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Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Vorige Story

P R O L O G

Die Hoffnung auf Ruhe vor der Vampirvereinigung Nocturnia erweist sich als verfehlt. Zwar ist der Mitternachtsdiamant unerreichbar im Meer versenkt, doch die aus ihrem Körper gerissene Seele von Nyx findet Halt in Geist und Körper ihrer Vampirtochter Elvira Vierbein. Dadurch erhält sie auch nach außen wirksame Zauberkräfte. Als Lady Lamia, die Blutmondkönigin, will sie Nocturnia weiter ausbauen und Stellt durch eine Blutumwälzungsmaschine weiteres Pulver mit dem Vampirkeim her, mit dem arglose Menschen zu Vampiren verwandelt werden.

Wertiger und Werwölfe schließen sich zu einem Bündnis zusammen, das gegen Nocturnia kämpft. Die Wergestaltigen erhoffen sich dabei eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Anthelia erfährt von der Zusammenkunft und besucht diese mit dem zwischen Mensch und Drache wechselnden Diego Vientofrio.

Der für tot gehaltene Lucas Wishbone wird mit seinem bisher entwickelten Geist und Gedächtnis als sein Sohn und Vetter Anthony Summerhill wiedergeboren. Die bei der Suche nach von Nyx entführten Kindern durch eine Verkettung magischer Umstände aus der Welt verschwundene Austère Tourrecandide findet sich als ungeborene Tochter der wiedergealterten Daianira Hemlock wieder, die nun als ihre Tochter Theia in die Zaubererwelt der USA zurückkehrt. Nach anfänglicher Ablehnung ihres Schicksals erkennt Tourrecandide, daß sie als wichtige Helferin gegen Nocturnia einen Sinn im neuen Leben hat und wird von Daianira alias Theia am 20. Juli 1999 unter dem Namen Selene Hemlock zur Welt gebracht.

Patricia Straton, die damals das Sonnenmedaillon der Inkas in ihren Besitz brachte, erfährt, daß es das Vermächtnis einer schlafenden Gemeinschaft hochpotenter magischer Menschen ist, die als Sonnenkinder die Erzfeinde der Vampire sind. Im Auftrag der schlafenden Sonnenkinder stellt sie sicher, daß der von der Magie des Medaillons erfüllte Cecil Wellington für tot erklärt wird und schafft es mit ihm, die Sonnenkinder zu wecken. Dabei wird Cecil wieder zu Benjamin Calder. Um alle Sonnenkinder zu wecken müssen Patricia und er mit den bis dahin unberührten Geschwistern kleiner Morgen und großer Abend jeweils ein Kind zeugen. Von da reisen alle wiedererwachten Sonnenkinder in alle Erdteile, um die Vampire Nocturnias zu bekämpfen.

Anthelia kann eine Fabrik der für die Vampire wichtigen Solexfolien unbrauchbar machen. Sie findet heraus, daß die neue Königin der Vampire mit Verbrechern aus der magielosen Welt zusammenarbeitet. Der Versuch, einen davon zum reden zu bringen scheitert, weil Lamia ihren Blutkindern durch Schmelzfeuer die Möglichkeit nimmt, sie zu verraten. Um sich gegen eine zunehmende Zahl von flugfähigen Vampiren zu wehren sucht Anthelia nach einem Ersatz für den gegen die unkontrollierbare Entomanthropenkönigin Valery Saunders zerstörten Entomolithen. Nur ihrer neuen Natur verdankt sie, daß sie einen brauchbaren Bernstein mit eingeschlossener Honigbienenleiche aus dem von Feinden bestürmten Haus eines kolumbianischen Drogenhändlers mitnehmen kann.

Wie die Vampire suchen sich auch die Wergestaltigen Verbündete in den Reihen des organisierten Verbrechens. Das britische Zaubereiministerium erhält Kenntnis von einem Zaubertrank, der Werwölfe befähigt, auch ohne Vollmond zum Wolf zu werden und in dieser Verwandlung den freien Willen zu behalten. die durch Minister Shacklebolt zur Mitarbeit im Zaubereiministerium überzeugte Hermine Granger schlägt vor, ein Sonderkommando zu bilden, daß ausschließlich aus Werwölfen besteht. Die bereits mit der Lykanthropie lebende Tessa Highdale begeistert sich für dieses Vorhaben und übernimmt auch den vorgeschlagenen Gruppennamen "Kommando Remus Lupin". Sie erbeutet eine ausreichende Probe des Lykonemisis-Trankes. Gleichzeitig beginnt zwischen den zu Werwölfen gewordenen Daniellis und ihren Erzfeinden Pontebiancos eine brutale Blutfehde, weil die Daniellis den Pontebiancos von diesen gestohlene Geräte für ein illegales Spielkasino in die Luft jagen.

Weil den wegen der immer noch geltenden Schließung der reinen Hexenschule Broomswood beschäftigungslos gewordenen Lehrerinnen sowohl Anthelias Spinnenorden wie auch die beiden ledigen Mütter Tracy Summerhill und Theia Hemlock ein Gräuel sind, gründen sie mit ehemaligen Schülerinnen und gegen Anthelia eingestellten Hexen die Liga rechtschaffender Hexen. Als es in dieser zu einer Abstimmung kommen soll, wie hart sie gegen die erklärten Widersacher vorgehen sollen, kommt es zu einer unerwarteten Tragödie. Eine als Spionin eingeschleuste Mitarbeiterin des Laveau-Institutes sabotiert die magische Abstimmung. Liga-Chefin Alexandra Pabblenut wendet daraufhin ein Ritual an, das sie im Feuer der verbrennenden Abstimmungskarten zu einem grün flammenden Skelett werden läßt. In dieser Gestalt kann sie jedoch weitere ihr zugetane Hexen zu Artgenossinnen machen. Damit entsteht eine neue Bedrohung, nicht nur für die als Feindinnen gesehenen Hexen. Anthelia erfährt davon und erinnert sich an dieses Ritual. Sie kann die dem Umwandlungsritual entkommene Lavinia Thornbrook gerade noch rechtzeitig vor dem Zugriff von Pabblenuts Feuerskeletten in Sicherheit bringen. Das Zaubereiministerium erhält die bewußtlos gezauberte Nachtfraktionsführerin. Doch die Feuerskelette haben sie noch nicht aufgegeben. Um sie vor dem Ritual zu schützen verwandelt Strafverfolgungsleiter Benchwood sie in ein harmloses Sofakissen. Dadurch kann Lavinia nicht verhindern, daß eine Anthelia treue, aber auch im Sinne der nordamerikanischen Gesamtsprecherin der Schweigsamen handelnde Mitschwester Beth McGuire ihre Nachfolgerin wird. Die Skelette erpressen Benchwood, Lavinia herauszugeben. Da er über das Laveauinstitut von der lähmenden Wirkung der Spiegelbilder der Skelette auf ihre Originale Kenntnis erhält schafft er es fast, die Feuerskelette auszuschalten. Lavinia kann durch einen Körpertauschzauber Benchwoods entkommen und wird von ihren ehemaligen Mitschwestern in der Versammlungshöhle aufgestöbert. Da sie sich gegen die Gebote ihrer Schwesternschaft vergangen hat droht ihr der endgültige Ausschluß. Sie willigt ein, an die Stelle der verschwundenen Lysithea Greensporn zu treten und ohne das Wissen um ihr früheres Leben neu aufzuwachsen. Benchwood verliert derweil durch die Feuerskelette sein eigenständiges Leben. Erst als Anthelia dem Ministerium den entscheidenden Hinweis gibt, wo und wie die Skelette zu erwischen sind kommt es zum Sturmlauf von Ministerialtruppen, bei dem die Feuerskelette durch die Berührung mit von keiner Magie durchdrungenem Gold vernichtet und die in ihnen festgehaltenen Seelen anderer Menschen freigesetzt werden, die jedoch zum körperlosen Dasein verurteilt sind.

Der beim FBI arbeitende Zauberer Zachary Marchand soll auf Druck seiner Eltern seinen vierzigsten Geburtstag in seinem Elternhaus feiern. Doch Nocturnia hat andere Pläne. Gedungene Söldner, die nicht wissen, daß sie für Nocturnia arbeiten, entführen Zacharys Eltern und zwingen ihn so, sich ihnen auszuliefern. Weil der auf seinem Gürtel liegende Ich-seh-nicht-Recht-Zauber gegen Muggelinteresse von einem vollblinden Mitglied der Söldnergruppe nicht wahrgenommen wird, verliert Zachary seinen Zauberstab und wird in einem blauen Strampelanzug zum Versteck der Eheleute Vierbein geschafft. Nur die Zusammenarbeit mit der Metamorphmaga Justine Brightgate bewahrt ihn davor, von den Vierbeins zu ihrem Blutsohn gemacht zu werden. Zacharys Eltern können aus einem Bombenkäfig befreit werden. Zu ihrer Sicherheit werden sie jedoch vom FBI für tot erklärt. Zachary macht sich auf die Suche nach dem Mann, der seine eltern und ihn entführt hat: Aldo Watkin, alias der Colonel. Doch dieser gerät auch ins Fadenkreuz des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, für den er früher schmutzige Jobs erledigt hat. Die CIA schreibt ihn und die unter dem Gruppennamen DDT vermerkten Mitglieder von Watkins Bande zur Tötung aus, da Watkin unkontrollierbar geworden ist und zudem zu viel weiß, um vor ein öffentliches Gericht gestellt werden zu dürfen. Justine Brightgate und ihre Cousine Brenda helfen Zachary bei der Suche nach Watkin. Hierzu vertauscht Zachary für einen Tag seinen Körper mit dem Brendas und kann als sie an die internen Datenspeicher der CIA, über die er sich genug Wissen über Watkins Truppe verschafft. Doch Watkin weiß um seine Feinde und taucht unter. Ihm nachjagende Agenten können nur zwölf Leichen von Verfolgern finden. Der Wettlauf nach Watkin geht weiter.

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Die Rache der Daniellis war nun schon einige Wochen her. Don Vittorio Pontebianco hatte trotz fehlender Leichen eine Beerdigungsfeier für seine Neffen und Enkelsöhne in Palermo abhalten lassen. Alle Freunde, Verwandte und auch die weniger gut mit den Pontebiancos auskommenden Familien der ehrenwerten Gesellschaft hatten sich dort sehen lassen. Don Adone hatte mehrmals den haßerfüllten Blick seines Nachbarn und Erzfeindes ausgehalten und dabei in allergrößter geheuchelter Anteilnahme zurückgeguckt. Auch wenn eine Trauerfeier kein Ort für Waffen war, hatten doch alle für den Schutz ihrer Anführer zuständigen Männer verdächtige Beulen in ihren schwarzen Jacken besessen. Don Adone hatte fast damit gerechnet, daß Vittorio Pontebianco ihn gleich in der Kapelle als Mörder seiner geliebten Anverwandten bezichtigen würde. Doch das wäre ihm wohl nicht gut bekommen. Um etwas zum Erinnern zu haben waren Urnen mit Asche und Staub aus dem in die Luft gesprengten Kasino in der Familiengruft beigesetzt worden. Don Adone mußte kurz grinsen, als er Vittorio mit einem seiner Wasserträger sprechen hörte. Obwohl der gegnerische Capo dreißig Meter von den achso respektvoll anteilnehmenden Daniellis entfernt war konnte Adone alles so gut hören, als stünde Vittorio neben ihm.

"Der Rat weigert sich, diesen Heuchler zu bestrafen. Gut, dann klären wir das eben mit dem alleine."

"Capo, der könnte mit der Familie von Donna Gina zusammengehen. Die will immer noch eine ihrer Enkeltöchter mit diesem Möchtegerncasanova Andrea verkuppeln", flüsterte Vittorios Gehilfe. Doch Adone verstand es auch aus dem leisen Flüstern der anderen Trauergäste heraus.

"Laß die Jungs weiter zusehen, wo die Festung ein Loch hat oder laß die eins buddeln. Wenn dieser Papagalo und Autonarr Geburtstag hat will ich ihm auf besondere Weise gratulieren", wisperte Vittorio. Adone mußte sich konzentrieren, nicht laut loszulachen. Auch sein Enkel Andrea, der für diesen Anlaß eine hübsche Blondine im langen schwarzen Seidenkleid an seiner Seite hatte, mußte sich arg anstrengen, nicht zu lachen. Er drehte sein Gesicht so, daß Vittorio es nicht sehen konnte, um das gehässige Grinsen nicht sehen zu lassen. Er flüsterte seiner Begleiterin auf Englisch zu:

"Der ist lustig, das zu sagen, wo hier auch die Carabinieri ihre Ohren haben." Seine Begleiterin nickte nur und tat so, als verfolge sie die letzten Worte des Priesters, der die Urnen in das vorgesehene Fach stellte. Dann war die Zeremonie zu Ende. Don Adone wollte es nicht darauf anlegen, daß die Pontebiancos ihn vergiften wollten. Im Schutz seiner zehn Leibwächter verließen er und seine Anverwandten den Friedhof und fuhren in den gepanzerten Limousinen davon.

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"Es gibt nur zwei Flüche, die unabwehrbar sind", sprach Anthelia im Stil einer Lehrmeisterin zu dem schlachsigen Mädchen, ihrer Schülerin Dido Pane. "Der eine ist der tödliche Fluch Avada Kedavra. Der andere ist der Totalverjüngungsfluch Infanticorpore. Diese beiden Flüche können nicht durch einen schwarzen Spiegel, dem mächtigsten Schild der entschlossenen Zauberkunst, abgewehrt werden. Alle anderen Flüche prallen mit dreifacher Stärke auf den zurück, der sie ausrief. Avada Kedavra kann deshalb die volle Wirkung auf den Gegner ausüben, weil der Abwehrzauber auf ihn wie ein Magnet wirkt und den Fluch an den Gegner weiterleitet. Infanticorpore kehrt den körperlichen Zeitfluß so heftig um, daß alles, was von einem lebenden Menschen gezaubert wird, ins Gegenteil verkehrt wird. Damit wird der schwarze Spiegel zu einem Verstärker des auf ihn einwirkenden Fluches und löst den Gegner restlos auf, weil er nicht nur zum ganz kleinen Kind verjüngt wird, sondern so stark verjüngt wird, daß sein Körper sich vor den Zeitpunkt seiner Erzeugung zurückentwickelt. Wenn dir also wer den schwarzen Spiegel entgegenhält, verzichte auf alle anderen Flüche, falls du den Gegner nicht töten willst!"

"Kann ich den schwarzen Spiegel von dir lernen?" fragte Dido Pane mit unverhohlener Begeisterung.

"Nur wenn du bereit bist, dich mir durch dein Blut bis zu deinem Tode zu unterwerfen, alles tun willst, was ich dir befehle und niemals gegen mich aufbegehrst", stellte Anthelia eine Bedingung, von der sie längst wußte, daß Dido sie nicht erfüllen würde.

"Kann ich mir das überlegen?" Fragte Dido verunsichert.

"Bis zum ersten November, einen Tag nach Samhain", sagte Anthelia leutselig. Das war in drei Tagen. Dido fragte dann, ob sie sich sogar für Anthelia töten lassen sollte. "Alle Schwestern unseres Ordens, die volljährig sind, haben mir das geschworen und durch ihr Blut besiegelt, daß sie eher für mich sterben, als mir untreu zu werden", bekräftigte Anthelia. "Da ich finde, daß du bereits alt genug bist, dir zu überlegen, wie weit du mir dienen möchtest, gewähre ich dir jetzt schon die Möglichkeit, die größten meiner Geheimnisse zu erlernen, auch die, die ich durch meine Verwandlung erfahren habe. Aber die gebe ich dir nur preis, wenn ich weiß, daß du sie niemals gegen mich verwenden wirst."

"Das hat Nits auch gesagt", grummelte Dido. Anthelia nickte. "Ich möchte mir das überlegen", sagte Dido noch. Anthelia nickte erneut. Da Dido Pane jedoch ihre Gedanken nicht vor der Lehrmeisterin verbergen konnte entging dieser nicht, daß Dido bereits beschlossen hatte, sich nicht wie Tyche Lennox, Pandora Straton oder andere Hexen in den Tod schicken zu lassen. Sie wollte frei sein, endlich raus aus diesem Haus. Warum Daianira Hemlock sie damals nicht freigelassen hatte ärgerte sie heute noch, und sie haßte diese Hexe dafür, auch wenn diese schon anderthalb Jahre tot war.

"Wirst du an Halloween hier sein und mit den anderen und uns feiern?" Fragte Dido Pane. Anthelia überlegte und schüttelte dann den Kopf. "Die Vampire Nocturnias werden übermütig. Ich habe die Pflicht, sie dort zu bekämpfen, wo sie sich zu zeigen wagen. Daher werde ich an Halloween nicht in diesem Haus sein. Du kannst gerne mit deinem Besen herumfliegen. Aber bleibe von den Magielosen in der Stadt weg. Denn wenn sie dich dort sehen werde ich die Stadt und dich vernichten müssen, bevor das Zaubereiministerium erfährt, wo du herkamst." Dido Pane erbleichte. Natürlich hatte sie darauf spekuliert, sich bei den Muggeln zu verkriechen oder mit deren Hilfe eine der großen Flugmaschinen benutzen zu können, die wie gewaltige Vögel aus Metall mit starren Flügeln aussahen und weiße Rauchspuren hinterließen, wenn sie hoch am Himmel dahinglitten.

"Gut, dann fliege ich mit dem Besen nicht in die Richtung, wo die Stadt liegt", sagte Dido Pane und beherrschte ihr Gesicht dabei so gut, daß niemand außer einer exzellenten Gedankenhörerin wie Anthelia ihr eine Lüge unterstellen konnte.

Anthelia zeigte Dido noch einmal den Infanticorpore-Fluch, wobei sie betonte, daß dieser ihr wegen der Umwandlung nichts mehr anhaben konnte. Ob das so stimmte wußte Anthelia selbst nicht so recht. Doch womöglich schaffte es der Fluch nicht, ihren Jahrtausende alten Körper zu verjüngen, zumal in allen Fasern die Kraft der Tränen der Ewigkeit steckte, die die körperliche Alterung verhinderten. Deren Kraft mochte durch die magische Verschmelzung zwischen Anthelia und Naaneavargia geschwächt worden sein. Doch weil Naaneavargia damals ein vielfaches der zuträglichen Menge geschluckt hatte, ging die neue anthelia nun davon aus, weiterhin gegen alle mächtigen Flüche immun zu sein, vor allem, wenn sie sich in eine zwei Meter messende schwarze Riesenspinne verwandelte. Denn als solche konnte ihr auch Avada Kedavra nichts anhaben. An alten Kaninchen, Mäusen und Katzen übte Dido den neuen Zauber. Nach dem fünften Versuch erzielte sie die gewünschte Wirkung. Als Dido den Fluch sprach und dabei mit dem Gedanken spielte, ihn auf Anthelia zu schleudern lachte Anthelia. "Willst du dich selbst zum hilflosen Säugling machen?" Sie wurde zur schwarzen Spinne. Dido verriß den Zauberstab und traf mit dem goldenen Blitz des Infanticorpore-Fluches einen zur Dekoration aufgestellten Kaktus. Dieser glühte golden auf und fiel in weniger als einer Zehntelsekunde in sich zusammen. Die Erde, in der er steckte wurde durchwühlt und warf eine Staubwolke auf. "In diessser erhabenen Geschschschtalt bin ichchch gegen alle flüchche gefeit", hörte Dido eine zischende Gedankenstimme, die sie als die der Riesenspinne erkannte. Dido erzitterte. Dann versuchte sie auf Anreiz der Spinne Flüche, die sie schon gelernt hatte. Alle prallten ab und schlugen in die Wände, die mal kohlschwarz anliefen, rot oder gelb aufglühten oder gezackte Risse abbekamen. Auch Deterrestris, der Schwerkraftumkehrzauber, verpuffte. Als Dido noch den Schocker ausprobierte, prallte dieser genau auf sie zurück und riß sie von den Beinen. Bereits bewußtlos schlug sie der Länge nach hin. Die schwarze Spinne zischte vergnügt. Dann kehrte sich die Verwandlung innerhalb von nur einer Sekunde wieder um. Die neue Anthelia grinste überlegen. Doch dann erbarmte sie sich Dido und hob mit "enervate!" den auf ihre Schülerin zurückgeprallten Betäubungszauber wieder auf. "Du siehst, daß Flüche, die mich in der Spinnengestalt treffen, auf ihren Urheber zurückprallen, sobald sie eine gewisse Stärke haben oder genau auf mich zujagen. Denke nicht daran, mich je anzugreifen, auch wenn ich keine Spinne bin! Ich habe durch meine Umwandlung ein Gespür für mich unmittelbar bedrohende Wesen und Gefahren erhalten und kann schneller die Gestalt wechseln, als du einen Fluch zu Ende gerufen hast." Dido erschauerte. Tatsächlich hatte sie gedacht, daß Anthelia ihr zu hoch überlegen war. Doch wenn sie an Halloween nicht im Haus war ...

"Lies am besten noch etwas über Infanticorpore! Ich muß in unserem Versammlungsraum ein Treffen vorbereiten."

"Ja, mache ich", sagte Dido. Sie ging in ihr Zimmer und nahm das Buch über die mächtigen Verwandlungsflüche, das Anthelia ihr vor drei Wochen überlassen hatte.

Anthelia apparierte in ihrem geheimen Versammlungsraum. Sie setzte sich an den Tisch, auf dem sie damals nach jahrhundertelanger Verbannung in Dairons Seelenmedaillon einen neuen Körper erhalten hatte. Sie horchte auf Didos Gedanken. Die ihr immer mehr entgleitende Junghexe, die vor vier Jahren noch ein schmächtiger Zaubererjunge gewesen war, plante die Flucht. An Halloween wollte sie davonfliegen. Hierzu wollte sie auf ihrem Besen so hoch sie damit fliegen konnte bis in eine große Stadt fliegen und sich dort mit Hilfe eines Verwandlungszaubers unkenntlich machen, um von einem der Muggel mit einem der lauten Selbstfahrwagen mitgenommen zu werden oder sich das Geld eines Muggels zusammenstehlen, um damit einen Flug in einem dieser Silbervögel bezahlen zu können. Anthelias Gegenmaßnahme stand jedoch auch schon fest.

Eine Stunde nach der Unterweisung Didos trafen mehrere Schwestern des Spinnenordens ein, um Bericht zu erstatten. Nocturnias Aktionen gingen bereits soweit, daß gewöhnliche Verbrecher im Auftrag der Vampire Geld stahlen und mögliche Feinde umbrachten. Allerdings beschränkten sich die Nocturnianer zunächst auf die beiden amerikanischen Teilkontinente, Europa und Nordasien. Australien war für die Vampire entweder zu weit fort oder zu unwichtig. Das dort jetzt, wo es auf den Südhalbkugelsommer zuging mehr Sonne schien, mochte für die mit der von den Vierbeins erfundenen Solexfolie ausgerüsteten Vampire kein Hindernis sein. Anthelia dachte daran, daß sie mit nur zwei Schwestern auf dem fünften Kontinent auch nicht gerade viele Kundschafter hatte, noch dazu welche, die nicht im dortigen Zaubereiministerium arbeiteten.

"Unser Ministerium ist in höchster Alarmstimmung, weil Vampire da unbehelligt herumlaufen können", sagte Albertine Steinbeißer. "Güldenbergs Leute, ich eingeschlossen, sollen die größten Feiern überwachen." Anthelia nickte.

"Lady Roberta hat uns von ihrer Seite her auch gebeten, uns umzuhören, wer in unserer Wohngegend Halloween feiert. Immerhin könnte dort dieses Vampyrogen verteilt werden", sagte Beth McGuire, die mit Wissen Roberta Sevenrocks und Anthelias sowohl in der Gruppe der Nachtfraktionshexen als auch dem Spinnenorden Mitglied war. Solange die Übereinkunft mit dem Zaubereiministerium galt sah Anthelia darin auch keine Gefahr.

"Wo wirst du eingesetzt, Schwester Albertine?" Fragte Anthelia.

"Weiß ich erst, wenn wir die Einsatzpläne kriegen", sagte Albertine Steinbeißer. Anthelia erwähnte dann, daß sie nach Deutschland kommen würde. Immerhin hatte Nocturnia damals eine Solexfolienfabrik dort betrieben. Es mochte also sein, daß unerkannte Angehörige Nocturnias weitere Artgenossen auf einer der Halloweenfeiern erschaffen wollten. Albertine Steinbeißer lächelte. Die Aussicht, die attraktive neue Hexenlady in ihrer Nähe zu haben wärmte sie innerlich auf. Anthelia ließ das jedoch kalt. Sie gab noch einmal die Parole aus, an Halloween gut aufzupassen und am besten auch eigene Verwandte darauf anzusetzen, daß Nocturnia diese Nacht nutzen mochte. Dann entließ sie die zusammengerufenen Mitschwestern, bis auf eine. Dieser mentiloquierte sie zu, kein Geräusch zu machen und nichts mit körperlicher Stimme zu sagen. Als dann alle Spinnenschwestern disappariert waren mentiloquierte sie Vera Barkow:

"Arcadi hat dich tatsächlich zur Fahndung ausgeschrieben?"

"Sie haben Einzahn erwischt, und der hat geplaudert, bevor einer von Arcadis Leuten ihn gepfählt hat. Ich darf mich im russischen oder polnischen Hoheitsgebiet nicht mehr sehen lassen", schickte Vera Barkow zurück. "Noch haben sie keine internationale Suche beantragt. Aber wenn Arcadi glaubt, daß ich sein Ministerium bedrohen könnte wird er seine Kollegen überzeugen können, mich auf der ganzen Welt zu suchen."

"Wenn du mir hilfst verhelfe ich dir zu einem neuen Leben. Allerdings mußt du dafür auch etwas auf dich nehmen", mentiloquierte Anthelia. Vera fragte unhörbar zurück, was es sei. Als Anthelia es ihr beschrieben hatte wiegte Vera Barkow ihren Kopf. Doch dann atmete sie einmal durch und gedankenantwortete:

"Auch eine Möglichkeit, neu anzufangen. Ich nehme die Bedingung an, höchste Schwester."

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Niemand bemerkte, daß sie nicht in dieser Zeit geboren waren. Jeder sah in ihnen ein junges Paar, das gerade den Ural bereiste und perfekt Russisch sprechen konnte. Sie war groß, schlank und besaß kupferrotes Haar. Ihre Augen glänzten so blau wie der Sommerhimmel. Er war klein, gedrungen und besaß rubinrotes Haar. Seine Augen strahlten goldenbraun. Um nicht wegen ihrer Hautfarbe aufzufallen hatten sie eine Schicht aus luftdurchlässigem Material aufgetragen, daß sich solange wie eine zweite Haut anschmiegte, bis sie eine Gegenlösung auftrugen. So wirkten sie als Europäer, wenngleich mit ihren roten Haaren schon auffälliger. Sie trugen die Kleidung, an die sich ihre Angleichgewänder vollkommen angepaßt hatten. Dazu hatten sie noch wadenhohe Stiefel angezogen und trugen windjacken mit Kapuzen.

"Wir müssen dafür sorgen, daß kein Gedanke von ihm an seinen Herren oder seine Herrin geht, Faidaria", hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf.

"Dann müssen wir die Kugel des umfassenden Schweigens beschwören, Aroyan", dachte sie ihm zurück. "Ich spüre ihn aber schon. Das heißt, der kann uns auch spüren, wenn wir noch näher an ihn herangehen."

"Gut, teile es Gisirdaria mit! Du bist im unhörbaren Rufen und sprechen besser als ich", dachte der Mann ihr zu, der Aroyan hieß, was in die Jetztzeitsprachen mit "Goldfeuer" übersetzt werden konnte. Seine zugesprochene Gefährtin Faidaria, was in die heutigen Sprachen mit "Himmelslicht" übersetzt werden konnte, konzentrierte sich. Sie dachte an ihre Mutterschwestertochter Gisirdaria, die von dem bis zur großen Wiedererweckung nur mit der Kraft eines der drei Sonnenschlüssel erfüllten neues Leben empfangen hatte. Es war ihr, als sähe sie die Gefährtin aus der Vorzeit vor sich stehen, so klar berührte sich ihrer beiden inneres Selbst. "Gigida, wir sind ihm nahe. Wir rufen jetzt die Kugel des umfassenden Schweigens, damit er nicht den lautlosen Ruf an seinen König oder seine Königin ausstoßen kann. Falls wir in einem zwölfteltag nicht mitteilen, was geschehen ist, so ist unser Vorhaben gescheitert und unser Leben ist erloschen."

"Gut, ich warte auf euren fernen Ruf, Mutterschwester Faifai", klang Gisirdarias geistige Stimme für beide so laut, als stünde die Angesprochene leibhaftig bei ihnen.

Faidaria und Aroyan holten kleine kristallene Pyramiden aus ihren Hosentaschen. Diese erglühten in einem zarten Rot, als ihre Träger sie in Händen hielten. Sie stellten sich rücken an Rücken. Dann blickte jeder der beiden für einen Tausendsteltag in die helle Sonne. Deren Licht tat ihren Augen nicht weh, denn es floß übergangslos durch ihre Köpfe in die Arme und brachte die Kraftausrichtungskristalle zum schwingen. Dann sangen sie leise aber voller Entschlossenheit eine uralte Beschwörungsformel des Himmels und des inneren Selbst. Sie riefen die Kraft des großen Vaters Himmelsfeuer an, und wünschten sich, daß um sie herum die unsichtbare Kugel des umfassenden Schweigens erstehen möge. Wer sie hörte mochte an eine indianische, vielleicht auch altgriechische Weise denken. Die Töne kamen klar und schwingungsfrei aus den Mündern der beiden Sonnenkinder. Dann fühlten sie, wie die Kraft aus dem großen Himmelsfeuer mit der ihnen angeborenen Kraft die mehr als fünftausend Schritte große Kugel erstehen ließen, in der kein Laut lauter als normales Sprechen und kein Gedanke nach außen gelassen wurde. Die Kugel des umfassenden Schweigens hielt solange vor, wie ihre beiden Beschwörer einander sehen konnten. Schliefen sie ein oder entfernten sie sich weiter, als ihre Augen blicken konnten, zerfloß sie ohne sicht- und hörbare Erscheinungen. Als beide fühlten, daß ihre Beschwörung den gewünschten Erfolg erzielt hatte, machten sie sich an den Aufstieg zur Höhle, in der er lebte, ein Iaammayan, ein vom Blut der Menschen lebender Sohn der Nacht, gezeugt in den Wonnen der Lebensverachtung, geboren aus der Bosheit des dunklen Königs, dessen Name nur genannt werden durfte, wenn er mit Ernst und Notwendigkeit erwähnt werden mußte.

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Sie hatten ihn aufgespürt, gejagt und dann doch die Spur verloren. Der zwei Meter große Vampir Karwaljow hätte fast einen dieser verfluchten Eichenbolzen Mit Sonnenquarzspitze abbekommen. Arcadis Jäger sollten verflucht sein. Am liebsten würde er jeden von denen in eine riesige Presse legen und ihnen alles Blut aus dem Leib herausquetschen wie den Saft aus einer Zitrone. Warum hatte ihm die neue Königin keine dieser Wunderfolien gegeben. "Du bist zu groß für sowas", hatte die glatt gesagt. Dabei konnten die Folien für Knirpse von gerade zwei Jahren machen. Warum nicht auch für anständig aufgewachsene wie ihn, der bei seinen Artgenossen auch Blutturm, der unaufhaltsame genannt wurde. Karwaljow hatte diese Berghöhle gefunden. Er hatte mitbekommen, wie die drei Zöglinge, die er mit Lamia gezeugt hatte, von diesen Arcadianern einfach so niedergeschossen worden waren. Aber bald war die Nacht wieder da. Dann konnte er hinaus und diesem Rotblüterpack drei neue Kinder entreißen.

Er fühlte, daß der verhaßte Glutball am Himmel schon halb zum Horizont gesunken war. Früher hatte er bis zur Dunkelheit tief und wie ein Toter daliegend geschlafen. Doch seitdem er ein paar Tropfen des Blutes der Königin gekostet hatte, um mit ihr enger verbunden zu sein, konnte er zumindest den Morgen und den Nachmittag wach sein. Mittags, wenn ... halt! Dieser widerliche Glutklumpen am Himmel ging doch gerade erst unter. Wieso fühlte es sich jetzt so an, als stehe dieses viel zu grelle Ding wieder ganz oben am Himmel? Er fühlte, wie Schwäche in seine Glieder sickerte. Nein, er mußte wach bleiben! Er mußte wissen, warum sein Gespür für die Zeit plötzlich derartig verwirrt war. Er machte Bewegungsübungen, um die ihn immer stärker heimsuchende Erschlaffung zu vertreiben. Nein, dieser in die ewige Verdammnis zu werfende Feuerklumpen da oben am Himmel war auf dem Weg unter den Horizont, wo das Ding hingehörte und zu bleiben hatte, wenn es nach ihm ging. Das konnte nicht einfach so wieder zurück nach oben springen. Jetzt fühlte er auch noch Wärmeschauer, als glitten die Strahlen dieses verwünschten Feuerballs durch die langen Gänge und um alle Biegungen zu ihm hin. Er zuckte zusammen, weil es ihn an Armen, Beinen und Kopf zu pieken begann. Er schnaubte, wollte seine Königin fragen, ob er träume, als er fühlte, wie etwas kribbelndes ihn umfing und auf einmal die Verbindung zu seiner erhabenen Königin Lamia abschnitt. Es war wie der Fall in einen eisigen, dunklen Schacht. Doch da war auch dieses peinigende Pieksen, das immer mehr weh tat. Es brannte auf seiner Haut, bohrte sich in seinen Kopf und schnitt in sein Fleisch. Er stöhnte, schnaufte und versuchte, zu rufen. Da merkte er, daß das, was außer der verwünschten Ausstrahlung um ihn lag jeden Laut aus seinem Mund schwächte. Selbst mit seinen empfindlichen Ohren hörte er keinen Widerhall, weil die Wände der Höhle zu weit fort waren. Irgendwer griff ihn an. Ja, das und nur das konnte es sein. Sie machten einen bösen Zauber, den sie aus dem widerlichen Lichtball am Himmel nährten. Und dieses Pieken und Brennen wurde immer unangenehmer. Er konnte sich gerade so auf den Beinen halten. Es stach und schnitt durch seine Haut in sein Fleisch ein. Hitzestöße jagten von vorne durch seinen Leib wie Brandungswellen aus siedendem Wasser. Der Blutsauger kämpfte gegen diese Ausstrahlung an. Er stemmte sich dagegen. Er brauchte unbedingt frisches junges Menschenblut, wenn er das hier überleben wollte. Er versuchte, seine Königin zu rufen. Doch seine Gedankenrufe blieben ungehört. Er fühlte nicht einmal Lamias sachte Berührung im Geiste, über die sie wie eine fette Spinne im Netz jede innere Regung erfaßte. Er sah zur lezten der fünf Biegungen. Da konnte kein Strahl des verwünschten Feuerklumpens durchkommen. Dennoch meinte er, gleich voll in dieser tödlichen Strahlung zu stehen. Er schrie. Doch seine Schreie klangen wie durch einen dicken Knebel. Was immer Arcadis Leute aufboten, sie konnten ihn damit fertigmachen. Doch er wollte nicht krepieren. Hier in der Höhle hatte er Waffen, mit denen er diesen Zauberstabschwingern das Blut in den Adern stocken lassen konnte. Er wankte nach hinten, wo er die von Lamia erhaltenen Waffen aufbewahrte. Er griff sich jenes Instrument, daß sie Kalaschnikow genannt hatte. Es war ein Metallrohr mit einer Vorrichtung, aus der heraus mit lauten Knällen winzige aber schnelle Metallgeschosse verschossen werden konnten. Er entsicherte die Waffe. Er hörte es gerade einmal laut genug Klicken, daß er wußte, daß die Abschußvorrichtung bereit war. Er taumelte. Diese verdammten Schmerzen. Dieses widerliche Pieken und Brennen. Es wurde immer stärker. Etwas kam auf ihn zu. Er kämpfte sich vorwärts. Jetzt meinte er, seine Adern würden gleich kochen. Er zielte um die Biegung herum. Er mußte das Ziel sehen, um es genau zu treffen. Er sah die nur um einTausendstel dunkleren Schatten an der dunklen Wand. Da kamen welche, zwei Stück. Das Brennen und Stechen wurde nun unerträglich. Vor seinen Augen tanzten und explodierten Funkenwolken. ER schwenkte die Waffe. Sie wackelte in seinen Händen nach links und rechts, oben und unten. Doch er wußte, daß er nicht zu genau zielen mußte. Es reichte schon, in die ungefähre Richtung zu schießen. Eine Kugel mochte ein Ziel treffen, wenn er den Auslöser durchzog. Dann erglühte vor seinen Augen eine grellweiße Wand, in der er undeutlich zwei Schemen erkennen konnte. Gleichzeitig meinte er, von vorne mit siedendem Öl überschüttet zu werden. Er schrie laut auf und drückte den Abzug.

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"Er lauert", flüsterte Aroyan seiner Gefährtin zu. "Hüllen wir uns in unsere Gewänder des Himmelsfeuers!" Sie wisperte zurück, daß sie es machen wollten, wenn sie ihm ganz nahe seien. Sicher fühlte er bereits ihre gemeinsame Ausstrahlung, so wie sie seine gier, seine Angriffslust und seine Verärgerung fühlten. Für sie war es, als würden eiskalte Finger sie immer wieder von oben bis unten betasten. Dann umschritten sie die letzte Biegung: "Hawanfaiyanmirianu!" Riefen beide in ihrer Muttersprache "Gewand von Vater Himmelsfeuer" hieß Dies. Der bis dahin aus ihrer Kraft und ihrer Natur ausgeatmete Hauch wurde zu einem Mantel aus hellem Licht, der sie umschloß und für sie, die sie selbst das hellste Licht ohne Schmerzen ertrugen, so angenehm war wie für die anderen Menschen ein schöner goldener Tagesanbruch. Doch für die Ausgeburt der Nacht dort vor ihnen war dieser Mantel aus Licht die größte Pein, die ihm bereitet werden konnte. Faidaria sah jedoch das metallische Rohr im Gegenlicht ihrer Beschwörung. Sie stieß ihren Gefährten an. Der stolperte und fiel hin. Sie war ebenfalls nach vorne gefallen. Das rettete ihnen beiden das Leben. Denn die plötzlich über sie hinwegschwirrenden Metallgeschosse, die aus dem leise knatternden Rohr von Feuerstößen getrieben wurden, hätten sie sonst wohl an Kopf oder Brustkorb getroffen. Leise Klatschend prallten die gefährlichen Schwirrkugeln gegen die Höhlenwände. Wo sie nicht in Ritzen eindrangen und steckenblieben prallten sie von den Granitwänden ab und pfiffen oder wimmerten in die Gegenrichtung. Aroyan sah die flirrende Öffnung des Rohres, das wild hinund herwackelte und stieß das Wort "Aullishayanin!" aus. Sein Kraftausrichter erstrahlte im kalten Blau und leuchtete im goldenen Schein des Himmelsfeuermantels. Er zielte auf das Rohr, dessen tödliche Geschosse fast auf Höhe seines Kopfes dahinsirrten. Das Flirren im Rohr erstarb. Es klickte ganz leise. Der Blutsauger fuchtelte mit dem Ding herum. Er stieß Schmerzenslaute aus, versuchte wieder auf die beiden Eindringlinge zu schießen. Doch weil Aroyan das Feuer in der Waffe zur Untätigkeit befohlen hatte konnte er nicht mehr schießen. Die Waffe aus der neuen Zeit war dem alten Wort des Feuerbanns nicht gewachsen.

"Du bist unser gefangener, Sohn der Nacht!" rief Aroyan dem um seine Selbstbeherrschung kämpfenden Blutsauger zu. "Sage uns, wo dein König wohnt, dann werden wir dich an einem Ort fern der großen Wohnstätten dein Leben vom Blut der niederen Tiere weiterführen lassen."

"Wer seid ihr! Euch kann es nicht geben. Ihr könnt nicht die sein", stieß der in die Enge gedrängte Nachtsohn aus. Seine gefährlichen Fangzähne blitzten im Licht der Lichtumkleidungen. Er krümmte sich vor Schmerz. Faidaria sah ihren Gefährten durch dessen Hauch aus Sonnenlicht an. "Hab acht! Ihm wohnt dunkles Zerstörungswerk inne!" Ihr Gefährte sah den ertappten an. Dann fühlte er auch dieses unheilvolle Kribbeln, das im nächsten Moment zu einer unbändigen Zerstörungskraft erwachte. Aus dem Körper des Nachtsohnes schlugen blaue Flammen, die anders als das magielose Feuer des Schießrohres aus dunkler Kraft entfacht wurde und alles fraß, was Leben in sich hatte. Dennoch versuchte Aroyan, mit einem weiteren Wort des Feuerbanns das Lebenfresserfeuer niederzuringen. Es flackerte und erbleichte. Doch seine Zerstörungskraft war schon zu weit entfesselt worden. Der Sohn der Nacht fiel als bleiches Knochengerüst auseinander. Die blaß glimmende Feuersäule zerstob.

"Dieses dunkle Feuer kann ich nicht ganz niedersprechen", schnaubte Aroyan. "Es ergriff den Sohn der Nacht und brannte ihm sein lebendes Fleisch und sein erbleichtes Blut von den Knochen. Sicher hätte es ihn ganz verzehrt, wenn ich nicht gegen diese dunkle Macht angesprochen hätte. Aber wie gesagt ist sie für das Wort des Feuerbanns zu stark", stieß Aroyan höchst verärgert aus. Während dessen klapperten die freigebrannten Knochen auf den Boden. Scheppernd schlug die mit Treibfeuer arbeitende Schießvorrichtung auf den harten Grund. Die Präsenz des Nachtsohnes war mit dem Ausbruch des blauen Lebensfresserfeuers erloschen.

"Er hat die Kraft seiner Zerstörung nicht selbst gerufen", stellte Faidaria fest. "Sie wurde in ihn hineingelegt wie der Keim eines gefräßigen neuen Lebens, das erwacht, wenn er sich nicht mehr wehren oder fliehen kann. Als du ihm gesagt hast, daß er unser Gefangener sei, erwachte das böse Feuer zum leben. Es wäre aber wohl auch erwacht, wenn wir ihn berührt und gebunden hätten. Nocturnias Herr oder Herrin kennt gefährliche Wege der Kraft."

"Das heißt, wir können keinen von denen lebend fangen und ausfragen?" schnaubte Aroyan. Faidaria nickte. Diese Geste hatte sie sich sehr früh von den Menschen dieser Zeit abgeschaut.

"So können wir hier nichts mehr vollbringen, meine Gefährtin", grummelte Aroyan. "Dann können wir die Kugel des umfassenden Schweigens wieder zurück in das unendliche Meer der ruhenden Kraft schicken." Seine Gefährtin bejahte es. Wieder Rücken an Rücken sangen sie eine andere Formel, die die von ihnen beschworene Kraftkugel einschrumpfen ließ, wobei sie einen Teil der sie erschaffenden Kraft an das allumfassende Gefüge aus Raum, Zeit, Stofflichkeit und Nichtstofflichkeit abgab und den Rest der Kraft in jene zurückgab, die sie herbeigerufen und um sich erhalten hatten.

Im Licht ihrer Sonnenlichtmäntel durchsuchten sie die Wohnstatt des gestorbenen Nachtsohnes. Sie fanden weitere Gerätschaften, die Waffen sein mochten. Sie legten sie in ihre Rucksäcke, nachdem Aroyan auf jede das Wort des Feuerbanns gesprochen hatte, damit nicht auf der Reise zurück ruhendes Treib, Brand- oder Sprengfeuer erwachte und sie beide tötete. sie fanden sogar trockene, rechteckige Blätter mit den Schriftzeichen der neuen Zeit. Sie zu lesen hatten sie in den letzten zwei Mondwechseln gelernt. Mehr fanden sie jedoch nicht.

"Gigida, wir konnten den Sohn der Nacht nicht ergreifen. Der Keim eines lebendiges fressenden Feuers lag in ihm. Wir haben es zu spät erkannt. Gefährte Aroyan sagt, er kann dieses böse Feuer aus der Kraft der Mitternächtigen nicht ganz niedersprechen."

Meines Bruders Gefährtin kennt dieses Feuer. Es wird von den jetzt lebenden Begüterten Schmelzfeuer genannt, weil es das Leben selbst als Nahrung nimmt und alles, in dem Leben steckt, zu seiner Art umschmilzt", sprach Gisirdaria, deren gedankliches Bild vor den beiden Sonnenkindern stand wie leibhaftig.

"Kennen die dieser Tage lebenden Begüterten ein Wort oder ein Lied gegen diese böse Kraft?" fragte Faidaria. Ihrer Schwestertochter, also Nichte, horchte wohl einen Moment und erwähnte dann zwei Methoden, die die nach außen fließende Kraft abschwächten oder eine wirkende Kraft zum versiegen zwangen. Das erste war ein Einschließungslied, das die in einem Wesen wohnende Kraft zu einer von ihm nicht so leicht zu brechenden Schale verfestigte. Das zweite war ein Geflecht aus einander überlagernden Kräften, die zu einer gegen die übernatürliche Kraft in der Umgebung wirkenden Entladung führte. Die neuzeitlichen Träger der Kraft nannten diesen Gegenstand Incantivacuumkristall. Doch würde dieses Mittel jeden Träger der Kraft in tiefe Bewußtlosigkeit stürzen, der in seinem Wirkungsraum stand.

"So mag uns Gwendartammaya oder Patricia dieses Lied der Einschließung lehren!" gab Aroyan über den Geist seiner Gefährtin an seine Nichte weiter. "Dann müßt ihr aber zu uns kommen. Denn nur hier wirkt der Schutz der Verheimlichung, in dem Patricia mit uns verbleiben kann. Denn in der Welt draußen gilt sie für tot", teilte die geistige Abbildung Gisirdarias mit. Die beiden Sonnenkinder sagten zu. Im Moment konnten sie auch kein weiteres Nachtkind finden. Sie faßten einander an. Patricia, die die Sonnenkinder auch Gwendartammaya, die erhabene Tochter, nannten, berührte über den Geist Gisirdarias den Geist Faidarias und damit auch den Aroyans. Ihr sichtbares Bild erschien, und ihre geistige Stimme sagte ihnen, wo sie wohnte. Denn nur so konnten sie den Ort betreten, an dem sie wohnte. Jetzt konnten sie den Kurzen Weg gehen. Doch sie mußten mehrere Zwischenhalte einlegen, weil sie nicht mit einem einzigen Gang über den Kurzen Weg ans Ziel gelangen konnten. Endlich standen sie vor dem Haus, in dem die magielose Frauenärztin Virginia Hencock wohnte und praktizierte.

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Es war nicht das erste mal, daß er das Hauptquartier der CIA betrat. Doch das mußten die Schlapphüte nicht wissen. Zachary Marchand kannte die Sicherheitsvorkehrungen, mit denen er am Eingang empfangen wurde. Er wurde gründlich durchsucht, zumindest in der Weise, was die Muggel für gründlich hielten. Daß seine weiße Unterwäsche, sowie sein weißes Hemd zum großen Teil aus den Fasern der Riesenspinne Acromantula gewebt war, konnten die CIA-Türsteher nicht wissen. Deshalb konnte sich der offiziell als FBI-Sonderagent ausweisende Zauberer mit Muggeleltern auch sicher sein, daß weder Kugeln noch Klingen ihm was anhaben konnten. Durch die Flammenschutzimprägnierlösung war seine Wäsche auch gegen magieloses Feuer immun. Quinn Hammersmith, der Spezialist für magische Ausrüstung, hatte sogar gesagt, daß die neuen Wäschestücke den bisher so einzigartigen Drachenhautpanzern ebenbürtig waren. Nur an Kopf und Händen mußte dann etwas getragen werden, das Muggelweltwaffen widerstand.

Die Höhle des Löwen, wie Zach die CIA-Zentrale heimlich nannte, bestand aus mehreren Gebäuden und unterirdischen Labyrinthen mit Sonderbüros und Laboren. Er wurde jedoch in ein gewöhnliches, oberirdisches Büro geführt. Daß die Fenster mit dicken Panzerglasscheiben gesichert waren nahm Marchand nur beiläufig zur Kenntnis. Ihm ging es um den Mann, der in einem braunen Bürosessel saß wie ein König auf seinem Thron. Das war also jener Sean Graves, der die sogenannte DDT-Gruppe begründet und bis zur Entführung von Zacharys Eltern geführt hatte.

"Ihr Chef hat unseren Chef um dieses Treffen ersucht. Machen wir es kurz", knallte ihm der CIA-Mensch statt einer anständigen Begrüßung vor den Kopf. Zachary stand jedoch ruhig im wohl auch unabhörbaren Büro und lächelte Graves an. Dieser erkannte, daß es leichter war, dem unwillkommenen Besucher einen Platz anzubieten. Zachary nahm die stumme Geste mit einer lockeren Dankesgeste zur Kenntnis und setzte sich auf den Stuhl, auf den Graves' Hand deutete.

"Um Ihre Zeit nicht länger auszureizen, Mr. Graves: Mein Chef stimmt mir darin zu, daß der von uns als Entführer der Eheleute Marchand und des FBI-Sonderagenten Zachary Marchand für verantwortlich erkannte Aldo Watkin als internationaler Verbrecher gejagt und von Polizeikräften dingfest zu machen ist. Er hat als Bürger der vereinigten Staaten auf dem Boden derselben andere Bürger derselben erpreßt, entführt und ermordet. Das macht ihn zu einem Fall der Gerichtsbarkeit der vereinigten Staaten, deren Sicherheit zu schützen ich genauso geschworen habe wie Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen. Da wir erfahren haben, daß Ihre Behörde danach trachtet, besagten Mr. Watkin und seine Helfer und Helfershelfer zu jagen, wollte ich Sie bitten, daß wir unsere Interessen und Mittel vereinen", trug Zachary das Anliegen vor, daß er mit seinem Chef abgestimmt hatte. "Ich weiß nicht, welches Interesse Sie an der Person dieses Kapitalverbrechers haben", log er. "Doch der Fall hat Staub aufgewirbelt. Unsere Behörde wurde direkt angegriffen. Honorige US-Bürger und eine unbescholtene, kranke alte Dame, wurden ermordet. Die Sicherheit unseres Landes wird von den Medien hinterfragt. Wir müssen den Straftäter dingfest machen und vor Gericht bringen, um zu erfahren, ob er auf eigene Rechnung oder im Auftrag bisher unbekannter gearbeitet hat. Wenn er im Auftrag anderer gearbeitet hat, dann sollte es Ihren Arbeitgeber ebenso interessieren, wie es meinen Arbeitgeber interessiert", legte er noch nach.

"Wozu Sie erst einmal beweisen müßten, daß es jener Aldo Watkin war, der über Jahre für uns gearbeitet hat und jetzt in dem Verdacht steht, unsere Organisation zu infiltrieren. Falls nämlich herauskommt, daß Sie nur einem Gerücht aufgesessen sind ..."

"Wir haben Fingerabdrücke sichern können, die wir trotz Ihrer Bemühungen, sie als geheime Verschlußsache zu deklarieren, eindeutig bestimmten Leuten im Kreis von Aldo Watkin zuordnen konnten. Mehrere FBI-Agenten wurden bei dem Versuch getötet, den Sonderagenten Marchand aus der Gefangenschaft zu befreien. Dabei starben einige der Täter im Feuergefecht. Sie wurden eindeutig identifiziert und der Söldnergruppe zugeordnet, die mit Aldo Watkin zusammengearbeitet hat. Es sind also keine Gerüchte, Mr. Graves", hielt Marchand dem CIA-Mann entgegen. Zu gerne hätte er den jetzt legilimentiert. Doch in der Muggelwelt durfte er nur mit Muggelmitteln ermitteln, solange er nicht in akute Lebensgefahr geriet oder eindeutig magisch angegriffen wurde. Zumindest hatte sein Zaubererweltboss Davidson ihm noch keine diesbezüglichen Änderungen seiner Befugnisse mitgeteilt.

"Das ist auch der einzige Grund, warum wir uns dazu bereiterklärt haben, Akten über die nicht als streng geheim klassifizierten Operationen unseres Mitarbeiters Watkin zur Einsicht vorzulegen, Mr. Marchand. wie Sie den Akten entnehmen konnten, hielt sich Aldo Watkin zum Tatzeitpunkt nicht auf dem Boden der vereinigten Staaten von Amerika auf. Die von Ihrer Behörde gesicherten Spuren und identifizierten Personen können daher auch auf eine Form von Eigenmacht ehemaliger Mitarbeiter von Watkin zurückgeführt werden. Wir dürfen uns von Ihnen nicht daran hindern lassen, Watkin zu befragen, was die von uns und nur uns zu sichtenden Punkte betrifft. Wenn Sie ihn fassen, wird er gemäß den Miranda-Rechten jede Aussage vor Gericht verweigern, aber dafür zu lange in einem von uns nicht zu kontrollierenden Umfeld verwahrt bleiben, in dem er weiteren Schaden gegen die Sicherheit der USA anrichten kann. Daher obliegt es nur uns, diesen Mann zu stellen und zu verhören."

