DIE KRIEGER DER VORZEIT

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Anthelia, die wiedergekehrte Nichte Sardonias, ist ebenso von den Ereignissen in der europäischen Zaubererwelt betroffen wie alle nicht ihrer Linie folgenden Hexen und Zauberer. Doch ihr Ziel, eine von ihr geführte Weltherrschaft der Hexen zu errichten, kann sie trotz der auf sich eingeschworenen Führerinnen der sogenannten Nachtfraktions-Schwestern immer noch nicht verfolgen. Denn eine auch so schon mächtige Vampirin, Lady Nyx, ringt mit Igor Dserschinski um den Mitternachtsdiamanten, einen magisch hochpotenten Edelstein, der vor allem in den Händen eines Vampirs vielfachen Machtzuwachs garantiert. Weil Anthelia und Voldemort völlig unabhängig von ihrer Feindschaft und Zielsetzung erkennen, daß ein Vampir mit dem Mitternachtsdiamanten ihre Machtansprüche vereiteln kann, suchen auch der dunkle Lord und Anthelia nach dem legendären Stein. Lady Nyx, die in zwei Nachtfraktionsschwestern Helferinnen gewinnen konnte, begibt sich nach Osteuropa. Dort soll der Diamant versteckt sein. Zeitgleich müssen Anthelias Mitschwestern verhindern, daß ihr magieloser Kundschafter Cecil Wellington enttarnt wird. Patricia Straton schafft es gerade noch, Cecil vor der Enthüllung durch alarmierte Ministeriumszauberer zu bewahren. Anthelia derweil schlägt sich nicht nur mit den rivalisierenden Vampiren und dem wahrlich sehr mächtigen Lord Voldemort herum, sondern auch mit einer der wachen Töchter des Abgrunds, Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, die alle bösartigen Wasserzaubereien großmeisterlich beherrscht und durch solche auch an Stärke gewinnt. Diese kann den Mitternachtsdiamanten vorübergehend erobern, während Dserschinski und seine Gefährtin den Tod finden. Als Anthelia ihrer Bundesschwester Pandora vor heraufbeschworenen Feuerspukgestalten gerettet hat, muß sie zusehen, wie diese ohne Vorwarnung von Voldemort mit dem Todesfluch umgebracht wird. Anthelia verheißt dem an Leib und Seele entstellten Hexenmeister eine relativ kurze Zeit, sein nur auf Zerstörung gerichteter Machttrieb würde ihn in einem oder zwei Jahren den Garaus machen. Voldemort lacht darüber nur und ist kurz davor, zu triumphieren, als er Itoluhila in einem unachtsamen Moment den Mitternachtsdiamanten entwendet. Doch ergattern kann ihn letztendlich die Vampirin Lady Nyx, die dadurch die einhundertfache Stärke eines gewöhnlichen Vampirs erfährt, wie ein warmblütiger Zauberer disapparieren kann und nun auch unempfindlicher gegen das für Vampire sonst vernichtende Sonnenlicht ist. Nun heißt es für Anthelia, die Trümmer der letzten Schlacht zu vergraben und sich mit dem neuen magischen Machtfaktor zu arrangieren. Sie ahnt nicht, daß ihr ärgster Gegner bereits darauf ausgeht, an ein uraltes, dunkles Erbe zu rühren, dessen Schlüssel er ohne ihr Wissen an sich bringen konnte.

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Für gewöhnliche Menschenaugen war es stockfinstere Nacht, wenn das ohnehin schon dunkle Grün des durch die Baumwipfel gefilterten Sonnenlichts erlosch. Weder Mond noch Sterne vermochten dieses Dach aus dicht an dicht liegenden Blättern zu durchdringen. Tausende von Jahren alt überspannte das natürlich gewachsene Dach des indischen Dschungels eine Fläche von mehreren hundertausend Quadratkilometern. Doch auch wenn die Nachtgestirne nicht durch die breiten Blätter an den hohchhaushohen Bäumen hindurchschienen konnte Neubeginner die Konturen der Urwaldriesen gestochen Scharf unterscheiden. Seine jedem Menschen überlegenen Augen durchbrachen diese vollkommene Finsternis. Seine jedem Raubtier Ehre machenden Ohren fingen selbst die leisesten Laute auf. Da waren Nachtinsekten, die mit fast unhörbarem Flattern und Schwirren zwischen den niedrigen Gehölzen herumflogen. Da war das Rascheln kleiner Säugetiere und ihr behutsames Trappeln. Er hörte die unangenehm hohen Suchtöne jagender Fledermäuse und konnte einige der geflügelten Säugetiere zwischen den meterdicken Baumstämmen dahinstreichen sehen. Ja, und nicht einmal einen halben Kilometer weit entfernt klangen die lustvollen Laute zweier sich liebender, die er nun seit ungefähr einem Monat kannte, Sonnenglanz und Feuerkrieger. Nachtwind, deren Atem und Körpergeruch ihm vertraut entgegenwehte, hatte ihre Tochter mit dem Bruder aus Berlin zusammengehen lassen, um neue, aus direkter Fortpflanzung heraus entstehende Artgenossen zu erhalten. Er selbst war trotz der neuen Daseinsform, die ihn im fernen Denver so unvorbereitet übermannt hatte, noch sehr schüchtern geblieben. Doch nun fühlte er, wie die Laute der Liebe ihn wohlig anregten. Auch Nachtwind fühlte wohl eine gewisse Erregung, obwohl sie mehrere Sommer älter war als Neubeginner. Sie suchte mit ihrer Hand nach seinem Körper. Er widerstand dem ersten Drang, sich von ihr fortzudrehen und erwiderte die zärtliche Kontaktaufnahme. Diese Frau da neben ihm war noch nicht alt. Das mußte er sich immer wieder sagen. Sie war stark, gesund und sehr erfahren. Von ihr konnte und wollte er eine ganze Menge lernen. Außerdem war sie seine Frau, auch wenn kein Geistlicher der Welt sie beide getraut hatte. Er lauschte auf die immer mehr in Wallung kommenden Gefährten in der Ferne. Offenbar war Feuerkrieger nicht so behutsam wie er, und Sonnenglanz verlangte den ganzen Einsatz ihres Gefährten. Neubeginner fühlte, wie der letzte Rest an Schüchternheit von Nachtwinds Liebkosungen von ihm abgestreift wurde wie ein lästiges Kleidungsstück. Dann hatte sie seine ungeteilte Hingabe gewonnen.

"Wau!" Keuchte Neubeginner nach einer ungemessenen Zeit wilder Vergnügungen. "Das war also das berühmte erste Mal", flüsterte er noch.

"Dann fühle ich mich geehrt, es dir so unvergeßlich und erfreulich bereitet zu haben", schnurrte Nachtwind, die zwar auch merklich erschöpft war, aber nach Neubeginners Auffassung nicht so heftig wie er. "Sei froh, daß du mein Gefährte geworden bist, Neubeginner. Wie du hören kannst ist meine Tochter unersättlich und ungeduldig."

"Ich weiß, die Frage ist jetzt vielleicht unangebracht", setzte Neubeginner an. Doch wie er schon öfter mitbekommen hatte konnte Nachtwind seine Gedanken lesen und sie ihm sogar wortlos übermitteln:

"Warum solltest du nicht wissen wollen, ob du mit einer noch fruchtbaren Gefährtin zusammenlebst. Natürlich will ich noch einige Nachkommen haben. Und du wirst mir ganz bestimmt dabei helfen", klang ihre kraftvolle und doch warmherzige Gedankenstimme in seinem Geist. "Ich habe dich mir ausgesucht, weil du den Mut hast, den Neubeginn mit uns zu wagen. Sonnenglanz wollte lieber einen furchtlosen Kämpfer. Aber ich möchte einen Gefährten, der auch denken kann und unsere erhabene Natur nicht in sinnlosen Kämpfen gewähren läßt."

"Fühlst du sowas, wenn du Mutter wirst?" Fragte Neubeginner.

"Wie jede erfahrene Frau, die bereits das große Vergnügen hatte, Neubeginner. Außerdem können wir beide es hören, wenn in meinem Leib ein neues Herz zu schlagen beginnt."

Sonnenglanz schrie ihre Wonne in die tiefschwarze Finsternis hinaus. Einige Tiere huschten erschrocken davon.

"Ich hoffe, diese Nacht wird meine Tochter noch kein neues Kind empfangen", sagte Nachtwind. "Sie ist eine der wenigen, die stark genug sind, in die Welt dort draußen zu gehen und nach dem geraubten Vermächtnis zu suchen. Es lag in unserer Obhut und birgt zu große Gefahren, als daß diese Räuber damit unbehelligt hantieren können", dachte ihm Nachtwind zu. Neubeginner, der früher Dennis Taller geheißen hatte, schickte ihr zurück, daß Sonnenglanz wohl selbst noch nicht ans Kinderkriegen dachte. Dann fragte er, wo sie denn die magischen Räuber dieses Schlangenstabes suchen sollten.

"Die haben sich wegteleportiert, als der Berliner ihren fliegenden Teppich abgefackelt hat", dachte er seiner Gefährtin zu, die nebenbei die nächste Runde leiblicher Liebe eröffnete.

"Der mit den steinernen Kriegern kam aus dem Land der sengenden Sonne über Sand und Staub. Der schlangenköpfige, der wohl der Anführer ist, sprach deine Muttersprache, Neubeginner. Allerdings sprach er sie mit der Farbe der weißen Besatzer, die mein stolzes, altes Land ungerechtfertigt geknechtet und ausgeplündert hatten. Sonnenglanz spricht diese Sprache. Ich habe sie vor dreißig Regenzeiten in die Eingestaltlerwelt geschickt, um deren Sprachen zu lernen und deren Lebensgewohnheiten zu erkunden, damit wir nicht in Unwissenheit verkümmern wollen", dachte Nachtwind, während sie ihren neuen Gefährten bestimmt mit sich zusammenbrachte und in der allernächsten Nähe zu ihm blieb. "Eisenpranke war zwar dagegen. Doch unsere Rollen waren klar. Er war für den Schutz des Heiligtums zuständig, während ich ... Wirst du wohl bei mir bleiben!" Den letzten Satz schnarrte sie mit körperlicher Stimme, weil Neubeginner bei dem Gedanken an den alten Patriarchen des Tempels die gerade erreichte Vereinigung beenden wollte. "Du gehörst jetzt dorthin, wo er war, Neubeginner", schnurrte sie, als sie ihn wieder mit sich zusammenbrachte. "Du gehörst mir, wie er mir gehörte. Ich gehöre dir, wie ich ihm gehörte. Also sei unbekümmert!" Dann brachte sie sich und ihn in eine Lage, aus der er ihr nicht noch einmal entwischen konnte und vollendete ihren vorherigen Gedankengang: "Denn ich bin für das geistige Wohl unserer Kinder und Kindeskinder verantwortlich. Daher schickte ich Sonnenglanz in die Welt hinaus, um sie und uns alle auf das was dort draußen ist vorzubereiten." Danach konzentrierte sie sich wieder auf das Liebesspiel mit ihrem Gefährten.

Als die ersten Vögel den neuen Morgen begrüßten erwachte Neubeginner neben Nachtwind und fühlte sich etwas matt, aber von einem unsichtbaren Ballast befreit. Er hörte es rascheln und sah Sonnenglanz, die völlig unbekleidet herankam. Sie war wesentlich schlanker als ihre Mutter Nachtwind und besaß einen für eine Inderin ungewöhnlichen hellblonden Schopf. Auch sie wirkte sehr befreit, als sie Neubeginner anstrahlte, der für einen winzigen Moment ein neues Verlangen spürte, nach der Mutter auch die Tochter zu lieben. Doch Nachtwind erfaßte das sofort und dachte ihm amüsiert und doch sehr eindringlich zu:

"Du willst doch nicht die Schwester deiner Kinder haben, Neubeginner." Sonnenglanz hatte diesen unhörbaren Satz wohl auch irgendwie mitbekommen. Denn sie grinste mädchenhaft und deutete auf ihre Mutter.

"Wäre doch lustig, wenn Onkel und Neffe zur selben Zeit geboren werden, Mutter."

"Ich fürchte, meine Tochter, dein Kharma ist es, erneut in die Welt hinauszugehen und jene zu suchen, die das geraubte Vermächtnis dunkler Vorzeit besitzen, während es uns hier bestimmt ist, unsere Familien wieder zu verstärken", sagte Nachtwind mit körperlicher Stimme. Sie sprach jene regionale Sprache, die Neubeginner zwar verstehen aber nicht so einfach nachsprechen konnte. Feuerkrieger, ein junger Europäer, kam gerade heran und sah seine sehr hübsche Gefährtin, die vor ihrer füllig wirkenden Mutter gerade aufbegehren wollte, aber durch eine simple Handbewegung jeder Aufsässigkeit entledigt wurde.

"Vorrecht des Alpha-Weibchens, oder was?" Wisperte Feuerkrieger in seinem vom deutschen Akzent durchsetzten Englisch. Neubeginner nickte. Nachtwind entgegnete darauf:

"Das habe ich verstanden, Feuerkrieger. Ich habe dich meiner Tochter zugesprochen, damit ihr beide uns bei der Wiedererstarkung unserer Blutlinien helft", erwiderte Nachtwind sehr entschlossen. "Doch wir müssen unser Erbe ehren und die Wiederkehr der uralten Dämonen verhindern, die irgendwo auf dieser Welt im tiefen Schlaf liegen. Wer Nagabapus Herrscherstab geraubt hat will diese Gefahr heraufbeschwören, weil er sich einbildet, ihr Herr und Meister zu bleiben, dann müssen wir erst recht alle Welt darauf stoßen, was geschieht. Die Schwierigkeit dabei ist nur, daß wir uns dabei selbst weder offenbaren noch unterwerfen dürfen. Wir sind und bleiben eine freie, eigenständige Rasse, deren Kraft und Entschlossenheit uns mehr Feinde als Freunde in der Welt beschert hat. Und genau deshalb kann ich nur jemanden zu den schwächlichen Eingestaltlichen hinschicken, die deren Welt kennt, klug aber auch jung und stark genug ist, sich durch das Gewirr der Feinde zu schleichen und auch unter ihnen Widersacher des Räubers zu finden, um ihm Nagabapus Herrscherstab zu entreißen oder ihn dabei zu zerstören. Allerdings hat Eisenpranke immer wieder versagt, als er versuchte, dieses üble Ding zu zerstören und wäre dabei fast von dessen hundertfachem Gift getötet worden. Wir haben lange genug unsere Wunden geleckt und um unsere Gefährten getrauert, Sonnenglanz. Hülle dich in die Tücher, die die Eingestaltlichen um ihre Körper legen, weil sie sich ihrer Natur schämen!"

"Eh, was soll das denn?" Fragte Feuerkrieger auf Englisch. "Ich dachte, Sonnenglanz und ich sollen zusammen mit dir und dem Ami da den alten Tempel wieder aufbauen und ein paar kleine Tigerkrieger in die Welt setzen. Das können Sonnenglanz und ich eh besser ..."

"weil ihr jünger seid als ich", knurrte Nachtwind und straffte sich so sehr, daß ihre füllige Gestalt nun nicht mehr behäbig sondern massiv wirkte und sie den sie um einen Kopf überragenden Artgenossen aus Europa fast ohne zu bücken in die Augen sehen konnte. Denn dieser schien im selben Maße einzuschrumpfen, um das Nachtwind zu wachsen schien. Neubeginner fühlte, daß die Frau, mit der er gerade eine sehr leidenschaftliche Nacht verbracht hatte mehr Kraft und Entschlossenheit als dieser Raketenschütze da vor ihr besaß. "Ja, ich will, daß Sonnenglanz von dir Kinder bekommt. Ja, ich weiß, daß ihr beiden mit der Kraft und der Entschlossenheit der Jugend gesegnet seid. Aber wenn du deine Söhne und Töchter aufwachsen sehen willst, ungestümer Schwiegersohn, dann wirst du es hinnehmen, daß deine Gefährtin für uns erkundet, wo die Frevler leben, die uns Nagabapus verheerenden Herrscherstab gestohlen haben! Hast du mich verstanden?" Die Frage am Schluß war so unerbittlich. Feuerkrieger sah seine Schwiegermutter mit einer Mischung aus Trotz und verhaltener Furcht an. dann rang er sich ein Ja ab und trat einen Schritt zurück. Sonnenglanz trat ehrfürchtig vor ihre Mutter hin und fragte behutsam, was denn wäre, wenn sie nun von Feuerkrieger ein Kind empfangen habe.

"Nun, sollte diese Nacht euch beide mit einem Kind gesegnet haben wirst du mehrere Mondwechsel Zeit haben, um deine Aufgabe zu erfüllen, bevor du es im Schutze unseres Tempels zur Welt bringst", erwiderte Nachtwind. "Was dich angeht, Feuerkrieger, so brauchen wir deine Kampfkraft und Befähigung, große Lasten zu bewegen, um unser neues Heiligtum zu errichten. Du bleibst also hier."

"So nich', Alte", knurrte Feuerkrieger. Nachtwind sprang aus dem Stand vor und prallte auf den jungen Europäer, der meinte, mit seiner übermenschlichen Kraft dagegenhalten zu können. Doch als er röchelnd am Boden lag, Nachtwinds eine Hand an seinem Hals und ihren Ellenbogen zwischen Lungenflügeln und Bauchdecke, wußte er es endgültig, daß er dieser Frau, der Königin der Wertiger, nicht annähernd gewachsen war.

"Du hast mich als Alpha-Weibchen bezeichnet, die ranghöchste und stärkste der Sippe. Warum wagst du es dann noch, gegen mich aufzubegehren, Jüngling?" Fragte Nachtwind. Feuerkrieger versuchte, aus seiner Angst heraus die erhabene Gestalt eines überlebensgroßen Tigers anzunehmen. Doch Nachtwind schien ihm diese Fähigkeit wie die Luft abzuwürgen. Er blieb wie er war, nur daß sich in seinem Gesicht violette, rasch ins Blau übergehende Verfärbungen zeigten. Mit letzter Anstrengung bat er Nachtwind um Verzeihung und Gnade. Sie ließ ab von ihm und erhob sich mühelos. Ohne weiteres Wort trat Nachtwind zurück, während Feuerkrieger immer noch auf dem warmen, feuchten Urwaldboden lag und laut keuchend frische Luft in die geschundenen Lungen einsog. Sonnenglanz hatte keinen Moment daran gedacht, ihrem Gefährten beizustehen. Auch Neubeginner hatte dieser kurzen aber heftigen Züchtigung unbeteiligt zugesehen. Als Nachtwind wieder neben ihn trat sagte Sonnenglanz:

"Ich werde in die Welt hinausgehen, Mutter. Aber ich bitte dich darum, mir meinen Gefährten mitzugeben, Mutter Nachtwind. Er wird sonst keine Ruhe haben, und wenn wir den Räubern dieses Herrscherstabes wirklich auf die Spur kommen sind zwei Gefährten immer noch besser als eine Einzelkämpferin unter Feinden."

"Ich sagte, er bleibt hier", versetzte Nachtwind so energisch, daß ihre blondhaarige Tochter mit dem Oberkörper zurückzuckte. Sie machte eine bejahende Geste und ging davon, um sich aus einem Versteck in der Nähe des zerstörten Tempels landestypische Frauenkleider zu holen, um den Auftrag ihrer Mutter und obersten Herrin auszuführen.

"Das ist doch Männerkram", knurrte Feuerkrieger an Neubeginners Adresse, als Nachtwind sich mit den anderen verbliebenen Wertigern besprach. "Die kann das Mädel doch nicht allein in diese Welt rausschicken. Ich bring die Alte noch um, wenn Sonnenglanz nicht wiederkommt."

"Bist du wohl ruhig!" Zischte Neubeginner. "Du weiß, die kann unsere Gedanken lesen, egal in welcher Sprache wir denken."

"Das das mal klar ist, Jüngelchen. Nur weil die Alte sich von dir bespringen läßt und vielleicht echt noch 'n Baby von dir ausbrüten kann hast du mir überhaupt nix zu sagen. Dir bin ich doch weit über, Luschi!"

"Worin, in Körperkraft, Intelligenz, Lebenserfahrung? Oder hast du nur ein größeres Maul als ich?" Erwiderte Neubeginner herausfordernd. Feuerkrieger sprang auf ihn zu ... und flog dabei über Neubeginners gestelltes Bein. Keine Sekunde später stand Neubeginners rechter Fuß im Genick des Artgenossen, der Anstalten machte sich zu verwandeln. Doch Neubeginner blieb ungemein ruhig. Keine Angst, keine Angriffslust überkam ihn.

"Du hast bei eurer Wehrpflichtkompanie gedient und da bestimmt sehr gut kämpfen gelernt, Jungchen. Aber ich bin in den Straßen von New York aufgewachsen. Da heißt jeder Tag überlebenskampf. Also denk nicht einmal mehr dran, daß du mir in irgendwas über sein solltest. Du bist echt noch zu jung für den Totengräber."

Feuerkrieger, der gerade zwischen Mensch und Wergestalt wechselte, knurrte gefährlich. Doch Neubeginner blieb ruhig. Ohne große Anstrengung vollführte er in zwei Sekunden und fast schmerzfrei die Verwandlung zum Wertiger. Er warf sich herum und hielt den immer noch nicht vollständig verwandelten Feuerkrieger mit den mächtigen Vorderpranken nieder. Nachtwind eilte herbei, sah diese Auseinandersetzung und wartete. Feuerkrieger wand und drehte sich. Doch Neubeginner hielt ihn mit stählernem Griff im Genick und am Boden. Selbst der kräftige Tigerschwanz half Feuerkrieger nicht, den Artgenossen abzuschütteln, den er offenbar körperlich unterschätzt hatte. Nachtwind lächelte und streichelte ihren Gefährten, der davon noch mehr Kraft eingeflößt zu bekommen schien. Denn Feuerkrieger ächzte unter dem Gewicht des Artgenossens. Ja, ihm entglitt sogar ein leises Winseln.

"Lass ab von ihm, mein braver Gefährte!" Befahl Nachtwind nach zwanzig Sekunden dieses Gerangels. Neubeginner stieß sich von Feuerkrieger ab, der eine Sekunde brauchte, um seine wiedergewonnene Bewegungsfreiheit zu würdigen und auf seinen Pranken davonlief.

"Er ist ein Kämpfer, aber doch schwach in seinem Willen, Neubeginner. Außerdem wurdest du auf dem Pfad der Angst um dein Leben zu uns geführt, während er auf dem Pfad der reinen Lust zu uns kam. Das macht dich stärker als ihn. Deshalb wirst du von ihm nichts mehr zu befürchten haben."

"Wenn er sich nicht rächen will", dachte Neubeginner an Nachtwinds Adresse zurück.

"Unser Erbe vergellt ihm das. Wer die Überlegenheit eines Artgenossen erfahren hat, kann sich nicht dagegen wenden, bis der Artgenosse durch Alter oder schwere Verletzungen geschwächt wird. Und du wirst bei mir bleiben und dich nicht in Gefahr bringen lassen, zu schwach zu werden. Und jetzt kehre in die menschliche Gestalt zurück!" Als habe Nachtwind ein Zauberwort ausgesprochen dauerte es keine Sekunde, bis Neubeginner seine angeborene Gestalt zurückerhielt. Er wunderte sich, daß ihm die Verwandlung nicht wehtat. War es für Werwölfe nicht die Hölle auf Erden, wenn sie sich in ihre Tiergestalt verwandelten?

"Die hundeartigen Gestaltwechsler sind unvollkommen", dachte ihm Nachtwind zu. "Sie können die Wandlung nicht mit dem Willen bewirken und erleiden große Qualen, wenn sie sie überkommt. Ich werde dich unterweisen, wie du die erhabene Gestalt in einem Augenblick annehmen kannst. Denn du wurdest mit unserem Erbe im Blut geboren und nicht durch Verbrüderung damit gesegnet." Tatsächlich stand sie keine Sekunde später als große Tigerin mit rotbraunm Fell und dunkelgrauen Streifen vor ihm. In dieser Gestalt wirkte sie behäbig wie eine überdimensionierte Hauskatze, die von ihren Haltern übermäßig gefüttert wird. Doch Neubeginner kannte ja nun die geschmeidigen Muskeln, die sich unter der Speckschicht verbargen. Dieses Wesen da würde trotz der vielen Sommer Vorsprung vor ihm die Mutter seiner Kinder sein. Nachtwind kehrte beinahe übergangslos in ihre menschliche Erscheinungsform zurück und strahlte Neubeginner an. Dieser fragte sie, ob eine schwangere Artgenossin das auch machen konnte.

"Ungeborene Kinder ruhen sicher in den Leibern ihrer Mütter, ohne von dem Gestaltwechsel betroffen zu werden. Nur können wir nur in der menschlichen Daseinsform empfangen, selbst wenn die Wonne in der erhabenen Gestalt noch leidenschaftlicher ist. Ja, auch das werde ich dich lehren, weil du unser Erbe mit größerer Besonnenheit trägst als Feuerkrieger." Dann winkte sie Neubeginner, ihr zum Rat der acht Verbliebenen zu folgen, um Sonnenglanzes Entsendung zu verkünden. Feuerkrieger kämpfte derweil mit seinen Gefühlen. Einerseits quälte ihn der Rachedurst. Andererseits fühlte er sich bei den Gedanken, den amerikanischen Bubi fertigzumachen hundeelend, ja dachte daran, daß er das nicht tun durfte. So bekam er von der ihn so aufwühlenden Neuigkeit nicht mehr viel mit. Seine Angetraute Sonnenglanz hatte sich nun in einen himmelblauen Sarong gehüllt und hantierte an ihrem goldblonden Haar. Damit würde sie doch auffallen wie ein bunter Hund, dachte Feuerkrieger beim Anblick dieser hellen Haarpracht. Doch die alte Nachtwind und ihr Bettwärmer und Deckhengst hatten ihn beide alt aussehen lassen. Er wußte es nun, daß er besser parieren sollte, wenn sie ihn nicht als Feind umlegen wollten, sobald er Sonnenglanz erfolgreich geschwängert haben würde. Doch Nachtwind würde irgendwann den Weg alles irdischen gehen, und dann war der hinterhältige Amiländer fällig, dachte Feuerkrieger. Dann würde Sonnenglanz mit ihm das ranghöchste Paar bilden. Wie konnte er auch wissen, daß geborene Wertiger vier Menschenleben überdauern konnten, wenn sie nicht von Artgenossen, Waldbränden oder eingestaltlichen Feinden getötet wurden? Woher sollte er wissen, daß Nachtwind gerade einmal zweihundert Jahre alt war und wohl noch mal so viele Jahre leben, ja im Moment noch gesunde Kinder bekommen konnte? Wenn er gewußt hätte, daß seine junge, attraktive Gefährtin, die gleich für längere Zeit in die feindliche Welt hinausgehen sollte, so alt war wie seine eigene Mutter, vielleicht hätte er sie dann nicht mehr als "sein wildes Mädchen" bezeichnet.

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Tropf! Tropf! Tropf! Nur dieses alle zwei Dutzend Sekunden erklingende Geräusch beherrschte die weitläufige Höhle, mehrere hundert Meter unter dem Grund eines ausladenden Gewässers. Totale Dunkelheit regierte dieses Reich aus blankem, kaltem Stein. Vor Jahrmillionen, als die letzten Dinosaurier vom Angesicht der Erde verschwunden waren, hatten an dieser Stelle mächtige Bäume gestanden, riesige Schachtelhalme. Älter als alle lebenden Bäume der Erde, jedoch um einige hundert Jahrmillionen jünger als jene Wälder, deren versteinertes Holz von den Menschen aus dem Schoß der Erde herausgeschlagen und in großen Brennöfen verheizt wurde, wachten die versteinerten Baumriesen aus jener vergessenen Zeit über das finstere Vermächtnis Sharanagots, der in seiner Heimat auch Skyllian genannt worden war. Unter den steinernen Wurzeln jener verschollenen Bäume ruhten sie: Einhundert mehr als zwei Meter lange und einen Meter durchmessende Zylinder aus jenem fast vergessenen Metall, das wie kein anderer Stoff auf dieser Welt Magie in sich aufsaugen und speichern konnte wie ein Schwamm. In diesem Fall war es der Zauber der überdauernden Treue, einem Schlaf, der die von ihm durchdrungenen über Jahrtausende vor den Fährnissen der Elemente schützte, nicht lebendig und doch nicht tot warten ließ. Spinnwebfeine Verbindungen aus konzentrierter Magie flossen von den hier verborgenen Behältern zu einem fernen Gegenstand, in dem sie alle wie auf einem großen Wollknäuel aufgewickelt waren. Eines Tages würde jemand diesen Gegenstand benutzen, um das Vermächtnis Skyllians in die Welt der Sonne und des Lebens zurückzubringen.

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Er hatte seine widerwärtigen Worte und Beschwörungen gehört und die Schreie jener, die an den Folgen zu leiden hatten. Doch er konnte nichts dagegen tun. Er war zwar mächtiger als ein körperlich vorhandener Magier, ja auch mehr als ein Geist. Doch er hatte bis auf einen winzigen Kanal in die materielle Welt jeden Kontakt verloren, als er damals die Gnade und den Schutz des Ra erfleht hatte. Obwohl er bei seinem Übergang in diese Daseinsform den eigenen Leib in reine Magie aufgelöst hatte empfand er sich immer noch als körperliche Daseinsform mit einem Kopf, zwei Ohren, zwei Augen, einer Nase und einem Mund, einem aus sich selbst leuchtendem Körper zwei Armen und zwei Beinen. Ja, auch daß es ein "Er" war, war ihm immer noch vertraut. Mit seinen Augen vermochte er, das vergangene und jetzige Geschehen an allen Orten der materiellen Welt zu beobachten. Doch wenn er die Zukunft sehen wollte, offenbarte sich diese immer als ein Nebel aus verwirrenden Farben und Formen, aus dem sich nur für winzige Augenblicke die genauen Konturen von Wesen oder Dingen hervorwagten. Mit seinen Ohren konnte er die Gedanken jener hören, deretwegen er sein neues Dasein angenommen hatte. Er hörte die durch den Raum seiner Daseinsspähre wispernden Stimmen seiner Vertrauten, seiner Verwandten und Freunde. Doch gleichfalls hörte er die ihn verachtenden Gedanken seiner Feinde, ob es der Seelenverstümmler war, der auf diese Weise seinen Halt in der stofflichen Welt behauptet hatte, die aus einem selbstgewählten Kerker befreite und mit neuer Gestalt bekleidete Seele einer alten Kämpferin für die Sache der Unterdrückung oder das hämische Geraune der gerade nicht schlafenden Töchter der Nachtfrau, von der es hieß, sie habe mit Apophis' Segen neun Töchter gezeugt, um dann in die endgültige Welt eingetreten war, zu der er selbst nicht hinüberwechseln konnte, da er sein Leben und seinen Tod dem Dienst gegen die bösen Hexen und Zauberer geopfert hatte. Er hörte das Unwesen frohlocken, das sein letzter Gegner auf der stofflichen Welt trieb. Seine durch die Unendlichkeit der Gedanken, Träume und Gefühle wehende Stimme war die lauteste, weil sie unmittelbar mit seinem Übergang verbunden war. Er hörte Alcara, wenn er neue Golems formte. Litt mit denen mit, die er dafür quälte und tötete. Die Qual war so groß, daß er selbst dann keine Linderung davon empfand, wenn die gepeinigten Seelen aufatmend in die endgültige Welt hinüberglitten, wo ihre geliebten Vorfahren sie empfingen. Er hatte doch kläglich versagt. Seine Aufgabe war es, genau diese grausame Herrschaft der alten Meister irdener Sklaven zu verhindern. Er hatte darauf vertraut, daß die Gnade des Ra ihm die Macht geben würde, gegen Alcara zu kämpfen. Doch kaum war die schwarze Festung vergangen, hatte er bis auf diesen schmalen Verbindungskanal allen Halt in der stofflichen Welt eingebüßt. Ohne ihn liebende und ihn haltende Seelen auf der stofflichen Daseinsebene war er nur ein hilfloser Zuschauer. Der einzige Trost, den er empfand war der, daß er in dieser Daseinsform nicht alleine war. Mächtige andere Wesen bevölkerten diesen nicht mit menschlichen Begriffen erklärbaren Bereich. Es waren samt und sonders vom Licht erfüllte, die den einzig wahren Weg des überdauerns beschritten hatten. Er hatte gestaunt, als er erfuhr, daß nicht nur sein Urvater, der einst mit der Sonne selbst gleichgestellt wurde in dieser Daseinssphäre weilte, sondern auch mächtige Söhne und Töchter aus den Geschlechtern des sagenumwobenen Vorreiches, dessen Bewohner nach einer verheerenden Katastrophe über die ganze Weltenkugel versprengt worden waren. Vor allem die aus der fünften Generation nach dem Untergang hervorgetretene Meisterin von Licht und Leben, die großmächtige Ashtaria, hatte ihm in seiner ungewollten Tatenlosigkeit etwas Trost gespendet. Und dann, etliche für ihn wie funkelndes Feuerwerk verpuffte Monate später, durfte er Zeuge einer Geburt werden. Zwei Seelen, in ihrer Liebe zu einem Sterblichen von ihren Körpern gelöst, waren von ihr empfangen und zu einem neuen, wie er selbst so mächtigem Wesen herangereift worden. Er hatte den Vorgang der schmerzlosen Geburt mit großer Freude mitverfolgt, ohne dabei anwesend zu sein. Dann, als das Zweiseelenkind Ammayamiria zu ihnen getreten war, hatte er ein wenig Neid empfunden. Denn Ammayamiria besaß in ihrem Sein eine Brücke auf die Welt der Stofflichkeit, weil dort noch viele Menschenseelen wandelten, die ihren Elternseelen in Liebe und Anteilnahme verbunden waren. Die Aufgeschlossenheit eines jungen Mädchens und der Erfahrungsschatz und die Weisheit einer liebenden Großmutter verliehen Ammayamiria eine Zaubermacht, nach der jeder irdische Magier sich alle zehn Finger lecken würde. Doch diese Macht konnte sie nur nutzen, wenn sie über eine Brücke in die stoffliche Welt hinübergerufen wurde.

"Du hörst wieder die Klagen der Opfer deines Erzfeindes?" Fragte Ammayamiria ihn, Faisal Amun, als er sich wieder einmal zu sehr auf das ferne Wehgeschrei einstimmte.

"Es schmerzt mich, nichts für sie tun zu können, Ammayamiria", antwortete er. Er empfand die Nähe dieses alle Stärken der weiblichen Seele vereinende Wesen neben sich, war daran gewöhnt, daß sie ihm als rotgoldene Frauengestalt mit langem, sanft gewelltem Haar erschien. Immer wieder war er versucht, sie um Hilfe gegen Alcara zu bitten. Doch er hatte lernen müssen, daß auch in dieser Daseinsform unbrechbare Gesetze galten. Eines davon lautete, daß jene, die in dieses Sein übergewechselt waren nur jenen beistehen konnten, mit denen sie noch eine Verbindung hielten. Da keines der Opfer Alcaras mit Ammayamiria verbunden war, konnte sie ebensowenig ausrichten wie er selbst.

"Ich empfinde mein Tun als Strafe. Ich habe mich mächtiger machen wollen als ich war und bin nun ohnmächtig den Wehklagen ausgeliefert", seufzte Faisal. Obwohl seine Wiege am Nil und ihre Wiege im Lande der Franken gestanden hatte verstanden sie sich ohne ihre Sprache gelernt zu haben.

"Auch ich empfinde eine gewisse Unruhe, Faisal", gestand ihm Ammayamiria. "Ashtarias Urmutter hat meinem Geliebten eine schwere Bürde aufgeladen. Und ich fühle, daß in unserer früheren Welt etwas sehr böses darauf wartet, aus langem Schlaf zu erwachen. Mein Geliebter soll die Waffe bergen, um es zu bannen. Doch eine uralte Magie hält das Tor dazu verriegelt. Ich fürchte, er und seine neue Gefährtin und alle die sie lieben werden einer grausamen Zeit entgegengehen."

"Hast du dem Jungen helfen können?" Fragte Faisal mitfühlend.

"Dies war nicht nötig, weil er für diese Aufgabe genug Willenskraft, Mut und Wissen hat, Faisal. Er weiß, daß ich ihm und den leiblichen Verwandten meiner Mutterseelen nur dann helfen werde, wenn sie in eine unausweichliche Situation geraten, aus der sie sich mit eigener Kraft nicht heraushelfen können. Meine Mutter Ashtaria ist jedoch zuversichtlich, weil sie den Jungen sehr gründlich geprüft hat und die leibliche Mittlerin zwischen meinen Mutterseelen Ashtarias Erbe erhalten hat."

"Ich habe es vernommen, wie der junge Mann, für den deine Mutterseelen ihre Körper aufgegeben haben, in einem Tempel der Mondgöttin zu Mann und Frau wurden. Aber ich frage mich immer, ob sie dafür nicht ein wenig zu rasch vorgegangen sind."

"meine Mutterssele Claire mochte die junge Hexe zwar nicht sonderlich, die ihren Verlobten zum Gefährten haben wollte. Doch das war ja nur, weil sie genau wußte, daß er nur bei ihr den nötigen Halt in der Welt finden würde. Das mit dem Mondtempel, wie du ihn nennst, war nötig, um ein Tor durch die in ihm errichtete Mauer scheinbarer Vernunft zu brechen. Ich bin zumindest sehr beruhigt, daß er wieder Lust am Leben fühlt, auch wenn Ashtaria ihn niemals in die Welt zurückgelassen hätte, wenn die Freude am Leben und der Wille, auch mit großen Schwierigkeiten umzugehen nicht schon in ihm gewirkt hätte", erwiderte Ammayamiria.

"Ich wünschte, ich hätte damals solches Glück erlebt wie du, Ammayamiria. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte den Tod angenommen, als mein Leben und meinen Tod aufzugeben."

"Wenn ich in der kurzen Zeit, die ich hier bin eins gelernt habe, Faisal, dann daß wir nur hier sind, weil wir die Kraft haben, zur rechten Zeit einzugreifen", sagte Ammayamiria. Faisal bejahte es unwillig. Dann fühlte er, wie im Geist seines Erzfeindes der Widerwille aufflammte. Ihm war etwas eingefallen, was ihn aus der Knechtschaft befreien würde, in die der Seelenverstümmler ihn mit seinem Brandzeichen hineingezwengt hatte.

"O nein, er kennt die alten Werke der Söhne Seths", stöhnte er. Ammayamiria erfaßte ohne überflüssigen Wortwechsel, was Faisal meinte. Denn ihre Mutterseele Aurélie hatte gleichfalls von diesen alten Werken erfahren. in den Ländern am roten Meer war die Golemkunde eine alte und sorgsam gehütete Lehre und Kunst. Es war nicht nur möglich, Sklaven und Henker aus belebtem Erdreich zu erschaffen. Zwei der Großmeister der Golemkunde, die nur als "Die Söhne des Seth" bezeichnet wurden, weil sie die Urgeheimnisse der dunklen Zauberkunst bewahrt hatten, waren im Stande gewesen, Golems zu erschaffen, die gegen alle Formen der Elemente gefeit waren und den Körpern oder Seelen ihrer Meister als Zufluchtsstatt und magische Rüstung zur Verfügung standen. Diese Golems galten als die verderblichsten magischen Artefakte. Denn um sie zu schaffen und zu lenken mußte ihr Schöpfer bereit sein, mindestens zehn magische Menschen in grausamen Ritualen zu töten, um die Essenz ihrer zauberkraft in nur einen einzigen Golem einzuwirken. Offenbar hatte Alcara bis jetzt davor zurückgeschreckt, weil die Söhne des Seth ihren Schülern auch die Warnung mitgegeben hatten, daß sie selbst bei Vollendung ihres Werkes den Tod finden mochten, wenn sie nicht genauestens nach den überlieferten Angaben handelten.

"Er wird das Wagnis eingehen, um der Sklaverei zu entweichen", sagte Faisal betrübt. "Und ich kann ihm nicht entgegentreten und ihn davon abhalten."

"Womöglich wirst du einen Weg finden. Meine Mutterseele Aurélie dachte immer wieder daran, daß es mehr als einen Weg aus einer scheinbar aussichtslosen Lage gibt", erwiderte Ammayamiria. Faisal glaubte es jedoch nicht so recht. So schwieg er nur. Als Ammayamiria sich geistig etwas von ihm entfernt hatte, um die Geschicke der mit ihr verbundenen Menschen zu verfolgen, mal durch die Augen eines gerade wenige Wochen alten Mädchens in die Welt blickte, mal neben einem Apfelbaum in einem Garten schwebte, lauschte Faisal Amun auf die immer triumphierender ausgeprägten Gedanken Alcaras. Ja, er wußte, wo er die genaue Anleitung für den Bau dieses überragenden Golems finden konnte. Zwar hielt er seinen Geist vor möglichen Lauschern verschlossen. Doch Amun konnte trotzdem hören, wie in Alcara der Plan zur Beendigung der Unterwerfung heranreifte.

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Es waren wohl zweihundert Hexen und Zauberer, Erwachsene und Kinder, die sich an diesem vierzehnten Juli im Gemeindehaus von Misty Mountain eingefunden hatten. Also waren nicht nur alle Bewohner dieses winzigen, hoch in den Rocky Mountains gelegenen Zaubererdorfes gekommen, sondern auch einige wichtige Weggefährten jener Hexe, deren sterbliche Hülle gerade auf einem langen Marmortisch auf einer Decke aus schwarzem Samt ruhte. Der Leichnam Pandora Stratons trug ein dunkelgrünes Brokatkleid, das genau auf die Farbe ihrer nun geschlossenen Augen abgestimmt war. Pandoras nun kalte Hände lagen zusammengefaltet über dem Brustkorb, und das dunkelbraune Haar war sorgfältig links und rechts von ihrem Kopf ausgebreitet worden.

Anthelia hockte im Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers in der hinteren rechten Ecke des kleinen Saales und verfolgte die feierliche Beisetzungszeremonie. Nur Patricia Straton, Pandoras einzige Tochter, die neben ihrem Bruder Ross und ihrem Vater in der ersten Reihe saß und gerade eine weitere Tränenflut in ein großes, schwarzblaues Taschentuch vergoss, wußte, daß Anthelia heute hier erscheinen würde. Doch Anthelia war sich sicher, daß auch die vier Reihen hinter Patricia zwischen zwei anderen Hexen sitzende Daianira Hemlock davon ausging, daß ihre neue Konkurrentin hier war. Die Führerin der entschlossenen Schwestern nordamerikas wirkte im Vergleich zu Patricia völlig unbekümmert, ja so, als wolle sie lediglich zusehen, wie eine längst fällige Handlung zu Ende gebracht wurde. Daneben erkannte Anthelia auch diverse Hexen und Zauberer, die in der nordamerikanischen und westeuropäischen Zaubererwelt Rang und Namen besaßen. Da saß Godiva Cartridge, die Frau des amtierenden Zaubereiministers und rang mit ihrer Trauer. Offenbar hatte ihr wichtiger Gatte gerade anderes zu tun. Da saß Elysius Davidson, der Leiter des Marie-Laveau-Institutes und blickte mitfühlend auf die Bank der Hinterbliebenen. Gleichfalls anwesend waren die fast weißhaarige Ernestine Wright von Thorntails und ihre ärgste Konkurrentin, die Leiterin der reinen Junghexen-Akademie Broomswood, Alexandra Pabblenut. Anthelia erkannte Ludwig Graustein mit seiner Frau. Der dunkelblonde Zauberer aus Deutschland leitete in seiner Heimat das Institut für magische Frühgeschichte und Zauberwesengenialogie. Sie erkannte den kleinwüchsigen Mirando Pontini, der für das italienische Zaubereiministerium die magischen Schriften des römischen Weltreiches aufbewahrte. Dieser stand Patricia Straton im Punkte Tränen nicht nach. Antehlia wußte es von ihrer gemeinsamen Zeit mit Pandora, bevor diese ihr Crouches Körper verschafft hatte, daß Pontini sie unheimlich stark verehrt hatte und er sogar einige Male versucht hatte, ihr einen Liebestrank unterzujubeln, was ihm fast ein Duell mit Pandoras Ehemann eingetragen hätte, wenn Pandora die ihr zugedachte Dosis nicht an Befana Gattovoce weitergeleitet hätte, die in der für ihr Volk typischen Leidenschaft über Pontini hergefallen war und ihn, weil sie glaubte, er sei zu schüchtern, zur körperlichen Liebe mit ihr bedrängt hatte. Als die Wirkung des Liebestrankes dann abgeebbt war und Befana von Pontini ein Kind unter dem Herzen trug, hatte sie ihm gedroht, ihn ins Gefängnis zu bringen, wenn er ihr nicht einhunderttausend Galleonen Schmerzensgeld und Alimente zukommen ließ. An dieser Summe arbeitete Pontini Anthelias Wissen nach heute noch, obwohl die Affäre schon fünf Jahre her war. Das Kind, ein Sohn namens Pompeio, lebte heute mit seiner Mutter in einem stattlichen Landhaus auf Sizilien. Doch offenbar hatte dieser Reinfall Pontinis Liebesglut für Pandora nicht ersticken können. Erst der Mord an der immer noch vergötterten würde dieses schwehlende Feuer auslöschen.

"... so bleibt uns Verbliebenen nur der Schmerz über den Verlust und die Gewißheit, daß unsere durch schändlichen Mord von unserer Seite gerissene Gefährtin in einer Welt angekommen ist, in der alle weltliche Mühsal vergessen ist", sprach der in schwarzen Samt gekleidete Zeremonienzauberer. "So wollen wir nun die vergängliche Hülle unserer geliebten und geehrten Mithexe dem Licht und der Wärme der alles belastendes tilgenden Flammen übergeben." Er hob seinen Zauberstab an, und ließ Pandoras Leichnam sanft wie eine Feder vom Tisch emporsteigen. Es wirkte so, als schwebe sie aus eigenem Antrieb, als triebe sie leichter als die Luft nach oben. Sie lag dabei immer noch auf jener breiten Samtdecke. Dann drehte sich der marmortisch wie auf einem Schraubgewinde mehrmals um sich selbst und versank leise rumpelnd im Boden. Pandoras lebloser Körper verharrte einen Meter unter der Decke, die größtenteils von einem mehrfarbigen Mosaik ausgefüllt wurde, das fliegende Hexen und Zauberer auf Besen zeigte, wie sie mit schwarz-blauen Donnervögeln um die Wette flogen. Anthelia hatte sich von Patricia erklären lassen, daß das Deckenmosaik sich der hier stattfindenden Veranstaltung anpaßte. Bei Hochzeiten trugen die Hexen und Zauberer goldene Gewänder und wurden von Phönixen begleitet, die Symbole für Treue, Heil und Erneuerung. Jetzt trugen die dargestellten Besenreiter nachtschwarze Umhänge, und die Donnervögel standen für die Macht des unüberwindlichen Gangs alles Irdischen. Anthelia sah wieder auf den Boden, aus dem nun eine große, golden glänzende Wanne emporglitt, die an die Stelle des Tisches rückte. Kaum stand diese, sank der schwebende Leichnam genau darüber herab, als würde er von der schwarzen Samtdecke getragen. Dann landete Pandoras Körper in der goldenen, leeren Wanne. Der Zeremonienmagier griff in eine weite Tasche seines Umhanges und holte einen Quader aus gediegenem Silber hervor. Dann winkte er Pandoras Kinder Patricia und Ross zu sich. Sie traten an die große goldene Wanne heran und verneigten sich vor dem Leichnam im grünen Brokatgewand.

"Möge ihr Gesicht uns in allen Zeiten in Erinnerung bleiben", sagte der Zeremonienmagier und legte den Silberquader auf die Stirn der Toten. Patricia und Ross holten mit schwerfälligen Bewegungen ihre Zauberstäbe hervor und richteten sie auf das glänzende Stück aus Edelmetall. Anthelia hatte eine solche Prozedur schon einigemale gesehen. Wer es sich leisten konnte oder im Leben wichtig war, ließ unmittelbar vor einer Feuerbestattung eine Totenmaske anfertigen, um ein greifbares Überbleibsel zu hinterlassen. Vor dem eigentlichen Testament der Toten war eine Anweisung für ihre Beisetzung veröffentlicht worden. Sie hatte mit ihrem Mann und ihren Kindern vereinbart, daß sie nicht in einem Erdgrab und auch nicht in einer Gruft oder einem Grabmal liegen wollte. Außerdem hatte sie genug Geld für eine silberne Totenmaske angespart, im Grunde das Geld, was sie dafür ausgab, in Form von Sickeln in diesem Silberquader einschmelzen lassen, der jetzt auf ihrer Stirn lag. Der Zeremonienmagier deutete auf den Quader und murmelte leise Worte, worauf sein Stab und die Stäbe der Stratons silbern aufglühten und den Quader erleuchteten, der nun wie geschmolzen auseinanderfloss, dabei aus sich selbst heraus immer heller erstrahlte und sich gleichmäßig über das Gesicht der Toten verteilte, bis von der Stirn bis unter das Kinn alles unter einer leuchtenden Substanz lag, die sich konturgenau jeder Ausprägung und Einbuchtung anschmiegte. Nach zehn Sekunden erlosch das magische Licht, und eine feste, wenn auch sehr dünne Maske aus reinem Silber zeichnete Pandora Stratons Gesicht in allen Einzelheiten nach. Patricia und Ross griffen sachte nach der soeben erschaffenen Totenmaske und zogen sie mit etwas Mühe vom Gesicht der verstorbenen Mutter. Dann traten sie zurück, um dem Zeremonienmagier Raum für den letzten Akt zu schaffen.

"Corpocremato!" Rief der Zeremonienmagier, nachdem er sich ein letztes Mal vor der Toten verbeugt hatte und zielte mit dem Zauberstab auf die goldene Wanne. Aus dieser schlugen nun laut tosend rotgoldene Flammen empor, die rauch- und funkenlos bis knapp unter die Decke fuhren. Anthelia sah wie alle anderen, wie die Wanne, in der Pandoras Leichnam nun verbrannte langsam kleiner wurde, dabei jedoch immer höhere Wände bekam. Außer dem Schein, der Wärme und dem Brausen des Zauberfeuers drang nichts durch die Halle. Kein Geruch nach verbrennendem Stoff oder Fleisch. Das magische Feuer verschlang derartige Unannehmlichkeiten, bevor sie in alle Richtungen entweichen mochten. Anthelia beobachtete mit einer Mischung aus Andacht und Ehrfurcht, wie die goldene Wanne weiter einschrumpfte, dabei zu einem großen, hochwandigen Topf wurde, der dann, nachdem er eine gewisse Endform erreicht hatte, weiter zusammenschrumpfte, bis er die Größe eines kleinen Kochtopfes erreicht hatte. Das aus ihm lodernde Zauberfeuer verschmälerte sich, als der Topf sich oben von außen nach innen zu schließen begann, bis die Flammen zu einer fingerdicken Feuersäule und dann zu einer haarfeinen Flamme zusammengeschrumpft waren. Mit einem leisen, metallischen Klicken verschloß sich das Bestattungsgefäß endgültig und unaufklappbar. Dann trat der Zeremonienmagier an den auf dem Boden stehenden Behälter heran und zog mit dem Zauberstab eine Spur auf dem Metall, in das wie von einem unsichtbaren Stichel eingraviert wurde:

"Pandora Muriel Straton Requiescas in Pace!"

Der Zeremonienmagier winkte den direkten Hinterbliebenen. Mr. Straton nahm die goldene Urne, die doch ein beachtliches Gewicht besaß, während Patricia und Ross die Totenmaske ihrer Mutter wie eine erhabene Reliquie trugen. Der zeremonienmagier verabschiedete die Trauergemeinde und wünschte ihnen Tage des Friedens und der Freude.

Anthelia wartete, bis die trauernde Gesellschaft den Versammlungsraum verlassen hatte und huschte weiterhin unsichtbar hinter den Nachzüglern her, eine Mutter mit zwei halbwüchsigen Jungen, die wohl drei Jahre auseinander waren und Schüler in Thorntails waren.

"Mat, glaubst du echt, daß Du-weißt-schon-wer die umgeflucht hat?" Fragte der jüngere den älteren.

"Das haben der Herold und der Westwind so rausgehängt, Dave. Könnte auch sein, daß eine von den Ladies, die hier waren sie abgemurkst hat. Mom meinte doch, daß die Straton zu so'ner komischen Hexentruppe gehört haben könnte."

"Seid ihr denn des Wahnsinns!" Fauchte die Mutter der Beiden. Ihr Gesicht war eine einzige, bleiche Maske der Erschrecktheit. "Wir sind hier doch nicht alleine, zum Donnervogel noch mal", schnaubte sie weiter. Die beiden Jungen kicherten verächtlich, sprachen aber nicht weiter miteinander. Anthelia folgte ihnen als unsichtbarer Schatten bis hinaus aus dem Gemeindehaus, wo sie zusah, wie Patricia sich mit einer älteren Hexe unterhielt, die zwar nur in der zweiten Reihe gesessen hatte, jedoch vom Gesicht und den Augen her näher mit der gerade feuerbestatteten Pandora verwandt war. Anthelia kannte sie. Es war Pandoras Tante Meridith, bei der sie nach dem viel zu frühen Tod ihrer Eltern aufgewachsen war. Sie hatte Pandora zu den schweigsamen Schwestern gebracht. Allerdings hatte Meridith Broomsberg nichts mit Daianiras Gefolgschaft zu tun gehabt und sich sehr bald von ihrer Nichte und Ziehtochter abgewendet, als diese sich auf Daianiras Seite schlug. Daher kam wohl auch diese Reserviertheit, mit der Meridith ihre Großnichte Patricia betrachtete, während sie ihrem Bruder und ihrem Schwiegerneffen aufmunternd zusprach. Immerhin begleitete sie ihre Verwandten nun, nachdem sie sich im Trauersaal im Hintergrund gehalten hatte bis zum Gipfelhaus, dem Gasthaus von Misty Mountain, das entgegen seinem Namen im Moment unter klarem Himmel im hellen Sonnenschein lag, der sich blendend hell in der Urne und der Totenmaske wiederspiegelte, so daß Patricia die Maske unter ihrem Trauerumhang verbergen mußte und ihr Vater seinen tiefschwarzen Zylinder über die Urne stülpte.

"Ihr bringt ihre Asche in mein Haus, Tyr. Patricia kann ihre Totenmaske zu euch mitnehmen", sagte Meridith zu Mr. Straton. Dieser verzog jedoch das Gesicht und sagte:

"Bei allem Respekt, Tante Meridith, aber Pandora wollte, daß wir ihre Urne bei uns unterstellen. Das hat sie zumindest in der Bitte für die Beisetzung niedergelegt."

"Sie schrieb dort auch, daß sie dort bestattet werden wollte, wo sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Deshalb sind wir ja auch heute hierhergekommen, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, Tyr. Außerdem weiß ich, daß Pandora sehr gerne in dem Zimmer ruhen würde, in dem sie als Mädchen gewohnt hat. Falls ihr das möchtet, können wir dort ihr wichtige Gegenstände als Andenken an sie unterbringen."

"Die glücklichsten Jahre ihres Lebens hat sie ja wohl mit mir und ihren Kindern verbracht, Tante Meridith", widersprach Tyr Straton. "Außerdem haben Patricia und Ross bereits einen großen Schrein für ihre Urne aufgestellt. Du wirst es wohl respektieren müssen, daß meine Frau bei uns verbleibt."

