E-Mail:
hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de
Die Gefahr durch das Vampirreich Nocturnia konnte durch das Lebensopfer des wiedererwachten Sonnensohnes Darfaian gebannt werden. Das Zweckbündnis zwischen dem Hexenorden der schwarzen Spinne und den Zaubereiministerien der verschiedenen Länder ist damit nicht mehr nötig. Für Anthelia, die mit der Erdmagierin Naaneavargia zu einem Körper und Geist verschmolzen ist, stellt sich nun die Frage, wie sie mit der neuen Lage umgehen soll. Sie hofft darauf, daß die Zaubereiminister und ihre Kettenhunde von der magischen Strafverfolgung zunächst nichts davon erfahren, daß Nocturnia vernichtet wurde. Außerdem weiß Anthelia, daß die Wergestaltigen gerne mehr Einfluß und Vorrangstellung erringen möchten. Wie werden die indischen Wertiger und die mit ihnen verbündeten Werwölfe der Mondbruderschaft auf Nocturnias Ende reagieren?
Er war wütend. Hätte er Füße besessen, er hätte damit den Boden zerstampft. Hätte er Hände besessen, er hätte sie zu Fäusten geballt und um sich geschlagen. Doch er hatte weder Füße noch Hände. Er war nur ein Geist, der in einem magischen Gefäß steckte, daß ihm Schlafstatt und Kerker zugleich war. Fast ein Jahr lang hatte er mitverfolgt, wie die von seinem kleinen aus drei Polarnächten kristallisierten Ei der Mitternacht seine letzte Besitzerin mit Kraft speiste, um sein Vermächtnis in der Welt der Sterblichen zu erfüllen. Auch wenn der lichtschluckende Stein, der alle Kinder der Nacht befehligen und den erwählten Führer mächtig machen konnte, für die Nachtkinder unerreichbar geworden war, hatte seine unsichtbare Bindung über alle irdischen Entfernungen hinweg gehalten, den Geist seiner Trägerin in einen für sie genehmen Körper gepflanzt und damit weiterhin Macht ausgeübt. Doch dann war es passiert: Ein unbegreiflicher Drang, Blut und Leben eines Menschen in sich aufzusaugen, hatte Lamia, die Blutmondkönigin, dazu verleitet, einem ihr bis dahin unbekannten Besucher alles auszusaugen. Doch das war eine gemeine Falle. Denn der Träger dieses Blutes gehörte zu diesen in tiefste Dunkelheit zu stürzenden Sonnenkindern, diese von Licht- und Feuerkundigen erschaffene Brut, die gegen seine Nachtkinder kämpfen sollte. Lamia war augenblicklich vom Sonnenfeuer im Blut des Fremden vernichtet worden. Schlimmer noch, ihre Vernichtung raste wie ein Feuersturm über die ganze Weltkugel und fraß alle von ihr und dem Stein der Mitternacht gezeugten Nachtkinder auf. Dabei ballten sich deren Seelen in der Lamias, die von der unsichtbaren Verbindung zum Ei der Mitternacht angezogen und in dieses hineingerissen wurde. Er hatte den Wächter des Steines, ein Fragment seiner Selbst, laut schreien hören können. Doch der Schrei war im vielhundertstimmigen Todesschrei der Kinder Lamias untergegangen. Dann hörte er, wie Lamias Geist, gestärkt von den Seelen der von ihr geschaffenen Nachtkinder, den Wächter des Steines in einem kurzen und schmerzvollen Kampf überwand und sich einfach einverleibte, wie eine schnell fliegende Fledermaus eine flüchtige Motte. Er hörte den letzten schmerzhaften Ruf nach Gnade, bevor der Wächter des Steines verstummte und er die geistige Stimme von Griselda Hollingsworth alias Lady Nyx alias Lamia, die Blutmondkönigin hörte. "Das werden sie mir alle büßen. Jetzt habe ich den Stein für mich, und niemand anderes wird ihn mir je entreißen können."
"Gib den Stein und seinen Wächter sofort frei!" brüllte er mit der vollen Kraft, die sein Geist und der ihn umschließende Gegenstand, das Auge der Finsternis, ihm verleihen konnten. "Der Stein ist nur mein. Du hast zu gehorchen!"
"Ah, du bist der, der ihn gemacht hat", erwiderte die unerträglich starke Geistesstimme der ehemaligen Vampirkönigin. "Er wollte mich nicht loslassen. Jetzt habe ich ihn ganz für mich. Dein kleiner Wächter ist jetzt ganz tief in mir, wo es ihm doch da so gut ging, als ich noch einen Körper hatte. Da wird er auch bleiben."
"Gib den Wächter frei und entfahre dem Stein. Ich gebiete dir, vergehe im Nichts, in das du gehörst!" gedankenbrüllte er. Wellen der Wut durchrasten seinen eingekerkerten Geist. "Der Stein ist nicht für dich", schleuderte er noch hinterher.
"Er hat mich als seine wahre Meisterin akzeptiert, als ich ihn im Körper hatte. Jetzt bin ich in ihm und habe damit alle Macht, die er hat, für mich allein."
Damit hatte er nie gerechnet, daß sein eigenes Artefakt, der Stein der Mitternacht, von der Seele eines Weibes überwältigt und erfüllt werden würde. Sein uralter Haß auf die Frauen, die Leben geben und Männer mit ihrem Körper und Geist gefügig machen konnten, loderte heller als jedes irdische Feuer. Der eingekerkerte, in das von ihm selbst geschaffene Exil verbannte hörte nur ein lautes Lachen. Dann schickte er in seiner Sprache einen Ruf an den Wächter des Steines: "Stoff aus purer Nacht
unterworfen meiner Macht,
Hör auf deines Meisters Wort
und zerstöre dich sofort!!"
Diese Schutzvorkehrung hatte er tief im Kern des Steines eingewirkt, als er mit seinem eigenen Blut und dem Blutstropfen eines von ihm erschaffenen Nachtkindes den Kristallisationskern geschaffen hatte. Dieser sollte sich nun in reines Tausendsonnenfeuer verwandeln und damit den Stein zersprengen, der sich dann in die stofflose Dunkelheit zurückverwandeln sollte, aus der er entstanden war. Er wartete. Wenn der Stein verging würde er die dabei freiwerdende Kraft fühlen. Doch es geschah nichts. Er wartete weiter. Dann hörte er ein lautes Lachen, das Lachen Lamias:
"Wie du merkst, sogenannter Diner der alles endenden Dunkelheit, hat dein kleiner aber feiner Diamant eine Meisterin und keinen Meister mehr. Dein Selbstvernichtungsbefehl rührt ihn also nicht an. Nur ich kann den Stein noch vernichten. Doch daran liegt mir nichts. Ich bleibe bei und in ihm und warte, bis jemand so einfältig ist, nach ihm zu suchen. Dann werde ich als Kaiserin von Nocturnia zurückkehren und alle Macht, die ich bisher nicht hatte, voll ausschöpfen. Dann wird mir niemand mehr den Stein wegnehmen, kein Muggel, kein Zauberer und auch kein Flaschengeist wie du, Iaxathan."
"Du wagst es, meinen Namen auszusprechen und mich noch zu verhöhnen?! Ich werde den Stein vernichten. Er gehört mir. Ich habe ihn erschaffen. nur ich bestimme, wem er seine Macht verleiht. Hörst du?! Der Stein der Mitternacht gehört mir!!"
"Wach auf, du kleiner Möchtegern-Erzdämon! das kleine Steinchen gehört jetzt ganz mir. Finde dich damit ab!"
"Niemals! Niemals finde ich mich damit ab! Hörst du?! Niemals!!!" jagte er seine Gedanken auf kräftigen Wogen aus Wut und Haß hinaus ins Raum-Zeit-Gefüge. Doch diesmal bekam er keine Antwort. Er rief sie noch einmal, versuchte noch einmal, die Selbstvernichtungsformel anzuwenden. Doch er bekam keine weitere Antwort.
Da Zeit für ihn keine Rolle mehr spielte wußte er nicht, ob er Minuten, Stunden oder gar Tage brauchte, bis die größte Wut verebbte. Er erkannte, daß er in kurzer Zeit drei schwere Niederlagen hatte hinnehmen müssen. Da war zuerst die endgültige Niederlage seines Wegbereiters, den einer der Nachfahren dieser ins ewige Nichts zu schleudernden Lebensanbeterin Darxandria aus seinem Körper getrieben hatte. Ein als Mann gestaltetes Mädchen hatte den Boten dann noch getäuscht und ihm so den Halt in einem passenden Körper vereitelt. Er hatte den Boten zu sich zurückgerufen und ihn zur Strafe in seinen mächtigen Geist eingesaugt und darin vergehen lassen. Dann war das Zepter Skyllians von diesem bedauernswerten Seelenzerstreuer genommen und benutzt worden, bis jemand die Kampfvögel seines Feindes Ailanorar gerufen und alle freien Schlangenkrieger vernichtet hatte. Dieser Kraftträger, der meinte, mit Skyllians Stab zum Herrn der Sterblichen werden zu können, hatte es dann auch geschafft, seiner Bestrafung zu entgehen. Skyllians Stab hatte sich selbst zerstört, weil nichts mehr da war, das ihm unterworfen werden konnte. Zu gerne hätte der mächtige Iaxathan den Rest von Seele, der in diesem Versager gesteckt hatte, in sich einverleibt. Doch das war eben nicht gelungen. Jetzt war ihm auch noch der Stein der Mitternacht abhanden gekommen, vom durch die eingesaugten Seelen ihrer Kinder gestärkten Geist eines früheren Freudenmädchens verschluckt worden. Sie würde warten und hoffen, eines Tages einen neuen Wirtskörper zu finden. Doch da konnte sie lange warten. Er selbst würde dafür sorgen, daß niemand den Ort betrat, an dem das Ei der Mitternacht lag. Doch dazu mußte er endlich wieder einen lebendigen Knecht haben. Allerdings war das nicht so einfach, solange kein männlicher Träger der Kraft in sein Reich kam, die Nimmertagshöhle. Eigentlich mußte einer, der ihm zu dienen verfallen sollte in das Auge der Finsternis blicken, um die wahrhaft dunkle Seite seines inneren Selbst zu erwecken. Also mußte er etwas ersinnen, um endlich wieder einen Handlanger zu haben, der ihm auch eines Tages zur Freiheit und einem neuen Körper verhelfen konnte, damit er endlich sein Ziel erreichen und die gesamte Welt in die alles endende Dunkelheit hinüberführen konnte.
Für seinen neuen Beruf als Kriminalreporter der New York Times hatte sich Jeff Bristol schon in so manch finstere Gegend getraut und dabei immer darauf vertraut, daß die ihm von einer für den großen Rest der Welt geheimbleibenden Stelle lebensrettende Ausrüstung zur Verfügung stand. Als der dunkelhaarige Mann mit den grauen Augen und der Himmelfahrtsnase jetzt vor dem scheinbar so harmlosen Mietshaus in Brooklyn stand fragte er sich schon, ob er heute nur einen hier gerne und oft verkehrenden Drogenhändler antreffen würde, der ihm etwas über die Verbindungen zwischen New York, Miami und Medellín erzählen würde, oder ob es nicht doch eine Falle war. Er prüfte noch einmal seine Kleidung. Er war nicht zu lässig aber auf keinen Fall zu kostspielig bekleidet. Er drückte den Klingelknopf ganz unten und lauschte. Dann knackte es metallisch in den Rillen der Gegensprechanlage. Eine tiefe Frauenstimme fragte: "Wer ist da?"
"Ein Freund von Mr. White", erwiderte Jeff Bristol gerade laut genug, daß es über die Sprechanlage verstanden werden konnte.
"Wer genau?" wurde er gefragt. "Johnny brown", sagte er. Darauf summte es in der Tür, und er konnte das Haus betreten.
Jeff dachte daran, wie viele Hinterhofbordelle er schon besucht hatte, um sie auszuheben. Heute kam er als Informationssuchender. Madame Janine, die Chefin dieses verschwiegenen Freudenhauses, kannte Jeff Bristol bereits von einigen Besuchen als Kriminalreporter. Sie wußte auch, daß er hier gerne mit heimlichen Informanten zusammentraf. Wie alt sie wirklich war versteckte sie unter viel Schminke. Ihr Haar war nicht wie zu erwarten stand wasserstoffblond, sondern rabenschwarz, und ihre üppigen Formen mochten das Werk von kompetenten Schönheitschirurgen sein. Heute trug sie ein langes, scharlachrotes Kleid mit Stehkragen.
"Ist Diego da, Madame?" fragte Jeff die Bordellchefin, an der wohl alles mehr Schein als sein war. Diese lächelte ihn verführerisch an und sagte, daß Diego angerufen habe, es dauere noch eine Stunde, und empfahl ihm für die Wartezeit die Gesellschaft von Gilda Rose. Er lächelte zurück und erwiderte: "Sie wissen, daß mein Chef ein Knauserkopf ist und mich bei den Spesen immer gerade vom Hungertod abhält."
"Weil er anderen nichts gönnt, was er selbst haben will", grummelte Madame Janine. Dann deutete sie auf die Bar. "Aber eine Cola dürfen Sie doch trinken, Mr. Brown?" Jeff grinste. Das stand ihm wohl zu. Weil er nicht gesehen werden wollte lotste ihn Madame Janine in ein kleines Zimmer, daß, wie sie sagte, für prominente Stammkunden reserviert war, die hier ihre vorbestellten Gesellschafterinnen erwarteten und nicht vom allgemeinen Betrieb in der großen Bar behelligt werden wollten. Jeff tat so, als müsse er sich sehr geehrt fühlen. Dann wartete er, bis eine Kellnerin anrückte, die wohl schon die fünfzig Jahre überschritten hatte und für die sogenannte Hausarbeit nicht wirklich ansehnlich genug war. Jeff trank drei Gläser alkoholfreie Getränke. Dann wurde er durch ein elektronisches Türschild an der zweiten Tür informiert, das Zimmer 18 nun für ihn frei sei. Er verließ die kleine Separatbar und stieg die schmale Treppe ins erste Obergeschoss hinauf. Zimmer 18 war immer schon sein heimlicher Treffpunkt gewesen. Er ignorierte die Gerüche und Geräusche des Sündenpfuhls und verdrängte auch die trüben Gedanken, welche mit viel Hoffnung in die Riesenstadt gekommene Frauen und Mädchen in dieser Lasterhöhle anschaffen mußten, um ihre Reisekosten abzuarbeiten.
Diego war ein kleiner, gedrungener Bursche mit schwarzem Haar. Jeff wußte aus seinem früheren Leben als FBI-Mann Zach Marchand, daß Diego sowohl als Drogenhändler als auch Auftragsmörder in den Straßen von Bogota gearbeitet hatte, bis man ihm zutraute, Kontaktmann für den Drogenschmuggel in den Staaten zu sein. Deshalb beging Jeff nicht den Fehler, den kleinen Mann zu unterschätzen. Er galt als völlig gefühllos. Doch irgendwann mußte ihm wohl doch aufgegangen sein, wie schmutzig sein Job war, als seine eigene Familie der Rache einer rivalisierenden Bande zum Opfer gefallen war. Nach außen arbeitete Diego immer noch als Drogenverteiler in New York. Doch in Wirklichkeit half er der DEA und CIA, die großen Fische im Drogenhandel aufzuspüren. Jeff Bristol begrüßte Diego auf Spanisch. Dann setzten sie sich auf das bunte Plüschsofa, daß neben einem breiten Bett und einer Minibar zu den wichtigsten Möbeln des Zimmers gehörte.
"Was rückt dein Boss diesmal raus, Amigo?" fragte Diego nach der Begrüßung.
"Kommt drauf an, ob wir mit deiner Geschichte rauskommen dürfen, bevor die DEA oder die Feds was damit machen wollen", sagte Jeff Bristol.
"Ich brauche hundert Riesen für eine Lieferung aus der alten Heimat. Kann dein Jefe so viel lockermachen?" wollte Diego wissen. Jeff tat so, als wäre das wohl kein Thema, wenn die Sache was taugte. Da erzählte ihm Diego, daß jemand neues ins Geschäft eingestiegen sei, ein Mann aus Mexiko. "Der wird die Machtlöcher stopfen, die die letzten großen Abgänge hinterlassen haben", grinste Diego über sein dunkelbraunes Gesicht. Die schwarzen Augen des zwielichtigen Mannes hielten dabei Jeff Bristol sicher im Blick, wie der jede auch nur winzige Bewegung des anderen beachtete. Als Jeff dann erfuhr, daß Don Rico mit drei Leuten dabei war, die Verbindung nach Kolumbien zu festigen und diese Leute beschrieb, klingelte es in Jeffs Kopf laut und wild. Als er hörte, daß einer der Männer blind sei, sich aber wohl mit Elektronik supergut auskenne und der andere kleinwüchsig sei und wohl was vom Einbrechen verstand, erscholl ein ganzes Konzert von Alarmglocken in Jeffs Kopf. Er mußte sich sehr anstrengen, seine Erregung zu verbergen. Er fragte, ob der Mexikaner schon lange im Geschäft sei und erfuhr, daß er erst im Februar auf der Bildfläche erschienen sei, aber bereits sehr eindrucksvoll bewiesen habe, daß er bei den großen Jungs mitspielen konnte. Für Jeff hieß das, daß der neue Mitspieler im finsteren Reigen der Drogenhändler bereits Leute umgebracht oder zumindest deren Tod befohlen hatte. Er dachte daran, daß Unkraut eben nicht verging. Also bestand doch noch eine Möglichkeit, eine alte Rechnung zu begleichen, dachte er weiter. Da sagte Diego:
"Aber ich denke, der Mexikaner wird nicht lange auf dem Markt bestehen, wo jetzt die Hermanos de la Luna ihre Fäden zwischen Spanien und Südamerika gespannt haben. Die lassen keine Konkurrenz um sich herum bestehen." Jetzt mischte sich zu dem Konzert der Alarmglocken auch noch eine schrillende Alarmsirene in Jeffs Kopf dazu. Die Brüder des Mondes? Das war hoffentlich nur ein Zufall. Doch er fragte, wer diese Brüder waren. "Die haben irre Sachen drauf, Compadre. Die fahren in Autos rum, die wie normale Karren aussehen, aber gepanzert sind wie eure großen Kampfpanzer. Rodrigo Marques hat behauptet, die könnten sich sogar anderswo hinbeamen. Aber Rodrigo gibt's nicht mehr. Das abgedrehteste ist, daß sie gegen kugeln immun sind und bei Vollmond zu Werwölfen werden können oder auch so, wenn die wollen."
"Ach neh", tat Jeff ungläubig. "Und das lassen sich die anderen so einfach auftischen?" fragte er. Diego grinste. Dann sagte er:
"Ihnen bleibt nichts anderes übrig, wo die immer mehr ins Geschäft einsteigen wollen. Wer nicht mit denen zusammengeht geht tot, heißt es. ich habe schon Fotos von Leuten gesehen, die echt tierisch zerfleddert worden sind."
"Wenn das echte Werwölfe sind kann doch jeder die mit Silberkugeln oder Silberklingen umlegen", erwiderte Jeff Bristol amüsiert tuend. Diego mußte nun lachen.
"Das haben schon zwei Schlauberger probiert und das ganz bitter bereut", stieß Diego aus. Jeff wollte dann wissen, woher Diego das alles hatte. Da verzog Diego das Gesicht zu einem überlegenen Lächeln. "Aus erster Hand, Amigo. Aus allererster Hand." Als er diese Worte sprach schien eine Welle aus Krämpfen durch seinen Körper zu gehen. Er begann qualvoll zu stöhnen. Jeff sah ihn für zwei Sekunden perplex an. Doch als sich bereits dunkelbraunes Fell im Gesicht des Informanten bildete und sein Mund sich unter ruckenden Bewegungen immer mehr zu einer Schnauze auswuchs, mußte er es wohl hinnehmen. "Verrrgisss die Zimmertüüüüürrrr", knurrte Diego, der gerade mitten in einer verhängnisvollen Verwandlung steckte. Jeff Bristol Sprang zur Zimmertür und versuchte den Türknauf zu drehen. Dabei war ihm, als hielte jemand von der anderen Seite einen Elektroschocker dagegen. Wie von drei Blitzen getroffen ließ er von der Tür ab. Jemand mußte die magisch verriegelt haben. Aber Diego war eindeutig kein Zauberer, und die Lykanthropie, die der gerade eindrucksvoll eingestand, förderte keine nach außen wirksamen Zauberkräfte zu Tage, wo bis dahin noch keine waren. Laut ratschend riss die Kleidung des Informanten. Sein Körper bekam mehr Muskeln und verschwand beinahe unter einem dunkelbraunen, struppigen Pelz, während die Schnauze sich ganz zu einer kurzen aber mit messerscharfen Zähnen gespickten Wolfsschnauze ausgeformt hatte. Die Arme und Beine waren zu kraftvollen Läufen geworden. Aus den ehemaligen Händen und Füßen ragten dolchspitze Krallen heraus. Diego schüttelte sich noch einmal unter einem Krampf. Dann war die Verwandlung vollendet. Jeff Bristol schaltete schnell um vom verdutzten Reporter zum kundigen Zauberer. Er nahm Abstand zu der Bestie, die sich bisher im Körper Diegos verborgen gehalten hatte. Es war schon beachtlich, daß diese Leute sich bei hellem Tageslicht verwandeln konnten. Doch zum staunen blieb keine Zeit. Denn der Werwolf Diego kauerte sich gerade zum Sprung nieder. Jeff Bristol war auf eine solche Eventualität vorbereitet. Er riß sich den mittleren Knopf seines weißen Hemdes ab und warf ihn dem Werwolf genau vor die Nase. Er fühlte einen plötzlichen Druck auf beide Ohren. Der Werwolf schrie laut auf und vergaß den Sprung gegen Jeff Bristol. Dieser bekam genug Zeit, in seine Außentasche zu greifen und einen harmlos wirkenden Kugelschreiber hervorzuholen. Diego winselte und versuchte, sich die Wolfsohren mit den Pranken zuzuhalten. Doch der Ultraschriller, wie Quinn Hammersmith diese Art von Lärmgerät nannte, piesackte die empfindlichen Ohren des Lykanthropen weiter. Jeff Bristol fühlte jedoch auch leichte Kopfschmerzen. Der überlaute Ultraschall wirkte sich auch auf Menschen aus, die die eigentliche Tonhöhe nicht wahrnahmen. Wenn er das Problem Diego nicht in den nächsten anderthalb Minuten löste, würde er selbst unter immer stärkeren Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen zu leiden haben. Jeff zielte mit dem Kugelschreiber auf den immer mehr zur Wand zurückkriechenden Wolf, der seine Schmerzen ungeniert laut hinausjaulte. Er drückte auf den Knopf zum Ausfahren der Schreibmine und dachte "Monduntergang!" Ein fast unhörbares Pfeifen erklang, und Diego schrie nun regelrecht auf. Aus seiner linken Schulter drang Blut. Noch einmal feuerte Jeff Bristol. Diesmal traf er die rechte Schulter Diegos. Dann steckte er seinen Kugelschreiber wieder fort. Diego wälzte sich nun wie unter Todesqualen am Boden. Jeff holte in aller Ruhe seinen Zauberstab aus dem Hosenbeinfutteral heraus und deutete auf den Ultraschriller. "Reconnectum!" murmelte er. Da ließ der schmerzhafte Druck auf seine Gehörgänge schlagartig nach, während der abgerissene Hemdknopf wie von Geisterhand zu Jeff zurückflog und sich an seinem früheren Platz ordentlich befestigte. Diego indes litt unter den ihm beigebrachten Treffern. Die Verwandlung, die ihn eben zum Wolf hatte werden lassen, kehrte sich um. Doch diesmal dauerte sie nicht nur länger an, sondern war wohl auch wesentlich schmerzhafter, bis Diego sich wieder vollständig in einen Mann zurückverwandelt hatte. jeff wußte, daß er den ehemaligen Profikiller nicht auf die Beine kommen lassen durfte. Er verpaßte ihm den Schockzauber. Dann holte er aus seiner Aktentasche ein rotes Notizbuch heraus und klappte es auf. "Habe Mondbruder aus Kolumbien dingfest gemacht. Transport ins Institut einleiten!" Er ging schnell zu dem durch den Schockzauber kampfunfähig gemachten Lykanthropen hin und legte ihm das rote Notizbuch auf die nun fast haarlose Brust. Dann trat er zurück. Keine zwanzig Sekunden später verschwanden Buch und Werwolf in einer blauen Portschlüsselspirale. Jeff fragte sich nur, wer die Tür magisch verriegelt hatte. Womöglich hatte ihm einer der zauberkundigen Werwölfe geholfen. Er prüfte mit einem wie eine kleine Lupe aussehenden Instrument, ob er gefahrlos disapparieren konnte. Hier wirkte keine Abwehr. So verschwand er auf magische Weise aus Sündenzimmer 18, in dem sich gerade etwas selbst für Madame Janines Haus höchst ungehöriges zugetragen hatte.
Wieder im Laveau-Institut wohnte Jeff dem Verhör des gefangenen Werwolfes bei. Durch zwei kleine aber mit Mondfrieden bezauberte Kugeln aus in Mondsteinöfen geschmolzenem Silber wurde Diego davon abgehalten, aus eigener Kraft zum Wolf zu werden. Das unter der Oberaufsicht von Elysius Davidson durchgeführte Verhör erbrachte, daß die Mondbrüder eine Geldquelle erschließen wollten, um sich in der magielosen Welt freier bewegen und besser ausbreiten zu können. Ein Kollege Bristols beseitigte die magische Verriegelung von Zimmer 18 und vermutete, daß es für einen Werwolf wohl passierbar gewesen wäre. Diego sollte Jeff Bristol zum Werwolf machen, weil die Bruderschaft jemanden bei der Times haben wollte, der auf alle nach einem Verbrechen aussehenden Vorkommnisse reagieren konnte. Daß die Bruderschaft dabei ausgerechnet an einen LI-Zauberer geraten war konnten die wohl nicht ahnen, denn sonst hätten sie sich wohl besser vorbereitet und wären vor allem mit zauberfähigen Mitgeschwistern aufgetaucht.
Diego wurde dem Werwolffangkommando des Zaubereiministeriums übergeben, nachdem das Laveau-Institut alle Fragen zur derzeitigen Tätigkeit der Mondbruderschaft erfahren hatte. Jeff kehrte in seinen Wohnsitz zurück, wo Justine Brightgate, seine Mitbewohnerin und heimliche Bettgenossin, schon auf ihn wartete.
"Madl, was machst du sonst so, um so heftig gut durchzuhalten?" ächzte Toni Burger, als er es mit mehr Mühe als Vergnügen erreicht hatte, seine unverbindliche Beischlafpartnerin zum zweiten Höhepunkt zu treiben. "Möchtest du lieber nicht wissen, Toni", keuchte sie und streichelte ihn zärtlich, während sie wie eine lebende Decke über ihm lag und wohl darauf hoffte, noch das dritte Mal mit ihm zu erleben, wie er es vorhin in dieser kleinen Tanzbar in Innsbruck vollmundig verkündet hatte. "Madl, wenn i Wüll schnacksel i drei zugleich", hatte er in seinem Dialekt gesagt. Sie, die ein astreines Hochdeutsch sprach, hatte ihn offenbar beim Wort nehmen wollen und ihn für drei lieben wollen. Doch er konnte im Moment nicht mehr. Er versuchte, sich aus der wieder inniger werdenden Umarmung herauszudrehen, bevor sie meinte, die nächste Runde einzuleiten. Sie ließ ihn aber nicht so einfach aus ihrer leidenschaftlichen Umklammerung frei, warf sich mit ihm herum und zog ihn wieder an sich. Er wollte schon protestieren, sagen, daß er das von vorhin doch so nicht gemeint hatte. Sie merkte wohl, daß sie ihn so nicht für sie perfekt kriegen konnte und warf sich mit ihm wieder herum. Er staunte, daß dieses Vollweib so viel Kraft hatte, ihn, einen Anderthalb-Zentner-Burschen, mal eben einmal ganz herumzuwerfen. Die Frau war entweder Ringerin oder eine Kampfhübschlerin, die mal ansagen wollte, wie sie's machen wollte und mal oben auf sein wollte, wie gerade wieder. Sie hielt ihn mit den Beinen umklammert und ließ ihre Hände wandern, bis sie den richtigen Handgriff ansetzen konnte. Erst als sie sicher war, ihn gerade richtig nehmen zu können schwang sie ihr Becken wie eine südamerikanische Sambatänzerin nach vorne. Er fühlte die Wärme ihres Körperinneren wieder. Hoffentlich fing er sich nichts von ihr ein. Denn sie hatte vergessen, ihm was überzuziehen. Er wollte schon sagen, daß er noch eine ganze Nacht Zeit hatte, um sie richtig satt zu kriegen. Doch sie gab Ton und Takt vor, und er konnte nichts anderes machen, als sich in ihren Rhythmus hineinfügen. Er fühlte sich nur etwas erniedrigt, weil er sie nicht so nehmen konnte, wie es sich seiner von Vater und Großvater eingeprägten Ansicht nach gehörte. Doch für sie war es offenbar gerade die richtige Stellung, um sich von ihm zu holen, was er ihr so voreilig versprochen hatte. Er versuchte nur einmal, sich von ihr zu lösen. Doch sie drückte ihn nieder und keuchte: "Das bringst du jetzt zu Ende, Süßer." Er fühlte, daß sie nicht nur körperlich überlegen war. Irgendwas an dieser ihn gerade wolüstig durchrüttelnden Frau sagte ihm, sie bloß nicht zu ärgern oder gar zu enttäuschen. So machte er aus der Not ein Vergnügen und hielt so gut durch wie er konnte. Erst als sie endlich genug von ihm hatte und ihn mit zärtlichen Streicheleinheiten für sein Durchhaltevermögen lobte, merkte er, wie erledigt er war. Die drei Viertel Rotwein hätte er vorhin besser weglassen sollen. Er fragte sich jedoch bange, wie viel Zeit sie ihm lassen wollte. Am Ende hatte er sich eine brandgefährliche Nymphomanin in die einsame Hütte geholt. Wenn die ihn jetzt als ihren persönlichen Schnackselbuben behalten wollte, konnte sie ihm das Leben zur Hölle machen. Aber er wurde ja erwartet. Seine Freunde, seine Arbeitskollegen, die alle würden ihn vermissen und vielleicht sogar Marie, die ähnlich hungrig auf den kleinen Anton gewesen war wie dieses Megaweib, könnten ihn suchen. Aber außer den Frauen, die er in diese einsame Berghütte zwanzig Kilometer von Innsbruck ausgeführt und beschlafen hatte, kannte ja keiner diesen kleinen Palast der hemmungslosen Sinnenfreude, der aus einer Wohnstube, einer Schlafkammer und einem Bad mit Dusche, Klo und Waschtisch bestand.
Seine wilde, liebeshungrige Nachtgenossin kletterte aus dem bereits betagten Bett und blickte aus dem Fenster. Toni Burger konnte im Moment nicht aufstehen. Er fühlte sich schlicht platt und erledigt. Wenn die jetzt was von ihm mitgehen ließ und ihm zudem noch die Geländemaschine vor der Tür stiebitzte hatte er voll die Arschkarte erwischt, dachte er. Seine Arme und Beine waren ihm richtig schwer geworden. Sein Herz hämmerte im Takt eines Hüttenhits im Kopf. Er dachte an diesen Tanzbodenkracher von diesem DJ. Warum mußte der ausgerechnet über einen leidenschaftlichen Stier namens Anton singen. Das hatte Toni Burger jetzt davon. Doch seine heißblütige, halbasiatische Geliebte genoß nur die Frische Nachtluft und scherte sich nicht, daß sie mit freiem, schweißnassen Oberkörper aus dem Fenster lehnte. Hier oben sah sie ja keiner. Er konnte ihren Rücken, ihre strammen Pobacken und ihre ebenso strammen wie langen Beine sehen. Das hätte er doch schon beim Tanzen merken müssen, wie viel Feuer und Wucht in diesem weiblichen Vulkan brodelte.
"Du hast gesagt, hier kommt keiner her?" fragte sie ihn, nachdem zehn Minuten rum waren und sie immer noch so wie Gott oder der Teufel selbst sie erschaffen hatte aus dem Fenster geblickt hatte. Er war fast eingenickt und schrak von ihrer tiefen, kraftvollen Stimme auf. Er erwiderte, daß kein Mann die Hütte kannte. Darauf erfuhr er, daß sie gerade ganz weit weg ein einzelnes Licht gesehen hatte, das um eine der vielen Kurven herumgeblizt hatte, die den verschwiegenen Berg hinaufführten. Toni war nun plötzlich nicht mehr todmüde und geschafft. Er sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster. Seine Gespielin machte ihm Platz und schlüpfte zu einem der beiden Stühle. Dort hatte sie ihre hautenge Sommerkleidung abgelegt. Toni stierte aus dem Fenster. Dann sah er den Widerschein wie ein Irrlicht durch die Tannen huschen. Das war eindeutig der einzelne Scheinwerrfer eines Kraftrades. Außer ihm wußte er nur eine, die noch ein Motorrad hatte, daß den Weg hier herauf schaffte. Er dachte an Marie, die er von sich aus für abgelegt erklärt hatte. Doch er wußte, daß sie ihn nicht so einfach aufgeben würde. Zum Glück hatten sie es immer hinbekommen, zu verhüten. Nachher behauptete die noch, er hätte ihr ein Kind angehängt und sie deshalb entweder zu heiraten oder ihr Leben lang für sie zu zahlen. Er wich vom Fenster zurück und sah zu seiner großen Beruhigung, daß seine Eroberung vom Abend bereits in ihre Sachen stieg. Sie hängte sich noch ihre kleine Handtasche um und sah Toni an. "Hättest mir gleich sagen sollen, daß du noch Besuch erwartest, dann hätten wir warten können", sagte die Unersättliche völlig unbekümmert. Anton Burger mußte diese Dreistigkeit erst verdauen. Das dauerte zehn Sekunden. Dann sagte er: "meine Ex, di hot's net g'schnollt, daß i nimmer mit ihr geh'n wüll. Am besten steigst du in den Schrank. I fertige die ob", stieß Toni aus. Seine Gespielin grinste verwegen. Dann half sie ihm sehr schnell und Fachkundig, öffentlichkeitstauglich bekleidet zu sein. Sie hörten bereits das Motorrad in der Ferne. Das Gebrumm der kraftvollen Maschine hallte von den Bergen wider. Toni eilte aus dem Schlafzimmer hinaus und schloß die Tür. Er wußte, daß Marie trotz der Geländegängigkeit ihrer Maschine noch mindestens zwei Kilometer brauchte, um den letzten Aufstieg zur Hütte zu schaffen. Was sollte er ihr erzählen? Er hörte ein Rumoren in der Schlafkammer. Er wollte nicht fragen, was Nanni, wie sie sich genannt hatte, da tat. Wertsachen waren dort zumindest keine. So blöd war er nicht, was wertvolles in der Hütte zu haben, wenn er nur für heiße Nächte hier unterschlüpfte. Nur einmal sagte sie: "Wenn deine verschmähte Lebensgefährtin in den Schrank sehen will, sag ihr, da säße gerade eine riesige Spinne drin." Toni antwortete nicht. Woher wußte Nanni, daß Marie sich vor Spinnen ekelte, ja regelrechte Spinnenangst hatte. Er hatte es schon zweimal geschafft, ihren Hunger nach seinem kleinen Unterschied abzuwürgen, indem er ein künstliches Spinnennetz aus einem Laden für Gruselscherze übers Bett gehängt hatte. Die Vorstellung, daß mitten beim Schnackseln eine Fette Spinne aus dem Netz plumpsen würde hatte ihre Lust auf ihn komplett abgekühlt. Vielleicht ging Nanni einfach davon aus, daß die meisten Frauen Angst vor Spinnen hatten. Aber die Ausrede paßte. Er konnte die Hütte ja nicht immer sauberhalten.
Das kraftvolle Gebrumm von Maries Yamaha schwoll zur bedrohlichen Lautstärke an. Dann sah er das helle Scheinwerferlicht durch die Türspalte hereinschimmern. Hoffentlich hatte Marie jetzt nicht auch Lust drauf, mit ihm zwischen den Laken zu tanzen. Spätestens wenn sie das Bett ansah mußte sie wissen, daß er gerade wen dort zu Gast gehabt hatte.
"Toni, i bin's!" dröhnte die Stimme einer unverkennbar verärgerten Frau, die mindestens eine Schachtel Zigaretten pro Tag verrauchte. Anton Burger tat erst so, als sei er nicht in der Hütte. Doch als Marie ihm zurief, daß sie von der Unterbacher Fanni gehört hatte, daß er sich mit einer kurzhaarigen Halbjapanerin im Volpertinger zusammengetan habe, sprang er auf und ging zur Tür. Er sah Marie, fast so groß wie er, etwas breiter als Nanni und mit langer, schwarzer Mähne um Schultern und Rücken geschmückt. Eine Wolke aus Zigarettenrauch, Benzin und Parfüm umhüllte die in eine dunkelrote Lederkombi gekleidete Frau, die unter einem Arm einen weißen Motorradhelm trug. Er tat so, als habe er sich ganz allein hierher zurückgezogen, weil er den Trubel nicht mehr ausgehalten habe. Das mit der Halbjapanerin sei nur ein schöner Tanzabend gewesen, beteuerte er. Denn er stehe ja nicht auf Bubiköpfe. Marie glaubte ihm nicht. Sie pflanzte ihren Helm auf den Tisch im Wohnzimmer und warf die schwere Lederjacke ab. Darunter trug sie nur ein T-Shirt, daß vom Schweiß getränkt an ihrem Körper klebte. "I glaub dir ka Wort, Burger-Toni. Die Schlompen liagt sicher noch bei dir im Bett", knurrte sie und machte Anstalten, in die kleine Schlafstube zu gehen. Toni wußte, daß das Bett genug verraten würde. Deshalb wollte er sie noch zurückhalten. Doch das würde ihn erst recht verraten. "I muß da noch durchwischen. Da haben wieder zehn oder zwanzig Spinnen ihre Netze durchgezogen und mindestens a hundert Gelsen einig'fangen", sagte er. Marie lachte verächtlich. Obwohl ihre Augen bei der Erwähnung von Spinnennetzen sie sichtlich hatte zusammenzucken lassen, wollte sie das jetzt wissen. Sie stieß den von drei Liebesakten hintereinander immer noch zu ausgepumpten Toni zur Seite und riß die Tür auf. Gleich würde sie wohl voll den Krach anfangen, dachte Toni. Doch sie sagte erst nichts. "Von wegen Spinnen, hast ja schon durchgewischt", lachte sie verächtlich. "Und das Bett frisch bezogen. Host auf mi g'wartet?" Toni wunderte sich. Doch er wollte nicht zugeben, sich zu wundern. Er sagte nur, daß er ja nicht in verstaubtem Bettzeug mit Fliegendreck drin schlafen wollte. Marie wandte sich dem Schrank zu. "Ober vielleicht is' die Schlompen da herinnen, und i bin g'rod rechtgekommen", knurrte Marie.
"Lass den Schrank besser zu. Da hab' i 'ne so fette Spinne drin G'sehen", sagte Toni schnell. Er hoffte, daß seine Ausrede diesmal zog. Marie lachte und schnarrte, daß sie sich nicht zweimal verulken lassen würde. Toni rechnete gleich damit, das Donnerwetter des gerade angefangenen Jahrtausends mitzukriegen. Er hörte, wie Marie den Schlüssel vom Schrank umdrehte. Wie hatte Nanni sich selbst im Schrank einschließen können? Sie fauchte der erwarteten Nebenbuhlerin entgegen, daß sie besser freiwillig rausschlüpfen solle, bevor sie sie an den Schrankinnenwänden verteilen würde wie eine lästige Schmeißfliege. Doch es erfolgte keine Reaktion. "I hob di g'warnt", schrillte Marie. Toni dachte schon, daß Nanni gleich voll auf die Nase bekommen würde. Doch statt dessen folgten zwei Sekunden totale Stille. Dann erklang ein markerschütternder, Tonis Trommelfelle zum klirren treibender Schrei. Diesem folgte ein dumpfes Poltern, als sei was schweres zu Boden gefallen. Toni vermeinte noch, das zuklappen einer Schranktür zu hören. Doch für ihn zählte jetzt, was passiert war. Er hechtete ins Schlafzimmer hinüber. Marie lag am Boden, kreidebleich und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an die Decke starrend. Sie keuchte schnell und laut. Dann verlor sie wohl das Bewußtsein. Toni stand vor seiner eifersüchtigen Ex-Freundin und starrte sie entgeistert an. Er rief ihren Namen. Doch sie blieb bewußtlos. Er wollte ihr gerade zwei Ohrfeigen versetzen, um sie wieder aufzuwecken, da klappte die Schranktür auf, und Nanni schlüpfte heraus wie die Unschuld in Person. Sie sah die am Boden liegende und fragte mit einer gewissen Besorgnis in der Stimme, was passiert sei. toni wußte es nicht. Er fragte sie, ob sie irgendwas im Schrank angestellt habe. Sie grinste darüber nur und öffnete ihre Handtasche. Toni erschauerte, als er das schwarze Etwas sah, das aus der Tasche herauskrabbelte. Doch dann erkannte er, daß die handgroße Spinne nur aus Gummi war und von einem Blasebalg an einem durchsichtigen Schlauch vorangetrieben wurde. "Ich habe dir gesagt, du sollst der sagen, da wäre eine Riesenspinne im Schrank", sagte Nanni. "Wußte ja nicht, daß das die Rockerbraut so heftig aus den Stiefeln haut. Am besten legen wir sie auf's Bett und holen einen Arzt her", sagte sie. Toni stammelte, daß er das so nicht gewollt hatte. Die Erschöpfung vom dreifachen Liebesakt und die aufgekommene Angst um seine Ex-Freundin ließen ihn fast selbst umfallen. Nur mit Mühe konnte er es vermeiden, Nanni zu Füßen zu fallen. Diese blieb kaltblütig wie eine jagende Klapperschlange. Sie zog Marie die restliche Motorradkluft aus und warf sie auf das Bett. Dann deutete sie auf Toni und fragte, ob er hier telefonieren könne. Das ging aber nicht, weil es hier oben kein Netz gab. Also blieb nur, daß er mit seinem Motorrad nach Innsbruck fuhr und dort einen Notarzt holte, den er hier heraufführte. Nanni wollte derweil hier oben bleiben und über Marie wachen. Toni fand das nicht so prickelnd. Wenn Marie wieder aufwachte und Nanni sah, könnte sie aus angst und Wut heraus mit der eine Schlägerei anfangen. Nanni deutete auf Maries Ledergürtel, an dem ein Schlagring und eine kleine Tasche hingen. Dann schlug sie vor, Marie sicher ins Bett zu legen und mit ihm zusammen in die Stadt zu fahren. Er solle das Motorrad schon mal klarmachen. Toni schaffte es nicht, ihr zu widersprechen. Diese Frau strahlte eine unbändige Willenskraft und Überlegenheit aus. Er wandte ihr den Rücken zu und eilte zur Haustür. Er war gerade auf den Vorplatz hinausgetreten, als etwas ihm die Sinne raubte.
Als er wieder zu sich kam fühlte er seine Glieder schmerzen. Neben ihm lag Marie. Warum hatte er sich mit ihr noch mal auf dieses Schäferstündchen eingelassen? Weil er es gerade nötig gehabt hatte und sie ihn besser bedienen konnte als eine, die er nicht kannte. Sie erwachte gerade und sagte mit erschauern in der Stimme: "Ui, i sollt' net so heftig schnackseln und gleich danach schlofa. Hob' g'träumt, a Riesenspinne in dem Schrank da g'sehn zu haben." Toni lachte laut, und Marie grinste auch. Beide wußten nichts von Nanni und daß Marie wahrhaftig eine ungeheuergroße schwarze Spinne im Kleiderschrank gesehen hatte. Sie verdankten diese Unkenntnis nur der Erkenntnis der halbasiatisch aussehenden Schönen, daß die falschen Leute davon erfahren mochten. So dachten beide, sie hätten gerade eine leidenschaftliche Nacht miteinander verbracht.
Die Männer in den grauen Wintermänteln blickten ihn erstaunt bis irritiert an, weil er nur eine blaue Jacke über seinem dunklen Anzug trug. Zwar trug auch er dicke Winterstiefel. Doch das war nur, um keinen Schnee in die Schuhe zu bekommen. Mit leise knirschenden Schritten stapften die sechs Männer in Grau und der Mann im dunklen Anzug in Richtung eines mehrere Meter hohen Metallzauns. Der Zaun umfriedete eine Villa, die eher schon eine kleine Burg bildete. An jeder Ecke des quadratischen Bauwerks wuchs ein kreisrunder Turm empor und verdoppelte damit die gesamthöhe des Gebäudes. Der mann mit der blauen Jacke dachte an das Zentralgebäude des Towers von London. Hier also residierte "El Comandante", der bisher keinem Menschen namentlich bekannte Anführer der Tropas Blancas, einer sich langsam in Südamerika entwickelnden Bewegung von Neonationalsozialisten.
"Ich weiß nicht, wie Sie das machen, daß Sie in so dünnen Sachen rumlaufen können", grummelte José Moretti, der ihm nächste Mann in Grau.
"Disziplin, Señor Moretti", erwiderte der Mann in blauer Sommerjacke. Moretti zuckte mit den Schultern. Mehr sagte er nicht.
"Ruhe jetzt, wir sind da!" zischte ein breitschultriger Mann, der zur grauen Winterkleidung auch noch eine rote Mütze trug. Er deutete auf den zaun. Im Ringfinger des Mannes, der als Mario Lopez ein gestohlenes Leben führte, vibrierte es. Das geschah immer, wenn eine unmittelbare, tödliche Bedrohung in Sichtweite lauerte. Mario Lopez wußte auch warum sein linker Ringfinger vibrierte. Der Zaun stand unter Starkstrom. Jeder, der ihn ohne isolierende Kleidung berührte erlitt dasselbe Schicksal, das zum Tode verurteilten Straftätern in den vereinigten Staaten auf dem elektrischen Stuhl widerfuhr. Moretti wußte wohl nicht, wie gefährlich der Zaun war und ging einfach weiter, während Lopez stehenblieb und hoffte, daß einer der anderen grauen Männer, die für die dystopischen Ideale einer weißen Herrenrasse eintraten, ein Tor öffnen oder um Einlaß bitten würde.
"Señor Moretti, der Zaun ist geladen!" stieß Lopez aus. Da erkannte Moretti, daß er sich beinahe bei lebendigem Leibe gegrillt hätte. Er blieb stehen. Der mit den breiten Schultern drückte auf einen Knopf an seiner Armbanduhr. Lopez fühlte sich sofort beobachtet. Irgendwo mußte jemand stecken oder eine Kamera auf ihn richten. Er blickte genau nach vorne und wartete. Dann surrte es, und ein Spalt entstand im Zaun. Ein auf Schienen gelagertes Tor glitt nach rechts und gab einen vier Meter breiten Durchgang frei. Die sechs Männer folgten der Einladung und betraten einen vom Schnee befreiten Hof. Sofort erkannte Lopez die in den Bäumen verborgenen Kameras, aber auch die Läufe von automatischen Waffen. Vielleicht zielten sogar infrarote Laserstrahlen auf jeden hier, bereit, die damit gekoppelte Waffe präzise auszurichten. Die sechs Männer schritten über die schachbrettartig gemaserten Steinplatten. Hinter ihnen glitt das Tor wieder zu.
Um in das Haus mit den vier Türmchen zu gelangen mußten sie eine Treppe mit drei mal acht Stufen hinaufsteigen. Vor der Tür standen vier Männer in dicker, schwarzer Lederkleidung. Drei von Ihnen hielten Maschinenpistolen schußbereit. Der vierte kam auf die Sechsergruppe zu und hielt jedem ein kleines Handgerät vor. "Kontrolle", sagte er. "El Comandante will keine bösen Überraschungen erleben." Damit führte er dem ersten der grauen Männer das Handgerät über den Körper. Offensichtlich war es ein Metalldetektor oder ein Gerät, um Sender zu orten. Einer der drei MP-Träger stieß einen kurzen Pfiff aus, und ein schwarz-grau gescheckter Schäferhund eilte aus dem Flur. Das Tier bekam den Befehl, jeden anzuschnüffeln. Offenbar suchten sie auch nach Sprengstoff, dachte Lopez. Als der Mann mit der Sonde bei Mario Lopez war schnupperte der Schäferhund gerade an Morettis Unterleib. Moretti machte Anstalten, das Tier von sich wegzustoßen. Doch ein unmißverständliches Knurren des Hundes gemahnte ihn, sich besser nicht mit ihm anzulegen. Als der Mann mit der Sonde Mario Lopez's linke Hand abtastete gab das Gerät einen kurzen Piepton von sich und danach ein häßliches Knacken. der Kontrolleur verzog das Gesicht und besah sich sein Instrument. Dieses hatte offenbar bei der Berührung von Lopez' linkem Ringfinger den elektronischen Geist aufgegeben. Denn ein unverkennbar nach verschmorter Elektronik stinkender Rauchfaden stieg aus der Sonde. Mario fühlte sofort die Belauerung des Kontrolleurs. Der schwarz-graue Sprengstoffschnüffler tapste derweil auf Mario Lopez zu und sprang, kaum daß er ihm auf Armeslänge nahegekommen war, laut heulend zwei Meter zurück. Bevor seine Herren es ihm verbieten konnten wendete der Hund auf der Stelle und preschte mit eingezwengter Rute laut winselnd ins Haus zurück. Mario Lopez erstarrte. Er wußte zwar, warum die Sonde ausgefallen war und warum der Hund so plötzlich vor ihm davonrannte. Doch er wußte auch, daß ihm gleich übles Ungemach widerfahren würde. "Okay, Bursche! Klamotten runter!" schnarrte der Mann, der die Sonde benutzt hatte. Er ging sofort aus der Schußlinie. Zwei MP-Läufe zeigten auf die Brust von Mario Lopez.
"Señores, keine Aufregung!" versuchte Mario Lopez, die Wächter zu beruhigen. Doch er hätte genausogut gegen eine glatte Felswand sprechen können. Die fünf anderen starrten ihren Begleiter nun sehr lauernd bis feindselig an. Einer der Bewaffneten riß seine MP kurz nach oben und feuerte fünf Kugeln über Mario Lopez' Kopf hinweg. Dieser erkannte, daß er sich hier und jetzt der Gewalt beugen mußte. Doch ebenso erkannte er, daß ihm das nicht viel helfen würde. Er zog seine Jacke aus, wobei er hastige Bewegungen vermied. Er knöpfte sein dunkelblaues Hemd auf und schlüpfte sehr bedächtig heraus. Dann hielt er inne. "Los, Schuhe aus, Strümpfe aus und auch Hosen aus!" blaffte der, der gerade eine Salve Warnschüsse abgefeuert hatte. Mario Lopez blickte in das entschlossene, ja, den Willen zum töten zeigende Gesicht eines Mannes von wohl fünfunddreißig Jahren. Stahlblaue Augen bohrten sich in die Augen von Mario Lopez. Dieser deutete auf seine Begleiter. "Müssen die mir beim Entkleiden unbedingt zusehen?" fragte er. Der Kontrolleur mit der kaputten Sonde winkte den fünf anderen. Zwei MP-Träger ließen sie zwischen sich durch ins Haus." Die Tür fiel laut ins Schloß. Nun war Mario Lopez mit den vieren allein. "Los, alles andere runter! Bloß keine falsche Bewegung!" knurrte der Kontrolleur, der sich zu seinen Kollegen gesellt und eine Luga aus der Ledermontur gezogen hatte. Mario Lopez knirschte mit den Zähnen. Dann zog er die Stiefel aus und stieg aus der Hose. Er zeigte weder Schüchternheit noch Schamgefühl, als er sich völlig entkleidete und nun splitternackt vor den vier Wächtern stand. Nun trug er nur noch den Ring am Finger. Der Kontrolleur und einer der Bewaffneten eilten zu seinen Sachen und durchwühlten sie. Mario Lopez sah ihnen den gewissen Widerwillen an. Dann kam der Kontrolleur auf ihn zu und deutete auf seine Arme und Beine. "Was immer du am oder im Körper hast, sag's besser gleich oder rück's freiwillig raus! Dann tut's weniger weh, Judensau!"
"Oh, ich fürchte, hier liegt ein sehr schweres Mißverständnis vor, meine Herren. Mein Name ist Mario Lopez", erwiderte der nackte Anwalt auf die üble Beleidigung.
"Klar, und der Mossat ist nur eine harmlose Gauchotruppe", knurrte einer der Bewaffneten. Dann sah der Kontrolleur auf die linke Hand. Er verzog das Gesicht. "Okay, den Ring abnehmen, Schweinehund!"
"Haben Sie Spülmittel da. Anders kriege ich den nicht vom Finger. Bin ein wenig dicker geworden als damals, wo ich mir den habe anmessen lassen", sagte Mario Lopez.
"Das hier tut es sicher auch", schnarrte einer der Bewaffneten und zog unter der Lederkluft ein langes, scharfes Messer hervor. Da kamen auch schon der Kontrolleur und zwei der anderen Bewaffneten auf Mario Lopez zu und machten Anstalten, ihn zu packen. Als der Kontrolleur nach der linken Hand grabschte, zuckte er laut aufschreiend zusammen, als habe er einen tödlichen Stromschlag erlitten. Er wankte und hob mühevoll die rechte Hand. Die beiden anderen schnappten nach den Armen von Mario Lopez. Der Mann mit dem langen Messer machte Anstalten, herbeizukommen. Da durchflutete Mario Lopez ein heftiger Schauer, der ihn von einem zum anderen Moment mit unbändiger Kraft erfüllte. Mit einem Ruck wirbelte er die ihn gerade haltenden einmal herum und schleuderte sie von sich fort, als wenn es leichte Federkissen wären. Der Mann mit dem Messer erstarrte, als seine beiden Kollegen laut aufschreiend gegen die Hauswand prallten. Dann reagierte er. Er ließ das Messer einfach fallen und riß die über der Schulter hängende MP vor seinen Körper. Er hob die Waffe an und zielte. Da rannte Mario Lopez geduckt auf ihn zu und rammte ihm den Kopf voll in die Magengrube. Die vier Kugeln aus der MP schwirrten über Lopez hinweg. Marios Gegner wurde vom Anprall zurückgeworfen. Selbst seine trainierte Bauchmuskulatur konnte den Kopfstoß nicht so locker wegstecken. Er stieß einen gequälten Aufschrei aus. Dann versuchte er, Mario Lopez die Waffe auf den Kopf zu schlagen. Das erkannte dieser jedoch und warf sich zur Seite. Dabei versetzte er dem Gegner noch einen Faustschlag in die Seite, der ihn wie ein Taschenmesser zusammenklappen ließ. Eine innere Eingebung gemahnte ihn, die beiden an die Wand geschleuderten wieder anzusehen. So entging ihm nicht, wie sie ihre Waffen in Anschlag brachten. Gleich war es mit Mario Lopez vorbei.
Seinen wahren Namen kannte niemand aus der Bewegung. Für die war er einfach nur El Comandante, der Befehlshaber. Einige seiner Vertrauten hätten ihn auch gerne als Führer bezeichnet, doch das hatte er sich schnell und unmißverständlich verbeten. Denn es durfte nur einen Führer geben, jenen, dessen Abbild hinter ihm in einem goldenen Rahmen an der Wand hing. El comandante blickte gerade auf die hufeisenförmig vor ihm aufgebauten Monitore. Auf einem war der Eingang seiner Festung zu sehen, die er nicht ganz zufällig nach dem Vorbild des White Tower hatte bauen lassen. Gerade wurde er Zeuge, wie Argo, der hauseigene Wach- und Sprengstoffhund, wie von hundert Furien gehetzt ins Haus zurückjacherte und hörte das angstvolle Winseln des sonst so unerschütterlichen, ja zum Töten von Feinden abgerichteten Schäferhundes. Dann bekam er noch mit, wie seine Wächter von einem nackten Mann mal eben an die Wand gedrückt wurden. Das war unmöglich ein Anwalt. Das mußte ein CIA- oder Mossat-Agent sein, einer, der meinte, die Tropas Blancas ausheben zu dürfen. Doch das würde ihm schlecht bekommen. Was es mit dem Ring an der linken Hand auf sich hatte wußte El Comandante nicht. Hätte er es gewußt, hätte er es entweder als blanken Unsinn verlacht oder unverzüglich das Weite gesucht. So sah er mit immer weiter aufgehenden Pupillen, wie seine bewaffneten Türwächter auf den Mann feuern wollten. Doch unvermittelt wurde er in eine pechschwarze Wolke eingehüllt. Die Kugeln aus den MPs prallten davon ab und schwirrten als Querschläger umher. Das alleine hätte der Anführer der Tropas Blancas wohl noch soeben hingenommen. Doch nun breitete sich die schwarze Dunstwolke aus. Die drei Schützen und der Kontrolleur versuchten noch, dem völlig lichtundurchlässigen Dunst auszuweichen. Doch sie waren zu langsam. Keine zwei Sekunden später waren sie im schwarzen Dunst verschwunden. El Comandante hörte sie noch vor Entsetzen aufschreien. Dann war es für einen Moment ganz still. Dann passierte noch etwas schreckliches. Die schwarze Dunstwolke teilte sich auf und wurde zu vier kompakten schwarzen Körpern, die die Konturen der vier Männer nachzeichneten. El comandante hieb auf einen Schalter und drückte noch einen Knopf. Er sah nun auf einem Monitor den vor mittelblauem Hintergrund orangerot leuchtenden Körper eines Mannes. Doch da, wo die vier anderen sein sollten klafften tiefschwarze Löcher im Bild. Der Kopf von El Comandante ruckte nach rechts zu einem herabhängenden Mikrofon. "Alles zu und drinnenbleiben! Wir werden angegriffen!" Er wußte nicht, was das für eine Waffe war, mit der ein nackter Mann mal eben vier ausgebildete Kämpfer auf Tiefsttemperatur abkühlen konnte. Denn nichts anderes sagte ihm die Wärmebildansicht der Lage. Dann griff er zu einem kleinen Steuerknüppel, mit dem er einen roten Punkt auf einem Bildschirm auf den gerade zu seinen Sachen hinstapfenden Gegner führte. Als der Punkt genau auf dem Oberkörper des Gegners lag drückte El Comandante den Feuerknopf am Steuerknüppel. Jetzt würden alle im Winkel von 180 Grad angeordneten Baum-MGs auf den Feind feuern und ihn mit Spreng- und Stahlmantelgeschossen zu Hackfleisch verarbeiten. Doch irgendwie wußte der Feind das wohl oder hatte es sich schon gedacht, gleich unter geballtes Feuer genommen zu werden. Er ließ sich zu Boden fallen. Das ohrenbetäubende Rattern von mehreren MGs klang bis in den Kontrollraum des Anführers hinein. Dieser betätigte gerade einen dreieckigen Knopf. Ein lautes Brummen erklang, und der ganze Raum glitt nach unten. El Comandante war auf dem Weg in die zum Bunker ausgebaute Tiefetage seines Hauses. Dabei verfolgte er mit, wie der nackte Mann drei Kugeln in die Schultern bekam. Da glühte ein violettes Licht um ihn herum auf und ließ ihn von einem zum anderen Augenblick restlos verschwinden. El Comandante starrte auf alle Bildschirme. Die MGs, die das ausgewählte Ziel verloren hatten, schwiegen. Die Stille tat noch mehr in den Ohren weh als die Schußgeräusche. El Comandante fragte sich, ob der Angriff damit abgewehrt war oder gleich noch etwas noch schlimmeres, noch unerklärlicheres geschehen würde?
Eine halbe Minute dauerte es, während der die Kontrollkabine immer tiefer nach unten sank. Dann sah El Comandante etwas flirrendes auf den Bildschirmen. Es war so, als seien die Kameras defekt oder würden von einem Störsender überlagert. Doch dieses flimmernde Etwas zeigte sich nur an einer Stelle im Bild. Alles andere war gestochen scharf zu sehen. Jetzt bewegte sich die Bildstörung. Für einen winzigen Moment glaubte El Comandante, eine nackte Frau mit dunklem Haar zu sehen, bevor der Bildausschnitt wieder total verschwamm und flimmerte. Aus einem ihm selbst nicht erklärlichen Instinkt heraus führte er schnell den Zielauswahlhebel so, daß er den roten Zielpunkt in das Flimmern hineinbrachte. Damit richtete er alle Laservisiere der Baumgeschütze auf diesen Punkt aus. Er verfolgte das Ziel und wollte gerade den Feuerknopf drücken, als das Flimmern aus dem Bild verschwand. Einen Moment lang dachte El Comandante, daß er sich wohl nur getäuscht hatte. Da fühlte er, wie jemand ihn von hinten ansprang und ihn sofort mit zwei schlanken Armen umklammerte. "Dir selbsternnantem Herrenmännchen werde ich beikommen", hörte er eine wütende Frauenstimme. Er fühlte, wie sein Körper gegen einen warmen, eindeutig weiblichen Körper gerissen wurde. Dann umfloß ihn erst einmal nur buntes Licht. Danach war er einfach ganz woanders.
