als auch Kobolde vorhanden waren, flog am folgenden Tag in die Toscana und suchte so heimlich sie konnte den natürlichen Zugang zu jenem Höhlengefüge, in welchem die Versammlungshalle der Feuerrosenschwestern zu finden war. Als sie sicher war, den richtigen Zugang vor sich zu haben ging sie leise auf den Eingang zu. Dabei fühlte sie bereits, wie der ihr aufgesetzte gläserne Helm zu erbeben begann. Die Schwingungen reichten von ihrem Kopf über ihren Nacken bis hinunter zu ihrem Rumpf. Dann meinte sie, vor sich eine rot-grün flirrende Lichtwand zu sehen und das Brummen um ihre Schädeldecke auch mit den Ohren zu hören. Deeplooks Gedankenstimme wisperte: "Steinwall der Verwehrung. Da kommst du nicht durch." Diana versuchte es dennoch.

Diana blieb nur einen Schritt vor der rot-grün flirrenden Wand stehen. Es war schwer, durch dieses Hindernis zu sehen. Doch sie erkannte wie Schatten die sieben Gestalten, die um den achteckigen Tisch gruppiert saßen, die Regionalstatthalterinnen der verschwundenen Königin. also hatten die doch hier zusammengefunden. Diana dankte innerlich dem Umstand, dass sie keine reinblütige Hexe war und dass Ladonna so darauf bestanden hatte, ihr den gläsernen Helm des toten Geheimbundgründers aufzusetzen. "Ich bin nicht tot!" hörte sie mal wieder den leisen, zaghaften Protest des in ihrem Körper eingesperrten Gründervaters. Doch weil er keine Anstalten mehr machte, Dianas Willen zurückzudrängen nahm sie das nur als wiederholte Bekundung wahr.

Als Diana den entscheidenden Schritt tat, um durch die Lichtwand zu treten, prallte sie auf ein steinhartes, eisige Kälte verströmendes Hindernis. Ihr war, als dröhnten zwölf große Glocken gleichzeitig in ihrem Kopf. Ihr ganzer Körper bebte wie von Riesenhänden durchgerüttelt. Dann wurde sie wie von einer steinernen Faust zwischen Brustkorb und Bauchraum getroffen zurückgeschlagen. Sie fiel schreiend nach hinten über. Ohne es gezielt zu beschließen führte sie im Fall eine geschmeidige Abrollbewegung aus und fing so die Wucht eines heftigen Aufschlages ab. Sie kam wieder auf die Beine und sah die immer noch flirrende Lichtwand vor sich. "Ich hab's dir gesagt, Mädchen", wimmerte Deeplooks Gedankenstimme. Diana nahm es zur Kenntnis, auch wenn ihr die Abfällige Anrede eigentlich missfallen musste. Doch wer wie sie gerade eine eindeutige Warnung missachtete und entsprechend dafür bestraft wurde musste sich damit abfinden, dachte sie. Ihr war klar, dass sie so wie sie nun war nicht mehr in Ladonnas Versammlungshöhle hineinkonnte, auch wenn die Rosenkönigin selbst nicht mehr auf der Welt war. Womöglich hatte Ladonna das auch gewusst und sie nach der Sache mit dem Helm und der niedergeschriebenen magisch bindenden Bestimmung nicht mehr hierher eingeladen. Oder lag es an den sieben wie tot um den Tisch sitzenden Hexen, die sozusagen Ladonnas lebende Erbinnen waren, dass sie nicht in die Höhle konnte? Nein, es lag eindeutig an dem ihr aufgesetzten Helm des Gründervaters der zehntausend Augen und Ohren, der ja quasi ein eigenständiges männliches Wesen war, mit dem sie in einer lebenslangen Körpergemeinschaft fortbestehen musste, weil Ladonna das beschlossen und durchgezogen hatte. Also war die Höhle für sie unbrauchbar geworden. Wenn sie wirklich Ladonnas Nachfolgerin werden und als neue Hexenkönigin herrschen wollte musste sie sich einen eigenen magischen Versammlungsort schaffen und vor allem auch die weltweit lebenden Koboldsippen unter ihre Herrschaft bringen. Weil die zehntausend Augen und Ohren größtenteils vernichtet waren galt es also, die kläglichen Überreste davon zu finden und unter ihren Willen zu zwingen. Dann fiel ihr ein, dass sie ja wusste, wo Ladonna Montefiori ihre geheimen Schätze hatte. Falls sie daran gelangen konnte war das schon ein kleiner Erfolg.

Wenn weihnachten war und die von diesen Möchtegernmenschenfreunden von der Liga gegen dunkle Künste abgestellten Wachen zu ihren Familien mussten, um mit denen die Hoffnung und Freude wegen des willkürlich festgelegten Geburtstages eines Friedenspredigers aus Judäa zu feiern wollte sie mit einem Sprung direkt in Ladonnas Geheimkeller vordringen und sich, wie sie glaubte, ungestört an den dort zurückgelassenen Schätzen bereichern. Bis dahin wollte sie sich mit einem weiteren "Geschenk" der Rosenkönigin näher vertraut machen, um es einsetzen zu können, wenn es wirklich nötig war.

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Sein Ehrenname lautete Meister Wolkenbart. Er war der älteste und zugleich ranghöchste Kobold der britischen Inseln und ihrer Außenstellen im Kanal zwischen den Inseln und dem Festland. Zugleich genoss er sowas wie das Recht des ersten unter gleichen, weil er das Ursprungsland aller Kobolde vertrat.

Als er über die sehr dürftig gewordenen Verbindungen auf das Festland erfuhr, dass Ladonna und ihre Marionetten entmachtet worden waren lud er alle verbliebenen Ratsmitglieder zu einer dringlichen Sitzung ein. Er legte drei Tagesordnungspunkte fest:

  1. Die beinahe vollständige Vernichtung des Geheimbundes der zehntausend Augen und Ohren
  2. Die Auswahl neuer Ratsmitglieder um die altehrwürdige Zwölfheit wiederherzustellen
  3. Die Rückkehr aller Kobolde in die von Ladonnas Marionetten gelenkten Zauberergemeinschaften

Als Tag der Versammlung wollte er eigentlich den 7. Dezember Menschenzeitrechnung ansetzen. Doch die vier noch lebenden und amtierenden Räte meldeten zurück, dass sie gerade wegen der neuen Lage erst einmal Anfragen ihrer Verwaltungsstellen und der im verborgenen oder gar im Exil lebender Gemeindemitglieder zu beantworten hatten. So wurde der 16. Dezember 2006 festgelegt.

Als feststand, dass alle am sechzehnten konnten bereitete Wolkenbart die Sitzung vor. Hierzu holte er zusammen mit sechs ihm vertrauten Gehilfen das Glas der Unterredung aus einem der sicheren Verliese von Gringotts London. Es sah aus wie eine anderthalb Kobolde hohe Sanduhr, vergleichbar mit jenen Gläsern, die in der Zaubereischule Hogwarts standen. Allerdings bestand das Füllmaterial nicht aus lauter kleinen Edelsteinen einer bestimmten Farbe. Es war auch kein handelsüblicher Sand, sondern ein Haufen aus kleinen glitzernden Goldkügelchen. Jedes für sich musste durch ein haarfeines Röhrchen zwischen dem oberen und unteren Kolben und fiel dann leise pingelnd auf den tiefschwarzen Boden des unteren Kolbens. So war die verrinnende Zeit nicht nur sicht- sondern auch hörbar. Jedes Goldkügelchen stand für fünf ruhige Herzschläge eines Koboldes. Alles in allem konnte das Glas der Unterredung auf diese Weise 14000 Koboldherzschläge lang zählen. Einmal mit der leeren Seite am erwählten Unterredungsort aufgestellt ließ es sich nicht mehr umdrehen, bis das zweifache der damit messbaren Zeit verstrichen war. Damit wurde klargestellt, wie lange eine Unterredung des Rates zu dauern hatte, also niemand davon zu lange sprach, um die zu fassenden Beschlüsse innerhalb einer verträglichen Zeit zu fassen. Wolkenbart und seine Gehilfen achteten darauf, dass das Glas der Unterredung nicht aus Versehen mit der leeren Hälfte nach unten gedreht wurde, bis es neben der goldenen Kreislinie in seinem Unterredungsraum aufgestellt wurde. Als seine Mitbrüder des Rates eintrafen mussten diese ihm helfen, das schwere Zeitglas umzudrehen und so das Rieseln der Goldkügelchen anzuregen.

Nun begrüßte der Hausherr seine Ratskollegen. Dann blickte er vor allem Meister Gischtbart an, welcher allen im Mittelmeerraum lebenden Kobolden vorstand. "Ich bedanke mich bei dir, Bruder Gischtbart, dass du mir so bald du konntest die Meldung von der möglichen Entmachtung Ladonnas und ihrer Knechte übermittelt hast. Wann genau erhieltest du diese Nachricht?"

"Es war wohl am Tag, den die Menschen den vierten Dezember nennen, Bruder Wolkenbart. Doch eigentlich verschwand Ladonna wohl schon am zweiten, und ihre Knechte fielen in eine Art tiefe Ohnmacht oder Tiefschlaf. Die Heilzauberer kriegen die nicht wach und haben deshalb mit den Möchtegernwohltätern der sogenannten Liga gegen dunkle Künste eine Art Notfallverwaltung aufgezogen. Erst als die auf ihren dünnen Beinchen stand bekam ich Kenntnis von der ganzen Sache", berichtete Gischtbart. Er fügte noch hinzu: "Ihr wisst ja, dass Barbanera sämtliche Erdkinder aus Italien rausgejagt hat und dann auch noch die vom Bund, der alles sieht und hört erwischt und umgebracht hat, die sich da versteckt haben. Im Grunde bekam ich die Nachricht von dem Kollegen, der mit den französischen Zauberstabträgern in Verbindung steht. Die hatten es offenbar nicht nötig, den gleich an dem Tag zu unterrichten, als Ladonna verschwand oder umkam, Brüder."

"Offenbar weil die erst selbst rausfinden müssen, ob das alles Wirklichkeit ist oder die und wir nicht doch träumen", knurrte Meister Mondbart, der den Kobolden im deutschsprachigen Raum vorstand. Gischtbart erwiderte darauf: "Als wenn du es früher als ich erfahren hättest, Bruder Mondbart." Wolkenbart hob die rechte Hand und ließ sie offen niedersausen, das allen bekannte Zeichen für völlige Ruhe. Schlagartig legte sich Schweigen über die Versammlung. Erst zehn Atemzüge später sprach Wolkenbart.

"Auch wenn du meine Frage als Vorwurf verstanden haben magst, Bruder Gischtbart, es war nur eine Frage. Daran sehen wir, Brüder, dass wir gerade auf Gedeih und Verderb der Nachrichtenweitergabebereitschaft der Zauberstabträger ausgeliefert sind. Auch wenn viele von uns den Bund, der alles überblickt und regelt eher mit Argwohn als Achtung ansahen, so steht doch fest, wie wichtig er war, ja und warum es Ladonna und diesem aus dem Sand der Vergangenheit aufgetauchten Möchtegerngottkönig aus Ägypten so eine eitle Freude bereitete, ihn bis auf wenige verstreute Gruppen auszulöschen. Damit sind wir dann auch schon beim ersten der drei von mir vorgeschlagenen Tagesordnungspunkte: Wie geht es auch ohne den alles überblickenden Bund weiter?"

Nun entspann sich eine von Wolkenbart gerade so noch gelenkte Aussprache zwischen den Ratsmitgliedern. Dabei zeigte sich, dass es zwei Lager gab. Die einen bekundeten ihre Erleichterung, dass die "Stille Zwangsherrschaft" des von Deeplooks Nachfolgern geführten Geheimbundes erloschen war. Die anderen behaupteten, dass jetzt erst so richtig klar wurde, wie überaus wichtig und wertvoll dieser Bund war. Denn zum einen würden nun viele aus reinen Eigeninteressen handelnde Kobolde versuchen, mehr Macht und Reichtum zu erlangen. Des weiteren war die weltweite Verbindung zwischen den einzelnen Gemeinschaften unterbrochen. Am wichtigsten war jedoch, dass durch die beinahe völlige Auslöschung des Bundes und aller von ihm betriebenen Stützpunkte keine Möglichkeit bestand, die von den Zauberstabträgern erhaltenen Nachrichten zu überprüfen, wenn sie denn überhaupt welche bekamen. Was den Wegfall der weltweiten Verständigungskanäle betraf wollten sie Abhilfe schaffen, indem sie ein neues Nachrichtenwerk begründeten, das jeden Tag dem Rat berichtete, was in der Welt vorging, vorausgesetzt, dort lebten und arbeiteten Kobolde. Wie das möglich sein sollte fiel ja unter Tagesordnungspunkt drei. Felsenbart, der Vorsteher aller amerikanischen Kobolde, warf noch ein, dass zu befürchten stand, dass Ladonna und der ägyptische Wiedergänger es nicht bei der Zerstörung von Stützpunkten und Massentötung von Bundesmitgliedern belassen hatten, sondern ganz sicher vorher alle niedergeschriebenen Kenntnisse und gehorteten Gegenstände an sich gerissen hatten, um damit Macht auf alle Kobolde Weltweit zu gewinnen. "Sie könnten bei der Gelegenheit auch das Befehlswort des schlafenden Königs erfahren haben."

"Warum hat sie es dann nicht gegen uns ausgesprochen?" wollte Mondbart wissen. "Weil sie dafür in ein Land hätte reisen müssen, wo Erdkinder weiterleben durften", vermutete Wolkenbart. Dann fragte er in die Runde: "Müssen wir davon ausgehen, dass Ladonna das Befehlswort des schlafenden Königs an andere weiterverraten hat, falls sie es erfahren hat?" Die meisten anderen Räte schüttelten ihre grauen Häupter. "Sehe ich auch so. Sowas nimmt ein auf Alleinherrschaft festgelegtes Wesen gerne als ganz persönliches Geheimnis", beantwortete Wolkenbart seine eigene Frage. "Es ist also im Augenblick nicht zu befürchten, dass ein Unbefugter dieses geheime Befehlswort kennt." Keiner im Rat erhob Einspruch.

Der Tagesordnungspunkt wurde damit abgeschlossen, dass es neben dem Verständigungsnetzwerk auch eine Art erweiterte Schutztruppe nach Muster des Katastrophenbeseitigungstrupps Waggshax geben sollte, der auch Ordnungshütungsaufgaben erfüllen sollte. Womöglich gelang es, noch irgendwo in Deckung liegende Mitglieder des alles überblickenden Geheimbundes anzuwerben. Diese sollten dann jedoch unter die alleinige Befehlsgewalt des Rates der grauen Bärte gestellt werden, um solche heimlichen Alleinherrscher wie Deeplook möglichst zu verhindern.

Der zweite Tagesordnungspunkt nahm wesentlich mehr Zeit in Anspruch. Denn um die über Jahrhunderte gepflegte Zwölfheit des Rates wiederherzustellen gab es mehr als fünfzig Auswahlmöglichkeiten. Zwar waren die Bedingungen einfach: Mindestens zweihundertfünfzig Sonnenkreise alt, dabei sehr lange in einer der koboldischen Institutionen beschäftigt und am Ort der eigenen Zuständigkeit geboren und Aufgewachsen. Doch da fing es schon an. Bruder Morgenbart, der die in den ehemaligen englischen Kolonien der Südsee lebenden Kobolde vertreten hatte, lebte ebensowenig wie andere Nachgeborenen in die Südseekolonien ausgewanderter Kobolde. So konnte von dort keiner zur Nachfolge ausgewählt werden. Jemand anderen für diese von Kobolden entblößte Region zu bestimmen war zwar möglich, bedeutete jedoch, dass dann, wenn eine Rückkehr von Kobolden nach Australien und die ozianischen Inseln und Indiens stattfand Streit aufkommen mochte, ob der von den grauen Bärten erwählte Fürsprecher der richtige sei. Denn seit Anbeginn der niedergeschriebenen Ereignisse galt, dass jedes Ratsmitglied nur die Obliegenheiten der in seinem Geburtsland lebenden Kobolde zu vertreten und sich nicht in die Obliegenheiten anderer Länder einzumischen hatte, sofern dies nicht im Rat selbst besprochen und beschlossen wurde. Da jedoch auch niemand im Rat darauf eingehen wollte, es den Neusiedlern zu überlassen, wen als ihren Fürsprecher zu bestimmen - wo käme man denn da hin, die unerfahrenen jungen Burschen frei wählen zu lassen -, wurden Vorschläge gemacht, wie ein Übergangssprecher eingesetzt werden sollte. Hier zeigte sich, dass der für nun ganz Amerika zuständige Felsenbart zum einen kein Interesse hatte, einen Ratsbruder für Nordamerika zu gewähren, als auch dass er als Rat für die gesamte Südhalbkugel der großen Mutter wirken wollte und Wolkenbart seinerseits als "Erbe" britischer Interessen in der Südsee antreten wollte, der festlegte, wer im Namen der ehemaligen Kolonien sprach. Weil Felsenbart ein wenig zu deutlich bekundete, dass er die gesamte Südhalbkugel der Erde vertreten wollte löste er einen gewissen Argwohn bei Meister Gischtbart aus, der die französischen Niederlassungen in der Südsee als "wichtige Obliegenheiten" betrachtete und zudem nun wo es nun mal möglich war Felsenbarts Bestrebungen eindämmen wollte, weil Spanien ja selbst einst Kolonialmacht war und die in Mittel- und Südamerika lebenden Kobolde ja die Nachfolger einst aus Spanien und Portugal dorthin eingewanderter Kobolde waren, womit er genauso wie Felsenbart deren Anliegen vertreten konnte.

Als Mondbart vorschlug, statt einen Nachfolger Morgenbarts für die Südseeregion zu bestimmen die Welteinteilung an sich neu festzulegen und aus den dann neuen Regionen wen zu erwählen ging es erst recht los. Mondbart wurde vorgeworfen, aus dem schwelenden Zwiestreit Felsenbarts und Wolkenbarts Vorteile ziehen zu wollen und zweitens wohl auch nicht bereit sei, seinen Zuständigkeitsbereich verkleinern zu lassen, um beispielsweise einen schweizer Kobold mit entsprechenden Voraussetzungen neben sich zu dulden. Weil es in der Schweiz auch italienisch- und französischsprachige Kobolde gab fühlte sich Gischtbart berufen, dann ja auch Anspruch auf die Obliegenheiten jener Sprachgruppen zu erheben.

So füllte sich das Glas der Unterredung bereits über die 6000-Herzschlag-Linie mit goldenen Kügelchen, und immer noch war keine Einigung in Sicht. Es sah sogar danach aus, als wenn sich die an ihrer Hoheitseinteilung sehr interessierten grauen Bärte in einen handfesten Streit verstrickten. Mondbart, der zu vermitteln versucht hatte, gab es auf, zwischen Felsenbart und Wolkenbart zu unterhandeln. Er musste mit anhören, wie sich zwei Lager bildeten, die die Zuständigkeiten nach Sprache der dort lebenden Koboldkunden einteilen wollten und jenen, die das ausdrücklich ablehnten, weil die Sprache der Kunden ständig wechseln konnte, die Beschaffenheit der Erde selbst aber dieselbe blieb. Mondbart hütete sich davor, einzuwerfen, dass sich auch das Angesicht der Erde ständig änderte, wenn auch außerordentlich langsam, mal von Erdbeben und aus der Erde brechenden Feuersäulen abgesehen. Als das Glas der Unterredung mehr als 7000 ruhige Koboldherzschläge anzeigte hob Gischtbart wieder die Hand zur Wortmeldung und sagte: "Werte Mitbrüder, es erscheint so, dass wir uns in dieser Frage heute nicht mehr einigen werden. Machen wir es doch so wie die Zauberstabträger und rufen kleine Arbeitsgruppen zusammen, die alle Punkte für und gegen eine Neuaufteilung der Welt und der daraus folgenden Ratszuständigkeiten besprechen sollen, bis sie eine Lösung finden. Oder legt ihr keinen Wert darauf, dass wir das noch beschließen, wie unsere Brüder und ihre Frauen und Kinder wieder in ihre alte Heimat zurückkehren können, ohne uns von den Zauberstabträgern vorschreiben zu lassen, nach welchen Bedingungen?"

"Erst muss ich den Tagesordnungspunkt zwei für vollendet verkünden, was ich gerade nicht für geboten halte", warf Wolkenbart ein. Felsenbart erwiderte: "Klar, weil du ja dann zugeben müsstest, dass meine Standpunkte überlegen sind, Bruder Wolkenbart."

"Was auch nur du denkst, Bruder Felsenbart. Bedenke gütigs, dass nur Schieferbarts kopfloses Handeln dir den ganzen Amerika genannten Erdteil unterstellt hat und wir das gerne neu beraten dürfen, ob die rein englischsprechenden Nachkommen der Kolonialzeit ebensogut von mir oder einem von mir allein ausgewählten Rat vertreten werden können."

"Öhm, da waren wir vorhin schon", meinte Gischtbart und hielt sich sogleich wieder zurück, weil es nun zwischen den beiden Ratsbrüdern zur unverhohlenen Auseinandersetzung kam, wer da welche Rechte hatte.

Das Glas der Unterredung zählte 8000 vergangene Herzschläge, als Gischtbart beide Arme hob und um Einhalt bat, weil sonst alle hier gefassten Beschlüsse ungültig wurden, wenn die Unterredung nicht formvollendet beschlossen wurde. Wolkenbart ließ nun abstimmen, welcher der vielen Vorschläge der letzten Stunden näher geprüft und welcher gleich als undurchführbar abgelehnt werden sollte. So kam am Ende dieser doch langen Teilaussprache heraus, dass erst die Rückkehr der Kobolde in die früheren Heimatländer beraten und beschlossen werden sollte. Da sie dafür gerade noch 6000 Herzschläge Zeit hatten ging es dann um jenen dritten Tagesordnungspunkt.

"So mögen unsere Brüder und ihre Familien wieder in die Länder zurückkehren, in denen sie alle geboren und aufgewachsen sind. Wenn sie dort Gringotts wieder betreiben dürfen werden wir die dann wohl noch auf wackeligen Beinchen stehenden Zaubereiministerien dazu bringen, Entschädigung für die erzwungene Ausreise und den damit verbundenen Verdienstausfall zu leisten", meinte Wolkenbart. In diesem Punkt widersprach ihm hier niemand. Dann bat der Vertreter der britischen Kobolde alle seine Miträte um klare Bekundungen, die hier besprochenen Punkte so und nicht anders zu bestätigen. Diese Bestätigung erhielt er. So konnte er die Unterredung noch vor vollendetem Füllstand des Unterredungsglases abschließen und sich bei seinen Miträten für ihr Erscheinen und ihre Teilnahme bedanken. Dabei blickte er Felsenbart jedoch so an, als wolle er mit dem alleine noch weiterstreiten, wer für wen zuständig war.

Als alle seine Miträte das Unterredungshaus verlassen hatten knurrte Wolkenbart verdrossen: "Ich hätte echt besser aufpassen sollen, diesem Amerikaner nicht den ganzen Gurmackkuchen zu überlassen. Der wird immer gieriger." Er dachte, dass dies nur eine von vielleicht vielen Hinterlassenschaften Ladonnas war, die ihm und auch den Zauberstabträgern noch großes Ungemach bereiten mochten.

Morgen musste er mit seinen Gehilfen das Glas der Unterredung zurückbringen, wenn die Zeitspanne, wo es nicht umgedreht oder vom Ort bewegt werden konnte verstrichen war. Vielleicht sollte er sich genauer überlegen, ob er alle ihn betreffenden Angelegenheiten wirklich mit allen Ratsmitgliedern zugleich bereden sollte. Einen winzigen Moment dachte er daran, dass es möglicherweise zwischen Felsenbart und ihm zu einem entscheidungskampf kommen mochte, der nicht mit dem Wort, sondern dem Schwert ausgefochten werden musste. Doch diesen Gedanken verwarf er ebenso schnell wie er ihn gefasst hatte. Ein Entscheidungskampf mochte die anderen dazu bringen, ebenfalls gegen ihn anzutreten. Gischtbart hatte immer wieder anklingen lassen, dass ihm die Zuteilung Südamerikas zu Felsenbart nicht gefiel. Doch gemäß den immer noch geltenden Hoheitszuteilungen durfte nur ein im betreffenden Erdabschnitt geborener, mindestens zweihundertfünfzig Sonnenkreise alter Kobold männlichen Geschlechtes über dieses Hoheitsgebiet bestimmen. Sie hatten es ja noch nicht vollbracht, ein neues Geschlecht von Kobolden in Australien begrüßen zu können. Er wusste zu gut, dass die Zauberstabträger Australiens auch keine Kobolde mehr dort ansiedeln lassen wollten. Doch wenn die vom rest des Goldanweisungsnetzes abgetrennt blieben würden die schon wieder zahm werden, hoffte Wolkenbart.

Müde von der langen Unterredung zog er sich in seine eigenen Wohnräume zurück. Wie schön war doch die Zeit vor Ladonnas Machtergreifung gewesen, wo er der heimliche höchste Vertreter des schlafenden Königs gewesen war. Am Ende mussten sie den Schläfer aufwecken, damit der die Geschicke der Kobolde wieder übernahm. Doch der würde erst einmal sehr wütend sein, weil ihn der damalige Rat der grauen Bärte in jenen unaufweckbaren Schlaf versenkt hatte, weil der König meinte, mit Hilfe des Befehlswortes ein Volk von willigen Wiedergängern haben zu wollen. Nein, was anstand und was die Zukunft auch immer für Aufgaben stellte durfte nur von ihm und den anderen grauen Bärten bewältigt werden. Der schlafende König musste weiterschlafen. Das war verdammt wichtig. Da durchfuhr den alten Kobold ein siedendheißer Schreck. Was war, wenn Ladonna von den Mitgliedern des einst so mächtigen Bundes erfuhr, dass es den schlafenden König gab und wie er aufgeweckt werden konnte? Sie selbst mochte überhaupt kein Interesse besessen haben, ihn aufzuwecken. Doch wenn einer ihrer selbsternannten Erben das Geheimnis erfuhr ... Er hoffte, dass Ladonna auch dieses Geheimnis mit in das Nichts genommen hatte, ohne eine Stellvertreterin oder Nachfolgerin damit zu betrauen. Mehr blieb dem Sprecher der britischen Kobolde nicht.

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Winterliches Schweigen erfüllte den urwüchsigen Buchenwald im Valle Infernale. Durch die kahlen Baumkronen sickerte genug Mond- und Sternenlicht auf den Boden.

Eine unheimlich anmutende Gestalt, gekleidet in einen völlig lichtschluckenden Kapuzenumhang, bewegte sich schattengleich zwischen den majestätischen Baumstämmen. Ihr Ziel war eine Lichtung, auf der ein einzelner Baum in die Höhe ragte. Auf diesen wollte die Gestalt hinaufklettern um ihn als Hochsitz zu nutzen. Bis dahin durfte sie nicht entdeckt werden.

Als die schattenhafte Gestalt die Lichtung erreichte blies eine eisige Windböe durch die Bäume und zerrte an der unter dem Kinn festgebundenen Kapuze und brachte den Umhang rauschend zum flattern. Dabei blinkte etwas silbern im Mondlicht auf. Dann war der Windstoß verweht. Die verhüllte Gestalt wandte sich der einzelnen Buche zu und berührte ihren Stamm mit einer der kleinen, schwarz behandschuhten Hände. Sofort bekam sie festen Halt. Dann griff sie mit der zweiten Hand zu. Keine zwei Sekunden später turnte die verhüllte Gestalt wie eine geschmeidige Schlange den Stamm hinauf bis zur ausladenden, laublosen Krone. Als sie einen für ihre Zwecke geeigneten Ast erreichte setzte sie sich rittlings darauf und öffnete ihren Umhang. Darunter kam eine kleinwüchsige Frau im Lederkostüm zum Vorschein. Auf dem Kopf trug sie einen bis über die Ohren reichenden Helm, der aus reinstem Glas zu bestehen schien. Als der Umhang von ihrer Schulter glitt und sich selbst im Fallen zusammenrollte und nur noch an einer seidendünnen Schnur von ihrer Hüfte baumelte beschien der Mond einen silbernen Kriegsbogen und einen randvollen Lederköcher mit sorgfältig gefertigten Pfeilen.

Wie ihre altrömische Namensvetterin war Diana Camporosso auf der Jagd, um ihr Können zu üben. Niemand durfte sie dabei sehen oder sollte umgehend sterben. Denn ihr war verdammt wichtig, dass sie die mächtige Waffe, die Ladonna ihr überlassen hatte, möglichst vollkommen beherrschte, um sie im Ernstfall einsetzen zu können. Der silberne Bogen des Anhor, der nicht mit neuem Lack bestrichen werden durfte, galt als machtvolles Werkzeug aller auf körperliche Kampfkraft bauenden Wesen. Zu diesem gehörten hundert Pfeile, die jeder für sich tödlich auf jedes von einem klopfenden Herzen am Leben gehaltene Wesen und vernichtend auf jeden von dunkler Zauberkraft belebten Wiedergänger wirkte. Doch diese Zauberpfeile wollte Diana erst benutzen, wenn sie das Zielen und Schießen mit Anhors Bogen weit genug geübt hatte. Deeplooks in ihr eingekerkertes Wissen hatte ihr enthüllt, dass sie damit bis zu einhundertfünfzig Männerschritte weit schießen konnte. Traf sie mit einem der Zauberpfeile starb das Ziel, je näher der Pfeil am Herzen saß um so schneller. Ein genauer Treffer wirkte wie der tödliche Fluch Avada Kedavra, ein Treffer an einer Hand oder einem Fuß führte in fünf Herzschlägen zum Tod. Doch jeder verschossene Pfeil musste danach eine Mondphase, also eine Woche lang im Licht der Gestirne ausgelegt werden, um diese unheilvolle Macht zurückzubekommen. Genau deshalb übte sie mit gleichschweren, aber unbezauberten Pfeilen, bei denen es auch nicht tragisch war, wenn der eine oder andere abbrach oder auf Nimmerwiedersehen im Wald verschwand.

Die nächtliche Jägerin brauchte Geduld und Scharfsinn, um einen der nächtlichen Waldbewohner aufzuspüren. Als sie einen über einen der Wege rennenden Fuchs sah hob sie den silbernen Bogen an, zog mit all ihrer antrainierten Armkraft die ebenfalls glitzernde Sehne mit einem darauf liegenden Pfeil aus, zielte und schoss. Sie hörte das Zurückspringen der Sehne und das leise Nachschwingen im Bogen und das davonschwirren des Pfeiles. Nur eine Sekunde später traf ihr Geschoss das Ziel an der rechten Hinterpfote. Der Fuchs geriet aus dem Lauf und kullerte zwischen die Bäume. "Du wirst es überleben", dachte Diana Camporosso verächtlich. Dann hörte sie das leise Schnaufen des getroffenen Raubtieres. Es knurrte vor Schmerz und Wut. Ihre feinen, durch Deeplooks Helm sogar verstärkten Ohren nahmen jeden Laut auf. Dann hörte sie, wie das getroffene Tier kurz quiekte und danach in wilder Flucht davonrannte. Offenbar hatte es sich den Pfeil aus der Pfote herausgezogen.

Diana suchte nicht nach dem Pfeil, sondern lauerte dem nächsten Ziel auf. Dieses erschien in Gestalt eines Waldkauzes. Diana zielte und schoss den nächsten Pfeil ab. Dieser traf die wilde Eule im freien Flug. Diese stieß noch einen schmerzhaften Ruf aus, bevor sie wie ein Stein in die Tiefe fiel und dumpf auf dem Waldboden aufschlug. Diana grinste überlegen. So durfte es weitergehen. Sie hatte hundert einfache Pfeile im Köcher. Erst wenn sie die alle verschossen hatte wollte sie wieder vom Baum herunter und die Geschosse einsammeln. Was davon noch zu benutzen war würde sie in der kommenden Nacht in einem anderen urwüchsigen Waldstück verwenden, bis sie für sich selbst beschloss, dass sie des Bogens würdig war. Dann erst würde sie mindestens fünf der beigegebenen Zauberpfeile verwenden und menschengroße Tiere erlegen, um die Treffsicherheit und Zeit bis Todeseintritt zu erfahren.

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Sie hatten nur zwei Stunden Zeit, bevor sie vermisst werden mochten. Catherine Brickston wusste Claudine bei den Latierres in Millemerveilles in guter Obhut und hatte ihrem Mann Joe klargemacht, dass sie wegen "weitreichender Ereignisse am Monatsanfang" zu einer nichtöffentlichen Beratung musste. Madame Faucon nutzte die seit mehreren Tagen laufenden Weihnachtsferien aus, Beauxbatons zu verlassen. Ebenso konnte ihr Mitarbeiter Phoebus Delamontagne sich einige Stunden freinehmen, weil der von ihm betreute Wohnbereich größtenteils leer war.

Wie es die seit vierhundert Jahren geltenden Verhaltensvorschriften geboten begab sich jedes Mitglied der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste einzeln zu einem nur für Hexen und Zauberer sichtbaren Pavillon am Montparnasse und führte dort die unhörbaren Ankündigungszauber aus, um die vielschichtigen Schutzzauber durchlässig zu machen. Damit enttarnte jede und jeder Zutrittsberechtigte eine fünfeckige Falltüre, in der ein klassisches Pentagramm mit magischen Zeichen eingraviert war. Unter der Falltür ging es mehrere Dutzend Treppenstufen hinab in die weltberühmten Katakomben von Paris, die Zufluchtsort und Massengrabstätte durch alle aufwühlenden Ereignisse der Geschichte waren. Durch scheinbar massive Wände betrat jeder Zutrittsberechtigte geheime Gänge der weitläufigen unterirdischen Anlagen unter der pulsierenden Weltstadt. Nur mit dem Schwarzlichtzauber Nigerilumos durfte jede und jeder die Wege beleuchten, um sicher ans Ziel zu finden, eine hinter einer Bronzetür liegenden Versammlungshalle.

Nachdem Blanche, Catherine und Phoebus vor der Tür jeweils das Passwort "Liberi lucis" ausgesprochen hatten tat sich die Tür auf. Ein unsichtbarer Vorhang aus Zauberkraft prüfte als letzte Instanz, ob in dem ihn durchdringenden Körper auch der Zutrittsberechtigte steckte. Denn wie leicht mochte es sonst sein, dass jemand mit Vielsaft-Trank Aussehen und Stimme eines Eingeweihten vortäuschen mochte. Da die drei genau die waren, als die sie sich ausgaben widerfuhr ihnen nichts.

So trafen sich die drei in der Halle. Von den hundert Vollmitgliedern waren neunzig vor ihnen hier angekommen. Weitere Hexen und Zauberer, davon niemand unter dreißig Jahren, kamen einzeln durch den letzten Prüfvorhang. So fehlte nur noch einer.

Die bereits wartenden sahen sich nur an. Niemand sprach ein Wort. Dann flimmerte der Vorhang zum letzten Mal, und ein von hohem Alter leicht gebeugter Zauberer kam auf einen massiven Gehstock gestützt mit schlurfenden Schritten in die Halle.

Der Magiekundige trug einen amethystfarbenen Umhang und einen dunkelbraunen Spitzhut auf dem vom Alter ausgetrockneten, völlig kahlen Kopf. Ein schneeweißer Bart wogte ihm bis zum Bauchnabel. Ein kecker Schnurrbart verzierte sein Gesicht. Durch dicke runde Brillengläser blickte er mit Bergquellfarbenen Augen zu den bereits wartenden hinüber. Er lupfte seinen Hut und winkte allen mit der rechten Hand zu. Alle erhoben sich und verbeugten sich in tiefster Ehrfurcht, die ganz jungen, wie die bereits erprobten und kundigen Mitglieder der Sektion. "Tach zusammen", grüßte der letzte Ankömmling mit bretonischem Dialekt. "Schön, dass Sie es alle einrichten konnten. Ich weiß das zu schätzen", sagte er. Seine Stimme klang wie ein rauh angespielter Kontrabass. Das war Ban Orchaud, der 210 Jahre alte Großmeister magischer Geschichte, Verwandlungskunst und Abwehr dunkler Künste. Bei ihm waren Berühmtheiten wie Professeur Énas und Professeur Tourrecandide zur Schule gegangen. Er hatte zwanzig Jahre lang den violetten Saal von Beauxbatons betreut. Er hätte sicher auch gerne als Schulleiter gedient. Doch der Schulrat von Beauxbatons hatte dem mehr Strenge und Entschlossenheit aufbietenden Maindure den Vorzug gegeben. Unter diesem wollte Orchaud nicht länger weiterarbeiten und hatte seinen ehrenvollen Abschied aus dem Schulbetrieb erhalten.

"Da wir sicher alle da sind fangen wir an", begann der alte Zauberer. Er fingerte an seinem Umhang und förderte einen bereits angejahrten Eichenholzzauberstab mit Phönixfederkern zu Tage. Er erklomm das kleine Rednerpodest und ließ sich in den dort stehenden Ohrensessel hineingleiten. Dann zielte er dorthin, wo die Zugangstür war. Leise surrend fiel eine silberne Leinwand aus der Decke bis zum Boden. Mit einer gekonnten, senkrechten Kreisbewegung der Zauberstabspitze beschwor Ban Orchaud eine vollkommen räumliche Ansicht herauf, die die Leinwand vollständig überdeckte. Jetzt sahen die Anwesenden Europa und seine umliegenden Meere mit allen wichtigen Inseln wie aus großer Höhe. Dann blies sich der Kontinent auf. Die Betrachter bekamen den Eindruck, auf einen bestimmten Punkt zuzustürzen und erkannten, das sie über Rom herauskamen. Dann blinkte ein gleichmäßiges violettes Licht.

Orchaud fasste noch einmal die Ereignisse vom zweiten Dezember zusammen und dass als gesichert angenommen werden durfte, dass Ladonna unwiederbringlich verschwunden war, wenn auch nicht durch fremde Gewalt getötet wurde. Denn das hätten die mit der Liga korrespondierenden Veelas aus Rumänien und Polen sicher erwähnt. Warum die von ihr unterworfenen Hexen und Zauberer nicht aufwachten und warum sie von einem starken Bann gegen Fremdverwandlungen abgeschirmt wurden konnten sich die Heiler nur damit erklären, dass etwas gegen Ladonnas mächtigen Feuerrosenzauber angewirkt hatte und die Betroffenen ähnlich wie die durch das Goldlicht der Veelas befreiten erst einmal Erholung brauchten. "Die Kameraden in Italien kommen zwar nicht an die geheimeren Ministeriumsunterlagen heran, haben aber eine brauchbare Verwaltung errichtet, die zumindest über den Jahreswechsel hinaus funktionieren wird. Natürlich herrscht Unmut in der magischen Bevölkerung, auch und vor allem seit aus anderen Ländern Eulen verschickt wurden, die die Nachricht von Ladonnas Ende übermittelten. Denn jetzt wissen es alle in den betroffenen Ländern, dass ihre Minister und deren Mitarbeiter Marionetten der Feuerrosenkönigin gewesen sind, also alle nicht von ihr beherrschten die ganze Zeit recht gehabt haben. Etwas zu hören, es zu glauben oder abzustreiten ist eine Sache, es dann aber derartig schlagkräftig vor Augen und Ohren geführt zu bekommen ist etwas anderes", dozierte Orchaud und ließ mit leichten Zauberstabwinkbewegungen weitere räumliche Bilder entstehen. Dann sprach er davon, wie stark das Machtvakuum sein mochte, dass Ladonnas Verschwinden hinterließ. Es galt, genau zu beobachten, wer davon profitieren würde und ob die nicht unter den Feuerrosenzauber geratenen auf eine schnelle Wiederherstellung der vorherigen Verhältnisse oder auf einen langen Vergeltungsfeldzug ausgingen. Er erinnerte daran, dass die Aufarbeitung des dunklen Jahres von Riddles zweiter Schreckenszeit mehrere Jahre gedauert hatte. Hinzu kam die Befürchtung, dass die schlafenden Ministeriumsangehörigen vielleicht nie wieder erwachen würden und irgendwann im Schlaf verhungerten, selbst wenn dieser Tiefschlaf mehrere Jahre andauern konnte. Orchaud schloss nicht aus, dass dies auch eine Art von posthumer Rache Ladonnas sein mochte, dass niemand von ihrer Niederlage profitieren konnte, der ihr einmal gedient hatte. Dagegen sprach nur, dass die Betroffenen nicht sofort gestorben waren, wie die Kreaturen von Igor Bokanowski. Wichtig sei jetzt vor allem, alle bekannten Unruheherde weltweit im Auge zu behalten. Er nannte in dem Zusammenhang den Orden der Spinnenschwestern, Vita Magica und diverse kleine Bruderschaften dunkler Magier, die bereits in Belgien, Deutschland und Osteuropa ihr Unwesen trieben. Dann erwähnte er etwas, dass hier jeden zusammenfahren ließ.

"Wir müssen davon ausgehen, dass nicht nur Vita Magica und die Spinnenschwestern das entstandene Machtvakuum füllen wollen, sondern dass es vor allem innerhalb der Koboldgemeinschaften aufwallen wird. Immerhin hat Ladonna den Kobolden sehr übel mitgespielt, große Bevölkerungsgruppen von ihnen aus ihren Geburtsländern verfrachten lassen wie lästigen Unrat. Die kleinen Wesen werden nicht lange stillhalten. Sie werden entweder auf die Wiederherstellung der vorhergehenden Lage bestehen oder gar weitergehende Forderungen erheben, ja wohl auch eine für diese großzügige Entschädigung einfordern. Sollte ihnen das alles verweigert werden könnte es zu einem neuen, wesentlich größeren Koboldaufstand als den von 1612 kommen. Die Kobolde warten wohl gerade ab, wie sich die Lage in unserer Welt entwickelt. Je danach, ob sie zu ihrem Vor- oder Nachteil verläuft werden sie entsprechend reagieren. Gut, das ist jetzt nicht gerade konkret. Aber sicher werden sie eine große Menge Gold und erweiterte Rechte einfordern. Das könnte die gewachsene Zauberergemeinschaft schwer treffen, womöglich schwerer als die Goldunzugänglichkeit nach der Erdmagieentladung am 26. Dezember 2004. Darauf müssen wir uns einstellen, liebe Freundinnen und Freunde."

Alle hier wussten noch zu gut, wie haarscharf Frankreich an einem gewaltsamen Konflikt mit den Kobolden entlanggeschrammt war. Alle hier wussten, wie schmachvoll italienische, spanische und portugiesische Kobolde nach Großbritannien deportiert worden waren, wenn sie nicht wegen Ausreiseverweigerung ermordet wurden. Gleiches war ja auch den Kobolden aus Nordafrika widerfahren. Die hatten also sehr viele Gründe sich zu rächen.

Es ging dann noch darum, dass in der Girandellivilla wohl Aufzeichnungen und schwarzmagische Artefakte aufbewahrt wurden, die jedoch in einem gesonderten Raum vor jedem Zugriff gesichert waren, sehr wahrscheinlich dem Blutsiegelzauber. Wenn also etwas hochpotenzielles, ja gefährliches dort verwahrt wurde konnte es wohl erst einen vollen Monat nach Ladonnas Verschwinden geborgen und falls möglich unschädlich gemacht werden, also erst am zweiten Januar 2007.

"Die Kollegen in Italien haben mich gebeten, Ihnen allen auszurichten, dass sie sich um diese Angelegenheit kümmern werden. Sie sind sich bewusst, dass auch andere Interessenten diese Erbschaften Ladonnas bergen wollen und es deshalb zu einem blutigen Kampf kommen mag. Sie bitten jedoch nachdrücklich darum, uns nicht unaufgefordert einzumischen", erläuterte Ban Orchaud.

"Haben die Italiener also etwas, von dem sie nicht wollen, dass Ausländer es mitbekommen?" fragte Phoebus Delamontagne. Ban Orchaud wiegte den Kopf und erwiderte: "Ich gehe davon aus, dass Ladonna die hochgesicherten Gift- und Gefahrenschränke der ministeriellen Archive geplündert hat. Sicher liegt unseren Kameraden was daran, dass die in Italien gehorteten Erzeugnisse und Aufzeichnungen dunkler Künste keinem Außenstehenden in die Hände fallen."

"Soso", schnarrte Blanche Faucon und fügte hinzu: "Und bei der Gelegenheit wohl auch die schwarzmagischen Hinterlassenschaften sicherstellen wollen, die aus anderen unterworfenen Ministerien entwendet wurden. Doch was werden unsere italienischen Gesinnungsgeschwister unternehmen, wenn mehrere Armeen feindlicher Hexen und Zauberer die Villa bestürmen? Immerhin müssen wir davon ausgehen, dass der Orden der schwarzen Spinne weiß, wo Ladonna all die Jahre gewohnt hat, und dies ist nur einer von mehreren zwielichtigen bis abgrundtiefdunklen Orden. Auch die Kobolde könnten versucht sein, die Villa zu erstürmen, um sich von ihnen entwendete Schätze zurückzuholen. Was wollen die italienischen Kollegen dagegen tun?"

"Das habe ich meinen obersten Kameraden vor Ort auch gefragt, Madame Faucon. Seine Antwort lautete, dass sie die Villa mit magnetischen Schwingungen überfluten werden. Seitdem die Nordamerikaner diese Methode erfolgreich angewendet haben und die Pläne des australischen Magnetkreisels ja auch bei uns bekannt wurden sind Kobolde das geringste Problem bei der Villa."

"Und die anderen, vielleicht auch Vita Magica?" hakte Blanche Faucon nach. "Wird alles bedacht, heißt es von unserem italienischen Kameraden Bonifatio Montecello", erwiderte Ban Orchaud. Mehr konnte er dazu nicht sagen. Das störte ihn wohl genauso wie seine 99 Kameraden. So konnten sie sich im Augenblick nur darauf festlegen, mögliche Auswirkungen von Vergeltungsmaßnahmen in Frankreich abzuwehren.

"Wissen wir denn wenigstens, um welche mächtigen Gegenstände und Aufzeichnungen es gehen könnte?" fragte Phoebus Delamontagne und fügte hinzu: "Immerhin konnte Ladonna in den letzten Monaten ihrer quasi Alleinherrschaft auch auf orientalische Zaubereiministeriumsarchive zugreifen, und mir und Madame Brickston ist bekannt, dass vor allem die Ägypter ein umfangreiches Archiv magischer Hinterlassenschaften betreuen."

"Ja,und die kurze Zeit, die Ladonna die Nordamerikanische Zauberergemeinschaft unterjocht hat dürfte ihr auch von dort einiges eingebracht haben", legte Ban Orchaud verkniffen dreinschauend nach. "Was meinen Sie alle, warum die italienischen Kollegen so darauf erpicht sind, die Angelegenheit im Alleingang zu regeln. Es herrscht eine Art von Goldgräberstimmung, und wo die hinführt wissen wir alle ja aus der langen Geschichte sowohl der magischen und nichtmagischen Welt", fügte er noch hinzu. Dann machte er doch einige Andeutungen, dass Ladonna zum einen Unterlagen hier bekannter dunkler Magier aus der Renaissance und dem postsardonianischenZeitraum erbeutet haben mochte, wie auch gesichert war, dass sie für dunkle Hexen sehr wertvolle Lagergüter aus Deutschland in ihr eigenes Schatzkämmerchen herübergeholt haben mochte. Dann meinte er: "Könnte sein, dass die Villa des Lebemannes Girandelli nach dem zweiten Januar 2007 nicht mehr aufzufinden ist und an ihrer Stelle nur noch ein gewaltiger Krater oder eine völlig ebene Fläche vorhanden ist. Ich kann nur hoffen, dass unsere Kameradinnen und Kameraden aus Italien schnell und umsichtig genug vorgehen, um Ladonnas Hinterlassenschaften zu bergen und deren Missbrauch zu verhindern."

"Bei schwarzmagischen Gegenständen und Schriften wäre ein Missbrauch eine zweckbestimmte Verwendung", wagte eine der älteren Hexen aus der Runde der hundert Mitglieder einzuwerfen. Alle anderen nickten beipflichtend. Alle waren sich darin einig, dass sie im Moment eben nur darauf aufpassen konnten, dass keine gefährlichen Dinge aus Ladonnas Beute in Umlauf kamen und von bis dahin arglosen Menschen zu unheilvollen Zwecken verwendet werden sollten. Catherine Brickston wandte ein, dass rechtschaffene Magiehistoriker der Verlockung erliegen mochten, alte Aufzeichnungen verbrecherischer Zauberkundiger in die Hände zu bekommen, um "die wahren Begebenheiten" zu erfahren. Daher bot sie sich an, ihr Netzwerk anderer Zaubereigeschichtskundiger vorzuwarnen, auch wenn die Gefahr dadurch noch größer werden mochte, dass jemand sich erst recht für die von Ladonna erbeuteten Unterlagen interessierte. Doch gar nichts zu sagen kam einer Unterlassung gleich, so Catherine Brickston. Dafür erhielt sie überwiegende Zustimmung, vor allem von ihrer Mutter und Phoebus Delamontagne.

"Was ist eigentlich mit den von Ladonna ersonnenen Fallen gegen Veelas und Veelastämmige?" brachte Catherine noch einen Punkt zur Sprache. Ban Orchaud prüfte mitgebrachte Notizen. "Stimmt, in Spanien haben unsere Mitstreiter solche gläsernen Gegenstände an regulären Leuchtkörpern gefunden, die sie jedoch nicht entfernen können, weil diese untereinander verbunden sind und es fast zu einer verheerenden Feuerelementarkraftfreisetzung kam. Weil sie jedoch nicht in alle Räume des Ministeriums herankommen bleibt ihnen nur, allen Veelastämmigen, die es in Spanien gibt, weiterhin den Zutritt des Ministeriums und seiner Nebenstellen auszureden, da für jene sicher noch Lebensgefahr besteht. Erst wenn sämtliche Räume des Ministeriums betreten werden können darf und soll an eine Entfernung dieser gläsernen Feuerzauberträger gedacht werden. Wie erwähnt, deren Verbundenheit hindert unsere Mitstreiter daran, diese Fallengegenstände zu entfernen."

"Das gilt dann ja auch für Italien, Bulgarien und Russland", wandte Blanche Faucon ein. Ban Orchaud nickte bestätigend.

"Bestünde denn wenigstens die Möglichkeit, die sicher in Russland angebrachten Fallengegenstände unschädlich zu machen?" wollte Phoebus Delamontagne wissen. "Tjaha, Phoebus, da fragen Sie was", seufzte Ban Orchaud. "Da der alte Grundsatz des russischen Zauberrates von 1702 gilt, dass es jedem außenstehenden Zauberer und jeder Hexe untersagt ist, ohne eindeutige Ein- oder Vorladung in Büros des Ratsgebäudes und seiner Nebenstellen einzudringen müssen wir darauf hoffen, dass Arcadis Leute dieses Problem lösen. Ich wage hier in dieser verschwiegenen Runde die Vermutung, dass es Arcadi sogar gefallen mag, sein Ministerium veelasicher zu haben und er das als einen neuen Pfeiler seiner Macht sieht, ein Bollwerk gegen Veelas und Veelastämmige zu haben."

"Dann glauben Sie nicht, dass er einen Frieden mit den Veelas schließen will?" fragte Catherine Brickston. "Hmm, was heißt glauben", setzte Orchaud an, um genug Zeit für eine möglichst kluge Antwort zu erhalten. Dann vollendete er seine Antwort mit: "Es mag sein, dass er den Frieden mit den Veelas sucht, um einen am Ende doch ausbrechenden Krieg zwischen ihnen und allen magischen Menschen zu vermeiden. Es kann aber auch sein, dass er die von Ladonna ermöglichte Gunst nutzt, diese Wesen, die sich ja als sehr mächtig erwiesen haben, klein und unterwürfig zu halten und sie ihm dort, wo das Ministerium ist, nichts anhaben können. Außerdem dürfte er ebenso wie unsere Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Spanien Schwierigkeiten haben, die untereinander verbundenen Fallengegenstände für alle anderen unschädlich zu entfernen. Wissen wir denn immer noch nicht, wie unsere Konföderationsdelegation das in der Schweiz hinbekommen hat?"

"Auf jeden Fall nicht vollständig, weil der französische Bungalow in einem zerstörerischen Zauberfeuer verbrannte", sagte Catherine. Alle anwesenden nickten.

Weil es in dieser Angelegenheit nicht mehr zu beraten und zu beschließen gab beendete Ban Orchaud diese kurze, außergewöhnliche Zusammenkunft der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste und verabschiedete alle seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter bis zum nächsten angesetzten Treffen am 10. Januar, dem Gründungstag der europäischen Liga gegen dunkle Künste vor 432 Jahren.

Als sich die Mitglieder der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste wieder an ihre gewohnten Standorte begaben trafen sich Blanche Faucon und ihre Tochter im Dauerklangkerkerarbeitszimmer Catherines.

"Bei allem Respekt vor Ban Orchaud. Aber kommt nur mir das so vor, dass er uns heute eigentlich gar nichts erzählt hat? Ich meine, das alles wussten wir doch schon aus den schriftlichen Berichten und durch eigene Kontakte", sagte Catherine. Ihre Mutter nickte und erwiderte: "Ich hatte den Eindruck, die italienischen Kameraden haben ihm verdeutlicht, dass es einen gehörigen Streit mit ihnen geben wird, wenn wir ihre Anliegen nicht achten. Ja, und ich argwöhne wie Ban Orchaud, Phoebus, du und wohl auch die meisten anderen, dass die italienischen Kameraden die Gunst der Stunde nutzen wollen, um bis dahin gut unter Verschluss gehaltene Hinterlassenschaften dunkler Hexen und Zauberer zu erbeuten, egal ob aus Italien oder anderen Ländern. Die Sorge ist jedoch berechtigt, ob ihnen diese Gelegenheit gestattet wird. Im Augenblick können wir jedoch nichts unternehmen außer das ehemalige Luxusdomizil dieses italienischen Lebemannes Girandelli mit einem gezielten Feuerzauber zu zerstören. Doch könnten wir dabei ebenso etwas freisetzen, was besser unter Verschluss bleiben sollte."

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Während in vielen Siedlungen auch der magischen Welt das alljährliche Weihnachtsfest begangen wurde nutzte Albertrude Steinbeißer die Gelegenheit, die Villa des verschwundenen Lebemannes Luigi Girandelli zu überfliegen und sie mit ihren besonderen Augen zu untersuchen. Sie flog dabei auf einem jener unsichtbar machenden Donnerkeilbesen, die noch von einem gewissen Hagen Wallenkron mitentwickelt und zur ausschließlichen Sonderverwendung für Ministeriumsbeamte hergestellt worden waren. Niemand da unten durfte sie sehen. Ihre Freiheit, womöglich auch ihr Leben hing davon ab, dass sie unentdeckt blieb.

Die im Körper der deutschen Ministeriumshexe Albertine vereinte Seele Albertrude gierte nach etwas, von dem sie wusste, dass es in einem der Kellerräume der verlassenen Luxusbehausung versteckt war. Ihr klammheimlicher Erkundungsflug diente dem Zweck, herauszufinden, wo genau das war, was sie suchte. Daher nahm sie die wenigen, nicht wegen Familienverpflichtungen in den Weihnachtsurlaub abkommandierten Wächter aus der Liga gegen dunkle Künste gerade so zur Kenntnis, die darauf achteten, dass niemand weniger als hundert Meter an das verlassene Haus im altrömischen Stil herankam. Mit ihren biomaturgischen Augen konnte sie sowohl bei völliger Dunkelheit sehen, als auch magische oder nichtmagische Sichthindernisse durchblicken, als wenn sie nicht vorhanden wären. Allerdings musste sie dafür weniger als 1000 Meter an den zu prüfenden Gegenstand oder das Lebewesen heran, um magische Verhüllungen zu durchdringen. Deshalb wagte sie es, in nur dreihundert Metern über dem Boden über dem Haus zu kreisen. Da sie nur mit doppelter Schrittgeschwindigkeit flog machte ihr Flugbesen überhaupt kein Geräusch. Sie war wie eine der vielen dunkelgrauen Wolken, die immer mal wieder das Mondlicht überdeckten.

Albertrude richtete ihren Blick genau nach unten. Für sie verschwanden das Dach und jedes Zwischengeschoss wie ins Nichts. Keine zwei Herzschläge später durchdrang ihr magischer Blick auch den Boden im Erdgeschoss. Jetzt sah sie die Gänge und Räume des Kellers, einst ein oppulentes Lager für Vorräte und edle Weine, sowie eine moderne Ölheizung. Als sie den Weinkeller betrachten wollte flirrte es blutrot vor ihren beiden biomaturgischen Augen. Es war wie der Widerschein eines lodernden Feuers im dichten Nebel. Albertrude musste sich wahrhaftig anstrengen, um diese letzte Hürde zu durchdringen. Sie fühlte und hörte die vor hoher Belastung vibrierenden Augen wie das tiefe Brummen einer aufgebrachten Hummel. Lebende Augen mochten bei dieser Anstrengung schmerzen. Ihr setzte nur das Flirren und die unregelmäßig darin aufblitzenden Lichtentladungen zu. Doch es gelang ihr, den blutroten Flirrnebel größtenteils durchsichtig zu sehen und erkannte die alchemistischen Laboreinrichtungen, die mehrere Meter hohen, mit feuerfesten Metallbeschlägen verzierten Bücherschränke und das sarkophagartige Behältnis, das selbst in einem pulsierenden Licht glomm und damit verriet, magisch aufgeladen zu sein. Sie wusste nun, wo genau das alles war, was die ehemalige Rosenkönigin Ladonna Montefiori zusammengerafft hatte. Denn der Sarkophagartige Gegenstand war ein Lapis Conservans, ein Meisterstück erdmagisch ausgerichteter Thaumaturgie. Was in einem solchen Steinbehälter eingeschlossen wurde konnte nur von der Person hervorgeholt werden, die sich darauf hatte einstimmen lassen oder nach deren Tod von einer Person, die einen Monat später den Zauber der freigebenden Erde einsang und dabei eigenes Blut und Samenkörner von sieben unterschiedlichen Pflanzen opferte. Der rote Nebel, der ihren Blick erschwerte war die für sie sichtbare Ausprägung des Blutsiegelzaubers, mit dem jemand einen Behälter oder einen ganzen verschließbaren Raum gegen unbefugte Nutzung absperren konnte und der Albertrudes Wissen nach bis heute nicht gebrochen werden konnte. Dass dieser Zauber auch nach Ladonnas Tod oder Verschwinden noch wirkte lag daran, dass er einen Monat nach dem letzten Herzschlag seiner Anwenderin weiterwirkte. Weil Albertrude davon ausgehen musste, dass die Bewacher der Villa und ihre Mitschwestern aus dem Bund der Verschwiegenen das auch wussten dachte sie bereits daran, welch ein heißer Kampf um das versteckte Erbe der selbsternannten Rosenkönigin entbrennen mochte. Deshalb war es für sie dringend erforderlich, die Gegebenheiten zu erforschen, um sich selbst an der Jagd nach dem verborgenen Schatz Ladonnas zu beteiligen. Denn sie wollte drei Dinge "wiederhaben". Daher betrachtete sie vom langsam fliegenden Besen aus alle Einzelheiten, die sie durch den Blutsiegelnebel erkennen konnte. In den steinernen Behälter selbst konnte sie nicht hineinblicken, weil der eine eigene starke Magie enthielt.

Es blitzte kurz grell auf und verdrängte alle Formen. Dann war der Nebel wieder so halbdurchsichtig wie zu vor. Albertrude war froh, dass ihre magischen Augen blendfrei waren. Dann dachte sie daran, dass jemand so leichtfertig gewesen war, in den Weinkeller hineinapparieren zu wollen. Doch der Blutsiegelzauber wehrte jede Form des Eindringens sicher ab, je größer der von ihm durchtränkte Raum oder Behälter war. Wer immer da gerade zu apparieren versucht hatte mochte nun vor wildem Schmerz aufschreiend an seinem oder ihrem Ausgangsort reappariert sein. Tja, Wissen war eben doch Macht, dachte jene, die aus den Seelen der einstmaligen Ministeriumsbeamtin Albertine und der aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Dunkelhexe Gertrude Steinbeißer zu einer einzigen verschmolzene Hexe. Ein schadenfrohes Grinsen überzog ihr Gesicht, auch wenn das im Moment niemand anderes sehen konnte.

Weil Albertrude nicht mehr als bisher entdecken konnte beendete sie ihren heimlichen Erkundungsflug. Behutsam ließ sie ihren Besen nach oben gleiten. Dabei lenkte sie ihn in nördliche Richtung von der ehemaligen Residenz der Rosenkönigin fort. Sie würde wiederkommen, wenn der Blutsiegelzauber erlosch, und sie wusste, wie sie die um die von diesem behüteten Schätze ringenden auf Abstand halten konnte, bis sie fand, was sie für ihr allein zustehend hielt.

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Es war ein kurzer und heftiger Schmerz, als sie versuchte, unmittelbar in den Keller der verlassenen Villa hineinzuapparieren. Sie meinte noch, einen blutroten Lichtblitz gesehen zu haben, bevor es sie mit Urgewalt an ihren Ausgangspunkt zurückgeschleudert hatte. Leise wimmernd fand sich Diana Camporosso auf dem Boden ihres Wohnzimmers wieder, von wo aus sie eigentlich direkt in den ihr bekannten Weinkeller Ladonnas gelangen wollte. Ihr Kopf pochte unter dem Helm aus Seelenglas. Unmittelbar dachte sie an den Blutsiegelzauber. Hatte die Feuerrosenkönigin ihren Geheimkeller zusätzlich zum Blutfeuernebel auch noch mit diesem Zauber abgesichert? Die Wirkung des Fehlsprunges wies überdeutlich darauf hin. Dann musste sie wohl noch bis zum Ende eines vollen Monats ausharren, bis der Zauber von selbst erlosch, nachdem das Herz seiner Quelle nicht mehr schlug.

Sie erkannte, dass nicht nur sie nach Ladonnas Schätzen suchen würde. Denn wenn alle an ihrem Erbe interessierten vom zweiten Dezember als Ausgangstag ausgingen mochte es am zweiten Januar des bald beginnenden Jahres nur so von Schatzjägerinnen und Schatzjägern wimmeln. Doch sie musste die alten Schätze aus Ägypten erwischen und das alte Hexenbuch, von dem sie gehört hatte, dass die Königin es aus Deutschland hatte beschaffen lassen. Notfalls würde sie ihre neue Errungenschaft einsetzen, um sich die Konkurrenz vom Hals zu halten. Mittlerweile dachte sie, den silbernen Bogen Anhors zu beherrschen. Gestern erst hatte sie drei fliegende Eulen und zwei stattliche Bachen damit erlegt. Die Tiere waren augenblicklich gestorben und entweder vom Himmel gestürzt oder aus der Bewegung heraus umgefallen. Womöglich würden die magischen Pfeile am zweiten Januar bereits reiche Beute finden, vielleicht sogar jene Hexe, die sich als schwarze Spinne bezeichnete. Das wäre doch ein würdiger Akt für die Erbin der entmachteten Königin, dachte Diana Camporosso. Nichts und niemand widersprach ihr darin.

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Rico Barnecelli gehörte zu den zwanzig Auserwählten, die seit Weihnachten in der Villa Girandellis wachten. Es galt, den gefundenen Kellerraum gegen unerwünschte Eindringlinge zu verteidigen. Hierzu hatten sie Illusionsfallen und Erstarrungssteine ausgelegt, die den Uneingeweihten den Zugang versperren sollten. Denn schließlich mussten sie ja von einem regelrechten Ansturm auf die Villa ausgehen.

Sie hatten überlegt, ob sie das ganze Grundstück nicht unter einen Arrestdom stellen sollten, um niemanden darauf vordringen zu lassen. Doch Ladonnas Belagerungsabwehrzauber wirkte noch. Offenbar befand sich dessen Ankerartefakt in jenem mit Blutsiegel gesichertem Kellerraum. So konnte kein Arrestdom errichtet werden.

"Falls ihr das Haus und den Keller nicht halten könnt sprengt alles in die Luft!" hatte Bonifatio Montecello seinen Mitstreitern mitgegeben. Deshalb hatten die zwanzig Wachenden im Ganzen Haus alchemistische Sprengkörper verteilt. Falls der Ansturm zu groß wurde oder einzelne Eindringlinge doch in den Keller hineingelangen sollten wollten sie alles dem Erdboden gleichmachen.

Das Jahr 2007 war nun schon dreißig Stunden alt. Zu den zwanzig Wachenden hatten sich weitere dreißig Hexen und Zauberer aus der Liga hinzugesellt, die außen wachen sollten. Wenn der Blutsiegelzauber wirklich einen vollen Kalendermonat nach Ladonnas Verschwinden erlöschen würde mochte es in wenigen Stunden zum Kampf um ihre Hinterlassenschaften kommen.

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"Und, bleibt es dabei, dass wir uns nicht an dem zu erwartenden Sturm auf dieses Luxushaus bei Florenz beteiligen, Schwester Anthelia?" fragte Albertrude Steinbeißer die höchste der Spinnenschwestern, als sie nur noch zwei Stunden vor dem errechneten Ende des Blutsiegelzaubers bei ihr vorsprach.

"Nein, wir werden uns nicht an diesem Ansturm beteiligen, Schwester Albertrude. Du darfst gerne beobachten, wie die Sache verläuft und wer sich da was aneignet. ES ist dann sicher unauffälliger, den oder diejenige um dieses Andenken aus Ladonnas Weltherrschaftsvorhaben zu erleichtern, wenn wir wissen, wer und wo. Wie viele Wachen hast du gesehen, Schwester Albertrude?"

"Vorgestern waren es nur zwanzig, die sich strategisch im Haus verteilt haben und davon ausgingen, dass ihre Unsichtbarkeitszauber ausreichen. Sie haben sich wohl auch mit Aura-Calma-Zaubern gegen mögliche Gefühlsveränderungszauber abgesichert. Da nun alle aus den Feiertagen zurückgekehrt sind dürften es nun an die fünfzig Möchtegernwohltäter aus der Liga gegen dunkle Künste sein, die das Haus absichern, die aber dann sicher noch wen dazurufen können, wenn es wahrhaftig zum Ansturm kommen sollte", berichtete Albertrude. Dann erwähnte sie noch, dass sie bei ihrem letzten Erkundungsflug vor zwei Tagen verdächtige Gegenstände gesehen hatte, die wie die Wachen gleichmäßig in der Girandelli-Villa verteilt waren. "Womöglich haben die Wachen den Auftrag, notfalls alles zu zerstören, sofern es zerstört werden kann", vermutete Albertrude mit spöttischem Lächeln. Anthelia nickte beipflichtend. "Die Versuchung, sich selbst an Ladonnas dunklen Schätzen zu bereichern wird das vereiteln. Kehre also bitte auf den Erkundungsposten zurück und übermittle mir alles, was du für wichtig erachtest, an mich berichtet zu werden!" sprach Anthelia mit ungewohnt behutsamem Tonfall. Denn Albertrude war ihr was Macht und Wissen anging ebenbürtig geworden. Nur weil es noch zu viele gemeinsame Gegner und Widrigkeiten gab waren sie Bundesschwestern. Jede Streitigkeit zwischen den beiden konnte das beenden und der jeweiligen Hexe eine weitere, unerbittliche Gegnerin verschaffen.

Albertrude verabschiedete sich von Anthelia und verließ das mehrfach gesicherte Versammlungshaus der Spinnenschwestern bei Boston.

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Es mochte die Ruhe vor dem Sturm sein oder ein lautloses Vorspiel zu einem Drama mit viel Donner und Geschrei. Bonifatio Montecello, der Älteste der italienischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste, hatte es sich nicht nehmen lassen, in der nach altrömischem Stil erbauten Villa des luxusverwöhnten Luigi Girandelli Posten zu beziehen. Der ehemalige Hauseigentümer mochte gerade in einem Heim für Findelkinder nach neuer Zuwendung schreien oder tief schlafen. Er war auf Beschluss der Liga vollständig wiederverjüngt und aller bisherigen Erinnerungen entledigt worden und sollte ein ganz neues Leben führen.

"Posten Wohnzimmer, Beobachtung LR-Säule!" verlangte Montecello über den mit seinen Leuten verknüpften Vocamicus-Zauber. "LR-Säule ruhig. Bisher kein unmittelbarer Eindringversuch von unerwünschter Stelle", kam die erbetene Meldung. Also hatte die silberne Säule im Wohnzimmer, die mit einem Locorefusus-Zauber versehen war, noch kein unerlaubtes Apparieren abwehren müssen. Sicher, wer wusste, wann die Ministeriumszauberer in Tiefschlaf verfallen waren konnte sich ausrechnen, wann es sich lohnte, anzugreifen. Noch fehlten zehn Minuten bis zur möglichen Auslöschung des Blutsiegelzaubers. Dessen Status erfragte Montecello als nächstes. Noch war die Tür zum weitläufigen Keller entsprechend gesichert. "Sobald der Blutsiegelzauber erlischt äußerste Wachsamkeit!" wies Montecello seine Leute an. Er dachte bereits daran, dass er selbst in diesen Keller hineingehen und die dort verstauten Dinge überprüfen wollte. Ja, er wusste, dass es auch eine große Versuchung sein würde, die von Ladonna zusammengetragenen Dinge und Aufzeichnungen nicht für eigene, natürlich gutartige Vorhaben einzusetzen. Doch wie hieß es so richtig: "Vergiftete Erde bringt keine nährenden Früchte hervor."

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Es fiel ihr sehr schwer, nicht noch tiefer zu sinken und so noch besser durch alle Hindernisse hindurchblicken zu können. Doch sie hatte gleich nach ihrer Ankunft über Ladonnas Residenz bei Florenz erfasst, dass mehrere Feindesaufspürzauber wirkten. Da sie für die da unten sicher eine sehr gefährliche Feindin war würden diese Zauber sofort anschlagen, ob Unsichtbarkeit oder nicht. Immerhin hatten sich die Italiener nicht dazu verleiten lassen, Besenbeißer auf Patrouillenflug zu schicken. Gut, die hätten auch die zehn über dem Haus kreisenden Wächter gefährdet, die ebenfalls auf unsichtbar machenden Besen ritten, wohl solche aus der Besenwerkstatt der Nuvolebianche-Sippe. Daher musste sie ebenfalls darauf gefasst sein, geortet zu werden.

Auch hatte sie erkannt, dass genau in der Mitte des Hauses ein starker Locorefusus-Zauber eingerichtet worden war, um das Apparieren zu vereiteln. Sowas ging schneller als ein für bestimmte Personen durchlässiger Schutzwall. Sie musste grinsen, als sie das glitzernde Ding sah, dass wie eine Mischung aus Krake und Kronleuchter über dem Haus schwebte und sich bereits mit gemächlicher Geschwindigkeit gegen die Uhrzeigerrichtung um sich selbst drehte. Das war sicher einer jener Koboldvergrämungsapparate mit wechselnden Magnetfeldern, die den Spitzohren die Orientierung und auch die Sinne verderben konnten. Doch die aus Italien verjagten Kobolde hatten es bisher nicht gewagt, in ihre Heimat zurückzukehren. Womöglich fürchteten sie, dass die Übergangsverwaltung jedes unerlaubte Eindringen dazu nutzen würde, die Verbannung aller Kobolde aufrechtzuhalten. Vielleicht lag es auch daran, dass die Kobolde sich noch darüber zankten, welche Entschädigung sie einfordern konnten und ob es für alle gleich viel sein sollte.

Albertrude prüfte ihre eigenen Vorkehrungen. Ihr war natürlich seit Weihnachten klar, dass sie nicht mal eben da hineinapparieren konnte und dass sie nicht offen gegen mehr als zwanzig ausgebildete Hexen und Zauberer kämpfen konnte. Doch weil in ihr Gertrudes Erbe weiterlebte wusste sie, wie sie eine ganze Hundertschaft von Feinden zumindest für eine Stunde außer Gefecht setzen konnte. Eine Stunde würde ihr vollkommen reichen. Die da unten würden sich wundern und dann vielleicht vor Wut zerplatzen.

"Ah, Gesines Truppe ist unterwegs", dachte Albertrude, als sie aus Nordwest eine Gruppe Hexen auf unsichtbar machenden Besen entdeckte. Gesine Feuerkiesel, die Stuhlmeisterin der schweigsamen Schwestern des deutschsprachigen Raumes, hatte offenbar beschlossen, das aus dem Ministerium entwendete Buch der Dysmonia Feuerkruger an sich zu bringen und bei der Gelegenheit auch gleich den matrilinearen Zauberspiegel und die Karte mit den für Hexen wertvollsten Kraftorten für sich oder die gesamte Schwesternschaft sicherzustellen. Tja, das Buch wollte sie auch gerne haben. Es war schon schwer gefallen, Gesine davon zu überzeugen, dass sie als Kundschafterin ausfiel, weil sie in dem Zeitraum andere Aufgaben für das Ministerium zu erledigen hatte.

Aus dem Osten und aus dem Süden kamen weitere "Interessenten" angeflogen. Albertrude musste innerlich grinsen, als sie fünf fliegende Teppiche sah, auf denen je drei Zauberer reisten. Die Herren aus dem Orient hatten sich nicht mal die Mühe gemacht, sich unsichtbar zu machen. Das würde gleich sicher interessant werden, dachte Albertrude Steinbeißer.

Das rote Flirren im Keller der Villa geriet ins unstete Flackern. Zumindest sah Albertrude es so mit ihren Augen. Nun konnte sie auch genau sehen, wo Bücherregale und wo Reagentien waren. "Sie müssen alle auf dem Grundstück sein, nicht weiter als hundert Meter vom Boden weg", dachte Albertrude noch einmal. Denn nur dann würde einer von drei nur ihr bekannter Zauber alle Widersacher treffen können. Auf jeden Fall durfte sie nicht zulassen, dass von denen da unten welche in den Keller gingen. Einer der älteren Zauberer aus der Wachgruppe machte bereits Anstalten, mit seinen Untergebenen die schmiedeeiserne Tür zum Weinkeller zu prüfen. Gleich würde der Blutsiegelzauber erlöschen. Dann fiel ihr was ein. Warum sollte sie nicht abwarten, dass diese Möchtegernwohltäter da unten für sie alle verbliebenen Hindernisse beseitigten? Sie beschloss doch noch eine Minute zu warten und dabei alles und jeden gut in jedem Auge zu behalten.

Als Albertrude noch einmal die Umgebung absuchte fiel ihr eine kleinwüchsige Person in der typischen silbrigen Aura eines Unsichtbarkeitszaubers auf. Die Person war eindeutig weiblich und trug einen ledernen Hosenanzug. albertrude kannte die Fremde nicht. Sie musste wohl einer geheimen Schwesternschaft angehören oder war gar eine Feuerrosenschwester, die nicht wie alle anderen in tiefen Schlaf gefallen waren. Außer der für Koboldstämmige typischen Kleinwüchsigkeit fielen der auf ihrem Kopf sitzende Helm wie aus reinem Glas auf. Zudem war sie noch mit einem über dem Rücken hängenden Jagd- oder Kriegsbogen bewaffnet, zu dem auch ein Köcher voller unheilvoll dunkel pulsierender Pfeile gehörte. albertrude besah sich den gläsernen Helm genauer und erfasste, dass diesen eine starke Aura umfloss, die grün-rot waberte und in der eine winzige Gestalt wie von glühenden Bändern gefesselt schwebte, die Gestalt eines männlichen Koboldes. Albertrude ahnte, dass der Helm sowas wie ein Horkrux sein musste. Dass sie das Seelenfragment darin wie einen gefesselten also gefangenen Kobold sah deutete darauf hin, dass die Helmträgerin sich den Helm und die darin eingebettete Seele vollständig unterworfen haben musste. Sie erinnerte sich an Anthelias dunkles Medaillon, dass bei der Verschmelzung mit der uralten Spinnenhexe zerstört worden war. War der Helm eine Koboldabwandlung dieses mächtigen Gegenstandes? Womöglich missfiel es der eingebetteten Seele, einen weiblichen Wirtskörper zu haben und dann auch noch von dessen Eigentümerin unterworfen zu sein wie unter dem Imperius. Denn üblicherweise wirkten Horkruxe so, dass sie deren Träger zu Gunsten deren Erzeuger veränderten und am Ende vollständig unterwarfen wie ein orientalischer Dibbuk, der Besitz von einem lebenden Wesen ergreift. Ja, und was die Waffe anging handelte es sich garantiert um einen Zauberbogen mit dazu angefertigten, womöglich verfluchten Pfeilen, bei denen es schon reichen mochte, das Ziel zu treffen. Albertrude erkannte, dass die einzelne Fremde, die gemächlich daherschritt, die mit Abstand gefährlichste Gegenspielerin sein mochte. Sollte sie diese zuerst unschädlich machen? Nein, dann würden alle anderen gewarnt und nach der unsichtbaren Gegnerin suchen, auch die für Gesine Feuerkiesel streitenden Mitschwestern aus Deutschland.

Der Blutsiegelzauber flackerte noch wilder. Erste Lücken klafften mit glühenden Rändern. Gleich würde er endgültig erlöschen. Die Risse in der magischenAbsicherung wurden mer und vereinten sich zu breiten Spalten. Dann strahlte die Aura des Blutsiegelzaubers für einen Herzschlag zehnmal so hell wie bisher auf und erlosch vollständig. In dem augenblick begannen die vor der Kellertür postierten Zauberer, die eiserne Tür zu bezaubern.

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Diana Camporosso fühlte die ihr entgegenströmenden Abwehrzauber. Der auf dem Kopf sitzende Helm summte und wummerte leise. Noch hielt die Unsichtbarkeit. Die kleinwüchsige Erbin Ladonnas fühlte ein kurzes Erbeben unterhalb ihres brustkorbes. Die voreingestellte Uhr hatte die günstige Stunde verkündet. Also galt es jetzt. Sie tippte sich ans linke Bein und rannte los. Die Geschwindigkeitsbezauberung in ihren stiefeln brachte sie auf die siebenfache Laufgeschwindigkeit normalgroßer Männer. Im Laufen nahm sie den Bogen ab und legte einen der hundert Todespfeile auf die Sehne. Wer ihr immer entgegenspringen mochte würde sterben.

Dank des in ihr eingebetteten Wissens Deeplooks hatte sie einen Zauber auf ihre augen gelegt, der "Anblick des Feindes" hieß und einen Gegner auf Grund seiner Feindseligkeit für sie sichtbar machte, ob unsichtbar gezaubert oder nicht. So sah sie bei ihrem Spurt zum Haus drei Zauberer, die sich ungefähr in ihre Richtung orientierten. Sie griffen sie aber noch nicht an.

als Diana nur noch zwanzig ihrer Schritte vom Eingangsportal entfernt war meinte sie, in einen lautlosen Wirbelsturm hineinzugeraten. Ihr Standortssinn geriet aus dem Gleichgewicht. Sie meinte, ein immer schnelleres und lauteres Wummern und Klopfen zu hören und glaubte, von unsichtbaren Händen amKopf ergriffen und immer wieder auf- und abgerissen zu werden. Sie geriet aus der gewünschten Laufrichtung, begann zu schlingernund verlor den Halt. Dabei löste sie den Griff von der Bogensehne. Der aufgelegte Pfeil schwirrte scheinbar ziellos davon. Als sie jedoch zwei Sekunden später einen kurzen Aufschrei hörte sah sie, dass ihr Schuss wohl doch ein Opfer gefordert hatte. Gerade so konnte sie ihren Sturz in eine Fallrolle verwandeln. Der Restschwung ließ sie mehr als zehn Schritte über den Boden schlittern. Sie hatte alle Mühe, die wertvolle Waffe nicht zu verlieren. Dann sah sie, wie vier als dunkelrot glühende Gestalten erkennbare Feinde auf sie zuliefen. Zugleich landeten um sie herum mehrere Flugteppiche. Sie hörte einen der Reiter in stark akzentlastigem Italienisch rufen: "Im Namen des nordafrikanischen Bündnisses fordern wir, die zeitweiligen Vertreter des ägyptischen Zaubereiministeriums, die sofortige Herausgabe der in diesem Haus versteckten Erzeugnisse Ägyptens. Ich bin von Übergangsminister Al-Kahiri ermächtigt, unsere Interessen notfalls mit magischer Gewalt durchzusetzen."

