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Die Hoffnung auf Ruhe vor der Vampirvereinigung Nocturnia erweist sich als verfehlt. Zwar ist der Mitternachtsdiamant unerreichbar im Meer versenkt, doch die aus ihrem Körper gerissene Seele von Nyx findet Halt in Geist und Körper ihrer Vampirtochter Elvira Vierbein. Dadurch erhält sie auch nach außen wirksame Zauberkräfte. Als Lady Lamia, die Blutmondkönigin, will sie Nocturnia weiter ausbauen und Stellt durch eine Blutumwälzungsmaschine weiteres Pulver mit dem Vampirkeim her, mit dem arglose Menschen zu Vampiren verwandelt werden.
Wertiger und Werwölfe schließen sich zu einem Bündnis zusammen, das gegen Nocturnia kämpft. Die Wergestaltigen erhoffen sich dabei eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Anthelia erfährt von der Zusammenkunft und besucht diese mit dem zwischen Mensch und Drache wechselnden Diego Vientofrio.
Der für tot gehaltene Lucas Wishbone wird mit seinem bisher entwickelten Geist und Gedächtnis als sein Sohn und Vetter Anthony Summerhill wiedergeboren. Die bei der Suche nach von Nyx entführten Kindern durch eine Verkettung magischer Umstände aus der Welt verschwundene Austère Tourrecandide findet sich als ungeborene Tochter der wiedergealterten Daianira Hemlock wieder, die nun als ihre Tochter Theia in die Zaubererwelt der USA zurückkehrt. Nach anfänglicher Ablehnung ihres Schicksals erkennt Tourrecandide, daß sie als wichtige Helferin gegen Nocturnia einen Sinn im neuen Leben hat und wird von Daianira alias Theia am 20. Juli 1999 unter dem Namen Selene Hemlock zur Welt gebracht.
Patricia Straton, die damals das Sonnenmedaillon der Inkas in ihren Besitz brachte, erfährt, daß es das Vermächtnis einer schlafenden Gemeinschaft hochpotenter magischer Menschen ist, die als Sonnenkinder die Erzfeinde der Vampire sind. Im Auftrag der schlafenden Sonnenkinder stellt sie sicher, daß der von der Magie des Medaillons erfüllte Cecil Wellington für tot erklärt wird und schafft es mit ihm, die Sonnenkinder zu wecken. Dabei wird Cecil wieder zu Benjamin Calder. Um alle Sonnenkinder zu wecken müssen Patricia und er mit den bis dahin unberührten Geschwistern kleiner Morgen und großer Abend jeweils ein Kind zeugen. Von da reisen alle wiedererwachten Sonnenkinder in alle Erdteile, um die Vampire Nocturnias zu bekämpfen.
Anthelia kann eine Fabrik der für die Vampire wichtigen Solexfolien unbrauchbar machen. Sie findet heraus, daß die neue Königin der Vampire mit Verbrechern aus der magielosen Welt zusammenarbeitet. Der Versuch, einen davon zum reden zu bringen scheitert, weil Lamia ihren Blutkindern durch Schmelzfeuer die Möglichkeit nimmt, sie zu verraten. Um sich gegen eine zunehmende Zahl von flugfähigen Vampiren zu wehren sucht Anthelia nach einem Ersatz für den gegen die unkontrollierbare Entomanthropenkönigin Valery Saunders zerstörten Entomolithen. Nur ihrer neuen Natur verdankt sie, daß sie einen brauchbaren Bernstein mit eingeschlossener Honigbienenleiche aus dem von Feinden bestürmten Haus eines kolumbianischen Drogenhändlers mitnehmen kann.
Wie die Vampire suchen sich auch die Wergestaltigen Verbündete in den Reihen des organisierten Verbrechens. Das britische Zaubereiministerium erhält Kenntnis von einem Zaubertrank, der Werwölfe befähigt, auch ohne Vollmond zum Wolf zu werden und in dieser Verwandlung den freien Willen zu behalten. die durch Minister Shacklebolt zur Mitarbeit im Zaubereiministerium überzeugte Hermine Granger schlägt vor, ein Sonderkommando zu bilden, daß ausschließlich aus Werwölfen besteht. Die bereits mit der Lykanthropie lebende Tessa Highdale begeistert sich für dieses Vorhaben und übernimmt auch den vorgeschlagenen Gruppennamen "Kommando Remus Lupin". Sie erbeutet eine ausreichende Probe des Lykonemisis-Trankes. Gleichzeitig beginnt zwischen den zu Werwölfen gewordenen Daniellis und ihren Erzfeinden Pontebiancos eine brutale Blutfehde, weil die Daniellis den Pontebiancos von diesen gestohlene Geräte für ein illegales Spielkasino in die Luft jagen.
Weil den wegen der immer noch geltenden Schließung der reinen Hexenschule Broomswood beschäftigungslos gewordenen Lehrerinnen sowohl Anthelias Spinnenorden wie auch die beiden ledigen Mütter Tracy Summerhill und Theia Hemlock ein Gräuel sind, gründen sie mit ehemaligen Schülerinnen und gegen Anthelia eingestellten Hexen die Liga rechtschaffender Hexen. Als es in dieser zu einer Abstimmung kommen soll, wie hart sie gegen die erklärten Widersacher vorgehen sollen, kommt es zu einer unerwarteten Tragödie. Eine als Spionin eingeschleuste Mitarbeiterin des Laveau-Institutes sabotiert die magische Abstimmung. Liga-Chefin Alexandra Pabblenut wendet daraufhin ein Ritual an, das sie im Feuer der verbrennenden Abstimmungskarten zu einem grün flammenden Skelett werden läßt. In dieser Gestalt kann sie jedoch weitere ihr zugetane Hexen zu Artgenossinnen machen. Damit entsteht eine neue Bedrohung, nicht nur für die als Feindinnen gesehenen Hexen. Anthelia erfährt davon und erinnert sich an dieses Ritual. Sie kann die dem Umwandlungsritual entkommene Lavinia Thornbrook gerade noch rechtzeitig vor dem Zugriff von Pabblenuts Feuerskeletten in Sicherheit bringen. Das Zaubereiministerium erhält die bewußtlos gezauberte Nachtfraktionsführerin. Doch die Feuerskelette haben sie noch nicht aufgegeben. Um sie vor dem Ritual zu schützen verwandelt Strafverfolgungsleiter Benchwood sie in ein harmloses Sofakissen. Dadurch kann Lavinia nicht verhindern, daß eine Anthelia treue, aber auch im Sinne der nordamerikanischen Gesamtsprecherin der Schweigsamen handelnde Mitschwester Beth McGuire ihre Nachfolgerin wird. Die Skelette erpressen Benchwood, Lavinia herauszugeben. Da er über das Laveauinstitut von der lähmenden Wirkung der Spiegelbilder der Skelette auf ihre Originale Kenntnis erhält schafft er es fast, die Feuerskelette auszuschalten. Lavinia kann durch einen Körpertauschzauber Benchwoods entkommen und wird von ihren ehemaligen Mitschwestern in der Versammlungshöhle aufgestöbert. Da sie sich gegen die Gebote ihrer Schwesternschaft vergangen hat droht ihr der endgültige Ausschluß. Sie willigt ein, an die Stelle der verschwundenen Lysithea Greensporn zu treten und ohne das Wissen um ihr früheres Leben neu aufzuwachsen. Benchwood verliert derweil durch die Feuerskelette sein eigenständiges Leben. Erst als Anthelia dem Ministerium den entscheidenden Hinweis gibt, wo und wie die Skelette zu erwischen sind kommt es zum Sturmlauf von Ministerialtruppen, bei dem die Feuerskelette durch die Berührung mit von keiner Magie durchdrungenem Gold vernichtet und die in ihnen festgehaltenen Seelen anderer Menschen freigesetzt werden, die jedoch zum körperlosen Dasein verurteilt sind.
Der beim FBI arbeitende Zauberer Zachary Marchand soll auf Druck seiner Eltern seinen vierzigsten Geburtstag in seinem Elternhaus feiern. Doch Nocturnia hat andere Pläne. Gedungene Söldner, die nicht wissen, daß sie für Nocturnia arbeiten, entführen Zacharys Eltern und zwingen ihn so, sich ihnen auszuliefern. Weil der auf seinem Gürtel liegende Ich-seh-nicht-Recht-Zauber gegen Muggelinteresse von einem vollblinden Mitglied der Söldnergruppe nicht wahrgenommen wird, verliert Zachary seinen Zauberstab und wird in einem blauen Strampelanzug zum Versteck der Eheleute Vierbein geschafft. Nur die Zusammenarbeit mit der Metamorphmaga Justine Brightgate bewahrt ihn davor, von den Vierbeins zu ihrem Blutsohn gemacht zu werden. Zacharys Eltern können aus einem Bombenkäfig befreit werden. Zu ihrer Sicherheit werden sie jedoch vom FBI für tot erklärt. Zachary macht sich auf die Suche nach dem Mann, der seine eltern und ihn entführt hat: Aldo Watkin, alias der Colonel. Doch dieser gerät auch ins Fadenkreuz des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, für den er früher schmutzige Jobs erledigt hat. Die CIA schreibt ihn und die unter dem Gruppennamen DDT vermerkten Mitglieder von Watkins Bande zur Tötung aus, da Watkin unkontrollierbar geworden ist und zudem zu viel weiß, um vor ein öffentliches Gericht gestellt werden zu dürfen. Justine Brightgate und ihre Cousine Brenda helfen Zachary bei der Suche nach Watkin. Hierzu vertauscht Zachary für einen Tag seinen Körper mit dem Brendas und kann als sie an die internen Datenspeicher der CIA, über die er sich genug Wissen über Watkins Truppe verschafft. Doch Watkin weiß um seine Feinde und taucht unter. Ihm nachjagende Agenten können nur zwölf Leichen von Verfolgern finden. Der Wettlauf nach Watkin geht weiter.
Der Plan der Mondbruderschaft, eine Mafia-Familie zu kultivieren, schlägt fehl, weil deren Feinde die vollständige Ausrottung der Daniellis erreichen. Die bei der anfangs angeworbenen Familie weilenden Mondgeschwister Nina und Fino können gerade noch der vollständigen Zerstörung des Wohnsitzes der Daniellis entgehen. Allerdings kann der Führer der Pontebiancos nicht lange frohlocken. Denn sein Schlag gegen die Daniellis wurde von chinesischen Satelliten fotografiert. Der weiße Lotos erpreßt den Capo der Pontebiancos und zwingt ihn und seine engsten Vertrauten, sich einstweilen unsichtbar zu machen.
Zachary Marchand muß erkennen, daß er durch seine bloße Existenz alle gefährdet, die in seiner Nähe sind. Zwar hat das Laveau-Institut eine neue Aufspür- und Abwehrwaffe gegen Nocturnias Vampire entwickelt. Doch die Untertanen von Blutmondkönigin Lamia jagen ihn und bekommen über eingebürgerte FBI-Agenten heraus, wo seine Eltern versteckt sind. Zusammen mit seinen Kolleginnen Justine und Brenda Brightgate bringt er seine Eltern gerade noch in Sicherheit, bevor ein Greifkommando der Nocturnianer das vermeintlich sichere Haus stürmt. Für die Öffentlichkeit beider Welten stirbt Zachary bei einem Einsatz gegen fanatische Sektenanhänger, als er eine Sprengfalle übersieht. Doch Zachary Marchand ist in Wirklichkeit nur untergetaucht und beginnt in der Rolle des New Yorker Kriminalreporters Jeff Bristol ein neues Leben. Der Kampf gegen Nocturnia geht weiter.
Anthelia/Naaneavargia entledigt sich der ihr zu entgleiten drohenden Junghexe Dido Pane, indem sie diese zu einem Duell mit der russischen Mitschwester Vera Barkow treibt, während sie mit der deutschen Mitschwester Albertine Steinbeißer einer Halloweenparty beiwohnt, auf der auch Nocturnia-Vampire auftauchen. Dabei erfährt Anthelia drei wichtige Dinge: Die wichtigsten Vampire Nocturnias sind durch Schmelzfeuerfluch daran gehindert, Verrat zu begehen oder sich gefangennehmen zu lassen. Das Hauptquartier der Nocturnianer heißt Basis Winternacht und befindet sich in einer der beiden Polarregionen der Erde. Lamia ist eine Verschmelzung zwischen Nyx und einer von ihr selbst gezeugten Vampirtochter und kann nicht einfach getötet werden, solange es nur eines ihrer mit Hilfe des Mitternachtsdiamanten erzeugten Kinder gibt. Das Duell zwischen Dido und Vera endet genauso, wie das zwischen Anthelia und Daianira damals. Dido versucht, einen schwarzen Spiegel mit dem Infanticorpore-Fluch zu zerstören und wird zu Veras ungeborener Tochter.
Die Sonnenkinder werden erstmalig aktiv und erledigen einige Bürger Nocturnias. Als Lamia gezwungen ist, den kalabresischen Mafioso Fabritio Campestrano und seine Familie zu töten, weil dieser aus Wut über den Tod seines Enkels auf Rache ausgeht, kommt ihr eine wichtige Verbindung zur Unterwelt der Magielosen abhanden. Lamia ist außer sich, als sie vom Tod Zachary Marchands erfährt und erschrickt, als sie erfährt, daß die Sonnenkinder keine Schreckgeschichte der Vampirwelt, sondern tödliche Tatsache sind. Um sich und dem Vorhaben, ein machtvolles Vampirreich auf Erden zu errichten, weiter Auftrieb zu geben, plant sie die Aktion Zuwanderung 2000, die die massenhafte Vampirwerdung unbescholtener Menschen zum Ziel hat. Doch auch ein anderes dunkles Vermächtnis lauert darauf, neue Kraft zu schöpfen.
Die Spürtrupps des Zaubereiministers hatten dreißig in Menschen zurückverwandelte Entomanthropen aufgegriffen. Drei von ihnen waren in das Honestus-Powell-Krankenhaus verbracht worden. Die restlichen siebenundzwanzig waren in ein Haus der Verwahrung gebracht worden. Minister Wishbone persönlich hatte angeordnet, daß die magische Öffentlichkeit bis auf weiteres nichts davon mitbekommen sollte. Dann passierte es, daß die drei ersten Gefangenen sich der weiteren Vernehmung und einer möglichen Gedächtnisbezauberung durch zauberstablose Disapparition entzogen. Der Minister persönlich war mit zehn Hauselfen und fünf rasch zusammengetrommelten MY-Trupplern zum Haus der Verwahrung geeilt. Denn er fürchtete, daß auch die siebenundzwanzig anderen entkommen würden, wenn sie aufgeweckt würden. Zwar hieß es, daß niemand aus einem Zaubertiefschlaf erwachen konnte, wenn die dafür vorbestimmten Auslöser nicht wirksam wurden. Doch der Minister wollte nach der beinahe stattgefundenen Entomanthropeninvasion und der Schlangenmenschenpest in Europa, Afrika und Asien kein Risiko mit unbeherrschbaren, äußerlich normalen Menschen gleichenden Zauberwesen eingehen. Außerdem fürchtete er, daß die entkommenen Ex-Entomanthropen immer noch von ihrem Auftrag getrieben sein mochten, den ihre monströse Brutmutter und Herrin ihnen wohl erteilt hatte. Denn in der nähe der Zurückverwandelten waren Sprengkörper mit Zugzündern gefunden worden, die sicher gegen wichtige Gebäude eingesetzt werden sollten. Womöglich sollte das ein Vergeltungsschlag der Brutkönigin werden, falls sie das Vernichtungsfeuer der Wiederkehrerin nicht überleben konnte. Wirkte die Kraft dieses Befehls noch, dann liefen da draußen nun drei nach außen unauffällige Kreaturen herum, die geeignete Ziele suchten. Bekamen Sie verstärkung von denen, die noch schliefen, waren sie unbesiegbar.
"Sobald auch nur einer aufwacht sofort und ohne Vorwarnung terminieren!" befahl der Minister seinen fünf Begleitern. Da sah er auch schon, wie eines der schlafenden Mädchen die Augen öffnete. Er zielte mit seinem Zauberstab auf die Erwachende und rief "Avada Kedavra!" Gerade als der grüne Todesblitz aus dem Zauberstab sirrte begannen die Körperkonturen des Mädchens zu verschwimmen. Doch der Blitz traf noch und wirkte verheerend. Grüne Funken sprühten auf, und auf der Matratze breitete sich eine fleischfarbene, unförmige Masse aus. Offenbar hatte Wishbone gerade in der allerletzten Zehntelsekunde getroffen. So zielte er schnell auf einen weiteren Schlafenden. Da erwachten drei weitere Mädchen auf einmal. Die My-Truppler erkannten die Gefahr und riefen schnell den Todesfluch aus. Die drei Erwachenden kamen nicht mehr dazu, sich aufzusetzen oder im liegen zu verschwinden. "Alle töten! Unverzüglich!" rief der Minister. Denn er fühlte sich in seiner schlimmsten Befürchtung bestätigt. Die drei Entkommenen hatten den magischen Schlaf überwunden und konnten nun jederzeit an einen nur ihnen bekannten Rückzugsort verschwinden. laut wiederhallend sirrten die gleißenden Blitze des Todes aus allen Zauberstäben. Jeder Fluch fand ein Ziel. Weitere fünf ehemalige Entomanthropen zerflossen zu einer formlosen Masse. Doch die anderen zuckten nur kurz zusammen und blieben dann reglos liegen, als schliefen sie weiter. Die zerflossenen Körper der im magischen Verschwindevorgang getöteten zerliefen ekelerregend glucksend über die Matratzen. Wishbone fühlte, wie ihm selbst übel wurde. Was hatte er tun müssen.
"War womöglich besser so, Sir", sagte Mortimer Stonehill, ein muskelbepackter Hüne mit einer dunkelbraunen Mähne, buschigen Augenbrauen und Schnurrbart wie ein kapitaler Löwe. "Am Ende hätten die sich bei ihren Familien gemeldet und die wie auch immer gegen uns ausgespielt." Wishbone nickte. Genau das hatte er auch befürchtet. Genau deshalb hatte er per höchstem Ministerialbefehl angewiesen, daß die aufgegriffenen Entomanthropenabkömmlinge erst einmal in Zauberschlaf zu halten waren, bis etwas beschlossen war, ob sie ihr Leben weiterführen konnten oder für immer im Gewahrsam zu verbleiben hatten.
"Sie bleiben hier und melden den plötzlichen Tod der Verwahrten. Ich feile an einer plausiblen, aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Deutung!" befahl der Minister. Dann läutete er mit einem Silberglöckchen nach seinem persönlichen Transportelfen. Als dieser mit lautem Knall apparierte und sich so tief verbeugt hatte, daß seine lange Mohrrübennase dreimal kräftig den Boden berührt hatte, ergriff der Minister die Hand des bedingungslos dienstbaren Zauberwesens. Das war wie ein Befehl für das kleine Wesen, unverzüglich mit ihm zu disapparieren.
Er landete in seinem Büro im Zaubereiministerium. Für die Außenstehenden sah es so aus, als habe er es nicht verlassen. Wenige Minuten später traf eine Blitzeule ein, daß die gefangenen Entomanthropen verstorben waren. Er antwortete auf den Brief seines Gefolgsmannes und bat ihn zu einem offiziellen Raport. Doch was war das? Irgendwas brachte den Boden zum Erzittern. Unvermittelt gingen Alarmzauber los. Irgendwas erschütterte das Ministerium. Dann krachte es laut, und eine sehr wütend röhrende, wie Gewitterdonner dröhnende Stimme brüllte Wishbones Namen: "Lucas Wishbone, du Bastard! Du hast meine Geschwister umgebracht. Dafür büßt du jetzt!" Er hörte Zaubersprüche und ihnen folgende Flüche knallen, zischen und auch das verhängnisvolle Sirren des Todesfluches. Doch das Gebäude wackelte. Laut donnernd brachen die sonst so gut gegen Beben und körperliche Angriffe gepanzerten Wände zusammen. Dann sah er sie. Eine mehr als dreißig Meter große, splitternackte Frau, die jeden eurasischen Riesen zum Gnom degradierte, rammte mit ihren metergroßen Fäusten die Wände ein, als bestünden sie aus Seidenpapier. Das Ungetüm besaß eine Flut schwarzer Haare, von denen jedes einzelne wohl so dick wie das Schweifhaar eines Pferdes sein mochte. Wagenradgroße, braune Augen blickten auf den Haufen der gegen die Kreatur ankämpfenden Sicherheitszauberer an. Sie schnappte die sie bedrängenden Zauberer mit den Fingern auf. Kein Fluch durchdrang die mit handtellergroßen Poren durchsetzte Haut der Überriesin. Sie warf die Gefangenen Zauberer in ihr mehr als Scheunentorgroßes Maul und ließ sie darin verschwinden. Wishbone hörte die Schreie der Todgeweihten immer leiser und dumpfer werden. Dann schnappten die baumstammdicken Finger der Mutter aller Monster nach ihm. Er wurde hochgerissen. Er sah das zur unerträglichkeit vergrößerte Gesicht Lolita Henares'. "Für dich ist noch genug Platz. Wenn du mir schon meine Geschwister wegnimmst, dann füttere meine Kinder oder werde selbst eins davon!" brüllte die Riesin mit einer Lautstärke, die jeden Heuler zum sanften Säuseln abstufte. Dann flog Lucas Wishbone auf das gewaltige Maul zu. Kurz Davor zerrten zwei schartig wirkende Fingernägel ihm den Zauberstab aus der Hand. Es knackte kurz. Dann war der Stab unrettbar zerbrochen. Dann war es soweit. Er hörte das blasebalgähnliche Schnaufen des Atems, fühlte diesen wie einen heißen Wüstensturm auf dem Körper. Dann umschloß ihn die tiefrote Dämmerung des Riesenmauls. Er schrie, als er über die genoppte, von Speichel überflutete Zunge in den Schlund der Titanin hinabrutschte. Er schrie. Doch das genüßliche Schlucken und das laute Pochen des gewaltigen Herzens übertönten seine Schreie. Er rutschte weiter, wurde von pumpenden Bewegungen noch schneller vorangetrieben. Er schrie und schrie. Seine Stimme wurde höher und schriller ... und endete im angstvollen Plärren eines Babys. Die kanonendonnerartigen Herzschläge verklangen übergangslos. Er fühlte jedoch, wie er von etwas schaukelndem hin und hergeworfen wurde und schrie weiter, weil er dachte, er gleite weiter unaufhaltsam in den scheunengroßen Magen der Riesin hinunter, wo seine Getreuen bereits ihr Leben aushauchten. Dann erkannte er, daß er frei atmen konnte. Er hörte zu schreien auf. Das Schaukeln ließ nach. Er quängelte kurz. Er fühlte Tränen über sein Gesicht strömen. Dann hörte er eine warmherzig betonende Frauenstimme: "Alles gut, Kleiner. Du hast nur einen bösen Traum gehabt. Alles wieder gut, Tony. Mom ist bei dir."
Er schlug die Augen auf. Jetzt erkannte er, wo er war und was er war. Er hatte wirklich nur geträumt. Er war nicht von einer Riesin, die wie Lolita Henares ausgesehen hatte lebendig verschluckt worden, sondern von seiner früheren Geliebten und Tante neu zur Welt gebracht worden. Jetzt war er Tony Summerhill, und sie, Tracy Summerhill, seine zertifizierte, leibliche Mutter. Diese hob ihn sanft aus der langsam zur Ruhe kommenden Wiege heraus und umarmte ihn. Für ihn war sie im Moment auch eine Riesin, dreimal so groß wie er selbst. Doch sie würde ihn nicht fressen. Sie liebte ihn. Sie hatte ihn immer schon geliebt und ihn genau deshalb in ein neues Leben zurückgeboren. Er fand seine Ruhe wieder. "Ich glaube, du würdest mir gerne verraten, was du geträumt hast. Aber dir deshalb das Band abmachen lasse ich besser sein", säuselte sie. Er quängelte verärgert. Sicher hätte er ihr gerne mentiloquiert, wovon er geträumt hatte. Doch dann fiel ihm ein, daß er das besser doch für sich behalten sollte. Denn außer der Überriesin, die die Kraft und Körpermasse aller zurückverwandelten und nun getöteten Entomanthropen in sich angehäuft hatte, war alles in seinem Traum geschehene wirklich so abgelaufen. Er hatte siebenundzwanzig wehrlose Leute umbringen lassen, weil er sie für gefährlich unbeherrschbar gehalten hatte. Das war einen Tag nach dem Zerwürfnis mit seiner Tante und jetzigen Mutter gewesen. Sie hatte davon nichts mitbekommen. Nach den drei überlebenden Entomanthropen wurde seither gesucht. Doch die hatten sich zu gut versteckt. Wenn er das Datum richtig mitverfolgt hatte, dann war das vor einem Jahr, zwei Monaten und fünfzehn Tagen gewesen. Wenn dieses Ungetüm Lolita Henares ernsthaft alle freigesetzten Kräfte absorbiert und in sich angehäuft hätte, dann wäre er sicher nie auf die Welt zurückgekommen, und sein nachgiebiger, immer auf friedliche Koexistenz ausgehender Nachfolger hätte ein weit größeres Problem als die Vampirpest namens Nocturnia am Hals gehabt.
Sie träumte immer noch davon, wie sie früher gewesen war, bevor sie jenen verhängnisvollen Ausflug auf die Insel der hölzernen Wächterinnen gemacht hatte. Wenn sie dann aufwachte fragte sie sich, ob sie es nicht hätte anders machen können, als sie es wirklich gemacht hatte. Sicher, sie hätte einen anderen Zauber als den ihr im Grunde doch noch sehr unbekannten Fluchumkehrer aufrufen können. Doch nun war es passiert. Sie hatte noch mitgeholfen, zwei unschuldige Kinder aus den Fängen der Nocturnianer zu retten. Daß dabei ihre frühere Schwester sterben mußte hatte sie anfangs sehr belastet. Doch es hatte wohl keine andere Möglichkeit gegeben. Jetzt war sie selbst ein unschuldiges, kleines Kind, gerade einmal drei Monate auf der Welt, wobei sie mit gewissem Unmut die zwei Monate davor noch mitrechnete, die sie von längeren Schlafpausen unterbrochen, bewußt miterlebt hatte. Angst und Verachtung, Selbstvorwürfe und Hilflosigkeit hatten sie erst daran denken lassen, dieses neue, ihr aufgezwungene Leben so früh wie möglich zu beenden. Doch als ihr die Möglichkeit eröffnet worden war, nicht zur vollkommenen Teilnahmslosigkeit und Hilflosigkeit gezwungen zu sein, hatte sie mit ihrem neuen Leben Frieden geschlossen, zumal sich ihre Mutter an die Zusage hielt, keine Anstalten zu machen, die Abhängigkeit von ihr auszunutzen, um sie magisch zu unterwerfen. Zwar war das merkwürdig für die wenigen uneingeweihten Besucher, daß Theia Hemlock, die sich ja auch erst an ein neues Leben hatte gewöhnen müssen, nie ein Wort sprach, wenn sie ihre kleine Tochter stillte. Doch Selene, wie sie seit dem 20. Juli 1999 offiziell hieß, hatte das mit ihrer unfreiwilligen Mutter ausgehandelt, weil jedes gesprochene Wort womöglich Teil eines böswilligen Zaubers hätte sein können, mit dem Hexen von ihrer Milch trinkenden Säuglingen grundlegende Befehle in die Tiefen des Geistes einflößen konnten. Zudem trug sie als Ausgleich für das Antimentiloquismus-Armband, daß sie hinderte, Gedankenbotschaften zu versenden oder entgegenzunehmen, eines der genialen Cogisons der Dexter-Geschwister, das die worthaften Gedanken seines Trägers mit magischer Stimme wiedergab, wenn sie konzentriert genug, das hieß, auch als gezielte Mitteilung für andere, gedacht wurden. So konnte Selene Hemlock in Abwesenheit Uneingeweihter mit ihrer Mutter und ihrer offiziellen Urgroßmutter, die ihr auch auf die Welt geholfen hatte, über die neue Bedrohung namens Nocturnia diskutieren, sofern der Säuglingskörper nicht seine regelmäßigen Schlafzeiten einforderte oder sie gerade saugte und daher von ihrer Mutter keine gesprochene Antwort zu erwarten hatte.
Sie war mal wieder satt, aber noch nicht müde genug, um ihren Mittagsschlaf zu nehmen. Theia hatte es, wohl aus eigener einprägsamen Erfahrung, eingesehen, ihre Tochter mit den praktischen Reisewindeln zu versorgen, die eine Woche lang nicht gewechselt werden mußten, fragte Selene mit Hilfe des Cogisons:
"Hast du noch Kontakt zu denen, die früher mit Daianira Hemlock zu tun hatten, oder ist durch Leda alles beendet worden?"
"Du meinst, ob die Entschlossenen mich vielleicht doch gerne in ihre Reihen geholt hätten, Selene?" fragte Theia Hemlock zurück. Sie sagte nur dann "kleines" oder "Kleines Mädchen" oder "Mein Schnullerpüppchen", wenn Leute mithören konnten, die nicht in Theias und Selenes größtes Geheimnis eingeweiht waren. "Sagen wir mal so, ich kann mir vorstellen, daß einige gerne Einfluß auf mich ausüben würden, denen ich, wo ich noch Daianira geheißen habe, gewisse Grenzen setzen mußte. Außerdem habe ich festgestellt, daß die Entschlossenen ein zu fruchtbarer Boden für die Ideen dieser Wiederkehrerin sind. Sardonias Saat liegt bei denen zu breit und tief gestreut, als zu hoffen, daß sie nie wieder aufgeht. Das mußte ich einsehen, als du dich unter meinem Herzen befunden hast. Denn wenn ich damals schon bei den geduldigen, die ich damals auch als zögerliche Schwestern bezeichnet habe, gewesen wäre, hätte ich sicher nicht gegen diese Wiederkehrerin gekämpft und sie damit am Leben gehalten, daß ich sie allzugerne als meine Tochter wiedergebären wollte. Aber womöglich ist mir durch diese Verwicklungen ein Weg aus einer mir selbst nicht ersichtlichen Sackgasse gezeigt worden. Gut, du magst jetzt finden, ich hätte auch anders zur Besinnnung finden und erst gar nicht mit den Entschlossenen zusammengehen sollen. Aber dazu müßtest du vielleicht meine ganze Geschichte kennen, warum ich den anderen, die von den eher zurückhaltenden als ungeduldige Schwestern bezeichnet wurden, beigetreten bin. Oder siehst du das als pure Zeitverschwendung und Heuchelei, wenn ich dir erzähle, was mich, eine bereits zu Ehren gekommene Schullehrerin und Zaubertrankexpertin, dazu gebracht hat, die heimliche Gegenspielerin eines viel zu rücksichtsvollen Zaubereiministeriums zu werden?"
"Nun, ich habe in dem Leben, daß ich vor meinem Einzug in deinen Unterleib geführt habe lernen müssen, daß ich Geschichten oder Dinge nur beurteilen kann, wenn ich sie genau kenne. Sicher kannst du mir jetzt etwas erzählen, was dich in das bestmögliche Licht rückt und es als unumstößliche Rechtfertigung hinstellen, warum du so und nicht anders wurdest. Das würde aber nichts mehr daran ändern, daß wir zwei miteinander auskommen müssen und ich als deine Tochter aufwachsen muß. Natürlich interessiert es mich, warum jemand sich für eine klare Ausrichtung entscheidet. Selbstverständlich hat es mich immer umgetrieben, zu fragen, warum meine Schwester sich einem Vampir hingegeben und dessen Daseinsform angenommen hat. Auf jeden Fall habe ich mich wie die meisten anderen in der Liga gegen dunkle Künste damit beschäftigt, wann und warum jemand der rein dunklen Seite der Magie zugetan ist, seitdem Grindelwald die Welt unsicher machte und der, der sich Voldemort nannte, immer grausamer hauste und trotzdem oder womöglich auch gerade deswegen immer mehr Anhänger fand. Ich hoffe mal, ich schlafe dir unter deiner Erzählung nicht ein. Denn mich interessiert, was eine intelligente Hexe dazu bewogen hat, sich gegen die auf Vernunft gegründeten Gesetze der Zaubererwelt zu stellen."
"Ja, da sind wir schon bei einem guten Stichwort", setzte Theia mit einem verhaltenen Lächeln an. "Nämlich die Frage, was Vernunft überhaupt ist und was es der einen Gruppe bringt, vernünftig zu sein, wenn sie ständig in Gefahr leben muß, von den Unvernünftigen unterdrückt oder ausgelöscht werden zu können. Genau mit dieser Frage habe ich mich damals herumschlagen müssen."
Slicer wollte sich das nicht länger bieten lassen. Seit schon drei Monaten zockte irgendwer die ganzen Läden in seinem Revier ab und stellte es so hin, als seien es die Black Hats, seine Bande gewesen. jetzt hatte ihm noch ein geschniegelter Typ im italienischen Maßanzug einen Besuch abgestattet und zwischen hundert Wörtern ein paar höchst beunruhigende Bemerkungen eingestreut: Auf den Punkt gebracht hieß das: "Finger weg von den Ristorantes. Die zahlen an uns. Wenn die nicht mehr zahlen können gibt's ärger." Slicer hätte diesem Abgesandten der hiesigen Familie gerne gesagt, daß er und seine Leute nicht lebensmüde waren und nicht im Revier von ganz großen wildern würden. Doch der Typ hätte ihm das nie geglaubt.
"Ich will bis Halloween wissen, wer uns da so frech ans Bein pinkelt und sogar drauf scharf ist, daß die Cosa Nostra uns plattmacht. Wenn wir das wissen nehmen wir die Typen vom Brett und bringen dem Capo der hisigen Familie den Kopf von deren Anführer. Kriegen wir diese Schweinebande nicht am Arsch, sollten wir schleunigst den Kontinent wechseln. Und ich will nicht ins alte Europa oder gar zu den Afrikanern oder Chinesen. Also findet verdammt noch mal raus, wer uns da so hinhängt!"
"Boss, wenn es keine Typen sind?" Fragte Skinny, ein kleiner, schmächtiger Bursche, der durch seinen Bruder Lizard in die Bande gekommen war.
"Wie meinst'n das, ey?" wollte Slicer wissen.
"Ja, 'ne Bande aus Weibern, 'ne Girl Gang. Gibt's doch auch ab und an."
"Neh, in unserem Viertel, wo die einzigen Mädels, die da rumlaufen für Big Jim und Hardball Mike anschaffen, weil sie an der Nadel hängen. Mädchenbanden sind was für die Oberschule, wo die die kleineren abziehen können, aber nix für die Straße."
"Ich wollte das nur mal als Möglichkeit reingebracht haben", knurrte Skinny. Slicer vollführte mit den Händen Schlagbewegungen, als hielte er unsichtbare Schwerter in den Händen. Alle verstanden diese Pantomime sofort. Slicer würde jeden in Stücke schneiden, der ihm die Tour versaute, vor allem, wenn jemand ihm die Mafia auf den Hals hetzte.
"Jungs, bevor wir uns hier noch bis Halloween die Mäuler zerreißen sollten wir rausgehen und sehen, ob wir nicht wen von denen zu fassen kriegen", sagte Punch, ein ehemaliger Boxmeister aus dem Staatsgefängnis. Slicer stimmte ihm zu. Der Typ redete nicht. Er schwieg meistens. Und wenn er dann doch mal was sagte, dann nur das, was auch gut überlegt war. Slicer nickte ihm zu.
"Der Boss lebt voll hinterm Mond, Theo", knurrte Skinny, der von seinen Eltern auf den Namen Howard getauft worden war. Theo, der in der Bande Lizard, die Eidechse, genannt wurde, stimmte ihm vollkommen zu. "Der ist schon seit zehn Jahren in diesem Viertel am Drücker. Für den sind Mädels entweder aufgetakelte Anstandsdämchen oder Nutten. Mehr Frauenarten kennt der nicht. Daß auch abgebrühte Mädels die Straßen aufmischen können will dem nicht in die Birne. Dabei gab's vor einem Jahr und ein paar Monaten vollen Zoff zwischen zwei Latinogangs in Chicago. Eine von den Banden war 'ne reine Mädchentruppe, und die haben ihre Rivalen mal eben lebendig abgefackelt. Soviel dazu, daß wir nur auf freche Jungs gucken sollen."
"Ja, aber wie du gesagt hast ist das für Slicer voll abgedreht", erwiderte Skinny alias Howard.
"Also passen wir besser auf, daß wir uns von einer lieb lächelnden Puppe nicht aus dem Tritt bringen lassen", sagte Theo alias Lizard.
Die Black Hats postierten sich in ihrem Viertel. Normalerweise trugen sie schwarze Integralhelme, denen sie ihren Namen verdankten. Doch weil sie wissen wollten, wer sie da imitierte, wollten sie nicht wie sonst herumlaufen. Zwar konnten sie sich in ihrem Viertel gut versteckenund gute Posten einnehmen, von denen aus sie sehen konnten, ohne gesehen zu werden, doch wenn jemand meinte, sie der örtlichen Cosa Nostra zum Fraß vorzuwerfen, sollten die keine klaren Ziele zu sehen kriegen.
Slicer saß zusammen mit Snorebag, einem eher tranig wirkenden aber im Kampf unerwartet agilen Kumpan, hinter dem Dachfenster des alten Glocester-Hauses. Die Familie hatte mal zu den reichen Leuten von Richmond gehört, damals, als die Stadt noch Hauptstadt der konföderierten Staaten Amerikas war. Mit der Niederlage des Südens und der daran anschließenden Freisprechung aller Sklaven war der Reichtum schlagartig zerfallen, weil die werten Glocesters für ihre weitläufigen Zuckerrohrplantagen nun Lohnarbeiter anstellen mußten. Das kümmerte Slicer nur wenig. Wichtiger war ihm, daß seit fünfzig Jahren keiner mehr in diesem Protzkasten wohnte und die Erben des letzten Bewohners das voll überschuldete Haus nicht haben wollten und die Gläubiger keinen fanden, der ihnen das Haus abgekauft hätte. Für die Bande war es das geniale Lagerhaus für alles, was teuer und illegal war. Hier lagerten ihre Waffen, einige Kilogramm Kokain, Heroin und Marihuana, sowie jede Menge raubkopierte Computerspiele und Musik-CDs. Außerdem war es der geniale Ausguck für die von den Black Hats eigentlich gut kontrollierte Gegend.
"Bei Charlies Laden tut sich was. Könnte 'ne 50-Dollar-Biene von Big Jim sein", wisperte Slicer in sein kleines Handfunkgerät, das durch gewisse Manipulationen abhörsicher gemacht worden war.
"Boulder an Boss, habe die Kleine in der Optik. Zwei Meter Fahrgestell. Damit kann die ihrem Typen noch knutschen, wenn der auf 'nem Pferd sitzt."
"Halt deine Hormone still", knurrte Slicer in sein Funkgerät. "Was kuckt die denn jetzt so rum. Die soll dahin, wo Jimbo seine Pferdchen laufen läßt, ey!"
"Wenn es eins von seinen Rennpferdchen ist, Boss. Die peilt nämlich genau in die andere Richtung."
"Da ist noch eine. Hui, 'ne rothaarige", bemerkte Boulder. Slicer sah sie auch. Eine hochgewachsene Frau mit schulterlangem, rotem Haar, die gerade auf die mit den beinahe endlos langen Beinen zusteuerte und diese leise ansprach. Was sie der anderen sagte bekamen die Gangster in ihren Stellungen nicht mit. Jedenfalls ging die erste um die nächste Häuserecke und war damit außer Sicht. Die Rothaarige schlenderte nun an dem kleinen Schnapsladen von Charlie vorbei, der früher immer ein paar Flaschen Tribut abzudrücken hatte, bis die Konkurrenz auf den Plan getreten war. Slicer griff zu seinem Nachtglas und peilte der Rothaarigen hinterher.
"Eh, Scheiße, Boss, das ist die Henares, Lolita Henares. Die hat in Chicago mal Stress mit den Cops gekriegt, weil die 'ne Bande von Latinas gehabt haben soll", kam Lizards Stimme über Funk.
"Junge, ich hab's dir gesagt, daß sowas wie echte Straßengangs aus Mädels nicht gehen kann und ...", slicer wollte gerade noch sagen, daß Lizard ihm wohl einen reinwürgen wollte, als drei weitere Frauen, fast noch mädchen, wie aus dem Nichts auf der Straße auftauchten. Sie trugen alle hautenge Gummisachen, die eigentlich eher alles zeigten, als verhüllten. Die Kostüme waren hell und dunkel quergestreift. Dann passierte was, das Slicer ebenfalls an seinen Augenzweifeln ließ, wenn ihm Boulder und Lizard nicht gleichzeitig aus dem Lautsprecher zugerufen hätten, daß sie das auch sähen. Aus den Händen der Frauen schlugen Funken, die sich zu einem gleißenden Lichtbogen verbanden, der sich zwischen Tür und Schaufenster von Charlies Schnapsladen spannte. Dann entlud sich sogar ein greller Blitz. eine halbe Sekunde danach hörten die Black Hats einen dumpfen Knall. Der Laden brannte lichterloh, und die unheimlichen Frauenzimmer waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
"Hab ich das jetzt geträumt oder hat mir wer was ins Bier gekippt", knurrte Slicer. Charlies Laden brannte derweil weiter.
"Das war voll der Starkstrom. Den haben die mit ihren Händen gemacht wie elektrische Aale oder sowas", stieß Boulder über Funk aus. Dann sahen sie noch, wie zwei vermummte Gestalten mit schwarzen Integralhelmen um die Ecke huschten und genau vor Charlies gerade ausschwingendem Fenster vorbeirannten, als seien sie auf der Flucht. "Ups, da haben wir unsere Nachmacher. Birdy, knall die ab, damit die Cops und die Mafiosi wen zum beglotzen kriegen!" rief Slicer. Seine Hände zuckten zu den Griffen der beiden Macheten, die er in samuraitypischen Rückenscheiden trug.
"Sind schon tot", knurrte Birdy, der vor einem Jahr noch bei den Ledernacken gewesen war, bis sie ihn wegen illegalen Glücksspiels rausgeworfen hatten. Daß er dabei ein Scharfschützengewehr mitgenommen hatte war den Heinis in Grün erst eine Woche später aufgegangen. Slicer sah blaue Blitze von den beiden flüchtenden zucken. Dann hörte er Birdys erschrockene Stimme: "Das kann nicht sein, die Kugeln sind von was um die rum abgeprallt. Die haben Schutzschirme um sich rum."
"Unfug, kuck weniger Star Trek", knurrte Slicer. Doch auch er hatte die blauen Blitze gesehen. Dann erlosch eine Straßenlaterne wie eine ausgepustete Kerzenflamme. "Mist, jetzt habe ich 'nen Querschläger gebaut", hörten sie Birdy. Dann blitzte es noch einmal blau. Danach waren die beiden Flüchtenden aus dem Schußfeld.
"Wo sind wir hier, in einer Show aus dem Jahr 3000 oder was?" fragte Snorebag.
"Wer auch immer die sind, die haben interessante Spielsachen", erwiderte Slicer. Dann hörte er wie Snorebag einen langgezogenen Schrei aus dem Lautsprecher. Danach erklang eine Frauenstimme mit lateinamerikanischem Akzent: "Ihr seid Geschichte, Hijos des Putas!"
"Birdy, sag was!" rief Slicer in sein Funkgerät. Doch Birdy sagte nichts. "Alle melden, sofort!" rief der Führer der Black Hats ins Mikrofon. Doch an Stelle von Meldungen hörte er nur noch lautes, von Schwirren und Knacklauten durchsetztes Rauschen wie von einem Kurzwellenradio bei Gewitter. "Los, alle mal melden!" rief er noch einmal ins Mikrofon. Er ärgerte sich, nicht die noch besseren Digitalfunkgeräte in den Helmen mitgenommen zu haben.
"Boss, die andere Lampe ist auch gerade ausgegangen", sagte Snorebag. Das war dann auch das letzte, was Slicer von ihm hörte. Denn im nächsten Moment ploppte es laut, und ein greller Blitz schlug quer durch die Dachkammer und traf Snorebag voll am Kopf. Der Black Hat zuckte zusammen, wankte und fiel schlapp wie ein nasser Sack um.
"Buenas Noches, Señor Slicer", klang eine andere, ebenfalls hispanoamerikanisch gefärbte Frauenstimme. Slicer zog in einem tausendfach geübten Reflex beide Macheten blank. Dann erst registrierte er, wer ihn angesprochen hatte. Es war die rothaarige Frau, die er vorher noch an Charlies Laden hatte vorbeigehen sehen.
"Wir wußten, daß ihr alle auf eure Wachposten geht, wenn jemand rumtratscht, ihr würdet der hiesigen Familie am Zeug flicken", sagte die Unbekannte und auf unheimliche Weise ins Haus eingedrungene. Slicer hob den rechten Arm zum Schlag. Er wollte der fremden kunstgerecht den Kopf vom Hals trennen. Diese stand jedoch ganz ruhig da und machte keine Anstalten, den drohenden Schlag zu parieren oder abzuducken.