Er befand sich in einer kuppelförmigen Höhle. Deren Scheitelpunkt lag gut und gerne zwanzig Meter über ihm. Am Boden mochte die Höhle fünfzig Meter durchmessen. Bis auf drei Sachen war die Höhle völlig leer: Da lag zum einen der nackte Mann, der sich Mario Lopez genannt hatte. Zum zweiten lag dort eine breite Strohmatte. Zum dritten stand in der Höhlenmitte ein zwei Meter hoher Krug, der aus einem unbekannten Grund golden strahlte wie eine kleine Sonne. Die Fremde, die ihn offenbar in diese Höhle hineingebracht hatte löste die Umklammerung. Er wirbelte herum und starrte einer blau gekleideten Frau mit milchkaffeefarbener Haut in die wasserblauen Augen. Damit verfiel er der unheimlichen Kraft, die die Fremde über ihren Blick ausüben konnte. Er hörte, wie sie ihn fragte, wie er wirklich hieß. "Alfredo Torres", sagte er. Dann wurde er gefragt, wie viele seiner Leute er persönlich kannte und wo sie lebten. Doch dabei stellte sich heraus, daß er gerade einmal sechs Leute kannte, von denen jeder nur einen von je sechs weiteren Männern kannte. Auf diese Weise war selbst ihm der Verrat an der gesamten Bewegung unmöglich, weil jede der bienenwabenartigen Unterzellen eigenständig mit den Nachbarzellen in Verbindung treten konnte. Er war nur der Koordinator der internationalen Aktivitäten, regelte Materialversorgungen und dirigierte die für die Bewegung tätigen Geldwäscher, wie Moretti einer war. "Sehr gut eingefädelt", lobte ihn die Frau mit den schwarzblauen Haaren. Doch ihr Lob klang eher verächtlich. "Würde mich eine Menge Zeit kosten, jeden einzelnen Verbindungsmann zu finden. Die Zeit habe ich nicht. Aber da du meinen Abhängigen persönlich angegriffen hast, werde ich dich zum Ausgleich meiner Unkosten aus der Welt verschwinden lassen. Zieh dich aus!" El Comandante alias Alfredo Torres fügte sich, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich gegen die Unheimliche aufzulehnen. Am Ende stand er völlig nackt vor der Fremden, die ihn aus dem Bann ihrer Augen freigab. "Vielversprechend siehst du aber nicht aus", feixte sie und deutete auf den bloßen Unterleib des Befehlshabers. Dieser erkannte, daß er gerade alle ihm bekannten Einzelheiten über die Tropas Blancas ausgeplaudert hatte und wollte diese Fremde, diese Hexe, angreifen. Er durfte ihr nicht in die Augen sehen. Irgendwie hatte die ihn hypnotisiert. Aber warum hatte sie ihn wieder freigegeben? Die Antwort auf diese stumme Frage erfolgte in einem weiten Sprung der Fremden auf ihn zu. Er wollte ausweichen. Doch mit der linken Hand bekam sie ihn am Hals zu fassen und drückte fest zu. Er hieb um sich. Doch es war, als träfe er nur einen gut aufgepumpten Gummiball. Seine Schläge und Tritte prallten an der Unheimlichen ab. Dann riß sie ihn herum und klammerte ihn wieder mit ihren Armen fest. Danach riß sie ihn vom Boden hoch und trug ihn so locker wie einen Sack Federn zu jenem Krug hinüber, der mit seinem Licht die Höhle erfüllte. "Auf nimmer Wiedersehen, el Comandante!" lachte die Unheimliche, bevor sie den Befehlshaber der Tropas Blancas mit Schwung über den Rand des offenen Kruges beförderte. Er sah noch die orangerot leuchtende Substanz unter sich. Dann tauchte er auch schon darin ein. Er schrie laut. Doch es half ihm nichts mehr. Er fühlte, wie etwas in ihn einströmte und ihn von innen her zerriß, bevor sein Geist sich im wogen der orangeroten Substanz auflöste und eins mit ihr wurde. Daß seine Vernichtung der Unheimlichen eine lustvolle Befriedigung bescherte bekam er schon nicht mehr mit.
Es herrschte Alarmzustand. Alle Kämpfer im Haus waren bereit, jeden Angreifer zurückzuschlagen, den die Baumgeschütze verfehlten, was wohl sehr unwahrscheinlich war. Als nach drei Minuten noch niemand etwas von El Comandante hörte rief einer der Wachposten in der Kommandozentrale an, um nachzufragen, was nun anstand. Er bekam aber keine Antwort. Er drückte schnell einige Tasten. Der Befehlshaber hatte es genehmigt, daß Ultraschallsensoren in der Kommandozentrale verbaut waren, die von einem Wachposten ausgelöst und abgefragt werden konnten. Die Sensoren schickten eine Flut von Impulsen in den Kommandoraum hinein. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis der Wächter die Meldung erhielt: "Kommandoraum unbesetzt!" Doch der Kommandoraum war gerade im Bunkergeschoß. Da wurde jede Türbewegung überwacht. Das hätten die Wachen doch mitkriegen müssen. Doch der Überwachungscomputer verzeichnete keine Türbewegungen innerhalb der letzten zwei Stunden. Die Wachen wollten gerade aus dem Haus hinaus, um zu sehen, ob von dem oder den Angreifern noch etwas übrig war, als ein dunkler Dunst durch die Lüftungsgitter drang. Sofort schlugen sämtliche optischen Rauchmelder im Haus alarm. Allerdings verbreitete der schwarze Dunst keine Hitze und auch keinen Qualmgeruch. Er verbreitete Eiseskälte. Die Wachen und die Besucher des Hauses gerieten in die Ausläufer des Dunstes und erstarrten. Der Nebel gewann dadurch an Dichte und Menge, daß er Lebenskraft in sich aufnahm. So füllte der schwarze Dunst innerhalb von nur zwanzig Sekunden jeden Kubikzentimeter innerhalb des Hauses aus. Alle elektronischen Geräte stellten knallend und knisternd den Betrieb ein. Hätte der Nebel nicht die Eigenschaft besessen, alle Umgebungswärme zu schlucken, wären sicher Brände ausgebrochen. So verursachten die Kurzschlüsse lediglich einen massiven Stromausfall. Die Menschen im Haus, Wächter, Dienstpersonal und Gäste, bekamen davon nichts mit. Denn der Nebel ließ sie innen wie außen zu Eis erstarren, bis sie kompakte Eisblöcke waren. In diese zog sich der dunkle Nebel zurück, als er jedes Lebewesen erfaßt hatte. Dann barsten die zu Eisblöcken erstarrten Männer, Frauen und die fünf Wachhunde in millionen Teilchen auseinander. Damit hatte die Herrin von Mario Lopez alias Claude Andrews ihren Vergeltungsschlag ausgeführt. Was sie jedoch nicht wußte, weil El Comandante es nicht wußte: Einer der ranghohen Mitkämpfer in den Tropas Blancas wollte den Befehlshaber ausspionieren und hatte deshalb kleine Aufzeichnungsmodule in die Überwachungsgeräte der kleinen Festung eingebaut, die alle 24 Stunden alle Bildaufnahmen und die scheinbar so sicher verwahrten Besuchergespräche an eine nicht für die Allgemeinheit gedachte Internetadresse sendeten. So erfuhr Alonso Rojas, der die Zelle von Monte Video führte, daß die Festung von einem unheimlichen Gegner angegriffen worden war und der bereits in der Kartei der Bewegung verzeichnete Mario Lopez offenbar der Auslöser dieses Angriffes war. Einen Tag nach dem Angriff, nachdem kein Lebenszeichen aus der Festung gekommen war, hatten die sechs Vertrauten des Comandante das Tor im Starkstromzaun auffahren lassen und das Haus betreten. Doch sie fanden nur merkwürdige Flecken vor, als hätte jemand oder etwas hier alle Menschen und Hunde wie Zitronen ausgequetscht oder mit tausend Bar Überdruck von innen explodieren lassen.
"Der Comandante hat es nicht geschafft, und irgendwer hat mit einer uns unbekannten Waffe das Haus angegriffen und alle umgebracht. Mario Lopez ist vor dem eigentlichen Angriff wohl schon verschwunden. Wir schreiben ihn zur Fahndung aus", sagte Rojas, der sich bereits als neuer Comandante fühlte. Seine fünf Mitkämpfer wollten ihm hier und jetzt nicht widersprechen. Die Erkenntnis, daß eine ihnen unbekannte Macht ihren argentinischen Befehlsstand erledigt hatte, wog schwerer als der eigene Führungsanspruch.
Das Laufband surrte gleichmäßig. Der Mann Mitte dreißig, der gerade seine vorgeschriebenen Ausdauerübungen abhandelte, hatte seinen Idealrhythmus gefunden. Lieutenant Curd Dawson von der Luftwaffe der vereinigten Staaten von Amerika wußte, wie wichtig es war, genug Ausdauer und Kraft zu erhalten. In einem Monat würde er zusammen mit drei anderen Militärastronauten mit der Liberty Bell starten und von der Weltöffentlichkeit unbemerkt einen neuen Kommunikationsüberwachungssatelliten in die Erdumlaufbahn bringen. Bei der Gelegenheit würden sie einen altersschwachen Relaissatelliten aus seiner immer instabiler werdenden Umlaufbahn herausfischen und zur Erde zurückbringen, um die noch funktionierenden Bauteile wiederverwenden zu können. Dafür war er ausgebildet. Dafür mußte er geistig und körperlich fit sein.
Die Tür zur Trainingshalle glitt leise auf. Eine Frau Ende zwanzig betrat den Übungsraum. Sie besaß flachsblondes, sehr kurz geschnittenes Haar und hellgraue, hellwach umherblickende Augen. Sie wirkte wegen ihres Körpertrainings eher stämmig als zierlich. Auf Attraktivität legte sie keinen wirklichen Wert. Daher war sie weder geschminkt, noch trug sie auffällige Kleidung. Wie Curd Dawson trug sie einen graublauen Trainingsanzug, der lediglich an ihre Körperformen angepaßt war. Lieutenant Commander Doris Fuller beobachtete den Mann auf dem Laufband, der ihr beim Eintreten nur grüßend zugenickt hatte, um nicht aus dem Atemrhythmus zu kommen. Zwei Minuten sah sie ihrem Kollegen bei seiner Übungseinheit zu. Dann verlangsamte dieser sein Lauftempo. Als das Laufband zur Ruhe gekommen war verließ er es mit einem lässigen Hüpfer. Dawson sah die Kollegin, die nur deshalb etwas höher in der Rangfolge war, weil sie sich als Kampfjetpilotin bereits ihre Sporen bei NATO-Einsetzen auf dem Balkan verdient hatte. Weil sie selbst dann noch ruhig blieb, wenn ihr das halbe Flugzeug unter dem Hinterteil auseinanderbrach, war sie 1998 in das Korps der Schattenflieger übernommen worden. So nannten die rein militärisch arbeitenden Astronauten ihre kleine, erlesene Truppe, die parallel zu den in den Medien erwähnten und von diesen beobachteten Raumfahrtmissionen mit den drei sogenannten Schattenfähren flogen, um die wirklich brisanten, von der Zivilbevölkerung wohl nicht immer wohlwollend betrachteten Aufträge auszuführen. Curd Dawson verehrte Doris Fuller, auch wenn sie nach außen das Gemüt eines Eisbergs auf einer Schiffahrtsroute pflegte. Allerdings wußte er auch, daß sie in Los Angeles einen festen Freund wohnen hatte, noch dazu einen von der Armee. Für eine Marinefliegerin war das schon fast wie das Verhältnis von Romeo und Julia. Da Beziehungen zwischen Angehörigen derselben Einheit sowieso untersagt waren mußte Dawson seine Verehrung verheimlichen. So sagte er in einem kühlen Ton:
"Hallo, Commander Fuller. Ich habe meine Laufübung für heute beendet. Der Trainingsraum steht nun zu Ihrer vollen Verfügung."
"Haben Sie noch fortschritte erzielt?" erwiderte Doris Fuller im kühlen Ton einer ranghöheren Offizierin. Dawson drückte auf den Knopf für den Ausdruck seines heutigen Laufprotokolls und wartete, bis der kleine Laserdrucker das mitgespeicherte Protokoll auswarf. Er las es und nickte. "Ich konnte zwei Stundenkilometer mehr über zehn Minuten halten als vor einer Woche noch. Für Sydney wäre das wohl zu wenig. Aber für den Orbit dürfte es reichen."
"Gut, dann werde ich jetzt das verordnete Übungspensum absolvieren", erwiderte Lieutenant Commander Fuller. Dawson grüßte korrekt ab und verließ den Übungsraum durch die auf- und zugleitende Servotür.
Im Freizeitraum der Einsatzastronauten traf er den dritten Teilnehmer an der Mission "Hörrohr", Lieutenant Sven Erickson, der wie er von der Luftwaffe herübergekommen war und im Ruf stand, ein wandelndes Navigationsgerät zu sein. Denn er kannte jeden Punkt auf der Erdoberfläche und hatte auch bei der radartechnischen Kartografierung der Erde mitgeholfen. Bei der anstehenden Mission würde er Dawson bei der Ausrichtung der Satellitenantennen auf die Kontrollstationen am Erdboden überwachen. Beide zugleich waren auch für die Bordelektronik des Shuttles zuständig, während Major Miles und Lieutenant Commander Fuller für die Steuerung zuständig waren.
"Na, nervös?" fragte Dawson den jüngeren Kollegen.
"Keine Spur, Lieutenant", sagte Erickson. "ich habe mir unseren Vogel noch mal angesehen. Die Systeme sind in Ordnung, und die Redundanzen greifen auch, wenn die Hauptsysteme ausfallen. Werde gleich noch in den Kraftsportraum gehen und da meine Arme trainieren. Ansonsten freue ich mich auf den Abend."
"Kann ich nachvollziehen", erwiderte Dawson. Heute abend durften sie wieder mit ihren Verwandten oder Freundinnen telefonieren, wobei sie wußten, daß die Gespräche mitgeschnitten wurden, um möglichen Verrat von Grund auf zu verhindern. Das war zwar bei privaten Gesprächen nicht besonders motivierend, stand aber leider im Arbeitsvertrag der Astronauten, die hier in Vandenberg fern ab dem Medienrummel von Cape Canaveral trainierten und in ihre geheimen Einsetze gingen. Dawson trat an das Panoramafenster und blickte hinaus. Da draußen, knapp zwei Kilometer von hier entfernt, lag die Startrampe. Noch war sie nicht für den Start eines der kleineren Shuttles vorbereitet. Doch das konnte innerhalb von zwei Tagen erledigt werden.
"Die Bell ist schon auf dem Band?" fragte Dawson. Erickson schüttelte den Kopf. Dazu sagte er noch: "Die von der Bodenmannschaft haben noch ein paar Sachen nachgerüstet, damit uns die Bell nicht beim Start um die Ohren fliegt." Dawson nickte. Auch wenn die geheimen Raumfähren nur zwei Drittel so groß waren wie ihre berühmten Schwestern in Florida, so forderten sie doch die gleiche Aufmerksamkeit vom Wartungspersonal, besonders, weil die Fähren im Bedarfsfall auch gegen Luftangriffe oder den elektromagnetischen Puls von nahebei stattfindenden Atomexplosionen abgesichert sein mußten. Sicher wußte der ehemalige Erzfeind in Moskau, daß Vandenberg nicht nur unbemannte Raketen in den Himmel jagte. Doch die Ex-Genossen im ehemaligen Reich des Bösen legten keinen Wert darauf, die Quellen ihrer Kenntnisse publik zu machen.
Als Major Howard Miles den Freizeitraum betrat salutierten die beiden rangniederen Offiziere vorschriftsmäßig. Miles war knapp 1,80 Meter groß und damit eigentlich schon zu groß für einen Jagdpiloten. Deshalb war er nach dem Friedensabkommen von Daighton auch zum Tankflugzeugpiloten umgeschult worden, bis er 1999 in die Gruppe der Geheimastronauten geholt wurde, weil er es geschafft hatte, ein durch Blitzschlag beschädigtes Flugzeug ohne Antrieb und unterstützende Landehilfssysteme ohne weitere Beschädigung zu landen. Das Angebot, das in Zukunft mit den drei geheimen Raumfähren genauso präzise machen zu können hatte er unmöglich ablehnen können. Miles besaß wie alle hier tätigen Astronauten eine strenge Kurzhaarfrisur. Dafür, daß er schon 44 Jahre alt war, war sein nachtschwarzes Haar noch sehr dicht und zeigte keine Spuren von Geheimratsecken. Seine stahlblauen Augen standen im Ruf, Gegenstände und Menschen wie Röntgengeräte durchleuchten zu können, obwohl das natürlich maßlos übertrieben war. Doch irgendwie hatte Miles es heraus, eine Gruppe durcheinanderredender junger Leute mit einem einzigen Blick zum schweigen zu bringen und ruhigzuhalten. Eigentlich hätte er mit dieser Eigenschaft einen passablen Oberschullehrer abgegeben. Doch Miles war leidenschaftlicher Flieger, der auch in seiner Freizeit gerne vom Boden abhob, um mit seiner Piper zwischen den Bergen von Montana zu kreuzen. Daß er schon einmal im Orbit gewesen war durfte er keinem außerhalb der Truppe erzählen. Das war das einzige, was ihm an seiner Kommandierung mißfiel. Doch als altgedienter Offizier wußte er, diese Mißstimmung nach außen zu verbergen. Daß er zudem noch Saxophonspieler war, wie der noch amtierende US-Präsident, hatte ihm den Kampfnamen Blues Brother eingetragen. Ansonsten war Miles sehr wortkarg. Daher wunderte es die beiden anderen Offiziere nicht, daß er den Gruß nur mit einem anerkennenden Nicken beantwortete und sich dann mit einem Stapel Zeitschriften in eine Ecke des Raumes zurückzog. Dawson und Erickson sprachen im gedämpften Ton über Baseball, was sie beide in ihrer Freizeit spielten. Sie phantasierten gerne über eine Mond- oder Marsliga und thematisierten, wie unwahrscheinlich ein Homerun auf dem Mond sei, wo die Schwerkraft nur ein Sechstel so groß war wie auf der guten alten Erde. Außerdem besaß der Mond keine Atmosphäre, so daß es allein vom Schlagwinkel und der Abschlagwucht des Schlägers ankam, wie der Ball flog. Überhaupt sprachen die beiden viel über Sport. Denn Politik war innerhalb des Stützpunktes verboten. Vor allem jetzt, wo Clintons zweite und letzte Amtszeit ihrem Ende entgegenging und die Republikaner den Sohn von George Bush zu ihrem Kandidaten erkoren hatten, bestand die Gefahr, sich in wilden Debatten zu verzetteln. Deshalb galt die Hauptdirektive: "Wir sprechen nicht über Politik, wir setzen sie nur um, egal wer unser oberster Kommandant ist."
Eine Stunde später verließ Erickson den Freizeitraum, um seine heutige Trainingseinheit abzuhandeln. Miles sah Dawson mit seinem gefürchteten Durchdringungsblick an und fragte ihn: "Haben Sie sich die Daten über den Vogel noch mal angesehen, Lieutenant?" Dawson nickte. Den Satelliten, den sie hier nur alle als Vogel bezeichneten, kannte er nun schon auswendig, jedes Bit der Programmierung und jeden winzigen Transistor seiner Bordelektronik. "Die Einsatzleitung konnte meine Verbesserungsvorschläge für die Datenverschlüsselung anstandslos umsetzen. Das Testprogramm zeigt keine Abweichungen vom erwünschten Wert. Die drei Bugs, die bei der Triebwerkssteuerung gefunden wurden, sind problemlos entfernt worden. Der Vogel kann fliegen, Sir."
"Und hören, was die anderen Vögel zwitschern", erwiderte Miles darauf. Dawson nickte.
Er liebte es, am Meer zu stehen und dem Hin und Her der Wellen zuzusehen. Gerade morgens und abends mochte er den Strand. Dann konnte er sehen, wie die Sonne entweder blutrot aus den Fluten stieg und diese in rotgoldene Wogen verwandelte oder als orangeroter Feuerball im westlichen Ozean versank, bis am Ende ein kurzes, grünes aufblitzen zu sehen war, der Rest des von der Atmosphäre gestreuten Sonnenlichtes. Der Sonne hatte er sein neues, wesentlich friedlicheres Leben zu verdanken. Durch die in ihrem Feuer miterzeugte Zauberkraft war er zu einem Ashtarmirian, einem Sohn der Sonne, geworden. Das hatte sein Leben zwar völlig umgestoßen und ihm zudem eine große Verantwortung aufgeladen. Doch im Vergleich mit seinen beiden früheren Leben war das Leben als Sonnensohn wesentlich spannender und vor allem erfüllter, auch wenn er auf absehbare Zeit auf dieser Insel wohnen würde, einer Insel, die nicht zu letzt durch seine Kenntnisse ihm und seinen Artgenossen gehörte. Sicher, an dem Geld, das er für dieses kleine Eiland ausgegeben hatte, klebte womöglich viel Blut, weil es aus den dunklen Schatzkammern der verschiedenen Mafiasippen entwendet worden war. Doch er war davon überzeugt, daß er mit diesem Geld wesentlich mehr gutes tun konnte als die ebenso unrechtmäßig an es gelangten Vorbesitzer.
Er hörte dem Rauschen der Wellen zu, ein langsamer Rhythmus, der Rhythmus allen Lebens, wie seine Frau und Sonnenkindschwester ihm gesagt hatte. Er fühlte sie und die gemeinsame Tochter Laura, wie sie in der von ihm, ihnen beiden und den Stratons bewohnten Blockhütte saß und die kleine Laura stillte. Die Gedanken seiner Mitbewohner strömten in ihn ein wie das Rauschen der Wellen in seine Ohren, das goldene Sonnenlicht vom Himmel und den Meereswellen in seine Augen und die Seeluft in seine Lungen. Er fragte sich, wie lange sie wohl hier in diesem Zufluchtsort bleiben würden. Für die restliche Welt waren sie verschwunden, womöglich mit denen gestorben, gegen die sie gekämpft hatten.
Nachdem der Patriarch Darfaian sich selbst geopfert hatte, um mit seinem Blut die Vampirkönigin Lamia und alle ihre direkten Abkömmlinge auf einen Schlag auszulöschen, war er der einzige, der Kontakt mit der restlichen Welt hielt, wenn auch nur als Horcher und Späher. Er hatte es tatsächlich geschafft, nicht jeden Tag an den kleinen Rechner zu müssen, der in seiner Blockhütte stand. Das lag auch daran, daß es ihm gefiel, sich von den anderen Sonnenkindern per Geistesverbindung in ihre Erinnerungen einführen zu lassen und er so noch mehr über die Geschichte des alten Reiches erfuhr. Hier, auf der Sonneninsel Ashtaraiondroi, lag das letzte Wissen des alten Reiches verborgen, dachte er.
Ein leises Plopp durchbrach den ewigen Rhythmus der rauschenden Wellen. Brandon spürte sie eher als er sie sah, Faidaria, die älteste der wiedererweckten Sonnenkinder und das sich in ihrem Leib entwickelnde Kind. Er sah sie keine zehn Meter neben sich stehen und auf das Meer hinausblicken. In den Händen hielt sie ihre kleine Kristallpyramide, die damals bei den Leuten aus dem alten Reich als Zauberkraftausrichter üblich war. Unter dem linken Arm trug sie ein Wollknäuel, in dem Stricknadeln steckten. Irgendwie war Faidaria, was in Brandons Sprache Himmelslicht hieß, auf den Geschmack gekommen, magielose Handarbeit auszuführen. "Stellst du mir bitte meinen Ruhesessel hin, Ilangardian!" hörte er Faidarias Stimme in seinem Kopf. Vor fünf Jahren hätte er noch jeden ausgelacht, der ihm gesagt hätte, daß er mal unter die Telepathen gehen würde. Er nahm den für ihn hergestellten Zauberkraftausrichter und vollführte damit das Lied des Herbeirufens, einen Objektversetzungszauber, der wie beim Beamvorgang in den Star-Trek-Geschichten einen Gegenstand an einem Ort verschwinden und an dem Ort des Rufers erscheinen ließ. In diesem Fall holte er damit einen bequemen Sessel her, den sie auf ihrer langen Seereise für Faidaria gekauft hatten, weil diese ja gerade schwanger war. Die Älteste der Sonnentöchter lächelte ihm anerkennend zu und setzte sich in ihren Sessel. Dann steckte sie den Kraftausrichter fort und setzte ihre Strickarbeit fort. "Ich mag das Meer auch, vor allem, wenn unser großer, Licht und Wärme gebender Urvater sich darin zum Schlafen legt oder aus ihm wiedergeboren wird. Die Friedliche Ehe und Elternschaft von Feuer und Wasser", gedankensprach Faidaria, ohne bei ihrer Strickarbeit aus dem Bewegungsablauf zu geraten. "Gwendartammaya oder Patricia hat mich gebeten, dir zu erlauben, heute abend jenes Wissensspeichergerät zu benutzen, um in der Welt deiner Eltern zu erkunden, was nach Darfaians unerlaubtem, aber in letzter Folge erfolgreichem Handeln bekannt wurde. Mein Gefährte Aroyan wird demnächst neuen Kraftstoff beschaffen, um das Gerät zu beleben, das wiederum deinen Wissensverarbeiter seine Kraft verleiht." Brandon, oder auch Ilanggardian, was "der auf der Weltenbrücke" hieß, nickte und schickte ein "Danke Faidaria" zurück. Dann fragte er, wie es dem Kind gehe.
"Es erfreut sich seines Daseins. Noch fühle ich nur seine innere Kraft in mir. Aber bald werde ich auch seine ersten körperlichen Regungen fühlen können. Es ist erhaben, daß ich nach deiner Gefährtin die dritte Sonnentochter sein werde, die ein Kind der neuen Zeit ans Licht der Welt bringen darf. Doch wir werden nicht die einzigen bleiben. Neues Leben ist immer mit neuer Hoffnung verbunden, und wir Sonnenkinder haben ja genug eigene Leben hergegeben, um dieses große Gut der Welt mehren zu dürfen", gedankensprach Faidaria. Brandon bejahte das. So sprachen sie ohne ihre Stimmen zu benutzen von der Zukunft, was die Sonnenkinder für eine Aufgabe finden mochten, außer sich neu zu vermehren. Es gab immer noch Vampire, die vielleicht das Erbe von Nocturnia antreten mochten. Zudem geisterten auf der Welt noch viele dunkle Kreaturen herum. Patricia hatte Brandon einmal jene vermummten Monster gezeigt, die eine Aura aus Dunkelheit, Eiseskälte und Verzweiflung verbreiteten. Die kannte er auch schon aus eigener Erfahrung. Diese Dementoren waren nach dem Sturz des Schwarzmagiers Tom Riddle alias Lord Voldemort auf eine magisch umfriedete Felseninsel deportiert und zusammengepfercht worden, wo sie mangels menschlicher Glücksgefühle dahindarben mußten, immer der Sonne ausgesetzt, die ihre Kräfte aufzehrte. Dann gab es noch die Wergestalten, die jetzt, wo die Vampirkönigin Lamia vernichtet war, ihren Anspruch auf bessere Behandlung mit Geschick oder nackter Gewalt durchzusetzen trachten mochten. Dann war da noch die Rede von einem finsteren König oder Kaiser aus dem alten Reich, der es hinbekommen hatte, seine Seele in einem verfluchten Spiegel auszulagern. Der sollte wohl noch über Möglichkeiten verfügen, Erblasten von ihm zu reaktivieren. Nicht zu letzt wußten Patricia und er nicht, wie es mit Anthelia weitergehen würde. Früher hatte sie nach einem weltweiten Hexenimperium gestrebt. Nur die große Bedrohung Nocturnia hatte sie erst einmal davon abgehalten, dieses Ziel mit Gewalt oder Intrigen durchzusetzen. Am Ende mußte die ehemalige Verbündete Patricia gegen ihre achso höchste Schwester kämpfen, weil diese die Menschheit in die Sklaverei treiben wollte. Brandon würde dann mitkämpfen müssen, obwohl er selbst einmal von Anthelias Gnade abhängig gewesen war.
"Essen ist fertig!" erscholl ein alle erreichender Gedankenruf von Sirkataia, was in Brandons Sprache Morgenlied hieß. Faidaria versenkte ihre Strickarbeit in ihrem weit wallenden gelben Umhang, den sie während ihrer Reisen um die Welt erworben hatte und verschwand mit leisem Plopp. Brandon nahm seinen Kraftausrichter, warf dem Meer noch einen Blick zum Abschied zu und beschritt den kurzen Weg, wie sie die Selbstteleportation oder Apparition nannten.
Nach dem reichhaltigen Abendessen, das aus Fisch und Gemüse bestand, ging Brandon an seinen Laptop und startete diesen. Erst schaltete sich das Satellitenhüpfprogramm ein, daß die Internetverbindung nie länger als zwei Sekunden über die selbe Satellitenverbindung hielt. Dann starteten auch alle anderen Internetanwendungen. Brandon seufzte, als er las, daß die Republikaner jetzt ganz sicher George Walker Bush zu ihrem Kandidaten für die kommende Präsidentenwahl gekürt hatten. Er mußte nur noch offiziell mit der Kandidatur beauftragt werden. "Dann gnade uns jeder Gott, an den irgendwer auf der Welt glaubt. Dann gibt's todsicher irgendwann wieder einen Krieg", grummelte er und dachte dabei daran, daß der künftige Präsidentschaftskandidat durchaus Rachegelüste gegen den irakischen Herrscher hegen mochte und wohl gerne einen Grund finden oder erfinden mochte, um einen neuen Feind der USA heraufzubeschwören, nachdem sich die Kommunisten im Osten ja selbst abgeschafft hatten. Dann fühlte er noch tiefe Trübsal, als er las, daß es in Houston zu einer Schießerei gekommen war, bei der eine Donna McBeal und ihr Ehemann Collin von einem Bankräuber auf der Flucht getötet worden waren. Das Bild der getöteten war eindeutig das von Ben Calder Juniors Jugendliebe Donna Cramer. Daß sie geheiratet hatte war Brandon Rivers neu. Als er las, daß die beiden in Las Vegas geheiratet hatten, weil Donnas Vater dem Jungen gedroht hatte, ihn zu erschießen, wenn er seine Tochter mit dem gerade auf dem Weg befindlichen Baby sitzen lassen würde, nickte er nur. Donna hatte offenbar eine kleine Familie haben wollen, auf Biegen und Brechen, wo sie womöglich gelernt hatte, wie schnell ein Leben zu ende gehen konnte. Tja, und am Ende war sie wirklich sehr jung gestorben, mit einem Fötus im Bauch, der noch drei Wochen hätte wachsen sollen, um geboren zu werden. Wäre es doch was mit ihr geworden, wenn Anthelia ihn nicht aus einem ersten Leben herausgerissen hätte? Vielleicht hätten die beiden eine große Hochzeit in Dropout gefeiert und ein eigenes kleines Haus gebaut, ganz ruhig, ganz spießig. Daraus war nichts geworden. Er lebte noch, obwohl er häufiger in Lebensgefahr geschwebt war als alle anderen Bewohner von Dropout. Er dachte daran, daß Roy Cramer seine Tochter sicher nach Hause zurückholen würde, um sie auf dem Friedhof von Dropout zu begraben, wenn es den nach der Feuersbrunst von vor fünf Jahren noch gab. So viele Erinnerungen an das erste Leben fluteten durch seinen Geist, auch Fragmente seines zweiten Lebens als Cecil Wellington mischten sich in diese innere Rückschau. Er dachte daran, wie jener Besucher seines angeblichen Vaters Reginald Wellington den wertvollen Porzellanglobus hatte fallen lassen. Hoffentlich hatte er, der damals als Cecil Wellington dabei war, keine Prophezeiung verkündet!
"Warnung, Zugriffsversuch auf Port 679!" blinkte ein signalroter Schriftzug unter der Menüleiste von Arachnobot. Brandon reagierte sofort und klickte mit der Maus auf das Symbol einer verschlossenen Tür. Sofort erlosch die Blinkschrift, und eine weiße Schrift verkündete, daß das Programm den Zugriffsversuch analysierte. Dazu mußten aber alle offenen Internetverbindungen geschlossen werden. Brandon tat dies. Fünf Minuten später kam die Antwort, daß ein Klon von Arachnobot dahingehend programmiert war, nach Ablegern zu suchen und nur Brandons weise Voraussicht, die Lizenznummer seines leiblichen Vaters zu verwenden, ihn vor einer unangenehmen Enthüllung bewahrt hatte. Das Satellitenhüpfprogramm hatte seinen Beitrag geleistet, den Verfolgungsalgoritmus des Basisprogramms in der Firma seines Vaters abzuschütteln. Brandon rief die Programmierkonsole auf, über die er Arachnobots Programmodule betrachten und verändern konnte. Als er feststellte, daß Port 679 zum Hintertüralgoritmus seines Vaters gehörte, aber sonst für die höheren Funktionen unnötig war, schloß er diesen offenen Zugangskanal. Dann startete er den Rechner komplett neu und wählte sich erneut ins Internet ein. Patricia schickte ihm in Gedanken zu: "Wenn dein Suchprogramm jetzt besser gegen das Gefundenwerden abgesichert ist such bitte mal nach einem Jerimy Wilson, irgendwo in Maryland!"
"Kann ich machen, wenn ich weiß, warum der für dich so wichtig ist", erwiderte Brandon.
"Ich habe damals sein Leben gerettet und verfolgt, wo er unterkam. Da wir ja jetzt im Exil leben und ich Anthelias Schwesternschaft nicht mehr fragen kann hoffe ich, daß diese Suchspinne und der vieläugige Wächter uns helfen, ihn weiterzubeobachten", erwiderte Patricia gedanklich. Brandon erfaßte nun auch, warum sie Jerimy suchte. Bisher hatte sie diese Informationen sorgfältig vor ihm versteckt. Er gab die Daten ein, die er aus dieser Informationsfreigabe schöpfte, das ungefähre Alter, wo er von Patricia zuletzt überwacht worden war und daß seine Eltern Leslie und Mortimer hießen. Dann schickte er Argos 20XX und Arachnobot auf die Reise durch das weltweite Datennetz. Er bekam keine Minute später eine Aufstellung der Suchergebnisse und teilte Patricia mit, daß der Junge mit seinen Eltern schon seit einem Jahr in Salisbury wohnte, weil dessen Adoptivvater dort eine neue Anstellung gefunden hatte. Patricia bat ihn, die beiden Internetüberwachungsprogramme auf jede Neuerung im Lebenslauf des Jungen zu programmieren. Die anderen Suchbegriffe konnten dabei weiter überwacht werden.
"Hallo Salisbury, hallo Maryland! Hier ist euer Hitradio WKZP 95,9 mit dem Frühstücksradio. Es sind sommerheiße acht Uhr fünf und ihr habt ja gehört, was unser Wettermann gesagt hat. Heute wieder den ganzen Tag Sonne und Temperaturen bis zu 80 Grad Farenheit. Richtig zum Abtanzen am Strand. Und hier die passende Musik dazu: Jennifer Lopez mit "Laßt uns laut sein" Ariba Muchachita!" Die Stimme aus dem als Pepsi-Cola-Dose getarnten Radio hallte über den Balkon und die Straße zwei Stockwerke weiter unten. Jerimy Wilson hörte ganz genau zu. Denn der Mann im Radio, das war sein Dad. Der spielte beim Frühstück bis zum Mittagessen immer Musik und redete mit Leuten, die so erzählten, was sie so machten. Vieles verstand der knapp vier Jahre alte Junge noch nicht, der seinem Dad im Coladosenradio zuhörte. Doch er fand es toll, daß sein Dad von allen hier gehört werden konnte. Der kleine Junge hieß Jerimy Wilson. Seine Mom, die mit ihm gerade auf dem Balkon saß wurde von den anderen Kindern entweder Tante Leslie oder Mrs. Wilson genannt. Die großen sagten nur Leslie zu ihr.
"Jerimy, nicht schaukeln. Wenn du die Musik so schön findest tanze richtig!" wies Jerimys Mom den kleinen zurecht, der wild vor- und zurückwippte und den klappbaren Gartenstuhl dabei gefährlich von den Vorder- auf die Hinterbeine kippen ließ. Jerimy sprang auf und hopste im Rhythmus des flotten Latino-Schlagers herum. Jerimy konnte nie lange still sitzen. Es gab nur drei Sachen, wo er mal richtig ruhig auf einem Stuhl sitzen konnte: Das war, wenn der Herr Professor im Fernsehen für kleine Jungen und Mädchen Sachen erklärte, die so passierten, warum etwas runterfiel oder wie man das rauskriegte, ob ein Ei noch gegessen werden konnte oder schon faul war. Dann malte Jerimy gerne, wo er sich ganz doll anstrengen mußte, um auch wirklich alles richtig zu malen. Die dritte Gelegenheit, wo Jerimy mal ganz ruhig sitzen konnte war die Radiosendung mit den Musikern, die Lieder aus dem Süden spielten, die sie Jazz nannten. Da konnte er auch ganz aufmerksam zuhören. Das hatte seine Mom dazu gebracht, dem Mann, der ihm immer die Haare kurzschnitt und dabei immer an seinem Kopf rumfummelte zu sagen, er solle den Mann mit der Rauhen Stimme aus dem Musikkasten spielen lassen, diesen Louis Armstrong oder einen Musikmacher, der Benny Goodman hieß. Dann klappte das mit den Haaren. Bei so Liedern wie dem gerade aus der Radiodose mußte Jerimy tanzen oder sonst wie was machen.
"Leslie, kann Jojo gleich noch zu euch rüber, wenn du und Jerimy ausgefrühstückt habt?!" rief die Oma von Jojo, eine am Bauch ganz runde Frau mit elefantengrauen Haaren. Die hatte Jojo über die Ferien bei sich. Jojos Mom und Dad waren in einem Land, daß England hieß und wollten da die Stadt besuchen, die so hieß wie die, wo Jerimy mit seiner Mom und seinem Dad wohnte.
"Ach, ist das Omasein schon wieder zu langweilig, Thelma?" fragte Jerimys Mom zu Jojos Oma hinüber. Diese wackelte einmal mit dem Kopf vor und zurück und lachte.
"Der hat die Tangogene von seiner Mutter und die Footballausdauer von seinem Vater", sagte Jojos Oma. "Der braucht immer was für den Körper", sagte sie dann noch.
"Jerimy ist auch so ein Wildfang, wenn nicht gerade Professor Praktisch im Fernsehen läuft", lachte Jerimys Mom. "Am besten gehen wir nachher in den Park."
"Schön, Leslie, dann sehe ich zu, den kleinen Burschen anzuziehen, wenn dieses wandelnde Hinterteil ausgesungen hat. Vorher kriege ich den ja nicht aus dem Schlafanzug raus."
"So in einer halben Stunde kommen wir Jojo abholen, Thelma", sagte Jerimys Mom zu Jojos Oma. Die machte wieder das mit dem Wackelkopf und drehte sich zu Jojo um, der auch gerade Die Morgensendung von WKZP 95,9 hörte und wesentlich wilder tanzte als Jerimy. Jojo war vor acht Tagen fünf Jahre alt geworden. Doch obwohl das ein Jahr mehr war als Jerimy alt war sagten die Großen, wenn die dachten, Jerimy würde nichts von denen hören, daß Jerimy genauso groß war wie Jojo, ja sogar schon Sachen machen konnte, die die sechsjährigen konnten. Jerimy konnte nicht nur malen, sondern schon das ABC und alle Zahlen von eins bis 100 sagen und schreiben. Das konnte Jojo noch nicht. Jerimy hatte mal seinen Dad sagen gehört, daß Jojos Mom und Dad das wohl erst die Lehrer machen lassen wollten, daß Jojo das ABC konnte und die Zahlen schreiben konnte. Vielleicht kam Jerimy schon zur Schule, wenn er fünf wurde, also alle Finger von einer Hand Jahre alt war.
Jerimy konnte sogar schon die Uhr lesen. Das hatte ihm sein Opa aus New York gezeigt und ihm gesagt, daß er dann, wenn er das richtig konnte, zum fünften Geburtstag eine eigene kleine Uhr für sein Zimmer bekommen würde. So konnte er sehen, wann die halbe Stunde um war, die seine Mom gemeint hatte. Er freute sich auf das Spielen im Park. Jojo war schnell, konnte gut springen und auf den Händen laufen. Jerimy hatte es eher mit richtigem Tanzen und Klettern.
So ging die Zeit bis zum Mittagessen schnell um. Jerimy hatte die Radiodose mit seinem Dad drin bei sich und konnte Jojo deshalb zwischendurch Musik zum Mittanzen spielen lassen. Als die Sonne ganz oben am Himmel stand rief seine Mom ihn und Jojo vom Spielplatz herunter. Außer ein paar Mädchen, die gerade mal drei Jahre alt waren wollte heute keiner hier sein.
Nach dem Essen fuhr Jerimys Mom mit ihm und Jojo ans Meer. Dort fuhren sie Tretboot. Jerimy kam zwar noch nicht so richtig an die Tretdinger heran, um seiner Mom beim fahren zu helfen. Aber er konnte schon das Lenkrad drehen, um das Boot mal nach links und mal nach rechts zu fahren. Jojo stand auf dem Rücksitz und zeigte auf die Boote mit Motor oder Segeln, die vor dem kleinen Hafen von Salisbury herumfuhren. Jerimys Mom mußte ihm deshalb immer sagen, sich hinzusetzen. "Wenn du mir aus dem Boot fällst kriege ich Ärger mit deiner Oma, deiner Mom und deinem Dad und Jerimy ist ganz traurig, wenn du im Meer bleibst", sagte sie Jojo. Doch das hielt dann nur gerade so ein paar Minuten vor.
Abends kam Jerimys Dad nach Hause. Wie der das hinbekam, am Morgen so klein zu werden, daß er in das Dosenradio paßte und abends wieder zweimal so groß wie Jerimy zu sein, hatte er ihm noch nicht gesagt. Aber er wollte ihn mal mitnehmen, da wo die Leute ins Radio kamen. Jerimy fand das etwas gruselig. Doch sich vorzustellen, mal in einem Radio zu sein war auch wieder aufregend.
Als die große an der Wand hängende Uhr halb acht zeigte war Bettzeit für Jerimy. Der war zwar vom langen Tag noch ganz aufgeregt. Doch sein Dad sagte ihm, daß er nur dann die Sonne aufgehen sehen konnte, wenn er vorher gut geschlafen hatte. Das half. um ihn einschlafen zu lassen ließ Jerimys Dad ihm über den kleinen Radio-CD-Abspieler eine Silberscheibe mit langsamen Benny-Goodman-Liedern vorspielen. Die kannte Jerimy nur von den ersten vier Liedern. Die anderen bekam er nie mit, weil er dabei nämlich ganz ruhig einschlief.
Wenn Jerimy schlief, dann besuchte er irgendwie Professor Praktisch in seinem großen Raum, wo er die ganzen Sachen machte, um zu zeigen, wie die gingen oder ritt mit Jojo auf großen schwarzen Pferden über die Wiesen in Argentinien, dem Land, wo Jojos Mom herkam oder flog mit dem Flugzeug in die Wolken hinein. Immer dann, wenn seine Mom ihn wachmachte war er ganz schnell wieder in seinem Bett. Wie das ging wußte Jerimy nicht. Träumen nannte seine Mom das, nach dem Einschlafen wo anders zu sein oder Sachen zu machen, die sonst nicht gehen konnten. Diese Nacht war Jerimy König auf einer großen Ritterburg. Jojo und Ralf, seine Spielplatzfreunde, waren Ritter und die kleine blonde Matty mit den zwei Zöpfen war Jerimys Königin. So rief Jerimy immer was, was die anderen machen sollten oder kämpfte mit Jojo mit Schwertern, um immer bereit zu sein, gegen den bösen Drachen Woff zu kämpfen, wenn der mal wieder alles mit Feuer kaputtblasen wollte. Woff war wieder mal böse. Der wollte alles Gold aus der großen Kiste im Keller der Burg haben. Wenn er das nicht bekam, wollte er die Stadt unter der Burg mit seinem Feueratem wegbrennen. Der Drachenbriefträger, der das tischtuchgroße Papier mit Woffs Forderung gebracht hatte, sah die zweizopfige Königin an und meinte, zur Not nehme Woff aber auch die Tochter der Königin, die in einem goldenen Kinderbett lag und ganz ruhig schlief. "Sag dem fiesen Drachen, der kriegt kein Gold und meine Tochter kriegt der auch nich'", tönte König Jerimy. "Wenn der in die Stadt reinkommt und sein Feuer da reinbläst kkriegt er von den Rittern und mir voll eins auf die Birne, bis er nicht mehr stehen kann. Und jetzt hau ab!" Der Briefträger, der wie Willy Pickfort aus der Mittelschule aussah grinste gemein und sagte: "Woff wird euch alle fressen. Denn der ist der größte." Dann ging er.
Als der große, rote Drache dann angeflogen kam und loslegen wollte, die Stadt anzuzünden, ließ der König mit den Kanonen auf der Burgmauer schießen. Auch ritten Jojo und sein Kamerad Ralf mit langen Lanzen auf Woff zu, der gerade eine Kanonenkugel auf die Nase bekam. Jerimy ritt als König mit zehn mal zehn anderen Rittern los und haute dem Drachen links und rechts mit dem Schwert gegen die langen, fiesen Krallenhände. Als Woff dann total müde vom dauernden Verprügeltwerden umfiel machten Jojo und Ralf dicke Ketten um sein Maul und die Beine herum. Da wurde Woff kleiner und wurde zu Willy. "Eh mann, ihr seid echt ..." brüllte Willy. Doch da rief Jerimys Mom über den großen Platz in der Stadt, und Jerimy lag wieder im Bett. Mensch! Jetzt hatte Jerimy nicht gehört, was der drache, der auch Willy sein konnte, sagen wollte. Vielleicht konnte er das rauskriegen, wenn er wieder schlafen ging. Doch jetzt war der neue Tag da, und er wolte die Sonne aufgehen sehen und seinem Dad zuhören, wenn der wieder im Radio war.
"... haben die Vertreter der republikanischen Partei sich darauf verständigt, George Walker Bush, den Sohn von Ex-Präsident George Bush, zum Kandidaten um das Amt des Präsidenten zu wählen", klang gerade die langweilige Stimme vom Nachrichtenmann aus dem Radio. Sowas war für Jerimy völlig unwichtig. Er wartete schon gespannt auf die Stimme seines Dads und was für Lieder er heute im Frühstücksradio spielen würde. Dann würde ein neuer, hoffentlich spannender Tag in Jerimys Leben losgehen.
Mario Lopez kehrte nach einigen Tagen in der Obhut seiner Herrin und Geliebten wieder in sein Haus zurück. Von den Schußverletzungen war nichts mehr zu erkennen. Er wußte, daß Moretti sich nicht mehr bei ihm melden würde und hatte die Anweisung erhalten, sich einstweilen nur mit den gewöhnlichen Clienten zu befassen. Daß er an der Sache bei der Festung des Comandante beteiligt war wußte ja niemand. Er mußte aber darauf gefaßt sein, daß die bonairensische Polizei ihn befragen würde, wenn Moretti erst einmal als vermißt galt. Doch Lopez war sich sicher, daß Moretti genug Vorsorge getroffen hatte, nicht so schnell vermißt zu werden. So war er völlig arglos, als in seiner Anwaltskanzlei ein gut angezogener Mann Mitte vierzig vorsprach, der sich für eine Immobilie an der Grenze zu Brasilien interessierte, die Mario Lopez vermitteln durfte.
"Antonio Martínez", stellte sich der Señor vor. Er ging auf Mario Lopez zu und streckte ihm die Hand zum Gruß hin. Da fühlte Mario Lopez wieder jenes Pulsieren im linken Ringfinger. Er wich sofort zurück. Doch da hatte der andere schon eine winzige Spritze in den rechten Arm des Anwalts gerammt. Gleichzeitig hörte Lopez etwas im Vorzimmer umfallen, wo seine Sekretärin Mirella Cardinale am Schreibtisch gesessen hatte. Mario Lopez fühlte eine fremde Substanz in seinen Adern. Doch aus dem Ring an der linken Hand flossen belebende Energien in seinen Körper über, die das Gift in seinen Adern wirkungslos machten. "Netter Versuch, Señor wer-auch-immer", schnarrte Mario Lopez nach vier Sekunden, als der andere wohl darauf gehofft hatte, daß sein Opfer tot oder zumindest bewußtlos umfiel. Doch der andere war noch nicht mit seinem Latein am Ende. Er hielt plötzlich eine schallgedämpfte Pistole in der Hand. Durch die Vorzimmertür trat soeben ein zweiter Mann, der eine schallgedämpfte Pistole in beiden Händen hielt. "Wie beim alten Rasputin, wie. Aber gegen das hier war der auch nicht immun", knurrte der vermeintliche Señor Martínez und wollte gerade abdrücken, als aus dem Nichts heraus eine nackte Frau mit makellosem Körperbau erschien. "Verdammte braune Brut", schrie sie, bevor sie aus jeder Hand einen hauchdünnen Pfeil auf jeden der beiden Angreifer abfeuerte. Einer von ihnen schaffte es noch, ihr aus seiner Waffe eine Kugel unterhalb der linken Brust zu verpassen. Doch das machte der Herrin von Mario Lopez nichts aus. Sie sah überlegen lächelnd zu, wie ihre magischen Eispfeile ihre Ziele trafen und die beiden Angreifer augenblicklich töteten. "Du fährst nach Hause und packst deine Sachen. Dann fährst du zum Flughafen und reist mit deiner Privatmaschine nach Rio. Dort versteckst du dich so lange, bis diese Brut dich vergessen hat!" knurrte Mario Lopez' Herrin und Geliebte. Sie sah ihn dabei sehr streng an, als habe er das überhaupt angestellt, was hier gerade passiert war. Er fügte sich der Anweisung. Denn er war der gefährlichen Schönen mit Leib und Seele verfallen und verbunden. So sah er seine Sekretärin nur eine Sekunde lang an. sie war tot. Was immer das für ein Gift gewesen war, daß ihn hätte töten sollen, es mußte innerhalb von Sekunden zum Tode führen. Sowas gab es eigentlich nur bei Geheimdiensten, die sich anmaßten, eine Lizenz zum Töten zu besitzen.
Mario Lopez fuhr nach Hause. Doch unterwegs wurde er schon erwartet. Drei Motorräder mit schwarz gekleideten Männern preschten aus drei Richtungen auf den Mercedes von Mario Lopez zu. Offenbar war das eine Art Rückversicherung der beiden Killer, die man ihm ins Büro geschickt hatte. Die Motorradfahrer versuchten, ihn auf eine unbelebte Seitenstraße zu drängen. Doch er blieb stur und nahm es hin, daß die schweren Maschinen immer wieder gegen die Seite seiner Luxuslimousine krachten. Er hielt jedoch den Kurs, bis einer der Fahrer eine schwere Armeepistole zog und auf ihn anlegte. Mario Lopez trat aufs Gas. So durchschlug die erste Kugel die beiden Hinterfenster. Die Motorräder schlossen jedoch sofort wieder zu ihm auf und flankierten ihn. Wieder pulsierte der Ring, den seine Gebieterin Loli mit ihrer dunklen Kraft aufgeladen und somit zu einer Verbindung zwischen ihr und ihm gemacht hatte. Doch hier auf offener Straße konnte sie wohl schlecht mal eben bei ihm auftauchen und ihm die drei Gegner vom Hals schaffen. Das tat sie auch nicht. Als die zweite und die dritte Kugel durch die Hinterfenster geschwirrt waren hielt einer der ihn direkt flankierenden Fahrer genau auf seinen Kopf. In dem Moment, wo er abdrücken wollte, verschwand Mario Lopez in einem violetten Blitz. Der Mercedes geriet aus der Spur und drängte das ihn rechts flankierende Motorrad ab. Bevor die drei Angreifer begriffen, daß der Fahrer einfach so aus dem Wagen verschwunden war, kippte die rechte Maschine um. Der Mercedes überrollte den Fahrer mit dem rechten Hinterrad. Die beiden anderen ließen sich sofort zurückfallen, während der schwere Luxuswagen ungebremst von einer Straßenseite zur anderen schlingerte. Erst ein entgegenkommender Lastwagen stoppte die Geisterfahrt. Laut knallte Metall auf Metall. Der Lastwagen bremste den Mercedes, wobei sein eigener Kühler eingedrückt wurde. Die Motorradfahrer gaben gas, um schnellstmöglich Abstand zu nehmen.
Erst als die nur noch zwei motorisierten Auftragsmörder fünf Kilometer zwischen sich und den verunfallten Mercedes gebracht hatten, hielten sie an. Einer von ihnen zückte ein Mobiltelefon mit vorbezahlter Karte und wählte die Nummer eines virtuellen Anrufbeantworters: "Kleeblatt an Paladin, Fisch von der Leine. Vorsicht vor Piranhas!" sagte er nur und legte sofort wieder auf. Dann gebot er seinem verbliebenen Kumpanen, sich von ihm zu trennen, sie wollten abwarten, wann sich ihr Auftraggeber meldete.
Der Unfall eines führerlosen Mercedes mit drei Durchschüssen in den Fenstern machte es Mario Lopez unmöglich, ganz offen in sein Haus zurückzukehren und zum Flughafen zu fahren. Außerdem mußte er damit rechnen, daß sie ihm auch dort auflauerten oder gar den Privatjet sabotierten. So blieb seiner Herrin nichts anderes übrig, als ihn mit ihrer eigenen Magie in das von ihm unter dem Decknamen Ricardo Flores gekaufte Haus in einem der besseren Viertel von Rio de Janeiro zu versetzen. Doch dafür, daß sie ihm diesen Gefallen erwies holte sich die Tochter des schwarzen Wassers Juliano Garcia und alle ihm bekannten Getreuen seiner Sechserzelle. Die anderen waren jedoch schon längst auf Tauchstation gegangen und planten die Fortführung der Tropas Blancas, sobald geklärt war, warum alle sterben mußten, die sich mit Mario Lopez anlegten.
Die letzten Prüfungen waren abgeschlossen. Am neunten August wurde die Raumfähre Liberty Bell auf die für Shuttle-Starts umgerüstete Startrampe bugsiert. Der Raumtransporter ragte zusammen mit dem knapp zweiunddreißig Meter hohen Außentank in den Abendhimmel über Vandenberg. Major Miles umrundete mit seinen drei Besatzungsmitgliedern die Startrampe. Auch wenn ein Heer von Ingenieuren und Technikern die Fähre und die Startvorrichtungen ständig unter Kontrolle hielt war es eine Tradition des Luftwaffenmajors, "Sein Flugzeug" vor dem Start von außen zu prüfen. Seine Copilotin Doris Fuller, die bis heute nur im Simulator Orbitalmissionen durchgeführt hatte, ließ ihren Blick bis zum oberen Ende des Außentanks schweifen. Sich vorzustellen, welche immense Energie in der Tankfüllung schlummerte und daß ein kleiner Fehler zur Katastrophe wie bei der Challenger führen konnte, war in diesem Moment nicht angeraten. Die beiden schlanken Feststoffraketen wurden gerade an den Seiten des Tanks befestigt. Übermorgen würde es losgehen. Doris Fuller fühlte die Aufregung. Zum ersten Mal würde sie die Erde aus mehr als zweihundert Kilometern Höhe zu sehen bekommen. Gestern war sie noch einmal in die Zentrifuge gestiegen und hatte eine Beschleunigung von bis zu sieben G überstehen müssen. Der Stützpunkteigene Frauenarzt hatte sie dann noch einmal untersucht. Ihren Geschlechtsorganen ging es gut. Die Gefahr, durch die Beschleunigung des Shuttles innere Verletzungen hinzunehmen und daran zu verbluten bestand nicht. Zwar hatte sie sehen können, daß der Ersatzcopilot sie kritisch musterte, weil er nun doch nicht zum Zuge kommen würde. Doch das ließ sie kalt.
Am Abend führte sie noch ein Telefongespräch mit ihrem Freund Clark Styles in Los Angeles. Auch wenn das Gespräch aufgezeichnet wurde sprach sie mit ihm über intime Einzelheiten. Im Moment lag beiden nichts an so etwas wie einer Ehe. Dafür waren beide zu sehr mit ihrer Karriere und der dafür nötigen Flexibilität verheiratet. Doch für kurze, leidenschaftliche Wochenenden reichte es immer mal wieder. Jetzt würde Doris in den Weltraum fliegen und dort für eine Woche bleiben. Sie kannte die medizinischen Bedenken, daß der Aufenthalt im Weltraum das Erbgut verändern konnte. Dennoch hatte sie sich nicht wie manche andere Astronautin darauf eingelassen, einige ihrer eigenen Eizellen aus dem Körper nehmen und einfrieren zu lassen, um dann, wenn sie es wollte, ein von der kosmischen Strahlung unbeeinflußtes Ei befruchten zu lassen und zum gesunden Baby austragen zu können. Denn im Moment plante sie keine Kinder in ihr Leben ein. Sie träumte davon, eines Tages die erste Frau auf dem Mond zu sein. Seitdem sie denken konnte faszinierte sie der Weltraum. Doch die Faszination für schnelle Flugzeuge hatte sie zunächst zu den üblichen Marinefliegern gehen lassen. Jetzt durfte sie zusammen mit dem wortkargen Howard Miles eine kleine Raumfähre steuern. Vielleicht konnte sie eines Tages auch eines von den großen Shuttles steuern, wie sie vom Kennedy-Weltraumzentrum aus starteten.
"Die Lady ist startklar", befand Major Miles, nachdem er mehr als eine Stunde lang die auf Startposition gestellte Fähre betrachtet hatte. Seine Mannschaft nickte nur zustimmend.
Die in leeren Weinflaschen eingesperrten Geister hatten es endlich aufgegeben, andauernd zu lamentieren und zu heulen. So waren die Nächte in der Daggers-Villa stillgeworden, seitdem vor drei Wochen Nadja Markova und die von ihr als ihre Tochter Anastasia wiedergeborene Dido Pane ausgezogen waren. Dido oder Anastasia erlangte langsam alle Erinnerungen zurück, die sie während ihrer Zeit in Nadjas Gebärmutter verdrängt hatte. In ungefähr vier Jahren, so hatten Anthelia und die vormals Vera Barkowa genannte Mitschwester beschlossen, würde sich Anthelia wieder mit ihnen treffen um zu sehen, wie brauchbar Anastasia für die Schwesternschaft sein würde. Da würde diese sicher schon wieder alles wissen und können, was eine fünfzehn Jahre alte Hexe hätte wissen können. Anthelia/Naaneavargia dachte daran, daß sie durch die Lust auf unverbindliche Geschlechtsakte nur noch selten in der alten Plantagenbesitzervilla zugebracht hatte, seitdem das magisch entstandene Mutter-Kind-Duo das Hauptquartier des Spinnenordens verlassen hatte. Es war aber immer noch der beste Rückzugsort für sie. Sie dachte daran, daß auch zwei andere Wiedergeborene wohl jetzt schon hofften, bald mehr zu dürfen als Windeln vollzumachen. Selene Hemlock hatte vor zweieinhalb Wochen ihren ersten Wiedergeburtstag gefeiert und war, so hatte sie aus den Zeitungen erfahren, wohl ein sehr zufriedenes kleines Mädchen, der Stolz ihrer Mutter, auch einer Wiedergeborenen. Anthelia mußte immer wieder schadenfroh grinsen, wenn sie daran dachte, daß die ehemalige Lehrerin Austère Tourrecandide ihr das Schicksal erspart hatte, Daianira Hemlocks "zufriedenes", kleines Mädchen zu sein. Dann wäre sie aber jetzt schon zwei Jahre auf der Welt, müßte Thalia heißen und Angst davor haben, von einer unkontrolliert herumlaufenden Naaneavargia in Spinnenform gefressen zu werden.
