DIE LIGA RECHTSCHAFFENDER HEXEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Eigentlich dachten alle, mit der Beseitigung des Mitternachtsdiamanten und der damit einhergehenden Vernichtung von Griselda Hollingsworth alias Lady Nyx sei die Gefahr eines weltweiten Vampirreiches gebannt. Doch der uralte Zauberstein und Nyx waren so sehr miteinander verwachsen, daß ihr Geist die Vernichtung ihres Körpers überlebte und neuen Halt in einer ihrer direkten Vampirtöchter findet und nun als Blutmondkönigin Lamia die Errichtung des Vampirreiches Nocturnia fortführt. Es gelingt ihr zusammen mit Arnold Vierbein, auch ohne die magische Verstärkung durch den Mitternachtsdiamanten wirksames Vampirwerdungsgift zu erzeugen und damit kleinere Ortschaften zu verseuchen. Ihre Handlanger tragen Arm- oder Fußbänder, die die eigene Ausstrahlung schwächen und somit unortbar machen. Dennoch bekommen die Zaubereiüberwacher in Großbritannien mit, was passiert. Anthelia weiß, daß Nyx eine Nachfolgerin hat. Da sie nicht an zwei Fronten zugleich kämpfen möchte und auch kein Interesse an einem geschwächten Zaubereiministerium hat schlägt sie US-Zaubereiminister Cartridge einen Burgfrieden vor. Dieser springt über seinen Schatten und willigt ein. Währenddessen legt sich Nocturnia mit dem Clan der Wertiger an. Deren Matriarchin Nachtwind regt ein Bündnis zwischen Wertigern und Werwölfen an. Erst die gemäßigten Schweigsamen Schwestern und dann auch Anthelias Spinnenorden erfahren von dieser Zusammenkunft. Anthelia reist mit dem unter dem Unterwerfungszauber des Feuerschwertes Yanxotahrs stehenden Werdrachen Vientofrio nach Indien, wo sie den versammelten Wertigern und Werwölfen eine Zusammenarbeit anbietet, jedoch verlangt, daß die Wergestaltigen keine weiterführenden Pläne nach dem Fall Nocturnias ins Werk setzen. Es kommt zum kurzen Kampf zwischen Vientofrio, Anthelia-Naaneavargia und den Wertigern, bei dem der Drachenmann und die Spinnenfrau ihre Fähigkeiten unter beweis stellen und triumphierend davonziehen. In den Staaten selbst kommen zwei Kinder zur Welt, die bereits vor der Geburt einen entwickelten Geist besitzen. Zum einen ist da Anthony Summerhill, der die Wiedergeburt von Lucas Wishbone ist und von der Öffentlichkeit als eigener Sohn und Vetter zur Kenntnis genommen wird. Zum anderen erwacht die durch eine Verkettung verschiedener magischer Umstände imLeib der zur Zwanzigjährigen wiedergealterten Daianira heranwachsende Austère Tourrecandide aus dem Dämmerzustand des halbfertig entwickelten Gehirns und will zunächst ihr neues Los abwenden, erfährt jedoch von Daianira, die sich durch ausgeklügelte Tricksereien als ihre eigene Tochter Theia ausgibt, was in der Zeit zwischen Tourrecandides Verschwinden und ihrem Wiedererwachen als ungeborene Tochter Daianiras geschah. Sie willigt wohl oder übel ein, ihrer neuen Mutter und deren Großmutter Eileithyia zu helfen und übersteht ihre Wiedergeburt.

Patricia Straton hat wiederkehrende Träume von einer Gruppe aus Säulen, in denen goldene Menschen schweben, die sich Sonnenkinder nennen und dazu auffordern, daß Patricia mit dem Sonnenmedaillon und dem Jungen, den sie damit magisch an sich gebunden hat zu ihnen kommen solle. Der Junge, Cecil Wellington, ist in den Ferien bei seiner Mutter in Frankreich. Sein Vater wird wegen versuchten Auftragsmordes an seinem zweiten, unehelichen Kind und dessen Mutter verhaftet. Der zum Vampir gewordene Mafioso Fabrizio Campestrano zwingt den Enkel des Bertoloni-Clans dazu, ihm Cecil Wellington zu bringen, da seine Herrin Lamia vermutet, er könne mit der magischen Welt in Kontakt stehen. Patricia kann Cecil durch ihre Magie aus dem kleinen Privatflugzeug befreien, mit dem die Mafiosi ihn verschleppen wollen. Das Flugzeug wird darauf durch einen verzögerten Sprengzauber im Flug vernichtet, Cecil damit offiziell für tot erachtet. Mit ihm sucht sie die Stelle auf, wo die Sonnenkinder im jahrtausendelangem Überdauerungsschlaf zubringen. Erst als Patricia mit dem Sonnensohn Gooardarian (großer Abend) und Cecil mit der Sonnentochter Gisirdaria (Kleiner Morgen) geschlechtlich verkehren werden alle Sonnenkinder wach. Cecils Körper wurde dabei jedoch in den Ben Calders zurückverwandelt. Patricia und er sind durch die Erweckung der Sonnenkinder selbst zu Trägern starker Sonnenmagie geworden und ziehen sich mit ihren in den Säulen gefundenen Geschlechtspartnern in das Haus Virginia Hencocks zurück. Anthelia will zeitgleich Lamias Versteck finden. Sie schafft es, eine Solexfolienfabrik auszuheben und herauszufinden, daß die Folien an einen Juri Kamarow gehen, der da selbst ein Bürger Nocturnias ist. Bei der totalen Sonnenfinsternis am elften August versucht sie, Juris Standort zu erfahren und vergißt dabei, daß Lamia oder Nyx ihre wichtigen Gehilfen mit Schmelzfeuerfluch von jeder Form des Verrates abhält. Juri verglüht im blauen Schmelzfeuer. Anthelia ist damit wieder da, wo sie vor der Vernichtung der Solexfolienfabrik stand.

Doch die Zaubereiministerien und die Wergestaltigen bleiben auch nicht untätig. Sie rekrutieren in den großen Verbrecherorganisationen der Welt neue Mitglieder. In Indien wird ein ranghohes Mitglied eines mumbaier Syndikates zum Wertiger. In Italien holen die von Lunera geführten Werwölfe den Mafioso-Enkel Andrea Danielli und über ihn dessen Großvater und wichtige Angehörige in ihre Mondbruderschaft. In Großbritannien schlägt die durch Shacklebolts Überredungskünste in das Ministerium eingetretene Hermine Granger vor, ein Spezialkommando aus Werwölfen zu beschäftigen. Tessa Highdale, selbst eine Werwölfin, schafft es, den von den Mondbrüdern benutzten Lykonemisis-Trank zu erbeuten. Sie steht einem reinen Werwolf-Trupp sehr zustimmend gegenüber und übernimmt auch den von Hermine vorgeschlagenen Namen "Kommando Remus Lupin".

Um den Kampf gegen Nocturnia mit größeren Erfolgsaussichten führen zu können beschließt Anthelia-Naaneavargia, den im Kampf gegen die unkontrollierbare Entomanthropenkönigin Valery Saunders vernichteten Unterwerfungsstein neu zu erschaffen. Doch dieses Vorhaben muß unter größter Geheimhaltung stattfinden, um den hauchdünnen Burgfrieden nicht vorzeitig zu gefährden.

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Der Sternenhimmel spannte sich wie ein schwarzes Tuch mit silbernen Sprenkeln über den Strand. Wie graue Ungeheuer brausten die Ostseewellen gegen die felsige Küste an. Glitzernde Gischt sprühte mit jeder brechenden Brandungswelle auf und fiel als feiner Salzwassernieselregen zurück auf den Boden. Das rhythmische Rauschen der anrollenden Brandung war wie eine langsame, laute aber doch beruhigende Musik. Der Wind blies als frische Brise vom Landesinneren her. Erneut klatschte eine hohe Welle gegen den felsigen Strand an. Rauschend lief das Wasser zurück ins Meer. Weit und breit gab es kein Zeichen menschlichen Lebens. Da sauste etwas unsichtbares von oben herab und strich knapp über den im Mondlicht glitzernden Schaumkronen dahin, bis es eine ganz bestimmte Stelle erreichte. Es schabte ein wenig im vom Meer angespülten Sand, der die kahlen Felsen jedoch nur zu wenigen Zentimetern bedeckte und vom Wind immer wieder verweht wurde. Ein kurzes Flimmern im Widerschein des Mondlichtes, dann stand sie da, eine Frau im gerade hellgrau wirkenden Kapuzenumhang, die einen im Mondschein mattglänzenden Reisigbesen hielt. Die Gestalt im Umhang wandte sich um und hob einen silbrig glitzernden Stab an. "Homenum Revelio", zischte sie. Als sie einige Sekunden verharrt hatte murmelte sie noch: "Vivideo!" Aus der Stabspitze glomm ein grünes Flimmerlicht. Die soeben am Strand sichtbar gewordene Frau drehte sich einmal im Kreis. In den Zwischenräumen der Felsen flackerten hellgrüne Lichter auf. Als der Stab auf das Meer zielte erglühten die Wellen im phosphoreszierenden Farbton. Größere Lichtquellen waren jedoch nicht zu erkennen. Die Gelandete zielte mit ihrem Stab noch weiter auf das Meer hinaus. Doch außer jenem grünen Leuchtteppich auf den Wellen war nichts zu entdecken. "Nox!" Murmelte die Besenreiterin. Hier am Strand gab es kein verdächtiges Lebewesen, das ihr zusehen mochte. Sie löste einen großen Leinensack von ihrem Besenstiel und hielt diesen mit der Öffnung nach oben. Ebenso streckte sie ihren Zauberstab kerzengerade nach oben. "Accio Bernstein!" Rief sie nun so laut sie konnte. Ihr Ruf übertönte das Rauschen der Wellen. Sie hatte deshalb so laut gerufen, weil sie wollte, daß die Wirkung ihres Zauberwortes weit reichte. Tatsächlich geriet nun der Boden in Aufruhr. Aus kleinen Felsspalten spritzten kleinere und größere Brocken nach oben und flogen auf die Hexe zu. Nur was mehr als einen Meter unter dickem Fels eingeschlossen war blieb wo es war. Auch aus dem Meer flogen kleinere und größere Brocken heran. Die Beschwörerin mußte achtgeben, nicht von den ihr zufliegenden Brocken getroffen zu werden. Der von allen Seiten wie von einem Wirbelsturm herangewehte Schwarm von Gesteinsbröckchen ebbte erst nach einer Minute ab, als auch aus dem letzten von der Reichweite des Zaubers berührten Gegend das gewünschte Objekt eingetroffen war. Die Methode klappte wirklich, dachte Anthelia. Sie hatte erst nicht recht glauben wollen, was sie im Denkarium ihrer Tante Sardonia gesehen hatte. Doch nun, wo sie selbst auf diese Methode zugriff erkannte sie, daß obenauf liegendes Gestein, deren Namen und Beschaffenheit klar im Bewußtsein stand, leichter eingesammelt werden konnte. Außer Gold, das eine natürliche Magieträgheit aufwies, konnte sie also gezielt Mineralien oder Bröckchen von Erzen auflesen, die nicht fest im Gestein verbacken waren.

Als der horizontale Hagel aus aufgerufenen Bernsteinbrocken geendet hatte entzündete Anthelia, die Führerin der Spinnenschwestern ihr Zauberstablicht, um in dessen Schein die eingesammelte Menge zu untersuchen. Doch die Brocken waren zu winzig oder gesplittert. Sie brauchte einen intakten Bernstein, in dem ein vollständiger Insektenkörper eingeschlossen war, bestenfalls eine Honigbiene. Doch als sie einige Minuten die gesammelte Menge durchgesiebt hatte stellte sie fest, daß das fossile Baumharz kein für sie brauchbares Insekt aus alter Zeit bereithielt. "Warum auch so einfach, wenn ich doch so viel Zeit habe", dachte Anthelia mit unverhülltem Sarkasmus. Sie wußte, daß sie die noch lebenden Entomanthropen nur kontrollieren konnte, wenn sie einen großen Bernstein fand, in dem die vollständige, versteinerte Leiche einer vorzeitlichen Biene eingeschlossen war. Alles andere wäre ein Spiel mit zu großem Risiko. Wollte Anthelia die verbliebene Entomanthropenkönigin wiedererwecken und steuern, mußte sie diesen besonderen Stein finden und dann mit Sardonias alten Zaubern belegen. Die Hexenlady stellte fest, daß Sardonia sicher einen Jahrhundertfund gemacht hatte, als sie vor über vierhundert Jahren ihren Entomolithen entdeckt hatte. Sie war dazu hierher an die Ostsee gereist, dorthin, wo heute die drei baltischen Republiken Litauen, Estland und Lettland zu finden waren. Sie wußte, daß hier noch solche uralten Harzklumpen zu finden waren, in denen Insekten erstickt waren. Doch die kleinen Brocken, die sie mit ihrem Aufrufezauber zusammengeklaubt hatte waren weit von ihrem ersten Entomolithen entfernt. Doch sie kannte nicht nur Sardonias Zauber und die, die sie von Bartemius' Crouches Gedächtnis übernommen hatte, sondern auch noch die Erdzauber des alten Reiches. Einer davon half, einen bestimmten Stoff durch mehrere meter Gestein oder Metall zu erspüren, wenn eine kleine Menge des gesuchten Materials verfügbar war. Anthelia konzentrierte sich darauf, die alten Worte in ihrem Bewußtsein aufklingen zu lassen, Tonlage und Aussprache genau zu treffen. Dann nahm sie einen kleinen Bernsteinbrocken aus dem sack heraus und beschwor die Macht des Gleichen zum Gleichen. Der von ihr gehaltene Bernstein erglühte in sattem Gelbton und erwärmte sich. Anthelia hoffte, daß er unter den Nebenwirkungen des Zaubers nicht zerschmelzen würde und ging los, um zu sehen, wo unter dem Felsen noch viel von dem gelben Stoff aus der Vorzeit verborgen war.

Einige Minuten lang wandelte sie mit dem aktivierten kleinen Stein über den Strand. Dann ruckte dieser in ihrer Hand in Richtung Meer und erzitterte merklich. Dabei erhitzte er sich stark und verformte sich. Anthelia mußte den versteinerten Harzbrocken fortwerfen. Noch im Flug ging das Fragment aus urzeitlichen Bäumen in hellen Flammen auf und schlug unter Bildung einer kleinen Dampfwolke ins Meer ein. Offenbar war dieser Zauber zu stark für dieses nicht sonderlich feste und beständige Material, erkannte Anthelia. Doch immerhin hatte ihr der kleine Brocken verraten, daß dort im Meer noch einige dieser Steine lagen. Sie verwendete noch einmal den Aufrufezauber. Doch was immer dort war war zu fest mit dem felsigen Untergrund verbacken. So blieb ihr nur, den Umhang und das Unterzeug abzulegen und im Schutze einer Kopfblase in der Ostsee zu tauchen.

Sie verabscheute es, in dieser von Menschen gemachten Giftbrühe zu schwimmen. Sie wußte, daß hier viel Unrat aus den großen Fabriken oder den Schiffen im Wasser trieb und am Meeresgrund sicher einiges an giftigen Rückständen lagerte. Deshalb wollte sie so schnell wie möglich wieder an Land. Unter Wasser wirkte die Welt friedlich und still. Nur vereinzelt hörte sie etwas grummeln. Das mochten die Wellen am Strand sein oder das über Meilen getragene Geräusch eines großen Schiffes. Sie hielt nach Fischen ausschau und staunte, tatsächlich welche zu sehen. Konnte es sein, daß dieses Meer doch noch nicht verloren war? Sie hoffte es inständig. Dann erreichte sie eine Stelle, an der es weiß am Boden glitzerte. Sie tauchte dem Glitzern entgegen und erkannte eine mehrere Quadratmeter große Fläche, auf der kleinere und größere Brocken aus weißem Material lagen. Anthelia aktivierte einen weiteren Bernstein, den sie mitgenommen hatte und fühlte, wie er sich erhitzte und immer schwerer wurde. Er zog sie förmlich in die Tiefe. Sie ließ ihn los. Er landete mitten in der Ansammlung weißer Brocken. Anthelia ging sofort daran, die Brocken zu untersuchen. Sie wirkten für sie nicht so wie der übliche Bernstein. Doch sie wußte, daß auch schon im alten Reich weißes, versteinertes Baumharz gefunden worden war. Unter Wasser konnte sie jedoch wegen der Lichtbrechung nicht sehen, ob diese Brocken Insektenkörper einschlossen. So blieb ihr nichts übrig, als die frei herumliegenden Brocken einzusammeln und mitzunehmen.

Zurück an Land betrachtete sie die aufgelesenen Brocken im Licht ihres Zauberstabes. Doch keiner der Steine war durchsichtig. Anthelia barg sie in dem Leinensack und hängte diesen an ihren Flugbesen. Sie saß auf und hob ab. Der Besen machte sie und sich sofort unsichtbar. Anthelia wollte diesen Sack einige Kilometer weit ins Landesinnere bringen. Doch als sie mehrere hundert Meter nach oben und bereits einen halben Kilometer weit vom Strand fortgeflogen war, hörte sie ein leises Zischen hinter sich. Sie warf den Kopf herum. Doch es brachte ja nichts, auf einem fliegenden unsichtbaren Besen nachzusehen. Das Zischen wurde lauter. Es nahm sogar eine bedrohliche Klangfärbung an. Jetzt roch Anthelia es. Es war wie mit Wasserdampf durchsetzter Qualm, als schwele etwas in unmittelbarer Nähe. Die Führerin des Spinnenordens erfaßte, daß es nur aus dem Sack hinter ihr kommen konnte. Das Zischen wurde nun immer schneller immer lauter. Anthelia fühlte bereits die zunehmende Hitze hinter sich. Sie merkte, wie der Besen unter ihr ruckelte. Sie schwang ein Bein über den Stiel und ließ sich in Todesverachtung vom Besen fallen, keine Sekunde zu früh. Denn unvermittelt wurde aus dem Zischen ein scharfes Fauchen, das in einen heftigen Knall überging. Über sich sah anthelia eine weiße Flammenwolke auseinanderfliegen. Sie erkannte glühende Trümmerstücke ihres Besens, die auf den Boden stürzten. Da sie leichter waren als die Wiederkehrerin trudelten sie in der Luft, die den Brand weiter anfachte. Anthelia konnte glühende Fragmente sehen, die wie ein Meteoritenschwarm umherflogen und auf sie niedergingen. Die Führerin des Spinnenordens konnte gerade so noch zwei laut zischende Glutbröckchen telekinetisch von sich ablenken, bevor sie fühlte, daß auch ihr Umhang zu brennen begann. Der Fallwind blies das Feuer weiter an. Anthelia zückte den Zauberstab und ließ ungesagt einen dicken, kalten Wasserstrahl auf ihr gerade brennendes Kleidungsstück schießen. Zischend erstarb das kleine Feuer. Weitere Glutbrocken sausten funkensprühend an ihr vorbei. Andere verglühten schon, bevor sie bei ihr ankamen. Sie nahm den unverkennbaren Geruch abbrennenden Phosphors wahr. Auch erkannte sie in den meisten herabregnenden Brocken brennende Bernsteine. Knapp verfehlte sie ein solches Glutbröckchen und zog eine Bahn aus Rauch hinter sich her. Anthelia wußte, daß sie nicht mehr lange bleiben konnte. Sie warf sich in der Luft herum und disapparierte. Ihr Ziel war der Strand, von dem sie losgeflogen war. Von dort aus sah sie dem feurigen Spektakel zu, daß aus dieser Entfernung wirklich einem Regen niedergehender Sternschnuppen glich. Sie prüfte ihren Umhang. Ja, er war schon gut angekohlt. Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und er hätte völlig in Flammen gestanden. Anthelia war froh, so gut apparieren zu können, daß sie dem plötzlich entstandenen Feuer entwischt war, ohne zu zersplintern. Sie atmete tief ein und aus. Ihr war bewußt, welches unverhoffte Glück sie gehabt hatte, noch rechtzeitig von ihrem Besen abgesprungen zu sein. Vor allem war sie froh, keinen der weißglühenden Brocken abbekommen zu haben. Denn die Heftigkeit und der Geruch des Brandes verrieten ihr, was ihr da fast den Garaus gemacht hätte. Mindestens zwei oder drei der von ihr vom Meeresboden aufgelesenen Brocken bestanden nicht aus Bernstein, sondern aus weißem Phosphor, einer Substanz, die den Alchemisten als Trockenzünder bekannt war. Es entzündete sich, wenn es im trockenen Zustand mit reiner Luft in Berührung kam. Aber wer hatte diese wortwörtlich brandgefährliche Substanz auf dem Meeresboden hinterlassen? Anthelia konnte sich nur denken, daß es diese magielosen Maschinenanbeter waren, die keine Rücksicht auf das Meer und seine Lebensbedingungen nahmen. Vielleicht hatte auch jemand eine Falle für Bernsteinsucher wie sie aufgestellt, um die unter dem Meeresboden lagernden Vorkommen für sich alleine zu haben. doch wichtiger als die Antwort auf die Frage, wer das Phosphor auf dem Meeresboden zurückgelassen hatte erschien Anthelia nun die Frage, wie sie weiter nach Bernsteinen suchen sollte, wo sie keinen geeigneten Besen mehr hatte. Sie ärgerte sich, daß sie schon wieder einen wertvollen Harvey-Besen verloren hatte und wohl so schnell keinen neuen dieser Art finden konnte. Zwar konnte sie Dank Naaneavargias Kenntnissen ohne Besen fliegen und sich auch noch unsichtbar machen. Aber Flugzauber und Unsichtbarkeit zogen ihr zu viel Ausdauer ab. Außerdem konnte sie dann nicht viel tragen, weil dadurch die Reichweite noch kleiner wurde.

Zischend fiel ein weißglühender Brocken wild rotierend keine zwanzig Schritte vor ihr auf den Boden und glomm wie eine winzige Sonne. Anthelia stellte fest, daß sie hier noch nicht sicher genug war. die leichteren Brocken konnten weit fliegen. Sicher verloschen die meisten dabei. Doch würden sie eine sehr große Fläche betreffen. Nachher schlug ein brennender Phosphorbrocken noch in einem Hausdach ein oder steckte einen Wald in Brand. Doch ohne Besen hatte sie hier sowieso nichts mehr zu suchen. Sie blickte noch einmal zum Himmel hinauf, wo die Reste des brennenden Holzes und Bernsteins herabregneten. Dann sah sie über dem Meer einen schwachen Lichtschein. Das war ein Scheinwerferstrahl. War das das Suchlicht eines Schiffes? Anthelia erkannte, daß sie hier besser nicht gefunden wurde, damit niemand auf die Idee kam, was sie hier zu suchen hatte. Sie disapparierte.

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Sie hatte sich etwas besonderes für ihn ausgedacht. Deshalb war Lamia, die Blutmondkönigin, auch drei Tage früher als vorangekündigt aus der Blutumwälzungsvorrichtung gestiegen, in der ihr Blut mit dem von gefangenen Menschen vermischt und daraus der Stoff zur Vampirwandlung gewonnen wurde. In wenigen Tagen würde Nocturnia einen treuen Bürger mehr besitzen, einen, der sich in beiden Welten auskannte.

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Glenn Taylor war einmal mehr in einem Kaufrausch. Wo andere in einen Laden nach dem anderen rannten, um ohne Ansehen von Notwendigkeit und Preis zu kaufen, was ihre Bargeldvorräte und Kreditkartenobergrenze hergaben, hatte sich der alte Börsenmakler auf den Handel mit Aktien festgelegt. Über die neueren Handelsplattformen im Internet konnte er zu jeder Zeit seinen Aktien- und Wertpapierbestand weltweit vergleichen. Er verkaufte die teuren und handelte von dem Gewinn billigere Aktien ein, die er dann abstieß, wenn sie mehr als fünfzig Cent über dem Einkaufswert notiert wurden. Irgendwann, da war sich Glenn sicher, würde es Programme geben, die derartige Handelstransaktionen in weniger als einer Millisekunde durchführten. Doch dann mochte die Finanzwelt aus der Schiene springen wie ein zu schnell fahrender Zug, der über eine holperige Weiche brauste.

Tokio hatte schon seit zwei Stunden offen. So konnte Taylor die am Vortag über die Internetplattform der New Yorker Börse eingehandelten Aktien vergleichen und über Zukauf oder Abstoßung befinden. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Das Herz pumpte pochend im Akkord. Sein Körper war durch vieles Sitzen und noch mehr Essen in den letzten Jahren merklich gerundet. Doch durch seinen neuen "Sport" unterließ er das regelmäßige Essen und nahm durch konzentrierte Denkarbeit auch etwas ab. Seine Hand mit der Maus fuhrwerkte wild herum. Klick für Klick entschied er über Habenwollen oder Loswerden. Auf dem Bildschirm tanzten die Zahlen, sprangen in das entsprechende Fenster oder erloschen auf Nimmerwiedersehen. Taylor gab erneut seine Transaktionsnummer ein, um ein weiteres Paket zu handeln. Er achtete nicht auf die Uhr. Er bemerkte zwar, daß die Sonne längst untergegangen war. Aber der Zeitunterschied zwischen New York und Tokio kam denen zu Hilfe, die Tag und Nacht handeln wollten.

Das leise Ploppen brach in Taylors Konzentration ein wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. Er vermeinte, das Öffnen einer Champagnerflasche zu hören. Doch das konnte nicht sein. Den letzten Champagner hatte er vor einem Monat getrunken. Hier zu Hause hortete er nur Mineralwasser. Sein auf Zahlen und Werte getrimmtes Gehirn tat das Geräusch als Einbildung ab. Dann ließ es die Gedanken und die Maushand weiterschuften, bis Taylor es geschafft hatte, in einer Minute zweitausend Dollar Gewinn herauszuschlagen. Er verschob die Hälfte des Geldes auf sein schon reichlich gefülltes Bankkonto und warf den Rest für neue Einkäufe in die Waagschale. So mehrte er den virtuellen Stand seines Vermögens und den sicher festgelegten Stand seines Bankguthabens. Da legte sich ihm eine schlanke Hand auf die Schulter. Er schrak zusammen, als habe er über die Maus einen Stromschlag erhalten. Er konnte sich fünf Sekunden lang nicht bewegen. Erst dann nahm er es zur Kenntnis, daß die auf seiner Schulter liegende Hand echt war. Er wandte sich um und sah sie. Da vor ihm stand eine Frau mit heller Haut, die nichts anderes trug als einen grün-goldenen Badeanzug. Ihr helles Haar wallte über ihre Schultern bis zur Mitte ihres Rückens. Sie atmete ruhig und sachte. Dann sah er ihre Augen. Sie zogen seinen Blick an wie zwei Magneten. Er konnte sich nicht davon lösen. Er fühlte neben der Anstrengung einen immer deutlicheren Schwindel. Er kam nicht von seinem Stuhl hoch. Mehr und mehr meinte er, in eine andere Welt, einen anderen Zustand zu gleiten. Dann sprach die unbekannte leise, und ihre Worte drangen mühelos bis auf den Grund seines Bewußtseins und berührten auch sein Unterbewußtsein:

"Du hast lange genug mit deinem Geld gespielt. Jetzt gib mir deine Kreditkarte, und alle Zugangswörter für dein Bankkonto und die Aktiendepots!" Taylor hätte sich sonst sofort argwöhnisch gegen das Hiersein dieser Frau gewandt, sie angeherrscht, wie sie zu ihm vorgedrungen war. Doch sie hielt ihn im Bann ihres hypnotischen Blickes gefangen. Er hörte sich wie lallend all die Sachen sagen, die sie von ihm hören wollte. Dann stand er auf und wankte wie eine von einem ungeübten Puppenspieler geführte Marionette zu einem hinter dem Bild seiner Heimatstadt von oben versteckten Safe. Er stellte die zwölfstellige Zahlenkombination ein. Dann legte er noch seine rechte Hand auf ein rotes Sensorfeld. Es vibrierte ein wenig. Dann klackte es, und die schwere Stahltür schwang auf.

Um einem möglichen Zusammenbruch des Bankensystems vorzubeugen hatte Taylor nicht nur einhunderttausend Dollar Bargeld im Schrank, sondern Platinbarren im Kurswert von einer Million Dollar. Dann besaß er noch vier Kreditkarten, von jeder namhaften Gesellschaft eine mit Platinstatus. All diese Dinge räumte er gefühl- und willenlos wie ein Roboter aus dem Safe und füllte damit die große Reisetasche, die neben der Unbekannten auf dem Boden stand. Dabei fing sie seinen Blick immer wieder ein, um den auf ihn wirkenden Bann zu erhalten, ihm nicht zu ermöglichen, sich gegen diese Art von Raub zu wehren. Er sah eher beiläufig den Rekorder in der Tasche, einer der neuartigen Digitalrekorder, die kein Band mehr brauchten, sondern Worte und Geräusche gleich in computerlesbare Daten umwandelten. Er fragte nicht, was dieses Gerät sollte. Er schaufelte Geld und Edelmetall aus dem Panzerschrank, bis sein eisernes inneres lehr und dunkel wie ein leergeräumter Bergwerksstollen gähnte. Langsam drückte er die große, schwere Tür wieder zu und drückte auf den winzigen Knopf, der das Schloß sofort vollständig verriegelte. Dann sah er die Fremde wieder an, die ihn erneut anblickte. Er fühlte, wie er sie begehrte, wie ihm danach war, auch das zu sehen, was der Badeanzug noch verhüllte, es mit Mund und Händen zu berühren. Er wandte sich um und lief in Richtung Schlafzimmer. Jetzt wild und hektisch wie einer, der brennende Kleidung am Körper trägt, warf er alles von sich, was zwischen ihm und dieser Überirdischen stehen konnte. Der Drang, sich auf das breite Bett zu legen, um ihr zu erlauben, ihn zu liebkosen ließ ihn vergessen, was er eigentlich für wirklich anregend hielt. Er fiel auf das Bett, dessen Federung leicht unwillig quietschte. Dann sah er, wie sich die Fremde über ihn beugte.

"Im Namen des Reiches ohne Grenzen danke ich dir für deine großzügige Spende, Glenn Taylor." Sie beugte sich noch tiefer. Da sah Glenn den länglichen Gegenstand in der rechten Hand der Unbekannten. Er wußte nicht, was es war. Er hätte es auch nicht mehr begriffen. Denn noch einmal verstärkte sie ihre den Willen auslöschende Kraft ihrer Augen. Dann fühlte Glenn Taylor den Einstich im Hals. Sofort setzte ein Krampf ein, der vom Hals durch den ganzen Körper ging. Er bekam Luftmangel. Sein Herz pochte vergeblich gegen den Brustkorb. Er keuchte, röchelte und schnappte nach Luft. In dem Moment sah er noch, wie die Unbekannte sein Zimmer verließ, ohne etwas zu berühren. Dann übermannte ihn die volle Macht des in seinen Körper getriebenen Giftes. Schwärze und Stille umschlossen ihn wie das zuschnappende Maul eines Ungeheuers. In der letzten Sekunde seines Lebens kehrte sein freier Wille zurück. Doch es war nur noch ein Aufschrei der Angst, den er vollbringen konnte.

Die Unbekannte griff ihre mitgebrachte Reisetasche. Trotz der darin gelagerten Platinbarren hatte sie keine Mühe, die Tasche federleicht anzuheben. Dann hob sie ihren Zauberstab und drehte sich gewandt auf der Stelle. Ihr helles Haar flog herum und verschwand mit ihr in einem kurzen Luftwirbel. Es ploppte nur, als habe jemand eine Magnumflasche Sekt etwas zu schnell entkorkt. Dann war von ihr nichts mehr zu sehen. Nur der mittlerweile an zwanzig tödlichen Dosen Blausäure auf einmal verstorbene Glenn Taylor lag nackt und immer kälter werdend auf seinem Bett. Der vorhin noch zum Jonglieren von Geldmengen benötigte Computer säusselte, und auf dem Bildschirm begannen bunte Würfel bunte Bälle zu jagen, von links oben nach rechts unten und von links unten nach rechts oben.

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Zachary Marchand mußte es nun glauben. Martha Eauvive, früher Andrews war zur Hexe geworden. Als sie ohne fremde Hilfe in den Schankraum des betrunkenen Drachens hineingefaucht war, hatte er sich schon damit anfreunden müssen, daß sie keine magielose Frau mehr war. Als sie ihm dann noch in einer schwer einsehbaren Ecke des Schankraumes ihren Apfelholzzauberstab gezeigt und die auf dem Tisch stehende Kerze ohne lautes Wort und Streichholz entzündet hatte, mußte er es endgültig zur Kenntnis nehmen. Etwas zu lesen oder am Telefon zu hören war doch anders, als es direkt vorgeführt zu bekommen.

Der muggelstämmige Zauberer, der für die magielose Welt als Sonderagent der Bundesermittlungsbehörde FBI und für die Zaubererwelt im Marie-Laveau-Institut zur Abwehr dunkler Zauber und Zauberwesen aller Kulturen arbeitete, war entsprechend in bedrückter Stimmung. Irgendwie hatte er wohl gehofft, daß Martha als eine, die eingeweiht werden, aber nicht selbst in die Zaubererwelt eingreifen durfte als mögliche Partnerin zu erkennen, die auch seinen Eltern genehm sein mochte. Doch nun ... Sie hatten sich in gedämpfter Lautstärke über ihre neuen Erlebnisse unterhalten, hatten eher sachlich über das Problem Nocturnia gesprochen und das Martha gerade wegen eines internationalen Abkommens der Muggelverbindungszauberer in den Staaten war. Zachary erfuhr bei der Gelegenheit auch, daß Julius gut nach Beauxbatons zurückgekehrt sei. Das er im nächsten Jahr bereits Vater würde verschwieg ihm Martha Eauvive jedoch. So, wie Zach ihr gegenüber nun abgekühlt war, ging ihn das auch nichts an. Außerdem, das merkte Zachary mit dem Gespür des geschulten Kriminalermittlers, war er wohl auch irgendwie nicht mehr wirklich wichtig für sie. Hatte er sich da echt nur was eingebildet?

Zachary hatte ihr dann noch sein Leid geklagt, daß seine Eltern unbedingt wollten, daß er seinen vierzigsten Geburtstag bei ihnen in Baton Rouge feierte. Martha hatte gefragt, ob seine Eltern mit magischen Schutzvorrichtungen umgeben waren, weil ja die Vampire der Nocturnia-Gruppe meinen konnten, über sie an ihn heranzukommen. Er hatte ohne auf Einzelheiten einzugehen erwähnt, daß sein Elternhaus das mit Abstand vampirsicherste Haus in der Umgebung von Baton Rouge war. Dafür habe er mit Genehmigung des LIs gesorgt, auch wenn er dafür mehrere hundert Galleonen hatte ausgeben müssen. Wofür genau ließ er jedoch außen vor. Er hatte Martha gefragt, ob sie zu seiner Party kommen könne. Doch Martha hatte den kühlen Unterton aus der Frage gehört. Zum einen wollte er nicht feiern. Zum anderen hatte ihre Veränderung ihn wohl von jedem Gedanken abgebracht, in ihr mehr als eine Bekannte zu sehen, mit der er die schlimmsten Stunden seines Lebens geteilt hatte. So hatte sie kein Problem, ihm zu sagen, daß sie wohl noch viel zu tun hatte und auch nicht mehr über ihre Zeit nach Belieben verfügen konnte, jetzt wo das Ministerium sie als vollwertige Hexe komplett in seinen Betrieb einbinden konnte. Er hatte darauf nur geseufzt: "Das kenne ich. Wenn du für eine Behörde mit flexiblen Arbeitszeiten arbeitest gehörst du dir am Ende nicht mehr wirklich selbst. Wenn du dann noch für zwei solche Dienststellen arbeitest ist jede freie Minute purer Luxus. Aber mir wäre es lieber gewesen, die hätten mich entweder vom Büro oder vom LI für den siebenundzwanzigsten verplant, als mir zu sagen, ich solle diesen wichtigen Tag ausgiebig feiern."

Als Martha dann per Flohpulver aus dem Schankraum verschwand hatte Zachary Marchand nur gedacht, daß es wohl besser sei, nur noch per E-Mail mit ihr zu verkehren. Irgendwie hatte er was mögliche Beziehungen anging offenbar die dauerhafte Niete gezogen.

"Mußt du morgen einen klaren Kopf behalten oder kannst du was vertragen?" Fragte Bachus Vineyard, der rundliche Wirt des betrunkenen Drachens.

"Hast du Grund, mir einen auszugeben, Bachus?" Fragte Zachary Marchand.

"Nur den, daß ich gerne fröhliche Gesichter in meinem Laden sehen möchte. Du siehst aus, als hätte dir wer ein Mädchen ausgespannt."

"Ich muß meine Mimik trainieren", knurrte Zachary. "Neh, Stress im Job, Bachus. Welchen genau darf ich nicht weitersagen, oder ich müßte jeden, der das mitkriegt erschießen."

"Lustig, Zach. Mit dem Spruch kamen mir die ganzen LI-Ler auch immer wieder", grummelte der Besitzer und Betreiber des Gasthauses.

"Was du nicht sagst", erwiderte Zach Marchand. Daß er nicht mehr für den Zaubereiminister arbeitete war trotz aller Mühen, es unter der Decke zu halten doch in diesem großen Dorf Zaubererwelt herumgegangen. Ministeriumsleute hatten wohl gepetzt, um sich die Frustration wegen seines Weggangs von der Seele zu reden. Ein guter Wirt hörte alles und konnte es auch in den richtigen Dosen weitergeben.

"Was willst du mir denn anbieten, daß ich hier fröhlicher aussehe und dir nicht die Gäste vergraule, Bachus?" Fragte Zachary Marchand.

"Peles Tränen, eine hawaiianische Kreation. Die hat's aber in sich."

"Pele ist doch die Vulkankönigin von denen. Oh, dann was mit viel Feuer?" Fragte Zachary.

"Aber hallo", erwiderte der Wirt. "Das konnten selbst die Zwerge schätzen, die gestern bei mir durchmarschiert sind. Also, Lust drauf?"

"Nur wenn ich danach nicht mein halbes Verlies bei den Kobolden leerräumen muß", grummelte Zachary. Der Wirt grinste über sein Mondgesicht und nickte. "Geht aufs Haus", sagte er und ging zur Theke, um den neuen Cocktail anzurühren. Zachary mußte sich arg beherrschen, das wie pure Säure brennende Gesöff ohne Husten- und Brechreiz durch die Speiseröhre rinnen zu lassen. Er fühlte genau, wo es gerade langlief, bis es in seinem Magen wie ein kleiner Feuerball seine volle Wirkung entfaltete. Sein Gesicht errötete. Sein Herz klopfte noch schneller. Unwillkürlich mußte er lächeln. Offenbar war in dem Zeug eine nicht genau erwähnte Essenz drin, die jedem, der sich ihr auslieferte ein weltentrücktes Lächeln auf das Gesicht zauberte. Indes fühlte er, wie das in dem Getränk enthaltene Zeug aus seinem Magen in seine Adern einwirkte. "Das Zeug wirkt im Magen wie sechs Gläser Feuerwhisky. Das ist der absolute Sommerschlager dieses Jahr", grinste Vineyard, als Zachary schwitzend und keuchend die Auswirkungen des magischen Cocktails erduldete.

"Wo hast du das Rezept her, aus der Hölle?" Fragte Zachary Marchand und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie die in ihm aufwallende Hitze zusetzte. Er meinte aber auch, daß ein immer größeres Glücksgefühl ihn durchflutete, als habe er einen Euphorietrank oder ein die Liebeslust anfachendes Gebräu geschluckt.

"Schenke ich auch nicht jedem aus, schon gar nicht, wenn er oder sie unter siebzehn ist. Aber Maya hat das Getränk genossen. Die hat es aber auch nicht so eingekippt wie du gerade", grinste Vineyard. Dann rief ein anderer Gast nach ihm. Er antwortete laut und ging zu dem Rufer hinüber, den Zachary nicht kannte. Er wartete, bis die Wirkung des neuen Cocktails etwas nachgelassen hatte. Er fühlte, wie nun der Alkohol seine Wirkung entfaltete. Sechs Gläser Feuerwhisky? Dann würde er morgen sicher ein paar Atmosphären Druck mehr im Kopf haben. Viel zu trinken war er nicht mehr gewohnt. Aber womöglich mußte er das trainieren, wenn er mit seinen trinkfesten Onkeln und seinem Vater mithalten mußte. Auch das wurmte ihn. Er hatte hunderte von Leuten getroffen, die durch Alkohol oder andere Drogen Schaden an sich und anderen angerichtet hatten. Doch für seinen Vater war ein Mann nur dann ein Mann, wenn er mindestens eine Flasche Bourbon im Alleingang leertrinken konnte. Auch lag ihm sein Vater immer in den Ohren, bald zuzusehen, daß die Ahnenlinie weitergeführt wurde und Zach als einziger Sohn eben die Hauptverantwortung dafür hatte, daß die Familie nicht ausstarb. Sowas und noch viel mehr würde er in vier Tagen wohl wieder über sich ergehen lassen müssen.

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"Wenn Ihr sie umbringt sind wir erledigt", warnte die kleine, magere Hexe ihre große Anführerin. "Denkt bitte dran, daß wir die Liga jetzt erst richtig in Schwung haben. Warum wollt Ihr Lady Roberta jetzt angreifen?"

"Weil ich zwei Sachen erreichen will, Schwester Beth. Zum einen will ich haben, daß dieses überhebliche, immer sehr nett und zuvorkommend tuende Weib aus der Welt verschwindet, nachdem es Hyneria erledigt hat", erwiderte Lavinia Thornbrook, die offizielle Sprecherin der entschlossenen Schwestern Nordamerikas. "Da sie im Duell zu gut ist, muß es eben ein Hinterhalt sein. Zweitens gibt uns das eine geniale Möglichkeit, diesen widerwärtigen Burgfrieden zwischen dem Ministerium und dieser Wiederkehrerin zu beenden, indem wir so tun, als sei Bobbie Sevenrock von Anthelianerinnen angegriffen worden. Die wurde dieser Schnepfe mit der Natur eines Phönix eben zu mächtig und gefährlich."

"Ihr meint, weil dieses Weib noch immer wegen Wishbones Ermordung verdächtigt wird?" Fragte Beth McGuire, eine eher unscheinbare Gehilfin Lavinias, die nur im Windschatten von Hyneria in die Reihen der entschlossenen Schwestern hatte eintreten können.

"Genauso. Wenn Cartridge merkt, daß Anthelia oder wer immer behauptet, sie zu sein, sich nicht an diese sowieso ziemlich dürftige Absprache hält, macht er wieder Jagd auf sie und ihre Nachläuferinnen. Wir von der Liga werden dann natürlich unsere Hilfe anbiten."

"Aber wie wollt ihr die neue Sprecherin werden, Lady Lavinia?" Fragte Beth.

"Du meinst, weil das Auswahlartefakt dahingehend bezaubert wurde, die Mörderin der Vorgängerin zu entlarven und sie vor allen anderen durch heftige Blutungen bis fast zum Tode zu enthüllen? Indem ich mich nicht drum bewerbe, die Nachfolgerin zu werden, Beth. Das wird dann eine, die nicht weiß, daß ich an der nötigen Beseitigung beteiligt bin und mir auch nicht dabei hilft." Beth verzog das Gesicht. Damit hatte Lavinia gerade alle Chancen vereitelt, daß Beth McGuire jemals die Gesamtsprecherin aller schweigsamen Schwestern Nordamerikas würde.

"Vergeßt es, Lady Lavinia. Wenn Bobbie Sevenrock stirbt, ohne daß wir wissen, ob sie nicht schon vier zur Wahl stehende Nachfolgekandidatinnen bestimmt hat, sollten wir es nicht riskieren, ebenfalls ohne Gedächtnis in Windeln zu landen wie Hyneria und Etna."

"Du bringst mich da auf was. Lady Hyneria hatte ein Denkarium, in das sie jeden Tag ihres Lebens bis einen Tag vor ihrem Fehlschlag mit Ledas Baby eingelagert hat. Allerdings kommt nur daran, wer ihr Blut in seinen oder ihren Adern hat. Wir müssen die Sevenrock ausforschen, wo sie unsere ehemalige Anführerin hingeschafft hat. Dann können wir an das Denkarium heran und ihr Erbe antreten", sagte Lavinia. Beth nickte schwerfällig. "Dann müssen wir das anders angehen. Jemand muß sie eine Zeit lang verkörpern, damit es den anderen Schwestern nicht auffällt", sagte Lavinia. "Und falls sie schon vier Nachfolgekandidatinnen bestimmt hat, müssen wir diese Liste finden, vernichten und erneuern, um sicher zu sein, eine von uns wählen zu lassen. Ich kann dann zwar nicht die Nachfolgerin werden, aber zumindest Einfluß auf ihre Entscheidungen nehmen. Bei der Gelegenheit sind wir dann auch das Übel Anthelia los."

"So, sind wir das?" Fragte Beth skeptisch. "Ich fürchte er, Mylady, daß dieses Übel uns dann noch mehr zu schaffen machen wird, auch wenn das Ministerium und Nocturnia hinter ihr her sein werden. Sie hat schon einmal Entomanthropen nachgezüchtet. Sie könnte es wieder tun und die dann auf uns ansetzen."

"Ich nehme deine Warnung zur Kenntnis, Schwester Beth", schnarrte Lavinia Thornbrook. "Es ändert aber nichts an meinem Entschluß, dieses überalterte, übervorsichtige Frauenzimmer auszulöschen."

"Paß auf, daß es dir dabei nicht so geht wie Anthelia, als sie Lady Daianira herausgefordert hat. Gegen Bobbie Sevenrock im direkten Duell sind wir beide nicht versiert genug."

"Auch diese Warnung nehme ich zur Kenntnis, Schwester Beth. Aber Sevenrock wird wohl kaum einen schwarzen Spiegel beschwören können. Das können nur solche, die keine Rücksicht auf das Leben eines Freundes oder Feindes nehmen. Ich werde also nicht zu Bobbies spätem Kind degradiert werden. Abgesehen davon, daß wir ja jetzt wissen, daß ich dabei mein Wissen und meine Fähigkeiten behalten würde."

"Dann ist Euer Entschluß nicht mehr zu ändern?" Fragte Beth.

"Nur im Bezug auf das Wann, wie und wo. Aber nicht auf das Ob und das Warum", erwiderte Lady Lavinia. Sie wußte, daß sie mit sehr hohem Einsatz spielte. Machte sie auch nur einen Fehler, starb sie entweder oder verlor alle Macht und errungenen Kenntnisse.

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Ihm war alles andere als wohl. Was er da tat war falsch. Doch sie hatten seine Mutter entführt. Wer die waren wußte er nicht. Sie hatten mit Hilfe einer künstlichen Stimme und einer Tonbandaufzeichnung seiner Mutter auf seinen Anrufbeantworter gesprochen. Wolte er nicht jeden Tag ein Stück von seiner Mutter mit Eilsendung zugeschickt bekommen, mußte er tun, was sie von ihm wollten. Geld war es nicht. Er war nur ein einfacher Hausangestellter. Aber genau das war das Problem. Er sollte in dem Haus, wo er arbeitete, etwas anstellen. Eigentlich was ganz harmloses. Aber was war bei einer Gangsterbande, die alte, wehrlose Frauen entführte, schon harmlos? Außerdem ging es nicht um sie oder ihn, sondern um seine Herrschaft.

Der Sommer in der Stadt war immer noch heiß. Hier unten, an der Südostecke der Vereinigten Staaten, konnte jeder Sommer die reinste Hölle sein. Ja, und wie in der Hölle kam er sich nun auch vor. Er hatte etwas zu tun, was gegen sein Gewissen war. Doch wenn er es nicht tat, würden sie seine Mutter lebendig zerlegen, jeden Tag ein Stückchen mehr. So tat er, was die Entführer ihm aufgetragen hatten.

Die Klimaanlage säuselte tapfer gegen die feuchtheiße Luft an. Viele dachten, daß es nachts kühler wurde. Doch dann stieg die Hitze aus dem Boden, die am Tag dort aufgestaut worden war.

Mit großem Bangen hatte er darauf gelauscht, ob seine Dienstherren wirklich in den Betten lagen. Maggy, die Haushaltshilfe, war in ihrem Verschlag, weit genug weg von ihm. Kammerdiener Carlton schlief sicher auch schon. Denn sonst hätte er das Licht unter dem Türspalt sehen müssen. Er lauschte. Doch er hörte nur das leise Säuseln der Klimaanlage. Es erinnerte ihn daran, was die Verbrecher ihm befohlen hatten. Ohne Licht zu machen schlich er durch das altehrwürdige Haus, das vor einigen Jahrhunderten noch einer französischen Pionierfamilie gehört hatte. Er fand sich blind zurecht. Denn er arbeitete hier schon seit der Geburt des einzigen Sohnes. fast auf den Tag genau vierzig Jahre war das her. Mochte es sein, daß es diesen Verbrechern um den jungen Herren ging, der bei der Bundesermittlungsbehörde angefangen hatte? Abwegig war es nicht. Vielleicht ging es aber auch um seine Zeit in diesem exklusiven Internat, der Anthony-Crauford-Oberschule, wo der junge Herr gelernt hatte. Niemand hatte ihm mehr über die Schule erzählt, als alle anderen wissen durften. Schulfreunde hatte der Junior nie mitgebracht. Doch das durfte ihn nicht betreffen. Er fühlte sich schon mies genug, wie Judas, bevor er Jesus geküßt hatte, wie vielleicht Brutus, bevor er Cäsar den Dolch in den Leib gerammt hatte. Machte er jetzt ähnliches? Wozu die Sache, die er machen sollte?

Die Instruktionen waren ganz detailiert gewesen. Er mußte sie nur befolgen. Er stieg die Kellertreppe hinunter und schloß die Tür zum Maschinenraum auf. Das Säuseln wurde zum Brausen und brummen. Pumpen und Kühlaggregate schufteten unermüdlich gegen die feuchtheiße Sommerluft an, um das Haus kühl zu halten. Er schloß die Tür von innen und schaltete das Licht ein. Jetzt sah er das Herzstück der Temperaturregelung. Nur wenige Handgriffe, hatte die Sprachausgabe ihm mitgeteilt. Er atmete noch einmal durch. Dann öffnete er die Verkleidung, hinter der das Kabelgewirr lag. Er hantierte dort, wo die Temperaturregelung war an einem Metallplättchen. Wenn eine bestimmte Temperatur unterschritten wurde, würde es durchbrechen und damit den Stromkreis unterbrechen, der die Anlage am laufen hielt. Behutsam, um nicht sofort den Ausfall der Anlage zu verursachen, bog er das Plättchen. Als er sicher war, daß es demnächst durchbrechen würde, schloß er das Gehäuse der Temperaturregelung. Die Anlage brauste und brummte weiter. Der Kühlmittelkreislauf blieb in Schwung. Der Verräter und Saboteur wider Willen schaltete das Licht aus und verließ den Maschinenraum wieder. So leise wie er hergefunden hatte fand er zu seinem Schlafzimmerchen zurück. Er hörte im Bett liegend auf das Säuseln der Maschinen. Würde er mitbekommen, wenn sie ausfielen? Über diesen Gedanken schlief er ein

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Sie zog die Blicke der meist halbwüchsigen Jungen auf sich. Sie wußte um die Anziehungskraft ihres Körpers, die durch die Verschmelzung nicht so arg gelitten hatte. Außerdem besaß sie alle Kenntnisse, die sie zu einer überragenden Liebeskünstlerin machten. Deshalb war sie es gewohnt, wenn im Rausch der erwachenden Männlichkeit treibende Jünglinge sie anschmachteten. Vielleicht sollte sie einem oder zwei dieser Burschen heute noch den lange gehegten Traum erfüllen, endlich die Intime Berührung einer Frau zu fühlen, sich mit ihr auszutoben und den Gipfel der eigenen Lust erstmalig zu erklimmen. Sie dachte an Morpuora, die grüne Waldfrau. Seitdem sie sich mit Daianira duelliert hatte hatte sie mit dieser Königin der Sabberhexen keinen Kontakt mehr gehabt. Die hatte es auch verstanden, ohne anziehendes äußeres jeden Knaben zu betören und seine Knabenzeit in ihrem begehrenden Schoß zu begraben.

Anthelia riß sich aus dieser Vorstellung los, sich hier ein paar blutjunge Knaben zu nehmen. Dafür war sie nicht hier. Einmal mehr ärgerte sie sich, daß Naaneavargias Unersättlichkeit ein Teil von ihr geworden war. Doch diese würde sie demnächst wieder beruhigen. Hier und jetzt, in diesem Internetcafé, wollte sie zunächst wissen, was ihr da an der Ostsee passiert war. Sie hatte bewußt eine Woche verstreichen lassen, um mögliche Verfolger ins Leere stoßen zu lassen. Sie fühlte einen gewissen Triumph, daß sie von Benjamin Calder alias Cecil Wellington genug über die Bedienung dieser elektrischen Wissenssammel- und Ausgabemaschinen gelernt hatte. So konnte sie nun im Internet nach dem suchen, was ihr passiert war. Sie tippte die Begriffe Bernstein, Phosphor, und Ostsee in das Eingabefeld einer sogenannten Suchmaschine ein und bekam eine Riesenliste von zutreffenden Einträgen angezeigt. Es dauerte, bis sie las, daß es in der Ostsee Überreste von Brandbomben aus dem zweiten Weltkrieg gab, wobei der weiße Phosphor bei flüchtiger Betrachtung wie heller Bernstein aussehen mochte und schon manchen Schatzsucher, der lose herumliegenden Bernstein sammelte böse Verbrennungen beschert hatte. Anthelia erkannte wieder einmal, wie haarscharf sie an einer Katastrophe vorbeigeschliddert war. Als sie in dem Zusammenhang eine Meldung fand, dernach vor einer Woche die lettische Kriegsmarine eine weiße Leuchterscheinung untersucht habe und am Ostseestrand verbrannten Bernstein und Phosphor wie verkohltes Holz gefunden habe, ging man davon aus, daß es wieder mal jemand versucht hatte, der keine Ahnung von echtem Bernstein besaß und dabei erst nasses und somit erst einmal harmloses Phosphor mit aufgelesen hatte. Was die verkohlten Holzreste anging vermuteten die Seesoldaten wohl überreste von Holzschaufeln, die mit dem aufgesammelten Material zusammen verpackt waren. Nur warum das ganze dann über mehrere Kilometer verteilt lag konnte keiner erklären. Denn Sprengstoffrückstände waren keine gefunden worden.