"Tu dir keinen Zwang an, Chiquitito!" lachte die Fremde Slicer an. Ihre braunen Augen strahlten absolute Überlegenheit aus. Slicer legte seine ganze Wut in den Schlag. Laut pfiff die rasiermesserscharfe klinge der Machete durch die Luft, raste auf den Hals der Rothaarigen zu und prallte blaue Funken sprühend auf einen harten, unsichtbaren Widerstand. Slicer meinte, blaues Feuer zucke über die Klinge und den Griff. Er fühlte es heiß und schmerzhaft auf seiner Haut brennen. Slicer verlor die Machete aus der Hand. Die Klinge glühte rot. Da wo sie das unheimliche Hindernis getroffen hatte war ein Stück herausgebrochen, als habe Slicer eine Stahlwand zu zerschlagen versucht. Noch hatte er die Machete in der linken Hand. Er wollte sie schon in die rechte Hand nehmen und damit den üppigen Brustkorb der in einem gelb-schwarzen Streifenkostüm steckenden treffen. Doch seine rechte Hand tat höllisch weh, als habe er in siedendes Öl oder brennendes Bratfett gegriffen.
"Ich will von dir noch einiges wissen, Süßer. Nur deshalb darfst du noch ein bißchen leben. Außerdem muß ich noch rauskriegen, ob du noch Jungfrau bist. Falls ja könnte es mir passieren, daß ich dich als meinen Sohn noch mal zur Welt bringen muß, weil die dich nicht in den Himmel reinlassen, weil du noch nicht die Freuden der Erde erlebt hast und sie dich nicht in die Hölle reinlassen, weil du noch nicht vom Süßen Trank der ständigen Versuchung genascht hast", sagte die Unbekannte. Slicer stockte. Was faselte die Fremde da? Wieso konnte die seinen Machetenhieb wegstecken, und warum hatte der Schlag ihm die Hand verbrannt? Nachher hatte die echt einen Energieschirm aus einem der Weltraumgeschichten um sich herum.
"Ich fasel nicht, ich spreche nur eine Befürchtung aus, die ich nicht weiter aufrechterhalten möchte. Deine Leute werden gerade von meinen Chicas plattgemacht. Das Viertel hier kommt ohne euch besser aus."
"Jefa, muchas Armas aqui!" rief eine Slicer noch unbekannte Frauenstimme aus den tieferen Etagen. Slicer rief nach Trunk und Cracker, den beiden Posten an den Türen. Doch sie meldeten sich nicht.
"Espera, Juanita, debo preguntar este puerco Slicer sobre todas cosas!" rief die Rothaarige zurück. Slicer konnte genug Spanisch um zu verstehen, daß sie ihn als Schwein bezeichnet hatte und ihrer Komplizin befohlen hatte, noch zu warten. Er holte mit der linken Hand aus. "Das hatten wir doch schon!" rief die Rothaarige. Doch Slicer wollte es jetzt wissen. Wieder pfiff eine tödlich gefährliche Klinge durch die Luft. Wieder prallte sie kurz vor ihrem Ziel ab. Erneut sprühte eine Wolke aus gleißend blauen Funken auf. Slicer fühlte den Schmerz in seinen linken Arm hineinfahren. Wieder war ihm, als habe ihm jemand siedendes Öl über die Hand geschüttet. Er schrie laut auf und übertönte damit das Klirren der ihm entfallenden Machete auf dem Boden. Das nächste, was er noch mitbekam war die Rothaarige, die eine kleine Pistole zog und auf ihn abfeuerte. Die Schmerzen in den Händenund Armen überlagerten den Schmerz des in die Haut dringenden Betäubungspfeils. Das dieses rothaarige Luder ihn vergiftet hatte merkte er erst eine Sekunde nach dem Treffer. Denn es wurde schlagartig stockdunkle und lautlose Nacht um ihn.
Als er wieder aufwachte war er mit Ketten an eine Pritsche gefesselt. Es stank nach Badeöl und Duschgel und er merkte, daß er fast Nackt war. Die einzige Kleidung die er trug waren zwei Verbände um seine Hände. Um ihn herum standen zehn halbwüchsige Mädchen in gelb-schwarz quergestreiften Gummianzügen. Dann betrat die Rothaarige Anführerin den Raum und scheuchte die Umstehenden mit einer lockeren Handbewegung aus dem Weg. "So, Jungchen, dein Lager haben wir leergeräumt, deine Gang bis auf die beiden Brüder und dich ins Jenseits befördert und den Cops gesteckt, daß ihr einem Vergeltungsschlag der Mafia zum Opfer gefallen seid, weil ihr deren Einnahmequellen vergiftet habt. Uns hat keiner gesehen, außer euch. Und wer uns sieht und keine von uns werden kann stirbt."
"Wer und was seid ihr, Außerirdische, Mutanten oder Hexen?" wollte Slicer wissen. Er dachte daran, daß Lizard und Skinny offenbar die Biege gemacht hatten, bevor dieses Luder Birdy, und Snorebag und womöglich Boulder und Punch erledigt hatte.
"Sagen wir mal so, wir sind die Ergebnisse eines Experimentes, von dem die ausführende Person nicht ahnte, wie es ausgehen würde, weil sie es sonst garantiert nicht gemacht hätte. Mehr geht in deinen Machoschädel eh nicht rein."
"Fahr zur Hölle, Schlampe!" spie Slicer der Rothaarigen entgegen. Diese lachte nur und sagte, daß sie da schon mal war und gestärkt daraus zurückgekommen sei. Slicer glaubte nicht an echte Dämonen, Hexen oder den Teufel. Aber die ganzen Aktionen vorhin, wenn sie nicht mit einer Technik aus dem vierten Jahrtausend erklärt werden konnten, blieben nur Magie oder Mutantenkräfte à la X-Men. Dann legte sie ihm die Hände auf die Stirn und säuselte: "Wehr dich nicht dagegen. Dann tut es nicht so weh!" Dann war Slicer, als bohrten sich kleine, glühende Nadeln in seinen Kopf hinein. Er sah Bilder vor seinem geistigen Auge, wie er die Bande gegründet hatte, die offenbar jetzt vor dem Aus stand. Er versank in einer Art Schwebezustand. Dann hörte er die Fragen seiner Foltermagd und beantwortete sie alle. Als sie wohl sicher war, alles zu wissen, was sie wollte, verstärkte sie den Druck ihrer Hände noch einmal. Vor Slicers Augen flammte es weiß auf. Er meinte, etwas durchbohre seinen Kopf von einem Ohr zum nächsten. Dann war es wieder dunkel um ihn.
Als er erneut aufwachte fühlte er, wie etwas warmes, schweres auf ihm hockte und sich gerade in einen gefälligen Rhythmus hineinsteigerte. Er erwachte ganz und erkannte, daß gerade eine ziemlich beleibte Fünfzehnjährige dabei war, sich an ihm zu vergehen. Offenbar hatte sie sogar schon die Vereinigung mit ihm geschafft. Er versuchte, sich zu drehen, sich von diesem ihm absolut nicht zuträglichen Geschöpf freizumachen. Doch sie hatte ihn bereits soweit mit sich zusammengebracht, daß es ihm weh tat, wenn er versuchte, sich freizumachen, ohne nach unten ausweichen zu können. "Disfrutate, Chico!" rief ihm die Rothaarige zu. "Genieße deine Henkersmahlzeit!"
Eine halbe Stunde später trug Lolita Henares die von mehreren Kugeln durchsiebte Leiche Slicers in das leergeräumte Glocesterhaus zurück. Die Polizei bekam davon erst was mit, als Lolita Henares bereits im Nichts verschwand.
"Na, hast du es jetzt gemerkt, wie schön das ist, Elisa?" Fragte Lolita die untersetzte Halbwüchsige, die die vielleicht erste, aber ganz sicher letzte Sexpartnerin von Slicer war.
"Wenn ich ihm nichts drübergezogen hätte hätte ich den nicht mal mit dem Hintern angesehen", erwiderte Elisa ebenfalls auf Spanisch. Lolita grinste. Ihr Führungsstil machte sich wieder bezahlt.
Es hatte sie und ihre beiden Mitflüchtlinge erst sehr schmerzhaft betroffen, als sie die Wellen von siebenundzwanzig sterbenden Daseinsgeschwistern abbekommen hatten. Doch dann hatten sie gefühlt, wie von den Kräften, die den sterbenden Körpern entfahren waren, neue Energien in sie einflossen. Unvermittelt konnten sie ihre Gedanken einander mitteilen. Lolita hatte ihr Blut prickeln gefühlt und hatte einen Schleier aus blauen Funken um sich, Marisa und Milton gesehen. Das hatte sie sich sichtlich überlegen fühlen lassen. Doch dann widerfuhr ihr eine große Schmach.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit den beiden ein handfestes Trio zu bilden, bei dem sie die Chefin war. Doch als sie von Milton Fleet verlangte, ihr auch ungefesselt zu Willen zu sein, ja, sie anständig zu lieben, wie er es mit Marisa und Valery getan hatte, hatte sich herausgestellt, daß er seine und Marisas Kräfte zu einer dreifachen Gegenmacht bündeln konnte. Sie hatte versucht, ihn mit ihren entdeckten Fähigkeiten der Elektrizitätsbeeinflussung die Arme zu lähmen, um zumindest mit seinem Unterleib noch Spaß zu haben. Doch dabei waren ihre Kräfte von einem unsichtbaren Kraftfeld zurückgeprallt. Sie hatte gefühlt, wie Marisa ihrem Geliebten genug Kraft zuführte, um sich zu wehren. Als Lolita aus einer wilden Wut heraus versucht hatte, ihre widerspenstige Nichte zu töten, wäre sie fast selbst in der gewaltigen Entladung verbrannt, die sie aus dem elektrischen Strom der Umgebung zusammengebündelt hatte. "Tita Lolita, such dir was anderes zum imponieren und spielen", hatte marisa dann noch gesagt, ihren Geliebten bei der Hand genommen und war mit ihm auf die unerklärbare Art verschwunden, mit der die zum Brutmonster umgewandelte Valery Saunders sich an entfernte Orte versetzen konnte. Lolita hatte zwar gespürt, in welche Richtung ihre beiden auserwählten Gefährten verschwanden, prallte aber bei dem versuch, ihnen zu folgen auf eine unsichtbare Mauer, die sie halb ohnmächtig an ihren Ausgangsort zurückschleuderte. Dann hatte sie nur noch verspürt, wie Marisa und Milton sich immer weiter von ihr entfernt hatten, bis sie für sie unaufspürbar geworden waren.
Um nicht als alleinige Ausgestoßene herumzulaufen wollte sie eine neue Frauenbande gründen. sie fragte sich, ob sie, Marisa und Milton wirklich die einzig überlebenden gewesen waren und ob die Zauberer sie noch suchten. Doch als sie mit ihren neuen Kräften der Elektro- und Metallbeeinflussung gespielt hatte, ohne daß einer dieser Spitzhüte mit Zauberstab bei ihr aufgetaucht war, erkannte sie, daß sie für diese Andersweltler nicht mehr zu orten war. Das und die Gewißheit, jetzt keiner der Lebenswelten anzugehören, trieb sie an, sich eine neue Bande zu bauen.
Da sie wie ein X-Men-Mutant locker mal eben mehrere hundert Kilometer ohne Zeitverlust teleportieren konnte, waren Mauern und Tresore für sie kein Hindernis mehr. Selbst die Magier mit ihrer Art, sich mal eben von A nach B zu beamen, hatten sie ja nicht aufhalten können. Womöglich steckte in ihr jetzt alles, was von Valerys Kindern und deren Magie übrig war, zumindest ein drittel. Die beiden anderen hatten den großen Rest abbekommen. War es vielleicht möglich, andere Menschen so umzustricken, daß sie ähnlich wie sie wurden, aber nur gerade mal stark genug, um sich nicht gegen sie erheben zu können? Die Frage stimulierte sie derartig, das blaue Blitze um sie herumgezuckt waren. Sie mußte sich zusammennehmen.
Mit gestohlenen Mikroskopen, Chemieausrüstung und Nachschlagebüchern zu verschiedenen medizinischen Fachbereichen und Biochemie, hatte sie mit ihrem eigenen Blut und anderen Körperflüssigkeiten experimentiert. In ihrem Blut waren wirklich merkwürdige Bestandteile, die in dem von anderen Menschen nicht vorkamen. Es waren keine Malariaerreger und auch keine bekannten Bazillen. Doch wenn sie ein wenig ihres Blutes mit dem eines anderen Menschen vermischte, wurde dieses umgewandelt und zu einem Teil ihrem eigenen Blut ähnlich. Als sie das unter opferung von zwanzig verschiedenalten Obdachlosen und Straßendirnen herausgefunden hatte, war sie losgezogen. Mit Einwegspritzen bewaffnet hatte sie Prostituierte und halbwüchsige Ausreißerinnen überfallen, sie mit Stromschlägen aus ihren Händen betäubt, in ein sicheres Versteck entführt und dann jeweils fünfzig Milliliter von ihrem Blut in die Venen gespritzt. Ähnlich wie es in Vampir- und Werwolffilmen ablief, hatte sie die Veränderung in ihren Opfern verspürt. Mit dem an mehreren Tieren und nicht weiter vermißten Menschen ausprobierten Griff an den Kopf hatte sie auf die Gehirne der mit ihrem Blut verseuchten eingewirkt, bis diese körperlich und geistig ganz ihrer Kontrolle unterlagen und sich zu bedingungslosen Gehilfinnen umgeformt hatten. Insgesamt hatte sie zwanzig neue Mädchen in ihre Bande geholt, die sie in Anlehnung an ihre Zeit als Rieseninsektenfrau "Las Vispas", die Wespen, getauft hatte. Damit hatte sie nun eine schlagkräftige Truppe ihr ergebener junger Mädchen, die für sie in den Tod gehen würden. Von da an hatte sie sich darauf verlegt, die Jagdgründe von Straßenbanden zu erobern. Der Schlag gegen die Black Hats war der vorerst letzte Große Coup gewesen. Zwei waren ihren Chicas entwischt. Doch die konnten sich nicht verstecken. Denn die Vispas besaßen zu ihrer übermenschlichen Körperkraft und der Fähigkeit, elektrischen Strom zu manipulieren, sich per Gedankenkraft über große Entfernungen zu versetzen und alle Metallwaffen an einer ihren Körper umfließenden Panzerung abprallen zu lassen noch sehr gute Nasen. Außerdem konnte Lolita, wenn sie mit drei ihrer neuen Gehilfinnen Körperkontakt bekam, nach von ihr gesuchten horchen. Zwar konnte sie so nicht Marisa und Milton finden, weil die sich offenbar zu gut gegen sie abschirmten und zu weit entfernt waren. Doch für die beiden davongekommenen Bandenmitglieder würde es kein endgültiges Entrinnen geben.
"Ich habe wie alle anderen Hexen und Zauberer gelernt, wie leicht Magie einen versuchen kann, sich die ganze Welt Untertan machen zu wollen und daß wir deshalb alle so vernünftig sein sollen, mit uns und den Muggeln in friedlicher Koexistenz zu leben", begann Theia die Geschichte über ihr Leben als Daianira Hemlock. "Wenn es eine ungeregelte Welt gegeben hätte, wo jeder gegen jeden hätte front machen können, so wäre gerade durch uns magisch begabte Menschen ein ständiger Zerstörungskampf entbrannt. Die Stärkeren hätten die Schwächeren gnadenlos ausgemerzt oder sie für ihre Zwecke instrumentalisiert und gegeneinander aufgehetzt. Am Ende wären vielleicht zehn oder zwölf weit genug entfernt lebende Menschen mit Magie übrig geblieben. Die wiederum hätten dann die Welt in zehn oder zwölf Reiche eingeteilt, um mit den magielosen Menschen das zu machen, was sie vorher mit den weniger schlagkräftigen und intelligenten Hexen und Zauberern angestellt hätten. Sicher hätte es das eine oder andere Stillhalteabkommen gegeben. Doch dieses wäre bei der kleinsten Machtverlagerung hinfällig geworden. Es hätten sich kurzzeitige Kriegsbündnisse oder Zweckgemeinschaften gebildet. Im wesentlichen wäre es aber immer darum gegangen, daß die Revierinhaber ihre Domäne erhalten und ausbauen konnten. In einer Welt, wo die Muggel es sich hätten gefallen lassen, daß sie von mächtigen Magiern regiert würden, ohne eigene Erfindungen zu machen, wäre das über Jahrhunderte gegangen. Die Menschheit wäre zwar eine Rasse ständiger Kriege gewesen, hätte aber fortbestanden, wie es die Ameisen ja auch tun, die andauernd um Nahrungsreviere Krieg führen und doch schon älter sind als alle Menschenrassen. Im Frieden und der Anerkennung des Lebens sahen die meisten Magier jedoch eine größere Chance für die Menschen als im rücksichtslosen Kampf jeder gegen jeden. die Magielosen, die wir ja alle Muggel nennen, konnten ihr Leben leben, ohne von uns behelligt zu werden und ohne zu wissen, daß es uns gab. doch die Muggel wolten nicht mit den wenigen Errungenschaften auskommen, die sie hatten, das Rad, die Zähmung des Feuers, die Nutzung von Wind und Wasser zur Herstellung von Nahrung und Kleidungsstücken oder Reisen über die Meere. Sie entdeckten ohne Magie die Mysterien von Elektrizität und Magnetismus. Die Scharlatane, die sich erfrechten, sich Alchemisten zu nennen, bezogen die reine Rechenkunst und Methodik in ihre Arbeit ein und begründeten damit eine von jeder magischen Ausrichtung entblößte Wissenschaft. Soweit das, was du sicher auch alles schon weißt. Aber gerade diese Bestrebungen gaben den Muggeln immer grauenvollere Mittel an die Hand. Sie fanden sich nicht einmal damit ab, daß die Grundbausteine alles Stofflichen unteilbar sein sollten, sondern suchten und fanden Stoffe, deren Grundteilchen sich in leichtere Grundteilchen zerlegen ließen. Daß dabei eine starke Kraft freiwurde faszinierte sie wohl mehr als sie zu erschrecken. Wir, also deine Generation und meine, haben uns im Namen der Geheimhaltung wohl zu sehr auf die Zaubererwelt beschränkt und diese Entwicklung nicht mitbekommen. Daß die Muggel zwei blutige, weltweit wütende Kriege ausgefochten haben, hast du als Lehrerin vor mir sicher am Rande mitbekommen, zumal ja da schon der bei allen Zaubereiministerien gültige Grundsatz vorherrschte, die Politik der Muggelwelt nicht zu beeinflussen, solange diese sich nicht in die Belange der Zaubererwelt einmischen konnte. Hier in den Staaten wurde sogar verfügt, daß die amtierenden Präsidenten nicht wußten, daß es ein Zaubereiministerium und eine magische Welt gab. Ob das bei euch in Frankreich auch so gehalten wurde ist mir nicht bekannt." Selene verzog das Gesicht. Dann entwich ihr eine laute Blähung, die der bezauberte Windelstoff jedoch genauso einschloß wie alle flüssigen und festen Ausscheidungen. Theia mußte darüber grinsen. "Oh, dies wollte ich nicht", quäkte Selenes Cogison.
"Du bist noch jung genug, um sowas ungestraft zu dürfen", erwiderte Theia. Dann entsann sie sich, über den Grund für ihren Lebenswandel zu sprechen.
"Gut, wir alle in der magischen Welt bekamen höchstens über die muggelstämmigen Schüler mit, was passiert war. Daß die Muggel erst hier in den Staaten und dann auch in Osteuropa mit der inneren Kraft zerspaltener Atome eine fürchterliche Waffe ersonnen haben, bekamen wir alle erst viele Jahre danach mit. Ich gehörte da bereits zu den ehrenwerten, wenn auch der Welt gegenüber verschwiegenen Schwesternschaft. Wie du dir denken kannst war meine jetzige Urgroßmutter Eileithyia meine Fürsprecherin. Denn wer bei uns Mitglied werden möchte muß jemanden kennen, die für sie um Aufnahme bittet und sich für die Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit der Aufzunehmenden verbürgt. Damals hatte ich eine Cousine, Taygete, die sich dagegen wehrte, mit einem Goldwühler aus Georgia verheiratet zu werden. Taygete floh vor ihren eltern, meinem Onkel Argos und meiner Tante Electra in die Wüste von Uta. Sie hatte es irgendwie hinbekommen, sich unortbar zu halten und alle, die sie gegen ihren Willen suchten zu täuschen. Ich hatte damals als einzige eine sehr gute Beziehung zu ihr und durfte sie sogar einigemale Besuchen, bis mein Großvater väterlicherseits meinte, jetzt sei es Zeit, daß sie endlich den vereinbarten Ehebund mit diesem heute nicht mehr wichtigen Magier einginge. Ich habe gemerkt, daß ich von ihm mit einem Suchzauber belegt wurde, der in dem Moment, wo ich näher als zehn Schritte an Taygete herangekommen wäre, auf diese übergesprungen wäre. Mein werter Großvater hat mich und vor allem die Schwesternschaft gründlich unterschätzt. Ich teilte Taygete auf geistigem Wege mit, daß man mich als Köder für sie mißbrauchen wollte und ich sie deshalb nicht mehr besuchen dürfe. Auf eine Weise, die ich in Asien erlernt habe, war es mir möglich, mich ihr ohne meinen Körper anzunähern und immer wieder zu sehen, was sie gerade tat. Sie lebte in ihrer Einsidelei und dachte sogar daran, einen Muggel zu heiraten. Da bekam sie gewaltige Explosionen mit grellen Lichtblitzen und heißen Druckwellen mit, die nur wenige Meilen von ihr stattfanden. Sie untersuchte in ihrer eigenen Neugier diese Orte und fand tiefe Krater vor. Sie fürchtete, es sei eine Art von Magie, die dort freigesetzt wurde, weil sie bei den Muggeln selbst keinen Sprengstoff erlebt hatte, der derartig heftige Explosionen entfesseln konnte. Einmal bekam sie mit, daß Muggel eine Vorrichtung installierten, die sie aus großer Ferne überwachen konnten. Was Funkwellen waren hatten wir von Muggelstämmigen, die bereits in Thorntails und Dragon Breath waren. In einer für Muggel unerkennbaren Tierform suchte sie die Muggel auf, die diese Vorrichtung aufgebaut hatten. Ich habe damals ebenfalls geistig in ihrer Nähe geweilt und verfolgte mit, wie die Muggel einen Sprengkörper mit welterschütternder Wucht zündeten. Mir war klar, daß die Muggel eine neue Form von Vernichtungswaffe ersonnen hatten, die alles bisherige weit in den Schatten gestellt hatte.
Taygete wurde immer kränker. Erst verlor sie ihr schönes Haar, dann entstanden rote Beulen, ähnlich wie bei der Pest oder einer besonders verunzierenden Form der Masern. Ihr wurde übel, sie litt unter Durst, mußte ständig trinken und erbrach sich auch häufiger. Ich war schon versucht, ihr Hilfe zu bringen, oder sie gar in eigener Person zu holen, obwohl dabei auch der mir immer noch aufgeprägte Suchzauber auf sie übergreifen würde. Sie verbot es mir jedoch und warnte mich, daß sie jeden verfluchen würde, der sie am Ende doch noch in eine Ehe mit einem nur auf sein Gold bezogenen Zauberer zwang. Ich wollte es nicht darauf anlegen, diesen Fluch auf mich zu ziehen. Außerdem erholte sie sich von der merkwürdigen Krankheit. Doch das war ein Trugschluß. In Wirklichkeit pausierte die Saat des Todes nur, um wenige Tage später noch grausamer als vorhin zuzuschlagen. Taygete starb qualvoll im Wüstensand. Als ich doch hingereist bin, um sie zu holen, tat sie bereits ihren letzten Atemzug. Ich brachte sie in ihre Heimat. Der auf sie geprägte Suchzauber erlosch mit ihrem Tod. Ihre Eltern und ich machten uns Tage lang Vorhaltungen. Dann befand Oma Eileithyia, daß ich auf schnellstem Wege in heilmagische Behandlung käme. Man tauschte mein Blut aus, weil sie dachten, irgendwas in der Wüste habe mich mit einer bösartigen Seuche befallen. Womöglich hat das mir tatsächlich das Leben gerettet. Denn als ich gezielt nach denen suchte, die diese Gigantsprengkörper zündeten, lernte ich, daß die Muggel tatsächlich die innersten Kräfte der Materie enträtselt hatten und sie als spontane Zerstörungskraft nutzbar machten. Sie nannten es Atombombe, ja hatten sogar eine noch schrecklichere Steigerung, die Wasserstoffbombe erfunden, die auf fernen Pazifikinseln bereits Tod und Zerstörung über unschuldige Inselbewohner brachte, obwohl sie nur zur Probe dort entfesselt worden war. Von da an war mir klar, daß die Muggel die Macht der vollkommenen Zerstörung aller Menschen in Händen hielten. Wenn wir, also die Vernunftbegabten Hexen und Zauberer, uns weiterhin aus ihren Angelegenheiten heraushielten, so würden sie eines Tages diese Schreckensmacht dazu verwenden, die ganze Welt zu entvölkern. Auf die im Westen nur von mir bekannte Weise spionierte ich die Muggel aus und erfuhr, daß sie mit denen in Rußland darum wetteiferten, wer die gewaltigsten Zerstörungswaffen hatte, weil die beiden Länder gerade einen schweren Konflikt über Gesellschaftsformen und Lebensweisen austrugen und meinten, jederzeit einen neuen Krieg, den sie als dritten Weltkrieg bezeichneten, ausfechten zu müssen. Ich sah nur Taygetes sterbenden Körper vor mir, wollte nicht, daß es mir und anderen arglosen Zauberern und vor allem Hexen so erging. Ich fragte eine der Schwestern, von denen ich wußte, daß sie den Entschlossenen angehörte, ob sie für mich bei ihrer Sprecherin vorsprechen wolle und begründete meine Beitrittsabsicht damit, die Muggel so bald es ginge und mit so wenig brutaler Gewalt wie nötig, von ihren Irrwegen abzubringen, ja ihnen begreiflich zu machen, daß sie nicht die Herren der Welt und nicht die einzig fühlenden Wesen dieses Planeten seien. Den Namen meiner Fürsprecherin damals möchte ich nicht verraten, weil sie noch am Leben ist und die Regeln der Schwesternschaft verbieten, nicht ordentlich eingeschworenen gegenüber keine lebenden Mitschwestern zu enthüllen, sofern es keine direkten Verwandten sind. Nur soviel, Morgaine Flowers war damals die Sprecherin der nordamerikanischen Entschlossenen. Oma Eileithyia erfuhr von meiner Absicht, den Entschlossenen beizutreten und reagierte überaus ungehalten. Sie erwähnte, daß sie mich nicht in die Reihen der Erhabenen Schwestern eingeführt habe, um zuzusehen, wie ich mit den auf Weltherrschaft ohne Achtung der Mitmenschen ausgehenden zusammenwirken würde. Doch mein Entschluß stand fest. Ich hätte vielleicht damals auf meine Großmutter hören sollen. Denn als ich zwei Jahre bei den Entschlossenen war, erkannte ich, daß Morgaine Flowers vorhatte, die Muggel zu niederen Sklaven zu machen, wie einst Sardonia. Als ein Plan feststand, jeden Zauberer und jede Hexe, die nicht auf ihrer Seite stand, durch den Imperius-Fluch zum Krieg gegen die Muggel anzustacheln, sah ich nur eine Chance. Aus der Schwesternschaft konnte ich nicht mehr austreten, selbst wenn ich den Zögerlichen oder Geduldigen wieder beitreten wollte. Morgaine hatte uns bei unserer Vereidigung allen einen tückischen Fluch auferlegt, der jeden töten würde, der uns etwas bedeutete, sobald wir es wagten, ihr den Rücken zu kehren. So blieb mir eben nur ein Weg, ich mußte das Recht auf einen Entmachtungskampf einfordern. Hierzu lernte ich alle möglichen Duellzauber und auch solche, die nicht in den Staaten gelehrt wurden. Morgaine erkannte wohl, daß ich nicht auf ihrer Linie war. Als sie dann noch eine gute Bekannte von mir folterte, um zu erfahren, ob ich sie zu hintergehen versuchte, mußte ich vortreten und sie vor allen anderen herausfordern. Das Lachen, mit dem sie mich damals bedacht hat, habe ich mein ganzes Leben als Daianira im Traum gehört. Doch als wir uns lange und heftig duellierten und ich schon fürchtete, sie könne doch siegen und mir nur ein schnelles Manöver aus der bedrohlichen Lage half, hat sie nicht mehr gelacht. Den unerbittlichen Regeln der Entschlossenen nach muß die Siegerin die Besiegte töten, weil eine ehemalige Sprecherin die Schmach der Entmachtung nicht auf sich sitzen läßt und auf Rache ausgehen könnte. Ich tötete sie also, wie es die Regeln verlangten."
"Archiaiisch und eher patriarchalisch als matriarchalisch", bemerkte Selene über das Cogison.
"Hätte mich jetzt auch gewundert, wenn du diesen Regeln ihre Gültigkeit zugebilligt hättest", schnaubte Theia. Dann fuhr sie fort. "Ja, und der Rest ist schnell erzählt. Ich suchte einen Weg, Sardonias Gesinnung aus den Reihen der Entschlossenen zu verbannen und gleichzeitig einen Weg zu finden, die Muggel von ihren Weltmachtphantasien zu kurieren, ohne alle umzubringen. Ja, und mir ging es auch um ein Matriarchat, eine feste, aber auch fürsorgliche Führung der Hexen. Doch wie ich vorhin gesagt habe: Sardonias Saat liegt zu tief und zu weit verstreut bei den Entschlossenen, als zu hoffen, sie vollständig tilgen zu können. So mußte ich um meine eigene Haut und Führungsrolle zu schützen auch züchtigen, mich offenen Angriffen entgegenstellen und hart durchgreifen. Dann tauchte diese Wiederkehrerin auf und schaffte es, Hexen aus der Gruppe der Entschlossenen auf ihre Seite zu ziehen. Sie war so gar so perfide, diese für sich gewonnenen Schwestern als Spioninnen und Erfüllungsgehilfinnen gegen unsere Schwesternschaft einzusetzen. Das alles mußte ich ja noch irgendwie ertragen. Aber als sie anfing, die Entomanthropen Sardonias nachzuzüchten mußte ich sie aufhalten. Erst dachte ich, dies sei mir gelungen. Ich wollte sie ein für alle Mal von Sardonias Weg abbringen, auch mit dir sicher unzulässigen Mitteln."
"Sanctuamater und Lacta Deditionis", schnarrte das Cogison Selenes. Theia nickte.
"Genau aus dem Grund bin ich auf Anthelia hereingefallen, weil ich dachte, sie habe mir das mit Sardonias Kelch verraten, weil sie sich mir offenbaren und die mir gegenüber begangenen Untaten bereuen würde. Ja, und wie es weiterging weißt du. Erst wurde ich für einige Minuten dein ungeborenes Kind, wechselte dann zu Leda über, kehrte als Lysithea Greensporn auf die Welt zurück und wurde dann von der Nachfolgerin einer im Frieden mit Anthelia eingesetzten Spionin dieser Wiederkehrerin wieder erwachsen und mit dir schwanger, weil diese Baumbewohnerinnen auf der Insel offenbar befunden haben, du hättest zu sühnen gehabt, was du mir angetan hast, daß du mir Anthelia entrissen und sie damit wieder mächtig gemacht hast. Womöglich wärest du wesentlich später in meinen Leib eingekehrt, wenn mich Hyneria nicht in diesen Zeitfresserkasten gesteckt hätte, um mich innerhalb von Minuten vom Säugling zur Greisin altern zu lassen."
"Womöglich nur, wenn mir jemand bis dahin aus purer Gnade oder Angst um sein oder ihr eigenes Blut einen alten Eichenpflock durch das Herz getrieben hätte. Denn ich stand keine Sekunde davor, von Éclypsian Sangazon gebissen zu werden und von ihm und meiner früheren Schwester zu ihrer gemeinsamen Vampirtochter gemacht zu werden", schnarrte das Cogison erneut. Das war Theia hinlänglich bekannt. Deshalb sagte sie dazu auch nichts weiteres.
"Warum hast du nicht versucht, bei mir Sanctuamater anzuwenden, bevor ich mir meiner neuen Lage bewußt wurde?" wollte die Wiedergeborene Wissen.
"Weil ich mir nicht mehr sicher war, daß dieser Zauber bei nicht auf natürliche Weise empfangenen Kindern überhaupt wirkt und weil Leda und meine werte Großmutter für dich Partei ergriffen haben und mir unter Androhung des Transgestatio-Zaubers und eine erneute Rückverjüngung ohne Beibehaltung meiner Erinnerungen auferlegt haben, dich ohne solche Beeinflussungen auszutragen. Als mir dann klar wurde, daß ich eine bereits ausgebildete Vampirkundeexpertin in mir herantrug hoffte ich - offenbar zurecht - daß wir beide ganz ohne magische Bindungen miteinander leben können. Wie erwähnt sehe ich vieles nun anders, was mir damals als unverzeihliches Zaudern und unvernünftige Rücksichtnahme vorkam. Zwang und Gewalt fördern keinen Frieden, das muß ich wohl anerkennen. Daß wir alle noch leben verdanken wir wohl dem Wunsch einer großen Zahl von Muggeln, die nicht im Feuer und dem schleichenden Tod der Atomwaffen sterben wollten und nicht dem ständigen Aufrüsten mit diesen Schreckenswaffen. In den fünfziger Jahren war der magischen Heilkunst noch nicht bekannt, daß es eine Art magieloser Strahlung gibt, die wie ein progressives Gift den Körper schädigen und töten kann. Das erfuhren die Heiler erst 1986."
"Die Seuche von Resting Rock oder auch Fluch des gelben Kuchens genannt", cogisonierte Selene und ließ laut rumpelnd weiteren Überdruck aus ihren Gedärmen ab.
"Deshalb bin ich meiner offiziellen Urgroßmutter auch sehr dankbar, daß sie damals alles getan hat, mich von einer möglichen Seuche zu befreien, wenngleich sie damals noch nichts von dieser Strahlung gewußt haben mag."
"Dann darf ich deiner Urgroßmutter, die ich auch als Oma ansprechen darf, wenn mir das Sprechen mit Stimme und Zunge irgendwann mal möglich und derlaubt ist, danken, daß ich mein Wissen und Können behalten durfte. Andererseits hättest du ein formbares kleines Mädchen großziehen können, ohne ihm erzählen zu müssen, warum es auf der Welt ist."
"Nun, ich hoffte, du würdest dich an alles vor dieser Sache mit den Sangazons erinnern, weil ich da schon wußte, daß wir noch Ärger mit Nyx und ihren Nocturnianern bekommen würden", erwähnte Theia und erzählte mit unüberhörbarer Reue in der Stimme, daß sie Nyx geholfen hatte, den Mitternachtsdiamanten zu erobern, weil ja sonst ein Voldemort ergebener Vampir oder der Größenwahnsinnige selbst ihn bekommen hätte. Sie erwähnte auch die Begegnung mit einer der Abgrundstöchter, die fast über alle Vampire der Welt triumphiert hätte. Selene erwiderte darauf, daß diese Wesen nicht zu unterschätzen seien und sie froh war, daß eine von ihnen bereits vernichtet war. Das brachte Theia darauf, Selene zu fragen, ob sie den jungen Ruster-Simonowsky-Zauberer Julius Latierre, damals noch Andrews persönlich getroffen habe. Sie erfuhr, daß Selene damals, wo sie noch als altehrwürdige Professeur Tourrecandide in Beauxbatons die Zag- und UTZ-Prüfungen abnehmen durfte, den Jungen praktisch geprüft habe, um seinen Leistungsvorsprung vor allen anderen zu bewerten. Theia lächelte und erwähnte, daß er ihr damals in Viento del Sol begegnet sei, kurz nachdem er dem Dunkelmagier Bokanowski entronnen war. Darauf erfuhr sie von ihrer nun leiblichen Tochter über Cogison, daß diese damals den Doppelgänger des französischen Zaubereiministers entlarvt habe.
"So haben wir beide doch aus den verschiedensten Motiven an verschiedenen Stellen für das gleiche Ziel gekämpft", bemerkte Theia Hemlock. Das konnte Selene zu ihrem Bedauern nicht bestreiten. Dann meinte sie, daß sie wohl nun müde genug sei und wurde in ihre Wiege gelegt, wo sie die nächsten Stunden schlief.
Daß der harmlos wirkende Säugling nicht der Sohn Wishbones sondern dieser selbst war wußten außer seiner Mutter und früheren Tante nur noch er und diese widerliche Wiederkehrerin. Deren Saat war aufgegangen. Sie hatte ihn entmachtet, war irgendwie noch mächtiger geworden und hatte es sogar geschafft, mit Wishbones Nachfolger, diesem Schwächling Cartridge, einen Burgfrieden zu schließen, weil beide keinen Sinn darin sahen, sich gegenseitig auszuradieren, während die Vampirpest namens Nocturnia in der Welt grassierte. Außer zwischendurch aufkommenden Angstträumen verlief sein neues Leben für einen mit dem Verstand und Wissen eines Jahrzehnte alten Zauberers begüterten langweilig. Alle vier Stunden mußte er nach neuen Windeln schreien. Dazwischen kamen Baden, Anziehen und Schlafen. Nur wenn seine Mutter ihn an ihren Brüsten saugen ließ empfand er sowas wie Glückseligkeit und Behaglichkeit. Doch irgendwann würde sie damit aufhören. Dann mußte er das kkleine, unbedarfte und sprachunfähige Kind spielen. Seine Mutter Tracy hatte das wohl früh erkannt. Deshalb lud sie zu Halloween fünf junge Elternpaare mit ihren kleinen Kindern ein. In der Zaubererwelt war es nicht üblich, sich zu kostümieren. Aber das erste Fest, wo die Lebenden im Angedenken an die Vorausgegangenen feierten, wurde in der magischen Welt gebührend gewürdigt. Angeblich hatte Tracy Summerhill nur ihr Haus mit jungem Leben füllen wollen, um in ihrer Trauer um den verstorbenen Geliebten und den Vater ihres Kindes nicht allein zu sein. Die fünf, die sie eingeladen hatte waren alles junge Eltern, die öffentlich gegen die Hetzparolen der Liga rechtschaffender Hexen protestiert hatten. Der wahre Grund dafür, daß Tony "sein erstes Halloween in der Welt" nicht mit ihr allein verbringen sollte, bestand darin, dem Wiedergeborenen zu zeigen, wie sich Kinder zwischen neun Lebensmonaten und drei Jahren verhielten, wie viel sie sprechen konnten und was sie bereits verstanden und was nicht. Das erkannte Tony Summerhill, als er wie eine lebende Puppe von einer Hand zur anderen gereicht wurde und trotz angenervten Quängelns von der einen jungen Mutter geknuddelt und von einer gerade dreijährigen Tochter eines anderen Elternpaares über Kopf und Wangen gestreichelt wurde. Um Mitternacht, als in den ausgehöhlten Kürbissen die weißen Kerzen einen gespenstischen Schein spendeten, sangen die sechs Mütter und fünf Väter das Lied der Zaubererwelt, mit dem die Verbindung der lebenden mit den Toten bekundet wurde. In dieser Nacht, die die Kelten Samhain genannt hatten, rückten die Welt der Lebenden und die der Toten so nahe zusammen, daß es einigen der Vorausgegangenen gestattet war, für wenige Minuten mit den lebenden Nachfahren Kontakt aufzunehmen, so hieß es nicht nur bei den Zauberern. Die Muggel hatten aus dem heiligen Fest ein verschwendungssüchtiges, teils albernes, teils unverschämtes Spektakel gemacht, bei dem sich Kinder Süßigkeiten erbetteln oder unter Androhung von Streichen ergaunern konnten und Erwachsene in lächerlicher Kostümierung ihren tristen Alltag für einige Stunden vergessen wollten.
Als um ein Uhr die letzten Gäste per Flohpulver abgereist waren hatte Tracy "ihren Kleinen" noch einmal frisch gewickelt und sich für sein verspätetes Nachtmahl zurechtgelegt. Während er nuckelte hörte er seine Mutter sagen: "Ist nicht so einfach für dich, weiß ich. Aber da du ja keine kleinen Geschwister hattest kannst du dich ja nicht mehr erinnern, wie das damals mit dir war, als du so alt warst wie Joel oder die kleine Lucinda. Ich mache mir Sorgen, die könnten dich mir wegnehmen, wenn jemand denkt, du könntest zu viel. Deshalb habe ich die alle eingeladen. Auch damit du schon mal welche kennst, die körperlich in deinem Alter sind. Denn ich möchte haben, daß du ganz ohne Verdacht zu erregen aufwächst, damit dich mir keiner wegnimmt und du mit allem, was du noch weißt wieder groß werden kannst." Tony fühlte bei diesen Worten, wie auch in ihm eine gewisse Angst aufkam. Er wollte nicht, daß man ihn seiner Mutter wegnahm, die so fürsorglich mit ihm umging. Er würde lernen, wie ein natürlich aufwachsendes Kind zu sein, sich nicht mehr herauszunehmen, als ihm in seinem körperlichen Alter zugestanden wurde, wohl nur dann mehr sagen oder tun, wenn er sicher war, daß außer seiner Mutter keiner davon was mitbekam. Denn er hatte ja eine Mission, er wolte wissen, was es mit Daianiras wundersam aufgetauchter Tochter und deren Tochter auf sich hatte. "Ich möchte immer für dich dasein und daß du solange bei mir bleibst, wie es unauffällig ist, Tony. Hilf mir dabei, daß wir zwei solange zusammenbleiben, bis du groß genug bist, um ohne Arg in die Welt hinauszugehen!" Tony fühlte, wie ihn dieser Wunsch tief ins Bewußtsein drang, ja sogar tief in die innersten Schichten seines Geistes einsickerte, wie jeder Schluck Milch, den er in sich einsaugte und fühlte, wie wohl ihm das tat. Seine Mutter erwähnte diesen Wunsch noch einmal, allerdings mit anderen Worten. Erst als er pappsatt war und kräftig aufstieß lachte sie und legte ihn in seine kleine, schaukelnde Schlafstätte.
Zu Halloween durfte Selene Hemlock mit ihrer Mutter zu Eileithyia Greensporn und Leda hin. Diese erzählte, daß sie mit Lysithea nun wieder in ihr Haus zurückgekehrt sei. Da bei dem Fest jedoch noch andere Hexen und Zauberer anwesend waren, durfte Selene ihr Cogison nicht tragen und mußte sich benehmen wie ein gewöhnliches Baby. Sie erfuhr jedoch, daß die zur neuen gefahr gewordenen Feuerskelette Pabblenuts vernichtet werden konnten, was die meisten wohl doch sehr erleichterte. Über den Burgfrieden zwischen der durch eine ungeklärte magische Verschmelzung entstandenen Erbin Sardonias und dem Zaubereiminister ließ sich Eileithyia, wo sie ihre offizielle Ururenkelin gerade in den Armen wiegte folgendermaßen aus:
"Wir wissen nicht, mit wem oder was Anthelia in den letzten ihr eigentlich noch verbliebenen Tagen fusioniert ist. Es wäre für uns Heiler sehr wichtig, das zu erfahren, wieso und mit wem oder was, um einzuschätzen, ob wir es bei der Fusionierten mit einer Wahnsinnigen, einem eher tierhaften oder einer uns emotional und intellektuell weit überragenden Daseinsform zu tun haben. Im Moment spricht alles für ein wohl eher überlegt handelndes und wohl auch berechnendes Einzelwesen als für eine zerstörungs- und Mordlüsterne Kreatur. Aber wir wissen eben nicht, welches Wesen mit ihr verbunden wurde, daß sie eine übergroße Spinne als zweite Gestalt annehmen kann, die allen magischen Kräften widerstehen kann, sogar dem tödlichen Fluch. Solange wir das nicht wissen, müssen wir immer darauf gefaßt sein, daß das, was im Moment auf der Welt geschieht, eines Tages durch etwas noch schlimmeres übertroffen werden kann, wie dieser wahnhafte Zauberer Tom Riddle alias Voldemort den auf reine Herrschsucht und heuchlerischem Gutdünken fixierten Grindelwald übertrumpft hat. Das gegenseitige Stillhalteabkommen ist nur ein Mittel zum Zweck, keine rein menschenfreundliche Übereinkunft."
"Du kannst sie leider nicht fragen, wie sie das hingekriegt hat, Thyia", knurrte Eileithyias Neffe Amphitryon.
"Wir wissen nur, daß es wohl eine Magierin war, weil die beiden zu einer rein weiblichen Entität wurden. Wer und wie sie war und wieviel von ihr noch in der Verschmelzung erhalten ist wissen wir nicht", sagte Eileithyia. Selene quängelte. Zu gerne hätte sie sich an der Diskussion über diese neue Hexenführerin beteiligt. Aber ohne Cogison und mit noch nicht ganz so locker beweglicher Zunge und im gerade drei Lebensmonate alten Körper war ihr das versagt.
