eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie
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Was bisher geschah | Vorige Story
Julius' Andrews Vater versucht, seinen Sohn von der Zaubererwelt fernzuhalten. Hierfür schickt er ihn in den Sommerferien zu Bekannten nach Paris. Was er nicht weiß: Catherine Brickston, die Frau des Bekannten Joe Brickston, ist eine reinrassige Hexe. Julius und sie wissen voneinander.
In Paris selbst verlebt Julius interessante Tage und den Bummel durch die dortige Zaubererstraße Rue de Camouflage, wo Catherine ihm einen sehr fein verarbeiteten weinroten Festumhang besorgt, da sie weiß, daß solche Kleidungsstücke im nächsten Schuljahr in Hogwarts benötigt werden könnten und Julius bald Geburtstag feiert.
Da Catherine mit ihrer ebenfalls zaubereibegabten Tochter Babette zur Quidditch-Weltmeisterschaft nach England reist, denkt Julius, nun nur noch gewöhnliche Ferien bei nicht so ausgefeilter Kost zu haben. Jedoch am Abend taucht Joes Schwiegermutter, die in der Zaubereiakademie Beauxbatons Verwandlung und Verteidigung gegen dunkle Künste unterrichtende Madame Faucon auf und stellt Joe zur Rede, weil Catherine ihr die Kopie eines Schreibens geschickt hat, in dem Julius' Vater verlangt, Julius vor dem dritten September nicht nach Hause zu lassen. Julius erkennt tatsächlich die Handschrift seines Vaters und fügt sich Madame Faucons Vorhaben, ihn nach Millemerveilles, dem Dorf nur für Hexen und Zauberer in Frankreich, mitzunehmen, weil sie durch die Gesetze dazu berechtigt ist.
In Millemerveilles angekommen muß Julius einen roten Zaubertrank zu sich nehmen, der ihn sofort die französische Sprache verstehen und sprechen läßt. So ausgerüstet erkundet Julius das Dorf und besucht das Eulenpostamt mit den fünf großen Wänden, jede für einen Kontinent zuständig. Dabei trifft er seine Hauskameradin Prudence Whitesand, die Ferien bei ihrer Brieffreundin Virginie Delamontagne macht. Hier erfährt Julius beklommen, daß der rote Zaubertrank ihm wohl seine englischen Sprechfähigkeiten genommen hat. Lesen und schreiben kann er zwar noch auf Englisch, aber hören und sprechen der Muttersprache ist ihm vorerst unmöglich.
Mit Prudence und Virginie sucht er das dorfeigene Quidditchstadion auf, wo er einem Spiel der Dorfjugend zusieht. Dabei trifft er auf Madame Dusoleil und ihre Töchter Claire und Denise, denen er beim Besuch der Rue de Camouflage fast über die Füße gefallen wäre. Als Prudence betont, daß sie und Julius gute Quidditchspiler seien, wollen die Zuschauer die beiden spielen sehen. Julius ist zu schüchtern und er stellt sich erst widerspenstig an. Madame Dusoleil überredet ihn, mitzuspielen, was er dann auch tut und durch Abwurf des roten Spielballs aus großer Höhe ein beeindruckendes Tor erzielt. Danach muß er jedoch zurück zu Madame Faucon, die ihm ein sogenanntes Verbindungsarmband an den rechten Arm gelegt hat, um ihn zu überwachen oder zurückzurufen, wenn er länger ausbleibt als er soll. Madame Dusoleil fliegt Julius persönlich heim.
Am Nachmittag hilft Julius der gartenkundigen Hexe dabei, Madame Faucons großen Garten zu pflegen. Die Schularbeiten, die er von Hogwarts aufbekommen hat, liegen derweil bei Madame Faucon, die nachprüfen möchte, ob Julius korrekt gearbeitet hat.
Weil Julius in einer Arbeit zum Thema Verwandlung die Frage nicht aufgebracht hat, ob fühlende Wesen bei einer Umwandlung in leblose Objekte ihre Sinne oder Gefühle einbüßen, bietet sie Julius ein tollkühnes Experiment an, ihn selbst vorübergehend in ein lebloses Objekt zu verwandeln. Julius traut sich, weil die Neugier stärker ist, als das Mißtrauen gegen Madame Faucon.
Julius wußte nicht, ob er einen Lichtblitz sah oder einen lauten Windstoß hörte, als sich alles um ihn änderte. Irgendwie war es so, als würde er mit einem Höllentempo herumgewirbelt. Doch er spürte keinen Schmerz, nur ein Gefühl von Schwindel. Dann war dieses Gefühl auch schon wieder vorbei. Julius dachte, er sei wieder er selbst und wollte fragen, wie spät es war, als ihm auffiel, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Er konnte noch nicht einmal sprechen. Dennoch sah er die zur Risin angewachsene Madame Faucon, die vor ihm stand und gerade den Zauberstab wegsteckte. Er versuchte, zu blinzeln. Doch er schaffte es nicht. Er mußte die Lehrerin ansehen. Sie kam auf ihn zu. Er fühlte jeden ihrer Schritte durch den Körper gehen und hörte die Schritte auf dem Fußboden hallen. Dann beugte sich Madame Faucon zu ihm hinunter, legte ihre Hände um ihn und hob ihn auf.
"Keine Angst! Ich stelle dich nur auf den Tisch und hole einen Spiegel, damit du dein vorübergehhendes Dasein erkennen kannst."
Sprach's und setzte Julius auf den Küchentisch. Dann zog sie sich kurz zurück und kam mit einem Spiegel wieder. Julius sah unverrückbar hinein und erkannte einen Weidenkorb, der genauso groß war wie er selbst. Zu jeder Bewegung oder Gesichtsregung unfähig, stand Julius starr und erschrocken auf dem Tisch. Dann fühlte er körperlich, wie die Hexe mehrere Löffel und Gabeln auf seinen Rücken warf, die mit viel Gewicht auf und in ihn drückten. Dann fühlte er, wie die Haushaltsgegenstände wieder von ihm weggenommen wurden. Regungslos stand er auf dem Tisch, während Madame Faucon laut singend in der Küche herumfuhrwerkte und das Abendessen zuzubereiten schien. Er konnte nur in die eine Richtung sehen, in die er gerade blickte. Er hörte auf den Gesang der Hexe, der, wie er feststellen mußte, sehr schön klang. Er hörte sie singen:
"Kleines Kind, was bist du müd'.
Sieh was draußen g'rad geschieht.
Rot färbt sich der Sonnenschein,
sieh, bald wird es dunkel sein!
Leg' dich hin und schlafe sacht!
Träume gut in dieser Nacht!"
Als die Hexe zu singen aufhörte, kehrte sie an den Tisch zurück und hob Julius hoch, wobei er glaubte, daß sie ihm die Wirbelsäule ausreißen würde. Dann stand er wieder auf dem Fußboden.
Madame Faucon klatschte laut in die Hände und rief:
"Das genügt. Zeit zum Abendessen!"
Sie zog ihren Zauberstab und schwang ihn in schneller Bewegung vor Julius herum. Wieder wußte er nicht, ob es ein grelles Licht oder ein plötzlicher Windstoß war, der ihn herumwarf. Diesmal jedoch fühlte er etwas, daß wie brennende Nadeln auf ihn einstach. Noch ehe er laut schreien konnte, war es auch schon vorbei. Keuchend stand er da, die Arme unvermittelt zur Seite werfend und unwillkürlich vom Boden springend.
"Ist ja gut. Du bist wieder ein Mensch mit zwei Beinen und zwei Armen, der bestimmt einen großen Hunger hat. Setz dich ruhig hin!" Lachte die Lehrerin, wie eine Mutter, die ihr Kind beruhigen möchte. Julius sagte schüchtern:
"Das gibt's doch nicht. Das kann doch nicht sein, daß ich so ein Weidenkorb gewesen bin. Das war doch nur ein Traum."
"Gut, es war ein Traum. Was hast du denn dann geträumt?"
"Ja, erst stand ich unbeweglich am Boden. Sie waren sehr groß geworden. Ich konnte meine Augen nicht schließen. Sie hoben mich auf und stellten mich auf den Tisch. Dann holten sie einen Spiegel und ließen mich hineinsehen. Ich sah einen großen Weidenkorb, in dem man Besteck unterbringt und .."
In diesem Moment klapperte ein Kochlöffel von Julius Rücken auf den Boden. Julius drehte sich um und sah das Küchenwerkzeug. Dann schluckte er noch mal laut und sprach weiter:
"Dann haben Sie Besteck auf mir oder in mir abgeladen und wieder weggenommen. Sie sind durch die Küche gelaufen. Dabei haben Sie etwas gesungen, das wie ein Wiegenlied klang."
"Kleines Kind, was bist du müd' ..." Begann die Hexe das Lied zu singen, und Julius ergänzte den Text. Dann sagte er:
"Also, wenn Sie mir etwas vorgegaukelt haben, war das sehr beeindruckend."
"Die letzte, die das zu mir gesagt hat, war Jeanne Dusoleil. Was habe ich gemacht. Ich habe sie in ein Stück Pergament verwandelt und mit einer Nachricht an ihre Mutter beschrieben, in einen Umschlag gesteckt und nach Hause geschickt. Ihre Mutter schrieb eine Antwort an mich und schickte mir dieses Stück Pergament zurück. Ich kehrte die Verwandlung wieder um, und Jeanne konnte beide Nachrichten auf ihrem Bauch lesen, weil die Tinte dem Verwandlungsvorgang nicht unterworfen war."
"Moment! Madame Dusoleil hat Ihnen das nicht übel nachgesehen?"
"Wieso? Ich hatte es mit ihr verabredet, weil Jeanne meinte, aus Jux und Dollerei jedes Lebewesen in der Zielrichtung ihres Zauberstabes in Kieselsteine, Glaskugeln oder Hosenknöpfe verwandeln zu müssen. Als sie das mit einem Mitschüler anstellte, habe ich das Experiment mit ihr gemacht, daß ich gerade mit dir durchgeführt habe. Seitdem geht sie etwas respektvoller mit Magie um."
"Das ist ja brutal. Da hätten Sie Jeanne ja gleich mit einem Nudelholz vertrimmen können", protestierte Julius und schüttelte sich.
"Sie hat es aber gut verkraftet. Sie hat ihre Experimentierfreude nicht verloren. Aber sie respektiert zumindest die Folgen von Zauberei. Darauf kommt es ja an. Wenn du etwas tust, sei dir sicher, daß du es wieder rückgängig machen kannst, falls dadurch ein Schaden oder eine Beeinträchtigung einer Person eintritt. Wenn du das begriffen hast, und du würdest mich und alle, die dich als Zauberer auf deinen Weg bringen möchten enttäuschen, wenn nicht, dann bist du einen großen Schritt auf dem Weg zum produktiven Mitglied unserer Welt gegangen. Experimentieren ist unterhaltsam und lehrreich. Es darf aber niemand dabei dauerhaften Schaden nehmen. Falls du jedoch zur dunklen Seite wechseln möchtest und dich darüber freust, daß andere dich fürchten oder hassen, vergiss diese Worte von mir."
"In Märchen der Muggel werden schwarze Magier und böse Hexen immer grausam umgebracht oder von irgendwelchen Dämonen in die Hölle geholt. Das ist nicht gerade das, was ich für mich vorgesehen habe", sagte Julius erschüttert. Dann setzte er sich an den Tisch und schwieg.
Das Abendessen war wieder sehr reichhaltig. Wie er es bei Catherines und Joes erstem Besuch erlebt hatte, wurden fünf Gänge gereicht. Darunter waren auch eingelegte Froschschenkel. Julius Andrews würgte einige davon hinunter, bevor er dankend den Gang beendete.
"Das war nicht dein Fall, richtig? Europäer jenseits von Rhein und Normandie haben da Probleme mit. Ich wollte auch nur sehen, ob du dich traust."
"Das Zeug, in das die Dinger eingelegt waren, war lecker. Das könnte ich mir mit Mais-Chips gut vorstellen", sagte Julius, der nicht den Eindruck hinterlassen wollte, etwas an der Kochkunst von Madame Faucon auszusetzen zu haben.
"Mexikanische Nachos. Kenne ich auch. Die sind aber nur dazu da, um Hunger auf mehr zu machen."
Julius genoß das üppige Essen. Dann, als er den Nachtisch, Vanillepudding mit frischen Erdbeeren, auch noch reichlich verzehrt hatte, fragte ihn die Hexe von Beauxbatons:
"Ich hatte vor, etwas Musik zu machen. Kannst du außer diesem Landstreicherinstrument noch etwas anderes spielen?"
"Landstreicherinstrument? Achso, Sie meinen die Mundharmonika. Aber mit der habe ich Catherine doch sehr gut begleitet. Aber es ehrt mich, daß Sie sich noch erinnern."
"Sonst hast du kein Musikinstrument erlernt?"
"Im Kindergarten habe ich Blockflöte gespielt. Als ich in die Schule kam habe ich dieses Ding möglichst tief in meiner Mottenkiste verbuddelt. Ein paar Gitarrengriffe habe ich gelernt, aber nichts, womit ich Geld für's spielen kriegen könnte, eher für's Nichtspielen", scherzte Julius Andrews.
"Ja, das ist bedauerlich, daß Muggelkinder heute keine eigene Musik mehr machen können. Sie haben technische Apparate, mit denen sie überlaut Musik aus Konserven abspielen lassen können. Kannst du singen?"
"Ja, ich habe schon manchen Saal leer gesungen", erwiderte Julius frech und bereute diese Ausfälligkeit sofort. Denn die Verwandlungslehrerin sah ihn sehr böse an, und Julius hätte schwören können, , daß sie sich überlegte, ob sie nicht noch mal den Zauberstab nehmen und ihn in irgendwas verwandeln sollte.
"Catherine kam mit meiner Mundharmonikamusik gut klar", fügte er schüchtern hinzu.
"In eurem Haus steht doch ein Klavier auf dem Dachboden. Spielt das niemand mehr bei euch?"
"Das ist ein Erbstück von meiner Urgroßmutter väterlicherseits. Mum hat es nicht angefaßt, weil sie denkt, daß es typisch für höhere Töchter sei, Klavier zu lernen und bei Familienfesten brav darauf vorzuspielen. Paps hat für selbstgemachte Musik sowieso keinen Sinn und ich bin eben ein Muggelkind, daß immer nur Radios und CD-Spieler bedient hat."
"Ein Xylophon kannst du aber womöglich schnell erlernen. Aber ich sehe schon, daß wir beide höchstens anderen beim spielen zuhören können. Welche Hobbies außer Kräuterkunde hast du denn sonst noch?" Fragte Madame Faucon.
"Fußball, Astronomie, Chemiebaukasten, Abenteuergeschichten ohne hohen Literaturwert und etwas, was ich hier nicht erwähnen soll, hat Madame Dusoleil gesagt."
"Soso, hat Camille gesagt. Dann können es nur zwei Sachen sein: Quidditch und Schach. Das du Quidditch spielst, hat meine Haus- und Hofgärtnerin ja heute Nachmittag lebhaft dargelegt. Und warum solltest du nicht zugeben, daß du Schach spielst?"
"Weil angeblich soviele Großmeister in Millemerveilles leben, die mich nicht mehr in Ruhe lassen würden, bis ich gegen sie alle einmal verloren hätte."
"In acht Tagen beginnt das dorfeigene Schachturnier. Da spielen alle, die auch nur einmal eine Partie gespielt haben. Das ist neben dem Mitsommerball das Hauptereignis hier. Ich finde es selbstsüchtig von Madame Dusoleil, daß sie dich davon abhalten will, deine Fähigkeiten zu verbessern, nur weil sie eine Pflanzenliebhaberin ist. Wie gut spielst du denn Schach?"
"Hmm, seit meinem vierten Lebensjahr. Meine Mutter ist regelrecht fanatisch, wenn es um dieses Spiel geht."
"Sie machen mich sehr neugierig, Monsieur. Ich habe ein Schachspiel da. Wärest du bereit, mit mir zu spielen?"
"Hmm, ich darf doch nicht gegen Sie spielen. Wenn ich verliere, sind Sie enttäuscht, Ihre Zeit vergeudet zu haben. Wenn ich gewinne, kriege ich bei Ihnen nichts mehr zu essen und muß verhungern."
"Soso. Dann sage ich dir jetzt mal was: Wenn du sagst, daß du das Spiel kannst, wirst du es spielen, so gut du es kannst, wenn du überhaupt noch was zu essen haben möchtest. Ich bin zwar nicht verpflichtet, deine Freizeit zu gestalten, habe aber auch nichts dafür übrig, jemanden nur beim Essen zu sehen oder mit ihm über Schulsachen zu sprechen."
Julius nickte. Diese Frau mochte zwar streng sein und nichts durchgehen lassen, was gegen ihre Regeln ging. Doch, so dachte der Hogwarts-Schüler, fand sie es offenbar höchst amüsant, mal wieder jemanden in ihrem Haus zu haben. Er deutete auf den Stapel von Geschirr, das auf dem Tisch oder den Anrichten stand.
"Ich helfe Ihnen gerne beim Abwasch", bot er seine Hilfe an. Die Beauxbatons-Lehrerin sah ihn bedauernswert an, zog dann ihren Zauberstab hervor und vollführte mit diesem schnelle Bewegungen in Richtung Geschirr. Wie von flinken unsichtbaren Händen gepackt flogen die Teller, Schüsseln, Platten und Gläser in den großen Messingspülkessel. Ein kurzer Schwung mit dem Stab ließ einen Strahl aus Wasser von einem drachenköpfigen Wasserhan in den großen Abspülkessel zischen. Dann trat die Hexe an den vollen Spülkessel heran und tunkte den Zauberstab ein. Julius erkannte, wie eine Seifenlauge wie aus dem Zauberstab gesprüht ins Wasser tropfte. Dann berührte die Hausherrin mehrere Geschirrstücke mit der Zauberstabspitze, worauf die Teller, Gläser, Schüsseln und Platten anfingen, sich selbst abzuwaschen.
"Das hat dir Catherine aber gezeigt, hat sie mir geschrieben. War nicht einfach, beim Zaubereiministerium gewisse Zivilisationserrungenschaften durchzudrücken, die sie auch in einem Muggelhaus nutzen durfte. Haushaltsalltäglichkeiten und den Kamin als Transportweg haben sie ihr genehmigt."
"Dann wische ich den Tisch ab und ..."
Mit einem energischen Schwung des Zauberstabes wischte Madame Faucon alle Krümel, Wasserringe und Puddingflecken vom Tisch. Der Dreck ballte sich im Flug zu einer schleimigen Kugel, die zielgenau im Schlund eines Müllschluckers verschwand.
"Die Küche ist mein absolutes Reich. Für die Aufräumarbeiten brauche ich nur den Zauberstab. Dafür lasse ich mir beim Kochen viel Zeit, wenn ich diese Habe."
"Und was machen Sie, wenn das Geschirr sich komplett abgewaschen hat?" Wollte Julius wissen. Wie zur Antwort schwirrrten die ersten Teller und Schüsselchen aus der Seifenlauge heraus, trockneten in Sekundenbruchteilen und segelten wie Frisbees an ihre Plätze.
"Lernen das bei euch in Hogwarts noch welche, Zauberkunst als Haushaltshilfe?"
"Weiß ich nicht", antwortete Julius wahrheitsgemäß.
"Dafür gibt es Anschlußkurse für jeden, der will. So, und jetzt spielen wir Schach. Wie gesagt, Tiefstapeln gilt als Antrag auf Nahrungsvorenthalt", sprach die Beauxbatons-Lehrerin mit sehr ernstem Unterton.
Julius hatte keine Probleme mit den Schachmenschen, die Madame Faucon besaß. Sie schienen seine Gedanken lesen zu können. Denn kaum hatte er einen Zug angesagt, eilte die entsprechende Figur an den befohlenen Platz. Julius mußte sich darüber klarwerden, daß er hier mit einer Gegnerin fertigwerden mußte, die über Jahrzehnte dieses Spiel gespielt hatte. Dennoch gelang es ihm, sich lange ohne größere Verluste zu behaupten und sogar einige Figuren zu schlagen. Er konnte noch gerade rechtzeitig ein Schachmatt vereiteln, scheiterte aber ebenso mit seinen Versuchen, seine Gegnerin in die Enge zu treiben. Schließlich befanden sich nur noch ein Springer, die Dame und der König von Julius auf dem Feld, während die Hausherrin einen Läufer, einen Turm und die Dame neben ihrem König auf dem Brett führen konnte. Schließlich geriet Julius' König in die Zange des Turms und der Dame von Madame Faucon und mußte sich ergeben.
"Na ja, das war zu erwarten", gestand er seine Niederlage ein, ohne sich darüber aufzuregen.
"Deine Mutter spielt auch Schach? Schade, daß ich das nicht vorher gewußt habe. Denn das hätten wir auch spielen können, obwohl sie nicht Französisch spricht. Aber du hast dich auf jeden Fall besser geschlagen als mein Schwiegersohn. Es gibt also doch noch Hoffnung für Muggel."
"Wie spät ist es denn?" Fragte Julius.
"Ach, es ist schon kurz nach zehn. Zeit für's Bett. Du dürftest jetzt rechtschaffend müde sein, oder?"
"Das war ein langer und aufregender Tag. Wenn ich ins Bett komme, schlafe ich wohl wie ein Stein."
"Denke dran, daß du morgen eine Verabredung mit Madame Dusoleil hast. Ich gewann heute Nachmittag den Eindruck, daß sie dich gerne adoptieren wollte."
"Sie weiß nicht, aus welchem Stall ich komme. Das ist das Geheimnis."
"Wettest du?"
"Nicht um Geld", erwiderte Julius auf diese Frage.
"Gut für dich. Denn dann müßtest du Bankrott anmelden. Du hast doch gesagt, daß deine Hauskameradin Prudence ihrer Freundin Virginie verraten hat, daß deine Eltern nicht zaubern können. Bist du so naiv zu glauben, daß sich das nicht innerhalb einer halben Stunde bei allen Junghexen und -zauberern herumgesprochen hat, als du zu mir zurückgeflogen wurdest?"
"Oh Mist! Dann werden die mich morgen nicht mehr ansehen", grummelte Julius.
"Abgesehen davon, daß du durch dein Quidditchspiel gezeigt hast, daß zumindest du ein Zauberer bist, hast du keinen Grund, unter meinem Dach herumzufluchen. Die Differenzen zwischen Muggeln und Uns wiegen bei den Erwachsenen schwerer als bei den Kindern und Jugendlichen. Deshalb habe ich dir empfohlen, nicht von dir aus deine Abstammung zu erwähnen. Anschluß wirst du schon kriegen, solange du hier bist. Um dich zu isolieren hast du die falschen Leute kennengelernt. Langweilen wirst du dich hier bestimmt nicht. Und falls doch, unterweise ich dich gerne in fortgeschrittener Verwandlung. Allerdings könnte es dann passieren, daß meine hochgeschätzte Fachkollegin dir Extraaufgaben aufbürdet."
"Besser nicht. Es laufen schon genug muggelstämmige Musterschüler bei uns herum. Mein schlechter Ruf war nicht einfach zu erarbeiten. Den muß ich nicht aufs Spiel setzen."
"Ich unterstelle diesen dummen Ausspruch deiner unter Ermüdung leidenden Vernunft. Keiner sollte sich einen schlechten Ruf zu erhalten trachten. Und jetzt Abmarsch ins Bett!"
"Zu Befehl", erwiderte Julius und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
Nach zehn Minuten im Gästebad, wo er seinen Pyjama und den Bademantel anzog, betrat Julius das Gästezimmer. Er öffnete das Fenster, um noch etwas Luft einzulassen. Gerade in dem Moment flog eine Schleiereule auf das Haus zu, nahm Kurs auf das geöffnete Fenster und schlüpfte kurz herein, um einen Briefumschlag auf den Beistelltisch zu werfen. Dann verließ der Eulenvogel das Zimmer wieder. Julius wollte schon das Fenster wieder Schließen, als Cook, der Uhu der Porters, herbeigeflogen kam und ohne Zögern in das Gästezimmer einflog. Auch er warf einen Briefumschlag auf den Beistelltisch, flog aber nicht gleich wieder weg, sondern setzte sich auf den geräumigen Kleiderschrank.
"An und für sich wollte ich jetzt pennen", maulte Julius im Flüsterton, tastete nach seinem Koffer und kramte die Taschenlampe heraus, die er vorsorglich eingesteckt hatte, falls er mit Joe und Catherine auf eine Nachtwanderung gehen würde. Im Lichtkegel der elektrischen Taschenlampe öffnete Julius den rosaroten Umschlag, auf dem zwei ineinandergesteckte Ps aus Wachs das Siegel bildeten. Julius hatte schon häufig Post von den Porters bekommen. Doch so offiziell wie der Brief jetzt aussah, war keine Botschaft gewesen.
Kaum hatte er den merkwürdig schweren Umschlag geöffnet und ein zusammengefaltetes Stück Pergament daraus hervorgezogen, purzelten sechs glänzende Metallstücke heraus und kullerten auf sein Bett. Julius bekam beinahe Stielaugen, als er die sechs beigefügten Metallstücke auflas und als goldene Galleonen erkannte. Er spürte, wie ihm die Verlegenheitsröte in Gesicht und Ohren stieg. Die Porters hatten ihm sechs Galleonen geschickt! Womit hatte er das verdient?
Mit leicht zitternden Fingern hielt Julius die Pergamentseite und las den Brief:
Hallo, Julius!
Wir haben erfahren, daß deine Eltern sich offenkundig zu einer Dummheit haben hinreißen lassen und dich fortgeschickt haben, um deine Rückkehr nach Hogwarts zu vereiteln. Woher wir das wissen muß dich nicht beschäftigen. Sicher ist nur, daß wir Kontakte zu wohlinformierten Personen unterhalten.
Gloria hat deine Post bekommen und verstanden. Es ist äußerst bedauerlich, daß du selbst an deinem Geburtstag nicht in England sein wirst. Da deine Eltern es ja darauf anlegten, ihre Entscheidungsfreiheit in dieser Angelegenheit an andere abzutreten, ist zu vermuten, daß du vorerst dort in Frankreich verbleiben wirst. Immerhin, so haben wir erfahren, bist du in erstklassiger Gesellschaft und wirst, so wie wir dich einschätzen, keine Probleme haben, diesen Umstand positiv auszuschöpfen. Gloria ist zuversichtlich, daß deine Sprachkenntnisse reichen dürften, dich dort unten verständlich zu machen. Plinius und ich sind jedoch der Auffassung, daß man dir womöglich den Wechselzungentrank verabreicht hat, damit du die Landessprache fließend sprechen und verstehen kannst, solange du nicht noch eine Dosis davon trinkst.
