© 2003 by Thorsten Oberbossel
Am Ende des trimagischen Turniers kommt es zum Tode eines Schülers von Hogwarts, der durch den wiedergekehrten Dunkelmagier Lord Voldemort verursacht wird. Barty Crouch Junior, ein Handlanger des bösen Hexenmeisters wird in Hogwarts entlarvt und durch einen Dementor, einer düsteren Kreatur im Dienste des Zaubereiministeriums, seiner Seele beraubt. Sein Körper wird versteckt gehalten. Pandora Straton, eine Hexe, die nichts für die ministerielle Ordnung und Gesetzgebung übrig hat, holt den seelenlosen Körper noch rechtzeitig, bevor ein Diener Voldemorts diesen töten kann. Durch den Contrarigenus-Fluch wird aus Barty Crouch eine Frau, deren unbeseelten Leib die bis dahin in einem mächtigen Medaillon der dunklen Zauberkunst geborgene Seele der mächtigen Hexe Anthelia mit Hilfe von fünf ihr zugetanen Hexen übernimmt. Das Ritual wird von Benny Calder, einem Teenager aus der nahebei gelegenen Kleinstadt Dropout im amerikanischen Bundesstaat Mississippi belauscht. Die Hexen finden ihn, und Anthelia unterwirft ihn einem Bindungsfluch, mit dem sie ihn überwachen kann, sodaß sie einen Kundschafter in den Reihen der sogenannten Muggel hat.
Anthelia gründet den Hexenorden der schwarzen Spinne, der zum Ziel hat, alle machtbewußten Hexen über Muggel und Zauberer herrschen zu lassen, gegen die Bestrebungen der Zaubereiministerien und des bösen Magiers Voldemort und seiner Handlanger.
Anthelia sucht nach mehr Macht und Wissen. Hierzu verschafft sie sich mit Hilfe des Zauberschülers Chuck Redwood Einlaß in das von einem mächtigen Fluch bewachte Haus der dunklen Hexe Sarah Redwood. Da Voldemort ebenfalls hinter Sarahs altem Wissen her ist, kommt es zum Überfall seiner Getreuen auf die Familie Redwood, bei der alle den Tod finden. Angeblich stirbt auch Chuck Redwood. Doch dies ist nur ein Trick der Spinnen-Schwestern, denn der wahre Chuck erweckt die in einem magischen Dauerschlaf liegende Sarah, die ihn überwältigt und in ihren Dauerschlafsarkophag zwingt, da er nicht auf ihrer Seite mitmachen will. Sarah begegnet Anthelia vor ihrem Haus, empört sich, daß Anthelia sich für mehr hält als sie und duelliert sich mit der wiedererstandenen Dunkelmagierin. Dabei findet sie den Tod. Ihre Seele wird von Anthelia in ihr Seelenmedaillon gezwungen, wo ihr Wissen und Können nun Anthelia zu Gebote steht.
Um Dropout, der Heimatstadt des Jungen Benny Calder, entbrennt ein mörderischer Krieg zweier brutaler Großbanden, den War Dragons und den Red Rattlesnakes, bei dem die Stadt in einem Inferno von Explosionen und Feuerbomben zerstört wird. Anthelia mischt sich nicht ein, sichert nur ab, daß Benny Calder ihr nicht verlorengeht. Weil die War Dragons eine echte Hexe als Bundesgenossin besitzen, die die Kraft des alten Hauses, in dem Anthelia ihr Hauptquartier eingerichtet hat, ausnutzen will, wird auch die Schwesternschaft der Spinne in den Krieg verwickelt. Am Ende sind fast alle Angehörigen der beiden Banden tot oder in alle Winde zerstreut. Die Anführer der Rattlesnakes sterben durch ihre Feinde, die Führer der War Dragons trifft Anthelias Rache, weil diese sich von den War Dragons zum Erfüllungswerkzeug wider Willen hat machen lassen, um sich selbst zu schützen. Dropout soll wieder aufgebaut werden, was jedoch lange dauern wird. Anthelia hofft nun, ihr Netz der schwarzen Spinne weiter in Ruhe knüpfen und auslegen zu können, um gegen Voldemort zu bestehen.
Es Regnete. Das war um diese Jahreszeit nichts außergewöhnliches in England. Wie kilometerlange Schnüre aus winzigen Glasperlen, durcheinandergetrieben von einem frischen Wind von der See im Süden, fiel der dichte Regen auf vier große Betonbauten, die kalt, abweisend und unpersönlich auf einem großen planierten Feld standen, umringt von wild wucherndem Gesträuch und Kletterpflanzen, die sich den vor über zwanzig Jahren von der Natur abgerungenen Raum zurückerobert hatten.
Im Abstand von zweihundert Metern standen fünf große Lastwagen, zwei Schaufelbagger, ein Messwagen der Umweltbehörde und ein Kleinbus, auf dessen Dach eine dreiarmige Antenne saß. In dem Bus saßen fünf Personen: der in einer zu den dunkelgrünen Kunstledersitzen passenden Uniform gekleidete Fahrer, ein Herr Mitte sechzig mit schütterem graubraunem Haar, der durch eine vergoldete Brille mit besonders dicken Gläsern interessiert und leicht wehmütig zu den Gebäuden hinübersah und einen dunklen Anzug mit Fliege trug, ein Mann Mitte zwanzig, der einen Laptop-Computer vor sich auf den Knien liegen hatte, auf dessen farbigem Flüssigkristallbildschirm ein Diagramm aus Ortsmarkierungen und Zeitangaben zu sehen war, ein hochgewachsener Mann in den Vierzigern, der dunkles dichtes Haar und einen kurzen Schnurrbart besaß und in einen hellen Konfektionsanzug gekleidet war und ein Mann Mitte bis Ende dreißig, der eine hellblonde Halbglatze besaß und wie der ältere Herr neben ihm einen maßgeschneiderten dunklen Anzug mit Krawatte trug.
"Sehen Sie sich die alten Klötze noch mal genau an, meine Herren", sprach der Herr im hellen Anzug und tätschelte eine Schaltkonsole, die über mehrere Kabel mit der Antenne auf dem Dach verbunden war. "In genau zehn Minuten gibt es die nicht mehr. Mr. Collins, haben Sie Anbringung und Ablauf noch mal geprüft?"
"Jawohl, Mr. Tiron. Die Ladungen sind alle gemäß des errechneten Plans verteilt und verkabelt worden. Die letzte Sicherheitsprüfung läuft. Die Polizei und Feuerwehr aus Dover riegeln gerade das Gelände ab. Countdown läuft, Zeit Minus neun Minuten und vierzig Sekunden", meldete der junge Mann mit dem Laptop und deutete auf das dargestellte Diagramm und auf die im unteren rechten Bildabschnitt laufende Zeitangabe, die in flimmernden grünen Ziffern Sekunde für Sekunde zur Nullzeit zurückzählte.
Archibald Tiron, der Mann im hellen Anzug, war ausführender Sprengmeister des Unternehmens "Abriss des Agrochemicals-Komplexes", der mit seinem jungen Assistenten Egon Collins, dem Mann mit dem Laptop, die Sprengung der vier ausgedienten und sechs Monate zurückgelassenen Gebäude der Agrochemicals-Fabrik in der Nähe von Dover durch wohlplatzierte Sprengladungen abreißen sollte. Die DBU-Kompanie, welche solche Großsprengungen an alten Fabrikgebäuden Hochbauten und Bunkern durchführte, hatte Tiron und Collins mit der Durchführung beauftragt, weil diese alte Chemiefabrik sehr stabile Betongebäude beinhaltete und eine Sprengung, bei der möglichst wenig Explosivmaterial verwendet werden sollte, bei Tiron in den besten Händen war.
"Dreißig Jahre habe ich mit Agrochemicals den Süden Englands am Leben gehalten", sagte der älteste Insasse des Busses leicht trübselig dreinschauend. "Und heute werde ich mir ansehen, wie die letzte Erinnerung daran zu Staub zerfällt."
"Das ist schon schwierig, denke ich", sprach der Mann Mitte dreißig mit wohldosierter Anteilnahme. "Ich frage mich jedoch immer noch, was ich hier soll. Ihre Firma hat doch alle Reststoffe abfahren lassen, Dr. Jennings."
"Sicher, die transportierbaren Reststoffe sind alle raus, Dr. Andrews. Doch Sie wissen ja, daß die Umweltbehörde einen unabhängigen Prüfer aus der Industrie verlangt hat, um zu bezeugen, daß hier keine versickerten Chemikalien mehr zu finden sind. Die Bürokratie", seufzte der Herr, der mit Dr. Jennings angesprochen wurde.
"Ja, aber daß man dabei auf mich verfallen ist", wunderte sich der Mann, der mit Dr. Andrews angesprochen wurde, "erstaunt mich dann doch. Aber wenn die meinen, ich sei derzeit der beste Kenner chlorierter organischer Verbindungen, soll's mir recht sein."
"Ist ja nur wegen der Bürokratie", wiederholte Jennings seine Bemerkung von gerade eben.
Dr. Richard Andrews mußte sich sehr beherrschen, dem älteren Herrn neben sich, der als Generaldirektor der Agrochemicals zur Sprengung der alten Fabrikgebäude angereist war, nicht zu zeigen, wie heftig ihn diese alten Gebäude da mit seiner jüngsten Vergangenheit verbanden und daß er hier und jetzt nicht so gleichgültig zusah, wie vier große und unnütz gewordene Bauten per Knopfdruck in Schutt und Asche gelegt wurden. Seine Vergangenheit ging niemanden etwas an, denn sie war so außergewöhnlich und unglaublich, daß sie ihm auch niemand abgekauft hätte. Doch er erinnerte sich noch so stark, als sei es gerade erst einen Tag her, wie er vor einem Monat, zu Beginn des Augustes, an diesem Ort eine Nacht zugebracht hatte, weil er vor Leuten geflohen war, die seine Auffassung von der Erziehung seines einzigen Sohnes nicht teilten, ihn sogar als Gefährdung einer "vernünftigen" Ausbildung ansahen. Er hatte damals versucht, mit bereits außerhalb der Gesetze liegenden Methoden seine Frau an den Rand des Wahnsinns zu treiben, war dabei aufgeflogen und in einem Ansturm von Angst und Hast hierher geflüchtet, wo er in seinem Auto geschlafen hatte, bis er am nächsten Morgen mit etwas kühlerem Kopf seine Heimkehr nach London antrat.
Dr. Richard Andrews dachte an den merkwürdigen Traum, den er hier auf dem Rücksitz seines Autos geträumt hatte, von seinem letzten Tag in Eton, daß seine Eltern ihm einen grauen Bentley geschenkt hatten und daraus verschwanden, sodaß er alleine damit weiterfuhr und an einem Wald anhielt, wo er eine überragend sinnliche Begegnung mit einer rothaarigen Unbekannten erlebt hatte. Diese Erinnerungen wühlten ihn innerlich auf, und er mußte hart dagegen ankämpfen, die Gefühle und Erinnerungen auf Körper und Gesicht einwirken zu lassen, um den Anschein des neutralen Betrachters, der nur hier war, um mitzuerleben, wie diese wertlosen Bauten für teures Geld in die Luft gejagt wurden, zu wahren.
"Meine Herren, in sieben Minuten wird gesprengt", verkündete Tiron und blickte von der grünen Countdown-Anzeige auf dem Computerbildschirm auf seine Uhr, dann auf die Schaltkonsole vor sich und danach wieder auf die Countdown-Anzeige. Tirilierend meldete sich das Handy des Sprengmeisters aus der Innentasche seines hellen Jacketts. Er zog es hervor, meldete sich mit "Ja, Tiron hier" und lauschte auf eine Stimme aus dem winzigen Lautsprecher, nickte und bejahte etwas, bedankte sich höflich und trennte die Mobiltelefonverbindung wieder.
"Also die Polizei und die Feuerwehr geben grünes Licht, Collins. Wir können also", informierte Tiron seinen Assistenten, der zustimmend nickte.
"Haben Sie sowas schon mal live gesehen, Dr. Jennings und Dr. Andrews?" Fragte Tiron seinen Auftraggeber und dessen von oben verordneten Gast. Diese schüttelten bedächtig die Köpfe. "Dann werden Sie gleich miterleben, wie präzise wir arbeiten mußten, um die vier Bauten da so gefahrlos wie möglich und mit so wenig Sprengstoff wie möglich zu zerlegen. Der Vorgang wird, dies nur zur Wiederholung, keine fünf Sekunden dauern und von uns mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgezeichnet. Falls Ihnen die Explosionsabfolge zu schnell geht, können Sie sich die hundertfache Zeitlupe nachher auf Video ansehen."
"Die Echtzeitansicht dürfte reichen", wandte Jennings ein. Er wollte nicht unbedingt die in Einzelabschnitte zerlegte Sprengung auf Video ansehen, wenn er die tatsächliche Abfolge genau geplanter Explosionen schon schwer mitverfolgen konnte.
Fünf Minuten, Mr. Tiron. Das erste Signal?"
"Sicher doch, Collins", bestätigte Sprengmeister Tiron und betätigte einen gelben Knopf an der Schaltkonsole. Signalhörner rund um das alte Agrochemicals-Gelände tröteten die erste von drei Warnungen in die einsame Stimmung des Mittags am 15. September 1995. Nun hieß es, alle Mann in die sichere Entfernung zu den vier Gebäuden, deren Zeit nun in grünen Ziffern Minute für Minute, Sekunde für Sekunde zerrann. Bei minus zwei Minuten ließ Tiron die zweite Warnung ertönen, die dazu aufforderte, niemanden mehr auf das Gelände zu lassen.
Im Schnürregen wirkten die Gebäude stumpf und grau. Dr. Andrews vermeinte, zwischen dem Gebäude, wo damals die Kühlung untergebracht war und dem, wo die Endverarbeitung ablief einen weißen Nebelhauch zu erkennen. Er vermutete, daß es eine Sinnestäuschung war, weil er gerade wieder an jene Nacht hier zurückdachte, wo ihn Nebelschwaden umweht hatten, als er sich zur Rückkehr nach London aufgerafft hatte. Vielleicht war es auch von den wenigen Strahlen der hinter Wolken versteckten Mittagssonne verdunstetes Regenwasser. Jedenfalls war nach einer Sekunde nichts mehr von diesem Nebelhauch zu sehen, und Dr. Andrews glaubte nicht mehr daran, ihn wirklich gesehen zu haben. Doch irgendwie genügte der Gedanke an diesen Nebelstreifen, ihm den merkwürdigen Traum ins Gedächtnis zurückzurufen, den er hier geträumt hatte. Ja, er hatte geträumt, mit seinem Wagen zu fahren und wegen eines über die Fahrbahn wabernden Nebelstreifens anzuhalten, am Rande eines Waldes, wo ihm dann jene mysteriöse und äußerst anregende Frau begegnet war, deren Aussehen, Bewegungen und Stimme ihm die Sinne verwirrt und in lange nicht mehr erlebte Wallung versetzt hatten. Er dachte an die goldbraunen Augen, das feuerrote, lange Haar und die biegsame Figur der Fremden, die ein hauchzartes weißes Kleid getragen hatte. Sie hatte ihm sogar ihren Namen verraten, erinnerte er sich noch. Doch wie hieß sie?
"Eine Minute, Leute. Bei zehn Sekunden lasse ich die dritte und endgültige Warnung klingen", kündigte der Sprengmeister an und holte nicht nur Dr. Andrews, sondern auch Dr. Jennings aus seinen jeweiligen Gedanken zurück in die nackte Wirklichkeit. Tatsächlich drückte er bei minus 10 Sekunden auf der Computeranzeige den orangen Knopf für das Drei-Töne-Signal, das die unmittelbar bevorstehende Sprengung verkündete. Etwa sechs Sekunden dauerte diese Warnung. Drei Sekunden zerrannen auf der Computeranzeige. Tiron tippte eine mehrstellige Kombination ein, die er bei minus 5 Sekunden als Funkimpuls losschickte. Die Vorrichtung wurde auf "scharf" gestellt. Drei! - Zwei! - Eins! Null!
Als alle Zahlenfelder der Countdown-Anzeige auf null umsprangen, versenkte Tiron mit viel Druck einen roten Knopf auf der Schaltkonsole in seinem Sockel. Augenblicklich brachen vier große Staub- und Rauchwolken aus den Gebäuden heraus, die taumelten und innerhalb weniger Sekunden zusammenfielen, wie große Sandhaufen, die von einer Sturmböe umgeweht wurden. Innerhalb weniger Hundertstelsekunden folgten laute dumpfe Explosionsgeräusche, die zwei Drittel einer Sekunde nach Ausbruch der Staubwolken bei den Fahrzeugen ankamen. Fünf Sekunden, wie Tiron es vorhergesagt hatte, benötigten die vier Gebäude, um ordentlich und gründlich in sich zusammenzufallen und als große Schutthaufen, aus denen immer noch Rauch und Staub aufstieg, liegen blieben.
"Das war es also", setzte Dr. Jennings mit belegter Stimme einen gesprochenen Schlußpunkt hinter die soeben stattgefundene Sprengung.
"Der Messwagen kann los", sagte Tiron nach dreißig Sekunden Wartezeit, als sich der Staub langsam über alles und jeden niedersenkte, wer und was im Umkreis mehrerer Kilometer anwesend war.
Der Schadstoffspürwagen der Umweltbehörde rückte aus und befuhr das Gelände, um am Boden und in der Luft nach Überresten alter Chemikalien zu suchen. Eine halbe Stunde sondierte der Messwagen das Land und die vier Schutthaufen, bevor die Meldung kam, daß durch die Explosionen keine gefährlichen Stoffe freigesetzt worden waren. Allerdings sei durch die Erschütterungen etwas von der planierten Fläche aufgerissen worden. Man wolle noch prüfen, ob eingesickerte Altlasten nachzuweisen waren. So dauerte es noch einige Stunden, bis die Bodenanalysen beendet waren. Tatsächlich waren einige Phosphatreste und chlorierte Kohlenwasserstoffe im Boden nachweisbar, wenngleich auch in einem als unbedenklich erklärten Maße. Dr. Andrews prüfte die Analyseergebnisse, trug in einer Farbtabelle die Gefahrenstufe der erkannten Substanzen ein, zeichnete das Messprotokoll neben dem zuständigen Amtschemiker ab und fuhr mit dem Bus der Sprengfirma los. Dabei vermeinte er, in einem von einer Windböe durchgewirbelten Regenvorhang zwei goldbraune Lichtreflexe zu sehen, die innerhalb eines Lidschlages wieder verschwanden. Dabei fiel ihm ohne jede Vorankündigung ein, wie diese unbeschreiblich auf ihn wirkende Frau aus dem Traum hieß: Roxana Halliti. Was für ein merkwürdiger Name, dachte Dr. Andrews und machte sich sofort wieder davon frei, an diesen Ort zu denken. Denn nun ging es wieder von hier fort, endgültig.
"Was machen Sie mit dem Gelände, wenn der Abraum abgefahren ist?" Erkundigte sich Andrews bei Jennings. Dieser machte eine Miene, als müsse er sehr hart über die Antwort nachdenken und erwiderte:
"Da die Altlastenanalyse wohl zufriedenstellend verlaufen ist, werden wir das Gelände wohl der Flexifurniture-Kompanie verkaufen. Die haben schon Interesse signalisiert. Dann kommt hier ein Möbelhaus hin, in dem wohl auch von Ihrer Firma hergestellte Bauteile zu erwerben sind, Dr. Andrews."
"Ich dachte schon, die ganze Umgebung würde der Natur zurückgegeben", wunderte sich Sprengmeister Tiron. Die beiden Wissenschaftler schüttelten die Köpfe.
"Für umsonst soll das hier ja wohl nicht gelaufen sein", sagte Jennings leicht ungehalten. Offenbar wollte er klarstellen, daß er den Bau und Betrieb der Fabrik nicht dafür finanziert hatte, daß nun alles der wilden Natur überlassen blieb.
"Ja, dann wird wohl in zwei Jahren oder weniger der Betrieb hier losgehen", vermutete Dr. Andrews. Ein merkwürdiges Unbehagen befiel ihn bei dem Gedanken daran, daß an dem Ort, wo er vor mehreren Wochen eine Nacht in Einsamkeit und wilden Träumen verbracht hatte, der Rummel eines großen Möbelhauses vorherrschen sollte, daß Stühle, Tische, Betten und Schränke, Teppiche und Parkettböden, Tapeten und Regale dort verkauft werden sollten, wo er die trübe Stimmung der unnützen Bauwerke und die Abgehetztheit seiner Flucht verspürt hatte. Der irrwitzig anmutende Gedanke, daß er ein Recht auf dieses Stück Land hatte, wo vor wenigen Stunden noch alte Betongebäude gestanden hatten, ließ ihn irgendwie nicht los, so heftig er auch mit seinem Verstand dagegen ankämpfte. Wieso, so fragte er sich schließlich, hing er so an diesem verlassenen Gelände, mit dem er nur diese eine lange Nacht verknüpfte? War es nicht besser so, daß er nun keinen greifbaren Bezug mehr zu der Flucht vor jenen abartigen Leuten hatte, die ihn dorthin geführt hatte. Ja, so war es bestimmt besser, fand er. Aber der merkwürdige Eindruck, es nicht zu mögen, daß dort demnächst wieder Geschäftigkeit entstehen würde. Doch als er wieder in Dover war, wo sein Wagen in einer Tiefgarage geparkt war, verflogen diese befremdlichen Gedanken. Denn sein Berufsalltag holte ihn wieder ein. Ein Anruf seines obersten Vorgesetzten zitierte ihn zu einer Niederlassung in Liverpool, wo er ein Forschungsprojekt kontrollieren sollte, daß neue molekulare Metall-Kunststoffverbindungen hervorbringen sollte.
"Willkommen in der Stadt, die niemals schläft!" Begrüßte ein imposantes Schild am Ausgang des Ankunftsgebäudes des John-F.-Kennedy-Flughafens alle Touristen und Geschäftsleute, die aus allen Regionen der Welt hierher gekommen waren. Unter den vielen tausend Männern und Frauen, die durch das gläserne Portal die mit großen starken Neonlampen ausgeleuchtete Ankunftshalle verließen, befand sich auch ein mexikanischstämmiges Ehepaar. Der Mann trug einen dunkelblauen Anzug, während seine Frau in einem hellgrünen Kurzkleid unterwegs war. Enrique Montes, ein im Süden der Staaten erfolgreicher Vertreter für Großrechner für Banken und Forschungsinstitute, hatte auf die Einladung seiner Schwester Alejandra geantwortet und mit seiner Frau Maria Purificación einen Urlaub in New York angesetzt, der vom 20. Oktober bis Halloween dauern sollte. Danach, so hatte seine Frau sich durchsetzen können, war ein Abstecher nach Los Alamitos, einem Dorf im Süden Mexikos geplant, wo Maria mit ihren dort lebenden Verwandten "el Dia de los Muertos", den Tag der Toten, feiern wollte, der am ersten November beginnen und bis zum zweiten November dauern sollte. Die Großmutter seiner Frau, Maria Concepción oder auch Conchita Ramirez, war in diesem beschaulichen Dorf eine sehr beliebte Frau gewesen, und Maria wollte sie zusammen mit ihren Geschwistern, Onkeln und Tanten ehren, wie sie es jedes Jahr tat. Dafür wurde von ihrer beider Einkommen immer was zurückgelegt. Doch in diesem Jahr war durch erfolgreiche Geschäfte von Enrique auch eine Woche New York möglich geworden.
"Kauf dich aber nicht zu schwer! Sonst müssen wir nach Los Alamitos zu Fuß gehen", sagte Enrique scherzhaft zu seiner Frau. Untereinander sprachen sie seit je her Spanisch. Obwohl sie schon ein halbes Leben in den achso großartigen vereinigten Staaten zubrachten, waren sie stolz auf ihre Herkunft, ihre Wurzeln, die selbst die in den Staaten vorgeschriebene Anpassung an bestimmte Gesellschaftsstandards nicht hatte ausreißen können.
Mit einem Taxi fuhren die Montes' nach Manhattan, wo sie in eines der etwas besseren Stadtviertel hineinfuhren, wo ausschließlich farbige Staatsbürger lebten, die es in der Millionenstadt zu etwas gebracht hatten und in Chinatown, Harlem oder Brooklyn nicht mehr ohne den Neid ihrer Nachbarn hätten leben können. Hier bewohnte Alejandra Inés Romero zusammen mit ihrem aus Honduras stammenden Ehemann, einem Chirurgen des Manhattan-Zentralkrankenhauses, ein schönes kleines Haus mit buntem Vorgarten, das nur dadurch an Trautheit einbüßte, daß es von einem vier Meter hohen Metallzaun umfriedet war, den man nur durch ein videoüberwachtes Tor passieren konnte, wollte man nicht mit den in den höheren Bereichen angebrachten Alarmsensoren Kontakt bekommen. Enrique stellte sich so vor die Kamera, daß sie ein scharfes Vollportrait von ihm aufnehmen konnte und betätigte die Klingel. Von drinnen fragte jemand über Sprechanlage, wer da sei.
"Ich bin es, Schwesterchen", sagte Enrique erfreut, die Stimme seiner zwei Jahre älteren Schwester zu hören in ihrer gemeinsamen Muttersprache. Keine Sekunde später klackte es im Tor, und die starken elektrischen Verriegelungen waren entsperrt. Leise zischend wurde das Tor von einer Hydraulik nach innen geöffnet, und die Montes' traten auf den mit Kies bestreuten Zuweg zur Haustür. Sie waren angekommen. Das Tor schwang hinter ihnen wieder zu und verriegelte sich wieder.
"Willkommen in New York!" Dachte sich Maria Montes. Nur in einer so großen Stadt war es nötig, sein eigenes Haus wie ein Gefängnis zu sichern, sobald man etwas mehr Geld hatte, als die Heilsarmee bereitstellte. Sicher, sie kam aus Jackson, einer wichtigen Stadt. Aber derartig umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen waren ihr doch nur von ihrer Dienststelle geläufig.
Alejandra Romero war eine leicht untersetzte aber sehr energievolle Frau mit langen schwarzen Haaren. Das sie schon vier Kinder hatte, hätte ihr niemand zugetraut, da sie zehn Jahre jünger wirkte, als sie tatsächlich war. Sie fiel erst ihrem Bruder um den Hals und küßte ihn, bevor sie ihre Schwägerin begrüßte.
"Herzlich willkommen in New York, Maria! Ich hoffe, ihr hattet einen guten Flug."
"Die Maschine war zwar etwas klein, aber dafür hat das Wetter mitgespielt", erwiderte Maria.
Ein scharfer Knall ertönte. Instinktiv langte Maria an ihre rechte Rocktasche, griff aber ins leere. Dann verzog sie das Gesicht, als lautes Kinderlachen erscholl und zwei Jungen um die sechs Jahre um die Hausecke herum angelaufen kamen. Einer der Jungen hielt einen Spielzeugrevolver in der rechten Hand, aus dessen Plastiklauf feiner Rauch faserte. Auf dem Kopf trug er einen nachtschwarzen Sombrero und vor Mund und Nase eine schwarze Maske, wie ein mexikanischer Bandit.
"Hände hoch, Überfall!" Plärrte der kleine Desperado auf Englisch mit spanischem Akzent. Enrique Montes lachte nur. Dann sah er sich den zweiten Jungen an, der einen weißen Raumanzug und eine zukunftsmäßig aussehende Laserpistole in der rechten Hand trug.
"Ach du meine Güte, Commander Lightning und Don Bruto auf einem Schlag", lachte Enrique Montes, während sich seine Frau wieder beruhigte.
"Müßt ihr unbedingt hier mit dieser Knarre rumballern?" Fragte Maria Montes mit vorwurfsvoller Stimme und tadelndem Blick. Der Junge, der als mexikanischer Bandit verkleidet war, zwinkerte nur mit seinen großen dunkelbraunen Augen und drückte den Abzug seines Spielzeugrevolvers ab. Peng! Knallte eine weitere Krachpulverladung los und schickte einen neuen Rauchfaden durch den Lauf. Tschiumm! Sirrte die Laserpistole des kleinen Weltraumhelden los, begleitet von hellrotem Licht, das an der Spitze des sich spiralförmig immer enger drehenden Laufes seiner Wunderwaffe aufblitzte. -tschiumm
"Süßes raus, sonst werdet ihr terminiert!" Drohte der Junge mit der Strahlenwaffe, während der augenfällig als sein Bruder erkennbare Bandit locker mit seinem Revolver herumschwenkte und rief: "Bonbons oder Leben!"
"Leute, für Halloween ist es noch zu früh", lachte Enrique Montes und fischte in seinem Jackett nach einer Tüte Bonbons. Seine Frau grinste nun auch. Ihr waren die Instinkte durchgegangen, die ihr Beruf forderte. Kinderkram war ungefährlich, solange die Jungen nicht hungern mußten oder in eine Schule voller brutaler Waffennarren gingen, was ihrer Kenntnis nach nicht der Fall war. Sie sah den Weltraumkrieger an und sagte:
"Wenn du uns beide vor Halloween zerstrahlst, wird deine Zentrale dich bestimmt in deine Atome zerlegen und über die Galaxis verstreuen."
"Hier habt ihr was für's erste, Pablo und Ricky", sagte Enrique und verteilte gleichmäßige Portionen von Bonbons. Die Jungen schoben daraufhin ab.
"Die wollten nur ausprobieren, ob ihre Verkleidung Eindruck macht. Laura geht als böse Hexe des Westens und Ernesto hat sich ein schweres Roboterkostüm zusammenbauen lassen, um Ricky zu begleiten", informierte Alejandra ihre Verwandten über die diesjährigen Halloween-Verkleidungen ihrer vier Kinder. Dann ließ sie die beiden Gäste aus dem Süden der Staaten in ihr Haus ein, wo sie Alonso Romero begrüßten, Enriques Schwager.
Nach einer gemeinschaftlichen Begrüßung durch alle sechs Romeros ging es zum essen. Rosita, die Köchin und Putzfrau der Romeros, trug ein drei-Gänge-Menü mexikanischer Köstlichkeiten auf, zu dem es kalifornischen Qualitätswein für die Erwachsenen und Cola für die Kinder gab. Danach unterhielt man sich über die letzten Wochen und was die Montes' in New York alles anstellen wollten. Maria Montes erzählte von ihrem letzten, nicht als streng geheim klassifizierten Einsatz, der Festnahme eines Kindesentführers, der mit der zehnjährigen Tochter eines Kongressabgeordneten in einem kleinen Ort bei Jackson Zuflucht gesucht hatte. Dann wurde sie auf eine verheerende Feuerkatastrophe angesprochen, die sich einen Monat zuvor in einer Stadt namens Dropout ereignet hatte.
"Was war es denn jetzt wirklich, Maria? Die Reporter von Kanal sechs sagen, es sei Brandstiftung im großen Stil gewesen und die von "knallhart nachgefragt" erzählen uns was von einer mächtigen Gasexplosion."
"Nun, das war damals kein Fall für mein Büro, Alejandra. Was ich weiß habe ich auch nur aus den Nachrichten. Denen nach war es eine verheerende Gasexplosion in der Tankstelle von Dropout. Dabei ist die Wasserversorgung zerstört worden, sodaß das Feuer nicht bekämpft werden konnte. Zumindest konnten die Bewohner evakuiert werden", sagte Maria Montes. Sie log, weil das, was tatsächlich mit jener Kleinstadt passiert war, zur Geheimsache erklärt worden war. Vielleicht hätte es ihre Schwägerin nicht geglaubt, daß ein mörderischer Bandenkrieg mit groß angelegter Brandstiftung die Stadt ausgelöscht hatte.
"Die von euren Sendern werden's wohl besser wissen", pflichtete Alejandra ihrer Schwägerin bei. Damit war dieses heikle Thema auch schon durch, zu Marias großer Erleichterung.
Der Rest der lockeren Unterhaltung drehte sich um die näheren und entfernteren Verwandten, daß Ernesto, der älteste Sohn mit dem Jüngsten, Ricky zu Halloween durch die Nachbarschaft gehen würde, während Alejandra im Königinnenkostüm mit der Zweitgeborenen Laura zu einer Schulaufführung gehen würde und Pablo, der mexikanische Bandit, mit seinem Onkel Alfonso, der noch aus San Rafael herüberkommen wollte, die Nachbarschaft in jenem Viertel auf- oder heimsuchen würde, in dem seine vier Vettern wohnten, die die Bande mexikanischer Strauchdiebe vervollständigen wollten.
Als die Montes' nach einem langen Abend in den bequemen Gästebetten lagen, flüsterte Enrique seiner Frau grinsend zu:
"Das war ja fast filmreif, wie du deine nicht vorhandene Waffe ziehen wolltest."
"Diese Spielzeugrevolver werden echten Waffen auch in allem ähnlicher, auch im Knall", bemerkte Maria dazu nur. Dann wünschte sie ihrem mann eine gute Nacht.
Die nächsten Tage flogen so dahin, fand Maria Montes. Die voller glitzerndem Licht Smog und hektischer Betriebsamkeit steckende Stadt beeindruckte die Touristin aus Jackson Mississippi. Die vielen Läden lockten mit reizvollem, nützlichem und kitschigem, und sie mußte sich immer wieder gut zureden, nicht mehr zu kaufen, als sie wirklich mitnehmen konnte. Sie bedauerte es, noch keine eigenen Kinder zu haben. Denn für diese gab es in der Woche vor Halloween eine ganze Menge zu erleben. Ihr Mann Enrique hielt nicht viel von New York. Ihm ging es hier zu schnell und überdreht zu. Außerdem mußten sie stets vor Taschendieben auf der Hut sein, die das Gedränge auf den Bürgersteigen, an der U-Bahn-Haltestelle oder in den großen Kaufhäusern ausnutzten, um unvorsichtigen Touristen Geld und Wertsachen zu stehlen, ohne bemerkt zu werden. Maria war als geschulte Polizeiagentin auf die Ablenkungsmanöver und Annäherungstaktiken der kleinen Gauner vorbereitet und konnte oft einem verdächtig aussehenden Typen, unabhängig von Kleidung oder Hautfarbe, durch einen bedeutsamen Blick mitteilen, daß sie auf der Hut vor ihm oder ihr war. Denn manchmal tarnten sich professionelle Straßenräuberinnen als hilfesuchende Mütter mit kleinen Kindern oder alte Damen, die jemanden suchten, der sie über die Straße brachte. Hier, so mußte Maria Purificación Montes erkennen, konnte die christliche Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft sehr böse verraten und zur Schwäche eines Menschen verkehrt werden. Andererseits bestand New York nicht nur aus lauernden Kleinkriminellen, sondern vor allem aus einer imposanten Mischung verschiedener Kulturen. Man konnte im pulsierenden Stadtzentrum mit der Besichtigung einer einzigen Straße eine kleine Weltreise machen. Neben einem italienischen Pizzabäcker verkaufte ein türkischer Schnellimbis Kebab, daneben lud ein Kunstschnitzer aus dem Schwarzwald zum Kauf seiner hölzernen Werke ein. Ein Gewirr verschiedenster Sprachen und Dialekte flog ebenso durch die Luft, wie die Musik verschiedener Kulturen aus den vielen Geschäften oder Wohnhäusern. Maria Montes imponierten die gigantischen Bürogebäude, für die New York berühmt war. Sie besichtigte das Welthandelszentrum, das aus zwei Bürotürmen zusammengestellte höchste Gebäude der amerikanischen Ostküste, fuhr mit ihrem Mann zum Dach des Empire State Buildings hinauf, von wo sie eine grandiose Aussicht auf das hektische Treiben in den Straßenschluchten mehr als dreihundert Meter unter ihnen genossen und picknickten mit der kompletten Familie Romero im Zentralpark. Alejandra zeigte ihrer Schwägerin Restaurants, die für wenig Geld wohlschmeckende Speisen anboten und führte sie in den Straßen herum, wo sie gute Bekannte in Bekleidungsläden oder Kosmetiksalons besuchten.
Am vorletzten Tag vor Halloween gönnte sich die Polizeiagentin eine komplette Veränderung des Äußeren. Während ihr Mann mit seinem Schwager und den Jungen nach Coney Island fuhr, um sich dort so richtig zu amüsieren, saß Maria Montes im Schönheitssalon von Madame Margo und ließ ihr Haar auf Vordermann bringen. Die wohl zwanzig Jahre ältere Salonchefin bediente Alejandras Schwägerin zuvorkommend und unterhielt sich mit ihr über die Südstaaten. Madame margo war dort selbst nur einmal gewesen, in Atlanta und dann noch in New Orleans. Maria Montes berichtete ihr, daß sie selbst schon in Texas gewesen war und auch schon den Grand Canyon, die beeindruckende Schlucht, besichtigt hatte.
"... Und wir flogen mit einem kleinen Flugzeug genau zwischen den Wänden entlang. Der Pilot mußte sehr aufpassen, nicht durch Luftverwirbelungen vom Kurs abgebracht zu werden. Sie kennen das vielleicht auch von hier, wie ein Windstoß durch enge Gänge verstärkt und verwirbelt wird, Madame Margo."
"Oh, sowas haben wir hier auch. Wenn in Manhattan auch nur ein leichter Wind geht, kann das in manchen Straßen merkwürdig stark werden. Dann sieht man richtig, wie der Dunst zu seltsamen Wolken verdreht wird. Aber richtig heftig wird das erst, wenn es hier brütendheiß wird und die Luft über den Straßen wie in der Wüste flimmert", entgegnete Madame Margo.
Das Glockenspiel an der Tür läutete die Ankunft einer möglichen Kundin ein. Doch die Frau, fast noch ein Mädchen, die in den Schönheitssalon hineintrat, wirkte nicht so, als suche sie Schönheit gegen Geld. Sie wirkte leicht orientierungslos, irgendwie aus dem Tritt geraten, fand Maria Montes. Sie trug einen grasgrünen Rock, eine rosa Bluse und eine silberne Halskette. Ihr graublondes haar war etwa schulterlang und stark zerwühlt, als sei die Frau gerade erst aus dem Bett gestiegen. Ihre silbergrauen Augen sahen die Einrichtung des Salons an, wie Bilder eines ungreifbaren Traumes, über den das Gehirn sich nicht klar zu werden vermochte. Sie wirkte nicht nur orientierungs- sondern auch willenlos. Ihre Bewegungen wirkten marionettenhaft, verzögert, steif und irgendwie künstlich.
"Entschuldigung, Ma'am, kann ich Ihnen behilflich sein?" Erkundigte sich Madame Margo bei der Fremden. Diese schien die Saloninhaberin nicht gehört oder verstanden zu haben. Sie trat mit schlurfenden Schritten heran. Maria Montes sah, daß sie wohl ihre Hausschuhe anbehalten hatte. Entweder stand die Frau unter Drogen oder schlafwandelte. Aber das konnte wohl ausgeschlossen werden, denn es war gerade drei Uhr Nachmittags.