"Okay, dann möchte ich von dir nur wissen, sofern du das Nichtheilern stecken darfst, ob ihr bald was gegen dieses Vampirifizierungswasser habt, was die Nocturnianer benutzen, um ohne wen zu beißen zu Langzähnen zu machen", wollte Amphitryon von seiner Tante wissen.
"Nicht nur wir Heiler, sondern auch alle mit Tränken hantierenden Abteilungen des Zaubereiministeriums und des Laveau-Institutes arbeiten daran, dieses Gift zu entschlüsseln und einer Weiterverbreitung entgegenzuwirken oder, falls wir einen uns doch wohlgesinnten Vampir finden, der als unser Agent in Nocturnia eingeschleust werden kann, einem neuen Angriff damit zuvorkommen können. Dabei ist natürlich zu bedenken, die Identität eines solchen Agenten geheimzuhalten."
"Würde mich nicht wundern, wenn Cartridge einen auskungelt, und dem das Zeug zu saufen gibt, bis der ein Vampir wird und dann so tut, als sei er voll auf Nocturnia eingepegelt", tönte Amphitryons Sohn Silas, der ganze hundert Jahre jünger als Eileithyia war.
"Mann, du redest wie'n verdammter Muggelbalg", knurrte Amphitryon. Eileithyia winkte ab, weil sie gerne die provokante Frage beantworten wollte.
"Wer einmal ein Vampir wird, bleibt es und muß danach leben, Silas. Wishbone hätte dieses Opfer wohl von einem Zauberer verlangt. Cartridge ist selbst Familienvater und würde einem anderen Elternpaar nicht den Sohn wegnehmen. Oder würdest du dich freiwillig melden?"
"Tante Thyia, bring den nicht auf Ideen", knurrte Amphitryon. "Der hängt eh schon mit zu vielen merkwürdigen Leuten herum."
"Ey, die sind nicht merkwürdig, die sind voll cool", protestierte Silas. Selene verzog ihr Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. Sich vorzustellen, freiwillig zu einem Vampir zu werden stieß ihr höchst widerlich auf.
"Muggelstämmige und deren Freunde", knurrte Amphitryon. "Klar, das Silas kein Mädchen findet, außer bei diesen muggelstämmigen Gören, die meinen, ihre Eltern würden die ganze Welt beherrschen mit ihren Kompostern und Anatombomben oder wie die Muggelsprengdinger heißen", schnarrte Amphitryon.
"Keinen Zank in meinem Haus, Amphitryon und Silas", zischte Eileithya. "Was soll denn Selene von ihrer Verwandtschaft denken, an ihrem ersten Halloween?"
"Aaahuuuuuuu!!! Süßes, oder es gibt saures", flötete Silas. "Mann, ich wäre echt gerne mal mit den Jungs rumgezogen und hätte das mal voll gefeiert, wie die Muggel das feiern, ey!"
"Und hättest deren überlauten Geräuschmüll namens Rip und Stone und Technic gehört, wie?" schnarrte Amphitryon. Selene quängelte. Ihr mißfiel das hier. Die Feier konnte gerne ohne sie weitergehen. Auch wenn sie sich in den Armen ihrer offiziellen Ururgroßmutter genauso wohl fühlte wie in denen Theias, wollte sie doch jetzt anderswo sein, vielleicht schon schlafen.
"Wenn du schon über die Muggelmusik motzt, Dad, dann lern bitte, wie die richtig heißt! Rap, Rock und Techno. Aber Rap is' voll genial, is' wie'n Gedicht, wo wer 'n Schlagzeug und 'n Baß druntergelegt hat."
"Jungs, die kleine ist quängelig. Ich gebe sie besser wieder an ihre Mom zurück", sagte Eileithyia und legte Selene in die Arme Theias zurück.
"Vielleicht ist es auch besser, jetzt nach Hause zu reisen, Oma Thyia. Danke, daß ich mit der Kleinen hier sein durfte."
"Ja, Zeit für's Heiabettchen, Theiachen", knurrte Amphitryon. Offenbar mißfiel ihm irgendwas an Theia. Die wußte auch was. Er hielt sie für eine Konkurrentin, wenn es irgendwann mal ums Erben gehen würde. Das war Theia jedoch so egal, daß sie nur grinste und fragte, ob er auch noch trockengelegt werden müsse. Da Amphitryon äußerlich zehn Jahre älter aussah als Theia stierte er sie verdutzt an, während sein Sohn Silas ungehemmt lachte. Da Theia keine Antwort mehr bekam wandte sich Theia dem Kamin zu.
Wieder in ihrem eigenen Haus legte sie Selene das Cogison um.
"Solche Feiern mag ich nicht", quäkte das Cogison. "Und solche Frechlinge wie Silas habe ich seit meiner Zeit als Lehrerin schon verabscheut."
"Dann kannst du ja froh sein, daß du dich von denen erholen darfst", erwiderte Theia.
"Was das Vampyrogen angeht, Theia, so wundert es mich, daß es immer noch so potent sein soll", gab das Cogison von sich. Theia fragte, warum Selene sich wunderte. "Weil es wohl damals im Zusammenspiel mit der Übermacht des Mitternachtsdiamanten erstellt wurde. Der soll aber jetzt allen Vampiren entzogen worden sein, hat Oma Thyia erwähnt, woher sie das auch immer wußte. Jedenfalls ist Nyx wohl entmachtet und getötet worden, was ja eben nur mit einer Trennung von dem in ihr aufbewahrten Mitternachtsdiamanten einherging. Das läßt mich fragen, ob die Magie dieses Steines wirklich für Nocturnia unerreichbar geworden ist."
"Du meinst, etwas davon steckt noch in jemanden aus Nocturnia oder in allen, die damals von Nyx zu Vampiren gemacht wurden?" fragte Theia.
"Das wäre die einzige Erklärung. Dann müßtet ihr was finden, das die Macht der Sonne in sich bündelt. Gold ginge zwar, ist aber zu kostspielig, wie die Beseitigung der Feuerskelette gezeigt hat. Aber ich kenne einige Ingredentien, die die Kraft der Sonne aufnehmen können. Wenn wir wissen, wie das Vampyrogen genau in einem menschlichen Organismus wirkt, könnte ein prophylaktisches Agens das Gift neutralisieren, sobald es in den Körper aufgenommen wurde, egal, ob es von einem oder hundert Vampiren zugleich abstammt."
"Das klären wir morgen, Selene. Du mußt jetzt schlafen. Dein Körper braucht die Ruhe, um so gut zu wachsen, wie er es in den letzten drei Monaten getan hat", kehrte Theia die Mutter heraus. Selene widersprach ihr nicht. Denn sie fühlte sich wirklich ermüdet. Die Party war für ihren trotz voll entwickelten Geistes noch kleinen Kopf doch sehr anstrengend gewesen.
Sie lebten schon seit einem Jahr hier in Neuseeland auf der Südhalbkugel. Das war selbst für die Spürsinne Lolita Henares zu weit gewesen. Eigentlich wollten die unter den Namen Fred und Elena Duffy in Wellington untergeschlüpften jetzt eine eigene Familie gründen. Doch auch wenn sie noch so leidenschaftlichen Sex hatten wollte Marisa alias Elena nicht schwanger werden. Da es zu auffällig gewesen wäre, einen Arzt aufzusuchen und sich untersuchen zu lassen, versuchten sie es immer wieder. Doch egal wann in den fruchtbaren Tagen, irgendwie wollte in Elena kein Baby entstehen. Das frustrierte die beiden immer mehr. Die Beziehung zwischen ihnen litt sehr darunter. Immer wieder warfen sie sich gegenseitig vor, daß sie keine gesunden Kinder hinbekamen. Milton mußte sich anhören, daß er ja die Schuld trug, weil er Valery nicht korrekt losgeworden war. Marisa mußte sich anhören, daß sie wohl wegen ihrer Existenz als reine Arbeitsbiene Valerys ebenso unfruchtbar geworden sei. Das einzige, was die Trennung der beiden verhinderte, war die Furcht des einen, der andere könne aus gekränkter Eitelkeit zur Polizei oder zu einem wissenschaftlichen Institut rennen und sich als verhindertes Monster zu erkennen geben. So zankten und diskutierten die beiden häufiger, als die Schönheit ihrer Liebe zu genießen. Sex war nur ein Mittel, um die angestaute Frustration für wenige Minuten zu vergessen, führte aber auch dazu, daß erst Hoffnungen und dann wieder Enttäuschungen aufkamen. Wenn das der Fluch jener Hexe war, die aus Valery ein Monstrum gemacht hatte und diese dann durch lebend verschluckte Menschen deren Geist in ihrer Brut wiedergebar, dann hatte dieses Hexenweib jetzt allen Grund zu lachen. Denn Lolita war alleine und würde ebenso unfruchtbar bleiben. Was tat die jetzt gerade? Die Frage stellte Marisa alias Elena jedoch nicht laut. Am Ende behauptete Milton noch, er hätte sich ihr nicht verweigern dürfen.
So vergingen die Monate mit Zank und Streit, dazwischen mal mehr und mal weniger leidenschaftliche Liebesakte, gefolgt von neuen Vorwürfen und stundenlangem einander Anschweigen. Es war die Hölle auf Erden, beinahe schlimmer, als ihr gemeinsames Ende in Valerys gewaltigem Magen, das sie zu dem gemacht hatte, was sie jetzt waren, Ausgestoßene, keiner Welt wirklich zugehörig. Hätten sie das gewußt, so wären sie den Zauberern freiwillig vor die Zauberstäbe gesprungen, um den anderen siebenundzwanzig Leidensgenossen in den erlösenden Tod zu folgen. Vielleicht gab es auf Neuseeland auch Hexen und Zauberer. Wenn sie denen erzählten, wer sie mal waren? Nein, das würde nur dazu führen, daß sie in einem Versuchslabor landeten, wo man ihre Daseinsform solange studieren würde, bis sie unter den Versuchen starben oder körperlich und seelisch erledigt waren.
Lizard wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Die Art, wie Charlies Laden abgefackelt wurde und daß die, die sich als Black Hats maskiert hatten, offenbar einen Energieschirm um sich aufgebaut hatten verriet ihm, daß er schleunigst den Posten zu räumen hatte. Er packte seinen jüngeren Bruder, warf sein und dessen Funkgerät von sich und rannte mit ihm um die überquellenden Müllcontainer herum, in deren übelriechendem Dunstkreis sie ihre Wachposten bezogen hatten. Um die Ecke stand die schwere Harley, die er als Motorradversessener mit einigen Tricks und teuren Schalldämpfern zu einem Flüsterfeuerstuhl umgebaut hatte. Ein Einbau war ein Elektromotor, der zehn Minuten ohne Aufladen bis zu dreißig Stundenkilometer schaffte. Skinny fragte gar nicht erst, warum sein Bruder unerlaubt den Posten verlassen wollte. Er kannte ihn gut genug um zu wissen, daß er jetzt keine Fragen beantworten und auch keine Widerworte zulassen würde. Er schwang sich ohne Aufforderung auf den Sociussitz der PS-starken Maschine. Lizard alias Theobald Winters warf sich vorne in den Sattel. Da krachte es einige Dutzend Meter hinter ihnen. Waren das Schüsse oder elektrische Entladungen? Egal! Er startete den überaus leisen Elektroantrieb und legte den roten Schalter um, den er für eine rasante Flucht ohne Benzinantrieb eingebaut hatte. Die Maschine preschte los. Das leise Schaben der Allwetterbereifung auf dem spröden Asphalt war sogar lauter als das in der Tonhöhe ansteigende Surren des Elektroantriebs. Lizard verzichtete auf Licht. In der Straße standen tatsächlich noch einige funktionierende Laternen. Ihr Licht mußte reichen. Die beiden Brüder lauschten durch die stoßsichere Verschalung ihrer Sturzhelme auf jedes Geräusch hinter ihnen. Zwei scharfe Knälle wie von Knallfröschen und zwei sofort danach erfolgende dumpfe Schläge verrieten, daß irgendwo hinter ihnen was unangenehmes passierte. Doch gerade jagte die Maschine mit mehr als fünfzig Stundenkilometern die Straße entlang, vorbei an vor Türen gestellte Mülltüten. Zwei struppige Straßenkatzen sprangen laut aufschreiend aus dem Weg, als die Harley um eine Kurve geschossen kam. Erst als sich Theo alias Lizard sicher war, daß sie mindestens zweihundert Meter zwischen sich und ihrem Wachposten gebracht hatten schaltete er die Gefahrenstufe zurück auf Normal und ließ den E-Motor noch eine Minute schnurren, bis er den üblichen Benzinantrieb startete. Durch die Schalldämpfer in den Auspuffrohren war das sonst so kraftstrotzende Geräusch einer Harley-Davidson auf das Schnurren zweier Nähmaschinen abgeschwächt. Doch auch das erschien Lizard noch zu laut. Dennoch wähnte er sich etwas sicherer. "Dir ist klar, daß wir unsere Alten jetzt nicht mehr sehen, bevor das mit den Elektrobinen erledigt ist, Howie?" fragte Lizard seinen Bruder.
"Die sind voll Aliens, Mutanten oder andere Freaks. Wenn die da auch hinteleportiert sind, wo wir gehockt haben ..."
"Wirf noch dein Telefon weg, Howie. Am Ende können die das Meldesignal von dem noch irgendwie anpeilen", sagte Theo. Er hatte diesen Mobilfunkdingern nie was abgewonnen. Er hatte ja schon von Anfang an geblickt, daß die Dinger eher dazu da waren, Leute zu überwachen, sie überall und immer zu finden und zu steuern wie mit einer Fernbedienung. Sein Bruder hatte sich von seinen Eltern so'n Ding aufschwatzen lassen, als der mit seiner Klasse in den Rockies zum Skilaufen war. Jetzt sollte Howard das teure Gerät wegschmeißen?
"Eh, ich brauch das Ding, wenn wir irgendwo unterkommen, Theo", knurrte Howard alias Skinny.
"Schmeiß das Scheißding weg, Howard. Das is'n verfluchter Peilsender!" stieß Theo aus. Wie zur Bestätigung seiner Worte sahen beide das Streulicht noch weit entfernter Scheinwerfer. Howard warf kurz einen Blick zurück und sah einen Mustang mit voll aufgeblendeten fernlichtern. Als er sah, daß zwei Frauen in dem Wagen saßen kapierte er, daß sie offenbar gerade ins Visier ihrer Widersacher geraten waren. Er zückte sein Handy. Theo gab indes Gas. Beinahe wäre sein Bruder von der Beschleunigung über den Gepäckträger geschleudert worden. Nur die Jahrelange Erfahrung mit dem Fahrstil seines Bruders bewahrte ihn vor dem Abwurf. Er klammerte sich fester an seinen Bruder. Doch der Mustang kam näher.
"Die haben den Wagen frisiert, verdammt noch mal!" schimpfte Theo, der bereits mit mehr als hundertzwanzig Stundenkilometern die Straßen entlangbrauste. "Schmeiß ihnen dein verdammtes Klein-Söhnchen-Überwachungsteil vor die Windschutzscheibe, wenn die glauben, uns zu haben!"
"Denkst du, das sind die gleichen, die Charlies Laden abgefackelt haben?" wagte Howard eine Frage.
"Absolut. Wer sollte uns sonst so jagen. Die Bullen hätten längst ihre Discofunzel angeknipst und ihren Ghettoblaster aufgedreht", knurrte Theo und holte noch mehr Tempo aus der Maschine. Er hatte sie schon mal auf über 200 Stundenkilometer, in US-Maßen genau auf 160 Meilen hochgejagt. Doch in einer Stadt mit den ganzen Kreuzungen und Autos war das nicht so empfehlenswert.
Der Mustang holte auf. Howard wartete, bis sie und das Motorrad im vollen Schein der Frontlichter gebadet wurden. Dann holte er weit aus und warf aus einer geschmeidigen Hüftdrehung heraus sein wertvolles Mobiltelefon in Richtung Frontscheibe. Als Werfer in der Baseballmannschaft hatte er Übung darin, etwas mit hohem Tempo mehr als vierzig Meter weit zielgenau zu werfen. Das Mobiltelefon flog so schnell auf die Verfolger zu, daß diese eine Zehntelsekunde zu spät den Abwehrschlag der Verfolgten erkannten. Die Fahrerin versuchte noch, den Wagen nach rechts wegzuziehen. Doch da zerschlug das Telefon bereits die Windschutzscheibe. Dadurch geriet der Mustang ins Schlingern. Gleichzeitig gab Theo wieder gas. Howie klammerte sich fest an ihn und nahm mit seinem Bruder die nächste Kurve. Der Mustang verpaßte den idealen Einfahrtswinkel und schoß an der Querstraße vorbei. Theo gab noch mehr gas und trieb seinen Feuerstuhl mit dreifacher Stadtgeschwindigkeit die leere Straße entlang. Gleich aber würden sie eine auch nachts vielbefahrene Straße erreichen. Die Lichter der darauf entlanggleitenden Autos waren bereits wie vorbeihuschende Irrlichter zu erkennen. Theo nahm das Gas erst knapp fünfzig Meter vor dem Abbiegen weg. Er zog an der Bremse, bis die Maschine mit nur noch vierzig Stundenkilometern die Abzweigung erreichte. Er nahm die Kurve so eng, daß sie fast gegen den Kantstein krachten. Doch dann waren sie auf der Hauptstraße. Wie ein harmloses Gespann aus Fahrer und Socius fädelten sich die Brüder in den fließenden Autoverkehr ein und ließen sich wie ein abgetrennter Ast im Fluß von ihm dahinspülen.
"Wenn das Mobilfon das überlebt hat könnten die unsere Eltern anrufen, um die zu fragen, wo wir sind", erkannte Howard.
"Genau deshalb müssen wir die Biege machen, unsichtbar und unriechbar werden, Howie", knurrte Theo. "Ich habe noch einen halben Riesen an der maschine versteckt. Damit kriegen wir genug Sprit bis nach San Antonio. Von da machen wir rüber nach Mex und gehen da auf Tauchstation, bis die meinen, uns gäb's nicht mehr."
"Mit deinem Spanisch fällst du doch voll als Gringo auf", nutzte Howard die Gelegenheit, seinen sonst so überlegenen Bruder zu piesacken.
"Eh, du kannst gerne an der Stadtgrenze vom Bock runter und zu Mom und Daddy zurücklaufen und dich bei denen ausheulen, wenn diese Mutantenweiber die nicht gerade genüßlich zerbrutzeln wie Charlies Laden."
"Ey, Mann, das kann dir doch nicht scheißegal sein, was mit unseren Alten ist", schnarrte Howie.
"Denen bin ich doch schon egal, seitdem ich den Porsche von diesem Lustgreis Mahony geklemmt und gegen die Mauer vom Cavaluccihaus gesetzt habe, als die Bullen mir hinterher waren. Die wissen ja nich' mal, daß ich mittlerweile 'ne Harley hab', wo unser achso fleißiger und ehrbarer Daddy sein ganzes Leben von geträumt hat, aber nie die Kohle rangeschafft hat, um sich so'n Prachtmädel anzuschaffen."
"Die Bullen werden uns suchen, und die Mafia und diese Elektroschlampen, wwer immer die sind", meinte Howard.
"Erzähl mal was neues!" knurrte Theo. "Deshalb müssen wir ja für die alle unauffindbar bleiben und zusehen, daß die uns nicht kriegen", schnarrte Theo Winters. Daß er ein Spezialist darin war, sich schnell unauffindbar zu machen hatte ihm ja den Kampfnamen Lizard eingebracht. Doch was Howie nicht wußte, weil sein Großer Bruder ihm das garantiert niemals erzählen würde: Der Name Lizard kam auch daher, daß er, als er noch nicht bei den Black Hats war, einen scheinbar guten Kumpel hingehängt hatte, als sie beim Einbruch in einen Laden fast erwischt wurden. Wie eine Eidechse, die auf der Flucht ihren Schwanz abwirft, sobald jemand sie daran zu fassen schafft, so hatte Theo seinen angeblich besten Freund geopfert, um sich aus dem Staub zu machen. Hätte Howie das gewußt, hätte er garantiert nicht mehr so ehrfürchtig zu seinem großen Bruder aufgeblickt. Denn für ihn waren Freunde wichtiger als die Verwandten.
Zwei Stunden fuhr die schallgedämpfte Harley nun über die Autobahn. Theo hielt sich nur solange an die zulässige Höchstgeschwindigkeit, wie er beobachtet wurde. Wenn mal über Kilometer keine Autos zu sehen waren und sein Radarwarngerät unter der Tankuhr keinen Pieps sagte, jagte er die Maschine mit mehr als der doppelten Geschwindigkeit über die Fahrbahn. Zwar soff der Motor dann noch mehr Sprit auf hundert Meilen. Doch für Theo war wichtig, möglichst schnell einen großen Abstand zwischen allen Verfolgern zu bringen. Er war nicht naiv. Er wußte, daß gerade Polizei und Mafia genug Kontakte in alle Bundesstaaten und wohl auch runter zu den Mexikanern hatten. Viel Geld zum Bestechen von Beamten oder Abfinden von Kumpels hatte er auch nicht. Aber er war bereits mit seinen zweiundzwanzig Jahren ein ausgebuffter Straßengangster, der wie ein wildes Tier im Dschungel die Ecken und Kniffe kannte, um zu überleben. Darauf setzte er. Darauf hoffte sein jüngerer Bruder, der gerade erst anfing, sich aus der überbehütsamen Umklammerung der Eltern freizustrampeln. Als es im Osten erst grau und dann immer röter wurde, suchten sie abseits der Autobahn einen kleinen Wald, wo sie den Tag verschlafen wollten. Wie bei den Soldaten wollten sie abwechselnd Wache halten, um nicht überrascht zu werden.
Es brodelte und zischte. Funken stoben aus dem Kessel heraus. Grüne Blasen platzten und entließen wild wirbelnde Dampfwölkchen, die in rasanten Spiralbahnen zur granitenen Decke des geheimen Kellers emporstiegen. Theia und ihre Urgroßmutter Eileithyia standen in feuer- und Säurefesten Drachenhautschürzen vor dem Kessel und bewegten einen langen Drachenhornstiel, an dessen unterem Ende ein goldener Löffel angebracht war. Gerade knisterte ein violetter Blitz über dem aufgewühlten Inhalt des Kessels. Dann ebbte der Aufruhr ab.
"Hui, ich hätte fast mit einer Clamp'schen Kommotion gerechnet, Oma Thyia", sagte Theia, als das Gebräu zu einer goldgelben, vollkommen flüssigen Substanz geworden war.
"Ruf den großen Drachen nicht, Theia. Leda hätte die Kleine wohl gerne als ihre Ziehtochter behalten. Aber ich will noch ihre UTZs lesen, Theia und du garantiert auch", sagte Eileithyia.
"Zumindest hatte sie damit recht, daß alles, wo die Kraft der Sonne im Stoff und im Namen steckt in der Abstufung eins, vier, neun und sechzehn das Vampyrogen komplett aufhebt. an Sonnenblumenkerne, Sonnentau und Sonnenkraut ist dranzukommen. Du kannst deinenHeilerkolleginnen sagen, daß das Mittel gegen das Vampyrogen wirkt."
"Wir heiler dürfen es nur dann verwenden, wenn wir einen Patienten haben, an dem es erprobt werden kann. Freiwillige Infektionen sind uns verboten", erwiderte Eileithyia Greensporn. Theia nickte.
"Gut, zumindest können wir das Keimbannelixier mit der Sonnenkraftquadraturlösung zusammen als Mittel gegen das Vampyrogen ausprobieren", sagte Theia.
Wieder zurück im eigenen Haus durfte sie Selene wieder entgegennehmen. Leda Greensporn meinte, daß Selene sich gut mit Lysithea vertragen habe und diese ganz begeistert von "der Kleinen" gewesen sei.
"Die haben sich sicher nicht das letzte mal gesehen", lachte Theia. Dann erzählte sie wo Selene zuhören konnte, wie das Experiment mit erbeutetem Vampyrogen und dem neuen Gebräu verlaufen war.
"Ich hörte sowas von unserer Sprecherin, daß das Laveau-Institut eine Art Schwingkristall entwickelt habe, der mit pulsierendem Vampirblut wechselwirkt und daß es in unmittelbarer Nähe von Wasser jedes teilvampirische Agens hemmt, so daß es wohl als gewöhnlicher Fremdstoff von der körpereigenen Abwehr zerstört werden könne. Theia erkannte an, daß die im Laveau-Institut ihre Hausaufgaben gemacht hatten. Dann brachte sie Selene zu Bett und verabschiedete ihre frühere Cousine und zeitweilige Mutter.
"Und Lysithea war vorher eine Feindin aus euren Reihen?" fragte Selene über Cogison, bevor ihre Mutter sich in das Bett neben der Wiege hinlegte.
"Ja, sie hat eingewilligt, lieber neu aufzuwachsen, als als Feuerskelett herumzulaufen. Die sogenannten geduldigen Schwestern bringen niemanden um, wenn es nicht aus blanker Notwehr geschieht", sagte Theia.
"Hast du geprüft, was an dem Gerücht dran ist, daß das Zaubereiministerium auch einen Agenten bei den Nocturnianern hat?" Fragte Selene.
"Das erledigt unsere Sternenschwester, wie wir sie wegen ihrer Vorliebe für alles astronomische nennen", sagte Theia und gähnte. Damit steckte sie auch Selene an.
"Es ist wahrhaft erstaunlich, wie viel Zeit ein ganz junger Mensch verschlafen muß", schnarrte das Cogison noch. Dann gab es ruhe. Denn Selene fielen die Augen zu.
Theia lag in ihrem Bett. seit nun bald fünf Monaten hatte sie es nicht versucht. Eigentlich hatte sie geplant, kurz nach der Entbindung von Selene die asiatische Geistwanderungskunst anzuwenden, um den eigenen Körper zu verlassen und in die Welt hinauszugehen. Sie wollte jetzt, wo sie herausgefunden hatte, daß eine bestimmte Anordnung von Sonnenkraftspeichern das Vampyrogen unwirksam machen konnte, den Standort des Sonnenmedaillons ergründen. Allerdings fragte sie sich, was sie mit dem Wissen anstellen würde. Wollte sie das Kleinod wiederhaben oder bei der Diebin belassen, die eindeutig für Anthelia arbeitete? Sie konnte schlecht hingehen und es einfordern. Noch weniger konnte sie die Diebin mal eben umbringen. Ihre reuige Rückkehr zu den Geduldigen Schwestern war mit dem Versprechen verbunden, niemanden aus Absicht heraus nachhaltig zu verfluchen oder zu töten. Ärgerte sie das? Nein. Denn durch den Rollenwechsel zwischen Schwangerer, Ungeborener, Säugling und Mutter hatte sie gelernt, wie schnell böswillige Aktionen auf einen selbst zurückfallen konnten. sie würde wohl die Diebin im Auge behalten, vielleicht einen Weg suchen, sie öffentlich zu entlarven, ohne zu verraten, wie sie ihr auf die Spur gekommen war. Doch dazu mußte sie erst einmal wissen, wer es war.
Theia kannte noch die alten Mantren und dachte sie konzentriert. Sie verfiel mehr und mehr in einen immer langsamer ablaufenden Atemrhythmus. Erst wurde ihr ganz warm. Dann meinte sie, sie würde sich selbst aus dem Körper hinausatmen, bis sie ihren Körper unter sich sah. Doch der Austritt dauerte keine zehn Sekunden. Dann fand sie sich wieder in ihrem Körper. Irgendwie hatte es nicht geklappt, ihn endgültig erstarren zu lassen, um vollständig aus sich hinauszugehen, erkannte sie. Diese Anfängerhürde hatte sie in den ersten Monaten, wo sie den Zauber erlernt hatte immer wieder erlebt. Offenbar mußte sich ihr Körper-Geist-Gefüge an die neue Zusammensetzung und den neuen Namen gewöhnen. Vielleicht waren es auch die Hormone der jungen Mutter, die ihre früheren Kenntnisse unwirksam gemacht hatten. Sie beschloß, jede Nacht zu üben, bis sie sicher war, den perfekten Austritt zu schaffen und nur dann wieder eins mit der atmenden Hülle zu werden, wenn jemand dieser Schmerzen zufügte oder sie die Wiedervereinigung erwünschte.
Herman Winters haderte mit zwei drängenden aber sich gegenseitig bekämpfenden Ideen. Howard war mit seinem großen Bruder verschwunden. Womöglich hatte der ihn wahrhaftig in den Sumpf der Banden reingezogen. Herman hatte es aufgegeben, sich für einen derartigen Nichtsnutz aufzuopfern, um ihn zu kämpfen. Doch für Howard sollte es eigentlich nicht so enden, daß der irgendwann als Leiche aus der Gosse gezogen wurde. Deshalb wollte er zur Polizei und ihn als vermißt melden. Andererseits würden die Cops ihn natürlich fragen, was seine Söhne so anstellten. Theo hatte ein Strafregister. Wenn er, Herman Winters, zugeben mußte, daß auch sein zweiter Sohn in den Schmutz der Straßenkriminalität geraten war, würden er und seine Frau zum Gerede der ganzen Stadt. Winters hatte schon die Chance verspielt, zum in den Stadtrat von Richmond gewählt zu werden, weil die Presse das mit dem Porsche herausgefunden hatte. Und auch die Sache mit dem Einbruchsversuch, bei dem Theos Freund Eugene erwischt worden war, wäre ihm von der Öffentlichkeit um die Ohren gehauen worden. Wenn jetzt noch rauskam, daß Howard sich von seinem abwegigen Bruder hatte beeinflussen lassen ... Doch Judith wollte ihren zweiten Sohn wiederhaben, nachdem ihr Mann ihr mit aller Deutlichkeit klargemacht hatte, daß er nicht bereit war, Theobald zurückholen zu wollen. Jetzt hatte der wohl auch Howard in irgendwas hineingezogen. Das würde sie ihrem Mann nie verzeihen, wenn er nicht versuchte, wenigstens einen der Beiden auf die gerade Bahn zurückzuholen. So beschloß er nach mehr als einer Stunde Abwägung, daß er am nächsten Tag zur Polizei gehen und seine beiden Söhne als Vermißt melden würde. Sollten die dann tot gefunden werden, so mußte er sich eben damit arrangieren, nicht hart genug durchgegriffen zu haben.
Er war auf dem Weg zum geräumigen Schlafzimmer, als er das leise Ploppen von unten hörte. Als sei eine der im Sektregal stehenden Flaschen von selbst aufgesprungen, so hatte es sich angehört. Dann knallte es etwas lauter. Herman Winters erstarrte. Das konnte nicht angehen. Er lauschte. Ja, da waren noch andere, nicht zu erwartende Geräusche. Es klang wie Schritte auf der Kellertreppe. Herman Winters erstarrte einen Moment. Einbrecher! so schoß es ihm durch den Kopf. Doch die hätten die doppelt verschlossene Tür aufbrechen oder eines der gesicherten Fenster irgendwie überwinden müssen. Außerdem waren alle Türen und Fenster mit Alarmvorrichtungen gespickt. Seitdem Theo in so obskure Kreise geraten war ... Vielleicht waren er und Howard das. Aber was hatte dann eben so geknallt wie mit Wucht aus den Flaschenhälsen schießende Sektkorken?
Herman hastete in seinen Hausschuhen zu einem Metallschrank. Er zerrte den Sicherheitsschlüssel an der Schnur vom Hals und bohrte den Schlüsselbart ins Schloß. Eine schnelle Drehung, und der Schrank war offen. Ein griff, und Herman hielt die 9-Millimeter-beretta in der Hand, die für diesen Fall bereitlag. Er entsicherte die Waffe und lauschte. Dann ploppte es wieder. Herman Winters erschrak über die drei Gestalten, die wie aus dem Nichts vor ihm auftauchten. Er konnte im Schein der Wohnzimmerlampe erkennen, daß es menschenähnliche Gestalten waren, die gelb-schwarz gestreift waren. Von der Körperform her waren es Frauen. Doch deren Köpfe waren die von gigantischen Insekten mit langen, behaarten Fühlern und großen, in Facetten aufgeteilten Augen. Wo kamen die jetzt her? Wer war das?
"Laß die Knarre besser fallen! Damit kannst du uns eh nichts, Hombre", schnarrte eine unheilvolle Frauenstimme mit hispaonamerikanischem Akzent. Winters zielte eher aus Reflex als aus Berechnung und drückte ab. Sein Glück war, daß der Schuß nicht in gerader Linie ins Ziel ging, sondern in einem leichten Aufwärtswinkel. Der Knall der Waffe wurde im selben Moment vom Pfeifen eines Querschlägers beantwortet. Da, wo die Kugel eigentlich hätte treffen sollen, hatte es für eine Hundertstelsekunde bläulich aufgeblitzt. Die abgelenkte Kugel war getreu dem Reflektionsgesetz Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel schräg nach oben abgelenkt wworden. Über und hinter Herman Winters' Kopf hatte die Kugel ein Loch in die Holzvertäfelung gebohrt.
"Habe dir doch gesagt, die Knarre bringt's nicht, Tonto", schnarrte die unheimlich aussehende in der Mitte, auf die Winters gefeuert hatte. Er wollte aber nicht einsehen, daß seine Waffe nutzlos war. Er feuerte auf die von ihm aus links stehende, wobei er nun bewußt darauf achtete, nicht in gerader Linie zu feuern. Drei weitere in bläulichem Flackern abgeprellte Kugeln gruben sich in die Deckenvertäfelung. Holzmehl rieselte herunter.
"Wissen wir's jetzt?!" brüllte ihn die Anführerin nun wütend an. Um sie herum flimmerte die Luft. Da dachte Winters, es mit einem Schutzschild wie aus dem Science-Fiction-Film zu tun zu haben, etwas, das jeden Angriff auf den Angreifer selbst zurückwarf. Er hatte den Film "Independence Day" noch gut in Erinnerung. Die darin vorkommenden Superraumschiffe waren von solchen Abwehrkraftfeldern umgeben worden, bis die Filmhelden einen Weg gefunden hatten, diese Barriere zu knacken. Er ließ die Waffe fallen.
"Okay. Deine Frau und du seid unsere Gäste", bestimmte die Sprecherin dieser unheimlichen Eindringlinge. Herman Winters wollte schon Einspruch einlegen. Doch da verschwanden die beiden Begleiterinnen mit lautem Plopp im Nichts. Keine zwei Sekunden später waren sie mit Judith Winters wieder zurück. Die Frau des Hauses steckte in ihrem geblümten Nachthemd und schrie wie am Spieß. Daa legte eine ihrer Kidnappperinnen ihr die Hand an die Schläfe. Sie zuckte zusammen und verstummte. Bevor Herman Winters erkannte, was passiert war, packte die Anführerin des unheilvollen Trios ihn am Arm und legte ihm ihre Hand an den Kopf. Er fühlte es wie einen Schlag mit einer heißen Axt, die seinen Kopf zu spalten trachtete. Die Wucht ging durch seinen ganzen Körper und raubte ihm die Sinne.
Als die Winters' wieder zu sich kamen lagen sie gefesselt auf schmalen Bänken wie die aus einer Turnhalle. Herman tat der rechte Arm und der Kopf weh. Er überlegte, was mit ihm passiert war. Dann sah er eine Frau mit langen, roten Haaren und braunen Augen, die in einem nun als hautenges Gummikostüm erkennbaren Einteiler vor ihm auf einem Stuhl saß wie eine Königin auf ihrem Thron. Das Kostüm war gelb und schwarz quergestreift, wie der Körper einer Wespe oder Hornisse.
"Schön, ihr zwei seid wach. Dann können wir anfangen. Wir wollen eure beiden Söhne. Irh werdet uns sagen, wo sie sind oder uns zumindest helfen, sie zu finden", sagte die Rothaarige. "Ihr werdet mir helfen. Denn ihr gehört jetzt mir und meinen Schwestern."
Herman wollte gerade zu einem Einspruch ansetzen, als er fühlte, wie sich in seinem Körper etwas regte, das sich wie erst sanfte und dann immer wildere Wellen aus Hitze und Schmerz austobte. Vor allem sein rechter Arm schmerzte, als habe den jemand mit mehreren Messern gespickt. Er wollte jetzt sagen, daß er niemals seine Söhne verraten würde. Doch die Wogen aus unerklärlicher Hitze und Schmerz überlagerten sein Bewußtsein, raubbten ihm den Willen. Dann sah er in die Augen der Anführerin. Sie wurden scheinbar größer und tiefer, als blicke er in zwei sich vor ihm auftuende Tunnelöffnungen, hinter denen es dunkelrot flackerte. Er bemerkte, daß das rote Flackern sein ganzes Gesichtsfeld einnahm. Dann hörte er die Stimme der Anderen mit den Ohren, aber gleichzeitig auch in seinem Kopf nachhallend: "Ihr beide gehört mir. Deine Frau wird eine unserer Schwestern. Dich und deine Söhne werden wir entweder töten oder zu unseren Sexsklaven machen. Denn meine Mädels brauchen zwischendurch was zum spielen. Wo sind deine Söhne?"
"Ich weiß es nicht", antwortete Herman Winters wie ein Schlafwandler. Die unheimliche Macht, die von seinem Körper und seinem Geist Besitz ergriffen hatte, breitete sich vollständig aus. Er war schon nicht mehr fähig, sich dagegen zu wehren. So beantwortete er alle Fragen, die ihm seine Herrin stellte, ob mit dem Mund oder mit gezielten Gedanken. Er sah die Orte, wo Howard gerne gewesen war. Er hörte jeden Streit zwischen sich und Theo und zwischen sich und seiner Frau nach. Als der anderen klar wurde, daß die Eltern der Jungen weder wußten, wo die beiden waren noch eine andere Möglichkeit kannten, sie anzurufen, weil ja das Mobiltelefon von Howard weggeworfen worden war, verzog die Rothaarige erst das Gesicht. Doch dann lächelte sie. Sie befahl ihren im Hintergrund wachenden Gehilfinnen, die jetzt keine Insektenkopfmasken mehr trugen, die beiden Bänke zusammenzustellen. Wie Daunendecken so leicht waren die beiden Gefangenen für die unheimlichen Helferinnen der Rothaarigen. Als die beiden Bänke so eng zusammenstanden, daß die Rothaarige gerade so noch dazwischenpaßte, faßte diese ihren beiden Gefangenen an die Köpfe und ließ aus ihren Händen eine Art Energiestrom in sie einfließen, der zu einer Art Schwingungsfeld wurde.
Der an das Leben als Straßengangster gewöhnte Theo Winters fand es verdächtig, daß keiner nach ihm suchte. Das in seiner Satteltasche versteckte Spezialradio, mit dem alle ausbaldowerten Polizeifrequenzen abgehört werden konnten, gab nichts über die Suche nach ihm und Howard her. Slicer war mittlerweile gefunden worden. Man hatte ihm sieben Kugeln verpaßt, eine glatte Hinrichtung. Sicher suchten die Unheimlichen nach seinen noch lebenden Leuten. Doch warum hatte die Polizei oder das FBI noch keine Vermißtenmeldung ausgegeben? Womöglich war die entsprechende Suchmeldung nur über Computernetzwerke oder Fax verteilt worden, um die illegalen Mithörer nicht mit der Nase darauf zu stoßen, was die Cops oder die Feds vorhatten.
Der erste Tag ihrer Flucht war ohne irgendein Ereignis verstrichen. Als es Nacht wurde, wollten die beiden auf Schleichwegen weiterfahren. Doch als Theo und Howard auf ihrer Harley den Weg zurück zur Autobahn suchten, überkam beide ein merkwürdiges Gefühl, als würde jemand mit unsichtbaren Händen über ihre Körper streicheln. Aus disem Streicheln wurde etwas wie ein Vibrieren, als steckten beide in etwas, das immer stärker nachschwang, wie bei einem Erdbeben. Theo schaffte es gerade noch, die schwere Maschine an den Wegesrand zu steuern und zu stoppen, bevor er damit gegen einen Baum krachte. Dann flimmerte die Luft um sie herum. Zumindest meinten die beiden Brüder, die Luft würde flimmern. Es mochte aber auch sein, daß etwas ihre Sinne überreizte, ihre Nerven überlud und ihre Körper erschütterte. Sie fühlten ihre Herzen immer heftiger schlagen. Dann hatte Howard das Gefühl, die Gesichter seiner Eltern vor sich zu sehen, verschwommen und zerfließend. Aber er sah immer wieder in kurzem roten Flackern seinen Vater und seine Mutter. Ebenso erging es Theo. Beide konnten jedoch nicht über ihre Wahrnehmungen sprechen. Etwas lähmte jede willentliche Regung. Dann, mit einem Schlag, war alles wieder wie vorher. Sie saßen auf der stehenden Harley, deren schallgedämpfter Motor noch leise schnurrte. Um sie herum hbreitete sich die Dunkelheit des nächtlichen Waldes aus. Wind und Blätterrauschen waren die einzigen Geräusche, die sie umgaben. Theo wollte gerade fragen, ob sein Bruder dasselbe gefühlt hatte wie er, als es laut um sie herum krachte. Im Licht von fünf Taschenlampen standen sie um die Harley herum, fünf unheimlich wirkende Gestalten mit Insektenköpfen und im Widerschein hell und dunkel quergestreiften Frauenkörpern.
"Tja, Chiquititos, da habt ihr nicht mit gerechnet, daß wir euch so locker anpeilen können, wie?" fragte eine höchst überlegen klingende Frauenstimme die beiden umstellten Brüder. Theo wollte gerade einen Ausbruch mit der Harley versuchen, als zwischen den so plötzlich aufgetauchten laut knatternde Entladungen zuckten. "Ihr steigt besser von dem Bock ab. Den braucht ihr nicht mehr. Meine Chicas bringen euch schneller als das Licht dahin, wo ihr hingehört", sagte die Sprecherin und trat vor.
"Ihr Alien-Schlampen kriegt uns nicht", schnarrte Theo und griff an eine Tasche seiner Motorradkluft. "Nix! Die Mußspritze taugt gegen uns eh nix", sagte die Sprecherin. Gleich drei der fünf sprangen vor. Es knallte laut. Blitze trafen die beiden Flüchtigen. Doch sie waren nicht tödlich, sondern lähmten sie nur. Theo entfiel die Magnum, mit der er auf die Feindin hatte schießen wollen. Dann wurden sie beide von je zwei Gegnerinnen gepackt. Sie wußten nicht, wie ihnen geschah. Doch als der bunte Farbenwirbel, in den sie hineingezogen wurden überstanden war, befanden sie sich nicht mehr im Wald, sondern in einem Kellerraum.
"Da haben wir die ganze Familie vereint", flötete die Anführerin. Dann faßte sie sich an den Hals und fingerte an einem unsichtbaren Reißverschluß. Als dieser mit lautem Ratschen aufging löste sich der Kopf, beziehungsweise, die Maskerade. Unter dem gruseligen Insektenkopf erschien der Kopf einer Frau mit langen roten Haaren. Theo erkannte sie sofort wieder: "Lolita Henares", entfuhr es ihm.
"Ah, du kennst mich? Hat sich das mit den Tiburones damals bis zu euch runter rumgesprochen? Soll mir jetzt auch recht sein. Daß es mich noch gibt weiß außer wenigen Leuten keiner. Und ihr werdet das auch nicht mehr verraten."
"Du willst uns umlegen? Wie hast du uns gefunden, du Nutte?" fragte Theo. Statt einer Antwort deutete Lolita Henares auf zwei wie ein Ehebett zusammenstehende Bänke, auf denen apathisch nach oben starrende Menschen lagen, eine Frau im geblümten Nachthemd und ein Mann im blauen Hausanzug. Theo erstarrte. Howard gab unartikulierte Angstlaute von sich. Für ihn war das hier alles ein wahrgewordener Alptraum.
"Blut verbindet, habe ich von einem, der mit echter Magie hantiert hat. Du kannst über das Blut deine Eltern oder Kinder aufspüren. Das habe ich mit euch gemacht, ihr Hirnis. Habt euch echt eingebildet, daß wir euch nicht mehr zu fassen kriegen? Aber was Lola will kriegt Lola auch", triumphierte die Rothaarige. Ihre Begleiterinnen kicherten albern.
"Hat man dich mit Alien-DNA vollgepumpt oder dich zum bionischen Zombie umgestrickt?" fragte Theo, der das eben nicht so recht gehört hatte, daß echte Magie im Spiel gewesen sein sollte. Lolita Henares grinste nur verächtlich. Dann deutete sie auf seinen Vater, der in einer starren Haltung dalag und blickte ihre nun alle versammelten und ohne Insektenköpfe herumlaufenden Komplizinnen an. Diese deutete mit gesenktem Daumen auf den Mann im Hausanzug. Lolita nickte und führte die Hände beinahe zusammen. Zwischen Fingern und Handflächen sprühten Funken, dann berührte die Anführerin der Unheimlichen Herman Winters auf seiner Bank am Kopf. Es krachte. Ein greller Blitz zuckte über den Körper des Gefangenen hinweg, der noch einmal laut aufschrie und dann völlig reglos dalag. Howard sah seine Mutter, die davon scheinbar völlig unbeeindruckt blieb.
