Was bisher geschah | Vorige Story
Das erste Schuljahr nach der endgültigen Entmachtung des Schwarzmagiers Voldemort beginnt fast so friedlich wie es zu erwarten war. In Beauxbatons übernimmt Madame Faucon das Amt der Schulleiterin, da Madame Maxime sich um ihre in Frankreich aufgetauchte Tante und deren neugeborenen Sohn kümmern will. Faucons Verwandlungsstunden übernimmt die aus England stammende Eunice Dirkson, die eine lässigere Umgangsweise, aber eine ebensolche Hartnäckigkeit zeigt wie ihre Vorgängerin. Ihre drei Kinder kommen in drei verschiedenen Wohnsälen unter. Den Unterricht Schutz vor bösartigen Zauberformen übernimmt der ehemalige Zaubereigegenminister Phoebus Delamontagne. Madame Faucons Enkeltochter Babette landet im grünen Saal, wo sie mit den Muggelstämmigen Jacqueline Richelieu und Armgard Munster ein eingeschworenes Trio bildet. Der Muggelstämmige Hanno Dorfmann, der gleich bei Einschulung wegen einer unerträglichen Ablehnung weiblicher Autorität auffällt, stellt sich als von seiner Verwandtschaft an den Rand einer schweren Geisteskrankheit getrieben heraus und schafft es unter diesen Umständen, einen für einen Elfjährigen unaufrufbar scheinenden Fluch gegen seine Mutter und seinen ihm unbekannten Vater aufzurufen, der durch Madame Faucon mit dem Fluchumkehrer des alten Reiches so drastisch umgewandelt wird, daß Hanno statt seine Mutter zu töten zum Ungeborenen in ihrem Leib zurückverjüngt wird und damit faktisch aus der Welt verschwindet.
Millie und Julius, die nun hauptamtliche Saalsprecher Ihrer Wohnsäle sind, hadern mit ihrem Wissen, daß die Höchststrafe gegen Pflegehelfer nur eine heftige Drohgebärde ist und wollen es ihren Kameraden erzählen. Um zu verstehen, warum diese Strafe eingeführt wurde gestatten Madame Rossignol und Madame Faucon den beiden eine Rückschau auf die Erinnerungen von Beauxbatons-Mitgründerin Delourdes, die damals die Pflegehelfertruppe gegründet hat. Während dieser durch Millies und Julius' Denkarium ermöglichten Zeitreise erleben sie nicht nur die Schulgründung mit, sondern erfahren, daß einer der ersten Pflegehelfer im Namen seiner Vorväter die angeschlagene Rangstellung der Zauberer in der Welt durch schwarzmagische Menschenversuche wiederherzustellen trachtet, wobei er sich nicht scheut, Mitschülern auf finstere Weise die Geschlechtsorgane zu entfernen, um damit von ihm gezüchtete Brutwesen auszustatten. Magistra Delourdes stellt den auf Abwege geratenen Pflegehelfer und schafft es, ihn zu überwältigen. Seine Geschöpfe und Vorrichtungen verglühen in einem von ihm aufgerufenen Selbstvernichtungszauber. Deshalb wurde die Strafe gegen Mißbrauch der Pflegehelfervorrechte eingeführt, wobei überführte Missetäter nicht wirklich in Bettpfannen verwandelt, sondern unwiederbringlich auf eine unortbare Insel namens Utopia verbannt werden. Millie und Julius wollen dieses Wissen nur dann preisgeben, wenn es keine Alternative gibt. Doch Patricia Latierre, die nun auch Pflegehelferin ist, läßt die Sache auffliegen.
Quidditchlehrer Dedalus verbietet die Dawn'sche Doppelachse und vergreift sich Madame Faucon gegenüber im Ton, weshalb er gegen den ehemaligen Starsucher Beaufort ausgewechselt wird. Die erste Quidditchpartie Rot gegen Grün entscheidet Julius' Saal durch Schnatzfang. Die zweite gewinnen die Gelben durch schnellen Schnatzfang von Sandrine Dumas.
Ein merkwürdiger Traum beunruhigt Julius. Er sieht, wie die frühere Lehrerin Professeur Tourrecandide sich mit drei Vampiren anlegt und beinahe von ihrer zur Vampirin gewordenen Schwester und ihrem Blutgefährten gebissen wird. Doch sie verschwindet in einem goldenen Licht und hinterläßt nur ihre Kleidung. Julius erzählt Madame Faucon, Madame Rossignol und Professeur Delamontagne diesen Traum und erfährt, daß er im Schlaf wohl mitbeobachten kann, was passiert, sobald jemand einen der vier alten Zauber verwendet, die er in der Halle der alten Erzmagier Altaxarrois erlernt hat. Er erhält Briefe von Brittany Forester, die erwähnt, daß sie kurz vor dem Jahreswechsel heiraten möchte und hört von Aurora Dawns Bild-Ich, daß die Spinnenfrau Naaneavargia seit mehreren Wochen nicht mehr in Australien auftauchte. Von der im Traum besuchten Flügelkuh Artemis hört er zudem, daß diese eine magische Erschütterung wahrnahm, die wie ein Schmerzensschrei und dann grenzenloser Jubel auf sie wirkte. Von der in die Bilderwelt geflüchteten Jane Porter erfährt er zudem noch, daß die Wiederkehrerin bei der Vernichtung eines durch Radioaktivität veränderten Vampirs selbst eine tödliche Strahlendosis abbekommen hat und wohl mit dem Tode ringt. Er weiß nicht, was er mit all diesen Informationen anfangen soll, zumal die, die vielleicht mehr wissen, ihm nichts erzählen wollen.
Sie hatten diesen vorwitzigen Jüngling dazu gezwungen, ihn hier zurückzulassen. Er trieb in diesem Geflecht aus Rückhaltekraft, das er selbst damals eingerichtet hatte. Er hatte seine Wut über diesen Verrat auf seinen mächtigen Gedanken hinausgeschrien. Doch die Verräter hatten den Raum gegen seine Wut gepanzert. Er hörte nur die weit fort flüsternde Gedankenstimme seiner unersättlichen Schwester, deren unendliche Dankbarkeit für ihre Befreiung abgeebbt war und in stiller Verärgerung über ihr neues Los umgeschlagen war, wenn sie nicht zwischendurch ihren unbezwingbaren Gelüsten nachging und arglose Männer zu ihren Liebesdienern machte. Er verfolgte mit, wie sie immer wieder gegen die neuzeitlichen Träger der Kraft kämpfen mußte und dabei beinahe in einen neuerlichen Tiefschlaf versenkt oder unter vom Himmel gerufenen Eisbrocken eingefroren wäre. Doch dann war etwas geschehen, was ihn völlig verunsichert hatte. Eine andere Kraft hatte sie ergriffen, regelrecht in sich einverleibt und erstarren lassen, um dann mit einer mächtigen Woge aus Furcht, Schmerz und Verwirrung zu explodieren. Aus dieser Woge stieß jedoch bald etwas neues hervor, etwas wie grenzenlose Glückseligkeit, das Gefühl, endlich wirklich frei von allen Fesseln und Grenzen zu sein, Erleichterung, die bisherige Natur abgelegt zu haben. Er fühlte, wie seine Schwester immer stärker mit einem anderen Ich verbunden wurde, das sich aus einem in einem unsichtbaren Feuer verbrennenden Leib freigemacht und diesen mit dem seiner Schwester verschmolzen hatte. Seine Schwester war nun ein Teil dieses anderen Wesens und freute sich darüber. Sie war eine Gefangene, die glaubte, die ganze Welt zu ihren Füßen liegen zu haben. Nein! Das durfte nicht sein. Seine Schwester durfte nicht mit ihrem Wissen und Können als Teil einer anderen fortbestehen. Er hörte sie lachen, sich freuen, ihre alten und Neuen Fähigkeiten ausloten und gewahrte die Wellen ihrer Lust, als sie feststellte, doch noch einen zur fleischlichen Zweisamkeit fähigen Körper zu besitzen und mit Wonne zu benutzen. Jemand hatte seine Schwester besiegt und doch noch mehr befreit, war mit ihr eins geworden und hatte sie damit um ihre ganz eigene Daseinsform gebracht. Das durfte nicht so bleiben, wenn er auch nicht wußte, wie das überhaupt möglich gewesen war, wo selbst der dunkle König Iaxathan sie nicht hatte bezwingen können. Hier, im Raum der sicheren Unterbringung, durch sein eigenes Geschick und seinen eigenen Wunsch mit dem stärksten Werkzeug seiner Macht verbunden, konnte er nichts ausrichten. Er mußte hier heraus, den finden, der ihn bezwungen und damit unterworfen hatte. Gleichzeitig fühlte er die Wut auf die Verräter, die es geschafft hatten, den jungen Burschen zu zwingen, ihn hierzulassen, die seine Unwissenheit und die Angst um sein körperliches Leben ausgenutzt hatten, ihn von ihm zu trennen. Der Jüngling hatte ihn aus dem roten Berg, seiner Festung auf dem südlichen Erdteil mit dem trockenen Herzen geholt. Damit hatte der die Verantwortung für alles übernommen, was mit ihm geschah. Er mußte diese Verantwortung weitertragen. So blieb ihm, dem Schöpfer und Gefangenen der Burg, die niemand findet, seine letzten Trümpfe auszuspielen, um den Verrat zu vergelten und seine Rückkehr in die Welt der Bodenständigen zu erzwingen.
Constance Dornier war es schwergefallen, den Ausgang der Partie Blau gegen Weiß zu erwähnen. Doch Corinnes Schnatzfang nach zehn von ihren Kameraden erzielten Toren hatte Saal Weiß in der Quidditchtabelle auf dem sechsten Platz landen lassen. Corinne Duisenberg grinste über ihr Mondgesicht, während die Spieler der Weißen hilflose Bekundungen ihres Hauslehrers hörten, daß sie die nächsten Spiele gewinnen würden. Millie und Julius gehörten zu den ersten, die der siegreichen Mannschaft gratulierten, wobei sie beiden nur Corinne beglückwünschten, weil Julius mit dem Rest der blauen nicht so gut zurechtkam wie mit der empathisch begabten Hexe, die wie ein Quaffel mit Armen und Beinen gebaut war, aber sehr sicher auf dem Besen manövrieren konnte und obendrein eine gute Schülerin war.
Am Nachmittag dieses Tages trafen sich die Sechstklässler der Grünen zusammen mit Belisama Lagrange, Constance Dornier, Sandrine Dumas und Millie Latierre heimlich, um darüber zu beraten, was sie Laurentine Hellersdorf zu ihrem siebzehnten Geburtstag schenken und bieten sollten, der am elften November anstand.
"Hat sie erwähnt, ob sie nun den Apparierkurs von ihren Eltern bezahlt bekommt oder nicht?" Fragte Belisama Céline. Diese nickte und sagte mit verdrossener Stimme:
"Sie hat's gestern noch mal erwähnt, weil sie ja weiß, daß sie gleich nach dem Kurs die Prüfung machen kann. Ihre Eltern werden ihr kein Geld dafür geben. Im Gegenteil. Die haben ihr sogar das Taschengeld einbehalten, damit sie nichts zurücklegen kann. Sie ist darüber ziemlich enttäuscht und sauer zugleich", sagte die beste Schulfreundin Laurentines.
"Zwölf Galleonen kostet das. Da können wir doch alle locker zusammenlegen und ihr den Kurs schenken", meinte Robert Deloire. Julius nickte sehr heftig.. Er hätte Laurentine den Kurs auch ganz von sich alleine aus bezahlt oder Martine gefragt, ob die Laurentines Ausbildung umsonst durchziehen mochte , um die Muggeleltern von der zu ärgern.
"Ich weiß nicht, ob sie das wirklich will", grummelte Céline. "Ich sollte das keinem von euch erzählen, weil sie nicht als armes Mädchen rüberkommen will, daß um jeden Knut für was auch immer betteln muß und deshalb den Kurs wohl nicht machen kann."
"Sie muß doch nicht betteln. Sie kriegt den Kurs zum Geburtstag, wenn sie den auch erst wie alle anderen Sechstklässler im Februar mitmachen kann", erwiderte Millie. "Oder ich frage meine große Schwester, ob die Laurentine in den Weihnachtsferien ausbildet, wie die das bei mir hingekriegt hat. Laurentine ist ja nicht schlechter im Zaubern als ich und könnte da in zwei Wochen auch locker zur Prüfung hinkommen."
"Dann müßte Laurentine beantragen, über die Weihnachtsferien in Beauxbatons oder Millemerveilles zu wohnen", meinte Belisama dazu. Céline räumte ein, daß Laurentine keine Sonderleistungen haben wolle. Sie wolle das machen und können was die anderen könnten. Aber daß sie nach dem elften November alleine bestimmen konnte, wo in der Zaubererwelt sie herumlief würde sie schon genau überdenken.
"Ich kann ihr eine Einladung schicken, uns in Millemerveilles zu besuchen", sagte Julius. "Bei uns gibt's auch Telefon und E-Mail-Anschluß."
"Wo die Eltern von Laurentine dir sowieso schon unterstellen, von uns bösen Hexen und Zauberern komplett am Zaumzeug geführt zu werden wie ein Abraxas-Pferd", feixte Millie.
"Neh, ich glaube, ihr würdet sie nur echt wütend machen, wenn ihr ihr den Einzelkurs aufdrückt", erwähnte Céline noch einmal. "Es reicht der wohl echt schon, wenn sie von uns anderen den üblichen Schulkurs bezahlt bekäme. Im Moment wüßte sie zwar nicht, wie sie den alleine bezahlen könnte. Aber sie wollte wohl bis Januar zusehen, ob es nicht doch irgendwie ginge, daß sie in die Rue de Camouflage geht und da Muggelgeld umtauscht."
"Die hat Muggelgeld in Beaux?" Fragte Julius.
"Weiß ich nichts von", sagte Céline darauf. Millie und Sandrine sahen Céline an und nickten einander zu. Millie sagte dann: "Die wird sich schon freuen, wenn sie den Kurs machen kann und ihre Eltern nix dagegen machen können, wenn sie die Prüfung packt und dann ohne die fragen zu müssen appariert. Wenn sie nicht bei meiner Schwester lernen will dann eben mit den anderen Sechstklässlern, die den Kurs machen wollen. Jedenfalls sollte die als stellvertretende Saalsprecherin alles können, was andere Klassenkameraden oder ältere Mitschüler können. Vielleicht sollten wir ihren Eltern das schreiben, daß sie ihrer Tochter damit keinen Gefallen tun, die so heftig einzuschränken."
"Was Madame Maxime damals wohl nie getan hat", lachte Gérard Laplace. Julius nickte ihm zu. Dann fragte er, ob sie damit einverstanden seien, ihr den Apparierkurs zusammen zu schenken, natürlich neben anderen Geschenken.
"Welchen anderen Geschenken?" Fragte Robert herausfordernd. Millie grinste und erwähnte, daß sie Laurentine auch eine Ausgabe von "Ein Haus voller Leben" zukommen lassen würde. Gérard lachte darüber und meinte, daß Laurentine sicher nichts anderes im Kopf habe, als nach der Schule gleich eine Menge Kinder zu kriegen, zumal sie ja erst mal wen dazu kriegen müsse, ihr näher als Armlänge zu kommen."
"Der, der das mal ausprobiert hat hat sich ja selbst aus dem Rennen geworfen", erwiderte Millie darauf. Die anderen nickten bestätigend. Es war jedoch fraglich, ob das zwischen Laurentine und Gaston wirklich was geworden wäre. Jedenfalls einigten sie sich darauf, die zwölf Galleonen für den Apparierkurs zusammenzuwerfen und besprachen noch einige Geschenkideen, die für einen alleine vielleicht zu teuer oder Zeitaufwendig waren. Céline und Constance wollten noch einen Kuchen backen, zumal der für Gloria ja vortrefflich gelungen war. Belisama fragte sie, ob sie dann auch wieder diese trällernden Geburtstagskerzen besorgen wollte.
"Laurentine kann keine schräge Musik ab", erwiderte Céline. "Aber ich werde die anderen Geburtstagskerzen besorgen, die aus ihren Flammen tanzende Spaßmacher und hitzelose Fontänen erzeugen können." Die Anderen nickten. Das würde bestimmt interessant aussehen.
"Kommen wir zur Feier an sich", brachte Céline dann den nächsten Punkt an. "Wir haben nur noch die zwei Tage zeit, alles auf die Beine zu stellen. Da Laurentine ja wie erwähnt gerade kein eigenes Geld ausgeben kann, wollte sie nur mit uns im Schlafsaal feiern. Wenn ihr, Belisama, Sandrine und Millie nicht außen vor bleiben sollt müssen wir das irgendwie klären, wann und wo wir nachffeiern können."
"Vorausgesetzt, daß Laurentine feiern will", schränkte Sandrine ein. "Ich möchte ihr nicht etwas aufzwingen, was ihr keinen Spaß macht. Davon haben wir ja dann alle nichts."
"Ich bitte dich, die wird volljährig", widersprach Robert Gérards Freundin. "Das kannst du doch nicht einfach so umgehen lassen. Hast du je einen Geburtstag so umgehen lassen, Sandrine?"
"Ich hatte bisher immer eine kleine Feier, aber nur, weil ich das so wollte und die Leute eingeladen habe, die ich dabeihaben wollte", erwiderte Sandrine. So fragten sie Céline, ob sie mindestens wüßte, wen Laurentine dabeihaben wollte. Diese erwähnte dann, daß sie außer den Mädchen aus dem Schlafsaal wohl Robert, Gérard, Julius und André dabeihaben wollte, dann noch Belisama, Sandrine und Mildrid, wobei sie diese wohl nur deshalb dabeihaben würde, weil sie mit Julius zusammen sei und sie kapiert habe, daß Claire es ja so wolle, daß Julius eine sichere Gefährtin an der Seite habe. Millie nahm das ohne Regung zur Kenntnis. Denn das war ihr ja schon längst klar, daß Céline und Laurentine ihr nicht alles verziehen oder vergessen hatten, was sie mit ihr erlebt hatten und sie nur deshalb respektiert wurde, weil Claire Dusoleil wohl nicht gewollt hatte, daß ihr erster und einziger fester Freund sein Leben lang allein und unglücklich bleiben sollte. So planten sie, Laurentine zu fragen, ob sie ihre Feier für alle am kommenden Samstag Nachmittag haben wolle. Da der Strand ja nun für die Zeit bis zum Mai unzugänglich war blieben nur die Parks und die öffentlichen Versammlungsräume in der Schule. Julius regte an, mit Céline bei Professeur Delamontagne um die Erlaubnis zu bitten, den Illusionsraum zu benutzen, in dem sonst die Zauberwesenseminarstunden abliefen. Da paßten genügend Leute rein.
"Das muß er sich von Madame Faucon erlauben lassen und einem von uns den Clavunicus-Schlüssel dafür geben. Könnte sein, daß Madame Faucon darauf besteht, bei der Feier dabei zu sein. Und dann fürchte ich, daß Laurentine keine Lust mehr darauf hat", erwiderte Céline.
"Falls sie das echt so denkt will ich das erst von ihr hören, bevor ich das als sicher annehme", beharrte Julius auf seinem Vorschlag. Céline setzte dem keinen Widerstand entgegen. Denn ihr gefiel die Idee selbst ja zu gut, um sie gleich von vornherein als undurchführbar abzutun. "Dann könnt ihr vom Küchenfeenkurs ja gleich das ganze Festessen zusammenzaubern", meinte Robert leicht gehässig. Doch die Hexen und Julius nahmen diese Anregung als prima Idee auf. Allerdings müßten sie das dann mit Professeur Dirkson klären, sich die entsprechenden Töpfe und Schüsseln auszuleihen. Die Geschenke würden bis dahin dann da sein.
Als sie alles geklärt hatten, was vorher zu klären möglich war, kehrten die Schülerinnen und Schüler in ihre Wohnsäle zurück.
Vailadorat umkreiste einen der pilzförmigen Unterbauten, die kopfüber von der über ihm ausgedehnten Unterseite seiner Burg herabhingen. In diesen Bauten steckten die mächtigen Kräfte, die die Burg, die niemand findet, hoch über der harten, gebogenen Welt hielten und innerhalb von einem Zwölfteltag an einen anderen Punkt unter der luftleeren Welt der Ewigen Sterne tragen konnten. Unter ihm wölbte sich die zartgrüne Leuchtblase der reinen Luft, die dafür sorgte, daß sie hier alle frische und angenehm warme Atemluft erhielten. Dieses mächtige Kraftfeld konnte auch von außen kommende Angriffe wie ein Dauereisenpanzer zurückprellen. Nur die Wolkenhüter und die Weltenwächter, wie Vailadorat einer war, durften die schützende Blase durchfliegen und in die tief unter ihnen treibenden Wolken eintauchen, die über der gekrümmten Hartwelt dahinzogen.
Der Augiliar, also einer aus der Führerkaste der Kinder des Schöpfers, betrachtete den silbrigen Hut des mit dem Fuß nach oben an der Unterseite klebenden Pilzbaus. Er fühlte die Kräfte, die gegen die alles an sich reißende Gewalt der Kugelwelt ankämpften. Er war nur einmal mit Grrarrg'raar, einem Cuarvir-Wartungsverwalter im Inneren eines Himmelshalters gewesen, wie diese Gebilde genannt wurden. Das darin dauernde Summen und Säuseln hatte ihm nicht so gefallen, und die ständig ihn umfließende Spannung, die die einander aufwieggenden Gewalten erzeugten, hatte ihm Kopfweh bereitet. Wie konnten die Cuarviri das aushalten?
Aikaranat, ein Einsilberschwingenträger und damit ihm untergebener Burgwächter, glitt mit sachten Flügelschlägen heran. Der Augiliar wartete schon seit zehn Sonnenkreisen darauf, die zweite Silberschwinge an seiner Uniform befestigen zu dürfen. Er war immer so unterwürfig gewesen, wie es sich für Augiliari seiner Rangstufe gegenüber den Weltenwächtern gehörte, die achtgaben, daß ihnen von der gewölbten Hartwelt dort unten kein Ungemach mehr drohte. Deshalb kam ihm Aikaranats selbstsichere Haltung etwas merkwürdig vor.
"Hat euch der Viergoldschwingenträger nicht mehr hinuntergeschickt, um die Flügellosen und ihre Gerätschaften zu überwachen?" Fragte Aikaranat, ohne die ihm anstehende Begrüßungsformel zu benutzen. Vailadorat sah ihn sehr böse aus seinen Raubvogelaugen an und schnarrte:
"Wenn du mit mir sprechen willst, Einschwingenträger, so erweise mir die gebotene Achtung und grüße mich ehrerbietig!"
"Ich sehe dazu keinen Anlaß mehr, seitdem ihr, der Verräter und ihr anderen Weltenwächter den Schöpfer verraten habt."
"Wie bitte?!" Entfuhr es Vailadorat. Er näherte sich Aikaranat in bedrohlicher Haltung.
"Es ist wahr. Ihr habt den Träger der Stimme unseres Schöpfers, der uns zu sich rufen konnte, dazu gezwungen, die Stimme des Schöpfers hierzulassen, obwohl wir sie hier nicht einmal berühren dürfen, ohne den gnadenlosen Zorn des Schöpfers zu erleiden. Dann solltest du diesen Flügellosen töten, damit niemand mehr die Stimme des Schöpfers bei uns einfordern könnte. Nur die Gebieterin Pteranda hat erkannt, daß wir unsere Aufgabe noch erfüllen müssen. Doch auch sie hat den Verrat geduldet und damit mitbegangen."
"Abgesehen davon, daß ich jetzt allen Grund habe, dir deine Flügel abzuschneiden und dich in die Grube zu den anderen Entehrten zu werfen, weil du es ganz an den dir gebührenden Anstandsformen hast fehlen lassen weiß ich nicht, was du da faselst", kreischte der Augiliar Vailadorat. Er griff an seinen Rücken, wo er den festen Griff eines Dauereisenkurzschwertes fühlte. Doch Aikaranat schlug seinen Uniformmantel auseinander und brachte einen goldenen Gegenstand zum Vorschein, dessen längeres Ende er auf den Viersilberschwingenträger Vailadorat richtete.
"Warum trägst du hier eine Sonnenkeule. Diese Waffen sind seit der großen Schlacht nie wieder aus der Kammer der Waffen geholt worden", stieß Vailadorat aus, nachdem er den Schrecken überwunden und seinen drohenden Sturz in die grüne Leuchtblase mit wuchtigen Flügelschlägen verhindert hatte.
"Ich erhielt sie von Acropsat, dem Lehrmeister und neuem ersten Diener des Schöpfers, um dich und die anderen Verräter gefangenzunehmen und vor den Rat der Diener zu bringen."
"Acropsat gab dir eine Sonnenkeule?" Fragte Vailadorat verärgert. Diese mächtige Fernkampfwaffe durfte nur von Kriegern mindestens seines Ranges aus der Waffenkammer geholt werden. Acropsat war der Lehrer der jungen Augiliari, mehr als dreihundert Sonnenkreise alt und eigentlich ein Berater des Viergoldschwingenträgers Garuschat, dem höchsten Diener des Schöpfers.
"Kein Lehrmeister darf eine Waffe berühren oder führen. Das ist das Gesetz des Schöpfers", schrillte seine Stimme wütend. Dann stieß er einen langgezogenen Ruf aus, der wie ein Revierruf klang. Da fauchte ein gleißender gelbweißer Lichtstrahl, dick wie seine Daumen an Vailadorats Kopf vorbei. Er fühlte die sengende Hitze, die der Strahl verbreitete. Er kannte die Macht dieser Waffe, die das Licht der Sonne in sich sammelte und in tausendmal kürzerer Zeit und auf ein tausendstel der beschienenen Fläche gebündelt wieder ausstoßen konnte. Der Lichtsammler einer Sonnenkeule konnte vier dutzend Zwölfteltage Sonnenschein in sich aufnehmen, bevor er zu voll wurde.
"Du wagst es, mir den Schlag der Sonne entgegenzujagen?!" Rief Vailadorat, während von oben her ein Dutzend Cuarviri und zwei weitere Augiliari herabstießen, um dem Viersilberschwingenträger beizustehen.
"Wenn du dich der Gefangennahme verweigerst darf ich dich damit sogar töten", schrillte Aikaranat sehr entschlossen und erzeugte einen weiteren, für drei Atemzüge gleißenden Strahl, der knapp unter Vailadorats rechtem Flügel vorbeizischte und eine glühende Bahn bis zur grünen Sphäre der reinen Luft zog.
"Dafür werfen wir dich flügellos ins tiefste Wasser auf der Kugelwelt!" Rief Vailadorat, als die von ihm gerufenen Augiliari und Cuarviri heranwaren. Sie trugen Schwerter und glänzende Kreuzbögen. Aikaranat blieb siegessicher und zielte auf einen Zweisilberschwingenträger, der die geradschnäbeligen Cuarviri gerade zum Schutz Vailadorats einteilte.
"Ihr werdet diesen Verräter nicht weiter unterstützen", rief Aikaranat und zog den Lichtfreigeber durch, einen Hebel unterhalb des sich nach vorne verjüngenden Schußapparates. Fauchend fraß ein dritter Strahl verdichteten Sonnenlichtes seinen Weg durch die Luft. Doch diesmal traf er den Cuarvir, der gerade einen Metallpfeil auf Aikaranat abschießen wollte. Als wenn Uniform und Körper des dunkelgefiderten Vogelmenschen hauchdünnes, trockenes Blattwerk waren, schlugen Flammen und Dampf aus dem Leib des Cuarvirs, der seinen Pfeil unschädlich in leere Luft abschoß, bevor er kraftlos wie ein altmodischer Flammenstab lodernd in die Tiefe stürzte. Er stürzte ungebremst in die grüne Leuchtblase. Für einen Atemzug erstrahlte sein Körper in einem Wirbel blaßgrüner Flammen. Dann waren er und seine Kleidung nicht mehr da. Die Leuchtblase hatte alles Lebensfeuer aus ihm herausgetrieben und ihn in reine Luft verwandelt, wie es allen geschah, die ohne die nötigen Öffnungsfelder um sich herum durch die sie umschließende Schutzblase dringen wollten. Tote Bewohner glühten in sanftem Grün und lösten sich flammenlos auf, was bei den Bestattungen der den Welten entflogener ein erhabenes Schauspiel bot.
"So wird es jedem ergehen, der es wagt, mich, den Arm des Rates zu bekämpfen!" Rief Aikaranat. Weitere Cuarviri zielten auf ihn. Da schlugen weitere Lichtstrahlen durch die Luft, nicht nur von Aikaranat. Die dunkelgefiederten Kämpfer der Burg hatten keine Chance. Sie starben schon, wenn die sonnenheißen Strahlen in ihre Leiber drangen und das in ihnen fließende Blut überhitzten oder waren vom Sonnenschlag so entkräftet, daß sie ohne weitere Flügelschläge in die grüne Spähre stürzten, die dankbar aufflammend ihre Leben auslöschte. Da flogen acht Cuarviri in weißen Überwürfen heran und umzingelten Vailadorat, der erkannte, daß der Verrat bereits weiter um sich griff, als Aikaranat es angedeutet hatte.
"Viiiiersilberschwingenträäääger Vailadorrrraat, gib dich dem Rrraaat der Dienerrr des Schöpferrrs gefaaangen!" Krächzte einer der Verräter und deutete mit seiner Sonnenkeule auf den Weltenwächter.
"Das werdet ihr alle büßen!" Rief der Adlermensch, bevor mehrere dünne Ketten seine Flügel umschlangen und sie um seinen Leib zusammenschnürten, daß er schon einen Schmerzensschrei auf dem gebogenen Schnabel hatte. Doch die Cuarviri waren gnadenlos, wußte er. Der König, der erhabene Viergoldschwingenträger mußte eingreifen, dachte der Augiliar, bevor er erkannte, wie weit dieser Verrat bereits reichen mochte.
Acropsat trug eine dunkelrote Robe, die er auf die Einflüsterungen des Schöpfers hin aus einem Versteck im untersten Raum der Burg geholt hatte. Er wußte nicht, warum er diese Stimme gehört hatte. Doch sie hatte ihm unmißverständlich erklärt, daß sie dem Schöpfer gehöre und er, der älteste Augiliar, zusammen mit seiner Gefährtin und den beiden anderen ältesten Lehrmeistern die Zeit des Viergoldschwingenträgers beenden müsse. Denn dieser habe den Schöpfer verraten und somit Schande über die Burg, die keiner Findet gebracht. Acropsat hatte weitere Getreue um sich geschart, die alle fähig waren, die mit Ohren unhörbare Stimme des Schöpfers zu vernehmen. Um ihre Macht zu beweisen hatten sie den einfachen Kriegern und Wärtern Dinge vorgeführt, die sonst nur das Königspaar tun konnte, unter anderem mitten im Raum ein Bild der unter ihnen liegenden Hartwelt zu zeigen. Das konnten und durften doch sonst nur die Blutlinienbewahrer des ersten Königs, die von ihren Vätern in die Geheimnisse der Burg, die keiner finden kann, eingeweiht wurden, bevor sie starben. Acropsat hatte den verwirrten Cuarviri erklärt, daß er vom Schöpfer auserwählt worden sei, den Verrat an ihm zu bestrafen und jenen zu finden, der die Stimme des Schöpfers gefunden und hierhergebracht hatte. Denn nun, wo fast ein Sonnenkreis vergangen war und der Schöpfer gehofft habe, seine Schwester würde ihn rufen und die Burg damit zu sich bringen, sei seine Schwester auf eine ihm unerklärliche Weise gefangengenommen worden. Diese Gefangenschaft sei so unbegreiflich, daß wohl nur der Tod sie daraus befreien könne. Doch dazu müsse die Stimme des Schöpfers, die in der Burg in einem Raum voller geheimer Dinge verschlossen wurde, von jenem ergriffen werden, der sie zum klingen gebracht hatte. Denn keiner der Bewohner durfte das mächtige Werkzeug berühren, aus dem sie erklingen konnte. Doch zunächst mußten die Hauptverräter an den Zielen des Schöpfers gefangengenommen werden. Womöglich galt es auch, sie zu töten. Doch wenn ein Viergoldschwingenträger starb mußte dessen erstgeschlüpfter Sohn die Nachfolge antreten. Ihn galt es, auf die Seite des neuen Rates zu ziehen.
"Habt ihr Vailadorat?" Fragte Acropsat Arrzaar, einen Curarvi im Rang eines Viersilberfedernträgers.
"Jaaa", krächzte dieser. "Seine Gaarrrde hat ihn zwaaarrr verteidigt, aaaberrr wirr haaben ihn."
"Gut, bringt ihn in einem zwölfteltag vor uns!" Befahl Acropsat. Dann lauschte er. Vom hohen Haus der Herrscher her klang wildes Geschrei und das laute, seit der großen Schlacht nicht mehr vernommene Gefauch von Sonnenschlägen.
"Die Hauswachen sind nicht auf unserer Seite?" Fragte Acropsat. "Sie wagen es, unseren Armen des Rates entgegenzutreten?!"
"Sie sind wohl gewarrrrnt worrrden", krächzte der Cuarvir. Acropsat nickte und langte mit der linken Hand an den neuen Gürtel, den er nun trug. Der Schöpfer selbst hatte ihm verraten, wo dieser zu finden war und wie er zu handhaben war. Der Gürtel aus blauem Stoff besaß vier silberne Verzierungen, die alle den Mond in einer sichtbaren Phase zeigten. Darüber hinaus hing links von der goldenen Schließe eine Kristallkugel, in der eine silbergraue Flüssigkeit steckte, verflüssigtes Mondlicht. Er berührte die Schnalle und den angebrachten Kristallkörper und dachte dabei "Schutz und Trutz zu Schöpfers Nutz!" Der Kristallkörper glühte weiß auf. Es schien, als würde die darin steckende Flüssigkeit auslaufen. Doch die feinen Strahlen bildeten um ihn herum ein immer dichteres Netz, bis mit leisem Knacken ein seine Körperformen nachzeichnendes Gewebe aus reinem, silbernem Licht bestand. Als er dieses von ihm aus zu neun Zehnteln durchsichtige Licht um sich sah, flog er auf. Die silberne Aura behinderte seine Flügel nicht. Sie umkleidete sie wie ein hauchzartes Futteral.
Als der Träger der roten Robe vor die grüne Begrenzung des Hauses der Herrscher flog, sah er das blendendhelle Gewitter aus hin und herzuckenden Sonnenschlägen, die laut fauchend ihre Ziele suchten. Doch der grüne Schutzkegel fing die Sonnenschläge ab und sprühte die von ihnen getragene Vernichtungskraft in grünlich-weißen Blitzen zurück. Zudem standen fünfzig Cuarviri auf den Aussichtsplattformen des achtzig Längen aufragenden Hauses und erwiderten die Sonnenschläge der von Acropsat bekehrten mit Sonnenschlägen, die die Reihen der zum Sturm angetretenen lichteten. Es war also mißlungen, Einlaß in das hohe Haus zu erhalten, um den Viergoldschwingenträger und seine Gefährtin gefangenzunehmen. Er sah den Zweigoldschwingenträger Iikarat, den Hüter des Hauses und damit Oberbefehlshaber der Wachen, wie er von der höchsten Plattform aus den Abwehrkampf leitete. Neben ihm stand Garuschat persönlich, kleiner als seine Gefährtin, aber der bisher mächtigste Bewohner der Burg, die niemand findet. Beide trugen Mondschildgürtel wie Acropsat, obwohl der grüne Schutzkegel die bisherigen Sonnenschläge beinahe mühelos abschmetterte.
"Ergib dich, Garuschat!" Rief Acropsat, der nun außerhalb des grünen Kegels hinaufflog, um auf Augenhöhe mit dem regierenden Herrscher zu kommen. "Du bist vom Schöpfer als Verräter an seinem Willen angeklagt worden und sollst uns, dem Rat der Diener des Schöpfers, deine Gewalt überlassen."
"Du, Acropsat, mein Lehrmeister, verrätst den Vater des Himmelsvolkes, deinen obersten Herrn und Gebieter?" Schrillte Garuschat und schickte Acropsat einen gleißenden Lichtstrahl aus seiner Sonnenkeule entgegen. Krachend brach sich der weißgelbe Glutstrahl an der hauchzart scheinenden Aura um Acropsats Körper. Sie flackerte zwar ein wenig, bewahrte ihren Träger jedoch vor der Vernichtungswucht des Sonnenschlages.
"Was fällt dir ein, einen der Mondschilde zu tragen, Acropsat. Du bist Lehrmeister, Bewahrer des vergangenen und Verkündr des wichtigen", schrillte Garuschat und ließ noch einmal einen Sonnenschlag auf Acropsat los.
"Ich hörte den Schöpfer, seinen allgegenwärtigen Geist, nachdem ihr seine Stimme verstummen ließet und den, der sie trug aus der Burg geworfen habt, obwohl er im Namen des Schöpfers zu regieren gehabt hätte!" Kreischte Acropsat, der fühlte, daß sein Schildgürtel unter zwei weiteren, von unten erfolgenden Sonnenschlägen erzitterte. Der Mondschild enthielt vier Dutzend Zwölfteltage gesammeltes und verflüssigtes Mondlicht. Doch ein Sonnenschlag konnte in einem Einhundertvierundvierzigstel eines Zwölfteltages ein Zwölftel Zwölfteltag davon zerstreuen. Denn der tragbare Schild war nicht so mächtig wie Jene, die in den legendären geflügelten Barken des Schöpfervolks enthalten waren. Doch Acropsat hatte seine Helfer, die nun mit einer von fünf Mann getragenen Sonnenramme anrückten, einem mehr als vier Längen langen Ungetüm aus goldenem Metall, in dessen hinterem Ende mindestens vier Lichtsammler eingesetzt waren, die hundertmal mehr Sonnenlicht verdichten und ebenso mächtig wieder ausstoßen konnten, wenn man behutsam mit der eingefangenen Vernichtungskraft des Himmelsfeuers umging.
"Du erkennst diese Ramme, Garuschat?" Fragte Acropsat, während ihm der Haushüter des Königs einen Sonnenschlag entgegenschleuderte, der jedoch so wirkungslos blieb wie die anderen auch. Über der Sonnenramme stülpte sich gerade ein Mondschild, um gegnerische Lichtschläge abzuschmettern. Von innen nach außen war die silberweiße Lichtkuppel Durchlässig für Sonnenstöße.
"So hatte meine Gemahlin doch recht, und der Geist des Schöpfers kann auch ohne seine Stimme in unseren Mauern wirken. Doch werde ich den Tod der Gefangenschaft vorziehen, Acropsat. Und du weißt als Bewahrer des Vergangenen genau, was dann mit unserer Burg geschieht", schrie Garuschat.
"Der Geist des Schöpfers wird uns nicht ins Verderben stürzen lassen. Er hat mich, Lehrmeister Gaarandarr und Lehrmeister Iwinghir zu seinen neuen höchsten Dienern bestimmt und wird es nicht zulassen, daß dein Tod uns alle in die Tiefe reißt. Also ergib dich, und ich gelobe im Namen des Schöpfers, daß dir und deinen Blutsverwandten keine Feder gekrümmt und kein Flügel versehrt wird."
"Das Wort eines Verräters gilt nichts", stieß Garuschat entgegen, während es auf den Plattformen hektisch zuging. Irgendwas lief da nicht so, wie es sollte, erkannte Acropsat. Er befahl: "Rammt den schützenden Kegel auf!" Einer der Cuarviri hantierte an den langen Hebeln und brachte einen der Lichtsammler in Kontakt mit dem Lichtausrichter. Mit einem lauten Donnerschlag zuckte ein beindicker, die Augen schmerzend heller Lichtstrahl aus dem schmalen Ende der Ramme und krachte gegen den grünen Kegel, der mit lautem Wummern flackerte und mit scharfen Knällen überschüssige Vernichtungskraft nach oben ablenkte, so daß Acropsat in einen Entladungsblitz hineingeriet, der ihm fast den schützenden Mondschild vom Leib gerissen hätte, wenn er nicht mit einer schnellen Rolle Rückwärts aus der Bahn der Entladungsblitze geflogen wäre. Wieder donnerte die Sonnenramme. Wieder wummerte die grüne Lichtwand und bekam weiße Risse, die zischend bis ganz nach oben entlangklafften und sich in prasselnden Blitzen entluden. Doch da, wo die Ramme getroffen hatte, klaffte nun ein großes Loch. Die wachen verschwanden von den Plattformen. Garuschat und sein Haushüter standen allein auf der obersten Plattform. "Lass uns in das Haus und übergib den Schlüssel der ewigen Reisen an mich und meine beiden Ratsmitglieder, auf das wir den Überbringer der Stimme des Schöpfers suchen und ihn und die Stimme wieder zusammenbringen mögen. Dein Tod wird nicht den Sturz ins Verderben hervorrufen, Garuschat. Aber wir werden dann zur allgemeinen Abschreckung aller dir folgenden Mitverräter deine Gefährtin in die Tiefe stürzen und den Dreigoldschwingenträger entflügelt in die Grube der Geächteten werfen, so leid mir das tut. Aber des Schöpfers Wille muß geschehen."
"Der Schlüssel der ewigen Reisen darf dir nicht in die Hände fallen, du alter Narr. Du würdest die erhabene Burg, die niemand finden kann dem flügellosen Volk dort unten preisgeben, das nur noch ein Schatten des erhabenen Volkes ist."
"Wir haben alle Weltenwächter gefangen. Sie werden uns zeigen, wo der Erwecker der Stimme des Schöpfers sich befindet. Dann werden wir ihn holen, und er wird tun, was der Schöpfer ihm zu tun aufträgt. Wir sind nun die wahren Diener des Schöpfers", stieß Acropsat aus. Zwei Sonnenschläge auf einmal trafen ihn und brachten seinen Mondschild zum flimmern. Doch dann erklang die Stimme Pterandas. Sie klang aus dem Raum hinter der obersten Plattform: "Ich ergebe mich und meine Schlüpflinge in die Gnade des Schöpfers. Es ist schon zu viel unseres Blutes vergossen worden, Acropsat."
"ich bin der Viergoldschwingenträger, Euer Herr und Gebieter!" Schrillte Garuschat höchst erbost.
"Und der Vater von uns allen", hörten sie die Stimme seiner Gefährtin zurückschrillen. "Ein Vater darf seine Kinder nicht töten oder zulassen, daß sie sich im Streit gegenseitig umbringen. Gib Ihnen also den Schlüssel der ewigen Reisen, damit deine Schuld endlich ganz getilgt werde."
"Verräterisches Gezücht. Ich werde mit eigenen Händen deinen Tod herbeiführen", schrillte Garuschat.
"Du hast es schon einmal einsehen müssen, daß dein Handeln falsch war, o Vater des Himmelsvolkes. Denn wenn du nicht erkannt hättest, was unsere Aufgabe ist, so wäre die erhabene Burg unseres Schöpfers in die Tiefe gestürzt, als die Krieger Skyllians sich auf der festen Weltenkugel ausbreiteten. So erkenne es bitte auch an, was nun von uns verlangt wird. Wir dürfen die Stimme des Schöpfers nur behalten, solange er dies uns erlaubt. Will er es nicht, so müssen wir sie herausgeben."
"Ihr habt mir damals zugestimmt, sie hierzubehalten", sagte Garuschat, der nun wieder die ehrerbietige Anrede gebrauchte.
"Damals wußte ich nicht, daß ihr danach trachtet, den Erwecker der Stimme zu töten und ich wußte, daß meine Gabe ihm besser diente als die Macht, die die Stimme des Schöpfers ihm bot", kam Pterandas Antwort.
"Eher werde ich den Schlüssel der ewigen Reisen in die Tiefe der luftleeren Welt der fernen Lichter hinausschleudern und die Burg über dem gerade von uns überquerten Wasser niederstürzen lassen wie ein glühender Stein aus den Tiefen der luftleeren Welt", schnarrte der König, der nicht von seiner Macht lassen wollte. Da brach der grüne Kegel zusammen, und die Cuarviri stürmten laut krächzend in den zehneckigen Turm, der das wichtigste Gebäude der Burg war, die niemand finden konnte. Acropsat sah noch, wie der Haushüter Garuschats den König ergriff und in einen großen Mondschild einhüllte, in dem er ihn davontrug. Acropsat mußte verhindern, daß die Burg abstürzte. Denn wenn der König die schützende Sphäre durchdrang und sich weiter als eintausend Längen entfernte, so würde der von ihm getragene Schlüssel der ewigen Reisen die Himmelshalter versiegen lassen, so daß die Burg von der alles an sich reißenden Gewalt der harten Rundwelt dort unten niedergezogen wurde. Soweit durfte es nicht kommen. Der König mußte leben, bis er den Schlüssel der ewigen Reisen übergeben hatte. Doch nun trieb er genau auf die grüne Leuchtblase der reinen Luft zu. Acropsat rief nach Gaarandarr, dem Lehrmeister der Cuarviri. Dieser krächzte aus weiter Ferne zurück. Da kam ein gesattelter Wolkenhüter angeflogen. Gaarandarr saß darauf. Auch er trug einen Mondschildgürtel. Der Wolkenhüter verlegte dem flüchtenden König und seinem Haushüter den Weg und spie seine gleißenden Blitze aus, die ebenfalls aus der Gewalt des Himmelsfeuers entstanden. Iikarats Mondschild erzitterte zwar, widerstand den Blitzen jedoch, die selbst das härteste Gestein mit einem Schlag schmelzen konnten und von ungeschützten Wesen nur Aschewolken übrigließen. Acropsat flog mit eigenen Flügeln über die weitläufige Bodenplatte der Burg hinweg, überquerte zwanzigseitige Bauten, die wie aus dem Boden gewachsen wirkten und passierte runde Türme, bis er die Luke sah, unter der seine Diener vor einem Tag einen der zwanzig verbliebenen Wolkenhüter gefangen und mit Unterwerfungsgeschirr seinem Willen unterworfen hatten. Ein Wolkenhüter mochte den König zwar am Voranfliegen hindern, jedoch nicht den Mondschild durchdringen. Zwei oder drei jedoch vermochten dies wohl. So holte der Augiliar, der sich vom Schöpfer berufen fühlte, in dessen Namen den rechtmäßigen Herrscher zu stürzen, seinen Wolkenhüter und flog auf diesem zum Haus der Herrscher zurück, in dem wohl gerade der entscheidende Kampf toben mochte. Aus beiden Schnäbeln gleichzeitig spien die grauen Reit- und Kampfvögel ihre Blitze aus. Tatsächlich gelang es damit, den mächtigeren Mondschild des Haushüters zu schwächen, bis dieser laut prasselnd zerstob und Iikarat schnell den glutroten Kristall von seinem Rücken schleuderte, bevor dieser mit lautem Knall in sich zusammenstürzte und dabei eine Wolke glühender Scherben verbreitete. Einige der Scherben trafen den König und seinen höchsten Verwalter. Doch sie waren nicht tödlich. Allerdings verletzten sie die Flügel der beiden Goldschwingenträger und brachten sie zum Absturz. Acropsat ließ seinen Wolkenhüter pfeilschnell unter die stürzenden stoßen und sie auffangen. Sofort umschwirrten zehn Cuarviri die beiden grauen Vögel und stürzten sich auf den König und den Haushüter, die noch versuchten, mit ihren Sonnenkeulen zuzuschlagen. Doch die Cuarviri waren die geschlüpften Krieger und überwanden die beiden Augiliari innerhalb von drei Atemzügen.
"Sperrt sie in den Raum der befohlenen Verlassenheit, bis wir über ihren Verrat befinden!" Befahl Acropsat den dunkelgefiederten Kriegern. Doch dann fiel ihm etwas ein: "Erzwingt zunächst die Herausgabe des Schlüssels der ewigen Reisen! Entflügelt ihn, falls er sich weigert, ihn herzugeben!"
"Du wirst damit nichts erreichen, Acropsat. Er wird sich dir verweigern, weil du nicht die Worte gelernt hast, ihn zu benutzen", schrillte der gefangene König.
"Der Geist des Schöpfers wird mir die rechten Worte beibringen, Garuschat. Also gib den Schlüssel heraus!"
"Er ist mit der macht der Rache geladen. Nur ein Träger des rechtmäßigen Blutes darf Hand an ihn legen. Sonst frißt ihn das Feuer der gnadenlosen Strafe", schnarrte Garuschat, während Iikarat sich offenbar in sein Schicksal ergeben hatte. Der schmächtige Augiliar griff unter seinen blauen Umhang, auf dem die vier goldenen Schwingen als Symbol seiner bisher unumschränkten Herrschaft angebracht waren. Er holte einen bläulich leuchtenden Kristallstab hervor, der, wie Acropsat als Gelehrter alles wichtigen wußte, mit dem mächtigen Kristall unterhalb des Hauses der Herrscher verbunden werden konnte, um den Weg und die Aufenthaltsdauer der Burg zu beeinflussen. Acropsat streckte seine Hand aus, während der König eine verächtliche Grimasse zog. Er berührte den Stab und pflückte ihn aus der Hand des Königs. Da durchraste ein brennender Schmerz seinen Arm und jagte bis zum Kopf hinauf. Doch da hörte Acropsat eine dröhnende Stimme: "Sei mir unterworfen!" Der Befehl, so erkannte Acropsat, der den ihn treffenden Schmerz laut hinausgeschrien hatte, galt nicht ihm selbst. Denn schlagartig verklang das mörderische Feuer in seinem Arm, und der leuchtende Stab lag kalt und harmlos in seiner Hand. "Sei mir unterworfen"!" Erklang noch einmal der Befehl im Kopf des Augiliars, der sich als neuer höchster Diener des Schöpfers betrachtete. Dann sah er den König an und sagte: "Der Geist des Schöpfers steckt in mir und hat das Feuer der gnadenlosen Strafe gelöscht, bevor es mich vernichten konnte. Somit ist der Schlüssel der ewigen Reisen nun mir unterworfen, und wenn ich weiß, wo der Erwecker der Stimme des Schöpfers auf der harten, runden Welt zu finden ist, werde ich ihn erneut zu uns holen, auf das er die Stimme wieder an sich nimmt und damit zurückkehrt, um das Erbe des Schöpfers weiterzutragen, wie es ihm bestimmt ist, seitdem er dessen Stimme fand und aus der roten Festung heraustrug."