"Das muss der italienische Übergangsminister ... Eh, ihr Drecksäcke!" rief einer der Wachenden und deutete dann auf dem aus der Unsichtbarkeit herausgefallenen Körper am Boden. Ein Pfeil steckte in der linken Schulter. Das konnte Diana gerade so noch sehen, trotz der nun noch vor ihren Augen flackernden Lichtblitze und der immer stärkeren Kopfschmerzen. Da wusste sie, was diese Banditen anstellten. Die benutzten jene Vorrichtung, um Kobolde durch wild kreisende Magnete zu verwirren. Das gelang offenbar auch bei ihr, ja und es wurde immer schlimmer. Diana meinte vor lauter Blitzen jede Bewegung in Dutzende Abschnitte zerlegt zu sehen. Gleichzeitig meinte sie, ihr Kopf würde ihr gleich von den Schultern gerissen. Es dröhnte unerträglich laut in ihren Ohren. Sie hatte gerade überhaupt keine Empfindung, wo Norden, Osten, Süden oder Westen war. Alles wirbelte um sie herum. Wenn sie nicht schnellstmöglich von hier verschwand würde die Magnetwirbelei ihr noch das Gehirn zerkochen. Doch den verschossenen Pfeil wollte sie noch zurückholen. Dafür musste sie ihn jedoch mit eigenen Händen ergreifen.

Sie geriet fast in die Flugbahn eines Zauberfluches, den ein unbeherrschter Wächter auf einen der Orientalen schleuderte. Nur auf allen vieren kriechend schaffte sie es, an den von ihr aus Versehen erschossenen heranzukommen. Gerade als wer anderes den Pfeil ergreifen wollte zog Diana das Geschoss aus der eigentlich nicht tödlichen Wunde. Dann musste sie zusehen, möglichst schnell aus der Reichweite zugreifender Hände zu kommen. Da sie nicht nur Kobold-, sondern auch Zwergenblutanteile im Körper hatte besaß sie eine besonders hohe Reaktionsfähigkeit und Geschwindigkeit. So entging sie trotz des in ihremKopf tobenden Höllensturmes dem Zugriff. Sie wollte aus der Reichweite des Magnetwirbels kommen. In ihr schrie Deeplook, dass er nicht so ehrlos sterben wollte. Dann traf Diana etwas, von dem sie erst später erfuhr, was es genau war.

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Die Kleinwüchsige lief mit irrwitziger Geschwindigkeit los, während im Haus die Wächter die Tür öffneten. Wer immer die Kleine war, sie beherrschte ziemlich geniale Zauber, fand die heimliche Beobachterin. Dann sah sie, dass die angeblich nur gutes im Sinn habenden Zauberer den weitläufigen Weinkeller betraten und zielstrebig den gewaltigen Steinsarg ansteuerten. Offenbar hatte da jemand einen ähnlichen Sichtverstärker für magische Auren, dachte Albertrude Steinbeißer. Sie begann im Kopf von zehn herunterzuzählen wie bei einem Raketenstart der Magieunfähigen. Dabei beobachtete sie mit einem Auge, wie die Ligazauberer genau die Vorbereitungen trafen, um den Steinsarkophag zu öffnen, die sie selbst nutzen wollte. Auch sah sie, wie die kleinwüchsige Frau durch den wirbelnden Wechselmagnetkreisel aus dem Tritt geriet. Damit stand für die heimliche Beobachterin fest, dass die andere wahrhaftig koboldstämmig war. "Vier - drei - zwei - eins - null!" dachte sie noch. Jetzt war es soweit.

Albertrude stürzte sich mit ihrem Besen nach unten. Sie hielt den Atem an und warf etwas nach unten, was wie ein in Watte gebetteter Festkörper aussah. Gerade als das von ihr geworfene Geschoss den Boden erreichte flogen ihr fünf Zauberflüche entgegen. Allerdings prallten diese von der Zusatzbezauberung ihres Flugbesens ab, die mittelschwere Flüche ablenken konnte. Albertrude sang leise zwei Worte, die aus Gertrudes Wissen stammten. Da glühte der auf den Boden geworfene Gegenstand in blauem und grünen Licht auf. Das Licht schien förmlich zu explodieren. Schlagartig wurde das gesamte Grundstück und wohl auch alle im Haus von diesem Licht erfasst und durchdrungen. Die Wachen wurden nun sichtbar, und die auf den Teppichen angereisten sanken ohnmächtig nieder. Auch Gesines Einsatzgruppe, die gerade über dem Grundstück dahinflog, wurde von jenem magischen Licht getroffen. Die Besen sanken nieder. Der Bannruf von Wind, Erde und Blut, den Gertrude einst ersonnen und an mehreren Dutzend Gegnern immer wieder ausprobiert hatte, wirkte nun auch wieder. Da nützte auch keine Schutzaura gegen Gefühlsbeeinflussungszauber. Denn dieser Zauber nährte sich von jeder Form von Magie, die von lebenden Wesen auf lebende Wesen gewirkt wurde. Nur Albertrude, die Urheberin des Zaubers, blieb davor verschont, weil sie das einzige Gegenmittel unter ihrer Kleidung trug, einen Gürtel mit zwölf verschiedenen Edelsteinen. So konnte sie beobachten, wie alle im Halbmesser von mehr als hundert Metern um die Abwurfstelle erstarrten und dann besinnungslos am Boden lagen. Als das magische Licht erlosch stand und kämpfte niemand mehr. Es galt nun, die Dinge zu holen, die sie für brauchbar und machtvoll hielt. In dem Moment erstrahlten die bewusstlosen Körper von Gesines Mitstreiterinnen in silbernen Lichtspiralen und verschwanden. Also hatte die vorausschauende Stuhlmeisterin der deutschen Schwestern jeder einen Rettungsportschlüssel mitgegeben, der bei einem Sturz und einer eintretenden Bewusstlosigkeit auslöste, erkannte Albertrude.

Sie landete und lief durch das offene Tor, vorbei an ohnmächtigen Hexen und Zauberern. Sie eilte die steinernen Kellertreppen hinunter und steuerte zielgenau die Tür an, hinter der Ladonnas Beute verborgen war. Ja, sie sah drei Zauberer, die gerade eben den steinernen Sarkophag geöffnet hatten. Also brauchte sie die dafür nötigen Utensilien nicht mehr. Dafür sah sie wie für sie ausgelegt das dicke in grünblaues Leder gebundene Buch, die armlange Rolle mit drei silbernen Halteringen und den suppentellergroßen, kreisrunden Spiegel, dessen Rahmen ein Mosaik aus grünen, honigfarbenen und blauen Steinen war. Daneben erkannte sie auch verschiedene andere Gegenstände, wie einen Schild aus Silber und Gold, ein bronzenes Schwert, einen gläsernen Stab, einen Griffel und ein faustgroßes Auge aus Smaragd. Mit ihrer Aurensicht erkundete sie die magische Beschaffenheit der Gegenstände. Der gläserne Stab strahlte jene Kräfte aus, die mit lebenden und toten Seelen wechselwirkten. Albertrude konnte an Hand der silbernen Lichtarme sehen, dass der Glasstab bemüht war, nach körperlosen Geistererscheinungen zu tasten. Jedenfalls lauerte er auf die Handlung, die seine Kraft entfalten konnte. Das Schwert wirkte noch unheilvoller auf sie. Sie meinte aus dem Griff mehrere pulsierende Blutegel herauswachsen zu sehen und aus der Klinge einen überlebensgroßen Egel. Da war ihr klar, dass es wohl vom Blut seines Trägers oder seiner Opfer zehrte. Bei dem Auge sah sie vier darum herum schleichende Katzen aus Licht und eine besonders große, die in Lauerstellung darüberhockte. Also mochte das Auge mit dem Kult der Katzenfrauen Ägyptens zu tun haben, die sich für die Erbinnen der Göttin Bastet hielten. Der Schild schien das Licht von Sonne und Mond eingefangen zu haben. Ein ohrenförmiges Amulett an einer Lederschnur zeigte einen Schakal in Wachstellung. Dieses Zeichen erkannte sie. Ja, davon hatte sie gehört. Es war das Ohr des Anubis, mit dem die Nähe von Geisterwesen gehört werden konnte. Es konnte aber nur von denen benutzt werden, die schon getötet hatten und selbst nicht mit einem lauernden Todeszauber behaftet waren. Da Gertrudes Geist mit Albertine verschmolzen war konnte Albertrude es wohl nutzen. Sie nahm es an sich. Das gleiche tat sie mit dem grünblau gebundenen Buch, der Kartenrolle und dem runden Spiegel. Ebenso fand auch ein in schwarzes Leder gebundenes Buch in lateinischer Sprache den Weg in ihren Rucksack, auf dessen Rücken die in silbernen Lettern "De Filii noctis" stand. Dann fand sie noch einen ovalen, handtellergroßen Spiegel in silbernem Rahmen. Als sie hineinblickte sah sie das von einer hellblauen Aureole umstrahlte bleiche Gesicht einer Frau mit silberfarbenen Augen wie kleine Weihnachtskugeln. Sie erkannte das Gesicht und wusste, dass sie auch diesen Spiegel mitnehmen wollte. Denn das war der Reisespiegel von Savanna Silvercreek, einer mächtigen Hexe aus Massachusetts, die auch als Rächerin von Salem bekannt geworden war. Also steckte sie auch diesen garantiert zaubermächtigen Spiegel in ihren Rucksack. Dann lauschte sie und sah sich um. Immer noch herrschte völlige Stille wie in einer verschlossenen Gruft. Alle von ihr betäubten lagen weiterhin reglos am Boden.

Nun wollte sie noch das zaubermächtige Geisterzepter an sich nehmen. Der gläserne Stab verweigerte sich jedoch ihrem Zugriff. Er schien unendlich schwer und zugleich schlüpfriger zu sein als ein mit Seife überzogener Körper. als sie genauer hinsah erkannte sie, dass die Aura des Stabes geisterhafte Hände formte, die ihre Hand zurückdrängten. Also mochte der Stab sie nicht oder mochte generell keine weiblichen Besitzer. Sie musste grinsen. Auf Männer geprägte Zauberdinge hatte Gertrude Steinbeißer zu Dutzenden "umgedreht". Sie zielte mit ihrem Zauberstab auf den gläsernen Stab und murmelte eine altkeltische Zauberformel, die die Heldenkraft des Kriegers in grenzenlose Ehre der Mutter und Hingabe an die Geliebte umwandelte. Tatsächlich flirrte der gläserne Stab erst in einem blutroten Licht, das nach der zweiten Wiederholung der Umkehrungsformel in ein silbernes Licht überging und dann erlosch. Albertrude betrachtete ihr Werk und erkannte, dass die sonstige Aura des Stabes immer noch die selben Ausprägungen hatte. Als sie nach dem Stab griff erwärmte sich dieser und ließ sich federleicht aufheben. Einen Moment lang erstrahlten er und sie in einem mondlichtfarbenen Silberlicht, und Albertrude fühlte, wie eine warme Strömung aus dem Stab durch ihren Arm in ihren Körper floss und sich in ihrem Unterleib zu einem wohligen Pulsieren bündelte. Dann verging diese Empfindung. Der gläserne Stab des Totenrichters war nun auf die Hand einer Mutter gewordenen Magierin umgestimmt und hatte sie, Albertrude, als seine Besitzerin akzeptiert. Die aus zwei Hexen zu einer machtvollen Person verschmolzene fragte sich mit überlegenem Lächeln, ob Anthelia diesen Umkehrungszauber kannte, der nur für Männer bestimmte Dinge auch oder gar ausschließlich für Frauenhände greifbar und für Frauenhirne nutzbar machte. Dann fiel ihr ein, dass Anthelia noch kein eigenes Kind ausgetragen und geboren hatte. Somit würde der Zauber für sie gar nicht wirken. Ihr überlegenes Lächeln wuchs zu einem überlegenen Grinsen. Dann legte sie den nun auf sie eingestimmten Glasstab zu den anderen erbeuteten Gegenständen in den Rucksack.

Ein kurzer Rundblick durch alle Decken und Wände zeigte Albertrude, dass im Augenblick keine weiteren Gegenspielerinnen und Gegenspieler in Sicht waren. So konnte sie sogar weitere Bücher und Schriftrollen auswählen, die sie für sich selbst sicherte.

Die Waffen ließ sie wo sie waren, ebenso das Auge und andere Dinge, die scheinbar harmlos aussahen aber tödlich sein konnten. Sie folgte dabei dem Grundsatz, nur die Dinge anzufassen, deren Wirkung sie vorhersehen und wünschen konnte.

Als sich Albertrude erneut umblickte überlegte sie, ob es nicht geboten war, sämtliche Hexen und Zauberer auf diesem Grundstück zu töten. Sie könnte die von den Ligaleuten unvorsichtigerweise im Haus verteilten Sprengkörper zünden oder Dämonsfeuer beschwören oder das Lied des lockenden Todes anstimmen, das Gertrude aus jenem Buch von Dysmonia Feuerkruger kannte, dass sie sich gerade eingesteckt hatte. Dann fiel ihr jedoch ein, dass die im Keller gehorteten Gegenstände womöglich auf einen gewaltsamen Tod reagieren mochten und sie keine Geister rufen wollte, die sie nicht wieder loswurde, wie es in der amüsanten Ballade vom an Selbstüberschätzung leidenden Zauberlehrling hieß. Wer wenn nicht sie wusste, wie gnadenlos mit dunklen Zaubern erfüllte Gegenstände wirken konnten, wenn sie nicht in der für sie bestimmten Weise benutzt wurden? Also verwarf sie die kurze Überlegung, sämtliche hier herumliegenden umzubringen.

Unangefochten verließ die aus zwei Hexen vereinte den ehemaligen Schatzkeller Ladonnas. Sie wollte noch nachsehen, ob nicht schon wer von den hier herumliegenden für sie wichtige Dinge bei sich trug.

Wieder vor dem Hauptportal der Villa suchte Albertrude alle bewusstlosen Gegner und Gegnerinnen ab. Da sie für die Zauberstäbe keine Verwendung hatte und als deutsche Hexe auf einen schnellen Besen schwor brauchte sie keinen fliegenden Teppich. Allerdings führten die Teppichreiter Schriftrollen mit, die zum teil arabische und zum Teil ägyptische Schriftzeichen trugen. Weil sie ja gerade mehrere ägyptische Artefakte eingesammelt hatte nutzte sie die Gelegenheit, sich vielleicht noch mehr Wissen über die Magie des Pharaonenreiches zu verschaffen.

Sie brauchte nur zwei Minuten, wobei sie immer mit einem ihrer magischen Augen den Himmel beobachtete. Wegen der noch wirkenden Locorefusussäule konnten neue Gegner nur zu Fuß oder auf magischen Fluggeräten herkommen.

Wo war die Kleinwüchsige mit dem silbernen Zauberbogen? Da fiel Albertrude ein, was mit der passiert war. Offenbar war sie doch koboldstämmig genug, um den gleichen Auswirkungen anheimzufallen. Albertrude grinste überlegen. Die andere würde sich wundern, falls sie überhaupt jemals wieder zu sich kam. Dieser kleine aber feine Nebeneffekt ihres flächendeckenden Betäubungszaubers hatte Gertrude schon damals amüsiert. Ja, die Gegnerin musste in nicht all zu großem Abstand von einem Kobold und vielleicht auch einem Zwerg abstammen. Nur ein wenig bedauerte es die Hexe mit den magischen Augen, dass sie der anderen nicht den Bogen und den Köcher wegnehmen konnte. Andererseits war sie eine zauberstabvertraute Hexe und eine Großmeisterin der Zaubertränke und keine Bogenschützin oder Schwertschwingerin. Doch sie würde Anthelia vor der anderen warnen. Denn sie sah, was mit dem Zauberer passiert war, der von einem nicht ganz sorgfältig gezielten Pfeil getroffen worden war. Falls die andere wieder zu sich kam mochte diese zu einer sehr gefährlichen Gegenspielerin werden. Denn ein tödlich wirkender Pfeil konnte leiser, schneller und weiter geschossen werden als der tödliche Fluch.

Mit dieser nicht ganz so beruhigenden Erkenntnis bestieg Albertrude ihren Besen und flog unbehelligt davon. Niemand würde nachvollziehen können, was hier geschah. Denn sie hatte vorsorglich einen Unortbarkeitsstein in ihren Unterleib eingeführt. Florymont Dusoleils Rückschaubrille würde sie nicht verraten.

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Ihr Schädel dröhnte. Ein feines Singen rang direkt aus dem Helm aus Seelenglas in ihren Kopf. Ihre Glieder kribbelten. Sie fühlte Kälte. Dann hörte sie ein leises Plitsch, dem zwei Sekunden Widerhall folgten. Sie merkte, dass sie wohl die Augen geschlossen hatte. Mühsam stemmte sie die wie Bleideckel schweren Lider auf. Es blieb dunkel um sie. Da traf sie wie mit einem Finger aus eis ein Wassertropfen zwischen den Augen. Sie merkte, dass sie auf einem harten, unebenen Boden lag. Ihr Sinn für die Eisenweisekraft der Erde drehte sich noch, wohl von der Magnetkreiselei, die die Ligazauberer über der Girandelli-Villa veranstaltet hatten. Doch dann fand ihr Orientierungssinn ins Hier und Jetzt zurück.

Pong! Ein weiterer Wassertropfen traf Dianas lebenslang zu tragenden Helm. Das brachte sie darauf, an Deeplook zu denken. Der in ihr eingekerkerte Geist des Gründervaters des Koboldgeheimbundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui schien wie sie aus einer tiefen Ohnmacht zu erwachen. Seine Stimme war sehr leise, und die mit ihm erwachenden Erinnerungen tröpfelten ebenso spärlich in ihr Bewusstsein wie die Wassertropfen von der Höhlendecke. "Wir wurden verbannt, der Hauch der wütenden Erdmutter. Man kennt ihn also immer noch", hörte sie Deeplooks verdrossene Gedankenstimme. Sogleich wusste sie, was der alte Kobold damit meinte. Denn in demselben Augenblick durchfluteten sie die Erinnerungen an eine Zauberschlacht in Deutschland, bei der mehrere Hexen gegen Kobolde gefochten hatten. Eine von ihnen, Deeplook hatte bis zu seinem körperlichen Ende nicht herausbringen können wer, hatte einen watteartigen Gegenstand geschleudert, der beim Auftreffen auf dem Boden zu einer grün-blauen Lichtwoge geworden war, die seine damaligen Bundesgehilfen in den Erdboden hinuntergestoßen und dabei über viele hundert Tausendschritte weit geschwemmt hatte. Jeder der Kobolde hatte sich danach in einer unterirdischen Höhle wiedergefunden. Doch der Zauber hatte jedem viel Kraft entrissen. Zehn von dreißig ausgeschickten Kobolden waren bei dieser großflächigen Zauberei vor Erschöpfung gestorben. Das einzige, was Deeplooks damalige Bundesgehilfen erfahren hatten war, dass dieser Zauber auf Menschen wie ein Betäubungsschlag wirkte und sich wohl aus den Zauberkräften von Erde und Wind nährte und vor allem dort besonders stark gebündelt wurde, wo lebende Wesen waren, die ja in einem ständigen Verhältnis der vier Grundkräfte bestanden.

"Die verdammten Nachtfraktionshuren oder die Spinnenschlampen waren das", gedankenknurrte Diana. Denn ihr war klar, dass dieser Angriff nicht ihr persönlich gegolten hatte, sondern ein Rundumschlag gegen alle magischen Menschen bei der Girandelli-Villa sein sollte. Wer den ausgeführt hatte mochte sich Zeit verschafft haben, um Ladonnas Schatzkeller auszuräumen, trotz der prahlerischen Beteuerungen der Ligazauberer, dass sie keinen hineinlassen würden.

Diana Camporosso machte Bestandsaufnahme. Sie hatte noch alles bei sich, vor allem den silbernen Bogen und alle Pfeile, wobei der eine, den sie gerade noch rechtzeitig aufgelesen hatte, erst eine ganze Woche lang dem Licht der Himmelskörper ausgesetzt werden musste, um seine tödliche Kraft zurückzugewinnen. Als sie beruhigt war, noch unversehrt zu sein und alle wichtigen Dinge am Körper zu tragen nutzte sie ihren wieder erholten Standortsinn und fand so heraus, dass sie quer über die stiefelförmige Apenninhalbinsel hinweggeschleudert worden war und in einer Höhle bei Sorent angekommen war, in der natürliche Erdmagieströme gebündelt wurden. Ihre silberne Taschenuhr, die bei Berührung von selbst aufleuchtete, verriet ihr, dass zwischen dem Erlöschen des Blutsiegelzaubers und ihrem Erwachen eine halbe Stunde vergangen war. Diese Zeit reichte wem auch immer, alle wertvollen Schätze aus Ladonnas Besitz fortzuschaffen. Also lohnte es sich nicht mehr, nach Florenz zurückzukehren. "Die Schätze des Nils!" durchzuckte sie ein Gedanke, den nicht sie selbst gedacht hatte. "Ladonna hatte mehrere Stücke aus Ägypten, die zu den legendären zwölf Schätzen des Nils gehörten. Es ist sicher wichtig, herauszufinden, was davon noch da ist und wo der Rest ist." Diana Camporosso kam nicht umhin, ihrer "inneren Stimme" rechtzugeben. Deeplook hatte ja davon erfahren, dass die Gringotts-Kobolde in Ägypten mehrere machtvolle Artefakte aus der Pharaonenzeit erbeuten ließen. Wenn Ladonna die an sich gebracht hatte ... "Der dunkle Pharao, dieser Sohn eines Schleimwurms und einer Stinkassel hat sich davon welche angeeignet. Ladonna hat ihn besiegt. Dann hat sie die Sachen von ihm übernommen. Es ist wichtig, das nachzuprüfen, Diana", beharrte Deeplook auf die Nachforschung. Also machte sich die Trägerin seines Seelenglashelmes auf den Weg zurück nach Florenz, immer darauf gefasst, von den dort wachenden Zauberstabträgern entdeckt und überwältigt zu werden.

Als sie mit bedachten Appariersprüngen bis auf zwei Kilometer an die Villa herankam fühlte sie es, Wellen in der Erde, die unter ihren Füßen entlangwogten und sie beinahe mit sich zogen. Sie fühlte, dass jede dieser Erdmagiewellen mit ihren Atemzügen wuchs und verflachte. So hielt sie die Luft an und lief mit ihren Hochgeschwindigkeitsstiefeln so weit, bis sie das Grundstück erreichte. Dort sah sie die betäubten Hexen und Zauberer. Dann musste sie jedoch wieder atmen. Wusch! Der erste tiefe Atemzug löste eine so heftige Erdmagiewelle aus, dass sie davon wie in klares Wasser hinabgezogen und mehr als zehn Kilometer weit fortgerissen wurde, ehe sie wieder aus dem Erdboden herausstieß und auf ihre nun wild kribbelnden Füße kam. Deeplooks Stimme bemerkte dazu: "Also hält dieser von jenem nimmersatten Unheilssohn der Erde in die Welt gefurzte Zauber immer noch vor. Du musst auf einem dieser widerwärtigen Flugbesen fliegen, Diana."

"Was du nicht sagst, kleiner Ränkeschmied", gedankenknurrte Diana. Doch wo er recht hatte ...

Sie apparierte erneut bis zu jener Stelle, wo sie gerade noch ankommen konnte. Dort zielte sie auf das Girandelli-Grundstück und rief "Accio Superfalcone-Besen!" Ihr Zauberstab erbebte, und sie meinte, durch die Füße einen Schauer Eiswasser in sich hineinjagen zu fühlen. Dann hielt sie die Luft an, um die zwischen Erde und Wind wechselwirkende Magie von sich fernzuhalten. Zehn Sekunden später schwirrte ein dünner, mit gerade ausgerichteten Reisigbündeln bestückter Besen auf sie zu. Sie schnappte ihn mit der freien Hand. Sie drehte ihn so, dass sie aufsitzen konnte. Der Besen bockte erst, weil sie offenbar nicht seine rechtmäßige Besitzerin war. Doch dann gehorchte er ihr. Sie trieb ihn bis auf hundert Meter hoch und jagte innerhalb von nur dreißig Sekunden auf das Girandelli-Grundstück zurück. Deeplook hatte recht. Im freien Flug wirkte der Verdrängungszauber nicht auf sie. Allerdings empfing sie nur einen Kilometer von der Villa entfernt ein immer wilder wirkender Wirbel aus Magnetkraft und ließ Blitze und Sirrlaute in ihrem Kopf entstehen. Sie konnte gerade noch beidrehenund den Besen zur höchsten Geschwindigkeit treiben, um nicht erneut im die Sinne verwirrenden Strudel der wild kreisenden Wechselmagneten zu versinken. Die Antikoboldvorrichtung wirkte also noch, und sie war dafür zu empfänglich, um es zu ignorieren. Damit stand für Diana Camporosso fest, dass sie bis auf weiteres wohl nicht mehr an die Villa herankommen würde. So war es nicht möglich, nach den dort gelagerten Schätzen des Nils zu forschen. "Der nimmersatte Sohn der Erdmutter möge die Erfinder dieser widerwärtigen Wirbelvorrichtung fressen", hörte sie Deeplooks Gedankenstimme.

Diana landete außerhalb der erfühlten Reichweite des immer noch wirkenden Erdzaubers. Von dort schickte sie den "geliehenen" Besen zurück, damit keiner Verdacht schöpfte, jemand habe sich damit aus dem Staub gemacht. Anschließend kehrte die erfolglos gebliebene Anwärterin auf Ladonnas Erbschaft in ihr eigenes gesichertes Haus zurück. Sie musste sich damit abfinden, nur denZauberbogen und die Todespfeile des Anhor zu besitzen, "ja, und mich und mein überragendgroßes Wissen", bedachte Deeplook ihren Gedanken mit einem eigenen Kommentar. Doch genau mit diesem unerbetenen Geschenk Ladonnas wollte sie es neu angehen, die Herrschaft der Hexen auf Erden zu errichten. Falls sie Ladonnas Feuerrosenschwestern an sich binden konnte, ja und wenn sie mit Deeplooks Hilfe den Koboldgeheimbund wieder aufbauen konnte, würde sie mehr Macht als Ladonna erlangen. Ihr wurde klar, woran Ladonna am Ende gescheitert war, an ihrer gnadenlosen Selbstherrlichkeit und Darstellungssucht, eben typisch eine Veelastämmige. Sie wollte es heimlicher angehen, nicht die Herrschaft von oben, sondern von innerhalb der magischen Institutionen. Sie kannte das geheime Befehlswort des schlafenden Koboldkönigs. Damit konnte sie jene Kobolde auf sich einschwören, die für Gringotts arbeiteten. Ja, über ihr Gold würden diese übergroßen und von sich überzeugten Zauberstabschwinger und Hexen zu packen sein. Doch erst einmal wollte sie herausfinden, ob die Feuerrosenschwestern für immer schliefen oder irgendwann wieder aufwachten. Wo vier von denen wohnten wusste sie noch. Diese würde sie, falls sie durch die Absicherungen kam, zu sich hinbringen und überwachen. Sie hatte ja Zeit. Offiziell galt Diana Camporosso als tot und begraben.

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Bonifatio Montecello erwachte mit einem Brummschädel, als habe er mit seinem alten Kumpel Federico Garibaldi in Girolamos Weinstube allen Met gesoffen, den der vorrätig hatte. Seine Schläfen pochten äußerst schmerzhaft. Seine Gliedmaßen kribbelten, als lliefe eine Legion Ameisen durch seine Adern und Muskeln. Was zur galoppierendenGorgone hatte ihn aus den Schuhen gehauen? Er hatte doch gedacht, alle Vorkehrungen getroffen zu haben, sogar Kopfblasenzauber gegen Betäubungsgas.

Er erinnerte sich an etwas wie eine grün-blaue Woge, die von oben her kam. Dann hatte es Wupp gemacht, und er war wohl erst mal weg gewesen. Er zog seine Weltzeit-Taschenuhr hervor. Wann hatte er zuletzt darauf geschaut? Ah ja, als der Blutsiegelzauber erlosch. Als er nun darauf sah stellte er fest, dass eine volle Stunde Zeit vergangen war. "Drachendreck! Eh, alle Mann wachwerdenund hoch mit euren Hinterteilen!" rief er lauthals. Die jüngeren waren jedoch schon wach, torkelten aber selbst wie voller süßem Honigwein und Kräuterschnaps durch die Gegend.

"O Mann, was hab' ich gesoffen, um diese Zwergenschmiede auf den Hals zu tragen", stöhnte Silvio Moretti, ein Fachzauberer für Thaumaturgie. Montecello wies ihn an, Bestandsaufnahme zu machen. "Wohl 'nen Schwarm Wichtel gefrühstückt, Bonifatio. Wir haben doch keine Ahnung, was die Feuerrosenhexe alles zusammengetragen hat wie ein brütendes Drachenweib, wie sollen wir da 'ne Bestandsaufnahme machen?" wollte ein anderer der Wachposten wissen.

"Jungs, seht einfach nach, wo Lücken im Bestand sind und klärt, was noch da ist. Viel wird's ja nicht sein. Wer immer uns alle so auf denBoden geschmettert hat hat genug Zeit gehabt, den ganzen Keller leerzuräumen. Der oder die hat nur gewartet, bis wir Trollsöhne diesen mit vielen Erdzaubern und einem weiteren Blutzauber versperrten Steinkasten aufgekriegt haben." Seine Leute konnten und wollten dem nicht widersprechen.

"Brauchen wir die Sprengkörper noch?" fragte Moretti, als er auf ein als normalen Nagel aussehendes Ding im Deckengebälk deutete. "Sind da draußen noch welche, die mit Gewalt hier rein wollen?" stellte Montecello eine Gegenfrage. Doch draußen war niemand mehr, der oder die sich Zutritt zum ehemaligen Hauptquartier Ladonna Montefioris verschaffen wollte. "Gut, dass wir die Dinger nicht so eingestimmt haben, dass sie losgehen, sobald wir bewusstlos werden", meinte Moretti zu Montecello. Dieser erwiderte: "Wissen wir, was jene unbekannten haben mitgehen lassen? Am Ende können der, die oder die alle Millionen von unschuldigen Menschen versklaven, quälen oder töten. Um das zu verhindern hätte ich mein Leben gegeben"." Montecello merkte jedoch gleich, dass er mit dieser Aufopferungshaltung ziemlich alleine stand. So sagte er nur: "Wir machen Bestandsaufnahme und schaffen das, was noch hier ist an einen von uns besser kontrollierten Ort. Dann können die Sprengkörper entfernt werden."

Nach einer halben Stunde stand fest, dass wirklich einige sicher wertvolle Stücke fehlten. Andere, vor allem magische Waffen, waren dagegen zurückgelassen worden. Wer immer sich bedient hatte hatte es auf Bücher und Schriftrollen abgesehen, also auf Wissen und Anleitungen.

Die Dinge dort bekommt Ägypten zurück und nur die Zaubererwelt da", sagte ein vollbärtiger Mann im dunkelgrünen Umhang, der ein wenig frischer wirkte als die italienischen Ligazauberer. Der Grüngewandete stellte sich als Omar Abdul ben Hadschi Hassan Harun iben Karim Yussuf Al-Kahiri vor.

"Ach, ein blauer Morgenstern?" fragte Montecello. Der Grüngewandete nickte. Dann deutete er auf den offenen Sarkophag und zählte wohl die darin liegenden Gegenstände durch. "Es fehlen vier Artefakte, von denen wir wissen, dass erst die gierfingrigen Kobolde und dann der dunkle Pharao und danach Ladonna sie besessen haben mussten", sagte er. Der Rat des friedlichen Überganges von Ägypten wird darauf drängen, den Verbleib der verschwundenen Dinge aufzuklären. Die noch vorhandenen bekommen wir."

"Ja, und morgen fällt goldener Schnee auf die Dolomiten", meinte Montecello. "Was hier liegt ist erst einmal im Besitz des italienischen Übergangsministeriums und wird nur nach Klärung der rechtmäßigen Eigentumsverhältnisse ausgeliefert, werter Herr Al-Kahiri. Was die von Ihnen als abhandengekommenen Sachen angeht gilt dasselbe."

"Sprechen Sie für das Übergangsministerium?" fragte Al-Kahiri. "Sprechen Sie offiziell für Ihren Übergangsrat?" konterte Montecello mit einer Gegenfrage. Al-Kahiri untersuchte seine Taschen und erkannte jetzt erst, dass ihm offenbar wichtige Dokumente abhandengekommen waren. "Natürlich sind Ihnen die nötigen Schreiben gestohlen worden", griente Moretti, der dieser Auseinandersetzung bisher schweigend zugesehen hatte. "Dieses heimtückische Geschöpf, das uns allen die Besinnung raubte hat mich bestohlen, beim Schlund von Apep."

"Nana, Sie werden doch keinen auf ein nimmersattes Fabelwesen bezogenen Fluch ausrufen, Herr Al-Kahiri", wies ihn Montecello zurecht.

"Bruder Al-Kahiri, nicht nur deine mitgeführten Dokumente sind fort", hörte Montecello einen der Flugteppichreiter zu seinem Anführer flüstern. Fast hätte er noch überlegener gegrinst, weil der andere nicht wusste, dass Montecello zum einen Lupaures-Ohrstecker trug, die ein fernes Geräusch oder leises Flüstern auf erträgliche Lautstärke anhoben und zum anderen dass er fließend Arabisch sprechen, lesen und schreiben konnte. Also hatte jene hinterhältige Kanallie sich alle interessant aussehenden Schriftstücke geholt, die die Flugteppichbrigade dabei hatte. Er sagte dann: "Solange ich als vom Übergangsministerium eingesetzter Außendiensteinsatzleiter keine gültige Vollmacht zur Beschlagnahme auf italienischem Boden gefundener Dinge und Schriften vorgelegt bekomme gilt, dass wir diese Dinge und Gegenstände in Verwahrung nehmen."

"Der Schild, das Schwert und das Auge kehren nach Ägypten zurück, Signore Montecello. Diese Dinge gehören in sichere Verwahrung, damit nicht erneut Missbrauch und Gewinnstreben damit angestellt werden können", wiederholte Al-Kahiri seine Forderung.

"Und ich sage, das alles bleibt erst einmal in Italien", erwiderte Montecello und machte eine Zirkelbewegung mit seinem Zauberstab. Mit leisem Plopp und einem metallischen Nachschwingen entstand eine strahlendgrüne Lichtglocke über dem Steinsarkophag. "So, da kommt kein Aufrufe- und kein Apportationszauber durch. Nur der, der sie aufruft kann die Glocke wieder auslöschen, Basta!"

"Ägyptens Schätze gehören Ägypten. Dass sie von britischen Schatzräubern erbeutet und ihren gierfingrigen Auftraggebern zugespielt wurden war schon eine große Beleidigung. Dass die Hände einer unwürdigen Hexe sie berührt haben ist noch schlimmer. Die Gegenstände reisen noch heute mit mir und meinen Brüdern nach Ägypten."

"Signore Montecello wollte lediglich sicherstellen, dass diese sicher sehr macht- und wertvollen Gegenstände nicht noch einmal in Falsche Hände geraten", versuchte einer von Montecellos Kameraden, die angespannte Lage zu beruhigen.

"Rico, du musst nicht den Diplomaten markieren", knurrte Montecello. "Was Ladonna hier zusammengetragen hat, sofern es noch da ist, bleibt erst mal in unserer Verwahrung. Es sei denn, der achso menschenliebende Morgensternbruder legt es darauf an, mit Gewalt an all die Sachen zu kommen. Dann weise ich ihn aber darauf hin, was er sicher auch weiß, dass Gewalt in der Nähe möglicherweise verfluchter Gegenstände diese zu unerwünschten Reaktionen bringen kann. Auch deshalb habe ich die Glocke der schützenden Erde über diesen Steinsarg gestülpt."

"Ich werde nicht mit Ihnen kämpfen, weil das mein Orden verbietet", schnarrte Al-Kahiri. "Doch der Anspruch auf die ägyptischenArtefakte besteht und wird von uns aufrechterhalten, bis alle Gegenstände dorthin zurückgekehrt sein werden."

Reisen Sie mit ihren Mitbrüdern zurück und erzählen Sie das Ihrem Rat, dass wir keinen hier gefundenen Gegenstand herausgeben, von dem wir nicht eindeutig wissen, was es ist und wem er rechtmäßig gehört."

"Danach zu gehen müssten Sie Nachfahren jener Magi ermitteln, welche diese Gegenstände erschaffen haben. Öhm, allerdings dürfte das bei dem Smaragdauge sehr einfach sein. Es gehört den Töchtern der Bastet, und die sind nicht auf friedliche Unterhandlung angewiesen, um sich zu holen, was sie als ihr Eigentum betrachten."

"Warum sind die dann nicht auch hier, wie Sie?" wollte Rico wissen. Montecello grinste. "Womöglich wussten sie nicht, wo das Smaragdauge verborgen ist", erwiderte Al-Kahiri mit einem leicht beklommenen Ton. "Es ruft sie, wenn es von unbefugten Berührt wird", fügte er hinzu.

"Dann können wir beruhigt den Deckel zumachenund warten, bis die Verhandlungen beendet sind", sagte Rico. Sein älterer Mitstreiter nickte beipflichtend.

Später fand Montecello noch heraus, dass zwanzig fremde Hexen mit silbernen Gesichtsmasken auf das Grundstück vordringen wollten und wie er dem Flächenzauber unterworfen worden waren. Doch nur drei Sekunden nach Eintritt des Zaubers waren sie in silbernem Licht verschwunden, offenbar mit Portschlüsseln.

Da Montecello und der Übergangszaubereiminister Ligakameraden waren und rangmäßig auf derselben Stufe standen kam es zu keinem Vorwurf. Der Übergangsminister meinte nur: "Lassen Sie das Zeug bloß schnellstmöglich in den Kerker der unerwünschten Dinge schaffen, bevor wer auch immer noch einmal so einen Flächenzauber macht. Der Magnetkreisel bleibt bis auf weiteres über dem Grundstück, falls doch noch Kobolde auftauchen sollten. Was die Ägypter angeht werde ich wohl in den nächsten Tagen mit amtlichen Vertretern von denen zusammentreffen und das mit den ägyptischen Artefakten besprechen. Es ist verdammt bedauerlich, dass die Morgensternbrüder mitbekommen haben, welche Artefakte in unserem Besitz sind. Das wird nicht einfach sein, die dauerhaft in unserer Obhut zu behalten, und noch bedauerlicher, dass schon Sachen aus Ladonnas Bestand fehlen. Öhm, wer hat mir übrigens vor einem Tag noch gesagt, die Villa sei eine einbruchssichere Festung?"

"Jetzt bitte nicht darauf herumreiten. Mein Schädel ist noch schwer genug", stöhnte Montecello und schalt sich selbst ein unwissendes Großmaul, weil er sich eingebildet hatte, alle möglichen Angriffszauber und alchemistischen Tricks bedacht zu haben. Offenbar kannte da wer doch noch ein paar Tricks mehr als er.

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Albertrude sah keine Notwendigkeit, Anthelia zu verraten, was genau sie für sich selbst gesichert hatte. Sie erwähnte, dass ein Koboldabwehrzauber eingesetzt worden war und dass es zu kurzen Rangeleien zwischen Feuerkiesels Hexenschwestern, orientalischen Teppichreitern und den Zauberern aus dem Übergangsministerium gekommen war und dass sie mehrere Gegenstände hatte sehen können, die im weiterhin auch ohne Blutsiegel gesichertem Kellerraum verwahrt wurden. Sie erwähnte auch, dass die Liga gegen dunkle Künste sich bereits an Ladonnas Beute bedient hatte und es deshalb garantiert zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den anderen Zaubereiministerien und der Liga kommen würde. Sie warnte Anthelia jedoch vor der kleinwüchsigen Hexe mit dem silbernen Bogen. Anthelia überlegte sichtbar. Dann sagte sie: "Also ist an dem Gerücht von einem Bogen des Jagdgottes Anhor doch was dran. aus Sardonias Ära weiß ich, dass es im Pharaonenreich mächtige Zauberschmiede und Bogenbauer gab, die magische Waffen hergestellt haben. Von dem silbernen Bogen des Anhor hörte ich, dass er doppelt so weit wie ein unbezauberter Bogen seiner Größe schießen kann und zu ihm ein Köcher tödlicher Pfeile gehört, die das innere Lebensfeuer eines getroffenen Wesens je nach getroffener Stelle im Augenblick des Treffers oder spätestens nach zehn Herzschlägen auslöschen. Danke für die Warnung, Schwester Albertrude." Albertrude nickte. Dann kam die höchste der Spinnenschwestern auf einen anderen Punkt.

"Es wird entweder darauf hinauslaufen, dass sich die Ägypter und anderen mit den Italienern schlagen oder in endlosen Verhandlungen verstricken, bis einer so schlau sein wird, es bis zum Erwachen der schlafenden Ministeriumszauberer zu vertagen, wer da welche Ansprüche hat. Ich denke, dass die Italiener die von Ladonna erbeuteten Dinge nicht mehr hergeben wollen", erwähnte Anthelia mit einem spöttischen Grinsen auf ihrem blassgoldenen Gesicht. Albertrude konnte ihr da nur beipflichten. Sie hatte ja, was sie haben wollte.

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Der Fluss strömte an einem Ort weit außerhalb der greifbaren Welt. Sie war die Wächterin, die darauf achtete, dass ihm keine unheilvolle Seele entstieg, um sich einen neuen Körper zu nehmen. Doch nun fühlte sie, wie der letzte Hauch von Ladonnas Leben aus der greifbaren Welt entwich und damit alles freilegte, was diese in ihrer Jagd nach Macht und Ruhm zusammengetragen hatte. Sollte sie ihre beiden Erweckerinnen darauf hinweisen und aussenden, um die für Menschen schädlichen Dinge sicherzustellen? Sie fühlte eine gewisse Verärgerung, weil sie im Rausch ihrer Entstehung nicht daran gedacht hatte, Ladonnas letzte Wirkungsstätte im Boden zu versenken oder auf eine andere Weise unbetretbar zu machen. Das lag wohl auch daran, dass sie die drei aus Ladonnas vom Schwert der Entschmelzung aufgetrennten Fleisch entstandenen Kinder nicht gefährden durfte. Also blieb ihr, der ewigen Wächterin, die unangenehme Gewissheit, dass sich andere um Ladonnas zusammengetragene Gegenstände heller, zwielichtiger und finsterer Macht streiten mochten und die Sieger in diesem oder jenem Kampf unheilvolle Absichten mit ihrer Beute ins Werk setzten. Sie konnte die lebenden Verwandten ihrer drei Seelenmütter nicht rechtzeitig dorthin schicken. Die zwei Erweckerinnen Louiselle und Laurentine mochten zwar mit den Gürteln der gemeinsamen Frucht schnell dort hingelangen. Doch wenn sie doch einer Übermacht begegneten mochte es deren Tod bedeuten. Nein, die beiden durfte sie nicht wissentlich in diese Gefahr senden. Ja, sie musste damit fortbestehen, dass andere die wirksamen Gegenstände benutzten, deren Macht Ladonna für sich nutzen wollte. Ihre Aufgabe war es, die von ihr beobachtbaren zu beschützen und gleichzeitig die im viele tausend Schritte breiten und mehrere hundert Körperlängen unter ihr fließenden Fluss der rastlosen Seelen schwimmenden Geister der unruhigen davon abzuhalten, sich neue Körper zu suchen, Kinder von jenen, die gegen Mokushas Gebote verstießen. Sie erinnerte sich, dass es fast einer dieser rastlosen Seelen gelungen wäre, in den Körper einer Tochter Mokushas und eines mit besonderem Glück begüterten Kurzlebigen überzutreten. Doch irgendwas hatte diese Verbindung verhindert. Erst später hatte sie erfahren, dass es der den Körper der ungeborenen als Kraftquelle nutzende Sonnensegen war, der einen Vater mit dem Leib seines Sohnes hatte eins werden lassen und so eine körperlich-magische Verbindung herstellte, die das Eintreten verstorbener Seelen in den lebenden Quell des Segens verhindert hatte. Doch vielleicht würde irgendwann wieder eine Tochter Mokushas ungebärdig und unheilvoll wirken und damit eine der rastlosen Seelen zu sich hinrufen, die sie dann als eigenes Kind in die Welt der Stofflichen zurückbringen mochte. Dies zu verhindern war ihre Aufgabe, nun, wo die Dreiheit vollendet war. Was vom Erbe Ladonnas nicht von den reinigenden Funken berührt werden konnte musste eben von den stofflichen Wesen beachtet und bewältigt werden. Mit diesem ihre Lage zumindest begründenden Gedanken setzte die ewige Wächterin ihren Wachdienst am Fluss der rastlosen Seelen fort.

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Einen Tag nach dem nicht ganz so wilden Sturm auf die Girandelli-Villa trafen sich die deutschsprachigen Hexen vom Orden der schweigsamen Schwestern im Haus von Gesine Feuerkiesel. Gundula Wellenkamm und ihre Nichte Gunilla waren ebenfalls anwesend. Sie hatten noch daran zu knabbern, über mehrere Wochen und Monate als Zierrosenin Ladonnas Garten gefangen gewesen zu sein.

"Schwester Albertine hätte uns sicher eine gute Rückendeckung geboten. Was war nun so wichtiges, dass du uns nicht absichern konntest, Schwester Albertine?" fragte Gesine Feuerkiesel die für das deutsche Zaubereiministerium tätige Hexe mit den magischen Kunstaugen. Die Gefragte erwähnte etwas von einer streng geheimen Mission, bei der sie auch nach Artefakten hatte suchen sollen, und zwar aus der Zeit des Zwergenkrieges von 1339 christlicher Zeitrechnung. Von einigen Waffen, die elementare Eigenschaften haben sollten, sollten welche in unterirdischen Verliesen unter altrömischen Städten wie Köln, Mainz oder Trier liegen. Albertrude, die ihre neue Identität bisher gut verbergen konnte, berief sich dabei auf bereits seit zwei Jahren laufenden Forschungen. Doch nun, wo König Malin VII. um sein Ansehen und seine Macht bangte mochte er sich an die vergrabenen Waffen erinnern und selbst danach suchen lassen. Das sah Gesine Feuerkiesel ein. Sie konnte ja nicht wissen, dass Albertrude schon vor drei Monaten herausgefunden hatte, wo die Ramme des Untergangs, Der Kessel der tausend Feuer und andere schwere Kriegsmaschinen versteckt waren und dass sie selbst überlegte, sich diese Machtmittel zu beschaffen, um eine stärkere Position gegenüber Anthelia zu erlangen. Doch davon durfte Gesine Feuerkiesel ebensowenig wissen wie von Albertrudes erfolgreichen Beutezug.

"Wir können froh sein, dass wir Schwester Helgas Ratschlag befolgt und uns Rettungsportschlüssel gemacht haben, die bei einer Betäubung oder Unbeweglichkeit auslösen", meinte Gesine und sah ihre Enkeltochter stolz und dankbar an. Helga Säuselbach nickte nur und gab das Lob an ihre Großmutter zurück, die ihr da noch was in Sachen kurative Thaumaturgie hatte beibringen können, sodass die auf die Suche nach Dysmonias Hexenbuch und anderen deutschen Artefakten losgeschickten einen unwegnehmbaren Portschlüssel mitführten, der in dem Moment auslöste,wenn jemand das verbotene Wort "Avada" ausrief oder dessen Trägerin bewusstlos wurde oder von einem Erstarrungszauber getroffen wurde. So waren sie in dem Moment entwischt, als sie alle von jenem Flächenzauber erwischt wurden. Gesine erwähnte, dass es zur Zeit der Nachtfraktionsschwester Gertrude Steinbeißer einen solchen Zauber gegeben haben sollte und sah Albertrude dabei fragend an. "Du weißt, dass ich trotz meiner Abstammung nicht an alles herankomme, was meine Vorfahrin in ihrem Geheimversteck aufbewahrt. Abgesehen davon könnte sie das Geheimnis um einen solchen Zauber mit in die Ewigkeit genommen haben", erwiderte die Hexe mit den magischen Augen ganz ruhig. "Hmm, könnte es sein, dass eine der entfernten Verwandten von dir, die auch von Gertrude abstammen, diese Kenntnisse erhalten hat?" fragte Gesine. Albertrude tat so, als müsse sie kurz überlegen, wer da alles in Frage käme. Dann sagte sie: "Falls ja, dann hat er oder sie mir nichts davon erzählt, dass es geheime Aufzeichnungen Gertrude Steinbeißers gibt, wo das drinsteht." Das war noch nicht einmal gelogen. Denn über diesen Zauber gab es keine niedergeschriebene Aufzeichnung.

"Nun, dann könnte es wahrhaftig jene Hexe gewesen sein, die sich auch in eine menschengroße schwarze Spinne verwandeln kann. Von ihr denken wir, dass sie besonders starke alte Zauber beherrschen soll. Womöglich kann sie einen ähnlichen Zauber wie die ungeduldigen Schwestern um Gertrude Steinbeißer", vermutete Gesine Feuerkiesel. Albertrude nahm den ihr zugeworfenen Quaffel dankbar an und erwiderte: "Es heißt, die Spinnenhexe habe Kenntnisse aus dem alten Reich erworben. Wir alle gehen davon aus, dass die damals lebenden Magiekundigen gottgleiche Zauberkräfte entwickelt haben, weil sie sonst wohl kaum über Jahrtausende die Welt regierten und als Vorbilder vieler Gottheiten gelten. Da könnte die Spinnenschwester in der Tat etwas von mitbekommen haben, Mutter Gesine."

"Und wir haben damit gerechnet, dass sie mit einer ganzen Armee ihrer Mitschwestern anrücken mag", meinte Alva Silberbach, die laut Gesine nur wegen Ladonnas Zauber für Schuldlos am Tod von Leonora Mondregen erklärt worden war und ihre Strafe durch die Zeit als Ladonnas Zierrose verbüßt hatte.

"Das hat sie wohl nicht nötig, Schwester Alva", erwiderte Albertrude gehässig und grinste innerlich, dass ihr die Stuhlmeisterin der deutschen Schwesternschaft diese geniale Ausrede ermöglicht hatte.

"Güldenberg muss herauskriegen, ob die Italiener wissen, was noch von den Beutestücken Ladonnas vorhanden ist. Wenn Dysmonia Feuerkrugers Buch dabei ist soll er es zurückfordern, Schwester Marga", wandte sich Gesine an Marga Eisenhut. "Ich gebe es weiter, Mutter Gesine", erwiderte Marga aus eigener Überzeugung. Albertrude musste sich nochmehr als sonst beherrschen, nicht überlegen zu grinsen.

"Gesine Feuerkiesel behielt Gundula und Gunilla Wellenkamm noch bei sich. Sie wollte von den beiden noch mehr über den Feuerrosenorden wissen, ob die beiden weitere Mitschwestern Ladonnas kannten und ob diese wohl ebenfalls bald wieder aufwachen mochten. So erfuhr sie, dass sie einmal eine kleinwüchsige Hexe wohl koboldstämmig angetroffen hatten, deren Vorfahren wohl mit Ladonnas erstem Feuerrosenorden verbunden waren. Sie hatten jedoch den Namen nicht erfahren, weil Ladonna das nicht gewollt hatte.

"Ihr beide wisst, dass ihr nur deshalb noch in der Schwesternschaft seid, weil ihr uns mit eurem Wissen helfen könnt, Ladonnas Hinterlassenschaften aufzuspüren. Schwester Marga hätte euch wohl am liebsten schon in Wiege und Windeln zurückgeflucht", meinte Gesine Feuerkiesel. Gundula Wellenkamm schnaubte verächtlich. "Denkst du, mir gefiel es, monatelang am Nasenring geführt zu werden und unschuldige Mädchen wie Gunilla in diesen Sumpf mit hineinzuziehen, Mutter Gesine? Ich bin froh, dass Ladonna aus der Welt ist, und ja, ich trage schwer daran, was ich für sie habe tun müssen. Und neben dieser selbstherrlichen amerikanischen Furie Bullhorn im selben Flecken Erde festzustecken hat mir noch weniger behagt. Ich will nur wissen, wer die zwei dunkelhaarigen Hexen waren, die Ladonna aus der Welt gestoßen und in ihre drei Einzelkörper aufgelöst haben. Wenn das Spinnenschwestern waren ..."

"Hätten sie zum einen nicht ohne ihre höchste Schwester gehandelt und zum zweiten nicht so schnell das Feld geräumt, ohne zu versuchen, an Ladonnas Hinterlassenschaften zu kommen", schnitt Gesine Gundula Wellenkamm das Wort ab. "Ich gehe davon aus, dass es britische, französische oder griechische Mitschwestern waren. Wenn es Hecatianerinnen waren werden wir das nicht erfahren. Bei den Briten kann ich deren Stuhlmeisterin fragen, ob sie von dieser Aktion weiß. Aber du kennst die Regeln. Nur eine Schwester, die von einer anderen Schwester vorgestellt wird, darf sich als eine von uns bekennen, Schwester Gundula."

"Jaa", knurrte Gundula. Ihre Enkelin Gunilla errötete, denn sie beide hatten unter dem Zauber der Feuerrose mehr als einmal gegen diese Regel verstoßen. Auch deshalb war Gesine Feuerkiesel so erpicht darauf, die eingeschworenen Feuerrosenschwestern zu kennen, um das Verhältnis wieder auszugleichen. Nur deshalb durften Gundula und Gunilla noch als erwachsene Hexen im Vollbesitz all ihres Wissens weiterleben.

Weil Gesine an diesem Tag nicht mehr erfahren würde durften die beiden Wellenkamm-Hexen wieder fortgehen. Gesine Feuerkiesel wartete, bis sie in ihrem gut gesicherten Haus für sich alleine war. Dann erst wagte sie es, überlegen zu lächeln. Zwar wusste sie es nicht mit Bestimmtheit und konnte es bei Freya und Erda auch nicht offen fragen. Doch sie war sich sicher, dass die zwei Hexen aus Frankreich stammten und gut daran getan hatten, sich zu verkleiden, um solchen wie Gundula nicht auf die Nasen zu binden, wer sie waren. Ganz sicher hatte ihre ranggleiche Mitschwester Hera Matine an dieser Unternehmung mitgewirkt.

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Es war der vierte Januar, als Hera Matine alle in Frankreich lebenden Schwestern ihres Bundes zu einer dringlichkeitssitzung zusammenrief. Laurentine und Louiselle fürchteten schon, dass Hera vor den ganzen Mitschwestern auspacken würde, wem sie alle Ladonnas Ende zu verdanken hatten und wie dieses stattgefunden hatte. Doch sie waren entschlossen, es nicht abzustreiten, falls ihre Stuhlmeisterin dies ernsthaft erwähnen wollte.

Wie üblich apparierten die eingeweihten und zutrittsberechtigten Hexen in der Versammlungshöhle mit dem Brunnen der ersten Mutter. Laurentines Uhr zeigte zehn Uhr am Abend. Es dauerte bis viertel nach zehn, bis alle Gerufenen und unauffällig fort könnenden Schwestern eintrafen. Zum Schluss apparierte sie selbst, Hera Matine, die von allen hier erste Mutter genannt wurde, solange sie lebte und den unsichtbaren Ring der ersten Mutter trug. Die residente Heilerin und Hebamme von Millemerveilles blickte in die Menge der Anwesenden und nickte, als sie erkannte, dass wirklich alle da waren. Dann begrüßte sie die versammelten Hexen.

"Ich wünsche euch allen, einen schönen und erfolgreichen Übergang in dieses besondere Jahr erlebt zu haben. Von vielen hier weiß ich ja, dass sie mit ihren Familien und Freunden gefeiert haben", begann Hera. "Ich habe euch alle hier und heute zu dieser schon als dringlich zu bezeichnenden Versammlung zusammengerufen, weil sich erwiesen hat, dass das dunkle Kapitel Ladonna Montefioris doch noch nicht gänzlich beendet ist, so bedauerlich ich dies selbst empfinde. Immerhin hat diese auf Machtgewinn und Selbstdarstellung ausgerichtete Hybridin mehr als zehn unserer wertvollsten Schwestern in ihren Bann gezogen und uns damit unwiederbringlich entrissen." Alle hier versammelten sahen ihre erste Mutter verdrossen an. Natürlich erinnerten sie sich noch zu gut daran, wie bei der Einberufung von Laurentine Hellersdorf mehrere Bundesschwestern versucht hatten, Hera und andere ranghohe Mitschwestern in Ladonnas Namen zu töten und dass sie deshalb von der Abwehrbezauberung dieses Ortes körperlich und geistig vollständig wiederverjüngt wurden, was den endgültigen Ausschluss aus der Schwesternschaft bedeutete.

"Ja, und wie sich erwiesen hat hortete Ladonna in der von ihr erstohlenen Villa bei Florenz offenbar mehrere macht- und wertvolle Zaubergegenstände in einem mit ihrem Blut versiegelten Raum. Diese magische Absicherung erlosch vor wenigen Tagen und rief mehrere auf die gehüteten Schätze versessene Leute auf den Plan. Es wäre vielleicht vorteilhaft gewesen, wenn die Villa gleich nach Ladonnas Ende für alles und jeden unbetretbar gezaubert worden wäre." Laurentine biss die Zähne zusammen, um bloß keine Erwiderung auszustoßen, dass sie und Louiselle diese Absicherung nicht ausgeführt hatten. Doch Hera legte nach: "Dass war auch in dem Moment nicht mehr möglich, als die ersten Hexen und Zauberer von der Liga gegen dunkle Künste eintrafen und seitdem das Haus Ladonnas bewacht haben. So konnte keiner ohne Verdacht zu erregen solche Absperrungen errichten. Auch erfuhr ich von meiner itaalienischen Amtsschwester, dass zwar Ladonnas Blutfeuernebel verwehte, aber ihre anderen gegen Belagerungsvorhaben wirkenden Zauber in Kraft blieben. Damit war es auch nicht möglich, einen dauerhaften Arrestdom zu errichten, der jeden Unbefugten ausgesperrt hätte. Ja, und was ich selbst als größte Unterlassung in Tateinheit mit heimlicher Begierde sehe ist, dass genau jene sich der Bekämpfung dunkler Machenschaften widmenden Hexen und Zauberer Italiens offenbar genau darauf abzielten, die von Ladonna zusammengerafften Zaubergegenstände in ihren Besitz zu bringen, natürlich zum Wohle der Menschheit und zum Schutz vor jedem Missbrauch." Die letzten Worte sprach sie mit unüberhörbarem Sarkasmus aus. Louiselle und Laurentine indes entspannten sich. Hera hatte sie ohne sie namentlich zu erwähnen von allen Unterlassungsvorwürfen freigesprochen. Natürlich hatten sie sofort, als die ersten in Rosen verwandelten Frauen, Hexen oder Nichtmagierinnen, von Ladonnas bösem Verwandlungszauber befreit wurden, das Feld räumen müssen. Außerdem hätte die weise erste Mutter ja selbst darauf beharren können, die Zugänge zum Girandelli-Anwesen zu versperren.

"Zumindest hoffte nicht nur ich darauf, dass die sich angeblich so gut mit dunklen Zaubern und ihrer Abwehr auskennenden Damen und vor allem Herren Italiens gegen jeden Ansturm von Einzelpersonen oder aufgehetzten Gruppen absichern und Ladonnas magisches Raubgut sicherstellen konnten. Doch offenbar reichte ein einziger Zauber, von dem meine deutsche Mitschwester sicher ist, dass er zuletzt von einer Gertrude Steinbeißer im 18. Jahrhundert verwendet wurde, um Freunde wie Feinde der Ligamitglieder handlungsunfähig zu machen. Wer immer diesen Zauber ausführte erhielt damit genug Zeit, um sich aus den gehorteten Beutegütern zu bedienen und die für sich wertvollsten wie vielversprechendsten Stücke mitzunehmen. Soviel dazu, dass alte Zauber, die mit ihren Nutzerinnen und Nutzern vergangen scheinen, nie wieder angewendet werden können. Meine deutsche Amtsschwester hat wie wir heute ihre Mitschwestern zusammengerufen um zu prüfen, ob eine von ihnen weiß, wer diesen alten Zauber noch kennen und benutzen könnte. Ach ja, natürlich wollt ihr alle nun auch wissen, was für ein Zauber das war", sagte Hera. Alle in der Versammlungshöhle nickten heftig. "Es handelte sich um den wie erwähnt letztmalig von Gertrude Steinbeißer und ihren dunklen Mitschwestern ausgeführten Bannruf von Wind, Blut und Erde. Zumindest wurde der Zauber von den geduldigen Schwestern der deutschen Lande so genannt, auch wenn sie nie ergründeten, wie genau er ausgeführt wurde. Der Zauber wirkt in Kombination mit den Elementarkräften von Erde und Wind auf das Blut magischer Wesen und entzieht wirkenden Kräftefeldern einen Teil ihrer Energie. Gleichzeitig entsteht wohl eine kleinere Abwandlung jener Erdmagiewoge, die als Folge des schweren Erdbebens in Südostasien aufgeworfen wurde. Das wiederum führt dazu, dass alle der Erdmagie verbundenen Zauberwesen wie Zwerge, Kobolde, Gnome und Erdgeister mit Erdstoßgeschwindigkeit aus der Reichweite des Zaubers befördert und dort für eine nicht ganz klar bestimmte Zeit gehalten werden. Wie schon mehrmals erwähnt besaßen die dunklen Hexen um Gertrude Steinbeißer diesen Zauber. Meine deutsche Amtsschwester mutmaßt, dass ausschließlich Gertrude ihn verwendet hat und einen Schutzzauber kannte, um selbst nicht von dieser magischen Explosion betroffen zu sein. Ja, und wer immer diesen offenbar nicht gänzlich verschwundenen Zauber benutzt hat besitzt nun einige sehr wertvolle weil zaubermächtige Gegenstände und Aufzeichnungen, die aus ganz guten Gründen vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten worden waren. Gut, wir sollen nicht über umgestürzte Kessel klagen. Doch ich wiederhole, dass wir davon ausgehen müssen, dass das Kapitel Ladonna Montefiori noch nicht gänzlich geschlossen ist. Wir müssen davon ausgehen, dass Ladonna eine Erbin erwählt hat, die irgendwann, wenn sich alle Wogen beruhigt haben, das dunkle Vermächtnis der selbsternannten Feuerrosenkönigin antreten möchte. Was die schlafenden Ministeriumsleute angeht, so bleibt uns derzeitig nur zu beobachten, wer sich da in Stellung bringt und ob die Schlafenden jemals wieder aufwachen. Falls sie es tun gilt zu klären, ob sie weiterhin amtliche Aufgaben erfüllen dürfen oder so schnell es ein geordneter Übergang ermöglicht von unbelasteten Personen ersetzt werden. Natürlich kann es auch sein, dass die Betroffenen von allen angehäuften Anklagepunkten freigesprochen werden, weil sie zum Tatzeitpunkt eindeutig schuldunfähig waren. Die juristisch bewanderten unter euch und die Kennerinnen der Magiehistorik kennen ja genug Fälle, wo Hexen und Zauberer von ihren Taten freigesprochen wurden, weil sie nachweislich oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit unter dem Imperius-Fluch standen oder durch magische Tränke ihrer Willensfreiheit verlustig waren. Deshalb besteht auch hier die Wahrscheinlichkeit, dass die von Ladonna unterworfenen Ministeriumsangehörigen ebenfalls von allen nachweisbaren Untaten freigesprochen werden, auch und vor allem um die Ordnung innerhalb der magischen Gemeinschaften aufrechtzuhalten."

Laurentine verzog bei dieser Darlegung ihr Gesicht. Weil sie in den ersten drei Beauxbatons-Jahren auch Aufgaben von ihren Eltern erledigen durfte und sich nach Beauxbatons zusammen mit Julius' Mutter über diktatorische Reiche der nichtmagischen Welt kundig gemacht hatte wusste sie auch, dass die demokratischen Rechtsnachfolger wie die Bundesrepubliken Deutschland und Österreich erwiesene Mittäter der NS-Diktatur schnell entlastet hatten, um deren amtliche Erfahrungen und Kenntnisse weiternutzen zu können, damit "die Maschine" weiterlaufen konnte. In Großbritannien hatten sie zwar nach der Todesserzeit viele neue Leute eingestellt, doch ob sie wirklich alle schuldfähigen Handlanger des irren Massenmörders mit dem auf dauerhafte Angstmache abonierten Namen Lord Voldemort erwischt hatten wussten sie auch fast zehn Jahre nach dem Ende dieses Psychopathen nicht.

Weil Laurentine in eigenen Gedanken dahintrieb bekam sie nur am Rand mit, wie Hera Matine sagte: "Schwestern, wir müssen auch darauf gefasst sein, dass Ladonna über die in unsere Reihen eingeschmuggelten Kundschafterinnen genug erfahren hat und andernorts aufbewahrt, dass dieses Wissen eines Tages in die falschen Hände gerät, womit ich nicht nur die bereits angedeutete Erbin meine, sondern auch reguläre Ministeriumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Lasst euch von dieser Vorstellung nicht ins lodernde Drachenmaul treiben! Wenn jemand außerhalb unseres Bundes meint, die eine oder andere von uns mit unerlaubt erhaltenem Wissen zu erpressen oder sie wem auch immer auszuliefern bestehen genug Vorkehrungen, dem Zugriff von Widersachern zu entgehen. Dies ist die Botschaft, die ich euch von allen meinen Amtsschwestern aus Europa und Nordamerika weitergeben soll. Es gilt wachsam zu bleiben, jeden Anhaltspunkt, dass jemand etwas über euch erfahren könnte mit der nötigen Sorgfalt aber frei von Panik zu bewerten und im akuten Bedrohungsfall mit Hilfe der anderen den zeitweiligen oder dauerhaften Ausstieg aus dem bisherigen Leben zu vollziehen, um vor Nachstellungen größtenteils sicher ein neues Leben zu führen, ohne dafür gleich wieder in Wiege und Windeln zurückverjüngt zu werden. Das war, was ich euch allen unbedingt und mit dem gebotenen Ernst verkünden wollte", beschloss Hera Matine ihre Ansprache. Dann lud sie zu Wortbeiträgen der anderen ein, wobei natürlich die strickte Disziplin galt, dass nur sprach, wer von der ersten Mutter das Wort erhielt.

Laurentine hörte sich die Fragen der anderen an, zum Beispiel, ob nicht die Gelegenheit genutzt werden sollte, selbst auf die Ministerien einzuwirken, falls dort ein Personalumbau stattfände. Ebenso wollten einige wissen, was Ladonna sich denn so heftiges angeeignet hatte. Als eine Mitschwester mit Beziehungen zu algerischen und ägyptischen Hexen und Zauberern aufzählte, dass nach der Einverleibung Ägyptens sicher auch die von den Kobolden zusammengerafften Beigaben aus magisch gesicherten Gräbern in Ladonnas Besitz geraten sein mochten zischten viele durch die Zähne. Das alte Ägypten galt wie das alte Babylon als der machtvollste Quell orientalischer Zauberkunst. Noch heftiger empfanden es alle, dass Ladonna sich aus den dunklen Sektionen der unterworfenen Zaubereiarchive bedient haben mochte, um sich dort vergrabenes Wissen um wirklich dunkle Zauber anzueignen. Falls die mögliche Erbin, von der Laurentine wusste, dass sie nicht von der grünen TVE berührt werden konnte, diese Unterlagen ergattert hatte oder Orte kannte, wo Ladonna weitere dunkle Geheimnisse gehütet hatte, dann stand der ganzen Menschheit noch eine finstere Zeit bevor. Ja, sie und Louiselle hätten damals was machen sollen, um das Haus unbetretbar zu machen. Dann fiel ihr jedoch ein, dass in dem Haus unschuldige Menschen gewesen waren, die von Ladonna in Tiefschlaf versenkt worden waren, damit sie ungestört wüten konnte. Töten wollte sie ja dann doch nicht. Auch hätte jene transvitale Entität, die sich als ewige Wächterin bezeichnete, all das bedenken und verhüten können, wo sie Ladonnas ganzes Wissen in sich aufgenommen hatte. Entweder konnte sie das jedoch nicht oder wartete noch auf die richtige Gelegenheit, Ladonnas dunkle Ära endgültig zu beenden.

Louiselle bat ums Wort. Da sie hier als anerkannte Fachhexe für dunkle Zauber und magische Hinterlassenschaften galt nahmen ihr alle ab, dass ein errichteter Blutsiegelzauber mindestens einen Monat nach dem Tod seiner Nutzerin vorhielt, ja womöglich auch dauerhaft wirkte, wenn sie nach seiner Errichtung eigene Nachkommen geboren hatte, in denen dann ja das ursprüngliche Blut zum Teil weiterfloss. Dass diese Schätze nun doch gehoben werden konnten beweise, dass Ladonna in den drei Jahren keine eigenen Kinder bekommen hatte. Wer auch immer sie beerben würde musste also eine ihr sehr vertraute und unverbrüchlich loyale Mitschwester gewesen sein. Allerdings seien ja viele Hexen, die im Verdacht standen, zum Feuerrosenorden gehört zu haben, nach Ladonnas Ende verschwunden. Da nur die Ministeriumsleute wissen mochten, wer genau noch dazugehörte konnten die noch wachen Feuerrosenschwestern sich in Ruhe davonmachen oder in anderer Identität neu anfangen, um Ladonnas dunkles Vermächtnis zu erfüllen. "Ich muss bei der Gelegenheit anmerken, dass es zu wild wuchernden Verdächtigungen führen kann, ähnlich jenes unsäglichen Massenwahnsinns, den die Nichtmagier in der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein ausgelebt haben und der ja in letzter Folge zur internationalen Geheimhaltung der magischen Welt und ihrer Wesen geführt hat. Wir müssen wie scharfgemachte Hadesianerhündinnen aufpassen, dass wir nicht von dieser Verdachtswelle erfasst und fortgespült werden, erste Mutter, werte Mitschwestern. Daher sollten wir möglichst unauffällig vorgehen und nicht darauf ausgehen, uns in die Umstrukturierung der europäischen Zaubereiministerien einzumischen. Beobachten ja, jene, auf die wir bereits einen gewissen Einfluss haben zur Besonnenheit anhalten auch ja, doch gezielte Beeinflussung der neuen Beamten keinesfalls, solange wir nicht wissen, welche Ziele sie verfolgen."

"Das kann aber dazu führen, dass wir dann durch Untätigkeit mitschuldig an uns unerwünschten Ereignissen werden, Schwester Louiselle, wandte eine der älteren Mitschwestern ein, die den sogenannten ungeduldigen Schwestern angehörte, die schon ganz gerne wie Ladonna ein reines Hexenreich auf Erden begründen wollten. Louiselle nickte und erwiderte: "Ja, aber wenn wir zu viel machen entgleitet uns auch der Einfluss, den wir haben, und Ladonnas ehemalige Mitschwestern könnten uns als Ladonnas Handlangerinnen anprangern. Wir müssen erst einmal wissen, wer alles dazugehörte, ob diejenigen frei von Ladonnas Einfluss gefolgt sind oder wie die Ministeriumsbeamten dem Feuerrosenzauber unterworfen waren. Nur dann, wenn wir klar erkennen, wer und warum Ladonnas Gefolge bildete, können wir auch beschließen, wie wir deren Einfluss auf die Ministerien zurückdrängen können, ohne selbst in Verdacht zu geraten. In dem Fall gilt, Beziehungen zu erhalten, neue zu knüpfen und so heimlich wir können von Beziehungen anderer zu profitieren. Ich denke da auch an jene Mitglieder der magischen Welt, die sich mit dem elektrischen Nachrichtennetzwerk namens Internet beschäftigen und darüber schneller als eine Posteule Mitteilungen austauschen können, auch wenn das etlichen hier anwesenden Traditionalistinnen nicht gefällt." Die erwähnten Traditionalistinnen nickten verdrossen. Laurentine hörte aus Louiselles Ansprache heraus, dass es auch an ihr hängen mochte, möglichst gut vernetzt zu sein und so früh genug aus dem Rascheln im Buschwerk zu erkennen, ob eine Maus oder ein Tiger darin wartete.

Weil Louiselle ihrer Lebenspartnerin diesen Ball zugeworfen hatte bat Laurentine auch ums Wort und erwähnte, dass sie den von Louiselle indirekt erteilten Auftrag annahm und sogut sie konnte wachsam blieb, was sich in der magischen Welt außerhalb Frankreichs tat. Ihre Sprachkenntnisse Deutsch und Englisch mochten ihr dabei dienen. Auch bekam sie ja zum Teil von den Eltern der von ihr unterrichteten Kinder mit, was in deren Familien so stattfand, wobei sie klarstellte, dass sie niemanden gezielt aushorchen durfte, um bloß keinen Verdacht zu erregen. Das sahen alle ein, auch die Traditionalistinnen. Eine von denen fragte sie dann aber nach erteiltem Rederecht, wie Laurentine und die von ihr nutzbaren Nachrichtenquellen sicherstellen konnten, keiner Flut von Falschmeldungen aufzusitzen. Denn sie habe davon gehört, dass es keine Wahrheitspflicht im Internet gebe und jeder mit der entsprechenden Maschinerie und Sachkenntnis dort Behauptungen einbringen oder verbreiten konnte. Laurentine erkannte, dass die Frage gar nicht so leicht zu beantworten war und erkannte, wie berechtigt der Einwand war, nicht alles im Internet als wahre Begebenheit anzuerkennen. Nach einigen Sekunden Bedenkzeit sah sie Hera an, die ihr durch Nicken und Fingerzeig das Wort zurückgab.

"Ja, es stimmt, dass viele am Internet dessen unreglementierte Informationsvielfalt schätzen und sie mitgestalten. Da können leider auch gezielte Desinformationen bei sein, und ich weiß, dass die damit befasste Unterabteilung des Büros für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Zauberkräfte auch gezielte Falschmeldungen im Bezug auf als magische Ereignisse erkannte Vorfälle verbreitet, um diese so unglaubhaft zu machen, dass keiner mit gesundem Menschenverstand an die Existenz der magischen Welt glaubt. Natürlich können das auch Leute, die eine bestimmte Weltsicht vertreten und möglichst weltweit neue Anhänger finden oder sich gegen andere Meinungen verschließen wollen. Dies, so weiß ich von der maßgeblichen Hauptverantwortlichen für die ministerielle Internetüberwachung persönlich, wird in diesem jungen Jahrtausend noch zu einem sehr großen Problem anwachsen. Es könnte dazu führen, dass die Zaubereigeheimhaltung dadurch gefährdet wird, wie auch, dass die magische Welt als eine von vielen erdichteten Verschwörungstheorien gilt, ähnlich wie die im Internet herumschwirrende Ansicht, die Menschheit würde bereits von außerirdischen Fremdwesen gelenkt oder die Attentäter von 2001 seien mit Billigung und heimlicher Unterstützung der amtierenden Regierung der USA vorgegangen, um ein neues, für konservative US-Politiker so praktisches Feindbild zu erschaffen. Ähnliches könnte uns in der magischen Welt auch bevorstehen, wenn die bereits vorhandenen Mittel zum Zwecke gezielter Falschmeldungen eingesetzt werden. Ich meine da unter anderem die Verbindung zwischen identischen Zaubererweltgemälden oder eben auch mit Eulen verschickte Briefe. Ja, abstreiten kann ich nicht, dass das Internet gerade durch seine Informationsverbreitungsgeschwindigkeit und weiterhin wachsende Ausdehnung und Verfügbarkeit auch außerhalb einer Wohnung oder Arbeitsstätte mit fest in die Wände eingebauten Verbindungsanschlüssen zu einem starken Machtfaktor wird. Dennoch und gerade deshalb ist es sehr wichtig, dass es Leute gibt, die sich damit befassen und es überwachen. Ich bin froh, im privaten genug Leute zu kennen, die zu dieser kleinen aber wichtigen Fachgruppe gehören. Was ich von denen mitbekomme und für uns hier alle wichtig genug halte kann und werde ich nach der nötigen Prüfung auf Echtheit an Mutter Hera weitergeben, die dann die entsprechenden Mitschwestern unterrichten kann oder wie heute eine Vollversammlung einberufen kann. Danke für eure Aufmerksamkeit und euer Vertrauen!"

Stille legte sich auf die Versammlung. Eine halbe Minute lang bat keine Mitschwester ums Wort. Daher ergriff Hera Matine das Wort und sagte, dass sie Laurentine für diese Einsatzbereitschaft danke. Danach bat sie um die Fortführung der Aussprache, wer wie was tun konnte, um nicht doch noch durch Ladonnas Machenschaften zu Schaden zu kommen. Laurentine war jedenfalls froh, dass Hera nicht erwähnt hatte, wer die dunkle Hexe aus Italien besiegt hatte. Sie erkannte, dass Hera dies als ihr persönliches Geheimnis hüten wollte, wohl auch, um nicht enthüllen zu müssen, wie die kleine Lucine auf die Welt gelangt war und auch nicht, dass sie, eine Hebammenhexe, Lucine zeitweilig selbst in Gefahr gebracht hatte, um Domenicas Vermächtnis zu erhalten.

Die Aussprache dauerte noch eine weitere Stunde an. Am Ende blieb es bei der bereits festgelegten Vorgehensweise, nur zu beobachten und nur die bereits sicheren Einflussmöglichkeiten auszunutzen. Da sie nicht wissen konnten, wielange die ehemaligen Feuerrosendiener schlafen mochten und wer ihnen im Amt nachfolgte blieb ihnen ja nur diese Abwartehaltung.

Hera beschloss die Vollversammlung mit der bei den duldsamen wie ungeduldigen Schwestern weltweit geltenden Grußformel "Semper Sorores!" die von allen im Chor wiederholt wurde. Dann durften alle an ihre Wohnorte zurückapparieren. Als Laurentine und Louiselle in die Rue de Liberation 13 zurückkehrten empfing Louiselle noch eine Gedankenbotschaft Heras und leitete diese weiter: "Wir dürfen denen, mit denen wir im Ausland Kontakt haben eine Kurzfassung der Versammlung weitergeben. Da sie dir ja einige der deutschen Schwestern vorgestellt hat gilt das eben auch für dich." Laurentine bestätigte das direkt an Heras Adresse. Sie würde in den nächsten Tagen mit ihrer Zweiwegspiegelpartnerin Helga Säuselbach sprechen. Sicher hatte deren Verwandte und erste Stuhlmeisterin Gesine Feuerkiesel Hera über den Zauber Gertrude Steinbeißers informiert. Laurentine fragte Louiselle, wer das eigentlich war, da sie in französischer Zaubereigeschichte nichts von ihr gehört habe. Zur Antwort bekam sie von Louiselle ein altes, in dunkelblaues Drachenleder gebundenes Buch "De reginae tenebrosae". "Da stehen alle dunklen Hexenmatriarchinnen vom 11. bis zum 20. Jahrhundert drin, auch solche, die im Kielwasser dunkler Zauberer mitmischten wie Alecto Carrow und Bellatrix Lestrange. Du musst nur den Abschnitt "Germanica" aufschlagen."

