JÄGER UND GEJAGTE

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Vorige Story

P R O L O G

Seit der Wiederkehr der mächtigen Hexe Anthelia ist einiges in Bewegung geraten. Die Tochter des dunklen Feuers, eine schwarzmagisch geschaffene Kreatur in Gestalt einer verführerisch schönen Frau, hat sich den Wissenschaftler Richard Andrews unterworfen und ihn mit ihrer Magie zu einem tödlichen Gehilfen gemacht, der für sie die Lebenskraft junger Frauen raubt. Weil er dabei Verbrecherbanden in die Quere kommt, jagen diese ihn und töten ihn beinahe. Der US-Amerikanische Zaubereiminister hält die Aktivitäten der dunklen Kreatur unter dem Teppich, zum Unwillen der im Laveau-Institut zur Abwehr dunkler Kräfte arbeitenden Jane Porter, die sehr gut mit der Familie des unterjochten Mannes bekannt ist.

Um der nichtmagischen Welt zu zeigen, daß es sich bei dem fieberhaft gejagten Massenmörder nicht um Richard Andrews gehandelt hat wird ein wandlungsfähiger Mitarbeiter des Zaubereiministers, Ronin Monkhouse, dazu beauftragt, Richard Andrews' Rolle zu spielen und sich von der Bundespolizei FBI als Richard Andrews finden, verhören und verstecken zu lassen.

Anthelias junger Kundschafter in der sogenannten Muggelwelt, Cecil Wellington, hilft der Hexenführerin bei diversen Abwehrmaßnahmen. Ebenso schafft Anthelia es, den diebischen Kobold Picklock unter ihre Kontrolle zu bringen, der für sie Spion und Materialbeschaffer sein soll.

Im Mai versucht der böse Magier Voldemort, über eine Hinterlassenschaft Slytherins, Kontrolle über die bezauberten Gemälde in Hogwarts und darüber hinaus zu bekommen. Doch dieses Vorhaben scheitert. Der von seinen Anhängern dunkler Lord genannte Schwarzmagier ist gezwungen, seine Deckung zu verlassen und der Welt zu zeigen, daß er tatsächlich wiedergekommen ist, weil er Kenntnis von einer Prophezeiung haben will, die sein und Harry Potters Schicksal betrifft. Auch dieses Vorhaben scheitert. Doch Voldemort bekommt Hilfe aus dem Ausland. Der syrische Zauberer Ismael Alcara, Meister der Golemkunde, bietet ihm seine Dienste an und erhält den Auftrag, bis zum Julibeginn einhundert Golems zu schaffen und nach England einzuschmuggeln.

In Amerika sucht und findet Voldemort mögliche Anhänger in vier Zauberern, die wie er eine Erstarkung der reinblütigen Zaubererschaft wollen. Anthelia bekommt Wind davon und nimmt sich diese Leute vor. Als der dunkle Lord dann höchstpersönlich im Sumpfgebiet der Everglades in Florida erscheint, kommt es zur ersten Begegnung zwischen der Führerin der Spinnenschwestern und dem dunklen Lord. In einem heftigen Duell bringen sich beide an den Rand der Niederlage. Weil Anthelia einen magischen Gürtel besitzt, in dem die Abwehrkraft gegen 22 verschiedene Todesarten steckt, unter anderem noch fünf Widerstandszauber gegen den tödlichen Fluch, und weil sie in weiser Voraussicht ihren magischen Avatar vorher schon beschworen hat, geht sie aus dem Duell als knappe Siegerin hervor. Weil sie denkt, daß Voldemort nicht getötet werden kann und auch nicht will, daß Harry Potter dabei stirbt, schenkt sie dem dunklen Magier das Leben und läßt ihn gedemütigt vom Schlachtfeld abziehen. Daß sie damit weitere unschuldige Leben gefährdet weiß sie. Doch sie hat bislang keine Möglichkeit, den Zauberer zu vernichten, der seinen ersten Tod überstehen konnte.

Die FBI-Agentin Maria Montes, die mit Richard Andrews und seiner Gebieterin aneinandergerät, wird auf Befehl von Zaubereiminister Pole gedächtnismodifiziert. Denn er will nicht, daß mehr als die Leute, zu denen Elysius Davidson und Jane Porter vom Laveau-Institut, der muggelstämmige Zauberer Zachary Marchand, der beim FBI arbeitet und er gehören, von der in den Staaten umgehenden Tochter des dunklen Feuers wissen. Bei der Konferenz, wo über die Umtriebe des gefährlichen Massenmörders in der Maske Andrews' diskutiert wird, trifft sie den Kobold Picklock, der das Treffen auskundschaftet und erregt damit auch das Interesse Anthelias, weil die Verbindung zwischen ihr und Picklock abrupt zerstört wird. Ohne es zu ahnen gerät Maria Montes ins Fadenkreuz der Spinnenschwestern.

Voldemort gewinnt durch Alcara eine schlagkräftige Armee von Golems, die er einsetzt, um hunderte von Muggeln anzugreifen. Sowohl die nichtmagische als auch die magische Welt werden von seinen Terroranschlägen erschüttert. Weil es dem Herrn der Todesser nicht gelingt, die ranghöchste Sabberhexe Großbritanniens auf seine Seite zu ziehen, läßt er ihren Heimatwald niederbrennen. Sie kann jedoch entkommen und zwingt den Zauberer Tim Abrahams, den sie als Jungen von sich abhängig gemacht hatte, sie und ihre Verwandten nach Amerika ausfliegen zu lassen, wo Anthelia mit ihr Kontakt aufnimmt.

Maria Montes freut sich auf ihren Urlaub vom anstrengenden und gefährlichen Beruf. Mit ihrem Ehemann Enrique will sie in das Land ihrer Vorfahren reisen.< Doch der Traumurlaub wird zum Alptraum, weil maria Montes und ihr Mann in die Streitigkeiten einer weiteren Tochter des Abgrundes und gewöhnlichen, wenngleich auch gefährlichen Verbrechern gerät. Die Abgrundstochter Itoluhila, die in der nichtmagischen Welt als "Beschützerin" käuflicher Damen agiert, will wissen, welche starke Magie Maria Montes umgibt und entführt Enrique, um mehr darüber zu erfahren. Das wiederum ruft zunächst die Strafverfolgungszauberer Spaniens auf den Plan, von denen einer, Vergilio Fuentes Celestes, mit Maria Kontakt aufnimmt und ihr zusammen mit seiner Schwester Almadora erklärt, wo sie da hineingeraten ist. Als Enrique als Köder Itoluhilas wieder auftaucht, ruft das die dunklen Magier um den freiwillig zum Werwolf gewordenen Hexenmeister Espinado auf den Plan. Sie töten Enrique und verschleppen Maria in die Burg Espinados, wo Maria in eine Schlacht zwischen Espinado, seinen Werwolfbrüdern und der Armee eines Vampirfürsten hineingerät. Da Espinado im Auftrag Voldemorts Itoluhila unterwerfen sollte, spürt diese ihn auf und mischt sich in die Schlacht ein. Maria kann dem magischen Gemetzel nur mit Hilfe ihres weißmagischen Talismans entrinnen und wird von den Geschwistern Fuentes Celestes versteckt und in Zauberschlaf versenkt, weil sie in größter Gefahr schwebt, von den Abgrundstöchtern und anderen dunklen Magiern gefunden und grausam getötet zu werden.

Anthelia schickt den derweil in Frankreich Urlaub machenden Cecil Wellington an die äußere Grenze des Abwehrdoms um Millemerveilles. Doch er kann nicht hinübertreten, gerät gar selbst mitten in eine Invasionstruppe von düsteren Gestalten, die Dunkelheit, Angst und Eiseskälte um sich verbreiten. Die Spinnenschwestern holen ihn sofort aus der Gefahrenzone und bringen ihn zu seinen neuen Eltern zurück. Anthelia erfährt vom Ende Espinados und seiner Getreuen und konzentriert sich nun auf einen Jungen, von dem sie bereits erstaunliche Dinge zu hören bekommen hat. Es ist der magisch hochbegabte Sohn des von Hallitti versklavten Richard Andrews, Julius Andrews.

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Gilda Hornsby wußte, daß ihr Bruder sie lieber gestern als morgen aus diesem verrufenen Haus in der Nähe Sacramentos herausholen wollte. Doch erstens war die Miete hier billig, und die Doktorandin der Sozialwissenschaften hatte hier für ihre Dissertation das ideale Forschungsgebiet. Denn sie wollte das Phänomen der heimlichen Liebschaften wissenschaftlich analysieren und als Grundlage für einen späteren Job als Ausstiegshelferin für leichte Mädchen oder durch Drogen aus der Bahn geworfene Jugendliche ausarbeiten. Ihr Bruder Arnold, der im internationalen Außenhandel tätig war, empfand es wohl als seine Pflicht, die zehn Jahre Jüngere Schwester so gut es ging zu behüten, seitdem ihre Eltern vor sechzehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie erinnerte sich immer wieder daran, wie Arnold sie danach in ein schweizer Privatinternat geschickt hatte, und wie er dafür gesorgt hatte, daß niemand ihr nach der behütenden Schulzeit zu nahe kam. Sie war wie ein weißer Vogel im goldenen Käfig. Wenn sie gleichalte Männer kennenlernte, kam es sehr häufig vor, daß Arnold dazwischenfunkte und tatsächlich Dinge ans Licht förderte, die ihre Verehrer in ein schlechtes Licht rückten. Doch als der zehnte aussichtsreiche Kandidat, Nigel Morehead, sich ihretwegen mit Arnolds Leibwächtern eine heftige Schlägerei geliefert hatte und ein für allemal genug von Gilda hatte, hatte diese ihrem Bruder klar und deutlich gesagt, daß sie von nun an alleine klarzukommen habe und er sich nicht einbilden solle, sie gehöre ihm, und er könne mit ihr umspringen wie ihm gerade zu Mute sei.

Deshalb lebte sie nun in Kalifornien. Deshalb studierte sie die Soziologie. Deshalb faszinierte sie die zwielichtige Welt von käuflichem Sex und außerehlichen Affären. Zwar hatte Arnold sie irgendwann noch einmal versucht, zu sich nach Philadelphia zurückzuholen und sie in seiner Firma unterzubringen. Doch Gilda hatte darauf hingewiesen, daß sie ihren eigenen Weg gehen wolle. Merkwürdigerweise hatte Arnold sich damit einstweilen abgefunden. Denn was sie nicht wußte: Ihr Bruder hatte, als sie wegen Recherchen an der Universität war, mehrere Kameras installieren lassen. Gilda hatte, um den Schein zu wahren, sie gehöre in dieses Milieu, mehrere Mitstudenten engagiert, so zu tun, als seien sie ihre anrüchigen Kunden. Nebenher führte Gilda Interviews mit ständigen Hausbewohnerinnen, wenngleich sie ihnen nicht auf die Nase band, was sie hier wirklich tat. Das problem war nur, daß Gilda irgendwann auch unangenehme Anrufe von Männern und Frauen erhielt, die sehr anzüglich wurden. Sie änderte ihre Telefonnummer und beriet sich mit einem Anwalt, was sie tun könne, wenn derlei noch weiter geschah. Der Anwalt meinte einmal, sie solle sich besser eine konventionelle Unterkunft suchen. Doch ihre Doktorarbeit war gerade in der entscheidenden Phase, und so hatte Gilda es abgelehnt, sich eine neue Wohnung zu suchen. Arnold, der wieder einmal versuchte, sie zur Rückkehr nach Pennsylvania zu überreden, hatte ihr mehrere tausend Dollar angeboten, um sich zumindest einen Leibwächter halten zu können. Doch Gilda hatte genug von ihrem überbehütenden, bevormundenden Bruder und hatte ihm vorgeschwindelt, bereits einige Personenschützer zu beschäftigen. Doch die würden ihr nicht gegen weitere Telefonbelästigungen helfen können. Was sie nicht mitbekam war, daß ihr Bruder mehrere Mitarbeiter seiner Firma als angebliche Liebespaare einquartiert hatte. Denn einige der Wohnungen wurden von dubiosen Agenturen vermietet, die ihr Geschäft mit Ehebruch machten und ihre Wohnungen nächteweise an verbotene Liebespaare vermittelten.

Es war am Abend des 29. Juli 1996. Gilda hatte mit Fred und Kevin, zwei unterdurchschnittlich aussehenden Kommilitonen, vereinbart, ihre Freier zu mimen. Sie lief in diesem Haus als Ninette und spielte eventuellen Zuhörern im Flur gerne die verruchte, frankokanadische Blondine vor. Zu diesem Zweck behandelte sie jede Woche ihr naturbraunes Haar mit Wasserstoffperoxydlösungen, um einen fast weißblonden Haarton zu behalten. Wenn dann ihre Mitstudenten von ihr empfangen worden waren, zogen sie sich ins Arbeitszimmer zurück, während über eine Stereoanlage Liebesspielgeräusche abgespielt wurden, um die Nachbarn zu unterhalten, die dergleichen als Live-Darbietung brachten. Mal oben, mal unten, Nebenan links oder schräg gegenüber rechts. Kevin, der gerade zu Gast war und mit ihr im Internet surfte, um noch einige Details zu seinem Fachgebiet herauszufinden, fragte sie einmal, ob sie nicht mal Lust hätte, ohne Bezahlung solche Spiele auszuprobieren. Dabei schaute er sie jedoch so jungenhaft grinsend an, daß sie nur zurückgrinsen konnte.

"Sicher möchte ich das mal ausprobieren, aber nicht unter dem Pseudonym und nicht in dieser Wohnung, Kevin", sagte sie. Sie konnte sich vorstellen das der Mitstudent mit dem Gedanken spielte, die Rolle konkret in allen delikaten Details durchzuspielen. Doch trotz der behüteten Kindheit und Jugend hatte sie gelernt, sich sofort und unmißverständlich zu äußern, wenn ihr was nicht gefiel oder sie es grundweg ablehnte.

"Nun, wenn du rauskriegen willst, warum manche Mädels sich freiwillig drauf einlassen, müßtest du das ja auch mal selbst ...", setzte Kevin an, als es an der Tür läutete.

"Ui, will sich da wer beschweren?" Fragte Kevin im Flüsterton. Gilda verzog ihr Gesicht zu einer abgeklärten Miene.

"Hier beschwert sich keiner. Nirgendwo hast du so viel Toleranz unter den Nachbarn, Kevin. Aber ich warte auch auf keinen. Fred will erst in einer Stunde anrücken, um die Show zu Ende zu bringen."

"Vielleicht kann er es nicht erwarten?" Fragte Kevin verschmitzt grinsend. Gilda wollte wohl was sagen, als es wieder läutete.

"Vielleicht ist das ja dieser Killer, der vor mehreren Monaten die Szene aufgemischt hat", feixte Kevin.

"Der ist tot", knurrte Gilda, nachdem ihr für einen winzigen Moment die Schreckensblässe im Gesicht gestanden hatte. "Der ist in Las Vegas umgebracht worden."

"Ja, dann kuck mal nach, wer's ist!" Forderte Kevin seine Kommilitonin auf. Diese wartete jedoch, bis es erneut läutete. Dann schlich sie ins Wohnzimmer, würgte die CD mit den lustvollen Geräuschen ab und wartete weitere fünfzig Sekunden, bis sie mit leicht zerstruweltem und mit einigen Tropfen Wasser auf schweißnass getrimmtem Blondschopf an der Tür war und durch den Spion lugte.

Draußen stand ein ziemlich alter Mann in einem schicken Anzug. Was mochte der wohl von ihr wollen. Sie kannte ihn nicht, wenngleich sie vermeinte, das Gesicht irgendwoher zu kennen. Sie fragte künstlich auf angestrengt machend:

"Hallo, wer da?"

"Mr. Jones der Name. Sind Sie Mademoiselle Ninette?"

"Oui", erwiderte Gilda Hornsby.

"Nun, ich hörte von einem Mr. Miller, der sie wohl vor zwei Tagen besucht hat, Sie könnten mir bei einer wichtigen Sache helfen", erwiderte der ziemlich alte Mann vor der Tür halblaut. Gilda runzelte die Stirn. Was wurde das denn jetzt? Dann kam ihr die Idee, der Alte da vor der Tür sollte ein Lockvogel sein, entweder um sie der Polizei auszuliefern, wegen gewerblicher Unzucht, oder daß dieser Mensch da dachte, weil sie mal von exklusiven Kunden gesprochen hatte, ein Mitglied in ihrem privaten Club werden könnte. Aber der Mann war garantiert schon über siebzig Jahre alt. Oder er hatte sich gut auf alt geschminkt und sich alle Haare bis auf wenige abrasiert. Sie sagte:

"Isch bin gerade ziemlisch beschäftiegt, Monsieur Jones. Kommen Sie später wieder, s'il vous plaît!"

"Ich fürchte, das kann ich nicht. Weil das Anligen, daß ich habe, muß in den nächsten zwanzig Minuten erledigt werden. Sagen Sie ... Ihrem ... Besucher, Sie müßten etwas wichtiges erledigen!"

"Pardon, Monsieur. Aber das werde isch nischt tün", blieb Gilda auf der französischen Aussprache.

Der ältere Mann vor der Tür konnte die Sprache der großen Nation wohl sehr gut und fragte sie im pariser Dialekt, ob es ihr recht sei, wenn statt ihm die Polizei zu ihr käme, um den Verbleib seiner Enkeltochter zu klären. Gilda, die in der Schweiz mit Französisch bis zur Halskrause vollgestopft worden war, konterte schnell, daß sie keine Ahnung habe, worum es ginge. Dann meinte sie, sie würde ihren Besucher nicht eher fortschicken, als daß Mr. Jones weit genug entfernt sei, um diesen nicht beim Verlassen zu sehen. Mr. Jones legte seine Stirn in noch tiefere Falten und nickte dann, soweit sie es durch den Spion sehen konnte. Dann machte er Kehrt und ging davon, bis sie seinen kahlen, leicht vertrockneten Hinterkopf nicht mehr sehen konnte. Sie überlegte, was das jetzt sollte. Welchen Mr. Miller hatte sie denn hiergehabt, der angeblich die Enkelin von diesem Typen gesehen hatte. Das ging absolut nicht mit rechten Dingen zu. Sie wollte zurück ins Arbeitszimmer, als sie unmißverständliche Laute aus dem kleinen Büroraum hörte. Kevin war offenbar dabei, mit einer Frau intim zu werden. Wie ging denn das an? Sie lauschte an der Tür.

"Ey, Mädel, du willst es aber wissen", ächzte Kevin gerade, als eine Frauenstimme lustvoll seufzte:

"Sicher, Kevin. Bleib schön bei mir. Jaha! wunderbar ist das!"

"Ich träume doch nicht etwa", dachte Gilda und klopfte an die Tür. "Hallo, Kevin, welchen Scherz ziehst du denn da mit mir ab?!" Rief sie. Dann versuchte sie, die Tür zu öffnen. Doch sie war zu und bombenfest verrammelt wie fest eingemauert. Sie sprang zur Wohnungstür und zog den Schlüssel ab. An dem Ring mit den zehn Schlüsseln war auch einer für das Arbeitszimmer, ein Sicherheitsschlüssel. Also konnte Kevin unmöglich die Tür von Innen zugesperrt haben. Sie lief noch einmal zum Arbeitszimmer, steckte den entsprechenden Schlüssel ins Schloß und versuchte ihn zu drehen. Doch auch der Schließzylinder rührte sich nicht.

"Und du hattest noch nie?" Keuchte die fremde Frauenstimme von drinnen nun in wilder Bewegung. Kevin brachte nur ein "Woher denn auch" heraus.

"Das kann es doch nicht geben, Kevin!" Rief Gilda. Doch von drinnen kam keine Reaktion. Das war eindeutig ein Streich, den ihr der Bursche spielte. Der Alte vor der Tür sollte sie ablenken, damit er in Ruhe was aufbauen konnte, um seine eigene Pseudosex-Show abzuziehen. Doch er hatte nichts verdächtiges mitbringen können, weil er nur in schlichter Sommerkleidung angerückt war, ohne Tasche oder Rucksack. Außerdem, wie hatte er die Tür so bombenfest zusperren können? Sie holte mit ihrem rechten Fuß aus und trat gegen die Tür. Bumm! Es knallte wie an eine festgenagelte Holzverschalung. Doch die Tür blieb zu. Gilda rief noch einmal hinein, was das nun sollte. Doch Kevin war offenbar sehr heftig beschäftigt. Zweimal versuchte sie, die Tür einzutreten. Doch es gelang nicht. Na ja, das sollte ja auch nicht so einfach klappen, wenn sie da im Arbeitszimmer ihre heimlichen Aufzeichnungen versteckt hatte, die bloß keinem anderen in die Hände fallen sollten. Sie lauschte und versuchte, die ganze hörbare Wollust dort drinnen als Tonband oder CD zu entlarven. Doch die beiden im Arbeitszimmer bewegten sich, nicht nur nach links und rechts, sondern auch mal zur Tür hin. Es war echt.

"Wie ist dieses Weib hier reingekommen?" Fragte sich Gilda und eilte zum Telefon. Sie wollte die Polizei rufen und eine Einbrecherin melden. Doch das Telefon war tot. Sie griff ihre Handtasche und suchte nach dem Mobiltelefon. Wo war das Ding? Dann fiel ihr ein, daß sie es am Nachmittag im Arbeitszimmer an das Ladegerät gehängt hatte. Sie stampfte mit dem Fuß auf. Somit blieb ihr nur der Weg vor die Tür. Warum reagierten die beiden im Arbeitszimmer nicht auf sie? Nun gut, dann würden sie auch nicht mitkriegen, wie sie sich absetzte. Schnell schlüpfte sie in ihre Straßenschuhe und entriegelte die Tür. Doch Kaum hatte sie sie geöffnet, warf sich ein klapperdürr wirkendes Geschöpf von draußen auf sie und presste ihr eine Hand wie ein Lederhandschuh auf den Mund. Mit unbändiger Brutalität wurde sie in den Flur zurückgeworfen, während der Eindringling die Tür von innen schloß und sie kurz am Türschloß berührte. Gilda wollte schon um Hilfe schreien, als sie das eingefallen wirkende Gesicht des merkwürdigen Mr. Jones erkannte, das nun im schummerigen Licht der rotbeschirmten Deckenlampe gespenstisch glühte. Ein weiterer Schreck durchfuhr sie, als ihr einfiel, woher sie das Gesicht des für sein hohes Alter so erschreckend starken Mannes kannte: Es war eine um Jahrzehnte älter aussehende Version des Gesichtes des Prostituiertenmörders, der sich als Richard Andrews ausgegeben hatte. Durch den Schreck und die Erkenntnis versäumte sie die letzte Gelegenheit, einen Hilfeschrei auszustoßen. Mr. Jones oder Mr. Andrews packte sie mit knochendünnen Fingern, in denen jedoch die Kraft von stählernen Zangen steckte und riss sie hoch. Mit der anderen Hand hielt er ihr wieder den Mund zu.

"Na, Püppchen! Hast die Leute lange genug verschaukelt", krächzte der Eindringling mit feistem Triumphgrinsen. "Heute ist dein großes Spiel, Baby. Wie ich höre ist Lolo schon mit deinem Kumpel zu Gange. Dann wollen wir nicht länger warten."

Gilda versuchte, den Fremden ins Gesicht zu schlagen. Doch er bekam sie mit der Schnelligkeit und Stärke einer zubeißenden Kobra zu fassen und drehte ihr einen Arm auf den Rücken. Sie versuchte, ihm das Knie in den Unterleib zu rammen. Doch er sprang wie eine Ballerina hoch, und der Stoß ging ins Leere.

"Satz mit X, Blondy!" Lachte der Eindringling und drehte Gilda herum und bugsierte sie mit Brachialgewalt in ihr Schlafzimmer. Was er nicht wußte, weil sie es nicht wußte: Im Flur und im Schlafzimmer waren kleine aber aufnahmefähige Videokameras befestigt, die mit der Türklingel verbunden waren und nach dem ersten Läuten eine volle Stunde lang aufnahmen, was sich in diesen Räumen tat. Außerdem hatte Arnold Hornsby auch kleine Mikrofone, Wanzen, unter dem Bett und dem Sofa im Wohnzimmer anbringen lassen. Ein etwa ein Kilometer weit entfernter Mitarbeiter fing die verschlüsselten Signale der Spionagegeräte auf. So sah dieser Mitarbeiter gerade, wie Gilda Hornsby ins Schlafzimmer gestoßen und ohne großes Vorspiel aus ihrer aufreizenden Kleidung gezerrt wurde. Dann war der gnadenlose, greisenhaft aussehende Gewalttäter auch schon über seinem Opfer und erzwang sich körperlichen Kontakt mit ihm.

Gilda wollte schreien, als dieses Monster sie in seinen übermenschlich starken Armen hielt. Doch als sie die Augen ihres Peinigers sah, verstummte sie. Ein junges, energiereiches Leuchten glomm ihr aus diesen gierigen Augen entgegen. Sie begannen, golden zu schimmern und lähmten erst ihren Körper und dann ihren Willen. Sie fühlte, wie der grausame Eindringling sie immer schwächer machte, je heftiger er sich an ihr verging.

Im Arbeitszimmer hatte Kevin das Gefühl, sämtliche erotischen Träume der letzten zehn Jahre würden mit einem Schlag Wirklichkeit. Zuerst hatte er seinen Augen nicht getraut, als er einen feinen Nebelschleier aus dem Nichts heraus entstehen sah. Doch als sie dann dastand, völlig unbekleidet, die langen, roten Haare verführerisch um ihre Blößen streichen lassend, ihn einladend anlächelte und mit weit geöffneten Armen lockte, wußte er, seine Traumfrau war wirklich erschienen. In der Schule hatten ihn die Jungs immer damit aufgezogen, daß er nur im Traum abgehen würde und die rothaarige Wunderbraut, die er oft in seinen leidenschaftlichen Träumen haben durfte, bereits was besseres fand, wenn ein weiterer Junge zufällig vorbeikam. Doch jetzt war sie da. Sie sah zwar nicht so aus, wie die, die ihn in seinen heißesten Träumen besuchte, aber die langen roten Haare und die überragende Figur dieser Frau ließen ihn schnell vergessen, wie sie eigentlich aussehen sollte. Als sie und er dann auf dem Teppichboden des engen Zimmers zusammentrafen und sich am allernächsten kamen, vergaß Kevin Gilda, seine Umwelt und das diese Wunderfrau da eigentlich nicht hätte hiersein dürfen. Dann, etwa keine fünf Minuten später, vergaß er auch sich und alles, was ihn ausmachte in einem Strudel aus Feuer, in den er hineinstürzte, ohne Angst doch erkennend, daß er da nie wieder herauskommen würde. Seine erste und letzte Geliebte im Leben erhob sich und atmete schwer ein und aus. Ja, selber nach der Kraft junger Leute zu jagen war schön. Warum sollte sie sich zügeln, wie ihre Schwester Itoluhila es vor einigen Tagen noch von ihr verlangt hatte? Die wußte doch nicht, was sie plante. Sie mußte nur noch fünfzig fremde Leben sammeln und ihren bisherigen Abhängigen restlos in sich aufnehmen, wenn sie gleichwertigen oder besseren Ersatz gefunden hatte. Dann konnte sie die Wächterseele im Stein der großen Erdmutter bezwingen, sie austreiben oder wie alles andre lebendige in ihren Lebenskrug einlagern. Die Kraft des Steines würde ihre eigenen Kräfte um das zehnfache verstärken. Sie würde auch die Gewalt über die Elementarkräfte der Erde und deren Geschöpfe erlangen und konnte dann vor allem mit einem einzigen Gedanken jede ihrer schlafenden Schwestern wecken. Ja, und vielleicht konnte sie dann auch die Letzte, die jüngste aber auch gefährlichste von ihnen, unterwerfen. Fünfzig Leben, Körperliche Essenz und Seelenenergie, soviel mußte sie noch sammeln. Dieser junge Mann hier hatte ihr wieder einmal eine große Menge Kraft gespendet, die sie wohlig und pulsierend in sich wirken fühlte. Ja, und Richard, ihr nicht mehr lange zu haltender Abhängiger, hatte es auch bald geschafft, diese allzu neugierige Frau restlos zu erschöpfen. Das hatte sie nun davon, ihrer Umwelt die käufliche Dame vorzuspielen. Bald würde ihre Lebensenergie in ihrem Lebenskrug funkeln. Dann wären es nur noch achtundvierzig weitere Leben, die sie sich einverleiben und ansammeln mußte, um den Lebenskrug so voll zu haben, daß sein Inhalt ausreichte, sie für den magischen Kampf um den Stein aus dem Vorreich zu stärken.

Sie war gerade mit Kevin fertig, als es einen lauten Knall von der Wohnungstür her gab. Hallitti sah irritiert auf die Tür und sah die kraftvoll pulsierenden Lebensauren junger, starker Männer durch die geschlossene Arbeitszimmertür scheinen. Es waren fünf Stück.

"Weg von ihr!" Brüllte einer. Dann lärmte es wie bei einem wilden Kampf. Hallitti zerfloss zu einer Nebelwolke und strich unter der Tür hindurch. Im Wohnzimmer waren gerade zwei muskulöse Männer, wunderbarer Nachschlag für die unersättliche Tochter des dunklen Feuers.

"Ey, der alte Knacker ist stärker als ... Aarrrg!"

"Knall ihn ab!" Brüllte ein anderer Mann.

"Das wird er bleiben lassen", fauchte Hallitti, die unvermittelt feste Form angenommen hatte und mit zwei raschen Armbewegungen die zwei Männer im Wohnzimmer bei Seite drückte wie Vorhänge vor einem Durchgang. Doch da knallte es schon. Hallitti fühlte den Schmerz, den der Entzug von Lebenskraft ihr bereitete. Zwar hatte sie Richard kein weiteres Medaillon geben können, weil die entsprechenden Mondzyklen noch nicht vollendet waren, doch die sympathetische Verbindung zu seinem Körper und Geist war immer noch stark. Denn ein Teil seiner Seele ruhte bereits in ihr selbst. Würde er jetzt sterben, würde der ihm gehörende Rest sich verflüchtigen, und sie selbst würde nur noch wenige Tage Zeit haben, Ersatz für ihn zu finden oder in den magischen Tiefschlaf zurückzukehren, aus dem er sie geweckt hatte. Sie sprang wutschnaubend ins Schlafzimmer und packte den Mann, der gerade mit einer rauchenden Pistole auf Richards Kopf zielte, nachdem er ihm bereits eine Kugel in den linken Lungenflügel gejagt hatte. Sie riss den Schützen herum, wobei dessen Waffenarm auskugelte und warf den vor Schmerz und Schreck schreienden Mann zu Boden. Einer der anderen drehte sich zu ihr um. Sie sah ihn mit ihren goldenen Augen an und schickte ihm sogleich den Gedankenbefehl, sich ruhig zu verhalten. Dann schlug sie den dritten mann mit der rechten Faust an die Schläfe, daß er KO zu Boden stürzte.

"Ey, wer ist die denn?" Brüllte einer der Männer aus dem Wohnzimmer. Dann sprang er ins Schlafzimmer hinein und feuerte mehrere Kugeln auf Hallitti ab. Jeder Schuß war tödlich - für jeden normalen Menschen. Die Tochter des dunklen Feuers verlor jedoch pro Kugel nur eines von mehreren gesammelten Leben aus ihrem Körper, das des von ihr gerade zu Tode beglückten Studenten zuerst. Fünf Schüsse, fünf Leben. Sie flog herum und ergriff den Pistolenschützen beim Hals. Ein häßliches Knacken, dann fiel der Mann einfach um. Hallitti schlug den zweiten Muskelmann, der sie gerade packen wollte, mit einem Ellenbogenstoß bewußtlos. Dann kümmerte sie sich um Richard, der gerade röchelnd den letzten Atemzug tat. Mit einer Mischung aus Wut und Verachtung stieß sie aus ihrem Unterleib eine orangerote, leuchtende Substanz aus, die sich nebelartig ausbreitete. Richard wurde in dieser freigemachten Essenz gebadet, während Hallitti ihre Hand auf die Schußwunde legte und sich auf das Geschoss und die Heilung konzentrierte. Dann war die Kugel verschwunden, und die Verletzung heilte aus. Bei ihr ging es Ähnlich. Die noch in ihr steckenden Geschosse traten aus, und die Wunden, die sie gemacht hatten, heilten innerhalb einer Sekunde restlos zu.

"Acht Leben für den Gewinn von zweien", fauchte sie. Richard war bewußtlos geworden. Nun wirkte er noch älter als vor dem Einbruch in diese Wohnung.

"Ich hole dich gleich zu mir, wenn ich mit diesen Banditen hier abgerechnet habe", sprach Hallitti zu Richard, der sie im Moment wohl nicht hören konnte. Dann griff sie einen der am Boden Liegenden und verschwand mit ihm. Es dauerte nur drei Sekunden, bis sie wieder auftauchte. Dann griff sie sich den zweiten und verschwand erneut ohne jedes Geräusch im Nichts. So ging es weiter, bis alle lästigen Störenfriede fortgeschafft waren. Dann griff sie Richard Andrews und verschwand mit ihm. In dem Moment heulte eine Polizeisirene draußen vor dem Haus, und noch eine. Was nun zurückblieb war ein halber Liter von Richards Blut, eine Hoffnungsvolle Soziologiestudentin, die zwischen Leben und Tod schwebte und ein durch eine dunkle Verkehrung körperlicher Liebe zu Tode gebrachter junger Mann, der im nächsten Jahr auch einen Doktortitel erwerben wollte.