Gloria hat mit unserem Einverständnis eine Sammlung für deinen Geburtstag in Auftrag gegeben, damit du nicht vergißt, daß du dir bereits genug Kontakte zur Zaubererwelt erschlossen hast. Plinius und ich werden uns noch an dieser Sammlung beteiligen, wenn erörtert ist, wer dir was schenkt. Du wirst es dann mit dem Eulenpaket-Schnelldienst pünktlich zugestellt bekommen.
Da wir jedoch davon ausgehen müssen, daß du nicht auf einen Aufenthalt in der Zaubererwelt eingerichtet warst, liegen diesem Brief ein paar Galleonen bei, damit du dich nicht auf die Nächstenhilfe anderer Zauberer und Hexen stützen mußt.
Genieße deine Ferien und amüsiere dich im Land der europäischen Hochkultur!
Dione und Plinius Porter
P.S. Schick uns Cook mit deiner kurzen Antwort zurück!
Julius drehte das Pergamentstück um und fischte nach einem Füllfederhalter, den er auf dem Schreibtisch liegen hatte. Dann schrieb er:
Sehr geehrte Mrs. und Mr. Porter,
vielen Dank für Ihren Brief! Sie haben recht, daß ich derzeit wohl nicht darüber verfügen kann, wo ich an meinem Geburtstag sein werde. Und was auch immer geschehen mag, ich werde wohl kein Problem haben, die Ihrer Tochter und mir aufgegebenen Schularbeiten bestmöglich zu erledigen.
Auch wenn ich nicht direkt erwähnen darf, wo ich gerade untergebracht bin, gehe ich davon aus, daß Sie und Ihre Tochter sich ausrechnen können, daß ich bestimmt nicht dazu komme, mich an Gewohnheiten der Muggel zu klammern.
Ich weiß zwar nicht, womit ich es verdient habe, daß Sie Ihre wertvolle Zeit damit verbringen, sich über meine Lage Gedanken zu machen, komme jedoch zum Schluß, daß ich mich geehrt fühlen muß.
Ich weiß auch nicht, womit ich es verdient habe, daß Sie mir sechs harterarbeitete Galleonen zugeschickt haben. Ich werde Sie Ihnen zurückerstatten, wenn ich an mein eigenes Bankverlies von Gringotts gehen kann. Ich danke Ihnen sehr herzlich dafür.
Ich vertraue auf das diplomatische Geschick von Gloria, unseren gemeinsamen Freunden ohne großes Aufsehen beizubringen, daß ich an meinem Geburtstag nicht in England sein kann. Ich bedauere es sehr, daß ich nicht bei der Quidditch-Weltmeisterschaft zusehen kann, zumal meine Bekannte aus Australien bestimmt nicht wenig für die beiden Karten hingelegt hat. Ich gehe jedoch davon aus, daß sie klug genug war, die nicht mehr benötigte Karte anderweitig zu vergeben.
Viele Grüße aus dem sonnigen Frankreich!
Julius Andrews
Er stekcte den Brief in den Umschlag zurück, winkte dem Uhu zu, der vom Schrank herabglitt und den Brief ohne weiteres in den Schnabel klemmte. Julius flüsterte "Fliege nach Hause!" Aber würde der Vogel die durch den Zaubertrank eingeschliffene französische Sprache verstehen? Offenbar mußte der Uhu über einen guten Sprachsinn verfügen. Denn er nickte kurz und flog fast lautlos davon.
Julius nutzte die Zeit noch, um den zweiten Brief zu lesen. Er erkannte, daß es die Antwort auf seinen am Morgen abgeschickten Expressbrief an Aurora Dawn sein mußte und zerrte ungeduldig den Umschlag auf. Er las die veilchenblaue Tinte auf beigem Pergament:
Hallo, Julius!
Ja, das ist höchst bedauerlich, daß deine Eltern es verboten haben, dich mit mir zur Weltmeisterschaft zu lassen. Da dieses Jahrhundertereignis nicht zum Pflichtprogramm von Hogwarts gehört, kann ich sie auch nicht dazu zwingen. Aber denk jetzt nicht, daß du ein schlechtes Gewissen haben mußt, weil ich Zentner Galleonen hingelegt habe, um die Karten zu kriegen! Es war ein Angebot der australischen Zauberdienstleister.
Ich habe es auch erfahren, daß deine Eltern, wohl eher dein Vater, sich wie ein Drache im Strohlager verhalten hat, um sicherzustellen, daß du ja nicht wieder in die Zaubererschule fährst. Wie sie meinen. Wenn sie riskieren wollen, im Rahmen der Ausbildungsgesetze belangt zu werden, ist das weder mein noch dein Problem.
Du hast zwar nicht explizit geschrieben, bei wem du bist. Aber die Adresse für die Antwort war überdeutlich. Deshalb kann ich dir zu deiner Sorge um den Zaubertrank zwei Dinge mitteilen:
Was du da getrunken hast nennt man Wechselzungentrank. Du wirst ihn nicht im Schulbuch zur Zaubertrankbrauerei finden, da seine Zubereitung und Verabreichung nur solchen Zauberkundigen gestattet ist, die einen Eid geschworen haben, keine permanenten Einwirkungen auf andere Zauberer zuzulassen. Der Trank wirkt so, wie du es beschrieben hast. Du kannst für eine Stunde jede Sprache verstehen und auf Anhieb fließend sprechen, die du hörst. Dann jedoch bleibt dein Sprechvermögen auf die Sprache beschränkt, die du bei Ablauf dieser Stunde gehört oder gesprochen hast. Es müssen unbedingt achtundvierzig Stunden verstreichen, bevor du eine zweite Dosis desselben Trankes einnehmen kannst, um deine richtige Sprache wieder sprechen und verstehen zu können. Da davon auszugehen ist, daß du diese Zeit auf jeden Fall dort zubringen wirst, wo du gerade bist, ist das für dich sehr praktisch. Deshalb hat die Person, die dich beaufsichtigt, dir diesen Trank gegeben.
Ich kenne deine Gastgeberin nicht persönlich. Ich habe natürlich von ihr gehört. Ich weiß, daß du nicht gerade der Typ bist, der sich freiwillig irgendwo einschmeichelt, aber zur Sicherheit sei dir geschrieben, daß es nur bedingt wirkt. Sie achtet wohl Disziplin und Gehorsam, aber auch Kreativität und einen beweglichen Geist. Lass dich nicht dabei erwischen, daß du ihr weniger zeigst als du kannst! Soweit ich erfahren habe, hat sich das bei manchem gerächt.
In der Gewißheit, daß du gut untergekommen bist und auch ohne die Quidditch-Weltmeisterschaft viel von unserer Kultur und Kurzweil mitbekommen wirst, verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Aurora Dawn
Julius atmete auf. Wenn er von einer Heilkundlerin hörte, daß der Zaubertrank harmlos sei, konnte er sich beruhigt hinlegen und schlafen. Doch er dachte noch an die Einleitenden Sätze, in denen sie ihn beruhigte, daß sie einsah, daß sie ihn wohl nicht mit zur Weltmeisterschaft nehmen konnte. Aber irgendwas in diesen Sätzen klang herüber, als wenn sie einen Ersatzplan hätte, den sie nun ausführen würde. Dabei ging es wohl nicht darum, wem sie die Karten gab, die sie für sich und ihn besorgt hatte. Sicherlich konnte sie auch alleine die Weltmeisterschaft besuchen, was ihr gutes Recht war, wie Julius fand. Doch irgendwie traute er Aurora Dawn zu, daß sie noch etwas im Ärmel versteckt hielt, was sie ihm anstatt gönnen wollte. Er dachte darüber nach, was diese Frau an ihm so faszinierend finden mochte, daß sie sich so um ihn kümmerte wie eine große Schwester oder eine Mutter. Vielleicht war es aber der von Professor McGonagall erwähnte Sturkopf, der sie antrieb, aus dem Sohn einer Muggelfamilie einen wohlerzogenen und gut ausgebildeten Zauberer zu machen. Julius fragte sich nur, ob er einen Preis dafür bezahlen mußte, und wie hoch dieser sein würde.
Er verbarg den Brief von Aurora Dawn und fünf der sechs Galleonen der Familie Porter tief unter seinen gewöhnlichen Straßenkleidern und schaltete die Taschenlampe wieder aus. Dann ging er ins Bett und schlief sofort ein.
Er mußte so tief geschlafen haben, daß er sich nicht einmal an einen winzigen Traum erinnerte. Ihm kam es vor, als habe er sich gerade zum Schlafen umgedreht, als es an der Tür klopfte. Er fuhr erschrocken hoch und hätte dabei fast den Baldachin seines Bettes mit dem Kopf durchstoßen.
"Zeit zum aufstehen!" Tönte eine unverschämt muntere Madame Faucon vor der Zimmertür. Julius gähnte laut, streckte Arme und Beine ganz lang von sich und grummelte:
"Ist ja gut! Ist schon Zeit? Ich steh auf."
Er stemmte sich aus dem Bett und suchte noch halb im Schlaf seinen Bademantel. Dann erst wurde er richtig wach und ging schnell zur Tür hinaus, um bloß nicht den Eindruck zu vermitteln, er könne morgens nicht schnell genug aus dem Bett kommen. Irgendwie schien es ihm ein Bedürfnis zu sein, seiner Gastgeberin zu beweisen, daß er sich ohne großes Aufsehen ankleiden konnte.
Madame Faucon stand noch vor der Zimmertür, eingehüllt in einen lila Wollbademantel, der ihr von den Schultern zu den ebenso lila Filzpantoffeln reichte und mit sechs Knöpfen verschlossen war.
"Innerhalb einer halben Minute aus dem Tiefschlaf aus dem Zimmer. Das hat Catherine bis zum heutigen Tag nicht geschafft. In zwanzig Minuten ist das Frühstück fertig. Nimm dir die Zeit, die du brauchst!"
"Soll ich erst den Alltagsumhang anziehen, oder gleich den Gartenumhang?" Fragte Julius und mußte hinter vorgehaltener Hand gähnen.
"Wie ich Camille kenne, nimmt sie dich nicht umsonst in ihr Reich mit, wenn sie dir nicht alles haargenau zeigen will. Also zieh ruhig den grünen Arbeitsumhang an!" Riet ihm die Hexe, deren Gast Julius zur Zeit war.
Julius nahm sich die Zeit, die er brauchte, um sich gründlich zu waschen, anzukleiden und zu kämmen. Als der Badezimmerspiegel flüsterte:
"Monsieur, Sie sind sehr lernfähig. In diesem Zustand könnten Sie einer offiziellen Verabredung nachkommen."
"Wer baut nur solche klugschwätzenden Spiegel?" Fragte Julius laut.
"Allerdings sollten Sie an ihrem Benehmen noch arbeiten", fügte der verzauberte Badezimmerspiegel hinzu.
"Soweit kommt es noch, daß ich Respekt vor magischen Alltagsdingern lernen soll", raunzte der Sohn von Martha und Richard Andrews und verließ das Badezimmer.
Während des Frühstücks erzählte Madame Faucon ihrem Gast von einem Brief des französischen Zaubereiministeriums, den sie des Nachts erhalten hatte.
"Die Abteilung für internationale Zusammenarbeit und die Abteilung für Ausbildung haben mit ihren englischen Gegenstellen vereinbart, daß du, falls nichts anderes beschlossen wird, bis zum Ende der hiesigen Ferien in meiner Obhut verbleiben möchtest. Du wirst von eurem zuständigen Sachbearbeiter noch einen Brief bekommen, indem die Begründung aufgeführt ist. Das heißt also, daß wir beide uns noch bis zum 20. August miteinander vertragen müssen, falls keine andere Anweisung kommt."
"Hat man denn nicht versucht, meine Eltern per Eule zu erreichen? Die Posteulen finden doch jeden", wollte Julius wissen.
"Diesbezüglich ist ein Brief von Hogwarts eingegangen, der an mich adressiert ist, jedoch den Vermerk enthält, daß ich ihn dir zu lesen geben möchte, falls ich der Meinung bin, daß du damit zurechtkommst."
"Nichts für ungut, Madame Faucon. Aber das klingt nicht gerade so, als stünde da was gutes drin", vermutete Julius.
"Ich denke schon, daß du damit zurechtkommst. Immerhin darfst du deine Eltern wiedersehen. Aber den Brief gebe ich dir errst nach dem Frühstück, wenn noch Zeit ist. Iß dich erst satt!"
Diesen Vorschlag nahm der Junge gerne an und probierte die verschiedenen Sorten Marmelade auf verschiedenen Sorten Brot oder Brötchen. Er wunderte sich, daß die französische Küche doch mehr kannte als nur das Weißbrot, das er in Belgien morgens zu essen bekommen hatte, als er mit seinen Eltern dort Urlaub gemacht hatte.
"Haben Sie etwas von Joe gehört? Vielleicht hat er doch die Polizei angerufen", griff Julius ein Thema auf, das ihn so stark interessierte, daß er nicht daran dachte, daß es vielleicht unangenehm für die Hexe von Beauxbatons sein könnte. Madame Faucon schnaubte kurz, jedoch eher verärgert über das, was sie erzählen mußte und nicht über die Frage an sich.
"Gestern vormittag hat er versucht, herauszufinden, wo deine Eltern sich aufhalten. Das Ministerium hat zwei Beobachter auf ihn angesetzt, um zu verhindern, daß er womöglich Aufruhr verursachen könnte. Als ihm das nicht gelungen ist, hat er sich an eine Institution gewandt, die mit übernatürlichen Erscheinungsformen zu tun hat und wollte wissen, wie er gegen uns vorgehen könne. Da die Muggel, die meinen, die übersinnlichen Dinge erforschen zu können alle möglichen Theorien haben, was man gegen Hexen unternehmen kann, war er nicht viel schlauer als vorher. Da in jenem Institut auch Mitarbeiter unseres Zaubereiministeriums arbeiten, um von dort aus unangemeldete Zauberer und Hexen aufzuspüren und fahrlässige Zauberei vor Muggeln zu untersuchen, erfuhr unser Ministerium davon, daß er den dortigen Forschern berichtet hatte, daß er seit nun acht Jahren mit einer richtigen Hexe verheiratet sei und nicht zu einem beliebigen Richter oder Polizisten gehen könne, um gegen ihr Treiben oder gegen das Treiben seiner bösen Schwiegermutter etwas zu unternehmen. Unsere Agenten mußten die Forscher, die dieses Gespräch geführt haben, mit Gedächtniszaubern belegen und die Notizen beseitigen, ohne daß eine Manipulation aufgefallen wäre. Da Joe weiß, daß ich aus der Gegend von Marseille komme, hat er sich wohl in seinen Wagen gesetzt und uns gesucht. Tatsächlich ist er in den Muggelabwehrbannkreis geraten, der Millemerveilles umgibt. Da dieser so wirkt, daß jeder Muggel sofort an für ihn unaufschiebbare Termine denkt, kehrte er um und raste auf der Autobahn gegen einen Lastwagen. Er hat es überlebt und liegt in einem der Muggelkrankenhäuser."
Julius erschrak über die Ruhe, mit der die Lehrerin von Beauxbatons diese Ereignisse schilderte. Er fragte:
"Ist er schwer verletzt?"
"Die Muggelärzte werden ihn wohl eine ganze Woche behalten müssen, bis er wieder aufstehen kann. Das kommt davon, wenn man versucht, sich gegen unvermeidliche Tatsachen zu stemmen."
"Hoffentlich ist er nicht so idiotisch, den Ärzten dort zu erzählen, daß er echte Hexen und Zauberer kennt und er nur den Unfall gebaut hat, weil er einem Jungen helfen wollte, der von einer Hexe aus seinem Haus verschleppt wurde. Denn dann packen sie ihn in ein Irrenhaus."
"Ein Irrenhaus? Ist das ein Aufbewahrungsort für Geisteskranke, wo sie nur gefüttert und mit Beruhigungsmitteln vollgestopft werden?"
"Ja, sowas ist das. Wer an Zauberer glaubt, könnte da landen", sagte Julius trocken.
"Er mag ja einer merkwürdigen Auffassung uns gegenüber anhängen. Aber die Intelligenz sollte er noch besitzen, daß er sich nicht in derartige Schwierigkeiten bringt", erwiderte Madame Faucon.
"Dieser Bannkreis, von dem Sie gerade gesprochen haben, wie groß ist der?" Wollte Julius wissen.
"Alle Muggel, die auf zehn Kilometer an die äußere Dorfgrenze herankommen, denken an wichtige Arbeiten, die sie noch erledigen müssen oder erinnern sich an Sachen, die sie noch mal oder jetzt erst erledigen sollen. Falls sich eine Muggelflugmaschine über unser Dorf hinwegbewegt, wirkt er so, daß die Leute darin unser Dorf als natürliche Landschaft zu sehen glauben. Das mußte noch im Jahre 1825 eingerichtet werden, nachdem die Muggel mit dem Ballon das Fliegen erlernten und zunächst nur durch den Wind gesteuert wurden. Später erwies es sich als nützlich, als die ersten richtigen Flugmaschinen entwickelt wurden, und Millemerveilles unter einer sogenannten Warteschleife für Flugmaschinen zu liegen kam, die auf die Landegenehmigung für den Flughafen Marseille warten müssen."
"Ich habe mal eine erfundene Geschichte über böse Lebewesen aus dem Weltraum gelesen, die einen Stützpunkt auf der Erde eingerichtet und ihn in ein Feld mit sogenannten Psychostrahlen gelegt haben, damit jeder, der ihnen was wollte, gezwungen wurde, umzukehren oder sich nicht mehr erinnern konnte, was er überhaupt vorhatte", sagte Julius nebenher.
"Das spricht für die Angst der Muggel vor allem unbekannten und andersartigen", bemerkte die Verwandlungslehrerin nur.
Nach dem Frühstück wusch sich Julius noch mal Gesicht und Hände. Dann durfte er den Brief von Hogwarts lesen:
hochgeschätzte Kollegin, Professeur Faucon,
wir bedauern zu tiefst, daß Sie durch die Fahrlässigkeit, vielleicht sogar Mutwilligkeit zweier Muggel dazu angehalten wurden, einen Schüler unserer Lehranstalt in Ihre Obhut zu nehmen, was Ihnen bestimmt wertvolle Zeit abverlangt. Wir möchten jedoch unseren großen Respekt dafür zum Ausdruck bringen, daß Sie sich bereitgefunden haben, sich des besagten Schülers anzunehmen und hoffen darauf, daß sein Aufenthalt Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten wird, solange er andauert.
Drei Punkte möchten wir Ihnen gerne zur Kenntnis bringen:
Zum ersten: Der sich zur Zeit in Ihrer Obhut befindende Schüler, Julius Andrews, hat gegen alle direkten oder indirekten Versuche seiner muggelstämmigen Eltern sein erstes Jahr an unserer Lehranstalt hervorragend mitgearbeitet und in jedem Fach das Klassenziel mehr als erreicht, sofern man seine kulturell bedingte Ignoranz für unsere Geschichte als mildernden Umstand für die in Geschichte erzielte Endnote anführen möchte. Er ist also durchaus gewillt, unsere Lebensweise als die Seine zu akzeptieren, da er erkannt hat, welche Natur er besitzt. Was auch immer ein eventuelles Fehlverhalten seinerseits auslösen mag, bitten wir mit dem Umstand zu berücksichtigen, daß er noch nie in einer nichtschulischen Umgebung ausschließlich mit Zauberern und Hexen Umgang pflegen konnte.
Zum Punkt, der Sie dazu veranlaßte, sich seiner anzunehmen: Wie wir von unserem Ministerium für Zauberei erfuhren, erhielt dieses Kunde von entsprechenden Gegenstellen Ihres Landes, daß Ihre geschätzte Tochter, Madame Catherine Brickston, das Amt für Ausbildung davon in Kenntnis setzte, daß Julius' Eltern beabsichtigen, ihren Sohn durch die Mithilfe Ihres Schwiegersohnes Joe Brickston an der Rückkehr in unsere Lehranstalt zu hindern, indem eine für Muggel glaubhafte Legende von einer machtbesessenen Kultgemeinschaft erzählt wurde. Wir teilen selbstverständlich die Auffassung, daß diese Geschichte einzig und allein dazu führen sollte, den Ihrer Obhut anvertrauten jungen Zauberer an seiner weiteren Ausbildung im Rahmen der Abschnitte 144 und 324 des internationalen Zauberergesetzes zu hindern, was nach Ihnen wohl bekannten Richtlinien geahndet werden kann. Versuche unsererseits, die Eltern des Jungen auf die Unrechtmäßigkeit ihres Vorgehens hinzuweisen und ihnen eine Umkehr von dieser Haltung in bestem Einklang zwischen ihnen und uns anzutragen, waren bislang nicht von Erfolg gekrönt, da unsere Posteulen entweder unverrichteter Dinge zurückkehrten, sofern sie nur das Wohnhaus anfliegen sollten, oder bis heute nicht zurückkamen, was darauf schließen läßt, daß seine Eltern tatsächlich eine weite Reise angetreten haben, um sich Nachfragen zu entziehen. Wir sind trotz dieser Abneigungshaltung jedoch zuversichtlich, daß wir sie bald erreichen und um eine Stellungnahme bitten können. Bis dahin wissen wir unseren Schüler bei Ihnen in guter Obhut.
Der dritte Punkt betrifftunseren Wunsch, daß Mr. Julius Andrews nach den Sommerferien wieder zu uns zurückkehrt, wie auch immer sich die Dinge bis dahin entwickeln sollten. Begründung dafür ist die gute soziale Integration, die Mr. Andrews in seinem ersten Jahr vollzogen hat. Wenngleich dieser Prozeß noch nicht gänzlich abgeschlossen sein dürfte, da noch gewisse Vorbehalte seinerseits bestehen, was seine uneingeschränkte Zugehörigkeit zur Zaubererwelt und den Umgang mit seinen Fähigkeiten betrifft, halten wir es doch für geboten, und Sie werden uns dahingehend zustimmen, daß unser Schüler seine gewohnten Kameraden und seine gewohnte Umgebung wiedersieht, zumal er sicherlich arge Umstellungsprobleme haben dürfte, wenn er aus seinen bisherigen Sozialstrukturen herausgelöst wird. Gerade für Kinder von Nichtmagiern erwies es sich immer als besonders hilfreich, wenn sie eine feste Gruppenstruktur errichten und sich an bestimmte Verhaltensvorgaben anpassen konnten, nachdem sie erfuhren, daß sie keineswegs ein Leben in der von ihren nichtmagischen Anverwandten als normal aufgefaßten Weise würden führen können. Sie mögen diese Begründung nicht als konkrete Anweisung auffassen. Dazu sind wir nicht berechtigt. Fassen Sie unsere Erläuterung lediglich als einen großen Wunsch auf, den realisieren zu können wir hoffen, im Sinne einer allen Seiten genehmen Zukunft.
Nochmals unseren aufrichtigen Dank und Respekt für Ihre Bereitschaft, unserem Schüler eine vorübergehende Heimstatt zu gewähren und hoffen, daß sein Aufenthalt nicht zu einer allzugroßen Belastung wird.
Diesem Brief fügen wir noch eine kurze Liste der von Mr. Andrews zu erledigenden Hausaufgaben bei.
hochachtungsvoll
Professor Albus Dumbledore, Schuldirektor von Hogwarts Prof. Minerva McGonagall, stellvertretende Schulleiterin von Hogwarts
Julius faltete den Brief zusammen und gab ihn der Lehrerin für Verwandlung und Verteidigung gegen die dunklen Künste zurück.
"Ich habe Zauberkräuter: Die nordirischen Zauberpflanzen. Dann noch Zaubertränke: Alle tierischen Gifte und Gegengifte. Schließlich noch Verwandlung: Die Vivo-ad-Invivo-Verwandlung und ihre Schwierigkeiten. Kam da sonst noch was hinzu?"
"Nein, das deckt sich mit der Liste, die ich erhalten habe. Du hast die beiden anderen Arbeiten schon erledigt?"
"Ja, habe ich. Aber ich glaube nicht, daß Sie die auch noch überprüfen möchten."
"Du glaubst? Gerade die Zaubertrankaufgabe sollte ich mir noch mal ansehen. Allein um zu kontrollieren, ob Professor Snape euch wirklich alles beibringt, was er unterrichten soll."
"Kein Kommentar", erwiderte Julius.
"Das ist auch klug von dir. Hast du die Zaubertrankaufgabe fertig?"
"Kennen Sie sich so gut mit Zaubertränken aus?"
"Zumindest reicht es aus, um die Lehrmethoden und Unterrichtsauffassung von Kollegen aus den führenden Schulen zu vergleichen. Aber es steht dir natürlich frei, mir die Einsicht in deine Arbeit zu verwehren, wenn du meinst, daß ich dir nicht weiterhelfen soll."
"Darf ich das jetzt so verstehen, daß Sie sich wirklich die zusätzliche Arbeit aufhalsen wollen, um eine popelige Erstklässler-Aufgabe zu kontrollieren?" Wollte Julius wissen.
"Erstens, um dies klarzustellen, befinde ich, für wen oder was ich wie meine Zeit verwende oder verschwende. Zum zweiten ist die Zaubertrankbrauerei eine hochkomplizierte Abteilung der Magie, die auch für Schulanfänger nicht popelig ist.
Drittens kommst du bereits in die zweite Klasse."
"Ach, so wichtig scheint Zaubertrankbrauen nicht zu sein. Sonst hätte in dem Brief gestanden, daß ich dort die zweitschlechteste Note kassiert habe", traute sich Julius eine Frechheit.
"Man hat mir dein Zeugnis nicht zugeschickt. Aber wenn die da schreiben, daß du dich überall außer in Geschichte der Zauberei gut geschlagen hast, ist es dir auch bei Zauberrtränken gelungen, gute Leistungen zu zeigen. Auch wenn du da vielleicht nur eine befriedigende Note bekommen hast, gilt das in Hogwarts schon etwas. Glaube mir, daß ich diesen Herren kenne, der euch in Zaubertränken unterrichtet. Willst du mir jetzt also die Aufgabe zeigen, die du für Professor Snape anzufertigen hattest?"
"Kein Problem. Ich gebe Ihnen den Text. Vielleicht habe ich ja was bei der Formulierung übersehen. Könnte also nichts schaden, wenn da mal einer draufguckt, der Ahnung hat."
