Was bisher geschah | Vorige Story
Julius Andrews verbringt die ersten Wochen seiner Sommerferien nach dem ersten Jahr in Beauxbatons zunächst in Paris und Millemerveilles. Eigentlich wollten die Brickstons zusammen mit ihrer zauberkräftigen Tochter Babette zu den olympischen Spielen von Atlanta. Doch weil Babette eingeladen wurde, Jeanne Dusoleils Brautjungfer zu sein, kommt sie zusammen mit Julius und seiner Mutter Martha bei Madame Faucon unter, Babettes Großmutter und Julius' Hauslehrerin. Er feiert dort seinen vierzehnten Geburtstag, bei dem auch Schulfreunde aus Hogwarts dabei sind, erlebt mit, wie die Gäste von Jeannes Hochzeit anreisen, wie die Großeltern mütterlicherseits, die auf einem fligenden Teppich eintreffen oder die Familie Latierre, die auf einer geflügelten Riesenkuh anreitet.
Im Schachturnier verliert er im Halbfinale gegen die späten Mutterfreuden entgegensehende Madame Ursuline Latierre, die Großmutter von Martine und Mildrid. Wegen eines Telefongespräches, das die zum Ferienaufenthalt in Millemerveilles verdonnerte Laurentine Hellersdorf mit ihren sogenannten Muggeleltern führte, kommt es am Morgen von Jeannes Hochzeitstag zu einem kurzen aber heftigen Krach zwischen Laurentines Feriengastmutter Madame Delamontagne und Mrs. Andrews. Julius kann jedoch die Hochzeitszeremonie und das was danach an öffentlichen Festlichkeiten folgt gut genießen, zumal der Krach zwischen seiner Mutter und Madame Delamontagne rasch begraben werden kann. Seine Freundin Claire empfindet es immer noch als störend, wie Mildrid Latierre sich um ihn bemüht. Er selbst amüsiert sich, daß zwei Cousinen Mildrids offenbar hinter Jacques Lumière her sind, dessen große Schwester Barbara am Tag darauf heiratet und das Fest in den üblichen Sommerball übergehen läßt. Zum dritten Mal in Folge gewinnen Claire Dusoleil und er die goldenen Tanzschuhe. Doch ein Überfall von Dementoren vergellt ihnen die Freude daran. Zwar können Julius und andere den Patronus-Zauber benutzen, um die ungebetenen Gäste wieder loszuwerden, doch nun ist jedem klar, daß Millemerveilles nicht länger die sichere Zuflucht ist, als die es sonst gilt. Mit etwas getrübter Vorfreude reist Julius zwei Tage darauf mit seiner Mutter und Mrs. Jane Porter nach New Orleans, wo er die dortige Zaubererstraße, den Weißrosenweg kennenlernt, sowie von Mrs. Porters Enkelinnen und deren Thorntails-Schulkameradin Brittany mit dem amerikanischen Zauberersport Quodpot vertraut gemacht wird. Am nächsten Tag kann er sogar ein Profi-Spiel sehen.
Julius weiß nicht, was mit seinem Vater ist. Merkwürdige Andeutungen von verschiedenen Seiten treiben ihn dazu, Brittany zu fragen, ob sie ihn in ein von ihr einmal besuchtes Internetcafé bringen kann. Dort selbst erfährt er, daß sein Vater oder ein Doppelgänger von ihm seit März mit mehreren Dutzend Morden für Angst und Schrecken sorgt. Daraufhin fragt er Mrs. Porter, ob sie ihn nicht mit dem Geist der alten Voodoo-Meisterin Marie Laveau zusammenbringen kann, der noch auf der Erde wandelt und über viele Dinge Kenntnis erhält. Es kommt zu einer Audienz um Mitternacht, bei der Julius neben einer unheimlichen Zukunftsvorherschau den Rest der schrecklichen Wahrheit erfährt. Sein Vater ist zum willenlosen Sklaven einer der neun Töchter des Abgrundes geworden, einem überirdisch schönen und tödlich gefährlichem Geschöpf mit einer großen dunklen Zauberkraft, die selbst mächtige Hexen und Zauberer und andere dunkle Kreaturen in Angst und Schrecken versetzen kann. Er wirft Mrs. Porter vor, ihm das nicht früher mitgeteilt zu haben und erfährt, daß sie und ihre Arbeitskollegen vom Marie-Laveau-Institut für Fluchabwehr haben schwören müssen, es keinem zu erzählen.
Im Institut selbst erfährt Julius zwar mehr über die neun Töchter des Abgrundes. Doch Mrs. Porters Vorgesetzter Davidson will nicht, daß Julius mit diesem Wissen versorgt wird und meldet es dem Zaubereiminister, der ein persönliches Geheimnis aus der Sache gemacht hat.
Jane Porter und Julius müssen vor den Angehörigen des Strafverfolgungstrupp unter Arco Swift fliehen. Auf dieser Flucht treffen sie die Hexe Alexis und ihren Mann, den Zauberer John Ross, die beide in der Liga gegen die dunklen Künste engagiert sind und erzählen ihnen die Geschichte. Anschließend nimmt Julius kurzen Kontakt mit seiner Mutter Martha auf, die bei dem Muggelstämmigen Zauberer Zachary Marchand ist, bei dem er und sie übernachten. Dann dringen sie von den Straverfolgungszauberern gejagt ins Institut ein und bereiten sich vor, nach Richard Andrews zu suchen. Mit Hilfe des Sanguivocatus-Zaubers kann Julius seinen Vater erreichen. Doch die Sache geht nach hinten los, weil sein Vater und die Abgrundstochter den Spieß umdrehen wollen.
Mrs. Porter will Julius nach Millemerveilles zurückbringen. Doch daraus wird nichts, weil sie beim Versuch, in ihr Haus zurückzukehren, von den Strafverfolgungszauberern überwältigt wird. Martha Andrews gerät zusammen mit zachary Marchand in eine Falle eines Verbrechers, der sie gegen den angeblich unter Zeugenschutz stehenden Richard Andrews austauschen will. Dabei lernt Martha den sich offenbar wie eine Frau fühlenden Gehilfen Salu kennen, der Zachary Marchand in einen Zustand dauernder Bewußtlosigkeit hält. Das selbe droht auch Martha, wenn sie nicht tut, was der Verbrecher, der sich Patron nennen läßt von ihr will.
Julius indes flieht mit Ardentia Truelane, einer anderen Instituts-Mitarbeiterin nach Houston in Texas. Doch dort spürt sein Vater ihn magisch auf. Als er Julius trifft, sieht er uralt aus. Trotzdem ist er sehr flink und stark, wie der karateerfahrene Junge lernen muß. Merkwürdigerweise scheint in seinem Pflegehelferarmband etwas zu stecken, das jede von dunklen Kräften durchdrungene Kreatur zurückprallen läßt. Dennoch kann sein Vater ihn überwältigen und in den südkalifornischen Teil der Mojave-Wüste verschleppen, wo seine Herrin Hallitti, die Tochter des dunklen Feuers, sie beide zu ihrem Höhlenversteck führt. Julius weiß, daß er gegen dieses Geschöpf keine Chance hat.
Madame Faucon hatte keinen Moment an der Echtheit von Gloria Porters Hilferuf gezweifelt. Doch was sollte sie nun unternehmen? Einerseits hatte sie es schon geahnt, daß Mrs. Porter den Jungen nicht ganz so großmütterlich nach Amerika einladen wollte, sondern irgendwas anlag, das sie ihm irgendwie beibringen mußte. Andererseits hatte Jane ihr versichert, dem Jungen würde nichts geschehen und sie würde auf ihn aufpassen. Wenn ihre Enkeltochter Gloria an den Zweiwegspiegel kam, mit dem sie die Verbindung zu ihr aufnehmen konnte, dann lag bestimmt etwas vor, was ihr Jane nicht rechtzeitig genug hatte sagen können. Ja, und was Gloria noch erzählt hatte alarmierte sie sehr heftig. Julius' Vater war von einer Zauberkreatur versklavt worden? Wirklich? Das würde einige Ungereimtheiten erklären, die bereits in der Liga wider die dunklen Künste diskutiert wurden. Merkwürdige Dinge hatten sich in Amerika abgespielt, daß bösartige Zauberer sich gegenseitig umgebracht hätten, ja und daß da was war, von dem keiner so recht wußte, ob es überhaupt in die Zuständigkeit des Zaubereiministeriums fallen mochte. von einem Muggel, der merkwürdige Morde begangen haben sollte hatte sie zu hören bekommen. Aber wer es war und was an diesen Morden so besonderes sein sollte hatte man ihr nicht erzählen können. Es schien sogar, als halte das US-amerikanische Zaubereiministerium einen schweren Deckel darauf. Das mochte des Rätsels Lösung sein. Eine übermächtige Zauberkreatur hatte einen Muggel unterworfen, nicht irgendeinen Muggel, sondern einen magieunfähigen Nachkommen aus einer langen und mächtigen Zaubererfamilie, der einen magisch begabten Sohn gezeugt hatte. Die sonst so beherrschte, ja beherrschende Hexe erbleichte. Das mußte es sein. Es war grauenvoll, alleine daran zu denken, aber wenn alles andere stimmte, dann war es die einzige Lösung. Eine der europäischen Abgrundstöchter, über die sie und ihre Mentorin Tourrecandide Julius und ihren Schülern viel erzählt hatten, hatte sich Richard Andrews genähert und ihn mit ihren widerlichen Kräften und ihren fleischlichen Reizen unterworfen. Welche der beiden die nicht schliefen war es? Doch nein, Richard konnte sogar eine dieser schlafenden Abgrundstöchter geweckt haben. Unersättlich, wie diese dann bestimmt war, hatte sie sich den unschuldigen mann so schnell es ging geholt und ihn an ihre magische, mit jeder Tat, die er für sie ausführte unzerreißbar werdenden Kette angebunden. Ja, und Jane hatte das gewußt, die ganze Zeit schon. Professeur Blanche Faucon war wütend. Sie war wütend auf Jane Porter, weil diese ihr so etwas wichtiges, ja überlebenswichtiges verheimlicht hatte und auch wütend auf sich selbst, daß sie die Zeichen nicht gesehen hatte, die doch klar lesbar erschienen waren. Doch nun war keine Zeit, in einer lauten oder stillen Wut zu verharren. Gloria hatte sie gerufen, weil Julius selbst in Gefahr war. Offenbar wollte dieses Unheilsgeschöpf auch ihn unterwerfen, mit Hilfe seines Vaters. Normalerweise konnte dieses Wesen keinen vollwertigen Magier so einfach an sich ketten. Doch wenn ein Blutsverwandter Nichtzauberer als Erleichterung, als Bindeglied herhalten konnte ... Das mußte sie klären, bevor sie in eigener Person nach New Orleans reiste und Mrs. Porter und ihren Chef zur Rede stellte.
Da es in Millemerveilles bereits eine Stunde vor Mitternacht war prüfte sie noch einmal, ob ihre Enkeltochter Babette gut schlief. Das Mädchen war seit der Abreise der Andrews mürrisch und aufsässig geworden, und Madame Faucon hatte sie oft sehr streng zurechtweisen müssen. Doch wenn sie schlief blieb und war sie ein sehr liebenswertes Hexenmädchen, auf das die Oma sehr stolz war.
"Vielleicht sollte ich sie morgen zu Camille oder Madeleine bringen. Aber dann könnte sie denken, ihre Frechheiten zahlten sich aus. Doch ich werde sie nicht mitnehmen. Eher lasse ich sie im Zauberschlaf verharren", dachte Madame Faucon, nachdem sie leise das Zimmer ihrer Enkelin betreten und wieder verlassen hatte, als sie deren gleichmäßige und ruhige Atemzüge gehört hatte. Sie verließ ihr Haus und verschloß sorgfältig die Eichenholztür. Dann ging sie einige Dutzend Schritte weit, bevor sie disapparierte. Fast sofort danach apparierte sie vor dem Haus der Delamontagnes und ging zur erhabenen Eingangstür. Sie wollte nicht klingeln, weil sie nicht jeden aufwecken wollte. Doch irgendwie mußte sie mit der Dorfrätin sprechen, was sie nun genau machen konnte. Nach einer ewig erscheinenden Weile griff sie doch zum Glockenzug und läutete die Türglocke. Es dauerte keine zehn Sekunden, da klappte ein Sichtfenster im unteren Türabschnitt auf, und Gigie, die Hauselfe der Delamontagnes, blickte mit leicht verschlafenen Tennisballaugen heraus.
"Meister sind alle im Bett, Madame Faucon. Gigie darf sie nur wecken, wenn wirklich wichtiges passiert ist, Madame Faucon", piepste Gigie sehr leise.
"Ich möchte mit deiner Meisterin Eleonore sprechen. Sage ihr, ich hätte beunruhigende Neuigkeiten von Julius Andrews. Am besten weckst du deinen Meister auch noch", zischte Madame Faucon Gigie zu. Diese verbeugte sich und trippelte schnell ins Haus zurück. Das kleine Guckfenster fiel von selbst wieder zu, ohne Lärm zu machen.
Nach einer Minute öffnete Madame Delamontagne die Tür und zog Madame Faucon ins Haus. Sie wirkte sichtlich unausgeschlafen.
"Was ist mit dem Jungen, Blanche?" Fragte sie ohne großes Begrüßungsritual.
"Jane Porters Enkeltochter hat mir in einem sehr merkwürdigen Zweiwegspiegelgespräch, bei dem mein Spiegel fast glutrot anlief erzählt, der Junge sei in Gefahr und sein Vater wahrscheinlich der Sklave einer Zauberkreatur. Die Art, wie die Verbindung gestört wurde und die Aufgeregtheit des Mädchens, sowie das, was ich von ihr erfahren durfte zeigen mir, daß sie mich nicht aus reinem Vergnügen beunruhigen wollte. Ich habe mir auch einige Gedanken zu Sachen gemacht, die in der Liga kursierten. Wenn diese Vermutungen ordentlich zusammengesetzt werden und dann das, was das Mädchen Gloria gesagt hat dazugezählt wird, dann haben wir es mit einer jener dunklen Kreaturen zu tun, die als Töchter des Abgrunds gefürchtet sind, Eleonore", erläuterte Madame Faucon und sah genau, ob die Dorfrätin sich heftig darüber erschreckte. Sie wußte, daß sie Eleonore damit hart belastete, vor allem in ihrem Zustand. Diese sah Blanche Faucon an und meinte:
"Sie mich nicht so an, als müßte ich gleich umfallen, Blanche! Madame Matine hat mir ein Verbindungsband gegeben, damit sie sofort kommt, wenn mir oder dem Kind was passiert. du möchtest also wissen, was ich darüber denke? Du kannst mit meinem Schwiegervater darüber reden oder gleich nach New Orleans hinreisen und die Sache vor Ort nachprüfen und ermitteln, ob dir da jemand einen schlechten Streich spielen wollte, möglicherweise der Junge selbst."
"Das glaube ich absolut nicht. Ich denke, dem ist viel daran gelegen, mit seiner Mutter friedliche Tage zu verbringen als es sich ausgerechnet mit mir zu verderben, wo ich ihn spätestens in Beauxbatons zur Ordnung rufen würde. Nein, die Sache ist wohl leider wahr. Ich möchte sehr gerne dorthin. Aber ich wweiß nicht, wohin mit Babette. Sie war mir nach der Abreise der Andrews' etwas zu widerborstig für eine Neunjährige. Deshalb möchte ich sie ungern zu Camille oder meiner Schwester hinbringen."
"Dann liefere sie morgen bei mir ab und sage ihr, weil ich nicht du bin wäre es mir egal, wie traurig sie ist, wenn ich sie ausschimpfe. Außerdem kannst du ihr androhen, sie in eine Topfpflanze zu verwandeln, solange du nicht da bist. Ich könnte sie dann ja gießen."
"Eleonore, ich bringe sie zu dir. Aber nur, wenn Hera das erlaubt."
"Hera hat das zu erlauben, solange ich nicht ernsthaft Umstandsbeschwerden habe, was außer leichten Kreislaufproblemen am Morgen und einer Übelkeit zwischendurch noch nicht gegeben ist. Behandele mich bloß nicht selbst wie ein unmündiges Kind, nur weil ich wider erwarten Mutter werde, Blanche! Das verbiete ich dir."
"Mir liegt es fern, dich zu bevormunden. Aber du hast dieses Kind nicht unter dem Einfluß des Fortunamatris-Tranks empfangen und kannst daher nicht wissen, ... Na ja, du hast recht. Ich sollte nicht der Versuchung erliegen, dir in dein Leben dreinzureden. Also, ich bringe dir die Kleine morgen. Dann hast du aber ein quirliges Bündel Leben im Haus. Kannst du das denn auch ohne Schwangerschaft bewältigen?"
"Ich spreche morgen mit Camille und frage sie, ob Laurentine für eine Woche zu ihr ziehen möchte, weil sie sich in den letzten Tagen doch sehr gut gemacht hat. Jeannes Zimmer ist ja jetzt frei."
"Ja, aber noch nicht völlig leergeräumt. Aber lassen wir das! Ich bringe dir Babette morgen vorbei, bevor ich nach New Orleans abreise. Den Sphärenzauber kriege ich ja problemlos hin."
"Ich hoffe doch, es war nur falscher Alarm, Blanche. Ich wage mir nicht auszumalen, wenn wirklich eine Abgrundstochter Julius' Vater unterworfen hat. Weißt du was das heißt? - Natürlich weißt du das. Das ist ja immerhin dein Berufsfach", erwiderte Madame Delamontagne. Blanche Faucon nickte. So wünschte sie der Lehrerin viel Glück und eine beschwernisfreie Reise. Madame Faucon erwiderte:
"Noch bin ich nicht weg. Erst morgen um acht. Ich möchte, daß Babette vorher schon gefrühstückt hat."
"Wie du meinst. Direkt eingreifen ist ja wohl auch nicht drin, solange du nicht weißt, wo die Gefahr herkommt oder wo sie lauert."
"Ja, Eleonore", erwiderte Madame Faucon. "Aber das werde ich morgen früh schon rauskriegen." Dann verabschiedete sie sich von Madame Delamontagne und kehrte zu ihrem Haus zurück.
Gleich am nächsten Morgen nach dem Frühstück sagte sie zu Babette:
"Kleine, ich muß für mindestens zwei Tage wegen dringender Angelegenheiten verreisen und kann dich dabei leider nicht mitnehmen. Ich habe mit Madame Delamontagne gesprochen, ob sie dich bei sich wohnen lassen kann, und sie hat gesagt, daß sie keine Probleme damit hat."
"Ach, Warum ausgerechnet zu der?" Quängelte Babette. "Warum kann ich nicht zu Denise?"
"Weil ich das so will, Kind. Madame Dusoleil hat im Moment noch genug mit Jeannes neuem Haus zu tun, und Monsieur Dusoleil muß arbeiten, um wichtige Aufträge fertigzukriegen. Ich werde nicht mit dir drüber diskutieren, verstanden?"
Babette funkelte ihre Großmutter wütend an. Doch diese brauchte nur einmal warnend zurückzublicken, und Babette senkte ihren Blick wieder.
"Hol einen Schlafanzug und nimm nur das nötigste von deinen Spielsachen mit! In zehn Minuten geht's los! Zehn Minuten! Du kannst die Uhr lesen. Also halt dich dran!"
"Ja ja", grummelte Babette und huschte aus der Wohnküche in ihr Zimmer. Madame Faucon sah auf ihre Wanduhr und dachte darüber nach, ob sie direkt mit der Reisesphäre nach New Orleans einreisen sollte oder besser das Flohnetz benutzte oder apparierte. Doch die Reisesphäre erschien ihr am sichersten und schnellsten. Sicher, sie müßte sich dafür beim amerikanischen und französischen Zaubereiministerium eine Genehmigung holen. Aber in einigen Fällen, so wußte sie, waren fürsorgepflichtige Hexen und Zauberer dazu berechtigt, die üblichen Genehmigungsprozeduren zu umgehen und den schnellstmöglichen Weg an den Ort zu benutzen, an dem das ihrer Fürsorge anvertraute Kind gerade war. Da Catherine noch in Atlanta war mußte sie als stellvertretende Fürsorgerin für Julius nach New Orleans.
sieben Minuten später war Babette soweit fertig, daß sie Wäsche für zwei volle Tage und ihr Malzeug in ihrer Reisetasche untergebracht hatte. Madame Faucon flog mit ihr zum Haus der Delamontagnes, wo die Herrin des Hauses bereits im Garten auf sie wartete. Sie lächelte Babette an wie eine freundliche Oma. Doch Babette wußte, sie war von einer strengen Hexe zu einer anderen gebracht worden, und nur weil ihre Oma mal eben irgendwo hinmußte.
"Hallo, Babette. Schön das du da bist", grüßte Madame Delamontagne.
"Hallo", sagte Babette nur. Dafür wurde sie von Madame Faucon streng angesehen.
"Das heißt: "Guten Morgen Madame Delamontagne", Babette", herrschte sie ihre Enkelin an.
"Guten Morgen, Madame Delamontagne", sagte Babette eingeschüchtert.
"Alles klar, Eleonore, ich werde dann unverzüglich abreisen. Ich hoffe, in zwei Tagen wieder zurückzusein. Dann kommt Catherine ja auch aus den Staaten zurück. Ich hoffe nur, die Angelegenheit läßt sich rasch und vor allem ohne Folgen regeln."
"Das hoffe ich für dich, Blanche. Viel Glück und gute Reise!" Wünschte Madame Delamontagne.
"So, Babette, du bleibst jetzt für zwei Tage bei Madame und Monsieur Delamontagne. Wenn ich zurückkomme möchte ich keine Klagen von ihnen hören. Verstanden?"
"Ja, Oma Blanche", grummelte Babette frustriert.