Die Polizei stürmte durch die aufgesprengte Wohnungstür und fand die Spuren eines heftigen Kampfes und die beiden verbliebenen Opfer des Einbruchs. Einer der Beamten drückte kurz auf den Abspielknopf des CD-Spielers und ließ ein wildes Lustgestöhn aus der Wohnung hinausdröhnen.

"Ey, mach wieder aus!" Herrschte ein anderer Polizist seinen Kollegen an und drückte den Hauptschalter der Anlage auf "Aus".

"Was sollte di Nummer denn?" Fragte ein dritter Polizist und deutete auf die Stereoanlage.

"'ne Alibi-CD, Mac. Wenn du nicht willst, daß jemand mitkriegt, was du wirklich machst, spiel was ab, was so auffällig klingt, daß andere lieber weghören wollen oder denken sollen, du wärest gerade am Flughafen, während du in Wirklichkeit bei einem Kumpel oder einer Geliebten bist."

"Ey, Jock, ich denke, da sollten wir besser nicht drüber ablästern", sagte ein weiterer Cop, der gerade im Schlafzimmer war. "Die Frau hier auf dem Bett ist wohl tot, und auf dem Boden ist 'ne große Blutlache."

"Okay, Leute! Das volle Programm!" Befahl der älteste und Ranghöchste der Truppe, ein Lieutenant der Polizei von Sacramento.

Als die Spurensicherung und der diensthabende Gerichtsmediziner angerückt waren, hatte es sich schon im ganzen Haus herumgesprochen, daß Mademoiselle Ninette wohl zu niemandem mehr nett sein würde. Lana, eine echte Dame aus dem Gewerbe, hatte die Lage gepeilt, ob ihre Nachbarin, Kollegin und Konkurrentin Nyx vom zwölften Stock des verruchten Hortes verbotener Liebschaften gerade zu tun hatte. Obwohl ihr diese Frau unheimlich war, was durchaus deren Absicht und Einkommensgrundlage war, klopfte sie leise, als sie von drinnen keine Geräusche hören konnte. Als sie eine halbe Minute gewartet hatte, wollte Lana schon den Rückzug antreten, da klickte es mehrmals im Sicherheitsschloß der Tür, und das geisterhaft fahle Gesicht Nyxs blickte durch die Türöffnung. Ein schwerer Dunst von Duftölen und Parfüm umfing Lana wie ein warmes Handtuch, das sich ihr aufs Gesicht legte.

"Komm rein, Lana", zischte Nyx. Wieso die sich ausgerechnet so nannte, kapierte Lana bis heute nicht. Aber sie selbst hatte sich ihren Namen ja auch deshalb ausgesucht, damit andere nicht drauf kamen, wie sie in echt hieß und wo sie wohnte. Lana ging durch die Tür hinein in eine tiefschwarz ausgekleidete Diele. Die Tür fiel alleine ins Schloß. Lana war schon einmal hier gewesen, weil es sie nicht losgelassen hatte, was man über diese Dame so erzählte. Sie bot Gruselsex an und als Höhepunkt eine Vampirhochzeit. Deshalb sah sie auch so aus mit ihrem schwarzen Seidenkleid mit rotem Kragen, dem bleichen Gesicht, den etwas eingefallen wirkenden Augen und, ja, den spitzen weißen Eckzähnen. Lana sah den Spiegel im Flur. Doch er zeigte kein Spiegelbild. Weder von ihr noch von Nyx. Dann erkannte sie den Trick. Irgendwer mußte ein Bild gemacht haben, wie die zu spiegelnde Einrichtung aussah und dieses Bild mit Glas so überdeckt haben, daß es die Einrichtung zu spiegeln schien, aber jeden anderen nicht.

"Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört, Lady Nyx", sagte Lana ruhig. Die schwarzgelockte Dirne sprach so leise wie in einer Kirche. Doch die schweren Teppiche und die pechschwarzen Wandteppiche mit den roten Ornamenten, die wie Blutstropfen aussahen schluckten ihre Worte so gut, daß sie sie auch hätte rufen können.

"Nein, du hast nicht gestört. Lana", seufzte Nyx. Für Lana klang es verängstigt, als sei die Vampirdarstellerin von irgendwas oder irgendwem heftig schockiert worden.

"Ninette ist tot. Irgendwer ist wohl bei ihr rein und hat die umgebracht, zusammen mit 'nem Kunden", wisperte Lana. Sie blickte kurz nach oben, wo kleine, rote Glühbirnchen wie Augen eines Dämons auf sie herabschienen.

"Ninette ist tot? Also war sie ihr Opfer", stöhnte Nyx gespenstisch und sah noch verängstigter aus. Lana war sich sicher, wäre das Gesicht der Gruseldirne nicht schon so gebleicht worden, hätte es jetzt wohl alle Farbe verloren.

"Hallo, wessen Opfer?" Versetzte Lana nun gleichfalls verängstigt. Wollte diese Frau ihr da jetzt eine Horrorgeschichte von einem anderen Vampir, beziehungsweise einer anderen Vampirin erzählen? Tatsächlich kam Lady Nyx mit etwas dergleichen herüber.

"Es war eine der unennbaren Töchter. Sie hat ihren Sklaven in dieses Haus geschickt und kam dann selbst. Ich fühlte ihre Nähe", flüsterte Lady Nyx. Dann zeigte sie Lana ein Gänsehaut garantierendes Vampirlächeln und meinte: "Kommt gut, nicht war?"

"Mann, wo lernt man das, so echt rüberzukommen?" Fragte Lana immer noch verunsichert.

"Das verrate ich dir nicht, Mädel. Das ist wie bei einem Zauberer. Der darf seine Tricks ja auch nicht verraten", erwiderte Nyx und grinste dämonisch. Dann sah sie Lana an. Diese meinte, im Blick der leicht geröteten Augen zu versinken. Mit Ohren und Geist hörte sie sie flüstern: "Sei ein sehr feines, braves Mädchen, und komm wieder zu mir, wenn du weißt, was die Polizei weiß! Geh nun wieder hinaus und vergiss, daß du mich besucht hast! Aber komme wieder, wenn du weißt, was die Polizei weiß!" Lana fühlte eine merkwürdige Schwere in sich hochsteigen. Sie torkelte wie betrunken zur Tür zurück, öffnete sie und verließ den rabenschwarzen Flur mit den höllenaugenroten Lämpchen an der Decke. Wie schlafwandelnd ging Lana zurück zum Aufzug und fuhr hinunter. Als sie wieder vor ihrem Arbeitsbereich stand, hatte sie vergessen, Lady Nyx im zwölften Stock besucht zu haben.

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Arnold Hornsby, achtunddreißig, athletisch, braunhaarig, intelligent, trug gerne Joggingsachen, wenn er in seinem Penthaus auf dem Dach des Golden-Hope-Bank-Turmes weilte. In der Tiefgarage stand ein gepanzerter Cadillac, und zu ihm hinauf konnte nur, wer seine Fingerabdrücke nehmen und sich als Zutrittsberechtigter hatte eintragen lassen. Das waren außer ihm nur vier Männer, von denen einer gerade in Sacramento auf seine Schwester Gilda aufpaßte, ganz ohne deren Wissen. Die Fenster und Türen waren Kugel- und Einbruchssicher, und sein Butler war gleichzeitig sein Leibwächter, ein früherer Profikiller, der wußte, wie man jemanden hinterrücks ausknipsen konnte. Zumindest zahlte er ihm jeden Monat soviel Geld und hatte bei einem anderen BerufsmörderClub bereits die Hinrichtung des Butlers in Auftrag gegeben, sollte ihm, arnold Hornsby, etwas ganz abscheulich bitterböses zustoßen. Das hatte er Drecksel auch schon mehrfach durch einen großen Blumenstrauß mitgeteilt, damit ihm eben nichts ganz bitterböses passierte.

Arnold Hornsby hatte mal wieder einen langen Arbeitstag hinter sich gebracht. Nun, einige Leute hätten das wohl als einen weiteren Tag krimineller Machenschaften bezeichnet. Aber diese Leute nahm er erst zur Kenntnis, wenn er mit ihnen Geschäfte machen oder ihren Tod veranlassen mußte. Heute war nichts dergleichen angefallen. Seine Außenhandelsfirma brummte wie ein gut bevölkerter Bienenstock, und mit don Giuseppe Rafaelli hatte er sich zu einem guten Essen in dessen gut gehendem Ristorante in der Nähe der Freiheitshalle getroffen. Er hatte geniale Umsetze verbuchen können und den Rückschlag, den ihm ein Baulöwe namens Carlotti noch um die Weihnachtszeit bereitet hatte, doch noch behoben. Zwar hatte er ursprünglich vorgehabt, Carlotti endgültig in seinen Betrieb zu übernehmen, doch seine "Unterhändler" waren auf mysteriöse Weise nicht ans Ziel gelangt und hatten vergessen, sich wieder bei ihm zu melden. Mit Rafaelli war er dann etwas sorgfältiger umgegangen, weil er meinte, er habe eine gewisse Wut auf ihn verspürt. Doch als sich rausstellte, daß der Capo der Rafaellis nicht einmal was davon mitbekommen hatte, daß seinem Freund und Schützling Carlotti ein entsprechendes Angebot gemacht werden sollte, war er mit dem Gentleman aus Catania besser zusammengekommen als ursprünglich erhofft. Das Resultat davon war an diesem Abend ein praller Bauch und eine zehn meilen gegen die Windrichtung wahrnehmbare Knoblauchfahne. Daß er sich nur mit einem halben Liter Wein begnügt hatte und vor dem Essen bereits gut Olivenöl eingeworfen hatte, hatte ihm zumindest noch einen relativ klaren Kopf erhalten. Jetzt lümmelte er sich auf seinem Büffelledersofa herum und schaltete sich mit der Fernbedienung durch alle hundert Programme seines Satellitenfernsehers. Um ein Uhr wollte er sich hinlegen, wenn sein Magen etwas mehr verdaut hatte und er statt Völle eine angenehme Bettschwere fühlte. Drecksel, der am abend seinem Kollegen Willes den Auftrag gegeben hatte, auf Mr. Hornsby aufzupassen, saß in der Ecke des großen Wohnzimmers und spielte Schach gegen den Computer.

"Hach, meine Wette habe ich gewonnen, was den Zehnkampf angeht", jubelte Arnold Hornsby, als er die Zusammenfassung des Olympiatages auf einem der vielen Sportsender ansah.

"Ach sie meinen die mit dem Deutschen, wie weit der heute kommt, Sir?" Fragte Drecksel.

"Yep, Drecksel", sagte Hornsby und streckte die Beine aus, um sie auf den kleinen Eichenholztisch zu legen. Da klang Beethovens "Ode an die Freude" aus seiner neunten Symphonie durch den Raum. Das war das Telefon. Drecksel ging an das schnurlose Endgerät und nahm den Hörer ab.

"Ja, bitte?" Meldete er sich. Dann erstarrte er. "Sir, Ihre Schwester Gilda wird angegriffen. Browning ist mit den Jungs schon zu ihr unterwegs. Die Bilder und Tonaufzeichnungen werden hierhergeschickt."

Hornsby riss die Beine vom Tisch und stieß sich aus dem Sofa heraus. Da kam Drecksel schon mit dem Telefon und gab es ihm.

"Ja, Browning, was ist mit Gil?" Sprach Hornsby aufgeregt in den Hörer.

"Boss, das glauben Sie mir nie. Dieser Andrews-Imitator ist bei der reingegangen. Die hat wieder mal diese Nummer mit dem angeblichen Kunden abgezogen und ihre Liebeslust-Alibi-CD laufen lassen. Dann läutete es, und sie sprach mit einem merkwürdigen Mr. Jones draußen. Mist daß wir keine Kamera vor der Tür hinhängen konnten. Aber das wäre ja aufgefallen. Jedenfalls fing dieser Kevin, den sie eingeladen hat an, in echt rumzumachen. Wir wissen nicht mit wem, haben auf den Kameras keine andere Frau draufgehabt. Jedenfalls ist Gil dann zur Tür .. und da hat dieser Bastard sie sich gekrallt und ist jetzt im Schlafzimmer mit der. Wir sind gleich bei ihr und putzen den weg. Sollen wir Gil dann da rausholen?"

"Auf jeden Fall, Chuck. Wenn es sein muß verpaßt ihr die Betäubungsspritze und bringt die mir heute Nacht noch rüber nach Philly. Die "Tinkerbell" steht doch noch im Hangar oder?"

"Aber sicher, Boss", kam Chuck Brownings Antwort.

"Na dann macht den Kerl alle und holt Gilda sofort aus diesem Misthaus raus!" Gab Hornsby seine Anweisungen. Angst war in ihm erwacht. Kalte, nackte Angst. Seine Schwester wurde angegriffen, nicht von irgendwem, sondern von diesem Killer, der seit März mehrere Dutzend Frauen umgebracht und sich nicht einmal von einer Armee Cops hatte beeindrucken lassen. Rafaelli hatte ihm im Mai erzählt, seine Firma sei auch durch diesen Kerl geschädigt worden, doch sein Schadensversicherungsagent habe gesagt, die Sache zu regeln, was dann angeblich auch passiert sei.

"Den hätten wir erst gar nicht erkannt, weil der irgendwie aussieht wie mit einem Fuß im Grab, Boss. Das kann einen ja echt gruseln und ... wir sind da. Ich muß jetzt schlußmachen. Der ist gleich Geschichte."

"Chuck, pass ja auf! Der könnte wen bei sich haben", rief Hornsby noch ins Telefon. Doch Browning hatte schon aufgelegt.

"Drecksel, sage Rosario, sie möchte das Gästezimmer herrichten! Meine Schwester wird morgen hoffentlich hier bei uns einziehen."

"Sir, dieser Kerl ist gut. Der hat eine ganze Truppe Cops und Leute aus meiner Branche überlebt. Wenn Browning den nicht gleich mit dem ersten Schuß ...", erwiderte Drecksel. Hornsby funkelte ihn sehr gefährlich an.

"Sag es bloß nicht! Denke es nicht einmal. Gilda ist morgen hier bei uns! Sie ist morgen hier bei uns!"

"Okay, Boss, ich sage es Rosario morgen früh. Früher wird die Tincabell ja nicht reinkommen, oder?"

"Gut, genehmigt", erwiderte Arnold Hornsby. Innerlich war er sehr aufgewühlt. Daß er jemanden aus seinem Personal richtig anschrie kam so selten vor. Oft genügte ein drohender Unterton, um Anweisungen unmißverständlich und unbestreitbar zu erteilen. Jede weitere Minute, die nun verstrich, war eine Folter für den sonst so abgebrühten Mann, der keine Probleme damit hatte, mal den einen oder den anderen aus der Welt schupsen zu lassen. Doch wenn es um seine Gilda ging, die immer so unvoreingenommen an alles ranging und dabei nie recht bedachte, wie gefährlich die Welt werden konnte, dann war er nur der große Bruder, der aufpassen wollte, daß ihr niemand was tat.

Fünf Minuten später klingelte wieder das Telefon. Hornsby ging ran. Es war sein persönlicher Bilderservice, der die Kamerabilder erhalten hatte und sie nun weiterschicken wollte. Hornsby schrie fast, er wolle die Bilder sehen. Seine Techniker bestätigten und sagten ihm, er könne sein Privatfernsehen einschalten. Das tat er dann auch, indem er einen scheinbar handelsüblichen Dekoder für Bezahlprogramme einschaltete und mit der Fernbedienung auf den Basiskanal dafür umschaltete, um sich die Bilder anzusehen und die Tonaufzeichnungen anzuhören. Als er fünf Minuten davon gesehen hatte, schwand alles Blut aus seinem Gesicht. Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Er saß nur da, benommen, gelähmt und gepeinigt vor Angst. Als er dann noch sah, wie seine Leute stürmten und dann das Bild auf einmal heftig flackerte, er aber deutlich noch eine Frauenstimme hören konnte, übersprang sein sonstiges Herz aus Stein einen Schlag und schien dann in seiner Brust zu zerspringen. Er hörte Schüsse und dann, als das Bild sich wieder stabilisierte, sah er seine leblose Schwester auf ihrem Bett liegen, wie sie mit ausdruckslosen Augen nach oben starrte, immer flacher atmend. Er griff zum Telefon und versuchte, Browning zu erreichen. Doch die Automatenstimme sagte ihm, daß der gewünschte Gesprächsteilnehmer nicht zu erreichen sei. Dann kam die Polizei und holte Gilda ab.

"Ich habe es gewußt!" Brüllte Hornsby unvermittelt los. "Ich habe es die ganze Zeit gewußt, daß sie das umbringt!!!!" Sein Gebrüll ging in eine einzige Flennerei über. Zwischen Tränen der Trauer und Wut heulte er wie ein Wolf in der Falle: "Gildaaaaa!!!! Ich bring das Schwein um!! Ich bringe diesen Bastard um!!!"- Ich ... ich ... mach den fertig!!!"

Rosario, die chilenische Haushälterin Hornsbys, eilte in das Wohnzimmer, wo Drecksel sie abfing und auf sie einflüsterte, während ihr gemeinsamer Dienstherr wild umhertobte, brüllte, heulte, schniefte und krakehlte. Auf dem Fernsehschirm stand ein leeres, zerwühltes Bett, der letzte stumme Zeuge einer Tragödie, die diesen sonst so abgebrühten Mann um das wertvollste gebracht hatte, was er im Leben besessen hatte, und das ihm gerade durch hemmungslose Gewalt, die er sonst selbst als gutes Mittel sah, unwiederbringlich entrissen worden war. Er hatte Gildas Umzug nach Sacramento nur deshalb befürwortet, weil er sie weit genug von seinen Feinden haben wollte. Dennoch hatte er sie immer beschützen wollen, weil er, ja er, wußte, welche Gangster in dieser Welt herumliefen und sich an wehrlose Frauen heranmachten, um sie selbst oder mit ihrer Hilfe andere zu schädigen. Ja, und Gilda hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen, weil sie wissen wollte, wie die Welt tickte, weil sie meinte, eines Tages eine barmherzige Samariterin werden zu müssen und dafür genug von dem Bösen unter der Sonne und dem Mond sehen zu müssen. Jetzt hatte das Böse sie geholt, in Gestalt dieses Mistkerls, dieses Mannes, der wie eine irgendwie blitzgealterte Ausgabe dieses Richard Andrews oder wie der hieß aussah. Doch wer war diese Frau, dieses Weib, mit dem dieser Junge Kevin da in echt rumgemacht hatte, wo Gilda im Wohnzimmer gestanden hatte? Er hatte sie wohl kurz gesehen, nackt und rothaarig, bevor die Kameras nur noch Schneegestöber gezeigt hatten. Als die ersten Wogen aus Wut, Trauer und Hass über ihn hinweggegangen waren, sagte Hornsby zu Drecksel:

"Drecksel, finde alles raus, was es über den Typen gibt. Wieso spielt der immer noch diesen Londoner Wissenschaftler? Haben die beiden vielleicht was gemeinsam? Wenn ja, wo wohnen die Verwandten von dem. Die vom FBI werden mir den Original rausrücken, wenn die nicht wollen, daß dem seine Familie dran glauben muß, wenn der Typ es nicht selbst ist, der da herumläuft.

"Machen wir, Sir", sagte Drecksel. Rosario sah ihn besorgt an.

"Seņor Hornsby, möchten Sie etwas trinken oder ein Schlafmittel?"

"Nein!" Bellte Hornsby und bohrte seinen Blick so dolchartig in die dunkelbraunen Augen der an die vierzig Jahre alten Frau in einem blauen Kittel, daß diese wie davon gerammt zurückprallte und fast gegen die Wand polterte.

"Sir, ich geh gleich ins Internet und suche nach Daten über diesen Kerl", sagte Drecksel. Hornsby nickte und griff nach dem Telefon.

"Ich jage die anderen raus, wenn ich Browning nicht mehr kriege. Offenbar haben die ihn und seine Leute kaltgemacht, dieser Typ und diese rothaarige Schlampe." Dann wurde Hornsby plötzlich sehr beherrscht, bevor er mehrere Telefongespräche führte. Es kam dabei heraus, daß Brownings Wagen wohl vor dem Haus Gildas stand. Aber mehr war nicht über ihn herauszukriegen. Dann kam der Anruf der Polizei aus Sacramento. Man hatte seine Privatnummer herausgefunden. Er ließ sich wieder in diese erschütterte, trauernde Haltung hineinfallen, als würde er erst jetzt erfahren, daß seine Schwester tot sei. Dann sagte er natürlich zu, sie schnellstmöglich zu identifizieren. Das bot sich in Sofern auch an, weil er sie dann gleich heimholen konnte. Doch andererseits wollte er sich diesen Polizisten nicht zu lange ausliefern. Zwar hatte noch niemand, der es der Polizei sagen würde mitbekommen, daß er nicht nur ein gesetzestreuer Bürger war, auch Rosario wußte nichts von seinen unkonventionellen Geschäften, aber wenn die Katze zu lange aus dem Haus war würden die Mäuse eine Rauschende Ballnacht auf allen Tischen des Hauses feiern. So gab er die Anweisung, am nächsten Morgen den hier stationierten Privatjet "Wendy Darling" für eine Reise nach Kalifornien klarzumachen.

"Sagen Sie auch in Sacramento bescheid, daß die "Tinkerbell" auch bald wieder hier landen soll. Vielleicht verkaufe ich die sogar, wenn mir nicht was besseres einfällt."

"Alles klar, Sir", sagte Drecksel dienstbeflissen. Er wußte, daß er jetzt besonders gut auf seinen Arbeitgeber aufpassen mußte. Denn draußen in der Wildnis lauerten die Kojoten, die ihn töten wollten und die Geier, die ihn dann beerben wollten.

Hornsby blieb wach, bis der Zeitpunkt für den Flug gekommen war. Bis dahin hatte er selbst recherchiert, um seinen Geist wieder in die richtige Spur zu zwingen. So wußte er, daß Richard Andrews, der als Ausgangsperson für diesen Massenmörder herhalten mußte, aus London stammte, dort bis August 1995 zusammen mit seiner Frau Martha Andrews geborene Holder und dem einzigen Sohn Julius die Winston-Churchill-Straße 13 bewohnt hatte, daß seine Frau mit dem gemeinsamen Sohn nach einer sehr raschen Scheidungsprozedur nach Paris umgezogen war und daß der Mann ein ziemlich wichtiger Mensch in der Chemieindustrie gewesen war, bis er erst nach New York gekommen war und dann nach Detroit umsiedelte. Das FBI vermutete, daß bereits in New York der Austausch des echten gegen den Doppelgänger stattgefunden hatte. Was Hornsby verwunderte war die Schullaufbahn des Jungen. Bis zu seinem elften Lebensjahr war er ein eher unterdurchschnittlicher, aber dennoch sehr aufgeweckter Schüler gewesen. Dann wurde er auf eine Schule namens Theodor-Beaufort geschickt. Offenbar war es da nicht so gelaufen wie sein Vater oder seine Mutter es sich vorgestellt hatten. Über Grund und Bestandteile der Scheidung konnte Hornsby nichts erfahren. Aber wo Mutter und Sohn jetzt wohnten, das wußte er: Rue de Liberation in Paris, Hausnummer ebenfalls 13 wie in London.

"Bevor wir mit der "Wendy Darling" losfliegen, Drecksel: Wen kennen wir in Frankreich?"

"Wir persönlich nicht. Aber wir haben Freunde im Westen, San Rafael um genau zu sein, Sir. Monsieur Lucian", sagte Drecksel. Hornsby entsann sich noch eines Namens.

"Ist der König von Bayoo eigentlich wieder im Geschäft, Drecksel oder hat ihn die Kiste mit dem frechen Peruaner das Kontor komplett zerbröselt?"

"Sie wollen doch nicht im Ernst mit Laroche einen Handel ausmachen, Sir", wunderte sich Drecksel. Hornsby schüttelte den Kopf.

"Natürlich nicht, Drecksel. Ich wollte nur wissen, ob dieser Neuweltfranzose wieder fest im Sattel sitzt oder ich den nicht im Weg rumstehen habe."

"Soweit ich orientiert bin hat er die Peruaner mit Mann und Maus versenkt, Sir", sagte Drecksel nicht ohne ein gewisses Grinsen. Doch dann erkannte er, daß sein Chef wohl andere Nachrichten lieber gehört hätte.

"Dann will ich hoffen, daß dieser Froschfresser nicht selbst an irgendwelchen Drähten zieht und die Familie von diesem Andrews am Ende nicht bei ihm im Kasten landet. Der könnte die als Fürsprecher beim Finanzamt benutzen, um seine Verluste abzusetzen", sagte Hornsby. Dann betrachtete er Drecksel noch einmal. Der Butler trug den gleichen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Seidenkrawatte wie Hornsby. So konnten sie gehen. Rosario übergab Hornsby noch eine Warmhaltebox mit etwas für Mittags, da sie sich nicht auf das übliche Fertigfutter irgendeiner Lebensmittelzulieferfirma einlassen wollten. Dann ging es im gepanzerten Cadillac zum Flughafen um genau um acht Uhr morgens mit dem Learjet "Wendy Darling", offizielle Bezeichnung Lear 2355 DL in Richtung Südwesten abzuheben, Kurs, Sacramento, Kalifornien.

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Es war dunkel. Doch das war ihr nur recht. Ihre Augen konnten selbst in mond- und Sternenloser Nacht alles so scharf sehen wie bei klarem Sonnenlicht. Aber gerade dieses wäre für sie tödlich gewesen. Sie hatte noch bis zwei Uhr Nachts einen Kunden bedient, der die Anregung sichtlich genossen hatte, von einer Vampirin liebkost zu werden. Manchmal fragte sich Nyx, ob manche Kunden sich ihr richtig hingeben würden, wenn sie wüßten, daß sie es wahrhaftig mit einer Vampirin zu tun hatten. Innerlich amüsierte sie es immer wieder, wenn Rotblütige sie inbrünstig baten, ihnen noch einmal in den Hals zu beißen und daran zu saugen. So bekam sie neben ihrem hohen Hurenlohn auch noch jede Nacht einen bis zwei Liter Blut, ohne dafür umherziehen und Menschen überfallen zu müssen. Sicher, sie hatte den Nichtmagischen weißmachen müssen, sie leide an einer schweren Lichtallergie, weshalb sie gerade mit der "Vampirnummer" so herumkommen wolle. Da sie wie andere modern eingestellte Hellmondler auch mit dem Computerzeug der Nichtmagier umgehen konnte, wenngleich ihr das elektronische Geflimmer immer ein wildes Summen in den Kopf setzte und die Nähe schnell wechselwirkender Stromkreise ein nerviges Prickeln auf der bleichen Haut verursachte, gewann sie diesem Vielspeicherzeug doch einiges ab. So wußte sie, daß es unter den Nichtmagiern Krankheiten gab, die ohne Magie und Vampirismus eine schwere Unverträglichkeit von Sonnenlicht bewirkten. So hatte sie sich wunderbar darauf herausreden können, nur nachts arbeiten zu können und es auch bald geschafft, ihren offiziellen Zuhälter mit ihrem hypnotischen Blick so gut einzuwickeln, daß er ihr von dem, was sie ihm eigentlich geben mußte, über drei Viertel beließ. Sie hatte auch schon einmal mit dem Gedanken gespielt, ihn bei Vollmond zu "heiraten", ihn durch gegenseitiges Trinken des Blutes zu einem Artgenossen zu machen. Doch seitdem sie diesen komischen Roman "Dracula" gelesen hatte, war ihr ein Helfer, der nicht im Sonnenlicht verbrannte sehr wichtig, um ihre Angelegenheiten zu klären. Nyx, oder auch Lady Nyx von Shady Rock, war die einzige ihres Clans, die unter den nichtmagischen Rotblütern lebte und auch einer gewissen, wenn vielleicht teilweise anstrengenden Arbeit nachging. Doch diese Nacht hatte sie der größte Schrecken heimgesucht, den ein Wesen ihrer Art ergreifen konnte. Die Schreckliche, eine der neun Töchter der Unnennbaren, der größten Feindin ihrer Art, war in ihrem Haus auf Beute ausgegangen. So wie sie es fast körperlich verspürt hatte, war sie sehr hungrig gewesen und auch nicht alleine. Sie wußte es seit einiger Zeit, daß eine der neun verbotenen Töchter auf diesem Erdteil herumstrolchte. Andere Vampire hatten es mitbekommen, aber sie selbst wußte es auch von rotblütigen Freundinnen und war auf der Hut. Nun war sie zu ihrem Nachrichtenbaum unterwegs. Dort wohnten vier Fledermäuse, die sie dann, wenn es wichtig war, mit geschriebenen Nachrichten an Artgenossen oder Menschenfreunde versenden konnte. Die Eulen flüchteten vor ihnen und ließen sich nicht mit dem erworbenen Bannzauber bändigen, den die erfahrenen ihrer Art auch auf Menschen richten konnten. Lady Nyx war mit ihren dreihundert Jahren eine mitteljunge Hellmondvampirin. Das bedeutete, ihr Gatte Haemophilos hatte sie bei klarem Vollmond geehelicht. Das war, wo sie gerade dreißig Rotblüterjahre vollendet hatte und als Hexe für den damaligen Zaubererrat gearbeitet hatte. ihren Vampirnamen hatte sie bekommen, als sie die Verwandlung gespürt hatte. Von ihrem früheren Leben als Griselda Hollingsworth, einer Schwester der unheilvollen Clytemnestra, war danach nichts mehr als die Zauberfertigkeiten übriggeblieben.

Von den vier Fledermäusen war gerade nur eine da, das Männchen Kerbflügel, eine sehr zuverlässige Postfledermaus. Ein kurzes, nur für Kerbflügels Ohren vernehmbares Pfeifen genügte, und die Fledermaus flatterte Nyx auf die bleiche, gut gepflegte Hand.

"So, Kleiner Freund, bring mir das sofort zu Daianira! Los!" Sie band dem Fledermäuserich einen Umschlag mit einem Zettel um, den sie mit einer Mischung ihres weißen Eigenbluts und etwas Tollkirschensaft beschrieben hatte, daß man es nur bei völliger Dunkelheit oder mit einem entsprechenden Sehwerkzeug lesen konnte. Kerbflügel quiekte einmal knapp unterhalb der oberen Hörgrenze eines Normalmenschen und sauste dann mit schnellen Flügelschlägen los, daß man meinen könnte, die Fledermaus wäre auf der Flucht. Daianira würde wohl kurz vor Sonnenaufgang die Nachricht bekommen, wußte Nyx. An und für sich wäre sie gerne appariert. Das und das Fliegen auf einem Besen vermißte sie von ihrer früheren Zeit. Doch das Apparieren war für einen Vampir noch anstrengender als für einen Zauberer, und nur die unbeherrschten Dunkelmondler, die bei Neumond zu Vampiren geworden waren, taten sich diese Tortur an, weil sie keine echten Schmerzen mehr empfinden konnten. Daher wurden die von der Vollmondfraktion immer als Bleichmondler oder Weichmondler bezeichnet, obwohl sie dafür mit den Menschen besser zurechtkamen und sich besser verbergen und zurückhalten konnten als die Dunkelmondler, die wie immer hungrige Raubtiere waren. Die Vampire, die zwischen diesen extremen Mondphasen entstanden hatten von beiden Vor- und Nachteilen was, jenach Mondwachstum in die eine oder andere Richtung auspendelnd.

Nyx wollte schon den Rückflug antreten und entspannte sich für ihre transformative Trance, als es laut krachte, viel zu laut für die superempfindlichen Ohren der Vampirin. Deshalb stand sie vor Schmerz und Schreck gelähmt da, als zwei Hexen auftauchten, eine in dunkelblau und die andere in einem dunkelvioletten Kostüm.

"Ach, Mylady Nyx. Ich dachte mir, daß ich euch noch antreffen könnte, nachdem was ich von Schwester Pandora erfuhr", grüßte die Hexe in Dunkelblau, Lady Daianira.

"Ich habe gerade eine fledermaus zu euch geschickt, Mylady Daianira", erwiderte Nyx, die sich wegen des Knalls nicht hatte verwandeln können.

"Das habe ich mir gedacht und wollte Euren braven Posttieren die Arbeit abnehmen", erwiderte Daianira. Da kam auch schon Kerbflügel zurückgeflattert und landete auf der Schulter der Führerin der Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern Nordamerikas. Diese lachte und nahm den Umschlag vom Rücken des Flugsäugetieres. Sie öffnete ihn und hielt den Zettel in die Dunkelheit. In einem schwachen blaßlila Leuchten erschien der Text des Briefes. Die Hexenlady nickte und meinte:

"Und dieses Mädchen hat die Hure nur gespielt, um mehr über den Alltag dieses Gewerbes zu erfahren, Mylady Nyx?"

"Nun, es war offenkundig, daß sie immer nur dieselben Kunden hatte und ich manchmal die Laute ihrer angeblichen Arbeit hören konnte, immer dieselben. Einem Menschen würde es wohl nicht auffallen, aber uns Nachtwesen sind die Klänge wichtiger als der sichtbare Schein. Offenbar hat die verbotene Tochter das ausgenutzt und sich daran ergötzt, wie ihr Handlanger sie mit Gewalt und nicht mit Geld gefügig machen mußte. Vielleicht war ihr aber auch nach den Leben unverdorbener Frauen und Mädchen. Ich habe nach dem Besuch meiner echten Kollegin erfahren, daß sich jene, die mir das kalte Grausen bereitet hat, selbst an einem jungen Mann gelabt hat, wohl einem, der in die Täuschung einbezogen war. Doch offenbar hat man sie gestört, denn das Mädchen hat wohl noch solange gelebt, bis die Polizei eintraf."