Die Mußestunden nutzte Anthelia/Naaneavargia, um die Erlebnisse der in ihr aufgegangenen Erdmagierin aus dem alten Reich in das Denkarium zu füllen, daß sie von Sardonia geerbt hatte. Dabei war sie auch auf etwas gestoßen, was ihr einige Sorgen bereitete. Es hieß, daß Skyllian damals vor den Schlangenkriegern, die sie aus Daianiras Bauch heraus bekämpft hatte, noch fünf mehr als hundert Meter große Riesenschlangen erschaffen hatte. Wenn Iaxathan Naaneavargia geliebt hatte, um sie doch noch auf seine Seite zu locken, hatte er ihr verraten, wie zornig er war, daß Skyllian diese Kreaturen nicht beherrschen konnte und diese bereits Abkömmlinge erbrütet hatten. Er hatte ihr verraten, daß nur die Loslösung von der festen Erde sie verwundbar machte, oder, wenn es gelänge, sie durch Kontakt mit einer magischen Waffe in tiefen Schlaf zu zwingen und zu halten. Dann, so der selbsternannte Diner der alles endenden Finsternis, sei es sogar möglich, die Wächter Skyllians von innen her zu töten, solange jemand es schaffte, keinen Körperkontakt mit der schlafenden Schlange zu halten. Außerdem erinnerte sie sich noch gut daran, daß eine der Erdmagierinnen aus dem alten Reich bereits versucht hatte, den Stein der großen Erdmutter zu bergen, in den Madrash Ghedons Seele eingeflossen war. Doch das war mißlungen. Anthelia selbst hatte es ja auch versucht und dabei die im zerstörten Seelenmedaillon Dairons gefangene Seele Sarah Redwoods auf den Stein überspringen lassen, wobei sich Madrash Ghedon und Sarah Redwood miteinander vereinigt hatten, wie sich Anthelia und Naaneavargia miteinander vereinigt und dadurch zu einer stärkeren Persönlichkeit gemacht hatten. Sie hatte es nicht mehr versucht, in Sarahs verstecktes Waldhaus einzudringen, seitdem sie sie selbst dort angetroffen hatte. Würde es sie noch akzeptieren? Dann dachte sie daran, daß im Weinkeller der Daggers-Villa noch jemand in einem tiefen Schlaf der befohlenen Ruhe lag, Picklock Loluk Habarzak, der kleptomanische Kobold. Suchen die Kobolde immer noch nach ihm? Durch das Wegfallen ihrer zehn amerikanischen Mitschwestern wußte sie so gut wie gar nichts mehr aus dem Ministerium in Washington. Wie ging es nun weiter, wo Nocturnia erledigt war? Bisher hatten die Ministeriumszauberer keine Anstalten gemacht, die Spinnenschwestern zu jagen. Das konnte auch an den Wergestaltigen liegen, die eigene Vorrangstellungsträume hatten.
In der Nacht vom zehnten auf den elften August erwachte Anthelia/Naaneavargia wie aus einem bösen Traum. Sie glaubte erst, etwas großes, hungrieges, würde die Villa niederreißen und alles darin in sich hineinzuschlingen versuchen. Als sie feststellte, daß sie gerade in der Gestalt der schwarzen Spinne steckte, wollte sie schon die Gedankenimpulse durch den Körper schicken, um sich wieder zurückzuverwandeln, als sie fühlte, wie etwas unter ihr und durch sie hindurchfloß. Es war, als baue sich unter der Villa eine immer stärker werdende Kraft auf, die die Schichten der Erde durchdrang und wie ein Fluß aus einer bestimmten Richtung kam und in eine andere Richtung abfloß. Sie fühlte es wie einen Sog, der aus Südsüdwest nach Nordnordost wirkte. Sie folgte den magischen Linien innerhalb der Erde, um wie eine Meereswelle zu wandern. Eine halbe Stunde dauerte dieser starke Aufruhr, der kein Erdbeben war und auch keines auslöste. Als die Woge gerade nach Nordnordosten abgewandert war, fühlte Anthelia, wie bei einem Gegensog die von ihr verspürte Kraft zurückfloß. Wieder dauerte es eine halbe Stunde, bis die Gegenströmung versiegte. Doch kaum war dies passiert, entstand bereits eine neue Kraftwelle, die diesmal zwar ein wenig schwächer ausfiel, dafür aber wohl auch nur achtundzwanzig Minuten brauchte, um von der ersten bis zur letzten Wahrnehmung auf- und abzusteigen. Kaum war diese neue Welle verebbt, floß eine Gegenströmung zurück, um den erdmagischen Aufruhr wieder auszugleichen. Naaneavargia/Anthelia tastete mit allen Haaren ihres Körpers und den Tastorganen ihres Kopf-Brust-Stückes, um genau zu orten, wo der Wellenherd lag. Doch ohne eine genaue geographische Bestimmung war es wohl sinnlos, sagen zu können, von wo die Wellen kamen. Die nächste Welle war wieder ein wenig schwächer und brauchte wieder nur achtundzwanzig Minuten von der ersten Wahrnehmung bis zum Verebben. Sogleich erfolgte die Gegenströmung, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Naaneavargia/Anthelia sprang von ihrem Bett herunter und verhedderte sich fast mit ihren vier Beinpaaren. Doch dann fand sie genug Ruhe, um sich in die neue Anthelia zurückzuverwandeln. Sie erkannte, daß sie deshalb wohl zur Spinne geworden war, weil sie eine Vertraute der Erde war, die darauf eingestimmt worden war, magische Strömungen im Leib der großen Mutter zu fühlen, wenn sie stark und regelmäßig genug auftraten. Auf diese Weise konnten auch Gesteinsverschiebungen und aufsteigendes Magma erspürt werden, um Vulkanausbrüche oder Erdbeben vorherzusehen oder diesen noch früh genug entgegenzuwirken. Irgendwo im hohen Norden, östlich von Nordamerika, war ein erdmagischer Prozeß in Gang gesetzt worden, der nicht in einer örtlich begrenzten Tätigkeit, sondern eine die ganze Erde durchziehenden Kraft ausuferte. Die Regelmäßigkeit der die Erdmagielinien durchfließenden Kraftwellen deutete auf einen voranschreitenden Prozeß hin, der einem gewissen Rhythmus unterworfen war. Anthelia mußte unwillkürlich daran denken, daß irgendwas die Magie der Erde ein- und wieder ausatmete. Vor allem, daß die erste solche Welle wesentlich stärker war als die folgenden und daß die folgenden offenbar in immer kürzeren Abständen auf- und abschwollen, gab ihr zu denken. Wenn da wirklich etwas war, daß wie eine gigantische Lunge die Magie im Erdinneren einsog und wieder ausblies, dann sprach das für ein lebendiges oder lebensnahes Etwas. Sofort dachte sie an die ihr bekannten erdmagischen Vorgänge, die eine derartige Wahrnehmung hervorriefen. Der Gedanke, etwas atme Magie ein und wieder aus, hielt sich Hartnäckig in Anthelias Kopf. Dann fiel ihr ein, daß es nur ein der Erde verbundenes, gigantisches Lebewesen sein konnte, daß gerade erwacht war oder noch erwachen mußte. Dazu fiel ihr nur der letzte große Wächter Skyllians ein. Vier Riesenschlangen hatten die Erd-, Luft- und Feuermagier damals töten können. Eines der fünf Ungeheuer mußte noch existieren, wohl in tiefen Schlaf gefallen sein. Dann war die Frage, wodurch der Schlaf beendet worden war und wie viel Zeit blieb, das vollständige Wiedererwachen zu verhindern. Denn wenn das Ungetüm einmal wach war, würde es zur Geißel der Menschheit, ja allem, was lebte und sowas wie eine Seele besaß. Sie erinnerte sich an die Erklärungen Iaxathans, der damals wohl dachte, mit der Erdmagierin Naaneavargia eine willfährige Gehilfin gegen ihre Elementarkraftgeschwister zu gewinnen. Anthelia klopfte sich unwillkürlich auf den Bauch. "Bis du da gelandet bist, du achso großer, finsterer Schattenspieler", dachte sie. Doch nach den Skyllianri und dem Vampirreich Nocturnia mochte eine weitere Saat des finsteren Königs aufgehen. Auch wenn dieser die beinlosen Wächter Skyllians verabscheut hatte, mochte der überlebende von ihnen in seinem Sinne wüten und die denkenden und fühlenden Lebewesen vertilgen, um selbst genug Kraft zu erhalten. Womöglich mochte dieses Schlangenungetüm die Nachkommen seiner Artgenossen, die ja jetzt alle Kindeskinder von ihm sein mochten, zur Fortpflanzung anregen und damit noch mehr von diesen Ungetümen auf Mutter Erdes großen Leib werfen. Das mußte verhindert werden, und Anthelia erkannte ganz ohne jede Überheblichkeit, daß nur sie das verhindern konnte. Denn sie kannte diese Wesen und ihre Stärken und Schwächen. Falls es möglich war, den Schlaf der Bestie andauern zu lassen, dann brauchte sie dafür jedoch was sehr wertvolles: Diamanten.
General Winters blickte auf den Bildschirm, als am zwölften August kurz nach fünf Uhr Ortszeit die gleißenden Flammen aus den drei Haupttriebwerken schossen und auch die Feuerspuren der seitlich angesetzten Feststoffraketen aufleuchteten. Im sicheren Überwachungsbunker waren sie vor dem Lärm der Triebwerke genauso sicher wie vor einer möglichen Explosion, die hier natürlich niemand wünschte. Er lauschte der über hochverschlüsselten Paketfunk geführten Kommunikation mit der Besatzung, die gerade auf mehreren Tonnen Wasserstoff wie auf einem Pulverfaß in den Himmel emporgehoben wurden. Dampfwolken wehten aus dem gewaltigen Becken unterhalb der Triebwerke. Das Shuttle kam von der Rampe frei und stieg, erst langsam und dann immer mehr beschleunigend in den Himmel hinauf. Wieder wurden kurze Sätze über Funk gewechselt. Anders als bei den üblichen Funkgesprächen wurden die Funkübertragungen nicht in Echtzeit übermittelt, sondern in kompakte Signalpakete übersetzt, die in einem Zwanzigstel der wirklichen Sprechzeit auf mehreren geheimen Frequenzen zeitgleich übermittelt wurden. Dadurch kam es dem General zwar so vor, als sprächen die Astronauten vom Mond aus. Doch der Geheimhaltung wegen nahmen sie alle die Zeitverzögerung zwischen den einzelnen Funkmeldungen in Kauf.
Erst als die beiden Feststoffraketen sicher von dem Transporter abgeworfen waren und an ihren Fallschirmen zur Erde zurückfielen atmete Winters auf. Damit war ein großer Gefahrenherd erloschen. Doch der verbliebene Treibstoff im Außentank konnte immer noch zu einer Katastrophe führen. Er hörte die Stimme Fullers, die über den Status des Startmanövers sprach. Jetzt hatten sie den Punkt der negativen Umkehr überschritten. Damit konnten sie bei einem auftretenden Notfall nicht mehr zu dieser Basis zurückkehren, sondern mußten auf einem der geheimen Flughäfen innerhalb des NATO-Gebietes landen, nachdem sie den Außentank absprengten. Doch der Notfall trat nicht ein. Die Fähre jagte nun mit mehr als zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit in einem steilen Winkel in den erdnahen Weltraum. Nach zehn Minuten gesamtflugzeit wurde der Außentank abgeworfen. Die Geschwindigkeit war bereits so groß, daß der Tank beim Wiedereintritt in der Atmosphäre verglühen würde. Soviel zur Wiederverwendbarkeit des Raumpendlers, dachte Winters zum x-ten mal. Er kannte die Diskussionen um die Fortführung des Raumfährenprogramms. Jeder Mondflug war billiger als der Start eines Space-Shuttles. Die Wartung der Orbiter kostete mehr Zeit und Geld als der Bau und Betrieb von Einwegraumkapseln. Auch das so reiche Amerika konnte sich ein derart teures Prestigeprojekt nicht auf Dauer leisten. Allerdings war das Shuttle im Moment die beste Flugmöglichkeit zur im Aufbau befindlichen internationalen Raumstation. Auch als Reparaturfahrzeug für defekte Sonden oder Satelliten war es besser einsetzbar als althergebrachte Raumkapseln. Womöglich würde das Programm noch zwanzig Jahre fortdauern, bis etwas besseres, vielleicht ein echt wiederverwendbares Raumfahrzeug, die fünf allgemein bekannten Shuttles und ihre drei kleineren streng geheimen Schwestern ablösen konnte. Sicher würde es erst die Luftwaffe sein, die ein solches System testete, dachte Winters und haderte damit, daß er dann wohl im Ruhestand sein würde und es nicht mehr mitbekommen würde.
"Erster Umlauf erreicht. Bereiten uns auf Aufstieg zum Zielorbit vor", vermeldete Doris Fuller, nachdem die Beschleunigungsphase abgeschlossen war. Die Raumfähre flog nun auf einer sicheren Umlaufbahn um die Erde. Allerdings würde sie in den nächsten Stunden noch einige Dutzend Kilometer weiter aufsteigen, um den neuen Satelliten auszusetzen. Auf dem Rückweg sollte dann der ausrangierte Satellit eingefangen und in der Ladebucht verstaut werden.
Sam Fleischer war in dieser Nacht Diensttuender Wachmann bei Tiffany's. Er saß wie die Spinne im Netz aller Überwachungskameras, Berührungs-, Geräusch- und Wärmesensoren und blickte auf die vor ihm aufgereihten Monitore. Wenn er überlegte, wie viele Millionen er hier in Form von Schmuck und Edelmetallrohlingen, losen Diamanten, Smaragden, Rubinen und Saphiren bewachte, konnte er sich gut vorstellen, daß es den einen oder anderen geben mochte, der den Laden gerne um einiges davon erleichtern würde. Doch die Schaufenster waren aus besonders dickem Panzerglas, die Türen von innen vergittert und die Schaukästen im Laden ebenfalls mit Alarmsystemen verdrahtet, die jedes für sich ausgeschaltet werden müßten. In drei Stunden hatte er Feierabend. Dann konnte er zu seiner Frau nach Hause und ihr beim Frühstücken Gesellschaft leisten, bevor sie in ihren Arbeitstag startete. Vielleicht schoben sie aber auch einen schnellen Betthüpfer ein, bevor sie in ihre Werbeagentur mußte und er den Tag verschlafen durfte. Anders würden sie das mit den eigenen Kindern sonst nie hinkriegen, wußte Fleischer. Doch mitten in seiner Überlegung stutzte er. Was war das gerade für ein lautes Ploppen gewesen? Er wirbelte herum. Da stand sie, eine Frau im scharlachroten Minirock und weißen Stiefeln, oben rum nichts als ihre blaßgoldene Haut. Ihre dunkelblonden Haare standen wild wie die Stacheln eines wütenden Igels ab. Ihre grünblauen Augen zwinkerten ihm verführerisch zu. Wie kam die Frau hier zu ihm in die hermetisch gesicherte Zentrale?
"Aus dem Nichts, Süßer. Will deinem Boss und euch nur einen Tauschhandel anbieten. Ich habe hier einen Klumpen aus reinem Gold und möchte dafür mindestens fünfhundert Karat in kleinen Diamanten haben", sagte die Fremde und deutete auf einen Korb, der offenbar mit ihr zusammen angekommen war.
"Eh, Ma'am, wer immer Sie sind. Ich ruf die Polizei", knurrte Fleischer. Da schwang die andere einen silbergrauen Stab. Der Sicherheitsmann von Tiffany's tastete nach seiner Dienstpistole. Doch da fror ihm jede Bewegung ein. "Ich lasse das Gold im Laden liegen. Aber du mußt mir verraten, wie die ganzen Alarmgeräte ausgeschaltet werden müssen, damit der Handel nicht von übereifrigen Gesetzeshütern gestört wird." Fleischer dachte daran, daß er das nicht verraten würde, daß der Hauptschalter für alle Alarmanlagen unter der weißen Abdeckung im Schaltschrank verborgen war und mit dem zwölfstelligen Code von gestern ausgeschaltet werden konnte. Da er den entsprechenden Zahlencode dachte reizte es die ungebetene Besucherin zum grinsen. "Nun, willst du mir nicht doch lieber sagen, wie der Alarm ausgeschaltet werden kann. Sollst es nicht bereuen. Du könntest neben deiner Provision für den Handel auch noch eine schöne Nacht mit mir dazubekommen."
"Flittchen", dachte Fleischer und mußte dann wieder an den zwölfstelligen Code denken. Da sah er zu seinem größten Entsetzen, wie die von ihm angedachte Abdeckplatte aufschwang und die Zahlentasten sich wie unter flinken, unsichtbaren Fingern eindrückten, bis der zwölfstellige Zahlenkode vollständig eingetippt war. Jetzt wurde noch die grüne Bestätigungstaste gedrückt, worauf über der Tastatur die rote Leuchtschrift: "Warnung, Alarmsystem wird abgeschaltet. Abschaltung ohne vorliegenden Notfall verstößt gegen Werksregel ..." Doch die Unbekannte gab nichts auf die Betriebsvereinbarung, den Alarm nur im Notfall oder bei Ladenöffnung auszuschalten. Sie ließ die grüne Taste noch einmal drücken. Dann gingen die grünen Kontrollämpchen über den Alarmanzeigen aus. Die Bildschirme wurden dunkel, weil die Kameras ebenfalls ausgeschaltet worden waren. Dann nahm die Fremde ihren Korb und ließ den zur Bewegungsunfähigkeit verzauberten Wächter für genau zehn Minuten alleine. Als die Fremde wieder aus dem Nichts auftauchte hatte sie jede Menge kleine Steine in ihrem Tragekorb. "So, das Gold liegt im Büro deines Chefs bereit, mit einer Nachricht dran. Kommt nicht einmal darauf, daß ihr meine Fingerabdrücke nehmen und auswerten könnt. Ich schalte den Alarm wieder ein." Sprach's und ließ per einfachem Knopfdruck das Alarmsystem wieder anspringen. Dann zielte sie auf den Wächter und murmelte: "Retardo removete!" Als sie das getan hatte sah sie den Wächter an. "Und, über mein Angebot nachgedacht?" Der Wächter dachte jedoch nur, daß er mit einer räuberischen Hexe sicher keine Nacht verbringen würde. "Dir ist was entgangen, Sam Fleischer. Danke für die Kooperation!" Sprach's und verschwand mit dem Tragekorb. Fleischer mußte noch zwei Minuten dasitzen, bevor die magische Bewegungshemmung von ihm abfiel. Er starrte auf die Bildschirme. Die Kästen waren unversehrt. Allerdings konnte er sehen, daß Diamantenringe, ganze Colliers und Halsbänder verschwunden waren. Da im Chefbüro keine Kamera wachte wußte er nicht, ob die Unheimliche wirklich den Goldklumpen dort abgelegt hatte. Wenn das überhaupt Gold war und kein wie Gold aussehendes Teufelszeug.
Fleischer rief erst den Manager an und schilderte ihm den so sonderbaren Einbruch. Natürlich glaubte ihm der Manager kein Wort und kündigte an, sofort herüberzukommen, was allerdings eine halbe Stunde dauern mochte.
Als die halbe Stunde um war kam der Manager. Er wirkte so, als habe er nicht mehr damit gerechnet, daß Fleischer wirklich in seinem Büro geblieben wäre. Offenbar hatte der Manager daran gedacht, der Wächter selbst habe seine Gelegenheit genutzt, sich ein paar Steine einzustecken und wäre damit verschwunden, nachdem er dem Manager diese wilde Hexenstory aufgetischt hatte. Als er aber dann den männerkopfgroßen, beinahe eiförmigen Metallklumpen in seinem Büro genau auf dem Schreibtisch fand, bekam er große Augen. An dem Klumpen lehnte ein Zettel aus Tierhaut. Er zog sich schnell Handschuhe an, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Dann nahm er den Zettel und las ihn laut vor:
"Sehr geehrte Damen und Herren der Firma Tiffany's. Da ich davon ausgehen mußte, unnötige Fragen auf mich zu ziehen, wenn ich in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit zu Ihnen komme und Ihnen einen für Sie vorteilhaften Handel Gold gegen Diamanten vorschlage, sah ich mich gezwungen, wie eine Diebin in der Nacht in die Verkaufsräume Ihres Geschäftes einzudringen. Hierzu mußte ich Ihren wackeren Nachtwächter vorübergehend Bewegungsunfähig machen und ihm das Geheimnis der Generalschaltung für die Sicherungs- und Warnsysteme entlocken. ich benötigte reine Diamanten im Gesamtgewicht von 500 Karat in kleinen Steinen. Wozu ich diese Steine benötige betrifft Sie nicht. Für Sie wichtig ist nur, daß ich Ihrer Firma zur Kompensation des Verlustes einen massiven Goldklumpen aus zwergischer Fertigung übereigne, dessen Gewicht und gegenwärtiger Verkaufswert mindestens den Warenwert der Diamanten aufwiegt. Sollte der Goldklumpen sogar mehr wert sein, so nehmen Sie dies als Entgegenkommen meinerseits, daß ich Ihnen und Ihrem Nachtwächter einen solchen Schrecken eingejagt und Ihr Sicherheitsgefühl derartig erschüttert habe. Ich hätte auf diese drastische Vorgehensweise verzichtet, wäre nicht Gefahr im Verzug gegeben. Mit freundlichen Grüßen die Schwarze Spinne.
"Wollen Sie diese Story wirklich aufrechthalten, Fleischer", sagte der Manager. "Ich meine, draußen die Kameras konnten Sie nicht über das Innensystem ausschalten. Ich habe schon über den Rechner die Bilder abgerufen. Wenn da also wer hinten oder vorne herausgekommen ist, der hier nichts zu suchen hat, hängen Sie ganz tief im Schlamassel. Mich umzubringen brächte es jetzt auch nicht", sagte der Manager noch schnell. Fleischer sah auf den Goldklumpen.
"Lassen Sie den bitte untersuchen, ob der echt ist. Falls ja, dann können Sie sich gerne fragen, warum jemand echtes Gold in der Menge hier abliefert, wenn er Diamanten klauen will und das Alarmsystem sowieso ausgeschaltet bekommt. Außerdem werden Sie außer mir und Ihnen niemanden auf den Außenkamerabildern zu sehen kriegen, das schwöre ich bei Gott."
"Der hat damit wohl weniger zu tun", knurrte der Manager. "Das Problem ist, wenn der Brocken echt ist, wie verkaufe ich den Eigentümern, daß mal irgendwer aus dem Nimmerland oder Oz bei uns eingekauft hat. Wenngleich das natürlich ein genialer Reklamegag wäre, gegen den Cartier komplett alt aussieht. Ich lasse den Brocken untersuchen, diskret von unseren Goldschmieden. Wenn der völlig echt ist, dann tun wir einfach so, als hätten wir die Diamanten nach Arabien verkauft", sagte der Manager und überlegte schon, ob er den Überschuß des Goldes nicht für sich abzweigen sollte.
Acht Stunden später hatten die Metallurgen und Goldschmiede von Tiffany's den Goldklumpen mit Laserstrahlen in hauchdünne Scheiben geschnitten und untersucht. Ergebnis: Der Brocken bestand aus purem Gold. Der Wert überstieg sogar die tatsächlich nur mitgenommenen Diamanten und Schmuckstücke. Die eilig einberufene Eigentümerkonferenz beschloß, den nächtlichen Hexenbesuch und den Tauschhandel im Tresor für Geheimabsprachen verschwinden zu lassen und keinem was davon zu verraten. So erfuhr die magische Welt nichts davon, daß die schwarze Spinne den renommierten Juwelierladen Tiffany's mit ihrem Besuch beehrt hatte.
Immer wieder mußte Anthelia die Gestalt wechseln, um als schwarze Spinne noch besser zu lauschen, wo genau die immer schneller aufeinanderfolgenden Wellen ihren Ursprung nahmen. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, Kobolde einzufangen und deren Köpfe als Erdmagiefokussierer zu benutzen. Da geschah etwas, daß diesen grausamen Plan unnötig machte.
Sie wußte mittlerweile, daß sie die schlafende Schlange wohl in der Nordpolregion finden mochte. Denn die Erdmagier von damals hatten gewisse Schwierigkeiten mit den zusammenfließenden Linien des Erdmagnetfeldes, das die erdmagische Standortbestimmung an den Polen erschwerte. Außerdem mußte die schlafende Schlange im ewigen Eis eingefroren sein, um in den Jahrtausenden nicht entdeckt worden zu sein. Grönland fiel aus, das nordamerikanische und eurasische Festland ebenfalls. Denn wenn sie dort apparierte und die schwachen und immer schneller hin und herfließenden Magiewellen erspürte, stellte sie fest, daß es nicht in Sibirien, Lappland oder Kanada sein konnte. Blieben also noch Island und Spitzbergen. So tastete sie sich mit mehreren Apparitionen immer weiter nach Norden vor. Als schwarze Spinne konnte sie jedoch nur eine Minute lang ausharren, da diese durch eisige Kälte gelähmt und somit wehrlos gemacht werden konnte. Dann erfaßte sie etwas, was sie hier und jetzt eigentlich nicht erwartet hatte. Jemand wirkte das Lied der Gnade der großen Mutter, genau den Zauber, den sie benutzen wollte, wenn es ihr gelang, den Schlafplatz der fünften Schlange zu finden. Sie horchte genau auf und erkannte, daß es ein Zauberer sein mußte, der das Lied sang. Der hatte es zwar richtig gelernt, aber wohl noch nicht genug Erfahrungen damit gesammelt. Kannten die heutigen Magier die alten Zauber doch noch? Wieder erklang das magische Lied, daß Anthelia in Form fließender Magieströme wahrnahm. Jetzt wußte sie, wo sie hinmußte.
Als das Lied ein drittes Mal erklang landete Anthelia gerade auf Nordostland. Jetzt vermochte sie, räumlich wahrzunehmen, wo die schlafende Schlange war. Denn mit jedem Gefangenen, der durch den Zauber befreit wurde, entlud sich ein Teil der von ihr aufgesaugten Erdmagie. Sie wußte, daß sie nicht in die Nähe eines solchen Ungeheuers apparieren durfte. die großen Schlangen waren natürliche Locattractus-Fallen. Skyllian hatte wahrhaftig etwas schier unbesiegbares erschaffen. Anthelia überlegte, ob sie dem Zauberer helfen sollte. Immerhin war der wohl an Diamanten gekommen und war bereit, sein Blut zu geben. Dann erkannte sie, wer da diesen alten Zauber wirkte. Ja, sie wollte hin, sie wollte ihm zusehen und ihm helfen. Doch zuvor holte sie einen kleinen Goldzylinder, den sie vor ihrer Suchaktion hergestellt und mit Runen für Aufnehmen, bewahren, Häufen und Zeit beschrieben hatte. Sie wirkte auf einen kleinen Silberklumpen den Zauber des dunklen Feuers. Dieses floß in den goldenen Zylinder ein. Dann wirkte sie den Zauber noch einmal und noch einmal. Wenn die Schlange zum Schlafen gebracht wurde, mochte die Vernichtungskraft des dunklen Feuers sie endgültig unschädlich machen. Als sie fertig war erklang das Lied der Gnade der großen Mutter zum fünften Mal. Jetzt flog sie los.
Als sie sich dem Gletscher näherte, in dem die Schlange Skyllians lauerte, nahm sie bereits die starke Präsenz einer mächtigen Magierin war, die zwar körperlich noch jung erschien, aber schon genug wußte und konnte, um mächtig zu sein. Sie erkannte die Präsenz aus Naaneavargias Erinnerungen. Das war Darxandria, die in einer geflügelten Kuh wiederverkörpert und mit deren tierischer Persönlichkeit verschmolzen war. Doch mit einem niederen Hausrind hatte diese majestätische Erscheinung nichts mehr zu tun. Anthelia mußte sich auf ihren Flug konzentrieren, so daß sie es nicht verhindern konnte, daß ihre ebenso starke Ausstrahlung der für Magieströme empfänglichen Latierre-Kuh gewahr wurde. Sie nahm es hin, daß diese den jungen Zauberer mentiloquistisch warnte. Der war auch nicht alleine, erkannte sie, als sie im hohen Tempo in die zum gewaltigen Stollen versteinerte Riesenschlange hineinflog. Neben Julius Latierre schwebte noch eine Hexe, von der sie zwar schon gehört, sie aber noch nicht persönlich getroffen hatte, was wohl ein großes Glück für diese gewesen war. Sie gab sich Julius Latierre und Catherine Brickston zu erkennen. Daß die beiden wie sie ohne magische Hilfsgeräte fliegen konnten bewies ihr, daß sie beide wohl mit den Altmeistern von Khalakatan in Kontakt getreten waren. Also daher kannte Julius das Lied der großen Gnade. So wie er es jetzt sang erkannte sie sogar die Betonung, wie Naaneavargias leiblicher Vater Agolar sie benutzt hatte. Sie hätte eigentlich laut loslachen sollen. Doch jetzt war es wichtiger, die zu Standbildern ihrer Selbst erstarrten Gefangenen der Schlange freizusingen.
Anthelia zeigte Julius, wie er drei Gebannte in einem Lied freisingen konnte. Nebenbei mußte Anthelia auf der Hut vor den durch die Schlange laufenden Erschütterungen und Verwerfungen sein und beschwor einen schwarzen Spiegel gegen die von der Schlange zu Einfangkugeln verwandelten Seelen der noch nicht befreiten. Denn Catherine Brickstons Mondfeuer, das wohl als einziger Flammenzauber gewirkt hatte, war nicht fest genug gegen eine ganze Armee von Schattenkugeln.
Als Anthelia und Julius bis auf zwei ganz hinten im Leib der Schlange gefangenen Menschen alle befreit und nach draußen geschickt hatten erschien ein mittelgroßer Nachtschatten, dessen Ausstrahlung auf dunkle Kraft aus Altaxarroi deutete. Julius versuchte, ihm eine kleine Sonnenlichtkugel entgegenzuwerfen. Doch deren konservierter Zauber gelang im leib der Schlange nicht. Der Nachtschatten forderte sie beide auf, sich mit der Schlange zu vereinen. Doch sie lehnte es ab, ebenso Julius. Anthelia erfaßte, wie er mit Hilfe jenes Herzanhängers, mit dem er damals auch im Uluru erfolgreich gegen Naaneavargia und Ailanorar vorgegangen war, Verbindung zu seiner Ehefrau herstellte. Er bat sie, Camille Dusoleil zu bitten, die mächtige Formel und ihr Erbstück zu benutzen. Anthelia argwöhnte, daß Julius jene Formel aus Darxandrias eigenen Zaubern nutzen wolle, die Menschen, Tiere oder Gegenstände durch Liebe und Hingabe vor bösen Kräften schützten. Sofort dachte sie für sich das Lied des inneren Friedens, daß geistige Übermacht aus ihrem Kopf heraushielt und belegte sich selbst mit dem Zauber der Panzerung, während Julius die Formel sang und unvermittelt zu einem weißgolden gleißenden Etwas wurde, das mitten in den Nachtschatten hineinstieß. Anthelia fühlte trotz ihrer raschen Schutzvorkehrungen, wie ihr Kopf und Körper von einer Woge aus Zauberkraft erfaßt wurde. Sie hörte die Stimmen von ihr und Naaneavargia getöteter Lebewesen und meinte, im weißen Gluthauch dieser überstarken Zauberkraft zu verbrennen. Nur der Gedanke, bloß nicht abzustürzen hielt sie davon ab, zu landen oder die Flucht zu ergreifen. Es dauerte quälende Sekunden, bis die Woge aus magischem Licht verebbte. Anthelia war sich sicher, daß sie dem nicht hätte widerstehen können, wenn der Nachtschatten nicht den Hauptteil davon abbekommen hätte und dabei einen Großteil seiner lichtschluckenden ätherischen Substanz eingebüßt hätte. Sie erkannte, daß es ungleich schwerer sein würde, Julius in irgendeiner Weise zu unterwerfen. Selbst ohne den Herzanhänger stand er mit Darxandria in Verbindung. Sie fühlte sogar, daß zwischen ihm und der Kuh noch ein stärkeres magisches Band bestand, als einfach nur, daß sie miteinander mentiloquierten. Doch was es war entzog sich ihr.
Sie befreiten die beiden letzten Gefangenen, von denen Julius einen kannte, Professor Stuard, der Vater einer Schulkameradin von ihm.
Anthelia prüfte, ob ihre Sinne sie nicht trogen und die Schlange wirklich wieder in ihren Überdauerungsschlaf zurückgefallen war. Dann beschwor sie magische Leuchtflammen auf ihre Hand und flog in den Leib der Schlange zurück. Ja, die Flammen blieben erhalten, wenngleich sie auch ein wenig schrumpften. Doch das war nun nicht mehr so bedeutsam. Sie telekinierte die von Julius gegen den Nachtschatten geworfene und unwirksam zu Boden gefallene Sonnenkugel in ihre Hand und steckte sie in ihre Umhangtasche. Dann warf sie den goldenen Zylinder mit den angehäuften Zaubern für das dunkle Feuer in den Schlangenleib hinein. Sie zog sich mit Julius bis zur Gletscherhöhle zurück und beobachtete die Wirkung ihres Vernichtungszaubers. Tatsächlich verging die schlafende Schlange. Der letzte Wächter Skyllians hauchte nach mehr als zehntausend Jahren Schonfrist sein widernatürliches Leben aus. Anthelia fühlte die sich bei der Vernichtung entladende Erdmagie. Diese wechselwirkte mit dem Gefüge der Erde selbst und rief ein verheerendes, wenn auch örtlich begrenztes Beben hervor. Catherine Brickston, die gerade dabei war, die Befreiten durch eine beachtenswerte Kombination aus Verwandlungs- und Aufrufezauber an sich zu nehmen und in Sicherheit zu fliegen, kam leider zu spät, um fünf Männern in der Uniform der norwegischen Armee zu helfen. Diese verschwanden in einem aufklaffenden Erdspalt. Minuten vergingen, in denen die aus dem vernichteten Schlangenleib entwichene, nicht im dunklen Feuer vergehende Erdmagie sich austobte. Als das Beben schließlich verklang und sie alle wieder sicher landen konnten, verabschiedete sich Anthelia von Julius und Catherine. Sie konnte es nicht lassen, ihm zu sagen, daß sich ihrer Beider Wege unweigerlich wieder kreuzen würden. Denn ihr war bewußt geworden, daß er genau wie sie das alte Erbe angetreten hatte und nun wie sie darauf zu achten hatte, die Hinterlassenschaften des alten Reiches nicht in unwürdige Hände fallen zu lassen. Auf dem Weg zurück zum Festland mentiloquierte sie noch einmal mit der geflügelten Kuh, die sich Artemis nannte und in der Darxandrias Geist neuen Halt gefunden hatte:
"Auch wenn du in dieser Körperform ebenso mächtig werden solltest wie zu deiner ersten Lebenszeit wirst du es nicht verhindern können, daß dein Schützling und ich einen Teil unserer Wege zusammengehen werden, willst du mehr von deinem neuen Leben haben als als fliegende Milchquelle zu dienen."
"Ich weiß, daß du zweifachen Dank für dein Leben empfindest, Unersättliche. Doch glaube auch du mir, daß Julius den von mir vorgezeigten Weg gehen wird. Wenn du diesen zu gehen vermagst, so werde ich dich nicht von ihm fernhalten. Doch solange du von falschen Zielen erfüllt bist und die Tränen der Ewigkeit in deinem Körper fließen, wird Julius nicht dein Gefährte sein", empfing Anthelia/Naaneavargia die Antwort der wiederverkörperten Königin des Lichtes. Sie nahm diese Antwort hin und flog weiter. Diese Lichtmagier meinten doch immer, nur wer Frieden und Demut predige könne das Gefüge der Welt erhalten. Allein ihr Eingreifen hier und jetzt sollte dieser in eine übergroße Milchkuh eingesperrten Edelmutpredigerin klarmachen, daß es auch Wesen wie Anthelia/Naaneavargia geben mußte, um das Gleichgewicht der Welt zu erhalten und das alte Erbe zum Wohl und nicht zur Vernichtung der Welt wiederzubeleben. Doch das Julius diese Heilsformel so erfolgreich anwenden, ja sich über eine gewaltige Entfernung hinweg mit jemandem, die das ebenfalls konnte verbinden konnte, bewies ihr wiederum, daß es mit körperlicher oder magischer Gewalt oder körperlichen Verlockungen ihrerseits nicht getan sein würde, Julius Latierre an ihre Seite zu locken. Sie wußte aber auch, daß immer noch jemand danach trachten würde, ihn zu unterwerfen oder zu töten. Sie dachte an Itoluhila und ihre noch wache Schwester, die unselige Ilithula, gegen die Sardonia einst gekämpft hatte. Gegen eine der beiden oder beide zugleich mochte diese Heilsformel ohne ein wirksames Fokusartefakt am gewünschten Ort der Wirkung nicht ausreichen. Sie nahm sich vor, ihre Aufmerksamkeit auf die beiden noch wachen Schwestern zu richten. Zwar wußte sie im Moment nicht, wie sie das anstellen sollte. Aber ihr würde wohl früh genug einfallen, wie es ging.
"Winnie, Winnie Wirbelwind! Winnie, Winnie, Wirbelwind!" Das riefen mehr als zweihundert Jungen und Mädchen in pechschwarzen Umhängen, die in den Zuschauerreihen eines ovalen Stadions saßen. Sie fühlte das lange Stück Holz zwischen den Beinen, hatte die Hände sicher am langen Besenstiel. Gerade tauchte vor ihr ein schwarzer Ball mit hoher Geschwindigkeit auf. Sie rollte zur Seite herum und ließ den Ball ins Leere zischen. Sie vollendete die Rolle und saß nun wieder richtig auf dem Besen. Ihr scharlachroter Umhang blähte sich im Flugwind. "Winnie zwei!" rief ein Junge, der links von ihr flog. Auch er trug einen scharlachroten Umhang, auf dem ein goldener Löwenkopf aufgenäht war. Der Junge hielt einen scharlachroten Ball in der rechten Hand und warf in ihre Richtung ab. Sie stieß den Besen nach vorne, riß den linken Arm hoch und angelte den fliegenden Ball aus der Luft. Sie preßte ihn fest an ihren Körper und wünschte sich, schneller zu fliegen. Von rechts kam ein Spieler im grünen Umhang, auf dem eine silberne Schlange glänzte. Das war Calliban Sikes, der Kapitän und älteste Spieler der Slytherins. Slytherins? Wie konnte jemand so heißen? Aber wieso wurde sie andauernd Winnie gerufen und hörte auch noch darauf? Sie hieß doch Moira! Richtig nachdenken konnte sie aber nicht. Denn als Sikes näher an sie herankam hörte sie einen dumpfen Schlag. Sie wußte von irgendwoher, daß das ihr galt und warf sich flach auf den Besen, gerade in der Sekunde, als von hinten ein schwarzer Ball, Klatscher genannt, ihren augenblicklichen Standort erreichte. Wusch! Sie fühlte, wie der mit viel Schwung fliegende schwarze Ball über ihren Rücken und Hinterkopf hinwegfuhr und ohne sie weiter zu behelligen auf die drei ihr gegenüberliegenden Ringe auf goldenen Pfeilern zuraste. Vor den Ringen flog ein breitschultriges Mädchen mit schwarzem Struwelhaar und mußte dem schwarzen Ball ausweichen. Sikes versuchte, den roten Ball aus der Gewalt seiner Gegenspielerin zu reißen, als diese den Ball, Quaffel genannt, aus einer gekonnten Drehbewegung heraus auf die gerade unbewachten Ringe zuschleuderte. Sikes brüllte wütend auf und preschte los. Doch selbst mit seinem Flugbesen konnte er den Quaffel nicht mehr abfangen. Vielmehr bekam er ihn gerade zu fassen, als er schon auf Höhe des linken Rings war. Der Schwung von Ball und Flieger waren zu groß, um noch abgebremst zu werden. Sikes und der Quaffel flogen durch den Ring. Eine Fanfare ertönte, und auf der über dem Stadion aufragenden Anzeigetafel wechselte die Zahl auf Seite der Spieler in Rot von fünfzig zu sechzig. "Das sechste Tor für Gryffindor, und der Torschütze: Calliban Sikes!" rief jemand mit einer Verstärkeranlage oder sowas das neue Zwischenergebnis aus. Lautes Lachen erscholl aus den Reihen derer, die Fahnen mit dem goldenen Löwen und scharlachrote Schals trugen.
"Ich mach dich platt, du scheiß Sabberhexe!" brüllte Sikes, als er wie eine aufgescheuchte Hornisse durch den mittleren Ring zurückflog und auf sie zuhielt. Da bekam er den vom Feldrand zurückfedernden Klatscher voll in den Magen und sackte durch. Doch auch sie mußte zusehen, auszuweichen. Denn jetzt stürmten die beiden anderen Ballwerfer der Slytherins auf sie los, um sie davon abzuhalten, den Quaffel beim Herauswurf gleich abzufangen und das siebte Tor zu machen, was den Gleichstand bedeutet hätte.
"Winnie, zehn!" rief Marlon Cooper, ihr Mitspieler. Sie tauchte sofort nach unten weg. Da raste der zweite schwarze Ball über sie weg. Die Zahlencodes waren genial, fand sie. So konnten Pässe, Warnungen oder Vorstöße angekündigt werden. Sikes schaffte es, trotz des Treffers auf dem Besen zu bleiben. Er flog nach oben und griff nun frontal an. Winnie - oder hieß sie doch Moira? - schaffte es nicht mehr, ganz auszuweichen. Gerade als Sikes ihr seinen Besenstiel in den Leib zu rammen drohte, schrak sie auf ... und fand sich laut keuchend in ihrem Bett wieder. Ihr Herz pochte. Immer noch hörte sie das wilde Johlen der Zuschauer. Ja, sie hörte auch Angstschreie, weil sie angegriffen worden war. Erst nach einer weiteren Sekunde verstummten die unsichtbaren Rufer. Sie war nun hellwach.
"Was für ein widerwärtiger Alptraum", knurrte sie. Jemand klopfte an die Tür. Sie fuhr erschrocken zusammen. Doch dann erkannte sie, daß es nur ihre Mutter oder ihr Vater sein konnte. "Moira, Kind, ist alles in Ordnung? Ich habe dich schreien gehört", hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie setzte sich auf und holte Luft:
"Mutter, bitte verzeihe mir, daß ich euch Anlaß zur Besorgnis gegeben habe. Es war nur ein völlig irrationaler Alptraum, nichts besorgniserregendes. Ich befinde mich wohl", sagte Moira.
"Ich meine ja nur, weil du geschrien hast "Sikes, nicht!" oder sowas. Hätte ja sein können, daß dir mal jemand dieses Namens was böses getan hat, wovon du uns nichts sagen wolltest."
"Nun, sollte es sich wahrhaftig so zugetragen haben und ich aus einem mir allein erschließbaren Grund befunden haben, euch nicht darüber in Kenntnis zu setzen, so sehe ich in diesem soeben überstandenen Alptraum auch keinen Anlaß. Aber ich kann euch beruhigen, daß ich bisher mit keinem böswilligen Zeitgenossen dieses Namens unliebsame Bekanntschaft machen mußte und dies auch weiterhin so bleiben darf."
"Gut, Kind, ich wollte nur wissen, was dich so erschreckt hat", grummelte ihre Mutter von der anderen Seite der Tür her. Moira erwiderte schnippisch, daß sie es ja nun wisse und wünschte ihr dann noch eine erholsame Restnacht.
Moira fragte sich selbst, was ihr Gehirn da für einen Unfug ausgebrütet hatte. Sie hatte geträumt, eine Hexe auf fliegendem Besen zu sein, allerdings eine von vielen jungen Lehrhexen oder Hexenschülerinnen, die mit jungen Zauberern zusammen in einer uralten Burg namens Hogwarts lernte. Wer hatte sich denn so einen Namen für eine Schule ausgedacht? Eberwarzen. Da kam ihr der Gedanke, daß das in "eine Geschichte von Hogwarts", der Chronik dieser Schule erwähnt worden sei, daß die beiden Hexen und die beiden Zauberer, die die Burg mit der Schule gebaut und mit irgendwelchem Hokuspokus angefüllt hatten, eine Verbindung zwischen dem angenehmen, dem lebendigen, dem wichtigen, dem schönen und dem häßlichen und dem unangenehmen gesucht hatten. Danach stand der Eber für Fruchtbarkeit, Nahrung, Glück und Wohlstand, war als Ferkel auch süß anzusehen, während die Warzen für Krankheit, Belastung, Häßlichkeit und Unglück standen. Wie kam sie, Moira Stuard, denn jetzt auf so eine Idee? Das wäre was für die alte Rollenspielgruppe gewesen, eine Zaubererschule dieses Namens in ihrer Spielwelt zu haben. Aber in Echt würde doch niemand eine Schule so nennen. Überhaupt die ganzen Begriffe aus diesem Traum: Das Spiel, was sie da gespielt hatte hieß Quidditch. Die Bälle hießen Quaffel, Klatscher und Schnatz. Hatte dieser goldene Ball mit Flügeln was mit dem Banderschnatz von Louis Carol zu tun, der auch die Geschichte von Alice im Wunderland geschrieben hatte? Dann die Hausnamen, Gryffindor und Slyterin. Die sollten aber wohl von den Gründern dieser eberwarzen-Schule stammen. Aber warum sie als fliegende Hexe Winnie geheißen hatte? Da fiel ihr ein, daß es mal eine Zeichentrickserie mit einer gutartigen Hexe namens Winnie gegeben hatte und Winnie auch als Abkürzung für Winnifred stehen konnte, eine der drei Hexen aus dem Halloween-Film, die im 17. Jahrhundert gehängt wurden und im 20. Jahrhundert am Halloweentag von einem unberührten Jungen wieder aufgeweckt worden waren. Nein, Winnifred hatte sie in diesem Traum nicht geheißen. Edwina war der offizielle Name gewesen. Immerhin wurde sie ja vom Stadionsprecher so angekündigt. Dabei fiel ihr ein, daß sie es nicht bewußt mitbekommen hatte, wie der Stadionsprecher die Spieler vorgestellt hatte. Jedenfalls hatte sie da für dieses Gryffindor-Haus gespielt. Von was für einem Blödsinn Menschen doch träumen konnten.
Der Bordkalender zeigte den zwanzigsten August 2000. Doris Fuller hatte gerade Wache auf dem Flugdeck. Ihr Kommandant schlief gerade in seinem Schlafsack an der Decke der Färe. Die Schwerelosigkeit ermöglichte es, an jeder Stelle des Schiffes schlafen zu können. Sicher hatte sie auch ihre Tücken. Sich an Bord zu bewegen war eine Kunst für sich. Die alltäglichsten Verrichtungen gerieten immer zu einem Akt großer Konzentration und Fingerfertigkeit. Dennoch empfand Doris Fuller das vorübergehende Fehlen ihres Körpergewichtes als besonderes Erlebnis. Sie kannte zwar die Parabelflüge, bei denen ein Flugzeug für wenige Sekunden im freien Fall zur Erde hinabstürzte und dadurch Schwerelosigkeit an Bord erzeugte. Doch jede Sekunde wie im freien Fall zu sein, oder sich wie in einem Wasserbecken untergetaucht zu fühlen war doch was anderes. Vielleicht sollte sie, wenn sie wirklich mal zum Mond fliegen wollte, doch zur NASA gehen, um für einen Langzeitaufenthalt in der internationalen Raumstation eingesetzt zu werden. Doch im Moment zählte nur der Abschluß der laufenden Mission. Dawson, der vor drei Tagen den neuen Satelliten ausgesetzt hatte, schrieb an einem Brief für seine Eltern. Erickson hatte Kopfhörer auf und hörte wohl gerade was von Bob Marley. So war Doris Fuller im Grunde gerade mit sich und der unter dem Shuttle leuchtenden Erde alleine. Eigentlich, so dachte sie, müßte sie vor der Landung in ihren Raumanzug steigen und sich von Curd Dawson einmal am Auslegearm in den Weltraum hinausheben lassen, um das Gefühl, nur den Weltraum um sich zu empfinden, auszuleben. Doch der Ablaufplan verbot es, derartige Extratouren zu machen. Sie hatte an ihrem Platz zu bleiben und darauf zu achten, daß die Liberty Bell nicht mit einem Satelliten oder einem Stück Weltraumschrott zusammenstieß. Daß sie hier, am Rande der Unendlichkeit, ein zunehmendes Abfallproblem hatten, ging den Menschen auf der Erde erst langsam auf. Raketenbruchstücke, verlorengegangenes Werkzeug oder ausrangierte und dahindriftende Satelliten stellten eine zunehmende Gefährdung der Raumfahrt dar. Dazu kamen die natürlichen Kleinstkörper, Meteoriten, die aus der Entstehungszeit des Sonnensystems übriggeblieben waren. Deshalb mußte ständig jemand an den Steuerkontrollen sitzen, um die Fähre sofort aus einem Kollisionskurs herauszusteuern.
"Bell für Basis kommen!" Klang die Stimme des diensthabenden Kommunikationsoffiziers von der Erde. Fuller bestätigte den Anruf. "Unsere Wetterwarte gibt gelbes Licht für die geplante Heimkehr. Ein Tiefdruckgebiet vom Süden im Anmarsch. Erwarten Gewitter mit schweren Sturmböen."
"Verstanden. Soll Landezeitpunkt verschoben werden?" fragte Fuller. Sie mußte warten, bis ihr Funkspruch als Signalpaket übersetzt, als Signalpaket abgestrahlt und in der Basis übersetzt wurde. Es dauerte fast fünf Sekunden, bis die Antwort eintraf: "Verschiebung nur um drei Umläufe möglich. Wenn Ersatzlandeplatz nötig erfolgt Meldung."
"Verstanden", erwiderte Doris Fuller und rief auf ihrem Computer die vorgesehenen Ersatzlandeplätze auf, die ohne großen Treibstoffverbrauch angesteuert werden konnten. Im Moment könnte die Liberty Bell noch in Vandenberg landen. Doch wenn das erwartete Unwetter länger vorhielt kam der Edwards-Luftwaffenstützpunkt in Frage, wo die Columbia nach ihrem Jungfernflug gelandet war. Je nach Zeitpunkt würde auch ein Flughafen an der Ostküste in Frage kommen. Aber in Kalifornien zu landen wäre günstiger, vor allem wegen der Sicherheitsstufe der Mission.
Zwei Stunden später bekam Doris Fuller die Meldung, daß Vandenberg für eine Landung im Rahmen des vorgegebenen Zeitfensters ausfiele. Als Ersatzlandeplatz wurde Edwards bestimmt. Doris Fuller bestätigte und trug die neue Landeplanung in das Logbuch ein. Dann weckte sie Major Miles und unterrichtete ihn über die Veränderung.
"Gut, dann eben Edwards. Solange wir nicht auf einem Ihrer Flugzeugträger landen müssen kein Problem", sagte Miles und bemannte seine Station, um die Fähre zu drehen, um dann die Triebwerke entgegen der Flugrichtung feuern zu lassen.
Als das Bremsmanöver abgeschlossen war und die Fähre sich wieder mit der Nase in Flugrichtung ausgerichtet hatte, bereitete sich Doris Fuller auf den nach dem Start gefährlichsten Abschnitt des Fluges vor. Ein Atmosphäreneintritt barg immer große Gefahren in sich. Stimmte der Eintrittswinkel nicht, konnte das Raumfahrzeug wie von einem Trampolin abprallen oder zu schnell in dichtere Luftschichten eindringen und verglühen. Außerdem kam es darauf an, daß die Hitzekacheln vollständig dicht blieben. Brach auch nur eine ab, konnten die auf über 1000 ° erhitzten Luftmassen die Fähre schwer beschädigen, ja sie sogar zerstören. Deshalb hatte Fuller dieses Manöver wieder und wieder im Simulator durchgespielt, um jeden nötigen Handgriff im Schlaf ausführen zu können.
"Klar für Wiedereintritt! Commander Fuller, setzen Sie letzte Meldung vor Unterbrechung des Funkkontaktes ab!" befahl Miles. Die Erde kam bereits immer näher. gerade überflogen sie Hawaii. Bei der Geschwindigkeit, die das Shuttle noch besaß, würden sie in wenigen Minuten die nordamerikanische Westküste erreichen. Fuller dachte einen winzigen Moment daran, daß ein Linienflug von Los Angeles bis Honululu mehrere Stunden dauerte.
Jetzt begann es draußen zu flimmern. Die seit tagen glasklare Sicht verschwamm. Die Sterne lösten sich in flirrenden Funken auf. Leichte Vibrationen erfaßten die Raumfähre. Jetzt gab es kein zurück mehr. Fuller prüfte noch einmal, ob der Winkel stimmte. Ja, so konnten sie in die Atmosphäre eintreten, ohne in glühenden Einzelteilen auf der Erde aufzuschlagen.
Curd Dawson saß wie alle anderen angeschnallt in seinem Kontursitz. Er beobachtete durch die Sichtluken, wie es um die Fähre immer heller wurde. Jetzt flirrte es heftig um die Nase des Raumtransporters. Die Erschütterungen wurden immer stärker. Das Shuttle durchpflügte mit mehr als der zwanzigfachen Schallgeschwindigkeit die äußere Atmosphäre. Als es in dichtere Luftmassen eintauchte entstand um das Schiff eine Blase aus erst rot und dann orangerot glühendem Gas. Die Glut wurde immer heller. Vor allem an Nase und Flügelspitzen toste ein flammenloses Feuerwerk. Die derartig überhitzten Gasmassen blockierten alle Funkwellen. Ab jetzt waren sie drei Minuten lang ohne Verbindung mit dem Boden. Wenn ihnen hier und jetzt was passierte, würden sie dort unten erst was davon mitbekommen, wenn sie schon tot waren. Dawson verjagte diesen destruktiven Gedanken. Sie würden nicht sterben, nicht hier und nicht heute.
Das Wiedereintauchmanöver geriet immer mehr zum Höllenritt. Die vor dem Shuttle zusammengestauten Luftmassen rüttelten an der antriebslos hinabsteigenden Maschine. Dawson beobachtete die beiden Piloten. Miles war zu einem Androiden geworden, einem gefühllosen Roboter, der nur seine Handbewegungen ausführte. Fuller hingegen wirkte hochkonzentriert, darauf bedacht, bloß keinen Finger zu viel zu bewegen. Dann passierte es. Mit einem mal zuckte Fuller zusammen, als habe sie gerade ein Stromschlag getroffen. Dawson starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die Copilotin. Miles hatte es noch nicht mitbekommen. Dawson sah, wie Fullers Gesichtsfarbe verschwand. Ihre Augen flatterten. Dann hing sie bewußtlos in den Sicherheitsgurten. Dawson wollte den Kommandanten auf Fullers Anfall aufmerksam machen. Doch da krachte die Fähre gerade gegen eine Luftverwirbelung, die bei dieser Geschwindigkeit wie ein Anprall gegen eine Wand wirkte. Dawson wurde in seine Gurte geschleudert. Vor seinen Augen tanzten rote funken. Dann war es auch schon vorbei. Die Fähre durchstieß weniger aufgewühlte Gasmassen, immer noch in eine glühende Gaswolke eingehüllt, die jeden Funkverkehr blockierte. Dawson sah auf Doris Fuller. Diese bewegte sich wieder. Wie lange war sie bewußtlos geblieben? Es mochten wenige Sekunden bis eine Minute gewesen sein. Näheres würden die biomedizinischen Daten ergeben, die im Moment nur im Schiff selbst abgespeichert wurden. Jedenfalls bekam Fuller ihre Gesichtsfarbe wieder zurück. Sie blickte auf ihre Anzeigen und schien erst nicht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Dann machte sie die für diesen Moment wichtige Handbewegung. Die Fähre korrigierte ihre Sturzbahn und segelte weiter durch die immer dichter werdende Atmosphäre. Dawson sprach Fuller an und fragte, ob es ihr wieder gut ginge. Diese sah ihn an und lächelte überlegen. Dawson sah in ihre Augen. Er glaubte, einer optischen Täuschung durch die draußen tobenden Glutwolken aufgesessen zu sein. Doch irgendwie glänzte in Fullers Augen ein goldener Schimmer. Irritiert hockte er in seinem Kontursitz, während Fuller ihn nur kurz ansah. "Alles in bester Ordnung", hörte er sie mit kühler Stimme sagen. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Instrumenten, mit denen sie jetzt wohl wieder zurechtkam. Miles fragte sie, was vorgefallen sei, während die Fähre sich immer tiefer in die Erdatmosphäre hineinwühlte. Sie erwiderte darauf nur, daß sie für einen kurzen Augenblick keine Luft bekommen habe. Mehr sei aber nicht gewesen. "Ist wohl die Hitze und die plötzlichen Kraftwechsel", sagte sie und blickte Miles an. Dieser wollte schon was antworten, als er einen leicht weltentrückten Gesichtsausdruck bekam. Dann sagte er ohne jedes Gefühl: "Verstanden, Commander Fuller. Wenn Sie jetzt wieder klar sind bereithalten für Landeendanflug!"
"Aye aye, Sir", bestätigte Fuller ganz eine Marineoffizierin.
Dawson wußte nicht, wie er mit dem Vorfall umgehen sollte. Vor allem der für wenige Sekunden entstandene Goldglanz in den Augen der Copilotin irritierte ihn. Doch jetzt galt es, daß die Fähre gelandet wurde. Ihr aller Leben hing davon ab, daß jedes Besatzungsmitglied auf Punkt funktionierte. Und das taten Miles und Fuller. Sie warteten, bis der Kommunikationsanruf von der Bodenstation erfolgte. Erst knisterte und rauschte es im Funk. Dann erklang ein Geräuschsalat, als habe jemand hundert Silben zerhackt und durcheinandergerührt. Das lag sicher an der Verschlüsselungssoftware, die die unvollständigen Daten falsch interpretierte. Doch dann kam der glasklare Anruf "Bell für Basis, Komcheck!" Fuller betätigte die Sendetaste und bestätigte die Wiederherstellung der Funkverbindung.
Wenige Minuten Später hatte die Fähre durch eine große Schleife die meiste restliche Fahrt aufgezehrt und glitt nun auf die Landebahn zu. Um 09.20 Uhr Bordzeit trafen die Hinterräder des Fahrwerks auf die Piste. Sie rutschten erst einige Meter, bevor sie richtig ins rollen kamen. "Bodenberührung!" meldete Fuller der Zentrale. Eine halbe Minute darauf bestätigte sie, daß auch das Bugfahrwerk Bodenkontakt bekommen hatte. Nun griffen die mechanischen Bremsen und fingen die restliche Fahrt der Fähre auf. Die Liberty Bell stoppte nach drei Vierteln der Landepiste. Sofort rückten Lösch- und Absaugfahrzeuge an, um das Raumfahrzeug abzusichern. Die Mission war erfüllt. Dawson sah noch einmal die Kollegin Doris Fuller an, die die letzten nötigen Handbewegungen ausführte. Sie wirkte etwas unsicherer als noch vor dem Start, so als habe sie sich erst einmal daran erinnern müssen, wie sie diese Maschine bedienen mußte, fand Dawson. Doch irgendwas hielt ihn davon ab, dem Kommandanten darüber Meldung zu machen. Immerhin waren sie alle sicher gelandet. Doch sich vorzustellen, daß die Copilotin mitten in der kritischsten Phase des Wiedereintritts ausgefallen wäre, behagte Dawson nicht sonderlich. Das würde wohl noch ein Nachspiel geben, und er würde sich als Zeuge zur Verfügung halten müssen.
"Ich bedanke mich bei Ihnen allen, daß wir diese Mission erfolgreich durchgeführt haben", sprach Major Miles zu seiner Mannschaft, bevor ihnen die Erlaubnis erteilt wurde, von Bord zu gehen. Doris Fuller lächelte. Von ihrer Eisbergfassade war im Moment nichts mehr zu erkennen. Dawson wollte sie schon darauf ansprechen, ob ihr auch wirklich nichts geschehen sei, als sie ihn noch einmal ansah. Er fühlte, daß irgendwas von ihrem Blick auf ihn einwirkte. Jeder beunruhigende Gedanke verflog dabei. So vergaß Dawson seine Frage und auch seine Bedenken. Vor allem, als auch der Major und der andere Lieutenant Fuller mit einem aufmunternden Lächeln bedachten wußte Dawson, das nichts passiert war.