"Oh, muß ich aufpassen, daß die Meldung nicht an ungewünschte Stellen gerät. Gut, daß ich lange genug gewartet habe", dachte Anthelia, bevor sie die Wellen der Begierde eines gerade sechzehnjährigen Jungen erreichten, der sich an ihrer Oberweite festgeguckt hatte. Sie mußte ihren eigenen Geist verschließen, um nicht von dieser jugendlichen Träumerei in eigene Wallungen getrieben zu werden. Wo war sie gerade? Sie las die Meldung über die gefundenen Überreste noch. Falls die Zaubererwelt über Agenten bei den Seestreitkräften darüber informiert würde konnte es mit der Heimlichkeit dahin sein. Andererseits beschloß sie jetzt, daß sie den gewünschten Stein nicht mehr selber suchen sollte, wo die Muggel ihr die Schatzsuche verdorben hatten. Sicher gab es Sammlungen, wo besonders prominente Bernsteine mit Insekteneinschlüssen erwähnt wurden. So suchte sie nun mit der aufgerufenen Suchmaschine nach den Begriffen Bernstein, fossile Bienen, Sammlung, Museum, Privatsammler und schickte die Anfrage los. Aus mehr als 100 Treffern konnte sie sich nun aussuchen, was sie wollte. Dabei merkte sie, wie der Junge, der ein Auge auf sie geworfen hatte auf sie zukam. Sie wollte sicher nicht, daß der las, was sie gerade las und wandte sich ihm zu.

"Hallo, Junger Mann, kann ich was für dich tun?" Säuselte sie mit bewußt tief klingender Tonlage. Der Junge zuckte zusammen und erzitterte vor Erregung. Er glubschte die Frau mit der blaßgoldenen haut und den großen, runden, blaugrünen Augen an. Sie strich sich mit den Fingern sacht durch ihr langes, dunkelblondes Haar und atmete so leise sie konnte so tief wie möglich ein. Das brachte den im Strudel seiner Hormone wirbelnden Jungen komplett aus der Fassung. Er stotterte nur: "Ä-ähm, b-b-bin w-w-wohl n-n-nich' i-ihr T-t-typ, M-ma'am."

"Willst du da gerne dran", säuselte Anthelia und deutete auf ihre privaten Stellen. Dem Jungen fielen die Augen aus dem Kopf. "Geht aber nur nach neun Uhr abends. Da kannst du mich dann besuchen, wenn deine Mom dich da noch auf die Straße läßt." Der Junge starrte sie nun an. Dann warf er sich herum. Anthelia vernahm noch seine Gedanken, daß er wohl gerade eine Hure vor sich gehabt hatte. Zumindest dachte er nicht "Nutte", erkannte Anthelia. Das kühlte ihn offenbar runter, weil er seinen Freunden gegenüber nie zugeben könnte, für Sex bezahlen zu müssen, abgesehen davon, daß er sich "dieses Traumweib" eh nicht leisten könne. Anthelia genügte das. Sie prüfte nun die Artikel und Seiten über Sammler von Bernsteinen, las auch etwas über das Buch "Jurassic Park" und die gleichnamige Verfilmung, wo Vorzeittierkundler aus in Bernsteinen steckenden Mückenleichen die Urzeitungeheuer rekonstruiert hatten, die Dinosaurier genannt wurden und deren versteinerte Knochen früher für die Skelette verstorbener Drachen gehalten wurden. "Bokanowski läßt grüßen", dachte sie dabei nur mit unverhohlener Verachtung. Dann fand sie einen spanischen Artikel über einen Sammler namens Diego Manuél Borja Minguéz, der in Medellín, Kolumbien lebte. Er sammelte auch große Bernsteine mit urweltlichen Insekten und hatte tatsächlich Vorläufer von Honigbienen, Wespen und Fliegen in seiner Sammlung. Allerdings wurde erwähnt, daß der Mann verdächtig war, dem berüchtigten Kokainkartell anzugehören, womit sich sein sündteueres Leben und die hohen Sicherheitsmaßnahmen erklären ließen.

"Ou", machte Anthelia, als sie das Foto eines jungen Mannes mit tiefschwarzem Haar sah. Doch das war nicht der Sammler, sondern sein Neffe Pedro Juliano. Sie seufzte enttäuscht. Dann beschloß sie, sich zumindest die Sammlung dieses Minguéz anzusehen.

Am Abend apparierte Anthelia im Schutze eines Tarnumhanges an der Grundstücksgrenze zum Anwesen des mutmaßlichen Rauschgifthändlers. Sie dachte daran, wie doppelmoralisch die Menschen im Westen waren. Da hofierten sie den Alkohol in Wein und Bier und suggerierten der Jugend, wie männlich oder erwachsen das Zigarettenrauchen war und verteufelten dann die, die sich mit Heroin, Kokain und anderen Rauschgiften Körper und Geist ruinierten, anstatt alle Rauschmittel gleichzusetzen und sicherzustellen, daß nur Erwachsene an diese Substanzen herankamen und die Händler aller Mittel bestraft wurden, die an Jugendliche oder kleine Kinder verkauften. In ihr war immer noch die Heilerausbildung wirksam. Doch nun galt es erst einmal, das vor ihr liegende Gelände zu erforschen. Da sie im Moment keinen unsichtbar machenden Besen mehr hatte mußte sie den Exosenso-Zauber verwenden, um durch die Augen eines Wachpostens zu sehen und durch dessen Ohren zu hören, was im Haus selbst passierte. Sie schnappte die Gedanken der Patrouille auf und erfuhr, daß Minguéz seine Samlung in einer durch schwere Panzertüren gesicherten Stahlkammer hatte. Als sie es wagte, einen der patrouillierenden Wächter mit Erstarrungszauber zu belegen und legilimentisch auszuforschen, erfuhr sie, das die Kammer von mehreren Bewegungsmeldern überwacht wurde, die bei unbefugtem Zugang alarmschlugen. An diese waren Fernsehkameras mit Normalbild- und Wärmebildaufnahme angeschlossen. Es war also nicht möglich, sich in diesem Raum zu bewegen, solange jemand nicht den Zugangscode eingab, der jeden Tag vom Hausherren selbst geändert und nur dem Chef der Wachmannschaft mitgeteilt wurde.

Anthelia belegte den Wächter mit einem Gedächtniszauber und gab ihm seine Bewegungsfreiheit wieder. Sie überlegte, ob sie unter dem Tarnumhang vor den Bewegungsspürgeräten sicher war. Auch wußte sie nicht, ob die Wärme in Bilder verwandelnden Elektroaugen ihren Körperwärme aussendenden Leib sichtbar machen konnten. Sie wollte schließlich so unauffällig wie möglich vorgehen. Um nicht länger und aufwändiger als nötig zu zaubern griff sie zur Radikalkur. Sie apparierte in den Salon des Hauses, durch alle scharfgeschalteten Alarmvorrichtungen hindurch. Der Hausherr unterhielt sich gerade mit einem Geschäftspartner. Anthelias noch so leise Apparition und ein kurzes Flimmern in der Luft unterbrachen die angeregte Unterhaltung. Anthelia reagierte unverzüglich. Sie bewegungsbannte den Partner von Minguéz und nahm diesen selbst dann unter den Imperius-Fluch, bevor er seine Wachen rufen oder sonstige Unannehmlichkeiten veranstalten konnte. Der Muggel, der möglicherweise zur einflußreichsten Verbrechergruppe Kolumbiens gehörte, hatte dem Einfluß des Imperius-Fluches nichts entgegenzusetzen. Er stand auf, als Anthelia ihm befahl, die Stahlkammer noch einmal zu besuchen, um alle Bernsteine mit eingeschlossenen Honigbienen anzusehen. Anthelia folgte ihm, nachdem sie den Geschäftspartner von Minguéz mit einem Gedächtniszauber belegt und eine verzögerte Wiederherstellung seiner Bewegungsfreiheit ausgeführt hatte. Sie wechselte mit Kurzstreckenapparition zu ihrem unfreiwilligen Helfer zurück und folgte diesem als unsichtbarer Schatten. Sie staunte, welche Hindernisse er alles ausschalten mußte, nachdem er den Zutrittscode eingegeben hatte. Erst als alle Alarmvorrichtungen ausgeschaltet waren öffnete Minguéz die Stahltüren mit allen Fingerabdrücken der rechten Hand.

Die Kammer war schon bald ein Saal. Die mattglänzenden Stahlwände, die nur an den Verbindungen zwischen Decke und Boden verschweißt waren bargen vier Reihen von quaderförmigen Schaukästen mit gläsernen Einlegeböden. Sie erfuhr aus den Gedanken des gerade in der Kammer stehenden, daß die Kästen selbst aus Panzerglas bestanden und zudem noch mit farb- und geruchlosem Betäubungsgas angefült waren. Doch das kümmerte Anthelia nicht. Sie überwachte die Gedanken des kolumbianischen Bernsteinsammlers, bis sie erfuhr, welcher der imposanten Steine eine vollständige Bienenleiche enthielt. Anthelia sah den honigfarbenen, durchsichtigen Stein und erkannte das darin eingeschlossene versteinerte Außenskelett des gesuchten Urzeitkerbtieres. Der Stein war fast so groß wie ihr damaliger Entomolith. Genau so einen Stein brauchte sie. Ihn aus dem Kasten zu holen war eine Kleinnigkeit. Denn sie konnte ihn apportieren. Aber den Anschein erwecken, nichts berührt zu haben ging nur, wenn sie von dem Originalstein eine Kopie machte und diese genauso in den Panzerglaskasten zurückversetzte, wie der Originalstein gelegen hatte. Sie wollte sich gerade auf die genaue Position und Ausrichtung des Steines konzentrieren, als ihre Gedanken von aggressiven Fremdregungen gestört wurden. Die Angespanntheit der Wachen wurde zu jäher Alarmstimmung. Von außen drangen Mordlust, Vernichtungswille und Rachsucht zu ihr vor. Dann hörte sie ein leises schwirren, dem keine Zehntelsekunde später ein lauter dumpfer Knall folgte. Das Haus wurde erschüttert. Sofort gingen die Alarmsirenen los. Der Lärm von Feuerwaffen drang bis hier unten vor. Minguéz rannte, völlig ohne dazu gezwungen zu sein, zu einer Stelle in der Wand und legte beide Hände auf eine für Anthelia nicht erkennbare Stelle. ""Debo escondirme!" Rief er. Es erklangen mehrere Zweiklangtöne. Dann zischte es. leise surrend schob sich ein Stück Stahlwand zentimeter für Zentimeter zur Seite. Wieder krachte es oben. Und noch einmal. In der erst so nahtlosen Wand klaffte nun ein senkrechter Spalt, der sich erweiterte. Anthelia erkannte nun, daß der Hausherr einen zusätzlichen Schutzraum eingerichtet hatte, der zugleich eine Verkleinerung der Sicherheitszentrale war, einen Mikrowellenherd, eine Kühltruhe, ein Notstromaggregat und ein Satellitentelefon enthielt. Wieder erschütterte eine dumpfe Detonation das Haus. Weitere Salven aus diesen Schnellfeuerwaffen lärmten. Anthelia fing Gedankensplitter ein, die von Granatenbeschuß und Gegenschlägen handelten. Irgendwer hatte sich ausgerechnet diesen Abend ausgeguckt, um Minguéz anzugreifen. Polizei war das nicht. Die hätte das Haus umstellt und die Aufgabe des Hausherren verlangt. Sie horchte weiter hinaus und fing Gedanken eines Mannes auf, der sich Pablo Lucarno nannte und den Auftrag hatte, den zu mächtig gewordenen Minguéz und seine Zentrale mit Stumpf und Stiel auszulöschen.

"Das ist nicht euer Ernst", dachte Anthelia, als sie von einem der Wachposten empfing, daß die Angreifer nun mit schweren Brand- und Sprenggeschoßwaffen vorgingen. Das Donnern und Krachen wie bei einem Artillerieangriff, den Anthelia mal im dreißigjährigen Krieg mitbekommen hatte, tobte weiter über ihrem Kopf. Minguèz tauchte gerade in den eingerichteten Schutzraum. Anthelia wischte mit einem Mikramnesia-Zauber alle Erinnerungen der letzten fünf Minuten aus seinem Gedächtnis. Die Schutzraumtür glitt nun schnell wieder zu. Minguéz würde denken, daß er rein instinktiv in den Schutzraum gerannt war. Anthelia indes bekam mit, wie Minguézes Partner von den Hauswachen in einen anderen Schutzraum weiter oben getrieben wurde. Dann brach das mörderische Bombardement die obersten Stockwerke nieder. Anthelia indes zielte mit dem Zauberstab auf den Glaskasten mit dem von ihr erwünschten Stein, apportierte diesen heraus und betrachtete ihn sich noch einmal.

Das Bienenskelett war wahrhaftig vollständig. Die haarigen Fühler lagen fest verbacken im versteinerten Baumharz. Wie mußte es für Sardonia gewesen sein, ihren ersten Entomolithen in den Händen gehalten zu haben? Anthelia wußte es nicht. Eine weitere dumpfe Explosion gemahnte sie, daß sie besser nicht zum Opfer dieses Angriffes werden sollte. Sie kopierte den Bernstein mit "Geminio!" Dann versetzte sie das Duplikat in den Kasten zurück und bugsierte es so, daß es so lag wie sein Original. Rums! Rums! Rums! Drei gewaltige Explosionen rüttelten mit Urgewalt an Anthelias Körper und Trommelfelle. Wer immer das Haus bestürmte ging nicht auf Gefangene aus, erkannte sie. Wer das Pech hatte, jetzt gerade in diesen Mauern zu sein mußte sterben. Sie sah noch einmal zur verschlossenen Schutzraumtür und empfing Minguéz' Gedanken. Der Hausherr suchte über die Bildschirme gerade die Umgebung des Hauses ab. Doch viel war nicht mehr zu erkennen. Die Außenkameras waren dem Bombardement und den vorrückenden Kämpfern bereits zum Opfer gefallen. Anthelia hörte die Gedanken, die ein ausgebrochenes Feuer betrafen. Was immer in den nächsten Minuten hier geschah, es war nicht mehr ihre Angelegenheit. Allerdings mußte sie verdrossen grinsen. Wenn sie Minguéz nicht dazu getrieben hätte, sie in seine Stahlkammer zu führen, wäre er sicher nicht rechtzeitig in seinen Schutzraum gekommen. Denn sein Partner strahlte keine Gedanken mehr aus. Dann erfaßte Anthelia, daß der Hausherr gerade automatische Schutzvorrichtungen in Gang setzte, die den Weg zu ihm zu einem tödlichen Parcours machten, unter anderem mit Laserstrahlen, die zwischen den Glaskästen durch die Stahlkammer schossen. Anthelia konnte sich gerade noch hinwerfen, als ein auf ihre Körperbewegungen ansprechender Bewegungsmelder einen solchen Laserstrahler auslöste. Sie konnte die haardünne Leuchtspur erkennen, die der Strahl in die Luft brannte. Sie war gefangen in einer magielosen Falle. Jede weitere Bewegung würde ihr weitere Mordvorrichtungen auf den Hals hetzen.

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"Schon wieder", schnaubte Madam Archer, eine ehemalige Lehrerin der Broomswood-Akademie für nordamerikanische Hexen. Sie fuchtelte mit einer tagesfrischen Ausgabe der Stimme des Westwinds vor den Zuhörerinnen in dem kleinen Saal herum. Lavinia Thornbrook, die neben der ehemaligen Broomswood-Schulleiterin Pabblenut saß, mußte sich arg anstrengen, ihre Erheiterung nicht zu zeigen. Linda Knowles hatte ein Interview mit der im Mai aufgetauchten Tochter Daianira Hemlocks geführt und sie gefragt, wie sie mit der harschen Kritik an ihrem unehelichen Kind Selene umgehe.

"Die sind doch nur neidisch, weil sie mit ihrer Gehässigkeit jeden möglichen Partner vergraulen und somit nie selbst sowas schönes wie ein eigenes Kind erleben können", hatte Theia Hemlock wohl geantwortet. "Ich kenne das lautstarke Geplärre dieser selbsternannten Anstandshüterinnen. Solange sie nur winseln und kläffen stört es mich nicht. Ich genieße dieselben Rechte wie verheiratete Hexen mit Kindern. Wenn die das nicht begreifen wollen gehören die alle in heilmagische Betreuung." Diese Sätze waren es, die die Riege um Alexandra Pabblenut aufbrachten. Jetzt wollten diese alten Frauen die Unterstützung jener Hexengruppe, die sich dazu verpflichtet hatte, das Bild der Hexe in der nordamerikanischen Zaubererwelt wiederherzustellen. Lavinia hatte sich dieser Vereinigung angeschlossen, weil sie diese lautstarken Moralpredigerinnen gut für ihre eigenen Zwecke einzuspannen hoffte, nämlich Macht und Einfluß im Zaubereiministerium zurückzugewinnen und gleichzeitig nach den Angehörigen von Anthelias Hexenbande zu jagen. Im Moment jedoch hatten sich die Mitglieder der Liga rechtschaffender Hexen zu sehr auf die beiden ledigen Mütter Tracy Summerhill und Theia Hemlock eingeschossen und hetzten auch gegen die Southerlands. Das fand Lavinia bedenklich. Denn die Southerlands genossen großen Zuspruch und hatten großen Einfluß auf die nordamerikanische Zaubererweltpolitik.

"Sie ignoriert uns genauso wie diese Wishbone-Hure Summerhill", knurrte Alexandra Pabblenut verärgert. "Es wird dringend Zeit, daß wir unseren Worten Taten folgen lassen."

"Oh, wollen wir uns von unseren Grundsätzen verabschieden und die Gewalt doch als legitimes Mittel unserer Politik anerkennen?" Warf Kortney Lane, eine gerade erst dreißig Jahre alte Hexe mit dunklem Haar ein, die eigenen Angaben nach wegen Wishbones Anti-Hexen-Politik auf Entschädigung ihres Verdienstausfalls ausging.

"Sie waren nicht in Broomswood, Ms. Lane", sagte Alexandra Pabblenut höchst verärgert. "Denn sonst hätten Sie gelernt, daß Respekt leider nicht ohne Druck und Furcht errungen werden kann. Ich verabscheue die reine, zum Terror gegen andere angewandte Gewalt. Doch wenn es gilt, jemanden von einem Irrweg abzubringen, der ihm oder ihr mehr Schaden eintrüge, so ist ein gewisses Maß an Züchtigung angezeigt."

"Wir haben uns zusammengeschlossen, um gerade den üblen Ruf zu korrigieren, wir ließen uns zu leicht zu irgendwelchen Gewalthandlungen verführen", protestierte Kortney Lane. Lavinia mußte sich anstrengen, nicht zu grinsen.

"Züchtigung muß nicht in Mord und Totschlag bestehen. Es gilt, die vom rechten Weg abgekommene Person durch unvergeßliche, ihr selbst unangenehm erscheinende Maßnahmen davon zu überzeugen, auf den rechten Weg zurückzufinden", sagte Alexandra Pabblenut. Lavinia Thornbrook horchte nun sehr gespannt auf.

"Was der rechte Weg ist haben wir ja alle festgelegt", räumte Kortney Lane ein. "Wir wissen aber auch, daß viele Hexen ihre persönliche Freiheit über ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen stellen und dafür nach der unrühmlichen Ära Wishbone Rückendeckung vom Zaubereiministerium erhalten haben. Seien wir doch ehrlich, werte Gevatterinnen. Solange wir nur reden, protestieren und argumentieren genießen wir das Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber wenn wir jetzt hingingen, gegen unsere Mithexen irgendwelche Strafmaßnahmen zu vollstrecken, ohne vom Ministerium dazu befugt zu sein, sind wir nicht besser als jene Hexenbande, die der selbsternannten Erbin Sardonias nachläuft."

"Ich spreche nicht von Anschlägen oder anderen niederen Gewalthandlungen", knurrte Pabblenut. Lavinia sah Madam Archer an, die immer noch mit der Zeitung herumfuchtelte. Zu genau erinnerte sie sich an den für Pabblenut zum Fiasko ausgeuferten Gerichtsprozeß gegen den Kosmetikladen von Dione Porter und ihrer Nichte Melanie Redlief, wo gerade Madam Archer eine sehr ungute Figur gemacht hatte. Denn diese hatte sich damals an einer anderen Besucherin des Ladens vergriffen, weil diese sich zu sehr für Pflegeprodukte nur für Hexen interessiert hatte. Das sprach absolut nicht für einen rein vernunftgemäßen Umgang mit Mitmenschen.

"Ach nein, und wie meinen Sie, daß wir die ganzen öffentlich ihre Unzucht feiernden Hexen umstimmen sollen?" Fragte Kortney Lane herausfordernd und strich sich durch ihr dunkelbraunes Lockenhaar. Alexandra Pabblenut funkelte sie an und fauchte:

"Wir könnten damit beginnen, vor den Häusern der Betroffenen lautstark zu protestieren, ihnen die Nachtruhe streitig zu machen und die Herausgabe der unstatthaft empfangenen Kinder zu verlangen. Der nächste Schritt muß in einer Isolierung dieser Hexen bestehen. Wir müssen sie von der restlichen Zaubererwelt ausschließen, bis sie die von uns gestellten Bedingungen anerkennen und befolgen. Niemand kann lange Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt bestehen."

Was du nicht sagst, dachte Lavinia. Gerade die Broomswoodianerinnen hatten bewiesen, wie gut es sich in einer selbstgewählten Abgeschiedenheit aushalten ließ, in die nur von ihnen anerkannte Personen, vor allem leicht einzuschüchternde junge Hexenmädchen, hineingelassen wurden. "Die fragwürdigen Frauenzimmer erfreuen sich einer gewissen Berühmtheit und halten sich daher für in ihren Ansichten bestärkt. Wenn wir dafür sorgen, daß sie kein Gehör mehr erhalten, ja von der restlichen Zaubererwelt vergessen werden, werden sie ihre bisherige Haltung überdenken." Lavinia mußte sich arg beherrschen, nicht laut loszulachen. Diese Heuchlerin sprach von anderen und meinte doch sich selbst. Denn genau das war Pabblenuts größte Angst, in Vergessenheit zu geraten und damit jede Chance zu verschenken, ihre fragwürdige Lehranstalt wiedereröffnen zu können, ob in den vereinigten Staaten oder dem nördlichen Nachbarland Kanada.

"Professor Pabblenut hat recht. Wir müssen mehr tun als nur reden", pflichtete eine frühere Mitarbeiterin Alexandra Pabblenuts ihrer verehrten Ex-Vorgesetzten bei. Kortney sah viele zustimmend nickende Ligakameradinnen. Deshalb blickte sie abbittend zu Alexandra Pabblenut auf und sagte:

"Zumindest könnten wir die betreffenden Hexen darauf hinweisen, daß sie mit ihrer Haltung ihren Kindern mehr schaden als nützen. Würde es genügen, wenn die beiden erwähnten Hexen auf jeden weiteren öffentlichen Auftritt verzichteten?"

"Nein, würde es nicht", schnaubte Pabblenut. "Da die Öffentlichkeit in Gestalt dieser aufdringlichen Sensationsjägerinnen Sweetwater und Knowles immer wieder versuchen wird, diese beiden Hexen zu Stellungnahmen zu ermuntern, ist es nicht damit getan, die beiden zum Verzicht auf öffentliche Stellungnahmen zu überreden. Sie müssen ihre unrühmliche Haltung aufgeben und die Kinder abgeben, damit diese im Sinne sittlich einwandfreier Grundsätze erzogen werden", erwiderte Madam Pabblenut. Kortney Lane nickte schwerfällig. Lavinia war sich sicher, daß die junge Hexe anderer Ansicht war und nur zurückgerudert war, um nicht selbst von diesen Möchtegernfurien angefaucht zu werden. Lavinia hatte mit Kortney abgestimmt, daß sie möglichst wenig auffielen. Denn wenn sie die Liga gegen Anthelia in Stellung bringen wollten, mußten sie einen Gutteil des Weges mit den Broomswoodianerinnen mitmarschieren. Lavinia wußte jedoch ein Argument, der selbstherrlichen Ex-Schulleiterin in den Besenschweif zu rasseln.

"Theia Hemlock ist die Urenkeltochter von Großheilerin Greensporn. Diese war auch die Hebamme, die der kleinen Selene auf die Welt geholfen hat. Wenn wir jetzt zu einem offenen Feldzug gegen Theia Hemlock blasen verscherzen wir es uns mit der halben Heilerzunft. Es könnte Heiler und Heilerinnen einfallen, uns auf unseren Geisteszustand untersuchen zu wollen und ein willkommener Anlaß für unsere Gegner sein, uns als krankhafte, unbedingt in heilmagische Betreuung gehörende Personen hinzustellen. Eileithyia Greensporn besitzt großen Einfluß, nicht nur bei den Heilern. Greifen wir ihre Familie an - und sie hat deutlich gemacht, daß sie diese Hexe namens Theia als ihre legitime Urenkelin anerkennt - schaufeln wir womöglich unser eigenes gesellschaftliches Grab. Das nur für alle die, die das noch nicht bedacht haben."

"Sie wollten damals unserer Vereinigung beitreten, weil auch Sie davon überzeugt sind, daß durch Umtriebe von Hexen wie dieser Wiederkehrerin und den Nachtfraktionshexen unser Ansehen an den Rand der totalen Vernichtung geraten ist", wies Alexandra Pabblenut Lavinia Thornbrook noch einmal darauf hin, weshalb sie in dieser Vereinigung war. Lavinia nickte leicht. Doch dann antwortete sie frei heraus: "Ja, wegen dieser Wiederkehrerin und ihren Anhängerinnen. Ich bin aber nicht in die LRH eingetreten, um ledige Hexenmütter zu jagen und anzuspucken. Es geht uns um die, die eindeutig strafbare Handlungen begangen haben. Kinder zu bekommen ist für mich kein Verbrechen." Lavinia wußte, daß sie viel riskierte, weil sie Pabblenut genau darauf ansprach, was dieser offenbar am meisten mißfiel. Aber ihr ging es nicht um Theia Hemlock. Besser, sie wollte sich nicht mit den übrigen Schwestern anlegen, solange Roberta Sevenrock fest auf dem fliegenden Besen saß. Jede voreilige Aktion würde sie als Verräterin an der Schwesternschaft entlarven. Denn was Pabblenut nicht wußte war, daß Theia Hemlock kurz vor der Geburt ihrer Tochter Selene von Roberta Sevenrock vor einer großen Gruppe eingeschworener Mitschwestern feierlich in der Schwesternschaft begrüßt worden war. Diese vergrätzte und verstockte Ex-Schulleiterin hatte doch überhaupt keine Ahnung, mit wem sie sich anlegte. Oder es war ihr ganz recht, die bisher so im Verborgenen tätige Schwesternschaft auffliegen zu lassen. Lavinia genoß es förmlich, wie Pabblenut höchst verstört umherblickte und hörte sie fragen, wer noch dieser Ansicht sei. Außer ihren direkten Mitstreiterinnen aus Broomswood nickten alle anderen. Mrs. Amanda Blueberry, eine ältere Hexe, die selbst schon drei Kinder bekommen hatte, ergriff das Wort:

"Es ist richtig, daß Mutterschaft kein Verbrechen ist. Es ist auch richtig, daß ein Kind nichts für seine Eltern oder die Umstände seiner Zeugung kann und daher nicht für seine bloße Existenz bestraft werden darf. Das wäre die Ansicht der brutalen Fanatiker um diesen britischen Massenmörder, der im Mai 1998 über seine eigene Selbstüberschätzung gestürzt ist. Madam Pabblenut und auch Sie anderen, die mit ihr Jahrzehnte lang den gleichen Weg gegangen sind, wir sollten hier und jetzt klarstellen, daß wir nicht im Namen der von uns für richtig gehaltenen Ansichten auf Methoden zurückgreifen dürfen, wie sie jene benutzen, gegen deren Tun wir uns ausgesprochen haben. Verzichten Sie um der weiteren Existenz unserer Gruppierung wegen auf jede Art von körperlich-seelischer Zwangsmaßnahmen gegen Ms. Hemlock und Madam Summerhill! Wir würden unweigerlich verlieren, wenn wir uns auf das Niveau der Spinnenschwesternschaft herabließen. Sicher müssen und dürfen wir weiterhin gegen die Art, wie die beiden Hexen mit ihrer unstatthaften Lebensweise hausieren argumentieren, deutlich machen, daß alleinerziehende Hexen mehr Nach- als Vorteile haben, um Nachahmung zu verhindern. Doch unser Hauptanliegen ist es, jene, die sich verbrecherischen Hexenzirkeln angeschlossen haben, zur Abkehr von diesen Gruppierungen zu bewegen. Das geht aber nur, wenn wir nicht selbst derartige Methoden verwenden oder gar Argumente liefern, uns selbst irgendwelcher Missetaten zu bezichtigen, ja vor Gericht zu bringen. Ich hätte meine Tochter gerne nach Broomswood geschickt, weil ich will, daß sie ungestört vom pubertären Geplänkel von Jungzauberern alles erlernt, was eine Hexe mit gesellschaftlichen Ansprüchen lernen muß. Wenn wir aber jetzt anfangen, uns mißfallende Mitbürgerinnen zu verfemen und physisch wie sozial zu beeinträchtigen, werden wir alles verlieren. Madam Thornbrook hat leider recht, daß wir uns am wenigsten mit der Heilerzunft anlegen dürfen. Madam Greensporn genießt wie erwähnt sehr hohe Wertschätzungen und ist ein hochverehrtes Mitglied der magischen Öffentlichkeit. Greifen wir ihre Verwandtschaft mit mehr als nur Worten an, erhält sie jede von ihr erbetene Unterstützung aus der Zaubererwelt."

"Worte alleine genügen nicht mehr. Wenn ein Esel stur ist zählen Worte nichts mehr, Mrs. Blueberry", schnarrte Pabblenut und erntete zustimmendes Nicken. Dann straffte sie sich und blickte die ihr gerade widersprechende Hexe sehr feindselig an: "Offenbar muß ich erkennen, daß wir vom schleichenden Gift fehlgeleiteter Anerkennung verseucht werden sollen. Ich muß daraus erkennen, daß unsere Gemeinschaft kurz davorsteht, durch Selbstschwächung zu scheitern. Ein Scheitern jedoch ist nicht erwünscht. Deshalb verlange ich von jeder hier Anwesenden, entweder meinen Vorschlägen zu folgen oder unsere Liga zu verlassen, mit der Aussicht, von uns als unerwünschte Person angesehen zu werden und entsprechende Konsequenzen zu erfahren." Lavinia strengte sich an, ruhig zu bleiben. Das war eine offene Drohung, und alle hier wußten das. Pabblenut maßte sich gerade die Rolle der Anführerin an. Dabei hatten sie bei ihrer konstituierenden Sitzung verfügt, daß aus jeder gesellschaftlich anerkannten Schicht eine Vertreterin gleichwertige Rechte auf Vorschlag oder Einspruch besaß. Mrs. Blueberry gehörte zum sogenanten Tetragon der Vorsitzenden.

"Ich bin durchaus bereit, eine offene Abstimmung über unser Vorgehen hinzunehmen", erwiderte Amanda Blueberry. "Mir zu unterstellen, die Werte dieser Liga zu verraten ist jedoch ein klares Eingeständnis, im Unrecht zu sein, Madam Pabblenut."

"Eine Abstimmung? Können Sie haben, Mrs. Blueberry", fauchte Alexandra Pabblenut. "Wir stimmen darüber ab, ob wir nun mit mehr als bloßen Worten gegen alle unseren Vorstellungen widersprechenden Hexen vorgehen oder uns weiterhin als aufgescheuchte, laut schnatternde Gänse beschimpfen lassen dürfen, weil wir nur reden und lamentieren. Sie bitten um eine allgemeine Abstimmung. Stimmen die beiden anderen Gevatterinnen diesem Vorgehen zu?" Ms. Cleaver, eine der letzten Absolventinnen von Broomswood und Mrs. Moreland, eine Abgeordnete aus dem Dorfrat von Cloudy Canyon, die der Liga aus Wut auf Anthelias Spinnenorden beigetreten war, stimmten durch Nicken zu. Darauf erfolgte eine geheime Abstimmung, wobei Madam Pabblenut noch einmal darauf beharrte, daß alle, die bei Mehrheit für weiterführende Maßnahmen keinen Sinn im Verbleib in der Liga sahen, diese jederzeit verlassen konnten. Da die Abstimmung von allen Mitgliedern der Liga durchgeführt werden sollte, heute jedoch nur vierzig der mittlerweile einhundertzwanzig Mitglieder anwesend waren, wurde eine Vollversammlung am siebenundzwanzigsten September vereinbart. Bis dahin waren es noch fünf Tage. Fünf Tage, in denen Lavinia zusehen mußte, ihre eigenen Ziele zu erreichen, bevor sie womöglich gezwungen war, sich für Pabblenuts Vorgehen zu entscheiden, nur um sich weiterhin in diesem Haufen vernarrter Hexen verbergen zu können wie die Schlange im Unterholz. Klappte alles, wie sie es sich vorgestellt hatte, dann konnte sie es auf Anthelias Schwesternschaft schieben, wenn Roberta Sevenrock erledigt war. Sie konnte dann selbst mit am lautesten nach Vergeltung rufen und dem Zaubereiministerium Versagen unterstellen, daß es sich auf diesen scheinheiligen Burgfrieden eingelassen hatte. Fünf Tage, die für Lavinia zu Schicksalstagen werden konnten.

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"Das wird langsam eng. Diese Vernarrten Weiber wollen jetzt mit härteren Mitteln vorgehen", sagte Justine Brightgate, eine fünfunddreißig Jahre alte Hexe mit titianrotem Schopf und hellwach umherblickenden strahlendblauen Augen zu ihrem Vorgesetzten. Elysius Davidson, der Leiter des Marie-Laveau-Institutes zur Bekämpfung dunkler Zaubereien, nickte ihr zu und fragte sie nach genauen Einzelheiten. Als er erfuhr, was Justine Brightgate mitbekommen hatte wiegte er den Kopf.

"Ich habe sie immer für eine verbohrte, männerfeindliche Furie gehalten, die arglose Mädchen zu Ihresgleichen erziehen will. Aber wenn sie jetzt ernsthaft versucht, unbescholtene, vom Ministerium für untadelig erklärte Hexen zu bedrohen, überschreitet sie eine dicke rote Linie. Bisher konnte man sie im Rahmen der Meinungsfreiheit reden lassen. Aber wenn sie jetzt offen damit jongliert, ihr mißfallende Hexen zu bekriegen schaufelt sie sich ihr gesellschaftliches Grab. Danke für die prompte Mitteilung."

"Ich bin mir sicher, daß es noch andere in der Liga gibt, die auskundschaften, was die vorhat", sagte Justine Brightgate. "Bei Lavinia Thornbrook bin ich mir sicher, daß sie der Nachtfraktion zugetan ist. Ardentia hat uns das damals doch erzählt, wer dazugehört."

"Nur mit dem kleinen aber unfeinen Unterschied, daß Ardentia sich als Doppelagentin entpuppt hat", seufzte Davidson. "Daher müssen wir alle von ihr gemachten Äußerungen mit äußerster Vorsicht genießen. Haben Sie weitere Anhaltspunkte, wer in dieser Vereinigung womöglich für eine ganz andere Gruppierung auskundschaftet?"

"außer denen, die wir schon auf der Liste möglicher Nachtfraktionshexen haben keine. Ich weiß nicht, ob nicht jemand für die offenbar unverwüstliche Wiederkehrerin spioniert. Falls ja, dann dürfte diese in diesem Moment ebenfalls darüber orientiert werden, was Pabblenuts Camerilla vorhat."

"wir müssen aufpassen, daß die Wiederkehrerin nicht findet, daß Pabblenuts Getreue ihr gefährlich werden können. Auch wenn ich Alexandra Pabblenuts Ansichten für engstirnig, ja weltfremd halte bin ich doch als Leiter dieses Institutes verpflichtet, ihr Leben zu schützen", knurrte Davidson. Justine ahnte es, was er gleich noch sagen würde. Er atmete tief ein und wies sie mit unüberhörbarem Widerwillen an: "Ich erteile Ihnen hiermit den Auftrag, bei der angesetzten Abstimmung für die von Pabblenut erwogenen Maßnahmen zu stimmen und sich unauffällig in der Nähe dieser Person zu halten, um mögliche Vergeltungsmaßnahmen der schwarzen Spinne zu vereiteln oder zumindest rechtzeitig genug um Verstärkung zu bitten. Es sei denn, die Zielperson benutzt magisch bindende Unterlagen zur Abstimmung. Dann haben Sie das Recht, Ihre körperliche und seelische Unversehrtheit und Eigenständigkeit zu schützen und gegen Pabblenut zu stimmen, aber nur dann. Ich weiß, Ihnen widerstrebt es, mit diesen misandrischen Fanatikerinnen paktieren zu müssen. Aber wenn wir einen gewaltsamen Streit zwischen größeren Gruppierungen verhindern können müssen wir dies tun. So lautet unser Auftrag nun mal. Ich hoffe, Ihnen damit nicht mehr zumuten zu müssen, als Sie mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, Justine."

"Ich habe mit einer derartigen Bitte Ihrerseits gerechnet und erkläre mich dazu bereit, Ihren Auftrag auszuführen", sagte Justine Brightgate. Davidson nickte erleichtert. Er entließ seine Mitarbeiterin mit besten Wünschen für eine erfolgreiche Ausführung des Auftrages.

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"Sandman an HQ, Schlafsand eingepackt", wisperte der im blauen Arbeitskittel steckende Mann mit dunklem Haar und Schnauzbart in seine Armbanduhr. Zur Antwort verschwand die Sekunde für Sekunde angezeigte Zeit aus dem Flüssigkristallfenster und machte einer kurzen Botschaft Platz:

Schlafsand am 27. um 02:23 streuen!

Der mann im Arbeitskittel drückte einen Knopf an der Uhr, womit er die Nachricht bestätigte. Dann tippte er auf dem winzigen Tastenfeld das angezeigte Datum und die Uhrzeit ein und drückte zweimal die Bestätigungstaste. Jemand uneingeweihtes hätte gedacht, der Mann in Monteurkleidung habe gerade einen Termin in den kleinen Zeitmesser einprogrammiert. Tatsächlich sendete der exotische Armschmuck gerade eine Folge von Infrarotsignalen an einen winzigen Sensor, der im Kabelgewirr der gerade wieder auf Touren kommenden Klimaanlage verborgen war. Dieser wiederum gab die erhaltenen Signale an einen winzigen Steuerchip an einem in der Luftumwälzung eingebauten Zylinder weiter. Sandman hatte seinen Auftrag erfüllt.

Freundlich aber auf seinen Lohn bedacht präsentierte er den Hausherren die Rechnung für seine Arbeit. Angeblich hatte er die Elektronik der Temperaturregelung austauschen müssen. Dementsprechend saftig war die Rechnung, weil er noch dazu schnellstmöglich hatte anrücken müssen. Er fragte, ob er das Geld in Bar bekommen könne. Dann könne er auch was im Preis nachlassen. Der Hausherr sah ihn mißtrauisch an, nickte dann aber. Wäre nicht das erste mal, wo Handwerker bei Barzahlung den Preis nachließen, den sie sonst als zu zahlende Steuern hätten aufschlagen müssen. Auch wenn der Hausherr anwalt war hielt er es nur dann mit den Gesetzen, wenn er bei einer Übertretung erwischt zu werden drohte. Hier war das nicht der Fall.

Zufrieden über die auf die Hand gelegten Dollars zog der Klimaanlagentechniker davon. Doch war es wirklich das Geld, daß ihn so zufrieden grinsen ließ?

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"Jetzt müßte es tun, was es tun soll", sagte Patricia Straton zu Virginia Hencock. Sie hatte Mehrere kompliziert wirkende Gerätschaften mit einer silbrig glänzenden Folie überklebt, auf die mit mitternachtsblauer Zaubertinte Runen für Dunkelheit, Mitternacht, Schatten und Verdrängung gemalt waren. Auch die Machtrunen für Abhalten und Verdunkeln waren dabei. Patricia hatte die Folie am Mittelpunkt berührt und "Noctes aeternae, Umbra lunae de Sole liberate!" Gemurmelt. Darauf hatte sich die Folie komplett schwarz gefärbt. Damit war sie nun mit Zaubern der Dunkelheit belegt, die jeden der Sonne zugeordneten Zauber zurückprellten. Die eingewirkte Magie war dabei so dicht, daß sie keine störende Streuung entfaltete, die die von der Folie gesicherte Elektronik durcheinanderbrachte. Denn genau das war passiert, als Brandon Rivers, Patricias auf ungewöhnliche Art entstandener Schwager, einen tragbaren Computer ausprobiert hatte und dabei ein Knirsch- und Krachkonzert von der eingebauten Festplatte und ein dissonantes Piepen und Brummen des eingebauten Lautsprechers hervorgerufen hatte. Als dann noch eines von Virginias teuren Ultraschallgeräten bei der Annäherung an Patricias Unterleib mit lautem Knistern und einem Feuerwerk heraussprühender Funken seinen elektronischen Geist aufgegeben hatte war klar, daß die Verwandlung in ein Sonnenkind sie mit einer überstarken magischen Ausstrahlung beglückt hatte, die auf die modernen Gerätschaften der Magielosen wie ein Eimer Sand in das Räderwerk einer Turmuhr wirkte.

"Wenn mir noch ein Abtaster durchgeht seht ihr zu, daß ihr hier alle wieder auszieht", knurrte Virginia. Patricia überhörte die Verärgerung sowohl in der Stimme wie auch in den Gedanken der von Anthelia erschaffenen Virginia Hencock.

"Ist versprochen", sagte Patricia. Sie hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, Virginia unter den Imperius-Fluch zu nehmen, um sie dazu zu zwingen, die zwei alten und die beiden neuen Sonnenkinder in ihrem Haus und damit im Schutz eines Fidelius-Zaubers zu beherbergen. Womöglich war es auch dieser Zauber, der die eigene Ausstrahlung Patricias derartig verstärkte, daß keine Elektronik das aushielt.

Tatsächlich arbeitete das Ultraschall-Untersuchungsgerät nach dem Anschließen und Einschalten so, wie es sollte. Patricia fühlte das Vibrieren des Abtasters unter ihrem Bauchnabel. Wenn der chemische Test von dem was diese Maschine abbilden konnte bestätigt wurde, trug Patricia ein Kind in sich, wenngleich das dann sicher gerade etwas kleiner als eine Erbse sein mochte.

"Nun, wenn stimmt, was du erzählt hast ist da noch nicht viel zu sehen. Da müssen wir erst noch zwei Wochen abwarten", sagte Virginia Hencock erleichtert, daß ihre Instrumente doch noch benutzt werden konnten. Patricia atmete ruhig und wartete, bis das ihr fremde Gerät von ihrem Körper fortgenommen worden war. Sie wusch sich das die Haut schützende Gel vom Körper und kleidete sich wieder an. Dann sagte sie zu Virginia:

"Wir werden dir nicht mehr zur Last fallen, als es für Dawn und mich gerade nötig ist, Virginia."

"Nur daß ich durch euch kein richtiges Privatleben mehr haben kann", knurrte Virginia. Sie hätte gerne mal wieder einen Mann in die Wohnung über ihrer Praxis eingeladen. Doch da hatten sich Gisirdaria und der ehemalige Cecil Wellington, der jetzt Brandon Rivers hieß zusammen mit Patricias unverhofftem Ehemann Gooaridarian, alias Hesperos Straton breitgemacht. Brandon Rivers, der natürlich nicht auf eine gescheite Computeranlage verzichten wollte, konnte nun aufatmen, weil Patricia Dawns Vorschlag zur Abschirmung gegen den Hauch der Sonnenkinder gefunden hatte.

"Wenn du jemanden einlädst werden wir uns in den kleinen Schrank zurückziehen", sagte Patricia. "Ich habe dir versprochen, daß du durch uns nicht übermäßig belastet wirst. Wir beteiligen uns am Einkauf, dem Elektrostrom- und Wasserverbrauch. Wenn du mal wieder Besuch von anderen haben möchtest sag mir das einfach früh genug."

"Als wenn du das dann nicht schon aus meinem Kopf gefischt hättest", hörte Patricia Virginias Gedanken. Ihre Empfindlichkeit für fremde Gedanken war durch die Sonnenweihe, wie ihr Angetrauter es genannt hatte, noch verstärkt worden. Außerdem stand sie mit den drei anderen Sonnenkindern in ständigem Kontakt, wenn sie nicht ausdrücklich ihre Gedanken abschirmte oder die anderen dies taten, wobei Brandon sich von seiner Angetrauten immer noch führen lassen mußte, um sich für andere Sonnenkinder unabhörbar zu machen.

"Na, hat es dich schon getreten?" Fragte Brandon, der nun wieder im Körper Benjamin Calders steckte und deshalb nicht ohne Tarnumhang vor die Tür gehen konnte. Denn Verwandlungszauber wirkten auf Sonnenkinder nicht, hatte Patricia an sich und ihm herausgefunden.

"Ein bißchen schwierig, so ohne Beine", knurrte Patricia mit hörbarer Stimme, um ihm ein "Quatschkopf" in seine Gedanken hineinzustrahlen. "Ich kann dir einen dieser Computerkästen jetzt gegen die Sonnenaura abschirmen. Virginias Ultraschall-Echogerät hat die Behandlung gut überstanden."

"Wird auch langsam Zeit, wo hier nicht mal das Radio rundläuft, so bald du oder ich dem näher als zwei Meter kommen und ich nicht weiß, was in der Welt passiert ist."

"Dann mache ich erst das Radio störunanfällig, bevor ich dir einen neuen Computer zulege."

"Dawn hat dran gedacht, daß wir uns auch Klamotten anziehen können, die den Hauch der Mitternacht tragen, was unsere Sonnenkindaura überlagert. Aber dann könnten wir die Kraft, also Magie nicht mehr benutzen und wären innerhalb von einer Stunde komplett erschöpft oder gar im Koma", dachte Brandon. Seine Frau hörte mit. Sie saß zwar im gemeinsamen Schlafzimmer, bekam aber alle von Sonnenkindern in ihrer Nähe unabgeschirmt ausgestrahlten Gedanken mit.

"Ja, und deshalb machen wir das so, wie Patricia dieses Unhörbar-Widerhall-Gerät abgedeckt hat, mit dem Virginia sehen will, wie unsere Kinder heranwachsen.

"Kapiere es", dachte Brandon zurück. Patricia ging in ihr Schlafzimmer. Sie holte dort die silberne Folie und bearbeitete diese mit den Runen gegen Sonnenzauber. Danach umkleidete sie damit das einfache Kofferradio, daß sie sich zugelegt hatte und rief die Macht der mit den Runen vorbereiteten Zauber auf. Tatsächlich arbeitete das Radio danach wie es sollte.

"Schon heftig, wie das bei der ganzen Elektronik reinhaut", dachte Brandon. Patricia erwiderte ebenso unhörbar darauf: "Müssen wir mit leben."

"Goldfeuer hat gerade gerufen, daß sie einem der Nachtkinder auf der Spur sind. Sie werden versuchen, es zu verhören, um zu erfahren, wo die Herrin von Nocturnia sich aufhält", dachte Dawn. Brandon hatte nichts dergleichen mitbekommen. Goldfeuer war ein anderer Sonnensohn, der mit seiner Frau Himmelslicht in Osteuropa unterwegs war. Aber, so seine Angetraute, daß würde er noch lernen, im Zweifelsfall mit zunehmender Größe ihrer Beiden Fleisch und Blut.

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"Dann wollen die also echt am siebenundzwanzigsten Abstimmen, ob sie mich und diese vom eigenen Neffen geschwängerte Tracy Summerhill drangsalieren?" Fragte Theia Hemlock ihre offiziell als Urgroßmutter geltende Hebamme Eileithyia Greensporn, als diese sie routinemäßig untersuchte.

"Lady Roberta hat es über eine unserer Schwestern, die Lavinia und die anderen noch nicht kannten und die auf Grund ihres Alters bei der sogenannten Liga rechtschaffender Hexen einlaß finden konnte", erwiderte Eileithyia, während sie mit einem Einblickspiegel die Rückbildung von Theias Gebärmutter überprüfte.

"Dann können Lenie und ich also nach diesem Stichtag damit rechnen, daß uns diese männerhassenden Eiskatzen überfallen?" Fragte Theia Hemlock. Eileithyia räusperte sich über Theias Wortwahl. Doch dann antwortete sie kühl:

"Nur, wenn eine große Zahl von Ligamitgliedern zustimmt, Theia."

"Du hast Alexandra Pabblenut doch auch schon oft getroffen, genau wie, ähm, meine selige Mutter Daianira. Die wird ihre zwanzig willfährigen Anbeterinnen und alle in ihrer Hexenschleifwerkstatt geformten Ex-Schülerinnen in diesem Verein dazu bekommen, gegen mich und Wishbones letzte Liebschaft zu stimmen, von der Zustimmung zu einem Feldzug gegen die Wiederkehrerin mal ganz zu schweigen. Aber den Kopf dieser Spinnenfrau muß ich mir nicht mehr zerbrechen."

"Gunilla Waters, die in meiner Abteilung arbeitet, ist auch in dieser Liga. Sie hat versucht, mich anzuwerben, deine Urgroßmutter und Hebamme. Dreister geht es nun wirklich nicht."

"Sicher, mit dir als weltberühmter Heilerin hätte dieser Eiskatzenclub ja ein sehr prominentes Aushängeschild. Die Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft, Leiterin der Mutter-Kind-Station im Honestus-Powell-Krankenhaus, weltberühmte Verfasserin vieler Hexen- und Kinderheilkundlicher Bücher, Geburtshelferin einer aus Unzucht entstandenen, durch Unzucht schwanger gewordenen Hexe", erwiderte Theia mit unüberhörbar triefendem Sarkasmus.

"Ich denke auch, daß das nicht auf Pabblenuts Drachendung gewachsen ist, Theia. Ähm, du solltest deine Nahrungsaufnahme in den nächsten Wochen noch so beibehalten wie vor Lenies Geburt, vor allem, da sie ja viele wichtige Nährstoffe über deine Milch aufnehmen muß", erwiderte Eileithyia. Die Gebärmutterrückbildung verläuft zumindest im üblichen Rahmen. Womöglich ist sie bereits im Oktober wieder auf Normalmaß zurückgeschrumpft."

"Ach, dann könnte ich für Selene ein Geschwisterchen einplanen?" Fragte Theia mit einem neuen Anflug von Sarkasmus.

"Mädchen, du bist bisher wunderbar damit gereist, meine Anweisungen zu befolgen. Nur weil dich das Getue dieser armseligen Frauenzimmer um Alexandra Pabblenut so verärgert mußt du deinen Ärger nicht an mir abreagieren. Sonst könnte mir einfallen, daß du emotional gerade nicht im Stande bist, dich alleine um ein gerade zwei Monate altes Baby zu kümmern."

"Das würde dieser Brut um Pabblenut sicher sehr gefallen, wenn ich Selene abgeben müßte", knurrte Theia Hemlock. Eileithyia nickte. Dann erhob sie sich. Für ihre mehr als hundertfünfzehn Lebensjahre kam sie noch sehr gut auf die Beine, fand Theia.

"Übermorgen ist die Abstimmung. Wahrscheinlich bekommen wir das einen Tag später mit. Ich denke nicht, daß sie einen Überfall mit Kindesentführung wagen werden. Sie werden zusehen, dich solange von allem auszugrenzen, bis du freiwillig auf Selene verzichtest."

"Einige von denen sind mir bekannt. Die werden es bitter bereuen, wenn die mich angreifen wollen", knurrte Theia. Eileithyia machte ein betrübtes Gesicht. Dann sagte sie: "Du weißt, was du mir versprochen hast, als sicher war, daß Selene in dir heranwächst und wir zusehen müssen, daß Lysithea ohne Aufsehen aus der Welt verschwindet?"

"Das ich nicht mehr Daianiras Weg folgen soll, weil der sich für sie und damit auch für mich als tückisch erwiesen hat und ich nichts unternehmen soll, daß mich und die Kleine vor der Einschulung in Thorntails auseinanderreißen kann. Aber wenn mich und sie jemand körperlich oder mit geistiger Gewalt bedroht, dann habe ich das Recht, mich zu wehren, Oma Thyia. Das würdest selbst du mit dem in dir verankerten Heilerkodex so sehen."

"Wehren ja, aber im Rahmen humaner Möglichkeiten, Theia. Denkst du, ich wüßte nicht, woher die Pflanzen in Daianiras großem Garten stammen?" mentiloquierte Eileithyia ihrer offiziellen Urenkelin. Theia erstarrte. Woher wußte Eileithyia das? War das nicht gefährlich, ihr das mitzuteilen? "Ich sehe, du weißt, was ich meine", setzte Eileithyia noch für Ohren unhörbar hinzu. Dann sagte sie mit körperlicher Stimme: "Die Sicherungen gegen Kindesraub sind eingerichtet, Theia. Wir bekommen früh genug heraus, wie diese bemitleidenswerte Gruppe sich entscheidet. Nachher erleben wir noch eine für uns positive Überraschung."

"Die kriegen wir nur, wenn sich eine von den ehemaligen Broomswoodianerinnen vor aller Augen in einen Zauberer verwandelt und "April April!" ruft", entgegnete Theia darauf. Das brachte ihre Vertrauensheilerin zum lachen. Auch in der keine drei Schritte entfernt stehenden Wiege gluckste jemand amüsiert.

"Zumindest wissen wir noch, welchen Monat wir schreiben", sagte Eileithyia belustigt. Dann verließ sie das Haus Theias.

Die Alte ist raffinierter als ich je gedacht habe. Am Ende weiß auch Roberta Sevenrock, wie ich meine Feindinnen bestraft habe, dachte Theia. Dann wandte sie sich an ihre gerade zwei Monate und fast eine Woche alte Tochter. "Waren wir zu laut für dich? Oma Thyia ist jetzt wieder fort. Sie sagt, uns beiden geht es gut." Selene griff an ihren Hals. Doch im Moment trug sie das liebgewonnene Halsband mit dem rosaroten Blasebalg daran nicht. Theia nickte ihr zu und holte das nützliche Utensil aus einer Schublade. Sie baute einen Klangkerker auf und legte Selene das Cogison um. Es schnarrte und quietschte erst. Dann klang eine eher weiblich klingende Kunststimme aus dem rosaroten Balg:

"Ich habe vor neunzig Jahren mit Alexandra Pabblenuts Vorgängerin korrespondiert, weil sie gerne eine ungebundene Lehrerin für Französisch und fortgeschrittene Abwehr dunkler Zauber gesucht haben. Portia Peppermill war auch schon derartig misandrisch eingestellt wie ihre Nachfolgerin."

"Da gab es mich noch gar nicht", amüsierte sich Theia doppeldeutig. Denn sowohl Daianira als auch ihre Wiedergeburt als Lysithea, die dann blitzartig zur erwachsenen Hexe Theia gealtert war, hatten da noch nicht existiert. "Das war eben in einem ganz anderen Leben", fügte sie noch hinzu.