"Wenn du es sagst, Nyx", meinte die zweite Hexe, Schwester Pandora Straton, eine Beraterin Lady Daianiras in überlieferten Angelegenheiten. Nyx fletschte ihre Zähne.

"Bringt ihr bitte bei, daß ich eine Lady alter Ordnung bin, Lady Daianira! Es wäre mir sonst ein leichtes, sie zu züchtigen", knurrte die Vampirin. Pandora Straton sah ein, daß es nicht im Sinne ihrer Sache und auch nicht ihrer Gesundheit war, sich mit einer gekränkten Vampirlady anzulegen und entschuldigte sich mit Verbeugung.

"Nun, Lady Nyx, ich danke euch, daß Ihr mich sofort unterrichtet habt. Euer geflügelter Freund mag nun wohl weiter jagen und am Morgen an diesem Baum seinen wohlverdienten Schlaf halten können."

"Nun, ich kehre nun zurück. Diese Nacht wird sich mir niemand mehr anbieten, denke ich. Die Preise die ich nehmen muß, um in Ruhe meine Mahlzeiten zu nehmen, halten doch viele davon ab, sich mir hinzugeben. Aber ist schön, williges Blut zu trinken als wehrhaftes. Eine angenehme Nacht noch!" Dann verfiel Nyx in ihre transformative Trance, in der sie sich in eine große Fledermaus mit grauweißem Fell im Gesicht verwandelte und mit starken Schwüngen ihrer Schwingen davonflog.

"Nun, Pandora, sie ist noch da."

"Dies habe ich nicht bezweifelt, Mylady. Die Kindstode haben das zu deutlich verraten. Offenbar sucht sie nach neuer Lebenskraft. Ob dieser Mann, den sie sich gefügig gemacht hat noch lange so weitermachen kann?"

"Nun, das werden wir in einer Woche auf der Vollversammlung aller nordamerikanischen Schwestern klären. Deine Tochter wird uns hoffentlich auch die Ehre geben", sagte Daianira.

"Sicher, Mylady", sagte Pandora Straton. "Ich hoffe nur, der Emporkömmling richtet derweil kein Blutbad in England an."

"Lady Ursina ist zuversichtlich, daß der Emporkömmling ihr nichts anhaben wird. Aber wir kennen Ursina. Sie ist zu sehr von sich überzeugt. Was hältst du eigentlich von diesem Gerücht, eine neue Schwesternschaft sei entstanden und suche unter den Unseren nach Getreuen?"

"Solange es nur ein Gerücht ist, Mylady, kann ich dazu nichts sagen, weil ich dann unterschiedliche Meinungen haben müßte", sagte Pandora Straton.

"Ursina deutete an, das eine unserer englischen Schwestern in diesem Land starb, obwohl weder sie noch ich davon irgendwas wußten, was sie vorhatte. Das du mir ergeben bist weiß ich, Pandora, auch wenn du dir viele Hoffnungen auf Sardonias Erbschaft gemacht hast. Aber was ist mit Patricia, deiner Tochter?"

"Was soll mit ihr sein, Mylady?" Fragte Pandora und schloß ihren Geist sorgfältig.

"Sie könnte dem neuen sehr zugetan sein. Wenn es eine neue Schwesternschaft gibt, die unsere Ziele für unerreichbar erklärt oder schneller voranschreiten will könnte sie dieser neuen Gruppe zugetan sein. Falls sowas passiert, und sei es nur im Ansatz so, will ich dies wissen, Pandora. Merke es dir sehr gut! Meine Vormachtstellung wurde mir nicht geschenkt. Ich möchte sie sehr gerne noch sehr lange behalten."

"Das ist verständlich", heuchelte Pandora. Dann fragte sie schnell:

"Was sollen wir Schwestern in der Angelegenheit dieser Tochter des Abgrundes tun?"

"Nichts, bevor nicht die Liga zur Abwehr der dunklen Künste loswütet. Wir wollen nicht auffallen, Pandora. Sage das auch deiner Tochter Patricia! Also dann, Schwester",

"Also dann, Mylady", sagte Pandora und hob die rechte Hand zum Abschiedsgruß. "Semper sorores!"

"Semper Sorores", erwiderte Daianira und disapparierte. Dann durfte auch Pandora Straton disapparieren, so wolte es der Umgangskodex der schweigsamen Schwestern, vor allem der Nachtfraktion.

Pandora apparierte in der pompösen Empfangshalle einer herrschaftlichen Villa aus der Zeit der Großgrundbesitzer des frühen 19. Jahrhunderts. Leise stieg sie die breite Marmortreppe zum ersten Stock hinauf, wo einer der großen Salons lag. Hier schnarchte jemand ziemlich laut. Das konnte unmöglich ihre Tochter Patricia sein.

"Schwester Patricia?" Mentiloquierte sie ihrer Tochter. Diese antwortete auf die gleiche Weise:

"Moment, Mutter und Schwester, bin gleich bei dir. Weck Delila nicht auf, die hat zu viel vom Ortszeitanpassungstrank erwischt!"

"Wo bist du genau?" Fragte Pandora.

"in unserer Bibliothek", mentiloquierte Patricia Straton.

"Okay, ich komme zu dir", schickte Pandora zurück. Sie verließ den Salon so leise sie konnte und schlich über zwei weitere Treppen zu einem Raum, der früher einmal ein Trophäenraum gewesen war, bis die von Daianira sehr ungern erwartete neue Schwesternschaft der Spinne um die wiederverkörperte Nichte Sardonias beschlossen hatte, die Büffelköpfe, Grizzlybärenfelle und ähnliche Jagdprotzereien des letzten Besitzers, Stanley Daggers, auszulagern. Stattdessen waren hier nun fünf große Bücherschränke so angeordnet, daß jedes darin befindliche Buch bequem erreicht werden konnte und die Bibliothek bei Bedarf auf ein Hundertstel der Originalgröße eingeschrumpft werden konnte. Hier saß eine junge Hexe mit dunkelbraunem Haar und studierte ein altes Buch, daß sie über viele dunkle Umwege bekommen hatten. Es beschrieb das Wesen der alten Zauberkreaturen, wie sie entstanden waren und wo ihre Macht und ihre Schwachpunkte lagen, sofern es jemand überlebt hatte, dies nachzuprüfen oder dann noch in der Lage war, es niederzuschreiben.

"Hallo, Mutter und Schwester", sagte die junge Hexe nun mit körperlicher Stimme. Pandora Straton grüßte zurück.

"Suchst du nach einem Weg, den Abhängigen Hallittis zu finden oder zu befreien?"

"Mich läßt es nicht los, daß es keine Möglichkeit geben soll, diesen Menschen zu helfen. Stell dir vor, es wäre Ross!"

"Das möchte ich mir nicht vorstellen, weder bei deinem Vater Tyr oder deinem Bruder Ross", sagte Pandora.

"Nun, Zauberer haben eine gewisse Immunität gegen die Töchter des Abgrundes, weil diese nur mit schlummernder Magie zurechtkommen, Mutter und Schwester. Hier drin steht sogar, daß sie nicht beliebig den Standort wechseln können, sobald sie Körperkontakt mit einem fremdmagischen Gegenstand oder einem Zauberer haben. Sie können nur mit nichtmagischen Dingen und Menschen verschwinden, weil ihre Ortsversetzungsmagie anders aufgebaut wird als beim Apparieren."

"Will sagen, wenn wir diesem Biest einen mit starken Zauberkräften behexten Strick oder eine entsprechende Kette anlegen ...", meinte Pandora. Doch Patricia Straton schüttelte den Kopf.

"Das würde nur solange gehen, bis sie die fremde Magie aufheben können, und bei gut genährten Abgrundstöchtern kann das sehr schnell gehen. Hier steht lediglich, daß sie damit nicht beliebig den Standort wechseln können."

"Was heißt das im Klartext, Patricia?" Fragte Pandora, die nun die förmliche Anrede unter den Schwestern des Ordens vergaß.

"Daß sie nicht einfach irgendwo auftauchen und sich einen Zauberer unter den Arm klemmen und wieder verschwinden kann", sagte Patricia. "Die höchste Schwester meinte einmal, wir sollten dies bedenken. Allerdings gibt es eine Möglichkeit für Hallitti oder die anderen acht, die Barriere der wirksamen Zauberkräfte eines Magiers zu durchdringen: Findet sie einen Verwandten des Zauberers, in dessen Leib keine weckbaren Zauberkräfte geborgen sind, so kann sie sich den Zauberer unterwerfen, wenn sie den Menschen ohne erweckbare Zauberkräfte zeitgleich mit der Unterwerfung in seine Lebensessenz auflöst und diese sofort zugeführt bekommt. Nun, sie hat einen Abhängigen ohne eigene Zauberkräfte."

"Ja, und ihr könnte daran gelegen sein, den damit verwandten Zauberer zu kriegen, damit sie durch den mehr Macht bekommt", sagte Pandora.

"Das ist zu befürchten, Mutter und Schwester. Ich frage mich ernsthaft, warum diese Jane Porter, die ja alles andre als unwissend oder dumm ist, den Sohn von Richard Andrews jetzt nach Amerika herüberholt. Hallitti könnte ihn in paris oder Millemerveilles nicht erreichen, und irgendwann, so fies das klingt, wäre Richard Andrews nicht mehr am Leben zu halten. Also warum kommt der Junge heute her?"

"Woher weißt du, ob er heute herkommt?" Fragte Pandora.

"Ardentia hat es mir erzählt, die es über Umwege von Leuten aus dem Ministerium weiß. Jane Porter will ihn mit seiner Mutter bei diesem Zachary Marchand unterbringen. Der hat zwar gute Schutzzauber gegen Einbrecher aller Art. Aber ich denke, gegen mächtige Fernflüche ist das Haus nicht gesichert. Will Jane Porter den Jungen vielleicht als Köder hinstellen?"

"Das denke ich nicht, Schwester und Tochter. Es ist wohl eher so, daß Mrs. Porter ein schlechtes Gewissen hat, daß sie auf Grund dieses Ignoranten Pole nicht erzählen darf, was mit Richard Andrews passiert ist. Womöglich hofft sie darauf, daß jemand von außen ihr hilft. Du hast doch den Bericht gelesen, den die höchste Schwester aus Frankreich mitgebracht hat."

"Nein, Mutter und Schwester. Mit dem Französischen hatte ich's nicht. Aber sie hat doch erzählt, daß dieser Junge zusammen mit anderen vollgestaltliche Patroni gerufen hat, um dieses Dementorenpack aus Millemerveilles zu jagen. Das heißt, er ist ziemlich gut. Na ja, gut, wissen wir ja auch schon seit einiger Zeit. Die höchste Schwester denkt, wir sollten den Jungen gut beobachten, da wo es geht in seiner Nähe sein und da wo es nicht geht die Wege absichern, die er nehmen könnte, wenn er hier ankommt."

"Wann kommt er denn an?" Fragte Pandora Straton. Als wenn ihre Tochter auf dieses Stichwort gewartet hätte präsentierte sie ein Pergamentstück.

"Schwester Donata konnte es aus dem Büro des Auslandsverkehrsmittelbüros nehmen und kopieren. Dem Schrieb nach hat Jane Porter für heute, den 30. Juli 1996 zwischen fünf und sieben Uhr morgens Ostküstenzeit die Benutzung der magischen Reisesphäre zwischen New Orleans und Paris beantragt und genehmigt bekommen. Offenbar holt sie den Jungen in dieser Zeit herüber, zusammen mit seiner Muggelmutter. Das ist ja auch der einzige Weg, den sie nehmen darf, wenn sie nicht in einem Flugzeug herkommen will."

"Soso, Schwester und Tochter. Diesen Angaben nach müßten wir also schon in drei Stunden in der Nähe des Ausgangskreises sein. Würde das nicht auffallen?"

"Die höchste Schwester wird die Ankunft beobachten. Sie kann sich unauffällig und schnell bewegen."

"Wann will sie dort hin?" Fragte Pandora.

"Wenn sie es will", sagte Patricia gehässig. Pandora rümpfte die Nase, mußte dann aber amüsiert grinsen. Ihre Tochter revanchierte sich für ähnliche Situationen, wo sie mit derlei antworten abgefertigt wurde "Weil das so ist", "Weil das immer schon so war", "Das gehört sich halt so" und so weiter.

"Sollte es uns gelingen, den Jungen unsererseits als Köder für Hallitti zu benutzen, wie stellen wir sicher, daß wir ihn nicht verlieren?" Fragte Pandora. Ihre Tochter war in Zauberkunst besser gewesen als sie in ihrer Schulmädchenzeit.

"Tja, Mutter, ich denke, wir müssen sämtliche Animagi unserer Schwesternschaft darauf ansetzen und vor allem unsere Kontakte pflegen. Aber ich möchte mich nicht aufspielen, die Sachen zu beschließen, die die höchste Schwester beschließen möchte."

"Schön, daß du es einsiehst", sagte Pandora Straton.

So saßen sie noch etwas in der kleinen aber bereits gut bestückten Bibliothek und überlegten, wie sie die Tochter des dunklen Feuers bändigen oder gar vernichten konnten. Kurz nach sechs Uhr erschien Anthelia persönlich. Die führerin der Spinnenschwestern trug heute wieder Rosa. Ihr strohblonder Haarschopf glänzte von Haarerfrischungstonikum, und ihre bleiche, sommersprossige Haut hatte sie etwas rosiger geschminkt.

"Nachdem ich mich nun so gut an diesen Körper gewöhnt habe und er die Natur, die ich gewöhnt bin durchlebt, kann ich auch einige Abwandlungen an ihm vornehmen, sofern sie rückkgängig zu machen sind. Aber ich muß aufbrechen. Ein höchst wichtiger Gast unseres Landes trifft gleich in New Orleans ein."

"Was ist an diesem Jungen so wichtig, außer daß seine Zauberkräfte so hoch entwickelt sind und sein Vater gerade der Mordgehilfe einer Zauberkreatur ist?" Fragte Patricia Straton vorsichtig.

"Eben genau die beiden Tatsachen, Schwester Patricia. Seine Zauberkräfte und die Verwandtschaft mit dem Abhängigen der Abgrundstochter werden diese dazu verleiten, sich seiner zu bemächtigen. Vielleicht nicht heute, nicht morgen aber dann, wenn sie es tut, will ich es nicht nur wissen, wann, sondern auch wo, wie und daß wir ihr dann auf der Spur bleiben können. So, und jetzt werde ich warten, bis er eintrifft", sagte Anthelia und disapparierte. Pandora hatte es nicht gewagt, ihr die Notizen von dieser Nacht zu geben und sie noch einmal darauf anzusprechen, daß Lady Daianira schon sehr mißtrauisch war.

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Hubert Laroche war nicht dafür bekannt, sich die Wunden länger als nötig zu lecken. Obwohl dieser Peruaner Lorca ihn sehr übel drangsaliert hatte war es ihm doch gelungen, den Krieg gegen diesen südamerikanischen Raufbolden für sich zu entscheiden. Den Rest von Lorcas Imperium teilten südamerikanische Konkurrenten unter sich auf wie das Fell des erlegten Bären. Das war weit weg von ihm, und er, Laroche, war durch die unerhörte Reiberei mit diesem Rauschgifthändler sogar im Ansehen gestiegen, nicht nur bei seinen Partnern und Konkurrenten, sondern auch bei der Polizei. Denn trotz der heftigen Kämpfe hatte die ihm nichts aber auch gar nichts nachweisen können. Sie hatten sogar versucht, ihm Versicherungsbetrug und Steuerhinterziehung anzuhängen. Doch seine Bücher waren erstklassig geführt. Und was die Versicherungen für die ramponierten Gebäude anging, so hatte niemand herausfinden können, daß es was anderes als Unfälle waren, die zur Zerstörung der Objekte geführt hatten. Das einzige, was ihn richtig belastete waren die Banken, die die Versicherungssummen als Sicherheiten für laufende Kredite einbehalten wollten. An und für sich hätte er alles ohne Bankkredite weiterführen können, doch dann hätte er sich fragen lassen müssen, woher er das Kapital nahm, um die legale Fassade weiterzuführen. So machte er mit beiden Fäusten in der Tasche Männchen und heuchelte unbedingte Kooperationsbereitschaft mit den Banken. Er hatte schon einige Strohmänner am Start, die im Zweifelsfall zugreifen sollten, wenn seine Firma zwangsversteigert werden sollte. Doch es ging ihm wieder gut, und er war fest entschlossen, den wahren Urheber dieses unliebsamen Zwischenfalls zu finden und den gehörig zur Kasse zu bitten. Damit waren diese Leute gemeint, die hinter dem angeblichen Richard Andrews standen. Wer hatte diesen Kerl auf die Menschheit losgelassen und wo saß diese Gruppe? Oder war es nur eine Person gewesen? Er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Andrews-Immitator ganz alleine gearbeitet hatte. Alleine die Mobilität, die er an den Tag legte ...

Das Läuten des Telefons unterbrach seinen Gedankengang. Er sah auf seine Uhr. Diese zeigte zwei Minuten vor Mitternacht. Er dachte, daß nur ein sehr dringendes Problem jemanden dazu verleiten konnte, ihn um diese Zeit anzurufen. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.

"Patron, wichtig", erwiderte eine Männerstimme aus dem Hörer.

"Eine Sekunde", sagte Laroche und schaltete einen Zerhacker ein, der das Gespräch unabhörbar machen sollte. Auf der anderen Seite wurde wohl das darauf abgestimmte Gegenstück eingeschaltet, weil es kurz in der Leitung Summte. Dann forderte Laroche den Anrufer auf, weiterzusprechen. Es war sein Vertriebschef in Kalifornien, der sowohl die legalen Geschäfte dort führte, aber auch als Beobachter der westlichen Konkurrenten arbeitete.

"Patron, der Andrews-Typ ist wieder aufgetaucht. Die haben den nicht umgebracht. Allerdings soll er sich jetzt als alter mann ausgeben. Kann sein, daß er bei der Sache in Las Vegas doch erwischt wurde."

"Was ist passiert?" Fragte Laroche und verzichtete sogar auf seinen stilisierten französischen Dialekt, der wie seine gleichfalls französischen Maßanzüge ein Markenzeichen von ihm war.

Laroche erfuhr nun, was mit Gilda Hornsby alias Mademoiselle Ninette passiert war und daß sie die Schwester von Arnold Hornsby alias Big H aus Philadelphia war, die meinte, durch ein Studium der unanständigen Seiten des Lebens einen anständigen Beruf erlernen zu können. Laroche mußte unwillkürlich grinsen. Offenbar war der sonst so aalglatte Mr. Hornsby nun heftig angeschlagen. Doch dann fiel ihm ein, daß ein verwundetes Raubtier doppelt so gefährlich war wie sonst.

"Sie haben unseren Partner bei Hornsbys Firma angespitzt, dessen Schritte zu überwachen?" Erkundigte sich Laroche.

"Ist schon gelaufen, Patron. Einer seiner Bereitschaftspiloten hat geplaudert, daß sein Boss morgen mittag mit seinem Learjet "Wendy Darling" zu uns herüberkommt, um die Leiche seinr Schwester zu identifizieren. Wahrscheinlich wird er sie dann in einigen Tagen mitnehmen, zusammen mit dem anderen Flieger, den er "Tinkerbell" nennt."

"Und sonst ist noch nichts raus, ob er was anderes unternimmt zum Beispiel?" Wollte Laroche wissen, der bei den Namen der Flugzeuge belustigt gegrinst hatte.

"Hmm, nichts, was der Pilot erzählen konnte. Ist eh schon gefährlich, den zu kultivieren. Wenn dieser Big H es rausbekommt?"

"Dann sorgt dafür, daß er es nicht rausbekommt!" Erwiderte Laroche kalt.

"Ich fürchte, dafür werden wir nicht bezahlt", sagte sein Gesprächsteilnehmer.

"Ich sagte nicht, daß ihr den umbringen sollt. Stellt es nur so hin, daß wenn dieser Hornsby es rauskriegt, dieser Pilot selbst dran ist und nicht wir!"

"Verstehe, Patron", erwiderte der Mann am anderen Ende der Telefonleitung. Dann verabschiedete er sich und wünschte dem Patron eine gute Nacht.

"Jeder erfolgreiche Unternehmer hat seine Marotte", dachte Laroche. "Ich verehre die Grande Nation und ihre Kultur, und dieser Hornsby, der sich großspurig als Big H bezeichnen läßt, verehrt Peter Pan und dessen Figuren. Wundere mich, daß er Michael Jacksons Ranch noch nicht gekauft hat."

Sieben Stunden später erhielt Laroche einen Anruf aus Lyon, Frankreich, wo er vor einem Jahr die erste Außenstelle seines Handelsimperiums eingerichtet hatte, worauf er sehr stolz war, wenngleich er lieber in Paris oder Marseille Fuß fassen würde.

"Monsieur Laroche", begrüßte ihn sein dortiger Handelspartner Gaspard, "Ich hoffe, Sie nicht geweckt zu haben."

"Sie hoffen richtig, Monsieur Gaspard", erwiderte Laroche, obwohl er noch in Pyjama und Hauspantoffeln steckte und gerade vor einer Minute erst aufgewacht war.

"Jemand erkundigt sich nach einer Familie Andrews, Monsieur. Ich hörte, das dieser Jemand irgendwo in den Staaten sein soll. Der Name ist so selten hier, daß ich sofort hellhörig wurde."

"Jemand erkundigt sich nach einer Familie Andrews?" Fragte Laroche, dem die französische Sprache so flüssig über die Lippen ging, als sei er dort geboren worden und habe nur längere Zeit in Amerika gelebt. "In welchem Zusammenhang?"

"Wo sie wohnen, Monsieur. Es gibt zur Zeit nur eine Familie hier in Frankreich, und die besteht aus einer Madame Martha und ihrem jugendlichen Sohn Julius, die in Paris leben. Ich habe mich erkundigt, weil ich hörte, daß der Sucher wohl für einen Ihrer Konkurrenten arbeitet. Könnte es sein, daß jemand es auf die beiden abgesehen hat?"

"Könnte sein", knurrte Laroche. Dann meinte er: "Wo wohnen die genau? Schicken Sie mir bitte von Ihrem Bekannten beim Einwohnermeldeamt in Paris die Daten zu. Benutzen Sie unsere Verschlüsselungssoftware!"

"Wie Sie möchten", sagte Gaspard. Laroche bedankte sich und versprach ihm, ihm im nächsten Monat noch 50.000 Dollar auf das von Gaspard angegebene Konto einer verschwiegenen Bank in Genf zu überweisen, zu Gaspards privater Verfügung.

"Hornsby will also nach den beiden suchen. Dann tun wir das auch", dachte Laroche und wartete, bis er die elektronische Nachricht mit beigefügtem Bild von Mutter und Sohn hatte. Diese Nachricht wandelte er in ein Fax um und schickte dieses als Serienmitteilung an seine Kontaktleute in den Staaten, die wiederum auch internationale Verbindungen bemühen konnten. Er selbst beauftragte Gaspard, eine Möglichkeit auszuarbeiten, Mutter Und Sohn so unauffällig wie möglich nach New Orleans herüberzubringen. Sollte es ihm gelingen, die beiden in seine Gewalt zu bekommen, könnte er nicht nur Hornsby dazu bringen, ihm die horrenden Schäden durch Lorcas Lumpengesindel zu bezahlen, sondern auch das FBI dazu bewegen, den Ende Mai als echten Richard Andrews in Gewahrsam genommenen Mann auszuliefern. Womöglich wußte dieser doch mehr als bisher bekannt geworden war.

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Anthelia apparierte mit leisem Plopp etwa fünfzig Meter vom Gasthaus zum betrunkenen Drachen entfernt hinter einer Hecke, die sie sich schon lange als heimlichen Zielpunkt ausgeguckt hatte. Dann verwandelte sie sich in eine große Krähe und flog auf, sich im noch langen Schatten der Bäume und Büsche haltend, bis sie die runde Mauer erreichte, die den Vollkreis einfaßte, in dem die magischen Reisesphären aufgerufen werden konnten oder eintrafen. Es war nun eine Minute nach sechs Uhr am Morgen des 30. Juli.

"... Darf ich die Pässe haben, um sie mit dem üblichen Einreisestempel zu versehen, damit wir in der Muggelwelt keine Scherereien kriegen?" Hörte sie einen Mann hinter der Mauer fragen. Da wußte sie, daß die Andrews schon angekommen waren. Sie dankte noch einmal ihrer Mutter, daß sie ihr den Hexen-Blitzfertigkeitszauber beigebracht hatte, mit dem sie ihre Morgentoilette innerhalb weniger Sekunden ohne Beanstandungen erledigen und sich ankleiden konnte.

"Haben Sie das irgendwie hingebogen, daß da keiner bei einer Prüfung einen Schwindel draus erkennen kann?" Fragte ein Junge, der gerade im Stimmbruch war. Antehlia horchte genau hin. Das war Julius Andrews, der magisch hochbegabte Sohn von Hallittis Abhängigem.

"Ja, das wurde so programmiert, nachdem klar war, daß ihr mit der alten Reisesphäre herkommen würdet", erwiderte der Mann, dessen Stimme sie gerade gehört hatte. Sie lauschte mit ihren telepathischen Sinnen und erkannte den Mann als Zachary Marchand. Sie fühlte aber sofort, daß er sich wohl auf geistige Belauschung eingerichtet hatte und ließ ihn in Ruhe.

"Mein Name ist Peter Bruckner und ich bin hier für Ihre magische Einreisebestätigung zuständig", sprach ein anderer Zauberer. "Mrs. Martha Andrews geborene Holder?" Fragte er und bekam ein Ja von einer Frau. "Mr. Julius Andrews?" Der Junge bestätigte das. Damit war es für Anthelia klar, daß er ordentlich angereist war. Dann traten acht Personen durch das halbkreisförmige Tor in der Mauer heraus, darunter eine rundliche Frau im geblümten Umhang und einem Strohhut auf dem Kopf. Anthelia versteckte sich rasch im Wipfel eines Baumes am Wegesrand.

"So, nachdem wir nun alle wohlbehalten den großen Wassergraben übersprungen haben, könnt ihr es euch nun aussuchen, was wir zuerst machen. Wir können das Gepäck in Zachs Automobil verladen und uns den Weißrosenweg schon mal ansehen, oder erst zu Zach in das N. O. der Muggel hinüberfahren, um das Gepäck unterzubringen", schlug die Hexe mit dem Strohhut vor. Anthelia hörte mit, daß die Andrews' sich dafür entschieden, erst das Gepäck, zu dem auch ein Flugbesen gehörte, zu Zachary Marchand zu bringen und dann hierher zurückzukehren. Anthelia sah Julius' Mutter an. Sie hatte eine ferne Ähnlichkeit mit einer Tochter der Eauvives, die Anthelia von ihrer Schulzeit her kannte. Also waren die Eauvives wohl in der Ahnenlinie dieser Frau zu finden. Sie konzentrierte sich und wirkte den Exosenso-Zauber, um sich auf diese Frau einzustimmen, um sie als Beobachtungsposten zu benutzen, heimlich und von dieser völlig unbemerkt. Ja, es funktionierte. Sie konnte die Reisegesellschaft nun wunderbar begleiten, als sei sie selbst dabei. Zwar würde die Verbindung nur wenige Hundert Meter reichen, da sie Martha Andrews noch nicht gut genug kannte, um eine richtige Langstreckenverbindung zu halten, doch ihre Schwestern hatten ja schon herausgefunden, wo Zachary Marchand wohnte. So beendete Anthelia die Verbindung, als die Gäste aus Europa mit Zachary Marchand an der roten Backsteinmauer standen, die den Weißrosenweg von einer Muggelstraße trennte. Antehlia flog einmal quer über den Weißrosenweg, landete hinter einem niedrigen Busch und disapparierte, um im Hauptquartier des Spinnenordens anzukommen.

"So, sie sind schon da", begrüßte sie die Stratons, die noch auf sie warteten. "Ich konnte mit der Mutter des Jungen eine treffliche Exosenso-Verbindung errichten. Schwester Patricia, du übernimmst heute die Unterweisungen von Schwester Dido!"

"Natürlich, höchste Schwester", bestätigte Patricia Straton.

"Sollen Mutter und Sohn nun rund um bewacht werden?" Fragte Pandora Straton.

"Ja, natürlich. Konntet ihr Schwester Dana schon erreichen?" Fragte Anthelia.

"Offenbar ist sie mit Dingen des Zaubereiministeriums beschäftigt, höchste Schwester. Sie jetzt davon abzurufen würde unnötig auffallen", sagte Pandora.

"Bedauerlich. Dann schickt nach den Schwestern Romina und Ardentia!"

"Wirst du in der Nähe dieser Leute bleiben, höchste Schwester?" Fragte Patricia.

"Bis ich alle verfügbaren Schwestern postieren konnte, um sie so lückenlos es geht zu bewachen", sagte Anthelia und winkte Pandora, sie zu begleiten. Patricia Straton hingegen disapparierte kurz, um von einem öffentlichen Telefon aus Romina Hamton anzurufen, sie möge ins Hauptquartier kommen. Sie sagte nur:

"Mrs. Daggers möchte, daß sie sich bei ihr melden, Ms. Hamton!"

"Natürlich, Ms. Patricia", sagte Romina Hamton. Fast zeitgleich mit Patricia Straton apparierte auch die zierliche Romina Hamton mit ihren blonden Zöpfen, die ihr eher das Aussehen eines kleinen Mädchens als einer erwachsenen Hexe verliehen.

"Stimmt es also, daß die höchste Schwester diesen Jungen auskundschaftet?" Fragte Romina leise, denn Dido Pane war gerade aus ihrem Dachzimmer getreten und kam nun herunter.

"Ja, und wir wollen den und seine Mutter so gut es geht beschatten", wisperte Patricia. Dann trat sie vor die Tür des Salons und begrüßte das schmächtige Mädchen, daß seit November des letzten Jahres zu den Spinnenschwestern gehörte und vorher ein Junge namens Ornatus gewesen war, bis Anthelia seinen Lehrmeister Lohangio Nitts im Zuge der Ausrottung gefährlicher Konkurrenten erledigt hatte.

"Ist die höchste Schwester nicht da?" Fragte Dido. Patricia bestätigte es.

"Ich soll dir heute mal wieder was beibringen, Schwester Dido. Wonach ist dir denn heute? Verwandlung oder Zauberkunst?"

"Lieber Zauberflüche", erwiderte Dido. Patricia wußte, daß Anthelia der mehr oder weniger zwangsrekrutierten Schwester nicht so schnell mächtige Flüche beibringen wollte und es als persönliches Vorrecht ansah, dieses Mädchen alleine zu unterrichten. in anderen Dingen wie Zauberkunst, Verwandlung, Zaubereigeschichte und Zaubertränke konnten die anderen Schwestern sie unterweisen. Flüche und Heilzauber waren das Vorrecht Anthelias. Dido wußte das auch.

"Du weißt, daß die höchste Schwester dafür zuständig ist, Schwester Dido", sagte Patricia lächelnd und war auf der Hut, weil Dido ihren Zauberstab hob. "Versuch es gar nicht erst. Oder weißt du nicht, was dir beim letzten Mal passiert ist?" Dido senkte den Zauberstab. Patricia war sehr gut und hatte schon oft Überraschungsflüche abgeblockt, bevor sie sie hatte ausrufen können. Es mochte was dran sein, daß Patricia Straton Gedanken lesen konnte. Zumindest hatte Dido die zwei Minuten als Maus nicht vergessen.

"Okay, dann Zauberkunst", gab Dido quängelig zurück.

"Schön, dann wird das heute eine spannende Stunde, weil wir uns nämlich mit physikalischen Manipulationen wie Wärmeveränderung, Schwebezauber und Geräuschveränderungszaubern befassen werden", legte Patricia die Marschroute fest. Dann wies sie Dido an, noch eine Minute zu warten. Sie wollte noch einer anderen Mitschwester was sagen. Dido lauschte zwar an der Tür, konnte aber kein Wort verstehen. Das lag daran, das der Salon zu einem dauerhaften Klangkerker gemacht worden war.

"Romina, ich denke, der Junge wird sich zunächst in der Nähe seiner Mutter halten und mit ihr zusammen entweder im Weißrosenweg oder im New Orleans der Muggel herumlaufen. Wie gut bist du in eigener Unsichtbarkeit?"

"Ich habe in Viento del Sol im Park der Besinnung geübt. Ich kann mich nun dauerhaft unsichtbar halten. Wenn ich aber noch mit Exosenso-Zaubern arbeiten muß wird's eng", sagte Romina.

"Nun, wie ist es mit dem Desillusionierungszauber?"

"Der klappt noch nicht so gut, Schwester Patricia. Ich kriege die Lichtverpflanzung noch nicht hin. Die Lichtdurchdringung ist da einfacher."

"Wohl wahr. Sich wie die Himmelswürste von Thorntails nach außen unerkennbar zu halten ist schwerer als die vollständige Unsichtbarkeit. Dann brauch ich dich nicht zu fragen, wie gut du dich selbst verwandeln kannst."

"Vergiss es mit meiner Endnote in den UTZs", grummelte Romina.

"Ich frage das, weil wir nicht alle Animagi sind wie die höchste Schwester. Vielleicht müssen wir uns auch mal in tote Dinge verwandeln oder mit dem Mauerwerk verschmelzen. Das wird auf jeden Fall die größte Beschattungsaktion unserer bisherigen Geschichte."

"Wie gesagt, mit der Unsichtbarkeit komme ich klar", sagte Romina. Dann wurde sie losgeschickt, um vor Zachary Marchands Haus Posten zu beziehen. Danach kehrte sie zu Dido Pane zurück und frühstückte erst einmal mit ihr, bevor sie sich den physikalischen Manipulationszaubern widmete.