"Du benimmst dich kindisch, Tyr Straton", schnaubte Meridith Broomsberg und griff sich energisch in das dunkelbraune, an einigen Stellen schon silbrig schimmernde Haar. "Ich weiß, daß Pandora ihre Beisetzungsbitten so formuliert hat, daß sie hier dem Corpocremato-Zauber übergeben wird, um dann im Haus ihrer Kindheit und Jugend zu ruhen", beharrte Mrs. Broomsberg auf ihre Entscheidung. Anthelia verharrte derweil unsichtbar und lautlos in Hörweite. Was die gute Meridith nicht mitbekam war, daß ihre Gedanken für Anthelia ein offenes Buch waren, ohne das die wiedergekehrte Nichte Sardonias Legilimentik benutzen mußte. So erfuhr Anthelia, daß Meridith Broomsberg gar nicht beabsichtigte, die Urne mit der Asche ihrer Nichte unangetastet in einem ausgemusterten Kinderzimmer aufzustellen. Vielmehr wollte sie, wenn sie sie für sich hatte, öffnen, die Asche in einen anderen Behälter umfüllen, die leere Urne wieder verschließen und dann erst fortstellen, während sie die Asche unter die Erde in ihren Gemüsebeeten vermischte. Doch nicht nur Anthelia konnte Meridiths Gedanken erfassen. Denn Patricia sagte gerade:

"Als wenn meine Mutter nicht gewußt hätte, was du vorhast, Tante Meridith. Du willst mit ihrer Asche dein Gemüse düngen, nicht wahr? Meinst wohl, sie hätte auf diese Weise den Krach mit dir beenden wollen, den sie nicht angefangen hat."

"Mädchen, sei du mal ganz still", schnaubte die ertappte Großtante. "Es kommt ja sonst nur solch haarsträubender Unfug bei heraus. Deine Mutter hätte dich von mir anleiten lassen sollen, was du nach Thorntails machst. Dann hätte sie mir und allen anderen bewiesen, daß sie wahrlich nach Versöhnung mit mir strebte. Die einzige Möglichkeit zur Versöhnung, die ihr noch bleibt ist also die Ruhe in meinem Haus."

"Bis ihre Asche von deinem Blumenkohl und deine Kartoffeln einverleibt worden und von dir gemampft worden wäre", blieb Patricia energisch. "Wir gehen jetzt da rein und halten unsere Gedenkfeier ab. Danach bringen Dad, Ross und ich Moms Asche zu uns nach Hause."

"Ich sagte schon, Mädchen, daß du dich besser geschlossen halten solltest", fauchte Meridith. Mr. Straton funkelte sie zornig an, nickte seiner Tochter zu und disapparierte einfach. Meridith Broomsberg schrie empört auf, weil er Pandoras Urne einfach mitgenommen hatte.

"Du hast die ganze Zeit so schön teilnahmslos dagesessen, Tantchen", meinte Ross. "Kannst ja jetzt auch so unbeobachtet abrücken."

"Junge, lass dich nicht von deiner Schwester verderben", knurrte Meridith und deutete auf Patricia, die den auf sie gerichteten Zeigefinger mit einem überlegenen Lächeln abwetterte. "Deine Mutter hat Sachen getan, die ich nur im Sinne von de Mortuis nisi nihil bene verschweigen möchte. Bedenke das, bevor du meinst, deiner frechen Schwester nach dem Mund zu reden!"

"Das Angebot gilt noch, Tante Meridith", schnarrte Patricia. Da begann Meridith Broomsberg auf einmal bitterlich zu weinen, als wolle sie alle während der Beisetzungsfeier zurückgehaltenen Tränen auf einmal vergießen.

"Diese Sabberhexe wird euch Pandora noch hinterherschicken", heulte sie. Dann wandte sie sich ab und ging schniefend davon. Offenbar fehlte ihr die Beherrschtheit, um zu disapparieren. Als Mr. Straton mit leeren Händen wieder auftauchte und sah, wie seine Schwiegertante wie ein getretener Hund davontrottete fragte er Patricia, was das eben sollte. Diese meinte nur, daß in Pandoras Familie üblich war, die Asche von geliebten Verstorbenen in der Gartenerde zu vermischen, um so die letzten körperlichen Überbleibsel auf eine natürliche Art wiederzuverwerten.

"Ja, um sie dann als großen Haufen ins Klo plumpsen zu lassen", schnaubte Tyr Straton. "Aber nicht mit meiner Frau, eurer Mutter, die mit mir zusammen hart dafür gekämpft hat, daß ihr beiden was werdet. Alte Sabberhexe Meridith!"

Anthelia verfolgte die Trauergäste bis zur Tür des Gasthauses. Dabei wurde sie Zeugin, wie Daianira Hemlock sich mit einer anderen Hexe unterhielt, von der Anthelia wußte, daß sie in ihrer Gefolgschaft mitmarschierte.

"Sie haben die Aussprache mit Ms. Pabblenut immer noch nicht gewagt, Ms. Hemlock", sagte die eine Hexe. Daianira verzog das Gesicht und nickte.

"Diese Heuchlerin wird noch früh genug von mir hören, Ms. Needles. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen." Dann mentiloquierte sie scheinbar unabhörbar: "Eine halbe Woche hat unsere werte Mitschwester Schonzeit. Dann werde ich sie zur Rede stellen und gegebenenfalls strafen müssen."

"Seid Ihr euch sicher, daß Pandora und sie zu dieser Hochstaplerin übergelaufen ist, Lady Daianira?" Mentiloquierte die andere Hexe, was für Anthelia, die frei ausstrahlende Gedanken mithören konnte klar verständlich war.

"Abgesehen davon, daß sie keine Hochstaplerin ist sondern ein drängendes Ärgernis, Schwester Argona bin ich mir sicher", schickte Daianira für Ohren unhörbar zurück.

"Sie hat das Recht auf eine Verteidigerin", gedankensprach Argona Needles.

"Soll das eine Ankündigung sein, daß du das übernehmen willst, Schwester. Vergiss es. Sie hat sich zu uns entschlossenen Schwestern bekannt und kennt die Folgen für Untreue und Verrat. Du würdest dich selbst ins Unglück stürzen, wenn sie mich hintergangen hat. Ich kann und werde es ergründen, ob Patricia mit ihrer Mutter zusammen untreu geworden ist."

"Wie Ihr meint, Lady Daianira", mentiloquierte Argona Needles und sagte mit hörbarer Stimme: "Nun, wenn Ms. Pabblenut sich mit Ihnen anlegen will, werde ich sie nicht davon abhalten. Schönen Tag noch."

"Ihnen auch, Ms. Needles", erwiderte Daianira den Gruß und betrat das Gasthaus.

"Schwester Patricia, Daianira hat vor, dich zu verhören und davon abhängig zu bestrafen", mentiloquierte Anthelia.

"Was soll ich machen? Weglaufen geht bei der nicht", erwiderte Patricia auf unhörbarem Weg.

"Aber sicher geht das", erwiderte Anthelia. Denn ihr war eingefallen, daß sie im Zusammenhang mit einem anderen Fall vor anderthalb Jahren etwas getan hatte, um Patricia von jedem Verdacht reinzuwaschen. Womöglich konnte sie auf dieses probate Mittel zurückgreifen. Doch Daianira war eine sehr bewanderte Hexe. Da mußten sie gut aufpassen.

Anthelia kehrte unverzüglich in die Daggers-Villa zurück, wo Izanami Kanisaga gerade Dido Pane in der Kunst der magischen Unverwundbarkeit unterrichtete. Seitdem Dido es einmal gesehen hatte, wie die zierliche Mitschwester aus Japan ihren Körper wie aus gehärtetem Stahl hatte erstarren lassen, wollte sie das auch können. Anthelia hatte es erlaubt, weil sie wußte, daß dieser Körperbeeinflussungszauber mehrere Monate disziplinierter Übung kostete und Dido wohl noch nicht reif dafür war, ihn in Vollendung zu lernen.

"Hat Schwester Patricia die Urne bekommen?" Fragte Izanami, die gerade wie eine Statue aus Stahl dastand. Ihre Stimme klang wie aus einem breiten Metallrohr.

"Ihr Vater verbrachte die Urne in sein Haus", erwiderte Anthelia und fragte, ob Izanami die vollkommene Unverwundbarkeit erreicht hatte. Als sie ein Ja hörte griff sie telekinetisch nach dem leicht gebogenen Katana an der Wand. Izanami hatte das besonders gehärtete Langschwert der Samurai mitgebracht, um Dido vorzuführen, wie der Unverwundbarkeitszauber in Vollendung wirkte. Anthelia ließ das rasiermesserscharfe Schwert zu sich hinfliegen, ergriff es mit der rechten Hand und holte mit einer halben Pirouette Schwung. Dann ließ sie die Klinge laut pfeifend gegen Izanamis Halsschlagader krachen. Es klirrte laut und helle Funken Stoben. In der Schwertklinge klaffte eine Scharte. Ein gewöhnliches Schwert wäre zerbrochen, und wenn der Zauber nicht gewirkt hätte, wäre Izanamis Kopf durch den halben Raum geflogen, so wuchtig war der Hieb geführt worden. Anthelia zog ihren silbergrauen Zauberstab und überstrich die angeschlagene Klinge. Nur in Gedanken rief sie "Reparo!" Sofort bekam die Klinge ihre Unversehrtheit zurück. Dido staunte mit offenem Mund. Offenbar faszinierte es sie jungenhaft, daß jemand einen tödlichen Streich mit einem Samuraischwert überstehen konnte. Anthelia fragte sich, ob diese Faszination ein winziger und somit nicht so einfach auszumachender Überrest von Didos früherem Leben war. Immerhin war ihre Ziehtochter im letzten Jahr etwas mehr in die Höhe gewachsen, hatte einen sichtbaren Brustansatz bekommen und lernte neben allen Schulzaubern auch magische Haushaltsführung und die Geschichte westlicher und japanischer Hexen.

"Welchen Nachteil hat Schwester Izanamis Zauber?" Fragte Anthelia wie eine Lehrerin.

"Wenn er wirkt, kann man sich nicht mehr bewegen", erwiderte Dido. Anthelia nickte und stieß Izanami telekinetisch zu Boden.

"Somit ist neben der sehr großen Schwierigkeit, den ganzen Körper unverwundbar zu machen auch zu beachten, ob ich nicht besser meine Bewegungsfreiheit behalten möchte." Sie rollte Izanami auf dem Boden herum, die im Moment wie eine golden schimmernde Metallstatue war. Dann löste sich die unüberwindliche Härte des Körpers. Izanami bekam ihre samtweiche Haut zurück und erhob sich. Sie verlor keinen einzigen Ton über Anthelias Machtdemonstration. Sie sagte nur:

"Wer die Kraft der Unverwundbarkeit in sich erwecken und in alle Fasern strömen lassen kann muß dort verharren, wo er oder sie steht, Schwester Dido. Ich bringe ihn dir deshalb bei, weil es durchaus mal passieren kann, daß du nicht weglaufen oder disapparieren kannst. Dann und nur dann ist er eine große Hilfe."

"Kannst du mir auch Judo oder Karate beibringen?" Fragte Dido.

"Nur, um deinen Körper mit deinem Geist beweglich zu halten, Schwester Dido", erwiderte Izanami mit ihrer glockenhellen Stimme. Dann verbeugte sie sich sehr tief vor Anthelia und bat darum, in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen, da sie dort bereits erwartet würde. anthelia gestattete es ihr.

Als Izanami disappariert war übernahm Anthelia Didos Unterricht. Da Pandora nicht mehr da war, um sie in Zaubereigeschichhte zu unterweisen, hatte die höchste Schwester selbst dieses Fach übernommen, was Dido einerseits faszinierte, weil Anthelia sich sehr gut auskannte und sehr mitreißend dozierte, sie aber auch etwas verunsicherte, weil Anthelia nicht so mütterlich gnädig war wie die verstorbene Pandora Straton. Zumindest konnte Dido sich heute nicht beschweren, wo es um die Motive und Anfänge der Herrschaft Sardonias ging.

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Gracklor!" Rief der hagere Zauberer im schwarzen Umhang. Seine glutroten Augen stachen in die Dunkelheit wie Messer in einen Körper. Wehe Gracklor, wenn er seinen langen Weg umsonst gemacht hatte. Dieses öde Hochgebirgstal gefiel ihm nicht. Als McNair ihm davon berichtet hatte, war er froh gewesen, nicht selbst hergekommen zu sein. Daß die beiden Halbriesen Maxime und Hagrid ebenfalls mit den sehr unberechenbaren Bergbewohnern verhandelt hatten hatte ihn zwar geärgert. Aber dann hatte er doch lachen müssen, als er erfuhr, daß die grobschlächtigen Kerle sich wegen Dumbledores Bestechungsgeschenken gegenseitig beinahe ausgerottet hätten. Im Moment war Gracklor der Gurg. Das konnte sich zwar von einer zur anderen Stunde wieder ändern. Aber Gracklor war nicht nur groß, stark, verfressen und brutal, sondern auch gerissen. Ihn mal so eben abzumurksen würde seinen Gegnern gehörige Magenschmerzen bereiten.

Ein erderschütterndes Gestampfe und ein triumphales Gebrüll klang aus östlicher Richtung. Der Herr der Todesser wandte seinen kahlen, fahlen Schädel in die Richtung, aus der der Lärm kam. Dann sah er ihn: Da kam ein unförmiges Ungetüm angepoltert und schleuderte mit jedem Schritt faustgroße Geröllbrocken davon. Allein der rechte, vollkommen verhornte Fuß, der da gerade eine schmale Einkerbung im Boden überdeckte, mochte so lang wie ein ausgewachsener Mann sein. Der ganze Körper reichte mindestens acht Meter in die Höhe. Sein Gipfel war ein quadratisch anmutender Kopf, der von pechschwarzem Zottelhaar umkleidet wurde. Voldemort fühlte für einen winzigen Sekundenbruchteil eine gewisse Beklemmung. Er sah den langen Bärenfellumhang, der auf Höhe des weit ausladenden Bauches mit einem armdicken Strick zusammengebunden war. An dem Strick hingen Reihen von unterschiedlich großen Totenschädeln, die Gracklor auf seinen Streifzügen und in den hier üblichen Kämpfen seinen Gegnern mit bloßen Händen von den Schultern gerissen hatte. Am Hals baumelte eine Kette aus aneinander genagelten Händen normalgroßer Menschen. Gracklor war in seiner Erscheinung das wandelnde Sinnbild blutiger Zerstörungswut. Voldemort mußte daran denken, daß er dem Riesen mit keinem Körperfluch beikommen konnte. Ihn hier mit Avada Kedavra anzugreifen könnte ihm ebenso übel bekommen, wenn Gracklors Sippe, die im Moment dieses versteckte Tal beherrschte, das mitbekam. Er konnte immer nur einen Gegner zur Zeit angreifen. Gegen ihm dann entgegenfliegende Felsbrocken oder Baumstämme müßte er dann sehr schnell kämpfen, bevor ihn ein Fuß von der Sorte Gracklors wie einen Käfer zertrampelte.

"Du dunkler Lord! Meine Leute mit zu dir kommen", dröhnte Gracklors Donnerwetterstimme von sämtlichen Bergen in der Umgebung widerhallend. "Du uns zeigen wohin!" Donnerte der Riese noch und machte mit seinen Baumlangen Armen weit ausladende Bewegungen, um zu zeigen, wie weit es weg war. Voldemort wäre zwar sehr erfreut gewesen, daß nun doch ein paar Riesen seinem Aufruf folgen wollten. Zumindest war er erfreut genug, um den Riesen nicht dazu zu veranlassen, sich vor ihm niederzuknien. Doch er wollte erst wissen, zu welchen Bedingungen Gracklors rauhe Bande ihn begleiten wollte. Denn er mußte sie ja irgendwie transportieren. Einschrumpfen ging bei Riesen nicht, obwohl es hunderte von Zauberern wohl versucht haben mochten, bevor sie nie wieder was versuchen konnten. Er fragte:

"Was willst du von mir haben, Gracklor?"

"Feuerspuckerblut, deren Schwänze und Flügel und drei Kleinlingsiedlungen", donnerwetterte Gracklor.

"Nur wenn ich alles habe, was ich haben will!" Rief Voldemort mit seiner kalten, hohen Stimme. "Du hilfst mir, wenn ich gegen viele Gegner kämpfen muß und starke Leute brauche. Dann können wir drüber reden."

"Du uns geben Feuerspuckerblut, Flügel und Kleinlingsiedlungen! Sonst nix helfen!" Krachte Gracklors Antwort wie ein Donnerschlag über Voldemort.

"Erst wenn ich euch brauche", schrillte Voldemort. "Ihr könnt mitkommen. Ich werde was finden, um euch rüberzuholen, wo ich wohne."

"Wir viel Hunger. Wollen wissen wo essen!" Polterte Gracklors Stimme. Weiter oben am Hang geriet Schnee ins rutschen. Voldemort sah die sich aufschaukelnde Lawine und war bereit, zu disapparieren, bevor die Masse aus Schnee und Steinen bei ihm ankam. Der Riese sah die Lawine auch, warf sich nach vorne, wobei die von ihm verdrängte Luft wie eine Windböe fauchte, packte Voldemort mit der rechten Hand, in der der dunkle Magier beinahe verschwand und riss diesen so heftig nach oben, daß dem Herrn der Todesser Hören und sehen zu schwinden drohte. Voldemort wollte schon mit seinem Zauberstab auf die suppentellergroßen Augen des Riesens zielen, als ihm klar wurde, daß er sich damit selbst mehr schaden würde. Mit lautem Getöse, weißen Schneestaub über sich wie eine Fahne im erzeugten Wind wehend, rollte die Lawine gegen den Riesen und den dunklen Lord an. Gracklor krallte sich mit seinen wurzelartigen Zehen fest in den für Normalmenschen harten Boden und ging breitbeinig in die Hocke. Dann war die losgelöste Schneemasse auch schon heran. Die von ihr mitgerissene Luft brach sich wie eine Welle an Gracklor. Dahinter war fast keine Luft mehr. Mindestens vier Meter hoch bäumte sich das Gemisch aus Schnee und Geröll auf, drängte gegen den fülligen Leib des Riesens an und drohte, diesen einzuzwengen. Doch Gracklor machte ein paar ausladende Hüftbewegungen und sprengte so den um ihn zusammenbackenden Schnee ab. Der überwiegende Teil der Lawine donnerte weiter, bis sie weiter unten eine hundert Meter hohe Steilwand hinunterstürzte und mit ohrenbetäubendem Radau auf der Talsohle aufschlug, wobei die dabei entstehende Druckwelle ein paar dürren Bäumen den Todesstoß versetzte. Als sich der losgelöste Schnee restlos ausgetobt hatte befreite sich Gracklor laut knirschend aus dem zusammengepressten Schnee, trat die abgelösten Schneehaufen von sich weg und stieß einen überlauten Triumphschrei aus. Dann hob er Voldemort vor seinen scheunentorbreiten Mund, in dem der dunkle Lord zwei reihen ockergelber Zähne lang wie ganze Männerhände sehen konnte und den üblen Gestank von rohem Fleisch und altem Blut in die kaum sichtbare Nase bekam.

"Ich dich jetzt haben. Du sagen, alles was ich will kriege ich oder du tot!" Polterte Gracklor überlegen. "Ey, du nix machen Zaubersachen!" Brüllte er noch. Doch Voldemort, der trotz des festen Griffes der Riesenhand den Zauberstab freibekommen konnte zielte dem Riesen mitten ins stinkende Maul und rief:

"Asphyxia!" Ein kaum sichtbares rotes Flimmern glomm für einen Sekundenbruchteil an der Zauberstabspitze des dunklen Lords. Es schien im gefräßig gähnenden Rachen wider. Da zuckte Gracklor und keuchte, als habe er einen Schwall ätzender Gase in die Lungen bekommen. Er keuchte und hustete, rang nach Atem und geriet in wilde Zuckungen. Seine Augen rollten unabhängig voneinander hin und her, traten immer weiter vor. Die armlange belegte Zunge des Giganten zuckte hin und her, während der Riese immer mehr mit dem ihn übermannenden Erstickungsanfall zu kämpfen hatte. Er wollte den Zauberer, der ihn derartig peinigte wie ein lästiges Insekt zerquetschen. Doch ein gewisser Rest von Intelligenz im langsam unter akutem Sauerstoffmangel leidendem Gehirn mahnte ihn, den dunklen Lord nicht mal so eben umzubringen. Denn wenn diser Zauber nicht von selbst aufhörte, würde Gracklor vielleicht sterben. Voldemort lachte triumphierend. Gracklors Griff lockerte sich, während der Riese sich mit der freien Hand auf die Lungenflügel trommelte, weil er vielleicht dachte, den peinigenden Erstickungsanfall damit loszuwerden. Der dunkle Lord entglitt dem Riesen. Doch er stürzte nicht aus sechs Metern Höhe ab, sondern fiel nur zwei Meter, bevor er federleicht und sehr schnell davonsegelte und knapp zwanzig Meter von Gracklor entfernt in einer Höhe von zwölf Metern verharrte.

"Du hättest mich nicht vor dein stinkendes Maul halten sollen, Gracklor. Jetzt hast du wohl nur noch eine Minute zu leben. Ich würde die knappe Luft nicht dafür aufbrauchen, deine Sippschaft herzurufen. Denn wenn die kommt bin ich schneller weg als die laufen können und du stirbst elendig. Wer kriegt dann alles, was dir gehört?" Schrillte der dunkle Lord überlegen.

"Mach alles was dunkler Lord will!" Presste Gracklor nun wesentlich leiser als vorher heraus und rang um jeden Atemzug. Voldemort wußte, daß der Erstickungszauber bei einem Riesen nicht voll wirkte und wohl nach einer Minute vom Körper restlos abgebaut werden konnte. Ein normaler Mensch konnte dem Fluch nur eine halbe Minute standhalten. Voldemort hatte diesen Zauber nur dann benutzt, wenn er jemanden in äußerste Todesangst versetzen wollte oder wenn er dessen geliebte Angehörige quälte. Jetzt reichte es ihm, daß der Riese etwas umgänglicher wurde.

"Du und deine Sippschaft wartet hier. Ich bringe übermorgen große Stühle mit, auf die ihr euch hinsetzt. Wir bringen euch dann auf meine Insel. Dort werdet ihr euch im Hochland der Schotten verstecken und mucksmäuschenstill sein. Wenn ich habe, was ich will, gebe ich euch drei kleinere Städte, mit deren Einwohnern ihr machen könnt was ihr wollt. Sind ja sonst zu nix gut, diese Muggel. Machen du oder sonst wer von deiner Sippschaft irgendwas, ohne daß ich das euch ausdrücklich befehle, kriegen meine Leute die Erlaubnis euch alle totzumachen. Wie du mitkriegst können wir das."

"Jaaa!" Ächzte Gracklor. "Bitte mach mir wieder Luft!" flehte der Riese und kniete nieder. Voldemort grinste dämonisch. Dann richtete er den Zauberstab auf das wild nach Luft schnappende Maul des Riesens und rief: "anapneo!" Es knisterte, als der Atemwegsbefreiungszauber den Erstickungsfluch überlagerte. Doch dann konnte Gracklor befreit durchatmen. Laut fauchend wie in einen Blasebalg sog der Riese mehrere Dutzend Liter Luft pro Atemzug in seine Lungen ein und blies die Abluft wieder aus. Voldemort blieb, unbeeindruckt von der natürlichen Schwerkraft, in der Luft stehen und schrillte:

"Übermorgen kommen meine Leute und holen dich und deine Sippschaft. Wie viele folgen dir?"

"Alle Finger von vier Händen", schnaufte der Riese, der seine urgewaltige Stimme noch nicht richtig erheben konnte.

"Gut, dann werde ich alle Finger von vier Händen so viele Stühle mitbringen", sagte Voldemort und überlegte, wie er zwanzig Riesen so schnell wie möglich von hier nach Schottland befördern konnte. Würden sie mit Besen fliegen, bräuchte er für jeden Tragestuhl acht Besen. Das wären einhundertsechzig. Selbst wenn seine Todesser mal eben einige Dutzend Zauberer mit dem Imperius-Fluch zum Transportdienst einziehen konnten, würde das wohl nicht unauffällig zu machen sein. Womöglich konnte er Alcaras neue Golems als Zugtiere einspannen, wenn er die Tragestühle mit einem Schwebezauber belegte, sobald die Riesen darauf saßen. Doch erstens hatte Alcara nach der Schlacht beim Tempel der Tiger erst wieder vierzig Golems zur Verfügung - wo er pro Riesen wohl zwei drei brauchte - und zweitens wollte er seinen syrischen Diener nicht mit der Nase darauf stoßen, daß er weitere Streitkräfte sammelte. Denn dann könnte Alcara auf den unfeinen Gedanken kommen, daß er, Lord Voldemort, noch andere Armeen um sich sammeln könnte und sich mal so eben entschließen, ihm die Gefolgschaft zu kündigen und lieber seinen Tod hinnehmen, wenn dadurch die ganzen erschaffenen Golems Führungs- wie erbarmungslos toben würden. Die Riesen waren ihm das nicht wert. Er wollte sie lediglich als Dreingabe für den Terror ohne Plan haben. Was er wirklich vorhatte, durfte niemand wissen. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um die ultimative magische Streitmacht. Gerade nach dem Debakel mit dem Mitternachtsdiamanten war er entschlossener denn je, diese Streitmacht in seinen Dienst zu stellen. Das wichtigste Mittel dazu hatte er ja.

"Was heißt übermorgen?" Fragte Gracklor.

"Wenn die Sonne das zweite Mal von jetzt an über die Berge hochsteigt. Wenn sie das zweitemal sinkt, komme ich mit den großen Stühlen", sagte Voldemort. Der Riese nickte schwerfällig. Voldemort nahm also an, die Sache sei ausgemacht. Er landete weit genug fort von dem Riesen und disapparierte. Gracklor keuchte ein wenig. Dann pflückte er sich mit lautem Knacken einen zwei Meter hohen Stein aus dem von der Lawine glattgebügelten Hang und warf ihn mit lautem Wutgebrüll so weit und hoch, daß er beim Aufschlagen auf den kahlen Boden eine tiefe Furche hineingrub. Er hatte diesen Winzling mit diesem verdammten Zauberstabding unterschätzt. Das durfte er nicht noch mal tun. Er war wütend auf sich selbst, weil er so unvorsichtig gewesen war. Er, Gracklor der Schädelsammler, lebte nur deshalb schon mehr als siebzig Winter, weil er immer vorhergesehen hatte, wer ihm gefährlich werden konnte und wie er denjenigen früh genug unschädlich machen oder drei Feinde zugleich gegeneinander aufbringen konnte, um selbst ungeschoren davonzukommen. Er und sein Weib waren die Fürsten der westlichen Sippe, vor einem Jahr als kleiner Trupp in dieses Gebirge gekommen. Dort hatten sie die hirnlosen Raufer anderer Sippen so geschickt gegeneinander ausgespielt, daß er mit seiner Sippe nun alle andren beherrschte. Es war bestimmt nicht schlecht, wenn seine Sippe bald wieder abrückte. Denn irgendwann, so wußte Gracklor, würde einer von den anderen Möchtegern-Gurgs es rauskriegen, wie er ihm, Gracklor, das lange Leben wegnehmen konnte. Sein Weib, deren drei der insgesamt sieben mit ihr gemachten Kinder, die es geschafft hatten schnell genug zu wachsen und gerade noch so von ihm, Gracklor gebändigt werden konnten, und einige sonst sehr schwächliche Typen, zwölf Kerle und drei Jungweibchen, waren sein Volk, sein Hofstaat, seine Bauern und Soldaten. War er tot, ging die Totmacherei unter seinesgleichen wieder richtig los. Er hatte davon gehört, daß das Blut von Feuerspuckern den Hunger vertreiben und noch stärker machen konnte. Aber die Feuerspucker waren selbst für Gracklor etwas zu groß, konnten fliegen und eben Feuer spucken. Dafür könnten die Kleinlinge mit ihren fiesen Zaubersachen die halt totmachen. Er drehte sich in die Richtung, aus er er vorhin angetrampelt gekommen war und stampfte bodenerschütternd zurück in seine Burg, einen nur durch einen schmalen Eingang zu erreichenden Talkessel, wo seine Sippschaft wohnte.

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Ismael Alcara wußte, daß seine Tage in Voldemorts Diensten gezählt waren. Entweder würde der dunkle Lord, wie er sich gerne auch nennen ließ, hinter das Geheimnis des Schlangenstabes kommen, den er mit Alcara zusammen aus dem Tempel der Wertiger gestohlen hatte, oder die überlebenden Wertiger würden ihn suchen und bestimmt auch finden, ohne daß er eine natürliche oder muggeltechnische Feuerquelle in der Nähe hatte, oder Voldemort würde sich diese Blut saugenden Nachtflatterer zähmen, die kein Sonnenlicht vertrugen. Möglich war es auch, daß er die sagenumwobenen Giganten fand, jene übergroßen, menschenähnlichen Ungeheuer, von denen es vor einigen Jahrhunderten noch tausende in ganz Europa und Kleinasien gegeben hatte. Natürlich hatte er davon gehört, daß in den hohen Bergen des Urals und des Kaukasus noch kleine Siedlungen dieser barbarischen Bestien existierten. Er wußte, daß ein erwachsenes Männchen dieser vor Äonen entstandenen Rasse doppelt so groß und mindestens viermal so stark wie ein großer Golem war. Und das mochte schon was heißen, erkannte Alcara. Es sei denn, er würde das Wagnis eingehen, den Weg der dunklen Söhne zu beschreiten. Sie hatten vor viertausend Jahren Golems erschaffen, die fünfmal so stark waren wie ihre herkömmlichen Artgenossen, die so beschaffen waren, daß ihnen absolut nichts etwas anhaben konnte, nicht einmal das Feuer. Diese konnten von ihren Meistern wie wandelnde Panzer übergestreift und von innen heraus gelenkt werden. Konnte er solche Golems erschaffen mußte er wissen, was dies für Folgen hatte. Einerseits würde er sich Voldemort damit als unentbehrlicher Diener präsentieren. Andererseits würde diesem schlangenköpfigen Ungläubigen auch klar, daß Alcara mächtiger als er war, wenn dieser auch nur einen Vollstrecker des Seth erschaffen konnte, wie diese künstlichen Kreaturen hießen. Denn allein um einen solchen Übergolem anzufertigen mußte er in den vier Haupthimmelsrichtungen je zwei magisch begabte, aber noch junge Menschen finden und sie in Ritualen töten, die zu der Tageszeit stattzufinden hatten, zu der die Sonne in der betreffenden Richtung stand, beziehungsweise unterhalb des Horizontes erreichen würde. Zudem mußte er jede Doppelhinrichtung mit einem der vier Elemente verbinden. Das hieß also, zwei junge Magier im Osten am Morgen mit dem Ritual der Luft, zwei im Süden am Mittag mit dem Ritual des Feuers, zwei im Westen am Abend mit dem Ritual der Erde und zwei im Norden um Mitternacht mit dem Ritual des Eises. Genau diese Reihenfolge galt es einzuhalten. Waren sie als Opfer für die Magie des Vollstreckers dargebracht, mußte er noch zwei magielose Kinder mit dem Ritual des Lebens innerhalb eines Tages als letzte Opfer für die Macht des Vollstreckers sterben lassen. Falls er auch nur bei einem Ritual fehlging, würde die beschworene Kraft ihm selbst das Leben rauben. Doch eben dieses würde so oder so nicht mehr lange dauern. Hinzu kam noch, daß wenn er es schaffte, einen einzigen Vollstrecker zu erschaffen, er sich in dessen Schutz von Voldemorts Joch freimachen konnte, ja diesen ungläubigen Folterer und Totflucher selbst entmachten könnte. So befand er nach einer geraumen Zeit, daß er daran gehen mußte, mindestens zwei Vollstrecker des Seth zu erschaffen. Da er schon häufiger in der magielosen Welt Blutopfer für seine Golems erbeutet hatte, fühlte er sich zuversichtlich. Aber wenn er daran dachte, daß er nun Zauberkraft besitzende Jungen oder Mädchen überfallen mußte, war dies doch etwas schwerer. So nutzte er Voldemorts Erlaubnis, für weitere bestellte Golems das nötige Ausgangsmaterial zu sammeln, um außerhalb von England sein weiteres Vorgehen zu planen. Er mußte die Rituale eingehend studieren und die Standorte von Zaubereransiedlungen oder Lehranstalten ergründen. All das würde ihm wertvolle Zeit abverlangen. Doch wenn er es schaffte, einen Vollstrecker zu erschaffen, war dieser Aufwand mehr als gerechtfertigt. In einem verlassenen Gehöft in der Nähe von Sofia plante er die Durchführung seiner schwarzmagischen Schwerarbeit bis ins letzte Detail, bis er am sechzehnten Juli befand, alles für seinen Plan wichtige gut genug bedacht zu haben. Wenn er so schnell wie unauffällig vorging, konnte er innerhalb eines halben monats die zwei Vollstrecker erschaffen, um deren Vorzüge genießen zu können. Einen Monat hatte er schließlich, um Voldemorts Bestellung auszuführen, einen Monat für hundert neue Golems, wenn er in der Zeit auch zwei übermächtige, aber ihm, den wahren Herrn und Meister treue Geschöpfe in die Welt bringen konnte. Dann würde er endlich die Macht erlangen, die er damals vor der schwarzen Festung des Seth beinahe in Händen gehalten hatte.

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Patricia Straton war nach der Trauerfeier für ihre Mutter mit schwer beladener Seele zurück in das gemeinsame Haus gereist, wo sie die Totenmaske ihrer Mutter in einem hölzernen Schrein an einen Nagel hängte. Sie meinte fast, daß das in Silber gebannte Gesicht ihrer Mutter sie fragend anblickte. Doch das war ganz bestimmt nur eine Täuschung. Unterhalb der Maske ruhte auf einem tiefblauen Samtkissen die goldene Urne. Kleine Tränen kullerten Patricia aus den dunkelgrünen Augen und ließen den leichten Graustich darin wie die Oberfläche eines Waldsees glitzern. Warum hatte Daianira ihre Mutter mit auf diese Jagd nach dem Mitternachtsdiamanten genommen? Warum hörten sie im Moment nichts mehr von Lady Nyx? Selbst Daianira war darüber etwas besorgt. Plante die Vampirin, die sich mit dem Diamanten zur Herrin aller Vampire aufgeschwungen hatte vielleicht einen Schlag gegen die Menschheit? Wie nahm jene Abgrundstochter das hin, daß ihr das Mittel zur Herrschaft über alle Vampire aus den Händen gerissen worden war? Was plante der englische Massenmörder Voldemort nun, wo ihm eine Vampirarmee durch die Lappen gegangen war? Vor allem aber, wie würde Lady Daianira mit ihr, Patricia Straton, weiter umspringen? Zwar schützte Anthelias Zauberei sie vor dem Wahrheitszauber in der Versammlungshöhle der Schwestern. Doch sie kannte Lady Daianira. Diese war nicht umsonst seit mehr als dreißig Jahren die Führerin der entschlossenen Schwestern. Was mochte in deren Kopf jetzt vorgehen, wo sie wußte, daß es Anthelia gab?

"Patricia, du solltest dir keine Fragen stellen, deren Antworten du nicht kennst", knurrte die nun halbwaise Hexe und schloß ehrfürchtig den Gedenkschrein mit den letzten Hinterlassenschaften ihrer Mutter. Anthelia hatte ihr nach der Beisetzung zumentiloquiert, daß sie sich bereits Gedanken machte. Sollte sie darauf vertrauen, daß die höchste Schwester, deren Wiederverkörperung sie mitbewirkt hatte, erfahrener und mächtiger war als Daianira Hemlock. Besser war es wohl.

"Hey, Pat, wo ist Dad?" Hörte sie ihren zwei Jahre älteren Bruder Ross rufen.

"Der ist bei den Gildforks, was wegen dem Parsec nachprüfen!" Rief Patricia. Der kommt erst heute Abend wieder."

"Klar, weil die dicke, dekadente Dame Gildfork gemerkt hat, daß sie mit dem Superbesen nicht fliegen kann", erwiderte Ross Straton und kam aus dem Zimmer, daß er seit seinem zweiten Lebensjahr bewohnte. Patricia, die sich nicht an den elterlichen Rockzipfel hatte klammern wollen und daher eine eigene Wohnung besaß, bedauerte ihren Bruder. Er hatte zwar eine nicht schlecht bezahlte Arbeit in der Bronco-Besenfabrik, wo er Holzsorten auf ihre Bezauberbarkeit prüfte, war aber doch immer noch ein Nesthocker. Ihre Mutter hatte ihn zwar nicht verhätschelt, eher darauf hingearbeitet, daß der junge Adler doch einmal die Flügel ausbreiten und fortfliegen würde. Doch der junge Adler hatte sich zu einem Hausspatz gemausert, der lieber blieb, wo er kein Futter zu suchen brauchte, wenn es genug davon gab. Immerhin zahlte er von seinem Monatslohn was in die Haushaltskasse ein. Muttersöhnchen war auch nicht das richtige Wort. Auch und gerade durch die Jahre in Thorntails hatte Ross als einer von wenigen Jungen feste Bande mit seinem Vater geschlossen. Einige Jungs hatten ihm unterstellt, er habe Angst vor Frauen und sollte sich dann doch besser eine Muggel suchen, die seine Kinder bekam. Dann hatte sein Vater ihm noch die Anstellung zugeschanzt und sich damit zum Halbgott an sich aufgeschwungen. Vom Aussehen her ähnelte er Tyr Straton mit seinen fuchsfarbenen Haaren und der weit in den Raum vorstechenden Nase. Nur die dunkelgrünen Augen, die wie die seiner Schwester einen leichten Graustich besaßen, wiesen ihn als Sohn Pandora Stratons aus. Patricia hatte oft versucht, ihn mit jungen Hexen auf der Suche nach Ehemännern zu verbandeln, von denen die meisten nicht in jener Schwesternschaft waren, in die ihre gemeinsame Mutter und sie selbst einst eingetreten waren. Ihre Mutter hatte sie zwar mal gefragt, wer dann sicherstellen sollte, daß die Stratons der Schwesternschaft weitere Mitglieder bescherten. Doch Patricia hatte darauf geantwortet, daß es sicherer sei, wenn Ross eine unabhängige Hexe oder, wenn es dann eben sein mußte, eine Muggelfrau nehmen möge.

"Bis er dreißig ist hast du Zeit, Patricia. Hat er bis dahin keinen Anschluß, suche ich ihm eine aus", hatte Pandora Straton damals gesagt. Da war Ross gerade zweiundzwanzig geworden und Patricia hatte gerade einen Beruf als Nachrichtenbeschafferin bei "Freude an der Zauberkunst" angenommen. Drei Jahre war das nun her. Tja, da würde Ross wohl älter als dreißig Jahre werden, ohne daß seine Mutter ihm die Ehepartnerin aussuchte, dachte Patricia. Sie fühlte, wie dieser Gedanke sie traurig machte. Solche Kleinigkeiten wühlten die Trauer in ihr immer wieder auf wie Sand in einem Gewässer.

"Ey, Pat, woran denkst du?" Fragte Ross, weil er sah, daß seine Schwester betrübt dreinschaute.

"Das Mom deine Kinder nicht zu sehen bekommen wird", erwiderte Patricia betrübt. Doch ein leises Grinsen huschte über ihr Gesicht.

"Oder deine, Pat", lachte Ross, der zuerst gedacht hatte, sie würde ihn mit ihrer Trübsal anstecken. Sie war in ihre gemeinsame Mutter so vernarrt gewesen wie er in ihren gemeinsamen Vater vernarrt war.

"Meine Kinder werden ihr ähnlich sehen, Ross. Deshalb wollte sie wohl eher wissen, wie deine aussehen."

"Hängt wohl an der Hexe, die welche von mir kriegt", erwiderte Ross.

"Schön grün vielleicht", scherzte Patricia. "Wie wäre das?"

"Bloß nicht", stieß Ross aus. "Ich bespring doch keine Sabberhexen."

"Dann kuck endlich zu, daß du eine findest, die es mit dir drauf anlegt! Ich werde jedenfalls nicht hier wohnen bleiben und für Dad und dich den Haushalt machen, daß das mal klar ist. Wird sowieso 'ne Umstellung für euch beide sein, wo ihr zwar allen möglichen Krempel mit den Zauberstäben machen könnt, aber keinen Dunst von Säuberungszaubern habt."

"Wenn die Gildforks Dad mehr rüberrollen lassen können wir uns vom Hauselfen-Vermittlungsbüro einen zuteilen lassen", wußte Ross genau die Antwort, die Patricia schon immer verabscheut hatte. Ihr Vater stammte aus einer Familie, die einen Hauselfen besaßen und hatte sie alle immer wieder damit genervt, warum sie eigentlich keinen hätten, wo doch beide Ehepartner ganztags arbeiteten.

"Wenn ihr meint, euch wie eine Hokusprotzus-Familie einen Hauselfen anzuschaffen seht ihr mich aber auch nicht mehr wieder", sagte Patricia. "Und dann wirst du mich auch nicht mehr "Pat" rufen dürfen, ohne dasselbe abzukriegen wie die anderen, die meinen, meinen Namen zu verunstalten", legte sie nach.

"Spul dich bloß nicht auf, nur weil du in Verwandlung diesen Super-UTZ abgegriffen hast, Pat-Ricia. Abesehen davon verpflichtet dein Vorname doch zur Haltung eines Hauselfen."

"Jetzt wieder dieser Müll, Ross? Moms Asche ist gerade einmal kalt, da meinst du, dich über alles wegzusetzen, was sie mit Dad abgemacht hat."

"Du sagst doch, wir kämen ohne Haushaltshilfe nicht klar, Patricia Straton."

"Weil das so ist, Ross. Aber vielleicht zieht Tantchen Meridith auch um und paßt auf euch auf. Dann wäre sie ja in der Nähe von Moms Asche, die sie ja gerne in ihre Gemüsebeete reingestreut hätte."

"Das war ja wohl der härteste Hammer, den du je geschwungen hast, Pat", knurrte Ross. "Wie kamst denn du darauf, daß die Moms Urne leerschütten wollte. Oder ist das doch so, daß du fremde Gedanken hören kannst. Dann sollte ich aber doch einen Kurs in Okklumentik belegen."

"Weil das in Tante Meridiths Familie so üblich ist, daß sie die Asche der Verstorbenen so irgendwie ehren. Scheint aus einer Zeit zu kommen, wo Tante Meridiths Vorfahren noch Kannibalen gewesen sind."

"Ey, Pat, das ist echt nicht komisch", erwiderte Ross sichtlich angewidert. "Aber vielleicht sollten wir zu Tante Meridith umziehen, wo die Kronprinzessin ja eh ihr eigenes Häuschen hat", erwiderte Ross.

"Schlag's Dad doch vor!" Erwiderte Patricia verächtlich. "Aber dann seht ihr mich auch nicht mehr wider."

"Neh ist klar, Ms. Supertoll kommt ja ohne Familie aus, will aber mir 'ne läufige Sabberhexe ans Bein binden. Auch wenn's Drachenmist ist, sich zu zanken, wo Mom gerade etwas mehr als eine Woche tot ist lasse ich mir von dir echt nix mehr gefallen, Patricia. Wenn du meinst, hier nix mehr zu suchen zu haben, dann verflüchtige dich. ich werde es Dad schon irgendwie erklären können."

"Was denn? Das er eine Tochter hat, die nicht für ihn putzt und kocht und wäscht und seinen nesthockenden Sohn gleich mitputzt, füttert und bei Laune hält? Das kannst du machen, Ross."

"Wie nennst du mich?" Fragte Ross und griff nach seinem Zauberstab. Doch Patricia war einen Sekundenbruchteil schneller und hielt ihren Zauberstab schon einsatzbereit, als Ross seinen noch freiziehen mußte.

"Ich nenne dich einen Nesthocker, weil andere Zauberer mit fünfundzwanzig Jahren zumindest mal den Absprung vom Elternhaus hinbekommen haben. Und jetzt tu deinen Kastanienstocher weg, bevor Ms. Supertoll dich mal eben blau umfärbt oder auf Wickeltischgröße einschrumpft. Denk nicht einmal dran, mir was aufzubrennen. Ich habe mich schon in einen Schild eingeschlossen." Das war zwar gelogen, weil Patricia eigentlich nicht vorhatte, sich mit ihrem Bruder zu duellieren. Weil der aber den Langzahnfluch in seinem Kopf zurechtgelegt hatte war es wohl angebracht, ihn vor möglichen Folgen zu warnen. Ross hatte es einige Male gesehen, wie Patricia alte Hunde und Katzen in Welpen und Kätzchen zurückverwandelt hatte. Er wußte auch, daß sie vieles von ihrer Mutter gelernt hatte, was die in Thorntails nicht unbedingt im Unterricht durchnahmen, auch nicht kampflustige Leute wie Bullhorn und Purplecloud. So schnaubte er nur verächtlich und steckte den Zauberstab wieder fort. Patricia unterließ es, ihn überlegen anzuglotzen. Sie wandte sich nur um und ging. Erst als sie sich sicher sein konnte, daß er ihr nicht von hinten einen Zauber nachjagen würde, steckte sie ihren Zauberstab auch fort. Ja, sie wohnte hier nicht mehr. Das wußte sie jetzt. Mit ihrer Mutter war die letzte schmale Wurzel verschwunden, die sie an dieses Haus und ihre Familie geheftet hatte. In ihrem zeitweilig noch bewohnten Zimmer wartete sie auf die Rückkehr ihres Vaters. Dieser kam jedoch nicht wieder. Die Sonne versank bereits als sie sich doch etwas sorgte. Ross, der wegen dem beinahen Geschwisterduell wie ein verwöhntes Schulmädchen schmollte, dachte immer wieder daran, wo der Vater wohl war. Doch er war zu stolz, mit seiner Schwester darüber zu sprechen. So entschloß sie sich, nachzuforschen. Sie ging in das gemütliche Wohnzimmer und entzündete ungesagt den roten Backsteinkamin, über dem ein ausgedienter Harvey-Besen in vier Halteringen festgemacht war. Sie pickte sich eine Prise Flohpulver aus der Messingkanne rechts vom Kaminsims und warf sie in die orangeroten Flammen. Tosend erhob sich eine smaragdgrüne Feuerwand. Sie kniete vor den Kamin nieder und steckte den Kopf in die Flammen, die sich für sie wie eine warme Brise anfühlten. Sie rief: "Glitzerturm!" und schloß die Augen, bevor der mörderische Wirbel ihren Kopf ergriff und herumwirbelte. Dann fühlte sie, daß sie wohl nun aus dem Kamin gucken würde, in den sie ihren Kopf schicken wollte und blickte sich um.

Ihr Kopf steckte in einem rot-schwarzem Monstrum von Marmorkamin in einer Halle, die mit Tropenholz, Einhornhorn und Drachenhaut-Wandverkleidungen überfrachtet war. Trhronartige Stühle um einen ritterlich anmutenden Festtagstisch mit Goldrand-Spitzendecke verrieten sofort, daß hier superreiche Leute wohnten, die nicht in den Reichtum hineingeboren worden waren und deshalb nicht genug Zeit gehabt hatten, den gemäßigten Umgang mit ihrem Geld zu üben. Allein schon daß die Gildforks einen altitalienischen Kirchturm zur marmorstrotzenden Prachtbehausung umgebaut hatten verriet ihre Verschwendungssucht. Doch von den Hausbewohnern war keiner zu sehen. Sie lauschte. Ja, da waren Gedanken, besorgte Gedanken. Sie gehörten zu einem Hauselfen, einem von fünf. Denn die Gildforks hatten auf jedem der fünf Turmgeschosse einen eigenen Hauselfen. Wo waren die vier anderen servilen und devoten Zauberwesen? Wo waren die menschlichen Bewohner, und wo ihr Gast? Warum war dann, wenn keiner da war der Kamin für Kontaktfeuer offen? Patricia erinnerte sich, daß sie mal als neugierige Neunjährige von ihren Eltern aus mal einfach so in diesen Kamin hineingereist war. Kaum war sie herausgehüpft, hatte eine magische Stimme "Achtung, Eindringling durch das Haus geplärrt. Dann hatten sämtliche Hauselfen sie umzingelt und mit ihren für sie damals noch imposanten Schnauzen gedroht.

"Hallo, jemand zu Hause?!" Rief Patricia. Da Apparierte der Hauself im Wohnraum. Auch er bezeugte den raschen Reichtum seiner Herrschaft. Denn anstatt ein einfaches Geschirrtuch oder einen ausrangierten Kissenbezug zu tragen wie die meisten anderen Elfen, die sie schon gesehen hatte, war der Hauself mit den dunkelblauen Tennisballaugen und den Fledermausohren in ein rotes Drachenhautfutteral gehüllt, das fünf Löcher für die Arme, Beine und den Kopf besaß. Auf dem Bauchteil dieser schlichten und doch kostspieligen Montur war ein goldener Turm aufgestickt. Sie erkannte den Elfen. Er hieß Tiny.

"Ach, die junge Ms. Straton", sprach Tiny mit einer piepsigen Stimme, die eher zu einer Maus gepaßt hätte. "Die Herrschaften sind mit ihrem Gast außer Hause."

"Ach, und deine Kollegen sind mit ihnen weg?" Fragte Patricia, der die telepathische Stille hier nicht gefiel.

"Andere Elfen fort. Tiny darf nicht sagen, wohin", erwiderte Tiny.

"Wann kommen deine Herrschaften wieder?" Fragte Patricia Straton alarmiert."

"Müssen was tun, was Tiny nicht verraten darf, Ms. Straton", piepste Tiny. "Tiny kann nicht sagen, wann Meister und Meisterin Gildfork nach Hause kommen, Ms. Straton."

"War mein Vater, Mr. Straton, denn überhaupt hier?" Fragte Patricia.

"Oja, war er. Ist aber schon vor drei Stunden wieder gegangen, Ms. Straton." patricia lauschte und schnappte die Gedanken auf, die Tiny nicht aussprechen durfte. Demnach hatten die Gildforks die anderen vier Elfen abgestellt, um ihr neues Sommerquartier in Florida einzurichten, wo sie ab morgen bis September residieren wollten. Ja, und Patricias Vater war wirklich vor drei Stunden disappariert. Doch da stutzte Patricia. Irgendwie war es ihr, als trübe etwas die klaren Gedanken Tinys ein. Das Hauselfen Okklumentik beherrschten wäre ihr völlig neu gewesen. Abgesehen davon, daß sie ihn nicht auf übliche Weise ausforschte.

"Haben deine Herrschaften meinem Vater einen Auftrag erteilt, daß er noch einmal weggehen mußte? Fragte Patricia. Ihr war das alles andere als geheuer.

"Das sind die Sachen, die Tiny niemandem sagen darf", erwiderte der Hauself. Patricia hörte die unausgesprochenen Gedanken. Doch diese wurden so leise, daß sie schwer verstand, was sie sagten. Erst als der Elf wieder sprach und den Spruch anbrachte, daß die Herrschaften alle fort seien, kam dieser Gedankenstrom bei ihr wieder an. Hatte da jemand dem Elfen mit einem Gedächtniszauber das Hirn bearbeitet? Sie wollte gerade eine weitere gezielte Frage stellen, als sie wie aus einem Brunnenschacht das Klappern einer Tür hörte. Dann Schritte, die sie nicht räumlich orten konnte, weil sie offenbar vom anderen Ende des Kamins herrührten. Die Schritte waren sehr eilig und wurden schnell leise. Patricia, die gerade noch versuchte, die verschleierten Gedanken des einsamen Hauselfen zu durchdringen, hörte nun eine weitere, schwere Tür auf- und wieder zuklappen. Das war die Haustür der Stratons. Sofort zog Patricia ihren Kopf zurück, hielt die augen geschlossen, um nicht vom Herumwirbeln im Flohnetz schwindelig zu werden und machte sie erst wieder auf, als sie ihren Kopf wieder ordentlich auf dem Hals trug. Sofort warf sie sich herum und eilte Richtung Haustür. Sie hörte gerade noch telepathisch, wie ihr Bruder Ross einem unhörbaren Befehl folgte und auf jemanden zuging. Da sie nur worthafte Gedanken mit den daran hängenden Gefühlen aufschnappen konnte wußte sie nicht, wer das war. Sie spurtete zur Haustür und sah durch die unzerbrechliche Glasscheibe gerade noch, wie ihr Bruder von einer Frau mit oberkörperlangem, haselnußfarbenem Haar an die Hand genommen wurde und mit dieser gemeinsam in leerer Luft verschwand. patricia hatte die Hexe erkannt: Lady Daianira Hemlock!

"Verdammt, die hat Ross unter dem Imperius rausgelockt und entführt", durchzuckte eine düstere Erkenntnis ihr Bewußtsein. Also war an Anthelias Warnung doch mehr dran als sie gedacht hatte. Lady Daianira würde es nicht so einfach auf sich beruhen lassen, daß Pandora Straton auch Anthelias Verbündete gewesen war. Der Wahrheitszwang-Zauber in der Versammlungshöhle konnte keine von Anthelias Schwestern dazu zwingen, sich zu verraten. Und wenn es jemand freiwillig zu tun versuchte, würde sie sofort sterben und jeden in Hörweite mit in den Tod reißen, so wie es mit Ardentia Truelane und Jane Porter passiert war. Auch mit Legilimentik funktionierte es nicht, die Spinnenschwestern auszukundschaften. So hatte Lady Daianira wohl beschlossen, Geiseln zu nehmen. Geiseln? Wieso dachte sie in der Mehrzahl? Da ploppte es im gerade erst wieder freigewordenen Kamin. Jemand hatte nur den Kopf dorthin geschickt, und Patricia war sich ziemlich sicher, wer das war. Sie eilte in den Wohnraum und sah ohne jede Überraschung Lady Daianiras Kopf zwischen den nun wieder orangeroten Flammen, ohne daß diese ihrem langen Haar oder ihrer Gesichtshaut Schaden zufügten.

"Ah, haben wir das Gespräch beendet?" Grüßte Lady Daianira.

"Ich konnte noch sehen, daß Ihr meinen Bruder abgeholt habt", sprach Patricia so beherrscht sie noch konnte. "Wo habt ihr ihn hingebracht und wozu?"

"Dein Bruder ist jetzt bei deinem Vater. Ich hatte die Ehre, ihn von der korpulenten Mrs. Gildfork loseisen zu können, die mit ihm einen Probeflug auf diesem überzüchteten Suborbitalbesen machen wollte. Wozu ich deine direkten Verwandten in meine Obhut nahm? Weil ich weiß, daß du zusammen mit deiner Mutter untreu geworden bist", schnaubte Daianira. "Versuche es nicht zu leugnen oder es gar zu gestehen, um mich mit dir zusammen in den Tod zu reißen. Ja, ich weiß, welche netten Sicherheitsmaßnahmen diese Wiederkehrerin getroffen hat, seitdem Ardentia Truelane von der übereifrigen Jane Porter verhört werden sollte. Deshalb nur soviel: Ich habe deinen Vater und deinen Bruder an einen Ort gebracht, den nicht einmal du aus mir herauslegilimentieren kannst, weil ich ihn mir vor Jahren schon mit dem Fidelius-Zauber habe schützen lassen. Dort werden sie solange bleiben, bis die Wiederkehrerin mir sämtliche Namen aller zu ihr übergelaufenen Schwestern von uns genannt hat, sollte ihr an dir und deiner Familie etwas liegen. Falls nicht, betrachte es als sehr lehrreiche Lektion, daß man mich nicht ungestraft hintergeht."

"Aber ich weiß doch gar nicht, wer die Wiederkehrerin ist", log Patricia Straton.