"Ich verweise auf die Kooperationen zwischen meiner Behörde, sowie den Ermittlungsbehörden der US-Navy, der US-Army und Interpol mit Ihrer Behörde, bei denen Kapitalverbrecher mit internationalen Beziehungen und Betätigungen auch jeweiligen Gerichten vorgeführt wurden, wenn sie zeitweilig mit Ihnen zusammengearbeitet haben", startete Marchand einen neuen Versuch.

"Ja, und ich erinnere Sie ungerne aber notwendigerweise daran, daß solche Kooperationen häufig zur beinahen Enttarnung von Feldeinsatzagenten geführt haben, weil diese Kriminellen vor Gericht reinen Tisch machen und alle ans Messer liefern wollten, denen sie mißfielen. Der Fall Rodenko dürfte Ihnen sicher noch bekannt sein." Zachary lächelte matt. Der angebliche Doppelagent, der so getanhatte, als wäre er vom KGB übergelaufen, um in den Staaten Informationen zu sammeln, die er an seinen angeblichen Ex-Arbeitgeber weitergab, war ihm bekannt. Die Medien hatten davon deshalb nichts mitbekommen, weil es hier auch um Verbindungen in den mittleren Osten ging und der Verdacht bestand, Rodenkos frühere Firma hätte zweifelhafte Regimes mit dem Wissen um Kernwaffen versorgt.

"Rodenko war kein US-Bürger. Watkin und seine Helfer sind es allesamt. Wir halten noch den Deckel drauf, wer wegen der Entführung und Ermordung der Eheleute Marchand verdächtigt wird. Wenn sie mir hier und jetzt erneut die Mitarbeit verweigern, werden wir unsere gesamte Infrastruktur ausschöpfen, diesen Verbrecher zu fangen und vor Gericht zu bringen. Falls es ihm einfällt, von seinen verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch zu machen, so würde es Sie doch am meisten beruhigen, wenn er keinerlei Angaben zu seiner Tätigkeit für Ihre Behörde macht. Insofern wäre es für unsere beiden Arbeitgeber ein gegenseitiger Gewinn, wenn wir Watkin und seine Leute gemeinsam fassen und aburteilen lassen." Zachary widerte es an, diplomatisch vorzugehen. Er ging nicht davon aus, daß Graves seine persönliche Abrechnung mit dem ihm abgesprungenen Ex-Söldner in die nächste Mülltonne werfen würde. Deshalb wunderte ihn die Antwort des CIA-Kostgängers überhaupt nicht:

"Netter Versuch, Mr. Marchand. Sie wollen ihn zur öffentlich mitgetragenen Jagd freigeben, Interpol und nationale Polizeibehörden auf ihn ansetzen und die Bevölkerung einspannen, für Sie Augen und Ohren zu sein. Aber das verstößt gegen unser Interesse. Mein oberster Chef wird, sobald ich ihm von dieser mir aufgenötigten Unterredung berichte, den Präsidenten persönlich anrufen und ihn darum bitten, Ihren obersten Chef anzuweisen, sich ganz aus der Suche nach Watkin herauszuhalten. außerdem wissen wir, daß Ihre Eltern nicht durch die Bombenfallen der unidentifizierten Entführer zu Tode kamen. Falls die Täter noch frei herumlaufen, sollten diese besser nicht wissen, wo und unter welchem Namen Ihre Eltern jetzt weiterleben. Ich denke nicht, daß es im Interesse Ihres Arbeitgebers ist, eine undichte Stelle zugeben zu müssen. In Ihrem persönlichen Interesse dürfte es auch nicht liegen, wenn Ihre Eltern wahrhaftig getötet werden. Da diese offiziell schon tot sind, würde niemand einen Zusammenhang mit der Entführung der Eheleute Marchand vermuten."

"wären Sie ein nicht durch besondere Umstände geschützter Bürger, so könnte ich Sie hier und jetzt wegen versuchter Erpressung und Bedrohung eines Bundesagenten festnehmen", sagte Zachary ehrlich erzürnt. "Ich werte Ihre Äußerung jedoch als klare Absage an die vorgeschlagene Zusammenarbeit. So muß jeder seiner Wege gehen. Sie wollten den Wettlauf, dann sollen Sie ihn haben. Damit ist diese Unterredung beendet. Ich denke mal, daß sie eh nicht stattgefunden hat."

"Da denken Sie richtig. Wie erwähnt wird mein oberster Chef gleich mit dem weißen Haus telefonieren und unserem lebenslustigen Präsidenten klar und deutlich begreiflich machen, warum Aldo Watkin kein Fall für die US-Gerichtsbehörden ist. Haben Sie noch einen schönen Tag!"

"Das wünsche ich Ihnen auch", gab Zachary mit einem sehr angestrengt aufgesetzten Lächeln zur Antwort. Graves betätigte den Türöffner und ließ seinen ungebetenen Gast hinaus. Draußen wurde er gleich von zwei dienstbaren Geistern in Empfang genommen und zum Ausgang geleitet. Vor dem Tor zum CIA-Gelände parkte Zacharys Dienstwagen. Dieser war gepanzert und einbruchssicherer als der beste Banktresor. Er schmunzelte, als er winzige Kratzer im Lack erkannte. Die Schlapphüte hatten es also echt versucht, sein Auto zu knacken. Vielleicht war es ihnen darum gegangen, Materialien zu finden, die den Ermittlungsstand des FBI verrieten. Vielleicht wollten sie auch ein paar Wanzen hineinschmuggeln, um mitzuhören, was er so mit wem besprach. Zachary bestieg seinen Wagen und fuhr unter den weitreichenden Kameras der Firma aus Langley seines Weges. Zwei Kilometer weiter fort hielt er kurz an und vollführte einen Zauber, den ihm Quinn beigebracht hatte. Dieser zeigte alle inneren und äußeren Veränderungen an einem Fahrzeug oder von festen Wänden gebildeten Raum. Er grinste, als er unter der Ölwanne eine Auffälligkeit registrierte. Er ahnte, was es war und stieg aus. "Accio Peilsender!" dachte er konzentriert. Es klickte leise. Dann schwirrten ihm gleich drei winzige Metallgegenstände entgegen. Zachary legte die von seinem Auto gepflückten Sender in den Straßengraben und fuhr weiter.

Unterwegs formulierte er bereits einen Antrag bei Mr. Davidson, Watkin wegen dringenden Verdachtes, mit Verbrechern aus der Zaubererwelt zusammenzuarbeiten, auch mit magischen Mitteln suchen zu dürfen. Allerdings durften der amtierende Zaubereiminister und sein neuer Kettenhund Lorne Vane nichts davon wissen.

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"Ich werde dieses kleine, unerfahrene Modepüppchen nicht heiraten, Nonno", knurrte Andrea Danielli, als fünf Tage nach der Trauerfeier die füllige Donna Regina Venuti die Villa Luna mit ihren fünf Leibwächtern verlassen hatte. Don Adone hatte zwar die Abwehrvorrichtungen gegen Wanzen eingeschaltet. Doch gegen die durch den Keim der Lykanthropie geschärften Ohren seines Enkelsohnes hätte er sich schon hinter meterdicken Wattewänden mit dazwischen errichteten Vakuumspalten verbarrikadieren müssen. Donna Regina hatte von der aufgeheizten Stimmung zwischen den Daniellis und Pontebiancos gehört und hatte ein Angebot gemacht, wie ihre weitläufige Familie nebst allen Verstrickungen über ihre Töchter, Nichten und Enkelsöhne die Vendetta verhindern konnten. Andrea sollte ihre Enkeltochter Angela Maria heiraten, um eine Blutsverbindung zwischen den Venutis und den Daniellis zu knüpfen. Dann würde sich Pontebianco gleich mit sechs ehrenhaften Sippen anlegen, wenn er sich für die Kasinosprengung und den Tod seiner Verwandten rächen wollte. Don Adone hatte diese Option als möglichen Ausweg zur Kenntnis genommen, jedoch eingeräumt, daß er sich mit seinem Enkel noch einmal ausführlich darüber beraten müsse. Donna Regina hatte darauf geantwortet, daß sie Zeit habe und Angela ja auch einen der anderen heiratsfähigen Nachfahren einer ehrenwerten Familie heiraten könne.

"Du meinst, weil wir jetzt Mondbrüder sind müßten wir nicht mehr auf gute Zusammenarbeit achten?" Fragte Don Adone mit gefahrverheißendem Unterton. "Sicher können die uns nicht mit popeligen Kugeln erledigen. Aber die haben sicher auch Granaten und Brandgeschosse. Außerdem wäre eine Verbindung mit den Venutis sehr günstig für unsere Position in den Staaten, wo Donna Ginas Vetter in Boston die Fäden in der Hand hält."

"Ich lasse mich nicht verschachern wie ein Deckhengst, Nonno. Die Alte meint doch nur, jetzt Oberwasser zu kriegen, weil es eher früher als später zum großen Knall zwischen Vittorios Klüngel und uns kommt. Wer glaubt die, daß sie ist? Maria Theresia?"

"Brüll mich nicht an, nicht in meinem Haus!" knurrte Don Adone sehr unheilvoll. Dabei hatte Andrea nicht gebrüllt, zumindest nicht für die Ohren von Normalmenschen. "Denkst du, ich wollte haben, daß diese Matrone mit ihrer Witwenschleife bei ihren Freundinnen rumerzählen kann, sie habe eine ihrer Enkeltöchter in die mächtige Daniellisippe verkuppelt? Aber wenn ich dieser dicken Trulla gesagt hätte, daß du schon eine feste Freundin hast hätte die glatt ihre wohl bald läufig werdende Enkeltochter mit dem Großneffen von Vittorio zusammengebunden. Der ist gerade neunzehn und wurde von seinem Großonkel aus Anna Capri zurückgerufen, um den Platz seines Vaters einzunehmen, mit neunzehn Jahren. Wenn Donna Regina das mitbekommen hat wäre die gleich ein Haus weitergezogen und hätte ihre kleine Angela dort angeboten."

"Dann soll die ein Freudenhaus aufmachen, wenn die irgendwelchen Männern ihre Mädchen anbieten will", schnarrte Andrea Danielli. Das die Blondine Melina alias Nina als seine erste richtige feste Freundin gehandelt wurde war nur für die Mitglieder der Familie und die langjährigsten Angestellten der Familie erwähnt worden, damit Melina den Schutz der Villa Luna genießen konnte. Das seit der Eingliederung in die Mondbruderschaft auch ein dünner Mann aus Spanien in der Villa wohnte wußten außer Adone und seinem Enkel nur Adones rechte Hand Luigi und besagte Melina.

"Gib der dicken Kupplerin noch zwei Tage Zeit. Dann kannst du die anrufen und ihr sagen, daß Melina und ich über das Mittelmeer nach Spanien umziehen!" schlug Andrea Danielli seinem Großvater vor. Dieser grummelte ungehalten. Doch dann nickte er. "Dieser Hänfling Fino hat meinen Lamborghini und die drei Panzerautos umfrisiert. Der hat behauptet, sein Hokuspokus würde die Elektronik nicht beeinträchtigen. Ich will ihn beim Wort nehmen und eine Probefahrt machen."

"Dann nimm den mit, falls unterwegs doch was kaputtgeht", schnarrte Don Adone. Andrea beherrschte sich, seine Vorfreude nicht zu deutlich zu zeigen. Außerdem war er sich nicht sicher, ob das Getippe und Gefuchtel mit dem Zauberstab, den dieser Fino verwendet hatte, nicht doch was wichtiges vermurkst hatte. Don Adone gab über Bildtextmitteilung an die Wachposten aus, daß die drei schwergepanzerten Luxuslimousinen bemannt und vorgefahren werden sollten. Don Adone fragte seinen Enkel, ob er nicht die schußsichere Weste anziehen wolle. Doch Andrea grinste. Immerhin hatte Don Adone ja selbst ausprobieren dürfen, daß silberlose Geschosse ihn nicht verletzen konnten. Selbst Stahlmantelgeschosse, die frühere Sicherheitswesten durchschlagen konnten, wurden an der Haut eines Werwolfs in Menschengestalt vollständig abgebremst, in Wolfsgestalt sogar mit einem Viertel Aufschlagsgeschwindigkeit in Abschußrichtung zurückgeprellt. Adones Ballistiker, die vorher auch in die Reihen der Mondbrüder aufgenommen worden waren, hatten im Schutz schalldichter Schußwaffenlabore alle möglichen Experimente mit bekannten Geschoßtypen gemacht. Warum eine Kugel aus purem Silber, das in einem mit Mondsteinen ausgekleideten Ofen geschmolzen wurde, die volle Durchschlagskraft behielt hatte Melina damit erklärt, daß im Silber die Kraft des Mondes enthalten war, die die im Blut eines Werwolfs ruhende Kraft des Mondes überwog. Allerdings durften die Geschosse nicht ummantelt werden, weil die Mäntel dann wieder dem Entzug der Aufschlagswucht unterworfen waren. Deshalb konnten Adone, Luigi und die wichtigsten Mitglieder der Familie Danielli ohne klobige Schutzwesten und -helme im dichtesten Kugelhagel herumlaufen, solange niemand die Kosten für reines Silber investierte und jemanden hatte, der die Mondsteinofenschmelztechnik beherrschte.

Der grüne Lamborghini Diablo SV stach zwischen den klobigen Panzerautos hervor wie eine Flunder zwischen Kugelfischen. Der dünne Mondbruder, der von allen nur Fino genannt wurde, setzte sich neben Andrea Danielli in den Beifahrersitz. Er benötigte zwar nur drei Viertel der Sitzbreite. Dafür stieß er mit dem Kopf gegen den dunklen Autohimmel. Erst als er die Rückenlehne weit genug zurückgeklappt hatte und so mehr lag als saß, hatte er genug Platz. Andrea Danielli wartete auf das Lichtzeichen des vorne fahrenden Panzerwagens. Dann ging es los.

Zunächst mußten sie vom Anwesen herunter und die freie Straße gewinnen. Andrea kitzelte es im rechten Fuß, das Gaspedal durchzutreten und sich keck am voranfahrenden Wagen vorbeizudrängeln, um dann zu prüfen, ob sein Lieblingsauto noch die gleiche Kraft und Spritzigkeit auf die Straße brachte. Fino konnte ihm viel erzählen, daß sein Wagen äußerlich nicht anders war. Außerdem wollte Andrea das nicht so recht glauben, daß die Metallteile, die Scheiben und die Reifen nun so gut wie undurchschießbar waren. Wer den Sportwagen zerstören wollte, so Fino, müßte jetzt mit sehr heißem Feuer oder mehreren hundert Pfund Sprengstoff angreifen. Es gab Waffen, die beides auf einen Schlag ins Ziel bringen konnten. Aber ob die Pontebiancos das konnten malte sich Adones Enkel nicht aus.

Auf der freien Straße beschleunigte der Convoy. Andrea dachte erst, die Panzerlimousinen würden seinem Wunderauto zu langsam beschleunigen. Aber die scheinbar so schwerfällig aussehenden Vehikel zogen gut an. Der Enkel des Danielli-Patriarchen staunte nicht schlecht, als er das Gaspedal halb niederdrücken mußte, um dem vorderen Wagen weiter am Heck kleben zu können. Als die drei Panzerautos auf 180 Stundenkilometer kamen pfiff Andrea durch die Zähne. Das die schweren Brocken fast zweihundert Sachen schafften erstaunte ihn. Vielleicht sollte er sich für den Eigenbedarf auch so eine Panzerschaukel zulegen, wenn er mal doch eine Familie haben sollte und eine dicke Frau, drei quängelige Kinder und das ganze Gepäck transportieren wollte. Andrea probierte die technischen Geräte aus, das Radio, die verschiedenen Lichter, das an die Lautsprecherboxen angeschlossene Navigationsgerät und die elektrischen Fensterheber. Letzte allerdings erst, als die hinter ihm fahrenden Panzerlimousinen seine Flanken abdeckten. Die Servolenkung und die verschiedenen Sicherheitssysteme sprachen noch an wie früher. Andrea fühlte, daß er gleich noch die Höchstgeschwindigkeit ausprobieren mußte, um wirklich davon überzeugt zu sein, daß seinem Auto nichts fehlte.

"Bei den Panzerautos können die Fenster nicht mehr geöffnet werden. Wieso geht das bei meinem Wagen noch?" fragte Andrea Danielli.

"Weil das Glas mit einem Unzerbrechlichkeitszauber behandelt wurde. Es ist genauso schwer wie vorher, eben nur solange unzerstörbar, wie es nicht von Drachenfeuer getroffen wird", erwiderte Fino über das kraftvolle Orgeln des Motors hinweg.

"Achtung, Trecker von rechts!" warnte der vorne weg fahrende Chauffeur. Der kleine Convoy bremste ab. Dann ging der Feuerzauber los.

Erst krachten Geschosse von Rechts gegen den Andrea rechts flankierenden Panzerwagen. Dann trommelten auch von links Geschosse gegen den anderen Panzerwagen. Gleichzeitig sauste etwas von rechts kommendes, eine Rauchspur hinter sich lassend, gegen den vorderen Panzerwagen. Ein Feuerball leuchtete auf. Der Panzerwagen wurde nach links gedrückt. Laut quietschend schrabbten Splitter über das Dach des Lamborghinis hinweg. Als der Glutball zusammenfiel umhüllte eine Rauchwolke den getroffenen Wagen, der rein äußerlich fast unbeschädigt aussah. Nur ein kopfgroßer Brandfleck auf Höhe der Beifahrertür markierte die Stelle des Angriffes.

"Die Platten schlucken mindestens das zehnfache von dem, was das war", lachte Fino. Andrea argwöhnte, daß der Gegner auch seinen Wagen mit panzerbrechenden Raketen oder Granaten beschießen mochte. Würde das 0,5 Millimeter starke Blech wirklich jetzt die Zähigkeit von fünf Zentimeter dicken Stallplatten aufweisen?

"Die grüßen wieder!" rief der vordere Fahrer. Andrea sah jetzt, daß von dem von rechts heranrollenden Traktor ein weiteres Sprenggeschoß anschwirrte. Andrea verdrängte den Reflex, entweder mit Vollgas aus der Formation auszubrechen oder mit einer Vollbremsung dem Angriff auszuweichen. Wieder bekam der vordere Wagen die Wucht des Geschosses zu schlucken und überstand diese schadlos. Dann hagelten großkalibrige Vollmantelgeschosse von links und rechts gegen die Panzerwagen. Einige trafen auch die wieder hochgefahrenen Seitenfenster des Lamborghinis und prallten davon ab wie Gummibälle von einer Betonplatte. Dem neuen Werwolf tat es nur in den Ohren weh, das laute Krachen der auftreffenden Geschosse hören zu müssen. Er erkannte jedoch sofort, daß die Geschosse ihn nur trafen, weil sie von den Motorhauben der beiden Flankenschützer abprallten. Wer immer den Überfall abzog griff ihn selbst nicht direkt an. Dachten die denn, er würde nicht zusehen, Land zu gewinnen, wenn auch nur einer der Wagen ganz ausfiel? Dann hörte er es heulen und rasend schnell schrappen.

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Dido Pane mußte sich arg anstrengen, um sich nicht ansehen zu lassen, wie sehr sie Anthelias Abreise herbeisehnte. Die erwachsenen Hexen hatten gestern noch einen merkwürdigen Zauber im Keller veranstaltet. Anthelia hatte behauptet, daß sie sicherstellen mußten, daß alle ihre geheimsten Bücher nur von ihr oder ihr unmittelbar ergebenen gelesen werden konnten. Denn in der zeit, wo sie nicht selbst in das Haus zurückkehren konnte, hätte Daianira locker alle Schriften studieren können. Eine Verräterin sollte die Aufzeichnungen Sardonias niemals lesen können. Wie und was sie genau gezaubert hatten hatte Anthelia Dido nicht verraten. Jedenfalls war sie sich sicher, daß in ihrer Abwesenheit niemand die Geheimnisse Sardonias stehlen konnte.

Dido sah, wie Anthelia in einem merkwürdigen Kostüm disaparierte. Sie sah aus wie eine grüne Waldfrau, auch Sabberhexe genannt. Daß es eine Verkleidung war konnte man ihr aber ansehen. Dido wartete eine Minute. Dann ließ sie noch eine Minute verstreichen. Anthelia hatte ihr noch einmal geraten, weit von der Muggelsiedlung fort zu bleiben. Die lag fünf Meilen, also acht Kilometer von hier fort. Auf ihrem neuen Rennbesen konnte sie die Strecke in nur zwei Minuten zurücklegen. Doch sie würde nicht in dieses verschlafene Nest Dropout flüchten. Sie wollte weiter nach süden, den großen Mississippi entlang bis in sein Mündungsgebiet. Ihr Reiseziel hieß New Orleans. Wenn dort auch Halloween gefeiert wurde konnte sie ihren Hexenumhang und den zauberstab offen tragen und sich den Besen über die Schulter werfen. Nur an ihrem Gesicht würde sie ein wenig ändern. Sie hatte mit Patricia Straton eingeschränkte Selbstverwandlungen geübt. Doch Patricia hatte mit Anthelia was ausgehandelt, nur dann noch in die Villa zu kommen, wenn sie eindeutig dazu aufgefordert wurde. Doch seit August hatte sich die sonst so treue Bundesschwester Anthelias in der Daggers-Villa nicht mehr blicken lassen.

Der Besen war herrlich. Etwas anderes konnte Dido nicht finden, als sie im Hui so hoch sie ohne Atemluftknappheit und Frösteln fliegen konnte über das weite Land dahinbrauste. Als sie sich sicher wähnte, weit genug von Dropout fort zu sein schwenkte sie auf einen Kurs ein, der sie zum Ufer des breiten Stroms brachte. Wenn sie das Tempo ihres Bronco Millenniums halten konnte, war sie am Abend schon in New Orleans, vielleicht sogar schon auf dem Weg aus den Staaten.

Eine Stunde lang flog Dido auf ihrem Besen dahin. Sie freute sich, endlich aus der Knechtschaft Anthelias freizukommen. Dieses Weib dachte echt, sie genauso an sich ketten zu können wie alle, die für sie bereits ins offene Drachenmaul gesprungen waren. Sie würde sich nicht dazu hergeben, einen Blutpakt zu schließen. Außer dem Besen, ihrem Umhang und dem Zauberstab trug sie keine Sachen bei sich. Wenn sie in England oder Australien Schutz bei ihren Verwandten finden konnte sollten die ihr Zauberbücher und andere Sachen geben. Doch zunächst würde sie sich bei den Muggeln verkriechen müssen, in überfüllten Städten wie New Orleans oder London herumtreiben und darauf hoffen, daß Anthelia keinen wirksamen Aufspürzauber konnte, um sie selbst in dieser Entfernung wiederfinden zu können. Einen Zauberstab konnte man nicht mit einem Aufspürzauber belegen, hatte sie gelernt. Aber den Umhang und den Besen würde sie wohl loswerden müssen. Denn sowas konnte doch mit einem ... Ein heftiger Ruck riß sie aus ihren Gedanken. Auf einmal war ihr, als sei ihr Besen in einen Wirbel aus Farben hineingesprungen. Eine unbändige Kraft riß sie mit sich. Sie meinte, daß ein Haken in ihrem Bauchnabel steckte, an dem sie durch diesen aufgewühlten, bunt wirbelnden Raum jagte. Sie schrie laut auf. Doch es half nichts. Sie stürzte durch dieses unstete Gefüge und verlor jeden Sinn für Richtung und Zeit. Dann prallte sie mit dem Besen gegen ein festes Hindernis. Der Farbenwirbel verflog. Dido wurde durch den Aufprall abgeworfen. Sie klatschte gegen eine harte Wand und fiel zu Boden. Kopf und Knie schmerzten. Doch sie biß die Zähne zusammen und stemmte sich hoch. Ihr Besen lag auf dem Boden. Er wirkte unversehrt. Wo war sie hier?

Dido entzündete ihr Zauberstablicht und suchte damit den Raum ab, in dem sie gelandet war. Es war ein großer Raum mit einem Steintisch und mehreren Stühlen. Eine massive Tür bildete den Zugang zu dem Raum. Dido lief arglos auf die Tür zu und streckte ihre Hand aus. Da prallte sie gegen eine unsichtbare Wand und wurde zurückgeworfen. Jetzt sah sie, daß innerhalb der Wände ein großer Kreis gezogen worden war, in den ihr unbekannte Zeichen eingeschrieben waren. Ein magischer Bannkreis. Dann entdeckte sie das Flimmern über einem der Stühle. Aus ihm entstand die Erscheinung einer Frau im weiten, weißen Umhang. Sie besaß lange rote Haare und dunkelbraune Augen. vom Alter her mochte sie bereits vierzig oder fünfzig Jahre zählen. In der rechten Hand hielt sie einen Zauberstab.

"Du bist zu schnell geflogen. Deshalb hat der Rückbringzauber der höchsten Schwester dich hierhergeschickt. Vor wem wolltest du denn flüchten?" sprach die Unbekannte mit einem ausländischen Akzent auf Dido ein. Diese hob ihren Zauberstab und grummelte verärgert. Anthelia hatte sie an der langen Leine laufen lassen und etwas gemacht, um sie unverzüglich wieder einzufangen, wenn sie ihr davonzufliegen versuchte.

"Wer bist du, Schwester?" wollte Dido wissen.

"Ich bin Anja, eine Mitschwester aus Rußland. ich mußte mich hier verstecken, weil die Vampire meiner Heimat mit dem Zaubereiminister dort zusammenarbeiteten. Die höchste Schwester hat mir gestattet, hier zu bleiben und mit dir auf ihre Rückkehr zu warten, solltest du den Rückbringzauber auslösen."

"Dann bist du in diesem Bannkreis gefangen?" kicherte Dido. "Die höchste Schwester hat uns reingelegt, wie?"

"Ich komme hier problemlos raus, weil ich den Schlüssel mithabe", sagte die Fremde und zog einen blauen Kristallstab aus ihrem Umhang. Sie zeigte ihn Dido. Diese sprang darauf an und zielte mit dem zauberstab darauf. "Accio Kristallstab!" rief Dido. Doch ihr Aufrufezauber prallte vor der Fremden ab. "Schildzauber, kleines Mädchen. Der hält mir alles vom Leib, womit du mir kommen kannst. Die höchste Schwester sagt, du bleibst hier, bis sie wiederkommt. Du bleibst hier."

"Das werden wir sehen", knurrte Dido und rannte auf die Fremde zu. Diese hielt ihr jedoch den Zauberstab entgegen. Eine unsichtbare Kraft warf Dido wie von einer Riesenhand geschleudert zurück. "Kleines Mädchen", grinste die Fremde überlegen. "Den Schlüssel kriegst du nicht."

"Das werden wir sehen", knurrte Dido und rief "Stupor!" Der von ihr abgeschickte Schockzauber prallte auf eine unsichtbare Barriere um den Körper der Fremden. Beinahe traf er Dido. Knapp an ihrem Oberkörper vorbei fauchte der Zauber und zerstob mit lautem Knall an einer unsichtbaren Begrenzung kurz vor der Wand. Dido erkannte, daß der Bannkreis nicht nur Menschen ohne den passenden Schlüsselgegenstand, sondern auch Zauber einsperrte oder zerstreute.

"Damit kannst du mich nicht umhauen, kleines Mädchen", lachte die Hexe, die sich als Schwester Anja bezeichnet hatte. Dido machte die Anrede kleines Mädchen wütend. Sie griff nun mit weiteren Flüchen an. Sie ärgerte sich, daß sie die wirklich mächtigen Zauber nicht konnte. Zu gerne hätte sie dieser Hexe da den Todesfluch oder den Imperius übergezogen. Doch als ihr Mondlichthammer einen wilden Funkenwirbel erzeugte und die Gegnerin wanken machte, verflog das überlegene Lächeln aus dem Gesicht der Rothaarigen.

"Jetzt mach ich dich platt", dachte Dido und rief erneut "Stupor!" Die Gegnerin sprang jedoch zur Seite und ließ den roten Schockblitz ins Leere schlagen. Mit lautem Knall zerplatzte die gebündelte Zauberkraft an der magischen Begrenzung. Dido zielte neu, wollte der Fremden noch einmal den Schocker entgegenjagen, als zwischen ihr und der Fremden eine schwarze Wand aus dem Nichts erschien, in der Dido im Licht ihres Zauberstabs schattenhaft ihr eigenes Gesicht erkennen konnte. Der schwarze Spiegel, dachte Dido. Der mächtigste Schildzauber, der alle ihm entgegenschlagenden Flüche auf den Auslöser zurückschleuderte. Nur zwei Flüche gab es, die ihn durchdringen konnten. "Jetzt kommst du nicht mehr an mich heran, kleines Mädchen. Du kannst den einzigen Fluch nicht, der diesen Zauber durchschlagen kann!" rief die hinter der schwarzen Zauberwand geschützte Hexe. Dido fauchte wütend. Ja, den Todesfluch konnte sie nicht. Aber wenn die da hinter dem Spiegel dachte, sie hätte gewonnen, würde die gleich eben verschwinden.

Dido konzentrierte sich. Wie gingen noch einmal die neun Wörter? Ja, jetzt hatte sie es heraus. Sie rief die ersten drei Wörter aus, wobei sie auf den genauen Tonfall und Rhythmus achtete. Die drei nächsten Wörter gingen ihr noch besser über die Lippen. Mit fest auf den Mittelpunkt der schwarzen Spiegelwand gerichtetem Zauberstab sprach Dido die drei letzten Wörter des mächtigen Zaubers laut aus. Offenbar war sich die Hexe hinter der Abwehrwand sicher, daß ihr nichts geschehen konnte. Dann war die letzte Silbe der Zauberformel aus Didos Mund entschlüpft. Gleich würde der schwarze Spiegel zusammenbrechen und die Hexe hinter ihm in das Nichts zurückverwandeln, aus dem heraus sie entstanden war. Dido sah einen goldenen Lichtblitz aus ihrem Zauberstab entfahren und auf den schwarzen Spiegel prallen. Da krachte es laut wie ein Kanonenschuß. ein blendendes weißes Licht strahlte auf. Dann war alles weg, der Raum, die Fremde, einfach alles.

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Der Angriff auf die drei Panzerlimousinen wurde verstärkt. Diese setzten nun die eingebauten Defensivmittel wie Blendlichter und Nebelsprüher ein. Doch das laute Heulen und Schrappen über allen war bedrohlicher als der Hagel von MG-Geschossen und panzerbrechenden Raketen oder Granaten. "Über uns, einer dieser Hubschrauber!" rief Fino auf Englisch. Da das laserbasierte Kurzstreckenrundsprechgerät eingeschaltet war hörten die anderen Fahrer mit. Andrea argwöhnte, daß die Pontebiancos einen tieffliegenden Helikopter gegen sie einsetzen wollten. Durch den Sprühnebel und die grellen Lichtblitze kamen die Raketen- und MG-Schützen nicht mehr recht zum zielen. Als Andrea Danielli das Turbinenheulen der Flugmaschine besonders laut hörte umklammerte er das Lenkrad besonders fest und stieß das Gaspedal bis zum Bodenblech. Mit einer energischen wie lebensmüde anmutenden Bewegung warf er das Steuer so herum, daß er haarscharf an der vorne fahrenden Limousine vorbeistieß. Jetzt fehlte ihm der Flankenschutz. Doch Andrea war sich sicher, daß der wirklich gefährliche Angriff sowieso von oben geführt wurde.

"Hat der Hubschrauber auffällige Sachen an sich?!" rief Andrea, während seine Geleitschützer wild durcheinanderriefen, er solle wieder in die Formation zurückkehren.

"So ein scheibenförmiges Eisenteil an einem Seil oder Elektrokabel zwischen den langen Standbeinen", sagte Fino.

"Scheiße! Habe ich es mir doch gedacht", knurrte Andrea und hielt das Gaspedal am Boden. Der Lamborghini flog nun schon mit mehr als 200 Stundenkilometern über die Straße. Eine Salve aus MG-Geschossen klirrte und klatschte von Heckscheibe, Kotflügeln und Reifen ab. "Der hat uns als Ziel ausgewählt", sagte Fino. "Der fliegt immer tiefer und holt uns ein."

"Wenn du keinen Murks gemacht hast, Spargel, hole ich aus meiner grünen Feuerflunder dreihundert Sachen und mehr raus. So'n Luftquirl kann gerade mal zweihundertsechzig Sachen fliegen. Außerdem verbraucht der mehr sprit als ich bei voll aufgedrehtem Motor."

"Wozu ist das Ding unten drunter gut. Ist das ein Sprengkörper?" fragte Fino.

"Neh, das ist ein Elektromagnet. Der will uns von der Straße pflücken und dann anderswo hinschleppen."

"Der Drehflügelapparat holt auf, Andrea. Der holt uns ein!" rief Fino.

"Was hast du meinem kleinen Teufel noch alles verpaßt, außer Schußfestigkeit?" wollte Andrea wissen.

"Einen Feuersprüher im Auspuffrohr und einen Transitionsturbo mit geschwindigkeitslinearem Vorwärtssprungvermögen. Du kannst den durch den kleinen knopf links vom Steuerrad auslösen, wenn dieser Drehflügler uns von oben angreift."

"Transitionsturbo? Ist das sowas wie ein Schubverstärker zum überspringen von Hindernissen?" wollte Andrea wissen, während eine Garbe MG-Geschosse an Kotflügeln, Auspuff und Reifen abprallte und der Hubschrauber mit wild heulender Turbine langsam aber doch noch deutlich aufholte. Der unter ihm hängende Elektromagnet pendelte dabei wild. Der Pilot mußte wohl ein exzellenter Flieger sein.

"Der Transitionsturbo ermöglicht Raumsprünge in Abhängigkeit zur Fahrgeschwindigkeit. Wegen der ganzen Elektronik konnte ich den nur auf eine Strecke von drei Prozent Stundenstrecke und fünf Sprüngen in der Stunde beschränken."

"Ach sowas wie ein Teleportationsgerät?" fragte Andrea. Der Hubschrauber versuchte immer noch, sie einzuholen. Doch seine Beschleunigung war nun am Anschlag, und der davonjagende Lamborghini war gerade bei 280 Stundenkilometern. Dann bei 290. Dann ruckte der Hubschrauber vor, überholte den Lamborghini sogar. Andrea schrie vor Wut auf. Wer hatte denn die Maschine so hochgezüchtet. Er sah, wie der Magnet abgesenkt wurde, während die Maschine sich nun soweit zurückfallen ließ, um den Lamborghini genau unter sich zu bekommen. Andrea wolte erst auf die Bremse treten und dann nach links oder rechts von der Straße herunter. Doch dann kam er auf die Idee, diesen magischen Sprungapparat auszuprobieren. Er stieß seinen linken Zeigefinger auf den Knopf. Es vibrierte kurz. Dann war es, als zünde im Heck des Sportwagens eine Rakete. Die Insassen wurden in ihre Sitze gepreßt. Der Wagen schien für einen Moment abzuheben. Dann bekamen die Räder wieder Bodenkontakt. Der Tachometer sprang für einen winzigen Augenblick auf Null zurück. Dann zeigte er wieder 289 Stundenkilometer an. Der Hubschrauber war nicht zu sehen und auch nicht zu hören.

"Ui, gut, daß ich die Freiraumsicherung mit eingebaut habe", grummelte Fino. "Ohne die wären wir glatt in diesen großen Wagen da vor uns reingeknallt." Andrea sah den Sattelschlepper auch gerade und wechselte vom Gas zur Bremse. Der hochgezüchtete Wagen fiel unter 200 Stundenkilometern. Dann kam Andrea ein verwegener Gedanke. Er peilte mit den Augen die Höhe der Achsen zur Straße und trat wieder aufs Gas. Innerhalb einer halben Minute hatte er den Lastwagen eingeholt und schob sich genau zwischen den Staub aufwirbelnden Hinterrädern hindurch unter den Wagen, fuhr bis zur Mitte durch und glich dann die Geschwindigkeit an.

"Genau drei Zentimeter Spielraum, schätze ich mal", grinste Andrea. Er lauschte auf das Rauschen des Rundsprechgerätes. Doch er hörte niemanden von den Panzerlimousinenfahrern.

"Willst du jetzt die ganze Zeit unter diesem Ungetüm mitfahren?" Fragte Fino verstört.

"Nur noch zwei Kilometer. Dann lasse ich es über uns weg nach vorne und überhole ihn dann", sagte Andrea. Das Mobiltelefon trällerte. Andrea drückte den Knopf für Freisprechen.

"Andrea, wo bist du?" wollte sein Großvater wissen.

"Wir wurden von Panzerjägern und einem Hubschrauber beharkt. Fino hat was in meinenFlitzer eingebaut, daß mich mal eben einen oder zwei Kilometer weit überspringen ließ. Die wollten die Magnetnummer mit mir durchziehen, Nonno."

"Dreister geht es nicht. Rico hat gerade gemeldet, daß sie von mehreren Leuten mit Panzerbrechern angegriffen wurden, aber außer Lackschäden nix abbekommen haben. Sieh zu, daß du wieder zu uns zurückkommst. Jetzt können wir die Pontebiancos offen angreifen."

"Falls es nicht Donna Gina war, die mich für ihre kleine Enkeltochter klarmachen wollte", scherzte Andrea. Doch ihm war klar, daß sein Großvater auch nicht daran glaubte, daß die resolute Witwe Venuti ein schwerbewaffnetes Killerkommando losschicken würde, um einen ausgeguckten Schwiegerenkel einzusacken. Die Gefahr, daß der bei so einer Aktion starb war ja zu groß.

"Was immer ihr für Sachen gemacht habt, ihr müßt zurückkommen", bestand Don Adone auf die Rückkehr seines Enkels und der anderen. Dann schwieg er einen Moment. "Gut, nach Hause mit euch. Keine Gefahr mehr!"

Andrea wollte gerade die Geschwindigkeit zurücknehmen, als der Lastwagen von sich aus abbremste und dabei nach rechts drehte. Beinahe geriet der Lamborghini mit der Motorhaube gegen das linke Vorderrad. Nur Andreas Reflexe und die präzise Servosteuerung seines Wagens verhinderten einen Zusammenstoß. Er rutschte unter dem Wagen hervor und sah, wie der Lastwagen mit pechschwarzen Rauchfahnen aus den beiden Auspuffrohren die Abzweigung zur gebührenpflichtigen Autostrada einschlug. Jetzt erst glaubte Andrea Danielli, daß sein Wagen mehrere Kilometer in einem Satz übersprungen hatte. Er blickte sich um, ob jemand sein Manöver mitbekommen hatte und fuhr geradeaus weiter. Erst weit genug weg von der Autobahnauffahrt bremste er und wendete. Dann fuhr er auf der korrekten Spur zurück in Richtung Villa Luna. Wieder bei 300 Stundenkilometern betätigte er erneut den Zauberknopf, der seinen Wagen mal eben mehrere Kilometer am Stück überspringen ließ. Drei Prozent der in einer Stunde zu schaffenden Strecke? Also waren das neun Kilometer.

Als die drei Panzerwagen und der Lamborghini wieder in ihren Stahlbetongaragen standen erfuhr Andrea die ganze Geschichte. Der Hubschrauber war von einem der Fahrer der Panzerwagen mit einer Stingerrakete abgeschossen worden, nach dem sie die Zone der Gegner am Boden passiert hatten. Dann hatten sie die drei Traktoren mit der Artillerie mit den kleinen Boden-Boden-Raketen erwischt, die sie aus Armeelieferungen abgezweigt hatten. Damit war der Überfall endgültig abgewehrt worden. Andrea durfte nun im Schutz eines schalldichten Raumes erzählen, wie das mit dem Transitionsturbo war und was Fino darüber berichtet hatte. Der erwähnte war bereits mit den hauseigenen Mechanikern dabei, die Lackschäden an dem Sportwagen und den drei Panzerlimousinen zu beheben.

"Ich rufe den Kerl jetzt an. Der hat sicher mitbekommen, daß alle vier Wagen wieder nach Hause gefunden haben", schnaubte Don Adone. Andrea hatte zwar eine Erwiderung auf der Zunge. doch er hatte auch gelernt, daß man dem Capo nicht widersprach oder gar wagte, einen intelligenteren Vorschlag zu machen. So ließ er es geschehen, daß Don Adone seinen Nachbarn, der sich heute überdeutlich als sein Erzfeind offenbart hatte, anrief. Die Familien hatten Zerhacker in ihren Telefonen. Daher konnten sie ohne Angst vor mithörenden Polizisten sprechen.

"Hallo Don Vittorio. Ich soll dich schön von meinem Enkelsohn grüßen. Es hat ihm Spaß gemacht, vor deinem Hubschrauber seinen kleinen grünen Flitzer auszufahren. Was sollte das eigentlich werden, was ihr da gemacht habt?"

"Ich weiß nicht, wo von du da faselst, Don Adone. Meine Leute sind gerade alle bei der Arbeit. Offenbar suchst du Streit und meinst jetzt, mir was anhängen zu können. Wenn du unter Verfolgungswahn leidest kenne ich ein paar Spezialisten, die jede psychische Störung ohne Rückfallgefahr beheben können."

"Solche Experten kenne ich auch, Don Vittorio, vor allem Experten zur Behandlung von schwerwiegender Kleptomanie", erwiderte Adone Danielli. "Meine Schutzmannschaft, die wegen der hohen Enkelsterblichkeit der letzten Wochen besonders auf meinen einzigen Enkel aufpaßt, hat mir erzählt, daß es dein Weinbergbesprühungsheli war, der versucht hat, meinen Enkel an einen Magneten zu hängen. Wo sollte der denn hingebracht werden, ey?"

"Magneten? Du guckst zu viele Action-Filme, Adone. Eigentlich dachte ich, weil wir Nachbarn sind sollten wir gut miteinander zurechtkommen. Ist dir Frieden nicht mehr so wichtig?"

"Aus deinem Maul tropft die Heuchelei wie das Gift aus dem Maul einer Schlange", zischte Adone. "Du meinst, du müßtest dich dafür rächen, daß du mit meinen geklauten Spielgeräten schon bankrott gingst, bevor der erste Tag rum war. Ich habe deinen Neffen und Enkeln nicht geraten, dahinzugehen. Hätte ich die vorher gesprochen, hätte ich denen sogar geraten, sich möglichst weit davon fernzuhalten, weil geklaute Spielgeräte dem Dieb nur Unglück bringen. Solltest du noch mal probieren, mir oder meiner Familie irgendwas zu tun, Vittorio, kauf dir besser vorher 'ne Rakete und flieg damit zum Mars!"

"Willst du mir drohen, Adone Danielli?" fauchte Vittorio.

"Ich zähle dir nur auf, welche Folgen das hat, was du tust", erwiderte Adone sehr unheilvoll grinsend.

"Das mit der Rakete ist keine schlechte Idee", erwiderte Vittorio mit einem alarmierend überlegen klingenden Tonfall. "Grüß mir die Marsmännchen, wenn du nicht bei Teufels Großmutter im Kochtopf landest!" fügte er noch hinzu. Andrea verstand und ließ sich auf Hände und Knie fallen. Ein Schauer der Angst jagte durch seinen Kopf. Während dessen sprach Adone:

"Oh, jetzt willst du mir drohen? Ich kann dich jeder Zeit hinhängen, Vittorio. Ich habe Leute in wichtigen Behörden. Entweder du siehst zu, daß deine Leute meinen Leuten nie mehr näher als einen Kilometer kommen, oder die Geschichte deiner Familie fängt mit "Es war einmal" an.

"Geschichte ist gut, Adone. Du bist Geschichte, du und alle aus deinen alten Eiern herausgequollenen Ableger", brüllte Vittorio, daß selbst Luigi zusammenfuhr, der knapp fünf Meter entfernt stand. Da heulte eine Alarmsirene auf.

"Ah, deine Bluthunde haben noch nicht genug blutige Nasen!" rief Adone Danielli verächtlich. Das waren dann auch seine letzten Worte.

Mit einem urgewaltigen Donnerschlag, einem grellen Lichtblitz und einem Regen aus Feuer und Trümmern endete die Ära Adone Daniellis. Auch Andrea Danielli, Luigi und alle, die im internen Arbeitsbereich der Villa Luna standen, wurden jäh aus dem Leben und der Welt gerissen. Schuld daran war der Einschlag einer doppelt so viel Sprengstoff tragenden Fernlenkwaffe, die Vittorio eigentlich nur als allerletzte Notlösung einsetzen wollte, wenn er die Daniellis nicht mit seinen Leuten oder geschickten Schachzügen ausschalten konnte. Das Geschoß war zu schnell gewesen, als daß die auf Infrarotlaser basierenden Annäherungs-Lidare sie früh genug hätten melden können, um noch in den Bunker zu gehen.

Der Feuerregen wurde zu einer Wolke aus Glut, die alles und jeden einhüllte. Der doppelte Sprengsatz hatte die Villa Luna vom Dach bis Parterre gespalten, sie zusammenbrechen lassen wie ein Kartenhaus. Nur die Säulen in der Eingangshalle standen noch, wenngleich sie nun zu rußigen Spiralen verdreht waren. Als das Feuer die Gasleitung überhitzte und bärsten ließ, erfolgte eine weitere Explosion. Die Villa sank mehr und mehr in sich zusammen. Feuer und Rauch schlug aus allen Ritzen.

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melina saß auf Anweisung ihres offiziellen Freundes Andrea im Schutzraum hundert Meter unter der Erdoberfläche und ebenso hundert Meter von der Villa Luna entfernt. Sie dachte über ihre Zukunft nach. Was sollte sie mit diesem sprunghaften Abenteurer anfangen, diesem Adrenalinsüchtigen? Sicher, er hatte sie nach seiner Eingliederung in die Mondbruderschaft immer wieder sehr leidenschaftlich geliebt. Das aber wohl nur, weil sie im Moment die einzig verfügbare junge Frau war. Die weiblichen Hausangestellten waren seinem Beuteschema bereits entwachsen. Außerdem stellte er sich wohl vor, daß die Hausmädchen nur für den Capo selbst dazusein hatten. Sie fragte sich, ob sie Kinder von ihm haben wollte. Es widerte sie an, sich von einem schwängern zu lassen, dessen Protz und Gehabe auf Blut, Schweiß und Tränen unschuldiger Leute aufgebaut waren. Wie viele redlich arbeitende Menschen hatten diesen ganzen Reichtum ermöglicht, nur weil sie Angst hatten, ihnen oder ihren Angehörigen könnte was schreckliches zustoßen? Nein, Sex mit Andrea, solange zwischen ihm und ihr noch ein Kondom im Spiel war, kein Problem. Aber sich von ihm schwängern lassen wollte sie nicht, und dann die biedere südeuropäische Hausfrau spielen, die in sie hineingestoßenen Bälger dann für den künftigen Gangsterboss großfüttern, nicht wissend, ob sie nicht bei irgendwelchen Aktionen erschossen oder für lange Zeit weggesperrt wurden? Nein, da würde sie sich lieber die inneren Geschlechtsorgane entfernen lassen, wenn das der einzige Weg war, keine Kinder von Andrea Danielli zu kriegen.

Fino apparierte im Schutzraum. Im Moment waren die beiden Werwölfe die einzigen hier. Er teilte mit, daß er die Lackschäden an den Autos schnell wieder ausgebessert hatte und jetzt erst einmal Lunera berichten wollte, wie sich die Lage entwickelte. Nina seufzte. Zu gerne würde sie mit Fino nach Spanien zurückkehren, diese leidige Angelegenheit und daß sie sich für diesen selbstherrlichen Jüngling zur hauseigenen Hure gemacht hatte vergessen. Fino fragte sie, ob sie langsam anfing, diesen Burschen zu mögen, weil schlecht sehe der ja nicht aus. Nina wollte darauf gerade eine schnippische Antwort geben, als ein lauter Donnerschlag erklang und die vom Hauptstromnetz unabhängige Beleuchtung eine Hundertstelsekunde flackerte. Dann hörten sie ein leises Rumpeln über sich.

"Was war denn das?!" entfuhr es Nina.

"Da hat es wohl gerade sehr laut geknallt da oben. Entweder haben die ihre eigenen Sprengsachen hochgejagt, oder dieser Pontebianco hat denen das Ei des ausgehenden Jahrtausends gelegt, ein sehr faules Ei", erwiderte Fino. "Ich apparier mal zur Grundstücksgrenze hin. Moment ..." er zog etwas sehr fließendes, silbernes aus einer seiner Innentaschen und warf es sich über. Als es bis zum Boden reichte war Fino nicht mehr zu sehen. Erst dann hörte Nina das charakteristische Plopp, als der Zauberer disapparierte. Er blieb eine halbe Minute fort. Während der Zeit hatte die blonde Werwölfin das Gefühl, etwas würde sanft über sie hinwegstreichen. Dann war es auch schon wieder vorbei. Nina fragte sich, ob sie jemals aus diesem Bunker herauskommen würde, falls der Zugang verschüttet war. Dann ploppte es erneut. Erst tauchten Finos Füße, dann seine Beine und dann der ganze Rest von ihm wieder auf.

"Wie auch immer die das hinbekommen haben, die Villa ist total zertrümmert und brennt aus allen Ritzen. Wenn die da oben nicht vorgewarnt worden sind hat das keiner von denen überlebt." Nina empfand eine Mischung aus Wut, Enttäuschung, aber dann doch auch sowas wie Erleichterung. Die Daniellis waren ausgelöscht? Falls ja, war der Plan, einen Brückenkopf der Werwölfe in der italienischen Mafia zu haben gescheitert. Sie hatte dann für nichts und wieder nichts ihren Unterleib von diesem Frauenhelden durchwalken lassen, was sie schon eine Menge Selbstbeherrschung und Loyalität gekostet hatte. Andererseits hatte sich ihre Besorgnis, mit diesem Aufreißer und Geschwindigkeitsjunkie Kinder haben zu müssen, gerade mit lautem Knall in Feuer und Rauch aufgelöst. Sie fragte deshalb, ob Fino wirklich keine Überlebenden da oben gefunden hatte.

"Ich kann einen Zauber, der mir im Umkreis von hundert Metern jeden Menschen meldet, ob er versteckt oder getarnt ist oder nur um die nächste Ecke wartet. Außer dir und mir ist sonst keiner im Umkreis am leben. Tote Menschen zeigt der Zauber nicht an." Nina erkannte, was sie da vorhin sanft überstrichen haben mußte. Dann fragte sie: "Dann haben wir hier nichts mehr zu tun, oder?" Fino nickte zur Antwort. Dann fiel ihm jedoch was ein, was sie unbedingt noch erledigen mußten. "Ich habe die Autos magisch aufgemotzt. Könnte sein, daß die noch in der Garage stehen. Wenn es da oben zu brennen aufgehört hat sehe ich noch nach. Bevor hier irgendwer von der Muggelweltordnungstruppe anrückt muß ich zumindest die Unzerbrechlichkeitszauber zurücknehmen." Nina nickte. Sie bat jedoch darum, zumindest schon mal aus dem Einflußbereich der Daniellis, Pontebiancos und der anderen Familien gebracht zu werden. Fino willigte ein. Er ergriff ihre Hand und apparierte mit ihr auf dem italienischen Festland. In zehn weiteren Sprüngen brachte er sie über Marseille und Nizza über die spanische Grenze hinweg. Dort konnte sie endlich zusehen, mit Lunera in Madrid Kontakt aufzunehmen. Fino apparierte alleine dort und machte Meldung. Dann kehrte er zu den Trümmern der Villa Luna zurück. Dabei tat er gut daran, unsichtbar zu bleiben. Denn die Explosion hatte doch mehr als Staub aufgewirbelt. Feuerwehr und Polizei untersuchten die Trümmer bereits. Fino konnte mithören, daß Pontebianco selbst die Ordnungskräfte alarmiert hatte, weil er den lauten Knall gehört und dann das Haus seines Nachbarn zerstört gesehen hatte.

Unter dem Trümmerberg knirschten die Bleche der magisch verstärkten Autos. Noch hielten sie der Tonnenlast stand. Fino war es mulmig, wenn er daran dachte, daß er die Eisenverstärkung zurücknehmen mußte. Er wendete den Aufhebungszauber mit der Voranstellung "Retardo" an. Damit zögerte er die Wirkung um dreißig Sekunden hinaus. Die Zeit reichte ihm, wieder davonzuapparieren. Als dann die hundertfache Verstärkung der Bleche mit einer blauen Lichtentladung verflog, kreischte das Metall unter der nun erbarmungslos zudrückenden Last der Trümmer. So kam es, daß der qualmende Schuttberg auf einmal noch etwas weiter rutschte. Das passierte insgesamt vier mal. Den Polizisten, die gerade Bestandsaufnahme machen wollten, kam das merkwürdig vor. Doch womöglich waren irgendwo noch Träger gewesen, die jetzt erst unter der Last durchgebrochen waren.