"Öhm, alles auf Latein?" fragte Laurentine. "Ja, und alles in Runenschrift, abgesehen von den handgezeichneten und teilanimierten Illustrationen unter Vorbehalt, nicht die wahren Erscheinungsbilder wiedergeben zu müssen", sagte Louiselle.

"Na super, wo ich keine Runenkunde genommen habe. Du bist echt süß, Louiselle", flüsterte Laurentine. "Erstens danke und zweitens hast du für sowas doch diese so nützliche Erfindung gemacht, an der du die dir vertrautesten teilhaben ließest, ma Chere." Laurentine nickte. Ja, für sowas wie dieses Buch hatte sie das Xenographophon erfunden und patentieren lassen. Das feine daran war auch, dass es nicht nur unbekannte Schriftzeichen übersetzte, sondern die geschriebene Sprache in ihre bevorzugte Sprechsprache übersetzte, wo es wortwörtlich nicht ging zumindest sinngemäß. So schlug sie das Buch auf. Die Abschnittsüberschriften waren wenigstens in römischen Großbuchstaben geschrieben. So konnte sie den Abschnitt "GERMANICA" schnell finden und fand auch mit dem Xenographophon das Unterkapitel über Gertrude Steinbeißer. Dabei war auch eine Illustration. Ja, die sah ähnlich aus wie Albertine Steinbeißer, die in Deutschland tätige Ministeriumshexe, die nach einem schweren Zauberunfall künstliche Augen erhalten hatte und laut Bärbel Weizengold homophil ausgerichtet sein sollte. War Albertine Steinbeißer möglicherweise eine legitime Erbin Gertrudes und hielt das aus guten Gründen unter der Decke? Das mochte eine der ersten Fragen sein, die sie Helga stellen wollte. Die konnte dann ihre Großmutter Gesine fragen, falls diese nicht auf eine nur für sie und Laurentine nutzbare Weise Kontakt suchte.

"Ich hab's dir angesehen, dass du auf Abwehr warst, als Hera das mit der versäumten Absicherung erwähnt hat", sagte Louiselle, als sie neben Laurentine im schalldicht verhängten Doppelbett lag. Laurentine erwähnte, dass sie echt damit gerechnet hatte, dass Hera vor allen anderen auspacken mochte. "Dann hätte meine werte Tante aber auch rauslassen müssen, dass sie unsere Kleine als magischen Schlüssel zu Domenicas Erbschaft verwendet hat. Da hätte sie als hauptamtliche Hebamme aber eine Menge Vertrauen eingebüßt. Nicht wenige der jüngeren von uns wurden von ihr auf die Welt geholt", erwiderte Louiselle. Laurentine grinste ihre bei den magielosen und magischen Menschen eingetragene Partnerin verwegen an. "Da sind wir zwei ja in der Tradition geblieben", meinte sie. Louiselle bejahte das. Dann kuschelten sie sich aneinander und schliefen sorglos in den nächsten Tag hinüber.

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Brittany Brocklehurst ließ Julius Latierre über die besondere Armbandverbindung mithören, was VDSR 1923 am Abend des fünftenJanuars 2007 vermelden durfte. "... hat sich Atalanta Bullhorn nach ihrer unverhofften Rückkehr aus Ladonnas Gefangenschaft klar zur Zukunft der nordamerikanischen Zauberergemeinschaft geäußert. Hier der Originalton, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer."

Aus dem silbernen Küchenradio drang nun Atalanta Bullhorns Stimme. Sie erwähnte ihre Gefangennahme durch Ladonna und auch, dass sie wohl längere Zeit keine Rosen mehr sehen wollte. Dann kam sie auf den Punkt. "Ich habe damals, wo ich noch Herrin meines Willens war, für die Föderation nordamerikanischer Zauberergemeinschaften gestimmt, weil ich darin die einzigartige Gelegenheit sehe, unsere Nation und unsere guten Nachbarn im Kampf gegen weltweit operierende Elemente der Dunkelheit besser aufzustellen. Als ich aus meiner Gefangenschaft, von der ichnicht mal sagen kann, wer sie am Ende beendete, zurückkehren durfte, fand ich genau jenen kleinteiligen Flickenteppich vor, den ich und Señor Piedraroja zu verhindern bemüht waren. Ich muss mich sehr wundern, dass Vita Magica, der Orden der schwarzen Spinne, Die Mondbruderschaft oder die Sekte der Vampirgötzin euch noch nicht allesamt zu Leibeigenen oder Brutvorrichtungen umfunktioniert haben. Leute, glaubt ihr denn echt, dass Kleinstaaterei gegen Subjekte wie Ladonna Bestand haben? Glaubt ihr ernsthaft, dass die Austragung offener Rivalitäten den Nachbarregionen gegenüber eure Mitbürgerinnen davor schützt, zu Austrägerinnen ungewollter Kinder zu werden? Ihr solltet euch das noch einmal genau überlegen, wie unsere großartige Nation, die darauf ausgeht, weiteren Einflüssen von außen zu widerstehen, nur in einer großen Gemeinschaft Erfolg hat. Gut, ich kann verstehen, wenn die Mexikaner und Kanadier meinen, wir aus der Staatenunion hätten sie damals arglistig getäuscht, um sie erst an Vita Magica und später an Ladonna auszuliefern. Doch wir von der Staatenunion sollten dann zu allen galoppierenden Gorgonen auch eine Union sein und kein Haufen sich gegenseitig belauernder und befehdender Kleingeister. Ich konnte leider nicht dazu beitragen, Ladonnas Macht zu brechen. Ihr aber habt es in der Hand, künftige Machtergreifungen zu verhindern, wenn ihr euch darin einig seid, dass wir trotz aller bestehenden Unterschiede eine große Nation sind, die fern vom europäischstämmigen Getriebe ihren Weg gehen und an jedes von nur ihr gesteckte Ziel finden wird. Daher rufe ich alle Regionalverwalter dazu auf, euch das noch einmal zu überlegen, ob ihr eine neue Föderation oder einen neuen magischen Kongress der USA haben wollt. Vielleicht gelingt es euch auch, die nicht mehr so genau über ihren eigenen Platz in der Welt bewussten Kanadier mit in dieses große Boot zu holen. Ob Mexiko dabei sein will oder nicht ist erst mal zweitrangig. Wichtig ist, dass ihr euch zusammenrauft. Denn da draußen warten unsere Feinde nur darauf, uns schwach und zerstritten zu sehen, um uns dann einzeln oder durch das Ausspielen gegeneinander zu erledigen. Ich möchte jedoch klarstellen, dass nach allen Fehlschlägen, die mittelbar oder unmittelbar auf mich selbst zurückzuführen sind, ich nicht noch einmal als Administratorin oder Präsidentin antreten werde. Ich biete jedoch einer künftigen Unionsadministration an, ihr wieder als Inobskuratorin zu dienen, da ich in dieser Anstellung meine wahre Bestimmung erkannt habe, gerade deshalb, weil ich schmerzhaft habe lernen müssen, wie leicht es dunkle Mächte haben können, jemanden ihrem Willen zu unterwerfen, ob durch Verlockungen, Überredungskunst oder die unmittelbare Ausübung körperlicher oder geistiger Gewalt. Mehr möchte ich zu dieser Lage unserer immer noch großartigen Nation nicht aussagen. Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit!"

"Das sind die richtigen", meinte Julius und nahm Brittany das Wort aus dem Mund. "Erst die dicke Pauke der unbedingten Vereinigung hauen und dann gleich den Rückzieher machen, dafür nicht zur Verfügung zu stehen."

"Da gebe ich dir völlig recht, Julius. Andererseits weiß sie, dass sie wegen der Kiste mit Ladonna so gut wie kein Vertrauen mehr hat. Auch erinnern sich noch viele an ihre Amtshandlungen als Föderationsadministratorin. Dabei hat sie sich ja auch nicht nur Freunde gemacht. Kann also auch sein, dass meine Landsleute auch deshalb nicht auf sie hören, weil sie sie alle in diese Lage hineingebracht hat. An und für sich hätte sie sich gleich nach ihrer Rückkehr von den Heilern für längere Zeit in Kur gehörend erklären lassen müssen. Ich weiß nicht, wie das ist, monatelang unbeweglich in einem Rosenbeet eingepflanzt zu sein. Aber spurlos geht sowas bestimmt nicht an einem vorbei, von wegen Epimorphosesyndrom."

"Sie wollten halt von ihr wissen, wie es ihr geht und was sie jetzt machen will. Das hat sie gesagt", meinte Julius. Gerade sagte die diensthabende Moderatorin: "So wissen wir wenigstens, dass Atalanta Bullhorn nicht für das Amt der Makusa-Präsidentin kandidieren wird, wo es schon jetzt Stimmen aus den reicheren Staaten gibt, die diese Institution wieder einführen wollen. Außerdem wird da noch einiges zu regeln sein, was die Ansprüche der ersten Völker angeht und wie mit aus Europa, Afrika und Asien eingewanderten Zauberwesen zu verfahren ist. Vor allem die Kobolde dürften da demnächst eine Menge Staub aufwirbeln. Bleiben Sie mit uns wachsam und verfolgen Sie mit, wohin Kalifornien steuert!"

"Howk!" Bemerkte Julius dazu. "Da werde ich wohl demnächst wieder was wegen der Veelastämmigen aus den Staaten zu lesen bekommen. Gut, dass ich ausdrücklich für die europäischen Veelas und Veelastämmigen zuständig bin."

"Ja, aber wenn die es darauf anlegen spannen sie dich wieder für die nordamerikanischen Veelastämmigen ein, Julius", meinte Brittany. Julius konnte das nicht ausschließen. Dann erwähnte er, dass er sich nun auf seinen Arbeitstag vorbereiten müsse. Brittany grinste und erwiderte, dass sie dann gleich zu Bett gehen würde und wünschte ihm frohes Schaffen. Dann durften Leonidas und Aurore sich einander noch Gute Nachtund guten Morgen wünschen. Brooke konnte im Moment nur Brabbeln und quieken, je danach wie sie gelaunt war.

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Der leuchtende Kalender im Versammlungsraum der geheimen Unterwasserstation Aquasphäre 1 zeigte den sechsten Januar 2007. Der neue hohe Rat des Lebens tagte, um die Veränderungen der letzten Wochen zu beraten. Anders als früher durften auch die Mitglieder werden, die nachweislich bereits mehr als zwanzig erlebte Jahre erinnern konnten. So konnten auch der seine zweite Jugendzeit erlebende Perdy, sowie die wegen der gewaltsam abgerissenen Verbindung zu Lionel Buggles schwer verletzte und zum dritten Aufwachsen veranlasste Lucille Moreland daran teilnehmen. Zwar gab es in der kugelförmigen Unterwasserstation noch an die zehn Wiedergeborene. Doch die Neufassung der Ratsregeln besagte, dass jemand eigenständig sprechen und schreiben können musste, um an den Sitzungen teilzunehmen. Das war auch ein Punkt der heutigen Aussprache: Wie umgehen mit den südamerikanischen Wiedergeborenen. Denn die wollten immer noch, dass sie anderen Müttern zugeteilt wurden und nicht von der eigenen Schwester oder Cousine neu großgezogen werden sollten.

Obwohl dieser Punkt sehr gefühlsgeladen besprochen wurde waren sich die mittlerweile 36 neuen Ratsmitglieder doch schnell einig. Die Wiedergeborenen sollten bei den Hexen aufwachsen, die sie unfreiwillig wiederempfangen, ausgetragen und unter Schmerzen geboren hatten. Lucille erwähnte dabei auch, dass es für diese Draufgänger eine wichtige Lehre war, sich nicht weiter als überblickbar nach vorne zu wagen, wenn es nicht eindeutig dem Wohl der Gemeinschaft diente.

Der zweite Tagesordnungspunkt betraf die über mehrere verschlungene Pfade an die Ohren Vita Magicas gedrungenen Mitteilungen über Ladonnas Hinterlassenschaft. "Die Besserwisser von der Liga gegen dunkle Künste haben richtig eins auf die Nase gekriegt und reißen immer noch das Maul auf, als könnten sie damit die ganze Weltverschlucken", tönte der junge Pater Octavius Britannicus, auch Perdy gerufen. Wie war das Mater Vicesima Secunda? Was hat deine Verbindung nach Frankreich durchblicken lassen?"

Die körperlich gerade anderthalb Jahre zählende Lucille stemmte sich aus ihrem erhöhten Kinderstuhl hoch und stellte sich keck auf den Tisch, damit sie jeden ansehen und von jedem gehört werden konnte. Dann sagte sie mit ihrer Kleinkindstimme: "Werte Ratsmitglieder! Meine Verbindung nach Frankreich ist nicht so stetig wie ich es gerne hätte, weil die entsprechenden Stellen schon wissen, dass gesagtes von ihnen den Weg zu uns findet. Dennoch hat sich einer der achso übergescheit tuenden Ligazauberer verplappert, als er seinen runden Struwelkopf in den Kamin befördert hat und meinte, dass doch bitte nachgeprüft werden möge, ob es über eine Hexe namens Gertrude Steinbeißer nicht doch Aufzeichnungen der von ihr ausgeführten Flächenzauber gebe, "damit der Druck aus dem Kessel weicht", so hat er sich ausgedrückt. Ihm wurde dann nahegelegt, mit ganzem Körper herüberzukommen, was er dann tat. Es handelte sich übrigens um Lothaire Fondglasse, der ja noch auf der Einbestellungsliste steht. Gut, er kam durch den Kamin und verschwand im nicht von meiner Kundschafterin belauschbaren Arbeitszimmer. Was genau da besprochen wurde ist somit nicht bekannt. Aber da ich ebenso wie eine gewisse Person in Paris gut mit Zaubereigeschichte der letzten vier Jahrhunderte vertraut bin und da besonders auf die Tätigkeiten und Machenschaften machtlüsterner Hexen spezialisiert bin weiß ich natürlich, wer Gertrude Steinbeißer war und dass diese Hexe es locker mit Ladonna oder Sardonia aufgenommen hätte, wäre sie in deren Jahrhundert groß geworden. Es gibt nur Berichte und Gerüchte von Beobachteten Zauberstücken dieser teutonischen Matriarchin, aber keine von ihr selbst niedergeschriebene Anleitung für Zauber und Zaubertränke. Zumindest wurde keine solche gefunden, auch nicht von ihren Nachkommen. Daher kann es sein, dass jemand Gertrudes Zauber der großflächigen Betäubung von Gegnern, was zugleich ein genialer Vertreibungszauber gegen Kobolde und Zwerge ist, nachempfunden und wiederverwendet hat oder dass es ein ähnlich wirksamer Zauber ist, der viel viel älter als Sardonia ist. Ich meine, aus vorgeschichtlicher Zeit."

"Atlantis ruft", sang Perdy. "Moment, das hieße dann, dass entweder eines der Kinder Ashtarias oder die Spinnenhexe diesen Superzauber gebracht hat, richtig, Mater Vicesima Secunda?"

"Vom eigenen Torraum übers ganze Feld durch den gegnerischen Mittelring und Schnatzfang", erwiderte Lucille. Dann sagte sie: "Aber diese welche kann es nicht sein, weil die dann alles an sich gebracht hätte, was Ladonna hinterlassen hat und um das sich wohl bald alle Ministerien streiten werden. Die Person, die diesen Schlag gelandet hat hat sich sehr dezent bedient, nur das, von dem sie sicher ist, es auch benutzen zu können, ohne sich selbst damit zu gefährden. Das stützt die These, es mit einer Nachahmerin von Gertrude Steinbeißers Hexenkünsten zu tun zu haben. Allerdings hat die einzige, die in dem Zusammenhang in Frage kommt ein Alibi, wie es die Gesetzeshüter nennen. Sie suchte nachweislich nach verschollenen Waffen aus dem Zwergenkrieg von 1309, bevor die Krawallzwerge in Deutschland die finden können."

"Das heißt, jemand kann mal eben wie mit zwanzig oder dreißig Mondlichthämmern zugleich eine Gruppe von Gegnern niederwerfen und dann in Ruhe irgendwas anderes anstellen?" wollte Shana Moreland wissen, die als Lucilles offizielle Ziehmutter tätig war. Lucille bestätigte das. "Autsch! Da sollte ich besser nicht so ablästern", meinte Perdy. Seine Frau grinste und meinte, dass das wohl der Höhepunkt der Pubertät sei. Perdy grinste nur lausbübisch.

"Gut, an die Hinterlassenschaften Ladonnas kommen auch wir nicht mehr heran, weil die Italiener alles verbliebene schön weit weggeräumt haben", sagte Pater Octavius Africanus mit seiner sonoren Bassstimme. "Ist das Kapitel Ladonna Montefiori damit für uns abgeschlossen, ich meine, offiziell, oder müssen wir damit rechnen, dass sie eine Nachfolgerin hat?"

"Damit rechnen müssen wir immer, Pater Octavius Africanus, zumal es weltweit noch genug Hexen gibt, die gerne ihre Nachfolgerin sein wollen", sagte Perdy. "Falls du meinst, ob wir mit einem neuen Feuerrosenimperium rechnen müssen, dann weiß ich es nicht. Ich wünschte, ich könnte das mit einem klaren Nein bestätigen. Aber am Ende hat sie noch sowas wie ein Testament hinterlassen, das ihre beste Nachfolgekandidatin finden und verwerten kann."

"Pater Octavius britannicus, du vergisst, dass der Feuerrosenzauber nur wegen Ladonnas Veelastämmigkeit ausgeführt werden konnte. Wer auch immer meint, sie beerben zu können, kann zumindest nicht auf diesem Weg Macht gewinnen", sagte Lucille. Das sahen alle ein, auch Perdy. So wurde um ihre eigenen Ziele weiter voranzubringen beschlossen, die zerstörten Niederlassungen wieder aufzubauen und bis Juni vier neue Auswahlkarussells einzurichten, bevor die noch nicht abgehandelten Einberufungslisten reaktiviert wurden. Bis dahin galt weiter der Fall "Dornröschen", also keine nach außen hin erkennbare Betätigung.

Nach der Sitzung des neuen hohen Rates des Lebens wurde den Wiedergeborenen die "frohe Kunde" mitgeteilt, dass sie sich an keine neuen Mütter gewöhnen "mussten". Das quittierten die Betroffenen mit wütendem Gequengel und Geplärre. Doch die meisten vom neuen Rat lebten nicht in der Aquasphäre, und die die da wohnten konnten sich in schalldichte Wohntrakte zurückziehen.

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am 15. Januar trafen sich alle italienischsprachigen Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste in ihrem geheimen Versammlungshaus bei Rom. Erst jetzt war es möglich, dass alle zusammenkommen konnten, ohne unliebsame Fragen aufzuwerfen. Die Arbeit in den Räumen des Ministeriums hatte sich als schwieriger erwiesen als ursprünglich gedacht war, und die überwiegende Mehrheit der magischen Menschen Italiens und San Marinos fragte immer lauter, wieso noch kein neuer Zaubereiminister gewählt würde.

Immerhin war es der Liga gegen dunkle Künste gelungen, die Vorgänge bei und in der Girandelli-Villa bei Florenz geheimzuhalten. Das beschämende Versagen hätte sonst einen offenen Aufruhr hervorgerufen. Außerdem durften nur ganz wenige wissen, was Ladonna in diesem von ihr besetztgehaltenen Haus gehortet hatte.

Es standen drei Punkte auf der Tagesordnung: Erstens wollten sie besprechen, was genau bei der Girandelli-Villa geschehen war. Zweitens sollte geplant werden, die immer noch im Ministeriumsgebäude angebrachten Glaskörper mit Veelavernichtungszaubern zu entfernen. Drittens sollte es darum gehen, die aus dem Keller der Villa geborgenen Gegenstände und Aufzeichnungen auszuwerten, bevor doch noch wer außenstehendes danach fragen mochte.

Bereits die Beratung zu Tagesordnungspunkt eins entfachte eine hitzige Debatte über die Fragen nach der ausführenden Person oder Personengruppe und der Art des Zaubers. Vor allem wurde darüber gesprochen, warum jene Person oder Personengruppe, die diesen bis dahin unbekannten Zauber ausgeführt hatte, nicht alle ohnmächtigen Hexen und Zauberer ermordet hatte, um bloß keine Zeugen zurückzulassen. Dies führte zu der immer mehr Zustimmung gewinnenden Hypothese, dass es nur eine einzelne Person, mutmaßlich eine Hexe gewesen war und dass der Zauber an sich nicht betäubend, sondern Abwehrzauber entkräftend wirken sollte, die Betäubung aber als willkommene Nebenwirkung genutzt worden war. Warum es dann nur eine einzige Hexe gewesen sein sollte ergab sich daraus, dass diese Hexe ja dann mehr als zwanzig am Ort befindliche Personen einzeln hätte töten müssen, was Zeit gekostet hätte. Die eine Hexe hatte es jedoch eilig, möglichst viel von Ladonnas Beute zusammenzuraffen und damit zu verschwinden, bevor die Betäubung nachließ. Ja, sie musste davon ausgehen, dass bereits Verstärkung unterwegs war und sie so nur zwischen Ermordung aller Zeugen oder schnellstmögliche und vollständige Aneignung von Beutestücken abwägen konnte. Das habe den Betäubten wohl das Leben gerettet. So blieb jedoch noch die Frage, was genau das für ein Zauber war und ob dieser aus einem geheimen Archiv einer obskuren Hexensororität stammte oder gar von Ladonna selbst erfunden worden war, um ihren Erbinnen die Möglichkeit zu geben, nach ihrem Ableben gegen eine Überzahl von Feinden zu bestehen.

"Falls letzteres der Fall ist, werte Consorores und Confratres, wieso sind dann noch diese altägyptischen Kriegswaffen zurückgeblieben. Hatte Ladonna dafür keine Verwendung und hat sie nur mitgesammelt, weil sie in einem Hort weiterer machtvoller Artefakte enthalten waren?" wollte Montecello wissen.

"Vielleicht sind diese Gegenstände nur von Männern berühr- und benutzbar", sagte Cornelia Ventofresco. "Immerhin kannten die Magier der Pharaonenzeit bereits wirksame Blutzauber, um ihnen unerwünschte Leute von ihren thaumaturgischen Erzeugnissen abzuhalten. Haben die Untersuchungen des Schwertes nicht ergeben, dass eine starke Blutmagie in ihm steckt, die womöglich durch ein Auslösewort entfesselt werden kann?" Montecello bejahte die Frage. "Dann denke ich, dass die unbekannte Gegenspielerin das Schwert und wohl auch den Schild deshalb liegengelassen hat, weil sie durch einen standardmäßigen Prüfzauber erkannte, dass diese Dinge ihr nur schaden würden. Sie hat sich dann lieber mit den Aufzeichnungen aus Ladonnas Beutegütern begnügt."

Da nicht zu klären war, wer die Unbekannte war und wie genau der Zauber ausgeführt worden war gingen die hier versammelten zum zweiten Tagesordnungspunkt über, die Beseitigung der erkannten Gegenstände, die auf Veelas und Veelastämmige ausßer Ladonna selbst tödlich wirkten. Seitdem die Liga gegen dunkle Künste die Ministeriumsräume besetzt hielt waren die in den Leuchtkörpern versteckten Kristallkörper so behutsam es ging untersucht worden. Es hatte sich herausgestellt, dass sie alle miteinander verbunden waren. Entfernte man einen, konnte das zu einer Abwehrreaktion bishin zu einer völligen Vernichtungsreaktion aller noch angebrachten Geschwister führen. Es konnte festgestellt werden, dass diese Gegenstände der Elementarkraft Feuer verbunden waren und deshalb in der Nähe ebenfalls mit Ausprägungen der Feuermagie verbundenen Kristallkörpern angebracht worden waren. Also galt es zum einen, alle aufgefundenen Körper zum genau gleichen Zeitpunkt mit starken Unfeuerzaubern oder Vereisungszaubern zu schwächen und sie dann ebenso möglichst gleichzeitig von ihren Anbringungsorten zu entfernen und möglichst schnell möglichst weit voneinander entfernt zu deponieren.

"Unsere Mitstreiterin Catherine Brickston aus Paris erwähnte in dem Zusammenhang nur, dass die Teilnehmer am Kongress der internationalen Zaubererkonföderation auf derartige Dinge vorbereitet waren, weil sie ja eben davon ausgehen mussten, dass Ladonna ihr missliebige Veelastämmige aus allen Ministeriumsgebäuden fernhalten wollte. Allerdings hätten sie nicht schnell genug handeln können, um alle diese Körper ohne die Vernichtung der Unterbringung der französischen Delegation zu entkräften. Sie hätten gerade noch mit einem für diesen Notfall vorbereiteten Portschlüssel entwischen können, so Madame Brickston", sagte Cornelia Ventofresco.

"Tja, wir konnten zwanzig dieser Körper orten und vermessen. Aber das Ministerium hat sechzig Räume, von denen uns trotz aller Bemühungen, die Türen unbeschädigt zu öffnen, zwanzig verschlossen bleiben, weil diese nur von dafür zutrittsberechtigten Beamten betreten werden können. Mit anderen Worten, wir können höchstens vierzig dieser Veelatöter entfernen, lösen damit jedoch genau jene Vernichtungsreaktion aus, die den französischen Delegierten fast den Tag verdorben hätte und den Schweizern einen ihrer schönen Bungalows niedergebrannt hat", meinte Branduardi. Seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter nickten zustimmend. Einer von ihnen fragte zu erwarten, ob sie nun alle warten müssten, ob und wann die tief schlafenden Ministeriumsangehörigen wieder aufwachten. Die Antwort lautete wohl ja. Zumindest konnten sie festlegen, wie genau die tödlichen Gegenstände gleichzeitig entfernt werden konnten, ohne zu früh in wildem Feuer zu verbrennen. Am Ende stand ein Aktionsplan, der dann umgesetzt werden sollte, wenn feststand, dass die schlafenden Ministeriumsangehörigen wieder voll einsatzfähig waren und jederzeit in ihre Diensträume zurückkehren konnten. Allerdings musste das alles unter der höchsten ministerialen Geheimhaltungsstufe ablaufen, um keine unliebsamen Fragen aus der magischen Bevölkerung zu provozieren.

Nun ging es noch um die zurückgelassenen Beutestücke aus Ladonnas Diebeshort. Es war ja schon zur Sprache gekommen, dass das Schwert eine Form von Blutmagie in sich tragen mochte. Womöglich handelte es sich dabei wie bei dem Schild aus Gold und Silber um Erzeugnisse der Pharaonenzeit und somit um Eigentum der ägyptischen Zauberergemeinschaft. Doch als zusammengetragen wurde, was alles an verbliebenen Artefakten gefunden worden war überlegten die hier versammelten, ob es wirklich so klug war, die mächtigen Gegenstände an die zuständigen Ministerien zurückzugeben. Denn sicher konnten nicht wenige davon für üble Zwecke eingesetzt werden. Nun, dies traf im großen und ganzen für fast jede menschliche Erfindung zu, sofern sie nicht von vorne herein als mächtige Waffe ersonnen wurde. Doch was die Ägypter anging hatten die Ligamitglieder das Gefühl, dass es besser sei, die Gegenstände zu behalten. Denn sie alle hier kannten die von Gringotts ins Leben gerufene Gruppe der Fluchbrecher, die für die Kobolde in magisch hochgesicherte, meistens verfluchte Gebäude oder Grabstätten eindringen sollten, um die darin verborgenen Schriften und Gegenstände zu erbeuten, die dann von den Kobolden gehortet und an diesen für vertrauenswürdig erachtete Zauberer weiterverkauft wurden. In Italien hatten die es einst auch versucht, diese Fluchbrecher, meistens aus England und Irland, einzusetzen. Doch das italienische Zaubereiministerium hatte dem schon vor hundert Jahren einen tonnenschweren Riegel vorgeschoben und klargestellt, dass magische Gegenstände in altrömischen oder etruskischen Tempeln und Grabstätten dort zu bleiben hatten und jeder Versuch, sie dort fortzuholen als schwerer Diebstahl am italienischen Zauberervolk und zugleich als Vorbereitung weiterer Straftaten geahndet wurde. Nachdem fünf wackere Fluchbrecher bei der versuchten Plünderung entsprechender Stätten erwischt und sehr exemplarisch abgeurteilt worden waren hatte der Leiter der italienischen Zweigstellen von Gringotts einen mit seinem Blut besiegelten Garantievertrag unterschrieben, keine weiteren Versuche mehr zu gestatten, diese alten Erbstücke antiker Zauberkunst "sicherzustellen". Einige der hier versammelten unterstellten dem seit Jahrzehnten von einer einzigen Familie gestellten Zaubereiministerium Ägyptens eine gewisse Form von Bestechlichkeit, dass sie an diesen Fundstücken mitverdienten und / oder sogar gezielt danach suchen ließen, weil sie sich nicht selbst in Gefahr bringen wollten. So war es dann nach zwanzigminütiger Aussprache auch keine Frage, dass die italienische Sektion der Liga gegen dunkle Künste die Herausgabe der ägyptischen Gegenstände verweigern würde, vorausgesetzt, das ägyptische Zaubereiministerium und nicht die Brüder des blauen Morgensternes kämen auf die Idee, die Herausgabe zu fordern.

"Die Brüder des blauen Morgensternes behaupten gerne, dass sie wie wir gegen alle Ausprägungen dunkler Magie in ihrem Hoheitsbereich vorgehen. Doch wissen wir leider zu gut, wie groß die Macht der Versuchung ist, mit mächtigen Gegenständen zu hantieren, um damit angeblich gutes zu tun", stellte Montecello klar. "Keiner hier bei uns kennt sich mit diesen Artefakten aus und weiß, von wem sie für wen hergestellt und zu welchem Zweck sie gefertigt wurden. Das bewahrt uns eher vor jeder Versuchung, sie missbräuchlich zu benutzen als die werten Morgensternbrüder." Dieser Meinung schlossen sich alle hier anwesenden an. Damit stand fest, dass die aus Ladonnas ehemaliger Residenz bei Florenz geborgenen Gegenstände in den geheimen Verliesen der Liga unter den Dolomiten gut weggeschlossen werden sollten, bis eindeutig feststand, was mit ihnen zu geschehen hatte.

Nachdem nun alle drei Tagesordnungspunkte abgehandelt waren beendete der Sprecher der italienischen Sektion die Sitzung. Alle durften nun nach Hause oder an ihre Arbeitsstätten zurückkehren.

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Es war der erste Februar, Béatrices 37. Geburtstag. Zugleich war es der offizielle Abschluss des ersten Schulhalbjahres, was für Aurore und Claudine ein ganz wichtiger Tag war. Julius musste sich sehr hüten, dass er bei seiner Rückkehr aus dem Ministerium erst seine "große Tochter" begrüßte und dann erst Béatrice. Dann durfte er Aurores Zeugnis lesen. Er war einerseits stolz und andererseits erheitert. Denn da stand was von "bereits über das vom Lehrplan geforderte Maß mit Buchstaben vertraut" und "erweist sich im Unterricht häufig als vorauseilend eifrig". Da jedoch auch was von "vorbildlicher Hilfsbereitschaft" stand freute er sich. Als er las, dass sie alle ihr zu einfach fallenden Aufgaben eher nachlässig als gewissenhaft ausführte, bei ihren Verstand anregenden Dingen aber am liebsten die Stunde abhalten mochte musste er lachen. "Millie, nimm's mir nicht übel, aber Aurore ist eindeutig meine Tochter."

"Ja, aber ganz sicher auch meine, Julius", meinte Millie. "Denn hier steht was von "scheut sich auch nicht, aufkommende Streitigkeiten mit körperlichem Einsatz zu bewältigen", was ja soviel heißt, dass sie keiner Balgerei aus dem Weg geht."

"Eh, redet ihr da von mir?" fragte Aurore. Dann meinte sie: "Wenn die Jungs meinen, mir an den Haaren drehen zu müssen muss ich denen zeigen, dass ich das nicht will. Fertig!" Ihre Eltern blickten einander grinsend an. "Auf jeden Fall machst du nur das, was dich echt interessiert und nichts, was nach zweimal machen schon langweilig ist", meinte Julius. "Mir haben sie bei meinem ersten, zweiten und dritten Zeugnis reingeschrieben, dass ich die Erwartungen vermissen lasse, die ich bei allen Lehrern auf Grund meiner bestehenden Vorkenntnisse erweckt habe, will heißen, ich habe mich zurückgehalten, wenn es nichts wirklich spannendes war. Das hat mein Vater gerne als Faulheit unterstellt, weil er voll der Streber in seiner Klasse war, nur noch übertroffen von Rodney Underhill, wo immer der oder die jetzt ist", erwiderte Julius.

"Ja, und hier steht, dass du wegen deiner familiären Verantwortung für jüngere Geschwister immer zwischen Schulsachen und Familiensachen wählen musst. Das hat sicher was damit zu tun, dass Laurentine dich immer wieder beim Tischdecken und Spülen mitbekommen hat", meinte Millie. Claudine zeigte Julius ebenfalls ihr Zeugnis. Da stand, dass sie vielseitig interessiert und sehr aufnahmefähig und hilfsbereit sei. Daneben stand noch: "Sie hat in diesem Jahr eine besondere Verantwortung übernommen, die jedoch ihre Leistungen nicht gemindert, sondern verbessert hat." Damit ist doch sicher gemeint, dass du Rories Schulpatin bist, richtig?" fragte Julius. Claudine überlegte und nickte dann. "Falls Rorie dich bis zum Sommer als Patin behalten möchte wird Madame Dumas da wohl nichts gegen sagen", meinte Julius. Dann nahm er seinen Füller und unterschrieb Aurores Zeugnis. Da beide Eltern unterschreiben konnten, aber nicht mussten unterschrieb Millie im Feld "Mutter der Schülerin". "So, meine Kronprinzessin. Das darfst du dann am nächsten Schultag der lieben Mademoiselle Hellersdorf zurückgeben, damit die es vervielfältigen und für sich und das Schularchiv abheften kann."

"Ja, weil die wissen, dass deine Eltern mit deiner Schularbeit zufrieden sind", sagte Claudine altklug. Millie und Julius bejahten das.

Nun holte Julius seine ersten noch verwahrten Zeugnisse und suchte eines, wo drinstand, dass sein Eifer bei der Unterrichtsverfolgung beinahe umgekehrt proportional zu seiner schöpferischen Kraft im Bezug auf nichtwörtliche Erheiterung der Mitschüler stehe. Claudine und Aurore machten "Häh?!" "Das heißt, dass ich keine langweiligen Wiederholungen machen wollte, aber dafür eine Menge lustiger Streiche angezettelt habe, zum Beispiel sich grün färbendes Papier, wenn jemand mit handelsüblichem Füller draufschreibt. Das war mein Papa, Euer nicht mehr lebender Papie Richard in Schuld, weil der mit mal die Chemikalien gezeigt hat, die mit blauer Tinte Papier grün verfärben. Dann diverse Spielereien mit Wasser und Seifenschaum, das Umstöpseln aller Telefonverbindungen der Haustelefonanlage und der damals schon als Oldie zu bezeichnende Klassiker, das verklebte Türschloss. Den wollte ich einmal in Hogwarts bei Snapes Zaubertrankkerker anbringen. Aber Gloria und Pina haben mir erklärt, dass es genug Zauber gebe, um verklemmte Schlösser zu öffnen und ein Klebstoff für einen Zaubertrankbraumeister kein unüberwindliches Hindernis ist. An Lötzinn kam ich in Hogwarts nicht dran."

"Das hat Apollo mal gebracht, Sofortkleber in die Türritzen von Madame Fixus Unterrichtsraum, war im ersten Halbjahr in Beaux, Julius. Tja, Professeur Fixus kam, sah, prüfte und apportierte eine Sprühflasche, mit der sie die verkleisterten Türritzen wieder freibekam. Apollo durfte dann einen vier Pergamentrollen umfassenden Strafaufsatz über magische Klebstoffe und ihre Gegenmittel schreiben und die drei mittelschweren davon beim Nachsitzen nachbrauen", erwiderte Millie. "Da Snape ja noch wesentlich nachtragender gewesen sein soll kannst du Gloria und Pina danken, wenn die das waren, die dich davon abgehalten haben, seine Fähigkeiten herauszufordern."

"Warum hat nur deine Mutter dein Zeugnis unterschrieben, Julius?" fragte Claudine, die Julius' erstes Ganzjahreszeugnis las. "Eben aus dem Grund, weil mein Vater es für unter seiner Würde und unerwünscht befand, dass sein einziger Sohn sich angeblich so heftig durchhängen ließ, also nicht mehr gemacht hat, als unbedingt nötig war, um ins nächste Jahr reinzukommen", meinte Julius grinsend.

"Ja, und wenn ich mehr im Unterricht mache als die anderen heißt es, ich soll nicht so voreilig und übergescheit rüberkommen, falls ich nicht zweimal die Übergangsklasse vor Beaux machen will, weil ich erst eine Klasse überspringen und dann die vierte zweimal machen müsste, bis ich elf Jahre alt bin", sagte Claudine verstimmt. Julius nickte ihr beipflichtend zu.

Nachdem sie Aurores allererstes Schulzeugnis besprochen und gefeiert hatten ging es um Béatrices Geburtstag. Millie hatte zusammen mit Chrysope einen Geburtstagskuchen gebacken und 37 federkieldünne weiße Kerzen hineingesteckt. Die durfte Béatrice dann unter großem Ablaus ihrer Gäste ausblasen. Auch die drei Kleinen klatschten mit. Wenn Julius überlegte, dass Félix, Phylla und Flavine in diesem Jahr auch schon zwei Jahre auf der Welt waren fragte er sich einmal mehr, wohin die Zeit ging.

Als alle großen und kleinen Kinder im Bett waren feierten die drei Erwachsenen im Apfelhaus noch mit einem Schluck Himbeerwein im Musikzimmer. Da die kommende Nacht zu einem geraden Kalendertag führte galt die Absprache, dass Julius diese Nacht mit Béatrice verbringen würde. Ja, und er freute sich sogar darauf, mit seiner offiziellen Schwiegertante zusammenzuliegen. Ja, auch Millie zeigte durch Gesten und über die Herzanhänger vermittelten Gefühlsregungen, dass sie wollte, dass er Béatrice heute glücklich machen sollte.

"Schlaf erst neben ihr ein, wenn du ihr alles gegeben hast", wisperte Millie ihrem Mann zu, als er sich leise von ihr verabschiedete und seinen Herzanhänger abnahm. "Öhm, dann könnte sie noch was kleines kriegen, Mamille. Willst du das?" fragte er. "Hmm, wenn sie es trägt ist wohl eher die Frage, ob sie das will. Also, bis morgen, Süßer!" Sie küsste Julius. Er kapierte es nicht, wie locker Millie damit umging, dass er alle zwei Tage mit Béatrice die Nacht verbrachte. Da er jedoch selbst gerade so richtig darauf brannte, diese Nacht wenn nicht unvergesslich, aber zumindest nicht langweilig zu erleben dauerte es wahrhaftig bis ein Uhr, bis beide endlich müde genug waren und genug voneinander hatten. Béatrice hatte immer sorgfältig verhütet. Also wollte sie in dieser Nacht noch kein zweites Kind von ihm empfangen. Wieso dachte er "noch kein zweites Kind"? Das war sicher Millies Schuld. Die schlief sicher schon tief und fest. Aber wieso konnte er sich ohne schlechtes Gewissen vorstellen, dass Béatrice noch ein Kind von ihm bekam? So wie sie sich jetzt zum Entspannen an ihn kuschelte und ihre Körperhitze seinen Körper ohne Decke wärmte hatte er das Gefühl, dass ihr doch mal einfallen konnte, die blaue Nachspüllösung wegzulassen und Mutter natur entscheiden zu lassen, ob das nächste Mitglied der Latierrefamilie aus Béatrices Bauch entschlüpfte oder nicht. Doch heute war es sicher noch nicht soweit.

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Auch Anthelia/Naaneavargia genoss eine wilde Liebesnacht. Dafür hatte sie ihre sogenannte Stadtjägerinnenkluft angezogen und sich in San Francisco gezielt auf die Suche nach jungen, wissbegierigen Studenten gemacht. Sie kam sich dabei fast vor wie eine von Lahilliotas Töchtern. Doch es musste mal wieder sein, wenn sie ihr körperlich-seelisches Gleichgewicht behalten wollte. Als sie fündig geworden war hatte sie es übernommen, ihren "Fang" in ein Stundenhotel zu führen, wo sie ihn dazu bekam, vier wilde Runden mit ihr zu überstehen. Als er nach der letzten Runde leidenschaftlicher Liebe neben ihr einschlief entspannte sich die oberste der Spinnenhexen. Da empfing sie die Gedankenströme mehrerer Männer, die in der Absicht, dem Konkurrenten ihres Bandenhauptmannes eins auszuwischen, das Hotel in Brand setzten und die flüchtenden Liebespärchen beim Verlassen zu fotografieren und möglichst übel zu beschimpfen. Nein, nicht heute und nicht dieses Haus, beschloss Anthelia. Sie griff in ihre kleine Abendausgehtasche und holte einen von ihr selbst angefertigten Unfeuerstein hervor. Dieser hatte die besondere Eigenschaft, beliebig in Kraft gesetzt und wieder eingeschläfert zu werden. Sie wartete, bis die Gangster mehrere Benzinkanister an der Holzfassade entleert hatten. Dann tippte sie den Stein an und dachte das altaxarroische Wort für "Erwache". Der Stein glühte in ihrer Hand rot. Sie legte ihn auf den Boden. Ab nun würde alles von der Feuerzeugflamme bis zum Hausbrand im Umkreis von hundert Metern erlöschen und bis zu einem Tag lang kein neues Feuer entflammen, falls sie den Stein nicht wieder einschlafen ließ oder mit ihm aus dem Bannkreis disapparierte. Nun verfolgte sie mit, wie die vier Befehlsempfänger eines Zuhälters ein Streichholz nach dem anderen zerrieben, ohne dass ein Funke entstand. Als einer auf die Idee kam, sein Benzinfeuerzeug an die sich immer mehr verlaufende Benzinpfütze zu halten ratschte das Feuerzeug zwar, schlug aber keinen Funken, und die ihm entströmenden Benzingase entzündeten sich nicht. "Kannst du Depp kein Feuer mehr machen?" blaffte der Spießgeselle des erfolglosen Brandstifters.

"Man, du hast 'nen ganzen Brief Streichhölzer zerrubbelt, ohne dass die einen lausigen Funken geschlagen haben und nennst mich einen Deppen, du Heini! Mach's selbst besser", erwiderte der Gangster mit dem Feuerzeug. Dann kam der dritte auf die Idee, aus sicherer entfernung einen Magnesiumbrandsatz zu zünden. "Bist du voll bescheuert. Die Hütte soll brennen und nicht in einem Ruck ablodern. Wir wollen die Kunden von Nellie rausjagen, nicht grillen. Das soll schließlich ins Darknet, wie wenig Nellie seine Bude absichert."

"Ja, und wenn du noch ein Dezibel lauter quatschst darfst du würfeln, ob Nellies Gorillas oder die Bullen uns vorher zerlegen, du Vollpfosten", knurrte der mit dem Streichholzbriefchen. Währenddessen verteilte sich das Benzin schon so weit, dass sie zurückweichen mussten, um beim Zünden nicht selbst in Brand zu geraten. Dann versuchten sie es mit einem kleinen Klumpen Magnesium. Doch der entzündete sich nicht. Noch ein Feuerzeug wurde bis zur Aufgabe malträtiert. Dann sahen es die vier ein, dass irgendwas nicht stimmte. "Am Ende paktiert Nellie mit 'nem Voodoomeister, der das Haus brandsicher gehext hat", dachte der Führer der kleinen Gangstertruppe. Da ging ein Fenster über ihnen auf und ein randvoller Nachttopf entleerte sich über dem Kopf des Anführers. "Verpisst euch, ihr Spanner!" schimpfte ein Mann. Das taten die erfolglosen Vier dann auch.

"Öhm, kann das sein, dass uns eben 'ne Kamera geknipst hat?" fragte einer der vier seinen besudelten Truppenführer. "Nöh, keine gesehen. Sieh zu, dass wir hier wegkommen. Öhm, und was Rodeo-Roger angeht, bloß kein Wort von der Kiste. Und wer das mit dem Pinkelpott rauslässt darf selbst aus dem nächsten Klo trinken bis es leer ist."

Anthelia überwachte die Gedanken der sich davonstehlenden Gangster, bis sie im Rauschen der abermillionen anderer Gedankenquellen verstummten. Anthelia streichelte ihren Nachtgespielen und säuselte: "Schlaf dich aus, mein wilder Hengst. Mom Nathalia passt auf dich und die anderen auf, bis die Sonne aufgeht."

Anthelia war froh, dass sie eine Nacht wie diese erleben konnte, nicht wegen des Hexenstreiches mit den vier Brandstiftern, sondern weil sie nicht an Ladonna oder Vita Magica denken musste.

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Chrysopes fünfter Geburtstag am zweiten Februar geriet zu einer großen Veranstaltung mit über dreißig gleichaltrigen Kindern und mindestens einem Elternteil. Die Erwachsenen Bewohner des Apfelhauses waren dankbar, vieles mit Zauberkraft erledigen zu könnenund dass sie zudem noch Hilfe von mitfeiernden Eltern wie Catherine Brickston oder Camille Dusoleil hatten. Was sonst als reiner Luxus gegolten hatte, zwei funktionierende Küchen im gleichen Haus zu haben, war nun eine Notwendigkeit.

"Wenn Chrysie nächstes Jahr sechs wird noch mal so eine große Feier?" fragte Millie ihren Mann, als sie beide Nachschub an Kakao und Waffeln zubereiteten, während im Garten ringsum den übergroßen Apfel des Lebens gerade das gemeinschaftstanzspiel Laurentia durchgezogen wurde. "Ja, dann haben wir wenigstens schon mal klar, wie viele Leute wir dafür einplanen müssen", sagte Julius.

Catherine betrat die Wohnküche im dritten Wohngeschoss des Apfelhauses und fragte, ob sie die nächste Runde Waffeln abholen konnte. Ihr Sohn Justin sah den größeren Kindern beim Laurentiaspiel zu. Gerade waren sie beim Mittwoch.

"Die Damen und Herren aus Millemerveilles wussten damals schon, warum sie euch ein so großes Grundstück überlassen wollten", meinte Catherine. "Wenn ich mir vorstelle, die alle bei uns in der Rue de Liberation unterzubringen." "Oh, da würde Joe sicher am Rad drehen", meinte Julius spöttisch. "An einem?" erwiderte Catherine. "An allen die da sind", bekräftigte sie noch.

Als die Eigentümer des Apfelhauses die hungrige und durstige Bande mit Nachschub versorgten konnte sich Julius mit Camille unterhalten, die am 1. März wie üblich den Geburtstag ihrer vier jüngsten Kinder feiern wollte. Denn den 29. Februar gab es ja erst wieder im nächsten Jahr, und einen Tag vor dem eigentlichen Geburtstag zu feiern galt auch in der Zaubererwelt als unangemessen. Millie und Julius sagten sofort zu.

Kurz vor dem Abendessen prüfte Julius noch nach, was der berühmte Wetterprophet Punxsutawney Phil für die Dauer des Winters vorhergesagt hatte. "Schön, Phil hat keinen Schatten gesehen. Damit dauert der Winter nur noch sechs Wochen", meldete er nur zehn Minuten später an die Festtagsrunde. Da hier die allermeisten wussten, was es mit dem Murmeltiertag auf sich hatte klatschten sie und jubelten. Chrysope hatte den kleinen Schlummerphil, den sie als allererstes Geburtstagsgeschenk überhaupt bekommen hatte immer noch als Kuscheltier neben den anderen dazugekommenen Knuddelfreunden und der grünhaarigen Planschnixe, mit der sie immer noch gerne badete.

Nach dem Abendessen dauerte es noch eine halbe Stunde, bis die Eltern mit jüngeren Kindern den Heimweg antraten. Gegen zehn Uhr waren auch die Apfelhausbewohnerinnen und -bewohner unter sieben Jahren müde genug, um zu schlafen. So konnten sich Millie und Julius gegen elf Uhr ins gemeinsame Bett kuscheln, da Julius ja die Nacht zu einem ungeraden Kalendertag mit seiner offiziell angetrauten Frau verbrachte, während Béatrice noch die letzten Spuren der Feier aus dem Garten tilgte.

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Sie träumte mal wieder vom vergangenen Sommer, als sie hingebungsvoll von vorbeifliegenden Honigbienen besucht wurde, die in ihren Blütenkelch eindrangen und dabei Blütenstaub von den anderen bei ihr zurückließen. Damals hatte sie es erhaben gefühlt, mit Subjekten wie Gundula Wellenkamm und ihrer Enkeltochter Gunilla Lebenskraft zu teilen. Doch genau dieses Gefühl der Verbundenheit schreckte sie nun aus dem Schlaf. Sie brauchte eine Viertelminute, um sich zu orientieren. Sie war keine langstilige Rose mehr. Ihre Überwindderin war in drei einzlne, neugeborene Mädchen zerfallen, weil sie sich mit einem mysteriösen Schwert verletzt hatte. Wie das genau ging hatte sie damals nicht richtig mitbekommen. Erst als Ladonnas bisheriges Leben endete und sie sich ihres Zustandes bewusst war und merkte, dass alle von ihr ferngehaltenen Wochen des Welkens auf sie einzustürzen drohten wusste sie, dass sie bald acht Monate lang die Gefangene dieser Kanallie gewesen war. Atalanta Bullhorn fühlte Hilflosigkeit und Scham, Wut und Verzweiflung in sich wallen. Wieso nahm sie nicht das Angebot an, sich die unsäglichen Erinnerungen aus dem Gedächtnis entfernen zu lassen und die Zeit als eine von Ladonnas Rosen als nicht mehr zu erinnern abzutun? Die Antwort war klar, sie wollte sich erinnern, um die nötige Entschlossenheit zu haben, gegen solche wie Ladonna ankämpfen zu können. Sie wusste jetzt, wer alles zu ihren Feindinnen gehört hatte und vor allem warum. Gundula Wellenkamm und etliche Hexen, die mit ihr das Beet geteilt hatten, waren sicher in ihre heimlichen Leben zurückgekehrt. Sollte sie den europäischen Kollegen mitteilen, dass diese Hexen keine vertrauenswürdigen Personen waren, ja was sie von den Verhören, die Ladonna durchgeführt hatte, mitbekommen hatte? Nein, im Moment nicht. Erst war wichtig, dass sie sich zurückhielt und abwartete, ob die unterworfenen Zaubereiminister und ihre Beamten wieder aufwachten oder für alle Zeiten tief und fest schlafen mussten. Doch das Wissen um die Doppelleben der mit ihr gefangenen Hexen würde sie ausnutzen. Wichtig war erst, dass die USA wieder zu einer Einheit zusammengefügt wurden. Dass sie nicht offiziell daran mitwirken durfte war ihr klar. Denn wer traute ihr noch über den Weg? Aber die brauchten nicht zu denken, dass sie nun nur noch in einem Bereitschaftsraum der Inobskuratoren sitzen und auf Einsätze warten würde. Sie würde ihre bestehenden Kameradschaften nutzen, um ihre geliebte Heimat gegen solche wie Ladonna Montefiori abzusichern, falls nötig auch gegen den Willen der offiziellen Administration. Sie plante eine ähnliche, wenn auch geheimere Institution wie das Laveau-Institut zu gründen und ähnlich wie das nach einem ihrer Vorfahren benannte Werwolfjagdkommando Quentin Bullhorn gezielt nach möglichen Erben und Erbinnen Ladonnas zu fahnden. Doch solange die Inobskuratorentruppe in ihre Regionalabteilungen mit eigenen Leitstellen aufgespalten war konnte sie dieses Vorhaben nicht wahrmachen. Denn dazu brauchte sie geheime Garantien, dass sie und ihre Kameraden auf dem gesamten Gebiet der USA, vielleicht auch Kanadas und Mexikos, operieren durften.

Sie verabscheute die Kleinstaaterei in ihrer geliebten Heimat. Wer von denen war so seltendämlich, das zuzulassen?

Da sie vollmundig verkündet hatte, sich aus der aktiven Zaubereiadministration zurückzuziehen und nicht als Kandidatin für ein höheres Amt zur Verfügung zu stehen konnte sie eben nur Kontaktpflege betreiben. Doch die war schon sehr wichtig, fand Atalanta Bullhorn. Sobald klar war, ob sich die magische Welt von Ladonnas Vorherrschaft erholte wollte sie die nächsten Gefahrenquellen austrocknen, Vita Magica, die Mondbruderschaft und auch den Orden der schwarzen Spinne. Wichtig war, dass die offizielle Gesamtverwaltung der US-amerikanischen Zaubererwelt immer und überall davon ausging, die nötigen Maßnahmen aus ganz eigenen Erwägungen veranlasst zu haben.

Atalanta Bullhorn dachte daran, was sie von den geheimen Nachrichten- und Spionagediensten der Nomajs mitbekommen hatte. Die handelten nicht selten nach der Devise: "Egal, wer unter uns Präsident oder Verteidigungsminister ist." Diese geistig-moralische Grundhaltung würde wohl auch sie und jeder und jede der alten Kameraden übernehmen und beibehalten müssen, wollten sie die Feinde der USA ausheben.

Mit der Zuversicht, dass die Ungeduld ihrer magisch begabten Landsleute bald eine klare Entscheidung zu Gunsten einer neuen Union erzwingen mochte fand Atalanta Bullhorn in den Schlaf zurück.

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Als Julius am Morgen des fünften Februars sein Büro im Zaubereiministerium betrat fand er wie üblich mehrere Memos und Anschreiben vor. Ein sorgfältig verschlossener Briefumschlag erregte sofort sein Interesse. Denn auf dem Umschlag prangte der Stempel "Zugestellt von russischer Eule - Fluch- und Giftfrei" Julius kannte solche Stempel. Nicht erst seit Ladonnas Weltherrschaftsbestrebung war es üblich, ins Ministerium geschickte Eulenpost auf tückische Inhalte zu prüfen. Als noch Minister Grandchapeau auch Heuler auf die Liste unerwünschter Postsendungen gesetzt hatte gab es statt der roten Wutbriefe nur Memos, wer einen Heuler verschickt hatte.

Julius öffnete den Brief und las die in einer sehr feinen, aber auch Entschlossenheit bekundende Handschrift.

Werter Monsieur Julius Latierre,

nach ersten zögerlichen Regungen des aus Ladonnas Bann erwachenden Mitgliedern des russischen Zaubereiministeriums besteht von unserer Seite her ein sehr großes Interesse daran, die durch Ladonna angefachte Auseinandersetzung zwischen Menschen und Kindern Mokushas aufzuklären und hoffentlich zu beiderseitiger Anerkennung zu beenden. Hierzu soll im März eine Zusammenkunft der für magische Wesen zuständigen Abteilung mit Vertretern der noch in Russland beheimateten Familien von Veelas und Veelastämmigen stattfinden. Da Sie laut Beschluss des Ältestenrates der Kinder Mokushas zum Vermittler zwischen uns und den Menschen mit und ohne Zauberkräften berufen wurden steht es mir zu, Sie über diese Zusammenkunft zu benachrichtigen, sowie darum zu bitten, dass Sie mit einem von Ihnen auserwählten Begleiter dabei sind, um Verlauf und Ergebnis diesesTreffens zu verfolgen. Natürlich werden Sie einwenden, dass Sie kein russischer Zaubererweltbürger und somit auch kein Beamter des russischen Zaubereiministeriums sind und es damit eben dem Ministerium vorbehalten sei, ob Sie bei einer derartigen Zusammenkunft anwesend und mitspracheberechtigt sein dürfen. Als eine der Ratsältesten in Russland wohnenden Töchter Mokushas nehme ich mein Recht in Anspruch, den auserwählten Vermittler hinzuzubitten. Bitte prüfen Sie nach, ob und wie Sie an jener Zusammenkunft teilnehmen können! Falls es Ihnen nicht gelingen sollte, in eigener Person daran teilzunehmen erbitte ich um eine frühzeitige Mitteilung. Ich möchte jedoch für diesen Fall vorschlagen, dass Sie eine schriftliche Aufzeichnung der Unterredung beantragen mögen. Mir und allen in Russland und der Ukraine wohnenden Kinder Mokushas wäre es jedoch sehr wichtig, den auserwählten und anerkannten Vermittler zwischen uns und den Zauberstab führenden Menschen als unmittelbaren Zeugen und falls möglich auch Ansprechpartner vor Ort zu haben.

In der Hoffnung, sehr bald von Ihnen Nachricht zu erhalten verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen

Sarja vom Südsaum

Julius verzog das Gesicht zu einem verhaltenen Grinsen. Das war doch klar, dass Sarja ihn wieder in ihrer Nähe haben wollte, auch wenn Léto klargestellt hatte, dass er von keiner der Töchter Mokushas beansprucht werden durfte, solange sie rein formal noch Ansprüche an ihn hatte und er zugleich unter ihrem persönlichen Schutz stand. Ihr war auch klar, dass das zum Gutteil aus Ladonnas Bann befreite Zaubereiministerium ihn nicht einladen oder seine Teilnahme zulassen würde, wenn es eine solche Konferenz gab. Einerseits wussten die russischen Ministeriumsleute schon sehr genau, wer sie aus Ladonnas Bann befreit hatte. Andererseits war Ladonna selbst Veelastämmig gewesen, und es waren mehrere Veelas umgekommen, weshalb die Überlebenden Blutrache an den Tätern und ihren Familien üben mochten. Dass sie es bisher nicht getan hatten lag daran, dass der Ältestenrat der Veelas klargestellt hatte, dass die Mordkommandos nicht aus freiem Willen und eigener Absicht gehandelt hatten. Doch falls sie keine großzügigen Zugeständnisse von Arcadis Ministerium bekamen konnten sie das schnell wieder vergessen. In Frankreich galt ja der Vertrag zwischen dem Ministerium und den Veelas. Sollte er nicht jetzt, wo die Verhältnisse neu geregelt werden mussten anbieten, diesen Vertrag als Muster für alle von Veelas und ihren Nachkommen bewohnten Länder vorzuschlagen? Doch dafür brauchte er auch die Zustimmung der Zaubereiministerin und der Leiterin der Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Wesen. Deshalb hatte Sarja ihm diesen Brief geschrieben, der schon als behördliche Anfrage gelten konnte. Gut, dann wollte er ihn eben kopieren und sich mit der Ministerin und seiner Schwiegertante Barbara darüber austauschen, ob er von sich aus um eine Teilnahme an einer Verhandlung bitten sollte oder lieber darauf warten sollte, dass auch das russische Zaubereiministerium ihn einlud, um den Vermittler zwischen Veelas und Menschen dabeizuhaben.

Er fertigte die nötigen Kopien von Sarjas Brief an und schickte Memos in die zuständigen Büros. Dann befasste er sich mit den anderen Anfragen und Mitteilungen. Auch diese behandelten Ladonnas Verschwinden und damit zusammenfallenden Ausfälle mehrerer europäischer und nordafrikanischer Zaubereiministerien. Belle Grandchapeau teilte ihm mit, dass Angehörige der Liga gegen dunkle Künste mit algerischer Abstammung solange die Angelegenheiten Algeriens betreuen durften, bis die immer noch im Tiefschlaf liegenden Ministeriumsbeamten dort selbst wieder aufwachten. Julius konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass die algerische Zauberergemeinschaft das zuließ, dass die einstigen Kolonialherren die Gunst der Stunde nutzten, sich wieder in deren Angelegenheiten einzumischen. Deshalb war er froh, dass das nicht in seinen unmittelbaren Zuständigkeitsbereich fiel. Es konnte nur sein, dass die Unterabteilung für elektronische Nachrichten auch Vorkommnisse in Algerien mitverfolgte. Damit hätte er dann wieder zu tun.

Gegen Mittag erhielt er die Antwort aus Ministerin Ventvits Büro, dass er um drei Uhr nachmittags bei ihr vorsprechen möge. Auch Barbara Latierre würde dabei sein. So musste Julius mal eben die Personalbelegung des Rechnerraumes ändern, damit jemand anderes seinen Posten dort übernehmen konnte.

Fünf Minuten später als sonst suchte er den Speisesaal für höhere Beamte auf. Dort traf er seine Schwiegermutter und Belle Grandchapeau.

Zur erbetenen Uhrzeit klopfte er an die Tür von Ministerin Ventvits Büro. Madame Barbara Latierre war bereits da, als er eintrat.

"Wir haben uns das sehr reiflich überlegt, Monsieur Latierre. Solange das russische Zaubereiministerium keine offizielle Einladung an Sie versendet geben Sie bitte nicht bekannt, dass Sie davon erfuhren, dass eine Friedensverhandlung geplant sein soll. Immerhin könnte der Ihnen zugesandte Brief auch auf reinem Wunschdenken der Schreiberin gründen, dass eine solche Unterredung stattfinden soll. Dass würde jedoch bei den Kollegen in Moskau so ankommen, als wenn die Veelas und wir Ihnen abverlangten, eine derartige Verhandlung zu beschließen. Das dürfte die Kollegen nicht gerade willig stimmen, Frieden mit den Veelas zu schließen. Auch dürfen Sie nicht außer Acht lassen, dass wir Franzosen bei den Russen als unverdient ungeschorene angesehen sein könnten und dass die allermeisten russischen Ministeriumsbeamten ehemalige Durmstrang-Absolventen sind, was heißt, dass sie nicht nur westlichen Hexen und Zauberern, sondern vor allem Nachkommen nichtmagischer Eltern gegenüber abweisend reagieren. Sie erinnern sich ja noch gut an die Aussprache wegen Diosan, die fast in unserer Festnahme geendet hätte und an die Konferenz in Millemerveilles wegen der Verschiebung der Quidditchweltmeisterschaft nach ersten Verdachtsmomenten, dass das italienische Zaubereiministerium bereits von Ladonna Montefiori unterwandert oder gar unterjocht war." Julius erinnerte sich wirklich sehr gut an beide Ereignisse und wusste deshalb, dass die russischen Kollegen nicht gerade große Freude an seiner Anwesenheit gezeigt hatten. Sich da regelrecht aufzudrängen half da sicher nicht, die Stimmung zu heben. Barbara Latierre sagte dann noch: "Teilen sie der Dame Sarja in Russland bitte mit, dass Sie vordringlich ministeriellen Weisungen unterworfen sind und demnach sowohl von einer Erlaubnis unsererseits wie von einer offiziellen Einladung der russischen Kollegen andererseits abhängig sind und daher auch nicht in der Lage seien, um Mitschriften möglicher Verhandlungsprotokolle zu bitten, ja nicht einmal anfragen dürfen, ob es eine solche Verhandlung überhaupt gab! Gerade jetzt ist erst mal wichtig, dass die aus Ladonnas Abhängigkeit freikommenden Ministerien wieder ihr eigenes Gleichmaß finden und das garantiert verlorene Vertrauen in den Zaubererweltgemeinschaften zurückgewinnen müssen. Ausländische Einmischungen könnten da als unerwünschte Bevormundung ausgelegt werden." Auch das konnte Julius sofort nachvollziehen. Er wollte schließlich auch nicht, dass irgendwer aus einem anderen Zaubereiministerium vorschrieb, wie er zu leben und zu arbeiten hatte. Daher bestätigte er den Erhalt der beiden Anweisungen und sagte, dass er selbst schon davon ausging, dass Frankreich gerade nicht vorpreschen sollte. Der Ball lag im Feld der anderen. Die mussten entscheiden, wie und wohin sie ihn spielen wollten.

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Er fühlte sich wie ein verurteilter Verbrecher, der auf Bewährung lebte. Was konnte er denn schon dafür, dass er in ehrlicher Sorge um alle in Russland lebenden magischen Menschen auf diesen Trick Ladonnas hereingefallen war und an einer Zusammenkunft teilgenommen hatte, bei der er und viele andere Zaubereiminister in den Bann dieses verderblichen Feuerrosenzaubers geraten waren? Monatelang war er dem Willen dieser einen, noch dazu mischblütigen Hexe unterworfen gewesen, hatte für sie sogar einen offenen Krieg gegen die Veelas ausgerufen und die bis dahin relativ harmlosen Kobolde aus dem Land verjagt und somit vielen magischen Mitmenschen den Zugang zu ihren Vermögen erschwert. Ja, die anderen, die nicht von ihm auf Ladonnas Befehl hin mit weiteren Feuerrosenkerzen unterworfen worden waren, hatten seine Beschlüsse mitgetragen. Doch nun, wo Ladonna aus einem ihm bisher unbekannten Grund ihre ganze Macht verloren hatte und angeblich für immer verschwunden sein sollte, da brüllten und schrien all die Leute auf, die immer schon geahnt hatten, dass auch Arcadis Ministerium von dieser einen, unwürdigen Hexe wie Marionetten beherrscht wurde und zu ihrem eigenen Ergötzen tanzen, springen und sprechen durfte. Ab da galten er und die anderen als gescheitert, gerade so noch in Ämtern und Würden geduldet, weil sie eine zentrale Verwaltung magischer Angelegenheiten brauchten. Ihr Pech war, dass von Arcadis aussichtsreichsten Nachfolgekandidaten keiner da war, der nicht wie er von Ladonna beherrscht worden war. Ein Zeitungsschreiberling vom "Turm der Nachrichten" hatte es so in seine Zeitung getextet, dass es sich nun räche, dass "die langen Schatten Arcadis und seiner Mitstreiter" nichts hatten wachsen lassen, was sie vertrauenswürdig beerben konnte. Deshalb waren er und alle diejenigen, die von diesen griechischen Frauenzimmern mit Hilfe anderer, selbstherrlicher Veelas aus Ladonnas Einfluss herausgerissen worden waren, Sträflinge auf Bewährung. Sie durften weitermachen, weil man sie brauchte, nicht weil man sie noch für die richtigen hielt.

Ja, es stimmte schon, dass all die jungen Hexen und Zauberer, die im Ministerium arbeiteten, noch nicht die Erfahrung und den Überblick hatten, um Arcadis Amt zu übernehmen. So passte die Metapher von den langen Schatten, in denen nichts neues wachsen konnte. Andererseits galt seit der Berufung des ersten Zaubereiministers von Russland vom Großvater des letzten Zaren und dessen Nachwahl aus den Reihen der mächtigsten und klügsten Zauberer Russlands heraus der Grundsatz der Unbestreitbarkeit, ja auch sowas wie ein Unfehlbarkeitsanspruch. In allen bisherigen Nachfolgeakten war es auch so, dass der amtierende Minister irgendwann aus gesundheitlichen Gründen das Amt niederlegte, dieser zusammen mit drei anderen ranghohen Zauberern einen Nachfolger aus der ihm folgenden Generation bestimmte. Sein Stellvertreter in der Zeit, als er von den Hecatejüngerinnen in Gewahrsam genommen worden war und für tot erklärt worden war, hätte dieses Amt auch wahrhaftig von ihm "erben" sollen. Doch weil sein Sicherheitsabteilungsleiter Wladimir Borisewitsch Rodenkow selbst da noch unter Ladonnas Feuerrosenzauber gestanden hatte und die Presseabteilung so voreilig war, die Namen aller Betroffenen preiszugeben, fiel der eben auch unter das kalt wie der Nordwind entgegenwehende Misstrauen. Jeder Schritt, den er und seine Leute ab nun taten würde mit Argwohn beobachtet. Jeder Stolperer konnte zum endgültigen Sturz führen.

Ebenfalls galt es, mit den in Russland lebenden Veelas und ihren Nachkommen Frieden zu schließen. Doch wusste er auch, dass so ein Frieden bloß nicht mit zu vielen oder zu großen Zugeständnissen des Zaubereiministeriums herbeigeführt werden durfte. Er hatte dieser Sarja, die er selbst für eine nicht wirklich vertrauenswürdige Person hielt, den Monat März als möglichen Verhandlungszeitraum vorgeschlagen. Bis dahin mussten er und seine Leute überlegen, was sie den Veelas anbieten konnten oder auch was sie ihnen abverlangen konnten, um den Kriegszustand zu beenden. Gut, freies Geleit und die Unversehrtheitsgarantie für Sarja und die von ihr mitgebrachten Deligierten und ein Waffenstillstand gingen schon mal. Doch er musste daran denken, dass die Veelas im Zuge ihrer uralten Blutrachegesetze bereits unschuldige Hexen und Zauberer getötet hatten. Deren Angehörigen würden das nicht so einfach hinnehmen, mit Veelas Frieden zu machen, vor allem wo es in der russischen Zauberergemeinschaft bereits Leute gab, die die jahrelange friedliche Koexistenz für einen gravierenden Fehler hielten und eine unmissverständliche Ausgrenzung aller nichtmenschlichen Zauberwesen oder deren strickte und räumlich begrenzte Unterwerfung unter die Führung der Zauberstabführungsberechtigten forderten. Sollte das an die Öffentlichkeit gelangen, dass Arcadi und die seinen am ersten März mit den Veelavertreterinnen verhandeln wollten mochten jene Widersacher die russische Zaubereigemeinschaft gegen ihn aufhetzen. Das konnte zu einem unlöschbaren Flächenbrand ausufern, der die seit Jahrhunderten bestehende Ordnung in der russischen Zaubererwelt zerstörte. Allerdings mochten genau jene, die die strickte Ausgrenzung und Bevormundung anderer magischer Wesen forderten nach einem Abkommen mit den Veelas zum Aufstand gegen das Ministerium aufrufen. Arcadi wusste noch zu gut, was für ein gesellschaftliches Erdbeben es war, als in der Magieunfähigenwelt eine Revolution gegen den Zar und den Adel entbrannte und Leute wie Lenin und dessen brutaler Nachfolger Stalin ein weitaus tyrannischeres Regieme errichtet hatten. Nicht wenige vor allem Zauberer hatten die Einmischung in die Staatsführung zum Zwecke der Wiedereinführung des Zarenreiches verlangt. Das ganze Vorhaben war jedoch daran gescheitert, dass sie sich nicht einig waren, wen sie auf den Zarenthron hieven wollten, wo die Romanow-Familie vollständig ausgelöscht worden war. Musste Arcadi also auch daran denken, wie er jene Scharfmacher und lauernden Revolutionäre besänftigen konnte?

Weil er mit nüchternem Verstand keine Antwort auf diese und die anderen brennenden Fragen fand gönnte sich Arcadi einen kräftigen Schluck aus der sich aus einem Fass im Keller des Ministeriums selbst nachfüllenden Wodkaflasche. Ihm ging durch den Kopf, dass sein Vorvorgänger Ilja Iwanowitsch Lyssenko einst die Trennung aller menschenförmigen Wesen nach Blut und Herkunft befohlen hatte. Damit wollte er der "voranschreitenden Durchmischung ehrlichen Zaubererblutes" entgegenwirken. Die bereits geborenen Abkömmlinge aus Veela--, Kobold-, Zwergen- und sogar Wassermenschenbeziehungen mit reinblütigen Menschen durften zwar weiterleben, mussten aber eine Daseinsberechtigungsabgabe erstatten, die die Hälfte des erzielten Erwerbs betrug, die sogenannte Lyssenkosteuer. Sollte er das wieder einführen? Auch hatte jener Vorvorgänger eigene Siedlungen erbauen lassen, in denen die menschenförmigen Zaubergeschöpfe unter Bewachung der Behörde zur Erfassung und Lenkung magischer Geschöpfe leben durften, sofern es wie die Veelas keine reinen Wald- und Gebirgswesen waren oder wie die kleine Kolonie aus dem Norden Europas eingewanderter Zwerge in unterirdischen Höhlen hausten. Das mit der Steuer wollten die sich selbst für so fortschrittlich und freigeistig haltenden US-Amerikaner doch auch mal einführen, weil sie die überragenden Fähigkeiten dieser Nachkömmlinge nutzen wollten, denen, die sie nicht hatten aber als Beruhigungstrunk vorsetzen wollten, dass diese Superwesen eben dafür auch mehr Abgaben zu zahlen hatten. Nach dem vierten großen Schluck aus der nicht leer werdenden Flasche hatte Arcadi eine ihm für richtig und sinnvoll anmutende Lösung. Er würde eine Friedensverhandlung zum jetzigen Zeitpunkt ablehnen, da nicht nur in Russland Veelas lebten, sondern auch in anderen osteuropäischen Ländern. Da dort gerade mal kleine Übergangsverwaltungen walteten und er sich nicht mit gerade mal geduldeten, notwendigen Übeln darüber unterhalten wollte, wie mit bei denen lebenden Wesen zu verfahren war, musste er warten, bis geklärt war, ob die im magischen Tiefschlaf liegenden Exknechte Ladonnas wieder wach wurden und ob sie danach weiter als Ministerinnen und Minister amtieren durften. So schrieb er mit noch sicherer Handschrift:

... So werden Sie sicher einsehen, dass es keinen Sinn macht, eine sehr kurzfristige Vereinbarung mit Ihrem Volk zu treffen und dann festzustellen, dass Sie und die Ihren womöglich andernorts mehr Freiraum zugesprochen bekämen. Außerdem können Sie gewiss verstehen, dass gerade dadurch, dass es eine Hexe aus Ihrem Volk war, die unser geliebtes Land in diese Notlage gestürzt hat, jedes voreilige Zugeständnis ohne Rückhalt in der magischen Gemeinschaft zum Bruch mit dem Ministerium führen wird und Ihnen danach wesentlich mehr Ungemach drohen wird. Denn Sie dürfen nicht übersehen, dass die Anerkennung und das Vertrauen in Angehörige Ihres Volkes auf strohhalmdünnen Füßen steht. Daher sollten wir in meinem und Ihrem Interesse zunächst das von mir und Gosbodin Rodenkow ausgesprochene Waffenstillstandsabkommen beibehalten, bis die Lage in der europäischen Zaubererwelt eine ernsthafte Verhandlung mit verbindlichen Ergebnissen ermöglicht. Was bringt es Ihnen und Ihrem Volk ein, wenn ich Ihnen offenes Entgegenkommen bekunde, jedoch eine Woche später meines Amtes enthoben werde, weil man mir nichts mehr zutrauen will? Daher fassen Sie sich weiterhin in Geduld. Denn Voreiligkeit zerstört oft mehr als sie erzeugen kann.

"Das wird ihr nicht gefallen, aber dagegen sagen kann sie auch nichts, wenn sie ernsthaft an Verhandlungen interessiert ist", dachte Arcadi und steckte den Brief in einen geeigneten Umschlag. Diesen warf er in den Schlitz für ausgehende Briefe höchster Dringlichkeitsstufen. Die im Verteilungslabyrinth wirkenden Luftzauber würden den Brief in die Ministeriumseigene Eulerei befördern, wo er von magicomechanischen Greifarmen genommen, zusammengerollt, mit einem amtlichen Haltering versehen und einer der freien Eulen anvertraut wurde. Der Haltering wisperte dem Vogel dann zu, wo der Brief hinsollte. So konnten selbst die geheimsten Nachrichten verschickt werden, ohne dass mehr als die Absender und Empfänger davon Kenntnis bekamen.

Arcadi gönnte sich noch drei Schlucke aus seiner Wodkaflasche. Da klopfte es an der Tür. Er ließ die Flasche in seinem Schreibtisch versinken und rief mit leicht angeheiterter Stimme: "Herein, wenn es kein Riese ist."

"Du bist wieder ganz der alte, Max", lachte die raumfüllende Bassstimme von Anatoli Andrejewitsch Orlow, dem Leiter der Abteilung für magisches Gold und Handelswesen. Dann kam er herein. Orlow war ein stattlicher Zauberer mit tiefschwarzem Vollbart, der bis auf seinen mehr als ausreichend genährten Bauch herabfiel. Arcadi deutete auf den breitesten Besuchersessel seines Büros. Orlow grinste über sein quaffelrundes Gesicht und sank wohlig ächzend in den mit Daunenfedern gepolsterten Drachenledersessel.

"Es riecht nach Wodka", meinte Orlow, als er prüfend Luft in die Nase sog. "Hast du die Flasche schon leer oder ist noch was übrig?"

"Für einen alten Schluckspecht wie dich habe ich immer was da", meinte Arcadi und deutete mit der linken Hand auf einen Schrank. Dieser sprang auf, und eine in einem geflügelten Weidenkorb steckende bauchige Flasche flog herüber. Im Korb steckten auch vier Gläser.

"Ruhm und ewiges Bestehen unserer geliebten Mutter Russland!" brachte Arcadi einen Trinkspruch aus, als die "Besucherflasche" von selbst zwei Gläser gefüllt hatte. Auch sie füllte sich aus dem scheinbar unergründlichen Fass im Vorratskeller nach.

"Also, wie sieht's mit unserem Handels- und Goldwesen aus?" wollte Arcadi wissen. "Also, die einen sagen, dass die Spitzohren aus England wieder hersollen, um die Verliese aufzuschließen. Die anderen sagen, dass es gut ist, dass dieses halbe Veelaflittchen uns dazu getrieben hat, die Spitzohren aus unserem Land zu jagen und dass die garantiert überzogene Entschädigungsforderungen haben, wenn wir die wieder reinlassen. Wenn du mir das unterschreibst, dass wir sowas wie die Yankees machen, also Goldwertscheine, die als Zahlungsmittel gelten, können wir unsere Läden und Werkstätten wieder in Schwung bringen. Aber mit Auslandsgeschäften ist dann nichts, zumal da, wo die Kobolde noch die langen Finger über dem Gold haben keiner mit uns Geschäfte machen wird, wenn wir die Spitzohren weiterhin aus unserem Land aussperren. Aber das kannst du gerne mit mir und dem Hüter magischer Wesen bereden, wenn die nächste Gesamtkonferenz ansteht."

"Öhm, auf welcher Vermögensgrundlage willst du dieses Notgeld bewerten, Anatoli? Soweit ich noch aus der unseligen Zeit im Bann der Feuerrose weiß kommen wir auch nicht mehr an unseren Goldvorrat heran."

"Tjaha, den bei Gringotts. Aber wir haben doch noch genug Rohgold in den geheimen Stollen unter dem Ural, von dem die Kobolde nie was erfahren haben. Ich habe meine Untergebenen da reingeschickt und Bestandsaufnahme machen lassen. Wir haben ein Vermögen von umgerechnet ganzen zwei Milliarden Galleonen. Kannst du mal sehen, was unsere Vorfahren in den vergangenen zweihundert Jahren so zusammengekriegt haben, als die noch ganz ohne dieses Zauberwesenanerkennungsgesetz Zwerge und Berggeister für sich arbeiten lassen konnten. Ja, und ich verwette alle großen Wodkafässer in unserem Keller hier gegen einen Schluck Sumpfwasser, dass die höchsten Familien dieses Landes ihre eigenen Goldspeicher außerhalb von Gringotts haben. Es könnte uns sogar blühen, dass die unseren ganzen Handel damit überschwemmen und uns den aus den Händen pflücken. Daher müssen wir endlich in Schwung kommen. Du weißt ja noch, wie lange es gedauert hat, bis sich der Handel nach dieser Erdmagiewelle wieder eingespielt hat. Da hatten wir aber noch die überlebenden Kobolde auf unserer Seite, die auch ganz schnell wieder ins Geschäft kommen wollten."