"Mach's gut, kleines!" verabschiedete sich Madame Faucon von ihrer Enkeltochter und küßte sie zum Abschied auf jede Wange. Dann saß sie auf ihrem Besen auf und flog einige Meter weit, bevor sie kurz vor ihrem Haus apparierte, hineinging und aus ihrem Kellerlabor eine mauvefarbene Drachenhautreisetasche mit magischen Verzierungen holte, die sie für spontane Auslandsreisen in der Zaubererwelt bereithielt. Darin waren neben einer gut bestückten Reiseapotheke auch verschiedene Umhänge und Kleider, sowie Unterwäsche für mehr als eine Woche, ein kleines Zaubererschachspiel und mehrere Bücher in verschiedenen Sprachen. Sollte sie ihren Besen mitnehmen? Besser war es wohl. So hängte sie ihre Reisetasche an den Ganymed 4, den Babette zum Üben benutzen konnte, verriegelte das Haus so sorgfältig, als wolle sie es für längere Zeit nicht mehr betreten und flog zu einem Platz, wo Büsche mit tellergroßen Blättern einen blauen, voll ausgemalten Kreis umringten. Hier war der Ausgangskreis für die Reise- oder auch Fährensphärenmagie. Madame Faucon atmete noch einmal tief durch und rief sich die Schlüsselworte für den Überseetransport nach Louisiana ins Gedächtnis. Als sie sicher war, kein Wort verkehrt rufen zu können rief sie zunächst die Reisesphäre auf, die sie nach Paris trug. Denn außer Beauxbatons besaß nur der Ausgangskreis in Paris Verbindungen mit den anderen Kreisen in der französischsprachigen Zaubererwelt in Europa und Übersee. Kaum war sie in Paris angekommen konzentrierte sie sich und rief mit senkrecht über dem Kopf kreiselndem Zauberstab die Schlüsselwörter für die Reisesphäre nach Louisiana. Als der goldene Strahl aus ihrem Zauberstab schoss und im Steigen eine orangerote Kuppel ausstülpte, war sich Madame Faucon sicher, sie hatte den richtigen Zauberspruch gesagt. Doch als die Kuppel den Boden berührte, gab es ein lautes, knisterndes Geräusch, und die Kuppel zitterte und wankte. Dann riss sie im Scheitelpunkt auf und zerbarst mit dumpfem Knall in einem Schauer roter Funken, die zischend nach außen davonflogen und im Flug erloschen. Gleichzeitig fühlte Madame Faucon, wie der Kreis, in dem sie stand für einen winzigen Moment tiefer in den Boden einsank und dann wie ein stark gespanntes Trampolin zurückfederte, sodaß sie unvermittelt zwanzig Zentimeter in die Luft geworfen wurde. Der Zauber hatte sie nicht davongetragen. Er war regelrecht verpufft. Perplex stand Madame Faucon mit leicht zitternden Beinen im Zentrum des Sphärenkreises und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte die orangerote Kuppel beschworen. Diese hätte sich zu einer Kugelschale um sie schließn und so außerhalb der üblichen Gesetze der Physik über den Atlantik tragen und erst am Zielort wieder aufklaffen sollen. Doch das hatte sie nicht. Der Zauber war an irgendetwas gescheitert. Aber woran? Sie versuchte es noch mal. Sie rief die entsprechenden Wörter und machte die dazu gehörenden Zauberstabbewegungen. Wieder erblühte eine sonnenuntergangsfarbene Kuppel über ihr, stülpte sich über sie und berührte den Boden. Doch wieder knisterte, zitterte und wankte sie, bis sie im Scheitelpunkt aufriss und unter einem heftigen Funkenschauer zerplatzte, wobei die Kreisfläche mit einem Ruck nach unten und wieder nach oben federte. Wieder tat Madame Faucon einen unfreiwilligen Hüpfer. Dann glaubte sie es, daß sie so nicht nach New Orleans reisen konnte. So befestigte sie den Besen wieder an ihrer Reisetasche. Sie konzentrierte sich auf das Besuchervoyer des Zaubereiministeriums, sammelte genug Willensenergie, stellte sich vor, in diesem Voyer zu stehen und warf sich mit Wucht in die Disapparition.
Im Ministerium angekommen suchte sie zunächst den Leiter der magischen Verkehrsmittelüberwachung auf und fragte ihn, ob die Verbindung mit Louisiana nicht mehr bestehe oder ob sie bei der Zauberei etwas falschgemacht hatte. Sie wurde darauf hin gefragt, ob sie sich eine Genehmigung für diese Reise eingeholt hatte. Sie erzählte darauf, daß sie im Rahmen der Fürsorgebestimmungen auf eine Gefahrenwarnung betreffend dem ihrer Tochter, welche gerade in der Muggelwelt sei, anvertrauten Schüler Julius Andrews unverzüglich auf die schnellste Weise in die Staaten einreisen wollte. Der Beamte schien an diesem Morgen noch etwas schwer von Begriff zu sein. Er wollte wissen, was das für eine so große Gefahr sein sollte. Madame Faucon erzählte ihm, daß der Junge von einer gefährlichen Kreatur bedroht würde, mit deren Auftreten nicht zu rechnen gewesen sei. Doch der Beamte, wohl ein typischer Bürokrat, fand diese Aussage nicht ausreichend. Anstatt zu sagen, ob die Reisesphäre grundsätzlich nicht mehr funktionierte oder ob Madame Faucon sich vertan hatte, drohte er damit, sie wegen unangemeldeter Benutzung einer Überseereisesphäre zu belangen, falls sie keinen glaubwürdigeren Grund anführen wolle oder könne. Madame Faucon sagte dazu nur:
"Wissen Sie was, ich suche den Zaubereiminister persönlich auf. Ich denke, in zehn Minuten werden Sie mir und ihm erklären, ob bei meinem Aufruf oder bei der magischen Verbindung zwischen dem Louisiana-Kreis und Paris etwas nicht gestimmt hat. Bis nachher." Dann verließ sie das Büro und suchte den Untersekretär des Ministers auf. Diesem sagte sie nur, sie müsse mit Minister Grandchapeau sprechen, weil etwas mit Julius Andrews passiert sei. Der Untersekretär nickte und eilte zum Minister, der sie sofort empfing. Sie erzählte ihm von der Zweiwegspiegelverbindung mit Mrs. Porter und daß deren Enkelin Gloria wohl etwas mitbekommen hatte, daß Mrs. Porter und Julius wohl in Gefahr seien, weil wohl eine Kreatur der Dunkelheit aufgewacht sei, die sich über Julius' Vater an diesen heranpirschen könne.
"Ich verstehe", sagte Minister Armand Grandchapeau. "Dann wollten sie stante pede mit der Reisesphäre nach New Orleans und die Sache überprüfen. Warum sind Sie dann noch hier?"
"Weil ich nicht abreisen konnte. Die Sphäre entstand nicht. Es kam zur Ausbildung einer Kuppel, die jedoch nicht zur Sphäre vollendet wurde, sondern nach wenigen Sekunden instabiler Existenz zerschellte. Ich wollte von Monsieur Decourant wissen, ob es an mir oder der Verbindung haperte. Doch dieser zitierte nur die Reisemittelparagraphen und daß ich für die Reisesphäre nach New Orleans eine Genehmigung des amerikanischen und des französischen Ministeriums einzuholen habe. Meine Begründung mit der Notlageregel bei magischen Fürsorgern ließ er nicht gelten. Deshalb mußte ich Sie persönlich in Anspruch nehmen, Minister Grandchapeau."
"Die Verbindung dürfte nach der ordnungsgemäß gemeldeten An- und Abreise von Mrs. Porter nicht zerstört worden sein. Ich wüßte jetzt auch nicht, wodurch. Ich kenne den für New Orleans nötigen Wortlaut der Schlüsselformel nicht auswendig und kann Ihnen daher nicht sagen, ob es ein Versehen Ihrerseits war. Da die Kuppel aber entstand und mindestens vier Sekunden vorhanden blieb, haben Sie wohl alles richtig gemacht, Blanche. Denn sonst hätte ihr Zauber eine ungerichtete Lichtentladung, Bodenerschütterung oder schlicht überhaupt nichts erzeugt. Da ich selbst ja die Sphärenformeln für Frankreich kenne, weiß ich, was bei einem falschen Wort passieren kann. Wenn eine Kuppel entsteht, wird sie auch zur Sphäre. Es sei denn, jemand blockiert den Zielkreis. - Oh, interessant. Ja, das wird es gewesen sein, Blanche. Ich kläre das mit Decourant, ob meine Vermutung zutrifft."
Der Minister warf eine Prise Flohpulver in seinen Kamin und rief hinein, daß Notus Decourant sofort zu ihm kommen solle. Keine halbe Minute später klopfte es an die Bürotür, und der Leiter der Personenverkehrsabteilung trat ein.
"Ah, hat sich Professeur Faucon wirklich direkt an Sie gewandt", sagte Monsieur Decourant verhalten lächelnd.
"Nun, offenbar konnten oder durften Sie ihr nicht helfen, Notus. Sei es drum. Ich möchte von Ihnen wissen, ob man den Ausgangskreis einer Fährensphäre vorübergehend oder dauerhaft blockieren kann, sodaß eine An- oder Abreise dort nicht gelingen kann?"
"Ach, Sie denken also, Professeur Faucon habe sich nicht geirrt und ...", erwiderte Decourant und fing sich einen sehr bedrohlichen Blick aus den saphirblauen Augen Madame Faucons ein. Immerhin hatte er wie viele, die in den letzten zweiunddreißig Jahren in Beauxbatons die Schulbank gedrückt hatten mit ihr zu tun gehabt. Das nutzte sie jetzt aus.
"Seien Sie bloß nicht so abfällig, Junger Mann!" Sagte sie ihm. Minister Grandchapeau räusperte sich und meinte:
"Sie hat richtig gezaubert. Die Kuppel ist entstanden, hat sich aber nicht zur Sphäre vollendet. Also muß ab einem gewissen Punkt die Magie gestört worden sein, der nach erfolgreichem Aufruf des Zaubers lag. Ich vermute eine magische Störung am Zielort, eine Blockade. Wie geht sowas und warum weiß Ihre Abteilung noch nichts von einer solchen Maßnahme?"
"Öhm, Herr Minister, zur ersten Frage kann ich sagen, daß man mit Gegenständen, die dem Diebstahlschutzzauber Mihisolum unterliegen, einen Ausgangskreis unbrauchbar machen kann." Madame Faucon verstand und ärgerte sich. Natürlich wußte sie das, daß ein mit dem Diebstahlschutzzauber belegtes Objekt die magische Reise vereitelte, wenn es nicht von der Person, die zugriffsberechtigt war festgehalten wurde. Also hatte jemand in New Orleans einen solchen Gegenstand in den Kreis gelegt, womöglich sogar mehrere, sodaß niemand außer dem, der das getan hatte, die Blockade wieder aufheben konnte. Also war jetzt nicht zu fragen, wie es geschehen war, sondern warum das gemacht wurde.
"Nun, ich muß dringend nach New Orleans. Dann werde ich wohl das Flohnetz benutzen müssen. Dazu brauche ich keine Genehmigung", schnaubte sie und bedankte sich bei dem Minister für die Hilfe. Auf die Blockade hätte sie auch selbst kommen können.
"Sie können von hier aus gleich zur Grenze, Blanche", sagte der Minister. Madame Faucon nickte und bedankte sich für das Angebot. Dann entzündete sie den Kamin und warf Flohpulver hinein. Sie wartete auf die smaragdgrüne Flammenwand, stellte sich mit ihrer Reisetasche und den Besen hinein und rief "A la Frontiére!" Mit lautem Rauschen verschwand sie wirbelnd aus dem Kamin.
"Worum geht die Sache eigentlich, Herr Minister? Oder ist mir diese Frage nicht erlaubt?" Wollte Notus Decourant wissen.
"Ihre Tochter hat die Fürsorge für einen muggelstämmigen Jungen, der mit seiner Mutter zu uns einwanderte und in Beauxbatons eingeschult wurde. Offenbar soll dem was zustoßen, und Professeur Faucon will es verhindern", sagte der Minister nur.
"Na klar, Julius Andrews. Das ist doch der Schulkamerad meines Neffen Gaston. Der ist jetzt in Amerika? Der war doch vor drei Tagen noch in Millemerveilles."
"Jetzt ist er da nicht mehr", erwiderte der Zaubereiminister ungehalten. "mehr möchte ich Ihnen dazu nicht sagen, was Madame Faucon Ihnen nicht schon gesagt hat."
"Verstehe, Herr Minister. Ich gehe dann mal wieder zurück in mein Büro. Morgen ist eine Apparitionsprüfung von fünfzig Schülern. Da ist noch was vorzubereiten, bevor das Apparitionsüberwachungsbüro die Prüfer und Prüfungsaufgaben ausgibt. Außerdem will Madame Latierre über eine Ausweitung der Nutzungserlaubnis ihrer fliegenden Kühe reden. Sie sollen nicht nur auf die Familie Latierre beschränkt bleiben. Offenbar hat sie Interessenten gefunden, die diese Flugungeheuer auch nutzen möchten.""
"Etwas mehr Sachlichkeit täte Ihnen gut", sagte der Minister. Dann rauschte es wieder im Kamin, und in einem smaragdgrünen Wirbel kehrte Madame Faucon zurück. Sie sah sichtlich verärgert aus, als sie aus dem Marmorkamin kletterte. Der Minister sah sie an und fragte vorsichtig:
"Gab es Schwierigkeiten, Blanche?"
"Ja, Minister Grandchapeau. Der Knotenpunkt USA wurde auf Anweisung von Minister Pole bis auf weiteres aus dem internationalen Flohnetz herausgenommen. Das hat mir der diensthabende Grenzabfertigungsmensch erst erzählt, als er die Transitgebühr von mir erhalten hat. Nette Mitarbeiter haben Sie an der Grenze, Monsieur Decourant." Dabei funkelte sie den Leiter der Personenverkehrsabteilung wütend an. Dieser errötete. Dann zog er Pergament, eine Falkenfeder und ein kleines Tintenfass aus seinem korrekt sitzenden marineblauen Umhang mit Stehkragen und schrieb Madame Faucon eine Rückzahlungsanweisung für die Verwaltungskasse aus.
"Unsere Leute fordern erst die Gebühren ein, bevor sie das Ziel prüfen. Wahrscheinlich war dem diensthabenden Grenzbeamten die amerikanische Sperranweisung noch nicht bekannt", sagte Decourant und gab mit abbittendem Blick das Pergamentstück an Madame Faucon weiter. Diese nickte ihm zu und verabschiedete sich. Dann verließ sie das Zaubereiministerium aus dem Voyer heraus und apparierte zum Informationsbüro für den fliegenden Holländer, die magische Schiffahrtslinie, die die großen Ozeane befuhr. Dort erfuhr sie jedoch, daß die sechs nordamerikanischen Häfen New Hope, Hidden Bay, Golden Rock, Iceport, Wave End und Seagate bis auf weiteres nicht mehr angefahren werden durften, da in den Staaten mehrere gesuchte Verbrecher versuchen würden, schnellstmöglich außer Landes zu kommen.
"Die können fliegen oder apparieren. Was soll das also mit dem Anlegeverbot?" Wollte Madame Faucon wissen.
"Weil die da drüben wohl Spürzauber zum Erfassen von Apparatoren oder Besenfliegern eingerichtet haben", sagte der Agent der Schiffahrtslinie eingeschüchtert.
"In Ordnung", erwiderte Madame Faucon. "Dann muß ich eben zu einem unangenehmen Mittel greifen, damit ich dort hinkomme, wo ich gebraucht werde." Sie verließ das Büro und disapparierte im dafür von einer hufeisenförmigen Mauer vor Blicken geschützten Hinterhof. Sie kam in einem Flur heraus, der auf den ersten Blick wie jeder andere Flur ihrer Welt aussehen mochte, wenn nicht eine Lampe mit weißem Schirm und zwei elektrischen Glühbirnen an der Decke gehangen hätte. Ja, sie mußte zu einem unangenehmen Mittel greifen, wollte sie nicht nach anstrengendem Apparieren in eine Aufspürfalle geraten und dann festgesetzt werden. Es mochte zwar länger dauern, war dafür aber sicherer und von keinem Zaubereiminister der Welt zu unterbinden.
Leicht fröstelnd stand Martha Andrews nur noch in Unterwäsche da. Doch sie wußte nicht, ob es die etwas kühleren Temperaturen waren, die in dieser großen, weiß gekachelten und gefliesten Halle herrschten oder ob es der Anblick war, der sich ihr bot, nachdem ihr der Transvestit Salu, den sein dunkelhaariger Anführer auch Docteur nannte, die Augenbinde abgenommen hatte. Denn was sie sah, konnte es noch nicht geben. Ja, sie zweifelte sogar daran, ob es sowas jemals geben durfte. Denn vor sich sah sie sechs sternförmig angeordnete Kugeln, alle drei Meter im Durchmesser, die jede für sich in einer stählernen Schale ruhten, die auf je acht biegsamen Stützen stand. Tiefrotes Licht aus unzähligen kleinen Lämpchen an der Decke und der oberen Hälfte der wohl vier Meter hohen Wände tauchten das ganze in ein glutartiges, unheimliches Licht ein, das keinen einzigen Schatten zuließ. Schläuche, die bei dieser einfarbigen Beleuchtung hellrot, schwarz und dunkelrot aussahen, führten aus der Decke zu jeder dieser Kugeln, die wie ein Zwischending aus Aquarium und außerirdischem Raumschiff wirkten. Drei der Kugeln waren fast glasklar, und Martha sah etwas wie eine farbige Flüssigkeit in der unteren Hälfte dieser Kugeln, die leicht pulsierte, als würde sie ein- und wieder ausgeatmet. Doch das erschreckenste an diesem technischen Arrangement war das, was in den anderen drei Kugeln zu sehen war. Sie waren stark getönt wie die Gläser von Sonnenbrillen. Dennoch konnte Martha im Inneren die dunkelrot schimmernden Konturen deutlich als menschliche Körper erkennen, die in einer bis zum oberen Scheitelpunkt der Kugel reichenden Flüssigkeit schwammen, die Beine angezogen, die Arme angewinkelt und schlaff, je einen pulsierenden Schlauch im Bauch, der sich gerippt wie eine Ziehharmonika zur Innenwand streckte und dort wohl in einem Ventil endete. Sie sah, wie diese Menschen langsam ein- und ausatmeten, als wäre diese fremdartige Flüssigkeit um sie herum klare Luft. Sie dachte an die ersten Bilder von Julius, Ultraschallaufnahmen, die sie von Dr. Morgan, ihrer Frauenärztin gezeigt bekommen hatte, als sie mit ihm im fünften Monat war. Er hatte fast genauso ausgesehen wie die Körper dort in den Kugeln. Ihr schlotterten die Knie, und ihr Herz klopfte nun wie ein kleiner, schneller Schmiedehammer in ihrer Brust. Was für eine Barbarei ging hier vor.
"Ich sehe, sie erkennen ungefähr, was wir hier haben", sagte der Patron, dessen Gesicht vom roten Licht zu einer blutigen Maske verfremdet wurde, aus der ihr tiefschwarze Augen triumphierend zublickten. Salu, bei dem die übermäßige Schminke sein Gesicht noch einen Ton dunkler aussehen ließ, strahlte sie voller Stolz an.
"Das ist unser BUS, Schätzchen", sagte er nun ohne weibliche Betonung.
"Was soll das sein?" Fragte Martha. Doch das sich ihr bietende Bild verriet es ihr überdeutlich, was die Anlage hier sollte. Hier wurden Menschenversuche gemacht. Lebende Menschen wurden in solchen Kugelkammern in einer obskuren Flüssigkeit versenkt, die wohl mit Sauerstoff angereichert war, damit sie sie wie Luft veratmen konnten. Von ähnlichen Experimenten hatte sie bereits erfahren. Doch was sie hier sah war bestimmt von keiner wissenschaftlichen Behörde genehmigt worden.
"Das ist der BUS. Ein bionischer Uterus-Simulator", verkündete Salu, als sei dies sein Werk, sein ganzer Stolz.
"Das kann doch nicht sein", sagte Martha Andrews wider alle Logik, die ihr das Gegenteil offenbarte. Denn drei Leute in den gänzlich gefluteten Kugeln hingen da wie Föten im Mutterleib, mit einer anatomisch korrekt angebrachten Nabelschnur. Doch es waren keine ungeborenen Kinder, die noch nicht atmen konnten, sondern erwachsene Menschen, die in diesen getönten Glaskörpern gefangenlagen.
"Unser Genie hier", sagte der Patron und deutete auf Salu, "Hat seinen Doktor der Medizin und seine Spezialisierung auf Gynäkologie und Geburtshilfe mit der Erforschung unserer ersten neun Lebensmonate erworben, die die Bürokratie nicht als Lebenszeit anrechnet. Dabei hat er es geschafft, erst in Tierversuchen die Bedingungen technisch nachzuahmen, denen wir alle mal unterworfen waren. Da Sie eine intelligente Frau sind und als Ex-Frau eines Naturwissenschaftlers sicher einige Ahnung davon haben, wi kompliziert solche Lebensbedingungen sind, können Sie sicher einschätzen, welchen Meilenstein der Medizin, so wie anderer Bereiche mein fachkundiger Helfer da erreicht hat."
"Danke, Patron", sagte Salu. Martha stand da wie vom Donner gerührt. Ihr mühsam aufgebauter innerer Eispanzer bröckelte immer stärker. In ihr stiegen Angst, Verachtung, Abscheu und Wut nach oben und drohten, ihren rein logischen Verstand zu verdrängen.
