© 2004 by Thorsten Oberbossel
Nachdem sich Anthelia, die Nichte der dunklen Hexe Sardonia, welche vor Jahrhunderten körperlich starb, den beim trimagischen Turnier enttarnten Handlanger Voldemorts Barty Crouch als neuen Körper ausgesucht hat, weil Barty Crouches Seele auf Minister Fudges Anweisung von einem Dementor ausgesaugt wurde, führt sie in dem neuen, zur Frau umgewandelten Körper die Schwesternschaft der schwarzen Spinne, die die Vorherrschaft der Hexen über alle Menschen anstrebt. Das Ritual, mit dem sie wiederkehrt, wird von dem Jungen Ben Calder belauscht. Sie bringt den Halbwüchsigen in ihre Gewalt und unterwirft ihn einem Fluch, der ihn gedanklich mit ihr verbindet. Danach schickt sie ihn in seine eigentliche Lebenswelt zurück.
Anthelia jagt nach den alten Geheimnissen der schwarzen Hexe Sarah Redwood. Dasselbe tut Voldemort. Er kann jedoch nicht in das alte Haus Sarah Redwoods eindringen, weil dieses durch einen Fluch geschützt ist, der nur direkte Blutsverwandte durchläßt. Er versucht, Alwin Redwood, einen Nachkommen Sarahs, sowie dessen Sohn Chuck in seine Gewalt zu bringen. Doch beide sterben dabei. Doch dies stimmt nicht ganz. Tatsächlich hat Anthelia den Jungen Chuck vorher aus dem Haus locken und zu Sarahs altem Landhaus lotsen können. Der tote Chuck ist ein durch einen Zaubertrank verwandelter Todesser, den die Spinnenschwestern hinterließen, um Voldemort zu täuschen. Chuck erweckt die in einem Steinsarg tiefschlafende Sarah und wird von dieser überwältigt, weil er nicht an ihrer Seite gegen die gesetzestreuen Zauberer kämpfen will. Doch Sarah findet wenige Zeit später den Tod in einem von ihr provozierten Duell mit Anthelia, die sich mit ihrem schwarzmagischen Seelenmedaillon Wissen und Erfahrungen Sarahs einverleibt.
In der Nähe des alten Plantagenbesitzerlandhauses im amerikanischen Bundesstaat Mississippi kommt es bald zu einem mörderischen Bandenkrieg zweier großer Verbrechergruppen, bei dem Ben Calders Heimatstadt Dropout niedergebrannt wird. Anthelia muß sich gegen die beiden Banden wehren, die ihr den Besitz streitig machen wollen.
Vor Halloween versucht Voldemort, alte Getreue in den Staaten zu mobilisieren. Dabei gerät die für die amerikanische Bundespolizei FBI arbeitende Maria Montes in den Bann zweier Dementoren. Sie kann den Dementoren nur entkommen, weil sie ohne es wirklich zu wissen ein hochpotentes magisches Artefakt bei sich trägt, das als christliches Kruzifix geschaffen ist und vor langen Zeiten mit wirksamen Schutzzaubern behandelt wurde. Dies und die Tatsache, daß sie eine sogenannte Fensterguckerin ist, eine Person aus der nichtmagischen Welt, die magische Vorgänge mit ihren Sinnen wahrnehmen kann, ohne selber zaubern zu können, erfährt Maria Montes von einer Hexe in New Orleans. Diese erfährt im Gegenzug von einer Schwesternschaft, die sich für diese Dementoren interessiert.Anthelia wehrt die Dementoren ab und jagt die Getreuen Voldemorts. Doch dieser ist nicht lange ihr einziges Problem. Ein Chemiker aus England, der in Amerika arbeitet, lernt eine betörende Frau kennen, die jedoch ein gefährliches Monster ist, das jeden töten kann, der sich ihm in den Weg stellt.
Weil Anthelia mit Voldemorts Getreuen so viel um die Ohren hat, vernachlässigt sie die Überwachung des weit von ihr wohnenden Ben Calders. Doch nun muß sie sich um ihn kümmern, denn er ist ins Fadenkreuz mehrerer ihr lästigen Interessengruppen geraten.
Ben Calder hatte Angst. Vor ihm standen zwei hochgewachsene Jugendliche mit Baseballschlägern in den Händen, und hinter ihm stand einer mit einer Pistole, die eindeutig echt war. Rechts von ihm lag Joe, sein neuer Schulfreund, den er hier in Seattle gut zu kennen glaubte, nachdem er einen Monat nach dem Großfeuer in der Kleinstadt Dropout aus der Obhut von Ärzten und Psychologen entlassen und mit seiner Mutter zu ihrem Bruder Abraham Jorkins geschickt worden war. Er hatte sich mit Joe und Wilson angefreundet, die wie er einen schlechten Stand in der neuen Highschool hatten, jedoch zu stark waren, um sich einschüchtern zu lassen. Wilson, sein zweiter neuer Freund, lag gefesselt über einer Turnbank und röchelte, wweil ein Strick ihm den Hals zuzuschnüren drohte. Die drei Jungen waren Mitglieder der Piranhas, einer Gruppe von vierzig Sechzehnjährigen, die die Schule terrorisierte, Taschengelder abkassierte und Schüler, die zu gut in bestimmten Fächern waren einschüchterte, ihnen die "übergroßen Schädel" einzuschlagen, wenn sie meinten, hier "die großen Hirnchampions" sein zu wollen. Benny Calder hatte es gewagt, Mauro, einen bulldoggengesichtigen Schläger der Piranhas mit seinen Fäusten zu bearbeiten, vor den Augen der Eingeschüchterten, sowie der Gangster selbst. Mauro hatte auf ganzer Linie verloren. Doch damit hatten Ben und seine neuen Freunde sich die Piranhas zu erbitterten Feinden gemacht. Sie hatten Wilson, den schwächsten aus dem neuen Dreiergespann, auf dem Weg nach Hause abgefangen und in die Turnhalle geschleppt, in der nun, wo es bereits sechs Uhr abends war, nicht einmal der Hausmeister mehr auftauchen würde. Und wenn schon! Spike, der Anführer der Piranhas, hatte Wachen aufgestellt, um die Bestrafungsaktion ungestört durchzuziehen.
"So, du Supermann, jetzt kriegst du deine volle Packung. Dann hängen wir euch alle mit den Köpfen nach unten an die Ringe und lassen euch lufttrocknen", höhnte Spike, ein an und für sich unscheinbarer weißer Junge, der es aus irgendwelchen Gründen geschafft hatte, die farbigen Mitschüler davon zu überzeugen, daß er sie alle zu den Topleuten der Schule machen würde. Fernando, Raul und Cliff, die am meisten gefürchteten Bandenmitglieder, lachten nur laut. Cliff, der nicht gerade der stärkste war und daher den Auftrag hatte, den überstarken Neuling mit der Knarre in Schach zu halten, grinste lässig, als seine Kumpane die Schläger schwangen. Wusch! Wusch! Zischten die Baseballschläger durch leere Luft, knapp an Bens Kopf vorbei. Er hatte Angst. Ja, soweit hatten sie ihn genau da, wie sie ihn haben wollten. Aber er hatte nicht etwa Angst vor dem Tod, sondern davor, zum Krüppel geschlagen zu werden und dann den Rest seines Lebens ohne Arme oder Beine bewegen zu können dahinsiechen zu müssen. Vor dem Tod hatte er keine Angst. Jetzt, wo die Lage auf Schmerz oder Tod hinauslief, war er sich sicher, daß er lieber den schnellen Tod haben wollte.
Ben wirbelte herum, als die Schläger erneut auf ihn zusausten. Er sprang vorwärts, genau auf die Pistole von Cliff zu. Dieser drückte jedoch nicht ab, wie Ben es gehofft hatte, sondern ließ die Waffe perplex fallen. Ben erwischte ihn und riss ihn herum. Krachend bekam Cliff einen Schläger voll auf die Nase.
"Eh, Scheiße! Du Memme!" Rief Spike und wollte seinen Leuten schon Einhalt gebieten, als der zweite Schläger, der von Raul geführt wurde, mit voller wucht auf dem Kopf des kleineren Piranhas landete. Dieser fiel stöhnend um, während Ben nach der Waffe tauchte, die Cliff entfallen war. Mit waffen kannte er sich aus. Der Vater seiner Freundin Donna hatte ihn schon oft heimlich mit Pistolen und einmal mit einem Jagdgewehr üben lassen, als weder der Sheriff noch Bennys Eltern in der Nähe waren.
"Wenn du meine Kleine haben willst, mußt du lernen, mit sowas umzugehen, damit du sie beschützen kannst", hatte Flintenroy Cramer ihm vollmundig gesagt.
"Eh, lass die Knarre!" Rief Spike und sah, wie Ben die Waffe auf ihn richtete. Er Pfiff schrill, bevor Ben abdrückte und mit lautem Knall eine Patrone verfeuerte. Die Kugel traf Spike genau im rechten Knie. Er fiel um. Doch da kamen sie schon an, die zehn auf Posten gewesenen Piranhas mit ihren Messern, Baseballschlägern und angebrochenen Bierflaschen. Jetzt war es aus, dachte Ben, als Joe plötzlich aufsprang und etwas rundes warf, das mitten im Flug explodierte. In einen Nebel beißender Schwaden gehüllt zuckten die Gangster zurück, keuchend, hustend. Joe warf Ben um, nahm ihm die Waffe ab und feuerte wie ein Kampfroboter so geschwind, genau und gefühllos in die Menge. Jeder weitere Schuß war ein Volltreffer. Erst fiel Raul, dann Fernando, dann Spike, danach Spider, dann Ripper. Schließlich erwischte es auch Maneater, einen hageren Afroamerikaner mit wilden Tätowierungen im Gesicht, die zusammen mit seiner brutalen Art, zahlungsunwilligen Schülern ganze Stücke Haut aus den Armen zu schneiden und sie vor deren Augen zu essen seinen Namen eingetragen hatten. Alle getroffenen blieben liegen und würden liegen bleiben, bis ihre Körper zu Knochenhaufen zerfallen würden. Dann knallte es nicht mehr. Die waffe war restlos leer. Die restlichen Piranhas zogen sich zurück, flüchteten in der Panik, die einer Herde aufgescheuchter Hühner eigen ist. Keiner dachte an Rache, nicht jetzt.
"Mann, Joe, du hast die alle umgenietet!" Rief Ben hustend und weinend, denn das Reizgas hatte keinen Unterschied zwischen Freund und Feind gemacht.
"Na und?!" Keuchte Joe. "Die wollten uns zu Mus hauen und dann aufhängen. Wir haben uns nur gewehrt, Ben! Nur gewehrt!!"
Prustend und mit geröteten Augen holten sie sich Rippers und Maneaters langes Messer und durchschnitten die Kabel, mit denen Wilson gefesselt worden war. Völlig gefühlsleer ging Joe zu den erschossenen hin und nahm ihnen alles brauchbare ab, Handys, Geld, einige Muntermacherpillen, sogar zwei weitere Magazine für die Waffe, mit der Joe geschossen hatte. Ben sagte schnell:
"Das Geld gehört den Leuten, die Spike abgezogen hat, Joe. Das sollten wir dem Rektor mit einem Schreiben in den Briefkasten ..."
"Noch so'n Sonderwunsch, Kleinstadtbubi?" Fragte Joe, plötzlich alles andere als hilflos oder gar freundschaftlich dreinschauend. "Die wollten uns alle machen, Ben. Wir können hier nicht bleiben. Der Weg in die Freiheit kostet Geld."
"Heh, Joe, Ben hat recht. Die Kohle is' blutig. Die gehört dir nich'", jammerte Wilson, der gerade erst seine geschundenen Gelenke wieder bewegte. Joe lud ruhig die Waffe.
"Ihr könnt mit mir kommen oder euch von den restlichen Piranhas fressen lassen", sagte er und zog dem letzten erschossenen das Portemonais aus der Lederjackentasche. Die Kreditkarte, die der Gangster einer Mitschülerin abgepresst hatte, ließ er fallen. Sowas brachte nur Unheil, weil man damit jemanden verfolgen konnte, wenn er etwas damit kaufte. Dann winkte er mit der entsicherten Waffe und rannte los, Richtung Umkleideräume.
"Wenn die sich draußen noch mal sammeln geht Joe gleich hops", unkte Wilson.
"Ja, und dann kommen die rein und ziehen die Nummer mit uns noch so durch, wie der ausgepustete Spike es haben wollte. Zwar ist sein Kronprinz Fernando mit im Höllevator abwärts gefahren, aber irgendwer wird sich schon finden der ..." Sagte Ben, als drei schnelle Schüsse hintereinander krachten.
"Außer Spike hatte niemand 'ne Knarre mit?" Fragte Wilson vor Angst zitternd.
"Neh, dann hätten die den ja jederzeit abfertigen können, wenn der ihnen mal den Rücken zugedreht hätte. Cliff hier war der einzige, dem Spike das nicht zutraute", sagte Ben und starrte auf den eingeschüchtert am Boden hockenden Cliff. Wilson nickte.
"Ich fürchte, Joe ist gerade im vollen Killerrausch, Ben. Der schießt nur, wenn er jemanden auch kalt machen kann. Aber recht hat er schon, daß wir ganz flott verduften sollten."
"Ja, aber wohin?" Fragte Ben.
"Ganz weit weg, bevor die Bullerei auf die Jagd nach Joe und uns geht."
"Oder die Piranhas", sagte Ben sehr beklommen klingend. Dann wandte er sich an Cliff.
"Eh, Cliff. Wir hatten nie vor, dich oder sonstwen von deinen Leuten umzunieten. Aber ihr habt Joe ja auf den Trichter gebracht. Wenn ich du wäre, würde ich jetzt die Concorde machen und mit Überschallgeschwindigkeit abfliegen. Die anderen von deinem Fischladen könnten meinen, daß du die nette Strafnummer vergeigt hast und Spikey deshalb Teufels Großmutter rammeln muß. Also Tschüs und auf nimmer wiedersehen!"
Cliff erschien diese Anweisung, die Ben ungewöhnlich gebieterisch losgelassen hatte, wie ein Zauberwort, das ihn aus seiner Starre löste. Er sprang auf, griff sich von Spike noch die Jacke und spurtete davon, wie ein Olympiasprinter nach dem Startschuß.
"Wollen mal hören, ob da draußen wer auf ihn wartet", flüsterte Ben Calder. Wilson nickte. Doch es blieb still. Kein Lärm, ob Fußgetrappel oder Schreie, drang zu ihnen. Offenbar hatte die losgelassene Kampfmaschine Joe bei ihrem Ausbruch die letzten erwischt und die, die dann noch laufen konnten von allen Racheplänen abgehalten. Nach zwei Minuten starteten auch Ben und Wilson durch. Sie rannten aber nicht zum Haupteingang, den die Piranhas geöffnet hatten, sondern durch die Mädchenumkleide zu einem Fenster, turnten dort hinaus und kletterten über eine niedrige Mauer, die zwischen der Turnhalle und dem Schulgarten lag. Sie rannten geduckt zwischen den Blumenbeeten und den Zierpflanzen durch, erreichten die Straße und stoppten. Wilson keuchte, weil sie mal eben einen 400-Meter-Lauf hingelegt hatten, der ihrem Sportlehrer, Mr. Johnson, alle Freude gemacht hätte. Doch für Ben schien dieser Gewaltlauf nichts besonderes zu sein. Ruhig, als sei er gerade einmal aus der Haustür gekommen, blickte er sich um. Dann sagte er: "Ich höre die Sirenen, Wilson. Die kommen über die Hauptstraße an. Irgendwer muß die Ballerei gehört haben. Sowas kommt ja in dieser Nobelgegend von Seattle nicht vor. Also, wohin nun?"
"Wir trennen uns. Bei unseren Alten können wir im Moment nicht aufschlagen, weil die Piranhas wissen, wo wir wohnen. Ich versuche, 'nen Ritt nach Chicago zu kriegen, wo ich bei wem unterschlüpfen kann, bis das Gras hoch genug ist", sagte Wilson. Ben nickte. Auch er wußte, daß er sich nicht mehr zu seinem spießigen Onkel trauen durfte. Denn entweder bekamen ihn die Piranhas da zu fassen oder Onkel Abe schickte ihn in eine Besserungsanstalt, wie er es ihm und seiner Mutter angedroht hatte, als Ben sich im Schulhof das erste Mal mit einem der Piranhas geprügelt hatte, der seine Digitaluhr und sein Handy haben wollte, da er als "Brandopfer" aus Dropout ja keine besseren Sachen hatte. Er dachte an Donna Cramer, seine Herzallerliebste, die in Houston Texas bei Cousinen ihres Vaters untergekommen war. Er dachte auch an seinen Vater, der seinen Job noch hatte und aus Jackson schon einmal eine Geldanweisung nach Seattle geschickt hatte, seitdem seine Mutter und er hier wohnten. Dann fiel ihm noch ein Name ein, hinter dem die Piranhas wie Kerzenlicht im Sonnenschein verblaßten: Anthelia, die Hexe. Doch gerade zu der wollte er bestimmt nicht. Außerdem wußte er nicht, ob sie überhaupt noch in der Nähe von Dropout in der alten Villa des Plantagenbesitzers und Sklavenschinders Stanley Daggers wohnte. Denn die Villa selbst schien beim Großfeuer ebenfalls verschwunden zu sein. Er alleine war sich sicher, daß das Daggers-Haus nicht von den Killern auf den grünen Motorrädern zerstört worden war. Dann hatte diese Anthelia es wohl eigenhändig verbrannt, um bei den Untersuchungen der Polizei, der Armee und der Geheimdienste nicht aufzufliegen. Er wollte also nicht zu Anthelia. Würde er nach Jackson durchzukommen versuchen, könnte er ihr genauso in die Quere kommen. Also blieb nur Houston. Aber was wollte er da? Doch über diese Frage würde er sich erst Gedanken machen, wenn er weit genug fort war.
Er lief schnell davon. Die Polizei war zumindest so fair, lautstark zu verkünden, wo ihre Wagen gerade herkamen. So schaffte er es, dem Sirenengeheul problemlos auszuweichen und durch kleinere Seitenstraßen zu laufen, die er noch nie besucht hatte. Er trug Rippers langes Messer unter seiner Jacke. Auch wenn er hier und heute gelernt hatte, daß er nicht töten wollte, mußte er doch unterwegs bestimmt auf einiges gefaßt sein.
Als er in die Nähe des Busbahnhofes kam, überlegte er, ob er mit einem der Greyhound-Reisebusse losfahren sollte. Er hatte von seinem Vater noch zweihundert Dollar bekommen, die er sicher in einer Tasche an der Innenseite seiner Jeanshose verstaut hatte. Doch wenn die Polizei ihn jetzt noch nicht suchte, würde sie ihn dann suchen, wenn er mit einem Bus wegfuhr und das ohne erwachsene Begleitung. Doch dann fiel es ihm ein, daß er seit Anthelias großzügigem Geschenk eher erwachsen aussah. Doch wenn der Fahrkartenverkäufer seinen Ausweis sehen wollte, war er am Arsch, dachte er. Dann fiel ihm noch was ein. Sein Handy würde ihn verraten, solange er es mithatte und eingeschaltet ließ. Das Meldesignal, mit dem es sich im gerade stärksten Sende- und Empfangsbereich bemerkbar machte, konnte zurückverfolgt werden. Er schaltete das Handy also vollkommen aus. Wegwerfen wollte er es jedoch nicht. Wer wußte schon, ob er nicht unterwegs mal telefonieren mußte, schnell zwar aber immerhin.
Das mit dem Reisebus vergaß er auch deshalb schnell, weil er erst gestern gehört hatte, daß vier jugendliche Ausreißer, keiner älter als er selbst, in Seattle und Umgebung gesucht wurden. Das würde die Fahrkartenverkäufer erst recht anspitzen. So wich er dem Trubel des großen Busbahnhofs noch rechtzeitig genug aus, um nicht einem Touristen oder sonst einem Neugierigen aufzufallen und kam stattdessen auf eine andere geniale Idee.
Er hatte schon abenteuerliche Geschichten davon gehört, daß Landstreicher als blinde Passagiere auf Güterzügen mitfuhren und dadurch locker durch die großartigen vereinigten Staaten herumreisen konnten. Wo ein Güterbahnhof war, wußte Benny. Zu Fuß, immer auf der Hut vor Entdeckung, würde er in zwei Stunden dort ankommen.
Über Hinterhöfe und Abstellplätze schlich Ben als teilweiser Begleiter von Ratten und Straßenkatzen zum großen Güterbahnhof. Dabei dachte er daran, daß es nur noch eine Woche bis Halloween war. Eigentlich hatte er sich auf diesen Tag gefreut, weil er da als Terminator verkleidet "Streich oder Süßes" machen wollte. Donna hatte ihm noch nicht verraten, was sie anziehen wollte. Er hatte ihr nur einmal gesagt, daß er alles an ihr mochte, nur kein Hexenkostüm. Tja, und hier, in dieser übergroßen Stadt, wo es dem Nachbarn egal war, was dir passiert und wo Schüler anderen Mitschülern die Hölle auf Erden bereiten konnten, war ihm nicht nach Halloween. Sicher, in Houston, falls er dort je ankommen würde, war es nicht viel anders. Aber er mußte ja nicht dort bleiben, wenn er seine Donna gefunden hatte.
In der Abenddämmerung beobachtete er, wie ein mit Holzteilen beladener Güterzug in Richtung Süden anfuhr. Er paßte einen Augenblick ab, wo er einen der mittleren Wagen direkt hinter sich hatte und rannte los, so schnell es ging. Er näherte sich dem Zug, der ihn allmählich überholte. Dann sprang er mit einem großen Satz ab und landete genau auf dem vorletzten Wagen, direkt neben einem zerlegten Kleiderschrank. Er blickte sich um, während der Zug immer schneller und schneller fuhr. Er keuchte. Denn selbst mit diesem, von Anthelias Hexenkunst verbesserten Körper, hatte er schon mächtig an seiner Leistungsgrenze gerüttelt. Er war auf der Hut vor Zugbegleitern, die Leute wie ihn fernhalten sollten oder anderen unerwünschten Mitfahrern. Doch im Moment gab es hier keinen. So kroch er zwischen die Holzteile und ruhte sich aus, während der bald einen Kilometer lange Zug in rasender Fahrt in die hereinbrechende Nacht davonfuhr.
Lieutenant Gordon war mit seinem Partner Miles zuerst am Tatort. Nachbarn der Washington-Highschool hatten Knälle gehört, die Schüsse sein mochten. Mit seiner rechten Hand an der Dienstwaffe ging er vorsichtig um die Schulgebäude herum, bis er die offene Glastür der Turnhalle sah. Mit dem Sprechfunkgerät rief er einen weiteren Einsatzwagen herbei, bevor er mit Miles in die verlassene Turnhalle ging.
"Verdammt, was ist denn hier passiert?" Fragte er, als er den Rest von Reizgas in die Nasenflügel bekam und niesen mußte. Dann sah er die erste Leiche. Ein Junge, nicht älter als sechzehn, lag mit durchschossenem Schädel mit dem Gesicht nach unten gegen die Wand richtung Jungenumkleideraum. Der Bursche hatte ein Schlachtermesser in der Hand, das bei seinem Tod wohl noch einen hübschen Schnitt in den Teppich gezogen hatte. Als er sich zum Geräteraum vorarbeitete, sah er den zweiten toten Jungen, der mit zerfetzter Brust über einem Seilpferd hing und das Turngerät mit bereits verkrustetem Blut besudelt hatte.
"Milo, das riecht nach mindestens zwei Pfund Ärger", sagte Gordon erschüttert. Trotz der zwanzig Dienstjahre beim Seattle-Polizeidepartment hatte er sich nicht daran gewöhnen können, jugendliche Mordopfer oder Selbstmordopfer zu finden. Diese Leute lebten doch zu kurz, um so brutal aus allem herausgerissen zu werden. Doch es änderte nichts. Diese Jungen und Mädchen starben trotzdem, und er war dann derjenige, der das dokumentieren und untersuchen mußte, was von ihnen übrig war.
Leiche Nummer drei lag vor der Badezimmertür für Lehrer auf dem Rücken. Gordon stellte eine gedachte Linie zwischen den Fundorten der drei toten Jungen her und erkannte, daß sie offenbar von jemanden erschossen worden waren, der in Richtung Jungenumkleide die Halle verlassen hatte. Er war wohl nach rechts aus der Zugangstür zur Sporthalle heraus und hatte dann den erwischt, der vor dem Lehrerklo lag. Dann mußte er den im Geräteraum erledigt haben und kurz vor dem Eingang hatte er wohl dem Jungen mit dem Schlachtermesser den Garaus gemacht. Oder war es umgekehrt? War der Mordschütze in den Flur hereingekommen und hatte zuerst den mit dem Messer erschossen? Er warf einen Blick in die Sporthalle selbst, rang die Übelkeit nieder, die ihn urplötzlich zu packen versuchte und griff zum Funkgerät.
"Leute, hier hat's ein Gemetzel gegeben. Mindestens sechs tote Jugendliche liegen hier in der Halle!" Rief er, nicht mehr ganz der sachliche Beamte. Miles, der gerade in das Gebäude hereinkam, wandte sich sofort ab.
"Lieutenant, das muß erst die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin untersuchen", sagte er. Gordon stimmte ihm zu und verließ das Gebäude sofort.
Die weiteren Einsatzkräfte sicherten die Halle ab. Unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen durchsuchten die Polizisten alle Räume im Sportgebäude. Sie fanden jedoch niemanden mehr. Die Spurensicherung stellte fest, daß wohl ein Kampf stattgefunden hatte, denn jemand war in Straßenschuhen über den Lenoleumboden gelaufen, hatte sich dabeiöfter herumgedreht und dabei so heftig mit den Schuhen am Boden gerieben, daß Gummispuren genommen werden konnten. Außerdem war einer zuerst ins Bein getroffen worden, bevor er einen tödlichen Schuß abbekommen hatte. Eine Bank wieß Abriebstellen auf. Außerdem lag daneben achtlos hingeworfenes Kabel, das an einigen Stellen sauber durchgeschnitten war und Knoten besaß. Offenbar war hier jemand gefesselt gewesen, bis es zu diesem Massaker kam. Dr. Murphy von der Rechtsmedizin fragte Gordon:
"Wie kommt das das einer alleine so viele Leute hintereinander erschossen hat, ohne daß sich auch nur einer gewehrt hat?"
"Als ich hier reinkam stank es noch nach Reizgas. Wenn jemand das Zeug so geworfen hat, daß die Klimaanlage es erst zu den Leuten geblasen hat ... Ja, das kommt hin. Die liegen alle so, daß der Strom der Luftumwälzung sie direkt anbläst", stellte Gordon fest, nachdem er mit einem angefeuchteten Finger die Luftzirkulation der leise säuselnden Klimaanlage geprüft hatte. "Dann sind die erst einmal schlimmer dran als der Schütze. Der konnte dann draufhalten wie in der Videospielgalerie. Ich glaube nicht, daß es hier noch Notwehr war."
"Kurzschlußhandlung?" Fragte Miles seinen Streifenführer.
"Nicht so ganz. Kann sein, daß derjenige, der die Kids hier erschossen hat, aus Angst oder Verzweiflung heraus einmal abgedrückt hat. Dann aber hat er nur noch draufgehalten, wie der Terminator."
"Vielleicht hat der oder die genau an diesen Roboter gedacht", warf Dr. Murphy ein.
"Mag sein, daß der oder die an überhaupt nichts gedacht hat, sondern nur funktioniert hat wie ein Raubtier, das Beute macht und zupackt. Kucken wir uns doch noch mal an, womit die Leute hier bewaffnet waren. Alles dabei, was heftige Verletzungen macht. Hier hat es einen Kampf auf Leben und Tod gegeben."
"Und was war mit den Fesselspuren an der Bank?" Fragte Miles.
"Tja, da brauchen wir Faserspuren und Haare. Vielleicht ging es auch um eine Befreiungsaktion. Zwei rivalisierende Banden haben sich hier eine Schlacht geliefert. Dann könnte die Schießerei auch von mehreren Leuten durchgeführt worden sein. Näheres klärt die Ballistikabteilung.""Heh, lassen Sie mich durch, Sergeant Fowler! Ich muß mit Gordon sprechen!" Rief eine Frauenstimme sehr energisch.
"Oh, Ms. Adlerauge und Wolfsohr hat ja heute etwas länger gebraucht, die richtige Polizeifunkfrequenz zu finden", flachste Miles. Gordon nickte dem Arzt und den Leuten mit den Tragbahren zu und lief erleichtert, das Blutbad nicht länger ansehen zu müssen, aus der Halle heraus, zum Eingang. Dort stand eine schlanke Frau, deren einer Elternteil Weiß und deren anderer indianischer Abstammung war. Sie besaß den bronzefarbenen Hautton der einst einzigen Bewohner Amerikas und das glatte schwarze Haar. Doch ihre Augen waren stahlblau, und der Hautton war doch ein wenig zu hell für eine reinrassige Enkelin von Sitting Bull und seinen Stammesbrüdern. Es war Shanon Flyingeagle, die Chefreporterin des Seattle-Boten, einer kleinen aber gut auf Draht arbeitenden Boulevardzeitung, die auch mit dem Lokalfernsehen gut verbandelt war. Und so wunderte es Gordon auch nicht, einige Kameraträger von Seattle- Lokal-Television zu erblicken.
"Shanon, auch schon da?" Fragte er, seine Niedergeschlagenheit mit künstlicher Lockerheit überspielend.
"Ich habe gewartet, bis Ihre Spurensucher fertig waren, um nicht nachher noch in den Verdacht zu kommen, wertvolle Spuren zertreten zu haben, Lieutenant Gordon. Also, was ist genau passiert?"
"Wissen wir noch nicht. Sicher ist nur, daß die Turnhalle für mindestens drei Wochen nicht mehr genutzt werden darf", sagte der Polizist und lächelte in die Kamera, deren rotes Licht schon glühte.
"Es wurde von mindestens zehn Toten berichtet, Lieutenant Gordon. Machen Sie mir also nicht vor, daß hier nichts heftiges passiert ist!"
"Shanon, niemand von uns hat irgendwas von Toten gesagt. Die Pressestelle wird Ihnen in einer Stunde ..." Setzte Gordon lächelnd an.
"Verdammt, Lieutenant, da draußen warten Eltern, die ihre Kinder vermissen. Die wollen wissen, ob die noch leben", zeigte Shanon doch etwas mehr Gefühl als für eine Profi-Reporterin üblich war. "Also was ist hier passiert."
"Kein Kommentar vor Abklärung mit dem Pressechef", sagte Gordon nun ganz kurz und energisch. "Sie wissen genau, daß die Details, die Sie durch Abhören des Polizeifunks erheischen, nicht legal erworben sind und daher nicht verwendet werden dürfen. Also kommen Sie mir bitte nicht mit Pressefreiheit oder dem Dienst an der Wahrheit oder der Pflicht der Öffentlichkeit gegenüber! Falls Sie ein Interview mit mir wünschen, gern auch mit Ihren Kollegen von SLTV, kommen Sie morgen früh in mein Büro. Wenn Sie Glück haben, habe ich da meinen Bericht auch schon fertig und kann Ihnen ausführlich Rede und Antwort stehen. Einen angenehmen Abend noch, Ms. Flyingeagle!"
"So nicht, Lieutenant. Ich habe die von Ihnen bereits erwähnte Pflicht, der Öffentlichkeit genau zu berichten, wenn Jugendliche hier in Scharen umgebracht werden, um zu verhindern, daß es noch mehr trifft und ..."
"Dazu sind wir von der Polizei da und die Damen und Herren Doktoren Psychologen und Sozialwissenschaftler, Ms. Flyingeagle", furh Gordon überaus gereizt dazwischen. "Hier hat erst einmal die Polizei zu schaffen, sonst keiner. Also bitte, da ist die Tür!"
"Gut, dann erklären Sie es den Vätern und Müttern da draußen selbst. Ich muß dann schreiben, daß die Polizei mal wieder ohnmächtig dabei stand, als es zu einem Schwerverbrechen kam", drohte die Reporterin und winkte den Kameraleuten, die mit ihren tragbaren Geräten versucht hatten, doch irgendwas einzufangen. Doch die Leichen waren bereits vor einer Stunde abtransportiert worden, und die Spurensicherung hatte die Fundorte mit Turnmatten gegen unbefugte Einblicke abgeschirmt.
Wie die halbindianische Reporterin es prophezeit hatte standen vor der Absperrung um die Turnhalle dutzende von Männern und Frauen, die die Polizisten mit Fragen löcherten. Einige hatten sogar tragbare Fernseher dabei, um das Kurzstreckenprogramm von SLTV einzufangen. Ein solcher Fernsehzuschauer sah Gordon auffordernd an und winkte ihm zu.
"Sie sind also der Einsatzleiter hier? Wenn Sie schon im Fernsehen nichts sagen wollen, dann erklären Sie mir jetzt gefälligst, was da drinnen passiert ist. Mein Sohn Wilson ist nämlich nicht mehr von der Schule zurückgekommen."
Andere Leute bestürmten Gordon auch, seine Beobachtungen zu erzählen. Er machte verneinende Gesten, blickte mal streng, mal bedauernd in die Gesichter der Wartenden und sagte dann:
"Ich möchte hier weder falsche Hoffnung noch falsche Trauer heraufbeschwören, Ladies and Gentlemen. Es steht fest, daß es in der Turnhalle zu Gewaltakten gekommen ist ..." Raunen übertönte Gordon fast. Als es wieder abebbte fuhr er fort: "... über deren Art, Umfang, Urheber und Opfer wir bislang nichts sagen können. Sie haben bestimmt schon Ihre Vermißtenanzeigen aufgegeben - davon ging ich aus - und dürfen nun darauf bauen, daß wir schnellstmöglich klären, wer was und warum da drinnen angestellt hat."
"Ich will da rein!" Rief ein bullig aussehender Farbiger wütend und versuchte, über die Absperrung zu steigen. Zwei Sergeanten schoben ihn dezent aber unmißverständlich zurück.
"Sie kriegen alle morgen eine offizielle Meldung über das hier zu lesen und zu sehen!" Rief Gordon. Dann ging er einfach zu seinem Dienstwagen, vor dem die Reporterin Flyingeagle noch lauerte. Miles und zwei Sergeanten trieben sie aber lässig zurück, sodaß Gordon und sein Partner einsteigen und abfahren konnten.
"Das war ein Bandenkrieg, Lieutenant. Wir wissen nur nicht, wer gegen wen?"
"O doch, das wissen wir, Milo", erwiderte Gordon verschmitzt grinsend. "Haben Sie nicht die Armtätowierungen der Toten gesehen. Kleine Fische mit scharfen Zähnen. Das waren unsere alten Freunde, die Piranhas. Und ich wette mit Ihnen, daß der Junge mit der zusätzlichen Beinverletzung ihr Anführer Tom Eldridge war, Kriegsname Spike, weil er sich besonders gerne an kleineren Schülern festkrallt, um ihnen ihr Taschengeld zu klauen."
"Und das sagen Sie mir jetzt erst?" Fragte Miles. "Dann hätten wir ja die ganze Bande mal durch die Mangel drehen können."
"Können wir immer noch, Milo", sagte Gordon vergnügt. Die Aussicht, endlich die brutalste Jugendbande an einer Oberschule seiner Stadt ausheben zu können, überlagerte nun die Niedergeschlagenheit, die der Tod so vieler junger Menschen bei ihm ausgelöst hatte.
"Hier sind Abraham und Linda Jorkins! Zwar können Sie im Moment nicht direkt mit uns sprechen, aber hinter dem Signalton können Sie eine Nachricht und für einen Rückruf auch Ihre Telefonnummer hinterlassen", klang es aus dem Lautsprecher des Handys. Und zwei Stunden später, als die Familie Jorkins mit Mrs. Calder von einem Kinobesuch mit Abendessen zurückkehrte, klang es aus dem Lautsprecher jenes Anrufbeantworters:
"Hallo, Mom, hier Ben! Es gab Krach mit 'ner Schulgang. Die haben Freunde von mir und mich fast umgenietet. Wir kamen da nicht so glücklich raus. Ich mußte die Biege machen. Sucht nicht nach mir! Ich melde mich! Wollte nur sagen, daß ich noch lebe, wenn das bei euch rumkommt, was da gelaufen ist! Ich liebe dich, Mom!"