"Du wirst ihn niemals finden, du elender Aufrüherer. Du magst den Schlüssel in deine Gewalt gebracht haben. Aber wir haben immer noch genug treue Kinder, die uns aus deiner Gewalt retten und dich in die Tiefe stürzen werden, und zwar nicht, um uns den Hauch reiner Luft aus deinem Körper zu bereiten, sondern um dich auf die gewölbte Oberfläche zu werfen, wo du restlos zerschlagen wirst", schnarrte Garuschat.
"Oder du wirst dort zerschlagen, Garuschat, du Verräter am Willen des Schöpfers. Vorerst sei Bewohner des Raumes der befohlenen Verlassenheit, bis wir über dich und deine Helfer Gericht halten!" Schrillte Acropsat und gab den Cuarviri einen Wink, den gefangenen und damit entmachteten Herrscher zu entkleiden und in einen der Kerker in der Nähe der Himmelshalter zu sperren, wo das Summen der einander aufwiegenden Kräfte und die Einsamkeit den Gefangenen zusetzte, so daß sie sich den gegebenen Anordnungen fügten. Die Strafe war so wirkungsvoll und abschreckend, daß es in den letzten zwanzig Sonnenkreisen niemanden gab, den sie getroffen hatte. Garuschat würde also eine höchst fragwürdige Ehre zu Teil werden.
Als die dunkelgefiderten Krieger mit ihren Gefangenen davongeflogen waren kehrte Acropsat zum Haus der Herrscher zurück, wo man ihm die Gefangennahme der Königin vermeldete. Da diese keinen Widerstand geleistet habe und lediglich um Unversehrtheit für ihre zehn Schlüpflinge und den Dreigoldschwingenträger gebeten hatte, gestand der Rat der Diener ihr zu, in ihren Gemächern weiterwohnen zu dürfen. Allerdings wurden diese nun bewacht. Der Umsturz war vollzogen, und die Burg Ailanorars gehörte nun einem Dreierrat aus für seine geistigen Rufe empfänglichen Bewohnern und ihren Anhängern. Doch dies würde nur der erste Schritt sein, um die Schmach zu tilgen, die man ihm, den Schöpfer, zugemutet hatte.
"Ihr wißt allesamt, daß ihr nicht mehr ganz zu retten seid", wurden die Jungen aus Laurentines Klasse am Morgen des elften November von ihr begrüßt, als sie kurz vor dem Ausrücken in den Speisesaal standen.
"Wußte gar nicht, daß wir in Gefahr sind, aus der wir gerettet werden müßten", erwiderte Julius darauf, bevor er Laurentine mit einer landesüblichen Umarmung überrumpelte und ihr "Meinen allerherzlichsten Glückwunsch zum Leben als Erwachsene Hexe" wünschte. Sie setzte erst an, ihn von sich zu stoßen, verzichtete jedoch darauf und zog ihn an sich.
"Die Mädels haben mich aus dem Bett gezerrt und in die Badewanne gesteckt und in kaltem Wasser saubergeschrubbt und mir ganz neue Klamotten angezogen", sagte sie und deutete auf Céline, Jasmine und Irene.
"Kaltes Wasser? Das ist aber nicht auf unserem Drachenmist gewachsen", erwiderte Julius leicht verstört.
"hat dir nicht geschadet, den Schmutz der Mädchenzeit abgeschrubbt zu kriegen", flötete Céline und winkte Julius. Doch dieser wollte wissen, warum sie alle nicht mehr ganz zu retten seien.
"Ich dachte echt, wir hätten schon wieder Weihnachten", erwiderte Laurentine. "Zwanzig Päckchen und Pakete auf meinem Bett. Die darf ich aber erst auspacken, wenn ich mit euch feiere, wie auch immer ihr das hinkriegen wollt."
"Kommenden Samstag", sagte Julius. "Wir können in dem kleinen Illusionsraum feiern, wo sonst die Zauberwesenstunden sind."
"Hups, wie komme ich zu der Ehre?" Fragte Laurentine argwöhnisch.
"Weil du mittlerweile auch Freunde und -innen in anderen Sälen hast, Laurentine", antwortete Céline an Julius' Stelle.
"Ach ja?" Fragte Laurentine leicht verdrossen zurück. "Achso, du hast denen allen gesagt, wir würden feiern, wenn wir einen Raum bekämen, der für uns alle betretbar ist", meinte das heutige Geburtstagskind. Céline und Julius nickten. Dann kamen noch Gérard und Robert zum persönlich gratulieren.
"Julius kriegt am Samstag nach der SSK den Schlüssel für den Raum von Madame Faucon. Sie läßt höflich anfragen, ob es dir was ausmachen würde, wenn sie für eine Stunde mitfeiern und uns bei der Dekoration des Raumes helfen dürfe", sagte Céline. Laurentine verzog das Gesicht. Doch dann fiel ihr offenbar ein, daß sich das anfangs so miese Verhältnis zwischen ihr und der ehemaligen Saalvorsteherin der Grünen in den beiden letzten Jahren deutlich aufgehellt hatte. So nickte sie und erklärte, daß sie ihr einen offiziellen Einladungsbrief schreiben würde. Dann fragte sie jedoch, wie man das alles bezahlen wolle, da ja wohl nicht nur an ein gemütliches Herumsitzen gedacht worden sei.
"Wir legen alle zusammen. Jeder bringt was zu Trinken mit", erklärte Julius Latierre. "Nicht, daß deine Eltern noch meinen, wir würden dich schröpfen oder sowas."
"Meine Eltern sehen das nicht so recht ein, daß ich ab heute schon für volljährig gelten soll. Bei denen wird man erst mit achtzehn volljährig. Und da hoffen die, daß ich von der ganzen Zauberei endlich runterkomme und was wirklich wichtiges lerne", grummelte Laurentine.
"Und du läßt deine Eltern im Glauben, daß du das auch machst?" Fragte Céline. Laurentine schüttelte den Kopf. Sie erwähnte, daß sie es ihren Eltern immer wieder erklärt habe, daß sie nach Beauxbatons nicht noch mal vier oder fünf Jahre Schule machen und den für Muggel üblichen Hochschulreifegrad erwerben würde. Irgendwann wolle sie mal zu leben anfangen, und sich als Hexe in der Muggelwelt einzurichten, ohne die alten Freunde sehen zu dürfen stehe nicht auf ihrem Plan für die Zukunfft.
"Deshalb haben die mir auch kein Geld mehr geschickt. Die sagen, ich hätte ja schon alle wichtigen Bücher und zu essen bekäme ich hier auch genug. Wird im Februar wohl noch mal ein hartes Brot, denen beizubringen, daß ich den Apparierkurs machen muß, um besser durch die Gegend zu kommen."
"Wie, die wollen nicht, daß du das lernst?" Fragte Julius entrüstet, obwohl er es von Céline schon längst wußte. Laurentine grummelte nur, daß längst nicht alle Eltern das wollten, daß ihre Kinder das Apparieren lernten. "Was meinst du, wie mich das annervt, wohl erst nächstes Jahr den Kurs machen zu können, wenn ich alleine bei Gringotts reingehen und mein Geld da abholen kann. Vorher wird das wohl nix. - und deine Schwägerin muß nicht aus purer Gnade meinen, mir für Lau einen Privatkurs geben zu müssen, Julius", fügte sie noch hinzu. Schließlich wußte sie ja, daß Julius die Kunst des zeitlosen Ortswechsels schon erlernt hatte.
"Huch, kannst du jetzt auch schon Gedanken hören", tat Julius ertappt. Laurentine verzog das Gesicht und meinte, daß sie eben erst wieder an Geld kommen müsse, um den Kurs machen zu können.
"Im Zweifelsfall hole ich dich eben in den Ferien ab, wenn ich apparieren darf", sagte Céline.
"Dann müßtest du das aber zum einen so gut können, daß du zwei Leute zugleich transportieren kannst, zum zweiten genau wissen, wo ich zu finden bin und zum dritten, wie es am Zielort aussieht, um dich dort hinwünschen zu können. Ich habe mich schon ein wenig schlau gelesen, Céline", entgegnete Laurentine schnippisch. Doch Céline und Julius hörten ihr an, daß es sie eher ärgerte, dermaßen von ihren Freunden abhängig zu sein, falls sie in den Ferien nicht von allem abgeschnitten sein wollte. Dann deutete sie auf die Reihen der Jungen und Mädchen, die gerade abmarschbereit vor der auflösbaren Wand standen. "Wir klären das alles noch irgendwann", sagte sie und eilte ans Hinterende der Mädchenkolonne, während Céline nach vorne ging und Julius sich vor die Jungen stellte, mit denen er zusammen ausrücken wollte.
Außer denen, die es wußten und anging bekam es keiner von den Schülern an diesem Morgen mit, daß Laurentine jetzt zu den voll zauberberechtigten Hexen gehörte. Erst als ihr mehrere Posteulen zuflogen, wo sie höchst selten Briefe aus der Zaubererwelt erhielt, ging einigen doch auf, daß heute etwas besonderes sein mochte. Julius sah unter den Posteulen auch Millies Eule und einen Postvogel, der ihm schon häufiger Briefe von den Dusoleils gebracht hatte. Außerdem trudelte noch ein großer Uhu mit einem flachen Paket ein, das Julius, weil er selbst ja schon einige dieser Art bekommen hatte, an ein zusammengepacktes großes Bild erinnerte. Vielleicht, so vermutete er, wollte da jemand sicherstellen, daß Laurentine auch einen direkten Kontakt mit einer anderen Hexe oder einem Zauberer hatte. Jetzt erkannte er auch den majestätischen Postvogel. Er gehörte zur Eulenstaffel Madame Faucons. Jetzt war sich Julius ganz sicher, daß in dem flachen Paket ein Zauberergemälde war, wenn er auch keine Ahnung hatte, was es darstellte. Einige Schüler von den anderen Tischen blickten herüber, als ihre Kameraden sie auf die ungewöhnlich hohe Zahl von Posteulen für Laurentine aufmerksam gemacht hatten. Doch aus dem sowieso vorherrschenden Geraune vieler hundert leise miteinander redender Schülerinnen und Schüler konnte Julius nicht heraushören, ob sie über das heutige Geburtstagskind sprachen oder die allgemeinen Belange des Tages durchkauten.
Mit den Eulen trudelten auch die Zeitungen bei ihren Beziehern ein. Nach der großen Aufregung um das Verschwinden Professeur Tourrecandides hatten sich das Ministerium und Gilbert Latierre offenbar wieder vertragen. Der Aufmacher im Miroir Magique war das Interview mit Koldorin von den Zwergen, der sich heftig darüber ausließ, daß zehn Hexen in voller Kleidung in ihre geheiligte Höhlenstadt eingedrungen waren, um die dort grassierende Felsenwühlerplage zu beenden. Die fünfundvierzig Zauberer, die ebenfalls dem Eindämmungskommando angehörten erwähnte nur der betreffende Reporter, der sowohl eine Stellungnahme vom Leiter des Zauberwesenbüros und dem für den Kontakt mit den Zwergen zuständigen Mitarbeiter, sowie dem bisherigen Verbindungszwerg Koldorin wiedergab, um das Geschehen aus mehreren Blickwinkeln zu beleuchten. Gilbert Latierre kam mit einem Exklusivinterview mit Lutetia Arno heraus, Millies reinrassig zwergischer Großmutter väterlicherseits. Sie erwähnte ganz verwegen, daß die Zwerge sich jetzt sicher mehr darüber aufregten, daß bekleidete Hexen durch ihre Stollen gelaufen waren als über die Schäden durch die Felsenwühler. Gilbert nutzte dieses Ereignis, um Lutetias Geschichte in einem mehrseitigen Artikel mit mehreren Fotos von der Zwergin abzudrucken. Außerdem stand in der Temps noch ein Interview mit Hippolyte Latierre zur Vorbereitung der Quidditch-Weltmeisterschaft im kommenden Sommer und der beim Eröffnungsspiel der diesjährigen Ligasaison so heftig angefeindete Schiedsrichter Montargent als Trainer nach Kanada gegangen sei. "Ich lasse mich nicht zum dummen Innendienstschreiberling machen, nur weil brutale Raufbolde meinen, mich nicht mehr als Schiedsrichter haben wollen zu müssen. Da gehe ich besser da hin, wo man meine Erfahrung und mein Können noch schätzt", stand Montargents Begründung unter seinem Foto, das ihn mit aufstiegbereitem Besen, einem Ganymed 10, zeigte.
"Die suchen wohl immer noch nach Professeur Tourrecandide", meinte Robert. "Aber sie schreiben nichts mehr drüber. Ist jetzt schon einen Monat rum."
"Ich frage mich, ab wann jemand in der Zaubererwelt für tot erklärt wird", erwiderte Julius.
"Die hat sicher ein Testament gemacht, Julius", war sich Robert sicher. "Sowas wird meistens im eigenen Wohnhaus hinterlegt, daß es auftaucht, wenn der, der es gemacht hat stirbt. Du kannst es aber auch gleich im Ministerium hinterlegen. Es bleibt dann in so'nem Schrank wie bei uns die Schränke mit den Wertungsbüchern und fällt heraus, wenn jemand mehr als einen Tag echt tot ist."
"Aha, und davon machen die es dann abhängig, ob sie jemanden für tot oder lebendig ansehen sollen?" Fragte Julius, der sich mit dieser Frage trotz der Todesfälle, die er leider schon mitbekommen hatte, nie wirklich beschäftigt hatte.
"Hängt wohl auch davon ab, ob das Testament magisch mit dem, der es schreibt verbunden ist und wie weit der oder die beim Sterben weg ist. Wie das ganz genau geht weiß ich auch nicht", erwiderte Robert. Gérard sagte dazu:
"Meine Eltern haben mir das erklärt, als mein Urgroßvater Gérald starb. Du kannst das Testament mit einer im Ministerium zu kaufenden Tinte schreiben, die dich als Schreiber mit dem Testament und dem Ministerium verbindet. Wenn du alles nötige reingeschrieben hast, vor allem das Datum und deinen vollen Namen einmal im Anfang und ganz am Ende unten drunter gesetzt hingeschrieben hast, wird dieser Verbindungszauber ausgelöst. Wenn du das Testament dann in diesem Hinterlegungsschrank verschwinden läßt, ohne daß es wer anderes Berührt, kommt es tatsächlich dann raus, wenn der, der's geschrieben hat einen oder zwei Tage tot ist. Du kannst so'n Testament auch zu Hause verstauen. Aber das Ministerium hat das Recht, bei einer bestätigten Todesmeldung das Haus danach zu durchsuchen, sofern andere Verwandte es nicht vorher finden. Allerdings hat meine Mutter gesagt, daß der, der es geschrieben hat im Zuständigkeitsbereich des Zaubereiministeriums sterben muß, um das Auftauchen von selbst auszulösen. Wenn jemand im Ausland stirbt muß das erst von einem da zuständigen Ministerialbeamten bestätigt werden, damit das Zaubereiministerium hier eine entsprechende Freigabeformel benutzen kann. Da es in der Magischen Welt möglich ist, durch Verwandlung oder unfeine Versetzungs- und Erstarrungszauber mehr als ein Jahr verschwunden zu bleiben, haben sich irgendwelche Magierkonferenzen im letzten Jahrhundert wohl drauf festgelegt, einen Zauberer oder eine Hexe erst dann für tot zu erklären, wenn das Verschwinden zwei Jahre und zwei Tage zurückliegt. Ist dann lustig, wenn ein verschwundener Zauberer oder eine verschüttet gegangene Hexe nach dieser Zeit doch wieder auftaucht. Der oder die braucht dann mindestens zehn glaubhafte und unbeeinflußte Zeugen, die bestätigen, daß es sich um den toterklärten handelt."
"Interessant. Und wie kann man dann Doppelgänger durch Vielsaft-Trank ausschließen?" Fragte Julius.
"Das haben meine Eltern mir nicht erzählt. War für mich auch erstmal nicht so wichtig, weil Opa Géralds Testament genug Zoff in der Familie ausgelöst hat. Da tauchten dann Leute aus der tiefsten Versenkung auf, die Jahrzehnte nix von ihm wissen wollten und jetzt die liebenden Neffen und Nichten raushängen ließen."
"Ist das Aas auch noch so klein, stellt sich doch ein Geier ein", grummelte Julius zur Antwort. Er erinnerte sich noch zu gut, wie sich seine Mutter mit seinem Onkel väterlicherseits und dessen Frau verkracht hatte, weil die meinten, über seine Zukunft besser bestimmen zu können als sie. Doch was dachte er denn da gerade? Worum ging's überhaupt gerade? Heute hatte Laurentine Geburtstag, und sie diskutierten über Testamente und wann wer für tot erklärt wurde. Julius wollte da nicht weiter drüber reden und beschloß das für ihn nun unpassend erscheinende Thema mit den Worten: "Aber vielleicht sollte uns das heute auch nicht so kümmern, wo Laurentine gerade erst den siebzehnten feiert und so erst richtig zu leben anfangen darf." Die beiden Klassenkameraden erkannten das auch und redeten über die Quidditch-WM im kommenden Sommer. Robert bemerkte mit leichter Eifersucht im Tonfall, daß Julius ja wohl schon für alle Spiele Eintrittskarten zu Hause rumliegen habe, wo er die amtierende Leiterin der Spiele- und Sportabteilung mitgeheiratet habe. Julius wollte nicht ganz abstreiten, daß er wohl für all die Spiele Karten kriegen würde, zu denen er auch hingehen wollte, aber nicht wisse, ob er dafür nicht doch eine Gegenleistung bringen müsse. Gérard grinste und meinte, daß die wohl darin bestünde, daß Madame latierre wohl erst sicher wissen wolle, ob sie bald schon Oma werde, wo Mogeleddie ihr den Spaß an Enkeln ja versaut habe. Julius grinste nur darüber, sagte aber nichts dazu.
"Warum packt Laurentine die dickeren Sachen nicht aus?" Fragte Robert, der wieder zu Laurentines Platz hinguckte. Julius vermutete nur, daß auf den Umschlägen stehen mochte, daß sie die eindeutigen Geschenkpakete erst bei ihrer offiziellen Feier aufmachen sollte. Das nahmen die Jungen mal als glaubhafte Erklärung hin.
"So, die Herrschaften, bitte bereiten Sie sich auf den Unterricht vor!" Rief Madame Faucon um viertel vor acht in den Speisesaal.
"Na dann, auf dann", fügte Julius dem allgemeinen Kommando noch hinzu.
Vor dem Verwandlungskursraum gratulierten alle die Laurentine, die es in der ersten Stunde noch nicht hatten tun können. Professeur Dirkson bekam es mit und schloß sich den Gratulanten an. In der Stunde selbst ging es weiter um die letzten Verwandlungseinheiten, die noch aus der fünften Klasse übrig waren. Diese sollten ungesagt ausgeführt werden, bevor es an die partiellen Selbstverwandlungen ging. Julius hatte wieder hinter einem Wandschirm zu tun. Er übte noch die Autonebulation, die ihm von Woche zu Woche besser gelang. Davon war äußerlich nur etwas zu sehen, weil er schnell in den gasförmigen, nur durch eingelagerte Magie zusammengehaltenen Zustand glitt und fast in einer halben Sekunde daraus zurückkehrte, wenn er die Anweisung erhielt, den festen Zustand anzunehmen. Er konnte es auch schon länger im Nebelzustand aushalten als die ersten Male.
"Dann können wir bald in die Autoliquifikation eintreten", flüsterte Professeur Dirkson, nachdem sie den sechsten erfolgreichen Wechsel von Fest- zu gasförmig und zurück beaufsichtigt hatte. Julius fragte sie, ob sie einen konkreten Fall kenne, wo diese magische Selbstverflüssigung überhaupt einen Sinn hatte. Doch weil er dabei hintergründig dreinschaute fragte sie ihn zurück, ob er einen solchen Fall kenne. Dann sagte sie:
"Na ja, so recht wüßte ich nichts, warum sich jemand derartig verändern soll. Es sei denn, er möchte in einer großen Flasche, Vase oder Teekanne weiterhausen. Dann muß er oder sie aber aufpassen, daß niemand von ihm etwas abtrinkt, weil er oder sie diesen Körperteil bei der Wiederverfestigung dann nicht mehr hat und auch nicht mehr neuwachsen lassen kann, da er durch Magie abhanden kam. Sonst denke ich nur, daß die Selbstverflüssigung der 3-M-Regel nützt: Mentalverfassung, Magiepotential, Materie. Oder kennst du einen konkreten Fall, wo jemand die Selbstverflüssigung als Mittel zu einem bestimmten Zweck benutzt hat?" Julius deutete noch einmal auf den von seiner Seite her durchsichtigen Wandschirm, hinter dem die anderen ihre Übungen machten und fragte, ob er schalldicht sei.
"Nach den leichten Verunsicherungen der anderen, weil sie damit noch nicht so klarkommen, daß du die fortgeschritteneren Übungen machst habe ich die Schalldämpfungsvariante eingefügt, über die mich deine Schwiegergroßmutter Ursuline auf Anfrage aufmerksam gemacht hat." So erwähnte Julius, daß er mal das Gerücht gehört hatte, daß jemand in flüssiger Form durch eine Toilette entkommen sein soll, weil es keinen unbewachten Ausgang gab und das Apparieren nicht möglich gewesen sei.
"Abgesehen von der Wechselwirkung von natürlichem Wasser ist es schon widerlich, sich vorzustellen, sich ausgerechnet durch einen Toilettenabfluß abzusetzen. Aber du wirst hier lernen, wie ungemein schwierig es ist, bei der Selbstverflüssigung den Zusammenhalt zu behalten. Wie schon erwähnt sorgen der Luftdruck von oben und die nach unten ziehende Erdschwerkraft schon dafür, daß du arg damit zu kämpfen hast, nicht komplett zu zerfließen. Ich wundere mich, daß mir dieses Gerücht nicht zu Ohren kam, wo ich ja viel mit den Verwandlungs- und Zauberkunstzeitschriften zu tun habe."
"Es ist drüben in den Staaten aufgekommen, weil da wer für mehrere Wochen verschwunden ist, obwohl die betreffende Person eigentlich nicht aus dem Gebäude verschwinden konnte. Sie kennen ja Gerüchte. Die heben dann heftig ab, wenn keiner kommt und erzählt, was wirklich passiert ist."
"Zu gut", erwiderte Professeur Dirkson. "Ich habe es in Hogwarts erlebt, als es da zu Angriffen auf Mitschülern kam und als einer meiner Jahrgangskameraden verschwand und eine andere Jahrgangskameradin ohne klaren Grund das UTZ-Jahr abbrach und angeblich wegen einem unwiderstehlichen Jobangebot die Schule verlassen hat. Die Gerüchte wurden dann echt heftig, als diese Mitschülerin so um ein Jahr später ein Kind erwartete. Das bekam ich auch deshalb so mit, weil ich da gerade selbst Nachwuchs in Aussicht hatte und mich daran gewöhnen mußte, für drei auf einmal vorplanen zu müssen. Dann war da noch der letzte Lehrer, den ich in Hogwarts miterlebt habe, der durch einen fiesen Fluch dazu verurteilt war, jünger und jünger zu werden, bis er wohl als lebensunfähiges Baby nicht mehr atmen konnte oder bei der Geschwindigkeit der unnatürlichen Verjüngung quasi zur unbefruchteten Eizelle zurückschrumpfte, bevor der letzte Lebensfunke in ihm erlosch. Alles Sachen, die schon schnell ins Kraut schießen lassen, wie ja auch das Verschwinden von Professeur Tourrecandide, die ich selbst ja nicht persönlich kennengelernt habe, weil sie ja in einem anderen Teilbereich der Magie zu tun hatte als ich."
"Ui, da war aber bei Ihnen in Hogwarts eine Menge los", warf Julius schnell ein, um seine Erregung überspielen zu können. Denn er wußte, von welchem Lehrer sie sprach. Der war jedoch nicht gestorben, sondern genau an dem Punkt, wo ein Mensch gerade noch außerhalb des Mutterleibes existieren konnte mit dem Infanticorpore-Fluch erwischt worden, der den anderen Fluch ausradiert hatte, so daß der betreffende Magier noch mal ganz neu aufwachsen und leben konnte. Jetzt war der wohl ein Schüler der dritten oder vierten Klasse und mußte sich damit herumschlagen, mehr zu können, als er zeigen durfte. Doch das durfte keiner wissen. Daß Julius es wußte lag auch nur daran, daß er vor über einem Jahr die Party der Sterlings besucht und dabei fast wie die anderen Opfer der Todesser geworden wäre, die es auf einige Gäste dieser Party abgesehen hatten.
"Ja, wir hatten schon einiges erlebt", seufzte Professeur Dirkson. "Aber konzentrieren wir uns besser wieder auf den Unterricht", beschloß die Lehrerin das Thema.
Der restliche Tag bis zum Freizeitkurs Verwandlung für Fortgeschrittene verlief in den gewohnten, für alle anfordernden Bahnen.
"Wenn du gut in Verwandlung mithältst bist du auch gut in den anderen Zauberstabfächern, Laurentine. Jetzt, wo du das auch außerhalb von Beauxbatons anwenden darfst wirst du sicher sehr froh sein, wenn du auch ohne Aufsicht alles hinkriegst, was du hinkriegen willst. Du gehörst sogar zu den glücklichen, die dann vor Schuljahresende schon apparieren können dürfen", sagte Professeur Dirkson dem heutigen Geburtstagskind. Laurentine verzog bei diesem Ansporn jedoch das Gesicht.
"Sie wissen doch, was für Eltern ich habe, Professeur Dirkson", grummelte sie und legte nach. "Bei denen darf ich in den Ferien auch mit amtlicher Erlaubnis keinen Zauberstab in die Hand nehmen, vom Apparieren mal ganz zu schweigen. Das hat für die nur in Märchenbüchern oder Zukunftsromanen stattzufinden."
"Ich weiß zwar, daß du Eltern hast, die von sich aus nichts mit der Magie zu tun haben", entgegnete die Kursleiterin. "Aber ich habe durch meine Erfahrungen in Hogwarts, wo ja auch Kinder ohne magische Eltern hingehen durften und jetzt auch wieder dürfen, doch mitbekommen, daß diese Schülerinnen und Schüler alles lernen durften, was die magische Welt ihnen angeboten hat. Ich bin zwar nicht eure Hauslehrerin, ähm, Saalvorsteherin, denke aber schon, daß wir es deinen Eltern ohne Gewaltanwendung klarmachen werden, daß du alleine bestimmen solltest, welche Zauber du außerhalb der Schule anwendest oder nicht. Sicher darfst du bei deinen Eltern zu Hause zaubern, wo du jetzt siebzehn bist. Es dürfen halt nur keine anderen Leute zusehen, die nichts mit Magie zu tun haben. Aber ich denke, das bekommst du noch gesondert vom Kollegen Delamontagne oder Madame Faucon persönlich erläutert."
"Dann warten Sie bitte auf den kommenden Elternsprechtag. Da dürfen Sie sicher mit meinen Eltern sprechen, sofern die nicht meinen, nur noch mit Professeur Delamontagne reden zu wollen."
"Im Zweifelsfall kann ich sie anschreiben und vorschlagen, daß sie sich mit mir unterhalten, weil ich durch das, was du im Unterricht oder hier zeigst überzeugt bin, daß du es nach der Schule in Verwandlung zu etwas bringen kannst. Du hast dir ja das Fach von dir aus ausgesucht, nicht wahr. Also ist dir das zumindest wichtig, genug zu lernen. Das sollte deinen Eltern dann ebenso wichtig sein, von wem du das lernst."
"Bis dahin sind's wohl noch ein paar Mondumläufe", grummelte Laurentine. Die Lehrerin nickte bestätigend und winkte ihr und den drei anderen aus ihrer Gruppe zu, weil sie gerade sah, wie sich ein paar Fünftklässler mit einer auf Gorillagröße aufgeblasenen Meerkatze herumschlugen, die den viel zu kleinen Käfig gesprengt hatte und nun ansetzte, den Kursraum neu zu arrangieren. Sie rannte los, während das übergroße Affenwesen lauthals brüllend auf die Jungen zutobte, die es jedoch gerade soeben mit einem Erstarrungszauber bannen konnten.
"Uijuijui! Gefährlich ist das schon", meinte Laurentine. "Nachher bläst noch wer Ameisen oder Spinnen auf Menschengröße auf oder wird selbst so'n Horrorbiest."
"Huaa, da möchte ich besser auch nicht dran denken", pflichtete Constance der jüngeren Mitschülerin bei. Julius dachte in dem Moment wieder an Naaneavargia, die Spinnenfrau. Seit dem fünften Oktober war sie nicht mehr gesichtet worden. Und Jane Porter hatte ihm erzählt, daß am zehnten Oktober ein riesiger Vogel, wohl ein aus dunkler Zauberkraft gebildeter Avatar, gesichtet worden sein sollte, wie er ihn beim Kampf gegen Hallitti miterleben mußte. Hatte es einen Kampf zwischen Anthelia und Naaneavargia gegeben, und wer hatte dann gewonnen? Anthelia sei so heftig radioaktiv verstrahlt, daß sie wohl nicht mehr lange hätte leben können. Hatte sie die Spinnenfrau mit in den Tod gerissen, weil die Beschwörung ihres Riesenvogels sie endgültig geschafft hatte? Dann mußte er sich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren, weil Millie ihm ihren Zettel unter die Nase hielt und "Hey, Julius, nicht träumen", raunte. Constance hatte sich derrweil mit Laurentine über erfundene Monster wie King Kong und Godzilla und wie es die Filmemacher hinbogen, warum solche Ungeheuer existierten. Da konnte sich Julius einklinken und über Volakin, den blauen Blutfürsten sprechen, über den ja die Zeitungen berichtet hatten und daß Muggelwissenschaftler zumindest nicht ausschlossen, daß eine hohe Strahlendosis komplett neue Lebewesen entstehen lassen konnte, wenngleich die meisten davon wohl verkümmerte Exemplare sein dürften und somit in der freien Natur nicht überleben würden.
"Mir vorzustellen, daß ein derartig entarteter Drache eine ganze Stadt niedertrampelt, wie Laurentine das gerade erwähnt hat ist für mich aber auch schwer zu verdauen. Wollen wir bloß hoffen, daß diese Atomfeuerstrahlen nicht echt mal so ein Überungeheuer hervorbringen, gegen das dann nichts hilft."
"Stimt, das wäre echt fies", erwiderte Millie. Julius sah dann auf die Uhr und auf seinen Zettel. Er sollte vollständige Selbstverwandlungen an sich ausführen und zusehen, bloß wieder seine ursprüngliche Gestalt zurückzugewinnen. Dafür brauchtte er jedoch die Aufmerksamkeit von Constance und Millie, falls er nicht nach einer Minute die eigene Daseinsform zurückbekam. Doch es gelang. Während sich seine drei Gruppenkameradinnen durch Teilverwandlungen und Selbstverwandlungen in Form hielten, stellte er Stühle, Hocker, ein rotes Sofa und einen halbhohen Holztisch dar. Die Riesenmeerkatze war schon längst wieder auf Normalmaß eingeschrumpft und in den magisch reparierten Käfig zurückgesetzt worden.
Der Kurs ging wie sonst auch zu Ende. Laurentine hatte offenbar Professeur Dirksons Worte gut verinnerlicht und hatte alle ihr aufgegebenen Verwandlungsübungen mit ganzer Kraft und Willen zum Erfolg abgearbeitet.
Die restliche Woche bis zu Laurentines Geburtstagsfeier schlich dahin. Im Zauberwesenseminar sprachen sie über Zentauren, jene Mischwesen aus Pferd und Mensch. Im Zaubertrankunterricht brauten sie den Trank des tiefen Schlafes nach, bei dem eine kleine Menge reichte, jemanden in einen todesähnlichen Schlaf zu versenken, der mehrere Tage anhielt und bei Überdosierungen sogar einen jahrelangen Schlaf verursachte, aus dem der Trinker nicht erweckt werden konnte. Laurentine fragte Professeur Fixus, ob das vielleicht die Quelle für das Märchen vom Dornröschen war, die im Französischen "La Belle Au Bois Dormant", die im Wald schlafende Schöne hieß.
"Sie, die Sie wie Monsieur Latierre in der magielosen Welt aufwuchsen wissen ja, daß deren Märchen meistens auf eine Verachtung der Magie abzielten, wo alles magische Ursache und Auswirkung böser Kräfte sein soll. Natürlich habe ich mich über die derartige Antimagie-Propaganda der Muggelwelt kundig gemacht und habe auch überlegt, mit welchen realexistierenden Zaubermitteln ein Mensch in hundertjährigen Schlaf versenkt wird. Allerdings erwähnt dieses Märchen ja auch, daß nicht nur die verfluchte Prinzessin, sondern alles Leben um sie herum bis zur Grenze ihres Vaters Schloß in diesen tiefen Schlaf verfiel. Das kann durch diesen Trank nicht simultan erfolgen, da er nicht wie einige Narkoseelixiere auch im gasförmigen Zustand wirkt, sondern mit den Magensäften und dem Blut der auserwählten Schläfer in Berührung kommen muß. Das Spektrum der Flüche, die Herrschaften, ist jedoch so breit und verfügt über sehr sehr viele Ausprägungen, daß ich nicht ganz ausschließen möchte, daß es eine Methode gibt, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt alle in einem bestimmten Raum anwesenden in einen todesähnlichen Schlaf verfallen und ohne Furcht vor dem Verhungern oder Verwesen bei lebendigem Leibe hundert Jahre oder mehr überdauern können. Ob dann der Kuß eines Prinzen diesen Zustand beenden kann lasse ich besser mal im Bereich der Märchen gelten", erwiderte die Lehrerin und fügte noch hinzu: "Jedoch sollten Sie was Flüche oder andere dunkle Zauber angeht eher mit meinem Fachkollegen Professeur Delamontagne diskutieren, da er auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen sicherlich eine Menge mehr dazu einbringen kann. Was den gerade von den meisten von Ihnen korrekt erstellten Trank angeht, so gibt es bei Überdosierung nur die Alternative, das betreffende Opfer in einen gegen elementare Gewalten sicheren Raum zu betten. Es gab Fälle, wo bösartige Hexen und Zauberer Menschen in einen derartigen Todesschlaf versenkt haben. Doch diese Fälle konnten aufgeklärt werden. In der nächsten Stunde brauen wir den prophylaktischen Trank gegen den Trank des tiefen Schlafes."
"Hmm, Professeur Fixus. Ich kenne ja Medikamente, die direkt in die Blutbahn gespritzt werden müssen um zu wirken. Das Pfeilgift Curare kann ja auch nur durch direkten Blutkontakt tödlich wirken", setzte Julius an. "Könnte man auf diese Weise nicht auch ein Gegenmittel gegen die Überdosis des Tiefschlaftrankes verabreichen?"
"Stimmt, die Affäre um die Schlangenwesen, denen Sie ja selbst zum Opfer fielen beinhaltete ja, daß der Befehlshaber dieser Bestien das Gift von ihnen auslagern und in diesen Einspritzvorrichtungen verteilen ließ, es aber in dieser Form verabreicht nicht die nachhaltige Wirkung zeigte wie der direkt durch Biß in den Körper getriebene Giftstoff", erinnerte Professeur Fixus sich und alle anderen an das dunkelste Kapitel des letzten Schuljahres. "Insofern ist fraglich, ob ein durch Einnahme über den Mund wirkendes Gebräu dieselbe Wirkung ausübt, wenn es direkt durch eine Hohlnadel in den Blutkreislauf gespritzt wird. Aber für alle die, die nach den hoffentlich erfolgreich bestandenen UTZs weiter in der alchemistischen Forschung tätig sein möchten ergibt sich aus dieser Frage jedoch eine interessante Anregung, da außer einer Prophylaxe oder einer schnell genug verabreichten Gegenbehandlung keine Mittel bekannt sind, einen vollständig in Todesschlaf verfallenen vor Abklingen der Wirkung wiederzuerwecken."
Die weiteren Stunden waren sowohl höchstinteressant wie sehr anstrengend. Auch die Freizeitkurse verlangten den Schülern aus den beiden Oberklassen mehr ab als früher, auch wenn die Kursleiter schon darauf achteten, für alle daran beteiligten ausführbare Sachen vorzustellen. Dann kam der Samstag.
Madame Faucon betreute an diesem Morgen den magischen Hauswirtschaftskurs. Sie nutzte ihn dazu, bereits für die nach dem Abendessen stattfindende Geburtstagsfeier genug Gebäck und kleinere Happen vorzubereiten, wobei die leidenschaftliche Köchin den in diesem Kurs mitmachenden viele raffinierte Sachen zeigte, die von den meisten auch gut nachgekochuspokust werden konnten. Céline und Constance backten eine mehrstöckige Geburtstagstorte für Laurentine, ähnlich wie sie sie schon für Gloria Porter hinbekommen hatten. Millie und Julius stellten kleine Frikadellen mit würziger Füllung und Käsebällchen mit Honigteigfüllung her, während Sandrine eine gewaltige Schüssel Salat anrichtete, die durch den Conservatempus-Zauber bis zum Abend frischgehalten werden konnte.
"Dann dürfen wir heute abend aber nicht mehr viel essen", meinte Julius zu Sandrine und seiner Frau. Die beiden klopften sich vorsorglich auf die Bäuche und meinten, daß sie wohl hofften, daß die Jungen auch genug Hunger mitbrachten und falls nicht, ausgiebig getanzt werden müsse, um genug neuen Hunger zu machen.
"Das nicht mehr benötigte Geschirr bitte abspülen und die für den allgemeinen Verzehr gedachten Speisen bitte sortieren. Das Geschirr bitte spülen!" Kommandierte die Schulleiterin. Julius durfte wieder spülen. Mit seinen Geschirrspülzaubern hatte er sich wohl schon von Anfang an bei allen meistens weiblichen Kursteilnehmern dazu empfohlen. Es machte ihm auch nichts aus, weil er längst heraushatte, wie er die ineinandergreifenden Zauber der Reihe nach aufrufen mußte. Da machte es dann nichts, ob nur zwei Teller oder fünfzig verkrustete Bratpfannen auf einmal gesäubert werden mußten. Einige der hier zusammengekochten Köstlichkeiten wanderten in die offizielle Schulküche, wo die Hauselfen sie mit den übrigen Mittagsspeisen auf die Tische befördern würden. Das was für den Abend gedacht war, wanderte in die hier befindlichen Conservatempus-Schränke, aus denen Madame Faucon sie mit Céline, Gérard und Julius in den kleinen Illusionsraum bringen würde.
"Die wollten mir doch echt nicht zeigen, wie diese Torte aussieht", meinte Laurentine zu Julius, als sie nach dem Mittagessen auf dem Weg zum erbetenen Festraum waren. Julius betrachtete nur den silbernen Schlüssel mit den eingravierten Runen, die ihn auf das entsprechende Schloß abstimmten.
"Du wirst die Torte ja früh genug zu sehen kriegen", sagte Julius Latierre dazu nur und schloß die Tür auf.
Der Raum wirkte ohne die in ihm aufrufbaren Hintergrundillusionen wie ein leerer Weinkeller. Graue, schmucklose Wände, eine dunkle Decke, knapp fünf Meter über dem steinernen Boden, das war alles, was den Raum ausmachte. Julius wußte nicht, wie man die betreffenden Raumillusionen aufrufen konnte, die je nach Seminarthema eine Höhlenstadt der Zwerge, eine Gebirgslandschaft oder einen Ort unter der Meeresoberfläche vorgaukeln konnten. Als sie über die Zentauren gesprochen hatten, hatten sie alle den Eindruck erhalten, in einem dichten, herbstlichen Wald zu sitzen. Julius war sich sicher, daß hier wie in der Astronomiekuppel auch Flüge durch den Weltraum simuliert werden konnten, sowie ein Ausflug zu anderen Planeten. Denn mittlerweile hatte die internationale Vereinigung magischer Astronomen beschlossen, sämtliche Bildaufnahmen der Raumsonden der nichtmagischen Raumfahrt anzuerkennen, um simulierte Spaziergänge auf Mond, Mars oder Venus zu machen. Daran dachte Julius und sah Laurentine an. "An welchem besonderen Ort möchtest du dich für die Feier befinden, Laurentine?"
"Der Raum kann alle Umwelten darstellen, richtig?" Erkundigte sich das Geburtstagskind. "Man könnte also zwischen Einzelligen Lebewesen als Mikromensch herumlaufen wie zwischen den Planeten oder Sternen herumfliegen wie in der Astrokuppel."
"Ja, oder am Nordpol, im Amazonasdschungel, auf dem Mount Everest oder auf dem Grund des Pazifiks stehen, ohne Angst haben zu müssen, von der ausgewählten Umweltsimulation umgebracht zu werden. Es ist wie auf dem Holodeck der neuen Enterprise."
"Nur, daß du hier mit keinen künstlich erschaffenen Lebewesen zu tun kriegst", vermutete Laurentine. Julius bestätigte das. "Das wäre ein heftiger Gag, wenn ich meinem Vater erzählen könnte, ich hätte auf dem Mars gefeiert. Der würde mir das glatt glauben, weil er mittlerweile magisch angetriebene Raumschiffe oder superweit reichende Versetzungszauber für möglich hält. Ich stehe aber eher auf Strand. Diesen Sommer waren wir an der Nordsee. War schon interessant, bei Ebbe auf dem freigelegten Meeresboden, dem Watt, spazierengehen zu können. Kann dieser Raum sowas auch?"
"Hmm, ich weiß wie erwähnt nicht, wie die Illusionen programmiert oder eingerichtet werden. Da wollte mir Madame Faucon noch eine kurze Anleitung zu geben. Möglich ist, daß du alles darstellen kannst, wovon du träumen kannst oder woran du dich erinnerst. Die UTZ-Leute vom letzten Jahr haben das ja auch hinbekommen, Connies Mutterschoß nachzuempfinden, vielleicht, weil es möglich ist, sich an diese Zeit im Leben zu erinnern und diese Erinnerung auf etwas zu übertragen."
"O, wenn das geht, können wir ja den Strand bei Büsum nachbauen. Ich kann mich noch sehr gut an das alles erinnern, auch die Strandkörbe." Da Julius bisher mit seinen Eltern immer am Mittelmeer oder dem Atlantik Urlaub gemacht hatte kannte er diese nützlichen kleinen Bauten nicht, die an die Touristen vermietet wurden, damit sie ihre Strandausrüstung unterbringen oder sich auch einmal vor der Sonne schützen konnten, wenn sie ihnen zu stark auf der Haut brannte. Er kannte nur Sonnenschirme und Liegestühle.
Als Madame Faucon dann eintraf, fragte Laurentine behutsam an, ob sie den Strandabschnitt simulieren konnten, an dem sie mit ihren Eltern im Sommer häufig war. Die Schulleiterin nickte eifrig und erklärte Julius, wie er den Illusionszauber aufrufen konnte. Laurentine konnte dann mit ihrem Zauberstab aus ihrer Erinnerung die entsprechende Feinabstimmung einflechten. Madame Faucon meinte nur mit ein wenig Unmut in der Stimme, daß sie aber bitte die auf dem Meer herumdümpelnden Plastiktüten und den Plastikmüll der Strandbesucher auslassen möge. Darauf wurde sie natürlich gefragt, ob sie auch schon mal dort gewesen sei und erfuhr, daß sie vor fünfundzwanzig Jahren einmal dort gewesen sei, weil ein befreundeter Zauberer von der Insel Feensand ihr die Nordseeküste zeigen wollte und sich beide darüber erbost hatten, wie achtlos die Besucher dort ihren Müll zurückließen. Das Meer sei ja wohl da auch schon mit Abfällen aus den Fabriken und Frachtschiffen vergiftet gewesen. Aber die Reeddachhäuser und der dort am deutlichsten beobachtbare Gezeitenwechsel haben ihr schon sehr gefallen. So baute Laurentine einen Strandabschnitt bei Flut mit mehreren bunten Strandkörben auf und erzeugte mit Madame Faucons Hilfe das Gefühl, auf weichem Sand zu laufen. Nur, daß der illusionäre Sand sich nicht in Kleidung, Haren und offen hingestellten Lebensmitteln absetzen konnte. Wind und Wellenrauschen konnten jedoch täuschendecht nachgestellt werden. Céline und Julius halfen dann bei der Dekoration des großen Tisches. Obwohl alles so einfach aussah und scheinbar leicht von den Händen ging, dauerte es drei Stunden, bis alles so war wie es sein sollte. Dann gingen die Festtagsvorbereiter und Laurentine zum Abendessen. Die eigentliche Feier sollte dann um acht Uhr abends losgehen.
Neben der vollständigen sechsten Klasse der Grünen erschinen auch Julius' Frau Mildrid, Belisama Lagrange, Constance Dornier, Sandrine Dumas und ihre Klassenkameradin Béatrice Messier mit ihrer Schwester Estelle. Da die gesamten Saalsprecher der Grünen aus der sechsten Klasse kamenhatte Julius sein Bild von Viviane Eauvive mitgebracht, damit man ihn verständigen konnte, wenn was anlag. Außerdem fungierten die beiden jüngeren Pflegehelfer Carmen Deleste und Louis Vignier als Stallwache im Hintergrund. Alle brachten noch ein paar Kleinigkeiten mit, während Madame Faucon den Kochkursteilnehmern half, die vorbereiteten Leckereien augengerecht bereitzustellen. Dabei wurde dann auch die große Geburtstagstorte der Dorniers enthüllt, auf der die siebzehn schlanken, weißen Kerzen um eine aufrechtstehende Siebzehn aus weißer Schokolade gruppiert waren. Die Zahl des Tages schwebte auch über der Nordseestrandansicht in Form einer goldenen Leuchterscheinung am Himmel, der gerade einen rotgoldenen Sonnenaufgang simulierte. Madame Faucon hatte, um den Gezeitenwechsel während der auf dreieinhalb Stunden festgelegten Feier mindestens zweimal stattfinden zu lassen einen beschleunigten Tagesablauf eingerichtet. Allerdings brachen sich die materielosen Nordseewellen im natürlichen Rhythmus am weißen Sandstrand.
Wer von den Gästen ein nicht mit dem Mund zu spielendes Musikinstrument beherrschte sang zum Klang der Flöten, Klarinetten und Belisamas Oboe. Madame Faucon spielte auf ihrem Cello eine sanfte Begleitung zu den Holzblasinstrumenten, während sie mit Millie und Sandrine einen dreistimmigen Satz intonierte, der der Wiegenjubilarin einen frohen Weg ins Leben wünschte und im "Glas der tausend Wünsche" immer einen vorrätig hielt, um die kommenden Tage nicht in Langeweile zu erleben. Laurentine, die fröhliche Miene zur über sie verhängten Feier machte, nahm Madame Faucons Angebot an, vor dem allgemeinen Geplauder noch eine zweistimmige Ode an das Leben zu spielen, sie auf der Geige, Madame Faucon auf dem Cello. Musik verband eben doch, konnte Julius wieder einmal feststellen.
Um auch tanzen zu können lieferte Julius' Zauberradio die Begleitmusik. Nachdem Radio freie Zaubererwelt aus dem Schattendasein als Gegenstimme zu den von Didier kontrollierten Programmen herausgetreten war, fungierte der Sender als Verbindungsradio zwischen den Generationen. Leute konnten an das Eulenpostamt in Millemerveilles Grüße und Musikwünsche schicken. Heute abend hatte Florymont Dusoleil ein abwechslungsreiches Tanzprogramm für jung und Alt zusammengestellt, das er unmoderiert über den magischen Sender ausstrahlte. So kam Julius wieder einmal in die Verlegenheit, keine rechte Ruhepause zu haben, weil alle Damen in der Festrunde mit ihm tanzen wollten, zumal das Angebot tanzwilliger Herren begrenzt war und sich so auch reine Damenpaare bildeten, was zwar nicht den guten Sitten des Gesellschaftstanzes entsprach, aber der Not und der guten Stimmung wegen keinen Anstoß erregte, auch nicht bei Madame Faucon.
Um neun Uhr schlug Céline Dornier vor, daß Laurentine die dreistöckige Geburtstagstorte anschnitt. Zuerst zündete Madame Faucon die Kerzen an, die trotz Célines Ankündigung doch keinen besonderen Zusatz enthielten, sondern einfach und ohne flackern brannten. Julius stellte das Radio aus. Laurentine holte Luft und blies alle siebzehn Kerzen in einem Ansatz aus. Die Gäste klatschten ihr Beifall. Dann schnitt die zu feiernde die Torte an und verteilte die Stücke unter den Anwesenden. Nach dem Tanz hatten sie auch wieder genug Hunger.