Jonathan Stuard starrte auf die alle dreißig Sekunden wechselnden Bilder auf dem Flüssigkristallbildschirm des Laptops, den seine Frau für die private Haushaltsbuchführung, zur Speicherung von privaten Briefen und für alle Fotos nutzte, die nur für sie und ihre Familie zu sehen sein sollten. Die Bilder zeigten einen überdimensionalen Hammer, der im Licht von Kerzen rosig glänzte und mit merkwürdigen Gravuren verziert war. In einem Fenster daneben las er den Text einer E-Mail, die sein Kollege Björnson ihm geschickt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, daß er diese E-Mail gelesen oder beantwortet hatte. Ja, überhaupt konnte er sich nicht daran erinnern, diesen Riesenhammer gesehen zu haben. Doch da die Bilder und Texte von einer CD stammten, die er selbst seiner Frau zwei Tage vor seiner Abreise nach Nordostland zugespielt hatte, mußte er zumindest davon ausgehen, daß er selbst diese Daten abgespeichert hatte. Aber er erinnerte sich nicht an eine Höhle auf Nordostland, sondern an eine geheime Station aus der verflossenen Sowjetunion, die unter einem Gletscher gelegen hatte und von außen wie eine steinzeitliche Kultstätte getarnt gewesen war. Dort waren er, Björnson und dessen Mitarbeiter Gunnarson von einer Gassprühvorrichtung betäubt worden und erst Tage später von Ärzten der norwegischen Armee aufgeweckt worden. Von einem Riesenhammer, den Björnson als Vorbild für den mythischen Hammer Mjölnir bezeichnet hatte, war in seinen Erinnerungen kein Bild und kein Wort enthalten. Aber wenn das da wirklich von ihm gespeicherte Bilder und Daten waren, die er gerade betrachtete, dann mußte er prüfen, welche Geschichte stimmte. Über den Hammer las er, daß dieser nicht erhitzt werden konnte und in einer Art antielektrischem Störfeld lag, das jedes elektrogerät im Umkreis von zwanzig Metern unbrauchbar machte, bis es aus dieser Störungszone herausgeschafft wurde. Das klang nach der Hinterlassenschaft einer technisch überlegenen Zivilisation, entweder einer außerirdischen Hinterlassenschaft oder dem Erzeugnis einer uralten Hochkultur, die spurlos verschwunden war und weit vor der offiziellen Geschichtsschreibung ein Metall herstellen und verarbeiten konnte, das selbst den gegenwärtigen Metallurgen völlig unerklärlich war. Doch wenn diese Geschichte stimmte, dann hieß das doch, daß jemand ihm eine falsche Erinnerung ins Gehirn eingepflanzt hatte. Er dachte an Hypnose, Gedankenkontrolle oder auch Gehirnwäsche, bei der Menschen von skrupellosen Leuten dazu gebracht wurden, gegen ihre frühere Weltanschauung zu handeln, Verrat zu begehen oder sich einfach nur an Sachen zu erinnern, die diesen Leuten harmlos genug erschienen. Hatte man sowas mit ihm und wohl auch Björnson und Gunnarson gemacht? Unvermittelt fühlte er, wie in seinem Kopf etwas aufbrach, etwas sich Bahn brach und dann doch wieder versackte. Einen Moment lang sah er sich in einer Grotte, die wie ein gewaltiges bezahntes Maul aussah. Dann meinte er, mit den Beinen fest am Boden verwachsen zu sein, um dann von drei fliegenden Menschen davongetragen zu werden. Doch das alles war so nebulös, so schwer zu fassen, daß es eigentlich auch die Erinnerung an einen Traum sein konnte. Dann überlagerte wieder die Vorstellung, in einer Geheimbasis der ehemaligen UdSSR von einem unbekannten Kampfgas betäubt worden zu sein. Vielleicht war das andere auch nur eine Folge dieser Betäubung. Aber an einen riesigen Hammer konnte er sich nicht mehr erinnern. Dann fiel ihm ein, daß er das klären mußte, und zwar so, daß keiner davon etwas mitbekam. Er schrieb seiner Frau auf einen Zettel auf, daß er die Angelegenheit untersuchen lassen wollte, und zwar von seinem Kollegen Rodrigo Perez, der nach seinem Ethnologiestudium als erster weißer Schamane in einem mexikanischen Bergdorf Ureinwohner und europäischstämmige Menschen in spirituellen und ethnomedizinischen Angelegenheiten beriet. Stuard glaubte zwar nicht an die magische Welt der Schamanen mit ihren Geistern und Riten. Doch er erinnerte sich gut daran, daß Perez ihm vor sieben Jahren einmal vorgeführt hatte, wie ein Mensch durch bewußtseinserweiternde Kräuter und Trance fördernden Gesang eine innere Zeitreise durch das eigene Leben machen, ja angeblich sogar in frühere Leben zurückreisen konnte. Jonathan Stuard hatte auf diese Weise seine eigene Geburt nacherlebt, sogar die zwei Tage davor in sein Bewußtsein aufsteigen lassen. Angeblich konnte ein Mensch auch den eigenen Körper verlassen oder dessen eingeschrenkte Fähigkeiten erheblich erweitern, länger hungern, mehr als zehn Minuten ohne Luft zu holen auskommen und sich ohne Verbrennungen zu erleiden mitten in ein loderndes Feuer hineinstellen, je nachdem, wie gut der Schamane das Zusammenspiel von Naturelementen, Körper und Geist ausbalancieren konnte. Wenn wirklich jemand von den Norwegern oder den ihn nach seiner Heimkehr verhörenden Leuten aus der Heimat ihm etwas nicht wirklich geschehenes ins Gehirn eingepflanzt hatte, dann mochte Perez diese Manipulation aufheben und ihn an die wirklich erlebten Ereignisse heranführen. Das und die Furcht, im Visier der Geheimdienste zu stehen, trieb ihn an, seiner Frau in Form einer schriftlichen Mitteilung zu raten, die CD in die Hülle einer selten gehörten Musik-CD zu stecken und alle Daten vom Laptop zu löschen. Er selbst rief bei seinem Studienfreund Kyle Sullivan an, der nach dem Studium in die freie Wirtschaft gegangen war und nun das kleine Import-Exportunternehmen seines Vaters leitete, das trotz der Wirren an den Börsen immer noch gute Gewinne einfuhr. Kyle war leidenschaftlicher Pilot und hatte sich seinen Lebenstraum erfüllt und einen Privatjet gekauft, den er selbst flog, um unabhängig von den üblichen Flugverbindungen heute in London und morgen in San Francisco zu sein.
Von einer öffentlichen Telefonzelle aus vereinbarte Stuard einen Termin bei seinem Freund. Eine Stunde später stand fest, daß die Familie Stuard heute, am 25. August 2000, um 15.00 Uhr Ortszeit, zur Hacienda Monte Burro in Mexiko abreisen würden. Er hatte es bei den mexikanischen Behörden hinbekommen, daß er auf der Hacienda einen privaten Start- und Landeplatz für seinen Privatjet anlegen und betreiben durfte, der sogar eine Registrierung in den internationalen Flughafenverzeichnissen erhalten hatte, so das Sullivan ganz legal zu seinem eigenen Grund und Boden fliegen durfte.
Um Moira nicht zu beunruhigen erzählte Jonathan Stuard ihr, daß er seinen ehemaligen Studienfreund gebeten hatte, ihnen eine kostengünstige Urlaubsreise ins Blaue zu spendieren. Moira war davon zunächst nicht so angetan. Doch die Aussicht, nach ihrer nicht ganz so glücklich geendeten USA-Reise noch ein paar Wochen mit ihren Eltern verbringen zu können, bevor ihr Universitätsstudium anfing, beschwichtigte sie sichtlich. Jonathan Stuard blickte auf die alte, sehr robuste Fliegeruhr, die er von seinem Großvater väterlicherseits geerbt hatte. Diese Uhr war mitgeflogen, als sein Großvater den vorbereitenden Luftangriff in der Normandie vor dem sechsten Juni 1944 geflogen hatte. Diese Uhr war auch immer mit dabei gewesen, als sein Großvater nach dem Krieg in Ehren entlassen den Aufbau der British Airways mitgestalten durfte. Obwohl sie schon mehr als sechzig Jahre auf den Zahnrädern hatte, wollte er sich nicht von ihr trennen. Das er sich damit einem unbekannten, unsichtbaren Widersacher auslieferte, fiel ihm nicht ein. Ebensowenig ahnte er, daß seine einzige Tochter Moira seit seiner Abreise nach Nordostland ohne ihr eigenes Wissen seine Familie überwachte und auf eine Weise, die ihm selbst unmöglich erschienen wäre, darüber informierte, wo sie gerade war und was sie mit wem besprach oder was sie erlebt hatte. Hätte er das alles gewußt, so hätte er auf die heimliche Reise nach Mexiko verzichtet.
Der Zwischenfall beim Wiedereintritt hatte die Ärzte alarmiert. Doch als sie Doris Fuller auf Herz und Nieren untersucht hatten waren sie zu der Überzeugung gelangt, daß sie lediglich einen kurzen Kreislaufabfall erlitten hatte. Der Vorgang hatte nur drei Sekunden gedauert. Eigentlich hätte das noch eingehender untersucht werden müssen. Doch die Ärzte der Basis atestierten der Marinepilotin eine exzellente Kondition. Auch die Tests ihrer Sinnesorgane und höheren Gehirnfunktionen verlief überaus zufriedenstellend. Deshalb empfand Curd Dawson auch keine Veranlassung, den Ärzten zu erzählen, daß Doris Fuller wie unter einem Stromschlag zusammengefahren war und danach für mehrere Sekunden bewußtlos gewesen war. Wenn die Überwachungssensoren an ihrem Körper das nicht so aufgezeichnet hatten, dann war es auch nicht passiert. So beruhigte sich Curd Dawson. Womöglich war er selbst so angespannt gewesen, daß er die Flöhe hatte husten hören.
Die Quarantänezeit verging mit Sport und Musik, Anrufen in die Heimat und Computerspielen. Als dann am zwanzigsten September die Besatzung der Mission "Hörrohr" die Erlaubnis erhielt, die Angehörigen und Freunde zu besuchen, wurden sie alle noch von General Winters verabschiedet. Doris Fuller lächelte den Missionschef an. Er schien förmlich unter ihrem Blick dahinzuschmelzen. Offenbar hatte der hochrangige Offizier lange schon kein lächelndes Frauengesicht mehr zu sehen bekommen, dachte Curd Dawson. Dann war die Reihe an ihn, seinen Urlaubsschein entgegenzunehmen. "Wie immer gilt, über Ihre Mission strengstes Stillschweigen zu bewahren", erinnerte der General ihn an seine Geheimhaltungspflicht. Dawson bestätigte das.
Die Luftwaffe ließ es sich nicht nehmen, ihre Raumfahrer mit einem kleinen Jet zum Flughafen Los Angeles überzusetzen. Da Doris Fuller in der kalifornischen Metropole ihren Freund wohnen hatte würde sie von hier aus mit einem Taxi fahren. Die Anderen würden auf Anschlußflüge in ihre Heimatregionen warten. Dawson wollte nach New Orleans. Miles würde den nächsten Flug nach Philadelphia nehmen, und Erickson wollte nach San Francisco, wo seine Schwester mit ihrer Familie lebte. So war hier und jetzt die letzte Gelegenheit, sich von den Kameraden zu verabschieden.
"War nett mit euch, Jungs", sagte Doris Fuller. Howard Miles blieb einen Moment das Gesicht stehen. Doch dann mußte er lächeln. Curd Dawson drückte der ranghöheren Kollegin die Hand. Zu salutieren war bei den ganzen Zivilisten um sie herum zu auffällig. "Ich bin mir sicher, du findest bei den Voodooleuten da unten eine nette Begleitung für die nächsten Tage", sagte sie Curd Dawson zugewandt. Dieser glaubte erst, sich verhört zu haben. Doch dann fiel ihm ein, daß es gar nicht so schlecht sei, sich nicht nur musikalisch unterhalten zu lassen. Wenn er genug Freiraum hatte konnte er sich doch dort unten im Mississippi-Delta auch was für amüsante Stunden suchen. Er nickte Doris Fuller zu. IN dem Moment hatte er den Zwischenfall beim Wiedereintritt ganz und gar vergessen. Er dachte auch keine Sekunde daran, wie viel Glück er hatte, daß Doris Fuller bereits einen festen Freund hatte und ihn deshalb nicht für sich gewinnen wollte.
Moira hatte nicht übel Lust, ihren Vater zu verwünschen, daß der sie auf diese Reise mitgenommen hatte. Zum einen war da diese klammheimliche Ab- und Anreise gewesen. Daß sie in Mexiko waren wußte Moira nur wegen des hier gesprochenen Spanischakzents. Ein nicht so vertrauenserweckender Mann mit schwarzer Baseballmütze hatte die vier Reisepässe abgestempelt, ohne die Einreisenden genauer zu befragen, was sie hier wollten und wie lange sie in dieser Gegend blieben. Dann waren sie von dem kleinen Flughafen mit einem altersschwachen Buggy zu Kyle Sullivans Hacienda gefahren. Dort hatte Moira sich sehr beherrschen müssen, ihren Unmut über das Aussehen der Leute nicht laut hinauszuschreien. Die Arbeiter auf der Hacienda wirkten grobschlächtig. Die Mägde legten keinen Wert auf Haar- und Hautpflege. Doch am schlimmsten hatte Moira die beiden obersten Bediensteten empfunden. Die sehr füllige, umarmungswütige Josita mit ihrer Kreissägenstimme, die sie besonders schrill hatte erklingen lassen, wenn sie "Hermaniiiiito!" gerufen hatte. Der gerufene, also ihr kleiner Bruder, war ein Mann wie ein Klotz, anderthalb Meter hoch und ebenso breit mit muskelüberladenen, mit schwarzen Haaren überwucherten Armen und Beinen, Struwelhaar bis in den Nacken und einen ebenso schwarzen und ungeordneten Vollbart.
Zwei Tage und Nächte hatten die Stuards auf der Hacienda zugebracht. Josita war die Chefin im Haus. Selbst Kyle Sullivan hatte vor ihr einen erkennbaren Respekt. Ihr Bruder Pico dirigierte die Männer draußen auf den Feldern. Das Essen war gut, wenngleich Moira besser nicht fragte, was da alles drin war. Josita hatte sich sichtlich gefreut, mal wieder Gäste bewirten zu dürfen. Nachdem sie herausgefunden hatte, daß Jonathan und Moira gut genug Spanisch konnten, hatte sie ihnen in einem unerschöpflichen Redefluß die Geschichte der Hacienda erzählt und auch, daß sie und ihr Bruder Pico vor zehn Jahren noch in der Hauptstadt gelebt hatten.
Moira hatte zumindest herausgefunden, auf welchen GPS-Koordinaten die Hacienda lag. Ihr neues Mobiltelefon mit eingebautem GPS-Empfänger und gespeicherter Weltkarte funktionierte also auch hier. Sie verriet jedoch keinem, daß sie mal eben die Koordinaten ermittelt hatte. Selbst wenn Sullivans Hacienda weithin bekannt war, mußte er nicht wissen, daß sie ihren genauen Standort auf der Erdoberfläche bestimmen konnte. Nicht mal ihr Vater wußte davon, daß ihr kleines Mobiltelefon sowas konnte. Allerdings, das erkannte sie bald, würde die Telefonfunktion ihres Vielzweckgerätes unterwegs ausfallen, weil es in den Bergen kein brauchbares Mobilfunknetz geben würde.
Eine Woche Autofahrt sollte es dauern, um nach Pueblo Alto zu kommen. Was ihr Vater da wollte verriet er seiner Tochter nicht. Trotzdem fühlte sich Moira irgendwie erleichtert, das eigentliche Ziel dieser "Urlaubsreise" zu kennen. Auch wenn die Dienstboten mit der Emsigkeit von Schildkröten geschlagen waren hielten sie doch alles soweit sauber. Vor allem Moiras Zimmer war sehr gründlich gesäubert worden. Josita schien an der jungen Engländerin einen Narren gefressen zu haben. Vielleicht wollte sie sie auch nur mit ihrem "kleinen Bruder" verkuppeln. Doch Moira hatte unmißverständlich angezeigt, daß sie nicht auf Männerjagd war und sich auch nicht zur Jagd anbot. Das hatte Josita in ihrer unerschöpflichen Zuneigung zu Moira nur bestärkt. Einmal hatte Pico zwei für Moiras Ohren unerträgliche Schimpfwörter in einem Satz benutzt und sie angegrinst, weil sie errötet war. Da hatte Josita ihren Bruder mit ihrer gefürchteten Kreissägenstimme regelrecht in Grund und Boden geschimpft. Moira hatte trotz ihrer gut ausgebildeten Spanischkenntnisse nicht alles verstanden, nur die Wörter "Señorita" und "Inocente" hatte sie herausgehört. Pico hatte den Wortsturm erst einmal über sich ergehen lassen müssen. Dann hatte seine große, runde Schwester ihre breite, schwielige Hand auf Moiras rechte Schulter gelegt und ihr selbst gesagt, daß Moira keine Angst mehr vor ihrem Bruder haben müsse. Der bekäme sofort den größten Ärger der Erde, wenn er sich noch mal im Ton oder mit den Händen vergreifen würde. Und dann hatte sie noch was in ihrem melodiösen Akzent gesagt, was Moira irgendwie verstörte und zugleich alarmierte: "Du bist gesegnet, mein Schatz. Jemand starkes ist in dir, zu schade für meinen verrohten kleinen Bruder." Moira dachte Hastig darüber nach, was Josita damit meinte. Ihr fiel ein, daß die füllige Haushälterin wohl dachte, Moira sei gerade schwanger. Deshalb antwortete sie
"Ich bekomme kein Kind. Das hat der allmächtige Schöpfer bisher gnädigerweise von mir ferngehalten." Doch irgendwas in ihr selbst stellte sich gegen die Idee, Josita könne gemeint haben, Moira werde demnächst Mutter. Josita grinste über ihr kreisrundes, braunes Gesicht und erwiderte:
"Nein, du trägst noch kein Kind. Das hätte ich dir auch so gesagt. Ich meine, daß in dir eine starke Seele schlummert, die dir helfen wird, falls du in Gefahr gerätst." Das setzte Moiras sonst so unerschütterlichen Verstand erst recht zu. Doch ihr fiel keine passende Antwort außer "Danke für Ihren Zuspruch" ein. Doch innerlich fühlte sie sich doch ertappt, als habe jemand ihr größtes Geheimnis überhaupt ausgeplaudert. Warum sie so fühlte erkannte Moira nicht. Denn jedesmal, wenn sie versuchte, darüber nachzudenken, fielen ihr andere Sachen ein, die wichtiger waren. So ließ sie es irgendwann bleiben, über Jositas Worte weiter nachzugrübeln.
Fünf Tage war es nun her, daß Josita ihre Gäste unter Tränen verabschiedet hatte und ihr Bruder Pico die Stuards nun in einem klimatisierten Range Rover in die Berge hinauffuhr. Sie hatten an diesem Tag die Passhöhe erreicht. Ab morgen mußten sie nur noch hinunterfahren. Moira hatte nach den ersten zwei Stunden auf den gerade mal für diesen Wagen ausreichend breiten Straßen beschlossen, nicht mehr hinzusehen, ob der Abgrund immer noch rechts von ihnen auf einen Fahrfehler Picos lauerte oder der Range Rover mit einem der aus dem grauen, zerklüfteten Vulkanfelshang herausstakenden Felsnasen zusammenstoßen oder über einen der herumliegenden Geröllbrocken holpern würde. Gegen die hier allgegenwärtigen Schlaglöcher hielten die Stoßdämpfer durch. Nachts hatten sie bisher immer in einer Schutzhütte geschlafen, in der sich sonst Ameisen, Schaben, Spinnen und Fliegen wohlfühlten. Moira hatte gleich in der ersten Nacht ihr Haar in ein großes Kopftuch geschlagen, auch um sich nicht irgendwelche Läuse oder andere Parasiten einzufangen. Essen gab es aus der Dose, was zwar nicht Moiras Vorstellung von gutem Essen entsprach, aber in dieser Lage die gesündeste Art sein mochte. Aus den mitgeführten Riesenkanistern gab es Wasser. Das, was vor der Hütte Wasser hieß empfahl sich nicht zum trinken.
"Achtung, nicht zu weit links", stieß Jonathan auf Spanisch aus. Der Range Rover rumpelte gerade auf einen mehr als einen Meter über die Straße ragenden Felsvorsprung zu. Pico mußte jedoch etwas nach links, weil rechts ein Stück Straßenrand abgebrochen war und sie womöglich von der Bahn gerutscht wären. Leise knirschend schabte der Felsen an der linken Flanke des Range Rovers entlang. Dann waren sie vorbei.
"Er hätte für hier oben einen Mini Cooper besorgen sollen", beschwerte sich Jonathan Stuard auf Englisch.
"Sind dran vorbeigekommen, Señor", lachte Pico und gab wieder mehr gas, weil gerade keine Kurve und kein Felsvorsprung drohte.
Als sie abends mal wieder was aus einer sich selbst erhitzenden Dose gegessen hatten - diesmal Spaghetti Bolognese - versuchte Moira ihren Vater zur Rede zu stellen. "Ich empfinde es jetzt doch langsam als unzumutbar, eine angebliche Urlaubsreise mitzuerleben, die mir persönlich bis jetzt weder Erholung noch Vergnügen zu bereiten vermochte. Wozu bemühen wir uns mit einem Wagen, der für dieses Gelände viel zu breit und zu hoch ist, in einen Ort zu gelangen, der weder kulturell, noch historisch noch touristisch irgendeine besondere Bedeutung besitzt?"
"Moira, wir sind nicht wirklich in Urlaub", sagte Jonathan Stuard verbittert. "Ich habe allen Anlaß zu glauben, daß jemand uns wegen meiner letzten Reise nachstellen könnte, um mehr von mir darüber zu erfahren oder weil er oder sie hofft oder hoffen, daß ich doch mehr über das Erlebnis zu berichten weiß."
"Geheimagenten oder was", knurrte Moira. "Dann wage ich doch, die Frage an dich zu richten, warum diese dubiosen Elemente dich dann überhaupt von Nordostland haben abreisen lassen, wenn sie befürchten, daß du doch mehr dort mitbekommen hast, als dir zu erfahren gestattet war?"
"Weil etwas eingetreten ist, was mich selbst an dem zweifeln läßt, was ich erlebt habe. Aber dazu erst dann, wenn wir am Zielort sind", sagte Jonathan Stuard.
"Warum ausgerechnet dort?" hakte Moira nach.
"Weil ich hoffe, dort ein paar Antworten zu erfahren. Mehr zu sagen ist im Moment nicht ratsam", erwiderte Moiras Vater. So blieb Moira nur, ihre Mutter zu fragen, inwieweit sie über alles unterrichtet sei. Sie räumte ein, genug zu wissen, um dieser Reise zuzustimmen. "Falls es euer Vorhaben war, mir durch Unkenntnis alle Besorgnis zu ersparen, so muß ich euch die betrübliche Mitteilung machen, daß dieses Vorhaben vollständig fehlgeschlagen ist", schnaubte Moira. Pico, der gerade den Treibstoffstand des Wagens prüfte, hörte die Unterhaltung der Familie. Moira wußte nicht, ob der Klotz mit dem Räuberbart nicht doch mehr Englisch konnte, als er zugeben wollte. Sie machte ja aus ihren Spanischkenntnissen auch ein halbes Geheimnis. Am Ende sollte Pico herausbekommen, warum die Stuards bei seinem Herren um diesen höchstexklusiven Flug gebeten hatten. Also beließ es Moira bei ihrem unzureichenden Wissensstand.
Doris Fuller fühlte sich seit dem Flug mit der Liberty Bell irgendwie lockerer, freier. Irgendwie hatte sie selbst vergessen, warum sie beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre für einige Sekunden in Ohnmacht gefallen war. Ihr kam es jetzt nur darauf an, so schnell wie möglich zu ihrem Freund zu kommen. Allein beim Gedanken daran, den gebildeten wie sportlich hochbegabten Armeesoldaten ohne Uniform zu sehen und zu umarmen schlug ihr Herz etwas schneller. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte mal so angeregt gewesen war. Sicher, sie hatte schon einige Male mit Clark geschlafen und das auch als sehr entspannend und beglückend empfunden. Aber so heißhungrig wie jetzt hatte sie sich nie gefühlt. Mochte das an der langen Enthaltsamkeit liegen, die ihr während des Trainings aufgezwungen worden war? Sie hatte sich doch gut darüber hinweghelfen können, daß sie von ihren männlichen Kollegen als reine Mitarbeiterin, ja vor Dawson und Erickson als ranghöhere Offizierin anzusehen war. Doch nach der Landung hatte sie gefühlt, wie besorgt Dawson um sie gewesen war, ja auch, daß er sich durchaus vorgestellt hatte, mit ihr intim zu werden. Doch die Vorschriften verboten das kategorisch. Sie empfand diese Paragraphen nun als lästig und hinderlich. Wie sollte es denn ein entspanntes Arbeitsverhältnis geben, wenn Männer und Frauen sich geistig kastrieren mußten, um miteinander klarzukommen? Nur der Gedanke an Clark hatte sie davon abgehalten, einen der jungen Ärzte um den Finger zu wickeln. Aus irgendeinem Grund hatte sie dem Doktor ansehen können, wonach ihm der Sinn stand. Doch es hatte gereicht, ihm zu zeigen, daß jede Besorgnis unbegründet war. Ja, einen der ganz jungen Ärzte, der wohl gerade von der medizinischen Fakultät der Militärakademie gekommen war, hatte auf Grund eines gut platzierten Augenaufschlags von ihr alle Daten, die eine kurzfristige Bewußtlosigkeit dokumentierten verändert. Das war ihr ganz recht so. Denn so war sie nicht länger zum Studienobjekt für diese kurpfuscher geworden. Ihr stand der Sinn nach Zweisamkeit. Doch die konnte sie nur ausleben, wenn sie für gesund und unbedenklich erklärt wurde. Sie dachte daran, daß sie früher nie so empfunden hatte. Sie war doch keine rollige Katze, die auf Biegen und Brechen einen Kater bezirzen mußte. Doch jedesmal, wenn sie ihre inneren Begierden hinterfragen wollte, drängte sich ein Gedanke in ihr Bewußtsein, daß sie alles Recht hatte, sich auch mal ihrem Körper zu widmen und nicht nur ihrer Karriere. Außerdem fühlte sie, daß eine Liebesnacht mit Clark sie wesentlich freier und stärker machen würde. Hoffentlich war der Bursche nicht gerade zu sehr auf seine eigene Karriere fixiert und hatte Zeit für sie. Sie würde sich viel Zeit mit ihm nehmen und alle aufgestauten Gelüste ausleben.
Doris ertappte sich dabei, wie sie den dunkelhäutigen Taxifahrer anblickte wie ein Metzger ein schlachtreifes Schwein. Der Fahrer fühlte die ihn abtastenden Blicke im Kreuz. Doch weil sie gerade mitten hinein in den von Autos überquellenden Stadtkern von Los Angeles fuhren konnte er sich nicht damit befassen. Er hatte das Fahrziel. Wenn die Lady im Fond meinte, ihn wie eine ausgehungerte Katze anglotzen zu müssen, dann mußte er nur aufpassen, daß er sie gesittet am Ziel absetzte. Sich mit Kundinnen einzulassen brachte nur Ärger mit dem Chef. Er bekam nicht mit, daß Doris Fuller sich in Gedanken ausmalte, wie der Fahrer unterhalb der Gürtellinie gebaut war und ob die Gerüchte und Vorurteile nicht doch stimmten, die von böswilligen bis neidischen Weißen so in Umlauf gesetzt wurden. Andererseits wollte sie nicht auffallen und nicht hier und jetzt die immer größere Begierde ausleben, die sie jeden weiteren Häuserblock näher zu Clarks Appartmenthaus piesackte. So sagte sie, daß sie sich freute, daß sie endlich ein paar Tage mit ihrem Freund zubringen konnte. Der Taxifahrer verstand, wie sie das meinte. Er beruhigte sich. Das half auch Doris Fuller, sich zusammenzunehmen. Sie fragte sich erneut, warum sie auf einmal derartig erregt bis regelrecht geil war. Am Ende überkam es sie noch, ohne auch nur einen Quadratzentimeter von Clarks Haut berührt zu haben. Wieder wischte ein Gedanke das Unbehagen weg: "Du darfst das, du willst das. Er will dich auch. Also nimm ihn dir!" Es war ihr einen Moment so, als sei es nicht sie, die ihr diese Gedanken eingab. Doch das verwarf sie schnell wieder.
Endlich erreichte das Taxi das Appartmenthochhaus, in dem Clark Styles wohnte. Doris gab dem Fahrer die aufgelaufene Summe und ein üppiges Trinkgeld. Der Fahrer wünschte ihr mit hintergründigem Lächeln "Erholen Sie sich gut, Ma'am!" Dann fuhr er davon. Er wußte nicht, daß er um Haaresbreite einem großen Verhängnis entronnen war.
Er hatte sie alle verladen, seine Vorgesetzten, diesen Besserwisser und Möchtegernvolkshelden Abrahams und dessen dubiose Schwiegerfamilie und auch die vom Geheimdienst. Keiner wußte, daß er, Elmo Fairbanks, gerade in Mexiko war. Es war doch eine gute Idee gewesen, die antiquierte Fliegeruhr von diesem Jonathan Stuard mit einem Localisatus-Inanimatus-Zauber zu belegen. Hierfür hatte er zwar ein Gramm Occamysilber verwenden müssen. Doch die um ein Ei geprellte Brutmutter würde Jahre brauchen, um herauszufinden, wo er wohnte. Und wenn sie auftauchte durfte er sie einfach mit dem Todesfluch erlegen, ganz in Notwehr.
Da vor ihm lag die hütte. Da vor ihm stand der Motorwagen. Ab dem nächsten Tag würden die Stuards nur noch bergab fahren müssen. Sollte er die Bremsen verhexen, daß sie im entscheidenden Moment streikten? Oder sollte er Jonathan Stuard per Imperius-Fluch dazu zwingen, den Wagen in den Abgrund zu lenken? Ihm war der Mexikaner suspekt. Wäre der nicht dabei, hätte er es bei einem neuerlichen Gedächtniszauber belassen, nachdem er die Aufzeichnung über den Riesenhammer sichergestellt hatte. Die Vergissmichs waren schon echte Volltrolle, daß sie Stuard nicht darauf geprüft hatten, ob er noch Aufzeichnungen besaß. Egal! Dann mußte er, der Feuerwehrmann, eben diesen schwelenden Brandherd endgültig löschen. Er griff in seinen Rucksack und holte etwas heraus, das wie eine Triangel aussah, nur daß es von hauchdünnen Speichen durchzogen wurde und im Schnittpunkt aller Grundlinien eine saphirfarbene Kugel trug, die eine senkrechte Öffnung aufwies. Damit konnte er nicht nur Muggel heimlich überwachen, wo immer sie hinfuhren oder -flogen, sondern auch deren Elektrofunk stören wie mit einem Unfunkstein, der die zu blockierenden ständig begleitete. Wenn sie morgen an der Bergabstrecke verunfallten, durften sie keine Gelegenheit bekommen, um Hilfe zu rufen. Vorausgesetzt, sie dachten noch daran.
Clark Styles hatte sich in den drei Monaten, die sie in Vandenberg gewesen war nicht verändert. Er war groß, dunkelblond und durchtrainiert. Er trug zur Begrüßung seiner Freundin Doris eine Kombination aus knielanger Jeans und einem hauchdünnen T-Shirt. Als er sie mit seinen wasserblauen Augen anblickte fühlte sie, wie ihre Begierde anstieg. Es war, als lodere in ihrem Körper ein Feuer, das jederzeit aus ihr hinausbrechen mochte, wenn sie es nicht bald in ordentliche Bahnen lenken konnte. Sie freute sich, daß er Zeit für sie hatte. "Zwei Wochen, Liebling", sagte er verheißungsvoll. Sie fühlte, daß auch er darauf ausging, demnächst mit ihr zu schlafen. Sie mußte sich arg anstrengen, ihn nicht hier an der Wohnungstür niederzuwerfen und sich über ihn herzumachen.
Clark Styles freute sich, als seine Freundin ihm erzählte, daß alles geklappt hatte, was von ihr verlangt worden sei. Daß sie in einer geheimen Kommandosache unterwegs gewesen war wußte er. Doch wo genau sie war und was sie getan hatte wußte er nicht. Er ging von einem Einsatz auf dem Balkan oder zur Überwachung der immer noch geltenden Flugverbotszone über dem Irak aus. Daß sie eine Woche im Weltraum zugebracht hatte wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Doch so oder so sah er sie gerade nicht als eine geheimnisvolle Militärangehörige, sondern als eine Frau, die er lange nicht mehr gesehen hatte, als die Frau, die er seit Wochen sehnsüchtig begehrte. Er sah ihr in die Augen und erkannte, daß sie ihn ebenso begehrte. Und da war noch was. Irgendwie schimmerte es in ihren Augen wie reines Gold. Das war sicher ein Streulichteffekt, ein durch die Fenster hereinsickernder Sonnenstrahl. Doch als sie sich mit ihm in einer immer leidenschaftlicheren Umarmung vom Fenster wegdrehte, blieb jener goldene Schimmer in ihren Augen erhalten. Er fühlte, wie der Rest seiner militärisch aufgepfropften Selbstdisziplin im Blick dieser goldfarbenen Augen zerschmolz. Er fühlte, wie sie ihn mit ihrem Blick immer mehr entkleidete. Als er sie küßte fühlte er, wie von ihr ein wildes Feuer auf ihn übersprang. Er glaubte einen Moment, vor Fieber zu glühen. Sein Herz pochte wild und trieb ihm das Blut ins Gesicht und auch in seinen Unterleib. Er spürte die steigende Erregung. Er empfand es als unsinnig, weitere Worte zu verlieren. Das hier war nach langer Zeit die erste Gemeinsame Begegnung. Warum noch mehr Zeit verschenken?
Sie fühlte seinen disziplinierten Verstand unter dem Blick ihrer Augen zergehen. In ihr regte sich etwas, daß wie ein sprungbereites Raubtier im Angesicht der Beute lauerte. Sie fühlte, wie sie Clark regelrecht mit ihrem Blick auffraß. Er gab sich ihrem leidenschaftlichen Blick hin. Sie übernahm die Führung. Er war ihr auf einmal völlig verfallen, ganz und gar willenlos. Sie bugsierte ihn in sein Schlafzimmer. Als Armeeangehöriger war er auf Ordnung getrimmt worden. Doch ihr wäre es auch egal gewesen, wenn sie ein heilloses Chaos vorgefunden hätte. Jetzt war sie nicht mehr aufzuhalten. Sie schaffte es gerade noch so, ihre Kleidung ohne sie zu zerreißen vom Körper zu werfen. Clarks kurze Sommerkleidung hatte da weniger Glück. Das Hemd zerriß unter ihren fest zupackenden Fingern. Doch das machte Clark nichts aus. Im Gegenteil. Er war erleichtert, aus den Sachen herauszukommen. Dann fiel auch die letzte Hülle, und das in Doris Fuller lauernde Raubtier zerriß die letzten Fesseln der Hemmung und des Anstandes. Keine halbe Minute später hatte sie Clark niedergeworfen und wälzte sich mit ihm auf der breiten, frisch bezogenen Matratze. Endlich war die allernächste Nähe erreicht. Endlich gehörte er ihr. Sie fühlte, wie die ganze mühsam aufgestaute Begierde von Jahren aus ihr herausbrach wie eine Lavafontäne aus einem lange ruhenden Vulkan. Sie hielt ihn sicher, umschlang ihn mit Armen und Beinen. Über Mund und Unterleib fühlte sie, wie seine Kraft auf sie überfloß. Es war ein herrliches, prickelndes Pulsieren, heiß und kräftigend, das in sie einströmte. Etwas in ihr jubelte und trieb sie an, ihn nicht mehr freizugeben, bis sie alles von ihm hatte, wirklich alles.
Minuten wurden zur Stunde. Clarks Kondition flaute jetzt erst langsam ab, weil seine heimgekehrte Freundin ihn mit ihrem Blick anhielt, sich nicht zurückzunehmen, während sie aus jeder seiner Bewegungen neue Kraft schöpfte. Dabei merkte sie jedoch, daß das was in ihr fremd war immer deutlicher wurde. Sie fühlte einen Moment der Angst. Doch dann überwog der Gedanke, Clark Styles hier und jetzt bis auf den letzten Lebensfunken auszusaugen, mit Mund und Unterleib. Sie hielt sich ran, bis er immer schwächer und kälter wurde. Ihr Blick konnte ihn auch nicht mehr zu weiteren Höchstleistungen anregen. Er war schlicht weg ausgebrannt. Sie fühlte noch, wie der Rest seiner Lebenskraft mit seinem allerletzten Erguß in sie überfloß, bevor er mit einem letzten Röcheln zu atmen aufhörte. Sie fühlte, wie sein Herz aussetzte. Dann wurde er schlaff und kühl. Sie entwand sich ihm wie aus einer klammen Wolldecke, die keine Wärme mehr geben würde. Sie fühlte sich so frei und kräftig, daß sie meinte, sie wäre gerade um zwanzig Jahre jünger geworden. Sie schrie ihre Glückseligkeit hinaus in die Wohnung. Ihr war es egal, ob jemand sie hörte. Hauptsache, sie hatte bekommen, wonach sie verlangt hatte. Doch dann dachte sie daran, ob es wirklich sie, Doris Fuller war, die diese immense Leidenschaft aufgeboten hatte und ob es wirklich sie war, die Clarks ganze Lebenskraft in sich aufsaugen wollte. Doch sie hatte es getan, mit ihrem Körper. Sie fühlte noch, daß sie über eine Stunde lang in ununterbrochener körperlicher Liebe geschwelgt hatte. Doch Clark lag nun auf dem Bett und rührte sich nicht mehr. Sie wußte, daß sie ihn restlos ausgezehrt hatte. Sie hatte ihm seine gesamte Lebenskraft entrissen, wie eine Spinne, die die Fliege aussaugt. Von ihm war jetzt nur noch eine leere Hülle übrig, eine Hülle, die sie entsorgen mußte, wollte sie nicht deshalb in Schwierigkeiten kommen. Einen Moment dachte sie daran, die leere Hülle und das Bett zu verbrennen. Doch dazu müßte sie einen großen Teil der gerade erst erbeuteten Kraft einsetzen. Nein, besser war es, wenn sie Clark Styles in einen Schlafanzug steckte und sorgsam zudeckte. Sie lauschte. Irgendwie empfand sie es so, als amüsierten sich die Nachbarn, weil in der Wohnung nebenan jemand gerade sehr wilden Sex gehabt hatte. Nun, so konnte sie zwei Stunden verstreichenlassen, ohne irgendwas unternehmen zu müssen. Dann würde sie über die Feuerleiter hinter der Küche wieder hinunterklettern, wenn es ganz dunkel war. Sie empfand überhaupt kein schlechtes Gewissen. Das, was sie mit Clark getan hatte, war nötig gewesen. Sie mußte überleben, und nur so konnte sie es. Sie verwünschte ihren kurzlebigen Körper, daß sie damit gerade wenige Jahre auf der Höhe ihrer Kraft leben konnte. Wenn sie so, wie sie jetzt war, neue Kraft aufnehmen konnte, würde sie länger leben als jeder gewöhnliche Mensch. Aber dafür mußte sie eben Leben erbeuten. Clark hatte ihr sein Leben überlassen, damit sie weiterlebte. So würden das auch andere tun. Aber warum dachte sie das gerade? Was ging da in ihr vor? Auf diese Frage kam ihr der Gedanke, daß sie durch den Flug in der Atmosphäre verändert worden war. Die kurze Ohnmacht, das Gefühl davor, von einer unsichtbaren Gewalt getroffen zu werden, all das hatte ihren Körper und ihren Geist verändert. Doch wer oder was war sie jetzt? Auf die Frage durchflutete sie ein Gedanke: "Du bist mein Schlüssel zu einem neuen Leben." Was damit gemeint war konnte Doris Fuller nicht erkennen. Besser, es entzog sich ihr. Sie wußte nur, daß sie nicht mehr mit Clark zusammenleben würde und daß sie sehr bald sehr weit verreisen mußte, um nicht von übereifrigen Polizisten verhaftet und weggesperrt zu werden. Auch wenn der Gedanke daran, daß keiner sie aufhalten konnte, wenn sie das nicht wollte, sie regelrecht aufputschte, legte sie keinen Wert darauf, es gezielt herauszufordern.
Die von ihr irgendwie verspürten Geistesregungen in den Nachbarwohnungen kehrten zu Alltäglichkeiten zurück. Sie dachte einmal daran, daß dort noch andere junge, starke Männer wohnten, ja sie auch wohl kein Problem haben würde, Frauen derartig auszuzehren, wie sie es mit Clark geschafft hatte. Doch wenn sie hierblieb würde man ihr zu schnell auf die Spur kommen. Also prüfte sie, was sie noch aus der Wohnung mitnehmen konnte. Ihr Mobiltelefon zertrat sie und warf die Einzelteile in den Müllschlucker. Schon praktisch, so ein Loch hinter einer Klappe, durch die aller Unrat entsorgt werden konnte. Doch Clark konnte sie auf diese Weise nicht loswerden. Sie dachte an eine Geschichte, die ihr ein Chemiker erzählt hatte, daß jemand eine Leiche mit Hilfe von Säure aufgelöst und in die Toilette hinuntergespült hatte. Doch hier gab es keine Säure. Also ließ sie Clark so liegen, wie sie ihn nach der ultimativen Liebesorgie hzurechtgebettet hatte. So, wie er da lag, mochten die Leute erst denken, er müsse sich ausschlafen. Allerdings kamen schon die ersten Fliegen durch das halb geöffnete Fenster und umsurrten den Toten. Doch als Doris den Leichnam genau ansah, schwirrten die ungebetenen Gäste in wilder Panik aus dem Fenster hinaus. Doris zog sich dicke Handschuhe aus dem Bestand ihres zu tode beschlafenen Freundes an und durchsuchte alle Zimmer. Sie fand eine unter dem Schlafzimmerschrank verbaute Metallkiste mit fünftausend Dollar Bargeld in kleinen Scheinen, sowie eine Armeepistole mit fünfzig Schuß Munition und ein sauber zerlegtes M16-Sturmgewehr mit hundert Schuß Stahlmantelmunition. Als ausgebildete Pilotin konnte sie zwar mit einer Bordkanone besser umgehen als mit Handfeuerwaffen. Doch zu ihrer Grundausbildung hatte auch die Handhabung von Pistolen und Gewehren gehört. Deshalb nahm sie die Waffen und die Munition in einem großen Koffer an sich. Eine Stunde vor Mitternacht turnte sie grazil zum Schlafzimmerfenster hinaus und kletterte die blitzblank gescheuerte Feuerleiter hinunter. Sie horchte, ob jemand ihr zusah. Doch niemand beobachtete sie. So verschwand sie über die wenig befahrene Parallelstraße, die hinter dem Appartmenthochhaus verlief.
Moira hatte in der Nacht davon geträumt, sich mit zwei rothaarigen Frauen über sie unterhalten zu haben. Dabei wurde auch was erwähnt, daß ein Mann namens Tim Abrahams im nächsten März zum zweiten Mal Vater würde und daß eine gewisse Melissa Whitesand erfolgreich um die Aufnahme in die Schwesternschaft ersucht hatte. Warum Moira andauernd Edwina genannt wurde blieb ihr erst schleierhaft. Doch als sie gefragt wurde, ob sie die Überwachung von Moira Stuard bis zur Rückkehr aus Mexiko weiter aufrechterhalten konnte hatte sie doch glatt gesagt: "Mir wäre es lieb, wir würden der spontanen Reisegesellschaft die Aufzeichnungen abnehmen und ich könnte die Bilokationsbindung zu Moira wieder auflösen. Je länger ich mit ihr verbunden bin desto schwerer wird es, meinen Geistesanteil von ihr zu trennen, ohne uns beide zu schädigen. Am Ende passiert mir dasselbe wie meiner Vorfahrin Eudora Hillcrest."
"Dann könnte Brigid euch zwei betreuen", sagte die ältere der Rothaarigen, die Ceridwen Barley hieß. Moira hätte gerne noch was dazu gesagt. Doch ein lauter Schnarcher von Pico riß sie aus dem Schlaf. Merkwürdig, was sie in letzter Zeit so daherträumte, dachte sie. Sie schlief wieder ein und fand sich unvermittelt mit dieser älteren Hexe Ceridwen und einem Mann zusammen, den sie als Tim Abrahams erkannte. "Er hat uns glatt ausgetrickst. Dunston hat ihn gespielt. Shacklebolt hat ihn sofort wegen unrechtmäßiger Körperaneignung in Tateinheit mit Vertuschung unerlaubten Fernbleibens in Tatmehrheit mit Beihilfe zur Entführung oder zum Mord eingebuchtet", sagte Tim.
"Dann ist Fairbanks hinter den Stuards her?" wollte Moira wissen, die schon wieder als Edwina angesprochen wurde.
"Ziemlich sicher. Aber wenn, dann hat er einen entscheidenden Fehler gemacht. Er hat seine Lieblingserfindung, das fliegende Auge, mitgenommen. Das kann ich mittlerweile anpeilen und mich aufschalten, um mal einen Begriff aus der Muggeltechnik zu bemühen. Wenn er wirklich in Mexiko ist, dann kriegen wir ihn über sein Lieblingsspielzeug."
"Das fliegende Auge?" fragte Moira alias Edwina. Sie erfuhr dann, daß es ein ohne Flügel flugfähiges Überwachungsgerät war, daß auf die Bildbeschreibung von bis zu zehn Zielpersonen reagierte und bei Nacht und Nebel beobachten konnte, was diese Menschen taten. Durch einen Ich-seh-nicht-Recht-Dunst, der irgendwelche Leute, die Muggel genannt wurden, glauben ließ, nur eine kleine graue Wolke zu sehen, wurde es vor unbefugtem Blick geschützt. Zudem konnte es wohl noch einen tragbaren Unfunkstein zur Störung von Radio- und Mobilfunkgeräten tragen oder sogar einen Ortsmarkierungsträger, einen Kristall, der über einem Ziel ausgeworfen das Hinfliegen erleichterte. Moira erschauerte über diese Enthüllung so sehr, daß sie darüber erwachte. Warum hatte sie schon wieder von diesen Leuten und vor allem sich selbst in der Rolle dieser Edwina geträumt? Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Sie beschloß, den morgigen Tag ganz genau aufzupassen.
Als die anderen auch aufstanden wurde erst einmal gefrühstückt. Moira behielt ihre merkwürdigen Träume für sich. Doch irgendwie fühlte sie sich so, als habe sie etwas erfahren, was sie nicht wissen durfte. Es fühlte sich an, als sei sie beim öffnen einer verbotenen Tür erwischt worden. So verhielt sie sich merkwürdigerweise ruhig, bis es an den Aufbruch ging. Als ihre Mutter sie fragte, was sie habe, gab sie zumindest zu, schlecht geträumt zu haben. Das mochte die lange Reise ohne erkennbaren Sinn und Verstand sein, führte sie noch aus. Ihre Mutter nickte und sagte dazu nur, daß sie auch hoffe, daß sich diese Reise und die damit verbundenen Beschwernisse wirklich lohnten.
Die Abfahrt von der Hütte war mittlerweile Routine. Moira fühlte sich dennoch irgendwie belauert. Konnte es daran liegen, daß sie von einem fliegenden Auge geträumt hatte, daß alle ihre Schritte überwachen konnte? Immer wieder blickte sie zu den Fenstern des Range Rovers hinaus. Doch in den ersten zwanzig Minuten sah sie nichts außer einer himmelhohen grauen Felswand und einem Abgrund, der mindestens dreihundert Meter in die Tiefe abfiel. Wenn sie da hineingerieten war es aus, dachte Moira. Das war das perfekte Gelände, um einen Mord zu begehen.
"Das Wetter wird nicht anders, Kind. Die Sonne scheint. Guck nicht zu viel da rein! Hier oben gibt es keinen gescheiten Augenarzt", maßregelte Amanda Stuard ihre Tochter. Diese nickte zwar, sagte aber kein Wort. Pico, der gerade fuhr, hielt das Lenkrad krampfhaft fest und den rechten Fuß mehr auf der Bremse als auf dem Gas. Auch ohne den Motor anzutreiben machte der Range Rover gut 50 Stundenkilometer Fahrt. Immer wieder mußten sie scharfkantigen Felsvorsprüngen ausweichen oder über auf der Straße gelandete Geröllbrocken hinwegrollen. Nur gut, daß die Stoßdämpfer die meisten Unebenheiten mühelos schluckten, dachte wohl nicht nur Moira. Dann sah sie es. Über dem Abgrund, vielleicht fünfhundert Meter über der Bergstraße, schwebte eine graue Dunstfahne. Es sah aus wie eine kleinformatige Regenwolke. Als Moira genauer hinsah erkannte sie ein sachtes Flimmern. Das konnte die erhitzte Luft sein. Doch der goldene Schimmer, der immer wieder aus dem Grau der Zwergwolke hervortrat, paßte nicht zu dieser Vorstellung. Moira konzentrierte sich und konnte nun ein Gebilde erkennen, daß außen dreieckig war und im Zentrum von einer blauen Kugel beherrscht wurde. Doch ehe sie es sich genauer ansah, schloß sich der graue Dunst wieder um das fremdartige Etwas. Da wußte sie, das sie leider nicht geträumt hatte. Es gab das fliegende Auge, das ihr sogar wie das quer durch die Religionsgeschichte geisternde allsehende Auge vorkam, daß die Ägypter für ihren allgegenwärtigen Sonnengott Ra und die Christen für die Allgegenwart Gottes benutzten. Auf amerikanischen Banknoten war es auch zu finden, Dank der Freimaurer, vielleicht auch der Illuminaten, jedenfalls einer der im 18. Jahrhundert aufgekommenen Gegenströmungen zur Amtskirche. Da fühlte sie, wie in ihr selbst etwas sich regte und hörte ein inneres Seufzen. Es war für sie sehr leise. Aber sie vermeinte sowas wie: "Wohl schon zu spät", zu verstehen. Zu spät wofür? Hoffentlich nicht zu spät, das eigene Leben zu retten.
"Was ist an dieser grauen Wolke, die du da so taxierst, Moira?" fragte Jonathan Stuard seine Tochter.
"Das sie augenscheinlich mit uns mitzieht. Natürlich ist das nur der Augenschein, Dad. Aber es erscheint mir schon recht bemerkenswert, daß dies die einzige graue Wolke am Himmel ist und noch dazu eine, die viel zu klein für eine Regenwolke ist oder eben zu hoch dafür am Himmel zieht", erwiderte Moira. Dann dachte sie daran, eine andere Information aus ihren seltsamen Träumen zu testen. Sie zog ihr Mobiltelefon hervor und wählte aus dem Menü den Eintrag: "Standortbestimmung". Dann wartete sie. Doch das GPS bekam keinen Impuls. Daß hier oben auch kein erdgebundenes Mobilfunknetz zur Verfügung stand war ihr ja schon nach dem ersten Tag vertraut gewesen. Doch sie fragte ihren Vater, ob er das Autoradio einschalten mochte. Sie ließen es meistens aus, um Batteriestrom zu sparen, weil die Klimaanlage schon genug Treibstoff verbrauchte. Als Jonathan Stuard das Radio einschaltete bekam er nicht einmal Atmosphärenrauschen herein, geschweige denn einen Sender. Auch die Mittelwelle schwieg sich aus. Nicht mal das sonst so bekannte Piepen und Knacksen beim Sendersuchen war zu hören. "Das Gerät ist intakt. Aber irgendwie fahren wir gerade durch ein massives Breitbandfunkloch", mutmaßte Jonathan Stuard. Moira dachte nur, daß das Funkloch wohl mit ihnen zusammen fuhr. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit von was anderem gefesselt, einem grauen Felsenungetüm mitten auf dem Weg. Die Straße war rechts um den mindestens vier Meter großen Steinbrocken herumgeführt worden. Doch warum erschien ihr der Felsen so instabil, ja leicht durchsichtig und der Weg daneben so flimmernd? Pico fluchte in seiner Landessprache und machte schon anstalten, den Range Rover hart an den Abgrund zu steuern, um das massiv erscheinende Hindernis zu umfahren. Moira fühlte, daß der felsen da vor ihnen nicht echt war. Irgendwer hatte mal eben eine Art Trugbild auf den Weg gelegt, ob mit Holographietechnik oder mit übernatürlichen Kräften war egal. Jedenfalls mochte der Felsen eine teuflische Falle sein. so sagte Moira auf Spanisch, daß Pico nicht nach rechts ausweichen dürfe, da der Felsen wohl nur eine künstliche Abbildung sei. Pico hatte keine Ahnung, was Holographie war. Moira blieb hartnäckig an ihrem Vater dran, daß der Felsen nur ein Trugbild war. Ihr Vater war wesentlich empfänglicher für eine derartige Vermutung als Pico. So sagte er dem Mexikaner, langsam geradeaus weiterzufahren, bis der Geländewagen entweder gegen den Gesteinsbrocken fuhr oder diesen durchdrang. Pico lachte erst. Doch als der massive Felsen, der jetzt sehr stabil und unverrückbar auf sie alle wirkte, vor ihnen aufragte, dachte er sich seinen Teil. Er bremste ab und führte den Geländewagen mit Unterschrittgeschwindigkeit an das Hindernis heran. Dann drang die Kühlerschnauze in die graue Masse ein, ohne daß der Motor über einen unüberwindlichen Widerstand klagte. Jetzt drang die gesamte vordere Hälfte des Range Rovers in das scheinbare Felsgestein ein. Nun fuhren sie ganz in der grauen Substanz, die hier und jetzt so unüberwindlich war wie eine Nebelbank im Herbst. Langsam ratterte der Range Rover durch die graue, jetzt sichtbar flimmernde Sichtbehinderung hindurch, bis der Wagen wieder ans Freie gelangte. Moiras Mutter blickte nach hinten und stieß einen kurzen Entsetzensschrei aus. "Wir waren nur einen halben Meter vom Abgrund weg." Das war für Moira die Bestätigung, daß der Felsen eine bewußte Falle war. Die Eheleute Stuard blickten einander sehr betroffen an, während Pico das spanische Wort "Brujería" schnaubte. Moira mußte ihm zugestehen, daß er da wohl recht behalten hatte.
Moira suchte und fand die verdächtige Dunstwolke am Himmel. Wenn es wirklich das unheimliche fliegende Auge war, dann wußte sein Lenker und Nutzer nun, daß die Falle mit dem Trugbild und dem scheinbaren Weg versagt hatte. würde er offen angreifen oder einen weiteren Hinterhalt legen? Fünf Minuten später hatten sie alle die grausame Bestätigung.
Der Range Rover befuhr gerade ein sehr breites Stück Straße, als plötzlich der gesamte Hang ins Rutschen geriet. Der Boden bebte und bröckelte. Felsen rutschten über die Kante zum Abgrund, schmirgelten dabei etwas von der Kante ab und polterten eine Staubschleppe hinter sich herziehend hinunter. Die Straße brach auf. Die Schottersteine begannen zu rutschen. Der Range Rover machte die Bewegung mit, auch wenn Pico sich mit aller Kraft dagegenstemmte. Doch nun polterten und donnerten auch tonnenschwere Trümmer von der steil aufragenden Wand herunter. Die meisten gingen in freien Fall über und würden im weiter tiefer liegenden Tal wie Meteoriten aus dem Weltraum einschlagen, womöglich auf ihrem Weg weitere Gesteinsbrocken mitreißen. Ja, und nun begann eine wahre Hölle aus niederstürzenden Felsen, Staub und umherfliegenden Geröllsplittern zu Tal zu donnern. Der Range Rover geriet voll in das steinerne Inferno hinein. Pico konnte den Wagen nicht mehr halten. Die Straße bebte und rutschte weg. Mit einem lauten Aufschrei bekundete Moiras Mutter, daß sie es auch mitbekommen hatte, daß die Vorderräder bereits über dem Abgrund kreisten. Dann kippte der Geländewagen nach vorne. Laut dröhnend traf ein Felsen die Heckpartie des Wagens und warf ihn erst recht in die Tiefe. Moira sah noch einmal zu der merkwürdigen Wolke hinauf. Jetzt sah sie es genauer, jenes fliegende Auge. Es schien sie genau zu beobachten. Doch noch was anderes erkannte sie, einen Mann auf einem fliegenden Besen. Dieser Anblick rief den abwegigen Traum in Erinnerung, den sie vor der Abreise geträumt hatte. Also gab es sie doch, diese Hexen und Zauberer. Und sie? Moira erkannte jetzt, daß sie wahrhaftig mit einer anderen Person geistig verbunden war, ja förmlich an einer langen Leine geführt wurde. Doch was sollte es jetzt. Der Wagen stürzte ab. Ihn umschwirrten frei fallende Felsbrocken, die jeder für sich so schwer wie ein Mittelklasseauto sein mochten. Von weiter oben rumpelten noch mehr graue Brocken zu Tal. Wenn einer davon den Wagen voll traf brauchten sie sich um den Aufschlag im Tal keine Gedanken mehr zu machen. Moira blickte noch einmal zu dem Mann auf dem Fliegenden Besen hinauf, als es passierte.
Für die größeren Kinder war wieder Schulzeit. Jojos Mom und Dad waren schon lange wieder aus den Ferien zurück. Sie hatten Jerimy aus England einen kleinen Turm mitgebracht, in dem vier Uhren drin waren. Big Ben hieß dieser Turm und stand in echt in London, der Stadt, wo die Königin Elisabeth mit ihren schon längst großen Kindern wohnte. Die Uhren gingen sogar. Immer wenn eine Viertelstunde um war klangen aus dem kleinen Turm Glockenschläge heraus. Die konnten aber durch einen Schaltknopf ausgemacht werden, damit Jerimy nicht immer davon wachgemacht wurde, wenn es nacht war. Jerimys Dad sagte: "Ui, da haben sich Jojos Eltern aber schön in Unkosten gestürzt. Klingt ganz wie der echte, ganz große Turm." Jerimy fand das einfach nur schön, die Glocken im kleinen Turm zu hören.
Jerimy hatte von seinem Vater gelernt, die Tage und wie sie hießen zu malen. So wußte Jerimy, daß an diesem Tag der fünfzehnte September war. Bald würden die Bäume wieder bunte Blätter kriegen, bevor die Blätter runterfielen und das so lustig raschelte und knisterte, wenn er und Jojo drüberliefen.
Die Teletubbies machten wieder das Zeug für die ganz kleinen Kinder, die noch in die Hose machten. Jerimy wußte, daß er die wo er so klein wie Ralfs kleine Schwester Ronda war auch im Fernsehen gesehen hatte. Aber jetzt waren die ihm zu langweilig. Das spannendste an denen war nur der aus der Wiese rauskommende Telefonhörer mit Gesicht, der sagte, was die vier Teletubbies machen sollten. Aber nach den Teletubbies kam hier auf dem Fernsehprogramm die Sesamstraße, aus der Jerimy die Buchstaben und Zahlen gelernt hatte. Heute ging der Graf Zahl mit den langen Zähnen zur Bank und zählte das ganze Geld, was er dort hingelegt hatte, um es dann wieder dem Bankmenschen zurückzugeben, und Kermit der Frosch war dabei, wie eine Kuh über den Mond sprang. Dann war noch mal Professor Praktisch dran, der heute zeigte, wie die ganze große Erdkugel aus dem Weltraum wo die Sterne hingen aussah und wie die sich um die Sonne drehte, also die Sonne eigentlich nicht wirklich aus dem Meer stieg und abends auf der anderen Seite der Stadt im Boden verschwand. Das fand Jerimy eigentlich nicht so toll, daß die Sonne nicht echt auf- oder unterging. Aber als ihm gezeigt wurde, wie eine Stadt sich auf der drehenden Erde weiterschob war es für ihn auch spannend, sich vorzustellen, daß er und alle um ihn herum auf der im Weltall fliegenden Erde Karussell fuhren. Dann sah er noch ein großes Weltraumflugzeug, Space-Shuttle genannt, wie es nach oben stieg und dabei auf breiten Feuerstrahlen ritt und wie es wieder auf der Erde landete wie ein richtiges Düsenflugzeug mit Rädern und so. "Und morgen verrate ich euch, was mit Wasser alles so passieren kann", sagte der im weißen Kittel steckende Professor Praktisch und wünschte denen, die ihn ansahen noch eine gute Nacht. Jerimy wünschte dem Professor auch eine gute Nacht. Was mit Wasser alles so los war war echt aufregend. Da freute er sich schon richtig drauf. Sein Dad, der mit ihm ferngesehen hatte, meinte dazu: "Wird der werte Prof wohl übermorgen viele Briefe von Eltern kriegen, deren Kinder die Wohnung unter Wasser gesetzt haben."
"Ja, und morgen kriegt er die Briefe von den Eltern, die sich beschweren, daß ihre Kinder nicht mehr bei Sonnenuntergang ins Bett wollen, weil die Sonne ja nicht wirklich untergeht", sagte Jerimys Mom, die gerade aus der Küche kam, wo sie die Teller und Gläser vom Abendessen in die große Spülmaschine gestellt hatte, die nun anfing, das alles wieder sauberzumachen.
"Ja, aber wenn's dunkel wird ist es Nacht, und wenn's Nacht wird schlafen alle Kinder. Also, junger Mann, Zeit für's Zähneputzen und dann ins Bett", sagte Jerimys Dad. Wenn der im Radio steckte war der immer lustiger als wenn er zu Hause war, fand Jerimy. Doch Jerimy wollte das nicht sagen, weil er Dad nicht böse auf ihn machen wollte.