"Bitte was?!" Rief Abraham Jorkins empört. "Dein Bengel ist getürmt, weil er was ausgefressen hat?"
"Lass noch mal hören, Abe!" Verlangte Mrs. Maggy Calder überaus aufgeregt. Abraham Jorkins spielte die Nachricht und die Uhrzeit, 20:23 Uhr, noch mal ab. Dann hieb er mit der rechten Faust auf den Telefontisch und fluchte:
"Das fehlt uns noch, daß wir den jetzt suchen sollen. Mag, das hast du diesen Psycho-Heinis zu verdanken, bei denen ihr in Behandlung wart."
"Das haben wir ... keinem von denen zu verdanken", erwiderte Maggy Calder. Sie hätte fast gerufen "Das haben wir diesen Verbrechern zu verdanken, die unsre Stadt angezündet haben!" Doch sie hatte einen Eid schwören müssen, bei Androhung einer langjährigen Gefängnisstrafe zu verschweigen, über die wahren Hintergründe des alles vernichtenden Großbrandes von Dropout genaues zu wissen.
"Was soll da denn eigentlich passiert sein?" Fragte Linda Jorkins, während sie mit einer Hand ihren Mantel ablegte und mit der anderen Hand nach der Fernsehfernbedienung tastete. Als sie das protzige Großbildgerät einschaltete, kam gerade eine Zusammenfassung lokaler Nachrichten auf SLTV.
"... verweigerte der zuständige Einsatzleiter, Lieutenant Geoffrey Gordon jede Stellungnahme zu den brutalen Ereignissen in der Sporthalle der Washington-Senior-Highschool. Feststeht jedoch, daß mindestens ein Dutzend Schüler dieser Oberschule vermißt werden. Womöglich sind einige davon bei dem Blutbad in der Turnhalle ums Leben gekommen. Näheres hierzu erfahren Sie morgen in "Guten Morgen, Seattle". Und jetzt das Wetter."
"Was war das?" Fragte Mrs. Calder. Sie zitterte am ganzen Leib.
"Blutbad in einer Turnhalle?" Fragte Linda Jorkins beklommen.
"Verdammt, das wird dein Ableger gemeint haben, Mag. Würde mich nicht wundern, wenn der mit da drinhängt. Oder warum macht der dann den Abflug?""Er hat sich vielleicht nur vor jemandem versteckt, der oder die meinen könnte, sich an ihm für irgendwas rächen zu müssen", vermutete Mrs. Jorkins und drückte wie beiläufig auf die Löschtaste des Anrufbeantworters. Leise piepend verkündete der Apparat, daß die elektronisch gespeicherte Mitteilung soeben unwiederbringlich entfernt wurde.
"Linda, du dummes Ding! Du hast gerade ein wichtiges Beweismittel vernichtet!" Schimpfte Abe Jorkins seine Frau aus. Diese erkannte, was sie da gerade gemacht hatte und weinte los. Vielleicht hätte die Polizei ja klären können, wo Benny war, als er den Anruf bei ihnen gemacht hatte. Doch das war nun nicht mehr möglich. Sich jetzt noch darüber aufzuregen brachte auch nichts mehr, erkannte Abraham Jorkins.
"Ich rufe 'n Privatdetektiv an, Mag. Ich will den Jungen haben, bevor die Polizei den kriegt. Wenn er unschuldig ist, können wir vielleicht den Deckel draufhalten. Falls nicht, dann muß er eben vor Gericht."
Maggy Calder weinte. Sie fühlte sich wie in ein tiefes schwarzes Loch gestoßen, das sie in Einsamkeit und Verzweiflung einsaugte.
Abe Jorkins rief einen guten Freund an, der als Leiter einer Privatdetektei arbeitete. Dieser lachte zwar, als Abe ihm die Sache mit der gelöschten Anrufbeantworternachricht erzählte, sagte dann aber zu, sich sofort mit der Sache zu befassen. So tauchte mitten in der Nacht noch ein Ford Mustang vor dem Haus der Jorkins auf. Weil Abe Jorkins als Immobilienmakler nicht allzu arm war und sein Freund ihm einen gewissen Rabatt in aussicht gestellt hatte, lohnte sich der Nachteinsatz bereits. Mrs. Calder berichtete von sich und Benny, beschrieb ihn und gab dem Detektiv, Mr. Butler, ein Foto mit, daß man von ihr und Benny hatte machen lassen, um neue Pässe und Kreditkarten anfertigen zu lassen, wenn die von der US-Regierung und der Regierung Mississippis zugesagten Finanzhilfen bei ihr eingetroffen waren. Butler, ein unscheinbarer Mann Mitte dreißig mit leicht auf dem Rückzug befindlicher dunkelbrauner Kurzhaarfrisur, gab die erhaltenen Daten und auch die Handynummer Bens an seinen Chef weiter und drehte dann an seinem Radio an der Skala, bis er den Polizeikanal hatte. Aufmerksam lauschend fuhr er durch die Straßen von Seattle.
"... Ja, und da war'n dann diese Abdrücke neben'm Gleis, Lieutenant", sagte ein gerade an einer halb erkalteten Zigarette herumnuckelnder Bahnstreckenarbeiter. Er hatte die Polizei am Morgen nach der grausamen Bluttat in der Turnhalle angerufen und über Fußspuren neben der Güterstrecke nach Süden informiert. Gordon, der sich das nicht hatte nehmen lassen, um sich von der Recherche um den Krieg der Piranhas und den großen Unbekannten abzulenken, war persönlich losgezogen, um sich das anzusehen. Zusammen mit Sergeant Miles beging er vorsichtig die Ausfahrtstrecke und zählte die Fußabdrücke, die eindeutig von Turnschuhen stammten. Er bückte sich, nahm zwei Gipsabdrücke von den Fußspuren und verfolgte sie einige hundert Meter weit. Sie wurden immer ausgreifender. Er sah deutlich, daß jemand an der Gleislinie entlanggerannt sein mußte.
"Tja, was würde Sherlock Holmes jetzt sagen?" Fragte Miles seinen Vorgesetzten. Dieser grinste belustigt und tat so, als würde er an einer unsichtbaren Tabakspfeife ziehen.
"mein lieber Watson, ich ergründe, daß hier ein wohl klein- oder halbwüchsiger Mensch männlichen Geschlechts vom Bahnhof bis ... genau hier, einen immer schnelleren Lauf vollführt hat, um dann, Sie sehen es an dem starken, nicht von den Nachtstunden verzehrten Abdruck, einen Sprung richtung Gleis zu tun. Daraus folgere ich, daß die Person erfolgreich auf einem Güterzug als unbefugter Passagier mitfuhr. Allerdings kommen mir die Fußabdrücke irgendwie zu klein für die Länge der zurückgelegten Laufschritte vor. Können Sie mir darauf eine Antwort geben?"
"Sie sind doch der Meister", sagte Miles keck. "Ich muß ja noch lernen."
"Der Typ muß an der Stelle auf 'nen Zug gehüpft sein? Kann nicht sein", grummelte der Streckenbegeher. "An der Stelle hat so'n Zug schon satte fünfzehn Meilen drauf. Wer da noch mithalten und aufspringen kann, müßte 'n Superheld sein. Dann bräuchte der keinen Zug mehr zu nehmen."
"Sie sind sicher,daß die Person hier mindestens annähernd die Fahrtgeschwindigkeit des Zuges von fünfzehn Meilen in der Stunde hätte laufen müssen?" Fragte Gordon sichtlich aufgeregt. Sicher, ein Hochleistungssprinter konnte für wenige Sekunden mehr als 20 meilen in der Stunde laufen, aber dann auch nur für knapp elf Sekunden. Das ergab eine Laufstrecke von etwas mehr als hundert Metern. Aber die Spur fing beim Bahnhof an, folgte der Gleisführung mindestens vierhundert Meter. Der Läufer mußte dabei ständig mitbeschleunigt haben, um dann noch erfolgreich auf einem ausgesuchten Wagen zu landen. Denn an der Stelle, wo der Sprungabdruck im Boden zu sehen war, klebte weder Kleidung noch Blut eines verunglückten Springers. Er ging die Strecke noch einen halben Kilometer ab und stellte fest, daß die kostenlose Zugfahrt wohl geklappt hatte.
"Ich lasse die Spurensicherung kommen. Die soll die ganze Spur auf den Millimeter genau vermessen, damit wir ausrechnen können, wie schnell der Mensch am Ende der Strecke war", stellte Gordon klar.
"Vielleicht war's jahr Teenage Terminator, der da in der Turnhalle alle niedergemacht hat", warf der Streckengänger belustigt ein. "Teenage Terminator", so hatte ihn Flyingeagle im Seattle-Boten reißerisch genannt, weil ein halbausgegorener Sergeant das mit dem Kampfroboter aus dem Film aufgeschnappt und scherzhaft weitergegeben hatte.
"Noch irgendwelche geistreichen Vorschläge?" Fragte Gordon gereizt. Der Streckengänger grinste nicht mehr und schüttelte den Kopf.
"Dann rufe ich jetzt die Spurensicherung. Bin doch mal gespannt, welchen Olympiaa-Star wir hier suchen müssen."
Der Anruf zu Hause war riskant, wußte Ben Calder. Aber er wollte seine Mutter nicht in absoluter Unggewißheit lassen. So hatte er kurz vor halb neun den Anruf gemacht, wobei er extra in eine der Holzkisten gekrabbelt war, die mit viel weichem Zeug ausgekleidet waren, um den Zuglärm zu dämpfen. Zu seiner Erleichterung hatte der Lokführer in dieser kurzen Zeit keinmal gehupt. Denn sonst dröhnte alle zwei Minuten mal das Horn der Güterlokomotive.
"Tja, fehlt jetzt nur noch was zu Essen", dachte Ben, als er sich einen Holzkasten zum schlafen ausgesucht hatte. Er wußte ja nicht, wo der Zug überall halten würde. Er wollte möglichst unentdeckt bleiben.
So legte er sich hin und schlief, bis der Zug hielt. Vorsichtig peilte er aus der Kiste und suchte das Namensschild des Bahnhofs. Er konnte es nicht erkennen. Als der Zug wieder anfuhr, hoffte Ben, irgendwann unentdeckt auch wieder abspringen zu können. Als er einen Schatten sah, der von rechts auf den Zug heraufflog, wußte er, daß er nicht mehr allein war. Jemand, der genau wie er kostenlos mitfahren wollte, hatte sich diesen Zug ausgesucht, um schneller als zu fuß eine größere Strecke zurückzulegen. Als der Schatten dann von vorne nach hinten auf ihn zukroch, fragte sich der Jugendliche, ob er mit dem Menschen gut auskommen konnte. Er war nicht scharf darauf, an diesem Abend noch einen Kampf zu erleben. Immerhin hatte er durch die Todesverachtung vor der Pistole in Cliffs Hand die wichtigsten Leute der Piranhas auf dem Gewissen. Denn weil Joe ihm die Waffe wegnehmen konnte, waren Spike, Maneater und die anderen, um die es sogesehen nicht schade war, überhaupt über die Klinge gesprungen. Als der Schatten nahe genug war erkannte Ben, daß es eine Frau war, die in abgerissener Kleidung steckte und ellenlanges Haar besaß, für das die Wörter "Kamm" und "Bürste" Fremdwörter waren. Er atmete auf, als die Fremde sich einen Wagen vor ihm zwischen Kisten einrichtete und schlief. Offenbar interessierte es sie nicht, ob noch wer mitfuhr, solange er oder sie sie nicht anzurühren versuchte.
"Gehört schon was dazu, wenn eine Frau so gut mit Zügen mitlaufen kann und aufspringt. Ich dachte immer, diesen Wahnsinn machen nur Männer", dachte Benny Calder. Langsam kam ihm aber ein Bedürfnis in die Quere, das er nur deshalb noch zurückzuhalten geschafft hatte, weil er seit dem Mittagessen nichts gegessen oder getrunken hatte. Doch nun wollte überschüssiges Wasser aus ihm heraus, und er wollte sich nicht die Hose vollmachen, die er gerade trug. So robbte er vorsichtig zum hinteren Ende des Wagons und begoß die unter ihm im laut ratternden Tempo entlanglaufenden Gleise. Für etwas größeres mußte er derweil noch nichts arrangieren. Er ordnete seine Sachen wieder, kehrte zu seiner Schlafkiste zurück und legte sich hin.
Als er wieder aufwachte, war es fast früher Morgen. Er sah sich um, ob seine Mitreisende noch an Bord war. Doch die Unbekannte hatte sich so wortlos verabschiedet wie sie eingestiegen war. Ben war froh, daß er seine Ruhe gehabt hatte. Sicher, den Hunger konnte er noch aushalten. Anthelias verdammter Fluch machte seinen Körper sehr belastbar. Aber irgendwann würde er essen müssen. Oder sollte er einfach vom Zug springen, in voller Fahrt? Dann wäre alles vorbei. Doch er hatte sich entschieden, zu seiner Freundin zu fahren. Außerdem war er kein Feigling. Sicher, wofür lebte er nun noch? Er hatte seine Heimat verloren und war in einen Bandenkrieg an einer Schule hineingeraten. Er hatte seinen Kopf für zwei Jungen hingehalten, von denen er so gut wie nichts wußte. Was er nun von Joe wußte war auch nicht gerade empfehlenswert. Denn Joe hatte einfach alle umgelegt, die er mit der erbeuteten Waffe umbringen konnte. War das normal? Beziehungsweise, war das normal bei Joe? Er wollte es lieber nicht wissen.
Irgendwann fuhr der Zug langsamer. Ben sah eine Kleinstadt auftauchen. Wehmütig dachte er an Dropout und das auch dort viele Güterzüge vorbeirauschten, die Sachen für Leute in großen Städten geladen hatten. Sie rauschten heran, lärmten laut, während sie am Bahnhof vorbeifuhren und rauschten weiter, als eiserne Riesenschlangen der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft. Interessant, erkannte Ben, wie philosophisch doch seine Gedanken manchmal sein konnten.
Er entschied sich, abzuspringen, falls der Zug noch langsamer wurde und einen Bahnhof anfuhr. Doch der Zug wurde wieder schneller, rauschte unaufhaltsam an der Kleinstadt vorbei und eilte auf seiner Strecke dahin, von der Ben nicht wußte, wo genau sie enden würde.
Anthelia lag auf ihrem weichen Bett. Sie meditierte. Sie suchte Kontakt zu jenem Muggelkind, das ihre Wiederkehr belauscht hatte und das sie deshalb hatte einfangen lassen und ihm dann durch den Fluch der Bindung einen magischen Kontakt mit ihr aufgezwungen hatte. Sicher, sie hatte ihm dafür einen ansehnlich werdenden, sehr kräftigen Körper verschafft, doch der Junge würde sein Leben Lang in ihrer Macht sein, ob sie es ihn wissen ließ oder nicht. Doch seit einem Monat hatte sie nicht mit Benjamin Calder Junior Kontakt aufgenommen, weder den heimlichen, bei dem sie nur in seinen Gedanken und Wahrnehmungen herumlauschte, noch den offenbaren, wo sie auch zu ihm sprechen konnte. Die Unfähigen, die ihre modernen Schwestern Muggel nannten, hatten mit Befragungstechniken und Medikamenten versucht, Ben in eine ruhigere Stimmung zu versetzen und ihn zu allem zu befragen, was ihn betraf. Manchmal mochte sie die bewußtseinsändernde Wirkung der Drogen nicht, die sie verwendet hatten. Deshalb ergriff sie jetzt erst die Gelegenheit, mit dem jungen Muggel telepathischen Kontakt zu erhalten. Es dauerte, da Zeit und Raum eine große Distanz zwischen ihm und ihr geschaffen hatten. Dann spürte sie ferne Regungen, hörte das rhythmische Rattern von Metall auf Metall, spürte Wind und Ruckeln. Vorsichtig, um nicht aufzufallen, tauchte sie weiter in die Schichten des Bewußtseins von Benny Calder ein und nahm dessen gegenwärtige Gedanken wahr. Sie konnte nicht sagen, wo Ben nun war, da er sich schneller bewegte als er zu Fuß unterwegs sein konnte. Außerdem, daß erkannte Anthelia leicht verärgert, wußte Ben Calder selbst nicht, wo er gerade steckte, außer daß er auf einem langen Eisenbahnzug lag, der Frachtgut transportierte. Dann tastete sie nach jenen Resten Wellen schlagender Erinnerungen, an denen sie sich zu den letzten Stunden Ben Calders entlanghangeln konnte. Sie fühlte, daß Angst und Einsamkeit diese Wellen geschlagen hatten und tauchte in die vergangenen Erlebnisse ein, die der Junge hatte. Dabei erfuhr sie von jenem Blutbad in der Turnhalle, erfuhr von Bens sogenannten neuen Freunden und daß Ben nun wohl zu seiner Freundin nach Houston in Texas wollte. Sie überlegte sich, ob sie ihn direkt ansprechen sollte, ob sie zu ihm apparieren oder eine ihrer Schwestern direkt zu ihm schicken sollte. Dann befand sie, daß sie sich um ihn kümmern würde, sobald sie den ersten Schlag gegen Voldemorts Anhängerschaft vollendet hatte, die Bekämpfung der dunklen Magier in den Staaten Amerikas, dem Land der Verheißungen und Enttäuschungen.
Sie zog sich vorsichtig wieder aus den Geistesschichten Bens zurück und ging daran, ihr vordringliches Ziel zu erfüllen.
Eine Woche ging ins Land, in der Anthelias Spinnenorden einen Todesser in die Gewalt bekam, den sie aushorchen und danach durch ein Simulacrum, einen täuschend echten Doppelgänger, ersetzen konnte. Sie hatte gegen Dementoren in New York gekämpft und ihren Auftraggeber Asrael Smothers besiegt. Da erfuhr sie von ihrer Ordensschwester Ardentia Truelane eine Neuigkeit, die ihr mißfiel.
Ardentia Truelane war eine attraktive Hexe Mitte zwanzig, die vor vier Jahren mit Thorntails fertig geworden war. Sie war der amerikanischen Abteilung der Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern beigetreten und hatte sich in deren Auftrag zur Spezialistin für dunkle Künste ausbilden und im Marie-Laveau-Institut für Fluchabwehr anstellen lassen. Sie arbeitete dort in der Abteilung von Pediculus Horntip, einem Großmeister der Voodoo-Ritualmagie, als sie erfuhr, daß bei dem Auftauchen der Dementoren in New York jemand in jenem Schönheitssalon versteckt gewesen war, der oder die mitgehört hatte, daß Anthelia mit ihren Schwestern Lucky Withers und Patricia Straton nach den Dementoren gesucht hatte. Eigentlich, so wußte es Ardentia Truelane selbst, sollte niemand vorerst was von der Schwesternschaft der Schwarzen Spinne wissen, der sie selbst zu Beginn des Monats Oktober beigetreten war. Doch wie konnte auch jemand sich verbergen, wo mehrere Hexen und Zauberer mit dem Lebensfinder Vivideo alles abgesucht hatten? Dennoch erzählte sie Anthelia bei einem heimlichen Treffen im Zentrum der niedergebrannten Stadt Dropout, daß sie diese Sache mitbekommen hatte, konnte sogar eine handschriftliche Notiz der netten, wenn auch zu rücksichtsvollen Hexe Jane Porter vorweisen. Anthelia hatte diese Notizen geprüft und daraufhin beschlossen, Patricia Straton für eine andere Aufgabe einzuteilen. Denn es stand fest, daß das amerikanische Zaubereiministerium bald alle Patricias der Hexenwelt verhören würde. Noch ein anderes Problem bereitete der wiedergekehrten Nichte Sardonias Sorgen: Ihr Seelenmedaillon hatte bei einer Fahrt durch New York sehr heftig vibriert. Dies geschah, wenn mächtige dunkle Zauberer oder dunkle Kreaturen von besonderer Stärke in seine Nähe kamen, da es die dunkle Kraft aufzusaugen suchte und dabei wild zitterte. Sie hatte bei diesem Vorzeichen ein pferdeloses gelbes Fuhrwerk beobachtet, hinter dem ein Hauch weißen Nebels geschwebt war. Sie wußte sofort, daß dies nur bedeuten konnte, daß die Erbfeindinnen ihrer Tante in diesem Land aktiv waren. Eine Tochter des Abgrunds, so hieß dieses Wesen aus einer Zeit, als es noch eine mächtige Magierklasse auf Erden gab und Zauberwerk so alltäglich war wie die Maschinen der sogenannten Muggel es in diesen Tagen waren. Anthelia wußte, daß mit diesen Wesen nicht so leicht umzuspringen war, wie mit dem fehlgeleiteten Zauberer namens Voldemort, dessen einzige großtat darin bestand, einen schier unzerstörbaren Körper zu erhalten, sodaß selbst ein auf ihn zurückgefallener Todesfluch ihn nicht aus der Welt hatte schaffen können. Sicher, sie, Anthelia, besaß mit dem Gürtel der 24 Leben eine ähnliche Schutzvorrichtung, die sich auch schon bewährt hatte. Doch Voldemort nahm sie nur als zerstörungssüchtigen Irren zur Kenntnis, dessen Treiben man bald Einhalt gebieten sollte, wenn das wahre Ziel Anthelias nicht in Gefahr geraten durfte, die Rückkehr der magischen Matriarchinnen, wie Sardonia eine war und wie es die Landessprecherinnen der Nachtfraktion der schweigsamen Schwesternschaft auch gerne sein wollten, ja wie es die 1340 gestorbene Lady Medea von ihnen war und wie Anthelia es bald sein würde.
Doch sollte wahrhaftig eine Tochter des Abgrundes in diesem Land unterwegs sein, so mußte sie sich dieser Gefahr stellen.
"Schwester Pandora, wenn das Fest Halloween zu Ende gegangen sein wird, künde deiner Tochter, unserer Schwester Patricia, daß ich sie sprechen möchte. Lasse sie wissen, daß ich ausgehe, sie auf eine Reise zu schicken, auf der sie jenen treffen und schützen soll, der durch den Fluch der Bindung meiner Obhut unterworfen wart", sagte Anthelia zu Pandora Straton, einer Hexe mit langem dunkelbraunen Haar und tiefgrünen Augen in einem hochwangigen Gesicht. Diese nickte zustimmend und verließ den geheimen Ort, die alte Daggers-Villa.
einen Tag nach Halloween kam zunächst Dana Moore, eine Mitschwester aus England. Sie war total aufgeregt.
"Höchste Schwester, deine Vorahnung hat leider gestimmt. Ich habe einen der zwei Schlafplätze der alten Unheilstöchter aufgesucht. Ich mußte ja vorsichtig sein, um nicht von mir aus eines dieser Ungeheuer zu wecken. So konnte ich nur langsam erkunden, was los war. Im Schlafplatz in Schottland ist die Kraft der schlummernden Bestie noch auffindbar. Unter dem in der Nähe der Kreidefelsen Dovers ist die schlummernde Kraft versiegt. Wie gesagt, ich konnte ja nicht direkt an die Schlafplätze heran, um mich zu vergewissern. Doch wenn die Ruhestätte in der Gegend von Dover verlassen wurde, dann ist eine Schläferin erwacht. Sie wird jemanden suchen, dessen Gefährtin sie werden möchte, falls sie das nicht schon getan hat."
"So wird denn meine Wiederkehr mit demselben Ungemach behaftet, welches meine ehrwürdige Tante einst an den Rand der Niederlage brachte. Danke, Schwester Dana, daß du mir geschwinde Kunde gabst. So gilt es denn, neben unseren langfristigen Zielen den Kampf mit jener Kreatur zu fürchten, uns auf diesen vorzubereiten", sagte Anthelia. Ihr Gesicht hatte mittlerweile alle Sommersprossen verloren. Ihr strohblondes Haar war seidenweich in ihren Nacken gekämmt. Sie trug den blütenweißen Umhang ihrer Schwesternschaft.
"Sollten wir dieses Wesen nun suchen, um es zu stellen, höchste Schwester?" Fragte Dana unterwürfig aber auch beklommen wirkend.
"Bei Zeiten werde ich ergründen, ob es einen neuen Gespielen unter den Menschen hat. Ich wähne mich nicht schwächlich, doch besonnenheit muß meine Werke bergen, auf daß ich nicht im Übermaß von Tatendurst im Strudel übermächtiger Aufgaben ertrinke."
Dana wunderte sich zwar immer noch, weshalb die höchste Schwester eine altertümliche Sprechweise pflegte, doch sie wußte es selbst, daß der äußere Schein, das Auftreten und die Liste von Glanztaten und Marotten einen Zauberer genauso über andere erhoben, wie einen Muggel über seinesgleichen.
"Siehst du eine unmittelbare Gefahr von diesem Geschöpf ausgehen, höchste Schwester?"
"Wenn dem so ist, Schwester Dana, so wird man auch an anderem Orte ihrer gewiß und wird danach trachten, wider die Bedrohung zu kämpfen. Ich sprach nur davon, daß wir uns wappnen mögen für den Kampf, der wahrscheinlich ist, und von dem nur die Größen von Zeit und Raum uns trennen, deren Ausmaße wir nicht kennen." So soll Besonnenheit und Beharrlichkeit weiterhin mein Werk behüten, auf daß es nicht auch anderen Ortes ruchbar werde. Es ist bereits bedenklich, daß wir offenbar nicht einer Zeugin gewahr wurden, von der ich nicht weiß, wie sie heißt, da die Hexe, deren Aufzeichnungen ich studierte, wohlweißlich ihren Namen nicht zu Pergament brachte. Doch dagegen habe ich bereits Maßnahmen getroffen, die diese Lage jeder Bedrohlichkeit entheben, ohne uns mit Gewalt um dieses Ziel zu streiten. Du darfst dich nun wieder entfernen, Schwester Dana. Hab dank für deine Botschaft, auch wenn sie nichts erfreuliches kündet!"
Dana atmete auf, als sie nach zwei Apparitionen erschöpft in England zurück war. Sie hatte Anthelia für so unerbittlich gehalten wie den Emporkömmling, wie sie und ihre noch-Bundesschwestern von der Nachtfraktion den Dunkelmagier Voldemort nannten. Von diesem wußte sie nämlich, daß er Boten schlechter Nachrichten folterte oder auch tötete. Anthelia konnte sogar lächeln, wenn sie eine solche Neuigkeit erfuhr.
Ben brauchte schon keine Halloween-Verkleidung mehr. In der Woche, in der er sich von Zug zu Zug geschlichen hatte, war sein hoffnungsvoller Bart zu einem stattlichen Vollbart angewachsen. Den würde er nur noch mit richtigen Rasiermessern oder Elektrorasierern loswerden, wußte Benny. Einmal hatte er für das letzte Kleingeld, daß er hatte, in einer Badeanstalt geduscht, um nicht so verdreckt und stinkend herumzulaufen, wie manche Landstreicher, denen er unterwegs begegnet war. Einmal hatte er sogar im Bus einer wandernden Dirne geschlafen. Sie hatte ihm sogar angeboten, ihn für weniger als üblich zu liebkosen. Doch er hatte dankend abgelehnt und darauf hingewiesen, daß er seine Freundin aufsuchen wolle. Das Straßenmädchen hatte ihn angelächelt und gesagt, daß sie sich freuen konnte, so einen treuen Mann zu kriegen. Sicher, die Prostituierte sah nicht so schlecht aus, auch ohne ihren Überzug aus viel Schminke, fand Ben. Doch er hatte seine kleinstädtischen Prinzipien, nur der Frau oder dem Mädchen treu zu sein, das er auch mit dem Herzen liebte. Tja, und nun war er nicht in Houston, sondern in Phoenix, im Bundesstaat Arizona. Er hatte seine Mutter noch mal anzurufen versucht. Doch als sein Onkel Abraham am Apparat war und ihn aushorchen wollte, wo er genau sei, hatte er schnell wieder aufgelegt. Immerhin konnte er in einer Absteige, die Chica, das wandernde Straßenmädchen, ihm gewiesen hatte, ohne Vorlage seines Ausweises übernachten, den Akku des Handys aufladen und sich am nächsten Morgen noch rasieren, während Schreie und Gestöhn sich liebender Paare aus allen Richtungen zu ihm drangen und ihn wehmütig daran denken ließen, was Anthelia ihm erzählt hatte. Er würde einmal einen schönen und starken Körper haben. Wenn er voll ausgewachsen war, würde er nur mit einem Drittel so schnell altern wie jeder andere Mensch seiner Zeit. Doch wenn er Vater eines Kindes geworden war, durfte er keinen Sex mehr haben, denn das würde den Zauber brechen, ja gegen ihn wenden und ihn nach dem dritten Mal innerhalb von zehn Jahren zum alten Mann werden lassen. Eine grauenhafte Vorstellung, sich zwischen Schönheit und Gesundheit oder der Liebe in allen Formen entscheiden zu müssen. Nun, er mußte ja kein Kind haben. Sicher, da sprach dann wohl noch die Frau mit, die eins von ihm haben wollte. Aber solange er sich nicht sicher war, die richtige Frau zu haben, würde er sich nicht auf Abenteuer einlassen.
Den Halloween-Tag verbrachte Ben ohne zu feiern in einer alten Fabrikhalle, wo auch noch drei andere Landstreicher herumlungerten. Ja, er gehörte nun zu denen, die in der sogenannten regulären Gesellschaft keinen Platz mehr hatten. Er war der flüchtige Kumpan eines flüchtigen Mörders, behaftet mit zwei Flüchen, die ihn nicht loslassen würden. Doch war es noch so. War Anthelia vielleicht nicht mehr an ihm interessiert. Immerhin hatte er seit dem Krieg um Dropout nichts mehr von ihr gehört oder gesehen. Womöglich war er zu weit weg, sodaß ihre telepathische Verbindung zu ihm gerissen war. Schön wäre das, wenn er das genau wüßte. Aber dafür zu riskieren, von Patricia oder irgendeiner anderen Hexenschwester Anthelias aufgegriffen zu werden, war zu groß für ihn. So hoffte er darauf, am nächsten Tag mit einem Laster nach Houston fahren zu können.
Privatdetektiv Butler hatte es am nächsten Morgen gehört und gelesen, was in der Turnhalle der Washington-Highschool passiert war. Dann hatte er auch von den Fußabdrücken am Güterbahnhof gehört und war hingefahren, um zu sehen, was es damit auf sich hatte. Er konnte die nun nicht mehr ganz so ausgeprägten Abdrücke gerade noch begutachten, bevor aufkommender Herbstwind die Spuren endgültig verwehte. Anders als Gordon, der erst einmal wissen wollte, wie schnell der Trittbrettfahrer des Güterzuges laufen konnte, holte sich Butler Erkundigungen über die Güterzüge ein, wälzte Mappen mit Landkarten und fragte herum, wohin die Bewohner Dropouts denn gekommen waren. Er wußte von Mrs. Calder, daß Benny Freunde hatte, die in verschiedenen Städten lebten. Schmunzelnd bedachte er, daß Benny, wenn er wirklich auf der Flucht vor der Polizei war, zu seiner Jugendliebe Donna Cramer fahren würde. Das deckte sich auch mit den Abdrücken neben dem Gütergleis. Der Zug war nach Süden gefahren, wo Texas lag. In Houston sollte Donna Cramer mit ihrem Vater leben. Benny wußte das, weil er mit verschiedenen Leuten aus seiner Heimatstadt telefoniert hatte. Butler war der Polizei in fast allen Sachen voraus. Er wußte, wen er suchen mußte. Er wußte, wo er ihn bestimmt finden würde, wenn er schnell dorthin fuhr. Doch war es ratsam, darauf zu hoffen, daß Ben in Houston ankam? Sicher nicht. So wälzte er die Streckenpläne, die er sich über dunkle Kanäle besorgt hatte und stellte fest, wo Ben den Zug verlassen haben konnte. Da er davon ausging, daß Ben möglichst schnell möglichst viel Entfernung zwischen sich und der Washington-High-Turnhalle bringen wollte, nahm er einen Flug in den Mittelwesten, um mehrere hundert Kilometer in einem Rutsch zu überspringen. Ja, er überlegte sogar, direkt nach Houston zu fliegen, um mit den Cramers Kontakt aufzunehmen. Doch einerseits konnte Ben von Donna einen Hinweis bekommen, daß jemand ihn dort suchte. Andererseits war es immer noch nur eine Theorie, die der private Ermittler verfolgte. Blieb also nur die spesenfressende Eigensuche. Na ja, Mr. Jorkins hatte das Geld ja. Einen öffentlichen Skandal zu verhindern würde sich der wohlhabende Immobilienmakler schon was kosten lassen.
Er entschied, tatsächlich in Houston zu landen und von dort aus mit einem Leihwagen, den er an jeder Filiale der Firma zurücklassen konnte, nach Norden zu fahren und in den kleineren und größeren Städten nach ihm zu suchen.
Der Vater von Spike war wütend. Er hatte seinen Sohn verloren, er, der König der Halbwelt von Seattle, der in legalen wie illegalen Geschäften gut verdiente, zwei Stadträte und einen Staatsanwalt auf der Lohnliste hatte und gute Beziehungen zu Leuten in den ganzen Staaten unterhielt, würde in zwei Tagen seinen Sohn beerdigen, der zu schnell zu groß werden wollte und an drei Burschen geraten war, die aus purer Verzweiflung auf ihn geschossen hatten. Norman Eldridge ließ Faxe mit den Fotos der drei Vermißten, von denen aufgegriffene Piranhas berichtet hatten, in allen Staaten verbreiten und setzte eine Belohnung von 1000 Dollar aus. Da die drei Jungen nicht in ihre Elternhäuser zurückgekehrt waren, mußte man sie eben suchen.
"Wie kommt es, daß die Familie Jorkins nicht diesen Benjamin Calder vermißt?" Fragte Renato, ein Freund von Norman Eldridge. Dieser meinte:
"Abraham Jorkins ist ein reicher Pinkel, fast so gut wie ich. Nur daß er sich nicht die Finger verbrennen will. Der will nicht, daß jemand rauskriegt, daß sein aus Dropout eingewanderter Neffe an einer Schießerei beteiligt war. Könnte wichtige Kunden vergraulen. Deshalb sucht die Polizei nicht nach dem Bengel."
"Ja, aber wo suchen wir? Nachher müssen wir hundert Riesen bezahlen, weil überall so Burschen rumlaufen, Norman", wandte Renato ein.
"Lesen kannst du aber schon, wie, Renato? Auf dem Fax steht eindeutig, daß ich mit dem Jungen persönlich sprechen will und erst zahle, wenn mir jemand den lebendig anbringt. Ich habe keine Lust, mir von irgendwelchen Brummifahrern oder Landstreichern das Geld aus dem Hemd leiern zu lassen und ..."
Das Telefon klingelte. Norman ging an den Apparat und erfuhr, daß man Bennys Freund Wilson auf dem Weg nach Chicago erwischt hatte. Dummerweise war die Polizei schneller und hatte ihn bereits in einem Gefängnis untergebracht, weil er ja zu den Mordverdächtigen gehörte.
"Also diesen Wilson haben die netten Ordnungshüter sicher. Den können wir ohne großen Krach nicht mehr befragen", stellte Norman fest. Dann klingelte das Telefon erneut. Er ging ran, lauschte und verzog das Gesicht. Dann sagte er:
"Er wollte das ja so." Dann legte er auf und kehrte zurück.
"Also, Renato, es geht nur noch um diesen Ben Calder. Joe Spalding, der dritte, ist bei einer Ballerei mit einer anderen Gang umgenietet worden. Er hat mindestens noch vier Leute von denen mitgenommen. Woher der auch immer schießen gelernt hat, der Typ war genial. Der hätte was werden können. Aber dafür ist der Mörder meines Sohnes jetzt auch hinüber. Jetzt will ich von diesem Ben wissen, wie die ganze Sache gelaufen ist. Ich hoffe nur, der ist vernünftiger als dieser Joe."