Wegen der illusionären Landschaft sprachen sie alle von ihren letzten Sommerferien. Constance erwähnte, daß sie mit Céline, ihren Eltern und ihrer Tochter Cythera in den Pyrenäen gewesen war. Gérard fragte einmal vorsichtig, ob sie je wieder was von Malthus Lépin gehört habe. Sie verzog das Gesicht und erwähnte, daß seine Eltern sich immer wieder erkundigten, wie es der Kleinen ginge und sie auch schon angefragt hätten, ob sie sie nicht einmal besuchen dürften. Doch sie habe ihren Eltern klargemacht, daß jemand, der ihr und dem Kind den Tod gewünscht habe, kein Recht bekommen sollte, seinen Eltern sein Kind vorzustellen. Da die Dorniers ja wußten, was Lépin bei seinem Rauswurf aus Beauxbatons noch in den Saal gerufen hatte, verstanden die das auch und beließen es bei Briefen. Da uneheliche Kinder in der Zaubererwelt ein Anrecht auf Kenntnis beider Eltern besaßen wurden die Briefe verwahrt.
"Das war für die Lépins bestimmt heftig, weil ihr Sohn ja sonst bestimmt jetzt im Zaubereiministerium arbeiten würde", meinte Belisama Lagrange dazu. "Statt dessen hängt der jetzt irgendwo in Lyon rum, sagt mein Großvater. Ob er da ohne Zauberstab was zum Arbeiten hat weiß ich nicht."
"Lyon?" Fragte Millie. "In der Gegend hat Oma Ursuline ein kleines Sommerhaus, in dem sie aber selten ist, weil das Château Tournesol ja doch mehr zu bieten hat. Gut zu wissen, daß ich da nicht so schnell hinfahren werde."
"Reden wir besser über andere Sachen", schlug Connie Dornier vor. "Ich will hier nicht als Stimmungstöterin auftreten." So plauderten sie noch ein wenig über ihre Pläne nach Beauxbatons, wobei Madame Faucon sich dezent im Hintergrund hielt. Laurentine durfte noch etwas über das Wattenmeer erzählen, weil gerade die simulierte Nordsee auf dem Rückzug war. So verging eine halbe Stunde. Dann sollte die Wiegenjubilarin ihre Geschenke auspacken.
Unter rhythmischem Klatschen der Festgäste öffnete sie in aufgesetzter Bescheidenheit das kleinste Päckchen, das mit "Für wichtige Erinnerungen - von Irene Pontier" beschriftet war und wie wohl alle Pakete den Hinweis "Bitte erst bei deiner Geburtstagsfeier öffnen" enthielt. Zum Vorschein kam ein in veilchenblau eingeschlagenes Tagebuch mit zwei Schlössern und den dazugehörigen Clavunicus-Schlüsseln, sowie einer ebenso veilchenblauen Schreibfeder. Irene erwähnte, daß da mindestens zwei Jahre erlebte Zeit drin festgehalten werden konnten. Laurentine bedankte sich erfreut. Sie hatte eigentlich bisher kein Tagebuch geführt. Aber womöglich bot ihr das eine Möglichkeit, irgendwann auf die beiden kommenden Jahre zurückzublicken und sich daran zu erinnern, wie schön oder angenehm es in Beauxbatons doch gewesen war.
Sandrines und Béatrices Geschenk waren ein Glas Honig "für süße Momente", eine kleine, selbstgetöpferte Blumenvase "für die Farbenpracht im Leben" und einige in Conservatempusglas steckende Baumsamen "für das wachsende Leben". "Die kannst du da einsetzen, wo du selbst Wurzeln schlagen möchtest, Laurentine", erläuterte Sandrine das Geschenk. Laurentine bedankte sich, wandte jedoch ein, daß sie ja noch lange nicht wisse, wo sie nach Beauxbatons überhaupt hingehen würde und ob man da einfach so ein paar Bäume pflanzen durfte. Doch mit diesem Geschenk würde sie schon zusehen, einen großen Garten haben zu können.
So ging es weiter. Die Latierres hatten ihr ein Buch über Hexen im Alltagsleben geschenkt, sowie ein Buch für magische Hobbyköche und -köchinnen. Von den Dorniers erhielt sie neben der großen Geburtstagstorte ein Schmuckset aus Ohrringen, zwei Halsketten, vier Armbändern und zwei Ringen, sowie einer Haarspange. Daneben bekam sie von jedem und jeder einzelnen noch kleine Sachen, meistens selbstgetöpfertes, gestricktes oder gemaltes. Jasmine schenkte ihr ein magisches Katzenkörbchen und eine animierte Quietschmaus für den Kater Maximilian, der es in diesem Herbst geschafft hatte, Mademoiselle Blauauge von Ilona Martin aus dem blauen Saal mit Jungen zu beglücken, die Anfang Dezember zur Welt kommen würden. Auch Céline schenkte ein Tagebuch, allerdings ein größeres und eine kleine Palette Zauberfarben, damit Laurentine Bilder, die ihr besonders imponiert hatten aufmalen konnte. Von ihren Eltern hatte sie ein schickes, türkisfarbenes Abendkleid und einen Stapel muggelweltlicher Sachbücher bekommen. Julius kannte das von seinen ersten Schuljahren in Hogwarts. Offenbar wollten die Hellersdorfs sicherstellen, daß ihre Tochter nicht unangenehm bei Partys in der Muggelwelt auffiel oder ihr nahelegen, nach der Zaubereiausbildung doch noch einen Weg in der akademischen Welt der Magielosen zu beginnen. Das Paket, daß Julius schon am Montag aufgefallen war, stammte tatsächlich von Madame Faucon und enthielt zwei zusammengefaltete Stücke Leinwand und zusammensetzbare Bilderrahmen. Als Laurentine die beiden Bilder entfaltete sah sie dasselbe Motiv, eine Frau oder Hexe im langen, regenbogenfarbenen Kleid und dunklem Haar vor einer wie in die Ferne gerückt stehendem Wald. Offenbar waren die Bilder nicht an den Tageszeitenablauf oder die Jahreszeiten angebunden. Denn der gemalte Himmel zeigte eine weißgelbe Sonnenscheibe und erstrahlte im hellen Blauton, während die mit Liebe zu Einzelheiten nachgemalten Baumwipfel im sommerlichen Grünton erschienen.
"Kann ich mit diesen zwei Bildern dasselbe machen wie Julius mit seiner gemalten Version von Aurora Dawn?" Fragte Laurentine die Schulleiterin. Diese nickte und führte aus, daß die gemalte Frauengestalt keine ihr oder Laurentine bekannte Hexe darstelle und vor einem starren Hintergrund gemalt sei, damit sie, wenn ein Muggel sie sah, ebenso davor erstarren könne. Damit fiele es in einer Wohnung der magielosen Welt überhaupt nicht auf. Sie könne sich sogar den Namen der Botin aussuchen.
"Und ich muß mir dann natürlich wen ausgucken, der oder die das zweite Bild bekommt, richtig?" Wollte Laurentine sicherstellen. alle nickten, wobei Céline sehr erfreut lächelte. So fragte Laurentine noch, ob es nur diese beiden Bilder gäbe. Madame Faucon bestätigte das. So übergab Laurentine eines der Bilder an Céline Dornier, die sich sichtlich freute, derartig geehrt zu werden.
Das größte Paket, an dem alle geladenen Schüler mitbezahlt hatten, war eine kleine, aber rauminhaltsvergrößerte Truhe, die Florymont Dusoleil auf Julius' Bitte noch einen Beleuchtungszauber der Innenwände eingewirkt hatte, so daß sie beim Öffnen ein warmes, angenehm helles gelbes Licht verströmte. In der Truhe lagen auch schon mehrere Sachen, ein Kochgeschirr, ein Besenpflegeset, ein aufstickbares, sich selbst der Farbe des Kleidungsstückes anpassendes Zusatztäschchen für den Zauberstab und zwei Bücher über berufstätige Hexen und Hexenmütter, sowie ein gefütterter Umschlag. Laurentine fischte den Umschlag heraus und wog ihn. Es klimperte. Auf dem Umschlag stand: "Für alle, die wollen, daß du dich frei fühlen kannst" mit den Unterschriften der Schenkenden. Sie öffnete den Umschlag und fand einen kleinen Lederbeutel, der verdächtig nach Geldstücken klang und einen beschriebenen Pergamentbogen, dessen Text sie nun laut vorlas.
"Liebe Laurentine oder Bébé, falls du dich nicht doch zu alt für diese Anrede fühlst,
wir, deine Klassenkameraden, Schulfreundinnen und deren Anverwandtschaft, mußten leider erfahren, daß deine Eltern offenbar keine Lust haben, dir den im Februar hier in Beauxbatons möglichen Kurs Apparieren zu bezahlen, ja dir selbst auch kein Geld dafür gönnten. Auch wenn es zu unglaublich klingt, daß es Eltern gibt, die ihrem Kind nicht alle Bewegungsfreiheit erlauben wollen, die es im Leben bekommen kann, müssen wir doch davon ausgehen, daß diese Angabe den Tatsachen entspricht. Daher haben wir beschlossen, dir die zwölf Galleonen zur Teilnahme am ministeriellen Apparierkurs zum siebzehnten Geburtstag mit dieser Wundertruhe nützlicher Sachen zu schenken. Wir möchten nämlich nicht einsehen, warum wir alle diesen Kurs machen dürfen oder bereits apparieren können und du das nicht lernen darfst. Sicher, du könntest sagen, daß du das nicht lernen willst. Dann darfst du die zwölf Galleonen gerne für etwas anderes ausgeben. Aber wir wissen ziemlich sicher, daß du ja auch schon darauf brennst, diesen Kurs hinter dich zu bringen und die Prüfung zu bestehen, um am Schuljahresende schon ohne Einschränkung apparieren zu dürfen. Daher finden wir, daß dieses Geld gut angelegt ist und wünschen dir für das nun anstehende Leben als richtige Hexe alles gute und all die Freiheit, die du brauchst, um es führen zu können." Die, welche das Geschenk überreicht hatten, lächelten erfreut. Laurentine schien fast in ihrem Stuhl zu versinken. Rührung und auch eine gewisse Unsicherheit zeichneten ihr Gesicht. Dann strahlte sie jedoch und stieß aus: "Ich hab's euch glaube ich schon am Montag gesagt, daß ihr wohl nicht zu retten seid. Aber vielen vielen Dank! Darf ich meinen Eltern nur nicht erzählen."
"Es ist höchst bedauerlich, daß Schüler für einen Mitschüler zusammenlegen müssen, wo die Schülerin gutsituierte Eltern besitzt und nicht um jeden Knut betteln müßte", sagte Madame Faucon dazu. "Verhält es sich ernsthaft so, was die Verfasser dieser Mitteilung erwähnt haben, Mademoiselle Hellersdorf?"
"Sie meinen, daß meine Eltern mir den Apparierkurs nicht bezahlen wollen und mir dafür auch kein Geld gelassen haben? Da ich das eigentlich nur Céline erzählt habe und eigentlich nicht wollte, daß das in Beauxbatons rumgeht", wobei sie Céline mit einem tadelnden Blick bedachte, "dürfen Sie davon ausgehen, daß es zutrifft. Meine Eltern haben erfahren, daß dieser Kurs im sechsten Schuljahr angeboten wird und sofort gesagt, daß ich das auf keinen Fall machen soll. Weil, wenn ich das nicht lerne, käme ich auch nicht auf die Idee, einfach so aus dem Haus zu verschwinden oder ohne Vorwarnung bei unseren Verwandten aufzutauchen oder gar auf Sachen wie Auto oder Flugzeug zu verzichten. Ich denke, meine Eltern haben nur Angst, daß wenn ich das kann auch andere von meiner Schule direkt bei ihnen im Wohnzimmer auftauchen könnten. Dabei habe ich denen erzählt, daß es da genauso Verkehrsregeln gibt wie beim Autofahren oder für Fußgänger und ein Haus auch in der Zaubererwelt ein geschützter Raum ist, in den man nicht ohne Erlaubnis eindringen darf, auf welche Weise auch immer. Da kam mein Vater mir halt mit dem Spruch von der Versuchung und das Macht ja immer korrumpiere. Er kennt eben Geschichten, wo Leute, die durch eine Erbveränderung zeitlos ihren Standort wechseln können, als besondere Einsatztruppen oder gefährliche Gegenspieler auftreten, gegen die nur besondere Kraftfelder helfen, um sie ein- oder auszusperren. Er denkt also, daß ich dann eben nicht mehr im Haus zu halten bin. Und ich muß sagen, daß er da sogar recht hat. Ich habe hier lernen dürfen und müssen, wohin ich gehöre und werde, nur weil ich in den Ferien bei meinen Eltern wohne, nicht aufhören, mit den Leuten Kontakt zu halten, die für mich wichtig geworden sind. Genau deshalb wollen meine Eltern mir diesen Kurs nicht bezahlen. Sie gehen einfach davon aus, daß keiner sich drum kümmert, ob ich das lerne oder ob mir die Schule sowas vorstreckt, daß ich es später nachzahlen kann oder so. Deshalb erzähle ich denen das auch nicht, genausowenig was es mit dem Bild auf sich hat", erwiderte Laurentine. Madame Faucon nickte, wenngleich sie wohl Bedenken hatte, den eigenen Eltern gegenüber Heimlichkeiten zu hegen. Andererseits kannte sie Laurentines Eltern und wußte, daß diese es immer noch nicht aufgegeben hatten, ihre Tochter aus der Zaubererwelt herauszuholen. Die hätte sich deren Druck wohl auch weiterhin brav unterworfen, wenn Claires viel zu frühes Ableben ihr nicht gezeigt hätte, was Claire ihr alles beizubringen geschafft und von ihr erwartet hatte. Auch Julius dachte daran, daß Laurentine sich erst in Claires letzten körperlichen Lebensmonaten wirklich in die Schulsachen reingekniet hatte und nach der Beerdigung in Millemerveilles eine 180-Grad-Wende hingelegt hatte, die ihren Eltern wohl sehr unheimlich vorkommen mußte. Jetzt war sie stellvertretende Saalsprecherin und hatte vorzeigbare ZAG-Ergebnisse erzielt. Er dachte an seinen Vater, der sich wohl auch die Haare gerauft hätte, wenn Julius wider dessen Wunsch noch mehr Zauberei gelernt hätte, ja sogar eine Hexe geheiratet hatte und mit dieser in etwas mehr als einem Jahr an die Familienplanung gehen würde. Wegen dem saß er jetzt hier in Beauxbatons, wußte er. Alles, was ihm in den letzten nun etwas mehr als drei Jahren widerfahren war hatte Richard Andrews mitzuverantworten, also auch indirekt Claires und Aurélie Odins Verschmelzung zu Ammayamiria. Sollte es wirklich sowas wie ein Schicksal geben, daß großes mit den Menschen vorhatte? Auch Marie Laveaus wahrgewordene Zukunftsvisionen konten ihn nicht ganz davon überzeugen, irgendeiner höheren Macht unterworfen zu sein, die ihn auf einen vorgezeichneten Weg trieb, von dem er nicht abweichen konnte. Die Welt war ein Gebilde aus Millionen Zufällen, die immer wieder neue Grundlagen erzeugten und damit neue Möglichkeiten zufälliger Ereignisse. So dachte Julius, während Laurentine sich bei jedem einzeln für die Geschenke bedankte, bis sie bei ihm anlangte.
"Ich bin mir sicher, daß Claire heute bei uns ist und sich freut, daß ich trotz meiner Betonköpfigkeit der ersten Jahre doch noch Freunde gefunden habe, denen es wichtig ist, alles zu machen, was ich hier lernen kann. Danke, Julius!"
"Claire ist immer bei uns, Laurentine. Sie ist immer da, wo Leute sie kennen und wissen, was sie gewollt hat", erwiderte Julius Latierre. Er fühlte keine Traurigkeit. Im Gegenteil. Er war froh, Claires Vermächtnis weiterzuführen und ihrer Freundin Laurentine einen freien Weg in die Zaubererwelt zu verschaffen. Vielleicht bildete er es sich ein. Aber als er an seine erste feste Freundin und Verlobte dachte, sah er hinter Laurentines Platz eine schwache, rotgoldene Erscheinung, ein weibliches Gesicht, das sehr zufrieden und warmherzig lächelte. Es dauerte nur einen winzigen Moment, dann sah er es nicht mehr. Also war sie, Ammayamiria, tatsächlich auch unter den Festgästen gewesen oder hatte nur einmal kurz nachgesehen, wie glücklich Claires frühere Schulkameraden waren. Es konnte aber eben auch nur Einbildung sein. Deshalb und weil nur er die Erscheinung würde sehen können, verlor er darüber kein Wort.
Nach dem großen Geschenkeauspacken ging das Fest mit Musik und Tanz weiter, wobei die Mädchen die tanzmüden Jungen dazu trieben, Dreiergruppen mit ihnen zu bilden, um den Herrenmangel auf der Tanzfläche auszugleichen. So fand sich Robert mit den Dornier-Schwestern zu einer Gruppe zusammen, während Sandrine und Béatrice mit Gérard tanzten, André mit Irene und Jasmine ein Trio bildete und Julius mit Mildrid und Belisama tanzte. Dann wechselten die Partner, und Julius tanzte mit Laurentine und Estelle. Das Zauberradio spielte die passende Musik dazu. Als dann aber ein flotter Musettewalzer erklang, bestand Madame Faucon auf die hergebrachte Tanzordnung und klatschte Julius ab, mit dem sie zum allgemeinen Erstaunen einen temperamentvollen Tanz aufführte.
"So, ich fürchte, für mich wird es jetzt Zeit. Ich muß morgen noch ein paar Termine für die kommende Woche ausarbeiten", sagte Madame Faucon. "Monsieur Latierre, Sie übergeben mir bitte morgen früh um zehn Uhr den Schlüssel. Sorgen Sie bitte dafür, daß dieser Raum in dem Zustand übergeben wird, in dem sie ihn vorgefunden haben! Gute Nacht zusammen!" Alle grüßten im Chor zurück. Sie hatten noch eine halbe Stunde Zeit.
Zehn Minuten vor der gesetzten Frist gingen alle daran, die Spuren des Festes zu beseitigen, was mit Ratzeputz und Schrumfzaubern eine Sache von nur drei Minuten war. Dann hob Julius die Nordseestrandillusion mit "Revoco Realitatem!" wieder auf und verabschiedete sich von seiner Frau und den Gästen aus den anderen Sälen.
Später im grünen Saal schlossen sie das Geburtstagsfest noch mit einer Runde Honigwein für alle ab, die über fünfzehn waren. Durch die Feier fand ja heute keine Bettkontrolle statt, und somit waren auch die Leute aus den unteren Klassen aufgeblieben, was die Saalsprecher problemlos hingehen ließen.
Vailadorat hatte Angst. Der so mächtige Adlermensch wußte genau, daß seine Zeit ablief. Würde er den Erwecker der Stimme des Schöpfers nicht innerhalb des laufenden Mondkreises aufspüren, würde er entweder durch die grüne Sphäre in die Tiefen der unter ihnen gähnenden Leere gestoßen oder seiner Schwingen beraubt die letzten Monde oder Sonnen seines Lebens in der Grube der Geächteten zubringen, wo nur das Gesetz der Stärkeren galt und einige wohl noch lebten, die ihn als Diener des Königspaares stellvertretend für alle Burgwächter drangsalieren würden, bis er starb, um ihn dann als Frischfleisch zu vertilgen. Der Aufrührer Acropsat und seine beiden Flügelträger Garrandarr und Iwinghir bestimmten nun über jedes Leben in der Burg, die niemand findet. ihm, dem Weltenwächter, war es erlaubt worden, mit den anderen Weltenwächtern nach dem Ort zu suchen, an dem er wohnte, der Erwecker der Stimme des Schöpfers. Da die Burg, die niemand finden kann über dem größten Wasser der gewölbten Welt unter ihnen kreiste, war es ein weiter Weg, um jenen Kreis aus mit der Kraft gefüllten Steinen zu erreichen, aus dem heraus er damals diesen flügellosen Jüngling herausgeholt hatte. Hierfür durfte er einen der noch lebenden Wolkenhüter reiten, dessen blaue Lichtumhüllung es erlaubte, daß er zehnmal schneller als jeder Laut durch die Luft brausen konnte. Als sie die in Mittagsrichtung weisende Spitze jener Halbinsel sehen konnten, auf der jener Steinkreis war, ließ Vailadorat den Wolkenhüter verzögern. Nur noch mit vierfacher Lautgeschwindigkeit durchpflügte der graue Riesenvogel mit den wild wirbelnden Flügeln die dichte Lufthülle, die wie ein Mantel aus Wasser und Wärme auf die runde Welt drückte, die beim Abstieg immer flacher zu werden schien. Nur die Grenze zwischen Oberfläche und der Welt der Luft zeigte, daß sie nicht auch eckig oder gar unendlich weit wurde. Der dunkle Himmel wurde nun heller, weil das Himmelsfeuer sich in immer dichterer Luft zerstreute und sie blau aufleuchten ließ. Dann sah Vailadorat mit seinen scharfen Augen etwas, daß ihm Wut und Unbehagen zugleich bereitete. Knapp fünftausend Längen über der harten Oberfläche der runden Welt jagte einer jener schnellen Eisenvögel dahin, welche die in die Barbarei zurückgefallenen Nachkommen des Schöpfervolkes erfunden hatten, um gegen die ihnen bestimmte Lebensweise zu verstoßen und ohne Flügel zu fliegen.
Capitán Pedro Ernesto Suárez Molinar diente schon zwanzig Jahre bei der spanischen Luftwaffe und hatte im Rahmen von NATO-Manövern mit vielen anderen Luftwaffenpiloten zusammengearbeitet. Dem erfahrenen Luftwaffenoffizier waren alle Typen von bemannten und unbemannten Fluggeräten der NATO sowie der ehemaligen Ostblockstaaten vertraut. Doch als er an diesem Tag in seiner F-16 über dem spanischen Teil des Baskenlandes Patrouille flog zweifelte er an seinem Sehvermögen. Er wollte gerade an seine Bodenstation durchgeben, daß in seinem Planquadrat nichts besonderes zu sehen war, als er das blaue Licht auf elf Uhr schimmern sah, das sich vom Blau des Himmels abhob und sich mit großer Geschwindigkeit bewegte. Er peilte den Höhenwinkel des auf ihn zukommenden Leuchtens an und schätzte die Größe im Bezug zu den ihn bekannten Bergen, deren Abstand er mit dem Radar erfassen konnte. Merkwürdigerweise zeigte ihm die Funkmeßvorrichtung kein fliegendes Objekt an, das knapp sechstausend Meter über Grund flog. Im Gegenteil. Er glaubte schon, daß in der angepeilten Richtung die gerade noch sichtbaren Radar-Echos der Berggipfel verschwammen, regelrecht zerflossen, um eine Sekunde später wieder klar und deutlich auf dem kleinen Sichtschirm zu stehen. Capitán Suárez Molinar klappte das Mikrofon seines Sprechfunkaufsatzes vor den Mund und drückte die Sendetaste des Funkgerätes.
"Kontrollflug Alpha vier drei neun Lima, ich melde unbekanntes Flugobjekt Richtung San Sebastian. Kein Radarkontakt. Höhe nach optischer Peilung achtzehntausend Fuß über Grund. Optisch geschätzte Geschwindigkeit Mach vier plus. Erbitte Instruktionen!"
"vier neun drei Lima, wiederholen Sie Ihre Meldung!" Kam die von atmosphärischen Störgeräuschen durchsetzte Anweisung. Der Pilot gab die von ihm geschätzten Werte noch einmal durch und bekräftigte, keinen Radarkontakt zu dem entdeckten Flugkörper zu haben. Er dachte jetzt schon, es womöglich mit einem außerirdischen Flugobjekt zu tun zu haben. Denen traute er zu, sich gegen Radarstrahlung abzuschirmen. Dann sah er das blaue Leuchten näherkommen und erkannte es als große Blase aus Licht, in der etwas mit schemenhaft schwirrenden Flügeln steckte, das wie ein großer, grauer Vogel aussah, der ähnliche Abmessungen wie seine F-16 besitzen mochte. Er hätte jetzt noch an ein ihm nicht bekanntes Flugzeug glauben mögen. Doch als er sah, daß auf der Oberseite des auf ihn zurasenden Flugkörpers etwas saß, das Ähnlichkeiten mit einem Menschen hatte, so daß es sofort auf ihn wirkte, als reite jemand dieses Etwas durch die Luft, dachte er zu träumen. Denn bei der geschätzten Geschwindigkeit konnte sich kein Mensch oder sonstiges auf einem Flugzeugrücken halten. Da er immer noch kein Radarbild von dem unbekannten Flugobjekt auf dem kleinen Bildschirm sah beschloß Capitán Suárez Molinar, dem fremden Flugkörper entgegenzusteuern, auch wenn der Luftwaffenoffizier wußte, daß er was die Geschwindigkeit anging hoffnungslos unterlegen war. Denn seine F-16 vermochte in nominaler Flughöhe gerade etwas mehr als doppelte Schallgeschwindigkeit zu erreichen, während dieses fremde Objekt seiner Einschätzung nach schon viermal so schnell wie der Schall unterwegs war. Er aktivierte die bordeigene Videokamera, um eine Aufnahme des UFOs zu machen. Denn sonst würde ihm niemand diese Sichtung abkaufen. Dann paßte er Kurs und Steigungswinkel dem fremden Flugkörper an.
Die Wiedergabe des Kamerabildes zeigte ihm nun überdeutlich, was da auf ihn zuflog und nun, da er ihm direkt auf die Pelle rückte, nach oben hin auszuweichen trachtete. Er sah einen grauen Vogel, der fast genauso groß war wie seine vierzehn Meter lange Jagdmaschine. Doch die Flügel bewegten sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, daß er sie nur als wirbelnde Schemen ausmachte. Er hoffte auf die Hochgeschwindigkeitsfähigkeit der Kamera. Immerhin konnte er das Ding auf dem Videoschirm sehen. Sollte er die Maschinenkanone im Bug entsichern oder gar die Wärmequellen suchenden Sidewinder-Raketen scharfschalten? Er aktivierte die Infrarotsensoren seiner Maschine. Doch dieser Riesenvogel strahlte wenig bis gar keine Wärme aus. Das blaue Leuchten flirrte, als bestehe es nicht aus einem festen Stoff, sondern sei reine Energie. Der Luftwaffenpilot hatte den Science-Fiction-Film "Independence Day" gesehen und kannte auch die alte Raumschiff-Enterprise-Serie. Deshalb dachte er sofort an einen Energieschirm, der den Fremden vor feindlichen Waffen schützte. Vielleicht bot dieses blaue Leuchten auch eine verbesserte Aerodynamik, die ihm diese unglaubliche Fluggeschwindigkeit erlaubte. Wie dem auch sei, mit ihm bekannter Militärflugtechnik hatte dieses Etwas da überhaupt nichts gemeinsam. Er konzentrierte sich auf das, was wie ein Reiter auf dem Rücken aussah und verzog erneut das Gesicht, als er den in einem merkwürdigen Umhang steckenden Fremden genauer ansah. Er erkannte, daß der Fremde einen Vogelkopf mit einem gekrümmten Schnabel wie ein Adler und ein Paar mächtiger Flügel auf dem Rücken besaß. Das konnte es doch nicht wirklich geben. Dann dachte er wieder an die blaue Leuchtblase, die womöglich die vorbeiströmende Luft um den Reiter herumlenkte, so daß er sich auch bei dieser enormen Geschwindigkeit sicher auf dem Rücken des unnatürlichen Reittieres halten konnte. Das konnte nichts von der Erde sein. Entweder kam es von den Sternen oder aus dem Himmelreich oder der tiefsten Hölle. All das schwirrte dem Capitán durch sein auf scharfe Beobachtung und blitzschnelle Entscheidungen trainiertes Gehirn.
Der Überschallvogel wich der Maschine aus, die nun mit gezündetem Nachbrenner mehr Fahrt aufnahm. Suárez Molinar funkte an seine Basis, daß er das unbekannte Flugobjekt im Steigflug verfolgte, aber ihm nicht auf den Fersen bleiben könne, da es weit schneller als er selbst sei. Er hörte das wilde Dröhnen des Triebwerks, das mit Höchstwerten beschleunigte. Doch der Abstand zum Ziel wuchs von Sekunde zu sekunde um mehr als einen Kilometer an. Das Etwas war bereits außerhalb der Bordwaffenreichweite. Er könnte noch eine der Raketen abfeuern, um das UFO zu treffen. Doch zum einen hatte ihm keiner die Freigabe zum Waffengebrauch erteilt. Zum anderen ahnte er, daß dieses Etwas da vor ihm womöglich zum einen einen Raketenangriff abwehren oder durch Ausweichmanöver abschütteln konnte und zum anderen eine eigene Bewaffnung besaß, die genauso überlegen war wie Antrieb und Wendigkeit. Der Militärpilot fragte sich, womit dieses Etwas betrieben wurde. War es Atomenergie? Er sah keinen Abgasstrahl, nur die wild schwirrenden Flügel, deren genaue Form er so nicht einmal erahnen konnte. Dann war das unbekannte Flugobjekt auch schon wieder auf achttausend Metern Höhe. Da tat es etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Es brach den rasanten Steigflug ab, vollführte ein halsbrecherisches Wendemanöver und stieß schneller als durch reine Schwerkraftbeschleunigung nach unten zurück. Der Pilot wunderte sich nicht schlecht. Er funkte die neue Lage an seine Basis, wo man vielleicht schon die Leute mit der Zwangsjacke alarmiert hatte, um ihn nach der Landung sicher wegzuschließen. Aber da er dieses Objekt noch sah war es für ihn die Wirklichkeit. Es stürzte mit immer größerer Geschwindigkeit auf ihn zu. Jetzt geriet es in die Reichweite seiner Bordkanone. Sollte er schießen?
"Vermute, daß unbekanntes Flugobjekt in dieser Gegend bleiben will. Erbitte Feuererlaubnis für Bordwaffen!" Rief Suárez Molinar in sein Fliegermikrofon.
"Nicht schießen! Ich wiederhole, keine Feuererlaubnis, Capitán Molinar!" Bellte ihm die befehlsgewohnte Stimme seines Basiskommandanten General Castillo Vargas aus den Kopfhörern in die Ohren. Da raste das UFO wie eine blaue Sternschnuppe unter der F-16 hindurch und stürzte auf die Erde zu. Suárez Molinar vollführte eine Wende, bei der er mit seinem achtfachen Körpergewicht in den Pilotensitz gepreßt wurde. Nur die Fliegerkombination bewahrte ihn davor, daß sein Blut vom Kopf in die Beine schoß. Er richtete die Nase der F-16 auf den niedergehenden Fremdkörper aus und jagte die Maschine mit maximalbeschleunigung nach unten. Da er nun nicht mehr gegen die Erdschwerkraft ankämpfte erreichte er im direkten Sturzflug eine höhere Beschleunigung als beim Steigflug. Doch selbst diese enorme Beschleunigung war lächerlich wenig im Vergleich zur rapiden Sinkgeschwindigkeit des Riesenvogels und seines geflügelten Reiters. Das war eindeutig nichts natürliches, nichts aus der bekannten Tierwelt und auch nichts von Menschenhand. Er dachte daran, daß seine Leuchtspurmunition dem Fremden vielleicht zugesetzt hätte. Doch dann fiel ihm wieder der blaue Energieschirm ein. Hätte dieser die Geschosse abgelenkt? Jedenfalls mochte das blaue Kugelfeld die Funkwellen des Radars schlucken, die die F-16 pausenlos auf das unbekannte Objekt abstrahlte. Suárez Molinar hielt den Kurs und die Sturzflugbeschleunigung gerade so lange aufrecht, bis der Riesenvogel und sein Reiter nur noch ein leuchtender Punkt waren. Er versuchte zwar noch, das UFO zu verfolgen. Doch nun flog es mit mehr als vierfacher Schallgeschwindigkeit davon und ließ ihn wie beiläufig zurückfallen. So blieb dem Kampfpiloten, der schon so viele verschiedene Luftkampfmanöver geflogen und diverse Flugzeug- und Lenkwaffentypen studiert hatte, seine Heimatbasis zu verständigen, daß er die Fühlung mit dem unbekannten Flugobjekt verloren hatte. Denn gerade verschmolz der blaue Lichtpunkt für den Luftwaffenoffizier mit dem Horizont.
"Senden Sie uns das Bildmaterial!" Befahl General Castillo Vargas. Suárez Molinar bestätigte den Befehl und schaltete die Videokamera von Aufnahme auf Funkübermittlung um, um die eingefangenen Bilder an den Fliegerhorst zu übermitteln. Er hoffte nur, daß die Bilder nicht wie das Radargerät von elektronischen Störgeräten verfälscht worden waren. Er erhielt die Order, seine Heimatbasis anzusteuern.
Luiz Armiño Gotaclara gehörte zum Tierwesenbüro des spanischen Zaubereiministeriums und war seit Februar diesen Jahres besonders auf Sichtungsmeldungen aus der Muggelwelt angesetzt. Seitdem damals die Schlangenwesen des Schwarzmagiers Voldemort über Europa hergefallen waren und dieser plötzlich aufgetauchte Schwarm grauer Riesenvögel, die schneller als der Schall fliegen und sonnenheiße Blitze aus ihren Schnäbeln speien konnten diese Pest ausradiert hatte, waren die Überwacher immer auf dem Posten. Die Ruhe nach dem Ende der Schlangenwesen und das Verschwinden der Bienenmenschen Sardonias hatten Gotaclara und seine Mitarbeiter nicht einlullen können. Denn zu viele Fragen waren unbeantwortet. Gab es die Insektenmonster nicht mehr? Wenn doch, wo hatten sie sich versteckt? Woher waren die Riesenvögel gekommen? Würden sie jemals wiederkehren? Waren wirklich alle Schlangenkreaturen getötet worden? Abgesehen davon wußten auch die Spanier, daß durch den Vampir Volakin eine neue Bedrohung aufgezogen war. Meldungen von angeblich in Sevilla aufgetauchten blauen Blutsaugern, die ebenso mysteriös von der Bildfläche verschwunden waren, sowie die Meldungen über die amerikanische Vampirin Nyx und die Suche nach der in Spanien weiterhin hausenden Abgrundstochter hielten die Zaubereiverwaltung in Atem. So bedurfte es keiner großen Mühe, die Beobachter in der Muggelwelt in höchste Alarmstimmung zu versetzen, als ein Agent des Zaubereiministeriums bei der Luftraumüberwachung vermeldete, ein Offizier der Luftwaffe habe einen der grauen Riesenvögel in einer blauen Leuchtblase gesichtet und sogar Laufbildaufzeichnungen davon gemacht. Alle Angaben stimmten. Das Wesen konnte schneller als der Schall durch die Luft fliegen und hüllte sich in eine blau leuchtende Energiesphäre, die ihm diese Geschwindigkeit und den Flug in großen Höhen ermöglichen mochte. Auch die ungefähre Beschreibung des mit wilden Flügelschlägen dahinfliegenden Geschöpfes traf zu. Fehlte nur noch die klare Aufzeichnung. Gotaclara hatte sich unverzüglich mit dem Luftraumüberwachungsüberwacher bei San Sebastian im bergigen Baskenland getroffen, wo der Kampfflugzeugpilot seine Landebasis hatte.
Sergio Monteverde war Muggelstämmiger und hatte seine Abstammung als beste Voraussetzung genutzt, um sich als Major der Luftwaffe Zugang zu wichtigen Posten und Räten zu verschaffen. Im Moment trug er die seinem erschlichenen Militärrang entsprechende Offiziersuniform, als er Gotaclara knapp zwanzig Kilometer vom Fliegerhorst bei San Sebastian antraf.
"Ist dieser Capitán Suárez Molinar schon wieder gelandet?" Fragte Gotaclara und wischte sich eine hartnäckig ins Gesicht fallende graue Strähne von der rechten Wange. Monteverde schüttelte den Kopf.
"Der General hat ihm zwar die Landung befohlen, dann aber erst die Aufzeichnung haben wollen, die kam gerade über verschlüsselte Satellitenleitung rein. Die Yankees waren ja echt nett, uns auch über ihre Geheimrelais funken zu lassen. Als er die Bilder sah hat er dem Piloten befohlen, in der Luft nachzutanken und die Gegend weiter zu überwachen, wo dieser Vogel oder was es war aufgekreuzt ist, Luiz."
"Hast du diese Bilder erwischen können oder liegen die noch auf dieses Magnetband gezogen bei euch herum?"
"Ich habe eine Kopie und die besten Aufnahmen über Laserdrucker auf Papier werfen lassen. Hier, Luiz", sagte der Überwachungszauberer und förderte einen Packen dünnes Papier mit gelochten Randstreifen aus seiner dunkelblauen Aktentasche. Gotaclara nahm das hauchzarte Papier und blickte auf die oberste Seite. Von dieser blickte ihn ein grauer Riesenvogel, nur leicht verhüllt durch eine kugelförmige Lichtblase entgegen. Er sah auch den adlerköpfigen Reiter, der seine eigenen Flügel auf dem Rücken zusammengefaltet hatte und sich sicher im Sattel hielt, an den er mit einer Art Sicherheitsgurt festgeschnallt saß.
"Sie sind wieder da, tatsächlich. Hier, die Flügel sind selbst bei der Einzelaufnahme noch unscharf zu erkennen, so schnell schlägt dieses Geschöpf damit. Da kann eine Mücke glatt vor Neid aus der Luft fallen", knurrte Gotaclara.
"Dabei nimmt die Kamera schon fünfhundert Bilder pro Sekunde auf, um Überflugbilder oder Luftkampfdokumentationen zu ermöglichen", meinte Monteverde. "Aber die Superhochgeschwindigkeitskameras sind das leider nicht. Die sind in den echten Aufklärern drin. Aber hier hat er den Reiter mit Zoom, also mit Bildvergrößerungsvorrichtung erfaßt", wies er auf die übernächste Seite hin, wo der Kopf des adlerköpfigen Reiters besonders groß zu erkennen war. Gotaclara prüfte das Bild und nickte. "Diese Species ist der modernen Zaubererwelt völlig unbekannt. Es wird zwar behauptet, daß die grauen Vögel von solchen Wesen gehütet werden. Aber zwischen Behauptung und Beweisen liegen ja Welten. Auf jeden Fall müssen die Gedächtnisse aller derer, die dieses Wesen gesehen haben modifiziert werden und die Aufnahmen müssen verschwinden. Wenn die Muggels glauben, wir hätten es womöglich mit feindlichen Eindringlingen aus einem anderen Sonnensystem zu tun könnten die ihre ganzen Truppen in Marsch setzen."
"Wenn ich das richtig mitbekommen habe konnte dieser Capitàn Molinar den Vogel nicht einholen. Er bot zwar an, eine Rakete auf ihn abzufeuern. Doch das hat General Castillo Vargas ihm streng untersagt. Womöglich hat er seinem Untergebenen damit sogar das Leben gerettet. Wenn es wirklich einer dieser Vögel ist, die die Schlangenkreaturen in Frankreich, England und auch bei uns attackiert haben ..."
"Hätte dieses Ungetüm ein Jagdflugzeug der Muggel sicher mühelos einäschern können", vervollständigte Gotaclara und ließ den noch zusammenhängenden Packen Ausdrucke in seiner eigenen Aktentasche verschwinden. "Wenn dieser Flieger nicht landet kommen wir nicht an ihn heran. Und er könnte weitere Aufzeichnungen verschicken. Wenn wir jetzt alles verschwinden lassen werden sie argwöhnisch und fragen erst recht, was gespielt wird. Ich muß das dem Minister selbst melden, Dienstweg null. Sie bleiben in der Basis und melden dem Minister direkt, wenn dieser Suárez Molinar wieder auf der Erde ist!"
"Ja, Luiz", erwiderte Monteverde und disapparierte. Gotaclara verschwand gleichfalls, um im Foyer des Zaubereiministeriums in Madrid zu erscheinen. Es dauerte nur eine Minute, da stand er vor Zaubereiminister Pataleón und machte Meldung.
"Nur einer, Luiz?" Fragte der sonst so behäbig wirkende Zauberer, der schon seit mehr als zehn Jahren der oberste Chef der Zaubereiverwaltung Spaniens war. Gotaclara nickte und ging auf Einzelheiten des Berichtes ein.
"Ich hör mich mal um, ob es noch mehr Sichtungen gibt. Vielleicht suchen diese Riesenvögel etwas, was sie bei ihrem Großangriff zurückgelassen haben. Daß sie Reiter tragen ist sehr sorgfältig festzuhalten. Mir ist so, als hätte ich von diesen geflügelten Menschen schon gehört. Könnte mit Atlantis zusammenhängen."
"Bei allem Respekt, Don Rodrigo, aber Atlantis hält für jedes unerklärte Ding her, das wir oder andere in den letzten Jahrhunderten zu sehen bekamen, ohne daß wir bis heute eine absolute Bestätigung für die Existenz dieses vormesopotamischen Kulturkreises bekommen haben."
"Was nicht heißt, daß es Sachen gibt, die älter als unsere magische Geschichtsschreibung sind und in Vergessenheit ruhen. Die Schlangenmenschen und die Riesenvögel könnten in einem besonderen Überdauerungsschlaf zugebracht haben. Als die Schlangenkreaturen aufgeweckt wurden, erwachten auch die Riesenvögel, wohl erklärte Erzfeinde der Schlangenbestien. Sie könnten die Quelle für die Sagen von den Nagas und dem Göttervogel Garuda geboten haben, die im süd- und südostasiatischen Kulturkreis zum festen Bestandteil der Mythologien gehören. ich werde mich mit Fernando Riofuerte von der Liga gegen dunkles Zauberwerk beraten. Der hatte damals schon den Verdacht, es mit lebenden Relikten des versunkenen Reiches zu tun zu haben. Sie kehren unverzüglich in Ihr büro zurück und erwarten dort meine weiteren Anweisungen. Sollte eine großangelegte Gedächtnis- und Aufzeichnungsveränderung anliegen, werde ich Sie früh genug darüber informieren. Bis dahin kein Wort zu anderen Kollegen!"
"Zu Befehl, Señor Ministre", bestätigte Gotaclara und verließ das Büro des Ministers. Dieser setzte sich wieder in seinen Sessel und blickte kurz durch jedes der vier magischen Spitzbogenfenster, die eine Projektion der Aussicht boten, die an der Erdoberfläche möglich war. Er blickte auf die Bäume des Retiro-Parkes, unter dem das Ministerium für Magie weit unter dem tiefsten Metroschacht angelegt war. Pataleón dachte daran, warum ausgerechnet ein einziger Vogel mit einem adlerköpfigen Reiter aufgetaucht war. Suchte der was? Warum ausgerechnet in Nordspanien? Er erinnerte sich, daß es dort einige uralte Plätze gab, an denen archaische Magie gewirkt worden war, Steinkreise der Kelten, die auch die iberische Halbinsel erreicht hatten. Er dachte daran, daß vor allem ein mächtiger Steinkreis besonders interessant war, nicht so berühmt wie das englische Stonehenge, aber nichts desto trotz machtvoll. Denn die Einrichtung vermochte, jede Art von Zauber zu kanalisieren, so daß die Magie sich nur vertikal zur inneren Kreislinie ausbreiten konnte und jeder von außen kommende Zauber um das jungsteinzeitliche Monument herumgeleitet wurde. Wer sich dort aufhielt konnte unaufspürbar zaubern, sofern er seine Magie nur auf kleinem Raum oder direkt in Verbindung mit dem Himmel oder dem Erdboden wirken wollte. Das mußte doch was zu bedeuten haben, wenn dieser Riesenvogel genau in dieser Gegend herumflog. Er dachte daran, daß man diesen Riesenbrathahn wohl nur deshalb überhaupt bemerkt hatte, weil gerade in dem Moment einer dieser Düsenflieger der kriegerischen Muggel über dem Gebiet die Luft verräucherte. Das mochte ein Jahrtausendzufall sein. Jedenfalls wollte Pataleón den Stier bei den Hörnern packen. Er kontaktfeuerte mit Riofuerte, dem madrilenischen Kontaktzauberer zur Liga gegen dunkles Zauberwerk und bat ihn höflich, ihn doch mal zu besuchen, wenn er was interessantes sehen wolle und womöglich was sehr nützliches beitragen könne. Keine zehn Minuten später fauchte ein spindeldürrer Zauberer mit wolkengrauer Bürstenfrisur und froschartig dicken Brillengläsern aus dem Kamin des Zaubereiministers. Er klopfte sich die Asche vom stahlblauen Umhang und wartete höflich, bis Pataleón ihm einen Platz angeboten hatte.
"Hier, Fernando, guck dir das mal an!" Sagte der Zaubereiminister und schob ihm die Ausdrucke der ausgefilterten Video-Aufnahmen zu.
"Caramba! Einer der grauen Piepmätze, die im Februar die Schlangenbrut des Irren aufgepickt hat", knurrte Riofuerte und faltete die Seiten auseinander. "Muggelpapierzeug, womöglich aus diesen Rechnerdingern rausgerutscht, wie?" Schimpfte er, weil er mit den zusammenhängenden Seiten zu kämpfen hatte. Pataleón grinste, nahm die hauchdünnen Papierblätter noch einmal, riß ratschend die gelochten Randstreifen ab und pflückte behutsam aber schnell die Seiten auseinander, stellte fest, daß sie durchgehend nummeriert waren und sortierte sie für den Besucher. Dann ließ er diesen noch einmal alles betrachten.
"Ich hab's dir ja erzählt, Rodrigo, daß diese schnellen Federwische bestimmt eine Erbschaft aus dem alten Reich sind. meine Kameraden hier und im Ausland sind sich da ja ganz sicher, daß die als Gegenmacht zu diesen Schlangenungeheuern gezüchtet worden sind. Wo hat der Flattermann sich rumgetrieben?" Pataleón deutete auf den unteren Rand jeder Seite, wo von der GPS-gestützten Kamera netterweise der Standort in den üblichen Zahlen festgehalten worden war und auch die Höhe über Grund in britischen Fuß ausgewiesen wurde. Dann erklärte er ihm, was in der Gegend interessantes lag.
"Natürlich, der große Dreierring. Ist der also doch wohl älter als wir dachten", schnarrte Riofuerte. "Dann würde es mich nicht wundern, wenn dieser Adlermensch auf dem Riesenvogel genau dahin wollte und dieser Muggelflieger ihn gestört hat. Jetzt willst du, daß ich da hingehe und aufpasse, ob der graue Riesenbrathahn da hinkommt?"
"Hui, hast du mich legilimentiert? Genau den Vorschlag wollte ich dir machen. Aber ich wollte doch noch fragen, ob du oder wer von deinen Kameraden das erledigen kann. Ich könnte zwar selbst wen abstellen, um den Steinkreis zu überwachen, müßte das aber dann genauer begründen. Ihr könnt ja weiter die eingewirkte Magie von diesem Monument erforschen."
"Natürlich, Rodrigo. Wir dürfen mal wieder die unangenehme Kleinarbeit machen und dann, vielleicht, dem Ministerium berichten, ob es sich gelohnt hat", spottete Riofuerte gestenreich. Pataleón riß beide Arme hoch und stieß zurück, daß das Ministerium bisher immer davon ausgegangen sei, mit der Liga gegen dunkles Zauberwerk einvernehmlich zusammengearbeitet zu haben und er diesen Abend nicht mit dem Gedanken ins Bett steigen wolle, sich über alle Jahre geirrt zu haben.
"Ich stelle nur fest", erwiderte Fernando Riofuerte darauf, "daß ihr dann, wenn ihr euch nicht sicher wart, lieber uns in die entgegengestreckten Schwerter und Drachenfeuerstöße reingeschickt habt, um dann, wenn wir Erfolg hatten, den Löwenanteil vom Ruhm abzusahnen, Señor Pataleón. Man weiß zwar, daß es uns gibt, aber hält uns für einen schwachen, kleinen Haufen, der nur aus Gnade des Ministeriums das eine oder andere Erfolgserlebnis für sich verbuchen darf."
"Ey, willst du jetzt Krach mit mir, Fernando?" Polterte Pataleón. "Ich wollte dich nur höflich fragen, ob du oder einer oder zwei deiner Kameraden nachsehen könnt, ob dieser überzüchtete Sperling was auf den alten Steinkreis hat fallen lassen oder da nach großen Würmern pickt, seitdem die Schlangenkreaturen ja offenbar ausgegangen sind."
"Jetzt komm mir nicht noch sarkastisch, nur weil du Zaubereiminister bist, Rodrigo!" Schnarrte Riofuerte. "Du hast vorhin ein riesiges, offenes Scheunentor bei mir eingerannt, als du mich fragtest, ob ich mich da mal umsehen will. Jetzt bist du knapp davor, nicht nur dieses Tor zuzumauern sondern gleich noch einen Graben durch unsere jahrelange Zusammenarbeit und Freundschaft zu ziehen. War das jetzt wirklich nötig?"