"Das ich gerne weitergeführt hätte", nahm Selene die Anspielung auf. Theia nickte und sagte: "Ich auch, Kleines. Ich hätte das frühere Leben auch gerne so weitergeführt." Selene wagte darauf keine Gedanken zu denken, die das Cogison in Worte umgewandelt hätte. Auch wenn sie Theia hätte tadeln können, sich als Daianira überhaupt auf diesen Weg begeben zu haben, wußte sie bis zu dem schicksalhaften Treffen auf der Insel der hölzernen Wächterinnen ja nicht einmal, daß Daianira den schweigsamen Schwestern angehört hatte und mit der im Duell zur Ungeborenen zurückverjüngten Anthelia schwanger gewesen war. Selene hatte herausgefunden, daß sie durch Okklumentik das Cogison stumm halten konnte. Das war sicher auch gut so, auch wenn das Antimentiloquismusarmband alle über ihren Körper hinausreichenden Gedanken abschirmte.

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Sie lag am Boden. Über ihr donnerten weitere Detonationen. Jede kleinste Regung würde ihr diese vermaledeiten Lichtbündel auf den Hals jagen, die so wirkten wie glutheiße Klingen. Zwar hatte sie ihren Zauberstab noch in der Hand und konnte sicher aus dem Liegen heraus disapparieren. Doch die Laserstrahlen mochten um die Hundertstelsekunde schneller auf sie treffen, als sie im Transit zwischen Ausgangs- und Zielort verschwunden wäre. Mit ihren telekinetischen Kräften mochte sie womöglich den einen oder anderen Laser blockieren. Doch dazu mußte sie genau wissen, wo die tödlichen Strahler verbaut waren und wo genau sie ihre geistigen Kräfte ansetzen mußte.

Sie konzentrierte sich auf Minguéz. Wenn dieser daran dachte, wo die Energiequelle für die Schutz- und Abwehrapparaturen in dieser Tresorkammer waren konnte sie diese doch aufheben. Doch Minguéz dachte an alles mögliche, seine Leute, sein Vermögen, seine Feinde. Er war sich sicher, mit wem er es zu tun hatte. Seine Gedanken wurden von Rachsucht und Mordlust überflutet. Anthelia konnte nur an die für sie wichtigen Erinnerungen rühren, wenn er freiwillig an solche Dinge dachte, die sie interessierten oder sie ihn legilimentisch ausforschte. Was nützte es ihr, zu wissen, daß er gerade darüber nachdachte, wann seine nicht im Haus tätigen Waffenbrüder eintrafen? Was half es ihr, wenn er daran dachte, daß der Angriff von Jaime Clemente Burgos angezettelt worden war? Das hatte sie über Umwege auch schon aus den herumschwirrenden Gedanken der Angreifer aufgeschnappt. Er sollte an die Sicherheitsmaßnahmen seiner Schatzkammer denken. Sie bekam mit, daß die von ihm beobachteten Überwachungsaugen eines nach dem anderen ausfielen. Sie hörte das Dröhnen und Rattern der Feuerwaffen über sich. Es mochte nicht mehr lange dauern, bis die Angreifer sich einen Weg hier herunter erkämpft hatten. Offenbar waren sie genauestens über die Schutzmannschaft Minguéz informiert gewesen. Ja, und der Drogenhändler in seinem stählernen Schutzkämmerchen dachte gerade daran, wer von seinen Leuten ein Verräter sein mochte. Anthelia griff diesen Gedanken auf, um selbst nach dem oder derjenigen zu fahnden, dem oder der sie diese mißliche Lage zu verdanken hatte. Selbst mit dem Gürtel der zwei Dutzend Leben hätte sie sich nicht gegen die netzartig ausgesandten Laserstrahlen und die in Bereitschaft gehaltenen Laser behaupten können, denn gebündeltes Licht als Waffe war Dairon damals unbekannt gewesen. Zwar hatte der bei ihrer Verschmelzung mit Naaneavargia vernichtete Gürtel Dairons Feuerschäden von ihr ferngehalten, und Laserstrahlen erzeugten nichts anderes als intensive Hitze auf einer winzigen Oberfläche. Dennoch war offenes Feuer von anderer Natur als gebündeltes Licht. Damals, in der Festung von Linus Price, hatte sie sich ähnlichen Abwehrgerätschaften durch Verwandlung in eine nebelhafte Daseinsform entgegenstemmen können. Doch die trotz der Gasförmigkeit in ihr erzeugten Schmerzen regten nicht zu einer Wiederholung dieser Vorgehensweise an. Vielleicht gelang es ihr als Spinne, den tödlichen Strahlen zu widerstehen. Vielleicht dachte dieser Rauschgifthändler in seiner kleinen Kammer daran, wie seine neumodischen Fallen und Sperren wirkten, wenn er auf dem Bildschirm für die Tresorraumüberwachung einen Eindringling sehen konnte. Anthelia konzentrierte sich. Sie wußte, daß ein intensiver Wunsch oder die direkte Todesangst die Verwandlung auslösen konnten. Mittlerweile konnte sie in weniger als einer Viertelsekunde die Gestalt wechseln. So ließ sie die Furcht vor gleichzeitig auf sie losschießenden Todesstrahlen in ihr Bewußtsein fluten. Sofort reagierte die in ihr wirkende Kraft der Tränen der Ewigkeit. Sie fühlte die Verwandlung. Dadurch verschwanden jedoch alle gerade am Leibe getragenen Dinge, magisch oder nicht, in jener nur magietheoretisch zu beschreibenden Zone, in der alle bei einer Animagus-Verwandlung aufgelösten Dinge um den Körper des Animagus herum aufbewahrt wurden. Sie verlor ihre Unsichtbarkeit, als der Tarnumhang nicht mehr da war. Unvermittelt krachten grelle Blitze aus den Wänden, weil unvermittelt eine riesige, schwarze Spinne im Tresorraum auftauchte. Die nun wieder mehr Naaneavargia seiende Hexenlady fühlte die auf sie einschlagenden Energiestrahlen aus den von Bewegungsmeldern in den Wänden gelenkten Lasern wie heiße Nadelstiche. Doch so unangenehm sie waren, sie durchdrangen nicht ihren Panzer. Gefährlich würden sie nur für die Augen der Spinne. Denn ihr auf engstem Raum gebündeltes Licht mochte sie blenden. Sie krabbelte mit weit gespreizten Beinen geduckt über den Boden. Sie unterbrach die fest ausgerichteten Strahlenbündel mit ihren Vorderen Beinen und fühlte, wie heiß die haarfeinen Energiebahnen sein mußten. Ihr Ziel war die Tür. Diese war zwar verschlossen, konnte aber vielleicht mit der übermenschlichen Kraft der Spinne ausgehebelt werden. Unterwegs fing sie Minguézes Gedanken auf. Er dachte an Hexerei. Insofern war er schon auf dem richtigen Weg. Dann dachte er an Betäubungsgas, daß die Spinne schon längst hätte K.O. gehen lassen sollen. Anthelia fühlte jedoch nichts von einem betäubenden Gift. Offenbar war es für die Tränen der Ewigkeit zu schwach, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Als Minguéz jedoch an zwei kraftvolle Notstromaggregate dachte, die genau zwanzig Meter unter dem Keller rumorten und wohl noch für vier Stunden Strom lieferten, frohlockte Anthelia. Sie ließ sich zu Boden fallen. Zischend schlugen zwei weitere Laserblitze über sie hinweg. Einer schnitt laut knackend einen langen Riß in eine der Vitrinen. Laut Pfeifend entwich das darin gestaute Betäubungsgas, das jeden gewöhnlichen Einbrecher ausschalten sollte. Anthelia achtete nicht darauf. Sie konzentrierte sich auf die Gedanken des Rauschgifthändlers, der selbst gerade frohlockte, die riesige Spinne von seinen Megalasern niedergestreckt im Tresorraum zu sehen. Jetzt fühlte sie mit ihren geistigen Antennen, wo die großen, wild brummenden Krafterzeuger standen. Sie bekamen ihre Energie aus diesem ekelhaften Petroleumauszug, den die Muggel Diesel nannten. Anthelia tastete mit ihren unsichtbaren Geistesfühlern nach den Zufuhrleitungen. Dann konzentrierte sie sich darauf, diese durchbrechen zu lassen. Erst nach zwanzig anstrengenden Sekunden riß die erste Zuleitung ab. Der Kraftstoff lief nun nutzlos außerhalb der Maschine aus dem Tank. Nun, wo sie wußte, wie die Leitungen beschaffen waren, fand sie die zweite Zufuhr leichter und brach den Zulauf durch. Ein Zittern lief durch den Boden. Dann erstarb das leise Summen der Beleuchtung und der immer noch zwischen den Vitrinen lauernden Laserstrahlen. Es wurde stockdunkel. Wieder knatterten die Schnellfeuerwaffen der Angreifer. Anthelia empfing Minguézes Panik, weil er plötzlich in totale Finsternis gehüllt dahockte. Er konnte die Tür der kleinen Kammer zwar mit einer Handkurbel auffahren. Doch dafür brauchte er sicherlich eine Minute. Die Tresortür war dann aber immer noch fest verschlossen. Wer hätte auch damit rechnen können, daß gleich beide Notstromerzeuger auf einmal ausfielen? Dann erfuhr Anthelia, daß in der Tür des Tresorraums noch Hochleistungsakkumulatoren eingebaut waren, Speicher für elektrischen Strom, mit dem die Tresortür im Notfall auch ohne direkte Stromversorgung aufgefahren werden konnte, wenn jemand die geheime Schaltung betätigte, die unter einer der Vitrinen angebracht war. Anthelia-Naaneavargia amüsierte sich. Sie stand auf und trippelte auf ihren acht Beinen zur besagten Vitrine hinüber. Eigentlich konnte sie jetzt auch ihre menschliche Gestalt annehmen und mit dem Bernstein aus der Sammlung disapparieren. Doch wenn Minguéz diesen Angriff überleben und von seiner Entdeckung berichten sollte, störte das womöglich ihre Pläne. Sie wußte, daß mindestens in der Polizeiorganisation FBI ein Agent der Zaubererwelt saß, der auf derartige Informationen äußerst empfindlich reagieren mochte.

Anthelia konzentrierte sich auf ihre menschliche Erscheinungsform. Es dauerte Sekunden, bis sie die Rückverwandlung fühlte. Als sie endlich wieder in der durch die Verschmelzung gebildeten neuen Körperform steckte und ihre am Leib getragenen Dinge wiederverstofflichten, hörte sie ein lautes metallisches Schaben und Rasseln. Minguéz war dabei, die Tür zu seinem Schutzraum aufzukurbeln. Sie zauberte rasch eine magisch abgeschlossene Frischluftblase um ihren Kopf, bevor sie mit dem Zauberstab auf den aus Minguézes Gedanken erlauschten Geheimschalter zielte. "Iovis Maxima!" Rief sie. Mit lautem Knall schlug ein greller, bläulich-weißer Blitz aus dem Zauberstab auf den Schalter über. Es knallte, knisterte und qualmte, als die Schaltung unter einer unerträglich hohen elektrischen Entladung verschmorte. Damit konnte Minguéz nun keine tonnenschwere Tür mehr aufsperren und seinem selbst gewählten Gefängnis entwischen. Offenbar hatte Minguéz die Zauberformel und den Knall der elektrischen Entladung gehört. er unterbrach die Kurbelei an der Tür und blickte durch den bereits entstandenen Türspalt hinaus. Da Anthelia durch ihre Rückverwandlung wieder unter einem Tarnumhang verschwunden war und es zudem immer noch stockfinster war, sah er niemanden. Anthelia wußte, daß der Kolumbianer wohl eines dieser tragbaren Fernsprechapparate bei sich trug. Aber dessen elektrische Wellen konnten nicht aus einer massiven Stahlkammer hinausdringen. Niemand würde wissen, was mit ihm passiert war. Anthelia zielte mit dem zauberstab erneut auf den Rauschgifthändler und rief: "Imperio!" Sie wußte, daß Minguéz nicht nur ein Mobiltelefon, sondern auch eine Handfeuerwaffe bei sich trug. "Nimm deine Waffe, und schieß dir in den Kopf!" Befahl sie Minguéz über die magische Verbindung zu seinem Geist. Die Macht des unverzeihlichen Fluches übermannte Minguéz ein weiteres Mal. Auch wenn er genau wußte, daß er sich selbst töten würde, konnte er der Kraft des ihm erteilten Befehls nicht widerstreben. Er zog seine 9-Millimeter-Automatik. Er entsicherte die Waffe und hielt sie sich an die rechte Schläfe. Einen Moment später krachte es. Anthelia disapparierte genau in dem Moment, als der tödlich getroffene Körper des Rauschgifthändlers schlaff in die kleine Schutzkammer zurückstürzte und dort liegen blieb. Daß Anthelia gerade einen wertvollen Bernstein erbeutet hatte bekam so niemand mit.

Wenige Minuten später sprengten die siegreichen Angreifer mit panzerbrechenden Raketen Löcher in die Tresortür. Von ihrem Informanten Sánchez wußten sie, daß der Chef der gegnerischen Drogenbande einen Sicherheitsraum im Keller besaß. Doch als die Truppen des brutalen Konkurrenten den Tresor endlich aufgesprengt hatten konnten sie nur noch die Leiche des Gesuchten finden. Selbst nun in heller Panik, den Auftrag im letzten Moment doch noch erfolglos ausgeführt zu haben durchsuchten sie die Privaträume des Drogenbosses. Sie fanden im kleinen, halb geöffneten Sicherheitsraum im Keller einen tragbaren Computer. Doch bereits beim ersten Versuch, die darauf gespeicherten Daten abzurufen, lösten sie eine in diesem eingebaute Sprengfalle aus, die beim ersten falsch eingegebenen Passwort den Rechner und alles im Umkreis von zehn Metern auslöschte. Somit war die versuchte feindliche Übernahme auf ganzer Linie gescheitert. Denn an die Konten, Vertriebswege und Lieferanten kam Burgos so nicht heran. Außerdem hatte er sich mit gleich weiteren Konkurrenzbanden angelegt, die den Tod des Verbündeten grausam rächen würden. Und das alles, weil die Spinnenhexe Anthelia sicherstellen mußte, bei ihrem gewöhnlichen Raubzug keine Zeugen zu hinterlassen.

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"Und, wen bringst du mit, Junge?" Hörte Zach Marchand die Stimme seines Vaters aus dem Telefon.

"Weiß ich noch nicht, Dad. Aber ihr habt ja auch so schon genug bucklige Verwandte eingeladen", maulte Zachary Marchand. Er würde lieber wieder vor dem Drogenlabor Laroches im Kugelhagel liegen als diese total unsinnige und zu alledem potentiell gefährliche Party zu feiern.

"Ich dachte, du kennst da eine nette Computerprogrammiererin aus London. Die hast du uns doch noch nicht vorgestellt."

"Paris, Dad. Paris, Frankreich, um genau zu sein. Die ist zwar in London geboren ... aber die ist im Moment für ihre Firma unterwegs. Ich habe ihr eine E-Mail geschrieben. Außerdem hat sich da nichts weiteres ergeben. Wir sind beide mit der Arbeit verheiratet. Und was mich angeht, ich laufe ja quasi immer als Zielscheibe für durchgeknallte Typen herum. Genau deshalb will ich diese Party nicht wirklich feiern. Groß ändern tut sich doch eh nichts, ob ich neununddreißig oder vierzig Jahre alt bin. Oder ist bei dir gleich eine ganze Welt umgekrempelt worden, Dad?"

"Du weißt genau, daß Mom und ich schon deine letzten Fünfergeburtstage gerne gefeiert hätten. Und als du dreißig wurdest mußtest du ja unbedingt für dein Büro hinter diesem Klempner aus der Kanalstraße nach Frankfurt in Deutschland. Wage es ja nicht, dir noch im letzten Moment eine Dienstreise sonstwohin andrehen zu lassen!"

"Oder sonst, Dad? Ich habe dich nicht drum gebeten, die halbe Verwandschaft einzuladen. Ich habe dir nicht in den Ohren gelegen, meinen Geburtstag zu feiern. Auch muß ich davon ausgehen, daß wir uns mit dieser Fete zur Zielscheibe machen. Es gibt gerade sehr gefährliche Typen, die mich am liebsten abservieren. Du weißt auch welche."

"Ja, aber wegen denen hast du doch diese Fahnenstangen um unser Haus gepflanzt", erwiderte Zacharys Vater. "Und das Ding mit unseren Eheringen soll doch auch taugen, hast du gesagt. Oder stimmt das nicht mehr?"

"Das mit den Ringen und den Fahnenstangen hilft gegen die ganz gefährlichen Leute. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, daß die noch nicht aufgegeben haben", sagte Zachary. Er dachte daran, wie er damals, als Nyx nach Erbeutung der Solexfolien versucht hatte, ihn zu ihrem Gefährten der Nacht zu machen, viele Galleonen ausgegeben hatte, um einen Sonnenwall um das Haus seiner Eltern zu ziehen, einen aus zwölf oben und unten mit reinem Gold besetzten Holzpfählen gezogenen Zaun, der eine unsichtbare Glocke über das Haus stülpte, die bei Annäherung eines Vampirs gespeichertes Sonnenlicht wie eine Salve Laserschüsse auf den Blutsauger abfeuerte. Als Nyx den Mitternachtsdiamanten im Bauch trug hatte Zachary zu dieser Maßnahme noch einen Ring aus darauf ansprechenden Meldezaubern gezogen und eine Eingreiftruppe Bereitschaftszauberer des LI beauftragt, sofort einzugreifen. Zudem hatte er damals schon die Eheringe seiner Eltern mit einem durch die Lebenskraft der namentlich abgestimmten Träger immer wieder aufgefrischten Segen der Sonne bezaubert, um ihnen Vampire wörtlich vom Hals zu halten. Allerdings hatte er nicht gewußt, ob Nyx von diesen Vorsichtsmaßnahmen wirklich zurückgehalten worden wäre, nachdem Flavius Partridges Anti-Vampirzauber sie auch nicht hatten aufhalten können, weil sie zu allem Verdruß ihre Hexenfertigkeiten wiedererlangt hatte.

"Es bleibt dabei, Zach. Du feierst mit uns allen deinen Geburtstag. Vierzig ist ein Alter, wo ein Mann die Zeit haben muß, auf das bisherige Leben zurückzublicken und das was noch vor ihm liegt in Ruhe zu durchdenken. Das war bei mir so und soll bei dir nicht anders sein."

"Klar, und gleich wieder die Leier von den noch nicht gezeugten Enkelkindern", blaffte Zachary. Er konnte sonst ruhig, ja eiskalt sein. Aber das Getue seiner Eltern machte ihn irgendwie immer wütend. Wieso konnte er die eingeprägten Verhaltens- und Gehorsamsabläufe seiner Kindheit nicht mit der Unterwäsche ablegen?

"Gut, wenn du das eh weißt ...", knurrte sein Vater zurück.

"Mein Job ist brandgefährlich. Da werde ich mir das mit 'ner trauten Familie nicht antun, Dad. Das habe ich dir schon hundertmal gesagt."

"Ich hab's auch immer wieder mit durchgeknallten Typen gehabt, die mir nach verlorenen Prozessen Mord und Totschlag angedroht haben, Junge. Trotzdem haben deine Mom und ich dich bekommen und großgezogen."

"Du hattest bisher aber noch keine Mafiosi und Blutsauger gegen dich, Dad. Nur gefrustete Ex-Ehemänner, die dich dafür fertigmachen wollten, weil deren Frauen sie heftig abgezockt haben. Das ist mir zumindest bisher erspart geblieben und kann gerne so bleiben."

"Übermorgen ist die Feier. Wir grillen im Garten. Wenn du deiner Mom Freude machen willst, finde bis dahin eine Begleiterin, mit der du zumindest nicht so komplett allein aussiehst!"

"Oh, damit Onkel Jonas nicht wieder lästert, Mom hätte einen auf Männer stehenden Buben ausgebrütet? Oder ist es eher deine bibelhörige Schwester Ruth, die alle Feuer der Hölle auf uns zwei herabbeschwören will, falls ich mir nicht doch bald eine sittsame und häusliche Frau zulege?"

"Was Ruth sagt ist das Geschwätz einer halbverrückten, die sich in ihrer Gottesfürchterlichkeit einigelt, Zach. Aber denk daran, daß unsere Familie einen Ruf hat, den sie nicht verlieren darf!"

"Ja, Pionierfamilie, Plantagenbesitzer, Bürgerkriegshelden, Sklavenschinder und Staranwälte", knurrte Zachary Marchand. "Keine Dynastie, die ich unbedingt verlängern uß. Das hätten Mom und du vorher anleiern können, daß ich nicht euer einziger Sohn bin. Also hör mir ja mit diesen Tiraden auf. Vor allem, wenn du darauf bestehst, daß ich als Mann mit vierzig auf mein Leben zurücksehen soll. Dann hör bloß auf, mich weiterhin herumzugängeln, als sei ich erst zehn oder elf Jahre alt! Ob ich eine Kollegin finde, die mit zu dieser von mir nicht geplanten Fete hingeht. Im Büro laufen aber nicht so viele rum, die so aussehen könnten, als suchten sie ausgerechnet bei mir Anschluß, Dad. Nur das zur Vorwarnung, daß ich eine aus meinem Institut mitbringen könnte. Na, immer noch wild drauf, meinen Geburtstag zu feiern?"

"Du warst schon immer ein bockiger kleiner Trotzkopf", knurrte Zacharys Vater.

"Diesen Betonschädel habe ich von dir, Dad. Sei stolz drauf. Damit habe ich schon echt kritische Situationen überstanden", erwiderte Zachary. Ein unartikuliertes Brummen war die Antwort. Dann bestellte sein Vater ihm noch einen Gruß von seiner Mutter und verabschiedete sich. Zachary grinste, als er den Telefonhörer aufgelegt hatte. Mit dem Hinweis auf den von seinem Vater geerbten Sturkopf konnte er diesen doch immer wieder aus dem Tritt bringen.

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"Deine Handlanger sind instruiert?" Hörte Fabritio Campestrano mitten in der Nacht die Stimme seiner neuen Herrin im Kopf. Er konzentrierte sich, sah das Bild vor sich, wie sein Enkel Renato sie beschrieben hatte und dachte zurück:

"Das sind nicht meine Leute. Zumindest wird keiner drauf kommen, daß sie für mich arbeiten, Königin Lamia. Der Plan rollt ab. Wo bist du gerade?"

"Nicht weit von eurem Land. Hast du mehr davon gehört, was mit den Pontebiancos los ist?"

"Offenbar haben diese Vollidioten sich auf eine Fehde mit den Daniellis eingelassen. Muß zusehen, da nicht mit reinzugeraten", dachte Fabritio Campestrano zurück.

"Klingt nicht erfreulich", hörte er die Gedankenstimme Lamias in seinem Kopf nachschwingen. "Dann halte dich an deine europäischen Verwandten und die, mit denen du in den Staaten gut klarkommst! Dein Ausführungstrupp soll melden, wenn sie den Auftrag ausgeführt haben!"

"Geht über drei Stationen. Das werde ich wohl erst eine Stunde nach Ausführung mitbekommen, wenn wir die Feds nicht mit den Nasen drauf stoßen wollen, daß wir einen von ihnen ans Bein pinkeln."

Gewöhn dir solche Ausdrücke ab, wenn du nicht willst, daß jemand dich zum Trocknen in die Sonne legt", empfing er ihre ungehaltene Antwort. "Ja, und das ist richtig, daß niemand dahinterkommt, wer diese Operation angefordert hat. Wir hören uns dann wieder, wenn der Auftrag erfolgreich durchgeführt ist."

"Ja, Herrin", erwiderte Fabritio Campestrano unhörbar. Dann wich die in seinen Geist hineintastende Präsenz der Blutmondkönigin. Er war mit seinen Gedanken alleine, vorerst. Natürlich war es für ihn lebensnotwendig, daß niemand ihn als Drahtzieher dieser Aktion in Verdacht haben würde. Mit diabolischem Grinsen dachte er daran, daß das FBI alle und jeden anderen jagen und verdächtigen würde. Der, den seine Strohmänner engagiert hatten, war ein Profi in Sachen Nacht- und Nebelaktionen. Die erste Etappe war auch schon bewältigt. Die zweite war schwierig, ja und das Ziel zu erreichen war höchst riskant. Aber das wollte Lamia nicht hinnehmen. Er ärgerte sich, daß sie ihm jedesmal, wenn sie ihm leibhaftig oder durch die mit ihm verbundene Vampirtelepathie gegenübertrat zeigte, daß er nur ihr kleiner, gehorsamer Diener war. Das war er, der sich über Jahrzehnte hochgearbeitet hatte, um Respekt und gesunde Furcht von anderen zu erfahren, nicht gewohnt.

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"Die Angelegenheit gerät aus den Fugen", warnte Lavinia Beth McGuire, nachdem die Sitzung der Liga rechtschaffender Hexen vorüber war. "Diese Pabblenut jagt ihrer fixen Idee von redlichen Hexen so sehr nach, daß sie damit alles kaputtmachen kann, bevor wir einen Nutzen aus der Sache gezogen haben."

"War doch klar, Lady Lavinia", erwiderte Beth McGuire. "Aber mit der Abstimmung haben wir noch ein wenig Zeit gewonnen."

"Eben nicht, weil wir jetzt darauf drängen müssen, die alte Sevenrock vor dem siebenundzwanzigsten zu erledigen. Überhast ist die Mutter aller Fehler", knurrte Lavinia. Außerdem müssen wir sicher sein, daß wir wissen, wo unsere frühere Führerin Hyneria abgeblieben ist. Kommen wir echt nicht an Greensporns Unterlagen heran?"

"Können wir auf dem Mars landen?" Fragte Beth zurück. "Denn so ähnlich unerreichbar sind die Unterlagen für uns. Diese Oberhebamme Greensporn hat sämtliche Unterlagen, die von der Sache damals angelegt worden sind, in einer nur ihr bekannten Form und an einem nur ihr bekannten Ort versteckt. Zumindest hat mir Eva Gladfoot das berichtet, als ich sie rein zufällig in unserer Durchgangsstation getroffen habe."

"Fidelius-Zauber?" Fragte Lavinia verärgert.

"Nein, Mimicrius-Zauber", erwiderte Beth McGuire.

"Nach Fidelius der beste Verbergezauber", knurrte Lavinia. "Dann bleibt uns nur das Ministerium. Dort können sie nicht so einfach Unterlagen für nur eine Person zugänglich machen. Es würde auffallen, wenn gerade die Akten über mehrere elternlose Säuglinge zur Geheimsache des Ministers erklärt würden, wo Sevenrock das nur als Angelegenheit der Schwestern eingestuft hat."

"So'n Pech aber auch, daß Lady Hyneria die einzige von uns zum Duell fordern mußte, die Zugang zum inneren Sicherheitsbereich des Ministeriums besaß", feixte Beth McGuire. Lavinia verzog das Gesicht und funkelte ihre Mitschwester böse an.

"Sprich derartige Unverschämtheiten nie wieder aus, wenn ich dabei bin!" Warnte sie ihre Getreue. Natürlich wußte sie, daß Donata Archstone von allen Entschlossenen die besten Kontakte ins Ministerium besessen hatte. Doch weil diese ihre gute Rangstellung auch den Hexen um die Wiederkehrerin herum gegönnt hatte war sie ja nach Daianiras unfreiwilliger Verjüngungskur von Hyneria zum Duell gefordert worden. Jetzt triumphierte diese verfluchte Wiederkehrerin auch noch, weil mit Donatas Niederlage und Tod der einzige wirklich sichere Kontakt ins Ministerium zerstört worden war.

"In vier Tagen ist diese Vollversammlung in der Liga. Wenn wir bis dahin nicht wissen, wo Lady Roberta Hynerias Körper hingeschafft hat komme ich nicht an die von ihr hinterlassenen Informationen. Ohne die Informationen muß ich erst gar nicht dran denken, diese alte Besserwisserin aus dem Weg zu räumen. Denn ohne Hynerias Wissen bin ich für die Vergeltung der anderen Schwestern eine leichte Beute."

"Warum lassen wir diese dummen Weiber der Liga nicht ins lodernde Drachenfeuer laufen und vergessen das mit Sevenrock? Die Wiederkehrerin wird sicher bald was anstellen, was uns die Gelegenheit gibt, das Ministerium des Versagens zu beschuldigen."

"Was genau?" Fragte Lavinia überaus wütend. "Dieses Weib ist nicht dumm, und wenn stimmt, was so rumerzählt wird ist es nicht mehr nur die Wiedergeburt Anthelias, die diese Hexengruppe führt, sondern eine magisch entstandene Verschmelzung aus ihr und einer anderen, wohl mächtigeren Hexe, die diese schwarze Spinne als besondere Tiergestalt hat. Geh mal davon aus, daß die Intelligenz beider durch die Verschmelzung nicht halbiert, sondern eher gesteigert worden ist. Sie weiß, daß sie sich auf dünnes Eis begibt, weil sie dieses Stillhalteabkommen getroffen hat. Andererseits schöpft sie mehr Vor- als Nachteile daraus, wenn sie stillhält oder zumindest nichts anstellt, was in der Zaubererwelt Staub aufwirbeln kann. Sie wird von sich aus nichts unternehmen, was den mit Cartridge abgestimmten Burgfrieden bricht, solange diese Nocturnia-Vampire unterwegs sind."

"Ich bin weiterhin bereit, dir zu helfen, das Abkommen zwischen Cartridge und Anthelia in Mißkredit zu bringen", sagte Beth McGuire. "Ich finde jedoch, daß es einen besseren Weg gibt. Es würde doch reichen, wenn wir einen Überfall auf die nächste Vollversammlung der LRH inszenieren? Damit könnten wir gleich zwei Ziele erreichen. Zum einen ist dieser Burgfrieden dann hinfällig, weil unbescholtene Hexen angegriffen wurden. Zum anderen könnten wir die Liga als Opfer dieser Hexenbande wirksamer aufbauen, mehr Einfluß gewinnen und so."

"Hmm, interessanter Ansatz. Gut, daß wir nicht alle der Liga beigetreten sind. Zehn von uns dürften reichen, in der weißen Kleidung dieser Spinnenhexen genug anzurichten, um den nötigen Aufruhr zu erzeugen. Wenn dabei ein paar Broomswood-Nachweinerinnen erledigt werden könnten wir bessere Positionen einnehmen als vorher."

"Das stimmt", erwiderte Beth McGuire. "Wie machen wir es?"

"Das arbeite ich alleine aus", erwiderte Lavinia Thornbrook ungehalten. Beth sah ein, jetzt besser keinen Widerspruch einzulegen. Sie verabschiedete sich von ihrer Anführerin und verließ die bescheidene Unterkunft Lavinias durch einen Flohpulverkamin. Denn Lavinias kleines Haus war von einem Antiapparitionswall und diversen Zaubern umgeben, die ihr feindlich gesinnte Angreifer mit oder ohne Magie vom Hals halten sollten. Daß Lavinia nicht davon lassen wollte, an Hynerias Erbe zu kommen, wußte Beth McGuire nicht. Lavinia hätte es ihr auch kaum verraten.

Also das Ministerium, dachte sie bei sich. Sie mußte es schaffen, an die Unterlagen zu kommen, die über die Unterbringung mehrerer neugeborener Mädchen im Oktober 1998 informierten. Ihr fiel ein, daß im Ministerium immer noch keine wirksame Vielsaft-Trank-Enthüllung eingerichtet war. Tränke waren anders als Zauberstabmagie von keinem Enthüllungszauber zu erfassen. Nur wer einen puren Trank vor sich hatte und mit entsprechenden Analysezaubern an ihm herumzauberte oder ihn mit Prüflösungen auf seine Zusammensetzung untersuchte, konnte seine Wirkungsweise entschlüsseln. Also brauchte sie nur einen Mitarbeiter des Ministeriums, dessen Haare oder Fingernägel ihr vorübergehend einen unverdächtigen Körper geben konnten. Allerdings konnte sie nicht als Laufbursche oder Bürohexe auftreten. Sie mußte schon wen aus der Abteilung finden, der oder die an die Unterlagen herankam, ohne Verdacht zu erregen. Nur so gelang es, Hynerias verjüngten Körper zu finden, ihr Blut aufzufangen und damit das Denkarium der verehrten Vorgängerin zu finden. Hatte sie dies, konnte ihr niemand mehr die Macht in der Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern streitig machen.

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Justine Brightgate saß im geräumigen Speisesaal für Nichtraucher im Hauptgebäude des Laveau-Institutes. Grasgrüne und weinrote Vorhänge hingen links und rechts der knapp zwei Meter hohen Ebenholzfenster mit schwarzen Marmorbänken herunter. Die Spätsommersonne blickte warm und hell durch das mittlere der drei nach Süden ausblickenden Fenster. Im Moment befanden sich außer ihr nur die Auszubildende Heather Whitecloud und die altgedienten Zauberer Cosmo Creek und Nicodemus Friley in diesem für dreißig Personen ausgelegten Speisesaal.

Justine war fünfunddreißig Jahre alt, ledig und eine ausgezeichnete Fachhexe für Zauberwesen, Fluchabwehr und Muggelweltgegebenheiten. Aber auch in einfachen Heilzaubern, so wie im blitzschnellen Auffinden gesuchter Dinge und Ordnungschaffen war sie großartig. Als sie vor zehn Jahren die Erlaubnis der als Geist in der Welt verbliebenen Marie Laveau erhalten hatte, das Institut zu betreten, hatte ihr niemand erzählt, welche Prophezeiung die aus ihrem verstorbenen Leib entschlüpfte Voodoo-Königin von New Orleans über sie ausgesprochen hatte. Sie wußte nur wie alle anderen, daß es in einem der Geheimkeller Aufzeichnungen gab, an die nur der amtierende Leiter des Institutes herankam. Damit wollten sie verhindern, daß jemand eine ihn betreffende Vorhersage wahrmachen oder durch aktives Gegensteuern unerfüllbar machen konnte. Ihre himmelblauen Augen blickten aufmerksam in die Welt. Sie fiel mit ihrer titianroten Mähne selbst in größter Dunkelheit auf. Doch das störte sie nicht. Denn ihr war eine besondere Eigenschaft von ihrem Vater Japitus in die Wiege gelegt worden. Sie war eine Metamorphmaga, die ihr äußeres Erscheinungsbild durch reine Willenskraft ändern konnte, ohne einen Zauberstab benutzen zu müssen.

Sie war eine von gerade vier registrierten Metamorphmagi der Vereinigten Staaten. Da war Ronin Monkhouse, der als Zaubereiministeriumsmitarbeiter zur besonderen Verwendung tätig war. Dann gab es noch Cliff Diver, einen freien Journalisten, der für die beiden großen Zaubererzeitungen, sowie für die US-Sektion von Verwandlung Heute Reportagen über neue Zaubereien oder Konferenzen über Zauberwesen schrieb. Dann gab es den jungen Otto Newton, den Sohn eines Ministeriumsmitarbeiters, der zu den geheimnisumwitterten Mysteriumsleuten gehörte und eben sie, Justine Brightgate, die ihrer britischen Tante einen Artikel über pränatale Autometamorphosen wert gewesen war, weil sie bereits im Mutterleib ihre Körpergröße mehrmals verändert hatte, wodurch ihr genauer Geburtstermin bis zum letzten Moment unberechenbar geblieben war. Als sie dann als violetthaariges Baby mit spitzen Ohren zur Welt kam hatten alle erst gedacht, es mit einer totalen Mißgeburt zu tun zu haben. Doch Eine Stunde nach ihrer Ankunft hatte sie dasselbe titianrote Haar wie ihre Mutter Rosetta angenommen. Mit den Jahren hatte sie ihre besondere Begabung zu beherrschen gelernt und nach Thorntails als beste Bewerbungsgrundlage für das Ministerium und das LI gemacht. Im Ministerium hatten sie gerade erst einen männlichen Metamorphmagus und hätten sich sicher über eine Hexe mit diesen Eigenschaften gefreut. Doch Davidson und die leider zu früh dahingegangene Jane Porter hatten sie überzeugt, daß sie beim Laveau-Institut wesentlich besser aufgehoben sei. Sie konnte sich ohne Zauberstab in die unterschiedlichsten Frauen verwandeln, ja sogar vorübergehend auf Kleinkindgröße zurückschrumpfen oder über zwei Meter groß werden. Mit Zauberstab gelang es ihr sogar, das Geschlecht zu wechseln, so daß sie in einigen Fällen in männlicher Körperform herumgelaufen war. Aber sie fühlte sich im von den Eltern vererbten Körper immer noch am wohlsten. Sie gehörte zu den ganz wenigen, die über die Stellvertreter der Zaubereiministergattin und ihres bereits geborenen Sohnes Maurice gewußt hatten.

"Sind Sie Justine Brightgate?" Sprach sie ein Zauberer in einem feinen Muggelweltanzug mit dunkler Krawatte an. Er besaß eine dunkelblonde Igelfrisur, die von seinem flachen Kopf abstand. Graublaue Augen und eine Himmelfahrtsnase waren die einprägsamsten Merkmale seines ansonsten unauffälligen Gesichtes. Sie kannte ihn nur von Ferne und wußte, daß er früher für das Zaubereiministerium gearbeitet hatte, bis die Feindschaft mit dem mittlerweile vernichteten Totentänzer Ruben Coal ihn dazu veranlaßt hatte, sich dem LI anzuschließen. Er hieß Zachary Marchand.

"Im Moment sehe ich zumindest so aus", erwiderte Justine vergnügt. Hier im Institut sprachen sich alle beim Vornamen und in der Du-Form an, außer wenn es um Elysius Davidson ging.

"Ich habe ein vielleicht lächerlich anmutendes Anliegen, Justine", setzte Marchand an. "Haben sie einige Minuten Zeit für mich?"

"Meine Pause endet in fünf Minuten. Heute Nachmittag muß ich um vier uhr fort, einen Auftrag ausführen. Bis dahin habe ich drei Stunden Zeit, die ich mit Aktenwühlerei totschlagen wollte. Aber wenn du was wichtiges hast, daß mich von dieser stupiden Schreiberei ablenkt, jederzeit."

"Hmm, dann in zehn Minuten in deinem Büro", machte Marchand einen Termin klar. Justine nickte.

Nach der Lektüre der Tageszeitung, die sich mit dem letzten großen Protest der Liga rechtschaffender Hexen befaßte, zog sich Justine in ihr kleines Büro zurück. Es quoll mit hunderten von Zaubererweltfotos über, die alle Frauen und Mädchen mit unterschiedlichster Haar-, Augen- und Hautfarbe, schlank oder füllig, hochgewachsen oder kleinwüchsig, flachbrüstig oder vollbusig zeigten. Wer diese Bilderschau sah mochte meinen, daß die Büroinhaberin ihrem eigenen Geschlecht zugetan war. Tatsächlich zeigten diese Fotos alle sie selbst. Daraus hätte man den Schluß ziehen mögen, daß sie selbstverliebt sei und jede ihr mögliche Erscheinungsform für ein gelungenes, aufzubewahrendes Kunstwerk hielt. Doch hinter der abgelichteten Vielfalt ihrer Erscheinungsformen steckte nüchterne Überlegung. Die Bilder sollten ihr helfen, im Bedarfsfall schneller und besser eine bestimmte Erscheinungsform anzunehmen, um innerhalb von wenigen Sekunden als Schulmädchen oder behäbige Hexengroßmutter in den Einsatz zu gehen.

Als Zachary Marchand das Büro betrat winkten ihm alle fotografierten Hexen aufmunternd zu. Er stutzte, als er zwischen den ihm unbekannten Hexen Größen aus der Muggelwelt erkannte. Er sah die weltberühmte Sängerin Madonna, eine mögliche Nachfolgerin, nämlich den Teenagerstar Britney Spears, alle fünf ehemaligen Spice Girls, die Präsidentengattin Hillary Clinton und die Schauspielerin Whoopi Goldberg. Der Umstand, daß sie so lebendig aus den Bildern winkten wie eben von einer magischen Kamera auf Zaubererweltfilm gebannt ließ ihn verstört dreinschauen. Er setzte schon an, zu fragen, wo genau diese weiblichen Berühmtheiten aufgenommen worden waren, als Justine vor ihm ihre Erscheinung veränderte und innerhalb von nur zwei Sekunden Haar, Gesicht und Statur der First Lady der USA angenommen hatte. Zachary Marchand stand einen Moment stramm, als habe er den Präsidenten selbst vor sich. Dann mußte er lachen. Mit der Stimme der Präsidentengattin begrüßte Justine Brightgate ihren Besucher. Dann kehrte sie die zauberstablos ausgeführte Verwandlung wieder um.

"Oha, jetzt wundert mich nicht, daß Mr. Davidson meinte, ich möge dich fragen", sagte Marchand beeindruckt. Denn ihm war jetzt klar, was die magisch fotografierten Muggelwelt-Berühmtheiten bedeuteten.

"Der Chef hat mich empfohlen?" Fragte Justine Brightgate verwundert tuend. Marchand nickte. Dann fiel Justine auf, daß sie dem Kollegen noch keinen Platz angeboten hatte. Das holte sie wortlos nach. Als er saß kam er ohne große Vorrede auf sein Anliegen zu sprechen.

"In zwei Tagen jährt sich mein Geburtstag zum vierzigsten Mal. Das ist ja im LI bekannt. Weniger bekannt ist, daß ich seit meiner Ausbildung zum FBI-Agenten keine Geburtstagsfeier mehr veranstaltet habe. Ich schaffte es bisher, bei angeblich so wichtigen Zahlen wie fünfundzwanzig und dreißig auf Dienstreise sein zu müssen. Aber im Moment hat mein Muggelwelt-Vorgesetzter keinen Auftrag, der mich bedauerlicherweise weit von hier fortschickt. Jetzt haben meine Eltern mich glatt vor vollendete Tatsachen gestellt und ohne mich zu fragen eine große Party vorbereitet. Es sei, so mein Erzeuger, endlich einmal an der Zeit, daß ich den Tag meiner Ankunft wieder mit dem gebührenden Maß feiere. Außerdem sei vierzig ein Lebensalter, an dem ein Mann innehalten und auf das bisher erreichte zurück und auf das noch angestrebte vorausblicken müsse, wenn er seinen Halt im Leben nicht verlieren wolle. Meine werte Lebensgeberin argumentierte damit, daß ich endlich einmal Zeit für mein Privatleben finden solle und mein Geburtstag der ideale Anlaß dafür sei. Ich habe den Eindruck, sie hat mit meinem Muggelwelt-Boss konspiriert, daß der mich auch ja an diesem Tag freistellt. Ich mag das nicht, wenn jemand über mein Leben entscheidet und meint, zu wissen, was für mich gut ist. Gut, Eltern sind und bleiben immer so drauf, daß sie meinen, ihren Kindern das von ihnen aus beste zu verschaffen und sie notfalls zu ihrem fragwürdigen Glück zu zwingen. Weil ich damals wegen meiner Zaubergrundkraft nicht auf eine gewöhnliche Oberschule gehen konnte und deshalb auch kein Jurastudium in Yale anfangen konnte ist mein Vater heute noch pickiert, daß er mir dieses von ihm aus gesehen richtige Leben nicht aufdrängen konnte. Insofern ist das jetzt eine Art später Vergeltung für Thorntails."

"Du hast damals die nötigen Abschlußzeugnisse frisiert?" Fragte Justine Brightgate schmunzelnd.

"Sagen wir es so, das Zaubereiministerium wollte einen muggelweltkundigen Zauberer in New Orleans haben und hat mir die für die FBI-Ausbildung nötigen Unterlagen zusammengestellt. Die Muggelwelt-Legende ist luft- und wasserdicht und hält jeder noch so intensiven Nachprüfung stand. Im Zweifelsfall kann ich alte Schulfreunde vorweisen, die behaupten und erzählen können, ich sei in einer Oberschule von Baton Rouge gewesen. Na ja, wir kennen das, wie schmal der Grad zwischen zulässig und gerade noch gerechtfertigt ist, wenn es um Muggelwelt-Kundschafter geht. Deshalb ist Cartridges Hofstaat auch etwas verschnupft, weil ich nach der ganzen Trickserei und wichtigen Dienstzeit dem Ministerium den Rücken gekehrt und mich bei euch auf die Lohnliste gesetzt habe. Aber das haben Davidson und die ranghöchsten Kollegen mit denen von Cartridges Hofstaat geregelt. Gut, nicht zu lange rumquatschen. Meine Eltern und ich sind garantiert in Gefahr, seitdem ich die Sache mit den Solexfolien aufgedeckt und die Vierbeins als Vampire entlarrvt habe. Das hat Nocturnia sicher vom ersten Startplatz ein paar Plätze zurückgeworfen. Daher stehe ich sicher bei denen noch auf ihrer Feind-Liste. Eigentlich wollte ich Personenschutz. Aber den kriege ich nicht. Das LI will sich nur bei magischen angriffen einmischen. Aber es besteht noch eine Möglichkeit", sagte er und kam dann doch auf den Kernpunkt seiner Anfrage. "Meine Eltern haben mich gefragt, ob ich eine Freundin oder Kollegin zur Party mitbringen würde. Da ich mich wohler fühle, wenn außer mir noch wer mit Zauberstab in der Nähe ist frage ich dich, ob du dir für diesen Tag freinehmen kannst?"

"Hmm, von mir aus würde ich dir gerne helfen. Aber der Auftrag, dessenwegen ich heute nachmittag noch weg muß wird am siebenundzwanzigsten besonders wichtig sein. Aber ich spreche mit Davidson, ob wir irgendwas machen können, daß eine von uns dich begleitet. Aber nur, wenn deine Eltern nicht meinen, dich mit mir oder der Kollegin gleich als Verlobte ausrufen zu müssen."

"Versteht sich von selbst", grummelte Zachary Marchand. "Mein alter Herr möchte zwar immer noch haben, daß ich ihm irgendwann Enkelsöhne vorstelle. Meine Mutter meint, ich solle endlich eine Frau finden, um im Alter nicht zu vereinsamen und mein rotznäsiger Cousin Herbert hat sich von meinem Onkel Jonas den Floh ins Ohr setzen lassen, ich sei ganz sicher schwul. So ist meine Familiensituation im Moment."

"Wir klären das mit Mr. Davidson", sagte Justine. Sie hatte erfaßt, was Zacharys große Sorgen waren. Dann fragte sie, ob seine Eltern immer in dem Haus bleiben mußten, um wirklich sicher zu sein. Er erwähnte, daß er auch gegen den Protest seines Vaters dessen Auto mit einem Feerrepulsus-Zauber belegt habe, der es zum einen mit einer Art auf Eisen ansprechenden Aufprallschutz umgab und zum anderen jede Form magnetischer Beeinflussung von außen unterband, damit kein Hubschrauber wie im James-Bond-Film das Auto auf offener Straße an einem Magneten vom Boden heben und fortschleppen konnte. Dabei hatte er den Zauber schon so schwach dosieren müssen, um nicht die störanfällige Bordelektronik durcheinanderzubringen. Mehr magische Schutzmittel hatte er nicht aufwenden dürfen.

Justine rief per Flohpulver nach Mr. Davidson und erhielt die Aufforderung, mit Zachary Marchand sofort zu ihm zu kommen. Der Leiter des LIs hörte sich Zacharys Geschichte und seine Sorgen an und grübelte einige Minuten. Dann sagte er: "Ich weiß, Justine, daß ich Sie für die andere Sache eingeteilt habe und es auch schwierig sein dürfte, Ihr fortbleiben so hinzustellen, daß es den Zielpersonen nicht verdächtig vorkommt. Aber ich muß erkennen, daß Mr. Marchands Problem mehr gewicht hat. Daher disponiere ich Sie um. Bitte geben Sie der Kollegin Montgomery alle von Ihnen erhaltenen Informationen und die exakte Beschreigung ihrer Tarnidentität mit Legende und allem! Danach lassen Sie sich beide von Mr Hammersmith mit allem ausrüsten, was möglichst ohne Zauberstab ausgelöst werden kann. Ich hoffe, sie beide erleben nur eine amüsante Geburtstagsparty. Ich muß ihrer Mutter zustimmen, daß es zwischendurch sehr wichtig ist, die beruflichen Anliegen zur Seite schieben zu können. Auch stimme ich Ihrem Herrn Vater dahingehend zu, daß jemand in einem bestimmten Alter ruhig einen Überblick auf das bereits erlebte und noch vor sich liegende Leben gewinnen soll. Falls es zu einem von Ihnen befürchteten Übergriff kommen sollte handeln Sie ohne Rücksicht auf die Geheimhaltung. Das Kennwort für diesen Fall lautet "Brennende Wiege". Ich hoffe, daß sich die Vorbereitungen als unnötig erweisen mögen."

"Verstanden, Sir", sagte Justine, die Dienstältere der beiden Mitarbeiter. Zachary Marchand bestätigte es auch. Ihm fielen mehrere Steine vom Herzen. Doch das ungute Gefühl, daß er im Bauch hatte, wollte nicht wirklich verschwinden.

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"Liegen ernsthafte Drohungen vor, Sonderagent Marchand?" Fragte der Direktor der FBI-Niederlassung New Orleans seinen Mitarbeiter.

"Das zwar nicht. Aber die Akte Laroche ist noch nicht geschlossen, Direktor Wilberforce. Daher bitte ich Sie darum, die Party mit mindestens zwanzig Kollegen vom Personenschutz abzusichern, gegebenenfalls auch mit Kollegen aus Baton Rouge."

"Bei einer konkreten Bedrohungslage würde ich Ihnen eher raten, auf jede Party zu verzichten, um möglichst keine unschuldigen Zivilisten zu gefährden", seufzte Wilberforce. "Aber außer einem unguten Gefühl können Sie leider nichts vorweisen, richtig?"

"Das war damals mit Laroche nicht anders, Sir. Der hat auch gemeint, mich ohne Vorwarnung entführen und einlegen lassen zu müssen, weil er hinter dem Sohn des angeblichen Hurenmörders Richard Andrews her war und uns zwingen wollte, ihn herauszugeben. Ich habe immer noch keine klaren Spuren im Bezug auf das was in Calchem passiert ist. Gut, da bin ich in einer Tarnidentität aufgetreten. Aber mein Vater nimmt meinen Beruf und die dabei entstandenen Feindschaften nicht ernst."

"Tut mir leid, Zachary, aber ohne konkrete Gefahrenlage kann ich keinen von der Sondertruppe abstellen, um eine Geburtstagsfeier zu schützen. Dann müßten wir ja jeden Kollegen entsprechend absichern. Das sehen Sie sicherlich ein."

"Ja, das tue ich, Sir", seufzte Zachary Marchand. "Vielleicht habe ich das Trauma mit Laroche und seinem Frankenstein-Transvestiten noch nicht überwunden. Solange ich die beiden nicht in Handschellen oder einem Kühlfach im Leichenschauhaus sehe spuken die wohl weiter durch mein Leben."

"Dann nehmen Sie besser Urlaub oder melden sich bei den Kollegen von der Psychologischen Überwachung!" Erwiderte Wilberforce. Zachary fragte dann noch, ob es neues von den Terroristen der Colored Conquerors gäbe.

"Ach, weil Sie denen damals die Suppe mit den Atomkraftwerken und Chemieanlagen versalzen konnten? Die scheinen sich erst einmal zurückgezogen zu haben, falls sich diese Truppe nicht komplett in Luft aufgelöst hat. Aber Sie haben schon recht, daß wir, solange wir keine Namen und Gesichter von denen haben, davon ausgehen müssen, daß sie nicht verschwunden sind, sondern nur auf eine bessere Gelegenheit lauern. Aber die wissen nicht, wer Ihre Eltern sind und daß Sie morgen Geburtstag haben."

"Dann bedanke ich mich bei Ihnen, daß Sie sich zumindest Zeit für mich genommen haben, Sir", erwiderte Marchand betrübt. Sein Muggelwelt-Vorgesetzter nickte und sagte ihm, daß Zachary ja auch einiges erlebt habe, was nicht mit der Unterwäsche abzulegen war. Zachary nickte und verließ das Büro von Wilberforce.

Der muggelstämmige Zauberer, der sowohl für die Bundesermittlungsbehörde als auch für das Laveau-Institut zur Bekämpfung dunkler Zauber aller Kulturkreise tätig war dachte daran, daß er dann morgen wohl nur mit der Kollegin Justine Brightgate zu der Party gehen konnte, um mindestens einen bei sich zu haben, der gegen sehr unwillkommene Gäste bestehen konnte. Zumindest hatte ihm Quinn Hammersmith, der Ausrüstungsspezialist des LI einen Drachenhautpanzer, zwei sogenante Schleichschlappen und ein kleines, vor wenigen Wochen erfolgreich getestetes Ding mitgegeben, daß er locker in einer Krawatte oder Fliege verstecken konnte.

Nach dem offiziellen Dienstschluß fuhr Marchand in sein gesichertes Haus und rief seine Eltern noch einmal an, um zu fragen, wann er bei Ihnen vorbeikommen möge.

"Kannst am besten schon heute kommen. Aber wenn du die Kollegin, von der du gerade gesprochen hast mitbringen möchtest reicht auch morgen Mittag. Du kommst aber mit dem Auto, richtig?"

"Neh, auf dem Besenstiel, Dad. Natürlich komme ich mit dem Auto", knurrte Zachary. "Also morgen um zwölf Uhr?"

"Besser ein paar minuten davor, damit du mir noch beim Grill helfen kannst."

"Dad, besser ist, wenn wir morgen ausnahmsweise mal nicht grillen. Ich habe das Gefühl, der Kerl, der mich damals entführt hat könnte meinen, sich für das Ende seines Imperiums rächen zu müssen. Wissen wir, wer heute die Personalakten von wem aus dem Internet ziehen kann, wenn er skrupellos genug ist?"

"Wir haben bei Feiern im Sommer immer gegrillt. Ich werde nicht vor diesen namenlosen Schweinepriestern kapitulieren, Zach."

"gut, die Alternative kennst du, wenn die Feier nicht so läuft, wie ich es für richtig halte, Dad?"

"Das wagst du nicht", schnaubte Mr. Theodor Marchand.

"Der Grill und die Kohle bleiben im Schuppen, Dad. Das ist mein allerletztes Wort. Sehe ich morgen den Grill, bin ich schneller wieder weg als du "Einspruch!" rufen kannst."

"Fang jetzt nicht an, dich mit mir vor deinem Geburtstag zu streiten, Junge! Das würdest du bereuen."

"Wer vierzig wird ist kein Junge mehr. Wenn du willst, daß ich dich respektiere nimm die Null hinter der Vier endlich mal zur Kenntnis, wenn du schon meinst, ich müßte unbedingt bei euch feiern."