"Und wo willst du ihn suchen?" Fragte Renato.
"Ach, wir haben die Pressegeschichten aus Dropout nachgeprüft. Benny hat wohl 'ne Freundin in Texas. Ich habe Emilio drauf angesetzt. Wenn der den mit seinen Leuten kriegt und per Eilexpress zu mir zurückschickt, erlasse ich ihm seine hundert Riesen für die Schiebung mit den Stinger-Raketen."
"Du willst dem hundert Riesen Schulden erlassen, nur wegen so'nem Bicho?" Fragte Renato ungläubig.
"Ich habe Emilio das in Aussicht gestellt", sagte Norman Eldridge, Spikes Vater.
"Bueno, Amigo. Dann hoffe mal, daß sich das nicht rächt und dein Freund aus Texas nicht meint, nun immer für kleine Gefälligkeiten großen Rabatt auf alles zu kriegen, was du ihm verkaufst."
"Ich sagte, ich habe es ihm in Aussicht gestellt, die hundert Riesen zu stunden, Amigo Renato. Das muß sich dann aber auch lohnen."
"Wie du meinst", sagte Renato.
"Auf jeden Fall läuft jetzt die Suche nach diesem Ben Calder. Wenn die Polizei oder gar das FBI ihn noch nicht sucht, um so besser."
Es war der zweite Tag nach dem Turnhallen-Massaker, als die Familie Jorkins zwei unerfreuliche Besuche bekam.
Besucher eins war Lieutenant Gordon vom Polizeidepartment mit seinem Assistenten. Der Polizeioffizier wirkte alles andere als erheitert, als er Mrs. Jorkins ansah und seinen Ausweis und die Dienstmarke vorzeigte. "Lieutenant Gordon, Seattle Polizeidepartment", sagte er. "Spreche ich mit Mrs. Linda Jorkins?"
"Das ist richtig, Lieutenant", sagte Mrs. Jorkins sichtlich verängstigt. "Was wünschen Sie?" Fragte sie noch schnell.
"Ich wünsche mit Ihrer Schwägerin Mrs. Magarete Calder zu sprechen, falls sie im Haus ist", versetzte Gordon, der wußte, daß er gerade Oberwasser hatte.
"Wer ist da, Linda?" Fragte Abraham Jorkins aus dem Wohnzimmer heraus.
"Lieutenant Geoffrey Gordon, Seattle Polizeidepartment, Sir!" Rief Gordon zurück und schob sich lässig an Mrs. Jorkins vorbei, die sich wie eine Stoffpuppe beiseite drücken ließ.
"Ich habe die Polizei nicht gerufen", erwiderte Mr. Jorkins barsch. Miles, Gordons Partner, rief lässig zurück:
"Mr. Jorkins, nicht selten kommen wir gerade dann, wenn wir nicht gerufen werden."
"Milo, mehr Respekt vor anderen Leuten", knurrte Gordon. Abe Jorkins stürmte aus dem Wohnzimmer. Gesicht und Haltung zeigten dem Polizeioffizier, daß dieser Hausbesitzer bereit war, seinen Besitz gegen alle Störungen zu verteidigen. Gordon lächelte milde. Dann zeigte er Mr. Jorkins seinen Ausweis und die Dienstmarke vor, ebenso tat es Miles.
"Wie gesagt, Officer, ich habe die Polizei nicht gerufen und wüßte auch nichts, weswegen man Sie zu mir geschickt haben sollte", sagte Abraham Jorkins mit fester Stimme. Doch in den Mundwinkeln des Hausherren zuckte es Nervös.
"Das hätten Sie besser mal tun sollen", sagte Gordon von der Kampfbereitschaft Abraham Jorkins' unbeeindruckt. "Wir erhielten heute morgen eine Vermißtenanzeige von Direktor Fender von der George-Washington-Highschool. Diese Vermißtenanzeige betrifft den zurzeit bei Ihnen gemeldeten Schüler Benjamin Calder Junior. Im Zusammenhang mit dem Massenmord in der schuleigenen Sporthalle ermittle ich den Tathergang und bekomme alle Unregelmäßigkeiten an dieser Schule auf den Tisch."
"Ben ist im Moment nicht im Haus. Wir vermissen ihn aber nicht. Wenn er die Schule schwänzt, wird er heute noch was von mir zu hören kriegen", polterte Abraham Jorkins. Miles sah Mrs. Jorkins an, die immer bleicher wurde. Er nickte seinem Vorgesetzten zu, der gleichfalls nickte und dann fortfuhr:
"Mr. Jorkins, ich gehe davon aus, daß Ihr Neffe nicht die Schule schwänzt, sondern aus mir noch nicht bekannten Gründen fortgelaufen ist, und Sie das nicht angezeigt haben. Wo ist Mrs. Calder, Ihre Schwester?"
"Maggy ist einkaufen", knurrte Mr. Jorkins sichtlich gereizt. Gordon wußte, daß er ihn mit dem Rücken zur Wand hatte.
"Ihre Schwester geht einkaufen, Ihr Neffe ist gerade nicht im Haus. Wieviele Lügen möchten Sie noch erzählen, Mr. Jorkins? Wie gesagt, Sie hätten die Abwesenheit Ihres Neffen anzeigen müssen und nicht erst der Schuldirektor, der wohl darauf ausging, einen Skandal zu vermeiden. Ich sage Ihnen was: Wenn ich nicht sofort mit Ihrer Schwester und Ihrem Neffen sprechen kann, kann ich Sie auch drankriegen wegen Verletzung der Aufsichtspflicht, möglicherweise auch Strafvereitelung und Begünstigung, sollte sich herausstellen, daß Ihr Neffe maßgeblich an den Morden beteiligt ist."
"Ich fürchte, Ihnen fehlt die Handhabe, mich zu belangen", fauchte Abe Jorkins. Seine Frau trollte sich derweil wortlos in die Küche. Miles behielt die Tür im Auge, durch die sie verschwand.
"O Sir, ich fürchte, Ihr Geld und die damit finanzierbaren Anwälte werden Ihnen nicht helfen, da rauszukommen. Wissen Sie, wir von der Polizei mögen es nämlich überhaupt nicht, wenn jemand uns partout für dumm verkaufen will. Also wo sind Ihre Schwester und Ihr Neffe?"
Maggy Calder kam aus dem Wohnzimmer, sie ging an ihrem älteren Bruder vorbei und stellte sich aufrecht vor Gordon hin. Dann sagte sie:
"Abe, es ist genug. Du meintest es bestimmt gut. Andererseits bin ich froh, daß die Polizei sich für Ben interessiert. Wenn er unschuldig ist, hat er nichts zu befürchten. Das hast du selbst gesagt. Wenn er schuldig ist, dann muß er zu der Tat stehen. Wird wohl Notwehr gewesen sein, nachdem, was ich der Zeitung und dem Lokalfernsehen entnommen habe."
"Ma'am, neun Jugendliche sind gezielt getötet worden. Von einem reinen Notwehrakt kann da nicht die Rede sein", warf Gordon ein, fing sich jedoch wieder und sagte noch: "Es ist auch noch lange nicht bewiesen, daß Ihr Sohn diese Jugendlichen erschossen hat. Ich gehe zunächst davon aus, daß Ihr Sohn Zeuge der Bluttat war und nun aus Angst vor Vergeltung der übrigen Mitglieder dieser Bande geflüchtet ist. Allerdings verstehe ich nicht, weshalb Sie uns nicht sofort informiert haben, als Ihr Sohn nicht mehr heimkam."
"Weil wir davon ausgingen, daß der Bursche nur versucht, uns zu ängstigen und wiederkommt, wenn er Hunger und Durst hat", warf Mr. Jorkins ein. Lieutenant Gordon sah ihn nun sehr warnend an und wandte sich an Mrs. Calder.
"Wir wissen, daß Sie und Ihr Sohn eine schwere Zeit durchmachen, Ma'am. Die Katastrophe in Ihrer Heimatstadt kann natürlich nicht spurlos an Ihnen vorbeigehen. Deshalb hätten Sie uns sofort informieren müssen, um Ihren Sohn nicht in Gefahr zu bringen. Was glauben Sie, wieviele jugendliche Ausreißer und noch mehr Selbstmörder ich in meiner Dienstzeit schon gesehen habe. Die Ausreißer können all zu leicht in sehr schlechte Gesellschaft geraten, ja leicht zu kriminellen Handlungen verführt werden oder die Opfer von Verbrechern werden. Also, was ist mit Ihrem Sohn?"
"Maggy, du sagst diesem Herrn nichts weiter! Ich gehe davon aus, daß Benjamin nichts mit der Sache zu tun hat und uns nur ärgern will, indem er so tut, als müsse er sich verstecken", sagte Abraham Jorkins. Doch seine Schwester schüttelte den Kopf und winkte den Beamten, ihr zu folgen. Mr. Jorkins wollte zwar noch was sagen, doch mit der Staatsgewalt wollte er sich nun doch nicht anlegen.
Mrs. Calder berichtete davon, was seit dem Feuer in Dropout geschehen sei, verschwieg natürlich, was die wirkliche Brandursache war. Dann erwähnte sie auch den Anruf ihres Sohnes. Gordon notierte sich alles, während Miles den aufgebrachten Hausherrn davon abhielt, in das für das Verhör benutzte Wohnzimmer einzudringen. Zum Schluß fragte Gordon:
"Ist ihr Sohn ein Hochleistungssportler, Ma'am?"
"Sportler ja, Lieutenant. Er fährt Radrennen und betreibt Leichtathletik und spielt Basketball. Wieso ist das für Sie wichtig?"
"Wissen Sie, wie gut er in Leichtathletik ist? Konkret, wie schnell und wie weit kann Ihr Sohn laufen?"
"Hmm, er hat das letzte Radrennen zwischen unserer Schule und einer Nachbarschule mit gutem Vorsprung gewonnen und läuft die 100 Meter in wohl elf Sekunden. Allerdings habe ich mitbekommen, daß er in letzter Zeit wohl wesentlich besser geworden ist."
"Nun, es könnte sein, daß Ihr Sohn also in der Lage wäre, einem anfahrenden Zug nachzulaufen, beziehungsweise neben diesem herzulaufen?"
"Das hat er noch nicht ausprobiert", sagte Mrs. Calder. Gordon nickte ihr zustimmend zu. Dann sagte er:
"Nun, die Situation ist nicht gerade günstig für Sie. Ich werde aber sehen, Sie da herauszuhalten. Ich nehme einfach Ihre Vermißtenanzeige zu den Akten. Kann ich dann noch einiges über ihren Sohn erfahren, was er am liebsten macht, mit wem er in Dropout am besten auskam und ob Sie wissen, wo gute Freunde von ihm wohnen?"
"Ich denke, wenn er geflüchtet ist, weil er irgendwas mitbekommen hat, dann wird er entweder zu seinem Vater nach Jackson durchzukommen versuchen oder nach Houston zu seiner Freundin Donna Cramer", gab Mrs. Calder auskunft.
"Trampt Ihr Sohn? Oder hat er Geld für Zugfahrkarten oder vielleicht einen Inlandsflug?"
"Ich weiß nicht, wieviel Geld er mithat. Sein Vater hat uns zu Monatsbeginn einen Scheck zugeschickt. Ben bekam zweihundert Dollar, für die wir ihn neu einkleiden sollten, da er ja außer den Sachen, die er in Dropout anhatte, nichts retten konnte. Ich wollte morgen mit ihm zu einem Bekleidungsgeschäft, um vielleicht auch eine Halloween-Verkleidung für ihn auszusuchen", sagte Mrs. Calder.
"Ach, dann hat Ihr Sohn das ganze Geld wohl bei sich?"
"Das weiß ich nicht, Lieutenant Gordon. Da müßten wir nachsehen."
"Gute Idee, ich wollte eh fragen, ob ich Fingerabdrücke und Haarproben Ihres Sohnes nehmen kann", griff Gordon die Gelegenheit beim Schopf. Mrs. Calder nickte schwerfällig. Natürlich mußte der Polizist die Spuren sichern, die ihm helfen würden, ihren Sohn zu finden. Vielleicht, nein, ganz bestimmt war es besser, wenn die Polizei ihren Sohn fand. Sie sollte sich nicht von ihrem Bruder beschwatzen lassen.
So kamen eine Stunde später Leute von der Spurensicherung. Gordon hatte im Eilverfahren einen Durchsuchungsbeschluß angefordert und auch die Polizeibehörden im Umkreis informiert. Es stellte sich heraus, daß Ben Calder Junior tatsächlich den ganzen für ihn gedachten Geldbetrag mitgenommen haben mußte, wies Gordon Mrs. Calder darauf hin, daß man vorerst nur die Staatspolizeibehörden informieren würde. Sollte sich herausstellen, daß ihr Sohn aus welchen Gründen auch immer straffällig geworden sei, würde das FBI noch hinzugezogen. Mrs. Calder nickte dazu nur, während Abe Jorkins außerordentlich mißmutig zusah, wie Gordon abrückte. Dann griff er zum Telefon, um seinen Freund von der Privatdetektei anzurufen, um ihn und seine Leute zurückzupfeifen.
"Abe, wie stellst du dir das vor? Butler ist schon in Houston gelandet und hat sich dort einen Mietwagen genommen. Ich kann ihn zwar übers Handy erreichen, aber wenn ich den jetzt unverrichteter Dinge zurückpfeife, wird das für dich noch teurer. Außerdem ist ja nicht gesagt, daß die Polizei Ben schneller findet."
"Ich weiß genau, du meinst, mich jetzt wie eine satte Milchkuh melken zu können", knurrte Mr. Jorkins in den Hörer. "Aber ich sage dir eins: Dieser Auftrag ist storniert. Schicke mir die bis zu diesem Datum und dieser Uhrzeit angefallenen Abrechnungen. Wenn dein Spürhund dann immer noch meint, weitersuchen zu müssen, tut er das nur auf seine ganz eigene Rechnung. In den USA ist der Kunde immer noch König."
"Tja, aber wenn der König zur Jagd bläst kann es Tage dauern, bis seine Hescher wieder zurückgeholt werden", wandte der Chef der Privatdetektei ein. Doch dann sagte er: "Alles Klar, Abe. Du stornierst den Auftrag. Das ist dein gutes Recht und steht ja auch in unseren Vertragsbedingungen. Ich habe keine Lust, mich mit einem deiner Staranwälte anzulegen. Ich pfeife Butler zurück."
"Das will ich dir geraten haben. Sonst hätte ich nämlich als nächstes meinen Anwalt angerufen und dich wegen Vertragsbruch und versuchter Erpressung belangt. Aber intelligente Männer müssen sowas ja nicht darauf ankommen lassen."
"Sehe ich ein", kam es vom anderen Ende der Telefonleitung.
Abe Jorkins war zwar immer noch wütend, weil sein schönes Vorhaben nicht geklappt hatte, doch nun würde eben die Polizei nach dem Jungen suchen. Die hatte doch mehr Möglichkeiten, und er hatte ja schließlich jahrelang Steuern bezahlt, um die Polizei mitzufinanzieren. Dann sollte sie auch mal was für ihn tun.
Zwei Stunden später klingelte es noch mal an der Tür. Diesmal öffnete der Hausherr persönlich. Vor der Tür stand Shanon Flyingeagle, die Sensationsreporterin des Seattle-Boten.
"Ah, Mr. Abraham Jorkins", grüßte sie zuckersüß lächelnd. "Ich hörte davon, daß Sie der Verwandte eines der drei vermißten Schüler sind, die nach der abscheulichen Sache in der Turnhalle ..."
"Wer sind Sie?" Fragte Mr. Jorkins überaus gefährlich dreinschauend. Die Reporterin ließ das kalt. Sie lächelte weiter und stellte sich ordentlich vor. Mr. Jorkins bellte darauf:
"Kein Kommentar zu irgendwas. Holen Sie sich Ihren fehlenden Aufmacher anderswo!"
"Nun, das sollten Sie mir besser nicht empfeheln, Sir", gab Ms. Flyingeagle sehr selbstsicher zur Antwort. "Denn ich habe da Gerüchte gehört, die Sie in der Form bestimmt nicht im Seattle-Boten lesen möchten. Es ist an Ihnen und Ihrer Schwester, mir zu helfen, diese Gerüchte zu entkräften."
"Wenn Sie so sicher sind, es nur mit Gerüchten zu tun zu haben, dann drucken Sie sie erst gar nicht. Dann kriegen Sie auch keinen Ärger", knurrte Abraham Jorkins der in Gedanken schon den Tag verfluchte, an dem er sich bereiterklärt hatte, seiner Schwester und seinem Neffen einstweilige Unterkunft bei sich zu erlauben.
"Das ist eben das Problem, Sir. Die moderne Informationswelt jagt nach Wahrheiten. Wer die echte Geschichte als erster hat, der kommt damit heraus. Weiß ich als Reporterin heute noch nicht, ob ein Gerücht nun auf wahre Fakten basiert oder eine erfundene Story ist, kann ich morgen schon mehr wissen. Wenn ich dann aber nur aus Angst, mich zu vertun etwas nicht erwähne, was sich hinterher als richtig herausstellt, verliere ich nicht nur meinen Job, sondern die Zeitung, für die ich arbeite ihren guten Ruf. Gegendarstellungen können jederzeit gedruckt werden, Sir. Aber wenn eine Zeitung nicht als erste die tatsächlichen Dinge berichtet, ist das unentschuldbar."
"okay, wie Sie wollen, Ma'am. Ich weiß nicht, wieso Sie zu uns wollen und stelle fest, daß Sie einer falschen Spur nachjagen. Gegen jede form der unerwünschten Berichterstattung kann und werde ich klagen, und das könnte Ihrer Zeitung den letzten Cent kosten, was für Sie unweigerlich bedeutet, daß Sie Ihren Job verlieren. Also lassen Sie mich und meine Familie gefälligst in Ruhe! Wagen Sie es nicht, irgendwas in Ihr Revolverblatt zu schmieren, daß den Ruf meiner Familie auch nur im Ansatz ankratzt! Ihre Pressefreiheit reicht auch in diesem mediensüchtigen Land nur soweit, wie sie sich an die bestehenden Gesetze hält. Und ein Gesetz lautet, daß die Privatsphäre geschützt wird. Da ich weder Politiker noch irgendein Film- oder Popstar bin, wie meine Familie auch nicht irgendwie im Rampenlicht des öffentlichen Interesses steht, haben Sie unsere Privatsphäre zu respektieren. Angenehmen Tag noch!"
"Moment, Sir!" Rief Ms. Flyingeagle, bevor ihr Mr. Jorkins die Tür vor der Nase zuschlagen konnte. "Dann möchten Sie sich auch nicht zu den Aussagen verschiedener Schüler äußern, die Ihren Neffen als besonders rauflustigen Prügelknaben darstellen? Dann möchten Sie oder Ihre Schwester nichts dazu sagen, was an den Gerüchten dran sei, Ihr Neffe sei nicht ganz normal und auch nichts dazu, daß er womöglich mit einem Killer auf der Flucht ist?"
"Guten Tag, die Dame!" Sagte Abraham Jorkins noch mal und schlug die Tür zu.
"Ob das so klug war?" Fragte wenig später Mrs. Jorkins. "Ich kenne das Mädchen. Die ist sehr kämpferisch. Wer als Halbblut weder in der einen noch der anderen Welt richtig zu Hause ist, lernt früh nach allen Seiten auszuteilen und legt sich auch einen harten Panzer und ein dickes Fell an. Ich denke, Abe, die zieht uns jetzt erst recht durch den Kakao."
"Linda, dann kriegt die Zeitung Ärger", sagte Abe Jorkins überaus entschlossen.
Doch die Geschichte über Ben Calder kam nicht in die Zeitung, sondern ins Fernsehen. Shanon Flyingeagle trat in einer Talkshow des Lokalsenders auf und bezog Stellung in einer Reportage des staatsweiten Senders. Darin sagte sie, daß sie alle Familien der getöteten oder vermißten Schüler interviewt hatte, nur bei einer Familie sei sie auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Dann kam sie mit Aussagen von Jungen herüber, die Ben als sehr stark und deswegen auch streitlustig ansahen, gab einen rührseligen Bericht über den Brand in Dropout ab und schloß mit der Frage:
"War es richtig, den Jungen nach diesem traumatischen Ereignis in eine wesentlich größere Stadt zu bringen und ihn in das rauhe Leben dortiger Oberschulen einzugliedern? Nun, ich konnte dazu ja keine Antworten kriegen."
"Nun, das dieser Benjamin Calder der Junge ist, der als Teenage Terminator in Ihrer Zeitung bezeichnet wurde, können Sie nicht mit Sicherheit sagen, Ms. Flyingeagle?" Fragte der Moderator der Sendung. Sie schüttelte den Kopf.
"Ich werde mich hüten, derartig unbewiesene Behauptungen zu verbreiten."
"Das kriegt diese Halbbluthexe wieder", fauchte Abraham Jorkins und rief seinen Anwalt an.
Gordon hatte natürlich mehr Möglichkeiten, sich über Ben Calder zu erkundigen. Er prüfte nach, was über das Unglück von Dropout bekannt geworden war und ob Benjamin Calder schon mal aufgefallen sei. Dabei spuckte der Computer eine kleine Randnotiz aus:
"Ein jugendlicher Radfahrer namens Benjamin Calder Junior meldete am 7. Juli 1995, beim Vorbeifahren an einem alten Plantagenbesitzerlandhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, merkwürdige Gesänge in demselben vernommen zu haben, die er als im Chor vorgetragene Beschwörungsformeln deutete. Die dieser Anzeige folgende Untersuchung ergab, daß in jenem Haus weder dauerhaft noch zeitweilig irgendjemand gehaust oder irgendwelche Rituale durchgeführt hat."
"Ach, sieh mal an", sagte Sergeant Miles. "Der Junge hat sich entweder gerne ins Rampenlicht gestellt oder ist einem Streich aufgesessen gewesen. Schade, daß die Akten darüber beim Brand vernichtet wurden."
"Wohl erstes, Milo. Wenn da niemand gefunden wurde, dann hat der sich das auch eingebildet. Wir haben doch schon Satansjünger ausgehoben. Die haben immer irgendwelchen Dreck gemacht."
"Stimmt, Lieutenant", pflichtete Miles seinem Partner bei. "Aber einige Zeit nach dieser Anzeige brannte es in Dropout. Dann kam der Bursche her zu uns und geriet mit den Piranhas aneinander. Jetzt sind neun von denen tot. Ich stelle mir vor, daß der Bursche tatsächlich an dieses Ritual glaubt. Dann könnte es sein, daß er davon besessen ist, die Dämonen, die da beschworen wurden, seien hinter ihm her, weil er verraten hat, daß sie beschworen wurden. Sowas könnte eine durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle induzierte Paranoia ergeben, eine schwere Psychose. Mit anderen Worten, wir sollten uns darauf einrichten, daß der Bengel gefährlich werden kann."
"Wo wir's vom Teufel haben, Milo, sollten Sie den nicht an die Wand malen. Ich gehe eher davon aus, daß der Junge nur vor den Piranhas geflohen ist, die ja nicht alle ausgerottet wurden. Wissen Sie eigentlich, Milo, daß der Vater dieses Mr. Spike kein unbeschriebenes Blatt ist?"
"Aber sicher, Chef", sagte Miles sofort. "Aber der hat seine krummen Geschäfte so gut getarnt, daß wir ihm nichts anhängen können."
"Nun, er könnte Blutrache fordern und seine guten Freunde hinter dem Jungen herjagen lassen. Ich denke, wir sollten das FBI einschalten."
"Um einen halbwüchsigen Ausreißer zu finden? Die lachen uns aus, Lieutenant. Die kriegen Ihren Hintern erst hoch, wenn eine echte Entführung vorliegt oder der Bursche nach der Methode "Bonnie und Clyde" raubend und mordend durch die Staaten zieht."
"Achso, dann sollten wir also erst warten, bis der Junge irgendwen umgebracht hat? Womöglich liegt er schon tot in irgendeinem Fluß oder hat sich vor einen Zug geworfen oder von einer Autobahnbrücke", polterte Gordon. Dieses miese Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn immer packte, wenn er jugendliche Mordopfer oder Selbstmordopfer fand, trieb ihn fast zur Weißglut.
"Wir haben jetzt ein Rundfax an die Staatspolizei geschickt. Der Junge kann doch nicht so weit gekommen sein."
"Mit zweihundert Dollars kommt jeder gut einige hundert Meilen weit. Wenn er erst auf den Zug gesprungen ist, wovon ich mittlerweile ausgehe, dann kann er in einer Nacht durch drei Staaten gefahren sein, ohne daß das jemand mitbekommen hat. Aber Sie haben recht, daß die vom Büro wichtigere Dinge zu tun haben. Außerdem habe ich ein paar gute Freunde von der Akademie in Texas wohnen. Die werde ich auf den Bengel ansetzen", sagte Gordon.
"Wieso Texas? Denken Sie nicht, daß er zuerst zu seinem Vater nach Mississippi zurückfährt?"
"Nein, Milo, denke ich nicht. Er ist mit seiner Mutter hierher gezogen. Wir waren ja selbst mal Teenager. Haben Sie sich sofort an Ihren Vater gewandt, wenn irgendwas nicht so lief, wie Sie das wollten?"
"Lieutenant, damals waren die zeiten anders. Außerdem hatte ich damals keinen Massenmord mitbekommen", sagte Miles.
"Auch wieder richtig", knurrte Gordon. "Aber ich denke, der Junge fährt zuerst zu seiner Freundin. Vielleicht will er haben, daß sie mit ihm durchbrennt. Und dann kriegen wir vielleicht das Bonnie-und-Clyde-Szenario. Nur dann ist es für Vorbeugung zu spät."
"Es paßt mir nicht, Lieutenant. Aber Sie könnten recht haben."
"Glauben Sie, mir würde das passen, wenn ich wirklich recht haben sollte, Milo?" Fragte Gordon zurück. Dann rief er seinen Polizeischulkameraden in Houston und noch einen in Dallas an. Miles fragte ihn, warum ausgerechnet in Dallas."Könnte sein, daß Ben Calder nicht auf direktem Weg zu seiner Freundin will, sondern irgendwo hin, wo er einige Zeit wartet, bis er weiterfährt. Vorausgesetzt, er kommt tatsächlich so weit durch. Texas ist von uns aus gesehen sehr weit weg", sagte Gordon.
Benny Calder stand an einer Raststätte an der Schnellstraße nach Texas. Er hatte sich ein Schild "Houston" gemacht, um möglichst gut mit jemandem dorthin zu kommen. Er hielt sich bei Personenwagen zurück, weil er keine Lust hatte, sich mit wegen der Fahrt gelangweilter Leute über sein Leben zu unterhalten. Trucker, die Kapitäne der Straße, waren da doch besser drauf. Sie konnten zwar sehr mitteilsam sein, aber zuweilen auch sehr diskret sein. Als dann ein Mittelschwerer Sattelschlepper mit sechs Luxuslimousinen heranratterte, trat Ben aus der Deckung hinter dem Telefonhäuschen hervor und hielt das Schild hoch. Der Brummi bremste. Quietschend rieben sich die schon ziemlich abgewetzten Bremsscheiben. Zischend drückte die Preßluft in den Bremszylindern mit aller Kraft, bis der Wagen stand. Der Fahrer, ein bärtiger mann mit graublondem Haar, winkte von oben herunter und fragte, ob der Junge allein unterwegs sei. Ben sah hinauf zum Führerhaus und sagte laut und vernehmlich, daß er alleine sei und zu seiner Tante nach Houston wolle. Der Fahrer grinste ihn an. Dann ließ er Ben einsteigen.
"Joh, Junge, bis Houston kann ich dich nicht mitnehmen. Ich fahre bis Dallas. Aber ich kann dich an der nächstmöglichen Raststätte auf der Strecke nach Houston raussetzen", sagte der Trucker. Ben bedankte sich. Immerhin würde er die Staatsgrenze nach Texas überschreiten können. So fuhr Ben mit dem Fernfahrer, der sich Roy nannte. Ben grinste. Roy hieß auch der Vater von Donna. Er selbst nannte sich Hank Williams. Roy nickte. Er war entweder nicht daran interessiert, ob der Junge da neben ihm log oder die Wahrheit sprach oder er kaufte ihm das einfach ab.
Benny lauschte dem CB-Funk. Er hatte sich nie so recht für diese Sprechgeräte interessiert. Er war ein Kind der Handy-Welt und ein Entdecker der neuen virtuellen Welt des Internets. Doch wenn er den anderen Truckern so lauschte, was sie sagten, sich derbe Witze erzählten oder vor "Glatteis" warnten, mußte er doch schmunzeln.
"Was genau ist denn Glatteis?" Fragte er, nachdem er diese Warnung zum drittenmal über den CB gehört hatte.
"Ach, so heißen bei uns die Radarfallen, Hank. Die Welt von heute gibt einen Dollar pro Sekunde her. Wer da am schnellsten is', kriegt am meisten, und den langsamsten beißen die Hunde. Wir haben da also oft keine Wahl, als Onkel Sams Fünfundfünfzigergebot zu überschreiten. Smokey weiß das und hat seine Starenkästen gut in die Landschaft geparkt. Wenn's einen von uns erwischt, gibt der uns das weiter, wo's ihn geblitzt hat, damit wir da gut drunter durchschaukeln können. Dann gibt's eben Glatteis auf der Interstate Sowieso."
"Wau, Leute, hier ist Hurricane. Ich fliege gerade bei Meridith ein. Foxtrott, bist du da gerade nicht auch?"
"Hier Foxtrott auf Kanal zehn für Hurricane. Ich habe gerade den Abflug gemacht. Meridith wünscht allen auf der Rolle gute Fahrt und grüßt vor allem Lady Lucy, wenn die noch in unserem Revier herumschwirrt."
"Yep, Foxtrott", kam eine Frauenstimme mit afroamerikanischer Prägung zurück. "Was Has'n eingeworfen, Foxtrott?"
"Das übliche, Lucy. Zwei Steaks voll durch, drei Portionen Kartoffelsalat und drei Tassen Kaffee schwarz wie die Sünde", berichtete Foxtrott, der offenbar noch recht Jung war. Roy, der sich über Funk Thunderbird nannte, grinste, als er diesen von Rauschen und Knacken durchsetzten Dialog im Äther hörte.
"Lucy ist Foxtrotts Tante. Die truckt schon seit zwanzig Jahren und hat ihrem Neffen auch'n Job auf 'nem Vierzigtonner verschafft", sagte der Fernfahrer.
"Diese Lady Lucy ist wohl auch aus dem Süden. Ich hörte den Akzent raus."
"Joh, stimmt, klingt wie deiner. Auch aus dem Mississippi-Bereich?"
"Yep", erwiderte Ben alias Hank. "Meine Alten sind vor kurzem zu den Yankees gezogen. Ödet mich an. Ich habe denen gesagt, ich würde lieber in einem richtigen Staat leben wollen. Tja, und weil für'n Flieger keine Kohle da war, habe ich mich halt so auf die Reise begeben."
"Eh, dann suchen die nach dir?" Fragte Roy mißtrauisch.
"Meine Alten sind dafür zu ängstlich, die Bullen zu rufen", sagte Ben so cool wie möglich klingend.
"Ach, und wenn deine Tante Mary dich nimmt, dann sind die beruhigt?"
"Sie heißt Jane", sagte Ben, der die Falle witterte, in die er gelockt werden sollte. Er hatte von seiner Tante Jane in Houston gesprochen, nicht von einer Tante Mary. Roy lächelte aufmunternd.
"Habe ich verwechselt, weil ich 'ne Mary Jane in Paris kenne."
"Paris in Frankreich?" Fragte Ben ungläubig dreinschauend."Neh, Paris in Texas, Bursche. Das in Frankreich interessiert mich überhaupt nicht die Bohne. Da sind wir ja nur willkommen, weil wir Dollars da hinbringen. Und dann müssen wir noch diese verschnupfte Sprache sprechen, um nicht zu verhungern."
"Ich bin auch nicht für fremde Städte, wo ich nicht frei nach Schnauze reden kann", sagte Benjamin Calder.
"Eh, Leute, hier Blizzard! Da habe ich gerade an der Tanke nach der Grenze zwischen Arizona und New Mexico so'n Fax in die Hand gedrückt bekommen. Da wird so'n Bubi aus Mississippi vermißt. Sein Onkel in Seattle bietet 'nen ganzen Riesen, wenn er ihn gesund zurückkriegt."
Ben mußte sich stark beherrschen, um nicht zu erbleichen. Foxtrott fragte Blizzard, wie der Bursche denn aussähe. Blizzard gab eine genaue Beschreibung von Ben Calder durch, nannte sogar seinen Namen.
"Ach, und wer den findet und nach Seattle bringt, kriegt einen Riesen?" Fragte Foxtrott.
"Foxtrott, das sind Gangster", kam Lady Lucys Stimme nun mit viel Hintergrundrauschen zurück. "Ich habe diesen Schrieb auch gekriegt. Irgendso'n Ehrenmann aus Texas, der 'nen Freund in Seattle hat, hat den Jungen zur Jagd freigegeben. Ich weiß das von Pasta. Der hat's von anderen guten Bekannten."
"Zehn vier! Und wir sollten den kassieren? Stinkt ja wie zehn Gogo-Girls im Gartenschuppen", gab Hurricane seinen Kommentar ab und bedankte sich bei Lady Lucy für die Warnung.
"DA hat der Typ aber noch mal glück gehabt", sagte Roy und sah Ben an. Ben war sich sicher, daß er nun aufgeflogen war. Doch er blieb cool. Wenn der Landstraßenkapitän ihn nicht drauf anquatschte, würde er auch nichts dazu rauslassen. Stattdessen fragte Ben:
"Was heißt denn "Zehn vier"?"
"Das, was bei dir hinten rausfällt, wenn dein Essen durchgelaufen ist", sagte Roy dazu nur und meinte:
"Was macht so'n Burschen, wie du ja auch einer bist, so wertvoll für'n Gangsterboss? Hast du da irgend'ne Ahnung?"
"Wahrscheinlich hatter 'nen Drogendeal mitgekriegt oder wie wer umgenietet wurde", erwiderte Ben ganz kühl. "Die suchen ja dann irgendwelche Zeugen, die sie vor den Bullen krallen können."
"Wie bei dem Film, wo Whoopi Goldberg die Nonne gespielt hat?" Fragte Roy vergnügt grinsend.
"Yep, Roy. So'ne Nummer wird das wohl sein."
Mehr schien Roy nicht wissen zu wollen. Offenbar war der Trucker in seinem Leben zur Einsicht gekommen, daß man nicht so viel fragen wollte, dann wurde man auch nicht sooft belogen.
"Wau!" Rief ein Ben noch nicht mit Funknamen bekannter Trucker durch den Äther. "Ihr glaubt es mir nicht, wenn ich euch das erzähle. Da ist eben 'n Spaghettiflitzer mit mindestens hundert Klamotten an mir vorbeigezischt. Konnte gerade noch sehen, daß da 'ne Biene mit langen dunkelbraunen Haaren drinsaß."
"Eh, Ally, mal wieder im Sektor?" Fragte Blizzard.
"Der rote Alligator", erläuterte Roy. "Der kommt aus Florida und fährt einen roten Tanker für so'ne Chemiefirma in Detroit. In der Gegend von Miami haben die 'ne Niederlassung, wo sie irgendwelche Säuren zusammenbrauen."
"Aber gewiß, mein schneestürmischer Freund", kam Alligators Stimme mit echtem Florida-Akzent über die Wellen des CB-Funks. "Habe meine rote Lola mal wieder in Richtung Norden geschaukelt und bekam auf dem Rückweg noch 'ne Ladung für Houston mit. Wieder was gefährliches. Mehr müßt ihr nicht wissen. Aber dieser Spaghettiflitzer eben hat mich schon echt beeindruckt. Der fegte mit mindestens hundert Sachen auf der Gegenbahn vorbei. So'n weißer Maserati. Lange schon keinen mehr gesehen. Wenn Smokey denn zwischenkriegt, wird's teuer. Wo die doch genau da 'ne Glatteisstrecke haben."
"Weißer Maserati mit 'ner braunhaarigen Frau drin?" Fragte Ben sichtlich erschrocken. "o zehn vier!"