"Du sagst, dass die einen die Kobolde wiederhaben wollen und die anderen sie nicht mehr zurückkehren lassen wollen. Das entspricht auch der Meinung in der magischen Bevölkerung", sagte Arcadi. "Ich habe den von dir erwähnten Kollegen aus der Erfassung und Lenkung magischer Wesen schon mal nur im Scherz gefragt, ob ich eine landesweite Abstimmung abhalten soll, wie wir mit den Kobolden umspringen. Da hat der gemeint, dass wir dann ja gleich alle unsere Hüte nehmen und das Ministeriumsgebäude dem unerfahrenen Volk überlassen können. Dann hat er noch gemeint: "Fang nicht noch an mit Demokratie. Das sind unsere Leute doch nun echt nicht gewöhnt.""

"Wenn die zehn Altvorderen Russlands meinen, dass sie so eine Abstimmung haben wollen ... Ich verstehe aber, was der Kollege meint. Wir tanzen ja jetzt schon alle auf einem Drahtseil über einem Graben voller Lava."

"Ach, auch schon den Turm der Nachrichten gelesen?" wollte Arcadi wissen. "Pflichtlektüre", schnaubte Orlow. Arcadi konnte dem nur beipflichten. Dann erwähnte er, dass sie ja auch was wegen der angespannten Lage mit den Veelas beschließen mussten. "Ui, wenn du denen jetzt noch Abbitte leistest und denen noch irgendwas anbietest, was von den anderen als Unterwürfigkeitsgeste missverstanden wird finden wir uns alle im Dorf der Verfemten wieder, auch wenn die alle nicht wissen, wer es denn besser machen soll."

"Ich habe beschlossenund werde das unserem Freund Gregori aus der Zauberwesenbehörde klarmachen, dass wir erst mal nichts über die Veelas beschließen und schon gar keine Art von weiterführenden Verhandlungen mit denen führen, solange die in Bulgarien, Polen, Rumänien und Südslawien nicht wissen, wie es mit deren Ministerien weitergeht, Anatoli. Da Veelas ja so lange leben haben die genug Zeit, auf einen klaren und verbindlichen Beschluss zu warten."

"Jawohl, max, mach denen klar, dass wir die nicht bekriegen wollten, aber jetzt auch nicht vor denen einknicken. So wichtig sind die für unser Gemeinwesen nun auch wieder nicht", meinte Anatoli Orlow. "Es sei denn, ich hole die Ideen von Ilja Iwanowitsch Lyssenko wieder aus dem Bleisarg, in dem sie begraben sind, von wegen völlige Abtrennung der magischen Wesen von den Menschen und Daseinsberechtigungsabgaben für mischblütige Nachkommen."

"Holla, da würdest du aber zwei große Drachen kitzeln und zugleich einen altorientalischen Flaschengeist freilassen. Das könnte nämlich viele bestätigen, die meinen, die ganze leidige Kiste hätten wir den Veelastämmigen zu verdanken. Aber wir müssen aufpassen, dass die Idee nicht ohne unser Zutun in Umlauf kommt. Es könnte Leuten einfallen, ihre mischblütigen Nachbarn zu drangsalieren, dass sie nur noch leben dürfen, wenn sie genug Gold dafür rausrücken, sozusagen als Schutzgebühr. Noch verstecken die sich alle. Aber wenn der Kollege Gregori und du das für richtig haltet, die Lyssenko'schen Dörfer zu bauen können wir gerne drüber verhandeln, wieviel das Ministerium dabeitun kann oder ob die Veelastämmigen und Zwergenstämmigen diese Dörfer mit eigenem Gold und eigener Arbeitskraft bauen sollen. Öhm, wie lange willst du eigentlich warten, bis die anderen Minister vielleicht wieder aufwachen?"

"Noch einen Monat. Dann sollten die in Bulgarien und anderswo klären, wie es weitergeht", sagte Arcadi. Orlow nickte beipflichtend. Dann genehmigte er sich noch einen Schluck Wodka und sagte: "Auf dass unsere einträgliche Arbeit so unerschöpflich ist wie die Fässer im Keller!" Dem schloss sich Arcadi an.

Als Orlow wieder fort war lehnte sich Arcadi erleichtert zurück. Diese kurze Aussprache hatte ihn in seinem Entschluss bestätigt, die Veelas erst einmal länger hinzuhalten. Gut, der Brief war ja schon unterwegs. Aber zu wissen, dass er hinter diesem Entschluss stehen konnte war schon sehr beruhigend.

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Nun war es schon zweieinhalb Monate her, dass Ladonna nicht mehr da war und die einstigen Untergebenen in einen unaufweckbaren Schlaf versunken waren. Da auch in Südamerika mehrere Ministerien ihrem Feuerrosenzauber erlegen waren gährte es dort. Die Nachfahren ehemaliger Kolonisten aus Europa gerieten mit den Ureinwohnern in einen immer ernsteren Zwiestreit, wem die Vorherrschaft in den Ländern wie Peru, Argentinien oder Brasilien zustand. Dazu kamen in Ländern, in denen afrikanischstämmige Sklawen gehalten worden waren Forderungen nach rückwirkender Entschädigung für alle, die von europäischstämmigen Zauberern und Hexen als sogenannte Leibneger gehalten worden waren. Denn im Namen des Goldes hatten auch die Mitglieder magischer Familien der Versuchung nachgegeben, von der Sklavenhaltung zu profitieren. Jetzt wo die Ministerien europäischer Prägung gerade wortwörtlich am Boden lagen wallten alle alten, mit großer Mühe unterdrückten Streitigkeiten wieder auf. Das alles wussten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Marie-Laveau-Institutes. Aber auch in den USA gährte es, wenn auch aus anderen Gründen.

Zwar hatten die europäischstämmigen Hexen und Zauberer seit einem halben Jahrhundert einen Gleichberechtigungsstatus mit den Indigenen, den ersten Völkern der Staaten. Auch war der Anteil an afrikanischstämmigen Hexen und Zauberern in den USA anders als bei den Nichtmagiern, weil europäischstämmige Zauberer keinen Sinn in übergroßen Plantagen sahen und ihre Hauselfen mitgebracht hatten, die jeder für sich die Arbeit von zehn aus Afrika verschleppten Sklaven erledigen konnten und das auch noch mit großer Freude und Hingabe. Doch wie überall gab es ab und an auch unter den Afroamerikanern Kinder mit magischen Kräften, die von nichtmagischen Eltern, den Nomajs oder Muggels, abstammten und in das magische Gemeinwesen einbezogen wurden. Aber auf zwanzig Euroamerikaner kam nur ein Afroamerikaner, und die magischen Angehörigen indigener Stämme hatten einen Sonderstatus als "Die, die vorher schon da waren". Doch im Moment wucherten auch alte Ideen wie aus nach langer Dürre beregnetem Land, dass die weißen Amerikaner wieder mehr Rechte haben sollten, weil sie schließlich die fortgeschrittene Lebensweise und damit den alle erreichenden Wohlstand erwirtschaftet hatten. Dass jetzt auch noch die Regionalisten, die Einzelstaaten und Einzelregierungsbezirke, die nach englischer Tradition Counties, genannt wurden, mit den Unionisten in Streit lagen, ob Kleinstaaterei oder ein gemeinsame Interessen verwirklichender Staatenbund die Lösung für die Zukunft sei machte die Lage nicht erträglicher. Auch im Laveau-Institut gab es Leute, die eine Rückkehr zur Staatenunion erhofften und solche, die es gut fanden, dass Texas und Virginia nicht mehr nach Washington oder New York schauen mussten. Das erschwerte auch die Arbeit gebildeter Einsatzgruppen.

Weil das Laveau-Institut den niedergeschriebenen Grundsatz als Auftrag hatte, sich gegen alle schwarzmagischen Vorfälle und Wesen in allen Staaten der USA zu wenden war es sehr hinderlich, andauernd mit den Regionaladministratoren zu verhandeln, ob Laveau-Mitarbeiter nun auf ihrem Hoheitsgebiet tätig werden durften oder nicht. Am neunten Februar beschlossen Davidson und seine Stellvertreterin O'Hoolihan, dass sie sich das nicht mehr länger gefallen lassen wollten und riefen alle aktiven Mitarbeiter ins Institut, auch jene, die in der nichtmagischen Welt für tot und begraben erklärt worden waren, wie Jeff Bristol und seine Frau Justine oder Brenda Brightgate.

"Ladies and Gentlemen, ich habe mir das nun seit dem Zusammenbruch der nordamerikanischen Föderation angeguckt und angehört, dass auch in unserem Institut die Unstimmigkeiten wegen der Zuständigkeiten und Staatsangehörigkeiten brodeln", begann Davidson. "Auch wissen hier viele, dass es unsere Arbeit sehr behindert hat, wenn wir in Montana um Erlaubnis bitten mussten, um Mitarbeiter aus Louisiana dort handeln zu lassen und dass es fast zum offenen Zauberkampf kam, weil die Kollegin Joy Firepan aus Kalifornien es gewagt hat, einen Dunkelmagier in Texas zu stellen. Der texanische Regionaladministrator Raymond Sandbrook wollte die ihm unterstehenden Inobskuratoren gegen sie einsetzen, weil sie angeblich die in seinem Staat bestehende Ordnung untergrabe. So kann es nicht bleiben, Leute", sagte Davidson. "Wenn es nach den Regionaladministratoren geht - und ich weiß, dass hier einige Kollegen sitzen, die diese Politik gutheißen - dürfen wir vom LI nur noch in Louisiana tätig sein und das auch nur noch solange, wie es dem goldenen Triangel noch gefällt und ob sie das magische Zentrum Louisianas wider in New Orleans sehen oder in Floating Green mitten im Bayoo-Sumpf. Baton Rouge halten sie nach wie vor für die von Washington aufgedrückte Hauptstadt, wo kaum wer magisches wohnt. Es geht also darum, ob wir unsere für alle Menschen nötige Arbeit derart einschränken, dass sie keinen Sinn mehr ergibt oder ob wir uns als außerministerielle Vereinigung zum Schutze aller Menschen verstehen, die im Rahmen der im Sinne von Menschlichkeit und Miteinander geltenden Verhaltensregeln über die Staatsgrenzen von Louisiana hinaus aktiv bleiben, allerdings dann ohne ständige Absprache mit den Regionalverwaltern, also de jure illegal handeln und de ffacto wie Räuber und Spione leben müssen. Ich sage eindeutig, dass wir den Auftrag haben, allen Menschen innerhalb und falls nötig auch außerhalb der Grenzen der bei den Nichtmagiern weiterbestehenden USA magischen Beistand zu gewähren, wann und wo dieser nötig ist. Wenn jemand damit Probleme hat besteht hier und jetzt die Möglichkeit, sich zu äußern. Danke!"

Nun konnten sich alle Befürworter und Ablehner der Regionalregel äußern, die Vor- und Nachteile darlegen. Am Ende gewährte Davidson eine Abstimmung und bot jedem und jeder an, das Institut zu verlassen, der mit dem Abstimmungsergebnis unzufrieden war. Das galt auch für ihn selbst. So kam es zu einer geheimen Abstimmung, bei der wie bei den Präsidentenwahlen bei den Nichtmagiern und auch zur Zeit des magischen Kongresses der USA blaue und rote Felder auf Wahlkarten angekreuzt werden konnten. Sowas hatten sie damals schon gemacht, als es darum ging, ob das LI eine Abteilung des Makusa sein wollte oder als unabhängige Institution fortbestehen wollte. Eine von Quinn Hammersmiths Vorgänger im Ausrüstungsbereich erfundene Auszählungsmaschine prüfte die Abstimmungen ohne Gefühl und Vorbehalt. Am Ende stand es 450 von 600 gültigen Mitarbeiterstimmen zu Gunsten der Beibehaltung des Grundsatzes, in den ganzen USA tätig zu bleiben, falls es sein musste auch ohne Anfragen bei den Regionaladministratoren. Davidson war erleichtert. Denn hätte die Mehrheit für die Beschränkung auf Louisiana und eine klare Abhängigkeit von offizieller Nachfrage gestimmt, so hätte er seiner Ankündigung folgend beschließen müssen, ob er noch länger Institutsmitarbeiter blieb oder wem anderen seinen Posten überließ. "Alle die hier sitzen konnten bezeugen, dass die Wahlen ohne Manipulation abgehalten wurden. Damit erkennen auch alle das Ergebnis an, hoffe ich", sagte Davidson. Jetzt konnte er sehen, wer gegen den Mehrheitsbeschluss war. Doch auch diese nickten mit verbissen dreinschauenden Mienen. "So darf ich als Ihr aller Direktor und somit wichtigster Kontakt zur Außenwelt beschließen, dass unsere Einzelbüros in den anderen Bundesstaaten wiedereröffnen und es dort neue Ansprechpartner geben darf. Allerdings werden wir diese Büros vorerst nicht als LI-Büros, sondern Niederlassungen einer bundesweiten Vertriebsstelle für Bronco-Besen deklarieren. Das können wir tun, weil nach dem unrühmlichen Verschwinden von Phoebe Gildfork und der Enthüllung des magischen Betruges im Quidditch die neue Geschäftsleitung sehr darauf bedacht ist, von keinem Finsterling aus der alten oder neuen Welt übernommen zu werden. Ja, ich sehe es, diese Botschaft ist für viele von Ihnen neu, aber sie entspricht der Wahrheit. Es besteht ein Vertrag, der auf gegenseitigem Beistand beruht. Wer ihn einsehen möchte ist hiermit eingeladen, es nach dieser Vollversammlung zu tun", sagte Davidson.

Anschließend ließ er sich noch einmal berichten, was in den letzten Wochen geschehen war. Die Befürchtung, dass nach Ladonnas Verschwinden und damit einhergehenden Ausfall der von ihr unterworfenen Ministerien unliebsame Machtvakua entstanden hatte sich zum Teil bestätigt. In Mexiko rüsteten drei Familien zu einer mehr oder weniger gewaltsamen Machtübernahmeschlacht auf. Das ging auch die in den US-Südstaaten lebenden Hexen und Zauberer was an. Denn die Mexikaner hatten Gefallen daran gefunden, die von den Nichtmagiern eroberten Gebiete Kalifornien und Texas zurückzuerhalten. Je danach, ob sich die Piedrarojas, Torrealtas oder Fuentevivas durchsetzten konnte das auch nach Norden ausstrahlen und im Windschatten dieser Auseinandersetzung den einen oder die andere geben, davon zu profitieren. Weil dies nun allen hier bekannt war nickten auch jene, die sich eigentlich für die Regionallösung entschieden hatten, wie wichtig es war, bundesweit tätig zu bleiben.

Martha Merryweather, die als Chefin der Rechnerabteilung des LIs arbeitete, berichtete, dass das Türsteherprojekt, das auf echte Magie hinweisende Berichte vor einer breiten Veröffentlichung abfing und umändern konnte sehr wichtig geworden sei. Denn es habe sich wohl herumgesprochen, dass die bisherige Überwachung durch das Zaubereiministerium oder dessen Rechtsnachfolge nicht mehr fortgesetzt wurde. Sie erwähnte auch, dass sie im Einvernehmen mit Davidson und O'Hoolihan ein Geschäft mit Japan getätigt hatte und zwanzig weitere jener magischen Gürtel eingehandelt hatte, die elektronische Bild- und Tonaufzeichnungen aus Kameras und Aufnahmegeräten sogen und durch unverdächtige Aufnahmen ersetzten. Quinn Hammersmith horchte auf. Er war ganz wild darauf, einen der als "lautlose Verberger" bezeichneten Gürtel in die Finger zu bekommen. Martha Merryweather sah es und zog die richtigen Schlüsse daraus. "Mr. Hammersmith, die Thaumaturgen in Japan haben mehrere Absicherungen gegen unerlaubte Untersuchungen dieses Gürtels eingewirkt. Wer es darauf anlegt mag wohl einen Gürtel zerstören und vielleicht einen unliebsamen bis schädlichen Nebeneffekt auslösen, beispielsweise blendende Helligkeit oder ohrenbetäubende Klänge auf Infra- oder Ultraschallbasis", warnte sie.

"Sie waren schon einige male in meiner Werkstatt und in meinem Labor, Mrs. Merryweather. Daher wissen Sie, dass ich gegen solche Unliebsamkeiten mehr als eine Absicherung eingerichtet habe. Es gab schon etliche dunkle Ladies und Gentlemen, die ihre verwünschten Erfindungen gegen eine gründliche Untersuchung abzusichern dachten. Gut, in einigen Fällen lief das nicht ohne die Zerstörung des Untersuchungsgegenstandes ab. Doch wie ich jemanden wie mich für unerwünschtes Topfgucken bestrafen kann weiß ich", erwiderte Quinn. "Aber danke für die Warnung. Ich werde das meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weitergeben."

"Mr. Hammersmith, ich gebe auch zu bedenken, dass der lautlose Verberger umgerechnet 40 Galleonen pro Stück kostet", teilte Davidson mit strenger Stimme mit. Quinn Hammersmith nickte nur leicht, was hieß, dass er es zur Kenntnis nahm, aber es nicht als unüberwindliche Hürde ansah.

Mia Silverlake, die residente Heilerin des LIs, erwähnte, dass die nordamerikanische Heilerzunft mittlerweile anfing, eigene Vampirblutresonanzkristalle herzustellen. Angeblich hätten deren Laborfachkräfte herausgefunden, dass dafür nur ein Viertel des von Hammersmith verwendeten Vampirblutes benötigt wurde. Das erregte den Fachzauberer für besondere Gegenstände und Tränke doch sehr. "Ach ja, und wie machen die das?" fragte er. Mia sah ihren Kollegen mit einer gewissen Überlegenheit an. Dann sagte sie: "Offenbar kannte von meiner Zunft wer einen altägyptischen Zauber, der träger dunkler Magie in ein seine Art abweisendes Agens umwandelt, sozusagen umpolt, wenn Sie als Bastelonkel das besser verstehen." Darauf grinsten all die Zauberer und Hexen, die sich auf die Verwendung und Bekämpfung orientalischer Zauber verstanden. Das veranlasste Hammersmith, bei ebendiesen Kollegen anzufragen, ob sie für eine gewisse Zeit bei der Verbesserung der VBR-Kristalle assistieren konnten. Davidson erlaubte das nach dieser paukenschlagartigen Enthüllung, ja erhob es zur dienstlichen Anweisung, dass die mit altägyptischen Zaubern betrauten Mitarbeiter bis zur Nachempfindung dessen, was den Heilern gelungen war, in der Ausrüstungsabteilung arbeiten sollten, zumal es in den USA und deren Nachbarländern nicht all zu viele orientalische Zauberer und Hexen gab, auf die sie aufzupassen hatten.

Als alle neuen Nachrichten ausgetauscht und darauf gründende Beschlüsse gefasst worden waren schloss Davidson die Vollversammlung aller Laveau-Mitarbeitenden. "Bitte gehen Sie wieder an Ihre Aufgaben. Unser Land braucht uns, auch wenn es sich gerade uneinig ist, wie es verwaltet werden will", sagte der Direktor des Institutes zur Bekämpfung von Ausprägungen dunkler Magie aus allen Kulturkreisen.

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Es war schon sehr seltsam, fand Julius. Die Nacht zum Valentinstag hatte er mit Béatrice verbracht und dabei mit ihr vier Runden leidenschaftlicher leiblicher Liebe genossen. Weil seine Kinder davon nichts mitbekommen durften hatte er sich für den Tag freigenommen und mit Millie einen Ausflug nach Paris gemacht. Den tag hatte er dann mit ihr im ehelichen Schlafzimmer ausklingen lassen und ebenfalls vier leidenschaftliche Liebesrunden mit ihr erlebt. Würde das nun jedes Jahr so laufen? Vor allem, konnte bei sowas nicht doch irgendwann Béatrice mit seinem nächsten Kind schwanger werden? Oder was machte Béatrice, wenn Millie wieder schwanger wurde? Trotz der überragend schönen Stimmung, in der er durch diesen 14. Februar 2007 gekommen war fühlte er doch sowas wie Bedenken wegen des Abkommens zwischen ihm, seiner Frau und seiner offiziellen Schwiegertante. Als Millie endlich neben ihm einschlief dachte er daran, wie viele Männer sich den Drang antaten, neben einer Ehefrau eine heimliche Liebschaft zu haben und das bloß nicht bekannt werden zu lassen. Wie viele Könige und ja auch katholische Geistliche hatten uneheliche Kinder gezeugt, die sie verleugnet hatten und deren Mütter nur mit sehr hohen Schweigegeldern oder heftigen Strafandrohungen ruhiggehalten werden konnten. Dann fiel ihm wieder ein, dass Millie ihm Béatrice als inoffizielle Zweitfrau gönnte, weil sie wollte, dass er seinen Frieden mit Ashtaria hatte, von dem sie und die Kinder ja auch eine Menge hatten. Aber was, wenn Béatrice damit unzufrieden war, nur den einen "bestellten" Sohn von ihm bekommen zu haben? Würde sie ihm das laut sagen oder im Namen des von ihr geretteten Ehefriedens lebenslang für sich behalten? Womöglich musste er doch irgendwann mit seinen beiden Herzens- und Liebeshexen darüber sprechen, wie es in dem Punkt weitergehen sollte. Ja, und was war, wenn Millie doch noch irgendwann einen Sohn von ihm haben wollte. Darauf mussten sie jetzt an die fünfzehn Jahre warten, falls nicht doch noch weitere Töchter entstanden. Er hoffte, dass diese Vereinbarung nicht doch noch zum heftigen Knall wurde, der sein außerhalb der Arbeit so friedliches Leben zerplatzen ließ.

Er glaubte erst, die Stimmen seiner jüngsten Kinder Clarimonde, Phylla und Flavine lachen zu hören. Um ihn war es völlig dunkel und er wusste nicht, ob er in einem kleinen Kellerraum oder dem Leerraum zwischen den Galaxien schwebte. Dann sah er die Lichter in der Ferne, zwei blutrote, sphärenartige Lichtquellen und eine weißgoldene, sonnengroße und -helle Sphäre, auf die er zutrieb. Das helle Lachen kam von den roten Lichtkugeln, die wie kleine Begleitsterne das weißgoldene Licht umkreisten. Dann hörte er eine Stimme, die er besser als alle anderen kannte: "Sei unverzagt, mein Sohn. Du wirst weiterhin mit den zwei Gefährtinnen ein in jeder Bedeutung erfülltes Leben führen, weil ihr drei euch meiner Obhut und Liebe anvertraut habt. Deshalb werden euch dreien drei weitere Töchter erwachsen, getragen von zwei Müttern, von denen die eine ein weiteres Erbe meiner eigenen Schöpfungen erbitten kann, wenn die Zeit kommt. Sei unverzagt!"

Julius hörte Ashtarias Worte und sah, wie die zwei roten Lichtkugeln wuchsen. Jetzt konnte er in einer von ihnen zwei und in der zweiten ein menschenförmiges Wesen sehen, das innerhalb von wenigen Herzschlägen vom Fötus zur ausgereiften Frau heranwuchs, ohne dabei aus der umschließenden Sphäre zu brechen. Ashtaria, die in ihrer weißgoldenen Erscheinungsform zwischen den zwei von der Außenwelt abgeschlossenen schwebte, dirigierte die Bahnen der beiden Sphären. Julius hörte die drei offenbar noch zu zeugenden Töchter erfreut lachen. Die in einer Sphäre für sich schwebende winkte ihm zu. Er brauchte keine eigene Bewegung zu machen, um zu ihr hinzufliegen.

"Ah, so siehst du aus", sagte sie mit einer wunderschön tiefen Stimme. "Ob ich mich noch dran erinnern kann, wenn ich hier raus bin weiß ich nicht. Aber du brauchst keine Angst zu haben, hat die große weißgoldene Frau gesagt. Ich werde mit meinen zwei Schwestern aus der anderen Maman sicher gut klarkommen, solange die beiden und du es zusammen aushaltet."

"Weißt du denn schon, wie du heißt?" fragte Julius, der die Umgebung und die Lage überhaupt nicht merkwürdig fand, ja sich hier so geborgen fühlte, als sei er selbst noch im warmen Mutterleib. "Wie sehe ich denn aus?" fragte die, vor der er nun schwebte mit einem schelmischen Grinsen. Er sah sie als erwachsene Frau, nicht als Baby oder kleines Mädchen. Er fragte, wer denn ihre Maman sein würde. Da sagte die ihm noch unbekannte: "Das ist die, die Ashtarias Geschenk an die Heilkundigen Frauen bekommen darf, Papa. Die beiden anderen kommen aus der, die als Vertraute des Feuers erwählt wurde. Also, wie möchtest du mich nennen?"

"Öhm, ich denke, dass sollten deine Maman und ich zusammen beschließen", sagte Julius. "Das ist mir recht, Papa. Möchtest du meine Halbschwestern auch ansehen?" fragte die, die eine Lichtsphäre für sich alleine bewohnte. Er bejahte es. Keinen Moment später schwebte er vor der zweiten, nun erheblich größeren Lichtkugel. Die darin steckenden jungen Frauen lachten mit Stimmen, die wie die von Hippolyte und Barbara Latierre klangen. "Ah, dem haben wir zwei die enge Bude zu verdanken, Schwesterchen", sagte die eine zur anderen. "Wer das Schwesterchen sein wird muss noch geklärt werden", sagte die andere. "Aber Mamans warmer Bauch ist groß genug für zwei, das hat die schon hingekriegt. Ach ja, was du unserer Halbschwester gesagt hast nehmen wir gerne auch für uns", sagten beide wie im Duett singend. "Ihr drei habt ja noch zeit, bis wir zu euch hinkommen." Julius bejahte es ohne nachzudenken. Da lachten die drei wieder. Sie lachten und verwandelten sich zurück in Kinder, Babys und dann stummelgliedrige Embryonen. Dabei klangen zwei gleichmäßig schlagende Herzen wie die ganze Welt erfüllende Pauken und trugen Julius zurück in seine angestammte Welt. Ashtaria verschwand ohne Übergang.

Als er sich neben seiner angetrauten Ehefrau im Bett wiederfand fragte er sich, ob er da echt gerade seine drei nächsten Töchter gesehen hatte und ob eine davon wirklich von Béatrice ausgetragen werden mochte. Das würde jedoch heißen, dass Millie von ihm noch einmal Zwillinge bekommen würde. Beim letzten mal war das zeitnahe mit der Ankunft von Félix passiert. War da echt schon dergleichen im Gang? Er wusste jetzt auf jeden Fall, dass er keine Angst haben würde, dass Béatrice noch ein Kind von ihm bekommen mochte, wenn Millie dafür die Kinder sechs und sieben von ihm kriegen würde, die er ihr einmal im Scherz vorhergesagt hatte. Dann fiel ihm ein, dass sie dann aber wohl ein neues, größeres Haus brauchten, um jedem der schon lebenden Kinder und diesen drei von Ashtaria vorhergesagten genug Platz zu bieten. Mit diesem Gedanken schlief er wieder ein.

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Donata Lagofresco blickte auf den langsam atmenden Patienten herab. Seit dem zweiten Dezember 2006 betreute sie Pontio Barbanera, den amtierenden Zaubereiminister und langjährigen Unterworfenen von Ladonnas bösem Zauberbann. Barbanera schlief tief und traumlos. Er befand sich fast auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Selbst sein Verdauungssystem hatte sich so sehr verlangsamt, dass er keinerlei Ausscheidungen absetzen musste. Donata Lagofresco blickte auf die über dem Bett des Patienten hängende Mitteilung und die daneben angebrachte Zeitwalze, die neben der sekundengenauen Uhrzeit auch den Kalendertag angab. Heute war bereits der 20. Februar 2007, und es war gerade eine Minute vor elf Uhr abends und vier Sekunden. "Patient Barbanera zeigt keine Anzeichen baldigen Erwachens. Körperwerte stark verzögert aber unbedenklich. Alle Organe arbeiten. Vergiftungsindex null", diktierte die Heilerin einer winzigen Mitschreibefeder, die senkrecht an der Wand die Einträge auf der Verlaufsmitteilung auffrischte. "Schlafen Sie weiter, Signore Barbanera! Ihren Kollegen geht es auch ganz gut", sagte Donata Lagofresco. Dann verließ sie leise das Einzelzimmer in einem für Seuchen und andere Massenerkrankungen errichteten Anbau des Hospedale di Lune Piene, der irgendwo zwischen Mailand und Rom in der Landschaft versteckten Heilstätte der magischen Heilerzunft Italiens. Sie kehrte in ihren Bereitschaftsraum zurück und notierte in ihrem Arbeitsbuch die Ergebnisse der letzten Untersuchungen. Danach gönnte sie sich einen sanften Beruhigungstee, der auch eine Träumgutkomponente enthielt. Denn seitdem sie die im Zauberschlaf gefangenen Ministeriumsmitarbeiter betreute hatte sie immer wieder diesen Albtraum von einem Raum voller an Betten gefesselter Menschen, die von einer gelb-grünen Schleimmasse bedroht wurden und sie, die Heilerin von einer unsichtbaren Wand daran gehindert wurde, den Gefangenen zu helfen. Stand die Wand für ihre Hilflosigkeit, den Schlafenden wirksam zu helfen? Das wollte sie demnächst bei der halbjährlichen Seelenlotungssitzung mit ihrer zugeteilten Überwacherin aus der Heilerzunft besprechen. Es hatte schon Vorteile, wenn jemand, die jeden Tag mit dem Elend der Menschen und mit den Auswirkungen böser Taten konfrontiert wurde, zweimal im Jahr mit wem darüber sprechen konnte, ohne gegen die Diskretionsregeln der Heilerzunft verstoßen zu müssen. Zumindest würde sie diese Nacht keinen Albtraum haben und konnte ruhig durchschlafen.

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Chrysander Cartridge wusste, dass er so leicht nicht von der geheimen Insel seiner Verwandten herunter konnte. Wo er durch einen gemeinen Streich Vita Magicas dazu verurteilt worden war, noch einmal als Baby anzufangen, jedoch alles bis dahin erlebte weiter erinnern zu können, war es ihm ganz recht, dass er auf dieser getarnten und vor unbefugtem Betreten abgesicherten Insel versteckt wurde. Doch nun, wo er wieder richtig laufen und sprechen konnte überkam ihn immer wieder jene Stimmung, die ein eingesperrtes Wesen befiel. Ja, er war eingesperrt, zu seinem Schutz und auch zum Schutz seiner Ziehmutter, die vor der unerbetenen Verjüngung seine Ehefrau gewesen war. Er wuchs als Sohn von sich und ihr auf, damit die Kinder, die er mit seiner Frau Godiva gezeugt hatte, ihn als kleinen Bruder akzeptierten. Doch die Kinder merkten schon, dass er kein gewöhnliches Kleinkind war. Kinder besaßen ein Gespür dafür, wie sich jemand verhielt. Erst Schule und Erwachsenenleben brachten dieses angeborene Talent zum verkümmern.

Godiva Cartridge apparierte mit ganz leisem Plopp neben dem, den sie als ihren jüngsten Sohn an sich gezogen hatte, obwohl ihr das eigentlich nicht erlaubt war. Sie streichelte ihm über den Kopf und sagte: "Ich gebe diesen Fleisch- und Goldfürsten aus dem Prärieland und New York noch einen Monat. Spätestens dann werden sie bei der Regionalversammlung dafür stimmen, diesen losen Flickenteppich wieder zu einem festen Gesamtwerk zu verknüpfen."

"Ja, denke ich auch, Mom", sagte Chrysander. "Aber was haben wir davon?" fragte er. "Ja, dass vieles, was unter dem Teppich lag, durch die vielen losen Einzelstücke nun ans Licht kam und wir, also unsere Familie, gewisse Möglichkeiten haben, das auf uns liegende Urteil aufheben zu lassen und ohne Angst vor Verfolgung in unser Haus zurückkehren zu können", sagte Godiva Cartridge lächelnd.

"Will heißen, deine Großeltern trommeln dafür, dass diese Anna-Fichtental-Angelegenheit für uns nicht mehr gilt und du oder ich wieder ins Ministerium zurückkehren können. Aber ich denke nicht, dass die mich wiederhaben wollen, wo ich noch zu klein bin", erwiderte Chrysander Cartridge. Als er das Lächeln seiner Ziehmutter sah erkannte er, worauf sie ausging. Sie wollte bei einer Generalamnestie aller aufgeworfenen Vergehen gegen die Gesetze des ehemaligen Zaubereiministeriums in öffentliche Ämter zurückkehren, ja womöglich für das höchste noch zu bestimmende Amt kandidieren. Nicht dass sie machtsüchtig war. Doch sie wollte den Einfluss ihrer Familie, den Greendales, wieder dorthin bringen, wo er deren Meinung nach hingehörte. Doch war das vielleicht nicht nur ein Wunschtraum? Am Ende durfte sie nur dann wieder für öffentliche Ämter kandidieren, wenn sie ihn an eine andere Familie abgab und somit gänzlich unbelastet sein konnte. War sie bereit, diesen Preis für die mögliche Macht zu bezahlen? Er wagte nicht, sie danach zu fragen.

"Mittagessen ist fertig!" plärrte die auf der ganzen Insel Roderics Refugium hörbare Stimme eines Hauselfens. "Dann wollen wir mal", sagte Godiva Cartridge. Sie nahm den neu aufwachsenden Chrysander bei der Hand und eilte mit ihm den von hohen Palmen bewachsenen Vulkankegel hinauf zu dem ummauerten Anwesen, dessen Zentrum die Villa Vista del Mar war. Chrysander musste lange Schritte machen, um mit seiner Ziehmutter mitzuhalten. Entsprechend erschöpft keuchend kam er mit ihr am Zugangstor an, das sich von Zauberhand auftat und beide hindurchließ.

Beim Mittagessen mit seinen offiziell älteren Geschwistern sprachen sie davon, dass im Zauberradio lustige Musik gelaufen war und dass es morgen, am 21. Februar, einen Wintersturm geben würde. Deshalb fiel wohl morgen der Tag im Ffreien aus. Chrysander Cartridge, der vor seiner Zwangsverjüngung Milton geheißen hatte, dachte daran, dass kein Sturm der Welt so heftig war, wie der Donnerschlag, mit dem die unrühmliche Ära Ladonnas zu Ende gegangen war. Er dachte dabei auch daran, dass Vita Magica, denen er seine eigene Entmachtung und das Los der zweiten Kindheit bei vollständiger Erinnerung verdankte, aus der Deckung treten und die eigenen Untaten fortsetzen würde. Am Ende mochte es manchen geben, der sich eine mächtige, alles und jeden beherrschende Hexenkönigin zurückwünschte. Gehörte er dazu? Nein, eindeutig nicht, versicherte er sich in Gedanken. Sicher, als er noch groß und Minister war hatte er versucht, mit dieser Spinnenhexe und ihrer Schwesternschaft einen Burgfrieden zu halten. Das hatten ihm viele übelgenommen. Würde er, wenn er wieder groß und vielleicht wieder Minister war ähnlich taktieren? Darauf konnte er sich und anderen gerade keine klare Antwort geben. Er beschloss, diese Frage erst zu klären, wenn er in die entsprechende Lage versetzt wurde.

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Diana Camporosso hatte die Wochen seit dem erfolglosen Ausflug zur Girandelli-Villa damit zugebracht, ihre eigenen Pläne zu schmieden. Dabei half ihr der ihr unterworfene Geist Deeplooks. Zum einen brauchte sie einen Versammlungsort, der ähnlich ausbaufähig war wie Ladonnas Höhle. Zum anderen wollte sie nachforschen, wer vom Bund der zehntausend Augen und Ohren überlebt hatte und wo es noch intakte Geheimstützpunkte gab, auf die sie zugreifen konnte. Außerdem wollte sie möglichst viel von der altägyptischen Sprache erlernen, um von dort stammende Zaubergegenstände zu beherrschen. Denn sie dachte daran, die ihr bis jetzt vorenthaltenen Dinge zurückzuerobern. Schließlich wollte sie auch herausfinden, wer genau Ladonnas Machtverlust herbeigeführt hatte. Auch wenn sie Ladonna nicht im eigentlichen Sinne rächen wollte sollte sie schon wissen, wer da so mächtig war, jene für unbesiegbar gehaltene Hybridin aus Veela, Sabberhexe und Menschenwesen zu stürzen. All das mochte seine Zeit kosten. Also erst einmal das, was einfach zu erledigen war und ohne Aufsehen geschehen konnte.

Am 22. Februar betrat Diana Camporosso jene Höhle wieder, in die sie die von der Villa Girandelli fortschwemmende Woge aus Erdmagie hineingespült hatte. . Die Höhle war doppelt so groß wie die Schalterhalle von Gringotts Rom. Die Kalksteindecke hing an die zehn ihrer Körperlängen über ihr. Hier wuchsen Stalakmiten der Decke entgegen und Stalaktiten streckten sich von der Decke nach unten. Ab und zu sickerte ein Wassertropfen aus den herabhängenden Kalksteingewächsen. Es gab auch seltsame Gebilde, die die Phantasie anregten. So meinte Diana, einen natürlich gewachsenen Sessel zu entdecken und in einer Ecke einen sehr pummeligen, mit unterschiedlich langen Beinen ausgestatteten Frosch oder eine Erdkröte zu sehen. Auch gab es hier Säulen, die durch die über Jahrhunderttausende angebahnte Vereinigung von Stalaktiten und Stalakmiten entstanden waren. Sie meinte in den Säulen erstarrte Herzen, Blütenblätter und auch eingeschlossene Flügel von Vögeln zu erkennen.

Was das beeindruckenste war waren die in der Höhle zusammenfließenden und wieder daraus hinauseilenden Ströme natürlicher Erdmagie. Die noch nicht zu festen Säulen verwachsenen Tropfsteine, die, die von der Decke hingen enthielten sogar die ruhende Kraft natürlichen Wasserzaubers, der wohl durch die Kreuzung magischer Ströme weiter oben im Berg seine Kraft bezog. Somit war klar, warum sie nach der Verbannung vom Girandelli-Grundstück hier gelandet war. Ihr wurde auch klar, dass sie diese beiden Naturmagiequellen für ihre Zwecke einsetzen konnte, wenn sie deren Ströme genauer erforschte.

Von der großen Höhle zweigten breitere und schmalere Zugänge ab, die ihrerseits in kleineren Höhlen oder an einer unebenen Kalkwand endeten. Wenn sie dieses in Jahrmillionen gewachsene Geflecht vollständig erkundet hatte mochte sie es nicht nur als Versammlungsort, sondern auch als Festung gegen ihre Feinde einsetzen. Als sie herausfand, dass die Höhle nur schmale Durchbrüche an die Oberfläche besaß, gerade ausreichend groß genug, um eine ständige Frischluftzufuhr zu gewährleisten, staunte sie, dass die beiden Eingänge so lagen, dass sie von der Morgen- und der Abendsonne beschienen wurden, sich deren Licht jedoch nach bereits vier engen Windungen bereits verlor, sodass der Großteil des Höhlengefüges in ewiger Dunkelheit blieb. Sie beschloss, an diesen beiden Zugängen Vorrichtungen anzubringen, die jenen in der Haupthöhle auf Zuruf die Tageszeit verkündeten und überlegte, welche Art von Licht sie zum Ausleuchten ihres neuen Reiches verwenden wollte. Wegen des in der Höhlendecke dahinkriechenden Wasserzaubers mochten reine Feuerzauber schwer zu wirken sein.

Als sie zwei Tage nach ihrer Rückkehr in jene Höhle alle Gänge und Nebenkammern ausgiebig erkundet hatte legte sie fest, wie sie dieses natürliche Versteck gegen alle jetzigen und künftigen Widersacher absichern konnte. Dabei fiel ihr ein, dass sie bald wieder ihre Regelblutung haben würde und dass sie genug reine Hexenzauber kannte, die in Verbindung damit besonders machtvolle Schutz- und Abweisungszauber ermöglichten. "Widerwärtig!" wagte Deeplook einen leisen Protest als sie daran dachte, wie sie ihr Reich sichern wollte. "Finde dich damit ab, dass du in einer fruchtbaren Hexe wohnen darfst, Vater der zehntausend Augen. Ihr Mannsbilder kanntet sicher nicht weniger ekelhafte Absicherungsmittel", dachte sie. Deeplook murrte. Doch dann schwieg er wieder.

"Erst richte ich die Höhle ein. Dann suche ich nach den Überresten des Geheimbundes. Wenn ich bis dahin mitbekomme, dass Ladonnas anderen Schwestern wieder wach werden kann ich die immer noch dazu bringen, mir zu folgen", dachte Diana. Falls ich die nicht hinter mir zusammenbringen kann muss ich mir eben neue Mitschwestern suchen", dachte sie. "Ja, und die verbliebenen Getreuen unter deinem Befehl vereinstt", erinnerte sie Deeplook daran, dass sie ja auch sein Erbe angetreten hatte. Der durchtriebene und mit allen Wassern der Erde gewaschene Gründervater der zehntausend Augen und Ohren hatte erkannt, dass sein Erbe nur dann erhalten blieb, wenn er der half, in die Ladonna ihn hineingetrieben und eingesperrt hatte.

"Wie nenne ich dieses so treffliche Geheimversteck?" fragte Diana sich und Deeplook. Dann fiel ihr der Name ein: "Haus der gläsernen Herrscherin". Ja, dieser neue Name gefiel ihr. Denn sie würde bis zu ihrem letzten Atemzug Deeplooks Helm tragen, unter dem kein Haarwuchs mehr möglich war. Also war sie eine gläserne Herrscherin. Und das hier war nun ihre Residenz, der von der gnadenvollen Mutter Erde in ihrem ewig fruchtbaren Schoß gewachsene Palast.

Am Mittag des 25. Februar fühlte sie das gewisse Ziehen im Unterleib, das die einsetzende Regelblutung ankündigte. So konnte sie die Sicherungsrunen aus der Zauberschrift der Kobolde anbringen und mit dem ihr entströmenden Blut die Zauber vervielfachen. Sie würde all die Tage dafür nutzen, die sie in der Blutungsphase war. Am Ende des laufenden Kalendermonats hatte die gläserne Herrscherin ihren Herrschaftssitz sicher. Dann wollte sie nach den anderen Feuerrosenschwestern suchen, ob diese doch noch wachzubekommen waren. Als ihr neues Zeichen wählte sie einen Bogen und eine achtzackige Krone. Als Herrscherinnengewand würde sie ein aus Wolfsmilchfasern und feinsten Silberfäden gewebtes Kleid nutzen, dass ihre Mutter ihr zur Vollendung der Volljährigkeit geschenkt hatte.

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Roderics Refugium wurde von einem grimmigen Wintersturm heimgesucht. Zwar brachen sich die von diesem aufgepeitschten Wellen an den Flanken des in der Mitte aufragenden Vulkankegels. Doch die dabei fortspritzende Gischt vermischte sich mit den kübelweise aus den dunklen Wolken niederstürzenden Regenfluten. Daher verbargen sich alle Überlebenden des Massakers vom Juni 2005 in der Villa Vista del Mar bei geschlossenen Wasserabweise-Fensterläden.

Chrysander Cartridge dachte an die Berichte über den Wirbelsturm Katrina, der vor anderthalb Jahren New Orleans überflutet hatte. Würde die gegen so viele Dinge geschützte Insel am Ende zum Opfer der Naturgewalten werden?

"Hier, die neuesten Nachrichten", verkündete Chrysanders offizielle Urgroßmutter Adelaide Greendale, die in diesem Haus die Nachrichtenbeauftragte war. Sie wedelte mit zwei Zeitungen. Da sie hier unter sich waren musste Chrysander seine Lesefähigkeiten nicht verstecken. So konnte er mit seiner Ziehmutter zusammen lesen, dass die McDuffys sich nun auch für eine Reunion der USA aussprachen, selbst wenn ihnen aus Texas ein rauher Gegenwind entgegenblies, wie sich Starspielerin Patricia McDuffy ausdrückte.

"Die Texaner schielen noch nach einem Handel mit den Fuentevivas, dass ihr Land als Schnittstellenland zwischen Mexiko und den nördlicheren Counties erhalten bleibt", vermutete Chrysander. "Ja, nur dass sich die Piedraroja-Sippe von der quasi Entmachtung bei der Föderationsgründung gut erholt hat und darauf ausgeht, wohl wieder Ansprüche auf die Gesamtführung anzumelden, nur dass die Fuentevivas und Torrealtas in ihrer eigenen Region zu gut im Sattel sitzen, um deshalb was befürchten zu müssen", meinte Godiva Cartridge. "Öhm, aber hier, die Southerlands haben sich in den von ihnen bewohnten Counties zu einem "Bund unbegrenzter Möglichkeiten" vereint. Wird einigen nicht behagen."

"Ich verstehe das bis heute nicht, warum sich die Mehrheit aller Zaubererweltbürger dafür ausgesprochen haben soll, die Staaten zu zerlegen. Diese Flickschusterei lädt doch alle international aufgestellten Gangsterbanden ein, hier und da zu sticheln und zu zündeln", meinte Chrysander. Seine Ziehmutter bejahte das. Adelaide Greendale fügte dem hinzu: "Ja, und offenbar merken viele das jetzt, die vorher laut nach Regionalisierung gerufen haben. Die Kalifornier sprechen sich ebenfalls für die Wiedervereinigung der US-amerikanischen Zaubererwelt aus. Aber die Kanadier haben die Nase voll von diesem Geplänkel. Sie haben sich zum unabhängigen Verbund nordamerikanischer Hexen und Zauberer ausgerufen. Könnte sein, dass die Nordstaaten der USA sich dem anschließen, um die Flickschusterei loszuwerden."

Wusch! Eine offenbar dutzend Meter hohe Welle brach sich donnernd an der Nordflanke des Vulkankegels. Eine besonders kräftige Windböe blies zugleich mehrere hundert Liter Regenwasser gegen das Haus und die geschlossenen Fensterläden. "Great-Gran Addy, da wirst du wohl morgen einen neuen Garten anlegen müssen", feixte Chrysander.

"Wenn ich sonst nichts zu tun habe, mein kleiner frecher Bursche", knurrte Adelaide Greendale. "Addy, weißt du, wielange dieses Sturmgepuste noch anhalten soll?!" rief Anaximander Greendale, Adelaides Ehemann und exiliertes Oberhaupt der Greendalesippe.

"Vor morgen Abend ist mit keiner Wetterberuhigung zu rechnen, Nax!" rief Adelaide und blickte durch die Decke. "Die Wolken türmen sich gerade mehr als viertausend Meter auf und wirbeln wild umher. Ich kann waagerechte Überschlagblitze erkennen. Da oben tanzt das Ballett der wilden Luftgeister."

"Gut, dass wir Blitzfänger haben, die selbst ein Tornado nicht ausreißen kann! Was ist mit den Palmen?!" wollte Anaximander aus seinem Arbeitszimmer heraus wissen. Adelaide blickte auf die verschlossenen Fenster und die Wände. "Die Palmen schwanken wild, aber stehen noch", sagte die Hausherrin von Roderics Refugium.

Durch das Getöse von Wind, Regen und Wellen war Bubbleys leises Plopp nicht zu hören. Erst als der zur besonderen Gruppe der Leisespringer gehörende Hauself laut rief, dass die Southerlands sich auf eine Wiedereinführung der US-Zaubereiverwaltung eingestimmt hatten schraken alle zusammen. "Gut, dann bring unseren Freunden in der verschwägerten Verwandtschaft unseren Gruß, dass Meister Anaximander sich morgen mit deren Oberhaupt treffen möchte! sagte Adelaide.

"Ja, mach ich", sagte der Hauself und verschwand mit kaum hörbarem Plopp. "Nax, morgen Treffen mit dem alten Pri Southerland!" rief Adelaide. "Häh?!" kam es aus dem Arbeitszimmer zurück. Dann betrat Anaximander Greendale selbst den weitläufigen Salon mit den gerade vollverbarrikadierten Panoramafenstern. Adelaide teilte ihrem Mann mit, was Bubbley gerade übermittelt hatte und wie sie ganz spontan darauf reagiert hatte. "Addy, du kannst doch nicht einfach meine Terminplanung machen, habe ich dir schon gesagt. Ich will morgen mit Japs altem Herren eins gegen eins Quodpot spielen, um meine rostigen Knochen zu trainieren. Der hält mich doch längst für komplett verkalkt und morsch."

"Es ist besser, wenn du dich morgen mit Priapus Southerland triffst. Wenn der seine hundert Blutsverwandten und deren angeheirateten Nachwuchsermöglicher dazu bekommen hat, die Union wiederherzustellen müssen wir da ganz schnell mitziehen", sagte Adelaide Greendale.

"Ja, und weil der alte Pri Hexen nur als Brutnester auf zwei Beinen schätzt und seine alten Griffel nicht bei sich behalten kann muss ich zu diesem Deckhengst hin, um unsere gemeinsame Haltung in der Verwaltungsfrage abzustimmen", knurrte Anaximander. "Gut, sei es. Wenn Bubbley mir sagt, wann der federlose Gockelhahn Zeit hat ..." Plopp! Wie auf Stichwort apparierte Bubbley und sagte sofort: "Meister Anaximander, Mr. Southerland war leider sehr beschäftigt. Konnte aber mit seinem obersten Hauselfen sprechen. Der gibt Ihre Nachricht weiter, wenn Mr. Southerland Zeit hat."

"Um die Uhrzeit noch sehr beschäftigt?" grummelte Anaximander. Chrysander grinste lausbübisch. "Muss was dransein an dem von den Navajos abgehandelten Trunk der unbegrenzten Manneskraft."

"Wie überaus ungehörig", knurrte Adelaide, während ihre Enkeltochter Godiva verwegen grinsen musste.

"Da keiner von seinen Elfen hier ankommen kann, ohne gleich in der Luft zerbröselt zu werden und durch den Sturm auch keine Eule durchkommt fällt der Termin wohl morgen flach", meinte Anaximander mit verhaltener Freude. Doch das würgte seine Frau gleich ab. "Der weiß, dass er seine Boten zu den McDuffys schicken soll, die uns dann über die Porträtverbindung benachrichtigen können", sagte sie. Als wenn sie ein Zauberwort ausgesprochen hatte räusperte sich gerade das gemalte Vollporträt eines in Pelzen gewandeten Zauberers mit einem wild verstruwelten schwarzen Bart bis zum Gürtel.

"Miss Feodora Southerland, die Schwester von Mr. Priapus Southerland, richtet aus, dass ihr Bruder morgen um zwei Uhr nachmittags in seiner Küstenresidenz bei Malibu auf deinen Besuch wartet, Naxy. Kriegst du das hin?"

"Moment mal, dem seine Schwester macht für den die Termine?" fragte Anaximander sehr überrascht. "Natürlich macht die das. Sie war ja vor der Unseligkeit mit Buggles und VM Personalkoordinatorin in der Abteilung für magischen Handel. Da macht die eben jetzt seine Termine"

"Hoffe mal, dass der morgen um die Uhrzeit wieder munter genug ist", flachste Chrysander. Seine Urgroßmutter räusperte sich sehr ungehalten. Anaximander brummelte was im Sturmgebraus untergehendes.

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Der Herr von Greendale Cottage und Roderics Refugium trug zum Anlass dieser Reise seinen lindgrünen Umhang mit Stehkragen und auf dem Kopf einen blattgrünen hohen Zaubererhut mit einem aus unzerbrechlichem, mit Malachit gefärbtem Glas bestehenden Kleeblatt an der dünnen Spitze. Schließlich wollte der Patriarch der Greendale-Sippe ja was hermachen, wenn er dem erfolgreichsten Familienpatriarchen der nordamerikanischen Zauberergemeinschaft einen Besuch abstattete. Um sicherzustellen, dass er so seine eigene Sippschaft vertreten durfte ließ er sich von seiner Frau Adelaide begutachten. "Es war gut, dass du die Salz- und Sandabweisenden Stiefel angezogen hast, Nax. Wir haben hier auf Roderics Refugium genug eigenen Strandsand", sagte sie und klopfte ihm auf den Rücken. "So darf ich dich unter die großen Leute lassen, Nax", sagte sie noch. Anaximander nickte und musste aufpassen, dass sein knapp einen Meter hoher Spitzhut nicht vom silbernen Lockenschopf rutschte. Dann sah er sich um. Bubbley wartete bereits im grünen Geschirrtuch mit dem Wappen der Greendales, einem Bündel grasgrüner Kräuter auf sonnengelbem Untergrund. "Wir können, Bubbley", sagte der Herr von Roderics Refugium und reichte seinem treuen Diener die Hand. Keine zwei Sekunden später ploppte es so laut wie zwei gleichzeitig herausspringende Sektkorken. Anaximander und sein Hauself waren fort.

Im selben Augenblick, in dem sie aus dem Salon der Villa Vista del Mar verschwanden apparierten Herr und Hauself bereits fünfhundert Meter von der Brandungszone des unendlich erscheinenden Pazifiks entfernt. Anaximander rückte seine korallenrote Brille zurecht, die auf Gedankenbefehl zwischen Fern- und Nahsicht wechseln konnte. Doch außer einer im Licht der südkalifornischen Nachmittagssonne golden glänzenden Sanddüne sah er nichts im Umkreis von einer halben Meile. Doch das war eine raffinierte Illusion, wusste der anderthalb jahrhunderte alte Familienpatriarch. Natürlich durfte kein unbedarfter Mensch, vor allem kein Nichtmagier das drei Quodpotfelder große Anwesen mit den blauen Palmen sehen. Doch Anaximander war ja ausdrücklich eingeladen worden.

"Bubbs, drei Schritte hinter mich!" befahl Anaximander Greendale seinem treuen Diener. Dieser gehorchte ohne Rückfrage und ohne Bestätigung. Greendale wollte gerade seinen Zauberstab hervorholen und ihn zum Gruß nach oben halten und die zwischen den Familienoberhäuptern vereinbarte Begrüßungsformel rufen, als es laut wie ein Knallfrosch krachte und eine schon sehr alt wirkende, rundliche Hauselfe im blutroten Geschirrtuch mit einem daraufgestickten blauen Kreis mit einem sich reckendem und seine Schwanzfedern spreizendem rotem Hahn unter den Strahlen einer orangeroten Sonnenscheibe, dem Wappen der Southerlands vor ihm hockte. Er kannte die wohlgenährte Elfe. Das war Twinky, die erste Elfe der Southerlands, angeblich schon seit hundert Jahren im Besitz der kinderreichsten Sippschaft zwischen Ost- und Westküste, Alaska und Florida. "Meister und Meisterin Southerland sind hoch erfreut, Mr. Greendale aus Trywaters auf ihrem Grund und Boden begrüßen zu dürfen. Bitte folgen Sie mir!" piepste die Elfe, nachdem sie sich so tief verbeugt hatte, dass ihre Mohrrübennase fast im hier angewehten Sand versank. Anaximander Greendale bestätigte die Bitte, ohne sich zu bedanken. Vor einer niederen Dienstbotin war kein Dankeswort angebracht, so hielten es die alteingesessenen Familien der nordamerikanischen Zaubererwelt seit der Unabhängigkeitserklärung.

Twinky wandte sich um und hob vom Boden ab wie ein mit Leuchtgas gefüllter Ballon. Autolevitation, eine Eigenschaft von Hauselfen, die eigentlich nicht so gerne von Hexen und Zauberern gesehen wurde. Doch für Twinky war diese Art der Fortbewegung sicher leichter und vor allem schneller als auf den kurzen Beinen durch den knöchelhohen Sand zu stapfen.

Anaximander folgte der nun ungeachtet der herrschenden Windrichtung vor ihm herschwebenden Hauselfe. Bubbley trippelte hinter ihm her und geriet dabei immer mehr in Rückstand. Anaximander brauchte ihm nicht zu befehlen, wie er mithalten konnte. Wenn er mehr als zwanzig Schritte vor dem Diener war durfte und würde dieser auf die befohlenen Drei Schritte Abstand an ihn heranapparieren.

Die scheinbare flache Sanddüne flimmerte. Es sah einen Augenblick so aus, als bliese eine von unten wehende Sturmböe allen Sand in den Himmel hinauf. Dann lag es sichtbar vor dem alten Greendale, das Anwesen Himmelsgipfel. Es wurde von achtzehn zwei Meter hohen Steinsäulen begrenzt, die für den Tarn- und Unapparierbarkeitszauber zuständig waren. Innerhalb der Säulenbegrenzung lag ein Hain aus mehr als zehn Meter hohen Palmen mit goldgelben Stämmen und himmelblauen Wedeln, eine besondere Züchtung, um den Reichtum von Zaubererfamilien darzustellen. Ebenso statusbekundend erhob sich die fünfstöckige, himmelblaue Villa in der Mitte des von Palmen und regenbogenfarbig plätschernden Springbrunnen gebildeten Grundstückes. Nun konnte Greendale auch das Quieken, Lachen und Jauchzen von spielenden Kindern hören. Dann sah er auch den zwischen den Himmelspalmen angelegten Spielplatz mit mehreren verwegenen Rutschbahnen, Schaukeln, Klettergerüsten und drei Sandkisten. An die zwanzig Jungen und Mädchen zwischen vier und zehn Jahren tobten sich auf diesem Spielplatz aus. Das war der eigentliche Reichtum der Southerlands, alles Ururenkel des alten Priapus.

Die frei vor ihm herschwebende Elfe führte Anaximander zwischen den Palmen hindurch, die sofort eine angenehme Kühle verbreiteten. Sie steuerte auf die aus zehn meisterhaft gearbeiteten Treppenstufen aus rotem Marmor zu, die vor dem zweiflügeligen Eingangsportal der himmelblauen Villa endeten. Mit leisem Plopp übersprang Bubbley den angewachsenen Rückstand und trippelte in demütigem Abstand dienstbeflissen hinter seinem Herren her.

Anaximander musste beim Anblick der freien Treppe an Priapus vor zehn Jahren verstorbene Frau Mirella denken. Die war an einem Morgen aus dem Haus getreten und auf Grund eines plötzlichen Herzversagens die Treppe hinabgestürzt. Dabei hatte sie sich den Hals gebrochen. Eine Untersuchung durch die Heilerzunft und das Zaubereiministerium war zum Schluss gekommen, dass es ein Unfall in Folge einer dem eigenen Mann gegenüber verschwiegenen Herzschwäche war. Priapus hatte danach ein Jahr lang nur noch Trauer getragen, bis seine Schwester Feodora ihm geraten hatte, sich nicht in trübsal zu ertränken.

"Immerhin haben sie seit Mirellas Unfalltod unsichtbare Absicherungen an der Treppe angebracht", dachte Anaximander, als er die erste glatte Stufe betrat. In dem Moment erscholl eine vierstimmige Fanfare wie aus Kindertrompeten. Bei Stufe sieben tat sich das Portal auf. Als er den Absatz erreichte trat ein für an die zweihundert Jahre noch sehr aufrecht gehender, schlanker Zauberer heraus. Er trug einen rot-golden verzierten Stehkragenumhang und auf dem schneeweißen schütteren Schopf einen rubinroten Zylinder mit goldener Krempe. Also hatte auch der alte Southerland Wert auf besonderes Aussehen gelegt, oder wohl eher seine Schwester, die nach dem Tod ihrer Schwägerin als Dame des Hauses agierte und Twinky und die fünf anderen Elfen dirigierte. Anders als Anaximander, der einen stattlichen Vollbart im Gesicht trug, war das von fortgeschrittenem Alter geformte Gesicht des Hausherren bis auf einen kecken weißen Oberlippenbart haarlos.

""Na, die letzten zwei Stufen packst du auch noch, Anaximander", rief ihm der Zauberer in rot-goldener Aufmachung zu. "Aber so locker wie einen leichten Tanz in den Frühling, roter Gockelhahn!" rief Anaximander seinem Gastgeber zu. Dieser lachte so, als wolle er wiehern. Dann erklang eine befehlsgewohnte, von mehreren Dutzend Sommern leicht angerauhte Frauenstimme aus dem Haus: "Haltet euch nicht zu langge mit Schulhofnettigkeiten auf, damit Twinky auf Chester Gladfield warten kann!"

"Oh, die Stimme deiner Herrin, roter Gockel?" fragte Greendale. "Komm rein, Grünspecht, damit unsere dralle Chefelfe den alten Bauernschrank abholen kann. Dein Leisespringer darf zu den anderen in den Diensttrakt und was essen und trinken, falls er Hunger hat", sagte Southerland. Greendale wandte sich Bubbley zu: "Du hast den Meister Southerland gehört, Bubs." Der angesprochene Elf verbeugte sich und folgte der nun wieder auf eigenen Füßen vorangehenden Hauselfe Twinky.

Greendale begrüßte Priapus' vier Jahre jüngere Schwester, die gertenschlank und an Armen und beinen sehr kkräftig wirkend hinter einer der goldenen Säulen in der marmorgefliesten Eingangshalle wartete. "Du siehst immer noch so aus wie mit fünfzig, Feo", lobte er das jugendliche Aussehen der Hausdame. Dabei wusste er, dass sie wusste, dass er wusste, dass ihr rotblonder Haarschopf und die rosigen Wangen ein Verdienst hochklassiger Hexenkosmetik war. Dass sie schon mehr als hundertfünfzig Sommer auf der Welt war verrieten ihre hinter einer schmalen Silberrandbrille liegenden rehbraunen Augen, die nichts von einem unbedarften Mädchen oder einer gerade erst ins Leben aufgebrochenen Frau vermittelten.

Die beiden Hauseigentümer und ihr Gast begaben sich in das Herrenzimmer, einen mit dunklem Holz getäfelten Raum, dessen einziger Schmuck drei goldene Porträts früherer Southerlands und Latierres und ein frei über einer silbernen Plattform schwebender Globus war, der aus sich heraus so leuchtete, als sei es die natürliche Erdkugel im Licht der auf sie scheinenden Sonne. Als Möbel gab es zwei verschlossene Schränke an den Wänden und einen rechteckigen Tisch, an dem entlang zehn hochlehnige Stühle aufgereiht waren. Vor Kopf stand ein schon Thronartiger Stuhl mit goldenen Lehnen und blütenweißen Polstern. Das war natürlich der Platz des Hausherren.

"Kommen außer Chester Gladfield noch andere aus den hohen Häusern?" wollte Greendale wissen.

"Vom goldenen Triangel aus New Orleans kommt Jeans Neffe Paul, weil Duchamp immer noch nicht mit dem alten Cuthbert Steedford redet. Du kennst die alte Geschichte. Eigentlich habe ich gedacht, die ganze Dreierbande aus New Orleans würde sich hier einfinden, um mit uns zusammen alles nötige zu klären. Aber wenn Paul die Verhandlungsvollmacht seines Onkels hat soll mir das auch recht sein."

"Ist Jeans Erstgeborene eigentlich bei den Voodookriegern mittlerweile aufgestiegen?" fragte Greendale. "Vergiss es. Die halten nichts von ehrwürdigen Familien. Wer bei denen hochkommen will muss sich selbst strecken und recken und dazu noch das Wohlwollen von deren geistreicher Geschäftsführerin verdienen. Aber mehr kriegen wir wohl eh nicht aus dem Laden mit, weil die noch mehr geheimniskrämern als das Sicherheitsbüro des ersten Makusa-Präsidenten", erwiderte Southerland. Dann hörten sie beide wieder jene vierstimmige Fanfare und Feodoras gebieterische Stimme: "Jac, Lindy, bleibt auf dem Platz!"

"Haben deine Ururenkel Hausverbot bekommen, solange wir alten Säcke bei dir zusammenhängen, Pri?" fragte Anaximander. "Ja, wegen Gladfield und Steedford. Die meinen, dass nur wir gestandenen Mannsbilder abstimmen sollen, was so ansteht. Steedford gibt außerhalb seines Grundstückes gerne den unverbrüchlichen Patriarchen, dem kein Weib dreinreden darf. Wie es echt ist weiß nur, wen er mal in seine bescheidene Hütte reinlässt", erwiderte Southerland. Greendale grinste.

Chester Gladfield war ein halbes Jahrhundert jünger als die beiden bereits hier wartenden. Er war bald so groß wie Priapus Southerland, dafür jedoch fast doppelt so breit gebaut wie dieser, jedoch nicht korpulent, sondern muskulös, als ttrainiere er jeden Tag für eine Meisterschaft im Gewichtheben. sein gerade einen Finger lang wachsendes Silberhaar lag ordentlich gekämmt unter seinem pechschwarzen Bowler. Er beließ es bei einer kurzen Begrüßung. Die drei nachkommenschaftsreichsten Familienväter waren nun zusammen.

Im Verlauf der nächsten Viertelstunde trafen noch sieben weitere Zauberer ein, darunter erwähnter Cuthbert Steedford aus Delta Ville in Mississippi, den eine jahrzehnte alte Fehde mit dem Duchamp-Clan aus New Orleans verband. Neben dem gerade einnmal sechzig Jahre alten schwarzhaarigen Paul Duchamp stammten die wesentlich älteren Gaston Lachaise und Roger Centretour aus der Jazz- und Voodoostadt New Orleans. Die weiteren Gäste zeichneten sich durch Verdienste an der Errichtung der magischen Verwaltungsstruktur aus und wirkten entsprechend verbittert, weil ihre Bemühungen um eine den Nichtmagiern entgegenstehende Verwaltung der USA gerade nicht gefragt zu sein schien. Doch genau deshalb trafen die "hohen zehn" sich ja hier und heute, um das zu klären.

Southerland begrüßte alle seine Gäste und setzte sich auf seinen goldenen Stuhl vor Kopf der rechteckigen Tafel. Wie dadurch ausgelöst verstofflichten sich randvolle goldene Weinkelche auf dem Tisch. "Bevor wir unsere altehrwürdigen Stimmbänder an den unsäglichen Auswirkungen der letzten Monate abwetzen lasst uns einen tiefen Schluck von einem Wein genießen, der es mit uns alten Platzhirschen aufnehmen kann, ein Uva Aurea von 1820, von meinen selbst in die Welt gerufenen Winzern und ihren wackeren Elfen gekelterter und ausgereifter Tropfen. Prosit Confratres, auf dass wir den zerfledderten Flickenteppich wieder zu einem reißfesten stattlichen Werk weben!" sprach Southerland mit erhobenem Kelch. Alle anderen hoben nun auch die mit golden schimmerndem Roséwein gefüllten Trinkgefäße, stießen miteinander an und tranken den Begrüßungsschluck.

Nach diesem Auftakt wurde es zum teil langatmig und zum teil aufwühlend. Denn jeder hier hatte zu berichten, wie es der eigenen Familie während der gescheiterten Föderation und dem gegenwärtigen Gefüge erging. Einige trauerten geschwundenen Gewinnen nach, andere waren wütend, weil sie schlicht weg aus bestimmten Hoheitsgebieten ausgeschlossen worden waren. Nur die aus New Orleans stammenden hielten die jetzige Verwaltungsordnung für "durchaus wirklichkeitsgetreu", weil sie natürlich nun frei schalten und walten konnten, ohne auf Texas, Kalifornien oder gar Washington Rücksicht nehmen zu müssen. Doch es erwies sich im laufe der drei Stunden dauernden Debatte, dass die goldene Triangel aus New Orleans in der Minderzahl war, was die Beibehaltung der Regionaladministrationen betraf. Die sieben anderen Patriarchen wollten die Rückkehr zur magischen Staatenunion mit Widerherstellung der alten Vorrechte.

Greendale provozierte bewusst einen heftigen Streit, als er anführte, dass viele von den hier vertretenen Familien ja darum bangen mussten, dass ihre nicht ganz mit den vereinbarten Zaubereigesetzen und auch nicht mit den internationalen Abkommen zur Geheimhaltung der Magie und des magischen Handelsverkehrs übereinstimmende Handlungen begangen hatten. Dafür musste er sich einiges an wüsten Beschimpfungen anhören. Doch er steckte diese locker weg. Dann meinte er: "Gentlemen, wenn wir es wirklich ernst mit dem Neuanfang meinen sollten wir vor allem dafür eintreten, dass alle in der Zeit vor der ruchlosen Dime-Ära geschehenen Vorfälle für erledigt und nicht mehr rechtskräftig befunden werden, weil wir sonst nicht garantieren können, dass ein neues Ministerium oder gar ein neuer Makusa Probleme mit der Umsetzung neuer Vorhaben bekommen könnte. Ich denke, das ist doch ganz in eurem Sinne, auch bei den Herren aus Voodoo Town."

"Klar, du willst, dass deine Enkeltochter von dieser leidigen Sache mit Milton Cartridge freigesprochen wird. Ich dachte, das wäre sie schon", grummelte der alte Centretour.

"Ja, frei von allen öffentlichen Verpflichtungen und von allem, was sie im Sinne unseres Landes noch bewirken könnte. Außerdem hat diese von VM verzapfte Gaunerei mich und meine ganze Familie zu quasi unerwünschten Personen in den ganzen Staaten degradiert. Wenn meine Frau und ich was mit wichtigen Leuten zu klären hatten durften wir uns nie in einem offiziellen Bauwerk blicken lassen. Hatte deine Sippe das nicht auch mal, Rodscher?" fragte Greendale. Der Angesprochene richtete sich zu seiner ganzen Größe von bald zwei Metern auf und knurrte: "Es heißt Ro-jee, bitte! Wir legen wert auf unsere Ahnenlinie aus Frankreich. Und ja, diese leidige Kiste, die meinem Sohn den Einstieg in die Beamtenlaufbahn verdorben hat hängt uns immer noch am Schuh wie ein Haufen Crubkacke. Also was genau willst du denen vorschlagen, Anaximander Greendale?" Der Gefragte legte allen hier seine Vorstellung von einer Generalamnestie für alle vor Dimes Ära passierten Taten vor, solange kein vollendeter Mord oder Totschlag darunterfiel. Er wollte die vollständige Rehabilitation seiner Familienangehörigen mit allen Rechten in einem neuen, die gesamten USA umfassenden Verwaltungsgefüge. "O, du möchtest doch noch einmal Präsident werden, wo du es damals abgelehnt hast, zum ersten US-Zaubereiminister ernannt zu werden?" wollte Chester Gladfield wissen. "Neh, aus dem Alter bin ich echt raus, andauernd mit untergeordneten, karrieresüchtigen Katzbucklern und Speichelleckern zu verkehren. Aber vielleicht wollen meine Söhne oder Enkel ja so'n Amt haben oder Goddy, meine Enkeltochter." Das provozierte ein lauthalses Lachen aus allen hier versammelten Kehlen. Mehrere hieben erheitert mit den flachen Händen auf die Tischplatte und kämpften um ihren Atem. "Klar, wo die nette Goddy deinen Schlüssel in das Ministerium ja neu aus den Windeln herausgefüttert hat, wie, Nax", meinte Chester Gladfield. Paul Duchamp hingegen legte seine Stirn in Denkfalten. Er wartete, bis keiner mehr lachte. Dann bat er den Gastgeber ums Wort und bekam es. "Sie alle hier, auch Mr. Steedford, wollen wieder mitbestimmen, wie es in unserem großartigen Land zugeht. Das können wir aber nur, wenn wir alle die gleichen Chancen haben. Sonst frisst uns alle der kleine grüne Drache Neid auf und macht, dass unsere Familien nie wieder einen Fuß auf den Boden kriegen. Wenn wir nach all den Machenschaften und Schurkereien der letzten vier Jahre unser Land wieder groß machen wollen brauchen wir die volle Anerkennung von denen, die unsere Anliegen vertreten sollen. Am Ende berufen die sich noch auf Dimes und Buggles' Erlasse, dass nicht mehr die Abstammung zählt, sondern nur die erbrachte Leistung. Dabei wissen die meisten, die den alten Makusa noch mitbekommen haben, dass der nur deshalb groß und stark agieren konnte, weil wir von den hohen Häusern der Gründerzeit unsere Leute dazu getrieben haben, das Land zusammenzuhalten. Wir sehen doch, wo es nun ist, nachdem sich die von Buggles und Montefiori befreiten Karrierevögel wieder in die Luft erheben und nur noch ihren kleinen Goldrandteller von Region pflegen wollen. Der oder die nächste Weltherrschaftssüchtige ist sicher schon unterwegs. Wenn wir das Land nicht wieder groß und stark machen, und zwar ohne die unsägliche Verstribbelung mit den magielosen Weltmachtsträumern, können wir statt des edlen Tropfens hier gleich pures Eisenhutgebräu schlucken. Ich stimme dem ehrenwerten Mr. Greendale zu, dass wir bei einer Reunion unserer Einzelstaaten alle als strafbare Handlungen eingestuften Vorfälle unterhalb von Schädigungen an Leib und Seele unserer magischen Mitbürger für entweder nicht mehr zu ahnden oder für verjährt erklären lassen. Sollte man nicht darauf eingehen und ohne uns die Reunion oder eine Wiederankopplung an die Interessenslage aller Menschen in den Staaten beschließen verweise ich gerne auf die Wahl der französischen Zaubereiministerin Ornelle Ventvit. Diese kam zu Stande, weil alle hochrangigen und weitverzweigten magischen Familien Frankreichs sich darin einig waren, dass ihr einziger noch verbliebener Gegenkandidat Oreste Louvois ein großes Übel für die französische Zauberergemeinschaft bedeutet hätte und haben allen ihren Mitgliedern nahegelegt, für Ventvit zu stimmen. Ähnlich entschlossen und geeint sollten wir alle auch vorgehen, wenn unsere Vorschläge und Forderungen nicht berücksichtigt werden. Zumindest hat mein ehrenwerter Onkel Jean mir erlaubt, diesen Standpunkt als den unserer Familie einbringen zu dürfen."

"Ja, klar, weil Ihre Cousine es nicht aus eigener Kraft schafft, nach dem Zwischenfall vor zwanzig Jahren weiter als bis zur Ausrüstungsputzerin im Laveau-Institut aufzusteigen", meinte der alte Steedford. Paul Duchamp nahm diese Gehässigkeit mit einem Axelzucken hin und erwiderte ganz ruhig: "Tja, daran sieht man, wie gründlich und funktionstüchtig die Geheimhaltung innerhalb des Laveau-Institutes ist, auch und vor allem seit den beiden Marionettenaufführungen mit Dime und Buggles. Bleiben Sie weiter in der Annahme, dass meine Cousine nur untergeordnete Aufgaben erfüllen darf. Was sie genau macht bleibt ein Geheimnis meiner Familie."

"Moment mal, heißt das, die darf jetzt doch wieder alle Rechte wahrnehmen, die sie vor dem Ding mit der blauen Alligatorbändigerin hatte und dass die fast mitgeholfen hat, dass die sich unbehelligt nach Mexiko absetzen konnte?" fragte Steedford. Paul Duchamp gab darauf keine Antwort.

"Gentlemen, ich finde den Vorschlag von Mr. Duchamp sehr brauchbar. Also beraten wir nach den ganzen selbstmitleidigen und in versteckten Schuldzuweisungen ausgeuferten Wortbeiträgen, wie wir alle zusammen die Reunion und das Wiedererstarken unserer Heimat erreichen werden", griff Southerland Duchamps Beitrag auf. Denn natürlich wusste er als nordamerikanischer Angehöriger der Southerland- und Latierrefamilie, wie durchschlagend die damalige Absprache unter den französischen Zaubereifamilien war und dass die wohl damit völlig recht hatten. Denn kaum dass Louvois Ventvits Wahl bestätigt worden war hatte sich erwiesen, dass Louvois alle wichtigen Leute Frankreichs mit irgendwas erpressen konnte und dass er wohl von einer unbekannten Macht aus der Welt geschafft worden war, wohl, weil er ihr nicht weiter dienen konnte. Vielleicht, so dachte der alte Southerland, hatte da auch Vita Magica die schmutzigen Hände im Spiel gehabt und gehofft, bereits in Frankreich einen willfährigen Zaubereiminister platzieren zu können.

Nun besprachen alle, was sie aus ihren "Herrschaftssphären" heraus unternehmen konnten und gelangten wahrhaftig zu einer Übereinkunft, die ausnahmslos alle mittragen wollten. Sie besagte, dass auf eine Neuschöpfung des magischen Kongresses der USA ohne politische Anbindung an die nichtmagische Welt hingearbeitet werden sollte, dass das magische Schulwesen derartig neugefasst werden sollte, dass alle von Vita Magica erzwungenen Nachkommen ehrbarer Zaubererfamilien in fast alle Zaubereischulen aufgenommen werden sollten außer ilvermorney, der ersten und traditionsreichsten Schule, die jedoch durch Lehranstalten wie Thorntails und Dragonbreath in den letzten vierzig Jahren stark in den Hintergrund gedrängt worden war. Es galt, die erzwungenen Kinder tunlichst davon abzuhalten, sich für was besonderes zu halten oder sich derartig ausgestoßen zu fühlen, dass sie den Ideen ihrer verbrecherischen Schöpfer folgen wollten. Ja, und was die Kinder von wieder als Nomajs bezeichneten Eltern anginge, so sollte geprüft und darauf hingewirkt werden, dass diese Kinder bei Erfassung ihrer Zauberkräfte von den Eltern getrennt und den Eltern ein Gedächtniszauber auferlegt werden sollte, niemals dieses Kind aufgezogen zu haben. Duchamp erinnerte an den Fall der Eheleute Granger, die von ihrer magisch hochbegabten Tochter kurz vor dem letzten Auftritt des Todesserfürsten mit dem in Europa unaussprechlichen Namen mit einem Gedächtniszauber belegt und zur Auswanderung nach Australien bewegt wurden. Southerland ließ den jungen Vertreter der Duchamps alles berichten und fügte dann hinzu: "Ja, nur dass die junge Dame, die später einen Jungen aus der Weasley-Sippe heiratete fast Probs mit dem britischen und dem australischen Zaubereiministerium bekommen hätte, weil die sich reinhängen mussten, die gedächtnisbezauberten Eheleute Granger zurückzuholen. Die hatten sich da nämlich schon in eine gutgehende Zahnarztpraxis eingekauft und hatten einige gutbetuchte Leute in der Patientenkartei. Aber weil die alte Billardkugel Shacklebolt die schützende Hand über Hermine Weasley geborene Granger gehalten hat und gute Verbindungen mit Australiens erster Hexe Latona Rockridge hatte ist die Angelegenheit am Ende doch ganz leise über die Bühne gegangen. Wird dem alten Inobskurator Shacklebolt wohl noch einen Zügel in die Hand gelegt haben, an dem er dieses überschlaue und hochbegabte Mädchen führen kann."

"Die briten nennen ihre Jäger dunkler Magier Auroren, nach der Morgenröte und dem Goldglanz, die sie durch die Entmachtung dunkler Hexen und Zauberer wiederherstellen", wagte Steedford eine Berichtigung des Gastgebers. Southerland nickte und nahm die Berichtigung zur Kenntnis.

Als nach fünf Stunden und unzähligen Schlucken aus den sich immer wieder von selbst nachfüllenden Kelchen alle hier in einer sehr gelösten aber auch ermüdeten Stimmung waren bedankte sich Southerland bei seinen Gästen und Mitstreitern, wobei Greendale auch das Wort Mitverschwörer hätte gelten lassen können. Er ließ die Mitschrift der Unterhandlung kopieren und gab jedem eine Abschrift. "Wie besprochen ist es für jede unserer Familien überlebenswichtig, dass bis zur offiziellen Reinstitutionalisierung des Makusas keine der anderen Familien mitbekommt, was wir hier ausgehandelt haben. Nachher speien die Emporkömmlinge und Habenichtse wieder Gift und Galle, dass wir meinen, sowas wie einen amerikanischen Feudalstaat zu unterhalten. Eine gute Tat wird dadurch nicht besser, je lauter davon erzählt wird, sondern indem sie gründlich und zielfolgend vollbracht wird. In diesem Sinne, danke euch und Ihnen allen, dass ihr das mit mir zusammen geklärt habt. So, wer möchte ist herzlich eingeladen, mit mir und meiner Schwester und unseren Enkeln und Neffen zusammen zu Abend zu essen, vorausgesetzt, eure Ohren vertragen den Krach lebensfroher Kinder noch. Wer jetzt schon nach Hause möchte und einen eigenen Hauselfen mitgebracht hat, der unten bereitsteht darf gerne von innerhalb des Hauses aus disapparieren. Ansonsten steht auch die Möglichkeit bereit, euch leiweise Besen zu überlassen, die ihr dann mit euren Eulen wieder zu mir zurückschicken könnt."