Als er im Bett lag und ihm Benny Goodman ihm was zum Einschlafen spielte hörte Jerimy, wie seine Mom mit seinem Dad lauter sprach. Sie hörte sich so an, als würde sie sich über irgendwas ärgern.
"Du glaubst doch nicht, daß ich mein ganzes Leben nur im Haus bleiben will, Mort. Ich habe nicht bis zum Meistergrad Studiert, um als Kleinstadthausfrau zwischen Herd und Garten herumzuwuseln. Wenn Doc Michaels sagt, er kann schon in die Vorschule, dann melde ich ihn fürs Sommersemester da an und seh zu, daß ich bei Perdue Farms reinkomme."
"Ich hatte eigentlich gedacht, du liebst das, diese Kleinstadtidylle und daß du hier den ganzen Tag frei gestalten kannst", sagte Jerimys Dad. "Die Vorschule ist teuer. Oder willst du ihn zu den Hispanics schicken, wo Jojo ist?"
"Allemal besser für ihn und für mich, als hier die ganze Zeit nur zwischen Haushalt und Spielplatz rumhängen", sagte Jerimys Mom. Jerimy wollte wissen, warum Mom und Dad gerade so ärgerlich redeten. Er setzte sich in seinem Bett hin und hörte ganz aufmerksam zu. Eigentlich wollte er nicht mehr, daß Benny Goodman Musik machte. Er wollte hören, was Mom und Dad so redeten. Die redeten ja auch von ihm. Jetzt ging es um das Geld, was jemand für den Kindergarten oder die Vorschule bezahlte. Dad sagte dann, daß er das nicht wollte, daß Jerimy so früh überfordert würde, was das auch immer sein sollte. "Michaels soll bloß nicht einen Wunderknaben aus ihm machen. Das macht Jojos Mutter schon aus ihm, um ihren Sohn anzutreiben, mehr zu lernen. das reicht schon", sagte Jerimys Dad gerade. "Und daß dir das Kleinstadthausfrauenleben nicht gefällt tut mir leid. Ich dachte, du wolltest mehr Zeit für den Kleinen haben, wo du damals, wo wir ihn abgeholt haben gesagt hast, daß du Angst hast, wir könnten ihm nicht die richtigen Eltern sein."
"Heh, nich' so laut, Mort. Der Kleine könnte dich hören", flüsterte Jerimys Mom. Tatsächlich wurden sie dann ganz leise. Jerimy konnte nichts mehr hören außer der langsamen Jazzmusik, die ihn sonst immer so müde machte. Er legte sich wieder hin. Doch er konnte nicht einschlafen. Jetzt konnte er alle Lieder auf der CD hören, bis der Abspieler mit leisem Surren ausging. Erst dann konnte Jerimy einschlafen.
Als er ohne Flugzeug und Auto im Traumland ankam, wie es seine Mom genannt hatte, war er nicht mit Jojo zusammen und auch nicht mit Ralf. Vor ihm stand Matty. Sie grinste ihn an, sah aber so aus, als hätte sie gerade viel Hunger. "Ah, da bist du ja", sagte sie. Dann hörte Jerimy andere große Männer weinen und heulen, die in einer Ecke dieser ganz großen, runden Höhle ohne Ausgang saßen. Er sah, wie Matty immer größer und größer wurde. Ihr helles Goldhaar wurde rot wie Feuer. Sie hatte nicht mehr das bunte Sommerkleid an, sondern was langes, weißes. Jerimy bekam Angst, weil Matty ganz anders aussah und dabei immer lauter lachte. "Jetzt haben wir ihn", sagte sie. Sie deutete auf etwas, das so hell war wie die Sonne, ein ganz großer Topf mit zwei Griffen dran. Aus dem klangen die heulenden und stöhnenden Stimmen. "Er wird dich ersetzen", sagte Matty. Nein, das war nicht mehr Matty. Die große, rothaarige Frau sah ganz böse aus, auch wenn sie so schön war wie eine von Mattys Puppen oder die Frauen im Fernsehen, die sein Dad Models nannte. Sie ging an den großen sonnenhellen Topf und griff hinein. Jerimy sah es orangerot wie der Sonnenaufgang, als die rothaarige Riesenfrau einen mann ohne Sachen an aus dem Topf herauszog. Der Mann schrie laut und schlug mit den Armen und Beinen. "Nein, du Miststück. Ich will nicht!" hörte Jerimy ihn rufen. Da steckte die rothaarige Monsterfrau ihn sich in den großen Mund mit den schneeweißen Zähnen und schluckte ihn runter. Jerimy hörte noch, wie der aufgefressene Mann laut schrie, während er im Bauch der rothaarigen bösen Frau landete. Sie deutete wieder auf den großen leuchtenden Topf mit den breiten Griffen und tastete hinein. Dann sagte sie: "Gleich habe ich ihn bei mir. Dann gehst du da rein, Richard."
"Nein, ich will das nicht!" rief Jerimy. "Du willst, was ich will, sonst wirst du ganz alt sterben", lachte die rothaarige Frau. Da merkte Jerimy, wie sein Gesicht und seine Arme ganz trocken wurden wie die Blätter an den Bäumen und auch so knisterten. "Nur da drin kannst du wieder heil werden", lachte die Rothaarige, während sie noch einen nackten Mann aus dem goldenen Topf zog und einfach so runterschluckte, wie das böse Riesen im Märchen so machen. Jerimy sprang zu ihr hin und wollte die große, böse Frau hauen. Er wünschte sich, ein Schwert zu haben, um die Böse müde zu prügeln. Doch die lachte ihn nur aus und machte ihr weißes Kleid auf. Es fiel runter. Da stand sie, ganz nackt, wie er es sonst nur bei seiner Mom gesehen hatte. "Du wolltest das. Dann kriegst du es", sagte die Rothaarige. Er merkte, wie etwas ihn hochhob und zu ihr hintrug. Sie wurde noch größer. Da flog er genau zwischen ihre Beine und fühlte, wie sie ihr da reinrutschte, wo er einmal herausgekommen sein sollte, wie seine Mom es ihm gesagt hatte. Er schrie laut auf, als er tiefer und tiefer in einen schwarzen, heißen Tunnel hineinrutschte. Dann war er ganz woanders, in einer Stadt an einem Auto und sah einen halbgroßen Jungen mit blonden Haaren. Er ergriff ihn und zog ihn hinter sich her. Dabei fielen er und der Junge in den Tunnel zurück. Doch als der Fall aufhörte war Jerimy wieder in seinem Bett und weinte laut. Seine Mom stand am Bett und sah ihn ganz betrübt an. "Oha, hast du was böses geträumt, Jerimy?" fragte sie ihn. Er wußte erst nicht, was er sagen sollte. War das jetzt alles vorbei oder war er noch immer bei dieser rothaarigen Riesenfrau, die andere große Männer runterschluckte und ihn mit ihrem kleinen Vordertürchen, wie seine Mom es nannte, in diesen finsteren Tunnel gezogen hatte? Er weinte erst. Dann sagte er seiner Mom, was ihm im Traumland passiert war. Seine Mom hörte ihm ganz ruhig zu. Dann streichelte sie ihm über das Gesicht und wischte die ganzen Tränen weg. "Die böse Riesenfrau ist weg. Die kommt nicht noch mal, wenn du das nicht willst", sagte sie ruhig. Jerimy hörte das und wurde etwas ruhiger. Die Angst hörte auf. Er fühlte, daß er hier nicht angegriffen wurde.
Als er wieder schlief war er schon groß und stand vor einem Steintisch, auf dem lauter lustige lange Gläser standen. Ein anderer großer Junge sagte: "Na, Richard, das A Plus in Chemie ist dir wohl wieder sicher." Jerimy hörte sich mit einer Männerstimme sagen: "Obwohl Professor Polanski uns angedroht hat, jedem zwei Noten schlechter zu geben, weil wir ihm die Schaumparty beschert haben, Bill?"
"Dafür haben wir vom Direx die sechs Kloppe abbekommen und Polansky bekam die Order, uns nicht durchrasseln zu lassen, wenn wir nicht noch so was bauen. Aber pass auf, daß dir die Kupfersulphatlösung nicht überkocht."
"Kein Thema", sagte Jerimy mit der Stimme eines großen Mannes. "Kennst doch den Alchemistentrick mit dem Zinnlöffel und der Kupfersulphatlösung. Den bringe ich als Krönung vor den Osterferien."
"Glaube ich nicht!" rief eine laute Frauenstimme. Jerimy fühlte sofort wieder die Angst von eben. Das war die rothaarige Riesenfrau. "Du gehörst mir!" hörte er sie noch rufen. Doch als er sah, wie ihre Hand über ihn herunterfiel war er wieder in seinem Bett. Er konnte gerade noch den Schrei im Mund zurückhalten. Warum hatte die ihn nicht in Ruhe gelassen. Was hatte er da eigentlich gemacht wo er war?
Am Morgen erzählte er seiner Mom, daß er fast wieder bei der rothaarigen Riesin gelandet wäre. Sie nickte nur. Als er aber noch sagte, daß er ein großer Mann gewesen war, der Richard geheißen habe, machte sie ein ganz dummes Gesicht und wackelte dann langsam mit dem Kopf hin und her. Dabei hörten sie Jerimys Daddy aus dem eckigen Küchenradio. Denn auf dem Balkon zu sitzen ging nicht mehr, weil vom Meer her kalter Wind kam.
Der Tag war wieder lang, und Jerimy vergaß fast die Traumlandsachen mit der rothaarigen Riesenfrau, die andere Männer fraß und mit ihrem kleinen Unterschied machte, daß er mal anderswo war und einen größeren Jungen hinter sich herzog. Als Jerimys Dad wieder normalgroß aus dem Radio zurück nach Hause gekommen war wollte der von Jerimy noch mal alles wissen. Jerimys Mom sagte zwar, daß das nicht so gut wäre. Doch Jerimys Dad sagte, daß das wichtig sei, über seine Träume zu sprechen und zu begreifen, warum sie so waren.
Als Jerimy wieder schlafen ging wünschte er sich, wieder König zu sein. Er schaffte das auch. Denn er saß in einem großen Thronsaal und hatte eine andere blonde Frau neben sich, nicht Matty. Am Tisch saß der Prinz, der Sohn des Königs, Julius hieß der. Da kam durch das Fenster eine Hexe auf einem Besen hereingeflogen, die einen grünen Umhang anhatte. "Dein Sohn ist von der Zaubererschule ausgewählt worden, bei uns zaubern zu lernen, Richard", sagte die schwarzhaarige Hexe und nahm den Prinzen einfach vorne auf den Besen. Der König Jerimy sprang mit gezogenem Schwert vor und wollte die Hexe und ihren Besen tothauen. Doch sie flog ihm davon mit dem lachenden Prinzen vorne auf dem Besenstiel. "Du bist das in Schuld, daß unser Sohn so ist", brüllte er die Königin an. "Ich will nichts mehr mit dir zu schaffen haben."
Die Königin wurde von Rodney, dem kleinen, großohrigen Alleshörer des Königs aus dem Schloß gejagt. Als der König darüber lachte, lachte noch wer mit, die angstmachende Stimme der Riesenfrau. Er sah ihr Gesicht am Fenster und sah sie grinsen. Sie war überhaupt nicht angezogen. "Ich nehm dich, wenn sie dich nicht mehr will", sagte sie und zog ihn durch das Fenster zu sich heran und ließ ihn wieder von vorne unten in sich hineinrutschen. Er schrie laut auf. Da stand er in der Höhle mit dem goldenen Topf, in dem wohl die ganzen armen Männer gekocht wurden, die die Riesenfrau am Stück runterschlucken konnte. "Du gehörst mir, wie der da", sagte die Riesin, die nun wieder vor ihm stand, rote Haare, goldene Augen. Sie zog einen Mann nach dem anderen aus dem Topf und fraß ihn auf. Er hörte ihn noch in ihrem Bauch herumschreien und schrie mit. Da war er wieder in seinem Bett. Seine Mom und sein Dad standen neben ihm und sahen ihn mit großen Augen an.
Jerimy brauchte wieder viel Zeit, bis er erzählen konnte, was im Traumland passiert war. Seine Eltern sahen sich an, sagten aber nichts. Dann boten Sie Jerimy an, den Rest der Nacht in ihrem Bett zu schlafen.
So konnte Jerimy zumindest den Rest der Nacht schlafen, ohne wieder bei dieser rothaarigen Riesenfrau und ihrem goldenen Topf zu sein. Das lag aber wohl auch daran, weil sein Dad laut grunzte und rasselte und er nie wirklich ins Traumland hineinkam. Doch da wollte er so schnell auch nicht mehr sein.
Pico rief, daß er noch nicht sterben wolle. Da flimmerte es vor seiner Brust silbern und blau. Funken flogen umher und durchdrangen seine Kleidung und die vorderen Scheiben. Moira fühlte, wie etwas in ihr danach strebte, aus ihrem Körper herauszubrechen. Doch als sie unvermittelt von weißem Nebel umgeben waren und der freie Fall in die Tiefe erst sanft und dann kraftvoll gebremst wurde, wußte sie es, daß irgendwas oder irgendwer eingegriffen hatte. Ihr wurde auch klar, daß Pico irgendwas damit zu tun hatte. War der etwa auch ein Zauberer? Moira blickte sich um. Doch im Moment sah sie nur weißen Nebel. Dann ruckte es, und der Wagen stand sicher auf festem Boden. Um sie herum hörten sie das Poltern und Krachen herabstürzender Felsen. Die Gefahr war also noch nicht vorbei. Etwas anderes erregte die Aufmerksamkeit Moiras. Aus dem Nebel wehten vier Dunstschleier heran und durchdrangen mühelos die geschlossenen Fenster. Sie warnte ihre Eltern und Pico. Doch Pico freute sich, weil etwas an seinem Körper nun ganz wild Funken sprühte. Moira erkannte zwei durchsichtige, silberweiß schimmernde Männer und zwei dito Frauen. Alle vier waren klein und sahen vom Gesicht und Haarschnitt her indianisch oder zumindest halbindianisch aus. Eine von den Frauen trieb auf Moiras Mutter zu. Einer der Männer schwebte auf Pico zu, der laut lachend den Mund geöffnet hatte, bis das auf ihn zutreibende Etwas wie ein kleiner grauer Tennisball in seinen Mund fuhr. Er schluckte und schüttelte sich dann. Doch danach blieb er starr und unerschütterlich wie eine Wachsfigur von Madame Tussaud auf seinem Platz sitzen. Moira wollte ihre Mutter noch warnen. Doch da schlüpfte die sie anfliegende Erscheinung in ihren Mund hinein und verschwand darin. Moira fühlte die Eiseskälte, die beim hereinschweben der unbestreitbaren Geisterwesen entstanden war noch deutlicher. Sie sah, wie eine faßgleiche Geisterfrau in streifenförmiger Kleidung auf sie zuschwebte. Das Gespensterweib streckte eine ihrer dürren runzeligen Hände aus und prallte vor Moira zurück. Diese fühlte gleichermaßen einen Wärmeschauer in sich, der die Eiseskälte verdrängte. Unvermittelt hörte sie in sich eine fremde Frauenstimme ein leieriges Lied in einer Moira völlig fremden Sprache singen. Die Geisterfrau, die sich für Moira aufgehoben hatte, zischte verärgert und stieß Worte in einer Moira unverständlichen Sprache aus. Dann ging sie zu Spanisch über, was sie jedoch sehr unbeholfen sprach:
"Du auch einhalten Gegenversprechen. Leben für leben. Ihr vier uns in euch mitnehmen und uns neue Körper machen, um neu leben zu können. Du mich in dich reinlassen."
"Vergiß es, bin schon überbelegt", dachte Moira. Doch als sie sah, wie auch ihr Vater einen der eingedrungenen Geister in den Mund bekommen hatte und plötzlich laut aufschreiend zusammenfuhr und angstvoll auf seine Mitreisenden starrte und "Riesenschlange. Die frißt uns alle auf!" stammelte, wußte Moira, daß sie gerade auf verdammt einsamem Posten stand. Zwar konnte die sie angehende Geisterfrau nicht so locker in sie eindringen wie ihre Artgenossen. Doch Moira erkannte, daß sie gerade zur letzten aufrechten Kämpferin in einer bereits verlorenen Schlacht geworden war. Draußen waberte der weiße Nebel. Immer wieder zuckten Hände oder Gesichter daraus hervor. Das waren alles Geister, die sich zu dieser unheimlichen Nebelwand zusammengefügt hatten. Ihre Eltern hockten nun wie Pico auf ihren Plätzen, als seien sie von Madame Tussauds Mitarbeitern modelliert worden. Würde auch Moira zu einer lebenden Wachsfigur? "Nicht, solange wir zwei deinen Körper verteidigen können", erwiderte jene innere Stimme, die Moira nun eindeutig als jene dieser Edwina Silverlake erkannte, die sie im Traum miterlebt hatte. Dann versuchte es die noch nicht ordentlich eingefahrene Geisterfrau mit Schwung. Dabei rief sie: "Du jung und stark. Du starke, sattmachende Mutter. Ich dein Kind werde oder du mir geben deinen Körper als Leben und warten bis neuer Nachfahre braucht Hilfe!" Dann warf sie sich vorwärts, wobei sie zu einem kokosnußgroßen Ball aus silberweißer Substanz wurde. Doch knapp einen halben Meter vor Moiras Gesicht klatschte die Gespensterkugel gegen eine unsichtbare Wand. Moira fühlte erneut jenen warmen Schauer durch den Körper jagen. Das alte Geisterweib zerfaserte mit lautem Aufschrei und fügte sich wild rotierend auf Höhe der Frontscheibe wieder zu einer dunsthaften Erscheinung zusammen. "Du gut beschützt. Du Betrügerin. Du schon wen in Körper hast!" schrillte das Geisterweib. Da flogen alle Türen des Wagens auf. Die noch gesicherten Gurte sprangen klickend aus ihren Verschlüssen heraus und schnurrten in ihre Bereithaltungsstellung zurück. Moira sah, wie mehr als zwölf Dunstarme in den Fond des Range Rovers hineinlangten. Die Eiseskälte wurde nun unerträglich. Moira glaubte schon, in flüssigen Stickstoff getunkt worden zu sein, als eine unbändige Gewalt sie wie mit unsichtbaren Händen packte und ohne sie am Türrahmen anstoßen zu lassen hinausriß, hinein in den Geisternebel. Moira schrie. "Du uns geben neues Leben für dein gerettetes Leben oder du hier allein bleiben ohne Hilfe und Essen!" riefen nun zwanzig erzürnte Geisterstimmen, alles die von Frauen. Moira konnte sogar sehen, daß vier halbwüchsige Mädchen darunter waren. Denn ihre von Zorn verzerrten Gesichter lugten immer wieder aus dem Nebel heraus. Sie schwebte nun mitten im weißen Brodem, der ihren Körper immer mehr gefror. Wenn die Gespenster es schafften, sie vollständig einzufrieren, dann war sie tot. In dieser angsteinflößenden Lage war das zuschlagen der Autotüren und das Aufbrüllen des Motors wie ein Tusch von Teufels Marschkapelle. "Du mir lassen deinen Körper oder du Mutter von mir werden", radebrach ein Geistermädchen, das gerade einen halben Meter vor Moiras rechtem Ohr schwebte. "Du nicht merken, wie ich in dir schlafe, bis du Mutter von mir", verhieß eine andere Geisterfrau, die scheinbar so alt wie Moiras Mutter war. Da schimpfte die erste in der für Moira fremden Sprache und fegte aus dem Nebel heran wie eine Furie. "Letztes Wort. Du mich jetzt in dir drin schlafen lassen oder ganz alleine ohne Essen und Wasser!" Moira war kurz davor, den inneren Widerstand aufzugeben, als jemand, eine Frau in großer Ferne, ein melodisches, wenn auch nicht in der üblichen Tonskala klingendes Lied sang. Sofort sank Moira zu Boden. Die Geister zogen sich von ihr zurück, bildeten eine immer schneller rotierende Nebelspirale und stiegen nach oben. Moira blickte hoch und erkannte weit über sich auf einem unversehrten Felsplateau eine Frau mit rotem Haar, die mit einem kreisenden Stab in der Hand das Lied sang, daß die Geister von Moira fortlockte. Sie lauschte andächtig. Die Stimme klang sehr erprobt und zielsicher. Die in Moira gerade eingenistete Edwina dachte ihr leise zu: "Das muß das Lied des verheißenen Seelenfestes sein, ein von Druiden und Vorzeitlichen Hexen gesungenes Lied, um wütende Geister zusammenzurufen und für eine gewisse Zeit an einen Ort zu bannen. Das geht also auch bei präkolumbianischen Geisterwesen."
"Wahrscheinlich nur, weil Pico schon mehr als hundert Meter weg ist. Der hat doch die Geister gerufen, die wir nun nicht loswerden", dachte Moira zurück, während die von der Sängerin angelockten Geister sich zu einer immer größeren weißen Kugel am Berghang zusammenballten, bis die Hexe mit drei schnellen Melodieteilen silberne Blitze erzeugte, die sich über die zusammengerufenen Geister erstreckten und sie in einer Art Netz einschnürten. Kaum war dies geschehen hüpfte die Sängerin in die Höhe und kam im gleichen Augenblick mit einem vernehmlichen Plopp bei Moira auf der Talsohle an. "Na ihr zwei, ich hörte, ihr habt doch einander kennengelernt, obwohl meine Bundesschwester das eigentlich nicht wollte", begrüßte sie Moira. Sie wußte, daß Moira in ihrem Körper nicht allein war. Auch erkannte Moira, wer da zu ihr gekommen war. Doch sie wollte es der anderen nicht gleich auf die Nase binden. So sagte sie:
"Ich danke Ihnen, Madam, daß Sie diese Spukgestalten gebannt haben. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich bis heute jede Möglichkeit kategorisch ausschließen mußte, daß es so jemanden wie Sie oder Erscheinungsformen wie diese unheimlichen Nebelwesen geben könnte."
"Das du und die Mehrheit der anderen Leute ohne nach außen brauchbare Zauberkraft das so und nicht anders denkt ist durchaus gewollt, Moira. Ich bin Ceridwen Barley. Meine Bundesschwester Edwina, die gerade mit dir zusammen unterwegs ist, hat angedeutet, daß du mich schon im Traum hättest sehen können." Die Hexe oder wie immer sie sich nennen ließ verschenkte keinen Augenblick mit Dummstellen oder Verheimlichungen, erkannte Moira. Dann fiel ihr ein, daß sie noch wen gesehen hatte und deutete nach oben. "mein Schwiegersohn kümmert sich gerade um ihn. Wir zwei müssen zu unserem Portschlüssel, da wir deine Eltern wohl so leicht nicht aus der ungewollten Verpflichtung herauslösen können, ohne uns gründlich vorzubereiten", sagte Ceridwen und bot Moira den Arm an. Moira zögerte erst. Doch dann ergriff sie den Arm der rothaarigen Zaubermeisterin und wünschte sich, genau dort anzukommen, wo diese hinwollte. Sie fühlte die schnelle Drehung und meinte, durch einen hautengen Tunnel aus wilden Farben und schwarzen Schlieren zu schießen, bevor sie mit Ceridwen in einer kleinen Holzhütte stand. Irgendwie mußte Moira an die russischen Märchen von der Baba Yaga denken, die in einer Hütte auf Hühnerbeinen wohnte. Das schien ihre ungebetene Untermieterin Edwina zu amüsieren. Da hörte Moira nicht nur in sich selbst sondern auch von außen das erheiterte Lachen. "Ceridwen, Moira hält deine Portschlüsselkiste für das Haus der Baba Yaga."
"Welcher? Es gibt meiner Kenntnis nach fünfzig über Rußland, die Ukraine und Georgien verteilt", antwortete Ceridwen. Doch dann wurde sie ernster. "Edwina, Moira wäre dir sicher sehr dankbar, wenn du endlich deine Bilokation mit ihr beenden würdest, bevor ihr zwei noch zu geistigen Zwillingsschwestern werdet."
"Das möchte ich von deinem Schwiegersohn als persönliche Anweisung haben, Ceridwen", erwiderte Edwina. Dann stand sie vor Moira. Diese konnte nur den Mund aufklappen. Das war doch diese Scotland-Yard-Beamtin, die sie und ihre Mutter interviewt hatte. Edwina nickte, wohl weil sie Moiras Gedanken mitgehört hatte. "Wir wußten, daß die Reise deines Vaters noch ein Nachspiel haben könnte. Allerdings wußten wir nicht, daß er wirklich noch Daten darüber ausgelagert hat und das echt niemand von unserer Geheimhaltungsüberwachung mitbekommen hat. Sonst hätten wir uns und euch diesen ganzen Ärger erspart. Man, Ceridwen, du solltest zur Geisterbehörde gehen, so genial du das Lied vom Seelenfest gesungen hast."
"Die bieten dafür zu wenig, Edwina. Abgesehen davon bin ich mit meinen anderen Fachgebiten schon mehr als gut beschäftigt."
"Sie beherrschen Magie, oder wie nennt sich das?" fragte Moira. Ceridwen räumte ein, daß ihre Fähigkeiten unter dem oberbegriff Magie zusammengefaßt wurden. "Aber beherrschen ist ein großes Wort, junge Dame. Magie neigt gerne dazu, ihren Anwender zu beherrschen, wenn dieser sich zu überlegen fühlt. Sagen wir es mal so, ich habe gelernt, mit meinen Zauberkräften nutzbringend umzugehen." Moira fühlte sich im Moment gar nicht traurig oder verzweifelt, weil ihre Eltern in der Gewalt von Geistern waren. Die Vorstellung, mit echten Hexen und Zauberern zu tun zu haben erregte sie. Früher hatten sie und ihre Schulkameraden nur in Rollenspielen davon geredet. Dabei mußte sie an Malcolm, Lester und Julius denken. Lang war's her. Dann horchte sie auf, weil Edwina auf eine drei mal zwei Meter große Projektionsfläche zeigte, auf der vollkommen räumlich zu sehen war, wie zwei Zauberer auf fliegenden Besen einander jagten. "Wenn meine jüngste Tochter noch einen Vater für ihr zweites Kind behalten möchte sollte ich da besser zwischengehen", grummelte Ceridwen. Doch genau in diesem Augenblick zerplatzte die vorhin gebildete Kugelschale aus Geisterwesen. Weit ausschlagende Nebeltentakel peitschten durch die Luft, suchten wohl nach derjenigen, die sie gebannt hatte. Doch das war eine Fehldeutung, wie Moira gleich erkennen mußte. Tatsächlich griff der zu einer Zwischenform aus Riesenqualle und Cumuluswolke ausufernde Geisterbrodem einen der Besenflieger an, jenen, den sie selbst schon gesehen hatte. Auf einmal wurde der fliegende Zauberer in eine weiße Kugelschale eingeschlossen wie ein Küken im Ei oder eine Raupe in ihrem Kokon. Der zweite Besenflieger wurde von quer zur Flugrichtung ausgestreckten Dunstarmen abgefangen und festgehalten. Es dauerte etwa dreißig Sekunden, da zerfloß die Kugelschale wieder, und der Geisternebel löste sich ganz und gar auf. Dadurch kam auch der andere Besenreiter wieder frei. Moira konnte jetzt auf der Bildprojektion erkennen, wie ein großes Etwas in die Tiefe stürzte. Es war ein massiver Eisblock, der den ersten Besenflieger umschlossen hielt. Dann krachte der Eisblock auf den Boden und zersprang in Millionen winziger Splitter. Von sterblichen Überresten konnte Moira nichts erkennen. Ihr ging nur auf, was passiert sein mußte. Die Geister hatten den anderen, den Feind Picos und der Stuards, mit ihrer geballten Kälte auf Weltraumtemperaturen abgekühlt und dann freigelassen, als wirklich kein Funken Wärme mehr in ihm gesteckt hatte. Die Erkenntnis ließ bei Moira am ganzen Körper Gänsehaut entstehen. Was war ihr da erspart geblieben? Vor allem, wie gefährlich waren diese alten Geister in ihrem Schwarmverbund?
"Mist, der Kerl hat mir einen Pyrodermisfluch und den Permatremor angehext", bibberte Tim Abrahams, als er nach der geglückten Besenlandung in die Holzhütte appariert war. Seine Haut war tiefrot und rauchte sogar ein wenig. Er zitterte am ganzen Leib wie bei grimmiger Kälte.
"Wenn Mum Ceridwen nicht einmal auf dich aufpaßt kloppst du dich gleich mit jedem Halunken auf einem Besen herum", schimpfte Ceridwen. Doch sie mußte dabei lächeln. Sie fragte Tim, in welcher Reihenfolge er die beiden Zauber abbekommen hatte und machte mit ihrem Zauberstab kurze Gesten. Das Zittern verklang, und die Glut der Haut ließ nach. Um sie sich richtig erholen zu lassen schmierte sie ihrem Schwiegersohn persönlich und unter dessen Protest, weil Moira und Edwina zusahen Diptam auf den Körper. Dann sagte Tim: "Edwina, Sie können jetzt hoffentlich die Verbindung lösen. Miss Stuard dürfte jetzt außer Gefahr sein. Ihre Eltern sind ja leider verschleppt worden." Edwina und Moira nickten. Dann reichten sie sich die Hände.
Es dauerte jedoch mehr als zwei Minuten, bis Edwina und Moira sich gefahrlos voneinander lösen konnten. "Mensch, Mädel, fast hätte es meinen Geist ganz in deinen Körper hinübergezogen. Am besten läßt du von Brigid mal dein magisches Ruhepotenzial messen. Könnte sein, daß du schon sehr hart an der Squibgrenze entlangschrammst, so festgebacken wie meine Verbindung mit dir war", keuchte Edwina. Moira ächzte, daß sie diese Tortur nie wieder durchmachen wolle. Das war ja schon fast wie eine Gehirnoperation ohne Narkose. Darüber mußte tim dann lachen. "Jedenfalls besser, als wenn ich meinen Geistesanteil mit deinem Geist vollständig in meinen Körper hinübergerissen hätte und ich dann darauf hätte hoffen müssen, einen süßen Zauberer zu finden, der mir ein noch süßeres Mädchen in den Bauch legt, in dem du dann neu zur Welt hättest kommen dürfen, Moira", erwiderte Edwina Silverlake noch.
"Ich trachte nicht danach, die Tochter einer Hexe zu werden, Ms. Silverlake. Vordringlich wünsche ich, meine Eltern aus der Gewalt dieser alten Geister zu befreien, falls dies überhaupt noch möglich erscheint."
"Dürfte schwirig sein, weil drei der Geister sich nun in diesem Mexikaner und deinen Eltern festgesetzt haben und quasi mit deren Körpern verwachsen sind. Wenn ich das bei dir richtig mitbekommen konnte lief da sowas wie ein alter Handel, daß wer gerettet wird einem der geschlechtsgleichen Geister eine neue Kindheit ermöglicht, also ähnliches, was wir zwei uns fast aufgehalst hätten", bemerkte Edwina Silverlake.
"Ja, aber meine Eltern suchen mich sicher", erwiderte Moira.
"Wenn sie überhaupt noch wissen, daß sie eine Tochter haben", grummelte Tim Abrahams. Moira funkelte ihn dafür wütend an. Doch Edwina erwiderte darauf, daß das leider nicht so abwegig war. Die volle Inbesitznahme aller vier Geretteten war mißlungen. Für die Geister war Moira sozusagen eine Unperson, eine Niemandin geworden. Außerdem würden die Gespenster ihre neuen Wirte sicher an einen für sie geeigneten Platz bringen, sofern nicht daran gedacht wurde, daß die drei ihr früheres Leben weiterführen konnten.
"Dazu müssen wir mehr über diesen Geisterschwarm wissen und wie Pico ihn herbeigerufen hat", sagte Edwina. Moira erwähnte für Tim und Ceridwen noch einmal, was Josita ihr gesagt hatte. Edwina nickte. "Dann werde ich unsere Amigos in Ciudad de México mal drauf ansetzen, das rauszufinden. Die haben sicher auch einen Experten für aztekische oder Maya-Magie am Start. Die Affäre Fairbanks ist ja auf deren Gebiet passiert und dürfte sie interessieren. Was Moira angeht, so erzähle ich, daß wir sie bis zur Klärung aller ausstehenden Fragen in magische Obhut genommen haben, da sie ja britische Staatsbürgerin ist." Moira nickte.
fünf Stunden später kehrte Tim Abrahams in die Holzhütte zurück und vermeldete, daß der mexikanische Geisterbehördenchef davor warne, den Beschluß so alter im Schwarm lebender Geister zu mißachten oder gar außer Kraft zu setzen. Pico und seine Schwester josita seien mit Sicherheit die Nachfahren eines aztekishen Zauberpriesters, dessen Familienangehörige alle zu Geistern geworden seien und wohl einen Schwur gehalten hätten, ihre Nachfahren zu beschützen, wenn sie in tödliche Gefahr durch böses Zauberwerk gerieten. Pico habe sicher ein Amulett oder dergleichen dabei, das die Geister zu ihm hinrufe, wenn eine solche Bedrohung eintrete. Moira verstand. Pico hatte sie also gerettet, aber dafür halt nun den Preis bezahlt, einen seiner vielen Vorfahren als eigenen Sohn zeugen zu müssen. Moiras Eltern sollten ihrerseits Vorfahren von Josita und Pico neu zur Welt bringen. Ceridwen sagte darauf: "Damit steht fest, daß es schon bei den alten indigenen Völkern von Asien und Amerika Zauber zur Erbittung von Wiedergeburten gegeben haben muß. Wer weiß, wer das noch alles kann und konnte."
"Dann können wir meine Eltern nicht befreien, solange sie nicht nach England zurückkehren?" fragte Moira.
"Es kann sein, daß sie nach außen ihr früheres Leben fortsetzen, aber nach Innen darauf ausgehen müssen, die in ihnen eingefahrenen Geister mit neuen Körpern zu versorgen. Ob du dann noch ihre Tochter bist wird sich dann zeigen, falls sie wieder in ihrem Haus auftauchen."
"Ich hoffe, daß sie wieder auftauchen", sagte Moira und rang mit Tränen. Edwina umarmte sie und sagte: "Wir helfen dir dabei, damit so oder so klarzukommen, Moira. Du bist nicht allein damit." Tim mußte jedoch einwenden, daß Moira wohl erst mal nicht daran denken konnte, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Denn im Moment erschien es den mexikanischen Zaubereibeamten opportun, Kyle Sullivans Gedächtnis unangetastet zu lassen. Moira wünschte sich, sie könne auch einfach vergessen, was ihr in den letzten Tagen passiert sei oder am besten ganz neu zu leben anfangen wie diese Geister, die meinten, sich als neue Kinder ihrer Wirte wiedergebären zu lassen. Darauf meinte Brigid Barley: "Genesungsverjüngung? Ist nur bei erwiesenen muggelstämmigen Hexen und Zauberern mit höchsttraumatischen Erlebnissen bis zum fünfzehnten Lebensjahr zulässig. Aber für den Fall, daß du nicht mehr in dein früheres Leben zurückkehren kannst sollten wir überlegen, ob wir dich nicht zumindest in unsere Familie aufnehmen könnten, oder, Mum?"
"Da denke ich schon die ganze Zeit dran, Brigid. Aber ich werde Moira nicht im Weg stehen, wenn es gelingen sollte, ihre Eltern zurückzuholen", sagte Ceridwen Barley. Moira nickte. Entweder, sie bekam ihr altes Leben zurück oder mußte noch mal ganz neu anfangen, ob als Ungeborenes oder als Säugling. Das beides möglich war erschien ihr nach dem ganzen Spektakel mit echten Geistern und magischen Menschen nicht unmöglich. So willigte sie ein, bis auf weiteres im Haus Hof Hühnergrund zu wohnen, bis feststand, wie es weitergehen würde.
Jerimy wollte nicht mehr schlafen. Immer wieder kam diese Monsterfrau zu ihm oder holte ihn zu sich hin, egal wo er im Traumland war. Dann war das auch immer so, daß er immer wieder dieser große Mann Richard war. Einmal hatte er ein großes, silbergraues Auto gefahren und war in einem Wald gelandet. Da war die Rothaarige dann zu ihm gekommen, aber nicht als Riesenfrau. Sie hatten sich dann ganz fest in die Arme genommen und ihres mit seinem irgendwie zusammengestoßen. Das hatte ihm aber nicht gefallen. Da war sie immer größer geworden und hatte ihn von unten her in ihrem Bauch verschwinden lassen.
Fast jede Nacht war er bei dieser Riesenfrau. Einmal bekam er es mit, wie der andere Junge, Prinz Julius, von ihr angefaßt werden sollte. Sie wolte von ihm, daß er selbst in den goldenen Topf hineinkletterte, wo das orangerote Zeug war. Er wollte das nicht. Doch er machte es. Da waren Hexen auf Besen gekommen, oder Gespenster? Sie waren nämlich ganz weiß und riefen Zaubersachen, wobei ganz helle bunte Lichter durch die Höhle flogen. Da wurde aus der bösen Riesin ein rotes Monster mit Flügeln. Eine von den Hexen zauberte, daß er von dem Goldtopf wegkam. Da wurde alles ganz hell um ihn, und er lag auf dem Boden und schrie wie ein ganz kleines Baby. Dieser Traum und die, wo er Julius in die Riesenhöhle ziehen mußte kamen immer wieder. Nur Benny Goodmans Musik konnte machen, daß er nicht in ihrem Traumland war und sie ihm ganz viel Angst machte. Denn die Musik konnte er auch im Traumland hören. Dafür war er aber immer ganz müde, wenn es hell draußen war. Er konnte nicht mehr richtig laufen, und die Augen taten ihm immer weh. Doch wenn er schlief und Benny Goodman nicht für ihn Musik machte, war er immer bei dieser rothaarigen Riesenfrau. Seine Eltern hatten ihn mehrmals bei sich im großen Zweierbett schlafen lassen. Doch als er einmal im Traumland gegen die Rothaarige gekämpft hatte, weil sie ihn gerade wieder durch ihre kleine Vordertür saugen wollte, waren er und sein Dad wach geworden. Sein Dad sagte ihm, daß er ihm in die Beine gebissen hatte. Ja, da waren echt Löcher wie von Zähnen aus denen Blut kam. Deshalb mußte sein Dad auch an dem Morgen erst mal zu Onkel Doktor Michaels. Der hatte dann auch mit Jerimy geredet und ihn gefragt, was ihm so beim Schlafen passierte, daß er seinen eigenen Daddy auffressen wollte. Jerimy hatte darauf erst einmal nur geweint. Denn diese Frage hatte ihn daran erinnert, daß die Riesenfrau ihm einmal gesagt hatte, daß sie die ganzen Männer nur auffraß, damit er nicht totging. Doch das wollte er ja nicht.
"Ich glaube, es ist nachdem, was Sie mir erzählt haben besser, wenn Jerimy sich mit einer Kollegin unterhält, die mit wiederkehrenden Alpträumen vertraut ist", hatte der nette Onkel Doktor im weißen Kittel zu Jerimys Dad gesagt. "Besprechen Sie das ruhig mit Leslie und rufen sie mich an, wenn Sie sich beide einig sind."
Am Abend hatte Jerimy ein bitteres Zeug im Kakao gehabt, das ihn noch mehr müde machte als er schon war. Er wußte nicht mal mehr, wie er in sein Bett gekommen war, nur daß er diesmal nicht im Traumland gewesen war wußte er. Er hörte seine Mom sagen: "Das wird nicht lange gutgehen. Da muß was anderes gemacht werden."
Moira verlebte erst zwei Wochen voller Selbstzweifel und Schuldgefühle. Brigid mußte sie immer wieder bitten, mit ihr darüber zu sprechen, was sie umtrieb. Mühevoll gelang es Ceridwens heilkundiger Tochter, Moiras zerrüttete Seele wieder aufzurichten. Als Ceridwen ihr so zum Scherz anbot, sie für zwei Tage mal in den Körper einer Neugeborenen zurückzuversetzen, weil Moira meinte, daß sie Galateas Sohn Garwin und dessen im März erwartetes Geschwisterchen beneide, zeigte sich, daß Moira sich all zu gerne in die Rolle einer neu aufwachsenden hineinfühlen wollte. Das bekamen die Barleys dadurch heraus, daß sie feststellten, daß Moira ihnen wohl unzutreffende Angaben über ihren genauen Geburtstermin gemacht hatte. Als nach drei Tagen feststand, daß Moira wohl neu aufwachsen müsse, hatte sie sogar gelächelt. Daraufhin hatte Ceridwen sie kurzerhand mit den Füßen unter ihren Freien unterleib platziert und das Vita-mea-Vita-Tua-Ritual mit ihr gewirkt. Dabei war dann aber etwas passiert, womit sie nicht gerechnet hatte. Moiras Haare färbten sich feuerrot wie die Ceridwens. Daraufhin hatte die Herrin von Hof Hühnergrund mit dem Zaubereiminister und den Heilern von St. Mungo abgeklärt, daß Moira ab dem Tag ihrer Verjüngung Arianrhod Deardre Barley heißen sollte, die ihr von Übersee zugeschickte Tochter einer Großnichte von ihr, die diese nicht mehr haben wolte. So kam Ceridwen Barley zu einer vierten Tochter. "Stell dir das aber jetzt nicht so vor, daß du bei mir immer nur Sonnenschein erlebst, kleines. Auch wenn du schon das Gedächtnis einer achtzehnjährigen hast werde ich dich nur wie ein Baby und Kleinkind behandeln. Also verhalte dich bloß auch wie eins. Schon schlimm genug, daß ich dir erst beibringen mußte, wie ein anständiges Hexenkind zu saugen. Du wolltest in Wiege und Windeln zurück, also benimm dich gefälligst auch so! Gute nacht", sagte Ceridwen ihrer schmerzlos dazugekommenen vierten Tochter. Diese dachte nur für sich: "Die Angelegenheit mit der Fütterung war erst sehr gewöhnungsbedürftig. Aber im Endeffekt empfinde ich sie wahrhaftig als die mir genehme Art der Bindung. Nur gut, daß dieses Hexenweib mir die Wochenwindeln umgelegt hat. Dann brauche ich wenigstens nicht alle vier Stunden das Haus zusammenzuschreien." Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.
Es war der fünfundzwanzigste September. Doris Fuller und die in ihr erwachte Fremde, die sich ihr bisher nicht mit Namen vorgestellt hatte, waren per Anhalter in die Mojavewüste hineingefahren. Der Autofahrer hatte Doris ohne Geld zu nehmen an eine bestimmte Stelle gefahren, mit der sie, Doris, eigentlich nichts verband. Doch als sie über einem bestimmten Punkt im Wüstensand stand fühlte sie eine schwache Vibration in den Füßen. "Hier war es", kam ihr ein Gedanke, der nicht ihr eigener war. Was genau hier an dieser Stelle war verriet die unheimliche Fremde nicht, die sich in Doris' Körper eingenistet hatte. Jedenfalls war ihr jetzt danach, den durch ihren wie hypnotisch wirkenden Blick gefügig gehaltenen jungen Mann genauso aller Lebenskraft zu berauben, wie sie es mit Clark Styles gemacht hatte. Zwei Stunden später hatte sie den restlos leergesaugten Mann im Sand vergraben und war mit dessen Auto Richtung Nordwesten davongefahren. Als sie auf dem Sandstück gestanden hatte, das unter ihren Füßen vibriert hatte, war ihr so, als schwinge da noch etwas aus weiter Ferne nach wie ein unhörbares Echo. Als sie Mat, den von ihr kontrollierten Autofahrer, all seiner Lebensenergie beraubt hatte, konnte sie es deutlich fühlen, daß da noch irgendwas war. Genau das, was sie gesucht hatte, das, was sie daran gehindert hatte, früher zurückzukommen, auch wenn sie dafür die Obhut und das Wohlwollen einer ihrer beiden wachen Schwestern hätte ertragen müssen. Warum dachte sie an zwei Schwestern, wo sie selbst ein Einzelkind war? Warum war es so wichtig, daß die beiden wach waren? Ihr fiel dazu nur ein, daß es nicht ihre Gedanken und Gefühle waren, die sie da umtrieben. Sie mußte wieder an Geschichten von Menschen denken, die von bösen Geistern besessen waren. Aber sowas hatte sie stets als Unfug abgelehnt. Doch irgendwas steckte in ihr und trieb sie an, Männer durch wilden Sex leerzusaugen wie ein Vampir. Als sie das dachte meinte sie, jemand würde verärgert knurren. Sie wußte, daß es nicht von außen zu ihr gedrungen war.
Aus Mats Autoradio erklangen die Nachrichten. Der Sprecher berichtete vom Fund eines toten Armeeangehörigen in seiner Appartmentwohnung in Los Angeles und daß die Polizei vor einem Rätsel stand. Denn der Mann sei durch keine äußere Gewalteinwirkung umgekommen. Wen die Polizei im Verdacht hatte wurde nicht erwähnt. Doris wußte aber auch so, daß sie nun zur Jagd freigegeben war. Doch wer Jäger und wer Gejagter war entschied sich manchmal ganz anders, als es den äußeren Anschein hatte, fiel ihr ein, während sie Mats wüstentauglichen Sedan in Richtung Autobahn lenkte. Sie wußte, daß sie Richtung osten fahren mußte. Irgendwo dort mußte der Ursprung jenes unhörbaren Echos sein, daß sie in der Wüste verspürt hatte. Sie wußte aber auch, daß sie zwischendurch immer wieder nachprüfen mußte, wo genau sie hinfahren mußte. Durch die für Mat tödliche Liebe fühlte sie sich hellwach und satt. Weder Hunger noch Durst plagten sie. Sie schaffte es, ein selten befahrenes Stück Autobahn zu erreichen und beschleunigte, um aus Kalifornien herauszufahren. Sie wußte nicht, daß sie bereits von mehreren Ermittlungsbehörden gesucht wurde und daß ihr Bild und ihre Personenbeschreibung bereits an alle Polizeidienststellen in den USA gemailt und gefaxt worden waren. So empfand sie zunächst keinen Arg, als sie mit mehr als zehn Meilen über der erlaubten Geschwindigkeit an einer hinter einem Werbeplakat versteckten Autobahnpolizeistreife mit Geschwindigkeitsmessungslaser vorbeirauschte. Erst als sie die beiden schweren Motorräder mit Warnlicht und Sirene hinter sich bemerkte fiel ihr auf, daß sie eigentlich nur 55 Meilen in der Stunde hätte fahren dürfen. Sie scherte sich jedoch nicht darum, daß sie womöglich einen Strafzettel abbekommen würde. So fuhr sie rechts heran und wartete, bis die beiden Harleys neben ihr stoppten. Einer der Patrouillenmänner bedeutete ihr, die Fahrertür zu öffnen. "M'aam, sie sind mit siebzig Meilen gefahren. Das sind fünfzehn zu viele", begrüßte der Polizist Doris Fuller. Zeigen Sie mir sofort ..." er stutzte, als er das Gesicht der gestellten Geschwindigkeitssünderin sah. Doris fühlte sofort, daß der Polizist sehr alarmiert war, ja, daß er sie gerade erkannte und als Mordverdächtige einstufte. Konnte sie wahrhaftig fremde Gedanken erfassen? Offenbar, denn jetzt erspürte sie, daß der Autobahnpolizist sich darauf konzentrierte, die Fahrerin zu verhaften und darauf gefaßt war, daß sie eine Waffe nehmen oder sich anders wie gegen ihn zur Wehr setzen mochte. er machte ein schnelles Zeichen zu seinem Kollegen und blaffte dann: "Ma'am, steigen Sie aus und legen Sie ihre Hände aufs Dach!" Der Kollege lauerte bereits auf einen möglichen Ausfall der gestellten Verdächtigen. Doris fühlte, daß er sofort schießen würde, wenn sie eine falsche Handbewegung machte. Was jedoch für sie schlimmer war war ein Knopfdruck, den der andere Polizist ausführte. Sie erfaßte, daß er damit ihr Bild und eine Positionsbeschreibung an seine Einsatzzentrale schickte. Wenn die Nachricht ankam war sie geliefert. Sie stieg schnell aus dem Wagen und sah dem ersten Polizisten in die Augen. Mit einer von ihr bisher nicht verspürten Kraft starrte sie ihm in die Augen und hörte sich selbst wie mit zwei Stimmen denken: "Bleib wo du bist, Norman Freeman!" Gut, daß sie den Namen des Autobahnpolizisten erfahren hatte. So wirkte ihr über ihren Blick übermittelter Befehl noch intensiver. Tatsächlich erstarrte der Autobahnpolizist auf der Stelle. Doris riß ihre rechte, scheinbar unbewaffnete Hand hoch und deutete auf die schwere Maschine des zweiten Polizisten. Dieser wähnte einen bevorstehenden Angriff, sah jedoch keine Waffe, die ihn zur bewaffneten Gegenwehr berechtigte. Als es vor ihm dunkel flackerte, als reiße jemand kleine Löcher in sein Gesichtsfeld, war es schon zu spät. Auf einmal tanzten drei und dann neun nachtschwarze Flammenzungen auf dem Tank seines Motorrades. Aus den neun Flammenzungen wurde innerhalb eines Augenblicks ein tosendes Feuer, das jedoch weder Licht noch Wärme, sondern abgrundtiefe Dunkelheit und Eiseskälte verströmte. Norman Freemans Kollege wollte gerade die Dienstwaffe freiziehen, als ihn die Ausläufer der dunklen Flammen erfaßten und sich sofort tief in sein Fleisch hineinfraßen. Er fühlte erst den Schmerz einer schweren Verbrennung. Doch dann fühlte er seinen Arm nicht mehr. Eine Sekunde später umschloß ihn das unnatürliche Feuer vollständig. Er kam nicht einmal dazu, zu schreien. Denn die dem unirdischen Feuer innewohnende Kälte gefror seinen Körper, bevor er in den Flammen zerfiel wie ein benzingetränktes Stück Papier im Lagerfeuer. Sein Motorrad bot dem Feuer einen ebensoguten Nährboden. Was Holz und Brennstoff für natürliches Feuer war, das war jedes Metall für diese Verkehrung des heißen Elementes. Doris Fuller und das in ihr hausende unheimliche Wesen sahen dem Zerstörungswerk zu. Doris fühlte jedoch, wie dieser übernatürliche Angriff sie aller erbeuteten Lebenskraft beraubt hatte. Nur der Umstand, daß noch Clarks einverleibtes Leben in ihr gespeichert war bewahrte sie davor, bewußtlos umzufallen. Sie sah Norman Freeman an und befahl ihm, seine Waffen und seine Kleidung abzulegen. Er sträubte sich erst. Doch der wohl magisch zu nennende Einfluß ihres Blickes kämpfte jeden Widerstand gnadenlos nieder. Er schlüpfte aus seinen Sachen und legte sogar seine Dienstwaffe und das tragbare Funkgerät über die geparkte Maschine. Wieder hob Doris ihre rechte Hand. Diesmal dosierte sie jene unheimliche Vernichtungskraft wesentlich schwächer. Es reichte schon, ein kleines Flämmchen aus dunklem Feuer zu erschaffen, das munter auf dem Tank des Motorrades tanzte, wuchs und sich dann in zwei und dann vier neue Flammen teilte. Dann befahl sie Norman auf reinm geistigem Weg, auf den Rücksitz zu klettern. Sie schloß die Fahrertür und fuhr mit dem unterworfenen Polizisten einige Meilen weiter, bevor sie von der Autobahn herunterfuhr. Sie erschrak, als sie im Rückspiegel ihr Gesicht sah. Konnte es angehen, daß sie innerhalb einer Minute um mehr als zehn Jahre gealtert war? Sie verdrängte den Gedanken daran, daß ihr Körper nicht das richtige Gefäß für diese unheimlichen Kräfte war, mit denen sie gerade hantiert hatte. Wenn sie diesen Autobahnpolizisten da als Ersatz für Mat nahm konnte sie den Lebenszeitverlust wieder ausbügeln, hoffte sie.
In der Ferne hörte sie bereits weitere Sirenen. Doch die ihr nachjagenden kamen wohl gerade erst an der Stelle ihrer Verheerung an. Sie schaffte Norman Freeman einige Hundert Meter vom Wagen fort. Dann holte sie sich auf die bereits zweimal erfolgreich benutzte Weise neue Lebensenergie von ihm. Als sie sich wieder frisch und satt fühlte stellte sie fest, daß die blitzartige Alterung tatsächlich zurückgegangen war, allerdings meinte sie, immer noch fünf Jahre älter auszusehen als sie war. Mußte sie jetzt jede Stunde einen gesunden Mann leersaugen, um sich auf ihrer gewohnten Altersstufe zu halten? Sie erschauerte bei diesem Gedanken. Doch dann erkannte sie, daß sie nur dann alterte, wenn sie gezwungen war, nach außen wirkende Zerstörungskraft freizusetzen. Wenn sie es hinbekam, nicht an jedem Tag dieses dunkle Feuer zu entzünden, kam sie vielleicht gut durch. Als sie hörte, wie ein Hubschrauber über der Autobahn dahinflog wußte sie, daß sie in Mats Wagen nicht mehr weiterfahren konnte. Sie holte alle ihre Sachen heraus. Dann öffnete sie den Tankverschluß und tränkte das Abschleppseil mit Benzin aus dem Kanister. Dann legte sie ein Ende des Seils in den Tank und zündete es mit einem Streichholz an. Sie lief einige Meter weiter. Dann warf sie sich auf den Boden und wühlte sich in großer Eile in den Boden hinein. Dann kam ihr der Gedanke, sich totzustellen. Sie hörte zu atmen auf. Ihr Körper fühlte sich kalt und taub an. Sie meinte, in einem leblosen Klotz zu stecken. Ihre Körperwärme verringerte sich. Zehn Minuten später krachte es. Mats Wagen war explodiert. Das Feuer lockte den Helikopter an, dessen Suchscheinwerfer die Umgegend in taghelles Licht badete. Die Maschine landete sogar. Besser hätte Doris fuller es nicht treffen können. Sie wartete, bis drei Männer auf sie zueilten. Noch verbarg sie ein Sandhügel. Doch als zwei der drei keine Schrittlänge mehr vor ihr waren schnellte sie hervor wie eine unter dem Sand versteckte Viper. Innerhalb einer Sekunde bekam sie die beiden an den Hälsen zu fassen. Ihr Griff war so schon mörderisch. Doch als sie den beiden Männern die Köpfe mit Wucht zusammenschlug, daß sie die Schädelknochen brechen hörte, wußte sie, daß sie nun endgültig auf einem Weg wandelte, der sie zur Feindin aller Menschen machte. Der dritte Mann, der fünf Schritt hinter seinen Kollegen gelaufen war, griff gerade nach seinem Funkgerät. Da war Doris Fuller bei ihm und stieß ihn brutal zu Boden. Ihn durch ihre tödliche Liebe leerzusaugen hatte sie keine Zeit. Außerdem wollte sie den Hubschrauber, wo noch ein Pilot auf weitere Anweisungen wartete. So begnügte sie sich damit, den anderen mit ihrem magischen Blick zu bannen und ihm zu befehlen, den Piloten zu erschießen, sobald er wieder im Hubschrauber war. Eine Minute später krachte ein Schuß. Doris fühlte, wie ein Leben in ihrer Umgebung schlagartig erlosch. Die beiden anderen Männer vor ihr lagen in den letzten Zügen. Die kümmerten sie nicht mehr. Sie lief zum Hubschrauber, wo der von ihr unterworfene gerade erkannte, was er da getan hatte. Doris versetzte ihm einen betäubenden Handkantenschlag. Dafür hatte sie keine überirdische Kraft einsetzen müssen. Sie schaffte den Betäubten in den Hubschrauber, fesselte ihn mit Handschellen an die Rückbank und schnallte ihn an. Dann warf sie den in den Kopf geschossenen Piloten hinaus und setzte sich auf dessen Sitz. Sie dachte daran, daß behördliche Maschinen womöglich einen Erkennungs- und Ortungssender trugen. Wo mochte so ein Sender angebracht sein? Sie konzentrierte sich. Irgendwie wußte sie, daß sie auch elektrische Felder erspüren konnte. Dann kam ihr der Einfall, ihre Hände an den Rahmen der Maschine zu legen. Sie kletterte noch einmal hinaus und legte ihre Hände an den Bug des Hubschraubers. Sie fühlte, wie von allen Seiten her etwas in sie hineinströmte, um durch ihre Hände in den Helikopter überzufließen. Dann knackte und knisterte es bedenklich. Der Suchscheinwerfer barst mit lautem Knall. Dann fühlte sie, wie schwache Impulse von ihr fortliefen und konzentrierte sich. Es war, als bündele sie alle Elektrizität der Umgebung wie ein Laser das Licht auf einen Punkt. Sie hörte es laut krachen und sah eine Rauchwolke aus dem Verbindungsstück zwischen Hinterer Kabine und Heckrotor steigen. Sie nahm ihre Hände wieder fort. Dann setzte sie sich wieder auf den Pilotensitz.
Als sie sich wieder daran erinnerte, wo die Unterschiede zwischen einem Hubschrauber und einem Flugzeug lagen ergriff sie die Steuerhebel und brachte die Polizeimaschine in die Luft. Die Flugelektronik hatte ihrem mysteriösen Elektrozauber widerstanden. Sie war ja auch nicht das Angriffsziel gewesen. Was nun über Funk gesagt wurde interessierte sie nicht. Sicher würde der Helikopter bald von Radarüberwachungsstellen gesucht werden. Doch wenn sie tief genug flog konnte sie mit der Maschine unter jedem Radar hindurchfliegen. Sie kannte die Untergrenze für klare Radarerfassung besser als zivile Polizeikräfte. Wer ihr was wollte mußte ihr schon mit eigenen Ortungsgeräten ausgerüstete Jagdmaschinen hinterherschicken. So blieb sie knapp zwanzig Meter über dem Boden und folgte der Autobahn, bis sie merkte, daß ihr Gefangener erwachte. Die Bewußtlosigkeit hatte die magische Hypnose aufgehoben. Doch er war ja gefesselt. Er stieß erst unartikulierte Laute aus. Dann erkannte er, daß er gerade entführt wurde. Seine Ausbildung zwang ihn, seine Selbstbeherrschung zu bewahren. Doch er erinnerte sich daran, daß er den Piloten erschossen hatte. Das bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. "Ich würde dich sehr gerne zu meinem ersten neuen Gefährten machen, Will Dunning. Aber in diesem Körper kann ich das wohl vergessen", hörte sich Doris Fuller sagen. "Also tu nichts, was dich jetzt schon für mich wertlos macht!" Der Gefangene schien sich darüber Gedanken zu machen, wie hoch seine Fluchtchancen waren. Währenddessen steuerte Doris Fuller die gestohlene Polizeimaschine parallel zur Autobahn. Sie ging sogar noch auf zehn Meter Tiefe herab und riskierte, durch den aufgewühlten Sand die Sicht zu verlieren. Doch ihr war wichtig, den Hubschrauber möglichst lange zu fliegen. Erst als die Treibstoffanzeige die ersten Warntöne von sich gab, wußte Doris, daß sie die gestohlene Flugmaschine nicht behalten konnte. Sie wartete, bis auch der letzte Rest von Treibstoff verbraucht war. Dann landete sie den Helikopter. Sie hatte keine Mühe, den Gefangenen mit ihrem Blick zu bannen. So konnte sie ihm bedenkenlos die Handschellen abnehmen und mit ihm aussteigen.
Als sie sicher war, daß kein weiterer Hubschrauber ihrer Spur gefolgt war holte sie sich auch von Dunning, was sie sich seit ihrer unheimlichen Verwandlung von gesunden Männern zu holen vermochte. Jedes Mal bereitete es ihr mehr Freude. War es bei Clark noch die vorher geknüpfte Beziehung, war es bei Mat bereits Freude an der Macht. Freeman hatte sie als Entschädigung für die von ihr verbrauchte Kraft angesehen. Bei Dunning fühlte sie nun eine grenzenlose Überlegenheit. Was sie durch ihr Aussehen nicht hinbekam konnte sie wohl mit ihrem Blick erreichen. Außerdem fühlte sie sich nun wieder jünger als vorher. Sie erkannte, daß sie genug ausdauer besaß, trotz der kalten Nacht bis zum nächsten Morgen im Dauerlauf zur nächsten Tankstelle zu gelangen.