"Bei dir ist ja zu wenig Platz", grummelte Zacharys Vater. Dann schützte er vor, noch was erledigen zu müssen, um morgen Luft zum Feiern zu haben. Zachary schnaubte, als er den Hörer wieder aufgelegt hatte. Hatte ihn dieser Drecksack, dessen halbes Erbgut er abbekommen hatte, schon wieder dabeigekriegt. Natürlich wollte er sich nicht mit ihm streiten. Doch das mit dem Grill würde er ihm morgen unmißverständlich klarmachen, indem er in dem Augenblick umdrehte oder disapparierte, in dem er den fast badewannengroßen Gußeisengrill im Garten stehen sah.

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Im Männerkörper herumzulaufen war schon recht gewöhnungsbedürftig, fand Enid Witherspoon, Lavinias heimliche Kundschafterin im Zaubereiministerium. Doch nur in der Erscheinungsform des Familienregistrationsbeamten Morton Tindale kam sie an die Unterlagen heran.

Es war am sechsundzwanzigsten September, als sie, nachdem sie sich endlich an den Anblick ihres derzeitigen Spiegelbildes und das ungewohnte Gefühl in ihrem Schritt gewöhnt hatte Tindales Büro betrat. Lavinia hatte ihr zumindest eine Liste der wichtigsten Ministerialbeamten geben können, damit sie sie ordentlich grüßen konnte. Jetzt saß sie über den Unterlagen. Ihr war zwar klar, daß die rasche Genesung Tindales nach einem plötzlichen Schwächeanfall auf Grund von Überarbeitung Fragen aufwerfen konnte. Doch wenn sie unauffällig blieb würde die Alarmstimmung schon wieder verfliegen.

Beinahe hätte Enid geflucht, weil sie einen der Schränke nur durch ein Passwort öffnen konnte, daß sie nicht von dem echten Tindale erfahren hatte. Doch als sie aus einem anderen Aktenschrank die Unterlagen über den Oktober 1998 hervorholen konnte, ohne daß es zu einer magischen Gegenwehr kam, atmete sie auf. Sie las nach, daß in diesem Monat siebzehn Zaubererkinder geboren worden waren und fand auch den Eintrag, auf den Lavinia es abgesehen hatte.

Neugeborenes Mädchen vor HPK ausgesetzt. Heilkundliche überprüfung datiert Alter auf eine Woche. Wurde nach einwöchigem Aufenthalt der Pflegefamilie Mike und Evilyn Fender in Misty Mountain anvertraut, wo sie den Namen Sheila Fender erhielt

Enid grinste über das ganze gerade stoppelige Gesicht. Die Haarfarbe stimmte, wenngleich der Säugling blaue Augen hatte. Das war jedoch häufig bei Neugeborenen. Sie suchte unter dem Familiennamensverzeichnis den Buchstaben F heraus, schlug unter "Fender" nach und fand den Eintrag über die Pflegschaft über ein Mädchen, dessen Eltern nicht ermittelt werden konnten. Dabei war auch ein Bild, daß das Mädchen mit sechs Lebensmonaten zeigte. Ja, das war Hyneria. Enid hatte einmal Kinderfotos von ihr gesehen, Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus längst vergangenen Tagen. Sie hatte, was sie wollte. Sorgfältig steckte sie die Akten dorthin zurück, wo sie sie hergeholt hatte und vertrieb sich den restlichen Arbeitstag mit dem Studium von Akten. Wo sie schon einmal hier war konnte sie prüfen, wer in zehn oder zwanzig Jahren für die Schwesternschaft interessant werden konnte. Zwischendurch mußte sie immer wieder was von dem Vielsaft-Trank nachtrinken. Am Ende war sie froh, ohne weitere Behelligung aus dem Ministerium verschwinden zu können. Der echte Mr. Tindale würde ein neues Gedächtnis erhalten, daß er an dem Tag doch noch zur Arbeit gegangen sei.

Die schmerzen der Rückverwandlung kamen Enid Witherspoon wie eine Befreiung vor. Als sie endlich wieder ihren untersetzten, kleinen Körper mit dem ausladenden Becken und dem langen, dunkelbraunen Haar zurückerhalten hatte, konnte sie erst richtig aufatmen.

"Hast du gefunden, was ich gesucht habe?" Fragte Lavinia Thornbrook, die sich die ganze Zeit in Enids Wohnung verborgen hatte. Zur Antwort übergab Enid der Anführerin die abgeschriebenen Angaben über Sheila Fender.

"Dann können wir am Monatsende eine neue Ära einläuten", frohlockte Lavinia leise genug, um nicht außerhalb des Hauses gehört zu werden.

"Wie ist die Stimmung in der Liga?" Fragte Enid.

"Wie zu befürchten sehr zu Gunsten der Broomswood-Schnepfen. Aber ob es zur Abstimmung kommt steht noch nicht fest", erwiderte Lavinia mit eiskaltem Lächeln.

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"E-Lok auf Nebengleis. Keine Probleme, wenn Zielbahnsteig erreichbar", meldete der hagere Spezialist für alles was brennen, Strom erzeugen oder führen oder was explodieren konnte. Wegen seiner hageren Gestalt und seiner Kenntnis von Feuer, Strom und Sprengstoff hieß er in der Truppe von Colonel Aldo Watkins Spark Plug, die Zündkerze. Neben ihm stand sein kongenialer, wenn auch komplett verschiedener Partner, der kleinwüchsige Alarmanlagen- und Schlösserspezialist, der im Internen Funkverkehr Kobold gerufen wurde. Spark Plug prüfte noch einmal, ob die Fernbedienung genug Leistung abgab. Kobold prüfte derweilen aus sicherem Abstand, ob an dem Tor zusätzliche Sicherheitsvorrichtungen angebracht waren. Außer einer Videokamera und einer Infrarotlichtschranke hatte er nichts gefunden.

"Und wehe, wenn die kopierte Impulsfolge falsch ist", knurrte der Strom- und Sprengstoffspezialist. Denn dann würde er wohl den elektrisch geladenen Zaun entschärfen müssen. Das ging, wenn man genug leitfähige Anker mit langen Kabeln und Fanghaken hatte und über die Fanghaken den Strom mehr und mehr in den Boden leitete, bis das Übersteigen gerade mal wie ein leichtes Kribbeln war. Aber dazu hätte er seinen Einsatzwagen herrufen müssen. Der hätte dann für die Durchführung im Weg stehen können.

"Fruitbat an alle, Schlafsand gestreut", vernahmen die Männer des Einsatztrupps. Fruitbat, die Fruchtfledermaus, hockte mit seinem Lasermikrofon knapp einen halben Kilometer vom Haus entfernt. Er hatte sicher mitgehört, wie im Haus die von Sandman installierte Begasungsanlage angesprungen war und das in nur vier Sekunden zum K.O. führende Mittel über die Klimaanlage verteilt wurde. Wer jetzt schon schlief schlief solange, wie das Gas im Haus blieb. Wer bis dahin noch nicht geschlafen hatte fiel gerade da um, wo er oder sie stand oder saß.

"Colonel an alle: Schlafwagenexpress zum Bahnhof. An Spark Plug und Kobold: Bahnhofsgebäude aufschließen!"

"Schlafwagen an Colonel, sehen den Bahnhof schon. Bahnsteig frei?"

Spark Plug betätigte die Fernbedienung. Das Tor ruckelte und schwang dann surrend nach innen. Also hatte es geklappt, die richtigen Funkimpulse aufzuzeichnen. Kobold war eben auch ein Genie.

"Bahnsteig frei. Schließen jetzt Bahnhofsgebäude auf", meldete der hagere Einsatzspezialist.

"Flyswatter an Fruitbat: Fliegen auf Vorplatz?"

"Fruitbat an Flyswatter: Kein Gesumm gehört. Keine Fliegen über Vorplatz."

"Colonel an Flyswatter und Hosepipe: Ihr sichert trotzdem den Bahnhofsvorplatz."

"Kobold an alle: Könnten Spanner auf Vorplatz sein. Will sichern."

"Flyswatter an Kobold: Wenn Spanner auf Vorplatz bitte anmalen!"

"Colonel an Flyswatter: Wenn Spanner nur Leise Abgänge!"

"Flyswatter an Colonel: Verstanden."

Kobold sondierte mit Infrarotdetektoren nach Bewegungsmeldern. Tatsächlich verbargen sich rund um das Haus einige. Mit einem aus Armeelieferungen abgezweigten Zielmarkierer auf Laserbasis nahm er die gefundenen Überwachungsgeräte aufs Korn. Der Kamerad Flyswatter, die Fliegenklatsche, belegte jeden markierten Melder mit kurzen Garben aus seiner schallgedämpften MP, wobei er nur Stahlmantelgeschosse und keine Sprengmunition verwendete. Dann ging es an die Haustür. Diese bekam Kobold jedoch nicht so leise auf. Daher legte Spark Plug sechs kleine Mienen so, daß die Panzerglasfüllung herausplatzte. Damit würden sie zwar den inneren Alarmring, der das Haus selbst schützte auslösen. Aber sie hörten bereits den Schlafwagen. Vorher setzten sie sich die Gasmasken auf.

"Achtung, Bahnhof wird geöffnet", warnte Spark Plug, als Kobold und er weit genug zurückgetreten waren. Er zündete die sechs Kleinsprengkörper. Es rumste vernehmlich. Drinnen schrillte nun Alarm. Und in zehn Minuten spätestens war die Polizei vor Ort. Doch das war jetzt auch egal. Denn die Tür war offen. Die beiden Einbruchspezialisten räumten die Trümmer bei Seite. Da marschierten auch schon acht Männer mit vier mittelhellen Plastikbehältern heran. Auch sie trugen Gasmasken. Im Geschwindschritt liefen sie, das wilde rote Blinken und Sirenengeheul ignorierend ins Haus. Ob das Gas noch wirkte wußten sie nicht. Vier träger liefen zum großen Schlafzimmer, wo die Eheleute schlummerten. Mit einer Routine, die nur ehemaligen Rettungssanitätern der Marines eigen war, betteten sie den sehr beleibten Mann zuerst in einen der sargartigen Behälter mit Luftlöchern und schnallten ihn fest. Dann klappten sie den Deckel zu. Das zweite Trägerpaar lud die kleine, untersetzte Frau in ihrem Seidennachthemd in den zweiten Behälter und trug sie auch hinaus. Die beiden anderen Trägerpaare suchten die Wohnräume der Dienerschaft im Erdgeschoß auf. Auch hier luden sie schlafende Leute ein, den Majodomus Benson und den Kammerdiener Carlton. Die Haushaltshilfe Maggy ließen sie Schlafen. Der Auftrag lautete, alle männlichen Dienstboten mitzunehmen. Denn außer dem Colonel wußte keiner der Truppe, wer ihr geholfen hatte, so schnell in das so gut abgesicherte Haus zu kommen. Und das wollte der Colonel auch nicht verraten.

In deerselben Zeit suchten Kobold und Spark Plug das ehemalige Kinderzimmer. Kobold fand es zuerst und gab nur über funk durch, daß Gepäckfach gefunden zu haben. Er bestaunte die ganzen Nachbildungen von Sehenswürdigkeiten aus verschiedenen Städten der USA wie die Freiheitsstatue, das Hollywood-Symbol oder das Kapitol. Daneben hatte der Sohn des Hauses sich wohl auch für See- und Raumfahrt interessiert. Kobold sah Modelle berühmter Segelschiffe, eine stark verkleinerte Nachbildung der Saturn-V-Rakete und eine gerade einen Meter große Nachbildung der USS Hornet, die damals die ersten Menschen auf dem Mond aus dem Pazifik aufgefischt hatte. Weil er jetzt doch merkte, daß er eine Minute mit Herumblicken vertan hatte beeilte er sich. Er ging an das Bett heran und holte aus seinem Rucksack ein in helles Seidenpapier verpacktes Paket mit himmelblauer Schleife und einem Aufkleber daran:

Alles Gute zum Geburtstag!

Was in dem Paket war wußte Kobold nicht. Er hatte früh gelernt, nicht nach Sachen zu fragen, die ihn nicht betrafen. Wichtig war nur, daß er beim Herausholen des merkwürdigen Geburtstagsgeschenkes Handschuhe getragen hatte. Dann waren zumindest keine Fingerabdrücke von ihm darauf. Denn sonst war er so gut wie erledigt.

Unter dem wilden Sirenengeheul und von rotem Blinklicht in ihren Bewegungen blutrot untermalt schafften die Träger ihre Opfer, die sie im Funk als Passagiere bezeichneten, aus dem Haus. Dort stand der große Lieferwagen mit laufendem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern. In einer durch mehrere Proben abgestimmten Abfolge verluden sie die betäubten Hausbewohner innerhalb einer Minute.

"Schlafwagen an Colonel: Vorgebuchte Passagiere in den Abteilen. Bereit zur Abfahrt!" Meldete der Fahrer des Wagens.

"Fruitbat an alle: Kavallerietrompeten aus Nord, mindestens zwei Einheiten!" Warnte der Horchposten.

"Das der bei dem Gejaule noch Ohren für die Umgebung hatte", grummelte einer der Träger, die den ziemlich schweren Hausherren verladen hatten. "Ist jetzt auch egal. Wir sind fertig. Abfahrt mit Volldampf!"

"Colonel an alle: Schlafwagen planmäßig zur Endstation Grün über Südroute!"

"Verstanden, Colonel. Schlafwagen fährt ab", bestätigte der Fahrer des Lieferwagens. Laut schabend schnellte die seitliche Schiebetür zu. Mit aufbrüllendem Motor wendete der Wagen und raste durch das von Kobold offengehaltene Tor nach draußen. Kaum war der Schlafwagen vom Grundstück, brauste ein VW-Bus mit hochgezüchtetem Motor heran. Ein Kamerad riß von innen die Schiebetür auf und sprang nach hinten in den Laderaum, als die fünf Männer des Vorauskommandos einstiegen.

"Kavallerie im Anmarsch! Alle Bahnarbeiter vom Vorplatz!" Warnte Fruitbat.

"Sind schon auf dem Weg raus", meldete der Fahrer des Busses. Kobold grinste verschmitzt, als er von Spark Plug die Fernsteuerung für das Tor nahm und das schwere Eisentor ruhig zuschwingen ließ. Da hörte er über die Alarmanlage im Haus die Sirenen von mindestens zwei Polizeiwagen. Doch der Fahrer war schon nach Süden auf einen Nebenweg abgebogen. Ohne Licht würden sie für die nächsten Minuten komplett unsichtbar sein. Erst auf der Hauptstraße würden sie Scheinwerfer benutzen.

"Colonel an alle Bahnarbeiter, Schlafwagenexpress erfolgreich abgefahren. Treffen Hauptbahnhof siebenhundertfünfzehn!"

"Werkslok an Colonel: Verstanden. Treffen Hauptbahnhof siebenhundertfünfzehn.

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Richard Stanford, der Direktor der FBI-Niederlassung Baton Rouge, schreckte aus seinem wohlverdienten Schlaf, als um 02.45 Uhr das Telefon neben seinem Bett losträllerte. Der bekennende Junggeselle grummelte, als er nach dem Apparat langte. An der Flüssigkristallanzeige konnte er ablesen, daß es die Nummer des Überfallkommandos von Baton Rouge war. Er atmete noch einmal tief durch und meldete sich. Als er hörte, daß die Alarmanlage des Anwesens der Eheleute Theodor und Agatha Marchand losgegangen sei und das Überfallkommando gerade noch vermelden konnte, trotz ordentlich verschlossenen Tores eine wohl mit Sprengstoff aufgebrochene Haustür gesehen zu haben und den von den Hausherren erhaltenen Toröffnungscode benutzt hatten, sei keine Meldung mehr erfolgt. Die Beamten hätten noch nicht gemeldet, was in dem Haus selbst passiert sei. Da in den Unterlagen stand, daß der Sohn der Eheleute beim FBI beschäftigt sei habe man ihn angerufen.

"Ich habe einen Schichtleiter im Büro. Haben Sie den nicht erreicht?" Brummte Stanford.

"Doch, dem haben wir auch schon bescheidgesagt. Er meinte, wir sollten Sie auch noch informieren."

"Dann fahr ich gleich mal zu dem hin und sage ihm, was ich meine", grummelte Stanford. Dann kam ihm richtig zu Bewußtsein, daß die alarmierten Polizisten sich nicht mehr gemeldet hatten. Er fragte, ob man eine zweite Einheit hingeschickt habe. Das war tatsächlich geschehen, als die Kollegen mehr als zehn Minuten nicht erreichbar gewesen seien. Stanford sagte, daß er jetzt in sein Büro fahren würde. Wenn sich etwas neues ergebe sollten die Stadtkollegen ihn dort anrufen. Er zog sich an und fuhr mit seinem in Ehren gehaltenen Dodge in die immer noch heiße Sommernacht hinaus, hinein in das immer noch pulsierende Leben der Hauptstadt Louisianas.

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Zachary Marchand schrak aus einem Alptraum auf, der ihn sichtlich in Schweiß badete. Keuchend setzte er sich auf. Da meinte er, ihr triumphales Lachen wiederzuhören. Er zuckte mit dem Kopf nach rechts. Doch sie war nicht da. Sie konnte ja auch nicht da sein. Nyx war tot, vernichtet, zerlaufen im Golfstrom. Doch er hatte von ihr geträumt, daß sie durch alle Vampirsperren hindurchgebrochen war und ihn mit Worten der Lähmung gebannt hatte. Dann war er von ihr im Bett berührt worden und unter ihren Händen geschrumpft. Zumindest mußte er geschrumpft sein, weil alles um ihn herum größer geworden war, Nyx eingeschlossen. Dann hatte sie ihn wie ein hilfloses Baby in die Arme genommen und durch die Wände davongetragen, dabei irgendeine einlullende Melodie summend. Sein Körper war gelähmt. Aber sein Wille war wach geblieben. Die Angst hatte ihn überkommen. Dann war er mit ihr auf einem alten Friedhof gelandet, wo sie ihren Oberkörper freigemacht hatte. "Trink, mein Sohn. Trink dich groß und stark!" Hatte ihre Stimme ihn benebelt. Er konnte nichts dagegen tun, wie sie ihn anlegte und er begierig an ihrer nun kopfgroßen Brust saugte. Sie hatte gelacht, sich gefreut, ihn endlich zu haben. Er hatte wie ein neugeborenes Kind geschrien und war darüber aufgewacht.

Zachary drückte die Beleuchtung seiner Armbanduhr. War es denn jetzt erst 02.27 Uhr? Als er noch einmal auf die beleuchtete Anzeige sah mußte er es glauben: 02:27:32. 02:27:33. 02:27:34 ...

"Tollen Traum hast du mir zum Geburtstag geschenkt, Mr. Sandman", knurrte Zachary mit Blick zur Decke. Sollte er jetzt aufstehen und sich durch den Tag hangeln? Nein, er mußte wieder schlafen. Die bucklige Verwandtschaft, allen voran seine eigenen Eltern, konnte er nur ohne Streit ertragen, wenn er wach und selbstbeherrscht genug war. Er wolte sich um halb zehn mit Justine Brightgate vor dem Haus treffen und im marsroten Mercedes, seinem Dienstwagen, die 80,2 Meilen nach Baton Rouge auf Muggelart fahren. Na so ganz Muggelmäßig würde es nicht sein. Denn das Zaubereiministerium hatte ihm erlaubt, die Bleche und Fenster der Nobelkarrosse aus Stuttgart gegen Kugeln und sogar Sprengstoffgeschosse immun zu machen. Zumindest konnte ihm da keiner auf offener Strecke was anhaben.

Nachdem er sich mehrmals im Bett hin und hergewälzt hatte fand er wieder in den Schlaf zurück. Doch er sollte nicht lange dauern.

Wie ein Blitz in die Dunkelheit, so schlug das Trällern des Telefons in die Stille des Hauses. Zachary Marchand schrak aus dem Schlaf. ER fühlte sich sichtlich erschöpft. Offenbar hatte sein Körper noch nicht genug Erholung bekommen. Er lauschte. Dann trällerte es wieder. Schlagartig war er hellwach. Seine Schulung hatte ihm in Fleisch und Blut eingemeißelt, daß ein Anruf in der Nacht immer etwas dringendes, etwas sofort zu erledigendes bedeutete. Er setzte sich auf, langte mit der rechten nach dem schnurlosen Telefon auf dem Nachttisch und pflückte es herunter. Die Annruferanzeige vermeldete, das Wilberforce persönlich am Apparat war. Das ließ ihm noch mehr Adrenalin in die Blutbahn einschießen.

"Zachary, ich hoffe, sie sitzen sicher", begrüßte Wilberforce den Sonderagenten.

"Kommen Sie bitte zur Sache, Sir", bestand Zach auf den Grund des Anrufes.

"Zuerst möchte ich mich dafür entschuldigen, Ihre Besorgnis nicht ernstgenommen zu haben. Dies bitte, damit Sie wissen, daß ich vollstes Mitgefühl mit Ihnen habe. Ich erhielt vor einer halben Stunde einen Anruf von meinem Amtskollegen Stanford aus Baton Rouge. Der wiederum von der Stadtpolizei aus dem Schlaf geklingelt. Bei Ihren Eltern ist der Alarm ausgelöst worden. Gemäß einem Abkommen mit dem Amtsgericht Baton Rouge ruft dieser Alarm gleich das Überfallkommando zu Hilfe. Das fand das große Tor verschlossen, aber die Haustür gewaltsam geöffnet. Danach erfolgte erst keine weitere Meldung. Eine weitere Einheit ist dann hin und hat nachgeforscht. Die Kollegen lagen ohnmächtig im Haus, offenbar mit Gas betäubt. Denn die zweite Einheit meldete Unwohlsein und Kurzatmigkeit. Das Schlimmste daran ist, daß jemand Ihre Eltern und die beiden männlichen Dienstboten entführt hat." Bums! Da war er, der große Knall, dem Zach schon entgegengebangt hatte. Sein Herz übersprang einen Schlag. Sein Atem ging stoßweise. Doch die in Jahren der Berufsausübung eingeschliffenen Verhaltensweisen griffen schnell wieder. Seine Eltern waren entführt worden. Ja, das war schlimm. Doch er durfte genau deshalb nicht die Fassung verlieren. So hörte er sich wie auf Autopilot antworten:

"Sie sind entführt worden, Sir. Keine Toten?"

"Nein, nicht auf dem Grundstück, Zachary. Die Spurensicherung hat Reifenspuren gefunden, die noch genauer ausgewertet werden müssen. Sicher ist nur, daß es zwei Fahrzeuge waren, und das in der Umgebung wohl noch mehrere Fahrzeuge im Gelände geparkt haben. Und noch was, die Stadtpolizei hat in einem Einzelschlafzimmer ein Paket auf dem Bett gefunden, auf dem eine Grußkarte geklebt war: "Alles gute zum Geburtstag!" In dem Zimmer befanden sich Miniaturen von Sehenswürdigkeiten und Modelle von Schiffen und Mondraketen."

"Das Zimmer kenne ich. Da habe ich meine gesamte Kindheit und Jugend drin verbracht", erwiderte Zachary. "Haben die Kollegen das Paket geöffnet?"

"Es wird gerade auf Sprengfallen oder Giftgasvorrichtungen untersucht. Fühlte sich laut der Kollegen aber an wie zusammengepackte Kleidung."

"Wer hat das Paket jetzt?"

"Wir haben das in unserer Zweigstelle Baton Rouge. Stanford hat die Sache sofort zu einer Bürosache gemacht und ich pflichte ihm da bei. Wenn das gegen Sie geht, geht es auch gegen uns. Ihre Eltern sind zwar wohlhabend, aber wenn es um Geld ginge hätte man ja dann nur einen Ehepartner oder gar Sie entführt. Also ..."

"Geht es entweder um etwas, was ich für die Verbrecher tun soll oder um meine ganz natürliche Person, Sir", beendete Zachary den Gedankengang seines Muggelweltchefs.

"Genau deshalb stehen sie ab sofort unter Personenschutz, Zachary! Die Kollegen sind bereits vor dem Haus. Aber Ihre Einbruchssicherungen können selbst wir nicht knacken, warum auch immer."

"Gut, ich zieh mich an und fahre mit den Kollegen nach Baton Roge. Welches Kennwort haben die Kollegen?"

"Nachts sind alle Katzen Grau müssen Sie sagen. Und der richtige Kollege muß dann mit "Und alle Mäuse schwarz" antworten. Zachary nickte. dann verabschiedete er sich. Als er die Auflegen-Taste gedrückt hatte überkam ihn ein wildes Zittern. Die ganze beruflich antrainierte Fassung fiel von ihm ab. Seine Eltern waren entführt worden. Sicher, er hatte sich in den letzten zehn Jahren häufig mit seinem Vater gestritten und nur dann Kontakt aufgenommen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Aber das jemand die Menschen entführte, die die wichtigsten Menschen seines Lebens waren ... Waren nur seine Eltern entführt worden? Wer immer das getan hatte mochte auch hinter Martha Eauvive hergewesen sein. Wo wohnte die jetzt? Regents Hotel New York? Nein, da hatte sie mal gewohnt, wo sie noch keinen Zauberstab benutzen konnte. Sollte er ihre Mobilnummer wählen? Dann müßte er ihr um diese frühe Stunde erklären, warum er sie geweckt hatte. Das wollte er aber nicht, sie noch mit da hineinziehen, solange sie nicht in Gefahr war.

Zachary benutzte den Schnellankleidezauber und verstaute seinen Zauberstab in einer kleinen Gürteltasche, die Muggeln nicht auffiel. Dazu zog er die von Quinn Hammersmith neu besohlten Schuhe an. Ob er sie brauchte wußte er nicht. Jedenfalls konnte er die Fliege vergessen, die er eigentlich zu der Party hatte anziehen wollen. Das darin befestigte Kleinod nahm er jedoch heraus und befestigte es hinter seinem Hemdkragen. Dann fiel ihm ein, daß er mit irgendwem mentiloquieren müßte, der im LI arbeitete. Doch großartig geübt hatte er das nach seiner Ausbildung im Zaubereiministerium nicht. Außerdem wußte er nicht, wen genau er anmentiloquieren sollte. So blieb ihm erst einmal, herauszufinden, ob die Entführung seiner Eltern auf dem Mist von Laroche oder seinen Erben gewachsen war. Denn auch wenn Wilberforce immer bekräftigt hatte, daß niemand so leicht an die Personalakten von FBI-Leuten herankam, wer Verbindungen zu Geheimdiensten hatte kam an solche Daten ran, und Laroche hatte mit Untergrundorganisationen zu tun gehabt, die im Ruf standen, mit dem ehemaligen KGB gekungelt zu haben. Bei den Russen hatte er bestimmt eine Akte, war sich Marchand sicher. Also hieß es, herauszubekommen, wer die Schweinerei mit seinen Eltern angestellt hatte. Sein Problem war, wenn es ausschließlich eine Muggelangelegenheit war, durfte er keine magischen Informationsbeschaffungsmittel verwenden. Das war eines der obersten Gesetze der Geheimhaltungsfeuerwehr, daß sie in ihren Muggelwelt-Anstellungen keine Magie zur Verbesserung von Ermittlungen einsetzen durften. Jetzt stieß ihm diese Richtlinie sehr sauer auf.

"Nachts sind alle Katzen grau", begrüßte Zachary einen vor dem Haus stehenden Mann mit Vollbart."Und alle Mäuse schwarz", brummelte der Mann, als habe ihn jemand genervt. Dann reichte er Zach die Hand und nickte ihm zu. Dieser erkannte ihn jetzt auch. Das war Sonderagent Ronin McDowell.

"Willkommen im Club der wahrgewordenen Alpträume", grummelte McDowell, als er den Kollegen begrüßt hatte. "Vor vier Jahren hat's meine Schwester erwischt. Aber wir sollen los. Die Kollegen in B. R. sind total am rotieren."

"Rat mal wer noch, Ronin", knurrte Zachary. Dann stiegen sie in einen nagelneuen Ford Mustang ein, der mit einem Handgriff zum Einsatzfahrzeug mit Rotlicht und Sirene gemacht wurde. Erst nur mit Warnlicht, dann mit Sirene jagte der Wagen über die Interstate 10 zwischen New Orleans und Baton Rouge. Als Einsatzfahrzeug brauchte sich der Wagen nicht an die 55 Meilen in der Stunde zu halten und brauste mit fast der doppelten Geschwindigkeit an allen anderen Autos vorbei. So dauerte die Fahrt nur eine Dreiviertelstunde.

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Justine Brightgate wachte um sechs Uhr auf. Ihr nervtötender Weckfrosch hatte ihr mal wieder seine kalte, nasse Zunge ins Gesicht geklatscht. Ihn in einen Schrank zu sperren klappte nicht. Das magicomechanische Biest konnte seine Zunge zum Schlösseröffnen einsetzen. Das gleiche galt für Türen. Und wer es schaffte, ihn in einem magisch verriegelten Raum oder Behälter zu sperren, wurde jede Minute mit ohrenbetäubendem Gequake gepeinigt, bis das vermaledeite Weckgerät wieder freigelassen wurde.

"Ach ja, heute ist ja die Party von Zachary", dachte sie. Sie hatte sich das apfelgrüne Cocktailkleid, das bei den Kolleginnen auch Vielraumtruhe mit Reißverschluß genannt wurde, zurechtgelegt. Wenn sie die ganzen von Quinn abgehandelten Gadgets darin unterbrachte, fiel es keinem Muggel auf.

Als sie um halb zehn Morgens mit einem Taxi vor dem Haus Zachary Marchands vorfuhr fühlte sie sofort, daß irgendwas nicht stimmte. Die Jalousien waren noch heruntergelassen. Da sie Zacharys Stimme gut genug kannte mentiloquierte sie ihn an, ob er wach sei. Ein leiser Nachhall erklang in ihrem Kopf. Dann, erst nach einer Minute, hörte sie sehr schwach und kurz angebunden seine Antwort: "Justine, Party fällt aus. Meine Eltern entführt. bin bei meinem Elternhaus! Melde mich in Li, wenn Bewachung abzuschütteln."

"Verstanden", schickte sie zurück. Das Taxi bog gerade um eine Straßenecke und verschwand. Auf offener Straße disapparieren durfte sie nur in einem Notfall. Gleiches galt für einen Unsichtbarkeitszauber. Zudem sah sie in der Nähe des Hauses einige Männer, die auffällig unauffällig herumstanden. Einer saß in einem rostig wirkenden Sedan und las Zeitung. Justine kannte Muggelpolizisten, ja fühlte deren Anwesenheit schon irgendwie. Das mußte sie können, wenn sie in der Muggelwelt herumlief und vielleicht mal eben schnell was zaubern mußte. Womöglich waren das da Muggelkollegen Zacharys. Ja, und da kam auch schon einer in der Aufmachung eines Stadtstreichers auf sie zugetorkelt. Der roch sogar nach Alkohol. Aber die Art, wie er sie musterte sprach nicht für einen Schnorrer, sondern einen Ermittler.

"'tschuldigung, Ma'am, hamse ma 'nen Dollar?" Lallte der Mann sie an. Sie grinste und zog aus ihrer Handtasche eine kleine Geldbörse. Falls der Typ ihr die wegnehmen wollte würde er die größte Überraschung erleben. Dennoch blieb sie auf der Hut. Sie schnippte dem Mann einen Dollar zu. Der glotzte mit gespielter Gier auf das Geldtäschchen. Doch Justine versenkte es sehr schnell wieder. Der Stadstreicher grummelte "'ndanke, Ma'am" und torkelte davon.

"Justine, Zachs Eltern entführt. Fürchten Hinterhalt Nocturnias. Sofort zu uns und Harvey-Besen für unsichtbare Überwachung fassen!" dröhnte Davidsons Gedankenstimme in ihrem Kopf. Hatte der etwa einen auf sie abgestimmten Melo-Verstärker benutzt? Sie teilte mit, daß sie gleich aufbrechen würde. Dann ging sie ruhig um die Straßenecke, zwengte sich zwischen zwei Autos hindurch, tauchte dahinter unter und disapparierte so leise sie konnte.

"Der Pop Charlie genannte Agent, der am liebsten heruntergekommene Typen spielte, wenn er was überwachte oder beschützte bog um eine Straßenecke. Den erbettelten Dollar hatte er mit seinen fleischfarbenen, hautengen Handschuhen fest umfaßt. Die Frau mit dem Kleid paßte nicht in dieses Bild von den Leuten hier. Außerdem hatte die sowas umhersuchendes, ausspähendes an sich gehabt. Vielleicht kontrollierten die Entführer, ob Zachary noch im Haus war. Leise sprach er in ein Kehlkopfmikrofon seines zerschlissenen Hemdes: "Pop Charlie an big Daddy. Habe weibliches Subjekt im grünen Kleid gesehen. Hat sich suchend oder überwachend umgesehen. Habe Fingerabdruckprobe von ihr. Wo analysieren?"

"Dein Taxi kommt gleich, Pop Charlie", wisperte eine Stimme in seinem linken ohr. Da hörte er ein leises Plopp, als hätte hier jemand eine Sektflasche geöffnet. Das kam da von den Autos her. Pop Charlie machte kehrt und lief seiner Rolle gerecht torkelnd dort hin. Doch dort war niemand. Besser, dort war niemand mehr.

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"Wo trefft ihr euch?" Fragte Anthelia ihre informantin in Lavinias Gruppe.

"Das Haus von Pabblenut ist von mehreren Meldezaubern umgeben. Wir treffen uns einen Kilometer davon entfernt. Gut, daß ich den Unsichtbarkeitszauber so gut kann", schickte Anthelias Spionin zurück.

"Und ihr bekommt wirklich weiße Kapuzenumhänge?" Forschte Anthelia noch einmal nach.

"Lavinia hat sie schon vorgezeigt und verteilt."

"Hast du mittlerweile heraus, ob die Sache mit dem aufgefallenen Familienregistraturzauberer erfolgreich verlief?"

"Darüber weiß ich nichts. Aber Lavinia wirkte kurz vor ihrem Abschied sehr überlegen. Was hätte sie davon, wenn sie Hynerias Körper findet?"

"Blut oder Körperfragmente, um damit von Hyneria errichtete Sperren zu lösen", schickte Anthelia zurück. Dann wartete sie noch einige Sekunden, bevor sie übermittelte: "Wenn ihr den Einsatzbefehl erhaltet melde mir das! Ich komme dann mit den anderen."

"Willst du die alle umbringen, höchste Schwester?" Fragte Anthelias Spionin. Die Hexenlady verzog ihr schönes, blaßgolden schimmerndes Gesicht vor Verärgerung. Die kam aber spät auf diese Frage. Doch die höchste Schwester des Spinnenordens gab die beruhigende Antwort aus:

"Nein, wir brauchen sie alle lebend, bis ich Lavinias Machenschaften gänzlich aufgedeckt und zunichte gemacht haben werde."

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Zachary konnte nachempfinden, wie sich Opfer von Einbrechern fühlten, wenn sie in ihr Haus oder ihre Wohnung zurückkehrten. Der ganze Hauch der Vergangenheit, den sein Elternhaus in seinem Bewußtsein sonst erzeugte, war einer kalten, erbarmungslosen Verunsicherung gewichen. Jemand hatte seine Eltern entführt. Er hatte zwar das große Tor fernsteuern können, aber die Haustür nur mit Sprengstoff öffnen können. Hätten die Verbrecher den lasercodierten Haustürschlüssel gehabt, wäre der Alarm nicht losgegangen. Dann hätte Zachary sehr belämmert vor dem Tor gestanden. Er hatte sich vor fünf jahren von seinem Vater die neue Fernbedienung per Sicherheitskurier zuschicken lassen, damit er durch das Tor konnte. Doch die Bereitschaftspolizisten, die dem Alarm nachgegangen waren hatten diese Fernsteuerung auch. Ja, und die Banditen hatten die sicher irgendwie kopiert oder hatten lange genug versteckt gelauert, bis wer von den Hausherren den Impulscode abgestrahlt hatte. Funktechnik war praktisch, aber eben nicht absolut sicher.

"Wir können jetzt ins Haus", sagte ein Kollege von der Spurensicherung. "Gewaltanwendung gegen Menschen gab es keine, wenn mal davon abgesehen wird, daß wohl wer eine zeitgesteuerte Gassprühvorrichtung in die Klimaanlage eingebaut hat. Die Vorrichtung wird gerade ins Labor gefahren."

"Ziemlich raffiniert", mußte Marchand anerkennen. Zwar kannte er Szenarien, wo jemand biologische oder chemische Kampfstoffe in die Luftumwälzung großer Gebäude einbrachte. Doch daß jemand das bei seinen Eltern machen würde war schon erinnerungswürdig. Denn sowas konnte kein normaler Handwerker. Er fragte sich auch, wann genau die Sabotage ausgeführt worden war. Doch wichtiger war ihm, wo seine Eltern abgeblieben waren. Wenn Laroches Bande ihm damit zeigen wollte, daß sie ihn nicht vergessen hatte, dann war das ein reines Muggelwelt-Verbrechen. Irgendwie hoffte er, daß er Hinweise auf einen Widersacher aus der Zaubererwelt finden mochte, vielleicht Nocturnia, vielleicht die Wiederkehrerin.

"Die ganzen Spielgeräte im Garten, waren die nur für Sie?" Fragte der mitgefahrene Kollege McDowell und deutete auf die Schiffschaukel, die mindestens zehn Meter lange Rutschbahn und das würfelförmige Klettergerüst. Zachary nickte. Aberwitzigerweise ging ihm die Melodie einer Ballade von Madonna durch den Sinn, als er die in Ehren angerosteten Spielgeräte betrachtete. "Ja, dies war einmal mein Spielplatz", seufzte er. Dann erinnerte er sich, daß er sich auf der Hinfahrt geschworen hatte, diesen Fall wie jedes andere Verbrechen anzugehen, seine Emotionen möglichst weit herauszuhalten, wenn er konnte. Konnte er?

"Die haben Kampfstiefel getragen. Wir haben Proben davon ziehen können. Mal sehen, wo die sonst noch alles herumgelaufen sind", sagte der Kollege von der Spurensicherung.

"Haben die Kollegen Bilder von der Konstruktion der Gassprühvorrichtung?" Fragte Zachary.

"Klar, wir haben alles photographiert, bevor wir es ausgebaut haben", erwiderte der Kriminaltechniker.

Zachary besuchte das Schlafzimmer seiner Eltern. Man hatte diese aus dem Bett geholt. Er kannte das ungefähre Körpergewicht seines Vaters und meinte: "Das müssen mindestens zwei oder drei Mann gemacht haben. Mr. Theodor Marchand brachte bei meinem letzten Besuch um die zweihundertvierzig Pfund auf die waage."

"Die Stadtkollegen haben die Betten Photographiert. Wir haben dann noch eine Serie von Wärmebildern gemacht. Es waren neben den Hausbewohnern mindestens vier andere Personen in diesem Zimmer. Das deckt sich auch mit den Fußspuren, die wir sichern konnten."

"Wie viele waren im Kinderzimmer?" Fragte Zachary Marchand.

"Einer. Von den gesicherten Spuren her war es eine kleinwüchsige Person, vielleicht ein Kind, vielleicht ein vertikal herausgeforderter Mann. Muß noch geklärt werden." Zach grinste über die umständliche Formulierung, die der politischen Korrektheit geschuldet war. Lilliputaner oder Zwerg durften Staatsbeamte ja nicht mehr zu einem mit unterdurchschnittlicher Körpergröße sagen. Er wollte dann das Zimmer sehen, um zu sehen, ob noch alles so war wie er es bei seinem letzten Besuch vorgefunden hatte. Tatsächlich war nichts berührt oder bewegt oder gar entwendet worden. Das Raumschiff Enterprise von Captain Kirk hing noch immer an seinen vier durchsichtigen Nylonseilen unter der Deckenlampe, und die Saturn V der ersten Mondlandungsmission stand einträchtig neben der verkleinerten USS Hornet, die die ersten Mondbesucher aufgefischt hatte. Auf der Hornet hatte sein Vater damals als Petty Officer im Vietnamkrieg gedient. Insofern war der Nachbau des Flugzeugträgers für Zach in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Er blickte auf das Bett, daß frisch bezogen war. Offenbar hatte seine Mutter befunden, daß er nach der Feier eine Nacht in diesem Haus schlafen sollte. Da hatte also jenes ominöse Geburtstagspaket gelegen. Das interessierte ihn nun, nachdem er Gewißheit hatte, daß seine Eltern nicht im Haus waren.

"Wann ist die Haushaltshilfe vernehmungsfähig?" Fragte Zachary Marchand.

"Die Ärzte sagen, nicht vor zehn", erwiderte Stanford und legte gleich nach: "Und damit wir das auch gleich geklärt haben: da sich der Fall in unserem Zuständigkeitsbereich zutrug werden meine hiesigen Mitarbeiter die Vernehmung übernehmen. Sie halten sich da gütigst heraus!"

"Ich hätte sowieso nur drei Fragen an Maggy: Wann ging die Klimaanlage kaputt? wurde die Klimaanlage repariert? Wer hat das ausgeführt? Mehr kann sie sowieso nicht sagen, sofern sie nicht mitgeholfen hat, meine Eltern entführen zu lassen. Und das kann ich jetzt schon ausschließen."

"Ach ja, wodurch?" Fragte Stanford verstimmt.

"Die haben nur die beiden Diener entführt. Das haben die bestimmt nicht gemacht, wenn es darum gegangen wäre, nur die Hausbesitzer zu verschleppen. Hätten sie den Auftrag gehabt, alle aus dem Haus zu schaffen hätten sie die Haushaltshilfe nicht hiergelassen. Also vermute ich, daß einer der männlichen Dienstboten oder beide zusammen mit den Entführern zusammengearbeitet haben. Er alleine oder sie beide haben die Klimaanlage sabotiert, so daß ein Außenstehender herkommen konnte und sie repariert hat. Eine schon gebrauchte Taktik, wichtige Einrichtungen zu beschädigen oder unbrauchbar zu machen, um Spießgesellen Zugang zum Haus zu verschaffen. Wäre Maggy die Helfershelferin gewesen, hätten sie sie entweder mit den anderen Dienstboten zusammen verschleppt oder gleich vor Ort ermordet, um einen Mitwisser auszuschalten. Ich wage es, Ihnen vorzuschlagen, die Umfelder der Dienstboten Mr. Benson und Mr. Carlton auf Unregelmäßigkeiten zu überprüfen!"

"Ist bereits veranlaßt, Sie Genie", knurrte Stanford. "Soweit wie Sie habe ich auch gleich gedacht", mußte der Direktor des FBI-Büros Baton Rouge dem untergeordneten Kollegen aus New Orleans noch mitgeben.

"Gut, die drei Fragen kennen Sie dann ja auch jetzt. Dann interessiert mich im Moment nur dieses Geburtstagspaket", sagte Zach Marchand. Da hörte er eine Frauenstimme direkt in seinem Kopf. Es war Justine Brightgates Gedankenstimme. Er schützte vor, einen der Toilettenräume aufsuchen zu müssen, sofern dort nicht noch Spuren gesichert werden mußten. Dem war nicht so. So konnte er sich in Ruhe auf eine Antwort konzentrieren und ihr mit großer Anstrengung mitteilen, was geschehen war. Danach benutzte er das Bad wie angekündigt und kehrte zu den anderen zurück. Ihm entging nicht, daß seine Kollegen aus New Orleans ihn nicht aus den Augen ließen. Ihn hatte es gejuckt, aus dem Bad zu disapparieren. Doch wohin und weshalb? So fuhr er mit den Kollegen zurück in die Stadt, wo er zwei Männer in weißen Kitteln und Gummihandschuhen traf.

Doc Wilson war eine typische Labormaus, wie Zach die in ihrer Arbeit verwurzelten Wissenschaftler ein wenig abfällig bezeichnete. Er hielt ihm kurz einen Vortrag darüber, wie sie das Paket erst berührungslos untersucht hatten, um den Inhalt zu bestimmen, ob gefährliche Stoffe daran hafteten und ob möglicherweise eine Spreng- oder Gassprühvorrichtung darin versteckt war. "Jemand mag sie offenbar oder haßt sie. Das kann ich aus dem Inhalt und dem beigefügten Briefumschlag nicht ersehen, was genau", beendete der Wissenschaftler seine kurze Vorlesung. Dann zeigte er Zachary, was man eindeutig für ihn hinterlassen hatte.

Dem Zauberer im Dienst des FBI verschlug es fast den Atem, als Wilson ihm zeigte, was in dem Paket war. Es war ein himmelblauer Strampelanzug. Doch dieser Strampelanzug war entweder für ein Riesenbaby oder für einen erwachsenen Mann geschneidert. Dann hatte noch ein Briefumschlag mit einem kleinen Zettel darin neben dem original verpackten Kleidungsstück gelegen. Da der Umschlag bereits auf Fingerabdrücke und mögliche Spreng- oder Giftfallen überprüft worden war konnte Zachary ihn nehmen. Er las seinen Namen in großen Druckbuchstaben, die einem bei Kindern üblichen Druckkasten entstammten. Genauso verhielt es sich auch mit dem Inhalt.

Hallo Zachary. Wir, deine Eltern, freuen uns darauf, dich heute abend in die Arme schließen und dich willkommen heißen zu können. Wenn du das hier ließt wirst du sicher denken, daß deine Eltern bereits tot sein könnten. Doch wir leben und warten auf dich. Sicher werden sehr besorgte Kollegen von dir finden, dich nicht aus den Augen lassen zu müssen. Doch wir denken, daß du unserer Einladung folgen wirst. wo und wann wir dich treffen werden laß dir bitte von unserem Verbindungsmann mitteilen. er wird dir am Mittag eine Kurznachricht auf dein Mobiltelefon senden. Versucht ruhig herauszufinden, wo das Sendetelefon ist! Nach verschicken der Nachricht wird es sowieso entsorgt. Komm aber bloß nicht in Begleitung dieser lächerlichen Ordnungshüter oder eines guten Freundes aus dem Umfeld deiner Oberschule! Wir könnten sonst sehr böse werden und Sachen tun, die dir nicht behagen. Also, schalte dein Mobiltelefon ein und erwarte Ort und Zeitpunkt unseres Treffens. Komm dort allein hin und trage nichts an und bei dir außer den süßen Strampelanzug, der bei diesem Brief beilag! Wenn du mehr als diesen anhast werden wir auch Sachen tun müssen, die dir nicht behagen.

Ich, deine Mutter, freue mich schon auf deine Geburt.

Zachary verzog das Gesicht. Wer hatte denn da so einen makabren Humor? Dann erschauderte er, weil ihm die Antwort einfiel. Doch dann huschte einen Moment ein Grinsen über sein Gesicht. Du hast mit dem Brief einen Fehler gemacht, Nocturnia, dachte er. Denn ihm war nun klar, daß es sich um zwei Vampire handeln mußte, die ihn als ihren neuen Sohn annehmen wollten. Da kamen eigentlich nur die Eheleute Vierbein in Frage, die die Solexfolien erfunden hatten. Doch wenn Vampire und damit magische Wesen hinter der Entführung steckten, durfte er sie auch mit magischen Methoden suchen. Was er nicht durfte war, die Ergebnisse dieser Untersuchungen an die Kollegen vom FBI weiterzugeben. Er mußte die Muggel abschütteln, ohne daß sie ihn auf die Fahndungsliste setzten. Sie konnten am noch mitzuteilenden Treffpunkt eh nichts ausrichten, außer sich mit möglichen Handlangern der Blutsauger herumzuschlagen. Wollte er das? Eigentlich schon wichtig, daß die Handlanger der Nocturnianer gestellt und bestenfalls lebend gefaßt werden konnten. Denn so ergab sich vielleicht eine Möglichkeit, die Muggelwelt-Kontakte Nocturnias zu ermitteln. Er war sich sicher, daß die Entführer seiner Eltern nicht wußten, für wen sie arbeiteten.

"Komischen Humor haben die Leute. Ich dachte, die wollten Sie zu irgendwas nötigen, was gegen uns geht", stellte Stanford fest, als er sich den Brief hatte geben lassen.

"Das mit meiner Geburt und daß ich deshalb diesen Strampelanzug anziehen soll ist eine bewußte Irreführung. Man will mich heute, an meinem Geburtstag, zermürben, irritieren, aus dem Konzept bringen, Sir. Feststeht, daß ich nur in diesem Kleidungsstück zu ihnen hingelassen werde, weil ich ja sonst Waffen, Wanzen oder andere Gemeinheiten mit mir herumschleppen könnte. Wenn ich nichts anderes trage können die Leute, die die Entführung begangen haben sehr schnell prüfen, ob ich was für ihre Auftraggeber schädliches mitführe."

"Und was soll das mit dem Umfeld Ihrer Oberschule?" Fragte Stanford erwartungsgemäß argwöhnisch.

"Weil ich da Leute kennengelernt habe, die später zu den Streitkräften gegangen sind und sich in Kampftechniken und Aufklärung auskennen, Sir", gab Zachary eine längst bereitgelegte Antwort.

"Sie erwarten die angekündigte Kurzmitteilung! Dann werden wir sehen, wie wir Ihnen eine Frequenzwechselwanze mit großer Reichweite zustecken können. Natürlich werden Sie von jetzt an keinen Moment ohne sichere Begleitung fahren. Nachher handelt es sich um eine Sekte, die ihre Mitglieder durch Geistkontrollmethoden umformt und sie quasi wiedergebiert."

"Wenn meine Eltern noch leben sollte ich jeden Umstand vermeiden, der ihr Leben gefährdet. Aber ich sehe ein, daß ich nicht komplett ohne Absicherung an den Treffpunkt gehen kann", erwiderte Zachary. Er überlegte schon, wie er diesen Aufpassern entwischen konnte, um sich über Davidson eine Rückschaubrille zu beschaffen, um die Entführung seiner Eltern nachbetrachten zu können. Doch Stanford und die Kollegen waren keine blutigen Anfänger. Sie wußten, daß jemand, der um geliebte Angehörige bangte dazu neigte, die Bewacher abzuschütteln, um die Bedingungen der Entführer zu erfüllen, auch wenn in einigen Fällen die Entführten schon tot waren, wenn diese Bedingungen erfüllt wurden. Doch das FBI war die Adresse, um Entführungsfälle aufzuklären. Das gab Zachary Zuversicht, daß zumindest die Muggelwelt-Banditen gefaßt werden konnten. Wie er sich den Vampiren stellen konnte, wenn diese ihn erst von ihren Normalmenschen-Handlangern durchsuchen ließen wußte er noch nicht. Sicher konnte er den Zauberstab in der für Muggel komplett uninteressant bezauberten Gürteltasche tragen. Doch er wußte, daß er es mindestens mit zwei Vampiren zugleich zu tun haben würde. Die konnten auch Späher ihrer Daseinsform postieren, um mögliche Zaubererweltangehörige früh genug zu erkennen. Doch wenn er die Möglichkeit hatte, die Vierbeins zu fassen und damit die Erfinder der Solexfolie aus dem Verkehr zu ziehen, mußte er diese Möglichkeit nutzen. Wer da am Ende Katze und wer die Maus war mußte sich zeigen, wenn die erwähnte Kurzmitteilung kam.

Die Zeit bis zwölf Uhr nutzte Zachary, die Gästeliste für die Party abzuarbeiten und die Gäste anzurufen, um ihnen abzusagen. Natürlich hatte Zacharys Vater einigen gesagt, daß Zach die Feier absagen mochte. Doch als Stanford den mißtrauischen Gästen mit all seiner Autorität verdeutlichte, daß an eine Feier nicht mehr zu denken sei, verstanden es alle. Zachary überlegte, wie vielen Leuten damit vielleicht das Leben gerettet worden war, daß sie nicht in seine Nähe gerieten. Genau deshalb wollte er keinen Geburtstag feiern. Genau deshalb hatte er seinem sturen Vater das klarzumachen versucht. Dann kam noch was, womit er eigentlich schon früher gerechnet hatte. Die Kollegen wollten wissen, was die zwölf langen schlanken Pfeiler hinter dem Elektrozaun darstellten. Zachary erwähnte, daß es ein magischer Schutzzaun sei, der die Kraft der Sonne bündeln und als schützende Glocke über das Haus ausbreiten sollte. Seine Mutter sei begeisterte Astrologieanhängerin und habe sich dieses nutzlose Gestänge aufschwatzen lassen, weil sie an die Macht der Gestirne glaube. Damit hatte er seinen Kollegen zur hälfte die Wahrheit gesagt und zur anderen Hälfte geschwindelt. Denn nutzlos waren diese Pfeiler nur deshalb gewesen, weil die, gegen die sie errichtet worden waren ganz hundsordinäre Verbrecher aus der Muggelwelt vorgeschickt hatten.

Pünktlich um zwölf Uhr Mittags klang das Signal für eine eingehende Kurznachricht auf Zachs Mobiltelefon. Er zog es hervor und las die Nummer des Absenders. Die Nachricht lautete:

Geburtstagsparty Lagerhaus Woodley & Kingsley 22:30. Nur im blauen Einteiler ohne Unterzeug! Keine Spielsachen! Keine Gäste.

"Ist eine Vorausbezahltkarte", knurrte Stanford mit Blick auf die Telefonnummer. "Aber das Telefon suchen wir." Er konnte nicht wissen, daß dieses gesuchte Telefon in diesem Moment aus dem Beifahrerfenster eines fahrenden Kleinbusses über das Geländer einer Brücke in den Mississippi flog.

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Lavinia Thornbrook blickte immer wieder zu Kortney Lane hinüber, die heute etwas nervöser wirkte als früher. Sicher, heute ging es um nichtts geringeres als die weitere Marschrichtung der Liga rechtschaffender Hexen. Würde sich aus einem Protestier- und Debattierverein eine neue, radikale Aktionsgruppe mausern, oder würde Lady Pabblenut endgültig ihre Maske fallen lassen und alle die, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen wollten rigoros aus der Liga verbannen, mit der möglichen Konsequenz, daß diese Hexen den Zorn der verbohrten Ex-Schulleiterin zu spüren bekämen? Alexandra Pabblenut konnte unmöglich wissen, daß es nicht zur Abstimmung kommen würde. Lavinia hatte ihren Schwestern klare Anweisungen erteilt, sie und Archer bei dem fingierten Überfall der Spinnenschwestern auf jeden Fall umzubringen. Zwar würde sie das zu Märtyrerinnen machen. Doch dann konnte Lavinia sich hinstellen und im Namen der Broomswoodianerin die Führung der Liga übernehmen und diese nach Ihrem Willen umbauen. Zumindest wäre die Sache mit dem Burgfrieden dann erledigt. Und wenn der Überfall so erfolgreich verlief wie sie hoffte, sprach nichts dagegen, Anthelias Gruppe auch für den Mord an Roberta Sevenrock verantwortlich zu machen, jetzt wo Lavinia wußte, wo sie Hynerias Blut fand, um ihr Denkarium zu erreichen. Wenn sie alle Erinnerungen der Vorgängerin zur Verfügung hatte, war sie mächtiger als Bobbie Sevenrock. Dann konnte sie die nordamerikanischen Hexen anführen und damit ein unübersehbares Gegengewicht zum Zaubereiministerium bilden.