"Natürlich konnte ich einen voll ausgebildeten Säuger, erst eine Maus, dann eine Ratte, schließlich einen Schimpansen und dann den ersten Menschen, nicht zu exakt denselben Bedingungen in diese Installation integrieren. Ich mußte die ihn umgebende Flüssigkeit mit einem Hyperoxydagens anreichern, damit der Proband nicht an Sauerstoffmangel starb, wenn seine Lungen damit geflutet wurden. Außerdem mußte ich die Körperfunktionen künstlich verlangsamen, um den Energieverbrauch auf ein zulässiges Maß reduzieren zu können, was heißt, daß ein Proband nicht im 36 Grad warmen, sondern 22 Grad warmen Fruchtwasseräquivalent ruht. Die Körperkerntemperatur konnte ich auf einen Wert von gerade zwei Grad über dem lethalen Grenzwert einpegeln, wobei ich den kompletten Stoffwechsel auf ein Fünftel des üblichen Umsatzes verlangsamen konnte. Durch die künstliche Nabelschnur wird das Blut zusätzlich gereinigt, mit notwendigen Nährstoffen, antibiotischen Seren und Narkotika versorgt, die die verlangsamten Funktionen kontrollieren und den Probanden in einer halben Betäubung halten, damit er keine willentlichen Bewegungen ausführen und sich damit selbst gefährden kann. Mikrofone und andere Sensoren überwachen die Vitalfunktionen berührungslos, wobei Mikroprozessoren mit der von mir entwickelten Software die Balance der Blutsubstanzen erhalten und die von den nicht völlig stillzulegenden Lungen veratmeten Abgase ausfiltern, in reinen Sauerstoff zurückführen und diesen wieder in das Äquivalent zurückleiten. Diese Installation kann theoretisch mit einhundertfünfzig Integrierten Personen, mit der gesamten aus physiologischen und technischen Prozessen erwachsenden Energiemenge auskommen, die dreißig frei atmende und arbeitende Menschen umsetzen. Die Anwendungsfelder meiner Erfindung sind vielfältig, von der Notfallmedizin über Lebenszeitverlängerung bis hin zu interplanetaren, ach was, interstellaren Raumflügen."
Martha Andrews sah den selbstherrlichen Wunderdoktor in Frauenkleidern genau an. Sie erkannte weder in Stimme noch Gesichtszügen einen Hauch von Wahnsinn. Dennoch war sie sich sicher, daß dieser Mann nicht bei Verstand sein konnte. Als hätte er ihre Gedanken erfaßt sagte er völlig gelassen klingend: "Sie mögen mich jetzt für einen wahnsinnigen Wissenschaftler aus dem Horrorroman oder einem düsteren Zukunftsfilm halten und denken, ich sei ein Nachkomme Frankensteins oder Doktor Mabuses. Ja, diese Vorwürfe und üblen Anfeindungen habe ich tatsächlich schon erlebt. Aber von den fünf Psychiatern, die mich auf verschiedene Anordnungen hin untersuchten, konnte nicht einer einen klinischen Befund bei mir erstellen, obwohl sie sich schon sehr bemüht haben, dies zu erreichen." Er grinste überlegen, aber nicht irrsinnig. "Viele Wissenschaftler mußten Anfeindungen ertragen, als sie mit bahnbrechenden Neuheiten aufwarteten. Das ist der Preis für uneingeschränkten Forschungsdrang."
"Sie meinen doch wohl eher skrupellosen Schaffensdrang", korrigierte martha Andrews diese Ausführung. Sie hörte, daß ihre Stimme nicht mehr so kühl und emotionslos klang. Dem Patron schien dies auch nicht zu entgehen. Denn jetzt zeigte er ein überlegenes Lächeln, das in seinem Blutmaskengesicht eine dämonische Wirkung bekam.
"Der Docteur hat vergessen, daß dann auch unsägliche Massengefängnisse und Hinrichtungen der Vergangenheit angehören. Lebenslänglich verurteilte können dann wirklich lebenslänglich verwahrt werden, platz- und kostensparend, tief unter der Erde, solar oder atomar mit strom versorgt."
"Letzten Aspekt sehe ich wohl vor mir", erwiderte Martha Andrews. "Sie wollen mich in ihre Höllenmaschine stecken, damit ich Ihnen nicht mehr in die Quere kommen kann, nicht wahr."
"Höllenmaschine ist der falsche Ausdruck, Schätzchen. Wenn Sie die Abkürzung BUS nicht mögen, dann nennen Sie es gefälligst Langzeitlebenserhaltungsmaschine."
Martha mußte innerlich grinsen. Sie hatte den Stolz dieses Mannes da angekratzt. Vielleicht konnte sie ihn gar zum wanken und umfallen bringen. Sie sagte nun wieder kühl:
"Sie wertschätzen die Natur der Frau nicht besonders, wie? Sonst würden Sie ja wohl keine übertrieben feminine Maskerade auflegen und den Frauen die einzigartige Fähigkeit streitig machen, neues Leben sicher hervorzubringen. Denn mit dieser Machenschaft da", wobei sie auf die Kugeln deutete, "machen Sie die Zeugung und Geburt ja überflüssig. Sie verfallen in genau die Schiene, die der Schriftsteller Aldous Huxley als Warnung vor einem Verlust unserer Werte in einem Roman verewigt hat, Menschen aus Flaschen, ohne Vater und Mutter, nur Keimzellenspender. Gut, nach Louise Brown ist die Zeugung außerhalb des Mutterleibs ja zur Routine geworden. Warum also nicht auch das heranreifen?"
"Das will ich nicht", fauchte Salu oder Docteur nun sichtlich gereizt. Nun funkelten seine Augen sehr bedrohlich, im blutroten Licht wie glühende Kohlen wirkend. "Ich habe eine Hochachtung vor der Natur der Frau, ich verehre sie. Ich habe nicht vor, einer Frau das Recht und die Fähigkeit streitig zu machen, Kinder zu empfangen und zu gebären. Wie kannst du es wagen, mich auf die Stufe mit diesem Scharlatan zu setzen, der diese Göre Louise Brown gemacht hat. Da ist doch keine Liebe bei, auch wenn die Geneltern dieser Göre das behauptet haben. Mir geht es darum, das Wunder der Geborgenheit auch für bereits geborene Menschen zu verwirklichen, ihnen bei schweren Krankheiten die Zeit zu geben, die sie brauchen, bis eine Heilung für ihre Leiden entwickelt wurde, den Traum vom Flug zu den Sternen nicht zum Alptraum werden zu lassen, ja und der Menschheit selbst dann noch das Überleben zu sichern, wenn die Dummheit der Machthabenden zum weltweiten Atomkrieg führt. Denn in BUS-Bunkern könnten Millionen Menschen die Zeiten erwarten, wenn die Erde wieder bewohnbar wird. Jetzt denkst du wohl wieder, ich sei ein irrer Kurpfuscher, was?"
"Das habe ich von Josef Mengele auch gedacht", konterte Martha Andrews. "Das hat aber nichts daran geändert, daß er grausam und gefährlich war. Wieviele Leute haben Sie für Ihre skrupellosen Versuche schon geopfert. Waren es Leute aus bestimmten Volksgruppen oder Gesellschaftschichten? Oder haben Sie keine Rückschläge hinnehmen müssen? Daran zweifel ich."
"Dann vergiss es", knurrte Salu sichtlich erbost. "Ich habe keinen einzigen Menschen umgebracht, und werde dies auch in Zukunft nicht tun."
"Soso, und was haben Sie mir vorhin in diesem Kellerraum erzählt, daß ich entweder wie Mr. Marchand stillgelegt werde oder ganz verschwinde. Oder wollen Sie jetzt darauf hinaus, daß Sie für meinen Tod ja dann nicht verantwortlich sind?"
"Das stimmt", erwiderte der Patron erheitert. "Der Docteur ist zu weich, um bewußt menschliches Leben auszulöschen. Deshalb hat er mir ja seine Maschine angeboten, damit ich nicht jeden eliminieren muß, der oder die mir lästig zu werden beginnt. Das ist eine perfekte Symbiose. Er bekam von mir das Geld, den Standort und die Probanden, während ich meine Feinde loswerden kann, ohne sie ermorden zu müssen. Hat auch was für sich. Irgendwann kann ich vielleicht deren Kenntnisse nutzen, was bei Leichen ja absolut unmöglich ist."
"Bis jemand wie er hier", wobei Martha auf Salu deutete, "eine Methode entwickelt, den menschlichen Geist in allen Einzelheiten aufzuzeichnen und wegzuschließen." Dann lief ihr ein heißer Schauer über den Körper. Was redete sie da? Woher wolte sie wissen, ob es in der Zaubererwelt nicht längst solche Möglichkeiten gab? Immerhin wußte sie, daß Magie vieles mehr bewirken und auch anrichten konnte als diesem selbsternannten Wohltäter der Menschheit und seinem kriminellen Gönner auch nur im Traum einfiel. Dann fiel ihr etwas anderes ein. In einer dieser BUS-Kugeln lag Zachary Marchand, willen- und bewegungslos gehalten von einem höllischen Lebensunterdrückungssystem. Ja, und wenn ihr nicht bald etwas wirksames in die Hände fiel, würde sie auch bald in einer der noch freien Kugeln schwimmen, wie ein Kind im Mutterleib, nur ohne den beruhigenden Herzschlag der Mutter zu hören und nicht in liebevoller Erwartung, sondern in feindseliger Unterdrückung geborgen zu sein.
"Ich denke, Madame Andrews weiß nun genug über deine Glanztaten, Docteur. Bringen wir es zu Ende", sagte der Patron.
"Wo ist Zachary Marchand?" Feuerte Martha eine Frage ab, von der sie nicht wußte, ob es nicht ihre letzten Worte sein mochten.
"Die zweite von den besetzten", grinste der Patron. "War übrigens ziemlich kurios. Der hat doch glatt versucht, mit so einem Holzstab gegen mich zu kämpfen, als wir in der Schleuse waren. Aber mein Freund hier hat ihn mit einer leichten Betäubung erwischt und ihn dann ganz ausgezogen. Dieser komische Stab liegt jetzt bei meinen Technikbastlern. Der Typ wollte uns wohl weißmachen, er sei ein Zauberer oder sowas."
"Wer sagt Ihnen, daß ich keine Hexe bin und während unseres netten Geplauders telepathische Hilferufe ausgestrahlt habe?" Versetzte Martha, die testen wollte, ob sie diesen Patron nicht doch noch kalt erwischen konnte. Doch dieser lachte schallend los.
"Ich bin mit den Geschichten um Marie Laveau und Nostradamus groß geworden, Madame. Magie mag damals als Ausrede für die kleingeistigen Menschen hergehalten haben, weil geniale Zeitgenossen was anstellen konnten, was sie selbst nicht begriffen. Doch heute leben wir im zwanzigsten Jahrhundert. Die Wissenschaften haben vieles, was frühere Bauernburschen für Zauberei halten würden zum alltäglichen Gebrauchsgut gemacht. Daß Sie irgendwem telepathische Hilferufe zustrahlen könnten müßte ich ja daran merken, daß Sie sich auf irgendwas konzentrieren. Sicher, Sie haben psychologische Schulung und konnten Ihre echten Gefühle vor mir verbergen, Chapeau. Aber Magie, Hexerei, Humbug!"
"Das hat Richard auch immer behauptet", grummelte Martha eher unabsichtlich.
"Sie vertut unsere Zeit", sagte Salu. "Einen Sender hat sie nicht mitgehabt und sonst könnte sie keinem irgendwas mitteilen."
"Na dann, der BUS wartet, Madame. Wünsche einen angenehmen Aufenthalt!" Salu näherte sich martha. Sein Gesicht zeigte erbarmungslose Entschlossenheit.
"Lege dein Unterzeug ab!" Befahl er, während der Patron den Revolver entsicherte und ihn auf Marthas Hinterkopf richtete. Sie hatte nun die Wahl, sterben oder in einer dieser Kugeln dahinzuvegetieren.
Es war wie ein Tempel des Teufels, fand Julius, der früher nie was für Religionen übrighatte und seit seiner Zaubereiausbildung noch weniger davon hielt. Doch die kirchengroße Steinkuppel, die aus dem Boden gewachsen war, strahlte eine solche Gnadenlosigkeit und Unbezwingbarkeit aus, daß er sich eher wie der vierjährige Junge fühlte, der in den Keller des Sanderson-Hauses hinunterstieg und dort von einem wütenden Wespenschwarm angegriffen wurde. Ja, er sollte wieder in eine tiefe Höhle hineinsteigen, in der eine große Gefahr auf ihn wartete. Doch was sollte er machen? Sein greisenhaft aussehender Vater stand hinter ihm und legte ihm eine stahlharte Hand ins Genick. Julius wußte, daß dieser Mann von der düsteren Magie der Abgrundstochter durchdrungen wurde und dadurch mehr als viermal so stark wie ein junger, gut trainierter Mann war. Gegen ihn zu kämpfen war sinnlos. Das hatte er selbst ja erst erfahren müssen. Doch er wollte nicht freiwillig in diese Mausefalle gehen, deren Speck sein Vater war und deren tödlicher Mechanismus dieses unirdisch schöne Geschöpf da vor ihm war, das ihm einladend mit schönen schmalen Händen zuwinkte.
"Los, wird's bald! Loretta hat Zeit, ich nicht!" Knurrte der halbtot aussehende Richard Andrews wütend. Er schob den Jungen voran, der mit dem Gedanken Spielte, erst einen Ellenbogenstoß nach hinten auszuteilen und dann seinen Zauberstab zu ziehen, um den Mann zu schocken. Doch dann? Dieses Monsterweib würde ihn dann mit noch mehr Kraft und Schnelligkeit und vor allem ihrer dunklen Zauberkraft angreifen. Die war gegen Flüche immun und körperlich nicht zu verletzen. Selbst Avada Kedavra konnte ihr nichts anhaben, sie höchstens in einen tiefen Schlaf versetzen, den sie hier in dieser Höhle schlafen müßte. Doch er konnte diesen Fluch nicht. Er hatte ihn mehrmals vorgeführt bekommen, ja war zweimal damit angegriffen worden. Doch der erste Angriff war von einem überdrehten und wütenden Slytherin-Jungen gekommen, der damit auch nichts anfangen konnte, und den zweiten Angriff, von Slytherins grausamem Urportrait, hatte er nur durch eine Kombination aus Glück und Geistesgegenwart abgewehrt. Hier würde es ihm nichts helfen. Sollte er sich dieser Frau da nun als Ersatzfutter für seinen Vater anbieten? - Das war es wohl auch, was sie von ihm wollte. Diese Erkenntnis ließ ihn heftig zusammenschrecken. Sie hatte ihn gejagt, damit er an die Stelle seines Vaters treten sollte. Ja, Marie Laveau hatte richtig vorhergesehen. Die Abgrundstöchter würden ihn begehren. Doch was sie sonst geweissagt hatte würde nicht mehr eintreffen. Es sei denn, Julius fand den Schlüssel, der ganzen Angelegenheit zu entgehen. Doch die Zukunft war keine feststehende Größe, sondern nur ein Gewirr von Möglichkeiten, die es gab, wenn man in der Gegenwart A, B oder C machte. Tja, und wenn wer anderes D machte, kam noch was völlig anderes bei heraus. Das hatte er in den Arithmantikstunden schon gelernt.
Unerbittlich schob sein Vater ihn durch den glatt geschliffen wirkenden Eingang der Höhle. Er wirkte wie ein auf dem Kopf stehendes U mit langen Schenkeln. Es wurde für einen Moment stockdunkel um Julius. Dann sah er in der Ferne ein glutrotes Glimmen wie ein Stückchen Kohle in einem riesigen, ansonsten leeren Ofen. Hallitti trat vor dieses Licht und wurde zu einem blutroten Schatten, dessen Rand glühendrot schimmerte. So sah auch der Mond aus, wenn er bei einer totalen Finsternis durch den Kernschatten der Erde wanderte, fiel es Julius ein.
"Komm ruhig weiter, Julius. Es ist hier nicht kalt drin. Ja, und es wird auch gleich richtig hell hier drin", lockte Hallitti mit honigsüßer Stimme.
"Los, rein da! Sie will die Öffnung gleich schließen", schnaubte Richard Andrews. Seine altersgebrechliche Stimme jagte Julius das blanke Entsetzen ein. Dieser Mann war nicht nur brutal, gnadenlos und gewissenlos, sondern bald, sehr bald auch wertlos. Wußte der das überhaupt? Ach ja, er war ja schon tot, bevor er gestorben war. Doch vielleicht konnte Julius seinem Vater noch helfen, ihn irgendwie zur Besinnung bringen.
"Die will dich wegschmeißen, Paps. Du bist von der leergesaugt worden wie eine Batterie. Die mag dich nicht mehr!" Rief Julius seinem Vater zu, als er den Jungen weiter in die Höhle stieß. Hallitti lachte darüber.
"Du lügst", knurrte Richard Andrews. "Sie wird mir noch mehr Kraft geben. Sie hat mich schon vor einem feigen Mordanschlag gerettet. Sie liebt mich. Aber sie will dich auch haben, zusammen mit mir. Deine vermaledeite Zauberkraft soll uns helfen, noch stärker zu werden, damit sie ihre lieben Schwestern rufen kann."
"Ach du großer Drachenmist", dachte Julius. Darum ging es diesem Monster. Es wollte seine acht anderen Artgenossen rufen, zumindest aber die sechs anderen Schläferinnen aufwecken. Darum ging es dieser Bestie. Sie brauchte einen magisch vollfunktionsfähigen Sklaven, um die eigene Kraft nach oben zu treiben. Sein Vater war nur der Schlüssel dazu. War er das schon immer gewesen? Oder war dieser Kreatur nur die Idee gekommen, weil er Idiot gestern oder Vorgestern versucht hatte, seinen Vater zu finden? Die Frage war jetzt absolut unwichtig, erkannte Julius. Denn in diesem Moment stach ihm helles, goldenes Licht in die Augen. Sie standen nun richtig in der Höhle.
Hallitti trat zur Seite und gab den Blick auf einen an die zwei Meter hohen Krug mit zwei wuchtigen Henkeln frei. Julius konnte nicht erkennen, aus welchem Material er bestand. Doch er strahlte aus sich selbst heraus in diesem gleißenden Goldlicht. Ein großer Deckel lag oben auf. Julius wußte, was es war.
"Ich sehe dir an, du hast mit diesem Anblick gerechnet, Julius", sagte hallitti. Ihr gefangener vermied es, sich vom Blick der goldenen Augen einfangen zu lassen. Solange er frei denken konnte, hatte er noch eine Chance. "Lass ihn los, Richie!" Säuselte sie. Sofort ließ der uralt aussehende Mann ihn los.
"Hier ist sie Gott. Wie, Paps? Ihr Wort ist Gesetz", stichelte Julius, als sein Vater einige Schritte von ihm wegging. Jetzt könnte er seinen Zauberstab nehmen und ... Mit lautem Rumoren schloß sich der Höhleneingang wie ein riesiges Maul aus Stein von unten nach oben. Gleichzeitig meinte Julius, der Boden würde sich senken, Zentimeter für Zentimeter. Ja, das war es auch. Die Kuppelhöhle sank wieder in den Wüstenboden ein, aus dem sie emporgewachsen war. So mächtig also war die Magie dieser Kreatur, daß sie hunderte Kubikmeter Erdreich beliebig verschieben konnte. denn der Scheitelpunkt der Kuppelhöhle lag mindestens zwölf Meter über dem Boden. Dann schloß sich der Eingang nahtlos. Nun konnte Julius nicht mehr erkennen, wo er verlaufen war. Wenn sich dieses unterirdische Versteck auch noch drehte, würde er nie herausfinden, wo er hinausmußte. Jetzt war er endgültig ausgeliefert. Die Angst vor dem unausweichlichen, unabwehrbaren schnürte ihm die Kehle zu. Sie hatte ihn und würde mit ihm machen, was sie wollte.
"Du hast Angst, weil du nun bei mir bist, wo dir alle erzählt haben, daß ich oder meine Schwestern so böse und gefährlich sind", sagte Hallitti, die nun langsam auf Julius zukam, die Arme einladend ausgebreitet. Julius wich zurück. Er wollte sich dieser Kreatur da nicht widerstandslos ausliefern. Sicher, was waren die Minuten noch wert, die er jetzt vielleicht noch herausschinden konnte? Niemand würde ihm helfen können. Es sei denn ... Er eilte schnell zur hinter ihm liegenden Höhlenwand, die glatt war wie geschliffener und polierter Marmor. Hier blieb er stehen. Hallitti kam immer noch auf ihn zu, langsamund keineswegs wie ein angreifendes Raubtier. Er konzentrierte sich. Das innere Schweigen. Er mußte seinen Geist von worthaften Gedanken freibekommen. Er schloß die Augen und konzentrierte sich auf Meeresrauschen. Dann rief er sich das Bild eines wolkenlosen Himmels ins Bewußtsein. Nun mußte er seinen Geist mit einem angenehmen Gefühl füllen. Er stellte sich Ardentia Truelane vor, die zweite, mit der er einmal mentiloquiert hatte. Sie strahlte ihn an. Ja, dieses Strahlen konnte er benutzen und dachte die Botschaft: "Hilfe, sie hat mich in ihrer Höhle! Sie hat mich in ihrer Höhle in der Mojave-Wüste in Kalifornien!" Dann hörte er seinen Hilferuf von vielen Seiten widerhallen, verzerrt, wie aus dem Nichts anschwebend und in der Tonhöhe verrutscht, immer lauter und verzerrter.
"Netter Versuch, Junge. Aber deine ungeübten Gedankenkräfte können meine Höhle nicht verlassen", sagte Hallitti. Da fiel Julius auf, wie nahe sie ihm schon war. Er hielt die Augen geschlossen. Er wollte sie nicht ansehen.
"Dies ist mein Reich, Julius. Hier herein und hier heraus wirkt nur mein Zauber. Also gib es endlich auf, dich gegen mich zu wehren. Ich bin nicht deine Feindin. Im Gegenteil. Ich werde dich endlich von diesen bornierten Besserwissern freimachen, die doch nur Angst vor deiner Stärke haben und dich deshalb dumm und schwach halten. Das weißt du auch ganz genau, daß sie dich nicht lieben, sondern fürchten, dem gefürchteten Wolf Fleischbrocken hinwerfen, damit er sie nicht beißen oder fressen wird. Aber diese Zeiten sind vorbei. Sei froh, daß ich dich gefunden habe", sprach Hallitti auf ihn ein. Ihre Stimme klang warm, sanft und unermesslich beruhigend. Julius, von der geistigen Anstrengung und den zurückgeworfenen Gedankenrufen benommen, fühlte eine immer tiefer in sich eindringende Ruhe und Geborgenheit. Doch so ähnlich wirkte der Imperius-Fluch auch, fiel ihm ein.
"Du lügst! Du benutzt uns Menschen. Für dich sind wir doch nur kaninchen, die man essen kann."
"Oho, Kaninchen. Der letzte, der meinte, mir sowas vorwerfen zu müssen verglich seine Artgenossen mit Schafen und nannte mich eine Wölfin. mal was neues", lachte die Unheilstochter.