"Öhm, wo wir uns jetzt in gewisser Weise zu einer art heimlicher Zaubereiregierung zusammengeschlossen haben", setzte Gladfield an und deutete auf die drei goldgerahmten Porträts, "Ich hoffe doch ganz zuversichtlich, dass die drei älteren Gentlemen da niemandem was mitteilen, was hier so gesprochen wurde." Southerland sah die drei vollporträtierten Herren in den goldenen Bilderrahmen an und sagte sehr überzeugt: "Die drei Gentlemen achten unseren Stolz und unsere Familienehre und werden nichts unternehmen, was meine Familie in Schwierigkeiten bringen mag. Ja, und weil wir uns alle in dasselbe Boot gesetzt und schon einige Dutzend Schläge weit damit gerudert haben gilt was für meine Familie gilt auch für deine, Chester und für alle hier vertretenden Sippschaften." Gladfield blickte Southerland an und nickte dann.

Anaximander Greendale nahm die Einladung zum Abendessen an, auch weil er damit wunderbar verbergen konnte, wie lange die Unterredung an sich gedauert hatte. Er konnte mit Gladfield und dem jungen Duchamp noch nicht so geheime Begebenheiten austauschen. Gegen zehn Uhr abends rief er nach Bubbley und führte den anderen Gästen die Vorzüge eines Leisespringers vor, der auch mit anbefohlener Begleitung noch immer leiser disapparieren konnte als mancher Hauself alleine.

Als Anaximander bei seiner eigenen Familie war sagte er nur: "Wenn wir alles hinkriegen, was ich mit den anderen Familienbossen beredet habe kriegen wir bis zum Unabhängigkeitstag eine gescheite Gesamtadministration und einen Erlass aller nicht auf Leib und Leben von natürlichen Personen einwirkenden Taten. Mehr möchte ich im Moment nicht erwähnen, weil ich noch zu voll von den sechs Gängen vom Abendessen und einigen Schlucken von Southerlands Spitzenwein bin."

"Höre ich und rieche ich", knurrte Adelaide. "Dass es bei euch Mannsbildern nie ohne großes Besäufnis geht. Am besten machst du dich gleich bettfertig, Nax", sagte sie noch. Anaximander erkannte mal wieder, wie schön es sein konnte, wenn er mit anderen Männern unter sich sein durfte. Doch er wagte es nicht, gegen das Wort seiner durch mehr als ein Jahrhundert begleitenden Gefährtin aufzubegehren.

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Rubinroter Nebel, aus dem immer wieder leises Säuseln wie in der ferne auf Wände treffender Wind klang, umgab ihn. Er meinte, im freien Raum zu schweben. War er also doch gestorben?

Pontio Barbanera erinnerte sich noch daran, wie er von etwas den ganzen Körper erschütterndes getroffen worden war und alle Sinne verloren hatte. Jetzt schwebte er wohl in diesem Nebel, der wie der Dunst der Feuerrose aussah und hörte das unverständliche Wispern, als wollten ihm hunderte weit ab wartende etwas mitteilen, trauten sich aber nicht, lauter zu sprechen. Dass er schwebte war ihm jedoch am unheimlichsten. Mochte es sein, dass gleich jenes gleißendhelle Licht auftauchte, das vielen Berichten fast verstorbener Patienten nach die letzte Grenze des Lebens bezeichnete? Würde er dann in dieses Licht hinübergehen oder sich krampfhaft an seine irdische Existenz klammern? Was wenn sein Körper schon längst tot war und er in einem Zwischengefüge hing, aus dem er nur in die Nachwelt oder als Geist in die stoffliche Welt zurückkehren konnte? Offenbar hielt ihn Ladonnas Feuerrosenzauber davon ab, die eine oder andere Entscheidung zu treffen. Ja, es konnte sein, dass er und alle anderen, die in ihrem Auftrag gestorben waren in diesem roten Nebel im Nirgendwo feststeckten und dort für alle Ewigkeit bleiben mussten. Das war schlimmer als jede Höllenvorstellung, ob von Dante oder den orientalischen Märchenerzählern. Ja, und er, Pontio Barbanera, hatte diese ganz eigene Hölle am meisten verdient. Er hatte Ladonna aus Überheblichkeit und Unterlassungssünde ermächtigt, erst ihn in ihren Bann zu ziehen und ihn dann als Instrument für ihre eigene Machtausdehnung einzusetzen. Wenn dieser Nebel die Hölle für Feuerrosensklaven war, dann würde er nun für alle Zeiten darin gefangenbleiben.

Unvermittelt zuckten rote und orange Blitze durch das rubinrote Wabern. Er meinte, von unsichtbaren Händen gepackt und durchgerüttelt zu werden. War das eine weitere Folter dieser Strafwelt? Reichten die Einsamkeit und der unendliche Raum nicht aus? Da zuckte einer der Blitze genau auf ihn nieder. Gleißendes Licht umhüllte ihn. Er fühlte rasende Schmerzen durch Kopf, Rumpf und alle Glieder jagen. Er schrie auf ... und fand sich fflach auf dem Rücken auf einer weichen Matratze liegen. Seine Beine strampelten gegen eine sich selbst immer wieder zurechtrückende Bettdecke. Er öffnete seine Augen und blickte gegen eine makellos weiße Zimmerdecke. Dann hörte er eine Tür aufklappen. "Signore Barbanera! Alles gut! Sie sind in Sicherheit", hörte er eine im sanften Ton auf ihn einsprechende Frauenstimme. Dann sah er die kleine, zierliche Dame in der grünen Tracht der magischen Heilzunft, die neben dem Symbol des von einem Zauberstab gekreuzten Knochens und der Äskulapschlange noch die drei goldenen Vollmondsymbole trug. Er war offenbar im Hosbedale di Lune Piene. Er hörte zu schreien und zu strampeln auf. Er war nicht in der Hölle gelandet. Da hatten sie ihn offenbar nicht haben wollen, noch nicht.

"Wo, wann und wie?" fragte er schnell und mit röchelnder Stimme. "Sie sind auf Einzelzimmer drei in der Marcella-Mielecaldo-Station des Hosbedale di Lune Piene, Signore Minister Barbanera. Heute ist der siebenundzwanzigste Februar 2007 und es ist gerade fünf Minuten nach drei Uhr morgens. Ich bin Heilerin Donata Lagofresco, die für diese Station eingeteilte Heilerin vom Dienst. Sie wurden am Nachmittag des zweiten Dezembers von meinen Kollegen auf dem Grundstück des Anwesens eines Mogglo namens Luigi Girandelli aufgefunden und zur weiteren Behandlung und Beobachtung hierher verbracht. Sie lagen bis eben gerade in einem todesnahen Tiefschlaf, den wir mit unseren Kenntnissen nicht ohne Gefahr für Ihr Leben beenden konnten", berichtete die Heilerin. Pontio Barbanera sah sie erleichtert an. Dann erkannte er, dass sie ihn immer noch als Minister ansprach. Wenn wirklich so viel Zeit vergangen war hätten die doch längst wen neues ernennen müssen. So bat er mit heiserer Stimme um den Beweis für die verstrichene Zeit und bat so ruhig er wieder sprechen konnte um einen ausführlicheren Bericht. "Erst wenn ich sichergestellt habe, dass Sie wieder vollständig erholt und wach genug sind. Sollte es angezeigt sein, dass Sie nun noch einige Stunden natürlichen Erholungsschlaf benötigen wird meine Kollegin von der Tagschicht Ihnen den ausführlichen Bericht erstatten, den Sie erbitten", sagte die Heilerin. Dann lauschte sie. "Ah, offenbar erwachen auch andere Ihrer früheren Mitarbeiter. Bitte bewahren Sie Ruhe! Falls sie können schlafen Sie weiter!"

"Ich denke nicht daran", schnaubte Barbanera und versuchte, die auf ihm liegende Decke vom Körper zu reißen. Doch dieses Ding besaß ein unheimliches Eigenleben. Sie ließ sich nicht abschütteln, sondern umschlang ihn so stark, dass er seine Beine und seinen Körper nicht mehr frei bewegen konnte. "Das dient der Sicherheit, nicht aus dem Bett zu fallen", bemerkte die Heilerin, die bereits durch die Tür war und seinen Kampf mit der verhexten Bettdecke mitbekam. "Sie nehmen sofort den Verharrungsfluch von diesem Federhaufen und lassen mich aufstehen oder ..."

"Oder ich muss sie ruhigstellen", sagte die Heilerin und zog einen zerbrechlich scheinenden Zauberstab aus ihrer Heilerinnentracht. Das reichte Barbanera, um zu erkennen, dass er im Augenblick in der ungünstigeren Position war. Er nickte und gab seinen Kampf mit der Bettdecke auf, die nun weich und warm auf seinem Körper lag, als wenn sie völlig unbezaubert war. Die Heilerin nickte ihm zu und schlüpfte eilfertig durch die Tür, die hinter ihr leise zuging. "Womöglich wird die verriegelt", dachte Barbanera verärgert. Er war nicht das erste mal im Heilzentrum Italiens. Patienten mit schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen wurden zum Schutz vor ungebetenen Besuchern und zur eigenen Sicherheit eingeschlossen. Nur wenn ihr Körper Anzeichen eines schweren Zusammenbruchs zeigte ging die Tür auf, um die Notfallheiler reinzulassen.

Während Pontio Barbanera körperlich untätig bleiben musste kam sein vom Duft der Feuerrose befreites Gehirn wieder in Schwung. Er hatte seit Ladonnas Kampf mit diesen beiden fremden Hexen und der Sache mit dem rosigfarbenen Schwert über zwei Monate geschlafen. Offenbar hatte sein Körper die Folgen des Feuerrosenzaubers auskurieren müssen. Doch was sollte dann diese Art Albtraum vor seinem Aufwachen? Waren das Reste seiner Erinnerung an die Zeit unter Ladonnas Einfluss? Er dachte mit Grauen daran, dass er mit dieser dunklen Hexe etliche Geschlechtsakte vollzogen hatte. Die hatte ihren aus Sabberhexen- und Veelaabstammung rührenden Einfluss genutzt wie ein Succubus. Ja, und sie hatte ihn so zu ihrem Statthalter, zu ihrem rechten Erfüllungsarm gemacht und ihn dazu getrieben, ihr seine Kolleginnen und Kollegen auszuliefern und mit denen zusammen andere Zaubereiminister und deren Leute zu unterwerfen. Dann dachte er daran, dass wohl aus Frankreich und Bulgarien Gegenaktionen unternommen wurden, bei denen die reinblütigen Veelas irgendwas angestellt hatten, um die Unterworfenen zu befreien. Natürlich waren die für ihn, die Marionette der Sabberhexen-Veela-Tochter, Todfeinde und er hätte jede von denen umgebracht, auf den sie gezeigt hätte. Dieses und das Gefühl, wie ein beliebiges Werkzeug benutzt worden zu sein schüttelten ihn körperlich durch. Die auf ihm liegende Decke zog sich wieder fester um ihn. "Ja, ist ja gut, ich fall nicht raus!" knurrte er, auch wenn er nicht glaubte, dass die Bettdecke ihn überhaupt verstand. Dann dachte er wieder an den Kampf, jenes exotische Duell, dass Ladonna geführt hatte. Er erinnerte sich, dass sie dabei ihre Rüstung verloren hatte und sein Leidensgenosse Valentino Angelotti eine Bemerkung über die überragende Figur der Mischblütigen gemacht hatte. Er hatte ihm dafür einen wuchtigen Kinnhaken verpasst, wohl aus Eifersucht und angestauter Begierde, mal wieder mit dieser Höllentochter zu schlafen. Tja, und dann hatte die dieses rosigfarbene Schwert von der Bauart eines altrömischen Gladius' genommen und sich selbst damit in eine ihrer Brüste geschnitten. Ab da war der Bann gebrochen. Doch weil er wohl am längsten und am tiefsten darin gefangen gewesen war hatte er erst all seinen Mageninhalt ausgespuckt und dann die Besinnung verloren. Ja, so war das. Er konnte sich an das alles und alles davor erinnern. Verdammt! Er konnte sich an jede Sache erinnern, die er für dieses dreiblütige Luder ausgeführt hatte! Jetzt wusste er, wie sich die fühlten, die nach langer Zeit aus dem unverzeihlichen Imperius-Fluch freikamen. Er wusste, welche Verbrechen gegen den freien Geist und gegen die Unversehrtheit seiner Mitmenschen er begangen hatte. Konnte er sich darauf herausreden, nichts dagegen aufbieten zu können? Hätte er es doch einmal versuchen sollen, sich von Ladonnas geistiger Kette loszureißen? Nein, hätte er nicht. Denn dieses widerliche Weibsbild hatte ihn mit ihrem Körper und ihrer Veelazauberei zu fest an sich gekettet. Das entlastete ihn jedoch nicht von der Schuld, seine Kollegen in diese perfide Falle hineingelockt und mit in Ladonnas rubinrotem Spinnennetz eingesponnen zu haben. Er erschrak als er daran dachte, dass nicht nur er hier lag. Auch andere erwachten gerade. Waren alle aus dem Ministerium in diesen todesnahen Tiefschlaf gefallen? Wer hatte dann das Ministerium verwaltet? Am Ende war er noch Schuld an heillosem Chaos, bei dem unzählige Menschen verletzt oder getötet worden waren. Er dachte auch an die aus dem Land gejagten Kobolde und dass deshalb der Zugang zu den Werteinlagen in Gringotts erschwert war. Das konnte schon wen zum Durchdrehen bringen, dachte er. Gab es überhaupt noch sowas wie eine magische Ordnung? Am Ende war dieses Krankenhaus eine Oase in diesem Chaos, das was Kirchen und Klöster für gläubige Christen waren, heiliger Boden, auf dem kein Streit und kein Kampf stattfinden durfte.

Zwanzig Minuten waren er und die ihn sicher im Bett haltende Decke allein. Zumindest verriet ihm das die magische Zeitansage, die wie in vielen öffentlichen Gebäuden auf Zuruf die Uhrzeit sprach. Dann betrat Heilerin Lagofresco sein Zimmer wieder. "Tut mir leid, es dauerte etwas länger. Offenbar wirkte jener Zauber, der Sie und alle anderen schlafen ließ unabhängig von der Intensität des vorher wirksamen Unterwerfungsbanns, sodass alle zeitgleich erwachten. Ich prüfe Ihre körperlich-seelische Verfassung. Falls das Ergebnis es zulässt erstatte ich Ihnen gerne den erbetenen Vollbericht", sagte die Heilerin.

"Waren jetzt wirklich alle aus dem Ministerium und den angeschlossenen Unterorganisationen hier?" fragte Barbanera. "Ja, ausnahmslos alle, die jenem höchst unzulässigen Feuerrosenzauber unterworfen waren, Signore Ministre", bestätigte die Heilerin. Dann führte sie die angekündigten Untersuchungen durch. Als sie befand, dass er wach und stabil genug war, den Vollbericht zu hören legte sie eine halb entrollte Pergamentrolle auf den kleinen Nachttisch neben dem Krankenbett und wirkte den Vorlesezauber. Eine sonore Baritonstimme, die einem Opernsänger Ehre machte, beschrieb nun, was seit dem zweiten Dezember geschehen war und dass der Leiter der italienischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste, Signore Arnoldi, die zeitweilige Geschäftsführung im Zaubereiministerium innehatte und dass er diese erst wieder abgeben würde, wenn die Nachfolge Barbaneras und aller höheren Beamten ordentlich geklärt sei. Das war für Barbanera die Bestätigung, dass er die längste Zeit Minister gewesen war. Aber wieso hatte die Heilerin ihn noch mit diesem Titel angesprochen? Höflichkeit, behutsamer Umgang mit Patienten? Er wusste nur, dass es wohl keine Gerichtsverhandlung gegen ihn geben würde, er jedoch genau überlegen sollte, in welcher "untergeordneten" Funktion er weiterhin im Ministerium arbeiten konnte und inwieweit er es der "verständlicherweise" aufgebrachten Öffentlichkeit gegenüber verantworten konnte, überhaupt noch ein Amt bekleiden zu können. Natürlich hatte nach der Enthüllung dieses Riesenhaufens Drachendung kein noch frei denkfähiger Zaubererweltbürger Lust, von einem ehemaligen Marionettenminister Verhaltensvorschriften oder gar direkte Befehle entgegenzunehmen. Selbst wenn es klar bewiesen werden konnte, dass er niemals Herr seiner Handlungen gewesen war blieb der Eindruck, dass er, der sich ja mit Zauberwesen befasst hatte, früh genug hätte merken müssen, dass Ladonna ihn und die anderen unterwerfen wollte. Schlauberger gab es immer, die hinterher tönten, dass sie das doch schon viel früher hätten merken können, wenn sie an seiner Stelle und mit seinem Wissen gewesen wären. Auch rein sachlich betrachtet kam er nicht darum herum, einen Neuanfang zu machen, also den Weg für unbelastete Leute freizumachen. Doch dieses bedrückende Gefühl, wahrhaftig nicht gut genug aufgepasst zu haben blieb. Ja, er hatte nicht gut genug aufgepasst. Er hatte nicht sofort gehandelt, als Ladonna ihn in der Nähe dieses verfluchten Villengrundstückes überrascht hatte. Er hätte sie sofort mit Betäubungs- oder Todesflüchen niederkämpfen müssen. Weil er versagt hatte war die halbe Welt in ihre Gewalt geraten. Ja, er war der trolldumme Obertrottel gewesen, den dieses Weib gebraucht hatte, um sich die halbe Welt untertan zu machen. Tote und Verletzte, dauerhaft kranke und ihres Eigentums verlustige Hexen und Zauberer, die auf sein Konto gingen, auch wenn er nur das willenlose Werkzeug in den übernatürlich schönen Händen dieses Unheilswesens gewesen war. Alles was passiert war und was nun weiterhin passieren würde ging auf seine Überheblichkeit und Unachtsamkeit zurück. Ja, die beiden Hexen, augenscheinlich Geschwister aus dem Ausland, hatten sich wegen ihm in höchste Lebensgefahr gestürzt. Im Grunde konnten die und er nur von Glück reden, dass Ladonna so überheblich und selbstüberschätzend war, dass sie dieses magische Schwert berührt hatte, das gegen sowas wie sie geschmiedet worden war. Dann dachte er noch daran, dass Ladonna die finstersten Erkenntnisse aus dem Archiv für streng geächtete Zauber an sich genommen hatte und zudem auch aus anderen Ländern Artefakte dunkler Zauberei zusammengetragen hatte. Was war nun mit diesem Zeug, nachdem ihr Blutfeuernebel verweht war? Am Ende hatte es eine blutige Schlacht um diese Beutestücke gegeben, bei der weitere Dutzend Menschen gestorben oder unheilbar verunstaltet worden waren. Davon hatte Arnoldi in seinem sogenannten Vollbericht nichts erwähnt. Doch er würde es früher erfahren als ihm lieb war. Zumindest wusste er nun, dass die italienische Zaubererwelt noch nicht in sich zusammengestürzt war. Doch war das wirklich ein Trost?

Weil er auf Anweisung der Heilerin noch einige Stunden schlafen sollte, um in den gewohnten Tag-Nacht-Rhythmus zurückzufinden drehte er sich behutsam in seine bevorzugte Schlafstellung. Tatsächlich fand er in einen erholsamen, traumlosen Schlaf.

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Sie schraken hoch wie von einem beängstigenden Laut. Sieben an einem steinernen Tisch sitzende Frauen in rubinroten Gewändern, die Kleidung der Statthalterinnen der Königin. Die ersten begannen wieder zu denken. Sie erinnerten sich an einen lauten Aufschrei, der von erst einer Stimme ausgestoßen wurde und dann in drei verschieden klingende Angstschreie neugeborener Kinder überging. Nun war es so still wie es in einer jahrmillionenalten Höhle sein konnte. Die sieben Statthalterinnen der Königin öffneten ihre Augen. Sie erkannten wo sie waren. Sie sahen einander an und wussten, warum sie hier waren. Dann wurde ihnen klar, dass ihre Königin nicht mehr da war. Ihre Königin? Mit der über ihnen liegenden Stille kam auch das Bewusstsein, dass sie über Jahre hinweg unter dem magischen Bann dieser übernatürlich schönen, mischblütigen Erscheinung gestanden hatten, die sich als die Feuerrosenkönign, ihre Herrin bezeichnet hatte. Sie hatten das fragwürdige Schicksal geteilt, Nachfahrinnen jener Hexen zu sein, die damals schon der Rosenkönigin gedient hatten. Sicher, viele von ihnen waren all zu bereit, einer starken Führerin zu folgen, um die Welt in eine geordnete, klar bezeichnete Bahn zu lenken. Zu diesen gehörten auch die gerade erwachten Statthalterinnen. Doch nun erkannten sie, dass ihr Wille zu folgen ausgenutzt worden war, um sie zu willfährigen Erfüllungsgehilfinnen, zu nichts wertvollerem als Hauselfen in Menschengestalt zu erniedrigen. Doch warum konnten sie das nun denken? Der Grund war unbestreitbar: Die Königin gab es nicht mehr. Ihr Bann, der sie während einer längeren Abwesenheit in Handlungsunfähigkeit halten sollte, war erloschen. Sie konnten wieder frei denken.

"Die Königin ist tot", durchbrach die Statthalterin der Toscana die Grabesstille. Die sechs anderen sahen sie an. "Dieses Weib hat uns versklavt, zu lebenden Gebrauchsgegenständen gemacht", knurrte jene, die bis zu jenem magischen Betäubungsstreich die Statthalterin der Region Neapel gewesen war. "Sie hat sich offenbar an wem verhoben", grummelte die ehemalige Statthalterin Roms.

Plötzlich krachte es, als sei irgendwo da oben ein Stein zerbrochen. Sie hörten das leise Rieseln und Knistern, als Splitter von der Decke in der unsichtbaren Sperre landeten, die herabstürzende Brocken auffangen sollte. Dann erbebte der Boden. Dumpf dröhnten die Wände. Einen Atemzug später war es wieder still. Doch diesmal war es nicht die Stille von Jahrmillionen, sondern eine bedrückende, unheilvolle Ruhe, die hereinbrechenden Gefahren vorauszugehen pflegte. Die Luft schien schwerer und wärmer zu werden, als atmeten sie alle in ein immer dichteres Gewebe vor Mund und Nase. Dann krachte und knackte es erneut. Wieder prasselten kleine Splitter von weiter oben und blieben in der unsichtbaren Steinschlagabsperrung hängen. Wieder erbebte der Boden und erzeugte einen tiefen, unheimlichen Ton in den Wänden.

"Schwestern, ich fürchte, die Höhle hat ausgedient. Raus hier!" warnte die Statthalterin der Toscana. Als habe sie damit nach dem Unheil gerufen sprangen grüne und blaue Blitze von einer Wand zur anderen über. Die Wände glommen in einem goldenen Flackerlicht auf. Dann wurde es wieder dunkel.

Weil die sieben noch ihre Zauberstäbe bei sich hatten konnten sie damit Licht machen. So konnten sie die ersten Spalten in Boden und Wänden erkennen. Da knackte und knirschte es erneut von oben. Wieder prasselten Brocken in die unsichtbare Absperrung. Doch diesmal klang das Geräusch so, als fielen kopfgroße Steine nieder, die von der Absperrung zertrümmert wurden. Das reichte den sieben, um zu wissen, dass sie hier nicht länger bleiben durften. Konnten sie von hier disapparieren? Die römische Statthalterin prüfte das nach. Doch als sie sich auf dem Absatz drehte wurde sie von einer silbernen Leuchtspirale eingeschnürt und am Boden festgeheftet. Sie schrie auf. Doch ihre Stimme klang wie durch viele Schichten Stoff gefiltert. Die anderen Sechs spürten nun auch einen immer stärkeren Druck auf ihren Köpfen. Die Luft wurde zusammengepresst.

"Zu Fuß raus hier!" rief die ehemalige Statthalterin der Toscana den fünf noch frei beweglichen Schicksalsgefährtinnen zu. Doch drei von ihnen rannten zu der nun stetigen silbernen Lichtsäule, in der die an der Disapparition gehinderte wie ein Insekt in gehärtetem Baumharz eingeschlossen war. "Der Arrestkristall", knurrte die Statthalterin von der Lombardei und zielte mit ihrem leuchtenden Zauberstab auf die silberne Säule. "Schnell, du und du, die Worte der schwingenden Zeit!" Sie sangen auf drei auf einer für ihre immer mehr gepeinigten Lungen noch vertretbaren Tonhöhe die Zeilen der schwingenden Zeit, mit denen die Eigenschwingungszahl von Gestein, Kristall und kristallartigen Zaubern bestimmt werden konnte. Zugleich prasselten weitere Steinbrocken von oben und zersprangen in der auf halber Höhlenhöhe hängenden Absperrung. Die silberne Säule erbebte, glühte dann in einem blauen licht und gab ein vierstimmiges Sirren von sich. Nun setzten die noch gerade von der Flucht abgebrachten mit magischen Schwingungen auf den gehörten Tonhöhen dagegen . Die silberne Säule blähte sich zu einer Kugel auf und stieg wie von einer Kanone abgefeuert nach oben. Sie riss dabei die römische Schicksalsgefährtin mit sich. Alle sahen, wie sie von unten gegen die unsichtbare Absperrung prallte. Aberdutzend Blitze schossen von allen Seiten in die flackernde Lichtkugel hinein und überluden sie. Mit lautem Knall zerbarst die magische Blase. Dabei wurde jedoch die darin gefangene Hexe mitvernichtet. Von ihr blieb nur weißer Dampf und graue Asche, die unter der nun wild flackernden Absperrung dahinwehte.

"Verdammt, sie hat einen Gegenzauber zum Lied der Befreiung gewirkt. Raus jetzt hier! Nicht apparieren!" rief die Statthalterin der Tosccana.

Blitze schlugen nun durch die magische Auffangschicht auf halber Höhe. Ein neuer Erdstoß brachte die nun zu den noch offenen Zugängen rennenden ins straucheln. Doch die Angst und der Überlebenswille verliehen ihnen übermenschliche Kraft und Reaktionsgeschwindigkeit. Sie wandelten die Stolperer in Hüpfer um und gewannen ihr Gleichgewicht zurück. Sie rannten durch die erzitternden Zugänge. Da zerriss mit lautem Knatternund brutzeln die Steinsplitterauffangbezauberung. Was sie bis dahin schon aufgefangen hatte krachte und prasselte nun die restlichen sechs Meter tief und hagelte auf Tisch, Stühle und Boden. Zugleich meinten alle, die Luft würde immer heißer und dicker, als wolle jemand sie in erhitzten flüssigen Honig einschließen. Sie schafften es noch durch die zitternden Gänge. Hinter ihnen flammten weitere Entladungsblitze auf, denen dumpfe Donnerschläge folgten.

Das Beben wurde immer stärker. Nun begannen auch von den Decken der Zugangsstollen Gesteinsbrocken herabzurieseln. Dem wirkten die Flüchtenden mit grünlich vlackernden Schildzaubern entgegen, die speziell gegen Steinschlag und Steingeschosse wirkten.

Die ehemalige Statthalterin von Mailand fiel beinahe in einen plötzlich aufklaffenden Erdspalt. Gerade soeben konnte sie den schnellen Lauf in einen kräftigen Absprung verwandeln und über die einen Meter breite Lücke im Boden hinweghechten. Das Donnern und Krachen hinter ihnen wurde immer lauter. Knarrend und prasselnd bog sich die Stollendecke immer weiter durch.

Die Fliehenden fühlten Panik aufsteigen. Keine von ihnen wusste wirklich wo es aus diesem uralten Höhlengewirr hinausging. Ihre grünen Steinschlagabfangzauber flackerten und sonderten grüne Entladungsfunken ab, wenn ein mehr als kopfgroßer Brocken herunterfiel. Gesteinstrümmer übersäten auch schon den Boden und erschwerten das schnelle vorankommen. Das ganze Höhlensystem stand vor dem Zusammenbruch.

"Das ist das Ende. Unsere Überheblichkeit bringt uns um", dachte die ehemalige Statthalterin der Toscana. Da sah sie vor sich eine Erscheinung. Es war eine kinderkopfgroße, smaragdgrüne Lichtkugel, die wie appariert in freiem Flug entstanden war. Unvermittelt meinte die Flüchtende, die längst den Kontakt zu den anderen fünf verloren hatte, von einer unhörbaren, beruhigenden Stimme angeleitet zu werden. Sie lief der grünen Lichtkugel nach, die zielgenau in einen Seitenstollen abbog und dort verharrte, bis die ihr folgende Hexe ebenfalls eingebogen war. Sicher und schnell, um Geröllhaufen und an Rissen im Boden vorbei führte sie das smaragdgrüne Licht durch die erbebenden Erdstollen. Krachend zerschlug ein armdicker Stalaktit, der nach all den Jahrhunderttausenden den festen Hald verloren hatte. Sie konnte den Kalksplittern ausweichen. Sie rannte. Doch sie empfand keine Panik mehr. Sie fühlte sich völlig sicher, dass der von ihr gewählte Weg der rettende war. Im Augenblick dachte sie auch nicht an die mit ihr flüchtenden Schicksalsgefährtinnen. Für sie galt nur das leitende Licht und der Gedanke, das vor dem Einsturz stehende Stollenlabyrinth zu durcheilen. Dann fühlte sie den kalten Luftzug. Frische Luft!

Sie beschleunigte noch einmal ihren Lauf und erreichte einen steil aufsteigenden Hang, der an einer immer mehr zerbröckelnden, halbrunden Öffnung endete. Sie warf sich aus einer ihr gerade nicht nachvollziehbaren Eingebung heraus nach vorne und wechselte so in den Vierfüßlerstand. Wie ein wuseliges Kleinkind krabbelte sie nun ungeachtet der in ihre Handflächen und Knie stechenden Steinspitzen den Hang hinauf und durch den immer mehr zerfallenden Ausgang. Sie wollte gerade aufspringen, als erst eine, und dann zwei weitere grüne Lichtkugeln an ihr vorbeischwirrten. Hinter diesen robbten drei weitere Schicksalsgefährtinnen aus dem immer instabileren Ausgang.

Die grünen Kugeln schossen aufeinander zu wie einander magnetisch anziehend und verschmolzen zu einer einzigen smaragdgrünen Sphäre. Diese wippte kurz auf und ab. Dann zerplatzte sie wie eine übergroße Seifenblase. Dabei gab die magische Sphäre die noch nicht zu Fuß entkommenen Hexen frei. Diese blickten sich verdutzt um. Als sie erkannten, dass sie auf unerwartete Weise gerettet worden waren atmeten sie auf. So erging es auch jenen, die es noch geschafft hatten, der immer mehr zusammenbrechenden Höhle zu entfliehen.

"Seht zu, dass ihr dahin kommt, wo euch erst mal keiner und keine findet. Kann sein, dass die anderen Rosenschwestern nachsehen, was los ist. Versteckt euch, falls sie schon Jagd auf uns machen!" befahl die ehemalige Statthalterin der Toscana, als sei sie die von allen hier erwählte Anführerin. Es regte sich kein Widerspruch. Statt dessen disapparierten die anderen nun unangefochten. Jene, die diese region für Ladonna betreut hatte blieb noch zurück. Sie lief nur einige Meter weiter. weil der Boden hinter ihr aufgewühlt wurde. Der rettende Ausgang geriet nun selbst ins Wanken und krachte tonnenweise Staub speiend in sich zusammen. Dumpfes Dröhnen und lautes Heulen wie von einem unterirdischen Sturmwind waren die unheimliche Begleitmusik für das Ende eines alten Unterschlupfes.

Als nun auch der Boden außerhalb der geheimen Versammlungshöhlen ins Rutschen geriet hielt es die letzte der geflüchteten nicht mehr. Sie sprang hoch, drehte sich und disapparierte.

Sie fürchtete, bei ihrer zeitlosen Flucht etwas von sich am Ausgangsort zurückgelassen zu haben. Doch als sie sich in der von ihr allein geschaffenen Geheimunterbringung einfand war sie unversehrt und vollständig. Viele hundert Kilometer von Ladonnas Höhlenversteck entfernt fand die ehemalige Gefolgshexe der Rosenkönigin endlich genug Ruhe, um über das alles nachzudenken.

Ja, die Königin musste vernichtet worden sein. Ihre ganze Magie hatte sich entladen oder war zu einer Form von Selbstvernichtungsvorgang geworden, um keine Spur von Ladonnas Wirken zu hinterlassen. Dass außer der römischen Mitschwester alle entkommen waren lag entweder an einem glücklichen Zufall, dass sie noch rechtzeitig erwacht waren. Ja, oder weil sie erwacht waren war die Höhle in Aufruhr geraten, weil der Königin untreu gewordene Hexen in sie eingedrungen waren. Die Statthalterin erinnerte sich an die letzten Instruktionen, die die Rosenkönigin ihr und den anderen erteilt hatte. Sie wollte, dass im Falle ihres Todes oder sonstigen Verschwindens mehrere Wochen Stillschweigen bewahrt werden sollte. Danach sollten ihre Untertaninnen die Geheimverstecke aufsuchen und dort die von Ladonna ausgeteilten Dokumente berühren. "Wenn ich wegen etwas höchst unerfreulichem nicht mehr über euch wachen kann, meine Schwestern, so lest mein Testament und befolgt die darin niedergelegten Anweisungen!" So hatte die Königin ihnen eingeschärft.

Das Testament der Rosenkönigin. Sie hatte eine Abschrift davon hier in der Blockhütte. Sollte sie es lesen und wahrhaftig befolgen? Sie wollte doch nicht mehr dienen. Die Königin war fort und würde nicht mehr wiederkommen. Was sollte dann noch ihr Testament?

Als die ehemalige Statthalterin der Rosenkönigin den silbernen Schrank öffnete, in dem die von Ladonna erhaltenen Pergamente verstaut waren glomm ohne Vorwarnung eine fingergroße grüne Lichtkugel auf, die wie ein kleines Leuchtgeschoss in die dicke Rolle Pergament einschlug. Dieses erstrahlte für eine Sekunde im selben smaragdgrünen Licht. Dann zerfiel die Rolle ohne Flammen und Rauch zu feiner grauer Asche. Die grüne Lichtkugel erlosch.

Bleich wie eine Vampirin starrte die ehemalige Gefolgshexe Ladonnas auf die Überreste dessen, was Ladonnas letzter Wille sein sollte. Wo war diese grüne Lichtkugel hergekommen? Wieso hatte sie die Pergamentrolle zerstört? Sie dachte an jene Leuchtkugel, die sie aus dem einsturzgefährdeten Höhlenlabyrinth hinausgeleitet hatte. Hatten die beiden Erscheinungen etwas miteinander zu tun? Ja, die Magie mochte dieselbe sein, somit auch deren Quelle und Grundidee. Jemand, vielleicht die Königin, hatte Vorsorge getroffen, ihre Gefolgshexen zu retten. Doch warum war das Testament zerstört worden? Wollte Ladonna nicht, dass ihre Erbinnen es lasen? War nur diese eine Ausgabe davon vernichtet worden? Dann erkannte sie, was dahintersteckte. Ladonna wollte sicherstellen, dass keine ihr abtrünnig werdende Hexe wusste, welche geheimen Vorhaben sie noch ins Werk setzen wollte. Dass die ihr untreu gewordenen noch aus der Höhle entwischen durften war womöglich nötig, um die geballte Kraft zerstörerischer Erdmagie freizusetzen, die bei lebenden Wesen vielleicht nicht so zielgerichtet wirken mochte. Ja, und das Testament war erst dann vernichtet worden, als sie den gegen verschiedene Ortungs- und Schadenszauber gesicherten Schrank aufgeschlossen hatte. Damit hatte sie der wohl die ganze Zeit über sie wachenden Magie den Weg freigemacht, um sich als kleine grüne Feuerkugel zu fokussieren. Ja, so musste es sein. Doch war das ernsthaft Ladonnas Wille gewesen oder nicht vielleicht die Auswirkung jener, die ihre Entmachtung und wahrscheinlichen Tod herbeigeführt hatten? Ja, das konnte auch sein, dass wer die Königin bekämpft und bezwungen hatte einen mächtigen Zauber auf alle ihre verbliebenen Getreuen gelegt hatte, der sicherstellte, dass nichts von der Feuerrosenkönigin zurückblieb, was künftige Vorhaben anging. Die daraus folgende Erkenntnis hätte eine wahre Gefolgshexe erschüttern müssen. Doch die ehemalige Gefolgshexe freute sich. Ja, sie freute sich, weil sie von allen Zwängen und Pflichten der Feuerrosenkönigin gegenüber entbunden war. Es war so, als sei sie nach einem bedrückenden Traum in ihrem Bett aufgewacht und erkenne, dass sie in Sicherheit war und ihr niemand was antun würde.

Der kurzen Euphorie folgte jedoch die Erkenntnis, dass die Ministeriumsbeamten, sofern sie Ladonnas Ende überlebt hatten, Unterlagen über die Feuerrosenschwestern besessen hatten. Falls die aus dem Bann der Feuerrose freikamen würden sie die Getreuen ihrer Unterdrückerin jagen, um Ladonnas Erbe zu vernichten. Der gerade eben aus dem Dienst der Feuerrose entlassenen wurde klar, dass sie bis auf weiteres nicht gesehen werden durfte, solange sie nicht wusste, wer nun das Zaubereiministerium führte, ja ob es überhaupt noch da war. Vielleicht brach auch Chaos in ganz Italien aus, und opportunistische Hexen und Zauberer mochten versuchen, Vorteile aus dem Machtvakuum zu ziehen. Ja, das war sowieso die schlimmstmögliche Aussicht, dass es überall dort, wo die Feuerrose geherrscht hatte, ein heilloses Durcheinander und keine Führung mehr gab und die magische Welt in abertausend Splitter zerfiel, je danach, wer sich berufen fühlte, die Lage zu nutzen.

"Kalender, Tag und Stunde!" rief die ehemalige Statthalterin der Toscana. "Siebenundzwanzigster Februar zweitausendundsieben, sechs Uhr, zwanzig Minuten und dreiundzwanzig Sekunden", antwortete eine weiblich klingende, gefühllose Zauberstimme. Diese Auskunft brachte die ehemalige Feuerrosenhexe zum Schlucken. Als sie mit den sechs anderen in die Höhle gegangen war war es Anfang Dezember 2006 gewesen. Sie hatte über zwei volle Monate verschlafen. Was konnte in dieser Zeit alles passiert sein?

Hatte sie eben noch gedacht, aus einem langen Albtraum erwacht zu sein fühlte sie nun um so mehr den seelischen Druck, in einer ihr fremden, möglicherweise höchst feindlichen Welt erwacht zu sein und dass sie nur überleben konnte, wenn sie sich weiterhin versteckte und zusah, ihre Identität zu verheimlichen. Doch die sechs anderen, ja und alle die, die noch zur Feuerrose dazugehört hatten, die mochten sich noch erinnern und vielleicht aus freien Stücken weiter für Ladonnas Ziele eintreten oder aus Reue und Scham den neuen Machthabern helfen, Ladonnas Werk auf Erden auszulöschen was auch hieß, alle ihre Getreuen auszuliefern. Ihr blieben also nur die Flucht, Verstecken oder der Freitod. Das musste sie entscheiden, wenn sie wusste, wie die anderen ehemaligen Feuerrosenschwestern jetzt lebten, falls sie noch lebten.

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Julius erfuhr es in der Mittagspause des 27. Februars, dass die tiefschlafenden Ministeriumsleute in Italien und anderswo wieder aufwachten. Die ministeriumseigene Heilerin vom Dienst Anne Laporte berief eine Informationssitzung der Abteilungsleiter zusammen. Da er sein Ein-Mann-Büro für Veelas und Menschen-Zauberwesen-Kontakte wie eine Abteilung führte war er auch eingeladen. Die HVD berichtete, was ihre Kollegen aus der Heilerzunft aus Italien, Bulgarien, Spanien, Portugal und der Türkei erfahren hatten. Außerdem erwähnte sie Julius zugewandt, dass die russischen Kollegen von ihr was erwähnt hatten, dass Minister Arcadi eine internationale Konferenz mit Ministeriumszauberern und Veelas plante, um den immer noch geltenden Kriegszustand zu beenden.

"Da die Notstandsministerinnen und Minister sich am 10. Januar darauf geeinigt haben, die Betroffenen nicht vor Gericht zu stellen, wenn erwiesen sei, dass sie alle unter Ladonnas Feuerrosenzauber standen besteht nun die Lage, dass alle betroffenen und nicht vorher wieder befreiten Ministerien neu geordnet werden müssen", sagte Ministerin Ventvit. "Zumindest kann ich nun mit meinen Untersekretärinnen und -sekretären um Unterredungen bitten, um die Gesamtlage in Europa zu klären. Es könnte sogar geboten sein, die möglichen Nachfolgerinnen und Nachfolger in eigener Person aufzusuchen oder diese zu einem Besuch einzuladen. Ich schlage daher vor, dass Sie alle in Ihren Zuständigkeitsbereichen zusammentragen, welche Anfragen, Bitten, Angebote oder gar Forderungen Sie den neuen Ministeriumsbeamten mitteilen möchten, wobei ich das mit den Forderungen nur der Vollständigkeit wegen erwähnte und nicht als Aufforderung verstehen möchte, irgendwas einzufordern. Dafür sind bereits genug andere Gruppierungen in Bereitschaft. Ich denke da vor allem an die ihrer Heimat verwiesenen Kobolde von Gringotts. Also nutzen Sie bitte alle die Zeit, um einen geordneten Katalog von Gesprächsthemen und Argumenten zusammenzustellen, mit dem ich bei möglichen Besuchen arbeiten kann! Natürlich behalte ich mir als amtierende Ministerin vor, die für internationale Beziehungen und Handel, Zauberwesen und Gesetzesüberwachung auf mögliche Dienstreisen mitzunehmen. Bitte verzichten Sie daher bis auf weiteres auf Urlaubstage und halten Sie sich für spontane Abreisen bereit! Ich werde gleich noch eine Pressekonferenz geben, in der ich versichern werde, dass ich sehr erleichtert bin, dass sämtliche Opfer der Unterdrückungsherrschaft Ladonnas wohlauf und nun wieder im Vollbesitz des freien Willens sind. Mehr zu kommentieren oder gar anzuregen steht mir im Moment nicht zu. Und was für mich gilt gilt dann auch für Sie alle. Dies versteht sich von selbst, muss aber für das Protokoll klar und deutlich bekundet werden." Alle hier im Raum nickten.

Julius wurde von Nathalie herangewunken. Ohne weiteres Wort deutete sie an, dass er ihr folgen sollte. Gut, dass er heute den Dienst im Rechnerraum an Primula Arno delegiert hatte.

Als Nathalie, Demetrius und Julius in Nathalies Büro eintrafen holte Nathalie die Cogison-Ohrringe hervor und gab einen davon an Julius weiter. Als er ihn sich ansteckte hörte er erst laut und von allen Seiten Nathalies Körpergeräusche. Dann hörte er ihre cogisonierte Stimme sagen: "So, damit mein kleiner Dauergast auch mitsprechen kann, Julius. Also, die ehemaligen Unterworfenen Ladonnas sind alle Zeitgleich aufgewacht, ob seit Jahren unter ihrem Bann oder erst seit dem letzten März. Damit ist die Theorie von Heilerin Eauvive hinfällig, demnach die am längsten betroffenen auch am längsten schlafen mussten."

"Das hat die werte Oberheilerin Eauvive auch nur in den Raum geworfen, weil sie und ihre Kolleginnen und Kollegen keine Ahnung hatten, was genau den Betroffenen passiert ist und was genau Ladonnas Verschwinden herbeigeführt hat", erwiderte Demetrius mit der vom Cogison erzeugten Kleinjungenstimme. Julius stimmte dem zu und erwähnte auch, dass er sich sowohl mit der mit ihm zusammenwohnenden Heilerin Béatrice Latierre als auch mit Hera Matine und erwähnter "Oberheilerin" Antoinette Eauvive unterhalten hatte, ob die aus dem Bann gerissenen Ministeriumsleute eine Art Reinigungsphase durchliefen, um den letzten Rest von Feuerrosenmagie auszuschwitzen, so wie er ja drei Monate lang brauchte, um die Bluttransfusion Madame Maximes auszukurieren. "Jaja, das war ja, warum die gute Madame Eauvive meinte, dass die am längsten vom Feuerrosenduft benebelten auch am längsten schlafen mussten", erwiderte Demetrius. Nathalie antwortete darauf:

"So wie es jetzt aussieht wurden die Betroffenen wohl einem anderen Reinigungszauber unterworfen, der unabhängig von der Länge der Unterworfenheit brauchte, um alle Spuren der kombinierten Bezauberung zu tilgen. Ihr zwei erinnert euch ja auch noch an die Torheit von Joe Brickston, ein hochgradig gehirnveränderndes Rauschgift als Kreativitätsverstärker einzunehmen und dass er trotz magischer Heilbehandlungen Wochen in stationärer Pflege zubringen musste, um sich restlos von diesem nichtmagischen Unheilsgemisch zu erholen." Demetrius und Julius bestätigten das. Dann sagte Nathalie: "Was das mit den Veelas in Russland angeht stelle ich dich hiermit von allen in meinem Zuständigkeitsbereich anfallenden Aufgaben frei, sollte es zu einer Unterredung kommen, bei der du als Veelabeauftragter zugegen sein solltest, Julius. Es könnte auch sein, dass du wegen der elektronischen Nachrichtenabstimmung als zertifizierter Fachkundiger unserer Abteilung benötigt wirst, um eventuellen Nachfolgern der betroffenen Ministeriumsmitarbeiter die ersten Anleitungen zu geben, da wir ja längst erkannt haben, wie wichtig diese weltweite Nachrichtenüberwachung für die Zaubereigeheimhaltung sein kann."

"Natürlich, Madame Grandchapeau", sagte Julius. "Ja, und wenn ich aus meiner molligwarmen Einzimmerwohnung heraus noch was beisteuern darf, Maman und Julius, so solltet ihr euch im Vorfeld jeder direkten Unterhaltung schlaulesen, wer da mit euch verhandeln will und gegebenenfalls noch mal bei mir nachfragen, auch wenn ich die meiste Zeit vom Tag verschlafe. Nicht dass die Nachfolger von Barbanera und Compagnons meinen, die ganze Welt neu zusammensetzen zu müssen. Am Ende nutzen uns unerwünschte Zeitgenossen die Lage aus, um Ladonnas Machtanspruch zu erben."

"Ist nicht so, dass ich mich nicht schon häufig auf mein Bauchgefühl verlassen habe", setzte Nathalie an. "Aber wenn es bis dahin unbekannte Leute aus der Zaubererwelt sind würde es sehr lange dauern, die nötigen Recherchen anzustellen", sagte Nathalie. "So wie die Ministerin es vorhin gesagt hat sollten sich alle für mehr oder weniger spontane Reisen bereithalten. Gut, was mein Büro angeht muss ich dann nur eben wieder die Umstandsverhüllungskleidung anlegen, die ich hier im Ministerium wegen der doch bekannt gewordenen Situation nicht mehr benötige. Ja, und du solltest wie bei unserem Japanausflug dein Erbe Ashtarias mitführen, vor allem wenn es in den Orient oder nach Osteuropa geht."

"Du meinst, dass vielleicht auch Handlanger der wachen Abgrundstöchter versuchen, Ladonnas Nachfolge anzutreten?" fragte Julius. "So abwegig ist das nicht, vor allem, wenn die immer schon über europäisch geprägte Zaubereiministerien verstimmten Leute die Gelegenheit nutzen, die Zeit von vor hundert Jahren wiederherzustellen. Vor allem die Hexenfeindlichkeit in manchen Ländern dürfte neuen Aufschwung bekommen", erwiderte Nathalie. Ihr noch für mehrere Jahrzehnte ungeboren bleibender Sohn cogisonierte: "Nicht immer sind die, die sich für die guten halten auch gutmütig Fremden gegenüber. Der blaue Morgenstern könnte in Algerien, Tunesien und Ägypten eine Art Übergangsdiktatur mit unbefristeter Dauer einrichten. Die Dame, deren Unterleib ich zu bewohnen die von einer anderen Dame aufgenötigte Ehre habe konnte da was mithören, als es um das Haus ging, in dem Ladonna sich eingenistet hat. Da waren ägyptische Morgensternbrüder. Von denen weiß ich aus meinem Leben vor dem vertückten Erdsegen, dass die zu weilen sehr fanatisch und rechthaberisch sein können."

"Ich weiß das leider mehr als mir lieb ist", stöhnte Julius. "Aber danke für den Hinweis. Doch ich denke, seit der Kiste damals und vor allem seitdem ich einen von denen zu einer Art Bruder gewonnen habe komme ich mit denen besser klar. Aber du hast schon recht, kleiner Bauchturner, dass die Brüder des blauen Morgensterns Hexen gegenüber sehr misstrauisch sind und sich deshalb nun bestätigt fühlen könnten. Öhm, und warum waren die Morgensternbrüder bei dieser Villa bei Florenz? Garantiert weil Ladonna von ihren ägyptischen und tunesischen Unterworfenen orientalische Zaubergegenstände und Bücher einkassiert hat, die die Morgensternbrüder sich wiederholen wollten. Wenn sie das Zeug nicht gleich von den Leuten aus der italienischen Liga gegen dunkle Künste bekommen haben, und unsere Mitstreiterin Catherine Brickston hat dergleichen nicht erwähnt, könnten die richtig ungehalten sein, was europäische Ministeriumsbeamte angeht. Aber als Geiseln nehmen werden die uns hoffentlich nicht", sagte Julius.

"Oha, ruf da bloß keinen großen Drachen. Der hat hier bei mir keinen Platz", erwiderte Demetrius. Seine Mutter in Wartestellung nickte und räusperte sich. "Du kleiner Untermieter hast damit angefangen, nach Drachen zu rufen. Aber Julius, ich muss zumindest für möglich halten, dass die Übergangsverwalter Ägyptens und Tunesiens mit aller Macht darauf drängen könnten, ihr Eigentum wiederzubekommen, egal von wem und vielleicht auch egal wie. Darum bitte immer alle Abwehrmittel bereithalten!"

"Werde ich beherzigen", sagte Julius. "Ach ja, und wo du Catherine erwähnt hast versuche bitte, über sie gut gemeinte Anregungen an die italienische Liga zu vermitteln, dass es im Zuge der bevorstehenden Neuordnungen doch sehr hilfreich sein möge, die bei Ladonna konfiszierten Dinge und Aufzeichnungen ohne weitere Anfragen an die zuständigen Ministerien auszuliefern. Da Catherine sich mit Zaubereigeschichte auskennt brauchst du nur das Stichwort Hummelsberg-Austausch zu nennen."

"Klingt nach einem Spionagefall: Der Hummelsberg-Austausch", erwiderte Julius. Demetrius cogisonierte: "So ähnlich war das auch. Es ging dabei um die Rückgabe in die USA entführter germanischer Runensteine. da hat das französische Zaubereiministerium vermittelt. Da kann ich mich noch gut dran erinnern, weil meine große Schwester Belle gerade da war, wo ich jetzt bin und sie jeden Tag ans Licht der Welt hätte kommen können. Damals war Jasper Pole noch Minister." Julius verzog das Gesicht. An diesen "Gentleman" erinnerte er sich auch noch zu gut. Demetrius wusste das garantiert.

"Gut, ich gebe das an Catherine weiter, vielleicht auch an Blanche Faucon. Die könnte vielleicht mehr Druck machen", sagte Julius. Mutter und Sohn Grandchapeau stimmten dem zu. Sie wollte noch was sagen, als über die magische Rundsprechverständigung durchkam, dass die Ministerin nun die angekündigte Pressekonferenz abhalten würde. Nathalie lud Julius ein, diese mit ihr mitzuhören. So bekamen die drei mit, was Ornelle Ventvit Millie, Bruno und anderen bekannten Medienvertretern zu sagen hatte. Danach machte sich Julius in Richtung seines eigenen Büros auf. Davor saßen bereits zwei Damen, Léto und Mildrid Latierre. Letztere musste sich stark zusammennehmen, die überirdische Präsenz der reinblütigen Veela auszuhalten, ohne sie abweisend anzustarren.

"Guten Tag, die Damen. Warten Sie beide schon länger? Ich hatte noch anderweitige Obliegenheiten."

"Nun, die junge Dame hier kam wohl gerade von einer spontanen Berichterstattung der Ministerin an die Öffentlichkeit und ich wurde von meiner Schwester gebeten, mit Ihnen abzustimmen, wie Sie sich bei der bereits erwähnten Unterredung beteiligen können."

"Madame Latierre, was möchten Sie von mir?" fragte Julius förmlich. Millie glubschte ihn an und meinte dann: "Nun, es interessiert die Leserschaft der Temps de Liberté sicher, ob der beinahe ausgebrochene Krieg zwischen Menschen und Veelas in Russland nun endgültig beigelegt ist oder ob es da noch zu klärende Einzelheiten gibt, bei denen Sie als offizieller Veelabeauftragter Europas mitverhandeln dürfen oder sollen."

"Da ich davon ausgehe, dass Sie einen sehr eng gedrängten Terminplan haben und die Unterredung mit Madame Léto sicher länger dauern mag möchte ich fragen, Madame Léto, ob ich Madame Latierre kurz vorziehen darf."

"Wir sind uns kurz vor Ihrem Erscheinen darüber einig geworden, dass die Temps auch an meiner Meinung zu der Lage in Russland interessiert ist und es sich deshalb günstig erweist, dass Ihre Gattin und ich zur selben Zeit an diesem Ort weilen", erwiderte Léto. Julius nickte und bat beide ihm so wichtigen Damen in sein Büro.

Dort bot er beiden die bequemsten Sitzgelegenheiten an und holte sich selbst einen kleinen Holzstuhl mit eingewirktem Polsterungszauber aus der Ecke. Dann beantwortete er Millies Fragen, wobei er nur auf die Punkte einging, die auch in der Pressekonferenz erwähnt wurden. Er sagte, dass er bisher keine offizielle Einladung zu einer Unterredung aus Moskau oder Sofia erhalten habe und es daher im Moment nichts ausführliches gebe. Léto sagte dann: "Nun, da meine Schwester Sarja zu den vier ältesten Angehörigen der russischen Veelagemeinschaft gehört bat sie darum, dass sie bei einer bereits in Aussicht stehenden Unterhandlung mit dem europäischen Mensch-Veela-Beauftragten zusammentrifft. Da mir als einer Angehörigen des Ältestenrates sehr wichtig ist, dass alle Veelas in Russland und sonst auf der Welt genauso in Frieden und Freiheit leben dürfen wie hier in Frankreich sehe ich es als sehr dringlich, diese Unterredung wie erbeten stattfinden zu lassen, um nicht doch noch einen sehr blutigen Krieg zu entfachen. Ich möchte es von seiner Antwort abhängig machen, was ich meiner Schwwester und Ratskollegin mitteilen darf."

"Auch wenn ich mir gerade nicht sicher bin, ob diese Angelegenheit jetzt schon in die Zeitung darf oder vielleicht erst später dort erscheinen darf möchte ich dazu folgendes sagen", holte Julius aus und fuhr fort: "Was mich betrifft stehe ich laut Anweisung der Ministerin und meiner unmittelbaren Vorgesetzten Madame Grandchapeau und der Leiterin der Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Wesen, Madame Barbara Latierre, jederzeit für jede Form von Unterredung im Bezug auf das Verhältnis Menschen und Veelas zur Verfügung. Ich wurde jedoch von höchster Stelle gebeten, nur auf offizielle Einladungen ministerieller Stellen aus dem Ausland einzugehen, sofern ich diese erhalte und falls nicht bis auf Widerruf meiner Vorgesetzten in Frankreich zu verbleiben. Natürlich ist mir wichtig, dass es zwischen den Veelas und Menschen in Russland und anderswo wieder Frieden gibt und alle aufgeworfenen Streitpunkte schnell und für alle Seiten annehmbar ausgeräumt werden. Was ich dazu beitragen kann und darf werde ich tun. Ich kann Ihre Schwester verstehen, dass sie einen offiziellen Vermittler, der noch dazu aus einem neutralen Land kommt, bei jeder Unterhandlung dabeihaben möchte. Doch dann möge sie bitte den zuständigen Ministerialbeamten oder den Zaubereiminister selbst darum bitten, mich zu dieser Unterhandlung hinzuzuziehen, um den bei sowas unverzichtbaren Dienstweg einzuhalten. Sollte ich früh genug vor einer anstehenden Unterredung eine solche offizielle Einladung erhalten werde ich ihr natürlich Folge leisten und mein mögliches tun, die Unterhandlung zum erwähnten gewünschten Erfolg zu führen, in allseitiger Einvernehmlichkeit."

Millie grinste über diese geschliffene Erwiderung, die fast wie auswendig gelernt anmutete. Doch Millie kannte Julius und wusste, dass er in zu erwartenden Fällen auch gut formulierte Aussagen parat hatte. so sagte Léto: "Das erfreut und beruhigt mich, weil ich gerade erfahren habe, dass eine derartige Einladung an Sie unterwegs ist, zumal Minister Arcadi auch Ihre oberste Vorgesetzte und die Minister aus Großbritannien, Polen und Deutschland mit den Fachabteilungsbeamten eingeladen hat. Nun wo auch die zeitweilige Verwaltung Bulgariens das Wiedererwachen der bis zum zweiten Dezember tätigen Ministeriumsbeamten vermeldet hat besteht sogar die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen unseren Völkern und der von beiden abstammenden Nachkommen in einer großen Aussprache zu erörtern und - wie war das? - im allseitigen Einvernehmen zu regeln. Wichtig war und ist mir nur, dasss Sie als offizieller Vermittler zwischen uns Kindern Mokushas und den Menschen äußersten Wert auf die friedliche und freiheitliche Koexistenz legen. Da Sie dieses gerade bekundet haben sehe ich dieser Unterhandlung mit sehr großer Zuversicht entgegen und muss daher keine weiteren Anfragen stellen oder Bittgesuche einreichen außer dem, bei Erhalt der Einladung hinzureisen."

"Wie erwähnt, wenn ich eine offizielle Einladung erhalte werde ich ihr in Befolgung der an mich ergangenen Anweisungen und übertragenen Verantwortung Folge leisten", erwiderte Julius. Millie grinste wieder. Als Léto sie ansah verging ihr das Grinsen jedoch. Statt dessen hatte Julius den Eindruck, Millie müsse vor Léto zurückweichen. "Ich wollte Ihnen nichts böses, Madame Latierre", sagte Léto. Ich wollte nur sicherstellen, dass Sie den Ernst der Lage anerkennen und hoffe, dass Ihr Mann und sie alle Kinder, die sie schon haben und jene, die dazukommen werden in einer friedlichen Welt ohne Angst und Nachstellungen aufziehen dürfen. Nur dieses Recht beanspruche ich auch für meine Kinder und Kindeskinder und in schwesterlicher Verbundenheit auch für die Kinder und Kindeskinder meiner Schwester Sarja. Mehr war nicht und mehr ist nicht. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Bereitschaft, uns weiterhin als Vermittler beizustehen, Monsieur Latierre und möchte mich nun empfehlen."

Julius bedankte sich für den Besuch der wunderschönen alten Dame und öffnete ihr ganz ein Gentleman die Tür. Als Léto wieder fort war entspannte sich Millie. Sie fragte ihn nun ganz unförmlich: "Und, hast du jetzt frei oder noch was zu erledigen, Monju."

"Also, bis vier habe ich offiziell bereitzustehen oder zu sitzen. Danach kann ich mein Büro zuschließen und nach Hause gehen. Öhm, die Kinder sind alle bei Trice?"

"Sagen wir so, Trice und die Kinder sind alle im Schloss. Mémé Line hat es auch schon mitgekriegt, dass die ganzen Feuerrosenopfer wieder aufgewacht sind. Orion hat's sofort rumgereicht, als Viviane es von Antoinette Eauvive mitbekommen hat und so weiter. Aber wo ich schon mal hier bin werde ich Tante Babs noch besuchen und sie wegen der Angelegenheit mit den Meerleuten bei Martinique befragen. Du hast es wohl auch mitbekommen, dass das Wassermenschenkönigreich ein Ultimatum gestellt hat, um die fortgesetzte Einbringung von Kunststoffabfällen und Schmierölresten zu beenden oder dass es den Verursachern übel bekommen wird."

"Oha, seitdem ich in der anderen Abteilung bin habe ich davon so gut wie nichts mehr mitbekommen. War ja sozusagen meine erste größere Dienstreise", seufzte Julius. "Aber das mit dem ganzen Plastikmüll ist schon eine ernste Sache. Das wird auch denen aufstoßen, die das ganze Zeug da reinwerfen. Jetzt wo allen klar sein wsollte, dass im Meer nichts verschwindet ist das eigentlich ein weltweites Diskussionsthema wie der CO2-Ausstoß. Aber solange Leute ohne Magie bequem leben und Geld verdienen wollen wird's schwierig, sie davon abzubringen, und wie Ladonna gezeigt hat würde gewaltsames Vorgehen für alle ins Chaos führen. Aber näheres kann dir unsere gute Tante Barbara erklären."

"Wann soll dieses Treffen in Russland eigentlich sein. Diese Veela-Matriarchin, die mich gerade mit ihrem Blick durchbohrt und aufgeheizt hat wollte nicht damit rausrücken."

"Es war von irgendwann im März die Rede. Ob das gültig ist werde ich wohl erst morgen oder übermorgen wissen."

"Dann solltest du am besten einen gepackten Koffer oder Rucksack mit ins Büro nehmen", meinte Millie. Julius konnte ihr da nur zustimmen.

Als er nun wieder alleine war schrieb er sich auf, was Léto gesagt hatte, um es im Fall des Falles zu den Akten zu nehmen. Dann dachte er an alle die, die nicht das Glück hatten, vor dem zweiten Dezember aus Ladonnas Feuerrosenzauber befreit worden zu sein. Die Frage war nun, ob die Betroffenen für schuldfähig oder schuldunfähig erklärt wurden. Wenn erstes der Fall war mussten ganze Verwaltungsangehörige vor Gericht. Falls zweites festgestellt wurde konnte das trotzdem Ärger geben, weil viele dann nicht wussten, von wem sie Entschädigung einfordern konnten. Am Ende wurden Ladonnas Veelaverwandte als Erben angeklagt, für die entstandenen Schäden aufzukommen. Insofern hatte Léto vielleicht noch mehr sagen wollen, es aber wegen Millies Besuch verschwiegen, auch weil sie kein Öl ins Feuer schütten wollte. Das machte seinen Auftrag noch brisanter. Am Ende musste er noch bekunden, ob er eine Anklage gegen Sternennacht und ihre Anverwandten befürwortete und wenn ja warum und wenn nein warum nicht. Das konnten sehr aufregende und anstrengende Tage für ihn werden.

Daher genoss Julius es, um vier Uhr das Büro hinter sich zu verschließen und per Flohpulver erst ins Apfelhaus zu reisen, das gerade völlig leer war und von da ins Sonnenblumenschloss überzuwechseln, wo er nicht nur seine Familienangehörigen traf, sondern auch Catherine und Claudine. Claudine war da, weil Miriam und Aurore sie mit dabeihaben wollten, und Catherine war auf Einladung Ursulines herübergekommen. Natürlich wusste Catherine auch schon, dass alle Feuerrosen-Opfer wiedererwacht waren. Ursuline regte an, dass Julius und Catherine im schalldichten Musikzimmer darüber sprechen sollten. So konnte Julius gleich den von Nathalie erteilten Auftrag ausführen.

"Oha, der Hummelsberg-Austausch. Ja, ich erinnere mich verdammt gut, weil sich da nämlich schon angedeutet hat, dass es Sympathisanten der Todesser in Deutschland gab und die mit dort ansässigen dunklen Bruderschaften über Kreuz gerieten. Dann noch die Arroganz von Jasper Pole in Washington, der unbedingt verhindern wollte, dass die zwei Yankees, die die südgermanischen Kraftsteine "gekauft" hatten, diese wieder herausgaben. Dabei kam auch heraus, dass die zwei im Auftrag des Vaters einer gewissen Phoebe Gildfork gehandelt hatten. Der war damals auf alles aus, was alte Zauberkräfte in sich hatte."

"Ja, und Demetrius Grandchapeau hat cogisoniert, dass damit wohl deine Kollegen in Rom dazu bewegt werden können, die aus dem Orient stammenden Zaubergegenstände und Aufzeichnungen wieder herzugeben. Warum?"

"Weil es damals beim Hummelsberg-Austausch im Jahre 1978 fast zum großen Knall zwischen Deutschland und den USA gekommen wäre. Na ja, zumindest steht das in den Protokollen, die ich nach Beauxbatons im Rahmen meiner Geschichtsstudien in der arkanen Fakultät von Avignon nachlesen durfte. Demetrius, beziehungsweise der, der nun in ihm auf seine Wiedergeburt warten muss, hat damals als Zaubereiminister zwischen Europa und den Staaten hin- und herflohpulvern müssen, weil die Yankees nicht mit den Deutschen und die Deutschen nicht mit den Yankees reden wollten. Interessanterweise las ich zu diesem Streit, dass Güldenberg seinen damaligen Zauberschmied Hagen Wallenkron beauftragt haben soll, ein Mittel gegen unsichtbar werdende Besen zu entwickeln. Wir wissen ja beide, was später aus jenem Zauberschmied wurde."

"Zu gut", erwiderte Julius. Dabei wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, wie wenig er wirklich von Wallenkrons Schicksal wusste.

"Gut, du hast meine Mutter erwähnt, die da mehr Druck auf Montecello und Fratelli machen kann. Dann darfst du morgen zu ihr nach Beauxbatons und ihr von Nathalie und Demetrius einen Gruß bestellen, dass es sicher angeraten ist, die italienischen Kollegen zur baldigen Herausgabe aller ausländischen Beutestücke aus Ladonnas Raubgut zu veranlassen. Sie hat nämlich den dringenden Verdacht, dass die Mitstreiter in Italien ganz froh darüber sind, dass jemand so viele mächtige Artefakte und zum teil streng geheime Aufzeichnungen zusammengetragen hat wie einen Drachenschatz. "Oha, und was passiert, wenn der Drache tot ist erzählt Professor Tolkien in der Geschichte vom kleinen Hobbit", stöhnte Julius. "Ich habe das Buch nicht gelesen. Ich weiß nur, dass es die Vorgeschichte zu jenem Epos über den mächtigen Zauberring ist, wo auch ein dunkler Herrscher erwähnt wird."

"Von dem die ganze Zeit nichts als ein über Länder und Städte hinwegstreifendes Auge erwähnt wurde", erwiderte Julius. Catherine nickte. Er erwähnte dann, was in der Geschichte von Bilbo Beutlin erzählt wurde. "Genau das könnte passieren, dass sich am Ende mehrere Parteien um alles bekriegen. Kläre es mit meiner Mutter, bitte!" Julius bestätigte das.

Wieder zurück im allgemeinen Trubel des Schlosses erfuhr Julius, dass Patricia im Oktober ihr zweites Kind bekommen würde. Béatrice hatte den heutigen Tag genutzt, sie noch einmal zu untersuchen.

Catherine und Claudine blieben noch bis nach dem Abendessen. Da Aurore und Chrysope noch mit ihren gleichaltrigen Großtanten und -onkeln spielen wollten holte Millie für sie alle Nachtwäsche aus dem Apfelhaus. Sie verabredeten, dass die Sonderregel, wo Julius wann schlief, in dieser Nacht nicht eingehalten werden musste. Béatrice war damit einverstanden, musste jedoch aus einem Julius gerade nicht nachvollziehbaren Grund lächeln. Um halb elf waren alle müde genug, um sich hinzulegen. Julius dachte kurz vor dem Einschlafen daran, dass er wohl demnächst anstrengende Tage vor sich hatte.

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Louiselle und Laurentine erfuhren auf unterschiedlichen Wegen, dass die Ministeriumsmitarbeiter anderer Länder aus dem Tiefschlaf aufwachten. Louiselle erfuhr es über die Liga gegen dunkle Künste. Laurentine erfuhr es von Hera Matine, die sie in der Essenspause zwischen Vormittags- und Nachmittagsunterricht besuchte. Abends sprachen sie in vorübergehend zum Klankerker gemachten Zimmer Lucines. "Hera sagt, dass Barbanera sich wohl daran erinnern kann, was er alles unter dem Feuerrosenzauber erlebt hat. Dann kann der sich auch daran erinnern, uns gesehen zu haben."

"Ja, mag sein. Es war also eine sehr wichtige Entscheidung, dass wir nicht in unserer angeborenen Erscheinungsform nach Florenz gereist sind", meinte Louiselle dazu. Laurentine stimmte dem zu. Dann sagte sie: "Es kann nur sein, dass sie jetzt nach dem Schwert suchen, das wir aus Vulcanus' Werkstatt entführt und nicht mehr dahin zurückgebracht haben. Könnte sein, dass dessen angeblich rechtmäßige Eigentümer nach den zwei Schwestern suchen, die es stiebitzt haben. Da müssen wir aufpassen."

"Das stimmt. Da müssen wir aufpassen, dass wir das kleine Schwert nicht zu offen zeigen, wenn wir es noch einmal brauchen sollten. Aber bis jetzt wüsste ich nicht, gegen wen oder was. Das Ding ist ja zum Zerlegen magisch gekreuzter Wesen gemacht worden. Gut, davon gibt es eine Menge. Aber im Augenblick denke ich, dass wir denen auch ohne das Schwert beikommen können."

"Hmm, ja und die angeblich rechtmäßigen Erben werden es nicht an die große Glocke hängen, also es weltweit herumtröten, dass ihnen ein solches Zauberschwert abhandengekommen ist. Aber das macht es für uns nicht weniger gefährlich, Louiselle. Die werden so heimlich sie können vorgehen, um rauszukriegen, wer sich das Schwert geholt hat. Wie gesagt, das war schon richtig, dass wir zwei nicht in unserer angeborenen Erscheinungsform aufgetreten sind."

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Zunächst hatte sie die ehemalige Versammlungshöhle aufsuchen wollen. Doch bereits aus einer Meile Entfernung fühlte sie den erdmagischen Aufruhr. Starke Zauberkraftentladungen und Verschiebungen in den Gesteinsmassen verrieten ihr, dass die über Jahrhunderte geheimgebliebene und mit vielfältigen Abwehrzaubern ausgestattete Versammlungsstätte gerade zerstört wurde. Die Trägerin von Deeplooks Seelenglashelm fühlte mit den angeborenen Sinnen für Erdzauber, wie der halbe Berg zusammensank. Sie wich den Steinschlägen aus und erkannte, dass sie in den einstürzenden Höhlen niemanden mehr finden würde, die sie befragen oder gar unter ihre Herrschaft stellen konnte. So blieb ihr nur, ihr andere bekannte Feuerrosenschwestern aufzusuchen.

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Ja, der letzte Akt der Aufarbeitung, wie sie es genannt hatte, war anstrengend gewesen. Doch nun gab es nichts mehr, was von Ladonnas früherem Wirken und ihren Zukunftsplänen übrig war. das Haus von Luigi Girandelli war ja längst leergeräumt worden. Die, die nun zu bestimmen hatten mochten bald entscheiden, ob es sicher war, es an unbedarfte Menschen mit oder ohne Magie zu verkaufen oder es besser vollständig abzureißen. Damit hatte sie nichts mehr zu schaffen. Wichtig war nur die Versammlungshöhle und die von den sieben Statthalterinnen aufbewahrten Aufzeichnungen, wie es im Falle von Ladonnas Ableben weitergehen sollte. Sie hatte die den Statthalterinnen angehängten Reinigungsfunken zu Leitlichtern aufstrahlen lassen, um sie aus der gegen alle eingedrungenen Feinde ankämpfenden Höhle herauszubringen. Ja, und über die angehefteten Reinigungszauber wusste sie auch, wann die Befreiten nach Ladonnas letztem Willen greifen würden. So konnte die ewige Wächterin an den Ufern des Flusses der rastlosen Seelen den rechten Augenblick nutzen, um die niedergeschriebenen Anweisungen und Vorhaben auszulöschen, bevor die Überlebenden sie lesen konnten. Nun war ihre Arbeit in der stofflichen Welt getan. Sie konnte sich nun voll und ganz auf ihre vor Jahrhunderten zugeteilte Aufgabe besinnen, die sie nun, wo sie aus den drei machtvollen Einzelseelen Domenica, Regina und Ladonna zu der einen zusammengefügt war, zuverlässig und dauerhaft erledigen konnte.

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Diana Camporosso hatte sich unsichtbar an das Haus einer Feuerrosenschwester herangeschlichen. Als sie über mehrere Ecken erfahren hatte, dass die Ministeriumsleute aufgewacht waren hatte sie folgerichtig erkannt, dass wohl auch die ordentlichen Gefolgshexen Ladonnas wieder aufwachten. Nun stand sie außerhalb des Fensters von Milena Torricelli und fühlte die auf sie einwirkenden Abwehrzauber. Sie bekam mit, wie durch einen tiefblauen Schrank mit goldenen Verzierungen mehrere Hexen hereinkamen, sich umsahen und dann mit der Hauseigentümerin in einen Raum verschwanden. Diana schloss die Augen. Jetzt konnte sie zwanzigmal so gut hören wie bei Tageslicht und offenen Augen. Doch sie hörte nur ein leises Säuseln, klassisch für einen dauerhaften Klangkerker. Also berieten sich die fünf Hexen, wie es wohl weitergehen sollte.

Diana Camporosso überlegte, ob sie in das Haus einbrechen und nachsehen sollte, was es mit dem magischen Schrank auf sich hatte. Sie hatte schon davon gehört, dass es paarweise angefertigte Schränke geben sollte, durch die jemand wie beim Apparieren oder einem Teleportal zwischen zwei weit entfernten Standorten wechseln konnte. Als sie jedoch versuchte, mit der Kunst der Kobolde, unter der Erde zu reisen unter das Haus vorzudringen erhielt sie beim Versuch, wieder aufzutauchen einen heftigen Schlag auf den Kopf. Nur der Umstand, dass sie Deeplooks gläsernen Helm trug bewahrte sie vor der Bewusstlosigkeit. Doch das Schwirrenund Dröhnenund vor allem, dass sie postwendend wieder unter die Erde zurückgestoßen wurde, setzten ihr schon zu. "Horlnuck, die hat geschmiedete Bodenplatten", dachten Deeplook und Diana zugleich. Jetzt war ihr klar, warum die vier Mitverschwörerinnen zu Milena Torricelli gekommen waren. Ebenso wurde ihr bewusst, dass sie garantiert einen Alarmzauber ausgelöst hatte. Deshalb machte sie, dass sie fortkam. Doch sie würde sich die vier anderen einzeln vornehmen. Sie wollte Ladonnas Erbschaft antreten, allein um wieder frei leben zu dürfen und sich nicht verstecken zu müssen. Da riet ihr Deeplook besser erst nach den verbliebenen Mitgliedern des Bundes der zehntausend Augen und Ohren zu suchen. Die Feuerrosenschwestern liefen ihr ja nicht weg. Diana hoffte das zumindest.

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Arcadi deutete auf die große, goldgerahmte Wanduhr mit den aus schwarzen Marmorstücken gefertigten Ziffern und den aus purem Gold bestehenden Zeigern. Seit zwei Stunden hatte er eigentlich schon Feierabend. Doch dann waren die Mitarbeiter Borodin, Tupulew und Orlow bei ihm vorstellig geworden und hatten ihn in eine Diskussion über Sinn und Unsinn einer internationalen Veelakonferenz am 21. März verwickelt. Orlow wollte vorher die Sache mit den Kobolden geklärt haben, Borodin wollte darüber gar nicht erst reden, weil er zu jenen gehörte, die die Abwesenheit der "vom Westen aufgenötigten Goldverwahrer" befürwortete. Tupulew mahnte an, dass Arcadis Einlenken, eine Gesamtkonferenz mit allen Zaubereiministern, auf deren Gebieten Veelas und deren mit Menschen gezeugten Nachkommen wohnten sicherheitstechnisch schwer zu überwachen war, wo es bekannt war, dass es in Schweden keine Veelas gab. Arcadi hatte dem entgegengehalten, dass es jedoch nötig war, auf neutralem Boden zusammenzukommen und gerade weil in Schweden selbst keine Veelablütigen wohnten die Wälder um den See Bäste Träsk auf Gotland ein nicht nur diplomatischer, sondern auch überwachungstechnisch hervorragender Kompromisswar. Da Veelas Naturverbunden waren würden sie die Waldgebiete als Verhandlungsort schätzen. Zugleich konnten in den dichten Wipfeln Fernbildkristalle versteckt werden, die die Umgebung überwachten.

Borodin bestand darauf, seine Forderungen an die Veelas klarzustellen, nämlich eine Entschädigungszahlung an alle unschuldigen Menschen der russischen Zaubererwelt. Tupulew legte nach, dass es auch darum gehen sollte, dass reinblütige Veelas ein mit Bluteid besiegeltes Versprechen abgeben sollten, keine Nachkommen mit Zauberstabträgern mehr zu zeugen und die, die es schon gab, aus allen öffentlichen Berufen herauszuhalten, am besten in einer eigenen Siedlung unterzubringen, wie es einmal in Bulgarien gefordert worden war, als die Zahl der Berg- und Waldveelas dort mehr als zehntausend Exemplare erreichte. Arcadi konnte da nur wiederholen, dass er genau darauf achten musste, ein von beiden Seiten anerkanntes Gleichgewicht herzustellen und dass nicht damit zu rechnen war, dass die Veelas Entschädigungen für getötete Hexen und Zauberer bezahlten, ohne zugleich auf eine Form von Entschädigung für die getöteten Veelas und Veelastämmigen zu bestehen. "Wenn wir nicht aufpassen machen wir so viel krach, dass die Urmutter aller Eisenbäuche aus den Tiefen der Erde hervorbricht und uns mit ihren fünf Köpfen verschlingt", sagte er. Dabei galt die sogenannte Urmutter aller ukrainischen Eisenbäuche als Zaubererweltmythos, der aus dem alten Griechenland und von den mit den Nordmännern eingewanderten Zauberern und Seherinnen verbreitet worden war.

"Ich bin sehr erfreut, dass mein Amtskollege Sören Österlund auf meine Bitte einging, als Gastgeber der Veelakonferenz aufzutreten und dass bisher alle befragten Veelasprecherinnen zustimmen. Ich warte noch auf die Mitteilung Sarjas, ob sie damit einverstanden ist, wo ich ihr soweit entgegenkam, den französischen Veelabeauftragten Julius Latierre als mitspracheberechtigten Teilnehmer einzuladen und zugleich auch die für französische Veelas zuständigen Verwaltungsbeamten mit dazuzuholen."

Natürlich missfiel es Borodin und Tupulew, dass Julius Latierre dabei sein sollte, von dem beide dachten, dass er von den Veelas vereinnahmt worden war und weil seine Schwiegertante Barbara Latierre die Abteilung für magische Geschöpfe leitete. Nicht dass Vetternwirtschaft was ungewohntes oder unanständiges in Russland war. Doch Borodin und Tupulew konnten nicht verhehlen, dass ihnen diese Familienkonstellation missbehagte. Doch sowie sie sich nicht dreinreden lassen wollten, wer in Russland welches Amt bekleidete, so konnten sie auch nicht bestimmen, wer von welchem Zaubereiministerium als Beamter und / oder Unterhändler entsandt wurde. Auch wussten alle vier, dass eine Einigung mit den Veelas dringend erforderlich war, um nicht doch noch Ladonnas Saat aufgehen zu lassen.