Lavinia mußte einmal mehr ihr ganzes schauspielerisches Talent aufbieten, die vorangehende Diskussion mit einer nach außen gezeigten Leidenschaft zu verfolgen. Gleich würde die Führerin der Nachtfraktionshexen die letzte Hürde aus dem Weg räumen, um ihrer Truppe in den Umhängen der Sardonianerinnen freie Bahn zu verschaffen. Natürlich mußten Lavinias Schwestern erst einmal alle Melde- und Schutzzauber umgehen oder zerstreuen, ohne weitere Meldezauber auszulösen. Außerdem hatte Pabblenut noch etwas angestellt, um Unbefugte auszusperren. Sie hatte den Bann gegen unerwünschte Eindringlinge gewirkt, als alle saßen. Der war nicht so leicht zu brechen. Wer es wollte, mußte irgendwie aus dem Wirkungsbereich hinauslaufen und dabei eigenes Blut vergießen. Überschritt der Flüchtende die Außengrenze und verband den Wirkungsbereich und den Außenbereich durch eine Blutspur, verklang der Zauber unsichtbar und unhörbar. Lavinia wartete einige Minuten. Dann ruckelte sie immer auffälliger auf ihrem Stuhl herum. Sie wartete, bis die Rednerin, Alexandra Pabblenut persönlich, sie tadelnd anblickte. Dann bat sie darum, austreten zu dürfen.

"Haben sie in dieser koedukativen Chaosanstalt Thorntails also nicht gelernt, Ihre Bedürfnisse zu unterdrücken, bis Sie die Erlaubnis hatten, den Klassenraum zu verlassen? Wundert mich nicht", knurrte die Sprecherin. Einige ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen schnalzten entrüstet mit den Zungen.

"Nein, unsere Lehrer haben es respektiert, daß wir nicht nur Gehirne auf Beinen waren, sondern auch essen, trinken und verdauen mußten", zischte Lavinia und tat weiterhin so, als dränge ihre Blase zu immer größerer Eile. "Ich kann Ihnen aber auch auf Ihre hochwertigen Sitzmöbel urinieren, falls Sie meinen, über meinen Körper erhaben zu sein, Gnädigste."

"Hinaus und durch die dritte Tür. In zwei Minuten wieder hier antreten!" Fauchte Pabblenut noch ganz im Stil einer Schuldirektrice. Lavinia bedankte sich kurz angebunden und sprang von ihrem Stuhl auf. Sie eilte durch die Reihen der teils empört, teils erheitert dreinblickenden Hexen. Dabei passierte sie auch Kortney Lane, die ihr sehr genau hinterherblickte.

Kaum war Lavinia durch die Tür zum protzigen Badezimmer der Hausherrin hörte ihre Verstellung auf. Sie öffnete das große Fenster und zog aus einer geheimen Innentasche ihres knielangen Rocks einen älteren Bronco-Flugbesen und ein Messer mit goldener Klinge, auf dessen Drachenhorngriff die Runen für Blut, Opfer und Darbringen eingeritzt waren. Das Ritualmesser der dunklen Matriarchin Sardonia. Sie hatte es vor zwölf Jahren in einem schmuddeligen Laden in Avignon gefunden und für zweitausend Galleonen erstanden. Das Messer verstärkte die Macht von Blutopfern auf das zehnfache. Wenn sie dazu noch eine Zauberformel sprach, die ihr Blut als Opfergabe segnete, konnte sie den letzten Schutzbann um das Haus noch schneller aufheben, als wenn sie ihr Blut ohne das magische Messer gewann. Sie bestieg den Besen. Sie krempelte den linken Ärmel ihres Hemdes hoch. Dann warf sie sich nach vorne. Der Besen schnellte durch das weit geöffnete Fenster hinaus. Kaum aus dem Haus ritzte sich Lavinia mit dem Messer den linken Arm, wo die Pulsadern verliefen. Das würde genug Blut geben, wenn sie schnell machte. Sie sang dabei: "Sanguinem meum Terrae sacrificio! Dabei flog sie so gut es ging in niedriger Höhe über das Grundstück. Aus der tiefen Schnittwunde pulsierte das hellrote Blut Lavinias und regnete in dicken Tropfen zu boden. Wo es auftraf versickerte es sofort in der Erde. Das Ritualmesser erwärmte sich. Die ihm eingeprägten Zauber wechselwirkten mit Lavinias Körper und dem von ihr gemurmelten Zauberspruch. Sie sang ihn leise weiter, wobei sie fühlte, daß der Blutverlust bereits eine gewisse Schwächung bewirkte. Sie wußte, daß sie nur wenige Minuten Zeit hatte, um den Aufhebungszauber zu vollziehen, den längst nicht jeder kannte, schon gar nicht, wer sich nur den reinen Verteidigungszaubern verschrieben hatte. "Sanguinem meum terrae sacrificio!" Sang sie zum fünften Mal. Wie groß war der Halbmesser des Bannkreises? Dann sah sie die Grundstücksgrenze untersich. Ihr Blut zeichnete eine leicht wellenförmige Spur auf dem Boden, bevor es restlos versickerte. Kurz vor der Grundstücksgrenze murmelte sie noch einmal ihren Zauberspruch. Als sie die Grenze überflog fühlte sie einen heftigen Hitzeschauer durch ihren Körper jagen. Das aus der Armwunde strömende Blut dampfte, als es zu Boden fiel. Dann hörte die Hitzewallung auf. Ein pochender Schmerz jagte Lavinia durch den Arm bis in den Kopf hinauf. Da wußte sie, daß sie außerhalb eines mit Magie getränkten Bereiches flog. Sie kehrte um, murmelte noch einmal den Zauberspruch, als sie genau über die Grenze flog und fühlte eine etwas schwächere Hitzewallung. Ihr ausfließendes Blut wallte im Fluge, sank dann aber auf den Boden, ohne darin einzusickern. Da wußte Lavinia es, daß sie den Bann gegen unerwünschte Eindringlinge ausgelöscht hatte. Sie landete wider. Schnell steckte sie das völlig sauber aussehende Messer fort. Dann schloß sie die Schnittwunde mit "Injuriclausa!" Danach reinigte sie ihren Arm mit "Tergeo!" von Blutspuren. Anschließend saß sie wieder auf dem Besen auf und sauste flach darauf liegend durch das Badezimmerfenster zurück. Sie sah auf ihre Armbanduhr am rechten Handgelenk. Sie hatte noch eine halbe Minute, bis die überstrenge Pabblenut sie vermissen würde. sie zog die altmodisch wirkende Kette an der Zisterne und ließ einen Schwall Wasser in die Toilettenschüssel rauschen. Dann schob sie den Besen mit dem Vorderende voran in jene kleine Geheimtasche, bis auch das aus biegsamen Reisigbündeln bestehende Hinterende darin versank. Sie hatte den Boden bereitet. "Ihr könnt kommen!" Schickte sie eine mentiloquistische Aufforderung an ihre Untertruppführerin Enid Witherspoon. Zwar wirkte jetzt noch der Antiapparitionswall, der nur von innerhalb des Hauses aus zu zerstreuen war. Doch auf den Flugbesen konnten die Angreiferinnen rasch vorstoßen.

"Immerhin haben Sie Ihren Körper gut genug im Griff, sich an vorgegebene Zeiten zu halten", wurde Lavinia von der Hausherrin begrüßt. Lavinia hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen. Sollte diese Lehrerin aus Leidenschaft in den letzten Minuten ihres Lebens doch denken, allen hier so hoch überlegen zu sein.

"Wir sind nun soweit, zur Abstimmung zu schreiten. Wir sind uns einig, daß die, die sich gegen ein härteres Vorgehen gegen die sittenlosen Hexen aussprechen, in dieser Liga nichts mehr zu suchen haben und dann auch nicht mehr auf unsere Fürsprache zählen dürfen", sagte Alexandra Pabblenut. "Wir stimmen namentlich ab. Hier sind die Abstimmungskarten." Mit einem Zauberstabschlenker ließ sie eine Schachtel aus dem Nichts erscheinen, der sie sechs Päckchen zu je zwanzig Karten entnahm. Sie gab die Päckchen an ihre verdienten Mitarbeiterinnen weiter. jeder hier mußte nun klar sein, wer die Musik bestellte und was für Lieder gespielt wurden. Lavinia betrachtete ihre Karte. Als Runenschülerin erkannte sie die Verbindlichkeitsrunen. Was sie auf die Karte schrieb war also magisch verbindlich. Pabblenut hatte an alles gedacht. An fast alles, wie Lavinia glaubte. Sie wog das Stück mit Zaubertinte beschriebene Pappe einige Sekunden in den Händen. Sie sah, daß auch die anderen Hexen der Liga nicht mehr wußten, ob sie wirklich ihr Votum abgeben sollten. Allen hier war klar, daß es jetzt eine reine Machtprobe war. Wer gegen die Radikalkur Marke Broomswood stimmte flog aus der Liga und konnte mit weiterführenden Schikanen rechnen. Wer zustimmte lieferte sich Pabblenuts radikaler Clique endgültig aus, ähnlich wie Daianira es damals mit dem Blutschwur von den ihr folgenden Schwestern erzwungen hatte. Lavinia wartete eine Minute, zwei Minuten. Die meisten anderen hatten ihre Wahl getroffen und traten nach vorne, um die Karte in die große Schachtel zurückzustecken. Lavinia fühlte eine gewisse Nervosität. Wenn sie jetzt ihren Namen und ihr Votum schrieb gab es kein Zurück mehr. Wo blieben ihre Schwestern?

"Ms. Thornbrook, worüber denken Sie nach?" Fragte Alexandra Pabblenut verhalten lächelnd. "sie haben doch auf einer Abstimmung bestanden. Ich habe Ihnen diesen Gefallen gewährt, weil mir der Frieden und die Harmonie innerhalb unserer Gemeinschaft am Herzen liegt. Also treffen Sie gütigst Ihre Wahl!"

"Ich mußte nur noch einmal alle Für- und Gegenargumente durchdenken, Madam Pabblenut", erwiderte Lavinia. Warum flog keine Tür auf? Warum sirrte nicht ein grüner Todesblitz auf diese alte Schachtel nieder und löschte sie und ihre Verbohrtheit aus?

"Fast alle haben abgestimmt. Los, Sie auch, Lavinia!" Knurrte Pabblenut wie eine gereizte Katze.

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"Am liebsten würde ich sie alle restlos unbekleidet von glühenden Peitschen malträtieren lassen", schnaubte Anthelia, als sie neben ihrer Mitschwester Sheryl landete und den Aufmarsch der in Weiß gekleideten Hexen an der Grundstücksgrenze sah. Es waren echt zwanzig Stück. Sie sah zu, wie die Fremden die um das Haus verteilten Schutzzauber aufhoben. Anthelia lauschte mit ihrem Gedankenspürsinn. Pabblenut hatte keinen Gedankenwall errichtet. Das war ihr offenbar zu umständlich und vereitelte zu alledem noch den Mentiloquismus. Außerdem okklumentierte sie nicht so wie die meisten anderen Hexen. Daß Lavinia Thornbrook in dem großen Salon saß bekam Anthelia nur mit, weil die neben ihr sitzende Hexe ihren Geist nicht verschlossen hielt. Auch eine gewisse Kortney Lane hielt ihren Geist exzellent verhüllt. Daß sie anwesend war bekam Anthelia nur von der neben ihr sitzenden Bertha Threatspinner mit, die vor fünf Jahren als letzte neue Lehrerin von Broomswood angestellt worden war. Wieso lernten die in Broomswood keine Okklumentik, wo sie sonst alle Formen der Mentalmagie lernten? Das lag wohl daran, daß Pabblenut ihre Schüler ständig überwachen und ausforschen wollte. Wer okklumentierte konnte seine Gefühle und Erinnerungen verbergen, begangene Missetaten verhüllen und somit ungestraft bleiben.

"Ach neh", entschlüpfte es Sheryl, die mit einem magischen Bildverpflanzungsfernrohr das Grundstück ausspähte, nachdem die an der Grenze lauernden die letzten Beobachtungsschutzzauber zerstreut hatten und sich nun selbst unsichtbar machten. Anthelia bekam über Sheryls Gedanken mit, wie eine Hexe auf einem Besen zu einem der Fenster herausflog und mußte lächeln, als sie erfuhr, daß die Hexe Blut aus ihrem linken Arm vergoß. Als sie dann jedoch von Sheryl das Bild eines Messers mit goldener Klinge und einem schlanken Griff aus einem hornartigen Material empfing griff sie nach dem Fernrohr und blickte selbst hindurch. Ja, da sah sie es. Die goldene Klinge glühte im Sonnenlicht. Der dunkelbraune Griff aus dem Horn eines bretonischen Blauen pulsierte sacht, als pumpe er etwas unsichtbares irgendwo hin. Nett, hätte nie gedacht, es außerhalb von Millemerveilles noch einmal zu sehen zu bekommen, dachte Anthelia höchst erheitert. Dann erkannte sie auch, was dieses Ritual sollte. "Es ist Lavinia Thornbrook. Sie hebt den Bann gegen unerwünschte Eindringlinge auf, damit ihre Getreuen voranstürmen können", informierte sie ihre Mitschwestern. "Steht der Apparitionswall noch, Schwester Izanami?" Fragte sie die zierliche japanische Hexe an ihrer rechten Seite. Diese hob ein dosenförmiges Ding aus Silber an und hielt es nach vorne. "Immer noch da, höchste Schwester", antwortete Izanami Kanisaga.

"Dann werden die auf ihren Besen zum Haus fliegen", murmelte Izanami. Anthelia nickte. Zwar könnte sie einen Zauber wirken, um alle gegen die irdische Schwerkraft wirkende Magie in toten Gegenständen zu unterdrücken. Aber dazu brauchte sie mindestens zehn Minuten, um einmal das davon zu erfüllende Grundstück zu umkreisen. Das war zu viel Zeit. Denn die unsichtbaren Hexen an der Grundstücksgrenze konnten jeden Moment aufsitzen und losfliegen. Anthelia hatte jedoch mit einer großen Zahl von Gegnerinnen gerechnet und gewisse Vorbereitungen getroffen. "Schwester Beth, das Gas!" Mentiloquierte sie einer gerade nicht sichtbaren Bundesgenossin. Dann wandte sie sich an ihre Getreuen. "Haltet euch bereit, Schwestern!"

Es dauerte nur eine halbe Minute, da flimmerte die Luft. Anthelia blickte genau auf die Stelle, an der sich die fremden Hexen versammelt hatten. Erst schemenhaft, dann unvermittelt deutlich tauchten zwanzig am Boden liegende Frauen in weißen Umhängen auf. Nur eine stand aufrecht. Sie hielt eine leere Phiole in der Hand. Der Wind verteilte das Gas so rasch, daß seine Wirkung mit zunehmender Entfernung von der Phiole verflog. Die echten Spinnenschwestern bekamen davon nichts mehr mit.

"Sie hätte auch den Einsatz verweigern können", sagte Sheryl erleichtert.

"Hätte sie nicht, weil ich sonst dafür gesorgt hätte, daß Lavinia um ihr doppeltes Spiel erfahren hätte. Wer mir Treue schwört weiß, daß sie mir Treue zollen muß. Auf dann, holen wir die falschen Schwestern und bringen Sie in unser Gewahrsam!" Befahl Anthelia. Sie winkte ihren Mitschwestern und saß auf ihrem Besen auf. Wenige Minuten später trugen die von ihr mitgenommenen zwanzig Getreuen die betäubten Betrügerinnen davon. Beth McGuire flog neben Anthelia her.

"Wie wird Lavinia abstimmen?" Fragte Anthelia.

"Sie wird wohl zustimmen. Aber dann hat Roberta Sevenrock wohl nur noch einen Tag zu leben", sagte Beth McGuire.

"Oh, fühlt sie sich so stark?" Fragte Anthelia.

"Sie hat von einer Erbschaft Hynerias gesprochen, die sie heute antreten wird. Wo und was das ist weiß ich nicht. Das weiß nur Enid Witherspoon." Sie deutete auf eine der betäubten und auf ihrem Besen festgebundene Hexe.

"Ich kenne Enid. Alle eure Mitschwestern sind mir bekannt."

"Wie wird Lavinia reagieren, wenn der von ihr angezettelte Überfall ausbleibt?" Fragte Sheryl ihre Anführerin.

"Sie wird weiterhin mitspielen müssen, was immer diese frigide alte Jungfer ihr abverlangt. Sie wird ihr die Schuhsohlen, das Hinterteil und was auch immer ablecken, wenn sie weiterhin diesen armseligen Weiberclub als Schutzwall für ihre eigenen Pläne benutzen will. Aber wenn stimmt, was Schwester Beth vermeldet hat, könnte sie in dem Moment aus allen Verpflichtungen freikommen, wenn sie das Erbe Hynerias antreten kann."

"Macht dir das Sorgen, höchste Schwester?"

"Nocturnia und mögliche Hinterlassenschaften eines mächtigeren dunklen Magiers als dieser Tom Riddle und meine ehrwürdige Tante es zusammen waren machen mir größere Sorgen. Dazu kommen noch die Wergestaltigen, die meinen, Nocturnia beerben zu können, wenn dieses Reich ohne Grenzen demnächst doch in sich zusammenfallen sollte. Um Lavinia Thornbrook mache ich mir keine Sorgen." Sheryl wagte nicht, ihrer Anführerin zu widersprechen. Doch Anthelia hatte sich schon häufiger geirrt. Sie hatte geglaubt, das Duell gegen Daianira gewinnen zu können. Sie hatte geglaubt, alle ihre Entomanthropen kontrollieren zu können. Und sie hatte beinahe ihr Leben verloren, als sie gegen den blauen Blutfürsten Volakin gekämpft hatte. Auch wußte niemand so recht, wer die schwarze Spinne wirklich gewesen war und ob ihr Wesensanteil nicht eines Tages Anthelias Wesensanteil überwältigen würde, wenn dies nicht schon längst passiert war. Doch das alles durfte Sheryl nicht einmal denken, erkannte sie mit gewissem Unbehagen. Ihre Befürchtung, Anthelia könnte sie dafür maßregeln oder gar züchtigen bewahrheitete sich jedoch nicht.

Weit genug außerhalb der Apparierabwehr von Madam Pabblenuts Grundstück disapparierten die Spinnenschwestern mit ihren betäubten Gefangenen und der Doppelspielerin Beth McGuire.

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"Kann nicht weg hier, ohne aufzufallen. Habe Treffpunkt mit Entführern mitgeteilt bekommen. Treffen Abends um halb elf an Woodley & Kingsley Lagerhaus. Nocturnia involviert!" Empfing Justine Brightgate um viertel nach zwölf Mittags Zacharys Gedankensendung. Sie nickte. Doch das sah gerade niemand. Sie hockte nämlich auf einem punktgenau über dem FBI-Gebäude Baton Rouges verharrenden Harvey 8, einen nur für Mitarbeiter des Zaubereiministeriums und des Laveau-Institutes freigegebenen Flugbesen. Neben der bereits erprobten Unsichtbarkeit für Besen und Reiterin war das Besenende mit einem Schallschluckzauber belegt, so daß der Besen selbst bei hoher Geschwindigkeit lautlos fliegen konnte. Hinzu hatte er eine per Fingerstellung und gedachtem Auslösewort aufrufbare Ortsverharrung, die ihn wie auf einer festen Säule bei Sturm oder Windstille auf demselben Punkt hielt, bis das Aufhebungskennwort gedacht wurde.

"Gut, Zach. Gebe das an Davidson weiter. Der sitzt gerade in einer Besprechung", schickte sie zurück. Dann rückte sie die von Hammersmith erhaltene Durchblickbrille zurecht, um weiterzubeobachten, was im Gebäude unter ihr vorging. Leider konnte sie keine Mithörvorrichtung einsetzen, weil sie jederzeit dazu gezwungen sein mochte, loszufliegen.

Bis vier Uhr tat sich nichts. Dann rückte Zachary mit drei sichtbaren und drei etwas weiter entfernten Kollegen aus, wohin, wußte sie nicht. Sie legte ihre Finger wieder an das vordere Viertel des Flugbesens und dachte "Continuato!" Der Besen ruckelte, dann glitt er nach vorne und unten. Justine richtete den Flugbesen so gut sie ging waagerecht zur Straße aus und folgte den insgesamt drei Fahrzeugen.

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Theodor Marchand erwachte. Bohrende Kopfschmerzen wie nach einer zünftigen Feier plagten ihn. Dann stellte er noch fest, daß er in etwas schmalem, dunklen und nach oben geschlossenen lag. Das dritte war, daß seine Arme und Beine am Boden festgebunden oder festgeschnallt waren. Die vierte Erkenntnis war, daß er offenbar nackt war. Seine Haut berührte eine Art Isomatte. Wo war er denn hier? Was war mit ihm geschehen? Dann konnte er die kleinen Löcher über sich erkennen. Graues Zwielicht sickerte durch die Öffnungen, die wohl Luftlöcher waren.

"Hey, was ist das hier? Hey, wer immer mich hier eingesperrt hat, sofort rauslassen! Das ist Freiheitsberaubung!"

"Theo, bist du das?!" Rief eine Frauenstimme wie aus einem verschlossenen Schrank klingend.

"Ja, wer soll das sonst sein, Aggy. Irgendein Witzbold hat mich in so eine Art Kanickelkarton gesteckt und gefesselt, verdammt!"

"Mich auch", erklang Agathas Antwort. "Ich habe Kopfweh."

"Bei dir nix neues", blaffte Theodor Marchand. "Ich auch", fügte er dann noch hinzu.

"Auch nichts neues", revanchierte sich seine Frau für die Stichelei eben.

"Jemand hat uns hoppgenommen. Aber wie ging das, verdammt?" Fragte Theo Marchand.

"Weiß ich doch nicht. Ich habe nichts mitbekommen."

"Irgendwer hat es hinbekommen, uns aus dem Bett zu holen. Vielleicht war's Zachary!" Rief Theodor Marchand. Dann fiel ihm ein, daß er besser nicht zu viel verraten sollte, wo er nicht wußte, ob nicht wer mithörte.

"Ganz sicher nicht, Theo. Das würde er niemals wagen, uns derartig auszutricksen."

"Ihr Sohn war das nicht", kicherte eine belustigte Männerstimme. "Wir waren das."

"Wer ist das, wir?!" schnarrte Theodor Marchand.

"Wenn Sie länger leben wollen sollten Sie die Frage besser nicht noch mal stellen. Auch sollten sie leiser sprechen, wenn Sie die Annäherungssensoren nicht kitzeln wollen. Angenehmen Tag noch, die Herrschaften!"

"Moment, Sie können uns doch nicht hier verhungern lassen", stieß Theodor Marchand aus. Doch es kam keine weitere Antwort, außer einem Hilferuf seiner Frau. Man hatte sie beide nicht geknebelt. Das hieß doch, daß niemand sie schreien hören konnte. Nach zwei Minuten wilden Rufens begriff es Agatha Marchand wohl auch und schonte ihre Stimme. Theodor Marchand fragte sich, wer sie so gründlich überrumpelt hatte? War das dieser Laroche, hinter dem Zach hergejagt war, oder gar jemand aus Zachs Mutantenschule? Nein, die hätten ihn und seine Frau mit einem Zauber stummgeschaltet wie einen Fernseher, bei dem wer den Ton wegdrückt. Außerdem hätten sie ihn und Agatha auch in etwas kleines handliches verwandeln können, um sie komplett unauffindbar zu verstecken. Blieben also nur die Vampire. Aber die kamen doch nicht in sein Haus rein. Dann dämmerte ihm, daß normale Gangster, die vom Geld geködert werden konnten, zu ihm hatten vordringen können. Aber das Haus war eine Festung. Der Zaun unter Starkstrom, das Tor mehrfach verriegelt und nur durch eine bestimmte Impulsfolge zu öffnen, alle Fenster und Türen mit Panzerglas und zentimeterdickem Stahl bewehrt. Eine Festung. Dann fiel ihm die einzig zutreffende Möglichkeit ein: Verrat! Die Banditen hatten unter dem Personal einen Verbündeten, der ihnen die Torfernsteuerung zugespielt hatte und vielleicht auch eine Möglichkeit, den mit Lasermarkierungen beinahe fälschungssicheren Schlüssel nachmachen zu lassen. Ja, und dann ergab auch die Panne mit der Klimaanlage einen Sinn. Der Verräter hatte an der Luftumwälzung herumgetrickst, daß sie ausfiel und sie einen Monteur rufen mußten. Nein, Benson hatte das getan. War er der Verräter? Ja, so mußte es gewesen sein. In der Klimaanlage war etwas verbaut worden, daß zu einer vorbestimmten Zeit ein Betäubungsgas freisetzte, dem dann alle Hausbewohner zum Opfer fielen. Wenn das Gas mitten in der Nacht ausgesprüht worden war konnte es die schon schlafenden noch tiefer schlafen lassen. Dann brauchten die Banditen nur noch durch Tor und Tür zu gehen und ohne Gegenwehr die Hausbewohner einsammeln und fortbringen. Wenn sie die Alarmanlage ausgeschaltet hatten wußte noch niemand was davon. Er wollte wissen, wie spät es war. Doch er bekam keinen Arm frei. Außerdem fühlte er, daß man ihm auch wirklich alles abgenommen hatte, was er am Leibe trug. Sogar den Ehering hatten sie ihm vom Finger gezogen, was sicher schwierig gewesen war. Zumindest hatten sie wohl seine Finger dranlassen können. Aber dann war er jetzt hilflos jedem Vampir ausgeliefert! Der Schock der Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. Sie hatten ihm alles weggenommen, was irgendwie gegen bösartige Nachtschwärmer schützen konnte. Die Frage war, wußten die Verbrecher das oder hatten sie ihm nur den Ring wegen der 999er-Goldlegierung abgezogen?

"Diese Verbrecher, ich muß austreten!" Quängelte Agatha Marchand. Theodor verstand. So wie sie lagen konnten sie nicht einmal im Rahmen der Anstandsregeln zur Toilette. Wer mußte und nicht mehr einhalten konnte war dazu verurteilt, in seinen eigenen Ausscheidungen zu liegen wie ein Wickelkind. Wut und dumpfe Angst kamen in Theodor Marchand auf. Denn er ahnte, daß er nur deshalb noch lebte, weil man ihn als Druckmittel einsetzen wollte. Und es gehörte keine besondere Denkarbeit dazu, zu erkennen, gegen wen.

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"Na los, wird's bald?!" Fauchte Alexandra Pabblenut Lavinia an, als bis auf sie jede ihre Stimmkarte in die Schachtel zurückgelegt hatte. Wo blieben die verdammten Idiotinnen. Das konnte doch nicht so schwer sein, ein Haus anzufliegen. Doch wenn sie noch länger zögerte machte sie sich verdächtig. So nahm sie ihre mit grüner Zaubertinte gefüllte Feder und schrieb schnell:

Lavinia Edwina Thornbrook - ja

Kaum war die Karte beschrieben, vibrierte diese, und die grüne Schrift verfärbte sich silbern wie die in die Karte eingeschriebenen Runen. Damit war Lavinia nun magisch an ihr Votum gebunden. Fand sie keinen Weg, sich von Alexandra Pabblenut loszureißen, ohne eine nur von dieser vorbereitete Bestrafung zu erleiden, mußte sie ab jetzt jede von ihr erteilte Anweisung ohne Widerspruch befolgen. Sie konnte nur hoffen, daß Hynerias Erbe sie von diesem unsichtbaren Joch befreien würde. Wieso waren die anderen nicht gekommen?! Dieses alte Weib da hätte schon längst tot umfallen müssen. Statt dessen lächelte Alexandra Pabblenut höchst zufrieden, als sie die Schachtel mit den Karten öffnete und nun die Namen der Abstimmenden und ihr Votum verlas. Jetzt war wohl die letzte Chance, der fragwürdigen Beziehung ein jähes Ende zu versetzen. Doch Lavinia wußte, daß sie das nicht vor so vielen Zeuginnen tun konnte. Zu ihrem größten Verdruß las Pabblenut die Karten in der umgekehrten Reihenfolge ihres Einwerfens ab. Lavinias Name fiel zu erst. "Lavinia Edwina Thornbrook stimmt mit Ja", hörte sie. Sie fühlte einen neuerlichen Hitzeschauer durch ihren Körper jagen. Jetzt hing sie an Pabblenuts Kette. Jede offene Gegenwehr oder Gehorsamsverweigerung würde ab nun bestraft, wie auch immer. Nun konnte sie dieses Weib nicht eigenhändig töten.

Weitere Namen erklangen. Lavinia sah mit einer Mischung aus Unwohlsein und Genugtuung, daß auch alle anderen erwähnten Hexen offenbar etwas verspürten, als ihre Namen durch den Salon hallten. Wer hatte noch einmal behauptet, das Namen Schall und Rauch seien? Das konnte nur ein Muggel gewesen sein.

"Kortney Lane stimmt mit nein", verlas Alexandra Pabblenut. Es war der erste Name, der mit einer deutlichen Ablehnung verbunden war. Alle sahen die erwähnte Hexe an. Diese blieb jedoch ganz ruhig, als könne ihr niemand etwas vorwerfen oder antun. Ein leises Zischen erklang aus der Karte, die Alexandra Pabblenut noch immer in den Händen hielt. Grüner Rauch quoll aus den vier Ecken der Karte hervor. Dann knisterten giftgrüne Funken heraus. Die Karte glühte nun auf. Alexandra Pabblenut schrie auf und ließ die Karte fallen. Ihre Mitarbeiterin Archer riß den zauberstab hoch: "Eine Verräterin!" Rief sie. "Stupor!" Der Schockzauber prallte gegen die Hexe, die sich Kortney Lane genannt hatte. Lavinia sah den Zauber zu einer blutroten Aura zerfließen, die die angegriffene Hexe für eine Sekunde umfloß. Während der Zeit wurde aus der glühenden Karte ein Feuerball, der fauchend auf die Schachtel zufuhr, in der die anderen Karten lagen. Alexandra Pabblenut funkelte Kortney Lane an, die gerade einen weiteren ihr geltenden Zauber ohne eigene Zauberstabbewegung parierte. "Du wirst uns nicht verraten!" Spie Pabblenut Kortney entgegen. Ihre grauen Augen funkelten. Ihr Körper Bebte. Mit einer plötzlichen Bewegung zielte die selbsternannte Anführerin auf Kortney Lane und rief: "Avada Kedavra!" Lavinia dachte, daß Kortney diesen Angriff niemals überleben würde, wo Pabblenut mit soviel Haß in der Stimme rief. Doch beim ersten der beiden verbotenen Wörter flimmerte Kortney Lanes Erscheinung. Beim zweiten verschwand sie mit leisem Plopp! Der gleißendgrüne Todesblitz sirrte auf einen völlig leeren Stuhl zu und traf. Mit dumpfem Knall explodierte der hochlehnige Stuhl in einer Wolke aus Dampf und Ruß. In dem Moment schoß eine grüne Flammengarbe aus der magischen Feuerwolke. Alexandra Pabblenut wurde getroffen. Aus der Flamme fegte eine grün flackernde Buchstabenreihe. Und die Stimme Amanda Blueberrys rief mit Knistern unterlegt: "Amanda Moira Blueberry, Nein!" Alexandra Pabblenut schrie laut auf. Doch es war kein Schmerzensschrei, wie Lavinia an ihrem Gesicht sah. Es war blanker Zorn, der bereits zu loderndem Haß wurde. Vielleicht war es auch Wahnsinn, der die ehemalige Prinzipalin umtrieb. Die grünen Flammen umloderten sie zwar, fraßen aber nicht an Kleidung oder Haut. Dann warf sich die frühere Leiterin von Broomswood wie lebensmüde in die grünen Flammen, den Zauberstab wie einen Dolch nach vorne stoßend.

"Ihr folgt mir alle, die ihr mir Gefolgschaft gelobt habt, im Leben wie im Tode in Vita et Morte!!!" Krakehlte sie, während sie ganz von den Flammen umfangen wurde. Sie schien das grüne Feuer regelrecht zu atmen. Dabei stieß sie Laute aus, die die Silben von schnell gerufenen Wörtern sein mochten, Wörter in einer Sprache, die Lavinia nicht gelernt hatte. Die Rhythmik und Lautmelodie ließen sie nur vermuten, daß es die Sprache der keltischen Druiden sein mochte. Dabei atmete Pabblenut die sie umschließenden Flammen ein, schluckte wie ein Gaukler der Muggel die nächste Flammengarbe und wand sich. Sie gurgelte. Dann geschah etwas, daß Lavinia in ihrem Leben nicht mehr vergessen würde.

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Zachary mußte bei der Vernehmung Maggys in einem Nebenzimmer sitzen. Durch die auch bei Freunden von Kriminalgeschichten bekannte einseitig durchsichtige Scheibe konnte er zusehen, wie Maggy völlig verstört berichtete, was sie mitbekommen hatte, nämlich nichts. Über Lautsprecher erfuhr er, wann die letzte Reparatur der Klimaanlage stattgefunden hatte. Das deckte sich mit seiner Vermutung, daß die Banditen einen Verbündeten im Haushalt gefunden hatten. Eine halbe stunde später hatten sie auch einen Verdacht, wer das war. Denn auf Anfrage bei Bensons über achtzig Jahre alter Mutter kam heraus, daß diese seit schon einer Woche nicht mehr aus ihrem Haus gekommen sei. Der Anrufbeantworter war voll mit besorgt klingenden Frauenstimmen, die sich bei ihr nach dem Befinden erkundigen wollten. Carltons Familie hatte keine Auffälligkeiten gezeigt. Seine Eltern, seine Schwester und seine beiden Neffen verbrachten den gewohnten Alltag und waren auch immer wieder von Freunden oder Angestellten in Läden oder Kinos gesehen worden. Dann konnte Bensons alleine lebende Mutter das erste Entführungsopfer dieser Banditen gewesen sein. Über die Mutter hatten sie den sonst so loyalen und zuverlässigen Majodomus unter Kontrolle bekommen. Der hatte die Luftumwälzung sabotiert und auch, so Maggy, den Notdienst für überlastete Klimaanlagen antelefoniert. Zach konnte nur hoffen, daß Nocturnia die Geiseln am Leben ließ, und zwar am Leben als Menschen. Zu gerne würde er hier und jetzt zum Besenhangar des LI disapparieren und mit Davidson und anderen Mitarbeitern absprechen, wie sie die Angelegenheit klären konnten, ohne Zachs Eltern zu gefährden, sofern sie noch am Leben waren. Doch um ihn herum waren zu viele Kollegen. In dem Zimmer, in dem er zu Mittag gegessen hatte und jetzt auf weitere Ergebnisse wartete, lauerte sicher eine Überwachungskamera. Gleiches dürfte ihm auf einer der Toiletten passieren, zumal er dort nicht alleine hatte hingehen dürfen. Sie überwachten ihn wie einen Verdächtigen, dachte er mit Wut. Andererseits wollten sie ja nicht, daß er aus Angst um seine Eltern in die gestellte Falle rannte, ohne daß man ihn absicherte. Die große Demütigung würde noch kommen, wenn er in diesem lächerlichen Strampelanzug zu dieser Verabredung sollte, wo er nicht wußte, ob dort seine Eltern warteten oder nur die beiden Vierbeins. Zumindest mußte er zusehen, seinen Zauberstab mitzunehmen. Der fiel durch die muggelsichere Tasche nicht auf. Wenn er es schaffte, den Vierbeins einen anti-Vampirzauber überzuziehen, ja die beiden womöglich zu töten, konnte er eine Rückschaubrille holen und zusehen, wohin seine Eltern gebracht worden waren. Vorher war daran nicht zu denken.

"Ein Heli hat das betreffende Lagerhaus in großer Höhe überflogen und Fotos davon gemacht, Sonderagent Marchand. Wer immer dort auf sie wartet ist entweder noch nicht da oder hält sich dort schon seit der Entführung Ihrer Eltern und der beiden Dienstboten auf", erwähnte Direktor Stanford. "Das Mobiltelefon, über das Sie die Nachricht erhielten wurde tatsächlich kurz nach dem Absenden ausgeschaltet, aber nicht durch ordentliches Abmelden, sondern durch Beschädigung. Es befand sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Brücke über dem Mississippi. der SMSer hat es wohl einfach über das Geländer geworfen und ist weitergefahren. Die Spurensicherung ist zu dieser Brücke hin. Aber wenn da täglich mehrere tausend Wagen drüberfahren ist das nur ein Strohhalm."

"Nicht mal das, Sir. Es ist schlichte Zeit- und Geldverschwendung, die da suchen zu lassen", knurrte Zachary. "Was wissen wir über die an der Entführung beteiligten Fahrzeuge?"

"Das ein VW-Bus und ein Liferwagen aus der Nutzwagenpalette von General Motors beteiligt waren. Der Lieferwagen diente dabei offenbar als Transporter für die betäubten Opfer, was die Tiefe der gefundenen Reifenspuren verrät. Der Bus brachte wohl das fünf Mann starke Vorauskommando, zu dem auch der kleinwüchsige Mann gehörte, der Ihnen diesen Strampelanzug aufs Bett legte, bis zweihundert Meter vor das Tor. Die Umgebung wird noch untersucht. Ich vermute, daß ein Lauscher mit Laser- oder Richtmikrofon überwachte, ob die Gasbombe plangemäß auslöste und die Hausbewohner auch wirklich in Tiefschlaf fielen. Es handelt sich bei dem Gas übrigens um eine neue K.O.-Mischung, die eigentlich für den Antiterroreinsatz und die Elitetruppen von Army und Navy entwickelt wurde. Bei direktem Kontakt zu einem Menschen schaltet es in nur zwei Sekunden dessen Bewußtsein aus. Über eine Klimaanlage verteilt könnte die Volle Wirkung nach vier odr fünf Sekunden einsetzen. Es ist unsichtbar und geruchlos. Ein damit begaster Gegner hat keine Ahnung, daß er angegriffen wird, bis seine Besinnung schwindet. Ähnlich wie das eingesetzte Gas verhält es sich mit den Rückständen der Sprengkörper. Der Sprengstoff ist dazu entwickelt worden, in minimaler Dosierung bei der richtigen Initialzündung eine Druckwelle in eine Richtung zu entwickeln, was die Explosion leise genug macht und die Sprengwirkung auf einen Punkt bündelt. Auch dieses Material ist nur dem Militär und Antiterrortruppen wie die von uns vorbehalten."

"Willkommen in den vereinigten Staaten, dem Land der unbegrenzten Selbstaufrüstung", nurrte Zach sarkastisch.

"Diese Waffen und Materialien sind nicht auf dem zivilen Markt zu haben", schnarrte Stanford. Auch er verabscheute die Bewaffnungsfreiheit. Wie viele tausend Morde und Überfälle weniger mochte es geben, wenn der Kongress endlich mal Mut aufbrachte und sich gegen die Flintenweiber und Revolverfetischisten durchsetzte? Doch als Beamter durfte er sich nicht in politische Entscheidungen einmischen. Er hatte nur deren Auswirkungen zu verwalten.

"Was sagt uns der hinterlassene Rest über die Banditen? Die haben Kontakt zur Militärindustrie, wenn die an dieses Gas und an den Sprengstoff drankommen. Die Bewegungsmelder im Garten sind aber mit frei erhältlicher Munition zerschossen worden, oder?"

"Ich teile Ihren Unmut, Sonderagent Marchand. Aber den Zynismus verbitte ich mir. Ich bin die Falsche Adresse dafür", bellte Stanford wie ein gereizter Bullterrier. Da läutete das Telefon.

"Stanford hier! - Verstehe - Also er. - Ja, das interessiert uns. - Ich komme mit den Kollegen aus N. O. zu Ihnen. - Selbstverständlich bleibt das auch unsere Angelegenheit. - Ja, noch nichts an die Presse. - Sehr vorausschauend. Danke!" Als Stanford wieder auflegte sah er Marchand an. "Jetzt ist zumindest eine Katze aus dem Sack. Die Stadtpolizei von Baton Rouge hat gerade auf den Anruf eines Hundehalters hin ein Waldstück südlich von hier untersucht und die Leiche eines Mannes gefunden. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, weil jemand ihm mindestens hundert MP-Kugeln dort hineingejagt hat. Aber seine Fingerabdrücke stimmten mit denen von den persönlichen Gegenständen von Mr. Benson überein. Was ergibt sich daraus?"

"Das wir leider recht hatten und sie ihn über seine Mutter dazu erpreßt haben, den Gasanschlag vorzubereiten", seufzte Zachary Marchand. Er dachte daran, wie Mr. Benson ihn schon als Baby auf den Knien geschaukelt hatte und soweit es seine Position im Haus zuließ auch Geschichten erzählt hatte. Bensons Mutter hatte er auch ein paar mal sehen dürfen, wenn auf Veranlassung von Zacharys Mutter ein Familienfest mit den Hausangestellten gefeiert wurde. Womöglich würde man ihre Leiche auch noch irgendwo finden, dachte er. Zwei Menschen, die gestorben waren, weil Nocturnia sich auf ihn eingeschossen hatte, und das tatsächlich wortwörtlich. Er verdrängte die Schwermut, die ihn bei dem Gedanken überkam, den treuen Benson zum Verrat gezwungen zu haben. Er fragte sich, was er für seine Eltern alles verbrechen würde? Womöglich würde er die Antwort früher erhalten als ihm lieb war.

Die Agenten verließen zusammen mit dem Direktor das FBI-Gebäude und fuhren los, um an den Ort zu fahren, wo die Leiche des nach erfolgreichem Verrat wider Willen hingerichteten Benson gefunden worden war.

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"Quinn, ich trage mich auf die Liste der Mütter deiner Kinder ein", dachte Sylvia Montgomery, als sie dem Todesfluch um Haaresbreite entronnen war. Nur der Todesflüchter, ein Rubin von mindestens fünfzehn Karat, der mit ihrem arteriösen Blut getränkt und auf sie abgestimmt worden war, hatte sie vor dem nicht zu blockenden Todesfluch beschützt. Er hatte sie mit einer Abwandlung des Teleportationszaubers für kleine Tiere und Objekte aus dem Haus der Pabblenut hinausbefördert und sie an einem Punkt ankommen lassen, wo der magische Gegenpol des Todesflüchters aufbewahrt wurde. Dabei zerfielen die beiden Edelsteine zu staub. Doch sie war der Ermordung entwischt.

Sie blickte auf die Freisprechungsfeder, die wie eine ganz gewöhnliche Schreibfeder aussah. Wer sie benutzte machte jede magische Bestrafung bei Nichteinhaltung eines Vertrages unwirksam, indem der Vertragsträger selbst in Loslösungsfeuer verbrannte, eine Feuerart, die ausschließlich mit Verbindungszaubern belegte Gegenstände zerstörte, Lebewesen und unbezauberte Gegenstände jedoch verschonte. Außerdem hatte sie mit einem falschen Namen unterzeichnet und damit die Vernichtung noch angefacht. Denn die Karte war auf den Behälter mit gleichbezauberten Karten zugeflogen. Was folgte war eine Kettenreaktion. Alle Abstimmungskarten würden nun verbrennen. Das darauf geschriebene würde mit der Stimme der Schreibenden und dem brennenden Schriftzug freigesetzt und die magische Bindung damit zerstört.

Sylvia dachte an Pablenuts Augen, als sie die erste Gegenstimme verlesen hatte. In diesen grauen Augen hatte Haß geleuchtet. Aber es war auch eine Spur von Wahnsinn darin erkennbar gewesen. Ja, stand Alexandra Pabblenut möglicherweise auf der Schwelle zum Wahnsinn? Sylvia fröstelte es. Dann waren die anderen, die gegen sie gestimmt hatten in Gefahr, jetzt wo sie die magische Bindung verlor. War es dann nicht ihre Pflicht, zum Pabblenut-Haus zurückzukehren und den anderen beizustehen? Dann fiel ihr ein, daß sie so oder so zu spät käme. Denn ihr Besen lag noch im Flur der Fanatikerin. Hineinapparieren konnte sie nicht. Und durch ihre ungewollte Versetzung aus dem Haus hatte sie nun auch den Bannzauber gegen unerwünschte Eindringlinge gegen sich, vom Apparitionswall ganz zu schweigen. Ihr blieb nur zu hoffen, daß die anderen Hexen erkannten, in welcher Verfassung Alexandra Pabblenut war und rechtzeitig die Flucht zu ergreifen. Ihre Aufgabe war es jetzt, über diesen Nachmittag zu berichten.

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Alexandra Pabblenut stand in grünen Flammen. Zuerst hatte es so ausgesehen, als täte ihr das Feuer nichts. Doch dann begann ihr Zauberstab zu brennen. Das hinderte sie jedoch nicht daran, ihre altdruidischen Zauberwörter zu rufen, ja laut zu singen. Eine weitere Flammengarbe schlug aus der Feuerwolke und geriet in ihren Mund. Lavinia hörte mit eisigem Entsetzen, wie ihre eigene Stimme hohl und knisternd: "Lavinia Edwina Thornbrook, ich stimme mit ja!" rief. Sie fühlte, wie etwas in ihr selbst aufzulodern begann. War sie nun des Todes? Da schlugen weitere grüne Flammen aus dem Körper Pabblenuts. Sie rief: "In Vita et Morte!", während ihr brennender Zauberstab zu einer grün-goldenen Flammenfontäne wurde. Das grün-goldene Feuer ergriff nun die Kleidung, die bis dahin nicht gebrannt hatte. Nun schlugen meterlange Flammen heraus. Sie leuchteten fast zu hell in einem blaßgrünen ton. Goldene Funken sprühten heraus und trafen den Teppich, die Decke und die Wände. Lavinia fühlte, wie etwas sie immer mehr einschnürte, als stecke sie in einer riesigen Saftpresse. Sie keuchte, sie stöhnte, während weitere Flammengarben in den Schlund der laut singenden Pabblenut hineinfuhren. Andere Garben schlugen in die Gegenrichtung. Andere Hexenstimmen riefen aus, daß sie mit Nein gestimmt hatten. Lavinia hatte jedoch nur Augen und Ohren für die im grünen Feuer stehende Hexe. Ihre Kleidung zerfiel wie Mehlstaub im Feuer. Ihr Fleisch löste sich langsam auf. Es schmolz und verbrannte wie Wachs in der Kerzenflamme. So ähnlich wirkte das Schmelzfeuer, erkannte Lavinia. Doch dieses tückische Zauberfeuer war blau und zersetzte lebende Wesen innerhalb weniger Sekunden. Der Vorgang, dem sie zuzusehen gezwungen war spielte sich mit entsetzlicher Langsamkeit ab. Und immer noch schien Pabblenut keine Schmerzen zu empfinden. Ihr Zauberstab war zu einer Feuerwolke zusammengefallen, die sich mit dem restlichen Feuer verbunden hatte. Da wo die goldenen Funken brennbares Material getroffen hatten, züngelten nun gewöhnliche Flammen hervor. Die Seidenvorhänge, die Holzvertäfelungen und die im Raum befindlichen Kerzen loderten auf. Lavinia fühlte die aufsteigende Angst. Doch irgendwas hielt sie fest auf ihrem Sitz. Sie mußte zusehen, wie Alexandra Pabblenut weitersingend von den Flammen aufgezehrt wurde. Am Ende blieben nur ihre blanken Knochen zurück. Weitere Namen und Abstimmungsbekundungen erschollen. Jetzt konnte Lavinia sehen, wie die von Pabblenut verschlungenen Garben zu unter ihren Rippen tanzenden Buchstaben und dann zu einem Feuerball wurden, der sich über die freigebrannten Knochen ausbreitete, ohne sie zu zersetzen. Dann schrie ein Chor aus magisch gespeicherten Frauenstimmen laut auf. Die grüne Flammenwolke implodierte förmlich. Jetzt stand die ehemalige Schulleiterin als blankes Knochengerüst da. Es leuchtete grün, und Lavinia erkannte, daß das Grün winzige, über die blanken Knochen leckende Flammen waren. Sie fühlte, wie etwas an diesem grünen Gerippe sie anzog, obwohl um sie herum gerade ein gewöhnliches, nicht weniger gefährliches Feuer ausbrach. "Alle, die mir folgen vereint euch mit mir, im Leben so im Tode!" Rief Pabblenut. Ihre Stimme klang hohl aus dem von Grünen Flämmchen umzüngelten Schädel. In den leeren Augenhöhlen glomm ein kaltes, silberweißes Leuchten von der Farbe des Vollmondes. Doch dieses Licht strahlte heller als das des Erdbegleiters. Lavinia fühlte, wie der Befehl sie dazu trieb, aufzustehen. Sie ignorierte den Rauch, der aus den brennenden Vorhängen quoll. Die anderen Hexen um sie herum wurden von Panik ergriffen. Das Grauen, dessen Zeuginnen sie geworden waren, wurde nun von der nackten Angst vor dem Verbrennungstod überlagert.

"Ich will da nicht hin", hörte sich Lavinia innerlich aufbegehren. Was tat sie denn da? Sie ging auf das grüne Gerippe zu, das seine Knochenarme weit ausbreitete, um die erste zu umschlingen, die sich ihm entgegenwarf. Lavinia fühlte, wie ihre Beine auf dieses flammende Phantom zusteuerten. Doch in ihr keimte Widerstand auf. Sie wollte nicht zu diesem Feuergespenst hingehen. Sie wollte Pabblenut nicht in den Tod folgen. Nein, sie wollte leben, frei und ohne jemandem unterworfen zu sein leben!

Niobe Archer gehörte zu den zwanzig Hexen, die sich laut johlend der grünen Gestalt aus Feuer und Knochen entgegendrängten. Sie schob die anderen bei Seite. Lavinia wurde von einem Ellenbogen zurückgestoßen. Sie unterdrückte gerade noch den Drang, die Dränglerin zu schlagen oder selbst zur Seite zu drängen. Archer erreichte die leuchtende Knochenfrau zuerst. Diese umschloß sie mit ihren grün flackernden Armen. "Sei mit mir vereint im Leben und Tod, meine Schwester!" Rief Pabblenut erfreut. Da loderten die Flammen aus ihren Armen stärker, leckten über Archers Kleid und Haar und hüllten sie unvermittelt ein. Archer schrie laut auf, als das grüne Feuer sie ganz erfaßte und ihr Kleidung und Haut vom Körper fraß. "Ja, schrei meine Schwester. Schrei dein neues Sein als Tochter von Morrigan und Easar hinaus!" tönte es aus dem grünen Schädel der grauenhaft umgewandelten Alexandra Pabblenut. Lavinia fühlte eine Mischung aus Euphorie und Todesangst. Sie sah wie die verharrenden, wie sich Niobe Archers Körper veränderte. Wie bei ihrer großen Vorgesetzten zerfloß alles, was an ihr Fleisch und Blut gewesen war im grünen Feuer, bis sie nur noch als grünes Knochengerüst übrig blieb. Erst da verstummten ihre Schmerzensschreie. Oder waren es Lustschreie gewesen? Sie kam aus der Umarmung frei. Doch das, was Pabblenut verändert hatte, war auch auf sie übergegangen. Sie riß die blanken Knochenarme hoch und rief verzückt: "Ich bin dein, Lady Alexandra. Ich bin dir verbunden, im Leben und im Tode!"

""Dann umarme die, die mir folgen wie ich es tue! Hilf mir, sie in unsere unüberwindliche Gemeinschaft aufzunehmen!" Rief Alexandra Pabblenut. Lavinia fühlte, wie das Entsetzen die in ihr prickelnde Glückseligkeit erstickte. Sie sollte zu einem grün flammenden Spukwesen werden? Nein, dann würde sie ihr ganzes Dasein lang dieser Wahnsinnigen unterworfen sein, die als erste dieser schrecklichen Transformation unterworfen wurde. Sie fühlte, wie der Drang, sich dieser Kreatur aus grünem Feuer und blanken Knochen hinzugeben von ihrem Selbsterhaltungstrieb übermannt wurde. Sie warf sich herum und rannte los, den anderen, in Panik flüchtenden Hexen nach, die nicht in den Sog der Unterwerfungsmagie geraten waren. Es waren jene, die gegen die Gefolgschaft gestimmt hatten. Hinter ihnen loderte das orangerote Feuer. Beißender Qualm senkte sich langsam von der fünf Meter hohen Decke herab. Lavinia keuchte bereits.

"Halt, Lavinia. Du hast mir Gefolgschaft geschworen. Empfange deine Bestimmung!" Rief Pabblenut. Lavinia fühlte, wie der Befehl sie lähmte, sie durchdrang und dazu zwingen wollte, sie umkehren zu lassen. Da sah sie etwas, was ihren beinahe niedergeworfenen Ungehorsam und Selbsterhaltungstrieb wieder aufbäumen ließ. Hexen, die sich vor der verschlossenen Haustür stauten bedrängten sich, um dann aus purer Panik heraus zu disapparieren. Eigentlich konnte das nicht gut gehen. Doch dann erkannte Lavinia, daß das ausgebrochene Feuer den Wall aufgehoben hatte. Brannte ein Haus, in dem die Magie für eine Apparierabwehr eingelagert war, und entstand aus diesem Feuer eine große Todesangst, wurde der Wall unterbrochen. Zumindest war das hier wohl so, dachte Lavinia. Da hörte sie das leise schaben blanker Knochen auf dem qualmenden Wollteppich. Sie blickte sich um und sah das aufrecht schreitende Skelett der Alexandra Pabblenut. Ihr Beckenknochen wiegte sich bei jedem Schritt. Ihre Fingerknochen ragten nach vorne. Ihre Arme waren halb geöffnet. Gleich würden sie Lavinia fassen. "Komm in meine Arme und werde eins mit mir und meiner Gemeinschaft!" Befahl die skelettierte Hexenlehrerin. Doch mit einem Ruck schaffte es Lavinia, die Wirkung dieser Anweisung abzuschütteln. Sie warf sich in eine Drehung und wünschte sich in ihr Versteck. Mit lautem Knall disapparierte die Führerin der Nachtfraktionshexen. Klackernd trafen die Unterarmknochen zusammen, als sie leere Luft umschlossen.