"Ach, weil die Kaninchen sich andauernd fortpflanzen?" Fragte Julius. "Stimmt, da muß dir Höllenschickse ja einer abgehen. Aber was rede ich mit einem Vampir?" Da fühlte er den Schmerz einer heftigen Ohrfeige an der linken Wange und meinte, seine Zähne müßten davon aus dem Mund brechen.
"Wenn du je mit mir gut klarkommen willst, Julius, dann vergleiche mich nie wieder mit diesen bleichgesichtigen, lichtscheuen Blutegeln. Ich bin mehr als sowas. Ich bin mehr als eine Hexe, Und dieses Blut trinkende Pack fürchtet meine Schwestern und mich mehr als deinesgleichen diesen irrsinnigen, sich selbst an Körper und Seele verstümmelnden Narren Voldemort, der meinte, mich unter seinen Befehl zwingen zu können." Beim letzten Satz mußte sie lachen, während Julius aufatmete, daß ihm doch kein Zahn abgebrochen war. Also konnte man dieses Monster beleidigen. Also war es nicht so selbstsicher wie es ihm vormachen wollte. doch noch so'ne Backpfeife würde ihm bestimmt den Kopf von den Schultern hauen. Doch ja, er wollte lieber sterben als diesem Geschöpf da seinen Willen lassen. Er schätzte, daß sie nun genau vor ihm stand. Da er immer noch keinen Blickkontakt mit ihr wagte, mußte er blind zielen. Ansatzlos hieb er seinen Rechten Arm nach ihr und traf sie am Oberkörper. Sein Pflegehelferschlüssel berührte eine ihrer prallen Brüste. Ein unheimlich heftiges Sengen und danach schockartiges Abkühlen traf Julius. Gleichzeitig flog Hallitti mit einem tierhaften Aufschrei zurück. Durch die geschlossenen Augenlider drang ein bläulicher Lichtblitz. Doch diesen Angriff bereute Julius sofort, als ihn das Monster mit einer fangschreckenartigen Schnappbewegung beide Arme um den körper schlang und ihn vom Boden riss und mit wuchtigem Schwung davon schleuderte. Krachend schlug er auf dem harten Höhlenboden auf und fühlte alle Knochen und Muskeln im Leib schmerzen.
"Dieses vermaledeite Armband. Aber ich werde es dir lösen, sobald wir uns gefunden haben, Junge!" Rief Hallitti, die wohl auch nicht gerade schmerzfrei davongekommen war. Offenbar war sein Armband mit weißer Magie aufgeladen, dachte Julius unter den Wellen der von allen Schaltstellen des Körpers eintreffenden Schmerzen. Doch die Magie war nicht stark genug, ihn zu schützen oder dieses Biest da zu vernichten, wie es ein Kruzifix im Vampirfilm konnte. Doch bei dem Armband kam ihm eine Idee. Er legte den Finger auf den Zierstein, der noch leicht erhitzt war und murmelte auf Französisch:
"Schwester Florence, ich rufe Sie!" Das Armband ruckte einmal. Doch mehr passierte nicht.
"Aha, es ist ein besonderer Talisman, der dich mit einer dieser überfreundlichen Heilhexen verbinden soll", knurrte Hallitti, die wohl gerade wieder näherkam. "Aber jetzt halte ich diesen Unfug aus. Jetzt kann mir dieses Ding nicht mehr wehtun. Warum wolltest du mir eigentlich wehtun? Ich habe dir nichts getan, und deinen Vater werde ich wieder jung machen, nachdem ich monatelang gegen den Tod gekämpft habe, den ihm feige Räuberbanden antun wollten."
"Nachdem er für dich andere Frauen umgebracht hat", knurrte Julius und hieb noch einmal nach Hallitti. Er traf sie zwar wieder mit dem Armband. Doch diesmal spürte er nur ein kurzes Sengen und Abkühlen. Mehr passierte nicht.
"Ich sagte dir doch, daß mir dein Spielzeug nichts mehr anhaben kann. Das ist der Segen meiner Mutter, der großen Lahilliota. Von der haben sie dir bestimmt noch schäußlichere Geschichten erzählt als von mir. Oder?" Säuselte Hallitti nun wieder warm und beruhigend. Julius ahnte, daß sie ihre Stimme genauso als Waffe einsetzen konnte wie ihren Körper, ihre Augen oder das dunkle Feuer.
"Du bist nicht gesegnet, sondern verflucht. Empfangen durch den bösen Geist. Ausgestoßen aus einer Männerhassenden alten Jungfer."
"Amen!" Lachte Hallitti. "Weißt du, daß das der Stil der Teufelsanbeter ist, die heiligsten Gebetsformeln zu verfälschen?"
"Das glaube ich dir sofort. Du bist ja seine Tochter", sagte Julius trotzig. Er hatte jetzt nichts mehr zu verlieren.
"Wie soll der Teufel mein Vater sein, wenn meine Mutter eine alte Jungfer war, wie du gehässig behauptet hast? Das ist doch unlogisch."
Offenbar kannte sie Julius besser als ihm lieb war. Was hatte sie bei dem Sanguivocatus-Zauber aus ihm herausholen können? Denn die Erinnerung daran war ja verschwunden, als Mrs. Porter ihn zu seinem Schutz geschockt hatte.
"Was weißt du denn von Logik? Der Logik nach dürfte es dich gar nicht geben", spie Julius wütend aus.
"Deiner Logik nach bestimmt nicht. Andererseits ist die Logik nicht der Weisheit letzter Schluß, nicht wahr? Viele Menschen bilden sich was auf ihre Logik, ihre Vernunft, ihren unerschütterlichen Geist ein. Wie viele von denen genossen meine Liebe und dachten danach anders? Vergiss die Logik, die deinem Vater die Liebe seiner Frau verdorben hat! Vergiss die Vernunft, die dich daran hindert, du selbst zu sein und dich schwächt! Vergiss den unerschütterlichen Geist, der nur dann unerschütterlich bleibt, wenn er nicht mit unvorhersehbaren Dingen in Berührung gebracht wird. Das Leben kann nicht in Schranken gehalten werden. Es will frei sein, will sich austoben, Erfahrungen aufsaugen wie ein trockener Schwamm. Genau das ist es doch, was du willst, Julius. Deine Vernunft quält dich, sie beißt dir in den Kopf, weil du mich haben willst. Du nennst mich Schickse, Hure oder Schlampe und rufst doch danach, mich mit allen Sinnen zu genießen. Dein Vater hat es gelernt, daß seine Vernunft und das, was seine Mitmenschen Moral nennen ihm nur Steine in den Weg und an den Kopf geworfen hat. Jetzt ist er wirklich frei und wird mit dir und mir zusammen die absolute Freiheit des Lebens genießen. Du hältst deine Augen krampfhaft zu, weil du deinem inneren Willen zum Leben nicht erlauben willst, das zu sehen, was er begehrt, wonach er sich ausstrecken und es ergreifen will. Diese Leute, ja auch dein Vater, haben dich verdorben. Sie haben dir Angst vor dir selbst in die Seele gepresst, damit du niemals stark wirst und lernst, was du eigentlich willst. Wenn du keine Angst vor dir selbst hast, sieh mich doch an. Ich habe Zeit."
"Ich aber nicht, Lolo! Wenn du ihn lieben willst, mach schnell, bitte! Ich fühle, daß es mit mir nicht mehr lange geht", krächzte Richard Andrews aus unmittelbarer Nähe.
"Hetz mich bitte nicht, Richie. Dein Sohn muß von den ganzen Ketten erst mal loskommen, die du ihm angelegt hast. Aber ich bin ja nicht so. Ich werde dir gleich deine verdiente Belohnung geben", sagte Hallitti sehr sanft. "Geh schon einmal zu meinem großen Krug hin!"
Julius lag fast ohne jeden klaren Gedanken am Boden. Doch als Hallitti, die ihm so viele aufmunternde Dinge sagte, seinem Vater sagte, er solle zum großen Krug gehen, flackerte noch einmal Widerstandskraft in ihm auf. Er riss die Augen auf, um zu sehen, wo sein Vater war und wollte ihm gerade zurufen, er solle das nicht tun, weil dieser Krug ihn bestimmt in seine Lebensenergie auflösen würde, als er Hallitti sah. Sie stand da, ohne ihr weißes Kleid, hellhäutig und biegsam. Julius konnte nicht anders. Er sah dieses Wesen da an, das die Natur niemals schöner hätte machen können. Er sog sich an ihrem bloßen Körper fest, der sachte unter den Atemzügen Pulsierte. Er sah sie in allen Einzelheiten, die jeder züchtige Mensch verhüllen würde, wie sie ihre schlanken Beine streckte und den rechten Fuß sanft hob und nach vorne schob, sodaß sie nun in einem halben Spagat dastand. Sie wußte, er sah ihr zu. Sie hatte nichts dagegen, wie er sie mit den Augen abtastete, ihre Brüste anglotzte, dann ihren schlanken Hals und dann in ihre goldenen Augen starrte, die für ihn wie Seen aus Honig waren, süß und wohltuend. Er fühlte sich in diesem Blick versinken und wußte, er hatte endgültig verloren. Seine Begierde hatte ihn übermannt und ihr erlaubt, ihn nun endlich zu sich zu nehmen, ganz wie er es wollte. Ja, er wollte diese Frau, dieses Wunder einer übermenschlichen Macht, als erste Frau seines jungen Lebens nehmen, sich mit ihr vereinigen, sie besitzen und von ihr besessen werden. Doch er hatte noch zuviel Kleidung am Leib. Hektisch zerrte er an seinem dünnen Hemd, rupfte es ungeduldig über den Kopf und ließ es fallen. Dann stand er ohne Hose und Strümpfe da, dann ohne alles, was er an Kleidung getragen hatte. Doch den Gürtel mit seinem Zauberstab konnte er nicht lösen. Auch sein Brustbeutel ließ sich nicht bewegen, war wie festgewachsen. Er achtete nicht weiter darauf. Auch das Armband konnte er nicht lösen. Auch seine Armbanduhr konnte er nicht lösen, weil sie keine Schließe besaß, die er mit bloßen Fingern aufbekam. Er brauchte einen Zauberstab. Doch an den kam er nicht heran.
"Lass gut sein, Julius! Mich stört es nicht. Im Gegenteil, zusätzliche Berührungshilfen bringen mich gut in Wallung", stöhnte Hallitti ihm lustvoll zu. Er schritt nun auf sie zu. Hallitti hielt ihn mit dem Blick ihrer Augen fest und zog ihn damit langsam und bedächtig an sich heran. Sie breitete ihre Arme aus. Dann stand Julius vor ihr. Ihn drängte es, diese Frau jetzt sofort zu nehmen, über sie herzufallen wie ein hungriger Wolf. Doch sie streichelte nur seine nackte Brust und sagte:
"Gleich, Julius! Ich weiß, das erste Mal kann nie schnell genug kommen. Aber es soll ja auch lange vorhalten." Julius blieb stehen und wartete. Sein Herz pochte heftig aber anregend. Er fühlte, wie es in seinem Unterleib erwachte, jenes Etwas, das im Leben eines Jungen einmal aufwachte, damit er zum Mann wurde. Hallitti wandte den Kopf vorsichtig um. Julius tat es auch. Beide sahen sie Richard Andrews, der neben dem goldenen Riesenkrug stand. Mit einer lässigen Handbewegung ließ Hallitti den schweren Deckel vom Krug herabgleiten und daneben landen.
"Richie, ich habe dir versprochen, du kannst wieder ganz stark werden. Ich habe in dem Krug etwas für dich, das dich wieder stark machen wird. Du mußt nur hineinsteigen und darin baden!" Rief sie ihm zuckersüß zu. Richard Andrews nickte und strahlte sie hocherfreut an. Über Julius, der keinen Meter mehr vor seiner Erfüllung stand, sagte er nichts. Er warf den Anzug von sich, legte seinen Körper frei. Julius mochte dem nicht zusehen, wie der alte Mann sich da auszog. Hallitti war schöner, jünger und sie war seine erste große Liebe, die er nun endlich genießen durfte. Völlig nackt ergriff Richard Andrews einen der Henkel, zog sich ächzend daran hoch, während Julius sich von Hallitti zärtlich über den Körper streicheln ließ, und sie mit seinen Händen erst unbeholfen und dann zielstrebig erkundete. Gleich würde sein Sohn auch diese alles überragende Liebe erleben, die ihn erst ausgezehrt, dann erschreckt und dann doch so glücklich gemacht hatte. Und da wartete seine Belohnung, orangerotes Licht, ein Bad aus einer ätherischen, aus sich selbst leuchtenden Substanz, die ihn einlud, sich in sie hineingleiten zu lassen. Er zog sich hoch, steckte seinen Kopf über den Rand des goldenen Kruges. Julius rückte derweil immer näher an Hallitti, sodaß sie bald Brustkorb an Brustkorb standen, während sie sich immer noch streichelten, anfaßten und sanft an anregenden Stellen kneteten.
Martha Andrews wußte, daß sie jetzt endgültig ausgespielt hatte. Dieser Salu, dieser skrupellose Mensch, der meinte, der Natur ins Handwerk pfuschen zu müssen, stand neben ihr.
"Sie geniert sich, Patron. Kann ich ihr nicht verübeln", sagte Salu.
"In drei Sekunden sind die billigen Sachen runter, Frau, oder ich blase dich aus der Geschichte!" Fauchte der Patron nun ohne jede aufgesetzte Höflichkeit. Salu schnalzte nur mit der Zunge.
"Patron, es geht auch anders", säuselte dieser Mensch, der unter dem wohl weißen Laborkittel aus elastischem Kunststoff vielleicht noch sein grünes Kleid trug. Dann zog er eine kleine Injektionspistole aus dem Kittel und hielt sie Martha an den Hals. Ein stechender, brennender Schmerz bohrte sich durch ihre Haut, als die Injektionsnadel in ihr Fleisch stach. Schlagartig verlor sie alle Kraft, konnte noch nicht einmal um sich schlagen. Das Mittel lähmte sie. Doch es machte sie nicht bewußtlos. Der Patron steckte mit einem überlegenen Grinsen seine Waffe fort.
"Ich dachte, du wolltest keine Betäubungsmittel mehr anwenden, Docteur", feixte er.
"Das ist bereits das Vorbereitungspräparat, Patron. Nach den Erfahrungen mit diesem Marchand und Ihren anderen beiden Gästen weiß ich jetzt, daß ich es bedenkenlos höher dosiert schon vor der Lungenassimilation verabreichen kann. Helfen Sie mir, sie endgültig zu entkleiden!"
Offenbar brannte der Patron darauf. Er kam zu Martha Andrews und zog ihr ohne große Skrupel den Büstenhalter mit den geschlossenen Trägern vom Leib und hob sie hoch, damit Salu ihren Schlüpfer von ihr wegnehmen konnte. Martha stand nun das nackte Grauen im Gesicht. Ihr innerer Eispanzer war soeben restlos zerschmolzen. Sie war diesen Verbrechern wehrlos und völlig nackt ausgeliefert. Sie konnten nun mit ihr anstellen, was sie wollten. Sie bekam mit, wie sie zwischen zwei der freien Kugeln auf einen niedrigen, mit sterilen Tüchern ausgelegtem Tisch gelegt wurde, das Gesicht zur blutrot erstrahlenden Decke. Dann fühlte sie, wie sie von diesem Frankenstein-Transvestiten mit irgendeiner widerlich alkoholisierten Creme eingeriben wurde. Vom Kopf, an den Augen und Ohreninnenseiten, unter der Nase und dann über dem ganzen Körper. Was sollte dieses Spiel? War das eine Art Lustbefriedigungsritual für diesen Kerl, der zwischen Männchen und Weibchen balancierte wie auf einer lustigen Schaukel?
"Das Fruchtwasseräquivalent wird mit hyperoxidantien angereichert. Diese Creme schützt deine Haut vor Schäden. Nur deine Haare werden etwas blonder, fürchte ich. Marthas Sinne wurden etwas schwächer, nicht nur weil ihre Augen unter dieser weißlichen Schutzcreme lagen. Offenbar wirkte die ihr injizierte Droge nicht nur auf ihre motorischen Fähigkeiten.
Als Docteur Salu endlich mit der Einschmiererei fertig war, kam die brutale Phase der Operation. ER kam unvermittelt mit einer Art Tauchermaske und legte sie Martha über Mund und Nase. Mrs. Andrews schwante, daß nun die Tortur mit der Flüssigkeit kommen würde. Doch sie atmete weiter, konnte nicht anders. Dann hörte sie das Zischen. Die Luft wurde aus Ventilen an den Seiten der dicht anliegenden Maske herausgedrückt. Dann kam das Gebräu aus Salus Hexenküche und schoss ihr in den Mund, trieb alle restliche Luft aus. Sie versuchte, das Zeug zu schlucken. Doch es drang ihr auch in die Nase ein und wurde nicht weniger. Dem nicht abgetöteten Reflex gehorchend spannten sich ihre Lungen an und sogen ein, was in sie hineinwollte. Panik ergriff Martha, blanke, unabwendbare Panik. Sie fühlte, wie ihre Lungen unter dem widernatürlichen Zeug erzitterten, sich zusammenzogen und wieder entfalteten. Dann atmete sie diese Flüssigkeit weiter. Doch sie ertrank nicht. Sie fühlte noch ihre Umgebung, sah durch die cremebedeckten Augen wie Salu sich über sie beugte. Gurgelnd und rauschend strömte ihr diese fremdartige Flüssigkeit in den Körper und wieder heraus. Dann verspürte sie einen weiteren Einstich in der Nähe des Bauchnabels und keine zehn Sekunden danach nichts mehr von ihrer Bauchdecke.
"Nicht in diesem Raum, Patron! Wenn Sie es nicht mit ansehen können wenden Sie sich bitte ab!" Dann hörte sie metallisches Geklimper, doch sie konnte ihren Kopf nicht bewegen, nicht sehen, was dieser Kurpfuscher da trieb. Erst als sie ein merkwürdiges Pulsieren fühlte, wußte sie, dieser Kerl hatte sie nun auch mit einer dieser Blutfilterschläuche verbunden. Dabei schwanden ihre Sinne endgültig.
Der Patron sah nicht zu, wie Marthas Körper vernabelt wurde, wie Salu die letzten unverdaulichen Substanzen aus ihr heraussog. Ihm reichten die Geräusche.
"Sie ist nun vollkommen relaxiert, Patron. Ich bette sie nun ein und starte den Integrationsprozess", sagte Salu. Der Patron sah ihm nun wieder zu, wie dieser sonst schmächtig wirkende Mensch im nun hellrot wirkenden Chirurgenkittel, unter dem sich immer noch die falschen Brüste wölbten, die am Bauch und an Mund und Nase mit einem Schlauch verbundene Frau anhob und mit ihr drei breite Sprossen bis zur Kugelschale hinaufstieg und die Gefangene durch eine Kreisrunde Luke Schob, aus der bereits die künstliche Nabelschnur hervorlugte. Vorsichtig ließ er sie in die klare Flüssigkeit hineingleiten, die das untere Drittel der Kugel ausfüllte. Er sah den Schlauch, der mit dem Flüssigkeitstank verbunden war und drückte einen Knopf an einer mit Folie überzogenen Schaltkonsole. Leise summend drehte sich die Kugelkammer nach oben, während gleichzeitig der Flüssigkeitsspiegel stieg, immer weiter. Die Luke stand nun so hoch nach oben, daß der Schlauch sich straffte. Dann überflutete die Flüssigkeit Marthas nun völlig entspanntes Gesicht, stieg immer weiter an und überflutete sie so weit, daß ihr Kopf nun frei in der Flüssigkeit schwamm. Salu drückte einen weiteren Schalter, und mit leisem Plopp löste sich die Atemmaske von Mund und Nase und sprang nach oben, wo noch ein gewisser Rest Luft war. Mit geübtem Griff pflückte Salu die Maske aus der Luft, als sie aus der Luke herausflog, dabei noch ein paar Spritzer der obskuren Flüssigkeit verlor. Dann drückte der Erfinder des BUS-Verfahrens noch eine Taste, worauf ein kurzes Klingeln ertönte und dieselbe digitalisierte Frauenstimme wie in der Schleuse sagte:
"Bus-Globus 4 nun besetzt. Phase fünf beginnt."
Die Flüssigkeit stieg weiter und füllte die Kugel aus, die sich nun noch weiter drhete, daß die Luke nun den Scheitelpunkt bildete. Marthas Körper trieb erst ein wenig nach oben und drohte, noch eine Luftblase abzubekommen. Doch wo Flüssigkeit einströmte, sogen starke Pumpen die verbliebene Luft ab, bis die Kammer gänzlich gefüllt war. Dann las Salu auf einem kleinen Monitor neben der Schaltkonsole die Daten der Sensoren ab, die nun ansprangen. Er war mit dem Ergebnis zufrieden. Die Probandin war eine kräftige, gesunde Frau, die die Integration ungefährdet überstehen würde. Dann ertönte ein rauhes Summen, zweimal, dreimal. Salu schrak zusammen. Das war der Sicherheitsalarm des Gebäudes.
"Merde, wir werden angegriffen!" Rief der patron.
"Oh, verdammt. Ich kann jetzt nicht hier raus. Ich muß den Ablauf der letzten Phase noch überwachen, sonst stirbt diese Frau."