"Was soll an dem Ding denn so heftig sein, Hanky?" Fragte Roy, dem nicht entgangen war, daß Ben kreidebleich geworden war.
"Kannst du diesen Alligator mal fragen, wo genau der Flitzer herkam?" Wollte Ben wissen.
"Kann ich machen. Aber dann will ich zumindest hören, was dir an dieser Lady so die Düse gehen läßt."
"Die ist gefährlich", sagte Ben nur. Dann, weil das bestimmt noch mehr Fragen aufwerfen würde, sagte er: "Die ist meiner Freundin mal sehr dumm gekommen. Die hängt in so'ner Sekte herum, die ..."
"Wirst du wohl schweigen!" Erscholl in Bens Bewußtsein unmißverständlich klar und drohend eine warme Altstimme, die Stimme Anthelias.
"Heh, Bursche, was geht denn jetzt ab", bemerkte Roy. Ben, der gerade wieder den Mund aufmachen wollte, um weiterzureden, spürte, wie etwas seinen klaren Verstand vernebelte, ihn regelrecht wegdrückte, bis er meinte, wie im Traum oder auf einer Droge neben sich zu stehen und sich sprechen zu hören:
"Nichts weiter, Roy. Manche Sachen sollte man eben nicht wissen. Ich kann dir da nicht mehr zu sagen."
"Hmm, schmeckt mir nicht. Aber ich frage Ally mal, wo diese böse Lady herkam", Sagte Roy und nahm das Mikrofon des CB-Funkgerätes
"Ach neh, Thunderbird. Du bist auch in dieser Gegend?" Fragte Alligator zunächst, gab dann aber Auskunft. "Also wenn du auf die Braut scharf bist, dann halt dich mal in der Gegend von Houston. Die ist nämlich genau auf die Bahn abgebogen."
"Joh, ist gut", sagte Roy und bedankte sich.
"Ruhig bleiben. Die wird dir nichts tun", klang Anthelias Stimme immer dann in Bens Geist auf, wenn er sich wieder ängstigte.
"Oh, könnte es sein, daß du vor der Frau angst hast, weil sie was mit diesen Gangstern zu tun hat?" Fragte Roy besorgt.
"Mit welchen Gangstern?" Fragte Ben Calder.
"Denen, die dich suchen, Ben Calder", sagte der Fernfahrer nun sehr ernst klingend. Ben wollte schon was sagen, doch wieder übermannte ihn eine unheimliche Kraft, die ihn schlichtweg zur Seite drängte und dann durch seinen Mund antwortete:
"Ja, du hast recht. Ich bin Ben Calder Junior. Allerdings muß das nicht jeder wissen, der nichts mit der Sache zu tun hat, über die auch niemand was wissen muß."
"Ach, und diese Lady hängt dann auch mit diesen Gangstern zusammen, die nach dir suchen?" Fragte Roy.
"Sie hängt nicht mit denen zusammen. Im Gegenteil. Sie arbeitet gegen sie", hörte Ben sich selbst antworten, als sei er nur Zuhörer dieser Unterhaltung.
"Dann wäre es vielleicht besser, die Polizei zu informieren. Wenn da wer hinter dir her ist, dann wärest du bei denen besser aufgehoben als auf der Straße."
"Im Gegenteil. Nur auf der Straße bin ich im Moment sicher. Die wissen nicht genau, wo ich bin und wo ich hinwill. Gut, daß ich nun weiß, daß man mich wohl auch in Houston sucht", sprach Bens Stimme ohne sein Zutun. Es war schlicht Unheimlich für ihn. Er wußte genau, was ihm da passierte und konnte nichts dagegen machen. So mußte er auch noch hören, wie er sagte: "Nimm mich mit nach Dallas, bitte! Sage niemandem, daß du mich in deinem Wagen hast! Dann passiert weder dir noch mir was."
"Irgendwie klingst du so, als hättest du dir was eingeworfen", meinte Roy, dem Bens Antworten nicht so locker wie bis her vorkamen, eher holperig, wie unter Alkoholrausch. Sofort zog sich Anthelias unheimliche Macht aus Bennys Verstand zurück. Ben sprach frei und sagte, daß er eben beim Sprechen überlegt hatte. Roy schwieg dazu. Zwischendurch funkte er mit den Leuten und erzählte, wo er gerade hinfuhr. Ben war argwöhnisch, wenn neue Abkürzungen fielen. Jetzt, wo der Trucker wußte, wen er da an Bord hatte, konnte es sein, daß er ihn den Gangstern auslieferte, die die 1000 Dollar Belohnung ausgesetzt hatten. Und wenn die Gangster ihn nicht erwischten, dann erwischte ihn diese Patricia, um die es sich handeln mußte. Denn sonst hätte Anthelia nicht so brutal nach seinem Willen gegriffen. Er fragte sich, ob er nicht besser den Gangstern ...
"Dies würde ich dir auch gestatten, Knabe", war Anthelias klarer Gedanke als Antwort.
Patricia Straton, die Zauberkunst- und Verwandlungsmeisterin mit der angeborenen Gabe der Telepathie, stand vor ihrer höchsten Schwester Anthelia und hörte sich an, was diese ihr sagte.
"Ich habe also vor, den Knaben denen zu entziehen, die nach ihm trachten und ihn entweder meucheln oder verhören wollen. Traust du es dir zu, mit deinem pferdelosen Fuhrwerk zu ihm zu eilen und ihn in deine Obhut zu nehmen?"
"Sicher traue ich mir das zu, höchste Schwester. Ich möchte nur wissen, wieso wir jetzt diesen Jungen unbedingt zu uns holen sollen, wo du doch eigentlich einen Kundschafter bei den Muggeln haben wolltest."
"Nun, Schwester Patricia, er droht, wertlos für mich zu werden, da er in großer Gefahr für Leib und Leben schwebt. Er floh, weil er nicht des Meuchelmordes bezichtigt werden wollte, dem mehrere Knaben seiner neuen Schule anheimfielen. Er will zu seiner Auserwählten in ein Land namens Texas, in eine Stadt die da heißt Houston. Unterwegs könnte er Schergen der Unfähigen auffallen oder in heikle Situationen geraten, aus denen er durch Gewalt zu entrinnen suchen wird. Außerdem könnte es sein, daß jene, deren Söhne dem Meuchelmörder zum Opfer fielen, auf Blutrache sinnen und allen nach dem Leben trachten, die sie verantwortlich für das Gemetzel wähnen. In jedem Falle kann der Knabe Benjamin nicht weiter unbehütet verbleiben. Soll er für mich weiterhin von Wert bleiben, müssen wir ihn erheischen und vorerst dem Treiben seiner Welt entziehen. So bist du bereit, den Knaben für uns zu finden und an diesen Ort zurückzubringen?"
"Höchste Schwester, ich bin bereit. Doch möchte ich, bei allem Respekt vor dir, darauf hinweisen, daß die Ergreifung des Jungen nicht lange verborgen bleiben wird. Die Muggel werden ihn vermissen und nach ihm suchen. Ihre Fernverständigungsmaschinen können über künstliche Monde in der Erdumlaufbahn weltweit arbeiten, egal, in wessen Absicht der Junge gesucht wird. Wenn wir uns seiner annehmen, müßten wir ihn für alle Zeiten bei uns behalten, und ich erinnere mich, daß du keine Muggel hier haben wolltest, seitdem die Stadt in unserer Nähe von Verbrechern niedergebrannt wurde."
"Ich sehe deinen Einspruch nicht als Widerspruch, Schwester Patricia. So wisse, daß ich meine Pläne fasse, wie wir fortan mit dem Knaben Benjamin verfahren mögen. Doch schaffe ihn zunächst herbei!"
"Wie du möchtest, Höchste Schwester", erwiderte Patricia Straton. Dann fragte sie noch, ob sie ihre weiße Katze mitnehmen sollte. Anthelia schüttelte den Kopf.
"Es ist wohl geraten, ohne diese treue Begleiterin zu reisen. Sie wird es verstehen."
"So sei es, höchste Schwester", sagte Patricia Straton unterwürfig und verabschiedete sich.
Anthelia hatte ihr geraten, nicht zu apparieren, denn Ben Calder, den sie unbedingt finden wollte, war unterwegs und somit nicht sofort zu erwischen. So furh Pandora Stratons Tochter mit dem weißen Maserati los, den sie sich kurz nach Anthelias Rückkehr beschafft und damit zu fahren gelernt hatte. Sie disapparierte mit dem eingeschrumpften Auto von der Daggers-Villa fort und apparierte in der Nähe der Staatsgrenze von Mississippi. Dann ließ sie den Wagen von sich aus auf seine gewohnte Größe anwachsen. Sie hatte seit dem Bandenkrieg in Dropout lange mit ihrer Mutter und einer Bundesschwester, die sich auf die Maschinen der Muggel verstand, an dem Wagen herumgearbeitet, um ihn mit sehr nützlichen Eigenschaften zu versehen. Eine Eigenschaft war, daß der Motor dreimal so stark war wie er von technischer Seite her gebaut war. So raste sie bald mit über hundert Meilen in der Stunde dahin, Richtung Texas.
Zweimal mußte sie aufpassen, wenn eine Polizeikontrolle drohte. Lobelia Wagner, eine Mischblütige Hexe, hatte ihre Ordensschwester vor den sogenannten Radarfallen gewarnt. So war Patricia auf der Hut vor lauernden Polizisten, die in halbverdeckten Wagen oder hinter kleinen grauen Kästen auf Temposünder warteten. Sie schaffte es immer wieder, rechtzeitig langsamer zu werden, um in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit durch die unsichtbaren Strahlen zu fahren, um kurz hinter der Falle langsam wieder zu beschleunigen, um mit hoher Geschwindigkeit weiterzufahren. Mehrmals überholte sie dabei schwere Lastwagen, lieferte sich einmal mit einem jungen Mann in einem Ferrari, der sich provoziert fühlte, ein Rennen über zwei Kilometer, bevor sie ihn abschüttelte und achtete darauf, ob ihr die Muggelpolizisten folgten oder nicht. Sie war seit dem Bandenkrieg in Dropout sicherer geworden. Außerdem konnte ihr Wagen von sich aus Hindernissen ausweichen, wenn sie nicht eindeutig drauf hinarbeitete, solche Hindernisse zu rammen. So legte sie mit mehr als 140 Meilen in der Stunde eine Höllenfahrt auf den Schnellstraßen der nordamerikanischen Südstaaten hin. Einmal jagte sie eine Gruppe Polizeiautos. Doch sie wußte sich diese vom Hals zu schaffen und entkam sogar einem Beobachtungshubschrauber, der ihre rasante Fahrt entdeckte.
Als sie in die Nähe der texanischen Staatsgrenze kam, empfing sie von Anthelia einen Gedankenimpuls. Sie hatte den Jungen aufspüren können und gerade noch rechtzeitig verhindert, daß er über sie ausplauderte, was er wußte. Sie hatte Ben Calder fernhypnotisch dazu gebracht, dem Fahrer eines Lastwagens zu sagen, ihn zum Endpunkt seiner Fahrstrecke mitzunehmen. Da Patricia Straton zu sehr mit der Fahrt beschäftigt war, um eine Antwort zu senden, konnte Anthelia sich nur darauf verlassen, daß ihre Bundesschwester das neue Fahrziel finden mochte.
Die Jungs von Emilio, dem Geschäftspartner von Norman Eldridge, waren schon in Stellung gegangen. Sie hörten sowohl die Polizeifrequenzen, als auch den CB-Funk der Fernfahrer ab. So erfuhren sie, daß die Trucker nicht auf ihr Angebot eingingen, sich 1000 Dollar zu verdienen, indem sie den Jungen, den Norman umbedingt haben wollte, für sie ablieferten. Emilio freute sich darauf, die 100.000 Dollar, die er Norman schuldete, nicht mehr zurückzahlen zu müssen. Denn er wußte, daß Ben Calder nirgendwo auf der Strecke Seattle / Houston aufgegriffen worden war. Allerdings erfuhren sie davon, daß eine Privatdetektei den Jungen suchte.
"Der Bengel wird ja richtig gejagt", grinste Emilio, ein aus Honduras stammender Gangster, der vor zwanzig Jahren in das gelobte Land USA eingewandert war und sich dort eine erst kleine, dann immer weiter expandierende Organisation aufgebaut hatte, die von Menschenschmuggel aus Mexiko in die Staaten, über Drogen und Waffen bis hin zu Finanzbetrügereien in gewinnbringenden Unterweltgeschäften tätig war. Emilio hatte sich teilweise heftig mit anderen Banden und "Firmen" bekriegt, um diese Vormachtstellung zu halten. "El Serpiente", die Schlange, wurde er von Freund und Feind genannt, weil er einerseits so tödlich zustoßen konnte wie eine Schlange, aber sich auch gewand an gefährlichen Hindernissen vorbeimogeln konnte. Tja, und nun wollte ein Freund aus dem Norden einen erst fünfzehn Jahre alten Jungen, der dabei war, wie der Sohn eben dieses Freundes erschossen wurde.
"Tja, manchmal verreckt man schon beim Start", hatte Emilio nur bei sich gedacht und den Auftrag nur angenommen, weil er eben die 100.000 Dollar einsparen würde.
Bis zum Halloween-Tag kam nichts bezeichnendes über Ben Calder bei Emilio an. Dann erfuhr er, daß er wohl an einem Rastplatz aufgegabelt worden sein sollte. Ein Fernfahrer richtung Dallas hatte so merkwürdige Kurzbotschaften gefunkt, daß gute Freunde von ihm ihn in Dallas abholen sollten. Ob damit vielleicht die Polizei gemeint war? Emilio, die Schlange, wollte sich nicht lumpen lassen, nachzusehen, was dort vorging. Wenn er den Bengel in die Finger bekam und ihn lebend nach Seattle zurückbugsierte, hatte er genug freies Kapital für ein Geschäft mit einem Kokainbaron, der schon angedroht hatte, mit Emilios Konkurrenten verhandeln zu wollen. Die Schlange hatte darauf nur lachend geantwortet:
"Ach, wem willst du denn das Zeug verkaufen, Amigo? Die Japaner unter diesem Tsunami haben sich seit über einem Monat nicht mehr gemeldet und unserer Rockerfreunde von der Ostküste, die dieser Greenskull geführt hat, sind alle auf unerklärliche Weise verschwunden. Ich weiß von den Familien im Norden, daß niemand deine überhöhten Preise bezahlen kann, weil die Drogenfahndung etwas zu gut auf Draht ist. Bleibe also nur noch ich, weil ich weiß, wie ich deinen Stoff reinholen kann, ohne daß wir dabei Verluste machen."
Jedenfalls schickte der Gangsterboss aus den Südstaaten zwei gute Männer aus, um den Truck mit dem Jungen in Dallas noch vor der Polizei zu erwischen. Er ging ja auch nur von der Polizei aus.
Es war stockfinstere Nacht. Roy fuhr seinen Sattelzug mit 66 Meilen in der Stunde über die Fernstraße. Außer ihm waren noch der Trucker Foxtrott und seine Tante Lady Lucy auf Achse. Ben fragte sich, was der Fernfahrer so alles funkte, wenn er seinen Kollegen auf der Straße irgendwelche Codewörter und Zahlen zufunkte. Er wollte schon fragen, was sein Chauffeur so durchgab. Doch immer dann, wenn er den Mund aufmachen wollte, redete Thunderbird wieder mit jemanden anderem. Benny wollte nicht wie paranoid rüberkommen, weil er dachte, man wolle ihm was. Sicher, wenn der Trucker sich einen Riesen Taschengeld so verdienen wollte, war es für Benny gefährlich. Er dachte mal konzentriert, was Anthelia denn machen würde, wenn er sich freiwillig den Gangstern stellte. Doch er hatte keine Antwort erhalten. Entweder spielte diese Hexe wieder mit ihm Katz und Maus, oder sie war mit anderen Dingen beschäftigt.
So um ein Uhr herum schlingerte der Sattelschlepper merklich. Roy kämpfte gegen eine Erschöpfung. Einmal griff er in das Handschuhfach und zog eine Rolle Pillen heraus. Ben dachte, daß er sich Aufputschzeug einwerfen würde. Er sah den Trucker an. Dieser bemerkte das, sah ihn verlegen an und legte das Zeug zurück in das Handschuhfach und schloß dieses sorgfältig zu.
"Hast recht, Bursche. Das Zeug bringt's nicht", grummelte er nur. Offenbar wollte er Ben nicht zeigen, wie schwach er war oder wie sehr er schon auf irgendwelchen Drogen war. Er fuhr weiter, bis er einen kleinen Rastplatz fand, an dem vier Lastwagen geparkt standen.
"Amys Nest", sagte Roy und gähnte sehr laut. "Hier hauen wir uns für'n paar Stunden aufs Ohr. Ich lege mich hier auf die Vordersitze, und du kannst meine Koje haben. Wolltest du noch was essen?"
"Höchstens 'ne Tüte Pommes", sagte Ben. Roy hielt daraufhin auf einem der freien Lastwagenparkplätze. Ein bulliger Schwarzer mit Lederkluft wie ein Motorradfahrer kam heran, erkannte den Trucker und grüßte.
"Ach, Thunderbird. Hast du heute doch noch zu uns gefunden? Amy liegt schon in der Falle. Die Küche ist zu. Wolltest du hier pennen?"
"Yep, Conan", sagte der Fernfahrer und zückte ein Bündel Geldscheine.
"Klar, Thunderbird. Wielange machst du Pause?"
"Nur vier Stunden, Conan. Hab' morgen um zwei Nachmittags in Dallas zu sein. Jede Viertelstunde drüber wird teuer."
"Ist klar, Thunderbird. Ach, du hast wen mit?" Fragte der muskulöse Parkplatzwächter. Roy und Ben nickten.
"Hank", sagte Roy. "Ist unterwegs zu seiner Tante Jane in Texas."
"Na ja, is' ja nicht mein Ding", sagte Conan und nahm einen 20-Dollar-Schein von Roy als Parkgebühr und Diebstahlversicherung. Denn in den Staaten war es in den letzten Jahren wieder öfter vorgekommen, daß Lastwagen, die auf Rastplätzen standen, nachts überfallen oder heimlich ausgeplündert worden waren. Einige beliebte Truckertreffs hatten Wächter eingestellt, ehemalige Football- und Boxprofis, zuweilen auch ehemalige Marines, die für den Militärdienst nicht mehr taugten, aber als Wachhunde noch gut geeignet waren.
Roy richtete seinem Fahrgast die bequeme Koje im hinteren Führerhaus her und legte für sich selbst zwei dicke decken auf die Vordersitze und zog sich eine Steppdecke über, um zu schlafen.
Ben Calder wartete, bis er den Trucker schnarchen hörte. Er konnte und wollte nicht schlafen. Irgendwie fühlte er sich wie in einer Falle, und das nicht im Sinne von Bett, sondern tödlicher Gefahr. Er stand auf, kontrollierte, daß er alles bei sich hatte, überlegte, wie er aus dem Laster verschwinden konnte, ohne über Roy hinwegklettern zu müssen. Langsam und vorsichtig tastete er nach der Drehkurbel, die das Fenster der Tür an den Füßen Roys herunterdrehen konnte, und drehte diese langsam im Rhythmus des Schnarchens. Irgendwann war das Fenster auf halbe Höhe heruntergekurbelt. Ben zog sich mit den Händen am oberen Rahmen hoch, zog die Beine so weit an, wie es ging. Er dankte seinem Training, daß er sehr gelenkig geblieben war. So schob er sich langsam durch das Fenster, darauf achtend, Roy nicht zu berühren. Erst brachte er die Füße nach draußen, ließ sich dann an seinen Armen hängend immer weiter hinaus und schlüpfte dann mit dem Kopf und den Händen heraus. Draußen wand er sich, immer noch am Fensterrahmen festgekrallt, herum, griff durch das Fenster und drehte langsam die Scheibe etwas höher, bis er den Arm nicht mehr frei bewegen konnte. Dann ließ er sich leise außen herab und landete federnd auf seinen Füßen. Ein Blick herum. Conan saß gerade in der Nähe eines Tanklasters und rauchte eine Zigarette. Ben duckte sich und schlüpfte hinter dem Vorderrad unter dem Auflieger nach hinten weg vom Lastwagen fort, blieb geduckt und mied den Lichthof des Eingangs des Rasthauses. Dann umwanderte er ganz leise das haus. Er schrak zusammen, als er zwei Autos ankommen hören konnte. Das waren keine Trucks, fiel es ihm ein. Das hörte sich nach einem Cadillac und einem Ford Mustang an. Er ging hinter der Dieselzapfsäule in Deckung, wo die Fernfahrer sich für die Weiterfahrt noch Treibstoff besorgen konnten und spähte hinüber zu Conan, der die beiden Autos auch bemerkt hatte. Der Wächter ging hinüber zu dem mitternachtsblauen Cadillac, der das Neonlicht der Rasthofeinfahrt spiegelte. Er sprach mit dem Fahrer, lachte leise und wartete, bis der Fahrer ausgestiegen war. Ben erkannte einen drahtigen Typen in einem italienischen Maßanzug, der neben Conan herging zu Roys Truck. Ben schwante, daß dies gegen ihn ging und suchte schnell den Mustang. Dessen Fahrer hatte das Beifahrerfenster runtergefahren und den Kopf hindurchgesteckt. Also gehörten sie zusammen. Ben überlegte nicht lange. Er suchte sich einen schnellen Weg ins dunkle aus, wo er nicht über irgendwelche Hindernisse stolpern konnte und startete durch. Im Hindernislaufen war er in den letzten beiden Jahren immer einer der besten Läufer gewesen. Jetzt, wo er von Anthelia diesen stärkeren Körper bekommen hatte, kam er innerhalb von zehn Sekunden aus der unmittelbaren Reichweite des Rastplatzes weg. Er hörte noch, wie jemand laut was rief, verstand es aber nicht. Dann hörte er, wie ein Motor angelassen wurde. Das war der Mustang.
"Ben konnte sich denken, daß der Fahrer des Fords warten sollte, um möglicherweise den schnellen Rückzug zu sichern oder jemanden mit dem Wagen zu verfolgen, wenn es nicht gelang, ihn zu erwischen. Der Mustang konnte jedoch nur auf der Straße entlangfahren. Niemand wußte, wann Ben den Truck verlassen hatte. Er hatte mindestens drei Minuten gebraucht, um sich so geräuschlos wie möglich da herauszuarbeiten. Er wußte aber, daß er entlang der Schnellstraße keine Chance haben würde, wenn man ihn schon gefunden hatte und ihn verfolgte. Andererseits mußte Ben weiterkommen. So lief er zur Straße und sah, wie der Mustang gerade auf die Fahrbahn einschwenkte und mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern auf ihn zujagte. Der Junge hoffte, daß er nicht einfach überfahren werden sollte. Sein Gefühl trog ihn nicht. Der Wagen bremste mit quietschenden Reifen und kam auf seiner Höhe zum stehen. Sofort schob sich der Lauf einer schweren Pistole durch das halb geöffnete Fenster an der Fahrerseite. Da wußte Ben, was die Stunde geschlagen hatte.
"Hallo, Benny", grüßte der Fahrer des Mustangs kalt lächelnd. Es war ein Playboyhafter Typ im Seidenanzug, konnte Ben noch erkennen.
"Dein Onkel Norman sucht schon nach dir. Steig ein!"
"Und was machst du, wenn ich nicht will?" Fragte Ben trotzig. "Ich denke mal, daß du mich nicht umnieten darfst, sonst hättest du mich mit deiner Karre umgemäht."
"Ich kann dir aber in den Arm oder in den Oberschenkel schießen, um dich fertig zu machen", knurrte der Fahrer, der irritiert war, weil sein Opfer offenbar keine Angst vor der Pistole hatte.
"Ich glaube nicht, daß du mich dann noch weit mitnehmen kannst", sagte Ben und sprang unvermittelt zur Seite. Der Fahrer feuerte reflexartig seine Waffe ab. Die Kugel peitschte durch die Nacht und krachte irgendwo in die Wand des Rasthauses. Benny hechtete vor, über das Dach des Mustangs und sprang auf der anderen Seite herunter. Der Fahrer mußte erst einmal sehen, wo sein Ziel hinlief. Er fluchte laut und warf sich herum. Als er sah, wie ein Schatten in der Dunkelheit verschwand und auf den Cadillac zurannte, der noch vor dem Rasthof stand, griff der Mustangfahrer zu einem Handfunkgerät.
"Eh, Champf, der Kerl ist ja total abgebrüht und schnell wie ein Puma. Der ist gerade zu euch unterwegs."
"Ach, du hast den nicht ... Rrrrg", kam es aus dem Lautsprecher des Funkgerätes. Dann klapperte es laut und die Sendung brach ab.
Benny wußte, daß er nichts mehr zu verlieren hatte. Das waren keine Polizisten, die ihn da aufgestöbert hatten, denn die hätten ihm nichts von einem Onkel Norman, sondern Onkel Abraham erzählt und ihm auch nicht gleich eine Magnum unter die Nase gehalten. Er hatte also nur eine Wahl, den Cadillac, dessen Fahrer gerade nicht drin saß, unter den Nagel zu reißen. Er wetzte los, schneller als Edwin Moses und Carl Luis zusammen, sah, wie der Caddyfahrer ein altertümliches Walkie-Talkie vor seinem Gesicht hielt und hineinsprach. Er hörte noch, daß er wohl von dem Mustangfahrer gewarnt wurde und wie der Fahrer des Cadillacs ihm antwortete. Dann erwischte er ihn mit einem Rundschlag genau am Hals. Röchelnd fiel der Gangster mit dem noch auf Sendung geschalteten Sprechgerät hin. Ben dachte nicht lange nach und trat dem Mann voll vor den Kopf. Das Funkgerät ging beim Hinschlagen kaputt. Benny warf einen schnellen Blick auf den mitternachtsblauen Wagen. Die Fahrertür stand noch offen, der Zündschlüssel steckte im Schloß. Ben fragte sich, ob in dem Wagen noch wer saß und lief kurz darum herum.
"Eh, Smith, was ist los?" Rief Conan, der mit einem Revolver Roy alias Thunderbird in Schach hielt. Doch es kam keine Antwort. Ben sah, wie der Parkplatzwächter dem Fernfahrer den Kolben der Waffe über den Kopf hieb und dann auf den Caddy zurannte. Also gehörte der schwarze Preisboxer auch zu diesen Typen. Benny zögerte nicht mehr, warf sich in den Wagen und ließ mit einer schnellen Handbewegung den Motor anspringen. Er schlug die Tür zu, stellte die Automatik auf den Rückwärtsgang, trat voll auf das Gaspedal und bugsierte den schweren Wagen aus der beleuchteten Hofeinfahrt heraus. Krachend ging Conans Revolver los. Die Kugel schwirrte unheilverkündend heran und prallte laut krachend von der Beifahrerfensterscheibe ab. Ben stockte der Atem. Dieser Wagen hatte kugelsichere Fenster!
"Scheiße!" Fluchte Conan und wollte schon die Tür auf der Beifahrerseite aufreißen, als Ben die Automatik auf "Vorwärtsfahren" umstellte und wieder aufs Gas trat. Der bullige Farbige erreichte die Tür nicht mehr ganz. Stattdessen holperte der rechte Hinterreifen des Cadillacs über seinen linken Fuß. Ben hörte noch den Schmerzensschrei des angeblichen Parkplatzwächters, kümmerte sich aber nicht mehr darum. Er fuhr einfach los.
Tja, wie sehr mußte Ben dem Vater von Willy dem Kleiderschrank danken, daß er ihn und dessen Sohn mal auf seinem Hof mit dem alten Sedan hatte herumfahren lassen, als sie beide gerade zwölf Jahre alt waren. So konnte Ben schon recht gut Auto fahren und bekam den schweren Luxuswagen gut auf die Schnellstraße. Da der Wagen eine Automatik hatte, brauchte er sich um Kuppeln und Schalten keine weiteren Gedanken mehr zu machen. Er beschleunigte und gewann innerhalb von dreißig Sekunden fast einen Kilometer Abstand zum Rastplatz. Erst dann nahm Ben den Fuß wieder vom Gas und ließ den Wagen langsamer werden, bis er die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Er blickte auf die digitalen Instrumente des Wagens und stellte erleichtert fest, daß man den Wagen vorhin wohl gut voll getankt hatte. Aber nun hatte er zwei neue Probleme. Er hatte mindestens einen Mann heftig verletzt, einem anderen vielleicht die Zehen abgefahren und darüberhinaus einen Wagen geklaut, für den jemand viel Geld bezahlt hatte. Er sah sich kurz um, ob zwischen Vorder- und Rücksitzen jemand versteckt sein konnte. Doch da war niemand. Offenbar mußten sich die Gangster ihrer Sache zu sicher gewesen sein. Dann erkannte er im Rückspiegel, daß der Mustang ihn verfolgte. Gut, damit hatte er rechnen müssen. Wenn der Mustang auch noch einen vollen Tank hatte, würde der ihn nicht mehr auslassen. Doch vielleicht konnte Ben aus dem Caddy mehr herausholen als für diesen großen Wagen normal war. Wenn das eine Gangsterkutsche war, war sie wohl nicht nur kugelsicher, sondern auch frisiert, vermutete Benjamin Calder Junior und trat wieder aufs Gas. Mit sicherem Griff hielt er das Steuerrad, mit einem Auge auf der Fahrbahn und mit einem Auge im Rückspiegel. Tatsächlich holte der Mustang erst einmal auf. Er berührte fast die hintere Stoßstange des Caddys, als der digitale Tachometer die 150 Meilen pro Stunde überschritt. Das war mehr als Ben gedacht hatte. Zu seinem Glück war auf der Autobahn zu dieser Stunde niemand unterwegs. Der Mustang fiel langsam zurück. Offenbar war der Antrieb im Cadillac doch etwas stärker. Der Gangster im Ford wußte wohl auch, daß die Limousine schußsicher war, denn er versuchte erst gar nicht, auf den Wagen zu schießen. Vielleicht tat er das auch nur nicht, weil der große Schlitten zu kostbar war, um durchlöchert zu werden, dachte Ben und sah, wie die Tachoanzeige schließlich bei 157,501 Meilen in der Stunde anhielt. Der Motor röhrte am Anschlag. Ben wußte, daß er bei dieser Supergeschwindigkeit sofort sterben würde, wenn er das Lenkrad auch nur um einen Zoll verriss. Doch im Moment konnte er auf der freien Bahn dahinjagen. Der Mustang fiel nun mehrere Dutzend Meter pro Sekunde zurück. Offenbar hatte man die beiden Wagen doch nicht so gut aufeinander abgestimmt. Benny Calder ließ den Fuß auf dem Gas und spürte die Vibration des am Anschlag arbeitenden Motors. Er sah nun nicht mehr in den Rückspiegel. Wenn der Ford ihn hätte abfangen können, wäre der schon längst an ihm vorbeigezogen. So konzentrierte sich der Überraschungsdieb des Caddys auf die Autobahn, hielt fünf Minuten das Höllentempo durch, das der Wagen erreicht hatte und dachte sich schon, daß er so nicht weiterbrettern konnte. Denn wenn der Gangster im Ford dreist genug war, würde der die Polizei anrufen und die den Job erledigen lassen. Vielleicht warteten aber an anderer Stelle schon Kumpels des Ford-und-Caddy-Gespanns auf ihn.
"Hundertvierzig dürften erst mal genug sein", dachte Benny für sich und ließ den Motor etwas weniger ackern, bis der Tacho bei 139,405 Meilen stand. Immerhin war er damit bald dreimal so schnell wie erlaubt. Er riskierte es, als er über mehrere Meilen kein anderes Auto sah, das Radio einzuschalten. Er stellte fest, daß es auch auf CB- oder Polizeifunkkanäle eingestellt werden konnte. Er stellte einfach einen kanal ein, auf dem laut Anzeige der Autobahnpolizeifunk abgewickelt wurde und lauschte. Doch es tat sich nichts. Offenbar hatte er noch keine Polizeikontrollstelle passiert oder der Gangster den Diebstahl des Wagens gemeldet. Dann wählte er per Tastendruck einen CB-Kanal und lauschte in die Nacht. Er hörte gerade, wie Thunderbird seine Truckerkollegen um Hilfe rief und durchgab, er wäre an Amys Nest überfallen worden.
"Conan hing mit zwei Typen zusammen, Leute. Die haben mich überfallen. Ich hatte ja 'nen Passagier mit, der ist getürmt. Paßt auf, wenn ihr 'nen mitternachtsblauen Caddy und 'nen schwarzen Mustang seht. Am besten ruft ihr Smokeys Leute zu Amys Nest."
"Heh, Thunderbird, war das dieser Typ, den die Gangster vielleicht krallen wollten? Du hast doch durchgegeben, wen nach Dallas zu bringen", meldete sich der rote Alligator. Thunderbird antwortete:
"Zehn vier, Ally! Genau der war's. Ich wollte eigentlich, daß ihn da wer von den Cops abholt. Aber, na ja, jetzt ist der durchgebrannt. Der hat den Caddy geklemmt und ab wie die wilde Lucy."
"Wie wer?" Kam Lady Lucys Stimme mit viel Rauschen zurück. Ally lachte über Funk.
"Tja, Anthelia! Jetzt kriegt mich weder deine blöde Patty noch sonst wer. Entweder komme ich durch oder geh drauf", dachte Ben und fragte sich, ob Anthelia ihn noch überwachte und dann bestimmt antwortete. Doch sie meldete sich auch diesmal nicht. Ben konnte ja nicht wissen, daß Anthelia, um den Schutz des Gürtels der zwei Dutzend Leben genießen zu können, acht Stunden voll und unaufweckbar durchschlafen mußte, und daß sie sich zwischen zehn Uhr Abends und sechs Uhr Morgens Ostküstenzeit diese Schlafpause nahm.
Emilio hatte sich von seinen beiden Leuten einen Bericht geben lassen, wie sie hinter dem Jungen herfuhren. Als sie von einem guten Informanten bei Amys Nest, einer Truckerhaltestelle an der Autobahn richtung Texas, den Tipp bekamen, daß Ben Calder bei diesem Fernfahrer Thunderbird im Wagen war, konnten Silvio und Pete zugreifen. Er hörte noch, wie man den Rasthof erreichte und dann den Truck aufsuchte. Silvio, der im hochgezüchteten Caddy des Gangsterbosses fuhr, wollte Ben aufgreifen und einladen. Doch weder Silvio noch Pete meldeten sich. Emilio rief per Handy im Caddy an. Doch niemand ging dran. Dann rief er Pete an und erfuhr, daß der Junge ihn und Silvio ausgetrickst und den Caddy geklaut hatte. Was das hieß war Emilio klar. Der Caddy war zum einen durch einige Spezialeinbauten schneller als der Mustang Petes und zum anderen kugelsicher. Und Pete durfte nicht auf das Auto schießen, weil er dann noch mehr Ärger mit dem Boss bekommen hätte.
"Der Bengel hat mich bei 151 Meilen abgehängt. Ich hätte ihn fast noch kassiert, Jefe", sagte Pete sehr beklommen.
"Ich dachte, ihr wäret Profis. Ich denke, ihr hättet den Pimpf kassieren können."
"Der war total irre, Boss. Der hatte keine Angst vor meiner Magnum. Der sagte sogar, ich dürfe ihn ja sowieso nicht abknallen."
"Wenn du ihm auch steckst, daß sein Onkel in Seattle ihn wiederhaben will, Culo! Selten so'n Vollidioten wie dich auf der Lohnliste gehabt", fluchte El Serpiente und legte auf. Wenn der Gringo aus Mississippi den Caddy hatte, dann hatte der auch das Handy und die MP und die vierzig Riesen Notreserve, die in einem kleinen Safe unter dem Tank versteckt waren. Das schrie nach Rache. Hundert Riesen einsparen, um den Jungen nach Seattle zu schaffen wären zwar gut gewesen, aber vierzig Riesen zu verlieren und sein lieblingsauto noch dazu, das konnte und durfte "Die Schlange" ihm nicht durchgehen lassen.