"Und über die Kobolde wollen Sie nicht reden, Kollege Borodin?" fragte Handels- und Finanzabteilungsleiter Orlow noch einmal an. Borodin schüttelte so heftig den Kopf, dass Arcadi fürchtete, der würde ihm vom Hals abbrechen. "Die können da bleiben wo sie sind, Kollege Orlow. Oder wollen Sie denen etwa das dreifache Körpergewicht in Gold bezahlen, weil die sich "ungerechtfertigt" generalverdächtigt fühlen und wider ihre nachweisliche Heimatverbundenheit abgeschoben worden sind. Ich darf Sie auch daran erinnern, dass wir vor Ladonnas Feuerrosenanschlag schon hitzige Debatten darüber geführt haben, ob die britischstämmigen Humanoiden weiterhin über unser aller öffentliches und privates Vermögen bestimmen dürfen. Als dieser Erdmagieaufruhr war und viele der älteren von denen dabei umkamen sahen auch Sie die Gelegenheit, die jahrhundertealte Übereinkunft auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen."

"Richtig, Kollege Borodin, und ja, bevor uns dieses Hybridweib Ladonna Montefiori mit diesem unsäglichen Feuerrosenqualm an sich gekettet hat hat die Prüfung meiner Mitarbeiter ergeben, dass wir des internationalen Waren- und Zahlungsverkehrs wegen die Übereinkunft von Tara und Rostok weiterhin mittragen sollten, um nicht vom Welthandel abgeschnitten zu werden. Russland ist groß, aber keine Insel."

"Ja, aber auch kein Lehenshof irischstämmiger Spitzohren", schnaubteAnatol Andrejewitsch Borodin. Dann sah er Arcadi fragend an. Der wiegte den Kopf und schüttelte diesen. Borodin nickte zur Antwort und entspannte sich."

"Gosbodin Orlow", setzte der wie auf Bewährung handelnde Zaubereiminister an, "wenn eine erneute Anfrage der Gringottsverwaltung eintreffen sollte erwidern Sie darauf, dass wir zunächst die unmittelbar mit dem von Ladonna erzeugten Aufruhr in unserem Heimatland entstandene Lage beruhigen müssen, um die Sicherheit aller nicht aus unserem Land stammenden Wesen gewährleisten zu können. Erwähnen Sie, dass Ihnen ernsthafte und besorgniserregende Hinweise zugingen, denen nach auf dem eurasischen Erdteil entstandene Zauberwesen sehr misstrauisch westlichen Zauberwesen gegenüber wwurden und wir zunächst alle entstandenen Unstimmigkeiten beheben müssen, um zielführende Verhandlungen mit nichtslawischen Zauberwesen zu führen. Sie können gerne beteuern, dass wir uns der deshalb bestehenden Schwierigkeiten im internationalen Waren- und Zahlungsverkehr vollumfänglich bewusst seien, aber eben auch wegen der uns aufgezwungenen Lage vorrangig an ein friedliches Miteinander innerhalb unseres Hoheitsgebietes denken müssen."

"Halt, Herr Minister, was für besorgniserregende Hinweise bitte?" fragte Orlow verdutzt. Arcadi grinste und sagte: "Das es in England, Frankreich und Polen zu unliebsamen Unstimmigkeiten zwischen Kobolden und Veelastämmigen kam, weil die Kobolde sich von den Veelas bedroht fühlten und die Veelas ihre angeborenen Fähigkeiten als von ihrer Urmutter Mokusha verliehene Überlegenheit anderen humanoiden Wesen gegenüber verstehen und einsetzen. Wir wissen schließlich, wie sehr sich Veelastämmige und Kobolde beharken und nur in nomine lucre, also im Namen des materiellen Gewinns Frieden gehalten haben. Dieser Frieden ist jedoch durch Ladonna Montefiori empfindlich gestört worden, von der Goldebbe nach dem Erdmagiefuror ganz zu schweigen. Jedenfalls dürfte das diesen Meister Silberbart und seine mit den Hufen scharrenden Artgenossen reichen, dass wir sie vorerst nicht nach Russland zurückkehren lassen. Was würde denen auch eine Entschädigungszahlung nützen, wenn sie von misstrauischen Veelas und Töchtern der ersten Mutter Knochenbein massakriert würden, von den denen nun höchst hinlänglich bekannten Kikimoras ganz zu schweigen."

"Wo Sie diese schwarzblauen Plagegeister erwähnen, Herr Minister. Es ist uns bisher gerade mal gelungen, ein Drittel von denen wieder einzufangen und in Schlafbann zu zwingen. Also wuseln und quieken von denen noch an die eintausend herum, wobei einige vielleicht in den Gängen von Gringotts herumspuken", wandte Tupulew ein und grinste Orlow feist an. Dieser erbleichte und seufzte: "Nett, dass ich das jetzt schon erfahren darf, Kollege Tupulew. Herr Minister, ist es mir als einfachem Herrn aller Krämer und Geldumdreher gestattet zu fragen, ob eine vollständige Gefangennahme der von uns auf die Kobolde gehetzten Kikimoras beabsichtigt ist?"

"Was für eine hirnrissige Frage", schnaubte Tupulew. "Dennken Sie, wir wollten unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger der ständigen Gefahr aussetzen, von diesen schwarzblau bepelzten Unholden angefallen zu werden? Natürlich suchen meine Leute nach denen, sogar in den Abwässerkanälen der Zauberunfähigen, damit diese nicht irgendwann von aus deren Toiletten hervorspringenden Kikimoras erschreckt oder gar massakriert werden und dabei die Geheimhaltung der magischen Welt zu Staub zerblasen? Aber für die britischstämmigen Spitzohren sollte es reichen, zu argwöhnen, dass die Gringottsgebäude von diesen Quiekern verseucht sind und wir die erst mal wieder einkriegen müssen."

"Die Geister die ich rief", knurrte Orlow. Arcadi räusperte sich und sagte: "Sagen wir besser, die Geister, die Ladonna rief. Wir können und werden uns weiterhin wunderbar darauf herausreden, dass vieles von dem, was wir unter ihrem Einfluss anrichteten niemals geschehen wäre, wenn sie uns nicht unterworfen hätte und vor allem, dass es keinen gibt, der das besser hinkriegen wird als wir, die wir seit Jahrzehnten damit betraut sind und ja auch alle Erinnerungen an die Zeit unter dem Einfluss Ladonnas im Gedächtnis behalten haben."

"Ja, was für drei Albträume pro Nacht reicht", knurrte Orlow verdrossen. Tupulew hatte dafür nur ein verächtliches Feixen übrig. Arcadi bekräftigte, dass seine Anregung einer ministeriellen Anweisung entsprach und diese unverzüglich umzusetzen sei. Ihm war anzusehen, dass er keine Lust mehr hatte, seinen Feierabend noch länger hinauszuzögern. Seine drei Mitarbeiter erkannten dies auch, zumal sie ebenfalls schon über ihre gewohnte Arbeitszeit hinaus waren. So blieb es dabei: Am 21. März sollte auf Gotland mit den Veelas verhandelt werden, und bis dahin sollten die Kobolde aus Russland fernbleiben.

Als die drei Mitarbeiter Arcadis Büro verließen atmete der Zaubereiminister auf. Er hatte Zeit gewonnen, um sich genauer darauf einzurichten, mit den aufgebrachten Kobolden klarzukommen. Dass man ja auch noch die auf sie losgelassenen Kikimoras einfangen musste war ein glücklicher Umstand. Doch die Veelas würden ebenfalls darauf bestehen, diese kleinen, teils sehr aggressiven Geschöpfe in Sicherheitsverwahrung zu nehmen. Immerhin hatten die ja mit den Wolfsreitern nach den Veelas gesucht, um sie zu vertreiben oder umzubringen.

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Milena Torricelli hatte es wohl mitbekommen, dass jemand versucht hatte, von unten her in ihr Haus einzudringen. Sowas konnten nur Kobolde oder Koboldstämmige oder die Zwerge mit ihren Erddurchquerungsbooten. Tja, da hatte wer auch immer lernen müssen, dass Milena einen Meter unter dem Kellerboden ein Netz aus handgeschmiedeten Eisenstreben hatte legen lassen, gerade weil sie als Mitarbeiterin in der Handelsabteilung oft mit Kobolden zu tun bekommen hatte. Doch welcher Kobold oder welcher Koboldstämmige hatte es gewagt, sie heimzusuchen und das unmittelbar danach, als sie aus Ladonnas Bann erwacht war?

Milena hatte die vier ehemaligen Statthalterinnen, die zu ihr hingereist waren, um sich zu erkundigen, wie es gerade im Ministerium aussah in ihre Verstecke zurückgeschickt. Nun konnte sie die Überwachungszauber abfragen. Als sie den versuchten Einbruch als Folge von Strichzeichnungen auf die silberne Platte ihres Allblickspiegels rief sah sie ein kleines, eindeutig weibliches Wesen mit einem übergroßen Kopf, das an der schmiedeeisernen Absicherung angestoßen war und sich danach sehr schnell zurückgezogen hatte. Der Schädel war wie eine einzige große Glaskugel, dreimal so groß wie bei einer anderen kleinwüchsigen Person. Zumindest zeigte ihr Überwachungszauber das so an. Welche Koboldin kannte sie, die so einen Schädel hatte? Oder war es eine Koboldstämmige? Der übergroße Kopf mochte auch für zusätzliche Kräfte stehen, die in diesem Schädel steckten. Dann fiel ihr was ein. Die Königin hatte kurz vor dem Befehl, dass sich alle solange zurückhalten sollten, bis sie ihre Feinde erledigt hatte behauptet, die koboldstämmige Mitschwester Diana Camporosso sei von französischen Veelafreunden ermordet worden. Ja, sie hatte wahrhaftig auch einen Leichnam vorgezeigt. Doch sowas ließ sich mit dem Similicorpuszauber leicht bewerkstelligen.

"Gibt es dich also doch noch, Dianina", knurrte Milena Torricelli. Ihr war klar, dass Diana, wenn es sie noch gab, immer noch eine treu ergebene Feuerrosenschwester war. Vielleicht hatte sie auch eine Ausgabe von Ladonnas Testament und wusste somit als einzige, was die Rosenkönigin im Falle ihres unerwarteten Ablebens geplant hatte. "Wolltest du uns besuchen, um zu gucken, ob wir auch weiterhin treue Rosenschwestern sind?" fragte Milena in leere Luft hinein, denn im Moment war sie völlig allein in ihrem stark abgesicherten Haus. Dann überlegte Milena, ob sie wirklich Ladonnas Vermächtnis erfüllen wollte. Als die anderen bei ihr gewesen waren hatten sie sich darauf geeinigt, sich erst einmal totzustellen. Die Nutznießer von Ladonnas Ende sollten glauben, dass ihre treuen Schwestern alle mit ihr zusammen umgekommen waren. Wenn die die Höhle oder besser deren Überreste fanden würden die das noch mehr glauben, dachte Milena. Doch was die verhinderte Einbrecherin anging musste sie Gewissheit haben. Loszulaufen und nach Diana zu suchen erschien ihr zu riskant und zu zeitaufwendig. Nein, wenn Diana wirklich noch lebte würde sie wiederkommen. Dann wollte Milena noch besser auf sie vorbereitet sein.

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Am 28. Februar bekam Julius die angekündigte Einladung. Er staunte nicht schlecht, dass es Arcadi eingefallen war, die Verhandlungen mit den Veelas auf internationaler Ebene anzusetzen. Ebenso staunte er, dass er den vor wenigen Monaten aus Ladonnas Feuerrosenbann befreiten schwedischen Zaubereiminister Österlund dazu bekommen hatte, Gastgeber dieser Verhandlung auf "neutralem Boden" zu sein. Gotland, von der Insel hatte Julius bisher nur wenig gehört und gelesen. Immerhin kannte er sich dank der Zauberwesenstunden in Beauxbatons und in der Weiterbildung im Zaubereiministerium etwas mit der schwedischen Zaubererwelt aus. Da gab es Wald- und Bergelfen, Fluss- und Seegeister, Kolonien von Meerleuten und natürlich Trolle, von den großen, menschenfressenden Bergtrollen bis hinunter zu den wilden, bärtigen Waldtrollen, die sehr menschenscheu lebten, von denen seine verschwägerte Verwandte Britta Gautier jedoch mal erwähnt hatte, dass sie wie Wildschweine, Füchse und Elche auch schon in menschliche Ansiedlungen vordrangen. Insofern war eine Reise nach Schweden sicher sehr interessant. Er bangte nur, dass er von Schwedens Natur und besonderer Städtebaukultur nichts mitbekommen würde, wenn sie wie bei der Reise nach Japan die ganze Zeit im Verhandlungsgebäude bleiben mussten.

Als er nach der Zehn-Uhr-Konferenz mit den Kollegen aus Nathalies Büro mit Barbara Latierre sprach teilte diese ihm mit, dass sie ebenfalls eine Einladung erhalten habe und sie ihn als Veelabeauftragten mitzubringen gebeten wurde. Darüber hinaus hatte Barbara Latierre bei Belenus Chevallier beantragt, dessen Mitarbeiterin Britta Gautier als Übersetzerin mitzunehmen, falls es außerhalb der Verhandlungsräume zu Kontakten mit dortigen Zaubererweltbewohnern kommen mochte.

Gegen Mittag erfuhr er dann noch per Memo aus dem Büro der Zaubereiministerin persönlich, dass diese die angesetzte Unterhandlung als einen politisch bedeutsamen Zwischenstop auf einer Rundreise nutzen wolle, die sie mit den bereits wieder in ihren Ämtern tätigen Amtskolleginnen und -kollegen zusammenbringen sollte. Deshalb wollte sie mit den für eine solche Rundreise wichtigen Abteilungsleitern einen genauen Reiseplan aufstellen und die daran teilnehmenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benennen. Da die Verhandlung auf Gotland ja eindeutig in Julius' Zuständigkeitsbereich fiel und er zudem auch noch als Arkanetfachkundiger anerkannt war sollte er bei der gesamten über vier Wochen dauernden Welttur dabei sein. Das überraschte ihn dann doch. Denn er war bisher nur von der Teilnahme an der Veela-Menschen-Konferenz ausgegangen.

Um sowohl den laufenden Schulbetrieb in Beauxbatons nicht zu stören als auch von den Schülerinnen und Schülern unbemerkt zu Madame Faucon zu reisen fragte er über Flohpulverkamin an, wann er sie wegen Catherines Vorschlag aufsuchen dürfe. Die Leiterin der Beauxbatons-Akademie gewährte ihm für halb drei eine halbe Stunde von ihrem Terminplan.

So flohpulverte er sich um kurz vor halb drei aus dem Ministeriumsfoyer zur Adresse "Direktionsbüro Beauxbatons!"

Als er nach der üblichen Wirbelei durch das Flohnetz aus einem Kamin herauskletterte erkannte er, dass er genau richtig war. Er erkannte den Vorraum mit den verschiedenen Dekorationsobjekten und dem breiten Gemälde mit der Wiesenlandschaft, durch das Saalsprecherinnen und Schullehrer in diesen Bereich gelangen konnten. Er rief "Madame Faucon, ich bin angekommen!"

"Gut, Monsieur Latierre, ich erwarte sie im Konferenzzimmer. Sie kennen ja den Weg." O ja, den Weg kannte Julius so, als wäre er erst gestern von Beauxbatons abgegangen.

Im Dauerklangkerker-Konferenzzimmer der Schulleiterin bot ihm Blanche Faucon erst einmal Milchkaffee an. Dieser wurde von einem dienstbaren Hauselfen in einem einfachen Geschirrtuch mit dem Wappen von Beauxbatons gebracht. Dann schloss Blanche Faucon die Tür, um unabhörbar sprechen zu können. Julius erwähnte, was er gestern erfahren hatte und was er am Nachmittag mit "Madame Brickston" im Sonnenblumenschloss besprochen hatte. Die gestrenge wie sehr kundige Hexe seufzte verbittert. Dann sagte sie: "Ja, der Hummelsberg-Austausch. Das war damals eine sehr knifflige Angelegenheit, zumal sich der amtierende Zaubereiminister der USA als sehr starrsinnig erwiesen hat. Ja, und ebenso engstirnig und auf das eigene Land und seine Sicherheit bezogen sind die von Catherine erwähnten Ligakollegen. Natürlich kann und werde ich diesen weiterleiten, dass es im Sinne einer friedlichen Aufarbeitung der unsäglichen Ära Ladonna Montefioris sehr hilfreich sein mag, von ihr geraubte Güter an die Eigentümer oder zumindest die rechtlich befugten Verwahrer auszuhändigen. Aber, und ich bitte dich, jetzt an eine von der Decke hängende Rose zu denken, die Ligakameraden aus Italien haben sich vor zwei Tagen, also noch vor dem gesammelten Wiedererwachen aller schlafenden Ministeriumsbeamten, in einer geheimen Absprache darauf verständigt, dass alle in der Villa Ladonnas beschlagnahmten Dinge und Aufzeichnungen offiziell durch einen Selbstvernichtungszauber unwiederbringlich zerstört wurden, als "versucht wurde", sie aus dem betreffenden Raum zu entfernen. Gut, für die magische Öffentlichkeit könnte das ausreichen, um keine Nachforderungen zu stellen. Doch wir beide wissen, dass geheime Bruderschaften wie der blaue Morgenstern diese Aussage nicht schlucken werden. Aber die werten Kollegen aus Italien wollen sicherstellen, dass die von ihnen gefundenen und in Verwahrung genommenen Objekte und Schriften nicht offiziell zurückgefordert werden können. Ja, und sie werden sich auch darauf berufen, dass viele dieser Gegenstände auch im Besitz nicht minder besitzergreifender Kobolde gewesen sein mögen, ohne dass irgendeine zaubereiministerielle Behörde dies mitbekam und entsprechend einschritt. Es geht hier vor allem um Dinge, die unzweifelhaft aus Ägypten stammen und von denen die Kollegen in Italien fest überzeugt sind, dass Ladonna sie den Kobolden von Gringotts abgenommen hat, die sie damals mit Hilfe ihrer Fluchbrecher aus alten Gräbern und Kerkern entnommen haben."

"Ui, das könnte aber heftig viele Funken schlagen", meinte Julius. "Öhm, könnte aber auch sein, dass die Morgensternbrüder den ägyptischen und tunesischen Ministeriumsbeamten auf die Füße treten, ob die nicht schon viel früher was davon mitbekommen hatten, dass Gringottsmitarbeiter alte Zaubergegenstände freigelegt und für wen auch immer in Verwahrung genommen haben."

"Ja, das könnte durchaus sein, Julius. Es würde jedoch heißen, dass das ägyptische Zaubereiministerium in den Verdacht der Bestechlichkeit geriete. Natürlich würde das seit Jahrzehnten sozusagen dynastisch geführte Ministerium jeden solchen Verdacht von sich weisen, aber wohl eher zusehen, dass dieser Verdacht erst gar nicht geäußert wird. Gerüchte sind wie Verschmelzungen zwischen Wichteln und Blattläusen, je länger sie frei herumschwirren dürfen, desto mehr von ihnen gibt es. Mmmhmm, ich sehe dir an, dass du etwas ähnliches kennst."

"Ja, Internetplattformen, auf denen Nachrichten und Bildaufzeichnungen verteilt werden", meinte Julius. "Ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, solche Gerüchte auf echte Vorkommnisse zu prüfen und so zu ändern, dass keiner glaubt, dass da echte Magie im Spiel ist", erwiderte Julius. "Also glauben Sie, dass die ägyptischen Ministeriumsleute eher leugnen werden, von diesen Gegenständen zu wissen als offiziell deren Rückgabe einzufordern?"

"Ob ich das glaube hängt davon ab, ob ich den Korruptionsverdacht gegenüber dem ägyptischen Zaubereiministerium erhärten oder widerlegen kann, und beides ist mir von hier aus nicht möglich", erwiderte Blanche Faucon. "Wie erwähnt, Julius, stell dir bitte jene weiße Rose vor, die während unserer Geheimsitzungen während der zweiten Schreckenszeit Riddles in diesem Raum angebracht war." Julius bejahte es laut. Das würde auch Millie einsehen müssen, nicht mit unbeweisbaren Verdächtigungen zu jonglieren. Eine Rita Kimmkorn würde das bringen, wohl auch ein Reporter namens Rosenquarz aus Deutschland. So konnte er nur wiederholen, dass es im Sinne eines friedlichen Neuanfangs auf internationaler Ebene hilfreich sei, das von Ladonna angehäufte Raubgut an die Eigentümer oder rechtlich korrekten Verwahrer zurückzugeben.

"Gut, Catherine und du werdet sicher nichts dagegenhaben, wenn ich im Gespräch mit den italienischen Ligakameraden so auftrete, als wenn ich diese Idee hätte. Vielleicht besteht dadurch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, sie zum Einlenken zu bewegen."

"Ich bin in dem Fall nur der Bote", erwiderte Julius. "Nun, wo du schon einmal hier bist können wir auch gerne über die derzeitig in diesen Mauern lernenden jungen Damen und Herren aus Madame Létos Nachkommenschaft sprechen", sagte Blanche Faucon. Dann erwähnte sie, dass sie derzeitig in Sorge sei, weil die hier lernenden Kindeskinder Létos von den Mitschülern und vor allem Mitschülerinnen sehr intensiv bedrängt wurden, weil sie angeblich mit der Hybridin Ladonna verwandt und entsprechend deren Meinung seien. "Natürlich entgegnen die betreffenden Schülerinnen diese mal leisen und mal lauteren Anfeindungen mit Verärgerung und legen auch eine gewisse Überheblichkeit an den Tag, die jene angespannte Lage noch verstärkt. Der Elternrat hat allen ernstes von mir verlangt, einen vorzeitigen Ausschluss der betreffenden Schülerinnen und des Schülers vom weiteren Besuch der Akademie zu erwägen. Doch bisher kam es zu keiner dieses gebietenden Untat. Ich darf jedoch nicht ausschließen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann eine der betreffenden Damen oder der Herr ausfällig wird."

"Natürlich haben Sie die Eltern der betreffenden Schülerinnen längst über diese unangenehme Lage unterrichtet, Madame Faucon", nahm Julius als gegeben an. Die Schulleiterin nickte bestätigend. "Ja, und da möchte ich Sie gerne ins Spiel bringen, Monsieur Latierre. Nehmen Sie bitte Kontakt zu den Eltern der betreffenden Schülerinnen und Schüler auf und besprechen sie mit diesen, welche Nachteile ihren Kindern erwachsen, wenn ich aus einem unerwünschten Grund gezwungen sein sollte, ihre Kinder vorzeitig aus dieser Akademie zu entlassen."

"Öhm, die Schüler aus anderen Familien bekommen aber noch freien Zugang zu den Zaubererweltzeitungen, oder?" fragte Julius. Madame Faucon bejahte es. "Dann verstehe ich die nicht, dass die trotz der Berichte über die Hilfe, die die Veelastämmigen bei der Absicherung des Zaubereiministeriums geleistet haben derartig angefeindet werden. Zumindest sollten die Schulräte es doch einsehen, dass die hier gerade lernenden garantiert nichts mit Ladonna zu tun hatten, ja dass alle Veelastämmigen von ihr selbst zu Todfeinden erklärt und verfolgt wurden. Aber natürlich werde ich mit den Eltern der Betreffenden sprechen. Vielleicht ergibt sich ja bis zum Elternsprechtag vor den Osterferien eine Möglichkeit, dass sich alle Eltern aussprechen und ihren Kindern raten können, wie sie um der nötigen Kameradschaft wegen weiterhin miteinander klarkommen können." Blanche Faucon nickte einverstanden. Dann gab sie Julius die Liste der gerade in Beauxbatons lernenden Veelastämmigen mit. Er las, dass im kirschroten Saal Auguste Montété und seine Cousine Muriel wohnten und seine Zwillingscousinen Himérope und Igleia Grandlac im violetten Saal untergebracht waren. "Sehr brisant, die zwei hier", sagte Julius. "Wenn ich bedenke, wie oft Gabrielle Schulhofrangeleien ausgelöst hat."

"Ja, nur dass die hier betroffenen Damen sich mit anderen jungen Damen streiten und die beiden bereits unterhalb der 100 restlichen Bonuspunkte liegen, obwohl sie im Unterricht immer wieder neue Bonuspunkte dazugewinnen."

"Will sagen, wenn sie unter null gesamtbonuspunkte rutschen ist ihre Schulzeit vorbei", wusste Julius es aus seiner eigenen Schulzeit. Die Schulleiterin bestätigte das. "Gut, dann war es auf jeden Fall wichtig, Sie aufzusuchen", sagte Julius höchst förmlich. Blanche Faucon bedankte sich bei ihm für die Aufmerksamkeit und seine Einsatzbereitschaft. Dann sah sie auf die Wanduhr. "Noch zehn Minuten bis zu meinem nächsten offiziellen Gesprächstermin. Die Zeit reicht aus, dass du unbemerkt wieder abreisen kannst. Bitte grüße mir meine Tochter und ihre beiden Mitbewohnerinnen." Julius bestätigte es. Er selbst durfte ja im Moment niemanden hier grüßen lassen, weil er ja eben inoffiziell hier war.

Durch den Kamin im Vorraum ging es wieder zurück ins Ministerium. Dort las Julius die Liste der Veelastämmigen durch, die er an und für sich ja schon von anderer Seite her hatte. Das fehlte ihm noch, dass die Enkeltöchter Létos deshalb dumm angegangen wurden, weil Ladonna auch veelastämmig war. also hatte er bis zur geplanten Konferenz auf Gotland noch etwas zu erledigen. Ja, und was die Herausgabe gefundener Beutestücke aus Ladonnas Schatz anging konnte er sich vorstellen, dass die Gringottskobolde einen Handel mit den Ägyptern getroffen hatten, gefundene Altertümer "zu verwahren". Nur konnte es nun sein, dass das Zaubereiministerium am Nil davon nichts mehr wissen wollte oder es eben bloß nicht ans Licht gelangen lassen durfte, dass es derartige Absprachen gegeben hatte. Nur mochte es sein, dass die unter Ladonnas Bann durchgeführten Abschiebungen von Kobolden eben diese darauf bringen mochten, das Ministerium zu erpressen, dass es so einen Handel gegeben hatte und die ägyptischen Fachzauberer für magische Altertümer da nicht so begeistert sein mochten. War es unter den Umständen wirklich hilfreich, wenn die Italiener die beschlagnahmten Sachen zurückgaben? Hatte das ägyptische Zaubereiministerium dann überhaupt ein Recht, diese Sachen in Verwahrung zu nehmen? Konnte das ganze dann nicht sogar zum Zaubererweltkrieg in der arabischen Welt ausufern? Vielleicht hatte Blanche Faucon das bereits in dem Moment so überlegt, als er ihr Catherines Vorschlag übermittelt hatte. Ja, im Grunde hatte sie ihm und Catherine durch die Ankündigung, dass sie das als ihren Vorschlag anbringen wollte die Verantwortung aus den Händen genommen und zudem noch die Bestimmung an sich gezogen, wann sie wem was erzählte. Aber was sollte es? Er hatte Catherines Botschaft überbracht. Vor der Reise um die Welt würde es sicher noch eine Sitzung des stillen Dienstes geben. Falls Catherine da näheres von ihrer Mutter wissen wollte sollte sie diese fragen. Er hatte jetzt erst einmal genug mit den Veelas und ihren mit Menschen gezeugten Nachkommen zu tun. Das war bereits mehr als genug Verantwortung für einen alleine.

Als er am Nachmittag mit Millie und Béatrice darüber sprach, dass er wohl am 16. März mit einer Delegation, angeführt von Ministerin Ventvit, um die Erde reisen sollte meinte Millie: "Glückspilz. Dann kriegst du noch eine Menge wichtiger Leute zu sehen. Hmm, falls sie um Leute von der Zaubererweltpresse bittet muss ich das mit Onkel Gilbert und Onkel Otto klären, ob ich da mitreisen möchte." Sie sah Julius geheimnisvoll zwinkernd an. Er dachte erst, dass sie darauf spekulierte, mit ihm vier Wochen lang zusammen um die Erde zu reisen. Doch die von ihr über die Herzanhängerverbindung übertragenen Gefühle deuteten auf eine gewisse Unsicherheit hin, ob das wirklich so gut war. Deshalb fragte er sie behutsam, ob sie befürchte, es könne zu beruflichen und privaten Verwicklungen kommen. Darauf sagte sie: "Nun, soo wie sich mein Körper gerade anfühlt sollte ich in den nächsten Wochen klären, ob er sich wieder auf wen neues eingestimmt hat, Julius. Zumindest hatte ich heute morgen leichte Erschöpfungsanfälle und bin auch schon zwei volle Wochen über meine übliche Zeit."

"Also doch", erwiderte Julius. "Ich hatte mir sowas ähnliches gedacht, weil du in den letzten Tagen oftmals in dich hineingelauscht hast, wie damals, als wir noch nicht wussten, ob Aurore unterwegs war oder nicht." Dann wurde ihm erst so richtig klar, was Millies Andeutungen bedeuteten. Wenn sie wieder schwanger war hieß das, dass sie noch ein Zimmer im Apfelhaus vergeben mussten. Auch musste er an jenen merkwürdigen Traum von Ashtaria und drei in roten Lichtkugeln steckenden Töchtern von sich denken, von denen zwei in derselben Kugel geborgen waren und die für sich alleine schwebende von Béatrice geboren werden sollte. Falls Millie jetzt wieder von ihm schwanger war mochte das die bisher so ungewöhnlich friedliche Eintracht zwischen ihr, Béatrice und ihn beeinflussen, vielleicht sogar erschüttern. Darauf musste er sich gefasst machen. Denn auch wenn Béatrice immer wieder betonte, dass sie nicht auf Millie eifersüchtig war und Millie es akzeptierte, dass sie sich Julius mit ihrer Tante Béatrice teilte konnte ein weiteres Kind diese Dreiecksverbindung beenden, weil Millie dann wieder mehr Vorrechte und Aufmerksamkeit einfordern mochte. Dann sah er Béatrices Gesicht. Sie wirkte sehr entspannt, keine Spur von Verunsicherung oder Frustration, dass sie "nur" die zeitweilige Bettgenossin und nicht die offiziell angetraute Ehefrau mit allen Rechten an ihm war. Sie sagte dann: "Wie üblich gilt, dass ich deine Frau dann untersuche, wenn sie und ich uns sicher sind, dass wir ein eindeutiges Ergebnis bekommen können. Immerhin könnte sie ja auch durch den reinen Wunsch nach eurem nächsten Kind in einen entsprechenden Zustand eintreten." Julius bangte schon, dass Millie diese sachliche Bemerkung persönlich nehmen mochte. Doch sie blieb sowohl äußerlich ruhig als auch gefühlsmäßig unerschüttert. Julius meinte sogar, über die Herzanhängerverbindung eine Art stille Erheiterung und Heimlichkeit zu empfinden. Wusste sie was, was er nicht wusste? War das am Ende nicht verdammt wichtig für ihn?

"Bis wann wollt ihr zwei mit der entscheidenden Untersuchung warten?" fragte Julius seine beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen. "Bis zum zehnten März", legte Béatrice fest. Millie nickte bestätigend.

Es ging dann darum, was im Falle, dass Millies fünfte Schwangerschaft begonnen haben könnte mit der Zimmerverteilung war. Félix hatte jenes Zimmer als sein Reich bekommen, in dem sonst einzelne Gäste wohnen konnten. und die Zwillinge würden nach ihren eigenen Geburtstagen in jenes Zimmer umziehen, in dem früher die Brocklehursts übernachtet hatten, wenn sie bei Feiern dabei waren. Julius, der erst befürchtet hatte, sie müssten sich ein größeres Haus zulegen, um alle unterzubringen nickte nur, als Millie erwähnte, dass sie für Gäste hinter dem Haus ein eigenes, vier Schlafräume enthaltendes Wohnzelt hinstellen würden, wenn sie wieder Besuch aus Übersee bekamen. Alles in allem konnten im Apfelhaus ja bis zu zwölf Leute übernachten, wenn die dafür eingerichteten Zimmer entsprechend ausgenutzt wurden. Außerdem konnte der große Festsaal im Erdgeschoss zu einer zeitweiligen Wohnung für bis zu drei Personen umfunktioniert werden, da ja dort eine Küche und ein kleines Badezimmer mit Toilette, Waschtisch und Dusche eingerichtet werden konnte. "Denk dran, Julius, dass die Varanca-Reisehäuser für südeuropäische Großfamilien entwickelt worden sind, also nicht nur für Maman, Papa und ein Kind, sondern für eine fünfköpfige Familie und beide Großelternpaare", meinte Millie. Julius wusste das natürlich. Deshalb hieß ihr gemeinsames Haus ja auch "Apfel des Lebens", weil dort so viele Leute zugleich wohnen konnten. Außerdem hatten sie ja das australische Reisezelt bekommen, in dem sie alle in den Ferien wohnen und sogar bei Nacht über Land und Meer reisen konnten. Das hatten sie bisher noch gar nicht richtig ausgenutzt, weil immer soviel im eigenen Land los war.

"Wirst du dann wieder Millies und mein Kind oder unsere Kinder auf die Welt holen?" fragte Julius Béatrice. Sie zwinkerte ihm zu und erwiderte: "Das mache ich davon abhängig, ob ich da nicht selbst eine magische Hebamme benötige." Wenn Julius nicht diesen merkwürdigen Traum gehabt hätte wäre er jetzt wohl vor heftiger Überraschung zusammengefahren. So verzog er nur das Gesicht und meinte: "Meinst du etwa auch, öhm, dass wir zwei, ich meine, du von mir ..."

"Das mit den blauen Fläschchen ist keine hundertprozentige Absicherung, Julius. Das weißt du auch. Aber falls es so ist, dass ich nicht nur coschwanger mit Millie bin, weil wir zwei durch Félix, Phylla und Flavine körperlich und seelisch synchronisiert wurden, sondern wahrhaftig ein Kind von dir empfangen haben sollte, dann müsste ich ebenfalls eine magische Hebamme erwählen."

"Hera", meinte Julius. Die beiden Hexen nickten. "Die würde sich aber sicher fragen, was uns drei dazu getrieben hat, dass du noch einmal ein Kind von mir bekommst, Béatrice." Er merkte da erst, dass er nicht in der Möglichkeitsform sprach, sondern so, als sei es bereits erwiesen, dass Millie und Béatrice zeitgleich von ihm schwanger seien. Doch seltsamerweise irritierte ihn das jetzt nicht mehr. Ja, er empfand das sogar als glückliche Fügung, wenn die beiden Hexen, mit denen er im gegenseitigen Einvernehmen Tisch und Bett teilte, zugleich von ihm schwanger waren.

"Jedenfalls wissen wir am zehnten März genug, um alles weitere planen zu können, was planbar ist", stellte Béatrice fest. Millie nickte bestätigend. Da hatte Julius den Eindruck, dass die zwei Hexen sich abgesprochen hatten, dass wenn die eine von ihm noch Nachwuchs bekommen wollte, die andere ebenfalls noch ein Kind von ihm kriegen durfte. War es das, worauf Ashtaria ihn in diesem Traum von den beiden roten Leuchtsphären hinweisen wollte? Er wollte das aber jetzt bloß nicht aussprechen. So sagte er nur, dass er weiterhin zu dem stehe, was er seiner Frau und Béatrice zugesichert habe, nämlich für beide dazusein. Millie grinste und meinte: "Wenn dem nicht so wäre wären wir zwei mit den Kindern längst ins Schloss umgezogen und du dürftest in deinem Büro schlafen." Béatrice blickte ihre Nichte und Mitbewohnerin leicht tadelnd an, weil Julius erst verunsichert dreinschaute. Doch dann musste er ebenfalls grinsen. Das endete damit, dass sich alle drei in einer innigen Umarmung wiederfanden. Dann rief das Leben wieder nach den dreien. "Maman, Papa, abbutzen!"

"Hat der immer noch nicht raus, wie Klopapier geht?" fragte Julius die Mutter seines Sohnes. Diese erwiderte, dass er das noch lernen dürfe und Julius ihm ja demnächst noch beibringen dürfe, wie ein großer Junge Pipi machen konnte, ohne das halbe Badezimmer einzunässen. Millie musste darüber mädchenhaft kichern. Er meinte nur, dass er in der Hinsicht tatsächlich die alleinige Fachkompetenz besitze, was die beiden Hexen zum lauten Lachen anregte. Dann durfte er zu seinem Sohn, der auf dem für Kleinkinder eingebauten Zwischensitz im Badezimmer des zweiten Stockes hockte und ihm helfen, am Hinterteil wieder sauber zu werden. Immerhin hatte Félix es geschafft, früh genug auf die Schüssel zu klettern und hatte alles was er nicht mehr in sich behalten musste ordentlich abgesetzt. Er dachte daran, dass er mit fast zwei Jahren auch schon mal in Badewasser reingemacht hatte, weil es ihn da gerade überkommen hatte. Tja, was so kleine Hosenmatze und Windelpupser an Erinnerungen wachriefen, dachte Julius.

Nach dem Abendessen und dem zeitversetzten Gutenachtritual für jedes der sechs Apfelhauskinder vertrieben sich Béatrice, Millie und Julius noch die Zeit im Musikzimmer. Nun wo eine mögliche vierwöchige Staatsreise anstand wollten sie jeden gemeinsamen Moment genießen.

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"Sprich, Schwester Beth!" befahl Anthelia ihrer Mitschwester Beth McGuire. Diese war mit angeblich sehr drängenden Neuigkeiten in das Versammlungshaus des Spinnenordens gekommen.

"Folgendes, höchste Schwester: Bullhorn hat alle verschaukelt, als sie behauptet hat, sie interessiere sich für kein Ministeramt mehr. Die hat ihre alten Kumpels von den Inobskuratoren vorgeschickt, um ihre Ansicht von einer neuen US-Zaubererwelt unter die Leute zu bringen. Bei Glo Puddyfoot ist dieses Gedankengut auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. Die will nämlich ihre Leute aus Georgia dazu kriegen, entweder sowas wie die Konföderation der Südstaaten neu aufzulegen oder auf eine Wiedereinsetzung des einstigen magischen Kongresses der USA hinzuwirken. Zugleich haut sie die dicke Pauke, was die Beschränkung der Rechte von nicht reinblütig menschlichen Zaubererweltbewohnern angeht. Ja, und wenn meine Verbindungen zu den Entschlossenen richtig mitgehört haben will das louisianische Triangel sich auch für den neuen Makusa stark machen. Außerdem wittert die Greendale-Sippe Morgenluft, die alten Vorrechte zurückzukriegen und sogar noch mehr Einfluss zu kriegen. Du weißt, dass die ehemalige Ministergattin Goddy Cartridge aus dieser Sippe stammt. Kann sein, dass die Greendales durchdrücken wollen, dass sie, also Godiva Cartridge, von allen Anklagen wegen der ignorierten Anna-Fichtental-Sache freigesprochen wird und damit selbst wieder frei im Land herumlaufen und sogar öffentliche Ämter bekleiden darf."

"Ja, und war das schon das wirklich drängende, was du mir mitteilen wolltest, Schwester Beth?" fragte Anthelia, obwohl sie das schon längst aus Beths Gedanken heraushörte. "Der große Schlag kommt jetzt, höchste Schwester. Weil es sich ja erwiesen hat, dass allels Unglück der letzten drei Jahre von alleinstehenden Hexen und weiblichen Zauberwesen ausging sollen sämtliche alleinstehenden Hexen mit und ohne Nachwuchs sich in den nächsten Wochen in den Vertretungen ihrer Regionaladministrationen einer intensiven Befragung unterziehen, wie sie zur freiheitlichen Ordnung in Amerika lebender Hexen und Zauberer stehen, ob sie vielleicht eine andere Staats- und Gesellschaftsform bevorzugen und ob sie möglicherweise mit unerwünschten Gruppierungen wie Vita Magica und dem Orden der schwarzen Spinne verbunden sind oder zumindest sympathisieren. Ich hörte von meinen Mitschwestern, dass hierfür schon Ingredentien für eine Menge Veritaserum zusammengekauft werden. Sich der Befragung zu entziehen soll möglichst unmöglich gemacht werden. Wer nicht kommt ist verdächtig, hat der dicke Kolonialfürst Jean Duchamp aus New Orleans getönt."

"Ach, der zu jenem goldenen Triangel Louisianas gehört?" fragte Anthelia verächtlich. Beth nickte. "Das soll auch auf Atalantas Drachenmist gewachsen sein, wird von meinen Kontakten behauptet. Jedenfalls spielt die sich gerade als heimliche Hexenjagdaufseherin auf und spinnt Intrigen gegen alle, die weiterhin auf ihre regionale Eigenständigkeit wertlegen."

"Wenn wir ihr das nachweisen, dass sie wider ihre vollmundige Ankündigung weiterhin die nordamerikanische Zaubererweltpolitik mitbestimmen will könnten wir ihr auferlegen, sich klar zu positionieren und zu entscheiden, wie verantwortlich sie mitgestalten will oder sich wahrhaftig zurückzuziehen."

"Sie hat ihre Inobskuratorenkameraden hinter sich. Auf die können die Möchtegernlandgrafen in den kleinen Regionen nicht verzichten", sagte Beth. Anthelia nickte. "Ja, und wenn die diese Befragung durchführen könnte die eine oder andere von uns in diesem ausgeworfenen Netz hängenbleiben, Schwester Portia, Schwester Romina oder du. Das wolltest du mir sagen, richtig?"

"Ja, musste ich dir sagen, höchste Schwester. Denn auch wenn du uns genug Mittel gegen Veritaserum-Befragungen lieferst könnten die was anwenden, womit wir nicht rechnen. Ich hörte von meiner anderen Mitschwester Drusilla, dass Vita Magica über eine Vorrichtung verfügen sollte, die zehnmal so gut wie ein lebender Legilimentor Erinnerungen und Gefühle extrahieren und auslagern kann und dass wegen der Zeit, wo Buggles diesem Verein unterstand vielleicht die eine oder andere solche Vorrichtung in den Geheimarchiven des Ministeriums gelandet sein soll."

"Schwester Beth", begann Anthelia ruhig, "auch ich hörte von jener geheimnisvollen wie mächtigen Vorrichtung Vita Magicas, die nicht nur Erinnerungen und Gefühle aus einem Opfer heraussaugen kann wie ein Vampir das Blut aus seinen Opfern, sondern auch künstlich erzeugte oder von anderen kopierte Gedächtnisinhalte und Gefühlsverknüpfungen in das damit behandelte Individuum einflößen kann, sodass es eine völlig neue Identität erhalten oder die von einem anderen Wesen übernommene Identität fehlerfrei ausleben kann. Aber weil diese Vorrichtung derartig mächtig ist wird die Bande namens Vita Magica diese Vorrichtung nicht an Außenstehende herausgeben. Ja, ich gehe sogar so weit und behaupte, dass sie nur von den ranghöchsten Mitgliedern dieser Vereinigung benutzt werden kann und benutzt werden darf. Aber ich denke, sie werden nicht nur Veritaserum benutzen, sondern das von Sardonia erfundene und an ihre treuesten Mitschwestern weitervermittelte Mentipressionsverfahren benutzen. Ich gehörte zu jenen, die es erlernen durften. Es ist ein durch machtvolle Gedächtnissteine bestärkter Fusionszauber, bei dem bis zu vier einander vertrauende Hexen oder Zauberer - hierbei ist Eingeschlechtlichkeit dringend einzuhalten - einander bestärken und so ein anderes Einzelwesen sozusagen aus vier Richtungen zugleich legilimentieren, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen. Weil das Opfer wie in einer niederdrückenden Presse alle Gedächtnisinhalte und Gefühle offenbaren muss wurde es von Sardonia, die ja auch eine Heilerin war, Mentipression genannt. Je mehr Widerstand das Opfer leistet desto mehr gefährdet es die physische Gesundheit des eigenen Gehirns. Ja, es kann sogar vorkommen, dass es unter den vier zeitgleich erfolgenden Vorstößen einen tödlichen Gehirnschlag erleidet oder zumindest irreversibel wahnsinnig wird. Daher hat Sardonia vom Bitterwald dieses Verfahren nur bei jenen eingesetzt, die sie als ihre tödlichsten Feinde ansah oder wenn sie ein durchschlagendes Strafwexempel statuieren wollte und bei solchen Verhören alle Mitschwestern anwesend sein sollten. So wie du es gerade erwähnt hast muss ich davon ausgehen, dass die Anhänger Bullhorns dieses Verfahren für geboten halten könnten, sofern sie es kennen. Das widerspricht zwar dieser scheinmoralischen Einstellung, möglichst menschliche Ermittlungsmethoden anzuwenden, passt aber garantiert zu einer durch traumatische Erlebnisse paranoid gewordenen Persönlichkeit."

"Öhm, und ich dachte schon, Legilimentik sei heftig genug", sagte Beth McGuire. "Und man kann sich nicht dagegen wehren?" fragte sie. "Sagen wir es so: Wer darauf gefasst sein muss kann, wenn es ihm oder ihr bekannt ist, einen generellen Geistesschildzauber errichten. Dann hängt es jedoch von der Ausdauer der Verhörenden und der Stärke des Geistesschildzaubers ab, ob die eigene Persönlichkeit unversehrt bleibt. - gut, ich werde euch wohl jenen Geistespanzerzauber beibringen müssen, den ich selbst erlernt habe. "Wie dringend ist es, dass wir uns auf diese Befragungsrunde einrichten müssen?"

"Es kann jeden Tag geschehen, dass eine von uns verhört wird. Näheres erfahre ich wohl nur, wenn ich ständigen Kontakt mit den Informationsquellen halte. Was das heißt weißt du sicher."

"Zu gut. Wer ständig Kontakt hält läuft gefahr, über diesen Kontakt erkannt und gefasst zu werden", grummelte Anthelia/Naaneavargia. "Gut, ab morgen unterrichte ich jede von euch in der Kunst der festen und dauerhaften Abschirmung des eigenen Geistes", sagte die höchste Spinnenschwester. Sie kannte ja den Geistespanzerzauber der Erdmagier, der ähnlich wirkte wie das Lied des inneren Friedens der sogenannten Lichtfolgenden. Beth erklärte sich einverstanden.

"Wo du Schwester Portia erwähnt hast, Schwester Beth, so darf diese mir heute auch noch Bericht erstatten. Sie schwieg sich in den letzten Wochen darüber aus, was in ihrer Region stattfindet", sagte Anthelia. Beth nickte nur bestätigend. Dann durfte sie wieder gehen.

"Ich werde dieses paranoide Weib dazu zwingen, sich klar zu äußern, ob es tatsächlich nur noch dienen oder herrschen will", dachte Anthelia. Natürlich wusste sie, dass Atalanta Bullhorn hochgradig traumatisiert war, weil Ladonna sie überwältigt und über Monate gefangengehalten und sicher auch gründlich ausgeforscht hatte. Das konnte schon sehr fanatisieren, jedem möglichen Auswuchs dunkler Hexenheit entgegenzuwirken, ob echt oder nur eingebildet. Aber dann sollte die das auch ganz offen und von jeder und jedem nachvollziehbar tun und sich nicht als graue Eminenz aufspielen, die schön versteckt im Hintergrund die Fäden zog. Wenn sie es richtig anstellte konnte sie die anderen sich für berufen haltenden Hexen und Zauberer der amerikanischen Kleinkönigreiche dazu bringen, Atalanta Bullhorn zu bändigen.

Wie beschlossen bestellte Anthelia ihre Mitschwester Portia noch zu sich hin und fragte sie gezielt nach allem, was in den letzten Wochen beraten und entschieden worden war. Danach sagte sie mit unheilverkündendem Unterton: "Befinde nicht, wann etwas wichtig für mich ist oder ob es überhaupt wichtig wird, Schwester Portia. Denn sonst kann es dir passieren, dass du zu spät erkennst, dass du mir das eine oder andere schon früher hättest mitteilen sollen. Wenn du was erfährst, und sei es für dich alleine erst einmal nicht von Bedeutung, so teile es mir mit. aus einem Funken kann jederzeit ein Flächenbrand entstehen. Ein ins rollen geratener Schneeball kann eine mörderische Lawine erschaffen. Je früher wir davon wissen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, es noch aufzuhalten, bevor es unaufhaltsam wird. Denn wenn es erst mal unaufhaltsam wird, dann wirst auch du hinweggefegt. Bedenke das immer und überall, Schwester Portia!" Portia erbleichte. Sie hatte die Botschaft wohl verstanden. Sie wartete, ob Anthelia noch was von ihr wissen wollte. Dabei dachte sie an ein Gerücht, dass die nordamerikanischen Veelastämmigen jemanden nach Europa schicken wollten, um bei einer irgendwie geplanten Verhandlung zwischen Veelas und Menschen mitzumachen. Anthelia fragte sie deshalb: "Was bekommst du über deine Bekannten von menschenförmigen Zauberwesen wie Veelas und Zwergen mit, Schwester Portia?" Die Gefragte erwähnte, was sie wusste und wen sie kannte. "So erteile ich dir die eindeutige Anweisung: Horche jenen Zauberer aus, der mit einer Veelastämmigen verschwägert ist und erheische so alles wissenswerte über eine mögliche Verhandlung zwischen diesen Wesen und magischen Menschen! - Ich danke dir für deinen Bericht. Du darfst nun wieder gehen, Schwester Portia!" Portia nickte ergeben und verabschiedete sich von der höchsten Schwester. In dem Moment wo sie aus dem Haus Tyches Refugium disapparierte fing Anthelia noch einen Gedanken von ihr auf, dass sie froh war, noch unversehrt davongekommen zu sein. Dann war Portia Weaver verschwunden.

"Soso, die Veelastämmigen wollen mit den Menschen unterhandeln, wohl aus Angst, sie müssten Ladonnas Taten büßen. Wie amüsant", dachte Anthelia erheitert. Dann ging sie daran, einen Stundenplan auszufertigen, nach dem sie ihre nordamerikanischen Mitschwestern gegen die Mentipression schützen wollte. Das dauerte mehr als vier Stunden. Denn sie musste ja dabei immer bedenken, dass ihre getreuen Schwestern nicht vermisst werden durften. als sie sicher war, alle ihr bekannten Zeitangaben richtig einbezogen zu haben sandte sie per Eulenpost und Mentiloquismus Einladungen an die Mitschwestern aus, die sie als allererste unterrichten wollte.

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"Na, ob die neue Sendbotin der Lichtfolger und Grundkraftvertrauten die Verschmolzene einfangen muss, Schwester?" fragte Kaliamadra ihre Zwillingsschwester, als sie beide wie üblich die Handlungen und Gedanken ihrer Gesinnung entsprechender Hexen und Zauberer beobachteten. "Dann wäre die schon längst zu ihr hin und hätte sie eingefangen", erwiderte Iaighedona."

"Meinst du, unsere Daseinsverbundenen lassen ihr durchgehen, dass sie das alte Wissen unterrichtet, um Mitternächtige zu bestärken?" fragte Kaliamadra. Ihre Zwillingsschwester antwortete mit einem Gefühl der Erheiterung. "Sie werden es uns Mitternachtsvertrauten nicht eingestehen, Schwester. Aber sie lassen Naaneavargia gewähren, weil sie die Welt im Gleichgewicht halten kann. Bedenke, wie viele tausend Sonnenkreise wir alle die Welt der leiblich lebenden beobachten, ohne dass wir jemals in deren Geschicke hätten eingreifen können. Wie oft haben wir erfahren müssen, wie sich das Gefüge des Lebens immer wieder in die eine oder andere Richtung bewegt hat und dann doch wieder umkehrte oder umgekehrt wurde. Nein, die anderen mit uns verweilenden Meisterinnen und Meister sind genauso gespannt, wie sich die Istzeitlebenden verhalten und weiterentwickeln. Sie haben diese Ashtardarmiria nur entsandt, um sicherzustellen, dass nur die, die sie selbst unterrichtet haben von ihren Kenntnissen Gebrauch machen dürfen und diesen quengelnden Wicht zu uns geholt, der fast vom überhellen Pfad abgekommen wäre, weil der eifersüchtig auf Madrashmirondas späten Sohn wurde."

"Ja, und die Schattenkönigin wächst ihrer eigenen Wiedergeburt entgegen. Nur mit Sonnenzaubern wird ihr nicht zu begegnen sein", sagte Kaliamadra. Dann erwähnte sie noch die zweite Zwei-Seelen-Hexe außer Anthelia/Naaneavargia. "Sie trachtet danach, auf jenen Pfad der Macht zurückzukehren, von dem ihr erster Tod sie einst abgebracht hat. Das wird sicher auch sehr unterhaltsam, ob diese oder Naaneavargia die mächtigste Kriegerin der hohen Kräfte sein wird. Noch begegnen sie einander in Achtung der gleichen Stärke. Eine winzige Verschiebung in die eine oder andere Richtung kann dies jederzeit ändern."

"Ja, wie die Aneignung machtvoller Gegenstände oder geheimen Wissens", vermutete die zweite der beiden Mitternachtsschwestern, die zusammen entstanden waren und am genau selben Tag von den bereits berufenen Altmeistern der Mitternächtigen als zwei der ihren erwählt und in die große Halle des gläsernen Rates aufgenommen worden waren.

"Ah! Die kleine Kriegerin mit dem gefangenen Geheimniskrämer im Kopf nimmt erste Verbindung mit einem auf, der mal zu diesem Bund der kleinen Wichte gehörte." "Oh, das wird bestimmt sehr spannend", bemerkte die andere.

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Jetzt fühlte sich das komisch an, wie schnell drei Jahre umgegangen waren. Julius erinnerte sich noch lebhaft daran, wie er Lavande, Alexandrine, Zoé und Mélisande auf die Welt geholfen hatte, und nun trippelten sie ihm auf kurzen aber flinken Beinchen entgegen und warfen sich in seine Arme, als er am Nachmittag des ersten März vom Ministeriumsgebäude vor das Haus der Dusoleils apparierte. Er nahm jede der vier jüngsten Dusoleils kurz auf die Arme und begrüßte dann deren Eltern. "Wolltet ihr für die vier keinen Begrüßungsstuhl bauen, Florymont?" fragte er den späten Vierlingsvater. Dieser verzog das Gesicht. Seine Frau Camille übernahm es zu antworten. "Die Frage ist schon berechtigt. Ich denke, ein Vierersofa ist für die angebracht." Julius erwiderte, dass es unheimlich sei, wie schnell die drei Jahre umgegangen seien. "Ich verstehe was du meinst. Aber bedenke dabei auch, dass eure Rorie dieses Jahr auch schon sieben wird und Chrysie ja vor ein paar Wochen ihren fünften Geburtstag gefeiert hat." Dann kamen Dénise und Chloé angelaufen. Julius musste einmal mehr seine Selbstbeherrschungsformel denken, als er die junge Frau sah, die Dénise geworden war. So hätte Claire auch aussehen können. "Ach, der Veelabeauftragte des Zaubereiministeriums. Hat euch Königin Blanche noch nicht wegen Muriel Fontchamp angeschrieben? Die macht die Mädels im roten Saal richtig neidisch."

"Falls sowas anstehen sollte darf ich darüber nichts erzählen, Dénise", kehrte Julius den Beamten und dessen Schweigepflicht heraus. Camille grinste ihre dritte Tochter an und meinte: "Außerdem weißt du selbst, wie schnell wilde Gerüchte in Beaux ins Kraut schießen, noch schneller als Feuerpilze auf brennenden Kohlen." Das wusste Dénise natürlich auch. Immerhin hatten einige behauptet, sie sei womöglich homosexuell, weil sie anders als ihre älteren Schwestern nicht schon mit zwölf einen festen Freund gehabt hätte. Das sie noch unverlobt und ungebunden war lag auch daran, dass sie sich nach der Schule erst einmal die große weite Welt ansehen wollte und nicht da schon für Heim, Herd und Wiege vorplanen wollte, wie sie es selbst einmal gesagt hatte.

Um sich wieder mit den vier Geburtstagskindern zu befassen brachte Julius das am Morgen vorsorglich eingesteckte Geschenk ins Haus und steckte es in die Wandelraumtruhe, auf der nun die vier vollständigen Namen der vier ersten Frühlingskinder des Schicksalsjahres 2004 standen. Dann durfte er sich zu den Erwachsenen in den Garten setzen, bei denen auch schon seine beiden Mitbewohnerinnen, sowie Jeanne und Bruno saßen.

Sie sprachen über die Sachen, die keiner Geheimstufe unterlegt waren, unter anderem die Jubiläumsfeier in Millemerveilles am 15. März. Julius deutete an, dass er seine Teilnahme von seinen Vorgesetzten abhängig machen müsse und im Moment wegen der Nachbeben von Ladonnas Weltherrschaftsversuch vieles zu klären war, vor allem mit den Veelas.

"Stimmt, haben deine zwei großen Mitbewohnerinnen ja angedeutet, dass du gerade mit einem gepackten Koffer im Büro sitzt, weil du jeden Tag damit rechnen musst, dass sie dich nach Russland, Bulgarien oder anderswo hinbestellen", erwiderte Jeanne. Julius erkannte, dass es besser war, das nicht abzustreiten, auch wenn er besagten Koffer noch nicht im Büro stehen hatte und ja schon wusste, wo es am 21. März hingehen sollte.

Kurz vor sechs durften die vier Geburtstagskinder ihre Geschenke aus der Wandelraumtruhe fischen. Das von Julius besorgte Malbuch mit beigefügter Wasserfarbenpalette konnte von jeder der vier benutzt werden. Denn es war mit vier verschiedengroßen Pinseln ausgestattet. Vor allem konnten die Malversuche von den Seiten wieder ausradiert werden, so dass es immer wieder neu benutzt werden konnte. "Du willst rauskriegen, ob die Kunstbegabung der Dusoleils auch in den vier Mädchen weiterlebt", meinte Camille, als sie die sieben verschiedenen Grüntöne der Farbpalette sah. Julius bejahte das.

Weil es ja ein Kindergeburtstag war war nichts mit Musik und Tanz nach dem Abendessen. Es wurde im Garten getobt und mal mehr und mal weniger wohlklingend gesungen. Die drei ältesten Töchter von Millie und Julius fühlten sich in der Runde der vielen Dreijährigen mal mehr und mal weniger gut aufgehoben. Für Aurore, die ja schon als großes Mädchen gelten wollte, war das hier schon bald zu viel "Kleinkram". Immerhin, so stellte Julius auch ohne pädagogische Ausbildung fest, lernte Aurore, wie angenehmer es mit "nur" drei ganz kleinen Geschwistern war. Außerdem konnte sie mit Viviane und Chloé über die Sachen aus der Schule reden, die noch in diesem Jahr drankamen.

Gegen neun Uhr verabschiedeten sich die Latierres von den Dusoleils und flogen mit ihrem ganzen Anhang wieder zurück zum Apfelhaus. Julius ertappte sich dabei, dass er daran denken musste, gerade mit neun Kindern unterwegs zu sein. Doch das war noch gar nicht sicher, sagte ihm sein Verstand. Doch bald würde er es wissen, ob oder ob nicht. Würde Millie enttäuscht sein, wenn nicht? Würde Béatrice vielleicht doch eifersüchtig, falls Millie ja und sie nein? Oder was wenn es genau anders war, dass Millie nicht schwanger war und Béatrice nicht nur ein Kind sondern zwei von ihm austragen mochte? Vielleicht sollte er sich nach der klaren Feststellung noch einmal mit Hera Matine unterhalten, wie er am günstigsten mit der dann bestehenden Lage umgehen konnte.

Kaum dass alle sechs bisher geborenen Latierre-Kinder in ihren Betten lagen verabschiedete sich Julius zur Nacht. Millie deutete auf Béatrice, die ihn in eine halbe Umarmung nahm und ganz locker und Unbekümmert mit sich zog. "Noch gilt die Übereinkunft", hauchte sie leise. Julius widersprach ihr nicht, auch wenn sie beide in dieser Nacht zu einem geraden Kalendertag nur nebeneinander lagen und sich aneinanderkuschelten. Doch er kapierte, dass Béatrice seine Nähe genauso wollte wie Millie und dass er sich ja darauf eingelassen hatte, weil er beide erwachsenen Hexen liebte und für jede von beiden so gut er konnte da sein wollte, ob schwanger oder nicht, ob gerade in Stimmung für körperliche Liebe oder nur so zum nebeneinander einschlafen und wieder aufwachen.

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"Giesbert, betrachten Sie sich einfach auf verbleibende Lebenszeit von allen Pflichten entbunden, die unser Ministerium Ihnen auferlegt hat", hörte er Güldenberg sagen, als es noch einmal darum gegangen war, ihn auf seinen Posten zurückzuberufen. Doch wegen ein paar unfeiner Geschäfte mit Kobolden im sächsischen Erzgebirge hatte Giesbert Heller endgültig ausgespielt. Güldenberg hatte ihm die Wahl gelassen, entweder bis zu seinem natürlichen Ableben nicht weiter als einen Kilometer von seinem Grundstück entfernt zu sein und keinerlei Koboldbesucher mehr zu empfangen oder sich vor Gericht wiederzufinden, wo die Klage auf mehrfache Veruntreuung, Amtsmissbrauch und womöglich auch Hochverrat lauten mochte. Er hatte sich trotz der Einsprüche seiner Gönner in Gringotts für den lebenslänglichen Hausarrest entschieden. Immerhin durfte sein ihm gnädigerweise noch zugestandener Hauself Tiki ihm weiter dienen und auch Einkäufe erledigen. Gut, mit Menschen durfte er auch weiter direkten Kontakt halten. Güldenberg wollte nur nicht, dass er sich mit Kobolden einließ.

Der Tag ist nicht mehr fern, wo du deine Überheblichkeit einbüßt, Heinz Güldenberg", dachte Heller, als er am Morgen des vierten März die drei führenden Zeitungen der deutschsprachigen Zaubererwelt durchblätterte. "Die Kobolde werden sich das nicht lange gefallen lassen, immer noch ausgesperrt zu sein. Wenn es die zehntausend Augen noch gäbe hätten die schon längst Gringottsfilialen in Italien und Russland besetzt", sinnierte er. Ja, die reinblütigen Zauberstabträger nutzten es schamlos aus, dass die Kobolde gerade ohne bewaffneten Kundschafterdienst dastanden. Doch wenn der Fall "Letzter Glockenschlag" eintrat würden die darum betteln, alle aus ihrer Heimat verjagten Kobolde zurückzuholen und denen auch noch alles an Entschädigung zu zahlen, was sie verlangten. Eine Form der Entschädigung mochte darin bestehen, ihn, Giesbert Heller, wieder auf seinem alten Posten anzustellen oder, was ihm noch viel größere Vorfreude bereitete, ihn selbst auf den Ministerstuhl zu setzen.

Von derlei Wunschträumen beflügelt genoss Giesbert Heller die Artikel über die wieder aufgewachten Ministeriumsleute in Italien und anderswo. Angeblich war eine Sonderkonferenz der Glomako geplant, um die Auswirkungen von Ladonnas Vorherrschaft zu erörtern und zu prüfen, ob alle von ihr beeinflussten Ministeriumsbeamten von jeder Schuld freigesprochen oder zumindest ihrer Ämter enthoben werden sollten. Dann würde es denen nicht anders gehen als ihm gerade dachte Heller. Doch der Fall "Letzter Glockenschlag" würde bald eintreten. Er wusste es über eine winzige noch bestehende Verbindung zur Zweigstelle Frankfurt, dass die großen Zählwerke in den zwangsweise geräumten Zweigstellen nur noch bis zum zwanzigsten März liefen. Ab da würden sämtliche Zweigstellen für Menschen absolut tödlich sein, solange bis der ordentliche Zweigstellenleiter und seine vier ranghöchsten Mitarbeiter wieder dort hineingingen und die Vorrichtung außer Kraft setzten. Das hätte er Güldenberg eigentlich sagen sollen. Doch der vertraute ihm doch nicht mehr. Also wollte er ihn und all die anderen, die keine Kobolde mehr im Land haben wollten voll auf die Nase fallen lassen.

Es knallte in der Küche. Tiki war wohl gerade zum Einkaufen fort. Giesbert verachtete Hauselfen. Die waren sehr zaubermächtige Geschöpfe und dann doch so einfältig und unterwürfig, dass es ihn anekelte. Lieber hätte er einen menschlichen Dienstboten und vielleicht auch ein Hausmädchen gehabt, die Geld von ihm haben wollte. Doch kein Zauberer und keine Hexe, welche es durch Greifennest geschafft hatte, ließ sich zu derlei einfachen Arbeiten herab. Also brauchte er seinen Hauselfen, um nicht zu verhungern oder im selbstgemachten Dreck zu versinken.

Um sich die viel zu viele Zeit zu vertreiben schrieb Giesbert Heller an seinen Memoiren, die aber erst nach seinem "natürlichen Ableben" gefunden und gelesen werden sollten. Vielleicht konnte er ja doch bald hineinschreiben, wann er der erste halbkoboldstämmige Zaubereiminister Deutschlands wurde.

Wieder krachte es laut. Das war direkt neben ihm. Er blickte nach rechts und sah seinen Elfen Tiki, der wild erbebte, und er war nicht allein. Seine rechte Hand hielt die linke einer kleinwüchsigen Frau in einem zweiteiligen Drachenlederkostüm. Das auffälligste an ihr war der durchsichtige Helm, der ihre kurzhaarige Schädeldecke bis zu den Wangenknochen bedeckte. Die Fremde hielt einen Zauberstab in der rechten Hand und zielte damit auf ihn. Er erkannte an bestimmten Körpermerkmalen, dass sie koboldstämmig sein musste. Da traf ihn etwas am Kopf und raubte ihm das Bewusstsein.

Als er wieder wach wurde dachte er, während des Schreibens eingeschlafen zu sein. Tiki war noch nicht vom Einkauf zurückgekehrt. Doch er dachte daran, dass er mit seinem Hauselfen verschwinden musste, silberner Arrestring hin oder her. Denn er hatte bei seinem letzten Anhörungstermin mit Hilfe seines besonderen Gehörs mitbekommen, dass Güldenberg am zehnten März mit Hilfe der Zwerge in Gringotts einbrechen wollte, um alle Verliese zu öffnen und leerzuräumen. Er, Heller, hatte sich verdammt gut zusammenreißen müssen, sich nichts davon anmerken zu lassen. Auch hatte er gedacht, dass es vielleicht eine gezielte Falschmeldung an seine Adresse war, um zu prüfen, wie treu er dem Minister wirklich noch war. Doch als er vorhin in der Zeitung diesen Zettel gefunden hatte, wo draufstand, dass er zusehen sollte, Deutschland zu verlassen, weil nach dem Sturm auf Gringotts auch alle noch im Land lebenden Kobolde und deren Nachkommen festgesetzt und wie die italienischen, ägyptischen und russischen Kobolde abgeschoben werden sollten wusste er, dass es keine Finte war. Denn die Schrift auf dem Zettel gehörte einem alten Kameraden, der ihm noch den einen oder anderen Gefallen schuldete. Auch dass der Zettel nach dem zweiten Lesen zu Staub zerfallen war sprach für jenen Kameraden, der mal zu den Lichtwächtern gewollt hatte und am Ende froh gewesen war, dass er im Archiv für internationale Korrespondenzen hatte arbeiten dürfen. Also stimmte es, dass Güldenberg mit den Zwergen paktierte. Dieser Saufbart Malin VII. hatte ihn doch dabeigekriegt. Vielleicht hatte der auch etwas in der Hand, was die Macht der Kobolde ausstach. Das musste er unbedingt weitergeben. Er rief nach Tiki.

Der Elf apparierte leicht erschöpft wirkend neben ihm. "Bring das zur roten Eiche und lass dich dabei nicht sehen!" zischte er leise. Dann gab er dem Hauselfen einen Zettel mit winzigen Schriftzeichen darauf. Selbst wenn er damit unumstößlich bewies, dass er den Kobolden treuer war als Güldenbergs Leuten war es seine vorletzte Pflicht, die Zweigstellenleiter von dem bevorstehenden Angriff zu unterrichten.

Tiki nahm den Zettel und verschwand mit scharfem Knall. Nur zehn Sekunden später war er wieder da. "Alles wie befohlen erledigt, Meister Heller", piepste das dienstbeflissene Zauberwesen. "Gut, dann führe den Befehl Nummer vier auf der blauen Liste aus!"

"Zu Befehl, Meister Heller!" erwiderte der Hauself. Er wechselte zeitlos in Hellers Kleiderkammer. Der Hausherr hörte ihn dort wohl auch mit telekinetischen Zaubern mit mehreren Kleidungsstücken hantieren. Anschließend klappte ein schwerer Deckel zu und vier Schlösser schnappten zu. Giesbert klaubte in der Zeit seine Memoiren zusammen und verstaute sie in der rauminhaltsbezauberten Innentasche seines blauen Umhanges, in der zudem noch ein kleiner Sack mit Diamanten im Gesamtwert von hunderttausend Galleonen versteckt war. Er prüfte seinen Zauberstab und wartete, bis Tiki wieder bei ihm war.

Der Elf blickte auf Hellers rechtes Bein, wo der angeschmiedete Arrestsicherungsring anlag. Mit normalen Zaubern war der nicht abzumachen, ohne gleich zu petzen, dass er gewaltsam gelöst wurde. Doch Heller hatte da was gefunden, was er im Fall von Blau vier benutzen würde. Tiki hatte das dazu nötige Ding aus der Kleiderkammer geholt. Heller hielt sein rechtes Bein hoch genug, dass der Elf den kleinen goldenen Gegenstand an den Ring drücken konnte. Im nächsten Augenblick meinte Heller, glühendheiße Schauer würden durch das Bein jagen und bis hinauf zu seinen Haarwurzeln zucken. Er biss die Zähne zusammen und bebte unter den wilden Entladungen. Dann sah er, wie der fesselnde Ring schwarz anlief und dann in vier vollständig durchgerostete Einzelteile auseinanderfiel. Die wilden Entladungen hörten auf. Doch nun bangte Heller, dass er es wohl überreizt hatte. Er fühlte sich matt und kraftlos. Er meinte, das doppelte Körpergewicht zu tragen. Auch brummte sein Schädel, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. "Meister, Ihre Hand!" hörte er Tikis aufforderndes Piepsen durch das Hummelgebrumm unter seiner Schädeldecke. Er bewegte seinen viel zu schweren Arm und fühlte, wie Tiki seine kraftlos herunterhängende Hand zu fassen bekam. Im nächsten Moment fühlte er die qualvolle Enge und Dunkelheit, die zwischen dem Verschwinden vom einen und dem Auftauchen an einem anderen Ort herrschte. Als er wieder frei atmen konnte und seine Augen nicht mehr in seinen Kopf hineingedrückt zu werden drohten erkannte er, dass Tiki ihn wahrhaftig an den gewünschten Ort versetzt hatte, die Küste der irischen See, die zu dieser Jahreszeit sehr aufgewühlt war. Von hier aus würde er, wenn er sich wieder erholt hatte, in ein bereits vor Jahren eingerichtetes Versteck apparieren, von wo er Kontakt mit einem graubärtigen Kobold aufnehmen konnte. Der würde sich sicher sehr freuen, was er ihm zu berichten hatte, dachte er mit unverkennbarer Ironie. Aber noch mehr würden sich Güldenbergs Leute freuen, wenn sie in wohl noch zehn Minuten erfuhren, dass Hellers Haus explodiert war. Tja, was die Einkaufstouren eines Hauselfen so alles ins Haus holten.

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Andronicus Wetterspitz war seit der Befreiung aus Ladonnas Feuerrosenbann noch argwöhnischer als vorher schon. Das lag vor allem daran, dass er sich selbst die meisten Vorwürfe machte, nicht alles menschenmögliche unternommen zu haben, um die Feuerrosenkerze früh genug abzufangen. Hinzu kam noch, dass mehrere der Lichtwächterinnen zusammen mit der ganzen Behörde für friedliche Koexistenz gerade so noch wegportiert wurde, als die wiederwärtige Kerze ihren giftigen Qualm verströmte. Keine von denen hatte ihn gewarnt, wo er doch quasi mit sehr wichtigen Leuten verwandt war, die ihn hätten warnen können. Ja, und seitdem der Minister und er unter Ladonnas Zauber gestanden und gehandelt hatten hatte sich erwiesen, dass Giesbert Heller, der langjährige Leiter der Abteilung für Handel und Finanzen, nicht ganz so loyal gehandelt hatte. Deshalb hatte der wie Wetterspitz auf Abruf tätige Zaubereiminister Heller nicht wieder auf seinen alten Posten zurückberufen. Das missfiel den Kobolden. Deshalb standen die sich gerade nicht so gut mit dem Ministerium. Nur der unterschwelligen Drohung, ja immer noch mit den Zwergen und ihrem König Malin VII. ein neues Goldwertbestimmungsabkommen schließen zu können hielt die kleinen Goldhüter im Zaum.

Seit Wochen überwachten die Lichtwächter nicht nur mögliche Erbinnen Ladonnas oder andere, die meinten, das von ihr hinterlassene Machtvakuum ausfüllen zu dürfen, sondern auch den ehemaligen Handelsabteilungsleiter Giesbert Heller. Die Kobolde forderten seine Wiedereinsetzung. Die Zwerge warnten davor, ihn bloß nicht erneut mit diesem Amt zu betrauen. Güldenberg und Wetterspitz fürchteten einen Aufruhr höchster Ordnung, wenn rauskam, dass Heller während seiner Amtszeit einige unzulässige Geschäfte gemacht hatte. Auch Heller hatte sich darauf eingelassen, in einen vorzeitigen Ruhestand zu treten und mit bestimmten Einschränkungen zu leben.

Als Wetterspitz die Warnglocke hörte dachte er zunächst, es habe einen Überfall auf unschuldige Hexen und Zauberer gegeben. Als er jedoch erfuhr, dass die Glocke anzeigte, dass die überwachte Ortsanwesenheitsschelle von Heller nicht mehr zu erfassen war und dann noch ein Feueralarm für Hellers Haus ausgelöst wurde beeilte sich Andronicus Wetterspitz höchst selbst, das Anwesen des ehemaligen Kollegen aufzusuchen. Fünf Lichtwächter im Range von Obergefreiten waren bereits mit einer Hundertschaft Katastrophenumkehrtrupplern vor Ort.

Da wo Hellers Haus gestanden hatte loderte eine weißgelbe Feuerwand. Turmhohe Flammensäulen tanzten umeinander herum, verschmolzen miteinander und schlugen immer wieder nach außen. Es kam sogut wie kein Rauch auf.

Alle hierhin befohlenen Einsatzkräfte waren gerade dabei sich mit dem Flammenschutzzauber Aura-Sanignis oder dem blauen Flammengefrierzauber gegen die Hitze und Zerstörungskraft des entfesselten Brandes zu sichern. Wetterspitz dachte an Märchen und Sagen, die von der Hölle berichteten. So mochte die Heimstatt des christlichen Erzbösewichtes von außen aussehen, dachte Andronicus Wetterspitz.

Es erwies sich, dass beide Arten Feuerschutz nur für eine halbe Minute Sicherheit boten. Fast wäre einer der anwesenden Lichtwächter zu spät aus dem tosenden Inferno zurückgekehrt. Erst als auf Wetterspitzes Wink hin zehn Duotectus-Anzüge beschafft wurden und diese auf die Abwehr von Hitze und Luftmangel eingestimmt waren gelang es, weit genug in den wütenden Flammenwall einzudringen. Auch Wetterspitz trug einen der aus Frankreich importierten Schutzanzüge. Durch die im silbernen Kapuzenteil wirkende Kopfblase konnte er unbeschwert atmen. Er fühlte, dass sein Anzug leicht erbebte. Offenbar wurde der Hitzeschutz bis aufs äußerste beansprucht. Dazu kam noch der durch das überheiße Feuer erzeugte Wirbelsturm, der Wetterspitz fast von den Beinen riss. Er fühlte, wie die aufgeheizte Luft von außen sofort in den Himmel emporgerissen wurde, noch ehe sie im Zentrum des Infernos ankam. Das Zentrum war im wesentlichen ein rot glühender Krater. Dieser war klar als Explosionsherd erkennbar. Wetterspitz fühlte, wie seine vom Anzug geschützten Füße in die aufgeweichte Masse einsanken. Da wo das Feuer wütete war das Erdreich verbrannt und das Gestein angeschmolzen wie vulkanische Lava. "Hier hat wer entweder hundert Drachenfeuerstöße auf einmal freigesetzt oder gegen alle Beteuerungen der Zaubereitheoretiker, es gäbe die christliche Hölle nicht, ein Tor dorthin aufgestoßen", meinte einer der Feuerwehrleute. Andronicus Wetterspitz argwöhnte schon, dass hier Dämonsfeuer im Spiel war. Doch seine Kameraden von den Lichtwachen hatten bereits mit dieser Möglichkeit gerechnet und von weiter außen dagegen angezaubert. "Kein incantatives Feuer, eher höhere Alchemie pyrogener Prozesse", dozierte ein Brandbekämpfungszauberer, der wie Wetterspitz einen Duotectusanzug angelegt hatte.

"Kriegen Sie das Inferno gebändigt, oder brauchen Sie Verstärkung?" fragte Wetterspitz. "Ich habe schon Verstärkung mit Gefrierwasserbehältern und Vereisungskristallen angefordert. Vielleicht ist auch Grünstaub angezeigt."

"Grünstaub erst, wenn fremdes Hab, Gut oder Leben unmittelbar bedroht werden könnte", sagte Wetterspitz.

Es dauerte jedoch eine halbe Stunde, bis die magischen Brandbekämpfer mit den herbeigeschafften Ausrüstungsmitteln und dem wasserlosen Brandlöschzauber die turmhohen Feuerzungen niedergekämpft hatten. Als es endlich möglich war, den entstandenen Krater genauer zu untersuchen eilten gleich drei Lichtwächter mit Rückschaubrillen dorthin. Auch Wetterspitz nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Was er mit der Rückschaubrille sah machte ihn wütend. Wie hatten seine Lichtwachen und er derartig blind sein können?

Eine Stunde nach dem Alarm sprach Wetterspitz bei seinem obersten Vorgesetzten persönlich vor. "Heinz, zunächst einmal biete ich an, von meinem Amt zurückzutreten. So fahrlässig wie ich mich benommen habe brauchen wir keine außenstehenden Feinde mehr, um uns zu vernichten."

"Was soll denn das für eine Einleitung sein, Herr Wetterspitz. Berichten Sie gütigst sachlich und umfassend!" befahl der Minister. Dies tat Wetterspitz dann auch. Als er ausführte, dass es so aussah, als wäre kurz vor Hellers Flucht ein geisterhaft blau schimmerndes Wesen, den Ausprägungen nach weiblichen Geschlechts, bei ihm gewesen wollte der Minister schon wissen, ob dieses gespenstische Wesen Heller zur Flucht getrieben hatte. Wetterspitz wollte das nicht konsequent ausschließen. Als er dann noch voller Wut berichtete, wie sich Heller von seinem Hauselfen die angelegte Ortsmeldeschelle vom Bein hatte lösen lassen meinte er: "Mir war nicht bewusst, dass diese Überwachungsvorrichtung derartig ausgeschaltet werden konnte. Ich ging bis dahin davon aus, dass die fünf Unzerstörbarkeits- und Unablösbarkeitszauber ausreichten. Aber offenbar hat sich Heller einen Gegenstand anfertigen lassen, der sämtliche Zauber aus einem am Körper getragenen Gegenstand herauszieht."