"Meine Chicas wollten ihn nicht behalten. Ihr seid ja auch wesentlich jünger. Aber ihr solltet erst mal gründlich baden, bevor ich es einer meiner lieben Schwestern zumuten kann, mit euch zu spielen, falls ich nicht das Recht der ersten Nacht beanspruche, wie es im finsteren Mittelalter in Europa mal gewesen sein soll."
"Du hast ihn mal eben umgebracht", stieß Howard aus. "Mom, die hat Dad umgebracht. Sag doch was!"
"Deine Mom macht nur noch, was ich ihr sage. Ich habe ihr befohlen, sich solange nicht mehr zu rühren, bis ich ihr ein bestimmtes Wort sage. Niemand und nichts kriegt sie davon weg. Sie gehört mir. Und ihr gehört jetzt auch mir. Du und dein großer, starker Bruder, ihr habt nur eine Chance: Ihr bleibt bei uns und macht, was wir von euch wollen oder krepiert gleich hier. Wie locker ich wen abfertigen kann habt ihr gesehen. Slicer und der rest eurer Bande ist schon erledigt. Ihr seid die letzten. Nach euch wird kein Hahn krähen."
"Das wollen wir sehen", schrie Theo auf und stürzte los, sprang an der Rothaarigen vorbei zu einer Tür. Er wollte sie gerade aufstoßen, da zuckte er zusammen wie vom Blitz getroffen. "Netter Versuch, Gringo!" lachte eine pummelige Frau, die in ihrem gelb-schwarzen Streifenkostüm wie eine dicke Hummel wirkte. Dann packten zwei der hier versammelten Howard mit eisernem Griff. Er versuchte, die Gegnerinnen zu treten. Doch da wurden auch seine Füße gepackt. Eine der noch frei stehenden zerrte ihm die Schuhe und Hosen herunter. Eine Andere zerriß wie beiläufig die Oberbekleidung, um sie dem Gefangenen vom Leib zu ziehen, ohne den Griff um die Arme lösen zu müssen. Howard versuchte, sich freizustrampeln. Doch seine Beine schienen wie in Schraubstöcken eingezwengt. Seine Arme konnten sich keinen Millimeter mehr rühren. Diese Biester besaßen übermenschliche Körperkräfte wie Roboter oder diese Kyborgs aus Comics und Zukunftsgeschichten. Sie warfen ihn auf die mal eben von der Leiche seines Vaters freigeräumten Bank. Er roch den Gestank verschmorten Fleisches, der von der harten Unterlage ausging, bevor sie ihn mit einer unglaublich schnellen Abfolge von Handgriffen mit Eisenschellen an Hand- und Fußgelenken fesselten.
"San Juan, Judith!" rief Lolita. Daraufhin bewegte sich Howards Mutter und erhob sich steif wie ein Zombie aus dem Horrorfilm von ihrer Bank. Sie ging auf Lolita Henares zu, die ihr bedeutete, zu einem freien Stuhl zu gehen. "Setz dich und bleibe da, bis du wieder das Codewort von mir hörst!" befahl Lolita und deutete wieder auf die Bank. Auf diese wurde der gerade ebenso völlig entkleidete Theo Winters abgelegt und an Hand- und Fußgelenken gefesselt.
"Ja, ihr macht sicher was her, wenn ihr mal richtig gewaschen seid", sagte die Rothaarige, nachdem ihr Blick gierig über Theo gewandert war. "Nur du mußt mehr essen. Du bist zum Liebemachen viel zu knochig", urteilte Lolita über den abgemagert wirkenden Howard. "Ich denke aber mal, du hast es eh noch nicht gemacht. Da haben wir noch Zeit, dich in Form zu bringen."
"Nur über meine Leiche, du Hexe!" brüllte Howard.
"Hat schon mal wer zu mir gesagt und mir dann doch eine sehr heiße Stunde beschert. Aber das mußt du nicht näher wissen", lachte Lolita Henares. Howard in seiner Verzweiflung und Wut war jedoch nicht entgangen, daß die Rothaarige einen Moment verbittert dreingeschaut hatte, als habe ihr jemand übel mitgespielt. Dann sah er, wie die Rothaarige ihr enges Gummikostüm ablegte. Es war, als würde sich eine Schlange aus ihrer Haut lösen, fand Howard. Darunter trug die andere nichts. Das machte ihr jedoch nichtts, ja schien sie eher anzuregen, daß Howard ihren üppigen, durchtrainierten Körper begaffte. Grazil wie eine Stripperin stieg die Unheimliche aus den Beinlingen des Kostüms heraus und wandte sich einem Regal zu, in dem Howard mehrere Packungen sehen konnte. Dann deutete sie um sich herum und verfiel in eine konzentrierte Haltung. Ihre Komplizinnen nickten und verließen den Kellerraum, auch Judith Winters in ihrem geblümten Nachthemd. Howard rief ihr zwar noch nach, sie solle sich gegen was immer wehren und daß sein Vater gerade von denen ermordet worden war. Doch sie reagierte nicht. Sie schloß als letzte die schwere Eisentür von außen.
"So, Cariño, jetzt sind wir ganz unter uns", säuselte Lolita und nahm eines der kleinen Pakete aus dem Regal heraus. Sie rupfte die Celophanumhüllung ab und fingerte am Verschluß, bis sie zwei Plastikzylinder herauskramte. Dann zog sie noch ein kleines Päckchen aus dem Regal hervor und entnahm diesem zwei Kanylen. Howard erkannte das Besteck. Er hatte es bei vielen schon gesehen, die an der Nadel hingen. Die Unheimliche wollte ihm Drogen spritzen. Ja, so nur hatte sie seine Eltern umpolen können. Die hatte Zugang zu einem Stoff, der Gehirne umkrempelte. Das wollte sie jetzt mit seinem Bruder und ihm machen. Er schrie und versuchte, die angelegten Fesseln zu sprengen oder die Bank umzuwerfen. Doch es gelang nicht. Offenbar war die Bank am Boden festgeschraubt.
"Du miese Schlampe!" spie er ihr entgegen und benutzte noch rüdere englische und spanische Schimpfwörter. Doch all das brachte ihm nichts. Er mußte zusehen, wie Lolita eine der Spritzen gebrauchsfertig machte. Dann erstarrte er. Sie nahm keine Ampullen oder sonstiges Zeug, um einen Drogencocktail aufzuziehen. Nein! Sie stach sich die spitze Nadel in den eigenen rechten Arm und zog den Kolben der Spritze langsam nach außen. Sie entnahm sich selbst Blut? Howard fragte sich mit steigendem Entsetzen, was diese abgedrehte Prozedur sollte. Als er dann aber sah, wie Lolita völlig ungerührt die Spritze von ihrem Arm nahm und auf Theo zuging erkannte er, was sie vorhatte. Sie wollte seinem Bruder ihr eigenes Blut einspritzen. Er begann wieder, die Rothaarige mit wüsten Schimpfwörtern zu belegen. Doch sie blieb abgebrüht und zog durch, was sie vorhatte. Als sie die nun wieder leergedrückte Spritze von Theobalds Arm wegzog und einfach so fallen ließ erkannte Howard, daß wohl nun er drankam. Er starrte die Unheimliche an und fragte nun mit der schwachen Stimme eines aufgebenden Mannes:" Wozu machst du das? Willst du ihn mit deinem Blut vergiften oder mit was anstecken oder was?"
"Vergiften nicht. Ich hab' rausbekommen, daß in meinem Blut was ist, das alle anderen so macht wie ich gerade bin. Daß das auch bei euch Jungs geht war ein Versuch. Aber er hat geklappt. Wehr dich nicht! Dann geht das für dich ohne große Schmerzen über die Bühne."
"Du mieses Stück Scheiße! Das wird dir noch leid tun!" schrie Howard. Doch auch das konnte die Unheimliche nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
"Irgendwer klaut mir Zeug", knurrte Dario Minetti, Haupteigentümer der Firma Various Wardrobes in Manhattan. "Seitdem ich diese Hornissenhautkostüme auf dem Markt habe sind mir fünfzig von denen auf irgendeine Weise gestohlen worden, Sergeant McAleister. Ich wollte das erst intern klären. Doch die Überwachungen fielen immer aus, wenn was wegkam."
"Ich verstehe das richtig, daß jemand exotische Gummianzüge stiehlt, die wie die Körper von Hornissen aussehen, aber die Flügel und die Hinterleibattrappen mit den stumpfen, ausfahrbaren Stacheln daläßt?"
"Das sehen Sie richtig, Sergeant", knurrte Minetti den Polizisten an. Dieser notierte sich die Angaben über Lagerung und Umfang der gestohlenen sachen und fragte nochmal nach den Eigenschaften der Gummianzüge. "Die sind sehr elastisch, schon so wie Kondome, nur daß die zwei drei Löcher haben. Eins zum reinschlüpfen und zwei für die nötigen Verrichtungen. Die Sachen sind atmungsaktiv, aber doch hauteng und können auch in einer Badewanne abgewaschen werden, wenn jemand meint, mehr als einen Tag in den Sachen herumzulaufen. Es gibt Leute, die haben sehr außergewöhnliche Vorlieben, wenn Sie verstehen, was ich meine."
"Und sie verkaufen diese außergewöhnlichen Sachen für männliche und weibliche Kunden?" fragte McAleister. Minetti bejahte das und erwähnte, daß bisher nur die Anzüge für weibliche Nutzer gestohlen wurden.
"Ich gehe davon aus, daß diese Ware zu ihrem üblichen Verkleidungsangebot gehört", sagte McAleister. "Wer wußte denn, wo genau die Sachen gelagert wurden?" Minetti zählte dem Beamten die betreffenden Anngestellten auf. Der Sergeant notierte sich die Angaben und versprach, dem nachzugehen. Immerhin sei der Firma ja durch den offenkundigen Diebstahl ein Verlust von mehr als zwanzigtausend Dollar entstanden. Das rechtfertige natürlich eine gründliche Nachforschung. Vor allem, wie die Diebe es schafften, ohne die Alarmanlagen des Lagers auszulösen einzudringen und die Kameraüberwachung für nur eine Minute lahmzulegen, um dann mit fünf bis sechs Körpergummis, wie Minetti das selbst lachs bezeichnet hatte, wieder zu verschwinden, als hätte jemand gezielt die Überwachung ausgeschaltet und die Diebe hinein und mit den Sachen wieder hinausgebeamt. "In einer Minute solche Diebstähle. Die Wachposten sind immer betäubt aufgefunden worden und behaupteten, von elektroschocks getroffen worden zu sein", wiederholte McAleister. "Die werden mein Kollege Decker und ich dann selbst noch einzeln verhören. Womöglich sammelt jemand diese Sachen aus irgendwelchen - wie nannten Sie es? - außergewöhnlichen Vorlieben."
"Soweit war ich auch schon, Sergeant", knurrte Minetti verärgert. Doch der Sergeant überhörte es. Er verabschiedete sich von dem Hersteller exotischer Verkleidungen und zog los, um Meldung zu machen.
"Wer klaut nur gelb-schwarze Gummianzüge und die gruseligen Insektenkopfaufsätze?" wollte Lieutenant Daniels vom nächstgelegenen Revier wissen. Doch er bekam keine Antwort. Erst als er las, daß die Überwachungskameras immer für eine Minute lahmgelegt wurden, die Wachen vor Ort mit Elektroschocks betäubt worden waren und es keine Einbruchsspuren und keinen Alarm gab, wurde er stutzig. Er las, daß der letzte Diebstahl vor zwei Wochen, also am siebten Dezember über die Bühne gegangen war. Warum hatte dieser Minetti nicht gleich die Polizei gerufen? Sicher lag es daran, daß er nicht von den Medien als Anbieter anrüchiger Verkleidungen hingestellt werden wollte. Doch wenn der nur einen Tag nach dem letzten Einbruch was gesagt hätte ... Fünf Diebstähle hatte es gegeben, von denen die ersten drei nicht als solche aufgefallen waren. Erst bei den Vorgängen vier und fünf hätten sie Kameras verwendet. Doch die waren eben ausgefallen und ohne Zeichen von Beschädigung wieder angesprungen, als sie nichts mehr zu erfassen hatten, was auf die dreisten Diebe hindeutete. Wer stahl nur halbe Insektenkostüme? Vielleicht würden die Diebe noch einmal zuschlagen und sich weitere Anzüge und Kopfteile zulegen wollen. Daniels hatte nämlich den Eindruck, daß da wer eine Truppe mit dieser Art Bekleidung uniformieren wollte.
"Wenn ihr bei euch was habt, was nicht mit eurer Technik und Ermittlungsmethodik entschlüsselt werden kann, dann sag das bitte deiner Frau. Die weiß dann, wen sie ansprechen muß", hörte er die Worte seiner Schwiegermutter, Dorothy Applebee, die er bis kurz nach der Hochzeit mit ihrer Tochter Almalinda für eine technikverweigernde, schrullige Frau gehalten hatte, bis Almalinda ihm erklärt hatte, daß sie und ihre Blutsverwandten echte Hexen und Zauberer waren und es ihm vorgeführt hatte. Magie? Das war immer die leichteste, am besten verkäufliche Erklärung für alles, was nicht sofort offensichtlich schien. Doch waren hier bei diesenDiebstählen echte Magier am Werk gewesen? Almalinda hatte ihm, weil sie mittlerweile drei stramme Söhne von ihm hatte und er durch die Heirat ja in bestimmte Sachen aus der geheimen, magischen Welt eingeweiht werden durfte, von Gruppen aus Hexen erzählt, die gegen die Verwaltungsbeamten der Zaubererwelt aufbegehrten. Doch was die mit gelb-schwarzen Gummianzügen wolten. Sie hatte ihm auch erzählt, daß es mittlerweile möglich sei, Ereignisse bis zu achtundvierzig Stunden nach ihrem Ablauf nachzubetrachten. Wie genau das ging hatte sie ihm nicht erzählt, zumal sie selbst ja nicht im sogenannten Zaubereiministerium arbeitete. Aber wenn irgendwo irgendwas vorfiel, und es wurde innerhalb von zwei Tagen überprüft, konnte man offenbar wie als Augenzeuge mitverfolgen, was passiert war. Vielleicht hatten sie sowas wie einen Zeitrückspiegel, der ähnlich wie der Rückspiegel im Auto Sachen die hinter einem lagen zeigte, dann eben nicht das, was im Raum hinter einem war, sondern bereits in der Zeit hinter einem lag, also bereits gestern passiert war. Jedenfalls wollte er seiner Frau davon erzählen. Eigentlich durfte er Anzeigen und Protokolle nicht an Zivilisten weitergeben. Doch in dem Fall war es vielleicht wichtig, wenn da wirklich wer war, der eine Armee aus gelb-schwarzen Kämpfern, besser Kämpferinnen ausrüsten wollte.
So schmuggelte er am Abend einenPacken Druckerpapier in seiner Tasche mit hinaus aus dem Revier. Er fuhr mit der U-Bahn bis zur 61. Straße Ost, wo das zehnstöckige Appartmenthaus lag, daß er mit seiner Familie bewohnte.
Chris und Phil waren bei Freunden im Nachbarviertel. Almalinda werkelte in der Küche. Für sie waren Elektroherd und Mikrowelle so exotisch, wie es für ihn war, wenn er seine Schwiegerverwandtschaft in New Jersey besuchte und seine Schwiegermutter mit einem Zauberstab Geschirr fliegen oder Feuer im Kamin aufflammen ließ.Almalinda Daniels geborene Applebee war seit der Geburt von Donovan leicht pummelig geblieben, ähnlich wie ihre Mutter. Doch das hatte sie für ihn irgendwie noch anziehender gemacht. Vor allem das bordeauxrote Haar, das in sachten Wellen bis auf ihren Rücken wallte, und die lebenslustigen, heidelbeerfarbenen Augen waren noch unverändert.
"So, dann stiehlt jemand seit einem Vierteljahr hautenge Gummianzüge, die das Streifenmuster von Wespen oder Hornissen haben? Und weil die dabei anscheinend ohne eine Tür aufmachen zu müssen in das Lager reingehen und unbeobachtbar wieder rausgehen meinst du, das könnte mit Magie zu tun haben?" fragte Almalinda. Ihr Mann nickte und gab ihr die verbotenerweise herausgeschafften Unterlagen. Almalinda las die Aussage von Ricardo Minetti und seine Darstellung über die bisherigen Diebstähle.
"Sagen wir es mal so, Ralf, wenn jemand aus meiner Welt sich eine Armee aus Leuten zulegen will, die wie Insekten aussehen, dann geht das durch entsprechende Verwandlungszauber leichter, als sich bei euch Nichtmagiern aufwändig hergestellte Sachen zu stehlen. Du erinnerst dich sicher an die Sache, wo wir in Sorge waren, weil jemand menschengroße Mischungen aus Bienen und Menschen gezüchtet hat und wir immer damit gerechnet haben, daß die auch hier in New York auftauchen." Ralf Daniels schlug sich vor den Kopf. Natürlich erinnerte er sich an diese Warnung. Er wußte auch, daß die Gefahr gebannt worden war, weil die Person, die diese Monster gemacht hatte, diese selbst nicht kontrollieren konnte und deshalb lieber alle vernichtet hatte.
"Könnte es sein, daß jemand diese Gruppe herausfordern will, der diese Person angehört hat, die die echten Monsterinsekten verbrochen hat?" wollte Ralf Daniels wissen.
"Immer Polizist, Ralf?" entgegnete Almalinda lächelnd. "Aber die Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Es könnte sein, daß eine Gruppe von Leuten, die von der Sache damals was mitbekommen hat darauf ausgeht, eine Art Nachfolgetruppe zu gründen. das war verdammt wichtig, mir das zu sagen. Ich gebe das gleich an Dad weiter. Der könnte dich deshalb noch mal sprechen wollen. Am besten bleibst du nach dem Abendessen hier."
"Ron und Matty wollten aber mit mir zum Bowling", grummelte Ralf Daniels.
"Ruf die an und sag denen, daß wir heute besuch von meinen Eltern bekämen und du versprochen hättest, bei mir zu sein! Wäre ja noch nicht mal ganz geschwindelt."
"Dir ist klar, daß die beiden mich dann für einen Schlappschwanz ansehen könnten, der sich von seiner Frau herumkommandieren läßt?" wollte Ralf wissen.
"Du bist Polizist und Revierleiter. Genügt denen sowas nicht um zu wissen, daß du kein kuschender Schwächling bist? Abgesehen davon steht Matty unter dem Pantoffel seiner großen Schwester Amy, die ihm den Haushalt führt. Der sollte also ganz Vorsichtig mit solchen Vorhaltungen sein." Ralf sah es ein. Er ging an das Telefon und rief seine Freunde an, daß sie ohne ihn zum Bowling gehen mochten. Indes sprach Almalinda mit einem unheimlich lebendig agierenden Zauberer in einem Bilderrahmen, der vor zweihundert Jahren mal echt gelebt haben und Almalindas direkter Vorfahre gewesen sein sollte. Weil dieser graubärtige Mann in scharlachrotem Umhang und mintgrünem Spitzhut ein Gegenstück bei almalindas Eltern hatte konnte der als Nachrichtenbote auftreten. Das war nötig, weil in diesem hochmodernen Haus kein Kamin angeschlossen werden konnte.
Die beiden Söhne kehrten fast pünktlich zum Abendessen zurück. Auf die bereits rituelle Frage, wie viele Gangster ihr Vater heute gefangen hatte, sagte er, daß er jetzt nach Einbrechern suche, die sich unsichtbar machen könnten. Aber ob die richtig zauberten oder wie die Zirkuszauberer nur sehr schlaue Tricks auf Lager hatten müsse er noch herausfinden.
"Hömm-ömm, Ralf, dein Schwiegervater ist in einer Minute bei dir", verkündete Andronicus, der unheimliche Bewohner des Zaubererbilds mit lauter Stimme.
"Im Wohnzimmer!" rief Ralf zurück. Er hoffte, daß dieser Zauber noch hielt, der machte, daß keiner außerhalb des Appartments mithören konnte, was hier drinnen gesagt wurde. Das war neben dem Hieneinapparierschutz gegen nicht-Blutsverwandte Hexen und Zauberer der einzige, den seine Frau zugebilligt bekommen hatte, um die technischen Einrichtungen nicht zu stören, die sie benutzen sollten.
Wie angekündigt knallte es genau eine Minute später im Wohnzimmer, und Mr. Orville Applebee stand wie aus dem Boden gewachsen im Raum. Er trug einen olivegrünen Umhang und unter dem linken Arm einen kastanienbraunen Spitzhut. "Tag, Ralf! Kommen wir gleich zum Punkt. Ich möchte die von dir abgezweigten Dünnblattpapiere haben, um sie gleich noch meinem Chef, Mr. Vane, vorzulegen. Könnte nämlich sein, daß jemand versucht, über eure Techniksachen heimlich für uns was anzuzetteln, was euch und auch uns übel aufstoßen kann."
"Dad, ich habe dir drei Enkel geboren. Nenn mich endlich mal Almalinda und nicht Lindy. Ich bin kein kleines Mädchen mehr", schnaubte Almalinda."
"Nimm's nicht so heftig, Tochter. Es gibt schlimmeres", knurrte Mr. Applebee und hielt seinem Schwiegersohn die Hand hin. Dieser holte den Papierpacken vom Beistelltisch und gab ihn ihm. Da kam der kleine Don Daniels ins Zimmer. Der gerade zwei Jahre alte Junge strahlte, als er Mr. Applebee sah. "Opa Orville!" rief er mit seinem winzigen Stimmchen.
"Ja, Hallo, Donny! Kann leider heute keine Gutenachtgeschichte vorzaubern, weil ich noch was für die Arbeit machen muß. Aber am Wochenende kommt ihr ja eh zu uns."
"Mann, will aber Gutenacht hören", plärrte Donovan.
"Ich tu dir die Teletubbies auf Video rein, Don. Aber nur, wenn du jetzt ganz schnell wieder ins Bett gehst. Hopp, junger mann!" rief Ralf.
"Nacht, Opa Orville!" rief Don. Sein Großvater lächelte und tätschelte ihm den rotbraunen Schopf. "Nacht, Donn!"
"Okay, die Sachen kann ich behalten? Oder vermißt die sonst wer?"
"Das sind Kopien vom abgetippten Protokoll, Dad. Die kannst du behalten", sagte Ralf. Orville nickte und verabschiedete sich von seiner Tochter und seinem Schwiegersohn. Dann hob er den schon gut gebraucht wirkenden Zauberstab und verschwand mit einem vernehmlichen Knall in leerer Luft.
Die Sache mit den gestohlenen Gummianzügen machte in der Strafverfolgungsabteilung die Runde. Viele fragten sich, was man bei den Muggeln mit solchen Sachen anstellte, das sie überhaupt hergestellt wurden. Doch Lorne Vane nahm die Sache sehr ernst. Denn er erinnerte sich zu gut an die drei entkommenen Ex-Entomanthropen Lolita Henares, ihre Nichte Marisa Suárez und deren Freund Milton Fleet, der die fragwürdige Ehre hatte, sich mit dem amtierenden Zaubereiminister den Vornamen zu teilen.
"Ich will alle Akten von damals haben. Nachher hat diese widerliche Wiederkehrerin die drei aufgespürt und irgendwie dazu gebracht, eine Truppe aus Muggelfrauen zusammenzustellen, die das machen, was die Wiederkehrerin will", bellte der winzige Lorne Vane wie ein wütender Yorkshireterrier. Seitdem der Nachfahre sowohl einer Zwergin als auch eines Koboldes in der weiteren Ahnenlinie die Strafverfolgungsabteilung leitete, hatte er sich jedoch immer gegen die ihn größenmäßig weit überragenden Untergebenen durchgesetzt. Orville Applebee hatte ihm den Bericht aus New York persönlich vorbeigebracht. Lorne Vane hatte gelesen und verstanden, daß er da besser gleich etwas unternahm.
Er kommandierte eine Abteilung Inobskuratoren ab, die im Schutz von Tarnumhängen im Lager von Various Wardrobes Posten beziehen sollte. Allerdings mußte er zum Einsatz von Zaubereiausrüstung der Stufe drei, also Sachen, die auch Muggel ohne vorhergehende Anleitung benutzen konnten, das schriftliche Einverständnis des Zaubereiministers einholen.
Im Büro im Ausweichquartier des Ministeriums auf jener gut abgesicherten Flußinsel, die vor allem Vampire und grüne Waldfrauen nicht betreten konnten, ging er zu seinem obersten Chef, der gerade zu seiner Frau Godiva und den beiden Söhnen Maurice und Jason in die Privatunterkunft wollte. Sie sprachen im Büro, wo neben den Bildern der ersten rein US-amerikanischen Zaubereiverwalter auch die Gemälde von Vorfahren des Zaubereiministers hingen, was Vane vorhatte.
"Daß die drei Entkommenen sich als von beiden Menschheitsgruppen ausgestoßene Individuen halten und mehr Aufmerksamkeit erlangen möchten ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, Lorne?" wollte der Minister wissen, nachdem er die Anfrage und die Begründung gelesenhatte.
"Sie haben die Akten über die zurückverwandelten Entomanthropen, Sir. Mein Vorgänger hat nur notiert, daß die drei aufgeweckt wurden und aus dem HPK disapparierten, obwohl ein Antidisapparierzauber dies hätte verhindern sollen", quiekte Lorne Vane.
"Eben, und wenn ich die Unterlagen unseres früheren Mitarbeiters Zach Marchand, die uns Mr. Davidson überlassen hat, richtig im Gedächtnis behalten habe, dann waren alle drei in ihrem Leben vor der Verwandlung in Entomanthropen Straßenkriminelle. Die sind es gewohnt, vom Rest der Welt verachtet und verfolgt zu werden. Genau deshalb gehe ich anders als Sie nicht von einer Aktion Anthelias aus. Die hat es nicht nötig, Muggel mit lächerlichen Kostümen zu Handlangern zu machen, wo sie einmal echte Entomanthropen hatte. Ob sie neue erschaffen kann weiß ich nicht. Falls ja, dann hätte sie zum einen erst recht keinen Grund, Muggel mit einfachen Kostümen auszustatten. Zum zweiten hätte sie dann garantiert dafür gesorgt, daß die Muggel und wir nichts von diesen Aktivitäten mitbekommen. Sie erinnern sich ja noch an den Totentänzer? Damals hat diese Person eine Unmenge reines Silber angehäuft, um ihn zu vernichten. Das wird sie wohl nicht alles gekauft haben. Insofern haben wir es hier mit jemandem zu tun, der sich zwar mit der technischen Ausstattung der Muggelwelt auskennt, aber keine Gedächtniszauber verwenden kann, um die Umtriebe als nicht geschehen verheimlichen zu können."
Lorne Vane schnaubte. Der Minister wagte es, ihm eine Lehrstunde in logischen Schlußfolgerungen zu erteilen? Natürlich durfte er sowas. Er war ja der Zaubereiminister. Aber er, Lorne Vane, hatte sich in seine Arbeit so tief eingegraben, daß man meinen konnte, er habe sich durch die Erde bis nach China durchgebuddelt. Sich derartig schulmeistern lassen zu müssen widerte ihn an. Sein schwarzer Vollbart sträubte sich bedrohlich. Seine Muskeln schwollen unheilvoll an. Doch der Minister nahm diese Regungen nur mit beiläufigem Blick zur Kenntnis und unterschrieb nur die gesetzlich vorgeschriebene Einsatzerlaubnis für Tarnumhänge in der Muggelwelt. Damit war der Bürokratie und der Strafverfolgung Rechnung getragen. Vane verabschiedete sich von dem Minister und setzte die eingeteilte Truppe in Marsch.
Als es im Ausweichministerium still wurde, huschte eine der gemalten Hexen aus dem Gemälde ihrer Schlafenden Familie und wechselte lautlos zu einem weit entfernten Portrait in Viento del Sol über, wo sie laut "Peggy!" rief. Als eine Minute später die Gerufene im Zimmer der vielen praktischen Portraits erschien und "Schsch, Rissy schläft doch schon" zischte, flüsterte die heimliche Besucherin hinter der Bilderwelt ihr zu, was sie erfahren hatte.
"Gut, daß der Minister das bis heute nicht weiß, daß du damals zu den Schweigsamen gehört hast", grinste Peggy. "Alles klar, Eurynome. Ich geb's an Bobbie und Beth weiter, auch wenn ich mir bei Beth nicht sicher bin, ob ich dann nicht gleich zu Anthelia rennen kann."
"Das Risiko müßt ihr eingehen, Kind", sagte die gemalte Besucherin großmütterlich klingend. "Ich muß wieder zurück zu meiner Familie, damit die nicht merkt, daß ich nicht so ganz loyal bin", zischte sie noch und verschwand durch den rechten Bilderrahmen, ohne von ihrer natürlichen Gesprächspartnerin ein Abschiedswort abzuwarten.
Wer die riesige Fledermaus mit dem stattlichen Bauchumfang am Himmel sah war versucht, einen gigantischen Nachtfalter oder eine übermäßig groß aufgeblasene Hummel zu sehen. In beiden Fällen wäre jedem der Schreck in die Glieder gefahren. Schlingernd und schwankend kämpfte sich das übergroße Fledertier durch die Auf- und Abwinde hier in den Hochtälern des österreichischen Alpenlandes. Dann sackte es plötzlich mehrere Dutzend Meter durch, drohte dabei, mit einer in die Dunkelheit hinausragenden Felsnase zusammenzustoßen. Doch das geflügelte Geschöpf fing den Fall ab und tauchte unter den ins Tal hinausstechenden Felsen. Zielsicher fand sie das winzige Plateau, das unter der mindestens vier Meter breiten Felsnase wie unter einem schützenden Dach lag. Hier traf kein Mondlicht den Boden. Nur der extrem schwache Widerschein von den schneebedeckten Gipfeln legte einen dunkelgrauen Schimmer auf die flache Stelle über einem steilen Abhang. Dort landete das fliegende Ungetüm.
Da löste sich von der dunklen Wand hinter dem Plateau ein Schatten. Der Schatten bekam räumliche Gestalt. Es war ein hünenhafter Körper, äußerlich ein Mann. Doch es war kein gewöhnlicher Mensch. er war der Artgenosse und seit hundertzehn Jahren ordentlich angetraute Gefährte der fülligen Fledermaus, die sich vor ihm niedergelassen hatte und nun dahockte, als wisse sie nicht, ob sie gleich einschlafen würde oder wachzubleiben habe. Dann schrumpften die ledernen Flughäute an den Armen der Fledermaus, die in jeder Sekunde mehr und mehr menschliche Formen bekam, bis sie zu einer kleinen, kugelrunden Frauengestalt wurde. Sie fiel ihrem Gefährten um den Hals. Beide knabberten einander an, schmatzten sich ab und drückten einander, daß ein gewöhnlicher Mensch unter dieser Liebkosung glatt umgekommen wäre. Dann ergriff sie das Wort:
"Ich habe große eckige Metallfässer gesehen, in die sie erst das widerwärtige Pulver und dann viel Wasser hineingeschüttet haben. Auf den Fässern stand sogar was geschrieben. Aber ich konnte nicht nahe genug heran, um es zu lesen. Außerdem hatten sie dieses widerliche Röhrenlicht an, das die magielosen Rotblütler zum Lichtmachen benutzen."
"So viel von diesem Zeug haben die mittlerweile. Wo kriegen sie's denn her, nachdem der heilige Stein von den Zauberern fortgenommen worden ist?" wollte der im Vergleich zu seiner Gefährtin hagere wissen.
"Ich konnte das ungefähr rauskriegen. Du weißt doch, daß wir sehr vorsichtig sein müssen, Mondtänzer", zischte seine Gefährtin. "Aber es wird von den anderen, die diese Lamia als ihre wahre Befreierin und Königin vergöttern behauptet, daß Lamia von dem heiligen Stein der Mitternacht und dieser übermütig gewordenen Nyx mit so viel Kraft aufgefüllt wurde, daß sie dieses widernatürliche Dreckwasser herstellen kann. Außerdem hätte sie Kenntnisse von den Stoffen, die die Magielosen hätten, um Sachen zu machen, die im Körper von Rotblütlern schneller wirken als sonst. Einer von ihren eigenen Kindern sagte sowas wie Katzalysator oder sowas."
"Katalysator, Blutglanz. Das ist was, daß etwas bewirkt oder verstärkt, ohne selbst dabei verändert zu werden oder nach dem Ausführen einer Veränderung in dem Zustand aus dem Vorgang herauskommt, wie es hineingeraten ist", wußte Mondtänzer. Mit Alchemie hatte er es besser als seine Frau, wo er vor seiner Geburt als Nachtkind mit Zaubertränken aus Abend- und Morgenland zu tun gehabt hatte.
"Jedenfalls soll dieses Dreckwasser an einen Ort, der nach diesem italienischen Wanderprediger benannt wurde und wo es vor fast hundert Jahren ein schweres Erdbeben gegeben haben soll. Wo genau das ist haben die Dreckwasserpanscher nicht gesagt. Ich durfte ja nicht fragen, weil diese Lamia nur von mir wollte, daß ich rauskriege, was hier in Österreich passiert ist, wo sie dieses Jahgdschloß bei Rechnitz als Festung haben wollte."
"Oh, die Beschreibungen reichen mir schon, Blutglanz. Weißt du auch, wann die Fässer mit dem Verbrechen an unserer erhabenen Vermehrungsweise dort hinsollen?"
"Irgendwas hörte ich, daß diese Fässer am Zehnten Tag nach diesem Krach- und Feuerfest in das Wasser für die da wohnenden Menschen geschüttet werden sollen, damit sie ohne die erhabene Hingabe und Opferbereitschaft zu unseren Artgenossen und Lamias direkten Untertanen werden. Schon schlimm genug, daß die Zauberstabschwinger und Reisigbesenreiter unser Dasein als Krankheit und kleinzuhaltenes Übel sehen. Jetzt geben diese Leute von Nocturnia denen auch noch recht."
"Hauptsache, du konntest da unauffällig wieder weg, Blutglanz. Ich werde das weitergeben, damit die Zauberstabschwinger in Amerika das Zeug finden können, bevor noch mehr widernatürliche Artgenossen von uns auf die Welt kommen. Wer soll das Gift dahinschaffen, einer von denen?"
"Nein, normale Rotblüter die dafür viel Geld kriegen sollen. Lamias Hofmarschall oder Ausführungsoffizier oder wie immer er sich nennen lassen will hat einem der Leute gesagt, es ginge darum, die Staaten zu erpressen, demnächst jedes Jahr eine Menge Geld als Tribut zu bezahlen. Die Rotblüter denken, Nocturnia sei nur eine Bande von Menschen, die die reichen Länder erpressen wollen. Wenn diese Sonnenlichtanbeter dafür genug vom versprochenen Gewinn abkriegen fragen sie nicht nach Richtig oder Falsch."
"Wohl wahr", seufzte Mondtänzer. Dann bedankte er sich bei seiner Frau, in dem er ihr erlaubte, etwas von seinem Blut zu trinken, um die Strapatzen des langen Fluges von den montenegrinischen Bergen hierher auszugleichen. Danach zogen sie sich in eine höhle zurück, in die nicht ein Funken Sonnenlicht eindringen konnte. Hier erstarrten sie mit dem Erwachen des Tages wie tot.
In der Nacht darauf holte Mondtänzer einen kleinen, runden Spiegel aus einem Lederbeutel, der mit merkwürdigen Symbolen beschriftet war und rief dem Spiegelglas zugewandt nach einem Jonathan Peacock.
Vane war wütend. EineWoche harrten seine Leute jetzt im Lager von Various Wardrobes aus. Die hätte er auch gut zur Abwehr von Vampiren einsetzen können. Denn sein Sektionsleiter Westküste hatte eine Warnung von einem nichtnocturnianischen Vampir namens Mondtänzer erhalten, daß Nocturnia im Januar einen großen Schlag mit dem verderblichen Vampirwerdungskeim vorhatte. Doch die von ihm abgestellten saßen jeden Tag und jede Nacht in diesem Lagerraum und bewachten Halloweenmaskeraden, vom Strampelanzug für erwachsene über die Verkleidungen als Fernseher, Telefon oder Standuhr bis eben hin zu Tier- und Dämonenverkleidungen aus hochwertigen Bestandteilen mit technischen Spezialeffekten. Vampire waren da natürlich auch möglich, bei denen die Fangzähne durch eine verborgene Schaltung im Dunkeln zum leuchten gebracht werden konnten. Lächerlich war sowas. Aber was wußten Muggel schon von echten Vampiren?
Die zweite Woche verstrich. Bald war Weihnachten. Sollte er seine Leute über die Feiertage zurückbeordern?
"Jetzt haben wir es mit größter Sicherheit, Sir. Nocturnia will am zehnten Januar in San Francisco die Trinkwasserversorgung verseuchen", meldete Edgar Myles, der Leiter der Strafverfolgungssektion Westküste. "Mondtänzer hat mit seiner Gefährtin Blutglanz so heimlich er konnte die Einzelheiten abgeklärt. Demnach wollen die Vampire über von ihnen kontrollierte Muggel genug von dem Vampyrogen in die Frischwassereinspeisung von San Francisco einleiten, daß mindestens zweitausend Leute stadtweit voll verwandelt werden. Wie gesagt, mindestens. Könnten auch mehr sein."
"Wieso nicht zu Weihnachten, wo so viele Leute in Frisco sind?" wollte Vane wissen.
"Die müssen erst genug von dem Zeug haben, hat Mondtänzer gemeint, als ich ihm auch diese Frage gestellt habe, Sir", sagte Myles. Vane erkannte diese Begründung als zutreffend an. Dann schickte er seinen Mitarbeiter los, genug Vampirjäger für diesen Einsatz, der unter dem Namem "Tautropfen" geführt werden sollte, zusammenzustellen.
Weihnachten kam und ging wieder. Vane hatte seine Leute im Lager von Various Wardrobes auf die Hälfte reduziert und in Schichten eingeteilt, die klammheimlich wechselten, um zumindest einige Stunden mit ihren Familien feiern zu können.
Nach Weihnachten kam Silvester. Hatten die Diebe alles, was sie wollten? Oder war ihnen bewußt geworden, daß ihnen wer bei ihrer nächsten Aktion auflauern konnte? Vane wollte die Angelegenheit noch bis zum neunten Januar laufen lassen. Dann brauchten die Vampirjäger der Aktion Tautropfen die Tarnumhänge, um sich ganz und gar auf die Bekämpfungszauber konzentrieren zu können.
Roberta Sevenrock hörte sich in Ruhe an, was ihre Mitschwester Peggy Swann zu berichten hatte. Es klang nach nichts besonderem. Doch wenn jemand gezielt nach irgendwelchen besonderen kleidungsstücken suchte und dabei alle technischen Überwachungsmittel überwand, dann mußte da doch was besonderes dran sein.
"Ich fürchte, ich muß mich doch mal wieder mehr dafür interessieren, was in der Muggelwelt so vor sich geht", seufzte die altehrwürdige Sprecherin der schweigsamen Schwestern Nordamerikas. "Danke, Peggy, daß du mir das sofort mitgeteilt hast, was die gute Eurynome dir zugespielt hat! Ich überprüfe das, ob es irgendwo in unserem Hoheitsgebiet außergewöhnliche Aktivitäten gab, bei denen solche Kostüme getragen wurden."
"Soll ich es Beth erzählen, was ich Euch erzählt habe, Lady Roberta?" wollte Peggy Swann wissen.
"Das werde ich tun, wenn ich weiß, woran wir sind, Peggy. Im Moment liegt mir viel daran, erst zu wissen, woran wir sind, bevor andere dies von uns erfahren, was wir mitbekommen und was nicht." Peggy Swann nickte zustimmend. Dann durfte sie die Blockhütte wieder verlassen.
Arnold Vierbein prüfte, ob seine durch mehrere Versuchsreihen erzielten Ergebnisse aufrechtzuhalten waren. Als er eine Spur des Einbürgerungspulvers in die brodelnde Flüssigkeit einfüllte, kam diese für einige Sekunden zur Ruhe. Er drehte ein Ventil auf. Der Druck in dem Behälter sank. Die Substanz brodelte nun wieder stärker, dampfte immer wilder. Als der Druck den durchschnittlichen Luftdruck auf Meereshöhe erreicht hatte, waberte in dem Versuchszylinder ein weißer Nebel, der eine Spur silbern aussah, wie Mondlicht durch Federwolken. Arnold schaltete eine Pumpe ein und ließ das Gas in einen anderen Testzylinder umfüllen. Jetzt jagte er die neue Substanz durch eine Anordnung von Reagentien und Meßgeräten, die er aus verschiedenen Fabriken für biochemische und pharmakologische Produktionstechnik hatte mitgehen lassen. Als er die Reaktionen und Auswertungsergebnisse sah nickte er wild. Seine Hoffnung hatte sich erfüllt. Mit dem Pseudohämoglobin, das er entwickelt hatte, konnte er auch eine ätherische Trägersubstanz mit Partikel des aus Lamias Blut gewonnenen Mutagens anreichern. Damit war die behutsame Vermengung mit Trinkwasser unnötig geworden. Mit diesem Gas, daß sie "Hauch des Nachtlebens" nannten konnte er gewaltige Gaszylinder ebenso mit Einbürgerungspulver ausfüllen wie kleine Parfümflaschen. Doch Lamia wollte keine kleinen Tests. Auch wenn sie wie er biochemische Kenntnisse besaß und wußte, daß sie Laborergebnisse noch nicht als allgemeingültigkeit ansehen durfte, wollte sie aufs Ganze gehen. Sie wollte den Großversuch. Sie wollte vor allem eine psychologische Wirkung erzielen. Selbst wenn der Hauch des Nachtlebens nur ein oder zwei neue Nachtkinder entstehen ließ, hatte es schon eine gewaltige Wirkung auf die Rotblüter. Denn sich vorzustellen, durch das Einatmen eines geruchlosen, auch bei nötiger Grundmenge pro Kubikmeter Luft unsichtbaren Gases zum Vampir zu werden mochte den meisten Sonnenlichtanbetern panische Angst und einen unbändigen Verfolgungswahn einjagen. Er und das, was früher mal seine Frau Elvira gewesen war, kannten die Berichte über hochaggressive Viren wie Ebola, deren Erwähnung schon reichte, um Menschen paranoid zu machen. Anders als beim HI-Virus würde der Hauch des Nachtlebens auch die treffen, die sich vor der Berührung mit Infizierten schützten. Doch wenn der Umwandlungsstoff erst einmal die volle Wirkung zeigte, würden die davon umgewandelten ihrerseits neue Abkömmlinge erschaffen, einfach, weil sie sich ja ernähren mußten. Somit konnte eine explosionsartige Vermehrung der Nachtkinder eingeleitet werden. Das war das Ziel Lamias, die Aktion "Zuwanderung 2000".
"Ich habe unser Geschenk an das Jahr 2000, Königin Lamia. Der Trägerstoff ist stabil und wirksam", sagte Arnold, als Lamia in ihrem blutroten Umhang zu ihm ins durch eine Schleuse gesicherte Labor kam und die Ergebnisse überprüfen wollte.
"Gut, dann machen wir mit dem, was ich erbrütet habe gleich so viel, um mindestens dreißig Tonnen herzustellen. Ich rufe Maddox an, daß er das Mittel unter Einhaltung aller Schutzmaßnahmen bei ätherischen und bioreaktiven Gefahrstoffen nach Beverly Hills bringt", sagte Lamia, als sie die Ergebnisse geprüft hatte.
"Gut, Lamia. Ich leite die Produktion ein."
"Was sagt Juro in den schwarzen Bergen?"
"Du könntest recht gehabt haben, Lamia. Diese Österreicherin hat sich ein wenig zu lange in der Nähe unserer Ausweichabfüllstelle herumgedrückt. Kann sein, daß wir dieses Paar doch noch einmal in unsere Basis holen müssen und du sie zu deinen Patenkindern machen mußt."
"Dunkelmondler halt", grummelte Lamia. "Die sollen froh sein, daß ich sie damals überhaupt am Leben gelassen habe", schnarrte Lamia. "Aber ohne neue Kundschafter in Österreich ... Na ja, haben Vitos Leute denn zumindest erzählt, wo sie die Fässer mit dem falschen Pulver hinbringen sollen?"
"Natürlich nicht wörtlich. Ich habe denen gesagt, daß sie die Stadt umschreiben sollen, wenn sie die Fässer voll haben. Das haben sie getan. Du meinst also echt, diese pummelige Dunkelmondlerin könnte mit den Rotblütern kungeln, eine Spionin sein?"
"Ich muß immer damit rechnen, daß es auch Nachtkinder gibt, die uns ablehnen. Du weißt doch selbst, daß es in jedem Staat und jeder Weltanschauung Abweichler gab und gibt. Das muß ich auch bei uns für möglich halten. Ich kann ohne den Mitternachtsdiamanten keine Dunkelmondler mehr so einfach unterwerfen. Da gehen nur Angst und Überzeugung."