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Hätte ihm eine Jahrmarktswahrsagerin vor fünf Jahren erzählt, er würde vor dem Ende des Jahrhunderts ein kleines, rundes Mädchen mit roséfarbenen Augen treffen und mit ihm in Liebe ein Kind auf den Weg bringen, er hätte gelacht. Doch vor fünf Jahren war er ja auch noch ein ganz anderer Mensch, ein ganz hundsnormaler Jugendlicher aus einer Kleinstadt in den Südstaaten der USA. jetzt hieß er Brandon Rivers, besaß durch den alles in Gang setzenden langen Liebestag mit seiner Gefährtin Dawn Rivers, die auch als "Kleiner Morgen" bezeichnet wurde, ein gewisses Maß eigener Zauberkraftt und mußte lernen, damit umzugehen. Er fand es toll, Dinge schweben zu lassen. Das hatte Anthelia auch gekonnt. Er konnte sogar Hitzequellen manipulieren und Wasser zu Eis erstarren lassen. Dawn Rivers zeigte ihm sogar, wie er sich unsichtbar machen konnte. Sie beschrieb es ihm als "Lied des verbergenden Mantels", Bei denen waren Zaubersprüche Lieder. Patricia Straton, die ein kindliches Vergnügen empfand, den jungen Burschen in den für sie harmlosen Zaubersachen auszubilden, erklärte ihm, daß das lateinische Wort "Incantatio" für einen Zauberspruch mit dem lateinischen Verb "Cantare" für singen verwandt war. Brandon, der als Cecil Wellington auch Latein und Spanisch in der Schule gehabt hatte, kannte das jedoch schon und sagte, daß Zaubern bei den Leuten aus dem alten Reich also gleich singen war. Darauf sagte sein Schwager Hesperos Straton, daß es einen Unterschied machte, ob jemand eine bestimmte Kraft wach- oder in den Schlaf singen wollte oder ob jemand nur zur eigenen und anderer Leute Erheiterung singe, genauso wie Wörter zur Verständigung zwischen den Menschen oder zur Verbindung mit der Kraft gebraucht wurden.

Die Türglocke ging. Virginia hatte Sprechstunde. So mußten die vier heimlichen Mitbewohner der von Anthelias Gnaden entstandenen Gynäkologin nur in Gedanken weitersprechen, um unten nicht gehört zu werden. Brandon hatte sich mittlerweile so daran gewöhnt, daß er gar nicht merkte, ob er mit dem Mund oder auf telepathische Weise sprach. Vor allem mit Dawn klappte das sehr gut. Doch auch mit Patricia ging es ausgezeichnet, was daran lag, daß sie und er schon weit vor der Erweckung der Sonnenkinder miteinander verbunden worden waren. Er dachte an die schlanke Sonnentochter mit dem kupferroten Haar. Das wäre auch eine für's Leben gewesen. "Die aber vierzig Sonnen älter ist als ich", hatte Dawn ihm dann amüsiert zugedacht. "Außerdem hättest du bei ihr nicht so viel Zuneigung erfahren wie von mir. Sie ist mit Goldfeuer zusammengekommen, weil sie einander ergänzen. Sie kann Dinge der Kraft und des inneren Selbst, also des Geistes oder der Seele spüren, die er nicht erspüren kann. Dafür kann er die Kraft in den Naturgewalten erwecken oder die Naturgewalten selbst für seine Ziele bewegen, wo sie ausschließlich die Kräfte des inneren Selbst, des Lebens und der Sonne, unserem Vater Himmelsfeuer, rufen und beschwören kann. Außerdem hätte sie verlangt, daß du nur tust, was sie dir anweist. Die Worte der Lenkung hätten dich an ihre Wünsche geschmiedet, damit du nur sagst und tust, was sie dir erlaubt. Wolltest du nicht wirklich." Brandon verzog das Gesicht. Das war doch genau das, was Anthelia zum Teil mit ihm gemacht hatte und warum er jetzt überhaupt mit der kleinen, kugelrunden Frau mit den rubinroten Locken und den roséfarbenen Augen zusammen war. Da er gerade alle Gedankenkanäle zu ihr offen hatte wunderte es ihn nicht, daß sie ihm zunickte, obwohl er kein lautes Wort gesagt hatte. Nein, das wollte er wirklich nicht, am mentalmagischen Nasenring einer über hundert Jahre alten Hexe geführt werden, die gerade erst wie Mitte dreißig aussah.

In den nächsten Stunden übten sie alle die harmloseren Zauber. Brandon versuchte den Unsichtbarkeitszauber, der leise genug gesungen werden konnte, um da unten keiner werdenden Mutter den Eindruck zu geben, ihre Hormone würden ihr den Verstand vernebeln. Apropos, das merkte er auch, daß die Stimmungen von Patricia und Dawn auf ihn überflossen. Nur mit Hilfe von Hesperos, seinem heimlichen Schwager, konnte er sich darauf besinnen, keine Angst zu haben, daß ihm das ungeborene Kind zu früh aus dem Bauch fiel oder sich an den Gefährten zu werfen, damit der ihn und das Kind beschützte.

"Ups, den kann ich glatt zu Halloween bringen", gedankensprach Brandon zu Dawn, als er sich als blitzblankes, golden strahlendes Skelett im Spiegel sah, obwohl er doch ganz Unsichtbar werden wollte. Dawn berührte seinen Arm und schickte ihm damit einen Teil ihrer Zauberkraft. Im Nächsten Moment stand er wieder als junger Mann aus Fleisch und Blut da. "Du mußt alles in dir dazu bringen, den verbergenden Mantel zu empfangen", dachte sie ihm zu und vollführte den Zauber. Tatsächlich verschwand sie für Brandons Augen. Doch er fühlte ihre Körperwärme und die geistige Verbundenheit mit ihr noch.

"Ob die Mutter von Julius das auch lernt?" hörte er Patricias Gedankenstimme leise wie ein Flüstern. Er fragte sie, wen sie meinte. Sofort flossen Erinnerungen in seinen eigenen Geist ein. Das war besser als eine vulkanische Geistesverschmelzung, erkannte er. Denn jetzt wußte er von Julius Latierre, der damals als Julius Andrews einer gefährlichen Kreatur begegnet war und dabei auch Patricia Straton gesehen hatte. Er wußte auch, daß sie damals Julius' Vater in einen wimmernden Säugling zurückverwandelt hatte, weil der von diesem Geschöpf, einem echten Succubus, abhängig gewesen war. Als er jedoch wissen wollte, was aus diesem verzauberten Mann geworden sei, blockierte Patricia den Strom der Erinnerungen. "Mußt du nicht wissen", war die kurze aber unerschütterliche Begründung dafür, daß er nicht mehr erfahren durfte. Er wußte jetzt zumindest, warum er damals nach bekannten Dämonologieexperten gesucht hatte. Womöglich hatte Anthelia einen von denen benutzt, um die magielose Menschheit zu warnen oder sowas. "Oder sowas", echote Patricias Gedankenstimme in seinem Bewußtsein.

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Lamia fühlte sich sonderbar unsicher. Irgendwie war es jemandem gelungen, die Verbindung mit einem ihrer Patenkinder zu lösen. Patenkinder, so hießen bei den Vampiren solche, die bereits das andere Blut in sich hatten und vollwertige Nachtkinder waren, aber um der geistig-körperlichen Verbundenheit wegen ein Zehntel des fließenden Blutes eines anderen Vampires tranken, der es freiwillig gab. Lamia hatte auf diese weise zwanzig frühere Verbündete, die sie auch ohne den Mitternachtsdiamanten gewonnen hatte, fester an sich gebunden. Denn wer als Nachtkind ihr Blut trank unterwarf sich ihr, konnte aber dafür auch von ihr unterstützt werden. Es war ähnlich dem Lacta-Deditionis-Zauber, von dem Griselda Hollingsworth einmal gelesen hatte, als sie noch eine junge Hexe mit rotem Blut und ohne Angst vor Sonnenschein und dahineilenden Flüssen durchs Leben ging. So ähnlich hatte sie ihre zwanzig Patenkinder, zehn männliche und dito weibliche, mit sich verbunden. Und jetzt hatte irgendwer einen Zauber erfunden, gefunden oder wiederentdeckt, mit dem diese Patenschaft aufgehoben werden konnte. Sie dachte zuerst an die Abgrundstöchter. Die würden sich königlich amüsieren, ihr die Gefolgsleute abzujagen. Doch Itoluhila hatte das damals nicht klammheimlich, sondern ganz beabsichtigt spürbar gemacht, ihr einen richtigen Sohn zu entreißen. Warum sollte sie jetzt heimlicher vorgehen? Oder war es ihre noch wache Schwester Ilithula, die sich an der Jagd auf Nocturnia-Vampire beteiligte? Lamia hatte wohlweißlich keinen ihrer wichtigen Abkömmlinge oder Gehilfen dazu verpflichtet, in den Regionen zu arbeiten, die diese beiden Unwesen als ihre Jagdgründe und Lustviehweiden abgesteckt hatten. Wenn sie genug neue Kinder und Kindeskinder hatte, konnte sie Itoluhila zur offenen Schlacht auffordern und hoffen, daß ihr dann nicht dasselbe passierte wie dem blauen Blutfürsten, der sie selbst dann noch niedergehalten hatte, als sie bereits den Mitternachtsdiamanten bei sich getragen hatte.

"Was hören wir von diesem tollwütigen Fuchs Watkin?" Fragte Lamia eine aus der Riege ihrer Patenkinder.

"Er ist auf der Flucht. Die, denen er früher geholfen hat jagen ihn, weil er zu viel weiß. Und der, den du dir als deinen Sohn nehmen wolltest jagt ihn, um herauszukriegen, was er über seine Auftraggeber weiß", erwiderte die Vampirin, die vor zweihundert Jahren als Dark Velvet ihr Leben als Tochter der Nacht begonnen hatte.

"Ich will nicht, daß Zachary Marchand getötet wird, Velvet. Wenn ich seiner Habhaft werden kann, dann will ich ihn lebend haben. Wenn nicht an seinem Geburtstag, dann soll er das erste Nachtkind des kommenden Jahres werden."

"Er hat mächtige Freunde und Helfer", wagte Dark Velvet es, ihre Patin zu kritisieren.

"Helfer habe ich auch, und Macht besitze ich selbst. Ich wollte es mit Hilfe schwächlicher Menschen erledigen. Aber die haben versagt. Vielleicht sollte ich diesem Watkin meine Aufwartung machen und ihm unser Angebot unterbreiten."

"Wenn ihm die Mafiosi oder die CIA nicht ein besseres Angebot machen oder ihn gleich ganz von jedem Bedürfnis befreien", erwiderte Dark Velvet.

"Die Mafiosi überlass mir, die habe ich im Griff", gedankenschnarrte Lamia zurück. "Mich ärgert nur, daß es zur offenen Fehde zwischen den Pontebiancos und Daniellis kam. Aber den Herren werde ich bald Anstand und Unterordnung beibringen. Pontebianco soll nach Chicago. Dort werden meine Freunde aus der ehrenwerten Gesellschaft ihn adoptieren. Wenn er diese Daniellis bis dahin nicht aus dem Weg geschafft oder auf ihren Platz verwiesen hat, so werde ich sie persönlich beehren und ihnen das Angebot machen, daß kluge Leute nicht ablehnen werden. Kümmere du dich weiter um Watkin und meinen zukünftigen Sohn. Ich freue mich schon darauf, einen so willensstarken Burschen mit meinem Blut in ein besseres Lebenhinüberzuhelfen", erging sich Lamia in einer freudigen Erwartung, von der sie selbst nicht recht wußte, ob sie erfüllbar war. Dann überließ sie Dark Velvet wieder ihrer eigenen Daseinsform und kümmerte sich um die Vorbereitungen auf Halloween.

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Zachary Marchand hatte schon befürchtet, daß Präsident Clinton seinen offiziellen Arbeitgeber zum Stillhalten verdonnern würde. Doch Wilberforce hatte ihn beim Telefonat mit dem weißen Haus im Büro gehabt. So konnte Zachary persönlich mit dem ranghöchsten Beamten der vereinigten Staaten sprechen.

"Herr Prräsident, unabhängig davon, was der Direktor der CIA Ihnen dargelegt hat möchte ich Ihnen offen und ehrlich bekunden, daß wir vom FBI unsere Gründe haben, Watkin zu jagen. Spuren in meinem Elternhaus deuteten auf eine Person hin, die für den sogenannten Colonel gearbeitet hat oder dies immer noch tut. bei dem Versuch, mich aus der Gewalt der Entführer zu befreien, kam es zum Einsatz militärischer Waffen. An die ist trotz unseres freizügigen Waffenbesitzrechtes nicht so leicht ohne Beziehungen dranzukommen. Getötete Verbrecher konnten als Helfer dieses sogenannten Colonels identifiziert werden, und zu allem übel habe ich persönlich, als ich auf dem Rücksitz eines Wagens aus einer Gasnarkose erwacht bin, Aldo Watkin höchstpersönlich erkennen können. Wenn die CIA also behauptet, es seien möglicherweise ehemalige Leute dieses Colonels gewesen, dann trifft dies nicht zu. Es ist zu klären, warum diese Leute mich entführt haben, wo ich nur einer von vielen Bundesagenten bin. Wir vom FBI mutmaßen, daß ein seit drei Jahren untergetauchter Verbrecher namens Hubert Laroche mich immer noch als Grund für den Niedergang seines kriminellen Imperiums aus dem Weg räumen möchte. Auch deshalb müssen wir Watkin vor den Greifkommandos der CIA zu fassen bekommen, um ihn im Rahmen der von der US-Verfassung gewährten Rechte aber auch Pflichten, dazu befragen zu können. Daher bitte ich Sie, uns weiterhin die Ermittlung zu gestatten. Sonst können wir ja gleich alle inländischen Sicherheitsprobleme in die Hände des Auslandsgeheimdienstes legen. Ich denke nicht, daß Ihr Stellvertreter oder wen auch Immer Sie als Ihren Nachfolger in den nächsten Wahlkampf schicken mögen dann noch eine Chance hat, wenn herauskommt, daß das Wohl und Wehe von redlich arbeitenden US-Bürgern nicht mehr bei der Polizei, sondern bei berufsmäßigen Geheimniskrämern mit fragwürdigen Methoden liegt. Nach allem, was Sie selbst haben überstehen müssen wäre dies wohl das schlimmste, was einem Nachfolger von Ihnen passieren kann." Der Präsident hatte erst überlegen müssen. Dann hatte er gefragt, ob es nur um die Beteiligung an der Entführung und den Morden ginge. "Mehr können wir Watkin derzeitig nicht vorwerfen, wohlgemerkt was Verbrechen auf dem Boden der USA an Bürgern der USA angeht. Welche unvermeidlichen Arbeiten er für die CIA gemacht hat oder nicht interessieren uns nicht", hatte Marchand darauf geantwortet. So gab der Präsident dann seine Zustimmung, daß das FBI die Sache weiterverfolgte.

"Tragen Sie sich mit der Vorstellung, irgendwann selbst in die Politik zu gehen, Zach?" fragte der Leiter der FBI-Niederlassung New Orleans.

"Ich habe schon genug Feinde in der Welt, da muß ich es mir nicht noch mit Schießgewehrfetischisten und Revolverhortern verderben, Sir. Schon schlimm genug, daß wir die Ergebnisse des freizügigen Waffenbesitzrechtes jeden Tag auf den Tisch kriegen."

"tja, wir müssen die Politik nicht gutfinden, sondern nur ihre Folgen verarbeiten", seufzte Wilberforce.

Brenda brightgate mentiloquierte Zachary eine Stunde später an, daß die CIA regelrecht getobt hatte, weil der Präsident nicht auf Graves Vorschlag eingegangen sei, die Jagd auf Watkin nur der Firma zu überlassen. Das war Zachary jedoch egal. Hauptsache, sie fanden Watkin lebend, um ihn verhören zu können.

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Albertine Steinbeißer präsentierte sich Anthelia gegenüber im hautengen schwarzen Lederkostüm. Sie hatte ihre Haare feuerrot gefärbt. Auf dem Rücken trug sie ein Paar schwarze Flügel. Außerdem hatte sie einen nachgemachten Bogen und einen Köcher umgehängt, der so verarbeitet war, als steckten hundert schwarze Pfeile in ihm. Anthelia hatte sich als grüne Waldfrau verkleidet, die von den Muggeln mit Hexen in den selben topf geworfen wurden und als Sinnbild der bösen Hexe, die kleine Kinder fing und fraß, sowie als Dienerinnen des gehörnten Höllenfürsten herhielten.

Das Fest, zu dem Albertine eingeteilt war, fand in einer Diskothek bei Frankfurt am Main statt. Das für lautstarke Tanzmusik ausgelegte Vergnügungslokal führte den Namen "Hell Raiser", was im Deutschen mit Höllenbeschwörer übersetzt werden konnte. Von außen wirkte der für eher jugendliches Publikum erbaute Tanzpalast wie ein düsteres Schloß, wohl aus einem der bei Muggeln so beliebten Vampirfilme entlehnt. Der Name der Gaststätte flackerte in meterhohen, blutroten Leuchtbuchstaben über der ebenholzschwarzen Flügeltür. Davor standen zwei muskulöse Männer in einer Aufmachung, die sie wie abstoßende Mutationen zwischen Menschen und Gliederfüßern wirken ließen. Sie trugen panzerartige Plastikkostüme und unter ihren natürlichen Armen zwei weitere Armpaare, die eher wie die Tentakeln eines Polypen aussahen.

"Jau, ein Todesengel und die böse Hexe des westens. Cool", sagte einer der Türsteher. Anthelia erinnerte sich an das Muggelmärchen von dem Wunderland Oz, an das ihr ehemaliger Kundschafter Ben Calder alias Cecil Wellington einmal gedacht hatte. Albertine entrichtete die ebenso gruselige Eintrittsgebühr für zwei und betrat mit Anthelia die Diskothek.

Das erste, was Anthelia auffiel, als sie den Tanzsaal betraten war ein mehr als drei Meter großes, von der Decke herabhängendes Skelett, das jedoch nicht bleich, sondern kohlschwarz eingefärbt war und in den überdimensionierten Knochenfingern eine ebenfalls überdimensionierte Sense führte. In den Augenhöhlen des schwarzen Totenschädels glommen blutrote Lampen im Takt der wummernden Musik. Anthelia fing die Gedanken eines scheinbar über und über mit Schleim besudelten Gastes auf und mußte nur grinsen. Sie hatte erst an eine Personifikation der großen Pestepidemien gedacht. Doch daß dieses skelettierte Monstrum ein Überdämon aus Atlantis sein sollte amüsierte sie. Immerhin kannte sie ja die meisten bösartigen Kreaturen dieses alten Reiches aus Naaneavargias Erinnerungen. Naaneavargias Bruder hätte sie sicher auch zu diesen bösartigen Kreaturen gezählt. Doch das war in einem anderen Leben. Ailanorar war jetzt der Gefangene seiner eigenen Erbschaft und sie war frei, obwohl er sie als Wächterin seines Nachlasses eingesetzt hatte.

"Schon interessant, daß auch die Ghule einen üblen Leumund bei den Muggeln haben", stellte Anthelia fest, als sie noch mehr dieser mit Schleim überzogenen, teilweise wie große Hefeklumpen gestalteten Kreaturen sah, die sich mit schmatzenden Mundbewegungen zu einer Gruppe zusammenstellten. Weitere Ungeheuer tauchten auf, die den Seiten einfachster Unterhaltungsliteratur entstiegen waren. Menschen mit Wolfsköpfen, die wohl das Bild echter Werwölfe verkörpern wollten, staksende und mit kunstvoll aufgetragenen Verwesungsspuren verzierte Zombies, sowie weitere schwarzgekleidete Todesengel. Selbst Satan, der gehörnte Erzdämon aller Eingottreligionen, gab sich in mehrfacher Ausgabe ein Stelldichein. Anthelia hatte bis zu diesem Abend nicht einmal gewußt, daß der Teufel eine Tochter hatte. Doch die ganzen rothaarig aufgemachten Frauen mit gehörnten Stirnen sollten wohl diese Satanstochter darstellen. Die mit Plastikspeeren mit stumpfen Spitzen bewaffneten Eidechsenmenschen ließen Anthelia erst an eine halbherzige Imitation der Schlangenkrieger denken. Doch dann erfuhr sie aus den Gedanken eines Gastes in silberweiß glitzerndem Kostüm, daß diese die Krieger eines schattenhaften Erzdämonen darstellen sollten. Der silberhäutige selbst ging als Herr der Untoten und der bei den Muggeln als Leichenfresser verschrienen Guhle. Natürlich trafen auch Vampire ein. Doch alle die bis um neun Uhr abends in den Tanzsaal gelassen wurden, waren verkleidete Männer und Frauen, wobei Anthelia sich schon fragte, was die mehrfach auftretenden Vampirinnen in schwarzer Lederkluft mit nachgebildeten Schnellfeuerpistolen sollten. Aber dann fiel ihr ein, daß Nocturnia keine Probleme damit hatte, gewöhnliche Kriminelle für sich einzuspannen. Der Fall Zachary Marchand hatte sich ja auch bis zu ihr herumgesprochen, und daß der nun für das LI tätige Zauberer den Entführer seiner Eltern jagte.

Sie bestaunte die Kopien jener bemitleidenswerten Kreatur, die ein ominöser Victor Frankenstein aus den Teilen toter Menschen zusammengesetzt haben sollte, sowie die als untote Samurais auftretenden Männer, wobei es die Samurais auch in goldener Ausprägung gab. Die Kostüme waren sicher nicht so kostengünstig herzustellen. Viele hatten ihre Verkleidungen über ein Jahr lang selbst hergestellt oder mit guten Freunden zusammen angefertigt. Das galt auch für die Doppelgänger des Silberhäutigen. Albertine kam ins Gespräch mit einer Besucherin, die eine Mischung aus Frau und Wölfin verkörperte. Anthelia erkannte, daß zwischen ihrer Mitschwester und der Wolfsfrau gewisse Signale ausgetauscht wurden, die beiden verrieten, daß die jeweils andere einer intimen Begegnung nicht abgeneigt war. Die Führerin des Spinnenordens nahm Albertines Anbandelungsbemühungen zum Anlaß, selbst nach dem Bereiter einer kurzweiligen und wilden Nacht Ausschau zu halten. Einer der goldenen Samuraigestalten gewann ihre Zustimmung. In wirklichkeit war es ein fast mit seinem Computerstudium fertiger junger Mann, der nach der Abschlußprüfung in die Herstellung künstlicher Spielwelten für Internetbenutzer einsteigen wollte. Auf Anthelias Frage, warum er sich die Verkleidung des goldenen Samurais ausgesucht hatte erzählte ihr der Student:

"Das ist der einzige Charakter in der Geschichte, der nicht eindeutig gut und eindeutig böse ist. Ich muß ja mit Ja- oder Nein-Schaltungen arbeiten. Da ist das schon ganz anregend, auch mal von Wesen zu lesen, die nicht so eindeutig auf einer bestimmten Seite stehen."

"Na ja, von New York bis Frankfurt gibt's ja immer wieder durchgehende Flüge. Vielleicht treffen wir uns mal hier oder drüben", sagte Anthelia und erwähnte, daß sie Nancy mit Vornamen heiße. Der Name war in den Staaten so häufig, daß der Student zurecht nach dem Nachnamen fragte. "Webster", gab Anthelia einen Namen an, der sie selbst amüsierte, steckte doch das Spinnengewebe Spiderweb in diesem Namen irgendwie drin.

Von den möglichen Beischlafanbahnungen abgesehen hatten die beiden Hexen bis elf Uhr nichts, was diese Feier hervorhob. Dann trafen gleich zehn Gäste auf einmal ein, die alle als Vampire kostümiert waren. Anthelia fühlte es körperlich, daß diese fangzähnigen Nachtgäste keine Imitationen waren. Das in ihr verbliebene Überbleibsel von Dairons Seelenmedaillon besaß einen Hang zu den Quellen dunkler Kräfte. Vor allem aber reagierte es wohl auf Vampire, die bei der Erschaffung des einstigen dunklen Schmuckstückes Anthelias einbezogen worden waren. "Albertine, laß die Königin der Wölfe mal für einige Minuten in Ruhe. Da sind zehn Nocturnianer gekommen. Die sind alle echt", gedankensprach Anthelia mit Albertine.

"Oha, gleich zehn? Mist, dann muß ich unsere Leute herrufen. Mit denen werden wir zwei nicht alleine fertig, ohne Aufsehen zu erregen."

"Warte. Wenn die Vampire gefangen werden vergehen sie im Schmelzfeuer. Das könnte unschuldige Leute erfassen und mit ins Verderben reißen. Ich guck mir den Anführer aus und schließe ihn mit Incapsovulus ein. Dann kann er nicht durch Schmelzfeuer zerstört werden."

Anthelia sah sich um. Die Vampire mischten sich unter das Publikum. Dabei suchten sie sinnigerweise die wie sie kostümierten Gäste auf. Klar, weil diese dann später als echte Vampire weniger auffallen würden. Allerdings konnte Anthelia dabei auch feststellen, daß Nocturnia nach wichtigen Leuten aus der Muggelwelt suchte. Doch die meisten hier waren entweder einfache Angestellte oder hatten mit ihrer akademischen Karriere noch nicht richtig angefangen.

"Ich habe die Anführerin", gedankenknurrte Anthelia. Sie hatte eine brünette Vampirin im kurzen mitternachtsblauen Kleid als die Truppführerin ausgemacht. Zwar konnte sie ihre Gedanken gut verhüllen. Doch als sie einem Mann, der im echten Leben als Gerichtsdiener arbeitete, ihrem magischen Blick unterwarf hatte sie für drei Sekunden keine Gedankenverhüllung besessen. Dunkelstern, wie sie hieß, sollte für Nocturnia an einflußreiche Vertreter von Justiz und Militär in Deutschland herankommen. Sie hatte hierzu genug des Vampyrogens mitgebracht. Wo genau es aufbewahrt wurde bekam Anthelia nicht mehr mit, weil ab da die Gedankenverhüllung wieder in Kraft trat. Die Vampirin lotste den ihr unterworfenen Menschen aus dem Tanzsaal. Sie wollte mit ihm vor die Tür gehen. Der Einlaßstempel für die Diskothek erlaubte es, bis sechs Uhr morgens mehrmals das Gebäude zu verlassen. Das mochte reichen, um einen arglosen Menschen in einen willfährigen Diener Nocturnias zu verwandeln. Aber für Anthelia konnte das auch nicht besser laufen. Denn außerhalb der Diskothek konnte sie die Feindin unauffälliger angreifen als innerhalb dieses Tanzhauses. So folgte sie Dunkelstern und ihrem auserwählten Opfer. Dabei mußte sie einen bereits vom Alkohol gut berauschten Teufel telekinetisch bei Seite schubsen, der meinte, sie zum Tanzen auffordern zu wollen.

Draußen war es bereits stockfinster. Wolken verhüllten den Himmel. Für eine lichtscheue Kreatur wie einen Vampir war das eine ausgezeichnete Jagdbedingung. Anthelia sicherte, ob draußen nicht noch mehr Vampire lauern mochten. Doch Nocturnia wähnte sich sicher, daß das ausgesandte Kommando keine Probleme haben würde.

Es ging zu einem Parkplatz. Dort stand ein kleiner Bus. Anthelia hörte das einschmeichelnde Säuseln der Vampirin. Zwar konnte ihr der Muggel nicht so einfach entrinnen. Doch wenn sie ihn zu einem der ihren machen wollte mußte sie ihn dazu bringen, auch ihr Blut zu trinken. Bis dahin wollte Anthelia es nicht kommen lassen. Sie wandte den in ihrer Heimat bekannten Freiflugzauber an, um absolut lautlos über den Parkplatz zu schweben wie eine echte Sabberhexe. Dann war sie in günstiger Position. Sie öffnete so leise sie konnte eine verborgene Tasche unter ihrer linken Achselhöhle und ließ den darin versteckten Zauberstab herausspringen. In dem Moment bekam die Vampirin eine andere Ausstrahlung mit. Sie ließ von ihrem ausgewählten Opfer ab. Unvermittelt sprang sie wie ein Panther aus dem Kleinbus heraus und rannte auf Anthelia zu. Diese hatte den silbergrauen Zauberstab des dunklen Wächters aber schon einsatzbereit in der Hand. "Malleus Lunae!" rief Anthelia. Die Vampirin fauchte bösartig. Da traf sie ein gleißendes silbernes Licht und warf sie gegen den Bus. Die Blutsaugerin versuchte, sich abzustoßen, um einen Gegenangriff auszuführen. Die Führerin der Spinnenschwestern sprach aber bereits die Zauberformel aus, die ein magisch begabtes Wesen mit Hilfe der ihm innewohnenden Zauberkraft in eine diamantharte Schale einschließen konnte. Es dauerte keine drei Sekunden, da lag die Vampirin kampf- und fluchtunfähig in jener Einkapselung. Anthelia wußte, daß Vampire mit ihren direkten Abkömmlingen oder Erzeugern Gedankenkontakt aufnehmen konnten. Ob das durch die Einkapselung gelang wußte Anthelia nicht. Brach eine bereits bestehende Verbindung ab, erregte dies ebenso Verdacht wie ein Hilferuf. "Wo ist das Hauptquartier Nocturnias?!" rief Anthelia der gegen ihre Einkapselung ankämpfenden Vampirin zu.

"Das wirst du nicht von mir erfahren. Lieber sterbe ich, als Nocturnia zu verraten!" rief die gefangene Vampirin.

"Sterben kann sehr lange dauern und sehr sehr qualvoll sein", sagte Anthelia. "Ich habe Zeit genug, dich sprichwörtlich solange zu bearbeiten, bis ich alles aus dir herausgeholt habe, was ich wissen will."

"Das wird sie nicht zulassen. Die Blutmondkönigin wird mich finden und dich töten!" rief die Blutsaugerin. "Ich werde sie nicht an dich verraten."

"Ich denke, wenn ich deinen Kopf lebendig von deinem Rumpf getrennt habe und deinen Körper langsam in kleine Stücke schneide wirst du irgendwann freiwillig verraten, wo Lamias Nest ist. Außerdem habe ich was, daß bisher jeden deiner Art zum reden bekommen hat, die Klinge Yanxotahrs", stieß Anthelia aus. Die Vampirin schien darüber erschrocken zu sein. Sie wimmerte. Dann glühte die eiförmige Kapsel für einen Moment blau auf. Dann klang lautes Wehklagen aus der Einkapselung heraus. "Du merkst, der Schutz vor Verrat ist vergangen. Du existierst immer noch. Dann werde ich mir jetzt die Zeit nehmen, dich auszufragen", preschte die Führerin des Spinnenordens vor.

"Du wirst sie nie besiegen. Sie ist von mehreren hundert unserer Art umgeben. Sie hat Verbindungen in die Welt der niederen Verbrecher geknüpft. sie wird dich erledigen."

"Wenn du mir sagst wo, werde ich ihr sehr gerne auf halbem Weg entgegeneilen", fauchte Anthelia.

"Das wirst du nicht überleben. Basis Winternacht ist eine Festung."

"Basis Winternacht? Wo liegt diese Basis?" wollte Anthelia wissen. Da fühlte sie, wie aus verschiedenen Richtungen die Ausstrahlung der Vampire auf sie einwirkte. "Höchste Schwester, die anderen haben den Laden verlassen. Gefahr!" Drang Albertines Gedankenruf an Anthelias Geist. Ein wenig früh, dachte die Verschmelzung aus Anthelia und Naaneavargia. Dann fühlte sie, wie sie umzingelt wurde. Die Blutsauger wollten sie von allen Seiten zugleich attackieren. Anthelia lächelte müde. Sie wartete eine Sekunde, bis sie sicher war, daß die Vampire alle unaufhaltsam auf sie zujagten. Dann warf sie sich herum. Sie disapparierte jedoch nicht. Ihr Plan war anders. Sardonias altes Vermächtnis sollte den Vampiren das Fürchten lehren, wenn nicht sogar das unselige Dasein entreißen. Unvermittelt schien Anthelia in Flammen zu stehen. Doch das aus ihrem Körper brechende Feuer tat ihr nichts. Denn es war nur im Bereich ihrer Lebensaura entflammt und explodierte nun wie ein sich aufblähender Feuerball in alle Himmelsrichtungen. Die auf sie losgehenden Vampire gerieten voll in den nach außen fliegenden Flammenring hinein. Feuer, magisch oder von Hand entzündet, war der gefährlichste Feind fast aller Vampire. Alle neun Vampire gerieten in Brand. Wie lodernde Fackeln im Sturmwind wurden sie von der Wucht des freigesetzten Zauberfeuers zurückgeworfen. Ihre Kleidung brannte wie Zunder. Die häufige Übung mit diesem Zauber hatte Anthelia zu einer Meisterin gemacht, die nur von Sardonia selbst hätte übertroffen werden können. Laut schreiend wälzten sich die Vampire am Boden. Dabei bekamen sie das sekundäre Feuer von ihrer Kleidung. Doch die Verbrennungen waren bereits so stark, daß sie nicht aus eigener Kraft flüchten konnten. Anthelia wollte gerade einen der niedergestreckten Nachtsöhne ansprechen, als dieser unvermittelt im blauen Schmelzfeuer verging. Die blauen Flammen formten einen zweiten, noch unheimlicheren Feuerring, dessen innere Flammen beinahe die Füße der Hexenlady berührten. Diese konnte sich nur mit einem Sprung nach oben und den Gedanken an die Flugformel in Sicherheit heben. Nach nur drei Sekunden war der blaue Feuerspuk jedoch auch schon wieder vorbei. Neun kleine, ringförmig verteilte Aschenhaufen zeugten vom Ende der Nocturnianer. Die gefangene Vampirin schrie nun lauthals. Anthelia erhaschte durch die Einkapselung stark gedämpfte Gedanken und erbleichte unter ihrer blattgrünen Schminke. Dann gewann sie ihre Kaltblütigkeit zurück. Sie telekinierte den noch im Bann Dunkelsterns aktionsunfähigen Menschen aus dem Bus, packte ihn mit der freien hand und warf sich mit ihm in eine Disapparition. Keine Sekunde später zerriß der laute Knall einer Explosion die beinahe Stille auf dem Parkplatz. Die eiförmige Zauberkapsel wurde von innen her von einem grellen Feuerball atomisiert. Die Druckwelle der Explosion reichte aus, um die Scheiben aller im Umkreis von fünfzig Metern geparkten Fahrzeuge zu zersplittern. Der Kleinbus, in dem die Vampirtruppe angerückt war, fiel von der Explosionswucht auf die Seite.

Es ploppte laut. Fünfzig Mann in wallenden weißen Umhängen brachen aus leerer Luft heraus. Es waren Lichtwächter des Zaubereiministeriums. Doch sie konnten nur noch einen kleinen Krater im Boden, den umgekippten Bus und die Glassplitter zertrümmerter Autoscheiben vorfinden. Die Asche der verbrannten Vampire war durch die Explosion in alle Richtungen verteilt worden.

"Was ist denn hier passiert?" grummelte der Truppenführer. Doch er erhielt im ersten Moment keine Antwort darauf.

Aus dem Tanzlokal strömten neugierige Festgäste. Auch die beiden Türhüter eilten in ihrer Monstrositätenmaskerade zum Ort der Explosion. Die Zauberer gingen in Abwehrstellung, weil sie vor lauter Ungeheuern, vor allem Vampiren, keinen Überblick hatten, wer Muggel war und wer eine echte Bedrohung darstellte. Erst als eine Frau in schwarzer Lederkleidung mit Flügeln auf dem Rücken aus der menge der Neugierigen trat und auf die Lichtwächter zueilte atmete der Truppenführer auf. "Die alle sind harmlos. Die echten Vampire sind erledigt", sagte die Frau im Todesengelkostüm. Dann gedankensprach sie mit dem Truppenführer. Die Festgäste wurden von den Lichtwächtern bewegungsgebannt und dann mit Gedächtniszaubern belegt, daß es hier keine Explosion gegeben hatte. Die Spuren der Verheerung wurden von geübten Katastrophenumkehrzauberern beseitigt. Der Krater wurde mit "Repleno" wieder aufgefüllt. Die zerstörten Autofenster wurden mit mehreren Reparo-Zaubern wiederhergestellt. Dann verschwanden die Zauberer so wie sie erschienen waren. Albertine Steinbeißer hatte vor dem Abklingen der Gedächtniszauber noch eine gewaltige Leuchterscheinung an den Himmel beschworen, das überdimensionale, blutrot leuchtende Angesicht des Teufels. Deshalb waren die Gäste alle aus der Diskothek gelaufen, um dieses supertolle Laserspektakel zu bewundern, das nun bis ein Uhr am Himmel leuchten würde.

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"Ka-tsching! Jetzt sind wir um zehn Millionen Honorar und fünf Millionen Aufwandsentschädigung reicher", frohlockte Watkins Finanzjongleur, der den Decknamen Eldorado trug. "Kobold hatte recht, daß es was bringt, sich ein kleines, sonst so anständiges Küchenmädchen zu angeln, um an brisante Papiere zu kommen. Sind aber auch soooo lange Zahlen, daß die sich keine Sau merken kann", sagte der vor zehn Jahren wegen versuchten Börsenbetruges zur beruflichen Veränderung getriebene Computerexperte. Ihm war es gelungen, über einige Kanäle an ein zürcher Konto des Bertucci-Clans zu kommen. Da Watkin wußte, daß die Cosa Nostra oder eine andere italienische Mafia-Organisation die Entführung von Zach Marchand und seinen Eltern in Auftrag gegeben hatte, war es ihm egal, ob er seine Belohnung von der Auftraggeberfamilie erhielt oder einer anderen Familie das Geld abjagte. Er wurde so oder so gejagt, nicht nur von kriminellen Organisationen, Sondern auch vom FBI und von der CIA. Genau aus diesem Grund fragte Watkin seine Leute:

"Ist unser Köder in Houston angenommen worden?"

"Wir warten noch auf die Reaktion", sagte Spark Plug, der Experte für elektronische Schaltungen und Sprengvorrichtungen. Watkin schaltete den Fernseher ein. Die Satellitenschüssel auf dem Dach des gepanzerten Wohnmobils empfing neben den handelsüblichen Fernsehsendern fünf Kanäle, die speziell für den Colonel und seine Leute auf Sendung waren und nur dann sendeten, wenn vorher eine bestimmte Mobilfunknummer eine Kurzmitteilung erhielt. Gerade bekamen sie das Bild eines alten Lagerhauses im Norden von Houston, Texas zu sehen. Watkin hatte über dunkle Kanäle verbreiten lassen, daß dort neue Waffen für ihn deponiert worden seien und er sie sich an Halloween abholen wolle. Jetzt war er gespannt, wer alles darauf einging.

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Offiziell war Zachary Marchand nicht hier. Er war unter der Tarnidentität Clark Bingham nach Houston gekommen, um in der Nähe eines alten Lagerhauses zu verweilen. In der Stadt grassierte gerade das alle Jahre wieder aufflammende Halloweenfiber. Vielleicht hätte er besser in New Orleans bleiben sollen, um sicherzustellen, daß sich unter die ganzen nachgemachten Monster keine echten Vampire und Werwölfe schmuggelten, die ihren dunklen keim auf arglose Leute übertrugen. Seitdem Nocturnia das Koexistenzabkommen zwischen den Vampiren und der Zaubererwelt für ungültig ansah, mußten sie ja stets damit rechnen, daß die Blutsauger genau dort zuschlugen, wo sie nicht auffielen.

"Wir sind auf Posten", Zach", gedankensprach Justine Brightgate, die auf einem Harvey-Besen unsichtbar über dem Haus kreiste. Mit einem Mentijectus-Zauber hatte sie ihre Wahrnehmung in das Haus hineinprojiziert, um zu forschen, ob dort bereits jemand lauerte. Zusätzlich hatte sie jenes Artefakt bei sich, daß ihre eigene Lebensaura überlagerte und so für Ausstrahlung empfängliche Wesen unanwesend erschien. "Vorsicht, in dem Haus sind an Elektrokabeln hängende Zylinder und auf Stativen montierte Schnellfeuerwaffen. Kein Mensch im Haus und auch kein Blutsauger", teilte sie Zach für alle anderen unhörbar mit.

Die Nacht war nun völlig hereingebrochen. FBI-Agenten in dunkler Kleidung umzingelten das Lagerhaus. Es galt, die Abholer der Waffen erst zu fassen, wenn sie in dem Haus waren. Tatsächlich erschien kurz vor Mitternacht ein Lastwagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Der Wagen fuhr auf das Lagerhaus zu und hielt an. Justine vermeldete an Zachary, daß etwa zweitausend Meter über ihnen eine Art Miniaturzeppelin mit dunklem Anstrich kreiste, der eine nach unten gerichtete Kamera trug. Zachary blickte daraufhin konzentriert zum Himmel. Sein Kollege Westerly fragte leise, was er dort oben suche. Er vermutete eine ferngesteuerte Drohne, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß Watkin dieses Lagerhaus unüberwacht ließ.

"Jemand steigt gerade aus dem Lastwagen. Schwerbewaffnete, vermummte Männer", meldete ein Beobachter über Funk. Die Männer gingen zu dem Haus. Zachary dachte nicht, daß es Watkins Leute waren und bat alle um Zurückhaltung. Als dann zwei der Männer an der Tür herumfummelten nahm Zachary das Nachtsichtgerät zu Hilfe. "Die haben eine Sprengfalle gefunden und entschärfen die jetzt", mentiloquierte er an Justine.

"Zach, ihr kriegt Besuch von oben!" warnte Justine. Zachary blickte zum Himmel. Es war so gut wie nichts zu sehen, weil der Mond von Wolken verhangen war. Doch ein paar schwarze Schatten konnte er vom Dunkelgrau unterscheiden. Sie flogen langsam große Kreise. Er zählte vier Stück.

"Blutsauger?" wollte Zachary von Justine wissen.

"Vier stück. Ich habe Verstärkung auf Harveys angefordert.

"Da gehen gerade zwei Männer ins Haus rein", melote Zach an Justine. Er durfte nicht dauernd nach oben sehen, wenn sich das scheinbar wichtigste gerade auf dem Boden zutrug. Jetzt konnte er sehen, wie aus dem Lastwagen eine Truppe von bewaffneten Männern sprang und auf die sich gerade öffnende Tür zujagten. Das waren eindeutig nicht Watkins Leute. Entweder waren es Bauernjungen aus Virginia, oder es waren Vollstrecker der Mafia.

Keine fünf Sekunden, nachdem die zwei Sprengfallenentschärfer das Haus betreten hatten, huschten die schattenhaft vorrückenden Männer aus dem Lastwagen hinterher. Dann begann ein vorgezogenes Silvesterfeuerwerk.

Unvermittelt schlugen Garben von MG-Geschossen aus dem Haus heraus. Drei Männer der LKW-Mannschaft fielen in der ersten Sekunde um. Obwohl die Männer klobige Schutzanzüge trugen, konnten sie dem wilden Feuersturm aus dem Haus nichts entgegensetzen. Offenbar feuerten sie von drinnen mit Sprenggeschossen. Die Männer aus dem Lastwagen erwiderten das Feuer. Die FBI-Leute sprangen nun auch aus ihren Stellungen.

"Zach, die Fledermäuse haben dich anvisiert. Hüll dich ein!" gedankenwarnte Justine. Zachary wußte, was sie meinte. Er warf sich in Deckung und drehte an seinem obersten Kragenknopf. Dieser löste sich und glühte auf. Über das Rattern und Schwirren der abgefeuerten Waffen hinweg konnte Zach nichts von oben hören. Doch als er kurz nach oben sah erkannte er zwei große Schatten, die gerade wie Adler auf ihn niederstoßen wollten. Zach warf den glühenden Kragenknopf nach oben. Dieser blähte sich auf und zerplatzte zu einem Wirbel aus goldenem Dunst, der sich sofort zu einer kompakten Wolke um Zachary verdichtete. Die auf ihn zustürzenden Flugwesen kreischten verärgert. Eines geriet mit den Krallen in den goldenen Dunst hinein und schrak unter grellen Blitzen zurück. Das andere Flugungeheuer schaffte es noch, sich aus den Ausläufern des goldenen Nebels herauszuretten. Da blitzte es am Himmel auf. Zach hörte ein beinahe über der menschlichen Hörbarkeitsgrenze klingendes Schrillen. Zwei Fledermäuse wurden in goldene Sphären gehüllt. Die dritte geriet in einen gelben Lichtspeer hinein. Dann erwischte es auch die beiden Fledermäuse, die versucht hatten, Zachary von oben anzugreifen.

Die Kollegen am Boden bekamen von der über ihnen entbrannten Luftschlacht nichts mit, weil sie zu sehr mit den Leuten aus dem Lastwagen und den von drinnen feuernden MGs zu tun hatten. Es galt, die anderen festzunehmen, ob sie jetzt mit Watkin zu tun hatten oder selbst nur hinter ihm und seinen Leuten herjagten. Zachary wollte schon loslaufen, um im Schutz seiner magischen und nichtmagischen Schußweste nachzusehen, wer da in dem Lagerhaus lauerte.

"Zach, zieh dich zurück, das ist eine ganz große Falle!" gedankenrief Justine. Zachary rief über Funk seine Kollegen zurück. Sie sollten weg vom Haus. Er gab die Vermutung weiter, daß es dort noch mehr Sprengfallen gab. Das reichte den Bundesagenten erst einmal, sich mindestens zweihundert Meter zurückzuziehen. Die Leute aus dem Laster witterten Morgenluft und stürmten auf das Haus zu. Zwei feuerten Panzerfäuste in die offene Tür hinein. Es war wohl gedacht, die MG-Stellungen zu zerstören. Das gelang ihnen auch - zu gut.

Als die zweite Panzerfaust durch die offene Tür fauchte detonierte die erste Ladung auch schon. Es war nur ein kurzes Aufblitzen. Dann brach das Inferno über die Leute aus dem Lastwagen herein.

Aus dem Haus rollte eine gleißendhelle Feuerwalze. Gleichzeitig brach die vordere Wand als glutroter Trümmerregen über den Vorplatz nieder. Das Haus selbst schien einen Moment in der Luft zu schweben, bevor alles an ihm auseinanderflog. Aus der Feuerwalze wurde ein Feuerball, der alle, die näher als hundert Meter an das Haus herangekommen waren, in sich einverleibte. Zachary konnte zwei Männer sehen, wie sie, von Flammen umlodert, durch die Luft geschleudert wurden. Der Rest der vorstürmenden Truppe wurde förmlich weggefegt. selbst im Abstand von zweihundert Metern war die Druckwelle noch so stark, daß sie aufrecht stehende Männer zu Boden stieß und einen Schwall sengendheißer Luft beförderte. Aus dem Feuerball wurde jetzt ein Ring aus säulenartigen, turmhohen Flammen, die leicht schwankend zum Himmel hinaufleuchteten. Dabei geriet eine noch herumfliegende Fledermaus in die Flammen und loderte wild auf. Hoffentlich waren die Hexen und Zauberer dort oben der Wucht von so viel Sprengstoff entronnen.

"Ist die Drohne noch da?" gedankenfragte Zachary Justine.

"Ja, aber ich habe Quinns Unfunkstein zu ihr Hochgeschickt. Damit ist jedes Signal im Umkreis von hundert Metern zerfallen."

"Seid ihr da noch gut weggekommen?" wollte Zachary Marchand wissen.

"Ich habe denen mitgeteilt, nicht tiefer als vierhundert Meter zu fliegen, solange die Vampire nicht auf euch zustürzen wollen. Es waren übrigens sechs Stück."

"Die wollen mich offenbar mit allen Mitteln einkassieren, Justine. Die wissen, daß ich hinter Watkin her bin. Da wo ich den suche, kommen die auch hin. War irgendwo zu erwarten."

"Ja, und beim nächsten Mal könnten es gleich hundert sein", gedankenseufzte Justine. Zachary Marchand hatte eine sehr düstere Ahnung, daß die Vierbeins oder die hinter ihnen stehende Lamia jetzt keine Rücksicht mehr nnehmen würde. Sechs Vampire hatten sie abwehren können. Hundert auf einmal mußten dann schon mit breitflächigen Sonnen- und Feuerzaubern bekämpft werden. Wenn dabei arglose Muggel in Mitleidenschaft gezogen wurden ... Nicht auszudenken.

"Das Haus war eine Falle. Sie wollten uns hier umbringen", knurrte FBI-Agent Jennings, der sich wunderte, daß Zachary von einem goldenen Nebel umwabert wurde. Doch dem halfen die Zauberer des LI schnell ab. Sie apparierten aus der Luft heraus und belegten die anwesenden Kollegen des muggelstämmigen Zauberers mit Gedächtniszaubern, daß sie nur das Inferno um das Haus mitbekommen hatten. Zachary durfte hinter Justine auf dem Besen aufsitzen und fortfliegen. Diese Runde hatte Watkin gewonnen. Er wußte, daß er wohl der meistgejagte Mann der Welt sein mochte. Doch als solchen sah sich im Moment auch Zachary Marchand.

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Lamia hatte ein Wechselbad der Gefühle durchlebt. Erst totale Belustigung über die als Vampire, Werwölfe und Geister verkleideten, dann die mit Dunkelstern geteilte Vorfreude auf eine Vampirhochzeit. Dann die unmittelbare Bestürzung, als eine ihr zu gut bekannte Präsenz die Vampirhochzeit unterbrochen hatte. Zwar war die Hexe, die Dunkelstern angegriffen hatte grün geschminkt und hatte andere Gesichtszüge angenommen. Doch der Zauberstab in der Hand der Störerin und ihre Aura waren unverkennbar. Wie war Anthelia dem Strahlentod entgangen? Hatte es nicht geheißen, der Kampf mit Volakin hätte sie tödlich verseucht? doch sie hatte keine Zeit, diese Fragen zu klären. Dunkelstern war eingekapselt worden. So verpuffte das Schmelzfeuer. Sie erwähnte Basis Winternacht. Das war total verkehrt! Das kapierte Dunkelstern wohl auch. Lamia konnte zwar durch die Einkapselung keine richtige Verbindung mehr aufrechterhalten. Doch als sie Dunkelsterns mentalen Todesschrei vernahm wußte sie, daß sie die letzte Flucht benutzt hatte, das Auslösen des auf eine bestimmte Lautstärke und Vibrationslänge eingestellten Zünders. Die Menge Plastiksprengstoff reichte aus, um womöglich auch Anthelia zu erledigen. Doch als sie wenige Sekunden später gleich neun mentale Todesschreie von Dunkelsterns Abkömmlingen auffing wußte sie, daß diese Hexe es wohl noch rechtzeitig erspürt hatte, daß eine zweite, wirksamere Vorrichtung eingesetzt werden sollte. Maßlose Wut und Enttäuschung, wie nach der vereitelten Blutzeugung mit Zachary Marchand, trieben Lamia dazu, lauthals zu schreien und zu toben. Dabei hätte sie fast eine der wärmeisolierenden Zwischenwände mit einem Tritt durchstoßen, wenn Arnold nicht gekommen wäre und sie beruhigt hätte. Sie berichtete von dem Debakel, das Anthelia ihr bereitet hatte und bedachte sie dabei mit den wüstesten Ausdrücken, die sie als Griselda Hollingsworth und als Elvira Vierbein gelernt hatte.

"Ich dachte die wäre voll verstrahlt gewesen. Oder gibt's bei den Zauberstabschwingern ein Serum gegen radioaktive Verseuchungen?"

"In der Richtung ja, aber nur bei den Heilern", zähneknirschte Lamia. Sie heulte fast vor wut. "Außerdem", fiel es Lamia nun noch ein, "hat sie Dunkelstern erzählt, sie habe Yanxothars Klinge. Das erklärt vieles, vor allem die Vernichtung des Stützpunktes in Österreich, in der Nacht, wo unser zukünftiger Sohn und seine Spießgesellen meine Vorgängerin heimtückisch ausgetrickst und entkörpert haben. Wenn sie wirklich das Schwert erobern konnte, beherrscht sie das Feuer in allen Ausprägungen und kann damit jeden von uns durch leichte Berührung mit der Klinge zerstören. Ohne den Mitternachtsdiamanten bin auch ich dieser Kraft nicht gewachsen."

"Dann ist sie zu gefährlich für uns?" fragte Arnold Vierbein verängstigt.

"Wir können und wir werden uns schneller vermehren, als sie deine und meine Geschwister und Zöglinge töten kann. Wir dürfen uns ihr nur noch nicht offen stellen. Aber das wird noch geschehen."

"Wenn sie hinter uns her ist, dann wird sie versuchen, an denen dranzubleiben, die für uns interessant sind", dachte Arnold laut. Lamia verstand ihn sofort. Doch sie schüttelte den Kopf.

"Wenn draußen die Magielosen wieder Milliarden ohne bleibenden Nutzen in den Nachthimmel schießen, um das Jahr 2000 zu begrüßen, wird Zachary Marchand dein und mein Sohn sein und seinen ersten Laut als Kind der Nacht tun. Ich will den haben. Und ich werde ihn kriegen. Ich will endlich ein gemeinsames Kind mit dir. Wenn schon nicht unten herum, dann eben oben herum, Arnold." Arnold Vierbein wagte es nicht, seiner Königin, die im Körper seiner bereits vor der Vampirwerdung angetrauten Frau weiterlebte, zu widersprechen.

