Was bisher geschah | Vorige Story
Die ersten Wochen der Sommerferien sind für Julius Andrews teils interessant, teils lustig, teils unheimlich. Er wird von Jeanne, Barbara, Gustav und Bruno zu deren Hochzeitsfeiern eingeladen, Babette soll dabei eine von Jeannes acht Brautjungfern sein. Da ist sein vierzehnter Geburtstag, den er zusammen mit seiner Mutter und Babette Brickston bei Madame Faucon erlebt, wo sich sein ehemaliger Schulfreund Kevin Malone heftig danebenbenimmt. Da sind die Hochzeitsgäste, die auf teilweise merkwürdige Weise anreisen, wie die Latierres auf ihrer geflügelten Riesenkuh Demie oder Jeannes Großeltern auf einem persischen Flugteppich. Da ist das Schachturnier, daß Julius diesmal nur bis zur Bronzewertung schafft, wobei er gegen die späten Mutterfreuden entgegensehende Madame Ursuline Latierre verliert, die auch das gesamte Turnier gewinnt. Da sind die Hochzeitsfeste von Jeanne und Bruno, Barbara und Gustav. Mit seiner Freundin Claire schafft Julius dann erneut die Auszeichnung bestes Tanzpaar des Sommerballs, kann sich mit ihr und den anderen nicht darüber freuen, weil ungebetene Gäste den Festplatz stürmen, Dementoren. Es gelingt jedoch allen, die einen wirksamen Patronus-Zauber aufrufen können, darunter auch Julius, die unerwünschten Besucher zurückzuschlagen.
Julius und seine Mutter wurden von Mrs. Jane Porter eingeladen, weitere Ferienwochen bei ihr in New Orleans zu verbringen. Dort selbst trifft Julius auf die Junghexe Brittany Forester, die eine leidenschaftliche Quodpotanhängerin ist. Er probiert das etwas ruppigere Flugspiel mit einem explosiven Ball aus und sieht einen Tag später das Profi-Spiel der Rossfield Ravens gegen die Lokalmatadoren Bayoo Bugbears. Merkwürdige Äußerungen über seinen Vater und der Umstand, daß seine Mutter ihm nicht erzählen will, warum sie seit Mai nichts mehr von ihm gehört hat, treiben Julius dazu, Brittany zu fragen, ihn in ein von ihr einmal besuchtes Internetcafé zu bringen. Dort erfährt er einen Großteil der schrecklichen Wahrheit, nämlich daß sein Vater wohl aus irgendwelchen Gründen zu einem gefährlichen Massenmörder geworden ist. Ohne Mrs. Porter davon zu erzählen, was er nun weiß fragt er sie, ob sie ihm nicht ein Treffen mit dem Geist der alten Voodoo-Meisterin Marie Laveau ermöglichen kann, der prophetische Fähigkeiten nachgesagt werden. Mrs. Porter stimmt zu. Es kommt zu einer Audienz um Mitternacht, bei der Julius von Marie Laveau eine unheimliche Zukunftsvorhersage zu hören bekommt und auch den Rest der grausamen Wahrheit über seinen Vater erfährt, nämlich daß dieser nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern von einer dunklen Zauberkreatur, einer Tochter des Abgrundes, in ihren Bann geschlagen und zum Lebenskrafträuber gemacht wurde. Um mehr zu erfahren bringt Mrs. Porter Julius in das Marie-Laveau-Institut, wo sie als Fluch- und Ritualmagieexpertin arbeitet. Doch ihr Vorgesetzter Davidson möchte nicht haben, daß Julius über die Angelegenheit informiert wird, da der amerikanische Zaubereiminister die Sache geheim hält. So müssen Mrs. Porter und er vor den Schergen der Strafverfolgungsabteilung flüchten und treffen dabei auf das Zaubererehepaar Ross, die beide in der Liga gegen die dunklen Künste engagiert sind. Um herauszubekommen, wo Julius' Vater ist, reist Mrs. Porter mit ihm an den letzten Ort, wo er sich aufgehalten hat und führt mit ihm den Sanguivocatus-Zauber aus, der besser verläuft als ihr lieb ist. Denn Julius bekommt nicht nur magischen Kontakt zu seinem Vater, sondern wird beinahe von der Tochter des Abgrunds in deren Bann gezogen. Deshalb beschließt Mrs. Porter, ihn am nächsten Tag nach Millemerveilles zurückzubringen.
Der Abend des ersten Augustes 1996 war nebelig. Das am Tag aus den Sümpfen verdunstete Wasser war in der schlagartig einsetzenden Kühle kondensiert und lag nun wie ein feuchtes, graues Tuch über New Orleans. Mit diesem Wetter hatten die Bewohner der Stadt zu leben gelernt. Mal kam heftiger Nebel auf, mal war es sternenklar, je danach, wie rasch die Temperaturen sanken.