Julius ging schnell in sein Zimmer und holte die Pergamentrollen hervor, die er für Snape beschrieben hatte. Als er die Hausaufgabe an seine Gastgeberin weitergereicht hatte, klingelte es an der Tür.
Madame Dusoleil und ihre Tochter Claire standen vor der Tür. Madame Dusoleil wünschte beschwingt einen schönen Morgen. Julius schwieg, bis Madame Faucon den Gruß erwidert hatte.
"Dann wollen wir mal", sagte die Gärtnerin von Millemerveilles. "Ich habe für dich noch ein Paar Handschuhe und Ohrenschützer besorgt."
Julius strahlte über das ganze Gesicht, als er das von den Ohrenschützern hörte. Madame Dusoleil lächelte ihn erfreut an.
"Camille, das kann doch nicht dein Ernst sein, daß du mit dem Jungen in euer Gewächshaus für gefährliche Pflanzen willst. Der kommt erst in die zweite Klasse", bemerkte Madame Faucon dazu mit tadelnder Stimme und sah ihre Mitbürgerin vorwurfsvoll an.
"Deine Kollegin Sprout hat mit den Zweitklässlern von vor zwei Jahren auch damit gearbeitet, woran unser junger Freund hier wohl gerade gedacht hat. Offenbar freut er sich sogar darauf. Du wirst ihm doch nicht den Spaß verderben wollen, Blanche?"
"Du siehst das als Spaß an, wie er hier auch. Aber sei ja vorsichtig. Ich habe für ihn die Verantwortung und werde keine Probleme damit haben, denjenigen zur Rechenschaft zu ziehen, der ihm etwas zustoßen läßt. Verstanden?"
"Versteht sich von selbst, Blanche. Also, Julius, nutzen wir die frühe Stunde!"
"Ich erwarte dich zur erwähnten Zeit zurück und werde dir wie gestern drei Signale geben, damit du rechtzeitig wieder hier eintriffst", wandte sich Madame Faucon an Julius. Dann sagte sie noch zu Madame Dusoleil:
"Und halte ihn von euren fleischfressenden Pflanzen fern!"
"Die fressen nur gutgenährte Kinder, Blanche. Da würde ich mir keine Sorgen machen", grinste Madame Dusoleil zurück. Claire fuhr erschrocken zusammen und Julius stand wie erstarrt da, als die Hausherrin ihre Mitbürgerin sehr streng ansah und schnaubte:
"Es gibt Dinge, Madame Camille Dusoleil, da verstehe ich absolut keinen Spaß. Und du weißt das ganz genau. Julius Andrews wird hier nicht abgemagert wegfahren, weder am Körper, noch am Verstand. Und jetzt macht, daß ihr wegkommt!"
Julius sah Claire an, die ihre Mutter, danach die Lehrerin von Beauxbatons. Dann ging es endlich los.
Julius nahm hinter Madame Dusoleil auf dem großen Familienbesen Platz. Claire flog auf ihrem eigenen Superbo 5, einem altgedienten Rennbesen, den sie vor kurzem bekommen hatte.
"Sie waren aber sehr respektlos zu Madame Faucon", wagte Julius, den Umgangston von Madame Dusoleil zu kritisieren. Die Zaubergärtnerin lachte nur und meinte:
"Deine Gastgeberin muß das zwischendurch mal haben. Die meisten Schüler ducken sich vor ihr, und die meisten Eltern trauen sich nicht, etwas gegen ihre Unterrichtsauffassung zu sagen. Sie braucht das, daß jemand sie mal ärgert. Aber das dürfen natürlich nur Leute, die sie gut kennen. Und ich kenne sie immerhin schon seit mehr als vierundzwanzig Jahren, von denen ich sieben Jahre lang bei ihr Unterricht hatte. Ich kenne ihre Lieblingsbeschäftigungen, ihre Ansichten und ihre Familie. Genauso weiß sie alles von mir und damit auch, daß ich mich nicht bessern werde."
"Aber Maman, die wird mir das übel nachsehen, wenn .." Wandte Claire ein, die nur zwei Meter neben dem großen Cyrano 6 herflog.
"Unsinn, Kind. Nur weil du so eine freche Mutter hast, wird sie deine guten Noten nicht gleich vergessen. Sicher ist es richtig, daß du vor ihr Respekt hast und dir sowas nicht erlaubst, was ich so mit ihr rede. Aber sie unterscheidet schon, mit wem sie sich auseinandersetzt."
"Ich habe nicht den Eindruck, daß man sich mit Madame Faucon anlegen sollte, wenn es sich vermeiden läßt", äußerte sich Julius.
"Tu ich ja auch nicht", erwiderte Madame Dusoleil locker.
"Ich dachte eben, daß ich bei einem Familienausflug mitmachen sollte, als ich dich mit deiner Mutter vor der Tür sah", sprach Julius mit Claire, die sich so weit zurückfallen ließ, um mit ihm in normaler Lautstärke reden zu können.
"Papa paßt auf Denise auf, weil Jeanne an ihren Schulaufgaben herumschreiben muß. Jeanne hat übrigens gefragt, ob du morgen wieder Quidditch mitspielst."
"Ist die Freundin von Virginie auch wider dabei?"
"Nein, die wollen morgen nach Paris und Klamotten kaufen. Prudence will unbedingt irgendwelche Festkleider haben, warum auch immer."
"Mädchen haben Probleme", wandte Julius nur ein.
"Ach, dann habt ihr wohl keinen Grund, euch mal schick anzuziehen, wie?" Fragte Madame Dusoleil.
"Es gibt nur wenige Gelegenheiten dafür", meinte Julius.
"Solche Gelegenheiten können von heute auf morgen passieren", sprach die Mutter von Jeanne, Claire und Denise.
"Ach, ich denke, ich muß morgen noch nicht heiraten. Ich hoffe, morgen nicht an einer Beerdigung teilzunehmen, und ein schicker Tanzabend ist in Hogwarts wohl nicht dem Schulplan gemäß. Kann natürlich sein, daß in Beauxbatons mehr Wert darauf gelegt wird, daß die Schüler sich toll anziehen."
"Wir haben eben Kultur", warf Claire ein. "Jeder von uns spielt mindestens ein Musikinstrument. Wir haben eine Malgruppe, eine Theatergruppe, die klassische Dramen einstudiert und vorführt, und wir haben die Zauberkunstbildhauergruppe", zählte Claire die Errungenschaften ihrer Schule auf. Julius ließ nur ein lautes "Bor" erklingen.
"Er wird unsere Lebensweise noch sehr zu schätzen lernen, Claire. Dafür wird deine Lieblingslehrerin schon sorgen."
"Häh? Moment einmal! Dein Lieblingsfach ist Verteidigung gegen die dunklen Künste?"
"Nein, Verwandlung", lachte Claire. "Aber in beiden Fächern haben wir die selbe Lehrerin."
"Und ich dachte schon, das du das machst, was eure Maman tut."
"Da bin ich auch gut drin", sagte Claire.
"Ich hätte ihr auch was anderes geraten, wenn nicht. Alle meine Töchter haben mindestens eine gute Note, wenn nicht eine sehr gute Note in Kräuterkunde. Oder soll ich mir etwas von ihrem Kräuterkundelehrer anhören, wenn auch nur eine neben der Spur ist?" Fragte Madame Dusoleil. Dann deutete sie auf ein Rechteck von Gewächshäusern und freistehenden Anpflanzungen.
"Wir sind da. Wir landen jetzt. Claire, du landest zuerst, bitte!"
Claire zog an ihrer Mutter und Julius vorbei und schwang sich über einer Wiese herunter. Etwas holperig setzte sie auf und schaffte es gerade so, von ihrem Besen abzusteigen, bevor sie mit diesem hinfallen konnte.
"Jeanne ärgert sie immer damit, daß sie nicht für ihre Mannschaft spielen wird, wenn sie so weiterfliegt", schnaubte Madame Dusoleil. Dann ging sie unvermittelt in einen rasanten Sturzflug über, wobei sie jedoch laut lachte. Julius, der sich gut am Besen festhielt, johlte wie bei einer wilden Achterbahnfahrt. Trotz des schnellen Sturzfluges ging der große Besen mit seinen zwei Reitern ohne Ruckeln und nachrutschen auf der Landewiese nieder.
"Und, wie war ich?" Fragte Madame Dusoleil mit einem Lächeln, als sie den Besen so hielt, daß Julius problemlos absteigen konnte.
"Wenn ich Ihnen das sage, muß ich nachher zu Fuß nach Hause laufen. Dann kriege ich Ärger mit meiner Gastgeberin. Darauf habe ich im Moment keine Lust", erwiderte Julius. Madame Dusoleil lachte herzlich und drückte ihn kurz an ihren leicht untersetzten Körper. Dann sagte sie noch:
"Soll ich deine Eltern fragen, ob ich dich nicht gegen meine drei Grazien eintauschen soll?"
"Besser nicht. Meine Eltern haben schon so genug Probleme mit mir", entgegnete Julius und stellte sich vor, wie sein Vater dreinschauen würde, wenn ihm gesagt würde:
"Da Sie offenbar nicht bereit sind, Ihrem Sohn eine ihm angemessene Ausbildung zu gewährleisten, verurteilt sie das hohe Gericht der Zaubererwelt dazu, die drei Töchter der Familie Dusoleil in ihre Obhut zu nehmen und ihnen jede körperliche und geistige Pflege angedeihen zu lassen, die ihrer Entwicklung förderlich ist."
"maman, du weißt doch, daß Julius' Eltern .."
Schschsch", machte Madame Dusoleil, als ihre Tochter sich beklagte.
"Daß meine Eltern was, Claire?" Fragte Julius herausfordernd. Er konnte sich schon denken, was sie meinte, und weswegen ihre Mutter nicht wollte, daß sie es laut aussprach. Madame Dusoleil sah ihn mit einer von ihr bis dahin nicht bekannten ernsten Miene an und sagte fast flüsternd:
"Es geht um etwas, das Jeanne von Virginie gehört hat, gestern nach dem Spiel. Wenn das stimmt, ändert das nichts an unserem bisherigen Verhältnis, Monsieur Andrews."
"Es geht um die Herkunft meiner Eltern, richtig? Machen Sie sich keine Gedanken darum. Ich weiß, wohin ich gehöre", flüsterte Julius zurück. Dann rief er Claire zu:
"Du hast dir deine Eltern nicht ausgesucht. Ich auch nicht." Claires Gesichtsausdruck und der leicht unterwürfigen Körperhaltung nach schien ihr das zu reichen.
Die nächsten zwei Stunden waren für Julius hochinteressant. Er ließ sich von Madame Dusoleil durch die verschiedenen Anpflanzungen führen und erfuhr vieles nützliche über die verschiedenen Zauberkräuter, die er in Hogwarts nur aus Büchern kennen gelernt hatte. Viele Gärtner in grünen Arbeitsumhängen liefen herum und ließen von Zauberhand rotierende Kreissägen durch armdicke Baumäste oder verwachsenes Gestrüpp sausen. Alle grüßten Madame Dusoleil mit jenen Gesten und Gesichtszügen wie sie bei Untergebenen zu sehen sind, die mit ihrem Chef sprechen. Eine zierliche Hexe mit blonden Rattenschwänzen turnte wie ein Affe über ihnen herum und werkelte in der Krone eines Ohrenblattbaumes herum. Sie grüßte Claire und Julius mit einem lauten "Hallo, Kinder!" und deutete auf zwei große eiförmige Früchte, die an einem Ast des Baumes hingen.
"Die ersten Früchte sind schon da. Wenn das so weitergeht, können wir den Baum in zwei Wochen abernten", verkündete sie. Julius überlegte schnell, wozu die Ohrenblattfrüchte gut waren und erinnerte sich an eine entsprechende Passage in einem Kräuterkundebuch, daß er nebenher mal gelesen hatte, als das Frühjahr angefangen hatte.
"Der Saft der Früchte kann als Heilmittel gegen Schwerhörigkeit verwendet werden, richtig?" Fragte er nach oben.
"Genau, junger Mann. Aber in Verbindung mit Erdbeersaft kriegt man einen guten Vitamintrank zusammen, auch ohne Zauberwirkung."
"Und wenn man den Saft aus den Früchten raushat?" Fragte Madame Dusoleil und sah ihre Tochter an. Diese überlegte kurz und sagte:
"Das Fruchtfleisch der Ohrenblattbäume dient in der magischen Heilkunde zur Heilung von schweren Fieberanfällen und kann die meisten Tropenkrankheiten besiegen, wenn zu dem Fruchtfleisch noch andere Zutaten kommen, die zur Heilung benötigt werden", legte Claire dar.
"Eine afrikanische Kräuterhexe hat die Ohrenblattfrüchte zur Heilung von schweren Malariaanfällen nutzen können. Sie hat sogar eine Mischung gefunden, die gegen die schnellen Viruskrankheiten wirkt und Salben und Tränke entwickelt, die vor Ansteckung schützen und die Ursache beheben, ohne Ansehen des Erregers. Wenn die Muggel sowas könnten, wären die meisten Tropenseuchen, bekannt oder unbekannt, kein Problem mehr", fügte Julius noch hinzu.
"Das ist doch der Leitsatz der Kräuterkundler und Heiler: Gegen alles ist ein Kraut gewachsen", beschloß Madame Dusoleil den kurzen Vortrag über die Ohrenblattbäume.
In den Gewächshäusern war es heiß und feucht. Große Pflanzen standen hier, die mit weit ausladenden Blättern, Ästen oder Tentakeln sanft herumpendelten. Madame Dusoleil deutete auf einen großen Kreidekreis mit magischen Symbolen:
"Wer über diese Linie tritt, ist selber schuld, wenn ihn die Pflanzen mal soeben fressen. Die meisten von denen sind nämlich Carnivoren. Wir müssen die täglich mit Ratten, Mehrschweinchen oder Fledermäusen füttern. Der Wucherbann verhindert, daß die Pflanzen sich ungehindert ausbreiten oder ihre Fangapparate über die Durchgänge auswerfen", erklärte Madame Dusoleil. Julius erstarrte in Ehrfurcht vor den grünen Monstern. Vielleicht hatte er aber auch eine gewisse Angst, weil die Pflanzen so frei standen und er in seiner Muggelunwissenheit nicht glauben wollte, daß ein magischer Kreidestrich diese Gewächse daran hindern sollte, sich beliebig auszubreiten. Claire, die die mörderischen Pflanzen offenbar schon häufig gesehen hatte, deutete gelangweilt auf ein Beet, das ebenfalls von einem magischen Kreidekreis umschlossen war.
"Die großen sind langweilig, wenn man weiß, daß man nicht über die Bannlinie treten darf. Aber die Springschnapper da haben es in sich. Du siehst nie, wo sie sich gerade aufhalten, bis du was essbares in ihr Beet wirfst."
"Fütterung der Raubtiere, wie?" Fragte Julius, der sich vorstellen konnte, wie spannend das aussehen mochte, wenn diese gefährlichen Pflanzen zu fressen bekamen.
"Die Springschnapper sind lebende Abfalltonnen, Julius. Sie fressen nicht nur Fleisch, wie der Würgblattbusch oder die Venemosa tentacula, die da drüben steht, sondern alles, was in ihren Jagdbereich hineinfällt. Dafür geben sie aber auch einen verdammt guten Dünger ab, der nur noch von echtem Drachendünger überboten werden kann", wußte Madame Dusoleil. Julius sah sich von weitem die Venemosa tentacula an, eine Pflanze mit roten Blättern und wie suchend ausschwingenden Fühlern.
"Aus der da drüben kann man ein Stärkungsmittel machen. Der Heraklestrank setzt sich zu 90 Prozent aus dem Wurzelsud dieser schleimigen Pflanze zusammen", wußte Julius.
"Heh, das ist in Beauxbatons Stoff der vierten Klasse", wunderte sich Madame Dusoleil.
"Zaubertränke sind ein Lieblingsfach von mir. Deshalb lese ich gerne auch Bücher, die nicht gerade nur für Erstklässler sind."
"Soll ich die Springschnapper mal füttern?" Fragte Madame Dusoleil. Claire klatschte begeistert in die Hände. Julius sah ebenfalls sehr gespannt aus und sagte:
"Ja, bitte!"
Madame Dusoleil trat an eine Kiste heran, in der ein Bündel Pflanzenabfälle lag. Sie nahm eine lange Stange mit einem Greifhaken, drehte eine Ladung abgetrennter Strünke darauf wie Spaghetti auf eine Gabel, trat bis auf drei Schritt an die Bannlinie um das harmlos und leer wirkende Beet heran und schwang die Stange wie einen Dreschflegel. Dabei rutschte das aufgewickelte Bündel Pflanzenabfälle herunter und segelte zwei Meter hoch über die Bannlinie hinweg und zerstreute sich über das Beet. Doch bevor die ersten Pflanzenstücke die braune Erde berühren konnten, schossen mehrere Dutzend grüne Fangarme mit schleimigen Dornen heraus und schlugen laut klatschend wie große Peitschen nach der über dem Beet herunterrieselnden Ladung Abfall. Wie ein Wald aus wild umherschlagenden Krakenarmen wirbelten die aus dem Boden geschossenen Tentakeln die abgeschnittenen Strünke aus der Abfallkiste herum, bis nichts mehr übrig war. Dann, mit einem Ruck, verschwanden alle Fangarme wieder im Boden. Doch Julius konnte keine Spur in der Erde sehen.
"Uuuh!" Konnte er nur ausstoßen. Claire sah ihn an und grinste.
"Maman hat mal eine Fledermaus in dieses Beet fliegen lassen. Sie hatte keine Chance. Die Dinger schlagen bis zu drei metern hoch. Wenn die Bannlinie nicht wäre, könnten die auch aus dem Beet heraus zur Seite angreifen."
"Das ist die perfekte Falle, um ungebetene Besucher zu stoppen", meinte Julius.
"Ja, solange du kein Metall bei dir trägst. Metall mögen sie nicht. Es wird noch geforscht, warum nicht. Aber sicher ist, das die Menge von zwei Knuts reicht, um ihren Fangreflex zu blockieren. Einer aus Beauxbatons hat mal aus Jux eine Galleone in das Beet geworfen und gerufen, wer sich traut, sie wiederzuholen. Da der Bannkreis keinen Sammelzauber durchläßt, so daß du nichts zurückzaubern kannst, was einmal in das Beet fiel, mußte einer unserer Mitarbeiter sich mit Metall an den Stiefeln und einem Schürhaken in das Beet begeben und die Galleone wieder auflesen, damit die Pflanzen nicht verhungerten. Er behielt die Galleone als Strafe für den Verstoß gegen das Verbot, die Pflanzen zu schädigen. Der betreffende Schüler hat dann nur noch dumm geguckt. Wenn du eine Falle bbauen willst, würde ich dir die Teufelsschlinge empfehlen, die in unserem Dämmerungshaus steht."
"Die kann doch jeder Zauberanfänger mit einem Feuerstrahl wegjagen oder töten", sagte Julius ungefragt.
"Gut gelernt", lobte Madame Dusoleil den Jungen.
Als sie sich alle großen Fleischfresser angesehen hatten und einen Beißwurzler, eine tückische Pflanze mit unterirdischem Fangapparat, eine tote Ratte vorgeworfen hatten, um zu sehen, wie diese von einem Moment zum nächsten unter die Erde gezogen wurde, wo sie dann unter Knacken und Schmatzen von der Pflanze vertilgt wurde, ging es in das Dämmerungshaus, wo Julius die Teufelsschlinge in einem abgedunkelten Raum betrachten konnte. Claire durfte auf den Vorschlag ihrer Mutter hin eine alte Holzstange nehmen und den Einschnürungsreflex der Pflanze auslösen. Julius sah mit leichtem Schaudern zu, wie die Holzstange innerhalb von wenigen Sekunden total eingewickelt und dann knirschend und knackend zerbrochen wurde.
"Tja, so passiert das, wenn man nicht aufpaßt", sagte Claire gehässig.
"Wie gesagt. Das Biest kann man mit einem Zauberfeuer leicht plattmachen", erwiderte Julius, der sich um eine gelangweilt klingende Stimmlage bemühte.
"Was beweist, daß es nützlich und lebensrettend ist, wenn man in Kräuterkunde und in Zauberkunst aufpaßt", stellte Madame Dusoleil trocken klar. Claire nickte dazu nur. Offenbar fühlte sie sich nur ermutigt und nicht getadelt.
An vielen giftigen und schnellwuchernden Pflanzen vorbei ging es in ein Gewächshaus, an dessen Tür ein großes Schild hing. Julius erkannte darauf das Warnsymbol der Zaubererwelt, daß er auch auf einem Gewächshaustor in Hogwarts schon gesehen hatte. Hier wurden Pflanzen gehalten, die auch ohne körperlichen Kontakt körperlichen Schaden verursachen konnten.
"So, Kinder! Jetzt wird es richtig spannend. Wir haben nämlich gestern neue Mandragorasätzlinge bekommen. Wir sind in Frankreich die einzigen, die diese interessanten Gewächse in großer Zahl nachziehen können. In Hogwarts gab es vor zwei Jahren auch viele. Aber sie wurden für eine wichtige Angelegenheit gebraucht, hat mir meine Fachkollegin Professor Sprout mal berichtet. Julius, du hast heute Morgen gestrahlt, als ich erwähnt habe, daß ich für dich Ohrenschützer dabeihabe. Hast du dir etwas dabei gedacht?"
"Selbstverständlich. Ich habe gehofft, eine lebende Alraune zu sehen. Da sie einen tödlichen Schrei ausstößt, wenn sie aus der Erde gehoben wird, muß man schalldichte Ohrenschützer aufsetzen. Nur dafür braucht man in einem Zauberkräutergarten Ohrenschützer. Nebenbei hat mir dieses Wissen bei meiner Jahresendprüfung einige Sonderpunkte eingebracht", erzählte Julius erregt. Claire grinste ihn an.
"Wir haben im letzten Vierteljahr einmal eine junge und eine erwachsene Alraune vorgeführt bekommen. Die Dinger sehen zwar häßlich aus, aber sind dafür um so interessanter."
"Ja, und da Claire mit den jungen Alraunen schon Erfahrungen hat, wollte ich dir vorab das einzigartige Erlebnis gönnen, welche umzutopfen. Vorausgesetzt, du traust es dir zu, Julius."
"Die sind in der Babyform nicht gerade groß. Da denke ich, daß ich das hinkriege. Aber dürfen Sie das denn machen, irgendwelche Kinder zu dieser Arbeit heranziehen?"
"Ich darf ein oder zwei Kinder pro Tag an bestimmten Pflanzen arbeiten lassen, wenn ich sicherstellen kann, daß ihnen nichts passieren kann. Manchmal muß ich ja auch Nachhilfe für Schüler geben, die in Beauxbatons nicht gerade als Kräuterkundetalente bekannt sind. - Du traust dir das also zu. Dann müssen wir jetzt nur noch den Rauschnebelneutralisationstrank trinken, damit wir nicht von der Rauschnebelhecke da drinnen eingeschläfert werden. Ich habe den Trank vorrätig", sagte Madame Dusoleil und führte die Kinder zu einem Schrank, den sie mit dem Zauberstab an bestimmten Stellen kitzeln mußte, um seine Tür zu öffnen. Sie holte drei kleine Gläser heraus, füllte ihnen aus einer großen bauchigen Flasche eine gelblichgrüne Lösung ein, die Julius wie flüssiges Chlor vorkam und gab den beiden Kindern je ein Glas. Das dritte nahm sie selbst und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. Sie schüttelte sich kurz und prustete.
"Ist das so ein Sauzeug? Na ja, riechen tut's harmlos wie Flieder. Dann wollen wir mal", sprach Julius und folgte dem Beispiel von Madame Dusoleil. Fast bereute er es, den Trank in einem Zug getrunken zu haben. Denn er hatte das Gefühl, als würde sich seine Zunge einrollen, sein Rachen von einem Vereisungsspray unterkühlt und sein Hals zusammengedrückt. Dann explodierte ein Gefühl in seinem Körper, als wäre eine Eisbombe in seinem Magen geplatzt und durchzog den ganzen Leib wie ein Strom eiskalten Wassers. Dieser Vorgang dauerte zwei Sekunden an. Dann war er schlagartig vorbei. Julius schüttelte sich ebenfalls. Claire, die im gleichen Moment wie er den Trank getrunken hatte, bibberte im selben Augenblick.
"War nötig, Kinder. Die Rauschnebelhecke ist eine heimtückische Pflanze, weil du den Nebel nicht sofort sehen kannst, den sie ausströmt. Deshalb ist dieses Gewächshaus auch nur für das Personal und dessen eingewiesene Besucher vorbehalten."
Im Gewächshaus war es totenstill. Kein Laut kam von draußen durch die dicken Wände und die dichten Türen. Julius roch einen bittersüßen Duft und sah die verschiedenen Pflanzen an, die so wie sie standen harmlos wirkten. Madame Dusoleil teilte zwei Paare Ohrenschützer an die Kinder aus und gab Julius ein Paar Handschuhe. Sie selbst zog sich armlange Handschuhe an.
"Manchmal kratzen junge Alraunen. Zähne haben sie nicht. Aber dennoch ist es unangenehm, sie zu fassen. Außerdem hat man in den Handschuhen einen besseren Halt. Wir ziehen gleich die Ohrenschützer auf. Dann zeige ich euch, wie man die jungen Alraunen in einen größeren Topf setzt. Das mag für euch einfach aussehen, aber wundert euch nicht, wenn das bei euch nicht sofort so flott von der Hand geht. Und los!"
Die Kinder setzten ihre Ohrenschützer auf. Julius prüfte noch mal die Uhrzeit und stellte fest, daß er noch eine Dreiviertelstunde Zeit hatte. So schnell war die Zeit hier vergangen. Madame Dusoleil trat noch mal zur geschlossenen Tür hin und klappte ein Warnschild mit einem großen roten, durchgestrichenen Ohr so, daß von außen jeder sehen konnte, daß in diesem Gewächshaus keine ungeschützten Ohren angeraten waren. Dann ging sie an einen der Sätzlingstöpfe heran und buddelte mit ihren behandschuhten Händen das Etwas aus, von dem nur rote Blätter aus der Erde herausgelugt hatten. Julius sah ihr mit steigender Erregung zu. Er starrte das grüne Etwas an, das wie ein häßliches Baby mit roten Blättern auf dem Kopf aussah und wie am Spieß schrie. Julius bewunderte die Macher der Ohrenschützer. Denn er hörte keinen einzigen Laut. Madame Dusoleil hielt das zappelnde Geschöpf mit ausgestreckten Armen vor sich und trat an einen halb mit Erde gefüllten Topf heran, in den sie das kleine Pflanzenwesen hineinsetzte und mit schnellen und geübten Handbewegungen unter der Erde verschwinden ließ, bis nur noch die Blätter herausguckten.