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"Und du bist dir sicher, Bella, daß sie hier wohnt?" Fragte der dunkle Lord leise, und seine Stimme klang wie schneidender Wind. Bellatrix Lestrange wiegte ihren Kopf mit dem dichten, dunklen Haar und sah dann hinüber zu dem Hügel, auf dem nur Bäume standen. "Hier stand das Haus bis gestern noch, Herr. Wahrscheinlich hat sie es getarnt oder unortbar gemacht", wisperte sie verängstigt. Denn die herrschaftliche Villa derer von Underwood war nicht mehr da, wo sie sein sollte.

"Sie wäre ja auch selten dämlich, wenn sie sich so einfach finden ließe", lachte Lord Voldemort gehässig. Er blickte in den Himmel und schätzte am Stand des Mondes und der Sterne ab, wie spät es ungefähr war. Er wollte genau zwölf Minuten nach Mitternacht losschlagen, um das Exempel zu statuieren. Bellatrix Lestrange sah ihren Herrn und Gebieter sehr eingeschüchtert an. Die sonst so selbstsichere, ja überhebliche Hexe war in der Gegenwart des unübertrefflichen Meisters der dunklen Künste wie ein Hund, der so häufig getreten und angebrüllt wurde, das er nicht einmal zu winseln wagte, obwohl ihm danach war. Doch außer Voldemort machte ihr noch etwas anderes große Angst. Was wäre, wenn Anthelia, die sich ihr auf schreckliche Weise offenbart hatte, mit Ursina zusammenarbeitete, ja auch gerade hier war? Wie würde der dunkle Lord mit dieser ihm mindestens ebenbürtigen Hexe fertig werden? Würde Bellatrix als Verräterin bestraft, sollte er den Kampf nicht gewinnen? Nein, sie wollte jetzt nicht daran denken.

"Sie hat das Haus gewiß nicht vom Ort bewegt. Wahrscheinlich hat sie es mit dem Fidelius-Zauber verborgen. Dann kann ich lange danach suchen", fauchte Voldemort. "Es sei denn, Bella, du hast dich mit diesen widerspenstigen Schachteln eingelassen."

"Nein, Herr, ganz bestimmt nicht", beteuerte Bellatrix Lestrange.

"Ich kann den Fidelius nicht aufheben, wenn ich nicht weiß, wer die Wahrerin dieses Geheimnisses ist. Aber wenn das Haus hier einmal gestanden hat, dann kann ich was machen, daß diese Lady sich wünschen wird, sie hätte sich mir freiwillig gestellt."

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"Er wagt es also tatsächlich, mir auf den Leib zu rücken", knurrte Lady Ursina Underwood, eine in allen Regungen und Bewegungen Macht verkörpernde Hexe mit graubraunem Haar und blauen Augen. Also hatte ihre Bundesschwester Lyra wirklich mit dieser Verräterin Bellatrix Lestrange gesprochen. Dana Moore hatte es ihr gleich danach erzählt. Nun gut. Ihre Villa stand unter dem Schutz des Fidelius-Zaubers. Außerdem hatte sie einen schnellen Rückzugsweg und noch einen Trumpf, falls dieser Emporkömmling wirklich so mächtig war, daß sie ihn nicht besiegen konnte. Ihre Nichte Proserpina und deren Familie waren im wieder hergerichteten und mit Verbesserungen versehenen Keller untergebracht, nachdem eine Bande dieser Todesser eine Gasexplosion in der Muggelsiedlung vorgetäuscht hatte, wo die Drakes lebten. Da die Muggel die drei für tot erklärt hatten, würde Tom Riddle sie einstweilen nicht suchen, hoffte Ursina. Aber wenn Lea nach Hogwarts zurückkehren sollte, würde irgendeiner seiner dort lauernden Möchtegernkundschafter wie der Prahlhans Malfoy und seine tumben Schatten Crabbe und Goyle es dem bitterbösen und spukhäßlichen Hexenmeister erzählen. Da stand er also am Fuß ihres Heimathügels und sprach mit seiner Dirne Bellatrix Lestrange. Lady Ursina belauschte dieses Gespräch mit einem Schallverpflanzungshörrohr, das sich von selbst auf die Quellen fremder Stimmen ausrichtete und ihr vor einer Minute die Nähe fremder Menschen verraten hatte.

"Na, was willst du mir denn tun, Tom Riddle, Sohn einer tolpatschigen Hexe?" Dachte sie. Während dessen hörte sie, wie Bellatrix zu Voldemort sagte, daß sie doch warten könnten, bis eine der anderen Blödsinnsschwestern hierher käme.

"Dich nehme ich noch einmal gründlich auseinander, du Drecksstück", dachte Ursina.

"Nein nein, heute abend erstrahlt das dunkle Mal über den Trümmern dieser Villa, wo immer sie sich gerade befindet", verkündete dieser Emporkömmling. Dann flüsterte er mit Bellatrix Lestrange. Das Hörrohr verstärkte das Geflüster.

"Aha, deshalb hast du diese Hure mitgebracht, Tommy", knurrte Lady Ursina. Dann schnippte sie mit den Fingern, und ihre Hauselfen erschienen.

"Sage Proserpina und Lea, sie sollen mit Thomas durch den alten Schrank! Ich werde ihnen gleich folgen. Der Emporkömmling will das Sanguirogum-Ritual durchführen. Alle weiblichen Hauselfen in das Baumhaus!" Befahl sie und lauschte noch einmal am Hörrohr. Dieser elende Bastard hatte bereits angefangen, Bellatrix Blut abzunehmen, das er mit Worten eines alten Fluches magisch potenzieren und dann in einem festgelegten Ritual um den vermuteten Zielpunkt ausbringen wollte. Die Qualen, die Bellatrix während der Blutabnahme verspürte, würden durch den Fluch um ein hundertfaches aufgeschaukelt und ins Zentrum des Kreises projiziert. Alle wesen des Geschlechtes des Blutspenders oder der Blutspenderin würden wie unter heftigen Fieberanfällen und den schrecklichsten Halluzinationen, bei lebendigem Leibe zu verbrennen leiden, wenn das Ritual vollendet war. Was fiel diesem Kerl ein, ein überliefertes Ritual der Schwesternschaft zu benutzen? Dieses hatte die Französin Anthelia vor etlichen Jahrhunderten von ihrer unerreichten Tante Sardonia in England eingeführt und für wahr einige Bruderschaften restlos ausgelöscht.

"Du willst deinen Spaß, Tom Riddle? Du sollst ihn haben", knurrte Lady Ursina und schritt an einen Schrank, den sie leicht antippte. Er ging auf. Sie schlüpfte kurz hinein und sprach einige Worte.

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""meister, muß ich hierbleiben?" Fragte Bellatrix, die Mühe hatte, ihre Schmerzen nicht hinauszuschreien. Wieder und wieder schnitt Voldemort ihr mit einem silbernen Dolch in den rechten Arm und fing einige Tropfen Blut in einer kleinen Silberschale auf. Er sprach düstere Worte und hielt den Zauberstab dabei an das Gefäß, das rot aufglühte und dann wieder ganz normal aussah. Mit dem so behexten Blut ging der dunkle Lord an den Fuß des Hügels und brachte die Probe in einer bestimmten Folge von Worten auf den Boden aus. Er schien sich in einer Art Trance zu befinden, weil er so weltentrückt dreinschaute, während er das Blutritual vorbereitete. Bellatrix wußte, daß er sich selbst so gefühls- und Schmerzunempfindlich wie möglich halten mußte, wohingegen sie jeden Schnitt brennen fühlte, je weiter die Vorbereitung foranschritt desto unerträglicher. Dann war es soweit. Der letzte Schnitt war wie ein Streich mit einer brennenden Klinge. Bellatrix ganzer Arm schmerzte, und sie konnte nicht an sich halten und schrie auf. Diesmal erglühte die Schale gelborange, und der dunkle Lord vollendete den gegen den Uhrzeigersinn abgeschrittenen Kreis. Dann trat er zurück und hob den Zauberstab:

"per Dolores Victimae Sanguinis Ignem interiorem incendio!"

Bellatrix wich zehn Schritte zurück, als ein kurzer Schauer roter Funken aus dem Kreis aufstieg und in dessen Zentrum hineinflog. Der Fluch war vollendet.

"Nun werden wir es erleben, wie dieses Weib stirbt, wennn es darin ist", lachte Voldemort. Da er das Blut einer Hexe benutzt hatte, würde jede Hexe in diesem Kreis, in dem durchaus das gesuchte Haus stehen mochte, unter Höllenqualen leiden, die bis zum wirklichen aufflammen des Körpers führen oder die Betroffenen vorher schon töten würden. Er wartete noch eine Minute. Wenn der Zauber die Lady tötete, und das war sicher, würde ihre Villa wieder erscheinen, weil dann das Geheimnis ihres Standortes nicht länger gehütet werden konnte, sofern sie nicht doch jemandem anderem den Standort zur Bewahrung gegeben hatte. Feststand nur, daß sie bei Einsetzen des Fluches nicht mehr disapparieren konnte, weil die auftretenden Qualen und Halluzinationen jede Konzentration vereitelten.

"Bella, tritt mal kurz über die Linie!" Verlangte Voldemort nach einer weiteren Minute. Ihm war es unheimlich, daß er weder Schreie noch sonstwas ... Da stürmte laut schreiend eine Frau in rotem Seidennachthemd aus einer kurz flirrenden Öffnung über dem Fuß des Hügels. Ihr Körper schien von innen her zu brennen. Bellatrix erkannte Lady Ursina Underwood, die immer lauter schrie und dann, gerade als sie über den Außenrand des Kreises stolperte, aus allen Öffnungen am Kopf dampfte. Dann war sie über die Linie und blieb wimmernd stehen.

"Besser als Ausräuchern, Bella", lachte der dunkle Lord und zielte mit seinem Zauberstab auf die gepeinigte Erscheinung. "Avada Kedavra!" Laut sirrend schoss ein greller, grüner Blitz aus Voldemorts Zauberstab und traf die gerade erst wieder zu sich findende am Bauch. Sie fiel um wie ein gefällter Baum. In dem Moment flimmerte die Luft, und eine herrschaftliche Villa tauchte auf.

"Das ist das Haus", sagte die immer noch mit ihren Schmerzen ringende Bellatrix Lestrange.

"Ja, das ist das Haus", frohlockte Voldemort und lief auf die wiedergekehrte Villa zu, wobei er dem leblosen Körper auf dem Boden einen harten Tritt in die Seite verpaßte, sodaß dieser überrollte.

"Herr, das könnte eine Falle sein!" Rief Bellatrix. Doch Voldemort sprengte bereits die Eingangstür aus den Angeln und lief in das Haus. Sie wußte, was er dort noch suchte, bevor er es anstecken und das dunkle Mal darübersetzen würde. Es hieß, daß dort noch alte Bücher der dunklen Künste und Werke zur verborgenen Zaubereigeschichte aufbewahrt wurden. Sollte sie ihm nachlaufen. Doch nein, der Kreis des Sanguirogum-Rituals war noch nicht durchbrochen und würde ihr die Qualen bereiten, die Lady Ursina aus dem Haus getrieben hatten. Sie sah auf Lady Ursina, die tot am Boden lag. Aber was war das?

Der Leichnam verweste. Das wäre nichts ungewöhnliches gewesen, wäre es in einem Zeitraum von mehreren Jahren vorgegangen. Doch dieser Körper da vor ihr zerfiel zusehens. Die Haut wurde rissig und löste sich langsam auf. Das Fleisch darunter quoll hervor und färbte sich immer dunkler, wobei es mehr und mehr abfiel. Das konnte nicht sein. Der tödliche Fluch tötete nur. Er führte keine beschleunigte Verwesung herbei. Bellatrix wollte den dunklen Lord zurückrufen, um ihm diesen grauenhaften Vorgang zu zeigen. Sie sah den in einem penetrant faulig stinkenden Dunst zerfallenden und regelrecht zerfließenden Körper und das Haus. Sie hörte von drinnen das Triumphgeschrei des dunklen Lords und wußte, er hatte gefunden was er suchte.

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Voldemort sprengte die Tür und stieß noch einen unsichtbaren Fluchzerstreuungszauber nach, um nicht in die erstbeste Zauberfalle zu rennen. Dann stürmte er das Haus wie ein Pirat ein zu kaperndes Schiff. Er wußte, was er suchte. Jeden Raum, den er untersuchen wollte, prüfte er vorher mit einem Fluchfinder. Bei den Meisten wurde er sogar fündig und mußte sich schon anstrengen, einige hartnäckige Fallen zu entschärfen, die sich schwer auffinden ließen, weil sie den Raum selbst, einen Gegenstand darin oder eine Kombination aus Gegenstand und Fremdkörper von außen bildeten. Doch der dunkle Lord kannte sich damit aus, magische Fallen zu stellen oder sie unschädlich zu machen. So arbeitete er sich schritt für schritt vor, bis er in einem Raum einen verschreckten Hauselfen fand.

"Hey du, wo ist die Bibliothek? Imperio!" Der Hauself war zwar etwas besser gegen den Unterwerfungsfluch geübt als mancher Zauberer, doch irgendwann verriet ihm der Elf, wo die Bibliothek lag. Doch das war auch der Tod des magischen Dienstbotens. Er schrie schrill auf und brach dann leblos zusammen.

"Gleich werde ich die Geheimnisse deiner dreckigen Schwestern haben, du überhebliches Miststück!" Brüllte Voldemort und jagte eine Etage höher bis vor eine Wand. Diese Wand barg einen geheimen Zugang. Der Dunkle Lord untersuchte die Wand. Keine Magie war darin verborgen. Doch er fand auch keine geheime Tür. Sollte der Elf ihn belogen haben? Das war unmöglich. Der Imperius-Fluch hatte ihn voll unterworfen, und sein Tod war bestimmt die Folge eines Verratsunterdrückungszaubers, den mancher Meister seinem Hauselfen aufzwang, um die wichtigsten Geheimnisse zu schützen. Also mußte die Bibliothek hier sein. Es kam Voldemort in den Sinn, daß er durch die Entschärfung der Zauberfallen die Magie zerstört hatte, die die Bibliothek geschützt hatte. Also war sie hier, und war doch unerreichbar. Es sei denn, er konnte in diesem Haus apparieren. Doch eine Mauer gegen Apparieren mochte ihn und jeden anderen hindern, hier einzudringen. Außerdem war diese Mauer durch einen weiteren Schutz gesichert, nicht gefunden und aufgehoben zu werden. Er trat zurück und rief den Reducto-Fluch auf. Dreimal mußte er ihn anwenden, bis die Mauer dermaßen zertrümmert war, daß er hindurchsteigen und in den dahinterliegenden Raum vordringen konnte. Da standen die hohen Regale mit den Büchern. Er war am Ziel.

"Ich habe es geschafft!" Rief Voldemort triumphierend.

"Ja, du hast es geschafft, Tom Vorlost Riddle, Sohn der Merope", drang eine Frauenstimme aus unsichtbarer Quelle an seine Ohren. "Du hast es geschafft, mich zu töten und in diese Bibliothek einzudringen. Aber damit bist du nun auch erledigt."

Voldemort wollte schon fragen, was das jetzt noch sollte, als aus den Büchern vor ihm grelle Flammen schlugen. Mit einem Schrei sprang er zurück durch das Loch in der Mauer. Doch was war das? Er trat ins Leere und stürzte in die Tiefe.

"Cadelento!" Rief er mit auf sich selbst gerichtetem Zauberstab, während über ihm die lodernde Feuerwalze hinwegfauchte, die das ganze Haus in Brand setzte. In den Büchern hatte eine tödliche Magie gesteckt, die er nicht überprüft hatte. Außerdem hatte die Wand auf einem Mechanismus geruht, der eine Falltüre innerhalb der Bibliothek auslöste, sobald das Mauerwerk nicht mehr auf ihn einwirkte. Der Luftsog des über ihn tobenden Infernos zerrte an ihm, als er gerade sanft auf dem Boden eines tiefen Schachtes landete. Er fühlte den mörderischen Druckabfall, weil kalte Luft nach oben gesaugt wurde und fühlte, wie ihm die Atemluft schwand.

"Verdammt, wie konnte ich nur so blind sein?" Knurrte Voldemort wütend auf sich selbst. Dann sah er, daß die Katastrophe ihn hier unten nicht einfach so zurücklassen wollte. Das obere Ende des Schachtes bröckelte und stürzte in Form kleinerer Trümmer zu ihm hinunter. Der Schuttregen wurde immer schwerer und gefährlicher. Voldemort hörte, wie das Mauerwerk um ihn herum knirschte und knackte, sah Risse in der Steinwand aufklaffen und sich mit beängstigender Geschwindigkeit immer mehr erweitern. Ein weiterer, rotglühender Brocken sauste wie ein Meteorit von oben herab. Brandgeruch stach in die geschlitzten Nasenlöcher des dunklen Lords, der nur noch einen Weg sah, dem einstürzenden Schacht und dem immer stärkeren Luftmangel zu entkommen. Er versuchte zu disapparieren. Zwar schaffte er es, aus dem Schacht zu entkommen, fühlte sich aber wie im inneren eines Wirbelsturms, der ihn mit brutaler wucht vor eine Wand des Hauses und dann auf etwas großes, weiches warf. Er war nicht aus dem Haus heraus.

"Du kannst nicht entwischen, Tom Vorlost Riddle!" Schnarrte eine gehässige Frauenstimme. Lord Voldemort hasste es, Angst zu verspüren. "Ich bin gegangen, und du gehst mit!" Rief die magisch konservierte Stimme Lady Ursinas. Ja, das mußte sie gewesen sein. Dann brach auch hier Feuer aus. Die Wand barst und ließ dichte Rauchschwaden von der anderen Seite hereinwehen. "Freu dich, daß du in meinem Schlafgemach sterben darfst!" Tönte die magische Stimme Lady Ursinas. Tatsächlich fand sich Voldemort auf einem breiten Bett ohne Baldachin liegen. Doch dieses Bett ruckelte unvermittelt los, bekam ein unerwünschtes Eigenleben und galoppierte los, genau auf die Flammen zu. Erneut versuchte Voldemort, aus dem Haus zu entkommen. Doch wieder landete er auf dem Bett, das nur noch einige Zoll vor den Flammen war. Da stieß Voldemort einen Zauberspruch aus, der einen Strahl aus dunklem Feuer in die Flammen hineinstoßen ließ. Ja, damit konnte er sich eine Bresche schlagen. Das wandelnde Bett trabte unbeirrt auf das Feuer zu, doch Voldemorts Fächer aus dunklem Feuer ließ die Flammenzungen sofort zusammenbrechen. Damit hatte Lady Ursina wohl nicht gerechnet. Dann fiel ihm ein Zauber ein, den er anwenden konnte, um diesem Bett zu entkommen, das wohl mit dem Locattractus-Zauber belegt war, der Apparatoren im Umkreis mehrerer hundert Meter immer nur an einem bestimmten Ort oder in die Nähe eines bestimmten Objektes zog. Gerade als das Bett in eine aufschießende säule hineinspringen wollte, die der Fächer aus dunklem Feuer nicht vertilgen konnte, hieb Voldemort mit dem Zauberstab auf das Bett und rief:

"Inverto locattractum locorefusum!" Das Bett hüpfte hoch wie ein gestochener Floh, prallte fast gegen die Decke. Voldemort warf sich herum und disapparierte. Es war ihm, als würde er von einer wuchtigen Schleuder davongeschossen, als das Gefühl des einquetschenden dunklen Nichts ihn verließ. Dann fiel er hin und erkannte, daß er mindestens einen halben Kilometer weit vom Hügel entfernt war. Da sah er die Feuersäule, die kerzengerade in den Himmel stieg wie aus einem Vulkan. Eine Sekunde später hörte er einen dumpfen Donnerschlag und ein lautes Gepolter wie eine niedergehende Geröllawine.

Bellatrix Lestrange sah, wie es aus verschiedenen Öffnungen des Hauses herausloderte und verschwand sofort. Ihr Ziel war der alte Friedhof von Little Hangleton, das Grab von Tom Riddle Senior. Wenn es dem Meister gelänge, zu entkommen ... Sie hob ihren linken Arm und betrachtete das eingebrannte Mal. Es war noch so deutlich wie im ganzen letzten Jahr. Also lebte er noch. Ja, er konnte ja auch nicht sterben. Nur sein Körper würde vielleicht wieder verschwinden. Diesmal würde sie ihn jedoch sofort suchen und finden, um ihm zu einem neuen Körper zu verhelfen. Sie wartete eine bange Minute. Dann ploppte es neben ihr, und er war da. Er hatte es geschafft! Zwar stank er nach Brand und Gesteinsstaub. Doch er war wieder da, der Herr und Meister.

"Ich habe es mir gedacht, daß du hierher zurückkehren wirst, Bella", schnarrte Voldemort und lächelte dämonisch. "Dieses Weib hat versucht, mich zu töten. Mich, Lord Voldemort!" Er lachte schrill und schrecklich. "Diese Närrin hat doch allen Ernstes geglaubt, mich so einfach umbringen zu können! Niemand kann mich aufhalten! Niemand kann mich töten!!! Doch Lady Ursina ist tot. Das Dunkle Mal brennt über dem flammenden Trümmerhaufen ihres Hauses. Es ist mir zwar nicht gelungen, an ihre Bibliothek heranzukommen. Doch dafür haben die dummen Weiber von der Nachtfraktion jetzt weder Kopf noch Beine mehr. Jetzt werden wir sehen, ob sie alle so mutig sind!!"

"Herr, ich habe was gesehen, das Ihr wissen solltet", warf Bellatrix ein. Voldemort lachte jedoch nur laut und unheilvoll. Dieses Gelächter dauerte an und hallte gespenstisch von den Grabsteinen wider, die als stumme Zeugen des Entsetzlichen über den vergessenen Totenacker verteilt lagen. Erst als der dunkle Lord sich über seinen Sieg sattgelacht hatte, sprach ihn Bellatrix Lestrange wieder an.

"Herr, die Leiche von Ursina, sie ist ziemlich schnell verwest."

"Was?" Fragte Voldemort ungläubig.Bella, Bellatrix erzählte ihm, was sie gesehen hatte. Voldemort lachte wieder.

"Sie war schon innerlich verbrannt, Bella. Ja, Avada Kedavra hat ihr nur den Rest gegeben. Diese Anthelia hatte schon geniale Flüche auf Lager!" Bei diesem Namen zuckte Bellatrix Lestrange heftig zusammen. Voldemort entging dies nicht, und er sah sie gehässig grinsend an, was seiner bleichen Schreckensfratze noch mehr Entsetzlichkeit verlieh. "Was hast du, Bella! Erschrickst dich vor dem Namen einer Toten, die zwar mächtig war, aber sich doch nicht gewagt hat, was ich, Lord Voldemort, getan habe?" Wieder lachte er schrill. Bellatrix verspürte den Drang, ihm zu erzählen, daß Anthelia nicht tot war. Nein, sie war nicht tot. Aber sie konnte es nicht verraten. Ihr Fluch würde sie innerhalb von Sekunden um hunderte von Jahren altern und sterben lassen, wenn sie es versuchte. Ja, und legilimentisch konnte Voldemort es auch nicht ergründen, weil Anthelia ihre Erinnerungen entsprechend versiegelt hatte. Was immer Anthelia getan hatte, um wieder in diese Welt zurückzukehren, es war eine Methode, die der des dunklen Lords ebenbürtig schien.

"Morgen wird es in der Zeitung stehen, Bella, daß Lady Ursina Underwood von mir getötet wurde. Dann werde ich ergründen, wo die anderen sogenannten entschlossenen Schwestern sich herumtreiben, wer alles zu ihnen gehört und sie eine nach der Anderen hinschlachten, wenn sie nicht wie du oder deine Schwester zu mir herüberkommen wollen, treu bis in den Tod."

"Ja, Herr", sagte Bellatrix Lestrange und atmete auf, daß sie der Versuchung doch noch widerstanden hatte, ihre grauenhafte Begegnung mit Anthelia zu verraten.

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"Ich will wieder nach Glocester zurück, ihr vermaledeiten Hexen!" Beschwerte sich Thomas Drake, als seine Frau und seine Tochter ihn mit Schwung in einen schwarzen Schrank mit goldenen Verzierungen geworfen hatten.

"Ob Großtante Ursina es schafft?" Fragte Lea ihre Mutter.

"Sie war gut vorbereitet", sagte Proserpina Drake und schob ihre Tochter in das Verschwindekabinett, ein uraltes Erbstück Ursinas, das die besondere Eigenschaft besaß, mit einem anderen solchen Schrank eine magische Brücke zu schlagen, deren Endpunkte die Villa Underwood und die Ländereien von Rainbowlawn waren. Thomas Drake wollte zwar nicht so recht, als Mutter und Tochter beschlossen hatten, sich vor dem dunklen Lord zu verstecken. Doch seine Frau hatte ihm deutlich gemacht, daß er dann nicht mehr lange leben würde und hatte vor seinen Augen eine Elster in einem hohen Baum mit einem einzigen grünen Blitzstrahl abgeschossen. Äußerlich unverletzt war der schwarz-weiße Vogel zu Boden gestürzt. "So einfach geht das, Tom. So einfach geht das", hatte sie ihm dann erzählt und ihn und Lea im eingeschrumpften Zustand in die Villa Underwood gebracht. Und jetzt waren sie auf Rainbowlawn, dem Stammsitz einer ebenso ehrwürdigen Zaubererfamilie.

"Ihr habt mich all die Jahre in Ruhe gelassen, ihr beiden und auch deine Mutter, Proserpina. Und jetzt auf einmal meint deine Tante, in unser Leben reinzufuhrwerken", fluchte Thomas Drake. Lea meinte dazu nur:

"Sei froh, daß sie es gemacht hat, Daddy. Dieser Emporkömmling ist schlicht größenwahnsinnig und brandgefährlich. Ich hoffe, wir können uns hier lange genug verstecken."

"Lange? Ich hoffe, wir können gleich wieder zurück und diesen Hokuspokus vergessen", sagte Mr. Thomas Drake seiner Tochter zugewandt.

"Ich fürchte, das wird nicht gehen, Thomas", sagte eine ältere Frauenstimme, die Thomas vor sieben Jahren schon nicht so recht hatte leiden können, weil sie ihm da vorgeschrieben hatte, daß er seine Tochter nur auf eine bestimmte Schule zu schicken und sich damit abzufinden habe, daß sie eben eine Hexe sei.

"Ich frage mich seit der Zeit, wo du mir diese ganze Sache erklärt hast, ob ihr mir nicht damals einen Liebeszauber oder einen Willensverdreherzauber angehängt habt", knurrte Mr. Drake, als seine Schwiegermutter Megara Nightfall den Schrank von außen öffnete und ihre Tochter und die Enkelin anstrahlte.

"Mutter, ich fürchte, Rainbowlawn wird nicht länger sicher sein, wenn der Emporkömmling meint, gegen uns alle losschlagen zu können, sofern Tante Ursina ihn nicht abwehrt", zischte Mrs. Drake ihrer Mutter zu.

"Glaube mir, Proppy, daß sie ihn voll ins Leere stoßen lassen wird. Das die Rainbowlawns immer noch unserer Gemeinschaft angehören, wissen außer ihnen nur andere Schwestern der Gemeinschaft. Außerdem ist Rainbowlawn unortbar, auch und gerade für diesen Emporkömmling Riddle."

"Wie kann jemand so heißen, Riddle?" Fragte Mr. Drake verächtlich.

"Deshalb nennt er sich ja auch Lord Voldemort", gab seine Tochter gehässig zurück.

"Ihr meint also allen Ernstes, daß ich nicht mehr nach Glocester zurück soll, weil jemand, der Riddle heißt, sich aber Voldemort nennt euch und mich umbringen will, weil ich Riesenrindvieh mich auf eine Familiengründung mit einer Hexe eingelassen habe, die in einer verschrobenen Sororität drinhängt?"

"Die Tatsache, daß wir dich mitgenommen haben, Tom, zeigt, daß dein Leben uns was bedeutet", erwiderte Megara Nightfall harsch. Proserpina nickte bestätigend.

"So, das tut es? Dann erkläre mir mal bitte, wie es mit mir jetzt weitergeht, wenn dieser Irre, den ihr als Emporkömmling bezeichnet, hinter uns allen her ist? Es ist ja schon schwer, wenn man von einem normalen Killer gejagt wird, den man noch nie gesehen hat. Aber von einem Satansbruder, der mit zwei Worten grüne Todesblitze abschießen und bestimmt noch mehr anstellen kann ...", ereiferte sich Thomas Drake. Lea sah ihre Mutter an und meinte:

"Dad hat recht, Mum. Soll er jetzt so tun, als sei er tot oder sich anders nennen und anderswo leben, weil der Emporkömmling ihn genauso jagt wie uns? Und was ist mit Oma Charlotte und Opa Greg, Onkel Stephen und seine Familie? Die können wir doch nicht alle rüberholen, oder?"

"Das fehlte noch, daß Stephen rauskriegt, daß ich 'ne Hexe geheiratet und mit der noch 'ne Tochter habe", knurrte Thomas Drake. Seine Frau sah ihn leicht verstimmt an und meinte:

"Ich habe es dir vor Leas Geburt erklärt, was mit mir und meiner Familie ist und daß Lea wohl auch magische Kräfte entwickeln wird. Als es dann amtlich war, will sagen, als Lea die teure Vase deiner Schwägerin hat fallen lassen und sie dann aus Angst vor Bestrafung wieder nahtlos heilgemacht hat, hast du gesagt, wenn sie das schon kann, muß sie auch mit all dem leben, was da dranhängt. Damit hast du dich auch selbst mit einbezogen. Oder ist dir das nicht klar gewesen?"

Thomas Drake nickte rasch und gestand ein: "Natürlich war mir klar, daß ich selbst da mit was ziemlich heftigem zu leben habe, wenn meine Frau und meine Tochter zaubern können. Aber sonst lief doch alles so weiter wie bisher. Lea ging nach Hogwarts, Stephen und den anderen haben wir aufgetischt, sie sei in einem Mädcheninternat bei Cambridge, und alles lief so weiter wie bisher. Aber jetzt habt ihr eure Angelegenheiten über meine gestellt. Das finde ich unverschämt."

"So, daß du noch lebst und mit deiner Frau und Tochter weiterleben kannst ist also eine Unverschämtheit für dich", mischte sich Megara Nightfall ein. "Dann möchte ich dir mal was sagen: Wenn dir was drohen würde, was auch Proppy und Lea betreffen würde, würdest du alles tun, um sie zu schützen, auch wenn sie dadurch nicht mehr wie bisher leben könnten."

Thomas schwieg. Er wußte eh, daß er bereits verloren hatte. Was half es da noch, sich aufzuregen. Er dachte daran, daß er in zwei Wochen wieder bei seiner Arbeit antreten mußte und es wohl sehr schwierig sein dürfte, ohne Telefon und sonstige Verbindungen sein weiteres Fernbleiben zu begründen, sollten ihn diese Hexenschwestern nicht nach Hause lassen.

Es verging wohl eine Viertelstunde, dann sagte Megara Nightfall:

"Es ist passiert. Der Emporkömmling hat das dunkle Mal über den Trümmern von Ursinas Haus in den Himmel gebrannt. Ich fürchte, er wird jetzt alle Verwandten von ihr jagen, um seine Einschüchterungstaktik durchzuziehen."

Irgendwas an Oma Megaras Aussage verblüffte Lea. Sie klang nicht so, als müsse sie den Tod ihrer Schwester betrauern, sondern nur eine unangenehme Nachricht weitergeben, die Schwierigkeiten brachte, die jedoch zu packen waren. Lea fragte ihre Mutter, was mit Großtante Ursina sei. Als Antwort bekam sie einen Gedanken ihrer Mutter unter die Schädeldecke gepflanzt, ohne Umweg über ihre Ohren.

"Stell keine Fragen, Kind! Großtante Ursina wußte, was geschehen könnte."

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Anthelia blieb abwechselnd mit anderen Spinnenschwestern in der Nähe von Julius Andrews. Nachdem sie Martha Andrews als praktische Exosenso-Außenstelle auserkoren hatte, schaffte sie es, sie durch den Weißrosenweg zu begleiten und mitzubekommen, was in ihrer unmittelbaren Umgebung gesprochen wurde. Nur in das Haus der Porters konnte Anthelia diese Verbindung nicht aufrechterhalten. Deshalb mußte Pandora Straton in der Nähe des Hauses 49 Posten beziehen und versuchen, möglichst viel zu erlauschen. Am Abend, als Julius ohne seine Mutter mit den Porters und Redliefs im betrunkenen Drachen war, bekam Pandora die Nachricht, daß Martha Andrews zusammen mit Zachary Marchand nach New York wollte, da Julius selbst den kommenden Tag im Stadion zubringen würde, um die Bayoo Bugbears und die Rossfield Ravens zu sehen.

"Sollen wir nur den Jungen überwachen oder auch die Mutter?" Fragte Pandora die höchste Schwester.

"Der Junge ist in größerer Gefahr, wenn der Abhängige den Auftrag erhält, ihn für seine Gebieterin zu verschleppen. Allerdings könnte es ihm einfallen, seine frühere Gemahlin anzugreifen und als Druckmittel gegen diese all zu herzensgute Jane Porter einzusetzen. Ich werde Schwester Vanessa beauftragen, die Mutter des Jünglings in der Stadt, wo die Unfähigen den Mittelpunkt ihres Handels mit Geld und Wertanlagen haben zu bewachen. Schwester Ardentia, die ja ohnehin diesem wilden Sport verschrieben ist und sich den Wettstreit morgen auch ansehen will, soll versuchen, in die Nähe des Jungen zu kommen, ohne dabei aufzufallen. Es wäre mir sehr recht, wenn sie sogar Vertrauen zu ihm gewönne, ohne daß Jane Porter davon erfahren müßte."