Martha Andrews sorgte sich. Sie saß nun schon seit fünf Stunden im Haus des FBI-Agenten Zachary Marchand, der kurz nach der Ankunft aus New York zu seiner Dienststelle losgefahren war, um sich mit seinen Vorgesetzten über irgendwas dienstliches zu unterhalten. Er hatte ihr was zu essen gezaubert - wortwörtlich - und war dann losgefahren. Auf dem Rückflug von New York hatte sie ihm kurz erzählt, daß ihr Sohn Julius und Mrs. Porter wohl kurz bei ihm gewesen seien, weil sie wohl schnell irgendwohin verreisen mußten. Es sei wohl dringend geworden und sie wüßten nicht, wann sie wiederkommen würden. Zachary Marchand hatte daraufhin einen merkwürdigen Ausdruck gezeigt, als fühle er sich in die Enge getrieben und müsse sich zwischen einer Flucht oder einem Befreiungsschlag entscheiden. Dann hatte er geantwortet, daß er sich sowas gedacht hatte, weil Mrs. Porter angedeutet habe, sie hätte etwas, von dem sie nicht wüßte, ob es in diesen Tagen schon losgehen oder erst später wichtig werden sollte. Danach hatte er mit ihr noch ein langes Gespräch mit einem Mr. Swift geführt, der nach Mrs. Porter und Julius suchte, aber nicht genau herauslassen wollte, was genau die beiden angestellt hatten. Unter dem Versprechen, daß Mrs. Andrews bei Mr. Marchand im Haus bleiben würde, war er um sieben Uhr abends wieder abgezogen. Tja, und jetzt saß Martha Andrews alleine in einem ihr so gut wie fremden Wohnzimmer und schaltete sich durch die vier Dutzend Fernsehsender, die Zacharys Großbildgerät empfangen konnte. Für die zwei Krimis, die gerade liefen, hatte sie nicht die Ruhe, eine Endlosserie wollte sie sich nicht antun, und den dritten Teil vom Krieg der Sterne wollte sie auch nicht sehen. Zwischen Waschmittelwerbung, Talkshows und Sportsendungen wechselte sie immer hin und her, bis sie endlich einen Nachrichtensender fand, auf dem sie einstweilen blieb.
"Familienmord in Columbus, Ohio", meldete eine Nachrichtensprecherin mit brauner Dauerwellenfrisur. "Über das abscheuliche Verbrechen, daß in den gestrigen Abendstunden ein sonst so beschauliches Stadtviertel der Landeshauptstadt Ohios erschütterte, liegen immer noch keine weiteren Einzelheiten vor. Den vagen Zeugenaussagen nach ist aber davon auszugehen, daß der im März aufgetauchte Massenmörder, der sich als Richard Andrews aus London ausgegeben hat, für den Mord an zwei Familien verantwortlich ist. Die Polizeibehörden der USA rufen daher weiterhin zu größter Wachsamkeit auf. Wer diesen Mann irgendwo gesehen hat", ein Phantombild wurde eingeblendet, dessen Ähnlichkeit mit Richard Andrews Martha sichtlich erschütterte, "möchte sich umgehend mit der nächstgelegenen Polizeiwache in Verbindung setzen! Der Mann wird als gemeingefährlich eingestuft. Obwohl der richtige Richard Andrews bereits im Mai gefunden wurde, hört der Gesuchte nicht auf, dessen Rolle zu spielen. Wer wirklich dahintersteckt ist bis heute nicht klar."
"Euch nicht", seufzte Mrs. Andrews. Ihr war sehr unwohl zu Mute. Julius hatte herausbekommen, was los war. daß die Zaubererwelt damit irgendwas zu tun hatte.
Sie schaltete den Fernseher aus und die Stereoanlage ein. Sie fand unter den CDs des hausbewohners auch mehrere Werke aus dem Barock und legte eine davon ein. Unter sanften Streicherklängen versuchte sie, sich wieder zu entspannen. Der Tag war lang gewesen. Sie schlief ein.
Wie spät es genau war wußte sie nicht. Jedenfalls erwachte sie mit Schmerzen im Genick, als Mr. Marchand sie sanft an der Schulter rüttelte.
"Martha, 'tschuldigung, daß ich Sie wecke. Aber ich habe von meinem Chef erfahren, daß man Sie mit Ihrem Mann sprechen lassen möchte. Damit das keiner mitkriegt, wo er ist, werden wir beide gleich von Kollegen von mir abgeholt", sagte Mr. Marchand ruhig. Martha wunderte sich nicht schlecht. Hatte zachary marchand seinen Kollegen verraten, daß er sie gerade bei sich beherbergte?
"Woher wissen die, daß ich bei Ihnen bin, Zachary?" Fragte Martha.
"Weil mein Chef wissen wollte, wo ich genau war und ob ich meinen Urlaub so einfach unterbrechen könnte. Es ist leider etwas passiert, daß mich und ein paar andere Kollegen heftig beschäftigt. Außerdem müssen wir klären, was der Doppelgänger Ihres Mannes von Richard erfahren hat oder nicht. Sie sollen ihn für fünf Stunden unter Aufsicht eines Psychologen sprechen. Vielleicht kommen dabei noch wichtige Dinge ans Licht."
"Mitten in der Nacht?" Fragte Martha mißtrauisch.
"Läßt sich nicht anders regeln. Oder möchten Sie nicht direkt mit Ihrem Exmann sprechen?"
"Doch natürlich", sagte Martha Andrews. Allerdings dachte sie auch daran, daß Julius ihr erzählt habe, seine übereilte Abreise aus New Orleans habe was damit zu tun gehabt, daß er Sachen über seinen Vater herausbekommen habe. Doch wenn dessen Verschwinden und dieser Doppelgänger von ihm was mit der Zaubererwelt zu tun gehabt hätten wäre dieser Arco Swift sicherlich nicht so leicht abgerückt. So ging sie darauf ein, mit Zachary Marchand zusammen in das geheime Versteck zu reisen, wo Richard Andrews darauf wartete, daß er als Kronzeuge im Prozess gegen die Bande aussagte, die ihn entführt hatte.
Eine Viertelstunde später hielt ein gepanzerter Wagen vor der Tür des Hauses an.
"Ich denke, Swift wird das Haus weiter beschatten lassen", sagte Marchand zu Martha Andrews. "Andererseits bin ich ja bei Ihnen."
Sie verließen das Haus und stiegen in den Wagen. Dort wurde Martha von einer FBI-Agentin auf versteckte Sender untersucht und mußte ihr Mobiltelefon abgeben, das in einen dickwandigen Stahlkoffer gesperrt wurde.