"Ich reise jetzt nach Chicago, um mit Fabritio und Renato zu klären, daß dieses kindische Massakrieren zwischen den Pontebiancos und Daniellis aufhört. Wenn ich wiederkomme steige ich bis zum zehnten Dezember in die Umwälzung. Wir müssen mehr Einbürgerungspulver machen. Der Vorrat, den Dunkelstern in Deutschland ausbringen wollte, wird wohl mit ihr und ihren Begleitern vernichtet worden sein."

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"Sie hat gelernt, diese fanzähnige Kanalratte", grummelte Anthelia, als sie mit Albertine kurz vor fünf Uhr Morgens in Albertines kleinem Dienstwagen in Richtung Frankfurt zurückfuhr. "Diese Lamia hat ihren weiblichen Unterführern kleine Sprengkörper in den Uterus eingepflanzt. Wenn die Vampirin denkt, sie könne den Verrat nicht zurückhalten genügt ein lauter Schrei auf einer bestimmten Tonhöhe. Aber erst, wenn der Schmelzfeuerfluch sich entladen hat, und die Vampirin immer noch lebt, erinnert sie sich an diesen eingepflanzten Selbstvernichtungsapparat, der ganz ohne Magie arbeitet. Ob sie ähnliche Vorrichtungen auch in den Leibern männlicher Abkömmlinge verankert weiß ich nicht. Aber wir sollten davon ausgehen."

"Dann muß diese Lamia Ahnung von Muggelsachen haben", knurrte Albertine und schalt sich sofort eine Idiotin, weil doch klar war, daß die Vierbeins und andere ehemalige Muggel Nocturnias wichtigste Gehilfen waren.

"Mit anderen Worten, auch der Incapsovulus-Zauber hilft uns nicht weiter?" Fragte Albertine.

"Nicht wenn ein Vampir Nocturnias davon ausgeht, zum Verrat gezwungen werden zu können", knurrte Anthelia. Dann erwähnte sie noch, daß sie am zweiten November ein Treffen aller europäischen Schwestern einberufen wolle, um die neue Sachlage zu erläutern. Es war nun klar, daß sie so schnell keinen hochrangigen Bürger Nocturnias ausfragen konnten. Sicher gab es wohl auch unbehandelte Vampire. Doch die würden garantiert nicht wissen wo sie lag, die Basis Winternacht.

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"Er wird jetzt mit den Campestranos Kontakt aufnehmen", sagte Lunera zu Nina. Eine Woche war es jetzt her, daß die Führungsspitze der Daniellis mit einem Schlag ausgelöscht worden war. Die Presse und das Internet hatten groß darüber berichtet, daß es in der Villa Luna zu einer Gasexplosion gekommen sei. Allerdings hatten auch einige erwähnt, daß wohl die Mafia ihre Finger im Spiel hatte, ja daß die Zerstörung der Villa am Ende ein Racheakt einer verfeindeten Familie gewesen sein mochte. Valentino Suárez, der die beiden Lykanthropinnen nolens volens bei sich untergebracht hatte, schaffte es, einige Veröffentlichungen zu sichten, aus denen hervorging, daß die Daniellis in den 1980er Jahren bereits im Verdacht gestanden hatten, zur Cosa Nostra zu gehören. Anfragen bei den Suchmaschinen über anonyme Zwischenposten erbrachten, daß auch die Fehde mit den Pontebiancos bereits im Internet thematisiert wurde.

"Sollen wir den jetzt auch zu unseresgleichen machen?" Fragte Nina und dachte mit Abscheu daran, daß sie dann wohl noch einmal die willige, naive Geliebte für irgendwen spielen sollte.

"Diesmal lasse ich zwei Zauberer das überwachen. Fino und Rabioso sollen diesen Pontebianco überwachen", sagte Lunera. Nina atmete auf. Zwar mochte sie Rabioso nicht, weil dieser ihr einmal zu viel auf die Schenkel und die Brüste geglotzt hatte. Aber zumindest war dieser Werwolf ein Zauberer, wie Fino. Die konnten mehr machen, als was Nina gemacht hatte. Lunera konnte zwar Zaubertränke zusammenbrauen, konnte aber keinen Zauberstab gebrauchen.

"Was ist mit denen aus England?" Wollte Nina wissen.

"Das ist das Ding schlechthin. Dieser Tallfoot hat mir vor drei Wochen eine Eule geschickt, daß der Trank wohl ein großer Schwindel sei. Er habe sich nicht einmal verwandeln können, wann er es wollte, sondern sei erst bei Vollmond zum Wolf geworden, aber habe dann auch keine Kontrolle über seine Handlungen gehabt. Ich werde mir den Kerl noch mal ansehen. Rabioso soll mich begleiten."

"Der Trank wirkt doch. Ich hab's doch schon häufig erlebt", grummelte Valentino. Nina stimmte ihm durch Nicken zu. Lunera verzog nur das Gesicht und sagte, daß sie das überprüfen wollte. Sie traue diesem Tallfoot durchaus zu, daß er den Trank für sich selbst haben wolle und deshalb behaupte, der sei unwirksam. Wenn das geklärt sei sollten sich Rabioso und Fino in der Nähe der Pontebiancos postieren.

"Könnte es nicht passieren, daß der jetzt erst recht Probs mit den ganzen Mafiosi kriegt?" fragte Valentino. Lunera schloß das nicht kategorisch aus. Diese Familien lebten nach einem strengen Ehrenkodex. Ihre Betätigung war blutig und höchst unwillkommen. Wer da zu heftigen Wind machte konnte leicht einen Sturm ernten, der ihn aus der Weltgeschichte blies. Außerdem, so vermutete Nina, könnte der mit einer chinesischen Organisation Streit bekommen, weil einige von denen bei dieser Kasinoexplosion gestorben waren.

Eine Stunde später traf eine E-Mail von Jungleboy2000@worldmail.com ein. Neubeginner, wie der Wertiger sich Lunera gegenüber vorgestellt hatte, teilte mit, daß es gelungen sei, drei Tigerbrüder in die Reihen des weißen Lotos eingeschleust zu haben. Die Triaden in China waren mächtig und gefährlich. Dort wen zu haben, der Augen und Ohren offenhielt war auch wichtig. Als dann noch aus der hochverschlüsselten Mail hervorging, daß die Gruppe einem gewissen Vittorio Pontebianco nachstellte, weil der zwei ihrer wichtigsten Mitglieder erledigt hatte, widerrief Lunera das Unternehmen mit Tallfoot. Sie beorderte Fino und Rabioso in das Hauptquartier der Mondbruderschaft, das auf einem abhörsicheren Boot in der Nähe von Toledo eingerichtet worden war. Es galt, die anstehende Konfrontation zwischen den Pontebiancos und dem weißen Lotos zu überwachen.

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So mußte sie sich damals gefühlt haben, dachte Vera Barkow, nachdem sie den lauten Knall und das vom schwarzen Spiegel stark abgeschwächte Licht mitbekommen hatte. Einen Moment lang hatte sie noch etwas kleines, helles an der Wand entlanghuschen sehen können, bis etwas sie genau in der Körpermitte traf und sie wie mit heißem Wasser von innen durchflutete. Vera Barkow taumelte. Einen Moment lang überkam sie starke Erschöpfung. Doch dann strömte eine unbändige Kraft in sie ein. Es war, als würde sie mit der Lebenskraft von zehn Menschen aufgeladen. Sie keuchte. Dann ließ dieses Gefühl wieder nach. Sie merkte jedoch, daß sich irgendwas in ihr verändert hatte. Sie strich sich über ihr Gesicht. Die ersten Falten waren verschwunden. Sie betastete ihre Brüste. Sie fühlten sich so straff an, als sei sie gerade erst voll erblüht. Wärme durchflutete sie. Eine unbeschreibliche Euphorie überlagerte jeden klaren Gedanken. Dieses unbändige Glücksgefühl herrschte eine Weile lang vor. Dann klang es wieder ab. Jetzt stand Vera Barkow da. Der schwarze Spiegel löste sich auf. Die Macht, die er zurückgeworfen hatte, hatte ihn doch sehr ausgezehrt. Vera sah am Boden liegende Kleidungsstücke, einen weißen Umhang, Unterwäsche eines Mädchens, Schuhe. Etwas weiter fort lag ein Zauberstab. Dido Pane war nicht mehr da. Es schien, als sei sie restlos ohne ihre Kleidung vernichtet worden. Doch Vera Barkow war sich sicher, daß Didos Lebensfunke nicht erloschen war. Sie betastete unwillkürlich ihren Bauch. Er fühlte sich flacher an als vor dem Duell. Selbst die überschüssigen Pfunde, die sie sich angegessen hatte waren verschwunden. Doch, das wußte Vera, diese Pfunde würden wiederkommen. In wenigen Monaten würde sie wohl sogar doppelt so umfangreich sein wie vor dem Duell. Dido Pane gab es nicht mehr. Doch das, was sie ins Leben gebracht hatte existierte noch. Es ruhte nun in ihr. Denn aus dem magischen Begrenzungskreis hatte es nicht entweichen können, sobald die von ihr und den anderen Schwestern vorbestimmte Verzögerungszeit abgelaufen war. Der Besen, der ein Portschlüssel gewesen war, hatte Dido in den Weinkeller der Daggers-Villa zurückversetzt. Hier hatte Vera auf Anweisung Anthelias mit der abtrünnig zu werden drohenden Junghexe gekämpft, bis diese echt einen Mondlichthammer aufrufen konnte. Vera hatte danach das gedankliche Passwort "Anastasia" durch ihren Kopf dröhnen lassen. Die kleine Phiole mit der Essenz einer konservierenden Magie war daraufhin zerfallen und hatte dabei den schwarzen Spiegel freigesetzt. Dido hatte diesem Spiegel den angeblich einzig wirksamen Zauber außer dem Todesfluch entgegengeschleudert. Und jetzt hatte sie genau das Schicksal ereilt, daß Anthelia beinahe endgültig entmachtet hätte. Ja, Vera Barkow hatte Anthelias Willen vollstreckt. Doch nun mußte sie die folgen tragen, und dies im wahrsten Sinne des Wortes.

"Anastasia ist ein schöner und passender Name", dachte Vera Barkow. So würde sie sie nennen, ihre durch ein Duell leibhaftig in den Schoß gefallene Tochter. Es sei denn, Didos Lebensenergie war auf dem Weg zu ihr doch versiegt. Das sollte Anthelia dann herausfinden. Doch wenn sie sich gerade anfühlte, als sei sie um mehr als zehn Jahre jünger geworden, hieß das doch, daß Didos bereits erlebte Lebenszeit in sie eingeflossen war und sie wirklich verjüngt hatte. Das hieß aber dann auch, daß sie ebenfalls einen anderen Namen annehmen mußte. Ihre Großmutter hatte Nadja geheißen. Vielleicht sollte sie sich auch so nennen, eine muggelstämmige Hexe, die nicht nach Durmstrang gedurft hatte und deshalb von anderen Zauberern und Hexen ausgebildet worden war. Das sollte dann Anthelia erledigen. Denn vorerst würde sie wohl nicht aus diesem Haus hinaustreten.

Die Hexe, die als Vera Barkow in das für Dido aussichtslose Duell gegangen war, verließ den magischen Bannkreis mit dem Kristallstab. Sie disapparierte dann aus dem Weinkeller. Der Kreis erlosch und verschwand. In Didos nun freigewordenem Zimmer unter dem Dach legte sich Vera zu Bett.

Als Anthelia von ihrer Halloweenreise zurückkehrte untersuchte sie die wirklich wiederverjüngte Hexe und lächelte überlegen. "Aus dir heraus wird sie uns eine zuverlässige neue Schwester werden", sagte Anthelia. Vera fragte, ob Dido durch den auf sie zurückgeprallten Fluch auch vom Contrarigenus-Fluch befreit worden war. Anthelia lachte.

"Die unbestreitbare Antwort darauf, daß dem nicht so ist, steht vor dir, Schwester Vera. Selbst der Fluchumkehrer aus dem alten Reich hat mich nicht in den kümmerlichen Körper von Barthemius Crouch zurückversetzt. Offenbar gilt die erlebte zeit im umgewandelten Körper als Garant für den Erhalt des Körpers, solange er nicht durch einen neuerlichen Contrarigenus-Fluch umgewandelt wird. Es gibt eben Zauber, die nur durch sich selbst wieder aufgehoben werden können."

"Verstehe, höchste Schwester. Ich jedenfalls bin bereit, diesen besonderen Dienst an unserer Schwesternschaft zu leisten."

"Das habe ich auch erhofft", sagte Anthelia leutselig. Dann erzählte sie ihr, was auf der Halloweenfeier passiert war.

"Womöglich mußt du einem gefangenen Nocturnia-Vampir den Kopf vom Rumpf trennen und diesen am Leben erhalten, um ihn auszufragen."

"Ich fürchte, der dazu geeignete Fluch gelingt nur bei Menschen. Nein, ich muß eine andere Methode ersinnen, um das Wissen eines hochrangigen Nocturnianers zu extrahieren, bevor der Körper zerstört wird. Wüßte ich, wie Hyneria meine treuen Mitschwestern gebannt hat, so hätte ich vielleicht eine probate Einkerkerungsmöglichkeit, um einen Vampir vollkommen aktionsunfähig festzuhalten. Doch Roberta Sevenrock hat dieses Wissen aus Hynerias Kopf verbannt, und Lavinia, die es vielleicht hätte wissen können, gibt es auch nicht mehr. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, die mir treu verbundenen Schwestern zu befreien und dabei herauszufinden, wie ich einen Bürger Nocturnias einkerkern kann, bevor er durch Schmelzfeuer oder Selbstsprengvorrichtung vernichtet wird."

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Das Treffen der Schwestern am zweiten November dauerte zwei Stunden. Denn Anthelia wollte von den Anwesenden wissen, wie ihre zaubereiministerien den Halloween-Tag überstanden hatten. Außerdem hatte sie erfahren, daß Zachary Marchand ohne Erlaubnis des Zaubereiministeriums hinter dem Muggelverbrecher Watkin herjagte. Dieser mußte jedoch nicht nur vor dem auf Vergeltung ausgehenden Muggelstämmigen auf der Hut sein, sondern auch vor bezahlten Mordbuben der amerikanischen Unterwelt und den Mitarbeitern des Auslandsgeheimdienstes, für die er ein zu hohes Sicherheitsrisiko geworden war. Von Vera Barkow, die nach erfolgreicher Entbindung von ihrer jungfräulich empfangenen Tochter Anastasia als Nadja Markowa in die Zivilisation zurückkehren sollte, erfuhren die europäischen Hexenschwestern nichts. Denn das hätte sie nur argwöhnisch gemacht. über den Verbleib von Vera wußte Anthelia eben nichts. Es mochte sein, daß sie vor dem russischen Zaubereiministerium in Deckung gegangen war oder dieses sie bereits dingfest gemacht hatte.

"Linda Knowles berichtet, daß das Zaubereiministerium glaubt, daß ein Verbrecherboss in Chicago ein Nocturnianer sein könnte. Die Inobskuratoren sollen das nachprüfen", berichtete Beth McGuire nach dem Treffen der europäischen Hexenschwestern, als sie mit Anthelia alleine im Weinkeller der Daggers-Villa saß. "Der Begrenzungskreis ist verschwunden", sagte Beth noch.

"Ich habe ihn wieder aufgehoben, als mir klar war, daß er unsere Zusammenkünfte eher behindert als meine Geheimnisse schützt. Ich habe eine andere Methode ersonnen, Sardonias Erbschaft zu verbergen. Welche das ist, das verrate ich nicht. Ich will deine andere Fürsprecherin schließlich nicht in Versuchung führen." Beth McGuire verzog das Gesicht. Sie fragte, ob Anthelia ihr so wenig vertraue.

"Selbst ich hätte meiner Todfeindin Daianira beinahe alles verraten, was ich für mich behalten wollte, wenn da nicht das Seelenmedaillon und mein Halt zu ihm gewesen wäre, um mich gegen ihren Sanctuamater-Zauber zu stemmen. Wenn Roberta Sevenrock auf den Geschmack gekommen ist, aufmüpfige Mitschwestern als brave Töchter wiedergebären zu wollen, würde sie keine Probleme haben, dir alle Geheimnisse zu entreißen, indem sie dich durch erwähnten zauber gefügig stimmt. Mich kann man damit nicht mehr bezwingen. Denn mein neuer Körper ist so stark von Magie durchtränkt, daß der Unfall beim Duell mit Daianira mich nicht noch einmal ereilen kann. Aber dich oder deine anderen entschlossenen Schwestern könnte sie als Jungbrunnen und Quelle zuverlässiger Getreuer ausnutzen, wenn es etwas gäbe, was den Aufwand rechtfertigte."

"Ich bin garantiert nicht so eine Trollin, einen Infanticorpore-Fluch gegen einen schwarzen Spiegel zu schleudern", knurrte Beth. Da merkte sie, daß sie Anthelia gerade tödlich beleidigt hatte. Anthelia jedoch lachte überlegen und sagte:

"An und für sich müssen wir Daianira und mir dankbar sein, eine neue Methode der Verwandlung erfunden zu haben, wenngleich ich dieses Experiment nicht noch einmal durchführen möchte, selbst wenn es mich jetzt nicht mehr beeinträchtigen kann. Nachher werde ich zur Trägerin einer Gegnerin. Nein, wenn ich einem neuen Leben Einlaß in meinen warmen Schoß gewähre, dann will ich es so empfangen, wie es Mutter Natur allen Menschen und Tieren vorbestimmt hat. Außerdem will ich mir den dazu passenden Lebensspender gerne aussuchen." Sie lächelte bei dem Gedanken, daß sie nun, wo sie nicht mehr nur Naaneavargia war, vielleicht doch noch ans Ziel eines heimlichen Verlangens kommen konnte, über das sie jedoch keiner Mitschwester etwas sagte.

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Die Tage nach Halloween waren geprägt von der fieberhaften Suche nach denen, mit denen Watkins Leute früher beziehungen gepflegt hatten. Hierzu mußte Zachary Hinweise konstruieren, die auf diese Personen hindeuteten. Denn daß er vieles über Watkin aus den CIA-Akten hatte, durfte er nicht ausplaudern. Zudem durfte er als Bundesagent zwar gegen bundesweit gesuchte Verbrecher ermitteln, sie aber nur in seinem Zuständigkeitsgebiet jagen. Wenn sie sich in einem anderen Bundesstaat aufhielten, ging das die dortigen Kolleginnen und Kollegen etwas an. Wenn eine andere Niederlassung des FBI ihn jedoch anforderte, dann konnte er auch verreisen.

Am neunten November saß Zachary vor dem Fernseher in seinem Haus und sah einen Bericht aus dem wiedervereinigten Deutschland. Dort feierten sie den zehnten Jahrestag der Maueröffnung, ein Ereignis, daß auf die unzureichende Informiertheit des damaligen DDR-Pressereferenten zurückging. Ein Politiker der damaligen Regierungspartei aus dem Westen wurde gerade interviewt, was er seit der Maueröffnung und der Wiedervereinigung erlebt hatte, als das Telefon klingelte. Seine Privatnummer hatten nur sehr wenige Leute: Der chef des FBI New Orleans, ebenso der Chef der Stadtpolizei und der Polizeichef von Baton Rouge und seine Eltern, die jetzt unter einer Tarnidentität in Colorado lebten. Doch die durften ihn auf keinen Fall anrufen. Alarmiert drückte Zachary den Fernsehton weg. Das Geschwafel des Politikers langweilte ihn eh. Die hätten lieber einfache Leute von hüben und drüben der Mauer interviewen sollen, die, die die unblutige Revolution überhaupt angestoßen und zum Erfolg geführt hatten.

"Hallo", meldete sich Zach Marchand. Wer ihn anrief kannte ja eh seinen Namen.

"Sonderagent Marchand, hier Stanford von der Niederlassung Baton Rouge. Wir haben den Aufenthaltsort von Jeff Faulton alias Kobold bestimmt. Er hält sich in einem Haus am südlichen Stadtrand auf. Ich habe die Stadtpolizei und unsere Sondereingreiftruppe mobilisiert. Der Zugriff erfolgt um ein Uhr zweiundzwanzig nachts. Richtmikrofoneinheit bereits vor Ort. Wollen Sie bei Verhaftung und Verhör zugegen sein?"

"Kobold? Was macht der denn ausgerechnet in Baton Rouge?" fragte Marchand. Beinahe hätte er gesagt, daß laut CIA-Akten keine Verbindung zwischen den Helfern des sogenannten Colonels und der Hauptstadt Louisianas bestand. Doch eben diese Quelle durfte er um keinen Preis erwähnen.

"Sieht so aus, als wenn er eine konspirative Unterkunft einrichten will. Das Haus steht seit vier Jahren leer. Die Eigentümer konnten es nicht weiterunterhalten und fanden auch keinen Käufer dafür."

Mit dem Wagen brauche ich bei Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit anderthalb Stunden. Wenn ich mit Rotlicht und Sirene anrauschen darf eine Dreiviertelstunde", erwiderte Marchand darauf.

"Ich kläre das mit Ihrem direkten Vorgesetzten, daß ich Sie zwecks Identifizierung angefordert habe", sagte Stanford. So stimmte Marchand zu.

Fünf Minuten später hatte Wilberforce die Anforderung des Sonderagenten aus New Orleans bestätigt. Zachary bekam einen Einsatzwagen, der mehr als hundertzwanzig Meilen in der Stunde schaffen konnte. Mit diesem preschte Zachary Marchand über die Autobahn zwischen New Orleans und Baton Rouge. Um das Gebot der gegenseitigen Absicherung zu wahren begleitete ihn der Kollege Tim Parker, der bei der letzten beinahe in einer Katastrophe ausgearteten Zugriffsaktion fast von einer aus dem zu stürmenden Haus fliegenden MG-Garbe zu Hackfleisch verarbeitet worden war.

"Wenn das wieder 'ne Falle ist sollten wir mal drüber nachdenken, das Posse-Comitatus-Gesetz zur Debatte zu stellen", grummelte Parker.

"Die Beschränkung der Waffenfreizügigkeit würde schon was bringen, Parker. Aber unsere hohen Politiker trauen sich ja nicht, egal welcher Partei sie angehören. Die einen haben gute Freunde in der Flintensammlerloby, die anderen wollen ihre Wähler aus den auf ihre Selbstverteidigungsrechte pochenden Kreisen nicht einbüßen. Aber wir sollten uns echt so gut Panzern wie es geht", sagte Marchand dazu.

An der Ausfahrt Baton Rouge erwartete sie bereits einEinsatzwagen der Kollegen vor Ort. Zachary mentiloquierte mit Justine, ob sie gut mitgekommen war.

"Machst du Witze, Zach. Der Harvey schafft locker hundertsechzig Meilen oder zweihundertsechsundfünfzig Stundenkilometer, ganz wie du willst. Bren prüft gerade über die von dir und ihr eingerichtete Hintertür, ob die Virginia-Bauernjungen auch auf Kobolds Adresse aufmerksam wurden."

"Wenn Stanford die Erfolgsaussicht in das FBI-Netzwerk gefüttert hat auf jeden Fall", gedankenknurrte Marchand.

"Eh, Zach, träumst du?" fragte Parker besorgt. Zachary schüttelte den Kopf und erwiderte, daß er nur die Möglichkeiten überdacht hatte, die sie hatten.

"Entweder ist er's oder es ist mal wieder 'ne Falle. Mehr gibt's da nicht an Möglichkeiten", grummelte Parker. Zachary nickte.

Ohne Sirene und Warnlichter fuhren die beiden FBI-Wagen in den Süden von Baton Rouge. Die Straße, wo das Zielobjekt stand, erwies sich als allgemein heruntergekommen. In manchen Häusern fehlten die Fensterscheiben. Zwei vollkommen ausgebrannte Müllcontainer zeugten wie die entglaste Telefonzelle vom Zerstörungstrieb gelangweilter oder gewaltsüchtiger Mitmenschen. Zachary sah auf seine Uhr. Jetzt war es eine Minute nach halb elf.

"Er ist noch da drin", flüsterte ein Mann mit Kopfhörern, der ein Gewehrlaufartiges Ding auf das Haus gerichtet hielt.

"Und ihr seid euch ganz sicher, daß es Kobold ist?" wollte Zachary wissen. Er trug jetzt eine Schuß- und splittersichere Weste und einen verstärkten Helm. Daß er unter der Kleidung noch einen Drachenhautpanzer trug sah man nicht.

"Uns fehlt eine Stimmenprobe von ihm. sonst könnten wir es mit sicherheit sagen. Die Personenbeschreibung paßt jedenfalls", sagte Stanford, der wie Marchand in einer kugelsicheren Ausrüstung steckte. Zachary kannte Kobolds Stimme auch nicht. Aber wenn er ihn zu sehen bekäme würde er ihn anhand der CIA-Fotos erkennen. Er lieh sich kurz das Richtmikrofon eines auf das Haus lauschenden Kollegen. Er hörte das laute Brummen eines wohl schon betagten Kühlschrankes, das leisere Brummen von Neonlicht in einem Kellerraum, den er jedoch nicht von außen einsehen konnte und den rasanten Redefluß eines Sportreporters aus dem Fernsehen. Er hörte jedoch keine Geräusche, die von einem im Haus herumlaufenden oder werkelnden Menschen stammten. Das machte ihn Stutzig. Erst als er alle in seiner Reichweite sichtbaren Abschnitte des Hauses mit dem hochempfindlichen Horchgerät abgetastet hatte sprach er es aus:

"Also, jetzt ist niemand mehr in dem Haus, oder der muß sich so mucksmäuschen still verhalten, daß man denken muß, er sei tot. Wann war die letzte eindeutige Schallortung eines Menschen im Haus?"

"Vor zehn Minuten, Kollege", sagte der Agent, dessen Mikrofon Zach ausgeborgt hatte.

"Wenn er das Haus verlassen hätte, dann hätten wir das hören müssen."

"Warum brennt im Keller Neonlicht?" wollte Zach wissen.

"Dazu müßten wir rein und nachsehen. Es brennt da aber schon seitdem wir hier Posten bezogen haben", sagte der Lauscher im Dienst des FBIs.

"Wer hört menschliche Regungen im Haus außer das Geschnatter aus dem Fernseher?" wollte Zachary Marchand wissen. Die Mikrofontruppe lauschte minutenlang. Dann schüttelten sie alle die Köpfe.

"Zach, in dem Haus ist keiner mehr. Im Keller ist eine Tür, die in einen geheimen Stollen führt. An der Tür hängt was dran, wie auch innen an Fenstern und Türen. Vorsicht, Falle!" warnte Justine. Diese hatte wohl eine Neuerung auf dem Zauberwerkzeugmarkt benutzt, die den Mentijectus-Zauber größtenteils überflüssig machte. Das Durchblickfernrohr. Wenn sie dazu noch die Version mit Nachtsichtfunktion benutzte, konnte sie in stockdunkle Höhlen hineinsehen, solange die Decken nicht mehr als zehn Meter dick waren. Auf jeden Fall wußte Zach Marchand jetzt, woran er war. Aber er durfte den anderen nicht einfach sagen, was er jetzt wußte. Denn wie hätte er das alles herausfinden können? Er wolte erst noch einige Minuten warten, bevor er behaupten würde, daß Kobold, wenn er überhaupt im Haus gewesen war, nicht mehr im Haus war und statt dessen tückische Fallen auf jeden lauerten, der ins Haus hineinwollte.

"Da kommen zwei Müllabfuhrwagen auf eure Absperrung zu, Zach", vermeldete Justine nur für den Kollegen aus dem LI vernehmlich. Da kam auch schon die Funkmeldung, daß zwei Müllwagen auf die Absperrung zuhielten. Zach hatte das Gefühl, gleich zwischen zwei Fronten zu geraten. Vor ihm das leere Haus mit den Sprengfallen. Hinter ihm möglicherweise ein Rollkommando der CIA oder einer Mafia-Organisation. Falls zweites der Fall war, hatten die Kollegen hier oder auch in New Orleans einen Maulwurf im eigenen Garten.

"Das könnte die gleiche Sauerei werden wie in Houston", argwöhnte Zachary. Da ging der Tanz auch schon los.

Mit lautem Rattern preschten die Müllwagen auf die Sperre zu. Die dort postierten Polizisten versuchten die Fahrer mit ihren Signalkellen zum halten aufzufordern. doch diese ignorierten das rote Haltezeichen. Die Wagen krachten gegen die Sperren. Stanford erteilte Feuererlaubnis, da er von einem Entsatzversuch ausging, um Kobold aus der Umzingelung zu befreien. Doch die Müllwagen erwiesen sich als getarnte Panzerwagen. Die großkalibrigen MG-Geschosse prallten vom Führerhaus und dem Auflieger ab wie Flummis von einer Betonwand. Mehr noch: Die Müllwagen klappten auf jeder Seite Drillingsrohre aus und Spien Feuer daraus.

"Zugriff, wir stürmen das haus!" rief Stanford, der jetzt eine klare Entscheidung suchte. Zach wollte sich an ihn wenden, um ihm zu sagen, daß das Haus nur noch eine offene Mausefalle ohne Speck war, als die ersten schon in voller Schutzausrüstung losliefen. "Tim, bleib hier, das Haus ist mal wieder ein einziges Minenfeld. Da ist keiner mehr drin!" rief Zach seinem mitgefahrenen Kollegen zu. Dieser verhielt. Die ebenfalls zuhörenden Kollegen brachen ihren Lauf ebenfalls ab.

"Woher wollen Sie das so genau wissen?" blaffte Stanford den angeforderten Kollegen aus New Orleans an. Dieser blieb ganz ruhig und erwähnte, daß er schon bei mehreren solcher Aktionen zugesehen oder von ihnen gelesen hatte. Meistens war nach einer angeblichen Sichtung eines Mannes von Watkin nur ein mit Sprengstoff oder Selbstschußvorrichtungen gespicktes Haus vorgefunden worden. Sieben Kollegen hatten deshalb trotz Schutzkleidung ihr Leben verloren. Stanford verstand und kommandierte zum Rückzug auf sichere Posten. Die beiden voranstürmenden Kollegen prüften gerade auf Sprengfallen. Sie fanden außen jedoch keine Spuren davon.

"Ladung anbringen! Aus sicherer Entfernung zünden!" befahl Stanford. Einer der beiden Kollegen kam der Anweisung unverzüglich nach und heftete eine Sprengladung mit Zündkapsel und Fernzünder an. Dann liefen sie zu ihren Kollegen zurück, die mittlerweile neben der Schutzkleidung auch Schutzschilde einsatzbereit hielten. Zachary konnte seiner Drachenhautpanzerung vertrauen. Die würde die Kugeln und Splitter wie ein futuristischer Energieschirm weit genug vor dem Aufschlag abprellen. Nur um seine Ohren mochte er sich Sorgen machen, wenn das ganze Haus mit einem lauten Knall detonierte.

Die gezielte Sprengung der Tür führte jedoch zu keiner größeren Sprengung. Statt dessen quoll etwas aus der Tür hervor, das im Licht der nun eingeschalteten Scheinwerfer nebelhaft waberte. Also keine Spreng-, sondern eine Gasfalle. Zachary fühlte bereits das sanfte Vibrieren jenes winzigen Objekts, daß wie eine Verzierung seines Hemdkragens aussah. Eine Sekunde später ploppte es leise, und um Zachs Kopf entstand eine bläuliche Sphäre, in der er jedoch frischere Luft zu atmen bekam als sonst. Also ein giftiges Gas, dessen erste Spuren den Gasvorgreifer Quinn Hammersmiths sofort wachgekitzelt hatten. Zach sah, wie die Kollegen dem Brodem auswichen. Parker, der nur zwei Meter neben Zachary gestanden hatte, glotzte noch immer auf die glasartige Kugel, die Zachs Kopf wie ein übergestülptes Goldfischglas umgab. zach wußte, daß er den Kollegen nicht weitermelden lassen durfte, was dieser gerade beobachtet hatte. Er zückte aus dem für Muggelaugen eigentlich nicht sichtbarem Gürtelfutteral seinen Zauberstab und zischte: "Silencio!" Parker wollte gerade fragen, was Zach da machte, als ihm auch schon etwas über den Hals strich und er keinen Laut mehr von sich geben konnte. So schnell Zach seinen Zauberstab gezogen hatte, so schnell ließ er ihn auch wieder dort verschwinden, wo er ihn hergeholt hatte. Inzwischen quoll das Gas weiter aus dem Haus. Die ersten Kollegen gerieten ins Taumeln. Einige erkannten die Gefahr und stülpten Gasmasken über ihre Gesichter. Gerade noch rechtzeitig konnten sich zehn der dreißig angerückten Beamten gegen die heimtückische Nebelwalze absichern. Zachary hoffte, es nicht mit einem Kontaktgas wie Sarin oder Soman zu tun zu haben, daß auch über die Haut in den Körper aufgenommen werden konnte. Watkin war sowas durchaus zuzutrauen.

"Nur Gas! Wir gehen jetzt rein!" befahl Stanford. Er trug als einziger in der Nähe noch keine Gasmaske. Parker hatte sich von Zach eine Gasmaske aufsetzen lassen, die dieser aus seinem Einsatzrucksack hervorgeholt hatte.

Jetzt kamen aber auch die Müllwagen. Zachary ahnte, daß es eine Katastrophe geben würde, wenn die mit ihren Flammenwerfern schossen. Doch die durch niemanden aufgehaltenen Nutzfahrzeuge ratterten auf das Haus zu. Die Heckklappen flogen auf, und zwanzig mit Gasmasken und Schutzkleidung gesicherte Männer mit MPS entsprangen den Wagen. Sie eröffneten sofort das Feuer auf die Bundesagenten und Sondereinsatzkräfte. Diese nahmen die Kampfansage an und erwiderten das Feuer. Im Nu war die Luft voller schwirrender und sirrender Projektile. Zachary fühlte das Vibrieren seiner magischen Unterkleidung. Parker bekam Kugeln gegen den Schutzhelm, hielt dem Beschuß jedoch erst einmal stand. Zachary fürchtete jedoch was anderes. Er zog Parker schnell vom Haus weg. Da passierte es auch schon. Das Mündungsfeuer einer Waffe hatte Ausläufer des aus dem Haus wehenden Gases erfaßt und entzündet. Jetzt bestand akute Brand- und sogar Explosionsgefahr. Von einer Sekunde zur anderen flirrte ein bläulicher Flammenkranz um den Schützen, der das Gas in Brand geschossen hatte. Jetzt zündete die Giftwolke vollständig durch. Ein Feuerball blähte sich auf. Die Agenten und ihre schießwütigen Gegner wurden von der Druckwelle niedergeworfen. Mörderische Hitze strahlte vom Haus ab. Aus der Gaswolke war jetzt eine Feuerwalze geworden. Verpuffungen im Haus sprengten Teile der Wände weg. Weiteres Gas geriet in Brand. Wenn irgendwo im Haus noch etwas davon gestaut war, würde es bei der Zündung mit einem Schlag das ganze Haus abreißen. die Bundesagenten erkannten das. Aber ihre Gegner wähnten sich wohl unverwundbar und unentflammbar. Sie jagten auf die glühende Lohe zu, die das Haus mehr und mehr verzehrte. Sie wollten wissen, ob dort noch Sachen zu finden waren, die Aufschluß über den Verbleib des Colonels gaben. Die Agenten versuchten, einen oder zwei Leute aufzuhalten. Doch diese schossen um sich und trieben die Widersacher damit zurück.

"Gleich fliegt hier alles in die Luft!" rief ein Kollege Marchands. Parker, der immer noch unter dem Schweigezauber stand, um das mit der Kopfblase nicht zu verraten, rannte bereits auf eines der gepanzerten Fahrzeuge zu. MP-feuer hagelte auf ihn und die anderen Agenten ein. Warum begriffen diese Vollidioten nicht, daß sie in dem Haus nichts und niemanden mehr finden konnten? Diese Frage beschäftigte Zach Marchand, als ihm auffiel, daß Stanford und drei andere Agenten auf ihn zukamen. Er mußte die alle mit Gedächtniszaubern belegen, um sie vergessen zu machen, daß er gerade einen bläulich-durchsichtigen Kopfschutz trug.

"Zach, die drei da sind keine Menschen mehr", gedankenwarnte Justine Brightgate. Zachary hätte darüber fast einen falschen Schritt gemacht. Er sah die drei an. Stanford blickte Parker in die Augen. Die beiden anderen Kollegen gingen auf Zachary zu. Er sah, wie einer von ihnen dunkle Kontaktlinsen herausnahm. Jetzt konnte er die merkwürdig funkelnden Augen frei sehen und fühlte, wie etwas versuchte, seinen Willen zu lähmen. Sofort stemmte er sich dagegen und dachte an eine helle Sonne. Justine hatte ihm verraten, daß man damit den bannenden Blick eines Vampirs für zwei Sekunden zurückdrängen konnte. Die Erkenntnis, daß einer seiner Kollegen zu den Nachtkindern gehörte war erschütternd. Doch Zachary hatte in seinen beiden Berufen lernen müssen, erschütternde Wendungen schnell zu verkraften, um aktionsfähig zu bleiben. Da übergoß ihn etwas mit goldenem Licht. Es kam von oben und durchpulste seinen Körper mit wohliger Wärme. Wie es gekommen war, so erlosch das Licht wieder. Zachs unsichtbarer Schutzengel Justine Brightgate hatte ihn mit dem Segen der Sonne bezaubert und damit für vierundzwanzig Stunden für jeden Vampir unberührbar gemacht. Parker war gerade dabei, seine Schutzkleidung zu öffnen, wohl, um den ihn mit dem Unterwerfungsblick hypnotisierenden Blutsauger seinen Hals zum Reinbeißen darzubieten. Zachary zog den Zauberstab.

"Per Solem benedico!" rief er. Goldenes Licht flammte aus dem Zauberstab und hüllte Parker ein, der wie von einen Stromstoß getroffen zusammenfuhr und die Augen weit aufriß.

"Und du entwischst uns nicht!" Rief Stanford Zachary zu. Dieser zielte bereits auf Stanford. Daß der jetzt auch ein Vampir war war eine brandgefährliche Wendung für ihn und das ganze FBI. Zachary mußte die drei festnehmen und verhören, wer noch von Lamias dunklem Keim verändert worden war.

"Pax Lunarum!" rief er, wobei er auf den Vampir zielte, der bis gerade eben noch als Direktor der FBI-Niederlassung Baton Rouge gegolten hatte. Silbernes Licht flirrte aus Zacharys Zauberstab und hüllte den Nachtsohn ein. Damit war dieser jetzt für eine Stunde gelähmt. Der zweite Vampir wollte an Zach heran. Doch die diesem aufgeprägte Kraft des Sonnensegens trieb ihn zurück, bevor er zutreten konnte. Auch ihn erwischte der Mondfriedenszauber. Der Vampir, der Parker überwältigen wollte suchte sein Heil in der Flucht. Er rannte im Zickzack davon, schneller als jeder Spitzensportler.

"Zehn Normalmänner von Links, Zach, kommen durch Kanalschacht hoch!" warnte Justine Zachary. Dieser peilte, wo der Kanalschacht war und deutete auf den noch verschlossenen Deckel: "Colloportus!" rief er, während um ihn herum Feuer und Geschosse tobten. Er hörte es nicht und sah auch nichts. Doch er wußte, daß der Deckel nun mit dem Rahmen der öffnung fest verbunden wurde. Selbst ein Vampir würde den so nicht mehr aufstemmen. Um sicherzustellen, daß kein Vampir den Deckel anfassen konnte legte er noch mit "Per Solem benedico!" einen Sonnensegen darauf. Jetzt war der Deckel für einen Vampir unberührbar.

"Gut, die hast du wohl da unten festgesetzt. Aber ich sehe in zwei Kilometern einen unbeleuchteten Hubschrauber. Irgendwer will hier wohl eine ausgewachsene Feldschlacht vom Zaun brechen."

"Verstärkung angefordert?" gedankenfragte Zach.

"Schon unterwegs", kam die Antwort. Aus dem Funkgerät Stanfords klangen erregte Anfragen, weil die Sondereinsatztruppe von denen aus den Müllwagen in Bedrängnis gebracht wurden. Zach griff nach Stanfords Funkgerät. Der gebannte Vampir zitterte wild und fletschte die Zähne. Doch als Zach ihn nur leicht anstupste krümmte er sich wie vom Blitz getroffen zusammen.

"Hier Sonderagent Marchand. Direktor Stanford ohnmächtig! Rückzug vom Haus empfohlen! Keiner mehr da, für den es lohnt, sich umbringen zu lassen!" rief Zachary Marchand in das Mikrofon. Dann prasselten goldene Lichtentladungen über die noch stehenden FBI-Agenten herein und erfüllten sie mit demSegen der Sonne. In dem Augenblick brach das Haus zusammen. Eine Flammenwolke entfuhr dem einstürzenden Haus. Von den Männern mit den MPs überlebte das keiner. Wie hatten die auch glauben können, da unversehrt reingehen zu können?

"Hubschrauber im Anflug!" gedankenrief Justine.

Zachary wollte gerade was sagen, als Parker auf ihn zusprang. In Seinen Händen hielt er Handschellen. Er versuchte verzweifelt, einen Laut von sich zu geben. Doch es gelang nicht. Er packte den gebannten Vampir, der ihn mit seinem Blick unterwerfen wollte. Dieser schüttelte sich wie unter einer Serie von Elektroschocks. Der Agent ergriff die Handgelenke des Blutsaugers und legte ihm die unaufbrechbaren Ringe um die Handgelenke. Zachary wollte ihm schon sagen, daß er damit nicht viel ausrichtete, als es passierte.

Unvermittelt und ohne jede Vorwarnung schlugen blaue Flammen aus dem Körper des gerade gefesselten Vampirs und formten innerhalb eines Lidschlages eine mannshohe Säule, die wie eine gigantische Kerzenflamme wirkte. Parker, der den Festgenommenen noch hielt, geriet in das blaue Feuer hinein und wurde von diesem eingeschlossen. Zach starrte schreckensbleich auf den Vorgang. Der Vampir und der FBI-Agent zerliefen im blauen Feuer wie Fett in der heißen Bratpfanne. Zachary kannte diesen tückischen Zauber und wußte, daß Parker nicht mehr zu retten war. Doch auch die beiden anderen Vampire wurden zu blauen Flammensäulen. Zach schaffte es gerade noch rechtzeitig, den ausgreifenden Flammenzungen zu entgehen. Hätte auch nur eine ihn getroffen, wäre auch sein Leben verloren gewesen. Stanford und der zweite vammpirisierte Agent zerschmolzen im blauen Feuer und vergingen ohne jeden Überrest. Wenige Sekunden nach dem Ausbruch des blauen Feuers fielen die drei Flammensäulen wieder zusammen. Auf dem Boden waren nur noch große Brandflecken zu erkennen.

"Der Hubschrauber hat ein Netzt, Zach. Sieh zu, daß du wegkommst!" gedankenrief Justine. Zachary sah den Hubschrauber, der ohne Beleuchtung heranknatterte. Einige der noch stehenden Agenten fragten über Funk an, wer die pechschwarze Maschine geschickt hatte. Doch zur Antwort bekamen sie MG-Feuer.

"Die haben einen echten Armeekampfhubschrauber klargemacht", gedankenseufzte Zachary Marchand und rannte los, um Deckung zu Suchen. Das Feuer aus der Bordkanone war selbst für die Schutzausrüstung der Polizisten und Bundesagenten zu viel. Schließlich war die Munition zur Bekämpfung von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen entwickelt worden. Die Feuerrate lag auch weit über dem, was die Agenten mit ihren Waffen aufbieten konnten. Zwar bekam der Helikopter noch einige Stahlmantelgarben aus den MPs der Agenten ab. Doch die schüttelte der ab wie ein Hund das Wasser. Jetzt sah Zachary auch das Netz, das unter der Maschine hing. Er sah, wie der Helikopter auf ihn zuhielt. Ihn nahm der Bordschütze jedoch nicht unter Feuer. Offenbar sollte die Besatzung ihn einfangen und verschleppen. Zachary jagte den Segen der Sonne auf die Maschine. Sie kam ins Schlingern. Doch nur für eine Sekunde. Dann griffen wohl die grobgestrickten Notsysteme. Der Pilot hielt weiter auf Zachary zu. Das Netz senkte sich. Vier Kollegen, die aus einer scheinbar sicheren Stellung heraus auf den schwarzen Drehflügler feuerten, fielen unter einem massiven Gegenstoß aus der Bordkanone. Die Panzerbrechenden Geschosse räumten gnadenlos alles aus dem Weg, was nicht mit zolldicken Panzerplatten geschützt wurde. Die Schutzschilde splitterten. Die Anzüge gingen in Fetzen. Zach wollte nicht hinsehen, wie seine Kollegen grausam niedergemetzelt wurden. Ihn interessierte, wer in der Maschine saß. Vampire waren es jedenfalls nicht. Der Sonnensegen hatte wohl nur die empfindliche Elektronik aus dem Tritt gebracht. Doch der Helikopter konnte weiterfliegen und sogar feuern.

"Mann, Zach, mach dich endlich weg!" peitschte Justines Gedankenstimme durch seinen Kopf.

"Wie soll ich dann erklären, daß ich als einziger überlebt habe?" Fragte der Agent.

"Erledigen wir. Weg jetzt!" erscholl Justines sehr ungehaltene Gedankenantwort. Zachary zielte auf das gerade über ihm ausgeworfene Netz und rief "Diffindo maxima!" Das Netz riß auf. Dann erst disapparierte Zachary Marchand. Für seine Kollegen hatte er sowieso nichts mehr tun können.

Als einziger war er auf die Apparitionsabwehr seines Hauses abgestimmt. So konnte er durch den Schutzwall hindurch, der sonst jeden schmerzvoll zurückwarf.

"Wir stellen es so hin, daß alle bei dem Einsatz umkamen und du nicht angefordert wurdest, Zach", mentiloquierte Justine. Zachary verstand. Er war niemals an dem Haus von Baton Rouge. Wer überlebte, würde gedächtnismodifiziert. Die Aufzeichnungen der Funkgespräche würden genauso gelöscht wie die Protokolle in den Rechnern. Wilberforce bekam wohl auch schon Besuch von einem Laveau-Mitarbeiter oder einem offiziellen Vergissmich des Ministeriums.

Er hockte noch einige Minuten in einem Wohnzimmer. Die Muggelweltschutzausrüstung hatte er einfach im Nichts verschwinden lassen. Der Gasvorgreifer hatte die Kopfblase längst wieder zurückgezogen. Er konnte sie jedoch bei neuerlichem Giftgas in der Luft sofort wieder freisetzen. Zachary hörte immer noch das Krachen und Schwirren, knattern und Sirren der Auseinandersetzung, sah Stanford als Vampir und dann wie Tim Parker im blauen Schmelzfeuer vergehen. Nocturnia hatte einmal mehr auf sehr grausame Art gezeigt, wie menschenfeindlich es war. Aber immerhin wußte Zachary nun, daß es Vampire gab, die im Augenblick ihrer Gefangennahme im Schmelzfeuer verbrannten. Somit war es gleichbedeutend mit Selbstmord, einen Nocturnianer festzunehmen. Wie war dieser Brut dann beizukommen? Sicher waren längst nicht alle Vampire mit dem Schmelzfeuerfluch behaftet. Aber wenn Lamia nur die ihr treu ergebendsten gegen ihn losschickte, dann bekam er wohl auch jene gegen sich, die mit diesem Vernichtungszauber gespickt waren. Wollte Nocturnia ihn immer noch als Bürger, oder ging es den Vampiren nur noch darum, ihn endgültig zu töten? Ein erschreckender Gedanke ließ ihn zusammenfahren. Wenn Nocturnia einen FBI-Direktor in seine Reihen zwingen konnte, dann kamen diese Langzähne auch an die geheimen Akten ran. Seine Eltern waren einmal mehr in Lebensgefahr, wenn die Blutsauger nicht danach trachteten, sie zu Ihresgleichen zu machen.

als er die kurze Lähmung endlich abschütteln konnte, die diese Erkenntnis ihm bereitet hatte, ging er an seinen Rechner und wählte sich über die Hintertür in die geheimen Datenbänke seiner Behörde ein. Er suchte nach den Pseudonymen seiner Eltern. Bevor Nocturnia an die Akten ging und ihm den schmerzhaftesten Schlag seines Lebens versetzte, mußte er seine Eltern in Sicherheit bringen.

Zehn Minuten später disapparierte Zachary aus dem Haus.

Auch Bren Brightgate hatte dieselbe Idee gehabt, als ihre Cousine Justine drei FBI-Agenten als Neubürger Nocturnias identifiziert hatte. sie rief über ihren tragbaren Rechner über zehn Relaisstationen die FBI-Zeugenschutzdateien auf und holte sich die Informationen. Dann ließ sie das Rückverfolgungsabwehrprogramm ihre Datenspuren löschen und apparierte mit geschultertem Harvey-Besen nach Denver, wo die Marchands unter dem neuen Namen Mr. Jonathan Woodman und Mrs. Sally Woodman geb. Parson wohnten. Sie wunderte sich kein bißchen, ihren Kollegen Zachary Marchand vorzufinden, der gerade das Haus auf mögliche Fallen überprüfte. Zwei Menschen waren darin. Sie befanden sich in einem Schlafzimmer. Brenda hatte ein verkleinertes Schallansaugrohr dabei, die magische Entsprechung eines Richtmikrofons. Damit hörte sie das Haus ab wie ein Arzt mit seinem Stetoskop einen Patienten. Sie hörte ein zweistimmiges Schnarchkonzert. Zachary prüfte nach und mußte wider die ernste Lage grinsen. So schnarchten nur seine Eltern. Er mentiloquierte, daß man beim FBI und der CIA auch mal an eine Geräuschdatenbank denken sollte, die die Schlafgeräusche von Menschen speicherte.

"Hat's sicher bei der Stasi in Ostdeutschland auch gegeben, wenn die sogar Ohrabdrücke und Geruchsproben gesammelt und zugeordnet haben", gedankengrummelte Brenda. Dann wollte sie von Zachary wissen, wie sie jetzt vorgehen sollten.

"Für eine Absicherung gegen Vampire müßten wir einen Sonnenwall aufbauen. Wäre zu Auffällig. Am besten ist, wir bringen meine Eltern schlafend in das sichere Haus und halten sie da im Zauberschlaf. Dann frisieren wir die Akten und Gedächtnisse aller Muggel, die ihr Überleben mitbekommen haben. Wir müssen davon ausehen, daß eine magische Macht sich ihrer bemächtigen will, um an mich heranzukommen", gedankensprach Zachary Marchand. Denn der Angriff Nocturnias auf das FBI in Baton Rouge - anders konnte er die Umwandlung von Stanford und zwei seiner Agenten nicht nennen - legitimierte das LI nun, mit magischen Gegenmaßnahmen vorzugehen und sich nicht an die Beschränkung bei Muggelweltermittlungsverfahren halten zu müssen.

"Moment, Just meldet bereits anfliegende Vampire aus West, Ost und Nord. Sie fliegt mit ihrem Harvey in zweitausend Metern Höhe über uns", gab Brenda eine Gedankenbotschaft ihrer Cousine weiter, die auch hier als alles überblickender Schutzengel mit unsichtbarem Fluggerät fungierte.

"Okay, dann machen wir es ganz radikal. wie ging noch mal der Facsimicorpus-Zauber?"

"Hat man den dir noch nicht beigebracht?" flüsterte Brenda. "Okay, ich mach den, wenn ich genug Haar oder Nagelsplitter von deinen Eltern kriege."

"Dann ganz schnell rein", grummelte Zachary und ergriff Brendas Hand. Mit ihr zusammen apparierte er direkt im Schlafzimmer. Bevor die im Bett liegenden Eheleute richtig zur Besinnung kamen, bewegungsbannten Zach und Brenda sie auch schon. Dann schnitt Brenda der Frau alle Finger- und Fußnägel soweit ab, daß die Fingerkuppen und Zehenspitzen gerade noch bedeckt waren und schnitt ihr die Haare bis zur Kopfhaut herunter. Zach stand dabei und konnte nur zusehen, wie seine Kollegin die Arbeit einer HochgeschwindigkeitsFriseurin und Nagelpflegerin erledigte. Sein Vater besaß nicht viel Kopfhaar zum abschneidn. Dafür war dessen breite Brust mit einem stolzen Wald aus Haaren verziert. Brenda fackelte nicht lange und wirkte den Alopetius-Fluch, der da wo er traf zu sofortigem Haarausfall führte. "Das beeinträchtigt den PN-Zauber nicht, wenn die Haare magisch vom Kopf gelöst wurden", erklärte sie und sammelte die abgefallenen Kopf- und Brusthaare mit dem Accumulus-Zauber auf einen Haufen zusammen. Zachary erkannte, daß er hier noch eine Menge Nachholbedarf in angewandter Zauberkunst hatte. Ihm oblag es, die Vorbereitungen für einen bombastischen Abgang zu Treffen. Das Haus wurde nur von den Woodmans bewohnt. Die für sie zuständigen Wachen wohnten in den Nachbarhäusern. Ungesehen und dank Lautloslaufschuhen auch unhörbar eilte er durch das Haus in den Keller und drehte den Haupthahn der Gasleitung auf.