"Und du wirst doch mein mit Leib und Seele!" Brüllte die um ihr sicheres Opfer geprellte Knochenfrau. Dann sprang sie vor. Doch Amanda Blueberry disapparierte gerade in dem Moment, wo die grün leuchtenden Knochenfinger sie ergreifen wollten. Mit lautem Schlag verschwanden alle anderen Hexen im Nichts. Übrig blieben nur jene fünfzig, die Pabblenut Gefolgschaft geschworen hatten. eine von ihnen wurde gerade laut schreiend in den grünen Armen Niobe Archers vom grünen Feuer umgewandelt. Dabei hielt das gewöhnliche Feuer inne, als wolle es die grausame Eingliederungszeremonie nicht stören. Alexandra Pabblenut rief die ihr folgenden zu sich. Als erste weil jüngste warf sich Bertha Threatspinner in die verderbliche Umarmung. Sie schrie auf, als die grünen Flammen sie umschlossen und ihr Kleidung und alles Fleisch von den Knochen schmolzen. Auch Mrs. Moreland, die im Banne der Gefolgschaft stand, empfing von der skelettierten Ex-Schulleiterin die mörderische Zuneigungsgeste. Auch sie wurde zu einem Skelett, über dessen Knochen die kleinen grünen Flammen leckten, ohne weiteren Schaden anzurichten. Und so, wie bei einer Seuche oder einem gewöhnlichen Feuer, sprang die unheimliche Umwandlung mit jeder Neugeformten weiter, je mehr es waren, desto schneller schritt die Verwandlung voran. Die Flammen des gewöhnlichen Feuers, deren Keime aus dem Zauberfeuer entstanden waren, duckten sich an die Wände, hielten sich zurück. Erst als es in diesem Haus keine Hexe aus Fleisch und Blut mehr gab reckten sich die glutheißen Flammenzungen wieder und suchten weiter nach Nahrung.

"Eine verweigerte die Gefolgschaft! Sie wird mir dennoch folgen, wie ihr es tut, meine Schwestern, Töchter von Leben und Tod! Übergeben wir dieses Haus dem Feuer, aus dem wir neu geboren wurden!" Sie griff nach den Handknochen von Archer und Moreland. Die grünen Knochenfrauen bildeten einen Kreis. Dann erfüllte ein leises Säuseln die Luft. Die grünen Flammen loderten aus den Wirbelsäulen und Beckenknochen der Skelette und bildeten einen Ring aus Feuer. Dann knallte es, und die knöchernen Gestalten waren verschwunden. In dem Moment brach das gewöhnliche Feuer mit großer Wucht über alles herein, was ihm in die Quere kam. Der an die Decke gestiegene Rauch wurde von Flammenerfaßt. Da splitterten Fenster. Frische Luft strömte in das Haus und nährte die Flammen mit Sauerstoff. Mit einem überlauten Knall zündeten die im Rauch enthaltenen Gase. Die Wucht der Durchzündung sprengte Türen aus den Rahmen, ließ weitere Fenster bersten und erschütterte das Haus in allen Grundfesten. Die Decken stürzten ein und machten dem Brand den Weg frei. Innerhalb einer halben Minute stand das ganze Pabblenut-Haus in hellen Flammen.

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Sylvia Montgomery informierte ihren Chef. Der schickte gleich eine Truppe Ministerialzauberer los, die jedoch nur noch ein niederbrennendes Haus vorfanden. Das trug Davidson eine lautstarke Schimpfkanonade des Inobskuratorenleiters Vespasianus Benchwood ein. Sylvia wurde Ohrenzeugin dieser lautstarken Unterredung. Elysius Davidson nahm die Vorwürfe, Drohungen und Unterstellungen gelassen hin. Als der im Kamin hockende Kopf des Eingreiftruppenleiters Luft holen mußte, sagte Davidson nur:

"Seit der Sache mit der Abgrundstochter und seit der paranoiden Politik Wishbones ist meine klare Ausrichtung als Leiter des Laveau-Institutes die, daß wir weiterhin unabhängig vom Zaubereiministerium bleiben, daß wir mit den uns eigenen Experten ergründen, was an dunklen Zaubertätigkeiten aufkommt und wir bekämpfen diese, wenn wir von ihnen Kenntnis erhalten. Ihnen Steht es frei, durch eigene Recherchen und Aktionen die dunklen Machenschaften zu bekämpfen. Aber wir sind auf der Basis unabhängiger Tätigkeit gegründet. Bislang haben wir mit dieser Ausrichtung mehr recht als schlecht gewirtschaftet. Sparen Sie sich also die kostbare Atemluft für konstruktive Einwände!"

"Wir haben gerade erst beschlossen, die sogenannte Liga rechtschaffender Hexen zu überwachen, weil wir Hinweise darauf haben, daß sich auch Nachtfraktionshexen in diese Organisation eingeschlichen haben. Haben Sie diesbezüglich was ermittelt?"

"Natürlich. Wir kennen die Lebensläufe der in der womöglich gerade zerfallenden Liga aus sogenannten Anstandshexen. Aber bevor wir irgendwen einen Verdacht aussetzen und am Ende die wilden Wichtel aufs Dach jagen und die wirklich gefährlichen Elemente zu früh vorwarnen hätten wir eigentlich noch etwas länger arbeiten müssen."

"So, länger? Warum hat Ihre Mitarbeiterin dann diese Abstimmung sabotiert?" Fragte Benchwood.

"Weil mir sofort klar wurde, daß hier unbescholtene Hexen zu Handlangerinnen von Fanatikerinnen gemacht werden sollten, die in ihrer Ausrichtung und Vorgehensweise mindestens genauso gefährlich erscheinen wie die Spinnenschwestern, mit denen Ihr oberster Dienstherr sich auf ein hauchdünnes Toleranzabkommen verständigt hat", hielt Sylvia Montgomery dem Ministerialzauberer entgegen. "Deshalb habe ich die Abstimmung unwirksam gemacht. Außerdem hätte ich, da ich in Vertretung Ms. Brightgates dort tätig wurde, so oder so mit falschem Namen unterschrieben. Die magisch aufgeladene Karte hätte also so oder so die Namenslösungsflammen ausgelöst, auch wenn ich mit Ja gestimmt hätte."

"Ein Rückschauer des Ministeriums ist gerade im Schutz von Flammengefrierzauber und Kopfblase am Brandherd. Ich erwarte jeden Moment seinen Bericht. Aber er schickte über die Schallverpflanzdosen bereits einen ersten Eindruck, und der ist nicht gerade beruhigend", erwiderte der Leiter der Inobskuratoren.

"So, wissen wir schon, wie das Feuer entstanden ist?" Fragte Davidson.

"Ja, eine Sekundärreaktion auf das eigentlich für unbezauberte Dinge unschädliche Arkane Feuer", rückte Benchwood mit etwas heraus, daß das LI noch nicht wußte. Sylvia protestierte. Das Loslösungsfeuer war eben nur da, um gleichartig bezauberte Gegenstände zu zerstören. Es löste keine Folgebrände aus. Also mußte Pabblenut oder wer anderes ein anderes Feuer gelegt haben, warum auch immer.

"Das mißfällt mir an Ihnen vom LI, diese ständige Besserwisserei, was dunkle Zauber angeht", knurrte Benchwood. "Aber mein Kundschafter hat vor einer Minute gemeldet, daß das grüne Feuer die Hausbesitzerin erfaßt und dabei magisch gezündetes ordinärfeuer ausgelöst hat. Und jetzt kommen Sie."

"Wohin, ins Ministerium?" Fragte Sylvia. "Da bleibe ich lieber hier und warte auf den ganzen Bericht."

"Nur unter zwei Bedingungen. Erstens: Ich bekomme von Ihrem Chef alle niedergeschriebenen oder sonstwie aufgezeichneten Einzelheiten über die Liga rechtschaffender Hexen. Zweitens fordere ich im Namen von Minister Cartridge die an Ihre Mitarbeiterin Brenda Brightgate ausgeliehene Rückschaubrille bis Mitternacht zurück. Widrigenfalls bezahlt das Laveau-Institut den zehnfachen Beschaffungspreis und bekommt außerdem eine Klage wegen Behinderung der magischen Strafermittlungsbehörde an den Hals."

"Wenn wir wissen, wohin Mr. Marchands Eltern verschleppt wurden und ob sie, wie zu befürchten steht, in der Hand der Nocturnianer sind und ob wir legitimiert sind, sie zu befreien oder die Muggelweltbehörden ohne Mitteilung unserer Erkenntnisse auf die richtige Spur setzen können. Ms. Brenda Brightgate arbeitet ja offiziell im Innendienst der CIA, wie Sie ja wissen. Da ließe sich was drehen."

"Wann erwarten Sie die Ergebnisse dieser Ermittlungen?" Fragte Benchwood jetzt etwas behutsamer. Sich vorzustellen, daß der ehemalige Mitarbeiter von Vampiren entführt und mit dem menschlichen Leben seiner Eltern erpreßt werden könne gemahnte ihn zur Vorsicht.

"Was soll ich Ihnen da erzählen, ohne daß Sie mir wieder Besserwisserei oder die Verbreitung von Binsenweisheiten unterstellen?" Seufzte Davidson. "Kriminalermittlungen, magische wie nichtmagische, folgen keinem Fahrplan wie der fliegende Holländer, oder der Arbeitstag eines Ministerialbeamten."

"Auch wenn das komisch rüberkommen soll erwarten Sie nicht von mir, darüber zu lachen", brummte Benchwoods kopf. Dann zuckte es in dessen Augen. Wie aus einem tiefen Brunnenschacht erscholl ein lautes Scheppern, als schlüge jemand leere Blechdosen gegeneinander. "Das ist mein Kundschafter. Melde mich wieder, wenn es was für das LI relevantes zu vermelden gibt." Ohne eine Bestätigung oder Abschiedsworte abzuwarten verschwand Benchwoods Kopf mit leisem Plopp aus dem Kaminfeuer in Davidsons Büro.

"Ich hoffe mal, diese Furie hat ihr eigenes Haus abgefackelt, um keine Spuren zu hinterlassen, nachdem sie alle anderen rausgeschickt hat", seufzte Sylvia. Benchwoods Bemerkung hatte sie doch ziemlich erschüttert. Wenn das Loslösungsfeuer eine Folgereaktion ausgelöst hatte, dann trugen sie und das LI Mitschuld am Brand des Pabblenut-Hauses.

Es dauerte nur fünf Minuten, bis ein sichtlich erbleichter Benchwood seinen Kopf in Davidsons Kamin erscheinen ließ. Seine Miene verriet Bestürzung, ja nackte Angst.

"Ich fürchte, Sie, Ms. Montgomery, haben gänzlich unbeabsichtigt einen laut brüllenden Drachen mit mindestens fünfzig Basilisken ausgetrieben. Ich mußte selbst zum Brandherd hin und mich mit eigenen Augen von der unglaublich anmutenden Tatsache überzeugen, die mein Kundschafter mir berichtet hat. Ich weiß nicht wie genau, aber vom rein optischen her unbestreitbar hat Alexandra Pabblenut das Loslösungsfeuer dazu benutzt, einen mir völlig unbekannten Zauber auszuführen, der erst sie und dann jede, die sie oder die von ihr danach berührte in die Arme nahm, unter ähnlich gefärbter Flammenbildung wie beim Loslösungsfeuer von Kleidung, Fleisch und Blut zu befreien und zu grün flammenden Skeletten zu formen. Wie erwähnt ist mir dieser Zauber völlig unbekannt, und das will was heißen."

Sylvia und ihr direkter Vorgesetzter erbleichten und blickten einander an. An den Mienen der LI-Mitarbeiter konnte Benchwood ablesen, daß auch sie diesen Zauber nicht kannten. So ließ sich Davidson genau berichten, was Benchwood durch die Rückschaubrille gesehen hatte. Das trieb ihm auch den letzten Rest von Blut aus dem Gesicht. Er sah nun aus wie ein Vampir, nur ohne die langen Eckzähne. Sylvia war heilfroh, bereits zu sitzen. Denn ein heftiger Schwindelanfall drohte, sie umfallen zu lassen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Das war absolut nicht von ihr beabsichtigt worden.

"Wie erwähnt tragen Sie daran keine Schuld, Ms. Montgomery. Sie konnten sicher nicht damit rechnen, daß diese Furie einen Zauber wirken kann, der unter Anwesenheit von Loslösungsfeuer eine derartige Transformation ermöglicht, die sich wohl, das muß ich wohl bekräftigen, wie eine Ansteckung fortpflanzen kann. Ich habe die Gesichter der nicht in Panik geflüchteten und disapparierten Hexen gesehen. Bitte schicken Sie mir die Liste der Ihnen bekannten Mitglieder zum Abgleich mit den von mir gesehenen und erkannten Hexen zu!"

"Ich vermute, der Zauber hat die, die ihr folgen wollten gebannt und sie dadurch dieser Umwandlung ausgeliefert", vermutete Davidson. Sylvia rang derwweil mit ihrem Atem. Sie hatte als LI-Hexe schon dunkle Zaubereien miterlebt und bekämpft. Aber indirekt Mitschuld zu tragen, daß eine durch eindeutig dunkle Zauberkraft zur mörderischen Spukgestalt gewordene Hexe ihr neues Dasein auf andere übertragen konnte traf sie tief. Am liebsten hätte sie sich einen Zeitumkehrer geliehen und wäre an den Zeitpunkt zurückgereist, wo die Abstimmung stattgefunden hatte. Sie hätte ihr gerade wenige Minuten vergangenes Ich gewarnt und davon überzeugt, der Abstimmung fernzubleiben. Doch es hatte sich zu häufig erwiesen, daß Eingriffe in die Vergangenheit größere Katastrophen nach sich gezogen hatten. Und konnte sie wissen, ob diese Alexandra Pabblenut nicht einen ähnlichen Zauber gewirkt hätte, wenn das Loslösungsfeuer nicht ausgebrochen wäre?

""Davon ist wohl auszugehen. Womöglich bleibt der Kreis der derartig verwandelbaren auf diese wenigen beschränkt. Aber garantieren will ich das nicht."

"Haben Sie jemanden in Ihrem Stab, der oder die von den Lippen ablesen kann?" Fragte Davidson. Ihn interessierte es, welche Zauberwörter Pabblenut gerufen hatte.

"Ja, mein Kundschafter. Aber der kann die Sprache nicht, in der die Zauberwörter gerufen wurden", erwiderte Benchwood. Davidson nickte. Leider war Jane Porter nicht mehr am Leben. Sie hatte von den Lippen ablesen können und zudem mehrere alte Zaubersprachen beherrscht. Denen sie diese Sprachen beigebracht hatte waren gerade im Auslandseinsatz, um die Folgen von Stillwells Zombiearmee zu beseitigen. Trotz Stillwells Vernichtung waren nicht alle von ihm erschaffenen Zombies vergangen. Immer noch strolchten wandelnde Tote in den Wäldern Südamerikas herum und suchten Opfer.

"Mein einziger Mitarbeiter, der neben den lebenden Sprachen auch uralte Zauberersprachen gelernt hat ist derzeitig weit weg in Südamerika. Es würde mehr als die zwei Tage dauern, ihn zu benachrichtigen und an den Ort des Geschehens zu beordern. Dann wird die zeitliche Barriere zwischen den vergangenen Ereignissen und der Gegenwart für die Rückschaubrille undurchdringlich", seufzte Davidson. Dann schlug er vor, daß sie recherchierten, ob es irgendwo eine Erwähnung dieses Zaubers gab.

"Wir haben Pabblenut offenbar unterschätzt. Sie ist nicht nur fanatisch, sondern gefährlich gewesen. Ja, es kann sein, daß sie ab heute eine größere Bedrohung für die magische Menschheit ist als die Wiederkehrerin und ihre Schwesternschaft. Immerhin hat diese mit ihren Ungeheuern, sofern sie sie kontrollieren konnte, eher gegen andere Auswüchse der dunklen Magie gekämpft.""

"Sie wagen es doch nicht etwa, diese Verbrecherin in Schutz zu nehmen, die uns diese Valery Saunders eingebrockt und mindestens mehrere angesehene Hexen und Zauberer getötet hat?"

"Was die Entomanthropen angeht stimme ich Ihnen zu. Was die Ausrichtung angeht ist diese auch kriminell und gegen das allgemeine Schutzrecht für alle Menschen. Aber was die unbescholtenen Hexen und Zauberer angeht, so rutsche ich da besser nicht zu weit ans vordere Besenende wie Sie, Ves. Immerhin hat sie auch erwiesene Todesser und deren Handlanger erledigt, die an und für sich in Ihr und mein Ressort gefallen wären. Wer die mit Anthelia fusionierte Persönlichkeit war wissen wir noch nicht. Womöglich hat sie zu einer Entfanatisierung Anthelias geführt. Immerhin hat sie keine neuen Entomanthropen hervorgebracht."

"Ja, aber in unsere Nachforschungen über Nocturnia hineingefuhrwerkt", blaffte Benchwood. Das konnte Davidson nicht abstreiten. Er verschwieg dem Strafverfolgungszauberer, daß sein Mitarbeiter Marchand gerade heute darauf achten mußte, daß Nocturnia an diesem Tag keine weiteren Opfer fand. Dafür waren Justine und ihre Cousine Brenda eingeteilt worden. Wie weit sie gediehen waren war bisher nicht erwähnt worden.

"Der Minister soll und wird sich noch mal mit Ihnen über Ihre Auffassung von Unabhängigkeit unterhalten, Elysius. Ich habe heute noch anderes zu tun. Ich muß nähere Auskünfte über diese Liga rechtschaffender Hexen einholen."

"Wir haben genug Material. Falls Sie uns freundlich bitten stellen wir es Ihnen sehr gerne zur Verfügung", erwiderte Davidson.

"Ich erinnere nur daran, daß Sie damals mitgeholfen haben, Poles Geheimhaltungsfeldzug wegen Hallitti zu unterstützen. Halten Sie sich also nicht für uns überlegen oder moralisch höhergestellt!"

"Fiele mir im Traum nicht ein", erwiderte Davidson unbeeindruckt.

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"Der Strampelanzug wurde mit einer Kreditkarte bezahlt", verriet Stanford Zachary, nachdem sie sich von dem Fundort entfernt hatten. "Der Besitzer der Karte lebt nicht mehr. Er wurde gerade von zwei Kollegen in New York tot auf seinem Bett gefunden. Man hat ihm eine Spritze mit Blausäure in den Hals gejagt. Das muß schon vor drei Tagen passiert sein. Die Kriminalbiologen wollen das anhand der Fliegeneier an seinem Körper noch genauer datieren." Zachary Marchand nickte darüber nur. Das war also der erste Tote dieser dunklen Serie, die Nocturnia eröffnet hatte, um ihn zu kriegen. War er wirklich drei Menschenleben wert? Weil er die Frage nicht beantworten konnte wollte er noch wissen, ob noch etwas anderes mit der gestohlenen Karte bezahlt worden war.

"Die Karte wurde in den letzten drei Tagen fleißig benutzt. Damit wurde an zehn Geldautomaten bundesweit Geld in einer Gesamthöhe von 30.000 Dollar abgehoben, dazu noch Goldschmuck im Wert von 200.000 Dollar eingekauft und eben besagter Strampelanzug als Halloweenkostüm bei der Firma Various Wardrobes in Manhattan, die sich auf Verkleidungen spezialisiert hat."

"Zweihundertdreißigtausendunddreißig Dollar", zählte Zachary die Summe zusammen, die der Kreditkartenräuber erbeutet hatte. Den Goldschmuck hatte der sicher nur gekauft, um in einem anderen Land den Materialwert ausbezahlt zu bekommen, wenn das ganze Gold eingeschmolzen wurde. Dabei dachte er daran, daß die Eheringe seiner Eltern auch einen hohen Goldanteil aufwiesen. Sicher hatten die Entführer die bereits einkassiert, falls Nocturnias Brut sich an ihnen zu schaffen machen wollte.

"Der Hubschrauber hat das Lagerhaus noch einmal in großer Höhe überflogen. Immer noch nichts verdächtiges. Meine Leute beziehen um neun Uhr in einer Meile Umkreis Posten, ohne die möglichen Täter zu früh zu informieren."

"Ich fürchte, die Täter werden unsere Leute auf zehn Meilen noch riechen können, Mr. Stanford. Ich möchte in der Hinsicht kein Risiko eingehen. Nachher haben die Leute noch Überwachungsdronen und halten die Gegend damit unter Beobachtung", erwiderte Zachary darauf. Er wollte sich die Option, notfalls seine Zauberkräfte einzusetzen nicht durch zu viele Beobachter verderben.

"Nun aber mal halblang, an sowas kommen die nun ... wirklich ... nicht unbedingt dran", schnarrte Stanford und mußte mitten im sprechen erkennen, daß er da besser keine definitive Aussage machte, die ihm hinterher um die Ohren gehauen werden mochte. So legten sie sich darauf fest, daß Zachary eine verschluckbare Wanze mit Zufallsfrequenzwahl in sich aufnahm und wie gefordert im blauen Strampelanzug an das Lagerhaus herantrat. Amm Besten war es, so sagte Zachary, wenn er dabei im eigenen Wagen fuhr. Die Entführer kannten sicher seinen marsroten Mercedes, wenn sie schon den Wohnsitz seiner Eltern und seinen Geburtstag kannten.

"Nein, Sie fahren mit einem unserer Wagen, Mr. Marchand. Der ist gepanzert."

"Ich meinte nur", erwiderte Zachary und dachte noch, daß sein eigener Wagen besser gepanzert war als jedes Muggelauto.

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Lavinia hatte Todesangst. Gerade soeben war sie Alexandra Pabblenuts tödlicher Umarmung entronnen. Doch sie wußte, daß sie ab jetzt ein gejagtes Wild war. Nur wenn sie es schaffte, Hynerias gesammeltes Wissen zu erwerben, zu dem auch Kenntnisse über druidische Zauber gehörten, konnte sie vielleicht der Eingliederung in Pabblenuts Riege der grünen Knochenfrauen entgehen. Sie fühlte nämlich neben ihrer Angst auch ein leicht zwickendes schlechtes Gewissen, daß sie sich der anbefohlenen Gefolgschaft verweigert hatte. Hoffentlich konnte dieses grüne Gespensterweib nicht orten, wo sie war. Hier, in der Versammlungshöhle der entschlossenen Schwestern, fühlte sie sich zumindest relativ sicher. Was wäre passiert, wenn es diese Spionin nicht gegeben hätte? Andererseits war es auch sehr erschreckend, daß es in den Reihen dieser sogenannten Liga Rechtschaffender Hexen eine Spionin gab. Was wußte die womöglich über die Mitglieder? Lavinia wußte, das sie sehr schnell machen mußte, um sich mehr Macht zu verschaffen, nicht nur um vor Alexandra Pabblenut gefeit zu sein.

Was sie vorher jedoch dringend klären mußte war der nicht stattgefundene Überfall von Hexen in weißen Umhängen. Es würde ihr mehr bringen, wenn sie Anthelias Hexenbande für einen Anschlag auf Roberta Sevenrock verantwortlich machen konnte.

Die Führerin der Nachtfraktion rief nach Beth McGuire, Enid Witherspoon und drei weiteren, die sie in die Einsatzgruppe eingeteilt hatte. Tatsächlich erschienen Enid und Beth wenige Minuten nach dem mentiloquistischen Aufruf zum Appell. Enid wirkte sichtlich verstört, während Beth so wirkte, als müsse sie ihrer Anführerin gleich eine unangenehme Botschaft überbringen.

"Was ist schiefgelaufen. Die Pabblenut hat einen ziemlich üblen Zauber ausgeführt, der sie in eine regelrechte Schreckgestalt verwandelt hat. Sie hätte mich fast selbst zu einer solchen Kreatur werden lassen. Also nicht lange drum herumreden, Schwestern!"

"eine Zauberfalle, Lady Lavinia", seufzte Enid. "Als wir vorrückten, nachdem Ihr den Eindringlingsabwehrbann gelöst habt, gerieten wir im Flug in einen silbernen Lichtwirbel, der uns in ein unterirdisches Labyrinth versetzte, in dem mehrere magische Fallen lauerten. Zehn von uns sind dabei draufgegangen. die anderen mußten zu ihren Vertrauensheilern, als es uns endlich gelang, aus dem verhexten Labyrinth zu entkommen."

"Da war nichts, was wie eine Zauberfalle gewesen ist", knurrte Lavinia. "Wie soll die denn so gut verborgen gewesen sein, daß ich sie nicht wahrgenommen habe?"

"Womöglich war es eine Zauberfalle, die erst nach Auslöschung des Eindringlingsbanns in Kraft trat", vermutete Beth. "Diese Pabblenut ist eine versierte Hexe, die sich offenbar auch gut mit dunkler Magie auskennt. Sie mußte davon ausgehen, daß ihre Feinde einen Weg finden könnten, den Eindringlingsabwehrbann zu durchbrechen."

"Ich will eure Erinnerungen sehen", knurrte Lavinia. Die beiden Hexen nickten schwerfällig.

Was Lavinia zu sehen bekam waren mehrere Alpträume zugleich. Stürze in endlose Schächte, teilweise mit Feuer auf dem Grund. Brennende Schlangen und Feuerspinnen, zusammenrückende Wände und aufeinander zuwachsende Böden und Decken. Lavinia mußte sich sehr anstrengen, im Sturm der Erinnerungen Enids ihre eigene Selbstbeherrschng zu bewahren.

"Womöglich war es ein Fehler, diesen Überfall dort stattfinden zu lassen, wo sich Pabblenut am sichersten auf Feinde vorbereitet hat. Immerhin kann ich jetzt darüber nachdenken, wie ich ähnliche Fallen bei neuen Einsätzen umgehen oder zerstören kann", seufzte die Führerin der Nachtfraktionshexen. Sie wagte nicht daran zu denken, wie viel Zeit ihr dafür blieb.

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"Vampirspürer einsetzen, auch wenn Nocturnias Leute mittlerweile eine Abschirmung dagegen besitzen!" Befahl Elysius Davidson Justine Brightgate, als diese um kurz vor zehn Uhr abends über das von Zachary angegebene Lagerhaus flog. Die Unhörbarkeit des bereits unsichtbaren Besens trieb sie dazu, knapp über das Dach des zwanzig Meter hohen Betonquaders hinwegzufliegen. "Homenum Revelio!" Dachte sie. Der Menschenfinder wirkte. Doch er zeigte in einer Kugelzone von Hundertmetern Radius keine andere als ihre eigene menschliche Lebensform. Den Lebensquellanzeiger wollte sie nicht benutzen, weil magisch gebildete Wesen ihn als Suchzauber erkennen konnten. In diesem Lagerhaus war noch niemand.

Das änderte sich jedoch zehn Minuten später. Sie hatte sich gerade von ihrer beim LI arbeitenden Cousine Brenda die Uhrzeit mentiloquieren lassen. Daher konnte sie genau einordnen, wann die fünf verdunkelten Wagen auf den Vorplatz des Lagerhauses fuhren. Sie ging mit dem Besen tiefer und sah aus jedem Wagen fünf Männer in dunkler Kleidung mit harten Helmen aussteigen. Dann erkannte sie, daß auf den Wagen drehbare Maschinengewehre steckten. Damit wurden die Wagen zu kleinen Panzern, die es mit gewöhnlichen Polizeitruppen und Straßengangstern locker aufnehmen konnten. Jetzt konnte sie noch die dunkle Silhouette einer langestreckten Limousine erkennen, die sich leise brummend von der rückwärtigen Seite des Lagerhauses näherte. Vier Mann bezogen Stellung im Lagerhaus selbst. acht Mann postierten sich mit Schnellfeuergewehren rund um das Lagerhaus. Einer kletterte mit einer Vorrichtung zum Raketenabfeuern auf das Flachdach hinauf. Justine hoffte, daß der Harvey sie nicht nur für Augen, sondern auch für Infrarotkameras unsichtbar machte. Denn das war bei einigen Tarnverfahren noch die Schwachstelle, daß Wärmesichtbrillen die Tarnung durchdringen konnten und Muggel schon seit Jahrzehnten das unsichtbare Wellenband länger als die roten Lichtwellen abbilden konnten. diese Überlegung veranlaßte sie, die bisher getragene Durchblickbrille gegen eine Nachtsichtbrille zu tauschen, die bei Fehlen von Licht auch die Wärmeausstrahlung gleichwarmer Lebewesen sichtbar machte. Jetzt konnte sie ganz genau erkennen, daß die Posten um das Haus sichtlich erregt waren, weil trotz der Verspigelung ihrer Helme die Adern in ihren Gesichtern deutlich mehr Wärme ausstrahlten. Dann näherte sich ein Einzelner Wagen. Zumindest sah es so aus. Justine nahm Höhe und blickte nach unten. In zwei Meilen Entfernung konnte sie weitere Fahrzeuge erkennen, die ohne Licht anhielten. Dann sah sie, wie Zachary Marchand ausstieg. Sie zwang sich, sich nicht zu amüsieren. Der Kollege trug nur einen Strampelanzug, wie ihn Leute an Halloween trugen, wenn sie als Riesenbaby gehen wollten. Allerdings fehlten die Mütze und der Schnuller. Ob Zachary seinen Zauberstab und den Gasvorgreifer mitgenommen hatte?

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Das war schon ein merkwürdiges Gefühl, diese Bonbongroße Kapsel mit einem großen Schluck Wasser hinunterzuschlucken. Der Sender konnte einen vollen Tag lang alle auf seine Frequenzfolge abgestimmten Empfänger im Umkreis von zehn Meilen erreichen. Der Plan war, dann einzugreifen, wenn der Sender entweder nicht mehr zu orten war oder Zachary nach einem möglichen Standortwechsel innerhalb einer Stunde keine weitere Bewegung vom neuen Standort ausführte.

Er fühlte sich wirklich gedemütigt, als er nur im blauen Riesenstrampelanzug hinter dem Steuer des geliehenen Panzerwagens saß und sich dem Lagerhaus näherte. Zwar trug er unter dem blauen Teil, für das ein unbescholtener Mensch mit dem Leben bezahlt hatte, noch einen Schmalen Gürtel mit seinem Zauberstab. Das hatte er noch hinbekommen, als er kurz vor dem Schlucken des Senders noch einmal die Toilette besucht hatte. Wie wohl wäre ihm, wenn er den Stab jetzt ziehen und sich aus dem fahrenden Auto heraus direkt in das Lagerhaus versetzte? Doch das war zu riskant. Er wußte nicht, wie viele Wachposten das Lagerhaus mittlerweile umstellt hatten. Er wußte auch nicht, ob das LI das Haus mittlerweile gefunden hatte und ohne Freund und Feind aufzuscheuchen wen in Stellung bringen konnte. Er dachte wieder an diesen Alptraum von Nyx. Sollte er sich doch in irgendeiner Weise erfüllen?

Vor dem Tor des Lagerhauses erkannte er mehrere klobige Gestalten, die in kugelsicheren Westen steckten und ebensolche Helme trugen. Als der geliehene Panzerwagen hielt tippte Zach die Codezahlen für die Wegfahrsperre, damit auch mit seinem Schlüssel niemand den Wagen entführen konnte. Entführen, das wort war heute schon so oft gebraucht worden, dachte der Zauberer im Dienst des FBIs und LIs. Er zog seine Schuhe aus und ließ sie im Wagen. Er durfte ja nur diesen verflixten Strampelanzug tragen. Zumindest hatten sie ihn nicht genötigt, Seniorenwindeln zu tragen. Er öffnete die schwere Seitentür und schwang sich aus dem Fahrzeug. Er warf die Tür wieder zu. Mit einem endgültig klingenden Knall fiel sie ins Schloß. Zachary betätigte die Taste der Zentralverrigelung. Quick-quick machte die Alarmanlage, als sie sich scharfschaltete. Wer den Wagen jetzt aufbekam - was ziemlich schwer war, würde nicht nur wildes Sirenengeheul und Lichtgeflacker auslösen, sondern auch Tränengas und einen Peilsender. Nur noch auf den mit den Hosenbeinen verwobenen Füßlingen mit Gumminoppen ging er auf diese klobigen Typen zu.

"Zach Marchand, Hände Hoch!" Blökte einer der Wächter. Zachary gehorchte zunächst. Gleich zwei Mann rahmten ihn ein und trieben ihn mit entsicherten Maschinenpistolen ins Lagerhaus. Er versuchte die nervösen Banditen damit abzuwimmeln, daß sie ihn garantiert lebend abzuliefern hatten. Da trat ein anderer Mann aus der Dunkelheit des Lagerhauses.

"Willkommen in Station Blau, Mr. Marchand. Sehr freundlich, daß sie der Einladung gefolgt sind. Alles gute Zum Geburtstag!" Mit diesen Worten hielt ihm der andere eine Sprühdose unter die Nase. Zachary wollte die Arme herunterreißen, um die Dose fortzuschlagen. Doch da schlug die Welt um ihn einen Purzelbaum und wurde von totaler Finsternis und Stille verschlungen.

"Das Zeug ist echt sein Geld wert", lachte der Sprühdosenbenutzer. Zachary hatte durch den Helm die kleine Atemschutzvorrichtung vor Mund und Nase nicht sehen können.

"Durchsuchen und alles außer diesem lächerlichen Kostüm da hier ablegen!" Befahl der Mann mit der Sprühdose seinen Leuten. Sofort kamen drei weitere und zogen den bewußtlos gewordenen Marchand aus. Dabei sah einer den Gürtel. Doch er dachte es sei ein weißer Badehosenstreifen vom letzten Strandurlaub. Den nahm er nicht zur Kenntnis. Sie untersuchten seine Arme, Beine, Finger und Zehen auf angebrachte Gegenstände, ja auch, ob er an sichtbaren oder eher intimen Stellen diese neumodischen Anhängsel in der Haut hatte.

"Nichts außer einem weißen Fleck vom letzten Strandurlaub", grummelte der Handlanger des Sprühdosenbenutzers. Der besah sich den bewußtlosen und entblößten Körper. Da trat noch einer aus dem Lagerhaus heraus, ein Mann mit dunkler Sonnenbrille, zwischen deren Gläsern es silbrig glitzerte, als säßen dort kleine Lautsprecher und/oder Mikrofone. An den Bügelenden waren winzige Kugeln befestigt. Der Mann ging rasch, ohne sich groß umzusehen auf den bewußtlosen Körper zu.

"Hi, Fruitbat, was gehört, was wir nicht sehen?" Scherzte Spark Plug. Der Mann mit der seltsamen Brille drehte dem Kollegen den Kopf zu. Wie die hinter den Gläsern verborgenen Augen reagierten sah niemand.

"Wäre nicht das erste Mal, daß jemand eine hautfarbene Folie mit Sendevorrichtung benutzt. Schon mal was von RFID-Chips gehört?" Fragte der Brillenträger. Er ging behutsam auf den am Boden liegenden zu, als fürchte er, über ihn zu fallen, obwohl gerade viel Licht auf den Betäubten traf.

"Das ist ein nackter Fed, keine nackte Modepuppe, Fruitbat", meinte Kobold mit seiner Piepsstimme.

"Wenn ich das nicht wüßte müßte ich glauben, du seist ein kleines Mädchen, Kobold. Also laß mich mal ran, bevor der unter euren achso alles sehenden Augen noch eine ganze RFID-batterie mitnimmt."

"Du kuckst zu viele Science-Fiction-Filme", knurrte Spark Plug. "RFID-Chips können nur durch aktive Impulse aus nächster Nähe ausgelöst werden."

"Klar, weil der Herr Elektronikexperte meint, sich immer über alles auf dem laufenden zu halten. Gibt aber gerade beim Geheimdienst Modelle, die durch Satellitensignale nachstrahlen. Lies mal die neusten Memos unserer Freunde aus Virginia!"

"Die Fledermaus muß mal wieder ihre Minderwertigkeitskomplexe abreagieren, weil sie nie ganz vorn mitmarschieren kann", feixte der Kobold. Da bellte der Colonel:

"Kobold, Spark Plug, es reicht. Fruitbat gehört genauso zu uns wie du, langer und du, Zwerg. Und mit seinen scharfen Ohren und empfindlichen Fingern hat der uns schon häufig genug geholfen, wo ihr mit je zwei gesunden Augen nichts mitbekommen habt. Also laßt ihn ran! Fruitbat untersuch ihn!"

"Wasch dir danach aber bloß die Pfoten, wenn du dem an seine Klunker und hinten reinlangst!" Piepste Kobold verächtlich. Doch Fruitbat hörte nicht darauf. Der Kleine war doch nur sauer, weil der Colonel so große Stücke auf ihn hielt, obwohl er trotz zur vollständigen Erblindung führenden Augenentzündung in der Mannschaft bleiben konnte. Er beugte sich über den entkleideten Mann und befingerte ihn mit einer Mischung von Widerwillen und Entschlossenheit. Dann geriet jene weiße Stelle zwischen Bauchnabel und Genitalbereich unter seine Finger. Er strich über die Stelle, stutzte. Strich wieder darüber und machte sich dann an etwas an der rechten Hüfte zu schaffen. Es klimperte kurz, dann zog Fruitbat etwas hoch, was im Licht wie ein schemenhafter weißer Dunststreifen aussah. "Was seht ihr? Ich habe einen Gürtel gefunden", frohlockte Fruitbat und schwenkte, was immer die anderen sahen. Der Colonel begaffte das Objekt. Jetzt sah Marchands Haut einfarbig aus. Fruitbat schwenkte das davon gelöste Ding, daß weder der Colonel noch die anderen Kumpane mit gesunden Augen erkennen konnten. Da ließ Fruitbat es fallen. "Wenn da noch ein Sender drin war ist der jetzt wenigstens weg", sagte der Mann mit der dunklen Brille. Watkin und seine Leute starrten noch einmal auf den entblößten Körper des Gefangenen. Dann nickte Watkin.

""Na ja, ist er eben ab. Wenns echt so ein passiver Sender ist stört der uns nicht mehr. Er blickte auf das am boden liegende Etwas, das irgendwie belanglos aussah, wie eine hellere Stelle im Beton, mehr nicht.

"Laß den hier liegen. Ich kläre das mit den Jungs von unserer Versicherungsfirma, was das war. Wohl eine Art holographisches Ablenkungsding, um bei der Untersuchung nicht aufzufallen. Gut gemacht, Fruitbat!"

"Ich habe keinen Gürtel erkannt, eh. Aber jetzt ist der Typ echt blank wie 'ne frisch polierte Billardkugel", knurrte Kobold. Er mochte es nicht, wenn er als Idiot hingestellt wurde. Was er Fruitbat vorwarf, daß der wegen seiner Blindheit Minderwertigkeitskomplexe hatte, traf eher auf ihn und seine Kleinheit zu. Beide glichen ihre Nachteile aber durch überragende Kenntnisse und Fertigkeiten aus, wie jetzt auch.

"So, und jetzt noch mal auf aktive Sender prüfen!" Befahl der Colonel.

"Habe gerade ein Signal erwischt. Aber dann wieder verloren. Könnte ein Artefakt durch das Ausziehen dieses komischen Fetzens gewesen sein. Moment, habe jetzt eins auf einer anderen Frequenz. Halloo! Och joh, Frequenzwechselsender im Gigahertzbereich. Deckt eine gute Bandbreite ab. Ohne meinen Breitbandabtaster hätte ich den nicht erwischt. Okay, Kobold hau den EMP drauf!"

"Moment, wenn die den abhören kommen die vielleicht sofort, wenn wir den jetzt schon killen. Wo kann der denn sein, Spark Plug?" Blaffte der Anführer.

"Am Körper nicht, Kobold?"

"Neh, Spark Plug. "Höchstens im Körper. Aber verlang jetzt nicht, daß ich dem noch hinten reingreife oder dem durch den Schlund fingere, bis ich das Ding raushabe."

"Mußt du auch nicht. Sawbones, die Magensonde!" Befahl der Anführer. aus einer weiteren Ecke kam ein weiterer Mann, der einen weißen Arztkittel und eine entsprechende Tasche bei sich trug. Dieser entnahm er mehrere Gerätschaften. Dann sperrte er dem gefangenen Agenten den Mund auf, führte einen langen schlauch in dessen Speiseröhre ein und fingerte solange daran herum, bis er sagte: "Ja, da ist was, das da nicht hingehört. Rausziehen?"

"Noch mal so eine dämliche Frage und Baseball füttert dich mit seinen wuchtigsten Bällen", knurrte der Anführer sehr bedrohlich. Dann trat er einen Schritt zurück und drehte sich um. Er konnte Blut sehen, wo er gerade heute wieder welches vergossen hatte. Aber wenn wer den halben Mageninhalt loswurde rührte ihn das doch sehr unangenehm an. Als mit einem lauten Spritzen und schmatzen der Mann im Arztkittel einen kleinen runden Gegenstand aus Zacharys Leib entfernt hatte sagte der Anführer der Truppe nur: "Okay. Sender hier liegenlassen. Passagier Nummer fünf zu Station Rot. Da übergebe ich ihn dem Reiseleiter."

"Kein Problem, Colonel", sagten Spark Plug und Kobold, die bei der improvisierten Magenoperation ebenfalls erst wieder hingesehen hatten, als sie vorbei war. Der Mann im Arztkittel wischte Zachary noch den Schleim von Mund und Kinn und half Kobold, ihn in den blauen Strampelanzug zurückzupraktizieren.

"Was wird denn das, wenn es fertig ist?" Fragte Sawbones.

"Siehst du doch, eine besondere Geburtstagsparty. Mehr habe ich auch nicht von meinem Auftraggeber. Ich soll nur zusehen, daß der Passagier halb zwölf bei Station Rot ist. Ich fahre da jetzt hin. Wer lebensmüde ist folgt mir. Wer lieber seinen Sold versaufen möchte fährt zum Hauptbahnhof zurück."

"Was ist mit den beiden Passagieren von Station Grün?" Fragte Kobold.

"Ist heute ein Quiz oder was? Die bleiben da, bis der Auftraggeber mir mitteilt, ob sie den Paradiesexpress nehmen oder mit dem staatlichen Regionalexpress in ihren Ausgangsbahnhof zurückverfrachtet werden. Die haben keinen von uns gesehen oder gehört. Deshalb liegt's beim Auftraggeber, ob die noch weiterfahren oder nicht. Der nächste, der mich so was blödes fragt bekommt die Panzerknackerbrause zu spüren!" Keiner wagte dann noch einen Wiederspruch.

Der Colonel ließ sich dabei helfen, den Passagier zu seinem Kommandofahrzeug, einer gestreckten Limousine zu tragen. Der Wagen war gepanzert und besaß zudem einige Gemeinheiten wie Ölsprühanlage, Napalmwerfer und an beiden Seiten je vier Boden-boden-Raketen mit Wärmesuchkopf. Zwei nach vorne, zwei nach hinten ausgerichtet. Der Colonel bestieg den Wagen, prüfte, ob die gasdichte Panzerglastrennscheibe auch wirklich dicht war und setzte zurück. Ohne Scheinwerfer fuhr der Colonel mit seinem bewußtlosen Fahrgast in Richtung Hauptstraße zurück. Die anderen sollten in der Richtung zurückfahren, aus der sie gekommen waren.

"Colonel, Sender gibt jetzt hektische Signale von sich, verdammt!" Hörte der Colonel Spark Plugs Stimme im Kopfhörer.

"Absetzen, auf entgegenkommende Züge achten. Keine Schwarzfahrer zusteigen lassen!" Befahl der Colonel.

"Verstanden", gab Spark Plug durch. Dem Colonel war klar, was den Sender verändert hatte. Der war auf Körpertemperatur kalibriert. Sank die Umgebungstemperatur ab, war der Sender entweder aus seinem Wirt heraus oder der Wirtskörper tot und unter die Schwellentemperatur abgekühlt. Jedenfalls würden die Feds nun Sturm laufen. Er wußte nur, daß er den Fahrgast schnellstmöglich zur Endstation Rot, einem Hangar in der Nähe eines kleinen Flughafens bringen mußte. Er schaltete die Laserabstandswarnung ein. Alles, was näher als einen Kilometer hinter ihm herfuhr wurde nun angezeigt. Wehe denen, die meinten, ihm nachzufahren!

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"Spucktüte, Sir. Entweder ist der Sender aus ihm rausgeholt worden oder Agent Marchand tot", rief der für die Senderüberwachung zuständige Agent im Kommandobus Stanfords.

"Okay, Jungs, hin und nachsehen. Jeden Widerstand sofort ersticken. Erlaubnis zum Schußwaffengebrauch erteilt!" Befahl Stanford. Damit löste er in dieser Nacht eine Schlacht aus, von der im Rest der Welt niemand etwas mitbekam.

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Justine Brightgate sah, wie Zachary Marchand aus dem Lagerhaus getragen wurde. Sie versuchte, ihn anzumentiloquieren. Doch sie vernahm keinen geistigen Nachhall. Seine Wärmeausstrahlung verriet jedoch, daß er noch lebte.

"Marchand überwältigt und betäubt. Wird in langen Motorwagen verladen. Erbitte Anweisung für weiteres Vorgehen!" Mentiloquierte sie Brenda an, die gerade nach dem Versteck von Zacharys Eltern suchte und über eine Schallverpflanzungsdose mit Davidson verbunden war. Keine Zwei Sekunden später bekam sie die Anweisung: "Bleib an Marchand. Der braucht dich nötiger als diese anderen Typen da." Justine atmete auf. Genau diese Anweisung hatte sie erhofft. Sie hob die Ortsverharrung ihres Besens auf und folgte der Limousine, die immer schneller fuhr. Doch für den Harvey-Besen war dieser Wagen noch nicht zu schnell, auch wenn der Besen durch die Zusatzfähigkeiten nur noch zweihundert Stundenkilometer über vierhundert Kilometer durchhielt. So konnte Justine dem Wagen folgen.

"Quinns Vampiraugenklappe aufsetzen!" Bekam sie noch eine Anweisung Brendas unter ihren titianroten Schopf. Justine bestätigte, nahm eine Hand vom Besen und fischte aus einer ihrer vielen Taschen des Cocktailkleides eine Halskette mit einem silbernen Amulett mit vielen Runen darin. Das war Quinns ganz neuer Clou. "Wenn die Blutsauger jetzt ihre Aura verdecken können machen wir das jetzt auch gegen die", hatte sie die Worte des verspielten wie versessenen Ausrüstungsexperten noch im Ohr. Sie praktizierte das Amulett unter das Kleid, daß es auf Höhe ihres Solaplexus zu ruhen kam. Sie fühlte einen erst kalten und dann warmen Schauer und dann ein im Takt ihres eigenen Herzschlages pulsierendes Gefühl von dem Amulett her. Damit lud sich ihr Blut nun mit einer Kraft auf, die ihre Lebensaura für Vampire unsichtbar machte. Zwar konnten die auch sehr gut riechen. Doch sie würde sich bis zu ihrem unbedingten Einsatz in ausreichender Höhe halten.

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Die Nacht breitete ihren schwarzen Mantel mit den vielen bunten Lichtern darin über die magische Siedlung Misty Mountain mitten zwischen den hoch in den Himmel ragenden Riesen der Rockies. Wer um diese Zeit noch auf der Straße sein mußte war entweder Laternenanzünder, Müllbeseitiger, Katze, Ratte oder Maus. Was die Katzen anging, so gab es laut letzter Zählung doppelt so viele von ihnen wie Menschen. Von denen lebten hier 2000, davon 1940 Hexen und Zauberer von Säugling bis Greis und 60 Muggel, die allesamt Ehepartner der magischen Menschen hier waren.

In den Häusern glommen die ersten Lichter. Wer zur oberen Einkommensgruppe gehörte leistete sich die aufwendigen Kristallsphären und hatte auch einen Schwarm Feen im Garten herumwuseln, die in verschiedenen Farben leuchteten. Wer zur mittleren Einkommensgruppe gehörte hatte zumindest mehrere Öllampen und Kerzenleuchter. Die Leute, die von gerade zwei Galleonen die Woche auskommen mußten, konnten froh sein, sich einige Talgkerzen, ein paar minderwertige Holzscheite für den Kamin oder das einfache Zauberstablicht leisten zu können.

Die Fenders gehörten zur Kristallsphärenklasse von Misty Mountain. Deshalb standen die beiden Eheleute auch seit Jahren auf der Liste des Honestus-Powell-Krankenhauses für verwaiste Kinder, die nach Ruhepotentialmessungen durchaus eigene Zauberkräfte entfalten mochten. Evilyn war vierzig, Mike bereits stolze fünfzig Jahre alt. Die eigenen Kinder waren bereits seit Jahren aus dem Haus. Viele hatten sich in wärmere Gegenden wie das Dorf Viento del Sol oder in die Nähe der von Muggeln überquellenden Großstädte verirrt und hingen dort fest. Zumindest glaubten Evilyn und Mike nicht, daß ihre drei erwachsenen Kinder in der großen, hektischen Welt glücklicher sein konnten als im beschaulichen, von majestätischen Bergen umfriedeten Misty Mountain. Gut, der Name des Dorfes verriet ja schon, daß sie hier öfter mit Hochnebel zu tun hatten, wenn subtropische Luft aus dem Süden ihre Feuchtigkeit bei ihnen zurückließ, um über die steinernen Ungetüme zu steigen. Doch mit dem Nebel oder der klammen Kälte konnten sie hier doch gut leben. Die Talgkerzenklasse verdiente sich immer wieder Geld mit Pelztierjagdden.

"Evilyn, schläft die Kleine schon?" Fragte Mike, der in seinem privaten Studierzimmer über einen dicken Wälzer über magischen Bergbau im sechzehnten Jahrhundert saß. Sein Job, den er hochtrabend Profession nannte, war die Suche nach weiteren Erzlagerstätten, die noch nicht in die gierigen Krallen der mit lärmigen Maschinen hantierenden Muggel geraten waren.

"Sheila liegt im Bett und schläft. Hoffentlich hat sie nicht wieder Alpträume."

"Wird Zeit, daß sie uns erzählen kann, wovon sie träumt. In der einen Woche, in der sie auf der Welt war kann sie doch nichts so schlimmes erlebt haben", grummelte Mike Fender. Sein glattgekämmtes dunkles Haar glitzerte ein wenig im Licht der kleinen Kristallsphäre an der holzgetäfelten Decke.

"Womöglich hat sie das Geburtstrauma nicht überwunden, Mike. Du weißt doch, was uns Madam Greensporn erzählt hat, wie sie gefunden worden ist. Wissen wir, wer ihre Mutter ist?"

"Eine ehrlose Hexe, vielleicht eine nidere Wonnefee, die vor lauter Bettgehopse nicht an Verhütung denken wollte", grummelte Mike. Er verabscheute es, daß es auch bei den Zauberern Leute gab, die ihre Kinder abschoben, ohne zu verraten, warum sie sie nicht selbst aufziehen konnten. Evilyn dachte da anders. Sie empfand es als besser, wenn solche Kinder bei verantwortungsvollen Pflegeeltern aufwuchsen, als körperlich und geistig zu verwahrlosen. Nach dem Sturz des britischen Massenmörders hatten sie häufig diskutiert, wer dessen Eltern gewesen sein mochten, daß er einen solchen Haß auf seine Mitmenschen entwickeln konnte.

"Toby sollte langsam nach Hause kommen", stellte Mike mit einem Blick auf seine goldene Taschenuhr fest. Es war bereits eine halbe Stunde nach Sonnenuntergangszeit. Toby, der im nächsten Jahr nach Thorntails gehen würde, war das ältere Pflegekind der Fenders.

"Er kann sich unmöglich verlaufen", meinte Evilyn.

"Ja, aber dieser kleine Kletteraffe könnte von einem zu steilen Pfad abstürzen", knurrte Mike Fender. Er bewunderte Toby für seine Gewandtheit. Er machte sich jedoch sorgen, daß der Junge die Einschulung in Thorntails nicht mehr erleben mochte, wenn er jede Wand als große Herausforderung ansah, und in Misty Mountain gab es viele steile Wände zum daran Herumklettern.

"Soll ich ihm demnächst ein Findmich umlegen?" Fragte Evilyn.

"Besser ist das vielleicht", knurrte Mike. "Immerhin will ich noch die UTZ-Feier von ihm ausrichten, vielleicht noch mitbekommen, wie er sich ein Mädchen sucht, mit dem er zusammenzieht."

"Vielleicht wohnt dieses Mädchen schon bei uns", scherzte Evilyn. Mike grummelte. Doch er konnte nicht abstreiten, daß es Pflegefamilien gab, wo Pflegegeschwister im Erwachsenenalter zu Eheleuten geworden waren. Denn wer verschiedene Eltern hatte beging keinen Inzest wie diese Ministerhure Summerhill, die in aller Öffentlichkeit damit prahlte, Wishbones einzigen Sohn geboren zu haben, der zugleich ihr Großneffe war.

"Wenn der Bengel in fünf Minuten nicht unter unserem Dach ist reite ich aus und fang den mit meinem Lasso ein", schnaubte Mike Fender. Als habe er gerade ein Zauberwort gerufen krakehlte der Türklopfer in Form eines Rabenkopfes: "Bist spät, Frechdachs!" Dann polterte der bronzene Türklopfer gegen die dicke Eichenholztür, die zusetzlich mit Durolignumelixier imprägniert war, um Feuer und Stürmen zu trotzen. "Ey, du Rohling! Nicht so doll, mein Kopf!" Krächzte die magische Stimme des Türklopfers. Evilyn warf ihrem Mann einen verwegenen Blick zu und eilte über den Flur zur Haustür.

Toby, der laut Familienstandsgesetz den Namen seiner Pflegeeltern angenommen hatte, wirkte abgekämpft aber glücklich. Der Junge besaß flachsblondes Haar und lange kräftige Arme und Beine. An ihm konnte wirklich ein Kletteraffe verlorengegangen sein.

"Nabend, Mom, war noch am Drachenhorn, weil Bill und Stan meinten, daß ich das ohne Zauberseil und Kletterhandschuhe nicht packen könnte", keuchte Toby. Evilyn griff nach seinen Händen. "Erst die Hände waschen, du Felsenschreck. Dann kommst du noch was essen. Aber mach leise, Sheila schläft schon."

"Geht klar. Will nicht, daß die wieder die Schreierei anfängt, weil sie im Traum von wilden Geistern gejagt wird oder meint, irgendwo runterzufallen. Vielleicht hat deren echte Mom die vom fliegenden Besen aus auf die Welt geworfen."

"Die Unverschämtheiten werden nicht erträglicher, wenn du sie andauernd wiederholst", knurrte Evilyn. "Sieh zu, daß dein Dad dir noch was zum Abendessen erlaubt!"

"Wenn nicht strecke ich mich auch gleich ins Heiabettchen, Mom", scherzte Toby.

"Ja, aber aus dem Gutenachtliedalter bist du raus", sagte Evilyn.

"Bin ich auch froh drum", grummelte Toby und eilte so leise er konnte zum Waschraum. Misty Mountain zapfte Wasser aus einer unterirdischen Wasserader. Andere Zauberdörfer besaßen Meerwasserentsalzungsvorrichtungen oder mußten mit Wasserkonzentrationszaubern hantieren.