"Ich setze das Geld auf 3000 Dollar und lasse noch "Tot oder lebendig" unter das Fax setzen", sagte Emilio zu seinem Leibwächter und Chefkiller Ernesto. Dieser grinste. Dann rief er einen Kameraden an und orderte einen Hubschrauber, um den Jungen zu erwischen.
Ben wußte, daß er den Wagen nicht zu lange behalten durfte. Man würde ihn sofort finden. So fuhr er nur noch zwanzig Meilen weit und bremste dann. Er parkte auf dem Randstreifen und stieg aus. Nein, er mußte erst checken, was der Caddy für wertvolles Zeug im Kofferraum haben konnte. So schloß er den Kofferraum auf, fand darin eine Maschinenpistole mit zwei Reservemagazinen, sowie eine Smith & Wesson 38, wie sie auch von Polizisten verwendet wurde. Dann entdeckte er, weil er noch nach Drogenverstecken in Reifen und Unterboden suchte, einen Minitresor unter dem Benzintank, der mit einem elektronischen Schloß gesichert war. Er bemühte sich nicht erst, den Code zu knacken. Was immer darin war, konnte es nicht wert sein, zu lange damit herumzuprobieren. So nahm er die Waffen und vierhundert Dollar aus dem Handschuhfach mit, entdeckte unter dem Beifahrersitz ein Handy, das auf Vibrationsmeldung gestellt war. Er stellte fest, daß ein Anruf angekommen aber nicht beantwortet worden war. Er prüfte die Nummer, zu der die Bezeichnung "Boss" angezeigt wurde. Dann legte er das Handy unter den Rücksitz und floh zu Fuß in die Nacht. Hier konnte er nun ins freie Gelände abtauchen, und das wohl gerade noch rechtzeitig. Denn gerade als er mindestens fünfhundert Meter zwischen sich und den Caddy gebracht hatte, hörte er Polizeisirenen. Er spurtete los, um möglichst schnell möglichst weit zu kommen. Irgendwann jedoch merkte er, daß auch er nicht unerschöpflich war. Er wußte, daß er auf Dauer nicht weiterrennen konnte und suchte sich in einem Waldstück weit ab von der Autobahn einen Platz aus, wo er sich so versteckte, daß er mindestens einen Fluchtweg offen hatte, wenn man ihn suchte.
Emilios Hubschrauber brauchte mindestens zwanzig Minuten, um die Stelle zu erreichen, wo Amys Nest, der Trucker-Rasthof an der Schnellstraße Richtung Texas lag. Von da an folgte der Pilot der Fernstraße und fand nach nur zehn weiteren Minuten Flugzeit den verlassenen Caddy. Doch da war bereits Polizei zu sehen. Mehrere Einsatzfahrzeuge kamen mit rotierenden Lichtern heran und stellten sich neben das Auto von El Serpiente.
"Jefe, Aktion nicht durchführbar, Konkurrenz vor uns da! Saphir bereits weggeworfen", meldete der Hubschrauberpilot seinem Anführer. Dieser ließ nachfragen, wo man sich verstecken könne. Der Pilot erklärte, daß es in der Nähe ein Waldstück gäbe.
"Hast du Infrarotausrüstung mit?" Fragte der Funker Emilios den Hubschrauberpiloten.
"Bin ich von der CIA? Nöh, ich habe sowas nicht bei. Ich kann nur mit Scheinwerfern dienen", meldete der Pilot, bevor ihn die Flugüberwachung anrief und nach dem Zweck seiner Anwesenheit in diesem Luftraum fragte.
"Ich bin auf einem Rettungseinsatz für die Campwood-Kompanie. Die haben hier Leute von sich verloren, die eine Camping-Ausrüstung von denen testen wollten", meldete der Hubschrauberpilot. Die Behauptung war durch eine schnell eingereichte Flugmeldung belegt, beruhigte den Lotsen in der Flugüberwachung nicht. Doch vorerst konnte der Hubschrauberpilot mit seiner Maschine über dem Wald herumfliegen.
Patricia Straton fuhr die Nacht durch. Sie hatte einen Zaubertrank eingenommen, der sie achtundvierzig Stunden wach halten konnte. Ihr Wagen passierte gerade die Grenze Richtung Texas. Sie hatte sich von Lobelia Wagner erklären lassen, wie das CB-Funkgerät funktionierte, welches sie nachträglich in ihren Maserati eingebaut hatte. Es war durch besondere Zauber störunempfindlich gegen jede Form der Magie geworden, sodaß die üblichen Probleme mit elektronischen Geräten bei einer größeren Zahl sich überlagernder Zaubereien nicht mehr auftraten. Sie lauschte den Kanälen, auf denen die Fernfahrer in ihrer lockeren und teils rüden Art miteinander sprachen. Sie mußte wieder einmal anerkennen, wie gut die Muggel sich doch auch ohne Zaubermittel behelfen konnten. Die Eulenpost und die Kontaktfeuer waren durch diese kabellose Fernverständigung genauso unnötig wie Besen und Flohpulver. Dennoch bedauerte Patricia Straton die nichtmagischen Menschen, die es nötig hatten, komplizierte Maschinen zu bauen und zu benutzen und mißbilligte, daß dafür giftige Abgase in die Luft geblasen wurden, um diese Maschinen mit der nötigen Kraft zu versorgen.
So um zwei Uhr in der Nacht hörte sie auf dem CB-Funk-Kanal, wie sich Fernfahrer Informationen weitergaben, um sie möglichst schnell durch alle Staaten Nordamerikas zu befördern. Es ging um einen Jungen, der von einem ihrer Kollegen, der über Funk Thunderbird genannt worden war, mitgenommen worden war. An und für sich wollte Thunderbird den Jungen nach Dallas bringen. Dort sollte er wohl abgeholt werden. Patricia Straton schmunzelte. Dann jedoch gefror ihr das Lachen im Gesicht. Der Junge war nachts von einem Rasthof verschwunden. Gangster, nach dem Funk zu urteilen welche, die ein Kopfgeld von 1000 Dollar auf ihn ausgesetzt hatten, wollten ihn wohl heimlich aus dem Fernlaster Thunderbirds holen. Dabei war ihnen der Bursche entkommen und hatte wohl einen großen Wagen der Firma Cadillac mitgehen lassen.
Ruhig hörte sich die Hexe im weißen Maserati an, wo dieses Rasthaus, Amys Nest, zu finden war. Demnach mußte es ungefähr vierhundert Meilen nordöstlich von ihrem augenblicklichen Standort liegen. Sie verließ den Wagen, nachdem sie das Funkgerät wieder ausgeschaltet hatte. Sie zog ihren Zauberstab und hielt ihn gegen die Fahrertür. Augenblicklich schrumpfte der italienische Sportwagen zusammen, bis er etwas kleiner als ein gewöhnliches Spielzeugauto war. Patricia nahm ihn vorsichtig hoch. Zwar war alles an diesem Wagen durch Magie verstärkt worden und hielt auch in der Einschrumpfung das hundertfache dessen aus, was die Dicke des Materials ursprünglich hergab, doch sie wollte lieber übervorsichtig bleiben. Sie barg den eingeschrumpften Wagen in einem Stoffsäckchen um ihren Hals und sah sich um, ob ihr jemand zusehen konnte. Im Moment war die Fahrbahn über Meilen frei von anderen Autos. So konnte sie völlig unbeobachtet disapparieren, um keine fünfzig Meter von Amys Nest entfernt aufzutauchen. Sie schlich in ihrer gewöhnlichen Straßenkleidung an den Rasthof heran und bekam mit, wie Polizisten zwei Männer abtransportierten, von denen der eine ohnmächtig war und der andere offenbar Probleme mit seinem linken Fuß hatte. Sie trat noch näher und richtete ihren Zauberstab auf einen der Ordnungshüter: "Imperio!" Murmelte sie. Sofort spürte sie, wie der von ihr anvisierte Polizist für ihren Willen immer empfänglicher wurde. Sie befahl ihm wortlos: "Komm zu mir!!"
Der Polizist entschuldigte sich bei seinen Kollegen und ging hinüber zum Gasthaus. Dort erwartete ihn Patricia Straton hinter einem Stapel alter Lastwagenreifen. Der Mann konnte nichts rufen, denn der Unterwerfungsfluch hielt ihn immer noch gepackt. Patricia fragte ihn aus, wann die Polizei gerufen worden war und was für ein Cadillac das war. Der Polizist erzählte ihr alles, was sie hören wollte. Dann veränderte die Hexe das Gedächtnis des Beamten, sodaß er nun glaubte, hinter dem Gasthaus noch nach Spuren des verschwundenen gesucht zu haben. Danach zog sie sich leise zurück und wartete, bis der Polizist zu seinen Kollegen zurückgegangen war. Sie wartete, bis die Polizei abgerückt war und disapparierte dann.
Fünfzig Meilen vom Rasthaus entfernt tauchte sie wieder auf und ließ ihren Wagen wieder auf Normalgröße anwachsen. Dann fuhr sie ein gewisses Stück weiter, bis sie hörte, daß man den Cadillac gefunden hatte. So fuhr sie einige Meilen weiter, vergewisserte sich, daß sie wieder unbeobachtet war, schrumpfte den Wagen wieder ein und überwand die fehlende Strecke durch magischen Ortswechsel.
Sie hörte den Hubschrauber, sah die Polizeiautos und erblickte auch den mitternachtsblauen Cadillac, der von mehreren Polizisten umringt wurde. Dann erkannte sie, daß der Hubschrauber mit einer großen grellen Lampe den Wald neben der Autobahn absuchte. Sie konzentrierte sich und suchte mit ihrem Blick den Piloten. Als sie meinte, ihn gefunden zu haben, horchte sie, ob sie dessen an der Bewußtseinsoberfläche treibende Gedanken aufschnappen konnte. Tatsächlich spürte sie Aufregung und Anstrengung. Sie erfuhr dabei, daß der Flieger den Auftrag hatte, nach dem Jungen zu suchen. Dann sollte er ihn erledigen. Sie lächelte. Sie hatte Benny Calder nun schneller gefunden als sie eigentlich gedacht hatte. Doch um ihn endgültig in ihre Obhut zu nehmen mußte sie verhindern, daß der Hubschrauberpilot ihn fand und aus der Luft heraus mit diesen knatternden Feuerwaffen vernichtete, die auch bei Dropout eingesetzt worden waren. Sie beschloß, sich der Polizisten zu bedienen, die den Cadillac umstellt hatten. Mit dem Imperius-Fluch pflanzte sie den beiden Einsatzleitern ins Hirn, sich nach dem Hubschrauber zu erkundigen und ihrerseits Luftunterstützung anzufordern. Danach ging sie zu Fuß in den Wald, um Benny zu finden. Sie lauschte mit ihrem telepathischen Sinn, wo sich Benny verborgen haben mußte. Doch die Anwesenheit so vieler Menschen, die sie nicht kannte, machten es für sie genauso schwierig, einen bestimmten Gedankenstrom zu erfassen, wie es für einen Funker schwierig ist, aus einem Salat von Morsegruppen die herauszuhören, die für ihn gerade wichtig war. Sie mochte wohl zwei Minuten in dem Waldstück unterwegs gewesen sein, als sie mitbekam, wie zwei Polizeihubschrauber über sie hinwegschwirrten. Dann hörte sie das Rattern feuernder Maschinengewehre. Wie ein Nadelstich bohrte sich ihr der Schmerz schwer verletztzter Menschen ins Gehirn. Sie mußte sich abschirmen. Irgendwer war wohl getroffen worden. Sie hörte, wie einer der Polizeihubschrauber offenbar Probleme mit seinem Motor hatte und überschnell herabstürzte.
Als der dumpfe Donnerschlag einer Explosion, begleitet von hell aufloderndem Feuer ihre üblichen Sinne erreichte, wußte Patricia Straton, daß ihre Einmischung bereits einer Hubschrauberbesatzung das Leben gekostet hatte. Sie empfand doch etwas Mitleid mit den Leuten. Denn solche, die nicht ihre erklärten Feinde waren, mußten ihrer Auffassung nach nicht sterben. Dann empfing sie auch die ihr bekannten Gedankenformen von Benjamin Jacob Calder Junior. Er mußte wohl geschlafen haben und war nun hellwach. Durch seine Gedanken erfuhr Patricia Straton auch, daß drei Polizisten sich ihm näherten. Offenbar hatten die Ordnungshüter schnell erkannt, daß sie den Wald durchsuchen mußten. Gut, so groß war der ja auch nicht. Sie schätzte ein, wie groß die Überraschung für die Polizisten sein würde, wenn sie urplötzlich vor ihnen stand. Sie plante sorgfältig, wo genau sie auftauchen wollte und disapparierte.
Sergeant Miller hörte über Funk, wie einer seiner Kollegen, der im Suchhubschrauber eins des Autobahnabschnitts jenen verdächtigen Hubschrauber auskundschaftete, von diesem selbst beschossen und zum Absturz gebracht wurde. Jackson, der Pilot, mußte sofort tot gewesen sein, denn der Hubschrauber fiel mit brennendem Motorblock wie ein Stein vom Himmel und krachte in die Bäume. Sofort entzündete sich das Kerosin im Tank der Maschine und explodierte in einem grellen Feuerball. Miller verfluchte, daß man nicht damit gerechnet hatte, mit Gangstern in bewaffneten Hubschraubern zu tun zu bekommen. Dann sah er, wie vor ihm eine Gestalt vom Boden hochschreckte. Er riss seine MP hoch und rief:
"Halt!Stehenbleiben!"
Die Gestalt blieb stehen und hob die Hände. Miller rückte vor. Jetzt erkannte er, daß es ein Junge war, höchstens siebzehn Jahre alt. Dann fiel ihm das Suchfoto ein, daß vor einigen Tagen durch die Polizeicomputer gegangen war. Vor ihm stand Benjamin Calder Junior, der ausgerissene Schüler der Washington-Highschool in Seattle, der im Zusammenhang mit einer Schießerei in der Turnhalle seiner Schule gesucht wurde.
"Bleib ja stehen, Bursche und komm nicht auf merkwürdige Gedanken!" Rief Miller warnend. "Ross! Fuller! Das ist der Junge, den die in Seattle suchen", rief er noch laut. Seine beiden Kollegen rückten schnell vor, mit ihren Waffen im Anschlag waren sie darauf gefaßt, den Jungen sofort kampfunfähig zu machen, wenn der was dummes tun würde. Doch Ben stand nur da, die Hände über dem Kopf, ganz ruhig wartend, was passieren würde. Miller rückte weiter vor. Er wollte seine Waffe gerade fortpacken, um die Handschellen zu greifen, um Ben vorsorglich zu fesseln, als er unvermittelt das Gefühl hatte, als würden alle Gedanken in einer wohligen Woge befreiender Leere ertränkt. Er fühlte erst einmal nichts als berauschende Freude, daß er völlig unbeschwert von irgendwelchen Gedanken war. Dann vernahm er eine Stimme, die sich in seinem Kopf immer mehr ausbreitete und alles überlagerte, was an eigenen Gedanken wieder aufkommen wollte.
"Verharre an deinem Platz! Nimm deine Waffe herunter! Verharre an deinem Platz! Nimm deine Waffe herunter!"
Miller konnte seine Leute nicht rufen. Irgendwie empfand er es als ganz in Ordnung, die Maschinenpistole herunterzunehmen und dort stehen zu bleiben, wo er stand.
Fuller, der Kollege Millers, der gerade von links auf Benny zukam, traute seinen Augen nicht. Hinter Miller tauchte eine Gestalt auf, die wie aus dem Nichts entstanden zu sein schien. Er sah noch, wie diese Gestalt sich ihm zuwandte und fühlte dann, wie ein berauschendes Gefühl ihn überwältigte, das alles, woran er gerade dachte, hinwegfegte. Dann vernahm er die seinen Willen unterwerfende Anweisung, an seinem Platz zu verharren und keine Waffe auf Ben zu richten. Er gehorchte. Er sah, wie auch Ross und Miller ihre Waffen herunternahmen. Er dachte nicht einmal daran, über Funk um Verstärkung zu bitten. Er sah einfach zu, wie die aus dem Nichts gekommene Gestalt auf Ben zuging. Er erkannte eine Frau mit langen Haaren, die seelenruhig auf den Jungen zuging, der nun, wo niemand mehr eine Waffe auf ihn richtete, die Hände herunternahm. Fuller sah, wie Ben Calder schnell nach seinem Gürtel faßte und einen Revolver zog. Ein roter Blitz glomm von der fremden Frau her auf, der, so kam es Fuller vor, die Schußwaffe aus der Hand des Jungen hieb und im hohen Bogen fortschleuderte. Er konnte nicht hören, was zwischen der Frau aus dem Nichts und dem Jungen geschah, stellte jedoch fest, daß der Junge sichtlich eingeschüchtert war. Dann fühlte er wieder jenes berauschende Gefühl hinweggefegter Gedanken und alles befreiender Leere, bevor eine weitere Anweisung erfolgte, die er widerstandslos befolgte.
Ben Calder hörte die über ihm hinfliegenden Hubschrauber. Gerade hatte er in einen unruhigen Schlaf gefunden, als die beiden Flugmaschinen über ihn hinwegbrummten. Er wurde wach, als eine der Maschinen nach lautem Knattern heulend abstürzte und mit lautem Knall explodierte. Er sah sich um und erkannte drei Männer, die aus unterschiedlichen Richtungen auf ihn zukamen. Er konnte erkennen, daß es wohl Polizisten waren.
"Jagd vorbei, der Fuchs ist tot! Hallalli!" Dachte Ben resignierend. Nun hatten sie ihn. Immerhin war es die Polizei die ihn erwischt hatte und nicht die Gangster.
Einer der Polizisten richtete eine MP auf ihn und befahl ihm laut, nichts anzustellen. Wie er es aus den Krimis kannte nahm er auch ohne Aufforderung die Hände hoch und wartete auf das, was da kommen sollte. Immerhin würde ihn diese Anthelia nun doch nicht ...
Er erstarrte vor Schreck. Hinter dem Polizisten, der ihn aufgefordert hatte, nichts zu unternehmen, erschien aus dem Nichts eine Gestalt. Ja, er erkannte die Frau mit den langen dunklen Haaren. Patricia, die sich auch mal Liberty Grover nannte, hatte ihn doch noch gefunden. Dann hatte ihn diese Anthelia doch die ganze Zeit überwacht und sich vielleicht noch darüber amüsiert, wie er den Gangstern entkommen war. o wie er diese Hexe haßte.
Erst wollte er die Polizisten warnen, welche Gefahr auf sie zukam. Doch als die drei einer nach dem anderen ihre Waffen herunternahmen, war ihm klar, daß sie offenbar schon verloren hatten. Er selbst griff schnell nach dem Revolver, den er aus dem Cadillac geholt hatte.
"Expelliarmus!" Rief die Hexe vor ihm. Er wollte gerade abdrücken, als aus dem auf ihn deutenden Zauberstab ein gleißender roter Blitz schoss und ihm mit voller Wucht die Waffe aus der Hand schlug. Fast wäre er vom Schwung des Anpralls zu Boden geworfen worden. Doch er konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Er wollte gerade die Maschinenpistole nehmen, die er noch mitgenommen hatte, als Patricia mit schnellen Schritten herankam.
"Accio Schnellfeuerwaffe!" Rief sie. Wie von der Hand eines unsichtbaren Riesen gepackt wurde die MP von Bennys Rücken gerissen und durch die Luft auf die Hexe zugetrieben. Diese ließ das Mordwerkzeug vor sich auf den Boden fallen und vollführte eine schnelle Bewegungsabfolge mit dem Stab. Aus der mP wurde unter einem violetten Lichtblitz ein etwa faustgroßer brauner Stein.
"Du brauchst keine Waffen mehr, Ben Calder. Wenn du mich begleitest wirst du dich gegen niemanden mehr wehren müssen."
"Außer gegen euch verdammte Hexenbrut", zischte Benny gereizt wie eine in die Enge getriebene Ratte, die genau weiß, daß sie nicht mehr entkommen kann.
"Na, nicht so respektlos, Bursche", lachte Patricia Straton und kam auf ihn zu. Er wollte schon ausholen, um der Hexe eine runterzuhauen, als er ihre tiefgrünen Augen sah, die, wenn er das richtig in Erinnerung hatte, im Licht leicht grau schimmerten, wie Tau auf Moos.
"Deine Flucht war vielleicht am Anfang sinnvoll. Doch nun ist sie vorbei, Ben Calder. Die höchste Schwester hat beschlossen, daß du mit mir kommst. Denk also nicht einmal an Flucht!" Hörte er eine lautlose Anweisung in seinem Geist widerklingen, allerdings nicht mit anthelias Stimme. Ben Calder stand da. Er konnte sich nicht wehren oder weglaufen. Denn, das wußte er auch, die Hexe würde ihm einfach in den Laufweg teleportieren oder ihm einen Zauber hinterherjagen. Ja, gerade eben hatte sie ja wieder bewiesen, wie leicht sie Dinge oder Lebewesen verwandeln konnte und Menschen wie Marionetten an unsichtbaren Fäden führen konnte. Er hatte verloren. Er hatte auf ganzer Linie verloren. Ihm blieb eigentlich nur noch die Flucht in den Selbstmord.
"Dein Leben ist zu kurz, um es jetzt schon für gescheitert zu erklären", sagte Patricia laut und verriet damit, daß sie jeden seiner Gedanken mitbekam. Er stand nur da und wartete ab, eingeschüchtert und widerstandslos.
Er sah zu, wie Patricia Straton ihren Zauberstab auf jeden einzelnen der drei Polizisten richtete, bis sie den erfaßte, der Benny angerufen und zum Stehenbleiben aufgefordert hatte. Er hörte einmal, wie sie ein Zauberwort benutzte, daß ihm wie "Imperium" vorkam. Er sah, wie die drei Beamten der Autobahnpolizei ganz ruhig davongingen. Dann wandte sich Patricia Straton an ihn.
"Du siehst, ich könnte auch dich einfach unter meinen Willen zwingen. Aber die höchste Schwester hat mir gesagt, mit dir ganz friedlich abzureisen und nichts zu machen, was dich beeinträchtigt, wenn du freiwillig mitkommst."
"Was haben Sie mit den Polizisten gemacht?" Fragte Benny mit Angst in Stimme und Blick.
"Ich habe ihnen befohlen, unverrichteter Dinge zu gehen", sagte die Hexe Patricia ganz ruhig und winkte Benny Calder, ihr zu folgen. Er dachte zwar kurz daran, ihr von hinten eins über den Kopf zu geben, doch in dem Moment, wo er das dachte, fuhr sie herum und sah ihn sehr warnend an.
"Wie gesagt, Bursche: Die höchste Schwester möchte haben, daß ich dir nichts tue, solange du freiwillig mit mir mitkommst", sagte sie. Ben gab nun allen Widerstand auf. Er konnte sich nicht gegen diese Hexe wehren, die alles wußte, was er dachte. So folgte er ihr von den Polizisten weg. Der Hubschrauber, der vorhin schon nach ihm gesucht hatte, kehrte gerade wieder um und beleuchtete den Waldboden mit seinem Scheinwerfer. Benny dachte schon, das er dieser Maschine zuwinken sollte. Doch Da hatte Patricia schon ihren Zauberstab auf die Flugmaschine gerichtet und wieder jenes Zauberwort gesagt, mit dem sie wohl jemandem ihren Willen aufzwingen konnte. Unvermittelt drehte die Maschine ab und raste davon, immer schneller werdend.
"Hast du ihm gesagt, daß er sich mit der Mühle zu Schrott fliegen soll?" Fragte Ben.
"Nein, das habe ich nicht nötig. Das ist nicht mein Stil", sagte Patricia Straton. "Er soll nur mit höchster Geschwindigkeit dorthin fliegen, wo er herkam, ohne weitere Anweisungen über diese Funksprechapparatur zu erwarten. Wir beiden suchen uns jetzt einen guten Weg zur Straße, wo keine Polizisten stehen und fahren dann mit meinem Wagen zum Haus von Schwester Anthelia."
"Ach, wieso packst du mich nicht wie sonst und teleportierst mit mir weg?" Fragte Benny Calder schnell.
"Weil ich mit dir erst übermorgen wieder in unserem Haus erwartet werde. Vorher darf ich dort nicht sein", sagte Patricia.
Sergeant Miller stand da und sah zu, wie die Fremde auf Ben Calder zuging, mit ihm sprach und dann einfach eine schwere MP von ihm wegfliegen ließ und diese einfach zu einem braunen Stein machte. Er spürte, wie die Angst vor dieser Beobachtung seinen eingefrorenen Willen auftaute. Er wollte loslaufen, nach seinem Funkgerät greifen und melden, was hier los war, da sah er, wie die Fremde ihren Holzstab auf ihn richtete. Wieder fegte etwas völlig berauschendes, alle trüben oder schweren Empfindungen fortwischendes seine Gedanken weg. Dann hörte er eine neue Anweisung:
"Vergessen Sie, was Sie hier gesehen und gehört haben! Sie haben Benny Calder nicht gefunden. Melden Sie das Ihrer Dienststelle!"
Wie befreit von einer schweren Last nickte Miller und drehte sich um. Mit seinen Kollegen ging er davon, völlig ruhig, weil er in diesem Waldstück nichts gefunden hatte, was irgendwie verdächtig gewesen war. Sicher, der Hubschrauberabsturz war schlimm. Das mußte noch untersucht werden. Aber sonst gab es in diesem Wald nichts und niemanden, der ihn beunruhigte. So kehrte er zu seinem Einsatzleiter zurück, der ihn nach dem Hubschrauberabsturz fragte. Er berichtete ruhig und sachlich, was er davon mitbekommen hatte.
"War dieser Bursche nun im Wald oder nicht?" Fragte sein Vorgesetzter.
"Nein, er war nicht da. Dieser Junge war nicht im Wald", sagte Sergeant Miller ganz bestimmt klingend.
Der Pilot des Suchhubschraubers von El Serpiente hatte gerade zwei Figuren am Boden ausgemacht und wollte das schwenkbare Maschinengewehr darauf abfeuern, als es ihn wie der einsetzende Rausch einer Droge überkam und er unvermittelt den Gedanken bekam, schnell fortfliegen zu müssen, weit fort, schnell zurück zum Stützpunkt. So jagte er den Rotor auf die höchste Drehzahl und schwirrte in seinem Hubschrauber davon. Das ein Polizeihubschrauber ihn verfolgte beachtete er nicht. Er folgte einer unhörbaren Anweisung, die alles überlagerte, was er sonst noch denken mochte. So führte er die Polizei ohne seine Absicht zum Stützpunkt, wo er landete. Eine Stunde später trafen weitere Hubschrauber ein, die den Stützpunkt umschwirrten wie Aasgeier. Widerstand war zwecklos. Denn diese Maschinen waren gepanzert und ließen sich nicht so einfach abschießen. Emilios Leibwächter verlor auf diese Weise seinen guten Hubschrauber, ohne zu wissen warum.
Als Patricia und Benny Calder weit vor dem Cadillac die Autobahn wieder erreichten, legte die Hexe ein winziges weißes Auto auf den Boden, das unvermittelt zu jenem rasanten Sportflitzer anwuchs, in dem Benny diese Hexe schon einige Male gesehen hatte, das erste Mal, als er noch arglos durch die Straßen von Dropout geradelt war und Mr. Crossley in seinem schwarzen Porsche an ihm vorbeigefahren war.
"Wo ist denn deine Katze, Patty?" Fragte Benny leicht gehässig, als die Hexenschwester Anthelias mit Zündschlüssel und Lenkrad hantierte und wohl nicht den Zauberstab greifen konnte, der links von ihr im Seitenfach der Tür lag.
"Zum einen, Jungchen: Meine Katze habe ich im Haus unserer Schwesternschaft gelassen, weil lange Reisen sie krank machen. Zum zweiten wirst du mich, wenn du nicht als was ganz unangenehmes weiterexistieren möchtest, mit Miss Patricia oder Miss Straton anreden, also nicht mit Pat, Trish und ganz bestimmt nicht Patty. Ich hoffe mal, ich muß nicht noch deutlicher werden", gab die dunkelbraunhaarige Hexe sehr ungehalten zur Antwort, während sie den Motor anließ und den Wagen vorsichtig von dem Cadillac fortbewegte. Erst eine Meile weiter gab sie Gas und jagte den Maserati auf über 100 Meilen in der Stunde.
"Was hat diese Anthelia, diese Schwester Anthelia denn mit mir vor, wenn Sie mich in Ihr Hauptquartier gebracht haben?" Fragte Benny Calder nach einer Stunde Fahrt.
"Das hat sie mir nicht erzählt. Aber ich bin mir sicher, daß sie dir nichts antun wird, was allzu unangenehm für dich ist. Weil dann hätte sie's mir schon befohlen, das mit dir anzustellen", erwiderte Patricia Straton. Dann passierte sie zwei große Lastwagen, die bei dem Höllentempo still zu stehen schienen.
"Bei dem Tempo dauert es nicht lange, bis die Polente ihr draufkommt", dachte Ben, der natürlich wußte, daß die Hexe am Steuer das mitbekommen würde. Doch sie antwortete nicht darauf. Sie schaltete das Radio ein und wählte einen Sender, der Popmusik spielte. Es lief gerade eine Ballade, gesungen von einem einzelnen Sänger.
"Wollen Sie haben, daß uns die Polizei jagt, wenn Sie so weiterrasen?" Fragte Ben Calder nach einigen Minuten schweigsamer Fahrt.
"Nein, will ich nicht. Allerdings wollte ich mindestens fünfzig Meilen zwischen uns und dieses Auto bringen, das du wohl gestohlen hast. Dann gehe ich mit der Fahrt auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit runter", erwiderte Patricia Straton ganz ruhig. Ben, den das Schweigen schlimmer peinigte als die Drohung, von dieser Frau da neben ihm verhext zu werden, fragte noch:
"Wie stellt sich Ihre sogenannte höchste Schwester das vor, wenn ich von Ihnen kassiert werde und meine Eltern und die Polizei nach mir suchen, von diesen Gangstern abgesehen?"
"Das wird sie dir mitteilen, wenn sie es für richtig hält. Deine Verbindung zu ihr ist ja noch vorhanden", erwiderte die braunhaarige Hexe, die in Jeans und Sweatshirt harmloser aussah als in jener weißen Kleidung, die Ben schon an ihr gesehen hatte. "Aber jetzt erzählst du mir doch mal bitte, was in dich gefahren ist, von eurem Elternhaus fortzulaufen! Ich hörte von der höchsten Schwester nur, daß du in einen Streit geraten bist. Mehr weiß ich nicht."
"Ach, dann möchte diese Anthelia wohl auch nicht, daß Sie was darüber wissen", erwiderte Ben nun sehr selbstsicher.
"Hat sie nichts von gesagt, Benjamin. Also, möchtest du mir was darüber erzählen, oder sollte ich darauf gefaßt sein, dich bei einer sich bietenden Gelegenheit für alle Zeiten verschwinden zu lassen?"
"Sie sind nicht die Chefin", knurrte Ben. "Sie wären doch überhaupt nicht hier, wenn diese Anthelia, zur Hölle mit ihr, Sie nicht hinter mir hergeschickt hätte", erwiderte Ben, der sich sicher war, daß die Hexe ihm zurzeit nichts tun konnte, weil sie bei dem Höllentempo beide Hände am Steuer und beide Augen auf der Straße haben mußte.
"Sei froh, daß sie mich geschickt hat und nicht meine Mutter oder eine von unseren Schwestern, die mit euch Muggeln nicht so rücksichtsvoll umgehen. Aber gut, dann erfahre ich eben nicht von dir, was dich aus deinem Elternhaus getrieben hat. Aber hast du wirklich gedacht, unangefochten zu deiner Freundin Donna zu kommen, wo jeder Verfolger sich ausmalen konnte, daß du entweder zu deinem Vater oder zu ihr fliehen würdest?"
"Bis zu diesem Ding mit dem Caddy hat das wunderbar geklappt. Der blöde Fernfahrer hat mich ja ausgeliefert. Hätte der mich mal nach Houston oder in die Umgebung gebracht, wäre ich morgen vielleicht schon bei Donna und ihrem Vater."
"Ja, und deine Freundin fände es auch völlig in Ordnung, wenn du dich vor der Polizei verstecken mußt", wandte Patricia lehrerinnenhaft ein. Ben stank das. Er hatte das nicht nötig, sich von einer Teufelsbraut vorschreiben zu lassen, was richtig oder falsch war. Er dachte mit Wut daran, wie einfach er der höchstens fünf Jahre älteren Kreatur da neben sich den Hals umdrehen könnte. Da Anthelia darauf nicht antwortete, grinste er. Offenbar hielt sie die Lage für sicher genug, um sich nicht wieder in seine Gedanken einzumischen.
"Du bist kein Mörder, Benjamin Calder. Sicher, was wir mit dir gemacht haben oder noch machen müssen ärgert dich sehr. Aber du hast bis jetzt niemanden umgebracht", sagte Patricia leise und blickte auf den Tacho. Bald wollte sie die Geschwindigkeit herabsetzen.
"Woher wollen Sie das wissen, daß ich keinen umgebracht habe. Der Typ mit dem Caddy ..." Wandte Ben ein.
"Lebt noch. Du hast ihm wohl nur eine Gehirnerschütterung verpasßt. Er wird wohl wieder aufstehen können", schnitt Patricia Straton ihm das Wort ab. Sie war mit der Fahrt und dem Gespräch so beschäftigt, daß sie die Polizisten und den Radarwagen nicht bemerkte. So löste der Maserati bei 150 Meilen in der Stunde einen Fotoblitz und einen Alarm aus. Ben sah den Blitz und grinste. Patricia Straton verzog kurz das Gesicht. Sie ärgerte sich über ihr Versäumnis. Doch nun mußte sie dadurch.
"Smokey hat schnelle Autos und Hubschrauber", feixte Ben Calder selbstsicher. Patricia Straton lachte nur.
"Dieser Smokey, wie diese Transportfahrer wohl ihre Erzfeinde, die Straßenpolizisten nennen, wird uns nicht lange verfolgen können. Selbst mit diesen lauten Drehflügelflugmaschinen können sie uns nicht lange verfolgen. Im Notfall müssen wir eben wieder apparieren."
"Ach ja? Dann sehen Sie mal da vor uns auf die Straße!" Rief Ben begeistert, daß die Hexe offenbar nicht gut genug aufgepaßt hatte.
Vor ihnen auf der Autobahn stand ein großer Lastwagen quer, ein Tankwagen, wie unschwer zu erkennen war. Ben dachte schon an eine Polizeifalle. Da wurde aus dem Tankwagen ein Gewehrlauf auf sie gerichtet. Mit überhohem Wert bremste der Maserati ab. Ben hörte jedoch weder Reifen quietschen, noch wurde er in den Sicherheitsgurt geworfen. Hatte der Wagen eine Andruckneutralisation, wie ein Raumschiff aus einer Science-Fiction-Serie?
Laut ratternd spie der Gewehrlauf mit flirrendem Mündungsfeuer schwere Kugeln gegen den Maserati. Ben fragte sich nun doch, ob das da Polizisten sein konnten. Die Kugeln hagelten im Beat eines Trommelwirbels gegen Windschutzscheibe, Motorhaube und Vorderräder. Doch sie prallten laut sirrend ab und flogen denen um die Ohren, die sie abgefeuert hatten. Der Maserati war offenbar genauso gepanzert wie der Cadillac. Doch auch der Laster war kugelsicher. Denn die Abpraller schwirrten als neue Querschläger von der bauchigen Tankauflage des Trucks in die Gegend.
"Das sind keine Polizisten, Ben", sagte Patricia, während ihr Sportwagen mit nur zehn Meilen in der Stunde an den Tanker heranfuhr. Wieder hagelte es MG-Salven auf den weiß lackierten Flitzer.
"So, wer sind die denn dann?" Fragte Ben.
"Das sind deine anderen Verfolger. Die arbeiten für einen gewissen Emilio oder auch "Die Schlange". Ich kann zehn von denen wahrnehmen, die in dem Wagen sitzen. Zwei haben diese drehbaren Feuerwaffen, fünf warten darauf, uns zu Fuß anzugreifen, zwei sitzen im Führerhaus und halten Kontakt mit ihrem Anführer und der letzte von denen sitzt hinter einem Sprachverstärker und nimmt gerade das Schallaufnahmeding, Mikrofon in die Hand."