"Vampire im Anflug auf euren Standort! Macht hin!" trieb Justine ihn und wohl auch Brenda zur Eile.

"Wenn die Schutzmannschaft das Haus verwanzt hat, um ungewöhnliche Geräusche zu hören, könnte es gleich sehr eng werden", schickte Zach an die fliegende Aufpasserin zurück.

"Die Blutsauger verteilen sich. Fünf fliegen das linke, fünf das rechte Nachbarhaus an. Ich denke, die wollen die Schutzmannschaft ausschalten, um deine Eltern entweder einzubürgern oder erstmal nur zu verschleppen", gedankensprach Justine.

"So, bin fertig", klang Brendas Stimme auf einmal in Zachs Ohren, als habe er unsichtbare und völlig gewichtslose Kopfhörer aufgesetzt. Das war der Vocamicus-Zauber, der Wörter nur für die hörbar machte, die sie auch hören durften.

Zachary apparierte wieder im Schlafzimmer. Auf dem Bett lagen zwei Personen in Nachtkleidung. Doch sie atmeten nicht. Es waren die Leichen von Mr. und Mrs. Woodman.

"Jetzt habe ich nicht gesehen, wie du den gemacht hast", gedankensprach Zach zu Brenda. Diese nickte und deutete auf ihre Handtasche. "Die O-Körper sind da drin. Raus hier!" Zachary nickte und lief in die Küche, um den Gasherd aufzudrehen, ohne ihn zu entzünden. Dann hielt er den Zauberstab gegen den Toaster und flüsterte "Retardo incendio!" Dabei dachte er an die Zahl 600. Er kehrte schnell in das Schlafzimmer zurück.

"Sie landen gerade vor dem Haus. Raus hier!" melote Brenda und ergriff Zachs freie Hand. Wieder Seit an Seit disapparierten sie.

Weit genug von den drei Häusern fort saßen er und Brenda auf dem mitgebrachten Besen auf und stiegen nach oben. Unsichtbar flogen sie erst in einer engen Spirale höher und höher, bis sie mehr als eintausend Meter über Grund waren. Dann steuerte Brenda den Besen auf das Haus zu. Justine flog einhundert Meter weiter über ihnen. So vermieden sie es, unabsichtlich miteinander zusammenzustoßen.

"Die Kollegen könnten eingebürgert werden, wenn wir das nicht verhindern", wisperte Zach.

"Verstärkung ist schon vor Ort. Die beiden Nachbarhäuser werden von unseren Vampirjägern umstellt", erwiderte Brenda darauf. Zachary konnte sehen, wie es unten golden blitzte und silbern leuchtete. Ja, die LI-Truppe war sehr schnell dabei. Innerhalb von einer Minute hatten sie die die Häuser angreifenden Vampire kampfunfähig und die Häuser selbst für weitere Blutsauger unbetretbar gemacht. Dann erfolgte der blitzschnelle Rückzug per Disapparition. Denn Brenda hatte ihren Kollegen per Vocamicus-Zauber die verbleibende Frist bis zum Zünden eines Feuers in der Küche gemeldet. Noch fehlten sieben Minuten bis zur Zündung. Die Vampire wurden als vom Mondfrieden gebannte oder vom Sonnensegen geschwächte Feinde vor den Türen gelassen. Einige verglühten im blauen Schmelzfeuer. Zwischen den Häusern wurden silberne Schutzmauern hingezaubert. Ein großflächiger Schlafzauber betäubte die Schutzmannschaften, die gerade auf dem Weg waren, ihren Schützlingen beizustehen. Zachary wartete mit Brenda und Justine in sicherer Höhe und großem Abstand auf den Paukenschlag, der das Kapitel Woodman schließen sollte. So war es noch besser, fand Zachary. Man würde echte Leichen finden. Nur ein magischer Pathologe wie der in Erfüllung seiner Pflicht gestorbene Mr. Patch hätte die Scheinleichen von natürlichen Toten unterscheiden können. Facsimicorpus konnte aus genug abgestorbenem Körpermaterial perfekte Kopien der Originale machen, allerdings eben mit dem Unterschied, daß die Kopien ohne Leben waren. die Erfindung dieses Zaubers war ein Nebenprodukt aus der erfindung des Vielsaft-Trankes, den ein dunkler Magier im neunten Jahrhundert entwickelt hatte.

Die letzten Sekunden verrannen in völliger Lautlosigkeit. Dann barst das Küchenfenster. Eine Flammengarbe fuhr weißblau in die Nacht. Das Haus geriet ins Taumeln und brach auseinander. Eine Feuerwolke quoll aus den davonwehenden Trümmerstücken heraus. Das im Keller und der Küche gestaute Gas hatte sich mit der verbliebenen Luft zu einem hochexplosiven Gemisch entwickelt. Die noch vor dem Haus gebannten Vampire gerieten voll hinein in das von Menschen gemachte Inferno.

"Tja, das wird so hingestellt, als wenn jemand von unten her ins Haus eingedrungen ist und die beiden Bewohner im Schlaf umgebracht hat, um dann das ganze Haus mit lautem Knall warm abzureißen. Jedenfalls hatte Nocturnia auf diese Weise wieder zwanzig Bürger weniger.

"Wir müssen unbedingt rauskriegen, ob die vom Vampyrogen verseuchten Menschen wieder zurückverwandelt werden können. Sonst kriegen wir arge ethische Probleme, wenn wir tausende von denen umbringen müssen", meinte Zachary, als er als Brendas Sozius unsichtbar über das aus dem Schlaf geschreckte Denver hinwegflog. Die Gasexplosion würde morgen wohl in allen Nachrichtensendungen erwähnt. Daß es ein Anschlag war würde das FBI wohl tunlichst vertuschen und dann nach dem Maulwurf im eigenen Garten zu suchen. Zachary war klar, daß das für seine Muggelweltanstellung große Schwierigkeiten bedeuten würde.

Wieder zurück in seinem Haus verfolgte er die Berichte über die Feiern zum zehnjährigen Jubiläum des Berliner Mauerfalls weiter. Er dachte daran, daß Leute wie er und die Brightgates über das Glück und den Frieden vieler Menschen zu wachen hatten und dafür immer wieder in den Schlund der Hölle blicken mußten. Seine Eltern waren von Brenda vor dem sicheren Haus zurückverwandelt und in tiefen Zauberschlaf versenkt worden. Sie konnten nun ein Jahr unbehelligt ruhen, ohne Angst vor körperlichen oder seelischen Schäden haben zu müssen. Von außen kommende Flüche oder Spürzauber prallten an der vielfach gestaffelten Abwehrmagie ab. Offiziell waren seine Eltern schon tot. Konnte er sie jemals wieder in ein normales Leben zurückführen?

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Don Vittorio hatte sich eine ganze Woche lang wie auf Wolke sieben schwebend gefühlt. Er hatte die Danielli-Sippe enthauptet, ja sogar den designierten Nachfolger gleich mit erledigt. Ihm war es gelungen, die Reste der weit verstreut lebenden Sippschaft kleinzuhalten, die meinten, ihn des Mordes an ihrem Oberhaupt bezichtigen zu müssen. Einmal hatte er einen Spezialisten für endgültige Lösungen bemühen müssen, Rico Danielli, einen Neffen Don Adones, aus einem fahrenden Schnellzug springen zu lassen. Er war jetzt oben auf. Wenn er aus dem Fenster sah, konnte er nur eine rußschwarze Mauer sehen, hinter der noch ein hoher Trümmerberg emporragte. Keiner hatte geahnt, daß er drei US-amerikanische Marschflugkörper vom Typ Tomahawk in seinen Besitz gebracht hatte. Zwar suchte der Marinegeheimdienst der Amerikaner nach diesen Waffen, und auch die CIA war daran interessiert, wer sich da so verzählt hatte, daß drei Marschflugkörper weniger in den Depots waren, als aufgelistet waren. Gut, jetzt war ein Marschflugkörper von einem Fischerboot aus abgefeuert worden. Das Boot war eine Minute nach dem Abschuß von einem handzahmen Taucher per Sprengladung versenkt worden. Der Taucher war unter Wasser an Bord seiner dreißig Meter langen Luxusyacht "Stella Victoriae" gegangen. Niemand hatte den Raketenangriff mitbekommen. Zumindest ging er bis zu diesem Tag davon aus. Dann landete ein dicker Umschlag in seiner Post. Bruto, der hauseigene Sprengstoffhund, hatte keine verräterische Substanz gewittert. Die Geigerzähler hatten keine Strahlung angezeigt. Das Röntgengerät hatte auch keine Kapsel oder irgendwas pulverartiges nachweisen können. In dem Umschlag steckten zwei Fotos. Das eine zeigte das Fischerboot mit der abschußbereiten Rakete in Großaufnahme. Das zweite zeigte den Marschflugkörper kurz vor dem Einschlag in die Villa Luna. Dabei lag ein Brief:

Da Sie Ihren großen Widersacher nun los sind, und da Sie offenbar über genügend Geldmittel verfügen, eine derartige Waffe zu erwerben, wird es Ihnen sicher ein leichtes und zudem eine Erleichterung sein, eine Verdienstausfallsentschädigung für die trauernden Witwen von Herrn Huan Seng und Herren Bao Lu zu entrichten, die in unschuldigem Vertrauen, in Ihren Räumlichkeiten zu keiner Zeit in Gefahr zu schweben, der unzureichenden Wartung der von Ihnen betriebenen Gerätschaften zum Opfer fielen.

In Respekt vor Ihrer kostbaren Zeit möchten wir in aller Bescheidenheit anfragen, ob es Ihnen unangenehm sein wird, sich mit mir und meinen demütigen Diener Tao Lu auf halbem Wege zwischen Ihrer anmutigen Insel und der von der Weltgeschichte häufig begüterten Insel Malta zu treffen. Wir schlagen Ihnen als Zeitpunkt den fünften November 1999 und als Uhrzeit 20.00 Uhr vor. Die genauen Koordinaten entnehmen Sie bitte dem beigefügten Auszug der Karte des Mittelmeerraums mit den Zielkoordinaten. Wir hoffen, daß Sie unser ehrenvolles Ansinnen, zwei unverschuldet um ihre Männer und ihre Existenz gebrachten Frauen zu einem würdevollen Leben zu verhelfen, mit der gleichen Ehrerbietung und Freude entgegensehen.

Wang Li Feng

"Diese verdammten Chinaleute haben Satellitenaufnahmen von dem Tomahawk ergattert", knurrte Pontebianco, als er mit seinem neuen Stellvertreter Adelmo am Abend des vierten November zusammensaß.

"Sollen das Satellitenbilder sein?" Fragte Adelmo und besah sich die beiden kompromitierenden Fotos. Irgendwie hatten sie es hinbekommen, daß die Kennung des Marschflugkörpers mit guten Vergrößerungsgläsern zu erkennen war. Natürlich konnte er jetzt hingehen und behaupten, es handele sich um eine Fälschung. Doch erst vor zwei Tagen hatten Bergungstrupps Metallteile aus den Trümmern geholt, die Aufschluß über die Explosionsursache geben mochten. Sollte sich herausstellen, daß sie von einer Fernnlenkwaffe stammten, würde jeder Militärgeheimdienst der Welt auf Touren kommen. Wenn die Chinesen dann in aller Bescheidenheit ihre unwürdigen Weltraumsatellitenbilder ins Spiel brachten, brauchten die Geheimdienste nur zwei und zwei zusammenzuzählen. Dann hatte er neben den Chinesen auch noch die Spür- und Bluthunde der US-Regierung am Hals. Zu viele Jäger waren auch für den schlauesten Fuchs tödlich. Es galt also, nachzuprüfen, woher die Chinesen genau die Bilder hatten, wie viele es überhaupt davon gab und dem weißen Lotos wohl oder übel die erwähnte Verdienstausfallsentschädigung zu zahlen, egal, ob die beiden Chinesen Angehörige hatten oder nicht. Erpressung, etwas, mit dem er sich ja auch sehr gut auskannte. Er wußte aber auch, daß Erpresser immer wieder auf ihre Opfer zugingen, um das teuer erkaufte Stillhalten auch weiterhin zu pflegen. Das waren regelrechte Geldvampire, die alles aus einem heraussaugten, was an Geld in einem drinsteckte.

"Wir fahren dahin, mit der "Stella Victoriae". Daß die ein Schnellboot im Kleid einer Luxusyacht ist wissen ja nur wir."

"Und wenn die Tsching-Tschongs nicht genug haben?" Fragte Adelmo seinen Capo besorgt. "Am Ende müssen wir denen noch Tribut zahlen."

"Die wissen genau, warum die sich nicht auf heiliger sizilianischer Erde mit mir treffen wollen, Adelmo. Die wissen, daß ich sie hier locker wegen was auch immer verhaften lassen kann. Aber wenn ich die Möglichkeit kriege, nach Huan Seng noch Wang feng kennenzulernen, warum nicht auch das positive abgewinnen. Immerhin habe ich die Daniellis aus dem Weg geschafft. Jetzt kann ich mit den Campestranos über das neue kasinohotel in Vegas konferieren. Dann noch einen Arm nach China ausstrecken macht sich da sicher gut." Adelmo mußte das wohl zur Kenntnis nehmen, wenngleich er wußte, daß sein Anführer wußte, daß das wohl so nicht klappen würde. Die Chinesen waren wütend. Der Brief hatte es erwähnt, daß sie sich entehrt fühlten, weil jemand ihr Vertrauen mit Füßen getreten hatte. Die meisten Asiaten, Chinesen, Japaner und Koreaner, stellten die Ehre über alles andere und konnten trotz anerzogener Höflichkeit und Geduld sehr wütend werden, wenn ihnen jemand ihre Ehre verletzte. Adelmo sah sich schon in einer blutigen Schlacht mit den Kriegern des weißen Lotos.

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Beide seiten wußten, daß die jeweils andere gute Mittel in Händen hatte, der jeweilig feindlich auftretenden Seite entgegenzuwirken. Daher trafen sie sich ja auch auf neutralem Boden, der See zwischen Malta und Sizilien. Die "Stella Victoriae" war eine schnittige Yacht von dreißig Metern länge. Keiner sah ihr von außen an, daß sie eine Unterwasserschleuse und zwei zusätzlich ausfahrbare Schrauben besaß, die über zwei zuschaltbare Turbomotoren dem Schiff eine Höchstgeschwindigkeit von 50 Knoten, also 90 Stundenkilometern für etwa zwei Stunden verleihen konnten.

Wang li Feng war für seine chinesische Abstammung sehr groß und trug einen maßgeschneiderten Anzug, zu dem auch eine Seidenkrawatte gehörte. Er saß Don Vittorio in dessen Luxuskajüte gegenüber und hörte sich die von dem Pontebianco-Patriarchen vorgebrachte Entschuldigungsarie an. Dann kam der Sizilianer auch zum eigentlich wichtigen Punkt.

"Ich bin bereit, den Witwen der so vorzeitig aus ihrem ehrbaren Leben gerissenen Mitarbeiter von Ihnen jeweils vier Millionen US-Dollar in Platinbarren zu zahlen und möchte Ihnen zusätzlich noch eine Million in selber Währungseinhheit übergeben, wenn ich im Gegenzug dafür sämtliche Aufnahmen erhalte, die das Zusammenbrechen der Villa Luna dokumentieren, inklusive der Negative natürlich."

"Ich denke, die beiden ehrbaren Mitarbeiter hätten in den folgenden vierzig Jahren sicher einen beachtlichen Lohn verdient", entgegnete Wang. Er gab dann echte oder aus dem Hut gezogene Gehaltsgrößen an, die ergaben, daß die beiden Männer zusammen fünfzehn Millionen US-Dollar erwirtschaftet hätten. Pontebianco verzog das Gesicht. Er hatte mit Nachverhandlungen und auch einer höchst unbescheidenen Gier der Chinesen gerechnet. Doch derartig hoch über sein Angebot zu gehen war schon dreist. Er erwähnte, daß das Finanzamt sicher fünf Millionen davon an Steuern einbehalten hätte, wenn nicht sogar sechs Millionen. Wang war sich aber seiner Sache offenbar so sicher, daß er lächelte.

"Wir haben sehr günstige Konditionen mit unserer Regierung aushandeln können. Der von Ihnen erwähnte Abzug an Steuern beläuft sich höchstens auf zwei Millionen US-Dollar. Aber wenn Sie meinen, Ihnen sei das Leben zweier unschuldiger Frauen nicht das wert, was deren Männer hätten verdienen können, so werde ich wohl bedauerlicherweise verkünden müssen, daß wir nicht ins Geschäft kommen. Vielleicht interessieren sich andere Stellen dafür, eine verlorengegangene Rakete zu kaufen oder zu wissen, wo sie zuletzt gesehen wurde. Mein Angebot steht: Fünfzehn Millionen US-Dollar für die trauernden Witwen, oder jemand anderes wird sich wohl um diese beiden kümmern."

"Und die Fotos? Wenn ich das bezahle, dann möchte ich auch die ganzen Fotos und Negative haben", grummelte Vittorio.

"Das mit den Fotos liegt zu meinem größten Bedauern nicht in meiner Zuständigkeit. Ich kann daher nicht über sie verfügen, geschweige denn festlegen, wie kostenintensiv die Aufwandsentschädigung zu sein hat."

"Natürlich", grummete Pontebianco verbittert. "Dann nennen Sie mir bitte den, der für die Fotos zuständig ist, damit ich mit diesem direkt verhandeln kann!"

"Dessen Namen darf ich aus Gründen unseres ehernen Betriebsgeheimnisses nicht preisgeben", kam Wang ihm damit, daß er den Mann für die Satellitenbilder nicht verraten würde. Don Vittorio spielte mit dem Gedanken, den Chinesen und seine drei Leibwächter zu betäuben und dann zu foltern, bis er die Namen oder den Aufbewahrungsort hatte. Wang schien das zu merken und sagte schnell:

"Außerdem drängt meine Zeit. Wenn ich in fünf Minuten nicht auf unser Schiff zurückkehre, so müssen meine Partner davon ausgehen, daß ich einem bedauerlichen Unfall zum Opfer fiel und werden zusehen, meine Hinterbliebenen abzusichern, was auch heißt, daß die Fotos meistbietend versteigert werden."

"Ich kenne nur einen Bieter, der diese bilder kaufen würde", erwiderte Don Vittorio. Wang lächelte ihn an und erwähnte, daß es sicher noch zwei weitere gebe, die sich für den Verbleib echter Marschflugkörper aus Marinebeständen interessierten. Immerhin seien andere nicht nur daran interessiert, sie zu finden, sondern auch, sie zu erwerben, um sie zu untersuchen. Pontebianco merkte jetzt, daß sein Enthauptungsschlag gegen die Daniellis zu einem brennenden Bumerang geworden war, der bereits gefährlich nahe vor seinem Kopf schwebte. Mit dem Raketenangriff hatte er sich ja förmlich als lohnende Beute für Verbrecherbanden und Geheimdienste aus der arabischen Welt, der ehemaligen Sowjetunion bis Nordkorea angeboten. Ihm blieb da wohl nur ein Mittel.

"Gut, Sie erhalten die fünfzehn Millionen in Platin. Ich bin durchaus auch bereit, mit Ihnen in geschäftliche Beziehungen zurückzukehren, wie der leider zu früh verstorbene Signore Huan sie mit mir erörtern wollte."

"Darüber können wir reden, wenn die Witwen nicht mehr weinen müssen", sagte Wang so ruhig er konnte. Doch Pontebianco hörte die Verachtung und die Arroganz heraus. So sagte er:

"Nun, ohne mich werden Sie auf Sizilien wohl weder ein Haus noch eine Fabrik errichten können. Überlegen Sie sich das bitte sorgfältig!" Dann verabschiedete er den Chinesen, seinen Sekretär Tao Lu und deren drei Leibwächter, die sich immer in einem stillen Beobachtungsduell mit den fünf Leibwächtern Don Vittorios befunden hatten.

"Das war klar, daß er nicht verrät, wo die Satellitenbilder herkommen", sagte Vittorio. "Ich ging jedoch davon aus, er würde sie mir verkaufen."

"Nicht für eine Million, Capo. Die kennen wohl die Preise dafür besser, als es uns lieb ist", schnaubte Adelmo. Don Vittorio mußte das wohl eingestehen. An die Bilder selbst kam er nicht heran. Die lagen sicher irgendwo in China. Aber er würde dem weißen Lotos alle bereits übernommenen Geschäfte auf Sizilien, in ganz Italien und sonst wo verderben. Er kannte genug Leute, die sich dafür interessierten, die Chinesen aus dem Markt zu drängen. Einige davon saßen in Indien. Andre saßen in San Francisco oder New York. Mit denen würde er seine neue Vendetta vorbereiten. Zudem hatte er nun vor, es so hinzustellen, als suchten die Chinesen Streit mit ihm und wollten ihm etwas anhängen. Dafür brauchte er jedoch Zeit. Die konnte er sich nur mit fünfzehn Millionen in Platin erkaufen, falls dieser Wang an Bord des eigenen Schiffes nicht noch gieriger wurde und zwanzig Millionen verlangte. Pontebiancos Organisation drohte, in den Sog unrückzahlbarer Schulden zu geraten. Bevor dies passierte, so würde er zusehen, den eigenen Tod durch die Leute vom weißen Lotos zu fingieren und damit einen Krieg der anderen sizilianischen Familien gegen die Chinesen vom Zaun zu brechen.

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"Ohne dein grünes Hexengesicht siehst du echt tausendmal besser aus, Nancy", freute sich Armin Rossbach, als er vier Wochen nach der grandiosen Halloweenfeier im Hell Raiser jene amerikanische Besucherin wiedertraf, mit der er sich über den goldenen Samurai unterhalten hatte. Diese blaßgoldene Haut und die grünblauen Augen gefielen ihm. Sie sagte ihm, daß er ohne die goldene Maskerade auch nicht schlecht aussehe. Dann zogen sie durch das Frankfurter Nachtleben. Daß seine Bekanntschaft zwischendurch umherlauschte, ob in dem einen oder anderen Lokal nicht menschenunfreundliches Gesindel eingekehrt war bekam er nicht mit. Was er dafür um so heftiger mitbekam war die über den Abend aufgebaute Lust auf eine Liebesnacht. Da Armin eine von seinem Onkel bezahlte Eigentumswohnung bewohnte hatte er kein Problem damit, die Bekanntschaft noch auf eine Tasse Kaffee einzuladen. "Das Zimmer in meinem Hotel ist eh schon bezahlt", sagte die blaßgoldene Schönheit, die eigenen Angaben nach eine Japanerin zur Mutter gehabt hatte. So tranken sie keinen Kaffee, sondern echt japanischen Tee. Die Besucherin aus New York erwies sich als sehr kundig in der japanischen Teezeremonie. Doch das schürte nur noch mehr das Verlangen, dieses Wesen ohne seine adrette Herbstbekleidung zu sehen. Er fühlte auch, daß sie sich auch nicht mehr länger zurückhalten konnte. Ihm kam zu paß, daß er vor Studienbeginn schon drei kurzzeitige, aber dafür heiße Beziehungen gehabt hatte. Doch was ihm die Dame aus Amerika nun beibrachte, kannte er noch nicht. Jedenfalls nahm sie sich viel zeit mit ihm. Er war froh, daß er neben seinem viel zum sitzen auffordernden Studium auch noch Karate trainierte und in einer Fußballmannschaft mitspielte. So hatte er sowohl die Ausdauer wie auch die Beweglichkeit wie auch das Gespür für ein erfolgreiches Zusammenwirken.

Erst als die Sonne über der Bankenmetropole am Main den Horizont überstieg wußten beide genug voneinander, um zu wissen, daß sie nicht das letzte Mal miteinander das Bett geteilt hatten. Für Armin Rossbach stellte sich nur die Frage, ob diese Frau nur gut für Sex war, eine Venus, oder ob sie auch eine Minerva sein konnte oder gar eine Juno, eine treusorgende Ehefrau. Nancy Webster schien diese Gedanken zu erfassen. Denn sie sagte:

"Ich denke, so wie es in der letzten Nacht mit uns lief ist es das schönste, was wir zwei erreichen können. Ich möchte dir nicht die Entscheidung abverlangen, deine Freunde, deine Verwandten und deine Heimat aufzugeben, um mit mir in den Staaten zu leben. Auch weiß ich nicht, ob meine Verwandten das tollfinden, daß ich einen jungen Mann bei einer Kostümparty getroffen habe, wo es um Monster und Schreckgespenster ging. Die wissen nämlich nicht, was ich an Halloween so mache, mußt du wissen."

"Ähm, natürlich auch nicht, wie du so deine Nächte verbringst, richtig?" wollte Armin wissen.

"Nur wenn ich meine Mutter ermorden und meinen Vater zum Mörder an mir machen wollte", erwiderte Nancy Webster verrucht klingend. "Meine Eltern sind sehr spießig. Das macht das Dorf, in dem sie aufgewachsen sind. Daß ich nach New York ziehen durfte liegt nur daran, daß sie in diesem Kaff keinen fanden, mit dem sie mich länger als einen Tag ohne Verletzungsrisiko zusammenpferchen konnten. Aber sie rufen fast jeden zweiten Tag an, und eine Tante von mir, die in einem Vorort wohnt, kommt alle zwei Wochen vorbei und prüft, ob ich die Wohnung noch nicht in die Luft gesprengt habe. Insofern war das schon besser, zu dir zu kommen", sagte Nancy. Armin Rossbach nickte. Er hatte schon von der Verklemmtheit mancher Amerikaner gehört. Er wußte aber auch, daß die nach außen am biedersten tuenden Leute heimlich die abartigsten Sachen machen konnten. Nancy war da wohl ein gutes Beispiel für. Wollte er so leben? Seine Eltern wußten, daß er in der Wohnung wohl auch mal Damenbesuch hatte und daß er kein unberührter Jüngling mehr war. Wohl deshalb hatten sie sich wohl damit abgefunden, daß er einen Beruf erlernte, bei dem er wohl nicht so schnell die treusorgende Ehefrau finden würde, wenn er vorher nicht vom verbotenen Baum der freien Liebe gekostet hatte.

Die beiden so unterschiedlichen Bekannten verschliefen den halben Tag. Heute hatte Armin keine Vorlesungen. Doch vor Weihnachten standen noch ein paar heftige Klausuren an. Auf die mußte er sich bald vorbereiten. Doch einen weiteren Tag und eine weitere leidenschaftliche Nacht genoß er mit Nancy, seiner eurasischen Liebesgöttin.

Als diese nach dem Besuch in Richtung Flughafen abreiste dachte Armin daran, daß er keine Frau mehr so leidenschaftlich lieben konnte wie sie. Doch sie hatte ihm kurz vor dem Abschied zugeflüstert: "Wenn du das bei einer anderen hinbekommst, was du mit mir hinbekommen hast kannst du jede Frau der Welt glücklich machen, Armin." Wollte er das, jede Frau der Welt glücklich machen? Er überlegte, ob er statt virtueller Fantasy-Spiele mit Elfen, Orks, Zauberern und Drachen nicht ein Programm für Cybersex ausarbeiten konnte, daß schüchternen Internetnutzern zumindest den Druck von Körper und Seele nahm. Vielleicht war das seine Zukunft.

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Lamia lachte, als sie erfuhr, daß die Daniellis durch einen kühnen wie drastischen Handstreich entmachtet worden waren. Allerdings freute sie es weniger, daß Pontebianco nicht nach Chicago kommen wollte, bevor er nicht die Angelegenheit mit chinesischen Ehrenmännern geklärt hatte, die sich um einen der ihren sorgten.

"Vielleicht sollten wir, meine Frau und ich, dem guten Don Vittorio unsere Aufwartung machen und ihn bei der Gelegenheit zu unserem späten Sohn machen", schlug Fabritio vor.

"Damit die Mäuse auf den Tischen tanzen, weil der kapitale Kater aus dem Haus ist?" fragte Lamia. "Deine noch rotblütigen Verbündeten wie Konkurrenten sind in Aufruhr, weil dieser Watkin es geschafft hat, die ihm zugesagte Summe von einem Bankkonto zu stehlen, das einem guten Freund von dir gehört. Dein Freund wird sich nicht damit abfinden. Er wird Watkin jagen. Dabei könnte der Mann, den ich mir als meinen Sohn ausgesucht habe, trotz erwiesener Besonderheiten zwischen die Fronten geraten und rotblütig sterben. Nein, du mußt deine Freunde und auch deine Rivalen im Zaum halten. Das kannst du nur von hier aus. Ich befehle dir, auf deinem Posten zu bleiben!" schnarrte Lamia. Da sie dabei Blickkontakt mit dem zum Vampir gewordenen Mafioso hielt konnte der sich nicht widersetzen. Dann disapparierte Lamia ohne weiteres Wort.

Don Fabritio schickte seinem in Oxford weiterstudierenden Sohn eine E-Mail, die mehrere Codewörter und Situationsphrasen enthielten, die von keinem Entschlüsseler verstanden werden konnten, aber Renato genug sagten, daß es im Klartext so lautete:

Mein über alles geliebter Enkel,

deine große Freundin will, daß wir unseren Laden sauber halten. Sie sagt aber auch, daß Leute dir nachstellen könten, die uns ordentlich den Tag verderben können. mach also nie was ohne die Leibwächter. Von den Huren hast du ja jetzt mehr als genug. Am besten gehst du mal davon aus, daß du deine Männlichkeit schon genug erprobt hast. Sieh zu, daß du keinem traust, dessen Ausstrahlung du nicht einordnen kannst. Hüte dich vor allem vor dem Vollmond! Der hat unangenehme Überraschungen auf Lager.

Ob das mit Weihnachten klappt ist noch unklar. Dazu muß hier erst mal wieder Wetterberuhigung eintreten. Ich melde mich dann wieder, wenn ich mehr weiß.

Es grüßt dich

dein Nonno Fabritio

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Arnold stand mal wieder vor den Kontrollen der Blutumwälzmaschine. Lamia lag nun schon seit drei Tagen darin. Mit ihrem Blut und den neuen Erkenntnissen aus beiden Welten erzeugten sie das Einbürgerungspulver. In den Ställen von Basis Winternacht waren alle Boxen neu belegt worden. Alles junge Leute aus Südamerika, Afrika und auch aus Indien, was die heimlichen Beschaffer so auftreiben konnten. Leider hatte Arnold vierzig von siebzig Neuzugängen vor dem Anschluß an die Blutmelkvorrichtung töten müssen, weil sie HIV positiv waren. Er wußte nicht, ob das tückische Immunschwächevirus auch auf Vampirblut verderblich wirkte. So hatte er in seiner Eigenschaft als "Stallmeister" verfügt, nur noch Straßenkinder aus den Vierteln der westlichen Städte einzufangen. Auch die würde keiner mehr vermissen. je gesünder die Spender, desto ergiebiger die Ausbeute, dachte der promovierte Biochemiker im Staate Nocturnia.

Sie hatte einiges nicht mitbekommen. So zum beispiel daß die Pontebiancos sich aus ihrer Heimat abgesetzt hatten und mit bisher unbekanntem Ziel davongefahren waren. Sie hatte nicht mitbekommen, daß nicht direkt von ihr abstammende Bürger Nocturnias von unheimlichen Leuten ohne Spuren zu hinterlassen aus dem Verkehr gezogen worden waren. Allerdings lief die Jagd zwischen diesem Watkin, der CIA, der Mafia und diesem Zachary Marchand weiter.

"Noch einen Monat, bevor du da wieder rauskletterst", grummelte er mit Blick auf Lamia, die völlig unbekleidet im Ruhetank schwamm und an den vielen Schläuchen hing, die pulsierend ihr Blut absaugten, um ihr frisches Blut der Spender in den Körper zu pumpen. Wie sie das durchhielt, diese Prozedur über sich ergehen zu lassen? Sicher, für sie war das wie Schlaf. Aber da mußte noch mehr hinterstecken, um diese langwierige und doch noch riskante Maßnahme zu überstehen. Er spielte mit dem Gedanken, Zachary Marchand umzubringen, bevor seine Frau und Königin wieder aufwachte. Denn auch wenn er gerne mit ihr ein Kind haben wollte, erschien ihr die Besessenheit, mit der sie diesen verdeckt im FBI arbeitenden Zauberer begehrte, als krankhaft und höchst gefährlich ein. Schließlich hätte nicht viel gefehlt, und sie beide wären von dieser getarnten und offenbar auch unerspürbaren Hexe getötet worden. Nur Lamias Zauberkräfte hatten ihnen beiden da rausgeholfen. Das mußte nicht immer so sein, jetzt, wo die Gegenseite wußte, daß Lamia alias Elvira nicht nur eine Vampirin, sondern auch eine Hexe war. Und das mit dem Feuerschwert, daß diese unheimliche Anthelia haben sollte, vor der Lamia doch eine gewisse Furcht hegte, gefiel ihm auch nicht. Was, wenn Anthelia sich mit Zach Marchand und seinen Helfern oder Kollegen verbündete und ihn wie einen Angelköder auslegte, um seine Frau anbeißen zu lassen? Dann erkannte er mit Schrecken, daß er Zach nicht aktiv umbringen konnte. Sie würde es merken. Entweder würde sie ihn dann tothexen oder ihn ohne Solexfolie in den gerade erwachenden antarktischen Tag hinausjagen. Verflucht sollte der Tag sein, an dem Elvira und er diese Folie erfunden hatten. Denn nur deshalb war die ganze Lawine ins Rollen geraten. "Selbst graf Dracula könnte damit am Strand von Malibu herumlaufen, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen", hatte er so oder so ähnlich geprahlt. Tja, jetzt waren Elvira und er Draculas Erben. Doch war es das wirklich wert, die ganze Welt zu beherrschen? Hätte es nicht gereicht, ein ruhiges Leben zu führen, irgendwo, wo mal zwischendurch wer zur Ader gelassen wurde? Dieser Mitternachtsdiamant, den Nyx wie ein Ei des Teufels im Bauch herumgetragen hatte, hatte diesen Wahnsinn entfacht. Und er half mit, ihn in Schwung zu halten. Aber was sollte es? Er hatte die verbotene Tür aufgemacht, war in den verbotenen Raum hineingegangen und hatte vergessen, die Tür zu verkeilen, damit sie nicht wieder zufiel. Aber was Marchand anging, so gönnte er es ihm, wenn der draufging. Der hatte sie damals ja auch schon fast erledigt. Ja, er mußte verschwinden, damit Lamia nicht auf gefährliche Abenteuer ausging. Denn irgendwo da drin lebte immer noch seine Frau Elvira. Die hätte er sehr gerne wieder, wenn es ging, auch ohne Vampirzähne. Sollte er, eine Ausgeburt der Hölle, zu Gott beten, um das alles rückgängig zu machen? Er hatte nie an diesen biblischen Urvater und Schöpfergeist geglaubt. Sicher gab es eine Menge, was die Naturwissenschaftler und Mathematiker nicht erklären oder nachweisen konnten. Aber das Getue der Kirchen hatte ihn immer angewidert, von Liebe predigen und Intoleranz leben. Enthaltsamkeit verlangen und mit Reichtümern protzen. Nein, diesen Gott konnte er nicht anbeten. So blieb ihm neben der Hoffnung auf den Tod Marchands nur die Hoffnung, den Zusammenbruch des ganzen Wahnsinnsgebäudes nicht mehr miterleben zu müssen. Bis dahin mußte er mitspielen. Denn er wußte und konnte zu viel. Sie würde ihn nicht umbringen. Sie würde ihn foltern und versklaven, wenn er nicht mitspielte. Also mußte er mitmachen.

Lamia zuckte zusammen. Irgendwas hatte sie erschreckt. Sie schlug die Augen auf und sagte nur ein Wort: "Renato"

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Zachary ging niemals mehr ohne Schutzmannschaft auf die Jagd nach Watkin. Das FBI suchte intern nach denen, die den Standort von Zacharys Eltern verraten hatten. Er hatte eingeworfen, daß Watkin wohl über die CIA an die FBI-Daten herankam. Das führte dazu, daß mit guten Tips von Brenda alle versteckten Zugangswege in das FBI-Netzwerk gefunden und verschlossen wurden. So passierte es, daß Ira Waterford Zachary und Brenda eines Tages per Eule ins Zaubereiministerium einbestellte. Die beiden LI-Mitarbeiter betraten ohne jeden Anflug von Schuldbewußtsein das Muggelkontaktbüro. Dort wartete außer dem offiziellen Leiter auch der kleinwüchsige Strafverfolgungsleiter Lorne Vane, der aus seinen kleinen Augen die beiden ihm körperlich überragenden ansah.

"Könnte es sein, daß Sie beide Ihre Aufgaben hoffnungslos uminterpretiert haben?" herrschte Waterford Brenda und Zachary an. Zach erwiderte:

"Im Gegenteil, wir haben unsere Aufgaben endlich klar erkannt und mit der gebotenen Gründlichkeit erfüllt, Sir. außerdem sind Sie weder mein noch Ms. Brightgates Vorgesetzter und sollten uns mit der Höflichkeit ansprechen, die freiwillig zu ihnen gekommenen gebührt, Sir!"

"So, dann erklären Sie mir gefälligst, warum Sie einen derartigen Aufruhr im FBI und der CIA angerichtet haben!" griff nun Vane in die Unterhaltung ein. Brenda sah den kleinen Zauberer ruhig an und erwiderte.

"Auch Sie sind nicht unser Vorgesetzter, Mr. Vane. Insofern sagen Sie bitte "bitte"!"

"Ich kann sie auch festnehmen lassen, wegen Überschreitung Ihrer Kompetenzen, mutwilliger Gefährdung der Geheimhaltung der Magie und gezielte Verunsicherung der Muggelwelt", knurrte Vane. Doch zachary hatte die passende Antwort parat.

"Wenn Sie auch nur einen Beweis hätten, daß wir ganz gezielt die Geheimhaltung verletzt hätten oder aus niederen Motiven die sowieso schon illusorische Ordnung in der Muggelwelt gefährdet hätten, hätten Sie uns bereits festnehmen lassen. Ihre Initiative fußt auf der Beschwerde von Mr. Waterford, der sich um seine Rangstellung und Zugriffsmöglichkeiten geprellt wähnt, weil wir im Zuge der notwendigen Maßnahme zum Schutz von Muggelweltbürgern vor der Bedrohung Nocturnia eine glaubhafte Erklärung für diesen Vorfall liefern mußten, die für Muggel absolut glaubhaft und damit ohne Gedanken an übernatürliche Vorkommnisse präsentiert wurde. Das dabei die nebenbei sehr fragwürdigen Zugriffsmöglichkeiten der CIA auf die elektronischen Akten des FBI gekappt wurden ist doch das einzige, was Mr. Waterford so aufbringt. Nocturnia wollte meine Eltern entführen oder töten. Nocturnia schert sich nicht mehr um die Geheimhaltung der Zaubererwelt. Nocturnia will ein Reich der Vampire auf Erden errichten, wo wir aus der magischen Welt nichts mehr zu melden haben. Wir haben Ihnen diese Möglichkeit entzogen, an mich heranzukommen. Ich vermute, Lamia als Erbin von Nyx, hat den Auftrag, sicherzustellen, daß ich ein Vampir werde, weil Nyx aus einer fixen Idee heraus fand, ich habe ihr Gefährte oder Sohn zu werden. Da ich damals bei der Beseitigung des Mitternachtsdiamanten dabei war - was ich heute wohl als einen großen Fehler sehen muß - könnte es sein, daß Nyx in ihren letzten Sekunden noch eine Gedankenbotschaft an ihre designierte Nachfolgerin geschickt hat, wer ihr den Tod bringt. Somit kommt zu dem Motiv der fixen Idee, mich einzubürgern noch das Motiv der Rache hinzu. Sie will und wird gegen jeden losschlagen, der sich nicht gegen ihre Brut wehren kann. Genau deshalb haben Ms. Brightgate und ich die Jagd nach Watkin forciert. Aber die CIA will ihn gleich umbringen. Wir aber wollen wissen, welche gewöhnlichen Verbrecher ihm den Auftrag zur Entführung meiner Eltern erteilten und ob diese zum fraglichen Zeitpunkt schon Vampire Nocturnias waren oder nicht? Darum ging und geht es."

"Sie hätten das Ministerium in diese Angelegenheit einschalten müssen", knurrte Vane. "Wir haben mehr Möglichkeiten und Kenntnisse über die Muggelwelt, um solche Angelegenheiten unauffälliger zu regeln. Ich bin versucht, das Laveau-Institut wegen unzulässiger Eigenmacht zu schließen. Ob Sie beide dann die Gelegenheit bekommen, für uns weiterzuarbeiten oder womöglich aus der Zaubererwelt ausgeschlossen werden, steht dann an."

"Mr. Vane, das hat ihr Vorgänger schon versucht und wohl schon einer seiner Vorvorgänger auch", erwiderte Brenda. "Der Nutzen, den das Laveau-Institut für Muggel- und Zaubererwelt hat wiegt schwerer als jeder Verstoß gegen die magische Ordnungshoheit des Zaubereiministeriums. Mr. Marchand hat es erwähnt, daß es Nocturnia darum geht, seiner habhaft zu werden. Da er für uns arbeitet, sind wir verpflichtet, ihn zu schützen, sowie seine Angehörigen. seine Eltern sind nicht tot. Sie liegen in einem sicheren Haus des LIs im Zauberschlaf. Die anderen Anverwandten Mr. Marchands wissen nichts von seiner Zaubererweltzugehörigkeit und sind durch den nun zum zweiten Mal vorgetäuschten Tod der Eltern außer Gefahr, da Zachary keinen Kontakt zu seinen Verwandten hält. Ansonsten hätten wir selbstverständlich um Ihre Unterstützung gebeten." Sie lächelte zuckersüß.

"Was Sie bei der CIA tun, Ms. Brightgate, haben Sie mit mir abzustimmen", versuchte Waterford, die Muggelweltarbeitskollegin an die Kandarre zu nehmen.

"Ich wüßte nicht, daß ich darauf einen Eid geschworen hätte, Ihnen Rechenschaft abzulegen", erwiderte Brenda. "Und was ich im Rahmen des LIs zu tun habe muß ich nur mit Mr. Davidson abstimmen. Der hat diese Maßnahmen genehmigt. Wenden Sie sich wegen ihres angeknacksten Überlegenheitsbedürfnisses bitte an ihn! Danke!"

"Wenn Sie beide denken, daß Zachary Marchand in Gefahr ist, dann sind alle, die um ihn herum sind auch in Gefahr. Dem können Sie sich unmöglich alleine entgegenstellen. Dafür fehlen Ihnen Leute und Mittel", setzte Vane zu einem anderen Versuch an, die beiden im besonderen und ihren Arbeitgeber im allgemeinen zu kritisieren. Zachary nickte und erwähnte, daß er demnächst ein neues Hilfsmittel erhalten würde, von denen auch die wichtigsten Mitarbeiter des Ministeriums welche erhalten würden. Denn bei der Sache mit dem Haus in Denver sei es gelungen, den nicht im Schmelzfeuer verglühten Vampiren ausreichend viel Blut abzunehmen, um damit wirksame Aufspür- und Abwehrmittel zu entwickeln. Näheres dann, wenn das neue Hilfsmittel fertig sei.

"Im Namen des Zaubereiministers, der Ihre Aktionen nur deshalb toleriert, weil er keine Spaltung der magischen Gesellschaft wünscht, muß ich leider auf eine Anklage gegen Sie beide absehen. Liefern Sie beide oder sonst wer aus Ihrem selbstherrlichen Institut mir und meinen Untergebenen nur einen Grund, sie zaubererweltrechtlich belangen zu können, ist Ihnen beiden die Höchststrafe für jede gegen Sie oder einen Ihrer Kollegen erhobenen Anklage sicher. Und jetzt raus hier!"

"Größenwahn ist die Krankheit der Zwerge", grummelte Zachary, als er mit Brenda weit genug vom Zaubereiministerium entfernt war.

"Ja, aber er hat leider recht, daß du die Kanallien von Nocturnia anziehst wie das Licht die Motten. Wir können nicht alle Bundesagenten und alle deine Verwandten zugleich beschützen."

"Ja, Bren. Aber das Ministerium kann das auch nicht, weil es sonst zu viele gute Leute von wichtigeren Aufgaben abziehen muß. Nein, wir sehen, was in der nächsten Zeit passiert und reagieren dann angemessen."

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Lunera ärgerte sich zwar, daß ihr die Daniellis quasi unter den Augen und Ohren weggeschossen worden waren. Doch jetzt konnte sie nichts mehr daran ändern. Sie wendete sich nun einem anderen Problem zu, von dem sie ihren Muggelwelt-Mitschwestern nichts erzählt hatte, weil es wohl nur mit der Zaubererwelt zu tun hatte.

Eine Woche, bevor Nina und Fino unter der zusammengebrochenen Villa Luna disappariert waren, hatte ihr ein sehr erbost formulierender Myron Tallfoot eine Eule geschickt.

Du mieser Haufen mottenzerfressenen Wolfsfells. Was hast du uns für ein Zeug gegeben? Wehe, du und deine anderen europäischen Mondbrüder und -schwestern habt nur eure eigene Pisse zusammengerührt und uns als achso tollen Wundertrank angedreht. Denn wirken tut der kein Stück. Ich hab's probiert, bevor ich die anderen davon trinken lassen wollte. Das Zeug wirkt nicht. Als der letzte Vollmond war hat der mich ganz wie sonst auch verwandelt. Aber ich konnte da nicht so klar herumlaufen, wie du behauptet hast. Hätte ich ja gleich den Wolfsbanntrank schlucken können, wenn das eh nix gibt. Außerdem behauptet einer von uns, das Ministerium hätte rumgeschickt, daß alle Lykos, die freiwillig auf Angriffe auf Normalos verzichten, demnächst einen Trank kriegen, der möglich macht, auch bei Vollmond ein Mensch zu bleiben. Sag mal, hast du denen etwa den echten Trank rübergereicht? Dann sieh bloß zu, daß du mir und meinen Brüdern in den nächsten hundert Jahren nicht über den Weg läufst. Dafür hat sich einer von meinen Leuten von deinem rotschopfigen Muggelballerer eine Silberkugel ins Bein reinschießen lassen? Ich komm da sicher auch dran. Und dann zieh dich ja ganz warm an, Flittchen! Oder besser, spring ins Meer und vergiß das Atemholen!

Erwarte jetzt bloß keine freundlichen Grüße von mir

Myron Tallfoot

Lunera fragte sich, wieso dieser Kerl behauptete, es sei nicht der korrekte Trank. Hatte der das vielleicht erwähnt, um den anderen nichts davon abgeben zu müssen? Falls ja, dann konnte der sich warm anziehen oder besser einen großen Urwald kaufen und sich darin verirren. Sie rief Rabioso und trug ihm auf, seine Maschinenpistole mit den Mondsteinsilberkugeln mitzunehmen.

Eine Stunde später tuckerte ein gewöhnliches Motorboot über den Ärmelkanal. Wo Tallfoot wohnte wußte Lunera nicht. Aber sie kannte einen anderen Greybackianer, den sie fragen konnte.

Die Landung an der britischen Küste geschah in aller Heimlichkeit. Das lag an dem Unfunkstein, den Lunera ins Boot gelegt hatte. Er zerstreute alle elektromagnetischen Wellen in einem Umkreis von hundert Metern. Damit wurde jedes Radarsignal restlos ausgelöscht, daß in diesen Bereich einfiel.

Mit einer Seit-an-Seit-Apparition landeten Lunera und Rabioso in einem kleinen Dorf in Hamshire. Lunera hatte sich nicht vertan. Das Haus, wo Gereth Durant wohnte, stand noch so heruntergekommen da, wie sie es bei ihrem letzten Besuch gesehen hatte. Rabioso grinste, weil er Luna so zielsicher hier hingebracht hatte. Lunera Tinerfeño ging auf das Haus zu. Sie lauschte. Dann fühlte sie, daß jemand sie angreifen wollte. Sie sprang zur Seite. Da kamen zwei Gestalten aus der Haustür gestürmt, die mit Äxten bewaffnet waren. Die Blätter der Äxte glänzten im Sonnenlicht silbern wie Tafelmesser. Da wußte Lunera, was die Stunde geschlagen hatte. Sie erkannte beide Angreifer. Es waren der von ihr gesuchte Gereth und Myron Tallfoot.

Mit einem lauten Wutgeschrei ging Tallfoot auf Lunera los. Doch Rabioso war bereits auf dem Posten. Innerhalb einer Viertelsekunde schwirten fünf Geschosse durch die Luft und trafen Tallfoot genau auf Brusthöhe. Der sehr verwahrlost aussehende Werwolf flog von der Einschlagwucht getrieben zwei Meter zurück. Dann fiel er um und hauchte mit einem letzten langgezogenen Geheul sein Leben aus. Gereth holte gerade mit der Axt aus, als ihm zwei Geschosse in den Waffenarm hieben. Mit einem lauten Aufschrei ließ er die Axt fallen. Er schlingerte den getroffenen Arm, aus dem feiner Rauch stieg. "Mann, Scheiße! Das brennt ja!!" brüllte Gereth seine Wut und seine Qualen hinaus.

"Tallfoot hatte weniger Glück als du, Gereth. Der hätte mich fast mit seiner Dekorationsaxt getroffen. Das konnte ich mir nicht bieten lassen. Ich will jetzt von dir wissen, was der Kerl meinte, der Trank hätte nicht gewirkt", stieß Lunera aus. Rabioso hielt immer noch seine Waffe erhoben. Doch Gereth konnte nur laut schreien. Er versuchte, die Axt mit der anderen Hand vom Boden zu heben. Da bekam er eine Kugel in den Kopf. Sein Schreien ebbte ab. Der Getroffene fiel um und blieb liegen. Lunera sah den mann mit den blonden, schulterlangen Haren und den grauen Augen an. Er war etwas besser gekleidet als Tallfoot. Lunera warf sich herum und rief Rabioso auf Spanisch zu, daß er Gereth nicht in den Kopf hätte schießen sollen. Jetzt sei alles umsonst gewesen, auch die acht verschossenen Silberkugeln.

"Solte ich dich lieber einen Kopf kürzer nach Hause tragen, Süße?" fragte Rabioso. Lunera fauchte wie eine wütende Katze und fühlte, wie ihr bereits das mondlichtfarbene Wolfsfell zu wachsen begann. Sie mußte sich stark konzentrieren, um dem Drang zu widerstehen, sich zu verwandeln. Als sie es schaffte, ihre menschliche Gestalt zu behalten beschloß sie, das Haus zu durchsuchen. Vielleicht verriet das Haus, was Gereth nicht mehr verraten konnte.

Die Hausdurchsuchung schien erst völlig sinnlos zu sein. Doch dann fand Lunera eine kleine Phiole, in der eine Flüssigkeit schimmerte, die genau wie ihr Lykonemisis-Trank aussah. Sie beroch den Inhalt und schüttelte den Kopf. Das war nie im Leben der Lykonemisis-Trank. Zwar roch er ähnlich, aber eben nicht so, als wenn alle relevanten Zutaten in der vorgeschriebenen Weise darin vermischt worden wären. Jetzt ahnte sie, was passiert sein mußte. Irgendwer hatte Tallfoot ausgetrickst und den echten Trank an sich genommen. Damit das nicht auffiel, hatte der oder diejenige eine in den meisten Merkmalen ähnliche Mixtur zusammengepanscht und Tallfoot als echten Trank untergeschoben. Dann war klar, warum der Trank nichts taugte. Außerdem war ihr noch was klar: "Rabioso, schneller Rückzug. Wir sind verraten worden!" rief sie. Sie eilte aus dem Haus hinaus. Sie wußte nicht, ob der oder die Verräter bereits in der Umgebung lauerten. Sie wollte es auch nicht drauf anlegen, Ministerialzauberern in die Quere zu kommen. Vielleicht kannte man sie sogar. Wenn einer der anderen sieben der Verräter gewesen war, dann hatte der Lunera und Rabioso bei seinem wahren Herren beschrieben. Sicher gab es schon Steckbriefe von ihnen.

"Verrat. Verdammt, wer zum Neumond?!" blaffte Rabioso.

"Weiß ich nicht. Aber jemand hat den echten Trank gegen ein wirkungsloses Gebräu ausgetauscht. Das kann nur wer gemacht haben, der die Übergabe mitbekommen hat und für das englische Zaubereiministerium spioniert. Weg hier!"

"Zum Boot?" fragte Rabioso. Lunera nickte. Rabioso ergriff sie beim Arm und zog sie mit sich in die Disapparition.

Um zu klären, ob die Luft noch rein war brachte Rabioso Lunera nicht gleich zum Boot hin, sondern apparierte mit ihr knapp fünfhundert Meter davon entfernt. Er hatte gut daran getan. Denn so konnten sie über den vom Strand wehenen Wind wittern, daß mindestens zehn Zauberer und/oder Hexen in der Nähe lauerten. Lunera fragte sich, wie das möglich war, wo das Boot doch gegen diese Radarstrahlen unaufspürbar war.