"Wir können nicht ausschließen, daß Mr. Andrews seinen Entführern Ihre Mobiltelefonnummer verraten hat und die versuchen, Sie durch einen Anruf zu orten, Ma'am", sagte die Agentin, eine durchschnittlich wirkende Frau mit dunklem Haar. Martha nickte verstehend.
Als die gepanzerte Limousine mit verspiegelten Scheiben davonfuhr trat ein gedrungen wirkender Mann im mitternachtsblauen Anzug aus dem Schatten des gegenüberliegenden Hauses und verschwand mit leisem Knall.
Die Fahrt ging aus New Orleans heraus bis zu einem freien Feld, wo ein Hubschrauber wartete. Kaum hielt der Wagen, liefen bereits die Rotoren an.
"Wohin geht es ungefähr?" Fragte Mrs. Andrews.
"Dürfen wir Ihnen nicht sagen", erwiderte die Agentin und deutete auf die offene Schiebetür des Helikopters.
"Ist das mit dem Hubschrauber nicht auffälliger als mit einem Wagen?" Fragte Martha Andrews.
"Wir bleiben unter dem Radar", meinte ein anderer Mann, ein rotschopfiger Bursche im Nadelstreifenanzug. Dann bestigen sie die Maschine. Kaum war die Schiebetür verriegelt, startete der dunkle Hubschrauber auch schon und flog über das freie Feld davon, während der gepanzerte Wagen umkehrte.
Etwa einhundert Meter über Grund drehte die Rotorflugmaschine auf einen Kurs ab, der in südliche Richtung wies. Martha Andrews saß angeschnallt auf dem Polstersitz zwischen Marchand und dessen Kollegin aus der nichtmagischen Welt. Wie weit würde der Flug gehen, und wohin würde sie gebracht?
Im Inneren der Maschine roch es merkwürdig wie frisch lackiert, als sei die Maschine erst vor kurzem von innen überholt worden. Und dieser Farbgeruch wurde immer intensiver, bis Martha Probleme mit der Atmung bekam. Sie sah sich hektisch wie ein gejagtes Tier um. Auch Zachary Marchand und seine Kollegin schienen Probleme mit der Luft zu haben. Dann sah Martha die kleine Düse an der Decke, die beim Einsteigen noch nicht zu sehen gewesen war. Ein feiner, fast unsichtbarer Strahl strömte daraus aus. Martha wurde schlagartig klar, was das zu bedeuten hatte. Doch sie konnte sich schon nicht mehr bewegen, irgendwas rufen. Röchelnd und mit ihrem Atem ringend zuckte sie auf dem Sitz. Zachary marchand wollte gerade in ein Hosenbein langen, da klappte er auch schon zusammen wie ein Taschenmesser. Das war das letzte, was Martha noch sah, bevor sich ein schwarzes Flimmern vor ihren Augen verdichtete und zu einem undurchdringlichen Vorhang wurde, der sie in Dunkelheit und Stille eintauchte.
Der Pilot im Cockpit grinste. Diese Idioten vom FBI waren seinem Spießgesellen tatsächlich auf den Leim gekrochen und zusammen mit der Ex von diesem Andrews in die Falle gegangen. Sein Auftraggeber würde zufrieden sein. Vorsichtig sog er an der kleinen Pressluftpatrone, die er kurz vor dem Einsteigen der drei Passagiere tief im Mund verborgen hatte, um dem Betäubungsgas ohne auffällige Maske zu widerstehen. Er wartete eine Minute, dann ließ er frische Luft in die Kabine einströmen und funkte seinem Auftraggeber durch, daß der Nachtfalter die Blüte gefunden hatte.
Es war vier Uhr Morgens, als sich Jane Porter auf einem Harvey 5 dem Haus von Zachary Marchand näherte. Sie hoffte, daß die Strafverfolgungstruppen sich nun nur noch auf das Institut konzentrierten oder immer noch in Columbus herumjagten. Vorsichtig und leise schwebte sie über die Straße hinweg und suchte das Haus. Als sie es mehrmals umflogen hatte und keinen verdächtig aussehenden Menschen sehen konnte, landete sie genau vor der Eingangstür. Sie zückte ihren Zauberstab und rief den Lebensquellenanzeiger auf. Vielleicht lungerten sie ja unsichtbar herum. Sie wußte, daß sie dann sehr schnell reagieren mußte, wenn sie einen Unsichtbaren fand. Doch alles, was das grüne Zauberlicht am und im Haus anzeigte waren die hellgrünen Lichtpunkte herumfliegender Motten oder Mücken. In einem Baum auf der anderen Straßenseite hockte ein Vogel, der wohl gerade schlief. Von der Größe her mochte es eine Elster oder eine Krähe sein. Sonst war hier kein Lebewesen zu entdecken. Jane überlegte, ob sich nicht einer von den Strafverfolgungszauberern in ein Tier verwandelt hatte, um das Haus zu beobachten. Doch mit dem Umbroriginis-Zauber, der verwandelte von natürlichen Dingen und Lebewesen unterscheiden konnte, hätte sie jedes verdächtig wirkende Objekt oder Tier direkt anvisieren müssen. So mußte sie sich darauf verlassen, daß im Moment niemand etwas gegen sie unternehmen konnte.