"Dann rechnest du wirklich damit, daß wer die Fässer unterwegs abfängt oder da wartet, wo sie hingebracht werden?" Fragte Arnold Vierbein.
"Sagen wir es so. Wenn sie dort ankommen und in die Trinkwasserversorgung gekippt werden, können wir zumindest prüfen, ob es geht. Falls sie abgefangen werden haben wir Gewißheit, daß diese beiden Dunkelmondler uns ausspioniert haben. Dann sollten die ganz schnell zusehen, sich ganz tief in Bauch von Mutter Erde zu verkriechen, bevor ich die finde und die zuerst in ihre schöne blaue Donau tunken lasse und sie dann zum Trocknen in die südtiroler Wintersonne hänge."
"Ja, und in der Zeit blasen wir den Hauch des Nachtlebens ins sonnige Kalifornien hinein", erwiderte Arnold überlegen lächelnd.
"Wenn auch nur zehn Rotblüter davon zu unseren Mitbürgern werden reicht das schon aus. Wenn es aber tausende sind ... ich meine, wir sollten das doch vorher testen, wie schnell es wirkt und wie hoch die Schwellendosis ist."
"Gute Idee. Die von mir erstellte Probe ist noch ausreichend, um an Versuchspersonen ausprobiert zu werden", sagte Arnold Vierbein.
So geschah es, daß drei arglose Südpolforscher eine Stunde nach ihrer letzten Funkmeldung spurlos verschwanden. Die nach ihnen ausgeschickten Suchmannschaften fanden zwar die Spuren ihres Schneemobils, aber keine Fußspuren der drei Männer.
Wie die drei in dicke Isolationskleidung gehüllten Wissenschaftler in jene kleine, von winzigen roten Leuchten trübe ausgeleuchteten Kabine geraten waren wußten sie nicht. Sie hatten ja nur diese roten Blitze gesehen, die einen nach dem andren von ihnen von den Beinen fegten. Jetzt lagen sie auf Pritschen gefesselt in einer Kabine, die ihnen wie das innere einer Luftschleuse vorkamen. Bob Green, der älteste der Dreiergruppe neuseeländischer Polarforscher rief nach jemandem, um zu wissen, wo sie waren. Er verlangte ihre Freilassung. Doch niemand antwortete oder öffnete eine Tür. Dann hörten sie das unverkennbare Zischen einströmenden Gases. Bob und seine beiden Kollegen Lionel Duncan und Abraham Ford schrien. Doch es hörte niemand. Sie sahen nur einen Hauch von Silber, der aus mehreren Ventilen an der Decke schimmerte. Doch sie rochen nichts von einem Gas. Sie versuchten, die Luft anzuhalten. Doch nach einer Minute mußten sie wieder atmen. Die Luft hatte sich scheinbar nicht verändert. Keuchend sogen ihre Lungen ein, was diesen Raum erfüllte. Das fremdartige Gas hatte sich sicher schon heftig verteilt. Sie konnten es aber nicht riechen oder schmecken oder eine andere Wirkung fühlen. Bog argwöhnte, daß sie gerade mit einem Biokampfstoff begast worden waren. Die beiden Kollegen zerrten daraufhin an ihren Fesseln. Doch sie waren zu schwach, um sie zu lösen.
Die Ungewißheit, womit man sie begast hatte und die Zeit, die verstrich rüttelten so sehr an den Nerven der auf Schneestürme und grimmige Kälte gefaßten Polarforscher, daß sie nur noch unartikulierte Schreie ausstießen. Wie lange sie in diesem höchst bedauernswerten Zustand verblieben bekamen sie nicht mit. Die Zeit war für sie nicht mehr vorhanden. Was immer ihnen zugefügt worden war hatte ihre Selbstbeherrschung und Konzentration zerschmettert. Abraham Ford hatte zwar einmal gemeint, zu Versuchspersonen eines rein psychologischen Experimentes geworden zu sein. Doch die beiden anderen wollten das nicht glauben.
So verflog die Zeit. Dann fühlten sie die Veränderung. Sie begann mit dumpfen Zahnschmerzen und wurde bald von einem Gefühl ergänzt, jemand knete von innen und außen ihren Körper um. Dann wich die Angst einer apathischen Untätigkeit, während die Zahnschmerzen immer wilder pochten. Sie stöhnten und quängelten vor Schmerzen, bis sie mit der Zunge fühlten, wie ihre oberen Eckzähne immer länger wurden. Bob dachte als erster daran, daß sie drei mit einem verwerflichen Mutagen vergiftet worden waren, einem, das Menschen in Vampirwesen verwandelte, wie sie in Horrorfilmen gerne genommen wurden. Doch er dachte nicht an Magie oder dunkles Zauberwerk, sondern an rein genetisch ablaufende Prozesse, ausgelöst durch einen neuartigen biologischen Kampfstoff, ein Umschreibevirus, das die im menschlichen Erbgut vorgegebenen Abläufe der Körperzellen veränderte und so die Verwandlung bewirkte. Dann drangen die ersten fremden Gedanken in seinen Kopf. Es war erst ein leises Flüstern. Doch aus dem Flüstern wurde eine leise klingende Frage, die von einer Frauenstimme gestellt wurde: "Kannst du mich hören?" Als Bob Green nicht mehr leugnen konnte, diese Frage zu hören, dachte er nur: "Ja, ich kann dich hören." Damit war der letzte Schritt getan. Sein Leben als mutiger Polarforscher endete. Daß er gerade Geschichte schrieb kam ihm nicht in den Sinn. Das heute der dritte Januar des noch jungen Jahres 2000 war interessierte ihn auch nicht mehr. Denn er und seine beiden Kollegen wurden mehr und mehr zu anderen Wesen, die mit dem Menschsein nur noch ihre äußere Erscheinungsform gemein hatten.
Die hinter einer von einer Seite her undurchsichtigen Plexiglaswand befindliche Kamera nahm im Normal- und Infrarotbereich auf, wie sich die drei Polarforscher verhielten und veränderten. Vampire besaßen eine um zehn Grad niedrigere Körpertemperatur als Menschen. Sie wurden nicht eiskalt, wie es die Schreiber von Grusel- und Horrorgeschichten gerne behaupteten. Aber sie maßen auch keine 36 ° Körpertemperatur mehr. So konnte die Infrarotoptik eindeutig dokumentieren, wie sich die drei Testorganismen verhielten und veränderten. Arnold lächelte überlegen. Seine Gefährtin und Königin umarmte und küßte ihn.
"Nur neunzig Minuten von der Exposition bis zum Abschluß der Metamorphose", kommentierte Arnold den Vorgang mit der gefühlfreien Nüchternheit eines Wissenschaftlers. Dann gab er die Werte über die Anzahl, Alter, Geschlecht und Gewicht der Versuchspersonen im Verhältnis zur Luftmenge im Raum und der zugeführten Dosis des ätherischen Einbürgerungselixiers in einen Computer ein und ließ von diesem hochrechnen, wie viele Menschen bei freiem Luftaustausch in welcher Zeit umgewandelt werden konnten. Er mußte wieder grinsen.
"Wenn Beverly Hills in einer oder zwei Wochen nur noch von unseren Mitbürgern bewohnt wird können wir in einem Monat New York oder Moskau zu unserer Hauptstadt ausrufen, falls du das möchtest."
"Los Angeles reicht schon. Die Königin von Hollywood, die Erfüllerin der Träume aus der überteuerten Traumfabrik", lachte Lamia. "Ich rufe diesen Fettsack Maddox jetzt an. Er soll das Zeug mit seinem U-Boot nach New York und von da aus nach Los Angeles schaffen."
"Gut, ich lasse alles, was ich an HDN-Gas erstellen kann in Hochdruckbehälter umfüllen. Wir kriegen vierzig Tonnen effektives Trägergas hin, Lamia."
"Wunderbar, Arnold. Ich bin sehr sehr zufrieden mit dir."
Arnold dachte bei der Beaufsichtigung des Umfüllvorgangs daran, daß Lamia den Tod dieses FBI-Mannes Marchand noch immer nicht überwunden hatte. Wie sehr war Nyx und jetzt Lamia auf diesen Zauberstabschwinger fixiert gewesen? Nur die Aussicht, bald den großen Wurf zu landen und Nocturnia zum unbesiegbaren Weltreich zu machen, hielt sie davon ab, Vergeltung gegen die zu üben, die ihr diesen widerspenstigen Kerl entrissen hatten.
Selenes erstes Weihnachten war ein großes Fest mit vielen jungen Eltern und kleinen Kindern aus der näheren und ferneren Verwandtschaft Theias. Selene bekam mit, daß längst nicht alle Erwachsen aussehenden Hexen und Zauberer mit diesen beiden Neuzugängen einverstanden waren. Offenbar hatte Amphitryon Stimmung gegen die angebliche Tochter Daianiras und ihrer unbestätigt zugeflogenen Tochter gemacht. Doch weil sowohl Eileithyia Greensporn, wie auch Leda Greensporn sich für Theia und Selene aussprachen, akzeptierten die meisten die beiden neuen Verwandten. Selene hatte eine Planschnixe und eine Gleichwarmdecke sowie ein Zaubererbild mit Einhörnern und fliegenden Abraxas-Pferden bekommen. Daß eines der Einhörner sprechen konnte und mit einem Gegenstück bei Eileithyia Greensporn verbunden war, erfuhren die Festgäste nicht. Jedenfalls waren Mutter und Kind am Abend froh, als sie in die eigenen, ruhigen vier Wände zurückkehren konnten.
"Das Laveau-Institut hat auch einen Spion bei den Nocturnianern, soviel wissen wir jetzt. Nur hoffen, daß wir keinem Doppelagenten aufgesessen sind."
"Sowie es Severus Snape war?" quäkte das Cogison, daß Theia ihrer Tochter nach der Heimkehr um den Hals geschnallt hatte.
"Doppelagenten sind eben ein zweischneidiges Schwert. Am Ende arbeiten sie weder für den einen, noch für den anderen", sagte Theia. "Da unsere Schwesternschaft zum Teil von diesen Anthelianerinnen unterwandert ist und Daianiras Nachnachnachfolgerin wohl auch bei dieser wie eine Katze auf die Füße fallenden Wiederkehrerin ein- und ausgeht, bin ich bei irgendwelchen Spionen von der anderen Seite immer skeptisch."
"Vielleicht ist es nicht so schlecht, zu wissen, wer bei wem ein- und ausgeht, um dann, wenn eine kritische Lage eintritt, genau zu erwägen, wer welche Informationen übermitteln soll", erwiderte Selene. "Als ich als kurzzeitige Leiterin für magische Strafverfolgung ausgeholfen habe, mußte ich auch erwägen, wem ich weit genug trauen durfte, um das Gegenministerium nicht in eine Falle hineinstolpern zu lassen. Früher oder später hätte es wohl eine gewaltsame Entscheidung gegeben, wenn das mit den Schlangenmenschen nicht passiert wäre", cogisonierte Selene. Theia nickte. Dann fragte sie ihre Tochter, ob sie noch was trinken wolle, bevor sie schlafen ginge. Selene schrie laut und fordernd. Theia lachte und erfüllte das dringende Bedürfnis ihres unverhofft erwachsenen Mutterglücks.
"Höchste Schwester, ich fürchte, du hast nicht alle erwischt", begrüßte Romina Hamton ihre wahre Anführerin, als diese am vierten Januar zu einem kurzen Raport geladen hatte.
"Wen meinst du genau, Schwester Romina?" fragte die Führerin des Spinnenordens. Romina gab ihr zur Antwort einen Packen Papier in die Hand. "Habe ich aus dem Internet. Kleine Verbrecherbanden in Richmond, Detroit und Chicago sind innerhalb von wenigen Tagen umgekommen. Und hier", sie legte Anthelia noch eine Rolle Pergament hin, "Die hat mir mein Vetter Jefferson besorgt, eine Geheimkopie aus dem Archiv der aufgelösten My-Truppe. Demnach sind bei der Vernichtung von Valery Saunders und der anderen Entomanthropen dreißig derer Abkömmlinge in Menschen zurückverwandelt worden. Drei von denen sind dann aber auf magische Weise entwischt. die anderen sind kurz darauf einfach so gestorben. Sie lagen wohl im Zauberschlaf."
"So, und diese hochwichtige Neuigkeit erhalte ich jetzt erst, wo mein Kampf gegen Valery und ihre Brut schon bald anderthalb Jahre her ist!" schimpfte Anthelia. Romina erstarrte vor Schreck. Natürlich hatte sie damit rechnen müssen, daß ihre Anführerin sehr ungehalten reagieren würde. Doch daß sie derart heftig darauf reagierte war doch mehr, als sie befürchtet hatte.
"Höchste Schwester, mir war bis zum dreißigsten Dezember nicht einmal bekannt, daß es dieses Geheimarchiv gab. Und ich konnte Jefferson nicht vorher hinschicken, weil er es ja irgendwie hätte rechtfertigen müssen. Nur weil er wen aus der alten Truppe kannte und vorgab, Sachen, die Wishbone posthum rehabilitieren sollten zu suchen, konnte er überhaupt hin."
"Ruhe jetzt. Ich muß lesen, was man solange vor mir und dem Rest der magischen Welt verhüllt hat!" schnaubte Anthelia und studierte erst die Pergamentrolle. "Nur wer an ferkelrosa Zwergdrachen glaubt, die zitronengelbe Seifenblasen speien, kann das hinnehmen, daß diese im Zauberschlaf gebannten ohne ersichtliche Ursache verendet sein sollen", murrte sie einmal. Dann las sie die hauchdünnen, an den Rändern gezähnten Papierblätter und nickte. "Ja, das hätten wir in der Tat gerne ein paar Monate früher gelesen", knurrte sie. "Ich muß vermuten, daß diese Lolita Henares, die entwischen konnte, eine neue Bande Gossendirnen und Beutelschneider um sich geschart hat, um sich und ihren Gefährten das weitere Leben zu sichern. Ihnen jetzt nachzuspüren wäre zwecklos. Ich muß ergründen, wie ich sie auffinden kann, bevor sie dem Größenwahn verfallen, die ganze Welt stehe ihnen offen."
"Willst du andere Mitschwestern auf diese Leute ansetzen?" fragte Romina.
"Wenn ich das hier richtig lese, was euer Zaubereiministerium für wichtig genug zum Beurkunden erachtete, dann konnte sich Lolita Henares durch einen Disapparitionswall der weiteren Verwahrung durch die Heiler und des Zaubereiministeriums entziehen. Daß die anderen kurz danach starben liegt schlicht daran, daß der damalige Zaubereiminister Wishbone kurz vor dieser Frechheit, mir seine Ermordung anzulasten, alle ihm getreuen Kräfte abgestellt hat, die ihm gefährlich zu werden drohenden Ex-Kinder Valerys zu töten, bevor auch diese seiner Kontrolle entglitten. Daß die My-Truppler das nicht mehr wissen mag daran liegen, daß er die Gedächtnisse aller, die dabei waren verändert hat, um keinen gefährlichen Ballast für seine geplante Rückkehr als heimlicher Zaubereiminister zu hinterlassen. Ich hätte wohl nicht anders gehandelt", gestand Anthelia dem offiziell verstorbenen Zaubereiminister Lucas Wishbone zu.
"Ähm, willst du dann nicht, das wir uns dieser Geflüchteten annehmen?" wollte Romina wissen.
"Es sind nur drei. Selbst wenn sie einen Haufen Straßenmädchen und Wegelagerer um sich scharen konnte, weil sie vielleicht noch einen Rest Magie im Blut hat, kann, will und werde ich sie höchstpersönlich stellen und ohne öffentliches Aufsehen zu erregen entmachten oder aus der Welt tilgen. Ich habe sie immerhin in gewisserweise in die Welt gesetzt. Sollten sie sich mir nicht fügen oder gar gegen mich ankämpfen, so muß ich sie ganz allein erledigen. Ihr habt damit nichts zu tun. Deshalb muß Schwester Beth auch nichts davon wissen. Oder hat dein netter Vetter diese hochwichtige Begebenheit auch ihr vermeldet?" Romina schüttelte heftig den Kopf. "Gut. Dann magst du nun zu deinem Haus zurückkehren", ordnete Anthelia an. Romina nickte und verbeugte sich. Dann verließ sie das geheime Hauptquartier der Spinnenschwestern.
Anthelia/Naaneavargia grübelte nach, wie sie die verschwundenen Kinder Valerys auffinden konnte. Wenn sie Magie benutzen konnten, waren sie nicht so leicht zu beherrschen. Die größte Frage war ja: Wo waren sie jetzt? Anthelia überlegte, ob sie mit den alten Zaubern der Erde nach ihnen suchen konnte. Dann erkannte sie, daß sie wohl nur dann einen Erfolg erzielen konnte, wenn sie die Beute aus dem Haus von Diego Manuél Borja Minguez ihrer Bestimmung zuführte. Doch wenn sie das tat, mußte sie klarstellen, daß ihr nicht noch einmal eine unauffindbare und unbeherrschbare Brutkönigin entstand, die ungehindert in der Welt herumfliegen und ihre eigenen Ideen verwirklichen konnte. Sie hatte mit dem Minister eine Übereinkunft. Würde sie nun offen nach den verschwundenen Ex-Entomanthropen jagen, so geriet sie schnell in Verdacht, die Vereinbarung zu brechen. Sie mußte einen Zauber finden, der alle von der Kraft der Entomanthropenverwandlung betroffenen ortbar hielt, egal, wo genau sie sich aufhielten.
Das Feuerwerk zum Jahr 2000 war imposant. Theia war mit ihrer kleinen Tochter, Leda, Lysithea und einigen anderen Verwandten nach Viento del Sol gereist, um mit den Bewohnern dort in das so einmalige Jahr mit den drei Nullen hineinzufeiern. Theia hatte sich lange mit Kore Blackburry unterhalten, die mit ihrem nicht ganz freiwillig empfangenen Kind ihre Eltern besucht hatte. Ebenso hatte Theia sich mit Peggy Swann und der kleinen Larissa unterhalten, wobei Larissa so tat, als wäre sie wie ein beliebiges kleines Mädchen, daß ein noch kleineres Mädchen bewunderte. Die beiden vermieden es, über die Schwesternschaft zu reden. Zu viele Ohren waren in der Nähe, vor allem die von Linda Knowles. Doch diese beackerte gerade Edgar Myles, den Sektionsleiter Westküste der magischen Strafverfolgung. Offenbar hatten ihre überempfänglichen Ohren etwas aufgesogen, was sie gerne von einem Beamten überprüfen lassen wollte. Deshalb konnte sich Theia so schön frei in VDS bewegen, ihre kleine Tochter im Federleicht-Tragetuch auf dem Rücken.
"Und sie sind mit dieser alten Steißtrommlerin Daianira Hemlock verwandt?" knurrte ein höchst mißmutiger Festgast Theia an. Diese fragte ihn höflich, ob er sich ihr nicht erst vorstellen mochte, bevor sie ihm die Frage beantwortete.
"Natürlich, Forester. Ich bin Daniel Forester, der jeden Alkohol ablehnende Ehemann von Professor Lorena Forester. Meine Tochter Brittany haben Sie ja schon kennenlernen dürfen."
"Angenehm, Sir", sagte Theia ruhig. Wäre sie noch Daianira gewesen, hätte sie diesem Muggel Respekt beigebracht. So mußte sie die unverhofft in den USA aufgenommene Tochter Daianiras geben, die von ihrer Mutter nichts mitbekommen hatte. "Daß meine verstorbene Mutter eine Lehrerin war weiß ich. Was ist daran so verachtenswert?" fragte sie.
"Es heißt über Tote nichts außer gutes. Aber sie hat sich manchmal hier wie eine Königin aufgeführt. Na ja, als dieses Monstrum dann hier war hat sie uns ja allen gut geholfen und ist ja wohl auch von diesem Bienenbiest umgebracht worden. Ich stelle nur fest, daß sie mich immer so von oben herab angesehen hat, als sei ich gerade mal so alt wie Ihre kleine Tochter."
"Ich sehe meine Tochter nicht von oben herab an", erwiderte Theia nach außen hin vergnügt tuend. "Na ja, aber ich habe mittlerweile einige Verwandte von ihr und damit von Selene und mir kennengelernt, die mich auch sehr mißmutig angucken, weil sie denken, meine Mutter hätte mich nur in die Welt gesetzt, um sie zu ärgern. Sie leben vegan, also verzichten auf Tierprodukte und Rauschmittel, richtig?" Daniel Forester nickte und deutete auf seinen Grünstaudenanzug, den seine Frau ihm zu Weihnachten hatte schneidern lassen. "Für mich ist das jedes Jahr eine Folter, diese Alkoholtrinker um mich herum zu erleben. Aber meine Frau will, daß die hier lebenden Eheparre vollzählig mitfeiern. Zumindest haben Chloe und dieser Mr. Beam ein Einsehen und bereiten auch nichtalkoholische Mischgetränke zu."
"Meine kleine trinkt auch keinen Tropfen Alkohol. Meine Urgroßmutter und Geburtshelferin hat auch sehr scharf darauf geachtet, daß ich während meiner restlichen Schwangerschaft nichts trank oder zu mir nahm, was meiner Kleinen gefährlich werden konnte."
"Das, was Sie ihr geben ist für mich nicht mehr erlaubt."
"Ach, ich bin aber ein Mensch, keine Ziege oder Kuh", lachte Theia.
"Dann hoffen Sie mal darauf, daß niemand Gefallen an Ihrer Milch findet und sie jedes Jahr von einem anderen Mann ein Kind zu kriegen haben, nur um immer genug nachzulegen!"
"Wenn ich wollte, daß jeder von mir was mitbekommt, Sie eingeschlossen, dann würde ich den Nutrilactus-Trank nehmen, Sir", lachte Theia.
"Dad, ich fürchte, du ziehst den kürzeren", mischte sich Brittany Brocklehurst in die Unterhaltung ein. Dann wies sie ihren Vater höflich aber bestimmt darauf hin, daß nun ins neue Jahr hinübergetanzt würde. Die Braut- und Ehepaare würden zu einer erst langsamen, immer schwächlicher klingenden Musik tanzen, bis eine mannshohe Rakete in der Dorfmitte in den Himmel schoß und damit alle aufgebauten Feuerwerkskörper in der Umgebung auslöste. Dann würden für genau eine Minute die Musiker einen flotten Tanz spielen, wobei die Paare mithalten mußten. Daniel Forester haßte dieses Getue. Er wollte zwar keinen Sekt aus kalifornischem Wein zum Anstoßen auf das neue Jahr trinken. Doch den Tanz aus dem alten ins neue Jahr mochte er auch nicht. Daß Brittany so wild darauf war verstand er.
Theia stellte sich zu Leda und beobachtete, wie die festen Paare zu den Takten der Musik erst schwerfällige Schritte machen mußten. Viele lachten über die Stolperer und Verhedderer. "Tja, langsam zu tanzen schaffen nur Ministerialbeamte, weil die das vom Arbeiten her kennen!" lachte Leda, als ein Mann fast mit dem rechten Fuß den Saum des langen blauen Kleides seiner Frau niederriß. Brittany und ihr Mann Linus hatten offenbar geübt. Denn sie wirkten wirklich wie ein perfektes Tanzpaar, daß unter dem Lentavita-Zauber stand, der alle Körperfunktionen und Bewegungen auf ein Zehntel verzögerte.
Mit lautem Zischen schnellte die beindicke Feuerwerksrakete aus der Dorfmitte nach oben, einen langen, goldenen Flammenschweif hinter sich herziehend. Sogleich zischten, knallten und krachten, heulten und pfiffen, knisterten und knatterten ringsherum weitere Feuerwerkskörper los. Als die Rakete mehr als zweihundert Meter über dem Boden war, barst sie mit einem dumpfen Knall auseinander. Aus dem goldenen Flammenball wurde eine funkensprühende Zahl 2000, die wie in den Himmel hineingebrannt über dem Dorf stehen blieb. jetzt zogen die Musiker das Tempo an. Mit der fünffachen Geschwindigkeit von eben trieben sie die Paare an, sich wild wirbelnd, springend und schwingend auf der Tanzfläche zu tummeln. Hier zeigte sich auch, wer lange nicht mehr getanzt hatte und wer mit diesem flotten Tempo nicht klarkam. Professor Forester führte, wie Theia sehen konnte. Selene winkte mit ihrem rechten arm und stieß Laute der Freude aus, weil die bunt gekleideten Tänzer so lustig herumsprangen.
"Hui, Britt führt ihren Angetrauten auch. Bei dem Größenunterschied sicher besser", lachte Kestrel Jones, der Stadionsprecher der Viento del Sol Windriders. Linda Knowles, die ebenfalls nicht bei den Tanzpaaren stand, winkte Theia zu. Diese murmelte: "Morgen gerne um drei Uhr Nachmittags, Ms. Knowles." Die erwähnte nickte kurz, obwohl sie gute fünfzig Meter entfernt stand und die Musik und das Freudengeschrei der Zuschauer jedes normallaute Wort sicher verschluckten, bevor es bei Linda ankam.
"Hast du gerade einen Interviewtermin mit Lino klargemacht, Theia?" empfing Theia die Gedankenstimme ihrer früheren Cousine. Sie bestätigte es.
Die Musiker legten noch einmal zu und brachten die Paare alle aus dem Takt. Dann erklang ein lauter Schlußakkord, der Selene in ihrem Tragetuch zusammenschrecken ließ. Dann durften sich alle mit kalifornischem Sekt zuprosten, sofern sie keine Veganer oder gerade stillende Mütter waren.
Erst um zwei Uhr waren die beiden Hemlocks wieder in ihrem Haus. Selene schlief bereits, bevor Theia sie ordentlich in ihre Wiege zurückgebettet hatte. "Schlaf schön, Selene. Jetzt weißt du wenigstens, was letztes Jahr um dich herum so viel Krach gemacht hat", wisperte Theia und küßte ihr kurz auf die Stirn. Dann kleidete sie sich zur Nacht um. Sollte sie jetzt noch einmal versuchen, das Medaillon zu finden? Irgendwie hatte seine Trägerin sich damit an einen Ort zurückgezogen, der unter einem Fideliuszauber stand. Vielleicht war sie aber jetzt anderswo und feierte mit Freunden und Verwandten das symbolträchtige Jahr 2000.
Doch als Theia es trotz Erschöpfung geschafft hatte, ihre atmende Hülle abzustreifen und hinaus ins Raum-Zeit-Gefüge zu wandern, fand sie Intis Beistand wieder nicht. Dann dachte sie an Nocturnias Vampire. Zu denen hatte sie sich noch nicht getraut, weil sie nicht wußte, wie sensibel diese auf rein geistige Präsenzen reagierten.
Als sie wie ein Adler über der Riesenstadt New York schwebte und dann in einer immer engeren Spirale nach unten sank, wußte sie erst nicht, was sie jetzt hier sollte. Sie hatte doch nur gewünscht, dort zu sein, wo ein wertvoller Mitarbeiter Nocturnias war. Erst als sie durch das Dach eines Lagerhauses glitt und neben einem großen Tanklastwagen schwebte, spürte sie die mächtige Präsenz eines magischen, denkfähigen Wesens, das keine menschlichen Schwingungen ausstrahlte. Das Wesen war weiblich und trug Kleidung aus dunkelblauem Samt. Die Vampirin dirigierte gerade einige Normalmenschen, die den Tanklaster sorgfältig überprüften. "Wenn die Verschlüsse undicht sind entweicht das Mittel gleich hier, und euer Mr. Maddox sieht keinen Cent von seinem Honorar, Hier wollen wir es noch nicht loslassen", sagte die Vampirin und blickte einen der bulligen Männer in blauen Überwürfen an, der gerade eines der Ventile verplombte.
"Mädel, wenn wir heißes Zeug wie Nitro oder CS-Gas verschieben dann ohne was unter uns zu lassen wie'n Wickelkind", knurrte der muskelbeladene Mann mit den dunklen Bartstoppeln. "Unser Flieger wird auch schon betankt. Wir parken die Lady unter den Augen von den Flughafenbullen da rein und jetten das Zeug mal rüber zum LAX, ohne daß wer was anderes sucht als Flüssigwaschmittel."
"Meine Auftraggeberin will erst am neunten das Gemisch dort haben. Keinen Tag früher. Sie muß absichern, daß keiner es dort suchen geht, verstanden."
"Geht klar, Mädel", knurrte der Bullemann. Die Vampirin knurrte zurück und zeigte ihm ihre Fangzähne. "Noch mal mädelst du mich nicht, Muskelschrank, oder ich sauge dich leer wie die Spinne die Fliege. Hast du das kapiert?!"
Der Bullige erbleichte fast so sehr wie ein richtiger Vampir. Theia wunderte sich eh, daß die Vampirin sich so offenbarte, wo ihre Gesichtsfarbe durch Schminke oder jene ominöse Solexfolie die gesunde Rosafarbe eines unveränderten Menschen besaß.
"Mädchen, mit den Plastikzähnchen ist mein kleiner Neffe dieses Halloween rumgelaufen und hat alle kleinen Mädchen erschreckt, bis ihm ein Geist seine rostige Rasselkette über's Maul gezogen und die Plastikbeißer dabei rausgehauen hat. Um mich zu erschrecken mußt du was heftigeres bringen, Mä-del!"
Die Vampirin war mit einem schnellen Sprung bei dem Muskelmann, packte ihn mit der rechten Hand um die Hüften und riß ihn wie einen Sack Daunenfedern vom Boden, wirbelte ihn einmal und noch einmal über dem Kopf herum und schleuderte ihn aus dem Ellenbogengelenk heraus weit über den zwei Meter aufragenden Tanklastwagen hinweg. Der Kraftmensch wimmerte und schrie, als er über den Tankauflieger hinwegflog. Seine Kumpanen erstarrten. Dann krachte der mal eben herumgeworfene laut klappernd in einen Stapel Pappkartons. Diese fingen seinen Sturz auf. Dann begruben sie ihn unter sich.
"Noch wer, der fliegen lernen möchte. Oder soll ich mal testen, wie euer Blut schmeckt!" rief die Vampirin höchst verärgert und deutete mit dem rechten Zeigefinger einmal herum. Die anderen standen wie Statuen so starr da. Erst nach einer halben Minute konnten sie sich wieder regen. "Ich denke, ihr wollt noch ein wenig dieses widerlich helle Sonnenlicht genießn, ohne darin zu verbrennen oder von euren wenigen Freunden auf einem Armenfriedhof beweint zu werden. So, und jetzt seht zu, daß unsere Ware termingerecht am Bestimmungsort ankommt! Meine Chefin hat die Fachsen mit euch rotblütigen Luschen langsam satt. Hallo, du suchst Ärger?" einer der muskelüberladenen Männer setzte an, zu ihr hinzulaufen. doch sie hob die Faust. Er verzichtete darauf, sich mit dieser entsetzlich starken Frau anzulegen. Der gerade unter den zerdrückten Kartons herausrobbende Mann fischte in seine Jackentasche und zog eine Pistole. Da erstarrte die Vampirin. Theia wußte, daß sie Metalle außer geschmiedetes Eisen und mit Mondfriedenszauber belegtes Silber oder mit Sonnensegen belegtes Gold wie ein massiver Stahlblock zurückprellen konnten. Doch der Gedemütigte bekam keine Gelegenheit, das auch zu lernen. Denn sein Kollege oder Kumpane zischte ihm zu, nicht zu feuern. Ein Querschläger könnte den Tank aufreißen, und sie wüßten ja nicht, was genau in der schäumenden Flüssigkeit sei, die die Unheimliche am Hafen hatte umpumpen lassen.
"Okay, Schlampe. Glück gehabt, weil mein Boss mich sonst zu Burgerfleisch verhackstückt hätte. Das bist du echt nicht wert. Also sag der Obernutte, für die du schaffst, daß wir euer Hexenzeug jetzt nach L.A. karrjulen und es am neunten um elf wie bestellt in Beverly Hills bei den reichen Pinkeln abliefern, was immer das für'n Sauzeug ist."
"Ich würde die Beleidigungen besser vorher zurücknehmen, Jungchen, sonst zieht meine Chefin das vom Honorar ab, und dein Chef verfrühstückt dich doch noch, August. Ja, ich kenne deinen Namen, wie auch den von euch anderen vier Kleiderschränken. Meine Chefin kennt euch auch und weiß wo ihr wohnt, mit welchen Frauen ihr so ausgeht und was eure Lieblingsgetränke sind. Also kommt nicht auf krumme Ideen!"
"Okay, ich nehme die Schlampe und die Obernutte zurück", blaffte der in die Kartons geworfene verärgert. Dann winkte er seinem Kollegen, den Wagen zu besteigen und zum Flughafen Newerk zu fahren, von wo die kleine Frachtmaschine ihn und die Ladung zum Flughafen Los Angeles bringen sollte, wenn keiner mehr nach dem Wagen suchte.
Theia hatte genug mitbekommen. Sie wollte jetzt rasch von hier fort. Immerhin hatte sie erfahren, wohin die nächste Ladung des Vampyrogens gehen sollte, nach Beverly Hills, dem Wohnviertel außerordentlich wohlhabender Bewohner in Los Angeles. Wann genau die Ladung dort eintreffen und wie sie ausgebracht werden sollte hatte sie ebenso erfahren. Aber nun, wo sie das Gesicht und den Namen des Fahrers kannte, würde sie dranbleiben.
"Ihr laßt euch von einer Frau sagen, was ihr zu tun habt?" knurrte Erwin Maddox, der nach außen hin als Import-Export-Makler auftrat, der in Toronto Kanada seinen Firmensitz unterhielt und gut mit dem Unternehmen Eri Enterprise auskam. Eri war ein legales Aushängeschild der Detroiter Cosa Nostra. Sein Unternehmen machte mit allen Geschäfte, die illegales in legales umwandeln wollten und schwarzes zu weißem Geld waschen wollten. Die sitzende Tätigkeit, sowie das üppige Essen, das er sich jeden Tag gönnte, hatten ihn zu einem kugelrunden Fleischberg anschwellen lassen, der eher auf einer Zweiercouch statt auf einem Bürostuhl hockte. Um die eingeschränkte Beweglichkeit auszugleichen standen gleich fünf Leibwächter mit ihren Händen an schweren Schlagwaffen bereit. Sam Baldwin, Fahrer und Pilot von Maddox' Unternehmen, blickte seinen Boss verschüchtert an und nickte. "Die Braut, die uns in New York beim Umladen gecheckt hat, hat mir gesagt, wenn Sie das geld vor der Auslieferung wollen, dann müssen Sie das mit ihrer Chefin klären. Die ist voll gruselig. Die trägt Vampirzähne und ist stärker als August. Die hat den mal eben quer durch unseren Schuppen geworfen. Am Ende ist die echt 'n Vampirweib", sagte Baldwin.
"Die Frau kenne ich, die hat den alten Campestrano locker über die Klinge springen lassen. War nicht so doll für dem seine Familie. Gut, dann sag Bert, er soll liefern. Ich will noch ein paar Schaltjahre leben."
"Okay, die Fracht ist schon mit dem Flieger rüber zum LAX und da erst mal in unserem Lager, was wir mit denen von Eri teilen. Da kommt keiner von den Cops oder Feds dran. Wenn die echt Giftgas oder sowas biomäßiges da in Beverly Hills loslassen wollen könnten wir tierischen Terz mit allen US-Bluthunden kriegen und mit denen vom MI6 und dem Mossat und wem noch so alles."
"Natürlich wollen die das. Die wollen das Land erpressen. Das Zeug ist unsichtbar, riecht nicht und ist schwerer als Kohlendioxyd. Wenn ihr das in Beverly Hills gleichmäßig loslaßt pennen die Leute da innerhalb von einer Stunde für zwei Tage ein. So hat mir die Lady das erzählt und vorgeführt."
"Neh wie bei Goldfinger, Boss. Am Ende ist das Zeug entweder voll tödlich für alle oder verflüchtigt sich sofort nach dem Ablassen, und wir kriegen die Ärsche voll von der Nationalgarde, der CIA und dem FBI."
"Deshalb bringt ihr die kleinen Spezialwecker von Cumberland an den Ventilen an. Die sind vorhin geliefert worden. Die stellt ihr auf eine Zeit, die reicht, um mindestens zwanzig Meilen gegen den Wind zu fahren. Für zehn Millionen ist das doch eine Show. Aber ich will fünf davon gleich. Ich kläre das mit der. Jetzt wo wir wissen wo sie wohnt."
"Ja, jetzt, wo wir wissen, wo sie wohnt", stöhnte Baldwin.
Beide Berufsverbrecher ahnten nicht, daß sie die ganze Zeit belauscht und beobachtet wurden. Nicht die Leibwächter, die wie kampfbereite Samurais herumstanden, sondern eine unsichtbare, höchst unwillkommene Besucherin, die in diesem Raum kein Atom Körpermaterie besaß, verfolgte die Unterhaltung und sogar die Gedanken. Baldwins Geist war durchsetzt mit der Kraft der Vampire. Auch Maddox war bereits unter den Einfluß eines Vampirblicks geraten. Nur deshalb glaubten beide, die Geheimfestung läge im Herzen Australiens. Theia, die als körperlose Spionin alles mitverfolgte, ging jedoch davon aus, daß das Hauptquartier ganz woanders zu finden war.
Wem konnte sie wie sagen, daß jemand ein giftiges, vielleicht sogar virulentes Gasgemisch freisetzen wollte? Ihre Geistreisen waren ja ihr ganz persönliches Geheimnis. Nur die Verwandten von Pandora Straton hatten es einmal mitbekommen, daß sie körperlos reisen konnte. Doch die waren verschwunden, und Patricia Straton war tot. Als habe sie mit dem Gedanken an die junge Verräterin einen weiteren Raumsprung ausgelöst schwebte sie auf einmal über einer wild pulsierenden Stadt und sackte in die Tiefe, genau auf ein weißes Automobil zu, das von der flachen Bauweise her zu den sogenannten Sportwagen gehörte. Unvermittelt fand sie sich auf dem Rücksitz dieses Fahrzeuges. Vor sich sah sie eine Frau mit dunkelbraunen Haaren und einen jungen Mann.
"Okay, ich glaube dir, daß du mein Auto fahren kannst, Brandon", hörte sie nur die Gedanken der Frau. Dann fühlte sie, daß sie ertappt worden war. Sie sah etwas goldenes im Rückspiegel und erkannte im Schein dieses Schimmers ihr geisterhaft durchsichtiges Gesicht, obwohl sie sich sonst nie selbst im Spiegel erkennen konnte.
"Hups, wir haben ungebetenen Zuwachs", knurrte die Frau und zog etwas unter ihrer Bluse hervor. Es strahlte hell auf und verströmte eine Hitze. Hitze? Theia verspürte als Geistwesen weder klirrende Kälte noch Gluthitze. Normalerweise nicht. Doch als sie das Sonnenmedaillon der Inkas in der Hand der Frau auf dem Beifahrersitz sah und als sie noch dazu erkannte, wer die Frau war, wurde ihr klar, daß sie all die Monate und Jahre gründlich getäuscht worden war.
"Ich dachte, du müßtest dein kleines Mädchen stillen, Theia Hemlock alias Daianira", hörte sie die Gedankenstimme Patricia Stratons wie rollenden Donner. "Brandon, anhalten und den Find-mich-nicht-Knopf drücken!" zischte sie dem jungen Mann auf dem Fahrersitz zu. Dieser reagierte und stoppte das weiße Auto. Dann drückte er einen Knopf, worauf um den Wagen ein silbriger Nebelschleier entstand.
"Du lebst noch, Patricia Straton", gedankenschnaubte Theia. "Der Körper, den uns deine wahre Herrin vorgeworfen hat war ein Simulacrum", schlußfolgerte sie weiter.
"War nötig, nachdem du meintest, mit Brachialgewalt gegen uns und alle, die nicht deiner Meinung anhingen vorzugehen. Daß ich Intis Beistand habe siehst du ja. Hat sich angeboten, wo wir gegen Nyx kämpfen mußten. Achso, ich bin unhöflich. Brandon, das hinter uns ist die Astralprojektion meiner früheren Bundesschwester Daianira Hemlock. Sie hat mittlerweile ein noch bewegteres Leben hinter sich als du und ich. Immerhin wurde sie einmal wiedergeboren und hat ihre zweite Kindheit in wenigen Minuten übersprungen, um jetzt selbst Mutter eines kleinen Mädchens zu sein."
"Ich würde dich allzugerne hier und jetzt erwürgen oder mit einem Fluch belegen, der dir die Eingeweide verdorren läßt, Verräterin. Aber ich weiß, daß ich damit das Medaillon nicht mehr zurückgewinnen kann, denn so wie es strahlt und wie ich es fühle, hat es dich als seine Herrin akzeptiert. Und dann fühle ich noch, daß in dir neues Leben wächst. Ich würde mich gegen einen magischen Eid vergehen, wenn ich dich und ein unschuldiges Kind umbringen würde. Außerdem fühle ich, daß dein Begleiter mit dir verbunden ist und euch beide eine starke, vom Medaillon angeregte Aura umfließt. Ich werde also wohl damit leben müssen, daß du und die Wiederkehrerin weiterhin gegen mich intrigiert."
"Wir intrigieren nicht gegen dich. Daianira Hemlock ist genauso tot wie Patricia Straton, zumindest für die Zaubererwelt. Was das Medaillon angeht, ja, es hat mich als seine neue Herrin erwählt, als es merkte, daß ich ihm geben kann, was du nicht konntest. Außerdem arbeite ich nicht mehr für Anthelia, zumindest nicht in ihrer Schwesternschaft. Denn ich habe eine neue, anständigere Aufgabe gefunden", erwiderte Patricia. Dann berichtete sie, wobei sie jedoch ihre Gedanken wohl verhüllte, daß sie und Brandon nun Sonnengeweihte waren und mit den Sonnenkindern aus dem alten Reich verbunden waren. Brandon hatte auch gelernt, seine wichtigsten Geheimnisse zu verbergen oder einen Zauber auferlegt bekommen, der seine Geheimnisse schützte. Denn woher er kam und wer seine Eltern waren konnte Theias körperloses Bewußtsein nicht ergründen. Es erfuhr nur, daß die beiden gerade einkaufen fuhren, um ihren Gefährten und den ungeborenen Kindern genug Nahrung zuzuführen. Theia erkannte, daß sie hier eine geniale Gelegenheit erhielt, ihr neues Wissen anzubringen und erwähnte den geplanten Gasangriff der Vampire.
"Was wollen die mit einem Betäubungsgas?" wollte der junge Mann namens Brandon wissen.
"Es könnte ein gasförmiges Derivat des Vampyrogens sein", vermutete Theia. Patricia Straton nickte zustimmend. "Offenbar haben die Panscher der Vampire einen gasförmigen Träger dieses Sabberhexenschleims erfunden. Anders kann ich mir das auch nicht erklären."
"So eine Art Biokampfstoff? Oh, Scheiße!" entfuhr es dem jungen Mann auf dem Fahrersitz.
"Genau das. Wenn sowas tatsächlich wirkt, dann können die innerhalb eines Tages tausende, wenn nicht sogar Millionen Vampire auf die Menschheit loslassen, je nachdem, wie viel davon vom Körper aufgenommen werden muß", erwiderte Patricia. Theia stimmte in Gedanken zu.
"Gar nicht gut", meinte Brandon Rivers. "Wo soll das Zeug abgeblasen werden? Beverly Hills, wo die ganzen Überreichen ihre Hütten haben? Oha, gleich das Sahnehäubchen auf der Wohlstandsmilch", bemerkte er in jugendlich unbändiger Art.
"Insofern ist es gut, daß wir uns doch mal wieder getroffen haben, Theia. Denn wem hättest du das erzählen können?"
"Wenn's stimmt, Geisterbraut", setzte Brandon hinzu.
"Lege es nicht darauf an, daß ich versuche, in deinen strammen Körper zu schlüpfen und dich Dinge tun zu lassen, die dir nicht gefallen", schnarrte Theia. Brandon grinste jedoch nur. "Würde dir nicht gut bekommen, nachdem ich den Unergreifbarkeitszauber kann", sagte er und verfiel in eine konzentrierte Haltung. Nur Theia sah die rote Aura um Brandons Körper aufleuchten. Patricia empfing aber wohl dessen merkwürdigerweise nur für sie vernehmbaren Gedanken.
"Wir sind den Sonnenkindern verbunden, Theia. Diese kennen und können alte Zauber, die dem, was wir mal in Thorntails gelernt haben einiges voraushaben. Sie können sich sogar gegen Imperius wehren, einen Schild um sich bilden, der den Fluch zurückprellt. Auch kannten die den Seelenergreifungsvorgang, bei dem ein böswilliger Zauberer mit seiner Seele in die eines anderen Menschen eindringen kann. Auch dagegen schützt der Zauber der Ungreifbarkeit. Zudem sind wir alle miteinander verbunden und verstärken uns gegenseitig. Ich schlage dir um einer friedlichen Zeit wegen vor, daß du jetzt in deinen Körper zurückkehrst und versuchst, deine werte Groß- ähm, Urgroßmutter dazu zu bewegen, den Raum Beverly Hills abzusichern und die Fässer mit dem Sprühzeug abzufangen. Vielleicht kennt deine kleine Tochter ja auch einen Weg, unauffällig mit dem LI zu sprechen, wobei es vielleicht nicht unpraktisch ist, wenn wir Sonnenkinder mit dieser nichtministeriellen Organisation sprechen."