"Die müssen ihre blöde Insel mit einem Zauber umgeben haben, der auf näherkommende magische Felder reagiert, verdammt noch mal!" zischte Rabioso. Dann konnten sie huschende Schemen erkennen. Die Zauberer und Hexen waren getarnt. Doch das nützte ihnen auch nichts. Bevor sie nahe genug für Fang- oder Vernichtungszauber kamen, disapparierte Rabioso mit Lunera. Keine Zehntelsekunde nach dem Verschwinden schlug ein silberner Blitz dort ein, wo sie eben noch gestanden hatten.

""Verdammt, wir waren zu langsam", brüllte Beowulf Coats, der zusammen mit neun Leuten vom Aurorenkorps den Liegeplatz des Bootes überwacht hatte. Jetzt konnte ihm Tessa Highdale noch besser auf der Nase herumtanzen. Immerhin hatte er es durchgedrückt, daß Hermine Granger in die Tierwesenabteilung versetzt worden war, wo sie ihm nicht mehr mit ihrer übergescheiten Tour die Tage verderben konnte. Doch daß sie fast die Anführerin der Mondbruderschaft erwischt hätten ärgerte ihn. Beim nächsten mal sollten sie zusehen, Geruchlosigkeitselixiere zu benutzen.

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Renato Campestrano mußte sich arg beherrschen, seinen Blutdurst zu unterdrücken. Nur wenn es draußen dunkel war und er die Solexfolie ablegen konnte, durfte er sich Opfer suchen. meistens mußten irgendwelche kleinen Ganoven dran glauben, die nachts auf Einbrechertour gehen wollten. Auch holte er sich das Blut von jungen Taschendieben. Jedesmal mußte er die ausgesaugten Leichen mit Benzin überschütten und aus sicherer Entfernung anzünden. Was sagten sie immer über Leute wie ihn? Feinde wurden mit den Füßen in Beton in den Fluß geworfen oder im Fundament von Neubauten versenkt. Wenn die wüßten, welche gemeinheiten sich die ehrenwerte Gesellschaft für Verräter und Betrüger in ihren Reihen ausgedacht hatte.

Der November in Oxford war wie immer trübe und naßkalt. Kälte machte ihm nichts mehr aus, vor allem Nachts nicht. Auch konnte die Sonne gerne ganz hinter schwarzen Wolken bleiben. Das Wetter führte jedoch dazu, daß keiner mehr draußen rumlief. Das ärgerte den jungen Vampir und Enkel eines Chicagoer Bandenchefs. Es war schwieriger, im Umkreis von hundert Kilometern Beute zu machen. Seine drei Leibwächter, die aus Lamias Gnaden auch Bürger Nocturnias geworden waren, schirmten ihn nicht so dicht ab wie sonst. Denn sonst kam er nicht an die lichtscheuen Rotblütler ran, die er wie große Colabecher in einem Hamburgerrestaurant leerschlürfen konnte.

In dieser Nacht konnten nur Leute wie er den Mond am Himmel sehen. Für die anderen war es finstere Nacht, als Renato extra weit von Oxford fortgefahren war. Er hatte dabei sogar die Isis überqueren müssen, was ihm einige Sekunden lang alle Kraft geraubt hatte. Weiter flußabwärts hieß dieses Gewässer dann Themse und führte noch mehr Wasser. London, wäre auch mal ein geniales Jagdrevier, vorausgesetzt, da gab es keine Geisterjäger wie in der Komödie aus New York. Doch, er erinnerte sich, daß dort ein sogenanntes Zaubereiministerium existieren sollte, daß vor allem Jagd auf Menschen anknabbernde Typen wie ihn machte. Nur das Fußkettchen, daß Lamia ihm geschenkt hatte, hielt diese Leute von ihm fern. Sollte er das mal abnehmen und gucken, ob doch einer von denen kam? Er hatte bis dahin nie geglaubt, daß es echte Zauberer gab. Besser nicht! Er wollte sich zwei nicht mehr gebrauchte Typen oder mit ihrem spießigen Leben unzufriedene Mädchen schnappen, sie genüßlich leertrinken und dann einer Gratisfeuerbestattung zuführen. Er konnte nicht ahnen, das in dieser Nacht der Jäger zum Gejagten wurde.

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Die Pleite mit den Daniellis war schnell vergessen. Vor allem hatte Nina sich gefreut, diesen Andrea nicht länger als möglichen Vater ihrer Kinder einplanen zu müssen. Als die Mondbrüder erfuhren, daß die Pontebiancos untergetaucht waren mußte sie sogar lachen. Lunera wollte wissen, was ihre Mondschwester und Quasi-Ziehtochter so erheiterte.

"Wir haben uns die ganze Zeit abgestrampelt, um uns eine eigene Mafiafamilie zu kultivieren. jetzt sind beide handlungsunfähig. Vittorio muß erst einmal ganz tief geduckt durch die Welt laufen, bis er den Chinesen entweder auch eine Rakete ins Hauptquartier feuert oder mit denen einen Frieden schließt. Ich denke aber eher, der sucht sich Allierte in Südamerika. Dann ist dieser Campestrano, den Jungleboy2000 weiter oben auf die Liste gesetzt hat, im Moment wohl nicht angesagt. Der Enkel von diesem Fabritio studiert in Oxford."

"Ach, willst du doch noch mal Speck in der Falle spielen, mein Mäuschen?" fragte Lunera mit unüberhörbarem Sarkasmus.

"Der steht wohl auf erfahrene Mädchen. Nicht, daß ich bei Andrea Danielli - Friede seiner Asche! - nicht einiges dazugelernt hätte. Aber Campestrano erscheint mir eher der Typ, der heimlichere Geliebte hat", sagte Nina.

"Im Dokument steht, er geht in die Bordelle im Umkreis seines Studienortes. Aber weder du noch ich werden jetzt anschaffen gehen, um den zu ködern ... sofern das nicht schon wer anderes getan hat", erwiderte Lunera Tinerfeño mit zunehmender Verärgerung. Dann beauftragte sie Nina, bei Jungleboy2000 anzufragen, ob irgendwie an Listen ranzukommen war, wann Renato Campestrano das letzte mal eine Dame der Nacht beehrt hatte. "Hoffentlich war das dann nicht auch eine, nämlich die Dame der Nacht."

"Na gut, eine Vampirin als Bordellhure?" staunte Nina. Lunera lachte. Beinahe hätte sie wohl gesagt, wie naiv Nina noch sei. Doch wirklich sagte sie:

"Der freund meines früheren Gefährten, ein Zauberer, hatte einmal erzählt, daß die Blutschlürfer sich die Geschichte von einer der ihren erzählen, die irgendwo in Amerika ihren Blutdurst an Leuten stillt, die gekauften Sex haben wollen und dabei sowas wie was ganz exotisches erleben wollen. Wer und wo das sein soll wußte Espinado nicht. Vielleicht war es auch nur der Wunschtraum einer halbverhungerten Vampirin. Aber so ganz auszuschließen ist das nicht. Also prüfen wir nach, wann irgendwo Renato sich diskret vergnügt hat."

"gut, wir haben ja mittlerweile Beziehungen. Jungleboy2000 soll das klären", erwiderte Nina.

Zwei Tage später kam tatsächlich eine E-Mail von Jungleboy2000 alias Neubeginner an. Die hochverschlüsselte Nachricht enthielt eine Liste von britischen Bordellen, die als Abendclubs oder Exotiklokale bezeichnet wurden. Einige davon wurden von Neubeginners Kontakt in der indischen Mafia verwaltet. Andere liefen mehr oder weniger vom Staat geduldet. irgendwer hatte echt mal herausbekommen, unter welchem Decknamen Renato Campestrano in einem solchen Laden verkehrt hatte. Das waren der Fluch und der Segen des Computerzeitalters, daß sehr vieles gespeichert wurde und mit den richtigen Beziehungen die persönlichsten Geheimnisse enthüllt werden konnten. Vor allem, wenn jemand für eine mögliche Partnerfirma oder eine harte Konkurrenz arbeitete, war es schon wichtig, was er oder sie an Datenspuren hinterließ.

"Hier, Lunera, da haben wir ihn. Der hat sonst immer eine, maximal zwei Stunden gebucht. Aber hier steht eine komplette Nacht auf der Rechnung. Das ist auch das einzige Mal, wo der sich sowas gegönnt hat", sagte Nina. Lunera verzog das Gesicht. "Als hätte ich das gerochen. Klar, das stinkt ja förmlich nach einem fiesen Manöver. Die Frage ist nur, wer es mit ihm abgezogen hat und warum? Okay, wir gucken uns den an, schön aus der Ferne, damit er, falls er mehr als nur Geld für sein Vergnügen gelassen hat, uns nicht gleich wittert. Rabioso!"

Der rotschopfige Mondbruder und Mann für härtere Maßnahmen trat einund ließ sich von Lunera die Marschroute vorgeben.

In den nächsten Tagen wurde Renato mit magischen Vorrichtungen beobachtet, mit Ferngläsern, die bis zu zwei Kilometer weit blicken ließen und mit Nachtsichtgläsern. Seine drei Leibwächter fuhren tagsüber immer mit ihm zusammen zur Universität oder zu den Veranstaltungen außerhalb des Campus. Dann hatten sie endlich den Beweis, daß Campestrano bereits von der Konkurrenz angeworben worden war.

"Sieh mal an, vor einer Stunde hatte er noch sonnengebräunte Haut, und jetzt ist er bleich wie eine Schüssel Quark", zischte Lunera, die gerade mit Fino und Rabioso auf Spähposten war. "Als wenn der die Haut auf links gedreht hätte", grinste Fino.

"Würde eher sagen, daß er die gegen die böse Sonne schützende Haut ausgezogen hat, weil er sich als Blutschlürfer so besser bewegen kann", mutmaßte Lunera.

Sie verfolgten den offenkundigen jungen Vampir in ausreichendem Abstand, wobei Lunera hinter Rabioso und Nina hinter Fino auf einem echten Flugbesen saßen. Sie schafften es, den Enkel eines Mafiosos in ein kleines Dorf mehr als zweihundert Kilometer von Oxford zu verfolgen. Als er dann ausstieg und seine Leibwächter im Abstand von dreihundert Metern folgten, war klar, wo er hinwollte, zu einem abgelegenen Feld, wo gerade mehrere Obdachlose lagerten.

"Wenn der die alle beißt rollt der morgen als Whiskyfaß nach hause", feixte Rabioso. Er holte Campestranos Bild mit dem Fernrohr noch näher heran. Tatsächlich schlich er bereits auf eine halb schlafende Frau zu. "Ich korrigier mich. Er wird ein Weinfaß", bemerkte Rabioso dazu.

"Warum fliegt der nicht als Fledermaus dahin, wie im Kino?" wisperte Nina.

"Vielleicht hat ihm das noch keiner beigebracht", erwiderte Lunera. "Aber jetzt sollten wir ihn uns greifen, bevor der noch eine von diesen Blutschlürfern mehr gemacht oder wen völlig unschuldigen erledigt hat."

Die beiden Flugbesen namen Fahrt auf und brausten auf den Platz zu, wo Renato Campestrano gerade sein erstes Opfer aussuchte. Seine Leibwächter sicherten nach hinten ab. Nach oben guckten sie noch nicht.

"Okay, Mädels. Jetzt gut festhalten", zischte Rabioso Nina und Lunera zu. Aus zweitausend Metern höhe im Steilflug nach unten war nichts für schwache Nerven. Der Wind heulte um die Flugbesen. Jetzt mußte der Vampir sie hören. Jetzt mußte er nach oben gucken. Wenn er dann wegrannte war die Sache klar. Wölfe waren eben keine Adler. Sie stürzten nicht von oben herunter, sondern hetzten ihre Beute. Nina fühlte, daß ihr Vordermann vom Jagdfieber ergriffen worden war. Rabioso konnte sich noch schwerer zurückhalten. Lunera war eiskalt. Sie hatte offenbar schon ähnliche Ausflüge mitgemacht. Sie nahm einen Arm um Rabiosos Taille fort und zog eine kleine Pistole. Auch Nina hatte eine derartige Waffe und damit soogar heimlich in einem Wald bei Salamanca auf eine Zielscheibe geschossen, um das Gefühl dafür zu bekommen. Was für Werwölfe Silber aus Mondsteinöfen, das war für Vampire altes Eichenholz. Wenn es dazu noch mit einer Spitze aus Sonnenquarz verstärkt war und diese Sonnenquarzspitze mit so vielen Segen der Sonne bezaubert worden war, wie das Material aufnehmen konnte, dann war das für einen Vampir schon eine Vierfachtodwaffe. Doch im Moment wagte sie es nicht, einen Arm von dem dünnen Mitbruder Fino wegzunehmen. Sie war keine Hexe. Sie hatte das nie gelernt, auf einem Besen zu reiten. Eine falsche Bewegung würde sie abstürzen lassen. Aus dieser Höhe war die Schwerkraft tödlich für die meisten Lebewesen.

Der mutmaßliche Vampir hörte die Besen, als sie gerade noch zweihundert Meter über ihm waren. Er blickte hoch und erkannte die Gefahr. Er erschrak nicht zu lange. Also wußte er, daß es außer Vampiren auch echte Besenflieger gab. Jetzt sahen sie sogar sein Vampirgebiß. Es war also amtlich. Der Blutsauger wußte, daß er auf freiem Feld keine Chance hatte. Er mußte in seinen Wagen zurück, der zwei Kilometer entfernt war. Offenbar konnte der sich auch telepathisch mit seinen drei Leibwächtern verständigen. Denn die legten auf einmal einen Spurt hin und zogen unter ihren Trenchcoats Maschinenpistolen hervor.

"Na, ob ihr Mondsteinöfen bedienen könnt?" fragte Rabioso provozierend, obwohl die Leibwächter noch zu weit entfernt waren. Da schwirrte auch schon die erste Garbe durch die Nacht. Die Werwölfe sahen das flirrende Mündungsfeuer. Nina mußte in dem Moment an das Stroboskoplicht einer Diskothek denken. Dann hagelten die Geschosse auf sie ein.

"Nina, Fino, ihr bleibt an dem kleinen dran. Wir werfen ballast ab!" zischte Lunera. Laut rufen mußte sie aus der kurzen Entfernung nicht. Piuing Piuiui-piuiuing, schwirrten die Kugeln um die vier fliegenden Werwölfe herum. Nina fühlte die aufschlagenden Geschosse. Doch es war ihr, als stieße ihr nur jemand eine Sprungfeder mit Gummiball an den Körper. Die Projektile drangen nicht in ihren Körper ein, sondern trudelten ohne Vorwärtsdrall nach unten. Außer dem Schwirren der Geschosse war aus dieser Entfernung nichts zu hören. Die Burschen benutzten Schalldämpfer.

"Okay, wir bleiben an dem Typen im Jogginganzug dran", sagte Fino und schüttelte eine voll gegen seinen Hinterkopf geflogene Kugel aus dem Har wie ein lästiges Insekt. Rabioso und Lunera zogen inzwischen in weitem Bogen herum und fingen dabei einige Kugeln im Besenschweif ein. Ihr Fluggerät wackelte. Nina fragte sich, was passierte, wenn die Mafiosi gezielt auf die Besen schossen? Da bekam Rabioso den Besen wieder in den Steigflug und flog ganz bewußt wilde Schlingermanöver. Zwei Leibwächter zielten nach oben und feuerten ihre Waffen ab. Der Dritte versuchte, den hinter Renato hersausenden Flugbesen und seine Reiter vom Himmel zu holen. Dieser rannte, schneller als ein Normalmensch, in Richtung seines Autos. Der dritte Leibwächter stellte für zwei Sekunden das Feuer auf den einen Besen ein. Fino nutzte die Gelegenheit und zog seinen Zauberstab. "Avada Kedavra!" rief er, wobei er das r echt spanisch rollte. Nina hatte das noch nie gesehen und wünschte sich im nächsten Moment, daß auch nie wieder sehen zu müssen. Der eine Leibwächter, der gerade wieder auf Fino zielen wollte, wurde von einem gleißendgrünen Blitz getroffen, der sein fahles Gesicht geisterhaft aufleuchten ließ. Einen Sekundenbruchteil lang sah Nina das Vampirgebiß und wußte, daß der auch einer von denen gewesen war. Denn in dem Moment, wo die Wucht des grünen Blitzes ihn berührte, platzten unzählige Blasen auf seiner Haut auf. Roter Dampf hüllte den Vampir ein. Er zerlief regelrecht und schrumpfte dabei ein. Brodelnd und dampfend zerfloß sein Körper, bis nur sein Skelett übrigblieb.

"Uä, das wußte ich nicht, daß der bei denen so wirkt", stieß Fino angewidert aus. Nina konnte ihm da nur beipflichten.

Renato rannte schneller. Er wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Er rechnete damit, erledigt zu werden. Doch sie wollten ihn lebend haben, um zu klären, ob er der erste aus seiner Familie gewesen war oder ob er gar alleine zum Bürger Nocturnias gemacht worden war.

"Okay, Nina, wirf den Ball!" zischte Fino, als er dem fliehenden Vampir fast an den Fersen klebte. Nina mußte sich zusammenreißen. Sie ließ mit der rechten Hand los und klammerte sich dafür links noch mehr an dem dünnen Zauberer fest. Sie zog einen harmlos aussehenden Flauscheball aus ihrer Jacke frei und wiegte ihn in der Hand. Warum hatte sie denen auch erzählt, daß sie als halbwüchsiges Mädchen Tennis und Handball gespielt hatte? Doch jetzt war keine Zeit zum lamentieren. Sie nahm Maß und warf, nachdem Fino bewußt ein paar Meter zurückgefallen war. Der Ball flog durch die Luft und traf voll in den Rücken des Vampirs. Dort vollzog er eine gespenstische Umwandlung. Er blähte sich auf, wobei er wie ein feinmaschiges weißes Netz auseinanderwehte. Dieses Netzt lebte jedoch auf eine gruselige Weise. Es spannte sich auf und umschlang den flüchtenden Vampir wie eine Amöbe, die ein Nahrungsteilchen in sich einschließt.

"Können wir festhalten, daß der Arachnoball auch von Muggeln geworfen werden kann", bemerkte Fino, als das aus dem Flauscheball entwachsene Netz sein Opfer vollständig eingeschlossen hatte. Vom Lager der Obdachlosen war aufgeregtes Stimmengewirr zu hören. Einige schrien sogar.

"Okay, den hängen wir uns jetzt unten dran und dann nix wie über den Kanal", sagte Fino. Nina blickte sich derweilen um, wo die beiden anderen Leibwächter abgeblieben waren. Diese hatten inzwischen die Taktik geändert. Da sie offenbar begriffen hatten, daß sie mit MP-Salven nichts ausrichten konnten, solange sie weder Silberkugeln noch Brandgeschosse verfeuerten, hatten sie ihre Oberkleidung einfach vom Leib gerissen und sich hinter einen Müllcontainer geworfen. Nur zehn Sekunden später stiegen zwei menschengroße Fledermäuse auf, die Kurs auf den Besen von Lunera und Rabioso nahmen.

"Das war echt das dümmste, was die machen konnten", grummelte Fino. Nina mußte ihm fünf Sekunden später voll zustimmen. Denn als die beiden Riesenfledermäuse von zwei Seiten zugleich anflogen feuerten Lunera und Rabioso fast zeitgleich ihre Pistolen ab. Sie sahen nicht, wie die kleinen aber massiven Eichenbolzen mit den Sonnenquarzspitzen flogen. Aber daß sie trafen war unübersehbar. Übergangslos platzten grelle weißgelbe Feuerbälle am Himmel auseinander und standen für eine Sekunde wie zwei neue Sonnen unter den Sternen. Dann fielen die Feuerkugeln ebensoschnell wieder in sich zusammen, wie sie entstanden waren. Die fliegenden Fledermäuse waren nicht mehr da. Nur ein wenig Dunst schwebte über dem Land, womöglich Asche, womöglich Dampf.

"Okay, schreiben wir auch ins Laborbuch, daß vier Sonnensegen auf zehn Gramm Sonnenquarz auf alte Eiche mit eingeruntem Sonnensegen Vampire atomisiert."

"Wie im Horrorfilm", stieß Nina aus.

"Explodierende Flugapparate kenne ich aber eher aus dem, was die Muggel Science Fiction nennen."

"Guck dir Filme wie "Alien" oder "Godzilla" an, dann hast du beides zusammen", schnaubte Nina. Ihr war überhaupt nicht wohl bei der ganzen Aktion.

"Ladung vertäuen!" befahl Fino mit auf den wie in einem Kokon eingesponnenen Renato Campestrano deutendem Zauberstab. Dder kämpfte besessen gegen seine Fessel an. Er wälzte sich herum, versuchte, dem widerlichen Gewebe zu entschlüpfen. Ein fingerdicker Faden sauste nach oben richtung Besen. Als der Faden sich um das vordere Besenende wickelte und sich selbst zu einem orginalen Seemannsknoten verdrehte passierte es.

Nina hatte zwar schon einiges erschreckende gesehen und erlebt. Doch auf das, was jetzt passierte, war sie nicht gefaßt. Ohne jede Vorwarnung stand der eingewickelte Vampir in hellblauen Flammen, die zu einer richtigen Säule wuchsen. Es sah aus wie eine riesige Kerzenflamme. Genauso wie Wachs in der Kerzenflamme zerrann der Kokon mit seinem Inhalt. fino starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Spitze der Flamme. Diese verlängerte sich zu einem dünnen Glutfaden, der das aus dem Netz gewachsene Haltetau entlangraste. "persectum!" stieß Fino aus, als das blaue Feuer noch knapp eine Handbreit vom Besenstiel entfernt war. Ein winziges Ende vom Haltetau flog blau glühend davon. Fino starrte bange auf den Besenstiel. Er pfiff durch die Zähne, als er keine blaue Glut mehr sah.

"Mist und Halleluja, gelobt sei der gute alte Mond! Dieser Abgang hätte uns fast mit von der Bühne getragen", stellte Fino fest. Dann deutete er auf Luneras und Rabiosos Besen, der sichtlich schlingerte und immer tiefer sackte.

"Die haben ein paar Reisigbündel zu viel verloren", sagte Fino ganz gelassen. Nina schwieg. Ihr wurde klar, daß der Vampir eine Art Selbstvernichtungsschaltung besessen hatte. Das blaue Feuer hätte fast den Besenstiel erreicht und sie beide dann wohl auch zerschmolzen. Jetzt glaubte sie es, was schwarze Magie anrichten konnte.

"Was ist mit Renato?" wollte Lunera wissen. Fino deutete um sich herum und dann nach unten. Sirenengeheul war zu hören. Für Normalmenschen vielleicht noch nicht. Aber für die Werwölfe war das die Musik, um den schnellen Abgang zu machen. Sie landeten. Fino deutete auf einen dunklen Fleck auf dem Boden. "Schmelzfeuer, ein ganz übler Feuerzauberfluch, der nur bei bestimmten Situationen ausgelöst wird und sehr schwer aufzuspüren ist", dozierte er. "Aber bevor uns die Polizei der Muggels noch fragt, was wir mit den niedlichen Stecken hier gemacht haben, sehen wir lieber zu, daß wir wegkommen."

"Mit der Krücke nicht mehr. Da stecken fünf Kugeln im Hinterende", schnaubte Rabioso. Lunera, die Leitwölfin, entschied daher ganz schnell und unwiderruflich:

"Gut, Besen landen! Besen Anzünden und dann Seite an Seite disapparieren!"

"Si, Jefa!" stieß Fino aus. Rabioso brummte nur "Schleimscheißer!"

Kaum waren sie gelandet setzten Fino und Rabioso die angeschlagenen Besen in Brand. Es war zwar schade darum, weil sie so schnell keine neuen Besen mehr bekamen. Aber in einem wildfremden Jagdrevier von Hexen und Zauberern mit kaputten Besen herumzuschlingern war noch weniger zu empfehlen. Seit an Seit, Rabioso mit Lunera und Fino mit Nina, ging es per Apparition über den Kanal, erst nach Calais und dann den Atlantik entlang bis ins gesicherte Hauptquartier der Mondbrüder.

"Hätte ich das gewußt, daß dieser Kerl eine eingebaute Brandbombe hat, hätte ich die englischen Eingestaltler drauf angesetzt, den Kerl zu schnappen. Die hätten den Zauber vielleicht aufgehoben."

"Ich arbeite daran", sagte Fino reuevoll. "Sonst kann uns dieser Schmelzfeuerfluch die ganze schöne Mondnacht versauen."

"Als wenn du was hättest, womit du dir die Nächste ohne Vollmond um die Ohren hauen kannst, Finito", knurrte Rabioso.

"Das Wort heißt im italienischen fertig, erledigt. Wäre uns beiden auch fast passiert", sagte Fino und deutete auf Nina.

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Tessa Highdale und andere Zauberwesenexperten erfuhren auf Grund eines freundlichen Kontaktes bei Scotland Yard, das den Fall der verschwundenen vier italienischen Bewohner von Oxford untersuchte, daß der Student und seine drei Leibwächter offenbar von Zauberern gejagt wurden, die entweder einen Drachenhautpanzer besessen hatten oder gegen gewöhnliche Geschosse eine natürliche, besser übernatürliche Immunität besaßen. Tessa Highdale wurde gefragt, ob sie sich vorstellen konnte, daß Werwölfe die vier auf den ersten Blick unschuldigen Männer getötet hätten.

"Tja, dann blieben die Fragen, wer genau und vor allem warum? Vor allem die Art dürfte da einiges aussagen. Es wurde ein blitzblankes Knochengerüst gefunden. Das Gebiß weißt verkohlte Eckzähne auf. Die Vampirjäger sagen, daß ein Vampir, der mit dem tödlichen Fluch belegt wird, so oder so ähnlich endet, weil Fleisch und Blut eine magische Nachwirkung zeigen, anders als Fleisch und Blut bei Menschen und Werwölfen.""

"Moment, dann war der Typ in dem Kugelfängeranzug ein Vampir", vermutete Beowulf Coats. Tessa nickte. Beowulf sah sich um und grinste. Sonst hätte schon längst jemand gefragt oder ungefragt eine Antwort eingeworfen. Doch die, die das gerne tat, war jetzt bei den Tierwesenleuten. Dafür übernam Tessa die Schlußfolgerung:

"Wenn so ein kleines Licht wie dieser Leibwächter ein Vampir wurde, dann entweder, um den zu beschützenden auch zu beißen oder, weil der zu beschützende den Leibwächter gebissen und mit ihm Vampirblutsbrüderschaft getrunken hat. Was schreibt unser Kontakt beim Yard üder diese Leute? War da nicht noch was von wegen dunkle Beziehungen?"

"Ja, daß dieser Campestrano der Enkel von einem ist, der in Chicago im Verdacht steht, mit irgendwelchen Verbrecherbanden zusammenzuarbeiten. War es das, was Sie hören wollten, Ms. Highdale?"

"Eigentlich nicht. Weil wenn das so ist, und es ist nicht nur ein Verdacht, dann hätte eine uns nicht ganz so unbekannte Vampirvereinigung einen Fuß in der Tür zur organisierten Kriminalität der Muggel. Sowas wollte ich besser nicht andenken." Amos Diggory nickte. Sich vorzustellen, daß nach dem Ende des Mörders seines Sohnes eine neue, verzweigtere und von solchen Zwischenfällen abgesehen heimlichere Gefahr in die Welt getreten war, gefiel ihm absolut nicht.

"Ms. Highdale, ich erteile Ihnen und ihrem Einsatzkommando den Auftrag, den genauen Hergang zu ermitteln. Wenn herauskommt, daß Campestrano und seine Beschützer Vampire waren, schalten Sie bitte auch das Büro zur Registrierung und Beseitigung gefährlicher Vampire und das Büro für eine friedliche Koexistenz zwischen Magiern und Muggeln in den Fall ein! Falls Sie eine Rückschaubrille benutzen möchten, kann ich Ihnen eine Einsatzerlaubnis und Ausleihanweisung ausstellen, Ms. Highdale." Tessa Highdale nickte wild.

Genau zwanzig Stunden nach dem Vorfall am Obdachlosenlager bei Little Meadows überflog Tessa Highdale auf einem Feuerblitz die Szenerie und begutachtete immer wieder eine Folge von Ereignissen aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie erkannte die beiden Frauen hinter den Zauberern und erinnerte sich auch, den Mann mit der langen Mähne bei der Übergabe des Trankes gesehen zu haben. Daß die Kugeln sie nur wie kleine Gummibälle beklopften war der Beweis. Die Leibwächter Campestranos hatten zwar auf die vier geschossen, mit ihren sonst so gefährlichen Stahlmantelgeschossen jedoch keinen Erfolg erzielt, bis auf daß die vier nach ihrem Überfall auf Campestrano ihre Besen verbrannten, wie sieglose japanische Quidditchspieler und disapparieren mußten. Da die Muggelpolizei, allen voran Scotland Yard, von einem Angriff mit Sprengstoff ausging war das Gelände bis zum Abschluß der Untersuchung gesperrt. Zu Fuß kam da niemand rein. Und Tessa hütete sich, zu landen. Als sie sicher war, die Abfolge der Ereignisse in allen Einzelheiten vorwärts, rückwärts, von oben, von links, von rechts, von vorne und hinten in Normalgeschwindigkeit und in fünfzigfacher Zeitdehnung studiert zu haben, flog sie wieder davon.

Eine Stunde später hatte sie einen Termin bei Zaubereiminister Shacklebolt persönlich. Mit anwesend waren der Leiter des Aurorenkorps, sowie Mr. Weasley von der Strafverfolgungsbehörde, Tim Abrahams als Leiter der Koexistenzabteilung, Amos Diggory von der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe sowie Beowulf Coats von der Werwolfregistratur und sein Kollege Lionel Stamper von der Vampirüberwachung. Tessa las noch einmal ihren Bericht vor und identifizierte die vier Werwölfe: Lunera Tinerfeño, die Erbin Espinados, dazu eine wohl erst vor einigen Monaten dazugekommene junge Muggelfrau mit Vornamen Nina, Nachnamen unbekannt, Raúl Fernando Castillo Lorca genannt Rabioso und Jaime Diego Sánchez Fontanero genannt Fino. Lunera und die beiden Werwölfe entstammen der Zaubererwelt, wobei Lunera eine Squib ist, aber gut im Zaubertrankbrauen sein soll. Sie hat den Lykonemisistrank von Espinado nachzubrauen erlernt und ist daher in der Bruderschaft des Mondes die Anführerin oder Alphawölfin, wenn Sie das eher verstehen. Rabiosos Spitzname, der tollwütige, leitet sich davon ab, daß er als leicht reizbar und sehr auf gewaltsame Methoden versessen gilt, soweit ich das über meine Kontakte in die Bruderschaft erfahren habe. Tja, Fontaneros spanischer Rufname Fino erklärt sich von selbst, weil der Señor von Hause aus sehr dünn ist. Angeblich hat man seiner Mutter bis zur vierzigsten Woche nicht angesehen, daß sie schwanger war, und seine Geburt soll sehr schmerzarm verlaufen sein. Lunera wurde durch den wohl toten Werwolf Selvano Cortoreja zur Lykanthropin. Rabioso wurde bereits als dreijähriger gebissen und zwar dreimal. Fino war ein Jahr in der spanischen Zauberschule, als Selvano ihn biß. Er hat sich jedoch zu einem sehr exzellenten Zauberer entwickelt, Spezialität Zauberkunst, Dunkle Künste und deren Abwehr und Zaubertränke. Rabioso hat das Kämpfen mit verschiedenen Klingenwaffen und Handfeuerwaffen der Muggel erlernt. Ich konnte mich bei der ausgekundschafteten Übergabe des Trankes davon überzeugen, daß diese Angabe stimmt. Er dürfte auch mit Fino zusammen die Schußapparate ersonnen haben, mit denen zwei der drei Leibgardisten von Renato Campestrano anihiliert wurden."

"Sie meinen umgebracht, ermordet, erschossen", knurrte Coats.

"Wenn Sie gesehen hätten, wie die Waffen der beiden auf die fliegenden Vampire gewirkt haben müßten Sie meiner Formulierung zustimmen", erwiderte Tessa ganz gelassen. Tim Abrahams nickte ihr zu. Er kannte den Begriff aus Zukunftsdichtungen und der Teilchenphysik der Muggel.

"Eine entscheidende Frage, Ms. Highdale", sezte der Zaubereiminister mit seiner sonoren Bassstimme an, "müssen wir damit rechnen, daß diese zweifelhaften Zeitgenossen uns jetzt immer wieder heimsuchen wie es ihnen gefällt?"

"Nun, soweit ich mitbekam geht unsere Saat gerade auf. Tallfoot beschwert sich über die Wirkungslosigkeit des Trankes, und nach den ersten positiven Resultaten aus unseren Laboren können wir im kommenden Jahr hoffentlich die Variante anbieten, die die willentliche Verwandlungsunterdrückung bis zum Erreichen eines sicheren Platzes bewirkt. Das dürfte einigen Staub aufwirbeln."

"Ja und eindeutig klarstellen, daß es unter den Lykanthropen Verräter gibt", räumte Tim Abrahams ein. Tessa konnte das nicht von der Hand weisen. Damit mußte sie ab dem Augenblick leben, als sie so getan hatte, daß sie für Fenrir Greyback war. tim fragte, wie man außer Apparatoren noch anfliegende Zaubergeräte erkennen und melden könne. Dann fragte er, ob es eine Möglichkeit gab, für Radar unsichtbare Wasserfahrzeuge magisch zu orten. Er hatte da was von Taststrahlen gehört, die von den Amerikanern in ihren Transkontinentalluftschiffen benutzt wurden, natürlich patentgeschützt.

"Wenn sie einen Unfunkstein in das Boot oder Schiff setzen werden alle klar geformten Elektrowellen zerstreut, sobald sie in den Bereich eindringen", sagte Arthur Weasley, der sich als gewisser Experte für Muggelgeräte hervortat. Tim fragte ihn dann, ob es dann nicht möglich sei, das Unfunkkraftfeld zu messen, ohne den Amerikanern ihre Tasterstrahlen zu klauen. Arthur Weasley strahlte ihn an und meinte, daß das ginge.

"Gut, wenn das geht, dann machen Sie beide das mit Ihren Leuten zusammen, daß unser Land nicht wie ein offenes Scheunentor für ausländische Werwölfe und Vampire wirkt!" befahl Zaubereiminister Shacklebolt

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"Leute, die Lage ist schlicht weg unerträglich", sagte Lunera zu allen gerade verfügbaren Mitbrüdern und -schwestern. "Irgendeiner von diesen undankbaren Filzpelzlern in England hat den echten Lykonemisis-Trank gegen ein wertloses Gepansche ausgetauscht. Tallfoot, den unser sehr rasch wenn auch nicht immer überlegt handelnder Mitbruder Rabioso erschossen hat, als der mit einer echten Silberaxt auf mich losgehen wollte, hat mir eine Eule geschickt. Er beschwerte sich, ich hätte ihm den wertlosen Trank gegeben." Sie übersetzte Tallfoots Brief. "Wenn das Ministerium jetzt allen Lykanthropen Britanniens und Irlands vollmundig anbieten kann, einen Trank auszuschenken, der die Werwandlung bei Vollmond verhindert, dann heißt das für mich, daß sie den echten Trank studieren und nachbrauen wollen. Das wiederum heißt, daß unsere Monopolstellung gefährdet ist, den Brüdern und Schwestern unter dem Mond mehr Freiheit zu bringen. Wir müssen also damit rechnen, daß wir nicht nur gegen Nocturnia kämpfen müssen, sondern gegen unsere eigenen Daseinsgenossinnen und -genossen. Ich hoffe, ihr könnt damit leben. Ich muß das erst einmal verdauen." Alle anderen nickten verhalten. die große Mission, daß alle Werwölfe sich in der Mondbruderschaft zusammenschlossen, war gescheitert. Wenn erst das britische, später vielleicht noch das spanische Zaubereiministerium den Lykonemisis-Trank nachbrauen konnte, konnten Werwölfe sich aussuchen, was für sie das angenehmere Los war. Die Mondbrüder standen dann womöglich alleine gegen Nocturnia und konnten womöglich sogar damit rechnen, von Ihresgleichen angegriffen zu werden. Denn wer bereits den Keim der Lykanthropie im Körper hatte, hatte keine Angst mehr davor, gebissen zu werden. Wer den Trank zur Beherrschung der Wergestalt benutzen konnte, der hatte auch keine Angst mehr, als Werwolf zu leben. Mit dieser Tatsache mußten sie nun zurechtkommen.

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"Du bleibst mit deinem Arsch zu Hause in Chicago, Fabritio. Sonst sorge ich dafür, daß du mit deinem Enkel auf der Sonnenoberfläche sitzend das Jahr 2000 begrüßt", stieß Lamia aus, als sie von dem sichtlich wütenden Fabritio Campestrano erfahren hatte, daß der die Mörder seines Enkelsohnes bis in die Hölle und zurück verfolgen würde. Lamia verabscheute diese militaristische Phrase, zumal sie nicht an die christliche Hölle glaubte. Für sie wäre die Hölle ein Land ohne Nacht oder wo nur blutleere Skelette oder Golems herumliefen oder eben eine Stadt auf der Sonnenoberfläche.

"Ich habe ihn gewarnt, sich nicht auf neue Alleingänge einzulassen", gedankenschnarrte Campestrano. "Ich will wissen, wer das gemacht hat und wie. Und wenn ich das weiß, brate ich mir dessen Intimteile über dem Rost, wo der oder die dabeisitzt."

"Du bleibst mit deinem kalabresischen Arsch auf deinem verdammten Stuhl in Chicago. Schon schlimm genug, daß wir ihn verloren haben. Die warten doch drauf, daß du aus deiner Festung kommst. Die wissen jetzt sicher schon, daß du Bürger von Nocturnia bist. Ich habe genug Schutzzauber um dein Haus aufgespannt. Aber die helfen dir eben nur da, wo du bist. Außerdem will ich diesen Marchand haben. Der hat Watkins Spur aufgenommen, hat sich offenbar magischer Hilfsmittel bedient. Ich habe jetzt wichtiges nachzuholen. Ich muß vier verlorene Tage aufholen, um Nocturnias Zuwachsrate zu beschleunigen. Bekomme ich mit, daß du doch meinst, wegen eurer angeblich beschädigten Familienehre gegen alles losschlagen willst, was dein Enkel in den letzten Wochen gesehen und angesprochen hat, triffst du ihn schneller wieder, als du "Blut" sagen kannst."

"Mädchen, die Ehre der Campestranos ist heilig. Sie darf nicht verhöhnt oder gar zerstört werden. Wer immer meinen Enkelsohn umgebracht hat wird dafür bezahlen müssen. Und wenn ich die nicht jagen darf, habe ich genug andere, die das können."

"Ja, und die damit aller Welt zeigen, daß du in eurer Welt zu den zweifelhaften Ehrenmännern gehörst. Willst du nicht wirklich."

"Mädchen, ich lasse mir von dir nicht sagen, wie ich unsere Familienehre erhalte. Und wehe dir, du hast meinen kleinen Renatino auf dem Gewissen, weil du nicht wolltest, daß er was ausplaudert, ramme ich dir eigenhändig einen Eichenpflock in deine schleimige ..."

"Du wagst es, mit mir, deiner Königin, so zu reden, du kleiner, mieser Verbrecher?!" gedankenschrillte Lamia über das letzte, keineswegs stubenreine Wort des Mafioso hinweg. "Ich habe dich gemacht, weil ich dachte, du wärest mir was wert. Ich kann und ich werde dich auch kaputtmachen, wenn du für mich wertlos geworden bist, du kleine Schabe. Du gehörst mir. Ich bestimme, was du machst, wie du redest und wem du zu gehorchen hast. Ich rufe, und du kommst. Ich halte dir meinen Stiefel hin, und du leckst die Sohle blank. Wenn du deine billige Vendetta zu starten wagst dauert es keine Nacht, bis du und der Rest deiner pseudoaristokratischen Sippe zu Staub zerblasen werdet. Ich befehle dir bei deinem Blut für Nocturnia, daß du in deinem Haus bleibst und keinen Schritt vor die Tür machst. Wenn du Blut brauchst lass dir ein paar Straßenmädchen von der Südseite bringen! Aber sobald du weiter als einhundert Meilen von deinem Haus entfernt bist, oder jemand in deinem Namen seinen Fuß auf britischen Boden setzt, um Renato zu rächen, bist du kein Bürger mehr, sondern ein Feind Nocturnias. Ich habe gesprochen!"

"Howk", stieß der Mafioso über die Gedankenbrücke in die Staaten aus. "Du bildest dir ein, ein großes Vermächtnis geerbt zu haben. Du bildest dir ein, wegen deiner zusammengefriemelten Existenz von der Höhe des Sears-Turmes auf mich herabblicken zu können wie auf eine kleine Ameise im Gras. Aber du bist nur eine kleine, von einem unerwarteten Schicksal aufgeblasene Biochemikerin, die nur deshalb lange Zähne gekriegt hat, weil sie was ganz tolles erfunden hat. Ich lasse nicht so mit mir reden, wie du mich gerade angebrüllt hast. Wenn du mir noch mal dumm kommst ist dein Traum von einem Vampirreich erledigt. Also behandel mich ja nicht mehr wie einen kleinen, dummen Lakeien, der dir alles nachträgt und sich alles von dir gefallen lassen muß! Sonst findest du dich schneller irgendwo ganz tief unten als du "Blut" sagen kannst. Hast du das verstanden?"

"Meine Ansage und mein Beschluß steht, Fabritio Campestrano. Entfernst du dich mehr als hundert Meilen von deinem Haus, was per se schon gefährlich genug ist, bist du ein Verräter an Nocturnia und dessen Feind. Greift einer deiner Leute in deinem Namen jemanden an, weil er denkt, deinen Enkel damit rächen zu können, dann bist du ein Feind Nocturnias. Und jetzt muß ich schluß machen. Ich habe genug von meiner kostbaren Zeit mit dir altem Sturschädel verplempert."

"Ich weiß, wo Marchand ist. Bittest du mich nicht augenblicklich um Entschuldigung, serviere ich dir diesen Fed als Inhalt einer Urne", setzte Campestrano zu einer weiteren Drohung an. Doch Lamia grinste nur.

"Die Urne kannst du bestellen. Aber von dir wird nicht viel übrig bleiben, was dort eingefüllt werden kann, wenn du dich gegen meine klaren Anweisungen vergehst. Ich beherrsche die Magie. Das solltest du nie vergessen. du gehörst mir, und nur ich entscheide, wann du was tust und wann nicht. Wirst du für mich wertlos, wirst du den Augenblick dieser Erkenntnis nicht überleben. Gehab dich wohl, Räuberhauptmann!" Sie drängte die Gedanken an Campestrano aus ihrem Bewußtsein.

"Er muckt tatsächlich auf. Offenbar war es ein Fehler, sich mit größenwahnsinnigen Kriminellen einzulassen, die in ihrem Elfenbeinturm hausen und andere für sie durch den Dreck krauchen lassen", zischte Lamia. Dann wandte sie sich an Arnold. "Ich steige jetzt wieder in die Umwälzung. Da mich dieser Möchtegernpate von Chicago schon länger beschäftigt hat bleibe ich bis zum dreizehnten Dezember drin. Bis dahin legt mir Zach Marchand auf Eis, wenn ihr ihn kriegt und räumt jeden aus dem Weg, der ihn mir vorenthalten oder gar unerreichbar machen will!"

Arnold Vierbein sah, wie die, die im Körper seiner Frau lebte, wieder in die Blutumwälzung stieg. Was trieb sie um, derartig aggressiv und ja auch größenwahnsinnig zu sein? Er konnte sich das nur mit diesem dunklen Stein erklären, den Nyx in sich getragen hatte. Das Ding war verflucht gewesen. Vampire galten auch als verfluchte Geschöpfe. Da hatte sich womöglich was potenziert. Doch er konnte es nicht wagen, ihr zu widersprechen, sie gar zu hintergehen. Denn seitdem er wußte, was hochrangigen Bürgern widerfuhr, die in Gefahr schwebten, gefangengenommen und verhört zu werden, wußte er, daß auch in ihm die magische Zeitbombe tickte. Eine falsche Handlung, und er würde in blauem Feuer vergehen. Zumindest mußte er noch nicht den Sprengsatz tragen, der bei frühzeitiger Blockade der blauen Flammen gezündet werden sollte.

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"Die kleine Nutte meint, mich anspucken und anpinkeln zu dürfen. Ich hole mir den Mörder von Renato, und wenn ich rauskriege, daß dieses elende Blutweib den umgebracht hat, dann verteile ich sie über ganz Illinois", schnarrte Don Fabritio Campestrano. Seine Frau sah ihn sehr beunruhigt an. "Fabritio, überlege es dir. Die kann Teufelszauber machen. Weißt du, ob sie dich und mich nicht schon längst mit einem Fluch belegt hat, der uns umbringt, wenn wir nicht tun, was sie will? Hör auf mich, wenn du schon nicht auf sie hören willst! Die warten doch jetzt darauf, daß du vor Wut gegen alles und jeden losschlägst. Das gibt unseren Feinden und auch dem FBI die geniale Gelegenheit, dich einzusperren oder auf der Flucht zu erschießen."

"Morgen ist die Trauerfeier für Renatino. Dann lasse ich noch genau drei Tage verstreichen. Ab da ist jeder, der auch nur den Hauch eines Verdachtes hat, unseren Nipotino getötet zu haben, zum Abschuß freigegeben."

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Don Fabritio hatte die Beileidsbekundungen entgegengenommen. Er ärgerte sich, keine Leiche für eine anständige Zeremonie zu haben. Das Skelett des Leibwächters war nicht würdig, als Ersatz zu dienen.

Drei Tage waren um. Fabritio beschloß, mit seiner Familie nach Kalabrien zu fliegen und von dort aus die Vendetta grande auszurufen. Wer ihm half sollte belohnt, wer ihn zu stören oder gar zu bekriegen versuchte, sollte den Tod erhalten. Seine Frau warnte ihn noch mal, daß diese Vampirhexe Lamia ihn nicht aus dem Land lassen würde. Er lachte darüber nur.

Am nächsten Abend brachten die Hausangestellten mehrere Koffer zu fünf gleichaussehenden Rolls Royces. Sie alle hatten die gleiche Nummer, getönte Scheiben und waren gepanzert. In welchem Wagen der Capo der Campestranos saß bekam außer den fünf Chauffeuren und den in jedem Wagen mitfahrenden vier Leibwächtern keiner mit.

die seegrünen Wagen verließen die hauseigene Tiefgarage. Sobald sie über das Gelände des großen Hauses fuhren, wechselten sie andauernd die Positionen. Wer immer von außen zusah wußte jetzt nicht mehr, wo Campestrano war. In der Formation, wie auf einem Würfel die Fünf dargestellt ist, ging es durch das Tor. Als die beiden Vorderen Wagen passiert hatten, preschte der mittlere Wagen vor. Dann kamen die beiden hinteren.

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"Die Klonkarrennummer", grummelte FBI-Agent Mark Sutton, der mit einigen Kollegen die Villa Campestranos bewachte. Seltsamerweise war es bisher niemandem gelungen, sich der Mauer bis auf weniger als zehn Meter zu nähern. Es war, als trieb ein großer Widerwille dazu an, sich wieder zurückzuziehen.

"Der sitzt garantiert nicht im mittleren Wagen", sagte Zachary Marchand, der auf Empfehlung seines Vorgesetzten und Zustimmung des Büroleiters von Chicago dazugestoßen war. Er wußte, warum niemand an die Mauer herankam. Ein dunkler Kreis der Feindesqual umgab die Villa. Wer jedoch diesen Kreis mit dem einzig brauchbaren Gegenzauber, dem Auracalma-Zauber, überschreiten konnte, mochte auf einen weniger humanen Abwehrzauber treffen. Er wußte mittlerweile, daß Renato Campestrano ein Vampir gewesen war. Tim Abrahams aus Großbritannien hatte das Zaubereiministerium von Cartridge informiert. Also war davon auszugehen, daß Fabritio und womöglich alle in den Autos Vampire waren. Dies sprach auch dafür, daß sie bei Nacht und langsam von den großen Seen aufsteigenden Herbstnebel aufbrachen.

"Achtung, verdächtige Wagengruppe biegt von der Querstraße rechts ein", meldete der Pilot eines im Flüstermodus fliegenden Beobachtungshubschraubers in etwa fünfhundert Metern Höhe. Zachary hatte damit gerechnet, daß jemand die Gunst der Stunde nutzen und den emotional angeschlagenen Kalabreser endgültig vom Brett nehmen wollte.

"Zurückfallen lassen", sagte Sutton an den zweiten Verfolgungswagen. "Argus eins, sie behalten die fünf grünen Rolls Royce unter beobachtung. Wenn Feuergefecht mit verdächtiger Wagengruppe Sondereinheit drei alarmieren und einweisen!"

"Ist unser Luxusschlitten nicht auch gepanzert?" Fragte Marchand, der nicht wußte, ob er Suttons Befehl für Vorsicht oder Feigheit halten sollte.

"Gegen Kugeln bis neun Millimeter Vollmantel. gegen Explosivmunition und panzerbrechende Raketen hätte ich einen Wagen der höchsten Kategorie anfordern müssen", sagte Sutton. Marchand betrachtete den Kollegen mit dem schwarzen Haar und dem dito Schnurrbart. Sutton war sicher zehn Jahre älter als Marchand und kannte sich in dieser Stadt besser aus als er. Also nahm er es als berechtigte Vorsichtsmaßnahme, daß die beiden Verfolger sich um weitere hundert Meter zurückfallen ließen. Beobachten, nicht kämpfen, so lautete der Einsatzbefehl. Marchand wäre zu gerne näher an die Fünferkolonne herangefahren und hätte mit dem Menschenfindezauber die Anzahl der Fahrgäste mit der Anzahl angezeigter Menschen verglichen. Quinn Hammersmith hatte erwähnt, daß das die Schwachstelle der Vampirortungsabschirmung sein mochte.

als die beiden Fahrzeuggruppen an der Kreuzung zusammentrafen, geschah überhaupt nichts. Schwarze Schleifen wurden aus den Fenstern gehalten. Offenbar sollte das so etwas wie ein Kondolenzcorso werden. Weitere Wagen schlossen sich an und geleiteten die Fünfergruppe bis zum Flugfeld für Privatmaschinen. Dort wartete bereits die Boeing 747 der Campestranos. Marchand mußte an die heimlichen Berichte des ehemaligen Informanten Carlotti denken. Wieviele Menschen hatten mit ihrem Blut, Schweiß und ihren Tränen für das alles bezahlt? Er wußte es nicht. Im Moment fehlte auch eine Handhabe, Fabritio Campestrano zu verhaften. Daß er womöglich ein Vampir war würden die Richter wohl nicht glauben.

"So, und wenn das Vögelchen da fliegt endet unsere Zuständigkeit", grummelte Sutton. Doch Marchand hörte eine gewisse Belustigung heraus. Dann sagte Sutton: "Der Pilot steht nicht nur auf Campestranos Lohnliste, sondern auch auf unserer. Wir wollen schließlich wissen, wo der ehrenwerte Gentleman immer hinfliet."

"Jetzt erst mal wohl heim ins Mutterland", grummelte Zachary Marchand. Wenn dieser Kerl da wirklich ein Vampir war mochte der die halbe italienische Mafia zu Bürgern Nocturnias machen. Als Menschen waren diese Leute schon gefährlich und hinterlistig genug.

Die Maschine startete, nachdem alle fünf Wagen über eine Rampe in ihren großen Bauch hineingerollt waren. Keiner hatte sehen können, in welchem davon Campestrano und seine Frau gesessen hatten, zumal die Wagen ja ständig die Positionen geändert hatten. Womöglich hatte auch das einen Feuerüberfall verhindert. Denn wer nicht gleich auf Anhieb den richtigen Wagen erwischte, war erledigt.

Fauchend und heulend stürmte der vierstrahlige Jumbojet den Himmel über Chicago. Ob Zachary bald schon wieder von den Campestranos hören würde? Es sollte nur fünfzehn Minuten dauern.

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Steve Bentini wußte, daß er jeden Tag auf einem dünnen Drahtseil balancierte. Einerseits mußte er loyal zu seinem Arbeitgeber stehen. Andererseits wußte er um manche Untat, die Fabritio Campestrano verübt hatte oder besser, hatte verüben lassen. Deshalb arbeitete er nun seit zehn Jahren als geheimer Informant für das FBI, Deckname Pegasus. Es war immer wieder heikel, die Anzahl der Passagiere und die Namen weiterzumelden. Er mußte dafür Umwege nutzen, wo keiner der Boten den vorletzten Boten kannte. Jetzt, wo Campestrano in Trauer und Wut über den Tod seines Enkelsohns war, war der alte Patriarch noch unberechenbarer. Außerdem hatte Bentini den Eindruck, daß seit August irgendwas anderes dazugekommen war. Er hatte in der Zeit nur Gäste Campestranos geflogen. Doch irgendwie fühlte er sich nicht mehr so sicher, wenn das jemals so gewesen sein sollte.