Beunruhigender war für sie, daß sie im Haus wirklich keinen Menschen aufgespürt hatte. Das hieß, daß Mr. Marchand und Martha Andrews noch nicht oder nicht mehr da waren. Das machte die Sache Kompliziert, die sie vorhatte. Denn noch ein büschel Haare von Zach Marchand würde sie nicht kriegen, um die Abwehrzauber an den Fenstern zu überlisten. Sie dachte daran, sich in Nebel aufzulösen und durch eine Ritze hindurchzudringen. Doch als sie kurz mit dem Zauberfinder über die Türen und Fenster strich, erkannte sie, daß sie wohl nicht nur gegen Öffnungszauber und Schmetterflüche gefeit waren, sondern wohl auch undurchdringlich für alles was ein wenig dichter als Luft war. So war das ja auch im Institut, um fähige Hexen und Zauberer zu blockieren, in Nebelgestalt durch die kleinsten Ritzen zu dringen. So stand sie für eine Minute wie der Ochs vorm Berg da und überlegte, was sie unternehmen sollte. Eigentlich wollte sie Mrs. Andrews bitten, ihre Sachen zu packen und darauf zu warten, daß sie mit Julius zurückkehrte. Doch wenn die beiden jetzt nicht hier waren ...
Wie Augen aus grellem, bläulich-weißem Licht glommen Autoscheinwerfer auf, als ein silberner Chevrolet um die nächste Ecke in Stadtzentrumsrichtung bog. Jane saß sofort auf ihrem Besen auf und wurde wieder vollkommen unsichtbar. Sie stieg einige Meter auf und hielt den Besen auf der Stelle. Das Brummen des PS-starken Motors wurde lauter, sank dann in der Tonhöhe ab und setzte aus. Der Wagen stand nun genau vor dem Haus. Fünf Mann in klobiger Kleidung, wohl zum Schutz vor Kugeln aus Feuerwaffen, eilten auf das Haus zu und verteilten sich. Ein würdig wirkender Mann blieb beim Wagen und blickte dem Stoßtrupp nach, der versuchte, die Türen zu öffnen.
"Keiner im Haus, Sir!" Rief einer der Männer ungeniert zurück. Jane Porter dachte verächtlich:
"Habe ich auch schon rausbekommen."
"Verdammt, dann ist der wirklich mit dieser Mrs. Andrews weg", meinte der Mann am Auto. Jane Porter überlegte, wer die wohl waren. Das mochten Polizisten sein, vielleicht Leute von Zacharys Muggel-Dienststelle. Sie konzentrierte sich auf den Herrn am Wagen, weil dieser wohl der wichtigste war und murmelte den Exosenso-Zauber, bis die Umgebung um sie herum verschwand und einer neuen Umgebung, besser einer neuen Wahrnehmungsweise Platz machte. Sie hörte ihn nun so sprechen, als spräche sie selbst:
"Wenn ihr nicht in das Haus kommt fahren wir zum Quartier zurück." Einer der fünf Männer in Schutzkleidung eilte zum Wagen zurück. Durch die Augen des exosensorierten Mannes konnte Jane Porter sehen, daß der Mann eine schwere Handfeuerwaffe, wohl eine dieser Schnellfeuerpistolen, in einem Schulterhalfter bei sich hatte.
"Ihr könnt nicht in das Haus einbrechen?" Fragte Mrs. Porters überwachter Muggel.
"Nicht, wenn wir keine Tür kaputtmachen dürfen, Sir", meinte ein weiterer Mann, der gerade zurücklief. "Ich fürchte, Sir, Zach ist mit dieser Mrs. Andrews in eine Falle gelockt worden. Scheiß Maulwurf!"
"Etwas rüde gesprochen, Bowman, aber ich muß Ihnen voll zustimmen", sagte der würdige Mann vor dem Auto. "Okay, dann bleibt Parker hier und beobachtet das Haus! Wenn Sonderagent Marchand wieder zurückkommen sollte, soll er mich sofort im Büro anrufen, klar!"
"Verstanden, Mr. Wilberforth!" Bestätigte ein Mann aus der Truppe und salutierte. Dann stiegen die anderen in das Auto ein und fuhren los. Jane Porter hielt weiterhin Kontakt mit dem Muggel, den sie Mr. Wilberforth genannt hatten. Sie erinnerte sich, daß so Marchands direkter Vorgesetzter hieß. Sie bekam es mit, wie er zum Hörer eines fest im Auto eingebauten Telefons griff und Zahlen in die Tastatur eintippte. Als würde sie selbst mit diesem Fernsprechgerät hantieren hörte sie mit, wie Wilberforth nach dem Befinden eines Gordon Walker fragte.
"Der hat uns bisher nichts erzählen wollen, Sir. Denkt wohl, wir hätten nichts gegen ihn in der Hand. Was ist mit Zach Marchand?"
"Der war nicht zu Hause. Ich befürchte, Walker hat ihn verraten", knurrte Wilberforth.
"Oh", kam es aus dem Telefonhörer zurück. Dann verschwamm alles, und alle Geräusche und anderen Eindrücke versanken in einem dunklen, alles schluckenden Nebel. Die Exosenso-Verbindung war abgerissen, weil Wilberforth zu weit von Jane entfernt und sie zu wenig mit ihm vertraut war. Als sie dann wieder ihre eigenen Sinne wahrnahm schwebte sie immer noch über dem Boden. Der Besen hatte sich um keinen Millimeter bewegt.