"Im Bann eines so heftigen Verratsunterdrückungsfluches würde ich dasselbe behaupten", erwiderte Daianira überlegen lächelnd. "Da ich im Moment nur von dir als klarer Überläuferin ausgehen kann, werde ich die anderen Schwestern, die ich noch im Verdacht habe, nicht behelligen. Das Exempel, das ich an dir statuiere sollte ihnen Warnung genug sein."

"Was habt Ihr mit meinem Vater und meinem Bruder gemacht?" Fragte Patricia.

"Gut untergebracht, so daß sie weder fortlaufen noch hunger leiden können, Patricia. Es sei denn, du möchtest sie durch dein Blut freikaufen und damit auch aus unserer Gemeinschaft austreten."

"Wäre das die einzige Möglichkeit?" Fragte Patricia sichtlich eingeschüchtert und hielt dabei ihren Geist verschlossen, weil Daianiras hellgraue Augen sie sehr genau musterten.

"Nur was deinen Bruder und deinen Vater betrifft. Aber das hieße, daß du dich freiwillig töten lassen müßtest. Durch dein Blut trittst du ein. Nur durch dein Blut kannst du auch wieder austreten, Patricia."

"Und wenn ich euch hier und jetzt töte?" Knurrte Patricia in die Enge getrieben und fischte nach ihrem Zauberstab.

"Würdest du niemals wieder etwas von deinem Vater und deinem Bruder hören, und dich selbst von allen treuen Schwestern verfemt auf ewiger Flucht befinden", erwiderte Daianira, der die auf ihre Stirn weisende Zauberstabspitze nichts ausmachte. "Denn die Regel kennst du auch: Stirbt die Stuhlmeisterin durch die Hand einer Mitschwester, egal wie, so erhält die Verräterin das Stigma der Vogelfreien, das jede treue Mitschwester berechtigt, sie zu töten, bevor die neue Führerin erwählt werden kann. Ich halte gerade das längere Ende des Besens in der Hand, Patricia. Sorge dafür, daß ich erfahre, was ich erfahren will! Dann werde ich dir deine netten Verwandten zurückerstatten. Falls nicht, dann nicht! Lebe einstweilen wohl, Schwester! Semper Sorores!" Die Grußformel aller schweigsamen Schwestern spie sie wie den Bissen einer verdorbenen Speise in Patricias Richtung, bevor ihr Kopf mit leisem Plopp verschwand. Patricia stand da wie zu Stein erstarrt. Munter prasselte das Feuer im Kamin, als ob es in den letzten zehn Minuten nichts anderes getan hätte. Sie hing nun in einer Zwickmühle. War sie vor zwei Stunden noch davon überzeugt gewesen, daß sie mit ihrer verbliebenen Verwandtschaft nicht mehr als höfliche Kontakte pflegen wollte, fühlte sie jetzt eine ohnmächtige Wut, die aus purer Hilflosigkeit geboren worden war. Dann hörte sie Daianiras Gedankenstimme in ihrem Geist:

"Bis zum zwanzigsten will ich die Namen und die Tätigkeiten haben, Schwester."

"Vielleicht sollte ich Donata ... nein, die würde wie ich zwischen den Stühlen hängen", dachte Patricia. "Dann bleibt mir doch nur Anthelia. Aber würde sie uns alle wegen meiner Familie verraten?" Patricia wußte, daß Anthelia nicht über jede Leiche ging, die sich ihr anbot. Das hieß jedoch, daß sie nur die dem Tod überließ, die sie um der Sache willen opfern mußte. Und die Sache würde Anthelia davon abhalten, patricias Familie zu retten. So würde ihr am Ende nur der endgültige Austritt bleiben. Das erste Mal nach der Feuerbestattung ihrer Mutter füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. Sie ließ es geschehen, wie die salzigen Tropfen erst einzeln und dann in zwei schnellen Strömen über ihre Wangen rannen und ungehindert auf ihren Umhang oder den glattpolierten Boden tropften, jenem Boden, den ihre Mutter vor drei Wochen mit einem vorhaltenden Politurzauber behandelt hatte, der einen Monat halten konnte. Ihre Mutter war nicht mehr da. Weil Daianira mitbekommen hatte, daß sie auch für Anthelia gearbeitet hatte, war auch Patricias übrige Familie nicht mehr da. Ihr Vater und ihr Bruder waren mal soeben von dieser alten Sabberhexe Hemlock entführt worden, ohne Angst vor Strafverfolgung. Denn Donata Archstone, die oberste Strafverfolgungsbeamte des Ministeriums, war ihr ja auch treu verbunden. Einen winzigen Moment lang amüsierte sie es, wenn Antehlia eine lange Namensliste vorlegte, auf der auch Donata Archstones Name stand und was diese bereits für Anthelia getan hatte. Womöglich würde Daianira dann erkennen, daß sie bereits auf verlorenem Posten stand und sich Anthelias Kommando unterstellen. Vielleicht würde sie aber auch alle untreuen Schwestern auf lautlose und unauffällige Art verschwinden lassen. Was hatte ihr Cecil Benjamin Calder erzählt, als sie ihn in Anthelias Auftrag abgeholt hatte und ihn zu ihr brachte: "Bei den Nichtzauberern können auch Leute verschwinden, und die lassen es dann wie Unfälle aussehen." Tatsächlich war Benjamin Calder auch verschwunden und an die Stelle eines echten Unfallopfers wieder aufgetaucht. Patricia wirkte einen Rundumanzeigezauber, ob sie vielleicht beobachtet wurde. Doch der zauber zeigte keine anderen Menschenwesen außer sie selbst an. Hatte sie vielleicht die Wahl zwischen echtem Tod oder spurlosem Verschwinden? Oder gab es doch noch eine Möglichkeit, ihr eigenes Leben weiterzuführen und gleichzeitig das Leben ihres Vaters und ihres Bruders zu retten. Dann fiel ihr noch etwas ein. Tinys Gedanken waren verschleiert worden. Mochte es sein, daß Daianira Hemlock den Hauselfen heimgesucht hatte? Nein, das konnte nicht sein. Denn wie sie von ihrer Mutter wußte umgab ein zwei Kilometer großer Antiapparier- und -disapparierzauber das Anwesen, zu dem außer dem Glitzerturm noch ein relativ sich selbst überlassenes Waldstück und ein ganz privater Badesee gehörten. Nur Hauselfen hätten dort nach Belieben auftauchen und verschwinden können, weil deren Magie anders wirkte als die von Hexen und Zauberern. Dann konnte Daianira nur auf einem Besen ... Ja, genau so mußte es gelaufen sein. Hatte sie nicht gerade getönt, daß sie Tyr Straton von Mrs. Gildfork loseisen konnte? Wenn sie nun auf einem Harvey-Besen auf das Grundstück ... Aber nein, das ging auch nicht. Denn gerade um Eindringlinge auf unsichtbaren Besen aufzuspüren waren rund um den Glitzerturm diverse Spür- und Meldezauber in Stellung gebracht worden, die besonders auf die eigene Magie des Harvey-Besens ansprachen. Denn das wußten wenige, daß Harvey nur die heimliche Marke der sonst so offen auftretenden Bronco-Besenwerke war. Und was außer den dekadenten Gildforks nur noch die Stratons wußten: Der Erfinder des Besens war Tyr Straton. Und dieser Erfinder des unsichtbaren Besens befand sich nun in den Händen Daianira Hemlocks.

"Nun, rumsitzen und Heulen macht's nicht besser", knurrte Patricia wutentbrannt, als sie fünf Minuten lang durch salzige Wasserschleier hatte sehen können. Ihre vom Weinkrampf geröteten Augen unterstrichen die wilde Entschlossenheit, sich nicht einfach so herumschubsen zu lassen. Sie holte ihren Besen aus dem Zimmer, verriegelte alle inneren Türen und die Fenster sorgfältig, sperrte den Kamin komplett zu und verließ das Haus. Sie ließ die Verriegelungen in der Haustür alle einrasten, bevor sie auf ihrem Besen aufstieg und in nördliche Richtung davonflog. Sie hätte zwar auch direkt vor der Haustür disapparieren können, wie Daianira es getan hatte. Doch sie wollte die Lady nicht mit der Nase darauf stoßen, daß sie aufgescheucht worden war. So flog sie so als wenn nichts geschehen wäre davon. Ein Kaninchen im hohen Gras hörte das Schwirren des Besenschweifes im Flugwind und blickte auf. Weit von diesem Tier entfernt aber durch Zauberei in dessen Wahrnehmungswelt eingetaucht saß Daianira Hemlock und bekam mit, wie Patricia Straton nach Norden davonflog.

"Gut, davon auszugehen, daß ich das Grundstück mit einem äußeren Apparitionswall umgeben habe", dachte Daianira, bevor sie sich aus der Sinneswelt des Kaninchens löste und sich einem Fenster zuwand, auf dessen Ebenholzbank zwei große Blumentöpfe standen. Aus dem einen lugte ein Kaktus, aus dem anderen ein Veilchen.

"So ein Pech, daß ihr eine solch untreue Tochter und Schwester habt", sprach sie den Pflanzen zugewandt. "Aber ich versichere euch, daß ich gut auf euch aufpassen werde."

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Die Luft stank fürchterlich. Der Lärm tat ihren hochempfindlichen Ohren weh. Das Licht aus diesen häßlichen Röhren flackerte und blendete. Wie konnte Feuerkrieger in so einer lauten, stinkenden, viel zu grellen Umgebung leben? Sonnenglanz wußte auf diese Frage keine Antwort. Die vielen Menschen, die das Gemisch der lästigen Gerüche und Geräusche vervollständigte, machten die Urwaldbewohnerin so nervös, daß sie fürchtete, die Kontrolle über ihre Erscheinungsform zu verlieren. Wie konnte jemand in solch einer grausamen Umgebung glücklich sein? Nachtwinds Tochter hoffte, möglichst bald auf die Spur der Tempelzerstörer und Mörder ihres erhabenen Vaters zu kommen. Jetzt war es dreißig Regenzeiten her, daß sie in dieser Stadt gewesen war. Wie hatte sich diese damals schon unerträglich laute, quirlige Wüste aus Gußsteinhöhlen und Metall verändert. Sicher, damals waren auch schon diese Pesthauch und Krach verbreitenden Dinger auf dieser schwarzen, aus Steinöl gemachten Haut auf dem Boden herumgelaufen. Sie hatte die Namen dieser Metalldämonen gelernt: Auto hieß so ein Ding, das die magielosen Menschen erschaffen hatten, um sich schneller als auf ihren Füßen bewegen zu können. Sie wußte von Nachtwind, daß sie in dieser Siedlung eine Möglichkeit finden mußte, mehr über die Angreifer zu erfahren. Vielleicht hätte sie Feuerkrieger doch mitnehmen sollen. Der war dieses Gewirr namens Stadt gewöhnt. Aber langsam stiegen die vor drei Jahrzehnten erworbenen Erinnerungen wieder in ihr Bewußtsein. Sie hatte sich damals Stücke aus weichem, weißen Zeug in die Ohren gesteckt, um nicht vom Lärm krank zu werden. Wenn es denn zumindest das Sonnenlicht wäre, das da schien. Aber dieses Neonlichtflackern irritierte sie immer noch. Außerdem war da doch noch was. Wenn sie mehr über diese Räuber und Mörder wissen wollte, müßte sie weiter verreisen. Das mochte mehrere Mondwechsel dauern. Nachtwind hatte jedoch zur Eile gemahnt. Denn wenn die Räuber des unheiligen Herrscherstabes wußten, wozu er verwendet wurde und wagten, damit die uralte Unheilsarmee zu rufen, konnte jeder Tag entscheiden, vielleicht sogar jede Sekunde. Das hieß jedoch, daß sie nicht nur laufen konnte, sondern entweder jemanden finden mußte, der sie in einem dieser Autodinger fuhr oder sogar diese noch lauteren Metallvögel benutzen, um durch die Luft zu fliegen. Sie brauchte also dieses Zeug, das die Menschen für ihre Arbeit bekamen und anderen gaben, um Essen, Sachen oder andre Arbeit zu bekommen. Geld hieß das, erinnerte sie sich. Es konnte aus knisterndem Zeug wie welke Blätter gemacht sein oder aus glänzendem Metall. Erneut erinnerte sie sich und dankte ihrer vorausschauenden Mutter, daß sie das alles schon mal hatte lernen müssen. Denn so irrte sie nicht lange in diesem Inferno aus Krach, Gestank und Neonlicht umher. Um Geld zu kriegen mußte sie entweder arbeiten oder was hergeben, was sie hatte. Doch außer der Kleidung, die sie trug, besaß sie nur ihren Körper. Sie erinnerte sich, daß sie den schon einmal dafür benutzt hatte, um Geld zu bekommen. Doch diesmal sollte sie nicht für zwölf Monde in der fremden Welt bleiben, sondern möglichst schnell herausfinden, wer und wo die Räuber, Tempelzerstörer und Mörder waren. An und für sich, so dachte Sonnenglanz, war das eine aussichtslose Sache, wenn keiner wußte, wie die beiden hießen. Sie wußte nur, daß einer der Angreifer einen weißen Schlangenkopf mit roten Augen gehabt hatte und der zweite ein Sohn aus dem Land der weiten Sandwüsten sein mochte. Außerdem hatten sie mit Zauberei belebte Krieger dabei gehabt. Die waren zwar schwächlich gewesen, solange sie nicht mit diesen feuerspeienden Metallrohren und Feuervögeln gekämpft hatten, aber Nachtwind hatte ihr kurz vor dem Abschiedssegen erzählt, daß längst nicht jeder Zauberer diese Stein- und Erdkrieger machen konnte. Wie dem auch war. Sie brauchte drei Dinge. Erstens hier gültiges Geld. Zweitens jemanden, von dem sie erfuhr, nach wem sie suchen sollte. Drittens genaue Angaben über diese Räuber und Mörder.

Das erste Problem ließ sich schnell lösen. Denn Sonnenglanz kam ja aus dem Urwald, wo das Gesetz des stärkeren und am besten mit der Umwelt klarkommenden galt. Fressen und gefressen werden galt dort genauso wie in einigen Teilen dieser Stadt. Damals, wo sie hier die Sachen und Sitten der Eingestaltlichen gelernt hatte, hatte sie deren Hunger nach körperlicher Liebe ausgenutzt, um Geld zu kriegen. Doch damals hatte sie sich auch einige Erkrankungen eingefangen, die sie nur dank ihrer besonderen Körpereigenschaften wieder losgeworden war. Aber sie wußte, daß Frauen, die ihre Leiber für paarungshungrige Männer zur Verfügung stellten, oft von gewalttätigen, gerissenen Männern herumkommandiert wurden. Einmal, das war so am Anfang ihres letzten Ausfluges in diese Welt, hatte ein solcher Kerl sie für sich gefügig machen wollen. Pech für ihn war, daß sie ihm körperlich mehrfach überlegen war und ihn aus purer Notwehr heraus umgebracht hatte. Damals hatte sie viel Geld von diesem Kerl erbeutet. Also mußte sie nur in die betreffenden Stadtteile gehen, um nach Geldträgern und Frauenhändlern zu jagen. Der Gedanke, jagen zu gehen, kitzelte ihre Raubtierinstinkte wach. Sie dachte nach, wo in dieser Siedlung die lohnende Beute zu machen war und mischte sich unter die Menschenmassen. Etwa ein Viertel der Nacht später kam sie dort hin, wo sie ihr Geldproblem lösen wollte.

Ihre überempfindlichen Ohren nahmen bereits die angsteinflößenden Befehle eines solchen Frauenhändlers war, der von einer, die wohl gerade jemanden bedient hatte Geld erhalten hatte. Im für andre Menschen dunklem Schatten wartete sie auf diesen Mann. Als er selbstsicher und zufrieden an ihrem Versteck vorbeikam, sprang sie ihn an. Mit einem schnellen Griff an den Hals des Mannes würgte sie ihm schlagartig so viel Luft ab, daß der Fremde nicht mehr schreien konnte. Sein Versuch, die Angreiferin abzuwehren schlug fehl, weil sie seinen Schlag mit der anderen Hand abfing und den Arm wie einen Strohhalm umbog, bis er brach. Dann sackte der Mann zusammen. Sonnenglanz warf ihn sich über die Schulter und zwengte sich in eine schmale Gasse, wo sie ihr Opfer durchsuchte und alles an sich nahm, was sie für wertvoll hielt. Dazu gehörte der Beutel aus Schlangenleder, in dem wirklich viel von dem Blattgeld steckte, ein paar Ringe und dieses goldene Ding am Arm, das den Fremden sagte, welche Tageszeit gerade war, weil sie zum einen verlernt hatten, Sonne, Mond und Sterne zu lesen und zum anderen in einer viel zu schnellen Welt lebten, in der die Zeit in winzige Teile zerhackt wurde, um sie genau zu bestimmen. Das kleine silberne Plastikding mit der länglichen Ausbuchtung und den vielen Knöpfen daran ließ sie ihm. Dann hatte dieser Kerl noch ein einklappbares Messer dabei, daß sie zwar nicht brauchte, aber vielleicht verkaufen konnte, ein paar merkwürdige Kunststoffscheiben, auf denen das Bild des Mannes und lange Zahlenreihen waren und gut versteckt in einer winzigen Tasche an der Innenseite seines linken Hosenbeines zwei dieser Metallzähne, mit denen die Fremden ihre Häuser auf- oder zumachen konnten. Schlüssel hießen diese Dinger, fiel es ihr wieder ein. Sollte sie aus dem Mann rausholen, wo er sein Haus hatte, um dort auch noch was zu finden? Nein, sie befand, daß sie sich nicht mit zu viel Lauferei aufhalten sollte und horchte, ob noch so ein lohnendes Ziel unterwegs war, um noch mehr Beute zu machen. Ihr erstes Opfer ließ sie immer noch Bewußtlos und mit tiefen Würgemalen am Hals zurück. Vielleicht kam er wieder zu sich, vielleicht auch nicht. Ihr war es egal.

Am Ende der Nacht hatte Sonnenglanz nicht nur die ihr vor die Augen kommenden Frauenhändler um Geld und Uhren erleichtert, sondern auch einige bedürftige Männer, die mit viel Geld zu solchen Frauen unterwegs waren. Sie hatte nach Quellen der Magie gelauscht, wie es ihre Eltern ihr beigebracht hatten und war dabei auf eine alte Frau mit Zauberkräften gestoßen, die morgens einfach mit lautem Knall verschwand, bevor Sonnenglanz in ihre Nähe kommen konnte. Die wimmernden Sirenen von Polizeiautos, die durch die Stadt fuhren, weil eine dreiste Bande von Straßenräubern eines der verrufensten Vergnügungsviertel unsicher gemacht hatte und nicht einmal vor dem Raub an Zuhältern zurückgeschreckt war, nahm sie nur als Teil des lästigen Lärms zur Kenntnis.

Am nächsten Abend kehrte die alte Frau wieder zurück. Sonnenglanz hatte beschlossen, sie zu einer Artgenossin zu machen, um ihre bedingungslose Unterwerfung zu erhalten. So wartete sie, bis die Hexe mit ihrem Zauberstab die Tür berührte, um sie zu öffnen und trat dann hinter sie. Da fühlte sie einen schmerzhaften Schlag, der von vorne durch ihren ganzen Körper jagte und schrie auf. Die Hexe wandte sich um. Es war keine reinrassige Inderin. Sie überragte die in ihrer menschlichen Gestalt kleine und zierliche Sonnenglanz um einen ganzen Kopf und wirkte angriffslustig, als sie den Zauberstab vorschnellen ließ.

"Na, was wollten wir denn, Mädchen. Mich überfallen. Wer bist denn du?" Fragte die Hexe und zielte mit dem Zauberstab auf Sonnenglanz. "Keine falsche Bewegung, Mädchen! Ganz langsam die Hände hoch!"

"Ich wollte euch nichts tun, ehrwürdige Meisterin", log Sonnenglanz. "Ich suche nur jemanden, der mir Auskunft über einen Zauberkundigen mit bleichem Schlangenkopf und roten Augen geben kann, der steinerne Diener befehligen kann. Im Gesicht der Hexe zuckte es merklich. Sonnenglanz roch die aufsteigende Angst. Obwohl die Magierin sich gut beherrschen konnte war es für die Wertigerin kein Problem, die wachsende Furcht zu erkennen. "

"Mädchen, wer bist du?" Fragte die Hexe. Sie mußte wohl merken, daß Sonnenglanz keine gewöhnliche Fremde war. Offenbar hatte der Zauber, der Sonnenglanzes Angriff vereitelt hatte verraten, daß das junge Mädchen im Sarong magische Kräfte besaß.

"Ashanti", sagte Sonnenglanz. "Ich suche diesen bösen Magier und seinen Gefährten, weil sie mit den steinernen Dienern unser Dorf angegriffen haben."

"Du bist eine von denen", schnaubte die Hexe und riss den Zauberstab hoch. Sonnenglanz tauchte blitzschnell zur Seite weg, gerade als ein roter Blitz mit lautem Knall aus dem Zauberstab schnellte. Der Schockzauber verfehlte sie um Handbreite. Aus dem Schwung der Ausweichbewegung heraus warf sich Sonnenglanz nach vorne, bevor die Hexe wieder auf sie zielen konnte. Doch wieder traf sie dieser schmerzhafte Schlag, der durch ihren ganzen Körper ging und sie zurückprellte. Die Hexe zielte erneut, und Sonnenglanz wich wieder aus. Wenn die Magierin jetzt in ihr Haus ging war sie für sie unerreichbar, wußte die junge Wertigerin. Tatsächlich wandte sich die Hexe der Tür zu, die immer noch weit offen stand und versuchte, sich ins Haus zu retten. Da ließ Sonnenglanz den Wunsch nach ihrer erhabenen Gestalt aus ihrem Kopf durch ihren ganzen Leib explodieren. Sie hörte das laute Ratschen, als ihre Kleidung vom schlagartig anwachsenden Körper abplatzte, hörte das Klimpern und Klappern, als die von ihr in dieser Nacht gemachte Beute zu Boden fiel. Doch im Rausch der blitzschnellen Verwandlung achtete Sonnenglanz nicht darauf. Sie fühlte, wie sie auf alle viere fiel, fühlte die unbändige Kraft in allen Fasern lauern. Die Hexe war derweil im Hauseingang und wollte die Tür zuwerfen, als eine überlebensgroße Tigerin mit goldenem Fell und braunen Streifen aus dem Stand lossprang. Der bisher so wirksame Rückprellzauber war für Sonnenglanz nur noch ein lästiges Kribbeln, wie über sie hinweglaufende Ameisen. Aufhalten konnte er sie jedoch nicht mehr. Vom Schwung ihres Sprunges getragen flog die Wertigerin durch die für sie fast zu schmale Öffnung und hieb mit dem unerschütterlichen Kopf die magisch zuschlagende Tür zur Seite, warf sich ganz in das Haus und stürzte sich auf die Hexe, die in einem letzten Akt der Verzweiflung einen Zauber auf die Tigerin abfeuerte, der jedoch mit lautem Knall am umgewandelten Körper zerstob. Dann gruben sich Sonnenglanzes Raubtierzähne in die Schulter der Hexe. Ratschend zerfetzten sie den Umhang und drangen mehrere Zentimeter tief in das bereits etwas zähe Fleisch ein. Doch Sonnenglanz wollte nicht töten, nicht zerreißen, nicht fressen. Zwar war der Hunger durch die Verwandlung sehr groß geworden. Doch diese Hexe da kannte den schlangenköpfigen Zauberer. Gefressen würde sie Sonnenglanz nichts nützen. So rang die Wertigerin ihren Hunger für einige Sekunden nieder und stieß sich mit den Vorderpranken zurück. Der laute Schmerzensschrei der Hexe kümmerte sie nicht. Auch der anregende Geruch frischen Blutes war für sie im Moment nicht wichtig. Sie würde bestimmt wieder frisches Fleisch erbeuten können. Aber jetzt galt es erst, die von Nachtwind verlangten Angaben über den Schlangenkopf und seinen Kumpan aus dem Wüstenland zu bekommen. Immer noch stand die Tür offen. Und von draußen klangen aufgeregte Stimmen, die sich über die lauten Schmerzensschreie unterhielten. Sonnenglanz hörte das Wort "Polizei" aus den erregten Stimmen und wußte, daß sie wohl nicht viel Zeit hatte, um sich vor den nicht mit Magie begabten Ordnungshütern zu verstecken. Denn keiner durfte sie erkennen. Dann fiel ihr ein, daß ihre Kleidung und die geraubten Wertsachen noch draußen liegen mußten, weil sie den Gestaltwechsel nicht unbeschadet überstanden hatten. Sonnenglanz trottete hinaus, während die Hexe immer noch in wilden Schmerzen schrie.

"Schrei, neue Schwester. Begrüße dein neues Leben!" Dachte die Wertigerin. Es war schon einige Zeit her, wo sie jemandem den Kuß der alten Rasse gegeben hatte. Doch nachdem sie mit Feuerkrieger die wahre Wonne der Liebe erfahren hatte, war es nicht mehr so prickelnd für sie, daß ein Biß ausreichte, um einen Menschen mit dem Erbe ihrer Rasse zu segnen. Bald würde sie ein neues Leben aus sich selbst heraus gebären. Das war für sie erhabener als dieses notwendige Übel.

Außerhalb des Schutzzaubers verwandelte sich Sonnenglanz innerhalb von zwei Sekunden zurück. Sie keuchte, weil die rasche Gestaltänderung sie viel Kraft kostete. Ihr Magen knurrte. Drinnen gingen die Schreie der verletzten und schockierten Hexe in ein gequält klingendes Wimmern über. Bald, so wußte Sonnenglanz, würde der Schmerz abebben und der Drang nach neuem Dasein anwachsen. Dann würde dieses alte Weib ihr dankbar sein, sie getroffen zu haben. Unbekümmert von ihrer Nacktheit klaubte Sonnenglanz die gestohlenen Sachen auf. Da kam ein Mann um die Ecke, der keine eigene Magie im Blut hatte. Sonnenglanz sah ihn mit ihren braunen Mandelaugen an und strich sich aufreizend durch das goldblonde Haar. Sie machte eine einladende Pose, die den Fremden sehr stark anrührte. Er starrte auf diese schlanke, biegsame, ganz und gar unbekleidete Gestalt vor sich, die ihm auffordernd zuwinkte. Der Fremde trat vor ... und ging von einem Handkantenschlag Sonnenglanzes getroffen zu Boden. Die Wertigerin nahm anlauf und sprang durch die magische Barriere, die ihr zwar einen leichten Schlag versetzte, durch ihren Angriff auf die Hexe aber wohl geschwächt worden war. Sie schritt durch die Tür und drückte sie zu.

die Hexe lag am Boden und wimmerte. Ihr Umhang war bereits mit Blut besudelt. Doch die Bißwunde begann sich bereits zu schließen. Sonnenglanz fühlte es körperlich, wie der Keim ihrer Rasse in dieser Frau aufging. Weil sie magisch begabt war breitete er sich rascher in ihr aus als in magielosen Menschen, die oftmals mehrere Minuten gepeinigt wurden, bis sie endlich umgewandelt waren. Sonnenglanz fühlte es wie ein Prickeln auf der Haut, wie im Blut der Hexe die Kraft des Tigerclans erwachte, ihr geschundenes Fleisch durchpulste und ihren Geist erfüllte. Schon jetzt wimmerte die Hexe nicht mehr. Sonnenglanz wußte, daß Hexen und Zauberer, die von ihr und ihren Artgenossen den Verbrüderungskuß bekamen keinen Zauber mehr nach außen richten konnten. Die alte Gabe verschlang jeden Funken Magie, der in ihnen aufflackerte. Doch das würde nichts daran ändern, daß diese neue Schwester dort die Sachen wußte, die Sonnenglanz wissen wollte. So brauchte Nachtwinds Tochter nur zu warten, bis die am Boden liegende Frau als ihre neue Artgenossin zum Leben erwachte. Dem alten Gesetz ihrer Natur nach mußte ein neuer Artgenosse, der durch den Verbrüderungskuß in sein neues Leben hinübergetragen wurde dem unbedingt gehorchen, der oder die ihm diesen Kuß gegeben hatte. So ähnlich war das auch bei diesen sonnenlichtscheuen, panische Angst vor fließendem Wasser habenden Nachtgeschöpfen, die sich nur vom Blut anderer Menschen ernährten.

"Verdammt, du hast mich ..." keuchte die neue Schwester, als sie aus der Schockstarre erwachte. Dann loderte es in ihren Augen auf, jenes Feuer neuer Kraft und Wildheit. Sonnenglanz sah, wie die am Boden liegende Frau sich unter leisem Keuchen zu verändern begann. Aus ihrer trockenen, runzligen Haut wuchs weißes Fell, hell wie der Vollmond außerhalb des Urwaldes. Nur ein wenig dunklere Längsstreifen unterteilten dieses Mondlichtfell. Die ältliche Frau wurde größer. Ihr graues Haar ging völlig im neu wachsenden Fell über. Ihre knochigen Hände wurden zu erst zierlichen, dann kräftigen Tatzen, und aus dem Steißbein der am Boden liegenden durchbohrte ein fünftes Körperglied den Unterrock, der bereits jetzt zum Zerreißen angespannt war. Fünf Sekunden später ging die Kleidung der Gebissenen mit lautem Ratschen in Fetzen. Dann schien es, als blase jemand die neue Wertigerin von innen auf. Sie wurde beinahe so groß wie Sonnenglanz. Sie verlor jede Ähnlichkeit mit ihrem früheren Aussehen. Das einzige was von ihrer körperlichen Erscheinungsform blieb war ihr Geschlecht.

"Willkommen im neuen Leben, Schwester!" Grüßte Sonnenglanz die beinahe schneeweiße Wertigerin. Diese wälzte sich grummelnd auf den Bauch, drückte sich mit den Pranken hoch und tapste unbeholfen umher, mit der breiten Nase hörbar schnuppernd. Doch in diesem Haus war keine lohnende Beute. Da war nur diese andere Artgenossin, deren Geruch ihr verriet, daß das eine ihr überlegene Mitschwester war.

"Verdammt, du hast mich zu einer von euch gemacht", wehten Sonnenglanz die Gedanken der Wertigerin zu. Durch den Biß hatte sie auch eine reine Gedankenverbindung zu ihrer neuen Mitschwester und Dienerin errichtet.

"Sei froh, Mondlicht, daß ich dich gefunden habe. So wirst du noch viele hundert Sommer leben können."

"Ich heiße Lakshmi", wehten die Gedanken der neuen Wertigerin zu Sonnenglanz hinüber. Doch diese blickte ihre neue Artgenossin sehr entschlossen an und sagte:

"Du hast die Farbe des Mondlichts angenommen. Daher bist du Mondlicht, wie ich Sonnenglanz bin."

"Wir können nicht hierbleiben. Meine kollegen, die vom Ministerium ... Sie könnten herkommen und uns dann umbringen. Du hast mich auf dem Gewissen", kam die von wütendem Geknurr unterlegte Antwort Mondlichts.

"Dann sollten wir gehen", sagte Sonnenglanz. "Entspann dich, verwandle dich zurück und hol uns neue Kleidung. Dann nimm alles was lesbar ist und komm mit!" Befahl Sonnenglanz. Mondlicht, die früher einmal Lakshmi Patil geheißen hatte, fügte sich nach kurzem Murren. Die Rückverwandlung verlief in wenigen Sekunden. Leicht erschöpft vom vorhergehenden Kampf und dem Gestaltwechsel stemmte sich die nun wieder in Frauengestalt erscheinende ehemalige Hexe hoch. Wie in Trance sammelte sie ihre zerrissenen Kleider auf, nahm den Zauberstab und versuchte, die Sachen zu reparieren. Doch der Zauberstab ruckelte nur in ihrer Hand. Mehr geschah nicht.

"Ich kann nicht mehr zaubern", stöhnte Mondlicht. "Warum kann ich nicht mehr -?"

"Weil unser Dasein das verhindert, Schwester", sagte Sonnenglanz. "Also los, hol genug Kleidung für uns zwei und alle Bücher, in denen was über diese Steinkrieger und den schlangenköpfigen Magier steht!"

"Du meinst den, dessen Name nicht genannt werden darf. Meine Großnichten ... Ich hole alle Bücher. Wer bist du wirklich?"

"Ich heiße Sonnenglanz und bin die, die dich in dein neues Leben hinübergeführt hat. Du hast zu tun, was ich sage", erwiderte Sonnenglanz. Durch Nennung ihres wahrhaftigen Namens hatte sie die magische Bindung zu Mondlicht vollständig hergestellt. Nun konnte sie ihr jeden Dienst abverlangen, ihre Gefühle und Gedanken erfassen und ihre eigenen Gedanken aus beliebiger Ferne auf sie übertragen. Mondlicht fügte sich. Sie kannte die Natur der Wertiger. Daß sie von jetzt an keine Hexe mehr war hatte sie nur einen Moment erschreckt. Sie wußte auch, daß sie nur noch in menschlicher Gestalt von nichtmagischen Klingenwaffen oder unmagischem Feuer getötet werden konnte. Getötet? Sie wollte doch nicht sterben. Sie fühlte sich doch viel zu gut, auch wenn Sonnenglanzes Befehle sie wie an langen Fäden laufen ließen. Sie holte praktische Kleidungsstücke aus ihrem Schrank, packte eine immer noch magische Reisetasche mit großem Fassungsvermögen mit allen Büchern über europäische und asiatische Größen der Zauberkunst und steckte den großen Lederbeutel ein, in dem noch fünfzig Galleonen waren. Dann verließen sie und Sonnenglanz das Haus. Kein Schutzzauber hielt sie auf.

Wenige Minuten später trafen fünf Zauberer auf einem fliegenden Teppich ein. Sie sahen einen ohnmächtigen Mann und stellten erleichtert fest, daß er nur eine Beule von einem wuchtigen Schlag abbekommen hatte. Als sie jedoch im Haus das nun geronnene Blut fanden und ein Blutquellenanzeige-Zauber verriet, daß es das Blut Lakshmi Patils war, sagte der Truppführer, ein Zauberer aus der Kaste der Sikh:

"Also sind sie doch noch da. Ich fürchte, Lakshmi Patil ist jetzt eine von ihnen. Hier liegt ihr Zauberstab. Wollen doch mal sehen, was sie zuletzt damit gezaubert hat." Er zog seinen eigenen Sandelholzzauberstab hervor, berührte die Spitze des zurückgelassenen Zauberstabs damit und murmelte "Prior Incantato!" Über dem Zauberstab entstand für einen Moment das Bild wild umherfliegender Stofffetzen, das jedoch sofort in schillernden Funken zersprühte. "Penultimo", sagte der bärtige Truppführer. Blaßrot peitschte ein Blitz auf eine geisterhafte Erscheinung zu, verfehlte sie jedoch. "Deletrius!" Rief er. Die geisterhafte Erscheinung verblaßte.

"Wir werden dem Minister melden, daß Frau Patil nun eine Wertigerin ist. Sie wird nicht mehr zaubern können, was auch heißt, daß sie nicht mehr apparieren kann. Sie muß also noch in der Nähe sein. Eilruf an die Truppe für gefährliche Zaubergeschöpfe!"

Doch der Eilruf kam zu spät. Denn als die Sondergruppe in der Umgebung des Hauses ausschwärmte, saßen Sonnenglanz und Mondlicht bereits auf einem Gemüselaster, der unterwegs zum Markt war. Einige Zeit später wechselten die beiden Wertigerinnen mit ihrer übermenschlichen Gewandtheit und Kraft auf einen losfahrenden Güterzug über. Dieser trug sie unbekümmert aus Bombay hinaus, Richtung Kalkutta.

Als sie einen halben Tag später ihre ratternde Mitfahrgelegenheit wieder verließen gingen die beiden auf die Jagd nach Ratten und wilden Straßenhunden. In der Nacht griffen sich die Wertigerinnen ohne die Gestalt zu wechseln eine der herumstreunenden Kühe, die von den Indern als heilige Tiere verehrt wurden. Mondlicht hatte sich sehr rasch darauf eingestellt, rohes Fleisch zu essen. Mit neuen Kräften angereichert zogen sich die beiden Tigerschwestern zurück. Mondlicht erklärte Sonnenglanz, daß sie vor ihrem Zusammentreffen als Mitarbeiterin im Commonwealth-Verbindungsbüro des indischen Zaubereiministers gearbeitet hatte. Ihre Kinder waren alle in Dheli, Kalkutta und Bombay untergekommen. Sie selbst war als Tochter einer englischen Hexe und eines indischen Erzmagiers zur Welt gekommen. Sie hatte noch einen Bruder und zwei Schwestern, die in England lebten und deren Kinder dort großgezogen hatten. Daher besaß Mondlicht viele Bücher über europäische Zauberei. Sie hatte es vor siebzig Jahren angeregt, daß neben der überlieferten, indischen Zauberkunst auch die europäische Magiekunde in indischen Zauberei-Lehranstalten unterrichtet wurde und war in dieser Eigenschaft zehn Jahre lang Lehrerin für europäische Zauberkunst gewesen. Sie konnte ihrer neuen Herrin und Mitschwester einiges über den grausamen Zauberer erzählen, dessen Namen sie nicht gerne nennen wollte.Als sie im Gegenzug erfuhr, warum Sonnenglanz ihn suchte, erschrak sie. Denn auch sie hatte die legendenhaften Berichte über einen uralten Gegenstand gehört, der seinem Besitzer, wenn er der dunklen Seite zugeneigt war, eine schreckliche Macht verleihen konnte.

"Er wohnt also in jenem Land, aus dem die weißen Besatzer kamen, die unser altehrwürdiges Reich Jahrhunderte lang ausgeplündert und geknechtet haben?" Fragte Sonnenglanz.

"Ja, und soweit ich von meinem Neffen und meinen Großnichten weiß, wird er dort immer stärker. Es wird wohl bald zum entscheidungskampf um die Macht kommen", erwiderte Mondlicht. "Und wenn er wirklich diesen Stab hat, den du als Schlangenstab beschreibst, Sonnenglanz, dann könnte er, weil er mit Schlangen sprechen kann, noch mehr Macht über diese Tiere gewinnen."

"meine Ahnen haben uns überliefert, daß dieser Stab einem dunklen Feldherrn gehört hat, der da selbst einem düsteren Fürsten gedient haben soll. Den Überlieferungen nach konnte er damit eine unbesiegbare Armee aus der Erde heraufrufen und die Kräfte der Erde selbst unterwerfen. Deshalb haben wir vor über dreitausend Jahren diesen Stab erobert und bei uns versteckt, damit diese Armee nie wieder gerufen werden kann."

"Dann wird er, dessen Name nicht genannt werden darf, davon gehört oder gelesen haben und denkt jetzt, diese alte Armee neu auferstehen zu lassen", entgegnete Mondlicht.

"Das müssen wir verhindern. Doch kann dieser Zauberer, den ihr nicht beim Namen nennen wollt Krieger aus der Erde erschaffen?"

"Golems? Könnte sein. Aber du hast was von einem Araber auf einem fliegenden Teppich erzählt. Ich hörte was, daß die in Syrien und Ägypten mit der Golemkunde zu tun haben. Mag sein, das der Unnennbare einen dieser Meister für sich gewinnen konnte."

"So gilt es, nach England zu reisen und dort gegen jenen dunklen Zauberer zu kämpfen", meinte Sonnenglanz.

"Vergiss es, Sonnenglanz! Wenn er wieder in seiner Heimat ist, seid ihr mit euren paar Artgenossen hoffnungslos unterlegen. Auch wenn er keine Magie gegen euch benutzen kann wären er und seine Leute mehr als ihr."

"Was würdest du denn vorschlagen?" Fragte Sonnenglanz.

"Ich würde andere Hexen und Zauberer darüber informieren, was euch passiert ist und das damit die Hölle auf Erden heraufbeschworen werden kann", sagte Mondlicht. "Wir müssen Leute finden, die zaubern können. Es war vielleicht nicht so klug, mich zu einer von deiner Art zu machen."

"Dann hättest du mir aber nicht geholfen", sagte Sonnenglanz kalt. "Aber wie sollen wir die Magier dieser Welt friedlich davon überzeugen, daß sie uns helfen?"

"Ich würde eher sagen, daß wir ihnen zuspielen, daß er, dessen Name nicht genannt werden darf, ein gefährliches Machtmittel bekommen hat und es gilt, alles nötige darüber zu erfahren und es ihm entweder abzunehmen oder dessen Anwendung unmöglich zu machen."

"Kennst du jemanden, an den wir uns wenden können?" Fragte Sonnenglanz.

"Wenn wir nicht fliegen oder apparieren können wird es schwierig. Außerdem denke ich, daß alle Zauberer in Indien jetzt wissen, daß du mich zu einer von euch gemacht hast. Ich kann also nicht einfach irgendwo anklopfen und fragen. Allerdings müssen wir ja nicht unbedingt Ministerialzauberer aufsuchen."

"Wen dann?" Fragte Sonnenglanz.

"Ich kenne zwei Hexen, die in einem für Muggel unsichtbarem Haus in Kalkutta leben. Ich habe durch einen Zufall erfahren, daß sie wohl für eine nichtministerielle Organisation arbeiten. Die können wir wohl für uns einspannen."

"Nun gut. Dann müssen wir dort hin", bestimmte Sonnenglanz.

Ein weiterer Güterzug brachte die beiden Wertigerinnen ganz nach Kalkutta. In der nächsten Nacht statteten die beiden Tigerschwestern Liza Thornhill und ihrer Tochter Maggy einen Überraschungsbesuch ab. Es war die Nacht vom siebzehnten zum achtzehnten Juli.

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Alcara staunte, als er diese weitläufige Anlage aus kleinen und großen Gebäuden sah, deren Mittelpunkt ein schneckenhausartig gewundener Turm aus Elfenbein und Silber war. Das war der erhabene Hort des goldenen Drachens, die bedeutendste Lehranstalt für ostasiatische Zauberei. Der Golemmeister und unwillige Knecht Lord Voldemorts blickte in den handtellergroßen Spiegel, den er bei Bedarf auf zwei mal zwei Meter vergrößern konnte. Ein freundlich lächelnder, schwarzgezopfter Chinese mittleren Alters blickte ihm entgegen. Er trug ein türkisfarbenes Gewand aus doppelt verwobener, mit der Essenz der Haltbarkeit unzerreißbar gemachter Seide und trug einen Practicus-Rucksack vom Typ Weltenbummler auf dem Rücken, in dem alle seine Utensilien verstaut waren, darunter vier kleine Fässer mit Schraubverschluß. Diese Behälter hatte er in seiner alten Heimat Syrien von einem zauberschmied gekauft, mit dem er früher schon einmal Geschäfte gemacht hatte. Dann hatte er sich für einen großen Beutel voller Gold bei einem ägyptischen Händler einen schnellen Flugteppich beschafft. Denn sein eigener Teppich war bei der Schlacht am Tigertempel zerstört worden. Jetzt hatte er dank filigraner Selbstverwandlung das Aussehen eines magischen Bürgers aus dem Reich der Mitte. Zum Glück hielten sich die Chinesen nicht an die westlichen Sommerferienzeiten. Das würde sein Vorhaben gut in Schwung bringen. Hier würde er die ersten Opfer für seine Supergolems beschaffen. Er zog noch mal die große Weltkarte aus seinem Rucksack und betrachtete die vier Endpunkte, wo er die Rituale vollziehen wollte. Wenn er vier Lehrlinge aus dem Hort des goldenen Drachens in seine gewalt bringen konnte, würde er mit dem neuen Teppich in den äußersten Osten Japans hinüberfliegen, wo er das Morgenopfer vollziehen würde.

Er sah durch sein Fernrohr hinüber zu den Gebäuden der Unterweisung, der Erbauung und der Ergebenheit. Er hatte sich nicht groß mit der chinesischen zaubereiausbildung befaßt. Er wußte nur, daß die Schüler dort doppelt so lange lernten wie in westlichen Zaubererschulen und anderthalbmal so lang wie in Durmstrang. Er selbst war ja von einem Lehrmeister ausgebildet worden, als seine Eltern befanden, er habe genug Magie im Leibe, um die hohe Kunst des Übernatürlichen zu erlernen, die Allah nur wenigen Auserwählten offenbarte. Hier in Zentralchina war es jetzt gerade früher Nachmittag. Zumindest sagte ihm das die Sonne, die einzige Uhr, die er respektierte. Sein Blick schweifte zu den Wohngebäuden hinüber, wo Aufseher und Aufseherinnen darauf achteten, daß männliche Adepten nicht in den Bereich für Mädchen hinüberschlichen und umgekehrt. Obwohl hier magisch begabte Jungen und Mädchen ausgebildet wurden, sahen sie einander nur bei rituellen Zusammenkünften. Unterricht und Unterbringung verliefen getrennt. Vieles was die Jungen erlernten, wurde den Mädchen vorenthalten. Und manches, was ausschließlich für die magisch begabten Mädchen auf dem Lehrplan stand, wurde den Jungen nicht einmal angedeutet. Alcara fragte sich, ob sie dann nicht lieber doch nur eine reine Jungenschule betreiben sollten. Immerhin wurden in den arabischen Ländern sowie Persien nur die magisch begabten Jungen in der Handhabung der übernatürlichen Künste unterwiesen. Frauen hatten in diesem Handwerk nichts zu suchen, fand Alcara. Zwar hielten sich einige Frauen nicht daran und hatten heimliche Hexenzirkel begründet, in denen Mädchen mit Zauberkraft lernten, konnten damit aber keine Karriere in der Zaubererwelt des nahen Ostens machen. Naher Osten? Für Alcara war die Region, wo seine Heimat lag, gerade der mittlere Westen. Alles eine Frage des Standortes, dachte der im Moment nicht wiederzuerkennende Golemmeister. Dann sah er, was er sehen wollte. Sieben halbwüchsige Jungen tollten auf geflügelten Ponys über die große Wiese vor dem Haus der Erde, wo die Meister der Erdelementarzauber wohnten. Alcara hatte es sich genau ausgerechnet, daß er aus dieser Lehranstalt nur Jungen entführen wollte, die sich bereits auf eines der vier alten Elemente festgelegt hatten. Denn anders als im Westen und Arabien waren die chinesischen Zauber so komplex und kraftzehrend, daß bei der magischen Ausbildung nur eines der vier Elemente besonders behandelt wurde. Umfassende Zauberstudien konnte ein chinesischer Magier nur betreiben, wenn seine Familie einen Magier kannte, der ihn alleine unterrichtete. Doch entweder verlangte ein solcher Zauberer viel Geld oder behandelte den Lehrling wie einen Sklaven. Daher ließen sich die meisten jungen Hexen und Zauberer hier unterweisen.

"Kommt noch ein wenig näher!" Wisperte Alcara und griff in seinen Rucksack. Vorsichtig holte er den neuen Flugteppich heraus, auf den maximal sechs Personen Platz finden konnten. Er wußte, daß er nicht näher als tausend Schritte an den äußeren Begrenzungswall herantreten durfte, weil dort der Bann des goldenen Drachens wirkte, der alle in feindlicher Absicht herankommenden lähmte. Früher war es sogar so, daß die Meister des Feuers diesen Bann so gewirkt hatten, daß jeder Feind je nach Stärke seiner feindlichen Absicht langsam oder schnell zu Asche verbrannte. Alcara wollte jedoch weder gelähmt noch vernichtet werden. So pirschte er sich gerade bis auf eintausendfünfzig Schritte heran. Die Kunst dieser Entführung bestand darin, die erwählten Opfer aus ihrer sicheren Zuflucht herauszulocken. Auf die große Entfernung würde der Unterwerfungsfluch nicht wirken, wußte der Golemmeister. Näher heran konnte er nicht. Es schien unmöglich zu sein, die Jungen in seine Gewalt zu bringen. Alcara grinste. Er konnte einen Geistbeeinflussungszauber, der über zwei Meilen fliegen konnte, wenn das Ziel klar vor dem geistigen Auge des Zauberkundigen stand. Um so besser war es, wenn er das Ziel oder die Ziele sehen konnte. Der Ruf der unwiderstehlichen Träume hieß dieser Zauber aus dem arabischen übersetzt und bewirkte, daß das davon berührte Wesen eine genau auf es abgestimmte Sinnestäuschung erfuhr, die ihm vorgaukelte, das längst erhoffte, am meisten verlangte und am dringendsten benötigte vor sich zu haben. Damit konnte der Zauberer bis zu fünf Wesen zur gleichen Zeit behexen. Er betrachtete die ausgewählten Opfer, suchte sich mit dem Gespür eines jagenden Raubtieres die vier am weitesten von der sicheren Zuflucht aus und erhob seinen Zauberstab. Er ließ sich auf seinem Teppich niedersinken und begann ein monotones Gemurmel, bei dem er selbst an die Dinge dachte, die ihn am meisten lockten, seine Wunschgeliebte, die immer noch irgendwo in Syrien lebte, eine Armee von treuen Golems und er selbst, wie er triumphierend über der Leiche Voldemorts stand, frei und unbesiegbar. Diese Wunschvorstellungen flossen bei der Wiederholung des magischen Mantras aus seinem Kopf in den Zauberstabarm und durch diesen hinaus zu dem ersten Opfer, in dessen Geist nun die eigenen Wunschvorstellungen zu scheinbar wirklichen Sinneseindrücken wurden. Alcara ging davon aus, daß jeder der Jungen zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren bereits von irgendwelchen Geliebten träumte, jeder sich schon für einen großmächtigen Zauberer oder sehr reichen Zauberer hielt. Wie der Name des Zaubers besagte würden sie daraufhin den scheinbar sicht-, hör- und greifbaren Eindrücken folgen, bis zum Grenzwall, an dem wegen des Feindeswehrzaubers keine einzige Wache stand. Und selbst diese hätte Alcara nicht aufgehalten. Im Gegenteil. Er hätte dann eben die Wächter dazu verlockt, die schützende Grenze zu verlassen. Vielleicht, so dachte er, als er die vier auserwählten Opfer bezaubert hatte, könnte er auch mal in der Nähe von Hogwarts damit hantieren, um zu sehen, ob er auch dort wirkte. Diese kleinen, gelben Idioten bildeten sich was auf ihre Feindeswehr ein, daß es keinen Zauber gab, der aus einer großen Entfernung gewirkt werden konnte. Sie würden heute lernen, daß das ein Trugschluß war.

Alcara fragte sich, was die vier nun sahen, die nun eilfertig auf den Grenzwall aus Felsgestein zuritten, der achteckig um die Schulstadt herumführte und gerade mal hoch genug war, daß kein Golem mit nach oben ausgestreckten Armen die Krone erreichte.

"Gleich habe ich euch", dachte Alcara, als er die vier Jungen durch sein Fernrohr beobachtete, mit dem er auf zwei Meilen einzelne Gesichter unterscheiden konnte. Er wartete - und wartete - und wartete. Da! Das erste geflügelte Pony erreichte den Grenzwall, von seinem Reiter immer mehr vorangetrieben. Es überflog die hohe Mauer, ohne daß jemand im Inneren der Bauwerke argwöhnisch zu werden schien. Dann kam das zweite Pony über die hohe Mauer gesegelt, dann das dritte. Alcara mußte sich sehr anstrengen, nicht einfach so loszupreschen, um seine Opfer einzusammeln, bevor nicht auch der vierte Reiter über die Grenzbefestigung geflogen war. Immer noch von den unwiderstehlichen Traumbildern angezogen ritten die vier Jungen mit glückseligen und erwartungsvollen Gesichtern auf Alcara zu. Da passierte es.

Vom hohen Turm in der Mitte ertönte ein schwirrendes Geräusch, und aus den Gebäuden eilten chinesische Zauberer in wallenden Gewändern, die die Farben der von ihnen gelehrten Elementarzauber besaßen. Offenbar hatte jemand den unangemeldeten Ausritt außerhalb der Schule beobachtet. Drei Meister der Luft vollführten magische Gesten, um einen Flugdrachen aus himmelblauer Seide herbeizurufen, unter den sie und zwei Feuermeister in rotgoldenen Gewändern sich festschnallten und dann von der Magie des Windes und der Leichtigkeit getrieben losflogen.

"Ihr kommt doch zu spät", knurrte Alcara triumphierend dreinschauend und zielte mit dem Zauberstab auf die Ponys, die nun, wo sie den Fremden in der Luft sahen, etwas unwilliger voranflogen. Auf einen kehligen Singsang hin zischte eine silbergraue Wolke aus Alcaras zauberstab, brauste auf die nun herangleitenden Flügelponys zu und hüllte sie ein. Das war der Hauch der Hilflosigkeit. Er löschte zwar den Wunschtraum-Zauber aus, verdammte jedoch alle die in ihm gefangen waren zur Willenlosigkeit und absoluten Untätigkeit. Die Ponys wieherten. Doch dann hingen sie in der grauen Wolke fest. Alcara gab seinem Teppich das Kommando, schnell voranzufliegen. Er fühlte, daß der Hauch der Hilflosigkeit ihn gut ausgezehrt hatte, gab jedoch nichts darum. Er hielt die Luft an und flog in die Wolke hinein. Mit schnellen Griffen pflückte er auf dem Teppich stehend jeden herausgelockten Jungen von seinem Reittier. Als er wieder aus der Wolke herausbrach, schossen bereits die aufgescheuchten Lehrer der Schule mit ihrem Flugdrachen heran, der doch nicht so unbeholfen war wie Alcara angenommen hatte. Einer der Feuermeister hob einen verschlungen wirkenden Zauberstab an, dem unvermittelt goldene Flammen entsprossen, mehr als vier Meter lang wurden und dann als flammende Wolke auf den Teppich zuflog.

"Die riskieren es, ihre eigenen Schüler zu töten?" Fragte sich Alcara. Doch dann erkannte er, daß das Feuer wohl kein materialvernichtendes Feuer sein mußte. Die Wolke glitt auf den Teppich zu, ohne Hitze abzugeben. Alcara wendete und floh. Doch die Flammenwolke schwenkte um und folgte dem Teppich. War sie lenkbar oder wurde sie von etwas angezogen? Alcara vollführte ein weiteres schnelles Manöver. Tatsächlich brauchte die Feuerwolke eine Sekunde, bis sie auf die neue Flugbahn umschwenkte. Also wurde sie gelenkt. Sie war jetzt nur noch zweihundert Meter entfernt, als einer der unter dem Drachen hängenden Windmagier seinen blauen Kristallstab hob, der zu leuchten begann. Von rechts hörte der Golemmeister ein immer lauter werdendes Brausen. Offenbar hatte sein Verfolger einen lenkbaren Wirbelsturm heraufbeschworen. Dafür, daß die chinesische Magie so kompliziert war ging das dem syrischen Golemkundler etwas zu schnell. Und da kam immer noch die goldene Flammenwolke. Wenn Alcara nicht hier und jetzt scheitern wollte, mußte er sich wehren. Er griff sich einen zurechtgemeißelten Vulkanstein, der genau auf seine Zauberstabspitze passte und vollführte einen Zauber, der den aufgepflanzten Stein in einen einzigen grellen Blitz verwandelte, der laut krachend auf den Flugdrachen überschlug und diesen beim Auftreffen halb verkohlte. Das magische Fluggerät sackte durch, riss auf. Verkohlte Seide löste sich. Angekohlte Bambusstreben des Gerüstes begannen durchzubrechen. Das war das Ende der Verfolgung. Da bekam Alcara einen Schrecken. Als er die goldene Flammenwolke sah, die fast bei ihm war und fühlte, wie ihm heiß wurde. Da begriff er, daß es ein Feuer war, das nicht den Körper, sondern das innere Selbst, die Seele eines Feindes erhitzte und verbrannte. Er warf den Teppich herum, während die immer noch unter dem Hauch der Hilflosigkeit gebannten Jungen ohne zu rutschen auf dem Teppich lagen. Jetzt fiel die Wolke nach links hinten aus. Der Wirbelsturm war inzwischen zu einer kurzen aber heftigen Windböe zusammengefallen. Offenbar war ihr Erzeuger zu sehr abgelenkt. Alcara triumphierte. Er trieb seinen Teppich weiter an. die goldene Flammenwolke fiel weiter zurück. Dann flackerte sie hell auf und verpuffte in leerer Luft. Alcara verschwendete keinen Blick und keinen Gedanken an die Verfolger. Womöglich waren sie mit ihrem blauen Flugdrachen abgestürzt. Pech für sie! Er hatte nun ein neues Ziel: Japan.