"Entschuldigung, du hast damit angefangen, daß ihr meint, zu wenig von den gemeinsamen Erfolgen zu profitieren", wehrte Pataleón mit einer ausladend wegscheuchenden Armbewegung ab. "Es hätte völlig gereicht, wenn du meine Anfrage mit einem klaren Ja oder unmißverständlichem Nein beantwortet hättest."
"Oh, dann bist du unschuldiger als die Jungfrau Maria", stichelte Riofuerte. "Du kannst dir ja mal überlegen, mit wem du nach dem fälligen Abschied von Don Locazo neuen Krach haben möchtest, falls Sardonias irgendwie wiederverkörperte Nichte sich dir nicht dafür anbieten möchte."
"Die ist doch schon tot. Ihr habt doch behauptet, die hätte sich bei dieser Sache mit dem Strahlenvampir Volakin selbst eine zu hohe Ladung von diesen Todesstrahlen eingehandelt und würde wohl schon längst wieder da sein, wo sie hingehört, in der tiefsten Hölle."
"Wenn die da je war, Rodrigo. Falls ja, kam die da schon einmal wieder raus. Falls nein, könnte sie auch zukünftig davon wegbleiben", warf Riofuerte ein. Dann straffte er sich und sagte sehr laut: "Damit wir zwei es ganz klar wissen, ich gehe alleine zu den alten Steinen hin. Wenn der Piepmatz da ein Ei gelegt hat, lade ich dich und deine Familie zum Tortillafestschmaus ein."
"Wenn der sein Ei nicht mit allem verteidigt, was der hat und kann, du Klingelhut", brummte Pataleón verdrossen zurück. Riofuerte lachte darüber und wandte sich dem Kamin zu, ohne die Erlaubnis zur Abreise erbeten zu haben. Doch der Minister winkte ihm nur zu, nickte und sah, wie sein Besucher im grünen Flammenwirbel aus dem Kamin davonfauchte. Er fragte sich wieder einmal, warum er und Riofuerte sich immer wieder über irgendeine kleine Bemerkung anknurrten wie Straßenköter, die um einen vergammelten Knochen kämpften. Dabei zogen sie doch eigentlich am selben Strang. Leider hatte Fernando recht, daß nach dem Tod von Voldemort, den die Spanier ausweichend Don Locazo, den Überirren nannten, wieder mit eigenen Banalitäten herumplänkelten, obwohl es immer noch genug gab, was die Sicherheit und die Freiheit der Zaubererwelt bedrohte. Was die Wiederkehrerin anging, so war er sich da auch längst nicht so sicher, daß sie wirklich erledigt war. Falls doch, so mochte sie einer ihrer Helferinnen genug Anleitung gegeben haben, um in ihrem Sinne weiterzumachen, womöglich unter Verheimlichung ihres tatsächlichen Todes, um die Organisation im Zug zu halten. Pataleón kannte es, wie die Muggel damals erst Tage nach dem Tod des langjährigen Diktators Franco vom Ableben des Generalisimo erfahren hatten. Auch wußten sie nicht, wie die Wiederkehrerin ihre Wiederkehr überhaupt hinbekommen hatte. Falls sie ihre Seele ausgelagert hatte, so mochte sie beim Tod des neuen Wirtskörpers wieder ausgelagert werden und früher als beim letzten Mal wieder eine neue Hülle aus Fleisch, Blut und Knochen finden, um aufzuerstehen und weiterzumachen, womit auch immer. Es gab noch zu viele Fragen zu beantworten, die für die Sicherheit ausschlaggebend waren. Da sollte er sich nicht mit seinem stärksten außerministeriellen Verbündeten im eigenen Land herumzanken wie ein verlauster Straßenjunge mit einem Revierrivalen.
Es wurde Nacht über dem Steinkreis. Der Herbstwind schaufelte riesige Wolken zwischen Erde und Sternenzelt. So wurde es vollkommen dunkel. Fernando Riofuerte hatte sich seinen Kniesel Don Gritón mitgenommen, einen zwölfjährigen schwarzen Kater mit silbernen Punkten und einer buschigen, pechschwarzen Schwanzquaste. Weil seine Ohren besonders Spitz waren und seine Barthaare schon fast einem gegabelten Bart glichen, nannten seine Freunde den muskelbeladenen Knieselkater häufig auch Diablito, das Teufelchen. Doch weil er sein Revier, sein Futter und das Paarungsvorrecht immer mit ohrenzerfetzendem Geschrei verteidigte hielt Riofuerte den Namen Gritón, Schreihals, für angebrachter. Gerade wuselte der Kniesel um die äußeren Trilithen der alten Gesteinsformation herum und weigerte sich, ins innere des Kreises vorzudringen. Irgendwas blockierte Apparatoren, direkt im Zentrum des dreifachen Steinkreises zu erscheinen oder daraus zu verschwinden. Deshalb war Riofuerte hundert Meter außerhalb des äußersten Ringes aufgetaucht und zu Fuß in den konzentrischen Dreifachring eingedrungen.
Immer wieder spähte er durch das mit Scotopsin präparierte Fernrohr, mit dem er bis zu zwei Kilometer weit Gesichter und winzige Einzelheiten unterscheiden konnte. Allerdings mußte der liga-Zauberer feststellen, daß die dies ermöglichende Magie innerhalb des Steinkreises gestört wurde. Wenn er von innen nach außen blicken wollte, sah er eine silbern und blau flimmernde Wand, die ihn an den Rand des Irrsinns treiben könnte. Spähte er von draußen nach drinnen blickte er auf eine massive, sich schnell drehende Säule aus blauem Licht, das wohl deshalb so hell in seinen augen Stach, weil die Scotopsinbeträufelten Linsen das kleinste bißchen Licht um ein zigfaches verstärkten. Er konnte nur nach oben blicken, wo er trotz der Bemühung des tüchtigen Herbstwindes die helleren Sterne und den Mond als verwaschene Lichtflecken erkennen konnte. Ja, und da sah er ihn endlich, einen winzigen Punkt, der sich vor die von den Wolken vernebelte Mondscheibe schob und zu wachsen begann. "Aha, da kommt was", dachte Fernando und wollte nach seinem Kniesel rufen. Doch der hielt sich schön außerhalb des magischen Rundes. Jetzt konnte er mit seinem Fernrohr erkennen, daß der Punkt ein geflügeltes Etwas war, das schnell niedersank und dabei immer wieder hinter die wabernde Sichtbegrenzung geriet. Warum der Riesenvogel jetzt erst hierherkam wußte Riofuerte nicht. Vielleicht konnte er nur bei Nacht landen. Vielleicht war es ihm verboten, bei Tageslicht auf festem Boden zu landen. Wußte er denn wirklich, welchen Verhaltensregeln dieses fliegende Geschöpf unterworfen war? Wichtig war jetzt, daß er es direkt und mit eigenen Augen miterlebte, wie der mysteriöse Riesenvogel mit seinem Reiter in einem wahnwitzigen Sturzflug genau auf ihn und den dreifachen Steinkreis zustürzte. Dabei stach er wegen der ihn umschließenden Leuchtblase jede noch so große und helle Sternschnuppe aus. Zu hören war im Moment nichts, was wohl daran lag, daß der im rasanten Sinkflug befindliche Vogel noch mehr als eintausend Meter über ihm war. Doch der Abstand schmolz wie Wachs in der Kerzenflamme. Eine Sekunde später war er nur noch fünfhundert Meter vom Boden entfernt. Das Ungetüm näherte sich also mit mehr als der in der Luft möglichen Schallgeschwindigkeit, erkannte der Liga-Zauberer. Bei dem Tempo würde der gleich ... Da wirbelten die Flügel, und die Leuchtblase zog sich in die Breite. Der Sturzflug wurde so stark gebremst, daß ein Besenflieger wohl über das Vorderende hinweggeschleudert worden wäre. Doch der Vogelreiter blieb sicher und fest im Sattel sitzen, während sein fliegender Untersatz mit wild wirbelnden Flügeln den Rest des irrsinnigen Tempos auffing. So dauerte es zwölf Sekunden, bis der Vogel knapp fünfzig Meter über dem Steinkreis flog. Gritón machte seinem Namen Ehre und stieß einen lauten Schrei aus. Es war jedoch kein Kampfschrei, wie er ihn häufig hören ließ, sondern ein Produkt höchster Panik. Denn der Kniesel rannte davon, was Riofuerte nur daran merkte, daß sich das laut schreiende Katzenwesen sehr rasch entfernte, anstatt zu ihm in den Kreis zu stürmen und den Superbrathahn anzuspringen. Offenbar strahlten Vogel und Reiter eine solch mächtige Aura der Magie und Gefahr aus, daß selbst ein gegen bösartige Wesen aggressiv vorgehendes Geschöpf wie ein Kniesel lieber das Weite suchte. Riofuerte schluckte den Ruf hinunter, mit dem er Don Gritón zurückbefehlen wollte. Denn gerade da landete der Riesenvogel.
"Hey, Flügelloser. Gut, daß du hier bist. Hat es also doch einen Sinn gehabt, dieses fauchende, viel zu langsame Feuerflugding als Beobachter herumfliegen zu lassen", kreischte nun der Adlermann. Riofuerte wunderte sich, daß er ihn verstand, bis er den scheibenförmigen Halsschmuck sah, den der Adlermensch trug. Sein Reittier richtete derweilen den langen Schnabel auf Riofuerte, der gerade noch den Drang unterdrückte, seinen Zauberstab zu zücken. Denn wie dem Kniesel war ihm nun klar, daß er mit diesem Gegner besser nicht gewaltsam umspringen sollte, solange der seinerseits keine feindlichen Absichten zeigte.
"Ein Übersetzungsschmuckstück", erwiderte Riofuerte und deutete auf die glitzernde Scheibe an der Halskette des Adlerkopfmannes.
"Ist richtig, Flügelloser. Du trägst die Kraft in dir, merke ich. Gut! Dann wirst du mir jetzt sagen, wo ich diesen jungen finde, der hier vor fast einer Sonne die Stimme unseres Schöpfers aus langem Schlaf geweckt und uns zu sich hingerufen hat."
"'tschuldigung, Señor Adlermensch! Aber bevor ich Ihnen etwas sage, von dem ich gerade nicht einmal weiß, was Sie überhaupt wissen wollen, würde ich doch darum bitten, daß wir uns einander vorstellen. Ich bin Fernando Enrico Torrealto Riofuerte. Und mit wem habe ich die Ehre?" Rang der Liga-Zauberer um die Kontrolle der Lage.
"Es ist für euch unwichtig, wer ich bin und dir verboten, zu wissen, wo ich herkomme. Ich will nur von dir wissen, wo ich jenen wohl fast ausgewachsenen sonnenhaarigen Jungen finde, der uns mit der silbernen Stimme des Schöpfers zu sich gerufen hat. Er hat es hier getan. Deshalb bin ich wieder hergekommen um ihn zu finden. Denn er und die Stimme müssen wieder vereint sein, so wollen es die Diener des Schöpfers."
"Gut, ich erkenne es an, daß Sie mir nicht sagen möchten, wer Sie sind und wo Sie jetzt herkommen. Was Sie hier wollen habe ich jetzt verstanden", bemühte sich Riofuerte weiterhin um äußere Ruhe und Unerschütterlichkeit. "Sie suchen einen Jungen mit Haar wie die Sonne, was bei uns blond heißt. Er hat vor einem Sonnenkreis, was wir wohl als Jahr bezeichnen dürfen, mit einem silbernen Gegenstand, den Sie als Stimme des Schöpfers bezeichnen, erfolgreich nach Ihnen gerufen. Mir ist nichts davon bekannt, daß ein junger Mann, der wohl zu uns Zauberern gehört, eine solche Beschwörung durchgeführt hat und ..." Mit lautem Fauchen fegte ein blauweißer, armdicker Strahl an Riofuerte vorbei und brachte den rechts hinter ihm aufgerichteten Stein zur Gelbglut. Dicke, lavaartige Tropfen spritzten von dort fort, wo der Strahl seinen Brennpunkt gefunden hatte.
"Ich hielt meinen Begleiter an, unnötiges Gerede nicht länger als nötig hinzunehmen, Flügelloser. Meine Zeit verrinnt, und ich werde nicht zulassen, daß unsinniges Gerede mich aufhält und ich am Ende für meinen Mißerfolg bestraft werde. Lieber dein Leben als meines", schrillte der Adlermann, was von seinem Halsschmuck in Form direkt in Riofuertes Geist dringender Worte übersetzt wurde. Schnell dachte der bereits hundert Sommer in den Knochen tragende Zauberer nach, was dieser Vogelmensch da von ihm wollte. Er ging davon aus, daß jemand ihn vor einem Jahr an diesem Ort hergerufen hatte, mit einem silbernen Artefakt mit wohl großer Zauberkraft. Hatte er nicht einmal davon gehört, daß es im versunkenen Reich einen mächtigen Windmagier gegeben haben sollte, der eine mächtige Zauberflöte besessen haben sollte, mit der er alle Windelementarkräfte und Luftwesen um ein vielfaches besser steuern und einsetzen konnte als ein Zauberstabnutzer? Doch das hatte er bisher für Zaubererweltlegenden gehalten, was man sich so über die übermächtigen Magier des versunkenen Kontinentes halt so erzählte. Doch zu dem paßte auch die Erwähnung großer Zaubervögel, die ja wohl als Luftwesen anzusehen waren. Wenn man also mit dieser Zauberflöte die richtigen Töne spielte konnte man damit wohl solche Riesenvögel herbeirufen. Doch der Adlermensch hatte "uns" gesagt. Also meinte er nicht sich und seinen fliegenden und Blitze speienden Untersatz. Riofuerte erahnte, daß er gerade dabei war, das Rätsel um die plötzliche Aktivität der Riesenvögel zu lösen. Mochte es angehen -?
"Sie sagten, ein junger Mann, der wohl ein Zauberer war wie ich einer bin, hat Sie mit der Stimme des Schöpfers hergerufen. War das wirklich vor einem Jahr?"
"Es war vor bald zwölf Monden. Der Viergoldschwingenträger gebot, ihm die Stimme wegzunehmen, damit kein in Schwachheit zurückgefallener Träger der Kraft sie mehr benutzen könne. Eigentlich sollte er auf Befehl des Viergoldschwingenträgers beim Rückweg zur harten Kugelwelt sein Leben verlieren. Doch all dies geschah nicht, und er kehrte wohl dorthin zurück, wo er herkam. Wo kam er also her?"
"Moment, erst einmal das, daß es in diesem Land nicht viele sonnenfarbenhaarige Zauberer gibt und von denen wohl gerade niemand gerade ausgewachsen ist", stellte Riofuerte klar und ignorierte den drohend auf ihn einschwenkenden Schnabel des Vogels. Wenn dessen Reiter was wissen wollte, durfte sein Flugtier Riofuerte nicht mal eben so einäschern. Hoffentlich wußte der Adlermensch das auch. "Hier wohnen keine blondhaarigen Zaubererjungen. Wen immer du suchst, du findest ihn nicht bei uns", legte er nun mit aller ihm verbliebenen Entschlossenheit nach und verzichtete dabei auf die förmliche Anrede.
"Er muß hergefunden haben. Ihr müßt ihn kennen und wissen, wie er herkam. Er war nicht alleine. Eine Trägerin der Kraft Mittlerer Sonnenzahl mit nachtfarbenem Haar, das zwischen Kopf und Rücken verknotet war und Augen wie blaue Steine hatte, sowie ein sehr großes, Flügel tragendes Tier, das über eine äußere Stimme sprach und wohl wie wir aus unbegüterten Nutztieren entstand, begleiteten ihn. Doch er trug die Stimme des Schöpfers und hat sie auch erklingen lassen. Ihn wollte das erhabene Paar der Eltern meines Volkes sehen. So nahm ich ihn mit zur Burg, die niemand finden kann. Wo sie ist und wer sie erbaute soll dir unbekannt bleiben", sagte der Adlermensch. Riofuertes Gedanken jagten sich derweil wie ein Dutzend Stiere in einer sich im Kreis drehenden Arena. Der Junge war nicht alleine gewesen. Die Beschreibung seiner menschlichen Begleiterin stach ihm besonders ins geistige Ohr, so daß er schon meinte, ihr Bild vor seinem geistigen Auge zu sehen. Doch das mußte er klären. Er fragte deshalb, ob die Begleiterin wirklich blaue Augen besessen hatte und ihr nachtfarbenes Haar verknotet hatte. Als er ein geschrilltes Ja zur Antwort bekam wollte er noch einmal wissen, wie das geflügelte Tier aussah und bekam große Augen, als er hörte, daß es wie helle Wolken gefärbt war, Flügel und am Kopf gekrümmte Hörner trug und zwischen den hinteren Beinen ein helles, sackartigges Ding mit vier langen Enden an der Unterseite. Er kannte Latierre-Kühe. Das konnte nur eine davon sein. Jetzt ließ er seine Hand behutsam zum Zauberstab wandern, während er dem Adlermann beruhigend sagte, daß er ihm ein Bild der Begleiterin zeigen und ihn fragen wollte, ob es diese war. Der Adlermann nickte. Er zog den Zauberstab sehr vorsichtig hervor und wirkte einen räumlichen Abbildungszauber. Keine Zwei Sekunden später stand eine immaterielle Nachbildung einer Hexe im mauvefarbenen Umhang mit schwarzem Haar und saphirblauen Augen da. Der Adlermann kreischte aufgeregt, daß es genau jene war. Dann zeigte Riofuerte auch noch ein räumliches Abbild einer geflügelten Riesenkuh und erhielt die Antwort, daß es genau dieses Tier war, daß bei dem Jungen war. Tja, der fehlte nun im Reigen der kurzfristigen Erscheinungen, die nach nur einer Minute wieder verschwanden.
"Ich kenne die Hexe und werde sie fragen, wenn du mich läßt", sagte Riofuerte. Denn er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Adlerkopf da vor ihm Blanche Faucon erkennen konnte, wenn er sie nicht wirklich gesehen hatte. Daß sie aber mit einer Latierre-Kuh hier in dieser Gegend unterwegs gewesen sein sollte wollte ihm aber noch nicht in den hundertjährigen Schädel. Das hätte doch auffallen müssen. Abgesehen davon kannte er Blanche Faucon, die seine zwei Jungen auch schon mal Tía Blanca riefen, weil sie den französischen Eigennamen nicht aussprechen konnten, als überaus gesetzestreu. Die würde nicht mit einer Latierre-Kuh herumfliegen, ohne sich bei den Leuten von der Tierwesenüberwachung die Einfuhrerlaubnis zur eigenen Verwendung zu besorgen. Aber der Adlermensch hatte sie und ein solches Riesenrindvieh gesehen. Wenn der ihm da nichts vom grünen Einhorn erzählte mußte das also wirklich hier passiert sein.
"Du kannst sie auch ganz herrufen, Starker Fluß?"
"Nicht so wie ihr Bild, daß ich aus meinen Gedanken erschaffen kann", sagte Riofuerte schnell. "Da wo sie ist kann sie keiner auf eine derartig unhöfliche Weise wegholen. Ist auch viel zu weit weg von hier. Ich kann sie aber anders fragen, ob sie weiß, wen du suchst. Und was genau soll ich ihr sagen, wenn sie mir sagt, wer dieser Junge ist?"
"Ich sagte es dir. Die Diener des Schöpfers wollen, daß die Stimme des Schöpfers wieder mit ihm vereint wird. Ihr Befehl ist unmißverständlich und erlaubt keinen Widerstand. Er wird in nun drei Tageslichtern an diesem Ort sein und sich von mir zur Burg tragen lassen, die keiner finden kann." Der Adlermensch griff in seinen weiten, die Flügel nicht behindernden Umhang, auf dem Riofuerte auf jeder Schulter zwei silberne Flügel erkennen konnte und holte eine kleine Kugel hervor, die er ansatzlos auf Riofuerte zuwarf. Dieser duckte sich instinktiv. Doch das Wurfgeschoß explodierte zu einem feinmaschigen, silbernen Netz, das sich blitzartig über ihm ausbreitete und ihn einschnürte. Doch statt seine Arme und Beine zu fesseln schmiegte es sich wie eine großporige silberne Haut um seinen Kopf und Oberkörper und umhüllte seine Arme, die er jedoch frei bewegen konnte. "Das Flechtwerk der Ortsbestimmung", schnarrte der Adlermensch, während Riofuerte versuchte, das Gewebe von seinen Händen und Armen abzustreifen. Doch es gelang nicht. Es klebte wie pure Spinnseide an seiner Haut und seinen Ärmeln fest und hatte auch Kopf und Hals fest umschlossen, ohne ihn jedoch zu ersticken. Er sah sogar noch klar und hörte ungedämpft. "Es wird mir zeigen, wo du bist. In drei Tageslichtern werde ich wieder hier sein. Finde ich nicht den, den ich finden muß, findet mein Wolkenhüter dich und wird dich ohne jede Gnade töten und alle, die in diesem Moment mit dir sind. Drei Tageslichter, Starker Fluß!" Krakehlte der Adlermensch und stieß noch einen Ruf aus, der wohl seinem Reittier galt. Es stieß einen kreissägenartigen Schrei aus, warf den Kopf in den Nacken und drückte die schuppigen Vogelbeine durch. Im nächsten Moment hörte Riofuerte ein wildes Schwirren und sah, wie der Vogel beinahe wie eine Rakete nach oben stieß. Er erkannte noch, wie aus seinem Gefieder blaues Licht wie ein nicht abreißender Funkenregen hervorschoß und zu einer leuchtenden Blase verdichtet wurde. Als diese geschlossen war erfuhr der Vogel wohl einen weiteren Antrieb. Denn nun raste er mit immer größerer Geschwindigkeit aufwärts und verblaßte in nur einer Sekunde zu einem winzigen Punkt unter den dunklen Herbstwolken. Riofuerte vergaß einen Moment das ihn hauchzart aber unablöslich anhaftende Netz und warf einen Blick durch sein Fernrohr. Doch auch dieses zeigte ihm den davonjagenden Riesenvogel nur noch zwei Sekunden lang. Dann war er außerhalb der Reichweite des magischen Hilfsmittels.
"Blanche, das hättest du uns aber mal sagen können", knurrte Riofuerte und versuchte, das ihm übergestreifte Gewebe loszuwerden. Doch es blieb auf Haut und Kleidung haften wie angewachsen und eingenäht. Zwar störte es seine Sinnesorgane nicht, ja erlaubte ihm das übliche Tastgefühl in den Fingern. Doch er fühlte es sacht auf seiner Haut vibrieren und sah das silberne Zeug. Ihm war klar, daß er wohl den Umhang nicht mehr ausziehen konnte. Dieser Vogelmensch hatte ihn gründlich reingelegt, besser, er hatte ihn markiert, zum Abschuß freigegeben, wenn er nicht dafür sorgte, daß die Botschaft ankam und wunschgemäß umgesetzt wurde.
"Gritónciiitoooooo!!" Rief Riofuerte, der gerade darüber nachdachte, ob man dieses lästige Zeug mit einem Incantivacuum-Kristall abkriegen konnte. Das würde Señor Adlermensch und seinen übergroßen Brathan, der sein eigenes Grillfeuer mithatte sicher alle Federn ausfallen lassen, wenn der seine Drohung nicht wahrmachen konnte. Doch dann erkannte er, daß dieser Flügelträger womöglich Amok laufen und alles magische oder nichtmagische mit seinem Federvieh in Schutt und Asche legen mochte, um zu kriegen, was er wollte. Er fragte sich, wie intelligent er sich verhalten hatte, daß er ihm Blanche Faucons Bild gezeigt hatte. Was wäre passiert, wenn er das Abbild einer rassigen Hexe aus Spanien gezeigt hätte? Auch darauf hatte er schnell eine für ihn entschuldigende Antwort. Der hätte ihn dann verschleppt und gefragt, wen er alles kannte, um nach genügend wörtlich herausgepickten Leuten den oder die zu haben, der oder die die genehmen Antworten geben konnte. Insofern hatten der Ornithanthrop und er noch mal Glück gehabt, beieinander an der richtigen Adresse gewesen zu sein. Und was das Ultimatum sollte kapierte Riofuerte auch. Denn der Adlermann hatte was von ihm verrinnender Zeit erzählt. Womöglich hatte man ihm selbst eine Gnaden- oder Galgenfrist gegeben, um den Auftrag auszuführen. Mißerfolg war dann gleichbedeutend mit Lebensende. Er kannte sowas aus der Ära des britischen Wahnwitzigen. Der konnte auch keine Versager um sich haben. Zumindest nicht länger als die eine Minute, in der sie ihr Versagen eingestehen mußten. Also galt es nun, daß er zu Blanche Faucon ging und sie fragte, mit wem sie ohne Anfrage beim spanischen Zaubereiministerium eine Spritztour mit einem Jungen - einem ihrer Schüler - auf einer Latierre-Kuh unternommen hatte. Latierre-Kuh, Schüler? Der Adlermensch hatte was von einer äußeren Stimme dieser Kuh erzählt, über die sie sprechen konnte. Er kannte als Liga-Mitglied natürlich das Dexter-Cogison, mit dem körperlich sprechunfähige Wesen ihre worthaften Gedanken in hörbare Worte umwandeln konnten. Wer war denn auf den glorreichen Einfall gekommen, so ein Ding für eine Latierre-Kuh zu bauen? Dann erstrahlte einer seinem Alter nicht mehr zugetrauten Geistesblitze in seinem Kopf. Ein blonder Junge in Begleitung von Blanche Faucon und einer Latierre-Kuh. Konnte es sein, daß es jener Junge war, der als einziger Zauberer der letzten hundert Jahre schon mit fünfzehn Jahren geheiratet hatte? Der hieß jetzt Latierre mit Nachnamen. Damit kam der sicher an eine Latierre-Kuh heran, ohne groß fragen zu müssen. Er galt auch als besonders zaubermächtig, weil seine Eltern selbst nicht zaubern konnten, aber über mehrere Generationen zurück magische Vorfahren hatten, deren angestaute Magie in ihrem gemeinsamen Sohn mehr als bei anderen zur Wirkung gekommen war. Er dachte an die Berichte, die er von Blanche Faucon über das Zusammentreffen des Jungen mit einer Schwester dieser verfluchten Abgrundstochter hatte, die sich irgendwo hier in Spanien herumtrieb und immer mal wieder arglose Männer in ihren Bann zog. Konnte es sein, daß der Bursche auch mit dem versunkenen Reich in Berührung gekommen war? Er dachte auch daran, daß der Junge zusammen mit Orfeo Colonades, einem weiteren muggelstämmigen Zauberer mit Ruster-Simonowsky-Begabung, von diesem russischen Schwarzmagier Bokanowski entführt worden war. In beiden Fällen hatte ihm die Wiedergekehrte geholfen, natürlich ohne von ihm darum gebeten worden zu sein. Konnte es echt sein, daß dieser Überbursche ganz klammheimlich etwas ausgebuddelt hatte, was mit dieser legendären Zauberflöte zu tun hatte, am Ende die Wunderflöte selbst in seine Hände bekommen hatte? Wieso hatte dieses auf Etikette und Anstand so bedachte Frauenzimmer Blanche Faucon keinem aus der Liga davon erzählt? Die Antwort war so deutlich, daß sie ihm schon wieder weh tat. Wenn nur einer aus der Liga zu gut mit einem der Minister klarkam und ihm derartige Sachen weitergab, konnte man es gleich zum Tagesthema bei der nächsten Ministerzusammenkunft oder der internationalen Zaubererkonföderation oder der globalen Magierkonferenz erheben, daß einer, der eh schon wegen überragender Zauberkräfte herausstach auch noch altatlantische Machtinstrumente erlangen konnte. Der arme Junge hätte dann ja überhaupt kein eigenes Leben mehr. Da griff dann wohl Blanche Faucons Beschützerinstinkt "In loco parentis", den Jungen an Stelle der eigenen Eltern zu beschützen und auf einen sicheren Weg zu führen. So mußte er sich hier und jetzt mit der tonnenschweren Gewissensfrage herumplagen, ob er dem spanischen Zaubereiminister und seinen Liga-Kameraden von der Begegnung mit dem Riesenvogel und seinem Reiter erzählen durfte. Denn nannte er den Reiter, mußte er auch das Roß nennen. Erwähnte er das Huhn, mußte er auch sagen, welches Ei es gelegt hatte. "Griiiiiiiiitónciiiiiiiiitooooooo!!" Rief er. Da hörte er ein klägliches Maunzen. Der Kniesel war wiedergekommen. Riofuerte verließ den Steinkreis und suchte seinen vierbeinigen Begleiter. Doch dieser wich leise knurrend und fauchend vor ihm zurück. Natürlich wußte der Liga-Zauberer, was den magischen Kater störte. "Kann ich im Moment nicht wegmachen, Kleiner", grummelte er. "Aber wenn du gleich noch was zu fressen haben möchtest mußt du schon zu mir kommen", fügte er noch hinzu. Der Kniesel knurrte weiter, lief mit wild pendelndem Schweif um Riofuerte herum. Dieser kannte die Krallen seines Gefährten. Er hatte sie an sich selbst noch nicht gespürt. Das durfte auch gerne so bleiben. Aber einige dunkle Magier, die ihm einmal übles wollten hatten Don Gritóns Handschrift deutlich ins Gesicht geschrieben bekommen. "Einverstanden, ich schick gleich Bonita vorbei, dich einzusammeln, Knurrpelz", knurrte nun Riofuerte und disapparierte mit vernehmlichem Plopp, wohl wissend, daß er damit diesem Vogelmenschen zeigen mochte, wo er wohnte. Doch sein Haus war mit genug Abwehrzaubern umkleidet, um einem bösen Angreifer zumindest eine gewisse Zeit zu widerstehen. Seine große, mehr als gut genährt aussehende Gattin Bonita fragte ihn, wo er herkäme und hörte nur, daß er mit dem Schreihals den alten Steinkreis umwandert hätte und dabei etwas gefunden hätte, daß sich wie ein Netz um seinen Oberkörper gelegt hätte. Seitdem wolle der Kniesel sich nicht mehr anfassen lassen, und er müsse noch in der Nacht weg, um sie nicht zu gefährden, weil er nicht wisse, woher das Zeug kam und was es eigentlich anstellte.
"Ich weiß, daß deine Arbeit sehr gefährlich ist und du mir nicht alles erzählst", schnarrte Bonita Menchu Fuenterica Piedragrande. "Aber ich würde dir und jedem anderen raten, dein Leben nicht vor unserem siebzigsten Hochzeitstag auszulöschen, weil wer auch immer dann lernt, daß eine wütende Hexe hundert angestochene Kampfstiere aufwiegt, Cariño." Fernando Riofuerte lächelte in der Hoffnung, seine gütige Gattin, die Mutter seiner vier Kinder und Großmutter seiner acht Enkelkinder, würde es als Zugeständnis an ihre Vergeltungskraft werten. Tatsächlich aber amüsierte es ihn, daß dieser Gegner wohl nur von hundert angestochenen Latierre-Bullen beeindruckt werden konnte, die jeder für sich jeden Kampfstier zum scheuen Schaf degradierten. So sagte er nur, daß er auf unbestimmte Zeit verreisen müsse, den Umhang wohl nicht wechseln könne, bis er heraushatte, wie er ohne sich selbst zu zerlegen das fremdartige Zeug abbekommen konnte und erst wiederkommen würde, wenn seine Mission erledigt sei.
"Das ist ein materialisierter Erfüllungsfluch, nicht wahr? Jemand hat dich damit getroffen, weil er oder sie will, daß du einen Auftrag für jemanden ausführst. Falls du das nicht tust, bringt das Zeug dich um", vermutete Bonita mit einer sehr ängstlichen Betonung.
"Ich darf darüber nichts sagen, Manzanita", entgegnete er. Er hoffte, daß seine Frau das als Ja auffassen und keine weitere Frage mehr stellen würde. Er hatte ihr erzählt, daß es Flüche gab, die dann in Erfüllung gingen, wenn man sie erwähnte oder ihren Urheber beim Namen nannte. Immerhin hatte auch sie erfahren, wie der Überirre in England seine dunkle Domäne gegen Angriffe von innen und außen geschützt hatte. So ließ Bonita Piedragrande ihren fast siebzig Jahre angetrauten Ehegatten ohne weitere Fragen ziehen. Sie gab ihm nur einen großen, rauminhaltsvergrößerten und Conservatempus-bezauberten Proviantkorb mit allerlei nützlicher Nahrung mit. Dann sah sie ihm noch zu, wie er vor dem mit vielen Zaubern gegen Feinde und Angriffe umfriedeten Haus disapparierte.
Julius Latierre ahnte nichts von allem, was sich wortwörtlich über ihm zusammengebraut hatte. Er lebte das Leben eines Schülers, dessen größte Sorge es war, gut durch die ihm aufgehalsten Sonderaufgaben zu kommen. Dazu gehörte auch, daß er als Saalsprecher immer wieder kleinere Rangeleien der größeren Jungen schlichten mußte und einmal selbst ein wenig handgreiflich werden mußte, um sich den Respekt der ein Jahr älteren zu erhalten. Das Trio Babette, Armgard und Jacqueline zeichnete sich durch regen Lerneifer aus, was Céline und Laurentine sichtlich erfreute.
Laurentines Geburtstagsfeier war schon fast wieder eine Woche her. Laurentine hatte es ihren Eltern nicht erzählt, daß sie den Apparierkurs von ihren Freunden und Klassenkameraden geschenkt bekommen hatte. Sie meinte, es sei jetzt wohl die Zeit, daß ihre Eltern nicht mehr alles wußten, was sie so tat, solange sie damit keinen Ärger mit dem Gesetz bekam, und das sei ja in Beauxbatons ziemlich schwierig. Julius wollte darauf nichts antworten. Er trug selbst genug Geheimnisse mit sich herum, von denen seine Mutter zwar einige kannte, aber doch nicht den gesamten Umfang mitbekommen hatte. Vor allem fragte er sich, was aus Naaneavargia geworden war. Wenn die jetzt wirklich anderswo auf der Welt herumlief konnte das noch richtig finster werden. Er wollte jedoch nicht weiter daran denken. Solange die Riesenspinne nicht an das Tor von Beauxbatons klopfte und ihn abholen wollte war er hier besser aufgehoben als sonstwo, von Millemerveilles vielleicht mal abgesehen.
"... und diese Quellschwämme sind völliger Quatsch wie Flubberwürmer", hörte er Louis Vignier, seinen jungen Pflegehelferkameraden, der die Jungenquote der Truppe aufgebessert hatte.
"Und die sind doch nützlich, wenn du in einem tropischen Klima wohnst und keinen Schimmel oder Grünalgen im Haus haben willst", konterte Louis Klassenkamerad Boris. Offenbar hatten sie es in Kräuterkunde nun von den Quellschwämmen, Pilzkolonien, die ähnlich wie Schimmelpilze wucherten, aber dabei Körperstrukturen wie Meeresschwämme annehmen konnten und dabei Unmengen von Luftfeuchtigkeit einverleiben und speichern konnten. Das erstaunliche an den Quellschwämmen war, daß sie bei doppeltem Rauminhalt den sechzehnfachen Rauminhalt Flüssigwasser einlagern konnten. Warf man einen kleinen Quellschwamm in ein Schwimmbecken mit ungechlortem Wasser, soff der das innerhalb von einer halben Stunde komplett leer und wurde dabei zu einem gerade einmal drei Zentimeter dickem Bodensatz, der außen staubtrocken war. Das sagte er auch den beiden Streithähnchen.
"Dann ist das Zeug doch gefährlich oder?" Fragte Louis Klassenkamerad. Julius nickte verhalten.
"Sagen wir es so, Louis, für Babywindeln haben die magischen Hersteller bessere Absorber gefunden, weil die Schwämme bei Unterschreiten der Luftfeuchtigkeit unter zehn Prozent ihren Inhalt wieder ausschwitzen, bis sie nur noch das enthalten, was sie zum Weiterleben brauchen. Aber als Luftentfeuchter in Dschungelhäusern ist das schon ein nützlicher Organismus."
"Kann man in den Dingern dann auch Wasservorräte mitnehmen, die nach dem Auswringen genießbar bleiben?" Fragte Boris nun sichtlich begeistert, Louis von den nützlichen Eigenschaften des Quellschwamms überzeugen zu können.
"Weil es Pilze sind können beim Auswringen auch Sporen ins Wasser geraten. Allerdings kann man die mit Mykolyse-Elixier rauswaschen und das Elixier ausdestillieren. Dann geht das auch", erwiderte Julius. "Wer das aber vergißt und kein Mykolyse-Elixier dabei hat kriegt ein Problem, weil die mitgeschluckten Quellschwammsporen im Körper anwachsen und eine kleine Kolonie ausbilden. Ergebnis, weil wir innen alle irgendwie naß sind saufen die sich groß und voll, was uns erstens aufquellen läßt und zweitens alle nötige Feuchtigkeit entzieht. Ich will euch weder Appetit noch Nachtruhe verderben. Aber es sind schon Leichen gefunden worden, bei denen nur noch die Haut als lederartige Umhüllung bestand und alles andere von Quellschwammgewebe ersetzt wurde. Wer kotzen muß bitte im Badezimmer." Boris war kreidebleich geworden, während Louis gerade höllischen Spaß empfand. "Dann könnte man wen damit ermorden, indem man ihm mit den Sporen versetztes Wasser eintrichtert?" Fragte er Julius. Dieser wußte, daß er das jetzt irgendwie beantworten mußte und erwiderte:
"So schnell quellen die auch nicht auf. Du kriegst erst tierischen Durst und ein Völlegefühl. Das reicht völlig, um die Heiler anzurufen. Die spülen dann den Magen und die Gedärme mit der Mykolyse-Lösung durch. Die ist zwar auch nicht unbedingt angenehm zum Körper, aber durch bekannte Gegentränke besser zu beherrschen als eingelagerte Quellschwammsporen."
"ja, aber wenn das keiner merkt, könnte man wen damit killen?" Wollte Louis wissen.
"Bevor du auf die Idee kommst, dir wen auszusuchen, um es an dem oder der auszuprobieren, Louis: Die Bestandteile im Wasser verzögern die Wachstumsrate. Bei klarem Wasser kann der Schwamm ein Schwimmbecken in einer Stunde leersaufen. Aber Blut, Magensäure und sonstige Sachen enthalten ja noch andere Bestandteile, die das um mindestens einen Faktor zehn verzögern. Die erwähnten Leichen waren auch eher da gefunden worden, wo es keine magischen Heiler zu rufen gab. Außerdem kann der eigene Körper das Zeug auch wieder verdauen, wenn genug Magensäure gebildet wurde. Das verzögert die Wachstumsrate noch mal um einen Faktor zehn. Macht also eine Verzögerung von einhundert. Gut, ein Mensch enthält nicht einmal ein Tausendstel so viel Wasser wie ein Olympia-Schwimmbecken. Aber wenn er früh genug die Heiler ruft kann er das Zeug schnell wieder loswerden. Die Sporen übertragen sich eben nur in flüssigem Wasser. An der Luft bleiben sie inaktiv und können auch beim Einatmen nicht aufkeimen, weil sie dafür klares Wasser benötigen, was, wie vorhin erwähnt, im Körper selten vorkommt. Ich hoffe mal, deine Mordphantasien damit ausreichend bedient oder abgewürgt zu haben, Louis. Du bist Pflegehelfer, Louis. Solltest du wen irgendwie hier oder sonstwo während deiner Schulzeit umlegen findet man nichts mehr von dir, was deine Eltern beerdigen können."
"Öhm, so schlimm haut die rein?" Erwiderte Boris. Louis wollte schon sagen, daß Heilerinnen keinen umbringen durften. Doch dann erkannte er, was Julius meinte und erbleichte. Natürlich würden seine Muggeleltern keine Leiche von ihm finden, weil er ja dann auf Nimmerwiedersehen auf eine einsame Insel mit magischer Absperrung verschifft würde. Das wollte er nun auch wieder nicht. So nickte er. Julius ließ ihn so stehen. Sollte Louis das Boris erzählen.
"Um zu heilen muß man wissen was krank macht", erwiderte Julius. "Insofern schon wichtig für ihn. Außerdem weiß der jetzt, daß Trifolio weder seine eigene noch Louis' Zeit mit unwichtigem Krempel verplempert."
"Tja, nur wenn Louis meint, wen hier mit Quellschwammsporen zu vergiften kriegst du Ärger", sagte Laurentine.
"Moment, das steht im Kapitel über Quellschwämme drin und liegt nicht in der verbotenen Abteilung. Kann der also locker nachlesen", verteidigte sich Julius. "Es ging mir in dem Moment nur darum, daß der auch Lust drauf hat, sich für die Hausaufgaben genug anzulesen."
"Da wird ihm deine und seine eigentliche Chefin schon entsprechende Ansagen machen", entgegnete Laurentine. "Carmen hat mir ja erzählt, wie heftig die hinterher ist, daß ihr ja alles in die Gehirne stopft, was ihr in ihrer Truppe zu wissen und zu können habt."
"Maßlos untertrieben", erwiderte Julius darauf. Laurentine stutzte erst und mußte dann lauthals lachen.
Beim Abendessen wirkte Madame Faucon sichtlich angespannt, als gelte es, etwas unangenehmes zu erledigen oder eine Gefahr zu bekämpfen, die schon länger drohte, jetzt erst aber richtig greifbar wurde. So angespannt hatte sie nur zur Zeit des Didier-Regimes ausgesehen. Hatte das was mit Professeur Tourrecandides Verschwinden zu tun? Oder war es vielleicht Naaneavargia? Er fühlte, wie der Gedanke ihn selbst in eine erhöhte Alarmstimmung versetzte. Wenn die Spinnenfrau aus dem Uluru schon in Europa unterwegs war sollte und mußte er es wissen. Denn falls sie ihn suchte, wollte er besser sie finden als von ihr gefunden werden, wenn er auch nicht wußte, wie er dann mit ihr fertig werden konnte. Denn umbringen durfte er sie nicht, falls er nicht auf die Macht über die vier alten Zauber des Lichtes verzichten wollte. Wollte? Womöglich wurde er irgendwann vor die Entscheidung gestellt, besser auf diese Zauber zu verzichten, als einen übermächtigen Gegner weiterleben zu lassen. Was hatte er Louis und Boris erzählt? Er wollte ihnen weder Appetit noch Nachtruhe verderben. Toll! Jetzt war er gerade selbst dabei, sich beides zu vermurksen. Das alles nur, weil Madame Faucon angespannt aussah. Vielleicht hatte sie auch nur Probleme mit Joe, weil ihre Auffassung von Babettes Unterricht hier anders gelagert war als seine oder er sie dumm angetextet hatte, weil sie mit Jacqueline, Armgard und Mayette herumzog anstatt in den Freistunden auch Muggelzeug zu lernen, wie er es von seinen Eltern in Hogwarts aufgedrückt bekommen hatte. Dann hatte er gerade aus einer Mücke der Besorgtheit einen Elefanten des Verfolgungswahns gemacht. Genau das, Verfolgungswahn, wollte er sich aber nicht zulegen. Dann hätte er Millie nicht heiraten dürfen, weil ja jede Hexe eine mögliche Nachtfraktionshexe sein mochte oder werden könnte. Also mußte er erst einmal vergessen, daß Madame Faucon heute abend etwas angespannter wirkte. Immerhin war er ja nicht der einzige, dem das auffallen mußte. Nächsten Samstag würde das Spiel Gelb gegen Blau steigen. Ob Sandrine und Corinne sich bis dahin vertrugen? Der Gedanke an Quidditch vertrieb seine selbstaufgeworfene Alarmstimmung wieder. Die Gelben hatten mit Sandrine eine gute Sucherin bekommen, aber noch keine wirklich guten Jäger. Die Blauen setzten auf Corinne und ihren Hüter, der möglichst keine Tore kassieren sollte. Die Gleichung, guter Hüter gegen schlechte Jäger ergab null Tore für die Gegner. Und Corinne würde ihre empathische Begabung ausnutzen und erkennen, wenn Sandrine sie verladen oder wirklich dem Schnatz nachjagen würde. Sie konnte ihre besondere Begabung nun einmal nicht abschalten wie ein Radio, dessen Programm nicht gefiel oder das bei bestimmten Sachen ausgeschaltet bleiben mußte. Somit würde es höchstens durch Schnatzfang zu Punkten für die Gelben kommen, wenn Corinne nicht früher den goldenen Ball sah. Dann könnten die Gelben schnell von den Weißen die rote Laterne übernehmen. Aber wie im Fußball galt auch im Quidditch, daß erst mit dem Schlußpfiff das Spiel gelaufen war. Dann würden Millie und Patricia mit ihrer Mannschaft gegen die Violetten spielen, die von den Gelben im ersten Spiel so gründlich verladen worden waren. Die hatten was gutzumachen. Das würde sicher ein heftiger Kampf, vergleichbar mit dem Eröffnungsspiel gegen die Grünen. Tja, und dann war Grün gegen Weiß dran. Wenn Gelb wie zu befürchten stand punktlos aus der Partie kam würden die sich die Chance ausrechnen, die ungeliebte rote Laterne des Tabellenletzten loszuwerden. Da mußten die Grünen sich warm anziehen oder von der ersten Minute bis zum Schnatzfang Vollgas geben und keine Gnade kennen, um den Weißen die Lust am Spiel zu verleiden. Ja, über Quidditch nachzudenken war eine gute Methode, um unnötigen Ballast aus dem Kopf zu kriegen. Die andere Methode, das Denkarium zu benutzen, konnte Julius nur durchführen, wenn er bei Madame Faucon im Sprechzimmer war. Doch im Moment hatte er eben nichts, was er dort einlagern konnte, nachdem er seinen Traum vom Verschwinden Professeur Tourrecandides in den unerschöpflichen Tiefen des magischen Erinnerungsbewahrers verrührt hatte.
Gleich war die Holzbläsergruppe dran, wie jeden Mittwoch. Sie wollten für das Weihnachtskonzert einen mehrstimmigen Satz für Flöten, Fagotte und Oboen einüben. Zwar würden von den Mitgliedern viele in die Ferien fahren. Deshalb galt es aber besonders, genug Musiker mit den Stimmen vertraut zu machen. Julius hatte nach dem langwierigen Lernen von Ailanorars Lied, um die Himmelsburg zu rufen weniger Probleme beim Auswendiglernen anderer Musikstücke, weil die einer klaren Tonskala und Rhythmik unterworfen waren. Er holte seine Blockflöten, um sich auf die Stimme einzustellen, die er spielen sollte, als Vivianes Bild-Ich ihm in einem der Bilder auf dem Gang zum Musikraum begegnete.
"Julius, Madame Faucon hat dich bei Mademoiselle Bernstein entschuldigt. Sie erwartet dich im Konferenzraum", sagte die gemalte Gründungsmutter.
"Ups! Ähm, und das mußten Sie mir mitteilen, Magistra Eauvive?" Fragte er leicht verunsichert. Die Angesprochene lächelte und erwiderte, daß sie es ja gewohnt sei und dafür ja auch hier sei. Dann zog sie mit ihrer Ausgabe eines Kniesels weiter. Julius klärte erst, daß ihm keiner zusah. Dann peilte er den nächsten Wandschlüpfzugang an und benutzte diesen, um in den achten Stock zu wechseln, wo er beim Bild mit dem streitbaren Königspaar das gültige Passwort aussprach und durch das transpiktorale Tor direkt in den Wohn- und Arbeitstrakt der Schulleiterin hinüberwechselte.
"Ich fürchte, die Angelegenheit Himmelsburg ist doch noch nicht abgehandelt", eröffnete ihm Madame Faucon, als er mit ihr alleine im dauerhaften Klankerker-Konferenzzimmer saß. "Ich erhielt heute Nachmittag eine Blitzeule von einem spanischen Kameraden aus der Liga wider dunkle Künste, der mir von einer unglaublichen Begegnung berichtet hat. Er befindet sich gerade in meinem Haus in Millemerveilles. Ich habe Catherine gebeten, ihn dort solange zu betreuen, bis ich ihn dort aufsuchen kann."
"Was ist mit der Himmelsburg?" Fragte Julius, dem der Traum von Temmie einfiel, die ihm von merkwürdigen Schwingungen erzählt hatte, die bis in den Himmel gereicht hätten.
"Es sieht so aus, als habe es einen Stimmungsumschwung dort oben gegeben, vielleicht etwas wie eine Rebellion oder einen Staatsstreich. Jedenfalls scheint man dort oben nun der Ansicht zu huldigen, daß du die dort zurückgelassene Zauberflöte Ailanorars wieder an dich nehmen sollst", grummelte die Schulleiterin und holte einen Pergamentbogen hervor. Julius konnte nur Pauschaltouristenspanisch und mußte sich den Text übersetzen lassen. Dabei erfuhr er, daß der Schreiber, ein gewisser Señor Riofuerte, nach der Sichtung eines Wolkenhüters durch einen spanischen Kampfpiloten an den Steinen gewartet hatte, von denen aus Julius die Himmelsburg herbeigeflötet hatte. Tatsächlich sei in der Nacht der gesichtete graue Vogel mit einem adlerköpfigen Reiter darauf gelandet. Der Adlermensch, der einen Umhang mit insgesamt vier silbernen Flügeln auf den Schultern getragen hätte, habe Riofuerte aufgetragen, ihm zu sagen, wo der Junge sei, der ihn damals zu sich hingerufen habe. Er solle sich dort wieder einfinden und abholen lassen, um "wieder eins mit der Stimme des Schöpfers" zu werden. Das verlangten "Die Diener des Schöpfers". Da der Adlermensch nebenbei erwähnt hatte, nicht mehr viel Zeit zu haben, um sie durch unwichtiges Gerede zu vertun, vermute Riofuerte, daß dem Adlermann ein Ultimatum gestellt worden sei. Julius nickte. Das konnte er sich vorstellen. Denn er vermeinte, den Adlermann zu kennen. Wenn das dieser hinterhältige Vailadorat war, der ihn fast umgebracht hätte ... Jedenfalls habe der erwähnte Junge nur noch drei Tage Zeit, um an den Ort in Spanien zu kommen und sich dort abholen zu lassen.