Die Routine des Piloten hielt ihn vom Grübeln ab. Sein Copilot Charles Latorre, wie er Italoamerikaner, gab die letzten anstehenden Punkte auf der Checkliste durch. Dann kam auch schon die Rollerlaubnis. Er folgte einer anderen 747, die gerammelt voll mit Überseepassagieren war. Dann kam die Startfreigabe. Er gab auf allen vier Düsen Vollgas und jagte die gewaltige Maschine über die Betonpiste. Dann, als der Auftrieb stark genug an den Tragflächen hob, zog er den Steuerknüppel zu sich heran. Die Nase der Maschine stieg. Das Flugzeug richtete sich nach oben und verließ die Startbahn. Schnell ließ Bentini das Fahrwerk einfahren, um den Luftwiderstand möglichst schnell zu senken, um weiter zu beschleunigen.

Die Stadt Chicago mit ihren Wolkenkratzern fiel zurück. Bentini steuerte den Jumbo auf östlichen Kurs ein. Über Funk holte er sich die letzten Anweisungen für das verlassen des Luftraums Illinois und auf welcher Höhe, auch Flugfläche genannt, er bis zum nächsten Korrekturbefehl fliegen durfte. Sie flogen bereits jetzt schon mit über 600 Stundenkilometern.

Unterhalb des Cockpits saßen die fünfzig Mann, die mit dem Capo nach Italien flogen, um dort mit dem Rest der Familie zusammenzutreffen. Der Capo wähnte sich sicher, daß er nichts auf die Drohungen Lamias geben mußte. Sie wurde ihm nur gefährlich, wenn sie in seiner unmittelbaren Nähe war. Und da würde er sie so schnell nicht mehr hinlassen. Das Blutweib hatte seinen Enkel in ein Abenteuer getrieben, daß ihn umgebracht hatte. Dafür mußte jemand bezahlen, womöglich sogar diese Lamia.

"Fabritio, ich werde mich erst sicher fühlen, wenn wir über dem Meer sind", seufzte Campestranos Frau. Die Trauer um ihren geliebten Enkelsohn stand ihr immer noch im Gesicht. Wer sagte mal, daß Vampire keine menschlichen Regungen mehr haben? Jedenfalls fühlte der alte Patriarch ihr nach. Doch wo sie mal still und mal tränenreich trauerte, entfachte es in ihm eine Wut. Man hatte ihm seinen Enkel genommen, seinen Kronprinzen. Wenn er nicht mehr lebte würde es einen Erbfolgestreit, womöglich sogar einen Krieg geben. Vielleicht wurde sein mühsam und listenreich aufgebautes Machtgefüge von anderen Familien absorbiert, wie das Aas von den Geiern gefressen wurde. Er war ein Sohn der Nacht. Er war jetzt stärker als alle anderen, widerstand vielen Sachen, zum Beispiel Giften. Was wollte ihm da die Konkurrenz? Doch er fühlte, daß er mit Lamia bald eine Entscheidung suchen mußte. Diese Königin der Vampire konnte ihn mit ihrem Blick unterwerfen. Dann konnte er tagelang nichts anderes tun als das, was sie sagte. Im Moment überwog seine Wut ihren Willen. Seine Ehre mußte wiederhergestellt werden. Wenn er das ungesühnt ließ, daß sein Enkel gestorben war, würden bald andere meinen, ihm mühsam errungene Gebiete abspenstig zu machen. Er mochte vielleicht keinen Nachfolger aus Fleisch und Blut mehr haben. Aber bis er starb wollte er zusammenhalten, was er erbaut und mal mit geschickter, mal mit harter Hand errichtet hatte.

Der Flieger eilte durch die Luft. Bentini hatte keinen Holperer beim Abheben gebaut. Andererseits war sich Campestrano sicher, daß Bentini nicht mehr ganz loyal zu ihm stand. Er traf sich immer wieder mit Freunden, die danach eilfertig irgendwo anders hinfuhren oder liefen. Wehe ddem, wenn er doppelten Lohn kassierte!

Die Maschine befand sich immer noch im Steigflug und beschleunigte. So verging die erste Viertelstunde des Fluges. Campestrano ging eine Rede durch, die er vor seinen Verwandten und den befreundeten Familienoberhäuptern halten wollte. Solte er da erzählen, was ihm passiert war? Er brauchte ja nur zu lächeln, und alle sahen, was er jetzt war. Über den Sitzen waren Anzeigen, auf denen Flugroute, zurückgelegte Entfernung und noch zu fliegende Strecke bekanntgegeben wurden. Er staunte immer wieder, wie schnell ein Flugzeug nneunzig Meilen schaffte. Mit einem Auto waren das schon mehr als anderthalb Stunden. Gerade sprang die Entfernungsanzeige von 95 auf 96 Meilen und zeigte auch den Kilometerwert an. Was hatte Lamia ihm gedroht? Wenn er sich weiter als hundert Meilen von seinem Haus entfernen würde wäre er ein Verräter an Nocturnia? Allein zum Flughafen hin waren es schon einige Meilen. Dann bestimmt eine über das Rollfeld. Und gleich tickte die hundertste Meile oder der 160. Kilometer geflogene Strecke über die Anzeige. Er mußte grinsen. Soviel zu Lamias leeren Drohungen. 98 Meilen. Unvermittelt fühlte er etwas in seiner Magengrube, etwas eiskaltes. 99 Meilen. Da war ihm, als gösse ihm jemand flüssigen Stickstoff in den Magen. Er klappte den Mund auf. In dem Moment barst eine Garbe aus Flammen aus seinem Körper heraus. Es war jedoch kein helles, heißes, Rauch bildendes Feuer, sondern ein um sich greifendes Geflecht aus nachtschwarzen, rauchlos brennenden, Eiseskälte verströmenden Flammen. Don Fabritio kam nicht mehr dazu, zu schreien. Er fühlte, wie es ihn wie mit eiskalten Riesenkrallen zerriß. Im Nächsten Moment sah er nur Dunkelheit vor sich und verlor jedes Gefühl für seine Umgebung und seine Existenz.

Das dunkle Feuer, das alles mit Magie angereicherte oder metallische wie Zunder verbrannte, ohne Hitze abzustrahlen, umschloß Carolina Campestrano so überfallartig, daß sie keinen Mucks mehr tun konnte. Als Vampirin steckte in jeder Faser ihres Körpers Magie, die nun das Feuer weiter anfachte. Es drang durch die Polster und fand die Metallrahmen der Sitze, die innerhalb von einer Sekunde verrosteten und zu braunem Staub zerfielen. Wo das dunkle Feuer auf Metall überspringen konnte, zerstörte es auch die Stoffe dazwischen. Einer der Leibwächter sah noch eine nachtschwarze Flamme, die ihn ergriff. Dann fühlte er, wie er wie mit eiskalten Klingen zerschnitten wurde. Doch schreien konnte er auch nicht mehr.

Das sich immer weiter ausbreitende dunkle Feuer ließ die Kabinentemperatur immer schneller abfallen. Die Wärmefühler registrierten den ungewollten Temperatursturz und meldeten an die Temperaturregler, daß sie die Heizelemente höher ausfahren mußten. Doch die automatische Klimaanlage konnte nicht gegen die entfesselte Zerstörungskraft ankämpfen. Das dunkle Feuer breitete sich mit jeder Sekunde immer schneller aus.

Im Cockpit setzte ein Konzert von Alarmsignalen und automatischen Warndurchsagen ein. Immer mehr Kontrollampen blinkten auf. Es war, als sei ein Feuer an Bord, das alle relevanten Systeme beeinträchtigte. Bentini fand jedoch im Wust der Warnanzeigen keinen Feueralarm. Es gab keinen Rauch und keine Hitzeentwicklung. "Warnung! Warnung! Ausfall Druckausgleich!" quäkte eine aufgeregt modulierte Männerstimme. Eine weiblich modulierte Stimme trällerte: "ausfall primärer Stromkreise.

"Hast du eine Explosion gehört, Charlie?" fragte Steve Bentini. Der Copilot schüttelte den Kopf. Dann versagte der Kabinendruck. Sauerstoffmasken fielen von der Decke. Das war aber auch schon die letzte Aktion des Notsystems. Denn die Sauerstoffleitungen wurden gerade von der unheimlichen Macht zerstört, die den Tod der Campestranos herbeigeführt hatte und noch lange nicht genug hatte.

Ein Mann hämmerte an die verriegelte Cockpittür. "Captain, Feuer an Bord. Aber kein helles, sondern ein dunkles Feuer!" hörten Bentini und Latorre einen höchst verängstigten Mann durch die verschlossene Tür. Das war einer der drei Flugbegleiter. Diese Erkenntnis war der letzte klare Gedanke, den Bentini fassen konnte. Er hörte noch eine aufgeregte Stimme aus den Kopfhörern seines Funksprechbestecks. Doch sie wurde von einem immer lauteren Rauschen überlagert. Vor Bentinis Augen wirbelten erst rote Funken, dann Schlieren, bis ein schwarzer Vorhang vor seine Augen niedersauste. Er stürzte in die Laut- und Lichtlosigkeit einer gnadenvollen Ohnmacht, die ihm den Schmerz ersparte, den das dunkle Feuer verursachte. Keine Minute später barst die bereits stark zerfressene Maschine in einem dunklen Flammenwirbel auseinander. Die letzten Reste des Jumbos zerfielen im freien Fall zu pulvrigem Rost und wurden in alle Winde zerstreut.

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Sutton schüttelte den Kopf. Die Meldung konnte nicht stimmen. "Und das ist bestätigt?" fragte er noch einmal an. Er lauschte und nickte verdrossen. Dann bedankte er sich und legte auf.

"Campestranos Maschine ist im Flug auseinandergebrochen und restlos verschwunden. Das Radar hat keine niedergehenden Trümmerstücke aufgefaßt", sagte er zu Zachary Marchand, der nach der Verfolgung der Campestranos zusehen wollte, gleich von hier aus nach New Orleans zu fliegen. Nachher wollte irgendwer das ausnutzen, daß er hier war. Zwar trug er einen Drachenhautpanzer unter seinem Anzug, und im Kragen seines weißen Hemdes steckte ein winziges Ding, das bei kleinster Konzentration von Betäubungs- oder Lungengiftes eine schützende Blase aus Zauberkraft um seinen Kopf aufbauen konnte, die ihn mit Frischluft versorgte. Aber gegen einen magischen Angriff würde nur ein schneller Abwehrzauber helfen. Er horchte auf. Dann fragte er, was genau passiert sei. Sutton erzählte ihm, daß Campestranos Maschine knapp hundert Meilen vom Flughafen entfernt zu trudeln begonnen habe und dann in immer kleinere Stücke auseinandergefallen sei, bis diese zu klein für das Radar waren. Das sei innerhalb von nur einer Minute passiert, wie eine extrem langsam ablaufende Explosion.

"Eine verlangsamte Explosion?" fragte marchand höchst aufgeregt nach. Sutton maulte nur "Ja, so hat's der Lotse beschrieben."

"Der Punkt des Zerfalls wurde hoffentlich markiert", hakte Marchand nach. Natürlich war das passiert. Also blieb nur die Frage, was mit dem Flugzeug passiert war. Eine Bombe hätte es auf einen Schlag zerfetzt oder nur in größere Trümmer auseinandergesprengt. Es hatte vorher Kursabweichungen gezeigt. Zachary überlegte, welche Kraft das bewirken konnte. Dann fiel ihm ein, was Jane Porter und später auch Justine Brightgate ihm über das dunkle Feuer erzählt hatten. Es zersetzte beim Verbrennen besonders gerne Metall und alles, wo Magie eingelagert war. War es erst einmal entfacht, zerstörte es jedoch auch alles andere, bis die Flammen im Umkreis einer ihrer Längen kein Metall und keine Magie mehr vorfanden. Wenn ein Jumbojet von dieser Zerstörungskraft heimgesucht wurde, dann zerfiel der nicht in einer Sekunde. Dann konnte genau das Zerstörungsmuster auftreten, daß der wohl gerade mit seinen Nerven ringende Fluglotse beobachtet hatte. Zachary erschauderte. Wenn Campestrano im dunklen Feuer verbrannt war, dann entweder, weil ein mächtiger Magier ihn töten wollte oder weil der Zünder dafür schon in ihm steckte und bei einer bestimmten Situation ausgelöst wurde.

Zachary arbeitete zwar nicht mehr offiziell für das Zaubereiministerium, doch den Vorfall mußte er melden, allein schon den Gesetzen eines Zaubererweltbürgers gehorchend, der jede Form von Magie vor Muggeln anzeigen mußte. Ministerialzauberer, die sich als Beamte der Bundesluftfahrtsbehörde FAA und des nationalen Verkehrssicherheitsbüros NTSB ausgaben befragten die Zeugen der Zeitlupenexplosion und hörten sich an, wer alles in der Maschine gesessen hatte. Zachary Marchand hatte indes eine staatliche Sondermaschine nach New Orleans genommen. Er fragte sich die ganze Zeit, wie das dunkle Feuer in die riesige Boeing geraten war. Denn ein Zauberer konnte nicht in ein fliegendes Flugzeug hineinapparieren. Also mußte der Zünder schon vorher dringesteckt haben. Dann kam ihm die Erkenntnis, daß Campestrano einer Bestrafungsaktion seiner Herrin zum Opfer gefallen sein mußte. Irgendwas hatte er verbockt oder sich nicht an vorgegebene Spielregeln gehalten. zach erinnerte sich an Berichte des LI, wonach einige Vampire der Gefangennahme durch eine Schmelzfeuerzündung entzogen wurden. Doch Schmelzfeuer verbrannte nur lebende Körper mit ihrer Kleidung. konnte es dabei nicht auf weitere Lebewesen übergreifen fiel es unmittelbar nach Verschwinden des letzten Restes Körpergewebe zusammen. Nein, es mußte das dunkle Feuer gewesen sein, daß die vernichtete Abgrundstochter Hallitti ohne Zauberstab rufen und lenken konnte. Das machte auch einen Sinn, weil ein Vampir auf Grund der in ihm wirkenden Magie ein genialer Brandbeschleuniger war. Alle in seinem Umkreis wurden dann mit erledigt, ob Freund oder Feind. Das war eine grausame Vernichtungsart und konnte auch auf den zurückfallen, der sie anwendete, wenn er den Fehler machte, zu nahe beim Brandherd zu sein.

Als Zachary wieder in New Orleans landete erfuhr er von Justine Brightgate, daß die Vernichtung des Flugzeuges als überstarke Bombenexplosion hingestellt wurde. Man hatte sogar den passenden Verursacher ausgemacht, die Bertolonis. Immerhin standen die seit der Explosion ihres Privatjets mit den Campestranos auf schlechtem Fuß. Es hätte jederzeit zur Vendetta kommen können. Ja, so paßte es, erkannte Zachary. Die Mafiosi würden zwar mit den Zähnen knirschen und nach dem Schuldigen für die ihnen in die Schuhe geschobene Explosion suchen, aber keinen finden. Denn die "Explosion" war so heftig gewesen, daß selbst die sonst so zerstörungsunanfälligen Flugschreiber zerschmettert und unauswertbar wurden. Zumindest war das die für die Muggelwelt offizielle Lesart, wo die Flugschreiber erst gar nicht gefunden worden waren. Die Radarbildaufzeichnungen wurden durch eine simple Manipulation der Zeitverlaufsdaten entsprechend beschleunigt, daß die Maschine von einem auf den anderen Augenblick im Flug zerplatzt war. Gut, daß sich doch ein paar Zaubererweltbeamte mit Computertechnik auskannten.

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Nach der Vernichtung der Campestranos wußte Zachary, daß er Nocturnia nicht länger unterschätzen durfte. Er wußte, daß die Vampire ihn demnächst mit aller Macht angreifen und jeden als Geisel nehmen würden, der ihm oder seiner offiziellen Dienststelle etwas bedeutete.

Seit dem zwanzigsten November trug er einen von dreißig Gürteln mit den winzigen Vampirblutresonanzkristallen. Diese strahlten bis zweihundert Meter weit eine Sphäre schwacher, für Elektronik unschädliche Zauberkraftimpulse aus. Geriet ein Vampir in den Strahlungsbereich, so wurde dessen Blut in Vibrationen versetzt. Je näher ein Vampir kam, desto stärker wurden diese Vibrationen, bis er, gerade hundert Meter entfernt, vor lauter Zittern und steigender Körperhitze Aktionsunfähig wurde. Die Resonanzkristalle summten dann, wenn Vampire in ihre Ausstrahlung hineingerieten und die ausgeschickten Streusignale wie Radarechos zurückwarfen. Zach hatte es im Büro probiert. Tatsächlich fühlte er gegen Abend, wie aus zwei Richtungen mehrere Resonanzquellen auf ihn zukamen. Tatsächlich kamen sie jedoch gerade auf hundert Meter an ihn heran. Er konnte vier Gestalten sehen, die wie unter dauernden Stromstößen zitterten und bebten und nicht näher herankamen. Als er auf einen von denenzuging, entfuhr diesen das blaue Schmelzfeuer, wohl weil er sich in die Enge getrieben oder handlungsunfähig wähnte. Jetzt wußten die, daß die Zeit der Unaufspürbarkeit und Wehrlosigkeit vorbei war. Die Anderen konnten gerade noch weglaufen, bevor sie nichts mehr machen konnten.

Als Zachary dann einen Anruf von einer fremden Frau bekam, die sich als Dark Velvet vorstellte, mußte er erst grinsen. Das verging ihm aber schnell wieder.

"wir erkennen an, daß du stark bist und sehr mächtige Beschützer hast, Zachary Marchand. Aber unsere Königin hat beschlossen, daß du der Sohn unserer erhabenen Befreier wirst. Wenn du bis zum ersten Dezember nicht freiwillig deine Waffen und Schutzmittel ablegst und in einer Zeitungsanzeige verkündest, wo wir dich abholen können, so werden deine Vettern unserer Königin ihr Blut geben, um neue Bürger Nocturnias zu erschaffen. Du hast zehn Nächte Zeit, darüber nachzudenken. Deine Eltern leben schon nicht mehr. Willst du auch für den Tod deiner übrigen Verwandten die Schuld tragen, so lasse die Frist ruhig verstreichen!"

"Soso, eure Königin will das? Ich habe bisher nur gedacht, die Vierbeins wollten das? Warum ruft eure tolle Blutmondkönigin mich nicht selbst an? Kann sie kein Telefon benutzen oder hat sie Angst, ich könnte ihr Geheimnis herausfinden, wie sie wirklich heißt? Dark Velvet ist ja wohl auch nicht Ihr Geburtsname, oder?"

"Natürlich ist er das. Seitdem ich eine Tochter der Nacht bin heiße ich so", erwiderte die Anruferin. "Die Frist ist verkündet. Zehn Nächte hast du Zeit, den unerträglichen Widerstand aufzugeben und dich ganz ohne Schutz und Hinterhältigkeiten in unsere Obhut zu begeben. Glaube es mir, daß du nachher alle Schandtaten bereuen wirst, die du gegen uns ersonnen und verübt hast, so oder so!" Es knackte in der Leitung. Dann kam das rauhe Tut-Tut-Tut, daß die Verbindung getrennt worden war.

"War zu erwarten", grummelte Zachary. "Ihr wollt es jetzt also wirklich wissen. Gut, dann bringen wir es zu Ende."

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Zachary hatte bis zum vierundzwanzigsten keine Anstalten gemacht, dem Ansinnen dieser Dark Velvet zu entsprechen. Sein Vampirblutresonanzgürtel begleitete ihn auch weiterhin. Doch er reagierte nicht mehr auf die Annäherung von Blutsaugern. Aus dem LI und dem Ministerium kamen Rückmeldungen, daß damit nun wieder schlafende Vampire gefunden und bei Tageslicht erledigt werden konnten. Außerdem zeigte der Resonanzkristall einen interessanten Nebeneffekt: Wo der Verdacht bestand, daß das Vampirwerdungsvirus in Umlauf gebracht worden war, erzeugte der Resonanzkristall bei allen ernsthaft befallenen einen hohen, fast tödlichen Fieberanfall, der jedoch nach einem hellen Tag abklang. Die angeregte Umwandlung war jedoch dann gestoppt, und was von dem Keim noch im Blut war wurde von den körpereigenen Abwehrkräften ausgemerzt. Quinn Hammersmith, der Erfinder dieser neuen Aufspür- und Abwehrmaßnahme, genoß das Lob seines Vorgesetzten. Allerdings bedauerte er, daß die Beschaffung von Vampirblut zur Herstellung ausreichender Resonanzkristalle schwieriger War, als der Diebstahl von Occamyeiern, deren silberne Schalen zur Herstellung der Kristalle verwendet wurden.

Zachary dachte an das alles, als er in seinem Büro saß und mit einemAktenstapel kämpfte. Weinberger hatte mal wieder von sich hören lassen. Der Waffenhändler war vom Mossat erkannt worden, als er in den Palästinensergebieten mit hochrangigen Fundamentalisten verhandelte. Außerdem waren nach dem Ende der Campestranos und Daniellis teils heimliche, teils offene Erbfolgestreitigkeiten zwischen den Mafiasippen diesseits und jenseits des Atlantiks entbrannt. Watkin hatte sich offenbar darauf eingelassen, es nur mit seinen früheren Arbeitgebern von der CIA zu tun zu haben. Die letzte Meldung behauptete, daß er sich in Sao Paulo aufhalten sollte. Der Bertucci-Clan jagte ihm nach, weil er ihm fünfzehn Millionen Dollar stiebitzt hatte und beanspruchte deshalb wohl auch ein Teil des noch nicht aufgedeckten Campestrano-Vermögens, so ein Informant aus Chicago. Also hatte Campestrano Watkin beauftragen lassen. Das paßte jetzt lückenlos, erkannte Marchand. Insofern entfiel eigentlich der Grund, ihn weiter zu jagen. Dann konnten die Schlapphüte ihn gerne als Beilage zum Weihnachtstruthahn braten.

Das Telefon klingelte. Marchand nahm ab. Ob es wieder diese Dark Velvet war?

"Sonderagent Marchand, im Sumpfgebiet wurde da, wo früher die angebliche Voodoo-Königin Marie Laveau ihr Unwesen getrieben haben soll eine Zusammenkunft der Umbra-Lunaris-Bruderschaft beobachtet. Zwei Agenten sind der Spur nachgegangen. Sie melden sich nicht mehr. Fahren Sie mit Agent Westerly hin und prüfen sie, ob wir es wirklich mit der UL-Sekte zu tun haben! Keine Heldentaten, wenn ich bitten darf", hörte Zach die Stimme seines Chefs durch den Höhrer.

Die Mondschattenbrüder waren eine kleine aber höchst brutale Sekte, die ähnlich wie die Davidianer unseligen Angedenkens die Vorherrschaft ihres Glaubens mit brutalem Terror durchsetzen wollten. Ihre Weltanschaung, die sie als "Die Wahrheit der letzten Stunden" verkauften, richtete sich gegen alle freiheitlichen Werte, gegen die Gleichberechtigung und gegen die Lehren von Juden, Christen und Muslimen. Sie bezeichneten den Glauben an einen gerechten oder väterlichen Gott als Lügen - worin Zach ihnen sogar zustimmte - wollten jedoch haben, daß die Menschen sich nur noch ihrer Schöpfungskraft verbunden fühlten, die aus dem Schatten des Mondes entstand. Irgendwer hatte da wohl gemeint, eine dem Werwolfdasein entgegengerichtete Kraft des Neumondes propagieren zu müssen. Weltverneinende Dummköpfe, die sowas als ihre große Zuflucht annahmen gab es leider einige. Das Problem war, jede Neumondnacht mußte ein Mitglied zum Wohle aller und zur Anrufung der großen Kraft den Opfertod sterben. Wenn das demnächst hier in New Orleans passieren sollte, hatte er das Problem am Hals. Mit der Zaubererwelt hatten die UL-Jünger nichts zu tun. Das war hundertfach überprüft worden.

Westerly hatte schon mit Fanatikern zu tun gehabt, mit Anhängern des Voodookultes. Seine Großmutter war sogar eine praktizierende Mambo, eine Voodoo-Priesterin. Deshalb konnte sich Zach auch gut mit ihm über den Voodookult und Marie Laveau unterhalten. Er durfte nur nicht verraten, daß er die legendäre Voodoo-Meisterin bereits gesprochen hatte und daß sie wahrhaftig über eine Starke Magie verfügte, im Leben wie auch nach ihrem Tod.

"Diese frevler werden es bitter bereuen, an der Wirkungsstätte Maries ihren perversen Glauben zu praktizieren", sagte Westerly auf dem Weg ins Sumpfland von Bayoo. Zach hatte auf der Fahrt zu einem Bootsanleger zwei mal den VBR-Gürtel vibrieren gefühlt. Offenbar wurde er immer noch überwacht. Doch der Gürtel hielt die lichtscheuen Kreaturen auf Abstand.

"Du meinst, Marie könnte sich dafür rächen, daß jemand einen andren Glauben in ihrem früheren Wirkungskreis zelebriert?" Fragte Zachary, er prüfte, ob sie auch gut genug ausgerüstet waren.

"Sie wirkt immer noch, Zach. Sie wartet nur darauf, daß genug Leute sie wieder verehren und aus dem Totenreich zurückrufen. Solange bleibt sie als Geist hier in Bayoo." Zach hätte fast gesagt, daß das tatsächlich stimte. Statt dessen sagte er:

"Gut, der Geist von jemandem ist ja überall, wo Leute das verehren, was jemand im Leben erreicht oder an Ratschlägen überliefert hat. Insofern wird das für Marie Laveau wohl auch stimmen. Aber die Umbra-Lunaris-Brüder werden das wohl nicht hören wollen."

"Dann werden sie den Preis dafür bezahlen", sagte Westerly. Der halbafroamerikanische FBI-Mann legte gerade die Schußsichere Kleidung an. Zachary wollte das erst am Bootsanleger tun. Westerly bekam nicht mit, daß sein Kollege mit seinen Gedanken immer wider bei jemandem anderen war. Außerdem spürte der Sohn eines ehemaligen Marinemusikers und einer Armeekrankenschwester, daß von Zachary sanfte Schwingungen ausgingen, die er nicht deuten konnte, die er aber auch nicht als bedrohlich einstufen konnte.

Das Sumpfboot gehörte zu der Sorte, wie sie auch in den Everglades eingesetzt wurden. Es besaß einen flachen Unterboden und einen Propeller statt einer Schraube. Zudem konnten für kurze Überlandfahrten zusätzlich noch kleine Räder ausgefahren werden, wodurch es technisch gesehen schon als Amphibienfahrzeug durchgehen konnte.

Westerly machte Bestandsaufnahme, welche Ausrüstung das Boot bereithielt. Vor allem Signalpistolen, Notfallverpflegung, umfangreiches Verbandsmaterial und Wasseraufbereitungstabletten gehörten ebenso zur Ausrüstung wie ein Maschinengewehr mit Stativ und Nachtvisier.

Zachary nutzte die Pause vor der Abfahrt noch einmal, um in einem der Toilettenhäuschen zu verschwinden. Westerly fragte sich, warum Zach mehr als zwei Minuten brauchte. Doch dann kam er auch schon wieder zurück und grüßte. Er zog sich schnell die kugelsichere Ausrüstung an und bestieg mit Westerly das Boot.

Laut dröhnend erwachte der Motor zum Leben. Der Propeller im Heck kam auf Touren und drehte sich bald so schnell, daß er bald als flirrende Scheibe erschien. Der Schub reichte aus, um das Boot mit mehr als zwanzig Knoten über das trübe Sumpfwasser zu jagen.

"Die letzten tausend Meter müssen wir rudern. Die Kollegen haben sich zu letzt von hier gemeldet!" rief Westerly über den Motorenlärm hinweg. Zachary nickte und deutete auf das kleine GPS-Anzeigegerät. Die Position der letzten Meldung war als rotblinkender Kreis markiert.

"Entweder sind die schon auf versteckte Wachen gestoßen, oder die sind in ein Funkloch geraten", vermutete Zach Marchand.

"Hoffentlich nicht beides", erwiderte Westerly. "Im Zweifelsfall kann ich meine Großmutter um Hilfe rufen, wenn die Technik versagt", fügte er hinzu. Zach horchte auf und fragte, ob er meine, telepathischen Kontakt mit seiner Großmutter zu bekommen.

"Im westen heißt es so, Zach. Das Wort dafür ist zu kompliziert. Übersetzt heißt das aber soviel wie Seelenberührung", sagte Westerly. Zachary fragte ihn, ob er auch die Seelen anderer "berühren" also spüren und verstehen konnte. "Leider nicht. Ich bin zu schwach. Meine Großmutter meinte, ich hätte nicht als Sohn einer unerfüllten Weißen geboren werden dürfen, dann hätte ich ein wahrer Houngan werden können und nicht jemand, der sich nur so nennt, zwar die Zeremonien und Götter kennt, aber leider nicht die wahre Kraft der Magie entfalten kann." Das ließ Zachary unbeantwortet. Dabei fühlte Westerly, daß Zachary Marchand selbst etwas an sich hatte, auf das nur das Wort Magie richtig paßte. Vielleicht hatte man ihm einen Schutzzauber gegeben, damit seine Feinde auf Abstand blieben. Vielleicht war es aber auch ein Zauber, der ihn auffindbar machte, wenn er verloren ging. Zachary wollte es ihm aber nicht verraten.

Das GPS-Gerät wies aus, daß sie gleich an dem Punkt waren, von wo aus sie aus eigener Kraft ans Ziel gelangen mußten. Zachary drehte den Motor noch einmal voll auf, um genug Schwung zu erzeugen und würgte ihn dann ab. Protestierend rülpsend und spotzend kam der Antrieb zur Ruhe. Das Boot glitt leise rauschend über das braune Sumpfwasser. Sie hatten gerade zwanzig Zentimeter Wasser unter dem flachen Boden, die berühmte Handbreit, die die Seeleute sich immer wünschten. Als der Schwung des Bootes vollkommen aufgezehrt war griffen die beiden Agenten zu den Paddeln und stießen sie so leise es ging in die trüben Fluten. Einmal konnte Westerly die kurze, aber scharfzähnig bewehrte Schnauze eines Alligators hinter sich aus dem Wasser lugen sehen. Irgendwo hier im Sumpfland mochte es sogar eingeschleppte Riesenschlangen geben, die irgendwelche Einfaltspinsel mit mehr Geld als Verstand in die Staaten gebracht und dann einfach ausgesetzt hatten. Als wenn es hier nicht schon genug gefährliche Reptilien gebe. Malcolm Westerly genoß diese Ruhe der Natur. Doch er spürte auch die Nähe eines Feindes. Doch wo der Feind war erfaßte er nicht.

"Gib unsere Position durch, wir erreichen gleich eine Hütte", wisperte Zachary. Malcolm Westerly griff zum Mikrofon und drückte die Sprechtaste. Er wollte gerade die Positionsmeldung durchgeben, als sie von gleich vier Stellen unter Feuer genommen wurden.

Die Geschosse tackerten gegen das schußsichere Blech des Bootes, klirrten vom extraverstärkten Motorblock ab und klatschten in das Wasser um sie herum. Nur die aufgesetzten Helme und die angelegten Schutzwesten bewahrten die beiden Agenten davor, in nur einer Viertelminute restlos durchsiebt zu werden. Die beiden anderen Agenten hatten keine Schutzkleidung getragen. Jetzt erklärte sich schlagartig, warum sie sich nicht mehr gemeldet hatten. Malcolm Westerly rief in das immer noch auf Sendung stehende Funkgerät, wo sie waren und daß sie von vier MGS beschossen wurden. Zachary rief nach der Meldung, daß es jetzt sechs Maschinengewehre waren.

"Okay, Anschleichen war unsinn. Also wieder voll Stoff!" Rief Zachary und zog am Anlasser des Motors. Rrrrummmmm! brüllte die Maschine erst mal. Der Propeller machte ein paar müde Umdrehungen. Dann sprang der Motor richtig an. Zach gab Vollgas. Der Propeller wirbelte das aufspritzende Wasser zu Dunstspiralen auseinander, als er das Boot auf die Hütte zutrieb. Immer noch hagelten Geschosse auf die beiden Agenten ein, die zwischendurch hinter der schildartigen Bordwand Deckung nahmen, um nicht innerhalb von einer Minute ihr ganzes Körpergewicht in Blei aufzusammeln. Da lag dann die Hütte vor ihnen.

"Ruf Verstärkung her. Die sind hier. Besser hätten die uns nicht mit der Nase darauf stoßen können!" rief Zachary. Westerly griff wieder zum Mikrofon, während Zachary das mitgeführte MG bereitmachte, um zumindest die freundlichen Grüße zu erwidern.

Westerly hatte nur "Volle Verstärkung zu Position ...!" rufen können, als eine gezielte Garbe die Funkantenne abrasierte. Zachary ließ das Kalt. Er hatte das Bordgeschütz jetzt klar und mit Stahlmantelgeschossen geladen. Er zielte auf die vorderste MG-Stellung und erwiderte das Feuer. Tatsächlich brach der Beschuß sofort ab, als die großkalibrigen Geschosse mit Überschallgeschwindigkeit ihr Ziel trafen. Sofort nahm Zach die zweite Stellung an der Backbordseite aufs Korn und zog den Abzug durch. Er schwenkte die Waffe in einem engen Winkel. Dann endlich schwieg auch das zweite MG. Die vier verbleibenden feuerten dafür noch wütender. Doch Zachary faßte so präzise wie ein Kampfroboter seine Ziele auf. Einmal erkannte er durch das Zielfernrohr sogar ein Schlauchboot und hielt auf dessen Seitenwulst. Zwanzig Geschosse fanden ihre Ziele. Das Boot geriet in Schräglage. Die getroffenen Luftzellen erschlafften. Der Schütze bekam seine Waffe nicht mehr in günstige Schußposition. Zach hielt noch einmal drauf und traf den Lauf der gegnerischen Waffe, bevor er zusah, den entgegenfliegenden Garben auszuweichen. In schneller Folge prasselten weitere feindliche Geschosse gegen die Bordwand, die schon bedenklich eingebeult aussah. Doch noch hielt die zolldicke Stahlpanzerung. Dann, plötzlich, hörte das feindliche Feuer auf. Nur noch das Schwirren einzelner Querschläger verhallte in der Ferne. Zachary suchte nach den verbliebenen Stellungen. Westerly sah davonrasende Schlauchboote. "Die hauen ab, Zach. Halten wir sie auf?"

"Womöglich haben die mitgekriegt, daß wir noch einen Notruf abgesetzt haben und sehen zu, sich hier nicht mehr blicken zu lassen."

"In der Hütte sind noch welche", sagte Malcolm Westerly. Der Adrenalinschub hatte seine Sinne geschärft. Daß, was seine Großmutter ihm an magischer Kraft vererbt hatte, ließ ihn zumindest erspüren, daß noch feindliche Wesen in der Hütte waren. Wer genau und wie viele bekam er jedoch nicht mit.

"Ich sehe keinen in der Hütte", sagte Zachary. Westerly bedeutete ihm, daß er es irgendwie fühlte, daß da noch wer oder etwas war.

"Okay, wir warten hier auf die Verstärkung. Wennin der Hütte noch wer ist werden die sich wehren", sagte Zachary. Doch es tat sich nichts. Zachary griff zu einem wasserdichten Richtmikrofon und stülpte die Kopfhörer über die Ohren. Er zielte mit dem Horchkegel auf das Haus und stellte an der Lautstärke und dem Erfassungswinkel herum, bis er sicher war, alles in der Hütte hören zu können. Er lauschte, wiegte den Kopf und lauschte weiter. Nach drei Minuten sagte er: "Mal, da in der Hütte ist kein Mensch. Ich höre aber das Zischen und schnauben von Alligatoren."

"Dann sind die das in der Hütte. Oh, dann ahne ich, was mit unseren Leuten passiert ist", sagte Westerly.

"Die sind einfach abgehauen", knurrte Zachary. "Okay, dann sehe ich mir die Hütte mal an. Mit Alligatoren werde ich fertig", sagte er und holte eine wasserdicht verpackte MP aus der Ausrüstungskiste. Er ruderte mit Malcolm noch näher an die Hütte heran. Keiner wagte es mehr, auf sie zu schießen. Entweder hatte sie das heftige Gegenfeuer oder die Aussicht, auf eine gerufene Übermacht zu stoßen in die Flucht geschlagen.

"Soll ich mitkommen, Zach?" fragte Malcolm Westerly.

"Nein, fahr die Notantenne aus und ruf unsere Leute an, daß sie trotzdem herkommen sollen. Vielleicht bewachen die Alligatoren was in der Hütte", sagte Zachary und schwang sich über die reichlich verbeulte Bordwand.

Westerly besah sich das Funkgerät. Das Stahlgehäuse war unbeschädigt. Die Kontrollichter blinkten noch, und die anzeige für die Empfangsstärke glomm ebenfalls, obwohl sie im Moment wohl nur Rauschen verarbeiten mußte. Der Agent hantierte mit der teleskopartigen Notantenne. Diese würde zwar nicht die ganz große Reichweite bringen. Aber besser schwach klingen als überhaupt nicht mehr. Er löste die Verbindung der zerstörten Antenne vom Gerät und schloß die Notantenne an. Es knackte und knisterte im Lautsprecher. Dann klang leises Rauschen. Als Westerly die maximal zwei Meter lange Antenne auseinanderzog klangen bereits aufgeregte Stimmen zu ihm herüber "... noch mal ...sition ... Ver...ärkung ...wegs!" Endlich bekam er kklare Worte zu hören: "Bayoo-Clipper hier Mutterkutter: Bitte noch mal Position angeben! Verstärkung unterwegs! Kommen!"

"Hier Bayoo-Clipper. Wurden von sechs MGS beschossen. Mußten drei davon kampfunfähig schießen. Die anderen flohen. Mein Begleiter ist jetzt vor einer fünf mal acht Meter großen Blockhütte an einer Tür. Er hat wohl was gefunden. Er bedeutet mir, im Boot zu bleiben. Jetzt macht er sich an der Tür zu schaffen. Die Tür geht auf ..." Westerly glaubte, von einem auf den anderen Moment in die Hölle geraten zu sein. Denn als die Tür aufsprang flog die ganze Hütte mit einem gewaltigen Knall in die Luft. Die Druckwelle war in nur einer Hundertstel Sekunde bei ihm und warf ihn zurück ins Boot. nur die große Auflagefläche und die hohe Bordwand bewahrten ihn davor, mit dem Boot umzukippen. Es wirbelte herum, umspült von einer wütenden braunen Welle, die kreisförmig von der Hütte fortbrandete. In seinen Ohren hörte der Agent nur ein lautes Piepen. Vor seinen Augen flogen glühende Trümmer herum. Die Schutzkleidung und der Helm bewahrten ihn jedoch vor schlimmerem. Das Glück hatte Zachary Marchand nicht. Denn er geriet in die ganze Wucht der Explosion. Er wurde in die Höhe geschleudert und dabei von glühenden Splittern durchbohrt, die selbst die Panzerkleidung nicht aufhalten konnte. Sie sorgte lediglich dafür, daß er nicht in der Luft zerrissen wurde. Das war aber auch schon alles. Zachary wirbelte mit schlenkernden Armen und Beinen durch die Luft und klatschte mindestens fünfzig Meter von der Hütte entfernt ins braun-grüne Wasser. Dieses trübte sich noch mehr ein. Doch diese Trübung besaß einen roten Farbton. Der ins Wasser geschlagene Körper versank unter der aufgewühlten Oberfläche.

Westerly setzte sich wieder auf. Trotz heftigen Ohrenklingelns versuchte er, den Überblick zurückzugewinnen. Er sah die verkohlten Pfähle, auf denen die Hütte gestanden hatte und die grausig zerstückelten Leichen von vier Sumpfalligatoren. In allen Leichenteilen staken blakende Trümmerstücke. Dann suchte Malcolm Westerly nach seinem Einsatzpartner. Wo war Zach Marchand? Er rief ihn. Doch er hörte nicht einmal seine eigene Stimme lauter als wie durch dicke Wattepfropfen. Dann sah er die Schatten unter der Wasseroberfläche. Sie wirkten wie treibende Baumstämme. Doch er erkannte, was es war. Dann erkannte er einen Helm, in dem Dutzende von Splittern steckten. Der Helm saß immer noch auf einem Kopf. Jetzt konnte Malcolm den Körper erkennen, der durch das wogende Sumpfwasser wieder an die Oberfläche gehoben wurde. Das war die Schutzkleidung von Zachary Marchand, gespickt mit Metallsplittern wie ein Igel mit Stacheln. Wie lang die Splitter waren konnte Westerly nicht sagen. Was er jedoch sagen konnte war, daß sein Partner kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Dann sah er, wie die Alligatoren sich an den leblos dümpelnden Körper heranpirschten. auch wenn Zachary nicht mehr leben sollte, sollte er zumindest nicht von diesen Sumpfungeheuern gefressen werden. Mal Westerly ging an das noch feuerbereite MG und schwenkte es auf die heranschwimmenden Echsen ein. Dann drückte er ab. Er fühlte nur das wilde Zittern und sah die Mündungsblitze. Von den Schußgeräuschen hörte er wegen des überlauten Tinitus in beiden Ohren nichts. Aber er konnte trotz der Beeinträchtigung noch gut genug zielen, um die auf ihre scheinbar leichte Beute zugleitenden Alligatoren zu treffen. Die schuppigen Räuber der Sümpfe zuckten unter den Einschlägen der Geschosse. Dann sanken sie nach unten. Eine Panzerechse schaffte es noch, den Kopf mit den großen Glotzaugen und der kurzen Schnauze über Wasser zu heben. Dann trafen sie zehn Geschosse in den Schädel. Der Alligator schlug noch einmal mit seinem Schwanz. Dann versank er in der trüben Flut.

Malcolm Westerly griff nach der Signalpistole und feuerte eine rote Leuchtkugel ab. Er wußte nicht, wie weit die Verstärkung noch entfernt war. Er mußte jedoch nur eine Viertelstunde warten. In der Zeit holte er den übel zugerichteten Körper Zachary Marchands an Bord. Er erkannte, daß nicht einmal ein mächtiger Voodoozauberer da was hätte machen können. Zachary Marchand war von zu vielen Splittern durchbohrt. Außerdem stellte Westerly fest, daß Zacharys Halswirbel gebrochen waren. Denn sein Kopf pendelte so auslenkend, daß da unmöglich noch feste Knochen sein konnten.

Als ein Vorauskommando aus drei Hubschraubern anflog feuerte Westerly noch eine rote Leuchtkugel ab. Beinahe hätte das Signalgeschoß den wirbelnden Rotor eines Helikopters getroffen. Nur die Reaktionsschnelle des Piloten bewahrte ihn und seine Maschine vor dem Absturz.

Ein Arzt untersuchte erst Westerly. Er hatte sich ein mittelschweres Knalltrauma eingehandelt. Womöglich konnte er aber bald wieder gut genug hören, um ohne Hörgeräte auszukommen. Zachary Marchand indes war durch die volle Wucht der Detonation so heftig verletzt worden, daß der Arzt allein sieben jede für sich tödliche Verletzungen atestierte, darunter einen Bruch der oberen Halswirbel, Splitterenden im Gehirn und durch die Explosionskraft zerstörte Lungenflügel und weitere innere Verletzungen.

Zwei Hubschrauber konnten die flüchtenden Schlauchboote ausmachen und aus der Luft heraus verfolgen. Weitere Boote jagten die Flüchtenden über den Sumpf. Diese sahen jedoch bald ein, daß Flucht nicht mehr half. Als die Bundesagenten sie umzingelten betätigten sie die Auslöser von Sprengstoffwesten und richteten sich damit selbst. Leider verloren bei dieser Aktion vier weitere FBI-Agenten ihr Leben. Zusammen mit dem getöteten Zachary Marchand und den höchstwahrscheinlich ebenso umgekommenen Agenten, die diesen Ort zuerst auskundschaften wollten, gingen nun sieben Bundesagenten auf das Konto der Umbra-Lunaris-Sekte. Damit erreichte sie traurige Berühmtheit in den Nachrichten. Jetzt gab es aber auch einen Grund, die Mitglieder als Kriminelle Organisation einzustufen. Damit war ihre Gemeinschaft erledigt.

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Arnold Vierbein registrierte das Ende der Campestranosippe mit Unbehagen. Wie der Jumbojet zerstört worden war wußte er nicht. Er wußte nur, daß seine in der Blutumwälzmaschine ruhende Frau und Königin daran gedreht hatte. Wichtiger war für ihn, daß vier Bürger, die in Norwegen einen Stützpunkt aufmachen wollten, sich nicht mehr meldeten. Lamia oder Elvira hatte jedoch nicht darauf reagiert wie beim Tod von Renato Campestrano. Hatte sie davon etwa nichts verspürt? Konnte jemand wirklich Vampire überwältigen, ohne daß diese noch eine Gelegenheit bekamen, ihrer Herrin und Meisterin einen Notruf zuzutelepathieren?

Was Zachary Marchand anging, so ging am vierundzwanzigsten November eine Meldung durch die Staaten, daß bei einer Bombenexplosion im Sumpfland von Bayoo der FBI-Sonderagent Zachary Marchand bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden war. Er hatte dort, wo einst die legendäre Voodoomagierin Marie Laveau gehaust haben sollte, einen Stützpunkt von Terroristen ausheben wollen und dabei besagte Explosion ausgelöst. Auch wenn das absolut nicht die Nachricht war, die seine immer noch in der Umwälzanlage steckende Frau hören wollte, so beruhigte ihn diese Nachricht jedoch sichtlich. Damit war der Auslöser einer gefährlichen Besessenheit ausgelöscht. Wenn sie über die erste Wut hinweg war, würde sie das auch einsehen, hoffte er.

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Wie er befürchtet hatte war Lamia alles andere als glücklich, als sie am dreizehnten Dezember aus der Blutumwälzung stieg. Mit dem, was sie umgesetzt hatte konnten mindestens zwölftausend neue Vampire erschaffen werden. Doch das war für sie im ersten Moment unwichtig.

"Ich habe euch allen gesagt, ihr sollt zusehen, den lebend zu kriegen. Das hieß auch, zu wissen, wann er wo hingeht. Wenn der zu einem Haus im Sumpf gefahren ist hättet ihr ihn da einkassieren und hierher bringen können", schrie Lamia. Ihr Gesicht war eine einzige bleiche Maske der Wut.

"An ihn war nicht ranzukommen. Er wurde immer von Leuten aus der Zaubererwelt abgeschirmt. Die haben was gemacht, daß unser Blut vibrieren läßt", stieß Arnold Vierbein aus. "Damit können die uns aus hundert Metern sicher anpeilen. Immer wenn einer von uns in diesen Erfassungsbereich hineingeraten ist konnte der sich vor lauter Zittern nicht mehr bewegen, und dieser Marchand konnte sich wegbeamen. Normale Gangster wolltest du nicht noch mal ansetzen, obwohl Watkin ihn uns geliefert hat. Also schrei uns nicht die Ohren vom Kopf. Das macht den Typen auch nicht mehr lebendig. Sei besser froh, daß wir von dem nichts mehr zu befürchten brauchen und uns ein paar religiöse Fanatiker uns den Kerl vom Hals geschafft haben!" Lamia holte weit aus und schlug zu. Doch Arnold Vierbein fing den Schlag ab. Sie fauchte ihn an, er habe gefälligst hinzunehmen, was sie ihm an Strafe zudenke. Er konterte, daß er keine Frau geheiratet habe, die meinte, ihn wie einen Fußabtreter behandeln zu können. Er habe schließlich auch nie sowas mit ihr gemacht, und wenn noch was von Elvira Vierbein in ihr sei, dann möge sie das respektieren und beherzigen. Sie zeterte dann, daß er von ihrem Sohn gesprochen habe. Er erwiderte, daß Zachary Marchand niemals wirklich sein Sohn hätte werden wollen und sie sich womöglich eine Laus in den Pelz geholt hätten, womöglich ein trojanisches Pferd. "Denn", so Arnold Vierbein, "was du mit den Campestranos, diesem Hummelskirchen und anderen gemacht hast können auch Menschen machen, wenn das Ziel die Maßnahme rechtfertigt. Wir hätten ihn ausgesaugt. Er hätte unser Blut getrunken und dann, in dem Moment wo er sich verwandelt, zündet eine magische Bombe und sprengt uns alle in die Luft. Fertig aus und vorbei mit Nocturnia! Wolltest du das haben? Hat das Erbe von Lady Nyx dich derartig um deinen logischen Verstand gebracht?!"

"Du wagst es, so mit mir, deiner Mutt.., deiner Königin, zu reden?"

"Wer sich den Körper meiner Frau als neuen Körper aussucht muß das vertragen können", erwiderte Arnold. "Und wenn du meinst, mich hier vor den anderen vernichten zu müssen, dann tu dir keinen Zwang an. Aber dann ist das, was noch Elly Vierbein in dir ist deine innere Feindin." Lamia fauchte und drohte mit den Fingern. Doch sie machte keine Anstalten mehr, Arnold anzugreifen. Er hatte sie genau da erwischt, wo sie nicht getroffen zu werden wähnte. Tatsächlich liebte das, was von Elvira Vierbein in ihr war diesen Mitbürger zu sehr, als daß sie ohne bleibenden Vorwurf etwas gegen ihn hätte tun können. Er war ihr loyal, das fühlte sie. Doch das galt ihr als seine Gefährtin.

"Gut, wir können das geronnene Blut nicht mehr trinkbar machen", schnaubte Lamia. "So müssen wir weiterplanen. Ist unser New yorker Verbindungsmann auf Position?"

"Ist er", erwiderte Arnold Vierbein.

"Na wunderbar. Dann soll der uns einen Termin bei Roland Sullivan machen. Geld genug bekommt er ja."

"Für wann?" Fragte Arnold.

"Für den zweiten Januar", sagte Lamia. Arnold Vierbein nickte und schickte dem betreffenden Kontakt eine E-Mail mit verschlüsseltem Text, damit dort draußen niemand argwöhnte, die angebliche Forschungsstation in der Antarktis sei etwas anderes.

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Anthelia verbrachte die Weihnachtstage in der Daggers-Villa. Nadja, wie sich Vera Barkow seit Halloween nun nennen ließ, fühlte bereits die Auswirkungen der absichtlich angetretenen Schwangerschaft. Da Sie ja durch das Duell acht Wochen übersprungen hatte, kam sie nun in die zwölfte Woche. "Ob diese ominöse Mutter Maria auch so ihren achso anbetungswürdigen Sohn empfangen hat?" Fragte Nadja Anthelia, als sie im Schutz eines Tarnumhangs das weihnachtlich geschmückte Dropout besucht hatte. Anthelia erwiderte darauf:

"Ich glaube nicht, daß dieses Mädchen jungfräulich empfangen hat. Womöglich wurde sie von einem Besatzungsoldaten beschlafen, ob von diesem erzwungen oder im beiderseitigen Einvernehmen. Wenn es diese junge Mutter wirklich gegeben hat, dann hatte sie einen sie wirklich liebenden Verlobten, der sie auch dann noch ehelichen wollte, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Das ist doch etwas anderes als bei Daianira damals oder bei dir gerade jetzt. Doch wenn du sicher sein willst, daß Anastasia dir und mir immer eine folgsame Schwester sein wird solltest du daran denken, bald den Zauber zu machen." Nadja nickte. Sie wußte, welchen Zauber Anthelia meinte. Sollte das Unternehmen ein voller Erfolg werden, mußte sie sicherstellen, daß der Rest von Dido Panes Widerborstigkeit bereits im Mutterleib erstarb. Anthelia indes hatte sich lange überlegt, ob sie eine weitere Altlast aus ihren ersten Jahren, den Jahren vor dem Duell mit Daianira, beseitigen konnte. In einem der anderen Kellerräume lag immer noch der im magischen Tiefschlaf liegende Körper von Cecil Wellington. Die Verbindung zwischen ihm und ihrem ehemaligen Kundschafter war durch die Vernichtung des Seelenmedaillons und die Weihe zum Sonnenkind endgültig zerstört worden. Warum sollte der Junge, der durch einen Reitunfall in ein anhaltendes Koma gefallen war, noch einmal aufwachen. Offiziell hatten sie ihn doch schon längst für tot erklärt. Außerdem lag seine Mutter wegen eines schweren Nervenschocks in einer Heilanstalt in Paris und sein Vater war durch Manipulationen Patricia Stratons entehrt und sogar kriminell geworden und sollte demnächst wegen Auftragsmordes verurteilt werden. Womöglich wurde er sogar zum Tode verurteilt. Also, welches Leben wollte sie Cecil Wellington zurückgeben? Sie sagte sich, daß sie die Schuld an der Zerstörung der Familie Wellington hatte. Denn hätte sie Patricia nicht ausdrücklich dazu angewiesen, Cecil zu einem von seiner Familie unabhängigen Leben zu verhelfen, hätte diese den Kundschafter wohl noch heute bei seinen Eltern wohnen lassen. Womöglich hätte der dann diese Laura Carlotti geheiratet und wäre womöglich schon Vater. Was wollte sie also noch mit einem tiefschlafenden Muggel, der kein Leben mehr hatte?