Kurz vor dem angestrebten Ziel änderte sie ihr Vorhaben. Tankstellen waren wegen der ganzen Raubüberfälle und Benzindiebstähle von Kameras überwacht. Da konnte sie nicht einfach hineinmarschieren. So postierte sie sich wieder an der Autobahn. Sie wartete geduldig wie eine Katze vor dem Mauseloch, bis ein geräumiger Mercedes mit einem einzigen Insassen des Weges kam. Sie hob erst den Daumen und dann ihr T-Shirt, unter dem sie nichts anderes trug. Der Fahrer war dadurch so verwirrt, daß er fast einen Unfall gebaut hätte. Er konnte soeben noch anhalten. "Ui, Mädchen, was sollte die Nummer denn?" stieß der knapp fünfzig Jahre alte, ziemlich gut genährte Fahrer aus. Doris lächelte sehr verheißungsvoll und sagte:
"Ich muß ganz schnell nach Osten hin, richtung Chicago, Süßer. Nimmst du mich mit?" Sie wunderte sich, wie jung ihre Stimme klang.
"Öhm, ich will nach Dallas. Da wohne ich", erwiderte der Mercedesfahrer sichtlich verstört. "Öhm, reicht die Strecke erst mal?" Doris Fuller nickte und schenkte dem Mann hinter dem Lenkrad ihr schönstes Lächeln. Gleichzeitig glitzerte es golden in ihren Augen auf. Der Mann am Steuer vermeinte, seine größte Erfüllung zu sehen. So sagte sie noch: "Sollst es auch nicht umsonst tun. Ich kann den Sprit bezahlen."
"Öhm, kriegen wir schon hin", brummte der Mercedesfahrer. Doris nickte und schlüpfte in den Fond des Wagens. Zwar hätte der Fahrer es sicher gerne gehabt, wenn die unbekannte sich neben ihm hingesetzt hätte. Doch sie erwiderte, daß sie gerne erst ein paar Stunden schlafen wolle, weil sie doch eine lange Nacht hinter sich gehabt hatte. Der Fahrer, den sie nun als Mike Fawley identifizierte, willigte ein. Doris fühlte, daß er gerne zu ihr auf den Rücksitz gerutscht wäre. Doch Doris' Bezauberung trieb ihn zur Eile an. So fuhr der Mercedes los. Doris lag auf dem Rücksitz. Sie überwachte die Umgebung, ob ihr wieder Polizisten dumm kommen würden. Doch der Mercedes wurde nicht behelligt. So entkam Doris Fuller den ihr nachjagenden Polizeikräften, die wohl jetzt erst den zerstörten Wagen untersuchten und wohl noch nach dem Hubschrauber suchten.
Jerimy fand die Frau sehr nett, zu der sie hingefahren waren. In der Nacht davor hatte er die rothaarige Riesin wiedergesehen. Er hatte sie aus einem Weltraumflugzeug steigen sehen können, bevor sie ihn in ihre Höhle mit dem goldenen Topf verschleppt hatte. Die Frau da vor ihm lachte ihn an. Sie hatte dunkles Haar, das zu lustigen Ringen gedreht war. Sie redete mit ihm über das, was er so gerne machte, hörte und im Fernsehen sah. Irgendwann wollte sie dann wissen, was er nachts so erlebte. Weil ihm das Angst machte sagte sie nur: "Du mußt mir das nicht sagen, wenn du das nicht möchtest, Jerimy. Aber vielleicht kann ich mit deiner Mom und deinem Dad was machen, daß das, was dir Angst macht, nicht mehr wiederkommt oder du das selbst ganz weit wegschicken kannst, wenn es wiederkommt."
"Das können Sie nicht. Die ist ein böses Monster, das sogar gegen Hexen kämpft", sagte Jerimy. Mehr war im Moment nicht aus ihm herauszukriegen. Die nette Frau mit den dunklen Ringelhaaren sagte dann zu seinem Dad: "Ich merke, daß es wohl was sehr tiefsitzendes ist. Das wird Zeit brauchen, sein Vertrauen zu gewinnen."
""Versuchen Sie ja nicht, mich über Jahre anzumelken, Doktor Tompson. Das würde Ihnen übel bekommen", hatte Jerimys Dad geknurrt.
"Das klären wir besser gleich", sagte die nette Frau. "Jerimy, geh bitte mit deiner Mom in den Malraum. Wenn du möchtest kannst du mir ja ein Bild malen, was dir am meisten Spaß und am meisten Angst macht."
"Der böse Wolf, die böse Hexe und der Drache", hörte Jerimy noch seinen Dad, bevor er mit seiner Mom durch die Tür war und in einen Raum ging, wo andere Kinder waren, die mit Buntstiften und Papierblättern an Tischen Saßen. Jerimy und seine Mom setzten sich dazu und malten. Irgendwie war er ganz davon begeistert, alles zu malen, was er im Traumland mitbekommen hatte. Er bekam dafür nicht mit, daß seine Mom zwischendurch nicht da war. Erst als sie mit seinem Dad wieder bei ihm war und die zwanzig Bilder zusammenlegte, die er gemalt hatte, wußte er, daß sie für eine Zeit nicht bei ihm gewesen war. Als die nette Frau, die sein Dad Doktor Tompson nannte und die ihm gesagt hatte, daß sie Nancy hieß die Bilder von ihm sah sagte sie, daß sie gerne mehr darüber hören wollte, wie Jerimy als Baby war und dazu noch was finden würde. Sie sagte, daß er erst einmal das bittere Einschlafzeug weitertrinken sollte, Aber nicht in größeren Mengen, was immer das hieß.
Doch auch wenn Jerimy das bittere Zeug trank kam die Riesin irgendwie in seinen Träumen zu ihm. Er bekam dann nur keine Angst mehr. Dafür bekam er mit, wie sie ihn immer wieder als normalgroße Frau ganz doll in die Arme nahm und ihn dann einmal von einer anderen Frau wegholte, die ihn kratzte und verprügelte.
Als dann Oktober war durfte er sich bei der netten Frau auf eine Couch legen und hörte sich Musik an, die ihn immer ruhiger werden ließ. Er sollte auf ein Uhrenpendel sehen, das ganz ruhig vor seinem Gesicht hin und herging. Das alles trug ihn langsam und behutsam in eine friedliche Stimmung hinüber.
Dr. Tompson hatte ja schon viel über wiederkehrende Alpträume erfahren. Selbst ein Opfer wiederholter Angstvisionen hatte sie deshalb Pediatrie und Kinderpsychologie studiert, um Menschen, die ähnliche Probleme hatten zu helfen. Dabei hatte sie auch gelernt, Kinder wortlos in Hypnose zu versetzen. Das dauerte zwar länger als bei Erwachsenen, die auf entsprechende Anweisungen eingestimmt werden konnten. Doch dafür wirkte diese Behandlung auch. Sie hoffte, Jerimys Träume durch Befehle, die sie ihm in Hypnose erteilte zu entschärfen. Das würde die Einnahme von Schlafmitteln überflüssig machen. Dazu mußte sie aber erst wissen, wovon der Junge genau träumte. Die Bilder, die er malte waren zwar schon aussagekräftig, aber eben auch interpretierbar. Die Urangst des inneren Tieres, gefressen zu werden im Zusammenspiel mit dem Anblick weiblicher Geschlechtsmerkmale und einer Art inversen Geburt war ihr in diesem Zusammenhang noch nicht untergekommen. Sie dachte an die Lehrmeinungen von Freud, Jung und Reich, die ihre ganz eigenen Ansetze über Träume und die von ihnen transportierten urängste und Triebe entworfen hatten. Sie hatte sich schon eine Meinung gebildet, daß Jerimy wohl Angst vor der eigenen Geburt hatte, daß er sie im Traum unbewußt wieder umkehren wollte. Aber die anderen Männer und die Sache mit einem anderen Jungen namens Julius paßten nicht in diese Vorstellung. So blieb ihr eben nur die Hypnose, um Jerimy in Aussagestimmung zu bringen.
"Wie heißt du?" fragte sie den Jungen, als er den idealen Zustand erreicht hatte. "Richard, Jerimy", antwortete der Junge auf der Couch. Sie fragte ihn, was er nachts so erlebe und sagte ihm, daß er keine Angst haben müsse. Dabei sprach der Junge merkwürdigerweise mit dem Wortschatz eines Erwachsenen: "Ich bin mir nicht im klaren, ob es ein Traum ist oder ich das mal erlebt habe", sagte Jerimy. "Ich kann es eigentlich nicht so erlebt haben, weil das ja nicht wirklich sein kann." Dr. Tompson wollte dann wissen, was nicht wirklich sein konnte: "Ich erlebe immer wieder eine Begegnung mit einer rothaarigen Frau, die offenkundig danach trachtet, Männer und Jungen entweder mit dem Mund oder der Vulva in sich einzuverleiben. Das bereitet mir Angst", leierte der Junge auf der Couch ganz in Trance. Dr. Tompson blickte auf das mitlaufende Tonbandgerät. Sie hatte das Einverständnis von Jerimys Eltern, die Sitzung aufzuzeichnen. Allerdings durfte sie die Aufnahmen nur dann verwenden, wenn seine Eltern es erlaubten. So setzte sie die Befragung fort und erfuhr, daß der Junge, der gerade davon ausging, ein erwachsener Mann namens Richard zu sein, einen Sohn gehabt habe, der Julius hieß und er ihn dieser dämonischen Frau, einer Hexe oder Teufelin überlassen sollte, weil er selbst schon zu alt für sie sei. Auf ihre Frage, ob die Frau einen Namen habe erwähnte er eine Loretta Irene Hamilton, die er Lolo nannte. Sie habe aber auch mal gesagt, ihr Name sei Roxanna Hallitti gewesen. Als es um die ständig wiederkehrenden Traumszenen ging schilderte Dr. Tompsons Patient, daß eine Gruppe von Hexen auf fligendem Besen in die Höhle eingedrungen sei und mit Zauberstrahlen auf die Unheimliche geschossen hätte. Immer wieder war von einem goldenen Krug mit zwei weitgeschwungenen Henkeln die Rede, der aus sich selbst leuchtete. Dann sei er einmal Baby gewesen und in einem Raum gewesen, wo viele andere Zauberer und Mehrere Hexen gewesen seien. Dr. Tompson ließ ihn reden, bis er von sich aus sagte: "Die haben gesagt, daß Lolo von den anderen Hexen vernichtet worden sei. Mehr weiß ich nicht."
"Gut, Jerimy. Das genügt mir erst einmal", sagte die Psychologin und befahl ihm, wieder aufzuwachen. Als Jerimy wieder hellwach war sprach er wieder so wie ein Vierjähriger es konnte. Sie sagte ihm dann noch, daß er sie noch einmal besuchen dürfe und holte seine Eltern herein. Sie schickte Jerimy mit seinem Vater hinaus und spielte seiner Mutter die Aufnahme vor. Die glaubte das natürlich nicht, auch wenn die Stimme des Patienten eindeutig die Jerimys war. Dann schickte sie Leslie hinaus und bat Mortimer, sich die Aufnahme anzuhören.
"Wollen Sie mir jetzt allen Ernstes einzureden versuchen, Jerimy sei eine Wiedergeburt dieses Richard Andrews?" schnarrte er. Dr. Tompson schüttelte ihren hübschen dunklen Lockenkopf und beteuerte, das mit keinem Wort angedeutet zu haben. Allerdings sei die Frage, warum Jerimy in Hypnose derartig weit entwickelte Sprachkenntnisse habe schon zu klären.
"Wissen sie, in meinem Sender arbeitet ein Hindu, der einmal pro Woche eine Sendung mit Bollywood-Schlagern moderiert. Der glaubt an sowas wie Samsara, Kharma und Dharma. Wenn ich dem das auftischen würde, was Ihr Tonband da aufgezeichnet hat, würde der das wirklich glauben, daß mein Sohn tatsächlich schon einmal gelebt hat und wohl eine schwere Last auf seiner Seele trägt. Aber ich bin Baptist. Ich glaube nur an die Auferstehung Christi und das auch eher an Ostern und Weihnachten."
"Was regressive Hypnose ist wissen sie?" fragte Dr. Tompson.
"Woher solte ich?" knurrte Mortimer Wilson.
"Damit wird eine zugegeben höchst umstrittene Methode bezeichnet, die angeblich hervorbringen soll, ob und als was jemand schon einmal gelebt haben soll, auf jeden Fall aber eine sehr gründliche Rückbesinnung auf bewußt nicht abrufbare Erinnerungen ermöglicht, die sogar bis drei Monate vor die Geburt eines Patienten reichen können. Ich habe das einmal mit mir machen lassen, weil ich neugierig war. Meine Mutter hat danach bestätigt, daß sie in der Situation tatsächlich sowas gesagt hat, als sie mit mir schwanger war. Ob ich vorher gelebt habe wage ich zu bezweifeln, weil ich es nicht hinnehmen wollte, als Inquisitor in Spanien Männer und Frauen auf den Scheiterhaufen gebracht zu haben. Allerdings paßten diese wie auch immer erzeugten Erinnerungssplitter zu Angstträumen, die mich dazu trieben, Psychologie zu studieren. Mehr möchte ich dazu aber nicht ausführen. Ich möchte sie nur fragen, ob ich mich mit meinem Doktorvater beraten darf, welche Art von Heilbehandlung für Jerimy sinnvoll und erfolgversprechend ist. Dazu müßte ich jedoch Ihr Einverständnis erbitten, die Aufzeichnung dieser Sitzung zu verwenden."
"An der Beratung mit Ihrem Doktorvater kann ich Sie nicht hindern, solange sie meinen Sohn nicht zur Fallstudie in einem Buch machen. Aber die Aufzeichnung dürfen Sie nur dann verwenden, wenn ich das für richtig halte." Dr. Tompson nickte einverstanden. Dann sagte sie noch: "Auf jeden fall wissen weder Sie noch Ihre Frau, was vor und Nach Jerimys Geburt geschehen ist. Ich denke, jetzt, wo er bei Ihnen sowas wie Sicherheit gefunden hat, brechen die Ängste aus seinen ersten Lebenstagen wieder durch. Die rothaarige Frau könnte tatsächlich seine Mutter gewesen sein, die ihn nicht haben wollte und die ihn vielleicht deshalb nicht zur Welt bringen wollte. Das erklärt zwar nicht den gehobenen Wortschatz, doch vielleicht kann mein Doktorvater dazu was aussagen."
"Das kann ich Ihnen auch sagen, ohne Psychologie studiert zu haben, Doktor: Denn wenn es stimmt, daß wir vieles unbewußt wahrnehmen, dann kann Jerimy in den vier Jahren, die er bei uns ist, durchaus genug Erwachsene gehört haben, die einen gehobenen Wortschatz benutzen." Darauf wurde er gefragt, wen genau er meine. Da mußte er dann aber passen und schob es auf seine Frau, daß er ja nicht wisse, welche Radio- und Fernsehsendungen sie Jerimy hören und sehen ließ, wenn er selbst im Studio sei. Das reichte der Psychologin einstweilen. So wurde beschlossen, eine weitere Lehrmeinung einzuholen.
Am Abend schickte die Ärztin eine E-Mail über das für Psychologen und Psychotherapeuten reservierte Netzwerk Psynet an Professor Craven und schilderte den Fall Jerimy. Sie ahnte ja nicht, daß sie dadurch jemanden auf den Plan rief, an dessen Existenz sie seit ihrem fünften Lebensjahr nicht mehr glaubte.
Am 25. September 2000 vermeldete Arachnobot, daß Mort Wilson unter seiner E-Mail-Adresse mwilson@silverlinks.com eine Nachricht an einen Freund geschickt hatte, in dem er über seinen Adoptivsohn schrieb. Gleichzeitig meldete Arachnobot, daß eine Dr. Nancy Tompson über das Netzwerk von Psychotherapeuten mit ihrem Doktorvater, einem Professor Craven in Princeton mehrere E-Mails ausgetauscht habe, in denen es um einen gerade vier jahre alten Jungen namens Jerimy ging, der unter wiederkehrenden Alpträumen leide. Brandon dachte wieder daran, wie unheimlich das war, daß ein Programm die von Knotenpunkt zu Knotenpunkt reisenden Mails kopieren und entschlüsseln konnte, sofern sie nicht, wie die meisten Mails, ohne jede Verschlüsselung verschickt wurden. Wie viel Unfug konnte jemand treiben, der ein solches Programm benutzen konnte. Die Leute ahnten offenbar nicht, wie heftig sie sich selbst auslieferten. Und es war nicht einmal nötig, in das Land eines potenziellen Angriffsziels zu reisen, um es zu bedrohen oder zu schädigen. So konnte er eine an und für sich streng vertrauliche Fallbeschreibung lesen, die jede ärztliche Schweigepflicht komplett lächerlich machte. Die Mail war von Arachnobot in virtuellen Spinnenfäden eingeschnürt und über mehrere Umwege in Einzelteilen auf Brandons Rechner heruntergeladen worden, ohne daß er dies ausdrücklich veranlassen mußte. So konnte er Dr. Tompsons Mail lesen und wußte, daß Patricia, die gerade den kleinen Prunellus wickelte, telepathisch mitlas:
Sehr geehrter Herr Professor Craven,
ich wende mich heute an Sie, weil Sie mir damals so gute Ratschläge über die Traumdeutung nach Freud und Jung gegeben haben und mir auch die Zuwendung zur indianischen Traumlehre empfohlen haben. Doch alle drei Herangehensweisen erscheinen mir für den Fall, über den ich Sie im folgenden unterrichten möchte, sehr schwierig anwendbar.
Seit zwei Wochen habe ich einen vier Jahre alten Patienten namens Jerimy (Nachname unwichtig). Er ist ein Adoptivkind. Seine Eltern kamen zu mir, weil der Junge seit dem fünfzehnten September jede Nacht dasselbe angsterzeugende Szenario träumt: Er sieht sich in einer großen Höhle, die von einem großen Behälter, einem Topf, einer Tasse oder einem Krug golden erleuchtet wird. Außerdem befindet sich dort eine rothaarige Riesenfrau mit goldenen Augen, die ihn fressen will. Das war das erste wiederkehrende Traumszenario. Das zweite führt die Handlung dahingehend fort, daß immer dann, wenn sie ihn in jenen Behälter oder ihren Mund zu schieben trachtet, andere Frauen in der Höhle auftauchen und Blitze schlagen. Er hat Angst vor ihnen. Diese Träume enden immer damit, daß ein goldener Blitz ihn trifft und er mit riesenhaften Menschen in einem Raum ist, wo über einen Richard geredet wird und Jerimy glaubt, das sie über ihn redeten. Diese Informationen konnte ich nur durch Tiefenhypnose aus dem Jungen herausholen, nachdem seine Adoptiveltern mir hierzu die Genehmigung erteilten. In Hypnose sprach der Junge mit einem für einen Vierjährigen erstaunlich weit entwickelten Wortschatz, den er bei vollem Bewußtsein nicht beherrscht. Er identifiziert sich mit einem Richard, der von der Riesenfrau, die er Lolo nennt, erst gefüttert wurde, um dann von ihr gefressen zu werden. Während meiner Sitzungen mit dem Jungen konnte ich ihn auch fragen, bei wem er welche Fernsehprogramme gesehen hat. Ich kann danach ausschließen, daß er Geschichten von anthropophagen Monstren nicht aus dem Fernsehen oder andren Medien kennt. Außerdem erscheint mir die Detailgenaue Wiederkehr der Traumbilder zu sehr als durchlebte und unverarbeitete Erinnerung, als daß ich es für eine reine Verbildlichung unbewußter Ängste ansehen kann. Mir kam der Gedanke, Dr. Loewenthal in Detroit in diesen Fall einzubeziehen, auch wenn wir beide uns ja im Grunde einig sind, daß seine Thesen von der wissenschaftlichen Nachweisbarkeit von Reinkarnation auf sehr sehr tönernen Füßen steht und bis heute kein echter Beweis für ein wirklich wiedergeborenes Individuum erbracht wurde. Es gelingt mir auch nicht, Jerimys Erinnerungen bis zum Zeitpunkt seiner Geburt zurückzuverfolgen. Offenbar fehlen mir hierfür die richtigen Schlüsselbegriffe, die eine so junge Psyche entsprechend manipulieren können. Auch deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie einer Einbeziehung Loewenthals zustimmen, beziehungsweise, sie nicht grundweg ablehnen.
Mit hochachtungsvollen Grüßen
Nancy Tompson
Jerimys Vater schrieb in seiner Mail auch über die Traumbilder seines Sohnes und das "die Psychotante", die seine Frau ihm empfohlen habe, angedeutet habe, einen Kollegen hinzuzuziehen, der sich noch besser mit verschütteten Erinnerungen auskenne und sogar behaupte, Menschen in bereits erlebte Leben zurückführen zu können.
"Wir zwei kümmern uns drum, Brandon, weil wir uns in der Muggelwelt am besten auskennen und als Euroamerikaner geboren wurden und daher nicht auffallen", telepathierte Patricia Straton. Brandon hatte keine andere Wahl, als dem zuzustimmen. Allerdings mußten sie einen offiziellen, für die Öffentlichkeit wichtigen Grund erfinden, um in die Nähe des Jungen und aller an ihm herumdoktorenden Psychologen und Psychiater zu kommen. Dann dachte er Patricia zu: "Ich dachte, der hätte damals alles vergessen. Du und deine damalige Chefin habt ihn doch gescannt."
"Ein Grund, warum ich das unbedingt nachprüfen muß. Am Ende waren seine Erinnerungen ausgelagert und fließen nun aus einem mir noch unbekannten Grund wieder in ihn zurück, wenngleich er sich nicht bewußt erinnert, sondern auf der reinen unbewußten Ebene. Kann sein, daß die beiden netten Schwestern von der bösen Frau, die ihn im übertragenen Sinn aufgefressen hat und gerne ganz verdauen wollte nach ihm suchen. Am Ende wollen die ihn dazu benutzen, ihre eigenen Kräfte zu steigern. Aber das kann ich erst rauskriegen, wenn ich selbst in den Kopf von dem Kleinen reingesehen habe."
"Wofür wir an den ranmüssen. Ähm, wissen die anderen Zauberstabschwinger, wo er ist?" wollte Brandon wissen.
"Wo er untergekommen ist? Zumindest wissen die Ministeriumsgehilfen und die vom Laveau-Institut, daß er in ein Kinderkrankenhaus in San Francisco gebracht wurde. Ab da könnten nur Leute mit Muggelweltinformationsquellen seinen Weg verfolgt haben, vielleicht dieser FBI-Mensch Zachary Marchand, der in dem Fall damals das Opfer von gewöhnlichen Schwerkriminellen wurde. Aber den gibt's ja angeblich nicht mehr, weil er offenbar zu viele Nocturnia-Vampire auf sich gezogen hat", gedankensprach Patricia. Brandon kannte die Angelegenheit. Er hatte sie ja persönlich nachrecherchiert. Demnach war Zachary Marchand in Ausübung seines Dienstes von einer Bombe in einer Hütte in die ewigen Jagdgründe geschickt worden. Daran glaubte Patricia aber nicht. Kunststück, wo sie ja genug Mittel kannte, den Tod einer zu sehr gesuchten Person glaubwürdig vorzutäuschen. Am Ende hatte sich dieser G-Man klonen lassen, und sein Klon war dann als brauchbares Kanonenfutter und Alibileiche draufgegangen. Immerhin hatten die Nocturnia-Vampire das wohl gefressen und der Rest der Öffentlichkeit wohl auch. Doch jetzt mußten sie darauf gefaßt sein, daß ihnen andere Zauberer über den Weg liefen, die vielleicht auch erfahren hatten, daß mit Jerimy Wilson etwas unheimliches vorging. Brandon fragte Patricia, ob sie Anthelia in die Sache einweihen wollte.
"Nur wenn klar ist, daß wir nicht die einzigen sind, die diesen Vorfall registriert haben und wenn ich mehr darüber weiß, woher Jerimy diese Träume hat. Vielleicht bekomme ich es sogar mit, wie ihm die bei seiner Wiedergeburt verlorengegangenen Erinnerungen zurückgebracht werden." Brandon glaubte ihr das. Immerhin hatten sie ihm in einer Nacht das ganze erlebte Leben Cecil Wellingtons in den Kopf überspielt wie Daten von einem auf einen anderen Computer. Das war schon unheimlich, was mit Magie alles ging. Aber die Magielosen, zu denen er früher auch mal gehört hatte, kannten offenbar mittlerweile auch viele Methoden, mit dem Gehirn eines Menschen herumzuspielen. Das war ebenso unheimlich und auch alarmierend. Die Frage, ob ein Mensch auf natürliche Weise seinen Tod überlebte und als jemand anderes wiedergeboren werden konnte war auch interessant. Die meisten Inder glaubten es ja so sicher, wie die Christen an die Auferstehung des Heilands glaubten. Das war ja auch eine Art Wiedergeburt, wobei die Geburt Jesu als solche ja auch schon als eine Art Wiedergeburt gelten konnte, wo ein Gott sich zu den Menschen herabbegeben hatte. Die Hindus glaubten ja, daß auch Götter im Kreislauf der Wiedergeburten gefangen waren und Menschen ein Leben als Gottheit führen konnten, wenn sie sich in den früheren Leben immer anständig benommen hatten. Doch jetzt war keine Zeit für eine religiöse Grübelei. Sie mußten sich was ausdenken, um in die Nähe von Jerimy Wilson zu kommen, und zwar so, daß weder die Menschen mit noch die ohne Magie ihnen auf die Schliche kamen.
Tage vergingen. Nach einer wohldosierten, ihn nicht restlos auszehrenden Liebesnacht mit Mike Fawley war Doris Fuller Richtung Nordosten weitergetrampt. Doch der Geist der Astronautin verging langsam mehr und mehr. Es gab Tage, da wußte sie nicht, wer sie war und wo sie war. Dann träumte sie noch von einem Kampf in einer Höhle, bei dem sie mehrere Frauen in Weiß bedrängt hatten, die mit zerstörerischen Energiestrahlen auf sie gefeuert hatten. Sie hatte dabei immer wieder neue Kraft aus einem mannshohen goldenen Krug erhalten. Außerdem fühlte sie die Nähe ihres sicheren Abhängigen, der zwar körperlich alt und verbraucht war, aber ihr noch weiter hätte dienen können. Sie hatte seinen Sohn haben wollen, der nach außen einsetzbare Zauberkräfte hatte. Doch der war ihr im letzten Moment in einem weißgoldenen Lichtblitz entkommen und hatte seinen Vater, der sich zur Herstellung der Verbindung zwischen ihr und ihm hätte opfern sollen, mitgenommen. Sie hatte gerade zehn Sekunden gefühlt, daß beide nur dreißig Meter von ihrer geheimen Höhle entfernt waren, als etwas mächtiges ihren Abhängigen verschluckte und ihn ihr entriß. Sie fühlte es körperlich, wie ihr die in ihn gepumpten Kräfte aus dem Leib gerissen wurden. Sie fühlte, daß jemand ihn ihr auf eine Weise entrissen hatte, die sie bisher nicht kannte. Irgendwer hatte seinen erwachsenen Körper in den eines gerade neugeborenen Kindes verwandelt und damit all die Körpersubstanz verringert, in der ihre eingelagerten Kräfte gespeichert waren. Außerdem war er auf diese Weise erst einmal nicht mehr für sie zugänglich. Schmerz und Wut ließen sie laut schreien, genauso wie ein gerade erst geborenes Kind schrie. Dabei bekam sie gleich drei von den grünen Lebenskraftvernichtungsstrahlen in den Leib gejagt. Ihr blieb nur noch die Flucht in das schützende Gefäß. Sie sprang in den goldenen Krug, stürzte sich in die aufgewühlte orangerote Substanz hinein, die er enthielt und dachte daran, ihn zu schließen. Doch etwas verkeilte den Deckel. Zu sehr geschwächt, um sich noch einmal zu wehren verschwamm die Umgebung um sie. Sie fühlte, wie sie schwebte. Dann erfolgte eine noch schmerzvollere Erschütterung. Etwas riß ihr alles Leben aus dem Leib, ja zerstörte ihren in halben Nebel aufgelösten Körper und schleuderte sie in den Himmel. Von da an sah sie sich über einem Stück Wüste dahintreiben, bis eine große Müdigkeit sie übermannte und ihre Sinne betäubte. Sie wurde erst wieder wach, als mehrere menschliche Körper sich ihr mit hoher Geschwindigkeit näherten. Sie fühlte einen Sog und prallte auf ein Hindernis, in das sie jedoch eingesaugt wurde. Dann fühlte sie einen neuen Körper, ihren neuen Körper. Das war der Moment, wo sie aus ihren Träumen erwachte.
Jeden Tag suchte sie nun einen unschuldigen Mann auf, der ihr seine Lebenskraft überlassen mußte. Neue Abhängige konnte sie sich nicht erschaffen. Dazu hätte sie ihre volle Kraft wiedererlangen müssen. Denn der von ihr gerade bewohnte Körper vertrug ihre Gegenwart nicht. Er welkte förmlich dahin. Die aus langem Schlaf in diesen Leib hineingerissene erkannte, daß sie wohl jeden Tag einen Monat älter wurde, solange sie keinen sterblichen Mann zu Tode liebte. Doris Fullers Ich zerschmolz dabei Stück für Stück wie ein Schneemann in der ersten Frühlingssonne. Ihre Erinnerungen wurden zu einem Teil ihrer erinnerungen. Ihr Ziel war klar. Der ihr entrissene Abhängige war nicht getötet worden. Genau deshalb war sie nicht in einer ihrer wachen Schwestern gelandet, um von dieser neu geboren zu werden. Offenbar hatten ihre wachen Schwestern Itoluhila und Ilithula es einfach so hingenommen, daß sie, die Tochter des dunklen Feuers, für alle Zeit vernichtet war. Doch wenn sie den ihr entrissenen Abhängigen fand und tötete, dann endete auch der letzte Halt, der sie an ihren früheren Körper gebunden hatte. Dann konnte sie eine ihrer Schwestern aufsuchen und sich zu ihrer Tochter machen. Sie war zornig, weil trotz der regelmäßigen Lebenskraftzufuhr noch keine Möglichkeit bestand, mit einer ihrer wachen Schwestern geistigen Kontakt zu erhalten. Noch störte die von ihr übernommene Persönlichkeit Doris' Fullers dieses Vorhaben. Denn zu gerne wüßte sie, wo die beiden wachen nun schliefen oder ob mit ihrer körperlichen Vernichtung eine der anderen Schwestern erwacht war, solange es nicht die jüngste und mächtigste war, die damals nur in gemeinsamer Anstrengung niedergerungen werden konnte. Am Ende mußte sie deren Tochter werden. Sie dachte daran, was sie aus den Niederschriften ihrer mächtigen Mutter erfahren hatte. Sie würde den üblichen Zeitraum einer menschlichen Schwangerschaft in einer sie tragenden Schwester heranwachsen. Doch nach ihrer Wiedergeburt würde sie nur ein Jahr brauchen, um wieder zur erwachsenen Frau zu werden. Doch solange wäre sie von ihrer neuen Mutter, die trotzdem auch ihre Schwester blieb, körperlich und geistig abhängig. Wollte sie das? Sie fühlte, wie Doris Fuller, deren eigene Persönlichkeit durch die Benutzung der unheimlichen Kräfte immer schwächer wurde, vor Angst aufschrie, als sie erkannte, daß sie ernsthaft von einer in ihr heranwachsenden Dämonin besessen war. "Dein Körper ist mein Schlüssel zu einem neuen Leben. Wenn ich es schaffe, ihn abzustreifen, um von einer meiner Schwestern neu zur Welt gebracht zu werden, nehme ich dich gerne in mein Bewußtsein auf und behalte dich in Ehren, Doris", dachte sie ihrer Wirtspersönlichkeit zu.
Es war der dreizehnte Oktober, als sie fühlte, daß Feinde ihr Versteck umstellt hatten. Wie gerne wäre sie jetzt einfach so verschwunden oder hätte sich unsichtbar gemacht. Doch der von ihr besetzte Körper machte das unmöglich. Sie erfaßte, daß es Beamte der Bundesermittlungsbehörde und einer Organisation waren, die Vorkommnisse innerhalb der Kriegsmarine untersuchten. Sie konnte die Gedanken der Gegner erfassen, bis auf die einer Frau, die sie zwar als menschliche Lebenskraftquelle fühlte, aber keine Gedanken von ihr erfassen konnte. Dann kam der Angriff.
Mehrere Männer stürmten das kleine Haus, daß Doris Fuller und ihre unheimliche Untermieterin von einem reichen Architekten übernommen hatte, dessen Lebenskraft in ihrem Leib verschwunden war. Woher wußten diese kurzlebigen Banditen, wo sie war? Da kamen die ersten Männer in schwerer Schutzkleidung schon durch die Wohnungstür. Eine kleine Sprengladung hatte ausgereicht, die massive Holztür aus den Angeln zu brechen. "FBI, Hände über den Kopf!" brüllte einer der hereinstürmenden. Gedeckt von drei Kollegen mit Maschinenpistolen preschte er vor. Doris Fuller, die gerade wie Mitte dreißig aussah, blickte den ersten an. Sie hoffte, ihn mit ihrem hypnotischen Blick unterwerfen zu können. Tatsächlich senkte er seine Schußwaffe. Als sie jedoch die beiden anderen auf dieselbe Weise kampfunfähig machen wollte, fühlte sie, wie etwas fremdes über den Geist des anderen hinwegflutete und ihm jede Begierde und jedes Bedürfnis aus dem Kopf schwemmte. Deshalb gelang es ihr nicht, den anderen zu bannen. Der hob seine Waffe. Der dritte Beamte sprang vor. Auch sein Geist wurde gerade von etwas überflutet, daß alle Begierden und Bedürfnisse fortspülte. Doris Fuller oder Hallitti, wie sie sich zwischendurch auch empfand, fühlte ohnmächtige Wut aufsteigen. Jemand mit magischer Kraft half diesen Kurzlebigen. Mit geistiger Macht war da also nichts zu machen. Sie sprang auf. Eine Garbe Geschosse schwirrte aus der Waffe des unbeeinflußbaren Beamten. Doch irgendwas drückte seine Waffe nach oben, so daß alle Kugeln über sie hinweg und in die Decke und die Wand hinter ihr einschlugen. Sie überlegte nicht erst, wieso der auf sie feuernde FBI-Mann seine Waffe so heftig verrissen hatte. Der von ihr noch gebannte Beamte bekam von ihr den Befehl, seine Kollegen zu töten. Da die beiden anderen wie er auch kugelsichere Westen trugen gelang das nicht so einfach. Doch zumindest lenkte das die beiden unbeeinflußbaren G-Men davon ab, ihre Gegnerin weiter zu beschießen. Doch ein von der Wand abprallender Querschläger traf sie in die Seite. Doris Fuller fühlte, wie ihre Lebenskraft schwand. Zwar trat die Kugel wieder aus ihrem Körper aus, und die Verletzung heilte innerhalb einer Sekunde restlos zu. Doch dieser Vorgang kostete Kraft. Sie fühlte körperlich, wie ihre Haut austrocknete und Falten bekam. Wie viele Jahre hatte sie durch diese Verletzung eingebüßt? Sie schrie vor Wut und riß ihre Hände hoch. Zwischen diesen ballte sich eine schwarze Kugel, die an ihrer Oberfläche kleine Flammen austrieb. Mit einem Wutschnaufer warf sie die Kugel wie einen Ball zwischen die sie bestürmenden Beamten. "Raus da!" rief eine Frauenstimme den Männern zu, die gerade dabei waren, sich gegenseitig zu beschießen und zu schlagen. Doch da explodierte die schwarze Feuerkugel auch schon mitten unter ihnen und hüllte sie in nachtschwarze Flammenzungen ein. Wieder fühlte Doris, wie ihr Lebensenergie entwich. Außerdem empfand sie sich nun wieder stärker als die auf der Flucht befindliche Astronautin, die von einer überirdischen Daseinsform überwältigt worden war. Beinahe hätte sie gerufen, sich zu ergeben. Doch da griff die in ihr steckende Hallitti wieder in ihren Geist über und schnaubte: "Du gehörst mir und trägst mich, bis eine von meinen Schwestern mich in sich aufnimmt." Das dunkle Feuer breitete sich inzwischen immer weiter aus. Doris Fuller fühlte, wie die Flammen sich zu ihr hinwandten. Wirkte die natürliche Immunität gegen ein von ihr selbst erschaffenes dunkles Feuer noch? Falls die Flammen sie auch vernichteten, dann würde sie wohl wieder zu einem aktionsunfähigen Geisterwesen. Doch das dunkle Feuer kam ihr nie näher als einen halben Meter. Es fand auch so genug Nahrung. Denn die Waffen, die Schutzkleidung und die Lebenskraft der Beamten fachten es an. Nun brannten auch die Wände. Darin verlaufende Stromleitungen wurden zu Zündschnüren, die das schwarze Feuer blitzartig im ganzen Haus verteilten. Eigentlich könnte sie aus dem sich nun eigenständig ausbreitendem Feuer einen Teil der eingesetzten Lebenskraft beziehen, dachte Hallitti. Doch was sie in ihrem ersten, sehr langen Leben gekonnt hatte, gelang ihr in diesem Leben nicht mehr. Sie konnte nur zusehen, wie das dunkle Feuer das ganze Haus ergriff. Sie trat durch die sich immer mehr auflösenden Wände hinaus. Die Decke zerbröckelte, bevor sie vollständig herabstürzen konnte. Da sah Doris Fuller sie.
Vor ihr stand eine Frau, eingehüllt in einen Ring aus orangerotem Feuer, das keinen Brennstoff benötigte. Die dunklen Flammen erloschen an diesem Feuerring. Doris Fuller sah die andere an, eine kleine, zierliche Frau mit dunkelbraunem Haar, das ihr gerade in den Nacken reichte. Hallitti ballte wieder die Fäuste. Sie konzentrierte sich darauf, das fremde Feuer zu löschen. Doch die Flammen flackerten nur. Da traf sie ein roter Strahl am Körper und brachte sie aus der Balance. Sie fühlte einen Moment, wie sie schwankte. Dann war sie wieder völlig wach. Sie mußte unvermittelt aufstoßen, als habe sie gerade einen großen Schluck Cola auf einem Schlag getrunken. "Auch wenn du dich in deinem Feuerkranz erst mal verstecken kannst, Hexe, so kriege ich dich doch!" rief Hallitti alias Doris Fuller wütend und ballte ihre Fäuste. Sie hoffte darauf, daß die Lebenskraft von fünfzehn leergesaugten Männern ihr half, nicht bei diesem Angriff zu unterliegen. Mit dem unbändigen Wunsch, die Gegnerin zu töten, schleuderte sie ihr einen kopfgroßen Ball aus dunklem Feuer entgegen. Tatsächlich schlug dieser krachend durch den Feuerring. Doch die andere wich dem Angriff aus, indem sie einfach innerhalb eines Sekundenbruchteils zusammenschrumpfte, bis sie gerade daumenlang war. So fegte die dunkle Feuerkugel durch die magischen Flammen hindurch und durchbrach den entgegengesetzten Bogen des Feuerringes. Dieser zerstob mit lautem Fauchen, weil der Zusammenhalt restlos vernichtet war. Das bereits wütende dunkle Feuer drang sofort in den bis dahin nicht erfaßten Raum ein. Hallitti lachte laut auf, weil sie dachte, daß die Gegnerin trotz ihres Schrumpftricks jetzt sterben mußte. Da piffte es, und die däumlingsgroße Hexe war weg. Eine Sekunde später füllte das dunkle Feuer den von ihr bis dahin freigehaltenen Raum ganz aus. Doris Fuller fühlte, wie die das Haus umzingelnden Beamten in die Ausläufer der dunklen Flammen gerieten und verbrannten. Sie hätte gerne den einen oder anderen genommen, um die verbrauchte Lebenskraft zurückzuholen. Jetzt erfaßte das dunkle Feuer auch die gepanzerten Einsatzfahrzeuge. Die Panzerung nutzte jedoch nichts. Im Gegenteil. Ihre metallische Beschaffenheit fachte das Feuer nur noch rascher an. Doris Fuller wartete nur fünf Minuten, bis die dunklen Flammen keine neue Nahrung mehr fanden. Die Hoffnung, daß die außen verlaufenden Stromleitungen ihren Vernichtungsbrand weitertragen würden erfüllte sich nicht. Offenbar hatte die ihr entgegentretende Hexe die Leitungen gekappt, um sie weit genug vom dunklen Feuer entfernt zu halten. Als der höllische Brand erlosch, wußte die Besessene, daß sie sich ein neues Versteck suchen und sich neue Lebenskraft verschaffen mußte. Diese Beamten und ihre magische Gehilfin hatten sie arg geschwächt.
Als sie sich mit großer Anstrengung zum nächsten Kanaleinstieg geschleppt hatte wußte sie, daß ihr Vorhaben, den am Leben gehaltenen Abhängigen endgültig zu töten, um endlich in einen neuen Körper hineinwachsen zu können, sehr schwierig sein würde. Doch ein jahrtausende alter Überlebenswille trieb sie an, nicht aufzugeben. Zwischen Ratten und Abwasser schlich Doris Fuller durch die Unterwelt von San Antonio. Erst als sie sich sicher war, daß sie nicht mehr verfolgt wurde, verließ sie den Kanal. Sie stank wie ein Haufen Kot. Doch das würde sie dieser Hexe heimzahlen, die ihren Geist wohlweißlich vor ihr verschlossen gehalten hatte. Gehörte die zu denen, die ihren ersten, sehr starken Körper und den Lebenskrug zerstört hatten? Mit denen hatte sie ja eh noch eine Rechnung offen. Doch in diesem um sie herum dahinwelkenden Körper war das wohl unmöglich.
Sie suchte ein gerade nur von einem älteren Mann bewohntes Haus auf. Der Kurzlebige hielt sie für eine hilfsbedürftige ältere Frau. Der üble Geruch, den sie verströmte irritierte ihn erst. Doch als er den Blick der anderen einfing vergaß er den Gestank und ließ die Fremde in sein Haus ein. Er selbst war zu alt, um ihr noch genug neue Lebenskraft zu geben. Doch er hatte etwas, was ihr im Moment mehr helfen konnte, ein Bad und frische Kleidung.
Justine Brightgate sah im Moment so aus, wie sie von ihren Eltern her aussehen sollte. Das war nicht selbstverständlich, wußte ihr Chef Elysius Davidson. Denn sie konnte ihren Körper und ihr Aussehen in gewissen Grenzen ohne Zauberstabbenutzung verändern und so in tausenderlei Gestalt herumlaufen. Sie hielt Davidson gerade einen dünnen Papierbogen mit gezähntem Rand unter die Nase. Der Leiter des Laveau-Institutes fragte, was sie mit dem offenkundigen Ausdruck eines Computers wollte.
"Mein Hausgenosse Jeff Bristol überwacht ja seit dem Zusammenstoß mit diesem Paco Ortega in New York wieder die von ihm etablierte Verbindung zu seinem früheren Muggelwelt-Arbeitgeber. Hinzu hat er sich über das einmal abgezweigte Zugangspasswort eines für das FBI tätigen Psychologen Einblick in das Netzwerk Psynet verschafft. Brenda und er haben ein verstecktes Überwachungsprogramm geschrieben, daß nach Vorkommnissen sucht, die auf Lykanthropie oder andere magische Erscheinungsformen hinweisen. Jetzt hat sich jemand im Psynet geäußert, einer seiner oder ihrer Patienten leide an wiederkehrenden Alpträumen von einer rothaarigen Riesenfrau mit goldenen Augen, die aus einem golden leuchtenden Topf oder Krug Männer herausfischt und sie entweder mit ihrem Mund oder ihrer Scham einverleibt. Das hat Jeff sofort alarmiert, weil er doch zu denen gehörte, die in den Vorfall von damals eingeweiht wurden."
"Moment, ein Patient einer Psychologin klagt über Alpträume, in denen er dieses erlebt?" wollte Davidson wissen. Zur Antwort deutete Justine auf den ihm hingereichten Zettel. Davidson nickte und las den Computerausdruck zweimal durch. Dann sagte er: "Das ist ja erschreckend. Das könnte mit einer Reihe von Vorfällen übereinstimmen, die seit Ende September aktenkundig wurden", sagte der Leiter des LI. Justine nickte.
"Sie meinen das Verschwinden der Astronautin Fuller, die von der CIA und dem Marinegeheimdienst verdächtigt wird, brisante Informationen ins Ausland schaffen zu wollen und deshalb ihren festen Freund umgebracht haben soll."
"Ja, und die immer dann erwähnt wird, wo es um scheinbar unerklärlich ihrer Lebenskraft beraubte Männer geht. Mr. Vane hat mich schon sehr unmißverständlich darauf hingewiesen, daß wir jedem solchen Hinweis nachzugehen und ihm darüber Meldung zu machen hätten."
"An der Suche nach der Astronautin sind neben Brendas Behörde und dem FBI auch die Kriminalermittlungsbehörden des Heeres, der Marine und die Stadtpolizei von Los Angeles beteiligt. Wenn stimmt, was hier steht, haben wir es mit einer sehr unangenehmen Form des Déja Vus zu tun", sagte Justine. Davidson konnte ihr da nur beipflichten.
"Wie genau es sich zutrug muß geklärt werden. Und ich lege trotz Vanes klarer Aufforderung, ihm alles über den Vorfall mitzuteilen größten Wert darauf, erst einmal zu klären, was genau vorgegangen ist und wie wir damit umgehen müssen."
"Sie meinen, Hallitti ist nicht wirklich vernichtet worden, sondern hat irgendwie als Geisterwesen überdauert?" wollte Justine wissen. Davidson nickte und erwähnte, daß die Träume des Jungen, der bei den Leuten vom LI und dem Zaubereiministerium als eigentlich friedlich wieder aufwachsender Richard Andrews aktenkundig war, darauf hindeuteten, daß ihm die Erinnerungen von der Zeit vor dem Infanticorpore-Fluch wieder einfielen. Wenn jetzt mehrere Hypnotiseure an seiner Erinnerung interessiert waren konnte das dazu führen, daß seine Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung gegen Jane Porter bekannt wurde, ja überhaupt, daß er mit Magie in Berührung gekommen war.
"Kann es sein, daß die Wiederverkörperte ihn sucht und deshalb die Erinnerungen von damals immer wieder aufruft?" wollte Justine wissen. Elysius Davidson bejahte das. Er sagte:
"Wir gingen davon aus, daß der wieder aufwachsende Richard Andrews keinerlei Erinnerungen mehr an die Zeit vor dem Infanticorpore-Fluch habe. Entweder stimmte das nicht. oder der Junge bekommt jetzt von außen Erinnerungen zugeführt, weil dieses Wesen wieder erstarkt und die abgerissene Verbindung mit ihm wiederherstellen will."
"Oder ihn töten will, weil er sie gefährden könnte", sagte Justine Brightgate. Das konnte Davidson nicht ganz ausschließen. Jedenfalls beschlossen sie, die Wilsons in Salisbury zu überwachen.
Anthelia hatte einigen Grund, zufrieden zu sein. Das lag zum einen daran, daß sie von Romina Hamton erfuhr, daß die Sache mit Tiffany's unerwähnt geblieben war. Zum anderen hatte ihr Nadja aus St. Petersburg geschrieben, daß ihre neue Identität nun wasserdicht sei, wasserdichter als die russischen Einwegwindeln für Hexenbabys. Anthelia schrieb ihr zurück, daß sie für die kleine Anastasia die im Westen so bewährten Reisewindeln zuschicken würde.
Die dritte Anthelia seelisch aufrichtende Neuigkeit war, daß Albertine Steinbeißer eine Schatulle im Vermächtnis ihrer vor kurzem verstorbenen Großtante gefunden hatte, in der einige Dokumente lagen. Darin wurde von einem runden Stein mit silbernen Längen- und Breitenlinien berichtet, den eine ihrer Vorfahrinnen erbeutet hatte. Allerdings käme an diesen Stein nur heran, wer mindestens einem Sohn und einer Tochter das Leben gegeben habe. Darüber mußte Anthelia grinsen, weil sie daran dachte, daß die homophil ausgerichtete Mitschwester dieses Opfer wohl nicht bringen würde. Doch daß im Besitz der Steinbeißers ein weiterer Lotsenstein enthalten war wollte sie bei Zeiten genauer erforschen. Sie schwelgte in der Vorstellung, nach Khalakatan zu reisen und Naaneavargias zu den Altmeistern gegangenen Vater zu treffen. Die Eltern dessen, was von ihr Anthelia war, konnte sie ja nicht mehr treffen, denn sowohl Bartemius Crouch Senior als auch seine Frau waren schon lange tot. Immerhin hatte Barty Crouch Junior, der Anthelia ungewollt seinen Körper zur Verfügung gestellt hatte, seinen eigenen Vater umgebracht, als dieser in Hogwarts aufgetaucht war. Sie dachte daran, daß Barty Junior eine Zeit lang seine eigene Mutter verkörpert hatte. Also war seinem Leib da schon vorbestimmt worden, einer Hexe als fleischliche Hülle zu dienen. wie würde Agolar reagieren, wenn sie nun als seine von Ailanorar gefangengehaltene und nun wieder freie Tochter Naaneavargia vor ihn trat? Julius hatte von ihm die Lieder der Erdvertrauten gelernt. Hatte Agolar ihm da erzählt, wessen Vater er als lebender Träger der Kraft geworden war?
Ende September erfuhr Anthelia über Romina Hamton, daß etwas im Gange war, mit dem sie eigentlich nicht mehr gerechnet hatte.
Romina erschien im Hauptquartier der Spinnenschwestern. Die in leeren Weinflaschen steckenden Geister brüllten und schimpften, weil mal wieder eine von den anderen Schwestern aufgetaucht war. Da es ja keine direkte Konferenz der Schwesternschaft war führte Anthelia ihre Mitschwester in eines der freien Zimmer, ohne ihr zu sagen, daß dort Nadja Markova bis zum Ende ihrer Wochenbettphase gewohnt hatte. Sie errichtete einen Klangkerker und beschwor eine Karaffe mit frischem Wasser herauf. Dann bat sie Romina, direkt auf den Punkt zu kommen.
"Patricias Schwager hat mir eine verschlüsselte E-Mail geschickt, die mehrere andere Nachrichten enthielt. denen nach leidet ein Junge namens Jerimy Wilson, der im August vier Jahre alt wurde, an wiederkehrenden Alpträumen von einer rothaarigen Frau mit goldenen Augen, die ihn fressen will und andere in einen goldenen Topf oder Becher oder Krug hineinwerfen möchte. Patricia hat behauptet, daß der Junge der von ihr damals infanticorporisierte Richard Andrews sein soll." Anthelia nickte heftig. Romina seufzte: "Dann könnte es doch so heftig sein, wie Patricias Sonnenkindschwager schreibt. Demnach könnte es nämlich sein, daß der Junge sich doch wieder an das zu erinnern beginnt, was er als Richard Andrews erlebt hat. Dabei hat Donata doch erwähnt, daß er bei der Rückverjüngung auch geistig zum Neugeborenen zurückgeschrumpft ist." Anthelia bedeutete Romina, bei der Sache zu bleiben. "Die Sonnenkinder, vor allem Patricia, wollen die Sache weiterverfolgen, ob Jerimy Wilson tatsächlich nur an Sachen denkt, die schon lange her sind oder ob Hallittis Geist nicht irgendwie in ihm weiterexistiert oder anderswie wieder aktiv geworden ist."
"Schön, daß von dir über den Umweg dieser Elektrobriefe zu erfahren und nicht von ihr per Eulenpost", schnarrte Anthelia. "Außerdem hätte ich mich der Sache dann gerne auch selbst angenommen. Abgesehen davon haben wir damals Hallittis Krug und damit sie selbst, die ja daringesteckt hat, vernichtet."
"Ist mir alles bekannt, höchste Schwester. Aber wissen wir wirklich, ob Hallitti nicht als Geist auf der Welt geblieben ist und jetzt, wo ihr letzter starker Abhängiger immer größer wird, wieder Zugriff auf ihn bekommt?"
"Dann hätte sie sich sicher mit Itoluhila in Verbindung gesetzt. Und die hat mir unverhohlen gesagt, daß ihre Schwester es ja selbst schuld war, daß wir sie vernichten konnten", sagte Anthelia.
"Auf die Worte dieser anderen Abgrundstochter würde ich besser nicht viel geben, höchste Schwester", erwiderte Romina. "Vielleicht hat sie Hallittis Geist sogar irgendwie in sich aufgenommen, so wie du den von dieser Spinnenhexe Naaneavargia."
"Die auch gerade vor dir sitzt, Schwester Romina, also Vorsicht mit Unverschämtheiten", schnarrte Anthelia. Ihre Verärgerung über die Nachricht war unüberhör- und unübersehbar. Sich vorzustellen, daß die damalige Todfeindin der Spinnenschwestern irgendwie überdauert haben mochte, und sei es im Geist einer ihrer Mitschwestern, gefiel Anthelia nicht. Denn gerade sie wußte, wie es gehen konnte, entweder körperlich oder geistig in ein anderes Leben überzuwechseln. Deshalb sagte sie: "Gut, da ich damals Patricia beauftragt habe, den Wiederverjüngten zu überwachen soll sie ihn im Namen von Himmel und Erde beobachten. Sollte sich dabei herausstellen, daß Hallitti auf irgendeine Weise ein Fragment von sich in diesem Jungen hinterlassen hat, daß keine Legilimentik entdecken konnte, dann müssen wir den Jungen womöglich töten."
"Soll ich ihr das so schreiben, höchste Schwester?" vergewisserte sich Romina Hamton. Anthelia erwähnte, daß sie ihr nur schreiben sollte, daß sie den Jungen weiterbeobachten sollte.
"Öhm, noch was. Mein Cousin aus dem Dunstkreis des Koboldverbindungsbüros hat beim letzten Familientreffen rausgelassen, daß die Spitzohren in Gringotts dem Minister gedroht haben, alle Verliese zuzulassen und keinen Zauberer und keine Hexe mehr nach Gringotts reinzulassen, wenn er nicht herausfindet, ob einer ihrer Mitbrüder, ein gewisser Picklock, noch am leben ist und falls ja, ihn dem Koboldsicherheitsdienst zu übergeben und falls nicht, seine Leiche an diesen Sicherheitsdienst zu übergeben. Der Minister prüft gerade nach, ob wir, also die Schwesternschaft der Spinne, ihm dabei helfen sollen."
"Ich habe ihn seit Jahren in Tiefschlaf. Nur wenn ich will, wird er wieder wach. Dem Minister werde ich, falls er offiziell danach fragen sollte, sagen, daß ich keine Ahnung von einem herumlaufenden Kobold namens Picklock habe."
"Öhm, die Kobolde gehen davon aus, daß du ihn damals geangelt hast. Irgendwie haben die das angedeutet, daß der Minister bei dir an der richtigen Adresse wäre."
"einerseits brauche ich den kleinen Kerl nicht mehr. Seit ich Gast im Uterus von Daianira Hemlock war, liegt dieser Bursche quasi auf Eis", erwiderte Anthelia. "Und wenn die Kobolde wegen mir ihre Zusagen aufkündigen sollten, dann werde ich deren Sprecher unmißverständlich darauf hinweisen, daß sie sowohl unter Sardonia als auch dem Waisenknaben Tom Riddle keine andere Wahl hatten, als zu spuren. Aber das sage ich dem Minister besser selbst, falls er fürchtet, der Zauberergemeinde erklären zu müssen, daß ihre Vermögenswerte und Wertgegenstände von den Kobolden unerreichbar gemacht werden sollen." Romina nickte. Dann verließ sie den Klangkerker.
Jerimy hatte immer noch Angst. Jedesmal, wenn eine Frau lachte, die nicht seine Mutter war, dachte er, daß dies die böse Frau aus dem Traumland war. Er hatte auch keine richtige Lust mehr zu toben und zu spielen. Seine Freunde Jojo und Ralf wußten nicht, warum er Angst hatte. Denn er sagte denen das nicht, was er im Traumland zu hören und zu sehen bekam.
Das bittere Gutschlafzeug, was seine Mom ihm jeden zweiten Abend gab und Benny Goodmans Lieder machten aber nicht mehr so gut, daß er ohne Angst zu kriegen schlief. Dann hatte sein Dad auch noch gesagt, daß er das bittere Gutschlafzeug ja nicht für immer trinken durfte. Jerimy hörte einmal, wo er das bittere Zeug nicht im Kakao geschmeckt hatte, wie seine Eltern wieder laut miteinander redeten. Sie klangen dabei ganz böse, als wenn Dad Mom und Mom Dad was getan hatte. "Du kriegst das nicht mit, wie die anderen Frauen im Supermarkt über mich reden, ich hätte einen halbwahnsinnigen weil heftig geschädigten Sohn bekommen. Die wissen ja nicht, daß wir ihn adoptiert haben und könnten denken, wir würden ihn mißhandeln. Da ich ja die meiste Zeit mit ihm alleine bin könnten die finden, ich würde ihm was antun. Denkst du, mir gefällt das, daß Jerimy und wir immer mehr zum Gerede in der Stadt werden, Mort?"
"Ach, du meinst, ich bekäme davon nix mit, Les? Die Kollegen im Sender haben mich auch schon gefragt, ob Jerimy schwerkrank sei und du vielleicht unter irgendwas leiden würdest, was du an ihm auslassen würdest. Ich mußte gestern erst Pete Wallace klarmachen, sich um seine eigenen Sachen zu kümmern, als der mich fragte, ob die Zitat "Nette Kinderseelenklempnerin aus Philadelphia" rausbekommen hätte, was mit meinem Sohn nicht stimmte. Ich habe dem nicht gesagt, daß wir eine Psychotante besucht haben, wollte aber auch nicht nachhaken, woher er die Info hat. So habe ich ihm nur gesagt, er solle mit irgendwelchen Andeutungen über meine Familie vorsichtig sein, wenn er nicht wolle, daß ich ihn wegen Verleumdung vor Gericht zerre. Da hat der nur gegrinst und gemeint, ich würde hoffentlich bald wissen, was mit euch beiden ist. Verstehst du. Der hat irgendwen da oben in Philly, der dem gesteckt hat, daß wir bei dieser Tompson waren. Wenn der das im Sender rumreicht kriege ich die ganze Bandbreite von tiefem Mitleid bis totaler Verunsicherung ab. Also komm mir nicht damit, daß du das alleine auszubaden hast. Wir haben das damals, wo wir in San Francisco waren abgesprochen, daß wir den Jungen beide mit allem, was wir in guten und schlechten Zeiten mit ihm erleben gleichermaßen großziehen wollen."
"Wenn da schon wer von deinen Leuten weiß, daß wir bei dieser Psychologin in Philadelphia waren, dann sollten wir das klären, ob wir ihren Vorschlag annehmen und ihren Kollegen aufsuchen."
"Der zufällig in New York wohnt, nicht mal gerade um die Ecke", knurrte Jerimys Dad. Dann war er erst einmal ganz still. Dann sagte er halblaut: "Aber vielleicht stimmt doch, daß da irgendwas passiert ist, was uns der Junge nicht erzählen kann und weshalb er diese Alpträume hat." Dann sagte Jerimys Mom fast so leise, daß Jerimy das nicht verstand: "Gut, ich mmöchte das auch wissen. Am Ende ist der Junge das Opfer eines Verbrechens geworden, und wir könnten helfen, es aufzuklären. Vielleicht bekommen wir auch raus, wer seine richtige Mutter ist." Jerimy erschrak. Warum sagte seine Mom, das sie nicht seine richtige Mutter also seine echte Mom war? Diese Frage im Kopf machte ihm schon wieder Angst. Mom und Dad sagten, daß da irgendwas schlimmes mit ihm war. Vielleicht hatten die auch Angst. Aber warum sagte seine Mom, daß sie Jerimys richtige Mom sehen wollte? Jerimy stand auf und lief aus dem Zimmer. Mom und Dad hörten das und redeten mit ihm. Sie waren ganz lieb und sangen ihm was vor. Dann trug Dad ihn ins Bett zurück. Benny Goodman machte wieder Musik aus dem Radio-CD-Gerät. Jerimy schlief ein.