Nachdem Toby das für ihn aufbewahrte Abendessen wie ein ausgehungerter Wolf in sich hineingeschlungen hatte ging er in das für ihn eingerichtete Zimmer. Er schloß die Tür leise von innen.

Bis hier bin ich gut durchgekommen, dachte der Junge. Dann räumte er seinen Rucksack aus. Zuerst nahm er eine kleine Feldflasche heraus und trank eine sirupartige Flüssigkeit daraus. Dann holte er einige Phiolen und ein goldenes Messer mit beruntem Horngriff hervor. Dieses Werkzeug in der Hand eines Zehnjährigen hätte Altersgenossen vor neid ergrünen lassen. Doch es war nicht einfach nur ein Messer. Doch außer dem blonden Jungen wußte das vielleicht nur noch eine, der er erst dann begegnen wollte, wenn das gesteckte Ziel erreicht war.

"Putz den Zahn, halt dich ran!" Plärrte die blaue Zahnbürste, die Toby von seinen Pflegeeltern geschenkt bekommen hatte. Lästiges Kleinkindspielzeug, dachte er dabei. Wer jedoch seine Gedanken zu hören vermochte, hätte sich sehr über die mentalen Schwingungen gewundert, die weder zu einem zehnjährigen Kind, noch zu einem Jungen gehörten. "Bist noch nicht furtig, putz weiter hurtig!" Trrällerte die blaue Zahnbürste, als Toby nach nur einer Minute das schaumige Teil unter dem Wasserhahn abspülen wollte.

"In zwei Stunden bin ich dich und das hier alles wieder los", grummelte Toby so leise er konnte. Die Zahnbürste trällerte weiter ihre Antreibesätze, bis Toby sich noch einmal damit durch den Mund fuhrwerkte. Das würde wieder weh tun, wenn die Zähne sich wieder umgruppierten, dachte er. Endlich gab dieses lästige Putzinstrument Ruhe. Er zog sich nun in sein Zimmer zurück und lauschte auf die Bewegungen im Haus.

Eine Stunde verging. Die beiden älteren Herrschaften hatten selbst den Weg ins Bett gefunden. Wo sie gerne die abgelegten Kinder anderer Leute betüddelten, ja im Fall der Pflegemutter sogar mit eigener Milch versorgten, brauchten sie ihr großes Bett nur zum darin herumschnarchen.

Kurz vor Mitternacht holte der Junge das Messer und die Auffangphiolen unter dem Schrank hervor und steckte sich zudem noch einen Zauberstab ein, von dem die Fenders nichts mitbekommen sollten.

Auf den Fluren war es dunkel. Die Leuchtkristalle waren abgedunkelt worden. Behutsam tastete sich der Junge wie ein kleiner Schatten an der Wand lang bis zur Tür neben dem Elternschlafzimmer. Er verzog sein Gesicht zu einem verächtlichen Lächeln, als er zweistimmiges Schnarchen aus dem großen Schlafzimmer hörte. Dann öffnete er die Tür zum Kleinkinderzimmer. Eins mit der Dunkelheit schlich er in das Schlafzimmer hinein. Er hörte leises Atmen aus dem kleinen Bett rechts von sich. "Nigerilumos", dachte er konzentriert. Die Spitze des ins Haus geschmuggelten Zauberstabes verdunkelte sich noch mehr. Dafür fiel ein großer, heller Lichtfleck auf das kleine Bett. Der Zauberstabausrichtung folgend wanderte der Lichtfleck über die sich sachte hebende und senkende Bettdecke bis zum Hals des kleinen Mädchens. Dieser erschien unter dem magischen Licht nachtschwarz. Doch das war ein Nebeneffekt des magischen Lichtes. Es kehrte Helligkeit und Farben um, schien jedoch nirgends wider. Und wer auf den Zauberstab blickte, meinte, in unendliche Schwärze hineinzublicken. Die ideale Wegbeleuchtung im Dunkeln, wenn man nicht auf Farben oder andere bei Normallicht wichtige Gegebenheiten achten mußte.

Der Junge zog das goldene Messer hervor und beugte sich über das Bett. Er fragte sich, ob er das kleine Mädchen betäuben sollte. Doch dann fiel ihm ein, daß dadurch ihr Blut magisch verändert werden mochte. Er brauchte es unberührt von Zauberkraft. Er verwünschte seine kleinen Hände, die das doch schwere Messer nicht so geschickt führen konnten wie die Hände einer erwachsenen Frau es konnten. Dennoch schaffte er es, die Klingenspitze über der linken Wange anzusetzen. Sicher würde sie gleich aufwachen. Besser war es, wenn er einen Klangkerker errichtete ... da glühte die Messerklinge auf. Gleichzeitig schrillte im Elternzimmer nebenan ein Alarmzauber los, der wie eine auf den Schwanz getretene Katze klang. "Verflucht noch eins", knurrte Toby Fender. Da flog auch schon die Tür auf, und Mike Fender streckte den hell leuchtenden Zauberstab vor. "'tschuldigung, Mike Fender, aber dein kleines Mädchen hat was, was ich unbedingt brauche", zischte Toby mit sichtlicher Verachtung in der Stimme. Dann dachte er "Maneto."

"Mike, was ist bei der Kleinen!" Rief Evilyn. Toby grinste wölfisch. Er brauchte nur zu warten, bis die ältere Hausherrin auch noch auf der Matte stand. Da kam sie auch schon, traute sich aber nicht weiter als bis zur Türöffnung. Als sie sah, daß Toby einen Zauberstab in der einen und ein hellglänzendes Messer in der anderen Hand hatte öffnete sie den Mund zum Schrei. Ein weiterer Zauber würgte ihr das ab.

Der Junge mit dem Zauberstab wußte, daß ein Katzenjammerzauber weithin zu hören war. Da er jedoch nicht wußte, wie dieser auf übliche Weise zum schweigen gebracht werden konnte, mußte er es anders anstellen. Er rannte an den beiden bewegungslos gebannten Pflegeeltern vorbei hinein in deren Schlafzimmer. Das wilde Geheul tat in den Ohren weh. Aber gleich würde es zumindest leiser werden, wenn nicht vollends ersticken. Der Junge schloß die Tür und auch die beiden Fenster. Dann vollführte er zunächst eine waagerechte Kreisbewegung seines Zauberstabes im Uhrzeigersinn. Dabei dachte der angebliche Pflegling: "Totus Sonitus devoratus!" Dann vollführte er eine über dem eigenen Kopf ansetzende Senkrechte Kreisbewegung gegen den Uhrzeigersinn, wobei er "Hic Vacuum Sonitorum!" dachte. Der Katzenjammer wurde zu einem heiseren Hüsteln, um dann unvermittelt zu schweigen. Der Junge mit dem Zauberstab grinste. Auch wenn er nicht einmal mehr seinen eigenen Herzschlag hören konnte fühlte er sich als Sieger über den Alarmzauber. Dieser Raum war nun mit einem offenbar stärkeren Zauber durchwirkt, der jedes Geräusch, ob natürlich oder magisch erzeugt, verschluckte und damit totale Lautlosigkeit herstellte. Der wie Toby aussehende Eindringling nickte dem Bett der Pflegeeltern zu und öffnete die Tür. Er lauschte, ob der Katzenjammer wieder loslegte. Doch es geschah nichts. Da sah er einen der Bettpfosten vibrieren. Womöglich war das der Träger des Katzenjammerzaubers, der nun versuchte, gegen den heraufbeschworenen Sonovacuus-Zauber anzukämpfen. Der Junge mit dem Zauberstab überlegte, ob er den Bettpfosten nicht zerstören konnte. Doch wenn darin ein Klangzauber verankert war, mochte dies in einem lauten Knall ausarten. Sicher, der Sonovacuus-Zauber schluckte die meisten Geräusche. Doch hatte der Eindringling gelernt, daß etwas, das alleine lauter sein konnte als alle in den erfüllten Raum passenden Menschen den Zauber gewaltsam beenden konnte. Wie das dann ausfiel wußte der Junge mit Zauberstab und Goldmesser nicht und legte es auch nicht darauf an, sich und das Haus in die Luft zu sprengen oder innerhalb einer Sekunde in freiwerdender Glut zu verbrennen. Daher verzichtete er lieber darauf, den nun schnell aber mit einer gleichbleibenden Stärke vibrierenden Bettpfosten magisch anzugreifen. Er lief aus dem geräuschlos bezauberten Raum und schloß die Tür.

Wieder zurück im Schlafzimmer Sheilas mußte er sich erst an das angstvolle Geschrei der Kleinen gewöhnen. Dann fesselte und knebelte er das fast ein Jahr alte Mädchen mit "Incarcerus!" Denn ein Bewegungsbann oder ein Schockzauber mochten das vereiteln, was der Junge vorhatte.

Der Junge legte den Zauberstab auf den kleinen Schrank neben der Wiege und holte zwei Phiolen hervor. Er bettete den schweren Kopf des angstvoll gegen den Knebel anbrüllenden Mädchens auf ein großes, weißes Tuch. Dann zog er den Korken aus der ersten Phiole und setzte einen silbernen Trichter mit handgroßer oberen Öffnung ein. Innen waren in zwei Spiralen Runen eingeschrieben, die für Aufbewahrung, Blut und Leben standen. Dann warf er sich über das in seinen Fesseln zappelnde Mädchen und schnitt ihm mit zwei schrägen Schnitten eine x-förmige Wunde in die linke Wange. Der Eindringling ließ das Messer fallen und griff wieder zu dem Zauberstab. Die Wunde glühte rötlich auf. "Preservo Sanguinem liquidum!" Murmelte die Gestalt, die wie der Pflegling der Fenders aussah. "Preservo Sanguinem liquidum!" sang dieser nun jede fünfte Sekunde, während wie glühende Kohle glimmende Tropfen aus der Wunde fielen und mit leisem Ping Ping Ping in der Phiole landeten. Immer wieder sang der falsche Toby seine magische Formel, die das austretende Blut für einen späteren Zauber vorbereitete und damit ungerinnbar machte. Als die erste Phiole voll war zog der falsche Toby den kleinen silbernen Trichter von der Öffnung und stopfte den Korken in das Fläschchen. weiteres, im dunkeln glühendes Blut sickerte aus der x-förmigen Wunde. Doch es fiel auf das weiße Tuch und wurde davon eingesaugt. Dabei vibrierte das Tuch jedoch. Das durch die mit der verfluchten Klinge beigebrachten Wunde austretende Blut war bereits mit einem Quantum Magie angereichert. Dadurch wirkte es auf das unbeschmutzbare, alle flüssigen Verunreinigungen aufsaugende Tuch ein. Da war der falsche Toby jedoch auch schon mit der zweiten Phiole zur Stelle. Wieder sang er mit auf das verletzte Mädchen deutendem Zauberstab "Preservo Sanguinem liquidum!"

Endlich war die zweite Phiole voll. "Injuriclausa!" Stieß Toby aus. Die Wunde schloß sich rückstandslosMit "Tergeo" wischte er den Rest des Blutes vom Hals des Mädchens. . Auf die Decke und das Nachthemd war nichts getropft, obwohl die kleine immer noch um sich schlug. "Obleviate!" Rief der Junge. Da wurde die Kleine ruhig. Danach wandte er sich den beiden Pflegeeltern zu und setzte zum Gedächtniszauber an. "Die Kleine hat nur schlecht geträumt", dachte er ihnen zu. Dabei verrutschte ihm der Zauberstab, als er Evilyns Kopf damit anzielte. Das machte ihm jedoch nichts. Er belegte auch Mike mit einem Gedächtniszauber, daß der Katzenjammer deshalb losgegangen sei, weil die Kleine ganz viel Angst gehabt hatte. Dann sprach er einen später einwirkenden Loslösungszauber. Anschließend löste er die Fesseln und den Knebel von Sheila in reine Luft auf. Danach eilte er mit seiner Beute und dem goldenen Messer in das andere Kinderzimmer. Er holte noch etwas aus seinem Rucksack, einen Stoffdrachen mit blauem Fell, den er auf das Bett legte. Dann zog er seinen Schlafanzug aus und legte ihn ebenfalls aufs Bett. Sheila Fender erwachte aus der Obleviate-Trance und schrie laut. Toby verdrängte den Gedanken daran, daß das früher mal Hyneria Swordgrinder gewesen war, die da jetzt schrie. Er beeilte sich. Der Drache auf dem Bett lag erst regungslos da. Doch als Toby den Zauberstab erneut über den Stoffkörper führte, wuchs der Drache zu einem nackten Jungen an, der Tobys Doppelgänger zu sein schien. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt. "Obleviate!" Murmelte der vor dem Bett stehende Toby ein viertes Mal an diesem Abend. Von unten hörte er Evilyns Stimme: "Die kleine hat nur schlecht geträumt. Die Kleine hat nur schlecht geträumt." Irgendwie gefiel dem vor dem Bett stehenden Toby nicht, daß Mrs. Fender diesen Satz nun ständig wiederholte, während Mike Fender fragte: "Was ist das hier? Wer sind Sie? Wer bin ich?"

"Die kleine hat nur schlecht geträumt!" Antwortete Mrs. Fender darauf. Der vor dem Bett stehende Toby starrte auf den auf dem Bett liegenden Toby. Mit einer schnellen Bewegungsabfolge zog er ihm den Schlafanzug über. Da erwachte der Originaltoby und schrie los wie ein gerade geborenes Baby.

"Also wirklich", scholl plötzlich eine fremde Frauenstimme zwischen den Ohren des zaubernden Doppelgängers. "Du bist es nicht annähernd wert, in einer Reihe mit Daianira, Donata und Hyneria genannt zu werden, Lavinia Thornbrook. Der vor dem Bett stehende Toby zuckte zusammen. Er kannte die Stimme dieser Frau nicht. Die klang schön tief und verrucht. Aber er hatte sie bisher nie mit den Ohren gehört. Da klapperte es. Die Fensterläden gingen auf. Mit Entsetzen im Blick sah er, wie die Fensterriegel von unsichtbarer Hand aufgeschoben wurden, und das Fenster aufging, als habe ein Unsichtbarer es geöffnet. Dann sah er die silbergraue Spitze eines Zauberstabes in der schlanken Hand einer Hexe. Er wollte gerade was unternehmen, als er auf dem Fleck stehenblieb. In dem Moment ging die Tür auf: "Hallo, wer ist hier noch?" Fragte eine unsicher klingende Männerstimme. Ein roter Schockblitz fegte an dem vor dem Bett stehenden Jungen vorbei und warf den Hausherren um. Dann schwang sich eine grazile, sehr attraktive Frau durch das geöffnete Fenster herein. Sie trug ein hautenges Kostüm, das ihre Reize eher ent- als verhüllte. Ihre Haut schimmerte hell.

"Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht gleich hier mit dem tödlichen Fluch niedermähen und im Körper eines unausgegorenen Knabens den Geiern in der Wüste zum Fraß überlassen soll, Lavinia! Brauchst nur zu denken. Nein, nicht okklumentieren! Silencio! Crucio!" Der vor dem Bett bewegungsgebannte Junge wurde in die Luft geschleudert und hing in einer Art unsichtbarer Trageschlinge. Er zuckte und wand sich. Trotz der bewegungslos gezauberten Glieder fühlte er dennoch sämtliche Schmerzen aller Höllen. Er schrie. Doch der Schweigezauber schluckte jede seiner Lautäußerungen. Endlich senkte die durch das Fenster gekletterte ihren Zauberstab.

"Du bist die schwarze Spinne, Anthelias Erbin", dachte der Junge vor dem Bett, während der auf dem Bett immer noch wie ein neugeborenes Baby schrie. Von unten erklangen Schritte, und eine Frauenstimme wiederholte wie ein indisches Mantra: "Die Kleine hat nur schlecht geträumt. Die Kleine hat nur schlecht geträumt."

Früher war es mir total egal, wer mit wem Schindluder treibt, dachte die schwarze Hexe, die auch als schwarze Spinne herumlaufen konnte. Was gingen sie diese Leute hier an, ob sie nun einen gehörigen Schaden im Kopf hatten oder nicht? Die Antwort war einfach wie unbestreitbar: Wenn man sie so fand würde man mißtrauisch. Und das konnte sie, die schwarze Spinne, zum einen nicht gebrauchen. Zum anderen wollte sie sich an die Absprache mit Cartridge halten, keinem unschuldigen Mitglied der Zaubererwelt ein Leid zuzufügen. Untätigkeit hieße in diesem Fall, ein angerichtetes Leid fortbestehen zu lassen.

"Die Kleine hat nur schlecht geträumt", hörte sie Evilyn Fenders Stimme vor der Zimmertür. Das Geschrei des um seine erlebten Jahre gebrachten Jungen lockte die Hausherrin. Anthelia-Naaneavargia mußte sich konzentrieren, nicht von dem in Evilyns Kopf rotierenden Gedankenkarussell mitgerissen zu werden. Im Moment hatte sie nur diesen einen Gedanken, daß ihre Kleine, die unten schlief, einen schlechten Traum durchlebt hatte. An etwas anderes konnte sie nicht denken. Die Schreie hier oben drangen nur zu ihr durch, weil sie zu der in ihrem Hirn ablaufenden Gedankenschleife paßten, mehr nicht.

"Du hast dir was geholt, daß ich gut gebrauchen kann und weißt was, was mich auch sehr interessiert. Deine frühere Herrin schuldet mir das Leben von zehn Schwestern. Ich habe die, die meinten, heute in meinem Namen Chaos und Terror verbreiten zu wollen festgesetzt. Deine Mitarbeit entscheidet über ihr Leben."

"Du wirst mich töten müssen, du Mißgeburt", dachte Lavinia in Toby Fenders Körper.

"Hat dir meine Überredungskunst nicht gereicht?" Fragte Anthelia. Da ging die Tür auf, und Mrs. Fender trat ein. Sie stolperte mehr als sie ging auf das Bett des echten Toby zu. "Die Kleine hat nur schlecht geträumt", leierte sie. Anthelia verpaßte ihr einen Schockzauber. Das mentale Elend konnte sie im Moment nicht länger ertragen.

Anthelia zielte mit dem Zauberstab auf den Rucksack des vor dem Bett liegenden Jungen. Die beiden Blutphiolen flogen heraus. "Accio Sardonias Opferklinge!" Murmelte Anthelia. Doch das goldene Messer kam nicht zu ihr hin. Damit hätte sie rechnen müssen, daß Sardonia diese Klinge gegen telekinetische Zauber geschützt hatte, wo sie ja selbst eine geborene Telekinetin war. So blieb ihr nur übrig, selbst in die Tasche zu greifen und den Griff des Messers zu umschließen. Es wand sich in ihrer Hand, versuchte, sich freizuwinden um sie zu schneiden. Da sagte sie: "Ich bin Anthelia, Nichte der großen Sardonia. Ihr Erbe ist mein." Das Messer beruhigte sich. Offenbar hatte es auch die andere Existenz in Anthelias Körper verspürt. Wenn es frisches Blut getrunken hatte war es wie ein scheues, zugleich aber auch lauerndes Raubtier, das größere Gegner floh, während es kleinere Gegner ohne Vorwarnung ansprang. "Hätte nicht gedacht, dich je wieder in meinen Händen halten zu dürfen", säuselte Anthelia mit der nach oben gereckten Klinge. "Und nun zu dir, Lavinia Thornbrook. Du verrätst mir schon was ich wissen will. Wozu brauchtest du das Blut Sheila Fenders?"

"Such dir die Antwort selbst!" gedankenknurrte Lavinia. Gleich war die Wirkungsdauer der doppelten Vielsaft-Trank-Dosis um. Dann konnte sie zumindest als erwachsene Hexe sterben.

"Beth McGuire ist gerade bei eurer obersten Sprecherin, um ihr deinen Verrat zu melden, daß du mit Pabblenut alle schweigsamen Schwestern ausrotten wolltest. Dein Plan, sie heimlich umzubringen und dann ihre Stelle zu übernehmen ist bereits gescheitert, bevor du ihn auch nur angedacht hast." Was Lavinia darauf dachte ließ selbst die dunkles kennende und könnende erstarren. Anthelia sah in den aufgewühlten Erinnerungen Alexandra Pabblenut zu einem von grünem Feuer umkleideten Knochengerüst werden.

"Die oder die alte Sevenrock oder du, das ist doch jetzt einerlei", scholl Anthelia ein verzweifelter Gedanke Lavinias entgegen.

"Lege es darauf an, Lavinia! Du hast nur eine Chance, dein jämmerliches Leben behalten zu dürfen. Verrate mir, was du mit Sheila Fenders Blut wolltest!"

"Wenn Beth mich verraten haben soll weißt du das doch schon."

"Wenn du meinst, daß die Kleine da unten deine drastisch zurückverjüngte Mentorin war und deshalb ihr Blut wie von ihr selbst gegeben wirkt, weiß ich das. Aber zu welchem Schloß paßt ihr Blut als Schlüssel?"

"Du wirst Hynerias Wissen und Erbe niemals erlangen, du schleimige ..." Das letzte Wort, ein äußerst rüder Kraftausdruck, verging unter Anthelias Cruciatus-Fluch in einer Wolke aus Schmerzempfindungen.

"Ich hätte echt nicht üble Lust, dich hier und jetzt umzubringen. Aber ich vertraue auf die Lebenserhaltende Kreativität deiner Mitschwestern. Vielleicht pflanzt dich Roberta als hübschen Rosenstrauch in ihren Garten. Vielleicht wirst du aber auch eine ergiebige Milchkuh und darfst jedes Jahr hungrigen Mündern frisches Kalbfleisch und Fässer weise Milch darbringen. Vielleicht darfst aber auch du demnächst von fremden Händen in den Schlaf gewiegt werden. Ich biete dir an, dein jämmerliches Leben fortzuführen, als meine treue Mitschwester. Ansonsten wird eben das Gericht deiner Schwesternschaft über dich befinden. Oder meinst du, daß die grüne Knochenfrau dich holen soll, die mal diese einfältige Närrin Alexandra Pabblenut war? Los, denk daran, wie das passiert ist und hoffe darauf, daß ich dir helfen kann!" Lavinia dachte daran, was an dem Nachmittag passiert war. Anthelia konnte mit Legilimens sogar die hörbaren Erinnerungen der Gefangenen ergründen. Sie zuckte zusammen, als sie die Zauberwörter hörte, die Pabblenut verwendet hatte. Das war der Pakt der Götter Easar und Morrigan, den keltischen Göttern von Feuer, Leben und Tod. Er konnte nur in Anwesenheit von magischem Feuer gewirkt werden und verwandelte das Fleisch und Blut des Anwenders in gleichfarbige Flammen, die halfen, jeden, der dem Anwender geneigt oder verbunden war, in seine neue Daseinsform zu verwandeln und die, die ihm nicht gewogen waren, in diesem Feuer zu verbrennen und dessen Wissen in sich aufzusaugen. Allerdings hatte dieser Zauber einige Nebenwirkungen, die sich kein Magiekundiger mit gesundem Verstand aufladen wollte. Pabblenut mußte wahnsinnig geworden sein.

"Du wirst niemals in den Besitz von Hynerias Erbe kommen", dachte Lavinia. Dann fühlte sie, wie die Vielsaft-Verwandlung abklang. Anthelia sah ihr zu, wie aus dem zehnjährigen Jungen eine mittelalte Hexe wurde und lächelte. "Als kleiner Junge sahst du süßer aus", mußte sie ihrer Gefangenen mit auf den Weg geben. Dann stutzte sie. In Lavinias Geist erscholl eine triumphierende Stimme. "Da bist du also. Harre aus und erwarte uns, deine Schwestern!" Anthelia fühlte unmittelbar, wie Lavinias Angst vor ihr zu einer anderen, größeren Angst wurde. Offenbar hatte jemand sie gefunden. Es war nicht Roberta Sevenrock, erkannte Anthelia und hörte mit ihrem Gedankenspürsinn auch, daß Lavinia Alexandra Pabblenuts Stimme erkannt hatte. "In deinem richtigen Körper wirst du zu unserer Schwester, einer Tochter Easars und Morrigans", vernahm Anthelia die mentale Verheißung derer, die sich am Nachmittag dem altkeltischen Ritual von Feuer, Leben und Tod unterzogen hatte. "Stupor!" Rief Anthelia mit auf Lavinia deutendem Zauberstab. Der rote Schockblitz traf Lavinia am Brustkorb. Die gerade wieder in ihren Geist hineinwirkende Gedankenstimme verklang unmittelbar, als Lavinia bewußtlos wurde.

"Das will ich erleben, daß ein vom Wahnsinn befallenes Gerippe dich holt, wie es ungehorsamen Kindern angedroht wird", schnaubte Anthelia. Ihr Plan, die Fenders im Glauben zu lassen, es sei nichts vorgefallen geriet ins Wanken. Sie konzentrierte sich auf eine Mitschwester, die sie in weiser Voraussicht auf einem Harvey-Besen der älteren Bauart über Misty Mountains postiert hatte. "Schwester Merilla, siehst du etwas im Dorf?"

"Im Moment nicht, höchste Schwester. Hast du Lavinia gefunden?"

"Habe ich. Aber sie wird nicht nur von mir oder Roberta Sevenrock gesucht. Achte auf etwas grün leuchtendes!"

"Oh, wo du es mir gerade mitteilst, höchste Schwester, da ist was aufgeglüht, mehrere grüne Lichtpunkte auf dem Dorfplatz."

Anthelia schalt sich selbst ein altaxarrooisches Büffelkalb, daß sie nicht sofort daran gedacht hatte, Lavinia zu betäuben, als sie das mit Pabblenuts grausamer Verwandlung erfahren hatte. Wenn Lavinia zum Schein geschworen hatte, ihr zu folgen, stand sie, wenn Pabblenut eine magische Vereidigung ausgeführt hatte, mit dieser in Verbindung. Offenbar hatte sie nur die Tarnung als Toby Fender davor bewahrt, gleich von diesen grünen Skeletten heimgesucht und zu einer der ihren gemacht zu werden. Doch die feurigen Knochenfrauen waren jetzt im Dorf. Sie würden Lavinia suchen. Auch wenn es kein geistiges Echo von ihr gab, solange sie besinnungslos blieb mochte Pabblenut und ihre Knochenbrut nach ihr suchen und vielleicht ihre Lebenskraftaura wittern, auch wenn diese durch den Schockzauber ebenfalls geschwächt worden war. Was wußte Anthelia-Naaneavargia über das Ritual von Easar und Morrigan? Der Auslöser war der einzige, der nach der Wandlung bei freiem Willen blieb. Alle, die ihm freiwillig ihre Existenz opferten wußten und konnten zwar noch alles, was sie als lebende Menschen vollbringen konnten. Doch jeder umgewandelte war wie bei den Wertigern und Vampiren dem vollkommen unterworfen, der ihn umgewandelt hatte. Es würde also nicht viel bringen, Pabblenut alleine zu vernichten, wie es bei Valery Saunders geklappt hatte. Außerdem war die umgewandelte wie ein Gespenst, eben nur mit materieller Anhaftung. Zu allem Verdruß waren die Skelette gegen die meisten direkten Angriffe immun. Dafür mußten sie jedoch wie Vampire fließende Gewässer meiden und konnten keine direkten Zauber auf andere ausführen und nur im Verband von mindestens dreien apparieren und disapparieren. Die größte Schwäche für diese Wesen war jedoch die Berührung mit magisch unbehandeltem Gold, weil Gold das Metall der Sonne und damit der Elementarkraft Feuer verbunden war. Denn pures Gold ohne magische Vorbehandlung entzog diesen Wesen die Kraft, bis die sie zusammenhaltenden Flammen erstarben und die Skelette in Einzelknochen auseinanderfielen. Anthelia ärgerte sich, daß sie das Schwert Yanxothars nicht mitgenommen hatte. Wie diese dem Feuer verhafteten Geisterwesen auf die das Feuer bezwingende Klinge reagierten wäre sicher sehr wichtig.

"Höchste Schwester, zwanzig grün leuchtende Skelette marschieren auf ein Haus zu. Sie bilden einen Kreis!" Gedankenwarnte Merilla ihre höchste Schwester.

"Bleib ja hundert Körperlängen über der höchsten Erhebung, Schwester Merilla!" Schickte Anthelia eine sehr ernste Anweisung in den Geist ihrer Kundschafterin.

"Die sehen nicht sonderlich gefährlich aus. Ich habe schon wandelnde Skelette gesehen, Halloweenattraktionen, mit Scheinleben und magischem Zusammenhalt erfüllt."

"Das grüne Leuchten ist ihre Gefährlichkeit. Es ist magisch aufgeladenes Feuer, das Menschen verbrennen oder zu gleichartigen Gerippen machen kann, ähnlich wie der dunkle Keim der Wergestaltigen und der Vampire", schickte Anthelia zurück.

"Oh, verstehe", erhielt sie die Antwort ihrer über Misty Mountain kreisenden Bundesschwester.

"Dann werde ich dich wohl mit mir nehmen müssen", wandte sich Anthelia an die ohnmächtige Lavinia. Diese lag in ihrer natürlichsten Form am Boden und atmete langsam und flach. "Höchste Schwester, die Gerippe fangen an, das Haus zu umzingeln", warnte Merilla ihre Anführerin für Ohren unhörbar.

"Ich komme raus", schickte Anthelia zurück. Dann holte sie Lavinias Rucksack mit den Blutphiolen zu sich hin und setzte ihn auf. Danach vollführte sie eine schnelle Verwandlungszauberei. Aus Lavinia wurde ein hölzernes Stopfei, das Anthelia mit ihrer telekinetischen Kraft in den Rucksack fliegen ließ. In dem Moment erscholl vor dem Haus ein lautes Wutgeheul und ein wildes Klappern, als würden hohle Holzstäbe gegeneinanderschlagen. Anthelia blickte zum Fenster hinaus und sa einen mannshohen Ring aus grün flackerndem Licht. Sie sah die sich an den Fingerknochen aneinander festhaltenden Knochengerüste. Sie erkannte auch ohne es bereits vorher gehört zu haben, daß es früher alles Frauen aus Fleisch und Blut gewesen waren. Sie fühlte einen auf sie einwirkenden Druck. Gleichsam verspürte sie einen inneren Drang, aus dem Fenster zu steigen und sich den grünen Gerippen zu nähern. Das war das Vermächtnis des Seelenmedaillons, wußte Anthelia. Damit konnte sie dunkle Magie körperlich erspüren. Doch ihr Verstand verdrängte den Wunsch, sich diesen grünen Knochenfrauen auszuliefern. Allerdings wußte sie, daß deren Verbund nun jede rein magische Flucht vereitelten. Der geschlossene Kreis vereitelte Apparitionen und blockierte sogar den magischen Flug. Damit war ihr Besen genauso wertlos wie der Selbstflugzauber des alten Reiches.

"Mach sie wieder richtig, wer immer du bist", erklang ein Chor aus zwanzig Totenschädeln. Wenn Anthelia die sie einschließende Magie nicht fühlen und nicht über die bösartige Natur dieser Feuerskelette gewußt hätte hätte sie sicher über die aufmarschierte Gruseltruppe gelacht. So fühlte sie Bedrängnis aber auch Verachtung für diese Kreaturen. Sie empfing jedoch keinen von den Skeletten ausgehenden Gedanken. Bei Geisterwesen ging das nicht, wußte sie aus langjähriger Erfahrung.

"Ich denke nicht daran, sie einem Haufen glimmender Knochen zu überlassen", rief Anthelia entschlossen aus dem offenen Fenster hinaus.

"Dann werden wir dich vernichten", rief eine der Knochenfrauen. Anthelia vermutete, daß dies früher Alexandra Pabblenut gewesen war. Ihr kam der Gedanke, eine Theorie zu testen. Sie zielte mit dem Zauberstab hinaus und rief "Avada Kedavra!" Blendendhell sirrte der grüne Blitz des Todesfluches zum Fenster hinaus, überwand die annähernd zwanzig Schritte bis zur grünen Knochenfrau und traf sie am Schädel. Mit lautem Pong zerstob die ansonsten auf tote Gegenstände vernichtende und auf lebende tödlich wirkende Zauberkraft in einem Wirbel grüner Funken. Ein lautes, aus zwanzig Schädeln hohl heraufschallendes Lachen war die Antwort. Die mit dem Fluch attackierte rief überlegen klingend: "Dein Zaubern ist sinnlos. Der Todesfluch kann meinem neuen Körper nichts anhaben. Denn er ist weder lebendig noch tot. Du suchst also die gewaltsame Entscheidung. So sei es."

"Ihr wollt unschuldige Menschen töten? Widerspricht das nicht euren werten. Oder habt ihr die mit eurem Fleisch und Blut abgelegt?" Fragte Anthelia unerschüttert klingend.

"Du lädst die Schuld an ihrem Tod auf dich, wenn du dich hinter ihnen versteckst. Du bist diese Anthelia. Dann werden wir heute das erste große Ziel erreichen, daß die Liga rechtschaffender Hexen sich gesetzt hat. Und sei es, daß unschuldige Menschen sterben, weil du sie zwischen uns und dich zerrst, so werden es die letzten Opfer deiner Untaten sein."

"Ich kann mir vorstellen, daß du jetzt sehr glücklich bist, Alexandra Pabblenut. In diesem neuen Körper wirst du niemals das Verlangen nach fleischlicher Liebe fühlen und niemals wird ein Mann darauf kommen, deinen knöchernen Leib zu umarmen, deine blanken Kieferknochen zu küssen oder andere herrliche Dinge mit dir zu tun, die nur eine Frau aus Fleisch und Blut erleben kann. Du hältst mich für verdorben und grausam. Doch du stehst jetzt weit unter mir. Ich habe aus Lavinias Geist geschöpft, wie du so wurdest und wie die so wurden, die du mitgebracht hast. Sei gewiß, daß ich das Ritual kenne und auch weiß, welche Tücken es hat. Euer Sperrkreis um dieses Haus wird mich nicht aufhalten. Und Lavinia nehme ich mit mir."

"Du kannst nicht entfliehen!" Riefen alle den Knochenring bildenden Skelettfrauen. Anthelia lauschte. Sie hörte etwas im Haus klappern. Also hatten sich während der kurzen Unterhaltung einige von Pabblenuts Getreuen heimlich ins Haus geschlichen. Womöglich hatten drei der weiblichen Skelette innerhalb des Sperrrings bereitgestanden, um den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Anthelia verzog ihr Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Sie wandte sich der Tür zu und ließ diese telekinetisch zuschlagen. Das machte die ins Haus eingedrungenen Knochenfrauen aufmerksam. Denn wie richtige Gespenster ohne Fleisch und Blut hören, sehen, denken und sprechen konnten vermochten auch die an ihre umgewandelten Knochen gebundenen Liga-Hexen ohne Augen, Ohren und Gehirn ihre Umwelt wahrzunehmen und mit körperloser Stimme zu sprechen.

Anthelia hörte das hektische Knochenklappern auf der Treppe. Es mochten nur noch Sekunden sein, bis die Knochenfrauen bei ihr waren. Doch Anthelia lächelte überlegen, als sie mit dem Zauberstab eine die Tür umfassende Spiralbewegung von innen nach außen vollführte und dabei altdruidische Bannwörter gegen feindliche Geisterwesen murmelte. Zwar konnte man die Skelette nicht mit körperschädigenden Flüchen beeinträchtigen. Aber es waren im Grunde genommen nur Schreckgespenster. Da klapperte etwas gegen die Tür und glitt daran entlang. Grüne und goldene Funken stoben aus dem Türblatt. Dann knisterte es laut und wild aus dem Türknauf, und hinter der verschlossenen Tür erklang ein erschrockener Aufschrei und das Klappern wie aufeinander geworfene Holzstäbe. Anthelia vollführte die Bannspirale noch einmal inbrünstig und dann noch einmal. Damit verschaffte sie sich Zeit. Ihr Zauber würde zwei weiteren Versuchen standhalten. Dann mochte er mangels magischer Zeichen auf der Tür verpuffen. Doch die Zeit reichte ihr.

"Du Kanallie!" Brüllte die Knochenfrau Pabblenut von draußen. Anthelia brachte das zum schmunzeln. Sie stand offenbar mit ihren Abkömmlingen in sympathetischer Beziehung, ähnlich wie Vampire es mit ihren Zöglingen hielten. Offenbar ging der da draußen jetzt auch auf, daß sie nicht so unbesiegbar waren wie sie dachten. Anthelia riß sich zusammen. Triumphieren wollte und konnte sie erst, wenn sie dem magischen Sperrkreis entkommen war.

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Da vorne. Was ist das denn!" Hörte Stanford einen Mitarbeiter von der Eingreiftruppe. Dann hörte er aus den Kopfhörern das unverkennbare Tackern auftreffender Geschosse. "Angriff von Geländewagen mit MG. Verwenden Panzerbrechende Munition! Ausfall des Motors."

"Gegenschlag!" Befahl Stanford. Mit etwas dergleichen hatte er gerechnet. Keine halbe Minute später hörte er, was passierte.

die Wagen des Eingreiftrupps trafen eine halbe Meile vor dem Lagerhaus auf vier flüchtende Geländewagen, die unerlaubterweise mit schwenkbaren Maschinengewehren bestückt waren. Und damit nahmen die Anderen die herannahende FBI-Gruppe nun unter Feuer. Zwar waren die Wagen der Bundesagenten auch gepanzert. Doch gegen großkalibrige, panzerbrechende Geschosse hielten die Panzerungen nicht lange durch. Doch es reichte, um genug Schützen mit Schnellfeuergewehren herausspringen zu lassen, um die Anderen unter Feuer zu nehmen. Wild scheppernd und krachend prallten die Geschosse der FBI-Truppe auf die feuernden Panzerwagen. Dann klappte eine kleine Luke auf. Eine Panzerfaust schob sich heraus. Noch ehe die Bundesagenten die neue Bedrohung richtig erfaßt hatten flog das hochexplosive Geschoß auch schon auf den vordersten Wagen zu. Eine überlaute Detonation hallte aus der Ferne wider. Der Wagen wurde in einen Feuerball gehüllt. Als dieser zusammenfiel war die eigentlich bruchsichere Frontscheibe weg, und die dahinter sitzenden Agenten von Splittern durchsiebt.

"In der Liga spielt ihr. Wir auch!" Knurrte McDowell, der in einem der hinteren Wagen fuhr. Er drückte einen Knopf, und unter dem Kühlergrill stach der Suchkopf einer Rakete hervor. McDowell zielte mit einem kleinen Leuchtschirm auf den Panzerfaustwagen und drückte den roten Knopf. Die Rakete zischte los. Sie folgte der Wärmespur der abgefeuerten Panzerfaust. Sie wirkte wie ein Komet mit feurigem Schweif. Krachend zerschlug sie die dicke Heckscheibe des Gegners und detonierte mit blendendhellem Feuerball. Die Botschaft kam an. Ein Fahrzeug beschleunigte so unvermittelt, als würde es selbst von Raketen vorangetrieben. Die beiden noch verbleibenden Fahrzeuge nahmen den Raketenbeschuß als Kampfansage an und fuhren Flammenwerfer aus, die gleißendhelle Lohen auf die auf sie zufahrenden FBI-Fahrzeuge fauchten.

"Wo sind wir denn hier, am Golf?!" Entrüstete sich einer der Fahrer. McDowell hörte jedoch die Todesangst aus der Stimme. Er blieb kühl und nahm den zweiten Wagen aufs Korn. Keine Sekunde später zischte die nächste Rakete los. Eine Sekunde danach gab es den feuerspeienden Wagen nicht mehr. Der nun noch im Kampf verbliebene hatte derweil den Wagen rechts von McDowells Einsatzwagen erwischt. Die gleißenden Feuerbahnen hüllten den Wagen ein und brachten ihn zum glühen. Der Fahrer schaffte es gerade so, sein Fahrzeug aus dem Wirkungsbereich der Flammenwerfer zu bugsieren. Da platzten die Vorderreifen unter der enormen Hitze weg.

"Okay, einen habe ich noch", knurrte McDowell, als aus der Dunkelheit ein eiförmiges Ding heranflog. Der FBI-Mann warf sich in Deckung. Klirrend prallte das metallene Todesei von seinem Wagen ab. Eine Zehhntelsekunde später zerbarst die Handgranate. Ihre Splitter prallten als Querschläger von der Panzerung des Einsatzwagens ab. Der Dritte Wagen gewann jedoch genug abstand, um wie der erste Wagen zu flüchten.

"Nix da!" Brüllte McDowell. Da rief ihm sein Beifahrer zu: "McDowell, wir sind die guten. Wir machen Gefangene."

"Die widersetzen sich der Festnahme, Spalding", blaffte McDowell. Er war gerade in einer Stimmung, die seinem Beifahrer Angst machte. Warum hatte Stanford ihm einen Wagen mit Kurzstreckenraketen gegeben. Die durften nur bei übergroßem Widerstand eingesetzt werden. Der dritte Wagen flüchtete. Seine Flammenwerfer spien nicht mehr. Dann tackerten großkalibrige Sprenggeschosse gegen die Frontscheibe. Mit häßlichem Krachen und Reißen zersplitterte sie. Ein Sprenggeschoß schlug durch und traf Spalding am Kopf. McDowell flog zur Seite. Er brauchte nicht hinzusehen, als er den kurzen Knall hörte. Sein Kollege war erledigt. So einen Treffer überlebte niemand. Doch McDowell war nun im Kampfrausch, im heiligen Zorn, wie sie es in seiner Jugend genannt hatten, als sie das Kerker-und-Drachen-Spiel gespielt hatten. In diesem, noch aus seiner Zeit am persischen Golf ins Gehirn gebrannten Verhaltensweisen, sprang er in die Dunkelheit, Da kam die nächste Handgranate. Doch er war zu schnell, um sich von ihr treffen zu lassen. Er flankte nach links weg. Das tödliche Wurfgeschoß sauste an ihm vorbei, passierte den gerade sturmreif geschossenen Wagen und zerplatzte mit lautem Knall gut zwanzig Meter dahinter. Die Schutzweste fing die herumfliegenden Splitter ab. Dann war McDowell dran. Seine Magnum mit Stahlmantelgeschossen sprang ihm förmlich in die Hand. Er sah den huschenden Schatten. Der Granatenwerfer wollte wohl die Stellung wechseln. Nichts da! McDowell sah ein Blinken und riß die Hand hoch. Mit lautem Knall spie die Magnum einen mörderischen Abschiedsgruß aus. McDowell sah im Widerschein des Mündungsblitzes, wie sein Geschoß zielgenau durch das verspiegelte Visier eines Helmes brach und punktgenau zwischen zwei weit aufgerissenen Augen einschlug.

Weitere Geschosse flogen durch die Nacht. Der bereits kampfunfähige Wagen bewahrte McDowell vor den tödlichen Treffern. Der FBI-Mann warf sich auf den Boden und robbte wie ein Weltmeister zum Straßengraben, wo er sich hineinfallen ließ. Er wußte, daß er nur dann noch überlebte, wenn er seine Gegner beschoß, sobald sie sich zeigten. Ein Wagen stoppte neben McDowell. Dieser riß seine Waffe hoch. Da rief ihn eine Stimme an: "Ey, McDowell, wenn du mir das Hirn rausbläst mußt du den Kollegen verklickern, warum ich die Runde im Club nicht mehr ausgeben kann." McDowell zitterte. Adrenalin und andere Streßhormone hatten ihn zu einer Kampfmaschine gemacht, die nur noch nach dem Prinzip töten oder sterben funktionierte. Es dauerte knapp zehn Sekunden, bis er seine Magnum sinken ließ und keuchend aus dem Graben hochkam.

"Die haben drei von unseren Wagen und zehn Kollegen gekillt", stieß er aus.

"Ja, und du hast zwei von den Wagen und sechs von denen hinterhergeschickt, Mac. Komm, Basra ist vorbei. Du bist nicht mehr im Krieg."

"Oh mann, die haben echt Panzerfäuste und Handgranaten und Flammenwerfer ..."

"Und Panzerwagen, Sprengmunition und vielleicht noch Raketenwerfer", vollendete der Kollege und half McDowell in den Wagen.

"Die sind abgehauen, als du denen zwei Wagen unter den Ärschen weggeputzt hast, Mac. Dabei wollten wir die eigentlich festnageln und nicht einsargen. Ich fürchte, Wilberforce und Stanford werden dich dienstunfähig schreiben und ins Veteranenheim schicken."

"Wußte nicht, daß das immer noch so tief in mir drinsteckt. Hätte mir doch einen anderen Job suchen sollen", keuchte McDowell, dem jetzt erst aufging, was er da gerade getan hatte. Er hatte gezielt Menschen umgebracht. Sicher, die hatten auf ihn geschossen und den Wagen von Kollegen weggepustet. Er hatte sich wehren müssen. Aber er war nicht zum FBI gegangen, weil er Menschen umbringen wollte, sondern weil er Menschen vor Saukerlen wie denen beschützen wollte. Er hatte versagt, obwohl er dem Feind ... nein, den anderen zwei Kampfwagen abgejagt hatte.

"Okay, Stanford hat einen Armeehubschrauber geschickt, der die Wagen beobachten soll. Falls die sogar Stingers haben kommt so'n Apache-Hubschrauber besser gegen die an. Wir fahren besser zurück nach Baton Rouge oder gleich nach New Orleans."

"Und Zach?" Fragte McDowell.

"O stimmt! Müssen wir noch klären", erwiderte sein Kollege und gab über Funk die Verlustliste beider Seiten durch. Als sie dann das Lagerhaus erreichten fanden sie nur den kleinen Sender, den Zachary geschluckt hatte. Den Kollegen selbst fanden sie nicht.

"Die haben dem den Sender rausgeholt. Irgendwer von denen muß einen Breitbandfunkabtaster benutzt haben, der selbst die Frequenzwechsel mitbekommen hat. Mittel und Gegenmittel."

"Dann ist Zach erledigt?" Fragte McDowell. Er wollte nicht glauben, daß der blutige Einsatz für nichts und wieder nichts gewesen sein sollte.

"Neh, ist er nicht", knurrte FBI-Agent Jefferson. "Stanfords Leute haben dem noch eine zweite Wanze in diesen Strampelanzug eingebaut. Die sendet Jede Minute ein 2-Nanosekunden-Signal bestimmter Impulsform, wenn der erste Sender außer Reichweite ist. Doppelte Absicherung hält eben immer noch am besten."

"Na Gott sei Dank!" Seufzte McDowell Erleichtert.

"Na ob Gott da was mit zu tun hat weiß ich nicht. Es geht auf jeden Fall höllisch zu", erwiderte Jefferson. Dem konnte McDowell nicht widersprechen.

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Anthelia hörte, wie vor der verschlossenen und bezauberten Tür die grünen Skelette ihre Knochen neusortierten. Sicher war die, die die Tür angefaßt hatte in sich zusammengebrochen und mußte nun wieder auf die Fußknochen kommen. Vielleicht blieb der Führerin des Spinnenordens nur eine Minute. Doch das, so dachte sie, würde ihr reichen. Sie blickte nachdenklich zum Fenster hinaus. Das Problem der grünen Knochenfrauen war, daß sie einander festhalten mußten, um die Sperre zu erhalten. "Eine Pattsituation, nicht wahr", sprach Anthelia ruhig zu den wartenden Knochenfrauen. "Ich kann nicht raus. Aber ihr könnt auch nicht zu mir rein." Dabei blickte sie scheinbar nur auf die grüne Knochenbarriere achtend umher und sah die Nachbarhäuser, deren Fenster sich gerade auftaten, weil jemand nach der vereinbarten Nachtruhestunde laut sprach. Sie prüfte mit dem Blick, wie groß der Abstand zwischen den Häusern war. Man hatte hier in Misty Mountain großzügige Grundstücke verteilt. Aber so groß wie die Anwesen in Anthelias Geburtsort Millemerveilles oder Naaneavargias Geburtsstadt Aldorkathan waren sie dann doch nicht. Anthelia peilte die Entfernung zwischen Hauswand und Bäumen. Ja, das ging, dachte sie. Da sprühten neuerliche Funken aus der Tür, ohne etwas anzurichten. Anthelia beschloß, die Fenders noch gedächtniszumodifizieren, damit sie nicht als geistige Wracks herumlaufen mußten. Kaltblütig wie ihre zweite Natur vollzog sie erst mit "Restaurato Memoriam!" einen Wiederherstellungszauber. Dann prägte sie den Fenders und Toby ein, die grünenSkelette hätten versucht in das Haus einzudringen. Dann belegte sie jeden noch mit einem verzögerten Aufweckzauber. Eigentlich mußte sie noch Sheila bezaubern, damit sie nicht womöglich auf das Entwicklungsniveau einer Neugeborenen zurückfiel. Doch vor der Tür lauerten sicher die ins Haus gedrungenen Skelette.

"Du hast keine Chance, uns zu entwischen. Und dein verflixter Geisterbann wird uns nicht lange aufhalten. Denn wir sind stärker als jedes körperlose Spukgeschöpf!" Rief Alexandra Pabblenut. Draußen vor dem Haus apparierten Zauberer von der Dorfwache und griffen die Skelette an. Doch die Zauber verpufften pfeifend, krachend, fauchend und schwirrend. Anthelia kümmerte sich nicht darum. Sie legte den Rucksack ab und machte ihn unsichtbar. Das ging. Also konnte sie auf Körper innerhalb des Sperrkreises auch noch Zauber legen. Sie belegte sich selbst mit einem Unsichtbarkeitszauber. Dann konzentrierte sie sich auf ihre innere Tiergestalt. Sie dachte an die Bedrohung von draußen und fühlte, wie sie innerhalb von sekunden zu einer zwei Meter großen Spinne wurde. Die Frage war nur, ob die vorher aufgebrachte Unsichtbarkeit die Transformation überstand. Prüfen konnte sie es nicht. Sie klemmte sich nur den Rucksack zwischen die rechte Beißschere und lief auf das offene Fenster zu. Der Ring der feurig flackernden grünen Knochenfrauen stand noch so wie vorher. Anthelia empfing über ihre nun veränderten Sinnesorgane die Geräusche von der Tür. Der dritte Anlauf der skelettierten Eindringlinge trieb sie an, durch das Fenster zu klettern. War sie jetzt wieder sichtbar? Sie schaffte es, mit einem ihrer Augen auf ihr rechtes Vorderstbein zu blicken. Doch sie sah es nicht. Sie turnte rein von ihren Instinkten gelenkt am Haus nach oben und erreichte das Dach. Dort verharrte sie und peilte erneut die Entfernung zwischen Haus und Baumwipfel. Der nächste Baum stand genau vor drei sich aneinander festhaltenden Skeletten. Wenn sie einen Fangfaden auswerfen konnte, der den Baumwipfel erreichte konnte sie sich daran hinüberhangeln. Sie prüfte den Wind. Im Moment wehte er genau in die Richtung, die sie brauchte. Es war ihr einen Moment so, als wenn Naaneavargias Bruder Ailanorar ihr helfen wollte. Sie sprühte die Spinnseide aus. Diese wurde zwar sichtbar, als sie die Wirkungszone der Unsichtbarkeit verließ. Das tat aber nichts zur Sache. Anthelia-Naaneavargia schaffte es, den Fangfaden im Baumwipfel anzuheften und bei Erstarrung sogar richtig zu verwickeln. Dann hangelte sie sich in Windeseile vom Dach zu dem Baum hinüber.

Die Zauberer von Misty Mountain hielten nun mit Mondlichthämmern und Wasserstrahlen auf die grünen Skelette, die jedoch eisern zusammenhielten. Die silbernen Fächer der Mondlichthämmer fluteten nur um sie und durch sie wie unmagisches Licht. Die Wasserstrahlen zerkochten laut zischend zu weißen Dampfwolken. Einige probierten auch den Todesfluch aus. Doch dabei erzielten sie denselben Effekt wie vorhin Anthelia. Dann sah eine der Knochenfrauen den fingerdicken weißen Faden, der sich vom Hausdach zu einem der Baumwipfel spannte. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wußte die gesamte Riege der Knöchernen bescheid. Ein lautes Wutgeschrei aus zwanzig grün flammenden Totenschädeln ließ die Sicherheitszauberer zusammenschrecken.

"Fangt sie ein!" Brüllte eine Frauenstimme voller Zorn. Die Skelette ließen einander los und liefen laut klappernd in die Richtung, in der der Faden verlief. Die drei Knochenfrauen an dem Baum, auf dem die gerade unsichtbare Spinne hockte streckten sich in die Höhe. Schädel und Schulterknochen lösten sich mit den Arm- und Handknochen von der Wirbelsäule und glitten nach oben. Anthelia-Naaneavargia erkannte, daß die von grünem Feuer bekleideten Skelette noch mehr in Petto hatten als nur wie lebendig herumzulaufen. Jedenfalls schienen die drei Gerippe immer höher zu wachsen. Die Spinne peilte den nächsten Baum an. Weitere Knochenfrauen stürmten an den Baum, um den Kreis um diesen Baum zu schließen. Da sprang Anthelia von einem weiteren Haltefaden gesichert in den nächsten Baum hinüber und von da aus zum nächsten Hausdach. Die Gerippe bekamen davon erst etwas mit, als die am Baum emporgereckten den zwanzig Meter hohen Wipfel erreichten und dann wie an einem straff gespannten Gummiband wieder zusammenschnurrten. Bevor die zwanzig Skelettfrauen das Nachbarhaus umzingeln konnten hatte Anthelia ihre menschliche Erscheinungsform angenommen. Damit sprang ihr auch der Zauberstab in die Hand zurück. Sie dachte die Flugformel aus ihrer Heimat und stieß sich ab. Keinen Moment später vollendeten die Skelette den magischen Sperrring wieder. Doch sie kamen zu spät. Anthelia sauste bereits mehrere Dutzend Meter über dem Boden dahin. Sie fühlte, daß die Unsichtbarkeit und der Flugzauber ihr zusetzten. Sie hob im Flug die Unsichtbarkeit auf und steuerte nun mit dem reinen Flugzauber den Dorfplatz an, auf dem gerade mehrere Dutzend Zauberer zusammenkamen. Das Nachtapparierverbot galt im Moment nicht mehr. Denn die grünen Skelette bedrohten alle. Sicher mochten die drei, die ins Fender-Haus eingedrungen waren noch dort sein. anthelia fragte sich, ob Alexandra Pabblenut ihren Plan aufgeben würde, Lavinia zu fangen, wenn sie erfuhr, daß Anthelia mit ihr entkommen war und ob sie die Sicherheitszauberer umbringen würde.