"Klar, ihr wollt denen sagen, daß es die mythischen Sonnenkinder gibt, daß du nicht wirklich umgebracht worden bist und daß du den Schlüssel zum Ende von Nocturnia in den Händen hältst", spottete Theia.
"Danke für die Anregungen, was ich denen alles nicht erzählen werde!" erwiderte Patricia Straton. Aber irgendwas fällt mir sicher ein."
"Der Laden ist nach der Hexenkönigin von New Orleans benannt? Cool!" erwiderte Brandon.
"Voodoo-Königin. Nicht die Königin aller Hexen", gedankenknurrte Theia. Doch dann durchfuhr sie ein wahrhaftiger Geistesblitz. "Findet euren Weg! Ich finde meinen", erwiderte sie noch.
"Wie du meinst, Theia. Jetzt, wo du weißt, daß ich keine abtrünnige Schwester mehr bin und du deine kleine Familie hast, sollten wir in Frieden voneinander Abschied nehmen."
"Ja, weil ich als Theia Hemlock nicht die Feinde meiner toten Mutter suchen kann, solange ich eine Tochter habe, die mich braucht", gedankenschnarrte Theia. Patricia hielt das Medaillon in ihre Richtung. Ein unbändiger Drang, diesen Ort zu verlassen erfaßte Theia und wirbelte sie aus dem Wagen hinaus. Unvermittelt steckte sie wieder in ihren zweimal geborenen Körper. Sie fühlte ihr Herz pochen und keuchte. sie kam sich vor, als habe sie über zwölf Stunden lang angestrengt gearbeitet. Hatte Intis Beistand sie wirklich aus dem weißen Gefährt hinausgeschleudert? Sie mußte es wohl akzeptieren. Patricia hatte einen wahrhaft mächtigen Talisman, der ihr mehr enthüllt hatte als seiner früheren Trägerin. Sie erkannte, daß sie nie die wahre Herrin des Sonnenmedaillons geworden wäre, denn sie hätte diesem Artefakt einen Dienst erweisen müssen: Den Nachkommen eines wahren Sohnes der Sonne zu gebären.
Sie versuchte einmal mehr, ihren Geist aus dem Körper zu lösen. Doch die Anstrengung war zu groß. Es war, als habe das Medaillon sie mit seinem grellen Licht untrennbar mit ihrer atmenden Hülle verbacken. Hatte Patricia einen ungesagten Zauber gewirkt, der sie für immer bannte? Womöglich beschränkte sich dieser Bann nur auf die Nähe Patricias und aller, die ihr nun wichtig wahren. Sowas ging. Das hatte ihr der alte Guru auch erzählt. War ein Geistreisender als Feind erkannt worden und hatte sich irgendwie offenbaren müssen, so konnte er bei Nennung seines Geburtsnamens dazu verdammt werden, für einen vollen Mondkreis in seiner angestammten Hülle zu bleiben oder für den Rest des Lebens der Feinde deren Nähe meiden zu müssen. Am Ende mochte Theia sich wünschen, niemals die Kunst des Geistwanderns erlernt zu haben. Einen Moment dachte sie sogar daran, daß Patricia sie auch in ihrem ungeborenen Kind hätte einkerkern können, um sie als untergeordnetes Bewußtsein in diesem neu großzuziehen. Nein, das hatte sie schon hinter sich. Außerdem trug Patricia einen Sohn, wohl auch durch die Magie des Medaillons abgesichert. Nein, das hatte sie wirklich nicht mehr nötig, als Kind einer potentiellen Widersacherin aufzuwachsen. Da war sie lieber froh, daß sie die Mutter Selenes geworden war.
Zu Theias Erleichterung konnte sie in der Nacht zum siebten Januar ihren Geist wieder auf die Reise schicken. Ihr Ziel war diesmal der Friedhof St. Louis Nummer eins von New Orleans. Sie wußte, daß sie sich mit einer ihr haushoch überlegenen Daseinsform anlegen mochte. Doch wenn sie den Anschlag auf Beverly Hills verhindern wollte, dann mußte sie es wagen.
Der Himmel war vollkommen bedeckt. Regentropfen rieselten auf die Grabhäuser herunter. Theia schwebte ohne zu rufen über den alten Friedhof. Wenn Marie Laveaus Geist hier wahrhaftig residierte, dann würde sie die andere Präsenz spüren. Sie zu rufen war also unnötig.
Irgendwo schlug eine Uhr die sogenannte Geisterstunde. Warum eigentlich nicht? dachte Theia, während sie zwischen den Grabhäusern entlangglitt. Sie wagte jedoch nicht, in eines davon einzudringen. Das was sie über das Ende des Totentänzers mitbekommen hatte, war Warnung genug.
"Gefällt dir mein Grabhaus, Theia Hemlock?" hörte sie von irgendwo hinter und über sich eine Stimme. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sich unerspürbar anzuschleichen, dachte Theia und drehte sich durch einen einzigen Gedanken um. Dann sah sie sie, jene silberne Frauengestalt mit dem dunklen Haar, die beinahe nebelgleich auf sie zuglitt.
"Die Angst vor dem Fehlschlag muß größer sein als die Angst, meinen Zorn zu erregen, Theia Hemlock", sagte die Geisterfrau weiter. Theia verbeugte sich, auch wenn sie eigentlich unsichtbar sein mochte. Doch allein der Gedanke an eine Respektsbekundung mochte reichen.
"Ich bitte dich, die dir verbundenen Lebendigen zu warnen, daß die Blutsauger einen Angriff auf eine große Stadt vorbereitet haben, den sie am neunten Tag dieses Monats ausführen wollen."
"Meine lebendigen Helfer wissen davon, daß diese ungestümen, unersättlichen Geschöpfe eine Stadt im Westen angreifen möchten. Sie haben einen Kundschafter bei denen, die sich Nocturnia nennen. Aber schön, daß du deinen Weg zu mir gefunden hast, Theia Hemlock. So kannst du mir eine Frage beantworten, die über dein und deiner zwiegeborenen Tochter Schicksal entscheiden wird: Liebst du deine Tochter als dein Fleisch und Blut, daß in deinem fruchtbaren Leib aufkeimte und heranwuchs und von dir unter Qual und Freude, Hoffnung und Last in diese Welt zurückgeboren wurde?"
Theia mußte einen Moment nachdenken. Wenn sie "Ja" sagte, würde sie wohl als Heuchlerin entlarvt. Verneinte sie es, mochte Maries Geist sie für ihre Ablehnung bestrafen. Dann fiel ihr die Antwort ein:
"Ich lerne sie erst kennen. Doch weil ich sie trug und ihr meine Milch gebe, ist sie ein Teil von mir. Ja, ich will sie aufwachsen sehen, sie beschützen und mit ihr lernen, miteinander zu leben. Wenn das Liebe ist, dann liebe ich Selene, meine Tochter."
"So kehre heim in deinen Leib, auf daß du mit ihm und deinem Geist deiner kleinen Tochter hilfst, mit dir zu lernen, ihr und dein neues Leben zu lieben! Bleibe fortan in deiner lebenden Hülle, bis der Tag kommt, wo du den allerletzten Atemzug tust. Deine Reisen ohne Leib sind eine zu große Versuchung, das, was euch beide verbindet zu zerstören. Verbleibe in deinem nährenden Leib und lerne mit deiner Tochter zu leben und zu lieben!" Marie stieß unvermittelt ihre rechte Hand vor und traf Theias eigentlich nichtstofflichen Brustkorb. Doch sie fühlte es wie einen Schlag. Es blitzte auf. Es war für sie wie ein warmer Schauer, der sie durchflutete, als sie sich in ihrem Körper wiederfand. Es war fast wie die höchste Lust, die ein erwachsener Mensch erleben konnte. Dann wurde ihr klar, daß Marie sie verbannt hatte. Sie hatte sie endgültig mit ihrem Körper verschmolzen, an ihn gebunden, bis dieser von sich aus seinen letzten Atemzug tun und sie wieder freigeben würde. Doch sie empfand keine Wut darüber, ihre alte Kunst nicht mehr ausüben zu können. Denn ihr wurde klar, daß sie ihr Leben und damit das Selenes bereits sehr stark gefährdet hatte, als sie ihre körperlosen Wanderungen angetreten hatte. Nein, sie war nicht mehr die große Führerin Daianira Hemlock, die niemals ein Kind bekommen hatte. Sie war Theia Hemlock, eine gemäßigte, duldsame Schwester, die unter großen Mühen ein kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, daß noch immer von ihrer Milch und ihrer Fürsorge leben mußte. Sie durfte nicht sterben, nicht bevor Selene Hemlock ihr neues Leben lieben gelernt hatte.
Die kleine Frachtmaschine mußte sich durch das starke Flugzeugaufkommen schlängeln, daß über dem großen Flughafen von Los Angeles herrschte. Baldwin steuerte selbst. Sein Boss legte viel wert darauf, mit möglichst wenig und dafür absolut zuverlässigem Personal auszukommen. Zu viele Leute konnten zu viele Fragen stellen oder zu viele gierige Hände aufhalten.
"Gulfstream Delta November sieben sechs acht eins, Sie haben Rollerlaubnis zur Erbetenen Parkposition", hörte Baldwin die befreiende Meldung aus dem Kontrollturm. Er bestätigte und bugsierte das kleine Privatflugzeug, das als Frachtmaschine ausgewiesen war, von der Landebahn auf das Rollfeld. Vorbei an ebenfals gerade nach ihren Haltepunkten suchenden Jumbos und Airbus-Flugzeugen steuerte Baldwin die kleine Maschine auf einen Hangar zu, vor dem bereits ein Einsatzwagen der Zollbehörde stand. Zwar war "die Fracht" bereits bei der Ankunft im Hafen von New York verzollt worden. Doch sicher war sicher. Andererseits hatte Maddox seine guten Verbindungen zu "guten Geschäftsfreunden" spielen lassen, um sicherzustellen, daß Zollinspektor Jenkins die eintreffende Fracht überprüfte. Allerdings beließ es der Zollinspektor nur bei einem flüchtigen Blick auf die Frachtpapiere, die den Inhalt der kleinen Maschine als Container voller Flüssigwaschmittel auswiesen. Nach nur fünf Minuten zeichnete Jenkins die Bestätigung ab, die Fracht geprüft und für den Weitertransport genehmigt zu haben und stempelte die entsprechenden Papiere für eventuelle Kontrollen durch die Autobahnpolizei. Denn angeblich sollte die Fracht nun per Lastwagen nach Santa Monica weitertransportiert werden.
Als Baldwin sicher war, daß keiner ihn beobachten würde, ließ er den im Container verborgenen Tanklastwagen herausfahren und fuhr über einen von keiner Überwachungskamera beobachteten Schleichweg vom Flughafengelände herunter. In seinem Kopf herrschte nur der Drang, die im großen Drucktank enthaltene Ware in das Lagerhaus zu bringen. Dort würde der Tank auf zwanzig Hochdruckkanister umgefüllt, die an Bord protziger Limousinen und übermotorisierter Sportwagen an ihr Endziel gebracht werden sollten. Doch bis dahin waren es noch zwei Tage.
Die Leute, die das hochgefährliche Zeug transportierten, waren alles gute Angestellte von Maddox. Der Verschieber illegaler Fracht hatte ihnen per Geheimboten Minidisks mit genauen Anweisungen zukommen lassen und auch ein jeweils für jeden eingerichtetes Nummernkonto in der Schweiz erwähnt, auf dem ein Vorschuß für das Abliefern und termingenaue freisetzen des Gases vermerkt waren. Jeder bekam zweihunderttausend Dollar. Fünfzigtausend waren bereits auf den erwähnten Konten.
"Okay, die Uhren sind Funkgesteuert. Wenn wir die Kanister an den ausgehandelten Stellen versteckt haben fahren wir ganz gemächlich wieder aus Beverly Hills raus. Erst dann geht's ab auf die Highways. Wir haben gerade drei Stunden, bis das Teufelszeug abgelassen wird. Egal ob's wen umbringt oder ein Virus ist, Leute. Wir sollten zusehen, daß wir mindestens zwanzig Meilen von Beverly Hills weg sind", sagte Baldwin zu seinen Leuten, bevor sie in die Mercedesse, Rolls Royces, Bentleys, Chevrolets, Cadillacs, Porsches, Maseratis und Ferraris einstiegen, die jeder für sich die Botschaft von Angst und Schrecken im Kofferraum trugen.
Scheinbar nichts miteinander zu tun habend fuhren die Wagen nacheinander durch die Straßen von Los Angeles. Sie fuhren von verschiedenen Seiten in das Nobelviertel Beverley Hills ein, vorbei an den Villen der Filmstars, Produzenten, Industriekapitäne, Hard- und Softwaremogule und anderer zu sehr viel Geld gekommener Persönlichkeiten der vereinigten Staaten. Die meisten Anwesen waren schon kleine Paläste mit Garten, die anderswo als große Parks bezeichnet wurden. Baldwin dachte beim Durchfahren dieses Viertels mit seinen Edelboutiquen und Nobelrestaurants daran, daß all die meterhohen Zäune und Mauern, die Alarmanlagen und Rundumüberwachungen, Bluthunde und Leibwachen keine Chance hatten, das Gas aufzuhalten. Die Frau, die sich dark Velvet nannte und eine echte Vampirin war, hatte ihm erklärt, daß das Gas jeden hier für mehrere Stunden ohnmächtig machen würde. Damit wollten sie zeigen, daß kein noch so reicher Mensch in den Staaten sicher war. Was genau Dark Velvets Meisterin damit bezweckte wußte er nicht. Er ging von einem gigantischen Erpressungsmanöver aus. Mehr hatte ihn nicht zu betreffen, so die in seinen Geist eingepflanzte Überzeugung.
Baldwins Porsche 928 kam mit einem gekonnten Vollgas-Ausroll-Manöver schön weit weg von dem protzigen Marmorbau einer Bank für Platinkartenbesitzer zum stehen. Er peilte nach Überwachungskameras. Doch hier in der Nähe lagen die Anwesen namhafter Hollywoodgrößen, die keinen Wert darauf legten, bei allem, was sie taten beobachtet zu werden. Genau das war die Gelegenheit für Baldwin. Er prüfte nach, ob jemand auf der Straße herumlief. Doch diese Straße war leer. Alle Autos standen in ihren Garagen, wohl geschützt vor Wetter und Langfingern. Doch er wollte ja nichts stehlen. Er wollte was hierlassen, auch wenn die Bewohner der kleinen Schlösser und Prunkbauten es garantiert nicht haben wollten, was er mitgebracht hatte.
Baldwin stieg eher mechanisch als gewandt aus seinem schwarzen Sportwagen und holte den schweren Stahlkanister mit dem aufgepflanzten Auslaßventil aus dem kleinen Kofferraum. Er blieb wachsam. Sicher patrouillierten hier private Sicherheitsleute, die nach unbefugten wie ihn suchen sollten. Denn immer wieder kam es vor, daß aufdringliche Fans versuchten, über die Zäune und Mauern zu klettern, um zu ihren Idolen zu gelangen. Sicher standen Wachen innerhalb der Grundstücksgrenzen. Aber wenn jemand schon auf der Straße erwischt werden konnte war das weniger lästig für die Stars und Sternchen hier.
Wie ein Fuchs, der weiß, daß ein Hund den Hühnerstall bewacht, schlich Baldwin geduckt mit seiner verbotenen Last die Straße entlang. Er mied die Lichthöfe von Laternen und hütete sich auch davor, in deren Streulicht zu geraten. Zu seinem Verdruß standen die Straßenlampen hier dichter zusammen als anderswo in der Riesenstadt am Pazifik. So mußte er einen wahrhaftigen Slalom laufen, bis er die ausgekundschaftete Stelle fand, einen Gullydeckel mit stabilem Schloß. Baldwin prüfte noch einmal, ob er wen sehen konnte. Irgendwie kam ihm die Ruhe hier verdächtig vor. Er war kein Vampir und besaß keine übernatürlichen Sinne. Doch er war als langjähriger Schmuggler, Schieber und Laufbursche für illegale Sachen darauf trainiert, immer auf Leute vom Zoll, den Cops oder gar dem FBI zu treffen.
Zwei Minuten hielt er sich geduckt außerhalb des Lichtes. Dann holte er einen massiven Schlüssel aus einer verborgenen innentasche seines edlen Tweedjackets hervor und steckte ihn behutsam in das Schloß am Kanaldeckel. Dann drehte er den Schlüssel um. Nun hob er langsam und mit gewisser Anstrengung den Deckel an und bugsierte den Kanister darunter. Mit einem schon ziemlich lauten Klick heftete er den starken Magneten an die Deckelunterseite. Er blickte noch einmal auf die winzige Digitaluhr am Auslaßventil. Sie zeigte 01:20:44 an. Damit wußte er, wie viel Zeit ihm noch blieb. So langsam und leise er konnte, paßte er den nun mit dem Kanister versehenen Kanaldeckel wieder in die gähnende Öffnung ein, aus der es höchst unangenehm stank. Endlich hatte er es geschafft, den Deckel in den Rahmen zurückzudrücken. Er drehte den Schlüssel im Schloß um, womit das massive Sicherheitsschloß verriegelt wurde. Von innen war der Deckel nicht mehr zu öffnen. So konnten auch keine "bösen Menschen" von unten her in dieses Stadtviertel vordringen. Er zog den Schlüssel wieder aus dem Schloß und verstaute ihn gut. War doch schon praktisch, wen bei der hier tätigen Kanalreinigerfirma zu kennen, der die Schlüssel zu den Gullys von Beverly Hills hatte.
So behutsam wie vorhin zog sich Baldwin zu seinem schwarzen Sportwagen zurück, der wie ein geduckter Panther außerhalb des Lichthofes einer Laterne stand. Jetzt waren es nur noch zehn Meter. Dann stand er vor der Wagentür. Er peilte noch einmal in alle Richtungen, ob nicht doch wer von den Sicherheitsleuten gerade um die Ecke kam. Dann hätte er eine gut vorbereitete Legende auftischen müssen. Wenn er mit dem Kanister in der Hand erwischt worden wäre, hätte er einen Elektroschocker mit doppelter Maximalstärke einsetzen müssen. Doch jetzt konnte er so tun, als habe er jemanden hier besucht und wolle nun nach Hause fahren. Aber es war niemand zu sehen. Aus irgendeinem inneren Antrieb blickte er noch genau durch die Fenster seines Wagens. Da war auch nichts auffälliges.
Baldwin entriegelte seinen Wagen. Seine Leute hatten die Alarmanlage so geschaltet, daß sie beim Entschärfen nicht dieses verräterische Quick-quick-Geräusch machte, wie bei vielen Luxusautos. Er zog die Tür auf und schlüpfte in den Wagen hinein. Da fühlte er die Wärmeausstrahlung von der Beifahrerseite her. Sein Kopf ruckte nach rechts. Doch er sah niemanden. Hatte er sich denn so sehr getäuscht? Er langte nach rechts und traf auf weichen Widerstand. Doch im selben Moment durchfuhr ihn etwas, das er nicht genau beschreiben konnte. Jedenfalls konnte er sich danach nicht mehr bewegen. wie festgebacken hockte er auf dem Fahrersitz und konnte nur zusehen, wie sich neben ihm etwas veränderte. Erst erschinen zwei dunkle Cowboystiefel, dann die Beine grauer Jeans, dann eine mattschwarze Lederjacke, bis am Ende zwei Arme und ein Kopf mit einem himmelblauen Stetson-Hut zum Vorschein kam."Howdy, Burschi. Na, wo haben wir denn das nette kleine Kanisterchen untergeschoben, daß du gerade aus diesem flotten Flitzer gehoben hast?" fragte eine überlegen klingende Männerstimme im besten Texasakzent. Dann hob der aus dem Nichts gewachsene Cowboy den rechten Arm mit einem dünnen Holzstab an. "Legilimens", verstand der Fahrer. In ihm schrillten sämtliche Alarmglocken. jetzt griff etwas, daß Dark Velvet ihm unter der Wirkung ihres hypnotischen Blicks ins Gehirn gepflanzt hatte: "Wenn dich einer mit einem Stab erwischt und dir in die Augen sieht werde ohnmächtig!" So war es wie ein Schalter, den sein beeinflußtes Gehirn umlegte. Schlagartig schwand ihm die Besinnung, gerade, als er noch sah, wie er auf den Kanaldeckel zuging.
"Lex, die Bande hat den geimpft. Der ist mir beim Legilimens einfach weggeblieben", gedankenknurrte John Ross, der im Auftrag des Zaubereiministeriums den Einsatz Tautropfen mitmachte. Eigentlich hatten sie auf Brunnenvergifter in San Francisco gewartet. Doch als Alexis Ross von der gemalten Ausgabe der viel zu früh abberufenen Jane Porter gewarnt wurde, daß Beverly Hills das Angriffsziel war, hatten die Ross' sich sofort bereiterklärt, für das LI und das Ministerium den Anschlag zu verhindern.
"Rick hat die Straße bewacht, John. Frag den. Der hat's bestimmt gesehen."
"Danke Lex", schickte er eine Antwort auf den mentiloquierten Vorschlag seiner Frau, die ebenfalls unter einem Tarnumhang steckte und gerade den Fahrer eines 500 SEL überwachte, der ebenfalls einen sehr verdächtigen Behälter hinter einer Telefonzelle deponieren wollte.
John nahm Baldwin alles ab, was er an Schlüsseln und Papieren bei sich hatte, verließ den Porsche und suchte seinen Einsatzkameraden Rick auf. Der konnte ihm den betreffenden Gully zeigen. John entriegelte den Deckel mit Zauberkraft und ließ ihn mit "Wingardium leviosa!" behutsam ansteigen. ja, da hing der Stahlkanister an einem Magneten unter dem Deckel. John ließ den Kanaldeckel behutsam landen und löste nach Prüfung, ob an der Vorrichtung ein möglicher Druckzünder hing, den Kanister. Er begutachtete ihn. Da sollte also ein Vampirisierungsgas drinstecken, eine magische Biowaffe? Erschreckend, wie stark die Terrormethoden der Muggelwelt, aus der seine Eltern stammten, bereits mit den umfangreichen Schreckensmitteln der magischen Welt zusammengingen, dachte Ross und versenkte den Kanister in einer aus der Hosentasche gezogenen Umhüllung aus hitze- und Gasdichtem Zaubererweltgummi. "Okay, mein Kanister gesichert, Lex. Was soll ich mit dem Burschen machen, der den hier aangebracht hat?"
"Mr. Davidson hat gesagt, die Muggelhandlanger sind unwichtige Helfershelfer. Aber wenn dein Patient durch Vampirblick beeinflußt ist hat er womöglich mehr zu sagen als die anderen. Bring ihn zu Vane ins Ministerium! Dann komm nach Hause. Mehr müssen wir hier nicht machen", mentiloquierte seine Frau ihm. John bestätigte es und kehrte zu dem Porshe zurück. Da er gut Auto fahren konnte war es für ihn ein Vergnügen, den rassigen schwarzen Flitzer eigenhändig aus Beverly Hills hinauszutreiben und am Sammelpunkt der Einsatzgruppe Tautropfen zu parken. Hier bekamen alle Muggel noch einen Gedächtniszauber ab, daß sie ihre Ladung erfolgreich und ohne Behinderung untergebracht hatten. Dann disapparierten die Hexen und Zauberer. John Ross brachte den gefangenen Baldwin ins Zaubereiministerium. Vane Persönlich empfing den in Cowboyaufmachung gewandeten Außendienstmitarbeiter.
"Ich fürchte, die haben den präpariert, daß er immer wieder wegbleibt, wenn ihn wer legilimentieren will, Mr. Vane", sagte Ross dem kleinen Strafverfolgungsleiter. Dieser ließ es sich nach außen hin nicht anmerken. Doch innerlich gährte es wohl in ihm, derartig verladen worden zu sein.
"Wir haben Experten für derlei Sachen, Mr. Ross. Danke für Ihre Mithilfe! Ich erwarte dann Ihren Einsatzbericht morgen auf meinem Schreibtisch", quiekte der winzige Zauberer und deutete zur Tür. Das war für Ross genug Aufforderung, den Raum zu verlassen.
Vor der Tür traf er noch auf Elysius Davidson und dessen Mitarbeiterin Justine Brightgate.
"Oh, hat er Sie doch noch dazugebeten?" Fragte John Ross den schnurrbärtigen Leiter des Laveau-Institutes."Sagen wir es so, ich habe ihm den Zauberstab auf die Brust gesetzt, daß wir nur dann den genauen Anschlagsort weitermelden, wenn er mich beim Verhör eines Direktkontaktes mit Nocturnia mithören läßt. Nachher ist dieser Mensch noch mit dem Schmelzfeuerfluch beladen, wie die hochkarätigen Vampire."
"Dann hätte der mich und sich vorhin schon locker wegbrutzeln können. Aber bei Muggeln ohne eigenes Ruhepotential hätte mein Maledictometer gleich laut geplärrt, als der Typ in seinen Wagen zurückgehüpft ist, Sir. Erfüllten Tag noch, Lady und Gentleman."
"Grüße an die Süße, Johnny", erwiderte Justine mädchenhaft grinsend.
"Mach ich, Chamäleondame", erwiderte John Ross. Dann verließ er das fast menschenleere Ministeriumsgebäude. Die meisten waren in der geheimen Inselfestung, um vor Großangriffen Nocturnias sicher zu sein. Hier war nur eine Alarmbesatzung, die auch das leidige Publikum abfertigte. Vom Atrium aus disapparierte John Ross ungehindert, um ebenso unbehelligt im Flur seines Hauses bei Denver zu reapparieren. Murphy, der Crub, rannte laut bellend und jaulend auf ihn zu und sprang ihm freudig mit der gegabelten Rute wedelnd bis knapp an den Brustkorb. "Ja, hallo, Daddy ist auch wieder da", flötete John und tätschelte den kleinen Mitbewohner. Dann sah er eine Tür aufgehen und vier große, schlaftrunkene Kinderaugen herauslugen. "Ihr seid auch wach? Daddy ist wieder zu Hause, Bill und Brad. Mom ist schon wieder da."
"Mom wieder da!" quiekte der Junge im grün--orange-blau längsgestreiften Schlafanzug. Der Junge im rot-blau quergestreiften Schlafanzug deutete auf Murphy, der immer noch an seinem Herrn und Futtergeber hochsprang. "Murphy laut: Wau-wau-Wau-Wau!"
"Hat der kleine euch wachgemacht?" lachte John Ross und knuddelte erst den wild an ihm herumspringenden Crub, bevor er seine beiden Söhne in ihr Zimmer zurücktrug und in die Gitterbettchen legte. "Jetzt könnt ihr schön schlafen. Daddy ist auch wieder da. Auua, Ratzenpelz!" Murphy hatte ihm kurz aber fühlbar in die rechte Ferse gezwickt.
"Es ist hier schon zwölf durch. wenn ich dir jetzt noch Happa-Happa gebe schimpft Momy wieder mit mir", blaffte John Ross. Doch Murphy gab nicht auf. Im Gegenteil. Weil sein heimgekehrter Heimstattgeber ihm nichts zu Fressen geben wollte, pflückte er einfach einen der braunen Stiefel aus dem Schuhregal und fing an, daran herumzuknabbern. "Halt, Moment! Meine Stiefel!!" entrüstete sich John Ross. Doch da hatte der kleine wilde Hausgenosse schon drei große Stücke aus dem Schaft herausgebissen und mampfte sie weg.
"Seit wann frißt du meine schönen Westernstiefel. Ich glaub, ich bin im Kino!" schimpfte der Hausherr. Da kam seine Frau Alexis um die Ecke. Ihr rotblonder Schopf wehte nun frei und geschmeidig um ihre Schultern.
"Guck dir das an! Der hat mir meine Büffellederstiefel ruiniert, der kleine Rattenzahn", beschwerte sich John, während Murphy bereits auf vier flinken Pfoten in Deckung huschte.
"Du hast das dem beigebracht, weil du ihm die Reste deiner beim Kampf mit dem Vampir von Magnolia Grove zerfledderten Lederjacke hingeworfen hast. Ich wollte das Ding ja richtig verschwinden lassen. Jetzt weiß er, daß er sowas problemlos fressen kann. Sag nicht, ich hätte dich damals nicht gewarnt!"
"Ich wollte nur, daß er damit spielt. Wie kriegen wir das aus dem Raus, bevor der noch unsere Ledercouch verputzt?"
"Das darfst du dir überlegen, wo du ihm alle Unarten beigebracht hast, Honey", lachte Alexis. "Hast du unseren Kleinen noch Gute Nacht gewünscht. Emily bekam sie nicht ins Bett, bevor ich nicht auch zu Hause war."
"Ja, ich habe sie in ihre Heiabettchen gelegt und möchte mir jetzt auch andere Schuhe anziehen. Aber wenn unser Teppichratz jetzt auch anständige Cowboystiefel frißt muß ich die wohl an die Decke hängen."
"Ich lege einen Imperturbatio auf das Regal. Da kann auch der nicht durchbeißen. Fressen gibt's für den jedenfalls nicht. Nachher sieht der so rund aus wie ich im neunten Monat", stellte Alexis klar. Murphy, der irgendwo unter einem der Schränke im Flur versteckt lag, lugte kurz hervor und zog sich sofort wieder zurück. Er wußte, was er angestellt hatte.
Als John bei seiner nach der erfolgreichen Zwillingsgeburt wieder zur schlanken Linie zurückgekehrten Frau im Wohnzimmer saß sprach er leise mit ihr über den Einsatz und daß er sie von Justine grüßen sollte.
"Die hat schon gefragt, ob wir bei ihr nicht ein Sofa auf unser Haus abstimmen können, falls mal wieder wer schnell zu uns untertauchen muß. Ich habe ihr gesagt, sie solle erst mal sehen, ob der Grund für das Sofa länger bei ihr bleibt als das Sofa selbst."
"Soso. Schon fies, daß Zach untertauchen mußte", schickte John auf reinem Gedankensprechweg an seine Frau. Diese schickte zurück: "Selbst mit dem VBR-Gürtel hätte er jeden gefährdet, der in seiner Nähe war. Ging nicht anders, genau wie bei Jane", schickte sie zurück.
"Apropos Jane, noch mal möchte ich das nicht machen, an Billy-Boys Gedächtnis rumzaubern, weil sie mal eben aus einem Bildherausgetreten ist. lasse sie das bitte wissen! Wir wohnen hier nicht mehr alleine."
"Brauch ich ihr nicht mehr zu sagen. Sie hat gemerkt, daß es ungünstig ist, ohne Vorankündigung zu uns zu kommen. Sie wird nur noch über die Bilder mit uns kommunizieren", mentiloquierte Alexis. Dann sprach sie mit körperlicher Stimme weiter mit ihrem Mann, bis beide müde genug waren, sich hinzulegen.
"Das Zeug ist nicht losgegangen", knurrte Lamia. "Irgendwer hat uns verraten. Und das waren nicht diese beiden Dunkelmondler!"
"Bist du absolut sicher, daß dieser Maddox nicht mit denen von diesen Zauberstabschwingern verbandelt ist, Lamia", knurrte Arnold Vierbein. Er konnte es nachempfinden, daß seine Frau und Königin wütend war. Immerhin hatte sie Wochen lang für das Einbürgerungspulver in der Blutumwälzmaschine gelegen. Wenn die Ladung abgefangen worden war, dann war zum einen eine Menge Zeit verloren, zum anderen aufgeflogen, wie sie die Aktion Zuwanderung 2000 durchführen wollten und zum dritten zu viel von dem Stoff in feindlichen Händen, um wie mit diesen widerwärtigen Kristallen ein brauchbares Gegenmittel zu entwickeln. In jedem Fall war es ein Rückschlag für Nocturnia.
"Was hast du mit den beiden Spionen vor?" fragte Arnold.
"Ich wring sie aus und mische deren Blut mit meinem, dann suchen wir uns eine unauffällige Kleinstadt in deren Heimat und lassen die Leute da zu unseren Mitbürgern werden. Das wird die Dunkelmondler lehren, uns zu hintergehen."
"Ja, aber sie haben nichts von Beverly Hills mitbekommen. Deine Normalogangster haben gesungen wie Nachtigallen, Lamia. Sieh es ein, daß Geld allein keine Loyalität bringt, wenn die Zauberstabschwinger mal eben Milliarden Dollar, Pfund oder D-Mark oder meinetwegen bald auch Euros locker machen können", schnaubte Arnold. "Die einzige Loyalität ist die Verbundenheit des Blutes."
"Erzähl mir nichts, was ich dir und den anderen nicht selbst erzählt habe!!" blaffte Lamia sehr wütend. Dann disapparierte sie ohne Abschiedswort.
Drei Tage suchte sie mit Hilfe von Fledermäusen und bereits unterworfenen Vampiren nach Mondtänzer und Blutglanz. Doch die beiden waren untergetaucht. Also hatte denen wer früh genug geraten, sich von Nocturnia abzusetzen. Als sie von Dark Velvet erfuhr, daß das Laveau-Institut einen Hinweis auf Beverly Hills bekommen haben sollte, wußte Lamia, daß Nocturnia erst den Rest der Welt erobern mußte, bevor es sich den nordamerikanischen Kontinent sichern konnte. doch der Tag der Vergeltung würde kommen, das schwor sie sich, die aus Nyx und Elvira Vierbein vereinte Person. Sie überlegte sogar, einen Muggel mit Hilfe ihrer hypnotischen Fähigkeiten oder dem Imperius-Fluch dazu zu zwingen, den Mitternachtsdiamanten zu suchen. Denn ihr war klar, daß sie ohne dieses potente Hilfsmittel auf kurz oder lang unterliegen konnte. Denn die Rückkehr der Sonnenkinder war eine genausogroße Gefahr. Wenn sich diese mit den Zauberern und Hexen zusammentaten, würde Nocturnia untergehen. Das durfte sie nicht zulassen. Der Herr des Mitternachtsdiamanten wollte das Reich der Nachtkinder auf diesem Planeten errichten. Er sollte es bekommen.
Die Schmerzen wurden unerträglich. Er versuchte, nicht zu quängeln, wollte erst recht nicht schreien. Doch diese Schmerzen trieben ihm die Tränen in die augen. Sie hatten ihn vorgewarnt, sowohl Ava Gladfoot als auch seine Mutter, daß ihm das frühestens mit sechs Monaten passierte. Doch daß es so heftig weh tat, als bohre ihm wer von innen durch die bis jetzt zahnlosen Kiefer hatte ihm keiner gesagt. Er wälzte sich herum, kämpfte mit den heißen Tränen. Die dumpfen, dann wieder wild pochenden Schmerzen ließen ihn nicht in Ruhe. Das war ja bald so schlimm wie bei seiner Geburt. Nur mit Mühe konnte er noch an Tracys Milch, mußte immer wieder neu ansetzen, um in den gewohnten Rhythmus zu kommen. Sie sprach besänftigend auf ihn ein. "Tja, dann kannst du wohl bald kleine Fruchtstückchen kauen, Tony", säuselte Tracy Summerhill. "Das müssen wir beide jetzt noch überstehen", sagte sie noch. Tony Summerhill wollte um Gnade winseln, etwas haben, was diese pochenden Schmerzen verscheuchte. Andererseits sollte er froh sein, daß er bald eigene Zähne hatte, um mehr als Tracys warme Milch genießen zu können. Gedanken an die festlichen Menüs, die er vor zwei Jahren noch genossen hatte sollten ihm helfen, die Tortur seines eigenen Körpers, seiner nächsten Stufe im Wiederwachstum, zu verdrängen. Doch es gelang nicht ganz. Da seine Mutter wußte, daß er gerne Artikel aus der Zeitung hörte, holte sie die tagesaktuelle Ausgabe des Kristallherolds, während er versuchte, seine Schmerzen zu verdrängen. Sie setzte sich zu ihm und las ihm mehrere Artikel über Quodpot und einen Versuch Cartridges vor, ein transatlantisches Bündnis mit europäischen und afrikanischen Staaten zu gründen. Als einer seiner Mitarbeiter meinte, er wolle die Kriegsbündnisse der Muggel kopieren, hatte es einen Aufruhr im Ministerium gegeben, daß der Zaubereiminister wohl darauf ausginge, alle althergebrachten Prinzipien der Unabhängigkeit von der Muggelwelt wegen der Gefahr Nocturnia aufzukündigen. Cartridge hatte daraufhin erst einmal von diesem Plan Abstand genommen. Trotz der Kieferschmerzen mußte Tony Summerhill verächtlich grinsen. Wollte Cartridge allen ernstes die Staaten an Europa und Afrika anbinden? Dann würde er wohl bald mit Bedauern seinen zweiten Rücktritt erklären müssen. Dann las Tracy Summerhill einen Artikel, der ihm zu den pochenden Schmerzen noch einen eiskalten Entsetzensschauer bereitete:
"Millionenheer der Blutsauger gerade noch gestoppt! Die Stadt der Engel beinahe eine Stadt der Vampire! Wann finden unsere Vampirjäger endlich ein Mittel gegen Nocturnia?" verlas Tracy die Schlagzeilen. Dann folgte der Artikel. "Wie uns Strafverfolgungsleiter Lorne Vane erst jetzt mitzuteilen bereit war, hätte es in der von Millionen Muggeln bevölkerten Stadt Los Angeles beinahe eine großflächige Verseuchung mit dem von der weltherrschaftssüchtigen Vampirtruppe Nocturnia entwickelten Vampirwerdungsgift gegeben. Diesmal, so die sehr angsteinflößende Meldung, hätten die Nocturnianer fast eine gasförmige Abwandlung ihres Keims freigesetzt. Jetzt sei es amtlich, daß Vampire mit Berufsverbrechern aus der Muggelwelt gemeinsame Sache machten. Denn die tückische Essenz sei als Flüssigwaschmittel getarnt in einer kleinen Frachtflugmaschine von New York aus an die Westküste geschafft worden. Sie las weiter, wie der Angriff Nocturnias gerade noch vereitelt werden konnte. Hierbei kam das Marie-Laveau-Institut besser weg als das Zaubereiministerium, da es Kontakte mit gegen Vampire kämpfenden Zauberern aus Übersee aufgenommen habe und wichtige Bestandteile des Vampyrogens entschlüsselt habe. Zudem, so der Artikel weiter, sei es dem LI gelungen, Kristalle zu entwickeln, die das in Vampiren zirkulierende, veränderte Blut zu immer stärkeren Schwingungen anrege, je näher sie dem Kristall kämen. Auf Orte, wo das Vampyrogen eingesetzt würde, habe diese neuartige Abwehrmethode die Wirkung, die Verwandlung in einen Vampir zu hemmen und die in den Körper aufgenommenen Keime wie herkömmliche Erreger von den körpereigenen Abwehrmitteln erkennen und vernichten zu lassen. Als bekannt wurde, daß durch eine gasförmige Abwandlung des Verwandlungserregers hunderte, ja tausende von Menschen zugleich befallen werden sollten, war natürlich der Aufruhr groß. Fragen nach dem Schutz der Muggelbevölkerung in Großstädten wollte uns Mr. Lorne Vane nicht beantworten. "Das sind Ministeriumsinterna, die ich nicht preisgeben darf, da von ihrer Geheimhaltung Menschenleben abhängen", so der oberste Strafverfolgungszauberer der USA. Der angriff konnte also gestoppt werden. Doch die Frage bleibt: Werden die Nocturnia-Vampire es wieder versuchen? Nicht auszudenken, wenn eine große Stadt nur noch von Blutsaugern bevölkert würde!"
Tony dachte einen winzigen Moment daran, daß ihm jetzt auch Vampirzähne wachsen mochten, so weh ihm das tat. Doch dann überlegte er, was dieser Artikel enthüllte. Zum einen hatte Nocturnia einen großen Schlag versucht und hätte die Zauberer- und Muggelwelt damit beinahe kalt erwischt. Wäre L. A. zur Stadt der Vampire geworden, wäre diese Bande nicht mehr aufzuhalten gewesen. Außerdem war da noch die Wirkung auf die Moral der Ministeriumsleute. Wenn der Anschlag geglückt wäre, hätte Nocturnia die USA und jedes Land mit großen Städten erpressen können, jederzeit andernorts ähnlich grausam zuzuschlagen. Die Zaubereiministerien der Welt hätten womöglich die Geheimhaltung der Magie aufkündigen müssen, um den Muggeln beizustehen und von ihnen immer informiert zu werden, um das größere Übel, Metropolen voller Nachtkinder, zu verhindern. Das jagte Tony solches Entsetzen ein.
In der Stimme des Westwinds stand natürlich ein ausführlicher Artikel zu dem vereitelten Anschlag in Los Angeles. Linda Knowles - wer auch sonst? - berichtete davon, daß ihr zu Ohren gekommen sei, daß Vane mit einem Anschlag am zehnten Januar im Raum San Francisco, also einen Tag und knapp 382 Meilen weiter fort gerechnet habe. Woher das Ministerium diese Neuigkeiten bekommen habe, habe sie Vane nach dem vereitelten Anschlag in Los Angeles gefragt. Doch dieser hatte abgestritten, daß das Ministerium aus einer anderen Quelle Informationen erhalten haben mochte.
"Da haben wir aber noch einmal Glück gehabt", bemerkte Tracy Summerhill dazu. "Ich wollte nämlich mit dir am zwanzigsten zu Tante Hilda, wenn sie alle aus der Familie zu ihrem 80. Geburtstag da hat." Tony quängelte laut. Das wurde ihm also nicht erspart. Mit der Schwester seines Großvaters väterlicherseits hatte er sich nie richtig verstanden, weil die ihm dauernd in den Ohren gelegen hatte, er solle sich endlich eine Ehefrau zulegen. Was mochte die nun über ihn loslassen, den Sohn von Lucas Wishbone? Daß sie nicht dieser zu vermoderten Gerippen mutierten LRH beigetreten war lag wohl nur daran, daß sie auch unüberbrückbare Differenzen mit Madam Pabblenut gehabt hatte, weil die darauf bestanden hatte, daß ihre Tochter die Freundschaft mit einer ihrer Schülerinnen aufkündigte, weil diese sonst verwahrlosen würde. Familienfeiern waren Lucas Wishbone immer ein Gräuel gewesen. Jetzt, wo er Tony Summerhill war und keinen Schritt auf eigenen Beinen tun oder sich mit wohlgewählten Worten für sein Fernbleiben entschuldigen konnte, würde das wohl ähnlich schlimm sein wie die pochenden Schmerzen der ersten wachsenden Zähne.
Theia erfuhr aus den Zeitungen vom gescheiterten Angriff auf Beverly Hills und auch, daß das Ministerium offenbar einer falschen Spur nachgejagt hatte. Jetzt war Theia und Selene klar, daß die Nocturnianer wußten, daß sie ausgekundschaftet worden waren und vor allem, wer der Agent oder die Agentin gewesen war. Vielleicht, so vermutete Selene, als sie das Cogison trug, hatte Nocturnia aber auch ganz gezielt einen ihrer Vampire wie einen Agenten handeln lassen.
"Nachdem, wie ich persönlich diese Nyx erlebt habe, ist ihr zuzutrauen, daß sie euer Zaubereiministerium meilen weit hinters Licht geführt hat. Wenn die vom Laveau-Institut nicht erfahren hätten, daß das eigentliche Angriffsziel das Reichenviertel Beverly Hills sein sollte, hätten sie erst einen Tag später erfahren, daß der perfide Angriff bereits ausgeführt worden ist. Dann wäre es aber zu spät gewesen."
"Unser Gebräu hilft gegen verseuchtes Wasser. Bei einem gasförmigen Agens müßte es geprüft werden. Außerdem hatten wir nicht die Menge, um eine Legion von Verseuchten zu retten", erwiderte Theia Hemlock.
Eileithyia fauchte per Flohpulver zu ihren Blutsverwandten herein und besprach mit ihnen, wie die Leute des Laveau-Institutes den großen Angriff vereitelt hatten.
"Diese VBR-Kristalle sind mindestens zwei Galleonen pro Milliunze wert. Die Dinger könnten glatt in Diamanten aufgewogen werden."
"Dürft ihr diese Kristalle untersuchen?" wollte Selene von ihrer offiziellen Ururgroßmutter wissen.
"Leider nicht, zumal Mr. Davidson in einem Gespräch mit mir auf genau diese Frage geantwortet hat, daß die Herstellung auch schon schwierig sei und wir Heiler gewiß kein Vampirblut sammeln würden, hieße dies doch, Menschen erst zu Vampiren werden zu lassen, um ausreichend viel weißes Blut zu erhalten. Aber ich bin an der Sache dran, weil ich als oberste Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft nicht einfach so hingehen lasse, daß jemand eine wirksame Früherkennung von Vampiren und eine gleichzeitige Postexpositionsprophylaxe bei bereits erfolgter Vergiftung mit dem Vampyrogen entwickelt hat. Da besteht meinerseits noch sehr dringender und umfassender Informationsbedarf."