Sie sah Claire an und deutete auf einen der kleinen Töpfe, dann auf einen großen Topf, neben dem eine Kiste frischer Erde stand. Claire nickte und begann, das grüne Wurzelbaby aus seiner Erde zu wühlen. Julius sah, wie sie versuchte, es richtig zu fassen zu bekommen. Doch es schlug und strampelte um sich und krakehlte so heftig, daß sein Mund fast das gesamte verdreckte und warzige Gesicht ausfüllte. Claire schien beruhigende Worte zu sprechen, doch für die Alraune waren sie wohl nicht beruhigend genug oder einfach zu leise. Die Alraune strampelte immer wilder um sich, hieb mit ihren kleinen Händchen nach Claires Armen und warf sich herum, als wenn sie eine schwere Last von sich abschütteln mußte. Claire verlor den Griff, und die Alraune plumpste auf den Boden. Einen für Julius unhörbaren Fluch ausrufend, bückte sie sich und packte die Arme der Alraune. Immer noch strampelnd versuchte das Wurzelgeschöpf, sich erneut aus dem Griff der Beauxbatons-Schülerin zu lösen. Fast hätte diese es auch wieder loslassen müssen. Doch dann war sie mit ihrem Alraunenbaby bei dem größeren Topf und drückte die Füße des Wurzelwesens in die Erde. Sie schaufelte soviel Erde um Beine und Bauch des Pflanzenwesens, daß dieses sich nicht mehr rühren konnte. Dann warf sie aus der Vorratskiste frische Erde über das Geschöpf und begrub es darin, wobei sie darauf achtete, daß die Blätter freilagen.
Madame Dusoleil trat neben Julius und zeigte ihm einen weiteren Topf mit herausragenden roten Blättern. Julius ließ sich noch einen großen Topf zeigen, in den er die Alraune setzen sollte. Dann ging er ans Werk.
Das Ausgraben der Alraune war kein Problem. Das kleine Geschöpf machte erst Probleme, als es freilag. Dann hib und trat es laut, aber für Julius unhörbar schreiend um sich, so daß er nicht wußte, wie er richtig zupacken konnte. Es dauerte eine halbe Minute, bis er der Alraune so um ihre Brust gefaßt hatte, das er sie aus dem Topf heben konnte. Wie besessen langte die Alraune nach seinen Armen und zerrte an Julius' Umhang. Julius verlor wie Claire den Griff. Doch bevor die Alraune zu Boden fallen konnte, streckte er ein Bein aus und fing das kleine Geschöpf damit auf. Es warf sich herum, als Julius es wieder packte, diesmal mit aller Gewalt, zu der er fähig war. Die kleinen Arme ruderten wie Windmühlenflügel im Sturm herum, während Julius mit seinem Versuchsobjekt zum größeren Topf lief. Die Alraune wollte nicht in die Erde, so schien es Julius. Er beschloß, keine Rücksicht darauf zu nehmen. Unvermittelt griff er die Arme der menschenähnlichen Pflanze und drehte sie nach hinten in einen doppelten Polizeigriff, wie er ihn mit Lester und Malcolm einer Fernsehsendung nachempfunden hatte. Er konnte sich denken, daß dem Wesen das nicht gefiel, vielleicht sogar wehtat. Doch er nahm daran keinen Anstoß. Er drückte die Alraune in die Erde hinein. schaufelte die Beine zu, dann den Bauch. Die Arme, die er wieder freigeben mußte, schlenkerten herum und wehrten seine Finger ab, die sie in die Erde drücken wollten. Doch schließlich gelang es ihm, alle Glieder des Wesens unter Erde zu vergraben und auch den großen Kopf zuzudecken. Er stellte sicher, daß alle roten Blätter wieder frei herauslugen konnten, dann trat er von dem Topf zurück, in dem sich nichts mehr rührte.
Madame Dusoleil begutachtete die Ergebnisse der Umtopfaktion. Dann nahm sie ihre Ohrenschützer ab und deutete auf ihren Mund. Die Kinder verstanden und nahmen ebenfalls ihre Ohrenschützer ab.
"Ich bin zwar keine amtliche Lehrperson, schon gar nicht nach englischem Recht. Dennoch werdet ihr wohl nichts dagegen haben, wenn ich euch sage, wie ich eure Arbeit bewerten würde.
Claire, man hat gesehen, daß du schonmal mit einer Alraune gearbeitet hast. Du hast verschiedene Techniken angewendet, die hilfreich sind, eine Babyalraune zu beruhigen. Aber du mußt beim ausgraben sofort an der richtigen Stelle zufassen, zwischen Bauch und Brust. Denn das irritiert eine Alraune erst einmal so, daß sie nicht so stark um sich schlägt. Ihr habt ja gesehen, wie ich sie genommen habe. Sie kam gar nicht dazu, sich zu wehren und konnte nur schreien. Aber das Umsetzen hast du für eine Ungeübte gut hinbekommen.
Julius, deine Aufregung muß sich auf die Alraune übertragen haben. Sonst hätte sie sich wohl nicht sofort so heftig gewehrt. Wie für Claire gilt auch für dich, daß du sie sofort an der bestimmten Stelle zwischen Bauch und Brust hättest fassen müssen. Es ist gut, daß du sie sofort aufgefangen hast, als sie dir zu entgleiten drohte. Aber dann warst du sehr brutal zu ihr, muß ich dir sagen. Auch wenn es sich um Pflanzen handelt, verhalten sie sich wie Menschenbabies. Oder würdest du einem Baby die Arme umdrehen, weil es sich nicht von dir anfassen lassen will? - Nein? Siehst du! Deshalb zeige ich euch beiden gleich noch mal, wo man anfassen muß, um eine Alraune ohne große Schwierigkeiten aus der Erde zu heben und womöglich gleich ohne Problem in einen anderen Topf zu setzen. Ohrenschützer auf!"
Madame Dusoleil holte eine vierte Alraune aus einem kleinen Topf. Julius sah genau hin und prägte sich die Stellung ihrer Finger ein, wie sie das kleine Pflanzenbaby fest umklammerte, ohne daß es sich merklich regte. Er prägte sich ein, wie die Alraune in einen größeren Topf gesetzt wurde, wie Madame Dusoleil wie nebenbei mit ihrem kleinen und Ringfinger der rechten Hand über eine Partie zwischen Bauch und Brust streichelte, während sie die Alraune mehr und mehr unter Erde begrub. Dann trat sie vom Topf zurück und prüfte kurz, ob sie alles richtig gemacht hatte. Dann nahm sie die Ohrenschützer ab, für die Kinder das Signal, ebenfalls die Ohren wieder freizumachen.
Madame Dusoleil hob gerade an, noch etwas zu erklären, als Julius Verbindungsarmband zu Madame Faucon zitterte. Er streckte den Arm aus und rollte den erdverkrusteten Ärmel hoch.
"Ach, ist die gute Blanche schon wieder soweit? Tja, dann müssen wir wohl. Die restlichen Pflanzen sehen wir uns heute nachmittag an", sagte Madame Dusoleil, die wohl enttäuscht war, gerade jetzt die Vorführung beenden zu müssen.
Madame Dusoleil klappte das Warnschild mit dem durchgestrichenen Ohr wieder hoch, dann öffnete sie die Tür. In diesem Moment strich ein bläulicher Nebelschleier durch das Gewächshaus und kitzelte Julius an der Nase.
"Dieser Nebelwerfer hat sich aber heute Zeit gelassen", witzelte Madame Dusoleil. "womöglich haben die Alraunenbabies die Rauschnebelhecke irritiert.
Madame Dusoleil reinigte mit einem Zauber die Umhänge von Julius und Claire. Dann führte sie die beiden durch einen kurzen Gang, an dessen Ende ein Kamin stand, in ddem ein Feuer prasselte.
"Unser Geheimer Schnellweg, wenn wir von A nach B wollen, aber nur wenige Sekunden Zeit haben", sagte sie und holte aus einem kleinen Beutel, den sie im Umhang mit sich geführt hatte, eine Prise Flohpulver. Sie warf das Zauberpulver ins Feuer, das sogleich smaragdgrün aufloderte.
"Dieses Floh-Netz ist nur für die grüne Gasse zuständig. Sagt einfach: "Zum Eingang!"
Auf diese Weise wechselten Madame Dusoleil, Claire und Julius gerade in dem Moment zum Eingang zurück, wo ihre Besen standen, als das zweimalige Rufsignal an Julius gesendet wurde. Ab jetzt waren es nur noch fünf Minuten.
"Claire, bitte fliege schonmal nach Hause und sage Papa, Jeanne und Denise, daß ich unseren Gast kurz zu seinem Quartier bringe!"
"Ja, Maman", willigte Claire ein und kletterte auf ihren Besen. Julius schwang sich schnell auf den langen Familienbesen, kaum daß Madame Dusoleil ihn in Aufstiegsposition gebracht hatte. Als die Gärtnerin und Leiterin der grünen Gasse von Millemerveilles sich richtig hingesetzt hatte, ging es mit einem "Hopp!" auch schon in die Luft und in einem Tiefflug über die Häuser der Zauberersiedlung hinweg zum Haus von Madame Faucon. Der Familienbesen zitterte zwar etwas, doch hielt er das Tempo durch, daß ihm seine Besitzerin abverlangte.
"Ich bewerbe mich noch mal für die Hausfrauen-Quidditchmannschaft, wenn ich diese Übung jeden Tag mache!" Rief Madame Dusoleil amüsiert, als sie den Besen vor dem großen Haus im schnellen Sinkflug nach unten brachte und knapp über dem Boden bis kurz vor die Tür ausgleiten ließ, bevor sie landete. In diesem Moment zitterte das Verbindungsarmband dreimal hintereinander.
"Blanche, bleib drin. Ich habe ihn dir wieder mitgebracht!" Rief Madame Dusoleil, als sich die Tür öffnete. Julius sah betreten vom schnellen Flug und von der Respektlosigkeit, mit der Madame Dusoleil die ehrenwerte Hexe behandelte, wie die Hausherrin die Tür weit öffnete und ihn prüfend ansah.
"Du hast ihm doch nicht wirklich Alraunen in Aktion vorgeführt, Camille!" Sprach die Mutter von Catherine Brickston. Die angesprochene nickte und grinste.
"Doch sicher. Jetzt wissen wir zumindest, daß unser junger Gast sich noch Zeit mit der Säuglingspflege lassen sollte. Alraunen sind doch keine Kriminellen in irgendwelchen Muggelsiedlungen. Aber sonst ist er sehr gut mit Wissen geschlagen. Professor Sprout wird ihn nach den Ferien wiederhaben wollen."
"Und sie wird ihn auch wiederkriegen, Camille. Mach dir also keine falschen Hoffnungen. So, und Sie kommen jetzt bitte herein, Monsieur. Ich bringe nur noch Ihr Haar in Ordnung."
Mit dem Zauber, mit dem Gloria Julius schon einmal die Haare geordnet hatte, ließ sie die leicht erdverkrustete Frisur des Jungen wieder sauber und glatt werden. Dann fragte sie Madame Dusoleil:
"Hast du ihm denn alles zeigen können?"
"Manche Freilandkräuter stehen noch aus. Deshalb wollte ich dich fragen, ob ich Julius nach dem Essen wieder abholen kann und bis zum Abendessen in meine kundige Obhut nehmen darf?"
"Komm um zwei und bring ihn um sieben wieder her, Camille!" befahl die Hausherrin in der Tonlage einer Lehrerin, die eine aufgeregte Schülerschar zurechtweisen muß. Dann verabschiedete sich die Mutter von Claire und startete mit ihrem Besen durch.
"Ich hatte also recht mit meiner Vermutung, daß Camille dich gerne adoptieren würde", stellte Madame Faucon fest. Julius wußte nicht, ob dieser Gedanke sie amüsierte oder beunruhigte. Aus ihrem Tonfall oder ihrer Miene war das zumindest nicht abzulesen. Julius, der gerade eine gebratene Tomate zerteilte, sagte nur:
"Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Einerseits kommt sie mir vor wie eine Klassenkameradin, so verspielt und witzig sie durch die Welt geht. Dann ist sie wieder ganz eine Mutter, die sich mal durchsetzen muß. Das habe ich zumindest gemerkt, als Claire durchblicken ließ, daß die jungen Hexen und Zauberer wissen, aus was für einem Stall ich komme."
"Sprich doch nicht so abfällig!" Tadelte Madame Faucon den Jungen. Dann fragte sie ihn:
"Wie hat Camille das also aufgenommen, daß deine Eltern nicht zaubern können?"
"Sie meinte, daß sich an unserem bisherigen Verhältnis nichts ändern würde. Was natürlich heißen kann, daß sich in Zukunft was ändern kann."
"Ach, versuchen wir uns in Philosophie? Bisherig heißt gegenwärtig, Monsieur Andrews. Wenn sie wirklich von dem bisherigen Verhältnis sprach, heißt das, daß es sich nicht ändert. Es sei denn, du willst das und tust etwas, was eine derartige Änderung herbeiführt. Wenn sie gesagt hätte, daß sie auch mit einem Muggelstämmigen gut auskommen könnte, würde das die Möglichkeit einer Abänderung ihres Umgangs beinhalten. Dann würde sie dich aber nicht so mit ihrem Besen herumfliegen, als würdest du seit deiner frühesten Kindheit nichts anderes kennen. Wahrscheinlich hast du mit ihr eine schnelle Landung erlebt, richtig. - Mmmhmm, dachte ich's mir. Wenn du keine Angst gezeigt hast, hast du ihre Prüfung bestanden. Neben Pflanzen und Spinett ist Quidditch ihre Leidenschaft. In diesem Dorf wird es kein Spiel geben, das sie nicht besucht, solange sie gesundheitlich dazu in der Lage ist."
"Warum ist sie dann nicht zur Weltmeisterschaft hin wie Catherine und Babette?" Fragte Julius.
"Weil eben Quidditch neben Pflanzen und Spinettspiel ihre Leidenschaft ist. Sie kann nicht wegen einer Leidenschaft die anderen Leidenschaften vernachlässigen, auch wenn es ein großes Ereignis ist. Aber ich wette mit dir, daß sie sofort dabei ist, wenn Frankreich die Weltmeisterschaft ausrichttet. Immerhin könnten wir das, ohne diese aufwändigen Vorbereitungen, wie sie in England gemacht werden mußten."
"Ich dachte, sie würden die Meisterschaft in Hogsmeade ausrichten", warf Julius ein. Die Lehrerin von Beauxbatons lachte nur.
"Hogsmeade hat keinen Schutzbann um sich herum. Das einzige, was es vor Muggeln schützt, ist seine versteckte Lage. Insofern wäre es schwierig geworden, eine Unmenge von Zauberern dort hin zu bringen, ohne die Muggel auf den Plan zu rufen."
"Apropos Muggel. Ich würde eigentlich gerne meinen Eltern eine Eule schicken, daß ich von der Zaubererwelt in Gewahrsam genommen wurde und vor Schuljahresende wohl nicht mehr zurückkomme. Ich glaube, die wären schnell wieder zurück."
"Ja, das wäre zwar richtig. Aber erstens wissen wir nicht, wo deine Eltern sind. Zweitens ist es nicht gerade vorteilhaft, sie zu verhöhnen. Das überlassen wir besser den Leuten eures Zaubereiministeriums, ihnen ihre Dummheit klarzumachen. Außerdem möchte Catherine gewiß nicht, daß Joe gute Freunde verliert, wenn herauskommt, daß sie dich mir anempfohlen hat. Das verstehst du doch, oder?"
"Stimmt, ja. Das kann ich natürlich nicht bringen, wegen Catherine und Joe. Danke, daß Sie mich noch rechtzeitig davon abgehalten haben, Madame Faucon."
"Ich habe dich nicht von etwas abgehalten, sondern dir nur die Folgen aufgezeigt. Du hättest entscheiden können, ob du diese Folgen haben möchtest, oder ob du sie vermeiden möchtest."
"Neh, wie gesagt. Das wäre gemein für Catherine und Joe gewesen. Mein Vater hätte sich an drei Fingern abzählen können, wer ihm diese Niederlage beigebracht hat. Ich gehe auch immer noch davon aus, daß Mum nicht weiß, was er angestellt hat. Das stand ja auch in dem Brief. Er hat ihr wahrscheinlich erzählt, daß er mit ihr mal für vier Wochen oder so wegfahren will, fern ab von der Firma und der ganzen Arbeit. Womöglich hat er sich eine Hütte in der Wildnis gemietet oder gar eine alte Ritterburg gemietet, mit Dienstpersonal oder so. Auf jeden Fall nichts, wo ein Telefon in unmittelbarer Nähe ist. Als Direktor hat er seine Leute deligiert, ihn nicht nötig zu haben. Ja, dann geht das."
"Ich muß zugeben, daß ich neugierig bin und du natürlich nicht erzählen mußt, was passiert ist, als du den Brief bekommen hast, aus dem du erfuhrst, daß du ein Zauberer bist und demnächst in Hogwarts lernen sollst, mit deinen Zauberkräften umzugehen. Meine Kollegin Professor McGonagall hat mir lediglich geschrieben, daß deine Eltern dich nicht ohne weiteres fortlassen wollten."
"Kann man so sagen", begann julius eine kurze Schilderung seiner letzten Sommerferien als Kind einer Maschinenzivilisation. Er berichtete kurz, wie seine Eltern ihn sogar bis Australien mitgenommen hatten, weil sie glaubten, sich den Mitarbeitern von Hogwarts zu entziehen. Er verschwieg jedoch die Begegnung mit Aurora Dawn und das sie ihm die ersten Besenflugstunden gegeben hatte. Er beendete seinen Bericht mit der Forderung seiner Eltern, er müsse neben den Zauberfächern noch naturwissenschaftliche Bücher lesen und in den Ferien private Hausarbeiten schreiben, um zu zeigen, daß er nicht hinter den anderen Kindern zurückblieb.
"Muggelbücher? Den Zahn ziehen wir unseren Schülern schon bei Beginn ihrer Schulzeit. Wo kämen wir denn hin, wenn unser Unterricht unter zusätzlichen, für uns völlig unwichtigen Nebenarbeiten litte? Aber deine Mutter ist da doch toleranter, oder?"
"Woran wollen Sie das festmachen? Sie haben ihr schließlich nicht erzählt, daß Sie und Catherine Hexen sind und nur die Legende gehört, die wir uns für unsere nichtmagischen Verwandten ausgedacht haben."
"Das von uns gemeinsam zubereitete Mittagessen damals. Du versetztest deiner Mutter keinen Schrecken, als du andeutetest, daß du ja nicht geflogen sein könntest oder dich auf eine wohl aus futuristischer Muggeldichtung stammende Weise zeitlos versetzt hättest. Ich habe es schon oft bei Schülern gesehen, deren Eltern bei mir vorsprachen, daß jedes Wort, daß auch entfernt mit Zauberei oder übernatürlichen Begebenheiten zu tun haben konnte, eine Schreckreaktion ausgelöst hatte. Bei deiner Mutter war dem nicht so. Offenbar fügt sie sich leichter unveränderlichen Tatsachen."
"Sie denkt logisch. Wenn ihr jemand vorführt, daß etwas geht, auch wenn sie nicht sieht, wieso es geht, nimmt sie es als Tatsache hin. Sie würde nicht darauf beharren, irgendwas abzustreiten, nur weil in keinem Physik- oder Biologiebuch eine Erklärung dafür steht. Das unterscheidet sie von meinem Vater. Der zieht das ganze in einer anderen Richtung auf:
"Alles ist erst dann wirklich, wenn es erforscht, verworfen und neu bestätigt wurde. Jedes Ding kann per Trick vorgetäuscht werden."
Dumm für ihn war nur, daß ich einen Besen fliegen und Streichhölzer in Stecknadeln verwandeln und Hosenknöpfe zu Suppentellergröße anschwellen lassen konnte. Da steigt eine derartige Logik aus ihrem Rahmen aus und wandert unschlüssig herum."
"Du redest daher, als würdest du deinen Vater für einen Idioten halten", wandte Madame Faucon ein. Julius räusperte sich und erklärte:
"Nein, ich halte meinen Vater nicht für einen Idioten oder für einen Irren. Ich denke nur, daß er nicht bereit ist, zu lernen, weil er denkt, daß alles, was er vorher gelernt hat, wertlos ein könnte. Ich habe auch keine Probleme, zu meinen Eltern zurückzukehren, nur weil sie versuchen, mich von Hogwarts abzubringen. Allerdings sollte ich mir überlegen, was ich als kleiner Junge dagegen machen kann, um nicht andauernd zwischen ihnen und der Zaubererwelt hin und her zu pendeln. Ich habe mich entschieden, wohin ich gehöre. Ich denke, daß meine Mutter sich auch schon damit abgefunden hat. Vielleicht sogar noch eher als ich. Nur wie kann und muß ich das Verhältnis zu meinem Vater dahin ändern, daß er mich als das hinnehmen kann, was ich bin, ohne von seinen alten Werten abrücken zu müssen?"
"Das ist eine sehr weit vorausschauende, intelligente und für dein Alter sehr ungewöhnliche Frage. Und ich fürchte, daß eine diplomatische Lösung nicht bei dir oder ihm zu finden ist. Das Problem, daß dein Vater wohl auch hat, ist die Angst davor, dich in eine Welt zu schicken, die er nicht kennenlernen kann. Wir sind hier in einem Muggelabwehrring. Deine Eltern könnten hier nicht durch das Dorf gehen. Sie könnten nicht sehen, wie wir leben. Sie könnten weder erleben, daß auch wir unsere Kinder lieben, mit ihnen lachen und spielen, aber auch schimpfen und sie bestrafen. Sie bekämen nicht mit, wie wir einkaufen, wie wir unsere Post erledigen, und das dort, wo es für sie normal ist, in ein pferdeloses Fahrzeug zu steigen, wir auf Besen fliegen oder apparieren. Wieviele Zauberer hast denn du schon apparieren oder disapparieren gesehen?"
Julius dachte kurz nach und zählte die Fälle durch, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Er kam nur auf zwei:
"Professor McGonagall und Monsieur Dusoleil."
"Und es fasziniert dich. Ich sehe es dir an."
"Ich denke, daß ich das lernen werde und dann wohl dort anwenden kann, wo es niemanden stört", sagte Julius vorsichtig.
"Komm, du kannst doch nicht an einer Frage vorbei antworten! Es fasziniert dich also?"
"Ich habe unzählige mehr oder weniger intelligente Geschichten gelesen oder als Film im Kino oder Fernsehen mitbekommen, wo sowas ging, ob mit übernatürlichem Geist oder der Hilfe von Maschinen. Die Aussicht, das tatsächlich erlernen zu können, um es unfallfrei zu praktizieren, fasziniert mich", sagte Julius leicht genervt, aber froh, es doch mal jemandem erzählt zu haben.
"Unfallfrei ist das richtige Wort. Das ist sehr sehr gefährlich, wenn man nicht bei der Sache oder bei Kräften ist und nicht weiß, wo man landen will. Ich habe es selbst erlernt und Techniken weiterentwickelt, um unbefugte Eindringlinge daran zu hindern, in meine Domäne hineinzuapparieren oder unerlaubt zu disapparieren. Ich muß, wie jeder Zauberer oder jede Hexe, einmal im Jahr einen Auffrischungskurs machen, um meine Erlaubnis behalten zu können. Oder glaubst du, daß jeder, der es gelernt hat, einfach so herumapparieren darf?"
"Mir ist bekannt, daß hierzu eine Endprüfung abgenommen wird. Wer sie besteht, darf das machen. Das ist deshalb so geregelt, damit eben Pannen nach Möglichkeit vermieden werden und jeder, der apparieren kann, registriert wird, wie diese Animagi, die sich in Tiere verwandeln können", entgegnete Julius. Dann fiel ihm siedendheiß ein, was Gloria ihm vorgelesen hatte. Sie hatte ihm in den Osterferien einen Artikel über Professeur Faucon vorgelesen und erwähnt, daß sie ebenfalls ein Animagus sei wie auch Professor McGonagall.
"Das Problem ist ähnlich gelagert", bestätigte die Verwandlungslehrerin von Beauxbatons.
Julius beließ es bei dieser Antwort und ging noch ein wenig auf die Pflanzen ein, die er gesehen hatte.
Nach dem Mittagessen, es war bereits ein Uhr, zog sich Julius noch mal in das Gästezimmer zurück, wo er die Verwandlungsaufgabe zur Hand nahm, noch einmal Pergament ausrollte und alles noch mal abschrieb, wobei er dort, wo er seiner Gastgeberin nach etwas ausgelassen hatte, entsprechende Ergänzungen einfügte. So schrieb er, daß bei der Verwandlung von lebender in toter Materie nicht gesagt werden konnte, ob ein derartig verwandeltes Geschöpf noch etwas wahrnahm. Dies, so schrieb er weiter, könne nur durch einen Selbstversuch geklärt werden, der jedoch riskant sei und ein hohes Maß an Vertrauen fordere. Dann fügte er in die Passage über die zunehmende Schwierigkeit bei größeren Wesen ein, daß es nicht nur auf das Verhältnis zwischen Körpergröße und Zauberkraft ankomme, sondern auch auf den Erfassungsbereich des Zauberstabes. Dann hängte er noch mal alle erarbeiteten Tabellen an die Arbeit an, unterstrich noch mal die Stichwörter und die Behauptung, daß nur ein gewagtes Experiment etwas über die Wahrnehmung ehemals lebender Wesen in der Form toter Objekte was aussagen könne und legte die Pergamentrollen säuberlich aus. In dem Moment klingelte es auch schon an der Haustür.
Julius zupfte noch mal den Umhang zurecht, dann lief er die Treppe hinunter, wo Madame Faucon bereits mit Madame Dusoleil sprach. Er hörte noch heraus:
"... um sieben möchtest du ihn bitte wieder abliefern, Camille. Ansonsten ist alles in Ordnung."
Julius verabschiedete sich von seiner Gastgeberin und folgte Madame Dusoleil zu ihrem Flugbesen.