"Achtung, ihr da in dem Maserati! Anhalten, Türen aufmachen und aussteigen! Ihr kommt hier nicht weg. Wir haben euch eingekesselt!" Rief eine überlaute Stimme. Patricia Straton lächelte kalt. Ben sah, wie sie sich kurz vorbeugte und in ihr Lenkrad zu sprechen schien.
"Dummer Bengel, die Knarren mitzunehmen", grinste Ernesto. "Jetzt hat der doch glatt den Peilsender mitgenommen, den Silvio in das dritte Magazin eingebaut hat, um von unserem Fernorter angepeilt zu werden. Wenn der Heli den nicht erwischt, dann kriegen wir den mit unserer Falle auf der Autobahn."
"Wieso ist der Heli jetzt eigentlich wieder unterwegs zum Stützpunkt?" Fragte Emilio.
"Weiß ich nicht, Jefe. Muß ich mal nachfragen", sagte El Serpientes Leibwächter und Chefkiller.
Doch der Hubschrauberpilot gab keine Antwort. Das Ortungssignal des Helikopters wanderte auf der elektronischen Landkarte auf dem Bildschirm wieder zurück zu der Startbasis.
"Warum fliegt der wieder zurück?" Fragte Emilio und griff selbst zum Funkgerät. Doch auch er bekam keine Antwort.
"Den machen wir alle, wenn der wieder gelandet ist und ..." Knurrte der Gangsterboss.
"Die Polizei jagt unseren Hubschrauber, Jefe!" Rief ein Bandenmitglied, das gerade den Polizeifunk abhörte. Emilio schnaubte wie ein wütender Kampfstier. Das mußte der Pilot doch mitkriegen, daß die Polizei ihm hinterherflog.
"Hijo de Puta!" Fluchte Emilio überaus laut. "Der Kerl führt die Polizei direkt zu der Hubschrauberbasis. Ernesto, lass die Jungs dort sofort die Waffen klarmachen, um die Bullen abzuschießen!"
"Geht klar, Jefe!" Rief Ernesto sichtlich erregt und führte den Befehl sofort aus.
Der Hubschrauberstützpunkt ging jedoch verloren. Zehn schwer bewaffnete Polizeihubschrauber flogen ihn an, örtliche Sonderkommandos packten von allen Seiten zu. Eine Stunde nach der Landung des Suchhubschraubers der Gangster war der Landestützpunkt ein Trümmerhaufen und alle, die nicht einen unsinnigen Heldentod sterben wollten, waren in gepanzerten Mannschaftsbussen in Handschellen an die Sitze gekettet und wurden abtransportiert. Vier Polizisten und zwölf Gangster kamen bei der Erstürmung ums Leben. Sechzehn Tote, die auf das Konto von Anthelias Spinnenorden gingen, ohne das jemand davon was bemerkte. Denn hättte der Pilot des Suchhubschraubers nicht unter dem Zwang des Imperius-Fluches gestanden, hätte er sich nicht verfolgen lassen oder wäre ganz woanders gelandet.
"Jefe, der Bengel ist mit einem anderen Wagen unterwegs. Die Bullen haben den Caddy sicher. Aber der Typ sitzt in einem Wagen, der sehr schnell unterwegs ist. Würde mich nicht wundern, wenn der gleich von den Straßensheriffs geblitzt wird", meldete der Mann am Polizeifunk. Ernesto betrachtete das grüne Blinklicht auf dem Schirm, das gerade von dem Ort fortglitt, wo der Caddy gestanden hatte. Er ließ sich die Geschwindigkeit ausrechnen und kam auf über 150 Meilen in der Stunde.
"Das muß ein Sportwagen sein, Jefe. Der Pimpf ist von wem abgeholt und mitgenommen worden, der es mit ihm sehr eilig hat", sagte der Leibwächter Emilios.
"Ach nein", erwiderte der Gangsterboss. Dann rief er seine Leute an, die sich auf der Jagd nach dem Caddy über die Autobahn verteilt hatten und meldete das weiter. Einige Zeit später kam die Meldung, daß die Polizei einen überschnellen weißen Maserati fotografiert hatte. Dann erfolgte auch schon die Meldung, daß ein solcher Sportwagen auf einen als Straßensperre gedachten Tankwagen mit Stahlpanzerung zuhielt.
"Boss, wir haben den Wagen beschossen, als der mit einem Höllentempo angerauscht kam. Wer immer den fährt stieg so heftig in die Eisen, daß der Spaghettibomber jetzt mit nur zehn Meilen auf uns zukam. Hups, heh! Das gibt's doch nicht! Der wagen hat abgehoben und ist über uns weggeflogen. Das kann's doch wohl nicht sein!" Rief der Kontaktmann im Tanker.
"Was?!" Fragte Emilio total ungläubig. "Macht den Wagen alle!"
"Geht nicht, Boss. Der ist total kugelsicher. Aber Mac hat sich ihm hintern Auspuff gesetzt. Der geht uns nicht durch die Lappen. Wo ist denn der Heli?""Der Heli fliegt gerade zu unserem Stützpunkt zurück, ohne die Erlaubnis dazu zu haben", knurrte Emilio. Dann befahl er, den Wagen zu stoppen und notfalls dabei zu verschrotten. Ein Videomitschnitt des Vorfalls wurde noch per verschlüsselter Fernsehübertragung an das Hauptquartier weitergeschickt.
"Bei besserer Restlichtausnutzung kann man genau sehen, daß in dem Wagen zwei Leute sitzen, eine Frau am Steuer und der Bengel, den wir suchen, Jefe", sagte Ernesto.
"Und der ist wirklich hochgestiegen und über unseren Truck weggeflogen", erkannte Emilio. Dann meinte er.
"Ich glaube, der Wagen fehlt mir in der Sammlung. Mist, daß der Hubschrauber zur Basis zurückfliegt. Wir hätten den Wagen an den Magneten hängen und abschleppen können. Wie weit ist der zweite Heli weg?"
"Zwei Flugstunden", erwiderte Ernesto.
"Zu weit weg", knurrte Emilio.
Ben hatte wohl mit etwas ähnlichem gerechnet. Denn als der Sportwagen einfach hochstieg, wie auf einem Raketentreibsatz und federgleich über den Tanker wegsegelte, weit dahinter wieder aufsetzte und wieder beschleunigte, sah der Junge ganz ruhig aus.
"Keines eurer Fahrzeuge, ob fliegend oder fahrend, kann mich anhalten, wenn ich das nicht will", sagte Patricia Straton. "Die Metallverkleidung des Wagens ist mit einem Verstärkungszauber belegt, der das Blech so hart und unnachgiebig wie hundertmal so dicken Stahl macht. Die Reifen wurden mit einem Elixier behandelt, das die Gummilösung hundertmal haltbarer macht als ursprünglich. Die Scheiben sind mit dem Contraruptus-Zauber für alle natürlichen Gewaltformen unzerstörbar gemacht worden, ebenso die Lichter. Und das sind nur die passiven Maßnahmen, die meine Schwestern und ich diesem Wagen verliehen haben."
"Ja, und einen Turbobooster hat das Ding dann auch, oder wie heißt das, was uns den Sprung hat machen lassen?" Fragte Benny Calder.
"Ein Flugzauber. Der bewirkt, daß ein Objekt auf Kommando über ein Hindernis hinwegspringt und zwanzig seiner Längen dahinter landet, ohne einen Bewegungszauber von außen wirken zu müssen", sagte Patricia stolz. Dann meinte sie noch: "Oh, hinter uns fährt ein anderer Sportwagen, einer von diesen Ferraris. Da sitzt auch ein Unhold drin und jagt uns. Könnte es sein, daß du aus dem gestohlenen Wagen Dinge mitgenommen hast, die dir nicht gut bekommen sollten?"
"Ich habe nur die Kanonen mitgenommen. Und die haben Sie mir ja weggezaubert", knurrte Ben und betastete seine Taschen. Dabei fand er noch Patronen für die Smith & Wesson.
"Aha, die haben wohl ein Findesignalgerät in eine der Patronen eingebaut", erkannte Patricia. "Sonst hätten sie nicht gewußt, in welchem Wagen du unterwegs bist. Nun, die Dinger brauchst du nicht mehr. Wenn wir den Verfolger losgeworden sind, entledige ich uns dieses verräterischen Muggeldings."
"Und wie wollen Sie den Ferrari hinter uns ...?"
Aus dem Heck des Maseratis quoll eine dunkle Wolke, die den Ferrari umhüllte und irgendwie festhielt.
"Der dunkle Nebel der Fesselung. Er blockiert alle Formen der Bewegung, die in ihm versucht werden. Unser Verfolger wird für etliche Minuten gefangen sein, bis der Dunst ihn wieder freigibt. Bis dahin habe ich die Geschosse dieser Waffe beseitigt", sagte Patricia. Dann fuhr sie eine volle Minute weiter und hielt am Randstreifen. Sie nahm die Patronen von Ben an und ließ sie mit ihrem Zauberstab einfach verschwinden. Dann ließ sie den Maserati mit dem Flugzauber wieder aufsteigen. Dabei wurde der Wagen und alles in ihm völlig unsichtbar. Ben hatte schon angst, durch den Boden zu fallen, als der Sportwagen mit mindestens hundert Meilen weit über der Autobahn davonflog, nach norden abbog und mindestens eine volle Stunde über andere Straßen und kleinere Städte hinwegflog.
"Die können uns mit dem Radar orten", dachte Ben. Patricia, die er genausowenig sehen konnte wie sich selbst, erwiderte klar vernehmlich:
"Der Unsichtbarkeitszauber tarnt uns auch gegen die unsichtbaren Strahlen der Objektspürer eurer Flughäfen oder Flugmaschinen. Allerdings werde ich der höchsten Schwester mitteilen müssen, daß wir unerwünschte Zeugen hinterlassen mußten."
"Die sofort zum Fernsehen oder der Presse gehen und rumerzählen, daß mich die Schwester vom Knight Rider in ihrem Luxusauto mitgenommen hat", feixte Benjamin Calder.
"Keine Sorge, ich kümmere mich um diese Leute, wenn ich dich in Sicherheit gebracht habe." Benny lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. Er konnte sich ausmalen, daß diese Hexe es sicher sehr spaßig fand, die Gangster zu quälen. Er selbst hatte es am eigenen Leib erfahren müssen, daß ein Zauberspruch höllische Schmerzen bereiten konnte. Außerdem hatte er diese Hexe schon oft Dinge und Lebewesen verwandeln sehen können, ja auch seine Freundin Donna, die beim Bandenkrieg um Dropout von Patricia Straton zusammen mit ihm, Benny Calder aus der Gewalt der grün gekleideten Drachenleute befreit wurde. Donna war für einige Zeit in eine goldblonde Katze verwandelt worden, was sie jedoch nicht mitbekommen hatte, da Patricia Straton sie vorher in Schlaf gezaubert hatte. Was mochte einer solchen Person so richtigen Spaß machen, die meinte, alle Macht über andere Menschen zu haben, die Gott oder der Teufel ausüben konnten.
"Was sein muß muß sein, Benny. Ich würde denen, die dich töten wollten keine so großen Mitgefühle entgegenbringen. Das schadet nur der eigenen Entwicklung", bemerkte die Hexe zu Bennys lautlosen Vermutungen, die er an und für sich nur für sich im Kopf behalten wollte.
Als der Maserati wieder sichtbar wurde, landete er in der Nähe eines Sees. Benny fragte sich, was die Hexe nun vorhatte. Denn sie stoppte den Motor und lehnte sich zurück.
"Ich werde dich jetzt hier in diesem Wagen zurücklassen. Muß ich dich in Schlaf versetzen oder unter den Imperius-Fluch nehmen, oder bist du mal vernünftig und wartest hier?"
"Wer sagt mir, daß ich nicht mit dem Wagen abhauen kann?" Fragte Benny.
"Ich sage das. Nur mit diesem Schlüssel - denk nicht einmal daran, ihn mir wegnehmen zu wollen - kann er benutzt werden. Also, wirst du brav sein oder muß ich dich für eine gewisse Zeit handlungsunfähig machen?"
"Wenn ich schon hierbleiben muß, dann möchte ich von alleine schlafen", sagte Benny. Patricia Straton, die seine Gedanken mitgelesen hatte, nickte und schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. Dann zog sie den Zündschlüssel ab und disapparierte einfach mit lautem Knall. Benny versuchte sofort, die Tür zu öffnen. Doch sie war wie festgeschweißt. Sie gab nicht einmal einen Millimeter nach. Die Fensterkurbel saß auch bombenfest. So blieb ihm nichts übrig, als sich über den Vordersitz auf die Rückbank zu schwingen und sich dort zusammenzurollen, mit Kopf und Füßen an die Seitenwände stoßend. Er dachte darüber nach, was er getan hatte, daß ihn Gott oder irgendeine andere Form Schicksal diese Hexen auf den Hals gejagt hatte.
Emilio wußte, daß die Polizei nun hinter ihm her war. Sicher, daß war weder neu noch erschreckend für ihn. Allerdings fragte er sich, was den Piloten seines Hubschraubers geritten hatte, einfach zur Basis zurückzufliegen und die Luftüberwachung der Autobahnpolizei hinter sich herzulotsen. Dann war da noch diese merkwürdige Geschichte mit dem Maserati, der mal eben über einen Hinterhalt von ihm hinweggeflogen war. Irgendwie roch, nein stank das nach einem Haufen Büffelmist. Was lief da ab. Wer war dieser Ben Calder Junior, daß er ein so toller Athlet war und dann noch von Leuten aufgegabelt wurde, die äußerst filmreife Kunststücke mit ihren Autos machen konnten.
"Jefe, Mac hat sich gemeldet. Der hat den Maserati verfolgt. Dann ist was ganz merkwürdiges passiert", meldete der Gangster am Funk und ließ ein Digitaltonband zurücklaufen, auf dem wohl eine Nachricht drauf war. EMilio hörte zunächst, wie sein Gehilfe McGregor über die Verfolgung des weißen Sportwagens berichtete. Dann wurde es unheimlich.
"Also, die fährt einen flotten Bleifuß, Leute. Ich bin mit meiner Lady schon bei 170 Meilen. Bei 200 ist schluß. Der weiße Feger zieht immer noch an. Häh?! Was ist denn das für'ne dunkle Wol...?"
"Hallo, was ist los?" Hörte Emilio seinen Funker noch nachfragen. Irgendwie war die Stimme von Mac schlagartig langsamer geworden und mitten im Wort abgewürgt worden, wie ein Tonbandgerät, bei dem der Motor aussetzt.
"Das Bandgerät ist vollkommen klar, Jefe", sagte Ernesto, der das Bandlaufzählwerk beobachtet hatte. "Da ist irgendwer auf unseren Kanal gerutscht und hat uns diese Gruselshow mit dem in Zeitlupe erstarrenden Mac vorgespielt."
"Das klingt ja so, als hätten bei Mac die eingebauten Akkus versagt und die Motoren ihren Geist aufgegeben", bemerkte Emilio. Dann fragte er, ob man den Ferrari orten konnte.
"Tja, das ist die zweite abgedrehte Sache, Jefe. Als Mac seinen letzten Spruch aufgesagt hat, flackerte das Peilsignal. Dann war es ganz weg. Was immer da los war, irgendwas hat den Sender überlagert oder ausgeschaltet. - Huch, da ist ja das Signal wieder!"
Das Peilsignal des Ferraris, ein rot blinkender Lichtpunkt, erschien wieder auf der elektronischen Landkarte auf dem Computermonitor. Emilio fragte, ob das Signal von dem Jungen noch zu sehen war.
"Nein, das ist bereits eine Minute nach Macs letztem Spruch verschwunden", sagte Ernesto. Sein Anführer schien darüber gar nicht erfreut zu sein.
"Habe ich es denn nur mit absoluten Volltrotteln zu tun? Warum hat mir das keiner gesagt, daß man die Wanze in der Patrone gefunden hat?!" Rief er. "Das heißt, der Bengel ist nun über alle Berge, denn Mac steht völlig frei auf der Autobahn rum."
"Jefe, Mac meldet sich wieder", sagte der Mann am Funk und drehte lauter.
"Boss, ich weiß nicht wie, aber da kam so'ne dunkle Wolke aus dem Kofferraum von dem Maserati, hat mich umflogen und alles verdunkelt. Als das Nebelzeug sich verzogen hat, war der weiße Feger spurlos verschwunden."
"Wielange ist das her?" Fragte Emilio mißtrauisch.
"Gerade eben, so vor zehn Sekunden", sagte der Ferrari-Fahrer.
"Mierda!" Zischte Emilio. Mac hatte sich vor zwei Minuten das letzte Mal gemeldet.
"Mac, wie spät hast du es gerade?" Fragte der Gangsterboss.
Mac fragte zurück, was das sollte und gab dann die Uhrzeit an, die sein Bordchronometer anzeigte und auch seine Digitaluhr.
"Das kann nicht gehen", erwiderte Ernesto und sah auf die am rechten unteren Bildschirmrand eingeblendete Uhrzeit. Macs Uhren gingen genau eine Minute und fünfzig Sekunden nach.
"Das sind Außerirdische. Die können die Zeit anhalten", meinte ein Handlanger Emilios, der der ganzen Sache zuhörte.
"Ach, sowas gibt's nicht. Mac hat seine Uhren einfach nicht richtig gestellt", sagte Emilio. Ernesto glaubte das jedoch nicht. Denn schließlich mußten alle Fahrzeuge, die im Einsatz für die Organisation waren, auf dieselbe Uhrzeit getrimmt sein, gerade um bei Funksprüchen die sekundengenaue Zeitangabe zu machen oder einen genauen Termin einhalten zu können. Ernesto selbst hatte die Uhrzeit des Ferrari-Chronometers mit seiner Funkuhr verglichen, die ihre Signale von einer exakt laufenden Atomuhr bekam. Außerdem war die Autobatterie frisch. Die Bordelektronik bekam also genau die nötige Menge Energie. Falls sie ausfiel, stellte sich der digitale Chronometer auf 00.00 Uhr zurück, wenn der Strom wieder floß, aber bestimmt nicht genau eine Minute und fünfzig Sekunden hinter die vorher eingestellte Uhrzeit, noch dazu zeitgleich mit der Armbanduhr. Also konnten nur drei Möglichkeiten zutreffen. Entweder mußte jemand Mac betäubt und als Gruseleffekt beide Uhren zurückgestellt haben, was aber bedeutete, daß jemand sich unbemerkt hätte anschleichen können. Dann kämen halt nur die Außerirdischen in Frage, die irgendwie die Zeit anhalten konnten oder die Mächte der Finsternis, Meister der schwarzen Magie. Ernesto schüttelte den Kopf, um diese absolut absonderlichen Gedanken wieder loszuwerden. Sicher, das Auto war über den Tankwagen hinweggeflogen. Aber das war bestimmt ein technischer Trick, Raketenschub oder Luftkissen. Das hatte nichts mit überirdischen Gewalten zu tun. Dennoch nagte die Furcht vor dem Unfaßbaren an seinem Verstand wie eine Maus am Käse. Irgendwie fühlte Ernesto einen unsichtbaren Schleier über sich herabsinken, Angst und Hilflosigkeit erfüllten ihn mehr und mehr.
"Komm zu uns zurück, Mac! Hast du deine Videokamera wenigstens laufen lassen?" Fragte Emilio.
"Das habe ich", erwiderte der Gangster am anderen Ende der Funkstrecke. Er kehrte um. In drei Stunden würde er wieder im Hauptquartier sein.
Sergeant Warner saß bereits über seinem Bericht für seine Dienststelle. Er hatte den Fall des blauen Cadillacs bearbeitet und auch eingetragen, daß wohl der Junge Benjamin Calder Junior den großen Wagen gestohlen hatte. Er war so vertieft in seine Arbeit, daß er nicht merkte, wie sich leise die Tür zu seinem Büro öffnete und jemand hereinkam. Erst als die junge Frau hinter ihm stand, reagierte er. Er wandte sich um, sah in die grünen Augen, die im warmen Licht der Schreibtischlampe leicht grau glänzten. Er machte den Mund auf, um was zu sagen oder zu rufen. Doch unvermittelt schwand sein Wille. Wie gelähmt saß er auf seinem Schreibtischstuhl und konnte sich nicht rühren. Die Fremde schloß die Tür und hantierte mit einem Holzstab daran. Dann wandte sie sich dem Polizisten zu und richtete den Stab auf ihn.
"Imperio!" Hörte der Beamte. Er versuchte, aufzuspringen. Doch da durchflutete ihn ein Gefühl, alle dunklen Gedanken und bedrückenden Gefühle wären weggewischt. Dann hörte er in seinem Kopf eine befehlsbetonte Stimme:
"Prüfe das Autokennzeichen AgZ 2321 aus New Mexico!"
Der Polizist drehte sich zu seinem Computer um und wählte sich in die Kraftfahrzeugzulassungsstelle ein. Flink tippte er die Autonummer ein und wartete auf das Ergebnis. Als der Rechner ausspuckte, daß der Wagen, ein Ferrari GTO, Baujahr 1993, seit zwei Wochen als gestohlen gemeldet war, bekam er die Anweisung, seinen Bericht umzuschreiben. Anstatt "Identifiziert als Benjamin Jacob Calder Junior" schrieb er "dunkelhaariger Jugendlicher" überall dort hin, wo Benny Calders Name und Beschreibung erwähnt wurde. Als er das alles erledigt hatte, traf ihn etwas unsichtbares am Kopf, das sein Gedächtnis veränderte, sodaß er glaubte, was er gerade hingeschrieben hatte. Als er wieder klar denken konnte, wußte er weder was von einer unheimlichen Besucherin, noch davon, daß er Benny Calder gejagt hatte.
Ähnlich wie Sergeant Warner erging es anderen Polizisten, die unmittelbar an der Jagd nach dem Cadillac beteiligt waren. Schließlich veranlaßte die unheimliche Besucherin sogar die scheinbar aus Versehen passierte Löschung von Tonbändern oder Dateien, sofern sie nicht in ihrem Sinne korrigiert werden konnten. Danach galt der Dieb des mitternachtsblauen Cadillacs als unerkannt.
Patricia Straton fand an einer anderen Stelle heraus, daß die Person, der der Ferrari laut Computer gehörte, Kontakt zu einer Bande von Leuten hatte, die in New Mexico und Texas ihr Unwesen trieben. Es dauerte keine zwei Stunden, da hatte sie durch legilimentische Verhöre und den Imperius-Fluch die Lage von Emilios Hauptquartier herausbekommen. Da sie alle Polizisten von Ben Calder hatte abbringen können, galt es nun noch, die Gangster zu bearbeiten.
Als sie unvermittelt vor einem herrschaftlichen Farmhaus apparierte, schrillte in dem Gebäude eine Alarmsirene los. Sie hatte ein Netz von Annäherungsmeldern ausgelöst, die sofort reagierten.
"Ah, die Schlangengrube gerät in Aufruhr", dachte die junge Hexe mit eiskaltem Lächeln und wartete, bis sich ihr vier muskulöse Männer mit MPs näherten. Sie drehte sich dem ersten zu, hob ihren Zauberstab und schickte einen roten Blitz gegen ihn. In den Bauch getroffen sackte der Gorilla Emilios zu Boden. Der zweite Leibwächter feuerte seine Waffe ab. Sirrend prallten die Kugeln von einem unsichtbaren Hindernis ab, das einen halben Meter vor Patricia zu stehen schien. Sie fühlte das Zittern ihrer Drachenhautunterkleidung, die durch spezielle Zauber zu einer magischen Vollrüstung gemacht worden war, die alle körperlichen Angriffe zurückschlug.
"O Mist, doch'n Alien!" Rief der dritte Leibwächter und wollte fliehen, als er mitbekam, daß die Salven seines Kumpanen nicht durchkamen. Auf der Flucht erwischte ihn der zweite rote Blitz aus dem Zauberstab Patricia Stratons. Der vierte Gangster zog einen eiförmigen Gegenstand aus seinem Gürtel, zog davon was ab und hielt ihn wurfbereit.
"Ach nein, doch nicht dieses böse Muggelzeug", sagte Patricia halblaut, wartete, bis ihr der Gegenstand entgegengeschleudert wurde und ließ ihren Zauberstab schnell durch die Luft sausen. "Evanesco!" Rief sie. Mitten im Flug verschwand die ihr geltende Handgranate, gerade eine Sekunde vor der Explosion. Der Gangster, der diese heftige Waffe benutzt hatte, schrie vor Angst auf, warf sich herum und fing sich den dritten roten Blitz aus dem Zauberstab ein. Der zweite Gorilla kam inzwischen mit einem Baseballschläger in der Hand heran.
"Fahr zur Hölle!" Rief er und schwang den Schläger durch. Doch in einem violetten Lichtblitz verschwand sein Körper. Da, wo eben noch der bullige Leibwächter gestanden hatte, kroch nun ein Regenwurm auf dem Boden.
"Ich weiß, das Klischee sagt, Hexen verwandeln ihre Opfer in Frösche. Aber das wäre ja langweilig", sagte Patricia Straton laut. Dann ging sie zu einem der niedergestreckten Gorillas. Peng- pioing! Von hinten krachte ein Pistolenschuß. Die Kugel prallte an der magischen Schildaura der Drachenhautpanzerung ab und sauste als Querschläger davon. patricia nahm dem Gangster die Schlüssel zum Haus fort und ließ ihn einfach liegen. In der magischen Betäubung war er im Moment völlig wehrlos.
"Eh, was geht da draußen ab?!" Rief eine Stimme aus an der Hauswand verteilten Lautsprechern. Dann tat sich die Vordertür wieder auf und vier weitere Gangster kamen heraus.
"Paßt auf, die hat merkwürdige Waffen!" Rief die Stimme aus den Lautsprechern. Patricia Straton gab sich nicht lange mit den vieren ab. Ein gleißendes silbernes Licht explodierte aus ihrem Zauberstab und warf alle vier, die auf sie losstürmten, einfach zu Boden. Dann schossen vier violette Blitze krachend aus dem Stab, und vier schwarz-weiße Meerschweinchen stoben angstvoll quiekend auseinander.
"Brujería!" Rief Ernesto, als er zusammen mit seinem Chef auf dem Überwachungsmonitor für die Vordertür sah, was draußen passierte. "Das ist eine echte Hexe, Jefe."
"Maldito muchacho", schnaubte Emilio. "Verfluchter Junge", wie sein Fluch zu übersetzen war, bezog sich da auf Ben Calder Junior. Denn nun drängte sich der alte anerzogene Aberglaube seiner Großeltern wieder in den kalten logischen Verstand des Gangsterchefs. Der Junge hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, und Satan selbst hatte eine Dienerin ausgesandt, ihn zu beschützen. Bei der Gelegenheit konnte sich der Höllenfürst auch gleich seine Seele holen. All das ging ihm durch den Kopf, als die Fremde unbehelligt ins Haus eintrat. Ernesto war aber noch nicht am Ende seiner Kunst. Er löste eine Gassprühvorrichtung aus, die unerwünschte Eindringlinge kampfunfähig machen sollte. Als die Frau, die in unscheinbarer Alttagskleidung herumlief, zu taumeln begann, wähnte sich der Leibwächter Emilios sicher, die Hexe nun doch noch erwischt zu haben. Als sie dann jedoch einfach verschwand, erschrak er so heftig, daß er wie versteinert auf den Monitor starrte. Emilio schrak zusammen, als es laut in seiner Nähe knallte. Er zog seine Pistole hervor und wirbelte damit herum. Lässig an der Tür lehnte die Unbekannte, die ihren Holzstab in der Hand hielt, mit dem sie acht seiner besten Abfangkiller erledigt hatte.
"Du hast den Jungen also jagen lassen, mir und meinen Bekannten damit eine Menge Ärger und Arbeit aufgehalst. Wie fühlt man sich, wenn man selbst in der Falle sitzt, Emilio Martinez?" Fragte sie, wobei sie die spanische Sprache benutzte, die der Gangsterboss mit der Muttermilch eingesogen hatte.
"In Nomine patris et filii et spiritús sancti", setzte der Gangsterboss an, mit verzweifelter Stimme zu beten. Patricia Straton hatte nur ein mitleidiges Lächeln dafür übrig. Sie ließ Emilio seine Gebetsformeln runtersingen, immer lauter, immer leidenschaftlicher. Als ihm die Puste ausging, sah er noch, wie Ernesto fluchtartig den Raum verlassen wollte. Doch die Hexe ließ ihn nicht entwischen. Unter einem violetten Lichtblitz wurde der Leibwächter Emilios zu einer gewöhnlichen Hausspinne, die auf ihren acht haarigen Beinen unter den Tisch mit den Monitoren schlüpfte und sich darunter versteckte.
"Hast du nun den Frieden mit deinem Gott gemacht, Untäter?" Fragte Patricia den Mann, der sich "Die Schlange" nennen ließ.
"Du wagst es, den Namen des Herren zu nennen und wirst nicht vernichtet?" Wunderte sich Emilio.
"Wieso? Ich habe doch nur gefragt, ob du mit deinem Gott Frieden geschlossen hast", sagte Patricia im Tonfall eines Kindes, das nicht weiß, was es so böses oder supergutes gemacht hat.
"Zu dem, wo du hingehörst!" Fluchte El Serpiente und feuerte seine Waffe ab. Die drei Kugeln die er verschoss prallten alle von der unsichtbaren Panzerung um die Hexe ab. Zwei schlugen in die Bildschirme, die mit dumpfem Knall implodierten und einen Hagelschauer aus Glassplittern über alles und jeden ergossen, der sich im Raum befand. Die dritte Kugel krachte ins Funkgerät, das mit Knistern und dann einem lauten Knall und Qualm seinen Geist aufgab. Patricia Straton ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie zwang Emilio mit dem Imperius-Fluch, alle Leute einzubestellen, die für ihn nach Ben Calder Junior gesucht hatten. Nach und nach gingen ihr so die Mitglieder der Organisation in die Falle. Keiner entkam ihrem Verwandlungszauber. Meerschweinchen, Spinnen und Schaben bevölkerten bald die Hauptzentrale der Organisation. Dann war die Reihe an Emilio.
"Für die Heidenarbeit, die du uns gemacht hast, wird die höchste Schwester sich freuen, etwas schönes zu bekommen", sagte die Hexe und richtete ihren Zauberstab auf den Chef der Organisation. Emilio erstarrte mitten in einer Bewegung, als der Zauberspruch wirkte. Da, wo er gerade noch gesessen hatte, stand nun ein silberner Kerzenleuchter. "Auf diese Weise kannst du uns noch lange sehr viel Freude machen", sagte Patricia Straton und nahm den silbernen Leuchter an sich. Dann richtete sie den Stab auf den Tisch und entzündete diesen mit "Incendio!" Als das Feuer sich lodernd über das bereits ramponierte Büro ausbreitete disapparierte die Hexe. Sie hatte ihre magische Lynchjustiz beendet.
Durch die erste Tür links betrat sie eine große Fahrstuhlkabine, die gerade nicht besetzt war. Die meisten Beamten hier würden wohl eher nach unten kommen, wenn die Bürozeiten zu Ende waren. Nach oben war im Moment nicht Betrieb.
"Stockwerk eins! Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, eingegliedert die Tierwesenbehörde, das Geisterbüro, die Zauberwesenregulierungsbehörde und das Büro für Desinformation.!" Erklang eine kühle weibliche Stimme. Die Frau im Fahrstuhl kannte diese Meldezauber. Sie waren größtenteils identisch mit denen in London, wo sie vor zwei Jahren einmal eine Bekannte im dortigen Zaubereiministerium besucht hatte. So beachtete sie die weiteren Durchsagen nicht, bis sie im siebten Stockwerk die Abteilung zur Durchsetzung der Zaubereigesetze erreichte. Dort verließ sie die Kabine. Fünf Korridore zweigten von den Fahrstühlen ab, wie die Strahlen eines Pentagramms. Sie bog in den Korridor ganz rechts ab und ging bis zum Raum 707, auf dessen Elfenbeintürschild "Büro Augustus Bell, Strafverfolgungstrupp Sektionsleiter Ostküste" zu lesen stand. Sie verharrte vor der Tür, atmete zweimal tief durch und klopfte dann.
"Herein!" Kam die Aufforderung von drinnen, und die kleine runde Dame im zimtroten Umhang trat ein.
Neben dem ihr schon bekannten Augustus Bell entdeckte die Besucherin noch drei Leute, von denen sie eine Frau erkannte, die nicht viel größer als sie selbst und nur ein wenig schlanker war und graublonde Locken besaß. Mißbilligend den Kopf schüttelnd zog sie die Tür hinter sich zu und sah Augustus Bell an. Dieser warf einen Blick auf eine Glasscheibe, die wie ein Fenster nach draußen wirkte. Die Besucherin wußte, daß es jedoch kein normales Fenster war, sondern eine mit Echtbildverpflanzungszaubern belegte Scheibe, die das, was hinter den kilometerdicken Felsen des Berges zu sehen war, in diesen Raum übermittelte. Augustus Bell nickte der Besucherin lächelnd zu und zog dann eine Holzjalosie vor der Tür herunter. Klickend rastete sie in einem Schnappschloß am Boden ein. Die Besucherin wußte, daß diese Jalousie zwei Zauber auslöste, einen Klangkerker, der alles in diesem Raum gesprochene in diesem Raum zurückhielt und einen Antiapparitionszauber, der eine magische Flucht vereiteln würde.
"Setzen Sie sich ruhig, Patricia", sagte Augustus Bell ruhig und deutete auf einen freien Besucherstuhl an der der Tür am nächsten liegenden Seite des großen Eichenholzschreibtisches, auf dem Tintenfässer und Schreibfedern in verschiedener Größe bereitstanden. Zudem stand hier auch eine silberne runde Uhr und ein Kästchen, aus dem der Büroinhaber eine giftgrüne Feder und zwei Rollen Pergament holte.
"Hallo, Augustus, hallo, Jane. Welchem Umstand verdanke ich, daß ich hier antreten muß?" Fragte die Besucherin mürrisch und blickte Augustus Bell und dann die graublonde Frau an, die mit locker übereinandergeschlagenen Beinen dasaß.
"Hallo, Pat. Ich hoffe, das hier geht schnell vorbei", sagte die mit Jane angesprochene Frau. "Wir müssen dich nur zu etwas befragen, wovon wir sicher sein möchten, daß es keine große Sache ist."
"Möchten Sie etwas trinken, Patricia?" Fragte Bell ruhig sprechend. Die Besucherin nickte und bat um eine Tasse Zitronentee. Bell beschwor eine bauchige Kanne herauf und schenkte ihr eine Porzellantasse mit dem dampfenden Inhalt der Kanne voll. Die Besucherin bedankte sich und trank von dem Tee. Sofort fühlte sie, daß sie hier in einer vertrauten Umgebung war, in der sie sicher und arglos sein mochte.
"Mrs. Patricia Redlief, Geboren am 29. Februar 1920?" Fragte Augustus Bell zunächst. Die Besucherin schüttelte den Kopf und erwiderte mit merkwürdig entrückter Stimme:
"Nein, am 29. Februar 1916, Augustus."
Alle im Raum anwesenden nickten. Dann fragte der Büroinhaber sie nach dem Wohnort und dem Beruf aus. Die giftgrüne Feder, die Bell aus dem Kästchen geholt hatte, flitzte von selbst über das Pergament und notierte alles wortwörtlich. Irgendwann fragte der Büroinhaber, wo Patricia Redlief am 29. Oktober diesen Jahres gewesen war, ob sie Mitglied einer geheimen Schwesternschaft sei oder von einer solchen etwas gehört hatte. Patricia Redlief gab unverzüglich auf jede Frage Antwort. Nein, sie war keine Anhängerin einer geheimen Schwesternschaft und wußte auch nichts von einer solchen, von den üblichen Gerüchten abgesehen. Sie war zwei Tage vor Halloween in Foggy Forest, einem Zaubererdorf in den Bergen Montanas gewesen und hatte sich dort mit ihrer Schwester Hagar getroffen und deren Enkeln Tiberius und Mortimer. Nach zehn Minuten war die Befragung auch schon vorbei. Augustus Bell nickte und verstaute die zwei Pergamentrollen sicher im Kästchen. Eine viertelstunde später fühlte sich Patricia Redlief wieder völlig normal. Als sie erkannte, was ihr da passiert war, wurde sie jedoch leicht ungehalten.