"Du glaubst, daß die vom LI bezahlten Experten ihre Geheimnisse mit dir teilen, Oma Thyia? Das sind garantiert keine aprobierten Heiler", knurrte Theia.
"Das weiß ich, Theia. Aber ich kenne genug Leute im Ministerium, die sich auch dafür interessieren, warum das LI so gründlich auf Nocturnia vorbereitet ist und woher sie das mit Beverly Hills wußten."
"Ich könnte zwar einige Personen nennen, die leichter an die Mitarbeiter des Laveau-Institutes herantreten könnten. Aber dann könntet ihr mir gleich dieses hemmende Armband entfernen und mich zum allgemeinen Bestaunen der Zaubererweltöffentlichkeit preisgeben."
"Ja, das wäre durchaus auffällig", sagte Theia. Sie mußte innerlich lächeln. Doch sie verstand, warum ihre Tochter die Gunst der Stunde nicht nutzte. Es wäre für diese selbst sehr anstrengend, als Wickelhexlein von Arm zu Arm gereicht zu werden und als achtes oder neuntes Wunder erkannt zu werden. Außerdem, so erkannte Theia auch, hätte ihre Tochter ja dann auch verraten müssen, was sie in den Körper eines Säuglings hineingetrieben hatte, ja daß sie vollständig im Mutterleib herangewachsen und neu zur Welt gekommen war. Das wollte sie dann doch nicht. Noch nicht.
"Keine Sorge, Selene. Ich kenne genug nette Zauberer und Hexen, die mir helfen können, ganz gewaltlos ein paar Fragen zu klären. Du siehst zu, daß du fleißig weiterwächst und irgendwann als großes Mädchen nach Thorntails hinein und als fertig ausgebildete Hexe wieder herauskommst." Selene hätte fast über das Cogison losgelassen, daß sie im ersten Moment, wo ihr wer einen Zauberstab in die Hand drückte, nach Frankreich apparieren würde. Doch das behielt sie dann doch besser für sich. Am Ende wurde ihr doch noch das Gedächtnis verändert. Und genau das war es, was ihr, der altgedienten Hexe im Körper eines Säuglings, die größte Angst machte, die Iterapartio-Regel. Denn Austère Tourrecandide war tot. Tauchte sie jetzt wieder auf, würde das alle Zaubereiministerien der Welt erschüttern. Also mußte sie brav das kleine, unschuldige Bündel Menschenleben geben und so unauffällig sie konnte aufwachsen. Ob und wem sie sich dann offenbaren wollte, konnte oder durfte, konnte sie erst klären, wenn sie mehr als siebzehn Jahre alt war.
"Morgen haben wir seine Insel", versprach Concepción Duárte ihrer seit vier Wochen übergeordneten Anführerin Lolita Henares. Der Hofstaat der selbsternannten Nachfolgerin von Valery Saunders war auf fünfzig Frauen und Mädchen angestiegen. Fünf Männer hatten sie in aus Fabriken geklauten Tierkäfigen mit Futterklappe eingesperrt, um sie als Triebabfuhrsklaven zu halten.
Anthelia forschte in den Tagen bis zum elften Januar nach einem Weg, existierende Abkömmlinge von Entomanthropen aufzuspüren. Die Aufzeichnungen und Erinnerungen ihrer Tante Sardonia gaben da nicht viel her. Sicher, sie hatte die Entomanthropen erschaffen, um sie einzusetzen. Sie hatte nie danach geforscht, ob es eine Möglichkeit gab, sie zurückzuverwandeln. Nur einmal hatte sie was von einem legendären Schwert der Entschmelzung geschrieben, von dem es hieß, daß es zusammengekreuzte Wesen in ihre Ausgangsgeschöpfe zurückverwandeln könne. Doch ob dieses Schwert eben nur ein Zaubererweltmythos oder ein irgendwann mal existentes Artefakt gewesen war hatte selbst Sardonia nicht ergründen können. Nur wußte Anthelia, daß es doch alte Gegenstände gab, die in grauer Vorzeit entstanden waren. Einen davon besaß sie ja selbst. einen anderen hatte sie selbst für sich und alle anderen ungreifbar gemacht. Nur was aus dem Krug der Aiondara geworden war, hatte sie bis heute nicht erfahren. Wer immer ihn begraben oder entfernt hatte würde es auch sicher so gut absichern, daß sie und andere Interessierte nicht darauf stoßen konnten. Dann fiel ihr ein alter Zauber aus Naaneavargias Geburtsland ein, der in Verbindung mit einem Artefakt der Beherrschung den Aufenthaltsort des davon beherrschten verraten und auch über dessen Abkömmlinge Auskunft geben konnte. Es war das Lied des gläsernen Dieners. Anthelia dachte immer wieder an die alten Zeilen. Dann erkannte sie, daß sie das für Entomanthropen wichtige Artefakt erst einmal vollenden mußte. Sie hatte nur den Bernstein mit der darin eingeschlossenen fossilen Bienenleiche. Um daraus einen Entomolithen zu machen, wie sie ihn vor Valerys Vernichtung besessen hatte, mußte sie die alten Zauber Sardonias in genau der vorgeschriebenen Reihenfolge aufbringen. Um nicht erneut den Fehler zu machen, aggressive Kreuzungen afrikanischer und europäischer Honigbienen in ihre Zaubereien mit einzubeziehen mußte sie nach Europa. Denn die Zutaten waren neben ihrem Blut und das eines unberührten Jungen und eines unberührten Mädchens auch die zu Pulver zerstoßenen Leiber von Honigbienen und deren Honig, was alles in einen Trank zu rühren war. Sie mußte den Stein einen Tag darin baden. Dann mußte sie die von Sardonia ergründeten Zaubereien mit ihrem Zauberstab ausführen, während der Stein weiterhin im Trank schwamm.
Hatte sie dann den Stein erzeugt und gegen alle fremden Mittel der Zerstörung gehärtet, konnte sie mit dem Lied des Gläsernen Dieners und dem Blut eines bereits bestehenden Diners nach allen suchen, die wie er waren oder mit ihm verwandt waren. Für Anthelia hieß es, erst zu prüfen, ob der neue Entomolith so wirkte wie er sollte. Tat er dies nicht, und wurden alle noch schlafenden Entomanthropen dadurch unbeherrschbar, so mußte sie auch die in Schlaf versetzte Streitmacht töten, bevor diese sich ungehemmt über die Welt hermachte und sie einen Drachen mit zwanzig Basilisken austrieb. Zumindest mußte sie keinen Menschen töten. Denn, so Sardonia, der neues Leben erschaffende Entomolith wirkte nur dann, wenn der größte Teil des zu seiner Herstellung nötigen Blutes weiterhin in den Adern seiner Träger pulsierte. Erst wenn der Stein eine neue Brutkönigin erzeugt hatte, war er ein für allemal Einsatzbereit, auch wenn die Blutspender danach starben.
Als in den Staaten der große Vampyrogengasangriff Nocturnias zurückgeschlagen wurde, war Anthelia gerade dabei, sich aus den Bienenstöcken französischer Imker genug Arbeiterinnen und verbliebenen Honig zu stiebitzen. Da dabei auch einige Bienen starben mußte sie lange suchen, bis sie genug zusammenhatte. Die Natur Naaneavargias hätte sie fast dazu getrieben, einem jungen Mann nachzulaufen, der auf dem Nachbarhof des Bienenzüchters wohnte und von einer leidenschaftlichen Liebesnacht mit einer gewissen Britney Spears träumte. Anthelia hätte ihm gerne gezeigt, daß sie mit der in ihr verewigten Natur der unersättlichen Naaneavargia mehr Leidenschaft und Kenntnis zu bieten vermochte, als eine gerade erst zur Frau heranreifende, viel zu hoch gelobte Sängerin niederer Unterhaltungslieder. Doch sie war nicht hier, um sich selbst die nötige Triebabfuhr zu verschaffen. Sie mußte ihre Aufgabe erfüllen. Das was Anthelia in ihr war, verwünschte einmal mehr, daß sie mit Naaneavargias Unverwüstlichkeit und deren altem Wissen auch ihre Gier nach geschlechtlichem Beisammensein erhalten hatte. Doch wenn sie das Problem mit den zurückverwandelten und offenbar von allen ausgestoßenen Kindern Valerys gelöst hatte, würde sie sich wieder wen suchen, der würdig war, ihren Lebenskelch mit seinem Lebensspender zu erfüllen.
Am zwölften Januar hatte sie unter Ausnutzung eines einfachen Schlafzaubers einen siebenjährigen Jungen und ein zehnjähriges Mädchen dazu bekommen, ihr einen Viertel Liter ihres Blutes zu überlassen. Mit einem Viertelliter ihres eigenen Blutes, den zerstoßenen Bienen, ihrem Honig und anderen Ingredientien rührte sie den Zaubertrank an. Die beiden Kinder waren derweil ohne Erinnerung und Spuren einer Verletzung bei ihren Eltern aufgewacht. Sie würden sich vielleicht noch einige Tage erschlafft fühlen. Doch zu dieser Jahreszeit grassierte häufig die Grippe oder eine ihr verwandte Ansteckung in Europa. Man würde höchstens eine etwas verringerte Menge Blut nachweisen, aber keine Einstiche oder dergleichen finden. Dafür war Anthelia als ausgebildete Heilerin zu gut mit dem Körper eines Menschen vertraut. Gerne hätte sie sich mit dem Devoluptus-Zauber oder Lusthemmungstränken behandelt. Doch der Zauber würde wohl abprallen und die Tränke von den Tränen der Ewigkeit in ihrem Körper unwirksam gemacht. Zumindest hatte sie nun den Trank fertig, zu dem sie im Rhythmus eines schlagenden Herzens umgerührt hatte und nun den mitgenommenen Bernstein in die erkaltete, sirupartige Flüssigkeit bettete. Sie notierte sich den Sonnenstand. Morgen bei gleichem Sonnenstand würde sie die nötigen Zauber ausführen, in genau der Reihenfolge, die ihre Tante als perfekt ermittelt hatte.
Nadja Markowa wußte, daß sie sich niemandem außer Anthelia anvertrauen konnte. Doch daß sie jetzt schon drei Tage allein im Hauptquartier der Schwesternschaft bleiben mußte, wo sie gerne über die immer wieder aufkommenden Ängste und Selbstzweifel sprechen wollte, trieb sie immer wieder an, unter dem Tarnumhang in die Nähe von Dropout zu reisen, um den Muggeln dabei zuzusehen, wie sie ihren Alltag führten. Wie ein Gespenst aus Fleisch und Blut schlich sie zwischen den ihrer Arbeit und Freizeit nachgehenden herum. Anthelia hatte ihr die Geschichte dieser kleinen Stadt erzählt. Nadja wunderte sich, daß die meisten Bewohner mit der schweren Bürde zu leben gelernt hatten, daß sie alles hier hatten neu aufbauen müssen, gab ihr doch mehr Mut, mit der Last die sie im Namen ihrer Schwesternschaft trug, besser zu leben. Noch fühlte sie nur, daß ihr Körper sich veränderte. Nur wenn sie die eine von zwei Mithörmuscheln auf ihren Unterleib legte, dann konnte sie etwas sehr schwach pochendes außer ihrem Herzschlag hören. Das war ihr Einsatz für die Schwesternschaft der Spinne und gleichzeitig ihre Lebensversicherung. Denn nur weil sie sich bereitgefunden hatte, die zu entgleiten drohende Dido im Duell dazu zu treiben, Anthelias Fehler gegen Daianira zu wiederholen, hatte sie überhaupt die Berechtigung, weiter in Freiheit zu leben. Denn Arcadi, der Zaubereiminister ihres Landes, hätte sie sonst früher oder später verhaften lassen. Dann wäre womöglich der Treuefluch in Erfüllung gegangen, der sie am Verrat gehindert hätte. Sie durfte leben, weil sie Dido Pane unter neuem Namen auf die Welt zurückbringen wollte. Wenn sie die Leute hier bei der Arbeit oder Nachbarschaftsplaudereien mitbekam, erkannte sie, wie schön das Leben sein konnte, wenn es mit wohlmeinenden Mitmenschen geteilt wurde. Sie hoffte darauf, daß Anthelia bald von ihrer geheimen Reise zurückkehrte.
Als sie nach einer Stunde langsamen Fußmarsches mit vielen Rasten wieder in der Daggers-Villa war, konnte sie sich nur noch in ihrem kleinen Zimmer hinlegen. Erst der Hunger für zwei trieb sie von ihrem Bett herunter. Dann war der Tag auch schon wieder vorbei.
Anthelia verwünschte die Zeit, die nötig war, um die nötigen Zauber zu wirken. Doch erst am zweiten Tag nach Beginn der Zaubereien leuchtete der Bernstein erst rot und dann hellgelb auf. Der ihn umgebende Trank war im Verlauf der Zauber immer mehr von dem Stein eingesaugt worden oder in Form honiggoldener Dampfwolken verdunstet. Jetzt schien ein goldenes Feuer mit bläulichen Blitzen darin im Kessel zu lodern. Anthelia hoffte, daß der Stein nicht auch zerstört wurde. Denn dann müßte sie wieder von vorne anfangen. Sie fragte sich, wie viele Bernsteine Sardonia hatte einsetzen müssen, bis sie den stabilen Entomolithen, wie in Salazar Slytherin erschaffen hatte, selbst hinbekommen hatte.
Nach fünf Minuten schrumpfte das Feuer zusammen. Übrig blieb der gelbglühende stein. Anthelia fühlte, wie warme Schauer durch ihren Körper liefen und sah mit einer Mischung aus Erstaunen und Unbehagen, wie der Stein im Takt ihres eigenen Herzens pulsierte. Er war nun dreimal so groß wie zuvor. Sie sah, wie sich das eingeschlossene Insekt darin regte und seine großen Facettenaugen auf sie richtete. Die haarigen Fühler schwammen förmlich im Bernstein. Als Anthelia wie hypnotisiert dem Winken der Tastorgane zusah, fühlte sie, wie die Verbundenheit mit dem Stein stieg. Sie mußte ihn ergreifen, obwohl er noch gelb leuchtete. Doch so war es richtig. Sardonia hatte es beschrieben. Um den Entomolithen endgültig zu vollenden, mußte sie ihn als ihren Stein annehmen, das Band ihres Bluts mit der Kraft der in ihn hineingewirkten Zauber knüpfen. Sie griff in den nun außer dem Stein leeren Kessel hinein und berührte ihn. Drei Sekunden lang durchrasten sie Wärmeschauer. Dann hielt sie den Stein sicher und fest nach oben. Sie sprach die letzten Zauberworte, die bekundeten, daß sie diesenStein so wollte, wie er war. Dann hörten die Wärmeschauer auf. Die eingeschlossene Insektenleiche erstarrte wieder, und das innere Leuchten erlosch. Jetzt hielt Anthelia einen großen, honigfarbenen Stein hoch, der sich handwarm anfühlte und sachte vibrierte. Jetzt stand ihr die erste und zugleich gefährlichste Probe des Steines bevor.
Sie apparierte in die Nähe jener Höhle, in deren Wände sie selbst die letzte Brutkönigin und ihren Hofstaat eingebettet und in Schlaf befohlen hatte. Gelang es ihr, die Schlafenden zu erwecken, war der Stein tatsächlich mächtig. Doch nur, wenn sie es schaffte, die erweckten Entomanthropen zu befehligen, hatte sie ihren Entomolithen korrekt hergestellt.
"Wacht auf! Wacht auf! Eure Herrin ruft euch! Wacht auf! Wacht auf!" Anthelia wiederholte diesen Befehl wieder und wieder. Sie wußte, daß die in den Wänden gebannten Entomanthropen in einer tausendfachen Zeitverzögerung lagen. Um sie zu rufen mußte diese erst auf das übliche Geschwindigkeitsmaß ansteigen. Erst nach einer halben Stunde erbebten die Wände. Dann setzte die Magie ein, die die Wände für die dahinter liegenden durchlässig machte. Es war wie Nebel, als die ersten dunklen Schatten hervortraten. Dann erschien der gewaltige Kopf der einen Brutkönigin. Sie bewegte ihre haarigen Fühler auf Anthelia zu. Diese mußte einen Schritt zurückweichen. Dann entschlüpfte die erwachte Brutmutter der sirupartig aufgeweichten Wand und entfaltete ihre vier mächtigen Flügel. Anthelia befahl ihr: "Sei mir unterworfen!" Sofort fühlte sie die Wirkung. Der Stein in ihrer Hand erwärmte sich, und die Worte ihres Befehls hallten lange und tief im Kopf der Königin nach. Der Hunger der Brutmutter, der sie zunächst antrieb, die kleinere Menschenfrau anzugreifen, wich der bedingungslosen Hingabe und Unterwerfung. Noch viermal wiederholte Anthelia den Befehl, bis sie über ihre telepathischen Sinne und den Stein sicher war, daß ihr neues Artefakt voll und ganz tat, was es sollte. Die aus einer europäischen Honigbienenkönigin und einem sehr jungen Mädchen entstandene Kreatur war ihr nun wieder unterworfen, auch wenn sie einen anderen Stein benutzte als den, mit dem dieses Wesen und seine Brut erschaffen worden waren. Anthelia atmete auf. Denn sie hatte befürchtet, daß die noch lebenden Entomanthropen genaudeshalb nicht gehorchen mochten, weil ein anderer Stein benutzt wurde.
Auf den Befehl hin, ihren rechten Arm hinzuhalten, tat die Entomanthropenkönigin es. Mit einem magisch gehärteten Messer schnitt sie der beharrlich wartenden Königin in den dicken Panzer hinein und fing zwanzig große, durchsichtige Blutstropfen in einer Phiole ein. Dann schloß sie die Wunde mit "Episkye!" Auch das ließ sich die wiedererwachte Brutkönigin gefallen.
Als Anthelia sicher war, daß diese Streitmacht ihr sicher war, befahl sie ihr unter Ausspruch der Verbergezauber, in den tiefen Schlaf zurückzukehren. Solange sie keinen gravierenden Grund besaß, diese Streitmacht einzusetzen, wollte sie sie weiterhin verbergen. sie befahl weiter, daß ihre unnatürlichen Gehilfen in das Gestein zurückschlüpften. Als dann die Zeitverzögerung wieder eintrat, kehrte auch die Verfestigung der Wände zurück und verhüllte das, was dahinter verborgen lag. Anthelia hatte es geschafft. Jetzt mußte sie nur noch das Lied der gläsernen Diener mit hilfe eines Bergkristalls ausführen, um zu sehen, wo alle von einem Entomolithen erschaffenen Abkömmlinge waren.
Armando Enrique Delgado Vega hielt sich für unbesiegbar. Er war der heimliche Herr der kolumbianischen Drogen. Die Kartelle in den großen Städten wurden von ihm koordiniert, nicht weil er der Anführer war, sondern weil er es verstand, die untereinander zerstrittenen Organisationen als neutraler Vermittler zu zwischenzeitlichen Geschäften ermutigen zu können. Armando hatte das Machtvakuum, das nach dem Tod von Diego Manuél Borja Minguéz in Medellín entstanden war, ohne weitere Gewaltausbrüche auffüllen lassen. Seine Feinde hatten sich bereiterklärt, das Revier zu teilen, um keine weiteren Schlachten zu provozieren. Dabei hatte er nicht ganz uneigennützig ein Zehntel des bisherigen Jahresertrages der für Minguez arbeitenden Kokabauern ausgehandelt.
Die Insel hieß Santa Lucia Celeste, lag am südlichsten Rand der karibischen See und lag auf keinem Hoheitsgebiet. Hier regierte Armando Vega als umunschränkter König. Zwar besaßen weder die USA noch Kolumbien oder Peru eine Handhabe, ihn als die graue Eminenz, la Sombra silenciosa, den schweigsamen Schatten hinter allen Drogengeschäften von Mittel- und Südamerika zu vermuten. Doch er war durch seine Tätigkeit her mißtrauisch genug, um damit zu rechnen, jederzeit von mißliebigen Banditen oder Militär angegriffen zu werden. Die gerade einmal 80 Hektar große Insel war rein Äußerlich eine mit tropischen Bäumen und Niederhölzern spärlich bewachsene Erhebung im Meer. Es gab einen Sandstrand und eine kleine Hafenbucht, wo die gelb-weiße Yacht "Luz del Sol" offen sichtbar vertäut war. Doch den geheimen U-Boothafen unter der Wasseroberfläche, so wie die tief im Vulkanfelsen versenkte Start- und Landeplattform für Hubschrauber war von keinem zu erkennen, auch nicht von irgendwelchen Spionagesatelliten. Zudem war in einigen ausgehöhlten Urwaldbäumen ein Raketenwerfer mit mindestens fünf weitreichenden Radar- oder Hitzesuchgeschossen eingebaut und konnte jederzeit durch automatisch hochfahrbare Vorrichtungen wie Paternoster-Fahrstühle mit Munition beliefert werden. Abgesehen von den unter Tarnnetzen verborgenen Maschinengewehrstellungen und den mit durchschlagkräftigen Waffen ausgerüsteten Wachposten, die im Bedarfsfall auch mit behutsam abgezweigten Raketenwerfern auf lästige Fluggeräte schießen konnten. Ja, hier konnte er sich vor einem Überraschungsangriff sicher fühlen. Eine ständig die Frequenzen ändernde, dreißig Seemeilen weit reichende Radaranlage bot genug Vorwarnzeit, so dachten Armando Vega und seine Truppen.
Die Tropennacht senkte sich auf Santa Lucia Celeste herab. Hier unten war vom weiter oben im norden stattfindenden Winter nicht viel zu spüren. Nur die Nächte kühlten zeitweilig bis auf fünfzehn Grad herunter. Der Herr der Insel saß mit seinen Freunden Emilio, Jorge und Alvaro bei einer Pokerrunde. Jeder von ihnen war Dollarmillionär. Da war die Frage nach einem Limit pure Feigheit. Als Alvaro gerade fünfhunderttausend Dollar an Armando verlor meinte dieser: "Jetzt kann ich Conchita demnächst die goldene Dienstmädchenhaube aufsetzen."
"Nachdem du mit ihr die Resonanzfrequenz deines Bettes ausgetestet hast, Armando?" wollte Emilio wissen. Er durfte sich solche Frechheiten leisten, für die manch anderer schon mit durchschnittener Kehle ins Meer geworfen wurde.
"Die wird mir langsam zu alt. Da könnte ich glatt die Bridgefreundin meiner lieben Mama fragen, ob die für fünfhundert Riesen nicht mit mir zwischen den Laken tanzt, Emilio. Aber wenn du Ansprüche an Conchita anmeldest, mach mir ein Angebot!"
"Sehe ich aus wie ein Abdecker, der alte Pferde kauft?" erwiderte Emilio und erntete böses Lachen von den anderen. Da klopfte es an die Tür. Armando zischte allen zu, das Geld verschwinden zu lassen. Conchita mußte nicht in Versuchung geführt werden, was hier vielleicht noch zu holen war.
Das ganz private Dienstmädchen des Glückshändlers, wie sich Vega immer gerne nannte, kam mit vier großen Flaschen echten schottischen Whiskys herein. Sie zählte schon an die fünfzig Jahre. Aufwändige Schönheitsoperationen und teure Kosmetik ließen sie jedoch wie Anfang dreißig aussehen, zumindest, wenn sie bekleidet war. Sie verbeugte sich ansatzweise vor dem Hausherren und König von Santa Lucia Celeste und stellte dann die Flaschen auf den Tisch. Dann bedachte sie Emilio, der ihr auf die umfangreich aufgebesserte oberweite blickte, mit einen schüchternen Blick. Armando sah Emilio sehr tadelnd an. Damit war die Rangordnung eindeutig geklärt. Concepción, die von den Männern nur Conchita genannt wurde, verließ das mit Zigarrenrauch geschwängerte Pokerzimmer ohne ein Wort. Dienen ohne zu reden, das hatte der schweigsame Schatten seinen Lakeien und Dienstmädchen sehr früh eingebläut. Als die Tür wieder zu war öffneten die vier Männer je eine Flasche und füllten die Gläser, die bisher mit dem Inhalt nur einer Flasche hatten auskommen müssen. "Zum Wohl Jungs, auf das großartige Jahr 2000, das schon sehr gut angefangen hat!" sprach der Herr der Insel und trank seinen Freunden und Kartenspielkameraden zu. Sie schluckten den teuren Whisky, als wäre es Leitungswasser. Schon nach einer halben Minute mußten die Gläser erneut gefüllt werden.
"Na, wer schafft es noch, mit vier Gläsern Scotch in der Birne zu bluffen oder einen Royal Flash vor den anderen zu verheimlichen?" wollte Emilio wissen. Die anderen grinsten. Das schottische Lebenswasser wirkte schon. Aber sie waren hart im Nehmen. Allerdings hatte der im Whisky enthaltene Alkohol etwas überdeckt. In jeder Flasche war ein Quantum eines Schlafmittels, das beinahe Geschmacklos war und einen echten Whiskygenießer beim vorsichtigen Trinken noch aufgefallen wäre. Doch die den teuren Stoff einfach so wegkippenden Drogenhändler und anderen Schwerkriminellen hatten eben keinen Geschmackssinn für die Feinheiten echten Scotchs. So passierte es, daß erst Alvaro glasige Augen bekam und auf seinem Stuhl zu schwanken begann. Weil er nicht wollte, daß die anderen ihn als Schwächling, der nichts vertrüge ansahen, kämpfte er gegen diese Erschöpfung an. Doch als auch Emilio, Jorge und Armando immer schläfriger wurden, erkannte er, daß doch etwas nicht so war, wie es sollte. Armando wollte aufspringen und nach Conchita läuten, weil er erkannte, daß er mit einem Schlafmittel vergiftet worden war. Doch die Droge im Whisky schlug nun unabwehrbar zu und brachte den Drogenhändler zum Straucheln und Stürzen. Die drei anderen sprangen noch auf. Doch da verließ auch sie der Gleichgewichtssinn und ihm folgend auch jeder andere. Sie stürzten dumpf zu boden und blieben liegen. Keine Minute später ploppte es laut, und sieben gruselig anmutende Gestalten standen im Pokerzimmer. Sie wirkten in ihren hautengen Gummianzügen wie menschliche Insekten, jedoch ohne drittes Gliederpaar, Flügel und Stachel.
"Das ist Armando", sagte eine der Frauen mit Concepcións Stimme und deutete auf den Herrn der Insel. Eine andere Gestalt antwortete: "Wunderbar, und seine Spießgesellen gleich dabei. Die brauchen wir nicht. Nur der Chef selbst ist wichtig. Wo hat er seinen Trainingsraum?"
"Neben dem Weinkeller", sagte Conchita.
"Gut, dann hole ich ihn dort in unsere Reihen", erwiderte die mit einer Insektenkopfmaske verhüllte Anführerin und griff nach dem Bewußtlosen Hausherren. Die anderen drei wurden von je einer der sechs anderen mit lautem Knall ins Nichts entführt. Man würde sie später mit Kugeln im Kopf in Mexiko, Guatemala und Kolumbien finden. Nichts wirklich besonderes mehr.
Armando erwachte erst fünf Stunden später aus der Betäubung. Da kreiste jedoch schon das Blut von Lolita Henares in seinen Adern und hatte ihn zum Teil umgewandelt. Äußerlich war er noch derselbe. Doch als Lolita ihn in seinem Trainingsraum aufsuchte und ihm in seine Gedanken hineinsprach, konnte er sich nicht dagegen wehren. "Wir ziehen jetzt bei dir ein. Laß alle Männer, die deine Schutztruppe bilden, im Hauptbunker antreten!" lautete der Befehl. Als dieser ausgeführt war ließ Lolita ein fast geruchloses Giftgas einströmen, daß die Männer innerhalb von Minuten umbrachte. Denn auf Santa Lucia Celeste hatten nur die Männer zu leben, die den neuen Herrinnen zur Verfügung stehen sollten.
Die gelb-schwarzen Eroberinnen feierten ihren handstreichartigen Sieg. Vega war mit drei jüngeren Männern seiner Leute in mitgebrachten Käfigen eingesperrt worden. Lolita hatte ihm befohlen, sich nicht zu rühren und nur zu essen und den unter der Bodenplatte angebrachten Auffangbehälter für Ausscheidungen zu benutzen.
"Ab morgen holen wir uns den Rest der Welt!" frohlockte Lolita Henares, die mit den anderen die Weinvorräte des Drogenhändlers plünderte. Sie dachte daran, daß Vega einen Privatjet auf dem Flughafen von Caracas stehen hatte. Damit war es möglich, heimlich weit in die Welt zu reisen und nach den beiden ihr davongelaufenen zu suchen. Jetzt, wo sie diese Streitmacht hatte, würde sie selbst gegen Marisas und Miltons vereinte Kraft bestehen können. War Marisa erst einmal tot, dann gehörte Milton ihr alleine, falls sie ihn nicht einer ihrer bedürftigen Mitschwestern überließ. Sie schwälgte in Eroberungsphantasien. Sie konnte Valery nachempfinden, wie die sich gefühlt hatte, als sie als übergroße Mischung aus Mensch und Honigbiene aufgewacht war. Sollte sie dieser Hexe danken, die Valery wohl erledigt hatte, daß sie, Lolita, jetzt einen besseren Weg gefunden hatte, um die Menschen zu unterwerfen?
Die Nacht auf der Insel war schon zur Hälfte um, als alle vom Blut der Umwandlung betroffenen plötzlich wie unter einem schmerzhaften Krampf in den Eingeweiden und im Kopf aufschrien. Es war für alle, als habe ein Blitz sie alle von unten bis oben durchrast. Alle sahen sich verstört an. Lolita Henares kauerte am Boden. Ihr hatte dieser plötzliche Anfall am meisten zugesetzt. Zehn Sekunden bangen Schweigens vergingen. Dann ein erneuter Aufschrei. Wieder war es ihnen, als durchrase sie ein schmerzhafter Energiestoß von unten bis oben. Doch diesmal ebbte es nicht ab. Es war wie ein Brennen in den Eingeweiden, ein Reißen in den Gliedern und ein Druck, der den Kopf von innen zum Platzen bringen wollte. Wieder durchtoste eine Schmerzwelle die auf der Insel versammelten. Alle fielen um und wanden sich am Boden. Lolita Henares fühlte es am deutlichsten, daß irgendwas mit ihnen passierte. Sie schrie vor Angst und Wut auf, während die Qualen zunahmen. Der vierte heftige Stoß raubte ihnen fast das Bewußtsein. Lolita flog wie von einem Schleuderbrett nach oben und fiel einen Meter hinter der vor kurzem erst in die Reihen der Vispas geholte Concepción. Judith Winters, die gerade unterwegs war, um ihren Sohn und die anderen Lustsklaven der Vispas zu füttern, stürzte von der ersten Schmerzattacke überrumpelt die steile Kellertreppe hinunter und brach sich das Genick. Doch weil alle oben mit ihrer eigenen Sinneserschütterung zu kämpfen hatten, bekam niemand ihren Tod mit. Selbst Howard Winters, der auf Befehl seiner Herrin in den beiden vergangenen Monaten viermal mehr gegessen hatte, als er nötig hatte, blickte nur kurz dorthin, wo seine Mutter gerade zu Tode gestürzt war.
Die nächste Schmerzwoge entriß allen oben das Bewußtsein. Die im Keller gefangenen Männer schrien laut auf, als auch sie die zunehmende Veränderung fühlten.
Die noch nicht ohnmächtigen wanden sich unter dem brennen und Reißen schreiend und stöhnend am Boden. Concepción sah ihre neue Herrin, die von irgendwas im inneren immer mehr aufgepumpt wurde, als bliese jemand eine Luftmatratze auf. Die elastische Kleidung spannte sich immer mehr. Doch auch sie war nicht unendlich dehnbar. Sie riß von oben bis unten auf und flog von der Wucht der sich entladenden Spannung geschleudert bis in die Krone einer Palme. Lolitas Körper wuchs an. Doch mit der nächsten Schmerzwelle verlor auch Concepción das Bewußtsein.
Am Fünfzehnten Januar hatte Anthelia es geschafft, einen kopfgroßen Bergkristall aus einem Stollen in Irland herauszuschneiden. Dabei war sie immer auf der Hut vor dem britischen Zaubereiminister. Allein die Anbringung von Verhüllzaubern, die jede andere Magie vor Spürsteinen verbargen, dauerte zwei Stunden an. Doch dann konnte Anthelia den großen Kristall in ihre Hände nehmen. Um das Lied der gläsernen Diener zu singen wollte sie aber in ihrem Hauptquartier sein.
Die Rückreise durch Apparieren dauerte zehn Minuten, weil sie immer wieder Zwischenstopps auf den Atlantikinseln machen mußte, um nicht zu erschöpft zu sein. Erst gegen halb neun Abends war sie in der Daggers-Villa. Nadja Markowa begrüßte sie sehnsüchtig. Sie weinte sogar. Anthelia tröstete die von ihrem Wohlwollen abhängige Mitschwester erst. Sie sprach mit ihr über die letzten Tage. Dann, als Nadja Markowa in ihrem Bett lag, vollführte Anthelia im Weinkeller der Daggers-Villa den letzten Zauber, um zu ergründen, wo die drei verschwundenen Entomanthropen abgeblieben waren. Hierzu formte sie mit berunten Steinen eine Kugel aus dem Bergkristall. Dann bestrich sie die Kugel mit dem mittlerweile getrockneten Blut der Entomanthropenkönigin. Dann drückte sie den Stein gegen den unteren Pol der Kugel und sang die alten Worte der Verbundenheit, des Dienstes und der Treue zu einer Anrufung der Erde, der Mutter allen Lebens und Geberin aller stofflichen Gaben aus ihrem Schoß. Sie rollte die Kugel so, wie sich die Erde um die Sonne drehte. Sie sang leise aber inbrünstig das alte Lied, wobei der Entomolith immer wieder jeden Punkt auf der unteren Hälfte des Kristallkörpers berührte. Dann begannen Stein und Kristallkugel sacht zu vibrieren. Der Stein glomm gelb. Die Kugel leuchtete in einem silbernen Farbton. Anthelia sah, wie aus dem Entomolithen Blitze in die Kugel überschlugen und aus dem oberen Pol als blutrote Lichtstrahlen wieder herausfuhren. Nun begann sich die Kugel von alleine zu drehen, wurde dabei immer schneller. Anthelia hörte ein feines Summen und Klingen. Sie wußte aber, daß ihr Zauber jetzt die volle Wirkung entfaltete. Dann erstrahlte die Kugel für einen Moment in einem blauen Leuchten. Dann sah Anthelia eine rothaarige Frau in einem gelb-schwarzen Kostüm, das wie eine zweite Haut anlag und alle ihre Körperformen unverfremdet nachvollzog. Um sie herum saßen, tanzten und standen andre Frauen, die lachten, wohl sangen und tranken. Dann schlug ein Blitz aus dem Entomolithen in die Kristallkugel über. Anthelia sah ein grünes Leuchten, das die Vision überlagerte. Dann kehrte das Bild zurück. Wieder flammte es grün, diesmal stärker und ließ die Erscheinung verschwinden. Dann kehrte sie zurück. Was Anthelia jetzt sah, erschreckte sie doch sehr.
Als sie erwachte, fühlte sie sich stark. Aber es hatte sich etwas verändert. Sie fühlte ihren Körper anders als vorher noch. Es war ein vertrautes Gefühl, und dennoch ein anderes als vorher. Sie blickte sich um. Die Welt war in viele kleine Einzelbilder aufgeteilt. Dennoch konnte sie erkennen, was sich verändert hatte. Das große Haus, in dem Armando Vega residiert hatte, war geschrumpft. Es war nur noch ein Drittel so groß wie vorher. Doch nicht nur das Haus war eingeschrumpft. Auch die Tropenbäume, aus deren Wipfeln winzige Vögel davonflogen, waren nicht mehr so imposant hoch. Tausende von Gerüchen strömten auf sie ein. Sie nahm sie nicht mit der Nase auf, sondern mit zwei aus ihrem Kopf herausragenden Gebilden, die sie mit ihrem Willen bewegen konnte. Erinnerungen fluteten ihren Geist. Doch auch ein immer größerers Bedürfnis wallte auf. Das Bedürfnis, sich fortzupflanzen. Sie erkannte, was ihr passiert war. Sie hatte nie damit gerechnet, daß doch noch etwas in ihr verblieben war. Eigentlich, so hatten diese Zauberer und Hexen doch behauptet, hätten die aus der Rückverwandlung entstandenen Normalobienen sie nur gestochen und seien dann gestorben. Doch jetzt erkannte sie, daß die Bienen damit nur ihr Leben in sie eingeflößt hatten, schlummernd und wartend. Jetzt, durch irgendwen oder irgendwas, war es erwacht und hatte ohne Warnung zugeschlagen. Lolita sah sich um, empfing die Duftsignale von ohnmächtigen Artgenossinnen, die jedoch schwächer als sie selbst waren. Sie sah am Boden liegende Geschöpfe, die noch nicht vollständig verwandelt waren. Sie stellte fest, daß die Wandlung in der Reihenfolge ablief, in der sie, Lolita, ihr Blut mit den Mädchen und Frauen geteilt hatte. Sie alle waren noch bewußtos. Doch sie, Lolita Henares, war mit Abstand die größte von allen. Sie war ihre Königin. War sie es vorher schon, so war diese Ordnung nun unübersehbar und unumstößlich. Sie fühlte, wie ihre Kräfte in alle alten und Neuen Gliedmaßen zurückkehrten. Sie regte sich und stand auf. Sie fühlte ihre vier gewaltigen Flügel auf dem Rücken und ließ sie erzittern. Es knatterte und klatschte. Dann brummte es kurz. Dann kamen mit lautem Dröhnen die Flügel auf Touren. Wie ein altes Propellerflugzeug klingend hob Lolita vom Boden ab, schwankte einen Moment und gewann dann alle in ihr verschütteten Erinnerungen und Instinkte zurück. Doch damals war es umgekehrt. Da war sie die kleine, unterworfene Arbeitsbiene, die Tochter Valerys. Jetzt war sie die Herrin, die Anführerin, die Mutter aller künftigen Insektenwesen. Hatte sie als Mensch die Zeit als Valerys Tochter als Hölle empfunden, so flutete die Erkenntnis, daß sie nun die Tonangeberin war, ihren von der Verwandlung ohnehin aufgewühlten Verstand mit einer Woge aus Überlegenheit und Freude. Sie war mächtiger als vorher. Die Anderen, die durch ein wenig ihres Blutes nur zu niederen Dienerinnen geworden waren, hatten ihr zu gehorchen. Sie flog höher und höher und genoß ihr neues Dasein. Sie war Valerys Erbin, ihre Kronprinzessin, die neue Königin. Sie hatte Valery überlebt, um das Reich der Bienenmenschen wie einen Phönix aus der Asche aufsteigen und noch größer aufblühen zu lassen. Mit dem Gefühl, jetzt unumschränkt und unbesiegbar zu sein, kam die Lust auf Männchen immer stärker durch. Um ein Volk zu gründen mußte sie Eier legen. Um Eier legen zu können mußte sie befruchtet werden. Waren die gefangenen Männer verwandelt worden? Falls ja, Dann gehörten die alle ihr allein. Denn die anderen waren keine Königinnen. Ein kurzer Rundflug über die Insel hatte das gezeigt. Sie raste mit wild brummenden Flügelpaaren zum Haupthaus zurück, wo bereits die ersten ihrer Dienerinnen erwachten. Die wußten nicht, was mit ihnen geschehen war. Doch das zu erklären hatte Zeit. Sie wollte ihre Männchen, sie wollte tierischen Sex, bis sie alle von denen gehabt hatte.
Sie roch, daß die im Keller gefangenen Männer tatsächlich ebenfalls verwandelt worden waren. Diese erwachten gerade und strömten Angst und Unsicherheit aus, weil sie nicht wußten, was mit ihnen passiert war. Lolita flog mit nach hintengeklappten Antennen vor die breite Hausfront. Diese wurde erschüttert, brach jedoch nicht ein. Die neue Brutkönigin bekam nur Kopfschmerzen. Doch die machten sie nur wütend und noch gieriger auf einenFortpflanzungspartner. Sie rammte mit den vorderen Armen das breite Panoramafenster ein. Das bestand eigentlich aus mehrschichtigem Sicherheitsglas. Doch nach nur fünf Stößen brach die dicke Scheibe an einer Stelle auf. Lolita packte mit allen vier Armen in die Öffnung und zerrte das Glas mit Urgewalt auseinander. Ihr dicker Panzer prellte die herausfliegenden Scherben ab. Ihre Hände konnten nicht verletzt werden. Die Haut war selbst gegen Samuraischwerter aus bestem Stahl gepanzert. Klirrend und prasselnd zerfiel das Panoramafenster, das ganzen MG-Garben hätte standhalten sollen. Lolita zwengte sich durch den freigebrochenen Rahmen hinein ins Haus mit den viel zu winzigen Möbeln. Diese schleuderte sie achtlos bei Seite, ob Tisch, Sofa oder Sessel. Ihr Ziel war der Keller. Da hörte sie das wilde Flügelschlagen aus den unteren Kellern. Die Männchen waren vollständig erwacht. Doch sie konnten ihre Käfigtüren nicht öffnen. Die waren mehrfach verriegelt, weil die Gefangenen ja auch als Menschen übermenschlich stark waren. Doch sie hörte mit großer Befriedigung, daß die Gitterstäbe brachen. Die Gefangenen Männchen waren doch zu stark für ihre Gefängnisse. Wut, aber auch steigende Lust auf einen Fortpflanzungspartner trieben sie an. Lolita verströmte wohl auch die entsprechenden Signale. Sie warf sich herum und quetschte sich durch das Fenster zurück nach draußen, wo sie ihren Wunsch nach Begattung immer intensiver ausströmte. "Kommt zu mir raus! Ich will euch alle haben!" schickte sie in Gedanken und per Duftstoffen ins Haus. Die gerade in die Freiheit ausbrechenden Gefangenen wurden davon noch mehr angespornt. Die massive Kellertür hielt der Gewalt von sieben vielfach stärkeren Männchen nicht Stand. Die Mauer um die Tür bröckelte. Dann fiel die Tür. Die Männchen drängten ins Freie, schubsten und stießen sich gegenseitig. Jeder wollte als erster mit der erwartungsvollen Herrin zusammenfinden. Diese sah, wie ihre Dienerinnen langsam erfaßten, wer und was sie waren. Sie schickte einen Botenduft aus, der ihnen zeigte, wem sie unterworfen waren. "Bleibt am Boden. Die Männchen sind für mich alleine!" sandte sie aus. Dann startete sie durch, um im Flug die ihr gehörenden Partner zu erwarten.
"Ich werde nicht zulassen, daß Lolita dich rumkriegt und du ihr Zuchthengst wirst, schrie marisa, als am Morgen des fünfzehnten Januars ein neuer Streit über die weitere Beziehung seinen Höhepunkt erreichte. Milton wollte zurück in die Staaten, um nach der Hexe zu suchen, die Valery damals verflucht hatte. Entweder sollte die ihn endgültig von dem Fluch freimachen oder sterben. Vielleicht erlosch dann der böse Zauber endgültig, und er konnte mit Marisa ein normales Leben führen. Doch diese wollte nicht, daß er in die Staaten oder nach Südamerika reiste. Sie wollte ihn für sich alleine.
"Du glaubst doch nicht, daß ich mir das noch das ganze anlaufende Jahrhundert mit dir antun will, Marisa. Ich habe mir das nicht ausgesucht, so zu werden, genausowenig wie du. Wir müssen da was gegen machen."
"Du fliegst da nicht hin, Milton. Sobald sie dich wahrnimt und ich nicht bei dir bin, vereinnahmt sie dich. Ich lasse das nicht zu."
"So, was willst du denn dagegen machen, wenn ich jetzt einfach so verschwinde?!" rief Milton und verschwand tatsächlich mit lautem Knall. Doch Marisa fühlte, wo er hinwollte und folgte ihm keine Zehntelsekunde später. Sie landeten in den Bergen von Neuseeland. "Du gehörst mir. Und wenn du mich auch nie schwängern kannst hast du nur mit mir zusammenzusein!" rief sie, nicht darauf achtend, ob jemand sie hören konnte.
"Ich will nichts von Lolita. Ich wollte es nicht, als die mich ausgeknockt und vergewaltigt hat und will auch jetzt nichts von der. Aber ich will wieder frei von dem ganzen Zeug leben", schnarrte Milton und verschwand erneut. Wieder folgte ihm Marisa. Jetzt waren sie auf der Nachbarinsel, keine zwei Kilometer von einem Gebiet, in dem die Maori ihre traditionelle Lebensweise pflegen durften.