"Hallo, Ma'am! Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?"
"Die Zeiten wenden sich der Dunkelheit zu", presste die Fremde mit einer heiseren Stimme hervor und stand leicht schwankend da. Maria Montes, die gerade erst mit der letzten Behandlung ihrer Hautfertig war, stand von ihrem Stuhl auf und trat auf die Unbekannte zu. Sie sah ihr genau in die Augen und erkannte, daß es wohl keine Drogen waren. Sie vermutete, daß die Fremde irgendwie psychisch gestört war oder tatsächlich in einer Art Schlafwandel umherging. Aber was sollten diese Worte?
"Was hat die Frau, Mrs. Montes?" Fragte Madame Margo besorgt.
"Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich dachte erst an Rauschmittel. Aber die Augen sehen nicht so aus. Sie wirkt geistesabwesend.""Ist sie vielleicht ...?"
"Die Heere der Dunkelheit", raunte die Fremde, und in ihrer heiseren Stimme schwang etwas beängstigendes mit. "Die Boten der düsteren Qualen sind unterwegs. Sie suchen nach Getreuen des schwarzen Lords."
"Bitte was?" Fragte Madame Margo total irritiert. Maria Montes blickte die Saloninhaberin an und gebot ihr mit einer Geste, erst einmal zu schweigen. War hier eine verwirrte Person unterwegs, die in einer art paranoidem Tagtraum gefangen war?
"Die Zeiten verdunkeln sich", hauchte die Fremde und verlor die Balance. Maria Montes fing sie schnell auf und bugsierte sie auf den im Moment freien Frisierstuhl. Bei der Gelegenheit beroch sie den Atem der Fremden, zog ihre Ärmel hoch und besah sich die Arme. Weder Einstiche an den Armen, noch verdächtige Ausdünstungen aus dem Mund konnte sie wahrnehmen.
"Die Heere der Schlange und der Spinne erheben sich. Der auf dem dunklen Wege wandelnde Meister der Zerstörung und der finsteren Herrscherin Schwester Tochter, sie rüsten zur Eroberung der Welt", sprach die Fremde. Ihre Stimme klang genauso abwesend, wie ihr Blick und ihre Bewegungen es andeuteten. Da kam der Polizeiagentin eine Vermutung.
"Vielleicht ist die Frau hypnotisiert worden und von irgendwo fortgegangen, bevor sie wieder aufgewacht ist."
"Ja, aber dieses Gerede, das klingt ja richtig unheimlich", erwiderte Madame Margo beklommen und starrte die unangemeldete Besucherin mit dem zerzausten Haar an, wie das Vorzeichen einer bevorstehenden Katastrophe.
"Hallo, Miss! Wer sind Sie?" Fragte Maria Montes vorsichtig, um die offenkundig nicht ganz bei Bewußtsein befindliche Frau nicht zusätzlich zu verwirren.
"Die Heere der Dunkelheit erheben sich", flüsterte sie. "Die Boten der düsteren Qual suchen die Getreuen des schwarzen Lords."
"Entschuldigung, Miss! Wer sind Sie?" Wiederholte Maria Montes ihre Frage.
"Der düsteren Herrscherin Schwester Tochter, neu erwacht im Körper eines Gefallenen, sie wird ihm trotzen, dem Sucher der Zerstörung."
"Ja, das sagten Sie schon", entgegnete Madame Margo, die nun nicht mehr glaubte, es mit einer wie auch immer gestörten Frau, eher mit einer ein abartiges Spiel treibenden Schauspielerin zu tun zu haben.
"Mrs. Montes, soll ich die Stadtpolizei oder den Notarzt rufen? Ich weiß nicht, wer dafür zuständig ist", erkundigte sich die Salonchefin, was sie tun sollte.
"Ja, rufen Sie ruhig die Stadtpolizei. Ich weiß nicht, was mit der Dame los ist. Vielleicht steht sie unter einem Schock", antwortete die Polizistin. Ihr war die Sache nicht geheuer. Die Fremde starrte sie so an, als sei sie nicht vorhanden. Dann flog ein Ausdruck unbändiger Angst über die Züge der jungen Frau. Irgendwas in dieser Regung trieb die Polizistin aus Jackson dazu, sich der Tür zuzuwenden. Draußen auf den Straßen von New York sah alles so aus, wie vorhin auch. Wieso zeigte die Fremde diese Angst.
"Sie sind in der Nähe, die Boten der düsteren Qualen", stammelte die Unbekannte. Ihr Atem ging immer stoßweiser. "Sie sind in der Nähe", stieß sie immer hektischer sprechend aus.
"Die macht uns hier was vor", grummelte Madame Margo und griff zum Telefonhörer. Sie würde die Polizei rufen, daß hier jemand saß und eine verrückte Schau abzog. Sie tippte die erste Neun des allgemeinen Polizei- und Notrufs ein, als unerwartet tiefe Dunkelheit über den Salon hereinbrach, als hätte sich von einer Sekunde zur anderen eine undurchdringliche Gewitterwolke vor die Herbstsonne geschoben. Ein gellender Schrei entfuhr der immer noch auf dem Frisierstuhl sitzenden Frau. Die Dunkelheit wurde noch tiefer, als sei von einer Sekunde zur nächsten tiefste Nacht über New York hereingebrochen. Madame Margo suchte den Lichtschalter für das Ladenlokal und drückte ihn. Knisternd und leise klirrend rumorte es in den Neonröhren. Doch kein Licht glomm darin auf. Das Summen der Elektroden in den Leuchtstoffröhren verriet, daß die Lampen eingeschaltet waren. Doch sie gaben kein Licht ab.
Nun erst bemerkten die zwei Frauen, wie eisige Kälte in den Salon einströmte, als habe jemand die Klimaanlage mal eben auf Kühlhaustemperaturen eingestellt. Die Tür zum Salon flog auf, und ein fauliger Brodem breitete sich im Ladenlokal aus.
Maria Montes traute ihren Sinnen nicht. Eiseskälte und tiefe Dunkelheit hatten sich ohne Vorwarnung über den Salon gelegt. Doch das war nichts im Vergleich zu dem ungeheuerlichen, das sich soeben durch die gläserne Tür schob. Sie roch Ausdünstungen wie von verfaulendem Fleisch. Sie sah einen mächtigen Kopf unter einer dunklen Kapuze. Sie hörte einen langsamen rasselnden Atem wie von einem Lungenkranken. Dieses Etwas, das in den Salon eindrang mußte sich tief bücken, um durch die Tür zu passen. Nur vier Schritte trennten den Kopf des Ungetüms von Maria Montes und der auf dem Frisierstuhl sitzenden Frau. Doch damit war es nicht genug.
maria hörte weit entfernte Schreie, Hilferufe auf Spanisch, sah weißen Rauch vor sich, dann loderndes Feuer, spürte für einen Moment sengende Hitze.
"Puri, Hilfe! Hilf mir!!" Klang eine in höchster Todesangst schreiende Mädchenstimme auf. Die Stimme kannte sie zu gut: Es war die Stimme ihrer Schwester Angelita. Sie war gestorben, als maria Purificación gerade sechs Jahre alt gewesen war. Beim spielen im Haus hatte sie eine Kerze angezündet und aus Versehen damit die Holzvertäfelung in Brand gesetzt. Das Feuer hatte sich innerhalb von Sekunden im ganzen Haus ausgebreitet, Angelita eingeschlossen. maria hatte sie damals noch um Hilfe rufen hören, sie um Hilfe anrufen hören können. Doch sie hatte nicht den Mut gefunden, in die lodernden Flammen hineinzugehen.
Das war es, was sie nun mit der Deutlichkeit aller fünf Sinne wiedererlebte. Sie sah das tobende Feuer, hörte es knistern, knacken und knallen, roch verbrennendes Holz und fühlte die sengende Hitze. Doch das war doch schon lange her!
"Puri, hilf mir!" Rief Angelitas immer verängstigter klingende Stimme. Doch Puri half nicht. Sie stand voller Angst vor dem brennenden Haus und zitterte. Nein! Sie konnte da nicht reingehen.
"Puri!" Rief Angelita.
"Die Boten der düsteren Qualen!" Schrie es von anderswo her, hinein in die Flammenhölle, in der Marias kleine Schwester gerade starb, zum zweiten Mal für maria Purificación Montes geborene Alvarez. Für einen winzigen Moment verschwanden die grauenhaften Bilder längst verschüttet geglaubter Erinnerungen, die auf solch brutale Art wieder auferstanden waren, und Maria Montes konnte durch einen dichten Vorhang aus Dunkelheit und unter dem Hauch eisiger Kälte eine riesenhafte Schreckgestalt sehen, die in einem weiten, dunklen Umhang steckte und halb vorgebeugt im Laden von Madame Margo stand, deren Wimmern sie hören konnte. Das Unheimliche Geschöpf streckte die rechte Hand nach der Fremden aus, eine Hand, aufgedunsen und klamm wie die eines Ertrunkenen.
"Madre de Dios! Un Demonio genuino", wimmerte Maria Montes, als ihr klar wurde, was da vor ihren Augen ablief. Wieder holten sie die Eindrücke von vor fünfundzwanzig Jahren ein, die Schreie ihrer nur zwei Jahre jüngeren Schwester im Tosen des Feuers, das sie getötet hatte. Und sie konnte nichts dagegen tun. Sie konnte nichts tun.
Durch die Schreie ihrer Schwester hörte sie wie aus weiter Ferne einen weiteren, erst gellenden, dann in ein abruptes Winseln abklingenden Schrei. Dieser riss sie für einen winzigen Moment aus der Hölle der wieder durchlebten Erinnerung. Sie sah, wie dieses nach Fäulnis stinkende Scheusal die Unbekannte umklammerte und ihr Gesicht an das seine drückte. Dann erkannte sie noch eines dieser Ungeheuer. Irgendwie mußte es unter dem Eindruck der auf sie einstürmenden Erinnerungen in den Salon gekommen sein. Es glitt wie auf Rollschuhen auf Madame Margo zu, die wimmernd in einer Ecke hockte.
"Santa María! Madre de Diós! Ayudame!" Rief die Polizistin, und für einen Moment schaffte sie es, die Flammenhölle von vor fünfundzwanzig Jahren aus ihrem Geist zu verdrängen. Sie sah, wie das zweite Ungetüm sich schnell über Madame Margo beugte, dabei die Kapuze seines Umhangs zurückwarf und in einer grauenhaften Anwandlung eines innigen Kusses sein Gesicht, an und für sich einen großen Mund, auf das Gesicht der Salonbesitzerin presste, die hilf- und wehrlos dahockte.
"Verdammt, was geschieht?" Fragte sich die Polizeiagentin. Sie sah, wie das erste Schreckensgeschöpf von seinem Opfer abließ und sich ihr zuwandte. Innerlich fühlte sie, wie das Grauen der Flammenhölle wiederkam. Sie kämpfte dagegen an. Eine weitere Woge von Angst und Verzweiflung überkam sie. Dieser Dämon würde auch sie angreifen. Was immer diese Teufelswesen taten, würde auch ihr angetan. Sie konnte nichts dagegen machen. Sie konnte sich nicht wehren. Sie war ausgeliefert. Undeutlich drangen Worte ihrer verstorbenen Großmutter in ihren von Angst und abgrundtiefer Verzweiflung überfluteten Verstand:
"Wenn die Diener des Bösen dich einmal bedrängen, bete zur heiligen Jungfrau! Bitte sie mit diesen Worten um Beistand! Wenn du immer guten Glaubens warst und nie ihr Mißfallen erregt hast, wird sie dir beistehen."
"Diese Worte", dachte Maria Montes. "Wie gingen die noch mal?"
Das grauenhafte gigantische Geschöpf im Umhang, das gerade noch die merkwürdig redende Unbekannte umklammert gehalten hatte, streckte seine großen, aufgedunsenen, klammen Hände aus. Maria Montes zitterte vor Angst. Dieses blanke Entsetzen hatte sie seit dem Feuertod ihrer Schwester Angelita nicht mehr empfunden. Das Ungeheuer im Umhang packte die Arme der bibbernden Bundespolizistin. Jetzt war alles vorbei!
"Maria, mater dei! In Calamitatis expecto patronam meam! maria, Mater dei! In Calamitatis expecto Patronam meam!" Sprudelte es wie irrsinnig aus dem Mund der Polizeiagentin, immer lauter, immer dringlicher. Das Ungetüm hob sie wie eine große Spielzeugpuppe auf. Es hob die Polizeiagentin vor sein abstoßendes Gesicht. Maria Montes konnte nur einen abstoßend großen Mund sehen, der sich ihrem Gesicht näherte ...
"Maria, mater dei! In Calamitatis expecto Patronam meam!" Schrie Maria Montes unter einer Flut von Tränen, die ihr wie Wasserfälle aus den Augen schossen. Ihr Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von dem abscheulichen Antlitz der Höllenkreatur entfernt ... als diese plötzlich zusammenzuckte, wie unter Strom gesetzt. Maria Montes sah einen fingerdicken Strahl aus silbernem Licht, der irgendwie von ihrer linken Brust ausging und mit großer Wucht gegen das Ungeheuer prallte. Dieses ließ sein sicher geglaubtes Opfer los. Maria fiel auf die Füße. Einem durch viel Sport geübten Reflex verdankte sie, daß sie nicht umfiel. Der Strahl aus silbernem Licht trieb das Wesen zurück, breitete sich aus, entfaltete sich zu einer Gestalt aus silberweißem Licht, die innerhalb einer Sekunde vollkommen war. Der Strahl erlosch, als das Lichtgebilde seine Endform bekam, die Gestalt einer lebensgroßen Frau in wallenden Gewändern. Der Dämon, welcher Maria gerade eben noch mit seinem mörderischen Mund berühren, vielleicht des Lebens berauben wollte, wich in großer Hast vor der Lichtgestalt zurück, die ihre rechte Hand ausstreckte und das Ungetüm berührte, als es an der Wand stand. Maria glaubte, einen Schrei wie von einem großen Tier zu hören, dann war das eine der beiden Höllenwesen nicht mehr im Raum. Das andere dunkle Geschöpf glitt auf Maria Montes zu, streckte seine Hände aus. Da warf sich die Frau aus silbernem Licht lautlos dazwischen, berührte mit ihren Händen die Hände des Ungeheuers, drückte sie zurück. Wieder klang ein tierhafter Schmerzensschrei auf. Dann war auch das zweite Horrorwesen nicht mehr da.
Blendende Helligkeit stach Maria Montes ohne Vorwarnung in die tränenvollen Augen. Das Neonlicht war nun wieder angegangen. Die Eiseskälte, die die beiden Dämonen begleitet hatte, wich der gewohnten Temperatur innerhalb des Salons. Auch die Schreckensbilder vergangener Zeiten waren verschwunden. Maria Montes stand zitternd im Raum, mußte sich erst wieder beruhigen. Sie sah die Gestalt aus silbernem Licht, die sie anzusehen schien. Sie vermeinte, im gutmütigen Gesicht der Erscheinung ein beruhigendes Lächeln zu erkennen, bevor diese auf sie zuschritt, ihre rechte Hand ausstreckte und Maria unterhalb der linken Brust berührte. Dann war sie auf einmal nicht mehr da. Sie war verschwunden, wie die Dämonen, die sie vertrieben, vielleicht vernichtet hatte.
"Du bist FBI-Agentin", drang eine mahnende innere Stimme in ihren von Verzweiflung und Todesangst verwirrten Verstand. "Du hast gelernt, dich in extremen Situationen zu beherrschen." Ja, sie mußte sich wieder zusammenreißen. Sie mußte die Situation mit klarem Verstand erfassen.
Das psychologische Selbstberuhigungstraining, daß sie wie ihre Kollegen absolviert hatte, half ihr, nach nur dreißig Sekunden alle ängstigenden Eindrücke zurückzudrängen und ihrem klaren Verstand wieder zu seiner Herrschaft zu verhelfen. Als sie sich soweit beruhigt hatte, daß sie klare Gedanken fassen konnte, fiel ihr auf, daß Madame Margo und die Unbekannte auf dem Boden lagen, regungslos. Sie betrachtete die beiden Frauen. Madame Margos Gesicht war total ausdruckslos. Auch das Gesicht der Unbekannten wirkte leer und ohne jede Regung. Maria dachte zunächst, die beiden seien tot, bis sie sah, wie sich Madame Margos Brustkorb leicht hob und senkte. Auch bei der Fremden, die das Unheil angekündigt hatte, konnte Maria Montes sehen, daß sie noch atmete. Sie lebten beide noch.
"Hallo, Madame Margo!" Rief die Polizeiagentin. "Können Sie mich verstehen?!" Doch Madame Margo regte sich nicht. Ihr Blick ging durch sie hindurch, wie durch Glas. Sie sah sie nicht. Die Polizeiagentin beugte sich über die Salonbesitzerin und rüttelte sie. Sie bewegte sich nicht einmal. War sie vielleicht in einem Koma?
"Ich muß einen Notarzt holen", fiel es der Touristin aus Jackson ein. "Diese Dämonen haben irgendwas mit ihr angestellt."
Maria Montes ging ins Büro Madame Margos, wo neben einem Computerbildschirm und einer Faxmaschine ein Telefon mit Anrufbeantworter stand. Sie schnappte den Hörer von der Gabel und wollte die 911, die in den ganzen vereinigten Staaten gültige Notrufnummer wählen, als sie von der Salontür her eine Stimme hörte:
"Habt ihr sie erwischt? Dann kommt raus, wir müssen besprechen, wie wir die anderen finden können."
"Satan!" Fuhr es Maria durch den Kopf. Der Teufel selbst, so meinte sie, suchte seine Gehilfen. Sie griff unter ihre Bluse, wo sie ein Kleinod ihrer Großmutter hängen hatte, ein silbernes Kreuz. Dabei fiel ihr mit überdeutlicher Klarheit ein, daß die Marienerscheinung, die ihr wohl die beiden Dämonen vom Hals geschafft hatte, durch dieses Kreuz herbeigerufen worden sein mußte. Also stimmte es doch, was ihre Großmutter erzählte, alles stimmte. Es gab die Hölle und ihre Dämonen, und in ihrem silbernen Kreuz steckten heilige Kräfte, die sie davor schützen konnten.
"Hier seid ihr ja gar nicht. Hier brennt ja dieses vermaledeite Muggellicht. Wo seid ihr verfluchten Dementoren?!" Polterte die Stimme, die Stimme eines Mannes in mittleren Jahren, wütend, ja überaus bösartig. Dann hörte Maria die Schritte eines schweren Mannes in den Salon eintreten. Dann war Ruhe. Schließlich rief die Stimme: "So ein verfluchter Drachenmist, die sind einfach abgehauen. Aber die Seherin haben sie erwischt. Der dunkle Lord wird sich freuen." Dann gab es einen scharfen Knall, wie von einem kleinen Feuerwerkskörper. Maria stand bewegungslos da, machte kein Geräusch. Sie lauschte angestrengt, ob noch was passieren würde. Erst konnte sie nur das Brummen der Neonbeleuchtung hören, sowie das leise Säuseln des Kühlgebläses des Computers. Dann ertönten zwei Frauenstimmen von der Vordertür her und eine von der Rückseite des Salons her. Maria ließ sich instinktiv unter den Schreibtisch in Deckung fallen. Dann vernahm sie, wie die drei Frauenstimmen im Salon erklangen.
"Verdammt, Smothers ist uns entkommen. Hätte der nicht noch eine Minute länger bleiben können?" Fragte eine der Frauenstimmen.
"Den kriegen wir schon, Lucky. Wahrscheinlich ist er mit den beiden geflohen, die er hinter Magnolia hergeschickt hat", sagte eine andere Stimme. Die dritte, eine tiefe warme aber ihrer eigenen Stärke bewußte Frauenstimme sagte:
"Schwestern, Magnolia ist von ihnen Geküßt worden, wie diese Unfähige, welche Besitzerin dieses Unternehmens war. Ich erkenne keine seelische Regung mehr. Aber warum flohen die düsteren Boten nach Vollendung ihres Werkes?"
"Das wissen wir nicht, höchste Schwester", sagte die Stimme, der wohl der Name "Lucky" zugeordnet wurde.
"Was sollen wir mit den beiden machen, Höchste Schwester? Wenn wir sie so liegen lassen, werden die Muggel sie finden und nachforschungen anstellen, was mit denen passiert ist", sagte die zweite Frauenstimme.
"Ich weiß, Schwester Patricia, daß du gerne deine Verwandlungskünste an ihnen demonstrieren würdest, aber in diesem Fall wäre es noch auffälliger, wenn gerade die Abwesenheit der Unfähigen bemerkt wird. Dann sollen die Ordnungskräfte der Unfähigen sie doch finden. Wir nehmen nur die unglückselige Magnolia mit und ... Vermaledeit! die Kundschafter des Ministeriums. Irgendwie muß Smothers sie angelockt haben. entweichen wir unverrichteter Dinge, Schwestern!" Zischte die dritte, offenbar als "höchste Schwester" angesprochene Frau. Wie von drei Krachern gleichzeitig knallte es im Salon. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Maria Montes atmete durch. Sie glaubte, nun das schlimmste überstanden zu haben. Da stürmten wohl mehrere Leute in den Salon hinein.
"Hier sind keine mehr!" Rief einer. "Aber es müssen hier welche gewesen sein. Sehen Sie da die beiden!"
"O nein! Das ist doch Magnolia Silverspoon, die Tochter meiner Cousine Lydia", sagte eine andere Stimme.
"Was hatte die hier zu suchen? Die ist doch ein Squib", sagte der erste Mann, der gesprochen hatte.
"Ja, aber eine Trancevisionärin. Sie kann unmöglich den Patronus beschworen haben. Aber offenbar hat sie in einer Vision erkannt, daß jemand in Gefahr ist, der einen Patronus herbeirufen konnte und den dann noch rechtzeitig gewarnt."
"So rechtzeitig kann das ja wohl nicht gewesen sein", seufzte eine andere Männerstimme.
"Wir müssen die beiden fortbringen, bevor jemand die sogenannten Ärzte der Muggel herruft oder die Stadtpolizisten", sagte der erste Sprecher.
"Und dann? Die sind lebendig tot. Sollen wir sie ins St.-Phoebus-Krankenhaus legen, auf die Station für permanente magische Schädigungen?"
"Besser als den Muggeln was zum Nachdenken zu geben, Gus", sagte der zweite Sprecher, den Maria schon gehört hatte.
"Gut, ich kläre das mit dem Minister und der Abteilung für magische Gesundheitsüberwachung ab, wenn wir sie mitgenommen haben. Such mal einer nach Muggeln in der Umgebung! Nicht das noch wer im Büro dieser Dame Margo sitzt."
"Klar, Gus", sagte der dritte Sprecher und sagte etwas, das Maria als "Vivideo" verstand. Sie spürte, wie ihr der kalte Angstschweiß auf der Stirn stand. Diese Leute da im Salon, erst die Frauen und jetzt die Männer, schienen durch das Erscheinen der Dämonen herbeigerufen worden zu sein.
Das silberne Kreuz, das sie hilfesuchend umklammert hielt, zitterte leicht, einmal, dann noch mal. Dann fühlte es sich wieder ganz normal an.
"Neh, im Büro ist niemand. Ich habe zweimal herumgesucht", sagte der, der eben noch "Vivideo" gesagt hatte. "Nox", sagte er dann noch. Wieso sagte er das lateinische Wort für Nacht, aus dem das spanische "Noche" hervorgegangen war? Das wunderte Maria zuerst, bis ihr der erschreckende Gedanke kam:
"Das sind echte Zauberer. Das sind Diener der weißen und der schwarzen Magie." Dann hatte das Kreuz sie offenbar vor Entdeckung bewahrt, fiel es ihr noch ein. Wahrscheinlich hatten die Fremden einen Zauber verwendet, um verborgene Lebewesen zu finden. Das sie dabei nicht gefunden worden war, konnte nur mit den heiligen Kräften des Kreuzes zusammenhängen. Ihr fröstelte, weil sie nun an alles dachte, was ihre überfromme Großmutter immer wieder gesagt hatte und was sie im Laufe ihres Lebens für überholten Aberglauben angesehen hatte. Ihre Großmutter hatte recht. Es gab die Hölle, den Himmel, die Kräfte des guten und des Bösen. Und sie, Maria Montes, war nun in die Schußlinie übernatürlicher Mächte geraten.
Sie lauschte, wie die Fremden im Salon etwas herumrückten und dann wieder etwas wie Feuerwerkskörper krachte. Maria atmete auf. Sie war wohl wieder allein.
Vorsichtig kroch sie unter dem Schreibtisch hervor, richtete sich zur vollen Größe auf und schlich so gut es ihr mit ihren Schuhen fiel aus dem Büro. Als sie den Salon betrat, sah sie sofort, daß die beiden von den Dämonen heimgesuchten Frauen nicht mehr da waren. Offenbar hatten die fremden Männer sie auf magische Weise fortgebracht. Und da fiel ihr ein, was das für Knallaute gewesen waren. Sie hatte in ihren Mädchenjahren viele Weltraumcomics gelesen, wo sich Leute einfach von einem ort an einen anderen wünschen konnten und das in den Comics immer mit dem Geräuschwort "Plop" oder "Knall" umschrieben wurde. Als hätte der Gedanke daran die Wirklichkeit geformt, knallte es keine zwei Meter hinter Maria, als sie mitten im Salon stand. Sie erschrak und blieb für einen Moment unbeweglich stehen. Dann fuhr sie herum und sah in das verdutzte Gesicht eines Mannes um die dreißig, der helle Haut besaß und einen Konfektionsanzug aus blaugrauem Stoff trug.
"Das kann doch nicht sein. Hier war doch niemand mehr", sagte der Fremde und fischte nach einem schlanken Holzstab, der aus seiner rechten Jackentasche ragte. Maria überwand ihre Starre, holte mit der rechten Hand aus und schlug dem Unbekannten einen wohldosierten Karatehieb genau an die Stirn. Der Fremde fiel betäubt hinten über und blieb liegen. Maria wirbelte herum, stürmte auf die Salontür zu. Sie war verschlossen. Sie holte mit ihrem rechten Fuß aus und trat mit aller Kraft, die sie aufbieten konnte, gegen den holzrahmen der Tür. Krachend zitterte die Tür im Schloß. Sofort schrillte eine Alarmsirene los. Das hatte ihr noch gefehlt.
"Ich muß hier raus", dachte Maria Montes und eilte an dem niedergeschlagenen Mann vorbei ins Büro, wo sie eines der Fenster aufriss und schnell hinauskletterte. Gerade in dem Moment, wo sie auf der Straße stand, froh, sich nicht die Kleidung zerrissen zu haben, tauchte ein weiterer Mann aus dem Nichts heraus auf. Er trug einen grauen Konfektionsanzug. Er sah verdutzt auf das offene Fenster des Büros, dann auf Maria Montes. Dann griff er nach einem Stab in seiner rechtenTasche und zog ihn hervor.
"Keine Sorge, ich will Ihnen keinen Schaden zufügen, Ma'am", sagte er.
"Glaube ich dir nicht, Diener des Unnennbaren", zischte Maria Montes, die sich ärgerte, daß sie keine Waffe mitgenommen hatte. Aber sie wollte ja nur in einen Schönheitssalon gehen.
"Wie bitte?!" Kam es von dem Fremden verdutzt und gleichermaßen ungehalten zurück. Maria zögerte nicht lange, warf sich gegen den unheimlichen Mann und stieß ihn zu Boden. Dann liefsie los, als gelte es, den Feuern der Hölle zu entrinnen.
"Bleiben Sie stehen!" Rief der Mann, der aus dem Nichts erschienen war. "Verdammt, machen Sie es sich und uns doch nicht so schwer!" Rief er, keuchend, wohl hinter Maria Montes herlaufend. "Stupor!" Rief er dann noch. Maria rannte weiter. Was immer passieren würde, sie durfte jetzt nicht stehen bleiben. Sie lief im Zickzack, wie sie es gelernt hatte, wenn sie vor einem bewaffneten fliehen mußte. Ein roter Blitz fauchte von hinten auf sie zu und prallte mit dumpfen Schlag einen halben Meter vor Maria auf ein unsichtbares Hindernis und schwirrte zurück, jedoch in einem Winkel, daß er einen guten Meter an dem Fremden vorbeizischte, der hinter Maria Montes herrannte.
"Das kann doch nicht sein, daß eine Muggel ..." Dachte Buster Greencoat, der Maria Montes verfolgte. Dann sah er verärgert und enttäuscht, wie die Flüchtende in einer großen Menschenmenge untertauchte und im Eingang zu einer U-Bahn-Station verschwand. Er durfte sie nicht weiter jagen. So lautete das Gesetz, solange sie unter zuvielen Menschen war. Die Geheimhaltung ging über alles. Andererseits konnte diese Frau da was brisantes mitbekommen haben, was ebenfalls durch die Geheimhaltung zu verbergen war. So mußte er sich überlegen, wie er sich der Unbekannten nähern konnte, ohne aufzufallen. Doch apparieren, einfach den Standort wechseln, durfte er in einer großen Menschenmenge nur im äußersten Notfall. Also eilte er im gewöhnlichen Laufschritt zu der U-Bahn-Station, wo er gerade noch sehen konnte, wie die Verfolgte mit einem Zug einer Linie davonfuhr, die aus Manhattan herausführte. Er merkte sich die Linie, überlegte, wo die Muggelfrau wohl als nächstes aussteigen würde und suchte den Toilettenraum für Herren auf. Er war froh, daß er die U-Bahn-Stationen alle auswendig gelernt hatte, um bei Bedarf dieses Massenverkehrsmittel benutzen zu können. Er ging in eine Kabine, zog die Tür zu und verschwand einfach.
Maria Montes atmete auf. Sie saß in einer U-Bahn und würde zunächst aus Manhattan herausfahren. Der Gedanke, gleich bei der nächsten Station auszusteigen, kam ihr zwar. Aber sie verscheuchte ihn sofort wieder. Hier war sie unter so vielen Menschen, daß sie in ihrer Straßenkleidung nicht weiter auffiel. Sie setzte sich strategisch zu mehreren Latinos, die in dem U-Bahn-Wagen saßen. Sie hatte keine Probleme mit den älteren Männern, die sich auf Spanisch mit mexikanischem, Puertorikanischem und peruanischem Akzent unterhielten. Einige kamen von der Arbeit und hatten früher Feierabend, andere hatten wohl frei oder waren auf dem Weg zu einer wichtigen Verabredung. Die vier mexikanischen Frauen, die in der großen Gruppe saßen, schwatzten über ihre Kinder, die wohl gerade von der Schule kommen würden. Da Maria einen gültigen Fahrschein für eine volle Woche auf allen U-Bahn-Strecken gekauft hatte, was sowohl ihr Mann als auch Alejandra für unnötig gehalten hatten, machte sie sich um Kontrollen keine Sorgen, auch wenn sie eigentlich nicht mit diesem Zug hatte fahren wollen.
Als sie an der vierten oder fünften Haltestelle vorbei war, wähnte sich Maria Montes fast in Sicherheit. Doch irgendwie lag ein gewisser Druck auf ihrem Magen. Sie wußte, daß sie bestimmt noch gesucht würde. Entweder würden die Dämonen, welche durch ihr Gebet und die bestimmt wirksamen Kräfte ihres Kreuzes gebannt worden waren, erneut zu ihr kommen, oder die Zauberer, die ihnen dienten oder sich ihrer Dienste versichert hatten. Sie wußte, daß sie für ihren Mann und dessen Verwandten eine ungewollte Bedrohung bot. Sie überlegte, wie sie sich aus der Situation retten konnte. Sie überlegte gut, was ihr an möglichkeiten blieb. Neben dem Fahrschein hatte sie noch ihre Kreditkarte in der speziellen Rocktasche, die besonders gut gegen Taschendiebe schützen sollte. Ihr Mobiltelefon, ihre Ausweispapiere und den Führerschein hatte sie jedoch in ihrem Übermantel gelassen, der im Warteraum des Salons an einem Haken hing. Siedendheiß wurde ihr klar, daß sie durch diese Dokumente und das Telefon leicht zu finden sein würde, sofern diese Magier sich der üblichen Polizei bedienen konnten. Die Lage war doch ausweglos, stellte sie resignierend fest. Früher oder später würde man sie finden und beseitigen, wie man Madame Margo und die unglückselige Fremde beseitigt hatte. Da fiel ihr etwas ein.
"Ich fahre bis zur Endstation und telefoniere da mit Enrique und dann mit Zach Marchand in New Orleans. Vielleicht kann der mir sagen, wie ich da wieder rauskommen kann."
Am 21. Oktober erfuhr die Expertin für dunkle Geschöpfe, Lucretia Withers, die sich von Kollegen und Freunden lieber Lucky nennen ließ, daß ein Spion des Emporkömmlings Voldemort unter dem Deckmantel, für das britische Zaubereiministerium einen Auftrag erfüllen zu müssen, nach Askaban gelangt war und dort mit den unheimlichen Wärtern, den Dementoren, gesprochen hatte. Darauf beschloß sie, zusammen mit ihrer Bundesschwester Dana Moore, den Spion an seiner Rückkehr zu hindern und auszufragen, was er denn erreicht habe. So standen die beiden Hexen, die jede für sich einer seriösen Tätigkeit für das Zaubereiministerium oder diesem helfenden Unternehmen nachgingen, am 24. Oktober im Atrium des britischen Ministeriums für Magie.
Es dauerte bis zehn Uhr morgens, bis Guy Pike, der für Voldemort arbeitende Spion, aus einem der Kamine kam, die jeden, der mit Flohpulver reiste, Zutritt zum öffentlichen Bereich des Ministeriums verschaffte. Lucky Withers, eine attraktive Hexe Ende vierzig mit langem blondem Haar und kristallklaren Augen von der Farbe eines Bergsees, trat in ihrem roten Seidenumhang vor und begrüßte den Zauberer, der einen dunkelgrünen Umhang und einen walnußbraunen Spitzhut trug.
"Ah, Lucretia! Hat die Abteilung zur Bekämpfung magischen Ungeziefers Sie wieder mal in die Wildnis geschickt?" Fragte Pike, nachdem Lucky ihn begrüßt hatte. Diese lächelte warm und nickte ihm zu.
"In Yorkshire haben sich einige Nogschwänze in großen Schweinezuchtbetrieben eingenistet. Wir mußten sehr diskret vorgehen, um die Parasiten aus den überfüllten Ställen zu verjagen. Die Muggel züchten heute so viele Tiere auf einem Haufen, daß diese sehr schnell gestreßt werden und einen tödlichen Herzschlag erleiden können. Das nutzen diese Biester mittlerweile gut aus."
"Ach, dann konnten Sie keinen Ihrer weißen Bluthunde einsetzen, um diese Schmarotzer zu erwischen?" Fragte Pike amüsiert.
"Doch, ging, nachdem wir einen großen Schlafzauber über die Ställe gelegt haben, als die sogenannten Landwirte und ihr Personal schliefen. Chaser und Packer haben die drei Nogschwänze dann aufgestöbert und vom Gelände vertrieben. Wir konnten sie draußen mit Schlafnebelelixier betäuben und wegbringen, ohne daß die Muggel was davon gemerkt haben. Aber ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um über die letzten Einsätze zu reden. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie davon gehört haben, daß Minister Fudge plant, sicherheitshalber alle Dementoren von Askaban durchzählen zu lassen. Wir wurden beauftragt, diese Zählung vorzubereiten."
"Wie bitte?! Die Dementoren sollen doch nicht gezählt werden. Minister Fudge hat mir als Mitglied der Strafverfolgungsbehörde nichts dergleichen gesagt."
"Dann wird das vielleicht von seiner Senior-Sekretärin ausgehen. Sie kann ja im Moment nicht selber derartige Maßnahmen leiten. Mir kam nämlich zu Ohren, daß eine Zählung stadtfinden soll, und zwar noch vor Halloween. Aber am besten besprechen wir das in meinem oder Ihrem Büro."
"Wenn Sie genaueres haben, dann wäre es besser, in Ihrem Büro. In meinem liegt jede Menge Pergament herum, daß noch geordnet werden muß. Ich veranlasse das gerade mal, daß Kollege Gopher das macht", sagte Pike, der äußerlich ruhig und gelassen wirkte. Doch während Lucky Withers ihm ruhig und sachlich erklärt hatte, man wolle die Dementoren gründlich durchzählen, hatte es erschrocken in den Augen des Zauberers geflackert, kurz aber erkennbar. Sie sah ihm nach, wie er sich an einen kleinen stämmigen Zauberer wandte, der gerade mit einer älteren Hexe mit Monokel sprach und sagte ihm etwas. Der Zauberer nickte und sprach weiter mit der Hexe, die offenbar sehr wichtig für ihn war. Guy kehrte um und näherte sich den gerade aufschwingenden Schließgittern des ministerialen Fahrstuhls. Lucretia Withers kreutzte kurz die Finger der linken Hand hinter ihrem Rücken. Dana sah es und wußte, daß dies bedeutete, daß die beiden in Luckys Büro gehen würden. Wären sie zu Pike gegangen, hätte Lucky die rechte Hand hinter ihren Rücken gehalten.
Dana wartete, bis der Aufzug mit Lucky und Guy Pike abgefahren war. Dann tauchte sie hinter eine der fünf überlebensgroßen Statuen am Brunnen und verwandelte sich in eine unscheinbare kleine Fliege, die niemandem auffiel, der nicht gezielt nach ihr suchte. Sie hatte sich vor Jahren diese Gestalt ausgesucht, weil sie ihr trotz der Gefahr, die kleine Fluginsekten eingingen, gefressen zu werden, immer noch die unauffälligste Tiergestalt bot. Natürlich wußte davon keiner im Ministerium was. Denn die Kunst, ein Animagus zu sein, hatte sie unerlaubt bei ihren noch-Bundesschwestern von der Nachtfraktion der schweigsamen Schwesternschaft erlernt und für diese schon oft angewendet. Allerdings griff sie auf diese Tarnung nur zurück, wenn sie in einer Stadt und nicht in freier Natur operierte.
Mit zwei Metern in der Sekunde schwirrte die kleine Fliege zielgenau durch den Aufzugsschacht, schlüpfte geschickt durch den Zwischenraum zwischen Fahrstuhlkabine und Schachtwand, überholte so Lucky und Guy und flog direkt zum Büro Lucretias, wo sie vorsichtig durch eine schmale Spalte unter der Tür hindurchkrabbelte, um dann schnell und sicher zur Zimmerdecke aufzusteigen und sich dort mit den Beinen nach oben anzuheften. Die Zimmerdecke war dunkel. So würde man sie nicht entdecken, wenn nicht wer gezielt die ganze Decke absuchte.
Eine Minute später traf Lucretia Withers mit Guy Pike ein. Sie schloß die Tür auf, ließ ihren Gast ein und schloß die Tür nach dem Hereintreten.