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Großmeister Wu, der oberste Hüter der Luft und zur Zeit Sprecher des erhabenen Hortes des goldenen Drachens, hatte von seinem Studierzimmer in der Spitze des Turmes der Gelehrsamkeit beobachtet, wie vier Zöglinge seines geschätzten Kollegen, dem Großmeister der irdenen Gewalten, auf ihren Windpferden, die von den Zöglingen außerhalb der Hallen der Winde benutzt werden durften, über die schützende Mauer flogen. Er konnte sich nicht entsinnen, daß an diesem Nachmittag ein Zögling um die Erlaubnis gebeten hatte, die Gefilde der erhabenen Lehrstatt zu verlassen. Das mochte Aufsässigkeit sein oder ein schreckliches Ungemach. Als er den Jungen mit einem frei fliegenden Fernblickauge nachspürte fand er einen Fremden in türkisfarbenem Gewand, der auf einem Teppich in der Luft thronte, wie ihn die braunhäutigen Völker im mittleren Westen benutzten. Es war ein Chinese, sah Großmeister Wu. Doch er erkannte ihn nicht. Da er sämtliche Schüler und Schülerinnen als Jünglinge wie Erwachsene kannte, die in den letzten hundert Jahren seine Lehrstätte beehrt hatten, und der Fremde noch sehr jung wirkte, mußte es entweder der demütige Diener eines einzelnen Meisters sein oder ein fremder, der es gewagt hatte, sein äußeres zu verändern. Doch erst einmal mußte gehandelt werden. Er rief den Warnzauber auf und schickte mit einem Gedankenruf drei seiner jüngeren Kollegen aus, dem Fremden zu folgen, der gerade mit einer grauen Nebelwolke die vier Ausreißer eingefangen hatte. Also war es ein Angriff auf seine Schule, seine Schüler, seine Ehre. Nur schwer beherrschte sich Großmeister Wu, ob dieser tödlichen Beleidigung nicht in unbändige Wut zu geraten. Zu den Windmeistern gesellten sich auch drei Meister von Feuer und Licht und flogen mit dem schnellen Flugdrachen, der selbst die langen Holzstiele der weißen Zauberer einzuholen vermochte auf den Teppich zu. Wu wollte gerade mit einem Gedankenruf an die Verfolger befehlen, daß der Fremde nicht an Leib oder Seele zu verletzen sei, als bereits die Flammen der Vergeltung unterwegs waren, durch die Gedanken ihres Beschwörers auf das Ziel gerichtet und von dessen Feindseligkeit genährt und getrieben. Dann rief einer seiner jüngeren Fachkollegen den Wind der Ergreifung. Doch der Fremde wehrte sich. Er setzte einen Stein auf seinen hölzernen Stab. Solche Stäbe waren das Kennzeichen für die Magier Afrikas, Europas und Westasiens. Dann explodierte der aufgesetzte Stein in einem grellen Blitz, der zielgenau in den schnellen Flugdrachen einschlug und diesen in nur einer Sekunde fast vollständig zerstörte. Die mit ihm fliegenden Kollegen stürzten mehrere Körperlängen in die Tiefe, während der Fremde mit den entführten Zöglingen davonflog, die nun ungelenkte Flammenwolke hinter sich lassend. Seine Fachkollegen aus den Hallen der Winde riefen wohl die Macht der Leichtigkeit an und fingen so ihren Sturz und den der Feuerhüter ab. Der zu drei Vierteln verkohlte Drachen hatte alle eigene Flugmagie verloren und flatterte wie ein welkes Blatt im Herbstwind, bis er unbeholfen auf dem Boden aufkam.

"Diese Freveltat wird uns dieser Frechling bitter büßen", schwor sich Wu. Er schickte sein fliegendes Auge los, den Fremden zu verfolgen. Doch dieser war zu schnell. Das einzige, was Wu noch mitbekam, bevor sein magisches Spürgerät ihn verlor, war, daß er nach Osten flog.

Inzwischen gerieten Lehrer und Schüler der erhabenen Lehrstätte in helle Aufregung. Von der großen Disziplin, die hier gelehrt wurde, war nichts mehr zu bemerken. Erst als Großmeister Wu mit dem Hammer auf einen großen BronzeGong schlug, ebbte die Unruhe etwas ab. Mit dem Zauber der weit hörbaren Stimme, ebenfalls einem Luftelementarzauber, rief er alle zur Ordnung. Er befahl den Meistern aus allen Hallen, ihre Sprecher zu ihm zu schicken. Das galt auch für die Sprecherinnen für die Mädchen. In kurzen Sätzen erzählte er, was passiert war und kündigte an, daß er dem großen Rat der Zauberkundigen sein Ausscheiden aus der erhabenen Lehranstalt verkünden würde, weil er zugelassen hatte, daß jemand vier Schüler aus seiner Obhut verschleppt hatte. In ihm selbst wuchs bereits der Wunsch, den Verbrecher selbst zu jagen. Er mußte herausfinden, wer das war. Er sah aus wie ein Chinese. Aber das war nur Täuschung. Der fliegende Teppich und der hölzerne Stab hatten ihn verraten. Vielleicht konnte der große Rat der Zauberer des erhabenen Reiches der Mitte den Frevler stellen und die vier entführten Jünglinge befreien. Wu ahnte mit großem Unbehagen, daß dieser Feind mit seinen Opfern schlimmes vorhatte. Doch er konnte sich nicht vorstellen, was das war.

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Voldemort hatte eine geniale Lösung für das Transportproblem mit den Riesen gefunden. Er hatte statt Flugbesen Tragegerüste bauen lassen, auf die groß und mächtig gepolsterte Stühle mit Sicherheitsketten befestigt waren. Den Transport durch die Luft würden Dementoren übernehmen, denen Voldemort zusicherte, daß sie nach erfolgreichem Überholen der zwanzig Riesen Gracklors all die Länder durchstreifen durften, über die sie zunächst bei dunkelheit hinwegfliegen mußten. Als er diesen Transportauftrag weitergereicht hatte, stattete er den Schwestern Narzissa Malfoy und Bellatrix Lestrange einen Besuch im Landhaus der Malfoys ab. Hier wollte er die nächste Versammlung der Todesser abhalten. Seine Getreuen arbeiteten bereits an einem Plan, das Ministerium zu stürzen. Er versprach Narzissa Malfoy, ihr Mann Lucius würde bald schon aus Askaban freikommen, da er dieses Gefängnis für andere Gefangene brauche. Draco Malfoy bedachte er mit einem abschätzigen Blick, wie eine Kakerlake auf einer frisch geputzten Anrichte. Dieser Bengel würde sich in den nächsten Wochen sehr abstrampeln und alles ausführen müssen, was er, der dunkle Lord, von ihm verlangte. Denn sonst würde er ihn ohne große Ankündigung töten. Das hatte er seiner Mutter und dem Versager persönlich angedroht und es genossen, wie blanke Todesangst in die sonst so blasierten Gesichter der Malfoys getreten war. Bellatrix hatte hämisch gegrinst, als der von ihr abgöttisch verehrte Dunkelmagier diese eine und unmißverständliche Warnung ausgesprochen hatte.

"Und nun laßt mich allein", schnarrte Voldemort, als er den Hausbewohnern seine Absichten für die nächsten Tage verkündet hatte. Sie gehorchten ohne Widerspruch. Der Herr der Todesser betrat das mit Edelholz und Einhornfell ausgeschmückte Arbeitszimmer von Lucius Malfoy. Er verschloß die Tür, verbarrikadierte sie sogar mit einem Fluch und machte mit einem Zauberstabwink alle Fenster lichtundurchlässig. Dann entzündete er die große, goldene Öllampe und griff in seine diebstahlsichere Tragetasche. Gestern hatte er ihn aus dem Riddle-Haus geholt, jenen uralten, Macht verheißenden Gegenstand, der aussah wie mehrere um einen Stab gewickelte Schlangen, von denen oben der Kopf einer Schlange und unten das den Griff bildende Schwanzende einer anderen Schlange angebracht war.

"Wo ruhen die alten Krieger?" Fragte Voldemort in der fauchenden und zischenden Schlangensprache.

"Suche und finde den nächtigen Wald steinerner Bäume unter zwei großen Spiegeln, die von blauem Band durchzogen und genährt sind!" Flüsterte eine Gedankenstimme auf Parsel.

"Wo ist das?" Fragte Voldemort ungeduldig.

"Von wo du jetzt weilst südöstlich. Doch vermag ich nicht den genauen Ort zu weisen, solange du mehr als hundert Schritt davon entfernt bist", parselte die Gedankenstimme zurück, deren Quelle innerhalb des Stabes ruhte. Voldemort wußte besser als mancher andere Meister der dunklen Künste, daß es gefährlich war, einen so mächtigen Zaubergegenstand, der dazu noch mit dem Teil oder Ganzen einer Seele belebt war übermäßig zuzusetzen. Würde er zu viel Ungeduld zeigen, so würde er sich selbst dem Stab noch mehr ausliefern als bereits geschehen. Er mußte sich also sehr gut beherrschen, solange er den Stab mit Leib und Seele berührte. Denn wenn er die Krieger der Vorzeit führen wollte, dann mußte er seinen eigenen Willen über den des Stabes behaupten. Er wußte auch, daß vor etlichen Jahrtausenden die Landschaften der Erde noch anders ausgesehen haben mochten. Womöglich hatte Sharanagot genau das vorausgesehen und einen Ort gewählt, der in Jahrtausenden noch so aussah wie Jahrtausende zuvor. So galt es, den Orakelspruch des Stabes zu deuten und dann vor Ort zu suchen.

Der dunkle Lord ging einige Minuten auf und ab, um zu überlegen, was mit einem nächtigen Wald aus steinernen Bäumen gemeint war, und was für Spiegel das sein sollten, die von einem blauen Band durchzogen und genährt ... Er schrie fast auf, als ihm mit schmerzhafter Wucht die Erkenntnis kam, daß mit den Spiegeln zwei stehende Gewässer gemeint sein mußten, zwei Seen. Ja, und das blaue Band, das hindurchführte, war ein und derselbe Fluß, der die Seen mit frischem Wasser nährte. Südöstlich von seinem jetzigen Standort sollte dieses Gewässersystem liegen. Also in Kontinentaleuropa oder Afrika. Oder meinte die Stabseele, daß diese beiden großen Spiegel im südöstlichen Viertel der Erdkugel lagen?

"Wie sieht das Land um die beiden Spiegel aus?" Fragte Voldemort den Stab Sharanagots nach einer Minute Bedenkzeit.

"Mittags sind hohe Berge, und das blaue Band führt gen Mitternacht", erwiderte die flüsternde Schlangenstimme in Voldemorts Kopf.

"Danke schön", parselte Voldemort, etwas zuversichtlicher als eben noch. Mit den Angaben ließ sich was anfangen. Er steckte den Stab Sharanagots in die diebstahlsichere Umhängetasche zurück und entfernte den Barrikadezauber vor der Tür. Dann gab er den Fenstern ihre Durchsichtigkeit zurück und suchte die Bibliothek der reichen Reinblüterfamilie auf. Ihn interessierten nicht die alten, goldgeprägten Folianten mit Texten über ehrwürdige Zaubererfamilien, praktische Haus- und Gartenzauber, sowie Runenwörterbücher oder Zaubertrankrezepturen. Ihn interessierten die geschichtlichen und erdkundlichen Bücher, die ein stiefkindliches Randdasein in einem total verstaubten Bücherschrank fristeten. Er suchte einen Atlas und fand einen edel aussehenden, in blauer Drachenhaut gebundenen Atlas aus dem Jahre 1800, den wohl Lucius' Urgroßvater schon benutzt hatte. Südöstlich sollte er suchen, hatte die Stimme aus dem Stab gezischt. Also nahm er sich erst eine Übersichtskarte von Kontinentaleuropa vor und überflog die blauen Klekse und Striche, die Flüsse und Seen bezeichneten. Warum konnte dieser Atlas hier noch keine Vielfachdarstellung? So mußte er zwischen einer politischen und landschaftlichen Karte wechseln, die auch die Gebirge zeigte. Beinahe hätte er laut losgelacht, als er das sich vielfach über die Karte schlängelnde, von vielen Nebenflüssen gespeiste Band des Rheins sah und diesen erst zu seiner nordwestlichen Mündung in die Nordsee und dann nach Süden überblickte, wie er durch einen großen See führte, beziehungsweise, durch diesen hindurchfloß. Das war der See von Konstanz, im Deutschen auch Bodensee genannt. Davon südlich, also in Mittagsrichtung, erhoben sich die Alpen. Ja, und der Rhein floß gen Mitternacht, also grob geschätzt nach Norden. Aber das war nur ein See, dachte Voldemort. Sharanagot hatte doch von "zwei Spiegeln" gesprochen. Er nahm sich die Karte vor, die Deutschland und Österreich zeigte, und erkannte, daß es sich beim Bodensee um eigentlich drei Seen handelte, von denen zwei jedoch durch den sie durchquerenden Rhein wie einer aussahen. Also waren es die beiden gesuchten Spiegel, die von einem blauen Band durchzogen und genährt waren. Doch wo lag der nächtige Wald aus steinernen Bäumen? Laut Sharanagots Erbe lag er unter den beiden Seen. Doch die waren sehr groß. Mußte er in sie hineintauchen oder konnte er sein Ziel am Ufer des Bodensees oder auf einer der in ihm liegenden Inseln finden? Also war er jetzt genauso schlau wie vorher. Denn wenn es sich bei dem Wald um eine trollpopelige Tropfsteinhöhle handelte, suchte er womöglich die Nadel im Heuhaufen. Er schlug den Atlas zu und verstaute ihn wieder an seinem Platz. Dann suchte er nach Büchern über Zaubereigeschichte Mitteleuropas, vor allem Deutschlands. Doch außer "Dunkle Imperien" und "Zauberei im Wandel der Nationen" fand er nichts, was ihm vielleicht hätte Auskunft geben können. So mußte er wohl nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz, um dort nach weiterführenden Werken zu suchen. Denn er ging nicht zu unrecht davon aus, daß den Ort der schlafenden Krieger eine mächtige Magie umgab, die unbefugte abschreckte. Darüber mußte doch irgendwer mal was geschrieben haben. Dann grinste er dämonisch. War es nicht langsam Zeit, Grindelwalds Erbe anzutreten? Er kannte einen Zauberer, der es erfolgreich geschafft hatte, der Vergeltungswut seiner Opfer zu entrinnen, Loki Nachtwurz. Zumindest hatte er davon gelesen, daß er kurz vor Grindelwalds Fall geflüchtet war. Er sollte noch irgendwo in Sachsen leben. Wenn er bald eh die Schlangenkrieger für sich eingespannt hatte und neben den Golems und Dementoren noch zwanzig Riesen befehligte, konnte ein Vorfühlen auf mögliche Helfer im Ausland nicht schaden. Wann wollte er los? Erst wenn die Dementoren die Riesen erfolgreich herübergeholt und in den schottischen Bergen versteckt hatten. Er dachte daran, daß dort auch Hogwarts lag, die Schule, die ihm so viel gegeben und doch noch so viel vorenthalten hatte. Doch bald, sehr bald, würde er dort bestimmen, würden ihm untergebene Hexen und Zauberer darüber befinden, was die Schüler lernten, ja daß nur reinblütige Schüler dort lernen durften. Doch bevor das Ministerium nicht von seinen Leuten kontrolliert wurde sollte er die Riesen besser nicht in der Nähe der Schule unterbringen. Womöglich würden Scrimgeour und seine Vasallen dann Jagd auf sie machen. Immerhin ging Scrimgeour ja jetzt schon davon aus, daß er sich mit einer Rotte Riesen verbündet hatte.

"So lebt einstweilen wohl", verabschiedete sich Voldemort von den Malfoys und Bellatrix Lestrange. Narzissa und Draco sahen ihm mit einer schwer unterdrückten Erleichterung nach, während Bellatrix enttäuscht zusah, wie ihr hochverehrter Herr und Meister jenseits der schmiedeeisernen Torflügel disapparierte.

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Gracklor hatte seine Sippe um sich versammelt und mit seiner Donnerwetterstimme klar angesagt, daß sie die Siedlung der Raufer verlassen und zu seinem neuen Freund, dem Kleinling Voldemort, der aber sehr stark zaubern konnte, umsiedelten. Sein Weib Meglamora hatte sofort zugestimmt. Doch Grrock und Ragnar, seine beiden Söhne, fanden die Idee nicht so toll, wo sie sich gerade erst bei den Berglandriesen hier den nötigen Respekt verschafft hatten. Doch Gracklors Wort war Gesetz, und wer gegen das Gesetz verstieß war tot. So zogen sich der amtierende Gurg und seine zwanzig Gefährten in der nächsten Nacht heimlich zurück, um sich am vereinbarten Treffpunkt mit Voldemort zu treffen.

Doch als die zwanzig großen Sitze kamen meinte Gracklor schon, der Zauberer habe ihn gemein betrogen. Denn die düsteren Gestalten, die die Stühle auf großen Gerüsten trugen und undurchdringliches Dunkel um sich ausbreiteten kannte Gracklor. Das waren die Glückssauger, die Dunkelmacher, die Eisesbringer, schreckliche Ungeheuer, vor denen selbst er flüchtete, wenn sie kamen. Doch zum weglaufen war es schon zu spät. Die unheimlichen Kreaturen kreisten die Riesen von allen Seiten ein, schwebten von den Berghängen herab und quollen zwischen den Felsen hervor. Dann sagte einer dieser Unholde:

"Gracklor und seine Gefährten. Auf die Sitze da! Wir bringen euch zum dunklen Lord. Kämpfen und weglaufen sinnlos!"

"Das war so nicht ausgemacht", brüllte Gracklor, der die eisige Kälte fühlte, die von diesen Kreaturen ausging.

"Er befahl, wir kamen. Du und deine Riesen auf die Sitze!" Hallte die Stimme des Anführers, und Gracklor vermeinte, sie nicht mit den Ohren, sondern in seinem Kopf zu hören. Er fühlte, wie die Kälte in seine gigantischen Glieder kroch und wieder abebbte. Offenbar konnten diese Wesen ihre Kraft einteilen. Schweren Herzens befahl er seinen Gefährten, auf die wuchtigen, mehrere Meter hohen Stühle zu steigen, die mit Polsterungszaubern und Federleicht-Zaubern belegt waren. Ohne dazu aufgefordert zu werden legte er die starken Sicherheitsketten um seinen Leib und verriegelte die Halterung. Die anderen taten das auch. Dann wurden die herausragenden Tragebalken von den Dunkelmachern ergriffen, angehoben und im Hui davongetragen, über die Berggipfel und dann in Richtung Westnordwest. Die Sonne versank in einem Meer aus orangeroter Glut. Die Dementoren hatten ihre Aura fast an ihre Körper herangezogen. Für sie war das ein gewaltiger Kraftakt, ihren Einfluß derartig zu schwächen. Doch sie hatten den Befehl und die Zusage des dunklen Lords. Unermüdlich flogen die Diener des dunklen Lords mit ihren Passagieren dahin, waren wie dunkle Wolken am Abendhimmel, überquerten verlassene Bergregionen und menschenleere Landschaften. Nach etwa vier Stunden machten sie eine Pause von einer Stunde. Dann flogen sie weiter, immer weiter, bis sie die Insel Britannien erreichten und auf der Atlantikseite bis zum Norden flogen, wo sie in einem weit über dem Meeresspiegel liegenden Tal im schottischen Hochland den Bestimmungsort erreichten. Dort erwartete Voldemort sie bereits und begrüßte Gracklor, der den dunklen Lord am liebsten gleich erwürgt oder in Stücke gerissen hätte. Doch die Dunkelmacher waren noch da und würden das nicht zulassen. So stand der Riese da, mit bebenden Muskeln und schwer unterdrückter Wut im Gesicht. Doch er hatte auch Angst. Voldemort wußte das. Er lächelte und sagte:

"Gracklor, sei froh, daß meine Helfer tun, was ich ihnen sage. Vergiss das nicht, daß sie dich hergebracht haben. Sie wissen jetzt, wo du wohnst. Sie werden etwa zwei Meilen von hier entfernt bleiben und aufpassen, daß euch keiner zu nahe kommt. Bleib also am besten hier und richte dich ein. Oh, wie ich erkennen kann erwartet ihr bald Nachwuchs."

Gracklor sah den dunklen Lord verächtlich an, als dieser Meglamora genauer betrachtete. Die Riesin war von ihrer stark verhornten Haut abgesehen splitternackt. Sie glotzte auf den hageren Kleinling herunter, dessen rote Augen sie ekelhaft anfunkelten.

"Dauert noch viel Zeit", grollte Gracklor. Doch er wußte, daß sein Weib wirklich mit einem Kind war. Wahrscheinlich würde sie es im nächsten Sommer herausdrücken. Dann sollten er und seine männlichen Gefährten sich besser mehr als zehn ihrer Armlängen von ihr entfernt halten. Meglamora machte Anstalten, nach dem neugierigen Rotauge zu greifen. Doch dieser deutete auf den Leib der Gigantin, die von den hornigen, beigen Füßen bis zu ihrem struppigen schwarzen Zottelhaar mindestens sieben Meter maß und drohte:

"Behalt deine Pranken bei dir, Weib, oder ich bring dein Kind um, bevor es atmen lernt." Er trat dabei jedoch drei Schritte zurück. Das war klug von ihm. Denn die Riesin ließ ihre Hand niedersausen. Beinahe hätten die eingekerbten, mindestens zwanzig Zentimeter langen Nägel den Dunklen Lord aufgeschlitzt. Laut brüllend setzte Meglamora nach. Doch Gracklor rief sie zurück. Doch der Trieb, den Feind ihres Kindes zu zermalmen war noch zu stark. Voldemort rief: "Crucio!" Zwar verursachte der Folterfluch bei Riesen nur ein schmerzhaftes Zucken in der getroffenen Körperpartie, wußte er, doch weil er genau auf die empfindliche Stelle der Gigantin zielte erfüllte er seinen Zweck. Meglamora schrak zurück, verzog das Gesicht und stampfte auf.

"Ich kann das noch viel stärker!" Rief Voldemort. Das war zwar ein Bluff. Doch die Riesin glaubte das und zog sich zurück, laut schnaubend, grummelnd und knurrend.

"Ich wußte doch, daß du nicht der einzige bist, der mich versteht", triumphierte Voldemort an Gracklors Adresse. Dieser nickte leicht.

"Weib versteht etwas. Kann aber nicht sprechen", grollte der Clanchef der Riesen.

"Wie erwähnt bleiben meine netten Diener in eurer Nähe und passen auf, daß keiner euch findet oder ihr wen findet, bis ich euch sage, wo ihr hingehen könnt. In der Nähe ist ein Wald mit Tieren und Holz drin. Macht damit, was ihr wollt!" Gracklor grummelte nur. Dann disapparierte Voldemort. Seine neue Hilfstruppe, vielleicht seine Leibgarde, wenn die Golems anderswo verheizt wurden, war ordentlich stationiert.

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Laut schreiend fiel einer der vier Jungen vom Teppich herunter. Alcara hatte genau die Flughöhe eingenommen, die nötig war, um das Ritual der Luft zu vollziehen. Die Strahlen der gerade über den Horizont hervorgetretenen Sonne badeten den Jungen in gelboranges Licht. Bei vollem Bewußtsein, wie es die Söhne des Seth verlangten, stürzte der etwa siebzehn Jahre alte chinesische Zauberschüler in die Tiefe, während Alcara den Zauberstab auf ihn richtete und einen Singsang anstimmte, der in einer ganz bestimmten Zeit mit einem einheitlichen Rhythmus verlauten mußte. Während der Junge stürzte, wurde sein Körper von bläulichen Blitzen eingehüllt. Sein Angstschrei ging in einen euphorisch klingenden Jauchzer über, während sein Körper von innen her aufleuchtete und strahlte. Genau in dem Moment, wo Alcaras Litanei beendet war, schlug der nun wie eine fast durchsichtige, blaue Masse leuchtende Körper auf den Boden. Das blaue Licht explodierte aus dem Körper, der sich in weißen Dunst auflöste. Alcara rief ein paar verbotene Worte, und vom blauen Licht nach oben getragen flog die Dunstwolke genau auf ein geöffnetes fass zu, drang hinein und verdichtete sich zu einer Gasförmigen, blauen Substanz, die den Boden bedeckte. Alcara schloß das Fass und weckte den nächsten Entführten, den er auf dieselbe Weise in den Tod stürzen ließ und dessen dabei gewonnene Lebensessenz zu sich zurückfliegen und in diesem Fass konzentrieren ließ. Die Magie des Fasses hielt die eingefangene Essenz fest, bis Alcara mit einem vorbehandelten Schöpfer die benötigte Menge davon herausheben würde. Als er alle vier unschuldigen, aber magie begabten Jungen diesem grausamen Ritual unterzogen hatte, trieb er den Teppich zum weiterfliegen an, nach südwesten, weg von Japans Ostgrenze, richtung Südasien. Sein Ziel war Kapstadt, Südafrika.

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"Marga, das glaubst du nicht", sagte eine Stimme rechts von Marga Eisenhuts Schreibtisch. Die hellblonde Hexe wandte ihren Kopf und sah die in lindgrüne Tücher gehüllte Hexe, die in einem goldgerahmten Portrait stand.

"Was soll ich nicht glauben, Gunilla?" Fragte Marga und schloß schnell die Schreibtischschublade zu, in der sie gerade den letzten Bericht für die Kobolde gelegt hatte. Eigentlich wollte sie jetzt ihren Feierabend genießen.

"Du hast gehört, daß wieder ein Wertiger in Indien aufgetaucht ist?" Fragte Gunilla, deren Vorlage vor sechzig Jahren die Cousine ihrer Urgroßmutter gewesen war und als Strafverfolgungshexe des Zaubereiministeriums gegen Grindelwalds Handlanger gekämpft hatte.

"Das wissen wir doch schon seit Monaten, daß es noch welche gibt", erwiderte Marga. "Solange die in Indien bleiben."

"Lakshmi Patil ist jetzt wohl auch eine von ihnen. Die ist mit einer blonden Inderin - schon auffällig genug - bei den Thornhills reingeschneit, ganz dreist. Angeblich wollte sie zauberfähige Menschen vor etwas warnen, daß dieser Schlagetot in England gestohlen hat und damit irgendwelche Monster rufen kann", erwiderte Gunilla."

"Angeblich?" Fragte Marga erregt. "Was haben diese Wertigerinnen erzählt, und wie geht es den Thornhills?"

"Die Thornhills sind unversehrt geblieben. Offenbar wollte die Blonde, die sich Sonnenglanz nannte, daß magisch voll begabte Leute diesem Vorfall nachgehen. Aber dann ausgerechnet zu den Thornhills?"

"Weil die schön abseits wohnen, Gunilla. Hat die Lady dir das erzählt oder der blaue Kobold?"

"Unser blauer Freund hat es von seinem Gegenstück bei Liza und Maggy und es dann mir erzählt. Die Lady aus Hogwarts kann ja nicht zu mir hin, seitdem Güldenberg alle ausländischen Bilder mit ehemaligen Größen der Zaubererwelt aus fast allen Bereichen des Ministeriums verbannen ließ. Vielleicht hat er Angst, ausspioniert zu werden." Diese Art, Dinge niemals ernst zu nehmen störte Marga an der gemalten Hexe. Doch andererseits hing eines ihrer fünf zu Lebzeiten portraitierten Bilder im Zaubereiministerium in Berlin, während sie, Marga Eisenhut, in einem kleinen Häuschen in der Glimmergasse wohnte, der nur für Hexen und Zauberer zugänglichen Straße in Frankfurt am Main.

"Marga, glaubst du denn an diese Legende von dem Schlangenzepter, die Loki Nachtwurz erzählt hat, bevor meine liebe Cousine anbot, ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen?"

"Atlantis, Avalon, Eldorado. Irgendwie hat es da immer wahre Teile an diesen Legenden gegeben", erwiderte Marga. "Loki war ja damals sehr im Stress, weil die Lichtwächter ihm bereits auf der Spur waren. Dafür haben wir einige der alten Bücher wiedergekriegt, die Grindelwald unseren Schwestern damals geraubt hat. Nur das Buch über den Schlangenfürsten hat er nicht mehr rausgerückt, obwohl ... Ist schon lange her", würgte Marga ihren Erinnerungsschwall ab. "Der Schlangenfürst kam aus Atlantis und hat dessen Untergang wohl irgendwie überlebt, hieß es. Seine Seele muß er kurz vor dem Tod in seinen Stab der Erdgebundenheit übertragen haben, heißt es. Wer mit schlangen sprechen kann soll sich sein Wohlwollen erwerben und eine versteckte Armee im Überdauerungsschlaf befindlicher Krieger aufwecken können. Ja, und die Wertiger sollen dieses Zepter bewacht haben, damit eben das nicht gelingt. Der Emporkömmling kann mit Schlangen sprechen, wissen wir. Er hat ja auch eine besonders große Schlange als Schoßtier."

"Wenn er wirklich dieses Zepter hat und rauskriegt, wie diese Armee geweckt werden kann, wieso braucht der dann zwanzig Riesen?"

"Häh?" Fragte Marga. "Was ist mit den Riesen? Ich dachte, die wollen nicht für wen kämpfen außer für sich."

"So sicher war das nie, Marga. Offenbar hat der Emporkömmling zwanzig Riesen anwerben können. Arcadis Leute haben nach Dumbledores Rat vor anderthalb Jahren Beobachter in die Berge geschickt. Von den vierzig Riesen da sind zwanzig auf einmal verschwunden, und zwar lebendig."

"Will sagen, wurden nicht als Leichen gefunden", wandte Marga ein. "Dabei wissen wir doch, daß er einen Golemkundler an der Leine hat."

"Der ist eben ein Raffzahn, der alles mitnimmt, was rumsteht, ob er es braucht oder nicht", erwiderte Gunilla.

"So, dann hat er mal eben zwanzig Fleischberge versetzt", grummelte Marga. "Wieso haben Arcadis Leute diesen Spinner nicht dabei erwischt, wie er die Riesen kontaktiert hat?"

"Weil Arcadis Leute nur die Siedlung beobachten, solange es hell ist. Irgendwer hat denen erzählt, daß die Riesen nachts herumlaufen und alles einfangen, was sich nachts raustraut und kleiner als sie selbst ist."

"Was nützen Beobachter, wenn die nur bei Sonnenschein hingucken?" Knurrte Marga. Dann kam sie auf die Sache mit dem angeblichen Schlangenzepter zurück.

"Womöglich traut der Emporkömmling dem Braten mit dem Zepter nicht oder hat noch nicht rausbekommen, wie es zu gebrauchen ist. Deshalb hat er sich die Riesen gesichert. Aber wir sollten nicht darauf hoffen, daß das mit dem Schlangenstab Mumpitz ist. Danke für die Mitteilung. Öhm, wo sind denn die Wertiger jetzt?"

"Haben ihren netten Spruch aufgesagt, einige Sachen näher erklärt und sind dann davon. Offenbar wollen die nix mit uns zu schaffen haben."

"Beruht eigentlich auf Gegenseitigkeit. Ich grabe mal nach und melde es an die richtigen Stellen weiter, Gunilla. Danke schön!"

"Güldenberg kriegt es von mir persönlich, bevor seine liebe Verwandtschaft es ihm sagt."

"Kein Thema", erwiderte Marga. Dann dachte sie daran, wie sie so unauffällig wie möglich mit der höchsten Schwester Kontakt aufnehmen konnte. Schade, daß Pandora Straton in Montenegro ermordet worden war. Sie hätte da vielleicht mehr zu zu sagen gehabt. Dann fiel ihr ein, daß sie womöglich auch nach Lokis Enkeln suchen könnte. Vielleicht hatte einer von denen das gesuchte Buch über die alten Artefakte und ihre Legenden noch. Sie rechnete kurz um, wie spät es an der nordamerikanischen Ostküste war und beschloß, in das Hauptquartier der Spinnenschwestern zu reisen. Sie kannte eine harmlose Kaminadresse in den Staaten, wo sie mal eben hin konnte. Von da aus konnte sie apparieren.

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Anthelia sah Patricia Straton an, als diese am Morgen des achtzehnten Juli sichtlich aufgelöst in der Daggers-Villa apparierte. Sie hatte ihren Besen geschultert. Offenbar war sie einen Gutteil der Strecke geflogen. Ein kurzer Gedankenwechsel zwischen den beiden telepathisch begabten Hexen genügte, und Anthelia wußte über die Erpressung Daianiras bescheid. Das kam ihr ungelegen, daß die offizielle Führerin der entschlossenen Schwestern jetzt derartigen Ärger machen mußte, wenngleich sie schon damit gerechnet hatte, daß Daianira es nicht auf sich beruhen lassen würde, daß Pandora nicht nur für diese gearbeitet hatte. Sie fühlte die Angst Patricias, obwohl die begabte Junghexe ihre Gedanken nach der Meldung so gut es ihr möglich war verschlossen hielt.

"Du hast Angst, ich würde es darauf anlegen, daß deine Verwandten nie wieder auftauchen, weil du weißt, daß ich dieser dreisten Erpressung auf keinen Fall nachgeben werde", sagte Anthelia sehr getragen. Patricia nickte verhalten. "Es ist wahrlich ein großes Ärgernis, daß Daianira sich nicht an unsere Vereinbarung gebunden fühlt. Womöglich will sie mir Narretei unterstellen, daß ich sie in der Nacht, wo deine Mutter starb nicht getötet habe. Im Moment drängen viele Dinge aus der alten Welt danach, von mir beachtet zu werden. Der Waisenknabe mag nun, wo er seinen ärgsten Widersacher hat meucheln lassen freie Bahn für seine Ziele wähnen. Dann harre ich jederzeit auf eine Botschaft der Blutsaugerin Nyx, die womöglich Ansprüche an die magische Welt stellen mag, und Cecil Wellington, mein Kundschafter in der Welt der Unfähigen, muß unter Beobachtung bleiben, falls die Wächter seiner oder unserer Welt doch noch Ungemach vermuten, was dieser Linus Price damals aufgewirbelt hat. am besten ist es, ich tilge jede Möglichkeit, daß Daianira mehr über unsere wackere Sororität ergründen kann."

"Sie weiß, daß schon einige dir folgen, höchste Schwester", seufzte Patricia, bevor ihr die Worte der Anführerin völlig klar wurden. Angst flackerte in ihren dunkelgrünen Augen mit dem leichten Graustich auf. Anthelia wollte alle Möglichkeiten tilgen, daß Daianira mehr über die Spinnenschwestern erfahren konnte! Was das hieß erschien Patricia sonnenklar.

"Natürlich weiß sie, daß viele wackere Mitschwestern aus ihren Reihen sich zu mir bekannt und hinter mir geschart haben. Aber sie weiß nicht wer es alles ist. Und so soll es auch bleiben, bevor es zu einem unnötigen Gerangel zwischen den anderen Schwestern und uns kommt."

"Heißt das, du wirst mich töten?" Fragte Patricia am Rande der Panik. Sie tastete so behutsam es ging nach ihrem Zauberstab.

"Du hast mich in mein zweites Leben zurückgebracht. Nur Leute wie dieser Waisenknabe würden einen solchen Undank aufbringen, die zu morden, die ihnen einen derartigen Dienst erwiesen. - An sich ist es jedoch kein schlechter Gedanke und würde strategisch betrachtet auch die vernünftigste Lösung darstellen", erwiderte Anthelia. Patricia zog ihren Zauberstab.

"Ich werde mich wehren, höchste Schwester", erwiderte Patricia Straton nun mit dem Mut der Verzweiflung beseelt. Anthelia sah den auf sie deutenden Zauberstab. Die Hand die ihn hielt zitterte jedoch ein wenig.

"Du hast noch nie getötet, Schwester Patricia. Du hast es bisher nur mit Verwandlungen und Schlafzaubern geschafft, unsere Gegner auszuschalten. Außerdem hast du schon einige Male bezeugen dürfen, daß ich mich gegen viele Formen des Todes gewappnet habe, auch gegen den aramäischen Vernichtungsfluch. Soweit ich weiß lassen die Götter der nordischen Frühgeschichte nur männliche Krieger in ihre Festhallen ein, die mit der Waffe in der Hand den Heldentod fanden", erwiderte Anthelia warm lächelnd und hob vorsichtig die leeren Hände auf Brusthöhe. Damit wollte sie zeigen, daß sie zum einen keine Angst vor einem Kampf mit der Mitschwester hatte und zum anderen nicht vorhatte, dieser den Todesfluch aufzuerlegen. Sicher konnte Patricia jetzt eine Verwandlung oder eine andere Zauberei gegen sie versuchen. Doch Anthelia fühlte, daß die Mitschwester nicht entschlossen genug war, gegen die so mächtige Anführerin zu fechten. So sagte sie ruhig: "Wir werden dieser Daianira eine wertvolle Lehre erteilen, die zwei Dinge ..."

Es knallte laut im Flur. Anthelia und Patricia schraken kurz zusammen, weil sie nicht damit gerechnet hatten, daß eine ihrer Mitschwestern jetzt apparieren würde. Anthelias wohlwollende Miene wich einem zornigen Gesicht. Wer wagte es, ausgerechnet jetzt zu erscheinen, ohne sich vorher angemeldet zu haben?

"Höchste Schwester, verzeiht mein unangekündigtes Erscheinen", hörten sie eine Frauenstimme, die mit stark deutschem Akzent sprach. "Doch ich habe etwas sehr wichtiges zugetragen bekommen."

"Du bleibst hier unten!" Dachte Anthelia an Patricias Adresse. "Fürchte dich nicht! ich werde weder Hand noch Zauberei gegen dich erheben. Bleib hier und verharre in Schweigen!" Dann disapparierte sie mit einem kaum hörbarem Plopp. Patricia setzte sich auf einen der Stühle, die um den großen Marmortisch gruppiert waren, auf dem vor zwei Jahren Anthelias Seele in den umgewandelten Bartemius Crouch Junior übergegangen war.

So leise wie sie verschwunden war tauchte die oberste der Spinnenschwestern vor Marga Eisenhut auf, die sich demütig verbeugte, ja fast einen Kniefall machte.

"Ich habe wichtige Dinge zu klären, Schwester Marga. Also gib schnell Kund, warum du ohne Ankündigung herkamst!" Schnarrte die Wiedergekehrte.

"Höchste Schwester, der Emporkömmling hat sich ein Artefakt verschafft, das ihm ungeheure Macht verleihen kann, wenn er herausfindet, wie es zu gebrauchen ist. Außerdem hat er wohl zwanzig Giganten für sich werben können. Offenbar mißtraut er seinem arabischen Golemmacher", ssprudelte es aus Marga Eisenhut heraus. Anthelia winkte ihr, in den Salon zu kommen.

"Warum nicht in den Versammlungsraum?" Flüsterte Marga.

"Ich bereite dort gerade etwas vor, daß keine Störung durch fremde Seelen verträgt", erwiderte Anthelia geheimnisvoll. Tatsächlich reichte diese vage Auskunft aus, um Marga zu überzeugen.

Im Salon errichtete Anthelia einen Klangkerker. Dido Pane war gerade mit Tyche Lennox unterwegs, um wild wachsende Zauberkräuter zu begutachten. Dennoch hielt Anthelia den Klangkerker für geboten, so lange sie nicht wußte, was Marga ihr erzählen würde. Denn diese hatte ihren Geist gerade so gut verschlossen, daß keine hörbaren Gedanken entwichen. Dann berichtete die deutsche Spinnenschwester von den Wertigern und dem Schlangenzepter und führte an, daß in Deutschland noch ein altes Buch existierte, das mehr über Sharanagots Zepter enthielt.

"Nachtwurz, sagtest du? Etwa die Nachfahren von Sigrun Nachtwurz, die damals die deutsche Sprecherin der entschlossenen Schwestern war?" Marga nickte bestätigend. "Ich entsinne mich, daß meine hochverehrte Tante sie wegen alter Dokumente aufsuchte. Allerdings konnte sie diese nicht an sich nehmen, weil sie durch mehrfachen Zauber an die Bibliothek der Nachtwurzens gebunden waren. Was darin stand hat meine hochverehrte Tante niemandem offenbart. Keiner, nicht einmal ich, hätte es wagen dürfen, sie danach zu fragen, was sie ergründet hatte. Ich erfuhr nur, daß Sigrun wohl mit einem Bann belegt wurde, niemandem mehr diese Dokumente zu zeigen, solange sie lebte. Daher muß ich davon ausgehen, daß diese Schriften wahrlich machtvolles Wissen beherbergen. Weiß der Waisenknabe von diesen Schriften?"

"Er wird es weder seinen Dienern noch irgendwem sonst verraten", sagte Marga. Anthelia nickte verärgert. Das war wohl eine Frage weit unter ihrem Niveau.

"Wer sind die lebenden Nachfahren dieser Hexe?"

"Sie hatte drei Brüder, höchste Schwester. Mag sein, daß diese die Schriften an sich brachten, als Sigrun starb. Das war 1790."

"Brüder", fauchte Anthelia wie eine gereizte Katze. "Womöglich haben diese alle wertvollen Bücher und Pergamente unter sich aufgeteilt, zu Gold gemacht oder andre Zauberer damit beehrt, womöglich sogar darauf gehofft, einen mächtigen Verbündeten zu finden, der mit diesem Wissen hantieren konnte. Wie war das mit diesem Grindelwald. Wollte er nicht eine Welt der reinen Zaubererherrschaft, wo die Hexen zwar ein gewisses Mitspracherecht hätten aber nicht ihre zustehende Rolle einnehmen durften?"

"Soweit ich weiß ja, höchste Schwester. Er ging damals davon aus, daß die magische Menschheit über die magielosen Menschen herrschen sollte. Doch er ist gescheitert, weil er mehr Angst und Abscheu gesät hat als Zustimmung und Treue zu ernten."

"Alles eine Frage der Auslegung", erwiderte Anthelia darauf. Grindelwalds Geschichte hatte sie schon fasziniert und sich von Pandora vor und nach ihrer Wiederverkörperung so gut es ging berichten lassen. Wenn sie nicht so viel mit dem Spinnenorden zu tun hätte, wäre sie schon längst nach Osteuropa und Deutschland gereist, um dort Wochen oder Monate in den magischen Bibliotheken zuzubringen, um alles, die Triumphe und Niederlagen Grindelwalds, von A bis Z zu studieren. Denn es war durchaus möglich, daß sie aus dessen Taten viel nützliches für ihre eigenen Pläne lernen konnte. Doch wieder einmal drängten wichtigere Aufgaben, die erledigt werden mußten. Nun galt es erst einmal, mehr über Voldemorts Schlangenzepter zu erfahren. An und für sich wollte sie diese Wertiger aufsuchen, um von diesen alles nötige zu erfahren. Doch sie wußte, daß diese Wesen gegen die meisten Zauber gefeit waren, ja in einer Gruppe aus mehr als zwei Exemplaren jede freie Magie zunichte machten. Sie war weder dumm noch leichtsinnig, sich diesen Wesen ohne gründliche Vorbereitungen auszuliefern. Und wenn dieses Schlangenzepter bereits aus deren Obhut entführt worden war, war eine Reise nach Indien völlig unnötig. Es konnte aber auch sein, daß das alles eine geschickte Täuschung des Waisenknabens war, um von einer anderen Tat abzulenken. Was hatte Marga noch erwähnt? Er habe sich zwanzig Riesen heranziehen können.

"Ich werde mit dir zusammen in deine Heimat reisen und nach den lebenden Nachfahren Sigruns forschen. Wir müssen zunächst annehmen, daß dieses Artefakt existiert und wahrlich die Macht besitzt, von denen die Halbmenschen in Indien erzählt haben. Eine lästige Sache, die sich mir heute aufdrängte verlangt noch nach gründlicher Erledigung. Aber spätestens übermorgen werde ich mich bei dir einstellen. Ergründe derweil schon einmal, wer und wo die Nachtwurz-Nachfahren sind!"

"Natürlich, höchste Schwester", sagte Marga dienstbeflissen. Dann fragte sie, was in der Angelegenheit mit den Riesen zu tun war.

"Riesen können nur körperliche Gewalt ausüben. Wenn der Waisenknabe sich ihrer Dienste versicherte dann nur zu diesem Zweck. Womöglich wird er sie als Ersatz für die Golems ins Feld führen, falls ihm die Macht über den syrischen Golemmacher wirklich entgleitet."

"Und diese uralte Armee? Glaubst du wirklich, daß eine Truppe von kampfstarken Zauberwesen mehrere Jahrtausende überdauern kann?" Fragte Marga. Anthelia lächelte sehr überlegen, obwohl sie eigentlich beunruhigt sein mußte.

"Ich selbst habe vor etlichen Monaten das Erbe meiner Tante angetreten und dabei eine Streitmacht zu meinen Diensten gerufen, die mehrere Jahrhunderte überdauerte", sagte Anthelia. Marga nickte und schalt sich eine Idiotin, weil sie die Entomanthropen vergessen hatte. "Die Magier des alten Reiches waren gottgleich begabt. Ihre Magie überstieg alles, was wir heute ins Werk setzen können. Daher halte ich es für durchaus möglich, daß einige der alten Meister mächtige Zauberwesen erschufen und mit Bannen gegen den Lauf der zeit belegen konnten, falls sie sie für längere Zeit nicht befehligen konnten oder keinen würdigen Nachfolger sahen, der dies tun konnte. Falls es also eine solche Streitmacht gibt, so wollen wir hoffen, daß der Waisenknabe noch nicht ergründet hat, wo und wie sie zu finden und zu führen ist. Doch jedes Ding zu seiner Zeit, Schwester Marga. Kehre in deine Heimat zurück und forsche so unauffällig du kannst nach den Nachfahren der Nachtwurzes."

"Ich denke, ich muß dir noch etwas erzählen, höchste Schwester", druckste Marga herum. Dann berichtete sie, was sich vor zweiundfünfzig Jahren zugetragen hatte, kurz nach Grindelwalds Fall. Anthelia hörte aufmerksam zu, nickte und lachte.

"Soso, darauf ließ sich dieser Loki Nachtwurz also ein", lachte sie. "Freiwillig? Wie sehr muß ihm die Angst vor Vergeltung an der Seele genagt haben. Wahrlich erheiternd", bemerkte sie sehr amüsiert klingend. Dann schickte sie Marga fort, um zu tun, was sie ihr gerade befohlen hatte. Sie selbst kehrte zu Patricia Straton zurück.

"So hart es dich treffen mag, Schwester Patricia. Ich fürchte, um das Leben deiner Anverwandten zu retten, wirst du dich damit anfreunden müssen, sie nie wieder zu sehen", sagte die höchste Schwester. Patricia verzog das Gesicht. Hatte sie nicht vor dem Verschwinden ihres Vaters und ihres Bruders selbst gedacht, mit ihnen nicht mehr viel zu tun haben zu wollen? Sie fragte Anthelia, ob diese glaubte, daß die beiden noch lebten.

"Um dich gefügig zu machen wird Daianira sie nicht töten, Schwester Patricia. Aber sie wird sie an einem nur ihr bekannten Ort gefangen halten, womöglich tief im Zauberschlaf oder in einer Gestalt, die sie zu keinem Widerstand befähigt."

"Ich hörte was, daß erwiesene Feinde Lady Daianiras spurlos verschwanden, ohne Leichen zu hinterlassen. Sie hat einmal angedeutet, daß das Töten von Feinden zu gnädig für sie sei und sie keine Lust verspüre, tote Körper zu beseitigen", erwiderte Patricia. Dann fragte sie, ob sie wirklich darauf verzichten müsse, ihren Vater und ihren Bruder wiederzusehen.

"Wenn dir etwas an ihrem Leben liegt, Schwester Patricia, so müssen wir dafür sorgen, daß Daianira keinen Sinn darin sieht, sie gefangen zu halten. Auch sie kann Gedächtniszauber, um ihnen jede Erinnerung an die Gefangenschaft zu nehmen, wenn sie erfährt, daß jeder Erpressungsversuch vergebens ist. Sie weiß, daß ich dich und alle anderen Schwestern mit einem mächtigen Zauber an jedem Verrat hindere. Wie meint sie denn dann, wahrhaftige Kunde über die mir folgenden Schwestern erhaschen zu können?"

"Sie geht wohl davon aus, daß du mich entweder töten wirst oder ich für dich zu wichtig bin und du dann entweder mit ihr unterhandelst oder dich ihr unterwirfst."

"So, und das sie dabei sterben könnte deucht ihr nicht?" Fragte Anthelia ernst.

"Sie sagte mir, daß sie meinen Vater und meinen Bruder an einem Ort gefangen hält, der durch den Fidelius-Zauber verborgen ist. Das Geheimnis würde also mit ihr sterben."

"Das Wissen um den Ort, ja. Aber mit dem Tod des Geheimniswahrers, sofern er keine weiteren Mitwisser hinterläßt, lichtet sich die Verhüllung des geheimgehaltenen Ortes oder Dings, Schwester Patricia. Doch wenn sie Sorge dafür trug, daß in ihrem Todesfall der Ort von Feuer oder anderer Zerstörungskraft vernichtet wird ... so wirkt dies doch nur, wenn ich nicht bereit bin, deine Anverwandten unserer Sache wegen zu opfern. Sie weiß nichts davon, daß ich damals eine Vorkehrung traf, um die Ermittlung wider uns ins Leere laufen zu lassen?" Fragte Anthelia.

"Dann hätte sie ja gewußt, daß ich nicht mehr ganz zu ihr halte", erwiderte Patricia erschrocken. Dann erkannte sie, was Anthelia damit sagen wollte und fühlte sich sehr erleichtert. Anthelia mußte sie nicht töten. Doch der Preis dafür, daß ihr Vater vielleicht noch ein friedliches Leben führen konnte, war, daß er sie niemals mehr wiedersehen durfte, solange Daianira lebte. Und offenbar trachtete Anthelia nicht danach, die Konkurrentin zu töten. Doch das wiederum hieß ...

"Du wirst dich an einem Ort verbergen und mit meiner Hilfe dem Fidelius-Zauber unterworfen, so daß niemand erfährt, wo du dich aufhältst. Ich werde Daianira eine nachhaltige Lektion erteilen, was es heißt, meine Mitschwestern wider mich aufzubringen. Denn im Grunde ist es ja das, was sie will, euch ängstigen, um euch mir abspenstig zu machen. Das kann, will und werde ich nicht hinnehmen."

"Aber was ist, wenn Lady Daianira meinen Vater und Ross nicht freiläßt, höchste Schwester."

"Nun, dann werde ich über Schwester Donata eine Untersuchung anstrengen, ob jemand ein Interesse daran hat, deine Familie auszulöschen, was durch die Art, wie ich meine Lektion erteile, gewiß glaubwürdig begründet sein wird", entgegnete Anthelia.

"Wie soll es ablaufen?" Fragte Patricia, nun sichtlich erleichtert, daß sie nicht der Sache wegen sterben mußte.

"Schwöre mir, daß du, sobald du von mir an diesen Ort gebracht wurdest, an dem du fürderhin wohnen sollst, niemals von dir aus versuchen wirst, Kontakt mit den deinen aufzunehmen, wenn diese wieder freikommen!"

"Ich weiß nicht, ob ich das schwören kann, höchste Schwester. Ist ja immerhin mein Vater und auch Ross, um den es da geht", erwiderte Patricia.

"Willst du ihren Tod oder ihre fortwährende Gefangenschaft in Daianiras Gewalt, Schwester Patricia?" Fragte Anthelia.

"Natürlich nicht, höchste Schwester. Ross ist zwar ein nerviges Papasöhnchen und mein Vater hat meine Mutter nie so recht für voll genommen. Aber es sind doch meine Verwandten. Wenn sie von dir in den Glauben versetzt werden, ich sei für dich oder sonst wen gestorben ..." Sprach Patricia mit belegter Stimme. Dann atmete sie tief ein und wieder aus, straffte sich und sagte mit kräftiger Stimme: " In Ordnung, höchste Schwester. Ich schwöre feierlich, daß ich nichts unternehmen werde, um mit meinem Vater oder meinem Bruder in Verbindung zu treten." Sie legte sich die linke Hand auf ihr Herz und hob die rechte Hand. Hoffentlich genügte das Anthelia. Diese nickte nach zwei Sekunden und erläuterte dann Patricia, was sie tun wollte.

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"Was wollte Tyrs Tochter von uns?" Fragte Phoebe Gildfork ihren Hauselfen Tiny, als sie nach ihrem sogenannten Schönheitsschlaf tagesfertig und im besten Seidenkleid zum Frühstück ging. Ihr Mann war bereits in seinem Büro in den Bronco-Werken.

"Sie wollte nur wissen wo ihr Vater ist, Meisterin Phoebe", piepste Tiny. "Ich habe es ihr nicht gesagt, weil Meisterin Phoebe befohlen hat, es keinem zu sagen."

"Das war auch völlig richtig", knurrte Phoebe Gildfork. "Das muß die Göre auch nicht wissen, was ich mit ihrem Vater zu schaffen hatte", schnaubte die füllige Hexe, die gerne in sündteuren Pelzen oder Seidenkleidern herumstolzierte, als sei dies eine ganz natürliche Sache.

"Könnte sein, daß sich die junge Ms. Straton Sorgen macht, weil Tyr Stratons Ehefrau doch tot ist", gab Tiny so leise piepsend von sich, als würde sofort die Decke einstürzen, wenn er zu laut spräche. Tatsächlich hob Phoebe Gildfork die gerade in der rechten liegende goldene Gabel, mit der sie frühstücken wollte und deutete eine Wurfbewegung an. Der Hauself duckte sich so tief, daß seine Schnauze tief in den Einhornfellteppich einsank.

"Der hat mit mir eine Sonderflugstunde auf dem Besen gemacht, wie mein Mann es haben wollte, weil die beiden sich erdreisten zu behaupten, wenn der Parsec mich trüge trüge er jeden anderen auch."

"Meisterin Phoebe Gildfork ist sehr wichtig. Wenn der Besen sie tragen kann, dann wissen die anderen auch, daß sie ihn ohne Angst benutzen können", schmierte Tiny seiner Herrin einen halben Zentner Honig um den Mund. Phoebe verzog ihr faltiges Mondgesicht. Doch dann dachte sie, daß der Elf nur nachplapperte, was ihr Mann Arbolus ja immer wider predigte: "Unsere Besen sind so gut, daß ich bedenkenlos jeden aus meiner Familie damit fliegen lasse." Nur bei dem neuen Superbesen Parsec hatten die konstrukteure geschlampt, weil sie die Maximallast zu niedrig angesetzt hatten. Diese rotblonde Göre Mildrid Latierre hatte es ihr nach Ostern ja als Frage getarnt vorgeworfen, daß der Besen sie nicht tragen würde. Phoebe Gildfork sah den Hauselfen an und kommandierte: "Dein Meister Arbolus kommt mit zwei Geschäftspartnern zum Mittag. Sieh zu, daß du und die anderen was gutes auftischt und macht bloß alles sauber!"