"Du kannst mir nicht entwischen. Wenn du versuchst, mir abzuhauen bring ich dich um!" brüllte Marisa. Aufgescheuchte Tiere ergriffen laut schreiend und zeternd die Flucht.
"Dann lieber sterben als mit einer unfruchtbaren, nervigen, zeternden Frustbeule zusammen alt zu werden!" brüllte Milton Fleet und verschwand erneut, um auf dem Gipfel des Mount Cook aufzutauchen. 3754 Meter über dem Meeresspiegel stand er in tiefem Schnee, obwohl es in dieser Gegen der Erde gerade Sommer war. Keine Sekunde später erschien Marisa. Doch ihr setzte der plötzliche Höhenunterschied und die niedrige Temperatur sichtlich zu. "Na, habe ich dich gut verladen, Püppchen", knurrte Milton. Zwar rang auch er um Luft, weil der augenblickliche Klimawechsel seinen Körper betraf. Doch er war immer gerne in die Berge geklettert.
"Ich werde dich nicht gehen lassen, egal wohin, und wenn du auf dem Mond anzukommen schaffen solltest", keuchte Marisa. Milton fühlte, wie der Wille in ihr wuchs, den ihr zu entgleiten drohenden Gefährten zu töten, mit den elektrischen Schlägen, die sie erlernt hatte oder mit bloßen Händen. Er fühlte, daß sie ihn angreifen würde. Wollte er überleben, mußte er sie töten, bevor sie ihn umbringen konnte. Die über ein Jahr angeheizte Beziehungshölle hatte sie beide zu einer dramatischen Entscheidung getrieben. Er konnte nicht wissen, wie sehr es in ihr nachhielt, daß ihre Tante ihren Freund und Liebhaber zur eigenen Lustbefriedigung benutzt hatte. Er konnte nicht wissen, wie sehr sie im Augenblick, wo sie beide in Valerys Leib ihr scheinbares Ende fanden, geschworen hatte, jedem alles heimzuzahlen, der ihr das angetan hatte, auch wenn sie sich damals sicher war, gleich sterben zu müssen. Jetzt hatte er sie gedrängt, ihn anzugreifen, weil er die Hexe aufsuchen wollte, die das damals alles angestoßen hatte. Denn wenn ihm das gelang, ohne daß sie ihn zurückhalten konnte, dann blieb sie mächtiger als sie und Milton. Das durfte nicht sein.
"Tu dir keinen Zwang an, Marisa. Ich werde gleich gehen und nach dieser Antalia oder wie sie heißt suchen."
"Als Leiche", schnarrte Marisa. Zwischen ihren Händen sprühten Funken. Milton dachte an seinen eigenen Schild. Dann kam auch schon der blitz aus Marisas Händen. Doch er zersprühte an der leicht flimmernden Aura, die Milton umgab. Auch er konnte elektrische Ströme beeinflussen und sie zu einem massiven Panzer um den eigenen Körper formen. Sie griff erneut an. Wieder und wieder schleuderte sie Blitze. Er fühlte, daß ihre Wut ihr Kräfte gab, die er nicht für möglich gehalten hatte. Er spürte auch, daß seine Abwehr erschüttert wurde. Denn was beide nicht bedachten, sie mußten in der Nähe von Stromleitungen oder Kraftwerken sein, um genug Energie zu gewinnen, um ihre gewaltigen elektrischen Kräfte auszuspielen. Wieder knallte ein gleißender Blitz aus Marisas Händen. Sie keuchte und rang um den hier oben spärlichen Sauerstoff. Er dachte, daß er glleich verschwinden mußte, wollte er nicht ohne Schutz dastehen. Doch genau für das Verschwinden mußte er seinen Schutz aufweichen. Das durfte er nicht. Denn wieder krachte ein Blitz. Marisa stöhnte und schnaubte. Sie kämpfte. Sie sprang vor und schlug ihre Funkensprühenden Hände in die flimmernde Umhüllung ihres Daseinsgefährten. Die Hände prallten ab, weil sie gleichartig geladen waren. Es blitzte grün und rot wie Elmsfeuer.
"Wenn du versuchst, zu verschwinden, verdampfe ich dich noch im Auflösen zu Asche", brüllte Marisa. Da glitt sie auf dem rutschigen Boden aus und fiel hin.
"Jetzt mache ich dich fertig", knurrte Milton und wollte gerade seinen Schild zum Angriffsschlag umwandeln, als Marisa wieder auf die Füße kam und mit großer Wucht gegen ihn prallte. Dabei glitten sie beide aus. sie schlugen hin. Doch sie klammerte sich an ihm fest. Er versuchte, ihre Arme von sich fortzureißen. Sie beachteten nicht, wie sie immer mehr ins Rutschen kamen, bis sie über einen scharfkantigen Sporn des Gipfelgletschers in die Tiefe geschleudert wurden. Milton dachte daran, jetzt in Sicherheit zu teleportieren. Doch Marisa zog ihm die Kraft dafür ab. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Sie fielen und fielen. Er hieb nach ihrem Kopf. Mit seiner übermenschlichen Kraft schaffte er es, ihr den Kopf so wuchtig nach hinten zu schlagen, daß die oberen Halswirbel brachen und der Hauptnervenstrang durchtrennt wurde. Der Schauer ihres plötzlichen Todes lähmte jedoch auch ihn. Er hörte sie für eine Sekunde laut schreien. Dann verlor er die Besinnung. Denn sie beide waren zu sehr aneinander gebunden gewesen. Marisas Tod durch seine Hand hatte ihm einen Großteil des eigenen Lebens entrissen. Doch das wußte er nicht und bekam auch nicht mit, wie sie tiefer und tiefer und tiefer nach unten fielen, bis sie beide nach etwa dreihundert Metern mit endgültiger Wucht auf einen vereisten Felsvorsprung aufschlugen. Das löschte auch in Milton den allerletzten Lebensfunken. Welches ungemeine Glück die Bewohner von Neuseeland hatten, daß es so gekommen war, würde niemals wer erfahren.
Die Männchen waren hinter ihr. Sie hörte, fühlte und roch ihre Lust. Sie flog vor ihnen her. Sie wollte nicht landen. Sie mußten im Flug über sie kommen, sie nehmen und von ihr besessen werden. Da war auch schon der erste heran, Howard Winters, der jüngste von allen. Er prallte mit dem Bauch auf ihren Hinterleib und klammerte sich fest. Keine Sekunde später war die Vereinigung vollendet. Lolita fühlte das zusätzliche Gewicht auf sich einwirken. Doch es war nicht groß genug, um sie auf den Boden zu drücken. Howard stieß sein ausgefahrenes Geschlechtsteil tiefer in sie hinein, blieb bei ihr und jagte ihr alle Kraft und Keimflüssigkeit, die er aufbieten konnte in den Körper. Erst eine halbe Stunde danach war er zu erschöpft. Die Arme verloren den Halt. Er glitt ab und stürzte nach unten. Doch schon war der nächste da, der zu Lolitas Lustsklaven gehörte und ihr nun helfen sollte, den Grundstein für ein Millionenvolk zu legen. Dieser hielt jedoch nur eine Viertelstunde durch, bevor er total verausgabt abstürzte. Der Hochzeitsflug fand bereits über dem offenen Meer statt. Nur der Mond und die Sterne waren Zeuge der wilden Befruchtungsorgie. Armando kämpfte mit einem seiner Konkurrenten und riß ihm die Flügel aus. laut Schreiend stürzte der ab. Armando nahm Lolita im Flug und blieb zwanzig Minuten lang bei ihr. Doch dann war auch er zu erschöpft und stürzte ohne einen weiteren Flügelschlag in die Tiefe. Lolita verfolgte den Absturz ihrer drei Partner noch einige Sekunden mit Antennen und Augen. Sie konnten nicht mehr fliegen. Sie würden kraftlos auf der Wasseroberfläche aufschlagen. Brachte sie das nicht um, würden sie wie Steine im Meer versinken und ertrinken. Doch das kümmerte sie nicht. Sie hatten ihren Daseinszweck erfüllt. Und da war auch schon der nächste bei ihr. Sie konnte und sie wollte noch. Sie war noch stark genug, sich und weitere Fortpflanzungswillige in der Luft zu halten. Doch der Bursche hielt nicht einmal ein Sechstel so lange durch wie Armando. Dann fiel er bereits wie ein abgeschossenes Kampfflugzeug vom Himmel.
Erst als alle flugfähigen Männchen sie im Flug begattet hatten und sie eine Minute lang frei fliegen konnte, fühlte sie die gewisse Erschöpfung. Das Brennen in ihrem Leib tat ihr wohl. Sie wußte, daß nun Unmengen Samenzellen fruchtbare Eier fanden. Sie würde die Mutter eines neuen, noch mächtigeren Volkes. Die Insel Santa Lucia Celeste würde ihre Basis sein, bis sie genug neue Kinder hatte, um sich auf das Festland zu wagen und nach Trägern der Magie zu suchen. Denn verschlang sie diese und brütete sie als ihre neuen Kinder aus, wurde sie genauso stark wie Valery Saunders. Ja, und dann konnte sie auch nach Marisa suchen. War sie auch verwandelt worden? Falls nicht, dann würde sie sie zu ihrer Tochter machen. Falls ja, und sie war eine Königin wie sie, mußten sie eben um das Vorrecht auf der Erde kämpfen. Doch davor mußte sie mindestens eintausend neue Kinder erbrütet haben. Sie dachte an Milton. Wenn beide verwandelt wurden und er Marisa im Flug nahm. So würde auch er nicht daran denken, früh genug abzulassen und erst dann aufhören, wenn er zu schwach zu irgendwas anderem war. Zwar mochte Marisa dann von ihm tausende von Kindern haben. Doch sie, Lolita I., das Vermächtnis der Königin Valery Saunders, würde stärker sein als sie, weil in ihr die Erbanlagen von mehr als sieben Partnern vermischt wurden.
Sie flog noch eine Weile, um sicher zu sein, daß kein begattungsfähiges Männchen mehr hinter ihr herflog. Dann drehte sie um und flog zu ihrer Insel zurück. Sie jagte im Tiefflug auf die Insel zu. Sicher würde sie erst einmal einen Tag schlafen, während dem die ersten Eier aus ihr herauskullern mochten. Doch wenn sie nun hunderttausende Kinder haben konnte, was zählten da zwanzig, die vielleicht nicht richtig ausgebrütet wurden?
Doch als Lolita auf die Insel Santa Lucia Celeste zuflog und nach ihren Dienerinnen rief, um sie die letzten Meter zu begleiten und sicher im künstlichen Dschungel zu verstauen, empfing sie nur eine Wolke aus Duftbotschaften, daß sie der anderen unterworfen waren. Welcher anderen? Lolita erschauerte. Ihr mächtiger Körper zitterte vor Erregung. War Marisa vielleicht irgendwie durch Teleportation zurückgekehrt und beanspruchte nun die nicht von Lolita selbst erbrüteten Dienerinnen?
"Ihr seid mir unterworfen!" schickte Lolita ihre Rufe aus. "Ich habe euch mit meinem Blut zu dem gemacht, was ihr seid. Ihr gehört alle mir."
"Sei mir unterworfen!" erklang unvermittelt und übergangslos eine Frauenstimme direkt in ihrem Kopf. Sie fühlte eine Macht, die ihre Gedanken zu verdrängen versuchte. Da wurde ihr klar, was ihr gerade passierte. Sie, die Hexe, die sie alle überhaupt auf diese Welt losgelassen hatte, war auf der Insel. Sie griff mit ihrem Zauberstein an, den Valery abgewehrt hatte.
"Sei mir unterworfen!" Hörte sie den geistigen Befehl erneut. Es war nicht die Stimme der Hexe, die damals fast zu einer ihrer Schwestern geworden wäre. Die stimme klang tiefer, war aber auch mächtiger. Aber sie würde sich dieser Hexe nicht ergeben. Sie würde sie töten oder in sich hineinschlingen, um sie als ihre erste Tochter wiederzugebären, wie Valery es mit ihr gemacht hatte. Sie war Lolita Henares, eine Führerin, eine Kämpferin, eine, die immer zu sagen hatte. Sie würde nicht noch einmal die niedere Dienerin sein, die sie als Valerys Tochter gewesen war. Nein! Sie würde diese Hexe besiegen.
"Sei mir unterworfen!" dröhnte nun die Gedankenstimme in ihrem Kopf. Sie fühlte den Drang, der anderen zu antworten. Sich ihr hinzugeben, ihr zu sagen, daß sie alles tun würde, was sie ihr befahl, auch sterben. Doch nein! Sie wollte frei sein, ihr aufgezwungenes Leben in Freiheit führen, ein eigenes Volk gründen, die Welt erobern oder zumindest in Angst und Schrecken halten. Sie würde nicht gehorchen. Sie war eine Herrin, keine Sklavin.
"Du bist mein! Du hast zu gehorchen!" Donnerte die Gedankenstimme nun in Lolitas Kopf. Doch sie kämpfte weiter dagegen an. Sie wußte nur, daß sie einer weiteren Gedankenbotschaft nicht mehr widerstehen konnte. Die Andere würde sie dann niederbrüllen und ihren Willen wegputzen wie ein Staubkorn von der Tischplatte. Also mußte sie zumindest so tun, als wenn sie gehorchte. So sendete sie eine Antwort aus: "Ja, ich höre dich und mach, was du mir sagst!"
"Dann komm zu mir auf die Insel! Lande am großen Haus!" hörte sie den Befehl. Ja, das würde sie tun. Wenn die andere dort wartete, dann würde sie sie dort finden und erledigen, so oder so.
Der Schamane der Maori erschrak. Mitten in sein Ritual der Gesundheit seines Stammes waren zwei Böse Geister in der Nähe seines Dorfes aufgetaucht und hatten sich Tod und Vernichtung angedroht. Er zitterte und lauschte mit den ihm gegebenen Sinnen. Dann waren die beiden bösen Geister auf einmal wieder fort. Die Natur um sie alle herum atmete auf. Der Schamane keuchte und sah die ihm huldigenden Männer und Frauen an, die bemerkt hatten, daß etwas seinen großen Zauber gestört hatte. Er sagte zu ihnen:
"Es ist wieder alles gut, meine lieben Brüder und Schwestern. Zwei von bösen Geistern besessene sind uns nahe gekommen. Doch sie sind in die Welt zwischen unserer und den großen Ahnen zurückgewichen, wo sie bleiben werden. Es ist alles wieder gut."
Die Führerin des Spinnenordens hatte damit gerechnet, daß sie nur die verbliebenen Kinder Valerys zu sehen bekam. Doch davon hätte es nur drei geben dürfen. Jetzt sah sie, wie im ständigen Flackern grünen Lichtes die rothaarige Frau immer größer wurde und die anderen Frauen mehr und mehr zu insektoiden Wesen verwandelt wurden. Aus den Köpfen wuchsen langsam immer längere Fühler heraus. Die hautengen Kostüme zerplatzten. Die sich verwandelnden zuckten und wanden sich. Sie erkannte, was sie da angerichtet hatte. Der vereinte Zauber des Entomolithen und des Liedes der gläsernen Diener fand nicht nur die verbliebenen Abkömmlinge Valerys, sondern verwandelte sie wieder in Entomanthropen zurück. Doch warum aus der rothaarigen Frau eine Königin wurde entzog sich der sonst so auf Überblick und Kenntnis bedachten Hexenlady. Selbst für das, was Naaneavargia in ihr war, vollzog sich etwas unerwartetes, ja unerwünschtes, womöglich auch höchst bedrohliches. Sie hatte nichts anderes getan, als einen schlafenden Drachen gekitzelt. Hätte sie den Zauber nicht ausgeführt, so wäre die Rothaarige mit ihren Kumpaninnen wohl weiterhin rein menschlich geblieben. Doch war sie das wirklich gewesen? Jedenfalls wurde die merkwürdige Rückverwandlung wieder aufgehoben. Anthelia sah schnell, wenn die Ansicht der gefundenen Abkömmlinge klar genug wurde, ob sie auch Marisa Suárez und diesen Milton Fleet unter den Anwesenden entdecken konnte. Doch sie sah nur die Frau mit den roten Haaren, die sie nun nach den Beschreibungen Rominas als Lolita Henares erkannte. Diese wuchs und wuchs weiter. Sie wurde wahrhaftig eine Königin. Offenbar machte ihr die Verwandlung zu schaffen. Denn nach den ersten grünen Lichtern war sie zusammengebrochen. Die anderen blieben bei Bewußtsein. Anthelia fragte sich, woher das kam, daß Lolita zur Brutmutter wurde. Erst als sie vollständig umgewandelt war und nur ihr von einem dicken Panzerschild bedeckter Oberkörper und ihr Kopf noch größten Teils Menschlich war, erschloß sich ihr, was geschehen war. Lolita hatte die anderen mit ihrem Blut oder Speichel angesteckt. Sie hatte ihnen den Keim ihres Daseins eingeflößt. Woher wußte die, daß dies ging? Warum hatte sie es gemacht? Die Fragen würde ihr nur diese Lolita Henares selbst beantworten können. Anthelia erkannte, daß sie nur noch eine Chance hatte, die Existenz neuer Entomanthropen zu verheimlichen: Sie mußte an den Ort, wo die Verwandlung stattgefunden hatte. Gerade erlosch das Glühen des Steines. Anthelia griff schnell nach einer kleinen Kiste, in der sie die Dinge bewahrte, die sie gegen die unkontrollierbaren Entomanthropen hatte einsetzen wollen. Außerdem machte sie mit starken Antifluchzaubern belegte Handschuhe aus Silbergliedern bereit. Dann ergriff sie Kugel und Stein und fragte in Gedanken nach dem Ort, wo die Verwandelten nun waren. Sie achtete nicht darauf, daß die neue Brutkönigin auf ein großes Haus zuflog und dort die Fensterscheibe zertrümmerte. Sie wollte nur wissen, wo das war. Dann bekam sie endlich ein Gefühl, wohin sie apparieren mußte. Sie sah die Gegend deutlich in der Kugel und erahnte Richtung und Entfernung. Es war ähnlich wie bei den Lotsensteinen des alten Reiches, von denen mindestens einer wieder aufgetaucht sein mußte, weil sie sonst nicht hier sitzen und einer Neuauflage ihres großen Fehlers zuschauen mußte. Nein, sie würde es nicht zulassen, daß eine neue Brutkönigin das Vermächtnis der unbändigen Valery Saunders antrat.
"Weise mir den Ort!" sang sie in ihrer alten Muttersprache. Jetzt fühlte sie so, als stehe sie auf einem von hohen Bäumen und Palmen umgebenen Grundstück und spürte einen lauen Wind. Sie hörte in der Ferne Meeresrauschen. Sie griff den Kristall und den Entomolithen mit der linken Hand und den Zauberstab mit der rechten. Die Kiste mit den tödlichen Wurfscheiben hatte sie schon in ihrer Umhangtasche versenkt. Sie Warf sich herum, darauf ausgerichtet, genau dort zu stehen, wo der Suchzauber sein Ziel gefunden und so verheerend gewirkt hatte.
Lolita Henares flog auf das ramponierte Haus zu. Im Hellen Schein der Außenbeleuchtung sah sie eine Frau in rosarotem Umhang, winzig gegenüber ihr selbst. Doch sie fühlte die Macht, die diese Frau ausstrahlte. Noch konnte sie nicht erkennen, wer es war. Doch als sie im Landeanflug war erkannte sie, daß die Fremde einen Stein und einen Stab in den Händen hielt und alle verwandelten Dienerinnen um sie herumhockten wie ein Rudel braver Hunde. Lolita hätte zu gerne gerufen, daß die anderen dieses Weib erstechen oder erwürgen sollten. Doch sie mußte sich zurückhalten. Außerdem wollte sie die Andere lebendig in sich hineinschlingen, um ihre Magie aufzusaugen. Denn nur dann war sie stark genug, um gegen andere Zauberer zu kämpfen. Wenn die Andere dann erst einmal ihre Tochter geworden war würde die ihr erzählen, wie sie Valery besiegt hatte. Um das alles zu schaffen mußte sie die Andere in Sicherheit wiegen.
Laut brummend wie ein alter Propellerflieger glitt Lolita auf das Haus zu. Dann erkannte sie den gelben Stein, mit dem Valery unterworfen werden sollte. Sie fühlte die Kraft, die davon ausging. Sie erkannte, daß sie schnell machen mußte. Denn wenn sie dieser Kraft zu lange ausgesetzt war, würde sie sich nicht dagegen wehren können. Sie flog langsam weiter. Sie mußte sich konzentrieren. Sie durfte nicht auf die fremde Strahlung hören, die ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit und Unterwerfung aufdrückte. Da sah sie die Hexe nun in allen Einzelheiten. Das war nicht die, mit der Valery zu tun gehabt hatte. Die andere hatte hellere Haare gehabt.
"Lande und gib dich ganz der Macht der Unterwerfung hin!" Hörte sie die dröhnende Gedankenstimme der anderen und wußte, daß diese von dem Stein übertragen wurde, den sie in der linken Hand hielt. Den Stein mußte sie kaputtmachen oder mitschlucken. Vielleicht bekam sie dadurch die absolute Kraft, die darin steckte. Sie flog auf die Hexe zu. Jetzt waren es nur noch zwanzig Meter. Sie täuschte eine Landung an und wollte mit einem Ruck vorspringen und die andere Packen. Da ließ die Hexe den Stein aus der merkwürdig glitzernden Hand fallen und zog etwas aus einem Beutel, den sie bei sich trug. Egal. Bevor die was immer nach ihr werfen würde, war sie in Lolitas Bauch verschwunden, so dachte die neue Brutkönigin. Sie legte noch einmal Tempo vor, warf die Arme vor und riß den Mund auf. Sie sah noch das wirbelnde Glitzerding, wollte ihm ausweichen. Doch es geriet wie gezielt in ihren offenen Mund hinein und landete auf ihrer Zunge. Mit einem Schlag war Lolita, als sei in ihrem Körper eine Bombe explodiert. Ein Schauer von Hitze und das Gefühl, zerrissen zu werden erfüllten sie. Sie schaffte es nicht einmal, zu schreien. Eine schwarze Qualmwolke entfuhr zischend ihrem Mund. Dann schwanden ihr auch schon alle Sinne. Sie sah noch ein blendendes Licht, auf das sie zuraste und in diesem endgültig verschwand.
Vor sich sah sie das große Haus mit dem großen, in sehr dicke Splitter zerfallenen Fenster. Dann erkannte sie die neue Brutkönigin, die sich durch die zerbrochene Scheibe zwengte und dann davonflog. Anthelia wollte ihr schon den Entomolithen entgegenstrecken und ihre Unterwerfung erzwingen. Doch Wellen aus Lust, Gier und Verlangen überfluteten ihren Geist und regten die selbst zu lange zurückgedrängten Gelüste an. Sie fühlte, wie die Brutkönigin immer gieriger nach männlicher Nähe war und empfing mit ihrem verstärkten Gedankenspürsinn auch Antworten ebenso nach geschlechtlicher Vereinigung hungernder Männer. Ja, Männer! Sie wolte einen haben. Wo waren die? Da sah sie sieben Entomanthropen mit Männerköpfen. Sie brachen aus dem ramponierten Haus hervor und brummten mit ihren Flügeln hinter der dröhnend dahinfliegenden Königin her. Anthelia fühlte, wie der Drang, sich einem Mann hinzugeben ihr Qualen bereitete. Sie wand sich und stöhnte vor Lust und Qual zugleich. Warum war kein richtiger Mann hier, um ihre Begierde zu stillen. Sie sah die kleineren Entomanthropen, die gerade von etwas weiter weg loskrabbelten. Sie quängelte, weil sie nicht bekam, wonach ihr gerade war. Denn die sieben geflügelten Männchen ignorierten sie und wären auch nicht die richtigen Partner gewesen. Sie jagten nach oben und verfolgten die Königin. Anthelia keuchte, kämpfte gegen die ungestillte Gier an, mit einem Mann zu schlafen und fand erst dann zu ihrem klaren Verstand zurück, als die mit Paarungslust überladenen Drohnen und ihre Königin weit genug von ihr fort waren und die erwachten Weibchen ohne Königinnengröße eigene Ideen entwickelten. Sie rochen den Eindringling. Wenn die Verwandlung ihnen Hunger gemacht hatte war Anthelia jetzt in Lebensgefahr. Sie sah sich mehr als vierzig weiblichen Insektenwesen gegenüber. Sie mußte sich wehren. Sie warf noch einen Blick zum Himmel. Gerade verschwanden die Königin und die ihr nachjagenden, sich gegenseitig stoßenden und aus dem Weg drängelnden Männchen in östlicher Richtung.
"Hunger!" hörte sie die Gedankenstimme einer wohl älteren Entomanthropin. Diese jagte laut brummend auf Anthelia zu. Diese ließ die Kristallkugel fallen. Da sie aus massivem Bergkristall gefertigt war zerbrach sie nicht, als sie auf dem weichen Erdboden aufschlug. Mit der linken Hand den Entomolithen umschließend und mit der rechten Hand den Zauberstab führend sprang Anthelia einige Schritte zurück. Dann, als sie sicher war, genug Zeit für ihre Beschwörung zu haben, tippte sie den Entomolithen an und zielte damit auf die heranschwirrenden Ungeheuer: "Seid mir unterworfen!" Rief sie, den Zauberstab am gelben Stein. Der Entomolith erstrahlte im gelben Licht und erwärmte sich. Einen winzigen Moment fürchtete Anthelia, der Stein würde zerschmelzen oder wie die aus der Ostsee aufgelesenen Brocken weißen Phosphors in Flammen aufgehen. Doch er vibrierte nur und wurde gerade so warm, daß Anthelia ihn sicher halten konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Das gelbe Licht schien auf den Körpern der anfliegenden Insektenwesen wider. Es wurde von ihren Facettenaugen gespiegelt und irrlichterte zwischen ihren schwirrenden Flügeln. Noch einmal rief Anthelia "Seid mir alle unterworfen! Seid alle, die ihr diesen Ruf vernehmt mir unterworfen!!" Die Entomanthropen sackten durch. Sie gerieten aus der Bahn. Doch dann fingen sie sich wieder. Anthelia fühlte die aufkommende Welle grenzenloser Hingabe. Doch dieses mal war es nicht die Hingabe an einen Liebhaber, sondern die totale Hingabe an einen Herren oder eben eine Herrin. Die Woge der Unterworfenheit wälzte sich rasend schnell durch die Köpfe aller hier existierenden Entomanthropen. Dann landeten diese um Anthelia herum. Sie fühlte jedoch keine Bedrohung, keine Angriffslust, keinen Arg. Diese Wesen unterlagen nun dem Bann des Entomolithen und seiner Trägerin.
Anthelia atmete auf. Sie hatte diese Gefahr überstanden. So bestand noch Hoffnung, daß sie auch die Königin selbst unterwerfen konnte. Sie holte mit Hilfe des Steins und ihrer Begabung, Gedanken und Bilder anderer zu empfangen Erkundigungen ein, wo sie hier war. Eigentlich ein netter Platz, die geheime Festung eines Banditen als neues Hauptquartier zu nutzen, dachte Anthelia. Auf ihre Frage, wer von den anderen Marisa Suárez sei erfuhr sie, daß diese nicht unter den Verwandelten war. Sie erfuhr von denen, die mit von Lolita mit ihrem Blut zu ihren Gefolgsleuten gemacht worden waren, daß diese mal davon gesprochen hatte, daß Marisa und Milton ihr abgehauen, also geflüchtet waren. Anthelia verzog ihr Gesicht. Wenn ihr Zauber jetzt nicht nur Lolita zur reinen Brutkönigin gemacht hatte, dann konnte er auch, vielleicht auch verzögert, aus Marisa eine neue Brutkönigin werden lassen. Sicher würde die sich dann auch erst einmal mit dem nächsten verfügbaren Männchen paaren, also Milton Fleet. Doch was dann? Sie rief sich ins Gedächtnis, was sie über Honigbienen und ihre Fortpflanzung wußte und was sie im Zusammenhang mit Valery Saunders direkt oder indirekt miterlebt hatte. Flogen Drohnen hinter einer Königin her und vollzogen mit ihr den Hochzeitsflug, so verausgabten sie sich so sehr bei der Paarung - Liebe konnte das wirklich nicht mehr genannt werden -, daß sie erschöpft zu Boden stürzten und starben. Die nicht zur Begattung gelangten Drohnen wurden von den Arbeiterinnen aus dem Bau geworfen, wo sie elendiglich verhungern mußten. Würden die sieben Entomanthropendrohnen alle im Rausch ihres Paarungstriebes verenden wie ihre natürlichen Vorlagen? Oder würden sie einen Rest menschlichen Verstandes besitzen und vor der totalen Auszehrung von Lolita ablassen? So oder so wurde diese gerade mit tausenden oder hunderttausenden Nachkommen schwanger, die sie nach und nach in die Welt setzen würde. Sollte sie sich Anthelia unterwerfen, konnte dieses Monstrum hierbleiben und ihre kleine Zucht eröffnen. Anthelia würde dann einen aufwendigen Unortbarkeitszauber um die Insel legen, der selbst den Zauberern unbekannt war. Doch falls die Königin sich nicht unterwarf wie die durch ein wenig von ihrem Blut wesentlich schwächeren Halbentomanthropen, so mußte Lolita Henares sterben. Doch dann hieß es für Anthelia, nach Marisa zu suchen, bevor diese sich erinnerte, wie Valery ihre mächtige Unverwundbarkeit gegen Zauber und Gewaltakte erworben hatte. Denn wenn sich Lolita nicht unterwerfen sollte, dann sicher auch nicht Marisa.
Es dauerte über zwei Stunden, bis Anthelia die Königin erst mit den Augen, dann mit ihrem Gedankenspürsinn und dann mit den Ohren vernahm. Sie war restlos befriedigt. Sie hatte nur noch ein Ziel, die anderen anzuleiten, mit ihr ein Nest zu bauen. Die Männchen waren alle auf dem Hochzeitsflug umgekommen. Anthelia erkannte, daß sie wohl nachher noch die See absuchen mußte, um die Leichen der Insektenmänner zu finden. Denn wenn einge davon von den Muggeln gefunden wurde, dann konnte Cartridge das mit ihr getroffene Abkommen für gebrochen ansehen. Denn neue Entomanthropen zu erzeugen war garantiert ein Bruch dieser Übereinkunft. Doch zuerst galt es, die Königin zu unterwerfen.
Anthelia fühlte, daß Lolita sich ihr nicht unterwerfen würde. Sie widerstand dem Entomolithen. In ihr steckte die gebündelte Kraft aller anderen Ex-Kinder Valerys. Sie war fähig, sich zu wehren. Anthelia hatte nur eine Wahl, sie mußte sie töten. Sie ließ den gerade nutzlosen Stein fallen und zog mit der behandschuhten linken aus der offenen Kiste eine der kleinen aber heimtückischen Wurfscheiben. Sie fühlte das Vibrieren. Der in das Wurfgeschoß eingeprägte Fluch suchte ein Opfer und wechselwirkte mit der Aura eines lebenden Wesens. Doch er konnte nicht durch die Bezauberung der Handschuhe dringen. Anthelia wartete bis zur wirklich letzten Sekunde. Als ihr Lolita die Arme entgegenschnellte, um sie zu packen, schleuderte sie die verfluchte Münze von sich, genau in das weite Maul hinein. Einen winzigen Moment sah sie sich durch Daianiras Augen in diesen weiten Schlund hineingleiten. Doch diesmal geschah ihr nichts. Die verfluchte Wurfscheibe landete zielgenau im gewaltigen Maul der Brutkönigin. Sofort trat eine Reaktion ein. Die Zunge verfärbte sich schwarz und zerfiel innerhalb einer Sekunde zu feinem Staub. Lolita keuchte noch einmal. Dann sackte sie durch. Schwarzer, fettiger Rauch entfuhr ihrem Mund. Sie begann zu schrumpfen. Besser, alles in ihr wurde zerstört. Der Decompositus-Fluch fraß sie innerhalb von einer Viertelminute auf. Am Ende zerfiel sogar die dicke Panzerung in immer kleinere Stücke, die am Ende knisternd zu schwarzem Staub wurden. Anthelia atmete auf. Der Gestank nach verbranntem Fleisch peinigte sie zwar ein wenig. Doch sie hatte es geschafft. Vor ihr lag eine gerade verrostende Wurfscheibe. Fluch und Opfer hatten sich gegenseitig aufgerieben. Anthelia war froh, daß es so war. Sie wußte, daß auch Decompositus eine Obergrenze hatte. Je mehr Lebendmasse er zerstörte, desto mehr alterte seine Trägermaterie. Doch sie hatte es geschafft.
"Danke, Daianira, daß du diese wertvolle Abwehrwaffe ersonnen hast", dachte Anthelia. Einen winzigen Moment überlegte sie, ob sie und die nun als ihre eigene Tochter Theia weiterlebende Hexenlady nicht doch ein gutes Mutter-Tochter-Gespann ergeben hätten. Doch mit Naaneavargias Persönlichkeit in sich verwarf sie das sofort wieder. Nur so, wie sie jetzt war, war sie stark, mächtig und glücklich.
Die Hexenlady sah nun, wie aus den Körpern der anderen Entomanthropen rote Blitze in den Himmel und die Erde zuckten. Die Insektenfrauen schrien vor Schmerz und Angst auf. Dann konnte Anthelia sehen, wie sie ihre Insektoiden Anteile verloren. Die haarigen Fühler schrumpften zusammen und zogen sich in die Köpfe zurück. Die Flügel verschrumpelten und fielen aus. Die mittleren Lauf- und Greifglieder schrumpften ebenfalls zurück. Die Hinterleiber bildeten sich zu menschlichen Gesäßbacken zurück. Nach einer Minute lagen und wälzten sich vierzig höchst verwirrte Frauen und junge Mädchen auf dem Boden herum. Anthelia merkte, daß sie alle wußten, was mit ihnen passiert war. Sie sang schnell Sardonias Schlaflied. Die gerade zu sehr verwirrten nackten Menschen konnten sich nicht gegen die mit jedem Ton getragene Magie wehren. Sie schliefen nach nur einer weiteren Minute so tief, daß nur ein klarer Befehl Anthelias sie wieder wecken würde.
Die Insel lag weit genug von allen Spürsteinen entfernt. Damit hatte niemand in der Zaubererwelt mitbekommen, was geschehen war. Auch würde kein Satellit der Muggel diese Insel überwachen, hatte Concepción Duárte, die älteste der nun wieder rein menschlichen Anhängerinnen Lolitas erzählt. Somit konnte Anthelia alle Spuren ihrer Taten hier verwischen. Sie verwandelte alle die schlafenden Ex-Vispas in kleine Stoffkugeln, wie es Sardonias großes Vorbild Lady Medea gerne getan hatte, wenn sie wen ganz schnell fortbringen mußte. Dann vollführte sie noch einmal den Zauber des gläsernen Dieners. Doch die Kristallkugel und der Entomolith blieben reglos. Waren die zwei anderen zu weit fort? Sie wendete den Zauber solange an, bis sie mit dem Wissen um den umfang der Erde erkannte, daß ihre Suche ohne Erfolg blieb. Das konnte nur heißen, daß die beiden nicht mehr lebten. Waren sie auf dem Hochzeitsflug gestorben? Milton wahrscheinlich. Wenn ja, was war dann mit Marisa passiert. War sie irgendwo gegengeflogen oder von einem Muggelkrieger in seinem eisernen Kriegsvogel, auch Kampfjet genannt, abgeschossen worden? Falls Zweites der Fall war würde sie es wohl nur von ihren Schwestern in aller Welt erfahren. Sie hoffte jedoch auf erstes, daß sie beide sich zu sehr verausgabt hatten oder aus anderen Gründen vorzeitig den Tod gefunden hatten. Vielleicht lebten sie schon seit Monaten nicht mehr. Denn Lolita hatte wohl seit über einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt. Sie hoffte das beste.
Sie inspizierte die insel und beschloß, die hochexplosiven Munitions- und Sprengstoffvorräte durch Verzögerungszauber zu zünden. Die in normale Frauen und Mädchen zurückverwandelten Ex-Vispas würde sie irgendwo in Südamerika aussetzen, mit einem veränderten Gedächtnis, daß sie sich von alleine zu einer marodierenden Bande zusammengeschlossen hatten. Womöglich konnten sie als große Gruppe ein besseres Leben beginnen.
"Retardo Incendio!" rief Anthelia immer wieder, während sie Raketentreibstoff auslaufen ließ, Sprengköpfe öffnete und die Vorräte an C4, Dynamit, Semtex und anderen Sprengstoffen zündfertig gemacht hatte. Jedesmal dachte sie an die Zahl neunhundert. Denn der Verzögerungsbefehl "retardo" mußte im Kopf durch die Zahl ergänzt werden, die an Sekunden vergehen sollten, bevor der eigentliche Zauber entfesselt wurde.
"Retardo confringo!" rief Anthelia viermal, als sie die wichtigsten tragenden Elemente des Hauses bestimmt hatte. Hierbei dachte sie nur noch an die Zahl sechshundert, also zehn Minuten Verzögerung. Eine Minute vor Ende der ersten Verzögerungsfrist hatte sie alle relevanten Punkte des Anwesens, der Bunkeranlagen und Lagerräume behext. jetzt konnte sie flüchten. Sie disapparierte von der Insel, aber nicht in Richtung festland. Sie apparierte eintausend Meter über der Meeresoberfläche, zehn Kilometer von der Insel Santa Lucia Celeste entfernt. Denn sie wollte das von ihr beschworene Inferno ausbrechen sehen, bevor sie sicher war, daß keine Spuren übrigblieben. Sie hielt sich mit ihrem Flugzauber aus Altaxarroi auf der gerade erreichten Höhe und blickte zur insel hin. Dann fauchte die erste Flammensäule in den Himmel. Aus diesem Abstand wirkte sie wie eine haardünne Kerzenflamme. Doch tatsächlich mochte sie turmdick und ebenso hoch in den Nachthimmel fahren. Dann strahlte ein Blitz auf. Das war sicher eines der Sprengstoffdepots, das sie in der Nähe des Hauses gefunden hatte. Jetzt wälzte sich eine Wand aus Glut über die Insel. Also war es vollbracht. Das letzte Nest einer unbezähmbaren Brutkönigin verbrannte, bevor es je ein neues Ei in sich aufgenommen hatte. anthelia wußte nicht, wie lange die Explosionen dauern würden. Denn sie hatte längst nicht alle Lagerstätten behext. jedenfalls brannte die Insel nun lichterloh und würde wohl noch Stunden oder Tage in Flammen stehen. Das reichte ihr vollkommen aus. Sie warf sich herum und disapparierte.
Der Hubschrauber der US-Navy kreiste im Abstand von zwei Kilometern um die lichterloh brennende Insel herum. Was immer dort gelagert worden war ging in heftigen Detonationen und Feuerkugeln auf wie fünfzehn Tage verspätetes Millenniumsfeuerwerk. Lieutenant Esther Wiesenthal, die den Aufklärungshelikopter flog, blickte erschüttert aus ihrer Kanzel. Der junge Petty Officer hinter ihr fragte, was dort passiert war.
"Offenbar hat jemand dort eine Menge nicht genehmigter Brand- und Sprengmittel besessen, Petty Officer Dunning. Wir müssen das klären. Aber die Insel gehört zu keinem Staat. Ich brauche eine klare Genehmigung", sagte die Pilotin und rief über Funk ihr Mutterschiff, die "USS Ulysses Grant".
"Überflug genehmigt und Anruf auf allen Zivilfrequenzen, ob Hilfe erbeten wird!" War der kurze Befehl ihres Vorgesetzten. Sie bestätigte und nahm Kurs auf die lichterloh brennende Insel.
Das Eiland wirkte wie nach einem Vulkanausbruch. In glühenden Kratern loderte eine brennende Flüssigkeit. Über einenKilometer hohe Rauchsäulen, die oben pilzhutartig auseinanderflossen, standen über den Explosionsherden. Umgemähte Tropenwälder brannten wie Holzscheite im Kamin. Dazwischen züngelten blaue Flämmchen aus dem Boden, als habe dort jemand eine brennbare Substanz ausgebracht. Es war zu sehen, daß die Insel eine Festungsanlage besessen hatte. Einige Ruinen sahen ganz nach eingegrabenen Geschützstellungen oder Raketenwerfern aus. Ein glühender Trümmerberg wirkte wie ein schauriges Grabmal. Einzelne Teile brannten noch. Dann sah sie die am mehrfach gebrochenen und verbogenen Mast hängenden Überreste einer Radarantenne. Damit war klar, warum die sonst immer registrierten Radarsignale, die sporadisch die Frequenz wechselten und auf eine Spionagestation deuteten, mit einem Mal ausgeblieben waren. Nur leider hatte die US-Regierung keine offizielle Genehmigung bekommen, dort mal nachzusehen. Denn der Besitzer der Insel hatte gute Drähte in die UN-Verwaltung besessen. Hatte besessen? Wieso dachte sie von dem in der Vergangenheit? Er konnte das Inferno ja überlebt haben, ja es sogar ausgelöst haben, um Spuren zu verwischen.
"Die Insel brennt lichterloh. Habe mindestens acht Explosionskrater entdeckt, die charakteristisch für von innen nach außen wirkende Sprengkräfte sind. Ansiedlung völlig verloren. Anzeichen für militärische Bewaffnung gefunden. Empfehle Meldung an die zivilen Behörden des nächstgelegenen Staates und Information der Geheimdienste und des FBIs."
"Der Besitzer der Insel war Kolumbianer. Ich genehmige die Anfrage", sagte der Kapitän der "Ulysses Grant" höchstpersönlich. Dann beorderte er den Aufklärungshubschrauber zum Trägerschiff zurück.
Zwei Stunden später brachte ein zivil gekleideter Mann eine Daten-CD ins John-Edgar-Hoover-Gebäude.
"Sie dürfen Señor Vega nun zur Jagd freigeben. Der hat sich nicht an die Vereinbarungen mit den Friedensaposteln in New York gehalten", sagte der Bote dem obersten Direktor des FBI.
"Das gefällt ihnen wohl, McGoon, daß wir endlich eine Handhabe haben, diesen Kerl vorzuladen, wo er sich in all den fünf Jahren, die wir ihn auf der Verdächtigenliste hatten nichts aber auch gar nichts beweisen konnten und ihre Bauernjungen keine Erlaubnis hatten, seine kleine Robinson-Insel zu besuchen."
"Wir werden alle besser schlafen, wenn wir Klarheit haben, ob dieser Kerl noch lebt oder tot ist", knurrte der Besucher. Dann bat er um die Erlaubnis wieder zu gehen.
"Halt, Moment. Bevor Sie wie der Mohr aus dem Theaterstück hier abrauschen, nehmen Sie bitte einen Gruß an Ihren obersten Vorgesetzten mit, daß wir gerne eine DNA-Analyse von den Leichenresten aus Sao Paulo hätten, besser, eine Probe dessen, was da gefunden wurde. Seitdem Sonderagent Marchand uns zu früh verließ ist mir daran gelegen, zu klären, ob der Mörder seiner Eltern wirklich nicht mehr lebt."
"Rufen Sie den Präsidenten an und bitten Sie den darum! Ich bin für diese Empfehlungen und Vorschläge nicht kompetent genug", knurrte der Besucher und ging. "Ähm, es versteht sich, daß Sie diese CD nicht von uns haben", sagte er im Gehen.
"Sie waren nie hier", erwiderte der Direktor des FBI mit verhaltenem Grinsen. Dann war der Bote auch schon aus dem Büro heraus.
Nachdem Anthelia schön weit von allen möglichen Spürsteinen in der Nähe von Caracas die vierzig Stoffkugeln wieder in Frauen und Mädchen zurückverwandelt und ihnen aus Blättern und Reisig neue Kleidung gezaubert hatte, behandelte sie sie alle mit dem Gedächtniszauber. Dann rief sie ihnen das in ihrem Lied versteckte Weckwort: "Filiae Humanitatis!" zu. Dann verschwand sie, bevor die ersten aus dem magischen Schlaf erwachten.
Wieder zurück in der Daggers-Villa fand sie einen Brief von Romina Hamton, besser die Weiterleitung einer elektronischen Postsendung von Patricia Straton:
Lady Anthelia. Da ich ja nun einer neuen und wichtigen Bestimmung verbunden bin, wollte ich nur mitteilen, daß wir mit gleicher Sorge die Entwicklungen in Los Angeles und anderswo verfolgt haben wie Sie. Wir müssen davon ausgehen, daß der vereitelte Angriff auf Beverly Hills nur der Auftakt war oder die offene Schlacht mit den Angehörigen Nocturnias bald bevorsteht. Seien Sie zuversichtlich, daß wir nach wie vor keine Absicht hegen, mit Ihnen in feindliche Auseinandersetzungen einzutreten. Darauf hoffend, daß dies Auch Ihrerseits nicht beabsichtigt ist, verbleiben meine Verwandten und ich
Mit hochachtungsvollen Grüßen
Patricia Straton
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