"Nun, dann zeigen Sie mir bitte, welchen Einsatzplan sie haben!" Bat Guy Pike höflich sprechend. Lucretia Withers nickte und öffnete eine Schublade ihres großen Schreibtisches. Sie holte einen roten Lederordner heraus, auf dem in weißer Schrift "Sondereinsatz" stand. Sie bot Guy einen Platz an, wartete, bis er sich gesetzt hatte und gab ihm den Ordner.
"Dann wollen wir doch mal sehen, was Minister Fudge oder die nette Madame Um..." Weiter konnte Guy Pike nicht sprechen. Kaum hatte er das Leder des Ordners berührt, übermannte ihn eine so starke Müdigkeit, das er von einer Sekunde zur anderen einschlief. Lucky grinste. Der Rapiddormus-Fluch, der direkt oder durch Bezauberung eines toten Gegenstandes gewirkt werden konnte, hatte sein Opfer gefunden. Eigentlich hatte sie in diesem Ordner verschlüsselte Seiten für die schweigsame Schwesternschaft aufbewahrt, aber befunden, daß eventuelle Spione aus dem Ministerium nichts davon lesen können sollten. So hatte sie den Ordner so behext, daß nur sie und Dana Moore ihn bedenkenlos anfassen konnten.
"Dana, bist du da?" Fragte Lucky Withers leise. Zur Antwort schwirrte eine kleine unscheinbare Fliege von der Decke herab, landete auf dem zweiten Besucherstuhl und verwandelte sich im Handumdrehen in Dana Moore zurück.
"Huh, ich dachte schon, ich hätte dir helfen müssen, Lucky. Aber deine Zauber hauen jeden um. Wielange wird er schlafen?"
"acht Stunden, wenn ich ihn nicht mit dem Wecksatz aufwecke", sagte Lucky vergnügt grinsend.
"Dann bringen wir ihn zum Hauptquartier. Die höchste Schwester wird ihn gerne selbst verhören wollen. Können wir unangefochten von hier disapparieren?"
"Kein Problem. Dieses Büro liegt nicht in einer der Hochsicherheitszonen."
"Dann wollen wir mal."
"Wir sollten in spätestens vier Stunden mit ihm wieder da sein. Gopher wird ihn suchen, wenn er nicht auftaucht, und dann erfährt es auch der Emporkömmling."
"Du hast recht, Lucky. Aber die höchste Schwester hat sich da schon was überlegt. Ich habe ja gestern mit ihr gesprochen. Sie freut sich auch darauf, dich persönlich zu treffen."
"Ich weiß nicht, ob das wirklich die richtige Entscheidung war. Lady Ursina wird nicht begeistert sein, daß jemand ihr Konkurrenz macht."
"Du wirst erleben, daß die höchste Schwester mehr Macht und Wissen besitzt, als Lady Ursina und die Riege der oberen Schwestern unserer bisherigen Gemeinschaft. Außerdem ist sie wesentlich entschlossener", sagte Dana. Dann zog sie ihren Zauberstab und prüfte mit dem Zauberfinder, ob Guy Pike außer seinem Zauberstab noch magische Gegenstände mitführte, die als Orter oder Fernhörmittel gebraucht werden konnten. Sie fand eine kleine Schatulle, die offenbar mit einem Verschlußzauber gegen unbefugte gesichert war. Diese steckte sie in eine Tasche, die extra bezaubert war, fremde Zauber nach außen abzuschirmen. Dann nahmen die beiden Hexen den schlafenden Spion in ihre Mitte und verschwanden mit lautem Knall aus dem Büro.
Es war vier uhr in der Frühe in der Nähe einer alten Villa im amerikanischen Bundesstaat Mississippi. Die beiden Hexen aus England tauchten in ihrer gewöhnlichen Arbeitskleidung an der Südseite der brachliegenden Plantage auf. Dort angelangt fragte Lucretia, wo denn das Hauptquartier sei. Dana sagte:
"Es hat hier vor einiger Zeit einen üblen Zwischenfall mit mordlustigen Muggeln gegeben. Die höchste Schwester hat sich mit dem Fidelius-Zauber behandelt und damit den wahren Standort des Hauptquartieres solange verborgen, bis jede Bundesschwester ihn von ihr erfahren hat. Für alle anderen wird er fortan unauffindbar bleiben."
Eine schneeweiße Katze stromerte durch die unter dem von Wolken halb verdeckten Mond silbriggrau wirkenden Gräser und umlief einmal die beiden Neuankömmlinge.
"Huch, wo kommt die denn her?" Fragte Lucretia leicht irritiert.
"Das ist Schwester Patricias Katze. Sie hat uns offenbar entdeckt und wird uns gleich anmelden", sagte Dana Moore. Tatsächlich dauerte es keine zehn Sekunden, bis zwei Gestalten in weißen Umhängen apparierten. Sie kamen auf die beiden Neuankömmlinge und ihren schlafenden Gefangenen zu. Dann trat eine vor und strich mit einer lässigen, ja beiläufig wirkenden Handbewegung ihre Kapuze zurück. Lucky Withers vermeinte, eine helle Haarfarbe zu erkennen, vielleicht hellblond. Doch das dürftige Mondlicht tönte das Haar zu einem greisenhaften Grauweiß ab. Die Hexe trat auf Lucky und Dana zu und sprach mit einer warmen Altstimme:
"Ich grüße euch, Schwestern. Vor allem bin ich erfreut, dir endlich von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, Schwester Lucretia. Schwester Dana kündete davon, daß du sehr gerne meinem Orden beitreten möchtest. - Sie hatte recht."
"Sind Sie Anthelia?" Fragte Lucky Withers und fröstelte beid dem Gedanken daran, der wiedergekehrten Nichte Sardonias gegenüberzustehen.
"Dies trifft zu, Schwester Lucretia. Doch wollen wir, die Schwestern Pandora und Patricia, Dana, du und ich, nicht auf freiem Felde verbleiben. Unser Haus ist eine Villa, die von hier aus in nördlicher Richtung errichtet steht und ein großes Eisentor besitzt. Sie steht genau zweihundert Schritt entfernt."
Als habe Anthelia ein Zauberwort gesprochen, flimmerte tatsächlich keine zweihundert Schritt entfernt ein schwaches Licht, und wie aus dem Boden wachsend entstand ein pompöses Landhaus genau dort, wo Anthelia es beschrieben hatte. Der Fidelius-Zauber war für Dana und Lucky nun unwirksam geworden, denn Anthelia hatte aus freien Stücken den geheimen Ort verraten, wo ihr Hauptquartier lag. Dort gingen sie nun hin.
Im Schein mehrerer Kerzen begrüßte Anthelia Lucretia nun noch einmal. Lucretia stand für einige Sekunden wie vom Donner gerührt da, als sie das helle Gesicht der wiedererstandenen ansah und das strohblonde Haar.
"Das kann es doch nicht geben. Bartemius Crouch hatte doch keine Tochter", dachte sie. Offenbar gehörten diese Gedanken nicht nur Lucky. Denn Anthelia drehte sich ihr zu und lächelte überlegen.
"Es hätte dem bedauernswerten Mr. Crouch mit großer Sicherheit viel Ungemach erspart, hätte ihm seine Gemahlin eine Tochter an seines Sohnes Statt geboren. Doch dieser Körper, der mir nun eigen ist, gehörte einst Bartemius Crouch dem jüngeren, dessen Seele durch den übereilten Einsatz eines düsteren Boten daraus entrissen wurde. Nun ist er mein und wird, dies weiß ich gewiß, noch lange von Nutzen sein."
"Sie können Gedanken lesen. Aber dies kann nur wer, der die Kunst der geistigen Durchforschung beherrscht."
"In der Mehrheit aller Begebenheiten, Schwester Lucretia. Doch in einigen Fällen, die zu zählen nur möglich ist, wenn über viele verflossene Jahrhunderte zurückgerechnet wird, erblickten Zauberer und Hexen mit der Gabe des Gedankenhörens das Licht der Welt. Meine Mutter und meine höchst respektable Frau Tante haben diese Gabe besessen und mir vererbt. Ich konnte sie über den Tod des ersten Körpers hinweg behüten und in diesem Leibe weiter erhalten."
Lucky hatte gelernt, ihren Geist gegen fremde Erforschung zu schützen und vollführte bereits die Prozeduren, die dazu nötig waren. Anthelia ließ sie gewähren. Dann bot sie Lucretia Withers einen alten Wein aus dem nicht zu Fuß erreichbaren Keller an. Lucky trank. Die drei übrigen Hexen und Anthelia sahen zu, wie sie trank. Dann vollführte Anthelia mit einem merkwürdigen Medaillon, das sie um den Hals hängen hatte, sowie mit ihrem silbriggrauen Zauberstab einen heftigen Zauber, mit dem sie Lucretia dazu verpflichtete, niemandem zu erzählen, was sie über die Schwesternschaft der Spinne wußte, oder beim Versuch dabei sofort zu vergehen und alles in direktem Umkreis von ihr mitzuvernichten. Lucretia erschauderte, als ihr klar wurde, daß sie nun auf Lebzeit dieser Hexe dort unterworfen war. Dann fing sie sich schnell wieder. Vielleicht war dies wirklich die bessere Anführerin.
"Du wirst auch als Schwester eurer Lady Ursina im Orden der Schweigsamen verbleiben, wie ja auch Dana. Allerdings bist du mir und dem Orden der Spinne von nun an sehr allein verpflichtet. Hast du verstanden?"
"Ja, Anthelia. Ich meine, höchste Schwester", sagte Lucky unterwürfig und eingeschüchtert dreinschauend und klingend.
"Ich werde dir mit dem Divitiae-Mentis-Zauber die wichtigsten Geheimnisse unseres Ordens zu wahren helfen, damit Lady Ursina sie dir nicht entreißen kann und dich wie sich dabei vernichtet. Ich brauche euch nämlich alle sehr nötig, auch wenn ihr nicht wißt, wozu und wann. Aber irgendwann wird jede starke Hexe den Tag begrüßen, an dem ich die Hexen wieder zu ihrem uralten Recht führe, der Vorherrschaft über alle Menschen der Erde."
Nach der Einführungszeremonie holten sie den schlafenden Guy Pike herein. Anthelia gebot ihren Bundesschwestern, einstweilen in der Empfangshalle zu bleiben, um dort zu warten, was geschehen würde. Lucky sah die beiden Hexen, Pandora und ihre Tochter Patricia, sehr genau an. Pandora meinte dann zu ihr:
"Ich weiß, dieser Fluch, den die höchste Schwester über uns ausgesprochen hat, ist schrecklich. Aber du wirst froh sein, wenn niemand dich zur Verräterin machen kann. Du bist also im Orden Ursinas. Was treibt die gute denn zurzeit?"
"Sie sorgt sich um ihre großnichte Lea. Sie ist zwar in Slytherin gelandet, wegen ihres Vaters jedoch dort nicht gut angesehen. Jetzt, wo die Wasserträger des Emporkömmlings wieder Tritt fassen, allen voran dieser windige Heuchler Lucius Malfoy und dessen mit dieser inzüchtigen Narcissa gezeugte Sohn Draco, könnte es nötig werden, Lea vorzeitig aus Hogwarts zu holen, wie dereinst Despina Glades."
"O dieser Fall ist mir bekannt", sagte Pandora Straton. "Es war vor fünfhundert Jahren, wo eine mischblütige Tochter einer mächtigen Bundesschwester der Nachtfraktion vor dem fünften Jahr Hogwarts verlassen mußte, da ihr Leben bedroht war. Nun, besser ist es, wenn Ursina gute Kontakte nach Hogwarts behält."
"Finde ich auch", sagte Dana Moore.
So schwatzten die Hexen eine geraume weile, bis Anthelia mit einem schlaffen Körper über der rechten Schulter im Empfangsraum apparierte.
"Bringt diesen zurück in euer Ministerium und weckt ihn auf! Sagt ihm, die Zählung der Dementoren sei für November geplant!"
"Hast du denn alles erfahren, was du wissen wolltest, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton vorsichtig.
"Es geht nur darum, diesen hier an seinen Platz zu schaffen, Schwester Patricia", sagte Anthelia leicht ungehalten. So brachten Lucretia und Dana den noch schlafenden Guy Pike zurück, weckten ihn und gaben ihm auf, was Anthelia ihnen gesagt hatte. Daß es sich bei diesem Guy Pike nicht um jenen handelte, den sie zu Anthelia gebracht hatten, wußten sie nicht.
Tatsächlich kehrte Anthelia, nachdem ihre englischen Bundesschwestern verschwunden waren, wieder in den Weinkeller zurück und ging in den dahinter liegenden Raum, wo auf dem langen Tisch, auf dem sie selbst mit ihrem neuen Körper verschmolzen worden war, ein völlig nackter Mann lag. Es war Guy Pike, der echte und bis vor einigen Stunden einzige Guy Pike.
"Schneesturm treibt die Blüten fort!" Rief Anthelia fröhlich. Sofort wachte Pike auf. Er wollte sich aufsetzen, doch haarfeine, aber unzerreißbare Zauberstricke hielten ihn an Händen, Armen, Beinen und Fußgelenken gefesselt. Er öffnete den Mund und schrie laut, als er merkte, daß er nackt und gefesselt war.
"Nein, was soll das. Wo bin ich hier?"
"Schweig, gedungener Knecht eines irrsinnigen Emporkömmlings!" Fuhr Anthelia ihn wütend an. "Du bist in meiner Gewalt. Dies soll dir genug Wissen sein. Du wirst mir nun darlegen, welche Pläne dein wahrer Herr und Meister ins Werk setzen will, wozu er dich zu den düsteren Kreaturen nach Askaban hat gehen lassen und was du dort erreicht hast."
"Verdammte Nachtfraktionshuren, ihr habt mich überrumpelt. Aber der dunkle Lord wird mich finden und befreien", fauchte Pike und spie verächtlich aus. Dafür bestrafte ihn Anthelia mit fünf Sekunden heftiger Qualen durch den Cruciatus-Fluch. Sie drohte ihm längere Folter an, wenn er noch mal dergleichen ausfällig würde. Dann deutete sie auf seine linke Brustseite, wo ein fingernagelgroßes Stück Fleisch aus seiner Haut geschnitten worden war. Jetzt erst, wo Pike darauf hingewiesen wurde, fühlte er den brennenden Schmerz, den die Wunde bereitete.
"Verdammt, was hast du Auswurf einer Hündin mit mir gemacht? Aaaaaaaarrg!" Wieder packte ihn die volle Gewalt des unverzeihlichen Folterfluches, diesmal heftiger, diesmal länger.
"Weder lasse ich mich, noch meine ehrenwerte Mutter beleidigen. Hörst du?" Entgegnete Anthelia ruhig und entschlossen klingend. Ihre Kapuze war noch über ihr Gesicht gezogen. Dann erzählte sie so kühl wie eine Beamtin, die ein alltägliches Schreiben laut vorliest: "Ich habe mit einem Stück aus deinem Fleisch ein Simulacrum erschaffen, das deine Erinnerungen besitzt, wie sie vor deinem Schlaf vorhanden waren. Ich versah es zudem noch mit weiterer Erinnerung, daß es das Gespräch mit Lucretia Withers geführt hat und erfuhr, daß wir die Dementoren von Askaban in wenigen Tagen zählen werden. Das simulacrum wird dies dann diesem Emporkömmling erläutern. Mal sehen, wie er darauf reagiert. Vor allem, wenn er ergründet, daß du nicht mehr sein treuer Diener sein möchtest, weil du versuchen wirst, seine Pläne zu durchkreuzen. Aber das betrifft dich dann nicht mehr."
"Ich werde dir und deinem Haufen verkommener ..." Anthelia hob warnend den Zauberstab an. "Ich werde nichts sagen", zischte Pike. "Selbst wenn du mich zu tode folterst, werde ich den Meister nicht verraten. Er wird dich kriegen, dich langsam in tausend Stücke zerschneiden, wenn er dich nicht vorher schändet."
"Ach, wird er das?" Fragte Anthelia und schob langsam ihre Kapuze zurück. Pike erstarrte. Er sah das Gesicht einer Frau, zweifellos. Doch dieses Gesicht, das er da sah, die strohblonden Haare, erinnerten ihn sehr heftig an den Jungen Barty, der meinte, zusammen mit den Lestranges in Askaban verrotten zu müssen, weil sie meinten, durch Folterung zweier Auroren den Aufenthaltsort des Meisters ergründen zu können.
"Ja, dies war einmal Bartemius Crouch, der Jüngere. Cornelius Fudge, dieser bedauernswerte Tor, hat es für das beste gehalten, ihm die Seele entreißen und ihn dann verstecken zu lassen. Jetzt gehört sein Leib mir, nachdem ich ihn für meine Bedürfnisse habe wandeln lassen", sagte Anthelia so ruhig und unbekümmert, als sei dies eine Nebensächlichkeit, einen entseelten jungen Mann zunächst zu einer Frau zu machen und den Körper dann mit ihrer alten Seele zu versehen.
"Das kann nicht sein! Du kannst nicht Bartys Körper haben! Barty ist tot!" Rief Pike entsetzt.
"Das ist wohl wahr. Bartemius Crouch, der jüngere, ist nicht mehr am leben. Aber sein Leib lebt. Er ist nun mein und wird es bleiben, bis zu seinem natürlichen Ende", sagte die Führerin des Spinnenordens. Dann holte sie aus ihrem Umhang eine Flasche mit einer kristallklaren Flüssigkeit und flößte Pike davon ein. Er konnte sich nicht wehren, nicht einmal den Kopf zur Seite werfen. Denn Anthelia fixierte diesen mit einem Zauber, der an und für sich in der magischen Heilkunst benutzt wurde, um die Gefahr eines Genickbruchs zu bannen. Dann verhörte sie Pike und erfuhr, daß er zwei Dementoren überreden konnte, nach Amerika zu reisen, wo sie Asrael Smothers, einem Sympathisanten des dunklen Lords, seine Grüße zu überbringen und mit ihm zusammen die übrigen Hexen und Zauberer zu einen hatten, die auf der dunklen Seite standen. Anthelia erfuhr sämtliche Namen der Hexen, die im Gefolge ihrer Ehemänner oder Väter dem dunklen Lord anhingen. Sie verbarg die Wut, die in ihr aufkam. Sicher, von diesen war noch keine zu ihr gekommen. Doch die Gefahr, solche Verräterinnen ihrer eigenen Sache auf Kurz oder Lang zu treffen, bestand. Pike mußte alles erzählen. Die Flüssigkeit, die ihm eingeflößt worden war, zwang ihn dazu, alle Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Ihre Gedankenhörergabe half ihr, zusätzliche Fragen zu überlegen, um entsprechende Antworten zu erhalten. Als sie dann nach zwei Stunden alles wußte, was sie wissen wollte, verschwand sie einfach. Das Veritaserum, jenes heftige Wahrheitselixier, ließ allmählich nach. Guy Pike erkannte, was er angerichtet hatte. Doch er lag immer noch gefesselt auf dem Tisch und fühlte, wie Angst in ihm aufstieg. Wer immer diese Hexen waren, sie hatten ihn dazu gebracht, alles über den Meister zu verraten, was er wußte, wo der Treffpunkt war, wer ihm als Todesser bekannt war, wer in Amerika, Frankreich und Rußland bereitstand, für Voldemort zu arbeiten und so weiter. Er hatte auch verraten, daß Voldemort nach einer wichtigen Information suchte, die im Zaubereiministerium aufbewahrt wurde. Das alles hatte er ausgeplaudert, sich nicht dagegen wehren können. Er war einfach davon ausgegangen, daß er es außer mit den Todessern mit skrupelbeladenen Zauberern im Ministerium zu tun haben würde, die nicht auf den Gedanken kamen, ihn zu verhören. Aber woher wußten die Hexen, daß er für Voldemort arbeitete? Wer hatte ihn verraten?
Er fand keine Zeit mehr, über diese Fragen nachzugrübeln. Denn eine andere Hexe in weißem Umhang, von den Körperbewegungen her noch recht jung, wie Pike fand, betrat den Raum mit dem Tisch.
"Die höchste Schwester hat erzählt, sie sei mit dir fertig und könne nichts weiteres aus dir rausholen", sagte die Hexe, die tatsächlich noch eine Mädchenstimme besaß, mittelhoch und unbeschwert.
"Ach, dann sollst du mich jetzt töten, um zu zeigen, ob du es kannst, wie?" Fragte Pike trotzig.
"Das wäre doch eine Verschwendung, Guy. Nein nein, die höchste Schwester hat gesagt, ich möge dir eine neue Aufgabe zuweisen."
"Achso, welche?" Fragte Pike immer noch trotzig.
"Das durfte ich mir selbst aussuchen", sagte die junge Hexe und holte ihren Zauberstab hervor. Pike machte sich bereit, gegen den Imperius-Fluch, den mächtigsten Versklavungszauber den er kannte zu kämpfen. Doch da fiel ihm ein, was die andere Hexe gesagt hatte. Sie hatte ein Simulacrum von ihm erschaffen, einen täuschend echten Doppelgänger, der nur durch den Tod sein wahres Wesen enthüllen konnte. Außer voldemort, seinem Meister, kannte er keinen Zauberer und erst recht keine Hexe, welcher oder welche dieses mächtige Zauberstück fertigbrachten. Man brauchte ihn also nicht zu unterwerfen.
"Weißt du, Guy, meine Cousine Ginger hat eine Tochter, die gerade ein Jahr alt ist. In dem Alter wird es langsam wichtig, ihr beizubringen, wie große Mädchen zurechtkommen müssen, wenn sie nicht alle drei Stunden frisch gewickelt werden wollen. Bei diesem höchst nützlichen Prozess wirst du ihr helfen."
"Du bist irre!" Rief Pike total perplex. Die Hexe im Umhang lachte nur.
"Irre gut, fand Professor Turner auch. Wenn du sonst nichts mehr zu sagen hast, führe ich dich jetzt in deine neuen Aufgaben ein."
"Du wirst es nicht wagen mich ..." Setzte Pike an, doch da spürte er schon, wie ein heftiger Wirbel seinen Körper erfaßte, wie die Welt um ihn herum in einem Lichtblitz verschwand und er danach wohl um einiges verkleinert aber völlig unbeweglich auf dem Tisch lag, nach oben blickend. Er fühlte, wie ihn zwei übergroße Hände vorsichtig ergriffen und forttrugen, hinaus aus dem Raum, zu einem kleinen Tisch, auf dem Watte und Geschenkpapier lag, was er in seiner jetzigen Daseinsform gerade noch erkennen konnte, bevor er abgestellt und eingepackt wurde. Er konnte nicht mehr schreien, sich nicht bewegen. Die grauenhafte erkenntnis, daß er in einen toten Gegenstand verwandelt worden war und trotzdem alles um sich herum wahrnahm, erfüllte seinen Geist mit Angst. Wenn er dann noch darüber nachdachte, welches Schicksal ihm diese verrückte Junghexe zugedacht hatte, mischte sich noch grenzenloser Ekel und Abscheu dazu. Dann wurde um ihn herum alles rosarot dunkel. Er hörte mit nun nicht mehr erkennbaren Ohren, wie die Junghexe ihn offenbar aus dem Keller brachte und zu jemandem sagte:
"Mutter und Schwester, Ginger bekommt von mir was für die Kleine.
Am Vorletzten Tag vor Halloween reisten Anthelia, Lucretia Withers und Patricia Straton nach New York. In Patricias Auto, einem rasanten weißen Maserati, fuhren sie durch die Straßen der Millionenstadt und lauschten auf das Vorhandensein der Dementoren. Sie wußten, daß diese Wesen eigentlich nur bei Nacht unterwegs waren, da sie die Sonne scheuten. Doch an diesem Nachmittag wurde der große Feuerball am Himmel von vielen Herbstwolken überlagert. So vermutete Anthelia, die offenbar gut über Dementoren bescheid wußte, daß diese Wesen sich bei dieser Witterung in die Stadt trauen würden. Muggelaugen konnten sie ja nicht sehen, und die allgegenwärtige Hektik und der Streß würden ihren Einfluß auf die Menschen hier überdecken, ja höchstens als Grund für die tiefe Verzweiflung angesehen werden, wenn Dementoren in der Nähe waren.
"Tante Sardonia, die ich sehr schätze, hat sich mit diesen Kreaturen übernommen. Ich werde auf der Hut sein", sagte Anthelia. Sie saß neben Patricia, die steuerte. Lucky saß auf dem Rücksitz und kraulte die schneeweiße Katze, die dort auf einer weichen Decke lag, die Beine nach oben, abwechselnd die Krallen ausfahrend und einziehend.
Es war kurz vor zwei Uhr, als ein großes gelbes Taxi an dem Maserati vorbeibrummte. Anthelia blickte hinein und sah hinter dem dunkelhäutigen Fahrer einen Mann im englischen Maßanzug mit einer hellblonden Halbglatze. Unvermittelt vibrierte ihr Seelenmedaillon, daß sie an einer Kette um den Hals trug. Es zeigte ihr, so wußte sie, die Nähe mächtiger düsterer Kreaturen an, mit deren Ausstrahlung die dunkle Kraft des Medaillons wechselwirkte. Hinter dem Taxi sah Anthelia einen fast unsichtbaren weißen Nebelstreifen hergleiten, getrieben vom Fahrtwind mehrerer Autos, wie es schien. Das Medallion zitterte regelrecht, zwei Sekunden lang. Dann beruhigte es sich wieder, langsam, aber spürbar. Anthelia warf dem gerade vorbeigefahrenen Taxi einen leicht beunruhigten Blick nach. Dann erkannte sie, daß die erwarteten Dementoren nicht das einzige waren, was in dieser großen überfüllten und die Luft verpestenden Stadt unterwegs war und das ihr bislang heimlicher Kampf gegen Voldemort durch etwas äußerst bedrohliches in den Hintergrund gedrängt werden konnte: Eine der Erbfeindinnen.
Patricia konzentrierte sich so sehr auf die Autofahrt, daß sie nicht mitbekam, wie Anthelia reagiert hatte, als das Medallion vibriert, ja regelrecht gebebt hatte. Anthelia verbarg auch ihre Gedanken vor ihr.
"wir finden die Dementoren so nie. Wir müssen wen suchen, den sie aufsuchen werden", wandte Lucky vorsichtig ein. Sie war die Autofahrerei nicht gewohnt. Fliegen auf einem Besen oder das Apparieren lagen ihr weit mehr.
"Asrael Smothers wird wohl nicht gerade auf sie warten", sagte Anthelia. "Wir können aber dort hinfahren, wo er sein Stadthaus hat. Wir wissen schließlich, daß er gerne die Verbrecher aus den Reihen der Unfähigen für sich arbeiten läßt, um an Geld und Menschen zu kommen, mit denen er seine Versuche machen kann."
"Dann sage mir bitte, höchste Schwester, wo wir diesen Typen finden?"
"Er wohnt ..."
Ein Lastwagen scherte nach rechts aus und zwang Patricia zu einer abrupten Wende. Erst als sich der Schrecken gelegt hatte, berichtete Anthelia, wo sie den Verehrer Voldemorts in New York finden konnten. Doch als sie dort angekommen waren, war das Haus leer. Nicht einmal eine magische Absicherung hatte Smothers für nötig gehalten. Offenbar diente dieses Haus wirklich nur als Tarnung. Die höchste Schwester vollführte mehrere zauber, um die Bewegungen der letzten Stunden zu ergründen und erfuhr, daß die Dementoren, die sie suchten, tatsächlich schon hier gewesen waren und mit Smothers zusammen losgezogen waren. Offenbar hatte der Dunkelmagier es eilig, etwas zu erledigen. Er lief förmlich durch die Straßen von New York, unsichtbar für Muggelaugen, aber gut nachvollziehbar für Anthelia.
Sie verfolgten die Spuren des dunklen Zauberers bis zu einem Geschäft, das als "Madame Margos Schönheitssalon" ausgewiesen war. Dort fanden sie jedoch nur zwei atmende Frauen ohne jede geistige Regung vor und überlegten, ob sie sie mitnehmen sollten, als Anthelia telepathisch erfaßte, daß die Einsatzgruppe zur Aufklärung von Zaubern in Muggelsiedlungen unterwegs war, weil ein Patronus-Zauber, der offenbar gegen die Dementoren gewirkt worden war, von den Überwachungsmitteln dieser Zauberer registriert worden war. Sie zogen sich durch Disapparieren zurück und kehrten zum Haus von Smothers zurück, um ihn dort zu erwarten.
Buster Greencoat apparierte im Schönheitssalon, wo sein Kollege wohl noch liegen würde. Dieser kam gerade wieder zu sich und hielt sich den Kopf.
"Gus, die Frau ist in einer zu großen Menge von Muggeln untergetaucht. Der Schocker konnte sie nicht erreichen. Fast hätte ich mich selbst damit ausgepunktet", sagte Buster. Augustus Bell, der Chef der magischen Eingreiftruppe des amerikanischen Zaubereiministers, Sektion New York, rieb sich die Stelle, wo ihn der betäubende Handkantenschlag der Geflüchteten getroffen hatte.
"uh, diese Frau hat mich überrumpelt, Buster. Ich werde vielleicht schon alt. Die hat mir den Zauberstab ... ah, da liegt er ja noch, ... aus der Hand gehauen und mich dann einfach so umgehauen. Die hatte Angst, Buster. Aber die ist nicht dumm. Sie konnte sich genau denken, was passiert war."
"Glaubst du, daß sie den Patronus herbeigerufen hat?"
"Unfug, Buster. Muggel können ja nicht mal Dementoren sehen. Wie soll sie denn da den Patronus beschworen haben, häh?"
"Weiß nicht. Der Schocker ist an einem unsichtbaren Schild abgeprallt. Wie soll die denn den aufgebaut haben?"
"Bist du sicher, Buster?"
"Es hätte mich fast selbst außer Gefecht gesetzt. Ich hatte Glück, daß der Auftreffwinkel so schräg war, daß der Rückprall den Schocker an mir vorbeigelenkt hat."
"O das ist interessant. Weißt du denn mindestens, wohin sie gelaufen ist?"
"Sie ist mit einer U-Bahn, diesen unterirdisch fahrenden Eisenbahnwagen, die mit Muggelstrom betrieben werden, aus Manhattan rausgefahren. Ich wollte nur sehen, ob es dir wieder besser geht und dann zur nächsten großen Umsteigestation apparieren. Ich kenne da einen unbenutzten Wartungstunnel, wo ich ungesehen ankommen kann und ..."
Gus nahm seinen Zauberstab wieder auf und tippte sich damit an die Stirn. Er murmelte einige Zauberworte. Sein schmerzverzerrtes Gesicht beruhigte sich wieder. Dann sagte er: "Die hat sich hier versteckt. Wie immer die dem Vivideo-Zauber entgangen ist, die muß hier die ganze Zeit gewesen sein. Bei den Temperaturen draußen ist die bestimmt nicht nur im Straßenkostüm unterwegs gewesen. Vielleicht hat sie einen Mantel hiergelassen."
"Dir geht es wohl wieder besser, wie. Dann müssen wir den Mantel suchen", stimmte Buster zu.
Die beiden Zauberer brauchten keine halbe Minute, um einen dunkelgrünen Übermantel zu finden, in dessen Innentasche Ausweispapiere und ein Mobiltelefon steckten. Doch sie konnten nicht in Ruhe ihren Fund untersuchen. Denn das laute Heulen einer Polizeisirene verkündete nahende Schwierigkeiten.
"Nachbarn müssen die Muggelpolizei gerufen haben, Gus", flüsterte Buster.
"Sollen sie doch. Wir disapparieren. Hier in diesem Laden gibt es so viele Fingerspuren, daß sie uns nicht daran festmachen können."
"In Ordnung, Gus", stimmte Buster zu. "Aber wohin sollen wir?"
"Ins Hauptquartier, Meldung machen und die Frau per Großfahndung suchen lassen. Ich denke zwar nicht, daß die Dementoren hinter ihr her sind, aber sie könnte was mitbekommen haben, wie wir die beiden Frauen abgeholt haben und das weitererzählen.""Dann weg hier", zischte Buster, als die Sirene vor dem Salon ausklang. Keine Sekunde später waren die beiden Zauberer verschwunden. Eine halbe Minute später stürmten zwei Polizisten den Salon und fanden ihn völlig leer vor.
Maria Montes passierte den Knotenpunkt, der am Zentralpark lag. Sie hätte hier bequem umsteigen und in das Stadtviertel zu Alejandras Haus fahren können. Doch sie blieb in dem Wagon sitzen. Selbst die zusteigenden Jugendbanden und etwas zwielichtig aussehenden Männer beunruhigten sie nicht. Sie hatte gelernt, sich in scheinbar zu gefährlichen Situationen ruhig zu verhalten. Nach der Hölle, die ihr die beiden dämonischen Ungeheuer bereitet hatten, waren halbseidene Gestalten und gewaltsüchtige Halbwüchsige das kleinere Übel für sie. Da sie selbst nicht den Anschein von viel Geld erweckte, behelligte man sie auch nicht. Die mexikanische Abstammung, die man ihr ansah, galt wohl als Kennzeichen für eine leere Brieftasche. So konnte sie unbehelligt von den Straßenkindern und merkwürdigen Typen bis zur Endstation fahren, wo sie und eine Horde Zwölfjähriger die letzten Fahrgäste waren. Sie brauchte einige Minuten bis sie eine öffentliche Telefonzelle fand, die nicht von Randalierern zerstört worden war. Von dort aus rief sie ihren Mann Enrique an.
"Maria, wo bist du denn gerade?" Fragte er, als sie ihm gesagt hatte, daß sie vielleicht erst später zurückkommen würde.
"Ich bin in eine alte Sache reingeraten, Enrique. Leute, denen ich auf die Füße getreten bin, haben hier gute Freunde. Ich mußte mich bei den Kollegen verstecken. Die Typen haben mein Mobiltelefon. Ich bleibe auf jeden Fall diese Nacht in der Obhut einiger Kollegen. Wo ich bin, darf ich dir nicht verraten. Du kennst das ja. Ich weiß nicht, wann ich wiederkommen kann. Im Moment ist es besser, du machst dir mit Alejandras Familie ein schönes Halloween-Fest. Pass aber auf!"
"maria, du machst Sachen. Ich bin ja einiges von dir und deinen Kollegen gewöhnt, aber ..."
"Ich weiß, ich wollte auch einen schönen Urlaub haben, Enrique. Wie gesagt. Die könnten drauf kommen, dich und unsere Familie zu finden. Ich schicke dir auf jeden Fall Kollegen, die unsichtbar im Hintergrund bleiben."
"Wie du meinst, Maria. Aber hättest du das nicht vorher rausfinden können, daß deine alten Kunden hier ihre Fans haben?"
"Und dir damit den Urlaub vorzeitig ruinieren sollen? Neh, Enrique, das ist schon besser so, wie es gelaufen ist", sagte Maria und verabschiedete sich leidenschaftlich von ihrem Mann. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm die Wahrheit zu erzählen. Er hätte sie womöglich für überspannt, ja geistig verwirrt gehalten und darauf bestanden, sie untersuchen zu lassen. Diese Notlüge von organisierten Kriminellen würde er ihr eher abnehmen, da sie ja berufsmäßig mit solchen unliebsamen Zeitgenossen zu tun hatte und es immer zu befürchten stand, daß sie in die Schußlinie einer größeren Bande geraten würde.
Als Enrique aufgelegt hatte und wohl nun mit den Jungen etwas weniger fröhlich von Coney Island zurückkehren würde, wählte Maria Montes die Nummer ihres Kollegen Zachary Marchand in New Orleans. Von diesem wußte sie, daß er Sachen wie Voodoo und okulte Fälle ernstnahm und wohl zum Teil daran glaubte, ja Leute kannte, die sich mit derlei Dingen beschäftigten. Ihm wollte sie die Geschichte, die wahre Geschichte, erzählen.
"FBI New Orleans, Vorzimmer Spezialagent Marchand", meldete sich eine junge Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, als die Verbindung zu Stande gekommen war. Maria Montes sagte ihren Namen und Rang und wartete, bis sie mit ihrem Kollegen selber sprechen konnte.
"Ah, hallo, Maria. Du hattest mich vor zwei Monaten wegen der Sache in diesem Dropout angerufen. Gibt es was neues in der Richtung?"
"Weißt du es noch nicht? Dropout wurde von zwei Gangsterbanden völlig niedergebrannt. Sogar die alte Daggers-Villa wurde davon betroffen, wo dieser ... diese Sache damals abgelaufen war. " Maria fröstelte. Sie dachte an den Einsatz vor ungefähr drei Monaten zurück. Damals war sie gerufen worden, weil ein Teenager aus dem kleinen Städtchen Dropout beim Vorbeifahren an einer alten Plantagenbesitzervilla Frauen eine Hexenformel hatte singen hören, in der es angeblich um die Wiederkehr einer "verstoßenen Schwester" gegangen sei. Man hatte damals nichts auffälliges finden können. Deshalb war die Angelegenheit zu den Akten gelegt worden. Doch nun, wo sie sich wieder daran erinnerte, lief es ihr kalt den Rücken herunter. Konnte es nicht sein, daß dieser Junge wirklich böse Hexen bei ihrer dunklen Litanei belauscht hatte? Nun, wo sie echten Dämonen begegnet war, war das plötzlich nicht mehr abwegig. Jetzt, wo sie fremde Männer gesehen hatte, die einfach aus dem Nichts auftauchten oder darin verschwanden, gab es sogar einen Sinn, daß sie und der im Überfall auf Droput zu Tode gekommene Sheriff Foggerty niemanden mehr angetroffen hatten.
"Ich rufe dich wegen was ganz verrückt klingendem an, Zach. Aber ich schwöre dir, daß ich das wirklich so erlebt habe und dabei hellwach und nicht unter Drogeneinfluß war. ..."
Nachdem Maria ihrem Kollegen die ganze Geschichte haarklein erzählt hatte, war ihr irgendwie wohler. Zachary Marchand hörte zu, fragte nur ein oder zweimal, ob sie wirklich die großen Gestalten in den Umhängen gesehen und faulige Ausdünstungen gerochen hatte. Als sie von den schrecklichen Erinnerungen und der völligen Dunkelheit, Kälte und Verzweiflung sprach, schien Marchand sichtlich erregt zu sein, nicht, weil er sie für eine Spinnerin hielt, sondern irgendwie, weil er sich wohl versuchte, hineinzuversetzen. Als sie dann von der Frauengestalt aus reinem Licht, dem Verschwinden der Dämonen und dem Auftauchen der Fremden mit den Zauberstäben erzählt hatte, meinte er:
"Das ist eine äußerst erstaunliche Geschichte, maria. Hast du diese Frauen gesehen, die zuerst in den Salon kamen?"
"Nein, habe ich nicht, Zach. Ich mußte mich doch verstecken."
"Ist im Moment vielleicht auch nicht so wichtig. Die zwei Männer, von denen du glaubst, daß es Zauberer sind, haben die dich weiterverfolgt?"