"Haben Sie wirklich einen bartlosen Schlüssel mit leuchtenden Runen gesehen, Herr Wetterspitz?" fragte Güldenberg. Wetterspitz bejahte es und erwähnte auch, dass einer seiner Untergebenen diesen Schlüssel als koboldgefertigten Universalöffner mit Zauberschwächungsbestandteil bezeichnet hatte. "Genau das macht der Schlüssel, Andi. Unsre Experimentalabteilung hat zwei davon abgefangen und untersucht. Ergebnis, wenn er an ein magisch verriegeltes Etwas, eine Tür, ein Fenster oder eben eine Fessel gedrückt wird knackt das Ding alle Zauber. Was den Körperanhaftungszauber anging wurde der ganze Körper mit abstoßender Magie durchspült, bis die Fessel selbst jede Kraft verlor. Dann ließ sie sich wohl so abnehmen, wie du es gesehen hast", erwiderte der Minister jetzt die persönliche Anrede gebrauchend. "Da bin ich schon über dreißig Jahre mit dabei und lern doch noch jeden Tag was neues", schnaubte der oberste Lichtwächter. "Das konntest du auch nicht wissen, weil das eine Sache zwischen unserem Koboldverbindungsbüro, unserem internen Sicherheitsdienst und mir war", beruhigte ihn Heinrich Güldenberg. "Jedenfalls interessiert mich, wer die blaue Geisterfrau war. Du sagtest, sie habe auch einen Zauberstab benutzt und Heller habe dabei ganz abwesend dreingeschaut?" Wetterspitz bejahte es und gab auch gleich die ihm einzig zutreffende Vermutung aus: "Kein Imperius, sondern ein Gedächtniszauber. Die hat dem eine falsche Erinnerung untergejubelt. Die hat ihn zur sofortigen Flucht veranlasst." Güldenberg nickte eifrig. "Ruf alle Lichtwachen an, sie sollen nach Heller und / oder seinem Hauselfen suchen!" befahl Güldenbergt. Andronicus Wetterspitz musste sich sehr stark beherrschen, um nicht lauthals zu lachen.

"Du weißt, dass Hauselfen selbst mit einem erwachsenen Zauberer an der Hand um die halbe Erde apparieren können, Heinz? Außerdem lassen sich Hauselfen nicht einfangen, weil deren appariervorgang ganz anders abläuft als bei uns. Heller sitzt bestimmt weit ab von uns und grinst über seinen feurigen Abgang. Vielleicht meint er sogar, dass wir ihn für tot halten."

"Dabei weiß ich, dass er den Lichtwachen und der Katastrophenumkehr an die zehn Rückschaubrillen beschafft hat, mit denen wir sehen können, ob er starb oder noch rechtzeitig ausgebüchst ist. Mich interessiert eben in diesem Zusammenhang, wer die blaue Frau war und welchen Vorteil oder welche Vorteile sie aus der Beeinflussung Hellers hatte. Wir dürfen aber als sicher annehmen, dass Heller alle ihn unmittelbar betreffenden Unterlagen mitgenommen hat. Alles was in seinem Haus noch an Wert besessen hat dürfte nun in den Wolken dahintrreiben. Der Minister wollte ihm da nichtt widersprechen.

"Es lohnt sich jedenfalls nicht, Heller zur Fahndung auszuschreiben", meinte der Minister nach einer Minute. "Erst wenn er hier wieder auffällig wird können wir ihn festnehmen oder besser festnehmen lassen." Dem stimmte Andronicus Wetterspitz zu.

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Es pingelte in seinem linken Ohr. Nachrichtenunterhelfer Neckblick hatte seit Giesbert Hellers unerhörter Entlassung darauf gewartet, ob der ihm oder besser der Zweigstelle von Gringotts eine Nachricht zukommen lassen konnte. Als er mit Erlaubnis des Nachrichtenschlägers vom Dienst aus Gringotts hinauseilte und außerhalb unter der Erde entlang bis zu einer Eiche im Teutoburger Wald aus dem Boden schnellte sah er gleich, dass jemand den heimlichen Briefkasten benutzt hatte. denn etwas musste den Erdboden zwischen den Wurzeln aufgegraben und etwas hineingelegt haben. Dabei hatte derjenige den von Heller eingerichteten Meldezauber ausgelöst, dessen Gegenstück Neckblicks Ohrring war. Neckblick strich mit seinen langen Fingern über den Boden und beschwor die Kraft der Erde, alles darin vergrabene freizugeben. Auf diese Weise bekam er die kleine Schachtel zu fassen und fand den zusammengefalteten Zettel mit Hellers Handschrift darin. Heller hatte die Nachricht gleich im Glockencode der Kobolde abgefasst, dass sie gleich weitergeleitet werden konnte.

Als Neckblick den Boden wieder verschlossen hatte jagte er unter der Erde zurück bis zum Grenzbereich der Zweigstelle Frankfurt und schlüpfte durch einen der für Menschen unsichtbaren und unbetretbaren Personaleingänge. Drei Minuten später las der Nachrichtenschläger vom Dienst die Botschaft und prüfte, ob der Verfasser sie in der festen Überzeugung, dass dies auch die Wahrheit war, aufgeschrieben hatte. Denn die Gläser des wahren Blickes konnten nicht nur Verkleidungen oder Verhüllungen durchdringen, sondern auch absichtliche Lügen von ehrlichen Mitteilungen unterscheiden. "Er glaubt es, weil er meint, es selbst so mitbekommen zu haben, Neckblick. Gut, ich läute alle Zweigstellen an", sagte er. "Du unterrichtest den Zweigstellenleiter. Vielleicht will der gleich eine weitere Nachricht durchläuten lassen." Neckblick bestätigte den Befehl und eilte, ihn auszuführen.

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Eigentlich hieß er Wittgrip und war bis zum großen Massaker am Haus der zehntausend Augen und Ohren ein 100-Hände-Führer, also jemand, vor dem seine Artgenossen besonders viel Angst hatten. Denn wenn die ausführenden Hände des alles sehenden und regelnden Bundes anklopften hieß das meistens Ungemach. Doch weil er seit dem gemeldeten Tod vom Vater aller Augen keine Nachricht mehr von einem Leitwächter erhalten hatte blieb ihm nur, gemäß des Falles "Eisernes Schloss" Stillschweigen und Unauffälligkeit zu bewahren. Deshalb arbeitete er in seiner zweiten Identität als Fundstättenprüfer Boottrack, die er seit zehn Jahren benutzen konnte, um für den Bund, der alles sieht und hört die Nachrichten in Gringotts zu überwachen.

Gerade ließ er einen schwarzverschmierten, meilen weit nach purem Steinöl stinkenden Brocken im Schmelzofen seines Arbeitsraumes zergehen, um aus den dabei freiwerdenden Dämpfen und Einzelflüssigkeiten abzulesen, ob es sich lohnte, die in Kuweit wiederentdeckte Goldmine von vor fünfzig Jahren wieder auszubeuten. Doch wenn da wirklich eine Erdölquelle in der Nähe angebohrt worden war war jeder Stollen voller gefährlicher Gase, die beim kleinsten Funken entflammten oder gar alles im Umkreis mit lautem Getöse in die Luft sprengten.

Als der unter seiner Feuer- und säurefesten Schutzkleidung angebrachte Silberknopf zu zittern begann schlugen gerade kleine Flammen aus dem zerkochenden Probestück. Es pingelte und klackerte, als die im Ofen verbauten Stoffprüfvorrichtungen die freigesetzten Dämpfe auswerteten. Boottrack musste noch warten, bis es keine weiteren Verpuffungen mehr gab. Erst dann konnte er sich in die feuerfeste Schreibstube neben seinem geräumigen Arbeitsbereich zurückziehen und die Schutzkleidung abstreifen. Darunter trug er ein dünnes blaues Hemd mit silbernen Knöpfen. Der dritte von unten war der, auf den es gerade ankam.

Aus der Innentasche des Hemdes fischte er einen winzigen Ohrstecker mit eingraviertem Glockensymbol, tippte damit dreimal gegen den dritten Knopf von unten und steckte ihn sich ans rechte Spitzohr. Sofort erklang eine wie gegen eine Metallplatte gesprochene Mitteilung:

"Von Zweigstelle Gringotts Frankfurt am Main, Dringlichkeitsruf Stufe drei.

Achtung, an alle Zweigstellen! gelber Drache! Gringotts Frankfurt, München, Berlin und Hamburg zum Sturm durch Minister und Zwerge am zehnten März vorgesehen. Muss mich absetzen! Fall "Wechseltaler" nun doch akut. Empfehle Absicherung aller Zweigstellen und Zusammenkunft aller Zweigstellenleiter für abgestimmtes Vorgehen.

Dies war meine letzte Meldung! Goldhand"

"Wechseltaler?" fragte sich Boottrack. Er bedauerte jetzt, dass er mit keinem Leitwächter mehr sprechen konnte. Die wussten sicher, was damit gemeint war. Aber womöglich wusste auch der Zweigstellenleiter von London das. Auf jeden Fall hatte sich das kleine Mithörohr unter dem Glockengestell bewährt. Offenbar hatte Goldhand, wer immer das war, mitbekommen, dass das deutsche Zaubereiministerium die Gringottsniederlassungen in Deutschland erstürmen wollte. Dann konnte die Bezeichnung "Wechseltaler" bedeuten, dass Güldenberg das bisher bei den Kobolden liegende Goldverwahrungs- und Goldwertbestimmungsrecht an eben die Zwerge übertragen wollte. Falls das so war würde es einen gewaltigen Aufruhr zwischen seinen Artgenossen geben. Allerdings musste er sich dabei erst einmal zurückhalten. Keiner durfte wissen, dass er einer der letzten wackeren Mitstreiter des alles überblickenden Bundes war, der eigentlich nicht mehr bestand. Doch sicher würde der neue Zweigstellenleiter in London eine Antwort verschicken und mit seinen Kollegen eine Aussprache vereinbaren.

Was er nun tun musste war, seinen Leuten von der Ausbeutung der Mine in Kuweit abzuraten. Die Gefahr einer Ölgasentzündung war zu groß. Das gab er dem Zweigstellenleiter persönlich, damit er den Kollegen in Kuweit benachrichtigen konnte.

Nur eine halbe Stunde später erfuhr der Kobold, der sich Boottrack nannte, dass von London aus die Einladung zu einer Zusammenkunft der Zweigstellenleiter für den achten März verschickt wurde. Da der Zweigstellenleiter London zugleich auch der Hauptgeschäftsführer von Ganz Gringotts war galt eine von ihm verschickte Einladung wie ein Befehl. Also würde es am achten März vor dickbäuchigen Silberstuhlwarmhaltern nur so wimmeln, dachte einer der letzten treuen Mitstreiter der zehntausend Augen und Ohren.

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"Brumm Brumm Brumm! Im Wespennests geht's um!" sang Diana Camporosso, als sie in einer Weiterführungskammer des fast ausgelöschten Geheimbundes der Kobolde die Glocken läuten hörte. Da Deeplook natürlich alle Glockenzeichen kannte konnte sie sogleich verstehen, was da gerade vorging. Ihr Streich mit Heller hatte gesessen. Der nächste würde die Gefangennahme der versammelten Zweigstellenleiter sein. Doch dafür brauchte sie mindestens zehn Vollstrecker und die nötigen Waffen. Wo es letztes gab hatte sie dem unabnehmbaren Helm entzogen. Wo es erstes gab würde ihr das Tausendhorn unter den Bergen von Irland verraten. Erst wollte sie abwarten, bis alle aufgescheuchten Wespen sich wieder beruhigt hatten und sie wusste, wann und wo genau die Zusammenkunft stattfand. Dann hörte sie noch mit, dass ein gewisser Meister Mondbart anfragte, was an dieser Mitteilung dran war. Dann kam noch eine Meldung, dass Vertrauensmann Goldhand - so hatte sich Heller also nennen lassen - wie erwähnt geflüchtet war und sein Haus mit vorbereiteten Höllenglutgasladungen dem Erdboden gleichgemacht hatte. Tja, das würde den deutschen Zaubereiminister sicher auf den Plan rufen. Der mochte sich dann mit jenem Meister Mondbart unterhalten, warum Heller nicht mehr da war. Sicher, Mondbart würde ihm nicht auf die Nase binden, dass Heller ihm und seinen Landsleuten zugespielt hatte, dass Güldenberg nun doch mit Malins versoffenen Langbärten zusammenging. Sicher würden die erwähnten Zweigstellen höhere Schutzvorkehrungen einrichten.

"Vorschlag: Letzter Glockenschlag für alle deutschen Gringottszweigstellen auf zehnten März einrichten und am neunten evakuieren", hörte Diana eine weitere Glockenbotschaft mit, die aus Brüssel kam. Darauf erfolgte nach der üblichen Zeit die Antwort: "Wohl ein Fresswurm im Kopf? dann kriegen die doch mit, was wir denen für ein Felsenwühlerei gelegt haben. Nein, die Zusammenkunft soll das klären. Wir wollen vollständiges Rückkehrrecht und eine Blutgarantie, dass Gringotts nie wieder behelligt wird und dass wir für die gewaltsame Abschiebung eine angemessene Entschädigung bekommen." Das war wohl ein Zweigstellenleiter im Exil, dachte Diana. Denn er hatte nicht mit dem für einen hauptamtlichen Zweigstellenleiter üblichen Kennzeichen gegrüßt.

Es war doch die bessere Idee gewesen, Heller und den Elfen mit einem Gedächtniszauber zu belegen, dass der Elf glaubte, nur beim Einkaufen gewesen zu sein und Heller sich an jene schicksalhafte Unterhaltung erinnerte. Das war besser, als ihn die ganze Zeit unter dem Imperius-Fluch zu halten. Gut, dass der Bund die nötigen Unterlagen hatte, um zu wissen, wo Hellers Hauself üblicherweise die Lebensmittel einkaufte. Gewusst wo und gewusst wie dachten die kleine Glashelmträgerin und der in ihr eingesperrte Gründer des einst mächtigsten Geheimdienstes aller Kobolde. Die Saat war gelegt, die Kobolde selbst würden dafür sorgen, ob sie in Dianas Sinne aufging.

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Pierroche, der Leiter von Gringotts Frankreich ließ sich die Nachrichten aus Frankfurt am Main und London vorlesen. "Goldhand ist der ehemalige Ansprechpartner der deutschen Kollegen, Giesbert Heller. Offenbar erfuhr er von dieser Unternehmung und musste deshalb flüchten. Aber wir sollten schon davon ausgehen, dass der Vertrag mit Ministerin Ventvit eingehalten wird. Doch um der Geschlossenheit und des Informationsaustausches vor Ort wegen werden Monsieur Bourdac und ich als Vertreter Frankreichs bei dieser Zusammenkunft sein", erklärte Pierroche seinen ranghöchsten Mitarbeitern im Verwaltungsgebäude hinter dem Prunkbau von Gringotts Paris.

Eine Viertelstunde später stand fest, dass auch der Gesamtsprecher Deutschlands mit den Leitern der bedrohten Zweigstellen bei jener Zusammenkunft anwesend sein sollte. Pierroche dachte daran, welche übergeordnete Verpflichtung ihm auferlegt worden war. Er durfte niemanden aus Millemerveilles an Hab und Gut, Leib und Leben gefährden, so die unter der Wirkung des unter Kobolden selbst geächteten Befehlswortes erteilten Anweisungen. Er konnte nur hoffen, dass die Zweigstellenkonferenz keine neuerliche Generalschließung von Gringotts beschloss. Diesem Beschluss würde er sich wohl widersetzen müssen.

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Die Tage zwischen dem sechsten und achten März nutzte Julius Latierre, sich auf die Reise nach Gotland vorzubereiten. Da die Ministerin die Außendienstmitarbeiterin der Sicherheitsabteilung Britta Gautier als Übersetzerin mitnehmen wollte konnte Julius die wichtigsten Wörter und Wortwechsel auf Schwedisch erlernen, um ähnlich wie im Auslandsurlaub zumindest Guten Tag, Guten Abend, Auf Wiedersehen, Bitte und Danke sagen zu können. Barbara Latierre nutzte diesen inoffiziellen Grundkurs ebenfalls aus, auch wenn sie erwähnte, dass sie mit den schwedischen Fachkollegen bisher entweder Französisch oder Englisch gesprochen hatte und sich die Teilnehmer sicher auf weine für alle verständliche Konferenzsprache einigen würden und es da wohl eher Julius war, der den anderen noch was beibringen mochte.

Brittany hielt die Latierres über die Zaubererwelt in den Staaten auf dem laufenden. "Im Moment deutet alles darauf hin, dass es in den nächsten Monaten eine Reunion geben wird, Julius. Offenbar sind die Regionalfürstinnen und -fürsten doch sehr unzufrieden mit den Handelsmöglichkeiten. Und es sieht verflixt nach einer Wiederauferstehung des Makusa aus, Julius. Die Geschichtsstunden gaben her, dass dieser Kongress sehr strickt und vorbestimmend gewirkt hat, angeblich nur zum Schutze der magischen Mitbürger, damit sowas wie Salem 1692 nicht noch einmal passiert."

"Ich habe das Buch über die Geschichte der Zauberei in Nordamerika durch, Britt. Das waren schon heftige Zeiten damals", erwiederte Julius darauf. Kommen diese Zeiten jetzt wieder zurück?"

"Möglich ist das. Der Makusa kann in bestimmten fällen zentrale Macht ausüben, und wer immer Präsident oder Präsidentin wird hat mehr Machtbefugnisse als ein Zaubereiminister, weil er oder sie sich ja darauf berufen kann, von der Bevölkerung direkt gewählt zu werden", sagte Brittany. "Ja, was ihm oder ihr ermöglicht, ohne Rücksprache mit dem Rat der Direktgewählten und dem Rat der Institutionsvertreter reden zu müssen Erlasse beschließen und durchsetzen kann", sagte Julius. "Gut, aber das konnte doch der Zaubereiminister vorher auch."

"Ja, nur mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass ein Makusa-Präsident auch rechtliche Urteile fällen kann, ohne den Rat der Richter oder ein rangniedrigeres Gericht darüber verhandeln zu lassen. Will sagen, wenn es dem Präsidenten passt, lässt er wen einsperren oder hinrichten, oder er gibt einen nach rechtlichen Erwägungen überführten Straftäter die Freiheit, wenn der dafür eine Gegenleistung erbringt. Das konnte der Zaubereiminister nicht. Wenn die jetzt dieses halbdiktatorische System wiederhaben wollen könnte es hier in den Staaten noch ziemlich bitter werden", sagte Brittany.

"Ja, und jeder Zauberstab muss registriert sein, habe ich gelesen", sagte Julius.

"Was ich selbst nicht so verkehrt finde", erwiderte Brittany. Julius wiegte den Kopf und nickte dann. Eine gewisse Absicherung sollte schon sein.

Als Julius alle Neuigkeiten der letzten Tage gehört hatte beendeten Brittany und er die Bild-Sprech-Verbindung über die besonderen Armbänder aus der Villa Binoche.

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Deeplooks Wissen und sein Seelenglashelm beschützten sie, als sie am späten Abend des siebten März menschlicher Zeitrechnung ein mit Fallen und Verwirrzaubern gespicktes Labyrinth unter den westirischen Bergen durchquerte. Die Verwirrungszauber entluden sich um sie herum als silberne Lichtentladungen oder himmelblaue Seifenblasen. Sie trat zielsicher auf jene Bodenplatten, die eine in Wänden oder Decke lauernde Falle blockierten, schlüpfte unter für Menschenaugen kaum sichtbaren Auslösefäden hindurch und öffnete Geheimtüren, weil sie wusste wie viele Finger sie an welcher Stelle an die Wand legen musste. Dass sie keine reinblütige Koboldin war schien die Sicherheitsvorrichtungen nicht zu kümmern. Womöglich wirkte auch Deeplooks Glashelm als eine Art Generalschlüssel, sofern sie das richtige Schlüsselloch traf.

Der im Helm wirkende Unbeeinflussbarkeitszauber löschte eine starke Illusion vor ihr auf und enthüllte ihr eine gerade fußbreite, sich sacht über eine Grube mit glühenden Spießen schlängelnde Brücke. Wer die Illusion voll abbekommen hätte wäre garantiert auf dem Weg über den zwanzig Meter tiefen Abgrund abgestürzt und von den ttödlichen Spitzen durchbohrt und dabei noch verschmort worden. Als sie die dünne Schlangenbrücke überquert hatte dachte sie die Frage, warum sie nicht hier unten den Hauptstützpunkt der zehntausend Augen untergebracht hatten. Die sofortige Erinnerung Deeplooks verriet ihr, dass er damals wirklich geplant hatte, hier den Hauptstützpunkt zu unterhalten. Doch dann sei es besser gewesen, die schottischen Berge zu nehmen, weil dort mehrere Knoten sich kreuzender Erdmagieströme gefunden worden waren, die bei der Errichtung des Stützpunktes sehr hilfreich gewesen waren. Diana musste daran denken, dass dies bei der heftigen Erdmagiewoge vom 26. Dezember 2004 zum Verhängnis geworden war. Dem konnte der in ihr gefangene Vater aller Augen nicht widersprechen.

Endlich erreichte sie einen dunkelblauen Vorhang. Deeplooks in ihr erwachten Erinnerungen verrieten ihr, dass der aus den Häuten getöteter Wassertrolle gemachte Vorhang mit dem Zauber Mitternachtseis belegt war. Wer ihn ohne die nötigen Vorkehrungen berührte fror daran fest und verlor innerhalb von zwanzig Herzschlägen alle Körperwärme und damit das Leben. Doch sie kannte ja die Vorkehrung. Sie ging an die Rechte Wand und kniete sich hin. Dann tastete sie behutsam die Wand ab. Ja, unter einer gut tarnenden Schicht aus der grauen Haut eines erlegten Felsenwühlers fühlte sie eine zehnstrahlige Sonne. Sie zählte im Uhrzeigersinn die Strahlen durch und tippte dann je zweimal auf die geradzahligen Strahlen, mal an den Spitzen, mal direkt nach dem Austritt aus der Sonnenscheibe. Der Boden bebte kurz. Dann rauschte es. Wie in einem Theater hob sich der tödliche blaue Vorhang in die Höhe, rollte sich auf einer knapp unter der zehn Meter hohen Decke verlaufenden Walze auf. Diana Camporosso musste warten, bis es dreimal klickte. Jetzt war der letzte Vorhang gesichert. Sie konnte nun durch die ebenfalls getarnte Tür.

Im Licht ihres Zauberstabes glänzte es golden. Boden und Wände waren mit beinahe spiegelnden Platten bedeckt. In der Mitte der rechteckigen Halle ruhte auf drei Stützen ein fünf Kobolde langes, golden glitzerndes, mit unzähligen Koboldrunen geschmücktes Horn. Das war das Tausendhorn. Wer es schaffte, die Menge Luft hineinzublasen, die ein Übergroßer mit einem Atemzug in seine mehr als Koboldgroßen Lungen einsaugen konnte der oder die konnte den Sammelrufton ausstoßen. Wer eine Nachricht weitergeben wollte musste vor dem Hineinblasen eine silberne Folie um die Mitte des Mundstücks legen. Die Runen für reisende Worte und ferne Rufe würden den geschriebenen Text dann auf den Tönen des Hornes ans Ziel befördern. Da Kobolde nun mal keine Übergroßen oder Riesen waren und Diana ihre ehemalige Rosenschwester Celestina nicht mehr wiedergefunden hatte blieb ihr nur jener Kunstgriff, mit dem Deeplook und die ihm direkt unterstellten Hornbläser dieses magische Musikinstrument zum klingen bringen konnten. Sie holte aus ihrer verschließbaren, rauminhaltsbezauberten Außentasche ihres dunklen Drachenlederkostüms einen Gummischlauch heraus, der fast so dick wie ihr Arm war. An dem knapp drei Meter langen Schlauch hing eine Druckflasche aus mit Koboldsilber außen und innen beschichtetem Triamantstahl. Darin steckte die vor einem Tag mit einem Blasebalg hineingepumpte Luft von mindestens hundert menschlichen Atemzügen. Sie legte die hervorgeholte Druckflasche behutsam auf den Boden. Dann zog sie noch einen silbernen Folienstreifen hervor, auf dem sie bereits die zu übermittelnden Worte geschrieben hatte:

An die lebenden Leitwächter. Im Namen der vier Grundsätze Wachsamkeit, Aufmerksamkeit, Entschlossenheit und Gründlichkeit verkünde ich, Deeplook, der Vater aller Augen, dass ich nach schändlichem Ableben durch die Gnade unserer allgebärenden Mutter, der ewig fruchtbaren, einen neuen Leib mein eigen nennen darf. Ich rufe euch alle, die ihr das Horn vernehmt im Namen der vier Grundsätze zum Treffen am grauen Stein der verbindlichen Worte zusammen. Denn wahrlich, es gibt viel zu tun um unser erhabenes Geschlecht vor dem endgültigen Sturz in den tiefsten Abgrund zu bewahren. Ich werde unverzüglich dorthin reisen und jeden überlebenden Leitwächter und seine getreuen Vollstrecker dort erwarten. Seid weder verwundert noch argwöhnisch, dass ich euch im Leibe eines Weibes entgegentrete, es war die einzige Möglichkeit, mein Sein vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren. Sie ist mir untertan und dient mir als lebendes Gefäß meines weiteren Wirkens.

Gehorcht mir, dem Vater aller Augen, Deeplook

Diana zog das Ende des Gummischlauches über das Mundstück des Hornes. Dann drehte sie das Ventil an der Druckflasche langsam auf. Es zischte. Mehr und Mehr Luft strömte in das Horn. Es begann sanft zu erbeben. Dann entrang sich ihm ein tiefer, dumpfer Ton, der bei jeder weiteren Umdrehung lauter und klarer wurde. Jetzt klang es mittelhoch und weithallend. Diana drehte noch eine kleine Spur weiter auf. Jetzt hatte sie den bestmöglichen Ton. Das Horn vibrierte auf seinen Stützen. Sie hörte aus dem langen Ton die in Koboldogack verfassten Worte vom Silberstreifen. Ja, sie wurden in den fortwährend klingenden Ton eingefügt. Diana meinte, dass jemand ihr dicke Ohrenschützer überstülpte. Die Halle erbebte unter dem einen klaren Ton des Tausendhorns und der immer wieder davon getragenen Botschaft, die auf Wind- und Erdmagische Weise in die Ferne getrieben wurde, um in den hoffentlich bereitliegenden Signalhörnern der überlebenden Leitwächter nachzuklingen. So ging es die ganze Zeit, bis alle in der Flasche zusammengepresste Luft in das Horn geströmt war und sein Dauerton zu einem unmelodischen Brummen und Schnarren abschwoll. Dann schwieg es vollständig. Das Gefühl, dicke Ohrenschützer zu tragen verschwand wieder. Deeplooks gläserner Helm hatte sie vor dem unerträglichen Lärm beschützt, ihre und somit auch seine Ohren vor dauerhaftem Schaden bewahrt.

Der über das Mundstück gewickelte Silberstreifen glitt von selbst herunter, schlängelte sich im Fall noch einmal und schlidderte einige Meter weit über den Boden. Diana hob den Streifen auf und erkannte, dass die darauf aufgetragene Schrift vollkommen verschwunden war. "Das Horn hat alles in sich aufgesogen und in den freien Raum geblasen", empfand sie einen Gedanken Deeplooks. Also war die Botschaft gesendet.

Diana dachte über die versandten Worte nach. Einmal hatte sie befürchtet, eine selbsterfüllende Prophezeiung aufzuschreiben. Doch Deeplook hatte nicht versucht, ihren Körper zu übernehmen wie er es gleich nach dem Aufsetzen des Helmes geschafft hatte. Noch wirkte Ladonnas in eine Tontafel eingravierter Bannspruch. Diana verstand, warum sie diesen Text verschicken musste. Wer immer auf ihn antwortete musste überzeugt sein, es mit dem alle überlebenden Vater aller Augen zu tun zu haben, der nur aus Not den Körper einer koboldstämmigen Frau besetzt hatte. Wie es wirklich war durften die noch lebenden Mitglieder des Bundes nicht erfahren, sonst war sie des Todes.

Diana verließ die Halle des Tausendhornes wieder. Kaum war sie fünf Schritte davon fort lösten sich laut klackend die Sicherungen des aufgerollten Vorhanges, und der mit tödlichem Eiszauber erfüllte blaue Stoff fiel rauschend bis zum Boden herab, schwang noch einige male, warf leichte Wellen und hing dann still. Die besondere Absicherung verwehrte nun wieder den Weg zum Tausendhorn.

Um rechtzeitig zum ausgerufenen Zeitpunkt zum festgelegten Treffpunkt zu kommen nutzte Diana einen anderen Teil des Labyrinthes und eilte mehrere Wendeltreppen hoch, wobei sie Deeplooks inneren Anweisungen folgend mal eine Stufe übersprang und mal drei auf einmal, um nicht doch noch einer Falle für Unerwünschte zum Opfer zu fallen. Dann erreichte sie die aus massiven Steinplatten gemachte Ausgangstür. Hier musste sie fünf verschiedene Stellen berühren und dabei die Losungsworte wispern, die die Verriegelung lösten. knirschend sprangen zehn unsichtbare Riegel auf. Dann erzitterte das Tor. Leise schabend glitten die zwei drei Kobolde hohen, einen gut genährten Kobold dicken Steinplatten zur Seite. Der Weg aus der alten Hauptniederlassung war frei.

Zweihundert Schritte von dem sich wieder verschließenden Tor entfernt konnte Diana gefahrlos disapparieren. Sie erschien gemäß der von Deeplook erheischten Zielvorgabe bei einer baumhohen grauen Steinsäule, die in der Nähe von Tara stand und durch einen unterirdisch angelegten Steinkreis vor fremden Blicken sicher war.

Diana fühlte die mächtige Ausstrahlung, die von der grauen Säule ausging. Sie fühlte, wie etwas von ihrem behelmten Kopf ihren Körper hinabglitt und ihn wie eine sanft bebende warme Decke umwickelte. Sie sah ihren Körper in einem schwach glimmenden, größtenteils durchsichtigen grünen Schleier gehüllt und wusste, warum das geschah. Denn eigentlich duldete die graue Steinsäule kein weibliches Wesen in ihrer unmittelbaren Nähe. Dafür standen auch die für sie grün-blau flirrenden Koboldrunen für Vaterschaft, Manneskraft und Kampfesmut. Doch offenbar bewahrte Deeplooks Helm sie davor, abgewiesen oder vernichtet zu werden.

Ihr war auch, als wenn sie gestern erst hier gewesen wäre. Alle Kenntnisse über den grauen Stein und die ihn unterirdisch umstehenden Schutzsteine hatte Deeplook damals mit seinen zehn höchsten Vertrauten erschaffen, um das unter ihm liegende Erdreisetor vor feindlicher Entdeckung und Benutzung zu schützen. Zudem war jeder Eid, der in weniger als zehn Schritten von ihm entfernt geschworen wurde unbrechbar, vor allem für Kobolde. Ebenso konnten sie sich an ihm von schweren Verletzungen, tödlichen Krankheiten oder Vergiftungen heilen lassen. Die von ihm gebündelten Kräfte von Erde, Sonne und Mond machten es möglich.

Diana fühlte, wie sich Deeplook regelrecht an der Kraft auflud, die dem Stein entströmte. Sie bot deshalb Widerstand auf, falls er doch versuchen mochte, sich wieder ihres Körpers zu bemächtigen. Tatsächlich erbebte ihr Körper heftig. Der grünliche Schleier um sie flackerte. Sie hörte Deeplooks entschlossene Stimme: "So sei, was geschrieben wurde, Weib. Sei mir ..."

Diana stemmte sich gegen Deeplooks Kraft. Da meinte sie, einen grellen Blitz vor ihren Augen zu sehen. Sie hörte Deeplook und sich gleichzeitig aufschreien und dennoch die Stimme Ladonnas wie in einer weiten, widerhallenden Halle sagen:

"Halte ihn dir fest und treu,
dass sein Wissen deines sei.
So wie es gesagt so soll es sein."

Sie fühlte, wie Deeplook sich wieder in sie zurückzog. Sie hörte sein gedankliches Wimmern. Der grüne Schleier kam wieder zur Ruhe. Da wusste Diana, dass die von Ladonna aufgeschriebene und laut verlesene Bannformel stärker war als der graue Stein, der offenbar nicht nur körperliche Beschwerden heilen konnte.

"Wann wolltest du es mir mitteilen, dass dieser Stein auch auferlegte Zauber aufheben kann?" fragte Diana. "Wenn ich es vollbrachte, dieses Joch von mir abzuschütteln, dass deine verwehte Herrin mir auferlegte, mich in dir einzuschließen. Doch offenbar gebot sie mit dem Griffel des ewigen Schreibers über mehr Kraft der Allgebärerin als wir damals in den grauen Stein hineinriefen", gedankenwimmerte Deeplook. "So bleibe mir allein unterworfen und immer aufrichtig, egal was ich von dir wissen oder können will!" befahl Diana in Gedanken. Ihr behelmter Kopf erbebte eine Sekunde. Dann hörte sie wie aus großer Ferne Deeplooks Stimme: "Ja, ich bin dein Diener, Diana Camporosso."

Nachdem dies hoffentlich ein für allemal geklärt war dachte Diana an alle Ereignisse, die mit dem grauen Stein zu tun hatten. Auch wollte sie wissen, was nun alle Schlüssel der Macht waren, über die allein Deeplook geboten hatte. Denn durch den grauen Stein war ihr klar, dass diese auch für sie irgendwann sehr wichtig sein mochten. Als sie nun ohne weitere Gegenwehr von Deeplook erfuhr was es damit auf sich hatte brachte sie ihn dazu, ihr jene Formel zu verkünden, mit der sie sich dem Stein gegenüber legitimieren konnte. Mit der erfahrenen Kombination aus Berührungen und Worten bewirkte sie, dass der graue Stein für zehn Herzschläge im selben grünen Licht erstrahlte wie die sie umhüllende Schutzaura. Dann erlosch das Licht. Auch der grünliche Schleier um Dianas Körper verschwand. Sie fühlte nur noch ein sanftes warmes Pulsieren auf ihrer Schädeldecke. Sie hatte sich als Deeplooks Erbin, als Trägerin seines ganzen Wissens und könnens, bestätigt. Der Stein kämpfte nicht mehr gegen ihren eindeutig weiblichen Körper und den Großteil der dazu passenden Seele an. Ab nun musste sie nur warten, bis die vom Tausendhorn erreichten Leitwächter zu ihr hinkamen. Wie viele mochten es noch sein?

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Südafrika war von den Wirren der letzten Jahre größtenteils verschont worden. Nach der Goldebbe hatten sich Gringotts Kapstadt und Johannesburg wieder gut erholt, zumal es in Südafrika eigene Goldvorkommen gab und hier keine Zwerge wohnten.

Unter der Leitung von Meister Kieselbart, der die ehemalig britischen Kolonien Südafrikas vertrat, hatte sich Gringotts und auch ein Teil des geheimen Bundes der alles sieht und hört aus allem herausgehalten, was nach der Goldebbe geschehen war. Zwar hatte der für Südafrika zuständige Leitwächter Bonecrack durchaus mitbekommen, dass es einen schweren Informationsunfall im Bund gegeben hatte, dem dann die allermeisten europäischen und die nordafrikanischen Stützpunkte zum Opfer fielen. Doch wer immer es geschafft hatte, den geheimen Bund der zehntausend Augen derartig zu schwächen hatte entweder keine Zeit mehr gehabt, sich auch um die Stützpunkte im südlichen Afrika zu kümmern oder es zunächst für unnötig gehalten, sie ebenso zu eliminieren wie jene in Nordafrika und Europa. So war Leitwächter Bonecrack nur darüber besorgt, dass der Vater aller Augen verstorben war. Mit ihm waren viele Geheimnisse des Bundes vernichtet worden.

als Bonecrack im geheimen Stützpunkt ostnordöstlich von Kapstadt das am Gürtel getragene Signalhorn erzittern fühlte brauchte er einige Herzschläge, um zu überlegen. Wer war noch da, der ihn anrufen konnte? Er wusste noch von zwei Leitwächtern in Simbabwe und Kenia und einem in Gambia. Was brachte die darauf, ihn anzurufen, wo der Fall "Eisernes Schloss" galt?

Bonecrack griff nach dem Horn und zog es in vielgeübter Bewegung aus dem Gürtelfutteral frei. Schnell setzte er das Mundstück an, bevor die nun aus ihm entsteigenden Worte frei hörbar wurden. Er hörte einen mittelhohen Ton, von vier Hörnern gleichmäßig gespielt. In diesem Ton vernahm er die frohe Botschaft, dass der Vater aller Augen wiedererstanden war und alle die Nachricht vernehmenden Leitwächter am grauen Stein der verbindenden Worte erwartete. Bonecrack verzog das Gesicht, weil Deeplook was von einem weiblichen Wirtskörper berichtete. Doch dann dachte der südafrikanische Leitwächter, dass es sicher Gründe dafür gab. Oder jemand hatte den Vater aller Augen in diesen Körper hineingezwungen, um ihn besser beherrschen zu können, vielleicht Ladonna Montefiori.

Bonecrack würde auf jeden Fall dem erteilten Befehl folgen.

So wie Bonecrack empfingen auch der kenianische Leitwächter Rockneck, und die in Simbabwe und Gambia tätigen Leitwächter Rockneck und Knotpick den Ruf des Tausendhornes. Jedem von ihnen waren an die 500 sehenden Augen, hörenden Ohren und Vollstrecker unterstellt. Wenn Deeplook bestätigte, dass er wahrhaftig wiedererstanden war würde er viertausend treue Gefolgsleute zur Verfügung haben. Noch war der Bundd der alles sieht, hört und regelt nicht aus der Welt.

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Godiva Cartridge geborene Sweetwater verfolgte an diesem Abend des 7. März zusammen mit ihrem angeblichen Ziehsohn Chrysander eine direkte Übertragung des Zaubererfunks HCPC 2623. Es wurde gerade darüber debattiert, wie genau eine Reunion der Zaubereigemeinschaft der USA vollzogen werden sollte. Im Verlauf der Debatte wurde immer deutlicher, dass es wohl eine Neuauflage des Makusa geben sollte. Als Tag der Reunion wurde der 15. August, der Tag des erfolgreichen Wiederstandes gegen die Zwangsrepatriierung nordamerikanischer Hexen und Zauberer, ins Auge gefasst.

"Dann werden sie wohl bald Präsidentschaftskandidaten suchen, Mom Goddy", meinte Chrysander. Seine offizielle Ziehmutter bejahte das. "Tja, ob es einer aus Buggles' alter Bande wird?" fragte Chrysander. "Das wollen wir wohl nicht hoffen, Süßer. Dann bekämen wir ja im Grunde dasselbe Elend wie unter Dime und Buggles. Nein, wenn die sich an die Zusammensetzung des letzten Makusa halten müssen sie die magischen Mitbürger abstimmen lassen", erwiderte Godiva Cartridge sehr energisch. Sie dachte schon daran, welche Ggarantien ihr die zehn großen Familien der USA bieten wollten. Reichten diese aus, um sich selbst auf das Amt der Präsidentin zu bewerben? Dann erfuhr sie auf mentiloquistischem Weg, dass ihr Großvater Anaximander es tatsächlich hingebogen hatte, dass in dem Moment, wo eine klare Entscheidung für eine Reunion fiel, alle nicht wegen Mordes und Benutzung der unverzeihlichen Flüche verurteilten Straftäter eine Generalamnestie erhalten sollten. Das betraf dann auch die wegen des Verstoßes gegen die Regel, einen wiederverjüngten Ehemann nicht als Ziehsohn großziehen zu dürfen ins Exil auf Roderics Refugium verbannte Godiva Cartridge.

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Der einstige Zaubereiminister Mexikos Piedraroja wollte seinen Ohren nicht trauen. Hatten die Fuentevivas allen Ernstes der in Südmexiko vorherrschenden Zaubererfamilie Torrealta den Fehdehandschuh hingeworfen, weil diese sich weigerten, die Vereinbarungen über alle das ganze Land betreffenden Verwaltungsrichtlinien zu unterstützen? Sicher war Don Carlos Romero, der Patriarch der Fuenteviva-Sippe, als Hitzkopf und Draufgänger bekannt. Doch dass er einem anderen Clan allen Ernstes eine offene Blutfehde androhte war dann doch unerwartet. Vor 150 Jahren hatte es um einen Urwald im Grenzgebiet zu Guatemala die letzte über drei Monate dauernde Blutfehde gegeben. Danach war das Abkommen von Yucatan geschlossen worden, demnach keine Familie der mexikanischen Zaubererwelt das Recht hatte, eine Blutfehde auszurufen. Wieso wagte Fuenteviva das nun?

Als Andrés Piedraroja selbst noch Zaubereiminister war hatte er sorgsam darauf geachtet, dass die drei größten magischen Familien Mexikos immer genug Ausgleich hatten, um sich nicht in angeblichen oder wahrhaftigen Überlebensfragen zu zerstreiten. Doch seit wie bei den Nachbarn im Norden auch in Mexiko die Regionalisierung eingekehrt war fühlten die Piedrarojas, Torrealtas und Fuentevivas sich wieder wie adelige Herrscherfamilien, kleine Königshäuser, die das einst von böswilligen Spielverderbern zur Republik ausgerufene Land unter sich aufteilen durften. Doch wem nützte diese Einteilung, wenn sich zwei der mächtigen Sippen auf einen blutigen Krieg einließen? Würde seine eigene Familie sich da heraushalten können, oder wurde sie unweigerlich mit hineingezogen und musste sich für eine bestimmte Seite entscheiden?

Piedraroja, der seit seinem Ende als mexikanischer Zauberrat der Nordamerikanischen Zaubererweltföderation als Regionalverwalter der Region um Mexikostadt eintrat wusste, dass die Torrealtas sein Territorium als Durchmarschgebiet nutzen würden. Verweigerte er ihnen diesen die Erlaubnis, hing er voll mit in der aufkommenden Fehde. Ließ er die Torrealtas beliebig durch sein Territorium reisen bekam er sicher Zunder von den Fuentevivas. Um es nicht zum äußersten kommen zu lassen sandte er an beide Streitparteien Eulen mit weißen Parlamentärsringen. Er bat darum, sich auf von keiner der beiden Seiten beanspruchtem Gebiet zu einer hoffentlich rettenden Aussprache zu treffen. Doch als seine beiden Eulen zehn Stunden später zurückkehrten lautete die zugestellte Botschaft:

Geh in Deckung, Andrés und warte schön ab, bis wir diesen Urwaldbaron unter einen seiner Bäume begraben haben!

Don Silvano Enrique Fuenteviva

Andrés, wenn du meinst, noch den für alle zuständigen Minister rauskehren zu können bau eine himmelhohe Mauer aus unlöschbaren Flammen um dein Territorium und lass diesen tollwütigen Hund Fuenteviva und seine Brut nicht durch dein Land. Sehe ich hier einen von den Hunden an einen meiner Bäume pinkeln wird deine Frau zur Witwe und deine Schwiegertöchter ebenso.

Carlos Romero Torrealta

Maggi, es wird Ärger geben", benachrichtigte Piedraroja seine Frau Margarita Elena.

"Keine Verhandlungen mehr möglich?" fragte seine gut genährte Frau, deren Mutter in den USA aufgewachsen war.

"Ich habe es versucht, Maggie. Aber was ich zurückbekam waren nur hasstriefende Drohungen."

"Kann es sein, mein geliebter Gatte, dass du nach dem Zerfall der Föderation die strammen Zügel zu locker gelassen hast, dass die von männlichem Vorherrschaftsdrang getriebenen Rassehengste jetzt durchgehen?"

"Margarita, ich habe mich nur an das gehalten, was die Gringos vereinbart haben und was unsere Mitbürger mit lautem Jubelgeschrei und Forderungen nach Aufteilung des Landes gefordert haben. Ich konnte da nicht wissen, wie unzivilisiert die beiden Sippschaften noch sind, dass sie sowas wie einen Tierbändiger nötig haben."

"Und, was machen wir?"

"Ich versuch noch, den Rat der Patriarchen einzuberufen. Vielleicht kriegen wir zusammen die zwei Streithähne ruhig. Falls nicht frag besser schon bei deinen Großeltern in Texas nach, ob wir nicht bis auf weiteres bei denen Asyl erhalten. Ich kann leider nicht mehr die ganze Ministerautorität ausspielen wie vor diesem größten aller Fehler." Damit meinte er, dass er sich auf Buggles' nordamerikanisches Großreich eingelassen hatte und deshalb zeitweilig wie eine von langen unsichtbaren Fäden gesteuerte Marionette gelebt hatte. Margarita Elena wiegte ihren silberhaarigen Kopf und überlegte. "Du willst das alles hier verlassen, es den Torrealtas zum Fraß vorwerfen und dann abwarten, wer am Ende übrigbleibt? Kann es sein, dass dir mit dem Ende von Buggles und Ladonna jede Entschlossenheit verlorengegangen ist?"

"Wir sind nicht stark genug, uns gegen zwei mehr als dreißig Leute zählenden Familien zu stellen und gleichzeitig noch die wieder frech werdenden Lykanthropen in Schach zu halten", seufzte Piedraroja. Deshalb will ich ja den Rat der Familienväter anrufen, um diese unschöne Sache noch vor dem ersten Toten beizulegen. Die zwei Streithammel sollen da noch mal klarstellen, worum es ihnen eigentlich geht", sagte Andrés Piedraroja. "Dann sieh zu, dass du die ganzen alten Herren noch erwischst! Am Ende haben die sich schon Logenplätze reserviert um zu verfolgen, wer von den beiden am Ende übrigbleibt", schnarrte Margarita Elena Piedraroja. "Ich darf bei der Lage in den Staaten nicht davon ausgehen, dass meine Großeltern uns zwanzig auf ihrer Rinderfarm unterbringen wollen." Ihr Mann verstand das. In den Staaten gährte es ebenfalls, wenngleich die dortigen Familien sich außerhalb der Verwaltungsstrukturen einig waren, dass es keinen offenen Bürgerkrieg geben sollte. Der würde den Gringos doch nur die guten Handelsbilanzen verderben. Wieso kam in Mexiko keiner darauf, dass Frieden wichtig für Handel und Wohlstand war?

Andrés Piedraroja schickte die mit den anderen Familienoberhäuptern vereinbarte Grußbotschaft und drückte seine Besorgnis aus, dass es in den kommenden Tagen zu einer die mexikanische Zaubererwelt nachhaltig schwächenden Auseinandersetzung kommen mochte und dass ihm daran gelegen sei, sich vor allem gegenüber dem nördlichen Nachbarn stabil und stark zu erweisen. Diesen Appell versandte er nun in alle Himmelsrichtungen, sogar bis nach Yucatán, wo die zum Teil von einer vergangenen Mayadynastie abstammende Treslunas-Familie residierte. Gemäß den seit 200 Jahren gültigen Vereinbarungen musste jeder Kampf solange schweigen, wie die neun Väter des Landes zusammensaßen. Hoffentlich fanden die noch vor dem offenen Krieg der zwei verfeindeten Familien einen Termin.

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Sie hatte es selbst noch nie mitbekommen, wie es sich anfühlte, wenn das alte Erdreisetor in Tätigkeit trat. Doch als sie eine immer stärkere Ballung wohlklingender Erdmagieschwingungen unter dem grauen Stein vernahm wusste sie aus Deeplooks Erinnerungen, dass jemand mit Zugangsberechtigung das hiesige Erdreisetor öffnete. Also gab es doch noch dazu berechtigte Leitwächter. Diana hatte schon befürchtet, der Ruf des Tausendhornes wäre unhörbar im Nichts verklungen. Doch nun fühlte sie, wie sich das Erdreisetor öffnete. Ja, sie fühlte beinahe körperlich, wie die hier wirkenden Kräfte von Erde und Mond durch eine weitere Kraft der Erde gedreht wurde, als wenn jemand eine schwere Tür aufstieß und sie offenhielt. Dann verspürte sie auch den aus dem Boden heraufschnellenden Kraftträger. Dann war er da, Bonecrack, der südafrikanische Leitwächter. Deeplooks Erinnerung verriet Diana, dass der Vater aller Augen diesen an die 90 Jahre alten Kobold bei seiner vorletzten Wachzeit noch als jungen Anwärter auf einen Posten im geheimen Bund angetroffen hatte und dass Bonecrack Guzruck Andurrack ihn wie einen aus dem tiefen, warmen Schoß der Erde selbst entstiegenen Halbgott verehrt hatte. So wunderte sich weder Diana noch das in ihr eingekerkerte Ich Deeplooks, dass Bonecrack sie sehr verunsichert anblickte. Sicher, sie trug Deeplooks gläsernen Helm, sein Erkennungszeichen. Doch sie war nun eben eine koboldstämmige Hexe, kein junger Koboldkrieger, dem die allgebärende Mutter die übergroße Gnade erwies, Träger des abgöttischen Vaters aller Augen sein zu dürfen.

Diana grüßte den gerade aus dem Boden gestiegenen Bonecrack und sprach jene nur für Leitwächter bestimmten Kennworte aus, damit dieser wusste, dass er wahrhaftig mit Deeplooks Wiederverkörperung sprach. Dabei verglich sie die von Deeplook erzeugten Erinnerungen und sah die Entwicklung des jungen, drahtigen Koboldes bis zu jener wahrhaft kriegerischen Erscheinung in silberner Rüstung mit Signalhorn und leicht gekrümmtem Kurzschwert am Gürtel. Bonecrack kämpfte derweilen um seine Selbstbeherrschung. Offenbar weigerte sich sein Gehirn, in der kleinen Frau da vor ihm den Vater aller Augen zu sehen, auch wenn sie in dessen Sprachmelodie die nötigen Kennwörter gesprochen hatte. Als dann noch drei weitere durchtrainiert wirkende Kobolde aus dem Boden stiegen und Diana schnell die Begrüßungsworte wiederholte, um keine gefährlichen Gedanken aufkommen zu lassen kniete sich Bonecrack hin. Rockneck jedoch verlangte von Diana Camporosso weitere Beweise, dass sie Deeplooks neuer Wirtskörper war und keine Hochstaplerin. Sie gab alle erwünschten Auskünfte, die einem Leitwächter zustanden. Die anderen hörten erwartungsvoll zu. Als nach zwei Minuten keiner mehr zweifelte, dass sie Deeplook, den Vater der Augen, vor sich hatten sprach Diana in Deeplooks befehlsgewohnter Art und Sprechmelodie zu den vier verbliebenen Leitwächtern. Sie erfuhr, dass die europäischen und der nordamerikanische Leitwächter vollständig von einer fremden Feuerzauberei vernichtet worden waren und der Bund nur noch aus den vier afrikanischen Unterabteilungen bestand. "Dann soll von Afrika aus die Wiederverstärkung des alles sehenden Bundes ihren Gang nehmen", sagte Diana Camporosso. Sie fühlte, dass Deeplook es nicht sonderlich mochte, dass sie sein Wissen und seine Rangstufe ausnutzte, um sich vier Leitwächter zu sichern. Doch er konnte nicht mehr über ein ungehaltenes Murren und Grummeln hinaus. Als sie den vier verbliebenen dann befahl, ihr morgen je zehn ergebene Vollstrecker zuzusenden, um die den Zauberstabträgern restlos dienenden Zweigstellenleiter von Gringotts festzunehmen und gegen der Koboldehre treuer ergebene Nachfolger auszutauschen sagten die vier zu. Auch Knotpick, der sich fragte, wie der Bund jemals wieder zur alten Stärke zurückkehren sollte. "Erst Gringotts, dann womöglich die grauen Bärte", sagte Diana Camporosso, die so tat, als wäre sie nur die lebende Hülle des Urvaters der zehntausend Augen und Ohren. Dem stimmten alle vier Leitwächter zu. Das eiserne Schloss würde sich schon in wenigen Stunden öffnen, und die Welt der wahren Erdkinder würde erkennen, dass der sie überwachende und schützende Bund noch da war. Womöglich würden viele von den Zweigstellenleitern um ihre Freiheit trauern und bangen, dass sie für zu viel Freizügigkeit büßen mussten. Doch die meisten würden beruhigt sein, dass Aufsässigkeiten in den eigenen Reihen und Abfälligkeiten von den Zauberstabträgern geahndet würden. Mit dieser Hoffnung kehrten die vier verbliebenen Leitwächter zurück. In nur noch acht Stunden würden sich je zehn Vollstrecker am Haus der schaarfen Waffen einfinden, um sich für die Festnahme der abtrünnigen Gringottsleiter bereitzuhalten.

Diana Camporosso kehrte auf ihre eigene Weise in ihr neues Höhlenversteck bei Sorent zurück. Dieser Akt war doch noch gut gelaufen. Wenn sie nachher die versammelten Gringotts-Zweigstellenleiter ergreifen und mit dem Befehlswort des zweiten Königs gefügig machen konnte gehörte ihr schon die halbe Zaubererwelt. Mit dieser erfreulichen Vorstellung legte sie sich zum schlafen hin.

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Anthelia verfolgte eine hitzige Debatte zwischen Vertretern der regionalen Zaubereiverwaltung und jenen, die eine Neuordnung der magischen Verwaltung für alle zu den USA gehörenden Staaten forderten. Dabei sparten die Redner nicht mit persönlichen Diffamierungen und Verächtlichkeiten. Ein aus New Orleans stammender Redner namens Duchamp warf ein, dass sich die Einteilung in reine Regionen bereits als unzureichend und zukunftsunfähig erwiesen, weil viele früheren Handels- und Beistandsmöglichkeiten nicht mehr wirkten und sowas wie der Wirbelsturm Katrina nur dann überstanden werden könne, wenn klar und zielführend geholfen werden könnte, wenn die betroffene Region selbst nicht im Stande war, die Katastrophe zu überwinden. Ein Vertreter aus Alabama, der für die Beibehaltung der Regionalaufteilung sprach verspottete Duchamp, weil der offenbar seinen Leuten nicht mehr länger in die Augen sehen könnte, seitdem aus Alabama und anderen Südstaaten viele von afrikanischen "Urwaldzauberern" stammende Hexen und Zauberer nach Louisiana einwanderten, weil die dortige Voodoogemeinde alle afrikanischstämmigen Leute willkommen hieß. Duchamp erwiderte darauf: "Ja, und dass die afrikanischstämmigen Hexen und Zauberer ihr uraltes Busch- und Urwaldwissen mit zu uns hinübernehmen und Sie achso zivilisierte Euroamerikaner mit allem alleinlassen, Tinfork. Also kehren Sie hier jetzt nicht den Hautfarbenchauvinisten raus, wenn Sie schon zugeben müssen, dass auch bei den Nomajs ab und an magisch begabte Babys ausschlüpfen, die alle ein Recht auf richtige Ausbildung haben, falls sie nicht sich und ihre Umwelt in einem unbeherrschten Zauber dem Erdboden gleichmachen sollen. Immerhin haben ja alle Regionalfürsten wie Sie zugestimmt, dass das zumindest noch in allen Staaten gilt."

"Nicht mehr in allen, Mr. Duchamp. In unserem Staat gilt jeder Nomaj-Abkömmling, bei dem irgendwelche Zauberkräfte gefunden werden, als unerwünscht und wird gemäß dem Abkommen mit den Staaten, wo unsere magischen Schulen stehen als deren neuer Bewohner bei Pflegeeltern abgeliefert. Wir sind stolz auf die reinblütigkeit und das europäische Erbe unserer magischen Mitbürger und werden demnächst eine eigene Schule für unsere Kinder eröffnen."

"Ja, davon hörten wir", erwiderte ein Vertreter aus Philadelphia, der der Familie Steedford angehörte. Anthelia wusste, dass die Steedfords eine Menge Gold mit dem Handel von Zaubergegenständen aus Afrika gemacht hatten, als die Nachkommen versklavter Afrikaner in den Norden gewandert waren, um der im Süden weiterbestehenden Rassentrennungsanschauung zu entgehen. Auch Steedford sprach für die Reunion.

Die immer wieder jedes Sprachniveau entbehrende Aussprache gipfelte darin, dass nur die Bevölkerung entscheiden solle, ob sie weiterhin der eigenen Heimatregion verbunden bleibe oder sich erneut auf einen von einer Zentralverwaltung bestimmten Führung unterwerfen würde. Die Regionalfürsten sollten bis zum April eine entsprechende Befragung entwerfen, die vom Wortlaut her in allen betroffenen Staaten und Regionen einheitlich war, damit nachher niemand behaupten konnte, dass die Befragten falsch informiert worden seien. Dann endete die über zwei Stunden geführte Aussprache.

"Für das alles habt ihr von überhitztem Mannesblut zum kochen gebrachte Rostkessel jetzt zwei Stunden gebraucht, für viel heißen Dampf und lautes Tosen", dachte Anthelia/Naaneavargia. Sie dachte, dass sie solch eine Entscheidung innerhalb von nur einer Viertelstunde gefunden hätte. Gut, sie hätte dann auch keine Aussprache zugelassen, sondern ihren Standpunkt als einzig richtig verteidigt und klargestellt, dass es nur die Wahl gab, ihr zu folgen oder ihr nicht zu folgen und dadurch zu riskieren, von ihren Getreuen aus der Welt geschafft zu werden. Gut, von diesen Leuten gab es bei der Aussprache auch einige. Doch die waren am Ende überstimmt worden. Also sollte im April verhandelt werden, ob und wenn ja wie eine Reunion herbeigeführt werden sollte.

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Es hieß das Haus der scharfen Waffen. Doch es war kein Haus im üblichen Sinne mit Wänden, Türen, Fenstern und aufgesetztem Dach, sondern ähnlich wie das Höhlenlabyrinth in Westirland ein tief unter der Erde angelegtes Netz aus Stollen und Kammern. Das einzige an ein auf der Erde errichtetes Haus gemahnende waren schwere, mit Silber bedeckte Türen aus Triamant, jenem von Kobolden erzeugtem Mineral, das dreifach so hart wie Diamant war. Die Türen lließen sich jedoch nicht von jedem öffnen, sondern nur von ausgewiesenen Leitwächtern und natürlich dem Vater aller Augen selbst.

Diana erkannte, dass es doch schwerer war, in dieses Haus der scharfen Waffen einzudringen als sie ursprünglich gehofft hatte. Deeplook hatte sie behutsam darauf hingewiesen, dass nur männliche Kobolde, die durch den Treueid des Bundes geprägt waren, die entsprechenden Stellen berühren und mit den Kennwörtern eingeschworener Leitwächter die Türen öffnen konnten. Für sie gingen die Türen auch dann nicht auf, als sie mit magisch auf männlich verstellter Stimme die Kommandos gab. In dem Moment, wo sie ihre Hände irgendwo dranhielt wurde sie wie von einem Blitzschlag durch den Arm zurückgestoßen. So konnte sie nur den vier mitgenommenen in Afrika wirkenden Leitwächtern befehlen, die Türen zu öffnen, die ins "Herz der Wehrhaftigkeit" führten, jenem tief in den ständig ihre Richtung ändernden Stollen liegenden Bereich, wo die stärksten Waffen und Schutzgegenstände des geschwächten Bundes der zehntausend Augen aufbewahrt wurden. Da gab es Schwerter, die in echtem Drachenfeuer geschmiedet worden waren und eben jenes Drachenfeuer bei Berührung mit feindlichen Wesen ausspien. Da gab es ähnlich dem Bogen des Anhor Armbrüste, die sich selbst spannen konnten und bei ausruf "Erfasstes Ziel" die davon abgefeuerten Pfeile unfehlbar ins Ziel lenkten. Die Pfeile selbst konnten mit Sprengspitzen, Drachenfeuerspitzen oder Totengleichgiftspitzen versehen sein. Dann gab es noch die Goldlichtlanzen, wie sie die Kobolde von den Zwergen abgeschaut und weiterentwickelt hatten, genauso wie selbsttätige Angriffswaffen wie die Eisenlinge, kerbtiergleiche Flugkörper, die wahlweise tödliche Gifte oder Erreger schlimmer Krankheiten übertragen konnten. Diana dachte daran, was sie über den Fall "Letzter Glockenschlag" gehört hatte. Ja, da würden wohl auch Errungenschaften des Bundes zum Einsatz kommen.

Als Schutz- und Tarnvorrichtungen gab es Unsichtbarkeitsverstärker, die die natürliche Begabung zur Unsichtbarkeit verbesserten und das leidige Problem, bei Berührung durch nichtkoboldisches Fleisch oder zu langes Festhängen an toten Gegenständen die Sichtbarkeit wiederkam aufhob. Doch nur der einst so mächtige Bund der zehntausend Augen und Ohren besaß dieses Hilfsmittel. Außerdem gab es Rüstungen die die meisten Zauber auf ihre Urheber zurückspiegeln konnten und mindestens eine Minute im heißesten Drachenfeuer überstanden.

Diana suchte und fand eine für koboldstämmige Frauen geeignete Rüstung aus Trollhaut mit Drachenleder, die sich direkt auf nackter Haut getragen der Trägerin anpasste und neben der Abwehr von Metall- und Steinwaffen auch Drachenfeuer abwehren und die natürliche Unsichtbarkeit verdreifachen konnte, sodass sie im Bedarfsfall auch eine andere Person durch Berührung unsichtbar machen konnte. Kaum war sie hinter einem sie vollständig umspannenden Sichtschutz in die aus drei Teilen bestehende Rüstung für Vollstreckerinnen geschlüpft meinte sie, dass die in stiefelartigen Füßlingen auslaufende Lederhose, das mit behandschuhten Ärmel versehene Hemd und die über den gläsernen Helm gezogene Kapuze wie eine zweite Haut anlagen. Diana wusste, dass sie auch ihre Ausscheidungen sorglos absetzen konnte, ohne die Rüstung zu öffnen. Nach wenigen Bewegungen in der graublauen Rüstung meinte sie, nur eine federleichte Überkleidung zu tragen. "Die Haut wurde von jungfräulichen Trollinnen abgezogen und mit dem Monatsblut Mutter gewordener Koboldinnen behandelt", erfuhr sie von Deeplook, den es schon ein wenig anwiderte, sich derart einem nicht einmal reinblütigen "Weibchen" unterwerfen zu müssen, dass er ihm verraten musste, was die für die wenigen Vollstreckerinnen des Bundes so praktischen Rüstungen so praktisch machte. Offenbar hatte er damit gerechnet, dass spätestens die an das Hemd angeknöpfte Kaputze den Dienst verweigern würde, wenn sie über den Helm aus Seelenglas gezogen wurde und somit keinen Hautkontakt bekam. Doch offenbar reichte es doch aus, um Dianas Kopf noch zusätzlich zu schützen. Sie war nun genauso gewappnet wie eine Vollstreckerin des Bundes, die meistens als Informationsbeschafferin oder Attentäterin ausgebildet wurde. Dazu passte auch ein der Rüstung entsprechender Gürtel, an dem mehrere unterschiedlich lange Dolche mit Triamantklingen und Besinnungsschwunddampfkugeln hingen, sowie eine graublaue Maske mit Augengläsern, die sowohl den wahren Blick ermöglichten, also das sehen der wahren Erscheinungsform verwandelter oder unsichtbarer Wesen und Dinge, wie auch eine durch Gedankenkraft auslösbare stufenlose Nahbetrachtung auch bei völliger Dunkelheit. Allerdings erwies sich die Maske nicht so tolerant dem gläsernen Helm gegenüber. Sie löste sich sogleich wieder von Dianas Gesicht. So nahm sie einen aus unzerbrechlichem Quarzglas gemachten Zwicker des wahren Blickes. Der ließ sich aufsetzen.

Die Leitwächter und die von ihnen ausgewählten je zehn Vollstrecker statteten sich mit silbernen Rüstungen und silbernen Kurzschwertern aus, die jedes aus Stein oder unbezaubertem Metall bestehende Ding wie heiße Messer durch Fettklumpen durchschneiden konnten.

Diana steckte sich zu den Besinnungsschwundkugeln und drei unterschiedlich langen Triamantdolchen noch einen Lichtschlucker zu, der einmal auf die Erde geworfen alles Licht im Umkreis von hundert Koboldschritten schluckte. So gegen viele Unwägbarkeiten ausgestattet verließen sie und ihre neuen Getreuen nach einer Stunde das Haus der scharfen Waffen. Die Eroberung der Koboldwelt konnte beginnen.

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"Wie bitte?! Ich soll die Gotlandkonferenz absagen?" wollte Russlands Zaubereiminister Arcadi wissen, als er am frühen Morgen des achten März die allwerktägliche Morgenkonferenz abhielt.

"Ihre Ankündigung im Turm der Nachrichten hat einen gewissen Unmut ausgelöst. Leonid Borzow aus Wolgograd hat Unterschriften gegen einen bedingungslosen Frieden mit den Veelas gesammelt. Die Liste enthält sehr prominente Namen aus der russischen Zaubererwelt."

"Soso, tut sie das?" fragte Arcadi. "Haben wir denn diese Liste, Gosbodin Tupulew?" fragte er. Als ob er genau auf diese Frage gewartet hatte holte Tupulew eine beindicke Pergamentrolle aus seiner Aktentasche. "Sie ist uns vor zwei Stunden per Expresseule zugegangen. Es ist das Orginal, allerdings soll es davon fünfzig Kopien geben. Eine davon wird wohl gerade im Turm der Nachrichten gelesen."

Arcadi entrollte die dicke Rolle und las den Einführungstext, dass es keinen bedingungslosen Frieden und erst recht keine Zugeständnisse an die Veelas und ihre Nachkommen geben sollte. Vielmehr wurde gefordert, dass die Veelas sich per Blutschwur dazu verpflichteten, in einem vom Ministerium abgegrenzten Bereich in einem zusammenhängenden Waldgebiet der Taiga zu verbleiben und zudem für alle, die von ihnen getötet wurden, Entschädigungen in Höhe des noch zu erwartenden Lebenseinkommens zu entrichten, sei es in Gold oder in körperlich-geistigen Dienstleistungen. Dann waren da noch an die 500 in Viererreihen angeordnete Unterschriften aufgeführt, davon zehn aus den hohen Rängen der magischen Gesellschaft. Arcadi las sogar den schwungvollen Namenszug des amtierenden Leiters des Durmstranginstitutes.

"Ach neh, und Wolgabaron Borzow hat natürlich seinen alten Schulfreund Valentin Rostow mit in diese Kampagne einbezogen. Hat der immer noch das rote Haus am Baikalsee?" fragte Arcadi. Alle hier anwesenden sahen ihn verunsichert an. Der für magisches Recht und Sicherheit zuständige Beamte bejahte die Frage. "Er führt immer noch die Lizenzabgaben ab."

"Dann kann und werde ich diese Ansammlung von eigennützigen Unterschriften gleich verwerfen", sagte Arcadi. "Ach ja, falls der Turm der Nachrichten das auch nur in Teilen veröffentlicht und damit einen unaufhaltsamen Sturm der Entrüstung bei den Veelas heraufbeschwört werde ich Entschädigungen für jeden Betroffenen einfordern", erwiderte Arcadi wütend. Dann sagte er noch: "Die Gotlandkonferenz bleibt angesetzt und wird stattfinden. Inwieweit es einen bedingungslosen Frieden gibt, wie Borzow und seine guten Freunde denken weiß ich noch nicht. Die Alternative zum Frieden ist offener Krieg. Außerdem gilt ja noch der Vertrag von Baikonur, den alle slawischstämmigen Zaubereiminister unterschrieben haben. Darin ist festgelegt, dass was grenzübergreifend vorkommende Zauberwesen angeht eine Absprache mit allen betroffenen Ministeriumsbeamten stattzufinden hat. Ich war froh, dass sowohl die wiederaufgewachten Minister als auch die Veelas mit Gotland als neutralem Boden einverstanden waren. Das werde ich jetzt nicht wegen aufgebrachter Waldbesitzer und eines sehr fragwürdigen Unternehmers absagen."

"Darf ich das Gosbodin Borzow so mitteilen?" fragte Tupulew. "Ich könnte jetzt was sehr derbes antworten, möchte aber den mir zustehenden Respekt nicht selbst in Frage stellen. Schreiben Sie bitte, dass ich, der amtierende Zaubereiminister, die Anfrage Borzows erhalten habe, jedoch zum Zeitpunkt des Eintreffens bereits unveränderliche Zusagen getroffen habe und ich auf Grund der Zukunft unseres großartigen Landes keine neuerlichen Zwischenfälle mit unseren slawischen Nachbarn riskieren werde, denen allen wichtig ist, für den Frieden und die Sicherheit ihrer Länder jede mögliche Gefahrenquelle ohne Blutvergießen auszuräumen. Das dürfen Sie ihm sehr gerne weitermelden", sagte Arcadi. Tupulew nickte bestätigend.

Als die Morgenkonferenz weiterging konnte Arcadi alle seine Mitarbeiter darauf einstimmen, sich nicht von scheinbar hochwichtigen Mitbürgern ins lodernde Drachenmaul hineintreiben zu lassen. Anschließend begab sich Arcadi in sein eigenes Büro zurück.

"Der wollte doch echt Krieg mit den Veelas oder was für sein fragwürdiges Geschäft sichern", knurrte Arcadi verbittert. Wehe, wenn das an die Öffentlichkeit gelangt!

Als dann wahrhaftig zwei Reporter der führenden russischen Zaubererzeitung bei ihm vorsprachen stimmte er sich schon darauf ein, am Ende des Tages eine Pressekonferenz geben zu müssen, um bloß keinen neuen Streit mit den Veelas anzufachen.

Die beiden Zeitungsschreiber begrüßten den amtierenden Minister zurückhaltend höflich. Es war ja ein offenes Geheimnis, dass längst nicht alle Zaubererweltbürger hinter ihm standen. Gut, das war schon immer so gewesen. Doch diesmal wusste Arcadi, dass er nur noch solange auf dem bequemen Stuhl sitzen durfte, solange es seinen Mitbürgern gut ging.

Er ließ sich auf eine Befragung ein und erwähnte, warum es wichtig sei, eine Konferenz mit allen Vertretern von Ländern abzuhalten, wo Veelas und Veelastämmige wohnten. Dass sie hierfür auf die schwedische Insel Gotland reisen würden begründete der Minister mit dem Wunsch nach neutralem Boden. Dann kamen die beiden Reporter auf die am Morgen vorgelegte Liste. Arcadi erklärte den beiden, warum er die Liste in dieser Form nicht nur zurückweisen musste, sondern warum es so wichtig war, sie nicht in aller Öffentlichkeit auszurollen. "Die auf der Liste unterschreibenden Herrschaften wollen uns in einen unabwendbaren gewaltsamen Kampf mit den Veelas und ihren Nachkommen stürzen, weil sie dadurch eine Menge Vorteile erhoffen." Er zählte die Vorteile auf und erwähnte auch das rote Haus am Baikalsee. "Ich weiß, dass dessen Betreiber immer wieder nach sowohl ansehnlichen wie talentierten jungen Arbeitskräften sucht. Dass er ausgerechnet Veelas oder Veelastämmige für sich arbeiten lassen möchte bedeutet eine höhre Gewinnerwartung. Nur weiß ich, das Veela und ihre Kinder sich nicht dafür hergeben, sich von zeitweiligen Kunden vorschreiben zu lassen, was sie für sie tun sollen, um es behutsam zu formulieren. Hätte jener Herr des roten Hauses nicht unterschrieben, so hätte ich vielleicht noch geglaubt, dass die Unterzeichner nur aus Angst vor horrenden Entschädigungen auf die Ausweisung von allen Veelas bestehen. Doch nun?"

"Was sollen wir mit der Meldung machen?" fragte der ältere der Reporter, der Lehrbetreuer des jüngeren. "schreiben Sie um das Wohl aller Mitmenschen nur, dass wir, das Zaubereiministerium, in hoher Sorge sind, dass ladonnas Hinterlassenschaften zu einer gefährlichen Entwicklung führen, wenn uns nicht gelingt, die mächtigsten Wesen unseres Landes davon zu überzeugen, dass sie in unserem Hoheitsgebiet keine Angst mehr haben müssen und dass wir darauf ausgehen, einen stabilen, ja über mehr als ein Jahrhundert hinweg reichenden Frieden zu schließen, wie es mein Vorvorgänger Sardovnik im Jahre 1905 erreichte, als sich wegen des russisch-japanischen Krieges viele naturverbundene Zauberwesen berieten, ob es nicht sinnvoll sei, die kriegführenden Menschen handlungsunfähig zu machen. Es liegt bei uns und im Interesse aller magischen und nichtmagischen Menschen, dass sich kein machtbewusstes Zauberwesen jemals wieder die Frage stellt, ob wir Menschen noch erwünscht sind oder nicht. Dieses und weitere aus Ladonnas dunklem Streben entstammende Auswirkungen gilt es endgültig auszuräumen. Jede Bestrebung, die dem zu wider laufen mag werden wir je nach Art und größe der Behinderung übergehen oder entscheiden zurückweisen. Das dürfen Sie schreiben. Die Liste und die Forderungen Borzows lassen sie um Ihrer eigenen Unversehrtheit besser ganz raus! Falls Ihr Redakteur darauf besteht, es richtig groß und kontrovers aufzublasen sagen Sie ihm bitte einen schönen Gruß von mir, dass mancher, der einen Ballon zu sehr aufgeblasen hat vom Knall des Zerplatzens dauerhaft ertaubt ist. Das kann und wird er wohl als Drohung auslegen und erst recht darauf bestehen, die Liste und die Forderungen zu veröffentlichen. Aber dann weiß ich wenigstens, von wem persönlich ich Entschädigungszahlungen für alle sich daraus ergebenden Folgen für unsere Gemeinschaft einfordern kann. Das darf er auch gerne als Drohung auffassen, nur dass er sicher nicht bereit ist, diese auf ihre Verwirklichung zu testen."

"Der Turm der Nachrichten war bisher immer ganz auf Ihrer Seite, Herr Minister", wies der ältere Reporter auf die frühere Zusammenarbeit hin. "Da Sie in der Vergangenheitsform sprechen und als Zeitungsberichterstatter gelernt haben, Worte und Sätze genau abzuwägen muss ich Ihre Aussage so verstehen, dass Sie meiner Amtsführung nicht mehr viel zutrauen, richtig?"

"Öhm, vielleicht wäre es günstig, dass Sie die Konferenz erst dann stattfinden lassen, wenn Sie den Rückhalt der Bevölkerung sichergestellt haben", traute sich der Jüngere, dem Minister etwas zu empfehlen.

"So, und wie lange soll ich dann warten, bis nach einer Wahl der zwanzig Zauberräte, die selbst zum Teil unter Ladonnas Feuerrosenzauber standen, wie ja auch einige Ihrer Kollegen und Ihr Redakteur? Sogesehen gibt es im Moment weder eine Möglichkeit, all das geschehene für nicht stattgefunden zu betrachten, noch gibt es eine über jeden Zweifel erhabene Alternative, sowohl was die ranghohen Ämter im Ministerium als auch in Ihrer Zeitung betreffen. Also, wenn Sie jetzt anzweifeln, dass das Vertrauen in meine Amtsführung noch gerechtfertigt sei - wozu Sie das Recht haben - müssen Sie jedoch auch die Unvoreingenommenheit und Unparteiigkeit Ihrer Redaktion in Frage stellen. Immerhin hat Ihre Zeitung in Ladonna Montefioris Auftrag Stimmung gegen die Veelas gemacht, ja sogar die These verbreitet, dass ein offener Krieg mit ihnen nur Vorteile für magische Menschen hat. Da Sie wissen, dass dem eben nicht so ist wissen Sie auch, dass Sie fast mitgeholfen haben, einen Gutteil unserer Mitbürger an Hab und Gut, Leib und Leben zu schädigen. Falls Ihr Redakteur dies auch nach dem Erwachen aus dem Feuerrosenbann immer noch für sinnvoll weil einträglich hält mag er es eben riskieren, für alle von seiner Entscheidung abhängigen schädlichen Auswirkungen haftbar gemacht zu werden. Ich denke, wir verstehen uns jetzt doch." Die zwei Reporter nickten betroffen. Natürlich erinnerten sie sich an die schon als offene Aufhetzung zu bezeichnenden Artikel, in denen der Kriegszustand mit den Veelas darauf hinauslaufen würde, dass die Menschen als Sieger vom Felde gehen würden. Von der Blutrache der Veelas hatte der Turm der Nachrichten damals nur erwähnt, dass Veelas alle diejenigen töten würden, die ihren Angehörigen etwas angetan hatten, aber nur, wenn sie noch früh genug davon erfuhren und diese auch fänden. Das war eine gefährliche Halbwahrheit, die die Katastrophe noch schrecklicher gemacht hätte.

Als die zwei Berichterstatter abgezogen waren befasste sich Arcadi weiter mit der Gotlandkonferenz. Es galt nun auch zu sichern, dass die Mäuse nicht auf dem Tisch tanzten, sobald die Katze aus dem Haus war. Vorher, das musste er sich eingestehen, hatte er das nicht überlegt, dass jemand seine Abwesenheit und die Ablehnung der Konferenz ausnutzen mochte, ihn in Abwesenheit des Amtes zu entheben oder ihn gar zur unerwünschten Person zu erklären, die unter Todesandrohung dazu verdammt war, nie wieder russischen Boden zu betreten. Das sowas ging hatte er in seiner langen Dienstzeit schon mitbekommen. Sogar Grindelwald war als unerwünschte Person gebrandmarkt worden. Doch dass hatte diesen auf Weltherrschaft ausgehenden Zauberer nicht davon abgehalten, sich auch in Russland Verbündete zu suchen und Einfluss auf Zauberwesen zu bekommen. Tja, eines davon hatte ihm dann gezeigt, wie klein und wehrlos er selbst sein konnte, und er hatte sich von da an aus Russland ferngehalten und nur noch über Helfer und Helfershelfer seine Intrigen gesponnen, bis ihm Albus Dumbledore endgültig Einhalt geboten hatte, allerdings ohne ihn zu töten.

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Pierroche und sein Stellvertreter Bourdac, den er aus Millemerveilles in die Hauptverwaltung Gringotts Frankreich herübergeholt hatte, reisten auf der für ihre Art möglichen Weise auf die Insel Britannien. Sie trafen um die Mittagsstunde des achten März am verborgenen Eingang für Mitarbeiter in der Winkelgasse ein. Drei in silbernen Rüstungen steckende Sicherheitskobolde prüften mit tragbaren Silberplatten die Hand- und Fingerabdrücke der Besucher und hakten die Eintreffenden auf einer langen Liste ab. "Bitte durchgehen und mit Goldwagen eins drei neuner auf Ebene drei hinabfahren. Dort ist der unbeobachtbare Besprechungssaal", sagte der an den kleegrünen Rangabzeichen als solcher erkennbare Führer der Sicherheitsgruppe Mitarbeitereingang.

Pierroche und Bourdac, der nur zehn Jahre Jünger als er war und in Millemerveilles bis zu jenem denkwürdigen Tag im September 2003 als Gesamtleiter Kunden- und Einlagensicherheit gearbeitet hatte durchquerten die nicht ganz so auf Protz und Prunk ausgerichtete Zugangshalle und durchschritten einen rot-goldenen Samtvorhang. Dahinter standen an die drei Dutzend Schienenwagen mit goldenen Speichen und Registriernummern. Als sie den Wagen 139 fanden und bestiegen fuhr dieser schon von alleine los und bog in einen der abwärts führenden Stollen ab. "Oh, die haben keine Windschutzscheiben", meinte Bourdac, als der Fahrtwind seine rostroten Haare zerzauste. "Die Kollegen hier halten das für unnötig, sich und den Kunden diesen Komfort zu bieten, da sie den Festländischen Glasmachern nicht verziehen haben, dass die für jede für Gringotts gemachte Glasanfertigung das halbe Gewicht in gediegenem Silber haben wollten. Lesen Sie dazu in den tausend Tafeln des Erfolges die Abschnitte 1615 bis 1890 durch, Kollege Bourdac!"