"Wollte ich dir eh empfehlen, hierzubleiben", knurrte der Patron. "Ich regel das vom Bunker aus. Bleib hier drinnen. Da kriegt dich keine Atombombe und gasdicht ist die Halle ja auch." Er rannte zur Schleusentür, zog den Handschuh von der rechten Hand, presste Daumen, Zeige- und Mittelfinger auf drei rote Markierungen und wartete, bis das elektronische Schloß mit einem Piep verriet, das es jetzt aufging. Dann wartete er, bis die Tür sich surrend öffnete und er hindurchspurten konnte. Salu merkte, wie der Überdruck in der BUS-Halle etwas abfiel. Dann schloß sich die Tür wieder, und der zwanzigprozentige Überdruck baute sich wieder auf. Salu war allein, allein mit vier bewußtlosen Gefangenen in den BUS-Kugeln, von denen eine noch nicht richtig eingestellt war. Wer griff sie an? Waren es Konkurrenten des Patrons? War es vielleicht die Polizei? Die Person, die vom Patron auch Docteur genannt wurde wartete, bis ein Lämpchen neben der Tür verriet, daß die Außentüre geöffnet worden war. Als es wieder erlosch verriegelte Salu die Schleuse so, daß auch die per Fingerabdruckerkennung zugangsberechtigten nicht mehr hereinkommen konnten. Die Türen waren so dick gepanzert, daß die nicht einmal eine Granate aufsprengen konnte. Da die Halle eine autarke Sauerstoffversorgung besaß, konnte Salu es hier lange aushalten. Hoffentlich dauerte es nicht zu lange, bis der Patron über die kleine Funkanlage rief, daß alles in Ordnung sei. Docteur oder Salu wandte sich BUS-Globus 4 wieder zu, wo der Verlauf der letzten Integrationsphase in einer Säulengrafik angezeigt wurde, die von Rot über Gelb nach Grün wandern sollte. Die Temperatur des flüssigen Mediums wurde sachte aber immer weiter abgesenkt. Sie durfte nicht zu tief sinken, um den eingebetteten Körper nicht zu schädigen.
Nach einer Viertelstunde kam das Klingelzeichen, daß Phase 5 und damit die Integration in BUS-Globus 4 nun erfolgreich beendet war. Salu nickte der nun in der sich dunkel tönenden Flüssigkeit schwimmenden Martha Andrews zu. In wenigen Minuten würden die niederen Bewegungsprozesse wieder funktionieren, und dann würde sich auch diese Frau in die Fötushaltung begeben.
"Sie haben Sitz 14 a, Madame Faucon", sagte die professionell lächelnde Dame in der schicken Uniform hinter dem Tresen und reichte der älteren Dame mit dem schwarzen Haarschopf, den sie der Unauffälligkeit wegen zu einem etwas lockeren Knoten gewunden hatte, eine Bordkarte herüber.
"Danke sehr, Mademoiselle", erwiderte die Frau im für Damen ihrer Altersgruppe gerade modischem Sommerkleid und steckte die Karte in ihre Kunstlederhandtasche, die sie extra für solche Ausflüge aufbewahrte. Am anderen Arm hing ihre Reisetasche. Die nette Mademoiselle hinter dem Schalter hatte sie zwar gefragt, ob sie sie nicht auch aufgeben wolle, doch Madame Faucon hatte nur den Kopf geschüttelt und geantwortet, daß sie sie lieber bei sich behalten wolle, da sie von ihrer Tochter schon beunruhigendes über die Gepäckkarussells gehört habe und die Tasche ihr nicht zu schwer sei. Nun ging sie mit ihrem Gepäck durch die sehr bevölkerte Halle des internationalen Terminals von Paris Orly. Sie hörte das schrille Kreischen anlaufender Düsentriebwerke und schnüffelte naserümpfend die Kerosinabgase. Für andere mochten diese Geräusche und Gerüche Fernweh und Urlaub verkünden. Für Blanche Faucon war es eine Tortur. einmal im Leben, als Catherine gerade Babette geboren hatte, hatte sie sich das angetan, weil Joe die Kleine unbedingt so schnell wie möglich seinen Eltern vorstellen wollte und Catherine gemeint hatte, daß es doch schön rund sei, wenn ihre Mutter auch dabei sei, obwohl die in der Muggelwelt offiziell kein Englisch konnte. Seitdem hatte sie sich regelmäßig einen Reisepass ausstellen lassen und in ihrem offiziellen Muggelhaus in Marseille aufbewahrt. Nun durchquerte sie die dicht bevölkerte Abflughalle. Ursprünglich wollte sie direkt nach New Orleans fliegen. Doch zum einen hatte sie keinen Direktflug dort hin bekommen können und zum zweiten erst heute, am zweiten August einen Platz in einer Maschine in die Staaten bekommen, einen Sonderflug, der wegen der letzten Wettkampftage der olympischen Spiele eingesetzt wurde. Sie hatte ihren Flug bei Minister Grandchapeau angekündigt, ihn aber gebeten, ihre Ankunft in Amerika nicht zu avisieren. Mit den Muggeln würde sie keine Schwierigkeiten kriegen. Sie hatte dreihundert amerikanische Dollars, davon zehn in Münzen, für ein Taxi, und in ihrer Reisetasche waren Dinge, die beim Durchleuchten nicht als etwas anderes als ein Fön, ein Reisewecker, einige Bücher und Kleidung auffallen würden. Ihren Zauberstab hatte sie so in der Handtasche verborgen, daß er nicht weiter auffallen würde, zumal sein Material von den Röntgenstrahlen mühelos durchdrungen würde. So zeigte sie ihren gültigen Reisepass, durchschritt die Sicherheitsschleuse, wurde von einer Sicherheitsbeamtin abgetastet und nahm dann ihre Reisetasche und die Handtasche wieder an sich.
In der Wartezone kaufte sie eine Zeitung und setzte sich damit auf einen der mit Kunstleder überzogenen Stühle. Sie lauschte dem Fußgetrappel und dem Gemurmel der Erwachsenen, das zwischendurch von jauchzenden oder quängelnden Kindern durchdrungen wurde. Dann wurde ihr Flug angesagt, und sie passierte mit den übrigen Passagieren Ausgangstor 6 b, um durch einen ausgefahrenen Lauftunnel in die Kabine einer MD 11 hinüberzuwechseln. Eine Stewardess begrüßte sie mit routinierter Freundlichkeit und zeigte ihr den Sitzplatz. Sie verstaute ihre Reisetasche so unter dem Vordersitz, das sie ihre Beine noch halbwegs gut ausstrecken konnte. Sie hatte keine Angst vor dem Fliegen an sich. Aber etwas mulmig war ihr schon zu Mute, wenn sie daran dachte, wie kompliziert so ein Flugzeug war und wie gut ein Pilot aufpassen mußte, es nicht abstürzen zu lassen. Warum hatte der amerikanische Zaubereiminister bloß den Ausgangskreis blockiert? Dann dachte sie sichtlich amüsiert an Professeur Paximus, der sie mit schier unstillbarer Berufsneugier ausgefragt hatte, wie denn diese Flugmaschinenreise verlaufen wäre. Später hatte sie erfahren, daß ein muggelstämmiger Viertklässler seiner Klasse Muggelstudien dazu ein Referat halten mußte. Zumindest hatte ihr der Schüler erklärt, er habe deshalb die von ihr aufgegebenen Vivo-ad-Vivo-Verwandlungssprüche nicht so gründlich lernen können. Sie hatte das mit 40 Strafpunkten geahndet und ihm vorgehalten, daß darüber nicht so viel zu referieren sein könne, wenn man nicht selbst Pilot eines solchen Ungetüms sei.
"Och Männo, der Fensterplatz ist ja besetzt", quängelte ein wohl sechsjähriger Junge. ein wohl achtzehnjähriges Mädchen, von der Ähnlichkeit in Haar und Augen her wohl dessen Schwester,schschte ihn an und meinte, er würde das schon aushalten. Madame Faucon lächelte den Jungen kurz an und bot an, den Platz mit der jungen Mademoiselle und ihm zu tauschen, was das Mädchen mit verlegener Miene erst ablehnen wollte, dann aber annahm.
"Bedanke dich nett bei der Dame, Jules!" Forderte die junge Frau von ihrem kleinen Bruder. Dieser sagte artig "Danke schön, Madame" und wartete, bis seine Schwester, die zufällig auch Blanche mit Vornamen hieß, die Reisetasche umgebettet hatten.
"Ist vielleicht auch angenehmer für mich", sagte Madame Faucon. Dann kann ich meine Beine auch mal in den Gang halten, wenn gerade keiner durchlaufen möchte. Sie sind diese engen Sitzreihen nicht gewöhnt."
"Ey, Blanche, da draußen fährt gerade ein gelber Wagen vorbei. Da steht "Follow me" drauf. Was heist'n das?"
"Folgen Sie mir, Jules. Das ist ein Leit- oder Lockwagen. Der zeigt den gelandeten Flugzeugen, wo sie hinfahren müssen."
"Ach, wissen die das denn nicht, die Piloten?"
"Nicht immer, weil ja viele Flugzeuge landen und die Piloten sich ja wirklich nicht auf jedem Flughafen der Welt auskennen können, vor allem wenn sie noch nie da gelandet sind", erklärte die junge Blanche.
"Ihr Bruder kann noch kein Englisch, Mademoiselle?" Erkundigte sich Madame Faucon.
"Nein, und manchmal ist das auch gut so, finde ich. Seitdem er bei einem Cousin mal im Satellitenfernsehen diese blöde Komödienserie mit den vier älteren Frauen gesehen hat, wo eine bei ist, die sich immer nur mit irgendwelchen Unanständigkeiten beschäftigt, versucht der mich immer wieder zu ärgern, weil mein Name im amerikanischen so quäkig ausgesprochen wird", flüsterte die junge Dame. Madame Faucon nickte.
Jules hatte schon vor dem Start seinen Spaß mit den Flugzeugen, Tankwagen, Bussen und Leitwagen, die herumfuhren. Mademoiselle Blanche Clavier erzählte Madame Blanche Faucon, daß sie zu ihrem Onkel unterwegs seien, der Karten für die Schlußfeier in Atlanta habe. Da dieses Flugzeug da landen würde, nickte Madame Faucon und sagte, daß ihre Tochter und deren Mann mit der Enkeltochter dort seien. Daß Babette nicht dort war, mußte die junge Frau nicht kümmern.
Während des Fluges vertrieb sich Madame Faucon die Zeit mit Konversation, wobei sie immer wieder sagen konnte, daß sie davon entweder gar nichts oder nur flüchtig was gehört habe. Der junge Jules schlief bald ein, nachdem er sich an der unter ihnen dahingleitenden Landschaft so satt gekuckt hatte, daß seine Augen tränten. Dann kam das Abendessen, so gegen sieben Uhr Bordzeit, die noch der Zeitzone von Paris entsprach. Madame Faucon schluckte die Ablehnung dieser mechanisierten Schnellkocherei mit dem Essen zusammen hinunter und sah dem Plastikgeschirr nach, wie es von den Stewardessen wieder abgeräumt wurde. Dann schlief sie ein wenig, ihre Handtasche sicher hinter sich verstaut.
"Pfft-pfft, meine Damen und Herren, hier spricht noch mal Ihr kapitän", klang die etwas zu gefühllos betonende Männerstimme aus dem Lautsprecher. "Wir gehen nun in den Sinkflug über. Wir werden dann voraussichtlich in dreißig Minuten in Atlanta landen."
"Wenn was passiert, Blanche, dann während des Starts oder der Landung", hörte Madame Faucon Joes Stimme wieder, der sie damals damit aufgezogen hatte, daß sie doch wohl völlig grundlos Flugangst hätte. Tja, einige Jahre Später wußte er, daß sie absolut keine Flugangst hatte, eben nur bedenken wegen Flugzeugen.
Die Landung verlief jedoch ohne Absturz, und so konnten die beiden Blanches und Jules in die Ankunftshalle gehen, wo ein trommelbäuchiger Herr im karierten Anzug das Mädchen und den Jungen begrüßte, wobei Jules kein Wort verstand. In der Gewißheit, den Herrn eh nicht mehr im Leben wiederzutreffen machte Madame Faucon aus ihren Englischkenntnissen kein Geheimnis und verabschiedete sich nach einem flüchtigen Wortwechsel von Onkel Jim, Blanche Clavier und ihrem Bruder Jules. Dann verließ sie die Ankunftshalle und suchte sich ein Taxi, das sie zum Hilton-Hotel fahren sollte. Da selbst nahm sie sich ein Zimmer für zwei Nächte, trug sich ordentlich ins Gästebuch ein und bezog das Zimmer für 100 Dollar die Nacht. Zurück würde sie wohl schneller reisen, dachte sie. Und wenn sie länger bleiben mußte würde sie bei einem hiesigen Ligamitglied wohnen, vielleicht Angus Grapevine in Cloudy Canyon oder bei Samantha Greendale in Viento del Sol. Wenn alle Stricke rissen konnte sie Prinzipalin Wright auch noch fragen, ob sie in einem der Gästezimmer von Thorntails übernachten konnte.
Hier war es gerade erst früher Abend. Sollte sie sich die Stadt ansehen oder sich vom Fernsehen berieseln lassen, vielleicht mal sehen, was die Muggel so an Olympia fanden? Dann kam ihr die Idee, daß sie Catherine mentiloquieren könne, um sie zur Rede zu stellen, ob sie etwas mehr mitbekommen hatte, was vielleicht in der Muggelwelt passiert war. Sie überlegte, ob sie nicht auch nach New Orleans apparieren sollte. Doch dann bekam sie garantiert Ärger mit dem Zaubereiministerium, wenn sie mitten aus einem Muggelhotel verschwand, solange die diese Apparatorspürer zu dicht gestellt ließen. Immerhin hatte sie bisher keiner behelligt. Aber verstecken wollte sie sich auch nicht. Dafür war sie nicht herübergekommen.
Sie sah sich die Nachrichten und einige Wettkampfberichte an, um einen Plan für ihr weiteres Vorgehen zu schmieden, als es an die Fensterscheibe klopfte. Tock-tock-tock! Das war unverkennbar eine Posteule. Hatte man sie also doch aufgespürt, obwohl sie muggelmäßig angereist war! Sie stand auf und öffnete das Fenster.
Ein ziemlich erschöpft keuchendes Schleiereulenmännchen mit vom vielen und schnellen Fliegen zerzaustem Gefieder, an dem teilweise noch etwas rußverklebte Asche hing, flatterte herein und plumpste auf eine Stuhllehne, wo es sich sofort festkrallte. Dabei fiel ein dicker Pergamentumschlag zu Boden.
"Ach du große Güte, du bist das, Francis", stellte sie erschüttert fest. "Hat Julius dich zu mir geschickt?" Die Eule nickte wie ein mensch und keuchte von der Anstrengung. Madame Faucon brachte dem Vogel ein mit wasser gefülltes Zahnputzglas aus dem Badezimmer und las den Brief, den Julius ihr geschrieben hatte. Dann nahm sie die hauchdünnen Papierseiten und studierte sie mit immer größeren Augen. Sie schnaubte undamenhaft. Dann streichelte sie dem Vogel, der das Glas soweit leergetrunken hatte, wie er mit dem Schnabel hineingelangte und lobte ihn für seinen tapferen Flug und seine Zuverlässigkeit.
"Dich hole ich jetzt her, Madame Brickston geborene Faucon", schnaubte sie und entspannte sich sofort wieder, um eine Gedankenbotschaft an ihre Tochter zu schicken:
"Catherine, hier deine Maman. Bin wegen Julius in Amerika, gerade in Atlanta, im Muggelhotel Hilton, Zimmer 230. Komm mit einem Muggelwagen sofort her! Alleine!"
Diese Botschaft mentiloquierte sie in feinen Abwandlungen immer wieder. Doch daß Catherine sofort herkommen sollte und zwar muggelmäßig, wiederholte sie gleichbleibend. Es dauerte eine Viertelminute, bis sie eine Gedankenbotschaft von Catherine empfing:
"Maman, was ist mit Julius? Ist doch was mit seinem Vater?"
"Das klären wir beide zwischen Mutter und Tochter, Kind", schickte Madame Faucon zurück. Catherine mentiloquierte, daß sie schnellstmöglich kommen würde, aber eben nicht apparieren könne, da sie gerade mit Joe bei Freunden vom ihm sei. Dann wartete Madame Faucon.
Es fehlten nur noch Zentimeter zu seinem Glück. Richard Andrews war schon mit den Unterarmen über den Rand des golden leuchtenden Kruges geglitten. und wollte sich mit einem großen Schwung hinübergleiten lassen.
Julius freute sich wie ein Schneekönig. Gleich, in wenigen Sekunden, würde er endlich mit dem warmen Leib Hallittis verbunden sein, die ihn anschmachtete, ihn forderte, endlich mit ihr zusammenzukommen, so daß sie beide zu einem verbundenen Körper wurden. Gerade setzte Julius an, sich in Schwung für eine gelungene Verbindung zu bringen, da tat es einen Bauchdeckenzerrüttelnden, Trommelfelle zerreißenden Donnerschlag. Hallitti schrie auf, als habe ihr jemand höllische Schmerzen bereitet. Auch Julius fühlte einen Energiestoß wie einen Stromschlag durch den Körper fahren und sah Sterne vor den Augen. Dann brach ein Stück von der Höhlendecke ein und krachte auf den Boden.
"Wer wagt das, meine Heimstatt ...!" Schrie Hallitti, jetzt nicht mehr die willige, lockende Gespielin, sondern ein wütendes, keifendes Frauenzimmer, wenngleich sie immer noch unwiderstehlich aussah. Doch Julius, der aus der geistigen Kontrolle Hallittis herausgerissen worden war, sah in dieser nackten Frau mit den roten Haaren nicht mehr die Frau, die er gerade noch so sehr begehrt hatte. Er sah ein Monster, das ihn fast gefressen hätte und seinen Vater, dessen Haut wie welkes Herbstlaub im Licht des Kruges aussah. Er hing noch über dem Krug, in dem es nun wild brodelte, als habe jemand mit einem riesigen Kochlöffel darin umgerührt. Dann hörte Julius das Klappern aufsetzender Füße auf dem Boden und sah fünf Gestalten in weißen Kapuzenumhängen, die von silbernen Harvey-Besen herunterglitten. Dann erkannte er noch eine Frau im rosa Kapuzenumhang, die einen silbriggrauen Zauberstab zückte. Richard Andrews wollte sich gerade kopfüber in den leuchtenden Krug stürzen, da riss ihn eine unsichtbare Macht so heftig in die Luft, daß er fast am unbeschädigten Teil der Decke anschlug. Solch ein wuchtiges Telekinetikkunststück hatte Julius noch nie gesehen. Oder war es gar angeborene Telekinese, die durch den silbernen Stab verstärkt wurde? Der kam ihm sowieso komisch vor, weil der für ihn so aussah wie das Ende einer Fernsehantenne. Was er aber trotz der Umhänge errkennen konnte: Dieses Eingreifkommando bestand nur aus Hexen. Doch es war ihm jetzt, wo er aus Hallittis Bann befreit war höchst willkommen.
"Schwestern, kennt keine Skrupel!" Rief die Lady in Rosa mit einer schönen, mittelhohen Altstimme. Doch er hörte ihr an, daß sie kalt und gnadenlos war, und er hörte Triumph heraus. Ja, diese Hexen waren am Ziel. Mit grauen wurde ihm klar, daß er geradewegs von der Sexfalle in eine Zauberschlacht hineinstolperte. Da ging es auch schon los.
"Wer wagt es, in meine Heimstatt einzubrechen?!" Keifte Hallitti, während Richard gerade weit genug fort von dem Krug auf dem Boden landete. Eine der Hexen schockte ihn sofort. Auf Julius schien niemand angesetzt zu sein. Doch wo sollte er sich verstecken, im Krug? Blöde Idee! Denn das war jener unheimliche Lebenskraftsammelbehälter, und darin zu baden würde nicht nur den Schmutz sondern alles andere gleich mit lösen, auch die Seele des Badenden, sofern er keine Sie und eine Tochter des Abgrunds war.
"Avada Kedavra!" Brüllten zwei Hexen silbenversetzt. Julius warf sich hin, obwohl er sich dachte, daß ihm die Todesflüche nicht gelten sollten. Laut sirrend wie eine Salve Laserschüsse und auch so grell schlugen die grünen Blitze in Hallittis bloßen Leib und hüllten sie in eine Aura aus phosporeszierendem Nebel. Sie schrie vor Schmerz und Wut. Dann sirrte ein orangeroter Lichtfleck aus dem Krug und trat in ihren Bauch ein. Sofort stand sie wieder bereit und führte die Hände zum Trichter zusammen. Sie zielte auf die Hexe in Rosa. Diese schwang pfeifend den Zauberstab und ließ einen lodernden Feuerring um sich aufsteigen. Da krachte die dunkle Feuerkugel auch schon mitten in die Flammen und zerschmolz mit ihnen.
"Junge, hol deine Kleider und zieh dich an!" Kam bei Julius eine Gedankenstimme an. Wieso funktionierte dieser Zauber hier wieder? Wer war das überhaupt. Mit der Stimme verband er keine bekannte Hexe. Dann schwirrte ein weiterer Todesfluch quer hinter ihm durch die Kuppelhöhle und traf Hallitti am Hinterteil.
"Die können damit auf die draufballern bis ihnen die Zauberstäbe verglühen", dachte Julius. Dann sah er seine Kleidung und sprang in geduckter Haltung hin.
"Ihr könnt mich so nicht vernichten, ihr kurzlebigen Schmeißfliegen!" Schrillte Hallitti wie eine wütende Äffin. Dann ruckelte der Boden. Julius sah, wie die Höhlendecke wieder zusammenzuwachsen begann. Hallittis Zauberkräfte reparierten sie, während sie von Todesflüchen und Schockern beharkt wurde. Lebenskraft flog ihr in Form oranger Nebelstreifen zu, bis die Hexe in Rosa einen Todesfluch gegen den Krug losließ, der mit lautem Klong erzitterte wie eine schwere Glocke.
"Das büßt du mir! Ich mach dich tot, du Stück Eulendreck!" Keifte Hallitti und wirbelte herum, um in drei Mondlichthammerzauber gleichzeitig reinzuspringen. Die schüttelte sie jedoch locker ab und drehte sich einmal im Kreis. Wie aus ihr ausgestoßen explodierte eine Wolke dunkles Feuer von ihr fort. Zwei der Hexen konnten nicht rechtzeitig davonspringen und wurden von den nachtschwarzen Flammen erfaßt. Julius zog sich der Magen zusammen, als er die Todesschreie der angezündeten hörte, die grauenvoll widerhallten.
"Dieses Monster macht die allle alle", dachte Julius, der nun wieder die Furcht vor diesem Geschöpf spürte. Aber Furcht war jetzt völlig falsch. Aber wann kam sie mal gelegen? Er griff sein Unterzeug, das konnte warten. Er tanzte förmlich mit weit ausladenden Beinbewegungen in Hose und Hemd und schlüpfte so schnell wie damals beim Schnellanziehwettbewerb im Sportunterricht der dritten Klasse in seine Schuhe. Hoffentlich war da inzwischen kein Skorpion reingekrabbelt. So ein blöder Gedanke, zumal er doch das Universalgegengift mithatte. Dann sirrte es keinen halben Meter an ihm vorbei, ein weiterer Todesblitz. Diese Hexen hatten diesen Fluch drauf, erkannte er schaudernd, weil er fast selbst getroffen worden wäre.