"Nachdem einer von ihnen mir einen Zauberbann nachgejagt hat, der wohl durch mein Silberkreuz zurückgeworfen wurde, ist mir keiner mehr nach. Allerdings weiß ich nicht, ob die sich nicht unsichtbar machen oder in unauffällige Lebewesen verwandeln können. Ich bin jetzt in Brooklyn und habe kein Bargeld mehr. Wenn ich ein Taxi nehmen soll, sehe ich alt aus."
"Du bist dir also sicher, daß nur diese beiden Männer hinter dir her waren?"
"Du glaubst mir diese Sache?" Wunderte sich Maria ernsthaft. Sie hatte damit gerechnet, daß Zach sie für verwirrt halten und ihr einen Psychiater empfehlen würde. Doch er schien ihr diese Sache ohne weiteres abzunehmen. Das machte sie irgendwie stutzig.
"Das waren nur diese zwei. Ich weiß nicht, was die jetzt machen. Vielleicht suchen die mich schon bei meiner Schwägerin."
"Wieso das?" Fragte Marchand am anderen Ende der Leitung. Maria war froh, daß sie über ihre Kreditkarte telefonieren konnte und einen Betrag bis zu 1000 Dollar pro Monat zusätzlich ausgeben konnte. Sicher, das Telefon würde bestimmt nicht so viel kosten. Aber es beruhigte schon, daß sie Ruhe beim Sprechen hatte.
"Gut, Maria", sagte Zachary Marchand. "Ich habe von diesen Wesen schon gehört. Daß du sie gesehen und ihre Begegnung überlebt hast, ist ein ganz außergewöhnlicher Glücksfall. Die beiden Frauen, die von diesen Wesen angefallen wurden, hatten nicht so viel Glück. Wenn die Männer, denen du begegnet bist, sie weggeschafft haben, dann deswegen, weil sie nicht wollen, daß man nachforscht, was mit diesen Frauen passiert ist. Das könnte merkwürdige Vermutungen nach sich ziehen. - Du wirst dich jetzt fragen, woher ich das weiß. Ich sage es dir. Ich habe in letzter Zeit nur noch mit solchen Fällen zu tun."
"Ja, aber du bist nicht Fox Moulder, und ich bin nicht Dana Scully aus dem Fernsehen", sagte Maria Montes, der das zwar immer noch merkwürdig vorkam, sie aber auch irgendwie beruhigte, daß ihr Kollege sie zumindest nicht für verrückt hielt.
"Ich habe auch nicht behauptet, daß diese Leute vom mars oder von noch weiter weg kommen, Maria. Ich möchte jedoch, daß du schnellstmöglich zu mir nach New Orleans kommst. Ich habe hier Bekannte, die dir helfen können, aus der Sache rauszukommen."
"Ach, wie denn. Können die etwa auch zaubern?"
"Ich weiß zwar jetzt nicht, was du unter Zauberei verstehst, aber die kennen sich zumindest mit diesen Dämonen aus, von denen du erzählt hast. Ich habe dir doch erzählt, daß ich die Voodoo- und Magie-Szene kenne, die es hier außerhalb des Touristenschnickschnacks gibt."
"Wie stellst du dir das vor? Ich kann vielleicht mit einer U-Bahn zurück zum Zentralbahnhof und von da aus mit einem Expresszug zum John-F.-Kennedy-Flughafen fahren. Aber ohne Ausweis komme ich doch in kein Flugzeug rein."
"Hmm, stimmt zwar. Aber den FBI-Ausweis hast du doch noch mit, oder?"
"Klar, den habe ich gesondert einstecken."
"Dann fahr zum Laguardia-Flughafen. Ruf vorher im New Yorker Büro an und sage denen, du hättest einen Sondereinsatzbefehl aus Jackson erhalten und müßtest zur Amtshilfe nach New Orleans! Ich drehe das so, daß die Geschichte wasserdicht ist. Die haben immer freie Plätze in den kleineren Maschinen, die viermal am Tag die Südstaaten anfliegen. Eine geht in zwei Stunden, wenn meine Uhr nicht nachgeht", sagte Marchand. Maria stutzte wieder. Zachary Marchand hatte es ziemlich eilig, sie zu sich zu holen. Irgendwas war da nicht in Ordnung. Doch im Moment erschien es ihr wichtig, sich aus der Reichweite dieser Zauberer und der düsteren Kreaturen zu halten. Also sagte sie zu und legte auf. Dann rief sie das Büro des FBI in New York an, gab ihren Namen, ihre Dienstnummer und den Einsatz an, den sie von hier aus machen sollte. Sie sagte, daß sie eigentlich in New York Urlaub hatte machen wollen und nun abkommandiert worden sei. Zwar bestand der Beamte am anderen Ende der Leitung darauf, die Agentin persönlich zu sehen, aber das war nur recht und billig, fand Maria Montes.
Mit der U-Bahn kehrte sie ins Stadtzentrum zurück. Es ging nun in die Hauptverkehrszeit, und die Bahnen waren zum platzen voll. Sichtlich gestreßt konnte Maria Montes sich aus dem Gewühl der Großstädter herauskämpfen, die alle in großer Eile ihren Zielen zustrebten, namenlos, ruhelos. Sie suchte das FBI-Gebäude auf und besprach mit Spezialagent Clover, mit dem sie telefoniert hatte, was sie mit Marchand abgeklärt hatte. Der Beamte legte ein eingetroffenes Fax aus Jackson vor, daß Marias Auftrag bestätigte. Offenbar hatte Marchand dort wichtige Stellen überzeugen können, daß sie zu ihm müsse und das absegnen lassen. Auch das machte sie stutzig. Denn sie kannte ihre Chefetage. Die würde sich nicht so einfach reinreden lassen, wohin und weshalb eine ihrer Beamten auf Staatskosten verreisen sollte. Doch vielleicht würde sie in anderthalb Stunden mehr wissen. Immerhin wurde sie mit einem FBI-Wagen zum Laguardia-Flughafen gefahren, wo bereits ein Ticket für sie bereitlag. Da sie weder großes Gepäck, noch Bordgepäck mitführte, dauerte die Abfertigung nicht so lange. Fünfzehn Minuten vor der geplanten Abflugzeit bestieg sie die zweistrahlige Maschine, die Platz für sechzig Passagiere bot und schnallte sich an. Als das kleine Flugzeug dann abhob, wußte sie nicht, ob sie nun in Sicherheit war oder nicht geradewegs in eine Falle hineinflog.
Asrael Smothers war wütend. Der Zauberer, der sich die Schmach antat, unter ignoranten Muggeln zu leben, hatte erst am Morgen die beiden düsteren Gestalten empfangen, die ihm aus England geschickt worden waren. Er hatte gerade erst erfahren, daß eine Squib, eine magieunfähige Tochter von Zauberern, die Magnolia Silverspoon hieß, in den letzten Tagen merkwürdige Träume und Visionen gehabt hatte. Smothers wollte sie fangen und verhören, um zu erfahren, was genau sie vorhergesehen hatte. Denn er glaubte fest an die Macht der Vorhersehung und fürchtete sich vor üblen Prophezeiungen gegen ihn. So hatte er die beiden Dementoren zu ihr geschickt, um sie gefangenzunehmen. Doch sie war verschwunden und erst in einem Muggelladen für Verschönerung gefunden worden. Die Dementoren hatten sie dort wohl geküßt, ihr die Seele entrissen. Denn als Smothers der Spur der Dementoren nachgejagt hatte, hatte er nur Magnolias leeren aber atmenden Körper gefunden. Die Dementoren waren verschwunden. Wutentbrannt war er zu seinem Stadthaus zurückgekehrt. Die Dementoren würden ihn hier sicherlich wieder aufsuchen. Denen würde er was erzählen. Doch als er vor seiner Haustür apparierte, warteten drei Gestalten in weißen Umhängen mit Kapuzen auf ihn, die absolut nichts mit Dementoren gemeinsam hatten.
"Ich grüße euch, Asrael Smothers, Sohn des Erebus", sagte eine der drei mit einer warmen halbhohen Frauenstimme. Smothers fischte blitzschnell nach seinem Zauberstab, den er in seinem Umhang mitführte. Doch offenbar war gerade diese Regung von ihm vorausgesehen worden. Denn kaum berührte seine linke Hand den zehn Zoll langen rotbuchenstab, packte ihn eine unsichtbare kraft wie eine riesige Faust am Arm, drehte diesen mit spielerischer Brutalität auf den Rücken und entwand ihm den Stab, der klappernd zu Boden fiel. Die zweite Gestalt, wohl auch eine Frau, deutete mit einem Zauberstab auf den des Magiers und rief "Accio Zauberstab!" Schnurstracks sauste der entwendete Zauberstab zu der Fremden hin, die ihn sicher fortpackte, während die dritte Gestalt mit "Incarcerus" ein Bündel magischer Stricke aus ihrem Zauberstab schießen ließ, das Smothers innerhalb von Sekunden einschnürte. Er öffnete den Mund, um zu rufen ...
"Silencio!" Rief die zweite Hexe im alles verhüllenden Umhang und deutete dabei auf den Zauberer. Kein einziger Laut drang nun aus dem Mund von Smothers, obwohl er rief und rief. Doch der körperliche Schweigezauber schluckte jede Lautäußerung im Entstehen.
"In sein Haus, oder wohin, Höchste Schwester?" Fragte die Hexe, die ihn hatte verstummen lassen.
"Nein, zu unserem Hauptquartier, Schwester Patricia. Hole den Wagen!" Befahl die Frau, die Smothers begrüßt hatte.
"In Ordnung, höchste Schwester", sagte die Hexe, die den körperlichen Schweigezauber über Smothers gelegt hatte und ging davon.
"Hast du dir wirklich gedacht, wir ließen zu, daß du und der Emporkömmling aus England die ganze Welt in Schutt und Asche legt?" Fragte die offenbar als Anführerin auftretende Hexe den Gefangenen. Dieser öffnete den Mund und spie die Fremde an, wie ein wütendes Kamel. Dafür setzte es den Cruciatus-Fluch, den die Unbekannte mit einem merkwürdig silbriggrauen Zauberstab wirkte. Da Smothers weder schreien noch um sich schlagen konnte, zuckte er lautlos unter den mörderischen Qualen des Fluches, bis von ihm abgelassen wurde.
"Du wirst mich noch respektieren lernen, Bursche. Ich hegte die Hoffnung, es mit einem zivilisierten Zauberer zu tun zu haben. Aber einen Wilden werde ich strafen, wie es einem Wilden ansteht", fauchte die Anführerin wie eine gereizte Katze.
Die zweite Hexe, die offenbar einen Wagen holen sollte, kam zurück und deutete auf ihre linke Umhangtasche. "Ich habe ihn wieder eingeschrumpft. Die noch mit uns im Wagen saß, möchte einstweilen hierbleiben, um zu beobachten, ob die Dementoren wieder auftauchen."
"Dies sei ihr gewährt", sagte die Anführerin. Dann winkte sie den beiden zu, Smothers bei den Armen zu nehmen und disapparierte. Asrael Smothers konnte sich nicht wehren, als ihn die beiden anderen Hexen packten und dann mit ihm ebenfalls durch Disapparition verschwanden. Er kannte das Gefühl, daß jemand hatte, der von einem anderen Apparator mitgenommen wurde und überstand den Sturz durch schillernde Farbenräume mühelos. Als er in einem Raum, offenbar einem Felsenkeller, anlangte, in dem ein langer Tisch stand, mußte er mit wachsender Furcht erkennen, daß er hier wohl nicht unversehrt wieder herauskommen würde. man hatte ihn eiskalt überrumpelt, ihn, der von allen Zauberern der Ostküste gefürchtet wurde. Nur weil er arglos vor seinem Stadthaus appariert war anstatt in sicherer Entfernung anzukommen und erst einmal zu erkunden, ob er sich seinem Haus sicher nähern konnte. Diese Dummheit, so stellte er mit innerem Groll gegen sich selbst fest, mußte ja bestraft werden.
"Willkommen in meiner bescheidenen Wohnstatt, Sir Asrael Smothers, Sohn des Erebus und der Melacardia, Absolvent mit Magus-Maximus-Abschluß der Thorntails-Akademie für nordamerikanische Hexen und Zauberer, Träger des Ordens der goldenen Drachenklaue, Streiter für die Vormachtstellung reinblütiger Zauberer, Freund und Getreuer des dunklen Lord Voldemort, welcher da ausgeht, der größte dunkle Magier aller Zeiten nach Klingsor und Slytherin zu werden", grüßte ihn die Anführerin der drei Hexen mit überzogener Ehrerbietung, die schon reiner Spott war. Dann wurde der Gefangene Zauberer völlig entkleidet und auf dem langen Tisch mit Zauberstricken fest angebunden.
"Sonoliberato!" Rief die Hexe, die ihn zum schweigen gebracht hatte. Sofort schrie Smothers laut um Hilfe, wie ein machtloser Muggel, der von irgendwelchen Straßenräubern überfallen wird. So ähnlich fühlte er sich. Er war völlig nackt, gefesselt und ohne seinen Zauberstab so wehrlos, wie ein kleines Kind.
"Schreit doch nicht so wehleidig herum! Ihr seid in einem Hause, das weit ab von jeder Ansiedlung erbaut ist", fuhr ihn die Anführerin an. Weil Smothers nicht aufhören wollte, laut zu schreien, belegte sie ihn wieder mit dem Schweigezauber.
"Nun, ich gedachte, euch wesentlich schmerzfreier vernehmen zu können. Aber Ihr legt es offenbar darauf an, die Härte meiner Macht zu spüren", sagte sie mit dem Anflug von Bedauern in ihrer Stimme. Dann nahm sie eine straffe Körperhaltung ein und sprach ein zauberwort aus, daß Smothers das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er kannte es zu gut und hatte oft versucht, sich gegen diesen Zauber erfolgreich zu wehren.
Die nächsten Stunden verliefen für Smothers anstrengend und qualvoll. Alle Ängste, alle Vorlieben, alle Geheimnisse, die er besaß, wurden ihm mit Gewalt aus dem Geist gezogen. Er durchlebte die schlimmsten Sachen seiner Kindheit, wie er von zwei Jungen in Thorntails, die wie er im Haus Durecore untergebracht worden waren, zum Spaß durch die Luft gewirbelt worden war, auf Fingerlänge verkleinert und in ein Glas gesetzt worden war und zeitweilig mit langen Eselsohren herumgelaufen war, bis er die beiden nach Thorntails durch den Todesfluch umgebracht hatte. Er durchlebte die Beziehungen mit Hexen, die nur auf seinen Reichtum ausgegangen waren, aber auch die leidenschaftlichen Nächte, die er mit verschiedenen Geliebten verlebt hatte, wie auch das schlimmste, was ihm je widerfahren war, Die Entführung durch eine Sabberhexe, als er gerade drei Jahre alt war und gegen das Verbot seiner Eltern zu weit mit seinem Kinderbesen fortgeflogen war. Das fliegende Scheusal hatte ihn am Rande eines Waldes angefallen, ihn vom Besen gezerrt, diesen dabei zerbrochen und ihn in ihren nach Blut und Angstschweiß stinkenden Gewänder gehüllt fortgeschleppt, zu ihrer Baumhöhle, wo sie ihn mit aus ihrem breiten Mund grünlichgelb triefendem Speichel besabbert und mit ihrer langen bleichroten Zunge abgeleckt hatte. Sie sprach davon, ihn langsam zu rösten und daß sie sich freue, endlich mal wieder zartes Jungzaubererfleisch zu kosten. Asrael hatte geschrien, und die Kreatur hatte ihn nur ausgelacht und ihre gelben spitzen Zähne entblößt. Das er diesem Schicksal entronnen war, hatte er nur dem Umstand zu verdanken, daß gerade zu dieser Zeit eine Truppe zur Aufspürung dunkler Kreaturen im Wald unterwegs war. Sie konnten ihn gerade so noch befreien, bevor ein meterlanger Bratspieß durch seinen Leib getrieben wurde.
"Deshalb bist du das, was du bist", lachte die ihn mit brachialer Gewalt verhörende Hexe. "Deine Urangst vor Hexen ist dein Schicksal, wie? Dann wirst du dich nicht mehr gegen mich wehren, oder ich lasse dich in deine Säuglingsform zurückführen und dorthin bringen, wo du entführt wurdest. Soviel ich weiß, hausen in diesem Waldstück mindestens noch vier dieser netten Kreaturen."
"Nein", schrie Asrael Smothers nur in Gedanken. Denn laut schreien konnte er durch den Schweigezauber immer noch nicht. "Bitte, ich will euch sagen, was ihr wissen wollt."
"Das ist schon wesentlich besser", sagte seine Foltermagd und beendete die magische Geistesdurchsuchung. Sie gab Smothers seine Stimme zurück und hörte sich in Ruhe an, was er sagte. Angst und Verzweiflung zwangen den Magier, alles zu beantworten, was er gefragt wurde. Wenn er versuchte zu lügen und seinen Verstand mit einem Geistesschildzauber zu verschließen, räusperte sich die Unbekannte, die sich ihm bis zu diesem Moment nicht mit Namen vorgestellt hatte.
Irgendwann hatte die hinterhältige Hexe wohl genug erfahren. Sie sagte:
"Ich kann dich beruhigen, Asrael. Dir wird es erspart bleiben, den Niedergang deiner Brüder in diesem Land mitzuerleben. Jetzt, wo wir wissen, wer wo und wie zu finden ist, wird dieser Emporkömmling hier keinen Halt finden. Da du letztendlich so kooperativ mit mir zusammengearbeitet hast, gewähre ich dir die Gnade des schnellen Todes. Avada Kedavra!"
Asrael Smothers hatte keine Chance. Als der gleißende grüne Blitz mit lautem Sirren auf ihn zuraste, wußte er, daß er endgültig verloren hatte.
Das Leben ohne Frau und Kind erwies sich für Richard Andrews, dem Direktor der Forschungsabteilung der Kunststoffabrik Omniplast als nicht ganz so leicht, wie er es sich erträumt hatte. Wenn er von seiner Arbeit nach Hause zurückfuhr erwartete ihn ein großes Haus, leer und irgendwie unpersönlich. Sicher, er hatte dort seine geliebten Schallplatten, Fernseher und Videoanlage und das kleine Privatlabor im Keller. Aber irgendwie fehlte durch den Auszug seiner Frau Martha eine freundliche Seele, die ihm abends Geborgenheit und Abwechslung geben konnte. Er hatte alles aufgegeben, was einmal Sinn und Hauptbestandteil seines Lebens war. Sicher, er hatte das Haus behalten und auch seinen einträglichen Beruf, für den er lange studiert hatte. Aber es gab gerade in den ersten Oktobertagen lange Abende, wo er vor einem Schachbrett saß und trübselig darüber nachdachte, wie sehr er doch seine Frau vermißte. Ihn tröstete auch nicht der Gedanke, daß sie ihn sicherlich genauso vermissen würde. Denn dann, wenn er an sie dachte, fiel ihm wieder ein, weshalb er sie nicht mehr bei sich hatte, ja nicht mehr bei sich haben wollte: Er hatte es satt, sich mit Leuten abzugeben, die meinten, nur weil sie übernatürliche, ja widernatürliche Dinge tun konnten, sein Leben und das seiner Familie bestimmen konnten. Als er in einer Schublade seines Nachttisches unter Socken und Unterhosen zwei in kleine Plastiktüten eingeschweißte Kondome fand, überkam ihm ein aberwitziger Gedanke: Hätte er diese nützlichen Verhütungsmittel nicht vor über dreizehn Jahren anwenden sollen, obwohl er da schon mit Martha verheiratet war? Wahrscheinlich wäre ihm dieses Elend, daß er einen abartig begabten Sohn hatte, erspart geblieben. Doch die Verhütungsmittel hatte er erst angeschafft, als er geschieden worden war, weil er sich dachte, eines Tages wieder eine Frau zu treffen, mit ihr eine tiefere Beziehung einzugehen oder einfach dem Trieb zu folgen, sie einfach nur körperlich zu lieben und dann kein Risiko einzugehen, sich dabei irgendwas einzuhandeln, ob eine Krankheit oder ein zweites Kind, das womöglich auch diese widernatürliche Begabung erben könnte, die er, Richard Andrews, über viele Generationen in sich getragen hatte, aber nach der Meinung dieser abartigen Leute nie von selbst hatte anwenden können.
"Zwei Monate sind das bald", dachte er, als er auf den über seinem Bett hängenden Kalender blickte. "Soll ich sie anrufen?" Fragte er laut in den leeren Raum. Er wußte, daß er keine Antwort kriegen würde, und falls doch, wäre er wohl derartig erschrocken, daß er auf der Stelle tot umgefallen wäre.
"... Damit Sie wieder Tritt fassen, Dr. Andrews, werden Sie für einen vollen Monat in die Staaten reisen und dort unsere Niederlassung bei New York als Vertretung für Dr. McGregor betreuen. McGregor wird, wie Sie wissen, zum Projektleiter der molekularen Plastik-Metall-Verschmelzung in Kalifornien befördert. Wir haben da mit den Calchem-Werken eine Zusammenarbeitsübereinkunft", eröffnete Richard Andrews' oberster Chef, der Generaldirektor der Omniplast-Kompanie, daß er den nun von familiären Verpflichtungen freien Chemiker anderswo einsetzen wolle.
"Wieso, wenn ich höflich fragen darf, kommt es Ihnen so vor, als müsse ich wieder Tritt fassen?" Fragte Andrews.
"Weil Sie offenbar durch die Trennung von Ihrer Frau, die ja doch wohl ziemlich plötzlich kam, emotional belastet sind. Ich kann jedoch keinen Forschungsleiter beschäftigen, der nicht immer bei der Sache ist. Deshalb biete ich Ihnen diese Möglichkeit an, die sich unser Unternehmen auch etwas mehr kosten läßt. Zu Ihrem üblichen Gehalt werden Ihnen Lebenshaltungsspesen und die Miete für eine Wohnung in Manhattan erstattet, sofern Sie die Spesen nicht dreist überreizen, Dr. Andrews."
"Natürlich nicht, Sir", sagte Andrews unterwürfig nickend und sah auf die faltenfreie Anzugjacke seines Vorgesetzten. Er verstand. Entweder würde er diesen Job in Amerika übernehmen oder die einträgliche Anstellung hier verlieren, weil man glaubte, er sei zurzeit nicht belastbar genug, um große Aufgaben zu erledigen. Da war Amerika das kleinere, ja ein willkommenes Übel. Immerhin würde er in einer anderen Wohnung unterkommen. Das Haus konnte er getrost Mrs. Summerbee, der Wirtschafterin überlassen, welche eh schon jede Woche bei ihm die anfallenden Haushaltsarbeiten verrichtete. Ein Monat, vier Wochen, würden schnell verstreichen, wußte Andrews. Wenn er eine anspruchsvolle Arbeit ausführen mußte, würde die Zeit vielleicht noch schneller vergehen. Außerdem, und daran hatte er früher nie einen Gedanken verschwendet, würde er sich nach vielen Jahren mal wieder in das Getümmel um Halloween stürzen. Er fand zwar nicht viel an diesem Zirkus um Verkleidungen und die Orgien um die Kürbisse, sah dies aber als Urlaub an. Ja, wenn er es einrichten konnte, würde er in der Freizeit dort einiges unternehmen, was Touristen so unternahmen, sofern die Spesen und sein Privatvermögen dies hergaben. Also sagte er zu und bekam von seinem Chef alle Unterlagen, die für seine neue Anstellung wichtig waren. Die geheimen Abschnitte darin sollte er jedoch nicht mitnehmen. So lernte er die streng geheimen Dinge auswendig, die er in New York übernehmen sollte und bereitete sich darauf vor, in zwei Wochen dorthin zu fliegen.
Einen Tag vor seiner Abreise packte Mrs. Summerbee zwei große Koffer für Dr. Andrews. Sie achtete darauf, daß die guten Anzüge knitterfrei zusammengelegt und die Ausgehschuhe gut eingepackt verstaut wurden. Als er so vor den zwei großen Koffern stand, fiel ihm ein, daß er noch eine Reisetasche packen wollte, um Wochenendausflüge machen zu können. So ließ er neben einem Pyjama einen durchschnittlichen Konfektionsanzug und Rasierzeug, Zahnbürste und -creme, Seife und Duschzeug in einer kleinen Reisetasche unterbringen. Dann verabschiedete er sich von Mrs. Summerbee, die ihm eine erholsame und erfolgreiche Zeit in den Staaten wünschte. Als die Hauswirtschafterin das große weiße Haus in der Winston-Churchill-Straße verlassen hatte, wartete Richard Andrews eine Stunde, die er damit zubrachte, sein Labor zu sichern, alle wertvollen Gegenstände darin einzuschließen und die Stecker aller überflüssigen Elektrogeräte aus den Steckdosen zu ziehen. Dann bestellte er sich ein Taxi und ließ sich und sein Gepäck in ein Mittelklassehotel in der Nähe des Flughafens bringen. Er wollte die letzte Nacht vor dem Abflug nicht in einem leeren Haus übernachten. Unterwegs dachte er an die letzten drei Monate, wie er mit seiner Frau in Paris zugebracht hatte, wie er nach der Rückkehr von einer Familie Hardbrick erfuhr, daß seine Frau gegen seinen Willen mit diesen Zauberern und Hexen Kontakt hielt und er sie dann mit der Hilfe seines besten Freundes Rodney Underhill aus dem Haus vertrieben hatte. Er dachte an das nun in Schutt und Staub zerfallene Agrochemicals-Werk bei Dover, wo er auf der Flucht vor den Zauberern eine Nacht verbracht hatte und dessen Sprengung er persönlich beobachtet hatte. Leichter Nebel waberte durch die Straßen von London. Das war um diese Jahreszeit nichts neues, zumal der Dreck und die Abgase aus Auspuffrohren und Schornsteinen diesen Brodem noch verdichteten. Er sah für einen Moment, wie ein besonders dichter Nebelschleier an seinem Taxi vorbeiwehte und dann in einer Seitenstraße verschwand. Merkwürdigerweise brachte dieser Dunstschleier ihn wieder auf diesen merkwürdigen Traum, den er allein in der Nähe des aufgegebenen Fabrikkomplexes geträumt hatte. Merkwürdiger Traum!
Als er im Hotel Himmelsblick etwa zwei Kilometer vom Flughafen entfernt ein Zimmer genommen hatte, brachte ein stämmiger Gepäckträger seine Koffer in den Aufzug. Er selbst trug die Reisetasche. In Zimmer 1029 im zehnten Stock des zwölfstöckigen Gebäudes rasierte sich Richard Andrews noch mal, zog den Anzug aus der Reisetasche an und ging in das Hotelrestaurant, wo er zu Abend aß. Danach ließ er sich eine Flasche guten Rotwein aufs Zimmer kommen, schaltete das Radio ein, suchte sich einen Sender, der New-Orleans-Jazz brachte und genoß den Abend vor dem Abflug. Berauscht und ermüdet vom Wein zog er um kurz vor Mitternacht seinen Schlafanzug an und legte sich in das geräumige Einzelbett. Vom leisen Surren der Klimanlage, die die Zimmertemperatur auf 20 Grad hielt berieselt, schlief er schnell ein.
Im Traum sah er sich mit Julius bei Dr. Flemming, einem Mikrobiologen und früheren Studienkameraden sitzen. Er hatte Julius gerade vor zwei Tagen erst ermahnt, sich nicht von den dummen Sprüchen seiner Mitschüler beeindrucken zu lassen und jeden halbwahren Unsinn nachzuplappern, den Jungen über Mädchen verzapften, wie sie es mit wem treiben würden und wann und dabei wüste Kraftausdrücke benutzten. Flemming hatte ihm angeboten, Julius in die Wunderwelt der Mikroorganismen einzuführen und ihm auch lebende Samenzellen verschiedener Säugetiere zu zeigen. Weil das Richard Andrews in den Kram paßte, saßen sie einen vollen Samstag bei Flemming in dessen Labor und betrachteten Bakterien, Einzeller und Kleinstpilze durch verschiedene Mikroskope. Dann bekam Julius auch die Samenzellen von Ebern, Hengsten und eines Bullen zu sehen und staunte, wie quirlig die winzigen Keimzellen mit ihren Geißeln in der für sie genehmen Lösung herumschwammen, sobald sie aufgetaut waren. Flemming hatte ihm erklärt, daß man solche Keimzellen lange in tiefgefrorenem Zustand in Flüssigstickstoff aufbewahren konnte. Mit dieser Menge von neuem Wissen war Richard Andrews mit seinem Sohn nach Hause zurückgekehrt. Dort stritt er sich merkwürdigerweise mit seiner Frau, weil sie fand, daß der Junge noch zu klein für diese ganze Wissenschaft war. Richard beschloß darauf, das Haus einstweilen zu verlassen und fuhr in das Himmelsblick-Hotel, wo er sich ein Zimmer nahm. Er war entschlossen, erst wieder zurückzufahren, wenn seine Frau sich beruhigt hatte. Als er jedoch mit nichts als einem Schlafanzug in einer Plastiktüte ins Hotel kam und das Zimmer aufsuchte, daß noch frei war, erwartete ihn eine Überraschung. Das Zimmer war noch belegt. Da er ohne Gepäckträger dort hingegangen war, hatte ihm wohl niemand etwas gesagt.
Er öffnete die Zimmertür und sah eine zierliche Frau, die auf dem Bett saß und ihre schlanken langen Beine leicht übereinander geschlagen hatte. Ihr Oberkörper war völlig nackt, sodaß Richard wie von einem Hitzeschauer getroffen stehenblieb und kurz aber gefesselt auf die üppigen Rundungen der Fremden starrte. Sie wandte sich ihm zu, wobei ihr feuerrotes Haar, das ihr bis auf den bloßen Rücken herabwehte, wie in einer leichten Brise wogte. Mit goldbraunen Augen sah sie den Eintretenden an, der merkte, wie er tomatenrot anlief.
"O, hat man Ihnen das falsche Zimmer angesagt, das tut mir aber leid", sagte die Fremde. Richard stutzte. Er erkannte die Frau wieder, das blasse, wie Porzellan wirkende Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die goldenen Augen, das Haar und die Körperform. Sein Blick wanderte unbeabsichtigt zum gerade so Hüften und Oberschenkel überdeckenden weißen Unterrock hinunter.
"Das kann nicht sein", sagte er total perplex.
"Schließen Sie doch bitte die Tür!" Sagte die Frau auf dem Bett mit einer warmen tiefen Stimme, die Richard ziemlich heftig beeindruckte, seinen Puls leicht beschleunigte und in ihm ein leichtes wohliges Kribbeln einer aufkommenden schönen Erregung bewirkte. Er Wollte zurücktreten und die Tür von außen schließen. Doch die Unbekannte sah ihn einladend an, winkte ihm zu, er möge hereinkommen. Wie eine Marionette folgte er dieser wortlosen Aufforderung. Er betrat das Zimmer und schloß die Tür. Ohne sein Zutun verriegelte sich die Tür. Der Schlüssel steckte aber außen. Ein kurzer Schauer von Furcht, gefangen zu sein, überkam Richard. Doch als ihn der Blick der goldbraunen Augen traf, verflog diese kurze Furcht sofort und machte einer merkwürdigen Stimmung Platz, einem Gefühl von Zufriedenheit, Geborgenheit und der Vorfreude auf etwas ganz besonders schönes.
"In diesem Hotel gibt es keine weiteren Zimmer mehr. Die Leute da unten haben wohl mehr Geld haben wollen. Aber ich denke, wir werden uns nicht aneinander stören. Oder?"
"Bitte was?" Wunderte sich Richard Andrews. Die Frau auf dem Bett lächelte. Er fragte sich, ob er hier abkassiert werden sollte, daß dieses Hotel alleinreisenden Männern käufliche Damen ins Zimmer schickte, die so aufreizend dasaßen, daß ...
"Nein, so eine bin ich nicht, wenn Sie das jetzt denken. Ich wohne hier schon seit zwei Tagen. Sie können ja im Gästebuch nachsehen: Roxana Halliti."
Der Name wirkte auf Richard wie ein Zauberwort. Schlagartig verflogen sämtliche Gedanken an dunkle Machenschaften oder irgendwelche Tricks. Er erinnerte sich, daß er dieser Frau nach seinem Abschluß in Eton schon einmal begegnet war. Damals hatten sie ... Sie hatten ...
"Ach, jetzt erkenne ich dich. Du bist Richard Andrews", säuselte die bezaubernde Frau und lächelte ihn reizvoll an. "Du warst doch der nette Junge, der vor siebzehn Jahren gerade aus dieser Schule Eton kam und mit einem neuen Wagen unterwegs war", sagte sie mit halblauter, schnurrend klingender Stimme. Richard Andrews nickte unwillkürlich und sah die Unbekannte an, die er doch irgendwie kannte. Dann verflog auch der Rest von Mißtrauen und Beirrtheit. Er ging auf sie zu, sie stand auf und ging auf ihn zu, wobei er ihr anregendes, erfrischendes Parfüm, das wie wilde Wiesenkräuter duftete, einatmete. Sie nahm ihn wortlos in ihre schlanken aber kräftigen Arme, drückte ihn an sich. Er ließ es sich fast ohne Widerstand gefallen. Nur einmal dachte er daran, daß er dies nicht tun sollte, da er ja eine Frau zu Hause warten hatte. Doch als seine Hände den warmen glatten Rücken der reizvollen Frau berührten und beinahe automatisch daran hinabglitten, verflog auch dieser Gedanke wieder. Roxana Halliti, die merkwürdig auf ihn wirkende Frau aus dem Wald von damals, lächelte ihn an, fesselte den Blick seiner Augen mit dem ihrer goldbraunen Augen, näherte sich seinem Gesicht und schmiegte sich erst daran, bevor sie mehr wagte und ihm einen erst sanften, und dann einen leidenschaftlichen Kuß auf den Mund gab.
"Ich wollte nur eine Nacht ..." Sagte Richard total verlegen, als Roxana ihm vorsichtig Knopf um Knopf seines Hemdes öffnete.
"Weil deine Frau dich nicht mehr haben will? Das ist bedauerlich. Wo du doch so stark und leidenschaftlich bist."
"D-das war vor ...", sagte Dr. Andrews. "Siebzehn Jahren" wollte er noch sagen, doch die Lippen der überragend beeindruckenden Traumfrau legten sich wieder auf die seinen und hinderten ihn am sprechen.
"Woher wissen Sie, daß ich eine Frau habe?" Fragte Richard, als er nach zehn Sekunden wieder frei sprechen konnte.
"Du hast einen goldenen Ring am rechten Ringfinger. Oder ist das kein Ehering?" Erwiderte Roxana und ließ kurz ihre linke Hand über die Rechte Hand des Chemikers streichen. Wie auf Schmierseife gleitend rutschte Richards Ehering vom Finger und landete in der weißen Hand mit den gerade einen Zentimeter über die Fingerkuppen ragenden Nägeln.
"Das ist ein Ehe...", sagte Richard Andrews schnell und wollte das Wort noch vollenden, doch Roxana machte "Schschsch" und legte den goldenen Ring, auf dessen Innenseite"In ewiger Treu und Lieb' Martha und Richard Andrews" graviert war auf den Nachttisch. Dabei sah sie Richard an, wie er mit offenem Hemd dastand und nicht wußte, wie es weitergehen sollte. Wie auf ein inneres Kommando hin legte er auch seine Armbanduhr ab. Dann ließ er sich gefallen, wie Roxana ihn langsam und vorsichtig, jeden einzelnen Handgriff wie ein Ritual ausführend, aus seinen Kleidern befreite. Danach streifte sie mit einer balletthaften Bewegung ihres Unterkörpers und der Beine ihren Unterrock ab und stand unverhüllt vor Richard. Aus dem laufenden Radio erklang derweil ein langsamer, anregender Blues mit einem behutsam gespielten Tenorsaxophon. Langsam aber unaufhaltsam zog Roxana Richard zu sich und ließ sich dabei sacht hinten überfallen. Was dann folgte, war mit dem, was Richard mit dieser Frau schon einmal erlebt hatte, nicht zu vergleichen.
Als er nach mehr als zwei Stunden erschöpft einschlief, flüsterte die neben ihm hingestreckt liegende Frau: "Das hast du gebraucht, nicht wahr? Ich bin für dich da, wenn sie dich nicht mehr will. Ich kann dich immer wieder zu mir nehmen. Du bist sehr ausdauernd, phantasievoll und gelehrig. Lass uns dies nicht das letztemal getan haben!" Dann fiel Richard in einen ohnmachtgleichen Schlaf hinein.
"Das gibt es doch nicht!" Dachte er am nächsten Morgen, als er allein in jenem Bett in Zimmer 1029 im Hotel Himmelsblick erwachte. "Das kann es doch nicht sein, daß ich schon wieder von dieser Frau geträumt habe." Dann prüfte er, ob sein Schlafanzug irgendwie Spuren dieses Traumes abbekommen hatte und wunderte sich, als er keine fand. Denn wenn er als Halbwüchsiger solche Träume hatte, war immer ein Pyjamawechsel fällig. Seine Mutter hatte immer mit ihm geschimpft, weil er nicht aufpassen konnte, und sein Vater hatte gelacht und gemeint, daß das vorbeiginge, wenn er erst in Wirklichkeit das erlebe, was er in den wilden Träumen erlebte. Tja, so mußte es sein. Da er den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit kannte, passierte in der Richtung wohl nichts mehr. Also stand er auf, merkwürdig müde, obwohl er wohl doch mehr als sieben Stunden geschlafen hatte, prüfte, ob seine Sachen noch alle da waren, duschte sich und zog sich an. Dann ging er zum Frühstück in das Hotelrestaurant.
Drei Stunden später flog er mit einer Boeing 747 auf den Atlantik hinaus, Bestimmungsort: New York John F. Kennedy.
Maria Montes war die Reise in kleinen Maschinen gewohnt. Wenn sie wie in wenigen Tagen nach Mexiko flog und von dort aus nach Los Alamitos reiste, flog sie nicht selten in alten Propellermaschinen. Einige der anderen Fluggäste schien das stärkere Rütteln und Ruckeln der Maschine weniger zu behagen. Sie saßen bleich und dem Erbrechen nah da, fielen schlaff in ihre Sicherheitsgurte oder wurden von links nach rechts geworfen, wenn die Maschine durch dünnere Luftschichten hoppelte und dann wieder auf einem brauchbaren Luftstrom sicher weiterflog. Dennoch war Maria froh, als das kleine Zubringerflugzeug auf einer Landebahn des Inlandsflughafens von New Orleans Louisiana aufsetzte und mit Gegenschub und Hydraulikbremsen seine hohe Fahrt in wenigen Sekunden verzögerte. Als sie dann mit den übrigen sechzig Fluggästen in der Ankunftshalle ankam, atmete sie erst einmal durch. Sie hatte Enrique nicht erzählt, daß sie mal soeben aus New York abgeflogen war. Was er nicht wußte, würde er auch nicht verraten können. Aber was, wenn Marchand mit diesen Leuten ...?