Während Nadja sich noch einmal aus "Potentia Matrium" den genauen Wortlaut und die manuellen und mentalen Komponenten für den Sanctuamater-Zauber durchlas betrat die nur noch zum Teil als Nichte Sardonias denkende Hexenlady den Keller. Einen Moment dachte sie darüber nach, ob sie Cecil nun wirklich mit dem Todesfluch erledigen sollte. Doch dann fiel ihr etwas humaneres ein. Sie hatte Cecils Leben verpfuscht, nicht nur sie alleine. Aber sie hatte ihn ausgewählt, weil er diesen Unfall gehabt hatte. Sie konnte ihn nicht mehr in sein früheres Leben zurückschicken. Doch sie konnte ihm ein neues Leben geben. Allerdings würde er dann in den nächsten fünfzehn Jahren wieder so aussehen wie bei jenem verhängnisvollen Reitunfall. Wenn er ein "Er" blieb. Anthelia/Naaneavargia nickte dem im Tiefschlaf liegenden zu. Was Damals mit Richard Andrews gelang und mit dem heimtückischen Fallenbauer dieser Räuberbande, den Patricia überwältigt hatte, das gelang auch mit jedem anderen elternlosen Kind, daß irgendwo vor einer Heilstätte der Muggel auftauchte.

Sie hob den Tiefschlaf des Gefangenen auf. Sein Gehirn hatte sich jedoch immer noch nicht von der zeitweiligen Atemluftknappheit erholt. Doch sie wußte, daß Infanticorpore jede während des Lebens erlittene Verletzung ungeschen machte. Sie dachte einen Moment daran, ob sie erst das Geschlecht des Gefangenen verändern sollte oder erst die Totalverjüngung. Sie entschied sich erst für die Verjüngung. Denn die Anpassung von Körper und Geist an ein anderes Geschlecht würde bei einem gesunden Gehirn sicher reibungslos verlaufen.

Nur zwei Minuten später lag vor dem Eingang eines öffentlichen Krankenhauses in Jackson, Mississippi ein laut schreiendes, gerade wohl einen Tag altes Mädchen, das in grobe Tücher gewickelt worden war. Alarmierte Ärzte versorgten die Kleine, die ihren ganzen Ärger und ihre Ganze Furcht der ersten augenscheinlich erlebten Tage auf der Welt erlitten hatte.

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Es war ein Tag bis Weihnachten. Die Tragödie in den Sümpfen war nun einen Monat her. Die Medien konzentrierten sich wieder auf andere Dinge, wie den Einzelhandel, die Furcht vor dem weltweiten Computerchaos zur Jahreswende und die damit einhergehenden Weltuntergangsprophetien. Zwischendurch kam in den Nachrichten, daß die Umbra-Lunaris-Sekte vollzählig ausgehoben worden war. Ihr für geisteskrank gehaltener Anführer hatte es vorgezogen, mit seinen vier engsten Getreuen in den Freitod zu gehen. Doch das lag jetzt sowas von weit entfernt.

"Noch etwas von Nocturnia gehört?" Fragte der Mann mit dem flachen Kopf und der Himmelfahrtsnase, der gerade mit Brenda Brightgate in einem Hotelzimmer in San Francisco vor dem Fernseher saß.

"Sie konzentrieren sich jetzt auf die Ausbringung ihres widerlichen Einbürgerungsvirus, Jeff. Die Leute vom FBI sind jedenfalls nicht noch einmal behelligt worden."

"Das beruhigt ungemein, Bren. Was sagt Justine?"

"Das wir morgen bei ihr feiern sollen, sagt sie. Der Sonnenschutzwall steht. Wir brauchen die Resonanzkristalle da nicht zu benutzen."

"Ob Quinn mir noch mal einenGürtel gibt, wo mein Zwillingsbruder den einen im Gefecht verloren hat?"

"Im nächsten Jahrtausnd sicher irgendwann", erwiderte Brenda.

"Dannsollte ich zusehen, daß ich solange am leben bleibe", erwiderte Brens Zimmergenosse.

"Nach Jeff Bristol, geboren in Miami, suchen sie nicht. Watkin steckt weiterhin in Brasilien, und Nocturnia ist mit der eigenen Ausbreitung beschäftigt. Das war doch genau, was wir wollten."

"Ja, nur um Mal Westerly tut es mir leid. Der denkt doch sicher jetzt, er hätte nicht richtig auf Zachary Marchand aufgepaßt", mentiloquierte der Mann, den Brenda Jeff Bristol nannte.

"Überhaupt ein interessanter Mann. Marie hat seine Aura erspürt und gesagt, daß wir seiner Tochter sicher irgendwann die Tür zum Institut öffnen dürfen."

"Der ist nicht mal verheiratet und hat auch keine unehelichen Kinder. Der ist genauso unberührt wie Zach Marchand oder ich", schickte der Mann in Brendas Hotelzimmer zurück.

"Moment mal, du hattest noch nie eine Frau - oder einen Mann?" fragte Brenda verstört.

"Mein werter Vater, der genauso selig ruht wie Zachary Marchand, hat die Losung ausgegeben : Kein Sex vor den Hochzeitsglocken. Der alte Herr hat mir was von Mißgeburten und daß jeder außereheliche Sex ein Mädchen schwängert erzählt. Ich habe das bis zum zwanzigsten Lebensjahr sogar geglaubt. Ab da habe ich mich eher auf das Hin und Her in zwei Welten konzentriert. Die einzigen beiden Frauen, mit denenich mir was vorgestellt habe wollten nicht. Die eine war mit ihrem Beruf beim Herold verheiratet und die andere hat sich durch eine entfernte Verwandte und ihren Sohn zu einem Dauerjob in der Zaubererwelt bringen lassen. Irgendwie wollte ich es meinem Vater nicht antun, eine Hexe zu heiraten. Tja, und neugierig wurde ich erst, als ich einen Tag lang in Frauensachen herumgelaufen bin. Aber das war ja rein dienstlich."

"Weiß ich. Ich kenne die Frau, deren Sachen, und zwar alle, du mal angezogen hast", grinste Brenda. Doch dann wechselte sie das Thema.

"Sollen die Eheleute Marchand alias Woodman noch ins nächste Jahr hinein schlafen?"

"Besser ist es, bis wir wissen, ob wir Lamia und ihrer Brut beikommen können. Sie könnte sonst darauf verfallen, die beiden dafür umzubringen, daß sie Zachary Marchand in die Welt gesetzt haben und die Vierbeins ihn nicht zu ihrem Sohn machen konnten."

"Gut. Dann kannst du nächstes Jahr bei der New York Times anfangen. Die Legende ist wasserdicht, wie eine von der CIA gestrickte Vita nur sein kann."

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"die werden sich an einen anderen aus ihrem früheren Leben ranmachen, einen, der Beziehungen und mindestens einen Privatjet hat", dachte Brandon Rivers seiner Schwippschwägerin Patricia zu. Unten war wieder eine Patientin Virginias. Daher mußten sie leise sein. Er holte sich auf seinen gegen die Sonnenkindaura immunisierten Laptop die Liste aller früheren Kollegen und Vorgesetzten der Vierbeins, die er in langer heimlicher Recherchearbeit zusammengestellt hatte. Immerhin gab ihm das das Gefühl, das bisher gelernte immer noch gebrauchen zu können. Patricia las mit hilfe der gemeinsamen Gedankenverbindung mit, was er auf dem Bildschirm hatte. Dann dachte sie ihm zu: "Roland Sullivan ist vielleicht ein Kandidat. Er hat nach der gemeinsamen Zeit mit den heutigen Vierbeins eine Firma für Gehäuse für tragbare Computer und Mobiltelefone gegründet. Halt mal, da ist ein Mitarbeiter von dem, den wir schon auf einer anderen Liste hatten." Brandon blickte auf den Namen: Norman Curtis. Der hatte damals auch in der Filiale von Omniplast in New York gearbeitet und war von Sullivan übernommen worden. Er stand aber auch auf einer Liste, die Patricia durch Ausforschen des FBI-Direktors von Chicago ergattert hatte. Der hatte Zugriff auf die von jenem Informanten ergatterten Daten, der früher als Bauunternehmer Carlotti in Pennsylvania gelebt hatte und nun auf Neuseeland wohnte. Patricia und Brandon verband dieser Name gleichermaßen. Der hatte wirklich für die Feds spioniert und gut hingehört, erkannte Brandon und rief ein weiteres Dokumentenfenster auf, um die beiden Listen zu vergleichen. Da stand der Name Norman Curtis als Laufbursche für Campestrano. Allerdings war der seit einem Vierteljahr bei Sullivan in der Firma tätig und nicht in Chicago gewesen.

"Über den werden sie sich an Sullivan ranmachen", dachten Patricia und Brandon gleichermaßen. Brandon wählte sich noch einmal in die erlauschte heimliche Hintertür des FBI-Zentralcomputers ein, wo keine Einwahl- und Nutzerprotokolle erstellt wurden und rief über diesen Rechner ein Programm über Personenbewegungsprofile auf. Dabei kam heraus, daß Curtis erst zum Neujahrsfest nach New York zurückkehren würde. Damit stand fest, daß sie ihn überprüfen wollten.

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Justine Brightgate grinste den Begleiter Brendas an, als sie nach einem reichhaltigen Weihnachtsessen in Justines vampirsicherem Haus über die letzten Wochen sprachen. Mr. Davidson war kurz per Flohpulver hereingerauscht und hatte den dreien fröhliche Weihnachten gewünscht. "Es ist schön zu hören, daß Sie sich mit ihrem neuen Leben gut arrangiert haben, Mr. Bristol. allerdings mußte ich bei dem Minister sehr viel schönes Wetter machen, um die Sache mit der Sumpfhütte zum einen nachträglich genehmigen zu lassen und Ihnen einen glaubhaften Lebenslauf der Zaubererwelt zu verschaffen. Die gute Ernestine Wright will Sie im Januar noch einmal sprechen. Sie hat gesagt, daß sie alle Schüler, die zu ihrer Amtszeit als Lehrerin wie als Prinzipalin von Thorntails sieben Jahre zugebracht haben, mindestens einmal persönlich gesprochen habe. In der Muggelwelt ist ein Mensch leichter zu neuem Leben zu erwecken als in der Zaubererwelt. Ohne die gute Ernestine werden wir Ihr Leben nicht drachenfeuerfest weiterlaufen lassen können", hatte der Leiter des Laveau-Institutes gesagt.

Jetzt saßen die drei wieder für sich alleine. Justine grinste ihn immer noch an. Jeff Bristol fragte: "Was amüsiert dich so, Just?"

"Brenda hat mir gemelot, daß ihr Körper der bisher einzige war, in dem du eine gewisse Zeit zugebracht hast." Der dunkelhaarige Mann mit den hellgrauen Augen starrte Brenda an und dann ihre wandlungsfähige Cousine. Warum hatte die das der weitergesagt? Selbst schuld! Warum hatte er es Brenda überhaupt erzählt? Dann hatte er eine passende Antwort:

"Na ja, in unserem sicheren Haus des Friedens schläft eine Frau, die mit Fug und Recht behaupten kann, daß ich es sogar achtunddreißig Wochen lang in und mit ihr ausgehalten habe. Was ist daa schon ein Tag?"

"Kommt auf die Art und Weise an", grinste Brenda. Justine sagte dann:

"Und dann haben sie dich beim LI eingestellt, wo du jeden Tag hättest draufgehen können?"

"Komm, Mädel, du möchtest mir nicht erzählen, daß das eine Einstellungsbedingung ist, mindestens einmal ... Neh, das hätte mir Davidson oder jemand anderes sicher schon längst erzählt."

"Nun, eine Einstellungsbedingung ist es nicht. Aber es ist schon für jemanden praktischer, zu wissen, wofür es sich zu leben lohnt."

"Ihr wollt mir nicht erzählen, daß Quinn Hammersmith oder Elysius Davidson schon mal .. Na ja, geht mich nichts an. Und was mein Leben angeht, so geht euch das ja nur soweit was an, weil ihr mir geholfen habt, weiterleben zu können, damals gegen die Vierbeins und die Male danach."

"Also, was Quinn angeht, so bin ich mir sicher, daß er vor seiner Zeit bei uns schon gewisse Erfahrungen gesammelt hat, allein schon um zu wissen, was ein Mensch körperlich und gefühlsmäßig alles kann. Bei Mr. Davidson will ich mich aus von dir erwähntem Grund nicht festlegen. Aber was ich sonst gesagt habe halte ich aufrecht."

"Tja, ihr zwei hübschen, was könnt ihr da schon machen", erwiderte der Mann, der sich Jeff Bristol nannte.

"Soll das ein Angebot sein?" Fragte Brenda kokett grinsend. Justine meinte dazu, daß sie sich da eine Menge vorstellen könnte. Der Mann, der ab dem vergangenen November Jeff Bristol hieß, überlegte. So heftig überrumpelt worden war er schon lange nicht mehr. Dann preschte er Vor und sagte:

"Wer bietet wem was an?" Justine und Brenda sahen einander an. Dann sagte Brenda:

"Du bietest uns beiden an, daß eine von uns die allererste für dich ist." mit etwas dergleichen hatte Jeff Bristol gerechnet. Er sah von der einen zur anderen. Justine veränderte sich. Ihre Haare wurden rotblond, und auch ihre Augenfarbe änderte sich. Brenda stieß aus:

"Neh, Just, das ist unfair. Außerdem weißt du gar nicht, wie seine Traumfrau aussieht."

"Stimmt", erwiderte Justine und nahm ihre ursprüngliche Gestalt wieder an. Der Mann, der sich Jeff Bristol nannte blickte weiterhin von der einen zur anderen. Die zwei Cousinen hatten ihn in eine prekäre Lage gebracht. Wählte er die eine, war die andere vielleicht eifersüchtig. Wollte er losen, mußte er die nehmen, die er zog oder die ihn gewann. Das war auch fies. Nein, er mußte sich festlegen. Denn daß er nicht als alter Knabe ins neue Jahr gehen würde hatten die zwei wohl schon beschlossen. Sonst hätten sie wohl kaum dieses heikle thema angefangen. Dann sah er Justine an: "Du hast mir das Leben gerettet, als es gegen die Vierbeins ging und auch danach. Deshalb möchte ich dir mein erstes Mal schenken, Justine. Ich gebe nur keine Garantie ab, daß es dir gefällt." Brenda verzog zwar kurz das Gesicht, mußte dann aber breit grinsen.

"Okay, Jeff Bristol, dann werden wir das hinkriegen, daß wir beide was davon haben."

"Ja, aber bitte ohne zu mogeln, Just, von wegen Körperformen anpassen und sowas", grummelte Brenda. doch ihr war in dem Moment klar, daß sie, die den Stein angestoßen hatte, nur die Zuschauerin bleiben würde. Denn solange sie für die CIA arbeitete, wurde sie ja beobachtet, wenn sie in die Muggelwelt eintrat. Nachher mußte sie sich noch für diesen Abend außerhalb der Muggelwelt rechtfertigen. Aber sie hatte diesen Stein ins Rollen gebracht und war eine faire Verliererin. Außerdem stellte sie fest, daß Justine sowieso bei ihm gelandet wäre oder er bei ihr, weil es eben nichts größeres gab, als wenn einer sein Leben einem anderen verdankte. Das knüpfte das Band zwischen Eltern und Kindern, warum nicht auch zwischen einem Mann und einer Frau.

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Um Nadja nicht zu sehr in Grübeleien verfallen zu lassen arrangierte Anthelia immer wieder Ausflüge unter einem Tarnumhang, wobei die Führerin der Spinnenschwestern selbst ihren eigenen Unsichtbarkeitszauber aus dem alten Reich verwendete. So erlebten die beiden Hexen die große Jahr-2000-Feier auf dem Times-Platz von New York. Um dort hinzukommen hatte Anthelia einen Lastwagenfahrer Richtung Nordosten mit ihren weiblichen Vorzügen umgarnt. Nadja empfand es zwar als widerwärtig, den eigenen Körper für eine magielose Reise, noch dazu in einem dieser lauten, nach giftigem Qualm stinkenden Muggelwagen anzubieten. Doch sie selbst mußte sich dafür nicht hergeben, und Anthelia/Naaneavargia holte sich auf diese Weise die nötige Triebabfuhr.

Nadja markowa genoß unter dem Tarnumhang auf einem das eigene Gewicht auf ein Viertel verringernden Hocker die aufwendige, ja gigantomanische Jahreswendfeier der US-amerikanischen Muggel. Sie dachte daran, daß sie in diesem neuen, durch drei Nullen besonderen Jahr Mutter würde, ohne einen Kindsvater nötig gehabt zu haben. Außerdem war sie dadurch um mehr als fünfzehn Jahre Jünger geworden. Von den anderen Schwestern wußte keine, daß sie die ganze Zeit in der Daggers-Villa wohnte. Das war Anthelias ganz geheimes Projekt.

Die Führerin der Spinnenschwestern empfand eher Bedauern und Mitleid für die ganzen Muggel, die sich auf diesem so berühmten Platz in Manhattan zusammendrängten und einer riesigen, erleuchteten Kugel zusahen, die in den letzten Minuten des Jahres 1999 von oben herabgelassen wurde, bis die enthusiastisch die letzten Sekunden des verwehenden Jahres abzählenden Menschen laut johlten. Feuerwerk und wildes Einander Zutrinken erhöhte die Euphorie der feiernden. Viele glaubten, mit dem Jahr 2000 bräche eine bessere Epoche für die Menschheit an. Anthelia hätte das gerne geglaubt. Doch sie wußte, daß es noch zu viel gab, was zu tun war. Außerdem würde sie erst dann von einer besseren Epoche für die Menschheit sprechen, wenn sie es schaffte, so gewaltlos wie möglich die ganzen auf Maschinen fixierten Magielosen zu einem maschinenlosen Leben zurückzuführen und sie der Obhut der Hexen zu unterstellen. Allerdings würde das nur gehen, wenn sie, die neue Anthelia, nicht dieselben Fehler machte wie Sardonia und wo sie nur Anthelia gewesen war. Die letzten Ereignisse hatten zu deutlich gezeigt, daß reine Rücksichtslosigkeit und gewaltsames Vorgehen zu leicht auf sie zurückschlagen konnte. Sie beobachtete die feiernden Menschen und wußte, daß diese Menschen nur dann ihren eigenen Irrweg überstehen konnten, wenn sie es schaffte, das Erbe ihrer alten Heimat wiederzubeleben. Doch auch hier galt, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Die Muggel besaßen Waffen, mit denen sie ganze Städte zerstören konnten. Sie kannten das unsichtbare Feuer, das aus kurzlebigen Stoffen wirkte und hatten herausgefunden, wie sie es stärker entfachen oder seine ganze Macht in einem winzigen Augenblick entfesseln konnten. So ähnlich war es damals, als die großen Träger der Kraft und Hüter der Elemente das Ruashtariyani, das Tausendsonnenfeuer entdeckt und scheinbar gezähmt hatten. Wissenschaftler der magielosen Menschheit waren nun selbst auf dem Weg, ohne Magie diese Kraft zu entfesseln, wenngleich sie wohl Jahrhunderte brauchten, um ohne Zauberkraft die Zündsubstanz zu erzeugen und sicher zu lagern. Denn sie war ein Stoff, der von allen anderen Stoffen nicht geduldet wurde. Nur ein völlig luftleeres Gefäß, in dessen Wandung ein gegen das Zentrum wirkender Unberührbarkeitszauber wirkte, konnte den Zündstoff des Tausendsonnenfeuers bergen.

Anthelia dachte auch daran, daß mit dem Mitternachtsdiamanten und dem Zepter Skyllians auch schon Gegenstände aus Iaxathans zerstörerischer Zeit aufgetaucht waren. Ebenso waren die Wolkenhüter auf die Erde zurückgekehrt. Sie hatte das Schwert Yanxotahrs erobert. Die silberne Flöte Ailanorars war für sie unerreichbar, solange es ihr nicht gelang, ihren Besitzer dazu zu bewegen, sie wieder hervorzuholen. Doch dazu bestand im Moment kein Anlaß. Den Krug der Aiondara hatte sie auch nicht erobert. Dafür hatte ihre treue Mitschwester Tyche Lennox ihr Leben verloren. Ob sie getötet worden war oder nun in der karibischen Meermenschenkolonie leben mußte wußte Anthelia auch nicht. Jedenfalls war der Krug nicht mehr da, als sie einige Wochen später nachsehen wollte, ob er noch bei der "Lady Amber" lag. Sie fürchtete, daß jemand ihn an sich gebracht hatte. Doch danach zu suchen würde sich erst lohnen, wenn der oder diejenige es wagte, den Krug zu benutzen und das überlebte. Patricia Straton und der ehemalige Kundschafter Ben Calder alias Cecil Wellington waren auch für sie verloren. Denn sie waren durch Daianiras ehemaliges Sonnenmedaillon auf das Versteck der überlebenden Sonnenkinder gebracht worden und hatten sich mit diesen vereinigt.

Als wenn Anthelia durch den Gedanken an die Sonnenkinder etwas angeregt hätte fühlte sie ein unangenehmes Prickeln auf ihrer rechten Körperhälfte. Sie sah sich um. Menschen im Schein bunter Feuerwerkskörper und flammenloser Elektrolichter. Doch das Prickeln wurde stärker. Es wurde zum leichten Pieksen, als bekäme sie andauernd kleine Nadeln in die Haut gestoßen. Das war untrüglich die Aura der Sonnenkinder, auf die ihr veränderter Körper wegen der Restkraft des Seelenmedaillons so empfindlich reagierte. Anthelia/Naaneavargia fühlte die sie beeinträchtigende Ausstrahlung und nnicht mehr nur auf der Haut, sondern wie leichte Hitzeentladungen in der rechten Körperhälfte. "Patricia, bist du in Manhattan?" Schickte sie eine Gedankenfrage an ihre ehemalige Mitstreiterin.

"Meine Schwägerin und ihr Angetrauter sind dort. Wieso?"

"Ich spüre Ihre Nähe", schickte Anthelia zurück. Die Verbindung mit der ehemaligen Mitschwester war immer noch ausgezeichnet.

"Sie verfolgen einen Muggel, der mit Nocturnia in Kontakt steht. Er könnte in deiner Nähe sein."

"so werde ich mich zurückziehen", gedankenschnaubte Anthelia. Nun waren die sie treffenden Schauer der Sonnenkindaura wie glühende Nadeln, die ihr tief ins Fleisch drangen. Sie verwünschte diese Empfindlichkeit. Wenn diese beiden Sonnenkinder gleich in ihrer Nähe auftauchen würden würde sie wohl denken, bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Sie mußte fort.

"Nadja, wir müssen uns zurückziehen. Wir kriegen sonst Probleme", mentiloquierte Anthelia an Nadjas Adresse. Die unter dem Tarnumhang steckende Mitschwester fragte erst gar nicht danach, welcher Art die Probleme waren. Sicher patrouillierten hier Angehörige des Zaubereiministeriums herum, um Angehörige der Zaubererwelt zu erwischen, die sich nicht an die Geheimhaltungsgesetze hielten. So ließ sie es zu, daß Anthelia ihren Arm Ergriff und ihr zumentiloquierte, sich voll darauf zu konzentrieren, mit allem am und im Körper dort zu sein, wo Anthelia sein wollte. Die Ausstrahlung der Sonnenkinder wirkte nun schon wie glühende Klingen. Nur das in Anthelias und Naaneavargias gemeinsamem Geist enthaltene Vermögen zur Selbstbeherrschung half ihr, sich auf das einzig wichtige zu konzentrieren, die Disapparition. Fünf Sekunden später krachte es laut. Doch die hier feiernden Menschen empfanden nichts dabei. Denn überall um sie herum knallte, rumste und prasselte es. Das große Millenniumsfeuerwerk überdeckte jedes verdächtige Geräusch.

"Ist sie noch bei dir?" Fragte Anthelia Nadja, als sie beide ohne Umwege in der Daggers-Villa appariert waren. Nadja entkleidete sich und ließ ihren Körper untersuchen. Das in ihr wachsende Kind war nicht verletzt und besaß auch noch alle Körperteile.

"Gut, dann beenden wir diesen Tag wohl besser. In New York treiben sich gerade Nocturnianer und ihre anderen Gegner herum. Ich wollte nicht, daß du zwischen die Fronten gerätst", behauptete Anthelia. Nadja kaufte ihr diese Begründung ab. Wenn Anthelia gewollt hätte, daß Dido nicht mehr weiterlebte, hätte sie sie nicht in das Duell mit Vera Barkow alias Nadja Markowa hineingelockt.

"Ich bin wieder in meiner Heimstatt. Deine Verwandtschaft hat die Stadt nun für sich", mentiloquierte Anthelia an Patricia Straton.

"Wir wissen, was wir wissen wollten. Wir haben einen Kontakt gefunden, der wohl bald Bürger Nocturnias werden soll. Den haben wir dieser Vampirbrut aber unzugänglich gemacht", gedankenantwortete Patricia.

"Dann wünsche ich dir und denen, mit denen du zusammenwohnst einen erfolgreichen Einstieg in das nun begonnene Jahr", schickte Anthelia an ihre frühere Mitstreiterin zurück. Patricia Straton bedankte sich.

__________

Sie hatten Norman Curtis in new York aufgespürt und herausgefunden, daß er tatsächlich mit Nocturnia in Verbindung stand. Er war jedoch kein Vampir, hatte lediglich über E-Mail Kontakt mit den Nocturnianern. Dawn und Brandon hatten das Neujahresfest in der Riesenstadt am Hudson genossen. Einmal hatten sie beide eine Abwehraura gefühlt, als wollten eiskalte Finger sie zurückstubsen. Patricia hatte ihnen mitgeteilt, daß das anthelia gewesen sei, die Führerin der Spinnenschwestern. Doch Dawn Rivers hatte nur was von Naaneavargia gesagt, der Schwester eines mächtigen Windmagiers, die von ihm, dem Erzfeind, verführt worden war, die Tränen der Ewigkeit zu trinken. Auf jeden Fall stießen sich die beiden Daseinsformen einander zurück, wenngleich Anthelias neue Daseinsform der der Sonnenkinder bei direkter Annäherung unterlegen war.

"Am Zweiten Januar also. Wir müssen diesen Sullivan für Nocturnia ungenießbar machen", dachte Patricia den beiden zu, als sie nach dem Trubel des Jahreswechsels wieder in ihrer Zuflucht waren.

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Es war das herrlichste, was sie jemals empfunden hatte. Diese innere Verbundenheit, diese Wärme, diese Freude und Entschlossenheit, die sie durchpulste, als sie zum zwölften mal die Formel "Vita Matris cum anima tua connectata! Vita matris tuae sanctissima!" gerufen hatte. Es war ein Bad in purer Lebensfreude. Sie fühlte das in ihr werdende Leben und fühlte, wie es mit ihr verbunden war. Für dieses Leben lebte sie. Die in ihr neu ausreifende Hexe war durch den Zauber mit ihr verbunden, ihr zugeordnet. Sie erkannte, daß sie es wohl geschafft hatte. Das war der erste Schritt, um eine loyale, ihr nie in den Rücken fallende Tochter zu bekommen. Jetzt hatte sie ein weiteres Trimenon Zeit, bis sie den Zauber erneut wirken mußte, um Anastasia auf ihrem dann erreichten Entwicklungsstand noch fester an sie zu binden. Dann noch einmal kurz vor und dann während der Geburt.

Als die große Glückseligkeit und Wärme verebbten fühlte Nadja markowa die Erschöpfung. Sie legte sich in das Bett, in dem vor zweieinhalb Monaten noch Dido Pane geschlafen hatte und in gewisser Weise ja immer noch schlief. Sie gab sich dem Bedürfnis nach Schlaf hin. So bekam sie nicht mit, was in den unteren Stockwerken geschah.

Anthelia hatte dem lauten Mantra des Sanctuamater-zaubers gelauscht. Daianira hatte versucht, sie damit zu bannen. Doch Anthelia hatte wohl, weil sie sich ihrer Lage voll bewußt gewesen war, dagegen angekämpft. Womöglich hatte auch der in das Medaillon Dairons ausgewanderte Teil ihres Geistes ihr geholfen, sich nicht durch den mächtigen Verbundenheitszwangzauber unterwerfen zu lassen. Dido, oder Anastasia, wie ihre neue Mutter sie nennen wollte, wußte womöglich noch nicht, was mit ihr passiert war. Außerdem mochte sie der Verlockung, sich der Verbundenheit und Geborgenheit hinzugeben, bereitwillig erliegen. Das betraf Anthelia aber erst, wenn sie Nadja helfen mußte, das kleine Mädchen auf die Welt zurückzubringen.

"Höchste Schwester, bist du in unserem Versammlungshaus?" empfing Anthelia eine Gedankenfrage von Romina Hamton. Sie bejahte es. Dann wurde sie gefragt, ob Romina bei ihr vorbeikommen dürfe. Anthelia vernahm sehr wohl den alarmierten Unterton in dieser Frage. Daher gestattete sie es. Die meisten ihrer Mitschwestern konnten nicht über so große Strecken lange Mentiloquismusdialoge führen.

Romina apparierte eine Minute später im Versammlungsraum der Spinnenschwestern, der zugleich auch Anthelias Wiedergeburtsort war. Sie legte nach der respektvollen Begrüßung drei Blätter Papier auf den steinernen Tisch, der für Anthelia beinahe wie ein materieller Fokus ihrer Existenz war. Die Hexenlady nahm die seiten und las von einer Hacienda zwanzig Kilometer südlich der Grenze zu den USA. Reporter wollten dort beobachtet haben, wie ein Düsenflugzeug gelandet sei, aus dem zehn Leute geklettert waren. Die Reporter hätten sich erkundigt, seitwann kleinere Passagierflugzeuge auf diesem Grund und Boden landen dürften und hätten erfahren, daß kein solches Flugzeug in dieser Gegend geortet worden sei. Als sie dann im Schutz der Nacht versucht haben, das Haupthaus zu umschleichen seien sie von riesigen Fledermäusen mit langen Fangzähnen angegriffen worden. Einer der Reporter hatte die menschengroßen Flugtiere sogar noch mit seiner Kamera mit Blitzlicht fotografiert, was dem Wesen sichtliche Schmerzen bereitet haben soll. Das Foto lag dem Text bei.

"Oh, Dann dürfte sich das mexikanische Zaubereiministerium dafür interessieren", sagte Anthelia.

"Nocturnia?" fragte Romina, die ja nur den Begriff "Vampiros" aus dem Text herausgelesen hatte. Anthelia nickte.

"Bis jetzt ist das nur im Internet gewesen. Ich habe mal rumgefragt, ob in unserem Zaubereiministerium etwas entsprechendes gemeldet wurde. Aber da war nichts."

"Dann könnten wir die Biester noch fangen. Ich werde vielleicht herausbekommen, wo jene ominöse Basis Winternacht ist."

Anthelia verlor keine Zeit. Sie holte Yanxothars Schwert. Das sie sich über den Rücken schnallte. Dann disapparierte sie mit Romina.

Die Hacienda lag im Mondlicht vor ihnen. Anthelia/Naaneavargia lauschte mit ihrem Gedankenspürsinn und erkannte, daß mindestens zwanzig hungrige, angriffsbereite Bewußtseine in dem Haupthaus lauerten. Da die Reporter nur entkommen waren, weil sie andauernd mit Blitzlicht auf die Fledermäuse eingewirkt hatten. Anthelia ging es aber um etwas anderes. Sie wollte den Anführer oder die Anführerin haben. Sie wußte, daß führende Nocturnianer durch Schmelzfeuerfluch am gewollten oder ungewollten Verrat gehindert wurden. Bei der für sie eher albernen als gruseligen Halloweenfeier in Deutschland hatte sie zudem erfahren müssen, daß Lamia eine zweite Verratsunterdrückung eingerichtet hatte. Geriet ein Vampir aus einem der inneren Führungskreise in Gefangenschaft und zerging nicht im Schmelzfeuer, konnte er noch einen in seinem Körper befindlichen Sprengkörper zünden. Also mußte Anthelia zwei sie an der Befragung hindernde Absicherungen überwinden. Dazu mußte sie aber erst wissen, wer der hiesige Anführer war.

"Die Vampire merkten wohl, daß feindlich gestimmte Wesen in ihrer Nähe lauerten. Fünf von ihnen flogen als menschengroße Fledermäuse auf und stürzten sich auf Anthelia und Romina. Anthelia ließ das Schwert wo es war. Mit nur fünf Vampiren wurde sie auch so fertig.

Sie ergriff Rominas freie Hand und wirkte Sardonias Feuerdom. Eine lodernde Kuppel wölbte sich nun über den beiden Hexen. Die Vampire konnten nicht mehr ausweichen und schlugen in die Flammenkuppel ein. Sie kreischten kurz auf, bevor sie wie trockenes Reisigholz im Zauberfeuer verbrannten. Nach nur fünf Sekunden gab es die fünf fliegenden Vampire nicht mehr. Allerdings war jetzt Alarmstimmung in der Hacienda. Anthelia konnte jetzt die Gedanken des Anführers erfassen, der befahl, mit Muggelwaffen anzugreifen. Da Romina gerade keinen Drachenhautpanzer trug vollführte Anthelia an ihr eine rasche Mensch-zu-Ding-Verwandlung. Romina wurde zu einem Taschentuch. Anthelia ließ es telekinetisch in ihre linke Innentasche gleiten. Dann apparierte sie zum Haus hin. Dort griffen die Vampire nun mit Schnellfeuerwaffen an. Doch Anthelias Körper ließ die ihr entgegenfliegenden Geschosse abtropfen wie Regenwasser. Das machten die Tränen der Ewigkeit, die Klingen und Geschosse abhielten. Zwei in Menschengestalt gebliebene Blutsauger rannten auf Anthelia zu. Diese zog nun das Schwert Yanxothars. Es glühte schwach auf, als es die Feinde des Feuermeisters erspürte. Anthelia brauchte nicht einmal seine volle Kraft zu wecken. Es reichte schon, die sie bedrängenden Vampire damit zu treffen. In lodernden Flammenwolken vergingen die Vampire. Sie wirbelte herum, eingedeckt von fliegenden Geschossen und sogar dolchen. Dabei schlug sie mit dem Schwert einen vollen Kreis. Als sie wieder in ihrer Ausgangsstellung stand hatten drei weitere Vampire ihre Existenz eingebüßt. Jetzt sprach es sich schnell herum, daß eine Angreiferin da war, die sowohl kugelsicher war als auch eine für Vampire mörderische Waffe führte. Doch sie wollte den Anführer. Sie fing auf, daß er einen Rückzugsbefehl seiner Herrin erhielt. Sie mußte ihn erwischen, bevor er den rettenden Portschlüssel erreichte, eine Kommode im Schlafzimmer, die von Lamia selbst eingerichtet worden war.

Sie wechselte das Schwert in die linke Hand und hielt den silbergrauen Zauberstab hoch. Sie apparierte im Schlafzimmer. Da kam der Vampir auch schon. Anthelia sah ihm in die Augen. Er versuchte, seinen bannenden Blick einzusetzen. Doch Anthelia hielt dagegen. Die zwei in ihr vereinten Seelen und der Rest der Kraft von Dairons Medaillon machten sie gegen den Einfluß des Vampirblicks immun. Sie wolte nur wissen, ob der Portschlüssel zur Basis Winternacht beförderte. Die Antwort war leider nein. Daher zielte sie aus einer schnellen Bewegung heraus auf die Kommode und rief "Reducto!" Krachend sprang die Kommode in tausend Stücke. Dabei flogen blaue Blitze aus ihr heraus und schlugen in Decke und Boden ein. Der Vampir starrte verstört auf die Gegnerin, die ihm mal eben das Fluchtmittel abgenommen hatte. anthelia mußte nun sehr schnell machen. Sie rief: "Confundiridius!" Ein regenbogenfarbiger Lichtstrahl hüllte den Vampir ein und benebelte sein Bewußtsein. Eigentlich konnte Anthelia ihn jetzt in einen Incapsovulus-Zauber einschließen. Doch der würde nur die magische Selbstvernichtung vereiteln, aber nicht die Zündung eines am oder im Körper getragenen Sprengkörpers. Deshalb mußte sie etwas anderes zaubern. Sie rief eine Formel aus der alten Zeit, eine Formel, die alle aus der Erde stammenden Zerstörungskräfte in die Erde ableitete, ohne zu vernichten, was sie vernichten sollten. Das dauerte drei Sekunden, die der Vampir in der magischen Verwirrung dastand. Dann hob sie das Schwert an und rief "Faianshaitargesh!" Die flammenartigen Verzierungen auf der rotgoldenen Schwertklinge wurden zu wahrhaft lodernden Feuerzungen, die die Schwertklinge auf fast die doppelte Länge anwachsen ließen. "Bleibet fern, alle verzehrenden Feuer von diesem Orte!" Rief Anthelia. Sie benutzte jedoch nicht die englische oder eine andere moderne Sprache, sondern die Muttersprache Naaneavargias. Die Flammen loderten noch stärker auf. Sie saugten alle dem element Feuer verbundenen Kräfte außerhalb ihres Körpers auf. Der in einer grauen Aura wie in verfestigten Dunst eingeschlossene Vampir erwachte wieder aus seiner kurzzeitigen Verwirrung. Er versuchte, sich zu bewegen. Doch die dunstige Barriere hielt ihn zurück. Er brüllte laut. Das kam durch. "Du wirst nichts von mir erfahren!" rief der Vampir. Da leuchtete Yanxotahrs Schwert für zwei volle Sekunden in einem giftgrünen Feuer auf. Der gefangene Vampir erzitterte. Anthelia frohlockte. Sie hatte einen weiteren Weg gefunden, einen bevorstehenden Schmelzfeuerfluch zu zerstreuen.

"Wo ist Basis Winternacht?" Fragte Anthelia und hielt dem Vampir die Feuerklinge entgegen. "Ich kann mir mit dir viel Zeit nehmen, Blutsauger."

"Uaaaaaaaaa!" rief der Vampir lang und inbrünstig. Da schossen blaue, rote und weiße Blitze aus seinem Unterleib in den Boden. Eine sachte Erschütterung, mehr passierte nicht. Anthelia/Naaneavargia sah den Vampir überlegen an. "So, nachdem jetzt alle Vereitelungszauber und Explosionskörper verpufft sind wirst du mir jetzt dein ganzes Wissen um Basis Winternacht enthüllen", schnarrte Anthelia. Der gefangene Vampir lachte laut. Er schaffte es jedoch nicht, seine Gedanken zu verhüllen. So erfuhr Anthelia, daß die Basis an einem der eisigen Pole der Erde zu suchen war. Aber an welchem, wußte der Vampir auch nicht. Er hatte nur einmal die eisige Umgebung gesehen. Dann zuckte Anthelia wie von einem Schlag gegen den Kopf getroffen zurück. Der Vampir indes schrie noch einmal laut auf. Dann hing er für einen Moment in der grauen Aura der uralten Erdmagie, die Anthelia beschworen hatte. anthelia keuchte, wagte es einen Moment lang nicht, ihren Gedankenspürsinn auszurichten. Dann erkannte sie, daß ihr Gefangener tot war. Lamia hatte ihm einen mentalmagischen Todesstoß versetzt. Das war die Kunst der Mitternachtsblauen, der Verehrer und Beschwörer der dunklen Kräfte von Altaxarroi. Doch eines, das erkannte Anthelia nun aus dem, was sie in ihre Erinnerungen aufgenommen hatte, wußte sie nun. Lamia war wie sie selbst eine Seelenverschmelzung. Der gefangene hatte einen winzigen Moment daran gedacht, daß Lamia die Wiederverkörperung von Nyx in einer ihrer Töchter war. Er hatte sogar ihr Erscheinungsbild gesehen. Es war wie ein kurzer Blitz in seinem Bewußtsein aufgeflammt. Anthelia hatte diese Frau noch nicht zu sehen bekommen und kannte deshalb nicht ihren früheren Namen. Sie bedauerte es, keinen Zaubertrank mehr benutzen zu können. So blieb ihr nur, die gerade erbeuteten Informationen so schnell wie möglich im Denkarium Sardonias auszulagern, um sie in Ruhe nachbetrachten zu können. Sie löschte die Flammen des Schwertes und steckte dieses in seine Scheide zurück. Dann widerrief sie die beschworene Kraft aus dem Schoß der großen Mutter Erde. Die graue Aura wurde zu einer weißen Spirale, die innerhalb einer Sekunde im Boden verschwand. Der tote Vampir fiel schlaff zu Boden.

"Ich hol dich wieder raus, wenn wir hier weg sind", sagte Anthelia zu Romina. Sie legte mit der Glutwelle Sardonias ein rasch um sich greifendes Feuer um sich herum. Dann disapparierte sie.

"Schon gruselig, daß man noch alles mitkriegt, was direkt um einen herum passiert", seufzte Romina.

"Ich fand, daß ich dich so besser im Schutz meiner Unangreifbarkeitsaura bergen konnte, Schwester Romina."

"Da kann ich ja froh sein, daß du mich nicht in einen anderen praktischen Artikel verwandelt hast", grummelte Romina. Anthelia grinste. Dann sagte sie noch: "Nochmals vielen Dank für die Benachrichtigung! Sollen jetzt die restlichen Vampire berichten, daß ich weiß, daß Basis Winternacht nicht mehr lange unentdeckt bleiben wird!"

Romina kehrte in ihr eigenes Haus zurück. Anthelia/Naaneavargia beeilte sich, alle erhaschten Kenntnisse aus dem Geist des Vampirs in ihr Denkarium zu füllen. Nun konnte sie das Bild der Königin betrachten, eine Blonde Frau, nicht übermäßig anziehend, aber auch nicht häßlich, die einen blutroten Umhang trug. "Ich weiß jetzt, wie du aussiehst. Und wenn ich weiß, wie du heißt, dann ..." Sie wollte sagen, daß sie diese Inkarnation der Blutmondkönigin vernichten würde. Doch dann fiel ihr ein, daß das nicht so einfach ging. Sicher, den Körper konnte sie wohl töten. Aber der Geist von Griselda Hollingsworth, dessen Name sich durch die Verschmelzung geändert hatte, würde sich wieder einen neuen Wirtskörper suchen, eine der direkten Töchter, die Nyx mit Hilfe des Mitternachtsdiamanten gezeugt hatte. Der dunkle Stein Iaxathans hielt den Geist in der Welt. Und wenn genug Abkömmlinge von ihr lebten, versetzte er den Geist in einen der Körper und ließ sie weitermachen, immer weiter. Es reichte nicht, den einen Körper zu töten. Wenn, dann mußte sie alle Körper auf einen Schlag erledigen oder den bisher als unzerstörbar geltenden Mitternachtsdiamanten vernichten. Der, das wußte sie, lag im Golfstrom auf dem Meeresgrund in einem Faß voll Blei eingeschlossen. Er enthielt die Dunkelheit von drei polaren Nächten. Mußte sie wirklich nach der Quelle des Tausendsonnenfeuers suchen, um ihn zerstören zu können? Sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß Nocturnia nicht so einfach aus der Welt zu schaffen war.

__________

Roland Sullivan wunderte sich, daß zwei Männer ihn sprechen wollten, die nichts mit Kunststoff zu tun hatten, sondern etwas über seine Zeit bei Omniplast hören wollten. Patricia Straton hatte Hesperos und Brandon darauf gebracht, wegen Richard Andrews nachzufragen, da der Fall womöglich neu aufgerollt werden könnte.

Hesperos und Brandon gaben sich als Reporter aus. So gelangten sie in das Büro von Sullivan. Dieser war bereit mit ihnen über die damalige Zeit zu reden. Bei der Gelegenheit schaffte es Hesperos, dem gewöhnlichen Menschen einen Zauber ungesagt aufzuerlegen, der als "Ruhe des Himmelsfeuers" bezeichnet wurde. Sullivan, den Brandon gezielt nach seiner Vermutung, warum ausgerechnet Richard Andrews ins Visier dieser Verbrecherorganisation geraten war, bemerkte zwar einen Anstieg der Körpertemperatur. Doch er schob es auf das Treffen mit diesem Cornwall, der ihn wegen eines Großauftrages zu sprechen wünschte, bei dem es womöglich um zehn Millionen Dollar ging. In Wirklichkeit wurde sein Blut mit genug Sonnenmagie angereichert, um einen vollen Monat lang für jeden Vampir zum tödlichen Cocktail zu werden. sie würden ihn erst gar nicht beißen. Das so veränderte Blut schirmte sie auch gegen den hypnotischen Blick ab. so brauchten sie nur eine halbe Stunde, bis Brandon sagte: "Dann bleibt es dabei, daß wir Sie nur zitieren, wenn unsere weitere Recherche ergibt, daß Mr. Andrews wegen Kenntnissen entführt worden sein soll, die er mit Ihnen zusammen erworben hat."

"Wenn es geht, halten sie meinen Namen da bitte ganz heraus. Ich genieße schon genug Öffentlichkeit wegen meiner Firma", bat Roland Sullivan. Dann deutete er auf seine Armbanduhr und danach behutsam auf die Tür. "Da ich gleich noch einen Termin habe, hoffe ich, daß Sie verstehen, wenn ich Sie nun bitten möchte, mich zu verlassen." Hesperos nickte. Brandon bestätigte, daß sie verständnis hätten. Sie müßten ja eh alle Antworten auf die Fragen ins Reine schreiben. Dann verließen er und Hesperos das große Einzelbüro des neuen Computer- und Telefongehäusekönigs von New York.

Außerhalb der Überwachungszone nahm Hesperos Brandon über den Kurzen Weg mit.

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Lamia und ihr Gefährte hatten sich mit hilfe von beweglichen Gummimaskenteilen verkleidet, um von Roland Sullivan nicht erkannt zu werden. Das Ziel war, ihn mit dem hypnotischen Blick dazu zu bringen, mit ihnen einen kurzen Ausflug zu machen, um ihn dann einzubürgern.

Roland Sullivan winkte die beiden herein. Er dachte wohl an den Großauftrag, den sie darstellten. Doch wo Lamia und Arnold Vierbein eben noch sicher waren, ein leichtes Opfer zu finden, fühlten beide, das unangenehme Hitzewellen von Sullivan ausstrahlten. Sie waren wie erstes Sonnenlicht auf ungeschützter Haut. Lamia ließ ihren Gefährten mit verstellter Stimme vorarbeiten. Sie wollte dann, wenn er sie ansah, mit aller Macht in seinen Geist hineinstoßen und Roland zu diesem Ausflug überreden.

Nach einer Minute meinte Lamia, von brennenden Nadeln gestochen zu werden. Das konnte doch nicht angehen. Dann versuchte sie es, dem Gesprächspartner in die Augen zu sehen. Als sie seinen Blick fand vermeinte sie, in einen gleißenden Blitz zu sehen, der sich in ihren Kopf bohrte. Sie schrie auf und hielt sich die Augen zu. Sie keuchte. Mit einer derartigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie probierte es noch einmal. Wieder war es ihr, als führen sonnenhelle Lichtspeere genau in ihre Augen und in ihr Gehirn hinein. Roland Sullivan fragte, was sie hätte. Sie verstellte ihre Stimme und gab vor, einen Migräneanfall zu erleiden. Der Wechsel von Barstow nach new York hatte ihr offenbar nicht gut getan. Arnold wunderte sich. Doch als er ebenfalls in die Augen des ehemaligen Arbeitskollegen blickte, meinte auch er, in zwei kleine Sonnen zu sehen und daß irgendwer seinen Kopf von innen zersprengen wolle. Er konnte sich gerade noch so beherrschen. Er schüttelte den Kopf. Doch jetzt mußten sie zumindest anklingen lassen, daß sie einen Auftrag hatten,aber zunächst die Bedingungen prüften.

Eine Stunde verging, die die beiden Vampire sichtlich erschöpft hatte. Beinahe torkelnd verließen sie das Büro.

als sie in ihrem absichtlich sehr auffällig großen Wagen saßen wimmerte Lamia vor Wut und Enttäuschung. Doch Arnold fühlte ihre mitschwingende Angst.

"Verdammt, der ist einer von denen oder zumindest ein Abkömmling eines von denen ", wimmerte sie.

"Von was?" fragte Arnold.

"Ein Sonnenkind, Arnold. Ich habe immer gedacht, die seien ausgelöscht worden. Aber sie müssen noch leben. Roland Sullivan ist eindeutig mit der Blutkraft der Sonne aufgeladen. Unsere Krräfte prallen daran ab. Und wenn wir ihn mit Gewalt entführt hätten, wäre sein Blut uns beiden zum Verhängnis geworden. Er ist geschützt. wir können ihn nicht einbürgern."

"Dann müssen wir ihn töten?" Fragte Arnold.

"Dazu müßten wir wen engagieren, der ganz ohne unseren Einfluß zu ihm geht."

"Curtis?" Fragte Arnold.

"Ich muß mit ihm reden", sagte Lamia.

Doch als sie Norman Curtis in seinem Haus aufsuchen wollten stellten sie fest, daß jemand anderes schon da gewesen war. Lamia holte mit ihrem hypnotischen blick eine Antwort aus einer der Nachbarinnen. "Das FBI hat ihn einbestellt. Warum weiß ich nicht." Das reichte Lamia aus um einen Schluß zu ziehen, der ihr nicht gefiel:

"Zach Marchand hat denen alles überlassen, was er über uns wußte. Die haben Curtis in Gewahrsam genommen. So bleibt uns eben die Option in Indien."

"Ja, aber da wohnen doch diese Wertiger", warf Arnold ein.

"Nicht überall", knurrte Lamia.

Völlig verärgert über die unverrichteten Dinge kehrten die beiden Vampire mit Hilfe von Portschlüsseln zur Basis Winternacht zurück. Lamia wollte bald die "Aktion" Zuwanderung" einleiten, die die Bewohner einer Großstadt mit dem Einbürgerungspulver zu einer Metopole der Nachtkinder machen würde.

__________

Sie hatten sich darauf geeinigt, daß er zu ihr zog. Das lag nicht nur daran, daß sie seit dem Weihnachtstag jede Nacht bis Neujahr miteinander verbracht hatten, sondern auch daran, daß sie beide eine gemeinsame Wellenlänge gefunden hatten. Justines Haus in Brewster in der Nähe von New York lag nahe genug an der Riesenstadt am Hudson-Fluß, um jeden Tag hinzufahren und nach Hause zurückzukehren, und doch weit genug weg, um dem Trubel der niemals schlafenden Stadt aus dem Weg zu gehen. Da Zachary Marchand offiziell tot war verfielen auch sämtliche E-Mail-Adressen und Benutzerkonten. Jeff hätte eigentlich noch einmal gerne mit Martha Eauvive korresponndiert. Doch er sah ein, daß die Gefahr, damit einen schlafenden Drachen zu wecken oder besser, einen Schwarm Vampire zu rufen, viel zu groß war. Außerdem hatte er von Davidson erfahren, daß Martha Eauvive die Meiste Zeit im Château Florissant des Eauvive-Clans zubrachte, wo sie weder telefonieren noch mit dem Internet arbeiten konnte. Es interessierte ihn zwar schon, wie sie reagierte, wenn sie erfuhr, daß ein guter Bekannter im Dienst gestorben war. Doch dann an dessen Stelle zu treten fand er auch nicht so prickelnd. Die wissen sollten, daß es ihn gab wußten es. Der Rest lebte sicherer, wenn er nicht wußte, daß Zachary Marchand vor seinem tödlichen Einsatz zwei Minuten in einem Toilettenhäuschen verbracht hatte, wo ein ihm sprichwörtlich haargenaues Ebenbild, daß mit seinen Erinnerungen versehen war, die Kleidung abgenommen hatte, um für die magische und nichtmagische Öffentlichkeit spektakulär zu versterben. Wäre die Hütte nicht mit Sprengstoff überfüllt gewesen, dann hätte er es darauf angelegt, sich mit den Vampiren zu schlagen und unterwegs durch eine Zyankalikapsel zu sterben. Es war zwar nicht so ganz astrein, ein Simulacrum, was die Muggel auch Klon nennen mochten, als Kanonenfutter und Bauernopfer zu erzeugen. Doch alle im LI wußten, daß sie das Wissen und die trotz der gekappten Verbindungen zum FBI immer noch bestehenden Erfahrungen mit den Bundesbehörden brauchten.

Am dritten Januar trat Jeff Bristol seine durch gute Beziehungen erworbene Stelle als Kriminalreporter der New York Times an. als er nach dem ersten Arbeitstag zurück in das Haus in Brewster fuhr erfuhr er von Brenda, daß es in einem Lokal in Belo Horizonte in Brasilien zu einer Schießerei gekommen sei. Dabei seien fünf Männer getötet worden. Einer davon konnte einwandfrei als Aldo Watkin identifiziert werden.

"Die Firma kriegt jeden, der auf ihrer Liste steht, der grünen wie der schwarzen", hatte Brenda ihm unter die Schädeldecke geflüstert. Ja, das mußte Jeff Bristol wohl glauben.

ENDE

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