"Bleib in Deckung oder raus!" Kam schon wieder eine Gedankenbotschaft dieser ihm unbekannten Hexe an. Wer war die? Das war nicht die in Rosa, weil er deren körperliche Stimme schon gehört hatte. Dann sah er seinen Vater, der geschockt am Boden lag. Eine Hexe in Weiß zielte auf ihn.
"Nein, nicht töten!" Rief die Schwester in Rosa, todsicher die Anführerin.
"Ich zertrete euch gleich alle wie die Kakerlaken!" Brüllte Hallitti in ohnmächtiger Wut. Julius sah nach oben und erkannte eine breite Strickleiter, die herabgelassen worden war und baumstammdicke Balken, die den sich schließenden Spalt blockierten. Wer immer die waren, sie hatten den Angriff gut organisiert, mußte Julius anerkennen. Jetzt war ihm auch bewußt, wie sie die Höhle überhaupt hatten aufbrechen können. Der Energiestoß hatte es ihm verraten. Das waren Incantivakuum-Kristalle, Magieaufhebungskristalle, die einen wirkenden Zauber zerstreuten und magische Gegenstände entzauberten. Julius erschrak. Dann waren seine Gegenstände ... Nein, die Weltzeituhr lief noch und das Armband konnte er auch nicht lösen. Außerdem wären ihm dann alle Sachen aus dem Brustbeutel herausgequollen, besonders die Bibliothek, die nur durch einen Zauber so kleingehalten wurde. Dann fiel ihm ein, daß die Wirkung ja auf zwölf Meter beschränkt war und die Höhlendecke ja mindestens so hoch lag. Er atmete wieder auf, obwohl er dafür keine Zeit hatte. Hallitti stand da, wetterte Todesflüche und andere heftige Zauber ab. Doch über die Strickleiter ließen sich noch mehr weißgekleidete Hexen herab und feuerten sofort ihre Zauber auf die erklärte Feindin ab. Dann transformierte sich Hallitti. Ihr rosiger Frauenkörper wurde dunkler, schuppig und trieb lederartige Flügel aus, während er auf fast das Doppelte anwuchs. Julius erschrak nicht, weil ihm Mrs. Porter vorgelesen hatte, daß die Abgrundstöchter auch körperlich zu Monstern werden konnten. Jetzt würde sie wie das in die Ecke getriebene Raubtier losschlagen, mit Klauen und Zähnen. Doch das Zwischending zwischen Gorilla und Flugsaurier stieß sich vom Boden ab und raste auf Julius zu, der gerade seinen zauberstab gezogen hatte, um sich in den unsichtbaren Schild einzuschließen, wenngleich der gegen den tödlichen Fluch nicht half. Dann hörte er eine knurrende, kehlige Stimme brüllen:
"Wenn ich dich nicht auf die süße Weise zu mir nehmen konnte, dann sei's die bittere!"
Sie raste auf ihn zu, unterwegs getroffen von zwei Todesflüchen, die sie kurz grün wetterleuchten ließen.
"Lass den Jungen in Frieden, du Scheusal!" Schrie die Hexe in Rosa und schlug mit einer sonnenhellen Flammengarbe nach Hallitti, die jedoch mit ihrer linken Pranke den Feuerstrahl abfing und wie ein Spiegel auf die Angreiferin zurückprällte. Diese konnte sich gerade noch hinwerfen, als der blau-gelbe Flammenstoß über sie hinweg an die Wand krachte und dort einen schwarzen Rußfleck hinterließ. Dann war Hallitti bei Julius. Todesangst stieg in ihm auf. Dieses Monster würde ihn jetzt in der Luft zerreißen oder in ihren verfluchten Krug werfen. Da schien es, als breche in Julius' Kopf etwas auf, wie eine Nuß, und wie ein kalter Wasserschwall von innen fühlte er es unter seiner Schädeldecke. Auf einmal fiel ihm etwas ein, von dem er vorher nicht wußte, daß er es je gelernt hatte. Hallitti war jetzt noch einen Meter vor ihm. Einer der mächtigen Keilbalken zerbarst mit lautem Krachen und regnete in Zaunlattengroßen Holzsplittern herunter. Der aufgebrochene Spalt würde sich gleich schließen.
"aulalhischa, Shedehuabtarakator Kirimwawiddisigalmattu!" Rief Julius aus vollem Halse. Bei jedem dieser merkwürdigen Worte fühlte er, wie etwas in ihm mitschwang. Als er das dritte Wort dieser seltsamen Zauberformel ausgerufen hatte, glühte sein Zauberstab unvermittelt weißgolden auf.
Endlich klopfte es an die Zimmertür. Madame Faucon hatte der Eule die in Paris gekaufte Zeitung auf den Stuhl gelegt, auf dessen Lehne sie hockte. Zum glück gab es in dem Zimmer außer dem Bett noch ein Sofa und einen zweiten Stuhl.
"Ja, bitte?" Fragte Madame Faucon auf Englisch.
"Ich bin es, Maman", kam Catherine Brickstons Gedankenstimme zurück. Die Tür wurde aufgeschlossen, und Catherine trat ein, angezogen in Jeans und T-Shirt. Ihre Mutter sah sie sehr kritisch an. Catherine vermutete, das sei wegen ihres Muggelfrauenaufzugs und wollte gerade eine Rechtfertigung dafür loswerden. Doch ihre Mutter schloß nur die Tür und sagte:
"Ich schalte das Radio ein und lasse Musik laufen." So tat sie es auch. Denn sie wollte sich nach Möglichkeiten schon an die Zaubereibeschränkungen in Muggelwohngebieten halten, besonders wenn in Amerika gerade eine hohe Alarmstufe herrschte. Dann nahm sie den Brief von Julius und gab ihn Catherine.
"Der arme Vogel wollte zu mir nach Millemerveilles. Offenbar wollten sie ihn nicht auf dem Blitzweg schicken. Er kam wohl nur bis zur Grenze. Julius hat mir eine sehr aufschlußreiche Epistel zukommen lassen, die mich wahrscheinlich nie oder erst in den nächsten Weihnachtsferien erreicht hätte", sprach Madame Faucon, wobei sie sich jetzt in der für sie gewohnten französischen Sprache ausdrückte. Das konnte eventuelle Lauscher noch besser im Unklaren lassen. "Das, was er mir geschrieben hat, besser das, was er mir als Anlage dabei geschickt hat hätte ich an und für sich schon vor vier Monaten erfahren sollen, von jemandem, die freiwillig in der Muggelwelt lebt und daher an derlei Neuigkeiten und Angaben herankommt." Sie sah Catherine sehr vorwurfsvoll, ja sichtlich niederschmetternd an.
"Maman, du meinst, was angeblich mit Richard Andrews passiert ist. Das wollte Martha ihm ... das wollte Martha dem Jungen erzählen", wimmerte Catherine, die sich jetzt wieder wie ein kleines Mädchen fühlte, daß weiß, daß es was ganz böses getan hatte und jetzt bestraft werden sollte. Oder war es die Furcht der Schülerin, weil die gestrenge Lehrerin ihre privatesten Sachen kannte und sie ihr tadelnd vorbetete?
"Soso, du als Fürsorgerin des Jungen wolltest es darauf ankommen lassen, daß die ehemalige Ehefrau des beschuldigten freiwillig über diese brisanten Dinge redet? Versuche dich jetzt ja nicht auf Martha Andrews herauszureden, meine kleine! Der Junge hat mir hier einen riesigen Stapel Computerpapier geschickt, auf dem immer wieder steht, daß ein Mann, der wie sein Vater Richard aussieht und sich auch als dieser ausgab, mehrere Dutzend Menschen ermordet hat, Ordnungshüter, seinen Arbeitgeber und dessen Söhne und mehrere Betreiberinnen des horizontalen Gewerbes. Vor allem aber, und das hättest du sofort mir und anderen aus der Liga mitteilen sollen, haben die Muggel wohl rausbekommen, daß diese Frauenzimmer, die er heimgesucht hat, an einem angeblich sofort tötenden Gift starben, das weder Spuren hinterläßt noch durch Einstiche oder andere Aplikationen in ihre Körper geriet", zischte Madame Faucon sehr gefährlich. "Du hättest auch nachhaken sollen, warum dieser Mann es hinbekam, an einem Tag in Phoenix, Arizona, und einen Tag darauf weiter östlich zuzuschlagen, obwohl bereits alle Ordnungsbehörden nach ihm suchten. Das alles hätte dich alarmieren sollen, daß dies kein reines Muggelproblem ist, zumal Richard Andrews ja wohl mit unweckbaren Zauberkräften angereichert sein mußte, wenn sein Sohn ein Ruster-Simonowsky-Zauberer ist. Bei wem hattest du bitte Protektion wider die destruktiven Formen der Magie?"
"Öhm, bei Professeur ..."
"Ich weiß schon. Ich kenne diese Dame so gut, daß ich sie jeden Tag an- und zur Nacht entkleide. Von der weiß ich jedoch sehr sehr gut, daß sie dich zum einen niemals im Unterricht hat einschlafen oder dich sonstwie vom behandelten Stoff hat abschweifen lassen und zum zweiten dir nach deiner Schulzeit alle Türen aufgetan hat, damit du in die Abteilung für Zaubereigeschichte und dunkle Vermächtnisse hineinfinden konntest. Waren diese ganzen zweitausend Strafpunkte während deiner Schulzeit es wirklich nicht wert, daß du dich an das erinnerst, was ich dir und deinen Klassenkameraden damals über die Töchter des Abgrunds erzählt habe? Hat Professeur Tourrecandide dir den Ohne-Gleichen-ZAG geschenkt, weil du meine Tochter bist? nein! Absolut nein, Catherine Brickston. All diese Hinweise, die du dir auch aus diesem Internet hättest holen können, auch wenn auch bei diesen Unterlagen viel Hörensagen und Übertreibungen dabei sind, hätten dich stante pede zu mir oder der Strafverfolgungsabteilung laufen lassen müssen. Wohl eher zu mir, weil ich die entsprechenden Kontakte hier in die Staaten habe. Aber wenn ich schon einmal hier bin, Madame Brickston, dann will ich jetzt eine gute Erklärung dafür haben, was dich dermaßen davon abgehalten hat, die nötigen Schritte zu unternehmen!" Catherine atmete mehrmals durch. Ihr kreidebleiches Gesicht gewann langsam wieder Farbe. Dann sah sie Ihre Mutter sehr gerade heraus an und antwortete:
"Von diesen Huren wußte ich nichts, ich meine die, die Richard wohl umgebracht haben soll. Außerdem hat Martha mir Ende Mai gesagt, sie hätten ihn gefunden, und es sei ein schweres, allerdings rein muggelmäßiges Verbrechen an ihm passiert. Man habe einen Wissenschaftler gesucht, den man durch einen Doppelgänger ersetzen könne, damit der wiederum irgendwas anstellen konnte. Der sei enttarnt worden und habe dann einen Amoklauf hingelegt und wohl danach einen anderen Plan verfolgt. Sollte ich Martha da sagen, daß das gelogen sei und jemand ihr und dem Rest der Welt was vormache. Ich habe das ja selbst geglaubt, was sie mir vorgespielt hat, auf ihrem Anrufbeantworter. Das wollte sie Julius vorspielen, wenn er einige Tage Ruhe fand. Immerhin mußte er bei euch ja noch reinwachsen. Deshalb billigte ich es, daß Martha es ihm erklären würde, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. Immerhin hast du mir selbst gesagt, sie sei die primäre Verantwortliche für den Jungen und ich sei für die rein zaubererweltlichen Belange zuständig." Den letzten Satz sprach sie sehr verhalten, weil sie damit rechnete, daß ihre Mutter wie ein unter Hochdruck stehender Vulkan ausbrechen und sie im Feuerregen verbrennen würde.
"Hallo, ich sagte eindeutig, daß es nicht darum ging, wann der Junge was erfährt, sondern warum ich oder jemand aus der Liga nichts davon erfahren habe? Setzen, ungenügend!"
"So nicht, Maman. Ich gebe zu, du hast mich mit deiner Wut erst in die Enge gedrängt", begehrte Catherine nun auf. "Aber ich bin kein kleines Mädchen und auch keine dir und anderen Kollegen auf Gedeih und Verderb ausgelieferte Schülerin mehr. Ich habe eine Familie und einen verantwortungsvollen Posten, der mich sehr fordert und mir viele Dinge abverlangt, die meine Gedanken beanspruchen. Ich lasse mich nicht weiter von dir herunterputzen und anfahren, ob ich irgendeinen Fehler gemacht habe und warum. Sicher, ich hätte von mir aus recherchieren können und müssen, was an dieser Geschichte dran ist. Aber zum einen hieß es immer wieder, es sei ein Doppelgänger. Zum zweiten kann ich nicht so gut mit Computern umgehen wie Martha oder Julius. Ist schon schlimm genug, wenn Babette Joes Rechner immer wieder stört. Ja, und im Fernsehen und Radio kam davon eben nur der Massenmord in Detroit bei uns an, sowie diverse Berichte über die Fahndung nach dem Doppelgänger und daß sie ihn endlich gefunden hätten. Geh zu Zaubereiminister Pole! Der müßte ja alle Fakten gesammelt haben, die nicht auf reine Muggelverbrechen hindeuten. Ja, der müßte ja dann auch die Doppelgängergeschichte in Umlauf gebracht und einen passenden Mitarbeiter ins Spiel gebracht haben und ..."
"Zu Minister Pole werde ich schon bald, sehr bald hingehen, meine Tochter, da ich dich im Moment nicht für ausreichend engagiert dafür halte. Der hat nämlich, so schreibt es Julius, diese Sache vertuscht und unter dem Teppich zu halten getrachtet und jagt ihn jetzt durchs Land, mit meiner Bekannten Jane Porter, die Julius entschuldigt, sie habe unter Eidessteinzauber verschweigen müssen, was sie darüber erfahren habe. Aber damit kommt sie nicht so einfach davon. Offenbar hast du alle Zeichen übersehen, die es gab, weil du entweder ein Opfer dieser Nachrichtenverschleierung wurdest oder meintest, deine magischen Fürsorgepflichten hinter der Freundschaft und der Situation von Martha Andrews zurückstehen lassen zu müssen", knurrte Madame Faucon, weil ihre Tochter so dermaßen aufbegehrt hatte.
"Maman, bei allem Respekt, jetzt wirst du unverschämt. Dein Engagement in Ehren, daß du den Jungen, den du ja offenbar genauso liebst wie mich oder Babette mit allen Mitteln beschützen möchtest, aber mich nun für unfähig zu erklären, die mir übertragene Verantwortung tragen zu können, geht entschieden zu weit. Ob du meine Mutter bist oder nicht, und wo immer du in der Hierarchie unserer Gesellschaft stehst, muß ich mir von dir sowas nicht bieten lassen", schnaubte Catherine, die nun selbst ein wutrotes Gesicht hatte und ihre Mutter aus ebenso funkelnden Saphiraugen ansah wie diese sie. "Dein Blut fließt in meinen Adern. Deshalb solltest du wissen, daß ich mich nie scheue, die mir aufgebürdete Verantwortung zu tragen, weder bei Babette noch bei Julius. und Anstatt mich hier in einem Muggelhotelzimmer, wo wir nicht wissen, wer nebenan mithören könnte, derartig zusammenzustauchen sollten wir den Jungen suchen und ihm gegebenenfalls beistehen."
"Auch gegen die Tochter des dunklen Feuers? Dann sollten wir hoffen, daß wir den Jungen finden, bevor diese ihn findet. Denn das habe ich dir auch beigebracht, nachdem du mit Beauxbatons fertig warst. Sie könnte über einen Verwandten eines Zauberers Gewalt über diesen selbst erlangen, um damit die eigene Macht zu potenzieren. Hättest du mich frühzeitig auf die dir sichtbaren Zeichen hingewiesen, hätte ich es Jane Porter niemals gestattet, den Jungen nach Amerika mitzunehmen. Offenbar war meine sogenannte Fachkollegin da auch ein wenig blauäugig. Sie könnte auf die Idee kommen, den Jungen mit dem Sanguivocatus-Zauber auf die Spur seines Vaters zu setzen. Wenn es stimmt, daß diese Höllenkreaturen einen auf ihre Opfer zielenden Fernzauber erspüren und instinktiv umkehren können, könnte der Junge ihr bereits zur Beute gefallen sein. Na, kannst du diese Verantwortung auch schultern?"
"Wie gesagt, Maman, du wirst unverschämt", stieß Catherine aus. "Bei allem noch großen Respekt für dich, dem werde ich meinen Selbstrespekt nicht kampflos unterordnen. Gehen wir zu Mrs. Porter oder ihrem Vorgesetzten, diesem Mr. Davidson. Allerdings muß ich Joe erst in unser Zimmer zurückbringen und dann in einen Zauberschlaf versenken, bevor der meint, eine Vermißtenanzeige aufzugeben und uns die Muggelpolizei auf den Hals zu hetzen. und was die Verantwortung für jemanden angeht, Maman, wo hast du bitte meine Tochter Babette hingesteckt, um mich hier so zusammenzustauchen?"
"Babette ist bei Eleonore, weil ich befand, daß sie eine strenge Hand braucht und nicht eine verspielte Natur wie Camille. Dort wird es ihr gut ergehen, bis ich hoffentlich wieder zurückkehren kann, falls diese Kreatur nicht bereits Jagd auf ihr feindliche Hexen und Zauberer macht und vielleicht danach trachtet, schlafende Schwestern zu erwecken."
"Oha, das könnte sie wirklich vorhaben", gestand Catherine ein und erbleichte schlagartig wieder. Ihr wurde speiübel, weil ihr Blutdruck von Wut auf Schock umschlug. Doch noch konnte sie sich beherrschen.
"Los, wir gehen zusammen zu deinem Gatten und bringen ihn ins Bett, damit wir uns nicht auch noch um ihn Sorgen machen müssen!" Bestimmte Madame Faucon. Wiederwillig nickte Catherine und stand auf. Dann deutete sie auf die Eule.
"Den kannst du nicht hier im Zimmer lassen, Maman. Schicke ihn am besten zu jemandem hin, den du hier kennst!"
"Wie du meinst. Er hat sich wohl auch schon wieder soweit erholt, daß ich ihn wohl wieder fortschicken kann", sagte Madame Faucon und holte ein Stück Papier und einen gewöhnlichen Umschlag aus ihrer Reisetasche. Dann schrieb sie Maya Unittamo einen kurzen Brief, sie möchte den Vogel solange in ihrer Eulerei aufpäppeln, bis man ihn wieder abholen käme. Francis ließ sich den Brief umbinden und nach New Orleans in den Weißrosenweg abschicken, zu Maya Unittamo.
"Wenn die auch davon gewußt hat, was wirklich passiert ist, verwandele ich die höchstpersönlich in eine Stoffwindel und schicke sie Eleonore als Erstausstattungsgeschenk", knurrte Madame Faucon.
"Eleonore Delamontagne? Neh, Maman, das ist doch wohl jetzt ein Witz oder?"
"Das Eleonore guter Hoffnung ist? Nein, meine kleine, das ist kein Witz", erwiderte Madame Faucon sehr ernst. "Sie erwartet im nächsten März ihr zweites Kind, wie sie mir und den Andrews und später auch den Dusoleils eröffnete. Aber wir haben dringenderes zu besorgen als uns um Eleonores Nachwuchs zu kümmern."
"Mich wundert immer noch, wie der Junge es angestellt hat, so lange im Internet zu suchen, ohne daß es Mrs. Porter auffiel. Seine Mutter hätte ihm das bestimmt nicht erlaubt", sagte Catherine.
"Das kann ich dir sagen, wie es ging, weil ich als Lehrerin und Mutter solche Tricks kenne. Der Junge hat sich von Jane Porter eine Erlaubnis erbeten, sich mit Melanie oder irgendeinem, der schon apparieren darf in ein Zaubererdorf zu begeben, vorgeblich um irgendwas interessantes zu besichtigen und hat sich dann mit dem Spießgesellen oder der Spießgesellin in die nächste Muggelstadt abgesetzt, wo er wohl einen öffentlichen Internetzugang finden und nutzen konnte. Aber auch das ist zweitrangig", sagte Madame Faucon.
"Dieser Bengel hat ja doch noch was von einem Jungen", grinste Catherine. Dann schickten sie Francis losund verließen nach sorgfältigem Putzen das Hotelzimmer.