Als er im Traumland ankam, sah er eine fremde Frau, die blonde Haare und mausgraue Augen hatte. Sie war gerade in einem ganz großen Bus mit einem großen Jungen, der aber noch kein Mann war, zusammen. Der Junge war wohl ganz müde. Denn er hing halb schlafend über einem Sitz. Die Frau und der Junge hatten nichts an. Dann sah Jerimy, wie die Frau den Jungen in die Arme nahm und ganz doll zu sich hinzog. Da wurde der Junge immer kleiner. Irgendwie war der jetzt aus Glas, weil Jerimy durch den durchgucken konnte, während er immer kleiner wurde. Die blonde Frau wurde größer und größer. Ihre Haare wurden ganz rot, und die Augen von der wurden ganz golden. Der halbgroße Junge quängelte und stöhnte, als wenn ihm die Frau weh tat. Er wurde immer kleiner, bis er zwischen den Beinen der Frau, die jetzt die Böse Frau aus Jerimys Traumland war, wie Wasser aus der Badewanne weg in die hineingezogen wurde. Dabei wurde die böse Frau wieder zu der blonden Frau mit den grauen Augen. Sie machte laute Geräusche mit dem Mund, als wenn sie ganz viel getobt hatte. Dabei flog ihr was aus dem Mund, das aussah wie das kalte, nasse Zeug, das Nebel hieß. Das sah aber aus wie der andere Junge, der irgendwie in die böse Frau hineingesaugt worden war. Jerimy sah, wie die ihn ansah und so guckte, als wenn sie gerade ein schönes Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Jerimy schrie laut. Die andere lachte. Er wollte nicht mehr hier sein. Doch die andere lachte und sagte: "Ich finde dich, Richard. Auch wenn du nichts mehr von mir wissen willst. Ich kriege dich und erledige dich." Dann winkte die Blonde, in der die böse Frau wohnte, einen anderen Jungen und machte dieses Ausziehen und ganz doll zusammen Toben mit dem, bis der andere auch erst ganz durchsichtig wurde und dann immer kleiner wurde, um wie Badewannenwasser im Abfluß unten im Bauch der bösen Frau eingesaugt zu werden. Jetzt sah die blonde Frau aus wie Jojos Tante, die schon zwanzig Jahre alt war. Jerimy drehte sich um. Er wollte ihr nicht mehr zugucken. Das half ihm echt, aus dem Traumland rauszukommen. Als er seinem Dad das erzählte, was er erlebt hatte, sah dieser ganz komisch aus, als ob der das gesehen hatte, was Jerimy im Traumland gesehen hatte. Sein Dad wollte dann wissen, wie genau die Blonde das mit den Jungen gemacht hatte. Jerimy erzählte es ihm. Da wurde Dads Gesicht erst ganz rot und dann so weiß wie die Wand im Badezimmer. Er wackelte mit dem Kopf einmal vor und zurück und sagte ihm dann: "Wir fahren zu einem Onkel Doktor, der böse Träume ganz wegmachen kann, den die nette Doktor Tompson kennt." Dann durfte Jerimy das bittere Schlafgutzeug trinken und konnte so den Rest der Nacht ohne neue Angst im Traumland durchschlafen.
Brandon fand sein neues Aussehen unauffällig genug. Kurzes, dunkelblondes Haar, mittelblaue Augen, ein Dutzendgesicht. Da Liberty Grover, die Reporterin vom Mississippi Magazin zusammen mit der Hexe Patricia Straton gestorben war hatte sich Brandons Schwägerin ebenfalls verändert. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie vollständig schwarz gefärbt und ihre helle Haut dunkelbraun umgefärbt. Ihre dunkelgrünen Augen mit dem leichten Graustich hatte sie walnußbraun eingefärbt. Ihre Tarnidentität lautete Jack Mason und Patricia Celestina Rojas. Sie mimten ein Paar aus Philadelphia, das sich zum Ziel gesetzt hatte, in den Sommerferien die Neuenglandstaaten abzufahren. Da sie Patricias weißen Maserati benutzen wollten hatten sich Brandon und sie auch entsprechend kostspielige Kleidung der neuesten US-Mode zugelegt. Um von ihrer Sonneninsel nördlich von Australien an die US-Ostküste zu reisen bildeten die Sonnenkinder auf der Insel einen magischen Zirkel und bündelten ihre Kräfte darin. Dadurch erschufen sie einen über diese große Entfernung hinwegreichenden Raumtunnel, der nur noch durch Patricia und Brandon mit dem genauen Zielwunsch geöffnet werden mußte. Ihre Angetrauten bildeten unter Anrufung verschiedener Worte der Sonne und der Sterne den Einstieg. Dann riefen Patricia und Brandon nacheinander die Worte der schnellen Reise über die Wege des Feuers aus Himmel und Erde. Erst verschwand Patricia in einem orangeroten Feuerball. Dann folgte ihr Brandon, der den raschen Flug durch einen Tunnel aus goldenem und orangen Flammen sichtlich genoß. Am Ende brachen sie auf einem Hügel, den sie beide kannten aus dem Feuertunnel heraus. Sie waren jetzt sieben Meilen südlich von Dropout, Mississippi. Dort angekommen gingen sie den kurzen Weg des Apparierens, um in die Nähe von Jackson, der Hauptstadt des Bundesstaates Mississippi, überzuwechseln. Von hier aus wollten sie mit dem weißen Maserati fahren, der schon lange über gewisse, wenn auch nicht offiziell zulässige Bezauberungen verfügte. So war der Wagen nicht nur fähig, zwischen Spielzeugautogröße und Einsatzgröße zu wechseln, sondern besaß hundertmal härtere Metallteile, reiß- und hitzefeste Bereifung, so daß weder Geschosse noch Klingen noch Feuer ihnen was anhaben konnten, unzerbrechlich gezauberte Scheiben und Scheinwerfer, sowie die aber nur auf einer Strecke von 800 Kilometer pro Tag einsetzbare Flug- und Tarnfähigkeit.
Zunächst fuhren sie von Jackson Richtung Osten, wobei sie sich beim Fahren abwechselten. Brandon kitzelte es im rechten Fuß, den rassigen Italiener über jede Geschwindigkeitsobergrenze zu treiben und den Autobahnsheriffs das blanke Entsetzen in die Glieder zu jagen.
"Für blankes Entsetzen sind wir nicht zuständig, Brandon", telepathierte Patricia, die neben Brandon im Schalensitz saß und eigentlich ein paar Viertelstunden Schlaf tanken wollte. "Da gibt es genug andere, die sich für Horror zuständig fühlen."
"Das Ding ist ein Flitzer. Der ist nachher beleidigt, wenn wir ihn nicht richtig ausfahren", versuchte Brandon, doch ein paar Hochgeschwindigkeitskilometer herauszuschinden.
"Nicht jetzt, Brandon. Wenn wir an der Ostküste sind darfst du den Wagen einmal richtig jagen. Vielleicht müssen wir auch eine Strecke fliegen. Dann kannst du Geschwindigkeit herausholen", grummelte Patricia mit hörbarer Stimme. Brandon stimmte zu. Doch als gleich zwei Lamborghinis und ein Ferrari an ihnen vorbeizischten knurrte er verärgert.
"Versenk sie!" zischte Patricia ihm zu. Denn sie hatte die Gedanken der anderen Fahrer aufgefangen, die den Fahrer des Maseratis für eine Fehlbesetzung und seine Begleiterin für eine überängstliche Vorstadtmutter hielten. So trat Brandon aufs Gas, wechselte auf die Überholspur und trieb den weißen Sportwagen kräftig voran, bis er dem Ferrari fast am Auspuff klebte. Der Fahrer des roten Luxussportwagens hielt das nur eine Minute durch. Dann machte er platz und ließ den Maserati vorbeiziehen. Den beiden Lamborghinifahrern, alles Millionärssöhnchen, die ihre Freundinnen beeindrucken wollten, erging es nicht besser. Zwar versuchte der eine, der einen Diablo SV fuhr, dem Maserati durch Ausbremsen zu imponieren. Doch Brandon ließ den Wagen mal eben knapp an den Außenspiegeln des anderen Wagens vorbeistoßen, wobei der weiße Wagen nur auf den linken Rädern fuhr. Der zweite Wagen machte freiwillig Platz.
"Drück die Unfunktaste! Da vorne ist eine Radarfalle", warnte Patricia. Brandon grinste und drückte die mit einer abgebrochenen Antenne gekennzeichnete silberne Taste am Lenkrad. Dann gab er noch mal Vollgas und raste unbehelligt an der automatischen Radaranlage vorbei. Wenn die auf Geschwindigkeitssünder lauernden Polizisten den weißen Wagen gesehen hatten, dann erlebten sie jetzt tatsächlich ihr blaues Wunder. Dafür würden sie gleich drei fette Fische ins Netz bekommen, falls die drei anderen Sportwagen nicht mit unerlaubten Radarwarngeräten ausgerüstet waren.
Nach diesem kleinen Zwischenspiel auf dem Highway beschloß Patricia, daß sie den Rest der Strecke im Fluge zurücklegten. Zwar war die Flugbezauberung des Maserati nicht so ausdauernd wie die eines Langstreckenbesens. Doch weil sie nun Luftlinie fliegen konnten konnten sie ein mächtiges Stück Weg nach Maryland abkürzen. Zwei Tage später kamen sie in der Nähe von Salisbury an. Brandon benutzte den mitgenommenen Laptop dazu, über die weitere Entwicklung im Fall Jerimy auf dem laufenden zu bleiben. So erfuhr er, daß Jerimy zusammen mit seinen Eltern und der Psychologin nach New York gereist war, um den bereits erwähnten Dr. Elia Loewenthal aufzusuchen. Jerimys Adoptivvater hatte seinem Freund Bob in Cleveland gemailt, daß er zwar nicht an sowas wie Wiedergeburt glaubte, aber auch keine bessere Lösung für das Problem angeboten habe, zumal Jerimy jetzt auch davon träume, daß diese Riesenfrau namens Lolo andere Männer verschlucke und sie in ihrem Bauch aufstöhnten, bevor sie wohl ganz verdaut waren. Das wiederum alarmierte Patricia. "Ich muß die Bilder aus den Träumen sehen, bevor dieser Wiedergeburtsanbeter die durch seine Muggeltricks verfälscht, Brandon. Wir apparieren nach New York. Mach das Handy ganz aus, damit die nicht mitkriegen, daß wir mal eben mehrere hundert Kilometer in einer halben Sekunde übersprungen haben!" Brandon schlug vor, das Handy in einem sicheren Versteck hier in Salisbury zu lassen, damit keiner auf die Idee kam, daß sie irgendwas zu verheimlichen hatten. Der Flug als solches war ja schon riskant genug gewesen. Dem stimmte Patricia zu.
Fünf Minuten später standen die beiden im Schutz von Unsichtbarkeitszaubern auf dem Times-Platz. Patricia horchte um sich und griff dann Brandons Hand. Keine zwei Sekunden später standen sie vor einem Gebäude, in dem Ärzte und Anwälte ihre Praxen und Kanzleien betrieben. Vom Stadtviertel her war das hier eine gute Adresse. Wer hier seine Dollars verdiente war wohl erfolgreich. Brandon fand auf dem Verzeichnis an der Tür den Namen Dr. E. Loewenthal, Psychotherapeut. Patricia, die anders als Brandon auch die Gedanken von anderen als den Sonnenkindern erfassen konnte, drückte Brandons Hand und dachte ihm zu: "Sie sind noch nicht bei ihm. Er wurde jedoch unterrichtet. Wir fangen die Wilsons und diese Doktor Tompson im Aufzug ab und unterbrechen die Fahrt, bis ich aus Jerimys Erinnerungen alle Bilder geschöpft habe." Brandon bestätigte das.
So bestiegen sie den Fahrstuhl und drückten sich an die Seitenwände. Wenn wer zustieg beeinflußte Patricia die Mitfahrer mit einem Gedächtniszauber, daß sie sonst niemandem im Fahrstuhl angetroffen hatten. Brandon wurde von ihr als Mithörer für andere Gedankenquellen eingepegelt. So bekam er mit, wie in Scheidung lebende Ehepaare, werdende Mütter, Herzkranke und zerstrittene Erben im Gebäude nach den für sie richtigen Anlaufstellen suchten. Loewenthal las gerade noch einmal das, was ihm Professor Craven und Dr. Tompson per Kurier zugeschickt hatten. "Wenn die das gleich so gemacht hätten wüßten wir heute noch nicht, daß Jerimy auffällig geworden ist", gedankengrummelte Patricia. Brandon bejahte es unhörbar. Dann hörte er über Patricia mit, wie die Wilsons kamen. Die beiden Erwachsenen waren ehrlich besorgt und auch skeptisch. "Nachher behauptet der noch, Jerimy sei mein eigener Vater gewesen", scherzte Mortimer Wilson. Seine Frau Leslie, die in ihrer Mutterrolle richtig aufging tadelte ihn, er solle doch nicht so derb scherzen. Dann betraten sie den Fahrstuhl. Patricia und Brandon ließen die Erwachsenen auf der Stelle einschlafen, wobei sie sie mit dem Murattractus-Zauber an die Wände hefteten. Der kleine Jerimy bekam erst Angst, weil irgendwas mit seiner Mom und seinem Dad passiert war. Doch Patricia sang ihm ein beruhigendes Zauberlied, wobei sie den Stab für ihn kaum sichtbar führte. Damit versetzte sie Jerimy schneller in Trance als jeder Hypnotiseur der Muggel. Jetzt war er für eine gründliche legilimentische Untersuchung bereit. Brandon wies sie darauf hin, daß er unter Hypnose verraten mochte, was ihm passiert war. Doch Patricia versicherte, daß sie noch von keinem Fall gehört habe, wo ein Gedächtniszauber ohne magische Hilfe überwunden worden sei. Dann begann sie sich auf Jerimy zu konzentrieren. Durch die Trance war Jerimy offenbar auch dafür empfänglich, neue Erinnerungen aufzunehmen. Woher diese kamen bekam Patricia nicht mit. Sie fühlte nur, daß sie mit einer Art Tasten aus der Ferne übermittelt wurden. Dann erschauderte sie, als sie in Jerimys Geist sah, wie junge Männer von einer nackten Frau mit Mund und Scham immer kleiner gesaugt wurden, bis sie nur noch halb so groß und halbdurchsichtig wie Milchglas von ihr zurückgestoßen wurden. Das Gesicht kannte Patricia nicht. Sie erkannte aber, daß die Fremde offenbar bei dieser Art Nahrungsaufnahme immer jünger und gewandter wurde. Die erste Erinnerung, die tief im Unterbewußtsein Jerimys lagerte, zeigte, wie ein Mann so klein gesaugt wurde, daß er laut aufstöhnend im Unterleib der Fremden verschwand und noch einmal gequält aufstöhnte. Die neueste Erinnerung war, daß sie einen halbwüchsigen Jungen leidenschaftlich liebte und er dabei immer kleiner wurde, bis auch er im Unterleib der Fremden verschwand.
"Scheiße, das ist wohl eine von denen, die ihr damals gejagt habt", erschauerte Brandon. Patricia erwiderte erst nichts. Erst als sie sich behutsam aus Jerimys Gedanken und Erinnerungen herausgetastet hatte, schickte sie ihm zurück: "Irgendwas muß ppassiert sein, daß dieses Höllenflittchen fast wieder auf die Erde zurückgekommen wäre. Aber wie es aussieht ist sie auf halbem Weg steckengeblieben und benutzt einen fremden Körper. Wir haben es jedenfalls mit derselben zu tun, die Anthelia und wir anderen damals zur Strecke gebracht zu haben glaubten."
"Wenn der Junge das in Hypnose original so wiedererzählt, wie wir das gerade in seinem Kopf gesehen haben, was denkt dieser Loewenthal dann wohl?"
"Wenn er die Geschichte von Lilith aus den jüdischen Überlieferungen kennt könnte er vielleicht glauben, es mit ihr oder einer ihrer Töchter zu tun zu haben", erwiderte Patricia. "Allerdingswage ich es nicht, sein Gedächtnis weiter zu beeinflussen, als daß ich mal in seinen Kopf hineingesehen habe. Wenn es eine Verbindung zwischen ihm und dieser Abgrundstochter gibt, dann soll die bloß nicht wissen, wer ihr auf der Spur ist."
"Würde es was bringen, ihm alle Erinnerungen an die Horrorkiste auszuradieren?" wollte Brandon wissen.
"Nein, weil dieses Weib ihm absichtlich oder ganz unbeabsichtigt immer wieder Erinnerungen zuführt, womöglich auch, um ihn mit sich zu verbinden, damit sie weiß, wo er ist oder ihn wieder für sie empfänglich zu machen. Vielleicht weiß sie auch noch nicht, daß er ihretwegen Alpträume hat."
"Ja, aber wenn Loewenthal rauskriegt, daß Jerimy früher mal Richard geheißen hat und statt in Moms warmem Bauch mal eben im Körper eines ausgewachsenen Mannes steckt, wenn dieser Rückführungsguru ihm entsprechend einheizt ..."
"Bleiben wir auf dem Posten und manipulieren seine Erinnerung und die der drei anderen", gedankensprach Patricia. Dann löschte sie behutsam Jerimys Erinnerungen an die bangen Minuten im Fahrstuhl und gab seine Adoptiveltern und die Psychologin wieder frei.
Unsichtbar blieben sie vor der Praxis des Hypnosespezialisten und verfolgten mit, wie dieser Jerimy durch behutsame Worte immer tiefer in Trance versenkte und ihn dann durch Schlüsselworte führte, die ein Vierjähriger wohl verstehen konnte. "Und jetzt bist du bei deiner Mom. Sie schreit laut. Was siehst du?" fragte Loewenthal. Der Junge antwortete wie ein Schlafwandler klingend aber mit den Worten eines Erwachsenen: "Ich liege auf dem Boden. Es ist sehr Kalt. Ich höre einen Schrei, den von mir. Helles Goldlicht. Jetzt bin ich in einer großen Höhle. Lolo ist bei Julius. Sie ist jetzt ein ganz großes Ungeheuer mit Flügeln. Sie will ihn nicht mehr lieben, sondern fressen."
"Nein, bist du jetzt bei deiner Mom. Hörst du sie ganz laut um dich herum?" fragte Loewenthal und ahmte das Klopfen eines großen Herzens nach, um den Jungen an die Zeit im Mutterleib zu erinnern. Doch der Junge blieb dabei, daß er jetzt in der Höhle war. Deshalb fragte Dr. Loewenthal, wer er jetzt war und wer Lolo und Julius waren. "Julius ist mein Sohn. Der kann Zaubern. Deshalb will Lolo ihn auch bei sich haben. Ich bin Richard, Richard Andrews." Loewenthal war nicht so überrascht wie die Wilsons und Dr. Tompson. Offenbar hatte er schon viele Fälle von verschütteten Identitäten aus angeblich früheren Leben in seiner Praxis gehabt. Er sprach den Jungen nun in der Sie-Form an und erkundigte sich, wer noch alles in der Höhle war. Als er dann die Beschreibung einer Zauberschlacht berichtet bekam wollte er von Jerimy alias Richard wissen, ob er das Jahr angeben könne. "Dritter August neunzehnhundertsechsundneunzig", war die Antwort des Hypnotisierten. Loewenthal führte ihn nun durch die Erinnerungen weiter zurück, erfuhr wie die anderen, daß Richard und seine Frau Martha darüber zerstritten waren, ob Julius zum Zauberer ausgebildet werden sollte. Dann ging es weiter zurück in Richards Leben und endete tatsächlich mit der Rückbesinnung auf seine Geburt und die letzten Eindrücke vor der Geburt. Loewenthal wollte den Jungen wohl weiter zurückführen, prüfen, ob er vor Richard Andrews noch jemand anderes gewesen war, als es laut knallte. Patricia ergriff Brandons Hand und zog ihn ohne einen weiteren Gedanken in eine Disapparition. Als sie beide wieder im gewohnten Raum-Zeit-Gefüge ankamen pfiff Patricia durch die Zähne. "Ui ui ui, das war aber ganz knapp", sagte sie. "Offenbar trug einer von den Besuchern eine Mithörmuschel im Körper. Darauf hätte ich kommen können, verdammt. Jedenfalls haben Leute vom LI sofort reagiert, als die Begriffe "Julius, Hogwarts und Zauberer" gefallen sind. Ich vermute das Laveau-Institut, weil die sich zu gut gegen einfaches Gedankenhören abgeschirmt haben. Es könnte aber auch Anthelia gewesen sein. Die hätte dann aber sofort zu schreien angefangen, wenn sie in den Einflußbereich unserer Sonnenkindausstrahlung hineingeraten wäre."
"Und, was machen wir jetzt?" fragte Brandon. "Das darf und soll uns die schwangere Strickliese verraten", erwiderte Patricia despektierlich. Brandon wieß sie darauf hin, daß Faidaria das vielleicht übelnehmen würde.
"Dann soll die sich überlegen, daß die ohne mich weder wach noch schwanger geworden wäre. Immerhin habe ich ihretwegen neun Monate lang an einem eigenen Kind herumgetragen. Ich darf also so reden."
"Öhm, dann sind wir jetzt erst mal vom Spielfeld runter?" fragte Brandon.
"Bis wir wissen, ob wir noch im Spiel selbst bleiben oder wem anderes das Feld ganz überlassen müssen."
Um die Tarnung einer Neuenglandreise aufrechtzuerhalten verständigten sich Patricia und Brandon nur über Telepathie über ihre beiden Gefährten mit Faidaria. Diese bekam die von Patricia aus Jerimys Geist geschöpften Bilder und die Beschreibung der Gegnerin. "Bleibt an dem Jungen dran. Es wird so kommen, daß diese böse Frau ihn suchen und töten will, wenn sie ihn nicht mitnehmen will, um ihn für sich zu behalten!" war der klare Auftrag Faidarias. "Aber schicke Brandon zu uns zurück, damit er mit seinem Wissensgerät weiter darüber wwacht, was weiter in der Welt passiert!" fügte sie hinzu. Über eine magische Brücke, deren Ausgangspunkt Patricia war und deren Endpunkt Dawn Rivers alias Gisirdaria war, wechselte Brandon über die halbe Welt zurück auf die Insel Ashtaraiondroi, was ohne Bezugspersonen wohl unmöglich gewesen wäre.
"Dann soll ich den kleinen Prunellus noch weitere Tage mitversorgen, bis Patricia weiß, ob sie wieder zu uns zurückkommen darf?" fragte Dawn Rivers ihren Gefährten und den Vater ihrer Tochter Laura. Faidaria bestätigte das. Über das Gedankennetzwerk der Sonnenkinder konnte Brandon sicher wider mit Patricia in Kontakt treten.
Der alte Logan Carstairs, bei dem Doris Fuller alias Hallitti für zwei Wochen Unterschlupf gefunden hatte, konnte sich nach ihrer Abreise am achtzehnten Oktober nicht erinnern, daß er sie überhaupt beherbergt hatte. Dreimal waren Leute zu ihm hingekommen, die nach einer jüngeren Frau gefragt hatten. Doch das Bild, daß sie ihm zeigten hatte mit der heimlichen Mitbewohnerin nichts mehr gemeinsam gehabt. Diese hatte sich damit abgefunden, daß sie in einer Nacht zwanzig Lebensjahre auf einmal eingebüßt hatte. Doch das machte sie sehr schnell wieder wett, indem sie eine alte Taktik benutzte, mit der sie vor jenem vermaledeiten Kampf in ihrer Höhle zuverlässig neue Lebenskraft erbeutet hatte. Sie suchte die Zuwendungen käuflicher Liebhaber, sogenannter Gigolos. Erst bestellte sie, als Logan fest schlief, einen jungen Mann zu ihm nach Hause und tat so, als sei sie eine noch immer empfängliche Witwe, die es mal wieder nötig hatte. Sie entriß dem jungen Mann jedoch nicht einmal die Hälfte der Lebenskraft, so daß er erschöpft aber doch noch gesund am nächsten Morgen von Dannen ziehen konnte. So machte sie es mit zwanzig weiteren käuflichen Lustknaben, bis sie mindestens dreißig verbrauchte Lebensjahre zurückgewonnen hatte. Dann suggerierte sie Logan Carstairs ein, sie nie gesehen zu haben und suchte sich ein neues Revier. Daß bundesweit nach ihr gesucht wurde war ihr bewußt. Immerhin schaffte sie es, keine von den anderen Hexen und Zauberern auf sich aufmerksam zu machen. Sie war jedoch nicht so einfältig zu glauben, daß diese die Jagd nach ihr aufgegeben hatten. Eher dachte sie daran, daß sie überlegten, wo sie vielleicht demnächst hingehen würde. Wußten die vielleicht, wo der wohl gerade körperlich vier Jahre alte Bursche versteckt war? Sie mußte zumindest davon ausgehen. Deshalb sollte sie erst zusehen, Kontakt zu einer ihrer wachen Schwestern zu bekommen. Hierfür mußte sie sich nur lange genug versteckt halten, um genug Kraft zu tanken.
Sie fühlte jeden Tag, wie ihr Körper alterte. Nur durch regelmäßigen Sex und der dabei möglichen Erbeutung von Lebensenergie hielt sie sich auf einem Alter von ungefähr vierzig Jahren.
Als sie am fünfundzwanzigsten Oktober einen freischaffenden Mann für gewisse Stunden für sich erworben hatte erkannte sie erst kurz vor dem ausgehandelten Beischlaf, daß er ein verdeckter Ermittler der Polizei war und in der sogenanten Rotlichtszene von Memphis nach Hintermännern organisierter Prostitution suchen sollte. Der Mann hatte wohl irgendwo am Körper versteckte Abhörgeräte bei sich. Denn nur so konnte sich Doris Fuller erklären, wie auf seinen Ausruf "Lady Mooon ist hier!" keine zehn Sekunden später zehn schwerbewaffnete Polizisten das kleine Appartment stürmten, in dem der sich Fernando nennende Lustknabe seine Kundinnen empfing. Doris Fuller wußte, daß sie mit dunklem Feuer nur mehr zerstören als gewinnen würde. So nahm sie den käuflichen Liebhaber als Geisel und bannte ihn mit ihrem Blick. Nach und nach schaffte sie es, die Eindringlinge unter ihre geistige Kontrolle zu zwingen. Sie horchte, ob die Burschen von einem zauberer oder einer Hexe unterstützt wurden. Für eine halbe Minute meinte sie, daß ihr von dieser Seite keine Gefahr drohe. Dann jedoch tauchten gleich sieben Umhangträger mit Zauberstäben aus dem Nichts heraus auf. Ihr blieb nur der Ausweg, einen sich nach außen wälzenden Ring aus dunklem Feuer aus ihrem Körper auszustoßen. Doch die sie bedrängenden Zauberer waren darauf gefaßt. Denn kaum daß sie eine dunkle Feuerwolke ausstieß, umflossen orangerote Feuersphären die Körper der Zauberer. Woher wußten die, daß sie diese Kraft aufbieten konnte? Außerdem ärgerte sie sich, daß ihr Angriff nur ein zehntel so Schnell erfolgte wie früher. Allerdings erfreute sie es, daß die Zauberer sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnten, nachdem sie ihre Feuerringe aufgebaut hatten. Nur einer hatte statt einer orangeroten eine goldene Flammensphäre um sich erschaffen. Darin konnte er sich bewegen wie er wollte. Allerdings konnte Doris Fuller erfassen, wie ihn der Ansturm des dunklen Feuers schlagartig alle Ausdauer entzog. Am Ende fiel der eine Zauberer zu Boden. Seine goldene Feuersphäre erlosch und er wurde ein Raub der dunklen Flammen.
"Netter Versuch!" brüllte Doris Fuller triumphierend und schritt von ihrem eigenen Feuer unangefochten durch die sich auflösende Wand. Sie verließ das Haus, bevor weitere Zauberer anrückten, um den verheerenden Feuerzauber einzudämmen, bevor er weitere unschuldige Menschen und ihr Hab und Gut auslöschte. Immerhin reichte es der Besessenen aus, daß sie einen fahrtüchtigen Polizeiwagen mit eingestecktem Zündschlüssel erbeuten konnte und so mit Rotlicht und Sirene durch die Stadt hindurch und aus der Stadt hinausrasen konnte. Sie lächete ihr Spiegelbild an. Diesmal war sie um kein Jahr gealtert. Die Lebenskraft der leichten Knaben hatte sie diesmal vor dem Verfall bewahrt. Doch wenn sie nicht eines Tages in eine unbesiegbare Übermacht hineinrennen wollte, mußte sie jetzt zusehen, eine ihrer wachen Schwestern zu erreichen. Sie wußte auch jetzt wie. Bisher hatte sie sich erwachsene Männer genommen, um ihre Lebenskraft auszusaugen. Früher hatte sie ungleich mehr Kraft gewonnen, wenn sie Säuglinge entführt und in ihren Lebenskrug geworfen hatte. Doch den gab es nicht mehr. Aber was, wenn sie gerade erst zwischen Jungen und Mann steckende Halbwüchsige auszehrte, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten und bis dahin unberührt gewesen waren? Sie lächelte. Ihr neuer Plan stand fest.
Anthelia vertiefte sich in eine Erinnerung, die Sardonia kurz vor dem Kampf mit Ilithula eingelagert hatte. Bisher hatte irgendwas diese Erinnerung vor Anthelias Zugriff verborgen, eine Schutzmaßnahme Sardonias, die sie in das Denkarium eingewirkt hatte. Doch als sie nun nach allem suchte, was mit den Abgrundstöchtern zu tun hatte und dabei auch einfließen ließ, daß eine vernichtete Abgrundstochter sich irgendwie wieder bemerkbar machen mochte, rief sie eine Erinnerung auf, die zu den von Sardonia verschlossenen gezählt hatte, die bisher immer nur als schwarzer Nebel voller dumpfem Rauschen zu betrachten waren. Als Anthelia sah, wie Sardonia sich mit Ilithula unterhielt, tauchte sie mit dem Kopf in das Denkarium und gelangte so wie durch einen tiefen Schacht stürzend an den Ort und die Zeit des Geschehens.
"Ich weiß, deine Tochter hätte gerne noch ein paar Jahrzehnte länger gelebt, Sardonia, und sie hätte dir sicher gerne noch ein paar Hexenbälger als Enkel vorgestellt. Doch wer gegen mich oder meine Schwestern kämpft verliert, so oder so", sagte jene Kreatur, die vom Gesicht her noch wie ein neunjähriges Mädchen mit grünen Augen aussah, vom Körper her jedoch schon eine vollkommene Frau war.
"Wenn ich herausfinde, wo dein Lebenskrug steht, vaterlose Hure, dann werde ich ihn zerstören und dich damit aus unserer Welt stoßen", zischte Sardonia, die in ihren magischen Mantel gehüllt dastand, den Anthelia Jahrhunderte später von ihr geerbt hatte.
"Abgesehen davon, daß du dabei womöglich sterben wirst, selbsternannte Königin der Hexen, wird dir das nichts nützen. Denn wir Töchter Lahilliotas sind auf Ewig miteinander verbunden. Selbst wenn es wer schafft, einen unserer Körper zu zerstören, wird ihr Geist sofort bei einer anderen neues Fleisch erhalten und auf die Welt zurückkehren. Und wenn du alle wachen Schwestern entkörpern solltest, werden eben welche aufwachen, die gerade schlafen, meine Schwester des dunklen Feuers, die von den drei Besserwissern aus Tara besiegt wurde oder meine Schwester der finsteren Felsen, die sich mit diesen Morgensternträumern übernommen hat oder eine, die du ganz bestimmt nicht zu Gesicht bekommen möchtest, Sardonia. Ich fürchte also weder deine Rache noch den Tod. Irgendeine meiner Schwestern wird mich dann eben zurück auf die Erde gebären. Gehab dich wohl und hüte dich davor, mir meine Abhängigen abspenstig zu machen!"
"Ich werde dich trotzdem besiegen, Windsbraut. Auch ihr seit nicht unverwundbar!" rief Sardonia noch. Zur Antwort pfiff Ilithula durch die Zähne. Eine rabenschwarze Wolke entstand über Sardonia und ließ einen wild kreisenden Saugtrichter aus Dunstfetzen herab. Doch Sardonia blieb ruhig stehen und zielte mit dem Zauberstab nach oben. Dann beschwor sie den finsteren Wirbelsturm herauf. Die beiden dunklen Windzauber durchdrangen und zerstreuten sich gegenseitig. Ilithula war inzwischen in leerer Luft verschwunden. Sardonia sprach dann: "Auf das nur wissen darf, was dieses Weib mir kundgetan, so dann, wenn nämliches steht an!" Anthelia verstand jetzt. Sardonia hatte diese Gegebenheit mit einem Geheimniswahrungszauber eingeschlossen, der anders als Fidelius nicht auf einen Geheimniswahrer, sondern auf ein Ereignis ausgerichtet war. Erst wenn jenes Ereignis sich begab oder davorstand, einzutreten, sollte diese Erinnerung greifbar werden. Anthelia erschauerte, wenn sie daran dachte, wie viele auf diese Weise eingekapselte Erinnerungen noch in dem Denkarium schlummerten, daß Sardonia ganz sicher für diese besondere Art von Geheimhaltung vorbehandelt hatte. Ja, daß Anthelia überhaupt Erinnerungen abrufen konnte, lag ja daran, daß sie berechtigt war, sie zu sehen. Doch eine Berechtigung hieß nicht gleich, wirklich alles eingelagerte sehen und verstehen zu dürfen. Sicher hatte Sardonia darauf gebaut, nach ihrer von Ilithula durch Basiliskengift getöteten Tochter noch eine Tochter zu gebären, die dann erst alles wissen durfte, wenn sie es dringend wissen mußte. So erging es jetzt Anthelia. Sie wußte es jetzt, was sie vor vier Jahren hätte wissen sollen. Aber dann hätte Hallitti doch tatsächlich aus einer ihrer vermaledeiten anderen Schwestern herauskriechen müssen. hatte Ilithula sie vielleicht wiedergeboren? Sie mußte es herausbekommen und vor allem ergründen, wie einer neu erwachenden Tochter des dunklen Feuers beizukommen war, wenn man sie nicht töten konnte.
Romina Hamton traf Anthelia kurz vor einer Abreise nach Frankreich an. Anthelia hatte beschlossen, die Werbung von Laurentine Hellersdorf zu befehlen, nachdem sie von Louisette gehört hatte, daß diese zusammen mit Julius Latierre einen wütenden Luftdschinn zur Strecke gebracht hatte. Sicher, es waren noch mehrere andere hochqualifizierte Ministeriumszauberer und -hexen dabei gewesen. Doch wenn Laurentine bereits für fähig befunden wurde, einem solchen Geisterwesen zu Leibe zu rücken, mußte sie unbedingt gefragt werden.
"Höchste Schwester, es ist mir gelungen, Informationen über eine offenkundig magisch aktive oder besessene Weltraumfahrerin zu ergattern. Wenn die vom LI wirklich wen bei der CIA haben und dem FBI, dann sind die da auch schon dran." Anthelia ließ sich die Notizen geben. Sie nickte und verzog das Gesicht. "So ist es also passiert. Dieses Unwesen ist als Geist hoch in den Himmel geschleudert worden und womöglich jetzt erst im Körper dieser Weltraumfliegerin zur Erde zurückgekehrt, als deren Himmelsschiff zur Erde zurückflog. Dann fristet sie jetzt das Dasein eines Dibbuks. Du kennst diese Dämonenwesen?" fragte sie Romina.
"Ich hörte davon, daß es die Geister dunkler Magier und Hexen seien, die es schafften, in die Körper seelisch zerrütteter oder von Haß und Trauer zerfressener Menschen einzudringen und sie in Besitz zu nehmen. Aber die werden nicht sonderlich alt, wenn sie nicht herausexorziert werden."
"So ist es. Wenn zwei Seelen sich einen Körper teilen, ohne wie bei mir aus zwei Körpern und zwei Seelen zu einer Einheit aus Körper und Seele zusammenzuwachsen, verfällt der besessene Körper. Er muß mehr Kraft aufbieten, um die beiden in ihm wirkenden Seelen zu tragen. Je nach dem, wie erpicht der parasitäre Geist darauf ist, seinen Wirtskörper zu benutzen, altert der Wirtskörper anderthalb bis zehnmal so rasch wie üblich. Aber wenn Hallitti wahrlich in einer Normalsterblichen zwangsverkörpert wurde, dann kann sie ihre Kräfte nicht voll ausschöpfen. Womöglich reicht es aus, sie so sehr zu schwächen, daß sie in einen magischen Konservierungsschlaf gezwungen werden kann. Das prüfe ich nach." Romina nickte und verließ die Daggers-Villa wieder.
Anthelia sagte die Reise nach Frankreich ab. Louisette sollte sich zunächst zurückhalten. Vielleicht sei es auch interessanter, Babette Brickston für die Spinnenschwestern zu werben, wo diese sich doch so gut mit Jacqueline Richelieu verstehe.
Justine Brightgates Gewissen hatte kein Problem damit, daß sie sich heimlich in der Gestalt von Leslie Wilson zu Mortimer Wilson in den Radiosender WKZP 95,9 begab, um ihm etwas zu übergeben, was er zu Hause hatte liegen lassen. Dabei gab sie ihm einen innigen Kuß, bei dem sie klammheimlich eine winzige Vorrichtung in den Körper praktizierte, die Quinn als Ohrenborger bezeichnet hatte. Es handelte sich um ein gelatineartiges Kügelchen, das mehrere Monate im Körper eines Menschen verborgen bleiben konnte und dabei wie mit dem Exosensozauber alle von diesem gehörten Eindrücke aufnahm, außer den Geräuschen des Körpers, in dem das Spionageartefakt untergebracht war. Auf diese Weise präparierte Justine Mortimer Wilson so, daß er bis zum Februar ohne es zu wissen als wandelndes Abhörgerät herumlief. Weil Davidson es ihr verboten hatte, alles private von Mortimer Wilson mitzuhören, war der Ohrenborger darauf eingestimmt, erst bei Nennung von Namen wie Richard Andrews, Julius Andrews oder Hogwarts zu senden. Mit hilfe der beiden Ohrringe, die auf den Ohrenborger abgestimmt waren, lauschte Justine, bis sie tatsächlich die eingeprägten Begriffe aus dem Mund eines kleinen Jungen hörte. Unverzüglich reiste sie mit ihrer Cousine Brenda und ihrem nicht nur als Hausgenossen lebenden Jeff Bristol nach New York und kam gerade in der Praxis von Dr. Loewenthal an, als dieser Richard in ein möglicherweise vergangenes Leben zurückführen wollte. Ihnen blieb nur übrig, die Erinnerungen des Arztes und der Familienangehörigen zu verändern, daß Jerimy nur seine Alpträume und von der zeit bis kurz vor seiner Geburt berichtet hatte.
"Sie sucht ihn. Nachdem, was der Junge im Traum erlebt hat raubt sie halbwüchsigen Jungen die Lebenskraft, um sich selbst jung zu halten und genug Kraft zu tanken", sagte Justine Brightgate.
"Das deckt sich mit dem, was ich über Schleichwege von Lydia Franklin mitbekommen habe. Diese Doris Fuller ist besessen", sagte Jeff. "Offenbar hat der Geist eines mächtigen Wesens in ihrem Körper Halt gesucht. Tja, und dieser Geist kann nach außen wirksame Magie aufrufen, vor allem das dunkle Feuer. Damit haben wir es jetzt amtlich, daß Hallitti die Vernichtung ihres Lebenskruges überstanden hat. Womöglich ist sie dabei regelrecht in den Himmel geschossen worden und wie ein Satellit um die Erde gekreist, bis die Astronauten von der geheimen Militärfähre ihre Umlaufbahn gekreuzt haben. Da Doris die einzige Frau in dem Shuttle war hat sich Hallittis Geist wohl in ihrem Körper am besten einnisten können. War da nicht was mit einem kurzen Ohnmachtsanfall von Doris Fuller?" Brenda Brightgate bestätigte das.
"Ja, aber wie gehen wir jetzt vor? Wir könnten den Jungen und seine Adoptiveltern in unser Haus des sicheren Friedens bringen. Aber wie lange soll er da bleiben?"
"Die Frage ist, ob wir ihn nicht als Köder verwenden sollten, um Fuller zu fangen und mit ihrer ungebetenen Gastidentität sicher festzusetzen, vielleicht sogar in Doomcastle für alle Zeiten einzusperren?" wollte Brenda wissen.
"Und wenn wir den Jungen unter einem Vorwand von seinen Adoptiveltern wegholen und in einer Klinik unterbringen? Da kommt Hallitti nicht mehr an ihn heran, weil dieses Monster die Nähe von Geisteskranken nicht ertragen kann."
"Klären wir besser mit Davidson", sagte Justine.
"Sie spielen ein gewagtes Spiel, die Damen und der Herr", bemerkte Elysius Davidson, nachdem die drei zu einer Einsatzgruppe zusammengewachsenen Mitarbeiter ihm ihre Beobachtungen und Überlegungen mitgeteilt hatten. "Außerdem wissen wir nicht, was passiert, wenn wir den Jungen, der wohl eine Art materieller Fokus für dieses Geschöpf geworden ist, nachdem ihr Lebenskrug vernichtet wurde, eine magische Trennung von ihr heil übersteht. Ich würde ihn dennoch am liebsten in unser Haus des sicheren Friedens bringen und dort solange verstecken, bis wir die Besessene unschädlich gemacht haben."
"Sollen wir das Zaubereiministerium informieren?" wollte Jeff Bristol wissen. Der ehemalige Feuermelder in den Reihen des FBI hatte doch noch ein gewisses Pflichtgefühl der Zaubereiüberwachung gegenüber. Andererseits, das wußte Justine, trieben ihn wohl auch das schlechte Gewissen an, daß er die Affäre Richard Andrews damals mitvertuscht hatte, sowie gut unterdrückte Rachegelüste gegen Laroche, der ihn indirekt auf Grund Hallittis so übel außer Gefecht gesetzt hatte.
"Verpflichtet sind wir dazu schon", knurrte Davidson. "Zumal Ihre frühere Kollegin Lydia Franklin sicher schon mit Cartridge und Vane gesprochen hat. Wundert mich nur, daß der Zaubereiminister uns noch nicht angeschrieben oder per Kontaktfeuer zu erreichen versucht hat."
"Er wartet sicher darauf, ob wir in dieser Angelegenheit aktiv wurden", sagte Brenda Brightgate. "Immerhin weiß er ja, daß ich in der CIA-Zentrale über Fälle wie die außer Kontrolle geratene Militärastronautin informiert wurde." Das konnte Davidson nicht abstreiten. So seufzte er und erklärte, daß er dem Minister den ersten Bericht erstatten würde.
Zwanzig Minuten vergingen, in denen die beiden Brightgate-Cousinen und Jeff Bristol in der Cafeteria des Laveau-Institutes aßen. Jeff fragte Justine, warum Marie sich nicht längst wegen dieser Sache gemeldet habe. Justine erwiderte darauf, daß der in der materiellen Welt verbliebene Geist der ehemaligen Voodoo-Meisterin nur dann in laufende Einsätze eingriff, wenn es galt, bestimmte Voraussetzungen zu schaffen, die ohne ihr Eingreifen nicht erfüllt werden konnten. "Sie geht wohl davon aus, daß wir der Lage alleine gewachsen sind, was ja auch so sein sollte", beendete Justine ihre Erklärung. Jeff Bristol nickte.
"Folgendes ist nun beschlossen", eröffnete Davidson, nachdem er seine drei Mitarbeiter ins Büro zurückbeordert hatte. "Wir belassen die Wilsons zunächst da, wo sie sind. Der Minister teilt unsere Einschätzung, daß die Besessene ihn aufzuspüren versuchen wird. Wie sie dann reagiert wird zeigen, wie wir mit ihr fertigwerden können. Gilt es, den Jungen am Leben zu erhalten, damit sie weiter auf der Erde bleibt und vielleicht wie ein Dibbuk von einem lebenden Menschen zum anderen wechseln kann, können wir ihr den Jungen immer noch entziehen, um sie zu schwächen. Will sie ihn töten, um sich endgültig von ihrer früheren Existenz freizumachen, müssen wir ihn beschützen und in Sicherheit bringen. Gegen das dunkle Feuer gibt es nur die Möglichkeit, materiallos brennendes Zauberfeuer zu erzeugen. Aura-Sanignis wird vom dunklen Feuer regelrecht ausgezehrt, bis ihr Aufrufer total ermüdet und bewußtlos wird. Bereiten Sie also eine lückenlose Überwachung der Wilsons und eine Barriere aus magischem Feuer vor, die im Bedarfsfall in Kraft gesetzt werden kann!"
"Der Junge wird nicht ins Haus des sicheren Friedens gebracht oder in eine Irrenanstalt eingewiesen?" wollte Jeff Bristol wissen.
"Nein, eben weil wir herausfinden müssen, ob die Besessene an ihm interessiert ist und wenn ja, ob sie ihn heimsucht", sagte Davidson.
"Wenn sie ihm Alpträume schickt könnte sie ihm auch aus der Ferne was aufhalsen, daß er in ihrem Sinne handelt", brachte Brenda Brightgate einen berechtigten Einwand an.
"Das zu ermitteln und falls nötig zu unterbinden gehört zu dem Überwachungsauftrag dazu", sagte Davidson. "Ich instruiere noch vier weitere Mitarbeiter, die sich vor allem mit Geisterwesen und Feuerzaubern auskennen, damit Sie, Brenda, ihren für uns wichtigen Posten in der Muggelwelt nicht im Stich lassen müssen." Brenda Brightgate nickte bestätigend. Jeff Bristol sollte sich ebenfalls nicht zu lange von seinem Muggelweltarbeitsplatz fernhalten. Blieb also nur Justine Brightgate, die länger bei den Wilsons verweilen konnte.
Im Traumland war es jetzt wieder schön, nachdem Jerimy mit seiner Mom und seinem Dad bei dem anderen Onkel Doktor in New York gewesen waren. Überhaupt war die Stadt richtig toll und sein Dad hatte ihm einen gaanz hohen Turm gezeigt. Da waren sie mit einem so schnell fahrenden Aufzug hochgefahren, daß es in Jerimys Ohren geknackt hatte wie beim Fliegen im Flugzeug. Der Onkel Doktor hatte aber irgendwas gemacht, daß die böse Frau im Traumland ihm und den anderen nichts mehr tat. Wenn er sie sah, dann lief sie nur ganz angezogen in einer großen Stadt herum. Als er seinen Eltern gesagt hatte, wie die Häuser da aussahen, hatte Dad ihm gesagt, daß das die Stadt Detroit war. Von der Stadt hatten sein Opa und seine Mom auch schon was erzählt. Da kamen viele Autos her, hatte sein Dad auch gesagt.
Als Jerimy die rothaarige Frau wieder im Traumland traf hatte sie ihn ganz freundlich angegrinst und mit ihm erst getanzt und dann mit ihm in einem großen Bett herumgetobt. Als er das seinen Eltern gesagt hatte war Mom ganz rot im Gesicht geworden und Dad hatte komisch gekuckt, als ob Jerimy was böses gesagt hatte. Doch die beiden hatten ihn nicht ausgeschimpft. Dafür waren sie mit ihm noch einmal zu dieser netten Tante namens Nancy gefahren. Die hatte mit ihm gesprochen. Irgendwie war er dabei ganz müde geworden und eingeschlafen. Als er dann wieder wach war waren Mom und Dad mit ihm noch zu Doktor Michaels hingefahren und hatten lange mit ihm geredet. Er hatte das nicht hören dürfen und deshalb im großen Spielzimmer gesessen, wo es Autos, Teddybären, Barbies und Malbücher gab. Als sie dann wieder zu Hause waren hatte Dad ihm gesagt, daß er abends das leicht bittere Zeug nicht mehr trinken durfte, was Gutenachttee hieß. Warum er das nicht mehr trinken sollte wollte ihm weder seine Mom noch sein Dad sagen.
Als er in der ersten Nacht ohne den Gutenachttee wieder ins Traumland kam war er wieder ein großer Mann und hieß Richard. Er redete mit einem Mann, der Rodney hieß und sagte ihm was, daß er haben wollte, daß seine Frau, die Martha hieß, nicht mehr mit dem Jungen, der Julius hieß zusammensein sollte und ob Rodney was machen konnte, daß die dann eingesperrt wurde. Um Julius liefen andauernd Hexen und Zauberer herum. Die wurden böse, weil Rodney das mit Martha gemacht hatte. Deshalb war Richard mit seinem Silberauto namens Bentley ganz weit weggefahren, weil alle böse auf ihn waren. Da kam die rothaarige Frau wieder zu ihm. Zuerst war es ganz schön. Sie fuhr mit ihm und spielte mit ihm, wobei sie beide nichts anhatten. Doch dann wurde die Frau wieder riesengroß. Er fiel förmlich in ihren Bauch hinein und hörte da das laute weinen und stöhnen anderer Männer. "Du gehörst mir!" hörte er die Stimme der Riesenfrau ganz laut und unheimlich um sich herum. Er wollte raus. Er wollte nicht im Bauch einer Riesenfrau feststecken. Er konnte aber nicht schreien, weil irgendwas machte, daß er seinen Mund nicht mehr aufmachen konnte. Er bekam aber mit, wie laut stöhnend andere Männer und halbgroße Jungen zu ihm hineingezogen wurden. "Ich weiß wo du bist. Ich komme und hole dich, da können die nichts gegen machen", sagte die Riesenfrau. "Ich habe immer jeden gekriegt, den ich haben wollte, und du bist was ganz besonderes für mich."
Die Angst, jetzt für immer in der bösen Riesenfrau herumliegen zu müssen und zusammen mit anderen, die sie in sich hineinzog immer weniger Platz zu haben machte, daß er aufsprang. Da fiel er und fiel und fiel. "Ich bin auf dem Weg zu dir. Bald habe ich dich", hörte er die böse Riesenfrau noch rufen, bevor er auf dem Boden lag. Seine Arme und der Rücken taten weh. Er lag nicht mehr im Bett. Er war da rausgefallen. Er hörte, wie er ganz schnell Luft holte und wieder ausblies. Er hörte ein wildes Klopfen in den Ohren, das aber aus seiner Brust durch den Hals zu fühlen war. Die rothaarige Frau war immer noch da. Sie wollte ihn haben, um ihn in sich reinzuziehen. Er hatte Angst. Denn er wußte, daß sie das mit allen machen wollte, die sie haben wollte. Er wußte auch, daß seine Mom und sein Dad da nichts gegen machen konnten.
"Wir können ihn besser vor bösen Feuerzaubern schützen als das Ministerium", argumentierte Patricia Straton, als sie zwei Wochen nach dem Besuch bei Loewenthal mit den LI-Hexen Brenda und Justine Brightgate zusammenkam. Diese drohten ihr, ihr Weiterleben bei Minister Cartridge zu erwähnen.
"Dann bin ich schneller weg als ihr zwei Quodpot sagen könnt", erwiderte Patricia Straton. "Abgesehen davon haben meine neuen Verwandten und ich einen Zauber aufgerufen, der mich aus den Erinnerungen aller herauslöscht, die meine Feinde sind. Geht mal davon aus, daß wir Sachen können, die ihr noch nicht mal im Traum für möglich haltet."
"Vane würde Sie garantiert gerne verhören, warum Sie überhaupt noch leben und wie Sie zu den Sonnenkindern gekommen sind", warf Brenda Brightgate ein. Patricia grinste überlegen.
"Dann würde der Halbzwerg sich aber sehr wundern, wo er sich befindet. Denn sobald mir wer was tut, fängt mich ein Rückkehrzauber meines neuen Volkes ein und bringt mich durch alle Barrieren hinweg in unser geschütztes Hauptquartier. Ich habe mich euch nur deshalb offenbart, weil unsere Matriarchin mich ausdrücklich darum gebeten hat, in diesem Fall mit euch und nur euch zusammenzuarbeiten. Mit offiziellen Beamten aus der Zaubererwelt wollen wir nach der Sache in Rußland nichts mehr zu tun haben."
"War auch ein wenig einfältig, Sie gleich festnehmen zu wollen, wo es besser gewesen wäre, die Chancen auf eine friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit auszuloten", erwiderte Justine Brightgate. Patricia hätte gerne gewußt, was sie dachte. Doch Brenda und Justine hielten ihre Gedanken sorgsam verhüllt. Das lag aber nicht an ihren okklumentorischen Fähigkeiten, sondern an einen Ganzverhüller, einem Gegenstand, der den Geist eines Menschen mit einer Schwingungsaura überlagerte, die von Legilimentoren als weißes Flimmern und nervenaufreibendes Sirren empfunden wurde und nur durch genaue Abstimmung zwischen zwei Trägern dieser Verhüller mentiloquiert werden konnte. Zumindest waren die beiden dadurch nicht nur gegen Patricias telepathischen Sinn immun, sondern auch wohl gegen geistige Beeinflussungen durch die Abgrundstöchter.
"Wir überlegen, den Jungen in einer psychiatrischen Klinik zu verstecken. Die Gedankenausstrahlung geisteskranker Menschen ist ein unüberwindlicher Schutzschild gegen die Abgrundstöchter und andere Mentalsensoriker wie Sie eine sind, Miss Straton oder wie Sie sich jetzt nennen", sagte Justine.
"Dann müßten Sie seine Eltern auch auf unbestimmte Zeit dort einsperren. Abgesehen davon, daß wir ja nicht wissen, ob die Abgrundstochter dann nicht in ein Versteck flüchtet und sich dort über Jahre zurückzieht, bis wir vergessen haben, wo sie war."
"Klar, weil die Eltern als Geiseln genommen werden könnten. Einen gesunden Menschen einfach so in einer dieser Irrenanstalten einzusperren würde mehr Staub aufwirbeln, als uns lieb ist", sagte Brenda Brightgate. "Außerdem wird dieses Weib keine Zeit haben. Wenn stimmt, was Sie und wir herausbekommen haben, dann geistert es im Körper einer Weltraumfliegerin herum, der die Inbesitznahme nicht erträgt und wohl rapide altert und nur durch fremde Lebensenergie stabilisiert wird. Womöglich kann sie nur vollständig regenerieren oder reinkarnieren, wenn sie den Jungen tötet, den körperlichen Anker ihrer vernichteten Existenz."
"Die Frage ist nur, wie wir sie endgültig vernichten können? Wenn wir wüßten, wie ihr Geist in unserer Welt überdauert hat könnten wir ihn vielleicht einsperren wie einen Dschinn. Sie haben doch Orientalmagier bei Sich, oder?" fragte Patricia.
"Die haben wir. Allerdings gilt für uns, daß wir den Wirtskörper am Leben halten möchten, wenn es eine Chance gibt, ihn zu erhalten", sagte Justine Brightgate. Patricia nickte. Dann vereinbarten sie, daß die Leute vom Laveau-Institut und fünf Sonnenkinder, über deren Namen keiner etwas erfahren würde, das Haus der Wilsons bewachten, auch wenn es noch lange dauern würde, bis Hallitti ihren letzten Abhängigen suchen würde.
Anthelia mußte im verlauf der kommenden Wochen erkennen, daß es höchst riskant war, die Astronautin Doris Fuller anzugreifen. Abgesehen davon, daß sie quasi ein wandelnder Lebenskrug war, der sich beliebig verjüngen konnte, gewann Hallittis in ihr halt gefundener Geist auch mehr Kraft, um ihre stärkste Waffe, das dunkle Feuer, einzusetzen. Zum anderen merkte Anthelia jetzt besonders stark, wie sehr ihr Mitschwestern in den Staaten fehlten. Das Ministerium und das LI waren immer schneller vor Ort als Anthelia. Sie hätte es gerne versucht, Doris Fuller mit dem Infanticorpore-Fluch zu belegen. Vielleicht würde das helfen, sie zumindest über mehrere Jahre handlungsunfähig zu halten.
Patricia Straton bekam von Anthelia eine Posteule zugeschickt, in der sie ihr viel Glück wünschte, Jerimy Wilson vor Hallitti zu bewahren. Denn ihr wurde durch den Weg der junge Männer auszehrenden Kreatur klar, daß sie darauf ausging, den Jungen zu töten. Insofern wäre es ein Kardinalfehler gewesen, den Jungen umzubringen, jetzt wo sicher war, daß er nicht selbst der Besessene war, sondern nur die Erinnerungen in seinen Geist einflossen, die er sich mit Hallitti geteilt hatte, bevor Patricia ihn infanticorporisiert hatte. Zumindest konnte Hallitti nicht apparieren und war damit zunächst auf den nordamerikanischen Kontinent beschränkt.
Während in Europa ein anderer Jäger aus der magischenWelt seine Beute suchte, lauerte Doris Fuller in der Nähe von Oberschulen. Mittlerweile waren ihre alten Spürsinne soweit wiedererstarkt, daß sie erkennen konnte, welcher der Halbwüchsigen bereits körperlich geliebt hatte und welcher nicht. Bei einigen war sie sich nicht sicher. Das konnte daher kommen, daß diese ihre ersten körperlichen Erfahrungen durch Selbstbefriedigung gemacht hatten. Als sie jedoch eine rein katholische Oberschule in Oclahoma fand, wo die Jungen Nachmittags in die Stadt gehen durften, schaffte sie es, gleich zwanzig von ihnen unter ihre magische Kontrolle zu zwingen. Dabei fühlte sie zwar auch einen Teil der in ihr gespeicherten Lebensenergie vergehen. Doch als sie die Jungen mit einem gekaperten Stadtbus zu einer verlassenen Scheune hinausgefahren hatte und sie dann nacheinander zu tode liebte, fühlte sie, wie sie noch mehr Lebenskraft zurückgewann als vorher. Ja, sie wurde tatsächlich jünger und jünger. Als sie den zehnten Halbwüchsigen restlos ausgezehrt hatte, war sie körperlich zu einem gerade zwölf Jahre alten Mädchen zurückverjüngt. Ein verwegener Gedanke kam ihr, ob es nicht möglich war, sich selbst auf Säuglingsgröße wiederzuverjüngen und vielleicht so den Ausstieg aus der Welt zu erreichen. Doch dann erkannte sie, daß ihre Macht über geschlechtsreife Menschen mit jeder Selbstverjüngung schwächer wurde. Der elfte von ihr gebannte kämpfte gegen sie an, schaffte es fast, sich ihrer geistigen Kontrolle zu verweigern. Auch fühlte sie, daß sie ihm keine Lebenskraft entreißen konnte. Damit stand fest, daß sie als kleines Mädchen wohl kaum noch was ausrichten konnte. Was sie aber erreichen wollte schaffte sie. Sie tastete um sich und erspürte, wo der von ihr gesuchte Kurzlebige war, der ihr so grausam entrissen und dann auch noch am Leben gelassen worden war. Hinzu kam noch, daß sie zwei Präsenzen fühlte, die den magischen Hauch einer ihrer Schwestern trugen, also wohl deren Abhängige waren. Zu ihnen hinspringen konnte sie nicht. Aber jetzt, wo sie sie orten konnte, wollte sie sie aufsuchen und über sie den längst fälligen Kontakt zu ihrer wachen Schwester Itoluhila herstellen. Mit der hatte sie auch noch eine Rechnung offen. Die hatte ihr damals so besserwisserisch geraten, sich zurückzuhalten, hatte ihr sogar unterstellt, ihrer gemeinsamen Abkunft zu schaden, weil sie sich all das holte, was die beiden anderen über Jahrhunderte genießen durften. Doch wenn es darauf hinauslief, daß Itoluhila ihre neue Mutter werden sollte, dann konnte sie sich gerade mal damit zufriedengeben, ihr schmerzhafte Umstände und eine Tortur der besonderen Art zu bereiten, wenn sie von dieser wiedergeboren wurde. Vielleicht reichte es, Itoluhila dazu zu zwingen, den ihr nicht so recht passenden Körper dieser Weltraumfliegerin zu töten, um ihr Einlaß in ihren Schoß zu verschaffen, ohne den, der früher mal Richard Andrews gewesen war, auch noch töten zu müssen. Dann mochten die ihn vielleicht schon umsorgenden Zauberer und Hexen ganz umsonst auf sie warten.
Um wieder zur erwachsenen Frau zu werden legte sie mit dem dunklen Feuer einen halben Wald in Schutt und Asche. Sie bannte die noch verbliebenen Jungen und fuhr mit diesen in ihrem Bus in Richtung Norden.
Doris Fuller fühlte sich wie in einem Traum. Sie konnte sich nicht mehr aus freien Stücken bewegen. Die unheimliche Entität Hallitti, die sich selbst als Tochter des dunklen Feuers bezeichnete, benutzte sie wie ein Mensch ein Auto oder ein Flugzeug benutzte, als lebendes Fahrzeug, das sie ab und an betanken mußte, um es nicht auseinanderfallen zu lassen. Schlimm empfand Doris fuller nur, daß jeder mörderische Liebesakt, durch den ihr Körper mit fremder Lebenskraft aufgeladen wurde, ihr selbst ebenso Vergnügen bereitete wie der dämonischen Parasitin, die sich immer mehr in ihr ausgebreitet hatte. "Ich werde dir helfen, mich eine Parasitin zu nennen", durchzuckte Doris Fuller ein tadelnder Gedanke der in ihr hausenden. "Ich habe mir das nicht ausgesucht, deinen viel zu schnell vergehenden Körper übergezogen zu bekommen. Ich würde lieber heute als morgen aus dir raus und einen anderen Körper annehmen. Es dauert nicht mehr lange. Dann sind wir einander los." Damit stand für Doris Fuller fest, daß Hallitti ihren Körper nicht mehr freigeben würde, um ihr ein angenehmes Leben zu gönnen. "Die haben dich sicher schon für gemeingefährlich erklärt. Daß sie dich noch nicht totgeflucht haben liegt nur daran, daß sie nicht wissen, was dann passiert", hatte Hallitti amüsiert zurückgedacht. "Und jetzt mach dich wieder schön klein, wir sind gleich da", drang noch ein letzter Gedanke zu Doris Fuller vor, die in diesem Augenblick vergaß, wer ihre Eltern gewesen waren, eine der letzten, starken Erinnerungen ihres Lebens. Ihren Namen kannte sie noch. Doch wie sie als kleines Mädchen gewesen war hatte sie vergessen.