"Deine derzeitige Gastgeberin hat mir einen türkisfarbenen Umhang für dich mitgegeben, wenn wir aus der grünen Gasse heraus sind. Ansonsten gehörst du fünf Stunden mir und meiner Familie, bis ich dich wieder zurückerstatten muß", erklärte Madame Dusoleil und schhnürte das türkisfarbene Bündel um ihren Cyrano 6. Julius saß hinter der Kräuterkundlerin von Millemerveilles auf und stieß sich mit ihr zusammen ab.
"Es komt mir so vor, als hätte ich das mit dir schon hundertmal geübt. Dabei hast du das gestern erst erlernt, im Tandem zu fliegen", meinte Madame Dusoleil, ohne sich direkt zu Julius umzuwenden. Julius erwiderte:
"Das liegt an Ihrer Übung. Ich käme wohl mit jemandem, der das noch nie bis wenig gemacht hätte nicht zurecht. Es ist auch ein Unterschied, ob ich geflogen werde oder selber fliege."
"Das probieren wir nachher mal aus. Allerdings müßtest du dazu jemanden mitnehmen, der ungefähr so groß ist wie du."
"Lieber nicht. Ich habe keine Lust, mich und noch wen zu Matsch zu fliegen, weil ich falsch ausbalanciere oder mich mit der Bremsung, der Beschleunigung oder der Kurvenneigung verschätze. Ich fliege erst ein Jahr und wundere mich manchmal selbst, was ich mir alles zutrauen kann, wenn ich alleine fliege. Aber jemanden mitnehmen, um zu sehen, ob ich auch so einen Familienbesen bedienen kann, lade ich mir besser noch nicht auf. Mir fehlt einfach die Übung. Eigentlich war ich darauf eingestellt, in diesen Ferien einen Flugbesen nur im Schaufenster in der Winkelgasse zu sehen. Und jetzt sind es schon bald zwei Tage, an denen ich mindestens mehrere Minuten fliegen konnte. Das ist schon hundertmal mehr als ich erwartet habe."
"Ja, man kann sich in unserer Welt nicht von vorne herein festlegen. Das ist das schöne daran", erwiderte Madame Dusoleil leicht grinsend. Dann vollführte sie ein paar schnelle Flugmanöver, die Julius locker aushielt.
"Jeanne und Claire lagen mir heute mittag in den Ohren, dich morgen zum Quidditch zu holen. Sie wollen noch mal ein richtiges Spiel machen, mit gemischten Mannschaften."
"Ich weiß nicht, ob ich über meine Freizeit so frei verfügen kann. Ich warte immer noch auf Madame Faucons Einwand, daß ich doch mal was für die Schule tun sollte, wenn ich schonmal bei einer ordentlichen Hexenlehrerin bin."
"Was hast du denn in Kräuterkunde aufgehabt?"
"Die nordirischen Zauberkräuter. War eigentlich leicht, alles darüber niederzuschreiben."
"Habt ihr welche in euren Gewächshäusern?"
"Ja, denke ich schon. Wir haben nur kein Sonnenkraut. Das hätte ich gerne mal richtig gesehen."
"Das können wir hier leider auch nicht direkt anpflanzen. Wir importieren es von Marokko und Algerien. Wie kommst du ausgerechnet darauf?"
"Weil ich das in der Jahresendprüfung als eigene Vorbereitung präsentiert habe."
"Und wie kamst du auf dieses Thema?"
"Da lag mal bei uns im Gemeinschaftsraum eine Zeitschrift rum, der grüne Magier. Da stand ein Artikel von einer Aurora Dawn über das nordafrikanische Sonnenkraut und seine Anwendungsmöglichkeiten drin. Das hat mich fasziniert."
"Ja, ich habe die Verfasserin schon häufig gesehen und mir auch mal ihre Pflanzungen angesehen. Dafür, daß sie erst achtundzwanzig Jahre alt ist, hat sie sich große Kenntnisse erworben. Sie wird jetzt wohl zur Weltmeisterschaft reisen, weil dort ihre Lieblingssucherin spielt, wie sie mir erzählt hat."
Julius konnte sich gerade noch beherrschen, nicht den Namen Pamela Lighthouse auszustoßen. Stattdessen fragte er:
"Und warum sind Sie nicht zur Weltmeisterschaft gereist?"
"Schön, daß du das endlich fragst. Das sind drei Dinge:
Einmal habe ich hier meinen Beruf, der mich ständig fordert.
Zweitens habe ich nicht genug Geld oder Beziehungen, um mir Karten zu besorgen. Denn:
Drittens würde ich nicht ohne meine ganze Familie hinreisen. Dann müßte ich Karten für fünf Sitze in einer Reihe besorgen. Essen und trinken wollen wir ja dann doch noch ein paar Jahre."
"Ich dachte nur, weil Sie sich so für Quidditch begeistern."
"Da dachtest du richtig. Dann frage ich doch jetzt mal, warum deine Eltern dich nicht mit einem Schulfreund oder einer Schulfreundin hinschicken wollten? Haben sie Angst, du könntest für alle Zeiten dem Muggeldasein abschwören und deine zauberische Natur als wahre Bestimmung sehen?"
"Das sowieso, Madame. Es ist womöglich ihr Bedürfnis, meine Freizeitsachen zu regeln, zu fühlen, daß ich doch noch nicht aus ihrer Kontrolle entwunden wurde. Aber mehr möchte ich nicht dazu sagen. Mir ist das peinlich."
"Dafür bist du jetzt hier. Da wollten sie dich bestimmt auch nicht haben, oder?"
"Neh, bestimmt nicht. Ich habe schon gedacht, eine Eule zu schicken mit einer Postkarte aus Millemerveilles, die die französische Nationalhymne singt und eine Hexe auf fliegendem Besen zeigt."
"Spaßig wäre es, aber bestimmt nicht nützlich. Catherine hat dich bestimmt nicht ihrer Mutter anvertraut, wenn sie eine andere Möglichkeit gehabt hätte, deine Ferien zu gestalten. Nicht daß sie ihrer Mutter das nicht zumuten wollte. Sie weiß halt, daß Madame Faucon im Moment viel um die Ohren hat. Andernfalls hättte sie dich längst getestet, ob du ein guter Schüler warst."
"Was nicht ist, kann noch werden", seufzte Julius. "Andererseits dürfen wir Schüler nicht zaubern, solange wir nicht in Hogwarts sind."
"Die aus Beauxbatons dürfen das auch nicht. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen: Unmittelbare Gefahr oder strickter Befehl eines beamteten Zauberers."
"Moment mal! Wenn Madame Faucon mir befiehlt, zu zaubern, ist das erlaubt?"
"Wie gesagt: Wenn sie dir befiehlt, ihr was vorzuzaubern, ist das legal."
Julius dachte an das schlechte Gewissen, daß er hatte, als er auf Befehl von Professeur Faucon den Herbeiholzauber angewendet hatte. Er dachte damals, daß sie das auf ihre Kappe nehmen mußte. Doch wenn sie einfach nur befehlen konnte, daß ein Minderjähriger zauberte, war natürlich klar, warum sie darauf bestanden hatte, daß er die von Babette eingeschrumpfte Blumenvase zu sich hinzauberte.
Madame Dusoleil landete den Cyrano-Besen wieder auf der großen Wiese vor der Pflanzungsanlage und ging mit Julius durch die vorhin ausgelassenen Gewächshäuser. Hier zeigte sie Julius auch die nordirischen Zauberpflanzen, von denen er ja in einer Hausaufgabe erzählen mußte. Um Madame Dusoleil zu erheitern gab er schnell die wichtigsten Tatsachen zum besten und erntete ein sehr zufriedenes Lächeln von der Gärtnerin.
"Das merkt man doch, daß dich dieses Thema sehr interessiert. Und das mit den Alraunen kriegen wir noch hin, bevor du hier wieder fortmußt. Heute geht das nicht mehr, da die Pflanzen wie richtige Babys und Kleinkinder ihren Mittagsschlaf brauchen. Wenn wir eine davon wecken würden, würde sie schnell an Kraft verlieren. Du weißt ja, wozu Alraunen gebraucht werden. Oder?"
"Für Rückverwandlungstränke und entfluchungen", wußte Julius die richtige Antwort.
"Morgen geht das nicht, weil eben wieder Quidditch gespielt wird. Übermorgen muß ich einige wichtige Arbeiten erledigen. Dann kommt noch eine Party bei uns, die vorbereitet werden muß. Aber dann können wir noch mal in das Gewächshaus gehen."
"Besser nicht. Mir hat dieser Rauschnebelschutztrank ziemlich heftig mitgespielt."
"Dann geht das eben nicht. Dann sehen wir uns noch die großen südamerikanischen Purpurblattsträucher an", gab sie die Richtung vor. Julius folgte ihr und staunte über die mächtigen Pflanzen mit den regenschirmgroßen Blättern aus purpur Material.
Julius konnte über diese Pflanze noch dieses und jenes erzählen, bevor die beiden Besucher der grünen Gasse von Millemerveilles zum Landeplatz ihres Besens zurückkehrten. Julius fragte sich, was ihn nun erwarten würde.
Das erste, was Julius hörte, als sich der große Familienbesen zur Landung absenkte, war ein Hämmern und Schleifen, als wenn ein übereifriger Heimwerker schnell noch eine Metallkiste zusammenbauen mußte. Er sah das von einem großen Garten mit Tannen und Obstbäumen umgebene Anwesen, daß aus einem Haupthaus und drei kleinen Gebäuden bestand. Das Haupthaus war vier Stockwerke hoch und trug ein rotes Ziegeldach mit zwei quadratischen Schornsteinen. Seine Wände glänzten weiß in der warmen Nachmittagssonne. Der Hogwarts-Schüler erkannte, daß die meisten Fenster weit geöffnet waren und vor dem Haupthaus eine Terrasse mit dunkelbraunen Marmorfliesen angelegt war, auf der ein großer ovaler Holztisch stand, um den herum neun Gartenstühle aus Weidengeflecht aufgestellt worden waren.
Als der Besen von Madame Dusoleil noch näher an das Haus herangeglitten war, konnte Julius leise Flötenmusik hören. Es hörte sich nach einer zweistimmig gespielten Melodie an, die auf Pan- oder Blockflöten gespielt wurde. Dann sah Julius einen Schwarm grüner, blauer und gelber Funken durch einen der Schornsteine herausfliegen. Offenbar hantierte da jemand mit Feuer oder magischen Flammen herum.
"Wir landen neben dem Gerätehaus rechts neben dem großen Haupteingang", verkündete Madame Dusoleil, bevor sie den Besen in eine Kreisbahn einschwenken ließ, die einmal um das gesamte Anwesen führte, dabei in einem sanften Neigungswinkel nach unten. Dann ließ die Gärtnerin von Millemerveilles den Besen kontrolliert durchsacken und auf einer kleinen Wiese vor dem Gerätehaus rechts vom Haupthaus aufsetzen. Julius schwang sich herunter und staunte über die liebevoll gepflegten Beete, die neben Wildblumenwiesen angelegt waren. Nun erkannte er, daß das Gerätehaus, vor dem sie gelandet waren, ein fensterloser Holzschuppen mit vier kleinen Luken war, die wohl im Bedarfsfall geöffnet werden konnten. Die anderen beiden Gebäude des Anwesens, die nicht als Wohnraum dienten, waren zum einen ein 15 mal 15 Meter großes Gewächshaus, und zum anderen ein Steinhaus, das wohl eine Werkstatt oder ein Labor beherbergte. Denn Julius konnte nun deutlich hören, wie das Hämmern und Schleifen von diesem kleinen Gebäude herüberklang.
"Wieviele Leute sind Sie denn in dem Haus, wenn es vier Stockwerke hat?" Fragte Julius Andrews beeindruckt.
"Meine Töchter, mein Mann, seine Schwester Uranie und ich. Jeder von uns hat sein eigenes Zimmer, wobei Denise erst vor einem Jahr umgezogen ist. Dazu kommt der Wohnbereich im ersten Stock, die Vorratsräume und Heißwasseröfen im Erdgeschoß, sowie die Spiel- und Arbeitsräume in den oberen Stockwerken. Florymonts Eltern haben es uns gebaut", erläuterte Madame Dusoleil voller Stolz. Dann lauschte sie auf die Musik aus dem Haupthaus.
"Machst du auch Musik?"
"Ich kann Mundharmonika, ein Bißchen Gitarre für Hintergrundakkorde und natürlich Radio und CD-Spieler."
"Radio haben wir auch, wenngleich es anders funktioniert als die Geräte der Muggel. Es braucht nämlich nicht diese Ekelizität, oder wie die Energieform heißt, mit der Muggelapparate hauptsächlich betrieben werden. Aber wir ziehen unsere eigene Musik vor, zumal Jeanne und Claire in einem Flötenchor von Beauxbatons sind. Das hört man doch, oder?"
"Ohne Zweifel", bestätigte Julius schnell, weil er dachte, daß Madame Dusoleil wohl sehr stolz auf ihre Töchter war.
Mit einem lauten Hui, gefolgt von einer derben Verwünschung aus dem Werkstattgebäude, schwirrte ein himmelblauer Feuerball aus dem kleinen Fenster heraus, das geöffnet war, fauchte keine zwanzig Meter über dem Boden bis zu einem Apfelbaum und zerplatzte in einem Meer aus goldenen Flammen. Der Apfelbaum zerfiel innerhalb von wenigen Sekunden zu Asche.
"Florymont, was hast du gemacht?" Schrie Madame Dusoleil und hastete zu der Stelle hinüber, wo der Apfelbaum gerade noch gestanden hatte. Ein zweiter Baum, eine Tanne, fing gerade an, lichterloh zu brennen.
Aus der Werkstatt spurtete ein Zauberer in pechschwarzem Arbeitsumhang und gezücktem Zauberstab. Madame Dusoleil hatte ihren Zauberstab hervorgeholt und rief:
"Extingio!"
Aus dem Zauberstab der Gartenhexe schoß ein sich verbreiternder Trichter aus blauem Licht heraus, der den brennenden Tannenbaum erfaßte und dort, wo er auf Feuer traf, die Flammen schlagartig löschte. Monsieur Dusoleil rief ebenfalls den Feuerlöschzauberspruch und half seiner Frau dabei, die Tanne ganz von den züngelnden Flammen zu befreien.
Julius stand da wie eine Salzsäule. Offenbar war hier gerade ein Unfall mit Zauberfeuer passiert. Wäre der wilde Feuerball eine Minute früher ausgebrochen, hätte er Madame Dusoleil und ihn womöglich vom Besen gehauen und noch vor dem Aufprall zu Asche zerfallen lassen. Etwas ähnliches mußte die sonst so offenherzige und wohlgemute Hexe ihrem Mann gerade vorhalten, denn er lief puterrot an, wo er vor wenigen Sekunden noch kreidebleich gewesen war.
Madame Dusoleil deutete auf Julius, der immer noch neben dem gelandeten Besen stand.
"Hol deinen Ausgehumhang vom Besen und geh zur Eingangstür, Julius. Ich zeige dir gleich, wo du dich ungestört umkleiden kannst!" Rief ihm Madame Dusoleil zu, während sie immer noch mit ihrem Mann diskutierte.
Julius band den türkisfarbenen Umhang aus leichtem Stoff vom Besenstiel und klemmte ihn sich unter den rechten Arm. Dann ging er ruhig zur Eingangstür, wo gerade die kleine Denise in einem sonnengelben Umhang erschien.
"Nanu, du bist hier? Hat Maman dich also mitbringen dürfen. Jeanne sagte schon, daß dich Madame Faucon nicht rauslassen würde, weil sie auf dich aufpassen muß."
"Sie paßt ja auf mich auf. Wenn du mir was böses tust, kommt sie her und verhaut dich", erwiderte Julius gehässig und grinste sie gemein an. Denise schrak zurück und rannte ins Haus zurück.
"Habe ich was gefährliches gesagt?" Fragte Julius sich selbst.
Madame Dusoleil kam angelaufen, immer noch völlig aufgeregt.
"Muß ich mir noch Rapicrescentus-Tropfen holen, damit ich einen neuen Apfelbaum ansetzen kann. Aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Es ist ja keinem was passiert, und das Fenster war ja offen, so das der Irrläufer entweichen konnte. Der Apfelbaum war zwar schon einhundertfünfzig Jahre alt, aber kann ersetzt werden. So, und jetzt zeige ich dir, wo du dich wieder gesellschaftstauglich anziehen kannst. Was hast du der Kleinen eigentlich gesagt? Sie ist ja ins Haus zurückgerannt, als wäre jemand hinter ihr her."
"Ich habe ihr nur schöne Grüße von Voldy bestellt", sagte Julius vorlaut. Madame Dusoleil sah ihn mit einem sehr bösen Blick an und sagte:
"Ich denke, daß war jetzt nur ein Scherz. Falls nicht, hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst zu Fuß nach Hause laufen, was immerhin vier Kilometer sind, oder dich von mir als neuen Apfelbaum einpflanzen lassen und die nächsten drei Monate stehenbleiben."
"Natürlich habe ich nicht den Namen des dunklen Lords genannt, geschweige denn, ihr Grüße von ihm ausgerichtet. Mittlerweile kenne ich die Abneigung und Angst gegen ihn gut genug, um mich nicht absichtlich unbeliebt zu machen", brachte Julius schnell heraus. Madame Dusoleil sah ihn wieder freundlicher an.
"Wäre auch nicht gut für dich gewesen, wenn du mir das Kind derartig verängstigt hättest. Aber was hat sie tatsächlich erschreckt?"
"Sie meinte, es wäre komisch, das ich hierher kommen durfte, wo doch Madame Faucon auf mich aufpassen muß. Da habe ich ihr gesagt, daß sie das doch tut und sie verhauen wird, wenn Denise mir was böses tut."
"Jeanne und Claire haben ihr eingeschärft, daß deine Gastgeberin keinen Spaß versteht. Das hat ihr natürlich eine gewisse gesunde Furcht eingebracht.
Aber jetzt komm und zieh dich um. Deinen Gartenumhang werfe ich kurz in den Waschkessel. Wenn du zurückkehren mußt, wird er wie neu sein."
"Ich dachte, der Reinigungszauber hält ihn sauber", wunderte sich Julius.
"Von Staub und Dreck, der oben aufgelegen hat. Aber was in den Fasern hängen blieb, muß noch herkömmlich rausgewaschen werden."
Madame Dusoleil führte ihren Gast zu einem kleinen Badezimmer, wo er sich kurz wusch und kämmte und dann den türkisfarbenen Straßenumhang anzog. Nach fünf Minuten kam er wieder heraus und wurde von Madame Dusoleil zurück vor das Haus geführt, wo eine Hexe, die Monsieur Dusoleil ähnlich sah, bereits auf einem der Gartenstühle saß und Zeitung las. Julius wußte nicht, ob er sie störte, wenn er sie begrüßte und setzte sich schweigend ans andere Tischende. Als die fremde Hexe zu ihm aufsah, erhob er sich noch mal kurz und grüßte höflich. Sie grüßte zurück und fragte ihn, ob er der talentierte Jungzauberer war, von dem ihr ihre Nichten Jeanne und Claire vorgeschwärmt hätten. Julius bejahte dies und lief leicht rot an. Die Hexe schien das zu amüsieren. Sie lachte kurz und stellte sich als Mademoiselle Uranie Dusoleil, die Schwester von Florymont Dusoleil vor. Julius Andrews stellte sich vor und erwähnte, daß er nach den Ferien die zweite Klasse in Hogwarts besuchen würde.
"Bei wem bist du denn da untergekommen? Flitwick, Sprout oder McGonagall?"
"Höh? Sie kennen die Hauslehrer von Hogwarts?"
"Natürlich. Ich habe da vor achtzehn Jahren mal ein Austauschjahr zugebracht. Allerdings war ich bei Flitwick in Ravenclaw untergebracht."
"Da bin ich auch", erwiderte Julius kurz und knapp. Monsieur Dusoleil kam aus der Werkstatt, gekleidet in einen taubenblauen Straßenumhang.
"Hui, ich habe eben noch eine Eule zum hiesigen Zauberunfallaufsichtsbüro geschickt, damit die mir nicht noch wegen fahrlässiger Brandstiftung was anhängen können, Uranie. Achso, ich war mal wieder nicht recht in der Spur. Guten Tag, Monsieur Andrews. Meine Frau hat ja nur gut von Ihnen gesprochen."
"So, hat sie das?" Fragte Julius schüchtern. Er hoffte, daß sie ihm nicht erzählt hatte, wie rücksichtslos er mit der Alraune umgesprungen war.
"Wie hat sie sich ausgedrückt: Fundiertes Grundwissen, lerneifrig, ausbaufähig. Bist du auch so ein Pflanzenkind?"
"So will ich das nicht direkt sagen. Ich interessiere mich nur dafür", erwiderte Julius. Monsieur Dusoleil freute das wohl. Denn er sagte:
"Kräuterkunde ist auch eher was für Frauen. Männer müssen ihre Kreativität, ihren Spieltrieb und ihren Ehrgeiz in Gang halten und sich auf neue Dinge besinnen, nicht auf alte Blumen."
"Was erzählst du denn da für einen Unsinn, Flory?" Mischte sich Madame Camille Dusoleil ein. "Kräuterkunde und Zauberpflanzen können auch von Wesen wie dir interessant gefunden werden. Oder glaubst du, daß ist ein großer Akt, einen Feuerball auszulösen, der mal eben durch den Garten fliegt?"
"Ich fürchte, ich muß doch einen Vergissmich bestellen, damit ich das nicht die nächsten zehn Jahre hören muß. Dabei wollte ich nur die Brandmeldevorrichtung für Madame Pierre wieder richtig einstellen. Der Feuerball war bestimmt nicht geplant."
"Brandmeldeeinrichtung? Wie geht denn sowas?" Fragte Julius neugierig.
"Du kannst eine Tür, eine Wand oder eine Decke dahingehend verzaubern, daß sie Rauch und starke Hitze als Feuer erkennt und eine bestimmte Handlung vollführt. Das sie einen lauten Ruf ausstößt, sich öffnet oder schließt oder einiges mehr. Ich habe nur nicht bedacht, daß die alte Tür, die ich gestern reparieren mußte, einen vermurksten Brandmeldezauber eingebaut hatte. Ich stellte es erst fest, als ich die Tür wieder richtig zusammengebaut hatte. Dabei muß ich wohl den Feuermeldezauber verdreht haben, so das der zu einem Glutball aus Zauberfeuer geworden ist. Mein Glück, daß das Fenster geöffnet war. Ich richte die Tür nachher wieder korrekt her und bau sie meiner Kundin wieder ein, und das war's."
"Ach, dann sind Sie sowas wie ein Thaumaturg, jemand, der Handwerk und Bezauberung miteinander verbindet?" Wollte Julius wissen.
"Oha, der kennt die korrekte Fachbezeichnung. Genau so etwas mache ich. Wer es sich leisten kann, kann von mir diverse Luxuszauber an Möbeln, Türen oder sonst was angebracht kriegen. Das ist auf jeden Fall vielschichtiger, komplizierter und aufregender als die Herumschnippelei an Pflanzen. - Ist ja gut, Camille. Suum cuique!"
"Rapicrescentus-Tropfen kosten eine Galleone die 100-Milliliter-Flasche. Soviel Spaß muß das Wert sein", sagte Madame Dusoleil mit sanfter aber unmißverständlich fordernder Stimme. Dann empfahl sie sich, um Kaffee und Gebäck aus der Küche zu holen.
"Brauchst du doch gar nicht, Camille. Ich acciiere das alles eben her!" Rief Monsieur Dusoleil und zog den Zauberstab.
"Heute nicht. Unser Gast hat schon genug interessantes deiner Zauberkunst gesehen, Flory. Außerdem muß ich Kaffee und Tee noch aufsetzen. Magst du auch heiße Schokolade, Julius?"
"Ja bitte!" Antwortete Julius.
In der Luft war ein Schwirren schnell fliegender Besen zu hören. Julius sah sofort nach oben und entdeckte drei Hexen, eine erwachsene, groß und füllig, die einen pastellfarbenen Umhang trug, eine Halbwüchsige, die ihr in Gesicht, Haar und Augenfarbe ähnelte und eine Hexe mit dunkelbraunen Zöpfen, die ein himmelblaues Kleid trug.
"Moment, ich hole noch einen Stuhl her. Meine Frau hat wieder nicht richtig gezählt!" Rief Monsieur Dusoleil nach oben. Dann winkte er mit dem Zauberstab zum Gerätehaus hinüber, rief "Accio Gartenstuhl!" und ließ damit einen weiteren Stuhl anfliegen, der punktgenau an einem freien Platz am Tisch landete.
"Das waren doch Virginie Delamontagne und Prudence Whitesand", staunte Julius.
"Ja, Camille hat Eleonore und ihre Tochter zum Kaffee eingeladen, so wie dich", verkündete Monsieur Dusoleil lachend.
Die drei neuen Gäste landeten auf der Wiese vor dem Haus und lehnten ihre Besen an die Wand des Geräteschuppens. Julius beobachtete Virginie und ihre Mutter. Irgendwas an der älteren Hexe erinnerte ihn an eine Königin, so wie sie sich bewegte und ihre Umgebung betrachtete. Als der Blick der graublauen Augen ihn traf, erschauerte er. Er kannte diese Art von Blick von Professor McGonagall und ihrer Kollegin Professeur Faucon. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als wolle die ältere, sehr gut genährt aussehende Hexe ihn mit ihrem Blick durchleuchten. Vielleicht, so dachte Julius, konnte sie das auch.
Madame Dusoleil kam aus dem Haus. Vor ihr, in der luft schwebend, glitt ein großes Mahagonitablett mit Tellern, Tassen, Löffelchen und Kuchengabeln. Hinter ihr kamen Jeanne und Claire, die jeweils ein Tablett mit Kannen und einer Kuchenplatte mit den Händen balancierten. Im respektvollen Abstand von fünf Metern folgte die kleine Denise.
"Wo ist denn Madame Dusoleils Zauberstab?" Fragte Julius Monsieur Dusoleil.
"Das Tablett weiß, wo es hin muß. Es braucht nur einmal angetippt zu werden", erklärte Monsieur Dusoleil. In dem Augenblick trafen die drei übrigen Gäste am Tisch ein.
"Ich wünsche allen Anwesenden einen wunderschönen Tag", begrüßte die ältere Hexe die kleine Tischgesellschaft. Julius nickte und erwiederte kurz den Gruß. Jetzt, aus der Nähe, sah Virginies Mutter noch erhabener aus mit ihren stattlichen 1,75 Metern und dem glatten strohblonden Haar, das zu einem ordentlichen Zopf geflochten war, wie das von Pina Watermelon. Nur, so erkannte Julius, daß Pina noch eher wie eine lebendige Puppe aussah, während diese Dame, die Virginies Mutter war, irgendwas nobles ausstrahlte.