"Sie sind verraten worden? an wen?" Fragte sich Mrs. Porter, der Unbehagen und Verbitterung ein unangenehmes Magendrücken verursachten. Wer konnte ein Interesse daran haben, Mrs. Andrews in eine Falle zu locken? Wohl jemand, der wollte, daß das FBI den angeblichen Richard Andrews herausgab, damit Leute aus der Unterwelt erfahren konnten, was dieser über die angebliche Organisation wußte, die den angeblichen Doppelgänger auf die Menschheit losgelassen hatte. Ihr wurde klar, daß sie es nicht hatte verhindern können, weil sie mit Julius und den Leuten von Arco Swift zu sehr beschäftigt gewesen war. Martha Andrews war jetzt irgendwo, und sie konnte niemanden darauf ansetzen, weil die Strafverfolgungszauberer sie kassieren wollten und damit Julius' Leben auch noch gefährdeten. Ihn galt es zuerst in Sicherheit zu bringen. Dann konnte sie nach seiner Mutter suchen. Sie überlegte, was sie tun konnte, bevor sie ins Institut zurückkehren würde. Da fiel ihr ein, sich die Zweiwegspiegel zu holen, die sie mit Julius, Gloria und ihrer Kollegin Blanche Faucon verbinden konnten. Es war nötig, ihrer französischen Fachkollegin anzukündigen, daß sie den Jungen wieder zurückbringen würde. So nahm sie Kurs auf den Weißrosenweg.
Als sie das Stadtviertel St. Michel erreicht hatte, in dem ihre Heimatstraße versteckt war, sah sie einen wuchtigen Lastwagen genau vor der einzigen Zufahrt zum Weißrosenweg. Jane Porter wußte, daß sie nicht einfach über die Barriere hinwegfliegen konnte. Der Durchlaßzauber wirkte nur, wenn man ihn genau in seinem Wirkungsfenster passierte. Doch der Lastwagen stand genau vor der Einfahrt, und in der Einfahrt selbst, genau an der soliden roten Mauer, parkte ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Warnlicht, um den herum vier Männer in der Uniform der Stadtpolizei postiert standen, als warteten sie auf jemanden oder etwas.
"Arco Swift, du Bluthund!" dachte Mrs. Porter nun in einem Aufruhr von Wut und sich in die Enge gedrängt fühlend. Swift hatte den Weißrosenweg für alles aus der Muggelwelt kommende unerreichbar gemacht. Wahrscheinlich warteten sie drinnen auch schon mit Apparitionslokalisationsartefakten und ganz bestimmtauch vor ihrem Haus. Doch sie mußte es riskieren. So überflog sie die gesperrte Zufahrt in großer höhe, landete einige hundert Meter weiter weg und klemmte sich den Besen unter einen Arm. Dann konzentrierte sie sich auf einen Punkt der gerade so noch vor der von ihr selbst geschaffenen Apparitionsmauer lag und wirbelte aus dem normalen Raum-Zeit-Gefüge. Keinen Moment später fühlte sie einen mörderischen Anprall, verbunden mit einem grellen Lichtblitz und einem Donnerschlag. Sie fühlte, wie sie herumgewirbelt wurde und dann unsanft auf ihrem Po landete. Alle Fasern ihres Körpers taten höllisch weh. Diese Bande hatte also auch eine komplette Absperrung über die ganze Straße gezogen. Als sie begriff, daß sie sich gerade ausgeliefert hatte, knallte es in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie fuhr herum, da trafen sie bereits zwei Schockzauber gleichzeitig.
Julius Andrews erwachte nach einem tiefen, traumlosen Schlaf. Als er auf seine Uhr sah stellte er fest, daß es hier in New Orleans schon acht Uhr morgens war. Offenbar hatte die ganze Aktion von gestern doch mehr Kraft gezogen als er mitbekommen konnte. Er stand auf und versuchte, die Tür zu öffnen. Doch es gelang nicht. Die Tür gab keinen Millimeter nach, als hätte man sie festzementiert. Er klopfte heftig gegen die Tür und rief:
"Hallo, ist wer da, der die Tür aufmachen kann? Mrs. Porter!"
"Julius, bist du wach?" Kam eine überflüssige Frage von der anderen Seite. Es war Ardentia Truelane. Dann rasselte etwas in der Tür. Sie zitterte kurz und schwang dann auf. Ardentia Truelane steckte ihren Kopf mit dem seidigglatt gekämmten, weizenblonden Haar herein und sah Julius an, der sichtlich verstimmt dreinschaute.
"Wo ist Mrs. Porter?" Knurrte er.
"Immer sofort durch die Mitte zum Ziel, was?" Erwiderte Ms. Truelane. Dann sagte sie: "Das wüßten wir auch gerne. Sie wollte wohl früh am Morgen zu deiner Mutter, um sie für die Abreise vorzubereiten, aber sie kam bis jetzt nicht mehr wieder. Schlimmer noch, wir denken, Swifts Leute haben sie dabei bei Mr. Marchands Haus oder unterwegs zum Weißrosenweg erwischt. Swift hat Mr. Davidson eine Eule geschickt, du solltest zu ihm gebracht werden, wenn er nicht per Schnellgerichtsverfahren zu zehn Jahren Doomcastle verurteilt werden will, wenn es sein müsse auch in Abwesenheit."
"Toll, und das kriege ich jetzt erst mit?!" Blaffte Julius. Ardentia sah ihn bestürzt an, weil sie sich unschuldig angegriffen fühlte. Julius erkannte, daß er der Hexe da nicht die Schuld für diesen Schlamassel geben konnte. Wahrscheinlich war er ja nur noch im Institut, weil Davidson mehr Angst vor Marie Laveaus Strafen als vor diesem Doomcastle hatte, wohl die amerikanische Entsprechung von Askaban. "Okay, Ms. Truelane, ich wollte Sie nicht so anmachen. Nur ist das jetzt ziemlich fies, weil Mrs. Porter mich doch mit Mum zusammen nach Frankreich bringen wollte."
"Ich fürchte, das ist im Moment nicht drin, Julius", erwiderte Ardentia Truelane. "Swift ging wohl davon aus, daß du versuchen könntest, dich abzusetzen und hat mit dem Mihisolum-Zauber unbeweglich gemachte Gegenstände in den Ausgangskreis legen und ein paar Leute darum aufstellen lassen. Minister Pole und sein Bluthund wollen es wissen."