"Sehr wohl, Meisterin Phoebe", erwiderte der Elf.

Es ploppte, und eine freundliche, magische Männerstimme sagte: "Willkommen in deinem Reich, Arbolus!"

"Willkommen ist gut", schnarrte eine verärgerte Baritonstimme. Arbolus Gildfork, etwas untersetzt doch im Verhältnis zu seiner Ehefrau gertenschlank, einen roten Zaubererhut auf dem lichten, braunen Haar, trat in den orientalischen Esssaal ein, der auf der Ostseite des zweiten Turmgeschosses lag.

"Du bist wieder zu Hause?" Fragte Phoebe merkwürdig verunsichert.

"Was hast du gestern abend mit dem frisch verwitweten Burschen angestellt, daß der sich und den für die Flugübungen ausgehändigten Besen heute Morgen nicht in die Firma geschafft hat, Phoebe?" Schnaubte Arbolus Gildfork .

"Ich habe das mit ihm "angestelt", was du von ihm und mir verlangt hast, Bobo", erwiderte Phoebe Gildfork und bemühte sich, so ruhig wie möglich zu wirken. "Er hat mit mir die Rundflüge gemacht und mich dann hier wieder abgeliefert, während du unterwegs warst."

"Tyr Straton und der Besen sind nicht in die Firma gekommen. Funktioniert der denn?"

"Ja, natürlich funktioniert der Besen", entgegnete Phoebe Gildfork. Sie durfte unter keinen Umständen herauslassen, was sie außer den Rundflügen angestellt hatte. Das goldene Nest, in dem sie wohnte, war zu warm, um dort hinausgeworfen zu werden.

"Verdammt, dann stimmt's doch, daß er für die Konkurrenz arbeitet", schnaubte Arbolus Gildfork. "Der hat den Besen verschoben und sich dünn gemacht. Dachte eigentlich, ich würde ihm genug bezahlen, damit genau das nicht passiert."

"Du meinst, der hat unsere Firmengeheimnisse verkauft?" Fragte Phoebe Gildfork sehr verunsichert.

"Klar, der hat den Prototypen des Parsec 2 weitergereicht, mit allen Konstruktionsplänen. Hätte nie gedacht, daß er so bestechlich ist."

"Öhm, womöglich hat er doch noch einen Konstruktionsfehler gefunden", erwiderte Mrs. Gildfork sehr beklommen. Sie mochte sich nicht ausmalen, wie brisant das war, wenn Straton nicht nur die Konstruktionspläne des neuen Flaggschiffs der Bronco-Besenwerke weitergab.

"Ja, und dann bastelt der unabgesprochen und ganz allein daran herum, wo der bei uns ein komplettes Einsatzteam hat?" Fragte Arbolus Gildfork sehr mißtrauisch. "Also erzähl mir bitte vollständig, was ihr mit dem Besen so angestellt habt!"

Phoebe erzählte ihrem Mann das, was sie erzählen konnte, ohne seinen Argwohn zu erregen. Da fiel ihr ein, Tinys Nachricht von Patricias Kontaktfeueranruf zu erwähnen. Daraufhin meinte Mr. Gildfork:

"Drachenmist! Dann stimmt's doch, daß der von den Kolibris oder vielleicht sogar einer Firma aus dem Ausland geschmiert wird. Dann hängt der jetzt wohl bei denen rum und plaudert in aller Ruhe aus, was unser neuer Besen kann und wie man ihn nachbaut. Ich muß das Lemonbroker erzählen und zusehen, daß der Herold und der Westwind das bloß nicht mitkriegen. Das heißt, ich muß das Geschäftsessen bei uns absagen."

"Das tust du aber nicht", entgegnete seine Frau nun sehr entschlossen. "Oder sollen das alle Wichtel von den Dächern zwitschern, daß unsere Firma ausspioniert wird?"

"Ich hätte schon einen unauffälligen Grund gefunden, Phoebe. - Ich gehe noch mal ins Büro. Bin gespannt, wie der Erbsenzähler Lemonbroker die Nachricht verdaut, bevor ich selbst kotzen muß."

"Na, nicht solche Wörter!" Tadelte Phoebe ihren Mann. Doch dieser disapparierte ohne weiteres Wort. Die Hexe im kirschroten Seidenkleid atmete hörbar auf. Doch dann wurde ihr merklich unwohl. Was wäre, wenn Tyr Straton nicht nur Besengeheimnisse verkaufte, sondern auch mehr über die Privatflugstunden mit ihr rausließ. Wer davon was wußte, konnte sie erpressen oder die Sensationsreporter vom Kristallherold oder der Stimme des Westwinds damit füttern. Sie atmete stoßweise ein und aus, so ähnlich wie am letzten Nachmittag, als sie Tyr Straton aus der Thermoskanne mit Kaffee versorgt hatte, den sie mit einem auf sich abgestimmten Liebestrank versetzt hatte, um den Witwer allen Anstand vergessen zu lassen. Außerdem wollte sie nicht daran denken, was jemand mit den ganzen Details anfangen würde, die mit dieser unanständigen Handlung verbunden waren. Ihr Gesicht wurde knallrot. Ihr Herz wummerte sehr wild. Sie sah Tiny an, der von ihr einen Gedächtniszauber abbekommen hatte, um nichts ausplaudern zu können. Dann befahl sie ihm noch einmal, den ganzen Glitzerturm auf Hochglanz zu putzen. Sie wußte ja nicht, daß sie selbst einem Gedächtniszauber unterzogen worden war, als Daianira Hemlock sie beide bei ihrem sehr intimen Treffen mit Tyr Straton überrascht hatte und ihn in dem Zustand, in den er sich für sie versetzt hatte, auflas und dann der ehebrüchigen, zu höchst obskuren Phantasien neigenden Neureichen ins Gedächtnis gepflanzt hatte, sie habe mitbekommen, wie Tyr Straton aus eigenem Willen disappariert war. Der Gedächtniszauber verhinderte auch, daß sie sich an das hämische Grinsen dieser Hexe erinnerte, die einfach so durch alle Hausfriedens- und Eindrinlingsabwehrzauber gebrochen war.

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Charity Burbage wußte, daß sie etwas sehr gefährliches getan hatte. Sie hatte vor zwei Tagen im Tagespropheten beteuert, daß die Todesser und er, dessen Name nicht genannt werden dürfe total verirrte Leute seien, die nicht begreifen wollten, daß die Zaubererwelt und die der Muggel im Grunde gleichwertig waren, ja daß zum Fortbestand beider Welten eine gegenseitige Offenbarung anstünde, die gerade nach den Untaten der Todesser mehr als überfällig sei. Doch sie glaubte, daß nur Offenheit und Mut etwas gegen diese Verbrecher helfen würden. Nur wenn die Zaubererwelt davon überzeugt wurde, daß die Muggel keine niederen Lebensformen waren und alle muggelstämmigen Zauberer der schlagende Beweis für die Abschaffung des Geheimhaltungsstatutes waren, würde diese mordlüsterne Minderheit von ihrer Reinblütigkeit besessener Zauberer ...

"Hab ich dich doch erwischt", zischte eine kalte, hohe Stimme aus dem Schatten des Kirschbaumes in ihrem Garten. Sie erstarrte. Der Schutzzauber ... er hätte ihn doch abhalten müssen. "Hast du echt gedacht, daß Lord Voldemort sich das bieten läßt, von einer alten Schrulle wie dir lächerlich gemacht zu werden?" Höhnte die Stimme, deren Ursprung Charity nicht sehen konnte. Sie griff nach ihrem Zauberstab. Doch da lachte die bösartige Stimme überlegen. Ein greller Blitz zuckte auf, und Charity Burbage schrie unter einem sie treffenden Stromstoß auf. Dann fühlte sie einen Erstarrungszauber von ihr Besitz ergreifen. Die Luft vor dem Baum flimmerte, als er, der schrecklichste und mächtigste Schwarzmagier dieses Jahrhunderts, den Schutz seines Unsichtbarkeitszaubers verließ und mit euphorischem Glanz in den roten Augen auf sie zumarschierte.

"Dein mickriger Schutzzauber war so leicht zu durchdringen, daß es schon eine Beleidigung ist, ihn auslöschen zu müssen, Charity Burbage", schnarrte Voldemort. Jetzt, nachdem er die Riesen an ihren neuen Wohnort gebracht hatte, konnte er eine längst fällige Rechnung begleichen. Die Dementoren, die die Riesen herübergeholt hatten, tobten sich bereits auf dem Kontinent aus und würden die dortigen Zaubererbehörden in Schwung halten. Darüber hinaus hatte er für diesen Abend die völlige Entleerung von Askaban angesetzt, um das angeschlagene Ministerium weiter ins Wanken zu bringen. Wenn dann noch eine dumme Verfechterin der Muggelrechte verschwand, nachdem sie ihre sofortige Kündigung von Hogwarts erklärt hatte, würden alle überall herumwuseln und ihn, Lord Voldemort nicht behelligen können, wenn er den wirklich mächtigen Schlag gegen die magische Welt vorbereitete.

Charity Burbage konnte nichts dagegen tun, als ihr der Feind den Zauberstab aus der Hand pflückte, sie am Arm packte und dann mit ihr disapparierte.

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Faisal Amun schrie beinahe auf, als er die vier Morde mitbekam, die Alcara verübte, um seinen Vollstreckergolem herstellen zu können. Er hatte nichts dagegen tun können, obwohl er versucht hatte, in die materielle Welt vorzustoßen. Er war alleine. Denn alle anderen, die wie er in dieser Zwischenwelt existierten, hatten mit anderen Dingen zu tun. Wie gut wäre es gewesen, wenn er Ammayamiria oder Ashtaria hätte schicken können, um Alcara Einhalt zu gebieten. Doch so mächtig sie alle waren, so brauchten sie doch eine magische Brücke, um in der stofflichen Welt wirken zu können. So mußte die Hölle sein, die sich Juden, Christen und Muslime ausmalten. Mit ansehen zu müssen, wie unschuldige Wesen gequält wurden und zu wissen, daß der Schuldige nur seinetwegen freie Bahn hatte, weil er, Faisal Amun, die Auswirkungen seiner Anrufung und die Loslösung von seinem Körper falsch eingeschätzt hatte. Er konnte nichts anderes tun, als den Flug des Golemmeisters zu verfolgen. Bald schon würde er in einem Land des Südens sein, um dort weitere unschuldige Magier zu ermorden, nur um sich vom Joch des Seelenverstümmlers zu befreien und womöglich schrecklicher als dieser über die Welt herzufallen. Er war allein in seiner ganz eigenen Hölle und litt darunter, wie sein letzter Feind unaufhaltsam auf seine nächsten Opfer zuraste.

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In Deutschland brach der Abend des achtzehnten Julis an, als Marga Eisenhut in der Bibliothek der genialogischen Abteilung des Zaubereiministeriums saß und nach mehreren Familienstammbäumen forschte, um nicht zu sehr heraushängen zu lassen, das sie sich für die Nachtwurzfamilie interessierte. Sie las sich durch die Chroniken und prüfte die Angaben mit dem, was sie von ihren Mitschwestern im Gedächtnis hatte. Demnach waren die Nachtwurzes in fünf reinblütigen Zaubererfamilien aufgegangen, die über Deutschland und Österreich verteilt lebten. Es würde Zeit kosten, diesen Familien einen Besuch abzustatten, um sie nach dem fehlenden Buch auszufragen. Vor allem würde es auffallen. Gerade jetzt waren die Lichtwachen des Zaubereiministeriums in höchster Alarmbereitschaft. Sicherlich wurden alle Familien beobachtet, die als mögliche Sympathisanten des britischen Schwarzmagiers Voldemort in Frage kamen. Sie ging davon aus, daß der schrecklich aussehende Zauberer damit rechnete, daß ihm gewogene Hexen und Zauberer unter Beobachtung standen. Dennoch würde er sie aufsuchen, bis er hatte, was er brauchte, um dieses alte Artefakt benutzen zu können. So oder so mußten diese Informationen vor ihm in Sicherheit gebracht werden. Dann kam sie darauf, daß nur die entschlossenen Schwestern in Deutschland wußten, was aus den direkten Nachkommen Loki Nachtwurzes geworden war. Hatte einer von denen vielleicht das Buch? Womöglich wußte der Emporkömmling nichts von ihnen, weil sie unter anderem Namen lebten. Insgesamt waren nach Grindelwalds Fall zwei Kinder geboren worden, von denen wiederum drei Nachkommen in Köln, Moritzburg und Traunstein wohnten. Die Enkel wußten nichts davon, das sie Loki Nachtwurz als Großelternteil hatten. Zumindest ging Marga Eisenhut davon aus, daß sie es nicht wußten.

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Daianira Hemlock stelllte die Gießkanne fort. Für's erste würde Tyr kein neues Wasser mehr brauchen. Sie grinste überlegen, als sie den Kaktus betrachtete, als der Tyr Straton zur Zeit ihr unfreiwilliger Gast war. Draußen im großen, weitläufigen Garten, wo Obstbäume und -sträucher gerade die ersten Früchte trugen, zwitscherten die Vögel in den Zweigen. Die Sprecherin der nordamerikanischen Nachtfraktions-Schwestern dachte daran, wie Patricia Straton nun zwischen zwei Ängsten gefangen war. Zum einen hatte sie bestimmt Angst um das Leben ihrer Verwandten. Zum Anderen fürchtete sie bestimmt Anthelias Gnadenlosigkeit. Wie dem auch war: Patricia Straton wußte nun, daß niemand sie, Daianira Hemlock, hinterging. Sie fragte sich nur, ob sie Tyr Straton und seinen Sohn wieder freigeben konnte, wenn Patricia Straton ihr gegeben hatte, was sie wollte oder bei dem Versuch starb. Sie mußte nur aufpassen, daß sie ihr nicht von Angesicht zu Angesicht begegnete und diese dann auf den Vernichtungsfluch setzte, mit dem Anthelia sie belegt hatte. Es war schon beachtlich gewesen, wie Ardentia Truelane und Jane Porter in einem Inferno gestorben waren. Ursina Underwood hatte ihr auch erklärt, daß sie selbst eine Überläuferin aufgestöbert hatte, die unter dem Verhör in einer kräftigen Feuerexplosion vernichtet worden war. Womöglich würde Anthelia ihrer jungen Mitschwester den Auftrag geben, sie, Lady Daianira, zu einem Treffpunkt zu bestellen. Doch darauf wollte sie sich keinesfalls einlassen. Sie hatte genug Vorbereitungen getroffen, um möglichst außer Reichweite von Anthelia zu bleiben, falls diese meinte, sie direkt anzugreifen. Zum Teil hatte sie es ja darauf angelegt, daß ihr Mitschwestern abtrünnig werden konnten. Immerhin hatte sie ihren Mitschwestern ja nahegelegt, die neue Führerin zu suchen. Doch sie hatte überhaupt keine Rückmeldung bekommen. Das konnte nur heißen, daß Anthelia die angeblichen Kandidatinnen entweder nicht vorgelassen hatte oder sie wirkungsvoll auf ihre Seite hatte ziehen können. Jetzt, wo die Vampirin Nyx sich zu einer unberechenbaren Macht aufgeschwungen hatte, wollte sie es ein für allemal klären, wer in den Staaten die entschlossenen Schwestern führte. Sie selbst rechnete nicht mit ihrem Tod. Damit würde Anthelia nichts gewinnen. Denn sie hatte bereits vor dreißig Jahren umfangreiche Vorkehrunen getroffen, nach ihrem Tod mächtiger zu werden als zu Lebzeiten. Zwar hatte sie nicht auf jene Methode zurückgegriffen, der sich der wahnwitzige Emporkömmling in England bedient hatte. Doch nicht nur Anthelia und Sardonia waren in den dunklen Künsten gut gebildet. Anthelia würde gut daran tun, dies vorherzusehen.

"Sei froh, daß ich dich von dieser verfressenen, mannstollen Sabberhexe weggeholt habe", sagte sie dem Kaktus zugewandt, als dieser seine stacheligen Blätter langsam in ihre Richtung bog, was wohl auf sehr große Wut und Entschlossenheit zurückzuführen war. "Oder fandest du das etwa anregend, wie du mit ihr zusammen warst?" Der verzauberte Besenbauer hörte es wohl. Denn in der Verwandlung waren seine Sinne so wie immer. Die dicken Kaktusblätter erschlafften ein wenig. "An und für sich hätte ich dich so und dort lassen sollen, wo und wie ich dich fand, Tyr. Aber dann hätte ich dieses fette Weib mitnehmen müssen. Und die wollte ich nicht durchfüttern. Wenn deine Tochter es schafft, ihrer neuen Führerin die Informationen abzuringen, die ich haben will, schicke ich dich zu ihr zurück, und du wirst dich nicht daran erinnern können. Wenn nicht, bist du bei mir wesentlich besser aufgehoben als bei dieser vulgären Ehebrecherin."

Die Führerin der nordamerikanischen Nachtfraktion zog sich in einen fensterlosen, alle Geräusche aussperrenden Raum in ihrem geheimen Gartenparadies zurück und begann einen meditativen Zauber, den sie auf einer dreijährigen Reise durch die Welt von einer ostasiatischen Magierin erlernt hatte. "Reise des Ichs" hieß dieser Zauber und bewirkte, daß sie ihr inneres Selbst aus der stofflichen Hülle ausatmen konnte, um es zu jemandem zu schicken, auf den sie sich konzentrierte. Es war ähnlich wie Exosenso oder der Sinneserweiterungszauber, um in verschlossene Räume hineinzuspähen, ohne dort lauernde Fallen oder Flüche auszulösen. Nur bestand der Unterschied, daß sie wie ein Geist umherwandeln konnte, innerhalb von einem Augenblick um die halbe Welt reisen konnte und genau in die Nähe eines menschlichen Wesens gelangte, an das sie dachte, ja sogar mit diesem in geistige Verbindung treten konnte, wenn dieses Wesen sich auf sie konzentrierte. In diesem Fall wollte Daianira Patricia Straton aufsuchen, ohne daß diese es mitbekam. Doch wie am Morgen schon fand ihr ausgeatmetes Selbst, ihr für körperliche Sinne nicht wahrnehmbarer Astralkörper, keinen Halt in Patricias Nähe. Statt dessen wähnte sich Daianira über dem Zaubereiministerium schweben und tauchte unangefochten durch die Mauern und Schutzzauber hindurch, die ausschließlich auf bösartige Magie und körperliche Eindringlinge ausgerichtet waren. Sie wußte, daß diese Art der Erkundung einen Großteil der Tagesausdauer kostete. Doch warum landete sie nicht in Patricias Nähe? Wenn diese an einem Ort weilte, der gegen jede Art von Aufspürzaubern, körperlose Wesen und fremde Gedanken abgeschirmt war, hätte sie zumindest den Widerstand fühlen müssen, der sie in den eigenen Körper zurückgeworfen hätte. Dann blieb nur der Fidelius-Zauber. Er verbarg alles, was in seinen Schutz gelangte. Dann hätte sie nach einer schnellen Reise durch ein Meer aus Farben ihren eigenen Körper wieder angenommen. Denn genau das war ihr am Morgen passiert. Da hatte sie schon gedacht, daß Patricia Straton bei Anthelia war und diese ihr Versteck klugerweise mit dem Fidelius-Zauber abgeschirmt hielt. Doch warum fand ihr körperloses Ich nun seinen Fokus im Ministerium? Die Antwort darauf erfuhr Daianira, als sie mehrere Ministeriumszauberer sah, die in heller Aufregung durch die Gänge liefen. Sie hörte einen sagen:

"Und ihr seid euch ganz sicher, daß es die junge Ms. Straton ist?"

"Patch hat's getestet", erwiderte ein anderer Zauberer darauf, der ebenfalls an Patricia Straton dachte. Das war die Antwort. Viele Leute hier hatten den Namen und das Erscheinungsbild Patricia Stratons im Bewußtsein. Daianira erinnerte sich daran, daß die gezielte Projektion nicht nur auf ein bestimmtes Lebewesen oder einen bildhaft erinnerten Ort möglich war, sondern auch auf von mehr als einer Person am selben Ort gerade empfundene Gedanken und Bilderinnerungen, die sich auf die Zielperson oder den eigentlichen Zielort bezogen. Also dachten hier gerade viele an Patricia Straton. Daianira fragte sich, was ihr wohl widerfahren war und dachte konzentriert an den Namen und das Aussehen des Zauberers Patch, den magischen Pathologen und Zusammensetzungsexperten im Zaubereiministerium. Kaum gedacht schwebte sie unsichtbar und körperlos in einem Raum voller Kessel, Kolben und Gläser und sah ... Patricia Straton. Doch es war nur die äußere Erscheinungsform, wußte die Nachtfraktionsführerin.

"Wie lange hält die Dosis noch vor?" Fragte Donata Archstone, die zusammen mit dem Minister bei der täuschend echten Kopie Patricia Stratons stand:

"In zehn Minuten bin ich wieder richtig", sagte die braunhaarige Hexe und verzog das Gesicht. "ging ja nicht anders, wenn ich keinen ganzen Körper habe. Dieser babylonische Zerlegungsfluch ist wahrlich erschreckend und faszinierend."

"Dann ist jetzt eindeutig klar, daß die Vorfälle vom vorletzten Herbst nicht auf die Kosten rivalisierender Bruderschaften gingen", sagte Minister Cartridge und blickte beklommen in eine kleine Wanne in einer Ecke, wo zwei abgetrennte Arme schwammen, die sich jedoch bewegten, als seien sie mit ihrem Körper verbunden. Es waren die Arme einer weißen Frau. In einer anderen Wanne schwamm ein gliederloser Rumpf, unverkennbar weiblich und hellhäutig. In einer anderen Wanne schwammen zwei schlanke Frauenbeine, die sich wie unbeholfene Schlangen wanden und bogen.

"Sie haben versucht, die Teile zusammenzufügen?" Fragte Cartridge die Person, die wie Patricia Straton aussah.

"Ja, habe ich. Aber dieser Fluch hat die Teile durch den halben Raum fliegen lassen", erwiderte Patch, dem es anzusehen war, das er sich in Patricia Stratons Gestalt nicht sonderlich wohlfühlte.

"Und Sie sind sicher, daß wir es mit ihr selbst zu tun haben?" Fragte Donata Archstone. "Ich meine, das ist kein Simulacrum oder eine verwandelte Form?"

"Ich hätte nicht dieses hübsche braune Haar und diese entzückende Gestalt, wenn das ein Simulacrum wäre", knurrte Patricia Straton alias Patch. "Der Vielsaft-Trank hat tadellos funktioniert, als ich zwei Fingernägel vom rechten Arm genommen habe, Ms. Archstone. Bei einem Simulacrum wäre mir der Trank sofort zu einem untrinkbaren Brei geronnen, und bei einer durch Verwandlungszauber erschaffene Kopie hätte er sich gar nicht verändert und schon gar nicht gewirkt. Das da in den Wannen ist das Original, weil ich die Kopie bin und in neun Minuten hoffentlich wieder ich selbst werde."

"Gut, das müssen wir zu Protokoll nehmen", sagte Donata Archstone. "Ich fürchte, Herr Minister, wir haben es hier mit einer Femetat zu tun. Offenbar hat sich Ms. Straton, und wohl auch ihre Mutter zuvor, mit dunklen Hexen oder Zauberern eingelassen und diese hintergangen."

"Nachtfraktion?" Fragte der Minister erschüttert.

"Nun, es gibt genug Leute, die den dunklen Künsten verbunden sind, Sir. Wenn das wirklich dieser babylonische Zergliederungsfluch ist, muß das nicht gleich heißen, daß die sogenannte Nachtfraktion ihn ausgeführt hat. Vergessen Sie nicht, was Mr. Lemonbroker angezeigt hat?"

"Hätte dann eine andere Dimension", erwiderte der Minister darauf. Patch blickte auf die Uhr und hoffte darauf, bald wieder in seinem angeborenen Körper zu stecken. Diese Identitätsprüfungen mit Vielsaft-Trank schmeckten ihm wortwörtlich nicht. Aber er wurde bezahlt, Opfer magischer Unfälle und Verstümmelungen zu identifizieren.

"Ist schon erschreckend, wo diese Einzelteile aufgetaucht sind", sagte Minister Cartridge. "Die Beine in Cloudy Canyon, der Rumpf direkt vor dem Haus der Stratons und die Arme vor dem Haus, daß sie selbst bewohnt hat. Aber wo ist der Kopf?"

"Solange dieser lebt lebt der ganze Körper, auch wenn er zerstückelt ist", wandte Patch ein. "Ich fürchte, wer immer den Fluch gewirkt hat, behält den Kopf. Wenn er oder sie ihn füttert, bleibt der Körper sogar am Leben. Das ist barbarisch und genial zugleich."

"Ihre Offenheit und Anerkennung in allen Ehren, Mr. Patch, aber es ist schlicht ein Verbrechen, was dieser Fluch anrichtet. Wer immer das getan hat ist gemeingefährlich und eine Bedrohung höchster Rangordnung", entrüstete sich der Minister. "Donata, Sie werden eine landesweite Suche befehligen. Ausgerechnet vor der Ministerwahl noch einen derartigen Zwischenfall ..."

"Als hätte da jemand zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen", wandte Donata Archstone unbeeindruckt ein. "Sir, wer immer das war will uns deutlich zeigen, daß er oder sie in der Lage ist, uns jederzeit empfindlich zu treffen. Gleichzeitig hat er oder sie wohl eine offene Rechnung mit Patricia Straton beglichen."

"Warum dann nicht der Todesfluch?" Fragte der Minister sehr erschüttert.

"Weil es wesentlich grausamer ist, einen Menschen auf diese Weise zu schädigen, Sir. Avada Kedavra ist ein gefürchtetes Mittel. Aber er tötet eben sofort und erschreckt die Hinterbliebenen und Ermittler. Wer immer findet, Patricia habe eine grausame Strafe verdient, traf sie mit diesem Fluch härter als mit dem Tod. Ja, der Tod wäre für Patricia Straton eine Gnade."

"Wenn wir ihn nicht aufheben, diesen Fluch", sagte Patch und blickte wieder voller banger Erwartung zur Uhr.

"Dann müßten wir alle Körperteile haben, Mr. Patch", erwiderte Donata Archstone völlig kalt.

"Donata, gehen Sie und leiten Sie die Fahndung ein!" Befahl der Minister.

"Sir, wonach soll ich suchen?"

"Benutzen Sie das Instrument, das wir als diplomatisches Geschenk bekommen haben", sagte der Minister. Patricia Straton war gestern noch lebendig gesehen worden. Das Zeitfenster dürfte reichen", sagte der Minister.

"Selbstverständlich, Sir", erwiderte Donata Archstone. Da klingelte es, und laut zischend landete eine Rohrpost im Auswurfschacht. Patch ging hin, pflückte das zusammengerollte Pergament aus dem runden Schlund der Rohrpostanlage und entrollte es.

"Sir, wir haben ein Bekennerschreiben erhalten", sagte er und gab dem Minister die Nachricht. Dieser las, verzog das Gesicht, las erneut, wiegte seinen Kopf und las noch einmal. Dann reichte er das Blatt an Donata Archstone weiter. Daianira konzentrierte sich darauf, genau vor der Strafverfolgungsleiterin zu schweben und vermochte so, den Text wie mit eigenen Augen zu lesen:

An alle, denen diese Frau bekannt war und die ihnen was bedeutete, vor allem an den wackeren Minister Cartridge und seine Kettenhündin Donata Archstone,

wie Sie wohl nun mittlerweile herausgefunden haben dürften, handelt es sich bei den heute Mittag ausgelegten, durch einen orientalischen Zauber am Leben gehaltenen Körper um die Ihrem Anschein nach so ehrenhafte Patricia Straton.

Wahrscheinlich haben Sie davon Kenntnis erhalten, daß in den letzten anderthalb Jahren neben einer Gruppe, die sich die Todesser nennt und in England ihr Unwesen treibt, eine weitere Interessengruppe entstand, der daran gelegen ist, die Umtriebe machtgieriger Zauberer und Zauberwesen nicht ungeahndet hinzunehmen. Sicherlich entsinnen Sie sich dessen, was der nun wegen gewisser Unbeherrschtheiten des Amtes enthobene Minister Pole angerichtet hat und daß nur wir schlimmeres verhüteten, weil er und die ihm unterstellten Fachkräfte tatenlos zusahen.

Was den fast schon vollständigen Körper angeht, so habe ich, die oberste Vorsitzende jener erwähnten Interessengruppe ein notwendiges Exempel statuieren müssen. Denn diese junge Hexe trat in meinen Dienst ein und erwarb sich mein Vertrauen. Doch dies, so mußte ich zu meiner großen Verärgerung feststellen, war ein Akt großer Heuchelei, dazu gedacht, unsere Gruppierung auszukundschaften und unseren Feinden alles mitzuteilen, was uns angeht, von unseren Mitgliedern bishin zu unseren künftigen Aktionen. Heute Morgen ließ Patricia Straton die Maske fallen, behauptete, daß jemand ihren Vater und ihren Bruder verschleppt habe und versuchte, mich mit Hilfe des Imperius-Fluches dazu zu zwingen, alles aufzuschreiben, was ich für notwendige Geheimnisse erachte. Sicherlich haben Ihnen diverse Stellen zugetragen, daß wir sehr mächtig sind und ich als Vorsitzende über große Erfahrungen, Kenntnisse und Zauberkräfte verfüge, um diese Rolle bestmöglich auszufüllen. Daher dürfte es Sie nicht verwundern, daß ich dem mir zugedachten Imperius-Fluch widerstand und die Verräterin meinerseits unterwarf. Doch offenbar wird sie durch einen starken Verratsunterdrückungsfluch daran gehindert, mir nähere Auskunft zu erteilen, wer sie auf mich und meine Gruppierung angesetzt hat. Sie müssen daher verstehen, daß ich sehr ungehalten bin.

Um keine mißliebigen Auswirkungen eines Verratsunterdrückungsfluches auszulösen, sowie eine unmißverständliche Warnung an die Adresse ihrer Auftraggeber zu richten, habe ich mein Wissen um den babylonischen Körperzergliederungsfluch angewandt, um sicherzustellen, daß mir kein Ungemach widerfährt. Zurzeit arbeite ich daran, die Natur des Verratsunterdrückungsfluches zu durchdringen und diesen dann gefahrlos aufzuheben. Da ich, wie Sie sicherlich schon bemerkt haben, nur die Glieder und den Rumpf ausgelegt habe, wird es Sie nicht verwundern, daß ich den Kopf in aller Ruhe befragen kann, wenn ich erwähnten Verratsunterdrückungsfluch gebrochen haben werde. Ich habe Zeit genug dafür.

Sollten Sie, Herr Minister, oder Sie, Madam Archstone, nun befinden, eine Suche nach mir und meinen Getreuen sei die gebührende Antwort, so beachten Sie dabei um der Sicherheit Ihrer Angehörigen willen, daß ein Jäger zum Gejagten wird, wenn er das ihm eigene Revier verläßt. Ich will noch nicht mutmaßen, daß Sie, Herr Minister, nebst den Ihnen unterstellten Hexen und Zauberern, die närrische und dreiste Spionin auf meine Gruppierung und mich angesetzt haben. Unternehmen Sie also besser nichts, was uns davon überzeugt, daß Sie unsere Feinde sind und wir entsprechende Maßnahmen ergreifen müssen. Die Schwarzbergs, Lohangio Nitts, die Abgrundstochter Hallitti und der russische Gierhals Bokanowski mußten bereits erkennen, wie verheerend unser Zorn ist. Ziehen Sie ihn nicht auf sich, falls Sie kein Massaker verantworten möchten!

Ich möchte Sie im Namen unserer Gruppierung noch einmal darauf hinweisen, daß wir nicht beabsichtigen, die Geschicke der nordamerikanischen Zaubererwelt in unsere Hände zu nehmen, solange Sie und die magischen Menschen dieser großen Nation nicht dafür bereit sind, uns die Verantwortung zu übergeben. Sollten Sie jedoch etwas tun, was unseren Interessen entgegenwirkt, sind wir durchaus willens und fähig, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, wie Sie an der bedauernswerten Ms. Straton erkennen können.

In der Hoffnung, daß Sie besonnen und vernünftig bleiben verbleiben wir hochachtungsvoll

Unter dem Brief war nur ein Symbol aufgedrückt, eine schwarze Spinne in einem silbernen Netz. Donata erbleichte, nickte und reichte dem Minister das Pergament zurück, der mittlerweile eine Anfrage geschickt hatte, wann dieser Brief eingegangen war.

"Zeigen Sie uns den Autor dieser Unverschämtheit!" Befahl der Minister und reichte Donata den Brief zurück. Diese betrachtete ihn, prüfte ihn dann auf eingewirkte Flüche und sah den Minister bedauernd an.

"Sir, ich fürchte, der Brief ist mit einem Fluch belegt, der wirkt, wenn wir Aussehen oder Stimme des Verfassers enthüllen wollen. Vor allem in der Signatur, dieser Spinne, scheint etwas hochkonzentriert zu sein, daß ich auf oberflächlichen Blick hin nicht bestimmen kann. Ich bringe ihn in meine Abteilung und ..."

"Accio Brief!" Knurrte Patch mit erhobenen Zauberstab und holte sich damit das Warnschreiben. Donata sah ihn finster an. "Auf bestimmte Stellen komprimierte Flüche lassen sich mit entsprechend bezauberten Tinkturen auslöschen. Das haben wir gleich." Patch griff zu einem der Glaskolben, in dem eine sprudelnde, blaue Flüssigkeit enthalten war und tunkte eine Adlerfeder darin ein.

"Ich warne Sie, Mr. Patch. Es gibt Objektflüche, die sehen oberflächlich sehr einfach aus und tarnen dahinterstehende Folgezauber", sagte Ms. Archstone. Der Minister blickte die Leiterin der Strafverfolgungsabteilung an, dann den Zusammensetzungsexperten, der immer noch Patricia Stratons Körperform besaß. Noch fehlten sieben Minuten bis zur Rückverwandlung.

"Ich lösche das Spinnensymbol, brenne es dann aus und kann dann gefahrlos den Briefschreiber identifizieren, Ma'am", knurrte Patch und übermalte das Spinnensymbol mit der blauen Flüssigkeit, die tiefgrün anlief und dann zu einem verwischten Fleck wurde. "Sehen Sie, die Reaktion ist genau die, die mit der Antipiktoralfluch-Lösung erzielt wird, wenn sie den Fluch in der Tinte oder dem Pergament neutralisiert. Jetzt kann ich das Symbol ausbrennen, dann ist ..." Weiter kam Patch nicht. Denn unvermittelt blähte sich etwas dunkles innerhalb des Pergamentes auf, zerriss den Brief und nahm als handtellergroße schwarze Spinne Gestalt an. Patch sprang erschrocken zurück. Doch die freigesetzte Spinne landete auf dem Boden, wo sie mit einem kräftigen Druck ihrer vier hinteren Beine absprang, im Flug weiter anwuchs und dem in Patricia Stratons Körper steckenden Patch die scherenartigen Beißwerkzeuge in die linke Brust grub. Patch schrie mit Patricias Stimme grell auf, während die heraufbeschworene Spinne wie ein sich füllender Ballon anschwoll. Erst wurde sie so groß wie ein Wolfsspitz, dann war sie so groß wie eine Dogge und warf den von ihr gebissenen zu boden, dessen Glieder bereits vom eingespritzten Gift betäubt waren.

"Avada Kedavra!" Rief Donata, während der Minister "Dissolvetur Artivivum!" Rief. Der grüne Todesblitz traf die Spinne, ließ sie grell aufleuchten und von ihrem Opfer zurückprallen. Dann traf sie der Zauber des Ministers. Mit einem schrillen Zischlaut, gefolgt von einem dumpfem Knall zerplatzte das Ungeheuer in einer Wolke aus weißem Staub, die innerhalb eines Liedschlages alles und jeden in diesem Raum wie mit einer feinen Puderzuckerschicht bedeckte. In diesem Augenblick quälte sich Patch den letzten Atemzug in seinem Leben ab, mit Lungen und Stimme Patricia Stratons klang dies wie der Klagelaut einer irischen Todesfee. Dann lag Patch da. Der Blick der grünen Augen mit leichtem Graustich war leer. Ihm war es nicht einmal vergönnt geblieben, in seiner angeborenen Gestalt zu sterben.

"Dinocustos", dachte Daianira. Donata schien diesen Gedanken aufgefangen zu haben. Denn sie wandte sich mit ehrlichem Schrecken in den Augen dem Minister zu und sagte:

"Ich habe mir gedacht, daß unsere Gegenspieler diesen Fluch können. Ich hätte Patch das Pergament sofort wieder wegnehmen sollen, Sir. Das war der Dinocustos-Fluch, der in Tinte oder Zauberfarbe eingewirkt werden kann und mit anderen, dazu relativ harmlosen Flüchen in Schach gehalten wird. Patch hätte es besser wissen müssen."

"Ich weiß nicht, was ihn da geritten hat", knurrte der Minister und wischte sich den weißen Staub aus dem Gesicht. "Jetzt haben diese Furien zwei unschuldige Menschenleben auf dem Gewissen."

"Womöglich war der harmlose Fluch ein Gefahrenblender, der zu unnötigen Risiken treibt. Warum ich nicht darauf kam, den Schreckenswächter freizusetzen ..."

"Weil Sie und ich nicht wußten, daß diese Antipiktoralfluch-Tinktur in diesem Raum ist, Donata", seufzte der Minister. Er blickte auf den toten Körper in der Montur von Patch, die für einen Mann zugeschnitten war und die weiblichen Ausprägungen Patricia Stratons nur schwer verbarg. Er sah die zwei knutgroßen Einstiche auf der linken Brust der Leiche und nickte mitfühlend. Dann wandte er sich wieder Donata zu und fuhr fort: "Wenn sie den Brief in Ihre Abteilung mitgenommen oder Ihren Experten für Fluchabwehr überlassen hätten, hätten diese wohl die Falle ausgelöst. So oder so hat die schwarze Spinne ein Opfer gesucht und gefunden. Neben dem Text und dem zergliederten Körper in den Wannen war dies die endgültige Warnung, daß wir es mit skrupellosen Schwarzmagiern, wohl eher schwarzen Hexen, zu tun haben. Offenkundig ist an den Gerüchten doch was dran, das eine mächtige Dunkelhexe das Erbe der dunklen Matriarchin Sardonia angetreten hat."

"Was machen wir mit dem Leichnam?" Fragte Donata Archstone. Der Minister blickte auf die leblose Hülle am Boden und dann in die Wannen.

"Diese unbekannte meint, weil sie den Kopf der echten Patricia Straton hat, wäre sie überlegen. Geben wir Patricia einen ehrenvollen Abschied und dieser Wahnsinnigen eine Lektion, daß sie nicht alles tun darf was sie tun kann." Der Minister richtete seinen Zauberstab auf die Wanne mit dem Rumpf. "Ruhen Sie in Frieden, Ms. Patricia Straton", seufzte er mit abbittendem Blick. Er senkte den Zauberstab, hob ihn wieder an und straffte sich. "Avada Kedavra!" Rief er mit aller Willenskraft. Der gefürchtete grüne Blitz sirrte aus Cartridges Zauberstab und traf den gliederlosen Rumpf, dessen Lungenflügel sich gerade eben noch bewegten, als würde der Körper unversehrt atmen. Dann zuckte der Torso und rollte zur Seite.

"Wir hätten den Zergliederungsfluch doch umkehren können, Sir", sagte Donata Archstone, nachdem ihre Schrecksekunde vorbei war. "Wir hätten ..."

"Den Kopf gebraucht, Donata. Und den hätten wir ewig suchen können und dabei eventuell noch mehr Opfer zu beklagen. Glauben Sie mir, Donata, daß es für Patricia Straton ein Gnadenakt war", sprach der Minister mit immer schwerfälliger klingender Stimme, bevor ihm unvermittelt die Tränen kamen. Donata Archstone blickte ihn mitfühlend an. Daianira, die immer noch unsichtbar und körperlos in diesem Raum verweilte, sah den Minister mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. Dieser Mann hatte gerade einen Menschen getötet, weil er meinte, es sei ein Gnadenakt und heulte nun wie ein kleiner Junge, der sich beim Spielen eine Schürfwunde geholt hatte. Es gab eben Leute, für die war das Töten unmöglich, auch wenn sie selbst es als die einzige Lösung ansahen.

"Bringen Sie Patches Leiche hinaus!" Schniefte der Minister um Fassung ringend. "Wir werden sagen, daß er im Zuge eines Versuches restlos verbrannt ist. Die Leiche werden wir als die beerdigen, die sie im Moment des Todes dargestellt hat."

"Sie wollen Patch als Patricia Straton ausgeben?" Fragte Donata Archstone ungläubig.

"Ja", sagte der Minister nur, hob den Zauberstab an und deutete auf den Toten, der als eine Sie aus dem Leben geschieden war. "Locomotor Leichnam", wimmerte er. Doch sein zauber wirkte wie er sollte, hob den schlaffen Körper auf und trug ihn, vom Zauberstab des Ministers bewegt, nach draußen. Donata sagte im Hinausgehen:

"Wenn das mit dem Fehlschlag glaubwürdig sein soll, Sir, müssen wir das Labor restlos niederbrennen."

"Können Sie dies besorgen?" Fragte der immer noch tief erschütterte Minister Cartridge. Donata Archstone nickte, zielte von draußen in den Raum und rief einige Worte, die aus dem Nichts heraus ein grelles, blaues Feuer erzeugten, das sofort auf alles brennbare übergriff. Sie sprangen hinaus, warfen die Tür zu und eilten davon, während das Zauberfeuer sich an der Einrichtung austobte. Der Brandmeldezauber schlug zwar an, und ein schlagartig in den Raum gezauberter Nebel aus unterkühltem Kohlendioxyd mischte sich mit den Flammen. Doch Donata hatte nicht das wasserdichte blaue Feuer beschworen, sondern das Eisfeuer, dessen Flammen wütender loderten, je kälter die Umgebung wurde. Donata kannte halt die Tricks, um die Sicherheitszauber zu umgehen. Daianira, die unangreifbar im blauen Inferno schwebte, sah, wie das Feuer mit der Konservierungslösung in den Wannen wechselwirkte. Blaue und violette Feuerbälle explodierten mit dumpfen Knällen, während die Feuerlöschzauber unermüdlich wie unwirksam neues Kohlensäuregas in diesen Raum versetzten. Erst wenn die Flammen keine organische Materie mehr vorfanden, würden sie in sich zusammenfallen. Doch in diesem Raum gab es zu viel zu fressen, als daß sie dies in einer Minute tun würden. Daianira sah zu, wie die nun leblosen Körperteile Patricia Stratons aufloderten und wie große Fackeln abbrannten. Hier gab es nichts mehr für sie auszukundschaften.

"Rückkehr", dachte Daianira. In der Geschwindigkeit dieses Gedankens verschwand der brennende Raum um sie herum. Sie fühlte, wie ihr heimkehrendes Ich wie eine heiße Flüssigkeit in alle Fasern ihres Körpers flutete und holte tief Luft. Sie war wieder in jenem abgedunkelten Raum in ihrem geheimen Haus mit dem Garten, der im Wesentlichen aus ihr lästig gefallenen Mitmenschen bestand.

"Widerwärtiges Aas", knurrte Daianira. "Tatsächlich die Erbin Sardonias. Genauso skrupellos und berechnend." Dann wandte sie sich den Pflanzen auf der Fensterbank zu: "Ich brauche euch nicht mehr hier zu behalten", sagte sie. Dann verwandelte sie erst Tyr Straton zurück, schockte ihn und ließ ihn liegen, bis sie auch seinen Sohn zurückverwandelt hatte. Dann modifizierte sie die Gedächtnisse der beiden Gefangenen. Tyr ging nun davon aus, daß er die Kontrolle über den Parsec-Besen verloren hatte und irgendwo auf einer vorgelagerten Insel der Pazifikküste zu sich gekommen war. Ross würde sich beim Erwachen Daran erinnern, daß er den ganzen Tag die Kondolenzbriefe gelesen hatte, die ihm und seiner Familie zugegangen waren. Der arme Junge würde bald noch mehr Post dieser Art bekommen, wußte Daianira. Der Minister würde den im Dienst gestorbenen Patch als Patricia Straton beerdigen lassen. Dann sähe es für die magische Öffentlichkeit so aus, als sei sie einem Folgemord zum Opfer gefallen, den man irgendwelchen bösen Mächten in die Schuhe schieben würde, womöglich auch der Nachtfraktion. Denn der Brief Anthelias war ja bei der Freisetzung des Dinocustos-Fluches restlos vernichtet worden. Das war für den Minister eine saubere Lösung, dachte Daianira, bevor sie zuerst Ross Straton in sein Elternhaus brachte und dann Tyr Straton auf einer kargen Insel im Pazifik zurückließ, wobei sie den Entschocker mit Zeitverzögerung wirken ließ.

"Anthelia wird davon ausgehen, daß ich sie weiterhin belauere. Besser ist es, wenn ich erst einmal im Haus bleibe", dachte die Führerin der Nachtfraktion. Doch dann fiel ihr ein, daß sie dann die Führung der entschlossenen Schwestern verspielte. Anthelia könnte sich mühelos zur Nachfolgerin aufschwingen. Nein, sie mußte irgendwie mit ihr quitt werden, im Guten oder im Bösen.

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"Dann kommen sie in zwei Wochen wieder, Mrs. Glover", sagte die vertraueneinflößende Stimme von Virginia Hencock zu der in guter Hoffnung befindlichen Dame, die gerade wieder ordentlich bekleidet aus dem Behandlungszimmer gehen wollte.

"Haben Sie gesehen, was es wird", fragte die etwa dreißigjährige Frau.

"Ich will nichts übereilen, Ma'am. Wenn das Bild in zwei wochen noch mehr zeigt als das jetzt, dann verrate ich es Ihnen. Aber nur, wenn Sie das wirklich wissen wollen."

"Danke, Dr. Hencock", sagte Mrs. Glover und verließ die Praxis der netten, sehr einfühlsamen Frauenärztin, die nun seit etwa einem Dreivierteljahr in dieser sonst sehr unterdurchschnittlichen Wohngegend ihre Praxis betrieb.

"Wenn die alle wüßten", dachte die Ärztin mit dem dunklen Har, das sorgfältig hochgesteckt war und schloß die Tür zur Praxis, um die letzten Eintragungen des Tages zu machen und die Krankenversicherungen jener Patientinnen zu kontaktieren, die sich eine solche leisten konnten. Bei den Glovers war es die vereinigte Schutz- und Gesundheitskasse.

"Virginia, erschrick nicht! Ich bringe jemanden mit", hörte die Ärztin eine fremde Frauenstimme in ihrem Kopf dröhnen. Sie zuckte zusammen, entspannte sich dann aber. Ihre Retterin hatte sich nach mehreren Monaten Sendepause mal wieder gemeldet. Sie drehte sich um und blickte erwartungsvoll in den Raum hinein, wo just in diesem Moment zwei andere Frauen aus dem Nichts heraus erschienen. Er kannte sie beide. Die blonde Frau war Anthelia, eine echte Hexe, die sie, Virginia, damals aus dem BUS-Labor gerettet hatte und ihr geholfen hatte, den richtigen Körper zu bekommen. Die dunkelbraunhaarige Frau war Patricia Straton, auch eine Hexe, der sie viermal begegnet war, als sie, Anthelia und eine dritte Hexe, deren Namen Virginia nicht erfahren hatte, diese Praxis für sie klargemacht hatten und sämtliche Daten und Dokumente frisiert hatten, damit Virginia Hencock in ihrem erlernten Beruf weiterarbeiten konnte, um für die Hexen Augen und Ohren in der rein technischen Welt zu sein.

"Hallo, höchste Schwester", grüßte Virginia Anthelia freundlich lächelnd. "Guten Abend Ms. Straton."

"Hi, Virginia. Geht's dir gut?" Fragte Patricia Straton mit aufgesetzter Gelassenheit.

"Kann nicht klagen. Mein Körper fühlt sich wunderbar an, und ich habe hier genug zu tun, um mich nicht zu langweilen", antwortete Virginia Hencock.

"Sei mal eben still", sagte Anthelia und legte ihren Zeigefinger auf den Mund. Dann wirkte sie dieses ockergelbe Zauberlicht, daß alle Wände, die Decke und den Boden überlagerte. Dann sagte sie: "Patricia sucht eine neue Bleibe. Gewisse Leute haben ihr fast den Boden unter den Füßen angezündet. Da niemand aus unserer Welt von dir weiß, wird sie bei dir wohnen, unter anderem Namen und mit einem etwas anderen Aussehen."

"Ist dieser Jemand euch noch auf der Spur?" Fragte Virginia verstört. Wenn die Hexen vor jemandem weglaufen und sich verstecken mußten, dann doch nur vor ihresgleichen.

"Wir haben sie alle verladen", sagte Patricia selbstsicher. "Die höchste Schwester hat eine falsche Spur gelegt, auf die hoffentlich alle hereingefallen sind. Wenn doch jemand Verdacht schöpfen könnte, dann werde ich nicht mehr auffindbar sein."

"Ja, aber die können euch doch wohl aus der Ferne orten und ...", wandte Virginia ein, die mehr als genug von Anthelias Künsten mitbekommen hatte.

"Ja, aber wir machen einen Geheimhalte-Zauber", sagte Patricia. "Damit verbergen wir, daß ich bei dir wohne."

"Öhm, das fällt doch auf", sagte Virginia.

"Nur wenn ich andauernd bei dir ein- und ausgehe", erwiderte Patricia. Inzwischen suchte und Fand Anthelia eine Stelle am Boden, die geeignet war und hob die Holzdiele mit einem Zauberspruch an. Dann deponierte sie einen kleinen, flachen Stein darunter und verschloß die Diele wieder.

"Nur für den Fall, daß hier einmal starke zauber gewirkt werden müssen", sagte Anthelia. Dann deutete sie auf Patricia. Diese hob ihren Zauberstab und schockte Virginia unvermittelt. Dann vollführten sie den Fidelius-Zauber. Patricia nahm das Geheimnis in sich auf, daß sie, Patricia Straton, bei der Muggelfrau Virginia Hencock im Haus lebte.

"Gut, wenn sie wieder aufwacht sagst du es ihr. Er kann es nicht verraten", sagte Anthelia. "Wenn ich dich rufe, apparierst du nur im Versammlungsraum unseres Hauses, nirgendwo sonst!" Sagte Anthelia, als Patricia sich von der Kraftanstrengung erholte, die der Zauber gefordert hatte.

"Ja, und wenn ich zu Fuß hier rausspazieren muß?" Fragte Patricia.

"Dann mußt du dein Äußeres ändern. Ich überlasse dir Vielsaft-Trank. Virginias Patientinnen lassen gewiß genug Haare hier, um dich zeitweilig in sie zu verwandeln."

"Vielleicht sollte ich mein äußeres jetzt schon ändern, höchste Schwester. Virginia hat doch mal daran gedacht, daß sie in ihrem Leben als Mann eine kleine Schwester gehabt hat."

"Wir müßten dann sämtliche Dokumente beschaffen, um dich als sie auszuweisen. Es hat bei ihr schon lange gedauert", sagte Anthelia. "Am besten leihst du dir für eventuelle Ausflüge einen anderen Körper."

"Wie du meinst, höchste Schwester. Aber versprich mir bitte, daß du auch auf meine Verwandten aufpaßt, wenn Daianira sie doch freilassen sollte!"

"wenn alles verläuft wie erhofft werden sie nicht mehr in Gefahr geraten, sollte Daianira sie freigeben", sagte Anthelia. "Ich empfehle mich jetzt." Dann disapparierte sie. Patricia weckte Virginia Hencock, die zunächst erschüttert war, einfach so ... Eben gerade war doch noch jemand bei Anthelia gewesen, die sie kannte. Doch die Frau mit den dunkelbraunen Haaren und den grünen Augen kannte sie nicht.

"Ich bin die Hexe Patricia Straton und lebe ab heute in deiner Wohnung, Virginia", sprach sie sehr eindringlich. "Mach dir keine Gedanken. Ich werde nicht auffallen."

Virginia erkannte sie nun. Ja, daß war Patricia Straton. Dann fiel ihr auch wieder ein, was eben passiert war. Anthelia war weg. Doch dieses magische Licht über dem Boden, der Decke und an den Wänden war noch da.

"Das mußte sein, damit keiner mitbekam, daß ich dir was erzählte, was sonst keiner wissen darf", sagte Patricia. "Ab jetzt wird es keiner mitkriegen, wer ich bin und daß ich hier lebe, solange ich es nicht von mir aus weiterverrate."

"Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Ich habe Patientinnen und ihre Angehörigen", druckste Virginia herum.

"Die du nicht hättest, wenn Anthelia dich nicht aus Laroches Räuberhöhle herausgeholt hätte", wußte Patricia die passende Antwort. "Du wußtest doch, daß sie dich nicht aus purer Gefälligkeit hier hingebracht hat. Du hast dir gewünscht, dein Leben als Frau weiterzuführen und bist damit glücklich. Ich werde dich nicht behindern und dir auch nicht lästig fallen, wenn du mir das kleine Eckzimmer in deiner Wohnung überläßt. Im Moment muß ich mich ja verstecken, wie du gehört hast. Könnte sein, daß der Grund dafür mehrere Wochen anhält. Könnte aber auch sein, daß ich in zwei oder drei Tagen schon wieder nach Hause kann. Wir wissen es nicht."

"Gut, ich muß wohl akzeptieren, daß Anthelia den Preis für ihre Arbeit haben möchte. Wenn es dir hilft, dann kannst du in dem Eckzimmer wohnen", sagte Virginia Hencock. Dann zeigte sie der neuen Mitbewohnerin ihren Schlafplatz und staunte, daß Patricia mehrere Alltagskleider, sogar einige Jeanshosen, aus ihrer Handtasche holte und in den Schrank hängte. Danach sprachen die beiden Frauen, die Hexe und die Ärztin, was in den letzten Tagen so gelaufen war. Der Fidelius-Zauber schirmte sie von der Außenwelt ab. Am Abend jedoch erfuhr Patricia von Anthelia, daß das zerlegte Simulacrum mit dem Todesfluch getötet worden war. Ein gewisser Patch sei in ihrer Körperform dem Dinocustos-Fluch zum Opfer gefallen und würde auf Ministerielle Anweisung als sie, Patricia Straton, beigesetzt.

"Dann werden es wohl doch mehrere Wochen und Monate", seufzte Patricia. Sie hatte gehofft, nicht all zu lange versteckt bleiben zu müssen. Es tröstete sie auch nicht, daß ihr Vater und ihr Bruder wie aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht waren. Immerhin hatte Daianira sie nicht getötet und legte keinen Wert darauf, sie gefangenzuhalten. Doch genau deshalb galt Anthelias Instruktion, keinen Kontakt mehr mit ihnen aufzunehmen. Sie hoffte, daß sie eines Tages wieder in der Zaubereröffentlichkeit auftauchen konnte. Zumindest würde es hier nicht ruchbar, wenn sie zauberte.

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"Am neunzehnten Juli traf Anthelia bei Marga Eisenhut ein. Sie erklärte, daß die Angelegenheit erledigt sei und sie nun auf die Suche nach dem Buch über die schlafenden Krieger gehen konnten.