"Wirst du selbst morgen auch dort sein, höchste Schwester?" Fragte Pandora Straton.

"Nein. Ich werde morgen länger schlafen als üblich, da ich vorhabe, etwas ins Werk zu setzen, was mich über die Nachtstunden wach und bei allen Sinnen halten muß. Nur soviel, Schwestern: Ob sie es will oder nicht, Jane Porter wird den Jungen dazu bringen, den Aufenthaltsort der Abgrundstochter zu erkunden. Diese wiederum wird dies freilig gewahren und ihrerseits dem Jungen nachstellen, wie der Fisch nach dem Köder an der Angel schnappt. Unsere Aufgabe wird es sein, die Rute in Händen zu halten und den großen Fisch aus seinem sicheren Element zu entreißen, bevor dieser den Köder abbeißen, schlucken und an ihm erstarken kann. Deshalb muß ich andernorts gewisse Dinge tun, die diesem wichtigen Unterfangen dienlich sind", erwiderte Anthelia. Sie wollte Pandora noch nicht verraten, was sie tun wollte, um Hallitti zu entmachten, wenn sie erst einmal ihren Unterschlupf gefunden hätten.

"Schwester Dana kann leider erst morgen Nachmittag zu uns stoßen", verkündete Patricia Straton. "Ich habe heute eine Expresseule erhalten. Lady Ursina soll tot sein und über ihrem Haus sei das Zeichen des Emporkömmlings erschienen. Deshalb seien die britischen Schwestern des Ordens gehalten, sich zunächst abzusichern, um nicht die nächsten Opfer dieses Wahnsinnigen zu werden. Sie wollen so tun, als habe er sie heftig in Panik versetzt, während sie hinten herum den Widerstand gegen ihn einrichten und Vergeltungsmaßnahmen beschließen."

"Oh, die vielversprechende Lady Ursina hat sich von diesem Waisenknaben meucheln lassen? Dies erstaunt mich aber sehr", sagte Anthelia mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht. "Offenbar hat sie vermeint, ihm nicht entgegentreten zu müssen, und er befand, dies sei ein Irrtum."

"Höchste Schwester, wenn es stimmt, daß Lady Ursina wirklich tot ist kommt es bald zu Streitigkeiten unter den möglichen Nachfolgerinnen", flüsterte Pandora Straton.

"Möglich", warf Anthelia ein und sah dabei so überlegen aus, als bräuche sie nur mit dem Finger zu schnippen, um jede ihr genehme Möglichkeit wahr werden zu lassen. "Soviel ich weiß ist niemand anderes außer jenen, die bereits in unseren Reihen wirken, über meine körperliche Wiederkehr informiert worden. Wen würden die Schwestern des altehrwürdigen Ordens als Nachfolgerin bestimmen?"

"Öhm, Ursina hat eine Schwester, Megara Nightfall, die gemäß den Traditionen als Jüngere Tochter keinen Führungsanspruch haben durfte. Megara hat eine erwachsene Tochter, Proserpina. Diese wiederum hat gemäß den Traditionen der Schwesternschaft einen passablen Muggel gesucht und geheiratet, ja und sogar eine Tochter von ihm, Lea. Könnte sein, daß Megara nun auf die Führung der britischen Gruppe ausgeht."

"Gemäß den Traditionen, denen ich einst selbst gewisse Grundzüge verleihen durfte, Schwestern, ist es nicht üblich, daß eine direkte Anverwandte die Führung übernimmt. Sie darf höchstens in hoher Stellung wirken, während jemand anderes, den Ursina in ihr Vertrauen gezogen hat, ihren Platz einnimmt", erwiderte Anthelia. "Meine Mutter hätte also auch nie den Platz meiner Tante Sardonia einnehmen können. Ich habe Sardonias Willen im Land der Angeln und Sachsen beherzigt und das Verbot der Führungsnachfolge für leibliche Schwestern durchgesetzt, zumal meine damalige Vorgängerin und Feindin Sycorax Montague drei Schwestern hatte, die meinten, ihr nachzufolgen, von denen eine jedoch keine vollwertige Hexe war. Seit dieser Zeit hat sich, so sagtest du, Schwester Pandora, nichts geändert, was die Nachfolgeregelung angeht."

"Sie nennen es wohl da immer noch den französischen Fluch", seufzte Pandora Straton. "Offenbar gehen sie davon aus, daß dein alter Zauber immer noch verhindert, daß leibliche Schwestern die Nachfolge einer bestätigten und langjährigen Führerin antreten können. Stimmt das?"

"Der Jüngling, der meine Augen und Ohren in der Welt der Unfähigen geworden ist, hat in seinen Unterweisungen eine interessante Lektion erlernt: Die Unfähigen haben es nicht nötig, richtige Flüche auszusprechen, wenn sie allen vorgaukeln, sie seien bereits verflucht und Ereignisse erwähnen, die dies belegen können. Demnach handeln solche Unfähigen so, daß sie verflucht sind und bringen sich dabei selbst in mannigfache Gefahren. Doch mein Permadictio-Zauber wirkt immer noch, da er vom Vorhandensein leiblicher Schwestern genährt wird. Erst dann, wenn eine Führerin ohne leibliche Schwester ernannt wurde und eine gewisse Zeit diese Führung behauptet, wird dieser Zauber verfliegen. Aber von denen, die wohl gerade um die Nachfolge Ursinas ringen, ist mir keine Bekannt, die diesen Zauber brechen wird."

"Wirklich nicht?" Fragte Pandora Straton. Sie dachte an Proserpina, die ja keine Schwester, sondern die Nichte Ursinas war. Anthelia gestand ein, daß diese Hexe vielleicht einmal die Nachfolgerin Ursinas werden könnte, sofern sie nicht vorher alle Schwestern der sogenannten Nachtfraktion, die sich selbst die entschlossenen Schwestern nannten, über ihre Rückkehr ins Bild setzte und den Gesamtführungsanspruch bekräftigte, den sie seit ihrem ersten Tod zurückgestellt hatte.

"Wie dem auch sei, höchste Schwester, Dana Moore kann erst morgen nachmittag zu uns stoßen. Möchte sie zu dir kommen, höchste Schwester?"

"Ich erwarte sie morgen abend um neun Uhr hier. Bis dahin wird mir Schwester Ardentia wohl auch zu berichten wissen, wie sie in der Nähe des Jungen Julius verbleiben wird", sagte Anthelia. Dann nickte sie ihren Schwestern zu und wünschte ihnen eine gute Nacht. Sie disapparierte aus dem Weinkeller der Daggers-Villa, wo die wirklich wichtigen Treffen stattfanden und wohin nur gelangte, wer apparieren konnte.

In ihrem Schlafgemach versenkte sie sich in eine meditative Trance, mit der sie es erreichen wollte, den notwendigen Schlafrhythmus um mehr als sieben Stunden nach hinten zu verlegen. Immerhin hatte sie es schon geschafft, vier Stunden davon zu erreichen, ohne daß der Gürtel der zwei Dutzend Leben seine Kraft verloren hätte. Denn Anthelia hatte vor, die Tochter des dunklen Feuers während der Nachtstunden zu jagen, wenn sie wußte, wo sie sich aufhielt. Um dieses schier unsterbliche Geschöpf zu erlegen benötigte sie jedoch etwas, von dessen Existenz sie erst seit zwei Monaten wußte. Es würde schwierig werden, an diese Dinge zu kommen, zumal sie nicht wußte, wie viele davon sie brauchte. Doch morgen würde sie sich mit einer Spinnenschwester treffen, die in einer der giftgeschwängerten Städte der Unfähigen lebte. Mochte es möglich erscheinen, diese machtvollen Dinge so schnell es möglich war zu bekommen, wollte sie keine Zeit verlieren. Es mochte angehen, daß der Junge, den sie ab heute genauso beschattete wie Cecil Wellington, bereits in den nächsten Tagen an den Schlafplatz der Abgrundstochter gelangen würde. So ging sie nun fünf Stunden später als sonst zu Bett und schlief die acht Stunden, die sie benötigte, um weiterhin vom magischen Gürtel Dairons vor zweiundzwanzig Todesarten und ihren Unterarten geschützt zu sein.

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Arnold Hornsby hatte den Flug genutzt, um über Satellitentelefon die Suche nach den Verwandten von Richard Andrews anzukurbeln. Monsieur Charles Lucian, der in San Rafael ein Modegeschäft für europäische Spitzenprodukte führte, kannte in Paris Leute an wichtigen Positionen und auch einige Unterweltgrößen, die bestimmte Aufträge erledigen konnten.

"Sagen Sie Ihren guten Freunden bitte, daß ich diese Martha Andrews und ihren Sohn Julius bis zum zweiten August bei mir in Philadelphia haben möchte! Ich bereite schon was vor, damit ich am dritten August meine Verbindungsleute mit denen vom FBI quatschen lassen kann, ob wir nicht den Gast von Ihnen kriegen können. Vielleicht können die beiden mir auch was sagen, was ich wissen muß, um den Irren zu stoppen."

"Naturellement, Big H", erwiderte Charles Lucian über die abhörsichere Satellitenverbindung. Was darf ich denen anbieten, die Ihren Auftrag erledigen möchten?"

"Eine Million bei Lieferung", erwiderte Hornsby. Eine Sekunde Schweigen folgte. Dann sprach Lucian beeindruckt:

"Für dieses Geld würde manche Mutter ihren Sohn verraten, Monsieur. Ich werde mich darum kümmern."

"Das hoffe ich sehr", erwiderte Hornsby und beendete die Verbindung.

Am anderen Ende der wegen des Satelliten mehr als 72000 Kilometer langen Funkstrecke schaltete Charles Lucian seinen Zerhacker wieder aus und nickte einem imaginären Zuhörer zu. Es würde ein Kinderspiel sein, die beiden gesuchten zu kriegen und über den großen Teich zu holen. Er hatte für solche Fälle ein Frachtflugzeug in Paris stehen, wenn es galt, unerwartete Gäste mal eben in die Staaten einzufliegen, ohne daß die Grenzbeamten des einen oder des anderen Landes davon Wind bekamen. Es würde nur zwei Anrufe dauern und dann würden diese Martha Andrews und ihr Sohn Julius schon morgen "geliefert" werden. Das hatte er schon einmal für Big H, wie ihn viele in der Halbwelt nannten hingebogen, allerdings hatte er bisher nicht die Ehre gehabt, mit Hornsby persönlich zu unterhandeln. Offenbar war der nun sehr wild darauf, die Hinterleute dieses Massenmörders, der sich als Richard Andrews bezeichnete, in die Finger zu kriegen. Da dieser Andrews die einzige Spur war, an diese Leute heranzukommen, mußten sie die Verwandten des echten Andrews befragen. Lucian wußte, daß er sehr behutsam vorgehen mußte. Es durfte der Polizei oder den Meldeämtern nicht auffallen, daß nach der Frau oder Exfrau und dem Sohn des angeblichen Richard Andrews gesucht würde, bis Big H sie sicherhatte. Die Million, die Hornsby ausgesetzt hatte, wollte Lucian haben, nur er. Er wußte, daß sonst jede Menge falsche Andrews' auftauchen würden. Da er nicht gerne zulange Privatgespräche mit Frankreich führte, um nicht doch noch als etwas anderes als ein seriöser Modeverkäufer zu gelten, gab er den Auftrag zur Suche nach dem Jungen über Mobiltelefon.

"Ich will von dir nichts hören, bis ihr sicher wißt, daß ihr die Beiden habt", sagte Lucian zu seinem besten Partner in Paris. "Hört euch um, was ihr über diese Andrews' herauskriegen könnt! Dann arbeitet was aus, um sie zum Frachtterminal von Orly zu kriegen. Da übernehmen dann meine Partner von Transports Transatlantiques die Fracht."

"Mein Freund, wir werden keine Probleme haben, wenn die Adresse stimmt. Sollen wir dich gleich anrufen, wenn wir das geprüft haben!"

"Nein, mein Freund. Rufe mich morgen nachmittag an, wenn du sichergestellt hast, daß alles glattgeht. Ich werde dann sehen, unter möglichst vielen Leuten zu sein. Da wir eh Französisch reden ist das ja mit den Zuhörern nicht so wild hier. Die können ja fast nur Englisch oder Spanisch hier."

"Wenn du meinst, wir könnten dann besser reden", erwiderte Lucians Partner. Dann verabschiedete er sich höflich.

"Wir werden es erleben", sagte Lucian selbstsicher.

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Es gab nur wenige, die über seine geheimsten Wünsche etwas wußten. Seine? Das war eigentlich das falsche Wort. Zwar galt Dr. Alexander Fox als ein durch und durch würdiges Exemplar des männlichen Geschlechts. Doch seit seiner frühesten Kindheit war er von der Vorstellung beseelt, als Mädchen besser mit alle dem zurechtgekommen zu sein und verabscheute seinen Körper immer mehr, je weiter dieser sich entwickelte. Daß er mal die Kleider seiner Cousine Lucy angehabt hatte, davon hatten seine sehr konservativ denkenden Eltern nie etwas mitbekommen. Es wäre ja auch ein einfacher Scherz gewesen, wenn er da nicht diese Gedanken gehabt hätte, jeden Tag solche Sachen anzuziehen, nicht mit anderen Jungen darum käbbeln zu müssen, wer nun stärker, härter und vor allem körperlich am besten ausgestattet wäre. Als der Körper sich vollends entwickelt hatte, begann er, seine heimlichen Empfindungen durch sehr verbissenes Studium des weiblichen Geschlechts, sowohl körperlich als auch psychologisch, zu maskieren. Daß Alexander Fox, dem eine Menge Affären nachgesagt wurden, weil er fortwährend beweisen wollte, daß er nicht gleichgeschlechtlich veranlagt war, nur der äußere Anschein, die funktionale Hülle einer Seele im falschen Körper war, hatte aus der Verwandtschaft niemand mitbekommen. Auch nicht als Fox den Doktor in Frauenheilkunde erwarb und obendrein noch einen hohen Grad in technischer Ausbildung erreichte, war die innere Natur, die sich in Abwesenheit aller Zuhörer Virginia nannte, nicht ans Licht gekommen. In der angeborenen Erscheinungsform Alexander Fox spielte Virginia alle Möglichkeiten durch, die ihr offenstanden, diese sie anwidernde Erscheinungsform loszuwerden. Doch alle medizinischen und bürokratischen Hürden erschienen ihr zu heftig und vor allem zu unvollkommen. Zwar war es möglich, einen Mann in eine Frau oder umgekehrt zu verwandeln. Doch dieser Vorgang war zeitaufwändig, kompliziert und nicht frei von Risiken, abgesehen davon, daß ein zur Frau umgewandelter Männerkörper immer noch kein Kind empfangen und wie jede andere Frau austragen und gebären konnte. Dieses Wunder des Lebens hatte die in Alexander Fox gefangene Virginia dazu getrieben, jeden Weg zu erforschen, den Vorgang der Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt so lückenlos wie möglich nachzuvollziehen. Doch alle praktischen Experimente waren ihm beziehungsweise ihr irgendwann vergellt worden, weil sich die Leiter medizinischer Forschungseinrichtungen aus moralischen Gründen verweigerten, Dr. Fox weiterarbeiten zu lassen. Dann hatte Hollywood vor zwei Jahren eine Komödie über einen schwangeren Mann in die Kinos gebracht, und da waren dann alle sich davon heftigst distanzierenden Institute und Universitäten endgültig von ihm abgerückt. Dabei wollte Virginia keine Männer, die Kinder bekommen konnten, sondern einfach nur verstehen, woran es der bisherigen Medizin fehlte, den in Männerkörpern gefangenen Frauenseelen eine vollkommene körperliche Erfüllung ihres Lebens zu verschaffen. Doch etwas war dabei herumgekommen, von dem die meisten Institute nicht ahnten, daß es ging. Doch damit konnte Fox kaum an die Öffentlichkeit treten. Die Menschheit mußte erst die nötige Reife dafür entwickeln.

Um Virginia einige wenige Stunden in der bevorzugten Gestalt zu verleihen, hatte Fox, der ursprünglich in Orlando, Florida, seine Praxis mit angeschlossenem Labor betrieb, ein Dauerengagement in einer Travestie-Show angenommen, wo Männer auftraten, die teilweise nur aus Jux in Frauenkleidern agierten, teilweise wie Virginia heimliche Gefangene in falschen Körpern waren. Was wem genau eigen war hütete jede dort auftretende Person als ganz privates Geheimnis. Um sich nicht unnötig bloßzustellen hatte sich Alexander Fox den Künstlernamen Salu Renard zugelegt. Jedes Wochenende verließ Alexander Fox das biedere Umfeld seiner Praxis in Florida und flog nach New Orleans, wo sich der von verschiedenen Lehrinstituten verabscheute Experte für die ersten neun echten Lebensmonate durch Kleidung, Kosmetik und sehr sorgfältig angefertigte Attrappen in Virginia verwandelte, die dann als Salu Renard vor amüsiertem Publikum posierte, sang und tanzte. Beide waren nun zufrieden, das anerkannte Wesen Alexander Fox und seine geheime Natur Virginia. Doch Salu hatte das Pech oder auch Glück, daß das Vergnügungslokal "Rosa Palast" von Hubert Laroche betrieben wurde, zumindest einem seiner Strohleute gehörte. Vor einem Jahr dann war es passiert. Laroche war nach Orlando gekommen, angeblich weil seine Freundin wohl Probleme mit der Gebärmutter habe und er trotz böswilliger Nachrede einer der besten niedergelassenen Spezialisten auf diesem Gebiet war. Es stellte sich jedoch heraus, daß Laroche die falschen Angaben in Foxes Bewerbung für den rosa Palast hinterfragt und das wahre Umfeld seiner sehr echt wirkenden Paradekünstlerin Salu Renard ergründet hatte.

"Peter Wolf", interessanter Name für jemanden, der sein ganz persönliches Geheimnis mit sich herumschleppt", hatte Laroche gesagt, als die Frau, die er mitgebracht hatte, von Dr. Fox' Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer geführt worden war. "Der kleine Junge, der das wilde Tier einfängt, das Tier, welches in uns allen steckt." Dr. Fox war erbleicht. Laroche lachte leise und meinte: "Denken Sie, ich würde meine Läden einfach so laufen lassen, ohne das Personal genau zu kennen? Non, Monsieur! Ich muß wissen, mit wem ich es zu tun habe. Ich weiß auch, daß Sie, Docteur Fox, in den letzten vier Jahren von fünf Psychiatern untersucht wurden, weil Ihre Arbeitgeber fürchteten, Sie wären eine Art Frankenstein, weil sie versuchten, die pränatalen Bedingungen nachzuempfinden und dabei auch Experimente mit Nagetieren und Halbaffen gemacht haben, die von den Instituten als verwerflich betrachtet wurden. Ich habe mir die Ergebnisse dieser Forschungen besorgt." Fox erbleichte noch weiter, während Laroche, wie er da in seinem schicken Pariser Designer-Anzug saß, eine sehr überlegene Miene zur Schau trug. "Ich habe die von Ihnen verworfenen Daten finden können, seitdem Sie für mich arbeiten, Docteur. Und ich weiß, warum Sie nicht mehr in Stanford oder der Universität von Kalifornien bleiben durften." Laroche holte Unterlagen aus seiner mitgebrachten Aktentasche und zeigte Fox die Blätter mit Versuchsanleitungen, Ergebnistabellen und Verbesserungsvorschlägen für die Experimente, die er unter der Hand gemacht hatte.

"Diese Daten konnte es unmöglich geben", protestierte Fox halbherzig. Laroche meinte dazu nur:

"Das ist zwar richtig. Aber Sie haben über ein Terminal einer großen Anlage ihre Computerarbeiten erledigt. Sicher, Sie haben vieles verschlüsselt und rasch wieder gelöscht. Doch einiges ist doch bei den Routinespeicherungen auf andere Datenträger ausgelagert worden. Das Verfahren, an dem Sie das ganze letzte Jahr gearbeitet haben, sind Sie sicher, daß Sie es so einfach aufgeben wollen?"

"Was wollen Sie von mir?" Flüsterte Fox, der erkannte, daß er hier gerade am Rande einer Erpressung oder dem berühmt-berüchtigten Pakt mit dem Teufel entlangbalancierte.

"Eine klare Frage ohne weitere Umschweife", lobte Laroche das Vorpreschen. "Ich biete Ihnen an, Ihr Projekt auf meinem Grund und Boden, auf meine Kosten weiterzuführen, wenn Sie mir ein Zehntel der kommerziellen Verwertungsrechte geben und nebenbei keinem erzählen, daß Sie für mich arbeiten. Falls Sie jedoch nicht für mich arbeiten wollen - Ja, damit haben Sie sicher jetzt gerechnet - muß ich in aller Öffentlichkeit erklären, daß meine Vergnügungslokale kein Tummelplatz für verkappte Sonderlinge sind, die tagsüber ein biederes Leben vortäuschen und nachts auf ungehemmt und tabulos machen. Ich gelte in New Orleans als bedeutender Manager im Unterhaltungssektor. Ich könnte mir einen Frauenarzt in einer Travestie-Show nicht leisten, wenn Sie verstehen ..." Fox nickte. Da war die Erpressung, aber eine aus Zuckerbrot und Peitsche. Sein Projekt, von dem er bisher dachte, niemand anderes habe es ausgekundschaftet, bedeutete ihm beziehungsweise ihr zu viel, um darauf zu verzichten. Außerdem wollte Dr. Fox nicht in den Medien erscheinen und die bisher so gut gehütete Identität Virginias zum Thema für Sensationsblätter verkommen lassen. Nach einigem Hin und her erklärte ihm Laroche, daß er ihm genug Platz und Geld zur Verfügung stellen würde, um die nötigen Vorrichtungen zu bauen. Ein Vierteljahr später brach Dr. Fox seine Zelte in Orlando ab und siedelte nach New Orleans um. Laroche hatte nicht zu viel versprochen. Sein Projekt lief gut weiter, unbeobachtbar von den argwöhnischen Augen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, ungehemmt von ethischen Grenzen. Diese fielen Fox erst ein, als im Juni 1996 Laroche mit zwei Bewußtlosen ankam und von Fox verlangte, sie zu übernehmen.

"Aber, das wäre ja Freiheitsberaubung", hatte er gesagt. Doch Laroche meinte dazu:

"Freiheitsberaubung kommt nur dann vor, wenn jemand sich der Freiheit vor der Türe bewußt ist. Außerdem hätte ich keine andere Alternative als die beiden zu töten. Wenn Ihnen das Lieber ist", gab Laroche überlegen lächelnd zurück. Da wußte Dr. Fox, daß dieser Mann, der sich Patron nennen ließ, einerseits sehr skrupellos war, andererseits wohl alle nichttödlichen Methoden bevorzugte, um seine Feinde abzuwehren. Fox wußte, daß es keinen Weg mehr zurück gab. Außerdem lief das Projekt jetzt sehr gut an. So verschwanden die beiden Hauptkonkurrenten sprichwörtlich in der Versenkung.

__________

Es war am Nachmittag des 31. Juli, als Laroche von einem Freund bei der Grenzüberwachung einen Anruf erhielt. Er saß gerade in seinem Privatsalon und gönnte sich ein Konzert von Berlios aus seiner großen Stereoanlage. Ein Griff nach der Fernbedienung, und die Musik schwoll schlagartig ab. Dann nahm er den Hörer und meldete sich.

"Patron, das glauben Sie nicht. Diese Leute, Martha und Julius Andrews, gemeldet in der Rue de Liberation 13, Paris, die sind seit gestern in New Orleans. Das konnte ich heute erst nachprüfen, weil mein Boss gestern alle Abteilungen geprüft hat und ich jetzt erst ..."

"Wie bitte?! Diese Leute, Mutter und Sohn? Die sind in meiner Stadt? Wo genau?" Stieß Laroche aufgeregt in den Hörer.

"Nun, die wohnen nicht im Hotel. Die sind bei einem Zachary Marchand untergebracht. Über den habe ich gerade was rausbekommen. Raten Sie mal, was der von Beruf ist!"

"Der Zachary Marchand? Den kenne ich. Wollte mir unterstellen, ich sei ein Schwerverbrecher", lachte Laroche. "Der arbeitet für das FBI."

"Oh, dann kennen Sie den Herren persönlich? - Geht mich ja nichts an, Patron. Ich faxe Ihnen die Adresse im üblichen Code zu."

"Natürlich", erwiderte Laroche. Dann trennte er die Verbindung und stellte die Stereoanlage wieder lauter. Er freute sich wie ein Schneekönig. Besser konnte es für ihn nicht laufen. Wenn die beiden in seinem Revier waren, noch dazu beim FBI, würde er sie bald schon als Gäste begrüßen können. Er wartete zehn Minuten und rief dann seinen neuen Wunderdoktor, Alexander Fox zu sich.

"Docteur, sind die weiteren Gästequartiere einsatzbereit?" Der dunkelhaarige, in seinem üblichen Aufzug relativ unscheinbare Arzt nickte begeistert. Laroche wußte, seitdem sein neuer Mitarbeiter sich damit angefreundet hatte, Dauergäste zu beherbergen, konnte der sein achso geliebtes Projekt noch besser vorantreiben, eine Revolution der Reduktion von menschlichen Lebensfunktionen zur schier unbegrenzten Aufbewahrung.

"Wieviele Gäste wollen Sie demnächst einbetten, Patron?" Fragte Fox.

"Könnte sein, daß wir eine Frau und einen Halbwüchsigen hier haben, wenn es sein muß noch einen erwachsenen Mann vom FBI, sofern Sie keine Probleme damit kriegen."

"FBI? Die werden den doch suchen", wandte Fox ein. Laroche nickte und meinte:

"Wir werden ihnen was zu finden geben, damit die ihn nicht bei uns suchen, Docteur. Checken Sie in Ruhe die gesamte Anlage!"

"Brauche ich nicht. Der Computer hat ein Hilfssystem und würde mich sofort alarmieren, wenn das Primärsystem ausfiele. Aber dagegen habe ich genug Vorkehrungen getroffen. Notfalls kann ich einzelne Einheiten separat arbeiten lassen."

"Hat Ihnen schon mal wer gesagt, daß Sie da was ganz tolles erfunden haben, Docteur?" Grinste Laroche.

"Das war mir schon seit fünf Jahren klar, Patron", erwiderte Fox lächelnd.

"Nun gut. Ich werde meinen guten Freund Gordon daran erinnern, daß er mir was schuldet. Mal sehen, ob wir die Bagage nicht schon morgen bei uns haben können."

"Das müssen Sie wissen, Patron", erwiderte Fox. Dann ging er zurück an seine Überwachungsgeräte. Abends würde er sich wieder in die farbenfrohe Salu Renard verwandeln, um im Rosa Palast mit anderen Verkleidungskünstlern und Verkleidungskünstlerinnen vor dem Extravaganzen gewohntem Publikum zu präsentieren.

"Ich weiß, Gordon, das ist nicht einfach. Aber denke daran, daß du immer noch deinen Job machen darfst, obwohl du vor zwei Jahren diese unangenehmen Schwierigkeiten hattest", sagte Laroche gerade zu seinem handzahmen Erfüllungsgehilfen in der FBI-Niederlassung. Gordon Walker wußte zu gut, was Laroche meinte und auch, daß er diesem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Deshalb fiel der zu erwartende Widerstand auch sehr kläglich aus.

"Wann wollen Sie haben, daß ich die drei zusammen zu Ihnen bringe?" Fragte Walker.

"Hmm, am besten richtest du es so ein, daß wir sie morgen Abend abholen können. Also in sagen wir mal sechsundzwanzig Stunden von nun an, also nach ein Uhr am Morgen des zweiten Augusts. Das dürfte Ihnen genug Zeit geben, den Plan umzusetzen."

"Ja, das tut es. Werden Ihre Leute mit dem Hubschrauber arbeiten?" Wollte Gordon wissen.

"Ja, werden sie", sagte Laroche.

"Gut, dann planen wird das durch", willigte Walker mit leichtem Seufzer ein. Laroche lächelte. Die Falle für die Andrews' war so gut wie gestellt.

__________

Irgendwie hätte wohl niemand geglaubt, daß die lässig ihre mit hautengen blauen Baumwollhosen bekleidete, kleine, leicht untersetzte Frau mit dem roten T-Shirt, die sich gerade auf einem bordeauxroten Ledersofa flezte, einmal zu den beliebtesten Mädchen des Thorntails-Abschlußjahrgangs 1984 gehört hatte. Tyche Lennox, die sich von Freunden lieber nur Ty nennen ließ, war eine der wenigen vollmuggelstämmigen Durecore-Bewohnerinnen gewesen und hatte mit ihrem babyhaften Gesicht mit den rosaroten Apfelbäckchen nie Probleme gehabt, Jungen für kleinere Gefälligkeiten um den Finger zu wickeln. Sie arbeitete im Zaubereiministerium in der Mysteriumsabteilung, Sektion hochwirksame Artefakte und lebte mehr oder weniger ein beschauliches Leben. Doch als vor fünf Monaten Romina Hamton, eine ehemalige Schulfreundin eine Klasse über ihr sie mit Anthelia und den Spinnenschwestern bekannt gemacht hatte, verlief ihr Leben nach strengen Regeln, die Anthelia ihr vorgab. Gerade war die höchste Schwester wieder zu Besuch und betrachtete neugierig den Fernsehschirm, auf dem gerade mal wieder über den laufenden Präsidentschaftswahlkampf berichtet wurde.

"Wen glaubst du, Schwester Ty, werden die Unfähigen dazu bestimmen, ihre Geschicke weiterzuführen?" Fragte Anthelia, die zwar von Cecil wußte, was Kartoffelchips waren und auch deren Geschmack aus den Erinnerungen des Jungen erfahren hatte, aber doch einmal eine Hand Voll davon probierte, um sie ohne Umweg mit eigenen Sinnen zu schmecken. Dabei krümelte sie natürlich etwas, was ihr aber nicht viel ausmachte.

"Nun, im Moment hat Clinton wieder gute Chancen, höchste Schwester. Seit wann interessierst du dich für Muggelpolitik?" Wollte Tyche wissen und strich sich nachdenklich durch ihr brünettes Haar.

"Ich mußte lernen, daß seit der Zeit meiner großmächtigen Tante vieles in der Welt der Magieunfähigen erfunden und zur Alltäglichkeit erhoben wurde. Alleine schon dieser Brodem, in dem du lebst, zwingt mich, die Taten der Unfähigen zur Kenntnis zu nehmen", sagte Anthelia sehr verbittert. "Doch ich bin nicht hier, um über diese Stadt und ihre Bewohner zu lamentieren. Mir geht es um jene Objekte, von denen du mir vor einigen Monaten berichtet hast. Hast du dich erkundigt, wie du welche davon beschaffen kannst, ohne daß es denen, die sie bewachen, auffällt?"

"Du meinst die Kristalle, höchste Schwester? Das ist nicht einfach gewesen. Aber ich habe bei meiner Arbeit in der Myst herausgefunden, wie man täuschend ähnliche Nachbildungen machen kann. Es wird aber auffallen, wenn alle zwei Wochen die Bestände kontrolliert werden. Wenn du also welche brauchst, höchste Schwester, dann sollten wir sie innerhalb von zwei Tagen beschaffen und vor Ablauf der nächsten zwei Wochen verwenden oder zurückgeben. Doch möchtest du mir sagen, wozu du sie brauchst?"

"Ich gedenke, damit einen großen Alpdruck von uns allen zu nehmen, Schwester Tyche. Nachdem ich hörte, daß es Artefakte gibt, die eine allen Zauber zerstreuende Kraft freisetzen können, erkannte ich, daß sie mir sehr dienlich sein mögen, um einen von starken zaubern beschirmten Ort zu erreichen."

"Eine Zauberschule?" Fragte Ty etwas irritiert. Anthelia schüttelte den Kopf.

"Nein, eine versteckte Höhle, die es noch zu finden gilt."

"Dann dürfte diese aber nicht tiefer als zwölf Meter unter dem Grund liegen, Höchste Schwester. Weiter reichen die Incantivakuumkristalle nicht, selbst wenn wir fünf oder zehn Stück gleichzeitig verwenden", erwiderte Tyche und griff selbst in die Chipstüte.

"Ich gehe davon aus, daß wir bald erfahren werden, wie tief die gesuchte Höhle unter der Erde liegt. Mag sogar sein, daß ihr verhüllter Eingang oberirdisch gelegen ist. Ich gehe nur davon aus, daß eine magische Wehr sie vor unerwünschtem Betreten bewahrt, und diese will ich durchbrechen", erwiderte Anthelia und ließ mit ihren telekinetischen Kräften die größeren Krümel zusammenfliegen und sich auf einem kleinen Teller anhäufen. Tyche sah sie zwar etwas irritiert an, wohl weil sie fürchtete, auch diese Form von Magie könne geortet werden. Doch sie hätte es nie gewagt, der höchsten Schwester etwas vorzuwerfen.

"Ich kann wohl an die zehn Kristalle bei Seite schaffen lassen, ohne in Verdacht zu geraten, höchste Schwester. Aber wir haben dann nur zwei Wochen, bis das Verschwinden bemerkt wird. Die Incantivakuumkristalle sind sehr mächtige Hilfsmittel und obendrein auch sehr teuer in der Anschaffung."

"Wäre es da nicht besser, sie bei den Herstellern direkt zu erlangen?" Fragte Anthelia.

"Leider nicht, weil jeder Kristall mit einem Magiefühler geprüft wird. Es geht nur in der Abteilung selbst. Aber wie gesagt kann ich wohl zehn davon abzweigen lassen, ohne selbst in Verdacht zu geraten."