"Hallo, Maria! Mein Wagen steht draußen!" Rief ein hochgewachsener Mann in Jeans und Hawaiihemd, dessen dunkelblonde Igelfrisur wie feine Stacheln über seinem flachen Kopf abstand. Graublaue Augen und eine Himmelfahrtsnase waren die einprägsamsten Merkmale seines ansonsten durchschnittlichen Gesichtes. Er winkte Maria Montes, zu ihm zu kommen. Das war Zachary Marchand, ihr Kollege vom Hiesigen FBI-Büro. Sie ging auf ihn zu, leicht mißtrauisch dreinschauend, sich zwischendurch umblickend, ob jemand sich für ihre Ankunft interessierte. Dann erreichte sie Marchand und streckte vorsichtig ihre Hand zum Gruß aus.
"Gut, daß du sofort gekommen bist, maria", flüsterte er auf der Hut vor unerwünschten Mithörern. "Was da in New York gelaufen ist, ist sehr ernst. Daß du dazwischengeraten bist ist ein bedauerlicher Zufall. Aber das besprechen wir unterwegs."
"Ich verstehe, daß du dich nicht mit mir in einem vollen Flughafengebäude unterhalten willst, Zach", erwiderte Maria ebenfalls flüsternd und sah ihren Kollegen dabei prüfend an. "Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, daß du etwas weißt, was mir nicht gefällt."
"Nun, da wirst du viele Menschen treffen, die was wissen, was dir nicht gefällt, maria. Aber du hast recht. Ich weiß, was dir da begegnet ist und auch wieso. Aber hier ist wirklich nicht der Ort, das auch nur im Flüsterton zu bereden."
"In Ordnung, Zach. Ich verstehe, daß solche Sachen nicht für jeden bestimmt sind", stimmte Maria mißmutig dreinschauend zu. Sie warf erneut einen prüfenden Blick über die Menge der angekommenen Fluggäste und jene, die sie hier begrüßten, konnte nichts daran aussetzen und folgte Marchand aus dem Flughafengebäude.
Auf einem Sonderparkplatz, der üblicherweise für die Flughafenpolizei oder besonders wichtige Personen reserviert war, stand Marchands Wagen, ein nagelneuer Mercedes SL in Marsrot. Maria wunderte sich erneut, wie protzig das Büro doch mit Mitteln umsprang und wie auffällig solch ein Wagen in New Orleans sein mußte. Marchand schien ihre Gedanken gelesen zu haben und sagte:
"Du denkst vielleicht, dieser Wagen sei zu übertrieben und noch dazu nicht geeignet für Verfolgungsjagden oder getarnte Einsätze. Das ist auch nicht der übliche Einsatzwagen, sondern der für verdeckte Ermittlungen im Rotlichtmilieu, wenn jemand von uns illegalen Menschenhandel oder Prostitution untersucht und dabei so tun muß, als sei er einer von denen. Ich darf den Wagen zwischendurch benutzen, um zu reichen Leuten zu fahren, die mich nur für voll nehmen, wenn ich den entsprechenden Untersatz vorweise. Fährt aber gut."
"Wird wohl so sein", erwiderte Maria und stieg ein. Im Innenraum wehte ein Hauch schweren Parfüms. Sie fragte Marchand, ob das von einem dieser getarnten Einsätze käme. Er lachte und meinte:
"Neh, das ist nicht daher. Das kommt von einer reichen Lady, die ich vor zwei Tagen beschützen mußte, weil die Cosa Nostra ihr ans Geld wollte. Ich kann aber die Belüftungsanlage einschalten, wenn's dich stört."
"Nein, nicht nötig", erwiderte Maria Montes. Sie wollte endlich losfahren, um mit Zach über die Ereignisse des Nachmittages zu sprechen.
Als sie vom Flughafen fort waren, rückte Zachary Marchand immer noch nicht mit den Einzelheiten heraus. Er erzählte ihr nur was davon, daß in den letzten Wochen und Monaten beunruhigende Aktivitäten gerade im Bereich der okulten Rituale verzeichnet worden seien. Er erwähnte Anhänger eines alten Magiers, der wohl wiedererwartet würde und nichts mit den üblichen Teufelsanbetern zu tun hätte, die weithin bekannt seien. Maria merkte nicht, wie schnell oder wie weit der Wagen fuhr. Sie hörte aufmerksam zu, wagte nicht, irgendwelche Zwischenfragen zu stellen. Ihr fiel erst auf, daß sie wohl schon eine gewisse Zeit unterwegs waren, als sie durch ein Viertel mit alten, wohl noch aus der französischen Kolonialzeit stammenden Häusern fuhren und der Mercedes über altes Kopfsteinpflaster glitt, was wegen der guten Stoßdämpfer im Wageninneren nicht zu spüren war.
"Huch, ist das das französische Viertel?" Fragte sie interessiert, weil sie noch nie in dieser Stadt gewesen war.
"Es ist ein französisches Viertel. Eines, das früher ein eigenes Dorf war und durch die Stadterweiterung still und heimlich einverleibt wurde. Aber die Leute, die hier wohnen, haben mit dem Jazz-Rummel in dem französischen Viertel nicht viel am Hut. Aber wenn du nachher noch Zeit und Lust hast, können wir gerne einen Bummel durch die Bourbon Street machen, allerdings nicht unbedingt da, wo Lady Marmelade und Konsorten arbeiten."
"Lady Marmelade?" Fragte Maria Montes, bevor ihr einfiel, daß es vor Jahren ein Lied mit diesem Titel gab und sang belustigt den Refrain: "Voulez-vous coucher avec moi ce soir"
"Exakt, Señora Montes", lachte Marchand.
"Was wollen wir denn hier, Anhänger von Marie Laveau besuchen?" Fragte die Polizeiagentin aus Jackson.
"Da sage noch einmal wer, daß Frauen bei uns nichts verloren hätten. Nicht direkt Anhänger der alten Voodoo-Königin, aber Leute, die wissen, wie sie gearbeitet hat und damit heute noch ihr Leben bestreiten. Aber keine Sorge, die sind ganz freundlich."
"Klar, wenn mir ein Zombie entgegenkommt und mir aus dem Mantel helfen will", grummelte Maria Montes.
"Nein, derlei machen die nicht. Aber wir sind gleich da", erwiderte Zachary Marchand. Maria unterdrückte den plötzlich aufkommenden Angstanfall, doch in einer Falle zu sitzen und zog ihre Hand noch gerade rechtzeitig von der Tür zurück, um nicht den Eindruck zu vermitteln, im nächsten Moment aus dem Wagen springen zu wollen.
Als der Mercedes nach rechts abbog und in eine geräumige Einfahrt hineinschlüpfte, dachte Maria Montes schon, er würde gleich anhalten. Als der Wagen jedoch auf eine hohe rote Backsteinmauer zuhielt und Zachary dabei sogar beschleunigte, kehrte die Angst wieder zurück, die die Bundespolizistin vor einigen Minuten noch gespürt hatte. Der Wagen fuhr zielgenau auf die Mauer zu. Er näherte sich ihr mit jeder Sekunde um zehn Meter. Es fehlten noch zwanzig Meter. Dann waren es nur noch zehn ...
"Zach, was machst du!" Schrie Maria, als die breite Motorhaube ungebremst an die Mauer stieß ... und wie durch Nebel darin verschwand. Wie durch eine dichte rote Wolke fuhr der Mercedes einfach durch die Mauer. Auf der anderen Seite lag eine breite, mittelalterlich anmutende Straße mit kuriosen Häusern, mal rund, mal wie kleine Schlösser mit Türmchen und Erkern, mal wie Termitenbauten hoch und kegelförmig. Maria konnte ein etwa zwei Meter hohes Schild auf einem weißlackierten Pfahl erkennen, auf dem in goldenen Lettern WEIßROSENWEG stand.
"Willkommen im Weißrosenweg, Maria. Diese Straße findet kein gewöhnlicher Mensch, und nur wer hier willkommen ist darf aus der Welt der gewöhnlichen Menschen hinein und wieder heraus.
"Damit möchtest du mir etwa nicht sagen, das du kein gewöhnlicher Mensch bist?" Fragte Maria Montes, die vom Schock des gerade beinahe Zusammenstoßes noch gelähmt in ihrem Sicherheitsgurt hing.
"Sagen wir es so. Da wo ich aufgewachsen bin, ist das, was ich konnte nicht als gewöhnlich bezeichnet worden. Das erlernte ich erst, als ich vor zwanzig Jahren die Oberschule besuchte. Mehr später. Erst möchte ich dir jemanden vorstellen, die sehr an deiner Geschichte interessiert ist", sagte Zachary geheimnisvoll und betrachtete Maria Montes, wohl in Sorge, sie könnte plötzlich über ihn herfallen und ihn verprügeln oder ihm die Augen auskratzen. Maria Montes schwieg. Sie dachte nach. Einerseits fand sie sich nun bestätigt, daß sie irgendwie in eine Falle gegangen war. Andererseits ahnte sie nun, daß ihr Kollege, den sie vor fünf Jahren getroffen und seitdem mehrmals mit ihm gesprochen hatte, ein Geheimnis mit sich herumtrug, das sie nie erfahren hätte, wenn sie am Nachmittag nicht mit diesen Dämonen zusammengetroffen wäre.
Sie zählte die Hausnummern, die in bronzeZiffern an den Hauswänden angebracht waren. Rechts waren die ungeraden, links die geraden Nummern. Als sie merkte, das der mercedes langsamer wurde, blickte sie genauer hin, als der Wagen mit leichtem Rechtsschwenk zwischen zwei Häusern zum stehen gebracht wurde, den Häusern 49 und 51.
Haus Nummer neunundvierzig war ein gemütliches kleines Fachwerkhaus mit rotem Ziegeldach und zwei großen Kaminen, das einen Vorgarten mit grünem Jägerzaun und Gartentor besaß. Hinter dem Haus, so vermutete die FBI-Agentin, mochte noch ein größerer Garten angelegt worden sein, denn sie konnte locker zwischen den Häusern hindurchsehen, ohne eine Wand oder ähnliches zu entdecken.
Haus einundfünfzig war ein etwas größeres, wohl vier Stockwerke hohes Ziegelhaus mit einem kuppelartigen Dach, dessen Scheitelpunkt ein zwei Meter hoher Schornstein bildete. Anstatt eines Zaunes friedeten hohe Hecken den vorderen Bereich ein. Nur ein extra zurechtgeschnittener Durchlaß zwischen zwei Hecken erlaubte den Zugang zum Haus.
Beide Häuser besaßen große kristallklar geputzte Fenster mit roten Läden am Haus neunundvierzig und weißen am Haus einundfünfzig. Die Türen waren wohl eher verkleinerte Portale, weil sie zweiflügelig gearbeitet waren und unter einem rundbogenartigen Vordach lagen, das von je zwei schlanken Holzfeilern gestützt wurde.
"So, wo findet nun meine Hinrichtung statt, Zach? Haus neunundvierzig oder einundfünfzig?
"Du wirst nicht hingerichtet, Maria. Im Gegenteil, du bist hier erst einmal vor den Nachstellungen jener sicher, die dich heute nachmittag heimgesucht haben. Aber um deine Frage zu beantworten: Wir werden in Haus neunundvierzig erwartet. Ah, die Dame des Hauses macht schon auf."
Die Flügeltür des Hauses mit der Nummer neunundvierzig schwang auf. Maria Montes starrte wie gebannt auf den Eingang. Eine Frau, wohl dreißig Jahre älter als sie selbst, klein, rundlich, mit graublondem Lockenhaar, löste sich aus der Türöffnung und trat unter dem Vordach hervor auf den glatt geputzten Plattenweg zwischen den sehr gut gepflegten Vorgartenbeeten. Sie schritt langsam aber nicht gebrechlich wirkend auf das Gartentor zu.
"Komm, wir steigen aus, Maria. Keine Angst, wir wollen dir bestimmt nichts antun", sagte Zach und öffnete die Fahrertür. Er schlüpfte aus dem Wagen. Maria Montes warf sich herum, spielte mit dem Gedanken, mit dem Auto zu fliehen, bis sie mit großem Schrecken feststellte, das Zachary natürlich den Zündschlüssel mitgenommen hatte. Sie wußte, daß die neueren Mercedes-Autos sogenannte Wegfahrsperren besaßen, die das Kurzschließen und schnelle Stehlen beinahe unmöglich machten. Also löste sie ihren Sicherheitsgurt, öffnete die Beifahrertür und stieg schweren Herzens aus. Langsam ging sie auf das sich nun öffnende Gartentor zu, hinter dem die ältere Dame stand. Jetzt erst fiel Maria das mit bunten Blumen bedruckte Wollkleid auf, das die Unbekannte trug. Es wirkte wie ein Überbleibsel aus der Zeit der Blumenkinder, mußte die FBI-Agentin schmunzelnd feststellen. Offenbar war ihr belustigter Gesichtsausdruck ein wichtiges Zeichen, denn die Fremde aus dem Haus winkte ihr fröhlich lächelnd zu. Maria staunte, daß diese Frau offenbar noch alle natürlichen Zähne besaß und diese wohl sehr gut pflegte, weil sie ihr ein strahlendweißes Lächeln präsentierte.
"Buenvenida a mi casa, Señora Montes!" Rief die Hausbewohnerin auf Spanisch mit mexikanischem Akzent. Das imponierte der Bundespolizistin, die immer stolz auf ihre Herkunft war.
"Sie können ruhig Englisch mit mir Sprechen, Ma'am", erwiderte Maria Montes schnell. Dann trat sie vor und durchschritt das Gartentor, das wie von Geisterhand hinter ihr zurück ins Schloß gedrückt wurde. Jetzt war sie wirklich ausgeliefert, war ihr erster Gedanke, bevor die Hausbewohnerin ihr die weiche Hand entgegenstreckte und ihre rechte Hand ergriff.
"Noch mal herzlich willkommen in meinem Haus, Mrs. Montes. mein Name ist Jane Porter", sagte die rundliche Dame nun im besten Südstaatenenglisch.
"Encantada", erwiderte maria Montes aus anerzogenem Reflex als aus wahrer Überzeugung. Dann sagte sie noch: "Sie wollten also mit mir sprechen. Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, daß ich meinen Kollegen mitgeteilt habe, daß ich hier in New Orleans bin und ..."
"Nicht wissen, wo genau Sie nun sind, Ma'am. Dieses Spielchen bringt Ihnen nichts ein und ist obendrein völlig überflüssig, da ich nicht vorhabe, Ihnen etwas anzutun. Ich bin nur sehr neugierig, weil mein Beruf verlangt, mich um sowas zu kümmern, was Ihnen passiert ist. meine - nennen wir es mal Firma - hat mich bevollmächtigt, Ihre Erlebnisse zu prüfen und zu beurteilen. Ich darf nur vorausschicken, daß Sie einigen Herrschaften in New York ganz schön den Tag verdorben haben", erwiderte Mrs. Porter und mußte belustigt grinsen. "Das passiert denen nicht häufig, daß sie jemanden aufstöbern und dann nicht befragen können, weil der oder die einfach zuschlägt und wegrennt."
"Sie kennen diese Leute also", erwiderte Maria Montes, während sie einfach hinter der Hausbewohnerin herging und schicksalsgläubig das Haus betrat. Dann fiel ihr ein, daß sie ihr silbernes Kreuz noch trug. Es hatte sie schon mehrmals beschützt an diesem Tag. Wahrscheinlich würde es sie auch hier beschützen, wenn sie in Gefahr geriet, von Mächten der schwarzen Magie angegriffen zu werden. Sie hatte zwar keine Schußwaffe mitgenommen, aber konnte sich im Zweifelsfall auch mit Karate und Judo verteidigen, wenn man sie körperlich angriff. Aber die beste Waffe, so wußte sie aus der Ausbildung, war der klare Menschenverstand. Wenn sie ihn behielt, konnte sie mehr erreichen, als mit Waffengewalt. So folgte sie Mrs. Porter in einen gemütlichen Wohnraum, in dem ein munteres Kaminfeuer prasselte, weiche Teppiche auf dem Boden und große Wandgemälde an den Wänden eine gemütliche Atmosphäre schufen. Unheimlich war für Maria Montes nur, daß sich die gemalten Tiere auf den Bildern bewegten, wie lebende Wesen, die man durch ein Fenster beobachtet. Auch hörte sie Vogelgesang und das Quaken weit entfernter Frösche.
"Die Bilder sind harmlos, wie Ihre Fernsehgeräte und das, was meine Enkeltochter mir als Kino beschrieben hat", sagte Mrs. Porter, die den verunsicherten Blick der Besucherin auf ihre Wandbilder wohl bemerkte. Dann fiel Maria Montes auf, daß noch jemand im Raum war.
Auf dem großen Sofa am achteckigen Couchtisch saß eine kleine, zerbrechlich wirkende Frau, die wohl auch schon älter als Maria sein mußte. Sie besaß langes, fast weißes blondes Haar und goldene Augen, welche durch zwei zehneckige Brillengläser blickten. Sie trug eine himmelblaue Bluse und einen sonnengelben Rock und weiße Halbschuhe.
"Maya, teuerste, das ist Maria Montes, die der gute Zachary mitgebracht hat. Ich hoffe, ich langweile dich nicht, wenn ich mich einstweilen mit ihr unterhalte", sagte Mrs. Porter der anderen Frau zugewandt.
"Keineswegs, Jane. Mich interessiert das auch, wieso Gus und Buster sie nicht befragen konnten", erwiderte die mit Maya angeredete Frau. Jetzt meinte maria, wirklich eine ältere Frau gehört zu haben, wenngleich die Stimme nicht verbraucht oder schwächlich klang. "Schön, Sie kennenzulernen, Mrs. Montes. Sie arbeiten für das FBI, wie Zachary marchand?"
"Ja, das ist richtig, Ms. oder Mrs."
"Misses. Maya Unittamo ist der Name. Sicher haben Sie nichts von mir gehört. Deshalb verzichte ich auf Einzelheiten meines Werdegangs. Nur so viel, ich bin eine Nachbarin von Jane Porter, die gerade auf einen Schwatz herübergekommen ist. Ich hörte von Ihrer Begegnung mit irgendwelchen dunklen Wesen. Da solche Geschöpfe bei uns sehr unbeliebt sind, möchte ich schon wissen, wie und wo Sie mit denen zusammengerasselt sind."
"Irgendwie meint wohl jeder, sich dafür zu interessieren", gab Maria leicht aufsässig zurück und blickte in die Runde. Doch dann beruhigte sie sich wieder. Sie durfte hier und jetzt nicht Nerven zeigen, sonst hatte sie verloren.
Sie setzte sich hin, als die kleine Gesellschaft zu einem etwas höheren Esstisch hinüberging. Sie setzte sich auf einen der bequemen Lehnstühle mit den Armlehnen und harrte der Dinge die kommen sollten.
Jane Porter zog aus ihrem Kleid einen Stab hervor. maria wollte schon aufspringen und ihn ihr fortschlagen. Doch Zachary legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. "Die tut dir nichts. Die will nur Kaffee und Gebäck auf den Tisch bringen", sagte er ruhig. Tatsächlich vollführte Mrs. Porter mit ihrem Stab einige schnelle Bewegungen, worauf zwei große Tabletts auf dem Tisch erschienen. Maria Montes war sich nun sicher, bei echten Hexen und Zauberern zu sein. Ihr war auch klar, daß sie hier nicht mehr wegkam, wenn diese Leute das nicht wollten. Etwas mulmig war ihr zu Mute, als sie von der Hausbewohnerin, der Hexe oder zauberin, eine Tasse Kaffee eingeschenkt und drei große Gebäckstücke auf einem Teller vorgelegt bekam. Doch als sie sah, daß alle von dem Kaffee tranken und von dem Kuchen aßen, nahm sie auch davon und stellte fest, daß es offenbar nicht vergiftet war.Als sie so nach einigen Minuten schweigend Kaffee und Kuchen genossen hatten, bat Mrs. Porter höflich darum, Maria Montes möge ihre Geschichte vom Nachmittag erzählen. Draußen wurde es bereits dunkel.
Als Maria ihre Geschichte beendet hatte - ihr wurden keine Zwischenfragen gestellt - sagte Mrs. Porter:
"Das ist außergewöhnlich. Gut, daß Gus und Buster Sie nicht gleich erwischt haben, muß ich nun feststellen. Zeigen Sie mir bitte dieses Silberkreuz, von dem Sie behaupten, daß es Sie gerettet habe!"
Maria Montes zögerte. Wenn sie dieses Kleinod nun aus der Hand gab, war sie womöglich wehrlos. Andererseits konnte es passieren, daß die Hexe oder Zauberin dieses Kreuz nicht berühren konnte, ohne zu Asche zu zerfallen, wie sie es aus den Vampirfilmen kannte, die ihr Mann gerne sah. Vorsichtig holte sie das kleine Silberkreuz unter ihrer Bluse hervor, zog die Kette vorsichtig über den Kopf und hielt es Mrs. Porter hin. Sie erwartete, daß die Magierin zurückschrecken oder ein verängstigtes oder schmerzverzerrtes Gesicht machen würde. Doch nichts dergleichen geschah.
"Ich weiß nicht, ob Sie das anfassen können. Wenn Sie eine Hexe, öhm, eine Dienerin der Magie sind, wird es Ihnen vielleicht schaden."
"Das Wort "Hexe" ist die korrekte Bezeichnung für mit Magie begabte Mädchen und Frauen. Außerdem wird mir dieses Kreuz gewiß nichts tun, was es dann nicht auch Ihnen antun würde", sagte Mrs. Porter und griff einfach nach dem ihr hingehaltenen heiligen Symbol. Maria erwartete, einen Lichtblitz zu sehen und die Hexe dann schreiend oder auch völlig schnell zu Asche verbrennen zu sehen. Doch nichts dergleichen geschah.
"Sie sind offenbar sehr gläubig im Sinne der römisch-katholischen Lehre erzogen worden und meinen, wer der Magie dient oder von ihr durchdrungen ist, könne das Kreuz Christi nicht einmal ansehen, geschweige denn berühren, oder?" Fragte Mrs. Porter und hielt das silberne Schmuckstück locker in der Hand. Maria hörte weder Verachtung oder Spott in dieser Frage, eher Neugier und Interesse.
"Ja, so hat man es mir beigebracht, Ma'am. Das, was ich heute Nachmittag erlebt habe, hat mich darin noch bestärkt", gestand Maria Montes schüchtern ein. Dann ließ sie die Kette los und überließ damit das Kreuz der Hexe.
"Ja, das kommt davon, wenn die gute Zusammenarbeit der Priester und der Magier so schnöde verdammt wird, wie es seit dem Mittelalter passiert. Sie sind zwar eine Muggel, also eine Frau, die nicht mit Zauberkräften begabt ist, dennoch darf ich Ihnen in dieser Ausnahmesituation einiges erklären, was Sie wissen müssen, um in späteren Situationen, wo Sie mit düsteren Geschöpfen konfrontiert werden, nicht falsch zu reagieren", begann Mrs. Porter.
"Früher, also vor Jahrtausenden bis eben ins Mittelalter, galten Magier und Priester als gleichermaßen von den Göttern berechtigt, zu wirken. Viele Priester waren zugleich Zauberer und viele Zauberer haben den Priestern damals geholfen und glaubten wie diese an die jeweiligen Götter und Geister. Die Druiden in Europa waren solche Naturpriester, die auch mit Magie umgingen und ihr Wissen nur an für Magie begabte Schüler weitergaben. Bei den alten Griechen, den Römern, ja sogar den Juden, Christen und Muslimen, waren die Zauberer und Hexen hoch angesehen, bis die Lehre von dem einen Gott, dem allein die Macht zur Wirkung auf Natur und Menschen zustand, so groß wurde, daß sich die Wege der Priester und Zauberer trennten. Leider, muß ich sagen, bis heute andauernd. Vieles, was von der damaligen Zeit her bekannt war, wurde im Mittelalter verfälscht weitergegeben und ging in den Aberglauben ein, der nichts mit wahrer Magie zu tun hat. Der Glaube an die Kräfte eines Kreuzes oder die Kirche als heilige Zuflucht, stammen ursprünglich daher, daß früher Magier geschützte Orte schaffen oder schützende Gegenstände herstellen konnten. Je nach Religion konnten die entsprechenden Amulette und Symbole mit mächtigen Zaubern belegt werden. Einige Ikonen aus Griechenland und Rußland sind noch mit Heil- und Schutzzaubern der höheren Magie angereichert. Höhere Magie, das ist das, was in Ihrer Welt "weiße Magie" genannt wird, also alles der Natur übergeordnete, was dienlich und bewahrend ist. Vernichtungskraft ist wiederum der auch bei uns als "Schwarze Magie" bezeichneten Zauberei zugeordnet. Deshalb sagte ich Ihnen, daß mir Ihr Kreuz nichts anhaben kann, was es Ihnen nicht längst hätte anhaben können. Es gibt verfluchte Gegenstände, die ihren Besitzern Schaden zufügen und Artefakte, die ihre Besitzer eben vor düsteren Zauberen oder Kreaturen schützen. Die Marienerscheinung, die auf ihr Gebet hin erschienen ist, gehört zu einem der mächtigsten Zauber, die wir kennen. Wie haben Sie dieses Gebet laut formuliert?"
"Maria, Mater dei! In Calamitatis expecto Patronam meam!" Wiederholte die Polizeiagentin das flehende Gebet, das sie in den letzten Sekunden ihres Lebens, wie sie meinte, vor der Höllenkreatur ausgesprochen hatte, die sie anfallen wollte.
"O wer hat Ihnen denn dieses Gebet beigebracht?" Fragte Mrs. Porter, nachdem sie wie die beiden anderen im Raum erstaunt dreingeschaut hatte. maya Unittamo sah das silberne kreuz an und nickte. Zachary Marchand saß bewegungslos auf seinem Stuhl. Offenbar hatte er im Moment nichts zu melden, erkannte Maria Montes.
"Meine Großmutter hat mich dieses Gebet gelehrt. Sie meinte, daß ich es laut sagen soll, wenn ich von den Wesen der Hölle bedroht werde. Sie wissen hoffentlich, was die Hölle ist."
"Auch wenn wir uns mit Magie beschäftigen, sie ganz alltäglich benutzen, sind bei uns viele gläubige Christen, Juden, Moslems, Bhuddisten oder Hindus, von den vielen Naturreligionen ganz zu schweigen. Natürlich weiß ich, was über die Hölle erzählt wird. Ob es sie gibt oder nicht, kann ich nicht sagen. Ob ich daran glaube oder nicht, spielt im Moment keine Rolle, da wir Menschen ja heute alle die Macht haben, uns den Himmel oder die Hölle auf Erden zu bereiten. Ich möchte damit nicht Ihren Glauben verhöhnen, Mrs. Montes. Doch sehen Sie es mal so, daß Sie bis zu diesem Tag nur aus Geschichten und Überlieferungen was von Magie und dunklen Mächten wußten, aber eigentlich nicht so recht daran glaubten, oder?" Maria mußte nicken. Tatsächlich hatte sie bis heute längst nicht alles geglaubt, was ihre Großmutter ihr erzählt hatte. Doch nun war ja einiges wirklich eingetreten, was sie geschildert hatte. "Auf jeden Fall", fuhr Mrs. Porter fort, "haben Sie durch dieses Gebet die Zauberwörter mitgesprochen, die von uns in leicht veränderter Form benutzt werden, um von uns aus solche Lichterscheinungen zu beschwören."
"Wieso, möchte ich wissen, dürfen Sie mir überhaupt was erklären?" Fragte Maria, die aus der peinlichen Stimmung, bei etwas ertappt worden zu sein, herauskommen wollte.
"Weil Sie diese Wesen wirklich und mit allen Sinnen wahrgenommen haben. Diese Dämonen - Wir nennen sie übrigens Dementoren - können von Nichtmagiern nicht gesehen, gehört oder gerochen werden. Sie spüren nur ihre Kraft, Menschen alle Freude zu nehmen und sie die schlimmsten Erinnerungen wiedererleben zu lassen. Gut, die Aura der Dunkelheit, die sie verbreiten, können Nichtmagier noch wahrnehmen. Aber das war es dann auch. Sie haben diese Wesen gesehen, gerochen, gehört und gespürt. Damit gehören Sie zu den sogenannten Magosensorikern, Menschen, die an sich nie zaubern konnten, es auch nicht erlernen können, aber magische Erscheinungen wahrnehmen können oder seherische Fähigkeiten haben, wie die bedauernswerte Magnolia Silverspoon."
"Magosensoriker? Klingt aber sehr akademisch", erwiderte Maria Montes nicht sonderlich beeindruckt.
"Nun, deshalb werden Menschen wie Sie auch oft als Fenstergucker bezeichnet, Menschen, die aus ihrer Welt durch kleine Fenster in die Welt der Zauberei hineinsehen können. Wir wissen nicht, wieviele solche Menschen es gibt, weil sie eben nur dann auffallen, wenn sie etwas wahrnehmen, was eben der Zaubererwelt eigen ist und erwiesen ist, daß es nicht irgendwelche Sinnestäuschungen sind. Aber Sie sind definitiv eine Fensterguckerin."
"Ach, dann ist das Wort "Squib" anders zu verstehen?" Fragte Maria Montes Jane Porter. Diese nickte.
"Ach, das Wort fiel offenbar, als Gus und seine Truppe Ihren Patronus aufspürten und zu Ihnen kamen", bemerkte Jane Porter lächelnd. Dann sagte sie: "Squibs sind Kinder von echten, also volltauglichen Zauberern, die ihrerseits aber nicht zaubern können oder es sehr sehr schwer haben, etwas magisches zu vollbringen. Sie können jedoch magische Erscheinungen genauso wahrnehmen, wie vollwertige Zauberer oder eben Fenstergucker. Jemandem hat das vor kurzem aus einer sehr heftigen Bredullie herausgeholfen. Aber dies ist für Sie nicht wichtig. Was wichtig ist, ist die Antwort auf die Frage, Wie der Patronus, besser Ihre Patrona, entstehen konnte. Wörter alleine machen nämlich noch keinen Zauber aus."
"Ich denke, das sind die Kräfte des Kreuzes", erwiderte Maria und deutete auf das Kreuz. Jane Porter nickte halbherzig. Dann legte sie das silberne Schmuckstück auf den Tisch, andächtig, ja respektvoll, wie Maria Montes anerkennen mußte, hob ihren Zauberstab und sprach:
"Monstrato Incantatem!"
Aus dem Zauberstab drang ein rot-blauer Lichtkegel heraus und traf das Kreuz auf dem Tisch, das für einen winzigen Moment gleißend golden und mehr als viermal so groß erstrahlte, um dann wieder völlig normal auf dem Tisch zu liegen. Das rot-blaue Leuchten aus dem Zauberstab war mit einem lauten Knacklaut erloschen.
"Hups! Da hat sich aber jemand mächtig viel Arbeit gemacht", stellte Maya Unittamo fest. Jane Porter nickte beipflichtend. Dann sagte sie:
"Woher Sie das Kreuz ursprünglich haben, also woher Ihre selige Großmutter es hat, würde mich zwar sehr interessieren, aber ich fürchte, das wird ein Geheimnis bleiben. Allerdings wird mir dieses machtvolle Kleinod seine Geheimnisse schon verraten. Wenn der einfache Zauberfinder es nicht lange bestrahlen kann, muß es eben mit alten Methoden gehen." Maria verzog vor Schreck das Gesicht. Was hatte die Hexe mit dem Kreuz vor? "Keine Angst, Mrs. Montes. Was ich mache, schadet weder dem Material, noch der Magie Ihres Erbstückes. Aber ich kann einige Zauber aufrufen, die einzelne Komponenten der Magie vermitteln, mit der es angereichert wurde. Revelo Ingravum!" Bei ihren letzten Worten berührte sie das Kreuz mit ihrem Zauberstab und zog ihn dann wieder fort. Aus dem Kreuz stiegen von jedem der vier Enden silberne Fäden auf, die sich in der Luft zu großen Schriftzeichen verknäuelten. Mit schnurgerade auf das Kreuz gerichtetem Zauberstab dirigierte Jane Porter die silbernen Schriftzeichen so, daß sie bald vier Zeilen bildeten. Maria konnte diese Schrift nicht entziffern. Für sie sah das wie Hieroglyphen oder andre altertümliche Schriftzeichen aus. Jane Porter betrachtete die heraufbeschworenen Zeichen genau und nickte dann. Sie winkte mit dem Zauberstab, und die sichtbaren Schriftzeichen erloschen übergangslos.
"Was ihr und Sie da gerade mitbekommen konntet und konnten, ist die thaumaturgische Verzierung, sozusagen die eingeschriebene Grundformel, auf der alles, was mit diesem Kreuz möglich ist, aufbaut. Hast du die Zeichen deuten können, Maya?"
"Aber sicher, Jane. Das war die Symbolschrift des alten Reiches, allerdings in der babylonischen Abwandlung. Möchtest du den Text auf Babylonisch haben?"
"Besser nicht, Maya. Den würde außer uns beiden keiner verstehen. Ich übersetze das mal, soweit es sich im Sinne der Poesie, die darin verwoben ist, übersetzen läßt:
"Aus der Liebe geboren,
Der Liebe und dem Heil verschworen!
Wenn aus Liebe gegeben,
erhältst du Schutz und Leben!"
"Wie theatralisch", dachte Maria Montes. Doch dann stutzte sie. So übertrieben war das nicht. Ihre Großmutter hatte sie immer sehr geliebt und ihr das Kreuz mit den Worten überlassen, das es ihr, weil es aus Liebe an eine geliebte Person ginge, Schutz vor den dunklen Gewalten geben würde und dies nur für den oder die tun würde, der von ihr, Maria Purificación, genauso geliebt würde, wie diese von ihrer Großmutter. Wenn dies Stimmte, und sie hatte davon niemandem erzählt, auch Enrique oder Zachary marchand nicht, so konnte sich diese Hexe den Spruch nicht aus den Fingern gesogen haben.
"Jetzt, wo ich die Sprache kenne, in der der oder die Magier gesprochen hat oder haben, kann ich ergründen, was genau alles funktioniert", merkte Jane Porter an und vollführte eine Reihe verschiedener Zauber in einer völlig unverständlichen Sprache. Tatsächlich strahlte das Kreuz nun mehrmals golden oder weiß auf. Einmal entstand sogar jene silberne Frauengestalt, die maria Montes gerettet hatte. Irgendwann schien das silberne Kreuz alles erzählt zu haben, was ihm abverlangt wurde. Jane Porter nickte, griff aus ihrem Kleid eine Pergamentrolle und eine Feder und schrieb schnell etwas nieder, bevor Maria sie was fragen konnte. Dann ließ sie das Pergament durch Zauberkraft verschwinden.
"Sie dürfen das Kreuz wieder anlegen, Mrs. Montes. Ich habe ergründet, was es vermag. Sie dürfen sich überaus geehrt fühlen. Jemand hat Ihrer Familie wohl vor langer Zeit einen großen Gefallen erwiesen. In der Tat haben fünf Zauberer und eine Hexe an diesem Wunderwerk mitgearbeitet. Drei Zauberer haben die wirksamen Schutzzauber eingearbeitet, während die anderen beiden Zauberer und die Hexe die Kraft des Gegenstandes verstärkt und dauerhaft erhalten haben. Das da eine Hexe bei gewesen ist, kommt durch die natürliche Balance zwischen männlicher und weiblicher Grundkraft zu Stande. Der zweite Zauberer, der die Basismagie mitgewirkt hat, diente als Focus, also als Brennpunkt der Kräfte. In das Kreuz wurde nicht nur der Patronus-Zauber dauerhaft wirksam eingearbeitet, sondern auch mehrere Schildzauber, unter anderem der Zauberschild gegen Flüche, ein Schild gegen Eindringung in den eigenen Geist und zwei Schilde gegen Fremdentdeckung. Dieses Kreuz wirkt aber eben nur solange, solange es dauerhaft von einem Menschen, Magisch oder nichtmagisch, am Körper getragen wird, der es von einer ihn liebenden Person empfing, die er oder sie gleichermaßen geliebt hat. Auf diese Weise wird jeder Mißbrauch verhindert, falls es in falsche Hände fällt. Deshalb legen Sie es nun ruhig wieder an, damit es sich erholen kann!"
Maria nahm das Kreuz, das sich im Moment merkwürdig kalt anfühlte, nicht wie Metall bei normaler Zimmertemperatur, sondern wie aus dem Kühlschrank geholte Konservendosen, streifte sich die Kette über den Kopf und verstaute das Kreuz wieder unter ihrer linken Brust, wo es ihr erst einen kalten Schauer durch den Körper jagte, dann aber unvermittelt körperwarm und kaum spürbar zur Ruhe kam.
"Verdammt, die alte Hexe hat recht", dachte maria Montes. Dann setzte sie sich ruhig hin. Jane Porter sah sie an und fragte sie nun:
"Was genau hat die unglückselige Magnolia Silverspoon, also die Fremde im Salon, über die Bedrohung gesagt?"
"Sie sprach von den Heeren der Schlange und der Spinne, die nun aufsteigen würden. Sie sprach von einem dunklen Lord, einem der zerstörerisch sei und der wiedererstandenen Schwestertochter, heißt wohl Nichte, einer finsteren Königin. Klang für mich wie der Stoff eines Horrorstückes, in dem jemand die Endzeit besingt."
Sowas ähnliches wird in dieser Trance wohl auch erfaßt worden sein", vermutete Mrs. Porter und sah sehr ernst und nachdenklich auf Maria Montes. Diese fragte:
"Handelt es sich bei diesem dunklen Lord um einen Dämon, womöglich dem Höllenfürsten?"
"Das hätte der gewiß so gerne, als allmächtiger Erzteufel zu existieren. Aber noch ist er ein Mensch. Er ist zwar sehr mächtig und auch sehr machtgierig, aber immer noch sterblich", erwiderte Jane Porter nun etwas grinsend. Dann fragte sie:
"Wie war das noch mal mit diesen Frauen, die nachdem die Dementoren verschwunden waren in den Salon kamen?"
"Hmm, ich habe die nicht gesehen. Ich hörte die nur sprechen. Eine von Ihnen wurde mit "höchste Schwester" angesprochen, bin ich mir sicher. Dann war da noch jemand, die Lucky gerufen wurde und eine Schwester Patricia, die angeblich große Verwandlungskünste beherrschen soll."
Maya Unittamo zuckte zusammen, als sie das hörte. Jane Porter wiegte den Kopf, sah Maya Unittamo beruhigend an und fragte:
"Sind Sie da ganz Sicher, diese Namen gehört zu haben?"
"Ja, bin ich", sagte die FBI-Agentin. "Ich wurde darauf trainiert, mir Namen und Zahlen gut zu merken."