"Verdammt noch mal, Gus, wie konnten Sie es wagen, mir Veritaserum einzuflößen? Welches Verbrechen wird mir hier vorgeworfen?"
"Jetzt keines mehr", erwiderte der Büroinhaber ganz ruhig, während Patricia Redlief ihn wütend ansah. Dann blickte sie die graublonde Frau an und fauchte:
"Habe ich das euch und eurer Truppe zu verdanken, Jane? Wie konntest du bei sowas mitmachen?"
"Pat, ich weiß, daß das ziemlich gemein ist. Aber wir haben ein Problem, daß eine bislang unbekannte Gruppe von Hexen am 29. Oktober in New York unterwegs war, von der wir gerne mehr wüßten als nur, daß es sie gibt. Eine Person wurde Zeuge dieser Aktivitäten. Mehr mußt du nicht wissen, da es dich nach dieser Befragung nicht mehr betrifft."
"Ach neh, Jane! Nach dieser Befragung betrifft es mich nicht mehr?! Nett, welche beruhigenden Worte du dafür findest. Ich ging davon aus, daß wir immer noch gute Freundinnen sind und durch unsere Kinder auch noch besser zusammenhalten sollten als vorher. Da machst du bei einer derartig drastischen Befragung mit? Findest du nicht, daß ich danach etwas mehr verdient habe als "Das betrifft dich nicht mehr"?"
"Mrs. Redlief, Verwandtschaften sind in dieser Sache unwichtig. Wir mußten uns mit Ihnen befassen, da wir eben wissen müssen, woran wir sind. Immerhin liegen uns Hinweise darauf vor, daß der Unnennbare in England wieder Fuß fassen will und hier in den Staaten noch genügend alte Mitläufer seiner ersten Schreckenszeit herumlaufen", sagte Bell sehr ernst klingend.
"Achso, und weil ich ja vielleicht mit Du-weißt-schon-wem zusammenarbeiten könnte haben Sie mich unter Veritaserum gesetzt? Erstens ist das bislang nicht sicher, daß er wirklich wieder da ist. Das basiert auf Gerüchten des Laveau-Institutes und der womöglich aus einem Wahn heraus gemachten Aussage Harry Potters. Zweitens kenne ich die Zaubereigesetze genausogut wie Sie, Mr. Bell und weiß, daß man nicht ohne einen ernsthaft zwingenden Grund Veritaserum bei Verhören verwenden darf. Also, was berechtigt Sie zu dieser Maßnahme? Oder muß ich einen Fürsprecher konsultieren, der es vor den Ausschuß zum Mißbrauch der Magie und dem magischen Gericht erfragen muß?"
"Pat, manches ist vorerst noch unbekannt", warf Jane ein. "Außerdem weißt du genauso wie ich, daß es nicht immer gut ist, wenn alle alles wissen. Nur soviel: Wir hegen die Befürchtung, daß da jemand eine Organisation von Hexen aufgezogen hat oder dies gerade tut, von der wir ausgehen müssen, daß sie entweder mit dem sogenannten Unennbaren zusammenarbeitet oder eine Konkurrenz zu ihm bildet, die jedoch auch gegen die rechtschaffene Zaubererwelt gerichtet ist. Daß wir auf dich gekommen sind liegt daran, daß wir Hinweisen und Zeugenaussagen nachgehen müssen, die Hexen aus deiner Region betreffen. Mehr ist im Moment nicht für dich zu wissen."
"Jane, deine Arroganz schlägt dem Faß den Boden aus. Was bildest du dir ein, wer du bist oder was deine Kollegen für Rechte haben, unschuldige Hexen und Zauberer derartig auszuhorchen. Bei aller bisherigen Freundschaft, Jane: Darüber werden wir uns noch mal unterhalten müssen, ob ich nicht ein Anrecht habe, mehr zu wissen als was ihr oder das Ministerium mir freiwillig mitteilt. Ich überlege mir sogar ernsthaft, ob ich dich noch mal zu Weihnachten oder meinem Geburtstag einladen soll, wenn du hier gegen mich spionierst wie eine spanische Inquisitorin. Mr. Bell, falls Sie mich also nicht für eine Kriminelle halten, ziehe ich es nun vor, Ihre illustre Gesellschaft zu verlassen."
"Verstehe ich, Mrs. Redlief", erwiderte Mr. Bell und ließ die Jalousie vor der Tür wieder hochschnarren. Wutentbrannt sprang Patricia Redlief von ihrem Stuhl auf und eilte mit weit ausgreifenden Schritten aus dem Büro. Sie ließ alle anerzogene Haltung außen vor und warf die Tür mit Wucht ins Schloß zurück.
"O Jane, da werden Sie wohl demnächst noch was von ihrem Schwiegersohn zu hören kriegen, wie?" Flachste einer der beiden anderen Zauberer, der auf den Namen Buster Greencoat hörte.
"Das ist das schöne an Pat. Sie gesteht dir ihre Gefühle ein und vergißt wenige Tage später jeden Streit, Buster. Sicher wäre ich auch wütend geworden, wenn mir jemand ohne Ansage Veritaserum untergeschoben hätte. Aber wenn sie länger darüber nachdenkt wird sie schon erkennen, daß wir im Moment lieber zu gut als zu lasch aufpassen. Amerika war kein so guter Platz für Voldemort - ach ihr junges Volk mit eurer Schreckhaftigkeit. Dieser dunkle Magier hat hier nicht die Unterstützung gehabt wie in England oder den Ländern Osteuropas. Aber wir müssen ihn ja auch nicht wieder stark werden lassen."
"Nun, mir wäre es lieber gewesen, wenn wir diese Muggelfrau als unsichtbare Zeugin hier gehabt hätten, damit sie uns erzählt, ob sie Patricia Redliefs Stimme erkannt hat oder nicht", bemerkte Buster Greencoat.
"Sie wissen genau, daß dies nicht möglich ist. Das Zaubereiministerium ist unter allen Umständen für Muggel tabu", sagte Augustus Bell sehr eindringlich. "Deshalb beim Barte von Merlin haben wir ja auf Veritaserum zurückgreifen müssen."
"Wann ist die nächste dran?" Fragte der dritte Zauberer im Raum.
"In einer Stunde. Ich wollte sicherstellen, daß die zu befragenden sich hier nicht die Türklinken in die Hand drücken müssen."
"Und wenn bei den vieren, die wir ausgemacht haben keine dabei ist?" Fragte Greencoat.
"Das Veritaserum wird es an den Tag bringen. Aber ich verstehe, was Sie meinen, Buster. Wenn sich diese Hexenschwestern mit Decknamen angesprochen haben, haben wir auf die falsche Karte gesetzt, und die Damen, sofern Ihre Zeugin, Jane, glaubwürdig genug ist, lachen sich ins Fäustchen, weil wir unschuldige Hexen einbestellt haben."
"O das denke ich nicht", wandte Jane ein. "Erstens ist diese Muggelfrau selbst bei den Strafverfolgungsbehörden ihrer Welt beschäftigt und muß daher ein gutes Gedächtnis für Ereignisse und Namen haben. Zweitens weiß ich aus gut unterrichteter Quelle, daß es zum Ehrencodex bestimmter Schwesternschaften gehört, den wahren Namen zu gebrauchen. Drittens haben diese Hexen die Zeugin genausowenig entdeckt wie Sie, Buster, sodaß sie keinen Grund hatten, sich mit falschen Namen anzusprechen. Viertens wurde was von einer guten Verwandlungskünstlerin erzählt. Außer Mrs. Redlief kommen da nur noch zwei von den insgesamt vier Hexen mit dem Vornamen Patricia in Frage, Patricia McDuffy und Patricia Straton. Bei letzterer weiß ich sogar, daß sie den besten UTZ seit zehn Jahren in diesem Fach erreicht hat. Aber dies darf ihr nicht zum Verhängnis werden, sofern sie unschuldig ist."
"Unschuldig im Sinne welcher Anklage, Jane?" Fragte der andere Zauberer, der ungefähr im selben Alter wie Augustus Bell war.
"Verschwörung gegen die magische Grundordnung, eventuell noch Geheimnisbruch, vielleicht noch mehr. Mir geht der mysteriöse Tod von Asrael Smothers nicht aus dem Kopf. Es war eine delikate Angelegenheit, seinen Tod einigermaßen Glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die Muggelwissenschaftler haben in den letzten Jahrzehnten filigrane Untersuchungsmethoden entwickelt."
"Ja, oder was war mit diesem Verbrecher, der halbnackt in einem Autoabstellhaus gefunden wurde und unter den Augen der Muggel verstarb, ohne Spuren äußerer Einwirkungen aufzuweisen?" Fragte Buster Greencoat.
"Das beweist absolut nicht, daß hier eine Schwesternschaft von dunklen Hexen verantwortlich ist. Falls Sie, Buster, auf die Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern anspielen ..."
"Auf wen den sonst, Gus", knurrte Buster. "Wer soll denn sonst dafür verantwortlich sein, daß einer der berüchtigsten Schwarzmagier ohne äußere Gewalteinwirkung tot im Hudson-Fluß gefunden wurde. Immerhin konspirieren die Nachtfraktionärinnen ja nicht nur gegen unsere Zaubererordnung, sondern auch gegen Du-weißt-schon-wen und seine Sympathisanten."
"Kennen wir denn von der Nachtfraktion jemanden?" Fragte Bell in die Runde. Alle schüttelten die Köpfe. "Nun, das ist nicht gerade hilfreich", bemerkte der Inhaber dieses Büros noch dazu.
Eine volle Stunde später klopfte es wieder an die Tür, und eine Hexe mitte zwanzig, die ein buntes Kostüm trug und aus rehbraunen Augen schelmisch in die Runde blickte trat ein. Sie strich ihr nachtschwarzes Haar in den Nacken und setzte sich. Auch ihr wurde etwas zu trinken angeboten. Doch anders als Patricia Redlief war sie etwas mißtrauischer.
"Bevor ich hier irgendwas trinke, Leute, möchte ich gerne wissen, wozu ich hier hinbestellt wurde. Ich trainiere heute noch für das Achtelfinale in der Quodpot-Serie."
"Miss McDuffy", setzte Augustus Bell an, "es handelt sich um eine Routinebefragung in einem Verfahren, daß wir gerade bearbeiten müssen. Ich gehe davon aus, daß wir uns mit Ihnen eine Stunde unterhalten müssen, weil in diesem Verfahren Dinge besprochen werden müssen, zu denen Sie uns wohl eine Menge erzählen können."
"Wenn das so ist, dann hätte ich gerne einen Kürbissaftlikör mit Ananas", erwiderte die junge Hexe locker sprechend.
"Kein Problem", erwiderte Mr. Bell und zauberte eine Karaffe und ein Glas herbei. Als er sich sicher sein konnte, daß die zu befragende tatsächlich von dem Likör getrunken hatte, fragte er sie auch nach dem Namen, dem Wohnort und diversen Einzelheiten, von denen er sicher war, daß sie für die junge Hexe sehr Privat sein mochten. Als er unverzügliche Antworten erhielt fragte er sie auch nach dem Ort, an dem sie zwei Tage vor Halloween gewesen war oder ob sie einer geheimen Schwesternschaft angehörte. Die Befragte erwiderte:
"Ich bin ... kein Mitglied einer geheimen Schwesternschaft."
"Kennen Sie jemanden, der oder die Mitglied einer geheimen Organisation ist?" Fragte Bell.
"Keinen", kam die Antwort. Bell hatte den Eindruck, als ob die Befragte sich die Antworten überlegen mußte. Das konnte bei Veritaserum jedoch nicht angehen. Deshalb wartete er, bis sie noch mal was trank und wiederholte die Fragen, mit demselben Ergebnis. Dann vernahm er sie zu bedeutungsloseren Dingen, bis er sich sicher war, daß er alles erfahren hatte, was er wissen wollte.
"Vielen Dank, Miss McDuffy. Mehr muß ich nicht wissen", sagte der Büroinhaber.
Er verabschiedete sich von der Hexe, bevor die Wirkung des Wahrheitselixiers abgeklungen war und entließ sie mit besten Wünschen für ihre Quodpotmannschaft.
"Verflucht, ich fürchte, jemand hat endlich die Gegenmaßnahmen gefunden, um gewisse Fragen unbeantwortbar zu machen", knurrte Bell, nachdem er die Jalousie wieder herabgelassen hatte. "Oder habe ich allein den Eindruck, daß sie nicht jede Frage frei heraus beantwortet hat?"
"Ich habe mir erlaubt, sie legilimentisch zu durchleuchten, Gus. Aber das bleibt um alles in der Welt unter uns. Ich habe den Eindruck, daß man an ihr selektive Gedächtnismodifikationen vorgenommen hat, die in Aktion treten, wenn mit magischen Methoden das ergründet werden soll, was in den entsprechenden Gedächtnisbereichen enthalten ist. Ich bin mir sicher, daß man tatsächlich einen Weg gefunden hat, das Veritaserum zu schwächen."
"Dann sollten wir sie überwachen lassen", schlug Bell vor.
"Ist schon angeleiert, Gus", sagte der dritte anwesende Zauberer. "Ich habe meine Leute schon mentiloquistisch informiert, daß Ms. McDuffy überwacht wird. Ich möchte auch wissen, ob sie uns wirklich in allem die Wahrheit gesagt hat."
"Gut gemacht, Edgar", sagte Augustus Bell.
"Dann fehlen nur noch zwei", bemerkte die Hexe Jane leicht betreten.
Anthelia sah auf das mit magischen Runen verzierte Holzbecken, in dem eine merkwürdige rote dickflüssige Lösung enthalten war. Sie hatte von ihrer Bundesschwester Patricia Straton zwei Haare und vier Blutstropfen genommen, um den Zauber zu wirken. Pandora Straton stand dabei und überwachte den Vorgang. Anthelia warf die Haare in die Flüssigkeit, die unvermittelt pulsierte, als würde sie von einer unsichtbaren Pumpe eingesogen und dann wieder in den Behälter zurückgespritzt.
"Initio Creationem!" Rief Anthelia, wobei sie bei jeder Silbe den Zauberstab im Uhrzeigersinn über dem Behälter kreisen ließ. Wie eingeschaltetes Neonlicht flammten die Zauberschriftzeichen grünlich auf, während aus der Flüssigkeit ein unheimliches violettes Leuchten herausschimmerte und sich silbriger Dampf über der Holzwanne bildete. Dann ließ die Gründerin des Spinnenordens einen Blutstropfen nach dem anderen in die Lösung fallen, wobei sie ein weiteres Zauberwort sagte. Beim letzten Blutstropfen brodelte die rote Flüssigkeit so heftig, daß sie aus der Wanne herauszuschwappen drohte wie überkochende Milch. Der silberne Dampf war inzwischen zu einem dichten Vorhang aus silbergrauem Nebel geworden.
"Simulacrum verum generatum!" Rief Anthelia und ließ den Zauberstab gegen den Uhrzeigersinn, diesmal jedoch senkrecht vor dem Nebeldunst einmal herumkreisen. Fauchend schlug ein roter Lichtbogen aus dem Stab in den Dunst und schien diesen zu entzünden. Dann brodelte die Lösung noch heftiger. Der silbergraue Dunst schien immer dichter zu werden. Dann grummelte es sehr laut, und die Flüssigkeit in der Wanne schoss zu einer etwa zwei Meter hohen Säule auf, die den glühenden Dunst einsog und sich innerhalb von zehn Sekunden zu einer erst schemenhaften, dann immer greifbareren Form verdichtete, der Gestalt einer jungen Frau. Zunächst war es ein Gebilde aus rötlicher Substanz, doch eine halbe Minute später stand völlig unbekleidet Patricia Straton in der Wanne. Aus dem Zauberstab schoss ein blauer Blitz, der die regungslose Frauengestalt durchdrang. Dann zuckte die der Wanne entstiegene Frau wie unter starken Schmerzen schreiend zusammen. Dann stand sie wieder ruhig da, ganz ruhig atmend.
"Wirken wir die Wandlung der Erinnerung", flüsterte Anthelia. Sie wußte, daß diese junge Frau da vor ihr eine täuschend echte Nachbildung ihrer Bundesschwester Patricia Straton war. Sie wußte auch, daß sie eine volle Minute zeit hatte, das mitkopierte Gedächtnis nach ihren Wünschen zu ordnen, quasi das Seelenleben der Nachbildung zu bestimmen. So ging sie schnell aber sorgfältig vor, um die Gedächtnisbereiche zu verändern, die mit ihrer Schwesternschaft zu tun hatten. Die Minute wurde so vollkommen ausgenutzt. Als Anthelia fertig war, brachte Pandora Straton die Nachbildung ihrer Tochter per Apparition in ihr gemeinsames Zuhause, um sie dort in Ruhe erwachen zu lassen. Ihr Mann und ihr Sohn waren zum Glück unterwegs in der Sierra Madre in Mexiko, um dort nach zentralamerikanischen Eisenzahnpflanzen zu suchen, die Muggel fälschlich für Kakteen halten konnten, die aber bei Neumond für eine Nacht stahlharte Früchte hervorbrachten, die nur durch besondere Lösungen verarbeitbar gemacht werden konnten, um damit für die magische Heilkunst wichtige Substanzen zu gewinnen. Das Simulacrum von Patricia Straton erwachte mit der Erinnerung, die letzten drei Monate als freischaffende Zauberkunsthandwerkerin tätig gewesen zu sein. Als eine Eulenpost eintraf, die sie ins Zaubereiministerium bestellte, das in einen Berg keine hundert Meilen von Washington entfernt hineingebaut worden war, wußte die Nachbildung Patricia Stratons nicht, was sie dort tun sollte. Als sie dann von Mr. Bell mit Veritaserum-Unterstützung gefragt wurde, ob sie Mitglied einer geheimen Schwesternschaft sei, antwortete sie frei und unbeschwert mit Nein. Nach der Befragung kehrte Patricias Doppelgängerin in das von ihrer Familie bewohnte Haus zurück. Anthelias Plan war aufgegangen. Die Untersuchung jener merkwürdigen Angelegenheit war erfolgreich irregeleitet worden.
Abraham Jorkins war schlichtweg wütend. Die Polizei hatte seine Familie mehrfach einbestellt, um nach den Vorlieben seines Neffens zu fragen. Die Presse hatte Wind davon bekommen, daß Benjamin Calder Junior ausgerissen war, hatte aber noch nicht die Beziehung zum Turnhallenmassaker geknüpft. Der Teenage Terminator, jener Schlächter, der neun Jugendliche niedergeschossen hatte, war offenbar gefaßt worden. Es war dieser Joe, mit dem sein Neffe herumgezogen war, als er mit seiner Schwester hier hingezogen war. Damit beruhigte sich die Lage wieder. Nichts war so verderblich wie Nachrichten und Sensationen, wußte der Immobilienmakler. Doch warum hängten sich die Reporter immer noch an ihn und seine Familie? Gab es nicht genug jugendliche Ausreißer in Amerika, deren Familien man löchern konnte? Ja, was war denn an Benny anders als an den anderen Jungen und Mädchen, die meinten, Weglaufen sei die beste Lösung für familiäre Probleme. Maggy, seine Schwester, löcherte ihn immer damit, daß ihr Sohn kein Ausreißer sei und auch keinen Grund dazu hätte, einfach fortzulaufen. Er hielt ihr dann entgegen, daß Benny nach dem Feuer von Dropout durch den Wind war und sich noch nicht davon erholt habe. Weil jedoch weder Bennys Vater noch Bennys Freundin Donna was von ihm gehört hatten, lebte Maggy in ständiger Angst, in kurzer Zeit eine schreckliche Nachricht zu bekommen, daß ihr Sohn tot aufgefunden würde oder als Gewaltverbrecher oder Drogensüchtiger von der Polizei gejagt würde.
"Dieses Detektivbürog, daß du engagiert hast, Abe, hat Benny auch nicht finden können. Wir wissen nur, daß er irgendwo zwischen Arizona und Texas verschwunden ist, aber nicht wohin", jammerte Maggy Calder ihrem Bruder immer wieder vor.
"Verdammt noch mal, dann ruf doch das FBI und lass den Bengel von denen auch noch suchen!" Knurrte Abraham Jorkins nur und verfluchte seine Gutmütigkeit, die ihm seine Schwester und diesen aus dem Tritt geratenen Bengel eingebracht hatte.
Als dann zwei Wochen nach Halloween ein Anruf einer FBI-Agentin namens Maria Montes kam, dachte sich Abraham Jorkins schon, daß Benny den Leuten aus der Bundespolizei unangenehm aufgefallen war. Doch als Maggy den Hörer wieder aufgelegt hatte und ihr Bruder sie durchdringend ansah, antwortete sie nur:
"In Jackson vermissen Sie Benny, weil sie ihn etwas wichtiges fragen wollten, Abe. Ich habe dieser Agentin gesagt, daß Benny nicht mehr bei uns ist. Die wußte das noch nicht. Sie hatte wohl bis heute nichts davon mitbekommen, daß wir ihn vermissen."
"Ach, und jetzt sucht diese Maria Montes auch noch nach ihm?" Fragte Mr. Jorkins nur verächtlich.
"Sie hat zumindest gesagt, daß die Suche verstärkt wird."
"Wie außerordentlich beruhigend", erwiderte Abraham Jorkins nur. Daß Maggy das nicht beruhigte, war ihm völlig egal.
Benny Calder war trotz der bedrückenden Situation und des engen Rückraums des Sportwagens in einen tiefen Schlaf gefallen. Er erwachte jedoch schlagartig, als ein scharfer Knall seine Ohren traf. Wie von einer Schleuder geschnellt fuhr er auf und stieß sich dabei den Kopf an der Unterseite des Wagendaches. Er sah Patricia Straton auf dem Vordersitz hocken und sich zu ihm umwendend.
"So, nach dir sucht im Moment niemand mehr. Allerdings werde ich der höchsten Schwester mitteilen, daß du verfolgt wurdest. Ich warte dann ab, was genau sie mir aufträgt", sagte die Hexe zu ihrem Passagier.
"Was wird sie dann wohl sagen? Zurückbringen werden Sie mich wohl nicht", knurrte Benny Calder. "Oder wie wollen Sie das meiner Mom und Onkel Abe klarmachen, daß Sie mich in dieser Gegend aufgegabelt haben?"
"Du hast natürlich recht, Benny. Es wäre durchaus unklug, dich jetzt ohne weiteres deinen Eltern zurückzuerstatten. Außerdem hörte ich davon, daß der Vater des Jungen, bei dessen Ermordung du zugesehen hast, dich immer noch sucht. Womöglich sind noch andere Verbrecherorganisationen involviert. Da ich davon ausgehe, daß die höchste Schwester noch Verwendung für dich hat, wäre es unwahrscheinlich dumm, wenn wir dich diesen Barbaren überlassen."
"Haha, Sie verfluchte Hexe. Sind Sie denn besser als diese Gangster? Oder wollen Sie mir jetzt einreden, Sie hätten keinen von denen kalt gemacht?"
"Einreden will ich dir sowas nicht. Aber ich habe wirklich niemanden töten müssen. Allerdings heißt das nicht, daß diese Verbrecher ungeschoren davonkamen. Ich schätze sogar, daß sie lieber in einem eurer Gefängnisse gelandet wären, wenn sie gewußt hätten, wie fatal es war, dir nachzujagen", erwiderte Patricia Straton mit eiskaltem Lächeln. Sie deutete auf den Beifahrersitz, auf dem ein silberner Kerzenleuchter lag.
"Verdammt!" Fluchte Benny, dem durch den Kopf ging, daß dieser Leuchter womöglich einer der Gangster gewesen sein mochte.
"Das beste für den Chef", lachte Patricia nur. Natürlich hatte sie Bennys Gedankengang mitgehört. Der Junge erbleichte.
"Kann jemand in so'nem Zustand noch was empfinden?" Fragte er sehr beklommen.
"Soll ich es an dir demonstrieren?" Fragte die Hexe lauernd auf ihn blickend. Benny erschauderte und schüttelte heftig den Kopf.
"Nein, nein, nein, ich will das nicht wissen. Danke!"
"Dann eben nicht", lachte Patricia Straton ihn an. "Muß ja auch nicht sein."
Zehn Minuten verstrichen, ohne daß Benny oder Patricia etwas sagten. Das Schweigen drückte wie ein Mantel aus Blei auf Benny. Er wagte es jedoch nicht, irgendwas zu sagen oder zu tun. Hier, wo sie gerade waren, würde ihn niemand rufen hören. Außerdem hatte dieses Hexenweib mehr als einmal bewiesen, daß sie sehr schnell mit dem Zauberstab war. Diese Anthelia hielt daher wohl sehr große Stücke auf sie und hatte ihr nicht aus purer Beschäftigungslaune diesen Job aufgehalst, ihn einzukassieren. Doch vor der Zukunft hatte er Angst. Was würde ihm passieren, wenn die Hexen ihn nicht zu seiner Mutter oder seinem Vater zurücklassen würden? Ihm fiel ein, daß jede mögliche Antwort auf diese Frage nicht an das heranreichen konnte, was ihm dann wirklich passierte. So schwieg er weiter, bis Patricia Straton beschloß, sich ebenfalls etwas hinzulegen. Unvermittelt schien der Raum im Inneren des Wagens zu wachsen, als säßen die Hexe und ihr Fahrgast in einem langsam immer mehr aufgeblasenen Luftballon. Benny fürchtete schon, Patricia Straton hätte sich und ihn einschrumpfen lassen. Doch als er die Bordinstrumente und den Schalthebel ansah, fiel ihm auf, daß nur die Seitenwände weiter auseinanderrückten und der Innenraum sich in die Länge zog.
"Du bleibst hinten und ich hier vorne", bestimmte Patricia Straton und zog aus ihrer Jacke zwei taschentuchgroße Dinger, die sich zu weichen warmen Daunendecken auswuchsen und gab Benny zwei kieselsteingroße Gegenstände, die zu bequemen Kissen wurden, kaum daß Benny sie auf die Rückbank legte.
"Vergiss es!" Sagte Patricia laut, als Benny daran dachte, solange zu warten, bis die Hexe eingeschlafen war. "Du kannst mir nichts wegnehmen." Sie öffnete das Handschuhfach und legte ihren Zauberstab hinein. Den Wagenschlüssel verbarg sie irgendwie in ihrem Kopfkissen. So hatte Benny keine Chance, an Sachen zu kommen, die Patricias Macht über ihn brechen konnten. Er gab sich der Hilflosigkeit der Lage hin und drehte sich in die warme Decke ein. Keine zehn Minuten später war er wieder eingeschlafen.
Als Anthelia nach der Nacht wieder aufwachte, in der Benny auf dem Rastplatz Amys Nest den Cadillac gestohlen hatte, tastete sie mit ihren telepathischen Sinnen nach dem Bewußtsein des Jungen. Sie erkannte, daß ihre Bundesschwester Patricia ihn sicher aufgefunden und in ihre Obhut genommen hatte. Da das von ihr geschaffene Simulacrum bereits seinen Verwendungszweck erfüllt hatte, lächelte die wiedergekehrte Nichte Sardonias und wartete auf einen Gedankenruf Patricias. Als dieser eintraf, so um acht Uhr Morgens Ostküstenzeit, sendete sie auf dem lautlosen Wege des Mentiloquismus zurück:
"Schwester Patricia, fahre mit unserem Gast auf dem gewöhnlichen Landwege zu unserem Hauptquartier. Ich harre deiner am Nachmittag des dritten Tages von nun an. Sei freundlich zu dem Knaben und behüte ihn vor weiteren Nachstellungen ihm böses wollender Unfähiger! Zum Zeitpunkt deiner Heimkehr werden wir ergründen, wie wir fortan mit ihm verfahren."
Patricia Straton schickte ihr darauf eine Bestätigung und versprach, freundlich zu dem Jungen zu sein.
Am Mittag des nächsten Tages erreichte der weiße Maserati eine Kleinstadt in der Nähe der Texanischen Grenze. Im Autoradio wurde von einem Großbrand im Amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet geredet, bei dem ein großes Anwesen und viele unterirdische Räume vernichtet worden sein. Benny fragte Patricia:
"Haben Sie das alles abgefackelt? Sie sagten doch, Sie hätten keinen umgebracht."
"Habe ich auch nicht. Alle dort konnten sich retten. Überlege, daß das Feuer mindestens fünf Stunden gebrannt haben muß, um diesen Schaden anzurichten. Na ja, man wird sich fragen, was genau passiert ist, weil es keine nachweisbaren Brandursachen gibt."
"Ach, Sie haben einen Feuerball oder sowas da reingeballert", vermutete Benny. Seine "Gastgeberin" lächelte milde.
"Keinen Feuerball, Benny. Aber wie sieht das aus mit Essen? Worauf hast du Hunger?"
"Sie glauben doch nicht, daß ich was von Ihnen esse oder trinke", knurrte Benny. Er wußte genau, daß er großen Hunger und noch größeren Durst hatte. Aber lieber wollte er verhungern als irgendwas essen, von dem er nicht wußte, wo es herkam.
"Ich glaube nicht, daß du verhungern willst", sagte Patricia Straton. "Du hast nur Angst, ich könnte dich vergiften oder sowas. Aber irgendwas wirst du essen. Wenn der Hunger zu groß wird, um sich noch länger unterdrücken zu lassen. Ich denke nicht, daß du das lange durchhältst."
"Da müssen Sie mich schon zwingen", sagte Benny hartnäckig. Patricia schüttelte nur den Kopf.
"Das habe ich nicht nötig", sagte sie nur und fuhr auf einen großen Supermarkt zu, an dessen großem Glaseingang ein Schild hing, das verzehrfertige Warmgerichte anpries.
"Ich decke uns mit Proviant ein und hole uns auch was zu essen und zu trinken. Du wartest hier. Du weißt ja, daß du ohne mich nicht weiterkommst."
"Daß du dich da mal nicht irrst", sagte sich Benny. Patricia Straton stieg aus und schloß die Tür. Der Wagen war wieder so verschlossen wie Benny ihn in der letzten Nacht erlebt hatte. Auch die Fenster ließen sich nicht herunterkurbeln. Er überlegte, ob er um Hilfe rufen sollte. Aber da fiel ihm ein, daß niemand ihn aus dem Wagen holen könnte. Ja, es mochte sogar sein, daß der Wagen so verhext war, daß jeder, der ihn anfaßte, sofort tot umfiel. So blieb Benny mit sich und einem immer fordernder knurrenden Magen alleine, bis die Hexe zurückkam und warme Baguettes auf einem Papptablett und schwere Tüten voller Lebensmittel herantrug. Bennys Magen grummelte nun unüberhörbar laut. Was brachte es ihm, in einen Hungerstreik zu treten? In drei Tagen würden sie schon bei Anthelia sein. Ein Mensch konnte solange ohne Essen überleben. Allerdings konnte er versuchen, nichts zu trinken. Dann würde er wohl bald ...
Als Patricia Straton eine große Flasche Mineralwasser aus einer der Tüten holte, vergaß Benny auch diesen Vorsatz. Andererseits, wenn er was trank und aß, mußte er das irgendwann wieder loswerden. Und er traute der Hexe dann doch nicht zu, ihn in Windeln zu wickeln oder sich in die Hose machen zu lassen. Also trank er von dem Wasser und aß zwei der vier Baguettes. Danach ging die Fahrt weiter.
Unterwegs, als Benny wirklich mußte, holte die Hexe aus dem Kofferraum zwei eingeschrumpfte Toilettenkabinen heraus, wie sie bei Freiluftkonzerten aufgebaut wurden. Wassertanks und chemische Reinigungsmittel waren ebenfalls eingeschrumpft mit im Kofferraum.
"Du hältst uns für Rückständig, wie? Ich hätte uns auch mit Reisewindeln versorgen können, die eine Woche lang nicht gewechselt werden müssen. Aber ich wollte dir und mir diese Unannehmlichkeit ersparen. Heute Abend werden wir wo anhalten, wo wir uns richtig waschen können. Du hast dich zwar relativ sauber gehalten, weiß ich von der höchsten Schwester, aber bis zu unserem Haus ist es noch weit, und wir wollen uns doch nichts vorstinken."
Benny erkannte, daß dieses Weib an alles gedacht hatte. Sie hatte alle Notwendigkeiten einkalkuliert, genug zu Essen für drei Tage besorgt und auch genug zu trinken. Der Kofferraum glich einem Gummisack. Denn irgendwie paßte alles, was in ihn hineingepackt wurde, ohne ihn voll zu machen. Aber anders als ein Gummisack beulte der Kofferraum sich nicht aus, sondern erschien fest und unveränderlich.
Die Fahrt verlief für Ben relativ langweilig. Seine Abscheu gegen Anthelia und Patricia hatte sich erschöpft und war einer gewissen Frustration gewichen, nichts aber auch wirklich nichts dagegen machen zu können, daß die Hexen ihn einfach einkassieren konnten, ohne daß jemand davon was mitbekam.
Bei der Rast in einem Waldstück schwiegen sich die beiden lange an, während aus dem Radio leise die aktuellen Hits klangen, von denen Ben die meisten eh nicht mochte. Um diese bedrückende Wortlosigkeit zu verjagen fragte Benny irgendwann:
"Wieso haben Sie mich damals nicht umgebracht? Das wäre doch für Sie und Ihre Gebieterin das einfachste gewesen."
"Erstens ist das einfachste nicht immer das beste, Benjamin Calder Junior. Zweitens weißt du ja, daß die höchste Schwester gerne jemanden haben wollte, der ihr ohne großes Zutun deine Welt zeigt. Du hättest dein Leben so weiterführen können wie nach unserer ersten Begegnung, wenn diese Gewaltsüchtigen Muggel nicht eure Stadt zerstört hätten und wenn du in deiner neuen Schule nicht an genauso dumme Burschen geraten wärest. Die höchste Schwester wollte dich ganz in Ruhe dein Leben führen lassen um zu lernen. Lernen ist auch für uns sehr viel wertvoller als Stärke zu zeigen."
"Sie wollen mir doch jetzt nicht erzählen, daß ich Ihnen noch was beigebracht hätte", lachte Benny. Patricia Straton nickte.
"Du weißt ja nicht, wie wir aufwachsen oder wo die höchste Schwester herkommt. Sicher können wir von euch viel lernen und müssen es auch, wenn wir eines Tages die Verantwortung für euch übernehmen wollen. Wir müssen ja dann wissen, wie ihr denkt, miteinander umgeht, welche Alltagsbräuche es bei euch gibt und was für Gerätschaften ihr verwendet, wer bei euch wichtig ist und wer nur so tut, als ob er oder sie was darstellt. Du warst dafür ideal geeignet. Denkst du nicht, es war für Schwester Anthelia und uns lustig, zuzusehen, wie grausam ihr untereinander seid? Ihr benahmt euch in der Zeit, die wir euch beobachten konnten schlimmer als die Riesen."
"Was für Riesen?" Fragte Ben, den die neugier kitzelte.
"Nicht alles, was in euren Märchen steht ist blanker unsinn. Einiges ist aus alten Zeiten überliefertes Wissen, das vor der Geheimhaltungsverordnung der modernen Zaubererwelt bekannt wurde. So gab, beziehungsweise gibt es echte Riesen, Zwerge, Gnome, Feen und Drachen. Die Riesen sind sieben bis achtmal so groß wie wir gewöhnlichen Menschen, dafür aber hemmungslos brutal. Ja, und in deiner Welt gibt es eben Leute, die sich nicht besser benehmen."
"Könnte es nicht sein, daß dieser Mistfluch, den mir Ihre Anthelia angehext hat, diese Sachen eingebrockt hat?" Fragte Benny Calder.