"Wir dürfen nicht den Imperius-Fluch benutzen, Schwester Tyche", sagte Anthelia. "Seine Anwendung könnte ans Licht kommen. So müssen wir die Kristalle selber an uns bringen. Fertige die täuschend echten Nachbildungen an! Wir beide werden sie dann morgen gegen zehn echte Kristalle austauschen."

"Wie du meinst, höchste Schwester", sagte Ty und beendete damit das Thema.

Anthelia bat sie dann darum, ihr die Stadt zu zeigen. Sie wollte prüfen, ob man nicht in der Nähe von Viento del Sol eine weitere Operationsbasis der Spinnenschwestern einrichten konnte, von der die Zaubererwelt nichts wissen durfte. Als sie auf die Straßen San Rafaels traten, dankte Anthelia innerlich Dairons großen Fähigkeiten, daß der Gürtel sie auch vor giftigem Rauch schützte. Denn als solchen sah sie die Abgase aus tausenden von Autos, Lastwagen und Bussen.

"Wenn du nicht im Ministerium apparierst, Tyche, wie bewegst du dich in der Stadt voran?" Wollte Anthelia wissen.

"Nun, meistens gehe ich zu Fuß. Nur wenn ich in einen Supermarkt der Muggel will, nehme ich schon mal den Stadtbus", erzählte Tyche Lennox.

"Oh, dies möchte ich gerne einmal ausprobieren. Ich hörte, diese Autoomnibusse können mehr als dreißig Menschen zur Zeit tragen. Das würde doch viele dieser Selbstfahrkutschen einsparen, wenn nur solche Transportmittel benutzt würden."

"Ja, wenn da nicht die Vorstellung wäre, daß der Besitz eines Autos den gesellschaftlichen Wert anhebt, höchste Schwester. Aber wenn du meinst ..."

"Ich meine", bekräftigte Anthelia.

"Nun, hier in der Nähe gibt es eine Haltestelle. Muggelwährung habe ich mit. Ich könnte mit dir die Strecke fahren, die ich für die üblichen Einkäufe zurücklegen muß."

"Wieso holst du dir nicht was du brauchst durch Zauberei, Schwester? Es würde dir diesen giftigen Dunst ersparen."

"Weil das Ministerium mir die Zauberei nur außerhalb der Stadtgrenzen erlaubt und meine Eltern meinten, mir was gutes zu tun, mir dieses Haus zu kaufen, in dem ich jetzt wohne. Das ist die Sache mit meiner nichtmagischen Verwandtschaft, die mich immer noch für eine gewöhnliche Hochschülerin hält."

"Ja, und irgendwann werden deine Eltern befinden, daß du dir aus ihrem Bekanntenkreis einen Mann erwählst oder ihn dir gleich anempfehlen", knurrte Anthelia, bevor sie die Haltestelle erreichten. Ty sagte nichts dazu. Irgendwie hatte Anthelia nicht ganz unrecht. Sie hatte sich selbst bisher nie getraut, zwischen den beiden Stühlen herauszutreten, zwischen denen sie seit ihrer Einschulung in Thorntails hockte. Vielleicht sollte sie so schnell wie möglich alle festen Verbindungen zur Muggelwelt abbrechen. Wer wußte schon, was ihre neuen Bundesschwestern mit ihr noch vorhatten.

An der Haltestelle warteten nur eine Mutter mit einem großen Kinderwagen und zwei Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren, die sich wohl über eine der gerade so umschwärmten Musikgruppen unterhielten, die ihre Lieder in diesen Silberscheiben einlagerten, die Cecil Wellington immer wieder benutzte, um bereits gespielte Lieder immer wieder hören zu können.

Als der Bus kam, den Tyche immer benutzte, rümpfte Anthelia die Nase, weil der Rauch, den dieses große Vehikel abließ schlimmer stank als verbrennender Holzleim. Dennoch stieg sie mit Tyche ein. Dabei fühlte sie unvermittelt die starke Nähe eines ihr bereits bekannten Geistes. Wohl aus Reflex tastete sie mit ihrem Spürsinn für hörbare Gedanken um sich und fand die Quelle dieses sicheren Gefühls. Wie kam es, daß der Junge in diesem Moment in dieser Stadt unterwegs war? Aber was Anthelia noch irritierte war, daß jemand anderes, den sie noch nicht kannte an diesen Jungen dachte, sogar an den Ort, wo er wohnte.

"Da ist jemand, den ich auskundschaften muß", schickte Anthelia eine reine Gedankenbotschaft an Tyche und hieß sie, sich ganz still zu verhalten. Dann sah sie ihr zu, wie sie dem Busfahrer das passende Geld für die Stationen hinlegte, die sie und Anthelia zurücklegen mußten und folgte ihr zwischen den Sitzen hindurch, bis sie zu einem Mann in einem italienischen Maßanzug kamen, der Anthelia sehr interessiert ansah und dann Tyche.

Anthelia wußte, dieser Mann da vor ihr suchte nach Julius Andrews. Wußte er vielleicht schon, daß der Junge in diesem Bus saß? Sie trat näher und sprach ihn an, wünschte ihm einen angenehmen Tag und fragte nach der Uhrzeit. Dabei horchte sie auf die an der Oberfläche seines Bewußtseins schwimmenden Gedanken. Es ging um einen Big H, der Julius und seine Mutter wegen des Todes seiner Schwester in seine Gewalt bringen wollte. Das verstimmte sie ein wenig. Denn daß jemand diesen Jungen fangen wollte, nur weil er diesen Unfug vom Doppelgänger glaubte, störte ihre Pläne. Sie ignorierte es, als der Mann ihr und Tyche enttäuscht nachsah, weil sie sich nicht auf ein längeres Gespräch einlassen wollten.

Anthelia fühlte etwas von Julius ausgehen, als sie wie beiläufig an ihm vorbeischritt. Es war so, als würde etwas wie ein Windhauch ihr Seelenmedaillon in Schwingung versetzen, in die dem Jungen entgegengesetzte Richtung schiebend. Sie stutzte für eine Sekunde. Dann erkannte sie, daß den vierzehnjährigen Zauberschüler wohl ein gewisser Zauber umgab, der dunkle Artefakte zurückdrängen konnte, nicht stark aber spürbar. Sie ging weiter, um nicht aufzufallen und suchte sich mit Tyche freie Plätze, von denen aus sie Julius und diesen Mann, der nach ihm suchen ließ beobachten konnte. Als sie saßen betrachtete sie den Jungen, der neben einer sehr jungen Frau mit weizenblondem Haar saß, die ihn offenbar begleitete. Sie lauschte auf ihre Gedanken, die von Neugier und etwas schlechtem Gewissen getragen wurden und erfuhr, daß sie Brittany Forester hieß. Sie war wohl hier, weil Julius etwas suchte. Im Verlauf der Fahrt bekam sie mit, daß er von ihr zu einem Ort namens Internetcafé gebracht werden wollte. Offenbar hatte Ardentia Truelane den Jungen nicht so gut beobachten können wie vereinbart war. Julius selbst dachte an ein Gespräch, daß der Fremde im italienischen Anzug geführt hatte und daß er bald nach Neuigkeiten über seinen Vater suchen würde. Er hatte Angst vor diesem Mann einige Reihen vor ihm, weil der die Adresse erwähnt hatte, wo Julius mit seiner Mutter wohnte. Nun, sie würde sich darum kümmern müssen.

"Die beiden steigen aus", flüsterte Anthelia zu Tyche, als Brittany und Julius Anstalten machten, den Bus zu verlassen. "Aus unserer Fahrt zu diesem Supermarkt wird wohl nichts."

"Was ist denn los, höchste Schwester?" dachte Tyche nur.

"Der Junge ist in Gefahr, von den Kumpanen eines rachsüchtigen Schurken eingefangen zu werden", mentiloquierte Anthelia an Tyche. "Da, dieser Mann vor uns erhebt sich auch von seinem Platz. Offenbar gelangte er zur Erkenntnis, den Jungen bereits gesehen zu haben. Er will ihm nachfolgen. Das können wir nicht zulassen." Anthelia nahm Tyches Handtasche als Sichtschutz, um unbeobachtet ihren Zauberstab zu nehmen und damit auf den Mann zu deuten, der gerade hinter Brittany und Julius hergehen wollte.

__________

Ardentia Truelane hatte es geschafft. Sie hatte während des Quodpot-Spiels der Bugbears und der Ravens direkten Kontakt zu Julius Andrews bekommen und sich etwas mit ihm unterhalten. Danach war sie ihm gefolgt, als er in den Weißrosenweg zurückkehrte, indem sie vor ihm in der Zaubererstraße von New Orleans apparierte. Allerdings konnte sie schlecht bei Mrs. Porter anklopfen und fragen, ob sie den Jungen weiter beobachten durfte oder nicht. So machte sie sich selbst unsichtbar und blieb in der Nähe des Hauses 49, wo sie versuchte, eine Exosenso-Fernverbindung mit einem der Hausbewohner hinzubekommen. Doch das Haus war gegen diese Art von Fernbeobachtungszaubern abgesichert, wie sie schmerzhaft erkennen mußte. Doch die Schwesternschaft hatte für solche Fälle einige interessante Hilfsmittel beschafft, wie Weasleys Langziehohren, die bei einem nichtimperturbierten Fenster oder einer entsprechend bezauberten Tür hindurchreichten und Klänge und Geräusche aus Dutzenden von Metern übertragen konnten. Sie rollte eines dieser fleischfarbenen Fadengebilde aus und lauschte eine Weile, bis sie erfuhr, daß Julius nach Viento del Sol wollte, angeblich um dort Zauberpflanzen zu besichtigen, die er auch seiner Mutter vorstellen könne. Brittany Forester wollte ihn wohl dorthin mitnehmen.

"Warum ausgerechnet dahin", dachte Ardentia. Dann fiel ihr ein, daß sie in einer halben Stunde einen Termin im Institut wahrnehmen müsse und Anthelia Unauffälligkeit über alles andere gesetzt hatte. So konnte sie selber nicht nach Viento del Sol. Da selbst kannte sie auch niemanden, den sie auf den Jungen ansetzen konnte. Also mußte sie schnell ins Hauptquartier der Spinnenschwestern, um die neue Lage weiterzumelden.

In der alten Daggers-Villa traf sie Dana Moore, die sichtlich geschafft war. Offenbar war die britische Mitschwester gerade aus England herübergekommen.

"Unsere Mitschwester Dido schläft. Schwester Patricia hat sie in einen Zauberschlaf versenkt, der bis morgen Früh andauern soll, weil sie selbst wegen des Jungen unterwegs ist", sagte Dana.

"Und du konntest erst jetzt herüberkommen? Die höchste Schwester hat erwartet, daß du heute Morgen schon ...", erwiderte Ardentia.

"War nicht machbar, Schwester Ardentia. Ich mußte mich mit meinen anderen Bundesschwestern treffen, um zu beraten, wie wir auf den Angriff des Emporkömmlings reagieren sollen. Wahrscheinlich hast du davon gehört, daß Lady Ursina Underwood von dem umgebracht wurde, bevor er ihr Haus in Brand gesteckt und das dunkle Mal darüber gesetzt hat."

"So, und wer hat euch dann einberufen?" Fragte Ardentia neugierig.

"Ihre Schwester Megara hat uns Eulen geschickt, wir sollten warten, daß sie uns einen Treffpunkt mitteilt, wo wir uns heimlich darüber verständigen können, was passiert ist. Eins ist bei dem Anschlag nämlich klar geworden: Der Emporkömmling hat eine Spionin in der Schwesternschaft. Bis wir die finden sind alle größeren Versammlungen untersagt. Deshalb mußte ich bis gerade eben warten, weil das Ministerium und Megara Nightfall mich überprüfen wollten."

"Erzähl mir bitte, wie diese Lady Ursina gestorben ist! Oder weißt du es nicht?" Wandte sich Ardentia an die Bundesschwester aus England.

"Megara sagte etwas von Sanguirogum, einem alten Zauber, mit dem man alle Personen in einem bestimmten Bereich, die dasselbe Geschlecht besitzen, wie jemand, der oder die genügend Blut spendet, in sehr wilde Schmerzhalluzinationen hineintreiben kann. Offenbar konnte sie sich nicht davor schützen und lief dem Emporkömmling in die Arme, der außerhalb des behexten Bereiches gelauert hat."

"Ach, hat dieser Bastard einen alten Fluch aus Sardonias Zeiten entdeckt und angewendet? Das wird die höchste Schwester aber sehr verstimmen, daß er einen ihrer Flüche benutzt hat", feixte Ardentia.

"Anthelia, die höchste Schwester hat den erfunden?" Wunderte sich Dana Moore.

"Hmm, nicht direkt. Soviel ich weiß stammt er von Sardonia persönlich. Sie hat damit feindliche Magierorden ausgerottet. Unsere höchste Schwester hat ihn wohl von ihrer Tante erlernt und in England wohl auch benutzt", erläuterte Ardentia Truelane.

"Oh, dann werden meine anderen Bundesschwestern wohl bald sehr heftig zurückschlagen, wenn sie wen finden, gegen den sie losschlagen können", erwiderte Dana.

"Ist zu befürchten", sagte Ardentia etwas beklommen. Dann fragte sie Dana, ob sie wisse, daß die höchste Schwester sie am Abend hier sprechen wolle. Dana nickte.

"Ich bleibe hier im Keller und versuche einen der Weine, die der Sklavenschinder hier gelagert hat", sagte Dana ruhig. "Dido schläft ja friedlich."

"Gut, weil ich muß nämlich ins Institut, weil dort noch ein Bericht zu einem Fall abgefaßt werden muß, den ich morgen Früh einreichen soll. Durch das Quodpot-Spiel bin ich in Verzug geraten."

"Ach, war heute eins?" Fragte Dana. "Ich hätte mir gerne mal sowas angesehen. Wie ist es denn gelaufen?"

"Die Rossfield Ravens haben gewonnen, Schwester Dana. Dir das Spiel in allen Einzelheiten zu erläutern würde jetzt zu lange dauern."

"Verstehe, Schwester Ardentia. Die Regeln sind mir ja auch noch zu kompliziert, von wegen wann welche Punkte vergeben werden dürfen und so weiter. Aber vielleicht kann ich ja das nächste Spiel verfolgen, wenn ich weiß, wie die Dinge in England stehen. Nicht daß ich nachher noch als Spionin für den Emporkömmling angegriffen werde", erwiderte Dana keineswegs scherzhaft. Ardentia dachte auch daran, ob diese Spionin wohl auch schon im Spinnenorden sei. Doch Anthelia durchleuchtete alle Neubewerberinnen so gründlich, daß es sehr schwer sein mochte, sich unter falschen Voraussetzungen einzuschleichen.

"Gut, Schwester Dana. Ich muß dann los", sagte die Hexe, die offiziell im Laveau-Institut arbeitete. Dann disapparierte sie.

Unterwegs mentiloquierte sie Anthelia, daß Julius nach Viento Del Sol aufgebrochen war. Anthelia antwortete jedoch nicht sofort, sondern erst zehn Minuten später.

"Ich überwache ihn bereits. Es wäre aber sehr gut gewesen, wenn ich vorher schon gewußt hätte, daß er herkommt."

"Ich habe versucht, jemanden dort zu erreichen, höchste Schwester. Aber dort selbst kenne ich keine von uns."

"Das klären wir später. Habe gerade wichtigeres zu erledigen", kam die verärgerte Antwort Anthelias zurück. Ardentia wußte, daß konnte noch gefährlich werden. Dennoch war sie sich keiner Schuld bewußt.

__________

Charles Lucian hatte seinen üblichen Arbeitstag abgeleistet und in seinem Laden in San Rafael mehrere Dutzend Kundinnen beraten und mehrere Bestellungen angenommen, die er nach Paris weitergegeben hatte. Nun saß er im Bus nach Hause. Es war eine persönliche Marotte von ihm, nur für ganz wichtige Fahrten seinen eigenen Wagen zu benutzen und sich sonst den öffentlichen Verkehrsmitteln anzuvertrauen. Manche hatten ihm schon unterstellt, wahnsinnig zu sein, in seiner Stellung mitten in der Masse von Leuten dahinzutreiben, ohne Leibwächter. Sicher, er trug einen mehr als durchschnittlichen Anzug. Allerdings war er bei weitem nicht der einzige, der nach einem langen Tag im Büro mit dem Bus nach Hause fuhr. Außerdem war Lucian ausgebildeter Kampfsportler und trug eine kleine Pistole bei sich, falls er angegriffen werden sollte.

Wieder hatte der Bus an einer der vielen Stationen angehalten. Lucian sah eine junge Frau, vielleicht auch noch ein Mädchen in einem himmelblauen Kleid, auf dem ein merkwürdiges Symbol prangte, das einem tiefblauen Engel auf einer langgezogenen silbernen Wolke ähnelte, zusammen mit einem Jungen um die dreizehn oder vierzehn einsteigen. Gerade als er die neuen Fahrgäste noch genauer betrachten wollte, klingelte sein Handy und forderte seine Aufmerksamkeit. Während die beiden zugestigenen Passagiere an ihm vorbeigingen, hörte er aus dem kleinen Mobiltelefon, wie sich sein Freund aus Paris meldete.

"Hallo, mein Freund", klang es. "Ich wollte mich noch mal vergewissern, daß die Adresse stimmt. Rue de Liberation 13?"

"Ja, die Adresse war die, Rue de Liberation 13", bestätigte Lucian.

"Hui, dann stimmt zumindest die Angabe. Aber wir kamen da nicht rein, mein Freund."

"Wie, ihr kamt nicht rein? Wieso das denn nnicht?"

"Ja, zum einen ist da keiner drin. Zum anderen sind alle Türen und Fenster zu und Einbruchssicher. Mein Spezialist hat drei Dietriche verschlissen, und dabei mußten wir noch aufpassen, daß keiner uns beobachtete. Dann hat er versucht, die Tür einzutreten. Aber irgendwie prallte er davon zurück. Dann hat er versucht, die Tür aufzuhebeln. Das Brecheisen brach durch."

"Komm, mein Freund, erzähl mir nicht sowas!" Erwiderte Lucian, der sich nicht vorstellen konnte, daß ein Brecheisen einfach durchbrechen konnte.

"Das ist verhext das Haus. Denn als ich eine Sprengladung anbringen wollte, wurde mir speiübel, und ich konnte die Ladung nicht anbringen. Das ist doch nicht normal."

"Ja klar. Das Haus ist verhext. Ich lache gleich laut auf. Dann warte, bis die wiederkommen oder schleim dich bei den Nachbarn ein! Big H will Mutter und Sohn übermorgen in Philly haben, um denen vom Büro seine Bedingungen zu diktieren."

"Ja, und wenn die im Urlaub oder sowas sind?" Fragte Lucians Partner.

"Dann krieg's raus, ob die im Urlaub sind oder such einen guten Schlüsseldienst, Mann!"

"Das wäre zu auffällig, wenn ich die Tür von wem anderen knacken lassen würde. Im Moment kann ich nichts anderes machen als ein paar Leute hier in Stellung zu bringen, die das Haus beobachten. Aber ob die beiden bis übermorgen wieder da sind? Die Nachbarn zu befragen wäre auch zu auffällig. Nachher ruft wer noch die Polizei, weil wir das Haus ausbaldowern. Ich glaub nicht, daß dein Freund in Philly sowas haben will."

"Hast auch wieder recht, würde auffallen", sagte Lucian etwas ungehalten.

"Eben, die Türen und Fenster sind bombensicher. Das heißt, von denen ist im Moment keiner im Haus."

"Aber rauskriegen wo die gerade sind kannst du bestimmt. Big H bezahlt dich gut dafür. Auf wiedersehen, mein Freund."

"Wie gesagt, ob die bis übermorgen - Auf wiedersehen", erwiderte der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Leitung. Lucian legte auf.

Kamen die also nicht in das Haus rein. Also waren die Andrews' gerade unterwegs, womöglich im Urlaub. Dann mußte er wohl seine Kontakte in die Reisebüros und Fluglinien spielen lassen. Vielleicht fand sich dort was, wo die Andrews' abgeblieben waren.

Der Bus hielt wieder an, und zwei Frauen stiegen ein, von denen die eine leicht untersetzt wirkte und die andere ein bleiches, sommersprossiges Gesicht hatte. Irgendwie schienen sie sich für ihn zu interessieren, als sie die Fahrt bezahlt hatten und nach hinten durchgingen. Die strohblonde im rosa Kleid blieb kurz bei ihm stehen und fragte ihn nach der Uhrzeit. Er vermeinte, sie würde sich für ihn und nicht für die Zeit interessieren. Trotzdem blickte er auf seine Alltagsquarzuhr, die er beim Busfahren lieber trug als seine goldene Uhr, die er auf Geschäftsreisen trug. Als er mit der pausbäckigen Frau in Jeans und T-Shirt sprechen wollte, schien diese es sich überlegt zu haben, nicht weiter mit Lucian zu tun haben zu wollen und folgte der Frau in Rosa. Irgendwas an der erschien ihm unheimlich, als strahle sie eine sehr große Macht und Entschlossenheit aus, obwohl sie sich nicht so bewegte. Er wußte nicht, woher er dann diesen Eindruck hatte. Doch die Frau interessierte ihn nicht weiter. Er grübelte darüber nach, daß es ganz allein an ihm hing, ob sein Geschäftspartner Big H Martha und Julius Andrews bald als Gäste begrüßen durfte oder nicht. Er wußte jedoch, wenn er es nicht schaffte, die beiden herbeizuschaffen, könnte er einen Tag nach übermorgen ein toter Mann sein. Er sah sich noch einmal um. Da saß dieses Mädchen im blauen Kleid neben dem Jungen, der irgendwie auf was wichtiges konzentriert dasaß. Dann fiel ihm ein, daß er am Morgen noch ein Foto von Martha und Julius Andrews gesehen hatte. Ja, das war der Junge, den sie suchten. Der war hier, in San Rafael! Er brauchte nur aufzustehen, hinzugehen und ihn zu fragen, ob er mit seiner Mutter einen Kurzurlaub machte. Doch das wäre zu auffällig geworden. So wartete er, bis das Mädchen und der Junge an einer der nächsten Stationen ausstiegen. Er gab ihnen fünf Sekunden, dann wollte er ihnen nach. Doch als er sich von seinem Platz erheben wollte, überkam ihn ein solch herrliches Gefühl absoluter Sorglosigkeit und wohltuender Leere im Gehirn, daß er schlicht vergaß, daß er den Jungen verfolgen wollte.

"Bleibe sitzen bis zur nächsten Haltestelle und steige dort erst aus!" Durchdrang ihn eine irgendwie fremde, weiblich klingende Stimme. Lucian fühlte den unbändigen Zwang hinter diesem Befehl. Er versuchte nicht erst, sich dagegen aufzulehnen. So blieb er sitzen und sah völlig teilnahmslos, wie das Mädchen und der Junge, den er als Julius Andrews erkannt hatte davongingen, wie sich die Türen wieder schlossen und der Bus weiterfuhr. Bei der nächsten Station stieg er aus, wie ihm die unheimliche Stimme befohlen hatte. Auch die beiden Frauen, die eine Station nach Julius Andrews eingestiegen waren verließen den Bus. Sie folgten ihm. Er stand da, bis sie nahe genug an ihn herangerückt waren. Kaum fuhr der Bus weiter, sprach ihn die strohblonde wieder an:

"Du jagst einen Jungen aus Paris, den der Hauptmann deiner Räuberbande gefangennehmen lassen will?"

"Häh?" Machte Lucian und wollte schon ansetzen, die Frau wegen eines Mißverständnisses abzuweisen. Doch sie sah ihn ruhig an und sagte:

"Dein Anführer Arnold Hornsby, den du nur Big H genannt hast, will den Jungen Julius Andrews in wenigen Tagen bei sich in Philadelphia haben, weil der Vater des Jungen Hornsbys Schwester ermordet hat. Aber der Junge hat andere Verpflichtungen."

"Öhm, woher wissen Sie ...", setzte Lucian an, als die Fremde einen silbergrauen Stab auf ihn richtete und etwas murmelte. Wieder überkam ihn diese Woge aus alle Gedanken hinwegfegender Glückseligkeit und Leere. Dann erhielt er den Befehl, der Frau in Jeans und T-Shirt zu einem Durchgang zwischen zwei Häusern zu folgen und sie dort an die Hand zu nehmen. Er kam nicht einmal darauf, diesem Befehl zu widerstreben.

"Bringe ihn in unser Quartier und behalte ihn dort, bis ich zurückkehre!" Sprach die Frau mit den strohblonden Haaren zu ihrer Begleiterin und sah ihr und Lucian nach, wie sie einträchtig davongingen.

Lucian wußte nicht, warum er dieser Frau nachging. Er tat es einfach. Er hatte auch keine Angst, als er in einer engen Toreinfahrt anhalten sollte und die Fremde ihn beim Arm griff. Auch als er unvermittelt in einen wilden Farben- und Geräuschestrudel stürzte, blieb er völlig ruhig. Dann fand er sich in einem fensterlosen Raum wieder, in dem ein langer Tisch stand.

"So, hier sind wir richtig", sagte die leicht untersetzte Frau in Jeans und T-Shirt. Jetzt begriff Lucian, daß er gerade auf eine sehr unheimliche Weise entführt worden war. Sein Gefahreninstinkt und sein Widerwille erwachten wieder. Was hatten die mit ihm angestellt, daß er so einfach überrumpelt werden konnte? Wo war er hier?

"Wer Sind Sie und wo bin ich hier?" Fragte Lucian.

"Das Wo ist einfach. Sie sind in unserem Hauptquartier. Wer ich bin oder wer die anderen sind, darf ich Ihnen nicht verraten. Nur so viel: Unsere oberste Führerin mag es nicht, wenn man ihr Widerstand leistet. Verstanden?"

Lucian sprang vor und wollte die Fremde mit einem Judogriff überwältigen. Doch diese drehte sich blitzschnell auf der Stelle, und Lucian packte in leere Luft. Die Fremde war einfach verschwunden, hatte sich entmaterialisiert oder soetwas. Gerade als er sich verstört umblickte und die Fremde an der Tür sah, war es schon zu spät. Ein roter Blitz aus einem Holzstab traf ihn, und er verlor die Besinnung.

"Mich fangen wollen", grinste Tyche. "Wo ich das Apparieren schon nach der zweiten Übungswoche draufhatte. Soll die höchste Schwester mit dir ihre Spiele spielen. Ich habe besseres zu tun."

Eine Fliege segelte von einer Wand herab und surrte einmal um Charles Lucian herum.

"Oh, ganz teures Parfüm", wisperte ein winziges Stimmchen wie aus einem stecknadelkopfgroßen Lautsprecher. "Offenbar hat dieser nette Herr interessante Damen getroffen."

"Du bist das, Schwester Dana? Ich habe nicht mitbekommen, daß du hier bist", sagte Tyche Lennox leicht irritiert. Die Fliege surrte zu einem Stuhl hin, ließ sich auf der Sitzfläche nieder und blähte sich übergangslos auf, wobei ihre Fühler und ein Beinpaar vom Körper eingesaugt wurde und der Chitinpanzer unter einem hellen Kleiderstoff verschwand und von heller Haut verdrängt wurde.

"In meiner Animaga-Form kann ich besser riechen und schnellere Bildfolgen sehen als in meiner angeborenen Form", sagte die Frau, die gerade noch eine kleine Fliege gewesen war.

"Mich wundert es bei euch Animagi immer wieder, daß ihr die winzigsten Geschöpfe werden und trotzdem denken und sprechen könnt wie natürliche Menschen", sagte Tyche.

"Die Formel dafür lautet Geist über materie, Schwester Tyche. Aber erzähl mir mal bitte, was dieser Muggel hier soll!"

"Die höchste Schwester und ich haben den zufällig dabei ertappt, wie er Julius Andrews beschatten wollte. Irgendein Big H aus Philly, also Philadelphia sucht wohl nach den Andrews, soweit mein Französisch nicht zu sehr eingerostet ist."

"Der ist doch kein Franzose", sagte Dana. Dann durchsuchte sie den geschockten Mann und fand eine kleine Pistole, eine Brieftasche und das Mobiltelefon. Dieses nahm Tyche und entfernte den Akku.

"Nachher sucht den noch wer und könnte die Meldeimpulse des Handys anpeilen."

"Die was?" Fragte Dana Moore.

"Diese Telefone müssen sich ständig mit erreichbaren Sendern verbinden, damit man sie überall benutzen kann. Deshalb melden die sich bei den Sendestationen in der Nähe an oder ab, je nachdem. Nun, Dieses Telefon kann es im Moment nicht."

"Ui, ist doch gut, wenn man eine Muggelstämmige bei sowas dabeihat", erwiderte Dana und durchwühlte die Brieftasche. "Aha, Charles Lucian heißt unser Gast und arbeitet als Einzelhandelskaufmann für hochqualitative Textilien. Liest sich anständig. Aber wir wissen ja, daß dahinter mehr Unanständigkeiten stecken können."

"Auf jeden Fall will die höchste Schwester ihn nachher verhören", sagte Tyche.

"Sollst du hierbleiben?" Fragte Dana.

"Hmm, wahrscheinlich soll ich ihn bewachen", sagte Tyche.

"Gut, dann bewachen wir den zusammen", erwiderte Dana.

_________

Antehlia hatte keine großen Schwierigkeiten, das Internetcafé zu finden. Sie brauchte nur die Jugendlichen auf den Straßen zu fragen und sie im Vorbeigehen legilimentisch zu durchleuchten. Jetzt saß sie in der Gestalt einer großen Krähe auf einem Baum und behielt das Café im Blick. Zwischendurch vollzog sie den Exosenso-Zauber, um in die Wahrnehmungswelt der Besucher einzutauchen. Sie wollte nicht gezielt in Julius' Wahrnehmung eindringen, weil ihr die eine Sekunde im Bus zu denken gab. Tja, und das Mädchen Brittany könnte genau wie andere Zauberkundige auch eine natürliche Exosenso-Resistenz haben. So beobachtete sie die beiden durch die Augen anderer Leute und bekam mit, wie Julius alle Dinge, die die Muggel über seinen Vater zusammengetragen hatten, aus dem Internet zog, dessen Wert als Wissensfundgrube sie selbst bereits schätzen gelernt hatte. Als die beiden dann endlich aus dem Café herauskamen flog sie ihnen nach, wobei sie der Natur ihrer Tiergestalt nacheifernd zwischen den Bäumen herumflog. Sie belauschte Brittanys Gedanken und erfuhr, daß die beiden sich in Viento Del Sol in einen Pavillon setzen wollten. So wartete sie, bis sie disappariert waren. suchte sich einen ruhigen Ort zur Rückverwandlung und verschwand, als sie wieder eine Frau im rosa Kleid war.

In Viento del Sol konnte Anthelia mithören, daß Julius sich um eine Audienz mit dem Geist von Marie Laveau bemühen wollte, um die durch die unangenehmen Nachrichten aufgekommenen Fragen zu beantworten. Sie wartete, bis die beiden sich mit Flohpulver abgesetzt hatten und kehrte in die alte Daggers-Villa zurück. Dort angekommen weckte sie Charles Lucian aus dem Schock und befragte ihn eingehend, für wen er arbeitete und wo er Martha und Julius Andrews hinbringen sollte. Lucian wollte zwar nichts verraten. Doch Anthelia bohrte so gründlich in seinem Geist herum, daß sie die Dinge, die er nicht erzählen wollte, unfreiwillig preisgab. Dann meinte sie zu ihm:

"Dein Auftraggeber stört meine Pläne. Ich werde mich seiner annehmen müssen. Wo hält er sich gerade auf?"

"Das sage ich nicht", knurrte Lucian. Anthelia schnalzte mißbilligend mit der Zunge.

"Willst du es dir echt schwermachen, Charles?" Fragte sie, nun die französische Sprache benutzend. "Ich habe bisher aus dir alles herausholen können, was ich wissen wollte. Bisher ging dies schmerzfrei. Wenn du jedoch einen sturen Ziegenbock präsentierst, werde ich deinen Big H auch ohne dich finden können. - Legilimens!"

Lucian dachte an die Treffen mit Hornsby und daß er wohl gerade in Kalifornien sei, um seine getötete Schwester zu identifizieren. Anthelia meinte danach:

"Ich werde ihn dort aufsuchen und ihn davon abbringen, diesem Jungen nachzustellen, über dessen Vater er genauso wenig weiß wie du, Charles. Schlaf gut!"

Dann sang sie eine Melodie, unter deren Einfluß Charles Lucian friedlich einschlummerte.

"Du willst ihn am Leben lassen, höchste Schwester?" Fragte Dana.

"Ich töte niemanden, wenn es sich vermeiden läßt", sagte Anthelia. "Bei diesem Herrn hier läßt es sich vermeiden."

"Und was machst du mit diesem Hornsby?"

"Wie gesagt, ihn davon abbringen, weiter hinter Julius Andrews herzujagen", sagte Anthelia.

"Aber wie stellen wir sicher, daß Julius uns nicht selbst entwischt?" Fragte Dana Moore.

"Ardentia hat herausgefunden, daß er wohl gerne mit Marie Laveaus Geist sprechen möchte. Ich gehe davon aus, daß diese Erscheinung auch ihn zu sprechen wünscht", erwiderte Anthelia.

"Wenn ich fragen darf, höchste Schwester, woher weißt du das?" Erkundigte sich Tyche vorsichtig.