"Will sagen, freitag Nacht", seufzte Julius. "Aber ich komme an die Flöte Ailanorars nicht mehr ran. Die liegt jetzt in einem magischen Tresor oder sowas. Wie stellen die sich das vor? Und was ist, wenn ich das Ding habe? Lassen die mich damit wieder unbehelligt zurückkehren oder behalten die mich gleich oben? Und wenn ich damit zurückkommen darf. Kann dann die Spinnenfrau nicht mitkriegen, daß ihr in der Flöte schlummernder Bruder wieder auf festem Boden ist und gezielt nach mir suchen? Wollen die das vielleicht sogar, daß sie mich findet? Umbringen dürfen sie sie ja nicht, weil sie die Schwester Ailanorars ist."
"Abgesehen davon, daß sie egal von wem getötet nicht entmachtet wird, sondern zu einer Art Sturmgeist wird, einem Superaeromorph. Das hat mir dein lebendes Hochzeitsgeschenk verraten, als du damals im Uluru unterwegs warst", erwiderte Madame Faucon. Auf der Sippe Ailanorars liegt ein Fluch, der jeden, der gewaltsam ums Leben kommt, in ein solches Luftwesen verwandelt, das ähnlich einem orientalischen Dschinn von der neuen Macht berauscht dreinschlagen kann. Da mir diese wandelbare Zeitgenossin Naaneavargia als sehr auf ihren Körper bezogene Person beschrieben wurde, könnte sie es demjenigen sehr übelnehmen, der sie durch Mord und Totschlag in ein Wesen aus beseelten Luftmassen verwandelt, weil sie dann ihre erotischen Begierden nicht mehr stillen könnte."
"Falls sie dann noch welche hätte", seufzte Julius. Aber er mußte zugeben, daß es für den übel ausgehen mußte, der sie umbrachte. Das wiederum sprach dafür, daß sie noch lebte, auch wenn jemand wie die Wiederkehrerin es womöglich nicht wußte, daß sie Naaneavargia nicht töten durfte.
"Jedenfalls besteht nun das Problem, daß in den nächsten drei Tagen entweder ein tobsüchtiger Wolkenhüter über uns herfällt, falls die neuen Machthaber, die sich "Diener der Schöpfer" nennen, nicht auf die unfeine Idee kommen, ihr bestehendes Kontingent an diesen Kriegskreaturen gegen die ganze irdische Menschheit auszuschicken. Wir beide wissen, daß diese Vögel von keiner magischen oder unmagisch-technischen Streitmacht bezwungen werden können, selbst wenn einzelne von ihnen mit dem Todesfluch vernichtet werden können. Wir wissen nicht, wie viele es noch von ihnen gibt oder wie viele durch die neue Lage schon wieder im Entstehen begriffen sind. Die Drachen der Elfenbeininsel konnten auch sehr schnell nachgezüchtet werden. Und ob wirklich mehr als neun Zehntel der Wolkenhüter starben, wie meine Vorgängerin es im Traum von Pteranda miterlebt hat, können wir auch nicht sagen."
"Womöglich können die diese Vögel sogar klonen, um mit den Schlangenmenschen mithalten zu können, gegen die sie ursprünglich gezüchtet wurden", vermutete Julius düster dreinschauend.
"Ja, und vielleicht besteht sogar eine Möglichkeit, daß deren Hüter sich im Bedarfsfall in neue Wolkenhüter verwandeln können. Denn welchem Zweck außer der Futtergabe selbst mochten diese halbmenschlichen Geschöpfe erfüllt haben, wo die Vögel selbst autark, also ohne ständige Befehlsübermittlung arbeiten konnten?" Fügte Madame Faucon noch hinzu. "Wie dem auch sei: Die unverhoffte Rettung von damals könnte sich zur unermeßlichen Bedrohung entwickeln, die alles was ein gewisser Johannes in seiner Offenbarung ersann in den Schatten stellen könnte."
"Und der Engel griff die Schlange, welche ist der Teufel und bannte ihn für tausend Jahre ... oder so ähnlich", versuchte sich Julius, der andere Bücher mehr schätzte als die Bibel, in einer Stehgreifrezitation.
"Ja, und besagter Teufel war laut jüdisch-christlich-muslimischer Glaubenslehre früher auch ein Engel gewesen, Luzifer, der das Licht tragende Engel. Genauso wie die Vögel aus der Himmelsburg unsere rettenden Engel waren, die die Schlangen eines dem Teufel als Vorbild dienenden Erzmagiers in die Vernichtung gestürzt haben, könnten sie bald zu Racheengeln werden, wenn die Befehle ihrer Herren und Meister nicht befolgt werden."
"Mir ist schon klar, daß ich da wohl noch mal rauf muß, Madame Faucon. Aber wie erklären wir das den anderen, wenn ich nicht mehr wiederkomme und auch nichts von mir da ist, um beerdigt zu werden?"
"Daran denke ich nicht und verbiete es dir, daran zu denken, weil das dein Urteilsvermögen eintrüben und deine Handlungsfähigkeiten lähmen würde", stieß Madame Faucon sehr harsch aus. "Es gilt nun, die veränderte Lage zu erforschen, warum diese Vogelmenschen nun darauf bestehen, daß du diese Flöte wieder an dich nimmst. Wie das geschehen soll kannst du alleine an Ort und Stelle ergründen. Was du danach für Alternativen hast mußt du erst dann erkunden, wenn du das erste Ziel erreicht hast. Jedem von uns widerfährt es im Leben, daß er oder sie erst dann eine Entscheidung treffen kann, wenn die diese erzwingende Situation eintritt. Nicht alles kann geplant werden. Das ist eine Lektion, die in Beauxbatons nicht auf dem Stundenplan steht, weil die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen vorrangiger ist als der Zwang zu spontanen Entscheidungen auf der Basis unzureichender Kenntnisse. Aber ich freue mich, daß du den Mut aufbringst, dich dieser für dein Leben so oder so wichtigen Lektion zu stellen. Denn zwingen kann und will ich dich nicht dazu. Denn mir liegt es fern, ein Leben zu opfern, auch wenn ich damit vertröstet werde, tausend andere zu erhalten. Selbst wenn ich weiß, daß es Situationen gibt, wo diese Entscheidung geboten ist, schöpfe ich lieber vorher alle anderen Möglichkeiten aus. Aber genug geredet. Ich werde mit dir nun in mein Haus reisen, wo du meinen Kameraden Riofuerte treffen wirst. Er spricht übrigens gut Französisch und Englisch. Du kannst dich also ohne magische Hilfsmittel mit ihm verständigen."
"Flohpulver, Reisesphäre oder Intrakulum?" Fragte Julius.
"Flohpulver", antwortete die Schulleiterin. "Die Kamine werden nicht mehr überwacht, die Reisesphäre ist durch ihre Leuchterscheinung und den dumpfen Knall zu auffällig, und daß du ein Intrakulum besitzt muß die spanische Sektion der Liga gegen dunkle Künste nicht wissen. Ich finde es schon ehrenwert, daß der altgediente Kamerad erkannt und befolgt hat, daß seine Begegnung mit dem Reiter des Wolkenhüters nicht weitererzählt werden sollte. Wissen ist Macht, Macht ist Versuchung. Die Zaubereiministerien, unseres eingeschlossen, kommen bis heute wunderbar damit aus, daß die grauen Riesenvögel ohne irdische Ursache aus dem Himmel herabgestoßen sind und nach Vollzug ihrer Vernichtungsmission ohne weiteres Aufsehen dorthin zurückkehrten. Dieser Wissensstand sollte so bleiben, auch und vor allem in deinem Interesse." Julius nickte sehr heftig. An und für sich war dieser Riofuerte schon wieder einer zu viel, der über die Reise von Julius zur Himmelsburg wußte. Doch zunächst galt es, noch einige Fragen zu klären.
Mit Flohpulver wechselten Madame Faucon und Julius nach Millemerveilles über, ohne daß sonst wer in Beauxbatons davon erfuhr. Julius wollte Riofuerte schon die Hand schütteln, und dieser wollte ihn nach spanisch-französischer Landessitte umarmen. Doch Madame Faucon sprang dazwischen und trieb beide mit einem Seperacorpores-Zauber auseinander. Julius hatte zwar gelesen, daß dieser Zauberer ein merkwürdiges Netz zur ständigen Anpeilung übergeworfen bekommen hatte. Doch es jetzt zu sehen war doch was anderes. Da verstand er.
"Wir wollen und dürfen nicht ausschließen, daß dieses magische Gewebe nicht nur dazu dient, Sie, werter Señor Riofuerte, aufspürbar zu halten, sondern womöglich auch eine Komponente besitzt, die eigentliche Zielperson zu markieren oder gleich für den Abtransport sicherzustellen", eröffnete die Besitzerin dieses Hauses.
"Natürlich, Blanche, das könnte denen wirklich in den Sinn gekommen sein", erwiderte Riofuerte errötend. "Da könnten Sie meine Enkeltochter sein, und ich komme nicht darauf, was diese Ungeheuer so anstellen könnten. Lo siento!"
"Das muß Ihnen nicht leid tun, Fernando", erwiderte die Schulleiterin von Beauxbatons ruhig. "Ich gehe davon aus, daß dieser Adlermensch Ihnen meinen derzeit interessantesten Schüler der sechsten Jahrgangsstufe gründlich genug beschrieben hat, um zu befinden, ob er es wirklich ist."
"Na ja, er erwähnte einen blonden Jungen, der fast schon ausgewachsen oder gerade erwachsen ist", erwiderte Riofuerte, der akzentfrei Französisch sprach. Julius nickte. Dann bat er den Besucher darum, den Adlermann als räumliche Bildillusion vorzuführen, um zu klären, ob Julius diesem Wesen bereits begegnet war. Madame Faucon nickte beipflichtend. So zauberte der von seinem grauen Schopf bis zur Unterkante Brustkorb von einem silbrigen Schimmer überzogene Spanier eine räumliche Abbildung des Adlermenschen zwischen sich und die beiden Interessenten. Beide sahen und erkannten in der Projektion, die sich sogar auf der Stelle drehte wie ein Kleidung vorführendes Mannequin den Adlermenschen Vailadorat, vor allem an den vier Silberschwingen auf der Schulterpartie des Übermantels. Julius würde dieses mit einem gekrümmten Schnabel verzierte Gesicht sowieso nicht mehr vergessen. Denn es gehörte seinem Beinahemörder, auch wenn dieser Kerl mit Flügeln da nur Befehle ausgeführt hatte, wie der Bombenschütze über Hiroshima.
"Der werte Zeitgenosse hat Sie nicht belogen, Fernando", sagte Madame Faucon. "Wir beide, Monsieur Latierre und ich, hatten die zweifelhafte, wenn auch notwendige Ehre, ihm zu begegnen." Danach schilderte Julius unter Auslassung des ab wann und wodurch und wo dann genau, wie er von der magischen Flöte erfuhr und die Melodiefolge erlernte, um die Burg zu rufen. Er ging nicht auf Naaneavargia ein oder auf den Ausflug zum Uluru, falls der Liga-Zauberer sich das nicht aus anderen Berichten zusammenreimen würde. Am Ende erwähnte er dann noch, wie er dazu angehalten worden war, die magische Flöte in einem besonderen Raum von sich zu werfen, wo sie dann wohl in einem Strudel oder Abschirmfeld verschwand. Er erwähnte noch das Gefühl, daß etwas vor ihm vorbeigewischt sei, daß wie etwas blitzartig zugreifendes auf ihn gewirkt habe. Deshalb könne er sich auch nicht vorstellen, wie er die Flöte aus dieser Sicherungsverwahrung wieder herausholen könne.
"Nun, ich erwähnte ja in meinem Brief an meine werte Mitkämpferin Madame Faucon, daß die Aussagen des Ornithanthropen darauf schließen lassen, daß seine Befehlshaber gewechselt haben mögen. Sollte es eine Art Umsturz oder Staatsstreich gegeben haben, so hat man ihn wohl nur deshalb nicht eingekerkert oder hingerichtet, weil er Sie kennt, Monsieur Latierre. Ihm wurde wohl eine gewisse Zeit eingeräumt, Sie aufzuspüren und in diese uneinnehmbare Himmelsfestung zu verbringen. Den Machthabern dort mag es eine Angelegenheit auf Leben und Tod sein, daß Sie dieser unorthodoxen Einladung Folge leisten, weil sie ihrem Boten offenbar den Tod bereits angedroht haben und dieser mir meinen Tod und den meiner unmittelbaren Mitmenschen androhte, um seine Botschaft zu bekräftigen. Ob es zu einem Großangriff dieser Riesenvögel kommt, falls ich Sie nicht zur befohlenen Zeit an den befohlenen Ort schaffe, weiß ich nicht und möchte es auch nicht auf mein Gewissen laden, derartige Folgen mitzuerleben. Wie ich Sie gerade einzuschätzen gelernt habe, obwohl Sie Ihren Geist vortrefflich verhüllen können, wollen Sie auch nicht direkt oder indirekt schuldig an einer derartig grausamen Vergeltungsaktion sein. Allerdings frage ich mich schon, was Ihnen dort oben widerfährt und ob es Ihnen vergönnt sein wird, zu uns zurückzukehren und ob es dann so gut ist, wenn Sie diese Flöte, die ja wohl ein beachtliches Machtinstrument darstellt, für andere zugänglich aufbewahren oder mit sich führen."
"Erstens habe ich dem jungen Monsieur Latierre schon begreiflich gemacht, daß es Entscheidungen gibt, die erst bei Eintritt in die sie erzwingende Situation getroffen werden können, Fernando. Zweitens obliegt es vorrangig mir, mir um die körperlich-seelische Unversehrtheit Monsieur Latierres Sorgen zu machen, und das sind nicht gerade wenige." Julius nickte der Schulleiterin zustimmend zu. "Drittens wäre jede Diskussion um die kommenden Dinge reine Zeitverschwendung, da wir alle nicht wissen, welche Antworten auf die sechs elementaren Fragen im Falle der Himmelsburg gegeben werden. Wo befindet sie sich gerade? Was ist dort genau passiert? Wann begann es? Wer war oder ist nun dort oben an der Macht? Warum haben die neuen Machthaber beschlossen, daß Julius Latierre die Flöte wieder an sich nimmt? Diese Antworten kann leider nur Julius Latierre finden, da wie zu befürchten steht nur er unversehrt Einlaß in die Himmelsburg erhalten wird. Insofern lassen wir jede Vermutung besser aus."
"Hmm, aber eine Sache könnten wir vielleicht vorplanen, Madame Faucon", wagte Julius eine Erwiderung. "Ich weiß nicht, wo die Burg ist und ob sie dann dort bleibt, wo ich sie betrete oder nicht gleich anderswo hinspringt. Deshalb sollte ich es besser vergessen, aus ihr herauszudisapparieren. Ich wüßte jetzt auch nicht, ob dort oben nicht eine Abwehr gegen Apparatoren aufgezogen ist. Aber Portschlüssel könnten gehen."
"Natürlich, einen VA-Portschlüssel oder VAP", stimmte Riofuerte sofort zu. Madame Faucon überlegte kurz und nickte heftig.
"Die Ruster-Simonowsky-Begabung meines Schützlings dürfte es möglich machen, daß er selbst geknebelt oder in einem geräuschlosen Raum einen solchen Portschlüssel auslösen kann."
"VAP?" Wollte Julius wissen.
"Verbal aktivierbarer Portschlüssel. Nicht einfach herzustellen und an die Pinkenbachbeschränkungen gekettet. Das heißt, er durchtränkt unbezauberte tote Materie und kann selbst nicht mit weiterführenden Zaubern wie Tarnzauber oder Panzerung belegt werden", erläuterte Madame Faucon. "Er wird an Leute ausgegeben, die davon ausgehen müssen, demnächst in tödliche Gefahr zu geraten und sich ungeachtet von Apparitionswällen oder Mentiloquismussperren unverzüglich an einen vorherbestimmten, nur einmal erreichbaren Ort wo immer auf der Welt zurückversetzen zu lassen."
"Ein wörtlich aktivierbarer Rückkehrportschlüssel also, W-A-R-P. Gefällt mir doch glatt besser, die Abkürzung", erwiderte Julius. "Und der funktioniert dann von jedem Punkt auf der Erde oder darüber zu einem bestimmten Endpunkt?" Wollte er wissen.
"Das ist ja gerade das, was ihn so schwer herstellbar und eingeschränkt macht, weil er im Grunde mit jedem Punkt der Welt verknüpft wird, wodurch er beim Auslösen eine Verbindung zum vorbestimmten Zielort herstellt und sich und jeden, der in dem Moment Körperkontakt mit ihm besitzt dorthin transportiert. Üblicherweise können Portschlüssel zwischen zwei genau bestimmten Punkten im Raum eingerichtet werden und meistens so, daß sie durch Berührung oder zu einem bestimmten Zeitpunkt in Aktion treten. Professeur Bellart hat einmal eine umfangreiche Studie über die Flexibilität von Portschlüsseln unter Berücksichtigung von Gegenstandsgröße, möglicher transportierbarer Personenzahlen und räumlicher Entfernung zwischen den festgelegten Orten veröffentlicht. Das war in meinem ersten Jahr als Lehrerin in Beauxbatons. Ihre Arbeit liegt wie die Veröffentlichungen von mir und anderer Kollegen in der Bibliothek aus, falls es Sie interessiert."
"Achso, und ein WARP ist wesentlich beschränkter, obwohl er erst dann in Kraft tritt, wenn man ein Passwort oder einen Auslösersatz sagt oder denkt?" Erkundigte sich Julius. Madame Faucon nickte und führte an, daß die Personenzahl auf eins beschränkt werde, der Portschlüssel eben keine weiteren Zauber auf sich nehmen konnte und er eben nur einmal aufgerufen werden könne, weil er sich danach auflöse, da die in ihm verdichteten Raumverknüpfungen den Zusammenhalt der Materie zerstören und nur bis zum Auslösen ersetzen würde. "Nur Edelmetalle von Kupfer aufwärts vermögen derartig starke Zauber ohne Zerfall der materiellen Struktur aufzunehmen und freizusetzen", beschloß sie ihre Darlegungen. Julius nickte. Er meinte, es ungefähr zu verstehen, daß Magie eben ihre Grenzen hatte und Materie nicht beliebig mit Zaubern vollgestopft werden konnte, wenn diese nicht behutsam wirkten. Raum und Zeit waren auch in der Magie zu beachtende Größen. Dann fragte die Schulleiterin noch, warum er ausgerechnet das Wort für jenen fiktiven Überlichtflugantrieb als Akronym, also Kurzwort für den Portschlüssel benutzen wolle. Julius erläuterte, daß genau das doch der erwähnte Antrieb mache, zwei Punkte im Raum durch eine künstliche Krümmung des Raum-Zeit-Gefüges näher aneinander heranzuziehen oder gleich zu verbinden, was aber dann nur beim Warp-Faktor 10 passieren würde, der aber energietechnisch so gut wie unerreichbar sei. Señor Riofuerte verzog ungläubig das Gesicht. Madame Faucon erläuterte dem ausländischen Besucher noch, daß die Muggel sich eben nicht mit den von der Natur gegebenen Grenzen abgeben würden und sich Zukunftswelten ausdachten, in denen diese Grenzen vom Menschen überwunden werden könnten, was gleichzeitig auch eine Bühne für Rückschauen abgebe, auf der Auswirkungen der in der Geschichte selbst schon vergangenen Zeit auf die erzählte Gegenwart anging und somit vor in der echten Gegenwart gemachten Fehlern gewarnt wurde oder für die Menschen günstige Auswege angeboten wurden, die eine lebenswertere Zukunft erlaubten, als die gegenwärtigen Bedingungen in Gesellschaft und Technologie sie gestalten mochten. "Ich gewinne der sogenannten wissenschaftlich fundierten Dichtung eine gewisse Sympathie ab, weil sie nicht nur vor den gegenwärtigen Fehlern und ihren Auswirkungen warnen kann, sondern auch schwierige aber lohnenswerte Alternativen im Gedankenexperiment durchspielen und vorstellbare Zukunftswelten daraus konstruieren kann, auch weil hier durch den künstlichen Übertritt über natürliche Grenzen auch die Frage nach dem wie damit umzugehen ist thematisiert werden. Allerdings hole ich die Schüler, die lieber in derartigen Welten ihre Gedanken schweifen lassen immer rechtzeitig in die reale Gegenwart zurück." Sie lächelte jedoch dabei.
"Nun, junger Cavallero, Sie erkennen, daß wir in der Zaubererwelt vieles machen können, was den Menschen ohne Magie nur in solchen Traumvorstellungen vorschwebt, es aber trotzdem immer noch Grenzen gibt, über die wir nicht hinweggelangen oder deren Übertretung hohe Preise fordert." Julius nickte dem Spanier beipflichtend zu. Denn er hatte ja schon erfahren, daß ein mächtiger Zauber seinen Tribut forderte, als er den Zeitpaktzauber in Hallittis Höhle verwendet hatte und dadurch um zwei Jahre alterte, was zwar für einen jungen Körper noch nicht die Welt war, aber bei längerer Verwendung des Zaubers mal eben in die Jahrzehnte Blitzalterung gehen konnte. Naaneavargia hatte ihre Unsterblichkeit mit dem Verlust ihrer menschlichen Eigenständigkeit bezahlt. Die Wiederkehrerin würde, falls sie noch lebte, ihr gestohlenes Leben verlieren, weil es anfälliger für Strahlung war, und was die noch lebenden Abgrundstöchter anging, so waren auch sie im Grunde Sklavinnen ihrer Triebe wie die Vampire. Doch um die ging's jetzt nicht, erkannte Julius. Es ging nun um den wörtlich aktivierbaren Rückkehrportschlüssel. Man einigte sich darauf, einen seiner Socken zu so einem Hilfsmittel zu machen. Er konnte nur hoffen, daß er sich dort oben nicht komplett ausziehen mußte und daß die da oben keinen Spürsinn für andere Zauber hatten. Zwar schlug Madame Faucon ihm eines seiner Unterhemden vor. Doch er deutete nur auf seinen Brustkorb. Sie nickte. Der Practicus-Brustbeutel und der Herzanhänger könnten durch ein großflächiges Kraftfeld gestört oder gar zerstört werden. Das wollte Julius dann doch lieber nicht riskieren.
"Ich werde die Bezauberung höchst selbst vornehmen, um den Kreis der Mitwisser weiterhin kleinzuhalten", gab Madame Faucon ihre Entscheidung bekannt. "Sie, werter Fernando, kehren nach Spanien zurück und stellen sich im Haus der Liga unter den Schutz der dortigen Kameraden. Wie wir das Markierungsnetz von Ihnen abbekommen werden wir in dem Moment erörtern, wo Monsieur Latierre die ihm aufgezwungene Reise antritt. Jeder Versuch davor könnte jemanden dort oben zu unliebsamen Reaktionen verleiten. Ich könnte Sie zwar auch hier in Millemerveilles beherbergen, wo Sie sicher wären. Aber es könnte den Vogelhütern dort oben einfallen, ungeschützte Menschen zu entführen, um das Druckmittel gegen Sie und uns aufrechtzuerhalten."
"Ich weiß, Didier hat das ja wohl häufiger versucht und der Größenwahnsinnige ja auch", stöhnte Riofuerte. Dann bedankte er sich bei Julius Latierre für dessen Mut und Einsatzbereitschaft und kehrte mit Flohpulver zur Grenzstation zurück. Julius sah Madame Faucon fragend an: "Soll ich Millie einweihen?"
"Ich fürchte, Madame Rossignol wird uns die Entscheidung abnehmen, sobald sie erfährt, auf welches wortwörtliche Himmelfahrtskommando ich dich wieder schicke. Ich weiß, wie schwer es dir damals fiel, ohne dich von Claire zu verabschieden nach Hogwarts zu gehen und daß auch die Reise zu den Morgensternbrüdern dir ohne Abschied wesentlich schwerer fiel. Wir wissen beide nicht, wie diese Mission ausgeht und welches eigentliche Ziel sie hat. Denn mir will nicht aus dem Kopf, daß du nur deshalb die magische Flöte Ailanorars zurückerlangen sollst, weil du damit etwas ganz bestimmtes ausrichten sollst."
"Ich kann nur die eine Melodie, und alle haben mich gewarnt, daß jeder darauf gespielte Ton die Luftbewegungen verändert. Eigentlich will ich dieses Ding nicht mehr haben. Außerdem könnten genug Leute finden, es mir wegnehmen zu müssen, weil es eben so eine Macht hat. Sicher, ich weiß, daß mir diese Flöte keiner so einfach wegnehmen kann, weil Ailanorars Seele denjenigen sofort zum Kampf stellt. Aber wenn ich erst sterben muß, damit jemand das herausfindet, beruhigt mich das nicht."
"Du hast trotz deiner Jugend schon viele tödliche Gefahren gemeistert. Sicher, der Besitz eines Gegenstandes, der ein Werkzeug der Bewahrung oder eine Waffe der Vernichtung sein kann, birgt eine permanente Bedrohung, anders als eine Versklavungsseuche Slytherins oder die Bekämpfung der Skyllianri. Doch vielleicht findet sich eine Möglichkeit, Das Instrument sicher zu verwahren, ohne andauernd fürchten zu müssen, seinetwegen ermordet zu werden. Als dieser Psychopath Riddle auf dem Höhepunkt seiner Macht war lebtest du wie ich in der ständigen Gewißheit, bei der ersten falschen Bewegung von ihm oder seinen Handlangern ermordet zu werden oder daß uns liebende Mitmenschen unseretwegen sterben müssen. Gloria beging vor fast einem Monat ihren siebzehnten Geburtstag, weil du das notwendige über die berechtigte Angst gestellt hast. Deine andere gute Schulfreundin Pina konnte durch deinen Wagemut aus der Umklammerung der Todesser befreit und an einem sicheren Ort versteckt werden. Du hättest damals nicht auf dieses Fest gehen müssen, wenn du es eindeutig abgelehnt hättest, dich in Gefahr zu begeben. Sicher ist jede Macht, die durch Kenntnisse oder Hilfsmittel erworben wird Segen und Fluch zugleich. Doch nur wer sich der Macht würdig erweist, kann sie überhaupt erringen, auch wenn viele Gewaltherrscher mich lügen strafen wollen. Erringen heißt nämlich nicht, jemanden zu zwingen, dieses oder jenes zu tun, sondern den Respekt, die Achtung und dauerhafte Treue derer zu gewinnen, die dir helfen können, deine Ziele zu verwirklichen, und zwar ohne Angst vor dir empfinden zu müssen. Das, und nur das, ist dauerhafte Macht. Alles andere ist ein ewiger Kampf, Furcht und Mißtrauen, der Zwang, andere kleinzuhalten, um selbst größer zu wirken. Wenn das eine der letzten Lektionen sein sollte, die du von mir persönlich lernen durftest, dann sei es genau diese lebenswichtige Erkenntnis: Nicht Gewalt oder materieller Besitz machen den Mächtigen, sondern die Achtung und Einsatzbereitschaft seiner Mitmenschen, die Überzeugung, daß die Ideen des Machthabers richtig sind und sie nicht aus Furcht vor ihm, sondern aus Achtung seiner geistigen Größe umgesetzt werden. So, und jetzt wieder nach Beauxbatons, bevor Madame Rossignol deine Gattin fragt, ob du dich mit mir auf unzüchtige Umtriebe einlassen wolltest, daß ich dich zu mir mitnahm." Sie lächelte verwegen. Das kannte Julius von ihr nicht. Er fragte sich, ob er diese Frau, diese Hexenmeisterin, überhaupt jemals wirklich richtig kennenlernen würde. Doch vorerst galt es, der neuen Entscheidung entgegenzugehen. Was wollten die Vogelmenschen von ihm, daß sie fast ein Jahr geschwiegen hatten und so plötzlich wieder an ihm interessiert waren? Er konnte es immer wieder nur auf Temmies Aussage zurückführen, daß da etwas passiert war, das zuerst wie ein lauter Schmerzensschrei und dann wie ungemeine Glückseligkeit und Triumph auf sie gewirkt hatte. Das mußte einfach der entscheidende Vorgang gewesen sein, daß da oben, irgendwo zwischen Erdoberfläche und Weltraum, das bis dahin unbestrittene Machtgefüge umgestoßen wurde und eine klare Entscheidung verworfen wurde.
Mildrid und Madame Rossignol waren naturgemäß nicht begeistert, als Madame Faucon und Julius sie beide noch vor Saalschluß im Konferenzsaal der Schulleiterin begrüßten und die neue Lage schilderten.
"Gut, ohne das Ding wären wir heute wohl alle Schlangenbiester, Julius. Aber was machen wir, wenn du von denen da oben nicht weggelassen wirst. Dieser schräge Vogel Vailadorat hat ja wohl nur was gesagt, daß du die Flöte wieder an dich nehmen sollst, oder?" Wollte Millie noch wissen.
"Nach Señor Riofuertes Aussage geht es denen aber auch darum, daß ich mit der silbernen Trillerpfeife wieder was anstellen kann, also wohl auf die Erde zurückgelassen werde", erwiderte Julius. "Und für den Fall, daß die mich da oben nicht weglassen wollen kriegt Madame Faucon noch einen Frischen Socken von mir, um einen WARP daraus zu machen."
"Einen was?" Fragte Millie verdutzt. Madame Rossignol sah Madame Faucon kritisch an, schwieg jedoch eisig.
"Einen wörtlich auslösbaren Rückkehr- oder Rückbringportschlüssel, W-A-R-P, Millie", erwiderte Julius.
"Ach sowas wie dieses Sofa, mit dem Madame Porter und du aus dem Haus dieses Zachary Marchand verschwunden seid?" Wollte Millie wissen. Madame Faucon schüttelte den Kopf und erläuterte noch einmal, was der Notfallportschlüssel konnte und erwähnte auch, daß Julius ihn deshalb am Fuß tragen wollte, weil er vielleicht andere Zaubergegenstände stören oder gar vernichten könne. Millie faßte sich an ihre Hälfte des gemeinsamen Zuneigungsherzens. Sie bekräftigte, daß sie es auch nicht haben wolle, daß Julius' Hälfte ausfiel. Denn womöglich konnte die Verbindung zwischen den beiden Hälften wieder einmal wichtig werden, wie bei der Eroberung der Zauberflöte Ailanorars oder beim Kampf um Julius' Leben, als ihn dieser Schlangenkrieger gebissen hatte.
"Blanche, ich habe Ihnen damals gesagt, daß ich es nicht mehr hinnehmen möchte, daß Sie einen meiner Pflegehelfer nur auf Grund besonderer Anlagen in die wahnwitzigsten Unternehmungen hineinschicken. Gut, es würde hier und jetzt nichts mehr bringen, ihn mit einem Paar Walpurgisnacht-Ringe an mich zu binden und bis zu seiner ehrenvollen Verabschiedung zu beaufsichtigen. Auch wenn Sie nun de Jure über mir stehen, Madame Faucon, so werde ich eine Idee umsetzen müssen, die ich seit der ersten Himmelfahrtsmission von Julius damals noch Andrews durchdenke."
"Und die wäre, Florence?" Fragte Madame Faucon herausfordernd.
"Das ich es in die Statuten von Beauxbatons fest verankern lasse, daß die amtierende Heilerin von Beauxbatons über das Wohlergehen eines von ihr erwählten und eingegliederten Pflegehelfers absolute Entscheidungsgewalt bekommt und diese auch gegen eine Anweisung der Schulleitung durchsetzen kann und sogar während der ordentlichen Schulzeit den Status der Volljährigkeit ausklammern kann, sofern der betreffende Pflegehelfer oder die Pflegehelferin in Versuchung geführt wird, sein oder ihr Leben zu riskieren."
"Hat Serena Delourdes bereits versucht und vor fünfhundert Jahren auch Madame Muriel Vendredi", bemerkte Madame Faucon dazu. "Damals ging es um die Befreiung der Mutter eines Pflegehelfers aus der Gewalt eines üblen Magiers. Es wurde damals verfügt, daß eine Heilerin nicht das Recht eines Sohnes am Wohlergehen seiner Mutter außer Kraft setzen dürfe. Und genau dieses Recht mache ich jetzt auch wieder geltend, nämlich daß Julius Lattierre nicht nur für sich oder mich eintritt, sondern auch für das Wohl seiner Familie. Darauf hat er ein Recht und durch seine vorzeitig zuerkannte Volljährigkeit auch die Entscheidung, wann und wo er dieses Recht geltend machen möchte. Sie sind nicht seine Mutter, Florence, und ich natürlich auch nicht. Deshalb werden Sie es mir wohl wieder einmal als Heuchelei zu unterstellen wagen, wenn ich bekunde, daß mir am Wohlergehen von Monsieur Latierre sehr viel liegt und ich es als meine vom Schicksal zugewiesene Aufgabe sehe, ihn auf seinem Weg in die Zaubererwelt mit aller Kraft, Umsicht und Entschlossenheit sicher zu führen. Ich habe eine Tochter, die in brisante Situationen eintritt, wo ihr Leben in Gefahr schweben kann. Ich darf sie aber nicht davon abhalten, dieses Risiko einzugehen. Denn dann würde ich ihr den Wert ihres eigenständigen Lebens aberkennen, auch wenn ich natürlich immer gewillt und versucht bin, ihr dieses oder jenes auszureden. Doch ich habe lernen müssen, daß ich längst nicht mehr alles vorausplanen kann und darf, was meine Tochter tut und was sie für richtig hält. Dann hätte ich sie gar nicht erst zur Welt bringen dürfen."
"Meine Eltern und Ma vor allem wollen auch nicht, daß Julius andauernd gefährliche Sachen macht, und ich kann das auch nicht mal eben wegstecken, daß du wieder zu diesen hinterhältigen Piepmätzen da hochfliegen sollst, Julius. Vor allem, weil wir zwei ja noch was vorhaben, was du tot nicht hinkriegst. Deshalb sieh zu, daß du da oben nicht hängenbleibst!"
"Jau, mit der Ansprache komme ich nicht drum rum, denen da oben wieder auszubüchsen", erwiderte Julius mit verkniffenem Gesicht. Millie feuerte zwar einen sehr bösen Blick aus ihren rehbraunen Augen auf ihn ab, mußte jedoch grinsen, während die beiden wesentlich älteren Hexen im Raum verknirscht dreinschauten. Dann meinte die Heilerin:
"Nun, die verlockung eines jungen Körpers mag mehr wiegen als die Besorgnis altgedienter Großmütter, Blanche. Sollen wir hoffen, daß die Motivation von Mildrids Worten Ihren und meinen Schützling sicher von unnötigen Risiken abhält." Millie zwinkerte der Heilerin zu, die ihr dafür ein warmherziges Lächeln darbot.
Es machte keinen Unterschied, erkannte Julius. Er trug die zwei blaßblauen Socken, die passend zum ebenso gefärbten Arbeitsumhang ausgesucht worden waren. Er trug festes Schuhwerk und hatte die verschließbaren Innentaschen seines Umhanges sorgfältig auf genug Platz für diverse Gegenstände geprüft. So nahm er die Goldblütenhonigphiole mit, die Madame Faucon ihn einmal geschenkt hatte. Sie konnte mittelstarke Flüche wie ein Schildzauber abfangen oder von ihm ausgeführte Gegenflüche und Schildzauber verstärken. Darüber hinaus hatte ihm Madame Faucon zur Mitnahme von fluchabwehrenden Schutzhandschuhen geraten, da es durchaus passieren konnte, daß er Dinge anfassen mußte, auf denen ein Fesselfluch oder eine Körperschädigung lag. Die mit einem Hauch Silber beschichteten Drachenhauthandschuhe steckte er ebenfalls in eine verschließbare Innentasche seines Umhanges. Auch das magische Taschenmesser mit mehreren nützlichen Einbauten sollte ihn auf die Reise zu den Wolkenhütern begleiten. Außerdem hatte er alle Zweiwegespiegel im Brustbeutel und trug den Lotsenstein aus der Truhe der Morgensternfestung, seinen Schlüssel zu den alten Straßen. Der Linke Socken war jedoch sein wichtigster Ausrüstungsgegenstand. Denn Madame Faucon hatte ihn nicht nur zum Portschlüssel gemacht, sondern mit diversen Zaubern so gekoppelt, daß er von jedem Punkt der Welt aus seinen Benutzer nach Ausruf des Passwortes in den Dauerklangkerker-Arbeitsraum Madame Faucons in Millemerveilles zurückbringen würde. Denn Julius war eine Idee gekommen, wie er sicherstellen konnte, daß keiner so einfach die magische Flöte stehlen konnte. Er wußte, daß zwischen ihr und Naaneavargia eine telepathische Verbindung bestand. Also mußte er sie so unterbringen, daß keine Gedanken mehr ausgetauscht werden konnten. Da er nicht wußte, welche mentalen Zauber sie in Altaxarroi schon kannten, aber wußte, daß Darxandria die mächtigen Sperren um den Uluru durchdringen konnte, mußte er die Gedankensendungen der Flöte, falls es solche gab, auf eine für die Spinnenfrau unerfaßbare Frequenz beziehungsweise Übertragungsrate einstellen. Frequenz hieß Anzahl von Wiederholungen pro Zeiteinheit. Übertragungsrate hieß eine Anzahl von Informationseinheiten pro Zeiteinheit. Genau das hatte ihn auf die entscheidende Idee gebracht. Als er von Madame Faucon neben dem präparierten Socken auch die Bestätigung erhalten hatte, daß es so gehen mochte, wie er vermutete, war er sichtlich beruhigt.
Wieder griffen Madame Faucon und Julius zu den bewährten Mitteln, die er bei seiner Reise in Slytherins grauenvolle Galerie und bei seinen Ausflügen nach Hogwarts und über den Atlantik angewendet hatte. Er trank Wachhaltetrank, um die Nacht zu überstehen, entzündete nach Mitternacht eine Schlafdunstkerze im Schlafsaal, als er sicher war, daß alle in ihren Betten lagen und verließ den Saal im Schutz eines Kopfblasenzaubers. Er wandschlüpfte in die Nähe des Bildes mit dem streitbaren Königspaar, wo Madame Faucon ihn erwartete. Sie rief das Losungswort aus, dem sich die ewig streitenden Motive des Bildes nicht verweigern durften und zogen sie und ihn in den Wohn- und Arbeitstrakt der amtierenden Schulleiterin hinüber. Von dort aus ging es per Flohpulver in das Haus der Schulleiterin. Dort sah Julius die silberne Schachtel. Madame Faucon hatte tatsächlich ganze Arbeit geleistet. Denn er erkannte die Runen, auf die es ankam. Mit dem Diebstahlschutzzauber bezauberte er die berunte Schachtel so, daß nur er sie noch tragen konnte und ließ sie in der größten Innentasche seines Umhanges verschwinden. "Kaum zu glauben, daß eine Schachtel aus hauchdünnem Silber so viel Macht aufnehmen kann", meinte er zu Madame Faucon.
"Es war gut, diese lange Vorwarnzeit zu haben. Ich denke, es wird gelingen, was du vermutest. Denn selbst wenn Ailanorars Stimme beseelt ist ist sie rein physisch ein unbelebter Gegenstand und kann damit dem Zauber unterworfen werden. Aber wollen wir uns nicht zu lange aufhalten. Wir apparieren zur Grenze. Dann aktivierst du den Lotsenstein und bringst uns beide zum Startpunkt!" Gab die Schulleiterin die Marschroute vor. Julius bestand jedoch darauf, erst einmal im freien Gelände einige Aufwärmsprünge zu machen, um sich wieder einzugewöhnen.
Die Leiterin von Beauxbatons apparierte Seit an Seit mit Julius in die Nähe der magischen Schutzglocke von Millemerveilles. Diese mußten sie zu Fuß durchschreiten, was Julius an einer wilden Zitterbewegung seines Pflegehelferarmbandes merkte. einen Kilometer außerhalb der Abggrenzung konzentrierte sich Julius auf einen Baum, der knapp hundert Meter von ihm entfernt stand. Wille, Ziel, Bedacht. Er ging alle drei Stufen sorgfältig durch und warf sich in die nötige Drehbewegung. Er verschwand mit mittelstarkem Plopp im Nichts, um keinen Lidschlag später knapp drei Meter vor dem angepeilten Ziel zu erscheinen. Schnell prüfte er, ob er noch alles an sich hatte, was er mit in den Transit genommen hatte. Er atmete auf. Apparieren war also doch wie Laufen, Schwimmen und Fahrradfahren. Einmal gründlich gelernt und lange genug geübt saß es sicher. Er mußte halt nur häufig genug üben, wenn er in den Ferien war. Fünf weitere Testapparitionen später fühlte er sich fit genug, um den großen Sprung in die Pyrenäen zu machen. Hierbei kam zu Gute, daß er zum einen das genaue Ziel schon einige Male aufgesucht hatte und er mit Hilfe des Lotsensteins eine spürbare Ausrichtungshilfe für die zeitlose Ankunft bekam, sobald er das Aktivierungswort sprach. Er holte den runden Stein mit den silbernen Linien und mysteriösen Zeichen, den er damals in der Festung der Morgensternbrüder aus einer Truhe gefischt hatte, aus seinem Umhang und wog ihn. Wieder einmal würde das alte Erbe seinen Tribut von ihm fordern, dachte er. Dann tippte er den stein mit dem Zauberstab an und sagte "Ashmirin", was "ein Leben" bedeutete. Sofort vibrierte der runde Stein und leuchtete an einem Punkt. Julius drehte die magische Kugel vorsichtig, bis eine bestimmte Markierung aufleuchtete und die Vibration sich verstärkte. Madame Faucon hielt sich an seinem linken Arm fest. Er dachte, genau dort hinzuwollen, wo ihn das Gefühl hinzog, das in ihn einströmte. Dann stellte er sich und Madame Faucon vor, wie sie dort standen. Das Gefühl, genau zu wissen, wo er hinwollte verstärkte sich. Er sah sogar die Umgebung der unsichtbaren Startplattform vor dem geistigen Auge. Dann drehte er sich rasch in den Transit. Madame Faucon, die sich nur darauf konzentrieren mußte, dort zu sein, wo Julius sein wollte, erleichterte damit ihre Mitnahme. Beide verschwanden mit scharfem Knall aus dieser Gegend. Nichts blieb von ihnen zurück.
Julius atmete auf, als er festgestellt hatte, daß sie beide vollständig genau da angekommen waren, wo er hinwollte. Hier war die Plattform.
"Hoffentlich ist Ihr Kollege Riofuerte nicht doch zum Treffpunkt geflogen", grummelte Julius noch. Madame Faucon sagte, daß er sich in der Nähe aufhalten würde, bis der Morgen graute. Sollte Vailadorat befinden, ihn zu suchen, wollte er es ihm leicht machen und zugleich seine Familie schützen. Er würde aber nur bis auf einen Kilometer an den Steinkreis heranfliegen, hatte der Spanier seiner Kameradin versprochen. Julius nickte und fragte sie, ob sie nicht doch mit ihm mitkommen wolle. Sie schüttelte den Kopf.
"Ich kann von meinem Haus aus besser überwachen, ob du erfolgreich bist. Abgesehen davon würden sie mich nicht mitnehmen", schnaubte sie verdrossen. Natürlich wäre sie liebendgerne bei ihm geblieben. Doch sie hatte die Stärke der Wolkenhüter nicht vergessen. Ein Befehl des Adlermenschen würde reichen, um sie von diesem Riesenvogel einäschern oder aufspießen zu lassen. Damit würde sie Julius nicht helfen. So blieb ihr nur, ihm Glück und eine unversehrte Rückkehr zu wünschen und sich einige Dutzen Schritte weit zurückzuziehen, damit er alleine im magischen Reisezylinder der alten Straßen stecken würde.
"Ashmirin Pankiaterkanadanir Lemgartis!" Hörte sie ihn noch rufen. Da schnellte ein goldener Zylinder aus Licht um ihn herum nach oben, schloß sich über ihm und löste sich für einen Moment, um dann ohne Geräusch in die Tiefe zu stürzen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils verschwand der Zylinder. Für einen winzigen Augenblick konnte Madame Faucon noch eine Fläche aus goldenem Licht sehen, bevor diese verschwand wie ausgeschaltetes elektrisches Licht. Julius war nicht mehr da. Er war unterwegs auf den alten Straßen. Die Lehrerin atmete durch. Beim letzten Mal hatte sich die geflügelte Riesenkuh Artemis kurz vor der Abreise dazugesellt. Diesmal hatte die in der magischen Kuh wiederverkörperte Königin des alten Reiches keine Anstalten gemacht, Julius zu begleiten. Womöglich merkte diese, daß ihre voranschreitende Schwangerschaft oder Trächtigkeit sie nicht mehr so einsatzfähig machte oder sie in diesem Fall nicht mehr so dringend benötigt wurde. Jedenfalls hatten weder Julius noch sie etwas davon mitbekommen, daß Temmie auf die magische Reise mitgenommen werden wollte. Der Schulleiterin blieb nun nur noch, in die Nähe von Millemerveilles zurückzukehren, um in ihrem Haus Posten zu beziehen. Sie hatte ein Bild eines früheren Schulleiters dort hängen, über das sie mit Beauxbatons Kontakt halten konnte. Wenn es darauf ankam, konnte sie sehr schnell in die Akademie zurückkehren. Doch im Moment hoffte sie, daß sie Julius' Rückkehr noch direkt mitbekommen konnte. Doch wann würde er zurückkehren? Sie wagte erst gar nicht, die Frage nach dem ob überhaupt zu denken.
Julius hatte die alten Straßen ausgiebig kennengelernt. Dennoch beeindruckte ihn das immer noch, wie er durch einen Tunnel aus rotem, blauem und silbernen Licht dahinraste und wie in einer Achterbahn auf- und abstieg, in Kurven gedrückt wurde und dann mit einem Ruck nach oben geschossen wurde. Der Zylinder, in dem er sicher vor den ihn umströmenden Zauberkräften transportiert wurde, sackte um ihn herum in die Plattform ein, die einige Meter unter dem festen Boden angelegt worden war. Dann sah er die mächtigen Megalithen um sich herum, die einem alten Baudenkmal wie Stonehenge alle Ehre machten. Schnell verstaute er den Lotsenstein in seinem Brustbeutel. Dort würde ihn nun niemand mehr gegen seinen Willen hervorholen können. Doch lange durfte der runde Stein da nicht bleiben, weil dessen magische Ausstrahlung den Diebstahlschutz des kleinen Tragetäschchens abschwächen konnte.
Im Licht seines Zauberstabes sah er sich um. Im Moment war niemand hier. Hatte Madame Faucon sich geirrt, und der Vogelmensch war schon wieder fort und würde morgen früh Vergeltungsangriffe einleiten? Der Zauberschüler blickte nach oben und konnte nur denselben schwarzen Himmel sehen, der auch in Frankreich die Herbstnächte bildete. Ja, unter den dicken Wolken, die Mond und Sterne verhüllten, konnte sich ein fliegendes Objekt ohne eigene Beleuchtung gut verbergen, dachte er. Doch dann gewahrte er eine Bewegung. Etwas trat vor dem dunklen Himmel in den Vordergrund. Etwas blau funkelndes, wie ein haarfeiner Spalt klarer Tageshimmel, der jedoch innerhalb einer Sekunde zu einem fingerdicken Leuchtfleck wurde. Jetzt erkannte Julius, wie der Leuchtfleck zu einem kugelförmigen Gebilde, einem Bolliden aus kaltem Blau, anwuchs und sah im Inneren der Lichtkugel den erst fliegengroßen und im nächsten Moment mehr als schwanengroßen grauen Vogelleib, an dessen Seiten große Schemen wirbelten. Dann erlosch das Licht, und in der beinahen Dunkelheit sackte das ungeheure Vogelwesen wie ein Senkrechtstarter auf den Steinkreis zu. Julius verstärkte den Lichtstrahl seines Zauberstabes und richtete diesen kerzengerade nach oben. Der magische Lichtstrahl wurde hellgrau von der Unterseite des niedergehenden Vogels zurückgeworfen. Jetzt konnte Julius auch sehen, wie die Schwingen des Riesenvogels weit aber langsam ausschwangen. Er hörte das rhythmische Rauschen der von ihnen verdrängten Luft und sah, daß der Vogel Zeit hatte, um zu landen. Julius bangte schon, die kleinwagengroßen Fänge des Wolkenhüters würden genau über seinem Kopf herabstoßen. Er kam sich vor wie eine Maus, die sich einem angreifenden Adler ausgeliefert sah. Doch der Vogel setzte fünf Meter von ihm entfernt mit den vier Zehen auf. Der Vorderteil des Vogels überragte Julius um einige Meter wie der Bug eines kleinen Flugzeuges. Er wich nach links aus um zu sehen, ob der Vogel ungeritten war. Tatsächlich erkannte er einen leeren Sattel auf dem Rücken des Vogels. Dann sah er noch ein blaues Licht über sich und keine Sekunde später einen weiteren Wolkenhüter, der jedoch auf der Krone eines der Megalithen aufsetzte. Auf diesem thronte der Adlermann Vailadorat. Julius warf ihm einen finsteren Blick zu.