Julius' Zauberstab glühte so hell auf wie der große Krug. Hallitti ließ ihre ausgebreiteten Arme zuschnappen ... und blieb mitten in der Luft stehen. Mit einem kurzen fast unter der Hörgrenze klingendem Brummton fror jede bewegung ein. Julius sah sofort auf seine Uhr. Sie zeigte hier und jetzt drei Uhr, zweiunddreißig Minuten und fünfzehnn Sekunden. Julius ließ die Uhr sinken. Alles um ihn herum stand still wie tiefgekühlt und einzementiert. Was hatte er da angerichtet? Hallittis Monsterleib hing vor ihm in der Luft. Ein roter Zauberblitz stand als faseriger Lichtstrahl wie ein Strich in der dünnen Luft, eingefroren in der Bewegung. Ja, und Julius stellte fest, das wenn er sich von ihm fortdrehte, das Licht merkwürdig rot und wenn er sich ihm hinwandte blauer aussah. Das lag daran, daß die Zeit und damit alle ihr unterworfenen Effekte wie Licht und Schall stillstanden. Nur Julius, der den ihm vorhin erst in der Todesangst eingefallenen Superzauber gewirkt hatte, konnte sich noch bewegen. Und er mußte sich beeilen. Denn seine eigene Zeit lief gegen ihn selbst. Denn der Preis, den Temporipactum, der Pakt mit der Zeit, von seinem Anwender forderte, war hoch. Julius überlegte eine wertvolle Sekunde lang, ob er sofort die Leiter hinaufturnen und zwischen den zur U-Form zusammengedrückten Keilen hindurch nach draußen flüchten sollte oder ob er hier noch was erledigen mußte. Ja, da lag sein Vater. Er sah zwar nicht mehr so aus wie er ihn kannte und hatte sich auch im Geiste und den Gefühlen völlig verändert. doch er durfte ihn nicht hier zurücklassen. Hallitti hatte ihn lange genug mißbraucht und gegen seinen eigentlichen Willen handeln lassen. Sei es, daß man ihn unter starken Drogen halten oder ihn gar töten mußte. Ihr wollte er ihn nicht länger überlassen. Er wußte von irgendwoher, daß er keinen Bewegungszauber wirken konnte, wenn er mehr als zehn Zauberstablängen von dem zu bezaubernden Objekt entfernt war. So rannte er zu seinem Vater, zielte auf ihn und rief:
"Mobillicorpus!" Er erschrak, weil er seinen Ruf nur in seinem Kopf dröhnen hörte. Kein Widerhall, nicht der geringste. Doch Schall wurde genauso eingefroren, wenn er den Zeitpakt beschwor. Doch sein Körperbewegungszauber wirkte zumindest. Sein Vater wurde angehoben und wie an unsichtbaren Stricken hängend aufgerichtet. Schnell trieb Julius ihn mit dem Zauberstab vor sich her, hetzte vorbei an den starr stehenden Hexen, unter einem in der Luft hängenden Todesfluch der Hexe in Rosa hindurch zum Fuß der breiten Strickleiter. Vielleicht sollte er einen der Harvey-Besen nehmen. Doch damit würde er zu sperrig sein. So drückte er den Zauberstab nach vorne, sodaß sein Vater voranflog. Er hob ihn mit einer Zauberstab bewegung hoch und kletterte einhändig die Leiter hinauf. Gut, daß er doch einer von den Jungen gewesen war, die auf Bäume und an kleinen Felsen hochkletterten, obwohl ihre Eltern das nicht mochten. Er dachte, daß er bereits die ersten zehn Sekunden des beschworenen Zeitpaktes ausgenutzt hatte. Doch er durfte jetzt nicht auf die Uhr sehen. Er ließ seinen Vater nach oben steigen, immer soweit, wie er ihn mit dem Zauberstab führen konnte und turnte die Strickleiter hinauf, bis er endlich durch zwei zum Zerbrechen gebogene Balken hindurchschlüpfen und den letzten Meter über gesplittertes Gestein hinwegrobben konnte. Dann war er draußen, lief, seinen Vater an den unsichtbaren Zauberfäden neben sich, noch zehn Meter weit. Dann ließ er ihn absinken und murmelte wieder nur in seinem Kopf nachhallend:
Positocorpus." Damit hatte er den Transportzauber aufgehoben. Doch für den Zeitpakt mußte er die Formel, die er zu seiner Beschwörung gesprochen hatte, in umgekehrter Wortfolge sprechen. So Rief er:
"Kirimwawiddisigalmatu Shedehuabtarakator aulalhischa!" Beim letzten Wort fühlte er, wie irgendwas großes erdrückendes von allen Seiten auf ihn einstürzte. Er sah noch auf seine Uhr. Sie zeigte jetzt drei Uhr, zweiunddreißig Minuten und achtundvierzig Sekunden. Dann glühte sein Zauberstab wieder weißgolden, und ein kurzer nach oben schwingender Ton, nur eine zehntelsekunde lang, ertönte. Dann erlosch der Zauberstab. Doch dann kam die Abrechnung!Julius' Uhr sprang mit einem lauten Klicken die dreiunddreißig Sekunden zurück, die der Zeitpakt gedauert hatte. Gleichzeitig war es ihm, als würde etwas ihm mit tausend Nadeln in die Haut stechen, etwas seine Gedärme und anderen Organe in die Länge ziehen und seine Kleidung ihm ein wenig enger anliegen. Seine Schultern wurden etwas in die Breite gezogen, in seinem Hals schien etwas zu zwicken und zu zerren. Dann war es auch schon vorbei, in nicht einmal zwei Sekunden. Julius keuchte. Er hatte diesen Zauber benutzt, weil er in akuter Lebensgefahr schwebte und hatte dafür mit zwei Jahren seiner Lebenszeit bezahlt. Denn wenn der Zeitpakt beschworen wurde, hob er seinen Beschwörer aus dem Fluß der Zeit. Doch je länger er aus dem Fluß der Zeit herausgelöst blieb, desto älter in Tagen wurde er. Je länger es dauerte, desto schneller alterte der Zeitpaktbeschwörer. Waren es in den ersten zehn Sekunden pro Sekunde zehn Tage, kamen in den zweiten zehn Sekunden schon zweihundert Tage Alterung dazu, in den dritten Zehn Sekunden waren es gar dreihundert weitere Tage Alterung. Und weil Julius dreiunddreißig Sekunden benötigt hatte, war er um wohl zwei Jahre gealtert. Doch woher hatte er diesen so tückischen Zauber, der ihm zwar einen gewissen Vorteil gab aber dafür eben seinen Preis forderte? Die Worte kannte er nicht und hätte sie keiner Sprache zuordnen können. Doch daran zu denken wäre jetzt unklug. Denn er konnte den Kampflärm wieder hören, und vor allem Hallittis wütendes Urweltungeheuergebrüll. Die ihr so sicher geglaubte Beute war ihr sprichwörtlich in letzter Sekunde entwischt. Weil die Höhle geöffnet war, hatte ihr Zauber den Zeitpakt nicht blockieren können, falls dies überhaupt möglich gewesen wäre.
"Schwestern, wir können sie nicht länger halten! Volle Konzentration!" Hörte er die Anführerin aus der Höhle rufen. Offenbar machten die da unten einen heftigen Zauber. Es krachte erneut, als ein weiterer Balken brach. Gleich würde der letzte Balken brechen, dann würde sich die Höhle wieder schließen, und Hallittis Macht würde die da unten alle vernichten, wer immer sie waren.
"Maneto!" Klang es plötzlich hinter ihm. Dann packte ihn auch schon der Erstarrungsbann und hielt ihn in der Körperhaltung, die er eben eingenommen hatte. Drei Hexen in Weiß liefen an Julius vorbei und postierten sich um seinen nackten, im Zauberschock betäubten Vater.
"Meine Güte, hat die den aber ausgezehrt", stöhnte eine der Hexen. Eine zweite Hexe, die wohl ein klein wenig älter war als die erste meinte:
"Das kommt, weil dieses Monster ihn nicht so schnell von den vielen Giften und Geschossen kurieren konnte, die er sich wohl in Las Vegas eingefangen hat. Wahrscheinlich verlor er jeden Tag ein Lebensjahr. Aber es ist unmöglich, ihn ohne ihn dieser Unheilstochter zu opfern zu erlösen. Kein erwachsener Mann, der dieser Bestie unterworfen wurde, konnte je befreit werden."
"Du sagst es. kein erwachsener Mann", frohlockte die dritte Hexe, die Julius wohl auf gerade etwas älter als zwanzig schätzte. Ihre Worte klangen so überzeugt, daß Julius das kalte Grauen erfaßte. Als es ihm dann wie eine Supernova so hell aufging, wie die das meinte, setzte sie auch schon an, eine Formel zu sprechen, die er zuerst von der Durmstrang-Schülerin Ilona Andropova und später, im Zuge eines Experimentes, von Professeur Faucon gehört hatte. Das war der Schlüssel. Kein erwachsener Mann konnte von dieser Bestie gelöst werden.
"Avada Kedavra", klang ein Chor gemeinsam ausgerufener Zauberflüche aus der Höhle, während die jüngere Hexe mit unheimlicher Betonung ihre Formel sang. Julius konnte nicht anders als hinsehen, wie sie mit ihrem Zauberstab auf seinen Vater zeigte. Dann schoss ein goldener Lichtstrahl heraus undtraf den uralten Mann auf dem Wüstenboden, breitete sich aus und löste ihn auf. Mit einem lauten Knall verschwand das Licht, und dort, wo eben noch ein Greis gelegen hatte, lag nun, mit der hellen Haut des gerade neugeborenen bedeckt, ein wimmernder Säugling mit großem Kopf und runden Pausbäckchen, der einen weichen Flaum blonden Haares besaß und unvermittelt wie am Spieß losschrie. Im genau selben Moment ertönte aus der Höhle ein unirdischer Schrei, der nicht menschlich und nicht tierisch war. Er war genauso langgezogen wie der schrille Schrei des Babys, das einst Julius' Vater gewesen war.
"Avada Kedavra!" Rief es unten wieder, und der lange, nicht von dieser Welt stammende Schmerzensschrei wurde zu einem kurzen Kreischer. Im gleichen Moment brach der letzte Keil. Doch anstatt sich zu schließen bröckelte der Spalt wieder auseinander, als habe ihn die Kraft verlassen. So mochte es auch sein, vermutete Julius, während die Hexe, die seinen Vater mit dem Infanticorpore-Fluch verwünscht hatte, den nun wild strampelnden Säugling hochnahm und ihm behutsam den Staub vom kleinen Körper wischte, wobei sie seinen großen, schweren Kopf sicher an ihrem Busen anlehnte.
"Gleich wird sie herauskommen", flüsterte etwas in Julius' Kopf. Das war die Stimme, die ihm in der Höhle dazu geraten hatte, seine Sachen zu nehmen. Jetzt konnte er sie auch zuordnen. Es war die zweite Hexe, die er hier oben hatte sprechen hören können. Dann kam etwas großes, dunkles aus dem sich weiter auftuenden Spalt herausgeflogen, das Julius an einen Dämonen mit Flügeln denken machte. Das dunkle Geschöpf besaß Flügel von der Spannweite eines Flugzeuges und schien aus einer Gewitterwolke und einem Adler zusammengekreuzt worden zu sein. Es besaß mächtige Fänge, die mühelos ein Auto umfassen und forttragen konnten. Jetzt hielten sie den nur noch tiefrot glimmenden Krug Hallittis. Julius sah gerade noch einen eisernen Keil, der zwischen Deckel und Rand festgeklemmt war, bevor das Vogelungeheuer aus den Tiefen des Schattenreiches aus seinem Blickfeld davonflog.
"Sie kommen jetzt alle raus", sagte die Hexe, die gerade noch zu Julius mentiloquiert hatte. Dann hörte er das Wort "Removete" und konnte sich wieder bewegen.
"Ich nehme ihn auf meinem Besen mit", bestimte die älteste der drei Hexen, offenbar die Untergruppenführerin. Ehe es sich Julius versah, gabelte ihn von hinten ein Harvey-Besen auf und machte ihn unsichtbar, während die Fliegerin ihn mit den Armen umfing und sicher hielt. Die anderen Hexen saßen wohl ebenfalls auf Harvey-Besen und flogen unsichtbar dahin. Er hörte jedoch das Quängeln seines totalverjüngten Vaters. Was mochte der jetzt empfinden? War er jetzt wieder frei? Erinnerte er sich an alles, was er im Bann der Abgrundstochter erlebt hatte? Oder war das alles für ihn wie ein böser Traum, der jetzt, wo er ein Baby geworden war, von einem noch schrecklicheren Traum abgelöst worden war?
"Wer sind Sie?" Fragte Julius seine Besenpilotin.
"Es muß dir genügen, daß wir im Gegensatz zu denen, die meinen, sich besser um dich kümmern zu können jeden deiner Schritte außerhalb von New Orleans gut überwacht haben", sagte die Hexe. "Zuviel wissen belastet nur das Gewissen. Das solltest du doch jetzt verstehen. Oder?"
"Für wen arbeiten Sie? Wer ist die Hexenlady im rosa Umhang? Gehören Sie einem Hexenbund an?"
"Uh, keine unvorsichtigen Fragen stellen, Julius Andrews. Was du nicht weißt, kann dir niemand entreißen und dich dann dafür töten", lachte seine unsichtbare Mitfliegerin. Julius wollte schon die Steuerung übernehmen, doch die Fremde ruckelte einmal und zog ihm die Hand vom Besenstiel.
"Wir werden dir und deinem Vater nichts tun, wenn du nicht meinst, jetzt noch ein Husarenstück zu spielen wie das, mit dem du wohl der Höhle entkommen konntest. Warum auch immer."
"Wie Sie sagten. Zuviel zu wissen belastet das Gewissen", knurrte Julius. Dann landeten Sie.
"Hier bleiben wir, bis sie wiederkommt", sagte die Untergruppenführerin. Julius war sich jetzt sicher, von Schwestern aus der Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern gerettet worden zu sein. Oder gehörten sie doch der gemäßigten Linie an? Dann hätten sie wohl nicht so hemmungslos den Todesfluch benutzt.
"Ich weiß nicht, ob ich es verdient habe, von Ihnen gerettet zu werden oder ob Sie es verdient haben, daß ich mich bedanke. Aber ich möchte mich sehr herzlich ..."
"Warte bitte damit, bis unsere Führerin wieder da ist", lachte ihn die junge Hexe an, die seinen Vater immer noch im Arm hielt und ihm Duddi-Duh vorsang. Offenbar mochte der kleine Junge das nicht. Klar, welcher Mann würde sich noch in Babyblubber ansingen lassen, Heiagehen und Pipi und A-a machen wollen? Julius fragte sich wieder, was ihn damals geritten hatte, sich selbst für ein paar Minuten in ein Baby verwandeln zu lassen. Dann kam er wieder darauf, daß es die angeborene Neugier des Wissenschaftlers war und die Gewißheit, die notwendigen Daten für einen positiven Ausgang des Experimentes zur Hand gehabt zu haben. Oho, das konnte was geben, wenn sie seinen Vater wieder zurückverwandeln sollten. Julius' Oma mütterlicherseits hatte nicht mehr alle Unterlagen. Ja, und wenn sein Vater die Geburtsurkunde noch gehabt hatte, dann wußte nur noch er, wo.
Es krachte mehrmals. Dann standen drei weitere Hexen vor ihnen, darunter die in Rosa.
"Schwestern, es ist vollbracht. In wenigen Sekunden wird Hallitti niemanden mehr bedrohen oder verlocken können", sprach sie. Als habe sie damit ein Zauberwort ausgerufen gab es einen heftigen Erdstoß. In der Ferne zuckte ein greller weißer Blitz auf, dem ein orangeroter Lichtpunkt folgte, der wie festgemauert knapp über dem Horizont stehen blieb. Julius meinte, auf einem springenden Ungeheuer zu stehen. Sein infanticorporisierter Vater schrie laut und schrill auf, als würde er grausam gequält. Weitere Erdstöße folgten, wobei Staub aufgewirbelt wurde. Dann begriff er, und es wurde ihm heiß und kalt. Hallittis großer Krug war vernichtet worden. Damit war eine ungeheure Zerstörungsenergie freigesetzt worden, weil alle Lebenskraft explodiert war und sich wohl ins Gegenteil verkehrt hatte, in eine Entladung von hunderten von Todesflüchen, wenn nicht einer Million. Diese Hexe hatte eine magische Atombombe gezündet.
"Sie sind wohl irre. Sie haben den Krug gesprengt und damit hunderte von Lebewesen ausgelöscht", rief Julius in einem Anflug fast panischer Furcht.
"Niedere Tiere, Julius. Ich habe extra einen Ort erwählt, an dem keines Menschen Seele verweilt", sagte die Hexe in Rosa beruhigend.
"Ja, aber dieser Blitz und der Feuerball, wenn die Muggel das auf ihren Überwachungsbildern sehen ... die glauben, in Amerika wäre eine Atombombe explodiert. Das kann den dritten Weltkrieg auslösen!" Sprudelte es panisch aus Julius heraus. Er hatte schon das Bild vor sich, wie eine Alarmglocke schrillte und aus Lautsprechern scharfe Befehle klangen, während Soldaten in Luftwaffenuniformen zu Raketensilos hasteten, nur weil über der kalifornischen Wüste ein greller Lichtblitz und ein risiger Feuerball erschienen war.
"Ich will bestimmt nicht, daß die Unfähigen sich und uns mit ihren verboten gehörenden Massenmordgerätschaften auslöschen. Doch was getan werden mußte, mußte getan werden", bekräftigte die Führerin dieser Hexen aus voller Überzeugung. Dann sprach sie weiter: "Die Ausgeburt Lahilliotas mußte vom Angesicht dieser Welt getilgt werden. unser Werk ist getan, Schwestern. Überlaßt den Vater dem Sohn und kehrt zu unserem Ausgangsort zurück!"
"Moment! Wer sind Sie?" Wollte Julius wissen. Da lüftete die Hexe in Rosa für einen Moment die Kapuze und sah ihn durchdringend an. Ihm fielen plötzlich unmengen Bilder ein, ein Traumsplitter, wo er durch unterirdische Gänge jagte, Professeur Pallas vor der Tafel, auf der etwas stand, das jedoch zu schnell verflog, um es zu lesen, ein aufgeklapptes Buch, und Julius vor Professeur Tourrecandide, wohl in der Jahresendprüfung. Dann hörte er die ersten Takte einer Melodie, die er selbst sang, mit einer Mädchenstimme. Dann begriff er. Diese Hexe hatte die Gunst der Stunde benutzt und ihn legilimentisch ausgehorcht. Das ärgerte ihn, und er versuchte, sich irgendwie zu verschließen. Er sah die Hexe an, die ihren im Mond hellen Schopf wieder mit der Kapuze bedeckte. Dann löschten sie ihre Zauberstablichter.
"Du hast von mir genug gehört, Jüngling, daß ich feststellen kann, du würdest mich erkennen, wenn du mich das nächste Mal siehst. Sie trat auf Julius zu. Dabei begann sein Pflegehelferschlüssel wie wild zu vibrieren. Da fiel es ihm ein. Das war die Frau, die im Bus in San Rafael an ihm vorbeigegangen war. Sie war also wirklich eine Hexe, und offenbar mochte sein Armband sie nicht oder etwas, das sie an sich hatte. Sie lachte erheitert. Julius rechter Arm ging ohne sein Zutun nach Oben.
"Sieh an, er gehört dem ehrenhaften Stand an", sagte die Hexe und wandte sich um. "Gib ihm den wiederverjüngten und befreiten Vater zurück!"
Julius sah wie die Hexe mit seinem Vater zu ihm kam und ihm das Kind in die Arme legte. Sofort nahm er es so, wie er einen Säugling zu halten gelernt und auch schon mehrmals angewendet hatte. Dabei überkam ihm ein heftiges Déja-Vu-Gefühl. Auch dieses Bild von sich hatte er schon einmal gesehen. Als er sich dann umsah, krachte es mehrmals oder schwirrte. Sie waren einfach abgezogen. Nun, vielleicht würden sie wissen, daß gleich ein Schwarm Ministeriumszauberer angerauscht kommen würde. Denn das Apparieren würde bestimmt geortet, wo sie ihn doch suchten. Ja, hier, mitten in der Wüste, würde er heilfroh sein, wenn ihn Poles Bluthunde einkassierten. Ja, und wahrscheinlich würde er es sogar begrüßen, wenn sie sein Gedächtnis veränderten, sodaß er nichts mehr davon wußte, daß sein Vater bis vor wenigen Minuten noch der mörderische Gehilfe einer überirdisch schönen aber auch gefährlichen Kreatur gewesen war, weil er, Julius, ein Zauberer war und sein Vater ihn und seine Mutter hatte sitzenlassen, weil er das nicht länger mitmachen wollte. doch nein, das durfte er nicht denken. Sein Vater hatte seine Mutter in den Wahnsinn treiben wollen. Niemand hatte ihn dazu gezwungen, seine Frau und ihn, Julius anzugreifen. Es war nicht Julius' Schuld. Das durfte er sich nicht einreden.
Minuten vergingen. Das nun leise wimmernde Baby im Arm begann zu frieren. Denn die Nacht war immer noch kalt. Offenbar wolte kein MinisteriumsZauberer herüberkommen und ihn festnehmen. Dann meinte er, zu begreifen, warum. Er hatte es selbst gesagt, daß die Explosion des Kruges wie eine Atombombenexplosion ausgesehen haben mochte. Was, wenn die Ministerialzauberer jetzt alle Hände voll zu tun hatten, allen Soldaten und Befehlshahbern nachzusetzen, die womöglich auf den berühmten roten Knopf drücken wollten. Er konnte sich die Panik unter den Zauberern vorstellen, daß sie den Ausbruch eines weltweiten Atomkriegs verhindern mußten und nicht wußten, wen sie dafür zuerst gedächtnismodifizieren mußten. Doch so stand er nun alleine in der Wüste. Sollte er rufen. Zwecklos, sein Vater hatte schon laut genug geschrien. Wo kamen eigentlich die Erdstöße her? Er konnte es nicht genau sagen. Doch wenn sie nicht nur vom explodierenden Krug herkamen, sondern auch von der Höhle Hallittis stammten, dann hieß das wohl, daß sie zusammengebrochen war. Was solte er jetzt machen? Wenn es wegen der Explosion zum Atomkrieg kommen würde, könnte er hier stehen und nichts davon mitbekommen, bis die Sonne sich verdunkeln und den nuklearen Winter einläuten würde, bis der radioaktive Niederschlag auch hierhin gelangen würde. Doch bis dahin würde er schon verhungert sein. Nein, er wollte nicht mit dem Gedanken sterben, der letzte Mensch auf der Erde zu sein! Er legte den linken Zeigefinger auf den Schmuckstein des Pflegehelferschlüssels und rief Schwester Florence. Doch das Armband zitterte nur kurz. Offenbar war die Entfernung zu groß. Die Hexen hatten ihn einfach hier stehen gelassen. Hatte diese Hexe, die ihn geflogen hatte nicht gesagt, sie wollten ihm nichts tun? Dann hieß das, daß er in der Nähe von einem sicheren Ort war oder etwas machen konnte, um gefunden zu werden. Sicher konnte er wunderbare Funken- und Feuerstrahlen hochschießen, Steine in Feuerholz verwandeln und das dann anzünden. Doch da fiel ihm ein, was er machen konnte. Er hoffte nur, daß es auch jemanden im Umkreis von 1100 Kilometern Gab, der den Hilferuf auffangen würde. So legte er seinen Vater vorsichtig mit dem großen Babykopf so, daß er seine rechte Hand frei bewegen konnte, hob seinen Zauberstab, ließ ihn einmal links- und einmal rechtsherum über dem Kopf kreisen und rief dabei:
"Advoco Medicum!"