"Weil ich mir Gedanken gemacht habe, weshalb diese Jane Porter den Jungen zu sich geholt hat, obwohl sie doch davon ausgehen muß, daß die Abgrundstochter ihm nachstellen wird und er im Schoß von Mutter Millemerveilles sicher besser geschützt wäre als hier in diesen Landen. Also hat sie einen Grund dafür. Will sie ihn nicht der Tochter Lahilliotas als Köder anbieten, so bleibt mir nur die Erkenntnis, daß jemand sie geheißen hat, den Jungen zu ihm oder ihr zu geleiten. Mächtiger als dieser Davidson, der Ardentias bekannter Befehlshaber ist, ist in diesem Institut nur noch der Geist der alten Meisterin aus Afrika stammender Ritualmagie. Nach den Gesetzen der Geisterwelt können viele nachkörperliche Daseinsformen nur im Umkreise eines bestimmten Ortes verweilen, sofern sie nicht durch Todesarten ihren Leib verloren, die von einem Standort unabhängig sind", erwiderte Anthelia. "So begib dich selbst zu jenem Totenacker, den die Unfähigen gebaut haben, der da genannt wird St. Louis Nummer 1, Schwester Dana. Schwester Tyche und ich werden noch beraten, wie wir im Falle dieses rachsüchtigen Schurken Arnold Hornsby vorgehen werden und wie wir an Mittel gelangen, die Macht Hallittis zu schwächen oder gar zu brechen."

"Sehr wohl, höchste Schwester", sagte Dana Moore und verabschiedete sich von Tyche Lennox, bevor sie disapparierte.

Anthelia und Tyche unterhielten sich darüber, wie sie in der Mysteriumsabteilung an Incantivakuum-Kristalle herankommen konnten, ohne daß Tyche verdächtigt werden konnte. Dabei fiel immer wieder ein Name: Picklock.

"Du hast ihn wieder fest im Griff, höchste Schwester. Doch unsere Mysteriumsabteilung ist gut geschützt", sagte Tyche. "Selbst wenn er unsichtbar reingeht, könnte er einen Spürzauber kitzeln. Es sei denn, du hast ein Zauberfinderglas zur Hand."

"So ist es", sagte Anthelia.

"Wie stellen wir es also an?" Fragte Tyche.

"Ich werde ihn deiner magischen Kontrolle unterwerfen, auf daß du ihn führen kannst, wenn er in die besagte Kammer hineingeht und den von uns erwogenen Austausch falscher gegen echter Kristalle vollzieht. Gehe morgen zur Arbeit wie üblich! Dann wirst du erspüren, wenn er in dem Gebäude ist und kannst ihn lenken, zu holen, was er holen soll. Ans Werk! Lasse uns die Nachbildungen schaffen, die wir dort zurücklassen wollen!" Sagte Anthelia.

Zwei Stunden später hatten sie nach Tyches Erinnerungen aus gewöhnlichem Glas zehn kleine Körper geschaffen, die sie sehr widerstandsfähig zauberten und mit einem leicht rötlichen Farbton versahen. Dann sagte Anthelia:

"Nun lasse mich deine Macht über Picklock herstellen!"

Die Prozedur war teilweise anstrengend und schmerzhaft. Tyche mußte den Weihestein des von der Spinnenschwesternschaft kontrollierten Kobolds festhalten und sich von Anthelia mit verschiedenen Zaubern belegen lassen, die eine Verbindung zwischen ihr und dem Kobold schufen, die für zwei volle Tage bestehen sollte.

"Ich habe gedacht, ich würde zu Stein erstarren oder regelrecht zerfallen", sagte Tyche, als auch der letzte Zauber über sie gesprochen worden war.

"Die Kinder der Erde sind nicht leicht zu bändigen", sagte Anthelia. Sie bedauerte es, den Stein der großen Erdmutter nicht zu haben, mit dem alle der Erde verbundenen Zauberwesen unterworfen und geführt werden konnten.

"Dann werde ich besser wieder nach Hause zurückkehren, um den nötigen Schlaf zu kriegen. Wann wirst du ihn losschicken, höchste Schwester?"

"zwischen der zweiten und dritten Stunde nach Mittag", sagte Anthelia und wünschte Tyche noch eine gute Nacht.

__________

Er fühlte sich wieder sehr matt. Dieser Körper, in dem er nun steckte war brüchig und kaum belastbar. Nur die Liebkosungen seiner magischen Schutzherrin gaben ihm genug kraft zum leben. Denn das junge Mädchen, daß er zuletzt heimgesucht hatte, konnte er nicht völlig entkräften, und Loretta, die ihn dazu angetrieben hatte, hatte nicht so viel von ihrer Beute an ihn zurückgegeben.

"Heute Nacht werden wir uns wieder welche holen", sagte Loretta, als sie zusammen mit ihm in der kuppelförmigen Höhle stand, die vom goldenen Licht eines zwei Meter hohen Kruges ausgeleuchtet wurde.

"Wieviele, Lolo?" Fragte er.

"Drei, eine Frau, einen Mann und ihr gemeinsames Kind", sagte die Kreatur, die sich unter den nichtmagischen Menschen Loretta Irene Hamilton genannt hatte. Ihr feuerrotes Haar wehte verführerisch bis fast zu ihren Hüften hinab.

"Wo gehen wir hin?" Fragte Richard Andrews.

"In den Norden dieses weiten Landes", sagte sie und nahm Richard bei der Hand. Unvermittelt verschwand der Unterschlupf Hallittis um sie herum und machte einer von elektrischen Laternen beleuchteten Straße Platz.

"Dort ist unser Ziel", flüsterte Hallittis Gedankenstimme in Richards Kopf. Eine übermenschliche Gier erfüllte ihn wie unersättlicher Hunger und unstillbarer Durst. Er folgte Hallitti zur Haustür, die unter dem sanften Streicheln ihrer Hand aufschwang. Doch dabei wurde eine Alarmanlage ausgelöst.

"Hätten wir mit rechnen müssen", knurrte Richard. Dann ging es sehr wüst zu.

Der Herr des Hauses stürmte mit einer schußbereiten Pistole vor und wollte die beiden Eindringlinge vertreiben. Hallitti bekam eine Kugel in einen Arm und fiel über den Mann her wie eine Wölfin über ein Schaf. Richard stürmte das Schlafzimmer und fand die Frau vor, die gerade mit einem Baby auf dem Arm aus dem Fenster steigen und eine Feuertreppe hinunterflüchten wollte. Er entriss ihr das Kind und warf es auf das Bett zurück. Die Mutter kämpfte verbissen gegen ihn. Doch gegen seine durch dunkle Mächte gestärkten Körperkräfte konnte sie sich nicht lange wehren. Eine halbe Minute später hatte Richard sie mit brutaler Gewalt unterworfen und zwang sie zur körperlichen Vereinigung mit sich. Gierig sog er in der von Hallitti empfangenen Weise, sterbliche Menschen auszuzehren, alle verbliebene Kraft und Lebensenergie aus der unschuldigen Frau, deren Namen er noch nicht einmal kannte. Ihre Schmerzens- und Hilferufe wurden vom Lärm der Alarmanlage übertönt. Dann, so nach zehn Minuten, lag sie schlaff auf dem Bett, während das Baby nebenan laut plärrte.

Hallitti indes hatte leichtes Spiel mit dem niedergerungenen Mann. Keine fünf Minuten später war dessen Lebensenergie in vollständig in sie eingeflossen und hinterließ nur einen leicht ramponiert wirkenden Leichnam. Hallittis Ohren nahmen das Angstgeschrei des Säuglings nebenan auf. Ja, den würde sie sich gleich noch holen.

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Jim West hörte die Alarmanlage im Haus nebenan und vermeinte sogar Angst- und Schmerzensschreie seiner Nachbarin Nora Simpson zu hören. Er sprang aus seinem Bett und zog sich schnell etwas über, um hinüberzulaufen. Vorher wählte er jedoch noch den Notruf 911 und meldete einen möglichen Überfall auf seine Nachbarn. Dann griff er zu einem Revolver, den er in einer verschließbaren Schublade des Wohnzimmerschrankes verwahrt hatte und eilte hinüber zum Nachbarhaus. Als er dort eintraf, kamen gerade zwei Leute raus, die er nicht kannte, eine Frau und ein Mann. Die Frau trug den kleinen Niccholas Simpson auf dem Arm, während der Mann, der uralt aussah, einen feisten Gesichtsausdruck zeigte. Jim West verschlug es den Atem, als er trotz der greisenhaften Züge erkannte, wer das war. Dies war der Massenmörder aus Detroit, der mehrere Dutzend Menschen umgebracht hatte.

"Oh, noch einer, den wir haben können", säuselte die rothaarige Frau sehr entzückt. Jim hob seine Waffe und zielte auf den Mann.

"Pass auf, Richie?!" Rief die Frau und stieß den Mann neben sich zur Seite weg. Der Schuß krachte los. Doch die Kugel pfiff zwischen den Beiden hindurch. Dann war der greisenhaft aussehende Mann bei Jim und packte mit der brutalen Kraft eines angreifenden Hais den Waffenarm des zur Hilfe geeilten Nachbarn der soeben getöteten Simpsons.

"Du ballerst nicht noch mal auf mich", knurrte Richard Andrews und hebelte den Arm so wuchtig aus, daß Jim vor Schmerz aufschrie. Der Revolver entfiel ihm und schlitterte davon. Dann war die Frau mit dem kleinen Nicholas heran und sah Jim tief in die Augen. Da schwanden ihm Schmerzen und der Drang zur Gegenwehr.

"Schön, du hast ja auch noch eine Frau und ein Kind, das wir besuchen können", säuselte Hallitti und streichelte dem Mann über die Wange.

"Los, Richie, hinüber zum anderen Haus!" Fauchte sie ihren Begleiter an. Jim führte sie wie unter Hypnose zu seinem Haus hinüber, wo gerade seine Frau Tessa die Tür öffnete. Sie schrie, als Richard sie wie ein hungriger Löwe ansprang und ins Haus zurückstieß. Jim nahm dies nicht recht wahr. Die goldenen Augen dieser überragend schönen Frau mit den roten Haaren hielten ihn in einer wohligen, völlig angstlosen Erwartung glücklicher Ereignisse gefangen. Ohne weiteren Widerstand ließ er sich ins Haus zurücktreiben, wo Richard gerade Tessa mit unbändiger Kraft auf den Boden drückte und sich über sie hermachte, als sei sie die erste Frau seit Jahren, die er haben konnte und als habe er alle Menschlichkeit verloren, diese Frau als fühlendes, leidensfähiges Lebewesen zu respektieren.

"Komm mit mir!" Flüsterte Hallitti und schob Jim in seiner Trance ins Wohnzimmer, wo sie sich von ihm holte, was sie begehrte. Der kleine Nicholas schrie derweil und weckte die gerade zwei wochen jüngere Cynthia, die im Elternschlafzimmer in ihrem Kinderbettchen lag.

Als die Polizei anrückte, fanden die so schlimmes gewohnten Beamten nur noch die Leichen der Simpsons und Wests vor. Die beiden Babys lagen wie vergammelte Küchenabfälle hingeworfen auf dem Komposthaufen im Garten der Wests. Einer der Polizisten sah sich sehr verängstigt um und notierte etwas mit einem besonderen Kugelschreiber in sein Notizbuch:

"Die Subjekte, die Swift sucht, haben zwei Familien in Columbus, Ohio getötet. Höchste Alarmbereitschaft für die Vergissmichs!"

__________

Als Tyche Lennox am nächsten Morgen von ihrem Radiowecker aus tiefem Schlaf geweckt wurde, erschrak sie und wurde in einer Sekunde so munter wie sonst nach der ersten Tasse Kaffee.

"In den späten Abendstunden ereigneten sich in einer als sicher geltenden Einfamilienhaussiedlung in der Hauptstadt des Bundesstaates Ohio zwei grausame Familienmorde. Die Väter, Mütter und deren gerade zwei Monate alten Kinder, ein Junge und ein Mädchen, wurden ohne direkt tödliche Verletzungen aufgefunden. Es deutet vieles darauf hin, daß die Mörder die Methode des seit März gesuchten Massenmörders, der unter dem Decknamen Richard Andrews auftrat, benutzt haben, ja daß der Gesuchte einer der Täter ist. Die Stadtpolizei von Columbus, Ohio und das FBI haben bereits die Ermittlungen aufgenommen. Der Leiter der FBI-Niederlassung Columbus gab der kurz nach Bekanntwerden der grausamen Tat eingetroffenen Presse nur folgende Erklärung mit: "Wir müssen davon ausgehen, daß die bisherigen Ziele der Organisation, die hinter dem Massenmörder aus Detroit steckt, sich drastisch geändert haben. Weiteres möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht kommentieren."

"Meine Güte, dieser Wahnsinnige greift jetzt auch schon harmlose Familien an", dachte Tyche. Doch dann erinnerte sie sich, daß Anthelia ihr und den anderen Schwestern bereits vor zwei Wochen erzählt hatte, daß die Tochter des dunklen Feuers schier unersättlich geworden sei und ihr Abhängiger wohl durch den Angriff professioneller Mörder eigentlich schon tot sein müßte, würde sie ihn nicht krampfhaft am Leben halten. Dies, so hatte Anthelia weiter ausgeführt, würde den Tod vieler unschuldiger Menschen fordern, insbesondere von Säuglingen, deren gerade erwachte Lebenskraft Hallitti brauchte, um ihren Abhängigen am Leben zu halten. Damit war es nun klar, daß die beiden, die Abgrundstochter und der von ihr versklavte Muggel, sehr bald gestoppt werden mußten, wenn sie nicht zur Geißel der Menschheit werden sollten. Die Zeit lief, nicht nur gegen die Schwestern vom Orden der Spinne, sondern gegen jeden Menschen, Muggel oder Magier, der im Umkreis dieser losgelassenen Kreatur der Finsternis erreichbar war.

Sie erkannte, daß sie nun eine Schlüsselrolle spielen würde. Denn mit den Incantivakuum-Kristallen, die sie für Anthelia beschaffen sollte, war es vielleicht möglich, diesem unersättlichen paar menschlicher Bestien beizukommen. Deshalb beeilte sie sich mit ihrem Frühstück, zog sich einen dunkelvioletten Umhang über ihre Muggelweltkleidung und disapparierte, um im Foyer des Zaubereiministeriums zu erscheinen, von wo aus sie zu ihrer Arbeitsstelle im Lager für hochwirksame Zauberartefakte in der Mysteriumsabteilung hinabfuhr. Vor dem Eingang zur Abteilung mußte sie sich einem Identifikationszauber stellen, der sie körperlich durchleuchtete und ihre magische Ausstrahlung vermaß. Erst dann schwang die schwere, aus magisch unzerstörbar bezaubertem Stahl geschmiedete Tür auf und ließ sie eintreten.

Sie begrüßte ihre Kollegen und ging in ihr Büro, wo sie an einem Bericht über die Entsorgung stark Verfluchter Gegenstände arbeitete. Ihr Kollege Curtis Newton, der in der Sektion Raum und Zeit beschäftigt war, kam kurz mal herein und füllte sich eine große Tasse aus einer unerschöpflich bezauberten Kanne Kaffee.

"Hi, Ty! Noch immer an den Besessenen Dingern dran?"

"Ja, seitdem wir dieses verfluchte Klavier mit dem Geisterbannsog bekommen haben, daß wir bis heute nicht zerstören konnten, ist der Boss sehr hinter diesen eingeschleppten Infernalien her. Besonders die Afrikaner und Orientalen haben uns da was heftiges aufgeladen. Aber gegen dein Ressort ist das wohl nichts, oder?"

"Tut mir Leid, das berührt die Geheimhaltung meiner Abteilung", erwiderte Curtis. Seine ziegelrote Lockenpracht leuchtete im Licht der großen Kristallsphäre, die stetig leuchtend wie eine kleine Sonne unter der Decke hing.

"Meine Sachen eigentlich auch, wenn der Minister nicht auch andere Abteilungen da einbeziehen würde. Aber du hast natürlich recht. Wie geht's deiner Frau Joan und dem kleinen Simon?"

"Simon geht's gut, seitdem er sich daran gewöhnt hat, daß er bald einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester haben wird", sagte Curtis stolz.

"Oh, wußte nicht, daß Joan ... Herzlichen Glückwunsch!"

"Vielen Dank, Ty. Werde das weitergeben. Und wie geht es dir?"

"Im Moment kann ich nicht klagen. Meine Muggelverwandtschaft hat sich wohl damit abgefunden, daß ich keinen steinreichen Anwalt oder Raumfahrtingenieur heiraten werde. Insofern habe ich mit dem Nachwuchs noch etwas Zeit."

"Warum auch nicht. Joan und ich sind ja auch erst miteinander zusammengekommen, als wir beide unser Leben klargekriegt haben."

"Dann will Joan jetzt nur noch Hausfrau und Mutter sein? Ich dachte, die wollte zum Inobskurantenkorps", wunderte sich Tyche.

"Nöh, die findet das jetzt irgendwie ausfüllend - Öhm, ausreichend, Mom Newton zu sein."

So verplauderten die beiden fünf Minuten mit nichtgeheimen Familienangelegenheiten, bis Curtis sich wieder verabschiedete und Tyche ihren Bericht weiterschreiben konnte.

Gegen zwei Uhr am Nachmittag fühlte sie beinahe körperlich, wie etwas vertrautes in unmittelbarer Nähe erschien. Das war Picklock. Sie setzte sich ruhig an ihren Schreibtisch und konzentrierte sich auf den Namen dieses Kobolds. Ja, da war er. Als würde sie erst über ihm schweben und dann durch seine Augen sehen, verfolgte sie mit, wie der von Anthelia gebändigte Kobold vor die Tür zur Mysteriumsabteilung kam. Sie sagte ihm in Gedanken, er solle nicht durch die Tür, sondern einige Dutzend Meter weiter rechts durch die Wand gehen. Dort sei kein Meldezauber zu erwarten. Picklock knurrte in Gedanken zurück, daß er es langsam leid sei, von irgendwelchen Hexen rumgeschupst zu werden. Doch als Ty seinen vollständigen Namen, Picklock Loluck Habbarzak dachte, wurde er so folgsam wie ein geprügelter Hund. Sie dirigierte ihn durch die Korridore in der Mysteriumsabteilung bis zu einer Tür, vor der ein Erkennungszauber lauerte, der nur die Zutrittsberechtigten passieren ließ. Ansonsten würden sie an Ort und Stelle gebannt und ein Alarmzauber würde die Sicherheitstruppen herbeirufen.

"Da komme ich nicht rein, wenn dieser Fangmich-Zauber davorklebt", quängelte Picklock in Gedanken. Doch Ty wies ihn an, an der der Tür gegenüberliegenden Wand hochzuklettern, durch die Decke zu stoßen und dann im Lagerraum darüber unter den vier Spürzaubern hindurchzukriechen, bis er um den nach oben durchreichenden Spürzauber hinter der bewußten Tür herumgekommen war. Dann konnte er wohl wieder durch die decke und war in dem Raum.

Als Picklock über der Stelle war, knurrte er etwas von geschmiedeten Eisenplatten im Boden. Ty mußte sich anstrengen, nicht verärgert auszusehen. Damit hätte sie rechnen müssen. Doch auch für diesen Fall hatte sie mit Anthelia etwas ausgehandelt.

"Kehre wieder um und schlüpfe durch die Wand von dir aus links in den nächsten Raum! Aber bleib am Boden liegen. Ein kreisender Spürzauber schwebt knapp einen Meter über dem Boden. Der bewegt sich leider nicht immer mit gleicher Geschwindigkeit. Krieche dann bis zur Wand in Richtung des gesuchten Raumes zurück und sieh dort nach, ob du durch den Boden kannst!"

Picklock folgte den Anweisungen und fand tatsächlich einen kleinen Durchlass. Er schaffte es, gerade so unter dem über ihm dahinstreichenden Spürzauber hinwegzutauchen und landete im Raum mit den mächtigen Artefakten für Magieumkehr, Aufhebung und -verstärkung. Die Versuchung trieb ihn, einen Kurzzeitpotenzierstein mitgehen zu lassen, der für eine Minute alle Zauber vervielfachte, die der ausübte, wer ihn gerade in der Hand hielt. Doch wie eine Batterie der Muggel verlor dieser Stein sofort an Kraft, wenn ihn jemand mit Zauberkräften in die Hand nahm.

"Das läßt du liegen, Picklock Loluck Habbarzak!" Knurrte Ty zornig. Picklock schüttelte sich gepeinigt und ließ von dem Stein ab. Dann fand er den Schrank mit den Incantivakuum-Kristallen. Natürlich war er verschlossen und durch einen Zauber gesichert. Aber da jeder Mitarbeiter der Abteilung, der in diesen Raum hineingelassen wurde herankommen mußte, kannte Ty die Stellen, an denen er berührt werden mußte und das magische Passwort, um den Versiegelungsfluch für eine Minute zu unterdrücken. Picklock öffnete den Schrank und tauschte blitzschnell zehn echte gegen zehn unechte Kristalle aus, wobei sich Ty sichtlich wunderte, wie dieser kleine Wicht seine Hände so unabhängig voneinander arbeiten ließ, daß man meinen könnte, zwei lenkende Geister würden sie steuern. Jedenfalls war nach nicht einmal zwanzig Sekunden der Austausch vollzogen, und Picklock schloß den Schrank wieder. Der Versiegelungsfluch würde ihn wieder verrammeln, sobald die Minute um war. Vorsichtig schlüpfte Picklock unter den auch hier errichteten Spür- und Meldezaubern hindurch, verließ den Raum aber nicht, wie er ihn betreten hatte, sondern durch den Boden, ließ sich einen Stock darunter hinfallen und wartete, bis zwei gegeneinander kreisende Spürzauber ihn nicht mehr erfassen würden und sprang dann durch eine Wand, die sich vor ihm wie eine Drehtür öffnete hinaus und in den Flur zurück. Dort stampfte er wieder auf und versank im Boden, noch einen Stock tiefer, in einem Raum voller Glaskästen und Käfige, in denen gruselig anmutende oder sehr fremdartig erscheinende Geschöpfe aufbewahrt wurden, von denen der Kobold nicht zu sagen gewußt hätte, ob sie Tiere oder Pflanzen waren. Es interessierte ihn auch nicht. Er stieß sich wieder in den Boden und war nun unter dem Ministeriumskomplex. Hier raste er nun mit der im Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit davon, zurück zum Treffpunkt, wo Anthelia ihn bereits erwartete, die ihm in Verbindung mit seinem vollständigen Namen den unmißverständlichen Befehl erteilt hatte, ihr die zehn Kristalle zu bringen. Mit einem vorher bereits beschafften Zauberkraftsensor prüfte sie vorsichtig, ob die Kristalle tatsächlich ein engbegrenztes Schwanken von Zauberkraft in einem bestimmten Rhythmus zeigten und bedankte sich bei Picklock für den Diebesdienst.

Tyche Lennox arbeitete derweil ruhig weiter. Sie war froh, daß kein Alarmzauber losgegangen war und somit niemand darauf kommen würde, vor der üblichen Inventur die Incantivakuum-Kristalle zu überprüfen. Zehn mächtige Kristalle waren nun in den Händen der Spinnenschwestern. Würden sie wirklich ausreichen, Hallittis Macht zu brechen? Nach den Nachrichten im Muggelradio hoffte Ty dies sehr inständig. Denn es würde wohl bald auch Hexen und Zauberer treffen, wenn dieses Zwischending Zwischen Schönheit und Bestie wirklich so viele Leben rauben wollte, um eine bis dahin nicht erreichte Macht zu erlangen.

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Anthelia hatte kurz nach ihrem Aufwachen um zwei uhr nachmittags Picklock an den Ort gebracht, von dem aus er in das Ministerium eindringen sollte. Patricia Straton hatte am Morgen eine Eule von Ardentia erhalten, daß Julius Andrews mit Mrs. Porter auf der Flucht vor Swifts Strafverfolgungstruppe war, weil Elysius Davidson verhindern wollte, daß der Junge das ihm wohl von Marie offenbarte Geheimnis um seinen Vater weitergeben oder irgendwas damit anstellen könnte. Dana Moore hatte Anthelia kurz nach Picklocks Aufbruch ins Ministerium mentiloquiert, daß Jane Porter und Julius Andrews unter massiven Attacken der auf sie lauernden Strafverfolgungszauberer in das Institut zurückgekehrt waren und sie wohl dort bleiben würden.

Als Picklock endlich die begehrten Kristalle abgeliefert hatte und von Anthelia ins Hauptquartier zurückgebracht worden war, meldete sich Patricia Straton bei ihr.

"Höchste Schwester, ich habe eine Möglichkeit, wie wir die Bindung zwischen dieser Abgrundstochter und ihrem Abhängigen zerreißen können, wenn wir ihn zu fassen kriegen."

"Wirklich, Schwester Patricia? Berichte!"

Anthelia hörte sich an, was Patricia Straton sich ausgedacht hatte. Sie nickte. So konnte es gehen. Ja, dies war die Lösung schlechthin. Sie ärgerte sich zwar ein wenig, daß ihr das nicht eingefallen war. Doch daran hätte mal auch jemand denken sollen.

Irgendwann gegen Nachmittag meldete sich Ardentia mentiloquistisch bei Anthelia.

"Ich habe Jane Porter und den Jungen zusammen mit Dana, die sich mir außerhalb des Schutzbereiches angeschlossen hat, nach Columbus in Ohio gebracht. Ich habe Jane und den Jungen eingeschrumpft und an den gegen Apparitionsspürzauber abgeschirmten Ort gebracht, den Lady Daianira mit einigen Muggelstämmigen ausgekundschaftet und eingerichtet hat. Dana wird die beiden nun überwachen, weil ich ins Institut zurückmuß. Hoffentlich lassen mich Swifts Leute wieder durch. Näheres heute Abend, wenn ich offiziell frei habe."

"Verstanden!" Mentiloquierte Anthelia erleichtert zurück. Daß diese Jane Porter und der Junge nach Columbus in Ohio wollten bedeutete, daß sie die Spur Richard Andrews' aufnehmen wollten. Es würde also das geschehen, worauf Anthelia so sehnsüchtig gehofft hatte.

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Dana Moore hatte sich als kleine Fliege außerhalb des weiten Belagerungsringes um den verhüllten Ort des Institutes versteckt. Hier mußte sie auf natürliche Fliegenfeinde achten, die eine Animaga bestimmt nicht von einer üblichen Fliege unterscheiden würden und sie auch dann gerne verspeisen würden, wenn sie es gewußt hätten, daß sie da eine wandlungsfähige Hexe erwischt hatten. So schwirrte sie scheinbar ziellos herum und wich weiträumig allen Vögeln aus, die sie als Beute ansehen konnten, schaffte es einmal nur knapp, der Schleuderzunge eines hungrigen Frosches zu entwischen und mußte sich vor einer heransurrenden Hornisse verstecken, die wohl gerade Nachschub für die Vorratskammern ihres Staates suchte. Die Welt der Insekten war eine Welt, wo die kleinste Unaufmerksamkeit den Tod brachte. Dann endlich empfing Dana einen Gedankenruf Ardentias, die gerade durch das magische Tor das Gelände des Institutes verließ.

"Dana, bin jetzt mit den beiden im eingeschrumpften Zustand unterwegs nach Ohio. Wenn du in der Nähe bist, komme zu mir, wenn ich an Swift vorbei bin."

Dana schwirrte ein wenig herum und passte Ardentia ab, die gerade auf einem Harvey-Besen heranflog. Ihre Fliegenaugen konnten den unsichtbaren Besen zwar nicht sehen, aber der sehr feine Geruchssinn einer Fliege vermittelte ihr Ardentias Körpergeruch und den von zwei sehr kleinen Menschen, die nicht wesentlich größer waren als Dana Moore es gerade war. Sie landete im Haar Ardentias und mentiloquierte ihr, sie könne nun an den Zielort. Beinahe wäre sie während des Fluges aus Ardentias nun schlauchdicken Haaren herausgeweht worden. Doch sie wickelte sich so gut es ging darin ein und wartete, bis Ardentia mit ihr und den beiden Eingeschrumpften landete und dann unvermittelt disapparierte.

Nach zwei Haltepunkten waren sie in einem Toilettenraum angekommen. Dana unterdrückte den in ihrem Fliegenmagen aufkommenden Hunger, weil der ihre Tiernatur anregende Geruch von Ausscheidungen noch durch den Gestank von Desinfektionsmitteln hindurchdrang. Sie wickelte sich aus Ardentias Haaren und flog nun wie eine übliche Fliege herum, bis Jane Porter und Julius in ihrer natürlichen Größe das Toilettenhaus verließen. Sie folgte ihnen und schwirrte dann davon, um sich einen Punkt zu suchen, von dem aus sie in die Nähe des ersten Hauses apparieren konnte, wo Hallitti in der vergangenen Nacht gewütet hatte. Kaum war sie dort angekommen, verwandelte sie sich wieder in die kleine Fliege und legte die letzten fünfhundert Meter bis zum Haus zurück, wobei sie sich aus einem halb offen dastehenden Müllcontainer etwas vergammelte Bananenschale genehmigte. Dann bezog sie Posten vor dem Haus, um das viele Leute herumlungerten. Irgendwann tauchte ein Muggelwagen auf, dem der Junge Julius entstieg. Ja, und auch Jane Porter war dabei, allerdings unsichtbar. Dana blieb tunlichst aus dem Blickfeld der beiden und folgte ihnen zum Haus.

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Anthelia hatte sich in ein modisches Kleid aus Mr. Lucians Beständen gehüllt und war zum Flughafen Sacramento gefahren, wo sie den Piloten der Privatmaschine Lear 2355 DL dabei traf, wie er das kleine Düsenflugzeug für den Rückflug nach Philadelphia vorbereitete. Der schmuck gekleidete Mann Mitte dreißig wandte sich sehr mißtrauisch um und betrachtete die Fremde mit den strohblonden Haaren.

"Entschuldigung, aber Sie gehören nicht zum Flughafenpersonal", sagte der Mann und sah sich rasch um, ob irgendwo Sicherheitsleute waren, die er rufen konnte.

"Sie werden die Wachen dieses Flugplatzes nicht alarmieren", flüsterte Anthelia und hielt dem Mann einen silbriggrauen Stab entgegen. Dieser wähnte einen Angriff und fischte in seine Jacke, wo er eine Pistole bei sich trug.

"Imperio!" Stieß Anthelia aus. Da kam gerade die Hand mit der Waffe zum Vorschein. Gerade als der Pilot auf die Unbekannte anlegen wollte, wischte eine heftige Woge überwältigender Glückseligkeit alle Gedanken aus seinem Bewußtsein.

"Steck deine Mordwaffe wieder fort und lasse mich in diese Flugmaschine ein! Verrate niemandem, daß ich dort verweile!" Befahl Anthelia dem unterworfenen Piloten über die Verbindung, die der unverzeihliche Fluch zwischen ihr und ihm hergestellt hatte. Wie die meisten Menschen, magisch oder unmagisch, konnte sich der Pilot nicht gegen diesen Zwang wehren, der ihn dazu trieb, Anthelias Anweisungen auszuführen. Er öffnete ihr die Tür ins Cockpit und ließ sie ohne weiteren Widerstand an Bord gehen. Anthelia plante, Diesen Hornsby auf dem Rückflug nach Philadelphia zur Rede zu stellen und falls nötig unter den Imperius-Fluch zu nehmen. Sie wußte nur nicht, wielange sie ihn unterworfen halten sollte. Immerhin wollte sie nicht, daß er ihr wegen der Andrews' in die Quere kam. Sie dachte daran, daß sie ihn wohl nur solange im Bann halten mußte, bis die Andrews' entweder abgereist waren oder der Kampf gegen Hallitti entschieden war. Doch ihre Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Als endlich die mit Arnold Hornsby verbundenen Gedanken zu ihr ins Cockpit wehten, erfuhr sie, daß es wohl schwieriger gewesen sei, Gilda Hornsbys Leiche zu übernehmen als erwartet.

"Gut, daß wir hier wen vom richtigen Amt kennen", knurrte Hornsby zu seinem Butler und Leibwächter Drecksel gewandt. "Ich sage Captain Smyth, er solle sofort starten, wenn der Sarg an Bord ist."

Anthelia wurde unsichtbar, als der Pilot die beiden Fluggäste an Bord brachte und sich kurz mit ihnen über den möglichen Abflugzeitpunkt unterhielt.

"Captain Smyth, in zehn Minuten ist der Sarg mit meiner Schwester hier. Dann starten Sie die Wendy!" Rief Hornsby, dessen Stimme zu den worthaften Gedanken paßte, die Anthelia auffing. Der Pilot bestätigte das und betrat das Cockpit. Er blickte sich suchend um. Doch Anthelia saß unsichtbar auf dem Sitz des bei längeren Reisen mitzunehmenden Copiloten.

"Erfrage die Erlaubnis zum Beginn deines Fluges!" Flüsterte Anthelia ruhig. Der Pilot wollte jetzt aufbegehren. Doch Anthelia erinnerte ihn daran, daß er ihre Anwesenheit verschweigen solle. So nahm Smyth das Mikrofon der Funkanlage und rief:

"Lear 2355 Delta Lima an Sacramento Tower!"

Dem Piloten wurde geantwortet, was Anthelia aber nur aus dessen Gedanken erfuhr. Er fragte an, ob er in einer halben Stunde starten dürfe und erfuhr, daß gerade ein hohes Flugaufkommen über Kalifornien und auch im Bereich Sacramento zu erwarten sei und ihm wohl vor Ablauf einer Stunde keine Starterlaubnis erteilt werden könne. Smyth bedankte sich für diese Information und meldete es an seine zwei Passagiere weiter.