"Du wolltest mich sehen, Vailadorat? Ich hörte, du mußt einem neuen Herren dienen", begrüßte Julius den Vogelmann, der keine Anstalten machte, aus dem Sattel zu steigen. Vor der Brust des Adlermenschen hing jene runde Platte, die wohl als Gedankenübersetzungsvorrichtung diente. Denn sonst hätte Julius die verärgerten Schreilaute wohl nicht als Worte verstehen können, die ihm nun entgegengerufen wwurden.
"Berger der Stimme des Schöpfers. Der Rat der Diener der Schöpfer sendet dir durch mich die Aufforderung, unsere erhabene Burg, die niemand findet, aufzusuchen und die von den Verrätern Garuschat und Pteranda abgerungene Stimme des Schöpfers wieder an dich zu nehmen. Ich habe den Befehl, dich zu den Dienern des Schöpfers zu geleiten. Ersteige den Wolkenhüter, der in deiner Nähe steht und umschließe deinen Leib mit den Strängen der Sicherheit!"
"Ist ja gut, daß dein Mordplan damals in die Hose ging, Augiliar. Sonst hättest du wohl heute eine Menge Ärger, wie?" Provozierte Julius den Adlermann, der trotz der silbernen Flügelabzeichen auf seinem Umhang nur ein niderer Handlanger war. Julius war zwar nicht besonders nachtragend. Aber wer ihn umzubringen versucht hatte konnte von ihm keine große Sympathie erwarten.
"Ersteige den Wolkenhüter und geleite mich zur erhabenen Burg des Schöpfers, um dort mit seiner Stimme wiedervereinigt zu werden!" schrillte ihm Vailadorats Antwort entgegen. Julius wußte, daß er sich mit diesem hörigen Diener da nicht Stunden lang herumzanken konnte. Außerdem wußte er, daß Vailadorats Zeit ablief. Der Adlermensch würde jetzt, wo er Julius sah nicht mehr darauf verzichten, ihn zur Himmelsburg hinaufzubringen. Doch Julius mußte noch etwas klären.
"Der Mann, den du zu mir geschickt hast möchte dieses silberne Netz wieder loswerden. Er möchte endlich seinen Körper baden und frische Kleidung anlegen. Wie wird er das Zeug los?"
"Ich weiß, daß er in der Nähe ist. Er steht auf halbem Weg zwischen Mitternacht und Morgen eintausend Schritte des Schöpfers bereit. Da er seinen Auftrag erfüllt hat soll er herkommen!"
"Julius nickte und dachte daran, daß mit den Zeitangaben Himmelsrichtungen gemeint waren. Da Altaxarroi zum großen Teil nördlich des Äquators gelegen sein mochte, war Mitternacht wohl die Richtung, in der die Sonne bei Mitternacht weit unter dem Horizont war, also Norden. Mit der Richtung Morgen war also Osten gemeint. Julius richtete sich also nordöstlich aus, löschte das Zauberstablicht und feuerte dreimal grüne Funkenwolken in die angegebene Richtung. Es dauerte einige Sekunden, da ploppte es außerhalb des Steinkreises. Riofuerte kam mit entzündetem Zauberstablicht zwischen den gewaltigen Steinen hindurch. Im Widerschein des magischen Lichtes glitzerte das filigrane Gewebe, daß seinen Kopf und seinen Oberkörper umschloß. Vailadorat sah den Spanier an und deutete mit seinem gekrümmten Adlerschnabel auf ihn. "Er hat seine Aufgabe erfüllt", sagte er. Julius wußte nicht warum, aber irgendwie klangen diese Worte eher nach einer Drohung statt nach einer Bestätigung. Dann stieß der Adlermensch einen kurzen, schrillen Laut aus. Sein Reitvogel richtete seinen langen, spitzen Schnabel auf Riofuerte und öffnete diesen einen Spalt. Julius erkannte, was passieren sollte. "Katashari!" Rief er mit auf den Wolkenhüter deutendem Zauberstab. Dabei ließ er den Schrecken der Erkenntnis als Zauberspruchverstärker einfließen und dachte daran, daß der Wolkenhüter von ihm zurückgestoßen wurde. Ein silberner Lichtblitz traf den Vogel in den geöffneten Schnabel, in dem Julius schon ein Glimmen zu erkennen meinte. Der Vogel zuckte wie von einem wuchtigen Schlag getroffen zusammen. Er zitterte. Vailadorat fauchte wie ein aus einem lecken Rohr schießender Dampfstrahl. Dann funkelte er mit seinen gelben Raubvogelaugen den Zauberschüler an.
"Du wagst es, den Befehl der Diener des Schöpfers zu verhöhnen, Flügelloser. Der Bote weiß zu viel und muß sterben", schrie er. Riofuerte hörte das wohl auch und richtete den Zauberstab auf den Adlermann, der blitzschnell etwas langes, glänzendes unter seinem Umhang hervorholte, das Julius erkannte. Es war jene mächtige Waffe, die die Wächter in Gregorians Bild besessen hatten und die auch den alten Altaxarroin vertraut war. Damit konnten energiereiche Strahlenbündel verschossen werden wie aus einer Laserkanone à la Krieg der Sterne. Also wollte Vailadorat Riofuerte umbringen. Julius sah den Liga-Zauberer an. Doch dieser hatte bereits gehandelt. Unvermittelt stand dort nicht mehr ein Riofuerte, sondern es waren ihrer zehn Stück, die sofort in verschiedene Richtungen davonliefen. Doch Vailadorat zielte auf eine bestimmte Ausgabe und wollte schon den Abzug betätigen, als Julius zum zweiten Mal den Todesbann ausrief, mit dem er Lebewesen davon für bestimmte Zeit von tödlichen Angriffen abhalten konnte. Diesmal erwischte es den Adlermann, der darauf zusammenzuckte und mit verwirrtem Blick die tödliche Waffe senkte.
"Den muß ich lernen", grummelte Riofuerte auf Französisch, als er sah, wie der Vogelreiter benommen im Sattel saß und wie weggetreten wirkte.
"Der hält nicht lange vor", sagte Julius und sah den an, auf den Vailadorat gezielt hatte.
"Der hat sich nicht verwirren lassen", knurrte Riofuerte. "Ist das eine Schußwaffe?""Eine magische Strahlenkanone", erwiderte Julius und rief dem Vogelmenschen "Expelliarmus" entgegen. Klirrend prellte ein scharlachroter Blitz die gefährliche Waffe aus Vailadorats Händen. Bevor sie zu Boden stürzte rief Julius "Accio Waffe!" Dann fing er das brandgefährliche Mordwerkzeug mit der freien Hand auf. Dank seines Krafttrainings erschien ihm die Waffe nicht so schwer. Erst, als er sie so balancierte, daß sie ihm nicht aus der Hand fiel merkte er, daß sie sicher ihre fünf Kilo wiegen mochte. Ein beachtliches Gerät. Doch er durfte sich damit nicht lange befassen. Er wußte nicht, wi lange die Todeswehr bei Reiter und Reittier vorhielt. Fünf Minuten mochte die Höchstgrenze sein, je nach eigener Willens- und Zauberkraft des damit belegten Gegners. So legte er die Waffe auf den Boden und wandte sich an Riofuerte. "Okay, reisen Sie zu Madame Faucon und sagen sie ihr, daß sie das Zeug mit der Brachialmethode von Ihnen abmachen soll! Ich reite gleich rauf zur Himmelsburg!"
"Bist du nicht ein bißchen jung, um mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe?" Begehrte der silberhaarige Zauberer auf.
"Ich bin alt genug, um das Ding da in der Hand zu halten, mit dem Vailadorat sie gerade zerstrahlen wollte. Und wenn Sie nicht sofort verschwinden könnte es sein, daß dessen Reittier aus dem Zauber freikommt, mit dem ich ihm den Tötungsdrang abgewürgt habe. Sie wissen genau, was Madame Faucon mit ihnen beredet hat. Ich will keinen Ärger mit ihrer Frau kriegen, wenn ich der nur einen kleinen Haufen Asche nach Hause schicken kann."
"Das würdest du auch nicht überleben, Chiquito", grummelte der Liga-Zauberer, mußte dann aber lächeln. "Bueno, me marcho, ähm, ich geh dann besser wieder." Sprachs und eilte aus dem Steinkreis, um außerhalb des Ringes mit leisem Plopp zu disapparieren. Julius ließ die Waffe, die wie ein goldener Feldstecher mit kugelförmigem Anbau und Abzugsvorrichtung aussah nicht auf dem Boden liegen. Er hatte den daumenbreiten Riemen bemerkt, der die Waffe schmückte. Damit konnte er sie sich locker überhängen. Dies tat er dann und lief dann auf den unbemannten Wolkenhüter zu, der geduldig auf den Aufstieg wartete. Offenbar war er nicht auf einen Mord abgerichtet gewesen. Julius hatte schon zweimal im Sattel dieser Riesenvögel gesessen. Er war immer hinaufgehoben worden. Hier und jetzt bediente er sich des Zaubers, den er von Garoshan erlernt hatte und flog ohne Flügel und Besen nach oben. Er ließ sich in den Sattel sinken und legte die Sicherheitsgurte um. Dann rief er dem Vogel zu, zur Himmelsburg zu fliegen. Natürlich verstand der Vogel kein Englisch oder französisch. Da fiel Julius die Lautkombination ein, die Vailadorat beim ersten Zusammentreffen gebraucht hatte und stieß so schrill er konnte diese Laute aus. Der Vogel ruckelte. Doch dann stieß er sich ab. Wie von tausend Starkstromleitungen schossen Funken aus seinen Federn und bildeten die blaue Leuchtspähre um den Körper des wolkenhüters. Sofort merkte Julius, wie er mit seinem vielfachen Gewicht in die hohe Sattellehne gedrückt wurde, während der Vogel raketengleich in den Himmel hineinstieß, die mächtigen Schwingen laut surrend wirbelnd. Womöglich hatten sie die Schallmauer bereits durchbrochen, dachte Julius. Er riskierte einen Blick um den Sattel herum nach unten und sah eine zweite blaue Sphäre hinter sich. Also hatte es geklappt, auch den anderen Vogel zum Rückflug aufzufordern. Vailadorat kam wohl gerade wieder zur vollen Besinnung. Sein Tötungsbefehl war nicht mehr ausführbar. Die beiden Vögel schossen in die dicke Wolkendecke hinein und innerhalb von drei Sekunden durch diese hindurch. Jetzt konnte Julius zumindest den Mond sehen. Die Sterne waren durch die blaue Energieblase überdeckt.
Eigentlich rechnete Julius damit, gleich auf die Burg zu treffen. Doch der Riesenvogel verringerte seinen Steigungswinkel nach nur dreißig Sekunden Steigflug und warf sich nach vorne, wobei die Flügel noch wilder schwangen und ihr Geräusch zu einem Sirren wurde. Julius fragte sich, wie das möglich war, einem Vogel derartig schnelle Flügelbewegungen anzuzüchten. Rein anatomisch konnte das nicht gehen, weil er dafür bestimmt riesige Schnellkraftmuskeln haben mußte und die Flügel aus besonders hartem Material bestehen mußten, um den immensen Luftwiderstand auszuhalten. Womöglich lag das Geheimnis aber nicht in den Flügeln, sondern in der blauen Sphäre. Er wußte von Temmie, daß sie dank eigener Magie schneller und weiter als übliche Latierre-Kühe fliegen konnte. Dieser Vogel hier mochte der Höhepunkt einer Züchtung von Flugtieren sein, bei dem Geschwindigkeit nicht durch Muskelkraft erzielt wurde.
Julius hatte nach Ende des Steigfluges auf die Armbanduhr geblickt und prüfte nun immer wieder die Zeit. Sie flogen bereits zwanzig Minuten und hatten dabei bereits fünf Zeitzonen nach Osten durchflogen. Das war unglaublich, wie schnell dieses Vogelwesen dahinjagte. Womöglich kam nicht einmal der Stratofeger aus den Staaten hinter diesem Ungetüm her. Julius verwarf die Idee, Madame Rossignol anzuzittern und seinen Standort bestimmen zu lassen. Die Burg war garantiert irgendwo, wo so schnell niemand sie entdecken konnte. Außerdem wußte er, daß sie beliebig oft den Standort über der sich drehenden Erde verändern konnte. Damit war es völlig egal, ob er wußte, wo er in diesem Moment gerade war.
Nach weiteren zehn Minuten Flug stieg der Vogel wieder ein wenig an. Nach weiteren fünf Minuten konnte Julius in der Ferne einen grünen Punkt ausmachen, der sich vom Dunkel des Himmels abhob. Das war die magische Energiesphäre, die die Himmelsburg umschloß, um sie weit oben in der Stratosphäre mit atembarer und angenehm warmer Luft zu versorgen. Das Flugtempo verringerte sich merklich. Julius wurde in die Sicherheitsgurte geworfen, weil der Vogel mit einem mehrfachen der irdischen Schwerkraft verzögerte. Dann sah er jene ovale Energieblase immer größer vor sich. Mit einem wimmernden Geräusch wie singende Sägen durchstieß der Wolkenhüter die grüne Leuchterscheinung. Die eigene, blaue Kugelschale erlosch danach. Julius hatte sich gefragt, ob er dieses brotscheibenartige Gebilde, das gut neun Fußballfelder lang und sechs breit sein mochte, jemals wieder sehen würde. Eigentlich hatte er gehofft, es nicht mehr betreten zu müssen. Er sah die Gebilde, die wie nach unten wachsende Riesenpilze an der Unterseite befestigt waren und die mehreren, vieleckigen Bauten auf der Oberseite der wohl fünfzig Meter dicken Plattform. Er erkannte auch den Turm der Herrscher, der in einem eigenen grünen Energiekegel eingehüllt stand. Dann sah er die Landefläche. Der Wolkenhüter hörte mit dem irrsinnigen Flügelschlagen auf und glitt die letzten Meter bis zur ihm bestimmten Stelle aus. Mit einem spürbaren Ruck bekamen die großen Füße Kontakt. Julius wußte nicht, wie er die Gurte lösen konnte. Doch das wurde ihm von zwei Vogelmenschen abgenommen, die mit rauschenden Flügelschlägen heraneilten. Es waren die rabenartigen Bewohner der Himmelsburg.
"Der Wecker der Stimme hat mich daran gehindert, den Boten zum schweigen zu bringen", protestierte Vailadorat, als ein weiterer Adlermensch heranflog, der einen blutroten Umhang und auf jedem Schulterblatt eine goldene Schwinge als Abzeichen trug.
"Bei uns werden die Boten nicht mehr umgebracht, wenn sie unangenehme Nachrichten bringen", knurrte Julius, während einer der Rabenmänner die Gurte löste und ihn aus dem Sattel hob.
"Wir werden den Boten schon stellen und zum schweigen bringen, um das Geheimnis des Schöpfers zu hüten", sagte der Adlermensch scheinbar beschwichtigend. Dann sah er Vailadorat an. "Du hast diesen Auftrag auf jeden Fall erfüllt. Der Rat wird also gnädig zu dir sein."
"So darf ich weiterhin meinen Dienst versehen?" Fragte Vailadorat mit einer gewissen Unsicherheit in der Stimme, die Julius nun so wie von Menschen gesprochene Worte verstand.
"du wirst nicht in die Tiefe auf die harte Welt geworfen und auch nicht entflügelt und in die Grube der Geächteten gestoßen", sagte der Träger der beiden Goldschwingen, den Julius noch nicht mit Namen kannte. Vailadorat atmete wohl auf. .
"Gib deine Waffe ab!" Befahl der ranghöhere Adlermann. Vailadorat erschrak. Seine Waffe? Die hatte ihm Julius doch abgenommen und auf dem Boden liegen lassen. Da er in dem Moment nicht klar bei Sinnen war und sein Reitvogel dem schlecht imitierten und doch verständlichen Befehl gefolgt war, nach Hause zu fliegen, hatte er sie nicht mehr an sich nehmen können. Das sagte er dem rotgekleideten Artgenossen.
"Du hast dich entwaffnen lassen, von einem Flügellosen. Du hast den Befehl, den Boten verstummen zu lassen nicht ausführen können, weil dieser hier dich mit einem Ruf der Kraft davon abhielt? Was hätten wir auch sonst von dir erwarten können, Verräter am Schöpfer", krächzte der Adlermensch. Für einen Moment schien es, daß er nicht wußte, was er jetzt tun sollte. Dann nickte er jedoch und stieß einen kurzen Laut aus, den Julius als "Ausführung" verstand. Was dann passierte jagte dem Zauberschüler einen Heidenschrecken ein und vervollständigte die Sammlung unangenehmer Erinnerungen. Denn unvermittelt schossen silberne Flammen aus dem Umhang Vailadorats. Julius hatte gerade noch erkennen können, daß sie auf Halshöhe ihren Ursprung hatten. Keine Sekunde später waren die silbernen Feuerzungen bereits bis zu den Füßen des Adlermenschen hinabgewandert. Mit einem letzten, lauten Aufschrei verging Vailadorat zu einem Haufen weißer Asche. Dann erlosch das magische Vernichtungsfeuer so plötzlich, wie es entflammt war.
"Sie haben ihn umgebracht", stöhnte Julius dem Goldschwingenträger zugewandt. "Ist das der Wille eures Schöpfers?"
"Verrat verdient den Tod. Er wäre schon längst in die heilige Umhüllung gestürzt und von dieser verzehrt worden oder zu den Entflügelten gesperrt worden, wenn er nicht der gewesen wäre, der wußte, wo Ihr zu finden sein würdet, Erwecker der Stimme des Schöpfers", erwiderte der Adlermensch. Julius stand immer noch erschüttert da. Zwar war Vailadorat ein niderer Befehlsempfänger gewesen, der ohne zu zögern versucht hatte, ihn umzubringen. Aber auf diese Weise zu sterben war grausam. Kein Feind hatte einen solchen Tod verdient.
"Ich verstehe, sie lieben den Verrat und hassen die Verräter", stieß Julius aus, dessen Erschütterung zu Verachtung umgeschlagen war. "Für Sie ist ein Menschenleben bedeutungslos, wie?"
"Jedes Leben hat seine Bedeutung, bis es zum Schaden anderer verkommt", versetzte der Rotgewandete mit den goldenen Rangabzeichen scheinbar völlig gefühllos. "Der Bote, welcher dich herbeirief hat nun seine Bedeutung verwirkt und kann uns mit dem was er weiß schaden, ebenso wie jene Frau, die dich einst begleitete. Denn von uns zu wissen ist nur uns und den Vertrauten des Schöpfers erlaubt." Julius erkannte, daß das eine Morddrohung gegen Madame Faucon war. An sie kamen sie wohl noch nicht heran. Aber ihm war klar, daß man ihn wohl nicht fortlassen würde, bis er erzählt hatte, wo sie zu finden war. Julius erkannte, daß dieser Adlermensch da gerade einen entscheidenden Fehler gemacht hatte, ihm das so frei heraus zu verraten. Denn nun wußte er, daß er so schnell wie möglich von hier fort mußte, sobald er die Stimme des Schöpfers gefunden hatte. Denn solange er diese noch an sich nehmen mußte, galt sein Leben wohl noch als bedeutsam. Floh er jetzt mit dem Portschlüssel würden die verbliebenen Wolkenhüter gnadenlos alles angreifen, was mit ihm zu tun hatte. Sie würden ihn jagen und alle umbringen, die ihm halfen. Die Situation glich einem Schach Matt in drei Zügen, dachte Julius. Konnte er diese Partie noch für sich entscheiden oder würde er den Preis für seine Dreistigkeit bezahlen, an das Erbe Ailanorars zu rühren? Würden Madame Faucon und womöglich auch die Latierres sterben müssen, damit diese Fanatiker hier ihre Ruhe vor den Leuten von der Erdoberfläche haben mochten? Julius wagte nicht, den Gedanken weiterzuführen, wer dann noch alles auf der Strecke bleiben würde.
"Ihr hattet den Auftrag, den Willen des Schöpfers zu erfüllen und dessen Feinde zu töten", versuchte er einen Vorstoß. "Um das zu tun mußtet ihr gerufen werden. Um euch zu rufen, mußte jemand die Stimme des Schöpfers finden und richtig benutzen. Das konnte ich nur, weil jene Frau, die Vailadorat bei mir sah, mir alles wichtige beigebracht hat, um mich dieser Aufgabe zu stellen. Nur ihr verdanke ich es, daß ich die Stimme des Schöpfers suchen durfte. Sie half also mit, seinen Willen zu erfüllen und verriet auch niemandem, wie und wo ihr herkamt."
"Pteranda erzählte es uns schon, daß sie den Verrat ihres Angetrauten erkannte und vereitelte. Deshalb wird sie wohl nicht in die Grube der Geächteten geworfen, wie der Verräter Garuschat", sagte der Rotgewandete. Dann erkannte er, daß Julius wohl meinte, alle Zeit der Welt zu haben. "Ich habe den Befehl, den Erwecker der Stimme des Schöpfers vor den hohen Rat seiner Diener zu führen, auf daß dieser ihm verkünde, warum er zu uns kommen mußte", schrillte er und winkte den beiden Rabenmännern in dunkelblauen Lendenschurzen mit je zwei silbernen Federn. Dann sah der Adlermensch die Waffe auf Julius' Rücken. "Du hast die Waffe des Verräters erbeutet, um ihn daran zu hindern, unseren Auftrag auszuführen. Gib sie uns heraus, Erwecker der Stimme des Schöpfers!"
"Vergiß es, Rotrock. Die Waffe bleibt bei mir. Ihr dürft mir nichts antun, weiß ich. Also spar dir jede Drohung und jeden Angriffsbefehl!"
"Du kannst mit dieser Waffe nicht umgehen", sagte der Adlermensch höchst verärgert. Julius nickte und entgegnete, daß er auch nicht vorhatte, sie einzusetzen. Der Adlermensch schlenkerte den gekrümmten Schnabel herum, als wolle er damit einen Ring in die Luft schneiden. Offenbar kämpfte in ihm der Wunsch, die Waffe gewaltsam zu ergattern gegen den obersten Befehl, den Erwecker der Stimme des Schöpfers zu schonen. Ihn ärgerte es wohl, daß sich Julius Latierre nicht einschüchtern lassen würde, weil der wußte, daß man ihm nichts tun durfte. Denn offenbar hatte Ailanorar es irgendwie hinbekommen, die zu bestrafen, die damals versucht hatten, ihn umzubringen. Garuschat und seine Familie würden wohl hingerichtet oder wortwörtlich in der Versenkung verschwinden. Konnte und wollte er dagegen Einspruch erheben? Ihm war gerade nur wichtig, daß er diese vermaledeite Zauberflöte wiederfand, an sich brachte und dann von hier verschwand. Doch dabei fiel ihm auf, daß er nicht mal eben verschwinden konnte, bevor er eindeutig geklärt hatte, daß keinem seiner Verwandten oder Madame Faucon ein Haar gekrümmt wurde. Er fühlte wieder diesen Ballast einer schweren Verantwortung. Das Leben von Menschen hing nun von dem ab, was er tat. Deshalb fand er, es sei eine beruhigende Geste, die erbeutete Strahlenwaffe abzugeben. Er nahm sie von der Schulter und legte sie auf den Boden. "Eigentlich müßte ich das nicht", sagte Julius verdrossen. "Aber ich möchte euch zeigen, daß ich keine Angst vor euch habe und darauf vertraue, daß ihr mich nicht hochgeholt habt, um mich gleich hier auf der Landerampe umzubringen. Ihr wolltet mich zu eurem neuen Rat führen? Gut, ich möchte ihn auch kennenlernen."
Sichtlich erleichtert, daß er nicht gegen seinen Befehl verstoßen mußte, um die gefährliche Waffe zu erbeuten gab der Adlermann den Befehl, Julius zum Turm der Herrscher zu geleiten. Zwar kannte der Jungzauberer den Weg dorthin noch sehr gut. Doch er ließ sich gefallen, daß je einer der Rabenmänner links und rechts neben ihm herging und der rotgewandete Adlermensch die Führung übernahm.
Wie damals mußten sich Julius und der Adlermensch vor dem grünen Lichtkegel verneigen und ihn mit den Köpfen Berühren. Julius fühlte wieder diesen Druck auf dem Rücken und die Erwärmung des Pflegehelferarmbandes. Dann stand er auf der Innenseite des Kegelfeldes. Er blickte auf den zehneckigen Turm, der von verschiedenen Balkonen umfaßt wurde. Also wohnten die neuen Herren auch in diesem Bauwerk. "Gnaaade des Schööööpfers", krächzte der Rotgewandete. Das ungefähr drei Meter hohe, silbern glänzende Portal tat sich auf. Julius sah einen weiteren Adlermenschen, der hinter dem Portal gewartet hatte und ebenfalls je zwei goldene Flügel auf dem etwas heller getönten roten Umhang trug. "So ist es gelungen, den Erwecker der Stimme des Schöpfers zurückzubringen. Tritt ein, Julius Erdengrund!" Sagte der Torwächter oder Ersatz von Iikarat, den Julius noch kennengelernt hatte.
Der Torwächter trug Julius mit der Kraft seiner Flügel zwei Stockwerke nach oben. Dort stellte er ihn vor einer Tür ab und klopfte drei mal. Dann zweimal und dann einmal mit seinem Schnabel an. Statt daß wer "Herein" rief entsperrte sich die Tür und glitt von alleine auf. Julius wurde von dem Adlermann hineingestoßen. Hier war er noch nicht gewesen. Es war eine zylindrische Halle, die gut und gerne neun Meter durchmaß und zwanzig Meter hoch war. "Der Anhörungssaal des verräterischen Königs", stellte der Adlermann diesen Raum vor. Julius hatte jedoch nur Augen für den halbmondförmigen Tisch, dessen nach außen gewölbte Seite ihm entgegenwies. An der nach innen gewölbten Seite des blütenweißen Tisches, der wie aus kristallisierter Wolkenmasse bestand, saßen sechs Vogelmenschen in himmelblauer Tracht. Je zwei Adlermenschen, zwei Rabenmenschen und zwei zwei Köpfe kleiner als er selbst aufragende Menschen mit grauen Federn und kurzen Schnäbeln. Er konnte die Geschlechter leicht zuordnen, zumal die Rabenfrau wie die Mehrheit ihrer Artgenossen nur einen Lendenschurz trug. Ihr sonstiger Körper war von schwarzen, kurzen Federn bedeckt. Julius unterdrückte den Gedanken, sich vor diesen Leuten da verneigen zu müssen und blieb ruhig stehen.
"O großer Rat der Diener des Schöpfers. Der Träger der Stimme unseres Schöpfers kehrte zu uns zurück, um die Stimme wieder an sich zu bringen und damit den Verrat Garuschats aus unseren erhabenen Mauern zu vertreiben", sagte der Adlermensch, der Julius hereingeführt hatte.
"Ich grüße euch, Erwecker der Stimme des Schöpfers", sprach der Adlermann im himmelblauen Umhang, dessen Kopfgefieder silbergrau und licht schimmerte. Julius trat kerzengerade aufgerichtet vor und grüßte zurück. Dann stellte er sich mit Namen vor und fragte, mit wem er es zu tun habe. Der Adlermann stellte sich als Acropsat, den Lehrer der Augiliari vor und deutete auf die zu seiner rechten sitzende Adlerfrau, die er Irnama nannte. Der Rabenmann im himmelblauen Lendenschurz mit vier goldenen Federn nannte sich Garrandarr und strahlte eine gewisse Unruhe aus, ähnlich wie seine Gefährtin Gragraraah. Der männliche der kleinen Vogelmenschen stellte sich als Iwinghir, der Sänger des Wissens vor, der den Cuantari alles für diese wichtige beibrachte und mit der ebenfalls anwesenden Pirilim verbunden war. Dann übernahm Acropsat wieder das Wort.
"Verrat und Mordversuch beleidigten den Schöpfer. Man hat Euch mit Angst und Ungemach bedroht und dazu verführt, seine Stimme im Raum der Verwahrung niederzulegen. Doch wer die Stimme des Schöpfers berührt und erweckt ist dazu bestimmt, sie Zeit seines Lebens bei sich zu tragen, auf daß er das Erbe des Schöpfers in Ehren halten und es in seinem Sinne verwenden möge. Dann hat Vailadorat, der Verräter, dessen endgültige Bestrafung schon vollstreckt wurde, auf Befehl von Garuschat versucht, Eure sichere Rückkehr auf die runde Welt zu verhindern und sollte Euren Tod herbeiführen. Auch dafür war ihm die vollstreckte Strafe gewiß. Der Schöpfer bewies geduld und überließ den Verrätern die Vernichtung seiner Feinde. Doch nun ist etwas eingetreten, daß ihn erzürnt und verängstigt, und er gemahnt uns, seine Diener, seine Stimme dem zurückzugeben, der sie aus der viele tausend Sonnen währenden Verwahrung holte und uns damit zu sich rief. Deshalb werdet Ihr gleich zum Raum der Verwahrung geführt, aus dem Ihr die Stimme des Schöpfers entnehmen sollt, um mit dieser zu tun, was notwendig ist, um die letzte Spur des Verrates zu tilgen."
"Soweit ich weiß wehrt der Raum der Verwahrung jeden ab, der versucht, etwas daraus zu entfernen", antwortete Julius.
"Deshalb kann auch nur ein Träger der Kraft aus dem Volk des Schöpfers dort hinein und die Stimme des Schöpfers ergreifen, wenn er die Hürden der Verhüllung überwindet", sagte Iwinghir mit seiner niedlich flötenden Stimme.
"Ich hörte, daß man den Mann töten will, der mir von euch erzählt hat. Das will ich nicht. Überhaupt will ich nicht, daß wegen mir irgendwer von euren Leuten oder Wolkenhütern umgebracht wird", wagte Julius einen Vorstoß. "Wenn ich das Erbe des Schöpfers ganz und gar übernehmen soll, dann nur, wenn meinetwegen nicht noch jemand stirbt. Als die Skyllianri starben waren das schon genug oder auch zu viele Menschen, die sterben mußten."
"Der Schöpfer will seine Geheimnisse wahren, und wir sind seine Diener und müssen tun, was er will", widersprach Acropsat. Garrandarr krächzte darauf:
"Ihrr könnt frrroh sein, daaaß derrr Schöpferrr Euch als seinen Errrben anerrrkennt und Ihrrr deshalb seine Stimme weiterrrtrrragen sollt, bis Ihrrr eurrren Körrrperrr verrrlaaassen und in das Rrreich derrr Nachwelt eintrrretet."
Julius okklumentierte sorgfältig. Denn er wußte nicht, ob Irnama genausogut Gedanken auffangen konnte wie Pteranda. Denn er wollte diesen Umstürzlern da bloß nicht auf die Schnäbel binden, daß er nicht vorhatte, die silberne Flöte jeden Tag und jede Nacht mit sich herumzutragen. Dann brachte er noch einmal jenen Einwand gegen die Tötung seiner Gefährten vor, den er dem ihm bisher nicht vorgestellten Adlermann von der Landezone mitgeteilt hatte. Er ergänzte ihn mit den Worten: "Wenn ein Lehrer sterben muß, sobald sein Schüler das Wissen, das er von ihm lernte anwendet, dann dürfte niemand mehr leben, der irgendwas weiß. Jene ältere Begleiterin von mir ist meine Lehrmeisterin. Ich bin sicher, daß das Volk eurer Schöpfer nicht so undankbar war, Lehrmeister zu töten, sobald die Schüler alles gelernt und alles erlernte angewendet haben. Darxandria hätte mich bestimmt früh genug davor gewarnt."
Der Name der letzten großen Königin des alten Reiches verfehlte seine Wirkung nicht. Julius atmete auf. Vielleicht entging Madame Faucon damit dem Tod, sofern diese Riesenvögel sie überhaupt angreifen konnten.
"Wer lehrte dich das Lied des Schöpfers?" Fragte die kleine Vogelfrau Pirilim, die Julius von unten her sehr interessiert ansah und dabei immer wieder genau dorthin blickte, wo sein Herzanhänger gut unter der Kleidung verborgen war. Vielleicht konnte sie Magie hören wie Temmie oder Goldie. Er erwähnte den Auftrag Darxandrias, seitdem er damals ihre Kettenhaube hatte tragen müssen, um vor einem bösen Zauberer sicherzusein und auch, daß sie mittlerweile einen neuen Körper gefunden hatte. Von ihr habe er das Lied des Schöpfers erlernt. Doch seine schwarzhaarige Lehrmeisterin habe ihm alles beigebracht, um an den Ort zu gelangen, um die Stimme des Schöpfers überhaupt berühren zu können. Acropsat fragte dann nach dem Boten, der die Nachricht Vailadorats überbracht hatte. Julius erwähnte, daß er zu einer Gruppe von Menschen gehörte, die in Darxandrias Sinne die bösen Kräfte bekämpfte und daher die Welt vor allen verheerenden Wesen und Kräften zu beschützen habe. Dieser spontane Einfall erfüllte ihn mit Stolz, so daß er fast seine okklumentische Abschirmung vernachlässigte. Tatsächlich wirkte das auf Acropsat und Iwinghir. Nur der Rabenmann schien darauf beharren zu müssen, daß der Kreis der Wissenden möglichst klein bliebe. Julius erwiderte dann, daß er die Stimme des Schöpfers dann nicht an sich nehmen würde, wenn alle, die von ihm darüber erfahren hatten deshalb sterben müßten. Er habe Darxandrias Erbschaft übernommen, und die verpflichte ihn, Leben zu bewahren und Untaten wie gewaltsamen Tod zu verachten. Dann spielte er noch die Karte aus, daß Darxandria eine Zeit lang die Gefährtin des Schöpfers gewesen sei. Er hütete sich davor, Ailarnorars Namen auszusprechen, weil er wußte, daß das hier eine tödliche Beleidigung oder eine Todsünde war. "Und Darxandria hätte sich bestimmt niemandem anvertraut, der einfach meint, Leute töten zu müssen, die etwas von ihm erfahren haben. Dann hätte der sich doch gleich mit einer Anhängerin des Schöpfers der Skyllianri zusammentun können."
"Nurrr der Tod bewaaahrrrt daaas Schweigen", krächzte Garrandarr entrüstet. "Der Bote muß schweigen, ebenso wie aaalle aaanderrren, die von unserrrem Schöpferrr wissen."
"Also auch Professeur Delamontagne, seine Tochter Eleonore und die Latierres", dachte Julius verdrossen. So sagte er:
"Dann bleibt die Stimme des Schöpfers hier oben, egal was ihm nun so wichtig ist, daß ich sie wieder mitnehme. Ich werde es nicht hinnehmen, daß Menschen meines Volkes sterben müssen, nur damit ihr hier oben euren fragwürdigen Frieden habt. Der Bote wird schweigen, weil der Schutz anderer Leben ihm das gebietet und nicht, weil sein eigenes Leben in Gefahr ist. Ihr werdet mir im Namen eures Schöpfers und bei Eurem Leben und der Treue zu ihm schwören, niemanden auf meiner Welt mehr anzugreifen. Die Skyllianri gibt es nicht mehr. Ihr habt jetzt euren Frieden. Niemand kann euch hier oben erreichen oder vernichten, weil eure Burg doch immer anderswo ist. Ihr nennt sie die Burg, die keiner finden kann. Das sollte euch doch reichen, um friedlich zu leben."
"Du willst deine Aufgabe nicht erfüllen und die Stimme des Schöpfers nicht an dich nehmen?" Fragte Acropsat. Julius bejahte es energisch.
"Der Schöpfer will aber, daß du mit ihm auf deine Welt zurückkehrst. Wir dürfen dich nicht verletzen oder töten, weil du sein Erbe bist", schnarrte der Adlermann, nun das ehrerbietige "Ihr" vergessend. Doch Julius legte auf derlei Ehrenbehandlung keinen Wert. Er straffte sich noch mehr, wodurch er fast so groß wurde wie die Adlerfrau Irnama, die ihren Gefährten um einen halben Kopf überragte.
"Daaann wirrrst du frrrevlerrrischerrr Flügelloserrr in die Grrrube derrr Geääächteten geworrrfen", krächzte Garrandarr. "Dorrrt sollst du verrrhaaarrrrrren, bis du deinen Leib verlierrrst oderrr den Willen des Schöpferrrs errrfüllst, Gaarg!"
"nein, Garrandarr. Dort darf er nicht hin. Der Schöpfer wird uns grausam bestrafen, den Träger seiner Stimme derartig zu verurteilen. Das hat der Verräter Garuschat schon angedroht und gehört dafür selbst in die Grube. Sperren wir ihn in die Kammer der Schlüpflinge und belassen ihn dort, bis er von sich aus die Stimme des Schöpfers zurückerbittet", sagte Acropsat. Da ergriff Iwinghir das Wort:
"Nein, er darf auch nicht zu den Schlüpflingen. Denn sie würden sonst lernen, daß man auch ohne Flügel leben kann. Das würde unser erhabenes Dasein in Frage stellen. Und wenn er wahrlich von Darxandria gelernt hat, wo die Stimme des Schöpfers zu finden war, so würde sie, die sie seine Kinder trug und bis heute ihre Macht erhalten hat, allen mitteilen, daß wir nicht besser sind als die Geschöpfe Skyllians. Sie würde ungefährdet berichten, daß wir uns der dunklen Macht verbunden haben und damit unser ganzes Sein und das Erbe des Schöpfers verdammen. Es ist wahr, daß niemand unsere Burg findet, den wir nicht einlassen wollen. Es ist auch wahr, daß wir, solange wir hier oben wohnen, keine Berührung mit den flügellosen Bewohnern der harten Oberflächenwelt bekommen, wenn wir nicht von uns aus dort hinuntergehen. Und was er sagte ist auch sehr klug. Denn wer um den Schutz des Lebens anderer schweigen kann muß nicht den eigenen Tod hinnehmen. Unsere Gesetze sagen, daß die Wächter hoch angesehene Diener des Schöpfers sind. Wenn der, der der Bote wurde, ein Wächter seiner Rasse ist, müssen wir ihn achten."
"Schweigen kann nurrr durch den Tod ewig andauerrrn", krakehlte der Rabenmann. Seine Frau hingegen tauschte stumme Blicke mit Pirilim aus. Die sperlingsartige Vogelfrau ergriff nun ihrerseits das Wort, weil Acropsat den Rabenmann mit seinen gelben Raubvogelaugen sehr kritisch anblickte.
"Ich höre eine starke Kraft der glücklichen und warmen Verbundenheit, die ihn begleitet. Womöglich ist er mit Darxandrias neuem Sein verbunden, weil sie nun wieder körperlich ist. Wir dürfen ihn nicht in Angst versetzen, weil sie das bestimmt merkt." Julius vergaß fast seine geistige Abschirmung über diesen Einwand. Das glich ja einer Steilvorlage des Torwartes an den Mittelstürmer direkt im gegnerischen Strafraum, die er als lockeren Kopfball nur noch in die Maschen zu nicken brauchte. So bestätigte er das, was Pirilim vermutete und fügte an, daß er es deshalb nicht verraten wollte, um die getreuen Diener des Schöpfers nicht zu verunsichern. Er sei bereit, die Stimme des Schöpfers wieder an sich zu nehmen, wie es ihm vorherbestimmt sei. Aber Darxandria wolle nicht, daß ihm und allen, die seinen Dank verdienten starben. Das wirkte. Hoffentlich kamen die beiden Mordvögel da vor ihm nicht auf die Idee, das nachzuprüfen. Er entblößte noch das Armband der Pflegehelfer und verkündete, daß er im Falle seines Todes damit verbunden und auf die runde Welt hinabgeschickt werde, um jedem, der es dann anlegte zu helfen, gegen die dem Dunkeln verfallenen Diener des großen Königs der Lüfte zu kämpfen und sie in ihrer Burg fest einzuschließen, auf daß sie auf Ewig niemanden mehr gefährden konnten.
"Darxandria ist die Mutter der Kinder des Schöpfers. Ihnen zu Ehren müssen wir tun, was sie gebietet, genauso wie wir tun müssen, was der Schöpfer von uns verlangt, unser aller Herr und Vater", stimmte Iwinghir seiner Frau zu. Acropsat zitterte mit den auf dem Rücken zusammengelegten Flügeln und beschrieb ähnliche Kreise mit dem Schnabel wie der Adlermensch, dem Julius erst die Strahlenwaffe Vailadorats verweigern wollte. Dann sagte er: "Wir sind der Rat der Diener. Wir müssen es beschließen. Wer stimmt dafür, den Träger der Stimme bei uns in eine sichere Kammer zu sperren, bis er aus freien Stücken die Stimme unseres Schöpfers erbittet?" Garrandarr und seine bisher so schweigsame Gefährtin reckten beide Arme nach oben. Dann fragte Acropsat, wer dafür sei, daß die Wissenden um den Träger der Stimme des Schöpfers durch den Tod zur ewigen Schweigsamkeit gebracht würden. Auch hier stimmten nur die beiden Rabenmenschen zu. Dann fragte er: "Wer ist dafür, daß wir dem Träger der Stimme des Schöpfers versprechen, daß wir denen, denen er dankbar sein muß kein Leid antun?" Die beiden kleinsten Vogelmenschen, Irnama und Acropsat stimmten zu. Die beiden Rabenleute machten Anstalten, ihre langen, spitzen Schnäbel in die Oberfläche des Tisches zu bohren. Doch es kam noch eine Frage: "Wer stimmt dafür, daß wir es dem Träger der Stimme des Schöpfers als heiligen Eid schwören, keinen Flügellosen auf der runden Oberflächenwelt zu bekämpfen?" Hier stimmten wieder die beiden Adler- und die beiden singvogelmenschen zu. "Somit ist es beschlossen, daß der Erwecker der Stimme des Schöpfers seine Pflicht in der Gewißheit erfüllen möge, daß seinem Volk von unserem Volk kein Leid zugefügt wird, wie es das alte Volk des Schöpfers befiehlt."
"Daaas ist Verrrrrraaaaat aaan der Maaacht des Schöpferrrs!" Krakehlte Garrandarr. Seine Frau knirschte mit dem Schnabel. Julius fragte sich, warum man Kriegstreiber Falken nannte? Andererseits galten Raben auf der Erde als überaus kluge und gerissene Vögel, weshalb sie in manchen Märchen und Sagen die Berater von Göttern, Zauberern und Hexen waren. Galt das hier oben nicht?
"Wir müssen den heiligen Schwur schwören", schrillte Acropsat in den lärmigen Protest des Ratskameraden hinein. Da erhoben sich die beiden Rabenmenschen von ihren schmalen Sitzbänken und verkündeten, daß sie dieser Vereidigung nicht beiwohnen wollten. Doch Acropsat ergriff Garrandarr am linken Flügel und hielt ihn fest. "Wir sind die Diener des Schöpfers und müssen tun, was der Schöpfer befiehlt. Wir dürfen nicht zulassen, daß der Erwecker seiner Stimme verweigert, die stimme des Schöpfers an sich zu nehmen. Begreife es, Garrandarr, daß wir ihm keine Angst machen können und er darüber hinaus mit der mächtigen Königin verbunden ist, die dem Schöpfer die Ehre gebot, Mutter seiner Kinder zu werden. Also wirst du und deine Gefährtin mit uns den heiligen Schwur schwören, damit er in Sorglosigkeit und Anerkennung unserer Dienste mit der Stimme des Schöpfers vereint werde. Wir sind nicht wie der Verräter Garuschat, den Angst und Eigensinn umtrieben, den erwarteten Träger der Stimme zu töten."
"Loslaaassen, du aalter Federlasserrr!" Krächzte der Rabenmann und stieß noch einige weitere wilde Schimpfwörter aus. Da ging die Tür auf, und mehrere Rabenmänner in schwarzen Lendenschurzen mit Blasrohren und jenen Energiestrahlwaffen stürmten herein, dicht gefolgt von mehreren Adlermännern, die in aus sich heraus blau leuchtenden Rüstungen steckten. Julius ahnte, daß es gleich mächtig krachen mochte und peilte schon einmal die Tür für einen gekonnten Ausbruch an. Da tippte ihn jemand von hinten an. Er wandte sich um, sah jedoch keinen. Er streckte vorsichtig die Hand aus, während es in seinen Ohren immer lauter lärmte, weil die Wachen der Rabenleute sich mit denen der Adlerleute ein wüstes Wortgefecht lieferten. Dann fühlte er eine kleine Hand, fast wie die eines Kindes, das einen Handschuh aus Daunenfedern trug. Sehen konnte er jedoch immer noch keinen. Da fühlte er, wie etwas in ihn einströmte, das wie kaltes Wasser war. Und unvermittelt sah er auch sich nicht mehr. Die kleine Hand hielt seine Jedoch sicher. Dann kam jemand von oben und umschlang seinen Oberkörper. Er wollte schon rufen, daß er gerne wissen wollte, was geschah, als ihm der Boden unter den Füßen wegsackte. Er fühlte an den rhythmischen Erschütterungen der beiden unsichtbaren Wesen, daß sie ihre Flügel schlugen und spürte die starken Luftstöße, die sie dabei machten. es ging fast zur Decke hinauf, bevor vor ihnen eine Luke aufglitt. Unten setzte nun die heiße Phase der Auseinandersetzung ein. Julius hörte das unheilvolle Fauchen und sah einen weißgelben, fingerdicken Strahl, der durch den Raum zuckte und auf den Tisch traf. Krachend platzte eine rotglühende Scherbe aus der getroffenen Oberfläche heraus.
"Das war zu befürchten, daß die Lautschreier und die Krummschnäbler nicht ohne Kampf beschließen können", hörte er die leise flötende Stimme Iwinghirs von hinten. Der kleine Vogelmensch hielt ihn also umarmt. Dann mußte jenes Wesen, daß seine rechte Hand hielt dessen Frau und Ratskameradin Pirilim sein. Sie flogen durch die offene Luke, während unten jede Hemmung fiel und die Gewalt offen ausbrach.
"Mit denen wolltet ihr euer Reich in eine friedlichere Zukunft führen?" Fragte Julius leise, während die beiden Vogelmenschen ihn durch den treppenlosen Etagenschacht hinuntertrugen, unter den Sockel des Turmes. Er erkannte, daß sie ihn wohl zum Raum der Verwahrung bringen würden, wo er die magische Flöte suchen und wieder an sich nehmen sollte.
"Garrandarr haßt euch Flügellosen. Nur die Befehle des Schöpfers zwangen ihn, mit euch Kontakt aufzunehmen. Als er als oberster Lehrmeister der Cuarviri von Acropsat eingeladen wurde, den Verräter Garuschat abzusetzen, hat er dies in der Hoffnung getan, von da an nie wieder mit euch etwas zu tun zu bekommen", sagte Iwinghir. Seine Frau, die Julius an der Hand hielt fügte dem noch hinzu:
"Es wäre leichter für ihn gewesen, wenn wir Euch in die Grube der entflügelten Geächteten geworfen hätten. Auch er hätte Euch nicht den Brutpflegerinnen überlassen, eben weil Ihr da womöglich gezeigt hättet, daß die Bewohner der runden harten Oberflächenwelt auch fühlende und denkende Wesen sind und nicht nur verkommene Wilden, die auf den Trümmern des erhabenen Volkes tanzen und die von ihm verlassene Welt zerstören wollen."
"Ich will nur, daß ich keine Schuld trage, daß Menschen auf meiner Heimatwelt getötet werden. Mehr war nicht, ist nicht und soll auch nicht sein. Mehr verlange ich nicht von euch", erwiderte Julius. "Andererseits weiß ich immer noch nicht, warum ich ausgerechnet jetzt die Stimme eures Schöpfers wieder an mich nehmen soll, wenn ich das überhaupt kann."
"Ihr werdet es können, weil Ihr die Kraft des großen Volkes des Schöpfers in Euch habt und mit einer starken Gefährtin verbunden seid", sagte Pirilim, während sie schnell durch ein Gewirr von Korridoren flogen. Julius staunte, wie kräftig die beiden kleinen Vogelmenschen waren. Von den Adlerleuten hatte er das ja schon gewußt.
"Dort ist der Raum der Verwahrung, Pirilim. Wir müssen ihn einlassen und dann zurück und Acropsat beistehen, damit er nicht im Gluthagel der Sonnenkeulen Garrandarrs vergeht. Er trägt den Schlüssel. Dem Schlüsselträger darf nichts zustoßen, bis er einen würdigen Nachfolger bestimmt hat. So lautet das Gesetz des Schöpfers", flötete Iwinghir hektisch wie eine überdrehte Nachtigall.
"Wir tragen alle Mondschilde", beruhigte seine Frau ihn mit fast ultrahohen Zwitscherlauten. Dann landeten sie mit Julius. Pirilim ließ ihn los. Sofort meinte er, etwas würde warm aus seinem Körper heraus und daran herunterfließen. Es flimmerte, und er konnte sich wieder sehen. Da erschien auch die kleine Vogelfrau rechts von ihm.
"Ihr seid wirklich mächtig, Pirilim", sagte Julius anerkennend.