"Na gut. Dann haben wir eine Spur, der wir bald nachgehen sollten. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber Sie haben mir und womöglich der ganzen Zaubererwelt einen großen Gefallen erwiesen. War da nochwas, das diese Frauen gesagt haben, bevor sie disapparierten?"
"Disappar... was?" Wunderte sich die Bundespolizistin.
"Die Muggel nennen das teleportieren, Jane. Das habe ich dir doch schon mal erklärt. Und deine Enkelin hat gesagt, daß ihr Klassenkamerad das auch so bezeichnet hat", sprang Maya Unittamo maria Montes bei. Nun verstand diese auch. Sie antwortete:
"Die sprachen von den Kundschaftern des Ministeriums, womit wohl die drei Männer gemeint waren, die nach ihnen hereinkamen. Diese höchste Schwester meinte, daß ein Smothers die wohl angelockt habe."
Jane Porter verzog das Gesicht zu einer verärgerten Grimasse. Sie nickte und sagte mit zorn in Blick und Stimme: "Dieser Herr ist also wieder unterwegs. Er wird wohl jenem großen bösen Meister seine Reverenz erweisen wollen. Jetzt wissen wir auch, weshalb die Dementoren in New York waren."
"Sie kennen den Namen?" Fragte maria Montes. Diesmal sagte Zachary Marchand sogar was:
"Wenn es nur der Name wäre, wäre es schön, maria. Der nette Mr. Smothers ist ein echter schwarzer Magier. Sowohl die magischen als auch die nichtmagischen Strafbehörden haben ihn auf der Liste, weil er in der Nichtmagierwelt mit den Größen der Unterwelt zusammenhängt und in der Zaubererwelt für Menschenversuche zur Steigerung eigener Kräfte berüchtigt ist. Offenbar sollte man diesen Herren doch vom Markt nehmen, Jane."
"Das kannst du Gus und Buster ausrichten, Honey", sagte Jane Porter. Dann sagte Zachary marchand wie belanglos:
"Höchste Schwester. Könnte das dann vielleicht doch mit dem merkwürdigen Ding zusammenhängen, was da vor mehreren Monaten in Dropout abgelaufen ist, Maria?"
"Stimmt, Zach", erinnerte sich Maria. "Benny Calder gab an gehört zu haben, wie Frauen, die er selbst als Hexen bezeichnete, gesungen haben sollen "Verstoßene Schwester komm wieder! Nimm an den Körper! Bewege die Glieder!"
"Wie bitte?!" Fuhr Jane Porter sichtlich erregt dazwischen. maria Montes erschrak, als sie das nun zornesrote Gesicht der Hexe sah.
"D-das h-h-hat ein J-j-junge v-vor M-monaten g-gehört", stotterte die Polizeiagentin sichtlich eingeschüchtert.
"Nicht stammeln", sagte Jane Porter leicht ungehalten klingend. Maria fing sich sogleich wieder. Sie durfte nicht die Nerven verlieren.
"Ein Halbwüchsiger namens Benny Calder gab am 7. Juli 1995 beim Sheriff von Dropout im Staate Mississippi eine Anzeige auf, das er auf einer Trainingsfahrt mit seinem Rennrad eine leerstehende Villa aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg passierte und darin merkwürdige Laute vernommen hat", berichtete Maria nun im Polizeistil. "Bei näherem hinhören, so der junge Mann weiter, habe er gehört, wie mehrere Frauenstimmen gesungen haben sollen "Verstoßene Schwester, komm wieder! Nimm an den Körper! Bewege die Glieder!" Worauf er von einer Versammlung dem Teufelskult oder Satanismus anhängender Menschen zugehört zu haben ausging und deshalb den Sheriff aufsuchte, der uns, das FBI in Jackson, über das gehörte informierte. Ich selbst begab mich im Auftrag, den Vorfall zu prüfen, nach Dropout und befragte den Jungen, der mir das bereits erwähnte zu Protokoll gab. Da bei einer polizeilichen Durchsuchung des betreffenden Gebäudes keine Spuren von Fremdbetretung oder irgendwelcher Aktivitäten darin aufzufinden waren, wurde die Angelegenheit als aus dem Geltungsbedürfnis eines Halbwüchsigen erwachsene Falschaussage gewertet. Soviel zu diesem Vorfall."
"Na also, Sie können es doch", bemerkte Jane Porter. Dann wandte sie sich wieder Marchand zu, der erbleichte, weil die Hexe ihn sehr strafend und verärgert ansah:
"Zachary, wie kommt es, daß ich oder überhaupt wer aus der Abteilung zur Verfolgung dunkler Magier erst hier und heute und durch einen Jahrtausendzufall erfahre, daß da etwas in diesem Dropout passiert ist? - Maya, wenn es dir nichts ausmacht, geh mit unserem Gast bitte ins Musikzimmer!"
"Wenn du meinst, Jane", sagte die kleine zerbrechliche Frau, erhob sich von ihrem Stuhl und winkte Maria, ihr zu folgen. Diese wußte zwar nicht, was das sollte, hielt es aber für geboten, nicht zu fragen, sondern zu gehorchen. So ging sie hinter der kleinen Frau her, die aus dem Esszimmer hinausging, wartete, bis Maria hinter ihr den Raum verlassen hatte, zog die Tür zu und schritt zu einem anderen Raum, auf dessen weißer Tür eine Trompete, ein Klavier und eine Schellentrommel abgemalt war.
"Das hat der guten Jane ziemlich zugesetzt, was Sie ihr da gerade aufgetischt haben, meine Liebe", sagte maya Unittamo, nachdem sie die Tür des geräumigen Zimmers geschlossen hatte, das von einem Konzertflügel beherrscht wurde und noch weiterhin Schränke enthielt.
"Um Himmels Willen, war das denn so wichtig? Ich dachte zunächst an eine Bande, die so tat, als verehre sie den Teufel oder irgendeinen Dämon, aber nicht, daß da wirklich was hinterstecken könnte.
"Das muß geklärt werden", sagte Maya und setzte sich an den Flügel.
"Sie sind auch eine Hexe?" Fragte Maria, um die düstere Stimmung zu beseitigen.
"Nein, ich bin eine zur Frau verwunschene Mingvase", erwiderte Maya Unittamo und löste sich ohne Vorwarnung in einen nebelhaften Wirbel aus flirrenden Farben auf. Eine Sekunde später stand auf dem Klavierhocker eine große, fein gearbeitete, altchinesische Vase. maria Montes erschrak. Das hatte sie trotz allem, was sie in den letzten Stunden erlebt hatte nicht erwartet. Sie trat an den Hocker heran und klopfte vorsichtig gegen die Vase. Sie war hohl und wirklich aus Porzellan. Sie wollte das Kunstwerk gerade anheben, als es sich erneut in einen farbigen Nebelwirbel auflöste, der sich zu der Gestalt der kleinen zerbrechlichen Frau verdichtete, deren fast weißes blondes Haar ihr über die Schultern wehte.
"Na da hätten Sie fast aus Versehen ein Jahrhunderte altes Kunstwerk zerstört", lachte Maya Unittamo und genoß das total verdutzte Gesicht der FBI-Agentin.
"O habe ich Sie zu sehr erschreckt? Das war nicht meine Absicht. Ich wollte lediglich demonstrieren, was meine persönliche Stärke ist. Aber an meinem Klang sollte ich doch was ändern. So hohl bin ich ja dann doch nicht."
"Sie sind eine Formwandlerin", quetschte Maria Montes ihre ersten Worte heraus.
"Nicht in dem Sinne, das mir das angeboren wäre. Aber im Prinzip haben Sie recht. Ich habe Jahrzehnte damit zugebracht, die Kunst der Verwandlung zu erlernen, zu perfektionieren und andere Hexen und Zauberer darin zu unterrichten. Jetzt beruhigen Sie sich bitte wieder. mein Humor ist nur mit mir durchgegangen. Nachdem, was Jane Ihnen aufgetischt hat, ging ich davon aus, Sie wären auf alles gefaßt. Da hat die gute Maya sich halt geirrt. Passiert auch in meinem Alter noch oft genug", sagte die Hexe mit einer Betonung wie von einer Großmutter, die ihr verschrecktes Enkelkind beruhigen will.
"Jetzt verstehe ich, was die eine Frau gemeint hat. Wenn Sie das mit sich selber können ..."
"Könnte ich das locker mit Ihnen oder sonst wem machen. Aber keine Sorge, meine Gute. Wir in der Zaubererwelt haben wie Sie in der Muggelwelt Gesetze, die den Umgang miteinander regeln. Ein Gesetz behandelt gerade Verwandlungen von Menschen und verbietet die Verwandlung in einen toten Gegenstand, sofern dies nicht im Rahmen des Unterrichts erforderlich ist."
"Unterricht?" Fragte Maria überwältigt. "Sie unterrichten Zauberei an Schulen?"
"O haben Sie denn geglaubt, daß wir aufwachsen und einfach so drauf los zaubern können? Selbstverständlich werden Kinder, die mit Magie begabt sind, wie Ihre Kinder in Schulen unterrichtet, allerdings nur in den Zauberfertigkeiten. mathematik oder gewöhnliche Geschichte fällt dabei unten durch. Aber setzen Sie sich doch!"
Die nächsten Minuten vergingen mit leichter Musik und Geplauder. Maria Montes erfuhr dabei, daß die Hexe Maya Unittamo bereits über neunzig Jahre alt war, was man ihr so nicht ansah. Wenn sie bedachte, daß ihre Großmutter Maria Concepción nur einundachtzig Jahre alt geworden war, war das schon erstaunlich.
Nach ungefähr fünf Minuten öffnete ein sichtlich zusammengestaucht wirkender Zachary Marchand die Tür zum Musikzimmer.
"Hui, heute habe ich die nette Oma aber von ihrer ganz wütenden Seite kennengelernt", sagte er nur. Dann griff er hinter sich und holte einen großen grünen Mantel herein, der vor der Tür schwebte.
"Den haben Augustus Bell und Buster Greencoat, jene beiden Zauberer, denen du weggelaufen bist, vorhin für dich abgegeben, maria. Sie wollten dich an und für sich noch in New York aufgreifen, haben aber noch rechtzeitig Nachricht von uns bekommen, daß wir das klären, weil du mich kennst. Lass den am besten nicht mehr achtlos rumhängen, bevor du abhaust!"
"Die Wirkung von Janes Strafpredigt ist aber schnell verflogen, Zach, wie?"
"Neh, nur überspielt worden, Madame Unittamo."
"Möchte die große Hexe noch was von mir wissen oder mir erklären?" Fragte maria Montes.
"Nein, was dich angeht ist jetzt alles geregelt. Du kannst zu deiner Familie zurück. Die Zauberer vom Ministerium für Magie - ja, sowas gibt es wirklich - passen auf dich auf. Jane Porter hat gerade einige Kontaktfeuergespräche mit Kolleginnen und Kollegen geführt. Du wirst gesondert betreut, allerdings ohne es zu merken. Ich sage dir das nur, damit du beruhigt bist, daß von der Zaubererwelt keiner mehr hinter dir her ist, der rechtschaffen ist. Was die drei Schwestern angeht, so soll es dir genügen, daß wir uns darum kümmern werden."
"Wir?" Fragte Maria Zachary.
"Natürlich. Die nichtmagischen Behörden haben durch Kontaktleute wie mich auch die Möglichkeit, den Zauberern bei der Suche nach Leuten zu helfen."
"Ich bringe dich morgen früh zu deiner Verwandtschaft. Sie wird bereits überwacht, ohne daß es jemand von denen mitkriegt. Die Nacht magst du entweder in unserem Büro oder hier bei Mrs. Porter zubringen."
"Dann lieber im Büro. Da laufen mir zumindest keine Frauen über den Weg, die sich nach Lust und Laune in Chinaporzellanvasen verwandeln", sagte Maria Montes. Maya Unittamo lachte gehässig.
So verabschiedete sich die Polizistin, die eigentlich nie an Magie geglaubt hatte von Mrs. Porter, gerade als aus dem Kamin ein hagerer, glatzköpfiger Mann herausfauchte und schwerfällig vom Rost stieg. Maria Montes erschrak erneut. Der Ankömmling guckte verdutzt. Als Jane Porter ihn ansah und sagte: "Das ist ein Gast von Zachary Marchand, Livius. Sie war hier, um uns bei einer merkwürdigen Angelegenheit zu helfen. Sie kennt das Floh-Netz nicht."
"O, Darling, dann bitte ich vielmals um Entschuldigung, daß ich nicht vorher zu dir gesprochen habe. Verzeihen Sie mir diesen Auftritt, Gnädigste", sagte der Neuankömmling in einwandfreiem britischen Englisch.
"Ich habe heute mehr neues erlebt, als in den ersten Jahren meines Lebens, Sir", sagte Maria Montes. Dann verabschiedete sie sich noch mal von Jane Porter und Maya Unittamo, die sich auch von Jane Porter und Livius, ihrem Ehemann, verabschiedete. Dann fuhr Maria Montes mit Zachary Marchand, der nun sehr schweigsam war aus dem Weißrosenweg zurück in die Stadt New Orleans. Sie gönnten sich noch den angekündigten Bummel über die Straßen im weltberühmten, teilweise berüchtigten französischen Viertel, lauschten in einem der vielen Jazz-Clubs einer Band aus fünf Musikern und kehrten um ein Uhr ins FBI-Gebäude zurück, wo Maria sich im Gästequartier hinstreckte, froh, wieder ihre persönlichen Dinge zu haben.
Am nächsten Morgen fand die Polizistin in ihrer Manteltasche einen Brief aus einer Art Tierhaut, wohl Pergament, vor:
Sehr geehrte Mrs. Montes,
wir bedauern den unliebsamen Zwischenfall am Nachmittag des 29. Oktobers und möchten auf diesem Wege unsere Hochachtung für Ihre nachträgliche Kooperation mit unseren Kollegen in New Orleans aussprechen. Allerdings möchte mein Kollege Buster Greencoat noch wissen, wer bei Ihnen als "der Unnennbare" gilt. Da ich aus eigener Erfahrung weiß, daß man manche Namen nicht laut ausspricht, reicht es mir, wenn sie den Namen oder ein Bild auf die Rückseite dieses Pergamentes schreiben. Sind Sie damit fertig, werfen Sie es einfach fort, es hat eine Zurück-zum-Verfasser-Behandlung erhalten und wird wieder bei mir ankommen.
Mit freundlichen Grüßen
Augustus Bell
maria Montes grinste. Hatte sie jemanden tatsächlich gekränkt oder verstimmt. Sicher meinte sie mit "dem unnennbaren" niemanden anderen als den Teufel, den gläubige Katholiken ungern laut beim Namen nannten. So schrieb sie das Lösungswort auf diese Frage auf die Rückseite, zeichnete sogar die gehörnte Fratze des Höllenfürsten und warf den Brief schnell von sich. Er trudelte erst durch die Luft und verschwand dann übergangslos.
Am Morgen kehrte sie dann mit einer kleinen Düsenmaschine nach New York zurück, wo sie ihren Mann und dessen Schwester freudig begrüßte und verkündete, alles sei nun in Ordnung. Sicher, für Maria Montes schien die Welt wieder im Lot zu sein, von der schweren Last niemandem erzählen zu dürfen, daß sie echte Hexen und Zauberer getroffen hatte abgesehen. Doch eben für diese war der Besuch der Dementoren in Madame Margos Salon alles andere als geklärt.
Noch etwas müde von der Anreise und der Zeitumstellung hing Richard Andrews am Nachmittag New Yorker Zeit in einem der berühmten gelben Taxis und dachte darüber nach, wie er sich am nächsten Tag, dem vor Halloween, bei seinen neuen Mitarbeitern vorstellen sollte. Sicherlich mußte er darauf gefaßt sein, auf Widerstand zu stoßen, ja als Störkörper empfunden zu werden, jemand, der von oben bei ihnen eingesetzt wurde. Er hatte seit mehreren Jahren kein Seminar zur Personalführung mehr besucht und wußte nicht, ob es ihm schwer oder einfach fallen würde, sich ohne große Reibung mit seinen neuen Mitarbeitern zurechtzufinden. Er überlegte, welchen der guten Anzüge er am nächsten Tag tragen sollte, ja ob er nicht besser im weißen Laborkittel bei seinen Projektmitarbeitern erscheinen sollte, um den Eindruck, noch in der direkten Feldforschung verhaftet zu sein, glaubhaft rüberzubringen. Er dachte an einführende Worte, die er an seine neuen Mitarbeiter richten sollte und studierte noch mal die Seiten aus der Mappe, die ihm Goodwin mitgegeben hatte. Da stand drin, wer in seiner Arbeitsgruppe was zu tun hatte und welche Referenzen der oder die betreffende hatte.
"Dr. Roland Sullivan", las er so leise, daß der Taxifahrer es nicht verstehen konnte, "Leiter der Abteilung für experimentelle Fertigung, Spezialist für sich verzweigende Polymere und Metallsubstitution. Er erwarb seinen akademischen Grad an der Standfort-Universität San Francisco. Dr. Elvira Walker, Biochemikerin, Expertin für enzymatische Synthese und Bioreaktoren. Promovierte an der Yale-Universität mit dem Thema "Kunststoffbildung aus nachwachsenden Rohstoffen, basierend auf Zellulose und Naturkautschuk unter besonderer Berücksichtigung holzbildender Enzyme aus DNA-modifizierten Grünalgen". Dr. Arnold Vierbein, Spezialist für galvanische Prozesse, promovierte an der Universität Princeton mit einer Arbeit über wechselseitige Metallkomplexbildungen. ..." Und so ging es weiter. Er achtete nicht auf den allgegenwärtigen Verkehr. Nur einmal sah er auf, um zu prüfen, ob der afroamerikanische Taxifahrer ihn auch auf der richtigen Route beförderte und konnte einen weißen maserati erkennen, der gerade vom Taxi überholt wurde. Er sah eine blonde und eine dunkelhaarige Frau auf Fahrer- und Beifahrersitz. Offenbar, dachte er, konnten die Damen das Prachtauto nicht richtig ausfahren, weil es sich von der Cadillac-Limousine locker abhängen ließ. Vielleicht suchten sie auch was. Doch dieser Gedanke verflog schnell wieder, als Richard Andrews sich weiter mit seinen Unterlagen beschäftigte.
"Sir, wir sind gleich da, wo se hinwoll'n", verkündete der Taxifahrer mit tiefer Stimme und einem dem englischen Wissenschaftler als rüde vorkommendem Dialekt. Er nickte, klappte den Aktenordner zu und gab acht, wie der Fahrer in eine Seitenstraße abbog, aber nur zwanzig Meter weit kam, weil eine massive Schranke den weiteren Weg versperrte. Davon hatte ihm Goodwin erzählt. Die Straße, in der seine Wohnung lag, war auf Betreiben der dort lebenden Leute nur für Anlieger freizuhalten, für andere Autos durch eine Absperrung blockiert. Er ließ den Fahrer anhalten, bedeutete ihm, zu warten und stieg aus. An der Schranke befand sich ein Kasten mit einer Videokamera, einem Lautsprecher und einem Klingelknopf. Andrews drückte den Klingelknopf. Keine zwei Sekunden später meldete sich eine barsche Männerstimme:
"Ja, wer da?"
"Dr. Richard Andrews hier. Ich wurde von meinem Betrieb vorangemeldet. Bitte öffnen Sie die Schranke!" Sagte Andrews, der wußte, daß er wohl gerade von der Kamera aufgenommen und sein Bild auf einen Monitor übertragen wurde.
"Moment, Sir! - Ja, Sie und ihr Bild sind bei mir angekommen, Sir. Haben Sie ein Auto?"
"Zurzeit nur ein Taxi, Sir. Ich möchte gerne zum Haus dreiundzwanzig. Aber das dürfte Ihnen auch mitgeteilt worden sein."
"Klar, Sir. Gehen Sie zu Ihrem Taxi! In einer Minute geht die Schranke für zwanzig Sekunden hoch. Wenn Sie an ihrem Haus angekommen sind, klingeln Sie im Hausmeisterbüro an. Wir geben Ihnen dann die Schlüssel und die Chipkarte für die Schranke. Willkommen in New York!"
"Besten Dank, Sir", erwiderte der britische Wissenschaftler und kehrte zu dem gelben Cadillac zurück.
Eine Minute später hob sich die Schranke und ließ das new Yorker Taxi passieren, das einige Dutzend Meter weiterbrummte, bis es in die Einfahrt zum Haus Nummer 23 abbog. Der Fahrer half Richard Andrews, die Koffer und die Reisetasche aus dem Kofferraum zu laden und ließ sich bezahlen, wobei Dr. Andrews, um kein Kleingeld zurückzubekommen, ein großzügiges Trinkgeld entrichtete. Als das gelbe Auto wieder aus der Einfahrt zurückgesetzt hatte - Andrews hatte dem Fahrer gesagt, das er die Schranke in einer Minute wieder öffnen lassen wolle -, ging er zu seinem neuen Wohnort, klingelte beim Hausmeister und ließ sich die Schlüssel und die Karte zum Öffnen der Schranke inklusive der Geheimnummer geben. Die Schranke wurde von der Überwachungszentrale aus geöffnet, um das Taxi aus der Straße herausfahren zu lassen.
Richard war froh, daß es in diesem zehnstöckigen Haus einen geräumigen Fahrstuhl gab, um sich und sein Gepäck in einem einzigen Ansatz zur siebten Etage zu befördern, wo er die von seiner Firma angemietete Wohnung fand.
Die Wohnung war groß, mindestens vier Zimmer, Küche und ein großes Bad mit Wanne, separater Dusche, Urinal und Toilettensitz. Das Wohnzimmer enthielt eine Ledersitzgruppe um einen kleinen runden Tisch, zwei Schränke, eine Stereoanlage, einen Fernseher und einen Videorekorder. Dann gab es ein eigenes Arbeitszimmer mit Schreibtisch und eigenem Telefonanschluß. Das Schlafzimmer enthielt ein Doppelbett, zwei große Schränke, einer davon ein Spiegelschrank, eine Frisierkomode und zwei Nachtschränke. Das vierte Zimmer diente wohl als Kinderzimmer, weil es ein Etagenbett, einen eigenen Kleiderschrank und einen kleinen Tisch enthielt, der auch als Schreibtisch benutzt wurde. Auch hier stand ein Fernsehgerät. Richard grummelte: "Typisch Amis! Anstatt ihre Kinder ordentlich zu erziehen parken sie die vor dem Fernseher, damit sie Ruhe haben."
Er war schon einigemale in den Staaten gewesen. Doch dabei war er nur in Hotels untergebracht gewesen. Wie eine Durchschnittswohnung aussah, hatte er bis jetzt nur aus Filmen gekannt.
Er Baute seinen Laptop-Computer auf, den er aus einem der Koffer geholt hatte. Viel Schreibarbeit würde er hier nicht erledigen können, weil er keinen Drucker hatte. So mußte er wohl alles auf Diskette speichern und anderswo ausdrucken lassen, was er schwarz auf weiß haben wollte. Dennoch war er froh, dieses nützliche Gerät mitzuhaben. Er stellte fest, daß der Telefonanschluß, an dem ein einfacher Fernsprechapparat hing, noch eine Buchse für einen Zusatzanschluß hatte. Andrews probierte aus, ob das Kabel für das im Laptop eingebaute Modem paßte und stellte fest, daß er einen Adapter benötigte, um es anzuschließen. Das Internet war also im Moment nicht zugänglich für ihn. Aber das würde er morgen erledigen. Da würde er ja auch einen Zugang von der Firma aus bekommen, über den er sich in das weltweite Datennetz einwählen oder elektronische Post verschicken konnte. Ins Schlafzimmer stellte er dann noch seinen Radiowecker, suchte sich einen Sender, der keine wilde amerikanische Pop- und Rockmusik brachte und beschloß, nach einem beruhigenden Bad und einer Tasse Kaffee, den Abend mit einem Restaurantbesuch ausklingen zu lassen. Vorher, so hatte er sich in seinen Plan vertieft, würde er bei der Mietwagenfirma vier Straßen weiter den vorab angemieteten Leihwagen abholen. Seine Firma hielt es für angebrachter, nicht eine Firma gleich am Flughafen zu beauftragen, da die gerne auffällige Werbeschilder auf ihre Autos hefteten, was sich in den Großstädten wie ein Signal für Straßenräuber ausmachte, die auf Touristen und Ortsunkundige lauerten.
So holte sich Richard nach dem Bad und einer Tasse Kaffee seinen Mietwagen, einen Ford der gehobenen Klasse, und ließ sich auch einen ausführlichen Stadtplan von New York und Umgebung mitgeben, um eben nicht in verrufene und für Touristen gefährliche Viertel hineinzugeraten. Er fragte auch, wo es gute Restaurants gebe und suchte sich für den Abend ein englisches Steakhaus aus, wo er um sieben Uhr abends Ostküstenzeit einkehrte. Er parkte seinen Ford in der Tiefgarage neben dem Restaurant und betrat das gemütlich eingerichtete Lokal, das zu dieser Stunde noch nicht viel besucht war. Ein Kellner kam dienstbeflissen auf ihn zu und fragte ihn, ob er einen Tisch reserviert habe. Er sagte, daß er gerade an diesem Tag angekommen sei und noch keinen Tisch irgendwo reserviert habe.
"Sind Sie alleine, Sir?" Fragte der Kellner.
"Ja, ich bin alleine", erwiderte Dr. Andrews sogleich. Der Bedienstete nickte, sah sich um und wies ihm dann einen Tisch zu, der etwas abseits von den gut verteilten Tischgruppen stand, hinter einem Blumenarrangement. Richard fühlte sich zwar etwas abgesondert, nahm diesen Platz jedoch auch als willkommene Gelegenheit, nicht gleich im vollen Leben dieser Stadt anzukommen und noch etwas Abstand von zu Hause bekommen zu können.
Er saß ungefähr anderthalb Stunden dort, wobei er ein großes Steak mit einem reichhaltigen und sehr raffiniert angemachten Salat zu sich nahm, dazu einen leichten Wein trank und sich freute, daß er fern von der Heimat doch noch gut würde essen können. Dann verließ er das Lokal und ging in die Tiefgarage.
Es war ihm immer unheimlich, in große Garagengebäude oder Parkhäuser hineinzugehen. Man wußte nie, wer sich dort herumtrieb oder wie die anderen Autofahrer gerade beisammen waren. Sicher, Frauen, so meinte Andrews, riskierten mehr, wenn sie in spärlich beleuchteten Parkhäusern herumliefen, aber das mochte nicht heißen, daß Männer gerade in einer Riesenstadt wie New York nicht auch gefährdet waren, besonders, wenn sie durch ihre Kleidung verrieten, daß sie Geld besaßen. So schrak der Wissenschaftler sichtlich zusammen, als er leises Stöhnen aus einer dunklen Ecke hörte. Er lauschte. Versuchte zu erfassen, woher die Laute kamen, die sehr gequält klangen, als läge dort ein Verletzter. Ja, es war eine Männerstimme. So viel konnte er schon nach zwei Sekunden sagen. Als er dann vorsichtig auf die Stelle zuging, wo die Laute herkamen, fiel es ihm ein, daß dies eine Falle für ihn oder andere Touristen sein mochte. Wenn sich wer um einen hilflosen Menschen kümmerte, konnte man ihn besser aus dem Hinterhalt überfallen. Deshalb blieb er mißtrauisch und blickte sich immer wieder um. Doch außer ihm war im Moment niemand in der Tiefgarage. Nicht einmal ankommende oder wegfahrende Autos konnte er hören. Das wunderte ihn etwas. Zumindest aber fiel ihm nichts verdächtiges ins Auge. Dennoch meinte er, von irgendwo her beobachtet zu werden. Vielleicht bildete er sich das auch ein. Aber das Gefühl war da.
Als er sich vorsichtig der unbeleuchteten Ecke näherte, aus der die gequälten Laute drangen, sah er einen Mann am Boden liegen, jung, ungepflegt aussehend, völlig nackt. Seine Kleidung lag in Fetzen um ihn herum. Doch der Unbekannte wies keine sichtbaren Verletzungen auf. Was war hier passiert?
"Hallo, können Sie mich verstehen?" Fragte Richard Andrews. Er sah sich immer noch um, ob nicht von irgendwoher wer auf ihn zuspringen und ihm eins über den Kopf hauen wollte. Vielleicht lauerte auch jemand mit einer Schußwaffe auf ihn, um ihn hinterrücks zu ermorden, wenn er sich in die richtige Position gestellt hatte. Hier in dieser Stadt war sowas leider möglich, wußte Andrews von Erzählungen anderer Kollegen und Freunde.
"Uuuh! F-flammen, F-feuer! Uuh! Quetschte der am Boden liegende hervor und schien sichtlich um seine Besinnung zu ringen. Richard Andrews zog sein Mobiltelefon, das er auch in den Staaten verwenden konnte und wählte 911, den allgemeinen Polizei- und Notruf.
"Ja, Andrews hier. Ich bin in der Tiefgarage Ecke fünfunddreißigste Straße und dritte Avenue. Schicken Sie Polizei und Rettungswagen her, bitte! Hier liegt ein hilfloser Mann, unbekleidet, aber nicht verletzt, kaum ansprechbar", sagte er schnell aber ruhig sprechend. Man sicherte ihm zu, schnellstmöglich entsprechende Hilfe zu schicken. Er sollte am Telefon bleiben, bis die Hilfe vor Ort sei. So berichtete er der Dame am Ende der drahtlosen Verbindung, wie der Fremde immer schwächer wurde. Er hatte seinen Erste-Hilfe-Kurs während der Fahrstunden gemacht, was schon lange her war. Dennoch gelang es ihm, den völlig nackten Mann in eine stabile Seitenlage zu bugsieren. Er war sich immer noch nicht sicher, ob das nicht Teil eines geschickten Überfalls sein sollte. Mindestens aber wäre dann der Fremde das Opfer eines Angriffs gewesen.
"Kommen Sie! Nicht schlappmachen, Mann!" Rief Richard dem am Boden liegenden zu. Doch seine Überredungskunst und Autorität nützten nichts. Er konnte nur zusehen und weitermelden, wie der unbekleidete Mensch vor ihm bewußtlos wurde und in eine Art Koma fiel.
Als nach fünf Minuten Polizei und Notarzt mit Rotlicht und Sirene angerauscht kamen, war der Fremde Mann nicht mehr ansprechbar. Der Arzt schob Richard bei Seite und untersuchte den Unbekannten.
"Was immer ihn erwischt hat, er liegt im Tiefkoma. - Sie konnten nichts dagegen machen, Sir", sagte der Arzt noch, als er Richards von Selbstvorwürfen verzerrtes Gesicht und dessen entsetzten Blick auf den fremden Mann bemerkte. "Irgendwie muß er entweder den Verstand verloren haben und sich die Kleidung vom Leib gerissen haben und dann vor Panik oder Schock Kräfte und Bewußtsein verloren haben. Oder jemand hat ihn vergiftet. Es gibt halluzinogene Toxine, die jemanden erst zu einem Tobsuchts- oder Panikanfall treiben und ihn dann töten. Das muß geklärt werden."
"Dann könnte jemand dieses Gift mit einem Pfeil, einer Injektionsampulle verschossen haben und immer noch hier lauern", sagte Richard schreckensbleich.
"Dann hätte er auch Sie erwischt, Sir", sagte der eine von zwei Polizisten, welche in diesem Land Cops genannt wurden, mit einer brutalen Gelassenheit in Stimme und Gesichtsausdruck. Er begutachtete den nun total besinnungslosen nackten Mann auf dem Boden, sammelte mit seinem Kollegen die zerfetzten Kleidungsstücke ein und winkte Richard Andrews, ihm zum Streifenwagen zu folgen, um zu berichten, was geschehen war.
Als Richard nach einer halben Stunde endlich alles gesagt hatte, was der Polizist von ihm wissen wollte, bis ins letzte Detail, durfte er zu seinem Wagen. Er bekam jedoch die Anweisung, am nächsten Nachmittag zum Polizeihauptquartier zu kommen, um den Kollegen von der Kriminalpolizei die Geschichte noch mal zu erzählen und zu Protokoll zu geben.
Als Richard Andrews bei seinem Wagen ankam, meinte er, die kühle Herbstnacht über New York habe einen Nebelhauch in diese Tiefgarage getrieben. Doch das mußte wohl Einbildung gewesen sein. Er fuhr los, steuerte jedoch nicht direkt das Haus mit seiner Wohnung an, sondern begab sich in eine gemütliche kleine Bar in der Nähe, um einen Schluck zur Beruhigung zu nehmen. Normalerweise mied er hochprozentige Getränke, hielt sie gar für zu unterklassig. Doch einen irischen Whiskey, der hier unverschämte vier Dollar das Glas kostete, genehmigte er sich dann doch.
"Na, Mister, Ärger im Büro oder mit der Gattin?" Fragte der untersetzte Bartender hinter der Theke neugierig. Richard sah ihn vorwurfsvoll an und raunzte:
"Woher wollen Sie wissen, ob ich in einem Büro arbeite oder verheiratet bin. Ich trage schließlich keine Aktentasche und auch keinen Ehering."
"Neh, is' klar, Mister", erwiderte der Barmann und grinste unverschämt. Sein Blick streifte die rechte Hand des Chemikers. Die Stelle, wo er über dreizehn Jahre einen goldenen Ring getragen hatte, hatte sich noch nicht der allgemeinen Hautfarbe angeglichen, und sein Anzug verriet ihn als Büromenschen. Er sah sich um und entdeckte, daß außer ihm, einem anderen Mann im Konfektionsanzug und einer spärlich bekleideten überschminkten Frau unbestimmbaren Alters keiner da war. Die Frau scherzte mit ihrem Begleiter, machte friwohle Gesten und deutete auf die beiden Gläser, die auf ihrem Tisch standen. Offenbar war hier ein leichtes Mädchen bei seiner fragwürdigen Arbeit, vermutete Dr. Andrews.
"Niemand zwingt Sie dazu, mir was zu erzählen, Mister. Ich dachte nur, weil Sie so geknickt aussehen ..." sagte der Barmann. Andrews sah ihn warnend an und sagte:
"ich weiß, bei Ihnen laden viele Leute ihren seelischen Müll ab, Sir. Aber ich habe zurzeit nicht das Bedürfnis dazu. Ich möchte nur was trinken und dann ..." Er konnte nicht weitersprechen, weil in diesem Moment die Klapptür aufging und jemand den Barraum betrat, dessen Anblick Richard Sprache und Verstand raubte.
Anthelia und Patricia Straton lauerten vor Smothers Haus. Sie hatten von der weißen Katze, mit der Patricia in gedanklichen Kontakt treten konnte, erfahren, daß einige Männer darum herumgingen, die wohl Zauberer des Ministeriums sein mochten. Offenbar suchten sie Asrael Smothers. Nun, Anthelia hatte dafür gesorgt, daß der getötete Schwarzmagier bald gefunden würde. Allerdings würde das in einem anderen Stadtteil sein und Muggel würden ihn eher finden als Zauberer.
"ich glaube nicht, daß die Dementoren noch mal herkommen. Wenn sie ihren Auftrag erfüllt haben, werden sie nach Askaban zurückkehren, um den schönen Schein zu wahren", vermutete Patricia Straton.
"Sie sind nicht freiwillig gegangen, Schwester Patricia. Irgendwer muß sie vertrieben haben. Die Zauberer gehen von einem Patronus-Zauber aus, welcher in diesem Salon für Schönheit aufgerufen wurde. Also werden die düsteren Boten sich hier wieder einstellen, um Rechenschaft zu fordern von jenem, der sie aussandte."
"Und dann? Wollen wir sie auch vertreiben, oder was gedenkst du, mit ihnen zu tun, höchste Schwester?"
Ich werde sie vernichten. Balders Wissen, welches Sarahs Geist mir darbot, wird mir dienen, diese Kreaturen unwiederbringlich ihrer Existenz zu berauben. Bereite dich vor, mir beizustehen! Ich habe noch sechs weiteren Schwestern Kunde gegeben, mir bei dieser Tat zur Seite zu stehen", flüsterte Anthelia.
Eine Viertelstunde später gesellten sich sechs weiß gekleidete Gestalten für wenige Augenblicke zu Anthelia und Patricia. Darunter waren auch Lucretia Withers, Dana Moore und Patricias Mutter Pandora. Sie mußten jedoch drei Stunden warten, bis unvermittelt Dunkelheit über die Straße hereinbrach, wie der Einbruch der Nacht oder eine unvorhergesagte Sonnenfinsternis. Anthelia spürte, wie düstere Gedanken in ihren Verstand aufsteigen wollten, die sie an schlimme Dinge erinnerten, die sie erlebt hatte. Doch sie kämpfte dagegen an. Sie mußte nun klaren Kopf behalten.
Zwei übergroße Gestalten in langen Kapuzenumhängen glitten lautlos auf das Haus zu, in dem Smothers gewohnt hatte. Ihr Atem rasselte furchteinflößend, und der faulige Geruch, der ihnen entströmte ekelte die Hexen an, die vorsichtig und leicht verängstigt die beiden Geschöpfe umkreisten. Diese stellten fest, daß Smothers offenbar nicht mehr im Haus war und das sie umzingelt wurden. Acht Hexen der Schwesternschaft der Spinne, kreisten die beiden Schreckgestalten ein. Eine wollte schon den Patronus beschwören, den anscheinend einzigen wirksamen Zauber gegen diese Kreaturen. Doch Anthelia verbot jede Zauberei, um diese Wesen zu vertreiben. Sie holte ihren Zauberstab hervor, griff an ihr Seelenmedaillon und rief:
"Initia Incantatem!" Damit wurde bei komplizierten Zaubern eine Basismagie erzeugt, auf der ineinandergreifende Zauber aufbauten. Dann sprach sie laut und ausdrucksvoll Wörter in einer für Zauber unüblichen Sprache, wobei sie den Stab aus mit Einhornblut überzogenem Bambus mit Drachenherzfaserkern wieder und wieder gegen die Dementoren führte. Ihre Bundesschwestern folgten dem Beispiel. Sie führten ihre Zauberstäbe gegen die Dementoren, wobei sie den Hauptring langsam in zwei kleinere Kreise auflösten, wo je vier Hexen einen Dementor umrundeten und dabei die fremden Formeln sangen. Die Dementoren erzitterten und versuchten, aus der Einkreisung auszubrechen. Doch sie prallten gegen unsichtbare Grenzen, die sie wie mit einem Dampfhammer zurückschlugen. Sie krümmten sich immer mehr vor Schmerzen, als würde ihnen der Folterfluch Cruciatus in ständig steigender Dosierung zugefügt. Dann riß Anthelia ihren Stab senkrecht hoch und rief: "Ignisolis!"