Wieder zur Untätigkeit verurteilt bekam Doris Fuller es mit, wie ihre unheimliche Körperuntermieterin drei der von ihr verschleppten Jungen bis zum letzten Lebensfunken auszehrte. Doris hatte sich nie gefragt, ob Hallitti keine Angst vor ungewollten Schwangerschaften oder Geschlechtskrankheiten hatte. Sie sog ja alles fremde Leben in sich auf. Da hatten Spermien und Bakterien keine Chance.
Als sie im Rückspiegel des Busses das Gesicht einer Dreizehnjährigen sah, stieg sie aus und näherte sich zu Fuß einem großen Wohnmobil, daß schon ein Haus auf dem Fahrwerk eines Lastwagens war und wohl auch einen transportablen Hangar für einen Kleinwagen oder ein Motorrad besaß. Schon von weitem fühlte sie eine ihr verwandte, aber doch anders klingende Kraft, eine deutliche Aura, die mit menschlichen Sinnen nicht zu erkennen war. Gedanken wehten ihr entgegen, die Gedanken eines Mannes im besten Alter, der sich seit seinem Umzug in die Staaten Alonso Miguel Mondego Torres nannte und über Brasilien in die Staaten eingereist war. Seine Frau hieß Laura Elena Martínez. Doris Fuller bekam mit, wie Hallitti sehr amüsiert daran dachte, daß die beiden sehr treue Abhängige ihrer wachen Schwester Itoluhila waren. So wie sie jetzt aussah würde sie den beiden kaum als gefährliche Gegnerin auffallen. Tatsächlich wurde sie schon von weitem gesehen, als sie auf den Wagen zuging. Sie hob ihre Hand und winkte. Der Mann aus dem Wagen öffnete die große Seitentür des Wohnaufbaus und klappte eine kleine Treppe aus. "Wer bist du denn?" fragte er auf Englisch mit spanischem Akzent. "Doris", sagte Hallitti. "Doris Walters. Meine Freundinnen und ich campen hier so einen halben Kilometer entfernt. Meine Eltern haben auch ein Wohnmobil. Aber ein kleineres als das von Ihnen. kann man damit echt fahren?"
"Bergauf manchmal sehr langsam. Aber es geht", erwiderte der Mann aus dem Wohnmobil. Bei der Erwähnung von Doris' Freundinnen hatte es in seinen Augen begehrlich gefunkelt. So sagte Doris: "Na ja, dann gehe ich mal wieder zurück zu den anderen Mädels, bevor unsere Oberaufsicht noch antanzt. Nacht!"
"Moment, junge kleine. Wie viele seid ihr denn? Ich wüßte nicht, daß hier in der Nähe ein Zeltplatz ist."
"Nur acht. Ja, und der Platz wurde uns nur freigehalten, weil wir heute nicht mehr bis Woodley kommen konnten."
"Das sind noch mal fünfzig Meilen von hier. Wo ist denn eure Aufsicht?" fragte der Mann völlig unbefangen.
"Gerade unterwegs, um noch was für die Nacht einzukaufen. Aber das Häuschen auf Rädern da ist echt sehr groß. Meine Eltern meinen ja, sie hätten was echt großes. Darf ich das mal fotografieren?"
"Nur von außen?" fragte der Mann. Doris erkannte, daß wenn sie jetzt sagte, daß sie auch von innen photographieren wollte, sie sich verdächtig machte. Also sagte sie nur "Von außen."
"Mit Mats Digitalkamera nahm sie das Wohnmobil von allen Seiten auf. Dann bedankte sie sich und verabschiedete sich. Sie schlug den Weg ein, den sie nach ihrer Ankunft ausgekundschaftet hatte. Erst dachte sie, daß ihre Zielperson sich damit zufriedengeben würde, daß Doris Walters mal eben Fotos von einem Wohnmobil gemacht hatte. Doch als sie fühlte, wie eine begierige Präsenz hinter ihr herkam lächelte sie. Sie ging wie arglos weiter. Als sie fand, daß sie weit genug fort war und keiner ihr zusehen oder sie hören konnte, verlangsamte sie ihren Schritt. Dann warf sie sich herum und rannte genau auf den Mann aus dem Wohnmobil zu. Der sah zwar eine mögliche Gefahr kommen, reagierte aber zu spät, als die Dreizehnjährige ihm mit Wucht ihre Handtasche gegen den Kopf schlug. Drei Ziegelsteine hatten selbst auf einen Abhängigen Itoluhilas eine ziemlich niederschmetternde Wirkung. Sie wußte, daß er nur wenige Sekunden ohnmächtig bleiben würde. Doch das würde ihr reichen, ihn mit sich zu vereinigen. So zerrte sie ihn in ein Gebüsch und machte sich an ihm zu schaffen. Als er wieder zu sich kam und bemerkte, daß ein halbwüchsiges Mädchen gerade dabei war, ihn gegen seinen Willen zu beschlafen, lachte er erst. Doch dann fühlte er, wie ihm Lebenskraft entwich. Gleichzeitig hörte er ein höchst verärgertes Aufbrüllen im Kopf. "Läßt du das sein, Ilithula! Der gehört mir!" Doch sie ließ es nicht sein. Da ploppte es, und eine Frau in wasserblauem Kleid stand wie aus dem Boden gewachsen neben den beiden. Doris fühlte, wie sie mit Brachialgewalt von dem von ihr gerade so herrlich angesaugten fortgerissen wurde. Dann starrten sich beide an, das körperlich gerade zur Frau heranwachsende Mädchen und die Frau aus dem Nichts, die langes, schwarzblaues Haar besaß und mit wasserblauen Augen sehr verstört und dann sehr verdrossen auf sie niederblickte. Doris fühlte, wie die andere ihre besondere Geisteskraft einsetzte. Doch sie hatte zehn junge Leben in sich einverleibt und hielt dagegen. Daß ihre Augen dabei golden schimmerten bekam sie erst mit, als die andere ihren wahren Namen nannte. "Hallitti, also bist du das gewesen, die sich an meinem Eigentum vergriffen hat. Hat unsere Mutter also doch nicht rechtbehalten, und du konntest unmöglich in mir oder Ilithula neu aufkeimen. Wie hast du es geschafft, diesen Körper zu erwischen, der sicher nicht so brauchbar ist wie dein angeborener Leib?" Doris alias Hallitti setzte an, es mit dem Mund zu berichten. Doch ihre herbeibeschworene Schwester verlangte, es nur in Gedanken zu erwähnen. Dadurch entstand für zehn Sekunden eine geistige Verbindung zwischen den beiden, zumal Doris alias Hallitti bereits ein Fragment von Itoluhilas Kraft eingesaugt hatte. So bestand der Bericht aus Erinnerungsbildern. "So, und um mich oder Ilithula herzurufen mußtest du dich mit dem Leben von unberührten Knaben vollsaugen, bis dir deine kleinen Brüste fast unter die Rippen geschrumpft sind?" feixte Itoluhila. "Ich verstehe, warum du diesen Körper nicht behalten möchtest. Andauernd zwischen Mädchen und Greisin zu wechseln und irgendwann doch zu verrecken und dann wieder als ortsunbeweglicher Geist festzuhängen bringt es nicht. Dir das Leben auszusaugen bringt es auch nicht, weil es eben nicht dein wahrer Körper ist, dem du innewohnst wie ein drolliger Dibbuk. Nein, ich fürchte, diese Hexen, mit denen ich auch schon zu tun hatte, haben die einzig wirksame Methode benutzt, eine Wiedergeburt zu verhindern. Richard war von dir Abhängig. Aber er lebte nur noch, weil du ihm deine Lebenskraft eingeflößt hast. Nur wenn er von dir selbst getötet wird, kannst du dich von deiner ersten Körperlichkeit freimachen, fürchte ich. Wenn du das schaffst fällst du mir oder Ilithula von selbst in den Schoß, je nachdem, wem du gerade räumlich näher bist."
"Wo ist Ilithula?" wollte Doris alias Hallitti wissen.
"Das soll sie dir dann sagen, solltest du sie treffen, solange du noch nicht in diesem Wegwerfkörper verreckt bist. Nachher meinst du noch, deren Abhängige alle umbringen zu müssen, damit sie diesen Richard Andrews für dich erledigt. Nein, das machst du bitte schön selbst. Immerhin hast du es ja versäumt, ihn früh genug zu töten, als diese Hexen in Weiß deine Höhle aufgebrochen haben. Aber gut zu wissen, wie die das konnten, wenngleich ich nicht weiß, woher die wußten, wo sie lag."
"Sie haben den Jungen verfolgt", knurrte Hallitti. "Er hat ja starke Zauberkräfte."
"Ja, und die wolltest du dir einverleiben, halbgroße Schwester", flötete Itoluhilas Gedankenstimme. "Denke daran, daß ich dich gewarnt habe, es nicht zu arg zu treiben! Und solltest du es wirklich schaffen, meine Tochter zu werden, gewöhn dir besser gleich an, Mamas gute Ratschläge nicht in den Wind zu schlagen!"
"Ich werde den Bengel finden, als der mein Abhängiger immer noch lebt und mich genüßlich in deinem warmen Leib räkeln, Itoluhila", gedankenantwortete Hallitti.
"Hmm, vielleicht klappt es doch, dich gleich zu mir zu holen. Gib mir einen langen Kuß, Schwester!" Hallitti fühlte, daß Itoluhila irgendwas vorhatte. Aber der winzige Hoffnungsschimmer, ihr doch schon jetzt als erste und hoffentlich einzige Tochter zu erwachsen trieb sie dazu, der Aufforderung zu folgen. Sie drückte ihren Mund auf den ihrer Schwester, wobei Itoluhila in die Knie gehen mußte. Dann fühlte es Hallitti alias Doris Fuller, wie ihr selbst Kraft abgesaugt wurde. Was sie anderen immer wieder angetan hatte, überkam nun sie selbst. Die heimliche Hoffnung ihrer dämonischen Untermieterin könnte sich erfüllen. Doch dabei würde sie, Doris Fuller, ebenfalls vernichtet. Oder würde sie auch eine Tochter dieser milchkaffeebraunen Schönheit? Sie fühlte, wie ihr das Leben entwich. Doch gleichzeitig fühlte sie, wie sie wuchs und erblühte. Sie alterte wieder. Die verjüngende Kraft halbwüchsiger Jungen wurde aus ihr herausgesaugt. Sie sah in die wasserblauen Augen Itoluhilas und entdeckte dort die Gesichter der zehn totgeliebten Teenager, die für einige Sekunden schmerzverzerrt erschienen und dann zerflossen. Dann waren es alle zehn gewesen, die Doris Fuller alias Hallitti sich einverleibt hatte. Weitere Gesichter tauchten auf, die von den käuflichen Liebhabern, das von Will Dunning und schließlich auch das von Clark Styles. Hallittis Wirtskörper erschlaffte. Dann sah Doris Fuller ihr eigenes Gesicht in den Augen der Abgrundsschwester und fühlte, wie etwas sie aus dem Körper hinauszog. Sie hörte Hallitis Triumphruf. Doch dann verschwand alles um sie herum in einem Meer aus Licht und Rauschen. Einen Moment fühlte sie, wie sie in einem anderen Körper Halt fand und sah ihr eigenes, um mindestens vierzig Jahre gealtertes Gesicht, bevor ihre Gedanken sich in reine Lebensenergie auflösten, die in Itoluhilas Körper einfloß.
Hallitti sah noch, wie Doris' Gesicht in Itoluhilas Augen erschien. Dann fühlte sie, wie der Geist ihres Wirtskörpers restlos in Itoluhila übersprang. Da ließ sie von ihr ab. Hallitti wollte sich wieder an ihre Schwester werfen, sie noch einmal küssen. Doch ihr Körper war zu schwach. Sie fiel um. Itoluhila fing sie gerade einmal auf, daß sie sich nicht die altersschwachen Knochen brach. Sie zitterte vor Überanstrengung. Sie keuchte.
"Such dir besser deinen letzten Abhängigen und bring ihn um, damit du frei bist. Anders geht's nicht", sagte Itoluhila. Dann zog sie den angeblichen Alonso Miguel Mondego Torres in die Höhe und verschwand mit ihm im Nichts. Hallitti keuchte, versuchte, in Gedanken nach ihrer Schwester zu rufen. Tatsächlich bekam sie eine Antwort: "Das soll dir eine Lehre sein, dich an meinen Abhängigen zu mästen, Schwester! Nur wenn du in meinen Leib einkehrst hast du das Recht, von mir genährt zu werden. Vorher nicht. So setz denn deinen Weg fort!"
"Ich werde ... Du wirst mir das ..." versuchte Hallitti, ihrer Schwester noch etwas zuzudenken. Sie fühlte, wie ihr Körper immer mehr alterte. Mit der Entfernung der ihm angestammten persönlichkeit war auch der letzte stabilisierende Faktor ausgelöscht, der seine beschleunigte Alterung aufhielt. Halliti erkannte, daß sie wohl nicht mehr viel Zeit hatte. Würde das nun auf einen Schlag um mehr als fünfzig Jahre gealterte Herz aufhören zu schlagen, konnte es sein, daß sie in diesem Leib gefangenblieb, bis dieser sich restlos aufgelöst hatte. Denn dieser Körper war ja nicht ihr angeborener Körper. Was hatte Itoluhila gesagt? "Drolliger Dibbuk". Sie kannte die Geister todesverachtender Magier, die sich nicht damit abfinden wollten, einmal zu sterben oder als feinstofflicher Abdruck ihrer Selbst in der Welt zu bleiben. Sie bewohnte nun einen Körper, der sie wie einen Fremdstoff bekämpfte. Sie war das Gift, das diesen Körper zersetzte. Sie quälte sich auf die zittrigen Beine. Vorn übergebeugt kämpfte sie sich jeden Schritt bis zum Bus zurück vor. Die Halbwüchsigen lagen noch in ihrem Bannschlaf. Ja, die mußte sie jetzt leersaugen, um ihrem Körper neue Lebenszeit zu verschaffen. Ihr wurde klar, daß sie das nun wohl jeden Tag machen mußte, bis man sie entweder mit Gewalt aus dieser welkenden Hülle riß oder diese um sie herum zerfiel oder sie endlich den letzten Anker ihres ersten Daseins fand und tötete. Ihr wurde auch klar, daß Itoluhila keine liebevolle Mutter für sie sein würde. Doch jetzt wollte sie gerade erst recht zu ihr und durch sie zurück auf die Welt. Das war ihr großes Ziel, als sie den ersten der noch verbliebenen zehn Jugendlichen erst mühevoll und dann immer kräftiger mit sich vereinte, bis der labende Lebenskraftfluß sie wieder stark genug werden ließ. Fünf Opfer später hatte sie sich auf körperliche vierzig Jahre zurückverjüngt. Doch wie schnell würden diese geraubten Lebensjahre verfliegen?
Anthelias Versuche, die durch das Land marodierende Astronautin Doris Fuller vor den anderen Zauberern und Hexen zu erwischen mißglückten. Denn um zu wissen, wo Doris Fuller war, mußte sie ja erst einmal gesichtet werden. Erdzauber, die einen erklärten Feind oder eine Feindin fanden, wirkten nicht, weil Anthelia viele potenzielle Feinde hatte, die nur deshalb nicht offen gegen sie Front machten, weil immer noch schlimmere Gegner da waren. Richtig schlimm empfand Anthelia es, daß sie bei dieser Jagd und einer möglichen Bekämpfung außen vor war, solange die Jagd sich auf dem Boden der vereinigten Staaten abspielte.
"Also hätte sie eigentlich nach der körperlichen Vernichtung im Körper einer wachen Mitschwester landen und als deren jungfräuliches Kind heranwachsen müssen?" wollte Faidaria am zwanzigsten November wissen. Mittlerweile hatte Patricia von Izanami Kanisaga aus den Reihen der Spinnenschwestern erfahren, warum die Vernichtung Hallittis nur scheinbar geklappt hatte.
"Dann wird sie zusehen, erst den Jungen und dann sich selbst zu töten. Wenn stimmt, was gesagt wird kann sie sich mit fremder Lebenskraft immer wieder verjüngen. Damit kann sie hunderte von Sonnenkreisen lang weiterleben. Wir müssen sie einfangen", sagte Faidaria. Das galt für Patricia und die anderen Sonnenkinder als verbindliche Anweisung.
Sie hielt sich von den großen Städten fern. Denn dort lauerten die verdammten Hexen und Zauberer. Da sie durch die rasch verfliegende Lebenszeit und die manchmal sehr hastig zurückgewonnene Lebenszeit immer zwischen einer zwanzigjährigen Frau und einer weißhaarigen Greisin pendelte kam sie zumindest in der magielosen Welt ohne Belästigung aus. Denn zu verraten, daß sie sozusagen eine Alterspendlerin war hätten die Zauberer den Magielosen erst erklären müssen. Auf dem Land fand sie wenigstens genug "Futter", um den raschen Verfall ihres Körpers auszugleichen. Durch die Lebenskraft von Jugendlichen konnte sie auf ihrem Weg nach Osten ergründen, wo sie hin mußte. Der Ort lag nur noch einhundert Kilometer entfernt. Sie wußte aber, daß sie dort sicher erwartet wurde, sollten die Zauberer und Hexen erkannt haben, warum es sie gab.
Um genug Lebenskraft in sich anzureichern entvölkerte sie in nur zwei Tagen ein von der Außenwelt abgeschnittenes Dorf. Auch die Frauen wurden ihr Futter. Jetzt war sie gerüstet für den großen Schlag, der ihr diesen Körper entreißen und ihr ein neues Leben verschaffen sollte.
Monate lang ging es Ricardo Flores alias Mario Lopez alias Claude Andrews sehr gut. Man ließ ihn in Frieden oder wollte nichts mehr von ihm wissen. Als er jedoch am Vorabend zu Weihnachten gerade auf dem Weg zu einer Heiligabendfeier deutscher Einwanderer war pulsierte sein Geschenk Lolis wieder sehr heftig. Als er sich umsah konnte er sie sehen. Mehrere Männer in kugelsicheren Westen griffen ihn mit Maschinenpistolen an. Er hatte keine andere Wahl als zu Fuß zu flüchten. Denn soeben verloren alle vier Reifen seines Mietwagens Luft. Er rannte los, hoffte, daß jene dunkle Wolke, die ihn sonst vor Kugeln schützen konnte, auch hier zuverlässig abschirmte. Da fühlte er die Einschläge in seiner Schulter. Sofort hielt sein mit Magie aufgeladener Ring dagegen. Warum kam seine Geliebte nicht und half ihm.
Es war schon merkwürdig, dachte Jeff Bristol. Da hockte er im Schutze eines Unsichtbarkeitszaubers auf einem Baum und hielt das Haus einer ganz gewöhnlichen amerikanischen Kleinstadtfamilie unter Beobachtung und wußte, daß irgendwo in der Nähe mindestens noch zwei oder drei andere saßen, die dasselbe taten. Wie sollte er die Sonnenkinder einstufen, von denen Justine ihm erzählt hatte? Waren es potenzielle Feinde oder unverhoffte Verbündete? Immerhin hatten sie wohl Nocturnia entscheidend geschwächt.
Jeff Bristol wußte, daß Jerimy über gewisse Umwege Träumguttee zugespielt bekommen hatte, damit er nicht vor lauter Angst wahnsinnig wurde und doch die geeignete Menge Tief- und Traumschlaf abbekam. Er blickte auf einen der kleinen Steine, die den weißen Gartenzaun am Boden sicherten. Im Grunde war das kleine Haus der Wilsons die perfekte Kleinstadtidylle für Anhänger der republikanischen Partei, die nach der sehr umstrittenen Präsidentschaftswahl darauf hoffte, doch noch genug Wahlmännerstimmen zu ergattern, um ihren Mann ins weiße Haus zu bringen. Als ehemaliger FBI-Beamter war er es gewohnt, jedem Präsidenten zu gehorchen, egal wem. Doch falls George Bush Junior Präsident wurde, bestand die Möglichkeit, daß der kleinste Anlaß reichte, um mit irgendwem Krieg anzufangen. Das war der Fluch der finanziellen und militärischen Vorrangstellung der vereinigten Staaten. Die Welt erwartete, daß sie Unruhen in der Welt beendete, beschimpfte sie aber auch gleichzeitig als selbstgerechte Weltpolizisten, die nur ihre eigenen Interessen durchsetzen wollten. Für so ein Amt wäre ein besonnener Präsident mit guten politischen Visionen besser geeignet. Doch das war nur Bristols Meinung. Er wußte auch, daß sich in der Zaubererwelt fast keiner dafür interessierte, wer gerade Präsident war und welche Innen- und Außenpolitik er betrieb. Vielleicht war das auch überheblich, ja womöglich sogar dumm, die Muggelwelt derartig zu ignorieren. Immerhin hielten der Zaubereiminister und das Laveau-Institut es für wichtig, Kundschafter und Feueraustreter in wichtigen Behörden zu haben. Deshalb hockte er jetzt hier auf einem Baum und suchte die wie er hier irgendwo versteckten Sonnenkinder. Das magische Fernglas, daß er von Quinn Hammersmith hatte, konnte durch Verhüllungszauber blicken. Wenn er wollte konnte er damit auch durch feste Wände sehen und jeden Menschen splitternackt sehen. Das war für einen ehemaligen G-Man schon eine Versuchung. Doch das kleine Fernglas konnte keines der Sonnenkinder enthüllen. Selbst wenn sie sich in was unauffälliges verwandelt hätten hätte Bristol sie sehen müssen. Aber die miniaturisierte Originalgestaltanzeige im Fernrohr reagierte nicht auf die Bäume, Büsche, Steine oder Müllbehälter.
Die Wilsons wußten nicht mehr ein noch aus. Der Tee, den dieser Loewenthal ihnen verschrieben hatte, hatte Jerimy noch mehr verwirrt als die Alpträume. Mortimer Wilson fragte sich, wie ein Vierjähriger so detailgenaue Sexszenen beschreiben konnte. Zwar hatte dieser Loewenthal behauptet, bei Jerimy kein früheres Leben festgestellt zu haben, doch mochte das nicht eine reine Schutzbehauptung gewesen sein, weil er bei Jerimy was entdeckt hatte, was seine Adoptiveltern nicht wissen durften, weil sie ihren Sohn sonst gleich für wahnsinnig erklärt hätten. Als sie den bitteren Tee abgesetzt hatten waren die bösen Träume wiedergekommen. Zwar erzählte Jerimy nichts darüber. Doch wie er sich am Tag benahm, vor allem wie er andere erwachsene Frauen ansah, deutete darauf hin, daß diese Angstträume wieder da waren. Leslie wußte auch nicht, was sie tun sollte. Denn Jerimy ließ sich von ihr auch nicht mehr in die Arme nehmen. Es war so, als fürchte sich Jerimy davor, den Körper einer Frau zu berühren oder davon berührt zu werden.
"Dieser Löwendompteur hat behauptet, bis Januar keinen Termin mehr freizuhaben. Aber so einen wie den gibt's doch sicher auch anderswo", sagte Mortimer in der vorletzten Woche vor Weihnachten, während in Jerimys Zimmer langsame Weihnachtslieder aus dem kleinen CD-Radiorekorder dudelten. Leslie flüsterte zurück:
"Du glaubst doch nicht doch, daß Jerimy mal gelebt hat, oder?"
"Ich glaube, das seine Mutter versucht hat, ihn bei oder gleich nach der Geburt umzubringen. Sie hätte dazu nur die Beine zusammenkneifen müssen, um seinen Kopf zu zerdrücken. Das hat Dr. Tompson zumindest angedeutet."
"Ja, aber Loewenthal hat ihn ja quasi in den Mutterleib zurückhypnotisiert", zischte Leslie. "Das hätte er uns dann sicher erzählt, zumal es dann ja auch eine Handhabe wegen versuchten Kindesmordes gegeben hätte."
"Und wenn er die Schlampe gekannt hat, die unseren Jerimy auf die Welt gebracht hat?" fragte Mortimer. "Könnte ja eine Rothaarige gewesen sein."
"Dann hätte er schon als Baby was gegen deine Cousine Phyllis haben müssen, die ja selbst rothaarig ist", entkräftete Leslie das Argument ihres Mannes und wies darauf hin, daß die schlechten Träume ja jetzt erst so gehäuft auftraten. Wenn ihm als Baby schon Gewalt angetan worden wäre, dann hätte er seine ganze bisherige Kindheit lang davon träumen müssen.
"Ich habe mit Gilda aus der Musikrecherche gesprochen. Die glaubt ja auch an Reinkarnation. Die kennt so Gurus, die einem zeigen, als wer man schon gelebt hat. Allerdings sind die sauteuer und wohnen in New York und L.A.".
"Du glaubst also, daß Jerimy schon einmal gelebt hat, Mort?" fragte Leslie. Ihr Mann nickte. Sie nickte auch. "Sonst hätte Jerimy ja wohl nicht so eindrucksvoll erzählen können, wie er mit dieser rothaarigen geschlafen hat. Bisher haben wir es ja hinbekommen, daß er sowas nicht im Fernsehen zu sehen bekommen konnte. Mortimer meinte dazu nur derb, daß Jerimy aber wohl noch nicht so darauf ansprang wie er, wo er gerade vierzehn Jahre alt war.
"Wenn es wirklich stimmt, daß Jerimy schon gelebt hat, obwohl ich sowas bisher auch für Humbug gehalten habe, dann sollten wir wirklich zusehen, daß wir wen finden, der das genau herausfindet. Und dann will ich dabei sein", sagte Leslie kategorisch. Mortimer nickte. Daß sie bei den Hypnosesitzungen mit ihrem Sohn im Nebenraum hatten abwarten müssen hatte ihm nie behagt. Doch wenn es gedient hätte, die bösen Träume zu verjagen ... was aber nicht geklappt hatte. So beschlossen sie, sich von Mortimers Kollegin einen dieser Wiedergeburtsanhänger empfehlen zu lassen und, egal wie teuer der war, mit dem zu sprechen. Sie hörten Jerimy laut aufschreien. Er hatte wohl wieder schlecht geträumt. Doch seitdem sie den Tee abgesetzt hatten erzählte er ihnen nichts mehr. Er sagte nur, daß sie wieder da sei. Innerlich dachte sie, daß ihr Adoptivsohn vielleicht verflucht sei, daß er vielleicht eine Art Wechselbalg war, ein Dämonenkind, daß den Menschen untergeschoben wurde und daß die böse Frau eine üble Dämonin, eine Hexe oder des Teufels Großmutter sein mochte. Doch das hätte sie niemals laut auszusprechen gewagt. Daß es keine hundert Meter von ihr entfernt jemand mitbekam, die erst verärgert und dann erheitert über ihre Gedanken war, bekam sie nicht mit.
Morgen war weihnachten. Doch Jerimy freute sich nicht wie sonst. Auch wenn der große Frosty auf dem Dach stand und vor dem Haus ein Schlitten mit allen Rentieren stand, deren Namen er kannte, hatte er Angst vor Weihnachten. Irgendwie war das so, als wäre Weihnachten der Tag, wo die Frau aus dem Traumland auf die Erde zu ihm hinkommen konnte, wie es der Weihnachtsmann mit seinem Rentierschlitten tat. Seine Oma hatte ihm gesagt, immer vor dem Schlafen zu beten. Doch das hatte er nicht mehr gemacht, als die rothaarige Monsterfrau ihn dafür ausgelacht hatte und gesagt hatte: "Der liebe Gott will nichts mehr von dir, weil ich dich schon mal hatte. Und ich kriege dich wieder, auch wenn die anderen das versucht haben, dich mir ganz wegzunehmen."
Der ganze Tag war für Jerimy so, als ob hinter jedem Baum oder irgendeinem Strauch jemand hockte, der ihm was böses tun wollte. Sogar die im Vorgarten stehenden Rentiere sahen so aus, als wollten sie ihm was böses tun. Jerimy wäre gerne zu Jojo rübergegangen. Doch der war mit seinen Eltern bei seinem Großvater, den er Abuelito nannte, in dieser Stadt Buenos Aires, wo die jetzt Sommer hatten. Die hatten Weihnachten keinen Schnee und fuhren dann auch mal ans Meer raus. Dafür war das Meer hier in Salisbury schon zu kalt und die Wellen viel zu hoch.
Jerimy wußte nicht warum. Er wollte das einfach so. Er lief durch das Haus und guckte zu allen Fenstern hinaus, als wenn er schon auf den Weihnachtsmann wartete. Sein Dad sah ihn immer wieder an, als wollte er ihn fragen, ob was sei. Doch Jerimy sagte nichts. Irgendwie war das so, als dürfe er noch nichts sagen.
Als die Sonne schon ganz unten war merkte Jerimy, daß irgendwas in seinem Kopf passierte. Es war so, als würde ihm wer von unten durch die Haare und oben um die Augen herum streicheln. Er griff sich immer an den Kopf. Doch da waren keine anderen Hände, nicht ein einziger Finger. Dann fühlte er, wie etwas von da wegkam, wo Jojo wohnte. Er lief zum Balkon. Draußen war es sehr kalt. Vielleicht kam mit dem Weihnachtsmann auch Schnee. Er lief bis zum Geländer hin, über das er Jojos Haus sehen konnte. Dann sah er ein halbgroßes Mädchen. Das ging ganz vorsichtig auf das Haus zu. Die sah nicht so aus wie die Frau aus dem Traumland. Doch er merkte, daß sie ihn so ansah, als wenn sie ihn gleich auffressen wollte. Er fühlte sowas wie Wut, die von ihr zu ihm herüberflog, ja sowas ganz gemeines, daß sie ihm richtig weh tun, ihn wohl auch totmachen wollte. Dann sah er es in ihrem Haar wie durch Nebel, das rote Haar und die Augen leuchteten jetzt wie Goldstücke. Er hörte ihre Stimme im Kopf: "Gleich habe ich dich." Er konnte nur noch laut rufen: "Die böse Frau kommt!"
Sein dad rannte auf den Balkon, sah über Jerimy hinweg, während aus den Händen des halbgroßen Mädchens ganz dunkles Zeug kam, das wie Kaminfeuer flackerte, aber eben ganz dunkel war. "Gleich seid ihr alle erledigt und ich wieder frei", hörte Jerimy die Stimme der anderen ganz böse in seinem Kopf sagen. Jerimys Dad zog ihn vom Geländer weg. Da wurde es noch kälter. Das dunkle Feuer rauschte auf das Haus zu. Doch bevor es ganz da war hörten Jerimy und sein Dad andere Leute was rufen. Da sah er weißes Feuer, so hell, daß es in den Augen weh tat. Es kam aus dem Boden und aus dem Himmel und kam mit dem dunklen Feuer zusammen. Jerimy konnte durch das weiße Feuer nicht mehr sehen, was passierte. Er hörte jedoch die Stimme der bösen Frau im Kopf wütend aufbrüllen. Sie wollte ihn totmachen, ihn mit bösem Feuer einfach so totmachen wie die bösen Hexen und Zauberer aus den Märchen das konnten. Doch wer das grelle weiße Feuer gemacht hatte wußte Jerimy nicht. Er hörte nur noch, wie die böse Frau richtig laut und wütend schrie und dann einen ganz fremden Mann was wie Abrakadabra oder sowas ähnliches rufen. Dann hörte Jerimy ein lautes Schwirren. Im nächsten Moment meinte er, daß etwas schweres von seinem Körper runterfiel, als hätte ihn jemand mit einer Riesenhand ganz doll festgehalten. Das weiße Feuer fraß das ganz schwarze auf und ging aus. Jerimy suchte die böse Frau. Doch die war nicht mehr da. Dafür liefen jetzt fünf ganz gelb angezogene Leute auf der Wiese um das Haus herum und ein Mann, der einen Stab in der Hand hatte wie ein echter Zauberer, stand ganz still auf der Wiese und guckte so, als habe er gerade was ganz blödes gemacht und würde gleich ausgelacht oder ausgeschimpft. Dann knallte es hinter Jerimy und seinem Dad. Die beiden drehten sich ganz schnell um. Vor ihnen stand jemand in einem hellblauen Kleid mit roten Haaren. Aber das waren nicht die roten Haare der bösen Frau. Außerdem lachte die fremde Frau ganz lieb. Doch die hatte einen Zauberstab in der Hand. War das vielleicht eine gute Fee, die Jerimy helfen wollte? Da merkte der Junge, wie etwas an ihm vorbeistrich und genau da hinging, wo sein Dad stand. Der sah auf einmal so aus, als wenn er gerade erst zu schlafen aufhörte. Dann sah ihn die Frau mit dem Zauberstab an und sagte: "Keine Angst, Jerimy, meine Freunde und ich sind hier, um aufzupassen, daß euch keiner was böses tun kann. Aber die böse Frau ist so stark, daß die das immer wieder versuchen will, euch zu kriegen. Deshalb bringen wir euch wohin, wo sie euch ganz sicher nichts tun kann." Jerimy wollte schon was sagen, als er sah, wie sein Vater einfachso immer kleiner wurde. Er wollte schreien. Da machte die Fremde etwas, daß er ganz müde wurde und einfach da einschlief, wo er stand.
Daß es schon der Vorabend zu Weihnachten war erkannte Hallitti, die im Augenblick als gerade elfjähriges Mädchen herumlief daran, daß die Häuser alle bunt erleuchtet waren. Salisburry im Bundesstaat Maryland bildete keine Ausnahme, was den Weinachthsrummel anging. Hallitti hörte die Weihnachtsmusik aus den offenen Läden und sah die überdimensionierten Schneemänner, Rentiere mit und ohne Schlitten und die mit elektrischen Kerzen überfrachteten Tannenbäume. Immerhin erinnerte sie sich daran, wie sie mit ihrem Abhängigen damals Weihnachten gefeiert hatte. Ja, das würde sie auch dieses Jahr wieder tun. Doch anders als er sich das je hätte träumen lassen. Sie war ihm bereits so nahe, daß sie ihn spüren konnte. Ja, durch sein Wiederwachstum hatte er den in ihm verbliebenen Rest der von ihr eingeflößten Lebenskraft zu einem neuen Lebensfeuer entfacht. Ihr war klar, daß er in dreizehn Jahren wieder gut für sie empfänglich sein würde. Doch wenn sie ihn nicht tötete, würde sie nichts davon haben. Sie ging behutsam auf das Haus zu, in dem er wohnte. Da fühlte sie es. Es war eine Kraft, die von keinr ihrer Schwestern stammte. Sie fühlte, daß es etwas war, das dem Feuer verwandt war, ihrem Element. Dann erreichte sie das Grundstück und sah das Fenster, hinter dem ein kleiner, blonder Junge gerade mit einem Mann und einer Frau zusammensaß. Der Junge schien die Gefahr zu spüren, denn er schrie auf einmal: "Die böse Frau kommt!" Als wenn das ein Zauberwort war, begann es plötzlich vor Hallitti zu flimmern. Sie schnaufte und streckte sich. Dann riß sie die Arme hoch und konzentrierte sich. Sie breitete die Arme aus und sah, wie schwarze Blitze zwischen den ausgebreiteten Händen hin und herzuckten, die immer schneller aufeinanderfolgten. Dann raste laut fauchend eine Walze aus schwarzen Flammen auf das Haus zu. Da fühlte sie, wie fünf menschliche Bewußtseine sich enthüllten, zwei Männer und drei Frauen. Sie hörte ein Zauberwort. Da schossen aus der Hauswand grelle, weiße Flammen hervor, die die Walze aus dunklem Feuer berührten und laut zischend auflösten. Hallitti schrie, weil dieser Gegenschlag ihr noch mehr Kraft entriß als der Angriff selbst. Sie fühlte, wie sie wieder älter wurde. Doch sie gab nicht auf. Sie griff wieder an. Diesmal wollte sie einen der Zauberer mit dunklem Feuer treffen. Doch dieser wehrte den Flammenball mit einem Schild ab, der wie eine vom Himmel gepflückte Sonne strahlte. Mit metallischem Pong zerplatzte die Feuerkugel in blaue Blitze, die in alle Richtungen davonschossen. Dann sah Hallitti einen Zauberer, der mit erhobenem Stab auf sie zusprang. Sie warf sich herum, hob ihre rechte Hand und schleuderte ihm fünf schwarze Feuerzungen entgegen.
"Nicht töten!" rief eine der Hexen, die gerade im Schutz der weißen Flammen aus dem Haus stürmte. Doch da hörte Hallitti schon die für sie früher so lächerlichen Worte: "Avada Kedavra!"
"Fröhliche Weihnachten, Mädels, und alle hübschen Patschehändchen hoch!" rief einer von sieben Weihnachtsmännern durch den weißen Wattebart hindurch. Die sieben Weihnachtsmänner hatten aber nichts mit Frieden auf Erden zu Schaffen, denn sie zielten mit Maschinenpistolen in die Bar hinein, in der sich acht junge Frauen verschiedener Nationalitäten mit ebenso vielen Männern unterhielten und mit ihnen aushandelten, wer von wem was erhalten würde. An der Bar selbst saß eine Frau, die gut und gerne Ende Zwanzig Mitte dreißig sein mochte. Sie besaß langes, schwarzblaues Haar und einen Hautton wie Milchkaffee. Sie blickte die sieben rotgewandeten Weißbärte an, die gerade auf sie und die anderen Barbesucher zielten. "Jungs, ihr wißt, wem das Haus und die Bar hier gehören?" fragte sie völlig unbeeindruckt, daß immer wieder ein Maschinenpistolenlauf auf sie einschwenkte.
"Schnauze, Schlampe! Wenn die Statthalterin von der Bude hier nicht sofort ihren Boss anruft und dem sagt, daß er herkommen soll, wenn seine Spitzennutten nicht als moderne Kunst an den Wänden verteilt werden sollen, pusten wir euch alle weg."
"Maruja, ganz ruhig", sagte die Frau mit den schwarzblauen Haaren, weil die Frau hinter der Bar schon Anstalten machte, unter die Theke zu fischen, wo sie einen Karabiner versteckt hatte.
"Ist die hier die Obernutte oder Puffmutter?" wollte der Wortführer der sieben kostümierten Banditen wissen. Die gerade nicht bei der Arbeit befindliche Frau schüttelte den Kopf. "Wenn du was vom schwarzen Engel willst, ich bin seine Kontaktperson. Du hast Glück, Junge. Du willst also, daß er herkommt und mit dir und deinen sechs Genossen verhandelt?"
"Es wird zeit, daß er fliegt", lachte ein anderer der Banditen. "Also ruf ihn her und laß uns mit ihm Halleluja singen!"
"Jungs, die Mädchen hier sind ersetzbar. Da wird der schwarze Engel nicht für aus seinem Versteck kommen", sagte die Frau mit den schwarzblauen Haaren. "Ich bin für ihn wichtig. Wenn ihr die Mädchen hier umlegt beschafft er sich neue. Wenn ihr mich mit den Mädchen umlegt schickt er seine Jungs und läßt euch kleine Hörner und Pferdefüßchen wachsen, sofern ihr nicht in großen Kesseln landet. Wenn ich ihm aber vermitteln kann, daß ihr nur mit ihm sprechen möchtet, dann ist der ganze Aufstand mit den Waffen nicht nötig", sagte sie ruhig.
"Wie heißt du, daß du meinst, so unverwundbar zu sein?" fragte der Wortführer der Banditen.
"Loli, das kommt von Dolores", sagte die unbekümmerte Barbesucherin.
"Okay, Loli von Dolores. Meine sechs Jungs bleiben hier und passen auf die Mädchen und ihre bedürftigen Tanzpartner auf, bis ich mit dem schwarzen Engel gesprochen habe. Wir zwei gehen jetzt raus!" Loli nickte und lächelte die acht jungen Frauen zuversichtlich an. Dann stand sie ganz ruhig auf, als wäre die auf sie zielende Waffe nicht so gefährlich, wie sie aussah. Sie ging grazil auf den Wortführer der bewaffneten Weihnachtsmänner zu. Der ging sofort auf Abstand und zielte auf Loli. Die jedoch ging mit sanftem Hüftschwung und wehendem Haar an ihm vorbei und ließ es geschehen, daß er ihr den Waffenlauf in den Rücken stieß. "Los, voran, bevor mir der Zeigefinger ausrutscht", blaffte der Mann.
"Wenn ich den schwarzen Engel anrufen soll geht das nur von Zimmer sieben aus."
"Willst du mich verarschen? Du Schlampe hast doch sicher 'n Mobilfon einstecken. Also hol's raus und klingel ihn an", blaffte der bewaffnete Weihnachtsmann. Loli deutete auf ihr Kleid. "Meine Handtasche liegt im Safe, und der geht erst morgen früh wieder auf, Zeitschloß, Süßer."
"Noch so 'ne Lüge und ich tapezier mit deinen Eingeweiden die Wand!" drohte der Weißbart und stieß seine Waffe noch einmal in den Rücken der Frau. Diese bot ihm an, ihn ins Büro zu führen. "Wenn du es mir nicht glauben willst, bitte", sagte sie immer noch völlig unbeeindruckt, daß ein Weihnachtsmann ihr am heiligen Abend den Tod bescheren konnte. Diese Selbstsicherheit irritierte den Banditen. Sollte er die Hure jetzt umlegen und sich die Bartante vorknöpfen? Da sagte die glatt: "Wenn du mich hier ausknipst sendet ein in meinen Brustkorb eingepflanzter Sender dem schwarzen Engel, daß mein Herz nicht mehr schlägt. 'ne Lebensversicherung, daß wir nicht von Typen wie dich mal eben vom Markt genommen werden."
"Ach neh", knurrte der Weihnachtsmann. "Und was läuft, wenn ich dich abknalle und meine Freunde die anderen Dreckdosen umlegen?"
"Tja, dann drückt der schwarze Engel auf 'nen Knopf, alle Räume werden mit Betäubungsgas geflutet, und seine Jungs kommen und sammeln den Dreck ein, der sich angesammelt hat. Habt ihr Gasmasken bei euch?" Der Weihnachtsmann erschauerte. Er wußte, daß der schwarze Engel gnadenlos jeden bisherigen Konkurrenten aus dem Weg geräumt hatte. Das die schlanke Frau mit der Milchkaffeehaut einen Todessender unter ihren prallen Brüsten eingebaut trug mochte ein Bluff sein. Aber wollte er es drauf anlegen? So sagte er:
"Wir bieten ihm an, sein Kapital zu behalten. Wir wollen nur seine Immobilien. Also hol dein scheiß Mobiltelefon!"
"Das liegt im Safe, der Safe ist zu und bleibt bis morgen um neun zu. Wenn Maruja oder ich aber nicht um Mitternacht eine bestimmte Telefonnummer anwählen, daß alles in Ordnung ist, dreht der schwarze Engel den Gashahn auf und läßt auskehren", sagte Loli ganz ruhig, als könne ihr niemand was anhaben. Diese verdammte Selbstsicherheit machte dem bärtigen Banditen gerade sichtlich zu schaffen. Entsprechend nervös zitterte sein rechter Zeigefinger am Abzugshebel der MP. Er befahl Loli, ihn ins Büro zu führen, wo der Safe war. Sie gehorchte und führte ihn durch einen Flur zu einer Tür mit der Aufschrift "Privado". Loli öffnete die nicht verschlossene Tür. Dahinter ging es in einen unbeleuchteten Flur. "Licht an!" bellte der Bandit im Weihnachtsmannkostüm. Loli führte ihre Hand vorsichtig zum Schalter und knipste die Flurbeleuchtung an. Dann wurde sie weitergeschoben bis zu einer Tür mit der Aufschrift 07. Darunter prangte eine goldene Sonne. Sie holte behutsam einen Schlüssel an einer Kette unter ihrem Kleid hervor und schloß auf. Maruja war ja gerade an der Bar und würde erst um Mitternacht hier erwartet. Das war in nicht einmal mehr zehn Minuten. Dem Banditen wurde nun klar, daß dieses Weib da vor ihm ihn locker hinhalten konnte, wenn das mit der Begasungsanlage stimmen sollte. Sie hier und jetzt umzulegen brächte ihm jetzt auch nichts mehr ein, wenn das mit dem Todessender stimmen mochte. Vielleicht konnte er ihn ihr aber wegnehmen oder genau zielen, wo er war, bevor der ausgelöst wurde.
"Los, zuschließen!" blaffte der Weihnachtsmann. Loli gehorchte. "Her mit dem Schlüssel!" befahl er ihr noch. Sie warf ihm den Schlüssel zu. Er machte nicht den Fehler, ihn aufzufangen, sondern hielt seine Waffe sicher in beiden Händen und stellte seinen rotgestifelten rechten Fuß auf den Schlüssel. Dann überlegte er. Wenn das mit der Gasanlage stimmte, waren davon wirklich alle Räume betroffen? Dann brächte es eigentlich nichts, den schwarzen Engel anzurufen. Der würde ja sofort den passenden Knopf drücken. Doch wenn das Büro nicht an diese K.O.-Anlage angeschlossen war ..."
"Mach den Safe auf und hol deine Handtasche raus, Luder!" blaffte er. Loli zeigte ihm den Panzerschrank. Er sah die eingebaute Tastatur und die darunter verbaute Digitaluhr. Die zeigte jedoch neben der aktuellen Uhrzeit 23:51:22 Uhr noch eine rückwärts zählende Uhr, dernach er neun Stunden, acht minuten und achtundvierzig Sekunden Zeit hatte. Er befahl Loli, den Safe zu öffnen. Diese drehte ihm den Rücken zu und tippte die Kombination ein. Doch es piepte nur. Der Weihnachtsmann sah, daß die Anzeige mit der Uhr blinkte und las den Schriftzug: "Zeitschloß". Loli wollte gerade was sagen, als irgendwas sie zusammenfahren ließ. Der Bandit meinte, sie habe einen Schrecken bekommen und deutete es so, daß er jetzt Oberwasser bei ihr haben würde. "Ah, ist dir eingefallen, daß euer Büro nicht vergast wird, eh. Also los, ruf deinen Boss an, oder ich leg dich um!" Loli drehte sich zu ihm hin. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und rötete sich. Doch es war ein Wutrot. "Du mieser kleiner Bastard willst mich umlegen", schnarrte sie. Der Weihnachtsmann sah sie an. Sein Blick fing den ihren ein. Doch als er fühlte, wie seine Gedanken vernebelt wurden, erkannte er genau eine Sekunde zu spät, daß sie ihn gerade fertigmachte. Dann verfiel er in eine Art Starre. "Du bleibst da stehen und läßt deine Kanone fallen!" blaffte Loli. Der Weihnachtsmann fühlte, wie sich seine Hände öffneten und die schwere MP entfiel. Wieder zuckte Loli zusammen. Diesmal konnte er sehen, daß es kein Schrecken, sondern Schmerz war. Und dann noch mal. "Wie heißt du?" wurde er gefragt. Er konnte es nicht verhindern. Wie aus weiter Ferne hörte er sich seinen richtigen Namen nennen. Dann rasten mehrere Erinnerungen durch seinen Kopf, daß er und seine sechs Leute für Don Pedro de Molinas aus Madrid arbeiteten, der sein Glücksspiel- und Prostitutionsimperium nach Südspanien ausdehnen wollte und meinte, sich den schwarzen Engel entweder als Untergebenen zu sichern oder ihn vom Markt zu verdrängen. Als er an das alles und auch das Gesicht von Don Pedro gedacht hatte sah er Lolis rechte Faust auf sein Gesicht zurasen. Er war unfähig, dem Schlag auszuweichen. Der rechte Haken landete punktgenauauf seiner Nase. Ein ganzes Universum voller Sterne explodierte vor seinen Augen. Dann umfing ihn tiefste Schwärze.
Der grüne Blitz des Todesfluches sirrte auf Hallitti zu und traf sie voll an der nun wieder voll erblühten linken Brust. Sie fühlte eisige Kälte durch den Körper schießen und schrie. Gleichzeitig fühlte sie, wie sie weitere Lebenszeit verlor. Dann fiel sie in einen tiefschwarzen Schacht, an dessen Ende sie mitten in eine Schießerei hineingeriet. Ein Mann war auf der Flucht. Sie roch es förmlich, daß ihm Itoluhilas magische Duftwolke umgab. Sie hörte das Kugelpfeifen und fühlte drei Einschläge in ihren Körper. Sie brüllte auf, als ihr Wirtskörper die noch verbliebenen Leben einsetzte, um sich zu regenerieren. Aus Wut auf die Angreifer schleuderte sie diesen eine Walze aus dunklem Feuer entgegen. Die Angreifer reagierten zu spät. Sie gerieten mitten hinein in den höllischen Brand. Sie kamen nicht einmal dazu, zu schreien. Dann sah Hallitti den anderen, der gerade auf einen geparkten Wagen zulief. Seine Kleidung war zerfetzt. Kugeln hatten ihn getroffen. Doch er blutete nicht und lief auch ganz munter daher. Hallitti wollte diesen Mann für sich. Der war mit der Kraft ihrer Schwester aufgeladen. Sie würde ihn restlos aussaugen, sich dessen und ihrer Schwester Lebenskraft einverleiben. Sie zielte mit der Faust auf den Wagen und schleuderte einen nachtschwarzen Feuerball an dem Flüchtenden vorbei. Dieser erstarrte mitten in der Bewegung, als der Wagen unvermittelt in schwarzen Flammen aufging. Hallitti fühlte, daß sie nicht mehr viel Zeit hatte. Den Jungen zu töten, der sich jetzt Jerimy Wilson nannte war mißlungen. Sie war sicher hierherversetzt worden, weil hier Itoluhilas Kraft wirkte. Also konnte sie das hier und jetzt zu Ende bringen. Brachte sie den Abhängigen um, konnte sie mit dessen Lebenskraft in sich durch ihren Freitod in Itoluhilas Leib eindringen.
Der Fliehende stand da. Als er die gebrechliche, steinalte Frau sah mußte er erst lachen. Doch als sie ihm eine knochige, runzelige Hand um den Hals krallte und mit der anderen an seinem sowieso schon arg geschundenen Anzug zerrte, erkannte er, daß er vielleicht vom Regen in die Traufe geraten war. sie versuchte, ihn niederzudrücken. Doch er war stärker als sie. Er versuchte, sie fortzuschleudern. Doch sie klammerte sich verbissen an ihm fest. "Durch dich komme ich zu meiner Schwester", fauchte sie und verlor dabei einen ihrer Zähne. Sie warf sich über den anderen, dessen Namen sie noch nicht recht kannte. Hieß der jetzt Mario Lopez oder Claude Andrews? Andrews? Das war doch nicht der Bruder von Richard? Doch, seine Ausstrahlung paßte. Ja, der würde der Ersatz für seinen Bruder sein. Durch ihn und die ihm eingeflößte Kraft Itoluhilas würde sie endlich aus diesem unhaltbaren Körper herauskommen. Auch wenn Itoluhila ihr das niemals verzeihen würde und sie in dem einem Jahr, daß sie neu aufwachsen mußte die Hölle aller Religionen bereiten mochte, würde sie gleich mit Hallitti schwanger sein.
"Deine nette Schutzherrin ist nicht hier. Sie hat dich mir geschenkt, Claude Andrews. Ich soll dich schön von deinem Bruder grüßen. Er war ein sehr brauchbarer Liebhaber", zischte Hallitti. Doch Claude Andrews wehrte sich noch. Erst als sie ihm ihren Mund auf seinen drückte und damit eine halbe Vereinigung mit sich aufzwang ließ seine Gegenwehr nach. Ja, sie fühlte, wie neue Lebenskraft in sie einwirkte. Das konnte ihre Schwester Itoluhila jetzt nicht mehr verhindern. Seine Kraft schien zu schwinden. Sie fühlte, wie die in ihm gelagerte Kraft ihrer Schwester in sie überging. Zwar schaffte sie es nicht, seinen Geist zu unterwerfen. Doch sein Körper wurde ihr zur Beute. Sie nahm begierig in sich auf, was er in sich barg. Doch nach nur einer Minute hörte sie eine höchst verärgerte Stimme in ihrem Kopf: "Läßt du das sein, Hallitti! Das ist meiner! Laß ab von ihm!" Doch sie wollte nicht ablassen. Sie wollte ihm alle Lebenskraft und die in ihn eingeflößte Kraft ihrer Schwester entreißen. "Ich sage dir, hör auf!!" brüllte Itoluhilas wütende Stimme in ihrem Geist. Doch sie wollte nicht hören. In wenigen Minuten würde der Mann in ihren Armen restlos ausgezehrt sein.
Am Abend vor Weihnachten verfolgte Brandon im geistigen Verbund mit seiner Frau, deren Bruder und anderen Sonnenkindern mit, wie Patricia zusammen mit zwei weiteren Sonnentöchtern und zwei Sonnensöhnen, sowie vier unsichtbare Mitarbeiter des Laveau-Institutes das Haus der Wilsons bewachten, als Jerimy laut "Die böse Frau kommt!" rief. Sie wurden Zeuge, wie die gerade sehr jung aussehende Astronautin Doris Fuller sofort mit dem gefürchteten dunklen Feuer angriff. Ihr ging es also nicht um einen lebenden Jerimy Wilson. Doch als sie den ebenfalls für tot gehaltenen und als Jeff Bristol weiterlebenden Zachary Marchand direkt angriff, fiel dem nichts besseres ein, als sie mit dem Todesfluch anzugreifen. Patricia, die als eine Art Fernsehübertragungsstelle diente, übermittelte, wie Doris Fuller im Lichtblitz des Todesfluches um weitere Jahrzehnte alterte und dann wie aus der Welt ausgeblendet immer durchsichtiger wurde und verschwand. Patricia und eine andere Sonnenschwester hatten aber noch mitbekommen, daß sie nicht gestorben war, sondern von einer artverwandten Kraft davongerissen wurde, als wolle sie in einen bereits bestehenden Lebenskraftkrug zurückkehren.
"Dann stehen wir jetzt wieder am Anfang", knurrte Patricia in Gedanken. "Dieser Volltroll hat sie irgendwo hingeschossen, vielleicht sogar doch gleich in den Bauch einer der beiden anderen wachen Schwestern. Zumindest hat das Reinigungsfeuer das Haus und die Familie geschützt. Das war ja auch nicht so ganz sicher."
"Die war nur eine, ihr wart zu fünft", bemerkte Faidaria. Dann ordnete sie an, daß die Bewachung von Jerimy weitergehen solle, bis feststand, ob Hallitti entmachtet werden konnte oder demnächst auf andere Weise zurückkehren würde.
"Ohne die Sonnenkindmagie hätten wir aber ganz alt ausgesehen", knurrte Justine Brightgate, als sie zusammen mit ihren Kollegen Finn Morrow, Brenda Brightgate und Jeff Bristol die Familie Wilson ins Haus des sicheren Friedens gebracht hatten. Gedächtniszauberexperten des LI hatten die Nachbarn, die die Konfrontation der so gegensätzlichen Feuermagien gesehen hatten bearbeitet, daß die Wilsons wohl eine besonders helle Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet hatten, die ihnen aber gleich nach dem Einschalten kaputtgegangen war. Um die Nachbarschaft der Kleinstadt Salisbury im Glauben zu halten, daß die Wilsons unversehrt waren griff der Plan Wetterhäuschen. Hierbei mimten drei LI-Mitarbeiter die Familie Wilson, wobei Justine vorzugsweise die treusorgende Hausfrau Leslie darstellte. Sie brauchte im Gegensatz zu ihren beiden männlichen Kollegen, die darum würfeln mußten, wer als Vater Mortimer und Sohn Jerimy auftrat, keinen Vielsaft-Trank einzunehmen.
"Wenn wir sicher wissen, daß die Kreatur von Jeff erledigt wurde können wir die Wilsons im neuen Jahr wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückversetzen", sagte Elysius Davidson, der gerade höchstpersönlich Jerimy Wilson spielte, um als gutes Vorbild für seine Mitarbeiter zu dienen. Justine, die von Aussehen und Stimme her Leslie Wilson entsprach, erwiderte darauf:
"So wie es für mich und unsere Kontakterin bei den Sonnenkindern ausgesehen hat ist sie nicht tot umgefallen oder explodiert, als Jeff so unvorsichtig war, sie mit dem Todesfluch anzugreifen. Sie ist regelrecht verschwommen und hat sich in Nichts aufgelöst."
"Dann könnte sie ernsthaft aus ihrem Wirtskörper herausgelöst worden sein?" wollte Clay Morrow wissen, der gerade Mortimer Wilson darstellte.
"Und vielleicht als ruheloser Geist herumschwirren und versuchen, in Jerimys Körper einzufahren", grummelte Davidson.
"Ja, oder sie hat durch den Todesfluch eine Art Brücke zu einer ihrer beiden wachen Schwestern betreten. Falls das so ist, können wir uns warm anziehen. Denn dann haben wir demnächst zwei oder alle drei gegen uns, sofern die in der Astronautin festhängende Abgrundstochter es nicht schafft, ihren Wirtskörper zu verlassen und mit einer ihrer Schwestern zu verschmelzen", sagte Justine.
"Dann hätte Jeff uns und der Familie Wilson wohl einen Bärendienst erwiesen", schnaubte Davidson. "Das hätte Marie uns aber voraussagen können", fügte er noch hinzu. So verblieben die Mitarbeiter des Laveau-Institutes in der Ungewißheit, ob die den Körper von Doris Fuller steuernde Abgrundstochter noch existierte oder doch endgültig vernichtet wurde. Immerhin wußten sie jetzt, daß Jerimy gleich getötet werden sollte. Also hielt der Junge, der früher mal Richard Andrews gewesen war, die Unheimliche irgendwie klein. Sonst hätte sie ihn wohl nicht gleich mit tödlicher Magie angegriffen, sondern zu entführen versucht. Dann würde sie nun, wo er ihr durch magisch rundum abgesicherte Wände und Türen vollständig entzogen war, solange auf der Erde herumirren, bis ihr gestohlener Körper starb. Was dann war, das konnten selbst die in vielen Fragen dunkler Kräfte bewanderten LI-Mitarbeiter nicht vorhersagen. Und, die, die das konnte, schwieg sich aus.
In Dropout feierten sie Weihnachten. Anthelia hatte sich mal wieder unsichtbar in die kleine Stadt begeben. Dort erfuhr sie, was aus Ben Calders umworbener geworden war und daß die Calders immer noch nicht davon überzeugt waren, daß ihr Sohn gestorben war. Die Eltern Cecil Wellingtons hatten ja den Flugzeugabsturz als Beweise für den Tod ihres Sohnes. Mehr als Weihnachten interessierte die meisten Amerikaner, wann endlich feststand, wer ihr neuer Präsident wurde. Offenbar waren die Auszählungsmethoden für die zu entsendenden Wahlmännerstimmen doch nicht so eindeutig wie früher gedacht wurde. Am Ende sollte es an Florida hängen, ob ein eher dem Frieden in der Welt zugetaner Mann Präsident wurde oder jemand, dem nachgesagt wurde, von Politik nicht genug zu verstehen und der auf Gewaltandrohung und -anwendung schwor, um Ziele durchzusetzen. Die alle wußten nicht, daß ein gefährliches Ungeheuer in der Welt umging. Gut, wenn sie ihren Kritikern und Feinden zustimmen mußte, war sie selbst eines. Aber was, wenn Hallitti ihre volle Stärke zurückerhielt, indem sie Jerimy Wilson tötete?
Zurück in der Daggers-Villa erfuhr sie von Romina, daß Jerimy Wilson vor einem tödlichen Angriff der besessenen Astronautin geschützt werden konnte und nun mit seinen Eltern in der Obhut des Laveau-Institutes war. Was ihr einen gewissen Schrecken einjagte war die Meldung, daß ein LI-Mitarbeiter die Besessene mit dem Todesfluch angegriffen hatte und diese danach verschwamm und restlos verschwand. Hatte dieser Einfaltspinsel der Abgrundstochter damit vielleicht die Tür zur Wiedergeburt geöffnet? Falls ja, so hätten sie wohl jetzt alle mindestens ein Jahr Atempause. Doch wenn Hallitti nicht wie ein gewöhnliches Menschenkind aufwachsen mußte oder gar länger dazu brauchte, konnte sie nach überstandener Ruhezeit in einer ihrer Schwestern doppelt so rachsüchtig und Raffgierig zurückkehren. Anthelia hoffte, doch noch das Mittel in die Hand zu bekommen, die Plage der Succubi einzudämmen.
Letzte Story | Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite
Seit ihrem Start am 1. Oktober 2013 besuchten 3972 Internetnutzer diese Seite.