"Jede Cuantari hat eine besondere Begabung. Meine ist die des ganz und gar durchdringenden Lichtes, so daß niemand mehr gesehen wird. Aber ich weiß auch, daß du mächtige Gaben außer denen hast, die dir in langen Übungstagen beigebracht werden können", sagte sie. Dann flötete Iwinghir:
"Betretet den Raum und findet die Stimme des Schöpfers!" Er berührte einige der magischen Verzierungen an der Tür, die aus dem legendären Orichalk zu bestehen schien. Rasselnd sank die Tür nach unten in den Boden. Julius kannte den blauen Nebel, der im Raum dahinter waberte. Ja, das war der richtige Raum. Hier mußte er nun hinein und die magische Flöte wiederfinden. Das würde wohl das schwierigste Stück sein. Er lauschte. Aus großer Ferne hörte er das Rauschen wild schlagender Flügel und das Fauchen wie gewaltige Stichflammen und das Krachen von etwas, das zerbarst oder herabfiel. Julius wurde von Iwinghir in den blauen Dunst gestoßen. Hinter sich hörte Julius das Rasseln der Tür. Sie ging wieder zu. Er war eingesperrt. jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr.
Als gebürtiger Londoner war Julius an Nebel gewöhnt. Allerdings übertraf das blaue Zeug, das ihn hier umgab jeden dicken Dunst, den er in seiner Heimatstadt je erlebt hatte. Es dauerte nur wenige Sekunden, da hatte der Zauberschüler bereits jede Orientierung verloren. Außerdem meinte er, im aus sich selbst heraus glühenden Nebel verschwommene Formen zu erkennen. Das unheimlichste war jedoch die ihn umgebende Stille. Außer seinem in den Ohren rauschenden Blut, seinem Herzschlag und dem eigenen Atem hörte er hier überhaupt nichts. War es Einbildung, oder meinte er, das kalte Finger über sein Gesicht und seine Hände glitten, als wollte jemand mit mehreren Dutzend Händen nachfühlen, was er am Körper trug. Das Pflegehelferarmband reagierte jedoch nicht, was Julius als Zeichen für eine neutrale Magie hielt, die weder gut- noch bösartig auf ihn einwirkte. Aber das konnte sich schneller ändern, als er denken mochte, wußte Julius. In diesem Raum wurden Gegenstände verwahrt, die nicht mehr so einfach herausgeholt werden sollten. Wie lange hatte er also noch, bevor die Abwehrzauber dieses Raumes ihn als Störfaktor oder gar Unbefugten einstuften? Schnell holte er den linken der Antifluch-Handschuhe aus dem Umhang und streifte ihn über. Denn die rechte Hand mußte den Zauberstab führen. der Handschuh würde den magischen Fluß zwischen Körper und Stab stören. Er wußte, daß er in diesem blauen Brodem nur dann etwas erreichte, wenn er sich auf seinen Tastsinn verließ. Allerdings fragte er sich, ob er nicht auch eine der Schutzmasken für Alchemisten und Kräuterkundler hätte mitnehmen sollen. Zumindest aber wollte er sich nicht irgendeinem Schlafdunst ausliefern und zauberte rasch eine magische Luftblase um seinen Kopf. Tatsächlich konnte er freier atmen. Doch nun lag der blaue Nebel wie ein dicker blau leuchtender Helm um seinem Kopf an. Offenbar kondensierte was immer in ihm steckte an der Kopfblasenbegrenzungsschicht. Doch wie sollte er jetzt sein Ziel finden? Er fühlte, daß etwas seinen Zauberstabarm festzuhalten begann. Offenbar war es verkehrt gewesen, in diesem Raum Magie zu wirken. Doch ohne seine Zauberkraft kam er wohl hier nicht mehr raus. Da fiel ihm der Contramotus-Zauber ein, der Gegenstände oder einen selbst in ein Feld einschloß, daß Fernbewegungszauber unwirksam hielt. So dachte er konzentriert den Zauber und richtete den Stab dabei auf sich selbst. Unvermittelt hörte die ansteigende Beeinträchtigung seiner Armfreiheit auf. Jetzt hatte er mindestens fünf Minuten, wo ihm niemand mit telekinetischen Kräften etwas anhaben konnte. Doch offenbar mißfiel es dem Nebel. Zwar hörte das Gefühl der über ihn streichenden Finger auf. Doch nun begann der Nebel um ihn herum zu verwirbeln und zu flimmern. "Ailanorar, du wolltest mich hier haben. Wo bist du?" Dachte Julius. Er hatte die geistige Stimme des alten Windmagiers nicht mehr so recht im Kopf. Außerdem konnte man nur mit lebenden Wesen richtig mentiloquieren. Er erinnerte sich daran, daß der mentale Kontakt mit Ailanorars Stimme auch in dem Moment abgerissen war, als er ihn an der Schwelle des Raumes von sich geworfen und der verwahrenden Magie überlassen hatte. So wunderte es ihn nicht, daß er keine Antwort erhielt.
Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen, während der magische Dunst um ihn immer wilder wallte. Was immer in diesem Raum wirkte mochte es nicht, daß er sich gegen Bewegungskräfte und Betäubungsdunst gesichert hatte. Was, wenn plötzlich lähmende Strahlen auf ihn einschlugen? Er hoffte, daß seine Goldblütenhonigphiole, die mit Phönixtränen verstärkt war, solche Gemeinheiten von ihm fernhielt. Vielleicht tat sie das bereits und hatte eine schützende Aura um ihn gelegt, dachte Julius. Doch mehr als ein möglicher Angriff verunsicherte Julius, daß er wegen des Nebels nicht einschätzen konnte, wie groß der Raum war. Wenn der rauminhaltsvergrößert war konnte er kilometer groß sein, ein Labyrinth enthalten, daß über mehrere Etagen verlief und schlicht weg so unübersichtlich war, daß er sich auf ewig darin verirren und elendiglich verhungern mochte. Nein! Diese trüben Gedanken durfte er nicht denken. "Was mich stört verschwinde! mein Geist herrscht über meinen Körper! Mein Geist herrscht über meine Gefühle! Mein Geist herrscht über meine Gedanken!" Dachte er jene Selbstbeherrschungsformel, die ihm sein Karatelehrer beigebracht hatte, um den Kopf von allen hinderlichen Gedanken freizumachen. Erst als er sicher war, nicht mehr so trübseliges Zeug zu denken setzte er seinen Weg fort. Wenn dieser Windmagier wollte, daß er seine Flöte wiederholte, dann mußte es auch klappen. Immerhin mußte Ailanorar irgendwie Kontakt mit diesem Rebellenclub aufgenommen haben, das den alten, bisher so unbestrittenen Herrscher Garuschat aus dem Amt geputscht hatte. Also würde auch er, der von diesen so geehrte wie verachtete Erbe des Windmagiers Kontakt mit dessen Hinterlassenschaft kriegen. Mit diesen zuversichtlichen Gedanken im Kopf ging er langsam weiter, ohne zu wissen, was er nun tun sollte.
Der Nebel umspielte ihn nun wie ein wild tanzendes Geisterheer. Denn er sah menschliche Arme, Insektenglieder und Fangarme wie von Kraken oder fleischfressenden Pflanzen. Einmal tauchte vor ihm eine Art Drachenmaul auf, das ihn gleich zu verschlingen schien. Doch er widerstand der Versuchung, zurückzuweichen. Das waren nur Nebelgebilde, nichts anderes als wahrhaftiger blauer Dunst. Dann meinte er, eine über vier Meter große Kreatur von rechts heranfliegen zu sehen, die den Formen nach eine Menschenfrau war, jedoch sechs Arme besaß. Er erinnerte sich an die Geschichten über die indische Todesgöttin Kali, erkannte dann aber, daß er eine ähnliche Kreatur in der Morgensternfestung gesehen hatte. Sie gehörte zu den Geisterwesen, die ihm damals nachgestellt hatten, als er Madame Odins silbernen Stern gesucht hatte. Doch So tat er dieses Ungetüm als reine Ausgeburt seiner gestreßten Wahrnehmung ab und konzentrierte sich wieder auf den Weg vor ihn. Dann sah er ihn. Unvermittelt erschien aus dem blauen Nebel eine in einen blutroten Umhang gehüllte Gestalt mit hohem, schwarzen Spitzhut und affenartigem Gesicht, einen Zauberstab drohend auf seine Brust richtend. Slytherin! Er hatte diese Erscheinung zu letzt in der Bildergalerie des fanatischen Mitgründers von Hogwarts zu sehen bekommen und gegen dieses Abbild kämpfen müssen. Fast hätte er den Kampf mit dem Leben bezahlt, wenn er dem gemalten Ich Slytherins nicht den Sprechbann aufgehalst und ihn mitten im Ausruf des Todesfluches überrumpelt hätte. Also konnte dieses Etwas da vor ihm nicht echt sein. Da hörte er die höhnische Stimme, die er nicht vergessen hatte: "Was maßt du Schlammblut dir an, in die alten Geheimnisse einer dir weit überlegenen Magie vorzustoßen und glaubst, diese Frechheit zu überleben? Zahl nun den Preis für deine Unverschämtheit!" Julius wollte erst nur an eine in ihm selbst gebildete Täuschung glauben, bis der vor ihm erschienene Zauberer den Stab schwang und den Mund aufriß, um den entscheidenden Fluch zu rufen. Von einem panischen Impuls getrieben rief der Zauberschüler "Katashari!" Silbernes Licht sprühte aus seinem Zauberstab, als Slytherin gerade "Avada ...!" Rief. Das Abbild des der Reinblütigkeit zugetanen Magiers erzitterte im Licht und zersprang klirrend wie splitterndes Glas. Das war eigentlich nicht die Wirkung, die die Todeswehr herbeiführte. Julius fühlte jedoch, daß er gerade so noch eine tödliche Gefahr von sich abgeschüttelt hatte. Aus irgendeiner Ecke seines Gedächtnisses fiel ihm ein, daß immer wieder was erzählt wurde, daß wer träume, daß er sterbe auch wirklich sterbe. Also konnte dieser ganze Zauber hier sowas sein wie aus den eigenen gedanken wirklichkeit werdende Alptraumgebilde, die wirklich gefährlich werden konnten. Zwar hatte das Pflegehelferarmband immer noch keine Reaktion auf dunkle Kräfte gezeigt. Aber womöglich konnte es gegen dieses ihn umgebende Nebelfeld nichts ausrichten. Julius wollte sich gerade umsehen, um weitere ihn bedrohende Gestalten zu entdecken, als er seine Frau Millie sah, wie sie splitternackt auf einer frei schwebenden Liege herumflog und ihm einladend zuwinkte. "Komm, Monju! Hier ist ein genialer Platz zum Liebemachen", hörte er sie rufen. Doch er wußte, daß Millie gerade in Beauxbatons war. Er hatte sie nicht mitgebracht. Sie konnte unmöglich hier sein. Er wandte seinen Blick ab. Doch die fliegende Liege folgte seinem Blick, und rückte sogar näher an ihn heran. Er fühlte, wie der Wunsch, seine Kleidung abzustreifen und zu seiner Frau auf die Liege zu klettern in ihm wuchs. Nein! Das war Trug! Das war nicht echt! Julius dachte das so konzentriert er konnte. Doch es gelang ihm nicht, die verlockende Erscheinung seiner bereitliegenden Frau verschwinden zu lassen. Sollte er den Todeswehrzauber wirken? Unsinn! Denn von der Erscheinung ging keine Bedrohung aus. Das einzige ihn daran störende war der Gedanke, daß sie nicht hier sein konnte. Doch dann fragte er sich, ob man sie nicht auch hergeholt hatte. Wußte er denn schon, ob man nicht jemanden aus einem geschützten Haus wie Beauxbatons herausbeamen konnte? Er war sich nur sicher, daß er erfolgreich okklumentiert hatte. Schnell wandte er sich um. Tatsächlich machte die fliegende Liege die Bewegung nicht mit. Doch sttatt Millie sah er nun die Halbriesin Olympe Maxime, die ebenfalls völlig unbekleidet und ohne ihren Fingerschmuck vor ihm lag. Er hörte sie säuseln: "Ich bin jetzt keine Schulleiterin mehr. komm zu mir und vereinige deine starke Zauberkraft mit meinem unverwüstlichen Körper, Julius!"
"Sex und Tod", dachte Julius, "sind die heftigsten Erlebnisse von Menschen. Die wollen mich entweder einschüchtern oder einlullen." Er warf sich wieder herum und sah wieder Mildrid, die nun nur noch einen Meter vor ihm schwebte. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, prallte aber mit den Fingern von einem unsichtbaren Hindernis ab. Julius ließ die linke Hand mit dem silbernen Handschuh vorschnellen und versuchte, seiner Frau an den rechten Arm zu greifen. Da zischte es, und unter einem kurzen Aufschrei zerfiel Millies Abbild in eine Wolke weißer Funken, die um ihn herum und dann in den wirbelnden Nebeldunst davonfauchte. Er hatte jedoch für einen Moment das Gefühl gehabt, wirklich einen festen, wenn auch wie echtes Fleisch nachgiebigen Körper berührt zu haben. Also waren es keine reinen Trugbilder. Die erschreckende Erkenntnis ließ ihn einen Moment stutzen. Als er sich wieder in der Gewalt hatte sah er die muskulösen Beine der Halbriesin links und rechts von ihm ausgestreckt. Sie hatte sich hinter ihn hingesetzt. Er sah nach oben und erkannte, wie ihre rechte Hand knapp über seiner Kopfblase in der Luft zitterte. Sie konnte ihn nicht berühren. Etwas blockierte sie. Er schloß die Augen und warf sich herum. Obwohl er kein Boxer war feuerte er ansatzlos einen linken Haken in die Richtung ab, wo der Rest Olympe Maximes auf ihn wartete und traf tatsächlich auf etwas festes, wenn auch nachgiebiges. Mit einem lauten Knall verebbte der Widerstand jedoch. Julius öffnete die Augen und sah gerade noch eine weiße Funkenwolke, die in wilden Spiralen um ihn herum und nach außen davonwirbelte. Vielleicht gelang es ihm, weitere materialisierten Trugbilder von sich fernzuhalten, wenn er okklumentierte. Zumindest wußte er jetzt, wie gut es war, die Handschuhe mit der Anti-Fluch-Beschichtung mitgenommen zu haben. Dann jedoch fiel ihm auf, daß er nun überhaupt nicht mehr wußte, aus welcher Richtung er gekommen war und wo er eigentlich hingehen wollte. Dann passierte etwas, womit er auch nicht hatte rechnen können.
Es passierte so ansatzlos, daß er erst einen erschreckten Aufschrei ausstieß. Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Mehr noch, er meinte, die Schwerkraft kehre sich um und zöge ihn erbarmungslos nach oben, beziehungsweise ließe ihn kopfüber in eine bodenlose Tiefe stürzen. Dabei schlugen aus dem Nebel erst blasse und dann immer heller glühende Flammen heraus. War das noch reine Geistesbezauberung oder ein echter Angriff auf seinen Körper? Das war in dem Moment egal. Denn er erkannte, daß ihn was immer wirklich schaden würde, wenn er überzeugt war, daß es echt war. Ihm fiel eine Star-Trek-Folge ein, wo Kirk und Kameraden auf einem Planeten gelandet waren, auf dem sie die Rollen des Clans um den Revolverhelden Wyatt Earb nachzuspielen hatten und beinahe in der legendären Schießerei am Okay Coral draufgegangen wären, wenn der Vulkanier Spock ihnen nicht geholfen hätte, die telepathisch eingetrichtete Illusion zu überwinden und damit die drohenden Bleikugeln förmlich zu verlachen. Genau das widerfuhr ihm hier. Er fühlte zwar die sengende Hitze der Flammen und erspürte nun auch ein Zittern der Goldblütenhonigphiole und des Armbandes. Doch es konnte nur eine gemeine Täuschung sein, die dann wirklich wurde, wenn man sie für echt hielt. Er schloß schnell die Augen. Was er nicht sah gab es wohl nicht, hoffte er. Auch er hatte als kleiner Junge manchmal nur die Augen zugemacht, wenn er wollte, daß man ihn nicht sah, bis er gelernt hatte, daß das nicht klappte. Ging das vielleicht hier? Tatsächlich verschwand die sengende Hitze. Doch Julius war sich sicher, daß die sich körperlich auswirkenden Trugbilder wiederkamen, wenn er die Augen wieder aufmachte. Außerdem blieb jenes Gefühl, in eine bodenlose Tiefe zu stürzen. Ja, er hörte nun etwas um sich herum. Fauchen, Zischen und Schnarren, als wenn eine Meute fliegender Raubtiere ihn umkreiste und darauf lauerte, ihn anzufallen. Er fühlte starken Wind, der ihn umstrich, als wenn jemand mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeirannte oder mit etwas die Luft zerteilte. Und immer noch blieb das Gefühl, in die Tiefe zu stürzen. Julius fühlte, wie das alles ihn immer mehr verängstigte, ihn immer mehr verwirrte. Wie lange mochte er den auf ihn eintobenden Gewalten noch widerstehen? Die bedrohlichen Geräusche um ihn wurden lauter und furchterregender. Und dann hörte er das Geräusch, daß ihn zeit seines Lebens mit einem seiner angstvollsten Erlebnisse verband.
Erst war es ein leises Brummen. Doch wenige Sekunden danach umtoste ihn ein wildes Summen und Schwirren. Er spürte sie fast schon auf dem Gesicht, durch die Kopfblase hindurch, die vielen hundert oder tausend kleinen, gelb-schwarzen Körper, die auf ihn einstürmten, um ihn, den Eindringling, mit aller Entschlossenheit zu bekämpfen, ihm ihre giftigen Stachel in den Körper zu bohren, ihn zu erledigen. Julius vergaß, es mit einer Täuschung zu tun zu haben. Für einen Moment riß er die Augen auf und sah sie, die Wolke wilder Wespen, die ihn mit unbändiger Wut umschwirrte. Noch fühlte er keinen Einstich. Doch er wußte, daß es nur noch eine Frage von Sekunden sein mochte, bis ihn der erste Stachel traf. Er sah die kleinen, in der Menge so gefährlichen Tiere dicht vor seinen Augen, hörte ihre wild schwirrenden Flügel ganz dicht an seinen Ohren vorbeisummen. Es fehlten nur noch Zentimeter, dann hatten sie ihn erreicht. Julius hieb mit der behandschuhten Hand um sich und zerteilte die Wolke der Wespen. Doch sofort kamen neue Insektenpulks nachgerückt, noch wütender. Er sah sie knapp über der rechten Hand. Noch hielt sie etwas zurück. Er fühlte aber auch das Zittern seines Armbandes und seiner Phiole. Doch die tief in sein Gedächtnis eingebrannte Angst, die er als Vierjähriger vor diesen Insekten gefühlt hatte, verdrängte alle klaren Gedanken. Er wollte nur noch umsich schlagen und die Biester damit von sich wegschleudern, auch wenn es schon zu viele waren und sie dadurch nur noch wütender wurden. Wolte er hier weg, mußte er nur das Auslösewort für den Portschlüssel rufen.
"Monju, rufe Katarash!" Drang unvermittelt Millies Gedankenstimme über das wilde Summen hinweg in seinen Kopf ein. "Monju! Katarash!" Julius wußte nicht, ob das nur ein weiterer Angriff war. Er fühlte nur, wie etwas um ihn herum immer weniger wurde. Waren die fünf Minuten gerade um? Das Contramotus-Feld mochte gerade zusammenbrechen. Dann konnten die auf ihn gehetzten Wespen ... "Monju, Katarash rufen!!" Hörte er die laute, fordernde Anweisung seiner Frau in seinem Geist. Er fühlte, wie die ersten Wespen auf seiner rechten Hand anhielten. Da traf ihn der erste Stich. Gleich würden ihn hundert oder tausend auf einmal treffen. Dann war er erledigt. Doch etwas in ihm bäumte sich auf. Er öffnete den Mund, ohne zu bedenken, daß die ihn bestürmenden Kerbtiere leicht hineingeraten mochten und rief laut: "Katarash!!"
Stille, Ruhe und das Gefühl, auf festem Boden zu liegen überkamen ihn so plötzlich, daß es ihn noch mehr erschreckte als die ihn umtosenden Wespen. Er keuchte, hörte und fühlte sein wild pochendes Herz. Doch nirgendwo um ihn herum vernahm er das bedrohliche Gesumm einer herumschwirrenden Wespe. Er blickte sich um. Der blaue Nebel war verschwunden. Er lag in einem saalgroßen Raum mit hunderten von Regalen. In jedem der Regale lagen Dutzende von Sachen, die einfach aussahen oder glitzerten. Über sich konnte er jene kleinen, sonnenartigen Leuchtkugeln an einer kathedralenhohen Decke sehen. Wo war er denn hier gelandet? Dann stellte er fest, daß er seinen Zauberstab krampfhaft umklammert hielt wie ein Ertrinkender einen Strohhalm.
"Monju, bist du wieder klar?" Hörte er Millies Gedankenstimme. Er keuchte und konzentrierte sich. Doch dann fiel ihm ein, daß er vielleicht sein Zuneigungsherz an die Stirn legen sollte. Er steckte den Zauberstab in das diebstahlsichere Futteral und zog das pulsierende rote Schmuckstück unter seinem Unterhemd hervor und drückte es gegen die Stirn. "Huh, das war heftig. Wieso kannst du mich anmentiloquieren?"
"Ich weiß das auch nicht, warum ich darauf kam, dir das zuzumentiloquieren. Irgendwie sah ich Temmie im Traum. Sie rief andauernd" Sag ihm, Katarash zu rufen, wenn du große Angst oder große Lust von ihm fühlst! Als ich dann merkte, daß immer stärkere Angst von dir rüberkam habe ich den Anhänger an die Stirn gedrückt und dir das zugerufen. Hat's geholfen?"
"Ich wurde offenbar mit der Kiste von damals mit den Wespen heftig beharkt. Irgendwer hat da wo ich gerade bin einen wohl ziemlich hammerharten Illusionszauber gewirkt, der das was du siehst und hörst für dich selbst echt werden läßt. Die ersten von diesen Zaubern konnte ich wohl damit abschütteln, daß ich die als Trugbilder abgetan habe. Dann warf mich aber etwas in einen bodenlosen Schacht und jagte mir alle Wespen des Universums auf den Hals. Offenbar konnte ich dann nicht mehr klar denken, und die Biester hätten mich wohl echt gestochen. Eine hat mich wohl erwischt ... Aber es tut nicht mehr weh. Was war das, was Temmie dir zugerufen hat?"
"Das Wort heißt Katarash, Monju. Was es heißt weiß wohl nur Temmie."
"Klingt ähnlich wie Katashari, weiche Tod", erwiderte Julius auf unhörbarem Weg. Dann erkannte er, daß er vielleicht nur wenige Minuten Luft hatte. Was er jetzt sah war wohl die Wirklichkeit. Denn kein Nebelfetzen störte seinen Blick. Er sah die Regale, die knapp zwölf Meter aufragten und schmale Raumteiler in dieser kleinen Halle bildeten. Hatte er die fremde Magie ganz ausgelöscht oder nur unterbrochen, bis sein von Millie eingeflüsterter Zauberspruch seine Wirkung verlor? Wenn die Zeit lief mußte er schnell handeln, bevor die Wespen wiederkamen oder er doch noch mit einer Pseudomildrid oder Pseudomaxime seinen klaren Verstand vergaß. Die Regale waren hoch, und er sah weder Leitern noch Kletterseile. Sollte er an jedem hochturnen, um die magische Flöte zu suchen, bis die hier eingelagerten Schutzzauber wieder zupackten? Er versuchte es ganz frech mit dem Aufrufezauber: "Accio Ailanorars Stimme!" Doch es passierte nichts. Davon ausgehend, daß die magische Flöte selbst schon gegen den Aufrufe- oder Apportierzauber abgesichert war konnte sie in einem dagegen abschirmenden Behälter liegen. Aber ein Versuch war es zumindest wert. Zumindest hatte er keinen schmerzhaften Rückstoß verspürt, wie damals, wo er einen Quaffel auf diese Weise zu sich hinziehen wollte. Dann fiel ihm der Zauberfinder ein, der magische Objekte anzeigte. Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Die Frage beantwortete sich in dem Moment, als er "Monstrato Incantatem!" Rief. Sofort umflutete ihn goldenes licht. Der ganze Raum stekcte voller Magie, die mit seinem zauber wechselwirkte. "Nox", sagte er, und das Licht erlosch. So ging es also auch nicht. Wer immer diesen Raum angelegt und eingerichtet hatte wollte sichergehen, daß was hier eingelagert wurde nicht in den ersten zwei Sekunden gefunden und herausgeholt werden konnte. So blieb ihm nur die eigenständige Suche, bis sein Abwehrzauber gegen die verstofflichten Trugbilder abklang. Ihm graute davor, nicht zu wissen, wann das passierte. Doch er mußte jetzt die Nervenstärke wiederfinden. So dachte er seine Selbstbeherrschungsformel dreimal, wobei Millie ihn unterstützte. Dann dachte er die fünf Auslöserworte des Flugzaubers. Dieser wirkte. Kein Festhaltezauber hielt ihn auf dem Boden, als er aufstieg und nun einen halben Meter über dem dunklen, angerauhten Steinboden dahinflog. Es galt, die silbern glänzende Flöte wiederzufinden. Er blickte in die Regale hinein und sah alles mögliche, Gürtel mit mehreren kugelartigen Anhängseln, eine mannshohe Glasflasche, in der eine regenbogenfarbige Flüssigkeit schillerte. Einen Moment vermeinte Julius, im bunten Elixier ein geisterhaftes Gesicht zu sehen, das ihn flehendlich anblickte. Er dachte an einen Flaschengeist. Doch nach sowas suchte er nicht. Auch wußte er, daß man ein solches Wesen besser nicht ohne Not aus der Flasche entließ und es einem die Freiheit nicht unbedingt dankte, in dem es drei Wünsche oder sowas erfüllte. Er glitt mit Hilfe des Wachhaltetrankes an den Regalen hinauf und hinunter, sah goldene Gefäße und die Nachbildungen ihm bis dahin unbekannter Wesen mit vier oder sechs Hörnern, konnte sogar ein verkleinertes Modell jener goldenen Drachen sehen, die im Wissensturm von Khalakatan ruhten. Er sah weitere Gefäße, in denen merkwürdige Flüssigkeiten schimmerten und vermeinte, tote oder gefangene Wesen darin zu sehen, flammenförmige Feuerdämonen, durchsichtige, geflügelte Wesen wie Feen aus Glas, goldene Meerjungfrauen, die gerade einmal so lang waren wie sein Unterarm und etwas sowohl anwiderndes wie faszinierendes wie einen goldenen Seeigel, der in einer glasklaren Flüssigkeit in einem Kopfgroßen Goldfischglas schwamm und sich sehr träge bewegte. Was hier nicht alles gelagert wurde, dachte Julius, der im Moment davon ausgehen mußte, es mit wirklichen Erscheinungsformen zu tun zu haben. Er war sich sicher, daß das, was er suchte, so wertvoll war, daß es nicht gleich auf dem Boden der Halle zu finden war. Er stieg also ganz nach oben und trieb unter der Decke entlang, dabei auf der Hut, nicht mit den Leuchtkörpern zusammenzustoßen. Nachher verbrannte er sich noch daran wie eine Motte an der Kerzenflamme. Tatsächlich sah er in den Regalen weitere, mal unscheinbare und mal wertvoll aussehende Dinge wie Kelche, Schüsseln, Teller oder Besteckteile, die als Vorläufer von Messern und Gabeln gedient haben mochten. Warum das alles hier in diesem Raum gelagert wurde wußte er nicht. Überhaupt wußte er über die ganze Burg so gut wie gar nichts, erkannte er. Allein schon die Frage, wie sie am Himmel gehalten und gesteuert wurde war mindestens ein besonderes Studium wert. Beim Anblick einer aus Silber zu bestehen scheinenden Nachbildung eines Wolkenhüters fragte er sich, wovon die echten Riesenvögel und ihre Wärter lebten. Hier oben gab es doch keine Gelegenheit, essbare Tiere und Gemüse zu ziehen. Ein anwidernder Gedanke kam ihm. Was, wenn die Vögel und ihre Hüter sich gegenseitig aßen? Womöglich waren die beiden Lebensformen sogar kannibalen. So konnte einem Verurteilten vielleicht die Landung im Futternapf eines Wolkenhüters oder in einer großen Bratpfanne der allgemeinen Küche blühen. Aber was dachte er denn da? Das war doch jetzt alles unwichtig. Er wollte nur die magische Flöte finden und dann verschwinden.
Er passierte ein Regal, dessen obere Fächer mit blauen Vorhängen verhüllt waren. Julius griff mit der behandschuhten Hand nach einem Vorhang, der sich für einen Moment in seinen Fingern wand und dann doch widerstandslos zur Seite ziehen ließ. Dahinter lag eine menschengroße Gestalt, die aus purem Gold zu bestehen schien. Es war die Gestalt einer Frau, die ein blutrotes Gewand trug. Julius kannte die goldenen Menschen aus dem alten Reich. Das waren magische, perfekte Roboter, die sogar eine gewisse Intelligenz und Eigenständigkeit besaßen. Warum lag diese goldene Roboterfrau hier im Regal. War sie stillgelegt, im Bereitschaftsmodus oder hatte eben nur die Anweisung, sich nicht zu bewegen? Julius sah dem Kunstgeschöpf in die smaragdgrünen Kristallaugen und erkannte, daß diese sich auf ihn einstellten. Offenbar hatte er mit dem Fortziehen des Vorhangs den entscheidenden Impuls ausgelöst, um das metallische Geschöpf zu wecken. Doch es blieb wo es war. Nur die Augen bewegten sich und folgten Julius' Blick. Dann hörte er eine kalte, aber glockenreine Stimme sagen:
"Du mußt der sein, der die mächtige Flöte meines Sohnes hergebracht hat. Wenn du sie suchst, findest du sie im Gefäß der tausend Täuschungen. Aber sei auf der Hut vor dem Sog der Auszehrung, wenn du sie berührst!"
"Ähm, du kannst nicht Ailanorars Mutter sein", sagte Julius vorwitzig. Dann sah er die künstliche Frau noch einmal genau an. Ihre Augen, das Gesicht, das alles paßte jedoch zu Naaneavargia. Auch deren Bruder hatte trotz seiner Blautönung damals genauso ausgesehen wie das Gesicht dieser Frau.
"Natürlich bin ich nicht seine fleischliche Mutter. Aber er hat mich von den Schmieden der Dienstbarkeit damals seiner fleischlichen Mutter nachempfinden lassen. Eigentlich wollte er, daß ich ihm und der Unersättlichen beistehe. Doch diese geriet in die Gewalt des von Dunkelheit erfüllten und wurde von ihm vergiftet."
"Ich weiß, mit den Tränen der Ewigkeit", erwiderte Julius. "Hast du noch Verbindung zu ihr?" Fragte er aus einer plötzlichen Regung heraus.
"Ich ruhe hier oben, bis ein leibliches Kind meines zugewiesenen Sohnes mich aufsucht und mit hinunternimmt, um von mir zu lernen, was wichtig ist. Ich darf aber nicht mit ihr zusammenkommen, die als meine Tochter vorgestellt wurde. Denn sie wurde vergiftet und ist nicht mehr wie früher."
"Kapiere ich. Wo finde ich die Stimme deines Zugewiesenen Sohnes?" Fragte Julius.
"Im Gefäß der tausend Täuschungen. Doch wenn du sie ergreifen willst, hüte dich vor dem Sog der Auszehrung! Mehr darf ich dir nicht sagen. Bitte schließe den Vorhang wieder, damit ich weiterruhen kann!" Julius zog den Vorhang wieder zu. Dann suchte er das Gefäß der tausend Täuschungen.
Er flog gerade eine Viertelstunde zwischen den Regalen herum, als er in der Ferne den blauen Dunst wieder aufquellen sah. Also regenerierte sich der Schutzzauber wieder. Julius wußte, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Vielleicht konnte er den neuen Zauber noch einmal anwenden, den Millie ihm zumentiloquiert hatte. Erst einmal landete er, um sich konzentrieren zu können. Dann hielt er den Zauberstab kerzengerade auf die ihm entgegenkriechende Nebelwand gerichtet und rief: "Katarash!" Es blitzte weiß auf. Dann war der Nebel wieder verschwunden. Julius fühlte einen kurzen Stoß durch den Boden gehen. Zumindest wußte er jetzt, wie er sich den Nebel und die darin lauernden Schrecken oder Verlockungen vom Hals halten konnte. Er rief den Flugzauber wieder auf und suchte weiter nach dem Regal.
Es mochten zehn weitere Minuten vergangen sein, bis er vor einem Regal anlangte, das eher eine gewaltige, würfelförmige Vitrine mit vielen hundert gläsernen Einlegeböden war. Doch irgendwie erschien ihm die Außenwand dieses Möbelstückes seltsam instabil. Sie schillerte in einem grünlich-blauen Glanz und wirkte wie Glas, in dem sich bewegende Sterne schwammen. Das war ganz sicher kein echtes Glas, sondern verstofflichte Magie, womöglich eine höchstgefährliche Barriere. Was Julius jedoch besonders irritierte war der Inhalt. Denn auf jedem der durchsichtigen Einlegeböden lagen silberne Flöten, die aus je drei zusammengelegten Röhren gebildet waren. Das waren originalgetreue Abbildungen dessen, was er hier suchte. Also hatte er das Gefäß der tausend Täuschungen vor sich. Was hatte ihm die goldene Nachbildung von Ailanorars Mutter erzählt? Er müsse sich vor dem Sog der Auszehrung hüten. Damit war bestimmt ein tückischer Fluch gemeint, vielleicht sowas wie Decompositus. Um beide Hände zu schützen steckte er den Zauberstab fort und streifte sich den zweiten Handschuh über. Er konnte auch ohne geführten Zauberstab einige Minuten lang fliegen, wußte er von Altmeister Garoshan. Er streckte die rechte Hand aus und berührte den gewaltigen Würfel. Er meinte, auf eine wild vibrierende Platte zu fassen. Die im Material schwimmenden Sterne wirbelten auf seine Hand zu und zerstoben lautlos, während er fühlte, wie er durch die Außenhülle hindurchstieß. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß er nur da geschützt blieb, wo die mit mehreren Gegenflüchen bezauberte Silberbeschichtung seine Hand bedeckte. Er konnte also nicht einfach so in den mindestens zwei mal zwei Meter messenden Würfel hineinlangen, ohne vielleicht doch noch den Abwehrzauber abzubekommen. Außerdem lagen da mindestens eintausend identische Silberflöten herum. Nur eine war die echte. Wie sollte er diese von den Nachbildungen unterscheiden? Das war nun die wahre Schwierigkeit. Und er mußte wohl gleich wieder den blauen Dunst zurückscheuchen, bevor der ihn einschloß und die mörderischen Illusionen auf ihn losließ. Er berührte eine der Flöten. Unvermittelt explodierte sie und wurde zu zehn weiteren Kopien von Ailanorars Stimme. "Multiplicus-Zauber", knurrte Julius. In die Nachbildungen waren Kopierzauber eingewirkt. Vielleicht wirkte der Zauber auch auf den magischen Würfel und sorgte dafür, daß bei Berührung der Abbilder weitere Kopien entstanden. Gerade im letzten Moment, als sein Pflegehelferarmband warnend vibrierte, erkannte Julius, daß er fast mit dem ungeschützten Teil des Unterarms in den Würfel hineingeriet. Er pfiff durch die Zähne. Die Barriere und die vielen Nachbildungen waren eine harte Nuß. Der Aufrufezauber würde nichts bringen. In den Würfel konnte er nicht hineinlangen. Vielleicht sollte er den Fluchumkehrer wirken, um zumindest die gefährliche Barriere auszuschalten. Doch was dann. Was, wenn der Fluchumkehrer dafür sorgte, daß die gesamte Konnstruktion sich auflöste und alles mitnahm, was sie enthielt? Er hatte schmerzvoll lernen müssen, daß der Fluchumkehrer kein Allheilmittel gegen dunkle Zauber war. Womöglich hatte Professeur Tourrecandide diesem Zauber sogar ihr Verschwinden zu verdanken, wenngleich der Zauber nichts böses bewirkte, sondern böses in gutartiges umkehrte. Doch was würde passieren, wenn ein verstofflichter Fluch umgekehrt wurde? nein, er mußte es anders anstellen.
Julius wartete, bis der blaue Nebel wieder aufzuquellen begann und fegte diesen mit dem neuen Zauberspruch fort. Dann dachte er daran, wie er zumindest alle im Würfel liegenden Nachbildungen herausholen konnte. Eigentlich, so dachte er mit einer gewissen Schalkhaftigkeit, müßte er das Regal einfach nur umkippen. Doch ein Würfel war nicht so einfach umzustoßen. Zwar hieß das Ding Würfel, weil es geworfen werden konnte. Aber er war zu klein, um den Würfel anzuheben und zu werfen. Außerdem mochten die darin gelagerten Nachbildungen die magische Umhüllung nicht durchdringen. Was gebe er jetzt für einen Incantivacuum-Kristall? Doch dann fiel ihm ein, daß er damit wohl auch Ailanorars Stimme kaputtmachen würde. Das war also auch nicht die Lösung. Wie konnte er an die echte Flöte herankommen? Er bräuchte sowas wie einen Teleskopgreifer, mit dem er locker in die Umhüllung hineinlangen und die darin liegenden Nachbildungen herauspflücken konnte. Doch die vermehrten sich ja sofort, wenn man sie anfaßte. Dann fiel ihm ein, daß er sie ja mit den Händen berührt hatte. Vielleicht ging es, wenn ein nicht belebter Gegenstand, der weit genug von seinem Arm fortreichte, in den Würfel gesteckt wurde. Da kam ihm die Idee. Er sang lauthals "Joho, und 'ne Buddel voll Rum!" Denn das Problem, an etwas mehrere Meter entferntes heranzugelangen, hatten die alten Seeräuber ja schon gehabt und dafür etwas sehr nützliches erfunden, den Enterhaken. Nur lag hier keiner mal eben rum. Doch Julius hatte einen ZAG in Verwandlung. Er mußte nur etwas nehmen, was aus echter Materie bestand und es in ein solches Hilfsmittel verwandeln. Das wiederum war kein Problem, weil Julius auch ein paar nicht bezauberte Taschentücher mitgenommen hatte. Eines davon verwandelte er innerhalb von fünf Sekunden in einen mindestens vier Meter langen Enterhaken. Damit versuchte er mit beiden behandschuhten Händen, den Würfel zu durchstoßen. Doch die magische Umhüllung war nun stahlhart und blockierte den wuchtigen Haken. Julius überlegte kurz und zog sich den rechten Handschuh aus. Er band ihn mit dem Schnürsenkel seines rechten Schuhs an die kugelartige Spitze des Enterhakens und probierte es noch mal. Es knisterte, als er die Würfelaußenwand berührte. Doch nun glitt der Haken hinein und berührte die Nachbildungen von Ailanorars Stimme. Julius hoffte, daß der Fluch sich nicht über die Holzstange des Enterhakens fortpflanzte und horrchte auf körperliche oder geistige Veränderungen an und in sich. Doch es passierte nichts. Der Abstand reichte offenbar, beziehungsweise, die Wand war die wirkliche Barriere. Dennoch schob er den Fanghaken eher mit der linken, noch behandschuhten Hand weiter und stieß weitere Nachbildungen an. Sie vermehrten sich nicht. Also brauchten sie die Nähe einer lebenden Hand, die Lebensaura eines Menschen. Julius setzte nun alles auf eine Karte und stieß die Flöten auf dem untersten Einlageboden so wuchtig an, daß sie sich auf der anderen Seite türmten. Als dann die mit dem Antifluch-Handschuh bezogene Spitze des Enterhakens die gegenüberliegende Wand durchstieß, klapperten die aufgetürmten Nachbildungen heraus und zu Boden. Julius freute sich. Er hatte tatsächlich auf das richtige Pferd gesetzt. Nun stieß er mit dem gezauberten Enterhaken Ladung um Ladung der Kopien aus dem magischen Möbelstück heraus. Er flog dabei auf, um den richtigen Winkel beizubehalten und leerte so den magischen Würfel innerhalb von nur fünf Minuten restlos aus. Jetzt galt es, das Original zu finden, die Nadel im Heuhaufen, das Blatt im Wald, den Süßwassertropfen im Meer und einen Platinmeteoriten im umliegenden Sonnensystem. Hinzu kam, daß die Flöten nun schön über dem Boden verteilt waren. Da passierte etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte und daß ihn sowohl erschreckte wie erfreute. Der silberne Wolkenhüter, eine wohl ein Fünftel so große Nachbildung wie das lebende Vorbild, flog mit lautem Kreischen aus seinem Regal herab und stieß wie ein Greifvogel auf den ausgebreiteten Haufen von Silberflöten nieder. Das künstliche Tier machte dabei ein metallisch schwirrendes Geräusch und zielte genau auf eine Flöte, die in einem Pulk von hundert anderen lag. Dann packte der Robotervogel das Instrument und hob ab, Richtung Würfel. Julius wußte nicht, ob es stimmte. Doch er hatte wohl nur eine Sekunde zu überlegen. "Reticum!" Rief er und warf dem Vogel ein magisches Netz über. Wild kreischend und strampelnd hing der Vogel im Netz und fiel zu Boden. Julius ließ den Enterhaken los und jagte um den Würfel herum. Das Netz war nicht so feinmaschig wie ein Fliegengitter. Julius griff mit zwei Fingern der behandschuhten Linken hinein. Der künstliche Wolkenhüter schrillte und hackte nach der geschützten Hand. Dabei verlor er die erbeutete Flöte. Julius hoffte inständig, daß der Vogel ihm unfreiwillig die einzig richtige Ausgabe davon erbeutet hatte. Er mußte es zumindest darauf anlegen. Er erwischte die Flöte, während der Vogel nun versuchte, die behandschuhte Hand zu beißen. Julius bekam die Flöte zu fassen und zog daran, während der Vogel versuchte, sie wieder fest in den Schnabel zu zwengen. Tatsächlich erfolgte keine weitere Vermehrung der Flöte, als Julius sie festhielt. Doch ob er die richtige Hatte wußte er auch nicht. Er mußte den Vogel lahmlegen, der schon dabei war, das magische Netz mit seinen Krallen zu zerfleddern. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das metallische Federvieh sich aus der Gefangenschaft befreite und dann gegen Julius ankämpfen konnte. Der Jungzauberer wußte, daß er gegen diesen Roboteradler keine Chance hatte, wenn der erst mal auffliegen und mit Schnabel und Krallen zuschlagen konnte. Er mußte auch auf die Zeit achten. Denn die fünfzehn Minuten waren bald wieder um, bis der Illusions- und Abwehrzauber sich wieder regenerierte. Julius dachte an etwas, was ihm Auroras Vater einmal erzählt hatte, als er ihn in Millemerveilles getroffen hatte. Greifvögel wurden ruhig, wenn man ihre Augen verdeckte und sie nichts mehr sehen konnten. Er erinnerte sich auch an Fernsehdokumentationen, wo über die Jagd mit abgerichteten Falken berichtet wurde. Die hatten auch Lederkappen auf, solange sie auf der behandschuhten Hand ihres Halters saßen. So ging's! "Obscura!" Rief Julius auf die Augen des Vogels zielend. Sofort umschlang diese eine dunkle Augenbinde. Der künstliche Vogel schrie noch einmal auf. Doch dann wurde er schlagartig ruhig. Julius bekam die silberne Flöte frei und zog sie aus dem Netz heraus. Jetzt galt es, dachte der Beauxbatons-Schüler und steckte den Zauberstab wieder fort, um das erbeutete Instrument mit der rechten Hand zu berühren, seine Haut auf Metall. Er wechselte die exotische Flöte von links nach rechts und fühlte unvermittelt das warme Metall, wie ein in der Sonne erhitztes Blechstück. Es vibrierte sogar ein wenig. Doch mehr geschah erst einmal nicht. Julius blickte auf das Instrument in seiner Hand und wußte nicht, ob er sich freuen sollte. Ein lautes Plopp! lenkte ihn auf etwas anderes. Er suchte nach der Ursache des Geräusches, bis er die Veränderung im Raum feststellte. Die ganzen von ihm aus dem Würfel gestoßenen Nachbildungen waren verschwunden. Sie lagen nicht auf dem Boden und auch nicht im magischen Würfel. Damit hatte er es jetzt amtlich, daß er die einzig richtige Ausgabe von Ailanorars Stimme in der rechten Hand hielt.
"Es wurde Zeit, daß du mich endlich von hier abholst, du halbherziger Jüngling", durchflutete ihn die etwas verächtlich klingende Stimme des in der Flöte verankerten Windmagiers. "Du hast mich auf Betreiben eines Verräters hier abgelegt. Ich mußte hier ausharren und hoffen, daß mein Wille vollstreckt würde. Zwar wurden Skyllians Sklaven vernichtet, aber dafür wurde meine Schwester, die du mit mir zusammen aus meiner Festung befreit hast, von einer anderen eingefangen und an sich gebunden. Das kann ich nicht hinnehmen. Sie darf nicht einer anderen unterworfen sein. Sie weiß zu viel über unsere alten Künste. Doch sie wurde auf eine Weise ergriffen und gebunden, die ich nicht kenne. Du mußt sie finden und wieder freibekommen, auch wenn sie es dir nicht danken wird. Doch du trägst die Verantwortung für das, was ihr geschah und was geschieht, wenn du sie nicht befreist. Darum mußtest du mich zurückerlangen."
"Naaneavargia wurde gefangengenommen?" Fragte Julius in Gedanken. "Von wem und wie?"
"Ich kenne dieses dreiste Weib nicht, das eine wenn auch kräftige aber doch unwürdige Nachfahrin des begüterten Volkes ist, wie du einer bist. Sie hat meine Schwester eingefangen und an sich gezogen, sich mit ihrem Sein verbunden und kann nun mit ihrem Wissen und Willen handeln."
"Eine Frau, eine Hexe?" Fragte Julius, dem eine verdammt düstere Ahnung kam.
"Ein Weib, daß halb von Dunkelheit und halb von Fürsorge erfüllt ist. Ich empfing ihren Namen nur in dem Moment, wo meine Schwester mit ihr in Berührung kam, gegen die Sonne."
"Gegen die Sonne? Hat deine Schwester diesen Namen empfangen?" Fragte Julius sehr hektisch.
"Genau diesen. Doch nun verlasse den Raum der Verwahrung, in den du mich so feige hineingeworfen hast und sei endlich ein Mann! Finde und befreie meine Schwester und empfange die Folgen dessen, was du mit meiner Befreiung angestoßen hast!"
"Abgesehen davon, daß ich deiner Schwester nie wieder näher als hundert Meter kommen will weiß ich nicht, wie das überhaupt möglich war, daß sie gebunden wurde. Also kann ich sie auch nicht davon freimachen."
"Du wirst sie finden und aus der Verbundenheit lösen. Doch ich fürchte, sie empfindet diese bereits zu sehr als Verlockend und einzig richtig, um Dank von ihr zu erwarten, selbst wenn du ihr die Freiheit gabst, die ich ihr aus sehr guten Gründen entsagen mußte, du Narr!"
"Ey, ich kann dich gerne wieder hierlassen", knurrte Julius verstimmt. "Dann kehre ich zurück zu meinen Leuten und sage denen, daß sie jeden grauen Riesenvogel abschießen dürfen. Unverwundbar sind die nämlich nicht."
"Du hast mich mit der Hilfe dieses Feuerweibes auf gemeine Art bezwungen. Nun stehe endlich zu dem, was du damit auf dich geladen hast!"
"Och, jetzt wird gebettelt", feixte Julius. "Ich weiß nicht, wo deine Schwester ist und bin auch froh, wenn die nicht weiß, wo ich bin. Wer immer die gefangengenommen hat hat bisher keine Lust gehabt, sich mit mir anzulegen. Und meinetwegen darf das so bleiben."
"Sicher ist sie dir dankbar, weil du sie aus meiner Festung befreit hast. Aber sie darf nicht mit dieser anderen zusammenbleiben. Unser altes Erbe wird dadurch verkümmerten Emporkömmlingen und Stümpern offenbart. Dafür habe ich mein Selbst nicht in meiner Stimme gebettet."
"Du kannst dir gerne wen anderen suchen, der das macht, was du willst", dachte Julius. Da sah er, wie der blaue Nebel wieder aufwallte, diesmal schneller als vorher. So zog er rasch seinen Zauberstab. Da hörte er bereits das bedrohliche Summen heranschwirrender Wespen. Doch erneut schaffte er es, die Wirklichkeit werdende Täuschung zu verjagen.
"Wenn du mich jemandem anderen gibst, und er oder sie verfällt mir, hast du dessen Leben auf deinem Gewissen. Ich weiß, daß du Darxandrias Ansichten teilst. Sie war eine bewundernswerte Gefährtin und ich bin Stolz, daß sie die Mutter mehrerer Kinder von mir wurde. Aber sie mißachtet das Gesetz der Notwendigkeit, sobald es mit körperlicher Gewalt vollstreckt werden muß. Du bist ein junger Mann, der lernt und erkennen muß, daß es Dinge gibt, die getan werden müssen. Meine Schwester zu befreien gehört dazu. Also verlasse nun diesen Raum und lasse dich von mir zu ihr leiten!"