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Wo hatten sie Loki Nachtwurz versteckt gehalten? Voldemort war nun schon einen halben Tag unterwegs in Südostdeutschland. Hier hatte Loki Nachtwurz doch gelebt, an der Grenze zur tschechischen Republik, früher auch Böhmen und Mähren genannt. Jetzt stand er an einem Berghang, der zu einer Burgruine führte. Dort oben hatte der Nachtwurzclan einmal gelebt. Womöglich gab es dort noch jemanden, den er ausfragen konnte.

"Nun denn", dachte der Herr der Todesser. "Woll'n doch mal sehen, ob von der alten Sippschaft noch jemand dort wohnt. Homenum revelio!" Er ließ den zauberstab herumsuchen, um menschliches Leben zu finden. Tatsächlich erspürte er auf diese Weise einen einzelnen Menschen, der in der nähe des Bachlaufs war, der den breiten Graben um die alte Burg mit Wasser speiste. So konnte man Vampire und Sabberhexen auf Abstand halten, dachte Voldemort. Ob das aber gegen die Räuberin des Mitternachtsdiamanten half, wenn diese meinte, herkommen zu müssen. In der Burg selbst hielt sich im Moment niemand auf. Also stieg er unsichtbar wie ein Phantom vom Boden auf, überflog ohne Besen oder Flügel die Burgruine und segelte auf eine laut ratternde Wassermühle zu, deren Rad sich munter im eiligen Bach drehte. Wie romantisch, dachte der dunkle Lord verächtlich. Dann landete er. Dabei passierte es. Knisternd und prickelnd zerfloss der tarnende Zauber um den Herrn der Todesser, und aus dem Mühlengebäude klang ein Schrei wie von einem Eichelhäher. Also wohnte hier ein Magier. Aber wie hatte der den Tarnzauber aufheben können.

"Oh, Besuch!" Rief eine muntere, tiefe Männerstimme. Dann öffnete sich die Tür der Mühle. Voldemort machte sich darauf gefaßt, gleich eine schreckensbleiche Fratze zu sehen, wenn der Fremde ihn sah. Ein schlachsiger Mann mit mittelbrauner Hautfarbe wie ein Halbindianer oder Sinto trat aus der Mühle. Am linken Ohr glitzerte ein goldener Ohrring, und in der rechten Hand hielt der Fremde einen spitzen, dunkelblauen Zaubererhut.

"Ach neh", feixte Voldemort. "Dich Burschen kenne ich doch. Was machst du hier, alberner Müllerbursche!"

"Gleiche Antwort, gleiche Frage", erwiderte der Mühlenbewohner ruhig.

"Sei froh, daß ich von dir noch was wissen will, Pumphut", schnaubte Voldemort. "Sonst wärest du nämlich schon tot."

"Ja, sieht dir ähnlich, Voldemort", erwiderte der Fremde ruhig. Er sprach Deutsch mit leicht sächsischem Einschlag. Voldemort hingegen sprach kristallklares Hochdeutsch.

"Du suchst die Nachtwurzes, nicht wahr?" Fragte der Mühlenbewohner immer noch ruhig, als könne ihn weder Anblick noch Auftreten des dunklen Lords irgendwas anhaben.

"Genau die suche ich, du Schlaumeier. Rück raus wo sie sind, wenn sie schon nicht mehr hier wohnen!"

"Seitdem Loki Nachtwurz das Weite gesucht und gefunden hat lebt hier keiner mehr. Die anderen Zauberer behaupten, die Ruine sei verflucht und würde jeden dort gefangen halten, der kein Nachtwurz ist."

"Ach, und dann wohnst du hier?" Fragte Voldemort verächtlich und hob seinen Zauberstab. Diese Seelenruhe Pumphuts gefiel ihm überhaupt nicht. Dieser setzte behutsam seinen Hut auf den Kopf und sagte im ruhigen Ton:

"Meine Mühle und ich wandern seit vierzig Jahren von Ort zu Ort. Vielleicht weißt du ja, daß ich mit dem übrigen Volk nicht viel am Hut habe."

"Dein Pech, Zigeunerbursche! Denn dann hört dich keiner schreien", drohte Voldemort und machte Anstalten, einen Fluch zu wirken. Doch der andere Zauberer hob nur die rechte Hand und sagte:

"Es heißt, daß in der Burg noch alte Hinterlassenschaften der Nachtwurz-Sippe lagern. Die letzten von denen leben aber ganz woanders."

"Weißt du wo?" Fragte Voldemort.

"Vielleicht", erwiderte Pumphut so gelassen, als stünde da nicht der leibhaftige Tod vor ihm, sondern ein neugieriger Junge, der fragte, wie die Mühle ging.

"Dir treibe ich deine Frechheit aus, Koboldsohn! Crucio!" Rief Voldemort wütend. Da schnippte der Andere mit den Fingern der rechten Hand, und Voldemort wurden die Beine weggezogen. Der Fluch zischte unschädlich über die Hutspitze des hageren Zauberers hinweg, als die von ihm ohne Zauberstab beschworene Erdwelle wie eine Welle aus Wasser um seine Füße herumlief und verebbte. Voldemort fand sich indes auf seinem Umhang sitzend wieder. Sofort richtete der Herr der Todesser den Zauberstab auf den immer noch dastehenden Frechling. Er verdrängte den Wunsch ihn zu töten und wollte ihm den Imperius-Fluch aufhalsen. Da hob sich von einer schnellen Handbewegung Pumphuts begleitet ein Wall aus Steinen und Erde zwischen ihm und Voldemort an. Der dunkle Lord sprang auf seine Füße und rief "Reducto!" Krachend sprengte sein Fluch ein Loch in den Erdwall. Dahinter war jedoch keiner.

"Hier bin ich!" Rief Pumphut dreist von rechts hinten. Voldemort fuhr herum und ließ dabei einen Strahl aus grünen Funken aus dem Zauberstab los. Doch der Gegner wurde von einem dichten Wirbel aus Staub umschlossen, wie ein komprimierter Sandsturm.

"Wo sind die Nachtwurzes!" Rief Voldemort wütend und versuchte, den Erdwirbel mit einem Fluch zu durchstoßen.

"Hier nicht mehr!" Rief Pumphut.

" Elementa recalmata!" Rief Voldemort. Krachend fiel der wilde Sand- und Staubwirbel in sich zusammen. "Hab ich dich!" Knurrte der Herr der Todesser. Pumphut hatte immer noch keinen Zauberstab in der Hand. Voldemort wußte, daß dieser Magier wegen seiner koboldischen Vorfahrin Kieselgunde eine rein geistige Verbundenheit zu den Erdelementarzaubern besaß. Aber damit konnte er sich unmöglich duellieren. "Du hast noch eine Chance! Imperio!" Rief Voldemort. Doch wider fegte eine per Fingerschnippen aufgeworfene Welle aus Erdreich seine Beine weg. Voldemorts Fluch ging wieder fehl. Jetzt war es genug. Ungesagt löste der dunkle Lord einen schrecklichen Verunstaltungsfluch aus. Doch was war das? Kaum brauste ein blauer Lichtblitz auf den Gegner zu, versank dieser wie in einen tiefen Schacht stürzend im Boden. Der Fluch traf nur noch die Hutspitze. Der Hut explodierte. Hunderte von Fetzen flogen herum. Doch wo sie auf den Boden fielen, wuchsen hundert neue Hüte aus dem Boden.

"Vanesco Solidus!" Schnaubte Voldemort und deutete auf den Hut, der an der Stelle nachgewachsen war, wo Pumphut zuletzt gestanden hatte. Der Hut löste sich auf. Doch mit leisem Plopp teilte sich ein Hut in der Nähe in zwei gleich aussehende Kopfbedeckungen, von denen eine punktgenau auf den Platz hinübersprang, wo gerade noch einer seiner Mehrlingsbrüder gelegen hatte.

"Na warte, Freundchen", dachte Voldemort. Er sprang auf, hob den Zauberstab senkrecht in die Höhe und rief: "Contrageminio! Als würde der zauberstab explodieren, sprang ein roter Glutball vom Zauberstab in alle Richtungen und zerstörte alle vervielfachten Zauberhüte, bis keiner mehr da war.

"Toller Trick", erwiderte Pumphut, der nun links hinter Voldemort aus dem Boden herauswuchs, einen unversehrten Hut auf dem Kopf.

"Wird dir kaltohne Hut?" Fragte der dunkle Lord und schickte einen Wasserstrahl los, der jedoch gebogen und von der Erde vor Pumphut aufgesogen wurde. Voldemort überlegte nicht lange, wie ein Erdmagier einen Wasserstrahl ablenken konnte. Jetzt würde er ihn mit dem Verunstaltungsfluch erwischen, Doch wieder verschwand der Gegner wie in einem Schacht abstürzend, diesmal mit Hut. Statt dessen hob sich grollend ein Ring aus Erde um Voldemort. Dieser konzentrierte sich auf jenen Zauber, der ihm das Fliegen ermöglichte. Er stieß sich ab und entrann dem sich um ihn schließenden Ring aus Erde und Geröll. Im freien Flug sah er Pumphut, der gerade fünfzig Meter weiter fort auftauchte, diesmal mit seinem Zauberstab in der Hand. Da kam auch schon ein glutroter Hauch auf Voldemort zu, der schnell einen Abfangzauber anbrachte, der mit lautem Knall in die rote Wolke schlug, die als Glutregen zu Boden fiel.

"Jetzt ist Schluß mit lustig!" Rief Voldemort. "Avada Kedavra!" Triumphierend sah Voldemort den grünen Blitz auf Pumphut zufegen, der sich panisch hinwarf und einfach im Erdboden verschwand, so daß der Todesfluch wirkungslos über ihn hinwegsirrte. Da sah Voldemort die Zauberstabspitze des Gegners aus dem Boden herauswachsen und fühlte, wie alle Leichtigkeit seines Flugzaubers nachließ und er abstürzte.

"Es reicht, Mordbube!" Rief Pumphut, als Voldemort ächzend auf dem Boden aufschlug. Dieser hielt den Zauberstab auf den Gegner, der gerade einen kleinen Erdklumpen bespuckte und warf.

"Avada Kedavra!" Rief er. Da landete der Erdklumpen und verwandelte sich in einen erdbraunen Dobermann. Doch da schlug der grüne Todesblitz aus Voldemorts Zauberstab und erwischte den Hund, der laut jaulend zur Seite fiel und wie trockene Erde auseinanderbröckelte. Da fühlte Voldemort, wie er im Boden versank, als läge er in tiefem Morast. Zur selben Zeit erhob sich über ihm eine Kuppel aus lockerem Gestein. Keine zwei Sekunden später fand sich der oberste Todesser in einer Kugelschale aus Stein. Er hörte Pumphut ein Zauberwort rufen und fühlte, wie die davon angeregte Magie sein Gefängnis verhärtete. Dann klang Pumphuts Stimme von links. Die Kugelschale verhärtete noch mehr. Dann war ein drittes Zauberwort zu hören. Das alles ging so schnell, daß Voldemort nicht schnell genug zielen konnte. Außerdem kannte er diesen Zauber nicht. Die Worte klangen koboldisch, doch mit einem merkwürdigen Unterton. Dann sagte Pumphut mit fester Stimme:

"Du wirst alt, Voldemort, genauso wie Grindelwald, und der hatte mehr drauf als den grünen Blitz. Möge die Mutter Erde dich lange genug in ihrem Schoß halten, damit du lernst, dich nicht mit mir anzulegen."

"Du Frechdachs, dich kriege ich!" Brüllte Voldemort. Seine schrille Stimme hallte von der Innenseite der Kugelschale wider. Doch merkwürdigerweise fühlte er keinen Luftmangel. Er rief den Sprengfluch auf, der jedoch mit leisem Sirren an der Innenschale zerplatzte und die ganze Kugel für einen Sekundenbruchteil erleuchtete. Was war das für ein Zauber, den er nicht kannte? Der dunkle Lord geriet in Wut. Er rief "Avada Kedavra!" Doch der sonst auf tote Materie zerstörerisch wirkende Zauber durchschlug die Kugelschale, ohne sie zu beschädigen. Der dunkle Lord erkannte, daß Pumphut ihn gründlich aufs Kreuz gelegt hatte. Er hatte diese Kugel aus Expansionsmagie errichtet, Zauberkraft, die die Elementarform verstärkte, auf die sie ausgerichtet wurde. Der Todesfluch konnte diese Kugel zwar verlassen, richtete wohl außerhalb keinen Schaden an. Der oberste Todesser hörte ein leises Grollen, das sich rasendschnell entfernte. Wie sollte er aus diesem Gefängnis entkommen? Er versuchte die ihm bekannten Erdelementarzauber. Doch diese zerstoben pfeifend, knisternd oder prasselnd. Dann kam ihm die Idee. Er griff in seinen Umhang und holte das Zepter Sharanagots heraus. Dieses war doch auch ein Erdelementar-Artefakt. Er berührte damit die Kugelschale und parselte:

"Hilf mir hier raus!"

"So sei es", zischte eine Gedankenstimme in der schlangensprache zurück. Der Schlangenkopf am Ende des Stabes glühte auf, reckte sich und öffnete das Maul. Dann bissen die eingearbeiteten Schlangenzähne in das Material. Dieses erbebte. Voldemort fühlte, wie etwas aus seinem Bauchraum in den Arm floß, der den Schlangenstab fest umklammert hielt. Feine Risse bildeten sich in der magischen Steinkugel, schlängelten sich wie winzige Schlangen herum, vereinigten sich und verbreiterten sich. Dann blitzte der Stab grüngolden auf, und mit dumpfem Knall zerplatzte die Kugel wie ein überfüllter Luftballon. Voldemort hörte ein sachtes Klingeln in seinen Ohren. Doch das war ihm jetzt nicht so wichtig. Er fiel auf den Erdboden, stand auf und reckte den Schlangenstab in die Höhe.

"Hach, hast du dir eingebildet, Lord Voldemort so einfach einsperren zu können. Niemand kann das! Hörst du?! Niemand!!!" Doch es erfolgte keine Antwort. Voldemort hob den Zauberstab und rief: "Homenum Revelio!" Kein Mensch weit und breit. Auch der Vivideo-Zauber zeigte kein verdächtiges Lebewesen an. Voldemort sah sich nach der Mühle um. Diese war verschwunden.

"Sieh mal an, dieser feige Bastard", schnaubte Voldemort. Doch dann erkannte er, daß Pumphut nicht geflüchtet war, sondern losgezogen war, um Verstärkung zu holen. Er hätte ihm gleich den Todesfluch aufhalsen sollen. Sicher hatte Pumphut hier auf ihn gewartet. Aber das hieß, daß jemand wußte, daß er hierherkommen würde. Das konnte nicht sein. Er hatte es niemandem erzählt, daß er sich auf die Suche nach den schlafenden Kriegern machen wollte. In England waren sie mit dem in der letzten Nacht erfolgreich durchgezogenen Ausbruch aus Askaban beschäftigt, vor allem damit, ihn geheimzuhalten. Das würde zwar nichts einbringen, weil er bald das Ministerium übernehmen würde. Doch im Moment würde auch keiner direkt nach ihm suchen.

"Ich muß die Burg aufsuchen", dachte der dunkle Lord und stieg wieder vom Boden auf. Er flog über den Innenhof, spähte durch die Dächer der verfallenen Gebäude, prüfte mit Zauberfindern, ob in der Burg nicht doch irgendwas magisches lag und entdeckte auf diese Weise einen heimtückischen Blutwehrfluch, der Lebewesen, in deren Adern nicht eine bestimmte Sorte Blut floß innerhalb von einem halben Tag verenden ließ, egal ob sie sich aus der direkten Wirkungszone retteten oder nicht. Er pries sein Genie, daß er den Freiflugzauber gefunden und für sich perfektioniert hatte. Denn der Blutwehrfluch reichte zwei Meter in die Höhe.

"So habt ihr euch also geschützt. Aber damit kriege ich euch jetzt alle dran", dachte Voldemort triumphierend. Er flog schnell aus der Wirkungszone des Fluches hinaus und landete. Dann umspielte ein siegessicheres Lächeln seinen lippenlosen Mund. Er holte ein Messer und ein kleines Glasröhrchen hervor. Er schnitt sich in den linken Ringfinger und ließ das Glasröhrchen mit seinem Blut volllaufen. Dann vollführte er einen mehrstufigen Zauber, wobei er immer wieder lauschte, ob nicht doch jemand kam. Dann warf er das Glasröhrchen aus der Luft in den Burghof. Als es klirrend zersprang und sein Blut sich über den Boden ausbreitete, rief Voldemort: "Sanguis sanguinem monstrato!" Der Burghof erglühte für einen winzigen Sekundenbruchteil, während dort, wo Voldemorts Blut den Boden berührt hatte ein dünner, roter Lichtfaden emporstieg, der von Voldemorts zauberstab angezogen wurde. Er fühlte, wie etwas wie erst sanfte, dann kraftvolle Energiestöße wie von einem äußeren Pulsschlag durch seinen Körper fluteten. Fünf Sekunden lang wechselwirkte dieser Zauber mit dem Fluch der Burg. Dann glomm der Zauberstab des dunklen Lords in schwachem, rotem Licht. In diesem Moment ploppte und krachte es rings umher. Zauberer und Hexen in den Umhängen der deutschen Lichtwache, mindestens fünfzig Stück, erschienen. Voldemort lachte schallend und feuerte aus seiner hohen Warte drei Todesflüche ab, bevor ihm ein Feuerwerk verschiedener Flüche entgegenbrandete. Doch er stieg pfeilschnell nach oben. Da kamen auch Zauberer auf fliegenden Besen herangeprescht. Doch der dunkle Lord war überaus wendig und schickte immer wieder Flüche aus, um die Formation der Besenreiter zu zerreißen. Dann besann er sich, davonzufliegen. Die Besen folgten ihm. Doch als er in einer Regenwolke verschwand, glühte diese feuerrot auf, blähte sich und flog als explodierende Wasserdampfblase auseinander. Der dunkle Lord ließ sich in die Tiefe stürzen, drehte sich und war fort.

"Er war es wirklich. Wußte nicht, daß er einen Freiflugzauber kann", keuchte einer der Lichtwächter.

"Wollen nur hoffen, daß er so einfältig war, in die Burg einzudringen, wo der Blutwehrfluch der Nachtwurzens wirkt."

"Na, Sie werden doch nicht jemandem diesen Fluch an den Hals wünschen", entgegnete ein anderer Lichtwächter.

"Er hat mal eben fünf von uns getötet, Armin. Mal soeben. Dem gönne ich es, wenn er dafür den grausamen Tod dieses Fluches erleidet."

"Was hat der Müllerbursche gesagt, er sucht nach den Nachtwurzens?" Fragte ein anderer Lichtwächter.

"Die Angaben über sie sind in unseren gesicherten Bibliotheken. Aber ich habe schon angeregt, die Chroniken über die Familie in magische Tresore legen zu lassen."

"Wie kamen Sie darauf, wenn ich fragen darf? Fragte der Stellvertreter des Truppführers.

"Da müssen Sie den Minister fragen. Er hat gestern den Tipp bekommen, daß der Wahnsinnige die Nachtwurzens heimsuchen könnte."

"Dann kann er jetzt lange suchen", triumphierte eine Hexe in den Reihen der Lichtwache.

"Und mehrere Dutzend Leute dabei umbringen", bemerkte ein weiterer Lichtwächter. Der Truppführer nickte.

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Alcara hatte sich offenbar verschätzt. Denn als er nördlich von Kapstadt nacheinander vier Söhne mächtiger Zulu-Zauberer in seine Gewalt gebracht und davongetragen hatte, wollte er den Punkt genau auf dem Äquator anfliegen, um dort das Feuerritual zur Mittagsstunde zu vollziehen. Er ärgerte sich, daß er die animistische Magie der Ureinwohner nicht ausgiebig genug studiert hatte. Denn dann hätte er bestimmt wirksame Maßnahmen gegen die ihn nun jagenden grauen Wolkenungetüme getroffen, die auf Halbem Wege zum Zielpunkt im Süden aufgetaucht waren. Alcara fühlte die Rachsucht dieser gasförmigen Gebilde. Er hätte nie gedacht, daß der Geisterglaube der afrikanischen Urstämme nicht bloße Religion war, sondern durch einen ihm fremden Weg zu magischem Wissen und Können Eingang in den Volksglauben gefunden hatte. Deshalb wußte er nicht, daß die Wolkendämonen, die ihm nun immer näher rückten, von mächtigen Anrufungen der vier Väter der Entführten mit Energie versorgt wurden und die bedrohten Seelen der Verschlepten witterten. Doch er war schlau genug, die Gefahr zu erkennen, die ihm da von hinten auf den Leib rückte. So trieb er seinen Teppich zur höchsten Geschwindigkeit an. Wild brausend flatterten die Fransen am Rand des magischen Knüpfkunstwerkes. Bashir hatte Alcara versichert, daß sein Wüstenwind-Teppich schneller als der wildeste Sandsturm fliegen und seinem Reiter dabei keinen unangenehmen Flugwind bereiten würde. Der Ägypter hatte ihm auch versichert, daß er mit dem Teppich solange mit höchster Geschwindigkeit fliegen konnte, solange das große Himmelsfeuer ihn beleuchtete und dann noch einen Vierteltag lang weiterfliegen konnte, bevor er erlahmte und niedergehen mußte. Da es gerade Morgen war hoffte der Meister der Golems, daß Bashir sich nicht irrte und er den ihn jagenden Ungeheuern aus verhextem Wasserdunst nicht nur entkommen konnte, sondern den Zielort erreichte, bevor es Mittag war. Tatsächlich schien es, als fielen die beseelten Wolken immer mehr zurück. Alcara flog nun schnurgerade aus, um die Höchstgeschwindigkeit des Teppichs voll auszureizen. Doch als die grauen Dunstwesen fast am südlichen Horizont verschwanden, begannen sie mit ungewöhnlicher Macht aufzuholen. Sie hatten sich zu sehr schlanken Gebilden ausgestreckt, die wie fliegende Schlangen oder rasch dahinrasende Raubfische durch die Luft brausten.

"Ich weiß nicht, was passiert, wenn die mich erwischen", knurrte der Golemmeister. Er überlegte, welche Zauber er gegen nebelartige Gegner aufbieten mußte. Magischen Nebel und in weißen Dunst verwandelte Hexen und Zauberer konnte er mit magischem Wind und Kondensierzaubern bekämpfen. Womöglich wirkte auch Eiseskälte verheerend auf die ihn jagenden Dunstdämonen. Er wußte nicht, daß ihn diese Ungeheuer solange verfolgen konnten, wie die von ihnen aufgespürten Jugendlichen, die von Schockzaubern betäubt auf dem Teppich lagen lebten. Und hätte er es gewußt, hätte Alcara sie trotzdem nicht zurückgelassen. Es waren nur noch eintausend Kilometer zum Zielpunkt. Der Teppich schwirrte mit dreihundert Stundenkilometern dahin. Zumindest verriet ihm das der Ortsbestimmungszauber, den er immer wieder vornahm, um den richtigen Punkt nicht zu verfehlen. Langsam aber sicher rückten ihm die jagenden Wolken wieder näher, fraßen Minute um Minute etwas von seinem Vorsprung auf. Er überschlug die Zeit, die er brauchte mit der Zeit die diese Dampfgeschöpfe ihm noch lassen mochten und befand. Daß er besser an den Zielpunkt apparierte. Wenn er schnell genug war, konnte er alle Jungen nacheinander zum Zielpunkt bringen. Er hoffte, daß die Ungeheuer ihn nicht über die magische Abkürzung durch Raum und Zeit folgen konnten. Als er schätzte, daß bei einer Landung noch zwei Minuten blieben, bevor die Dunstdämonen ihn eingeholt haben würden, befahl er seinem Teppich die schnelle Landung auf einem Berggipfel. Keine dreißig Sekunden später senkte sich der Teppich gespannt und parallel zum Erdboden ausgerichtet herab, stürzte einige hundert Meter, bevor er wie eine große Feder im Aufwind schwebte und sanft auf dem Boden zu liegen kam. Alcara hob die vier Entführten von dem magischen Fluggerät und blickte nach Süden, wo die ihn jagenden grauen Wolken nun gefährlich schnell heranrasten. Er befahl dem Teppich, sich einzurollen, steckte ihn in seinen magischen Rucksack, packte den ersten Jungen am Arm und verschwand. Keine fünf Sekunden später tauchte er wieder auf. Er griff sich den zweiten Jungen. Die vorderste Wolkengestalt mochte noch zwei Kilometer weit fort sein und hatte sich zu einer Qualle aus grauem Dunst verformt. Wieder verschwand er und tauchte drei Sekunden später wieder auf. Die Ungeheuer aus magischem Dunst waren doch schon wesentlich näher, als er befürchtet hatte. Eines glitt bereits herab. Doch er konnte mit dem dritten Jungen verschwinden. Als er wieder zurückkehrte, senkte sich ein mächtiger grauer Koloß genau über ihm herab und hielt die Sonnenstrahlen ab. Aus der Unterseite des Gebildes schnellten lange, schlangenförmige Auswüchse heraus. Alcara duckte sich, während er den vierten Jungen am Arm packte. Gerade als er disapparierte, fühlte er einen eiskalten Hauch, der seinen Rücken herabraste. Er verschwand im Nichts, als einer der Schlangenarme auf den Boden hinabstieß. Dann verharrte die Dunstgestalt. Ihre Beute war entwischt, ohne zu laufen. Die nebelhaften Gliedmaßen der Wolkenkreatur schnellten nach oben zurück. Einen Moment verharrten die vier Dunstwesen. Dann begannen sie einen Kreis zu fliegen, als horchten sie auf ferne Geräusche oder suchten die Richtung eines bestimmten Duftes. Dann schossen sie leise zischend nach oben und rasten, nun hunderte von Metern lang und nur so dick wie ein Männerarm in nördlicher Richtung davon. Sie hatten die Spur erneut gewittert. Die sie aus der Ferne befehlenden Zauberer, die sich um sie zu beschwören und zu führen in eine tiefe Trance versetzt hatten, wußten nicht genau, wo der Fremde hingeflüchtet war. Zwar wußten sie, daß fremde Magier die Kunst beherrschten, große Strecken in einem Augenblick zu überwinden, und die ihnen hilfreichen Geister vermochten dies auch. Doch wenn sie wie jetzt jagende Dämonen beschworen und noch dazu nicht genau erspüren konnten, wo die geraubten Söhne waren, konnten sie dem Fremden nicht auf ähnliche Weise nachfolgen.

Alcara beobachtete die Sonne und den Horizont im Süden. Er war sich sicher, daß die jagenden Wolken ihn immer noch aufspüren konnten. Außerdem mußte er damit rechnen, daß die Magier, deren Kinder er verschleppt hatte, eine ähnliche Art des schnellen Ortswechsels kannten wie er. Allerdings, so hatte er von einem sudanesischen Zauberer gelernt, mußten sie dafür sehen, wo der Ort lag. Sie mußten Visionen beschwören, um zu sehen, wo er war. Er zog mehrere verschiedene Bannkreise mit Zaubertinte und wirkte diverse Schutzzauber, um Fernbeobachtung und Fernflüche abzuhalten. Womöglich würde die indopersisch-keltische Zauberkunst die Geisterbeschwörer und Ritualmagier eine Weile aufhalten. Er bereitete also das Feuerritual vor, das er genau um die Mittagsstunde vollziehen wollte, wenn die Sonne im Süden stand, direkt senkrecht über dem Äquator, der von ihm aus nur noch zweihundert Kilometer im Süden lag.

Die Bannlinien erzitterten ein- zweimal. Doch mehr geschah nicht. auch die vorübergehende Appariersperre hielt wohl stand. Denn bis zum Mittag behelligte ihn niemand. Fast hätte er sie übersehen, als sie vom Sonnenlicht überstrahlt von Süden her heranrasten, jene grauen Wolkenwesen.

"Jetzt kommt ihr zu spät!" Frohlockte Alcara und deutete mit dem Zauberstab auf den ersten der vier Jungen, der auf einem Bett aus Holz und Zunder lag, genau unter dem Licht der Sonne. Im Bann eines Erstarrungszaubers, aber bei Bewußtsein, starb der erste Junge in rot-goldenen Flammen, deren obere Zungen mit der gleißenden Sonne zu verschmelzen schienen. goldene, rote und blaue Funken sprühten aus den Flammen und flogen von Alcara mit dem Zauberstab herbeigewunken in ein leeres goldenes Fass. Als die Flammen erstarben, bedeckte rot glühende Asche den Boden des Behälters. So verübte der syrische Golemmeister die drei nächsten Ritualmorde, bis das Fass zu einem Viertel mit jener rotglühenden Asche angefüllt war. Dann verschloß er es mit einem Zauberspruch und blickte auf. Da waren sie heran, die grauen Ungeheuer, verlegten ihm den Blick auf die Sonne. Er lachte jedoch und disapparierte mit seiner Beute. Sein Ziel war nun die Dragonbreath-Akademie für junge Hexen und Zauberer, die er nach zwanzig Apparitionen über mehrerer Atlantikinseln und quer über die USA erreichte. Von seinen bisherigen, wenn auch knappen Erfolgen übermütig geworden lauerte er weit über dem Schulgebäude, das sich beinahe unsichtbar in einen Talkessel duckte, bis er mit seinem magischen Fernrohr einen Jungen und zwei Zauberer der Sommerakademie sah, die sich dort in den regulären Schulferien trafen. Zwei auf einmal, dachte er und stieß mit dem Teppich wie ein Adler herab. Doch über der Schule stand eine materielose Glocke aus Zauberkraft, die eigentlich zum Schutz vor wilden Donnervögeln errichtet worden war und gerade dreimal so hoch aufragte, wie die Schüler beim Quodpot-Spiel fliegen mochten. Knisternd prallte der Teppich auf die unsichtbare Glocke, die nun mit der Wucht und Zauberkraft des ägyptischen Flugteppichs wechselwirkte. Blaue, rote und violette Blitze zuckten hektisch um den Teppich umher, schnitten mit feurigen Klingen in ihn ein und ließen ihn an seinen Rändern verschmoren. Alcara flog von seinem Flugteppich herab, wurde von der Abwehrkraft der unsichtbaren Kuppel nach oben katapultiert und verlor fast die Besinnung dabei. Er sah noch, wie das magische Elmsfeuer, das seinen Teppich umtoste, zu auflodernden Flammenzungen wurde. Abwehrzauber und die eingewirkten Zauber des Teppichs entluden sich in einem gefräßigen Brand, der den Teppich innerhalb von wenigen Sekunden in eine große, flache Fackel verwandelte. Alcara stürzte derweil wieder nach unten, prallte auf die unsichtbare Barriere, die auf die in ihm und von ihm mitgeführte Zauberkraft reagierte. Er spürte die mächtige Kraft wie heißes Wasser durch seinen Körper strömen, sah vor seinen augen ein irritierendes Gewitter aus Funken und Blitzen und vermeinte, ein tiefes, betäubendes Brummen in den Ohren dröhnen zu hören. Er fühlte, wie er an einer nicht greifbaren, aber doch glatten Oberfläche entlang nach unten rutschte, weg von den beiden ausgewählten Zielen. Die in ihn hineinschießenden Gegenkräfte des Abwehrdoms machten ihn taub und blind für die sieben Zauberer und zwei Hexen, die in großer Eile aus dem Schulgebäude hasteten, das vom Boden aus dem Körper eines zusammengerollten Drachens ähnelte und von oben her wie ein zerklüfteter Felsbrocken erschien. Wer nicht wußte, daß hier die erste eigenständige Zaubererschule Nordamerikas lag, übersah sie schlicht und konnte über sie hinwegfliegen.

Alcara kämpfte gegen die ihn betäubenden Kräfte an, versuchte, sich in das Etwas hineinzukrallen, auf dem er dahinrutschte. Doch es war wie ein stark gespanntes Gummituch, das seine Arme und Beine zurückfederte.

"Sie hätten sich anmelden sollen", knurrte ein Zauberer im saphirblauen Umhang, als Alcara endlich auf dem Boden landete, wo die ihn malträtierenden Gewalten übergangslos von ihm abließen. "Neh, Bursche, den Zauberstab läßt du besser wo er ist", knurrte der zauberer und drohte mit seinem Zauberstab. Ein weiterer Zauberer, der einen rubinroten Umhang trug, pflanzte sich neben seinem Kollegen auf. Er war gerade mal einen Kopf größer als ein Kobold. Doch er strahlte Macht und Willenskraft aus.

"Hände hoch und Rucksack her!" Befahl der kleine Zauberer mit einer Stimme wie das Krächzen eines Geiers.

"Beides zugleich geht nicht", erwiderte Alcara trotzig und ließ seine Hände wo sie waren. Da versuchte der Zauberer im Saphirumhang, ihm den Rucksack vom Rücken zu zaubern. Doch der Practicus-Rucksack war diebstahlsicher und widerstand so jedem Aufrufezauber.

"War wohl nix", schnaubte Alcara auf Englisch und hatte schneller als die beiden erwarten konnten seinen Zauberstab in der Hand. Er hatte sich schon häufiger mit mehr als einem Gegner duelliert, zumal er flächendeckende Angriffszauber beherrschte, die bis zu vier Gegner zugleich niederwerfen konnten, wie der Atem der Zerstörung oder das Feuer der Seelenqualen. Doch er mußte sich auch gegen die ihm nun entgegenfliegenden Flüche verteidigen, sie blocken oder einen Schild aufbauen, um sie abzuschmettern. Weil den beiden Zauberern drei weitere Bewohner Dragonbreaths zu Hilfe kamen, fand sich Alcara in einer fast aussichtslosen Lage, umtobt von Flüchen, die seinen großen Schild immer wieder zu zertrümmern drohten. Dann gelang einem der Zauberer der Mondlichthammer und warf Alcara zu Boden.

"Der ist stark", sagte einer der Zauberer.

"Ja, aber leider auch sehr unklug", knurrte der kleine Magier in Rubinrot. "Wer ist das. Sieht aus wie ein afrikanischer Ureinwohner."

"ja, aber er kam auf einem Flugteppich an und hat eurasische Zauber benutzt. Hätte mich fast mit diesem Windstoß auf den Rücken geworfen", erwiderte der in Saphirblau. Dann trat ein Zauberer in Waldgrün heran. Er besaß die Helle Haut wie ein Europäer. Doch die dunklen Haare und Augen verrieten, daß er aus dem uralten Kulturvolk der Perser stammte. Er sah ihn prüfend an, hob dann seinen Zauberstab und vollführte eine schwungvolle Geste. Mit einem lauten Knall verwandelte sich der angebliche Zulu-Zauberer in einen Sohn aus den Wüsten Arabiens, und der Zauberer erkannte ihn.

"Alcara, Ismael Alcara", sagte der magier mit einer Mischung aus Staunen und Verachtung. "Ein syrischer Golemmeister, gehört neuerdings zu diesem Wahnsinnigen."

"Was wollte der hier?" Fragte der in saphirblauer Kleidung, der Maurice Rivers hieß und in Dragonbreath Verteidigung gegen die dunklen Künste und vergleichende Magiekunde gab.

"Werden wir gleich wissen", sagte der Zauberer in Waldgrün. Da schnellte Alcara mit einer Geschwindigkeit vom Boden hoch, die einer abgefeuerten Kanonenkugel gleichkam. Unvermittelt raste der Golemmeister wie ein hin und her schwirrendes Geschoss vor den fünf Zauberern herum und feuerte zauberflüche ab. Drei der Gegner fielen sofort getroffen zu boden. Der vierte folgte ihnen eine Sekunde später.

"Die Schnelle des blitzes", dachte der in Grün gekleidete Zauberer und rief einen Zauber, der ihm zwar viel Kraft kostete, ihn aber ebenso sehr beschleunigte wie seinen Gegner. Mit für normale Augen nicht mehr auseinanderzuhaltenden Bewegungen umsprangen sich die Zauberer, griffen mit fast wie ein farbiger Lichtbogen flackernden Flüchen an. Beide würden nun unter der Einwirkung des Hochgeschwindigkeitszaubers, den nur persische und arabische Zauberer kannten eine wirkliche Minute lang durchhalten. Für sie beide vergingen in dieser Zeit aber zehn gefühlte Minuten. Da sie in diesem Zustand auch die Massenträgheit überwanden, konnten sie nicht nur schnell umeinander herumlaufen und mit zehnfacher Geschwindigkeit Zauber denken oder rufen, sondern auch hohe Sprünge vollführen, die jedem Känguruh die Neidesblässe ins Gesicht getrieben hätten.

Alcara hatte eigentlich damit gerechnet, daß der bei einer zeitweiligen Ohnmacht in ihm in Bereitschaft versetzte Blitzschnelligkeitszauber das Blatt wenden mußte. Tatsächlich hatte er vier der fünf Gegner niederwerfen können. Wenn er den fünften auch noch schaffte, könnte er vier von ihnen einschrumpfen und fortbringen, bevor die magische Hochgeschwindigkeit verflog und er eine Stunde ohne neue Zaubereien ausruhfen mußte. Doch der fünfte Gegner war ihm ebenbürtig. Ja, er kannte seinen Zauber, konnte ihn meisterhaft ausführen und die schnellen Angriffe mühelos kontern, egal ob sie aus dem Abend- oder dem Orgenland stammten. Die hohe Geschwindigkeit und der Stress des Duells überlagerten Alcaras Wut auf sich selbst. Hätte er sich nicht erst einmal erkundigen sollen, wer in Dragonbreath lehrte? Bei den Chinesen hatte er sich doch genug Zeit gelassen. Doch jetzt war es nicht mehr zu ändern. Er schlug mit allen ihm bekannten Flüchen zu und parierte die Gegenstöße. Er merkte, daß der Fremde nicht so ausdauernd wie er war. So würde er ihn gleich erledigt haben, weit vor dem Abklingen des Blitzschnelligkeitszaubers. Der Verteidiger von Dragonbreath merkte das jedoch auch, daß er dem Golemmeister nicht mehr lange die Stirn bieten konnte. Schon fühlte er, wie seine Armbewegungen unsteter wurden, wie Zauber nicht mehr so zielgenau auf Alcara zuflogen. Da fiel ihm ein, daß er noch ein Trumpfas besaß, mit dem Alcara unmöglich rechnen konnte. Er griff an den Kragen seines Umhangs und zog daran. Ratschend riss der waldgrüne Stoff der Länge nach auf und entblößte ein goldenes Amulett an einer feingliedrigen Kette, das sobald es vom Sonnenlicht getroffen wurde grell aufleuchtete. Alcara schrak geblendet zurück. Als er dann noch den Fremden eine altpersische Litanei singen hörte, glaubte er, in einen Alptraum geraten zu sein.

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Er hat wieder gemordet", sagte Faisal Amun zu Ashtaria, die nun wieder in seiner geistigen Nähe war. "Er hat vier junge Zauberer der Zulu verschleppt und wider die Gegenwehr ihrer Väter in magischem Feuer getötet. Jetzt will er wohl nach Westen, um die nächsten dunklen Morde verüben."

"Er wird Stätten der magischen Bildung aufsuchen", sagte Ashtaria mit besorgter Stimme. "Bedauerlicherweise verfüge ich dort nicht über einen Nachkommen, der meine Macht zu Hilfe rufen kann."

"Ich weiß von einem, der wie ich dem großen Urpharao entstammt", erwiderte Faisal Amun. Ich werde ihn zu warnen versuchen."

Amuns Rufe hallten durch Raum und Zeit, blieben jedoch ungehört. Wen immer er erreichen wollte war nicht empfänglich für seine Warnungen. Dann, eine für Amun nicht spürbare Zeit später, fühlte er Not und Wiederstand. Er bekam über die schmale Verbindung zwischen ihm und der Welt der Lebenden mit, wie der, den er rufen wollte, Ariman Khatami, Auge in Auge mit dem Erzfeind focht und diesem zu unterliegen drohte. Dann entblößte Khatami ein Amulett, ähnlich dem, daß Faisal Amun beigestanden hatte. Nur waren hier keine ägyptischen Zauberworte eingraviert. Dafür ähnelte es der Sonne, das Zeichen des Feuerkönigs, der identisch mit dem Urpharao Ra war und fast zeitgleich mit Ashtaria die Regionen Nordafrikas und des Zweistromlandes beherrscht hatte. Die im Licht der Sonne freiwerdende Magie, verbunden mit der Notlage des Besitzers, war für Amun wie eine starke Hand, die durch die trennende Schicht zwischen seiner Daseinssphäre und der Menschenwelt brach und ihn ergriff. Mit größter Genugtuung warf er sich in diese Kraft hinein und hörte auch, wie der mehr als ein Geist seiende Urpharao ihm folgte, der etwas tiefer in den überirdischen Gefilden verweilt hatte, sogar unaufspürbar für Faisal Amun, der sich nicht von der Welt der Sterblichen entfernen wollte. Das Amulett, dessen geballte Magie nun freigesetzt wurde, bildete einen breiten Tunnel, durch den Amun und Ra auf die materielle Ebene hinüberwechselten und zu zwei Abbildern ihrer früheren Erscheinungsform wurden, die wie aus geformtem Sonnenlicht aussahen.

"Alcara, hier ist dein blutiger Pfad des Hasses und der Unterdrückung zu Ende!" Rief Amun, als er wie aus dem goldenen Amulett herausgequollen zwischen Alcara und Khatami stand.

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Alcara fühlte den Ansturm einer unbändigen Macht. Mit fast geschlossenen Augen sah er, wie aus dem nun aus sich selbst erstrahlenden Amulett zwei Kugeln aus licht herausflogen und sich mit Gedankenschnelle zu zwei menschlichen Wesen aus purem, gleißend hellem Licht formten. Dann hörte er die in seinen Geist hineinhallende Stimme des Mannes, den er vor mehr als einem Jahr in der Sahara besiegt zu haben glaubte. "Alcara, hier ist dein blutiger Pfad des Hasses und der Unterdrückung zu Ende! Lass ab von deinen düsteren Werken und ergebe dich in Reue und Sühne!"

"Das kann es nicht geben", schnaubte Alcara. Dann erkannte er die Lichtgestalt. Es war unzweifelhaft Faisal Amun, der unter der Wucht des Todesfluches zu einer Lichtkugel geworden und in den Himmel emporgeschossen war, bevor die alte schwarze Festung des Seth in Trümmer gefallen war. Neben ihm stand, kraftstrotzend und entschlossen, ein hochgewachsener Mann. Alcara konnte wegen des blendenden Lichtes, daß er ausstrahlte nicht genau erkennen, wie er aussah. Doch als er die in alle Schichten seines Bewußtseins eindringende Stimme hörte, wußte er, er hatte endgültig verloren.

"Frevler an den Mächten des Lebens! Ergib dich und nimm dein ausgewähltes Los hin, auf daß deine Untaten gesühnt werden mögen und die von dir gezeugten Krieger wider den von Dunkelheit erfüllten Meister der Angst und Gewalt ziehen!"

"Ich ergebe mich nicht!" Rief Alcara. Die Zeit um ihn, den Zauberer mit dem Amulett und die daraus hervorgetretenen Lichtgestalten schien eingefroren zu sein. Doch das mochte an dem immer noch wirksamen Zauber der Blitzesschnelle liegen. Alcara hob den Zauberstab mit der rechten und griff mit der linken nach seinem Rucksack, mit einem Ruck hatte er ihn geöffnet und mit wilder Entschlossenheit das erste goldene Fass herausgeholt. Er warf es zwischen sich und die beiden überirdischen Kreaturen. Dann holte er das zweite gefüllte Fass heraus und warf es ebenfalls zwischen sich und die beiden neuen, übermächtigen Gegner. Diese hoben ihre gleißendhellen Hände, als Alcara drei fremdartige Laute ausstieß, worauf die beiden Fässer aufglühten, das eine himmelblau und das zweite feuerrot. Er wollte die gesammelten Essenzen als letzten Trumpf ausspielen. Auch wenn er dann neues Leben erbeuten mußte, wollte er hier und jetzt die überirdischen Wesen zurückwerfen. Die Leuchtkraft der Fässer wurde zu zwei sich vereinigenden Sphären aus Licht, die dann zu einer einzigen Sphäre wurden, weil Alcara jene Zauber sang, die den Söhnen des Seth entstammten. Sie riefen das dunkle Leben, die Verdunkelung der Seelen, die Trübung aller Hoffnung und Freude. Doch die beiden Lichterwesen ergriffen sich bei den Händen und schlugen mit ihren freien Händen gegen die nun hellviolett glühende Lichtkugel, in deren Zentrum die beiden geöffneten Fässer schwebten. Alcara sprang zurück, als die vereinte Sphäre auf ihn zuflog. er duckte sich und fühlte, wie Angst und Verzweiflung von oben auf ihn einströmten. Er rief in letzter Not ein Zauberwort, daß die von ihm geweckte Magie zerstreuen sollte. Er fühlte, wie sein Körper unter der Anstrengung erschlaffte. Er spürte wie seine Lebenskraft aus ihm hinausfloß. Doch sein Zauberwort bannte die Lichtkugel, die zerplatzte und die beiden Fässer als unförmige Goldklumpen links und rechts neben ihm aufschlagen ließ.

"Das war dein letzter großer Frevel, Alcara!" Riefen Amun und sein noch mächtiger wirkender Gefährte im Duett. Alcara zielte auf Amun und rief:

"Diesmal bist du endgültig erledigt. Avada Kedavra!"

Der grüne Todesblitz sirrte auf Amun zu, traf ihn an der Brust und breitete sich daran aus. Doch was war Das? Aus dem grünen Blitz wurde ein Lichtbogen, der sich so dick wie Alcaras Zauberstab zwischen ihm und Amun spannte. Alcara fühlte, wie etwas ihm die Kraft aus dem Arm saugte, wie etwas oder jemand an seinem Arm zerrte und dann den ganzen Körper ergriff, während der Lichtbogen singend zwischen ihm und Amun bestehen blieb. Alcara kämpfte darum, den Zauberstab zu senken, versuchte sogar, ihn aus der Hand fallen zu lassen. Doch eine übermächtige Kraft schweißte seine Finger um das sacht vibrierende Stück Holz fest. Er fühlte, wie etwas ihn nach vorne zog, immer stärker. Als er sah, wie seine Hand immer runzeliger wurde, erkannte er, daß er innerhalb von Sekunden um Jahrzehnte alterte. Er rief laut um Gnade. Doch seine Stimme war bereits zu brüchig geworden, um mehr als zehn Meter weit zu klingen.

"Du hast es dir so ausgesucht", erwiderten die sich immer noch aneinander festhaltenden Lichtgestalten.

"Der unnatürlich schnelle Alterungsprozeß ging weiter. Als Alcara schon meinte, gleich müsse er total geschwächt umfallen und tot liegenbleiben, sah er, wie sich sein Fleisch von den Knochen löste wie verdampfende Wassertröpfchen auf einer heißen Herdplatte. Er fühlte keinen Schmerz, als seine blanken Knochen unter dem sich verflüchtigenden Fleisch hervorglänzten, fühlte sich immer leichter werden, bis er mit dem letzten großen Schrecken seines Lebens erkannte, daß er als völlig kahl gefressenes Knochengerüst dastand, weder Kleidung noch Fleisch und Blut am Leib. Eine Ewigkeit wie es schien stand der skelettierte Golemmeister so da. Dann zischte es, und seine Knochen verwehten wie Rauch im Wind. Der Zauberstab zerfiel mit lautem Knacken zu schwarzer Asche, und Alcara fühlte den Sog, der ihn schon die ganze Zeit gezogen hatte, wie er ihn nach vorne riß, auf das größere der beiden Lichtwesen zu, das im Flug vor ihm wuchs und wuchs, bis er es mit seinen nicht mehr vorhandenen Augen nicht mehr überblicken konnte. Das letzte, was er mit seinem aus dem Körper freigeschälten Bewußtsein mitbekam, war eine gleißende, goldene Lichtwand, in die sein körperloses Selbst hineinstürzte und innerhalb eines Gedankensprungs darin zerfloß. All sein Wissen, seine Erfahrung und seine Vorlieben zerflossen. Doch sie erloschen nicht, sie wurden Teil des Äonen alten Geistes des Urpharaos, der nun mit Alcaras Erinnerungen und Gedanken versehen alle die Freveltaten kannte, die der syrische Golemmeister begangen hatte. Dann richtete er seine freie Hand in den Himmel und rief einer Wolke aus dort herumwirbelnden, unsichtbaren Bewußtseinen etwas zu. Ein goldener Blitz schlug von der Hand in den Himmel, schien sich mit der Sonne zu verbinden. Amun und Ra hörten einen achtstimmigen Jubelschrei, als sie acht schemenhafte Gestalten in alle Himmelsrichtungen davonfliegen sahen. Doch nur er und Ra, die mehr waren als Gespenster, konnten die Freude der aus der bösartigen Gefangenschaft gelösten Seelen hören und sehen. Dann waren die freigesetzten Seelen auch schon verschwunden, gingen wohl in diesem Moment hinüber in die Gefilde der Toten, von denen selbst die beiden Lichtwesen, die in einer Zone zwischen dieser und jener Welt bestanden, so gut wie gar nichts wußten.

"Es ist vollbracht", sprachen Amun und Ra im Chor und schrumpften zusammen, wurden eingesogen in das Amulett des Ariman Khatami, dem Lehrer für Zauberkunst und Verteidigung gegen die dunklen Künste. Das Amulett erlosch. Als Khatami, der die ganze übermächtige Szene wie in einem Traum erlebt hatte, sich wieder bewegte, fiel der Hochgeschwindigkeitszauber von ihm ab. Er fühlte, wie die anstrengung ihn taumeln ließ. Seine Kollegen, die immer noch am Boden lagen, konnten ihm nicht helfen. Doch dann kam Professor Barley, die Kräuterkundelehrerin von Dragonbreath und half ihrem Kollegen auf. Sie fragte ihn, was das war. Sie habe für etwa fünf Sekunden gewaltige Lichtentladungen gesehen, vermeinte sogar, zwei Wesen aus reinem Sonnenlicht aufblitzen gesehen zu haben. Doch Khatami beteuerte, daß sei wohl eine Nebenwirkung der beschleunigten Zaubereien gewesen. Er wollte sich nicht darüber unterhalten, was er erlebt hatte.

"Wo ist dieser Kerl. Ich sah, wie der sich in fünf Sekunden wie Rauch aufgelöst hat", sagte Professor Barley. "Sah richtig gruselig aus, als würde er in unsichtbarem Feuer zu einem Skelett verbrennen und dann ganz in Rauch aufgehen."

"Wir haben zwei Flüche gegeneinander geschickt. Sie müssen beide auf ihn zurückgeprallt sein und seinen Körper verbrannt haben, wie sie sagen, Gladiola. Bitte belassen Sie es dabei, daß wir den Angriff abgeschlagen haben. Ich fühle mich schuldig am Tod dieses Zauberers, auch wenn ich weiß, daß er keine Gnade kannte."

"Wir müssen dem Minister Bericht erstatten", sagte Barley, bevor sie die am Boden liegenden Kollegen begutachtete und nach dem Schulheiler schickte.

Keine Stunde später hielt Minister Cartridge einen Bericht von Professor Stamfootd von der Dragonbreath-Schule für nordamerikanische Hexen und zauberer in seinen Händen. Die beigefügten Zeugenaussagen lasen sich auf den ersten Blick verwirrend. Doch eines las er heraus, daß jemand mächtiges versucht hatte, die Schule anzugreifen und auf einen übermächtigen Gegner getroffen war. Die Habseligkeiten des vernichteten Feindes wurden in die Mysteriumsabteilung überstellt, wo sie untersucht werden sollten. Cartridge bestellte Donata Archstone ein, mit der er vor nun zwei Tagen das schreckliche Erlebnis mit Patricia Stratons zergliedertem Körper, Patch und der schwarzen Spinne geteilt hatte.

"Alcara,hat der Direktor von Dragonbreath behauptet?" Fragte Donata.

"Alcara, Ismael Alcara. Offenbar wollte er Schüler aus Dragonbreath entführen, ist dabei aber mit der Donnervogel-Abwehrglocke aneinandergeraten. Dann kam es zu einem multiplen Duell zwischen dem Angreifer und den Fachlehrern gegen dunkle Künste und Zauberkunst. Irgendwie müssen sich dann zwei wechselwirkende Flüche gegen Alcara gerichtet und ihn sprichwörtlich ausgelöscht haben. Bitte schicken Sie einige Experten für orientalische und animistische Zauberei dort hin und klären sie, wie sich dieser Vorfall genau zutrug und ob es angezeigt ist, Mitglieder des Lehrerkollegiums vor Gericht zu stellen oder nicht!"

"Ich kümmere mich in eigener Person darum", sagte Donata Archstone. Sie verließ den Minister und begab sich in ihr Büro. Dort holte sie tief Luft. Das war nach der Sache mit Patricia Stratons angeblicher Leiche der zweite mörderische Schlag für die Sicherheit des Zaubereiministeriums. Das schlechte Gewissen, daß sie nach dem Vorfall mit dem Dinocustos-Fluch gepackt hatte, meldete sich wieder. Sie hatte Anthelia dabei geholfen, Patricias Tod vorzutäuschen, indem sie Patch mit einem Verwechslungszauber belegt und ihm zwei Originalfingernägel Patricias für den Vielsaft-Trank-Test zugespielt hatte, Sie hatte von Anthelia gehört, daß diese ein Bekennerschreiben ans Ministerium schicken würde. Doch daß sie eine tödliche Falle darin verstecken würde,hatte sie ihr verschwiegen. Somit war sie mittelbar Schuld am Tod von Patch, dem Rekonstruktionsexperten. Andererseits hatte sie ihn gewarnt. Jetzt ruhte er in Patricia Stratons Körperform auf einer Bahre und wurde von ihrem Vater und ihrem Bruder betrauert, die die Geschichte um ihren Tod kannten, wie der Minister sie in die Öffentlichkeit hatte setzen lassen. Wo die echte Patricia Straton nun war wußte sie nicht und würde es wohl auch nicht erfahren, weil Anthelia ihr eröffnet hatte, daß Patricia selbst durch Fidelius-Zauber ihren Aufenthaltsort verbergen würde. Und jetzt war jener syrische Golemkundler vor Dragonbreath aufgetaucht und hatte die beschauliche Sommerakademie erwachsener Hexen und Zauberer in ein vorübergehendes Schlachtfeld verwandelt. Hatte Alcara nicht für Voldemort eine Menge Golems erschaffen? Wie würde dieser den Verlust seines handzahmen Monstermachers hinnehmen? Wo hielt sich dieser Irre überhaupt auf? Diese Fragen überlagerten ihre Gewissensbisse. Sie hatte doch gewußt, worauf sie sich damals bei Lady Daianira und auch bei Anthelia eingelassen hatte. Gerade der Vorfall mit Alcara und die zu erwartenden Folgen rechtfertigten es, daß Hexen wie sie sich um eine neue Weltordnung bemühten. Sie kommandierte fünf Experten für nichthermetische Magie zu sich und reiste mit ihnen per Flohpulver nach Dragonbreath, um dort alle ausstehenden Fragen zu klären. Erst wenn sie alle Antworten hatte, würde sie nach dem Minister Lady Daianira und Anthelia informieren.

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Anthelia und Marga flogen auf Besen die Mosel entlang und näherten sich den der alten Römerstadt Trier vorgelagerten Ortschaften.

"Bist du sicher, das einer der Nachtwurz-Enkel hier lebt, Schwester Marga?" Fragte Anthelia. Sie sprach sehr gut Deutsch, wie Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch und diverse anderen Sprachen, darunter auch die der alten Druiden.