Als habe jemand mit einer gewaltigen Faust die Düsternis über dem Geschehen wie eine störende Decke fortgerissen, flutete plötzlich gleißendes weißes Sonnenlicht über den Platz, das sich durch einen breiten Spalt in den Wolken seine Bahn brach. Dann, als würde jemand mit einer übergroßen Kamerablende den Lichtdurchlass verkleinern, verkleinerte sich die vom hellen Licht beschienene Fläche. Ein Ring aus Dunkelheit umschloß den Platz vor dem Haus, doch das gleißende Licht traf die beiden Dementoren. Aus den Zauberstäben der Hexen, die nach Anthelia die Zauberformel "Ignisolis" gerufen hatten, fielen weißgelbe Lichtstrahlen auf die Dementoren, schienen sie wie Flammen eines Schneidbrenners langsam aber sicher zu schmelzen. Die Schreckensgestalten schrien tierhaft auf, wanden und krümmten sich. Doch ihr Ende war gekommen. Ihre abstoßend stinkenden Körper, schrumpften langsam ein, dabei immer stärker erglühend. Dann, als sie nur noch menschengroß waren, brachen weißgelbe Flammen aus den Horrorgestalten Askabans, die mit einem letzten schmerzerfüllten Schrei wie Zunder verbrannten. Dabei, so konnten es die Hexen sehen, schossen wie Feuerwerkskörper schwirrend bleiche Objekte aus den Flammen, die für wenige Sekundenbruchteile wie nebelhafte Körper von Menschen aussahen. Sie tauchten auf, schwirrten davon und vergingen dabei, besser, sie wurden unsichtbar. Jetzt erst erkannte Anthelia, welcher Gefahr sie sich ausgeliefert hatte, als die Dementoren im Gluthauch mächtiger Magien vergingen. Sie hätte genau jenen treffen können, der einst jenem Körper die Seele geraubt hatte, dem ihre Seele nun innewohnte. So sprach sie, als die Dementoren tatsächlich vergingen und das gleißende Licht, daß aus den Tiefen der fernen Sonne selbst herbeibeschworen war, wieder in das Herbstgrau überging, einen Zauber aus, um sich zu wappnen. Doch sie hatte Glück. Diese Dementoren hatten mit Barty Crouches Seele nichts zu tun gehabt. Denn die weißen Schemen aus den verglühenden Ungeheuern waren die wieder freigesetzten Seelen geküßter Opfer, die nun durch die natürliche Bindung zu ihren lebenden Körpern getrieben dahinflogen, bis sie in ihre stofflichen Hüllen zurückfanden. Wäre Barty Crouch Juniors Seele dabei gewesen, hätte Anthelia sich gegen sie stemmen und sie endgültig aus der Welt stoßen müssen, um alleinige Inhaberin ihres Körpers zu bleiben. Doch die entkerkerten Seelen fielen nicht über sie her. Einige würden wahrscheinlich hinübergehen, weil ihre Leiber nicht mehr lebten. Andere würden sich wieder einfinden, von wo sie fortgerissen waren, einige würden wohl als Geister in dieser Welt verbleiben, rastlos nach der Erfüllung unerledigter Aufgaben suchend, sofern es sich um die Seelen von Zauberern handelte.
"Laßt uns schnellsten Weges entschwinden!" Rief Anthelia ihren Schwestern zu. Die nicht zögerten, zu disapparieren. Die Muggel, die in diesem Moment Zeugen der Dementorenbekämpfung geworden waren, eilten zu den Telefonen und riefen Polizei oder Presse, behaupteten alles von UFOs bis hin zu Dämonen.
Wieder im Hauptquartier legte Anthelia ihren Schwestern dar, was nun zu geschehen habe.
"Wir werden uns um die fehlgeleiteten Hexen und Zauberer kümmern. Wir werden Exempel statuieren, auf daß jede machtbewußte Hexe abläßt von der Gefolgschaft des Emporkömmlings. Die Zauberer werden wir töten, um ihm, der sich da Lord Voldemort nennt, zu zeigen, daß dieses neue Land ihm nimmer gehören soll. Auf dann, Schwestern! Frisch ans Werk!"
Als bis auf Lucky, Patricia und Pandora alle Bundesschwestern fort waren, sagte Anthelia mit einem Hauch von Beklommenheit in der Stimme:
"Der Feldzug wider den Emporkömmling wird da selbst nicht so beschwerlich sein, wie etwas, das einzutreten droht, falls ich meinem Medaillon vertrauen mag, welches mich bis zu diesem Tage nicht getäuscht hat. Schwester Lucretia, kehre zurück nach England und erkunde für mich, ob die Ruheplätze der schlafenden noch unberührt und sicher sind. Erheischst du Kunde darüber, daß auch nur eine der Schlafenden erweckt wurde, kehre um und gib mir Kunde davon!
"Du meinst, daß die Nachfahren der dunklen Urmutter nicht mehr schlafen, höchste Schwester?" Fragte Lucky erschrocken.
"So ist es, Schwester Lucretia. Mich deucht, wir haben an diesem Nachmittag die Aura eines solchen Wesens gestreift, welches ausgeht, um unter den Menschen neue Beute zu machen. Ich muß Gewißheit erhalten, ob meine Befürchtungen wahrer Natur sind. Denn sollte es sich erweisen, daß eine von Ihnen auf der Erde dieses Kontinentes wandelt, so muß ich sie als große Gefahr betrachten. Denn die alte Feindschaft ist noch nicht begraben, und das Vermächtnis meiner ehrwürdigen Tante gebietet, diese Geschöpfe zu bekämpfen, wenn sie sich offenbaren."
"Ich habe nichts verspürt, was mit einem solchen Geschöpf zusammenhängt, höchste Schwester", wandte Patricia vorsichtig sprechend ein. Anthelia nickte.
"Sie verbergen ihr Inneres, auf daß nicht ihnen widerfährt, was sie anderen zufügen, Schwester Patricia. Denn wahrlich vermochte auch ich nicht, ihre geistige Nähe zu verspüren. Doch der Magie des Medaillons Dairons, die geschaffen wurde, um Kreaturen der dunklen Macht zu wittern, ist eine sehr zuverlässige Quelle, die mich in allen Jahren, die mein erstes Dasein währte, nicht enttäuschte."
"Und was, wenn ich fragen darf, geschieht, wenn wir Gewißheit haben, daß wir wirklich eine dieser alten Kreaturen hier haben?" Fragte Pandora.
"Wir werden sie aufspüren und ergründen, auf wen sie es abgesehen hat, diesen Menschen als Köder für eine Falle nutzen, die wir auslegen, wenn wir die Mittel bei der Hand haben, sie zu bannen oder zu zerstören. Letzteres dürfte sehr schwer und sehr gefährlich sein, wie ihr sicherlich wißt."
"Sicher, Anthelia. Sicher wissen wir das", sagte Pandora. Ihre Tochter nickte. Lucretia Withers sah mit Unbehagen auf Anthelia. Dann nickte auch sie. Schließlich disapparierte sie, um den Auftrag ihrer neuen Gebieterin zu befolgen.
Kurz vor 20.00 Uhr Ortszeit in New York trieb eine unbekleidete Männerleiche in der Höhe der Brooklyn-Brücke ans Ufer des Hudson-Flusses. Die Polizei barg den Toten, stellte fest, daß er offenbar nicht verletzt worden war und fand heraus, daß es sich um Alonso Burke, eine polizeibekannten Unterweltgröße handelte. Jedoch konnte nicht ermittelt werden, woran der Mann gestorben war. Denn weder Gewalt noch Gift konnten nachgewiesen werden. Die Körperzellen hatten alle zur selben Zeit ihre Tätigkeit eingestellt. Das war das einzige Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung. Das New Yorker Polizeidepartment übernahm die Untersuchungen des Falles. Als dann wenige Stunden später gemeldet wurde, ein ebenfalls unbekleideter Mann sei lebend in einer Tiefgarage aufgefunden worden, interessierte sich Lieutenant Douglas Remmington sehr für diesen Fremden und fuhr ins Universitätskrankenhaus, wo er zur Behandlung und Beobachtung hingebracht worden war. Ihm spukte immer noch der Bericht des Gerichtsmediziners durch den Kopf, daß der im Hudson treibende Leichnam keine Spuren irgendwelcher Fremdeinwirkung aufwies und sah das entsetzte Gesicht des Toten vor sich, als habe dieser in der letzten Sekunde seines Lebens erkannt, daß er unrettbar verloren war.
Als Remmington im Krankenhaus eintraf, unterhielt er sich mit den Cops, die im Auftrag des Departments den eingelieferten Fremden bewachten. Doch was die aussagten, trug nicht zur Aufklärung des Vorfalls bei.
"Haben die schon eine Drogenprüfung gemacht?" Fragte Remmington. Wachtmeister Tozzi, ein stämmiger Italoamerikaner, nickte. Dann sagte er:
"Die haben nichts gefunden, außer Abbauprodukte von Adrenalin. Der Mann muß vor seinem Zusammenbruch entweder total gestreßt gewesen sein oder die tollste Sache des Lebens erlebt haben."
"Und weiter?" Fragte der Polizeileutnant.
"Weiter wollte der Doc nichts rauslassen, Lieutenant", sagte der Cop. Remmington zuckte mit den Achseln und bedankte sich bei den Stadtpolizisten.
"Wir hatten heute schon eine Leiche, die ohne Spuren von Gewalteinwirkung aufgefunden wurde. Könnte sein, daß dieser Vorfall und der Mann im Koma damit zusammenhängen. Vielleicht sind sie mit einem heimtückischen Gift in Kontakt gekommen. Ich hoffe nur, daß es keine Virus-Infektion ist. Dann wäre in New York der Teufel los."
"Will sagen, die Sache bleibt geheim, bis wir wissen, was los ist? Dann könnten sich aber viele schon infiziert haben, Sir", wandte Tozzi ein.
"Ich sagte, wenn es eine Virus-Infektion ist. Aber die müßte Spuren im Blutkreislauf hinterlassen, und die ersten Untersuchungen haben nichts ergeben", warf Remmington ein, der sich ärgerte, diesen Teufel an die Wand gemalt zu haben.
"Es ist kein Virus, Sir", sagte eine Frauenstimme von hinten. Remmington drehte sich um und sah eine dunkelhaarige Mittvierzigerin im Arztkittel.
"Ach, das haben Sie schon gecheckt, Doktor ...?"
"Eden. Doktor Diana Eden", sagte die Ärztin. "Ja, wir haben natürlich sofort auf Viren getestet und keine aggressiven Erreger gefunden. Im Gegenteil. Der Patient erwies sich innen wie außen als überaus steril. Es konnten nicht einmal die üblichen Hautbakterien nachgewiesen werden, als habe man ihn einem rigurosen Desinfektionsprozess unterzogen. Die Darmbakterien, soweit die Abstriche am Rectum dies belegen, sind größtenteils abgestorben, als habe etwas oder jemand sie mit einem Schlag abgetötet. Und noch was: Bei einer Untersuchung der Geschlechtsorgane wurde festgestellt, daß der Patient keine einzige lebende Samenzelle in seinen Hoden besaß, ja nicht einmal die Vorstufen dazu. Als habe er in der letzten Stunde, bevor man ihn fand, in einer gewaltigen sexuellen Anstrengung alle bestehenden Keimzellen abgeführt. Aber wir haben keine Spuren von geschlechtlicher Aktivität gefunden, was sehr merkwürdig ist."
"Vielleicht war der Mann grundsätzlich nicht zeugungsfähig", vermutete Remmington. Die Ärztin schüttelte den Kopf.
"Die Keimdrüsen sind voll funktionsfähig. Daran kann es nicht gelegen haben."
"Na toll! Aber was war es dann, was diesen werten Herren so geschlaucht hat?" Fragte der Polizeileutnant etwas respektlos.
"Müssen wir noch klären. Die Drogenkontrolle war jedenfalls negativ. Ich warte noch auf alle Stoffwechseluntersuchungen und die EEG- und EKG-Messungen", sagte die Ärztin kühl.
"Gut, Dr. Eden, ich rufe dann morgen wieder bei Ihnen an, wenn Sie alle Ergebnisse haben", sagte Remmington und überreichte der Ärztin seine Visitenkarte. "Falls Sie vorher schon was wichtiges wissen oder was mit dem Patienten passiert, können Sie mich auch im Büro erreichen. Ich schiebe heute Nachtschicht."
"Wie Sie meinen, Lieutenant", erwiderte Dr. Eden. Dann ging sie davon, um ihre Arbeit weiterzuführen.
"Passen Sie mir bloß auf, daß der nicht fortläuft!" Sagte Remmington zu den Cops vor der Tür und kehrte zu seinem Büro zurück. Dort las er das Vorabprotokoll, das einer der Stadtpolizisten nach der Aussage des Zeugen Richard Andrews angefertigt hatte. Dabei las er, daß der Patient des Universitätskrankenhauses von Feuer und Flammen gesprochen hatte, was die Sache nicht verinfachte. Denn von Brandverletzungen oder Versengungen der Haare konnte keine Rede sein.
"Vielleicht haben sie dem doch was verpaßt, das wahnsinnig macht und dann langsam umbringt", dachte Remmington.
Zehn Minuten nach seiner Rückkehr ins Department bekam Remmington eine Aktenmappe zugestellt, in der das Bild des gefundenen Mannes enthalten war. Demnach war der Mann bereits polizeilich bekannt, was keineswegs für ihn sprach. Er war in sechs Fällen wegen Vergewaltigung angeklagt worden, in fünf Fällen jedoch aus Mangel an Beweisen wieder freigesprochen worden. Das beigefügte psychologische Gutachten verhieß, daß der Mann, der Collin Dampsey hieß, durchaus dazu fähig war, Frauen, die sich auffällig geschmeidig bewegen konnten, zu überfallen und daß er ein sehr merkwürdiges Frauenbild habe, wo Frauen und Mädchen als dem Manne untertan angesehen wurden. Fünf der sechs Opfer waren Ballettänzerinnen, das sechste, weswegen er letztendlich für mehrere Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde, war ein Modell der Modefirma Federal Fashions gewesen. Doch diese Akte erzählte Remmington nur, wer da im Krankenhaus lag, aber überhaupt nicht, warum. Zumindest erzählte sie ihm nicht, das Dampsey in seinem letzten Opfer sein Schicksal gefunden hatte.
Um drei Uhr Morgens bekam er die Nachricht, daß Dampsey auf eine merkwürdige Art gestorben war. Es habe, so Eden, den Anschein, als habe ihm etwas buchstäblich die Lebensenergie ausgesogen, sodaß seine Körper- und Hirnfunktionen immer schwächer und unkontrollierter verlaufen seien. um zwei Uhr und fünfzig Minuten habe dann der Herzschlag nach einer Phase immer langsamererer Pulsrate und sinkendem Blutdruck unvermittelt ausgesetzt, als hätte etwas das Herz immer langsamer gestellt und ohne großen Akt angehalten.
"Und Sie sind sich total sicher, daß wir es nicht mit einem Virus zu tun haben, Doktor? Nachher sind wir alle wie Zombies und krepieren auf dieselbe Weise."
"Der Mann hatte überhaupt keine Viren im Blut. Wir obduzieren ihn unter Einhaltung strengster Sicherheitsregeln. Aber ich fürchte, was ihn getötet hat, kam aus seiner DNA", sagte Dr. Eden.
"Dann müßten Sie Gifte finden, die durch Zellversagen entstanden sind. Ich hatte auch mal Chemie und Biologie in der Highschool, Doktor. man stirbt nicht einfach so, ohne Spuren der Todesursache aufzuweisen. Wer erbkrank ist, trägt falsch abgebaute Stoffe im Körper oder kann grundsätzlich bestimmte Sachen nicht verarbeiten und so weiter. Ich hoffe, Sie kriegen das raus."
"Machen Sie Ihren Job, Lieutenant! Ich werde meinen tun", erwiderte die Ärztin schroff und trennte die Verbindung.
"Blödes Weib!" Fluchte Remmington. Doch recht hatte sie. Er mußte rausfinden, was Dampsey in den letzten Lebensstunden angestellt hatte. Wenn er sich irgendwo vergiftet hatte, mußte das rauszukriegen sein. Sonst schied ja alles aus, was auf einen Mordanschlag deutete. Der Kriminalist ahnte, daß er ein unlösbares Rätsel anging. Was er nicht im Traum ahnte war, daß er den Tod eines Mannes untersuchte, der in den letzten klaren Minuten seines Lebens glaubte, das Paradies auf Erden zu erreichen und dann in die tiefste Hölle gefallen war.
Collin Dampseys letzter Tag seines Lebens war angefüllt mit stumpfsinniger Arbeit. Seitdem er wieder aus dem Gefängnis rauswar, in das ihn eine Modepuppe der Federal Fashions reingebracht hatte, weil sie behauptete, er habe sich an ihr gegen ihren Willen vergangen, hatte er nur die niedrigsten Jobs bekommen. Zurzeit stapelte er in einer Baufirma die eingehende Post. Dabei wurde er gut überwacht von seinem direkten Vorgesetzten, der sich nicht zu schade war, über Dampseys Vorleben herzuziehen. Derartig getrietzt hatte der Mann, der nicht wußte, daß heute der letzte Tag seines Lebens war, seinen Arbeitsplatz verlassen und war kurz in seiner kleinen Mietwohnung gewesen, wo er geduscht hatte. Danach hatte er sich bei einem Straßenverkäufer zwei Hot Dogs genehmigt und schlenderte ziellos durch Manhattan. Irgendwann so gegen acht Uhr abends ging er an dem Steakhaus vorbei und sah gerade, wie eine elegant gekleidete Frau alleine aus der Tiefgarage neben dem Lokal kam und in das Restaurant hineinging. Unvermittelt regte sich der stets unbeherrschbare Trieb, der ihn überkam, wenn er adrette Frauen in wohlgefälliger Bewegung sah. Seine aufgestaute Aggression schlug in eine immer stärkere Wollust um, die ihn wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden in die Tiefgarage zog. Er wollte der Frau auflauern, sie in ihrem eigenen Auto nehmen und sie dann erwürgen, um keine Zeugin zu hinterlassen. Ja, diese Frau mußte er haben!
Als er sich in der Tiefgarage auf die Lauer legte, freute er sich, daß im Moment niemand hier herumstrolchte. Die Videokameras waren wohl kaputt, denn in den Öffnungen, wo die Objektive sich bewegten, klafften tiefe Löcher. Tja, dann würde ihn auch niemand stören können, dachte der Triebtäter in bösartiger Vorfreude.
Er mußte wohl zehn Minuten auf seinem Warteposten ausgeharrt haben, immer erregter, weil er nicht wußte, wann das Ziel seiner Begierde in die Garage zurückkehrte, als er leichte Schritte hörte. Als er sich umwandte, im Schatten eines BMWs fast unsichtbar, sah er eine Frau, die seelnruhig durch die Tiefgarage schlenderte und um einen großen Ford herumstrich, wie eine Katze um einen Teller Milch. Dampseys Sinne überschlugen sich. Das Haar, der Gang, die Haltung, all das feuerten den dunklen Trieb an, der ihn oft genug zum Untier hatte werden lassen. Dieses Wesen da war eine Offenbarung, wie er sie bisher nie erlebt hatte. Er vergaß sein eigentliches Ziel völlig, saugte sich mit seinen Blicken an der Fremden fest. Doch diese schien dies zu bemerken, wandte sich ihm zu und kam mit ruhigen Schritten auf ihn zu.
Er spürte, wie seine Hose von der heftigen Erregung ausgebeult wurde, wie es ihn im Unterleib schmerzte, daß er sich nicht die nötige Triebabfuhr verschaffte. So verlor er die letzten Hemmungen und sprang aus seinem Versteck, genau auf die Unbekannte zu, die ihm entgegenlächelte. Ja, sie lächelte!
"Wo ist dein Auto?" Fragte er keuchend, als er die Frau, die seinen kühnsten Träumen zu entspringen schien, mit einem Sprung zu fassen bekommen hatte. Sie lächelte ihn sehr warm an und sagte mit einer tief in ihn eindringenden Stimme: "Ich habe kein Auto. Ich wollte hier abgeholt werden. Was willst du, Mensch. Treibt dich der Drang, eine Frau zu besitzen an?"
"Wie redest du mit mir?!" Fauchte Dampsey, der das nicht erwartet hatte. Frauen, die er sich nahm, hatten Angst, schrien und wehrten sich, verliehen ihm ein Gefühl von Überlegenheit, wenn er sie mit Gewalt nahm. Doch dieses Weib, oder war sie vielleicht noch ein Mädchen, tat so, als sei sein Überfall eine schlichte Begegnung auf der Straße.
"Halts maul, Luder! Wenn du keinen Wagen hier hast, gehen wir rüber in den Schatten!" Schnaubte Collin und faßte der Fremden brutal ins Haar, um sie fortzuschleifen. Diese schlang unvermittelt ihre Arme um ihn und sah ihm tief in die Augen.
"Warum so grob, Freund? Warum solltest du dir die Gelegenheit so wüst verbauen, das schönste Erlebnis deines Lebens zu genießen? Ich komm mit dir und gebe dir, wonach du verlangst. Zerstöre nicht den Augenblick höchster Freude!"
Dampsey schlug der Frau ins Gesicht. Sowas mochte er nicht. Er wollte seine Macht ausspielen. Frauen, die sich ihm freiwillig anboten, langweilten ihn. Die konnte ja jeder haben, wußte er. Doch die Fremde schien den brutalen Faustschlag ins Gesicht für eine zärtliche Berührung zu halten. Und wirklich zeigte der Schlag keine Verletzung, nicht einmal einen blauen Fleck im Gesicht der Unbekannten. Doch sie hielt Dampsey in der Umarmung, wie eine willige Geliebte, die endlich haben will, wonach sie sich lange gesehnt hat.
"Verdammtes Luder, lass mich los!" Rief Dampsey, den nun fast alle Lust vergangen war. Doch die Fremde dachte nicht daran. Sie schob ihn vor sich her. Angst kam in ihm auf. Der Jäger war zur Beute geworden, fiel es ihm ein, wenngleich er dafür primitive Worte benutzte. Jedenfalls fand er sich keine halbe Minute später in einem schattigen Bereich der Tiefgarage wieder. Er versuchte, sich loszureißen, doch die Unbekannte ließ ihn nicht mehr entrinnen. Sie sah ihm tief in die Augen. Übergangslos verflog jede Angst. Der alte Trieb kehrte zurück. Warum sollte er nicht darauf eingehen, diese Frau ...
Sie war unersättlich. Sie riss ihm förmlich die Kleidung vom Leib, warf ihre eigene spärliche Bekleidung ab und sprang ihn an, um ihn zur Vereinigung mit sich zu zwingen. Doch als sie zusammen waren, fühlte Dampsey, wie ihm immer heißer wurde, wie mit jeder Bewegung, mit jedem Blick der glänzenden Augen, ein mächtiges Stück Leben aus ihm gesogen wurde. Er glaubte bald, in einem brennenden Schacht hinabzustürzen, von lodernden Flammen umgeben, die an Unterleib und Gesicht fraßen. Er schrie noch einmal. Doch die Lippen jener höllisch schönen Frau, die er als Opfer ausgesucht hatte, pressten sich auf seinen Mund. Er fühlte, wie er aus seinem in hellen Flammen stehenden Körper herausgezerrt wurde. Dann schwanden ihm alle Sinne. Daß er gefunden und von Notärzten abtransportiert wurde, bekam er schon nicht mehr mit. Stunden später sollte er endgültig den Preis für seine Triebhaftigkeit bezahlen, doch auch dies entging seinen völlig ausgeblendeten Sinnen.
Das Leichte Mädchen, wenn es eines war, verhielt in seinen neckischen Albernheiten und starrte auf den Neuankömmling, der gerade mit ruhigen Schritten in die Bar kam. Der Mann, der offenbar diese nette Begleitung engagiert hatte, staunte. Doch am heftigsten erwischte es Richard Andrews, der total perplex auf seinem Barhocker saß und sah, wer da eintrat.
Es war eine Frau, wohl mitte Dreißig, irgendwie jung geblieben aber schon geübt, ihre weiblichen Reize auszuspielen. Sie besaß schulterlanges feuerrotes Haar, das ihr in sanften Schwingungen um den schlanken Hals wehte. Ein rosiges Gesicht mit braunen Augen wirkte aufgeschlossen und weltgewand. Sie besaß einen biegsamen Körper mit üppiger Oberweite und ausladendem Becken, lange Beine und schmale Füße. Sie trug ein rubinrotes Kurzkleid aus feinster Seide, wie Richard meinte. Außer den Augen erinnerte ihn alles, Bewegung, Haar und Körperbau, ja auch das Gesicht, wenngleich nicht so vornehm bleich, wie er es kannte, an die merkwürdige Frau aus seinen Träumen, die er nun zweimal innerhalb der letzten drei Monate erlebt hatte.
Der mann, der sich offenbar ein käufliches Vergnügen vorgenommen hatte, ließ seine Begleiterin im Stich und trat unverhohlen lächelnd auf die neue Besucherin zu. Diese lächelte zurück, wandte sich dann aber ab und schritt auf Richard Andrews zu, der nicht wußte, ob er irgendwas sagen sollte. Doch sie trat nicht ganz an ihn heran, sondern bog kurz vor ihm ab, um sich an der Bar entlang drei Hocker weiter hin niederzulassen, graziös wie eine Ballerina.
"Eh, so läuft das hier nicht", wetterte das spärlich bekleidete Mädchen und schüttelte ihr blond gefärbtes Haar wie wild. "Schaff gefälligst anderswo an!"
"Wie bitte?!" Fragte die neue Besucherin der Bar mit jener tiefen Stimme, die haargenau zu der Stimme der Frau aus Richards Träumen paßte. "Ich habe es nicht nötig, meinen Körper für schnödes Geld zu vergeuden, Mädchen. Warum sollte ich dann dir das Gebiet streitig machen. Ich bin nur alleine hier, weil es mich ärgert, daß andauernd wer meint, an mir rummäkeln zu müssen. Da muß ich mir ausgerechnet von einer billigen Straßendirne nichts gefallen lassen. Klar?"
"Eh, du Miststück! Mich nennst du nicht billig. Hier ist mein Revier. Und wenn du deinen Arsch hier nicht sofort rausschaukelst, stößt dir Freddy Bescheid", tönte das Mädchen. Ihr Begleiter, Kunde, Freier, vergrub das Gesicht in seinen Händen, um die aufgekommene Verlegenheit zu verbergen.
"Wie gesagt, Mädchen, ich hab's nicht nötig, meinen Körper zu verramschen. mach deine Arbeit, und lass andere Frauen in Ruhe!" Erwiderte die Fremde ruhig und sah das übertrieben geschminkte Mädchen seelenruhig an. Sie sah erst verärgert drein, beruhigte sich aber nach wenigen Sekunden. Danach war zwischen den beiden Frauen erst einmal Frieden.
Richard Andrews saß mehrere Minuten lang da und wußte nicht, was er machen sollte. Sowas konnte es doch nicht geben, daß diese Frau da einige Hocker rechts neben ihm so aussah, wie dieses Superwesen aus seinen leidenschaftlichen Träumen. Sicher bildete er sich das nur ein. Denn rothaarige Frauen gab es in New York bestimmt nicht wenige. Die meisten davon hatten ihre Haare wohl gefärbt, wie die Person da am anderen Tisch mit dem Mann, der nun langsam wieder zu seinem Trott zurückfand, wenngleich er immer wieder zu der Fremden hinüberstarrte, was sie wohl machte. Sie saß da, ließ die langen Beine mit den walnußbraunen Halbschuhen italienischer Fertigung baumeln und sah den Bartender an, der unsicher, wie er mit der Frau umgehen sollte, von einem Fuß auf den anderen tippelte.
"Bringen Sie mir bitte einen Fruchtsaft, Erdbeere oder Orange!" Bestellte sie.
"Öhm, hier gibt's Saft nur in Verbindung mit was geistigem", sagte der Bartender und deutete auf das Regal mit den Whiskey-, Tequila- und Rumflaschen.
"Sie möchten mich doch nicht vergiften, guter Mann. Wenn Sie frischen Fruchtsaft haben, geben Sie mir davon!" Sagte die Unbekannte, die Richard doch so vertraut vorkam, mit einer wie Schnurren klingenden Stimme.
"Lady, ich habe den Auftrag, nur Cocktails rauszurücken. Mein Boss besteht darauf", sagte der Barmann schüchtern. Dann ging er wie ein Automat zum Regal mit den Fruchtsäften, drehte den Schraubverschluß von einer großen Orangensaftflasche und schenkte ein Glas damit voll. Dieses trug er fast ängstlich zu der neuen Besucherin herüber.
"Bringen Sie mir dann bitte noch einen Jamison, Mister!" Bestellte Richard Andrews mit verhaltener Stimme einen weiteren Whiskey. Diesen brachte der Barmann sehr beflissen zu ihm. Als der für nun einen Monat nach New York beorderte Forschungsleiter einer Chemiefirma die ersten Schlucke genommen hatte, sah ihn die Frau von rechts her leicht tadelnd an. Dr. Andrews fühlte den Drang aufkommen, der Fremden zu sagen, sie solle sich bloß nicht in seine Sachen einmischen, als diese auch schon sagte:
"Wenn Sie heute noch fahren müssen, sollten Sie diese Art Getränk weglassen."
"ich komme noch gut nach Hause, Madam", sagte Richard Andrews gereizt. Alles, was er der Unbekannten jetzt an den Kopf hätte werfen wollen, war wie weggewischt.
"O Sie sind Brite", sagte die Fremde. jetzt erst fiel Richard auf, daß auch die Unbekannte britischen Akzent sprach, ja sogar wie eine vornehme Dame klang, ähnlich dieser Lady Genevra, die er auf der Erfolgsparty seines Fachkollegen Sterling getroffen und gesprochen hatte. Deshalb sagte er:
"Sie auch, wie ich höre. Was verschlägt sie in diese Gegend?"
"Die Suche nach dem typisch amerikanischen Nachtleben, von dem meine Freundinnen mir vorgeschwärmt haben", erwiderte die Unbekannte. Dann meinte sie noch: "Müssen wir uns für alle hörbar anrufen? Setzen Sie sich zu mir, falls sie keine Angst haben, neben einer alleinstehenden Frau einen Drink zu genießen!"
Richard wußte nicht, was ihn ritt. Er stand einfach auf, nahm sein Glas und wechselte den Platz, ohne darüber nachzudenken, was er wollte oder nicht. Als er nun direkt neben der Frau im roten Kleid saß, sah er sie noch mal genauer an und konnte bis auf Gesichtsfarbe und Augen keinen Unterschied zu der Frau Roxana Halliti feststellen.
"Sie sehen mich so an, als müßte ich sie von irgendwo kennen", bemerkte die Fremde leise sprechend und sah Richard prüfend von oben bis unten an. Dieser errötete. Wie sollte er das jetzt erklären?
"Ich dachte, ich hätte sie in England schon mal näher gesehen. Aber ich kann mich natürlich getäuscht haben. Könnte auch der Alkohol sein. "
"Ja, das ist Gift für den Körper und den Geist", schulmeisterte ihn die Fremde und blickte vorwurfsvoll auf sein Whiskeyglas. Er nahm es, trank es ganz leer und schob es schnell so weit wie möglich von sich fort. Der Barmann glubschte ihn merkwürdig an, während das leichte Mädchen sehr mißtrauisch die Unbekannte beäugte, wobei sie zugleich ihrem Kunden die rechte Hand streichelte, um ihn nicht unvermittelt fortspringen zu lassen.
"Sie sind Geschäftsmann?" Fragte die Unbekannte, die Richard an seine Traumfrau erinnerte. Dieser schüttelte vorsichtig den Kopf.
"Nein, ich bin in der Produktion tätig. Und sie?"
"Produktion. Klingt sehr verheißungsvoll", säuselte die Frau auf dem Hocker rechts neben Richard. Der Chemiker errötete wie ein Schuljunge, der bei einer bösen Tat ertappt wurde und nun nach einer Ausrede sucht, die ihm nicht einfallen will.
"Ich bin in einem Industriebetrieb für die Fertigung zuständig, Madame", sagte er schließlich. Daß er Wissenschaftler in einer hohen Stellung war, wollte er einer fremden Frau und möglichen Lauschern nicht auf die Nase binden. In dieser Gegend wohnten zwar mehr brave Bürger als gestrauchelte Wesen. Aber wenn eine Prostituierte sich hier ungeniert über Revierverhältnisse auslassen konnte, konnte diese Bar nicht so gut beleumundet sein, überlegte er.
"Hmm, dann können wir uns eigentlich nicht getroffen haben. Ich bin Archäologin und als solche häufig in der Welt unterwegs", sagte die Unbekannte. "Loretta Irene Hamilton ist der Name", flüsterte sie mehr als sie es aussprach. Richard, der über diese so schnelle Namensnennung verblüfft war, antwortete eher reflexartig:
"Angenehm, Richard Andrews."
"Richard Andrews? Ach, dann sind sie verwandt mit den Andrews' aus Yorkshire, die auf ihrem Landgut eine altkeltische Grabstätte haben?" Fragte die Frau, die sich als Loretta Hamilton vorgestellt hatte. Sicher hatte Richard von seinen Namensvettern in Yorkshire gehört, die ein altes Grab aus der Zeit der Kelten auf ihrem Landgut besaßen und damit viel Geld von den Touristen verdienten. Aber verwandt war er nicht mit denen. Seit der Enthüllung, sein Sohn sei ein echter Zauberer, wünschte er sich zwar, keinen echten Magier in der Familie gehabt zu haben, aber er konnte ja nichts mehr daran ändern. Er sagte nur:
"Nein, die sind nicht mit mir direkt verwandt. Muß ein anderer Zweig des Andrews-Stammbaumes sein. Ich habe außer zur Schul- und Studienzeit immer in London gelebt."
"Ach, wo haben Sie denn studiert? Cambridge, wie ich?"
"Cambridge!" Fauchte Richard Andrews. Zum einen hatte er in Oxford wie die meisten Studenten von dort die Erbrivalität mit Cambridge in Fleisch und Blut übernommen, zum anderen bedeutete dieser Name für ihn die größte Niederlage seines Lebens, da in dieser Stadt jene Hexe wohnte, die seinen Sohn vor seinen Augen entführt hatte. "Ich habe natürlich in Oxford studiert", sagte der Chemiker und warf sich stolz in die Brust. Der Barmann grinste nur, als er das mitbekam.
"Ach klar, dort sind Frauen ja dann noch nicht so häufig anzutreffen. Ich hatte das an der Uni ja auch, daß ein Mädchen nichts in der Archäologie zu suchen habe und ja sowieso einmal wen heiraten und dann zu Hause bleiben würde. Aber bis heute habe ich keinen gefunden, der mich zur biederen Hausfrau gemacht hat."
Richard wunderte es, wie schnell die Landsmännin auf private Dinge kam. Doch irgendwie paßte die Atmosphäre in diesem Lokal gut dazu. So erzählte er im flüsterton auch, was er beruflich machte. Er druckste zwar etwas herum, ob er verheiratet sei oder nicht, bis er sagte, daß er sich "im Moment" nicht gut mit seiner Frau verstehe und seine neue Aufgabe ihm gelegen käme, einen gewissen Abstand zu gewinnen. Als Richard noch einen Whiskey bestellen wollte, sagte Loretta Irene Hamilton:
"Das sollten Sie jetzt lassen, Richard. Wenn Sie den noch trinken und in eine Polizeikontrolle geraten, wird es sehr teuer. Die sind besonders hinter Ausländern her, die nach Geld aussehen."
"Hmm, Sie haben recht, Loretta", erwiderte Richard, der erst meinte, eine Gouvernante würde ihn tadeln, dann aber einsah, daß sie nur einen vernünftigen Vorschlag gemacht hatte. So trank er mit der Landsmännin mehrere Fruchtsäfte, unterhielt sich mit ihr über die Wissenschaften, die englische Politik und das Wetter im Vergleich zwischen England und New York. So verflog die Zeit. Irgendwann hatte Richard das Gefühl, diese Frau wie eine zeitweise besuchte Bekannte zu kennen. Er nannte sie weiterhin beim Vornamen, was sie ihrerseits mit ihm auch machte. So um zwölf Uhr Mitternacht zahlte Richard die gepfefferte Summe für die Getränke, wobei er alle Getränke, die Loretta während der Unterhaltung mit ihm hatte, wie ein Gentleman mit übernahm. Er bot ihr an, sie nach Hause zu bringen, da die Straßen überall in der Welt nachts nicht ungefährlich für alleinstehende Frauen seien und verließ mit ihr das Lokal. Er wußte nicht, daß die Prostituierte, als sie einen kurzen Gang zur Toilette in ihre Umgarnungsübungen eingeschoben hatte, ihren sogenannten Beschützer übers Mobiltelefon angerufen hatte, der seinerseits einen für zwanzig Dollar käuflichen Burschen zur Bar geschickt hatte, um rauszukriegen, wo die Frau hinfuhr, die einem von Freddys Mädchen die Schau gestohlen hatte.
Loretta gestand Richard, daß sie versäumt habe, sich in einem Hotel einzumieten und die "nette Unterhaltung" zu viel Zeit gekostet habe. Sie fürchtete schon, kein Zimmer mehr zu kriegen. In leichter Whiskey-Laune bot Richard ihr den Platz auf der Couch in seiner Wohnung an, was Loretta dankbar annahm.
"Ich gehe davon aus, daß Sie sich gut benehmen, Richard. Ich bin zwar keine Achtzehn mehr, aber doch dazu erzogen, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, wenn Sie verstehen."
"Selbstverständlich, Loretta", erwiderte Richard lässig.
Beinahe hätten der ungewohnte Rechtsverkehr und die zwei Whiskeys dazu geführt, daß Richard den geliehenen Ford gegen die Schranke gesetzt hätte. Doch noch rechtzeitig erkannte er die Gefahr, stieg aus und öffnete die Schranke mit der Chipkarte. Dann fuhr er zum Haus.
Freddys Handlanger beobachtete, wo die beiden hingingen und meldete es seinem Auftraggeber. Dieser bedankte sich bei ihm und sagte, daß er Ablösung schicken würde.
Früh Morgens, um halb sieben, verließ die Frau in Rot das Haus 23 wieder und schwang sich locker über die Schranke hinweg, um dann zu einem Taxistand an der nächsten Straßenecke zu gehen. Sie wirkte gelassen und ausgeruht. Ihr Haar war ordentlich gekämmt und floß bei jedem ihrer Schritte anmutig um ihren Nacken und ihre Schultern. Als ein Taxi kam, prüfte sie, ob sie auch wirklich genug Bargeld mithatte. Dann stieg sie ein.