"Scheiße!" Entfuhr es Julius.
"Na, nimm nicht Sachen in den Mund, die andere nicht mal in die Hand nehmen würden!" Tadelte Ardentia Truelane den Jungen an den Ohren leicht errötend. "Außerdem solltest du dich besser anziehen, bevor wir frühstücken. Mit leerem Magen ist schlecht Wagen, hat meine Mutter immer gesagt. - Och, ich helfe dir mal eben."
Julius wollte gerade ansetzen, keine Hilfe nötig zu haben, als die Hexe ihren Zauberstab auch schon in der Hand hatte. Mit einer blitzartigen Bewegung verschwand Julius' Schlafanzug von seinem Körper und landete keinen Lidschlag später auf dem Feldbett. Ehe sich Julius seiner Nacktheit richtig bewußt wurde, glitt bereits ein unsichtbarer Zauber wie ein nasser, warmer, schnell vibrierender Schwamm durch sein Gesicht, rubbelte sich seinen Weg um ihn herum, von oben, unter den Achseln hindurch, um Bauch, Hüfte und Hinterteil, zwischen seinen Beinen hin und her, die Beine hinunter bis zu den Füßen, und das alles in nur vier Sekunden. Ardentia Truelane führte ihren Zauberstab so elegant und zielsicher, als dirigiere sie ein großes Orchester, das ein Techno-Stück nachspielt.
"Halt noch einmal gut still, Junge! Sonst hast du gleich meine Sachen an statt deine", sagte Ardentia Truelane sehr beschwingt. Julius erstarrte förmlich. Dann meinte er, von etwas hochgerissen und mit Schwung einmal um 360 Grad gedreht zu werden. Als er wieder auf die Füße kam, stand er vollständig Bekleidet vor Ardentia Truelane.
"Die Zeit hätte ich aber gehabt", knurrte Julius, als er das zufriedene Gesicht der wohl noch jungen Hexe ansah. Diese grinste ihn mädchenhaft an, wurde dann aber bierernst.
"Ich aber nicht, Julius. Jede Sekunde könnte jetzt wichtig sein, auch wenn ihr Jungs euch mit der Morgentoilette weniger Zeit nehmt als wir Mädels."
"Apropos, da müßte ich mal hin, oder können Sie das etwa auch für mich erledigen", erwiderte Julius. Er roch erfrischende Wiesenkräuter, als habe er eine ausgiebige Dusche genommen.
"Der Zauber ist mir noch unbekannt, die privatesten Geschäfte von jemandem zu erledigen", sagte Ardentia Truelane. Aber was anderes geht." Sie zeichnete mit dem Zauberstab in der Luft herum, die sich verdichtete und zu einem wild rotierenden Nachttopf materialisierte. "Ich warte vor der Tür", sagte sie munter und schloss die Tür des Gästezimmers. Julius besah das herbeigezauberte Nachtgeschirr und überlegte, ob er es wirklich benutzen sollte. Doch der Drang war zu groß, und wenn die Tür wieder bombensicher zu war, könnte er warten, bis ihm was peinliches passierte. So nahm er die Gelegenheit war und verkündete danach, alles erledigt zu haben. Ardentia trat wieder ein und ließ den Topf übergangslos im Nichts verschwinden.
"Ich dachte, sie wären Fluchabwehrexpertin und kein Kindermädchen", sagte Julius verblüfft.
"Das wäre meiner Mutter wohl lieber gewesen, wenn ich als Amme meine wöchentlichen Gallys reinholen würde. Aber ich habe mit sieben Cousinen und Cousins und vier kleinen Nichten immer genug Gelegenheit, die entsprechenden Zauber zu üben."
"Ja, aber ich bin doch kein Baby", knurrte Julius und schrak zusammen, weil ihm siedendheiß einfiel, daß dem ja leicht abzuhelfen wäre. Ms. Truelane grinste überlegen und meinte:
"Nun, das hätte mir die Prozedur einfacher gemacht, weil ich dich mal eben gewickelt hätte und mit einer Dosis Nutrilactus-Trank auch keine Probleme gekriegt hätte, dich satt zu kriegen. Aber so werden wir beide jetzt anständig frühstücken gehen. Komm!"
"Moment!" Stieß Julius aus. "Ich will wissen, was genau mit Mrs. Porter los ist und was jetzt mit meiner Mum und mir wird, wo die die Grenzen zugemacht haben."
"Du willst? Niedlich! Aber das klären wir nach dem Frühstück", sagte Ardentia Truelane unumstößlich. Offenbar fühlte sie sich in der Ammenrolle gerade richtig wohl. War ja mal was anderes als böse Zauber zu finden und abzuwehren. Sie ergriff ihn beim Umhang und zog ihn mit sanfter Gewalt aus dem Gästezimmer hinaus auf den Korridor im Gästetrakt. Julius fiel ein, daß Ardentia Truelane sehr gut zaubern konnte. Mit ihr wollte er es sich nicht verscherzen. Da fiel ihm noch was auf. Sein diebstahlsicheres Futteral mit dem Zauberstab war bei dieser Blitzankleidenummer nicht zu ihm gekommen. Das lag wohl noch im Zimmer und konnte nur von ihm bewegt werden.
Im Speisezimmer, wo sie gestern abend noch gegessen hatten saß Mr. Davidson, der sichtlich gestresst aussah. Julius gönnte ihm lediglich einen kurzen Gruß, bevor er sich hinsetzte und das aus dem nichts heraus vor ihm auftauchende Frühstückstablett ansah. Ardentia Truelane schlüpfte auf den freien Stuhl rechts neben ihn und hielt ihn ruhig aber bestimt an, möglichst gut zu essen und genug von der Schokolade und dem Orangensaft zu trinken. Tee oder Kaffee wollte man ihm wohl nicht gönnen, wohl weil das ziemlich gut treiben würde.