Madame Dusoleil winkte das Tablett zum Tisch hinüber und ließ es dort landen. Sofort verteilten sich zehn Teller, Untertassen und Tassen, sowie zehn Kuchengabeln und Teelöffel auf den Tisch vor die zehn Stühle. Dann deutete sie auf ihren Mann und auf Julius. Monsieur Dusoleil stand auf und besetzte ohne große Ankündigung den Stuhl vor Kopf des Tisches. Julius stand auch auf, wenngleich er nicht wußte, wozu er sich noch umsetzen sollte. Die Hausherrin winkte ihm wie beiläufig zu und deutete auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Seite des Tisches, so daß er links von Monsieur Dusoleil sitzen würde, beziehungsweise rechts von jener Person, die am Fuß des Tisches sitzen würde. Julius fügte sich dieser unausgesprochenen Anweisung, ohne zu fragen. Er ging gelassen um den Tisch herum und nahm auf dem zugewiesenen Stuhl Platz. Nachdem dann noch die Kannen und Kuchenplatten auf dem Tisch abgestellt worden waren, ließ sich Madame Dusoleil am Fuß der ovalen Terrassentafel nieder. Links von der Hausherrin kletterte die kleine Denise auf einen Stuhl. Rechts von Julius nahm Claire Dusoleil Platz. Ihr gegenüber, links von ihrer Schwester Denise, ließ sich Jeanne auf einen Stuhl sinken. Rechts neben Claire saß Virginie Delamontagne. Ihr Gegenüber setzte sich ihre Brieffreunding Prudence Whitesand hin, genau rechts von einem leeren Stuhl. Mademoiselle Dusoleil, die Schwester von Monsieur Dusoleil, setzte sich links von ihrem Bruder an das Kopfende des Tisches. Dann, als alle saßen, schlüpfte Madame Delamontagne, Virginies Mutter, auf den noch freien Platz rechts von Monsieur Dusoleil.
Julius durchdachte diese Tischordnung. Dann fiel es ihm ein, was seine Großmutter ihm mal erzählt hatte, daß bei einem gesellschaftlichen Treffen eine solche Tischordnung üblich sei, bei der der Herr des Hauses vor Kopf saß, der höchstgeehrte weibliche Gast zu seiner rechten. Die Hausherrin saß hingegen am Fuß der Tafel, den hochgeehrten männlichen Gast zu ihrer rechten. Deshalb hatte Madame Dusoleil die Sitzenden umgruppiert. Aber dann müßte er sich ja geehrt fühlen. Er konnte sich nur nicht vorstellen, wofür.
Die Hausherrin teilte allen Kaffee, Tee oder heiße Schokolade aus. Dann wurden die Obstkuchen aufgeteilt. Als jeder hatte, bedankte sich die Gastgeberin bei den Anwesenden für ihr Kommen und wünschte allen einen guten Appetit.
Einige Minuten herrschte gefräßiges Schweigen. Jeder oder jede aß von dem Kuchen und trank von dem Kaffee, Tee oder der Schokolade. Dann erst entwickelte sich eine Unterhaltung. Madame Delamontagne wollte von Prudence Whitesand erfahren, wie sie die Rue de Camouflage im Vergleich zur londoner Winkelgasse sah und erhielt viele wohlwollende Antworten. Denise fragte Julius, wo seine Eltern im Moment seien. Julius sagte:
"Meine Eltern sind in die Ferien gefahren und haben mich bei Madame Brickston gelassen. Da diese mit Babette zur Quidditch-Weltmeisterschaft gereist ist, kam ich bei Madame Faucon unter."
"Du weißt nicht, wo deine Eltern sind? Schicken Sie dir keine Eule?"
"Wenn Sie eine geschickt haben, ist die noch nicht hier", antwortete Julius schlagfertig. Dabei dachte er an seinen bald zu begehenden zwölften Geburtstag. Wie würden seine Eltern das aufnehmen, falls sie bei Joe anriefen, und niemand wäre da?
"Denise, die wissen doch, daß Julius in guten Händen ist", wandte Claire ein.
Madame Delamontagne unterhielt sich derweil mit der Schwester von Monsieur Dusoleil über einen Artikel in "Zeitgeschichte und Zauberei". Als sie hörte, wie Julius erzählte, daß seine Eltern ihn bei Catherine Brickston abgegeben hätten, unterbrach sie ihr Gespräch und sah Julius prüfend an. Wieder überkam den Jungen ein Schauer von Unbehagen und Anspannung. Was wollte die Hexe von ihm?
"Du bist also nicht hier, weil deine Eltern das wollten. Gefällt es dir dennoch hier?" Fragte sie schräg über den Tisch hinweg, ohne laut werden zu müssen.
"Geplant war das nicht, daß ich hier bin. Aber mir gefällt das hier sehr gut. Ich bin gut untergebracht und lerne jeden Tag was neues dazu."
"Virginie hat mir erzählt, du wärest vor deiner Ankunft hier nur alleine auf einem Besen geflogen. Sie sagte auch, daß du dich dafür aber gut angestellt hast. Gefällt dir fliegen?"
"Oja. Ich habe erst gedacht, sowas könnte ich nicht lernen. Doch jetzt gehört es für mich zum Alltag. Jetzt fehlt nur noch das Apparieren."
"Meine Tochter ist sehr gut im Besenfliegen. Aber sie hätte nicht mit einem Totalanfänger fliegen können."
"Wie gesagt, ich habe es gelernt, damit ich mich im Alltag bewegen kann", antwortete Julius.
"Quidditch ist doch keine Alltäglichkeit", wandte Claire ungefragt ein. "Außerdem kannst du besser auf dem Besen fliegen als ich. Dafür, daß du noch nie vor deiner Einschulung geflogen bist, ist das heftig gut."
"Julius, du hältst es für eine gute Sitte, nicht aufzutrumpfen, nicht wahr?" Fragte Prudence Whitesand lächelnd.
"Ich habe es mir früh abgewöhnt, Prudence", erwiderte der Hogwarts-Schüler seiner Hauskameradin gegenüber.
Julius war froh, daß er danach erst einmal ruhig weiteressen und trinken konnte und sich die übrigen Leute am Tisch über andere Dinge unterhielten. Doch der Junge war darauf gefaßt, daß Madame Delamontagne ihn nochwas fragen würde, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergäbe.
Nach einer halben Stunde, in der Julius Gelegenheit hatte, über seine guten Astronomiekenntnisse zu sprechen, zwei weitere Stücke Kuchen zu essen und drei Tassen Schokolade zu trinken, fragte Madame Delamontagne den Hogwarts-Schüler:
"War es eine schwierige Umstellung, nach Hogwarts zu gehen? Ich kann mir vorstellen, daß es dir nicht leichtfiel, altgewohnte Ansichten zu verwerfen."
"Bitte erklären Sie, wie Sie das meinen", erwiderte Julius, der an und für sich genau wußte, was Madame Delamontagne wissen wollte.
"Nun, ich rühre hier kein absolutes Geheimnis mehr an, wenn ich meine Frage deshalb gestellt habe, weil ich weiß, daßß deine beiden Eltern nicht zaubern können. Es muß dir und ihnen schwergefallen sein, dich auf eine Schule für Hexerei und Zauberei zu schicken. Das stimmt doch?"
Julius sah, daß Mademoiselle Dusoleil verwundert zu ihm herübersah, Monsieur Dusoleil die Kuchengabel fortlegte, als müsse er eine Pause einlegen, Denise immer größere Augen bekam und Virginie und Prudence rot anliefen, während Jeanne ein gehässiges Grinsen zu unterdrücken versuchte. Nur Claire und ihre Mutter blieben völlig ruhig. Julius ließ einige Sekunden verstreichen und antwortete:
"Ich weiß zwar nicht, was für eine Antwort Sie von mir erwarten, Madame Delamontagne. Ich sage nur, daß ich es geschafft habe, mich in Hogwarts einzuleben und meine Fähigkeiten zu nutzen gelernt habe."
"Ist das wahr, daß deine Eltern Muggel sind?" Fragte Denise.
"Yep!" Antwortete Julius kurz und so belanglos wie möglich klingend. Dann räumte er ein:
"Aber in der väterlichen Ahnenreihe gab es eine richtige Hexe. Daher habe ich meine Zaubergaben."
"Sie scheinen nicht gerne über diesen Umstand sprechen zu wollen", bemerkte Madame Delamontagne, die offenbar danach trachtete, Julius aus der Fassung zu bringen.
"Sagen wir so: Ich erhielt den wohlgemeinten Rat, in Millemerveilles keinem zu erzählen, daß meine Eltern von Hexen glauben, daß sie nur in Märchenbüchern existieren und Zauberer nur geschickte Gaukler sind, die mit Ablenkungsmanövern, technischen Tricks und Lichteffekten Magie vortäuschen. Der Besuch eines Hogwarts-Mitarbeiters veranlaßte sie dazu, mich doch dorthin zu schicken. Ich persönlich halte diese Entscheidung nach wie vor für richtig. Aber auf meine Meinung kommt es nicht an."
"In unserer Welt schon", sagte Madame Delamontagne. "Zumindest dann, wenn es darum geht, ob und wie ein Muggelstämmiger seine Eingliederung in unsere Welt verkraftet. Immerhin gab es Vorfälle, die nicht gerade für die Integration von Kindern aus Familien der Muggelwelt sprechen, wenn da nicht das Gebot bestünde, mit Magie begabten Jungen und Mädchen aufzuzeigen, welche Kräfte sie haben und wie sie diese sinnvoll nutzen könnten."
"Stellen Sie sich mal vor, Sie bekämen einen Brief von Leuten, die Ihnen erklären wollten, daß Ihre Eltern nicht von diesem Planeten stammten und daß Sie demnächst zu einem völlig unbekannten Stern gebracht würden, wo Sie mit Wesen Ihrer Art zusammengebracht und in der dortigen Lebensführung unterwiesen würden. Was hätten Sie oder Ihre Eltern da gemacht?" Preschte Julius vor.
"Sicherlich hätte ich überprüft, was mich erwartet, wo ich hinkomme und was man von mir erwartet. Aber so unterschiedlich sind Muggel und Zauberer nicht. Nur daß die einen sich auf immer kompliziertere Maschinen und nichtmagische Alchemie verlassen, während wir unsere übernatürlichen Kräfte gebrauchen. Dennoch gibt es Probleme der Eingliederung von Kindern aus der technischen Welt in die unsere. Da du hier am Tisch der einzige Sohn nichtmagischer Eltern bist, der zur Zeit unser Dorf besucht, gestattest du mir wohl die Neugier, alle wichtigen Fakten zu erfahren, um mir ein umfassenderes Bild zu machen", rechtfertigte Madame Delamontagne ihren Wissensdurst.
"Ich kann Ihnen Vergleiche aufzählen, wo Muggel dieses und Zauberer jenes tun. Aber gestatten Sie mir, mich nicht im einzelnen über meine Eltern oder meine Schulausbildung auszulassen. Ich habe mich damit abgefunden, daß ich ein Zauberer bin und wohl in der Zaubererwelt leben und arbeiten werde. Ob das meine Eltern freut oder nicht, kommentiere ich nicht."
"In diesem Dorf hält sich eben wegen besagter Vorfälle eine starke Meinung, daß Muggelstämmige keine guten Zauberer im Sinne von Zugehörigkeitsbewußtsein sind. Du sagtest ja bereits, daß Hexerei als Dichtung aufgefaßt wird, etwas unwirkliches, das zu bejahen einem Wahnsinnseingeständnis gleichkommt. Es geht mir nur darum, Argumente zu finden, um einen intelligenten Weg zu finden, der beide Welten näher aneinander heranbringt", sagte Madame Delamontagne. Mademoiselle Dusoleil sah Julius sehr erwartungsvoll an, genauso wie ihr Bruder.
"Sie haben Probleme damit, unsere Alltagstechnik zu verstehen, wie Muggel Probleme damit haben, Zauberei zu begreifen. Es kommt immer auf die einzelnen Fälle an. Mein Fall alleine würde Ihnen da nicht weiterhelfen", antwortete Julius ruhig.
Madame Delamontagne lächelte unvermittelt. Dann sagte sie:
"Es ist wahr. Du hast dich sehr gut angepaßt. Denn jede Hinterfragung Ihrer Selbstzuordnung hätte jemanden, der nicht weiß, wohin er gehört, zu einem Wutausbruch oder einem Schwall von Antworten getrieben."
Julius wußte nicht, ob er diese Aussage jetzt als Kompliment oder sachliche Darstellung hinnehmen sollte. Er war jedoch froh, daß Madame Delamontagne nicht weiter auf seine Abstammung und den damit zusammenhängenden Dingen einging.
Es mußte so um fünf Uhr nachmittags sein, als die Kaffeetafel aufgehoben wurde. Madame Dusoleil räumte das Geschirr ab und trug es mit Claire und Jeanne zusammen ins Haus zurück. Julius saß nun noch mit Denise, Prudence, Virginie, ihrer Mutter und Monsieur Dusoleil und dessen Schwester am Tisch. Mademoiselle Dusoleil fragte Julius noch:
"Du hast gesagt, daß dir Astronomie gut liegt. Bist du auch in praktischen Fähigkeiten gut?"
"Es kommt darauf an, was Sie meinen, Mademoiselle Dusoleil", erwiderte Julius.
"Viele, die keine Zauberer in der Familie haben, neigen dazu, sich entweder über Gebühr mit Zaubersprüchen zu beschäftigen oder bei der Erlernung von Zaubern zu resignieren, weil sie diese nicht auf Anhieb hinbekommen. Ich zum Beispiel verehre die Zauberkunst, so wie mein Bruder. Geht sie dir gut von der Hand?"
"Wie gesagt, Mademoiselle Dusoleil: Ich möchte nichts über meine Fähigkeiten sagen. Es ist mir nicht so angenehm, wie ein außergewöhnlicher Mensch angeguckt zu werden. Das hätte ich in der Muggelwelt haben können."
"Entschuldigung!" Erwiderte Mademoiselle Dusoleil wie beiläufig. Monsieur Dusoleil sagte:
"Der Junge hat bestimmt genug Ärger mit seinen Mitschülern gekriegt, weil er aus einer Muggelfamilie kommt, Uranie. Da sollte ihm in den Ferien vergönnt sein, mal richtig abzuschalten."
"Sofern Professeur Faucon ihn läßt", warf Virginie frech ein.
"Virginie!" Tadelte Madame Delamontagne ihre Tochter kurz. Virginie schwieg sofort.
"Julius, du hast recht. Was interessiert das andere, wozu du fähig bist. Daß du gut im Quidditch bist, haben gestern alle sehen können. Wir dürfen doch eh nicht zaubern. Wozu sollen wir dann herumerzählen, wo unsere Fähigkeiten liegen?" Bemerkte Prudence Whitesand. Madame Delamontagne sah das Mädchen aus England etwas merkwürdig an. Dann sprach sie zu Julius gewandt:
"Ich wollte dich nicht dazu zwingen, dich zu rechtfertigen. Was du bist, hast du dir nicht ausgesucht. Allerdings habe ich von den Umständen deines Hierseins erfahren. Als Mitglied im Dorfrat, zuständig für Sozialfragen, bin ich natürlich informiert worden, daß du hierherkommst. Daher ging ich darauf ein, ob du dich hier wohlfühlst."
"Wenn Sie meinen, ob ich mich hier frei oder eingesperrt fühle, Madame Delamontagne, so sage ich, daß ich bis jetzt nicht rausgekriegt habe, wo die Mauern oder Gitterstäbe sind, die mich eingesperrt halten. Daher denke ich, daß ich doch sehr frei hier bin, mit gewissen Einschränkungen."
Denise verstand zwar nicht alles so richtig, was Julius gesagt hatte, aber sie kicherte vergnügt und deutete mit ihrem kleinen rechten Zeigefinger auf Julius rechten Arm, wo sich das Verbindungsarmband unter dem Ärmel abzeichnete.
"Was gibt es da zu giggeln, Mademoiselle? Wenn du dieses Ortungsarmband meinst, dann ist es nur dazu da, daß ich nicht verlorengehen kann und mitkriege, wenn ich nach Hause kommen soll. Ich wette, wenn du mal auf einem Besen sitzt, verpaßt dir deine Maman auch so eins."
"Professeur Faucon ist eine sehr strenge Dame. Sie verabscheut Ungehorsam und Unpünktlichkeit", bemerkte Virginie, die sich offenbar wieder stark genug fühlte, etwas ungefragt sagen zu können.
"Ich komme mit ihr klar, Virginie. Ich verstehe auch, daß sie keine Schwierigkeiten haben will. Der Beruf, den sie hat, ist wohl heftig schwer. Wer will sich da noch Probleme aufladen?" Sagte Julius ruhig.
"Dann hast du noch nichts erlebt, was dich veranlaßt, das zu überdenken, was sie von dir fordert", bemerkte Monsieur Dusoleil kühl. "Oder hat sie dir einen Regelkatalog vorgelegt, den du immer einhalten mußt?"
"Kein Kommentar", erwiderte Julius darauf nur. Madame Delamontagne sah den Hausherren vorwurfsvoll an und sagte:
"Es soll noch Leute geben, die schon mit elf oder zwölf Jahren erkennen, daß sie besser fahren und sich nicht selbst verleugnen, wenn sie vorgegebene Verhaltensweisen respektieren. Was machen deine Eltern beruflich? Ich frage das, weil deine Art, dich gut mit uns zu unterhalten, auf Akademiker von gesellschaftlicher Bedeutung schließen läßt."
"Da haben Sie richtig beobachtet. Ich fürchte nur, daß die Berufe meiner Eltern Ihnen nichts sagen. Das was mein Vater tut, könnte man mit nichtmagischer Alchemie beschreiben, wobei er sich heftig gegen diesen Begriff wehren würde, wenn er hier wäre. Meine Mutter arbeitet in der Programmierung von Computern, das sind Maschinen, die Rechenaufgaben lösen und komplizierte Vorgänge steuern oder das Wissen ganzer Bibliotheken speichern und bei Bedarf mitteilen können."
Madame Delamontagne zog ihre Stirn kraus, als müsse sie stark nachdenken. Dann sagte sie nur:
"Ich verstehe."
"Wir wollen morgen noch mal Quidditch spielen, Julius. Kannst du deine Gastmutter fragen, ob du mitmachen darfst?" Lenkte Prudence ihren Schulkameraden von seinen Muggeleltern ab.
"Joh, mache ich, Prudence", antwortete Julius.
Madame Delamontagne holte aus ihrer Handtasche ein Kästchen heraus, das aus dunklem Holz und einem Elfenbeindeckel bestehen mußte. Mademoiselle Dusoleil strahlte, als bekäme sie endlich ein langerhofftes Geschenk.
"Sie möchten noch eine Trainingspartie spielen, Madame? Mit dem größten Vergnügen bin ich dabei", sprach die Schwester von Monsieur Dusoleil. Dann zog sie einen Zauberstab aus ihrem Umhang, hielt ihn in die Richtung eines geöffneten Fensters und rief:
"Accio!"
Aus dem Raum hinter dem bezeichneten Fenster schwirrte ein schwarz-weißes flaches Ding herbei, das Julius sogleich als ein mal ein Meter großes Schachbrett erkannte. Klatschend landete es auf dem Tisch zwischen den beiden Hexen. Julius fand, daß es besser war, nicht zu zeigen, daß er dieses Spiel konnte. Als Madame Delamontagne den mitgebrachten Kasten aufspringen ließ und schwarze Schachmenschen daraus entließ, winkte Mademoiselle Dusoleil ihrem Bruder. Dieser disapparierte und kehrte eine halbe Minute später mit einem Satz weißer Schachmenschen zurück.
"Warum legst du die nie neben das Schachbrett, Florymont?" Fragte Mademoiselle Dusoleil.
"Weil die Kleine sie immer versteckt", sagte der Hausherr grinsend. Denise sah ihren Vater etwas verärgert an, unterließ jedoch jede Antwort darauf.
Claire und Jeanne kehrten aus dem Haus zurück. Jeanne sah Prudence und Virginie an, dann das Schachbrett, auf dem sich gerade die beiden Gruppen Schachmenschen in Ausgangsstellung aufbauten.
"Die nächsten drei Stunden sind wohl verplant", meinte Virginie zu Jeanne. Diese nickte nur und fragte:
"Wollen wir uns das Druidenmuseum ansehen, ihr zwei?"
Prudence nickte. Virginie nickte auch.
"Julius, hast du Lust, dir das alte Museum für vorchristliche Magie anzusehen?" Wollte Prudence von ihrem Schulkameraden wissen. Dieser dachte kurz nach und antwortete:
"Hmm, das ist mir heute zu spät, Prudence. Ich muß ja pünktlich zurück zu Madame Faucons Haus."
"Wie du meinst. Geschichte hätte dir vielleicht was neues eröffnet. Aber du bleibst ja noch ein paar Tage hier, oder?"
"Im Moment sieht's so aus, Prudence", erwiderte Julius ruhig. Denise, die auf ihrem Stuhl herumgerutscht war, als würde sich dieser wie eine Herdplatte immer weiter aufheizen, sah ihren Vater an. Dieser sah seine älteste Tochter an und sagte:
"Ich glaube, Denise würde gerne mitkommen, Jeanne. Macht's dir was aus, sie mitzunehmen, oder wolltet ihr euch im Museum mit wem treffen?"
"Neh, wir wollten nur Prudence unsere Sammlung druidischer Schriftrollen und Artefakte zeigen. Wenn sich unsere Jüngste artig benimmt und nicht an meinem Besen herumturnt, während ich fliege, darf sie mitkommen", sagte Jeanne, die wohl mit einer derartigen Frage gerechnet hatte. Julius hatte eigentlich geglaubt, Jeanne würde sich eine Ausrede einfallen lassen, um ihre kleine Schwester nicht mitnehmen zu müssen. Doch er irrte sich. Keine Gesichtsregung der ältesten Tochter von Madame Dusoleil verriet, ob sie ihre jüngste Schwester mitnehmen wollte oder nicht. Denise jedenfalls strahlte beide an, ihren Vater und ihre große Schwester.
"Dann zieh deinen Wollumhang an, kleine Fee!" Ordnete Jeanne bestimmend an. Denise sprang von ihrem Stuhl herunter und wetzte wieselflink ins Haus zurück.
"Wenn Denise sowieso mitkommt, Claire, willst du dann auch mit?" Wollte Jeanne wissen.
"Neh! Ich kenne die alten Kessel und verwitterten Zauberstäbe doch schon auswendig. Und du weißt, daß unser Geschichtsunterricht im letzten Halbjahr diese alten Zeiten zur Erschöpfung breitgewalzt hat. Ich geh lieber rein und probe das Lied der Nachtigallenkönigin. Im dritten Takt klemmte es ja noch mit der Melodie."
"Gut, Claire. Nur, daß Papa nicht behauptet, ich hätte dich nicht gefragt", meinte Jeanne und sah zu Virginie und Prudence hin, die aufstanden und zu ihren Besen hinübergingen. Virginie hatte sich per Blickkontakt zu ihrer Mutter die Erlaubnis zum Wegfliegen geholt.
Eine Minute später tobte Denise in einem knöchellangen rosa Wollumhang mit vier Messingverschlüssen aus dem Haus heraus und preschte ungestüm auf Jeannes Ganymed 8 zu.
"Neh, Denise. Wir fliegen heute auf dem Wolkenreiter. Meinen Rennbesen muß ich heute abend noch mal trimmen, damit ich damit morgen wieder gut spielen kann", bremste Jeanne ihre kleinste Schwester. Dann ging sie zu einem etwas längeren, dickeren Besen hin. Sie ließ ihn in die Aufstiegsposition hochschnellen, stieg auf und hob Denise vor sich auf den Besen. Dann zählte sie rückwärts von 4 bis 1. Dann sagte sie laut: "Los!"
Dieses Kommando galt für Virginie, Prudence und Jeanne gemeinsam. Sie hoben mit ihren Besen ab und rauschten in den klaren südfranzösischen Sommerhimmel hinauf und steuerten südwestlich vom Anwesen Dusoleil fort.
Claire trat an Julius heran, als die drei halbwüchsigen Hexen fortgeflogen waren. Sie flüsterte:
"Mich ödet dieses Druidenmuseum an. Dort gibt es nichts, was so richtig spannend ist. Die wirklich aufregenden Dinger haben sie in einem Spezialtresor, weil sie zu gefährlich sind. Hast du Lust meine Zauberbilder zu besichtigen?"
"Huch, welche Zauberbilder denn?" Fragte Julius leise, während Mademoiselle Dusoleil gerade eine Schachpartie eröffnete.
"Ich habe in unserer Malereigruppe ein paar Bilder hinbekommen, die wirklich lebendig sind. Meine Schwestern finden sie zu verträumt, und meine Eltern finden sie nur niedlich. Vielleicht saggst du was anderes dazu", antwortete Claire. Julius grinste sie an und fragte:
"Und wenn ich nichts dazu sagen kann, weil sie mir überhaupt nichts sagen? Mädchen denken anders als Jungs."
"Dann ist das auch in Ordnung", sagte die mittlere Tochter der Dusoleils. Sie sah ihren Vater an, deutete auf Julius und dann auf ein geöffnetes Fenster im zweiten Stockwerk des Haupthauses.
"Will sie dir die lustigen Bilder zeigen, die sie gemalt hat? Mach das, Junge! Du kennst ja diese flimmernden Bildzeigerkästen, die Muggel Fernseher nennen. Da kannst du bestimmt was zu ihren Schätzchen sagen, was uns entgangen ist", meinte Florymont Dusoleil, der gerade aufstand, um sich noch mal in seine Werkstatt zu begeben. Er ging an Julius vorbei und sagte nur:
"Was auch immer sie dir vorführt, sag nicht, es sei niedlich! Und wenn du dich langweilst, klopf an meine Werkstatttür. Dann kann ich dir noch ein paar fertige Alltagsgeräte zeigen, die ich gerade dahabe."
Claire sah ihrem Vater schmollend nach, als er die Tür zum Werkstatthaus mit seinem Zauberstab kitzelte, so daß sie aufsprang. Dann griff sie Julius' Hand und zog ihn bestimmt hinter sich her. Julius erhaschte noch einen Blick auf die laufende Schachpartie. Doch er sah schnell wieder fort, weil Madame Delamontagne seinen Blick auffing und eine unausgesprochene Frage darin lag, wie sie ihn ansah: "Hast du eine Ahnung von diesem Spiel?"