Eine goldenrote Lichtfontäne schoss aus dem Zauberstab, wurde im Steigen zu einer Spirale, die sich schneller und schneller nach außen drehte und in der Ferne verschwand.
Er wartete. Zehn Sekunden. - Zwanzig Sekunden. - Dreißig Sekunden. Warum kam niemand? Normalerweise mußte doch jeder Heilzauberer im Umkreis von 1100 Kilometern sofort auf den Notruf reagieren. Er verstand nicht, warum keiner antwortete. Die letzte Sekunde bis vierzig wurde gerade vom Sekundenzeiger abgehakt, als es laut ploppte. Sofort wandte er sich um und sah eine große, knorrig wirkende Hexe in weißer Schwesterntracht mit einer Ausrüstungstasche.
"Hast du mich gerufen, Junge! Hui, du bist ja schon gut durchgefroren. Oh, der Kleine da wohl noch ärger. Ich bin Heilerin Hygia Merryweather von der Thorntails-Akademie. Dich kenne ich noch nicht." Sie leuchtete mit dem Licht ihres Zauberstabs umher und bestrich Julius und seinen zum Baby gewordenen Vater. Da sah Julius, daß sein Vater schon ziemlich blau angelaufen war. Offenbar war er kurz vor dem Erfrieren. Dann fiel der Lichtstrahl auf das Pflegehelferarmband. Es schien silbern wider.
"Ach, du bist von Beauxbatons. Ich kenne diese Armbänder. meine Kollegin da hat mich ja schon oft gefragt, ob ich sowas nicht auch bei mir einführen möchte", sagte die Heilerin mit jovialem Tonfall. Dann grübelte sie.
"Du bist Julius Andrews? Ich dachte, du seist erst dreizehn oder vierzehn."
"Ich bin am 20. Juli vierzehn Jahre alt geworden, Madame Merryweather. Aber vor ein paar Minuten erst ist mir was passiert, das mich glatt um zwei Jahre älter gemacht hat. Das Baby ist übrigens mein Vater. Ich weiß, die Kiste ist heftig."
"Ich habe heftigere Kisten gestemmt, Junge. Ich bringe dich zu uns nach Thorntails. Da päppel ich dich und das Baby, deinen Vater, wieder auf. Hast du den Infanticorpore-Fluch an ihm ausprobiert?" Dabei lachte sie jedoch so, daß Julius sich sicher war, daß sie diese Frage nicht ernstgemeint hatte. Dann zauberte sie eine Trage aus dem Nichts und befahl Julius, sich brav daraufzulegen und das Baby so warm wie es ging zu halten. Dann ruckte die Trage nach oben, schwebte neben die Heilerin, die sie ergriff, sich konzentrierte und dann mit ihr und allem was darauf war durch diesen viel zu engen, alles zusammenquetschenden Tunnel sprang. Als Julius wieder klar sehen konnte, befanden sie sich zwanzig Meter vor einem Bronzetor mit einem großen Wappen darauf, das einen Drachen mit fünfzackigem Schwanz zeigte. Das war das Wappen von Thorntails, wußte er von Mel und Myrna.
"Bleib ja liegen! Ich weiß, Jungen wollen sich nicht hängen lassen, wenn Frauen in der Nähe sind. Aber du hast gelernt, Heileranweisungen zu befolgen", sagte Madame merryweather. Dann trat sie an das Tor und streichelte das Drachenrelief. Der Drache rollte den langen Schwanz zusammen. Es klickte, und die beiden Torflügel schwangen nach innen. Dann ließ Heilerin Merryweather die Trage hinter sich herfliegen. Sie eilte zwischen Bauten hindurch, die Julius nur flüchtig sehen konnte. Mindestens glaubte er, eine Pyramide zu erkennen. Dann ging es in das fünfeckige Hauptgebäude hinein, wo wohl die Klassenräume und die allgemeinen Bereiche wie die Bibliothek und auch der Krankenflügel untergebracht waren. Die Gänge waren leer. Kunststück, auch in den Staaten waren gerade Sommerferien. Dann erreichten sie den Krankenflügel, wo bereits eine untersetzte Frau mit weißblondem, leicht gewelltem haar, welche eine silberne Brille mit dicken Gläsern trug, eine kleine, dünne Frau mit schwarzen Locken und grünen Augen und die Kräuterkundelehrerin Silvana Verdant warteten.
"Noch mehr Hexen", grummelte Julius, bis dann noch ein großer, muskulöser, goldblonder Zauberer im dunkelgrünen Umhang hereinkam.
"Die Stallwache ist vollzählig angetreten, Prinzipalin Wright", meldete er mit der Stimme eines Baritons.
"Ich sehe es. Wir haben wohl tatsächlich wen zu Gast", sagte die untersetzte Hexe mit dem weißblonden Haar. Sie lächelte über ihr babyhaft rundes gesicht. Dabei konnte Julius kleine Fältchen erkennen. Das war also Prinzipalin Ernestine Wright, die Leiterin der Thorntails-Akademie. Um ein Har wäre er letzten Sommer bei ihr hingekommen, wenn seine Mutter doch nach Amerika ausgewandert wäre.
"Das ist Julius Andrews, Professor Wright", stellte Madame Merryweather den Jungen vor. Sie sah ihn an und warf die runde Stirn in stärkere Falten.
"Was hast du denn angestellt? Alterungstrank?"
"Neh, was total abgedrehtes. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen darf, was ich da angestellt habe. Nur so viel, vielleicht könnte Swift von Ihrer Strafverfolgung meinen, mich hier gefangennehmen zu müssen, weil ich was mitbekommen habe, was Ihr Minister ..."
"Uns nicht erzählen wollte", sagte die schwarzgelockte Hexe gefährlich klingend. Jetzt erkannte Julius sie auch. Das war Professor Purplecloud, die hiesige Zaubertranklehrerin.
"Nirvana, ich weiß, Sie wußten es schon vorher, daß Minister Pole etwas verheimlicht, was mit einem gewissen Andrews zu tun hat. Also, was ist es?" Fragte Professor Wright.
"Daß mein Vater von einer Tochter des Abgrunds beherrscht wurde. Ich gehe mal davon aus, daß Sie, Professor Purplecloud, davon gehört haben."
"Ja, habe ich", kam Professor Purpleclouds harsche antwort. Professor Wright wiegte den Kopf. Vielleicht fand sie das zu heftig.
"Mein Vater ist diesem Geschöpf begegnet und von ihm unterworfen worden", begann Julius und erzählte nun, was er wußte. Zwischendurch trank er einen Aufpäppeltrank. Sein Vater wurde derweil in frische Windeln gewickelt und in einen Warmwollestrampelanzug gesteckt. Als er gerade die Sache mit den Hexenschwestern und dem explodierten Krug erzählt hatte, fing sein Vater an zu schreien. Professor Verdant räusperte sich und sah Professor Wright an. Diese nickte ihr zu.
"Ich komme nachher wieder", sagte die Lehrerin und nahm Richard Andrews aus dem kleinen Bettchen.
"Wo wollen Sie mit ihm hin?" Fragte Julius.
"An einen ruhigen Platz, damit ich ihm zu trinken geben kann, ohne daß mir alle zusehen", sagte Professor Verdant. Julius wandte ein, daß das wohl nicht nötig sei. Sie meinte dann: "Junger Mann, ich bin seit genau zwei Monaten Mutter und weiß, wie ein hungriger Säugling schreit. Ich kann ihn stillen, also tu ich das auch." Sprach's und verschwand mit dem Baby durch die Tür.
"Du wolltest uns erzählen, wie du in dieser Nacht gealtert bist", sagte Professor Wright. Julius räusperte sich.
"Ich weiß nicht, von wem ich den gelernt habe. Aber offenbar habe ich für einige Sekunden die Zeit eingefroren und danach wohl ein paar Monate übersprungen. Apropos, haben Sie einen Spiegel hier?"
"Zeitzauber? Das ist höchste Magie. Wer soll dir das glauben, daß du sowas hinbekommen kannst?" Fragte Professor Wright. Dann sah sie Julius in die Augen. Wieder dachte Er, Bilder zu sehen, dieses Mal die in der Höhle, wie sein Zauberstab weißgolden erstrahlte.
"Verdammt, ich will das nicht, daß Sie mich legilimentieren", knurrte Julius.
"Ach, den kennst du also auch schon. Wer bringt dir in Beauxbatons schon so früh die mächtigsten Zauber bei?"
"Das wird wohl diese gute Bläänch Faucon sein, Professor Wright", warf der Zauberer ein, Ares Bullhorn, der zweite Verteidigungsexperte und Zauberkunstlehrer in thorntails.
"Jedenfalls weiß ich jetzt, daß du uns hier nicht was von Schnarchkachlern oder Heliopathen erzählen willst", stellte Ernestine Wright fest. Julius fragte sich derweil, was die alles aus ihm herausgezogen hatte.
"Jedenfalls ein sehr starkes Stück, daß uns Minister Pole nicht informieren wollte. Unsere Schüler hätten mit diesem Geschöpf zusammenstoßen können. Was fällt ihm ein? Das werde ich nachher möglichst gut unterbringen. Und du weißt weder, wer diese Hexen waren, noch woher du auf einmal diesen mächtigen Zauber konntest?"
"Nein, überhaupt nicht. Aber was ist jetzt in der Welt los? Nicht, daß wir jetzt einen Atomkrieg haben."
"Einen was?" Fragte Professor Wright. Bullhorn wußte es.
"Die Muggel haben Superwaffen, von denen eine eine ganze Stadt ausradieren kann und eine Asche mit tödlicher Nachwirkung verteilt. Er meint wohl wegen dieser Explosion."
"Da kann ich dich beruhigen", sagte Professor Purplecloud. "Falls es wirklich zu einer Lebenskraftentladung kam, wirkt die eben nur auf Lebewesen. Das Licht entspricht der Erscheinungsform, in der du die gesammelte Lebenskraft gesehen hast. Wenn die Muggel den Feuerball gesehen haben, dann werden sie sich wundern, daß es keinen Krater oder sowas gegeben hat."
"Ich wunderte mich, wieso niemand mich gesucht hat, als diese Hexen disappariert sind. Dann dachte ich, daß jetzt alle unterwegs sind und den Muggeln ein Falsches Bild ins Gedächtnis pflanzen."
"Mag sein", sagte Professor Wright. "Auf jeden Fall haben du und dein Vater einen hohen Preis für die Freiheit bezahlen müssen. Sicher, für dich ist es wohl eher ein Vorteil, älter auszusehen als du gerade bist. Aber wenn du diesen vermalledeiten Zauber eine Minute länger gewirkt hättest ..."
"Ja, ist schon fies. Deshalb werde ich ihn besser wieder vergessen", sagte er. "Am besten lasse ich ihn mir ohne Erinnerungsverdopplung extrahieren."
"Ob das funktioniert? Immerhin ist er dir erst eingefallen, als du in einer echten Gefahr geschwebt bist. Könnte sein, daß er mehrfach in deiner Erinnerung verborgen wurde", sagte Professor wright. Julius nickte.
Nach einer halben Stunde kam Professor Verdant mit zwei Babys wieder.
"Also, dein Vater ist jetzt garantiert satt, Julius. Ich hatte den Eindruck, daß er sich entweder mit seinem Säuglingsdasein abgefunden hat oder jede Erinnerung an sein Leben verloren hat. Er hat nämlich dieselben Such- und Saugreflexe gezeigt wie mein Sohn hier. Die Frage ist, wielange muß er bei einer Amme bleiben? Weiß einer aus eurer Familie, wie alt er auf die Minute genau ist?"
"Das klären wir, wenn ich meinem ehemaligen Musterschüler Jasper Lincoln Laurentius Pole eine längst überfällige Standpauke gehalten habe", sagte Professor Wright kämpferisch. Dann wies sie Julius an, er solle jetzt schlafen, wie sein Vater.
"Zumindest kann ich noch feste Nahrung zu mir nehmen", dachte Julius, bevor er sich mit einem himmelblauen Leihschlafanzug angetan in eines der Krankenflügelbetten legte und sofort tief einschlief.
Acht stunden später sah er sich zum ersten Mal seit dem Zeitpakt im Spiegel. Erst erschrak er, weil das fast nicht mehr sein Gesicht war. Doch dann grinste er über den blonden Bart, der ihm gewachsen war, die breiteren Schultern und das ihm in den Nacken fallende blonde Haar. So hatte er wirklich noch einmal Glück gehabt. Aber eine Minute länger, und er wäre pro Sekunde um mehr als zwei Jahre älter geworden, bei Zehn Sekunden hätte er dann seine Mutter locker überholt, bei noch einer halben Minute wohl auch Professeur Faucon. Deshalb wollte er diesen Zauber nicht mehr können. Er wußte nicht einmal, woher er ihn auf einmal kannte. Das war kein Segen, sondern ein Fluch. Da fiel ihm ein, daß es auch Verjüngungstränke gab. Er fragte Heilerin Merryweather. Diese dachte kurz nach und meinte dann:
"Würde nichts helfen, weil solche Tränke die Nebenwirkung haben, Sachen aus dem Gedächtnis zu löschen, die du mit den zurückgedrehten Jahren angesammelt hast. Manche mächtige Zeitgenossen, die sich nicht dem Infanticorpore-Fluch aussetzen wollten, entleerten ihr komplettes Gedächtnis in ein Denkarium und verjüngten sich dann mit einem Trank. Dann holten sie sich die ausgelagerten Erinnerungen wieder zurück. Doch sie bekamen dann Probleme, weil sie im Spiegel immer ein viel zu jugendliches Gesicht sahen. Verjüngungstränke sind also nicht zu empfehlen."
"Und es geht ihm gut?" Hörte Julius eine wohlbekannte Stimme.
"Ja, unsere Heilerin hat ihn wieder aufgepäppelt. Allerdings hat er von irgendwoher einen mächtigen Zeitzauber gelernt, dessen Anwendung jedoch zu einer beschleunigten Alterung führt, je länger der Zauber gewirkt wird", sagte Professor Wright."Temporipactum?!" Ertönte eine andere, Julius ebenso vertraute Stimme. Das war Professeur Faucon.
"So heißt er wohl, Frau Kollegin", erwiderte die Prinzipalin von Thorntails.
Dann ging die Tür auf, und Catherine Brickston und Madame Faucon traten ein. Julius fand sich keine zehn Sekunden später in den Armen von Babettes Mutter wieder. Diese meinte:
"Dann wäre ja jetzt wohl ein Rasierer fällig. Oder willst du den behalten?" Sie streichelte ihm über den fröhlich sprießenden Bart.
"Nur, wenn Claire das will", grinste Julius. "Ansonsten ist es doch unangenehm, mit zu vielen Haaren vorm Mund zu essen."
"Hallo, junger Mann. Ich habe deine Eulenpost erhalten, als ich herkam, weil Gloria Porter mich alarmierte", begrüßte ihn Madame Faucon. Offenbar machte ihr ein bärtiges Gesicht nichts aus, weil Sie Julius mehrmals auf die Wangen küßte, bevor sie weitersprach: "Minister Pole hat alle Verbindungen in die übrige Zaubererwelt unterbrochen. Ich bin mit einem Muggelflugzeug herübergekommen. Offiziell bin ich also nicht hier."
"Pole hat demnächst genug damit zu tun, sich vor dem Zaubererkongress und dem Gerichtshof zu verantworten", knurrte Professor Wright. "Ich fürchte, auch Mr. Elysius Davidson dürfte sich verantworten müssen. Immerhin hätte er die Angelegenheit schon früh den Leuten von der Liga mitteilen müssen."
"Wissen Sie was mit meiner Mutter ist? Ist sie noch bei Mr. Marchand?" Wollte Julius wissen.
"Ja, in gewisser Weise", sagte Catherine und erbleichte. "Gestern abend wurde ein Bürogebäude eines gewissen Hubert Laroche von Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung angegriffen. Eingreiftruppen des FBI wurden hinzugeholt und haben die Schlacht beendet. Laroche selbst ist entkommen. In einem tiefen, hermetisch verschlossenen Geheimkeller, der eine eigene Luftschleuse besaß, konnten die Beamten nach mehreren Stunden Arbeit mit verschiedenen Sprengstoffen und elektronischen Überbrückungsgeräten die Schleuse knacken und fanden sechs Kugelkammern, die zu einem pervertierten Lebenserhaltungssystem gehörten. Vier Menschen lagen in solchen Kugeln im Zustand verlangsamten Stoffwechsels in einer Flüssigkeit, die mit mehr Sauerstoff angereichert war, sodaß sie diese mit den Lungen veratmen konnten und über eine operativ implantierte künstliche Nabelschnur mit Nahrung versorgt wurden und von Giftstoffen befreit wurden. Der Erbauer und Betreiber dieser Instalation wird noch gesucht. Unter den vier Gefangenen waren auch Mr. Marchand und deine Mutter. Der Kristallherold ist damit herausgekommen, daß jetzt auch schon die Muggel meinen, in natürliche Lebensvorgänge eingreifen zu können. Die sind nicht ganz auf der Höhe der Zeit." Sie sah Julius sehr aufmerksam an, als erwarte sie eine heftige Reaktion.
"Meine Mutter war in so einer Lebensverlangsamungskugel? Wie geht es ihr und wo ist sie?"
"Sie ist zusammen mit Mr. Marchand in einem Intensivkrankenhaus, wo sie vorsichtig wieder auf Normalniveau zurückgeholt wird", sagte Catherine und gab Julius eine Zeitung aus New Orleans und die aktuelle Ausgabe des Kristallherolds. Der Aufmacher des Herolds lautete:
Julius saugte den Artikel begierig auf. Da hieß es, daß in den frühen Morgenstunden in der südkalifornischen Region der Mojave-Wüste mehrere lokal begrenzte Erdbeben aufgetreten seien, die nicht mit den dort zum Alltag gehörenden Erdstößen vergleichbar waren, da sie sich nur an der Oberfläche bemerkbar gemacht hätten und kein tief gelegenes Hypozentrum besessen hatten. Dann sei noch ein oranger Glutball gesehen worden, in dessen Licht wohl alle Tiere und Mikroben vernichtet worden seien. Jedenfalls hatten die Vergissmichs des Ministeriums alle Hände voll mit Muggelforschern, -soldaten und -polizisten zu tun, die die Explosionsstelle aufsuchten. Nach diesem Artikel kam noch eine kürzere Geschichte, warum man von den Porters in New Orleans seit mehr als einem Tag nichts mehr höre und warum Jane Porter verdächtigt wurde, brisante Geheimnisse des Zaubereiministeriums verraten zu haben.
"Dann können Sie sich draufsetzen, Professor Wright", sagte Julius und deutete auf den Artikel. "Mrs. Porter soll morgen vor den Zwölferrat gebracht werden. Offenbar wollten die warten, bis sie mich kriegten. Aber da es nicht geklappt hat -"
"Es ist noch jemand gekommen", sagte Bullhorn, der die adrette Hexe Ardentia Truelane hereinführte. Diese sah Julius verwirrt an. Dann meinte sie:
"Hast du etwa versucht, gegen dieses Monster zu kämpfen? Aber so wie du jetzt aussiehst solltest du bleiben, Julius."
"'tschuldigung, daß ich Ihnen abgehauen bin", sagte Julius. "Aber ich habe voll die Panik gekriegt, als mein Vater mich gerufen hat und ..."
"Ich habe die ganze Nacht rumgefragt und gesucht, weil du ja den Besen nicht mitnehmen konntest. Wie konnte ich ahnen, daß dein Vater mit dieser Unheilsbraut schon hinter dir her war. meine Güte! Ich habe blut und Wasser geschwitzt. Dann kam die Eule von Prinzipalin Wright ins Institut. Mr. Davidson soll morgen gegen Mrs. Porter aussagen. Minister Pole sucht dich immer noch. Wenn er mitkriegt, wo du bist ..."
"Werde ich ihn daran erinnern, daß er und einige andere seiner Kollegen sich damals rühmen konnten, in unseren Mauern sicher und geborgen zu leben. Das gleiche Recht haben unsere Gäste."
"Huch, wer denn noch?" Fragte Ardentia überrascht klingend.
"Mein Vater, Ms. Truelane", sagte Julius niedergeschlagen. Professeur Faucon räusperte sich und meinte:
"Es ist gelungen, ihn doch noch aus dem Bann dieser Kreatur zu lösen. Allerdings wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht näher darauf eingingen."
"Natürlich", sagte Ardentia mit leicht erröteten Ohren.
"Dann bleibst du am besten hier!" Sagte sie. "Ich werde Mr. Davidson noch nicht verraten, was mit dir passiert ist und in welcher Verfassung du jetzt bist."
"Das müssen Sie auch nicht, weil wir uns morgen alle, wie wir hier versammelt sind zur Sitzung des Zwölferrates begeben werden", sagte Professor Wright. Ardentia Truelane verstand. Sie nickte und verabschiedete sich wieder.
"Sie war mir etwas zu neugierig", sagte Professeur Faucon. "Es machte den Anschein, als könne sie sich nicht über die Situation, daß du gerettet worden bist freuen oder habe damit gerechnet, daß du heil aus der Sache herauskommst, vom etwas weiter gereiften Habitus abgesehen."
"Sie meinen, die hat das vorher schon gewußt, daß mir nichts passiert ist?" Fragte Julius.
"Das oder einfach ein überdurchschnittlicher Optimismus", raunte Professeur Faucon.
"Für Neugier und Optimismus ist sie berühmt", sagte Prinzipalin Wright. "Sie wollte damals einen bestimmten Mitschüler umwerben, der jedoch schon verlobt war. Sie gab es erst auf, als der junge Mann heiratete."
"Wie meinen Sie das, daß wir morgen alle dabei sind?" Fragte Julius.
"Daß wir dem pflichtsäumigen Minister Pole morgen den Kampf bieten, den er haben wollte. Ich lasse auf jeden Fall nicht zu, daß Jane von ihm zur lebenslangen Doomcastle-Haft verurteilt wird", sagte die Schulleiterin von Thorntails. Madame Faucon nickte zustimmend.
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