"Wo ist Mrs. Porter?" Fragte Julius, als er mal eine kurze Pause einlegen durfte. Mr. Davidson sah ihn leicht vorwurfsvoll an und erwiderte:
"Wir müssen davon ausgehen, daß Mr. Swift sie festgenommen hat. Womöglich wird sie heute oder morgen schon vor den Zwölferrat gebracht, die obersten Zaubererrichter. Ich denke nicht, daß ihr ein öffentlicher Prozess gemacht wird. Könnte Minister Pole auch einfallen, sie bis auf weiteres unter Schockzauber zu halten, bis er deiner auch noch habhaft wurde. Dann kann er ihr und dein Gedächtnis zu seinen Gunsten verändern und die Blockade aller Fernreisemöglichkeiten wieder aufheben."
"So ein Mistkerl ... mmmmpf!" Julius wollte wohl noch weiter fluchen, doch ein wie von einem unsichtbaren Katapult geschnellter Muffin stopfte ihm honigsüß aber unabwendbar den Mund.
"Nicht rumfluchen, damit wird's nicht besser", maßregelte Ms. Truelane den Vierzehnjährigen wie einen Vierjährigen. Julius versuchte, den essbaren Knebel wieder auszuspucken. Doch die Hexe neben ihm legte ihm die Hand auf den Mund und wies ihn an, gut zu kauen und anständig zu schlucken.
"Sie sind nicht zufällig gerade schwanger, Ms. Ardentia?" Wunderte sich Davidson über das mütterliche Getue seiner Mitarbeiterin.
"Noch nicht, Sir. Aber ich übe mich schon für die Zeit danach", erwiderte Ardentia dreist. Dann fragte sie ihren Chef, ob dieser wüßte, was mit Mr. Marchand und Mrs. Andrews sei. Julius mampfte im Rekordtempo an dem Muffin, bis er ihn endlich vertilgt hatte.
"So viel ich mitbekommen konnte, weil ich ja hier auch nicht ohne weiteres rauskomme, ist Mr. Marchand wohl diese Nacht mit der Mutter des Jungen fortgefahren und bis zu dieser Stunde nicht wieder aufgetaucht. Da ich Swifts Verbindungen zu den Muggelbehörden nicht nutzen kann, solange ich ihm den Jungen nicht auf dem Silbertablett serviere, werde ich davon auch nichts mitkriegen. Es sei denn ..." Er verfiel in eine konzentrierte Haltung. Ardentia schien etwas zu hören, was Julius nicht hörte. Offenbar mentiloquierte er ihr etwas. Dann sah sie ebenfalls so aus, als würde sie sich auf etwas wichtiges konzentrieren. Dann sah sie Julius an und meinte:
"Wir kümmern uns darum, daß deine Mutter sicher nach Millemerveilles oder Paris gebracht wird, wenn wir geklärt haben, wie wir dich außer Landes schaffen."
"'tschuldigung, Miss, aber ich gehe hier bestimmt nicht weg ohne meine Mutter", begehrte Julius auf.
"Das hat auch niemand behauptet", warf Davidson barsch ein. "Es geht darum, zu sichern, daß du mit dem, was du weißt, aus dem Land herauskommst. Dann bringen wir deine Mutter zu dir. Ich weiß, du bist jetzt auf Protest, weil ich gestern morgen so überschnell reagiert habe und du und Mrs. Porter dadurch in Kalamitäten geraten seid. Aber ich habe mittlerweile begriffen, daß es nichts bringt, die Angelegenheit deines Vaters noch länger unter der Decke zu halten. Ich darf es keinem erzählen und Ms. Truelane auch nicht. Du bist der einzige, der im Moment unbeschwert durch magische Zwänge berichten kann, was passiert ist. Sobald wir es schaffen, daß du außerhalb von Minister Poles Einflußbereich einen umfassenden Bericht abgeben kannst, werden alle Vorkehrungen, die Sache weiterhin geheimzuhalten wertlos."
"Er hat diese Lizenz zum Töten rausgegeben", sagte Julius mit Unbehagen. "Wenn der seine Mission gefährdet sieht läßt der mich grün abblitzen."
"Etwas mehr Respekt in der Wortwahl, Mr. Andrews!" Gemahnte ihn Davidson. Doch Julius hatte dem Zauberer da gestern schon gesagt, daß er den nicht respektieren würde. "Abgesehen davon, daß Mr. Swifts Mitarbeiter gehalten sind, erst alle anderen Möglichkeiten auszuschöpfen haben viele von ihnen doch noch gewisse Skrupel, den tödlichen Fluch zu verwenden."
"Das haben die von Rambo auch behauptet, bis der in Vietnam war", erwiderte Julius trotzig. "Wir sind doch hier im Land der Cowboys und Revolverhelden. Weiß ich, ob nicht so jemand, der auf endgültige Lösungen steht mir über den Weg läuft?"
"Wie bitte?!" Empörte sich Davidson. Doch Julius legte nach:
"Ja, und mein Vater hätte vor nicht einmal einem Vierteljahr keiner Fliege was angetan, geschweige denn Leute umgebracht. Also will ich besser nicht wissen, wie jemand gerade drauf ist, der den Auftrag hat, mich einzubuchten oder irgendwelche Kopfgeldjäger, die mich abliefern sollen, tot oder lebendig."
"Was der Junge meint ist wohl, daß wir uns nicht darauf verlassen sollten, daß es unter Swifts Leuten niemanden gibt, der Avada Kedavra ganz gezielt benutzt. Immerhin wurden Mrs. Porter und er ja gestern fast damit getötet."