Im Haus sah der Hogwarts-Schüler Madame Dusoleil, die fröhlich singend ein Ballett von Schrubbern und Kehrschaufeln mit dem Zauberstab dirigierte. Sie sagte zu Julius:
"Deinen Gartenumhang habe ich in die Waschtrommel geworfen. In einer halben Stunde hänge ich ihn in den Trockenwindschrank. Wenn ich dich zu Blanche zurückbringe ist er wieder tadellos sauber."
"Die beiden anderen Damen spielen Schach. Jeanne hat Denise mit in das langweilige Museum genommen, und Papa klopft noch an dieser verwünschten Eisentür von Madame Pierre herum", berichtete Claire. Dann sagte sie: "Ich möchte Julius meine Zauberbilder zeigen, Maman. Immerhin kennt er ja die Muggelbildgeräte und die Gemälde von Hogwarts."
"Habt ihr keine Wandgemälde?" Fragte Julius irritiert.
"Doch, haben wir. Aber unsere Bilder sind eher Landschaftsbilder. Ihr sollt ja richtige Leute auf den Gemälden haben, die auch die Hauseingänge bewachen, sagte Claire."
"Jawohl, die haben wir", bestätigte Julius lässig. Dann folgte er Claire eine gewundene Holztreppe mit geblümtem Läufer hinauf in den zweiten Stock. Sie kamen an einer Blumenvase vorbei, aus der sich eine anderthalb Meter hohe Sonnenblume reckte, die den Kindern ihren Kopf zunickte, um sich dann wieder gerade aufzurichten.
"Ui, ein Hexenkelch!" Freute sich Julius, als er die große Blume mit den goldenen Blättern noch mal genauer betrachtete, in deren Blütenkelch glänzende walnusbraune Samenkörner ruhten.
"Habe ich als Samenkorn vor einem halben Jahr geschenkt bekommen, als die Halbjahreszeugnisse rauswaren. Die Blume kennt mich. Es heißt, daß ihre Samen als Grundstoff für magische Süßigkeiten benutzt werden", sagte Claire stolz.
"Habe ich auch gelesen. Man kann damit Lachkekse und Glückskuchen backen, wenn man die Samen zu Mehl zermahlt. Ich habe aber noch keinen Lachkeks gegessen", fügte Julius hinzu.
Claires Zimmer war in sanften Orangerottönen tapeziert. Auf dem Boden lag ein dunkelroter Teppich mit Mustern, die Julius für alte Runen hielt. Ansonsten stand und lag in diesem Zimmer allerlei herum, daß keinen praktischen, sondern nur schmückenden Zweck erfüllte. Puppen in allen Größen saßen oder lagen in einem hellbraunen Regal herum. Einige öffneten ihre glänzenden Glasaugen und sahen Julius neugierig an. Irgendwie fand er, war das unheimlich.
Blumenvasen mit kleineren Blumen zierten die Fensterbänke, mehrere bunte Luftballons schwebten unter der Decke, und in einer Ecke, zwischen dem geräumigen Kleiderschrank und dem großen Bett mit der gestrickten lila und rot gemusterten Tagesdecke, thronte eine Porzellanfigur, die wie ein weiblicher Engel oder eine großgeratene Fee aussah, mit den durchsichtigen Adlerflügeln und der goldglänzenden Lockenpracht über dem weißen Porzellangesicht mit der Stubsnase, den schmalen Lippen und den wasserblauen, großen Augen.
"Da stehen zwei Stühle am Schreibtisch. Nimm dir einen davon!" Sagte Claire in einem Ton, der wie ein strickter Befehl klang. Julius fragte sich, ob er sich klar war, worauf er sich eingelassen hatte.
Auf dem Schreibtisch standen drei Tintenfässer und ein Halter mit fünf verschiedengroßen Federn. Daneben stapelten sich Pergamentseiten und zwei Bücher, deren Titel Julius nicht lesen konnte, bis auf einem: Er staunte nicht schlecht, als er das Sprachlernbuch erkannte, welches Gloria ihm geschenkt hatte und mit dem er das Vierteljahr nach den Osterferien fast jeden Abend die französische Sprache gepaukt hatte, wenn die Hausaufgaben und das Quidditchtraining es zuließen. Nur hier schien es sich um das Gegenstück zu handeln. Aber die Namen waren dieselben: Janine Polyglosse und Clarissa Babel.
"Oh, du hast mein Sprachlernbuch erkannt? Du hast wahrscheinlich die englisch-französische Ausgabe. Maman sagte mir, daß du wohl im Moment deine Heimatsprache nicht sprechen kannst, weil du einen Sprachwechseltrank getrunken hast, um mit uns normal sprechen zu können. Aber vielleicht kannst du mir bei der Aussprache helfen. Da bin ich mir nämlich noch nicht so sicher", redete Claire eifrig drauf los, als sie Julius' erkennenden Blick bemerkt hatte.
"Das Buch ist sehr praktisch. Ich vermute mal, daß da ein Gedächtnisverstärkungszauber drinsteckt, der hilft, sich die Vokabeln zu merken. Ich dachte immer, daß sei nur schwarzmagischen Sachen vorbehalten."
"Oh, dann hast du nicht die Liste der erlaubten Bezauberungen gelesen, die in dem Zauberweltkatalog aller bezauberten Bücher aufgeführt ist?" Fragte Claire.
"Nein, habe ich nicht", sagte Julius. Claire grinste ihn an.
"Bücher dürfen, so die allgemeine Regel, bezaubert werden, wenn sie dadurch nicht zum Alleinedenken angeregt werden und / oder dem Leser abverlangen, sie andauernd zu lesen oder den Leser irgendwie beeinflussen, so daß er gegen seinen Willen bestimmte Handlungen ausführt. Sprachlernbücher haben einen Magnamemoria-Zauber, der jede Übung, die mit ihnen gemacht wird, so ins Gedächtnis bringen, als habe jemand sie hundertmal gemacht. Allerdings, so wird auch geschrieben, sollte man immer nur eine Übung pro Tag machen, um im Schlaf neue Kräfte zu sammeln."
"Huch, das habe ich noch nicht gelesen. Aber ich freue mich, daß meine Vermutung stimmte, daß diese Bücher einen Gedächtniszauber eingebaut haben. Aber woher weißt du das alles so genau? Hast du den Katalog auswendig gelernt?"
"Mein Vater ist Zauberschmied. Das hat er dir wohl als erstes erzählt. Ich interessiere mich neben Pflanzenkunde, Musik und Quidditch auch für andere Sprachen und für schöne Zauberkunst, wie das Malen von lebenden Bildern. Und du interessierst dich für Quidditch, wenn man dich auch dazu hintreiben muß, um zu spielen, Kräuterkunde, womit du Maman zum strahlen gebracht hast und Astronomie, wie Tante Uranie aus dir herausgekitzelt hat. Daneben scheinst du was vom Schach zu verstehen", bedeutete sie Julius, daß sie von ihm schon einiges wußte.
"Wie kommst denn du darauf, daß ich was vom Schach verstehe?" Wollte Julius wissen und bemühte sich, nicht überrascht zu klingen.
"Weil du das Brett so angesehen hast, als müßtest du dir überlegen, ob du nicht fragen sollst, ob du auch spielen darfst, aber dann zu viel Angst bekommen hättest, man könnte dich dazu anhalten, mitzuspielen. Ich habe das gesehen", sagte Claire Dusoleil lächelnd.
"Ganz die Mama", sagte Julius frech. "Immer gleich zur Sache, ohne Umweg und Angst vor Stolpersteinen. Dann lächelte Julius und sagte:
"Ja, ich kenne mich ein wenig im Schach aus. Spielst du etwa auch?"
"Nein, das ist mir zu kompliziert. Außerdem denke ich immer, daß sich die Schachmenschen gegenseitig wehtun, wenn sie sich schlagen. Ich habe eine Königin mal gegen einen Springer kämpfen sehen. Sie hat ihn fast erwürgt, bis er schlaff vom Pferd fiel und sich vom Feld schleppen ließ. Professeur Faucon hat gesagt, daß der Belebungszauber, der Figuren in gewisser Weise lebendig macht, sehr schwer zu steuern ist. Aber das kriegten wir erst in der sechsten Klasse."
"Ja, aber die Bilder, die du gemalt hast, die sind doch lebendig, oder?"
"Achso, ich wollte ja die Bilder vorführen. - Ja, die können sich bewegen. Es ist demütigend, wenn du ein Bild malst, das immer so starr und unveränderlich bleibt. Meine Klassenkameradin Belisama hat mich immer wieder dumm angegrinst, als ich mit der Malerei angefangen habe. - Aber hier sind die ersten fünf Bilder. Da ich hier nicht zaubern darf, sind das im Moment die einzigen."
Julius sah als erstes ein Landschaftsbild unter blauem Himmel. Weiße Wolken trieben in einem sanften Wind dahin, richtig, als wäre dieses Bild ein Fenster nach draußen. Eine strahlende Sonne beschien die Bäume. Zwischen den Zweigen flatterte eine Krähe hin und her und stieß kurze Krächtzer aus. Julius staunte über die hervorragenden Linien und Farben.
"Wann hast du das gelernt?" Fragte er staunend.
"Malen als solches schon mit fünf Jahren, wie Denise gerade. Aber den Bildern Leben einzuhauchen erst in der Schule in der Arbeitsgruppe Zaubermalerei. Es kommt auf die richtigen Farbstoffe und Grundzauber an. Irgendwann lernen wir auch, richtige Personen mit eigenem Denken zu malen. Wie sind denn diese Menschen, die bei euch in den Gemälden wohnen?" Fragte Claire.
"Das kommt auf die gemalten Leute an. Unser Türhüter hat eher Sorge um das zu ihm gemalte Tier, als darum, ob wir alle ins Haus wollen oder nicht. Aber ich darf dir nicht allzuviel darüber erzählen, wie unser Haus bewacht wird. Zu den Bildern noch soviel: Die gemalten Leute können sich gegenseitig besuchen."
"Das ist der übernächste Schritt: Die Öffnung der Bilder zu anderen. Kuck mal hier!" Claire holte das zweite Bild hervor, daß sie gemalt hatte. Julius sah ein Meer, dessen Wellen rauschend durch das Bild rollten. Er hörte das Rauschen wirklich so, als läge das gemalte Meer direkt vor seiner Nase. Allerdings waren die Bilder und Geräusche das einzige, was herüberkam. Julius betastete die gemalten Wellen und traute sich sogar, die auch hier scheinende Sonne anzufassen. Er fühlte nur das bemalte Pergament."
"Professeur Faucon hat uns in einer Stunde mal erzählt, daß wirklich böse Magier Bilder malen könnten, deren Personen heraustreten könnten, wenn dafür echte Leute in ihr Bild hineingezogen würden. Bilder könnten auch Tore in Welten sein, die ein Magier sich geschaffen hat, um Leute zu beherrschen. Das war richtig gruselig, wie sie uns die Geschichte von einem Muggel namens Louis erzählt hat, der vor fünfzig Jahren ein verhextes Bild gekauft hatte. Die gemalte Königin lockte ihn in das Bild und ließ dafür einen ihrer Krieger heraus, der in der Menschenwelt Aufträge ausführen sollte. Louis konnte sich aus eigener Kraft nicht befreien, bis der gemalte Krieger von einem Zauberer ausgelöscht wurde. Dann erst brach der Bann und der Muggel fiel aus dem gemalten Reich der dunklen Wächterin zurück in die richtige Welt. Sein Gedächtnis mußte korrigiert werden."
"Hat aber wohl nicht ganz geklappt, Claire. Denn Geschichten von Dämonen aus Bildern habe ich schon gelesen. Die haben mich auch schön gegruselt. Vielleicht hat eure Professorin euch die Sache erzählt, um euch davon abzubringen, selber solche Bilder zu malen und zu behexen. Oder wollte sie euch dazu anstacheln?"
"Frag sie das doch selbst! Du wohnst doch im Moment bei ihr", antwortete Claire gereizt. Offenbar hatte Julius sie in die Enge getrieben.
"Besser nicht. Nachher sperrt sie mich noch selbst in so ein verhextes Bild ein und legt mich in einen dunklen Schrank. Du hast ja beim Malen wohl gelernt, daß Bilder, die in dunklen Räumen herumliegen oder hängen angehalten werden, wenn auf ihnen was lebendiges stattfindet."
"Ja, habe ich", gab Claire triumphierend zurück. Dann zeigte sie Julius, daß auf dem Meeresbild noch ein weit entferntes Segelschiff zu erkennen war. Es schaukelte auf den Wellen oder verschwand hinter einem hohen Wellenberg, um dann wieder fröhlich dahinsegelnd aufzutauchen. Danach führte Claire Julius noch ein Bild mit einer Herde laufender Einhörner, einen fliegenden Adler in luftiger Höhe und einen feuerspeienden Vulkan vor, aus dem abwechselnd rote und gelbe Flammenstöße fauchten und graue Aschewolken wie eine große Pinie über dem Schlot in die Höhe wuchs.
"Wau!" Sagte Julius anerkennend. Er sah den dunkelroten Lavastrom den gemalten Vulkankegel hinunterkriechen und bewunderte die tanzenden Feuersäulen.
"Wie lange hast du gebraucht, das so zu malen?"
"Zwei Wochen habe ich für den Vulkan gebraucht. Allein die Farbwechsel bei den Feuerstrahlen haben mich einen Tag beschäftigt."
"Sowas kann man in der Muggelwelt auf einem Bildschirm darstellen. Das ist ein Gerät, bei dem Bilder künstlich erzeugt werden und so aussehen, als wenn sich richtige Leute bewegten. Aber die flimmern immer so, diese Bilder."
"Außerdem, so hat es uns unsere Zauberkunstlehrerin erzählt, wären diese Muggelapparate immer von solchen Dingern abhängig, die Steckdosen heißen und aus denen ihre Kraft kommt", sagte Claire. Dann räumte sie die Bilder zurück, wo sie sie hergeholt hatte. Julius sagte:
"Also einen Vulkan würde ich bestimmt nicht niedlich nennen, sondern interessant. Das Schiff sieht nach Abenteuer aus, die Krähe im Baum könnte ein romantisch verdrehter Typ gemalt haben, und der fliegende Adler zwischen den Wolken beschreibt die Wunder der Natur. Als solche würde ich diese Bilder auch benennen. Viele Maler malen ganze Bilderserien", sagte Julius. Claire Dusoleil lächelte wohlwollend. Dann holte sie das Sprachlernbuch hervor und schlug es auf. Eine sanfte Frauenstimme fragte auf Englisch irgendwas, das Julius erst nicht verstand. Dann kam die Frage noch mal auf Französisch:
"Habt ihr Lust, ein paar Übungssätze zu lernen?"
Julius sagte ja. Claire Dusoleil bejahte ebenfalls diese Frage.
So begann das Buch, einige Übungssätze zu sagen, die auch auf den glatten weißen Seiten nachzulesen waren. Julius kannte die Art des Buches, die Sätze, die es sprach, scharlachrot aufleuchten zu lassen. Dabei stellte er fest, daß er sehr schnell mit der englischen Aussprache klarkam. Sie machten mit dem Buch ungefähr zehn Übungen, bis Julius unvermittelt schwindelig wurde. Er starrte auf die aufgeschlagene Buchseite, die sich vor ihm zu drehen schien. Dann wäre er fast vom Stuhl gekippt. Gerade im letzten Moment konnte er sich noch abfangen.
"Heh, was ist los?" Fragte Claire mit ängstlicher Stimme. Julius sah sie an und sagte:
"Das war wohl zu viel für den Anfang." Er verstand die französische Sprache noch immer fließend und konnte sie genauso fließend sprechen. Doch er merkte, daß ihm zu den Worten auch die englischen Begriffe einfielen, die er gestern noch vermißt hatte. Er sagte auf Englisch:
"Ich bin Julius Andrews, und ich bin elf Jahre alt. Ich komme aus London und besuche Hogwarts, die Schule für Hexen und Zauberer."
Claire sah ihn mit Augen groß wie Autoscheinwerfer an. Dann fragte sie:
"Du kannst unsere Sprache noch sprechen, aber auch deine eigene Sprache wieder?"
"Hmm, sieht so aus", antwortete Julius auf Französisch. Was auch immer das für ein Zauber gewesen war, der ihn getroffen hatte, er schien ihm beide Sprachen im Gedächtnis gelassen zu haben. Die Frage war nur, ob er nach einer Nacht noch eine der beiden Sprachen würde sprechen können. Denn nachdem, was Aurora Dawn ihm geschrieben hatte, hätte er den roten Zaubertrank noch mal trinken müssen, um seine Muttersprache wieder sprechen zu können. Er sah auf die Buchseiten, die jetzt wieder normal für ihn aussahen. Dann sagte er zu Claire:
"Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war, das Sprachlernbuch zu benutzen, wo ich noch von diesem Zaubertrank benebelt bin, den ich gestern morgen getrunken habe. Aber im Moment geht es mir wieder gut."
"Ich kann Maman sagen, daß sie einen Heiler holen kann."
"Lieber nicht. Noch geht es mir ja gut. Ich denke auch, daß sich das gibt."
Julius dachte jedoch, daß es nicht dem entsprach, was dieser Wechselzungentrank bewirken sollte. Auch wußte er jetzt, daß die Sprachlernbücher einen Gedächtnisverstärkerzauber besaßen. Womöglich lag es daran. Aber warum er so leicht seine Muttersprache wieder sprechen lernen konnte verstand er doch nicht.
"Claire, am besten erzählst du das erst einmal keinem. Ich möchte erst herausfinden, ob das normal ist oder was ungewöhnliches oder vielleicht gefährliches. Solange ich eure Sprache noch so sprechen und verstehen kann wie bisher, merkt keiner was davon."
"In Ordnung, Julius. Ich sage erst was Maman, wenn dir wieder schwindelig werden sollte", meinte Claire Dusoleil dazu.
Ein lautes Pfeifen und Jaulen durchdrang das Haupthaus des Anwesens. Claire sah zu einem Fenster hinaus, daß den Werkstattbau zeigte. Julius folgte ihrem Blick und bemerkte, wie eine purpurrote Feuerfontäne aus dem geöffneten Fenster entwich, sich grün färbte, um dann zischend zu erlöschen.
"Das sieht ja im wahrsten Sinne brandgefährlich aus", meinte Julius, der glaubte, Monsieur Dusoleil habe sich bei seiner Arbeit irgendwie vertan und eine unkontrollierbare Kraft freigesetzt.
"Nein, das ist normal, Julius. Wenn ein neuer Feuermeldezauber in eine Tür eingearbeitet wird, muß ein magischer Feuervorhang über das zu bezaubernde Objekt gelegt werden, um es auch richtig einzustellen. Papa hat keine Probleme mit derartigen Sachen. Gefährlich wird es erst, wenn die Werkstatt schrumpft, wächst oder unsichtbar wird. Das hatten wir schon alles."
"Huch! Unsichtbar? Was heißt das dann?"
"Wenn Papa das mal richtig erzählt hat, hat das was mit Apparitions- und Disapparitionsabwehr zu tun, will heißen, wenn ein Haus gegen magische Eindringlinge zugemacht werden soll", erklärte die mittlere Tochter der Dusoleils. Dann knisterten bunte Funken aus der Werkstatt heraus, zerstoben im Freien zu wabernden Rauchwölkchen.
Claire holte ihre Panflöte aus dem kleinen Nachtschrank. Sie fragte Julius:
"Welches Musikinstrument spielst du denn?"
"Nichts berühmtes. Ich kann Mundharmonika, ein paar Gitarrengriffe und Blockflöte. Aber Gitarre und Blockflöte habe ich seit meiner Grundschulzeit nicht mehr gespielt", sagte Julius. Claire nickte kurz und fischte dann in dem großen Kleiderschrank nach einer bunten Flöte, die so aussah, als sei sie speziell für Kindergartenzwecke angefertigt worden.
"Sowas, Julius?" Fragte Claire.
"Hmm, weiß nicht. Ich denke aber, daß ich da keinen ordentlichen Ton rauskriege. Ihr habt vielleicht andere Techniken beim spielen."
Claire ging nicht auf diese Behauptung ein und drückte Julius das Instrument in die Hand. Der Junge wollte es im ersten Moment wieder fortlegen. Doch ein fordernder Blick des Mädchens zwang ihn dazu, die kleine Flöte zumindest einmal zu blasen, ob er überhaupt einen klaren Ton herausbringen konnte. Er setzte das Instrument an, schluckte alle Spucke hinunter, die er gerade im Mund hatte und blies sachte in das Mundstück. Ein wimmernder Ton, wie das Heulen einer müden Eule, drang aus der Flöte heraus. Dann traute Julius sich, kräftiger hineinzublasen und brachte einen sauberen kräftigen Ton heraus, der im Zimmer widerhallte. Dann legte er die Finger so, wie er es im Kindergarten gelernt hatte, auf die ausgebohrten Löcher und blies einen Ton nnach dem anderen. Claire sagte danach:
"Das verlernt man nicht. Wir spielen genauso wie die Muggel. Das liegt wohl an der Luft, die in der Flöte ist. Welche Löcher man zuhalten muß, um einen bestimmten Ton zu spielen oder nicht. Die noten kannst du spielen?"
"Müßte noch gehen", sagte Julius und legte die Finger auf alle Löcher. Dann blies er kräftig und lang hinein. Ein mittleres C füllte den Raum aus.
"O.K., die Tonleiter müßte ich noch hinkriegen", sagte Julius und spielte tatsächlich die ganze Tonleiter mit Halbtönen hinauf und hinunter. Claire strahlte ihn an.
"Das ist eines der Instrumente, die du zu jedem großen Instrument oder jedem Schlaginstrument, einzeln oder im Chor, gut spielen kannst. Warum hast du das solange nicht mehr gespielt?"
"Warum willst du das wissen, Claire?" Fragte Julius, der merkte, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg. Seine Gesprächspartnerin sah dies und grinste belustigt. Dann sagte er:
"Ich habe schon im ersten Schuljahr gelernt, daß es Kindergartenmusik ist, wenn man Blockflöte und Triangel kann, aber nichts gescheites, wo man auch in einer Band mitspielen kann. Darum habe ich noch Mundharmonika gelernt. Das ist auch ein kleines Instrument, mit dem man überall mitspielen und das man überall mit hinnehmen kann."
"Mundharmonikas sind für Landstreicher und bettelarme Straßenmusikanten. Kann sein, daß die Muggel für dieses Instrument noch mehr verwendung haben. Aber in der Zaubererwelt wirst du nicht viele Gelegenheiten haben, damit richtig erfolgreich zu sein. Kennst du Hecate Leviata?"
"Nein, die kenne ich nicht", knurrte Julius, dem siedendheiß einfiel, daß Gloria und die Hollingsworths ihm versprochen hatten, ihn mal auf ein Konzert dieser bei jungen Hexen und Zauberern so beliebten Musikerin und Sängerin mitzunehmen.
"Die tritt bei der Quidditch-Weltmeisterschaft auf, zwischen Viertel- und Halbfinale. Danach macht sie eine Konzertreise durch Europa. Sie spielt auch drei verschiedene Flöten, Harfe, Klavier oder Flügel und kann wunderschön singen. Kannst du das auch noch?"
"Wieso noch?" Fragte Julius. "Wer hat denn behauptet, daß ich singen gekonnt hätte?"
"Weil das doch das erste ist, was man mit Musik verbindet."
"Neh, das mit der Singerei vergessen wir besser wieder, Claire. Ich wundere mich ja schon darüber, daß ich diese Flöte hier wieder spielen kann. Oder ist die etwa verhext?" Tönte Julius und wiegte die bunte Blockflöte bedächtig in einer Hand, als müsse er sie beruhigen. An Stelle einer Antwort flog ihm unvermittelt ein Federkissen von Claires Bett ins Gesicht. Er dachte zuerst, die junge Hexe hätte ihm das Kissen mit einem Bannzauber an den Kopf geworfen. Doch als sie mit ihrer linken Hand ein zweites Kissen griff und ausholte, grinste Julius. Als das Kissen dann auch noch zu ihm geflogen kam, drosch er es einfach mit der rechten Hand zurück zu seiner Besitzerin.
"Ich werde dir helfen, mir verhexte Musikinstrumente zu unterstellen", johlte die Beauxbatons-Schülerin. Julius schwang die Blockflöte wie einen Zauberstab und murmelte irgendeinen Unsinn daher, der sich wie eine echte Zauberformel anhörte. Claire Dusoleil ergriff ihre Panflöte und begann unvermittelt, eine schnelle und fröhliche Melodie zu spielen.
Julius lauschte ihr einige Minuten lang, bis sie sagte:
"Traust du dich, mit mir zusammenzuspielen?"
"Kommt drauf an, wie kompliziert das ist", erwiderte der Hogwarts-Schüler.
"Was ganz einfaches. Bruder Jakob. Den kennst du doch auch, oder nicht?"
"War das mal in der Hitparade? Kann ich mich nicht dran erinnern", antwortete Julius und grinste feist.
"Ich will jetzt, daß du mit mir zusammen Musik machst!" Bestimmte Claire. Julius Andrews meinte dazu nur:
"Dann solltest du mir kein Musikinstrument in die Hand drücken. Nachher beschwör ich noch Regen vom Himmel, und deine Tante wird naß."
"Vor wem oder was hast du Angst. Gestern beim Quidditch wolltest du erst nicht auf das Feld, und dann hättest du den armen César fast vom Glauben an die Welt abgebracht. Immer wenn dich jemand um etwas bittet, kneifst du. Woran liegt das?"
"Das hast du gerade gesagt. Ich muß mich beherrschen, um nicht zu übertreiben", sagte Julius trocken. Claire sah ihn vorwurfsvoll an.
"Ich glaube nicht, daß Professeur Faucon dieses Spiel von dir durchgehen läßt. Wenn sie sagt, du sollst dieses oder jenes machen, glaube ich nicht, daß du da einfach nein sagen kannst."
"Du bist aber nicht Professeur Faucon und somit nicht für meine Unterbringung zuständig", entgegnete Julius Andrews gereizt. "Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was sie spielt. So heißt es bei den Muggeln."
"Richtig. Da du im Moment im Haus meiner Eltern in meinem Zimmer bist und du heute nachmittag viel leckere Schokolade getrunken hast, wird es Zeit, daß du dafür etwas sinnvolles tust."