"Wer ist hier Herr und wer ist Diener?" Fragte Julius und setzte die magische Flöte an die Lippen. Er blies sanft einen Ton hinein. Unverzüglich kam ein kalter Windstoß auf, der durch die Kammer fegte und sich dann auf Höhe des obersten Regals festsetzte.
"Du bist der Meister meiner Stimme. Aber du bist damit auch meinem Erbe und meiner Familie verpflichtet", drang Ailanorars Stimme in Julius' Geist. "Außerhalb dieses Raumes kann ich nicht mehr zu dir sprechen, weil die Kraft der Verbundenheit nur hier besonders stark wirkt. Lasse dir von meinen Dienern Waffen und Gefolge geben und fliege dorthin, wo du die Nähe meiner Schwester besonders stark spürst oder erwarte sie, wenn sie erkennt, daß ich nicht mehr in meiner himmlischen Festung bin! Du magst die Macht haben, meine Stimme erklingen zu lassen. Aber du merkst wohl auch, daß ihre Macht sehr schnell zum Schaden für den Ungeübten wird. Befreie meine Schwester aus der gemeinen Gefangenschaft! Danach kannst du gerne versuchen, mehr über meine Stimme zu erlernen.""
"Ich überlege es mir", sagte Julius und steckte die Flöte in eine Außentasche seines Umhanges. Er ließ dann das Netz um den gefangenen Robotervogel verschwinden und rief "Retardo Liberoculus!" Hier bei dachte er an die Zahl einhundertzwanzig. So viele Sekunden vom Ausruf des Zaubers an würde es dauern, bis die magische Augenbinde zerfiel und der Vogel, der immer noch ganz ruhig auf dem Boden lag wieder frei sehen konnte. Der Zauberschüler band den Handschuh wieder vom Enterhaken, den er einfach liegen ließ und befestigte den Schnürsenkel wieder an seinem rechten Schuh. Es fehlten noch dreißig Sekunden.
Julius suchte die Tür und fand sie. Doch wie sollte er sie aufbekommen? Er versuchte es mit Alohomora. Der Zauber griff jedoch nicht. Die Tür war glatt und massiv. Er hämmerte mit bloßen Händen dagegen, bis er darauf kam, sie mit der einen Hand und dem Zauberstab zugleich zu berühren. Das klappte. Die Tür verschwand rasselnd im Boden. Julius hechtete auf den Flur hinaus und glaubte, mitten in einen Weltraumfilm hineinzuspringen.
Julius hatte nicht mitbekommen, wie schnell und gründlich sich die widerstreitenden Rassen der Vogelmenschen gegenseitig angestachelt hatten. Hier draußen würde Ailanorars Gedankenstimme ihn angeblich nicht mehr erreichen. Überhaupt wußte Julius nicht, wie es der eingesperrte Windmagier geschafft hatte, den amtierenden König zu stürzen. Jedenfalls mußte er schleunigst in Deckung springen, als zwei fingerdicke Energiestrahlen vor ihm über den Flur zischten. Er sah zwei Rabenmenschen in dunklen Lendenschurzen, die mit diesen brandgefährlichen Lichtstrahlwerfern auf einen Adlermann zielten. Julius staunte, empfand es aber nicht als besonders unbekannt, daß der Adlermann von einer silbernen Aura umgeben war, die seine Flügel mit einhüllte. Davon prallten die grellen Glutbündel fauchend ab. Knisternd sprühten Funken in den Gang. Der Adlermann war Acropsat. Einer der Rabenmänner war Garrandarr.
"Gib den Schlüssel rrraus, Aaacrrropsaat!" Krächzte der Rabenmann, bevor er eine weitere Energieentladung auf Acropsat abfeuerte, der mit gleicher Münze zurückzahlte. Der Rabenmann wurde ebenso von dieser silbernen Aura umschlossen, die Julius an einen tragbaren Schirmfeldgenerator denken machte. Denn genau so wirkte das silberne Leuchten und prellte die glutheiße Lichtlanze zurück in den Flur. Julius sah da, wo der Strahl den Boden traf eine glutrote Furche, in der rauchend etwas flüssiges zischte. Er wußte, daß ihn ein solcher Strahlenschuß bestimmt schwer verbrannte, wenn nicht sogar richtig einäscherte. wieder fauchte ein fingerdicker Lichtstrahl knapp über Julius' Kopf hinweg und krachte prasselnd in die silberne Abschirmung um Acropsats Körper.
"Ich habe genug Mondlicht gesammelt, um deinen Angriffen zu widerstehen, Garrandarr. Der Schlüssel der ewigen Reisen und damit die Macht über die Burg und die Wolkenhüter behalte ich. Doch dich werde ich entflügeln und in die Grube der Geächteten werfen lassen, mit deiner Gefährtin und allen von dir erzeugten Schlüpflingen."
"Niemaaals!!" Krakehlte Garrandarr und winkte seinem Helfer. Beide zugleich schossen auf Acropsat. Die Strahlbahnen trafen am Selben Punkt auf die silberne Abschirmung, die nun lautstark prasselnd flackerte und kalte Blitze in alle Richtungen verschleuderte. Doch das magische Kraftfeld hielt. Julius mußte was tun. Denn einer der Energiestöße hätte ihn um ein Haar heiß skalpiert. Er rief:
"Frieden, Leute! Ich möchte gerne mit der Stimme des Schöpfers eure Burg verlassen, um den Willen des Schöpfers zu erfüllen. Ihr müßt mir noch den Schwur leisten, daß ihr keinem Menschen auf meiner Welt etwas antut. das befiehlt der Schöpfer."
"Daaa ist derrr Flügellose. Errr haatt die Stimme des Schöpferrrs nicht bei sich. nehmt ihn fest!" Rief Garrandarr. Julius zog die magische Flöte aus seinem Umhang und zeigte sie vor. Sofort prallten die von Garrandarrs Befehl vorangepeitschten Rabenleute zurück. Julius hielt das magische Musikinstrument wie seinen eigenen Zauberstab und schwenkte es. Die Vogelmenschen wichen zurück. Julius erhob sich nun ganz und sah, wie brav die beiden Gruppen nun sein konnten. Denn niemand durfte ihn verletzen oder zulassen, daß er verletzt wurde. Julius wolte denen auch nicht erzählen, daß er jederzeit von hier verschwinden konnte. Doch ihm lag daran, daß diese Streithähne schworen, niemanden auf der Erde zu töten. Dann kam es anders.
"Verräter am Vater des Himmelsvolkes! Hier spricht Garuschat, der Viergoldschwingenträger, Vater des Himmelsvolkes, oberster Diener des Schöpfers, dessen Namen ihr mit Schmutz und eigenem Blut besudelt habt", erscholl eine Stimme, die aus den Wänden zu dringen schien. "Hiermit befehle ich, alle Kampfhandlungen gegeneinander einzustellen. Acropsat der Verräter wird mir den geraubten Schlüssel der ewigen Reisen zurückgeben und sich freiwillig in die heilige Hülle der reinen Luft stürzen, um mit seinem Körper frische Luft für uns zu machen. Die anderen Verräter werden von der Garde der roten Federn umgehend zusammengetrieben und entflügelt, auf daß sie in der Grube der Geächteten ihr unwürdiges Dasein beenden mögen. So spricht der Viergoldschwingenträger, der Vater des Himmelsvolkes, Garuschat der fünfzehnte." Julius fühlte, wie die silberne Flöte in seiner Hand zuckte, als wolle sie etwas oder jemandem ausweichen.
"Verräter!" Riefen nun Acropsat und Garrandarr. "Wir sind verraten worden. Der Frevler am Willen des Schöpfers wurde befreit und in seinen Trhonsaal zurückgelassen", kreischte der Adlermann und rannte los, dicht gefolgt von seinen Leuten, die wegen fehlender Schutzschirme in sicheren Deckungen gewartet hatten. Die Rabenleute folgten den Adlermenschen. Ein lautes Krächzen erklang aus weiter Ferne. Kampfschreie wie von großen Raubvögeln antworteten darauf. Dann hörte Julius wieder das charakteristische Zischen und Fauchen durch die Luft schlagender Energiestrahlen.
"Jeder Versuch, mich erneut aus meiner mir angeborenen Stellung zu stoßen wird diesmal grausam vergolten!" Hörte Julius die Stimme des Königs kreischen. "Entweder erhalte ich in einem Zehnteltag den geraubten Schlüssel zurück und weiß die Verräter in Sicherem Gewahrsam oder tot, oder die erhabene Burg, die kein Flügelloser finden kann, wird im Tausendsonnenfeuer verglühen."
"o, Mist, jetzt wird's aber Zeit", dachte Julius. Doch andererseits wollte er es nicht auf sein Gewissen nehmen, daß die Burg wegen ihm zerstört wurde, noch dazu mit jenem unheilvollen Tausendsonnenfeuer, das wohl auch den Untergang des alten Reiches verursacht hatte. Doch war das jetzt noch seine Sache? Er hatte die magische Flöte an sich genommen. Vielleicht sollte er sie wieder hierlassen und es einfach darauf anlegen, daß die Burg mit ihr zusammen zerstört wurde. Dann konnte niemand dieses mächtige Hilfsmittel zweckentfremden. Doch dann fiel ihm ein, daß Darxandria alias Temmie ihm das sicher nicht verzeihen würde. Deshalb rannte er in die Richtung, wo die Adler- und die Rabenmenschen verschwunden waren. Er dachte, ob er innerhalb der Himmelsburg apparieren konnte. Er peilte die nächste Abzweigung an und holte seinen Zauberstab heraus. Er konzentrierte sich und warf sich in die Disapparition. Aufatmend stellte er fest, daß er nicht nur die erwünschte Strecke zurückgelegt und das Ziel erreicht hatte, sondern auch ohne eine Zusatzgeschwindigkeit aus dem Transit gekommen war. Also hing die Burg fest über einem Punkt der Erde. Doch wie lange noch.
"Eher stürze ich die Burg mit dir und allen anderen Verrätern in das allergrößte Wasser dort unten, auf das du mit uns allen jämmerlich ersäufst, Garuschat!" Hörte Julius Acropsats Stimme aus den Wänden. "Der Schlüssel bleibt bei mir oder wird mit mir vernichtet."
"Meine treuen Wolkenhüter werden ihn dir entreißen, du undankbarer Aufrührer", erscholl die Antwort des Königs. Julius kannte sich in der Himmelsburg nicht gut genug aus und wußte auch nicht, wie der Schlüssel der ewigen Reisen aussah und wozu genau er diente. Doch er wußte, daß es sich eben um den Schlüssel der Macht über diese Burg handeln mußte. Wer ihn hatte herrschte. Kein Wunder, daß Acropsat und Garuschat ihn sich nicht gönnten. Doch wenn Garuschat wirklich an den Zündstoff für das Tausendsonnenfeuer herankam brachte es Acropsat nichts, ihn zu behalten. Andersherum konnte Acropsat mit dem Schlüssel die Burg abstürzen lassen. Also war er sowas wie ein Steuerungsgerät für den Standort und die Flughöhe der Himmelsburg. Da sie mehr als neun Zeitzonen östlich von Spanien waren stand die Burg wohl gerade mit angepaßter Erddrehungsgeschwindigkeit über einem Punkt im Pazifik, dem wirklich größten Wasser der Erde. Es würde also reichen, die Antigravitationsgeneratoren dieser fliegenden Festung auszuschalten und sie abstürzen zu lassen, wenngleich es wohl keine echten von Batterien oder Atomgeneratoren versorgten Maschinen im technischen Sinne waren. Julius wußte nicht, wo Acropsat war. Doch er vermutete, daß wenn Garuschat wieder auf freiem Fuß war, seine Gemahlin Pteranda auch wieder frei war. Er kannte ihre Stimme noch recht gut. So lehnte er sich an die Wand - und verbrannte sich fast das Genick. Erst jetzt stellte er fest, daß wohl mehrere dieser Energiesalven dort hineingefahren sein mochten. Das sollte er also besser lassen, wenn er sich nicht wie ein Steak braten wollte. So hockte er sich in die Nähe der wieder verschlossenen Tür zur geheimen Schatzkammer und konzentrierte sich auf Pteranda, ihr Bild, ihre Stimme und dachte: "Pteranda, habe die Stimme des Schöpfers wieder an mich nehmen müssen. Möchte euch helfen. Aber wie?"
"Julius Erdengrund. Ich erfasse, daß du in meiner Nähe bist. Acropsat wurde vom Schöpfer verleitet, meinen Angetrauten und mich festzusetzen. Er, unsere Schlüpflinge und ich sollten bald in die Grube der Geächteten geworfen werden. Doch nun haben treue Anhänger des Viergoldschwingenträgers uns befreit und in unseren Thronsaal zurückkehren lassen, von wo aus er die Burg selbst beherrscht. Doch ihm fehlt der Schlüssel der ewigen Reisen. Hat er diesen nicht, kann er Ort und Lage der Burg nicht mehr bestimmen. Er muß ihn wiederhaben, wenn er nicht die ganze Burg im Tausendsonnenfeuer vergehen lassen will." Julius ließ sich von Pteranda beschreiben, wie der Schlüssel aussah und erfuhr, daß er bei Berührung mit der Stimme des Schöpfers ohne Gefahr den Schlüssel in die Hand nehmen konnte. Er erhielt ein Bild des Schlüssels und bekam ohne Anfrage auch ein Bild des Ortes, an dem Acropsat sich gerade mit rotbeschurzten Raben- und Adlermenschen eine wilde Schießerei mit diesen Energiestrahlen und Blasrohrpfeilen lieferte. Sie hatte offenbar telepathisch erfaßt, was er genau vorhatte. Er wußte, daß er sich dafür bestimmt was von seiner Frau und Madame Faucon würde anhören müssen, weil das ziemlich gefährlich wurde. Doch wenn er nicht gleich den Notfallportschlüssel auslösen und die Burg sich selbst überlassen wollte mußte er diesen Husarenritt unternehmen. Wäre ja auch nicht sein erster. Allerdings hoffte er, daß er danach überhaupt noch irgendwas machen konnte.
Er konzentrierte sich auf einen Gang, der in den Raum führte, in dem die Schießerei ablief. Dann disapparierte er in der Hoffnung, daß die Burg in diesem Moment nicht anderswo hinflog.
Er hatte Glück. Er kam keine zehn Meter vor dem gesuchten Raum heraus. Er hörte das Fauchen der Energieschüsse und das wilde Kampfgeschrei der sich bekriegenden Vogelmenschen. Julius wagte nicht zu denken, wie viele diesem Wahnsinn bereits zum Opfer gefallen waren, und das nur, weil Ailanorar Angst um seine achso hilflose Schwester gehabt und ihn über dieses schnell wieder zerbröselte Putschregime zu sich hinzitiert hatte. doch um das, was mit Naaneavargia passiert war wollte er sich später kümmern, wenngleich er nicht vorhatte, sie aus welcher Art von Gefangenschaft auch immer zu befreien. Doch falls mit "Gegen die Sonne" Anthelia gemeint war konnte er das auch nicht auf sich beruhen lassen, daß diese womöglich Zugang zu Wissen aus dem alten Reich erhielt. In der Hinsicht hatte der in seinem eigenen Instrument eingelagerte Flötenspieler leider recht. Aber jetzt galt es.
Julius warf sich nach der erfolgreichen Apparition auf den Boden und robbte im Stil eines Nahkampfspezialisten auf den Raum zu. Er steckte das Mundstück der silbernen Flöte in den Mund und hielt es mit den Zähnen fest. Körperkontakt war die Devise. Er wußte, daß er den Adlermann genau sehen mußte, um den Zauber zu wirken. Er fragte noch einmal Pteranda, ob der silberne Schutzschirm Zauberkräfte abfing oder durchließ.
"Der Mondschild verschlingt alle Formen der Bewegungskraft, die von außen nach innen gerichtet ist und beschützt vor den Gewalten der Elemente. Nur frische Luft vermag ihn zu durchdringen. Aller Staub und giftiger Qualm zerstäubt daran", erhielt er die Antwort. Julius wußte, daß der Accio-Zauber zunächst zum gewünschten Objekt hinfliegen mußte. Also würde er von außen nach innen wirken. Protego schützte schließlich auch schon vor ihm. Damit konnte er einen Aufrufezauber vergessen. Als er dann noch sah, daß Acropsat neben einem wuchtigen Zylinder stand und von einer silberweißen Wand vor den anbrandenden Energieschlägen geschützt war, ahnte der Mann Mildrid Latierres, daß der Adlermensch dahinter einstweilen unangreifbar für alles mögliche war. Und freiwillig würde er diesen ominösen Stab nicht herausgeben. Nicht freiwillig! Julius grummelte unhörbar. Eigentlich war ihm das zu wider. Aber wenn er die wohl hauptsächlich unschuldigen Bewohner dieser Burg retten wollte mußte er das wohl tun. Und er mußte Acropsat deshalb nicht gleich unbringen. Ianshira hatte ihm nur gesagt, daß er die vier erlernten Zauber nicht mehr anwenden könne, wenn er mit seiner Zauberkraft den Tod von einem Mitmenschen herbeiführte. Waren diese Vogelwesen Mitmenschen? Zumindest waren sie intelligente Wesen, die ein Anrecht auf Schutz genossen. Rechtlich aber standen sie nicht auf derselben Stufe mit den Menschen.
"Maneto!" Dachte Julius und zielte auf einen der zehn Rabenmenschen in roten Lendenschurzen. Der blieb stehen. Auch der zweite, dann dritte, vierte bis zehnte Vogelmensch verharrte mitten in der Bewegung und feuerte auch keine Energiesalve mehr ab.
"Welcher Idiot hat noch mal behauptet, daß der Zweck die Mittel heiligt?" Fragte sich Julius verdrossen. Doch dann konzentrierte er sich. Wenn er den Absturz der Burg oder eine verheerende Explosion verhindern würde, die vielleicht die auf Atomangriffe abgerichteten Abwehrprozeduren der Weltmächte alarmierte, mußte er das tun, was er jetzt tat. Er zielte mit dem Zauberstab auf den Adlermenschen, der immer noch hinter seinem Schildwall stand und nicht wußte, warum seine Gegner die Angriffe eingestellt hatten. Julius nahm die Flöte aus dem Mund, zielte mit dem Zauberstab auf Acropsat, der gerade seine Glutstrahlwaffe auf ihn richtete und rief laut und vernehmlich "Imperio!"
Julius hatte es nicht erklärt bekommen, wie es sich anfühlte, ihn zu wirken. Er hatte nur einige Male gegen seine Wirkung angekämpft, um zu lernen, wie dies ging. So erstaunte es ihn, wie aus seinem Kopf ein warmer Strom durch den Zauberstabarm schoß und durch den Zauberstab auf Acropsat zuraste. Er fühlte beinahe körperlich, wie der von ihm ausgehende Kraftstrom im Geist des Angezielten wirkte. "Gib mir den Schlüssel der ewigen Reisen!" Dachte Julius so gut er konnte. "Gib mir den Schlüssel der ewigen Reisen!" Schon beim zweiten mal erlosch der silberne Schildwall. Acropsat kam mit natürlichen Bewegungen auf Julius zu, der die magische Flöte in den Mund steckte und die linke Hand ausstreckte. Der Adlermann schien nichts dabei zu empfinden, als er unter seinen Umhang griff und einen aus sich selbst heraus bläulich leuchtenden Stab zog. Julius konzentrierte sich. Er wußte zwar, daß ein Imperius-Befehl auch wirkte, wenn der ihn Erteilende den Zauberstab fortsteckte. Doch er hatte diesen Fluch bisher nie verwendet und hoffte auch, es auch nur dieses Mal tun zu müssen. Dann überreichte ihm Acropsat den Stab. Julius packte mit der linken Hand zu. Für einen Moment meinte er, ein elektrischer Strom durchzucke seinen Arm und brenne ihm alle Nerven und Muskeln weg. Doch dann war dieses Gefül auch schon wieder vorbei. In seinem Mund zitterte die magische Flöte. Sie hatte mit diesem blauen Stab zusammengewirkt. Julius hatte sich damit als Zugriffsbefugter ausgewiesen. Er steckte seinen Zauberstab kurz fort, nahm die Flöte aus dem Mund und schob sie so gut es ging zwischen seine Finger und den blauen Stab. Dann zog er den Zauberstab erneut und rief noch einmal "Imperio!" Unter Einfluß des mächtigen und bei Menschen unverzeihlichen Fluches kehrte Acropsat hinter seinen Schild zurück, der sofort mit voller Stärke aufleuchtete. Julius rief dann jedem gebannten Gegner "Retardo Removete" zu, wobei er an die Zahl Sechzig dachte. Eine Minute sollten die zehn da noch rumstehen, bevor sie sich wieder frei bewegen konnten. Die Zeit reichte sicher, um in die Nähe des grünen Energiekegels zu gelangen und dem König den Stab zurückzugeben. Julius verstaute den blauen Stab in seinem Umhang und hielt die Flöte in der linken Hand. Sie war für ihn eine Art Lebensversicherung, ein rotes Kreuz auf dem Schlachtfeld. Er konzentrierte sich auf die Landeplattform und warf sich in die Disapparition. Noch hielt der Wachhaltetrank.
Er apparierte beinahe in der oberen Wölbung der grünen Blase, die die Himmelsburg umgab und fiel. Rechtzeitig genug wirkte er den Flugzauber Garoshans und brachte sich so sicher direkt vor den grünen Lichtkegel. Diesen berührte er mit der Flöte und dem Kopf und lief hinein. Sofort stürzten mehrere Gardisten mit erhobenen Strahlenwerfern auf ihn zu. Doch der silberne Gegenstand in Julius' linker Hand ließ sie zurückprallen und ihre Waffen senken.
"Ich bringe eurem Herren und Viergoldschwingenträger nur seinen Schlüssel wieder, Leute! Dann bin ich hier fertig", sagte Julius, während er die Reihen der Wächter unangefochten passierte. Da er das Losungswort für das Tor nicht so schön schrillen konnte wie ein Einheimischer bat er einen der Adlermenschen, ihm das Tor zu öffnen. Dieser gehorchte ganz ohne Imperius-Fluch. Julius stieg mit eigener Zauberkraft bis zum Trhonsaal auf, wo Pteranda, die in eine silberne Schildaura eingehüllt war, ihm bereits zuwinkte.
"Mein Angetrauter wird durch dich endgültig erkennen, wie töricht sein Versuch war, dich bei der ersten Rückkehr auf deine Welt töten zu wollen", sagte die Adlerfrau, die im Moment nicht so herausgeputzt war, wie Julius sie von damals in Erinnerung hatte. Auch wirkte sie sehr ausgezehrt. Doch fühlte er, daß sie stolz und glücklich war.
"Hier ist Euer Schlüssel der ewigen Reisen, Herr Garuschat", sagte Julius zu dem kleineren Adlermenschen, der gerade mit einem gläsernen Zylinder hantierte, in dem Julius einen silbrigen Tropfen frei schweben sehen konnte.
"Wahrlich, Ihr seid ein wahrer Träger der Stimme des Schöpfers und Erbe Darxandrias", schrillte der König und streckte seine Hände aus. Doch Julius schüttelte den Kopf.
"Erst einmal möchte ich zwei Sachen klären. Erstens möchte ich von euch den Eid, daß ihr keinem auf der Erdoberfläche geborenen Menschen etwas zu Leide tut. Zweitens möchte ich, daß die Mitglieder des Rates nicht getötet oder in diese Grube der geächteten geworfen werden. Sie haben nur auf das gehört, was der Schöpfer ihnen eingegeben hat. Vertragt euch also bitte wieder."
"Ihr tragt die Stimme des Schöpfers. Deshalb werde ich eure erste Bedingung erfüllen. Doch in dieser Burg bin ich der Herrscher. Mein Wille ist das Gesetz. Meine Ehre wurde schmählich besudelt. Sie kann nicht durch Gnade wiederhergestellt werden. Sie wollten meine Angetraute in die Tiefe stürzen. Doch sie konnte die, die die Tat verüben wollten durch ihre Gedanken zwingen, sie zu schonen und zu verstecken, bis ich von den Getreuen befreit werden konnte. Die Verräter müssen bestraft werden. Für sie ist kein Platz in dieser Burg."
"Ihr habt damals gegen den Willen des Schöpfers gehandelt, als ihr mir die Hilfe gegen die Schlangenkrieger verweigert habt, Herr Garuschat. Außerdem habt Ihr gegen eure eigenen Gesetze verstoßen, als Ihr Vailadorat den Befehl gabt, mich auf dem Rückflug vom Reitvogel stürzen zu lassen. Insofern habt ihr doppelten Verrat begangen. Ich will euch nur den Schlüssel zurückgeben, weil die Unschuldigen, die alle Jahre in der Hoffnung gelebt haben, von einem guten und gerechten Herrscherpaar regiert zu werden, nicht sterben sollen. Ich denke, dieses Glas da enthält den Stoff, der das Tausendsonnenfeuer zündet." Der König nickte und zeigte die kleine Flasche vor. Ein winziger Tropfen einer silbrigen Substanz, vielleicht flüssiger Wasserstoff, abgeschirmt gegen die Berührung mit den Glaswänden. Das mochte ausreichen, um die ganze Himmelsburg mit einem grellen Blitz und lautem Knall vom Himmel zu putzen und in milliarden einzelner Partikel in der Stratosphäre zu verteilen. Julius hatte es bisher nur befürchtet. Doch nun zu sehen, daß der König da einen Tropfen Antimaterie, den verbotenen Stoff, in der Hand hielt, war etwas anderes.
"Wir werden denen, den Flügellosen, in denen nicht mehr Skyllians Keim ist nichts antun", sagte Pteranda. Ihr Mann schnarrte sie an, daß sie zwar beraten und erforschen, aber nicht beschließen durfte. Darauf bekam er zur Antwort, daß ohne ihre Handlung von damals die Burg schon längst abgestürzt sei, weil die Krieger Skyllians sich ungehemmt ausgebreitet hätten. so hob der König seine Arme und Flügel und schwor:
"Hiermit schwöre ich bei meinem Leben, meinem Blute und dem inneren Selbst, daß ich keine Hand an die Bewohner der runden, harten Welt legen oder meine Stimme zu ihrer Schädigung erheben werde. Dies schwöre ich bei der Macht des Schöpfers, die mich vernichten möge, wenn ich gegen diesen Eid verstoße." Selbes schwor Pteranda. Julius fühlte, wie sich die Flöte Ailanorars sichtlich erwärmte. Was das zu bedeuten hatte entzog sich ihm jedoch. Als das Metall auf seine übliche Wärme abgekühlt war zog Julius den blauen Stab aus dem Umhang hervor. Er wollte zwar noch einmal auf die Schonung der Abtrünnigen bestehen. Doch Pteranda pflanzte ihm ins Gehirn, daß er zwar die Stimme des Schöpfers besaß, aber der Frieden der Burg nur gewahrt bleibe, wenn die Abtrünnigen bestraft würden.
"Ihr müßt mir jetzt den Schlüssel der ewigen Reisen geben. Sonst stürzen wir in einem Zwölfteltag ab und sterben alle", sagte der König. "Der Schlüssel braucht jeden Zwölfteltag einen gedachten Befehl, wo die Burg sich hinbegeben soll. Erfolgt er nicht auf die richtige Weise, so versagen die Himmelshalter und lassen die Burg, die keiner finden kann dort abstürzen, wo sie zuletzt am Himmel verankert war. Nur der Dreigoldschwingenträger und ich kennen die richtigen Worte. Leider hatte Acropsat sie sich von seinem Vater aufgeschrieben, dem mein Vatervater sie unbedachter Weise verraten hat."
"Ich fürchte, ich kann wirklich nichts dagegen machen, daß ihr eure Leute entflügelt oder aus dem Himmel runterfallen laßt. Aber zumindest können meine Leute und ich jetzt vor euch sicher sein", seufzte Julius, der hoffte, daß der Eid durch die Anwesenheit der magischen Flöte unbrechbar geworden war.
"Nun, ich bin der einzig berechtigte Vater dieses Volkes. Was auch immer die Verräter dachten, warum Sie Euch zu uns zurückkehren ließen, sie haben mich verhöhnt und beleidigt. Das darf ich ihnen nicht durchgehen lassen. Mein Diener wird Euch nun die Räume anweisen, in denen Ihr fortan leben werdet. Ihr dürft euch frei bewegen und an jeden öffentlich zugänglichen Ort dieser Burg gehen. Niemand wird sich an Euch vergreifen."
"Ähm, Moment, ich wollte nicht hier einziehen", widersprach Julius, der jedoch innerlich mit dieser Wendung gerechnet hatte. Wenn sie ihn schon nicht umbrachten wollten sie zumindest sicherstellen, daß die Stimme des Schöpfers nicht auf die Erde gelangte. Doch das wiederum war ein Verstoß gegen Ailanorars Wunsch. Julius erwähnte es, daß Ailanorars Geist es ihm dringend befohlen habe, ihn auf die Erde mitzunehmen, um dort nach seiner gefangenen Schwester zu suchen.
"Seine Schwester ist nicht mehr alleine. Sie ging mit einer eine Verbindung ein, die kurz vor dem Tode stand und wurde eins mit ihr", sagte Pteranda. "Was immer der Schöpfer dir sagte, er hat sich vergebens Hoffnungen gemacht. Ich habe den Jubelschrei der miteinander verschmelzenden Seelen gehört und erfahren, daß sie nun untrennbar an äußerem und innerem Sein sind. Sie durchdrangen und verbanden einander zu einer neuen, beider Wissen tragenden Erscheinung, die von beiden gutes wie böses in sich birgt. Die Schwester des Schöpfers wird niemals mehr für sich alleine sein, und das ist vielleicht nicht das schlechteste. Denn in den Geist der Unersättlichen zog wieder mehr menschliches ein, auch wenn die, mit der sie eins wurde, von Dunkelheit erfüllt ist. Doch auch wenn die Schwester des Schöpfers nicht mehr als eigenständiges Selbst besteht, so lebt sie weiter in dem, was nun ist und darf von uns nicht berührt oder geschädigt werden. Nur der Tod hätte sie befreit. Doch dann wäre die alte Verwünschung erfüllt worden, dernach die Kinder aus der Familie des Schöpfers bei einem gewaltsamen Ende eins mit der Luft werden und zu ihrem Meister oder ihrer Meisterin. Somit können wir es nicht zulassen, daß du aus Angst vor ihrem Können und Streben den Tod auf sie schleuderst. Daher genieße unsere Gastfreundschaft und Ehrerbietung. Ich denke, wir werden deine Gefährtin zu dir holen, damit ihr beide im Schutze unserer Burg blühen und gedeihen könnt."
"Ihr wollt mich nicht runterlassen?" Fragte Julius.
"Wir wissen jetzt, daß die Stimme des Schöpfers nur in Eurer Hand schweigen kann. Denn im Raum der Verwahrung erhielt sie Zugang zu einem Mittel, in den Geist bestimmter Bewohner hineinzurufen. Solange sie nicht wieder in diesem Raum ist wird sie also schweigen, und es wird Frieden in diesen Mauern herrschen."
"Achso, dann muß ich die Flöte nur wieder in den Raum legen, um euch umzustimmen?" Fragte Julius herausfordernd.
"Dort werdet Ihr nicht mehr hineingelassen. Der Schöpfer würde finden, sich an uns zu rächen, indem er dem nächsten zum Verrat treibt und die Burg, die keiner Finden kann, in die Tiefe stürzen läßt. Und jetzt gebt mir den Schlüssel der ewigen Reisen", schnarrte der König.
"Okay, ich sehe es ein, mich mit einem Adlerkopf mit Spatzenhirn nicht herumzuzanken. Aber meine Gefährtin und ich wollen im Kreise unserer Lieben blühen und gedeihen. Außerdem weiß ich nicht, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, die Schwester des Schöpfers davon abzuhalten, das alte Wissen dazu zu benutzen, die ganze Erde in die Hölle zu stürzen. Hier ist der Schlüssel." Julius warf dem König den blauen Stab zu. Dieser fing ihn auf. Julius fühlte, wie Pterandas Gedanken in ihn einströmten. Denn diese erkannte, was er vorhatte. Doch er stemmte sich mit Occlumentie dagegen, hielt noch einmal Ailanorars Flöte zum Gruß hoch und sagte: "Gebt wem ihr wollt die Gästezimmer. Ich habe mein Bett schon woanders. Außerdem will ich gleich noch eine hoffentlich spannende Quidditchpartie sehen. Energie!" Pteranda sprang vor, um Julius zu ergreifen. Doch genau da schnellte vom linken Fuß des Zauberschülers eine blaue Lichtspirale nach oben, umschloß ihn innerhalb einer Sekunde. Pteranda kam nicht mehr an ihn heran. Denn wer bei Auslösen des Portschlüssels keinen Körperkontakt mit ihm hatte konnte diesen bei ablaufender Magie nicht mehr herstellen. Das letzte, was Julius sah, war das erschrockene Gesicht der Adlerfrau und das verdutzte Gesicht Garuschats, der noch den zugeworfenen Leuchtstab ausbalancierte. Dann umfing Julius ein Wirbel aus Farben und Geräuschen. Er meinte, an einem Haken in seinem Bauchnabel fortgerissen zu werden. Er flog und flog, bis er einen sanften Ruck spürte und dann einen Purzelbaum schlug, und fast gegen Madame Faucon prallte, die auf einem Stuhl saß und las. Julius schaltete schnell. Er hielt die Flöte in der Hand. Doch wenn über dieses Instrument eine Verbindung zu Naaneavargia hergestellt wurde, könnte die jetzt erkennen, wo er gelandet war. Also holte er schnell die silberne Schachtel aus seinem Umhang und klappte sie auf. Ein schneller Griff, und die magische Flöte lag auf einem weißen Daunenkissen. Julius klappte die Schachtel zu. In diesem Moment umschloß ein Conservatempus-Zauber die magische Flöte. Da sie kein tierisches Lebewesen war würde sie keinen Schaden davontragen. Allerdings lief für das Instrument jetzt die Zeit um den Faktor 200 langsamer ab. Damit wurden alle wie auch immer erzeugten Gedankenausstrahlungen auf ein Zweihundertstel verlangsamt, wohl auch die Eigenschwingungszahl entsprechend verlangsamt. Das konnte die Spinnenfrau, die angeblich mit einer anderen fusioniert war nicht mehr erfassen. Außerdem, und jetzt erkannte Julius den genialen Hintergedanken, warum Madame Faucon ihn hier wieder ankommen lassen wollte, war ihr Haus gegen Mentiloquieren abgeschirmt, genau wie Beauxbatons. Somit hatte er hoffentlich die Gedankenverbindung mit der Spinnenfrau getrennt, bevor er die Frequenz und Informationsübertragungsrate abgesenkt hatte. Das sollte der vielleicht zu denken geben.
"In Ordnung, Monsieur Latierre. Bevor wir zwei nach Beauxbatons zurückkehren hätte ich gerne einen inoffiziellen Bericht für die Liga. Señor Riofuerta wurde erfolgreich von diesem Netz befreit, befindet sich aber noch im Zaubertrankschlaf, um keine Folgen der drastischen Behandlung befürchten zu müssen. Also wie war es?" Julius sah die Flotte-Schreibe-Feder auf einem Pergamentstück und konzentrierte sich. Er gab inerhalb einer Viertelstunde einen kurzen, aber alles enthaltenden Bericht ab. Dann wurde er befragt, ob er näheres über Ailanorars Schwester wisse und erwähnte, daß er nur gehört habe, daß sie mit einer weiblichen Person namens "Gegen die Sonne" verbunden worden sei. Madame Faucon seufzte.
"Also deshalb haben wir lange nichts mehr von der einen und der anderen gehört. Gegen die Sonne, Julius, das ist die Übersetzung des Namens Anthelia. Und wie sie das gemacht hat weiß ich damit auch. Die werte Araña Blanca berichtete ja, daß Anthelias Avatar gesichtet worden sei. Offenbar hat sie diesen dazu benutzt, diese Naaneavargia aufpicken und verschlingen zu lassen. Gleichzeitig hat sie einen verwerflichen Zauber benutzt, mit dem intelligente Lebewesen entkörpert und deren Wissen in das Gedächtnis des Zauberkundigen aufgesaugt werden kann. Womöglich hat sie beide zauber miteinander verschmolzen. Doch genau dadurch hat sie einen Prozeß ausgelöst, der sie ungewollt mit dieser Kreatur fusionieren ließ. Wenn ich das von den Tränen der Ewigkeit richtig erfahren habe, widerstehen sie allen Flüchen. Doch einer Fusion widersetzen sie sich offenbar nicht. Der Vorgang wird wohl nicht mehr umzukehren sein, auch nicht durch den alten Zauber der Fluchumkehr, weil hierbei zwei Lebewesen zu einem neuen Körper und Geist wurden. Wie viele Anteile davon Naaneavargia sind und wie viele Anthelia wissen wir nicht. Ungemach bedeutet es in jedem Fall. Denn nun haben wir es mit einer Gegnerin zu tun, die nicht nur das Wissen unserer Zeit kennt, sondern wahrscheinlich auch auf Zauber und Kenntnisse des alten Reiches zugreifen kann. Und wir dachten schon, Voldemort sei das größte vorstellbare Übel dieses Jahrhunderts gewesen." Den letzten Satz hatte sie mit einer gehörigen Portion Verdrossenheit ausgesprochen. Julius sah dabei, daß sie schuldbewußt dreinschaute, als habe sie diesen Vorgang ermöglicht und Anthelia den Tipp gegeben, sich dadurch nicht nur unsterblich zu machen, sondern auch einen Dicken Batzen Wissen aus dem alten Reich einzuhandeln. Dann dachte er, daß er vielleicht auch besser Schuld empfinden sollte. Denn wenn das stimmte, hatte er Anthelia diese geniale Möglichkeit zugespielt, als er Naaneavargia befreit hatte. Madame Faucon sah es ihm wohl an. Deshalb sagte sie sofort: "Es gibt Dinge, die geschehen, ohne daß wir sie überblicken können, Julius. Du hattest damals keine andere Wahl, als sie zu lähmen und zu fliehen. Daß du sie mit dem Fluchumkehrer bearbeitet hast mag die einzig richtige Methode gewesen sein. Denn diese Tränen der Ewigkeit vereiteln bindende Flüche, wie wir mittlerweile wissen. So konntest du nur den sie umgebenden Schlafbann beeinflussen, nicht aber sie selbst. Du trägst genausowenig Schuld an ihrer Flucht wie ich daran, daß Anthelia sich mit ihr offenbar ge- und vereinigt hat. Womöglich wird diese neue Entität nun sorgsamer vorgehen. Denn solange niemand weiß, wie sie jetzt aussieht und wo sie sich aufhält, kann ihr auch niemand direkt gefährlich werden."
"Wenn die beiden zu einer körperlichen Einheit geworden sind, also keine siamesischen Zwillinge, so müßte diese Einheit doch Merkmale von beiden haben, als wenn sie das gemeinsame Kind von denen wäre", vermutete Julius. Madame Faucon nickte. Sie erwähnte Ammayamiria nicht, weil die Feder noch mitschrieb. Aber Julius war sich sicher, daß sie genauso an sie dachte wie er. Julius meinte dann, daß es vielleicht ginge, ein Phantombild von ihr anzufertigen, um sicherheitsrelevante Einrichtungen der Zaubererwelt auf ihre äußere Erscheinungsform abzustimmen.
"Der Name trifft es, Julius. Sie ist nun ein Phantom, wie damals, wo wir nicht wußten, daß Anthelia in Barty Crouches Körper wiederverkörpert wurde. Ironie der Sache ist, daß sie wohl in prophetischer Anwandlung ausgerechnet eine schwarze Spinne zu ihrem geheimen Wappen erhoben hat. Jetzt ist sie mit einer verschmolzen, die die überwiegende Zeit als schwarze Spinne herumlaufen mußte. Vielleicht ist sie dieser Wandlung immer noch unterworfen. Das eröffnet die Möglichkeit, sie in Tiergestalt überwältigen und einsperren zu können. Doch ich fürchte, diese Hoffnung trügt. Nun, Julius, bringe deine Trophäe dorthin, wo du sie verstauen willst. Ich denke, die Maßnahme dürfte den gewünschten Erfolg erzielen. Professeur Fixus hat mich darin bestätigt, daß es tatsächlich Schwingungen gibt, die sie zum Hören von Gedanken befähigt. Gemäß der Deutung, daß eine gleichbleibende Anzahl von Wiederholungen pro Zeiteinheit mit dem Zeitablauf verändert wird, kann wer immer nun Naaneavargias Erbschaft angetreten hat Ailanorars Stimme nicht mehr erkennen, wenn sie den gegen Gedankensprechen gesicherten Bereich verläßt. Damit dürfte ihr zumindest dieses Machtinstrument dauerhaft vorenthalten bleiben, falls du es ihr nicht von dir aus geben willst."
"Ich werde den Enkel von Teufels Großmutter tun", knurrte Julius. Madame Faucon räusperte sich zwar, mußte dann aber grinsen. Dann gebot sie ihm, die Conservatempus-Schachtel zu verstecken. Da sie neben dem Zeitflußverzögerer auch mit einem eingerunten Diebstahlschutz versehen war, konnte sie bis zum Tode des Zauberschülers versteckt bleiben, sofern dieser nicht befand, die magische Flöte erneut hervorholen zu müssen.
Julius verließ Madame Faucons Haus zu Fuß. Außerhalb der Appariersperre um das Maison du Faucon konzentrierte er sich auf jenes große, runde Haus auf einer kreisrunden Lichtung. Dann disapparierte er. Madame Faucon sah, wie er verschwand. Zwei Minuten später war er wieder bei ihr. Er hatte die kleine Schachtel sorgsam in einem der Schränke versteckt, die Millie und er auf ihrer Wohnetage aufgestellt hatten. Millie würde es zwar von ihm erfahren, doch er würde es zur Sicherheit als Latierre-Geheimnis ausgeben, womit niemand es gewaltsam aus ihr oder ihm herausholen konnte. Denn Ailanorars Stimme war zu mächtig, um ungesichert irgendwo herumzuliegen.
Als Julius mit der Schulleiterin wieder in Beauxbatons war dachte er an die Himmelsburg, an Acropsat, Garrandarr und Iwinghir. Würden sie sterben oder zu einer lebenslänglichen Folterhaft verurteilt? Er hatte es dem König nicht ausreden können. Doch vielleicht überlegte der sich das noch mal. Er dachte an die Waffen, die er im Einsatz gesehen hatte. Das Alte Reich hatte auf der Basis der Magie genau die Art von Geräten entwickelt, die die Erfinder von Zukunftsgeschichten erst für das Jahr 2200 oder später für möglich hielten. Auch das Tausendsonnenfeuer war eine ungeahnte Gefahr. Wer es herstellen konnte steckte jede Atommacht in die Linke Tasche und holte sie rechts wieder raus, ohne, daß die das bemerkte. Ja, wenn die neue Erscheinungsform, die er ironischerweise als Tochter zweier Mütter ansehen konnte, mit diesen Sachen bescheid wußte, dann gute Nacht. Er hoffte nur, daß es von dem Lotsenstein, den er Madame Faucon nach der Rückkehr in die Schule wieder überlassen hatte, kein zweites Exemplar gab.
Millie und Madame Rossignol ließen sich ebenfalls berichten, was geschehen war. Die junge Latierre-Hexe sagte am Ende nur:
"Darf keiner wissen, was da oben so alles rumfliegt. Und daß sich diese beiden netten Damen gesucht und gleich dauerhaft zusammengetan haben ist auch heftig. Ich glaube, wir sollten in den Ferien zu diesen Altmeistern und uns von denen noch ein paar nette Zauber beibringen lassen, um auf die vorbereitet zu sein. Dieser Katarash-Zauber ist offenbar ziemlich wichtig gewesen, nicht wahr?"
"Eindeutig. Ein Illusionsbrecher von besonderer Stärke, denke ich", erwiderte Julius darauf und bedankte sich noch mal bei seiner Frau, daß sie ihm diesen entscheidenden Tipp gegeben hatte.
"Nun, mit Schlaf ist ja jetzt nichts mehr, ihr beiden. Gleich beginnt das Frühstück, und dann spielen die Blauen gegen die Gelben", sagte die Schulheilerin. Dann meinte sie zu Julius, er möge sich aber vorher einen zweiten Socken anziehen, weil es bestimmt seltsam rüberkam, wenn der Saalsprecher nur mit einem Socken bekleidet auf äußeres Erscheinungsbild prüfe. Julius kapierte es und vervollständigte seine Kleidung.
Nach dem Frühstück fieberten alle dem großen Spiel der Blauen gegen die Gelben entgegen. Die Blauen gingen davon aus, die Gelben ordentlich mit Toren einzudecken und dann noch den Schnatz zu fangen. Die Gelben hofften auf gute Paraden ihres Hüters und einen zweiten schnellen Schnatzfang ihrer Sucherin Sandrine Dumas. Jedenfalls war die Stimmung groß. Die Blauen verhöhnten die Violetten, daß diese es nicht geschafft hätten, gegen die Gelben zu gewinnen und sie, die Blauen, ihnen heute zeigen würden, wie das gemacht wurde. Die Roten und Grünen warteten darauf, wie der Auftakt der zweiten Runde ablief, um ihre eigenen Begegnungen besser vorbereiten zu können. Die Weißen hofften darauf, daß Blaue und Gelbe nicht so viele Punkte einfuhren, daß es beim Spiel gegen die Grünen nicht so heftig um Punkte ging.
Constance Dornier machte wieder die Stadionsprecherin und stellte die beiden Mannschaften vor, wobei sie die heutige Partie als Duell der Sucherinnen anpries. Als dann alle vierzehn Spieler auf ihren Besen über dem Spielfeld dahinjagten und die Blauen innerhalb von nur zwei Minuten eine erdrückende Feldüberlegenheit zeigten, ging Julius schon davon aus, daß Sandrines Mannschaft wieder zur Schießbude des Schulturniers wurde. Doch dann kamen die gelben Jäger irgendwie darauf, wo die gegnerischen Torringe hingen und konnten da sogar zwei Quaffel hintereinander durchwerfen. Das machte die Blauen nun wild. Es kam zu mehreren Fouls. Gelb erhielt deshalb fünf Strafwürfe zugesprochen, die alle verwandelt wurden. Das stopfte die übergroßen Münder der Fans aus dem Block der Blauen, erkannte Julius mit gewisser Schadenfreude. Das mit der Schießbude konnte man vielleicht doch wieder vergessen. Da sah er, wie Corinne senkrecht nach unten stieß und kurz vor dem Spielfeld den rasanten Abstieg abfing und in einem steilen Winkel wieder nach oben vorstieß, während Sandrine auf ihrem Besen gerade eine relativ flache Kurve nach unten flog. Der gemeinsame Kreuzungspunkt beider Flugbahnen war der kleine goldene Ball, der knapp dreißig Meter vor dem Tor der Blauen knapp vier Meter in der Luft hing. Corinne bekam ihn als erste zu fassen. Damit gewannen die Blauen mit dreihundert zu siebzig Punkten. Sandrine wirkte sichtlich enttäuscht, weil sie drei Sekunden zu spät ankam. Die Blauen spotteten wieder über die Violetten. Dann landeten die beiden Mannschaften.
"Sall Blau gewinnt dreihundert wichtige Punkte für den weiteren Turnierverlauf. Saal Gelb kann mit einem kleinen Achtungserfolg von sieben Toren weiterhin stolz sein", bemerkte Constance Dornier. Doch von Stolz konnte in den Reihen der Gelben keine Rede sein. immerhin zeigten die Verlierer Größe und gratulierten der siegreichen Mannschaft. Danach durften die Fans hinunter. Julius ging zuerst zu Corinne und gratulierte ihr.
"Das war 'ne zwei-Sekunden-Sache, Julius. Ich hätte auch so wie Sandrine an den Schnatz ranfliegen können. Aber dann hätte sie den wohl eher erwischt als ich", sagte die kleine, kugelrunde Hexe mit der besonderen Gabe, Gefühle anderer wahrzunehmen. "Die ist auf jeden Fall gut, um diese Saison noch ein paar Schnatze zu fangen", gab sie Julius für Sandrine mit, die sich gerade von ihrem Freund Gérard trösten ließ. Julius Latierre nickte und wünschte ihr noch eine unfallfreie Siegesparty.
"Die werfen mich nicht noch mal herum, seitdem ich Saalsprecherin bin", sagte Corinne. "Was Millies Basen passiert ist hat sich auch bei uns Blauen tief ins Hirn eingebrannt." Sie knuddelte Julius, der das hinnahm und dann zu Sandrine ging, um ihr zumindest zum Achtungserfolg zu gratulieren.
"Toll, daß die kleine Corinne mir gönnt, noch ein paar Schnatze zu fangen. Aber wir müssen noch gegen euch und gegen die Roten ran. Und die Weißen werden wohl nach der Runde noch mehr drauf aussein, die kommenden Spiele zu gewinnen."
"Das wollen wir mal hoffen", sagte Julius, der die Anspielung verstand. Doch das nächste Spiel würden erst einmal Rot und Violett bestreiten. Er war froh, sich über dieses Spiel unterhalten zu dürfen. Wäre es nach den Herren der Himmelsburg gegangen, wäre ihm das nicht vergönnt gewesen.
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