"Es ist der einzige Nachfahre, der von Lokis Bruder Wotan abstammt. Guntram Nachtwurz. Wir gehen davon aus, daß er das Buch über das Zepter des Schlangenfürsten besitzen könnte", sagte Marga, während sie einen weiten Linksbogen flogen, um dem Dorf voraus weiträumig auszuweichen. Anthelia bedauerte es, nicht mit den Harvey-Besen fliegen zu können. Doch wie hätte sich Marga hinter ihr halten können?

Als sie den Platz erreichten, wo Guntrams Haus stehen sollte, trafen sie auf eine Stätte der Vernichtung. Das Haus war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Vor dem Haus lagen die in schrecklichen Qualen zu Tode erstarrten Leichen zweier Kinder und einer Frau. Verkohlte Knochenreste lagen über die Trümmer verstreut. IN der Mitte des nach Qualm und Schwefel stinkenden Schutthaufens lag der verrußte Schädel eines Mannes wie ein Mahnmal des hier hereingebrochenen Grauens.

"Das ist nicht wahr", knurrte Anthelia. "Was ist hier geschehen?"

"Ich fürchte, jemand sehr zerstörungssüchtiges ist uns zuvorgekommen. Die Frage ist, hat der Emporkömmling bekommen was er wollte, oder hat er seine Wut an den Hausbewohnern ausgelassen, weil er nicht fand, was er suchte?"

"Der aufgepflanzte Schädel spricht für diesen total verrückten Waisenknaben", grummelte Anthelia. Sie verwünschte den Umstand, daß sie sich nicht die Rückschaubrille von Donata ausborgen konnte, um zu sehen, was hier geschehen war.

"Wir müssen die anderen Orte aufsuchen. Den wo er so schnell nicht suchen wird zuerst", bestimmte die höchste Schwester. Marga stimmte ihr zu.

"Als Loki sich darauf einließ, als unsere Mitschwester weiterzuleben, wohnte sie, als sie sich Lore Windgras nannte in der Nähe von Köln in einer kleinen Siedlung von Zauberern. Das war, als die Nachtwurzes ihre alte Burg aufgegeben hatten und nichts von Loki alias Lore wußten."

"Dann auf nach Köln!" Trieb Anthelia sie entschlossen an.

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Er war wieder einmal wütend. Zwar fand er mit dem Zauber, welcher ihm anzeigte, auf wessen Blut der Fluch der Burg abgestimmt gewesen war, mehrere Nachfahren der Nachtwurzsippe. Doch niemand stammte in direkter Linie von Loki, dem Familienältesten ab. Zweimal hatten es die von ihm aufgesuchten Zauberer gewagt, sich mit ihm zu duellieren. Er hatte daraufhin die ganzen Familien ausgelöscht und die Häuser in Schutt und Asche gelegt. Zweimal war er dabei knapp den Lichtwächtern entwischt, die ihn jetzt landesweit jagten, diese Narren. Wenn dieser Bursche hier nicht das alte Buch besaß, aus dem er sein Wissen über Sharanagots Zepter vervollständigen wollte, dann würde er den ganzen Bodensee überqueren und umrunden müssen. Das würde selbst für ihn Tage dauern. Er durfte nicht zu lange aus England fortbleiben und sich auch nicht zu lange im Blickfeld des deutschen Zaubereiministeriums herumtreiben. Noch saß er nicht sicher auf dem Trhon der Zaubererwelt. Noch mußte er aus dem Hintergrund arbeiten.

Thore Nachtwurz war ein Hüne mit weizenblonden Haaren. Er wohnte alleine in einem Steinhaus bei Willhelmshafen. Als der Enkel von Lokis jüngstem Bruder die Tür öffnete und mit schreckgeweiteten Augen sah, wer da vor ihm stand, verflog sein überlegenes Grinsen.

"Du bist Thore Nachtwurz?" Fragte Voldemort direkt heraus.

"ja, Herr", stammelte der Zauberer und ließ den dunklen Lord ohne Aufforderung eintreten.

"Schön, daß du mich gleich erkannt hast", sagte Voldemort. "Dein Vetter dritten Grades meinte, ich sei eine lästige Schmeißfliege und hat versucht, mich zu erschlagen. Ist ihm nicht bekommen."

"Was kann ich für Euch tun, Herr?" Fragte Thore, dem die nackte Angst ins Gesicht gemeißelt schien.

"Ich will ein bestimmtes Buch haben, daß irgendwo bei euch Nachtwurzens rumliegen soll. Das Buch über die Geheimnisse der alten Artefakte."

"Dieses Buch besitze ich nicht, Herr. Ich hörte, daß Loki Nachtwurz, mein Großonkel, es besessen hat. Aber es ist mit ihm verschwunden."

"Lüg mich nicht an", knurrte Voldemort bedrohlich. Er starrte Thore mit seinen roten Dämonenaugen an, als wolle er ihn gleich zu Asche verbrennen. Thore hob die Hände zum Zeichen,daß er nichts zu verbergen hatte. Doch Voldemort blickte ihm tief in die Augen und durchdrang die schwache Schutzschicht, die den Geist des Zauberers vor äußerem Zugriff bewahrte. Er sah Thore, wie er von einer alten Frau besucht wurde, deren schon an vielen Stellen ergrauter Haarschopf dem Thores ähnelte. Voldemort sah, wie die Fremde gestikulierte, dann den Zauberstab zog und Thore damit etwas aufhalste, dem Flimmern in diesen Erinnerungen nach zu urteilen war es ein Angriff auf den Geist, wohl der Imperius-Fluch. Unter diesem holte Thore eine eisenbeschlagene Truhe aus einem Geheimraum im Keller, schloß sie mit drei wuchtigen Schlüsseln auf und trat bei Seite, während die Fremde in die Truhe hineingriff und nach kurzer Zeit ein altes, blauschwarzes Buch hervorholte. Thore stand unbeteiligt daneben und sah, wie die Fremde das Buch aufklappte und dann zufrieden nickte. Dann verließ sie das Haus wieder.

"Das war das Buch", dachte Voldemort. "Wer war diese Hexe? Wieso konnte sie das Buch aus deinem Haus mitnehmen?"

"Ich weiß es nicht", erwiderte Thore, der nichts gegen Voldemorts legilimentischen Vorstoß hatte aufbieten können. "Sie stand eines Tages vor meiner Tür, erzählte erst, daß sie von der Strafverfolgungsabteilung wäre und wollte mich wegen meiner Vorfahren interviewen. Im Haus sagte sie dann, sie sei eine nicht schriftlich erwähnte Schwester Loki Nachtwurzes, der in diesem Haus einige alte Bücher versteckt habe, um sie vor den Antigrindelwaldianern zu verstecken. Ich glaubte ihr natürlich nicht und fragte nach ihrem Namen. Sie sagte, der ginge mich nichts an. Ich erwiderte, daß ich nicht glaubte, daß sie eine Großtante von mir sei. Da hat sie mir den Imperius übergezogen. Ich mußte die alte Truhe hervorholen und aufschließen. Kein Zauberer und keine Hexe, welche nicht das alte Blut der Nachtwurz-Familie in den Adern hat, kann ungefährdet in die Truhe hineingreifen. Doch sie konnte es. Sie holte das Buch heraus und nahm es einfach mit."

"Wohin?" Fragte Voldemort.

"Weiß ich doch nicht. Ich habe es nicht gewagt, den Zaubereiminister zu informieren, weil ich nicht wegen des Buches im Gefängnis landen wollte", jammerte Thore Nachtwurz.

"Sieh dich mal an, Thore Nachtwurz. Du bist eine Schande für eine solch ehrbare Familie wie die Nachtwurzes. Du hast dich von einer wildfremden Hexe überrumpeln und beklauen lassen, und heulst fast bittere Tränen, weil du zu schlaff warst, hinter ihr herzujagen und ihr das Buch wieder abzunehmen?"

"Sie war zu mächtig. Der Imperius-Fluch .. ist disappariert. Sie konnte mit dem Buch verschwinden. Es bleibt nur bei echten Nachtwurzes", wimmerte Thore, der wußte, daß jeden Moment sein jähes Ende kommen mochte.

"Loki Nachtwurz hatte keine Schwester. Er hatte nur drei Brüder. Aber wenn sie ein Buch mitnehmen konnte, das nur von Nachtwurz-Nachfahren gelesen werden kann ... muß sie aus dieser Familie stammen. Aber daß du dieser Alten nicht nachgeforscht hast ist schwach, Thore. Mit deinem Namen hättest du mehr Ehrgefühl und Unerbittlichkeit aufbringen müssen. Jetzt muß ich eine alte Frau suchen und der das Buch abnehmen."

"Ich konnte sie nicht finden", sagte der heldenhaft aussehende aber nicht so wirkende Zauberer.

"Ich finde alles und jeden", schnarrte Voldemort. "Avada Kedavra!" Mit den letzten Worten zielte er mit seinem Zauberstab auf Thore Nachtwurz. Vom grünen Todesblitz getroffen klappte der Großneffe Loki Nachtwurzes wie ein Taschenmesser zusammen.

"jetzt ist dein wertloses Leben erfüllt", schnarrte Voldemort. Dann machte er sich daran, daß Haus zu durchsuchen. Er fand die Truhe und auch die Schlüssel. Da er davon ausgehen mußte, daß ein Fluch jeden unbefugten Traf, der in die Truhe griff, öffnete er sie nur und blickte hinein. Doch es lagen nur noch Pergamentrollen darin. Er schloß die Truhe wieder und verschwand. Jetzt würde er nur noch dieses alte Weib suchen müssen, daß das Buch hatte mitgehen lassen.

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"Hier in der Gegend wohnt Lore Windgras' Enkelsohn Donar", flüsterte Marga Eisenhut, als sie fünf Kilometer vom Kölner Dom entfernt apparierten. Anthelia nickte, bevor sie gebot, sich auf mentiloquistischem Weg zu verständigen. Danach versteckten die beiden Hexen ihre Besen in jenem Keller, den Marga als geniales Apparierziel ausgesucht hatte. Das Haus, in dem dieser Keller lag, stand schon seit zwei Jahren leer. Die deutsche Gruppe der entschlossenen Schwestern hatte hier einen Zauber eingerichtet, der das Aufspüren von Apparatoren vereitelte. Anthelia wirkte vor der Nische, in der die Besen lagen noch einen Barrierezauber, der nur sie und ihre treuen Schwestern passieren ließ. Dann verließen die Hexen im Schutze von Desillusionierungszaubern das Haus. Eine vollkommene Unsichtbarkeit wäre zwar besser gewesen. Doch dann hätten sich die beiden Hexen womöglich verloren. Zusammenbleiben hieß die Devise. Denn zum einen wußten sie nicht, ob der Emporkömmling nicht doch herausgefunden hatte, daß Loki Nachtwurz unter anderer Identität einen neuen Familienzweig begründet hatte. Zum anderen war es ratsam, mit Widerstand zu rechnen.

"Wo soll das Haus liegen?" Mentiloquierte Anthelia.

"Zweihundert Meter vom linken Rheinufer entfernt in einem alten Luftschutzbunker", schickte Marga Eisenhut zurück.

"Wie weit ist das von unserem Ankunftsort entfernt?" Fragte Anthelia unhörbar zurück.

"Eine halbe Stunde Fußmarsch. Wir hätten vielleicht bei Dunkelheit herkommen sollen."

"Nein, besser laufen als zu spät eintreffen", gedankensprach Anthelia darauf.

"Der Rhein ist erheblich sauberer als vor zehn Jahren noch", stellte Marga fest, als sie an dem trübe dahinplätschernden, nach einem Gemisch von faulen Eiern und Muggelchemikalien stinkenden Strom eintrafen. Anthelia beäugte die mehr braun als Blau dahinfließende Brühe und fragte Marga, ob sie das im Ernst meinte.

"Der war vor zehn Jahren wesentlich schmutziger", erwiderte Marga.

"Sauber ist anders", schleuderte Anthelia eine wütende Gedankenantwort zurück. "Als ich zu meiner ersten Lebzeit diese heuchlerische Katholikenstadt besuchte, war der mächtige Rhein ein einladender Strom aus klarem Wasser mit vielen Vögeln und Fischen. Oder willst du mir jetzt weißmachen, in dieser Giftbrühe dort schwämmen gesunde Fische?"

"Ob die alle gesund sind weiß ich nicht. Aber einige Fische gibt's wieder", erwiderte Marga, der es nicht gefiel, etwas verteidigen zu müssen, was sie selbst nicht gutfand.

"Wenn wir diese unfähigen Schmutzfinken nicht bald zur Ordnung rufen, werden die die ganze Welt unbewohnbar machen", erwiderte Anthelia dazu noch. Dann schwieg sie, bis sie einen Punkt erreicht hatten, wo dieser sogenannte Luftschutzbunker lag. Die höchste Schwester wußte von Cecil und den muggelstämmigen Mitschwestern, was der zweite Weltkrieg war, daß eine auf Reinrassigkeit fixierte, fremdenfeindliche Bande dieses Land regiert hatte und sein Volk in einen langjährigen Krieg getrieben hatte, an dessen Ende Land und Leute fast wieder von vorne beginnen mußten. Fliegende Kriegsmaschinen hatten Sprengkörper über den Städten abgeworfen und diese zum Großteil in Schutt und Asche gelegt. Wer nicht in unterirdischen Befestigungen unterkam, fand dabei schnell den Tod.

"Da ist die Tür. Sie wurde für Muggelaugen unsichtbar gezaubert", mentiloquierte Marga aufgeregt, als sich aus dem wild wuchernden Gesträuch eine glatte Metallluke herausschälte. Anthelia fühlte, wie ihr Seelenmedaillon sanft vibrierte. Hier wirkte ein Bannzauber. "Vorsicht", warnte sie Marga.

"Was ist, höchste Schwester?" Fragte Marga unhörbar.

"Irgendwas wirkt hier, daß unliebsame Eindringlinge erkennen oder abwehren soll", vermutete Anthelia und holte das Medaillon heraus und hielt es in Richtung Luke. Es ruckte ein wenig und schlug dabei nach vorne aus. "Könnte ein Fluch sein", vermutete sie und zog ihren Zauberstab.

"Welcher Art?" Wollte Marga wissen und zog gleichfalls den Zauberstab. Anthelia lauschte indes mit ihrem besonderen Sinn auf hörbare Gedankenausstrahlungen von unten.

"Da unten ist ein Mann, ein Zauberer, der in einem großen Saal sitzt, in dem er mehrere Bildverpflanzungszauber wie Außenfenster benutzt, um die Umgebung zu beobachten", erwiderte Anthelia. "mein Versuch mit dem Medaillon hat einen Meldezauber ausgelöst. Jetzt sucht er uns."

"Sollen wir uns enttarnen?" Fragte Marga.

"Gut, versuchen wir es erst auf die friedliche Weise", erwiderte Anthelia. Sie hob den Desillusionierungszauber auf. Ihre der Umgebung angepaßte Erscheinung flimmerte und brachte ihre eindeutig sichtbare Gestalt zurück. Auch Marga hob die Anpassungstarnung auf. Da wimmerte es unter ihnen leise.

"Sein Bildverpflanzungszauber hat eine Veränderung der Umgebung festgestellt", sagte Anthelia nun mit körperlicher Stimme. Dann ploppte es, und eine verzerrt klingende Stimme drang wie aus allen Richtungen in ihre Ohren ein:

"Wer sind und was wollen Sie!"

"Oh, er spricht hochdeutsch", stellte Marga leise fest, während Anthelia laut sagte:

"Wir sind vom Zaubereiministerium. Meine Kollegin Marga Eisenhut und ich, Adele Palm, haben Kenntnis, daß jemand Ihnen nach Leben und Besitz trachtet, Herr Windgras."

"Und dann schleichen Sie sich unter Desillu-Zaubern an?" Fragte die verärgert klingende Männerstimme.

"Wir fürchten, daß der britische Schwarzmagier, Sie wissen schon wer, nach bestimmten Artefakten oder Schriften sucht und Kenntnis darüber hat, daß Sie oder Ihre anderen Verwandten die von ihm gesuchten Dinge besitzen", sprach Anthelia weiter, der man die Ausländerin absolut nicht anhörte.

"Sie können den Namen immer noch nicht aussprechen, wie?" Fragte die magisch übermittelte Stimme. "Immer noch so feige?"

"Höflichkeit den Opfern gegenüber", knurrte Anthelia verärgert. "Und jetzt gewähren Sie uns bitte Einlaß. Oder sollen die hiesigen Muggel mitbekommen, daß hier ein Zauberer wohnt?"

"Moment, ich muß die Einladung aussprechen, damit Sie nicht böse abgewiesen werden", knurrte die magisch verpflanzte Männerstimme. Dann erfolgte ein geräusch, als drücke jemand schnell einen Korken in eine Flasche. Anthelia lauschte telepathisch, was der Bewohner der unterirdischen Anlage tat oder sagte und nickte

"Solum Invitatum", flüsterte sie an Margas Adresse. "Die Strafe gegen unliebsame Besucher."

"So'n Antiquierten Zauber benutzt der?" Fragte Marga. Anthelia räusperte sich.

"Offenkundig erweisen sich die alten Tricks immer noch als die wirksamsten", maßregelte sie die deutsche Mitschwester. Dann flimmerte die Luft über der Luke. Das Medaillon, das die ganze Zeit unter Anthelias Kleidung pulsiert hatte, beruhigte sich. Die dunkle Kraft, auf die es reagiert hatte, war entweder verschwunden oder auf einen unwirksamen Wert herabgesunken. Dann rasselte es metallisch. Marga vermeinte, daß zehn kleine aber stabile Riegel geöffnet worden waren. Dann klappte die Luke ohne in den Scharnieren zu quietschen nach rechts oben auf. Eine Treppe aus Granitstufen wies in die schwarze Tiefe. Anthelia deutete dies als die Einladung, das unterirdische Reich von Donar Winddgras zu betreten.

"Sei auf der Hut vor möglichen Spürzaubern!" Warnte Anthelia Marga mentiloquistisch. Dann entzündete sie die Spitze ihres silbergrauen Zauberstabes. Marga folgte ihr in den Bunker. Als die Luke über ihnen wieder zufiel und von Zauberhand verriegelt wurde, fühlte sie sich wie die Maus in der Falle. Anthelia schien dies nicht so zu empfinden oder ging davon aus, dem Bunker wieder entkommen zu können, sollte Windgras befinden, sie hier gefangenzuhalten. Zunächst einmal ging es viele Meter tief unter die Erde. Dann passierten sie eine Metalltür, die sich von selbst öffnete und hinter ihnen schloß. Immer noch waren die entzündeten Zauberstäbe der Hexen die einzige Lichtquelle.

"Auf der Sohle den ersten Abzweig rechts, dann fünfzig Meter zur nächsten Tür, dann wieder rechts, dann die tür am Ende des Ganges", hallte die Stimme, die sie bereits gehört hatten aus allen Wänden.

"Danke!" Rief Anthelia zurück und lauschte mit ihrem Gedankenspürsinn.

"Geräuschverpflanzungszauber in allen Wänden", mentiloquierte die höchste Schwester. "Achtung, hinter der Tür lauert ein Gesinnungsprüfzauber", warnte sie ihre Mitschwester. Diese sah Anthelia verunsichert an. Doch diese nickte ihr zuversichtlich zu, winkte ihr, bis kurz vor die Tür zu kommen und Berührte dann ihre Stirn mit dem Zauberstab, zog im Uhrzeigersinn eine von innen nach außen weisende Spirale mit drei Windungen. Dann deutete sie auf Marga. Diese trat vor. Anthelia berührte mit ihrem leuchtenden Zauberstab die Stirn der Mitschwester und zog dieselbe Spirale. Dabei meinte Marga, etwas warmes würde durch ihre Stirn in den Kopf dringen und dann von innen her wieder hinausfließen.

"Ich kenne noch ältere Tricks die funktionieren", mentiloquierte Anthelia und schritt selbstsicher voran, durch die sich wieder von Zauberhand öffnende Tür. Marga folgte. Hinter der Tür fühlte sie etwas wie ein Tasten mit feinen Fingern, das über ihren Kopf strich und dann verflog. Dann gingen die beiden Hexen weiter, als sei ihnen nichts weiteres begegnet.

Als sie die beschriebene letzte Tür durchschritten hatten, standen sie in einem von Leuchtkristallsphären erhelltem Saal, dessen obere Wandhälften wie breite Fenster aussahen, die in alle Himmelsrichtungen zu weisen schienen. Dort saß ein weizenblonder Zauberer im schillernden blauen Umhang an einem hufeisenförmigen Schreibtisch, umringt von diversen silbernen Gerätschaften, die klickten, klackten, rasselten, schnurrten, wippten und rotierten.

"Guten Tag, die Damen", begrüßte Donar Windgras die beiden Besucherinnen. Dann deutete er auf zwei bequeme stühle mit dem Rücken zur Tür. Anthelia betrachtete die Sitzflächen und meinte:

"Es ist vielleicht besser wenn wir stehenbleiben, Herr Windgras. Ich lege keinen Wert darauf, gefesselt zu werden."

"Öhm, wie kommen Sie denn darauf?" Fragte Donar Windgras scheinheilig.

"Ich bin keine Anfängerin, müssen sie wissen", erwiderte Anthelia, die sich dem Zauberer hier als Adele Palm vorgestellt hatte, eine tatsächlich existierende Ministerialbeamtin, mit der Marga häufiger zu tun hatte. "Ich erkenne einen Catenatus-Fluch, wenn ich einen Stuhl sehe, dessen Sitzfläche an vier Stellen glatter aussieht als sonst. Eine unliebsame Randerscheinung dieses Fangzaubers."

"Wer sind Sie noch mal?" Fragte Windgras. Anthelia wiederholte den falschen Namen.

"Woher haben Sie denn diesen Zauberstab?" Fragte Windgras und deutete auf den silbriggrauen Zauberstab Anthelias. Marga schwante, daß der sie gerade verraten hatte. Anthelia merkte es nicht oder ließ sich nicht anmerken, daß sie das erkannt hatte. Denn sie sagte ganz sicher:

"Ich habe mir vor einem Jahr einen neuen Stab machen lassen, aus Einhornhorn mit Drachenherzfasern. Ich habe nämlich herausgefunden, woher eine andere Hexe so einen Stab bekommen hat und befand, daß ich selbst mit diesem Stab besser zaubern kann als mit einem Holzstab."

"Ach, Sie kennen diese andere Hexe?" Fragte Windgras argwöhnisch.

"Ich kenne den, von dem sie ihren Zauberstab hatte und konnte ihn dazu bewegen, unserer Abteilung ein paar Stück davon zu machen", erwiderte Anthelia immer noch völlig selbstsicher, ja amtlich autoritär klingend. Dann verlangte sie unmißverständlich, daß sie zum Grund des Besuches kamen.

"Woher wollen Sie denn haben, daß Voldemort hinter Sachen von mir her ist, eh?" Fragte Windgras unwirsch.

"Informanten", erwiderte Anthelia darauf nur. "Wer das ist geht Sie nichts an."

"Sie meinen Spione", berichtigte Windgras sie mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. "Ist nicht schon schlimm genug, daß Ihr Ministerium Reisebeschränkungen und höhere Abgaben beschlossen hat? Werden nun alle ausspioniert?"

"Nur solche, die uns einen Grund dazu liefern", erwiderte Anthelia. Marga nickte beipflichtend.

"Und was soll das sein, daß Voldemort bei mir suchen könnte?" Fragte Donar Windgras.

"Das Buch der alten Artefakte, daß von Ihrer Großmutter Lore Windgras besessen wurde", erwiderte Marga kühl und erzielte damit die erwünschte Wirkung. Donar sah sie mit einem kurzen Flackern in den Augen an und zwang sich dann zur äußeren Ruhe. Er sagte:

"Ich kann mich nicht entsinnen, was für ein Buch das sein soll. Meine selige Großmutter hat so ein Buch nie besessen." Anthelia sah ihn durchdringend an. Donar Windgras versuchte sich abzuwenden. Doch es war schon zu spät. Eines seiner Instrumente piepte kurz. Er sprang auf und langte nach seinem Zauberstab.

"Was soll das?" Brüllte er. Da flog ihm der Stab aus der Hand und segelte in Anthelias freie Hand hinüber. Zwei weitere Instrumente klapperten wie zwei hektische Störche. Donars Gesicht wurde fahl. Doch dann fing er sich wieder und rief: "Wußte ich es doch! Sie sind diese falsche Schwester, die meint, Sardonia beerben zu können! Repulso Inimicum!"

"Antiscotergia!" Rief Anthelia, als eine schlagartig zunehmende Kraft sie und Marga ergriff und vom Boden löste. Mit einem grellen Blitz durch den raum verflog diese Kraft. Ein unheilverkündendes Schrillen erscholl. "Contrasonato!" Rief Anthelia gegen das Alarmschrillen an, während Donar auf eine Tür zuhastete, die auf einen Wink in der Wand erschienen war. Da verlor er den Boden unter den Füßen. Anthelias telekinetische Kraft hob ihn hoch und zog ihn unwiderstehlich zurück. zwei Meter vor ihr hielt Anthelia den Bewohner dieses Bunkers in der Luft. Ungesagt belegte sie ihn mit einem Sprechbann, damit er keine weiteren vorbereiteten Zauber aufrufen konnte. Die klappernden Instrumente ratterten nun wie überhastete Nähmaschinen.

"Der ganze Verfolgungswahn, die ganzen Schutz- und Wehrzauber, alles halbe Sachen", knurrte Anthelia. "Du hättest dich auf das Verschließen deines Geistes besinnen sollen, Donar Windgras. Dann hätte ich nicht sofort erkannt, wo deine Spürzauber ruhen und daß du es gewagt hast, mich anzulügen. Natürlich weißt du von diesem Buch und hast es in deinem Besitz. Ich will es haben, bevor der Emporkömmling dich und es findet. Wir sind zumindest noch so gnädig und lassen dich am Leben." Dann drehte sie den Überwältigten herum, daß sie ihn ansehen konnte, um ihn ausführlich zu legilimentieren. Danach verzog sie das Gesicht zu einer wütenden Grimasse.

"Sie war eine Betrügerin, Marga. Als Lore Windgras unseren früheren Mitschwestern Treue und Hilfe gelobt hatte, wollte sie sie nur in Sicherheit wiegen, um die wichtigsten Besitztümer zu behalten. Sie hat das Buch, daß von Lokis ältestem Bruder an dessen Sohn und dessen Enkel weitergegangen ist, von diesem wiedergeholt und ihrem eigenen Enkelsohn in einer kleinen Schatulle überlassen, aus der es nur ein Träger ihres Blutes nehmen kann. Darüber hinaus kann das Buch nicht weiter als fünfzehn Meter von der Schatulle entfernt werden, ohne von einem Rückholzauber dorthin zurückbefördert zu werden."

"Dann soll der uns das Buch holen. Ich lese dir dann die entsprechenden Stellen vor", meinte Marga.

"Das ist wie mit dem Diebstahlschutz. Nur mit freiem Willen kann er das Buch nehmen."

"Nicht gerade einfach", meinte Marga dazu. Da paffte es aus einem blütenkelchförmigen Instrument. Blauer Rauch quoll auf und wehte in den Raum hinein. Anthelia ließ Donar Windgras fallen und sprang zurück, bevor die Schwaden sie erreichen konnten. Da schnellte ein roter Blitz aus einem Ding, das wie eine offene Hand aussah und traf Donar Windgras.

"Defendo Totalum!" Rief er, vom Sprechbann befreit. Dann rannte er auf die Tür zu, während die Luft flimmerte.

"Wir müssen ihm nach!" Rief Anthelia. Doch da brach auch schon eine Hölle von Abwehrzaubern über die beiden Hexen herein. Blitze schlugen aus den Wänden. Ein grollender Ring aus orangeroten Flammen loderte um sie herum auf, und alle Lichter erloschen, auch die Bildverpflanzungszauber an den Wänden. Anthelia fühlte, daß ihre telekinetischen Kräfte im Moment nicht wirkten. Ein umfassender Antifernlenkzauber hatte nach Donars Befreiung den Raum ausgefüllt. Die beiden Hexen umgaben sich mit unsichtbaren Schilden. Doch der Feuerring zog sich immer enger um sie zusammen, während Anthelia mit lauten Beschwörungsformeln die einzelnen Verteidigungszauber abbaute. Marga fühlte schon die sengende Hitze des Feuerrings, als Anthelia ihren Zauberstab auf die Flammenwand richtete und einen Strahl aus dunklem Feuer aus dem Zauberstab herausschießen ließ, der knisternd und knackend in die brennende Barriere hineinfuhr und eine mannshohe Bresche hineinschlug. Ohne auf eine Einladung zu warten sprang Marga hinter Anthelia her durch die klaffende Lücke. Der Feuerring wankte und fiel zusammen. Anthelia suchte im Dunkeln die geheime Tür mit einem Auffindezauber, der jedoch nur gelang, wenn das Zauberstablicht nicht leuchtete. Doch der ganze Raum erstrahlte, als sie den Geheimtürfinder bemühte. Offenbar hatte Windgras den Saal gegen solche netten Tricks abgesichert.

"Sollen wir disapparieren?" Fragte Marga.

"Nur wenn du lebensmüde bist", erwiderte Anthelia. Dann sah sie, wie neues Zauberfeuer aus allen Wänden quoll und sie langsam immer enger einschloß.

"Doch beachtlich", knurrte die höchste Schwester. Dann sah sie nach oben, wo kein Feuer loderte. "Wir gehen durch die Decke", sagte sie und sprang auf Marga zu. "Decinimus!" Rief sie mit von oben nach unten schlagendem Zauberstab. Marga fühlte die mörderische Kraft und sah die Welt um sich herum anschwellen. Dann ergriff sie Anthelias Hand, die so groß geworden war wie Marga selbst, hob sie an und beförderte sie in eine Seitentasche des amtlich wirkenden Umhangs. Dann sprang Anthelia auf den Schreibtisch, der sofort anfing zu ruckeln. Sie streckte sich nach oben und rief:

"Terra lapisque permeabilis pro vivo!" Dann stieß sie sich ab, gerade als der Tisch versuchte, sie abzuwerfen, Sie berührte mit der freien Hand die Decke und stieß durch diese hindurch. Sie zog ihre Beine an und wartete, bis der Schwung abebbte. dann stand sie ein Stockwerk weiter oben, vom Verteidigungsinferno mindestens einen Meter getrennt. Sie holte Marga aus ihrer Umhangtasche und rückvergrößerte sie wieder.

"Wo sind wir?" Fragte Marga.

"Über dem Saal. "Ah, da ist ja unser Gastgeber", knurrte Anthelia und lief los. Zwischendurch jagte sie Breitbandgegenflüche in den Gang vor sich, die krachend auf unsichtbare Hindernisse trafen und mit diesen in bunten Blitzen verpufften. Dann fand Anthelia eine bestimmte Stelle im Boden, wiederholte die Einschrumpfung Margas und vollführte noch einmal den Zauber, der sie durch festes Gestein dringen ließ. Dann noch mal. Ja, und dann stand Anthelia in einem Raum voller Bücherregale, die alle hinter einer flimmernden Wand zu liegen schienen. Windgras hockte vor einer kleinen Goldschatulle und hielt gerade ein in blauschwarzes Leder gebundenes Buch in der Hand.

Anthelia schockte Windgras, bevor der wieder irgendwelche eingelagerten Verteidigungszauber zu Hilfe rufen konnte. "Danke, daß du es für mich herausgeholt hast", knurrte sie und entschrumpfte Marga. Dann holte sie sich das Buch telekinetisch. Marga fragte, warum sie es nicht mit den Händen ergreifen wollte.

"Könnte sein, daß es einen Fluch enthält, der bei Berührung mit lebendem Gewebe wirkt. Im Moment traue ich ihm alles zu." Sie ließ das Buch aufschlagen, las den Inhalt und ließ die Blätter bis zu einer Seite umschlagen, auf der zwei greuliche Geschöpfe abgebildet waren, die wie eine Mischung aus Reptil und Mensch aussahen. Der um die Abbildungen niedergeschriebene Text war in Runen verfaßt. Anthelia las laut vor:

"Laut der von mir in peinlicher Befragung von Dagor, dem letzten Sklaven Skyllians erfahrenen Dingen ruht in einer tiefen Höhle, in einem Wald aus zu Stein erstarrten Bäumen eine Zenturie jener unüberwindlichen Fußtruppe, die von Skyllian, der sich auch Sharanagot heißen ließ, vor Äonen für dessen Herrn und Meister, dem Schattenfürsten von Atlantis, gegen die verfeindeten Magi geführt wurde. Die Truppe ruht im tiefsten Schlaf, darauf hoffend, eines Tages von jenem, der Skyllians den dunklen Kräften der Erden und dem darauf kräuchendem Getier geweihten Stab besitzt und die Sprache der Schlangen beherrscht, zu erneutem Dienst an der Sache der Dunkelheit gerufen zu werden. Nur wer den Stab besitzt und in Mittagsrichtung von der Stadt Brigantium zwanzigtausend Schritte tut kann den Einstieg in die nächtigen Gefilde finden, welcher zum steinernen Walde führet, unter dessen Wurzeln jene Krieger in zauberischem Tiefschlaf harren. Ich selbst suchte den Eingang ohne den Stab. Denn wer diesen besitzt lebt in ständiger Gefahr für die Freiheit seiner Seele. Ich fand zwar einen Quell magischer Kraft, konnte diesen jedoch nicht zum Versiegen bringen oder gar den Einstieg finden. Mögen spätere Generationen erfolgreich sein und das Übel tilgen, bevor es von einem, der närrisch genug ist, es zu wecken, wieder auf die Welt losgelassen wird!"

"Brigantium? Das ist die Bodenseestadt Bregenz", sagte Marga. Anthelia nickte.

"Dann stimmt es doch, daß südlich davon eine alte Magie wirkt, deren Quelle und Wirkung niemand herausfinden konnte", erwiderte Anthelia darauf.

"Können wir dieses Buch zerstören?" Fragte Marga. "Wenn stimmt, was da steht, kommt keiner ohne diesen Schlangenfürstenstab dort hinein."

"Versuchen wir's", erwiderte Anthelia und hob den Zauberstab. "Reducto!" Rief sie. Der Sprengfluch prallte gegen das Buch und schwirrte wie davon gespiegelt knapp an anthelia und Marga vorbei gegen ein Bücherregal, wo er knisternd in der flimmernden Barriere vor den Büchern verpuffte. "Incendio!" Rief anthelia. Tatsächlich loderten Flammen aus dem Buch auf. Doch dann krachte es, und das Feuer erlosch. Das Buch blieb unversehrt. Mit lautem Plopp wechselte das Buch in die immer noch offene Schatulle über, die sich klingend schloß.

"Vermaledeit", knurrte Anthelia. Marga dachte, daß dies im wahrsten Sinne des Wortes stimmte.

"Verfasser und Berger haben treffliche Schutzzauber gewirkt, muß ich schon sagen", sagte Anthelia.

"Nur Windgras kann es aus der Schatulle holen", sagte Marga. "Ist sie frei beweglich?"

"Nein, ist sie nicht. Ein Diebstahlschutz wirkt auch noch lange nach dem Tod des Besitzers", erwiderte Anthelia, die zu gerne diese Schatulle mitgenommen hätte.

"Dann kann er das Buch jederzeit wieder herausholen", wandte Marga Eisenhut ein.

"Dann müssen wir dafür sorgen, daß es keiner mehr herausholen kann", knurrte Anthelia, zielte auf den betäubten Donar Windgras und rief den tödlichen Fluch aus. Der Körper Donars zuckte nur noch einmal. Dann blieb er reglos liegen.

"Mußte das jetzt wirklich sein, höchste Schwester?" Fragte Marga.

"Ja, mußte es", erwiderte Anthelia unmißverständlich. Dann deutete sie auf die Wand, ließ sich mit dem Richtungsweisezauber zeigen, wohin sie mußten, wenn sie den Ausgang aus dem Bunker suchten und erwähnte, daß sie Marga erneut einschrumpfen müsse, um den Gesteinsdurchdringungszauber wirken zu können, um sie beide immer wieder durch feste Wände passieren zu lassen. Marga nickte und ließ es geschehen.

"Vorsicht, der Fluch ist wohl wieder in Kraft", mentiloquierte Marga. Dann erst stellte sie fest, daß sie nicht zur Treppe zurückgekehrt waren, die zu der Luke führte, sondern wieder über dem Zentralsaal standen.

"Wir nehmen den Notausgang. Als ich unseren seligen Gastgeber legilimentiert habe, erfuhr ich, wo der Ausgang ist. Die getarnte Tür, die er öffnete, führt unter anderem zu einem senkrechten Schacht, der nur von unten nach oben passierbar ist und oben einen schmalen Lüftungsausgang hat. Wir gehen in Nebelform. Kannst du das?"

"Da war ich nie so gut drin", knurrte Marga. Dann meinte Anthelia, daß es auch ginge, wenn sie eingeschrumpft auf anthelias Rücken sitzen würde, wenn diese ihre Tiergestalt annahm. So flog die höchste Spinnenschwester als Krähe mit Marga Eisenhut auf dem Rücken durch den engen Schacht und konnte sich gerade so mit ihr durch einen schmalen Auslaß quetschen, der keine siebzig Meter vom Rheinufer entfernt war.

"Bei Hochwasser wäre das lustig geworden", meinte Marga, als sie beide wieder ihre gewohnte Gestalt hatten.

"Da wäre wohl ein Rohr aus dem Boden gewachsen, das immer einen Meter höher als der Wasserstand herausgeragt hätte. Er wollte sich nicht darauf verlassen, daß sein Fluch wider unliebsame Besucher und die Verriegelung der Falltür ausreiche. Hätte er uns nicht eingelassen hätte ich diese Hindernisse wohl auch ausräumen können. Nun, Jetzt wird der Waisenknabe es wesentlich schwerer haben, an das Buch zu gelangen."

"Ist das nicht unmöglich geworden?" Fragte Marga.

"Mit der richtigen Willenskraft und Kenntnis ist in unserer Welt nichts unmöglich, Schwester Marga. Doch wir haben nun Zeit gewonnen und können den Eingang suchen und vielleicht auch ohne den Stab dieses Sharanagot aufbrechen."

"Und dann?" Fragte Marga skeptisch.

"Werden wir mit Verstärkung wiederkommen und die Zenturie der schlafenden Krieger ungeweckt herausholen, wegtragen und über der tiefsten Stelle der Weltmeere abwerfen, auf daß sie für alle Zeiten im unerreichbar tiefen Ozean verbleiben, ja vielleicht sogar den überfälligen Tod finden."

"Ja, und was, wenn diese Krieger in dem Moment erwachen, wenn jemand sich an ihnen zu schaffen macht? Wir wissen doch nichts über ihre Kräfte."

"Dann könnte sie doch jeder aufwecken, der diesen Herrscherstab nicht besitzt, Schwester Marga. Nein, sie werden wohl erst wach, wenn der Träger des Stabes sie aufsucht, womöglich bestimmte Worte spricht oder sie mit dem Stab berührt."

"Das gilt ja dann auch für den Eingang", erinnerte Marga sie daran, was sie selbst vorgelesen hatte. Anthelia mußte nicken. Doch jetzt einfach davon auszugehen, daß Voldemort die letzte nötige Information nicht bekam, wäre unklug. So liefen sie zur Stadt zurück, um ihre Besen zu holen.

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Voldemorts Suche verlief sehr mühevoll. Zwar fand er drei weitere Nachtwurz-angehörige. Doch was er suchte fand er nicht. Keinr konnte ihm etwas über die alte Frau erzählen, die Thore Nachtwurz beraubt hatte. So kehrte er am späten Abend zur letzten Adresse von Loki Nachtwurz zurück und suchte nach Zeugen, die ihn noch gesehen hatten. Dabei lieferte er sich mehrere Duelle mit aufgetauchten Lichtwächtern und hinterließ sieben weitere Tote, bis er einen uralten Lichtwächter erwischte, der damals schon gegen Grindelwald gekämpft hatte. Dieser beging den Fehler, Voldemort auf die Nase zu binden, daß er bereits gegen Loki Nachtwurz gekämpft hatte. Das veranlaßte den dunklen Lord, den alten zauberer, nachdem er diesen im Duell niedergeworfen hatte, einem langen und sehr schmerzhaftem Verhör zu unterziehen, bis er erfuhr, daß Loki nach Grindelwalds Sturz von einer Hexe aufgesucht worden war, die Loki mitgenommen hatte. Er erfuhr sogar den Namen dieser Hexe und das diese im Schwarzwald lebte. Dann erst beendete er das Verhör und ermordete den besiegten Gegner.

Als er dann eine Stunde später aus einem brennenden Haus kam rief er erheitert:

"Dieser Waschlappen hat sich dem Contrarigenus-Fluch ausgeliefert, nur um diesen Luschen von Lichtwächtern zu entkommen und mehrere Bälger selbst ausgebrütet. Wie abartig warst du, Loki Nachtwurz?!" Dann machte er, daß er wegkam.

Am nächsten Morgen, dem zwanzigsten Juli, suchte der Herr der Todesser jemanden auf, den er vor zwanzig Jahren schon einmal als Kundschafter in Deutschland eingespannt hatte, weil er damals nach Leuten suchte, die dieses Land für ihn verwalten konnten, wenn er in England keinen Feind mehr zu fürchten hatte und seine Macht bedenkenlos ausdehnen konnte. Bisher war dies jedoch nicht möglich gewesen. Er fragte seinen heimlichen Gefolgsmann nach einer gewissen Lore Windgras aus und bekam keine halbe Stunde später die Adressen der direkten Nachfahren von ihr.

Zwei Stunden später stand er vor einem verwilderten Busch und blickte konzentriert auf den Boden, bis er eine völlig rostfreie Stahlluke sah. Er trat vorsichtig vor und fühlte etwas wie einen sanften Wind. Schnell sprang er zurück. Es zischte unheilvoll vor ihm. Doch mehr passierte nicht.

Voldemort prüfte nach, um was für einen Zauber es sich handeln mochte. Nach fünf Minuten hatte er den Fluch bestimmt. Eine Minute danach hatte er die magische Absperrung zerstört. Er brauchte fünf Reducto-Flüche, um die Luke zu sprengen und hastete die Treppe hinunter. Er war auf weitere Gegenwehr gefaßt. Als er durch ein Labyrinth irrte, das aus hunderten von Türen zu bestehen schien, schnaubte er. Dieser Donar Windgras hatte sämtliche Türen mit Unzerbrechlichkeitszaubern verstärkt. Doch wo steckte er. Voldemort suchte ihn mit Aufspürzaubern. Doch diese blieben wirkungslos. Dann löste er unbedacht mehrere Abwehrzauber aus, denen er nur durch seine starken Zauberkräfte und seiner großen Geschicklichkeit entkam. Schließlich stand er in einer Halle, wo Leuchtkristallsphären an der Decke hingen und ein hufeisenförmiger Schreibtisch mit lauter magicomechanischem Krimskrams darauf aufgebaut war. Zwischen dem ganzen Silberkrempel fiel ihm ein angerußt wirkendes Ding auf, das wie eine geöffnete Hand aussah und mit den kohlschwarzen Fingern leicht nach unten in eine bestimmte Richtung deutete.

"Die helfende Hand", knurrte Voldemort, als er das Instrument erkannte. Es war ein seltenes Gerät, das auf einen bestimmten Zauberer eingerichtet werden konnte, um diesem beizustehen, wenn er in Gefahr geriet. Doch eigentlich war dieses Ding doch silbern, erinnerte sich Voldemort. Dann fiel es ihm ein, daß diese Hand schwarz anlief, sobald ihr Besitzer starb. Sollte das heißen, daß Lokis oder Lores letzter Enkel tot war? Das durfte nicht sein! Nur ein Träger von Nachtwurzes Blut konnte an die geheimen Bücher oder Dinge rühren. Das hatte ihm doch Lores ältester Sohn gerade erst noch erklärt. Doch jetzt war er hier. Er hatte alle Flüche aufgehoben, die eingewirkt waren. Dann konnte er sich auch umsehen, ob er nicht doch das bestimmte Buch finden konnte. Er sah sich die verrußte Hand auf dem Tisch an und beschloß, dem sprichwörtlichen Fingerzeig nachzugehen. Nach einigem Suchen mit einem Lotungszauber fand er einen Durchgang, den er sich freisprengte. Er eilte nach unten und behielt so gut es ging die Richtung bei, die die Finger der helfenden Hand angezeigt hatten, Nicht zu weit unten würde er fündig, wußte Voldemort. Er marschierte weiter. Eine Tür wollte sich nicht mal eben wegsprengen lassen. Er hielt andauernd mit dem Sprengfluch auf sie drauf. Doch sie wollte sich nicht öffnen. Dann hörte er um sich ein leises Knistern, das von oben her an ihm vorbeiwanderte und erstarb. Er hatte sich vor Zeiten mit einem Zauber der vollkommenen Unortbarkeit belegt, der alle Aufspürzauber um ihn herumlenkte. Womöglich hatte dort oben jemand den Homenum-revelio-Zauber ausgeführt. Wer war das wohl? Hatte jemand die Spur gefunden, die er hinterlassen hatte? Er blieb ruhig. Wenn die hier unten keinen lebenden Menschen fanden, wer immer die waren, würden sie vielleicht wieder abrücken. Er nutzte die Zeit, um sich noch einmal mit der Tür zu befassen, als er von weiter oben laute Geräusche hörte. Jemand ging nun völlig rücksichtslos gegen Türen oder andere Hindernisse vor. Er lauschte auf Stimmen und vermutete, daß dort oben mindestens vier oder fünf andere Leute waren. Da er eindeutig Männerstimmen hören konnte, waren es wohl Ministeriumszauberer. Diese Lichtwächter waren ihm also schon wieder zu nahe gekommen. Jetzt, wo er auf dem Weg war, sich das letzte Stück des Mosaiks zu beschaffen, mit dem er die schlafenden Krieger aufwecken konnte ...

Krawumm! Eine Menge Gestein stürzte irgendwo weiter oben in sich zusammen. Offenbar hielten es die lästigen Widersacher nicht mehr für nötig, den Bunker ganz zu lassen. Da fiel Voldemort ein, daß es nicht nur Zauber für lebende Menschen gab, sondern auch den Monstrato-Mortuum-zauber, der tote Körper orten konnte. Wenn die da oben diesen zauber so konturiert wirken konnten, daß sie den Körper sogar identifizieren konnten ... Rums! Noch mehr hartes Gestein krachte nach einer lauten Explosion zusammen. Und immer noch stand Voldemort vor einer widerspenstigen Tür, hinter der er zu finden hoffte, was er suchte. Jetzt hörte er die Verfolger lauter und verstand sie sogar.

"Wir müssen schneller runter. Wenn dieser Wahnsinnige noch hier ist ... Installiert die Sperren!" Kommandierte einer.

"Rabenaas", knurrte Voldemort auf Deutsch. Er fand es manchmal eindrucksvoller, das R anders zu rollen als im englischen. Dann fiel ihm ein, wie er Pumphuts magischer Steinkugel entronnen war. Er holte den Stab des Schlangenfürsten hervor und parselte:

"Ich will deine Armee suchen. Doch ich muß dazu ein bestimmtes Buch aus einem Verlies holen, in das ich mit einfacheren Zaubern nicht reinkomme. Hilf mir!"

"Sssso sssei esss!" Zischte die Schlangenstimme in seinem Kopf. Der Stab begann zu vibrieren. Voldemort berührte die Tür damit. Würde sie, obwohl aus Metall, dem mächtigen Zauber des Stabes unterliegen, wo Metall doch eigentlich auch aus der Erde stammte? Doch die Tür rührte sich nicht. Dafür rollte sich die Schlange von dem Stab ab und bog sich der Wand links von Voldemort zu. Der dunkle Lord lief dort hin. Der Schlangenkopf traf die Wand und verschwand darin. Das Vibrieren des Stabes pflanzte sich darauf in Voldemorts Körper fort. Er lief los und durchquerte die massive Wand wie eine Nebelwolke. Dann folgte er der Ausrichtung der immer noch entrollten Schlange und wollte durch eine andere Wand. Doch diese schleuderte Blitze, als der Schlangenkopf sie berührte. Dieser zuckte und peitschte hin und her, bis er wild in eine andere Stelle des Mauerwerks biss und darin eintauchte wie in kristallklares Wasser. Voldemort lief der kerzengerade ausgestreckten Schlange nach und passierte die Wand unangefochten. Er trat zwischen zwei Bücherregalen heraus, über denen ein Flimmern lag, wohl ein Barrierefluch besonderer Art. Dann wickelte sich die Schlange wieder um den Stab. Voldemort sah die Leiche eines weizenblonden Mannes im schillernd blauen Umhang und entdeckte die goldene Schatulle. Wieder krachte es irgendwo. Das war schon nervig nah, fand der dunkle Lord. Er mußte diese Schatulle öffnen und nachsehen, was drin war. Jemand war ihm mit diesem Donar Windgras zuvorgekommen und hatte ihn getötet. Das war bestimmt kein Lichtwächter. Die durften nämlich nicht töten, schon gar keine angeblich so unschuldigen. Er ärgerte sich, daß er nicht schon beim Anblick der angekohlten Hand darauf gekommen war, was dies bedeutete. Die Nachtfraktionärinnen hatten vorhergesehen, daß er, Voldemort, Nachtwurzes verschollenes Buch suchen würde und hatten Donar umgebracht, um zu verhindern, daß dieser ihm, Lord Voldemort, das begehrte Buch übergab. Vielleicht war es auch diese Wiederkehrerin Anthelia. Er verwünschte den Umstand, daß er sie bis heute nicht hatte töten können, ja sogar als er wußte, wie sie hieß keinen wirksamen Fernfluch auf sie legen konnte. Wer schon verflucht war und verfluchte Dinge bei sich trug, noch dazu wenn er wohl außerhalb des eigenen Landes war, war für Fernflüche unerreichbar. Womöglich hatte diese verdammte Wiederkehrerin, die sich frecherweise Barty Crouches Körper angeeignet hatte, nicht einmal gespürt, daß er sie angreifen wollte. Andererseits vermochte auch sie nicht, ihn aus sicherer Entfernung zu verfluchen. Die vielen schwarzmagischen Zauber, die er auf sich angewendet hatte, sowie der Raub einer kleinen Menge von Harry Potters Blut, wehrten Fernflüche gegen ihn sicher ab. Doch jetzt mußte er an die Schatulle. Die war bestimmt stark verflucht. Konnte er es wagen, sie gewaltsam zu öffnen und ihren Inhalt an sich zu reißen?

"Lasss michchch an dasss Gefäßßß rühren!" Schlug ihm Sharanagots Gedankenstimme vor. Voldemort nickte nur und berührte mit dem Zepter des Schlangenfürsten die Schatulle. Zwei Schlangen davon wickelten sich wieder ab, umschlangen die Schatulle und zogen sich wie eine Beute machende Anakondas zusammen. Es knisterte, als zwischen den ausgerollten Schlangen und der Schatulle blaue und rote Funken hin und her zuckten. Dann knirschte es metallisch. Dann krachte es, und die Schatulle war offen. Voldemort sah noch, wie der Schlangenkopf mit weit aufgerissenem Maul in die Schatulle hineinzuckte und das blauschwarze Buch packte, das er im Geist Thore Nachtwurzes gesehen hatte. Dann schnellten die Schlangen zurück und warfen Voldemort das Buch zu, das sich merkwürdig warm anfühlte. Er berührte es an mehreren Stellen mit dem Zauberstab und murmelte mächtige Fluchbrecher. Als er sicher war, zumindest die nächsten fünf Minuten lang nichts zu befürchten, schlug er das Buch auf und las im Inhaltsverzeichnis. Er schlug die bestimmte Seite auf und las, während von oben und von hinten weitere Sprengflüche gewirkt wurden. Sie kreisten ihn ein. Wahrscheinlich meinten sie jetzt, sie hätten ihn. Er las die in Runen geschriebenen Zeilen und mußte laut lachen, weil dort erwähnt wurde, daß verhindert werden möge, daß jemand mit Skyllians Stab den Zugang zu den schlafenden Kriegern öffnete. Die Geräusche von draußen verstummten. Dann erscholl eine magisch verstärkte Stimme:

"Voldemort, Sie sind umstellt! Diesmal gibt es kein Entrinnen. Wir sind fünfzig Mann und zu allem entschlossen!"

"Ich bin auch zu allem entschlossen!" Rief der Dunkle Lord ebenfalls mit magisch verstärkter Stimme zurück. "Wieviele von euch dummen Lichtwächtern wollen heute sterben? Ich habe gestern schon genug aus meinem Weg geputzt."

"Das waren die letzten die Sie ermordet haben", antwortete die Stimme von vorhin. Der dunkle Lord hörte, wie sie sich um den Raum herum in Stellung brachten. Doch er las seelenruhig weiter, wo der Eingang zum steinernen Wald lag und schmunzelte. noch an diesem Tag würde er die alte Armee in seinen Dienst rufen. Da knirschte es in der Decke. Er sah nach oben und bemerkte grünliches Flimmern. Jemand zersetzte das Gestein behutsam, um einen Durchstich zu schaffen. Auch an andren Stellen des Raumes glomm das grüne Flimmerlicht auf, obwohl von den Bücherregalen wütende Funkenwolken fortgeschleudert wurden.

"Du mussst bisss Mitternachchcht warten, um mein Erbe anzzzzutreten", parselte Sharanagots Gedankenstimme. Voldemort fragte die Seele im Zepter, wie er am besten hier herauskäme. Zur Antwort streckte sich die Schlange am Stab nach vorn und berührte den Boden. Voldemort warf sich hinterher und versank wie in einem Schacht, ähnlich wie der Erdtrickser Pumphut. So konnten die nun eindringenden Lichtwächter nur noch Donars Leiche finden, die auf dem unversehrten Steinboden lag. Einen Meter vor ihm lag die zerquetschte Schatulle aus purem Gold.

"Verdammt, er ist uns entwischt", schnarrte Karl Blattgrün, der Leiter der Lichtwache Sektion Rheinland."

"Apparieren Jeht nit", meinte ein anderer Lichtwächter, der in dieser Gegend groß geworden war. "Hamwa doch öns probeht."

"Ich hab sowas wie einen Strudel im Boden gesehen, in dem wer versunken ist", meldete ein anderer Lichtwächter.

"Erdzauber wie bei den Pumphuts. Die können sich einfach im Boden versinken lassen", knurrte Blattgrün. "Dann kann dieser Verbrecher das also auch. Maleficum revelio!" Rief er noch und machte eine alles überstreichende Zauberstabbewegung. Doch der Zauber zeigte nichts.

"Dä hätt doch 'nen Schutz jejen sujet", wandte der Lichtwächter ein, der das mit dem Apparierschutz gesagt hatte.

"Ach was", knurrte Blattgrün. Dann blies er mit magisch verstärkter Stimme zum Rückzug.

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"Der ganze Boden ist magisch durchdrungen", fauchte Anthelia. Jetzt waren sie und Marga schon zwei Stunden lang damit beschäftigt, die genaue Quelle jener Zauberkraft zu finden, die den Eingang zum Reich der schlafenden Krieger verbarg. Ihr Seelenmedaillon hing sehr schwer herunter. Es witterte dunkle Magie. Aber offenbar verteilte die sich auf einen bereich von hundert Metern Durchmesser. Die Hoffnung, durch das Medaillon das Zentrum der Zauberkraft zu finden hatte die höchste Spinnenschwester schon nach dem ersten Durchschreiten der magisch aktiven Zone aufgegeben. "Es ist noch vertrackter als bei Hallittis Höhle", fuhr sie fort. "Die konnte ich mit dem Medaillon genau orten. Hier geht das aus einem mir noch nicht ersichtlichen Grund nicht."