Richard hatte Loretta Hamilton nicht auf der Couch schlafen lassen. Da sein Bett frisch bezogen war und er noch nicht darin geschlafen hatte, hatte er es ihr überlassen und sich selbst auf der Couch niedergelassen. Er hatte jedoch sichergestellt, daß die wertvollsten Dinge wohl verschlossen und die Schlüssel unter seinem Kissen verborgen waren. Er wußte, daß manche Übernachtungsgäste sich grob undankbar zeigten, wenn sie ihre Gastgeber im Schlaf ausplünderten und dann verschwanden. Doch Loretta war nicht so eine. Sie hatte gut geschlafen, und als sie um halb sechs morgens aufstand, schüttete sie für Richard und sich Tee auf. Der von Richards Firma organisierte Service brachte frische Brötchen um sechs Uhr, sodaß die beiden noch frühstücken konnten. Dann verabschiedete sich Loretta von Richard. Dieser fragte, ob man sich noch mal treffen könne. Sie lächelte und sagte:
"Wenn ich eine eigene Wohnung habe, lade ich Sie gerne ein, mich zu besuchen, Richard."
"Sehr Gerne, Loretta", sagte er darauf nur und sah zufrieden zu, wie seine gestern erst gemachte Bekanntschaft seine Wohnung verließ.
"Die kann unmöglich mit der Frau aus meinen Träumen zu tun haben. Die ist zwar offen und nicht allzu distanziert, aber auch nicht so anbiedernd, wie Roxana Halliti. Komischer Name auch. Vielleicht sollte ich mich mal von einem Psychologen durchchecken lassen, was diese Träume bedeuten", dachte Richard und bereitete sich auf seinen ersten Tag in der neuen Anstellung vor.
Er war froh, als er nach acht Arbeitsstunden und dem Protokoll bei der Polizei zu den Vorfällen des vergangenen Tages mit dem Gefühl zu seiner Wohnung zurückkehrte, daß er nicht der befürchtete Störkörper war, denn alle seine Mitarbeiter waren neu und mußten sich ebenso einarbeiten, wie er. Offenbar hatte die Firma das vorhergeplant, um unnötige unproduktive Reibereien zu verhindern. Er genoß das amerikanische Fernsehen, aß abends in einem indischen Restaurant und kehrte totmüde um zehn Uhr in seine Wohnung zurück, wo er sich hinlegte und von früheren Tagen mit seiner Familie träumte.
Das Taxi fuhr los. Loretta hatte dem Fahrer gesagt, sie in der nähe des Times Square abzusetzen. Doch als der Wagen aus New York City herausfuhr, fragte sie sich schon, was das sollte. Sie sah den Taxifahrer an und fragte ihn, wo er denn langfahren würde, weil sie sich sicher war, daß es da nicht zum Times Square ginge. Der Fahrer drehte sich um, sah seinem Fahrgast genau in die Augen und sagte nur:
"Ich bring Sie schon dahin, wo's richtig ist, Ma'am."
Loretta nickte. Der Blick in die Augen des Fahrers hatte ihr erlaubt, tiefer als ihm lieb war in ihn hineinzusehen. So wußte sie, daß sie nicht zum Zentrum der Stadt gebracht wurde, sondern zu einem alten Landhaus aus den Gründertagen, daß vor einigen Jahren durch einen geschickten wenn auch unseriösen Grundstückshandel an einen Mr. Alfred Bollmann verkauft worden war. Als sie dann schließlich vor der pompösen Villa anlangten, zog der Taxifahrer eine Pistole und befahl nun völlig gebieterisch:
"Raus jetzt, Weib. Der Boss will was von dir!"
"Wie bitte?!" Erwiderte Loretta entrüstet. "Soll das ein Überfall sein?"
"Neh, 'ne fällige Unterredung mit dem Boss, Mädel. Also raus, bevor ich dir'n Loch durch die linke Brust schieße!"
"Stimmt, wäre schade um das gute Stück", sagte Loretta kühl und verließ das Taxi. Vor der Pistole des so ortskundigen Fahrers lief sie her, bis sie durch ein Tor, über einen Plattenweg, durch eine protzige Eichentür und durch eine Empfangshalle aus Marmor über eine mit Orientteppichen bedeckte Holztreppe hinauf in ein sehr neureich ausgestattetes Büro getrieben wurde, in dem lederbezogene Schreibtische, wuchtige Schreibtischstühle, goldene Federhalter und kristallene Lampen untergebracht waren. In einem der schwarzen Drehsessel saß ein Mann Mitte dreißig in einem sündhaft teuren italienischen Anzug mit handgemalter Krawatte und paffte an einer kubanischen Zigarre.
"Ach, da ist ja die Lady, die meine Jacky so auf die Palme gebracht hat.Und, war der Engländer flüssig?"
"Entschuldigung, Sir! Aber erstens weiß ich nicht, mit wem ich spreche, und zweitens weiß ich nicht, was Sie von mir wollen", erwiderte Loretta, als sie der feist grinsende mann begrüßt hatte. Er sah auf seine goldene Uhr, hob die rechte hand und zeigte seinem Helfer, dem Taxifahrer, vier Finger.
"Geht klar, Boss", sagte der vermeintliche Taxichauffeur und nickte. Dann verließ er den Raum.
"Also einmal: Du bist bestimmt keine Archäologin, so wie du dich rausgeputzt hast. Zum anderen, ich bin Alfred, von Freunden und Feinden auch Freddy genannt und Patenonkel von Jacqueline, die du gestern sicherlich in der Sunset-Bar getroffen hast. Immerhin kann sie sich gut an dich und deine Show erinnern. Buck hat dich dann beschattet, wie du mit dem Gentleman aus England abgeflogen bist und auch gepeilt, wo du mit ihm hin bist. War wohl sehr ergiebig, wenn du ihm die ganze Nacht gegönnt hast, wie?"
"O jetzt verstehe ich. Sie halten mich für eine unerwünschte Konkurrentin dieser jungen Dame, die sich wie nannte? Jacqueline. Das ist doch bestimt nicht ihr richtiger Name. Oder?"
Freddy starrte sie mit seinen grauen Augen böse an und hieb mit der rechten Faust auf den Schreibtisch. "Jetzt hör' mal zu, du Luder! Ich lasse mich nicht verarschen. Klar? Dieser Kerl stank ja förmlich nach Geld. Wenn Jacky nicht schon besetzt gewesen wäre, hätte sie den bestimmt rumgekriegt. Aber da kamst du. Jackys Kunde wäre ja fast noch abgesprungen. Also wenn du keinen Patenonkel hast, solltest du schleunigst das Revier wechseln. - Ach ja, und von dem, was der Gentleman rausgerückt hat, kriege ich fünfzig Prozent."
"Es ist doch merkwürdig mit euch Kurzlebigen. Du redest von einer Frau wie von einer Toilette und meinst, alle Frauen müßten derartig tätig sein, wie diese Jacqueline", sagte Loretta ruhig. Freddy blickte sie verdutzt an. Dann stand er langsam auf und präsentierte seinen durchtrainierten etwa zwei Meter langen Luxuskörper in voller Kampfhaltung. Loretta stand auch auf.
"Gehe ich davon aus, daß diese nutzlose Unterhaltung nun vorbei ist?" Fragte sie. Freddy holte mit der rechten Hand aus, ballte sie zur Faust und hieb der Frau vor sich mit gnadenloser Wucht ins Gesicht. Aber als hätte er gegen einen aufgeblasenen Gummiball geschlagen, prallte sein Schlag ab und hätte beinahe sein eigenes Kinn erwischt. Jedenfalls spürte er einen schmerzhaften Ruck im Arm, der die abrupte Bewegungsänderung nicht unbeeindruckt hinnahm.
"Was war das denn?" Wunderte sich Freddy, und seine Augen flackerten verwirrt.
"Du schlägst eine Frau? Schämst du dich nicht, die Krone der Schöpfung derartig respektlos zu behandeln?" Tadelte ihn Loretta mit der machtbewußten Stimme einer altgedienten Lehrerin.
"Krone der Schöpfung? Das gibt es doch nicht. Ich mach dich fertig, du Flittchen!" Rief Freddy und sprang vor, um der lästigen Besucherin an die Gurgel zu gehen. Diese wich zurück, hob für einen Moment ihr linkes Bein und ließ den sogenannten Patenonkel Jacquelines darüber fallen.
"Buck! Reinkommen! Müll wegbringen!" Rief Freddy mit wutrotem und schmerzverzerrtem Gesicht und sprang erneut auf. Plötzlich hielt er ein Messer in der Hand und schwang es gegen Lorettas Gesicht.
"Schönen Gruß an deine Freundinnen! Freddy macht euch alle alle!" Rief er und zog das Messer mit bösem Grinsen im Gesicht voll über die linke Wange der Frau. Im selben Augenblick kam der Taxifahrer mit entsicherter Pistole herein. Er sah erschrocken, wie sein Boss in die linke Gesichtshälfte der Fremden ein großes Loch geschnitten hatte. Noch erschrockener war er jedoch, als der brutale Schnitt sich innerhalb von nur zwei Sekunden wieder zusammenfügte und restlos verheilte. Dabei verlor das Gesicht der Unbekannten ein wenig an Farbe, wurde etwas blasser. Auch die Augen änderten sich, wurden leicht glänzend.
"Das kann doch wohl nicht sein!" Stöhnte Freddy, der meinte, seiner unerwünschten Besucherin einen bleibenden Schaden zugefügt zu haben. Er deutete auf Bucks Waffe und zeigte mit dem Daumen nach unten, was wie einst im alten Rom das Todesurteil für jemanden bedeutete, diesmal für Loretta Hamilton.
Zweimal ging die Pistole los. Zwei Kugeln schlugen durch das Kurzkleid der merkwürdigen Frau, genau in der Höhe ihrer prallen Brüste. Sie zuckte zusammen, krümmte sich für einen Moment. Dann streckte sie sich aus, dehnte ihren Oberkörper ... und die beiden Kugeln sprangen aus den Einschüssen und kullerten zu Boden. Es sickerte zwar etwas Blut aus den Wunden, versiegte jedoch sofort. Buck stand da wie vom Donner gerührt. Die Frau hätte tot umfallen müssen! Doch sie stand da, nun wieder ohne Anzeichen, daß ihr etwas unangenehmes passiert war und blickte Buck an. Ihre Augen glänzten nun noch heller, wie Gold, das in einem Stein im Berg eingeschlossen war, meinte Buck, der mal als Schürfer in Brasilien gearbeitet hatte. Auch die Gesichtsfarbe war nun völlig hell, ja bleich wie weißes Porzellan. Buck feuerte die restlichen sieben Kugeln seiner neunschüssigen Waffe ab, vier in die Brüste, drei in den Kopf der unheimlichen Frau. Diese krümmte sich zwar nach jedem Treffer zusammen, berappelte sich jedoch sofort wieder und trieb die Kugeln irgendwie wieder aus dem Körper.
"Das is'n Monster", dachte Buck. "Die kann man nur mit Silberkugeln erschießen", dachte er. Laut rief er:
"Sowas gibt es doch nicht. Sowas kann es doch nicht geben! Sowas darf es doch nicht geben!!"
Loretta ging auf ihn zu, ihn fest anblickend, mit ausgestreckten Händen. Keine zwei Sekunden später war sie bei ihm und ergriff ihm beim Hals.
"Verschone mich mit den abgedroschenen Phrasen eurer billigen Gruselgeschichten, Kurzlebiger! Außerdem hätte ich selbst Kugeln aus Silber oder Gold aus meinem Körper treiben können, weil noch viele Leben darin wohnen. Aber ich gebe mich nicht mit billigen Erfüllungsgehilfen ab", sagte sie völlig gefühllos klingend. Dann umklammerte sie mit ihren Händen wie mit Schraubstöcken den Kopf des Taxifahrers und drehte ihn mit einer spielerischen Handbewegung einmal links herum. Buck konnte nur noch einen in ein kurzes ersticktes Röcheln ausklingenden Schmerzensschrei von sich geben, bevor mit einem häßlichen Knirschen und Knacken seine oberen Halswirbel brachen. Der abgebrochene Knochen seiner Wirbelsäule bohrte sich durch Fleisch und Haut und stach leicht blutig bleich aus seinem Nacken hervor. Buck fiel wie ein nasser Sack zu boden, mit auf den Rücken gedrehtem Kopf.
Freddy sprang auf und wollte vor der Bestie in Frauengestalt fliehen. Doch sie war schnell und gewandt und bekam ihn mit einem gezielten Griff zu fassen und zerrte ihn zurück.
"Ich warne dich, Monster! Im Haus sind noch ..."
"Keine Leute, Freddy. Du warst dir deiner Sache zu sicher. Damit du nicht dumm stirbst: Ich hatte nie vor, deine Mädchen bei ihrer Arbeit zu stören. Wenn es Männer brauchen, sollen sie es bekommen können. Und wenn Frauen dafür Geld nehmen, auch gut. Aber du, Freddy, du störst mich. Außerdem schuldest du mir jetzt etwas, das ich hier und jetzt von dir eintreiben werde", sprach die Frau, die sich Richard als Loretta vorgestellt hatte, mit einer eiskalten, aber immer noch betörend tiefen Stimme.
"Was soll das sein?" Röchelte Freddy im Würgegriff der Monsterfrau.
"Deine Kraft, deine Willensstärke, dein ganzes essentielles Selbst. Das werde ich mir jetzt einverleiben. Komm her!" Erwiderte Loretta Irene Hamilton, drehte Alfred Bollmann mit dem Gesicht zu sich und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Dabei ließ sie mit der Einen Hand ihr Kleid und den Unterrock zu Boden gleiten, während sie Freddy mit der anderen Hand festhielt. Er konnte sich nicht wehren. Der Blick der goldenen Augen bohrte sich in seinen Geist, fraß sich darin fest. Der Sog, mit dem sie ihn küßte, zog ihm die verbliebene Kraft aus dem Körper. Dann hatte sie auch ihn soweit entkleidet, daß sie sich mit ihm in der Körpermitte treffen konnte. Unvermittelt meinte Freddy, in einen tiefen aber wohligen Abgrund zu stürzen, immer schneller, je heftiger die Bewegungen wurden. Dann vermeinte er, in eine Feuerhölle hineinzufallen, als sein Körper unter heftigen Erschütterungen alles gab, was er zu bieten hatte. Das Feuer wurde lodernder. Dann stürzte Freddy kopfüber in ein schwarzes Nichts. Für einen Moment glaubte er, in einem anderen Körper wiederzuerwachen. Doch dann versiegten alle seine Sinne.
Loretta ließ den total aller Lebenskraft beraubten Körper Freddys sanft in einen Sessel gleiten, zog ihm sorgfältig alle seine Sachen wieder an, nahm sein Messer auf und rammte es mit einer schnellen Bewegung in sein nicht mehr schlagendes Herz. Dann atmete sie tief durch. Sie genoß den herben prickelnden Geschmack der Lebenssubstanz, die sie gerade in sich aufgesogen hatte. Sie spürte noch, wie Freddys in sie übergetretene Seele versuchte, sich auszubreiten, bis ihr Organismus sie auflöste und für sich brauchbar verwertete. Sie spürte, wie das durch die Gewalt entrissene Leben, das sie am vortag gekostet hatte, voll und ganz ersetzt wurde. Dieser Freddy war nicht nur körperlich stark, sondern auch mit einem starken Willen ausgestattet gewesen, erkannte sie. Doch er hätte sie gestört und hatte so zumindest einen wichtigen Beitrag zu ihrer Existenz geleistet. Mit dieser erquicklichen Erkenntnis zerfloß sie einfach zu einem Hauch weißen Nebels, der ungehindert durch die halb offene Tür davonglitt und unangefochten zum nun menschenleeren Haus hinauswaberte, wie Nebel über einer Wiese.
Erst vier tage später wurden Buck und Freddy gefunden, als Jacqueline ihrem "Patenonkel" seinen Anteil am Gewinn bringen wollte. Der Fall wurde als Konkurrenz unter Kriminellen abgehandelt. Daß das Messer in Freddys Brust erst nach dem Tod hineingestoßen worden war, betrachtete der untersuchende Pathologe als Untersuchungsfehler. Da Freddy keine Angehörigen hatte, fiel sein Grundbesitz an den Staat New York.
Halloween war in New York ein einziges organisiertes Chaos, empfand es Maria Montes, als sie mit ihren Neffen und ihrem Mann um die Häuser ging und um Süßigkeiten bat. Sie genoß nach dem Trubel um die Dämonen und die Zauberer die falschen Gruseleffekte, die Verkleidungen und die unheimlichen Kürbislaternen. Als die Kinder dann um elf Uhr ins Bett verfrachtet worden waren, feierten die Montes' und ihre Verwandten im geräumigen Wohnzimmer weiter. Doch um ein Uhr war auch für die temperamentvollen und feierlustigen Mexikaner die Fiesta zu Ende. Sie legten sich erschöpft und voll des süßen Weines zu Bett.
Am nächsten Tag reisten Maria und Enrique Montes von Alejandra und ihrer Familie ab. Schon um zehn Uhr bestiegen sie ein Flugzeug nach Mexiko Stadt und nahmen von dort aus eine kleine Maschine, die sie in die Nähe von Los Alamitos brachte. Dort warteten bereits die hier wohnenden Verwandten von Maria, drei Onkel, deren Familien und deren angeheiratete Verwandtschaft, um mit ihnen den Tag der Toten zu feiern.
Anders als bei Halloween galt hier nicht der Grusel und die geisterhafte Stimmung als wichtig, sondern Utensilien wie kleine Totengerippe aus Backwerk, geschnitzte Schädel und kleine Grabsteine mit den Namen derer, die geehrt wurden. Man feierte das Andenken der Verstorbenen, indem man ihr gutes Leben pries und sie mit viel Gesang und Musik verehrte. Die Feier zog sich durch die ganze Nacht. Am nächsten Tag trugen alle die, die ihre hier beerdigten Angehörigen ehren wollten, Kerzen und Blumen zum Friedhof. Dort legte Maria Purificación Montes geborene Alvarez einen großen Blumenstrauß und einen Schokoladenkuchen hin, den sie am Vortag noch gebacken hatte, wie es ihre Großmutter Maria Concepción ihr beigebracht hatte. Als sie über das Grab ihrer Großmutter gebeugt stand flüsterte sie:
"Großmutter Conchita, ich habe dir immer zugehört, dich immer geehrt und mich stets gefreut, wie lieb du mich hattest. Ich muß zugeben, daß ich dir damals nicht alles geglaubt habe, was du von den Mächten des Guten und des Bösen erzählt hast. Sicher wußtest du das längst. Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen. Doch heute weiß ich, daß vieles wahr ist, was du mir immer schon erzählt hast. Weil ich durch dich gelernt habe, die Wahrheit zu erkennen und mich dein Wissen geschützt hat, als mich die dunklen Mächte überwältigen wollten, danke ich dir heute besonders herzlich für alles, was du mir gegeben hast, deine Liebe, deine Kochrezepte, deine Zeit und das silberne Kreuz."
Maria Montes küßte einen blanken Stein, den sie mitgenommen hatte und legte diesen mit der Seite nach unten in die Grabeserde, auf die sie ihren Kuß aufgebracht hatte, auf daß die zärtliche Geste bei ihrer Großmutter ankommen möge. Danach überließ sie den anderen Verwandten, sich mit ihrer Großmutter zu unterhalten.
Das Fest dauerte noch bis in die späten Nachtstunden. Erst spät am nächsten Tag kehrten die Montes' nach Jackson zurück. Ereignisreiche Wochen lagen nun hinter ihnen. Ereignisreich in jeder Hinsicht. Der Alltag konnte sie nun wieder einholen. Doch für Maria Montes würde es nicht mehr wie früher sein. Sie wußte nun, daß es dort draußen eine zweite Welt gab, in der Magie und Monster, Zauberkundige und Zaubergegenstände alltäglich waren. Sie wußte, daß sie eine Fensterguckerin war, die dazu geboren war, magische Dinge zu sehen, obwohl sie nichts mit Zauberei zu tun hatte. Sie wußte, daß ihr Kreuz, das Erbstück ihrer Großmutter, ein wertvolleres Schmuckstück war, als sie ursprünglich geglaubt hatte. Sie hoffte jedoch, bis auf wweiteres nichts mit Magie zu tun zu bekommen.
Als sie zwei Wochen nach Halloween einen Fall zu den Akten legte, der zwei Monate Ermittlungsarbeit beansprucht hatte, läutete das Telefon auf ihrem Schreibtisch.
"ja, Maria Montes hier", meldete sie sich sachlich.
"Jane Porter hier, Ma'am. Sie erinnern sich doch noch an mich?"
"Öhm, ja natürlich", erwiderte Maria Montes erschrocken.
"Sehr fein, meine Gute. Ich möchte nämlich von Ihnen wissen, ob ich mit diesem Jungen sprechen kann, diesem Benjamin Calder."
"Hmm, die Leute aus Dropout sind alle bei Verwandten untergekommen. Ich weiß nicht genau, wo die Calders nun leben. Aber unser Computer kriegt das raus. Wie kann ich sie erreichen?"
"ich habe mir das kleine nützliche Gerät - Mobiltelefon heißt das ja bei Ihnen - von Ihrem Kollegen Marchand ausgeborgt. Wenn Sie dessen Nummer haben, können Sie mich in den nächsten zehn Stunden noch erreichen.
"In Ordnung", sagte Maria Montes und verabschiedete sich ohne den Namen der Anruferin zu sagen. Dann ging sie an ihren Computer, wählte sich ins Einwohnermelderegister ein und ließ nach Benny Calder suchen. Sie fand eine Adresse bei Seatle. Als sie dort anrief, erfuhr sie eine befremdliche Neuigkeit:
"... Das Sie anrufen, Spezialagentin Montes, erscheint mir nicht ungewöhnlich", sagte Mrs. Calder. "Benny ist seit drei Wochen verschwunden. Die Polizei sucht ihn schon. Können Sie Ihr Büro nicht auch ..."
"wie, er ist verschwunden? Natürlich werde ich alle FBI-Büros informieren. Wenn er entführt wurde sind wir eh zuständig."
"nein, er wurde nicht entführt. Zumindest wurde er nicht von uns aus entführt. Er ist einfach mit einigen Leuten durchgebrannt, nachdem mein Mann und ich mit ihm Streit hatten. Es ging um die Schule, die er hier besucht. Weil Donna und die anderen Jugendlichen aus Dropout ja anderswo leben, ist er hier total isoliert, und die Kinder hier trietzen ihn. Die paar Freunde, die er gefunden hat, sind aber nicht so astrein. Vielleicht ist der mit denen auf die schiefe Bahn geraten", erwiderte eine sichtlich niedergeschlagene Maggy Calder.
"Ich verspreche Ihnen, daß wir Ihren Jungen finden werden", sagte maria Montes laut und fügte in Gedanken hinzu: "Hoffentlich noch lebend." Sie verabschiedete sich von Maggy Calder und legte auf.
Eine Viertelstunde später hatte sie die bundesweite Suche nach Benny Calder angeleiert. Dann rief sie Mrs. Porter an und erzählte ihr, was sie gehört hatte. Jane Porter schien sichtlich betroffen zu sein.
"Ja, ich hörte, daß Schulkinder in Ihrer Welt heute unter großem Druck stehen und viel Gewalt an den Schulen passiert. ich hoffe, Ben Calder ist nicht in Gefahr. Wenn Sie ihn gefunden haben, lassen Sie es mich wissen. Zachary kann mich jederzeit informieren, wenn es etwas gibt."
"In Ordnung", sagte die Polizeiagentin und verabschiedete sich von Jane Porter.
Halloween! Dieser Tag war selbst in dieser quirligen, bunten schrillen Stadt wie New York ein Sonderfall im Jahr. Kobolde, Hexen und Geister, Roboter, Dinosaurier und Astronauten, Ritter, Prinzessinnen und Piraten bevölkerten die Straßen, der jüngste zwei Jahre, der älteste neunundneunzig. Richard Andrews hatte sich in einem Kostümverleih mit einer Verkleidung als Robin Hood ausgestattet, inklusive einem Bogen, zehn stumpfen Plastikpfeilen und einem Aluminiumschwert, auf dessen Klinge er bequem nach London zurückreiten konnte. In der jägergrünen Kluft mit Federhut und Schnallenschuhen nahm der Forschungsleiter aus England an einer innerbetrieblichen Halloweenparty teil. Er war nicht der einzige, der sich verkleidet hatte. Seine Mitarbeiterin Elvira Walker hatte sich als Squaw verkleidet, sein Mitarbeiter Sullivan hatte sich mit viel technisch wirkendem Stückwerk bekleidet und stellte einen dieser halbrobotischen Borgs aus der Star-Trek-Serie dar, während Vierbein als altpreußischer Gardeoffizier uniformiert war. Er genoß nach langer Zeit mal wieder jenes herrliche Gefühl, nicht immer ernst zu bleiben und sich wie ein Kind in unsinnig erscheinende Sachen zu stürzen. Als Richard um Mitternacht das Klo besuchte, fiel ihm ein Mann aus einer Kabine entgegen, der ein breites Messer im Rücken stecken hatte. Er erschrak fast zu tode, als der Leichnam krachend vor seinen Füßen landete. Doch als er sich wieder einigermaßen beruhigte, stellte er fest, daß es ein mit Schaumstoff angefüllter Dummy, eine Menschenattrappe war, ein Halloweenscherz.
"Das hätte ich mir denken sollen", schnaubte Andrews, als er vor dem Urinal stand und den nicht mehr benötigten Rest von zehn Gläsern Wasser und Wein ins Becken abstrahlte. Als er dann mit geordneter grüner Tracht zurück in den Festsaal ging, kam ihm sein derzeitiger Vorgesetzter entgegen. Fast hätte Richard den zweiten Schrecken dieses Abends bekommen, als ihm ein Mann in langem schwarzen Umhang mit schwarzem Spitzhut und einem schlanken Holzstab in der rechten Hand entgegentrat. Doch dann beruhigte er sich. Die meisten hier herumlaufenden Hexen und Zauberer waren normale Leute, wenn die Feier des großen Kürbisses vorbei war. Neben seinem Chef, dem Zauberer, stand dessen Ehefrau, die in einem rosa Strampelanzug steckte, ihre Büste wohl mit viel Luft anhalten und Gezwänge abgeflacht hatte und ein Mützchen wie ein Baby auf dem Kopf trug. Sie hielt ihm ein einem Nuckelfläschchen gleichendes Glas entgegen und fragte, ob er noch was trinken wolle.
"Danke, Gnädigste, aber aus dem Alter bin ich dann doch schon raus", erwiderte Andrews mit verschmitztem Lächeln. Ihr Gatte sagte mit dräulich klingender Stimme:
"Spotte nicht meiner Gemahlin, Schurke von Sherwood, oder Lord Afranius der Düstere wird seinen Fluch über dich sprechen."
"Hat der eine Ahnung", dachte der Halloween-Robin-Hood. Er sagte: "Die Mächte der keltischen Götter sind mit mir, böser Magier. Dein Hexenwerk wird nichts vermögen wider die heiligen Kräfte der alten Druiden, welche meinen Wald beschirmen."
"o das war gut", grinste der schwarze Zauberer anerkennend. "Sie haben Ihren britischen Humor ja doch noch nicht ganz im Reagenzglas verkocht, Dr. Andrews. Aber wenn Sie keinen Drink mehr wollen, auch gut."
Elvira Walker kam herüber und fragte Richard, ob sie noch einmal mit ihm tanzen würde. Richard, vom Wein leicht schwindelig, sagte zwar zu, ärgerte sich aber darüber, daß er mit Martha seiner Frau lange nicht mehr korrekt getanzt hatte und sein hart verdientes Geld dummerweise in die Tanzausbildung seines Sohnes gesteckt hatte. Dort war es zwar richtig investiert worden, wußte er von Martha, aber ärgern tat es ihn schon, daß er nicht mehr richtig tanzen konnte.
Um zwei Uhr kehrten alle Feierseligen mit Taxis nach Hause zurück. Dr. Andrews passierte die Schranke, schritt beschwipst in sein Haus und fuhr mit dem Aufzug, den sie in Amerika Elevator nannten, zu seiner Wohnung hinauf. Als er die Wohnung aufschloß, fand er ein kleines Paket hinter der Tür. Offenbar hatte ihm jemand etwas durch den in die Tür eingebauten Briefschlitz geschoben. Er bückte sich, wobei er fast das Gleichgewicht verloren hatte, hob das Päckchen auf und trug es in den Wohnraum. Er schaltete das kleine Licht über dem Couchtisch ein und öffnete das Paket. Drinnen lag eine Schachtel Pralinen und ein Brief, der die schöne runde Schrift einer Frau trug und leicht nach einer Parfümmischung duftete, die Richard irgendwie an wilde Wiesenkräuter erinnerte. Er las:
Hallo, Richard!
Schade, daß Sie nicht zu der Halloweenfeier am Times Square kommen konnten. Es war viel los hier. Ich habe selten so viele grauenhafte Dämonen auf einem Haufen gesehen, als in dieser Stadt an diesem Tag. Ich selbst trug, falls es Sie interessiert, das Kostüm einer orientalischen Prinzessin.
Ich habe jetzt auch meine eigene Wohnung sicher. Ich würde mich freuen, wenn Sie übermorgen zur Einweihungsparty kommen. Zehn Kollegen aus meinem Institut und ein paar Nachbarn werden dabei sein. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich unter der Nummer
22 03 999
anrufen, um mir zu sagen, ob Sie kommen können oder nicht.
Als Dank für Ihren Kavaliersdienst vor zwei Tagen habe ich in einem Konditorladen eine exquisite Pralinenmischung zusammenstellen lassen, da ich leider Ihre Lieblingsdinge nicht kenne und daher nichts perfekt angemessenes beschaffen konnte. Noch mal vielen Dank für die Hilfe und den schönen Abend und die Hoffnung, daß wir uns wieder sehen können,
Loretta Irene Hamilton
Richard wiegte den vom Wein berauschten Kopf. Warum machte diese Frau so viel Aufheben um eine Gefälligkeit, die ihm außer einigen Gläsern Fruchtsaft in einer Nepperbar kein Geld gekostet hatte? Dann dachte er wieder an das Parfüm, mit dem der Brief dezent getränkt worden war. Es stieg ihm zu Kopf wie der Alkohol. Es ließ ihn an jenen letzten Traum von Roxana Halliti denken, den er vor seiner Abreise aus London geträumt hatte. Wieso sah diese Loretta Hamilton bis auf wenige Kleinigkeiten genauso aus, wie diese Traumfrau? Doch die Frage verflog wieder. Er würde hingehen und mitfeiern, falls ihm die Arbeit Zeit ließ. Die Polizei wollte im Moment nichts mehr von ihm, da er seine Aussage gemacht und zu Protokoll gegeben hatte. Also stand ihm der Gegenbesuch bei der Archäologin, die in Cambridge studiert hatte und nun in Südengland wohnte, nichts entgegen.
Patricia Straton vergnügte sich zu Halloween mit ihren alten Schulkameradinnen aus Thorntails. Einige von denen hatten sich im Zaubereiministerium in Washington eine Stelle sichern können, andere hatten gesellschaftlich gut geheiratet und trugen bereits die ersten Kinder stolz in ihren Schößen. Sie ließ die Flachsereien und alten Kamellen wie einen einfachen Waldbach neben sich herplätschern. Ihr ging es um wichtigeres. Sie hatte von der höchsten Schwester den Auftrag erhalten, ihre Kontakte ins Ministerium zu streicheln, um zu prüfen, ob nach der Vernichtung der Dementoren was nachgekommen war. Eine besonders dem Kürbislikör zugetane Hexe, Shirley Dewdrop, die in der Abteilung für magische Strafverfolgung arbeitete, war bereits ziemlich gut benebelt.
"Ah, Trish, Mädel", flötete sie Patricia entgegen und hauchte ihr eine beachtliche Fahne des süßen Kürbissaftlikörs entgegen. "Amüsierst du dich auch?"
"Sicher, Shirley. Seit dem Abschlußball habe ich ja mit keinem von euch mehr quatschen können", erwiderte Patricia Straton.
"Ja, es ist schon viel los gewesen seit der Thorny-Zeit", entgegnete Shirley bereits leicht lallend. "Die Purplecloud hat mit dem Boss was gegen Du-weißt-schon-Wen angeleiert, falls der doch mal wieder hochkommt, ... Hicks! ... Un' die Verdant kriegt wieder was kleines ... Hicks! ... wohl im nächsten Frühjahr. Wird dann die fünfte Ladung sein."
"Ich habe Blossom heute nur zweimal gesehen. Die ist ja ganz schön eingespannt, wenn sie jetzt als Mummy-Aushelferin ran muß", nahm Patricia Straton den Ball auf, den Shirley gespielt hatte.
"Weißt du, was die mir vorhin gesteckt hat? Aber pssst! Muß nicht jeder wissen, schon gar nicht Laura Canabis. Die suchen 'ne neue Schwesternschaft von Hexen, die wohl irgendwie nicht mit dem, der nicht genannt werden darf, grün ist. Dabei soll sogar 'ne Patricia sein, hat sie rausgelassen. Deshalb hat sie mit dir wohl nichts bequatschen wollen ... Hicks! ... und sich schön weit fortgehalten."
"Soso", grinste Patricia äußerlich. Innerlich war sie jedoch schlagartig erregt. Sie sah Shirley an, suchte den direkten Blickkontakt mit ihr, was bei den vom Alkohol im Kürbissaftlikör eingetrübten Augen nicht so einfach war und horchte mit ihren angeborenen Sinnen in die schon träge und holperig herumtreibenden Gedanken an der Oberfläche des Geistes ihrer Gesprächspartnerin. Dabei erfaßte sie, daß man bei dem Angriff der Dementoren auf den Muggelladen in New York offenbar drei Frauen belauscht hatte, die sich mit Schwestern angesprochen hatten und dabei eine Patricia dabei sein sollte.
"Hmm, ich wußte schon immer, daß meine Namensvetterin McDuffy mal großen Unsinn anstellen wird", sagte Patricia Straton, die eine gute Ausrede parat hatte. Patricia McDuffy, die fünf Jahre älter als sie war, hatte wie sie in Durecore in Thorntails gewohnt, sich aber mit einem Redhawk-Schüler eingelassen, einem Draufgänger und Hitzkopf. Ihr hatten alle Lehrerinnen und Lehrer vorhergesagt, eines Tages in Doom Castle zu landen, dem gefürchteten Zauberergefängnis nordamerikas, das auf einer unortbaren Insel südlich der von Muggeln gleichermaßen gefürchteten Insel Alcatraz lag und für seine harten Haftbedingungen bekannt war. Dort gab es zwar keine Dementoren. Dafür wurden den Gefangenen durch ein altes, an und für sich schwarzmagisches Ritual, die Seelen von den Körpern getrennt. Die Körper wurden in scheintotem Zustand in Steinsärgen verborgen, während die Seelen in durchsichtigen Kugelbehältern aufbewahrt wurden, nur noch der Gedankensprache, dem Mentiloquismus, fähig. Die Zeit konnte dort vergessen werden, egal, ob jemand für zwei Wochen oder das ganze Leben eingekerkert wurde.
"Ich denke mal, so blöd kann die McDuffy nicht sein, daß die sich mit wem einläßt, der oder die gegen ... hicks! ... den ganz Bösen kämpft", lallte Shirley. Patricia Straton nickte. Sie horchte ihre Gesprächspartnerin weiter telepathisch aus und erfuhr, daß ein Ministeriumsmitarbeiter, der als Kontakter in der Muggelwelt arbeitete, eine Ohrenzeugin aufgetan hatte, die durch einen ihr nicht bekannten Schutzzauber vor Entdeckung sicher war. Näheres war jedoch geheime Verschlußsache.
"Nun, dann werden di Patricia McDuffy, die alte Patty Redlief und wohl auch mich bald vorladen, um uns zu verhören", flachste die Schwester vom Spinnenorden. Shirley kicherte albern und erwiderte:
"Na klar, wenn die alle Patricias prüfen müssen ... hicks ..., die hier in Amerika leben, vielleicht auch die aus anderen Ländern, wird's lustig. Gut, daß diese Schwester nicht Maria heißt."
"Oder Shirley", bremste Pat Straton die aufkommende Erheiterung abrupt ab. Shirley starrte sie mit ihrem vom Alkohol umnebelten Blick an und fragte:
"Meinst du das ernst?"
"Klar, Shirley. Wenn es eine neue Vereinigung gibt, die nicht für das Ministerium arbeitet, müssen die alle Namen prüfen. Schönen Abend noch und verapparier dich nicht. Nicht das du morgen früh bei einem Muggel im Bett aufwachst und von dem ein Neun-Monate-Paket mitnimmst."
"Wuäää! Bist du blöd", gab Shirley verärgert zurück und wankte davon.
Nach der Party kehrte Pat Straton zu ihrer Mutter zurück. Auf dem Wege des Gedankensprechens unterhielten sie sich lautlos über die Party und daß da wohl wer als Ohrenzeugin mitgehört hatte. Pandora Straton lächelte gekünstelt und antwortete ihrer Tochter im Geiste:
"Das erfuhr die höchste Schwester bereits gestern. Ihr habt die nicht mitbekommen, weil die wohl von mächtigen Unentdeckbarkeitszaubern geschützt wurde. Die höchste Schwester hat schon was in die Wege geleitet, um dich aus dieser Sache herauszuhalten. Sie hat nämlich für dich einen Sonderauftrag, hat sie mir heute mitgegeben."
"Und wieso teilte sie mir das nicht persönlich mit, Mutter?" Fragte Patricia auf gedanklichem Wege.
"Weil du dich noch einmal amüsieren solltest, bevor du aufbrichst. Sie wird dir nach Halloween alles erzählen."
"Gut, dann werde ich warten und so tun, als wüßte ich nichts davon, daß ich von der Angelegenheit weiß. Gut, daß wir wen im Ministerium haben."
"Ja, unser Netz auszulegen bevor wir irgendwas großes unternehmen, war die beste Lösung, um uns abzusichern. Schlaf gut, Zauberfee!"
Patricia Straton ging zu Bett. Sie hoffte, daß sie bald etwas wichtiges für ihren neuen Orden unternehmen konnte.
Das erste, woran sich Madame Margo erinnerte, als sie nach einem höllischen Alptraum wieder aufwachte, war ein Krankenhausbett, in dem sie lag. Dann hatte sie ein Arzt untersucht, gestaunt, sie noch mal untersucht, befragt, wie es ihr ginge und dann gesagt, daß sie nach einem Stromschlag vier Tage lang im Koma gelegen habe. Sie fragte, was denn passiert sei und erfuhr, daß sie bei der Hantierung mit einem UV-Strahler zur Hauttönung einen elektrischen Schlag erhalten habe. Dies sei zwei Tage vor Halloween gelaufen. Nun sei sie jedoch wohl außer Gefahr.
Zwei Tage später wurde sie entlassen, nachdem ein EKG und ein EEG sie als gesund und außer Gefahr angezeigt hatten. Daß sie zwei Tage lang in einem für normale Menschen nicht existierenden Krankenhaus zugebracht hatte und durch geheime Kanäle des Zaubereiministeriums in eine Spezialklinik in New York verfrachtet wurde, nachdem sie auf wundersame Weise ihre Seele wiedererlangt hatte und mit starken Gedächtniszaubern belegt worden war, konnte sie nicht wissen.
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