"Ach, das hast du dich ernsthaft schon gefragt, wie? Nein, der Fluch der Bindung zieht keine Massenmorde in der Umgebung nach sich, und dein Körper bezieht seine Kraft auch nicht aus dem Tod anderer Leute. An dir oder an dem Bindungsfluch lag es nicht. Das wäre ja auch töricht gewesen, dich zu unserem Kundschafter zu machen, wo du dann nur zwischen Schrecken und Tod hättest leben müssen. Was mit deiner Stadt passiert ist haben nicht wir verschuldet."
"Das sagen Sie mal Donna und ihrem Vater oder den Stevensons oder Barleys oder den Angehörigen von Sheriff Foggerty und Debuty Goldsmith! Könnte es nicht eher sein, daß Sie erkannt haben, daß ich nicht das bringe, was ihr von mir wollt?"
"Jetzt bestimmt nicht mehr, wo Polizei und Verbrecherbanden hinter dir herjagen", erwiderte Patricia Straton freundlich. "Aber keine Sorgen. Die höchste Schwester wird schon einen Weg finden, das du weiterhin leben kannst. Denn sonst hätte ich bestimmt nicht den Auftrag bekommen, dich zu ihr zu bringen."
"Ach, und wenn ich mir vorher die Kugel gebe?" Fragte Benny herausfordernd, weil ihm die freundliche Gelassenheit der Hexe mehr zu schaffen machte als ein überlegenes Auftreten von ihr.
"Dann landet dein Geist unweigerlich im Seelenkerker der höchsten Schwester und wird ihr mit allem Wissen und Denken dienen, völlig unterworfen wie eure Computer."
"Verdammt!" Fluchte Benny innerlich. Also das war das schwarze Loch, in das er mal zu stürzen geglaubt hatte, weil er versucht hatte, Anthelia zu widerstehen. Das wäre die schlimmste Form der Sklaverei, wie ein Mitglied des Borg-Kollektivs zu sein, dem alles kontrollierenden Gemeinschaftsbewußtsein willenlos unterworfen, wie er es aus dem Fernsehen kannte.
"Ich gehe davon aus, daß die höchste Schwester für dich eine neue Aufgabe finden wird, ohne daß du ihr freiwillig deinen Geist opferst. Denn wenn sie wollte, daß du stirbst, hätte sie dich schon längst in den Tod getrieben. Immerhin hat sie ja deinen Willen verdrängt, als du meintest, einem völlig unbeteiligten Muggel von mir erzählen zu müssen. - Ja, ich weiß davon", sagte Patricia Straton ruhig und wirkte weder belustigt noch überlegen, als Ben vor Schrecken erbleichte. Ihm fiel ein, daß diese Anthelia ihrer Dienerin alles aufgetischt hatte, was er so angestellt hatte. Immerhin konnte diese Oberhexe ja in sein Gehirn reinsehen wie er sich auf einer Internetseite umschauen und über Verknüpfungen auf andere Seiten einwählen konnte. Sie hielt ihn an ihrer langen magischen Leine, eher einem Überwachungskabel, über das sie alles mitkriegte, was er so anstellte. Also würde es ja auch nichts bringen, wegzulaufen oder sich umzubringen. Kurz flackerte die Verzweiflung auf, daß er dieser Anthelia komplett gehörte. Sie konnte mit ihm machen, was immer sie mit ihm anstellen wollte. Dann überlegte er. Wenn er mitspielte, sich gut benahm, würde er womöglich von ihr irgendwie zurück in seine Welt gebracht werden. Vielleicht mußte er nur einige Aufgaben ausführen, um aus diesem Bann freizukommen. Aber wie weit wollte er dabei gehen? Er würde niemanden umbringen. Das war für ihn sicher. Was Joe mit den Piranhas gemacht hatte, hatte ihn eindeutig davon überzeugt, daß er das nicht machen konnte. Spätestens da würde er sich lieber selbst umbringen und die ewige Sklaverei als gefangener Geist hinnehmen.
"Man wird mich immer noch suchen, Miss. Meine Eltern werden nicht aufgeben, bis sie entweder meine Leiche haben oder wissen, wo ich bin. Ihre sogenannte höchste Schwester kann mich nicht ewig verstecken."
"Wenn sie das will kann sie das wunderbar", erwiderte Patricia Straton und ließ ihren Zauberstab kurz durch die Luft peitschen. Ein Kieselstein, welcher hinter dem linken Hinterreifen lag, wurde zu einem Stück Treibholz. Dann steckte sie den Zauberstab wieder fort. Benny verstand. Anthelia konnte ihn genauso in irgendwas verwandeln, ohne ihn gleich umbringen zu müssen. Ihm viel ein, was er am Tag im Radio gehört hatte. Keine Leichen waren gefunden worden, nur Tiere, wie Meerschweinchen und Insekten, die außerhalb der Feuerstelle herumgelaufen waren. Dann fragte er sich, was wohl aus den Leuten auf den grünen Motorrädern geworden war, die seine Stadt überfallen und niedergebrannt hatten? Da er gerne darauf eine Antwort haben wollte fragte er Patricia Straton.
"Die höchste Schwester hat sie alle bestraft, die unmittelbar dafür verantwortlich waren. Der Anführer starb durch die Hand seiner eigenen Leute, seine Spezialisten wurden dazu verurteilt, ihr Leben in anderer Form fortzusetzen, wobei ich einen von ihnen richten durfte. Der dürfte jedoch das leichteste Los von allen tragen."
"Ach ja, was haben Sie mit ihm angestellt?"
"Ich habe ihm ein neues Leben geschenkt, die eigentlich einmalige Möglichkeit, alles noch mal von vorne anzufangen. Ich gehe davon aus, daß er eines Tages froh ist, diese zweite Chance bekommen zu haben."
"Moment, Sie haben ihm ein neues Leben geschenkt? Soll das heißen, Sie haben ihn einfach wieder zum Kleinkind gemacht?"
"Öhm, das wäre untertrieben. Aber die Richtung stimmt schon", sagte Patricia Straton ruhig, als sei das, was sie da gerade zugegeben hatte eine Kleinigkeit, nichts ernsthaftes. Benny erstarrte. Das ergab neue Möglichkeiten. Wenn diese Anthelia das Leben der Muggel, also seiner Welt der Nichtzauberer ausspionieren wollte, dann konnte sie ihn ohne weiteres zurückschicken, als eines von über hundert nichtgewollten Babys irgendwo vor einer Tür hinlegen und ihn dann in aller Ruhe weiterbeobachten."
"Will ich das?" Fragte sich Benny. "Dann wäre ja alles für die Katz, was ich bisher gemacht und mitgekriegt habe."
"Wie gesagt, Benny, ist die höchste Schwester nicht an deinem Tod interessiert", unterbrach Patricia seine Gedanken.
"Ja, aber wie ich weiterleben soll würde mich interessieren", erwiderte Benny Calder. Er fragte sich, warum Anthelia nicht wie üblich in seine Gedanken hineinfunkte.
"Deshalb bringe ich dich ja zu ihr, damit du das erfährst", erwiderte die Hexe seelenruhig. Benny Calder überlegte, wielange es dauern mochte, bis die Bundespolizei nach ihm suchte. Das hing auch davon ab, was seine Eltern und sein Onkel anzeigen würden.
Gegen Abend vergrößerte sich der Innenraum des Wagens wieder soweit, daß Patricia Straton und Benny Calder sich bequem hinlegen konnten. Benny dachte noch über seine Lage nach. War noch etwas drin, um aus der ganzen Sache rauszukommen? Sicher war für ihn nur, daß er von nun an das bisherige Leben nicht mehr weiterleben konnte.
Die Tage verstrichen. Tagsüber fuhr Patricia Straton den Wagen im vorschriftsmäßigen Tempo über die Autobahnen und durchquerte die südlichen Staaten der USA. Nachts schliefen sie abseits der Schnellstraßen in Waldstücken oder auf freien Feldern. Niemals wurden sie dabei von Passanten oder Polizisten aufgestöbert. Zumindest bekam Benny sowas nie mit.
Mit der Zeit schwand die grenzenlose Hilflosigkeit gegenüber Anthelia und ihren Schwestern. Er fragte sich mehr aus Neugier als aus Angst, was er erleben würde, wenn die Oberhexe ihn nicht töten wollte. Einmal, als sie zu Abend eine Dose Bohnen mit Speck auf einer selbsterhitzenden Kochplatte aßen, fragte er Patricia Straton:
"Wie kam es, daß Sie sich für Anthelia entschieden haben? Ich meine, gab es denn nicht andere Leute, für die Sie sich interessiert haben?"
"Ich halte nichts von dem, was zurzeit in der magischen Menschheit los ist. Wir haben uns versteckt, halten uns bange zurück, um euch nicht aufzufallen und sehen tatenlos zu, wie deinesgleichen die Welt verwüsten und vergiften. Meine Mutter und ich gehören mit Hexen aus aller Welt zu einer Vereinigung, die zum Ziel hat, die frühere Verantwortung der Hexen für alle Menschen zurückzuerlangen und den Wahnsinn auf der Welt zu beenden. Meine Mutter traf Anthelia vor mehreren Jahren an und erfuhr, daß diese vor mehreren Jahrhunderten dasselbe Ziel verfolgt hatte. Nun, und daß wir sie wieder ins Leben zurückgerufen haben, hast du ja mitgehört. Ob ich Angst vor der höchsten Schwester habe? Sicher habe ich eine gewisse Angst vor ihr, weil sie sehr mächtig ist. Andererseits wüßte ich auch keine, die unsere Ziele besser verwirklichen könnte. Auf der Welt läuft seit einigen Monaten ein dunkler Magier herum, der wohl durch seine Abstammung dazu tendiert, durch Angst und Gewalt seine Macht zu vergrößern. Wenn er es schafft, die Zaubererwelt und die Muggelwelt zu erobern, werdet ihr nichts mehr zu lachen haben, Benny. Er haßt euch und alle Zauberer, die Eltern aus eurer Welt haben oder sich für euer Leben interessieren. Er wird hingehen und alles zerstören, was unsere beiden Welten zusammenhält. Auch deshalb bin ich mit der höchsten Schwester zusammen, weil sie die einzige ist, die ihm gewachsen ist und ihn aufhalten kann."
"Ach neh, und damit Anthelia herrschen kann muß sie nicht alles kaputt hexen?" Fragte Benny der dachte, Anthelia würde ihm einmal antworten. Doch wieder schwieg die telepathische Stimme der obersten der Spinnenschwestern.
"Das ist eben eure Sichtweise der Welt: Eisen oder Gold, Blei oder Silber. Entweder handeln eure Politiker nach der Devise: Kaufen oder Vernichten oder folgen dem Grundsatz: Stärke oder Verblendung. Stärke ist wichtig, ist schon richtig. Aber es kann doch nicht sein, daß nur der herrschen kann, der alles andere zerstört. Innere und äußere Stärken zu gewinnen, intelligent mit anderen Leuten umzuspringen ist wesentlich wirkungsvoller. Ich habe mich mal mit der Geschichte eurer Welt befaßt. Reiche, die durch Gewalt zusammengehalten wurden, zerfielen sofort, wenn die Gewaltherrschaft verschwand. Überzeugung hielt dafür aber länger vor."
"Sie sagen es doch nur, weil Sie wissen, daß mich Ihre höchste Schwester überwacht und Sie keinen Krach mit ihr kriegen wollen", widersprach Benny Calder. "Ohne Angst zu machen kann doch niemand ein Land erobern. Das sehen wir doch jeden Tag im Fernsehen. Wenn wir in Amerika keine Atomwaffen hätten und eine so schlagkräftige Marine auf dem Wasser herumschwimmen hätten, würden andere Länder doch mit uns machen, was sie wollen. Also verkaufen Sie mir doch nicht die weise Herrscherin, die keinen umbringen will!"
"Wollen und können sind zwei verschiedene Dinge, Benny", begann Patricia Straton. "Nicht jeder, der etwas tun will, kann es auch. Nicht jeder, der etwas tun kann und dies auch tut, will es wirklich. Sicher wird es Auseinandersetzungen geben, die durch Gewalt beendet werden müssen. Aber im wesentlichen wollen wir nur das, was wir früher schon einmal hatten, die Führungsrolle und alle damit verbundene Verantwortung für alle Menschen. Dir ist natürlich nicht bekannt, daß es die Hexen waren, die vor der Einführung von Jesus Crhistus als Religionsstifter die Menschen geführt und beraten haben. Magische Frauen haben mit den die Götter preisenden Druiden und Schamanen zusammen über die Menschen gewacht. Es gab sogar in weit zurückliegender Zeit ein weltumspannendes Imperium, dessen Führungsschicht aus Hexen und Zauberern bestand. Darüber liegen zwar wenige eindeutige Berichte vor, die dazu noch aus dutzenden von Sagen und Legenden herausgefiltert werden mußten, aber es ist erwiesen, daß die Magier alle Menschen beherrscht haben, und daß die Hexen die wichtige Rolle der Gesellschaftsordnung innehatten."
"Ach neh! Worin bestand denn diese Rolle?" Fragte Ben Calder nun sehr interessiert.
"Hexen übten die Heilkunst aus, berieten Familien, unterrichteten Mädchen und Jungen im Benehmen und in Dingen des Lebens, zu denen korrektes Benehmen genauso gehörte wie die Spielarten der Liebe."
"Liebe? Sie meinen Sex?"
Patricia Straton nickte. "Das was ihr mit diesem Schlagwort beschreibt", bestätigte sie dann noch. Sie fügte jedoch hinzu: "Aber Liebe ist ja nicht nur körperlich, sondern auch und vor allem eine Verhaltenssache, wie Menschen damit umgehen, wie sie sich partnerschaftlich zusammentun und in dieser Partnerschaft leben. Eure sogenannten Seelenkundler und Biologen, Ärzte und Anwälte machen bei euch das, was Hexen in der Vorzeit ausübten."
"Ach, haben die sich dann auch angeboten, wie die Priesterinnen in Babylon?" Fragte Benny, der vor einiger Zeit im Religionsunterricht von der Entwicklung der Eingottreligionen gelernt hatte und dabei erfuhr, was vor Moses und Jesus angebetet wurde.
"Nein, so haben Hexen nicht gearbeitet. Die babylonische Kultur war ja schon ein Übergang zu einer Regierungsform, wo die nichtmagischen Menschen mehr Einfluß zu erreichen versuchten", berichtete die Hexe.
"Ach, und die Hexen und Zauberer haben sich sowas bieten lassen?" Fragte der Halbwüchsige.
"Zunächst haben durch Naturkatastrophen und Seuchen bedingte Verheerungen schwere Krisen heraufbeschworen. Die magischen Menschen haben sich zwar in der Regierung und Religion gehalten, verloren aber dadurch, daß sie eben nicht alle mit Gewalt vorgehen wollten, an Boden. Der Glaube an eine obere Instanz außerhalb der Welt wurde mächtiger. Magie galt in dieser Zeit nicht mehr als Naturform, die einigen Menschen angeboren werden konnte, sondern als Geschenk der Götter, Geister und Dämonen der Zeit. Meine Mutter kann dir da aber wesentlich mehr drüber erzählen, wenn es dich wirklich interessiert, wie wir Hexen und Zauberer früher in der Welt gestanden haben."
Ben erkannte, daß ihn das wirklich interessierte. Er hatte sich früher vorgestellt, wie es sein mochte, mit echten Außerirdischen zusammenzutreffen, wie es auf anderen Planeten sein mochte oder wie die Menschen in der Zukunft leben konnten. Aber das es bereits Leute gab, die durch etwas, was in den Krieg-der-Sterne-Filmen "Die Macht" genannt wurde zu besonderen Sachen fähig waren, hatte er natürlich nicht geglaubt. Für ihn war echte Magie Blödsinn oder was für Idioten, die fremde Götter oder den Teufel anbeteten. Dann hatte er das Wiederverstofflichungsritual für Anthelia mitbekommen und war in den Einfluß dieser Hexen geraten, hatte miterleben müssen, wie sie einfach Dinge anstellen konnten, die Angst machen konnten. Und diese Leute gab es schon seit allen Zeiten? Dann fiel ihm noch was ein.
"Dieses alte Imperium, von dem Sie's hatten, das hieß nicht etwa Atlantis?"
"So hieß es nicht, Benny. Die Ägypter haben es nur so genannt, weil in irgendwelchen ururalten Schriften Symbole auftauchten, die den Namen des Reiches ausdrückten und die mit den Hieroglyphen verwandt gewesen sein sollten, also mit der Schrift, die in den Pyramiden gefunden wurde. Aber heute wissen die Geschichtsforscher, daß diese Ururalten Schriften nicht mit den altägyptischen Symbolen zu tun hatten. Deshalb ist der wahre Name des Reiches unbekannt. Einige nennen es deshalb "Verschollenes Weltreich" oder "Das Reich der ersten Blüte". Aber auch dazu könnte dir meine Mutter mehr erzählen, wahrscheinlich auch die höchste Schwester."
"Achso. Und ich dachte immer, vor dem Neandertaler hätte es keine intelligenten Menschen gegeben."
"Das ist eines der uralten Rätsel, wieso es zeitweilig drei voneinander unterschiedliche Menschentypen gab. Feststeht nur, daß sich irgendwann eine Verschmelzung von zwei Typen ereignet hat und der Neandertaler als einzelne Form verschwand. Aber vieles davon ist noch immer nicht belegbar, sondern, wie Theorien eurer Wissenschaftler, nur eine aus beobachtbaren Dingen entstandene Vermutung, wie es früher galt, daß die Erde das Zentrum des Universums sein soll und keine Kugel sei. Wobei das mit der Erde als Scheibe ist eine Irrlehre, die trotz der damals schon bekannten Belege für die Kugelform unseres Planeten entstanden ist."
"Vielleicht kamen wir alle ja von irgendwo da oben", sagte Ben und deutete zu dem klaren Sternenhimmel.
"Diese Vermutung wird in der Zaubererwelt nicht mehr gestützt. Woher wir genau kamen ist wegen der Unnachprüfbarkeit der Dinge nicht mehr so wichtig. Unsere Gelehrten streiten sich da schon seit Jahrhunderten nicht mehr drum, weil es wichtigere Sachen gibt. Es wird nur gesucht, was von früheren Zeiten übrig ist und daraus eben Theorien entwickelt, bis neue Dinge von früher auftauchen, die solche Vermutungen dann beweisen oder verwerfen."
"Meine Eltern meinen auch, es sei nicht so wichtig, was vor zehntausend Jahren war, weil die ganze Welt sich heute völlig anders verhält", sagte Benny wehmütig.
"So kann man sich damit arrangieren. Allerdings ist längst nicht alles gut, nur weil es neu ist oder alles Unsinn, was vor Jahrtausenden mal üblich war", sagte die Hexe bekräftigend. Dann aßen sie zu Ende, benutzten die mitgenommenen Toilettenkabinen und legten sich schlafen.
Man schrieb den fünften November 1995, neun Uhr abends, als der weiße Maserati mit über 60 Meilen in der Stunde an der Stelle vorbeifuhr, an der vor einigen Monaten noch eine friedliche Kleinstadt gelegen hatte. Benny fröstelte es bei dem Gedanken, daß keine zwei Kilometer links von ihm eine riesige schwarze Trümmerwüste lag, die stück für Stück abgetragen werden mußte, bevor im nächsten Frühling der Wiederaufbau anfangen sollte. Im August 1997 sollte dann alles wieder aufgebaut sein. Er wußte von seinen Eltern, daß man viele Fertigbauten aufstellen würde, um die Häuser möglichst rasch wieder hinzusetzen. Neben der Katastrophenhilfe der Regierung in Washington D.C. und dem Gouvernement in Jackson waren viele Spenden eingegangen, darunter auch Hilfsangebote von Baufirmen, die natürlich ein gewisses Geschäft witterten, eine Kleinstadt schnellstmöglich wieder hinzustellen. Doch in Amerika war ja alles möglich, hatte Benny immer und immer wieder gehört.
"Willkommen zu Hause", flüsterte es in seinem Bewußtsein, als der weiße Flitzer den Hügel hinauffuhr, auf dem mal die Daggers-Villa zu sehen gewesen war. Doch dort sah er keinen Stein, der irgendwie zu einem Haus passen mochte.
"Wir sind jetzt da", sagte Patricia Straton ruhig, als sie den Wagen auf den Kamm des Hügels hinaufgesteuert hatte. Sie öffnete die Fahrertür weit. Unvermittelt traten aus dem Nichts drei Gestalten in Weiß. Sie eilten auf den Wagen zu und verteilten sich um ihn.
"Die Sache ist endgültig vorbei", dachte Benny Calder. Diese braunhaarige junge Hexe, die ihn mitgenommen hatte und mit der er sich in den letzten drei Tagen oft und lange unterhalten hatte, hatte ihn abgeliefert.
Eine der drei Gestalten in Weiß schlug die Kapuze zurück, die Augen- und Atemschlitze hatte. Er sah im Licht der eingeschalteten Autoscheinwerfer das strohblonde Haar glänzen. Anthelia selbst war gekommen, ihn abzuholen.
"Die höchste Schwester ist da, Benny. Steig am besten aus!" Sagte Patricia Straton freundlich. Benny gehorchte widerspruchslos und verließ den Wagen.
Anthelia winkte ihrem nichtmagischen Kundschafter zu, als er ruhig aus dem Wagen gestiegen war und mit sich und seinem Schicksal abgeschlossen hatte. Hier und jetzt würde alles enden. Sein Leben würde nichts mehr bedeuten, ob die Hexe da einen Todesfluch auf ihn schleudern oder ihn immer gefangen halten würde, war völlig offen.
Neben Anthelia schlugen die beiden anderen Hexen ihre Kapuzen zurück. Benny erkannte eine Frau, die so ähnlich wie Patricia Straton aussah, nur einige Jahre Älter. Das mußte ihre Mutter sein, dachte er bei sich. Die zweite Hexe neben Anthelia war groß, schlank und besaß nachtschwarzes Lockenhaar und stahlblaue Augen.
"Komm zu mir, Benjamin! Gib mir deine Hand!" Befahl Anthelia mit ihrer warmen Altstimme, die Benny sonst sehr anregend empfunden hätte. Er ging auf die Oberhexe des Spinnenordens zu und ergriff ihre rechte Hand. Unvermittelt ffühlte er sich in einen Strudel aus Lichtern und Farben gezogen, aus dem er fast im selben Augenblick wieder auftauchte. Er stand neben Anthelia in einem geräumigen Keller, den er auch schon zu gut kannte. Es war der Keller in der alten Daggers-Villa. Keine drei Sekunden später standen die übrigen drei Hexen im Raum.
"Ich dachte, die Villa sei komplett verschwunden", wunderte sich Benny Calder. Die Hexen lachten.
"Sie ist nicht verschwunden, sondern nur verborgen, Benjamin", sagte Anthelia amüsiert grinsend. "Ich habe befunden, daß meine Schwestern und ich für wahr besser wirken können, wenn den Unfähigen deiner früheren Welt die alte Villa ebenso vernichtet deucht wie den Angehörigen meiner Welt. So wirkt jener Ort, an dem sie einst errichtet wart verlassen und bar jeder baulichen Nutzung. Aber sie ist immer noch da, eben nur versteckt."
"Nun, ich bin jetzt hier. Also bringen wir's zu Ende!" Gab Benny schicksalsergeben zur Antwort.
"Nun, du hast lange mit Schwester Patricia gesprochen und dabei für dich interessantes und wichtiges erfahren. So sollst du nun wissen, daß du nicht sterben wirst. Ich werde dich auch nicht in eine niedere Lebensform verwandeln, was dir sicherlich behagen wird. Allerdings hast du auch ohne mein Zutun ergründet, daß dein bisheriges Leben so nicht fortfahren kann, weil Hescher deiner Welt dir nachstellen. Sicherlich drängt es mich, auch vürderhin die Alltäglichkeiten deinesgleichen zu erforschen, zu ergründen und zu verstehen. So wart ich gehalten, einen Weg zu ersinnen, der beide Dinge einträchtig zusammenfügt. Selbstredend ist mir solch ein Weg in den Sinn gekommen.
Du wirst erst einmal eine geraume Zeit hier in diesem Haus verweilen, in einem magischen Schlaf. Anschließend werde ich an dir eine gewisse Veränderung vollbringen, nach jener du in deine Lebenswelt zurückkehren mögest. Du wirst jedoch weiterhin ein Mensch sein und auch körperlich weit genug ausgereift bleiben, um eigenständig zu agieren. In der Zeit, in der du hier schlafend verweilst, werde ich alle für eure sogenannte Zivilisation notwendigen Formalia erledigen, auf daß du daselbst legitim in diese zurückkehren und dort ein neues Leben beginnen magst."
"Ach neh", sagte Benny Calder leise. Anthelia sah ihn an. Sofort verlor er jeden Mut, noch gegen sie aufzubegehren. Diese Hexe wußte, was sie wollte und wie sie es bekam. Er war ihr hilflos ausgeliefert wie ein Blatt im Hurricane. Also ließ er es sich gefallen, daß Anthelia ihren Zauberstab auf ihn richtete und leise eine merkwürdige Melodie sang, die ihn Ton für Ton immer schläfriger machte, ihn wie unter schwerer werdendem Gewicht zusammensinken ließ und ihn hinübertrug in einen unendlichen Ozean aus Stille und Dunkelheit.
"Es ist getan", sagte Anthelia, als ihre Hexenschwestern Benny auf ein Ruhelager im ersten Stock gebettet hatten. "Möge von nun ein Mond wechseln, bevor ich ihm sein neues Dasein gebe, auf daß er mein Kundschafter in der Welt der Unfähigen bleiben möge!"
"Was genau hast du mit ihm vor, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton ehrfürchtig.
"Es gilt, jemanden zu finden, dessen Leben und Aussehen in der Welt der Unfähigen wichtig genug ist, daß mein Kundschafter seine Rolle übernehmen kann. Gleichermaßen darf diese Person jedoch nicht familiär gebunden sein. Da Benjamin Calder mir bislang gute Dienste tat, werde ich ihn nicht in seine Säuglingsform zurückführen oder ihm ein neues Geschlecht geben. So seien es Knaben und Jünglinge wie er, die ihm Platz machen mögen, um weiterhin meine Aufträge erfüllen zu können", sagte Anthelia leise und ruhig klingend. Patricia Straton verstand. Benjamin Calder sollte gegen einen Muggel ausgetauscht werden, welcher in seiner Welt wichtig genug war, um an interessante Dinge zu kommen oder unauffällig mit wichtigen Leuten zusammenzutreffen. Pandora fragte, ob man solch einen Menschen mit Gewalt vorbereiten sollte. Anthelia schüttelte den Kopf.
"Nein, das widerstrebt mir. Sei es, daß solch geeigneter Unfähiger bereits vorher durch Unglück oder Untat in die Lage versetzt wurde, aus der wir ihn herausholen können. Doch richtet keine Gewalt von euch aus wider die unfähigen Menschen! Nachdem wir unser Dasein vorerst weiter verbergen konnten, verlangt es mich nach unauffälligen Taten, zumindest was die Welt der Unfähigen betrifft. Allerdings, so muß ich erkennen, gilt es, die Saat des Emporkömmlings zu verderben, auf daß er nicht Ernte halten kann, wenn sein Augenmerk sich auf diesen Kontinent richtet, wie auch auf jene Kontinente, wo sein Treiben noch nicht so verheerend wirkte, als er erstmalig wütete."
"Wir wissen von den drei Brüdern Schwarzberg, die in Kalifornien und Texas eine Bande marodierender Magier führen, kennen Regidius Crawley in Kanada und auch die Erben Shadelakes in Australien, so wie die Schamanen der Schattenberge in Zentralafrika. Sie alle zu entmachten dürfte nicht ohne Aufsehen gelingen, höchste Schwester", sagte Pandora Straton.
"Nun, wenn die Zeit gar heftig dränget lasst alle übermäßige Behutsamkeit fahren!" Bemerkte Anthelia dazu. "Die Sache allein ist wichtig, weil wir den Emporkömmling, solange er sich in selbsterzwungener Untätigkeit befindet, keinen Griff nach außenstehenden Getreuen gestatten dürfen. Außerdem wird mein Simulacrum seinen Dienst in der Bruderschaft der Schlange tun und uns möglicherweise wichtige Teilerfolge einbringen."
"Nun, dann soll es so geschehen, Höchste Schwester", sagte Ardentia Truelane.
Anthelia verabschiedete sich von ihren Hexenschwestern, weil sie um zehn Uhr zur Ruhe gehen wollte.
Als Patricia Straton und ihre Mutter im gemeinsamen Wohnhaus waren, unterhielten sie sich mit Hilfe des Gedankensprechens über die Lage.
"Ich habe angefangen, diesen Jungen zu mögen, Mom", gestand Patricia. Pandora nickte zustimmend und erwiderte:
"Er ist wohl der einzige, der wirklich unbescholten in unseren Kreis geraten ist. Doch du weißt, daß die höchste Schwester genau plant, was sie tut und uns alle gründlich beobachtet. Was mit dem Jungen passiert können wir nicht mehr bestimmen. Man wird ihn suchen, aber nie finden."
"Ja, Mom. Hoffentlich wird das, was die höchste Schwester mit ihm vorhat, sein Leben friedlicher machen als es bisher war."
"Das hoffe ich auch, Patricia", sagte Pandora lautlos, nur für ihre Tochter wahrnehmbar.
Nach der Ausschreibung des Minderjährigen Benjamin Jacob Calder Jr. zur Fahndung am 10.11.1995 wurde seitens der Zentrale in Washington D.C. in Zusammenarbeit mit dem FBI-Büro Seattle Washington, Houston Texas, Jackson Mississippi und New York City ein koordinierter Suchplan in Kraft gesetzt. Alle mit dem zur Fahndung ausgeschriebenen Subjekt in Kontakt vermuteten Personen wurden verhört, zu den Vorlieben und vermuteten Zielen des Gesuchten befragt und daraufhin entsprechende Einsatzkräfte in die möglichen Zielgebiete beordert. Wir, die Mitglieder des FBI-Büros von Jackson Mississippi, suchten die Überreste der Stadt Dropout mit Spürhunden, Hubschraubern mit Starklicht- und Wärmebildkameraunterstützung auf, fanden jedoch nicht die Spur menschlicher Anwesenheit in diesem Gebiet. Inzwischen ist der direkte Tatvorwurf des mehrfachen Mordes an minderjährigen Schulkameraden des Gesuchten entkräftet. Benjamin Jacob Calder Jr. ist durch Zeugenaussagen die Schießerei überlebender Jugendlicher, sowie den ballistischen Befund der bei der gescheiterten Festnahme von Joe Spalding sichergestellten Waffe jedes Verdachts enthoben worden. Dennoch bleibt die Frage nach dem Motiv für die überstürzte Flucht aus Seattle und seinen Verbleib nach der Sichtung in Arizona. Weder seine Eltern, noch seine Freundin Donna Cramer können näheren Aufschluß darüber geben, wo sich der Gesuchte derzeitig aufhält und wo genau er nun hinzukommen versucht. Da es derzeitig jedoch keinen Anhaltspunkt gibt, welcher auf eine gewaltsame Verschleppung des Gesuchten hindeutet, gehen wir im Moment davon aus, daß der Gesuchte unter Schock durch die vereinigten Staaten irrt. Es ist zu vermuten, daß er irgendwann örtlichen Polizeikräften auffällt oder in einem Krankenhaus aufgenommen wird. Sämtliche Kliniken und Hospitäler wurden über Aussehen und Herkunft des Gesuchten informiert und sind gehalten, sofort Meldung zu machen, wenn er in einer dieser medizinischen Einrichtungen auftaucht.
Allein der Umstand, daß es jetzt schon mehr als drei Wochen her ist, daß der Gesuchte letztmalig in polizeilichen Vernehmungsprotokollen erwähnt wurde, stimmt nachdenklich. Vermutungen, der Gesuchte sei zwischenzeitlich ums Leben gekommen, konnten bislang weder bestätigt noch entkräftet werden.
Unsererseits wurde beschlossen, Mr. Benjamin Calder Sr. am 21.11.1995 erneut zu möglichen Absichten seines Sohnes zu vernehmen. Ob daraus ergiebige Anhaltspunkte resultieren, bleibt abzuwarten.
Spezial-Agent Maria Purificación Montes
Die mexikanischstämmige FBI-Agentin seufzte hörbar, als Mr. Calder Senior ihr Büro wieder verlassen hatte. Vor ihr auf dem Tisch stand das Tonbandgerät, mit dem sie das nun schon siebte Verhör aufgezeichnet hatte. Sie entnahm dem Apparat die Bandcasette und reichte diese an einen Büroboten, der sie zum Kopieren weiterreichen sollte. Als sie ganz allein im Büro saß griff sie zum Telefon und rief ihren Kollegen Marchand in New Orleans an. Offiziell gehörte dessen Büro nicht zu den unmittelbar beteiligten Stellen der Behörde, stand jedoch wie alle anderen Niederlassungen der Bundesermittlungsbehörde in Bereitschaft, um den Jungen zu finden, sobald er in ihrem Zuständigkeitsbereich gemeldet wurde. Doch der Anruf, den Maria Montes machte, diente einem anderen Zweck. Als sie sicher war, die abhörsichere Leitung korrekt angewählt zu haben, sagte sie zu Spezialagent Marchand nur:
"Zach, bis jetzt ist der Junge nirgendwo aufgetaucht. Ich fürchte, wenn wir ihn nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen finden finden wir ihn nie mehr."
"Diese Befürchtung habe ich auch, Maria", erwiderte Zachary Marchand. "Wielange hast du heute abend noch Dienst?"
"Bis elf Uhr. Dann werde ich sieben Stunden Pause einlegen, Zach", gab Maria Montes Auskunft.
"Hast du dir dann wohl auch verdient", sagte Marchand mitfühlend klingend.
"Hat sich Mrs. Porter noch mal bei dir gemeldet?" Fragte die Bundesagentin aus Jackson.
"Ich kriege jeden Tag Post von ihr, Maria. Sie würde sich gerne noch mal mit den Eltern von Ben Unterhalten. Ich muß mir da was ausdenken, wie sie die interviewen kann, ohne aufzufallen."
"Ach, du meinst, es könnte dabei noch was herauskommen?"
"Möglicherweise, Maria", erwiderte Marchand.
"Nun, ich denke nicht, daß es was mit dieser Sache in Dropout bei der alten Villa zu tun hat, daß der Junge verschollen ist", vermutete Maria Montes.
"O Maria, ich fürchte, dieses Verschwinden ist eine unmittelbare Folge davon. Zumindest hat die nette alte Lady das sehr glaubhaft in den Raum gestellt. Immerhin ist er verschwunden, als wir uns mehr für sein Erlebnis im Juli interessiert haben. Glaubst du etwa noch an Zufälle, gerade nach allem, was dir um Halloween herum passiert ist?"
"Bestimmt nicht. Ich frage mich nur, was wirklich hinter der ganzen Sache steckt."
"Genau das machen wir auch", erwiderte Marchand. "Allerdings dürfen wir uns nicht zu offen da reinhängen, weil wir zum einen nicht den regulären Sicherheitsbehörden auffallen dürfen, noch denen, welche Benny Calder unfreiwillig belauscht hat. Doch eines sage ich dir jetzt schon, Maria: Wenn der Junge nicht bald gefunden wird, egal ob tot oder lebendig, ist das die Bestätigung, daß er von jenen Leuten aus dem Verkehr gezogen wurde, denen er zugehört hat. Die nette alte Dame hat nämlich anklingen lassen, daß die was mitbekommen haben, daß wir nach ihnen suchen. - Neh, keine Sorge, Maria! Dein Name ist außerhalb unserer kleinen Kaffeerunde nirgendwo erwähnt worden. Nicht einmal die Gentlemen aus New York wissen, was Ms. Silverspoon dir gesagt hat. Immerhin haben wir sie rechtzeitig genug versteckt, um unerwünschte Nachforschungen zu vereiteln."
"Nun gut, Zach! Ich rufe dich dann an, wenn ich was konkretes höre."
"Das ist nett, Maria", sagte der Kollege am anderen Ende der Telefonleitung. Dann endete das Gespräch ruhig und ohne besondere Hast.
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