"Dein Medaillon reagiert auf dunkle Quellen?" Forschte Marga noch einmal nach.

"Ja, und zwar zielgenau", erwiderte Anthelia und fügte dem ein verärgertes "bisher zumindest" an.

"Müssen wir denn genau auf dem Punkt stehen, wo der Eingang erscheint?" Fragte Marga.

"Du meinst, wir könnten uns von oben her irgendwie dort hineintasten?" Fragte Anthelia. "Ich fürchte, der Durchdringungszauber versagt hier, und der Eingang ist magisch unortbar. Aber ich gebe noch nicht auf. Ich will noch einige Zauber anwenden, um die Verteilung der Magie zu verringern. Womöglich konzentriert sie sich dann auf die Quelle selbst."

"Vielleicht können wir mit einem Lotungszauber feststellen, wo der Eingang liegt", sagte Marga und hielt ihren Zauberstab mit der Spitze zum Boden gerichtet.

"Versuchen wir es", knurrte Anthelia und folgte Margas Beispiel. Sie schritten langsam und so gerade wie möglich auf dem Weg bleibend dahin, während sie mit einem Zauber, der unterirdische Hohlräume aufspüren konnte, Meter um Meter den Boden abtasteten. Doch der Zauber sagte ihnen jedes Mal, daß unter ihnen mehrere Kilometer massives Gestein lag. Den Vorschlag, mehrere Schwestern zu holen, um die Suche zu beschleunigen verwarf Anthelia, als sie mehr aus Frustration als aus Eingebung einen alten Zauber wirkte, um sich bewegende Magieströme anzuzeigen.

"Vergessen wir die Lotungszauberei", schnaubte sie. "Mit dem Zauber, den ich gerade ausführte habe ich ergründet, daß dieser Boden von mehreren Schichten fließender Zauberkraft durchzogen ist wie ein lebender Organismus von Adern. Die gesuchte Höhle wird wohl wirklich unter uns sein. Doch das geflecht aus pulsierender Magie vereitelt jeden Lotungszauber. Aber ich werde jetzt einmal etwas anderes machen, was meine Tante mir in ihrer alten Truhe hinterlassen hat." Sie dachte an das Denkarium, das sie aus der von Voldemorts Dementoren freundlicherweise aus Millemerveilles getragenen Truhe geholt hatte. Daraus hatte sie einige zusätzliche und sehr nützliche Zauber gelernt, die zwar kraftaufwändig waren aber dafür eine Menge verrieten. Sie stieg auf ihren Besen und flog so hoch wie der Kreis der bisher unbestimmbaren Zauberkraft durchmaß. Sie flog einen Kreis und rief eine Marga unbekannte Formel, worauf aus dem Zauberstab ein silberner Lichtfaden heraustrat, nach unten sank und auf den Boden tippte. Anthelia flog langsam vom Mittelpunkt des Kreises fort bis zum Außenrand. Dann konnte Marga für genau fünf Sekunden ein Gewimmel sich nach außen ringelnder silberner Fäden erkennen, die mal hier und mal da aus dem Boden schossen, sich sogar verzweigten, ineinanderflossen und drei oder vier Ableger zeugten. Dann winkte Anthelia kurz mit dem zauberstab, und alles war wieder wie bisher.

"Ich muß es wohl noch einmal betonen, daß die Erzmagier des alten Reiches unübertroffene Genies waren", schnaubte sie, als sie wieder gelandet war. "Dieser Skyllian oder Sharanagot hat mehrere hundert Herde der Magie in diesen Boden eingewirkt, die ihre Ausrichtung scheinbar wahllos ändern, sich auslöschen und anderswo vermehren. Auf diese Weise ist eine einzelne Quelle der Magie nicht auffindbar, und mein Medaillon kann sich nicht auf einen bestimmten Punkt ausrichten."

"Und wozu ist das gut?" Fragte Marga und bereute es schon, bevor Anthelia sie tadelnd ansah. Doch dann sprach diese mit ruhiger Stimme:

"Das ist doch völlig klar. Diese fluktuierenden Quellen sind mit etwas verbunden, das eine Magie in sich birgt, die ebenfalls wie ein lebendes Wesen erscheint. Sobald dieser Gegenstand in dieses Feld der multiplen und fließenden Kräfte eindringt, kann er die von hier ausgehenden Strömungen beeinflussen und bündeln. Mit anderen Worten, dieser Boden hier ist ein großes Schloß, und das ominöse Zepter des Schlangenfürsten ist der einzig brauchbare Schlüssel. Deshalb werden wir uns jetzt auch nicht der Gefahr aussetzen, irgendwelche Abwehrzauber auszulösen, indem wir versuchen, das magische Netz an einer Stelle zu durchtrennen. Es wäre ja sinnlos, wenn anderswo neue Miniaturquellen entstehen, die die entstandenen Lücken augenblicklich wieder schließen."

"Würde es was bringen, den Boden hier abzutragen?" Fragte Marga.

"Wie tief willst du graben?" Fragte Anthelia. Marga nickte.

"Was machen wir dann? Sollen wir die Sache auf sich beruhen lassen und hoffen, daß der Emporkömmling nicht herausfindet, wo der Eingang liegt oder gar hoffen, daß er dann nicht weiß, wie er ihn zu öffnen hat?"

"Wenn er den Ort herausfindet, dann wird ihm dieses Artefakt schon verraten, wie er den Eingang öffnen kann", schnarrte Anthelia. Sie dachte daran, daß sie selbst auf diese Weise ihr zweites Leben bekommen hatte, weil sie aus dem Seelenmedaillon heraus mit Pandora Straton kommuniziert hatte. Ihr war völlig verständlich, daß dieser Skyllian einen ähnlichen Gegenstand erschaffen hatte. Wenn er wirklich seine Seele dort hineingelegt hatte, würde der Emporkömmling mühelos an die schlafenden Krieger gelangen und sie wecken können. Ihr wurde klar, daß wenn Voldemort doch noch irgendwie an das Buch gelangte, keine Macht der Welt ihn dann noch aufhalten konnte, sobald er hier ankam. Nicht einmal sie wußte, wie sie diesen Eingang hier unpassierbar machen konnte. Denn mit den einmal so trefflich verwendeten Incantivacuum-Kristallen war bei ständig neu aufkommenden Magiequellen auf mehr als fünfzig Metern nichts zu machen.

"Können wir nicht einen Fluch über diesen Ort legen, daß niemand hier länger als fünf Sekunden verweilen kann?" Fragte Marga.

"Ich fürchte, du hast es immer noch nicht begriffen, Schwester", zischte Anthelia. "In diesem Boden wirken hunderte von harmonischen Zauberkraftquellen ineinander. Sie sind wie ein lebender Organismus, der atmet und von Energie durchströmt wird. Ein Fluch käme einer Verletzung oder Vergiftung gleich, die je nach Stärke des Fluches schnell oder weniger schnell abgebaut würde. Wir haben es hier mit dem ersten Weg der Magie zu tun, Schwester. Dem Ausgangsweg, von dem sich die magischen Künste aller Völker entwickelt haben, die Zauberei der Kelten, Chinesen, Inder und Griechen, die Natur der Zauberwesen und Geister, die Magie der Schamanen und Medizinleute der Naturvölker. All das wurde damals wohl gründlichst erforscht und in einem großen Ganzen entwickelt, bis das alte Reich versank und die Träger des alten Wissens sich über die Erde verteilten und nach und nach verschwanden. Wir müssen uns wohl darauf einrichten, daß niemand diesen Zauber hier brechen und die schlafenden Krieger endgültig beseitigen kann, wie ich es vorhatte."

"Wenn wir alle unsre Bundesschwestern herrufen ... ich meine, wir sind doch auch ein magisches Netzwerk", sagte Marga. anthelia schien diesen Vorschlag etwas genauer zu durchdenken. Denn weder tadelte sie die Mitschwester für einen törichten Vorschlag, noch verwarf sie diesen gleich wieder. Eine Minute dauerte es, in der Anthelia alle ihre Kenntnisse durchdachte und überschlug, ob mehrere Dutzend Mitschwestern zugleich das uralte Zauberkraftgeflecht hier zerreißen konnten, daß es sich nicht wieder erholte. Vielleicht blieb die Höhle mit dem steinernen Wald dann für alle Zeiten unerreichbar. Vielleicht erwachten diese schlafenden Krieger genau dann, wenn das Geflecht der hundert Zauberquellen verschwand. Womöglich wurden sie gerade davon im tiefen Überdauerungsschlaf gehalten. Sie wog die Folgen einer Massenbezauberung ab und zog auch in Erwägung, daß jeder erfolgversprechende Versuch auf tödlichen Widerstand treffen mochte. Wollte sie wirklich alle ihre Mitschwestern auf einen Schlag in einer Mission opfern, die vielleicht nicht mehr nötig war, weil sie den Bewahrer des Buches getötet hatte? Darauf konnte sie nur mit einem klaren Nein antworten. Andererseits ahnte sie, daß diese hundert Krieger eine übermächtige Gefahr darstellten, deren Ausmaß weder sie noch sonst jemand abschätzen konnte. Würde Voldemort diese Krieger gleich mit voller Stärke in seine Schlachten werfen? Würde er sie strategisch verteilen? Ja, und was wäre, wenn diese hundert Krieger sich auf irgendeine Art fortpflanzen konnten? Einfach sagen, daß sie diesen Ort sich selbst überlassen wollte konnte sie nicht. Ihre gesamten Mitschwestern darauf anzusetzen, diesen Ort unbrauchbar zu machen war ein zu hohes Risiko, wenn es nicht mehr nötig war.

"Es ist bedauerlich, daß in diesem Buch nicht mehr über dieses Zepter und seinen Hersteller verzeichnet war", sagte Anthelia nach dieser Bedenkminute. "Sicherlich könnten wir jetzt mit allen Schwestern gegen die vielen Zauber hier ankämpfen und hoffen, daß keine von uns dabei zu Schaden kommt. Doch wir sind nicht annähernd genug, um alle Quellen hier restlos auszulöschen. Außerdem könnte das den Überdauerungszauber von den Kriegern lösen, die dort unten schlummern. Ich ärgere mich, daß ich dieses Buch nicht mitnehmen konnte."

"So frage ich dich jetzt, was wir machen können, höchste Schwester?"

"Das einzige, was wir tun können ist diesen Ort zu bewachen oder jemanden davon zu überzeugen, daß er bewacht werden muß", schnaubte Anthelia.

"Dann spielen wir den Lichtwachen die Information zu, daß hier irgendwelche alten Krieger ruhen?" Fragte Marga.

"Daß hier eine alte Zauberkraft wirkt wissen die ja schon. Aber sie können sie nicht durchdringen und beherrschen. Was meinst denn du, warum sie hier keinen Wächter postiert haben. Das wäre ja so, als wenn jemand dafür abgestellt würde, jeden Tag einen bestimmten Stern am Himmel anzustarren, ob Wolken davor sind oder nicht."

"Entschuldige bitte, falls ich jetzt was ganz vermessenes frage, höchste Schwester!" Setzte Marga an. "Aber eigentlich geht es doch darum, diesen Emporkömmling davon abzuhalten, diese Krieger zu wecken, falls er dieses Zepter wirklich gestohlen hat. Wie wäre es, ihn zu jagen und zu vernichten?"

"Vermessen ist die Frage nicht, weil ich selbst ja zuerst daran gedacht habe, sicherzustellen, diesen Waisenknaben zu stellen und aus der Welt zu tilgen. Doch zum einen würde es nicht gelingen, ihn zu töten, jetzt, nachdem ich über einige Dinge mehr Klarheit habe als zuvor. Zum zweiten hat er die Kunst erlernt, sich unauffindbar zu halten, ähnlich wie meine Tante und ich. Wenn er sich all zu sehr verfolgt fühlt wird er sich in ein geheimes Versteck zurückziehen und auf für ihn bessere Zeiten warten. Sein Schrecken wirkt jetzt schon stark genug, daß seine Speichellecker auch ohne sein persönliches Eingreifen weitermachen können, solange kein eindeutiger und von mehreren Zeugen beobachteter Sieg über ihn zu vermelden ist."

"Man kann ihn wirklich nicht töten? Woher weißt du das?"

"Weil ich es mitbekommen habe, das ein Todesfluch von ihm abgelenkt wird, und weil ich erfahren habe, daß er es angestellt hat, daß er auch nach dem verlust seines Körpers nicht sterben kann. Er würde wie ein vielköpfiger Dämon immer und immer wieder neu auferstehen, bis jemand herausfindet, was ihn in dieser Welt hält", erwiderte Anthelia. Sie wußte mittlerweile, daß ihr ärgster Widersacher im Kampf um eine neue Weltordnung etwas ähnliches getan hatte was Dairon mit dem Seelenmedaillon vollbracht hatte, und was ihr, Anthelia, Halt in dieser Welt gegeben hatte. Sie ließ ihre Worte wirken und sagte dann:

"Am besten bewachen wir diesen Ort einen Monat lang. Tut sich in dieser Zeit nichts, haben wir wohl alle noch einmal Glück gehabt. Falls sich doch etwas tut, dann müssen wir uns auf die Situation einstellen, die wir dann haben."

"Können wir nicht diese Insektenwesen als Wächter einsetzen?" Fragte Marga. Anthelia sah sie erst perplex und dann strahlend an. Warum war sie nicht sofort darauf gekommen?

"Kann ich in der Nähe dieses Ortes einen starken Zauber wirken, ohne gleich hunderte von deutschen oder österreichischen Ministerialzauberern am Hals zu haben?" Fragte die höchste Schwester.

"Wie wäre es mit hier?" Fragte Marga. Anthelia prüfte, ob sie einen Ortsversetzungszauber aufrufen konnte, indem sie eine mitgeführte Wasserflasche apportieren wollte. Diese verschwand und tauchte nicht dort auf, wo Anthelia sie haben wollte, sondern zerbarst hundert Meter über dem Boden. Schnell flogen die beiden Hexen auf ihren Besen aus dem Weg der herabregnenden Scherben, die kaum auf dem Boden gelandet verglühten.

"Direkt herholen kann ich sie nicht. Wie nahe können wir an diesen Ort heran?"

"Wohl einen Kilometer", erwiderte Marga. Anthelia überlegte, ob das Risiko, bei der Errichtung eines Ankunftskreises für eine Massenteleportation die Sache wert war. Was nütztte es ihr, ihre Entomanthropen herüberzuholen, wenn diese sofort von übereifrigen Zaubereibeamten angegriffen würden?

"Wie viele von ihnen möchtest du denn herbringen?" Fragte Marga.

"Ich denke, zehn sind für eine Wache ausreichend. Soweit ich es nachvollzogen habe, muß der Waisenknabe in einen unterirdischen Wald aus versteinerten Bäumen eindringen. Wenn der Eingang bewacht wird kommt er dort nicht hin. Warte hier eine Stunde! Ich hole zehn meiner Helfer her", erwiderte Anthelia. Dann flog sie davon. Marga wartete.

Anthelia flog zwei Kilometer weit. Dann disapparierte sie in Richtung Pyrenäen.

Sie befahl mit einem großen Bernstein, in dem ein fast vollständig erhaltenes Urinsekt eingeschlossen war, daß zehn der mittlerweile wieder achtzig Entomantrhopen ihr folgen sollten. Dann vollführte sie jenen Zauber, mit dem sie in Rußland schon fünfzig ihrer geflügelten Helfer in die Nähe von Bokanowskis Burg verlegt hatte. Als sie den ausgangspunkt des Versetzungszaubers bereitgemacht hatte, wechselte sie per Apparieren zu einem Ort knapp einen Kilometer vor jenem magischen Feld über, das den Eingang zu den alten Kriegern bildete. Dort vollendete sie den großen Versetzungszauber. Dann befahl sie über die große Entfernung, daß zehn Diener in den Ausgangsbereich eintraten. Sie fühlte, wie die Anstrengung sie sehr erschöpfte. Doch als die zehn herbeigerufenen Insektenwesen eintrafen, fühlte sie sich gleich wesentlich besser.

"Folgt mir!" Befahl sie. Die zehn Wesen, die wie gigantische Bienen mit Menschenköpfen aussahen, flogen ihr laut brummend nach. Anthelia war jetzt zuversichtlich, den Ort gründlich vor unerwünschten Eindringlingen bewachen zu können. Doch als die Insektenwesen auf Marga zuflogen, die in der Mitte des von fließenden Zauberkräften erfüllten Bereiches stand, geschah etwas, das sie sichtlich erschütterte. Die zehn brummenden Ungetüme drangen in die Zauberkraftzone ein und setzten zur Landung an, als ohne Vorwarnung ein Gewitter aus grünen, blauen, gelben, roten und violetten Blitzen um sie herum aufzuckte, und die sichtlich gepeinigten Kreaturen erst wild herumgewirbelt wurden, bis sie von innen her rot aufglühten und dann, als sie gerade einen entsetzlichen Schrei ausstießen, innerhalb einer Sekunde jedes Geschöpf für sich in einem grellblauen Feuerball ihr widernatürliches Leben aushauchten. Feine, weißgraue Asche, regnete sachte aus fünfzig Metern auf den Boden herab.

"Das ist nicht zu fassen", seufzte Anthelia, als ihre kleine Wachmannschaft in nicht einmal drei Sekunden restlos vernichtet war. "Sie sind einfach verglüht."

"Wie kommt sowas?" Fragte Marga erschüttert. Anthelia sah sie wütend an, so daß Marga sich duckte. Doch dann beruhigte sie sich, atmete mehrmals tief ein und aus und sagte dann mit belegter Stimme:

"Ich muß davon ausgehen, daß dieser Skyllian noch andere magische Mischwesen kannte und diesen Ort so bezaubert hat, daß solche Wesen unmittelbar bei ihrem Eintreffen vernichtet werden. Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Somit können wir diesen Ort nicht bewachen."

"Wenn wir die Insektenwesen um die Zone herum postieren?" Fragte Marga sehr behutsam.

"Würde es nicht helfen, wenn ein reinrassiges Wesen schnell genug in die Zone hineinfliegt oder mit Hilfe des Stabes die hier wirkende Magie auf sich zieht, um lästige Gegner abzuwehren. Ich kenne solche Zauber, die einem Beschwörer helfen, die schützende Kraft oder einen Fluch eines Gegenstandes vorübergehend in sich selbst zu bündeln. Die einzige Chance wäre, wenn wir wesen fänden, die jede von außen auf sie eindringende Magie uneingeschränkt entkräften können."

"Wie die Wertiger?" Fragte Marga. Anthelia fühlte unvermittelt, wie ihre Enttäuschung in große Hoffnung umschlug. Sie strahlte Marga an und umarmte sie.

"Natürlich, die Wertiger", sagte sie euphorisch und umarmte ihre Mitschwester. "Wenn sie ihre Tiergestalt annehmen, so die viel zu früh von uns verschiedene Schwester Pandora, schluckt ihr Leib alle von außen kommenden Zauberkräfte, egal welche. Wenn sie dann noch mehr als ein Exemplar an einem Ort sind bilden sie eine starke Aura der Antimagie, in der kein Zauber mehr aufgerufen werden kann. Komm! Wir reisen nach Indien und suchen sie!" Marga nickte erleichtert und erfreut. Dann stieg sie auf ihren Besen und flog Anthelia nach.

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Es war wie ein Ruck, der durch die wie Statuen dastehenden Golems gegangen war. Ihr Herr und Meister war nicht mehr da. Die Verbindung zu ihm war unvermittelt abgerissen. Das hieß, er konnte ihnen keine Befehle mehr geben. Somit galt der Befehl, den sie als letzten auszuführen hatten, wenn ihr Meister nicht mehr lebte: Rache für den Meister! Rache an seinem ungeliebten Herrn! Sie schwärmten in alle Richtungen aus, um ihn zu suchen. Alcara hatte ihn ihnen immer wieder gezeigt. Sie kannten seine Präsenz in allen Ausprägungen. Alles was sie auf ihrem Weg abhalten würde, würden sie niedermachen, auch seine Diener.

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Bellatrix Lestrange begrüßte ihren Schwager Lucius mit einem Ausdruck tiefster Verachtung, als dieser mit einem mulmigen Gefühl sein Landhaus betrat. Draco, ihr Neffe, freute sich sichtlich, seinen Vater wiederzusehen. Doch zunächst schwiegen sie einander an. Dann meinte Bellatrix:

"Dir ist klar, Lucius, daß du wie Potter von geborgter Zeit lebst. Ein Fehler, und dein Sohn stirbt. Noch ein Fehler, und du leidest unsägliche Qualen."

"Das ist mein Haus, Bella. Wenn der dunkle Lord befindet, ich hätte versagt, dann ist das seine und meine Sache, nicht deine", begehrte Lucius halbherzig auf. Seine Schwägerin grinste nur, während seine Frau bitter zu ihrer Schwester hinüberblickte. Dann fühlten Bellatrix und Narzissa ihre dunklen Male prickeln. Es war nicht der Ruf des dunklen Lords. Es war ein Hilferuf eines anderen Todessers. Lucius fühlte nun auch dieses Prickeln.

"Wer ist es und wo?" Fragte er.

"Sabers", knurrte Bellatrix. Ich sehe es mir an." Sie verließ das Haus und hoffte, nicht in eine Falle Anthelias reinzurennen, als sie außerhalb der Grundstücksgrenzen der Malfoys disapparierte. Doch es war nicht Anthelia, die ihr die bisher schlimmste Schmach und Qual ihres Lebens bereitet hatte. Sabers kämpfte gegen zwei Golems. Golems? Das durfte nicht sein! Die Golems von Alcara waren zu unbedingtem Gehorsam den Todessern gegenüber angehalten. Gerade schaffte es Sabers, einen Golem in Brand zu stecken. Doch der zweite packte ihn mit mörderischem Griff und schüttelte ihn so kräftig am Hals, daß sein Genick brach.

"Was soll das?!" Kreischte Bellatrix. "Ihr habt uns zu gehorchen!"

"Der Meister ist nicht mehr. Tod seinen Peinigern und Mördern!" Rief der noch stehende Golem. der erste Steinkoloß warf sich derweil brennend auf dem Boden herum. Bellatrix sprang schnell zur Seite, als der aktionsfähige Golem sie zu packen versuchte. Sie wendete den Vernichtungszauber an, den sie vom dunklen Lord gelernt hatte. Da tauchte ein dritter Golem auf. Sein Kamerad hauchte gerade in einer silbernen Lichtentladung sein Leben aus. Bellatrix wollte schon ansetzen, den Neuankömmling anzugreifen, als dieser bereits zum Sprung auf sie ansetzte. So warf sie sich in die Disapparition.

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Es war ein erhebendes Gefühl, fand Voldemort. Fast so wie das fliegen ohne Besen. Er raste mit der im Erdreich und Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit dahin wie auf einer unterirdischen Achterbahn. So ähnlich konnten sich auch die Kobolde fortbewegen. Er fühlte keinen Luftmangel, mußte nicht atmen. Der Schlangenstab in seiner linken Hand leuchtete hellgelb wie eine Fackel und beleuchtete die um ihn dahinfegenden Gesteinsmassen. Ab und zu konnte er blinkendes Erz sehen. Dann sah er Einschlüsse von Kohle, verschiedenes Vulkangestein, Risse, durch die glitzerndes Grundwasser nach oben stieg. Er hatte dem Zepter die Anweisung gegeben, ihn mindestens zweihundert Kilometer von Köln fortzubringen. Mehrere hundert Meter unter der Erde brauste er dahin, bis er nach oben zurückkehrte und fast im hohen Bogen aus festem Erdreich herausschnellte. Doch dann stand er sicher. Der Schlangenstab erlosch.

"Das ist ein schönes Spielzeug", dachte Voldemort.

"Ich bin das Instrument der großen Macht Skyllians und seines schlafenden Meisters, und diene nur dem, der dient", erwiderte die parselnde Gedankenstimme. Diesmal zischte sie nicht so extrem wie in Windgras' Bunker. Woran lag es?

"Du hast den Ort gefunden. Begebe dich dort hin, wenn die Mitternachtsstunde naht! Dann werde ich dir den Eingang und den Weg weisen."

So wartete Voldemort bis zum späten Einbruch der Dunkelheit. Gegen elf Uhr abends apparierte er am Ufer des Bodensees. Dann befragte er den Schlangenstab erneut und erfuhr, daß er nun nach südwesten mußte. Er tauchte zwei Kilometer südöstlich der Bregenzer Stadtgrenze auf und wartete noch etwas. Dann überwand er zwanzig Kilometer im freien Fluge, immer angeleitet von der inneren Stimme aus dem Schlangenzepter. Dann fühlte er eine seltene Euphorie. Er spürte einen unglaublich bestärkenden Ansturm kongenialer Kräfte, die in dem Schlangenstab wie von einer Linse gebündelt und auf ihn übertragen wurden. Dann sah er es unter sich, das weite offene Feld, von hohen Bergen eingerahmt. Hier war der ersehnte Eingang. Doch noch fehlten fünfzehn Minuten bis zur Mitternacht. Voldemort grinste dämonisch, wenn er daran dachte, daß die Muggel diese Stunde als Geisterstunde bezeichneten. In dieser Nacht würde sich das auch bewahrheiten, wenn es auch nicht Geister waren, die er, der Zaubermeister, mit dem Zepter des Sharanagot, aus einem sehr langen Schlaf erwecken würde.

"Verharre in Geduld!" Befahl die Stimme aus dem Schlangenstab. Voldemort gehorchte. Das Gehorchen war ihm zwar von je her ein Graus. Doch jetzt, kurz vor der Erfüllung eines großen Zieles, vergaß er seine Abscheu gegen Leute und dinge, die meintem, ihm etwas befehlen zu können. Dann war es so weit. Die Mitternachtsstunde brach an. Voldemort wußte, daß er bis zum Bodensee und tief darunter würde marschieren oder fliegen müssen, wenn der Stab ihn nicht erneut durch das Gestein tragen wollte. Er hob sein mächtiges Artefakt kerzengerade nach oben. Es leuchtete in einem tiefen Blau auf und er vermeinte, hunderte von blauen Leuchtkäfern von allen seiten heranfliegen zu sehen. Dann waren es ganze Lichterketten, die sich tanzend und springend durch die Luft reihten, einander verbanden oder verknoteten, doch dabei genau auf den Stab zu, der immer intensiver leuchtete. Dann sagte die Gedankenstimme so laut, daß er meinte, sie mit den Ohren gehört zu haben:

"Sprich folgende Worte nach! ashalshalan Skyllianri Shabashdramaktakarabesh."

Voldemort sprach die Worte in normaler Sprache aus. Dreimal. Dann umtobte ihn ein Lichtgewitter aus Blau und Silber. Dann parselte er: "In deines Meisters Namen, Festung der unbesiegbaren Krieger, tu dich auf!" Seine zischenden und fauchenden Beschwörungen hallten weit und wirkten. Von überall flogen magische Lichtfäden zu ihm hin, wickelten sich um den Stab wie weitere große Schlangen. Dann rumpelte etwas. Er sah, wie zwanzig dieser Leuchtfäden, die nun auf ihn zuflogen, ein kreisrundes Loch in den Boden rissen, das immer tiefer wurde. Als dann alle Lichtfäden den Stab umschlangen, war die Öffnung mindestens vier Meter breit. Noch immer hielten zwanzig Leuchtschlangenschwänze diesen Eingang offen. Voldemort ging darauf zu, blickte hinunter und sah etwas wie eine marmorglatte Rutschbahn. Er zögerte nicht lange, warf seine Beine vor, ließ sich hinten überkippen und landete etwas unsanft auf dem oberen Ende dieser Rutschbahn. Dann ging es in immer größerem Tempo hinunter unter die Erde. Er ahnte es mehr als er es sah, daß der Schacht über ihm wieder zusammenwuchs, während sein Schlangenzepter wie eine breite Fackel mit mehreren blauen Flammen leuchtete. Der dunkle Lord verlor schon bald jedes Gefühl für Zeit und Geschwindigkeit. Wie eine Bahn aus Eis so glatt war die Rutsche, die erst schnurgerade und dann in leichten Windungen in das Erdinnere hinabführte. Einmal meinte der Herr der Todessr, der Schacht würde vor ihm immer erst geöffnet. Doch im Moment gab er sich dieser Mischung aus Vergnügen und Erwartung hin. Schließlich lief die Bahn ähnlich wie eine Skisprungschanze leicht nach oben aus. Dann stand er in einem tiefen Tunnel, links und rechts von anderen Tunneln gesäumt. Voldemort befragte sein hochpotentes Hilfsmittel und wurde auf den dritten Tunnel von links verwiesen. Er fragte sich nicht, was ein Labyrinth sollte, wo hier doch nur ein Träger des Schlangenstabes herkommen konnte. Er wußte nur, daß er von den zwanzig Kilometern bis zum Bodenseeufer wohl schon ein Gutteil zurückgelegt hatte. Er betrat den Tunnel und fühlte den Boden irgendwie wegrutschen, bis er fest auf ihm stand. Dann ging er weiter. Als er nach wohl fünfhundert Schritten in einen Tunnel rechts abbiegen sollte, war es ein ähnliches Gefühl. Es kam ihm vor, als betrete er eine sehr schnell laufende Rolltreppe. Doch er sah nichts, was darauf hinwies, daß der Boden sich unter ihm bewegte. Auch als er für eine Weile stehenblieb empfand er keine Bewegung, keinen Wind und keine Vibrationen im Boden, die ihm etwas von einem sich bewegenden Laufband verrieten. Ja, und die sichtbaren Tunnelabzweigungen blieben auch an derselben Stelle. So ging er weiter. Wieder fühlte er bei einem Tunnelwechsel dieses leichte Rucken wie beim Betreten einer Rolltreppe. Im Turm des Hogwarts-Schulleiters gab es eine magische Wendeltreppe. Doch das diese sich von alleine bewegte konnte jeder sehen. Also was solte dieses Ruckeln bei jedem Tunnelwechsel?

"Schreite voran, Voldemort!" Trieb ihn die Stimme Sharanagots an. "Du mußt vor Ende der Mitternachtsstunde den steinernen Wald unter den zwei Spiegeln erreichen und die Worte der Erweckung sprechen." Der dunkle Lord wußte zwar nicht, wie er ohne zu fliegen oder zu apparieren innerhalb einer Stunde zwanzig und mehr Kilometer zurücklegen sollte. Aber er ging mit gleichbleibender Schrittgeschwindigkeit weiter, betrat weitere Tunnel, die ihm dieses Rolltreppengefühl bescherten, bis es sich anders anfühlte, als betrete er kein nach vorne laufendes Fließband, sondern steige von einem solchen herunter. Ab nun wiederholte sich dieses Gefühl bei jedem weiteren Tunnel. Zwischendurch prüfte der Herr der Todesser die Marschrichtung und stellte fest, daß er auf einem Zickzackkurs in nördlicher Richtung dahinging. So wanderte er von Tunnel zu Tunnel, bis er fernes, leises Tröpfeln hörte. Dann sah er über sich etwas dahinrasen, Stalaktiten. Doch der Boden und die Tunnelöffnungen blieben unbeweglich. Dennoch wurde Voldemort das Gefühl nicht los, daß nicht die mehrere hundert Meter über ihm hängenden Tropfsteine dahinrasten, sondern er. Ihm wurde etwas schwindelig. Er konnte nicht mehr nach oben sehen, bis er mitten in einen von oben und vorne anbrausenden Wasserfall hineingeriet und sich anstrengen mußte, nicht hinzufallen. Dann kam noch ein Tunnel nach links, dann nach rechts, dann wieder rrechts und dann wieder links. Dann sah er ihn vor sich heranziehen, den Wald aus steinernen Bäumen. Jetzt war er sich ganz sicher, daß er trotz all seiner Wahrnehmungen, die ihm einen unbeweglichen Untergrund mitgeteilt hatten, die ganze Zeit auf einem magischen Laufband gewesen war. Die Gesetze der Muggelmechanik waren sowieso nichts wert. Doch hier wurde es schlagkräftig bewiesen. Voldemort sah eine Plattform, die auf halber Höhe auf ihn zuglitt, nicht mehr sehr schnell, aber dennoch unangenehm. Jetzt sah er auch, wie der Boden förmlich unter dieser Plattform verschwand. Er stieß sich kräftig ab und flog vom letzten Rest Schwung nach vorne getragen auf die Plattform, die nun, wo er darauf stand, als mehrere hundert Meter großes Plateau zu erkennen war. Das in den anderen Richtungen sanft zu den mächtigen Schachtelhalmen und Gingkos aus Stein hinabfiel. Für etwa eine Minute genoß der dunkle Lord im Licht des Schlangenzepters diesen erhabenen Anblick. Wie lange mochten diese Bäume dort schon gestanden haben, bevor Sharanagot seine hundert geretteten Krieger dort versteckt hatte? Sie hatten wohl schon dort gestanden, als das alte Reich gegründet wurde und hatten seinen Untergang überlegt. Wielange mochte es her sein, daß ein lebendes Wesen in dieses Zeugnis uralter Pflanzen eingetreten war? Erhabenheit und Stolz erfüllten den dunklen Lord. Und wieder kam diese Euphorie auf, die er vorhin gespürt hatte, als er sich dem Eingang zu dieser Höhle genähert hatte. Die Stimme Sharanagots sprach ihm auf Parsel die Worte vor, die er ausrufen mußte. Er stand in der Mitte des Plateaus, das Zepter hoch in die Luft gereckt und rief magisch verstärkt die zwanzig Worte der Erweckung und der Berechtigung, daß er nun der Meister dieser Krieger war. Er rief sie immer und immer wieder, mindestens fünfzigmal. Erst als er fühlte, wie ihm die Kräfte schwanden und er das Zepter nicht mehr lange in die Luft recken konnte, konnte er die Veränderung sehen. Unter den gigantischen Steinbäumen klafften erst lange, schmale Risse, die dann zu breiten Vertiefungen wurden, in denen, unter den verzweigten Wurzeln der Bäume, rosiggoldene Zylinder freigelegt wurden, in deren Oberfläche er unbekannte Schriftzeichen erkennen konnte, die wie nebeneinander liegende Schlangen rund um die mehr als drei Meter langen Zylinder angebracht waren. Langsam hoben sich die langen, walzenförmigen Metallkörper aus den Vertiefungen. Rings umher vollzog sich diese magische Freilegung. Voldemort sprach die Worte weiter, die er sprechen mußte. Dann gebot ihm die Stimme Sharanagots, jeden einzelnen Zylinder mit dem Zepter zu berühren und "Entsteige und erkenne!" zu parseln. Er ging los, von einem Zylinder zum anderen. Jedesmal, wenn er einen berührt und die Worte gesprochen hatte, spaltete sich der Zylinder von oben nach unten und teilte sich leise schabend in zwei Hälften. Voldemort blickte erst nur flüchtig auf die davon freigesetzten Ungetüme, die mit über der gepanzerten Brust zusammengelegten Armen dastanden und nun, da ihre Umkapselung geöffnet war, langsam die Augen aufschlugen, die groß und bleich wie der Mond waren und schlitzartige Pupillen aufwiesen, wie die Augen Voldemorts. Als dieser den letzten hervorgehobenen Zylinder geöffnet hatte, begannen die ersten erweckten Krieger, sich zu bewegen. Sie streckten sich und wanden sich wie aufrecht stehende Schlangen. Ihre bleichen Augen zuckten suchend umher. Sie besaßen keinen klar erkennbaren Ausdruck. Die Köpfe der erweckten Krieger waren lang und flach wie die von Schlangen, nur mit dem Unterschied, daß die Gesichter dort saßen, wo bei einer natürlichen Schlange die Kopfunterseite war. Leise schnaufend holten die erweckten Kreaturen Atem. Es war ihnen wohl nicht bewußt, wie lange sie geschlafen hatten. Sie öffneten die breiten Münder und entblößten zwei Reihen dolchartiger Zähne, von denen jeder dritte eine kleine Öffnung in der Spitze hatte. Also konnten diese Monster Gift in ihre Opfer spritzen, erkannte Voldemort mit großem Vergnügen. Womöglich waren sie dann mehr wert als ein Basilisk, wie er selbst ihn vor über fünfzig Jahren aus Slytherins Kammer des Schreckens auf die Schlammblüter in Hogwarts losgelassen hatte.

"Wie ihr hören könnt, Diener Sharanagots, kann ich euch Befehle geben", parselte Voldemort. "So seid ihr nun meine Diener. Denn ich halte den Stab eures Herren." Voldemort winkte demonstrativ mit dem immer noch leuchtenden Schlangenzepter. Da klang ein Chor aus fauchenden und zischenden Stimmen durch den steinernen Wald:

"Hüter unseres Meisters Stab, wir gehorchen und folgen dir!"

"Ich, Lord Voldemort, bin euer Herr und Meister", parselte Voldemort. Der Schlangenstab in seiner linken Hand ruckelte sanft. Hätte sich Voldemort nicht so übermäßig euphorisch und überlegen gefühlt, hätte er diesem warnenden Ruckeln des Stabes sicherlich mehr Beachtung geschenkt. Die Schlangenkrieger, die grün-schwarz, rot-braun, braun-schwarz, blau-schwarz und rot-schwarz gefärbt waren, beteuerten, daß sie ihm, Lord Voldemort, gehorchen und folgen würden. Damit war die Erweckung der Krieger der Vorzeit vollendet. Ihr langer Schlaf endete am Morgen des einundzwanzigsten Juli. Mit ihnen wollte er, Lord Voldemort, die unwiederrufliche Herrschaft über die ganze Welt erringen. Doch da waren noch zwei Dinge zu klären. Zum einen mußten er und diese Krieger der Vorzeit wieder zurück zum Eingang. Zum zweiten mußte er sich überlegen, wie er hundert Krieger am sinnvollsten einsetzen konnte. So fragte er einen besonders großen, grün-schwarz geschuppten Schlangenkrieger:

"Was könnt ihr alles, außer stark sein?"

"Wir widerstehen der Kraft, die gegen uns gewirkt wird. Wir sind stärker als zehn Männer und wir können an keinem Gift oder feuer sterben. Wir können beliebig viele von uns erschaffen, nur indem wir Menschen beißen. Unser Gift ist ein Wandelstoff, der jeden, in dessen Lebenskreislauf er gerät, in einem Tagesdrittel zu einem der unsrigen macht", sagte der große Krieger.

"Verrate mir deinen Namen!" Befahl Voldemort auf Parsel, wie es die Krieger sprachen.

"Angststürmer", entgegnete der große Krieger.

"So erkenne ich dich als Führer und Sprecher dieser Armee an, der Vermittler zwischen mir und euch. Angststürmer ist nun der Truppenführer von euch allen", stellte Voldemort klar. Er dachte bereits voller Vorfreude daran, wie er aus hundert Kriegern mehrere Tausend machen würde. Dann sagte Angststürmer noch:

"Eines können wir noch, solange wir einzeln sind." Er trat etwas von den anderen weg, die sich ebenfalls von ihm entfernten, so daß er nun dreißig Meter von seinem allernächsten Artgenossen entfernt stand. Dann verwandelte er sich innerhalb einer Viertelminute in einen athletisch gebauten Mann mit schwarzem Haar und hellblauen Menschenaugen, die jedoch immer noch ausdruckslos umherblickten. Nackt und muskulös baute sich Angststürmer vor Voldemort auf und verneigte sich dann ergeben. Dann trat er wieder in die Reihen seiner Kameraden, wobei er zu jenem Ungetüm von mehr als zwei Metern wurde, mit den muskulösen Armen, die wie angesetzte Schlangenkörper aussahen und an ihren Enden mächtige Pranken trugen, die mit langen, scharfen Krallen bewehrt waren.

"So geleitet mich nun an die Oberfläche zurück!" Parselte Voldemort. Die Krieger folgten ihm in respektvollem Abstand. jetzt hatten sie alle Zeit der Welt, um zum Ausgang zurückzukehren. Tatsächlich aber erreichten sie ihn über das System der Tunnelfließbänder schon in weniger als zehn Minuten. Sharanagot wies seinem neuen Verbündeten den Weg zu einer Wand, die sich nach der Berührung mit dem Stab öffnete und einen mehrere dutzend Meter breiten und fünfzig Meter hohen Raum freigab, der wie ein aufrecht stehender Quader geformt war. Voldemort betrat mit seinen neuen Hilfstruppen diesen Raum. Der Eingang schloß sich. Ein leises Schaben erklang, und sie fühlten alle einen nach oben weisenden Ruck. Voldemort ahnte, daß sie einen uralten, magischen Lastenaufzug benutzten und fragte Sharanagot, warum er diesen nicht schon eben hatte benutzen können.

"Weil du vorher den Eingang zu den Tunneln öffnen mußtest. Der Raum des Aufstiegs ist nur dann benutzbar, wenn alle Krieger ihn betreten und kann nur einmal benutzt werden. Denn ab nun bist du gehalten, die erweckte Armee in die neue Zeit zu führen, sie im Sinne ihrer Schöpfung zu leiten und deinen wie meinen Werken dienstbar zu machen."

Immer noch schien der riesige Aufzug zu beschleunigen, dann geschah eine geraume Weile nichts. Dann verzögerte er sachte, bis sich die Decke teilte und den Blick auf einen klaren Sternenhimmel freigab. Gleichzeitig sah es so aus, als schrumpften die Wände zusammen, bis sie gänzlich im Boden verschwanden, der mit einem leisen Zittern verharrte. Sie standen nun im Freien. Voldemort prüfte die Richtung. Dann überlegte er, wie er mal eben hundert Krieger aus der Vorzeit nach England hinüberbringen sollte, ohne zu vielen Todessern was davon zu verraten. Dann beschloß er, nur Angststürmer und neun weitere Krieger mit nach England zu nehmen. Er fragte die Seele Sharanagots, ob er auch aus der Ferne mit seinen neuen Helfern sprechen konnte und erfuhr, daß er jeden Krieger gleichzeitig oder einzeln, egal ob diese oder ihre Abkömmlinge, in Gedanken anleiten konnte.

"Besser als ich gedacht hätte", freute sich Voldemort. Die Worte Sharanagots kümmerten ihn nicht, daß er diese Armee auch und vor allem in dessen Sinne führen sollte. Er hatte sie geweckt, er beherrschte den Schlangenstab, und der Schlangenstab beherrschte die Krieger aus dem alten Reich. Was wollte er denn mehr? Die restlichen neunzig Krieger kommandierte er so, daß sie bis auf weiteres in menschliche Ansiedlungen eindringen und als Menschen unter Menschen leben sollten, wobei er sie so schickte, daß sie sich weit über das europäische Festland verteilten. Das würde einigen Damen- und Herrschaften sehr bitter aufstoßen, wenn er genau festgelegt hatte, wann und wo er sie zum ersten mal in den Einsatz schicken würde. Innerlich triumphierte er schon bei dem Gedanken, daß das, was Bokanowski nicht gelungen war, von ihm und nur ihm, Lord Voldemort, vollendet werden konnte, wenn er wußte, was er dann tun wollte. Er wartete, bis neunzig Krieger sich in mehr als zwanzig Richtungen abgesetzt hatten. Dann befahl er Angststürmer und den neun anderen, ihm zu folgen. Er wußte schon, wie er diese kleine Streitmacht nach England bringen konnte. Es würde ein leichtes sein, sie auf einen Güterzug nach Frankreich und von dort durch den Kanaltunnel nach Großbritannien zu schmuggeln. Für irgendwas mußten diese Muggel den Tunnel ja doch gebaut haben.

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Anthelia und Marga waren sehr enttäuscht, als sie nach zwei Tagen Suche in Indien und Nepal nach Europa zurückkehrten. Sie hatten die Wertiger nicht gefunden. Doch die böse Überraschung, die sie erwartete, als sie an die Stelle zurückkehrten, wo der magisch verborgene Einstieg zu den Kriegern der Vorzeit lag, überdeckte die Enttäuschung. Anthelia sah sofort, daß der Boden sich etwas verändert hatte. Ein großer Geröllhaufen lag nun dort, wo vor zwei Tagen noch glatter Fels zu sehen war. Anthelia nahm ihr Seelenmedaillon und führte es über den Boden. Es reagierte nicht. Die vielschichtige, lebendig wirkende Magie war restlos erloschen. Das konnte nur bedeuten ...

"Schwester Marga, die üble Situation ist doch schon eingetreten", seufzte Anthelia, die sich schwer beherrschen mußte, nicht vor Wut und Enttäuschung loszuheulen. "Wie auch immer, der Waisenknabe hat den Ort gefunden und erlag der Versuchung, das dort unten wohnende Unheil zu wecken."

"Wir hätten doch menschliche Wachen hier aufstellen sollen", jammerte Marga.

"Letztendlich hätte uns das auch nichts gebracht. Der Waisenknabe hätte die Wächter endweder gleich umgebracht oder hätte gewartet, bis sie unaufmerksam wurden. Nur die Wertiger hätten ihm noch Einhalt gebieten können. Aber diese zogen es ja vor, in ihrem Urwaldversteck zu bleiben. Dabei habe ich schon sehr tollkühn nach ihnen gefragt."

"Vielleicht werden sie jetzt denken, sie hätten versagt, wenn dieser Kerl wirklich diese Krieger geweckt hat", sagte Marga.

"Nur wenn jemand sie findet und es Ihnen verraten kann", sagte Anthelia darauf. "Komm, Schwester! Hier ist für uns nichts mehr zu tun." Anthelia prüfte, ob von diesem Ort aus nun ohne Gefahr disappariert werden konnte, nickte Marga zu und verschwand mit ihr in leerer Luft.

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Voldemort war wütend, als er mit seinen zehn neuen Helfern nach England zurückkehrte und erfuhr, daß alle Golems außer Kontrolle waren und vier Todesser getötet hatten. Nur jene, die sie vertreiben oder vernichten konnten hatten ihnen Widerstand geleistet.

"Was sagten die, Bella?" Fragte Voldemort, als er am Nachmittag des dreiundzwanzigsten Juli im Salon der Malfoys saß.

"Ihr Meister sei tot, und nun würden sie jeden töten, der ihn gepeinigt hätte", schnaubte Bellatrix. "Aber ich habe fünf von denen erledigt, mein Herr."

"Dann werden wir jetzt die restlichen finden und erledigen", knurrte Voldemort. Irgendwer oder irgendwas hatte ihm einen nützlichen Idioten weggenommen, bevor der ihm seine Tricks verraten konnte. Das machte ihn wütend. Zwar hatte er jetzt zwanzig rauflustige Riesen und zehn zuverlässige Schlangenkrieger in seiner Heimat. Doch Golems zu machen hätte seiner uneingeschränkten macht noch mehr Ansehen verliehen. Nun gut, dann mußte er sich eben darauf verlassen, daß ihm die neuen Krieger bald mehr einbrachten als die alten. Außerdem konnte er das mit den Golems ja gut so hinstellen, daß er sie hatte Amok laufen lassen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Er würde alle Zaubererwelt wissen lassen, daß er jedem jederzeit diese schlagkräftigen Steinkolosse ins Haus schicken konnte. Dann hatte er ja noch diese blöden wie brutalen Banditen um den Menschenhasser Greyback, stinkende Werwölfe, nützliche Hetzhunde, um genug Panik zu verbreiten. Aber gegen die Schlangenkrieger kamen all diese Monster nicht an. Er hatte es ausprobiert, als er mit Angststürmer alleine auf einem Feld in Wessex gestanden hatte. Kein Fluch, kein Elementarzauber und keine Fernlenkmagie hatte ihm etwas anhaben können. Wenn ihm nicht irgendwas total dummes ritt, den Schlangenstab zu verlieren, dann konnte keiner mehr gegen ihn antreten. Er ahnte jedoch, daß er den Stab nicht dauernd bei sich tragen durfte. Denn wenn er so beschaffen war wie ein Horkrux ... Er mußte den Stab verstecken, wo ihn keiner vermutete. Er gab vor, den Abwehrkampf gegen die Golems zu organisieren, verschwand noch einmal aus dem Haus der Malfoys und mobilisierte seine neue Hilfstruppe, Golems zu jagen. Sicher konnten sie mit diesen spielend fertig werden. Dann begab er sich nach Godric's Hollow, wo er mit eiskaltem Lächeln ein bestimmtes Grab öffnete, als es gerade dunkel wurde und den Schlangenstab in seiner diebstahlsicheren Tasche dort verbarg und das Grab wieder ordentlich verschloß.

"Für irgendwas müßt ihr beiden doch noch gut gewesen sein", knurrte er und disapparierte.

Einen Tag später erhielt er zufrieden die meldung, daß die zehn Krieger ohne ihre wahre Gestalt annehmen zu müssen über dreißig Golems aufgespürt und nach kurzem Zweikampf zerstört hatten, da sie ja wußten, daß ihnen Feuer das Aus brachte. Eine weitere frohe Kunde erreichte Voldemort am Abend dieses Tages. Bald würde er das Ministerium übernehmen können. Pius Thicknesse, der amtierende Leiter der Strafverfolgungsabteilung, stand unter dem Imperius-Fluch, und er wußte auch, wann Harry Potter aus dem unüberwindlichen Schutz herausgeholt wurde, den Dumbledore für ihn errichtet hatte. Alles lief mehr als zufriedenstellend für den Herrn der Todesser, der sich bereits auf dem Thron der gesamten Zaubererwelt sah. Er dachte daran, daß er, bevor er das Ministerium endgültig in seine Gewalt bringen würde, noch zwei wichtige Vorkehrungen zu treffen hatte. Denn er wollte auf keinen Fall von irgendwelchen ausländischen Störenfrieden behelligt werden, wenn er erst die britischen Inseln, dann Europa und dann den Rest der Welt übernehmen würde. Er sah Anthelias Gesicht vor sich, dachte daran, daß sie nicht einmal ahnte, welche Macht er jetzt schon hatte. Doch dann tropfte ein trüber Gedanke in das Meer aus Euphorie und grenzenloser Überlegenheit. Wer hatte diesen widerlichen Abkömmling dieses Schmierlappens Loki Nachtwurz getötet? Vielleicht wußte Anthelia doch, warum er den Nachtwurz-Abkömmlingen seine unvergesslichen Besuche abgestattet hatte. Immerhin hatte sie ihn schon zweimal überrumpelt. Doch die Erweckung der Krieger, wenn sie doch was davon gewußt haben mochte, hatte sie nicht verhindert.

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Alcaras schmachvolles Ende konnte Anthelias Stimmung nur sehr mäßig aufhellen. Denn mit dem Golemmeister war nur ein Übel verschwunden, wo zugleich ein noch größeres Ungemach aus alter Zeit aufgetaucht war. Sie mußte nun genau überlegen, was sie tun mußte und wie sie trotz der schlechteren Chancen ihre Ziele weiterverfolgen konnte. Auf jeden Fall durfte sie sich nicht von konkurrenzneidischen Hexen wie Daianira, der ebenfalls sehr stark gewordenen Vampirin Nyx oder anderen lächerlich machen lassen. Donata hatte ihr erzählt, daß Daianira von der Sache mit Patricia Stratons Leiche mitbekommen hatte und tatsächlich etwas beeindruckt war.

"War nicht einfach, ihr das vorzuenthalten, daß ich echte Fingernägel von ihr zu denen von dem zergliederten Körper gegeben habe. Morgen wird Patricia offiziell beigesetzt. Sie wird auch eine Urne kriegen."

"Ich denke, wir können sie nach einem Monat wieder für unsere Pläne einspannen", sagte Anthelia darauf nur. Donata Archstone nickte. Was mochte in einem Monat sein? Anthelia hatte der Strafverfolgungshexe die Sache mit den Kriegern der Vorzeit erklärt. Diese meinte, sie habe bereits davon gehört und wüßte, wo sie sich schlaulesen könne. Anthelia bedankte sich bei ihr. Jeder Funke Wissen über diese neue Bedrohung würde ein Hoffnungsfunke sein.

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"Warum sollten wir nicht hingehen, Mutter Nachtwind?" Fragte Sonnenglanz ihre Mutter, als sie und die neue Mitschwester Mondlicht sich nach der Rückkehr von den Thornhills bei ihr gemeldet hatten.

"Weil es schon zu spät ist und wir zu wenige sind, um das Verhängnis aufhalten zu können", sagte Nachtwind. "Ich träumte, das dein Vater erschien und mir zeigte, wie der schlangenköpfige Zauberer mit dem Unheilsstab durch einen Wald aus versteinerten Bäumen wandelte und dabei über fünfzig Wesen zwischen Schlange und Mensch aus dem Boden krochen wie Würmer bei Regen. Er sagte mir, wir sollten jetzt nicht eher in die Menschenwelt zurück, bis wir unseren neuen Tempel errichtet hätten und genügend neue Brüder und Schwestern um uns versammelt hätten, um der bedrohung entgegentreten zu können. Jetzt zu kämpfen wäre aussichtslos."

"Feige wäre es, nichts zu tun, erhwürdige Mutter", sagte Mondlicht, die früher Lakshmi Patil geheißen hatte. "Wir haben immerhin Kontakt mit einigen Hexen aufgenommen."

"Unsere Aufgabe ist es, unseren Tempel neu zu errichten. Dann werden wir unsere Art über die Welt verbreiten und damit erst stark genug, um die Krieger Nagabapus zu stürzen, sofern nicht jemand die Flöte Garudas findet und seine Söhne ruft", sagte Nachtwind. Mondlicht fragte was das sei.

"Der im Traum erschienene Geist meines Gemahls sprach von ihr als Zeichen der Hoffnung und der Wende", sagte Nachtwind. "Weit ab von hier, wo die Sonne am Mittag im Norden thront, an einer heiligen Stätte eines uralten Volkes, sei sie verborgen, die Flöte der Winde, die die Söhne und Töchter Garudas rufen könne, wenn ein Mensch, vom Licht erfüllt, sie an sich bringt."

"Ein Mensch? Das heißt, wir können sie nicht suchen gehen?" Fragte Mondlicht.

"Nein, uns ist sie verwährt", seufzte Nachtwind. Dann rief sie alle verbliebenen Brüder und Schwestern des Tigerclans zusammen und unterrichtete sie über die neueste Wendung und ihren Beschluß, erst den neuen Tempel zu errichten und neue Brüder und Schwestern hervorzubringen.

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"Er hat sie erweckt", seufzte Ashtaria, als sie mit Ammayamiria und Faisal Amun geistige Nähe fand. Ammayamiria strahlte Bestürzung aus, hegte jedoch auch eine große Hoffnung.

"Darxandrias Erbe wird den Zug dieser Kreaturen stoppen, bevor er die ganze Welt verwüstet."

"Ja, er hat die Kraft dazu", sagte Ashtaria und strahlte Freude, Anerkennung und Zuversicht aus. "Ich weiß es, seitdem er sich meiner Obhut entwunden hat."

"Es ist bedauerlich, daß wir erst einmal nur zusehen können", seufzte Faisal. "Ihr beiden seid die einzigen, die jetzt, wo Alcara von Ra aus der Welt gehoben wurde, die Geschicke der Sterblichen betrachten und in sie eingreifen könnt."

"Nur wenn kein anderer Weg offensteht und eine große Not dies uns befiehlt", sagte Ammayamiria. "Zumindest freue ich mich, daß der Geliebte meiner Mutterseele Mut und Kraft gewonnen hat und sich dem nicht entzieht, was er als seine Pflicht anerkennt."

"So lasset uns hoffen, daß den dunklen Tagen, die nun herandämmern bald wieder Tage des Lichtes folgen werden", sprach Faisal Amun und erhielt die volle Zustimmung seiner Daseinsschwestern.

ENDE

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