"Ich habe mit deiner Maman sämtliche Pflanzen in der grünen Gasse durchgenommen. Wenn sie mich eingeladen hat, hierher zu kommen, dann deswegen, weil sie glaubt, daß ich mir das schon verdient habe und nicht erst verdienen muß. Aber Logik reift nur selten bei kleinen Mädchen."
Klatschend traf wieder ein Federkissen Julius voll ins Gesicht. Er griff es und pfefferte es zu Claire zurück, die es postwendend auf den Hogwarts-Schüler zurückfeuerte. Nach zweimaligem Hin und Her ließ Julius das Kissen auf das Bett zurückfliegen und sagte:
"Wir benehmen uns wie Fünfjährige. Dabei sollten wir uns über Kunst oder gute Musik unterhalten oder irgendwelche tollen Berichte aus der Zeitung bequatschen."
Statt einer Antwort begann Claire, das Lied vom Bruder Jakob zu spielen, langsam, aber laut. Julius hörte eine Weile zu und tat so, als wäre das völlig nutzlos. Doch als der alte Kanon zum X-ten Mal durch das Kinderzimmer hallte, nahm er die Blockflöte und spielte absichtlich falsche Töne zu der Melodie. Doch das schien die mittlere der drei Dusoleil-Töchter nicht aus der Ruhe zu bringen. Schließlich gab Julius es auf und spielte nach kurzen Holperern bei den Tönen die korrekte Melodie. Dreimal klangen beide Flöten ohne jede Abweichung die ganze Melodie entlang. Dann entschied sich Julius, kurz auszusetzen und eben die zweite Kanonstimme zu spielen. Er mußte feststellen, daß der Zauber, den gemeinsame Musik bewirkte, stark war. Er verstand jetzt, wieso Gloria, Pina, Kevin und die anderen Ravenclaws, die eigene Instrumente mitgebracht hatten, so gerne zusammenspielten. Er glaubte auch, die Verbindung zwischen Catherine Brickston und ihrer Mutter zu begreifen, wenn sie musizierten.
Als die zehnte Wiederholung des Kanons verklang, tat sich leise die Tür auf, und Madame Dusoleil steckte ihren Kopf ins Zimmer und lauschte. Dann, als beide Kinder zu spielen aufhörten, sagte sie sanft, aber mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht:
"Hast du den armen Jungen dabeigekriegt, Claire? Ich dachte schon, Jeanne wäre heimlich wieder ins Haus zurückgekommen. Aber dann fiel mir doch auf, daß du diesen Kanon ja nicht mit ihr spielen würdest, weil das unter ihrer Würde ist. Ich wußte gar nicht, daß du so gut Blockflöte spielen kannst, Julius!"
"Das ist auch schon über sechs Jahre her, daß ich meine alte Flöte in die Mottenkiste geworfen habe. - Haben wir die Damen da unten beim Schach gestört?" Entgegnete Julius.
"Neh, habt ihr nicht. Wenn Uranie erst einmal spielt, ist sie darauf eingestimmt. Und Madame Delamontagne würde den Weltuntergang verpassen, wenn sie spielt. Ich weiß nicht, was an diesem Spiel so faszinierendes dran ist", seufzte Madame Dusoleil. Julius schwirrten dutzende Gründe durchs Gehirn, weshalb er Schach für faszinierend hielt. Er sprach aber nur einen aus:
"Man lernt sich selbst kennen. Wer Schach spielt, erkennt, wieviel er oder sie riskiert oder ob es sich überhaupt lohnt, zu spielen. Meine Mutter hat mir das damals beigebracht. Seitdem ist das eigentliche Ziel für mich, sie einmal zu besiegen. Wenn ich das mal schaffen sollte, ist Schach für mich womöglich genauso nebensächlich. Ich kann jedoch gut ohne Schach auskommen. Madame Faucon hat erwähnt, daß in den nächsten Tagen ein Schachturnier in Millemerveilles starten soll. Sie machte auch deutlich, daß da jeder dran teilnehmen könne, der auch nur eine Partie durchgespielt habe. Das klang für mich so, als müsse ich mir Gedanken machen, ob ich da mitmachen soll oder es besser bleiben lasse."
"Madame Delamontagne ist seit zehn Turnieren ungeschlagene Dorfmeisterin. Wenn sie nicht ihre Ratsverpflichtungen hätte, würde sie sogar an den internationalen Meisterschaften der Hexen und Zauberer teilnehmen", sagte Camille Dusoleil.
Julius grinste darüber nur und sah auf seine Armbanduhr. Sie zeigte bereits Viertel nach sechs.
"In einer Dreiviertelstunde erwartet mich Madame Faucon zurück", bemerkte er dazu.
"Keine Sorge. Ich werfe dich ihr schon rechtzeitig durch den Kamin", grinste Madame Dusoleil. Claire, die aus anerzogener Ehrfurcht vor der Verwandlungslehrerin wie versteinert dreingeschaut hatte, mußte auch lachen. Julius sah die Zaubergärtnerin bedröppelt an und mußte dann auch grinsen.
"Besser nicht. Wer weiß, ob sie nicht im Kamin das Abendessen aufwärmt. Sie könnte mir das sehr übelnehmen", flachste er. Dann stand er auf, legte die geliehene Blockflöte auf den Schreibtisch und folgte Madame Dusoleil. Claire hängte sich an den türkisfarbenen Umhang, den Julius im Moment trug.
"Wo willst denn du jetzt hin?"
"Ich will nur sehen, wer gewinnt", sagte Julius und lief im Geschwindschritt die Treppe hinunter. Leise glitt er durch die Haustür und drückte sich vorsichtig an die Hauswand. Er spähte zu dem ovalen Gartentisch hinüber und betrachtete die Aufstellung der Schachfiguren. Gerade trieb ein Springer einen Läufer vom Feld, der sich in seine Kiste zurückwarf. Julius trat von der Hauswand weg und konzentrierte sich. Er prägte sich die Stellungen der Schachmenschen ein und schlüpfte dann unhörbar ins Haus zurück. Mit Claire zusammen ging er in die Küche, wo Madame Dusoleil das Abendessen vorbereitete.
"Hast du sie gesehen, Julius?"
"Joh, habe ich. Ihre Schwägerin kann Madame Delamontagne in zehn Zügen mattsetzen."
"Huch? Madame Delamontagne ist amtierende Schachmeisterin der französischen Zaubererwelt. Ich glaube nicht, daß Uranie sie besiegen kann. Vielleicht hast du dich geirrt."
"Von der Stellung der Figuren her nicht. Allerdings kann das Spiel immer noch komplett anders ausgehen", sagte Julius. Claire sah den Hogwarts-Schüler an. Dann sagte sie:
"Lass das bloß nicht die beiden da draußen hören! Professeur Faucon ist bestimmt nicht bereit, bis Mitternacht auf dich zu warten, falls eine der beiden meint, dich auch noch zu einem Spiel auffordern zu müssen."
"Tante Uranie hat da keine große Lust drauf, wenn sie gegen Madame Delamontagne gespielt hat, Claire. Allerdings kennen wir ja die Leidenschaft von Madame Delamontagne, wenn es um Schach geht. Daher sollte unser junger Freund sich nicht dazu hinreißen lassen, sie auf die Idee zu bringen, mit ihm Schach zu spielen", warf Madame Dusoleil mit zur Vorsicht gemahnendem Blick auf Julius ein.
"Ich habe keine Lust, mit jemandem, den ich nicht kenne, eine Partie Schach zu spielen. Insofern hüte ich mich davor, ihr oder sonst einem Schachfanatiker zu sagen, daß ich das Spiel kann", sagte Julius.
Madame Dusoleil zeigte Julius, wie sie mit nützlichen Haushaltsgeräten das Abendessen für neun Leute vorbereitete.
Julius fragte, ob selbstumrührende Kochtöpfe oder Pfannen, die das Bratgut selber wendeten, nicht gegen die Gesetzesabschnitte zur Bezauberung von Muggelartefakten verstießen.
"Du bist nicht der erste, der mich das fragt. Aber keine Sorge! Die Haushaltsgeräte funktionieren nur, wenn sie auf den Herd gestellt werden oder auf der Anrichte stehen. Außerdem, und das steht in einem ganz anderen Gesetz, sind hauswirtschaftliche Gegenstände solange von der Magiebeschränkung frei, wenn sie in einem reinen Zaubererhaushalt benutzt werden. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir nicht unsere Zauberkräfte praktisch nutzen könnten?"
"Ja, stimmt. Bei Muggeln gibt's Spül- und Waschmaschinen, Staubsauger, Rasenmäher und Kühlschränke. Warum sollten Hexen und Zauberer nicht ihre Magie benutzen, um ähnliche Vorteile zu haben?" Sagte Julius.
"Kühlschränke? Wie funktionieren die denn bei den Muggeln?"
"Ja, wie erklärt man das am verständlichsten, ohne Leute wie die letzten Idioten ansprechen zu wollen?" Dachte Julius für sich. Dann wandte er sich an Claire, die ihn erwartungsvoll ansah.
"Das sind Kästen, die hinten ein System aus Röhren haben, in dem ein Gas drin ist, das Wärme aus dem Kasten herauszieht, wenn es durch eine elektrische Pumpe in Bewegung gesetzt wird. Elektrisch heißt, daß der Kasten über ein Verbindungskabel an einen Lieferanten für Elektrizität, also der unsichtbaren Energie für alle möglichen Zwecke angeschlossen ist. Der Kasten ist wärmedicht abgeschlossen. Ein Mechanismus sorgt dafür, das die elektrische Pumpe nur solange arbeitet, bis eine voreingestellte Temperatur im Kühlschrank erreicht ist und sie erst wieder einschaltet, wenn die Temperatur überschritten wird."
"Und wozu braucht man sowas?" Wollte Madame Dusoleil wissen.
"Um leicht verderbliche Nahrungsmittel wie Milch-, Fleisch- und Gemüseprodukte länger frisch zu halten. Die Kälte hindert winzige Mikroorganismen daran, sich schnell auszubreiten", sagte Julius.
"Dazu haben wir den Conservatempus-Zauber. Wenn wir mehrere Wochen unterwegs sind können wir Mehl, Zucker oder sonst wwelche Nahrungsmittel in einem bezauberten Behälter aufbewahren und frischhalten, weil in diesem Behälter dann die Zeit hundertmal langsamer abläuft, bis der Behälter wieder geöffnet wird", erklärte Madame Dusoleil.
Mademoiselle Dusoleil kam lachend herein und sagte:
"Ich habe Madame Delamontagne richtig schön fertig gemacht. Sie wollte noch ein Rückspiel haben, aber das habe ich mit dem Hinweis auf das Schachturnier zurückgewiesen."
"Dann hattest du recht, Julius", zischte Claire dem Hogwarts-Schüler zu. Die Schwägerin von Madame Dusoleil sah den Jungen prüfend an und fragte:
"Moment, du hast das vorhergesehen, daß ich gewinnen würde?"
"Ich habe es vermutet", sagte Julius vorsichtig.
"Dann kannst du also auch Schach spielen", raunte Mademoiselle Dusoleil.
"Nicht so gut wie Sie und Ihre Gegnerin. Ich wäre sehr schnell am Boden", erklärte Julius schnell.
"Und dann siehst du, wer gewinnt, wenn die Figuren mitten in einer unüberschaubaren Stellung zueinander aufgebaut sind? Na ja, ich muß das ja nicht wissen, wie gut du spielen kannst. Aber Madame Delamontagne könnte auf die Idee kommen, dich zu prüfen. Insofern solltest du erst einmal nicht verlauten lassen, daß du das Spiel kennst", flüsterte Mademoiselle Dusoleil grinsend.
"Sitzt Madame Delamontagne allein draußen, Uranie?" Fragte Madame Dusoleil.
"Nein. Florymont sitzt jetzt mit ihr zusammen und diskutiert die neue Ausgabe von "Zeitgenössische Zauberkunst". Insofern ist meine Gegnerin gut abgelenkt. - Kann ich dir noch bei irgendwas helfen, Camille?"
"Nicht nötig, Uranie. Die Töpfe müssen erst in einer Viertelstunde wieder vom Herd. Ich muß unseren jungen Gast gleich zu seiner derzeitigen Quartiermeisterin zurückbringen", antwortete Madame Dusoleil. Sie prüfte noch mal die sich selbst umrührende Suppe in den verzauberten Töpfen und kontrollierte den Backofen, in dem frisches Brot knusprigbraun auf Blechen lag. Dann verließ sie die Küche für einige Minuten, kam dann zurück und verkündete, daß Julius' Gartenumhang wieder trocken sei. Danach schickte sie ihre Tochter Claire und Julius noch mal auf die Terrasse. Dort saßen sie noch eine halbe Stunde, bis Madame Dusoleil mit dem zusammengefalteten Gartenumhang und ihrem Cyrano-Besen das Haus verließ.
"Wir müssen, junger Mann!" Sagte sie zu Julius. Der Hogwarts-Schüler nickte und stand von seinem Stuhl auf. Er verabschiedete sich höflich von Madame Delamontagne, die ihn noch mal sehr prüfend ansah und prophezeite:
"Wir sehen uns bestimmt wieder, junger Mann."
"Falls ich morgen zum Quidditch darf, kann das passieren", meinte Julius nur und verabschiedete sich von Monsieur Dusoleil. Dieser sagte:
"Falls du in den nächsten Tagen Zeit hast, kannst du ja noch mal herkommen, um dir die Zauberwerkstatt anzusehen."
"Bestellen Sie den beiden Mädchen bitte, daß ich fragen werde, ob ich morgen zum Quidditch kommen kann und daß ich leider nicht warten konnte, bis sie wieder da waren. Aber ich muß mich an vorbestimmte Zeiten halten, wenn ich meinen Aufenthalt hier nicht vermiesen will", sagte Julius noch. Dann wandte er sich noch mal an Claire. Bevor er etwas sagen konnte sprach sie zu ihm:
"Das hat mir gut gefallen, mit dir Musik zu machen. Das solten wir bald fortsetzen."
"Ich habe mich auch gefreut, bei euch zu sein", sagte Julius und verabschiedete sich kurz. Claire sah ihn dabei mit jenem Lächeln an, mit dem kleine Kinder ihre Eltern besänftigen, wenn sie etwas angestellt haben. Julius Andrews wandte sich an Madame Dusoleil. Sie winkte ihm, zu ihr zu kommen und saß bereits auf ihrem Besen, als er bei ihr eintraf. Locker schwang sich Julius auf den Besen hinter Madame Dusoleil und stieß sich mit ihr zusammen vom Boden ab. Er winkte den Hexen und Zauberern im Garten noch mal zu und hielt sich dann richtig fest, denn Madame Dusoleil beschleunigte.
"Hat dein Verbindungsarmband schon gezittert?" Fragte die Kräuterhexe von Millemerveilles.
"Nein, bis jetzt noch nicht. Es ist ja auch erst Viertel vor sieben", antwortete Julius Andrews.
"Dann haben wir ja heute richtig Zeit. Hat es dir gefallen bei uns?"
"O ja! Ich habe nur nicht gedacht, daß ich noch so gut Blockflöte spielen kann. Claire ist übrigens sehr hartnäckig gewesen. Ich denke mal, sie hat meine Musik ertragen, ohne murren."
"Claire beurteilt Kinder ihres Alters danach, ob sie mit ihr zusammen was anstellen können, egal ob Junge oder Mädchen. Wenn sie dir ihre Flöte nicht aus der Hand gerissen hat, dann hast du den Test bestanden, dem sie dich unterzogen hat", beruhigte Madame Dusoleil ihren Gast. Dann sagte sie noch:
"Ich fürchte nur für dich, daß Madame Delamontagne dich in den nächsten Tagen zu sich zitieren wird, um deine Schachkenntnisse zu testen. Ich habe nämlich den Eindruck, daß es ihr nicht entgangen ist, daß du ihr Spiel angesehen und bewertet hast. Schach ist für sie eine Weltanschauung. Wer das Spiel kann, sollte sich in den nächsten Tagen nichts vornehmen, was ihn oder sie ohne zwingenden Grund aus dem Dorf führt oder sich gar verweigern. Sie ist neben deiner werten Hausherrin die wichtigste Persönlichkeit hier und bestimmt vieles, was hier läuft."
"In der Muggelwelt gelten zwei Dinge, Demokratie oder Reichtum. Ich denke mal, daß Madame Delamontagne vermögend ist, daß sie so hohes Ansehen in diesem Dorf genießt."
"Bei Hexen und Zauberern gilt auch die Macht der Zauberei. Wie gesagt: Blanche und Madame Delamontagne sind die wichtigsten Hexen des Dorfes."
Fünf Minuten vor sieben Uhr landete der Familienbesen der Dusoleils vor dem Haus von Madame Faucon. Julius zog am Türglockenseil und wartete mit Madame Dusoleil, bis sich die Tür öffnete.
"Ich dachte schon, du brächtest den Jungen wieder kurz vor Toresschluß zu mir, Camille. Hat er sich gut betragen?"
"In jeder Hinsicht. Er ist nur sehr zurückhaltend, was seine Hobbies angeht. Wenn er Madame Delamontagne verraten hätte, daß er Schach spielt, hätte sie ihn vielleicht dazu aufgefordert, mit ihr zu spielen."
"Soso, Madame Delamontagne war auch bei dir. Dann hattest du ja volles Haus. Dann werde ich ja wohl bald Eulenpost von ihr bekommen."
"Meine Prinzessinnen haben sich sehr gut mit ihm amüsiert. Claire hat sogar herausgefunden, daß er Blockflöte spielt. Wußtest du das, Blanche?"
"Etwas mehr Zurückhaltung, wenn ich bitten darf, Camille", erwiderte Madame Faucon.
"Die Kinder wollen morgen wieder Quidditch spielen. Hast du morgen was mit ihm vor, oder kann Jeanne ihn morgen früh abholen?"
"Quidditch? Ihr habt doch gestern erst gespielt. Sage deiner Tochter, daß ich ihn morgen selbst hinbringen werde. Wann geht es los?"
"Um neun diesmal. Jetzt, wo alle Interessierten da sind, wollten wir mehr Zeit vor dem Mittagessen nutzen. Das paßt mir auch sehr gut, weil ich morgen keine Termine habe. Die Pflanzen sind alle in Ordnung, und im Moment muß ich nirgendwo den Garten ordnen. Das wird ein wunderschöner Tag. - Also du willst ihn zum Quidditchfeld bringen? Ich frage Claire, ob sie ihm ihren Besen leihen kann."
"Der Junge soll wieder mitspielen?" Fragte die Verwandlungslehrerin.
"ja selbstverständlich. Die Kinder wollen ihn dabeihaben, damit er mit ihnen zusammen spielt. Oder hast du etwas dagegen?"
"Ich habe nichts dagegen. Dann bis morgen, Camille", sagte Madame Faucon und bedeutete Julius, ins Haus zu kommen. Madame Dusoleil gab der Lehrerin von Beauxbatons den Gartenumhang. Julius bedankte sich noch mal bei der Kräuterhexe von Millemerveilles für den kurzweiligen Tag und verschwand im Haus.
Beim Abendessen mußte Julius berichten, was er alles erlebt und wie er sich unterhalten hatte. Er ließ auch nicht aus, daß ihn Claire dazu angehalten hatte, sie auf der Blockflöte zu begleiten, was die Verwandlungslehrerin lächelnd zur Kenntnis nahm.
"Ich bin zwar auch sehr geduldig, aber habe doch dafür ein etwas empfindlicheres Musikgehör. Aber du wirst mir das in den nächsten Tagen doch einmal vorführen müssen, wie gut deine Spielqualitäten noch sind. Vielleicht wird das doch noch einmal was mit einem Duett."
Der Abend klang damit aus, daß Julius ein heißes Bad nahm. Er brachte eine halbe Stunde im Badezimmer zu, räkelte sich in der großen Badewanne, fragte sich, woher das viele heiße Wasser und die wie frische Tannennadeln, Kokosöl und Zitronenmelisse duftenden Badeöle kamen - und wer wohl heute die Fußball-Weltmeisterschaft gewinnen würde - und entspannte sich, während verzauberte Badeschwämme an ihm herumschrubbten, bis der Badezimmerspiegel sich beschwerte, daß er total beschlagen sei und nichts mehr erkennen könne. Dann zog sich Julius einen warmen Wollbademantel über seinen Pyjama und leistete seiner Gastgeberin noch eine halbe Stunde Gesellschaft in ihrem Musikzimmer, einem mit Wandteppichen und dicken Flokatis ausgelegten Raum mit bequemen Lehnstühlen, mehreren Notenpulten und einer Sammlung verschiedener Musikinstrumente, von der Picoloflöte bis zum Kontrabass. Er hatte sich dazu entschlossen, Madame Faucon zu zeigen, das er noch ein anderes Instrument spielen konnte außer Mundharmonika. Nach verschiedenen kleinen Flöten befand Madame Faucon, daß eine kunstvoll geschnitzte Altflöte aus einem leichten glattgehobelten Holz, das Bambus oder eine andere exotische Holzart sein mochte, am besten zu ihm paßte. Nachdem er einfache Tonleitern rauf und runter gespielt hatte, prüfte die Hausherrin sein Tongehör und stellte fest:
"Deine Eltern haben sich offenbar nur um deinen naturwissenschaftlichen Intellekt bemüht als um deine künstlerische Begabungen. Sonst hhätten sie nämlich festgestellt, daß du kein schlechtes Melodiengedächtnis hast, daß durchaus ausbaufähig ist. Gut zu wissen, was ich dir außer den möglichen Zauberübungen noch bieten kann, vorausgesetzt, du legst Wert darauf, deine Fähigkeiten ohne künstliche Eigenhemmungen auszuloten."
"Warum solte ich nicht mal was ausprobieren, wo mir keiner irgendwelche Richtlinien vorgegeben hat?" Erwiderte Julius Andrews.
"Das ist eine gute Einstellung. Wissen und Arbeit sind wichtig. Aber was nützt dir deine Arbeit, wenn du nichts sinnvolles mit deiner Freizeit anfangen kannst", sagte die Professorin von Beauxbatons. Julius verkrampfte sich etwas, als er das Wort "sinnvolles" hörte. Offenbar empfand die Hexe, die Catherine Brickstons Mutter war, gewisse Tätigkeiten als Unsinn oder Zeitverschwendung.
Wie die beiden Abende zuvor schickte die Hausherrin ihren jungen Gast um zehn Uhr zu Bett und sagte ihm:
"Morgen um sieben wecke ich dich wieder. Schlaf dich richtig aus, damit du morgen nicht vom Besen fällst!"
Als Julius in dem Gästezimmer den Bademantel säuberlich über einen Stuhl hängte, sah er, daß seine Hausaufgabe in Verwandlung ordentlich zusammengelegt worden war und auf einem Zettel oben auf die smaragdgrüne Mitteilung geschrieben stand:
Sehr gut! Zehn von zehn Bewertungspunkten. Damit dürfte meine Kollegin in Hogwarts sehr zufrieden sein.
Daneben lag die Zaubertrankaufgabe, ebenfalls mit einem Zettel versehen, auf dem stand, daß Julius sich sehr fundiert über die tierischen Gifte und Gegengifte ausgelassen hätte und wohl bei ihr oder dem amtierenden Zaubertranklehrer von Beauxbatons alle möglichen Bewertungspunkte erhalten hätte. Darunter stand:
"Professor Snape wird nicht umhin können, dir zumindest zwei Drittel der erreichbaren Punkte zu geben, selbst wenn er sehr einseitig bei der Benotung von Schülern vorgeht."
Irgendwie, so schien es Julius, nahm Madame Faucon Snape entweder nicht sehr ernst oder konnte ihn schlicht nicht ausstehen. Woran mochte das wohl liegen?
Er beschloß jedoch, diese Frage als für ihn unwichtig zurückzustellen, da ihm gerade wieder einfiel, was ihm am Nachmittag passiert war. Er hatte keinem was davon erzählt, daß er durch Claires Sprachlernbuch seine Englischkenntnisse wiedergewonnen hatte, obwohl ihm Aurora Dawn ja geschrieben hatte, daß der rote Zaubertrank von gestern ihn dazu verdammte, nur die Sprache noch verstehen und sprechen zu können, die er bei Ablauf der Wirkungszeit zuletzt gehört und gesprochen hatte. Deshalb nahm er eine Feder aus dem Halter, griff sich ein Stück leeres Pergament, tunkte die Feder in königsblaue Tinte und schrieb einen Brief an Aurora Dawn, in dem er ihr berichtete, was ihm passiert war. Hierbei kam die von beiden Elternteilen vererbte Gründlichkeit und Ausführlichkeit bei ihm zum tragen. Er schrieb genau auf, wann er den Zaubertrank getrunken hatte, das er vorher schon mit einem Sprachlernbuch englisch-französisch gearbeitet hatte, wielange er das Buch benutzt hatte, wann er an diesem Nachmittag Claires umgekehrt ausgerichtetes Buch benutzt hatte, wie ihm für wenige Augenblicke schwindelig geworden war und er seine alten Sprachkenntnisse neben den französischen Sprachfertigkeiten zurückbekommen hatte. Er wagte sogar eine Vermutung:
"Es könnte sein, daß die beiden Sprachlernbücher mein Gedächtnis derartig vorbehandelt haben, daß ich beide Sprachen gleichberechtigt nebeneinander erlernen kann und der Zaubertrank etwas ist, das in der Muggelchemie Katalysator heißt, also so wirkte, daß die Lernfähigkeit beschleunigt wurde. Aber dies nur eine Laienvermutung. Sie kennen sich da bestimmt besser aus oder wissen zumindest, welchen Profi Sie fragen müssen, um eine Antwort zu kriegen. Ich habe meiner derzeitigen Gastgeberin noch nichts davon berichtet, weil ich denke, daß es nicht gerade häufig vorkommt, was mir passiert ist. Ich habe keine Lust, als lebendes Versuchsobjekt magischer Heiler herumgereicht zu werden, solange mir außer dieser Sprachrückgewinnung nichts anderes passiert."
Er beendete den Brief mit der üblichen Grußformel und wartete, bis die Tinte getrocknet war. Dann faltete er das Pergament ordentlich zusammen und löschte die kleine Petroleumlampe auf dem Nachttisch. Wieder bedauerte er es, keine eigene Eule zu haben, die er losschicken konnte. Aber er wollte morgen noch mal zum Postamt, um den Brief per Express loszuschicken.
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