"Also deshaa..", setzte Bourdac an und erschrak, weil der Wagen gerade nach vorne kippte und fast senkrecht nach unten sauste. Der beinahe freie Fall wurde nach vier Sekunden durch eine immer flachere Neigung aufgefangen. Dann bog das Schienenfahrzeug, dass laut erwähnter tausend Tafeln des Erfolges als dankbare Errungenschaft aus Zwergenhand bezeichnet wurde, nach links und dann nach rechs ab. Die Bremsen griffen erst behutsam und dann mit voller Stärke, sodass die Insassen fast nach vorne herausfielen. Ein leises Klingelzeichen bestätigte, dass sie wohl am Fahrziel angekommen waren. "Waren Sie schon einmal hier, Herr Pierroche?" wollte Bourdac wissen. Pierroche bejahte es. "Ist schon dreißig Jahre her, dass ich als Begleitung des damaligen Gesamtleiters von Frankreich, der leider bei der großen Erdmagiewelle seinen Tod gefunden hat, hier in London an einer Vollversammlung aller Landes- und Zweigstellenleiter teilgenommen habe", erwähnte Pierroche.

Der Gang, in den sie nun zu Fuß eintraten wurde von denselben kleinen Leuchtsteinen erhellt, die auch in den Stollen für Kunden benutzt wurden. Es ging zu einer zweiflügeligen Tür mit goldenen Beschlägen, in die mit Koboldrunen und in der Buchstabenschrift der Zauberstabträger "Besprechungssaal Gold" eingraviert war. Davor hielten zwei weitere Sicherheitskobolde in silbernen Rüstungen wache. Die vorgeschriebenen Kurzschwerter steckten jedoch sicher in den an den Gürteln befestigten Scheiden. "Pierroche und Bourdac aus Frankreich?" fragte einer der Wächter. Pierroche und Bourdac bestätigten es. Dabei entging den beiden nicht, dass die Wächter sie mit den Gläsern des wahren Blickes betrachteten. "Ihre Ankunft wurde gemeldet. Sie werden von Zeitabstimmungsbeauftragtem Sandback empfangen. Hauptleiter Glamrock wird in vierhundert Standardruheschlägen zu Ihnen kommen!"

Pierroche und Bourdac bedankten sich und gingen durch die von selbst auf- und wieder zuschwingenden Türflügel. Sie hörten, dass die Tür beim Schließen von vielen kleinen Rigeln versperrt wurde.

Der Besprechungsraum maß dreißig Koboldschritte in der Länge, fünfzehn in der Breite und drei Koboldhöhen in der Höhe. Der Boden war mit goldbraun glänzenden Brettern bedeckt. Pierroche fühlte, dass es jene Eisenholzbretter aus der russischen Taiga waren, die seit dreihundert Jahren als stabilstes Bauholz überhaupt verwendet wurden und von Kobolden gerne als einzige Form von nichtmetallischem oder nichtsteinernem Raumschmuck benutzt wurde. Auch die Decke und die Wände waren mit Brettern aus jenem teuren Baumholz verkleidet, von dem bekannt war, dass es jedem stumpfen oder geschliffenen Metall widerstand. Unter der Decke hing ein goldener Kronleuchter, in dessen Einzelfassungen weißgelbe, flammenlose Lichtkugeln strahlten. Ein rechteckiger Tisch, an dem bis zu vierzig Kobolde sitzen konnten, beherrschte die Mitte des außer einigen Bücherregalen und den hochlehnigen Polsterstühlen unmöblierten Besprechungsraums. Der Tisch war mit einer smaragdgrünen Decke mit vergoldetem Saum gedeckt. Darauf standen Tintenfässer aus versilbertem Ebenholz und Federhalter aus Elfenbein, sowie kleine, silberne Streusandbüchsen zum Schnelltrocknen der verwendeten Tinte.

Ein lattendünner Kobold in blau-silberner Uniform begrüßte Pierroche und seinen Begleiter. Er trug eine frei hängende goldene Uhr an einer Kette und hielt eine Pergamentrolle in den Händen. "Gruß Ihnen, werte Geladenen. Ich bin Sandback, Hauptleiter Glamrocks Zeit- und Reisehelfer. Wer sind sie?" fragte der dünne Kobold, der außer einem kecken Schnauzbart kein Haar in seinem Gesicht trug. Pierroche und Bourdac nannten ihre Namen. Daraufhin deutete Sandback auf den Tisch und führte sie dann die bereits besetzten wie unbesetzten Stühle entlang zu zwei freien Stühlen. Davor auf dem Tisch standen zwei kleine Platzkarten, die in Koboldschrift die Namen Pierroche und Bourdac trugen. "Bitte erwarten Sie das Eintreffen von Hauptleiter Glamrock in noch an die dreihundert Ruheschlägen!" sagte Sandback leise. Dann ließ er die beiden einfach an den zugeteilten Plätzen stehen und huschte lautlos auf seinen Wartepunkt zurück, um die nächsten zu begrüßen.

"Da die anderen sitzen dürfen wir das auch", wisperte Pierroche. Bourdac nickte seinem Vorgesetzten zu. Sie nahmen Platz.

Pierroche erkannte bereits die Zweigstellenleiter von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch der italienische Zweigstellenleiter war da, der mit wilden Handgesten und einem schier unabreißbaren Wortstrom seine beschämende Lage beklagte. Denn er und seine Mitarbeiter durften immer noch nicht in ihre Heimat zurückkehren, um wie im Vertrag von Tara und Rom festgelegt die Zweigstellen von Gringotts weiterzuführen. Doch dasselbe galt für einen in wallenden Gewändern auftretenden Kobold, dessen tiefschwarzer Kinnbart bis fast zum Brustkorb herabreichte. Es war der neu eingesetzte ägyptische Zweigstellenleiter, der eigentlich nach dem Tod seines Vorgängers Wittrock die Filialen in Kairo und Alexandria leiten sollte, aber von den Al-Assuanis mit allen anderen Kobolden aus dem Land getrieben worden waren und jetzt im großen Notdorf in Irland lebte. Die aus dem südlichen Afrika angereisten Kobolde wirkten dagegen selbstsicher. Sie hatten seit der Goldebbe keine Schwierigkeiten erlitten.

Die an der Wand hängende Uhr, die nicht in Stunden und Minuten, sondern in Standardruheschlägen von Koboldherzen und Tagesachteln zählte, zeigte bereits eine fast vollendete Tageshälfte an, als mit einem Glockenton aus unsichtbarer Quelle die Tür erneut aufschwang und ein wohlgenährter, vollbärtiger Kobold in einer hellroten, mit goldenen Knöpfen und Säumen verzierten Uniform eintrat. Alle erhoben sich auf einen Wink von Sandback, der den gerade eintreffenden namentlich ankündigte: "Der von unseren erhabenen Räten mit der Leitung der Goldverwahr- und -wertbestimmungsanstalt Gringotts betraute Herr Glamrock!"

Anders als bei Menschen begrüßten die Teilnehmer einer Besprechung das ranghöchste Mitglied nicht durch Händeklatschen oder Grußworte, sondern durch tiefe Verbeugungen. Glamrock nahm diese Begrüßung mit der ihm zustehenden Erhabenheit entgegen. Dann grüßte er alle hier versammelten und erlaubte ihnen, sich wieder hinzusetzen. Sandback, der seine Aufgabe als Platzanweiser und Herold nun erfüllt hatte, durfte auf Wink seines Vorgesetzten den Saal verlassen und an seinen eigentlichen Arbeitsplatz zurückkehren, bis Glamrock ihn mit der Rufglocke hierher zurückbefehlen würde. Dann nahm er vor Kopf des rechteckigen Tisches Platz. Pierroche meinte ganz leise Schritte von unsichtbaren Stiefeln zu hören. Wieso hatte Glamrock Sicherheitsleute mit in den Saal genommen? Fürchtete der etwa einen Angriff auf sich? Die Tischdecke aus smaragdgrünem Leinen stand für eine friedliche Unterhandlung, bei der keiner der Beteiligten einem anderen nach Leib oder Leben trachten durfte. Wieso also die unsichtbaren Leibwächter?

Pierroche fand nicht die Zeit, länger darüber nachzugrübeln. Denn Glamrock kam gleich nach seiner kurzen Begrüßungsansprache auf den ersten Tagesordnungspunkt. "Wir, die Verantwortlichen für die Goldverwahrung und Goldwertermittlung, beklagen seit der Erhebung der Dreiblüterin Ladonna Montefiori, dass wir mehr und mehr entmachtet wurden. Ebenso widerfuhr uns mit der völlig unerwarteten Wut der allgebärenden Mutter und der davon getragenen Vernichtungskraft, dass mehrere hochrangige von uns früher als erwartet in den ewigen Schoß unser aller Mutter zurückkehren mussten, mögen sie dort in ewigem Frieden ruhen. Doch ist Ladonna Montefiori vergangen, entmachtet durch ihresgleichen. Dennoch verweigern uns unsere bisherigen Kunden die vollständige Rückreise in unsere durch Geburt zugeteilte Heimat oder trachten sogar danach, sich mit unseren Erbfeinden, den Höhlenkriegern und trunksüchtigen Streitsuchern, zusammenzutun, um das von uns seit dem völlig unzureichend geplanten Versuch, mehr Rechte und Mittel zu erstreiten sicher und größtenteils für alle Seiten einträgliche Goldverwahrungs- und Goldwertbestimmungsgeschäft zu entreißen. Der Grund für diese Zusammenkunft, werte Amtsbrüder, ist die Forderung nach vollständiger Wiedereinsetzung aller Gringottsbeschäftigten auf ihren Posten, die Rückkehr aller Erdkinder in ihre Geburtsländer und die Entschädigung für die Beleidigungen und die Fernhaltung von unserer Arbeit. Ja, ich weiß, der Verlust des südlichen Inselerdteiles Australien schmerzt, und es gelang bisher nicht, dort neue Wurzeln zu schlagen, weil unsere Vorgänger dort selbst einen an einer wichtigen Stelle fehlerhaften Vertrag unterschrieben, dass nur dort selbst geborene Erdkinder die Geschicke von Gringotts lenken dürfen und bei jener von den dortigen Trommeltänzern und Geisterbeschwörungszauberern zusammengerufene und als Wächterkraft platzierte Macht unserer allgebärenden Mutter alle darauf empfindlich ansprechenden Erdkinder auf einen Schlag entleibt hat mag Australien und all sein dort ruhendes Gold noch etliche Zeit für uns unbetretbar bleiben. Natürlich gebe ich die Zuversicht nicht auf, dass wir dort bald wieder heimisch werden können. Die Zauberstabträger können unmöglich ohne unsere Erfahrung und Sachkunde Gold bewahren oder damit handeln.

Doch zunächst zu jenem höchst betrüblichen Warnruf, den wir aus Deutschland erhielten. Es ist wohl nun doch so, dass der dortige Sprecher aller Zauberstabträger, Heinrich Güldenberg, lieber mit einem macht- und Goldsüchtigen Schwarzalbenkönig ins Geschäft kommen will, als sich weiterhin unserer jahrhundertelangen Erfahrung und Handelsnetze zu erfreuen. Offenbar hat dieser lauthalsige König Malin VII. die Gunst von Ladonnas Verschwinden genutzt, um mit Güldenberg und seinen Untergebenen einen für diese besser erscheinenden Vertrag zu schließen. Dass dabei einer unserer besten Vertrauensmänner zur Flucht aus seiner Heimat gezwungen wurde ist ebenso betrüblich. Denn so werden wir bei ähnlichen Angriffen auf unser Geschäft nicht früh genug vorgewarnt sein. Das wiederum gibt den Anlass, warum wir heute zusammenkommen mussten, werte Amtsbrüder. Wir müssen sicherstellen, dass das Goldwertbestimmungsrecht auch weiterhin nur bei uns bleibt und nicht beliebig an andere vergeben wird oder gar in leichtfertiger Überheblichkeit von den Zauberstabträgern selbst wahrgenommen wird oder die gar ganz ohne Gold, Silber und Kupfer auszukommen wagen, wie es in unseren Zweigstellen auf dem jenseits des Abendlandmeeres gelegenen Erdteils gewagt wurde und wie zu erwarten war am Unwillen der unsere Dienste wertschätzenden Zauberstabträger scheiterte, auch wenn versucht wurde, diese zu betrügen und vorzutäuschen, wir könnten keine eingelagerten Wertmengen mehr behüten. Jetzt gilt es, gegen die Machenschaften von trunksüchtigen Langbärten anzugehen, den Zauberstabträgern zu beweisen, dass ihr Gold nur bei uns sicher und verfügbar ist und bei der Gelegenheit auch eine Rückkehr auf die gerade unbetretbaren Gebiete im Umkreis Australiens zu erwirken. Es liegt bei uns, dies zu vollbringen. Denn der Bund, der alles sieht, hört und regelt, wurde von Ladonna und einem aus ferner Vergangenheit auferstandenen Ungeist stark geschwächt bis völlig ausgelöscht. Somit bleibt nur unsere eigene weltweite Vernetzung und bleiben nur unsere eigenen Sicherheitstruppen, um unsere Anliegen und Rechte durchzusetzen. Ich habe hierzu bereits mit meinen Sicherheitsfachkundigen einige Vorschläge erarbeitet, die mit eurer Hilfe noch erheblich ausgefeilt und zur Anwendungsreife weiterentwickelt werden sollen."

Nach dieser langen Ausführung stellte Glamrock eine mit goldenen Beschlägen verzierte Aktentasche auf den Tisch, der er hauchdünne Pergamentblätter entnahm, die er zielgenau zu den versammelten Besprechungsteilnehmern hinübergleiten ließ.

Auch Pierroche und Bourdac bekamen Ausfertigungen der bereits vorbedachten Einfälle und Vorschläge. Die Zeichen auf den Pergamenten waren so klein, dass Pierroche und Bourdac Lesegläser aufsetzen mussten, die bis zu zehnfach vergrößern konnten. So sparte man natürlich Pergament", wusste Pierroche. Mit den Kleinschreibegeräten konnten Schreibarbeiter und auch Zweigstellenleiter winzige Zeichen auf Pergament auftragen, ohne eine Haaresbreite von der richtigen Form abzuweichen.

Es wurde nun still, weil alle die bereits verfertigten Denkanstöße und möglichen Einsatzgrundlagen in sich aufnahmen. Das war ähnlich wie bei einem großen Essen, wenn alle etwas vor sich hatten, wusste Pierroche. Die Stille war so vollkommen, dass das leise Rascheln der bewegten Pergamentblätter fast wie ein Herbststurm in getrocknetem Laub klang. Dennoch hörten die Besprechungsteilnehmer nicht, was vor der Tür vor sich ging.

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"Bitte was für eine Unterschriftenliste?" wollte Sarja wissen, die über einige Umwege erfahren hatte, dass Russlands Zaubereiminister Arcadi von einigen Leuten davon abgehalten werden sollte, die Friedenskonferenz auf Gotland zu besuchen. Als sie erfuhr, wer alles auf der Liste stand erkundigte sie sich nach denen, die es für wichtig hielten, sich darauf zu verewigen.

"Anastasi Georgejwitsch Grassimow unterhält ein Haus sogenanter freundlicher Frauen und anmutiger Mädchen am Baikalsee. Soll das heißen, der wollte Arcadi dazu drängen, die angebliche Entschädigungszahlung in Form dargebrachter Dienstleistungen in diesem Wonnehaus abzuleisten?"

"Es hat genau den Anschein, Großmutter Morgenrot", sang ihr Enkelsohn ihr zu, der für die Zeitung "Turm der Nachrichten" arbeitete, allerdings gut verhehlend, dass er eine echte Veela zur Großmutter hatte. "Wenn Arcadi sich darauf einlässt reiße ich dem mit eigenen Händen seinen Mannesschmuck vom Leib", knurrte Sarja. Dann erfuhr sie, dass Arcadi wohl genau das befürchtete und die Schreiber der Zeitung und auch aller anderen Berichterstatter verständlichmachte, dass jede unnötige Verärgerung der Veelas die Hoffnung auf einen neuen, dauerhaften Frieden verderben und damit mehr Schaden anrichten würde. Sarja lächelte verächtlich. Arcadi tanzte auf einem haardünnen Drahtseil über einer tiefen Schlucht, an deren Grund ein Fluss aus kochendem Wasser dahinjagte. Der würde es nicht wagen, es sich noch einmal mit den Kindern Mokushas zu verderben. So sang Sarja ihren direkten Nachkommen zu, dass sie wohl nun beruhigt darauf warten konnten, wann sie nach Gotland hinüberfliegen konnten. Wo die Insel lag hatte sie schon von ihren anderen Verwandten aus Finnland und Nordrussland erfahren.

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Sie kannte die geheimen Zugänge. Sie wusste, wie diese ohne Warnmeldung an die Sicherheitshauptstelle zu öffnen waren. Natürlich wusste sie das, weil sie Deeplooks Erinnerungen und Erfahrungen in sich trug. Die von den vier afrikanischen Leitwächtern zugeteilten Vollstrecker folgten ihr auf den lautlosen Laufsohlen ihrer gepanzerten Stiefel hinein in das weiße, prunkvolle Marmorgebäude in jener Straße, die von den Zauberstabträgern Winkelgasse genannt wurde. Mit schnellen und zielgenauen Berührungen setzte sie die Weitermeldesteine außer Kraft, die zwischen dem Zugang für ranghohe Mitarbeiter und den Bereitschaftsschienenwagen lagen. Einmal musste sie bei einer Tür eine handgroße Goldmünze mit eingravierten Befehlsrunen auflegen, um den Weg freizubekommen. Dann stand sie vor den Bereitschaftswagen.

"Je sechs in einen Wagen!" befahl sie leise. Ihre Begleiter gehorchten. Sie selbst bestieg den zweiten Wagen. So kam sie nach einer kleinen Vorhut an, hatte die Hauptstreitmacht noch hinter sich.

Wie Deeplook ihr mitteilte konnten sie die Wagen zur Besprechungsebene steuern. Dann waren sie vor der Tür. Dort sahen sie die silbern gepanzerten. Diana Camporosso in ihrem dreiteiligen Lederpanzer sprang vom Wagen und hielt die große Goldmünze hoch. Diese begann sonnenhell zu leuchten. "Dringlichkeitsauftrag. Die Besprechung ist nicht vollständig", zischte sie leise, als die Wächter ihre gezogenen Waffen senkten. Dann öffneten sie die Tür.

Unverzüglich stürmten die ersten sechs Vollstrecker den Besprechungsraum und nahmen links und Rechts Aufstellung. Die ihnen nachfolgenden eilten im Laufschritt hinein. Diana Camporosso sah die verdutzten bärtigen Gesichter der gut gemästeten Goldverwahrungshüter. Ja, die hatten gedacht, ohne den Bund der zehntausend Augen weiterwerkeln und ein völlig unbekümmertes Leben führen zu können. Doch das würde gleich vorbei sein.

Bis auf sechs Vollstrecker traten alle Mitglieder des scheinbar machtlosen Bundes in den Besprechungssaal ein und verteilten sich so, dass sie unverzüglich handeln konnten, wenn einem der Goldhüter sowas wie plötzlicher Heldenmut überkommen sollte. Für Diana Camporosso war es verdammt wichtig, alles so schnell und so lautlos wie möglich durchzuführen. Sie wollte keinen Kampf mit den Sicherheitsbeauftragten von Gringotts. Das war der allerletzte Ausweg.

Tür zu!" befahl Diana Camporosso. Rein äußerlich sah sie wie eine Koboldin aus, die als Kriegerin auftrat. Für die Spitzbärte und Rundbäuche in diesem Raum war das sicher schon abwegig genug. Doch dass diese Kriegerin den Befehl über die Silberpanzer hatte mochte manchen von denen um den Verstand bringen. Das galt es zu verhindern. Denn sie brauchte die geistig gesunden Zweigstellenleiter.

Als die Tür zu war stellte sich Diana ans Fußende des Tisches und sah den obersten Leiter von Gringotts und Zweigstellenleiter von London Glamrock an. "Ich bin Kradanoxa Deeplook, die neue oberste Lenkerin des alles überwachenden und alles regelnden Bundes. Mir kam zu Ohren, dass hier eine bei uns unangemeldete Sitzung stattfindet, deren Ziele uns nicht mitgeteilt wurden. Dies verstößt gegen die seit vierhundertdreißig Sonnenumwanderungen unserer allgebärenden Mutter getroffene Übereinkunft, von euch Goldhütern immer aus freien Stücken unterrichtet zu werden, wenn ihr euch an einem Ort zusammenfindet und was ihr dort zu besprechen und zu beschließen trachtet. Besteht deinerseits Bedarf, dich dazuzu äußern, Hauptleiter Glamrock Urtuck Xarranack?"

Der Hauptleiter fuhr zusammen, weil Diana seinen vollständigen Namen einschließlich des nur den Angehörigen und Vertrauten zustehenden Weiehsteinnamens aussprach. Diana dachte einen Augenblick an das deutsche Kindermärchen vom Goldspinner Rumpelstilzchen. Kein reinblütiger Kobold nahm es unbekümmert hin, wenn sein voller Name genannt wurde.

"Uns war nicht bekannt, dass es eine Leitwächterin des alles bewachenden Bundes geben soll. Abgesehen davon war niemals eine Frau Leitwächterin oder gar Mutter der Augen", sagte Glamrock unerwartet selbstbewusst. Diana schlug die graublaue Lederkapuze zurück und zeigte so ihr Gesicht und den auf dem Kopf sitzenden Helm. Davon sollten die Dickbäuche hier doch schon mal gehört haben. Ja, hatten sie. Denn die allermeisten zuckten zusammen und blickten mit Schrecken und Erstaunen auf sie, die Erbin Deeplooks. Welch herrliches Gefühl war das?

"Ich bin die Trägerin dessen, der euch als großer Vater aller zehntausend Augen geschildert wurde. Er selbst starb durch die Hand eines aus der Vergangenheit heraufbeschworenen Ungeistes, den die Zweigstellenleiter von Ägypten mutwillig herausgefordert haben und dafür den fälligen Preis zahlten. Dass dieser Ungeist aber auch uns aufspürt und es sogar wagte, mich zu töten, sodass ich bis zu einem nicht weiter zu erwähnenden Glücksfall körperlos blieb war so nicht geplant. Doch nun bin ich hier, Kradanoxa Deeplook, die Mutter aller Augen und die Gebieterin aller Leben und Werke der wahren Erdkinder. Nehmt dies an und nehmt hin, dass eure unangekündigte Versammlung hiermit unter unserer Aufsicht fortgeführt wird und ihr dann, wenn sie vorbei ist, im Sinne unseres großen Volkes der wahren Erdenkinder, die von den Zauberstabträgern Kobolde genannt werden, über eben jene Zauberstabträger bestimmen sollt, wie und wann sie wie viel von ihrem Gold entnehmen und verwenden dürfen und dass in jedem Land, wo Zauberstabträgerinnen und -träger leben unsere Goldverwahrungsfachkundigen zu wirken haben. Ich erfuhr über die noch verbliebenen Ohren unseres Bundes, dass in Deutschland jemand danach trachtet, ein Bündnis mit den unreinen Erdkindern zu schließen. Dass dies überhaupt gewagt wird ist eine Folge jener beschämenden Schwächung unseres Volkes. Wir müssen das berichtigen, am besten dadurch, dass wir diesen selbstüberschätzenden Leuten, die ohne ihre Zauberstäbe nur ein Zehntel so viel wert wären, beibringen, wie abhängig sie von uns sind."

"Ich habe gerade gesagt, dass es noch nie eine Leitwächterin oder gar Mutter der zehntausend Augen gab. Der gläserne Helm ist eine Fälschung!" rief Glamrock. Damit weckte er seine Amtsbrüder aus ihrer Schreckensstarre. "Ja, Brüder, ihr dürft nicht glauben, dass eine Erdtochter den unzerstörbaren Helm des ersten Vaters aller Augen erhalten hat. Wenn der wirklich mit den anderen des Bundes getötet wurde, dann hätte ein Überlebender wie einer von denen da sicher den Helm bekommen, um das Erbe des ersten Vaters anzutreten. Also, werte Silberkrieger, nehmt der Hochstaplerin den Helm ab und zerschlagt ihn hier auf dem Tisch aus Eisenholz, damit wir alle sehen, dass es nicht der echte Helm ist!"

"Aber es ist die Verkörperung unseres Vaters aller Augen", sagte einer der Vollstrecker. "Er wohnt jetzt in diesem Weib, auch wenn ihm das nicht behagt. Er konnte uns beweisen, dass er in ihr wohnt."

"Mordrock, nimm der Lügnerin da den Helm ab! Falls einer der Silberkrieger dich abhalten will helft ihm, meine treuen Leibeshüter!" rief Glamrock. Unverzüglich wurden sechs ebenso gepanzerte Wächter sichtbar. Diana lächelte spöttisch, bis sie die blauen Leuchtschleier um den Körpern sah. "Metallabweiser", hörte sie Deeplooks Erklärung. Da kamen die ersten der sechs aufgetauchten auch schon auf sie zu. Wie sie ihre Leute angeleitet hatte sprangen diese trotz der Silberrüstungen behände zwischen sie und die Gegner. Doch diese hoben ihre Arme. tiefschwarze Strahlen traten hervor und trafen die Vollstrecker. Deren Rüstungen wurden wie in nachtschwarzes Eis eingehüllt und erstarrten mit ihren Trägern. Wieso konnten die das? Wieso hielten die im Haus der scharfen Waffen angelegten Rüstungen nicht dagegen?

Da war der erste der sechs Leibeshüter Glamrocks auf Armreichweite an sie heran. Sie brauchte nur einen winzigen Augenblick zu überlegen. Dann rief sie das Wort: "Habblalgirnosh!"

Augenblicklich erstarrten alle anderen in diesem Raum wie versteinert. Diana Camporosso alias Kradanoxa Deeplook sah Glamrock ins maskenhaft erstarrte Gesicht. Nur sein Atem ging noch regelmäßig. "Ihr, die ihr meine Stimme hört, befolgt ab sofort jeden von mir oder jedem von mir mit dem Kennwort Kradanoxa vorsprechenden Boten erteilten Befehl. Denn jeder von mir erteilte Befehl dient unserem Volk und wird es wieder groß machen. Ihr alle, die ihr meine Stimme hört, gehorcht mir bis zum Lebensende. Verratet niemandem, wer ich bin und wem ihr in Wahrheit gehorsam seid! Habblalgirnosh!"

Mit dem letzten Wort schloss sie die Klammer des bedingungslosen Befehls, wie es Deeplook genannt hatte. Alle regten sich nun. Sie befahl den Leibeshütern, auf ihre Plätze zurückzukehren. Sie taten es. Zwar murrten einige, weil kein Kobold das geächtete Bannwort aussprechen konnte, ohne selbst darunter zu leiden. Doch sie hatte es ausgesprochen, zweimal. Alles dazwischen gesagte war zu befolgen.

"So, nun wo wir das geklärt hätten werde ich nachher fragen, wie es sein kann, dass deine Leibeshüter Gefrierzauber verwenden können, die die Rüstungen der Alleswehr nicht zurückdrängen kann, Glamrock. Außerdem wirst du mir deinen Platz überlassen und dich da auf den freien Stuhl setzen, der für einen Mitschreiber vorgehalten wird."

Glamrock gehorchte ohne aufzubegehren. Er verließ seinen thronartigen Stuhl, lief den Tisch entlang und sezte sich auf den weniger bequemen Stuhl des Mitschreibers, der bei nicht geheimen Sitzungen aufzeichnete, was besprochen und beschlossen wurde. Diana Camporosso alias Kradanoxa Deeplook ging nun auf der anderen Tischseite entlang und setzte sich ruhig auf den sehr bequem gepolsterten, hochlehnigen Stuhl. Dann befahl sie den ihr nun unterworfenen, ihre Namen und Zuständigkeitsorte zu nennen. Als sie die alle erfuhr und bei den aus Italien, Ägypten und Spanien vertriebenen Kobolden lächeln musste sagte sie: "Nun, wir werden wohl übermorgen wissen, wie abhängig die Zauberstabträger von uns sind. Ihr werdet dann alle eure Zweigstellen wegen Überprüfung der Abwehrmaßnahmen schließen und die im Fall "Letzter Glockenschlag" vorgesehenen Vorrichtungen in Tätigkeit setzen. Das ganze werdet ihr zwei volle Eigendrehungen unserer allgebärenden Mutter aufrecht halten. Wer in der Zeit versucht, an seine oder ihre Goldvorräte zu gelangen wird entweder vor verschlossenen Türen stehen oder den Abwehrvorrichtungen zum Opfer fallen. Die in den verwaisten Zweigstellen am mittleren Meer werden ja ohnehin die Abwehrvorrichtungen in Gang setzen, nicht wahr?" Die dafür zuständigen nickten bestätigend. Allerdings wandte der eigentlich für die ägyptischen Zweigstellen tätige Zweigstellenleiter ein, dass seine Gringottszweitstellen erst am Tag namens zwanzigster März dem fall "Letzter Glockenschlag" entsprechen würden. "Gut, wenn dieses unmissachtbare Zeichen unserer Stärke beachtet wurde werdet ihr eine Frist setzen, in der alle vertriebenen Erdenkinder in ihre Heimat zurückkehren können und zur Wiedergutmachung ein Viertel ihres Gewichtes in reinem Gold oder einer gleichwertigen Menge bearbeiteter Diamanten bekommen. Sollte diese Wiedergutmachung nicht entrichtet werden und sich die Zauberstabträger sturstellen sprecht ihnen eine weitere Drohung aus, dass ihre Einkaufsstraßen von lähmenden Erstarrungsvorrichtungen besetzt werden, die dazu führen, dass keiner mehr dort herauskommt und entweder solange halbversteinert dort jedem Wetter ausgeliefert bleibt oder an Hunger, Durst und Erschöpfung des Geistes verstirbt. So werden wir obsiegen. Ja, und so werden wir auch Australien und seine Nachbarinseln zurückgewinnen. Denn euch steht es frei, dergleichen zu fordern. Wenn dabei Zauberstabträger sterben müssen sei es eben so. Irgendwann werden sie genug Tote zu beklagen haben, um auf unsere Bedingungen einzugehen."

"Ja, wir gehorchen", antworteten alle. Diana merkte, dass es bei einigen Verzögerungen gab. offenbar waren da doch einige willensstärkere dabei. Gut, um Zweigstellenleiter zu sein bedurfte es Entschlossenheit, Durchsetzungskraft und Zielstrebigkeit. Das übte den Willen und den Verstand.

"Ach ja, ich hörte davon, dass die Kunden im Zauberstabträgerdorf Millemerveilles in Frankreich einen mächtigen Erdzauber aufriefen, der angeblich nur zum Schutz ihrer Siedlung dient, aber es unsereinem verwehrt, auf unserem Weg dort ein- und wieder auszugehen. Die, die in Millemerveilles tätig sind, sollen alle Verträge missachten, und ebenfalls die Abwehrvorrichtungen in Kraft setzen, bis dieser angebliche Schutzzauber widerrufen wurde. Sollten dabei auch welche von denen sterben, so wird denen das eine unvergessliche Lehre sein, nie wieder wider unsere Anliegen und Vorhaben zu handeln. Verstanden, Pierroche?" Pieroche bestätigte das mit leicht schleppender Stimme. Offenbar meinte er immer noch, sich gegen die Befehlsklammer auflehnen zu können.

"Wenn ihr das alles ausgeführt habt werdet ihr an meine treuen Vollstrecker eure besten Krieger, Späher und Schmiede übergeben, damit sie mir helfen, den Bund, der alles überwacht und regelt wieder groß zu machen. Denn nur unter unserer alles und jeden erfassenden Aufsicht wird es dauerhaften Frieden zwischen unseren Artgenossen und zwischen uns und den Zauberstabträgern geben. Was der von den Ägyptern geweckte Ungeist und Ladonna angerichtet haben muss berichtigt und gegen neuerliche Schwächungen abgesichert werden. Habt ihr auch das verstanden?" Die Unterworfenen bestätigten das im Chor, auch die bereits von Diana mitgebrachten Vollstrecker.

"So besprecht nun frei, was ihr gegen Güldenbergs Vorhaben unternehmen wollt. Wenn ich etwas höre, dass mir missfällt werde ich einschreiten. Sonst nicht."

Die nächsten 1000 ruhigen Herzschläge besprachen die Zweigstellenleiter die bereits vorgebrachten Vorschläge. Diana Camporosso genoss es innerlich, dass Glamrock auf dem ungepolsterten Stuhl des Mitschreibers hin und her rückte und nicht wusste, wie er sich bequem halten konnte. Da rief sie ihm zu: "Wenn du nicht ruhig sitzen kannst stell dich hinter den Stuhl und bleibe so stehen, bis die Sitzung vorbei ist!" Der Hauptleiter von Gringotts gehorchte ohne zu murren. Diana genoss das. Das war wahre Macht. Sie beherrschte Kobolde, die sich bis vorhin für die mächtigsten ihres Volkes gehalten hatten. Über diese würde sie auch Macht auf die anderen ausüben, ohne alle unter den Bann der Befehlsklammer zu stellen. Der erste wirklich große Schritt zu Ladonnas Nachfolge und zugleich zur Königswürde unter den reinblütigen Kobolden war getan. Bald würden alle, Zauberstabträger wie sie und Kobolde wie ihre Vorfahren nur noch tun, was sie befahl. Ja, sie würde bald befehlen, den Nichtmagiern die Pfeiler ihrer gnadenlosen Selbstüberschätzung zu entreißen, die die gezähmte Elektrizität und die Nutzung in Erdöl und Steinkohle gebannten Feuers. Dann war sie wirklich mächtiger als Ladonna und wirklich mächtiger als alle Hexenköniginnen und dunklen Herrscher zuvor. Doch sie durfte es nicht übereilen. Sie durfte sich nicht wie Ladonna zu weit vorwagen. Diese hatte sich zu gerne selbst nach vorne gedrängt, um zu zeigen, wie stark und wie schön, wie klug und wie geschickt sie war. Sie würde aus dem Hintergrund handeln, von keiner Hexe und keinem Zauberer erkannt, bis sie und nur sie befand, ob der Mensch es wert war, ihr zu begegnen. Aber womöglich musste sie den oder die dann auch töten, um das Geheimnis ihrer Herrschaft zu bewahren. Sie dachte an die vergifteten Dolche in ihrem Gürtel und an den mächtigen Zauberbogen des Anhor und seine hundert tödlichen Pfeile.

Es ging nun darum, wie einem Beistand der Zwerge entgegengewirkt werden konnte. Es mochte nicht ohne Kampf gehen. Doch die bereits bewährten Steine des Mittwinternachthauches würden auch gegen Malins magische Panzerkrieger wirken. Es sollte geprüft werden, ob die beweglichen Abwehrvorrichtungen auch als Angriffswaffen in einem Krieg gegen die Zwerge eingesetzt werden konnten. Falls nicht genug davon vorhanden waren sollten eben genug davon hergestellt werden. Dafür sollte im Bedarf Gold von den Verlieskunden eingefordert werden, um die Schmiede zu entlohnen, die sich mit sowas auskannten. Wenn sicher war, dass ein Feldzug gegen Malin erfolgreich verlaufen konnte sollte den Zwergen nördlich und südlich der Alpen eine Frist zur Abtretung aller Ansprüche auf Gold und andere Werte gestellt werden. Ließen sie diese unbeachtet verstreichen sollte es eben den Entscheidungskampf geben, wobei hier die Hexen und Zauberer nach Möglichkeit herausgehalten werden sollten. Diana überlegte, ob sie da nicht doch besser einschritt. Denn ein offener Krieg gegen die Zwerge würde auf jeden Fall Hexen und Zauberer auf den Plan rufen. Spätestens dann würde es für die Kobolde gefährlich. So stand sie auf und sagte: "Einspruch!" Sofort schwiegen alle. "Gegen die Zwerge Krieg zu führen ist unsinnig, weil es unsere eigene Lebensgrundlage bedroht, wwenn die Zauberstabträger sich dann auf die Seite der Zwerge stellen oder meinen uns wegen ihrer anmaßenden Überheblichkeit in unsere Schranken verweisen zu müssen. Krieg ist das falsche Mittel. Verächtlichmachung, Abwertung, Ungnade, damit können wir die Zwerge niederringen. Wenn die dann von sich aus gegen uns Krieg ausrufen können wir immer noch mit der neuerlichen Verweigerung unserer Dienste drohen, um die Zauberstabträger auf unsere Seite zu zwingen. Also geht es nur darum, Güldenbergs Leute davon zu überzeugen, dass ein Bündnis mit Malin seinem Volk mehr Verdruss bringt als unserem. So und nicht anders sollt ihr planen."

Nun ging es um die Abschottung von Gringotts und die Forderungen, Australien wieder für Kobolde zugänglich zu machen. Wenn dabei Zauberstabträger litten, verhungerten oder an den Abwehrvorrichtungen zu Grunde gingen würde sie das darauf bringen, einzuwilligen. Sollten die wieder so frech werden, eigenes Papiergeld als Zahlungsmittel einzuführen sollten die Boten und Verwahrer dieses Geldes eben gefangengenommen oder getötet und alle Scheingeldvorräte vernichtet werden.

"Und wenn die ihre Kinder zu Geldboten machen?" fragte der Hauptgeschäftsführer von Gringotts USA. "Wenn Sie das Leben ihrer Kinder dafür opfern wollen, so soll es so sein", bestätigte Diana Camporosso kaltblütig. Keiner wagte einen Widerspruch. Natürlich nicht, weil sie die absolute Befehlsgewalt hatte.

Als die Besprechung damit endete, dass der angesetzte Sturmlauf Güldenbergs als Signal an alle verstanden wurde, die Zweigstellen zu schließen und alle von Güldenbergs Truppen sterben sollten, die an jener Erstürmung teilnahmen sagte Glamrock, der auf bereits leicht zitternden Beinen hinter dem Holzstuhl des Mitschreibers stand: "So werden wir unseren Untergebenen die nötigen Anweisungen erteilen. Darf ich die Mutter der Augen, öhm, die Trägerin des Vaters aller Augen fragen, wie der Bund, der alles überwacht und regelt uns dabei helfen wird oder ist dies geheim?"

"Du darfst fragen und ja, es ist geheim", sagte Diana Camporosso. Damit kam sie darum herum, zu antworten, dass sie keinen Plan und vor allem keine ausreichende Zahl von Helfern hatte. Sollten die doch selbst merken, wann der Bund eingriff und wann er sich zurückhielt.

"Darf ich die Sitzung nun beschließen, Kradanoxa Deeplook?" wollte Glamrock wissen. Diana sah den immer mehr gegen sein eigenes Körpergewicht ankämpfenden Hauptgeschäftsführer von Gringotts an und sagte: "Wenn du noch klarstellst, wann und wo sich alle grauen Bärte treffen, die meinen, sie seien nun auf sich allein gestellt, dann darfst du die Sitzung schließen, Glamrock Urtuck Xarranack", erwiderte Diana Camporosso alias Kradanoxa Deeplook.

Als Glamrock ein entsprechendes Schreiben an alle grauen Bärte verfasst hatte und diese sich eine Woche nach dem Fall "Letzter Glockenschlag" treffen sollten durfte er die Sitzung beenden. "Ihr dürft euch nun erheben und an eure Wohn- und Arbeitsstätten zurückkehren", bekräftigte Diana Camporosso das Ende der Zusammenkunft. Da damit auch der an Glamrock ergangene Befehl endete, hinter dem Stuhl stehen zu bleiben konnte er sich entdlich bewegen und die stark erschöpften Beine ausschütteln.

Diana wollte von den Beschützern Glamrocks wissen, wie das mit dem schwarzen Strahl ging und wie dessen Wirkung aufgehoben werden konnte. Sie führten es ihr vor. Sie musste doch staunen, und auch der in ihr eingesperrte Deeplook war überrascht, dass Gringotts eine Abwehrmöglichkeit erfunden hatte, die dem Bund der zehntausend Augen und Ohren entgangen war. Wie viele Erfindungen mochte es noch geben, die der Bund nicht kannte?

"Sag die Wahrheit! Gibt es noch andere Abwehrmittel, die ihr meinen Leuten nicht verraten wolltet?" fragte sie Glamrock. "Keine, von denen ich wüsste", sagte Glamrock. Da er Befehl hatte, die Wahrheit zu sagen glaubte sie ihm. Dann durfte auch er gehen. Sie verließ nun mit ihren eigenen Leuten, die ihr nun noch mehr unterworfen waren den Sitzungssaal.

Sie warteten unsichtbar, bis neue Schienenwagen für sie bereitstanden. Mit diesen fuhren sie auf die Eingangsebene zurück. Dort öffnete Glamrock ihnen höchstpersönlich den geheimen Zugang für höhere Angestellte und ließ sie hinaus. Niemand in Gringotts außer jenen, denen sie sich offenbart hatten, wusste, dass hier und heute ein Plan geschmiedet worden war, der das zerbrechliche Miteinander innerhalb der magischen Gemeinschaften erschüttern mochte.

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"Also, der Zweigstellenleiter und sein Stellvertreter sind nicht in Gringotts", sagte Wetterspitz. "Wo sie hin sind konntest du nicht herausfinden, Rudi?" "Doch, habe ich, Andi. Die sind in die Zentrale nach London. Offenbar hat ihr großer Meister Glamrock gerufen", erwiderte Rudolf Knappenheim, einer von Andronicus Wetterspitzes außerministeriellen Helfern, der einen koboldstämmigen Schwiegersohn hatte, der in gehobener Stellung in Gringotts Frankfurt am Main tätig war und da, wenn er sich nicht all zu ungeschickt anstellte, an die Terminpläne von Hauptgeschäftsführer Aschsack herankam.

"Soso, London. Offenbar geht es den Spitzohren darum, sich verlorene Gebiete zurückzuholen. Wahrscheinlich werden die es so drehen, dass wir vertragsbrüchig werden. Anders kann ich mir Hellers Flucht nicht erklären. Die gehörte sicher dazu und er ist jetzt auch in London."

"Was wirst du jetzt machen, Andi?" fragte Rudolf Knappenheim.

"Unserem gemeinsamen Vorgesetzten berichten, dass was unter den Hallen von Gringotts gährt und wir vielleicht wieder auf Notgeldzettel umsteigen müssen", sagte Wetterspitz. "Und, werdet ihr das auch an alle anderen Ministerien weitergeben?" fragte Knappenheim. "Hmn, zumindest an die, deren Solidarität und Loyalität uns sicher ist", sagte Wetterspitz.

Als er Güldenberg seine Ermittlungsergebnisse präsentierte meinte dieser: "Klar, die werden uns bezichtigen, ein Geheimabkommen mit dem Schwertrassler im Schwarzwald getroffen zu haben. Wahrscheinlich sind die sogar einer gezielten Falschmeldung Hellers aufgesessen, der sich jetzt tierisch darüber amüsiert, uns und die Kobolde aufeinander zu hetzen. Krieg raus, wo der Kerl steckt und schaff den wieder her, Andi! Ich will keinen zweiten Hagen Wallenkron und auch keine männliche Ladonna Montefiori. Ich habe für die nächsten hundert Jahre genug von Möchtegernweltherrschern und -weltherrscherinnen."

"Zu Befehl, mein Kapitän", erwiderte Wetterspitz. "Jetzt aber raus hier, Wichtelfresser", knurrte Güldenberg. "Wo du es erwähnst, Heinz, hat die Ministeriumsmensa noch offen. "Für eine Bullette oder eine Currywurst dürfte die Küche noch warm genug sein, Andi. Guten Appetit!"

"Danke, Herr Zaubereiminister", erwiderte der oberste Sicherheitszauberer Deutschlands

Andronicus nutzte die für höhere Angestellte benutzbaren geheimen Gänge und Treppenhäuser, um keinem hier über den Weg zu laufen. Doch so ganz konnte er es nicht vermeiden. Als er gerade auf Höhe der Beamtenmensa - Kantine klang zu proletarisch - herauskam lief ihm Armin Weizengold über den Weg, der wohl auch dem Trubel im restlichen Gebäude aus dem Weg bleiben wollte.

"Ah, Herr General. Hat der große Meister einen neuen Bericht von Ihnen erhalten, wer uns wann beharken will?" fragte Weizengold. Seitdem er zu den glücklichen gehörte, die Ladonnas Feuerrosenzauber entgangen waren und somit mitgeholfen hatte, die deutschen Ministeriumsangestellten daraus zu befreien genoss er mehr Ansehen, aber auch mehr Narrenfreiheit im Ministerium.

"Ja, grüne Knuddelmuffs vom Mars, die unsere Kartoffeläcker umpflügen wollen, weil sie die Kartoffelknollen für ihre abgelegte Brut halten", scherzte Wetterspitz. Darauf machte Armin Weizengold "Yipp Yipp Yipp!"

"Wünsche noch einen erfolgreichen Nachmittag und einen erholsamen Feierabend", gab Wetterspitz seinem Kollegen mit auf den Weg. Der dankte und wünschte dasselbe. Andronicus Wetterspitz dachte, dass er wohl in den nächsten Tagen viel Glück brauchte, und ob er einen geregelten Feierabend haben würde stand auch sowas von in den Sternen oder besser schlummerte unter der Erdoberfläche.

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Pierroche dankte seiner Umsicht, Bourdac mitgenommen zu haben. Denn wie er selbst war auch dieser bereits einmal mit dem Befehlswort auf bestimmte Anweisungen festgelegt worden. Daher hatte den beiden die neuerliche Anrufung jenes Banns nur die Erstarrung eingebrockt, bis das Wort zum zweiten mal gesagt wurde. Dann hatten Bourdac und er mit angehört und sich aus reinstem Überlebensinstinkt an der Besprechung beteiligt. Doch beide wussten, dass sie den Plan dieser Frau mit dem Glashelm nicht durchführen durften. Denn dann würden sie beide und alle, die wie sie bereits einmal unter die Macht des Befehlswortes gestellt wurden ihre Freiheit und wohl auch ihr Leben verlieren. Sie mussten dafür sorgen, dass die französischen Kundinnen und Kunden von Gringotts nicht zu Schaden kamen, vor allem aber die in Millemerveilles. Doch solange sie in London waren konnten sie sich nur über für geheime Kurzmitteilungen vereinbarte Zeichensprache unterhalten. Zumindest konnten die mitgeführten Gläser des wahren Blickes ihnen versichern, nicht von unsichtbaren Spionen dieser angeblichen Erbin jenes mythischen Gründers der zehntausend Augen und Ohren verfolgt zu werden. Auf der Heimreise durch die Erde, wobei sie den von den Neddlwogs gebauten Tunnel als willkommene Wegmarkierung nutzten, fühlten sie auch keine Verfolger. Sie reisten unverzüglich weiter bis an die Grenze, wo der ihnen bis heute unheimliche, machtvolle Erdzauber wirkte, der Millemerveilles durchdrang und gegen böswillige Eindringlinge schützte. Als sie nun oberirdisch durch die für sie nur leicht flirrende Luft traten atmeten beide auf. Sie liefen dann noch einige hundert Meter weiter auf die Mitte der Ansiedlung zu. Dann sagte Pierroche: "Ihnen ist klar, dass wir das gerade erlebte weitermelden müssen, wenn wir übermorgen noch frei und unbeschwert herumlaufen wollen?" Bourdac bestätigte das. "Gut, wo wohnt der, der uns zum ersten mal unterworfen hat?" Bourdac hob einen Arm und drehte sich einmal um sich selbst. "Laut Lichtkraftfernspürer ist das wohl die Säule in der Nähe des Sees, wo die Fischleute wohnen."

"Dann los. Große Allgebärerin, auf deiner Haut zu laufen ist viel anstrengender als in deinem schützenden Schoß zu reisen", seufzte Pierroche. Doch es half nichts, er musste laufen, laufen, laufen.

Als die zwei Kobolde an die Grundstücksgrenze zum Apfelhaus der Latierres kamen fühlten sie die volle Kraft aus der Erde in den Himmel und wieder zurückströmen. Es war für sie wie an einem tosenden Wasserfall zu stehen, der vom direkten Sonnenlicht durchleuchtet wurde. Sie konnten beim besten Willen nicht weiter vorankommen. So rief Pierroche nach Julius Latierre. Er bekam nicht mit, dass sein Ruf von einem anderen Wesen gehört und weitergegeben wurde, ein Wesen mit grausilbernem Fell und einem Schwanz mit goldener Quaste.

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Ich fühle die zwei kleinen Menschengleichen, die aber keine Menschen sind. Die vertragen das wilde Singen um Julius Haus wohl noch weniger als ich. Einer von denen will mit Julius reden. Er ruft nach ihm. Er ist aber noch nicht wieder im Haus. Deshalb bringe ich den Dusty dazu, Millie zu holen, weil die hören kann, was er sagt.

Einige Zeit später kommen Millie und die Béatrice aus dem Haus. Ich rieche, dass beide wohl bald einen neuen Klopfer im Bauch haben. Julius hat beide zugleich mit seinen Jungen aufgefüllt. Wieso hat der mir früher immer gesagt, dass ein Männchen sich nur einmal ein Weibchen sucht, dass seine Jungen kriegt? Gut, muss ich jetzt nicht verstehen. Es ist nur gerade nötig, dass dieser schrill rufende Kleinmensch gehört wird.

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"Monsieur Pierroche, was möchten Sie meinem Mann mitteilen?" fragte Millie. "Erst einmal, dass ich nicht wusste, wie stark die von Ihnen gerufene Kraft wirklich ist. Ich komme nicht auf Ihr Grundstück, weil starke Erdkräfte von hier in die Bäume da gehen und von da wieder zurück in den Boden gehen. Dann muss ich was mitteilen, wobei es ziemlich wahrscheinlich um Leben und Tod von Ihnen oder meinen Artgenossen gehen kann. Klingt jetzt sehr dramatisch. Doch wenn Sie oder Ihr Mann mir zuhören konnten werden Sie verstehen, warum ich das nicht weniger dramatisch ausdrücken konnte.

"Mein Mann ist noch im Ministerium. Geht es ausdrücklich um ihn und mich? Wurden Sie doch gezwungen, Ihren Leuten zu verraten, wer Sie unter das Bannwort gestellt hat?" fragte die für eine Zauberstabträgerin ziemlich groß gewachsene Frau mit den rotgoldenen Haaren. Er schüttelte den Kopf und erwähnte, dass das nicht herausgekommen sei und er dann sicher nicht mehr hier wäre. Millie Latierre verstand das. Dann sagte sie. "Ich versuche ihn zu rufen, ob er herkommen kann. Ich bin gleich wieder da und sage Ihnen ob es geht", sagte Millie. Dann machte sie diesen ortswechselzauber, weshalb viele Kobolde neidisch waren und zu gerne auch Zauberstäbe benutzen wollten. Nach zweihundert Herzschlägen war sie wieder da. Dann knallte es noch einmal laut, und Julius Latierre stand auch auf der Grenze seines Wohngrundstückes.

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Ministerin Ventvit war gerade dabei, in den Wohntrakt des Ministeriums überzuwechseln, als ein Porträt ihr meldete, dass Julius Latierre und Barbara Latierre mit ihr sprechen müssten. Da der Koboldbeauftragte selbst bereits im Feierabend war sollte dieser am nächsten Werktag unterrichtet werden.

Als Julius Latierre und seine Schwiegertante Barbara im zum zeitweiligen Klangkerker gemachten Büro der Ministerin saßen berichtete Julius, was ihm vor zehn Minuten der Kobold Pierroche erzählt hatte. Als Ornelle das hörte wiegte sie den Kopf. "Und Sie beide sind sich ganz sicher, dass dieser Kobold Ihnen keine Panikmachergeschichte aufgetischt hat?" Julius erwiederte, dass Mademoiselle Béatrice Latierre das Schlupfloch bei Nichtmenschen ausgenutzt hatte. Ornelle Ventvit verstand und nickte. "Ja, und dabei kam heraus, dass Pierroche das tatsächlich so in Erinnerung hat. Meine Schwiegertante hat dann noch einen Erinnerungswiderhallzauber benutzt, der aufgepfropfte von durch eigene Sinne aufgenommenen Erinnerungen unterscheiden kann. Wusste bis dahin nicht, dass es sowas gibt. Jedenfalls hat sie bestätigt, dass Pierroche und sein Begleiter Bourdac, den meine Frau und ich damals wie alle in Millemerveilles tätigen Kobolde durch das machtvolle Bannwort unterworfen haben, dieses Ereignis eins zu eins so miterlebt haben. Mademoiselle Latierre kann bei bedarf auch vor dem Gamot oder dem Ehrengericht der Heilerzunft aussagen, was sie erfahren hat."

"Hat Pierroche die Untersuchung wahrgenommen?" wollte die Ministerin wissen. "Ich habe ihm gesagt, dass meine Schwiegertante als Heilerin auch untersuchen kann, ob jemand einen bösen Fluch im Kopf hat, der ihn umbringt, wenn er was tut, was dem, der den Fluch gesprochen hat nicht gefällt. Da hat er sich das gefallen lassen. Diese Notlüge konnte ich verkraften."

"Wobei es durchaus Situationsflüche gibt, die bei bestimmtem Verhalten wirksam werden. Aber die dürften dann ja nicht durch die neue Schutzglocke über Millemerveilles gelangen", sagte Ornelle Ventvit. "Gut, das musste Pierroche dann nicht wissen. Immerhin schön jetzt schon zu erfahren, wieso wir mit ihm und seinen Kobolden keine Schwierigkeiten mehr haben, Monsieur Latierre. Aber ich sehe mal über eine Unterlassungsrüge hinweg, weil das gerne auch unser Geheimnis bleiben sollte, vor allem, wenn stimmt, was Pierroche und Bourdac erlebt haben. Da ist also eine kleinwüchsige Frau, womöglich Kobold- oder zwergenstämmig, die behauptet, das Vermächtnis eines ominösen Gründers jener obskuren zehntausend Augen und Ohren zu tragen und deshalb angeblich nicht mehr für sich selbst, sondern als dessen neuer Wirtskörper zu leben. Schon eine grauenhafte Vorstellung. Pierroche geht davon aus, dass die anderen, die seines Wissens nach bisher nicht unter diesen machtvollen Befehl gezwungen wurden alles ausführen, was diese Frau verlangt hat?" Julius und Barbara nickten. "Gut, dann müssen wir davon ausgehen, dass die Zweigstellenleiter ihre eigenen Kundschafter in den Ministerien haben und gewarnt sind, wenn wir was weitergeben. Also kann das nur zwischen uns Ministerinnen und Ministern ausgetauscht werden. Ich darf natürlich nicht davon anfangen, dass ein Kobold gegen einen solchen Bann immun ist, weil er bereits mit einem solchen Bann belegt war. Das würde eindeutig zu viele Fragen aufwerfen, von denen ich keine einzige beantworten möchte. Ähm, erwähnte Pierroche nicht einen gewissen Giesbert Heller?" Julius überlegte und nickte heftig. "Ja, er erwähnte, dass Heller sich wegen der angeblichen Allianz zwischen Minister Güldenberg und König Malin absetzen musste, nachdem er es den Zweigstellenleitern durchgegeben hatte. Hmm, und die unbekannte Dame mit dem Glashelm muss da mitgehört haben. Wenn sie echt mit jenem Koboldgeheimbund zu tun hat haben die wohl noch ein paar Ohren in den Nachrichtenleitungen von Gringotts und Co. - oder dieses Frauenzimmer hat eine gezielte Falschmeldung abgesetzt, auf die die Kobolde so angesprochen haben, dass sie genau wusste, wann sie die alle in einem Raum zusammenhat. Ein ehemaliger Freund meines Vaters, der beim britischen Auslandsgeheimdienst gearbeitet hat nannte das eine Informationsintoxikation, also eine vergiftende Nachricht im Rahmen psychologischer Kriegsführung."

"Von dem gemeinen Trick habe ich auch schon gehört", bestätigte Barbara Latierre. "Da hatten wir es auch in der Tierwesenbehörde von, wenn wer Vorteile für sich bei Tierzuchten herausholen wollte und deshalb die Gefährlichkeit von Tierwesen A höher als die von Tierwesen B ansetzte."

"Mit anderen Worten, diese Koboldstämmige könnte die Versammlung der Zweigstellenleiter provoziert haben, um dort zuzuschlagen?" fragte Barbara Latierre. "Ja, und wenn Mademoiselle Latierre und ich das richtig mitbekommen haben soll das wohl demnächst gegen die obersten Kobolde an sich, den Rat der grauen Bärte gehen. Insofern ist wohl wichtig, ob das Ministerium sich da einmischt oder es dem Kobold Pierroche überlässt, ob er Meister Gischtbart mitteilt, was wirklich anliegt", sagte Julius.

"Das ist doch keine Frage, Julius. Ich suche den Koboldverbindungskollegen auf und bespreche das mit ihm, dass Giesbert Heller in Umlauf gesetzt hat, dass wir uns angeblich mit den Zwergen zusammentun und deshalb alle Kobolde von Gringotts gegen uns mobil gemacht werden. Das darf er fressen und wird genauso handeln als wenn ich ihm die Geschichte erzähle, die Trice und du mir erzählt haben, vorausgesetzt, Ministerin Ventvit, Sie legen kein Veto ein und untersagen mir dieses Vorgehen."

"Im Gegenteil. Erlaubnis zur gezielten Weitergabe der von Ihnen erwähnten Geschichte erteilt. Das gilt auch für Sie, Monsieur Latierre. Sie dürfen berichten, dass Kundschafter aus Ihrer Familie, die Verbindungen nach Deutschland oder anderswohin haben, über Hellers Flucht und "seine Geschichte" berichtet haben und wir deshalb auf der Hut vor neuerlichen Aktionen der Kobolde gegen uns sein müssen. Öhm, wie nannte Pierroche das? Der Fall "Letzter Glockenschlag"."

"Der wird sowieso in den verwaisten Filialen in Italien und den anderen Mittelmeerländern und in Russland eintreten, wenn Pierroche das richtig erinnert", sagte Julius.

"Ja, und wir müssen aufpassen, dass in den Gringottsfilialen von Paris, Avignon und Calais keine Späher dieses aus der eigenen Asche auferstandenen Geheimbundes hineingelangen, um zu beobachten, ob die befohlenen Aktionen auch wirklich ausgeführt werden", sagte Barbara Latierre. Julius nickte. "Denn sobald die rauskriegen, dass Frankreich offenbar doch nicht mitzieht werden die nachprüfen, warum nicht."

"In dem Fall gilt die Übereinkunft, dass Pierroche und alle französischen Kobolde Asyl in Millemerveilles erhalten können. Falls es nötig ist, Gringotts in anderen Filialen vorübergehend zu schließen werde ich das wohl unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern begreiflich machen, dass ein deutscher Gernegroß mit Koboldabstammung einen Krieg zwischen uns und denen anzetteln will. Solange Heller nicht wieder auftaucht können wir das ja ganz unbedenklich behaupten." Barbara und Julius Latierre nickten. Dann fragte Julius: "Was wird dann aus der geplanten Reise zu den anderen Ministerien. Ich meine, wenn die Kobolde jetzt dazu aufgehetzt werden sollen, gegen uns vorzugehen."

"Die Reise soll am 16. März losgehen. Sie beide werden ja mit dabei sein. Falls es bis zum fünfzehnten Anzeichen für einen weltweiten Koboldstreik oder gar Koboldaufstand gibt wird jeder Minister und jede Ministerin am eigenen Standort bleiben wollen. Dann müssen Sie, Monsieur Latierre, Madame Léto mitteilen, dass es wohl vorerst noch nicht zu jener wichtigen Verhandlung kommen kann." Julius nickte. "Gut, Barbara, suchen Sie bitte Ihren Mitarbeiter vom Koboldverbindungsbüro auf und besprechen Sie das wesentliche mit ihm! Sie dürfen mir dann noch am gleichen Abend Berichten oder besser, überzeugen Sie den Herren davon, sie zu mir zu begleiten. Monsieur Latierre, Sie benötige ich dann erst wieder, wenn wir wissen, was in Ihr Arkanet eingebracht werden soll."

Als die Ministerin wieder alleine war ging sie in eine kleine Kammer direkt neben dem Büro. Dort öffnete sie einen Schrank und holte ein gerade dreißig Zentimeter großes Vollporträt einer mittelschwangeren Frau hervor. Sie hängte es kurzfristig in ihr Büro. Die gemalte Hexe erwachte, und auch das nur als runder Bauch sichtbare Ungeborene wurde wohl wach. Denn die gewölbte Bauchdecke beulte sich einige male aus. "Mechthild, bitte geben Sie an Ihr Gegenstück in Berlin und anderswo folgenden Bericht weiter", begann die Ministerin und diktierte der gemalten Hexe einen Bericht, demnach sie erfahren hatte, was Giesbert Heller in Umlauf gesetzt hatte und dass deshalb mit neuerlichen Schwierigkeiten mit den Kobolden zu rechnen war. "Vielleicht sollte Güldenbertg die Sache in die Zeitung bringen, was diesen Fall "letzter Glockenschlag" angeht", meinte die gemalte Hexe. Ornelle Ventvit überlegte. "Hmm, könnte eine unnötige Panik unsererseits und eine Torschlussreaktion der Kobolde andererseits auslösen."

"Güldenberg kann's so drehen, dass Heller gefasst wurde und gesungen hat, Mama", hörte Ornelle eine dumpf klingende Männerstimme. Sie war jedoch nicht sonderlich überrascht. Denn Mechthilds Umstandsbauch beherbergte das ungeborene Ich eines anderen, als erwachsenen mit vom Original erhaltenen Erinnerungen gemalten Zauberers. Damit wurden alle von ihm gemalten Bilder, direkt oder indirekt auf denselben geistigen Stand gebracht. "Höre immer auf dein Bauchgefühl, hat meine Großmutter mir gesagt, als sie meinen Vater in sich trug", erwiderte die gemalte Mechthild. Ornelle nickte. "Ja, so machen wir das", grinste sie. "Heller ist untergetaucht. Also können und werden wir behaupten, dass er doch noch gefasst wurde und ausgeplaudert hat, dass er das mit den Zwergen in Umlauf gesetzt hat. Das dürfte ihn und die von ihm aufgescheuchten Kobolde aus dem Konzept bringen." Die gemalte Hexe nickte und grinste mädchenhaft. Ob der in ihrem Leib versteckte Nachkomme ebenfalls grinste konnte Ornelle nicht sehen, stellte es sich jedoch vor. Dann sah sie, wie die von Bärbel Weizengold erhaltene Kopie ihrer Verwandten durch den Bilderrahmen aus dem Bild verschwand.

Eine halbe Stunde später trafen Barbara Latierre und der Koboldverbindungsbürosprecher bei der Ministerin ein. Die drei besprachen die geschilderten Sachen. Dass in Umlauf gesetzt werden sollte, dass Heller zwischenzeitlich ergriffen und verhört worden war verkaufte Ornelle als ihre eigene Idee. Natürlich musste sowas dann vom deutschen Zaubereiminister herumgereicht werden, ob öffentlich oder die verschwiegenen Kanäle.

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Am Abend dieser unglaublichen Enthüllung erfuhren die Latierres von Hera Matine noch, dass Julius wahrhaftig beide erwachsenen Mitbewohnerinnen in hoffnungsvolle Umstände versetzt hatte. Hera Matine nutzte einen der Dauerklangkerker aus, um sich mit den drei künftigen Eltern darüber zu unterhalten, wie es diesmal gehandhabt werden sollte. Denn die Geschichte von den Drillingen, die eine alleine nicht austragen konnte mochte diesmal nicht zutreffen. Hera fragte dann noch, wer von ihnen dreien auf die Idee gekommen war, dass Julius nicht mehr nur mit seiner angetrauten Frau das Bett teilte. Darauf bestätigten Millie, Béatrice und Julius, dass sie alle drei diese Idee hatten, um vor allem Béatrices seelisches Gleichgewicht zu erhalten. "Das ist aber dann in jeder Phase sehr anstrengend für dich", sagte Hera zu Julius. "Na ja, wir haben uns da auf einen entsprechenden Rhythmus geeinigt", sagte Julius. "Ist unübersehbar, zumindest mit einem guten Einblickspiegel und einem guten Vergrößerungsglas", meinte Hera dazu. Sie musste jedoch grinsen. Immerhin hatte sie die drei ja noch ermutigt, eine seltene, legale Dreierpartnerschaft zu begründen. In Millemerveilles mochte eine solche Partnerschaft zwar immer noch auf Unverständnis stoßen. Daher sollte Béatrice wieder jene eine Schwangerschaft verhüllende Unterkleidung tragen. Getreu der Frage: "Wie sag ich's meinen Kindern?" wollten sie erst einmal abwarten, ob Millie nur eine Tochter oder wieder zwei austragen würde. Rorie, Chrysie, Clarimonde und die drei noch jüngsten Hausbewohnerinnen und Hausbewohner konnten dann ja damit ruhiggehalten werden, dass Béatrice eben mithalf, dass alle neuen Kinder gesund aufwuchsen. "Aber diesmal sollten die größeren Mädchen nur deinem Kind beim Ankommen zusehen, Mildrid. Ich biete an, dass Béatrice bei mir im Haus niederkommen soll. Dann fällt es Aurore und den anderen nicht so heftig auf. Wenn alle Neuankömmlinge dann da sind kümmert ihr drei euch eben auch um alle, wie das bei den Zwillingen und Félix der Fall ist", sagte Hera Matine. Béatrice überlegte kurz. Dann nickte sie.

"Ja, und dann würde ich einstweilen keinem eurer Eltern was davon mitteilen, weil die sonst fragen, ob es mittlerweile neue Sitten in Frankreich gibt. Die einzige, die es vielleicht tolerieren wird dürfte Ursuline Latierre sein, weil die grundsätzlich alles richtig findet, was ihre unmittelbare Nachkommen betrifft. Aber deine Eltern, Millie und deine Mutter, Julius, müssen bis zu einer brauchbareren Geschichte nichts erfahren."

"Wird nicht einfach sein, wenn meine Mutter in den Sommerferien wieder rüberkommt um mit mir Geburtstag zu feiern", meinte Julius. "Bis dahin werden wir es wissen, was wir ihr erzählen."

Als Hera wieder gegangen war sahen sich die drei Erwachsenen des Apfelhauses an. "Tja, Julius, damit ist es quasi amtlich, dass keine von uns beiden auf die jeweilige andere eifersüchtig werden kann, selbst wenn Trice Zwillinge erwartet und ich nur eine Tochter oder ich die zwei und sie nur eins oder jede von uns nur eins oder wir beide je zwei", meinte Millie. Dann sah sie ihren offiziellen Ehemann an, den sie sich nun schon seit mehr als drei Jahren mit ihrer Tante teilte. Dieser hob und senkte die Schultern. Er atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann sagte er: "Das ist wohl der Preis, den Ashtaria und die Mondtöchter von mir verlangen, damit das mit dem Heilsstern und einer weiterhin gelingenden Partnerschaft funktioniert. Aber wie bei Félix gilt, dass ich dir bei allem helfe, was ansteht, Trice."

"Wenn ich das nicht sicher wüsste hätte ich mich nicht darauf eingelassen, trotz kleiner blauer Fläschchen noch einmal was kleines von dir zu bekommen, Julius. Irgendwie auch erhaben, dass mehr als nur ein Kind von mir auf die Welt gelangt", sagte Béatrice. Julius nickte zustimmend. Worte wären hier überflüssig gewesen. Dass er mit den Kindern, die Millie und Béatrice nun erwarteten acht oder neun eigene Kinder haben würde war trotz der zeitlichen und geldlichen Aufwendungen doch was erhabenes. Ja, und einen Weg zurück gab es jetzt eh nicht mehr, es sei denn, er hätte sich einen Superzeitumkehrer beschafft und sein gerade mal vierzehnjähriges Ich davon abgebracht, sich auf Millie einzulassen und vielleicht auch Gregorians Bild in Ruhe zu lassen. Doch dann kam er wieder darauf, was dann alles an schlimmen Sachen passiert wäre, von den Schlangenmenschen über die Begegnung mit Ilithula und die Dämmerkuppel, mit der er dann ja wohl so oder so nichts zu tun bekommen hätte. Womöglich wäre dann auch Ladonna Montefiori noch stärker geworden und nicht so ohne weiteres verschwunden. Ja, irgendwas sagte ihm, dass ihr Verschwinden was mit den Vorgängen der letzten Jahre zu tun hatte, die er bewusst oder unbewusst mitgestaltet hatte.

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Am neunten März traf eine englischsprachige Nachricht aus Deutschland im Arkanet ein. Bärbel Weizengold verbreitete mit höchster Genehmigung des Zaubereiministeriums eine Warnung davor, in den nächsten Tagen Opfer einer Aktion der Kobolde zu werden. Sie erwähnte, dass Giesbert Heller, der ehemalige Finanzabteilungsleiter, aus reiner Rache eine verhängnisvolle Behauptung in die Welt gesetzt habe, dass die Menschen und Zwerge gegen die Kobolde Krieg führen wollten und dass er nach seiner Festnahme behauptet habe, dass sie wohl die Aktion "Letzter Glockenschlag" durchführen würden, die eigentlich nur im Falle eines massierten Angriffs auf eine Gringottszweigstelle vorgesehen war. Sie erwähnte dann auch das, was Julius schon vermutet hatte, nämlich kleine mechanische Vorrichtungen, die wie die von Vita Magica ersonnenen Werwolfabtötungsmücken wirken mochten. Sie schloss ihre schon zu einer gewissen Panikstimmung verleitende Nachricht damit, dass Minister Güldenberg bereits mit dem Zweigstellenleiter von Gringotts Frankfurt unterhandele, um eine Eskalation der Vorfälle zu verhindern. Er empfehle dies auch allen anderen an das Arkanet angeschlossenen Ministerien.

Julius Latierre, Pina Watermelon und andere bedankten sich für diese Mitteilung und versicherten, ihre Vorgesetzten darüber zu informieren.

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Diana Camporosso erfuhr über die in den Zweigstellen postierten Vollstrecker, die sie mal eben zu Augen und Ohren vor Ort befördert hatte, was sich nur einen Tag nach ihrem scheinbar so gelungenem Streich in London abspielte. Güldenberg, Shacklebolt, Ventvit und andere Ministerinnen und Minister hatten die Zweigstellenleiter von Gringotts vorgeladen und ausgefragt, was Giesbert Heller ihnen aufgetischt habe und was die Aktion "Letzter Glockenschlag" sein sollte, die Heller den Kobolden empfohlen habe, um vorbeugend gegen eine Verbrüderung mit den Zwergen zu handeln. Weil die Zweigstellenleiter offenbar nicht darauf antworten wollten waren sie und ihre Stellvertreter einbehalten und in schmiedeeiserne Zellen, eher schon Käfige eingesperrt worden, die an Bord eines weit auf offener See im Kreis fahrenden Schiffes verankert waren, sodass sie überhaupt keinen Kontakt mit dem Erdboden bekamen. Zeitgleich hatten sämtliche Ministerien über ihre Sicherheitstruppen festgelegt, dass bis zu einer Klärung dieser Ereignisse Kundinnen und Kunden nur noch in Begleitung von geschützten Sicherheitstrupplern ihre Verliese aufsuchen durften.

"Verrat! Wir sind verraten worden", krakehlte Deeplooks Gedankenstimme. Diana Camporosso konnte dem nur beipflichten. Offenbar hatte sie es mit Giesbert Heller zu gut gemeint, und der war so unvorsichtig gewesen, sich finden und verhaften zu lassen. Unter Veritaserum oder noch stärkeren Mitteln hatte der dann alles ausgeplaudert, was er angeblich mitgehört hatte. Da das ja eindeutig keine wahrhaftigen Erinnerungen waren konnte jemand wie Güldenberg sogar darauf kommen, dass ihm jemand ein falsches Gedächtnis aufgeprägt hatte. Das wiederum würde diesem reinblütig menschlichen Zauberstabschwinger klarmachen, dass jemand nichtkoboldisches in dieser Sache drinsteckte. Vielleicht kam er darauf, dass es noch was von Ladonna Montefiori war, das zu einer bestimmten Zeit in Kraft treten sollte. Jedenfalls wussten Diana und Deeplook, dass die Aktion "Letzter Glockenschlag" nur von den jeweiligen Zweigstellenleitern und ihren zwei ranghöchsten Mitarbeitern im Bereich Sicherheit und Fernverständigung ausgeführt werden konnte. Mit der Verhaftung der betreffenden Leute war es also unmöglich, diese Aktion wie geplant in allen Gringottszweigstellen durchzuführen.

Natürlich würde der Rat der grauen Bärte fragen, was mit den Zweigstellenleitern los war und ob das ganze eine Aktion gegen Gringotts im besonderen und alle Kobolde im allgemeinen sein sollte. So oder so waren die Graubärte nun auf der Hut, nicht selbst in Gefangenschaft zu geraten und würden sich sicher nicht bei den Zweigstellenleitern melden, um denen mitzuteilen, wann und wo sie sich trafen. So konnte Diana Camporosso die zweite Stufe ihres Planes zur Unterwerfung aller Kobolde getrost auf den Abfallhaufen undurchführbarer Pläne werfen. So ging es also nicht. Zumindest hatte sie sichergestellt, dass die verhafteten Zweigstellenleiter nicht verraten konnten, wer sie war.

"Gut, dann werde ich mir diese alten Graubärte eben einen nach dem anderen holen und bis dahin weitere getreue Streiter anwerben", dachte Diana Camporosso verbittert.

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Tiki apportierte jeden Tag die neuesten Zeitungen aus Deutschland, damit sein Herr und Meister immer auf dem Laufenden blieb, was in seiner bis auf weiteres unbetretbaren Heimat vor sich ging. Als der Hauself ihm die aus einem Papiermüllbehälter in Greifenberg gefischten Ausgaben vom 9. März gab verzog Heller sein Gesicht. Das war wohl ein schlechter Witz, ein grünes Einhorn, wie die Zauberer eine Lügengeschichte nannten. Dann konnte er nicht mehr an sich halten und lachte. "Tiki, wann waren Güldenbergs Leute hier, um mich zu verhaften?" fragte er seinen treuen Diener. Dieser verzog sein Gesicht und piepste: "Meister Heller wurde nicht verhaftet. Meister Heller, Sie sind gerade hier und ohne Fesseln oder Bannzauber."

"Dann ist das auf dem Drachenmist Güldenbergs gewachsen, dass ich dem diese Geschichte erzählt habe. Aber wie kam der darauf?"

"Soll ich das für Sie herausfinden, Meister Heller?" fragte Tiki dienstbeflissen wie immer. "Nein, Tiki, du bleibst schön hier in meiner Nähe, falls Billiardkugel Shacklebolt und seine Mitstreiter doch noch rausfinden, dass ich in Irland weile, damit du mir sofort helfen oder mich in Sicherheit apparieren kannst. Bis auf weiteres möchte ich von dir keine Zeitungen mehr haben. Dass du immer bei mir bist ist jetzt viel wichtiger."

"Sehr wohl, Meister Heller", antwortete der Hauself im unterwürfigen Gehorsam.

"Womöglich hat einer von Aschsacks Boten gesungen. Der Kerl sollte bei der Personalauswahl besser aufpassen", dachte Heller. Er richtete sich nun darauf ein, bis auf weiteres als Einsiedler zu leben. Denn wo er war wusste außer ihm und Tiki niemand.

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Nachdem die stellvertretenden Zweigstellenleiter von Gringotts am 12. März allen Ministern, auf deren Hoheitsgebiet sie arbeiten durften die Garantie gegeben hatten, dass sie bis zur Klärung der von Giesbert Heller angefachten Missstimmung keine Aktionen gegen die Kundinnen und Kunden von Gringotts ausführen würden beruhigte sich die Lage wieder. Die Öffentlichkeit hatte außer in Deutschland so gut wie nichts von der beinahen Auseinandersetzung mit den Kobolden mitbekommen. So konnten sich alle Ministerinnen und Minister wieder auf die bereits geplanten Gespräche vorbereiten.

Die Apfelhaus-Laatierres bereiteten sich darauf vor, dass Julius am 16. März für drei bis vier Wochen verreisen würde. Julius würde auf jeden Fall sein Erbstück aus dem Morgenland mitnehmen und wollte auch das goldene Herz umbehalten. "Bin mal gespannt, ob wir demnächst wieder so meloen können, dass alle drei mitbekommen, was ausgetauscht wird", meinte Julius zu Millie, als er mit ihr vor seinem großen Schrankkoffer aus Beauxbatons-Zeiten stand. Denn mit einem Rucksack zu verreisen erachtete Millie als Stillos, wenn es eine offizielle diplomatische Reise war.

"In einem Monat sind Trice und ich und die Kleinen in uns drin schon wieder etwas weiter. Kann sein, dass die dreiermeloverbindung dann schon klappt, besonders wo du und ich die Goldherzen tragen. Öhm, wie war das noch einmal? Wenn ein Träger der Trägerin untreu wird oder umgekehrt werden die Herzen immer schwerer. Davon merke ich aber nichts. Julius bestätigte, dass auch er nichts davon bemerkte. "Womöglich weil ich immer weiß, mit wem du mir angeblich untreu wurdest, Monju", sagte Millie und küsste ihren offiziellen Ehegatten. Dieser genoss diese intime Berührung. Er ging davon aus, dass er sie erst im April wieder so innig küssen konnte.

"Es ist nur schade, dass ich bei Félix' zweitem Geburtstag nicht hier bin", sagte Julius. "Kriegt ihr das hin, ihm eine tolle Feier auszurichten?"

"Aber ganz sicher. Abgesehen davon könntest du ja da gerade in der Nähe sein. Ich meine, wenn du in Belgien, Spanien oder Italien bist könntest du locker für einen Nachmittag rüberkommen." Julius nickte. Daran hatte er bisher nicht gedacht. "Ja, und falls du dann gerade bei denen im Land der unentschlossenen Zaubereiverwaltung bist könntest du zu Britt rüberhüpfen und über deren Armband zu uns grüßen", meinte Millie. Julius nickte. Auch das war vielleicht möglich.

Wo sie es von Brittany hatten wunderte es sie nicht, dass sie um zehn Uhr abends von ihr angerufen wurden. "Die zehn großen Familien haben es echt durchgedrückt, Millie, Trice und Julius. Am vierten Juli soll eine neue Makusapräsidentin oder ein neuer Präsident gewählt werden. Der neue Makusa soll dann am fünfzehnten oder sechzehnten August seine Arbeit aufnehmen, je danach, wie schnell sich die Bürgerinnen und Bürger auf die Zusammensetzung einigen können. Der Makusa soll wieder ohne Verbindung zur nichtmagischen Welt arbeiten. Über den Umgang mit Kindern aus nichtmagischen Familien wird noch verhandelt. Allerdings läuft sich Gloria Puddyfoot schon wieder warm, die eine Gemischtrassensteuer einführen und Zauberwesen in bestimmte Siedlungen zusammenführen will, so ghettomäßig."

"Ach du löchriger Kessel", knurrte Millie. Julius ergänzte: "Offenbar kochen jetzt viele alten Ideen wieder hoch wie Faulgasblasen aus einem Sumpf. Jede Menge Verhandlungssachen. Aber erst einmal die Veelas in Europa. Dann alles andere." Dem konnten Béatrice, Millie und Brittany nur zustimmen.

ENDE

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