Wie sich herausstellte benötigte Hornsby für die endgültige Erledigung der amtlichen Formalitäten für die Überführung seiner toten Schwester doch mehr als nur zehn Minuten. Es wurden insgesamt 30, bis sowohl von Seiten der ermittelnden Polizei als auch von Beamten die für die Überführung nach Philadelphia zuständig waren grünes Licht gegeben wurde und der Pilot die Tür schließen konnte. Die Betankung der Maschine war bereits vor einer Dreiviertelstunde abgeschlossen worden, und so bekam Lear 2355 DL, die von ihrem Besitzer "Wendy Darling" genannt wurde, Starterlaubnis. Anthelia blieb mucksmäuschenstill im Cockpit, bis die knapp 15 Meter lange Maschine den Flughafen unter sich zurückließ. Anthelia hatte sich eigentlich geschworen, diese Art umweltverpestender und unzulänglicher Transportmittel nicht zu benutzen. Doch wenn sie diesen Hornsby hier und jetzt, wo er ihr nicht davonlaufen konnte, mit ihren Bedingungen konfrontieren konnte, heiligte der Zweck das Mittel. Sie wartete, bis der Pilot die Maschine auf die angemeldete Reiseflughöhe und den gewünschten Kurs steuerte und den Autopiloten einschaltete. Dann verließ sie das Cockpit und trat in den Gang mit den beiden Reihen zu je fünf Einzelsitzen ein. Dort wurde sie wieder sichtbar und fixierte Drecksel, der zwei Sitze schräg hinter Hornsby saß und durch eines der ovalen Fenster blickte. Wenn er einen Feind von draußen erwartet hatte, wurde er in diesem Moment kalt erwischt.

"Mr. Arnold Hornsby, bleiben Sie bitte ganz ruhig sitzen, falls Sie wert darauf legen, Ihr Reiseziel zu erreichen!" Befahl Anthelia. Drecksel ruckte herum und wollte wohl aufspringen. Doch Anthelia drückte ihn telekinetisch in seinen Sitz zurück und ließ die Sicherheitsgurte wieder um seiner Hüfte zuschnappen.

"Wer sind Sie, und wo kommen Sie so plötzlich her?" Kam es perplex von Hornsby, der danach ansetzte, seinem Piloten zu melden ...

"Der Steuermann dieses Vehikels hat mich persönlich eingelassen, also rufen Sie nicht unnötig nach ihm!" Kam Anthelia dem angeblichen Außenhandelsunternehmer zuvor.

"Wie ging das eben? Sie wurden erst sichtbar. Was für ein Zaubertrick ist das?" Fragte Hornsby und überlegte, wie er mit der blinden Passagierin fertig werden sollte, wenn Drecksel offenbar nichts unternehmen wollte.

"Das war kein Trick, Hornsby. Aber zum wesentlichen. Sie erdreisten sich, nach einer Familie Andrews zu suchen, um Ihren Drang nach Vergeltung zu befriedigen. Damit stören Sie meine Pläne. Ich biete Ihr Leben gegen Martha und Julius Andrews. Gehen Sie nicht darauf ein, werden Sie mit Ihrer Schwester gemeinsam zur ewigen Ruhe gebettet, sofern man etwas findet, was gebettet werden kann."

"Drecksel, nimm sie fest oder mach sie kampfunfähig!" Befahl Hornsby. Drecksel griff nach der Schließe des Sicherheitsgurtes und zerrte daran. Doch sie wollte sich nicht lösen. "Smyth, was soll diese Frau hier?!"

"Ich konnte nichts machen, Sir", beteuerte der Pilot aus dem Cockpit. Anthelia wandte sich um und sah, wie Smyth unvermittelt an etwas hantierte. Sie schnappte einen Gedanken auf, der "Druckabfall" hieß und mit dem sie im Moment nichts anfangen konnte. Sie sah noch, wie der Pilot einen becherförmigen Gegenstand an elastischen Riemen vor Mund und Nase zog, bevor ein lautes Zischen und ein schmerzhaftes Gefühl in den Ohren Anthelia erkennen ließen, daß der Steuermann etwas gegen sie versuchte. Der Druckabfall in der Kabine raubte ihr fast den Atem. Doch weil ihr unter der Kleidung verborgener Gürtel auch gegen die Todesart des Erstickens schützte, blieb sie bei Bewußtsein und auf ihren Beinen. Wut kam in ihr auf. Dann durchzuckte sie ein Gedanke. Wenn dieser Steuermann es so wollte, sollte er es haben. Dann hatte er die Entscheidung getroffen, daß Hornsby nicht mehr leben durfte. Sie fuhr herum und zückte ihren Zauberstab.

"Avada Kedavra!" Rief sie, und durch die immer kälter werdende und sehr dünne Luft klang ihr Ruf wie aus großer Ferne. Ebenso war das sonst so laute Sirren, mit dem der grelle, grüne Blitz ihren Zauberstab verließ, eher wie leises Windheulen durch eine Mauerritze. Smyth nutzte es nichts, daß er die Sauerstoffmaske trug. Der Tödliche Fluch ereilte ihn so übergangslos, daß er nicht einmal mehr Zeit hatte, sich umzudrehen und zu sehen, warum die Fremde nicht ohnmächtig wurde wie es Hornsby und Drecksel waren.

"Flugzeuge haben einen Flugschreiber", dachte Anthelia, während der Autopilot die Maschine unbeirrt auf Kurs und Höhe hielt. Diesen mußte sie finden, um ihre Stimme nicht in die Hände irgendwelcher Muggelermittler fallen zu lassen. Sie überlegte, was sie von Benny Calder / Cecil Wellington auf der Reise nach Frankreich von seinem Vater gehört hatte. Ja, im hinteren Bereich des Flugzeuges waren die beiden orangen Kisten fest im Rumpf der Maschine verbaut. Es zahlte sich also doch aus, einen Kundschafter in der Welt der Magieunfähigen zu haben. Sie kniete sich nieder, während die dünne Luft ihr eiskalt in die Lungen stach. Doch das würde sie nicht töten, wußte sie. Etwas merkwürdiger war ihr zu Mute, weil irgendwas von außen mit ganz feinen prickelnden Fingern an ihren Körper langte und auch durch sie hindurchpulste wie heiße Funken. Doch dieses Gefühl war zu schwach, als das es ihr Sorgen machte. Sie zielte auf den hinteren Bereich und murmelte: "Reducto!" Krachend durchschlug ein Blitz den mit dünnem Teppichboden überzogenen Aluminiumboden und sprengte ein sehr breites Loch hinein. Ja, da war einer der Kästen, in dem alle Gespräche und Bewegungen in einem Flugzeug festgehalten wurden. Sie tastete mit ihren telekinetischen Sinnen in den Kasten und zerriss die darin laufenden Bänder und zerstörte ohne äußeren Schaden am Gehäuse anzurichten die Aufzeichnungselektronik. Ähnliches tat sie beim zweiten flugschreiber. Sie überlegte, ob dieses Flugzeug auch einen Stimmenrekorder für die Funkgespräche und die Unterhaltungen im Cockpit enthielt und befand, daß sie auf Nummer sicher gehen mußte. Sie wendete einen Zauber an, der die Linien eines Magnetfeldes sichtbar machen konnte. Muggelstämmige wie Romina Hamton oder Lobelia Wagner hatten ihr einmal erklärt, daß elektrische Leitungen Magnetfelder ausbildeten. Sie suchte bis sie einen Kasten fand, in den die Leitungen vom Funkmikrofon und der Lautsprecher hinein- und wieder herausführten. Mit einem magischen Stromstoß durch das Mikrofonkabel verschmorte sie die elektronischen Innereien des Stimmenrekorders. Den Rest sollte die Schwerkraft und die Wucht des Aufschlags besorgen, befand Anthelia. Sie brauchte die Maschine nur einfach weiterfliegen zu lassen, bis dieses üble Abgase verbreitende Gebräu namens Kerosin verheizt war und die daraus ihre Kraft beziehenden Antriebsmaschinen versagten. Den rest würde die Erdanziehungskraft verrichten. Sie warf noch einen bemitleidenswerten Blick auf das Gewirr von Anzeigen im Cockpit und auf die ohnmächtig daliegenden Passagiere und den von ihr totgehexten Piloten. Dann disapparierte sie. Da sie dabei aus großer Höhe verschwand, war die Deliberationsenergie so ungehemmt, daß sie mit kanonenschlaglautem Getöse in der Daggers-Villa apparierte. Ihre Ohren schmerzten vom plötzlichen Druckanstieg. Ebenso schien die Luft in ihren Lungen dick wie Sirup zu werden. Etwa eine Minute lang keuchte sie unter der zu hastig veränderten Umwelt. Dann fühlte sie sich wieder gut genug. Sie prüfte ihr Gehör und verdrängte die Schmerzen aus den Ohren. Ihren Trommelfellen war zum Glück nichts passiert.

"Höchste Schwester, was ist passiert?" Fragte Pandora Straton, die gerade die Hauswache inne hatte, als sie im Weinkeller der Villa apparierte.

"Mir geht es soweit wieder gut, Schwester Pandora. Dieser Steuermann Hornsbys hat beschlossen, als Held sterben zu müssen, weil er meinte, in meine Unterhandlung hineinzufuhrwerken und die Luft aus der Kammer für die Passagiere ablassen zu müssen. Ich mußte aus dieser vermaledeiten Vorrichtung disapparieren, wohl aus sehr großer Höhe. Dies muß wohl einen ungebührlichen Lärm verursacht haben."

"Allerdings, höchste Schwester. Dido, ähm, Schwester Dido hat sich heftig erschrocken. Ich habe sie mit einem Beruhigungszauber belegen müssen, bevor ich zu dir kommen konnte. Wird dieser Mensch Hornsby uns denn jetzt weiter Schwierigkeiten machen?"

"Nur wenn es jemandem gelingt, dieses kleine, aber ebenso verboten gehörende Luftvehikel im Fluge zu betreten und gesittet zu Boden zu bringen. Ich hoffe, dieser Apparat wird dann schon über dem weiten Ozean fliegen. Bringen wir Monsieur Lucian an seinen Arbeitsplatz zurück, nachdem ich seine Erinnerungen abgeändert habe!"

"Wie du meinst, höchste Schwester", sagte Pandora Straton.

__________

Hallitti fühlte, wie ihren Unterworfenen etwas streifte. Ja, sie vermeinte einen fernen Ruf zu vernehmen, in ihn hinein und zu ihr zurück. Ja, das war der Ruf eines Jungen, der ihn, Richard "Paps" Rief. Sie lächelte, während Richard von einer überschwenglichen Freude ergriffen wurde und erst in Gedanken und dann mit dem Mund zurückrief:

"Julius, wo bist du?!"

"Sieh an, irgendwer hat den Sohn dazu befähigt, den Vater zu rufen. Soll er ihn hören und dann hören, was ich ihm zu bieten habe", dachte Hallitti und wartete, bis sie in den Gedanken ihres Abhängigen einen Jungen mit hellblondem Haar sehen konnte, der sehr konzentriert dreinschauend rief, sein Vater solle ihm antworten. Als Richard ihm einige Male geantwortet hatte, Nahm Hallitti ihn bei der Hand und stellte sich neben ihn. Gleichzeitig projizierte sie ihr Bild in die Gedanken des Mannes, der ihr nun schon seit fast einem Jahr gehörte. Sie sah in seine Augen und sah damit in die Augen des Jungen, dessen Geist sie zu fassen versuchte und laut lachte.

"Du bist also auch in der Gegend, Julius Andrews", lachte die Unheimliche, während sie Julius' Vater mit einem Arm umklammerte und zurückhielt. "Ich freue mich, daß du deinen Vater so vermißt, daß du ihn so sehr suchst."

"Lass ihn in Ruhe, du Vogelscheuche!" Stieß Julius aus. "Du hast ihn lange genug gequält."

Hallitti lachte laut und zuckersüß.

"Wer sagt dir denn sowas", sagte sie gekränkt und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. "Ich habe ihm die Erfüllung seines Lebens gegeben. Er ist dankbar dafür, daß ich ihn so glücklich machen kann. Niemand quält ihn. Was er tut tut er freiwillig, für mich und sich. Er freut sich, bei mir zu sein und will gar nicht mehr zurück. Deine Mutter hat ihn verstoßen, ihm ihre Liebe verweigert, ihm das Recht genommen, ein Vater zu sein. Wer quält hier wen, Julius?"

"Du bist eine Tochter des Teufels, und dem Teufel soll man nichts glauben", knurrte Julius in Gedanken. Die Fremde Lachte schallend los.

"Der Teufel? Von dem habe ich schon lange nichts mehr gehört. Aber die Bockshörner, die ihm deinesgleichen aufgesetzt haben, würden bei so schönen Spielen nur stören, wie ich sie mit deinem Vater spiele. Aber das kannst du ja nicht begreifen. Die Liebe ist für dich doch nur ein Wort, oder?"

"Du redest von Liebe? Du weißt doch schon gar nicht was das ist!" Schrie Julius.

"Und ob ich das weiß, was das ist, Julius. Ich werde es dir beweisen. Denn das genau willst du doch, oder? Du willst von einer wie mir, der nachgesagt wird, die geheimsten Wünsche zu befriedigen, alles erleben, was den Knaben vom Mannesdasein träumen macht. Sieh mich ruhig an und gestehe dir ein, daß du mich genauso begehrst wie dein Vater und alle anderen Männer vor ihm es getan haben!"

Die Schwester des dunklen Feuers spürte beinahe körperlich, wie der ferne Geist des Jungen zu ihr hinstrebte, vom Blick ihrer Augen angezogen. Gleich würde sie ihn herüberholen, umschließen und bergen, ja mit ihm sogar seinen fernen Körper zu sich ziehen können, durch die auf seinen Vater übertragene dunkle Magie als Verstärker und Brücke, den Jungen selbst erfassend. Sie begann, ein eindringliches Lied zu singen, das tief in sein Bewußtsein eintauchte und ihn alle Wut auf sie vergessen machte. Jetzt glitt er auf sie zu, immer schneller werdend. Gleich würde sie ... "Aaaaaarrrrruuuuuuuuuuuuuuaaaaaiiiii!" Mit einem tierhaften Schmerzensschrei prallte Hallitti von einer Wand wie aus rotglühendem Stahl zurück. Irgendwas hatte ihre gerade so recht in Form kommende Verbindung zu Julius Andrews abrupt abreißen lassen, ihm wohl das Bewußtsein geraubt und sie dadurch aus der magischen Fernverbindung herausgeprellt. Richard Andrews fiel dabei ebenso in eine tiefe Ohnmacht, während die Abgrundstochter vor Schmerzen im ganzen Körper und vor Wut tobte und krakehlte. Wer immer den Jungen dazu befähigt hatte, seinen Vater aus der Ferne zu rufen hatte ihre Absicht durchschaut und sie knapp vor Erfüllung ihrer eigenen Zauberei vereitelt.

"Ich kriege dich wieder, Bursche. Wenn dein Vater wieder aufwacht, werde ich ergründen, wie du ihn rufen konntest und dich dann finden und zu mir bringen. Du kommst mir sehr recht, Julius Andrews. Deine Jugend, deine Unschuld und deine Zauberkraft werden mir ein vielfaches von dem geben, was dein Vater mir geben konnte. Vielleicht brauche ich dann den Stein nicht mehr, um die anderen Schwestern zu wecken", schnaubte Hallitti. Dann umspielte ihre überirdisch schönen Gesichtszüge ein siegesgewisses Lächeln. Sie würde den Jungen finden und holen. Wer immer ihn auf sie angesetzt hatte würde merken, daß mit einer Tochter Lahilliotas nicht Katz und Maus zu spielen war, wenn man nicht wollte, daß sie die Katze in diesem Spiel war. Ihr war klar, daß jemand auskundschaften wollte, wo sie sich aufhielt und dazu Richard Andrews benutzte. Ihr war auch klar, daß sie wohl bald die Entscheidung suchen mußte, wollte sie einen möglichen Angriff auf ihr Versteck vereiteln. Sie versuchte, Kontakt mit ihrer Schwester Itoluhila zu bekommen. Doch ihre gedanklichen Rufe verhallten ungehört in weiter Ferne. Was war mit Itoluhila los? Schlief diese jetzt selbst den tiefen Schlaf? Oder war sie nur zu sehr geschwächt, um ihr zu antworten. Auch ihre zweite wache Schwester schien gerade in einem tiefen Schlaf zu liegen, von dem sie nicht wußte, ob dieser nicht Jahrhunderte dauern mochte wie ihr Schlaf, aus dem sie erst im letzten Jahr erweckt worden war. Sie war alleine. Doch bald würde sie nicht mehr alleine sein. Sie verlor sich in stiller Vorfreude, wie herrlich dieser Junge sein würde, wenn sie seinen Vater restlos in sich aufnehmen würde. Ja, sie kannte die vielfältigsten Spielarten der körperlichen Liebe. Und sie nahm sich vor, sie alle diesem Jungen beizubringen, ihn nicht so heftig auszureizen wie den Vater. Doch wenn sie ihn erst einmal hatte, würde sie von allen neunen die mächtigste sein und konnte dann in aller Ruhe ihr Leben leben, ein langes, sehr erfülltes Leben.

__________

Ardentia Truelane befand sich im Laveau-Institut, als Jane Porter mit dem Jungen Julius zurückkehrte. Sie war etwas außer Atem und schien sichtlich verunsichert zu sein. Sie fragte die ältere Hexe:

"Hat es nicht funktioniert mit dem Sanguivocatus-Zauber?"

"Besser als mir lieb ist", erwiderte Jane Porter. Erst haben uns Swifts Leute einen langen Kampf geliefert. Ich mußte erst den Gesang der Feindeswehr anstimmen, bevor ich mit dem Jungen das Ritual vollziehen konnte. Dann haben wir tatsächlich Kontakt bekommen. Aber dieses Monster, diese Abgrundstochter hat versucht, den Spieß umzudrehen. Ich habe es fast körperlich fühlen können, wie der Junge zu ihr hinwollte. Ich weiß nicht, wie mächtig ihre Magie von seinem Vater fokussiert und auf ihn übertragen werden kann. Aber ich fürchte, wenn wir ihn nicht bald wieder nach Paris oder Millemerveilles zurückbringen, wird sie ihn erneut zu erreichen versuchen und dann zu sich holen."

"Wirklich?" Fragte Ardentia zwischen Unbehagen und Erstaunen. Jane Porter nickte, wobei ihr der Strohhut leicht nach vorne rutschte.

"Nur hier, Thorntails oder einem anderen fernkontaktsicheren Ort, je weiter von dieser Kreatur fort desto besser, kann der Junge vor ihren Nachstellungen sicher sein. Er darf mindestens ein Jahr lang nicht wieder zu uns kommen, weil die Magie, die ich blinde Kuh aufgerufen habe, einen vollen Sonnenkreis lang wiedererweckt werden kann, bevor sie völlig versiegt ist. Ich werde ihn gleich wieder aufwecken. Hier ist er sicher. Wahrscheinlich hat mein Schockzauber seinen Vater auch ohnmächtig gemacht. Dann kann Hallitti ihre Kraft nicht durch ihn auf den Jungen übertragen. Wie selten dämlich muß ich gewesen sein, das nicht vorhergesehen zu haben", knurrte Jane Porter in heftigen Selbstvorwürfen. Dann trug sie den auf ein Zehntel seiner normalen Größe eingeschrumpften Jungen in ein freies Zimmer mit einem Feldbett. Ardentia erhielt den Auftrag, Mr. Davidson zu holen. Als sie ihn gefunden und zu Jane Porter gebracht hatte, wachte Julius gerade auf. Dieser hatte wohl den direkten Kontakt mit Hallitti vergessen, was Jane Porter etwas beruhigter dreinschauen ließ. Dann verkündete sie ihm, ihn am nächsten Tag mit seiner Mutter nach Millemerveilles zurückzubringen. Das fand er wohl nicht sonderlich toll. Aber Mrs. Porter bestand darauf.

Abends, nachdem der Junge sich hingelegt hatte, forschte Ardentia so behutsam wie möglich nach, wo ungefähr das Versteck der Abgrundstochter lag.

"Es muß das südliche Kalifornien sein, Ardentia. Womöglich befindet es sich in den Bergen oder in der Wüste, weit von den Städten entfernt", sagte Jane Porter und zeigte ihr auf einer Karte, wo das ungefähre Zielgebiet lag. Mr. Davidson sagte:

"Sobald der Junge wieder in Millemerveilles ist gehen wir damit zu Minister Pole und erzwingen von ihm eine genaue Suche in diesem Gebiet. Womöglich können wir gegen die Magie ankämpfen, mit der sie ihren Unterschlupf verbirgt. Dann haben wir sie endlich. Dazu sollten wir die besten Apparatoren und Experten für dunkle Zauberkunst mitnehmen."

"Können wir das nicht gleich erledigen?" Fragte Ardentia Truelane. "Es könnte doch sein, daß sie jetzt geschwächt ist."

"ja, oder nur verwundet. Wir müssen davon ausgehen, daß sie nun auf der Hut ist, noch heute angegriffen zu werden. Sie wird darauf lauern, einen von uns zu erwischen, sobald er in ihre Nähe kommt. Wenn wir den Jungen weit genug von ihr fortschaffen, unter die gegen dunkle Zauberei gepanzerte Verhüllung von Millemerveilles, wird sie ihn suchen und suchen und dabei nicht darauf gefaßt sein, von uns angegriffen zu werden", sagte Davidson. Jane Porter und Ardentia Truelane nickten. Ardentia mußte sich anstrengen, ihren Geist zu verschließen, weil Davidson und Porter gute Legilimentoren waren und nicht erkennen durften, was sie selbst gerade umtrieb. Spät am Abend konnte sie ohne aufzufallen das Institut verlassen und über die Damentoilette in Columbus, wo sie Dana Moore traf, in die Daggers-Villa zurückkehren, wo Anthelia zu dieser ungewohnt späten Stunde noch wach war.

"Ich bereite mich darauf vor, dieser Kreatur entgegenzutreten", sagte die höchste Schwester den beiden Hexen, bevor diese ihr berichteten, was sie erlebt hatten.

"Diese Jane Porter ist echt sehr gut, höchste Schwester. Ihr Ritualgesang hat eine undurchdringliche Verdrängungsmagie um das Haus gelegt. Ich kam da nicht mehr rein", erzählte Dana Moore. Ardentia bot Anthelia an, ihren Geist zu durchforschen und das ungefähre Versteck Hallittis daraus zu entnehmen. Die höchste Schwester lächelte sehr siegessicher.

"Diese Narren haben es also wirklich darauf ankommen lassen, daß der Junge zu einem Köder an einer magischen Angelschnur wurde und der Fisch bereits angebissen hat und sie ihn nicht mehr loszuwerden drohen. Schön. Aber wenn der Junge morgen in meine alte Heimat zurückkehrt, wird die Angelschnur zerreißen, und wir müssen in einem Umkreis von mehreren Dutzend Meilen suchen, um sie zu finden. Das ficht mich an. Nein, Schwestern, wir müssen dafür sorgen, daß der Junge morgen nicht nach Millemerveilles gelangt. Ich werde höchst persönlich zum Hause dieses Zachary Marchand eilen und eine günstige Gelegenheit abpassen, die Mutter zu überwältigen, ja vielleicht auch diese Jane Porter außer Gefecht zu setzen, wenn es sein muß durch den tödlichen Fluch. Ich will haben, daß der Junge morgen aus dem Institut herausgebracht wird. Schwester Donata wird im Ministerium anregen, die Getreuen dieses Cretins Pole im Laveau-Institut dazu zu bringen, den Jungen herauszurücken, am besten dem Minister zu übergeben. Dann werden wir sehen."

"Aber wie halten wir Kontakt zu dem Jungen?" Fragte Ardentia.

"Da habe ich schon eine Idee ersonnen. Je nachdem, wo er morgen früh hingebracht wird, wirst du, Ardentia oder Schwester Patricia sie in die Tat umsetzen. Schwester Tyche kann ich dafür nicht heranziehen, ohne unnötiges Aufsehen zu erregen und alle anderen können dies nicht, ich eingeschlossen."

"Du meinst den Pontivirginum-Zauber", vermutete Ardentia Truelane.

"Genau diesen", bestätigte Anthelia nickend.

"Ich bin mir nicht sicher, ob meine Tochter dazu geeignet ist, höchste Schwester. Sie erzählt mir nicht alles, was sie in Thorntails und danach so alles erlebt. Da sie häufiger alleine unterwegs ist ...", setzte Pandora Straton an.

"Ich schuf dereinst ein Simulacrum von ihr, Schwester Pandora. Damals wäre sie noch im Stande gewesen. Ich werde sie zu mir zitieren, wenn ich Gewißheit habe, daß sie dafür in Betracht kommt", erwiderte die wiedergekehrte Nichte Sardonias.

"In Ordnung, höchste Schwester. Meine Tochter wird deinen Ruf erwarten."

"Dessen bin ich mir sicher, Schwester Pandora", erwiderte Anthelia lächelnd.

Ardentia bat um die Erlaubnis, sich zu entfernen und bekam diese. Pandora und Dana wurden von Anthelia darum gebeten, in der Villa zu bleiben. Dana hatte im Moment keine Probleme damit, da das Treffen der in britannien lebenden entschlossenen Schwestern ja erst in einigen Tagen stattfinden würde. Anthelia verabschiedete sich und apparierte einen Kilometer von Zachary Marchands haus entfernt und verwandelte sich in eine große Krähe. Dann flog sie zum Haus selbst hin und setzte sich in die Krone eines nahegelegenen Baumes und tat so, als würde sie schlafen. Sie erfaßte die an der Bewußtseinsoberfläche treibenden Gedanken Martha Andrews' und Zachary Marchands. Dadurch erfuhr sie, daß die beiden gleich zu einem Treffen mit Richard Andrews gebracht werden sollten, wohl dem von Zaubereiminister Pole aufgebotenen Doppelgänger. Als dann aber die Leute aus Marchands offizieller Dienststelle mit einem großen Wagen vorfuhren, bekam Anthelia sofort mit, daß die beiden in eine Falle gelockt werden sollten. Sie erfuhr zwar nicht, wo es genau hingehen würde. Sie hörte nur zwei Namen aus den an der Oberfläche der Bewußtseine treibenden Gedanken: Hubert Larocheh, der Patron und Gordon Walker, welcher ihnen diese Gelegenheit verschafft hatte. Also war noch jemand an dieser Frau und womöglich auch dem Jungen interessiert. Dieser Hornsby hatte sie zu sehr von Martha Andrews abgelenkt, fiel ihr nun auf. Doch was sollte sie jetzt machen? Sollte sie die Fallensteller angreifen und damit verraten, daß sie sich für Marthas Schicksal interessierte? Nein, das kam ihr doch gelegen. Martha Andrews würde von Jane Porter nicht gefunden werden, ob tot oder lebendig. Damit würde sie den Jungen nicht zur Heimkehr nach Millemerveilles bewegen können, sofern sie nicht doch skrupellos genug war, ihren Willen mit magischer Gewalt durchzusetzen. Anthelia lauschte, wie der Wagen mit Zachary Marchand und Martha Andrews davonfuhr, zu einem Hubschrauber, einem lauten, mit wild kreisenden Flügeln schlagenden Flugapparat. Anthelia verwünschte diese mechanischen Gerätschaften. Würde sie erst alle Geschicke der magischen und nichtmagischen Menschen in den Händen halten, würde sie ihnen ein Angebot machen, entweder nur dann zu fliegen, wenn sie brav und folgsam anderen Hexen dienten und sich von diesen transportieren ließen oder sie in flugfähige Tiere zu verwandeln, wenn sie unbedingt alleine fliegen wollten.

Sie wartete noch einige Zeit. Tatsächlich tauchte Jane Porter auf einem Harvey-5-Besen auf. Sie hatte ihren Geist gut verschlossen, stellte Anthelia anerkennend fest. Fast kein Gedanke war von ihr zu empfangen. Doch als sie mit einem Lebensquellfinder umhersuchte, mußte sie zwangsläufig etwas von ihrer geistigen Disziplin vernachlässigen. Doch für Anthelia war es jetzt nicht mehr wichtig, diese Hexe zu überwältigen. Es sei denn, sie würde einen Zauber benutzen, den Patricia Straton der höchsten Schwester gezeigt hatte, um ihr die neueren Zauber vorzuführen. Doch das tat Jane Porter nicht. Sie erkannte, daß das Haus leer war, fühlte sich entsprechend irritiert und überlegte, was sie tun konnte. Dann kamen noch Agenten des FBI, die erkannt hatten, daß ein gewisser Gordon Walker ein sogenannter Maulwurf war, so empfing es Anthelia. Offenbar hatte man ihn dabei erwischt, wie er die Falle für Martha Andrews aufgestellt hatte. Jane Porter erkannte, daß hier nicht mehr viel auszurichten war und flog weiter, um zu ihrem Haus zu gelangen. Doch Anthelia wußte von Donata Archstone, die es wiederum von einem Mitarbeiter Swifts hatte, daß der Weißrosenweg gegen alle Formen des Eindringens abgesperrt worden war. Womöglich warteten dort auch Schergen des Zaubereiministers und würden sie festnehmen. Besser konnte es also wirklich nicht laufen, dachte Anthelia, bevor sie selbst davonflog und weit genug fort vom Haus disapparierte.

Bevor die Führerin des Spinnenordens ihren nötigen acht-Stunden-Schlaf nehmen wollte, bestellte sie mentiloquistisch Ardentia Truelane ein, die bereits erfahren hatte, daß Jane Porter beim Versuch, in den Weißrosenweg hineinzuapparieren, festgenommen und in Gewahrsam genommen worden war.

"Gut, dann wirst du dich des Jungen annehmen. Bringe deinem offiziellen Befehlsgeber bei, daß du ihn an einem sicheren Ort außerhalb der magischen Welt verstecken kannst, den weder die Schergen des Ministers noch die Abgrundstochter erreichen mag!"

"Hmm, du willst aber nicht, daß der Junge von Fernfluchabschirmzaubern beschützt wird, höchste Schwester."

"Genau so ist es. Bist du mit Pontivirginum gut genug vertraut, um ihn anzuwenden, bevor du dich dem Jungen anvertraust und ihn damit belegst?"

"Ich muß etwas Blut und Tränenwasser von mir in einen Kessel mit klarem Quellwasser und dem Horn eines Einhorns und Daunenfedern eines weiblichen Kükens verrühren, in einem Kessel aus Silber, in den die Runen für Reinheit, Unberührtheit und Verbundenheit eingeschrieben sind und dabei zwischen den Worten "Creato Pontem" und "Pons Virginum" meinen Namen und den des anderen unberührten Menschenwesens aussprechen. Aber was, wenn der Junge bereits die ersten leidenschaftlichen Träume und Wallungen erlebt oder gar geschlechtlich gehandelt hat?"

"Das bestimmt nicht in Beauxbatons. In Hogwarts selbst dürfte er dazu noch nicht in die Stimmung gekommen sein. Was die leidenschaftlichen Träume angeht, so beeinträchtigen sie diesen Zauber nicht, weil die körperlichen Wonnen im wachen Zustand erreicht werden müssen. Der Geist muß die volle Kraft der leidenschaftlichen Erregung bis zum Höhepunkt erfahren, von außen, nicht durch den Traum. Nur dann würde der Zauber nicht die Verbindung errichten, die er schafft."

"Warum kannst du ihn nicht wirken, höchste Schwester?" Fragte Ardentia.

"Weil ich in meinem ersten Leben bereits genug Gelegenheiten fand, die Lust der körperlichen Zweisamkeit auszuleben. Deshalb geht es nicht", sagte Anthelia keineswegs ungehalten oder tadelnd, sondern ganz nüchtern, als erkläre sie Ardentia nur einen Fußweg zum nächsten Gasthaus. Ardentia lief rot an. Anthelia lächelte amüsiert und meinte: "Das ist nichts, wofür du dich schämen müßtest. Wenn du meintest, die Frage nicht stellen zu dürfen, dann wirst du es eben in Zukunft überdenken, was du mich fragen kannst und was nicht." Ardentia nickte zustimmend und ließ sich von Anthelia einen Kessel aus purem Silber geben, in den sie mit einer glühenden Nadel die vorgeschriebenen Runen eingravierte. Dann holte Anthelia Quellwasser, Kükendaunen und ein Stück vom Horn eines Einhorns und half Ardentia, die Zutaten vorzubereiten.

"Begib dich nun an eine saubere Quelle, möglichst ungestört und vollende den Zauber wie geheißen!" Sagte die höchste Schwester zu Ardentia. "Dann, wenn sicher ist, daß du den Jungen in deine Obhut nehmen darfst, verabreiche ihm und dir den bezauberten Trunk am besten in einer Speise, daß er nicht merkt, daß du mit ihm in Verbindung trittst. Vergiss auch nicht, daß du deinen Namen zuerst nennen mußt, wenn du die Zauberworte sprichst! Denn sonst würde der Knabe eine sympathetische Verbindung zu dir erhalten. Bringe ihn dann an einen Ort, wo kein Zauberwerk ihn umgibt außer deinen persönlichen Zaubergegenständen! Ab da wird Hallitti ihr Schicksal besiegeln, weil du die Angelrute bist, die wir in Händen halten, wenn sie den von Jane Porter ausgeworfenen Köder zu schlucken trachtet. Am besten begleitet Schwester Dana euch morgen auch noch."

"Jawohl, höchste Schwester", sagte Ardentia und verabschiedete sich. Anthelia begab sich zur Ruhe, nachdem sie Dido Pane in ihrem Zimmer aufgesucht und dort in einen Zauberschlaf versenkt hatte, aus dem nur ein Satz sie wieder aufwecken würde: "Die Arbeit ist getan.!"

ENDE

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