"Du kannst auch ohne Besen fliegen?" Fragte Merilla ihre Anführerin, als diese auf den vereinbarten Ausguckposten zukam. "Nur im Notfall, Schwester Merilla", keuchte Anthelia. Merilla hob die Unsichtbarkeit ihres Besens auf und ließ ihre Anführerin hinter ihr aufsitzen, ohne landen zu müssen. Dann stellte sie die Unsichtbarkeit des Besens wieder her. Dafür flimmerte nun ein Schemen, der an einen Rucksack erinnerte. Die beiden Unsichtbarkeitszauber überlagerten sich. Anthelia erkannte das an den aus dem Nichts aufgetauchten Trageriemen. Sie nahm den von ihr gewirkten Zauber von dem Rucksack und schnallte ihn auf ihren Rücken. Dabei mußte Merilla langsam fliegen, um ihre Socia nicht fallen zu lassen. Als Anthelia sich nun mit ihren Armen an Merillas Taille festklammerte beschleunigte diese den Besen, während unter ihnnen ein lauter Knall ertönte. Anthelia konnte noch die Gedanken eines Sicherheitszauberers erhaschen, daß die grünen Gerippe als großer Kreis disappariert waren.

"Was ist das mit diesen grünen Skeletten? Die haben ja alles weggesteckt, was es an Kampfzaubern so gibt", staunte Merilla.

"Ein altdruidisches, eher der sogenannten schwarzen Magie zugeordnetes Ritual, das nur in der Nähe magischer Feuerquellen funktioniert, deren Flammen für lebendes Gewebe erst einmal unschädlich sind", sagte Anthelia. "Aber die werte Dame, die sich diesem Ritual unterzogen hat hat in ihrem Erfolgswahn vergessen, was sie damit alles aufgibt, vor allem, daß sie keine auf die Ferne wirksamen Zauberkräfte mehr hat und trotz ihres Skelettdaseins mit Geisterbannzaubern zurückgedrängt werden kann, diese Närrin. Wenn ich von Lavinia weiß, was ich von ihr wissen will werde ich sie dieser selbsternannten Philanthropin Roberta Sevenrock übergeben. Hyneria hält zehn unserer Schwestern gefangen, und ich will wissen wo und wie.

"Wo hast du Lavinia denn. Hast du sie am Körper oder gar im Körper?" Fragte Merilla.

"In meinen Leib lasse ich nur Dinge und Wesen ein, die ihm Kraft und/oder große Freude bereiten, Schwester Merilla. Lavinia gehört nicht dazu. Ich habe sie direkt als ich aus dem Wirkungsbereich der Skelette heraus war mit einem Teleportationszauber in unser Hauptquartier geschickt. Dort wird sie niemand finden, schon gar keine Knochenfrauen.

"Das ist sehr geschickt, höchste Schwester", lobte Merilla Anthelia. Zwar stimmte es nicht, was Anthelia behauptet hatte. Doch sie wollte Merilla nicht verraten, wo sie Lavinia bei sich trug.

"Wir landen da auf dem Gipfel. Dann kehrst du mit dem Besen in dein Haus zurück. Am ersten Oktober treffen wir uns alle zu einer Versammlung der nordamerikanischen Bundesschwestern", bestimmte Anthelia. Merilla nickte und brachte den Besen auf einem der nächsten nicht so hohen Berggipfel herunter. Anthelia verschwand nach kurzem Abschiedswort im Nichts. Merilla überlegte, ob sie ihr ins Hauptquartier folgen sollte. Doch Anthelia konnte ohne Besen fliegen. Sicher hatte sie die Villa auch gegen gerade ungebetene Gäste abgesichert. So blieb ihr nur, mit dem Besen in ihr kleines bescheidenes Haus zurückzukehren.

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Zachary erwachte. Er fühlte Kopfschmerzen. Doch das Brummen kam auch von außen. Er fühlte ein langes Polster unter sich. Er hörte einen gut gedämpften Motor orgeln und roch Wildleder und Innenverkleidung eines noblen Cadillacs. Nur ein Blinzeln reichte, um zu erkennen, wo er war. Er lag auf der Rückbank einer Limousine mit Trennscheibe zwischen Fahrer und Fond. Er ließ die Augen geschlossen und atmete durch. Er hätte doch den Gasvorgreifer an den Strampelanzug stecken sollen. In seinem Mund war ein bitterer Geschmack, als habe er sich erbrochen. Mochte es sein, daß die Kerle ihm den Sender herausgezogen hatten. Dann würde jetzt der zweite Sender, den Stanfords Kabelkünstler unbemerkbar mit dem Strampelanzug verwoben hatten funken. Hoffentlich taugte der was, sonst war er um Mitternacht entweder tot oder bekam lange Zähne.

"Justine Brightgate, bin kurzfristig betäubt worden und jetzt in einem langen Auto. Kann nicht sagen wo, weil ich Fahrer nicht zeigen will, daß ich wach bin", mentiloquierte er.

"Hast du den Stab noch bei dir?" Wurde er gefragt. Zachary rutschte ein paar Grad nach links und schaffte es, die eine Seite auf das Sitzpolster zu drücken. Er stutzte. Dann atmete er langsam und sorgsam ein. Er fühlte nur die leichte Spannung des angezogenen Stramplers. Eigentlich mußte er die Schließe und das Futteral fühlen. Doch da war nichts! Fast hätte ihn diese Feststellung zusammenfahren lassen. Dann dachte er daran, daß der Stab sich zu tief in den weichen Rücksitz grub, um den nötigen Andruck zu vermitteln. Noch einmal blinzelte er und sah, daß der Fahrer sich auf eine Reihe vor ihm fahrender Lastwagen konzentrieren mußte. Ein Sekundenbruchteil reichte, um seine linke Hand an die Stelle gleiten zu lassen, wo der Gürtel mit dem Futteral sitzen sollte. Doch er fühlte nur den auf bloßer Haut liegenden Stoff des übergroßen Strampelanzuges. Gerade so eben schaffte er es, den heftigen Schrecken zu vermeiden. Die höchst beängstigende Erkenntnis ließ die restliche Benommenheit aus dem Körper weichen. Wie auch immer die es geschafft hatten, Seine nichtmagischen Gegner hatten ihm den Zauberstab abgenommen!

"Ich habe den Stab nicht mehr bei mir", schaffte er es, seine Einsatzpartnerin anzumentiloquieren. "Wie immer die den Ich-seh-nicht-Recht-Zauber überwunden haben."

"Alarmirend. Gebe das weiter. Besteht eine andere Möglichkeit, dich zu wehren?" Kam Justines Gedankenfrage zurück. Zachary hätte fast verärgert losgeschnaubt. Dann schickte er zurück: "Die haben Waffen. Konnte leider keinen Drachenpanzer anziehen." Er wunderte sich, wie deutlich er den geistigen Nachhall hörte.

"Kannst du den Fahrer erkennen?" Wurde Zach ganz ruhig gefragt, als sei der Verlust seines Zauberstabes kein ernstes Problem. Das ärgerte ihn. Denn ohne den Stab und ohne gute Schutzausrüstung war er mit Feuerwaffen ausgestatteten Gegnern unterlegen. Höchstens wenn er sich ohne Zauberstab in eine Disapparition retten konnte. Aber das gelang längst nicht jedem Zauberer.

"Falls ich mich kurz aufsetzen kann kann ich dir auch mitteilen, wo wir gerade langfahren", schickte er an Justine zurück. Doch als er mit einem weiteren Blinzeln sah, wer da am Steuer saß wußte er, daß er besser keine zu rasche Bewegung machte. Denn den dunklen Scheitel vor der Trennscheibe kannte er. Jetzt paßte alles zusammen. Wer da den Wagen chauffierte war Aldo Watkin, genannt der Colonel. Zwar hatte er es in der US-Army nie zum Oberst gebracht, weil er gerade als Captain mit seiner Dienststelle in Streit geraten war. Doch er hatte gute Freunde in fragwürdigen Firmen, die ihm einen Job im Ausland angeboten hatten. Er hatte dann unter der Identität als Söldner in Südamerika gegen linksgerichtete Rebellen gekämpft, deren Guerrillataktik imitiert und einige Köpfe der Terrororganisation Sendero Luminoso sang- und klanglos aus der Welt verschwinden lassen. Seitdem hielt die große Weltfirma aus Langley ihre schützende Hand über ihn und die warme Decke über seine Operationen. Der kam an Militärgüter ran. Und jetzt war der Kerl in den Staaten tätig? Wenn das so war würde da demnächst sicher ein klärendes Gespräch zwischen dem Generaldirektor des FBI und dem Chef der CIA anstehen. Doch das nur, wenn herauskam, daß Watkin diese Sauerei mit Zacharys Eltern durchgezogen hatte. Doch der Colonel war dafür berüchtigt, nur die am Leben zu lassen, die unter seiner Fuchtel standen. Die ihn erkannten und nicht für ihn arbeiteten lebten nicht lange. Benson, der arme, zum Verrat gezwungene Majodomus der Marchands, war sicher das aktuelle Beispiel für diese Vorgehensweise.

"Brandgefährlicher Mann fährt wagen. Kenne den. Tötet ohne Gnade, wenn er darf. Hat meine Eltern wohl nur wegen Anweisung lebend entführt."

"Liegst du oben oder unten im Auto?"

"Auf dem Sitz", informierte Zach seine Kollegin. Wieso hatte er mit der eine so gute Verbindung?

"Okay, dann bleib liegen! Tu weiter so, als schläfst du!"

"Was du nicht denkst", schickte Zachary zurück.

Als der Wagen endlich nach einer gewissen Fahrzeit hielt gedankenfragte er nach der uhrzeit. "Viertel nach elf abends", erhielt er die Antwort. Da klappte die vordertür auf, und die Hinterrtür ging auf. Zachary hielt die Luft an.

"Ach, der Colonel, pünktlich. Laden Sie den Passagier aus und nehmen Sie mich dann mit. Hier aus dem Hangar kommt er nicht mehr raus, wenn mein Auftraggeber es nicht will."

"Ihr Auftraggeber?" Hörte Zachary die Stimme des Colonels.

"Ja glauben Sie, sie bekämen mit, für wen Sie arbeiten. Ob der, von dem ich Geld bekommen habe unser wahrer Auftraggeber ist weiß ich nicht. Aber wir sollen den Kerl hier abladen und verschwinden, bevor er kommt, sonst sind wir beide morgen im Fundament einer neuen Brücke zu finden."

"Der Maurer, der mich verbuddelt muß erst geboren werden", prahlte der Colonel.

"die Langley-Bauernlümmel passen gut auf Sie auf. Aber nur solange, wie die nicht wissen, daß sie heute ein paar brave US-Bürger umgelegt und nebenbei ein paar Feds über den Haufen haben schießen lassen. Mein Auftraggeber kennt Sie und hat von mir Ihren ganzen Funkverkehr auf Band erhalten. Das dürfte Ihnen ziemlich übel aufstoßen. Also raus mit dem Passagier!"

"Und was will er mit dem Fed?"

"Wie haben Sie zu Ihren Leuten gesagt? Stellen Sie keine lebensmüden Fragen! Los, raus mit ihm. Dann kriegen Sie den vereinbarten Lohn."!"

"Helfen Sie mir!" Knurrte der Colonel. Das tat der andere. Dann wollte der mit einem klimpernden Gepäckstück wohl auf der Beifahrerseite einsteigen. Zachary riskierte einen Blick und erkannte in des Colonels Geschäftspartner einen hochgewachsenen blonden Mann im schnieken Anzug, Typ Bankier oder Anwalt. Das Gesicht war Zachary jedoch noch unbekannt.

"Sie steigen hinten ein. Ich bin es nicht gewöhnt, Beifahrer mit Schnauzbärten neben mir zu haben", grummelte der Colonel. Sein Geschäftspartner stellte sich stur, bis es vom Colonel her Klick machte und der eine schwere Pistole in der Hand hielt. "Hinten in den Caddy oder auf den Leichenwagen warten. Sie haben die freie Auswahl!"

"Ohne mich kommen Sie nicht an ihr Geld", schnaubte der Blonde. Der Colonel lachte verächtlich.

"Ich kriege aus ihnen raus, wo die Barren liegen, Mister. Da machen Sie sich besser mal keine Sorgen. Also sehen Sie zu, daß sie hinten reinklettern, wenn ich Sie mitnehmen will. Aber ich kann sie auch bei unserem schlafenden Freund lassen. Doch wenn Ihr und mein anonymer Auftraggeber meint, keine Mitwisser haben zu dürfen - was ich wunderbar nachvollziehen kann - legt man mit Ihnen wohl den Grundstein für'ne neue Brücke. Also hinten rein oder Totenschein!"

"Nun, ich weiß, daß Sie nie eine Waffe ziehen, wenn Sie nicht bereit sind, damit zu schießen. Also beuge ich mich der Gewalt", seufzte der Blonde und stieg hinten in den Cadillac. Der Colonel gab ein triumphierendes Grinsen von sich und stieg auf der Fahrerseite zu. Die Türen klappten laut und schwer zu. Dann startete der PS-starke Motor, und der lange Wagen glitt mit leise schabenden Reifen über den Betonboden zum Ausgang.

"Bin in Flugzeughalle. Leider keine Möglichkeit, Standort genau zu übermitteln, weil keine Hilfsmittel. Halle keine Fenster!

"Versteck dich in der Halle, wenn möglich!" Erhielt er Justines Antwort unter die Schädeldecke. Es war für ihn so, als klänge ihre Gedankenstimme so laut, daß er meinte, man könne sie aus seinem Kopf heraus hören. Zachary verschwendete keine Sekunde mit einer verächtlichen Antwort. Er sah sich um und suchte nach einem Versteck. Doch außer dem Flugzeug war nichts hier, nicht einmal Ölfässer oder Werkzeugkisten. Was für ein Hangar war das? Für den kleinen Düsenklipper war der schon zu groß. Hier mochte mindestens eine Boeing 737 hineinpassen. Das Flugzeug war jedoch das einzige mögliche Versteck. Konnte er es öffnen und hineinklettern? Irgendwie dachte er dabei, daß dies wohl genau das war, was die Entführer seiner Eltern und ihre Hinterleute geplant hatten. Dann sah er plötzlich einen Leuchtfleck an der gegenüberliegenden Wand, der zu einem hellen Rechteck wurde. Gleichzeitig fiel die Neonbeleuchtung aus.

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Anthelia verwandelte Lavinia im Weinkeller der Daggers-Villa zurück und verhörte sie unter Anwendung von Cruciatus und Legilimentik, bis sie erfuhr, was Lavinia mit dem Blut Sheila Fenders anstellen wollte. Sie ärgerte sich, daß sie, Anthelia, damit nichts anfangen konnte, da es nur ein magisches Schloß aufsperren konnte, wenn es von jemandem in den Adern getragen wurde, die unverbrüchlich zu Hyneria hielt. Damit war die Mission sowohl halb erfolgreich wie fehlgeschlagen verlaufen. Anthelia hatte Lavinias Plan vereitelt, jedoch ohne selbst daraus Kapital schlagen zu können. Zudem kamen jetzt noch Pabblenut und die wie sie zu feurigen Knochenweibern umgewandelten Anhängerinnen. Da sie das Abkommen mit Zaubereiminister Cartridge einhalten wollte mußte sie diesen informieren, was da über sie alle hereingebrochen war. Vorerst reichte es aus, Lavinia vor die Türen des Honestus-Powell-Krankenhauses abzulegen. Sie hatte sie vorher wieder geschockt und ihr einen Zettel mit dem Symbol der schwarzen Spinne umgehängt.

Warnung!! Diese Hexe steht in Verbindung mit heimtückischen Geisterwesen, die altdruidischem Ritual von Feuer, Leben und Tod entstammen. . Vor dem Aufwecken an einen mit Fidelius-Zauber gesicherten Ort bringen oder in einen echten goldenen Käfig ohne magische Vorbehandlung einsperren!

die schwarze Spinne

Was mit Lavinia passierte kümmerte sie ab jetzt nicht mehr, solange die grünen Knochenfrauen sie nicht in die feurigen Skelettfinger bekamen. Sie beschloß jedoch, bei ihren nächsten Ausflügen sowohl einen massiven unbezauberten Goldbarren und das Feuerschwert Yanxothars mitzunehmen. Mit diesem Vorsatz kehrte Anthelia in ihr Hauptquartier zurück und legte sich schlafen. Die nächsten Tage und Wochen mochten anstrengend und wohl auch sehr gefährlich werden.

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Justine konnte es erst auch nicht glauben, daß Zach der Zauberstab entwunden worden war. Muggel würden den Gürtel doch nicht beachten, wenn sie ihn sahen. Für sie mochte er der blanke Streifen einer textilarmen Badehose sein. Doch wie genau es doch ging mußte später geklärt werden. War Zachs Zauberstabgürtel diebstahlsicher? Nur das Futteral war verschlossen, daß nur Zach an den Zauberstab gelangte.

Als der lange Motorwagen in eine mit automatischem Tor versehene Halle fuhr landete Justine so leise sie konnte. Sie griff an den Kragen ihres Kleides und drehte an einem winzigen Knopf. Unvermittelt wurde sie von einem geräuschlos ausströmenden Nebel umgeben. Sie atmete ihn ein und meinte, ihre Nase würde von innen her vibrieren. Dann hatte sich die freigesetzte Substanz über ihren Körper und auf ihrer Haut verteilt. Geruchloselixier, selbst für Vampire unaufspürbar und beim Einatmen auch jeden Mundgeruch für drei Stunden vollständig neutralisierend. Mit den durch das Zauberwort "Schattenschritt" auf ihre Schuhe ausgeübten Aktivierungszauber wurden ihre Schuhe zu Schleichschlappen, die jeden Schritt egal auf welchem Untergrund völlig geräuschlos machten. An und für sich hätte Zachary auch solche Schuhe anziehen sollen, wenn sie zu seiner Geburtstagsparty gegangen wären und dort den Fall "Brennende Wiege" festgestellt hätten. Unter diesem Kennwort verlief nun ihr Einzeleinsatz. Sie schlich auf das noch offene Tor zu und betrat in einem körpereigenen Unsichtbarkeitszauber, laut- und geruchlos die große Flugzeughalle. Sie bekam noch mit, wie sich zwei Männer kurz stritten, dann in einen langen Motorwagen stiegen und durch das Tor hinausfuhren, bevor es sich verschloß.

Justine mentiloquierte mit Zachary und wies ihn an, sich zu verstecken. Dann hörte sie die Gedankenstimme ihrer Cousine Brenda:

"Kommen nicht in das Haus hinein, wo Zachs Eltern gefangen sind. Große Sprengkörper mit verschiedenen Auslösevorrichtungen umgeben die Behälter der Gefangenen. Apparieren auch unmöglich weil Netz von Annäherungsauslösern."

"Keiner da?" Fragte Justine.

"Transporteure haben eine Wache zurückgelassen. Verschwand jedoch, als letzte Vorrichtung bereitgemacht wurde", erfuhr Justine von Brenda. Die Leuchtstoffröhren gingen mit leisem Ping aus. Dann sah sie den rechteckigen Leuchtfleck an der weißen Wand und erkannte, wie in diesem ein Bild entstand. Gleichzeitig vernahm sie aus in der Decke angebrachten Lautsprechern hohl klingende Stimmen, die laut protestierten.

"Verdammt, ihr könnt uns doch nicht in unserer eigenen Scheiße ersticken lassen, ihr elenden Banditen!" Polterte eine höchst verärgerte Männerstimme. Eine Frauenstimme wimmerte: "Das ist die widerlichste Demütigung, die mir je widerfahren ist."

"Mist, Mom, Dad!" Entschlüpfte es Zachary, der gerade wie gebannt auf die an die Wand geworfene Darstellung starrte.

"Die haben uns schon abgeschrieben, Aggy. Diese Saukerle wollen uns echt verrecken lassen", polterte die Männerstimme.

"Theo, mir ist so elend", erwiderte die ebenso wie aus einer Kiste klingende Frauenstimme. Auf der an der Wand aufleuchtenden Projektion konnte Justine zwei blaue Kisten sehen, die unter einem Gewirr hauchdünner Lichtstrahlen standen. Sie erkannte große Zylinder, die um die Kisten herum aufgebaut waren. Sofort fragte sie bei Brenda an, ob sie gerade die marchands zu sehen bekamen. Brenda bestätigte die Beschreibung. Dann sahen Zach und Justine am oberen rechten Rand die Uhrzeit und darunter eine Zahlenreihe, die von Sekunde zu Sekunde um eins verringert wurde.

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Zachary hatte mit eintreffenden Banditen, womöglich Vampiren gerechnet. Doch das plötzliche auftauchen der Wandprojektion und die Stimmen seiner Eltern aus bis dahin unbekannten Lautsprechern traf ihn hart. Er dachte erst, jetzt die letzten Momente im Leben seiner Eltern zu erleben. Dann sah er, wie in Rot die aktuelle Uhrzeit eingeblendet wurde. Eine Gedankenanfrage an Justine vermittelte ihm, daß es die gegenwärtige Uhrzeit war, 23:25:20. Dann las er unter der Uhrzeit eine weitere durch Doppelpunkte getrennte Zahlenreihe und erkannte sie als Countdown. Er brauchte nicht groß auszurechnen, um wie viel Uhr die letzte Sekunde verstreichen würde. Denn es war offenkundig, daß für seine Eltern um Mitternacht alles vorbei war. Denn er erkannte die Konstruktion um zwei blaue Behälter als Bombenkäfig, ein durch Laser und Annäherungsmelder bestücktes System von Sprengfallen. Dabei waren die haarfeinen Laserstrahlen das kleinste Problem. Sicher gab es noch Sensoren, die mit Infrarot und Erschütterungsdetektoren auf Annäherung reagierte. Was für ein Sprengstoff das in den hohen Zylindern war war angesichts der Größe der Behälter unerheblich. Da würde selbst Schwarzpulver einen ordentlichen Knall machen. Als wenn er dem gerade nicht sichtbaren Projektor eine gedankliche Frage gestellt hatte leuchtete in gelber Schrift quer über den Zylindern auf, daß in den Zylindern Semtex gelagert war, insgesamt zwei Zentner. Das würde ausreichen, die beiden blauen Behälter zu zerfetzen und jeden der gerade das Pech hatte, darinzustecken.

"Da siehst du diese Verfluchten, die dich auf die Welt warfen und damit den Mörder der großen Lady Nyx auf uns losließen", drang eine Frauenstimme aus den Lautsprechern. Er erkannte sie sofort. Es war Elvira Vierbeins Stimme. "Du hast nur eine Möglichkeit, deren erbärmliche Existenz zu schützen, Zachary. Besteige das wartende Flugzeug und schnall dich fest. Es bringt dich von hier fort. Umschlossen von der Nachtluft in großer Höhe über allen verderblichen Lichtern sollst du das Leben des Mörders von Nyx freiwillig aufgeben und um deine Wiedergeburt als unser Sohn bitten. Ansonsten wird die Sprengstoffanlage um die beiden Transportbehälter genau um Mitternacht ausgelöst. Ach ja, versuche nicht, deinen Spießgesellen mit den Zauberstäben wie auch immer mitzuteilen, was du siehst, damit sie dort hineinapparieren! Die Auslöser sind so dicht verteilt, daß jeder näher als hundert Meter auftauchende Körper die Sprengung auslöst. Nur ich kann mit einem dreistufigen Code die Zündung verhindern und einen Rufsender auslösen, der diesen Wohlstandswanzen Hilfe bringt, damit sie ihr erbärmliches Spießbürgerdasein weiterfristen dürfen. Erfolgt diese Codesendung nicht bis Mitternacht, werden sie über den halben Bundesstaat verteilt. Also steig in das Flugzeug! Dir bleibt eh nichts übrig, wo sie dir alles genommen haben."

"Ihr seid in dem Flugzeug, richtig? Und diese Hollywood-Schau kommt von einem in der Wand verbauten Computerbildprojektor, richtig?"

"Das ist richtig. Aber du wirst es nicht schaffen, uns zu überwältigen. Selbst wenn du wüßtest, wo wir uns gerade befinden würde niemand von den Zauberern und Hexen es schaffen, näher als zweihundert Meter heranzuapparieren. Draußen steht ein Locorefusus-Artefakt, das uns vor plötzlich hereinplatzenden Spielverderbern schützt."

"Du bluffst, Vampirin. Von euch konnte nur Nyx so gut zaubern, daß sie sowas aufbauen konnte. Ihr könnt nur mit der Magie arbeiten, deren Formeln in Bits und Bytes geschrieben werden", erwiderte Zachary und sah auf die Uhrzeit und den gnadenlos laufenden Countdown. Er hatte damit gerechnet, daß man seine Eltern als Druckmittel gegen ihn einsetzen würde. Er bewunderte sogar das technische Arrangement, um ihm zu zeigen, was mit ihnen passierte. Da fiel ihm was ein:

"Euer Horror-Fernsehprogramm kann angepeilt werden. Sicher sind FBI, NSA und CIA schon hinterher, wo diese Sendung herkommt", stieß er aus.

"Sieben Sender über Laserleitungen mit der Bild- und Tonanlage verbunden stehen weit genug im Land und strahlen auf einer vorher festgelegten Zufallsfrequenzfolge verschlüsselte Signale aus, die nur mit dem entsprechenden Entschlüsselungsprogramm als Fernsehübertragung enthüllt werden können. Und was den Apparitionsabwehrgegenstand angeht, so hat die große Lamia, die Nyxes ehrwürdige Nachfolgerin ist, diesen erschaffen und unbemerkt von den magielosen Rotblütern an diesen Ort gesetzt, weit genug fort von den empfindlichen Bordsystemen der "Regina Noctis". Sind deine Fragen damit beantwortet, Mörder der großen Königin Nyx?"

"Ich habe Nyx nicht umgebracht", stieß Zachary aus. Doch er wußte, daß die zur Vampirin gewordene Wissenschaftlerin wußte, daß er dabei gewesen war.

"Du hast ihren Leib in diesen verheerenden Meeresstrom gestoßen, wohl gehofft, endlich Ruhe vor ihr und uns zu haben. Doch ihr konntet nur den Körper zerstören. Seine Kraft floß in den heiligen Stein der Mitternacht ein und half dem Geist, einen neuen Körper zu finden und sich mit dem darin wohnenden Geist zu einer starken Persönlichkeit zu vereinen, zu Lady Lamia. Und Lady Lamia, die Blutmondkönigin, gewährt dir nur drei Möglichkeiten: Bürger, Feind oder Futter unseres erhabenen Reiches zu werden. Arnold und ich wollen dich als unseren Sohn haben, das was Nyx ermordet hat aus dir herauslösen und dich zu einem würdigen Mitstreiter unserer Sache machen. Du hast keine andere Wahl. Entweder bereust du deine Untat und wirst unser Sohn, oder du hauchst dein jämmerliches kurzes Leben aus, oder du gibst von deinem Blut, um Lamia bei der Geburt neuer Kinder der Nacht zu helfen. Nur diese drei Möglichkeiten. Abgesehen davon, daß diese überfetteten Spießer da in den Containern ihr verfluchtes Leben aushauchen, wenn du bis Mitternacht nicht mit uns hoch in den Wolken fliegst und dich von uns als erster gemeinsamer Sohn wiedergebären läßt."

"Ich habe von deiner großen toten Königin geträumt. Die meinte schon, mich als ihren Sohn zu haben. Doch das war ekelhaft. Auf diese sogenannte Ehre verzichte ich."

"Sicher nicht, denn Lamia hat dir diesen Traum geschickt, um dich für uns vorzubereiten. Sie weiß, daß du in dieser Welt nichts mehr verloren hast."

""Eure Bömbchen laufen mit Strom. Wo kommt der her?" Fragte Zachary herausfordernd.

"Muß dich nicht interessieren", erwiderte Elvira Vierbeins Stimme. Wie zur Bestätigung, daß sie mit seinen Versuchen, Zeit zu schinden unzufrieden war, veränderte sich die Countdownanzeige. Plötzlich waren nur noch zehn Minuten von der Restzeit übrig. Zachary erschauderte. "Und falls du daran denkst, deine magischen Handlanger könnten einfach so die Elektronik ausschalten und dann in Ruhe diese beiden fetten Parasiten aus den ihnen gebührenden Containern heben telepathier denen besser sofort, daß selbst wenn sie bis zum Ablauf des Countdowns den Ort fänden, ein Stromausfall die Zündung erst recht auslösen würde. Denn wir haben zehn Zünder in Kolbenform einbauen lassen, die nur von elektronisch kontrollierten Elektromagneten zurückgehalten werden. Fallen die Magnete und/oder die Steuerung aus sausen die Zündkolben gegen die chemischen Koagentien und zünden das Sprengsystem auch."

"In zehn Minuten finden die meine Eltern eh nicht", seufzte Zachary. Das führte dazu, daß die Rückwärtszählung wieder über zwanzig Minuten sprang. "Ich kann den Countdown im Rahmen der bis Mitternacht fehlenden Restzeit verlängern oder abkürzen, je danach, wie mir deine Antworten gefallen, Zachary. Also gib es auf. Ich alleine oder Lamia kann die Zündung verhindern. Sonst keiner. Deine Freunde würden selbst beim Apparieren sofort die vorzeitige Zündung auslösen, vorausgesetzt, sie fänden den Ort, wo diese verfluchten Mistmaden aufbewahrt werden."

"Wau, so emotionell nimmt dich das mit?" Erwiderte Zachary nun wieder sehr provokant. Dafür übersprang der Countdown in einer Sekunde eine Minute.

"Ich bin die Tochter der großen Nyx und nach Lamia die wichtigste Bürgerin Nocturnias. Natürlich nimmt mich das mit, daß du meine ehrwürdige Mutter und Königin ermordet hast. Aber ihr Geist regiert ja weiter. Nur wenn du dich zu uns als unser Sohn bekennst, wird sie deine Freundin sein und dich ehren."

"Du meinst meine Sklaventreiberin, die mich gegen meine echten Freunde einsetzt", schnaubte Zachary. Dafür verkürzte sich der Countdown um gleich acht Minuten. Zachary sah an der eingespielten Uhrzeit, daß eigentlich noch mehr als achtundzwanzig Minuten bis Mitternacht verblieben. Er dachte an die Zaubererwelt, wie sie die Sprengung aufhalten könnte. Diese Lamia hatte tatsächlich ahnung von Magie, aber auch von Bomben, oder hatte jemanden an der Hand, der Ahnung hatte. Dem Colonel war eine derartige perfide Falle auch zuzutrauen. Doch der war bereits mit seinem Caddy über alle Berge.

"Ich will Lamias Sohn werden", preschte Zachary unvermittelt vor. "Warum soll ich der Sohn einer Ministerin werden, wenn ich der Sohn einer Königin sein darf."

"Auch dann müßtest du mit uns fortfliegen, Zachary Marchand."

"Ich möchte jedoch, daß meine Eltern, also die, die mich in die Welt gebracht haben, weiterleben dürfen. Wenn Lamia eine so mächtige Hexe ist kann sie machen, daß die beiden sich nicht mehr an mich erinnern."

"Sie hat beschlossen, daß du Bürger Nocturnias wirst. Wenn du deinen nutzlosen Widerstand aufgibst kann ich mit ihr Gedanken austauschen und sie darum bitten, deine Mutter zu werden, vielleicht sogar deine Angetraute." Aus dem Flugzeug erscholl ein wütender Ausruf. Doch was er bedeutete verstand Zachary nicht. Er hörte nur, daß eine Männerstimme ihn ausgestoßen hatte. Dann war schweigen. Der Countdown sprang wieder auf über siebenundzwanzig Minuten zurück. Zachary empfand dieses Psychospiel Vierbeins langsam lächerlich. Sicher, wenn sie mal eben befand, daß es nur noch fünf Sekunden bis null sein sollten, würde Zachary seine Eltern sterben sehen müssen.

"Verdammt, findet meine Eltern und macht was, ohne die Zündung auszulösen. Haltet meinetwegen die Zeit an!" Stieß Zachary in Gedanken aus."

"Steig zu uns in das Flugzeug. Wir müssen hier fortfliegen, um zu Lamias Versteck zu fliegen. Sie will dich erst sehen, bevor sie sich entscheidet."

"Natürlich werdet ihr mir nicht sagen, wo sie steckt. Aber würde das nicht zu lange Zeit brauchen und die beiden sterben, die ihr so haßt. Ich erwarte eine Garantie."

"Ich fürchte, du befindest dich nicht in der Position, etwas erwarten oder gar verlangen zu können", lachte Elvira Vierbein. Zachary grinste jedoch und erwiderte:

"Ich habe eine Selbstmordkapsel in einem meiner Zähne. Ich habe sie mir einsetzen lassen, als mir klar wurde, daß ich gegen meinen Willen gezwungen werden könnte, denen zu schaden, die mir wichtig sind. Ich werde meinen Eltern nicht helfen können, indem ich mit euch fliege und denen schaden, die nach ihnen die wichtigsten Personen meines Lebens sind, wenn ich Lamias Getreuer werde. Denn sie bleiben ja Lamias Feinde. Also werde ich mich hier und jetzt selbst töten, um das zu verhindern, andere zu töten."

"Du lügst. Das ist ein Bluff. Du wurdest untersucht. Du kannst das nicht", zeterte Elvira Vierbein.

"Du kannst mich nicht zwingen, dein oder Lamias Sohn zu werden. Wer Vampirblut trinkt darf nicht unter einem magischen Bann stehen, sonst wirkt es nicht wie es soll. Und ich kann mich jederzeit töten, weil eure schmierigen Handlanger mir zwar alles wichtige abgenommen haben, aber nichts davon wissen konnten, daß einer meiner Zähne eine Selbstmordkapsel ist. Sie hätten mir da schon alle Zähne ausschlagen müssen. Aber die durften mich ja nicht verletzen", stieß Zachary überlegen grinsend hervor und leckte sich dabei sichtbar mit der Zungenspitze über seine ebenmäßigen Zahnreihen.

""Wie soll Lamia dir garantieren, daß diese Wohlstandsbagage lebt?" Fragte Elvira Vierbein.

"Indem ich mit ihnen telefonieren darf und sie mir verraten, und zwar mit einem von mir und ihnen ausgemachten Kennwort, daß sie frei und in der Obhut meiner FBI-Kollegen sind. Stopsst du den Countdown nicht und hältst du nicht auch den Zeitzünder auf bin ich in zehn Sekunden Mausetot, und deine Blutmondkönigin kann mein vergiftetes Blut nicht mal mehr als Futter für ihre Retortenbabys benutzen, die du mit deinem Angetrauten und ihr zusammenbraut. Es ist ein kristallines Gift, das im Magen zu einer alle Organe stilllegenden Substanz wird."

"Willst du kleiner Agent mir, einer promovierten Biochemikerin etwas von Giften und biochemischen Wechselwirkungen erzählen?" Schnaubte es aus den Lautsprechern. Daraufhin verlor der laufende Countdown mal wieder fünf Minuten. Er mochte jetzt noch knapp achtzehn Minuten dauern.

"Die Spielerei an der Zähluhr wird langweilig, Elly Vierbein. In zwanzig Sekunden von jetzt an bin ich eh tot", flötete Zachary und sah zu, daß er vom Flugzeug wegkam. Er mußte sich arg anstrengen, seine wahren Gefühle zu beherrschen. Womöglich hatte er gerade seine Eltern zum Tode verurteilt. Auf jeden Fall würde in zwanzig Sekunden der von ihm vollzogene Bluff auffliegen.

"Kennt einer einen tollen Totstellzauber ohne Zauberstab?" Fragte er Justine Brightgate. Er hoffte nicht auf eine Antwort. Doch er bekam eine, jedoch völlig anders, als er sich vorgestellt hatte.

__________

"Stromausfallszünder! Keine Elektrofrierkristalle, Bren!" Hörte Brenda Brightgate die Gedankenstimme ihrer Cousine. Gerade schwebte sie über dem Lagerhaus, in dem sie zwei blaue Container mit Luftlöchern und darum gruppierte Zylinder beobachtete. Die Zylinder waren mit Drähten verbunden und haarfeine Lichtstrahlen stachen in alle Richtungen bis zur Decke. Nicht mal eine Fliege mochte da hineinkommen, ohne einen dieser Annäherungsapparate aufzuschrecken.

"Habe ich mir schon gedacht", gedankenknurrte Brenda. "Wie lange noch?"

"Die dreht andauernd an der Uhr, um Zach zu verunsichern. Aber der ist noch ganz cool dafür, daß die Zeit seiner Eltern abläuft. Wenn sie auf zehn Sekunden geht kriegst du das Signal "Einsturz" und machst dich dann davon so schnell dein Besen kann."

"Können wir die da nicht rausvivapportieren, Jus?" Fragte Brenda ihre Cousine auf unhörbarem Weg.

"Das geht bei Muggeln nur auf zwanzig Metern entfernung, und die Bomben könnten Kontaktzünder in den Behältern haben, die bei Druckverlust sofort auslösen, Bren. Geh davon aus, daß diese Bande alles einkalkuliert hat, was wir mit Magie anstellen könnten."

"Das glaube ich nicht", erwiderte Brenda. "Keine Technik der Muggel kann echt alles berücksichtigen."

"Moment, Zach versucht was ganz riskantes", gedankenmeldete Justine. Dann herrschte in Brendas kopf nur ihre Gedankentätigkeit vor.

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Zachary leckte sich am Rande der Resignation über einen seiner Backenzähne, um dann kräftig darauf zu beißen. Er spielte einen gerade sterbenden Mann, röchelte, keuchte, verkrampfte sich und ließ sich fallen. Da plötzlich ging um ihn die ganze Welt aus.

Justine hatte nur einen Moment überlegt. Sie konnte diesen Zauber gut genug, und dank Felix Felicis war sie sehr guten Mutes, ihn auch fehlerlos und schnell auszuführen. Als Zachary den sterbenden Zauberer gab half sie nach. "Perithanasia!" Zischte sie leise. Zachary fiel gerade auf den Boden. Keinen Moment später lag er schlaff und ohne erkennbare Lebenszeichen da. Mit einem ungesagten Zauber verdunkelte sie seine Lebensaura, was zu dem mächtigen Zauber der absoluten Todesnähe relativ einfach war, da die Lebensströmungen eh schon auf ein Hundertstel absanken. Sie hatte eine Erweckung mit einem bestimmten Passwort gekoppelt: "Neue Sonne" Unsichtbar und durch ein Entdufterelixier auch geruchlos stand Justine im Hangar und lauerte. Wenn die Vierbein jetzt davon ausgehen mußte, daß Zach wirklich tot war, dann würde sie zumindest nachsehen kommen. "Bren, Unfunkstein. Der Countdown ist jetzt bei den verbleibenden Minuten bis Mitternacht", schickte sie Brenda zu.

"Warum nicht schon seit elf Uhr, Jus?" Kam eine nörgelige Gedankenantwort. Justine hatte darauf jedoch im Moment keine geistreiche Antwort parat. Jetzt ging es nur darum, ob die Vierbeins den Bluff schluckten. Sie hatten keine Ahnung, daß Justine im Hangar stand. Nicht einmal Zachary wußte es, weil er sie womöglich sonst verraten hätte.

"Unfunkstein ausgelegt. Seht ihr noch was?"

"Bild noch da, weil Bilder über Laserstrahlen an ferne Stationen", schickte Justine zurück, dabei den Privatjet im Auge behaltend. Da öffnete sich der Einstieg. Ein bleiches Gesicht lugte hervor. Es gehörte einer Frau. Deren Körper schob sich durch den Einstieg. Sie schnüffelte. Justine hoffte, daß Quinns verbessertes Geruchlossprühmittel nicht nur gegen magielose Großkatzen sondern auch Vampire bestand. Wergestalten mußten auch noch getestet werden.

"Der kann sich nicht totstellen", knurrte eine Männerstimme. Die Frau sprang aus dem Flugzeug und landete wie eine Katze geschmeidig und leise auf dem Betonboden. Ihr folgte unmittelbar ein Mann im Anzug. Sie trug einen hautengen, textilarmen Badeanzug. Offenbar wollte sie Zach mit ihren Reizen reizen.

Die beiden Vampire schlichen auf den schlaff und reglos daliegenden Mann im blauen Strampelanzug zu. Sie schnüffelten und horchten. Justine war froh, nicht nur lautlose Schuhe zu tragen, sondern ihr Kleid auch mit einem Schallrückhaltezauber verwoben zu haben, wie er in ähnlicher Form auch in der Beauxbatons-Akademie in den Bettvorhängen wirken sollte, wenn Janes Tochter Geri das mal richtig erläutert hatte. So stand sie selbst wie verfestigte Luft da und lauschte.

"Der ist echt tot", knurrte Elvira Vierbein.

"Du bist sicher, daß der sich ohne Zauberstab nicht totstellen kann?" Fragte der männliche Vampir.

"Wenn er seinen Zauberstab behalten hätte wäre er uns längst zu Leibe gerückt, Arnold. Nein, er hat sich wirklich selbst getötet. Offenbar kennen seine Leute ein magisches Gift, daß jedem mir bekannten Toxin überlegen ist."

"Dann können wir ihn aussaugen, damit wir zumindest nicht für nichts und wieder nichts hergekommen sind", schnaubte der Vampir. Seine Gefährrtin fauchte ihn an, wie seltendämlich er sei. "Blut von toten ist für uns gift, weil es Lebenskraft abzieht, die das fließende Blut der Lebenden zuführt, hat Nyx mir erzählt." Dann schien sie in sich hineinzulauschen. Sie schüttelte den Kopf. Justine erkannte derweil eine Chance, den Vampiren einen schnellen Fluchtweg abzuschneiden. Sie zielte auf das kleine Düsenflugzeug und murmelte: "Per Solem Benedico!" Ein goldener Lichtstrahl trat aus ihrem Zauberstab und traf das Flugzeug. Es glühte für einen Moment golden auf. Die Sonnenmagie wirkte auf die Vampire. Tote gegenstände konnten jetzt eine Stunde lang nicht mehr von ihnen berührt und Gebäude betreten werden, wußte Justine. Als Elvira Vierbein sich umblickte fühlte sie wohl die feindliche Aura, die nun von der Maschine ausstrahlte.

"Verdammt, eine verdammte Falle", knurrte sie. "Hier ist noch wer!" Schrie sie.

"Ich höre und rieche niemanden sonst hier", knurrte der männliche Vampir. Seine Gefährtin rannte derweil auf das Flugzeug zu und federte zurück, bevor sie es berührte.

"Die haben uns hingehalten. Das werden die mir büßen. Auch wenn ihr euch für uns jetzt auch schon abschirmen könnt, ich habe gerade den Impuls gegeben, um die Marchands in die Luft zu jagen. In fünf Sekunden sind sie erledigt!" Rief Elvira. Justine sah auf die Bildprojektion. Ebenso tat es Elvira Vierbein. Sie erstarrte. Der Countdown lief weiter wie bisher. Nach fünf Sekunden trat nichts ein. Arnold rannte zu seiner Gefährtin hin. Diese bohrte ihren magischen Blick in die Halle. Justine wußte, wenn ihr Blick den der Vampirin einfing, konnte diese ihr mit ihrer Kraft befehlen, sich zu zeigen. Doch Justine war keine Anfängerin im LI. Sie blieb stehen und schloß die Augen. Zweimal fühlte sie, wie etwas kribbelndes über ihr Gesicht huschte. Doch der magische Blick der Vampirin fand keinen Halt.

"Der oder die muß hier sein, verdammt!" Zeterte die Vampirin. Dann lauschte sie ebenso wie ihr Angetrauter. Beide fauchten wie gereitzte Katzen. Justine indes blickte auf die Bildprojektion. Was sie sah überraschte sie. Die Uhr am rechten Bildrand lief rückwärts. Statt 23:40:23 war es jetzt 23:39:33 Uhr.Und die Echtzeituhr lief weiter rückwärts. Im Gegensatz dazu hüpfte die Countdownanzeige nun nicht mehr jede sekunde auf null zu, sondern jede Sekunde um zehn Sekunden von null fort.

"Das ist unmöglich", schnarrte Elvira Vierbein. "Wie geht sowas. Jede Manipulation würde die Sprengung auslösen."

"Elly, da draußen kommen leise Hubschrauber. Die sind nur noch ein paar Kilometer weg. Wir müssen abhauen, egal wer hier noch ist."

"Die Uhr geht rückwärts. Das müßte die Sprengung auslösen", zeterte die Vampirin.

"Tut es aber nicht, Elly. Wir müssen hier weg. Ohne Lamias Talisman kommen wir hier nur auf eigenen Flügeln weg", knurrte Arnold Vierbein.

"Oder auch nicht!" Rief Justine nun aus ihrer Deckung heraus. Sie blieb zwar unsichtbar, griff nun jedoch sichtbar in das Geschehen ein. Sie griff die Vampirin, die sie für gefährlicher hielt, mit dem Segen der Sonne an. Doch zu ihrem Verdruß parierte etwas dunkles den goldenen Schimmer. Die Vampirin sprang vor, um in die Richtung zu stoßen, wo der Zauber hergekommen war. Doch Justine hatte bereits die Stellung gewechselt. Arnold lauschte indes. Da griff sie ihn mit dem Sonnensegen an. Doch Elvira Vierbein sprang dazwischen. Wieder quoll eine dunkle Wolke aus dem Leib der Vampirin und wetterte den Sonnensegen ab. "Dagegen hat Nyxes Blut uns immungemacht!" Schrie sie.

"Und warum geht ihr dann nicht in euer Flugzeug", klang eine aus allen Richtungen zugleich kommende Frage. Wieder griff sie Arnold an. Doch wieder warf sich Elvira dazwischen und schluckte den Zauber. Auch Heliotelum verpuffte in dieser kurz aus ihr quellenden Dunkelwolke. Das erstaunte Justine. Doch als die beiden Vampire frontal auf sie zurannten hatte sie keine Zeit dafür. Sie zog blitzartig eine gleißende Lichtmauer zwischen sich und ihnen hoch. Elvira Vierbein schrie vor Wut auf. Denn die Sonnenlichtmauer blockierte den Weg zum rettenden Tor.

"Ihr fangt uns nicht", schnaubte Elvira Vierbein und griff den Arm ihres Gefährten. Dann zog sie etwas aus ihrem Anzugoberteil, das wie ein silberner Ring aussah. "Fahrt zur Hölle!" Rief sie, bevor der Ring grell aufleuchtete und beide in einer blauen Leuchtspirale verschwinden ließ. Ein Portschlüssel. Justine hatte jedoch nur zwei Sekunden Zeit zum Staunen. Denn der in ihr wirkende Felix Felicis schlug alarm. Im Flugzeug war eine Bombe. Sie zielte auf Zachary und rief "Aggreegato Transmutaccio!" Der Scheintote verschwand in einem lichtblitz. Ein himmelblaues Etwas mit rosaroten Punkten wischte flatternd durch die Luft in Justines Hand. Sie warf sich herum und disapparierte. Keine Sekunde später detonierte der Sprengkörper, der auf das Stichwort "Fahrt zur Hölle" hin vier Sekunden später auslösen sollte.

Die Explosion war erheblich. ein gleißender Feuerball sprengte den Hangar auseinander, schleuderte glühende Trümmer nach oben und brach mit einer mörderischen Druckwelle über das verlassene Flugfeld hinweg. Die gerade anfliegenden FBI-Hubschrauber gerieten in die aufgewühlten Luftmassen hinein. Beinahe stürzten sie ab, obwohl sie noch knapp zwei Kilometer vom Explosionsherd entfernt waren.

__________

Justine landete mit Zachary in der Nähe des Landepunktes des ersten Hubschraubers. Nachdem sie Zachary wieder zurückverwandelt und aufgeweckt hatte konnte er in seinem Strampelanzug seinen Muggelweltkollegen entgegengehen. Vorsorglich bezauberte Justine ihn mit dem Segen der Sonne, falls die Vierbeins doch noch meinen konnten, ihn heimzusuchen.

Zachary stellte sich seinen Kollegen, die schon gedacht hatten, er sei bei der Explosion im Hangar umgekommen. Seine Rettung schob er darauf, daß es ihm Minuten vor der Explosion gelungen sei, seinen Angreifern zu entwischen. Die hätten sich jedoch mit einem radargeschützten Ultraleichtflugzeug aus dem Staub gemacht, als die anrückende Kavallerie eingetrudelt war. Zachary meldete, wer seiner Meinung nach für die Entführung seiner Eltern zuständig war und bat um Hilfe, um seine Eltern zu finden.

Als das alles geklärt war, kehrte er mit Justine zu dem Lagerhaus zurück, wo man ihm den Zauberstab abgenommen hatte. Ja, da lag der Gürtel. Man hatte ihn zwar abgenommen, aber nicht weiter beachtet. Zachary fragte sich immer noch, wie das möglich gewesen war, daß jemand den ich-Seh-nicht-Recht-Zauber überwunden hatte. Dann kam ihm die Idee, über den Colonel und seine Leute nachzurecherchieren. Die CIA tat so, als sei der Colonel gerade nicht im Land und habe daher nichts angestellt. Doch nachdem einige Handlanger des Colonels an ihren verbliebenen Fingerabdrücken und Zahnprofilen hatten identifiziert werden können mußte der CIA-Direktor wohl eingestehen, daß die Mannschaft des Colonels den Rubicon überquert hatte, wie er sich ausdrückte. Nun erhielt das FBI Akteneinsicht. Zachary erfuhr, daß Watkin häufig mit einem durch eine ireversible Augenschädigung erblindeten Marinefunker zusammenarbeitete, der sich auf Abhörgeräte und Sonar spezialisiert hatte. Fruitbat, die Fruchtfledermaus, wurde er deshalb genannt. Er hatte ein handelsübliches Ultraschall-Hindernisfrühwarngerät modifiziert, daß es auf mehreren Ebenen arbeitete und ihm somit die Benutzung eines weißen Stockes oder Führhundes größtenteils erübrigte. Zachary erkannte, daß ein nur auf Ohren und Tastsinne angewiesener Mensch nicht von der Kraft eines optischen Zaubers getäuscht werden konnte. Man lernte doch jeden tag dazu, auch als FBI-Mann und Zauberer, erkannte Zachary.

__________

"Ihr laßt die Muggel daran herumfummeln, wo Brenda die geniale Idee hatte, die Zündzeituhr umzudrehen", beschwerte sich Quinn Hammersmith. "Dabei hätte ich in den jetzt verfügbaren zwanzig Stunden locker ein Nullschwerefeld und einen Elektrofrierzauber in kristalline Form packen und einfach nur in der richtigen Reihenfolge über diesem Lagerhaus abwerfen lassen können. Woher wollen die Muggel denn wissen, wo sie suchen müssen?"

"Weil wir angeblich Unterlagen aus dem Hangar haben, wohin meine Eltern genau gebracht wurden, damit die Auftraggeber auch wußten, daß sie da sind", erwiderte Zachary. Quinn quängelte: "Wieder diese Lügen und Gedächtnisfummeleien statt soliden Handwerks. Aber wenn die Muggel deine Eltern in die Luft jagen ist das dann wirklich deine Schuld", knurrte der Ausrüstungsexperte vom LI.

"Die kennen alle so bomben. Die CIA, Der CID, der NCIS und natürlich das FBI haben genug ausgewiesene Bombenentschärfungsexperten. Bombenkäfige sind zwar tückisch und kompliziert, aber auch nur verschaltete Geräte, die in der richtigen Reihe ausgeschaltet werden müssen. Hoffentlich fällt nur keinem auf, daß die Uhr im Zeitzünder rückwärts läuft."

"Wieso, das ist dann eben eine Rückwärtszähluhr, ein sogenannter Countdowntimer", wußte Justine die passende Antwort. "Das wird die Uhr nicht verraten, daß sie mal die aktuelle Uhrzeit anzuzeigen hatte." Die LI-Leute lachten über diesen schlagfertigen Kommentar Justine Brightgates. Zachary verkündete dann noch:

"Ich habe das durch, daß wenn meine Eltern nicht in millionen Einzelteilen über Louisiana herumfliegen, daß sie sofort ins Zeugenschutzprogramm kommen. Wird meinem alten Herren zwar nicht gefallen, daß er ab heute wer anderes sein soll und seine Freunde und Verwandten nicht mehr sehen darf. Aber ich kläre das mit dem, daß diese Vierbein mich sonst mit langen Zähnen zu ihm zurückschickt. Außerdem ist er mir noch die Erklärung schuldig, warum wir keine Rechnung über die Reparatur der Klimaanlage für die Grundsteuerabschreibung gefunden haben", sagte Zachary. Er dachte auch daran, daß er Martha Eauvive unbedingt eine E-Mail schreiben mußte, daß ihm jemand übel hatte mitspielen wollen.

Zu Quinns großem Verdruß vermeldeten Zacharys magielose Kollegen, daß sie die Bombe in nur zwei Stunden restlos hatten entschärfen können. Wer sich eben damit auskannte wußte auch, wo er anzusetzen hatte bemerkte Zachary dazu.

"Erinnere dich da bitte gut dran, wenn du nur deshalb Nocturnias Angriff überstanden hast, weil Justine meine guten Ausrüstungsstücke mithatte", erwiderte Quinn darauf.

"Zach, die Kollegen glauben das nicht, daß du nur in einem Halloween-Strampelanzug gegen die Vierbeins gekämpft hast", kam ein anderer Kollege darauf, daß Zach den Strampler an die Kollegen vom Büro zurückgegeben hatte. An diesem Anzug klebte zu viel Blut. Denn mittlerweile war auch Bensons Mutter gefunden worden. Man hatte sie mit zwei Dutzend MP-Kugeln im Körper im Golf von Mexiko treibend aufgefunden. So fragte sich Zachary, wozu das alles hatte sein müssen. Seine Eltern lebten zwar, durften sich jetzt aber nicht mehr seine Eltern nennen. Offiziell waren sie bei der Sprengstoffexplosion umgekommen. Der Internet-Börsenmakler aus New York, Mrs. Benson, ihr Sohn, anständige Kollegen vom FBI und womöglich noch ein paar unschuldige Leute, die dem Colonel und seinen Leuten im Weg gewesen sein mochten, waren für diese blutige Geburtstagsparty gestorben. Und weil Justine sich um Zachary hatte kümmern müssen und Sylvia Montgomery an ihrer Stelle zu Pabblenuts Abstimmung gegangen war, gab es nun neben den Vampiren, den Werwesen und den Sardonianerinnen noch Eine Gruppe gefährlicher Zauberwesen, die aus der Liga rechtschaffender Hexen hervorgegangen war. Alles das nur um ihn, Zachary, in einem blauen Strampelanzug vor die Vierbeins zu bekommen, damit diese ihn dazu überreden konnten, ihr Blutsohn zu werden. Denn es stimte, daß Vampire Nachkommen oder Gefährten nur bekamen, wenn die entsprechenden Menschen sich bei vollem, magisch unbeeinflußtem Bewußtsein darauf einließen. Zachary wußte, daß solange die Vierbeins existierten, und solange Nyxes Geist in Lamia aktiv war, jeder kommende Feiertag sein letzter Tag auf Erden sein konnte. Denn er konnte nicht wissen, daß Elvira Vierbein und Lamia ein und dieselbe Person waren.

ENDE

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