"Genau", bestätigte Julius sehr verbittert. Mr. Davidson warf ihm zwar einen sehr zornigen Blick zu, mußte aber zustimmend nicken.
"Da Sie im Moment die einzige sind, die mehr mit der Angelegenheit betraut ist, Ms. Truelane, beauftrage ich Sie, den Jungen in Ihrer Obhut zu behalten, bis wir endgültig wissen, wie wir ihn und sein intaktes Gedächtnis aus unserem Land herausbringen können."
"Kein Problem", sagte Ardentia Truelane. Julius sah sie zwar etwas kritisch an, konnte jedoch nichts dagegen sagen.
"Sollen wir solange hierbleiben?" Fragte Ardentia.
"Ich fürchte, die Blockade aller Ausreisemöglichkeiten war nur die Absicherung, daß uns die Abteilung Swift bald direkt bedrängen wird. Ich habe bereits Anfragen aus unserem Institut, ob ich etwas ungesetzliches tun würde, weil ich einer Aufforderung des Ministers nicht nachkommen würde. Ich lege es nicht darauf an, daß jemand aus Übereifer einen von Mr. Swifts Leuten als Gast des Institutes hereinbringt. Der Respekt - ja, Julius, sowas ist nichts unsinniges -, den Minister Pole und Mr. Swift uns gegenüber noch haben, hat sie bisher davon abgehalten, unseren Status und unsere Refugiumsbestimmungen in Frage zu stellen. Das könnte sich heute schon ändern, wenn ich weiterhin die Auslieferung des Jungen verweigere, was ich zu tun gedenke."
"Verstanden, Sir", sagte Ardentia Truelane. Julius war sich sicher, daß diese Frage bereits vorher schon geklärt worden war, spätestens als Davidson kurz mit der Hexe mentiloquiert hatte. Also konnte er nur ruhig dasitzen und hinnehmen, was kam.
"In Ordnung, Sir. Ich bringe den Jungen unter, wo ihn so schnell keiner sucht", sagte Ardentia ruhig. Davidson nickte schwerfällig. Offenbar hatte er einen schweren Stand. Wenn er schon verlangte, daß Julius möglichst bald aus dem Marie-Laveau-Institut verschwand, ohne daß er an Swifts Leute ausgeliefert wurde. Offenbar hatte er sich auch mit dem guten Geist des Institutes unterhalten. Vielleicht hatte die ja was vorhergesehen, was Davidsons Haltung betraf. Nun, hoffentlich mußte Julius nicht mehrere Tage in ein Kellerloch oder im Zauberschlaf über Monate hinweg ... Aber das ging ja schon gar nicht, weil er Ende August ja schon wieder in Beauxbatons erwartet würde. Ja, außerdem würde sich Catherine Brickston sicher fragen, wo er gerade steckte und für wie lange er fortblieb. Und, dabei mußte er unwillkürlich grinsen, Madame Faucon würde sich fragen, warum sie solange nichts von ihrer Bekannten aus den Staaten hörte. Dann fragte er sich, ob seine Eule Francis bereits in Millemerveilles war und Madame Faucon nicht schon längst alles wußte. Was würde sie dann tun?
"In Ordnung, Sir, ich bringe den Jungen jetzt zu einem Swift unbekannten Ort. Ich hoffe, Sie kommen aus der Sache gut raus. Ich denke, die Zeit arbeitet jetzt für uns", sagte Ms. Truelane. Davidson nickte sehr schwerfällig. Offenbar lag die ganze Sache ihm sehr schwer im Magen oder wie ein Henkersschwert über dem Genick, bereit, ihm den Kopf abzutrennen, wenn er eine falsche Bewegung machte oder etwas verkehrtes sagte. Julius fühlte sich auch nicht sonderlich wohl. Entweder flüchten oder sich verstecken, wobei jedes Versteck gleichzeitig ein Gefängnis war. Er wollte nicht in einer privaten Schutzhaft sitzen. Doch was anderes würde es wohl nicht sein. Es sei denn, er half dabei mit, Minister Poles Geheimhaltungsversuche zu vereiteln. So fragte er:
"Hat Mrs. Porter bevor sie von diesen Kerlen kassiert wurde rausgelassen, wo genau mein Vater ist?"
"Sie hat uns Richtung und Entfernung notiert", sagte Davidson. "Allerdings müssen wir Vorbereitungen treffen, uns dem fraglichen Gebiet zu nähern, zumal die Tochter des dunklen Feuers den Standort rasch wieder ändern könnte. Hierzu braucht sie aber wohl weitere Lebensenergien, will sagen, es könnten noch weitere Morde ohne äußere Gewaltanwendungserscheinungen geschehen."
"Aha, Sie wollen jetzt andeuten, daß Mrs. Porter und ich schuld sind, wenn dieses Monster mit meinem zum Lebensraubzombie verfluchten Vater noch einige hundert Leute umbringt, um ihre Basis zu verschieben oder was?"
"Ich werde weder Mrs. Porter noch dir irgendwelche Vorwürfe dieser Art machen", empörte sich Davidson mit hochrotem Gesicht. Ms. Truelane wandte ein:
"Julius möchte Ihnen damit auch eher sagen, daß Sie darauf aufpassen mögen, daß solche Taten nicht passieren."
"Das hat er so nicht gesagt, Ms. Ardentia", knurrte Davidson. Julius nickte bestätigend.
"Natürlich ist er wütend und enttäuscht, weil wir, die dazu da sind, böse Magie von unbescholtenen Menschen abzuwenden, dieses Problem nicht mit dem nötigen Engagement angegangen sind. Da haben Sie sich auch wirklich auf einen Pferdehandel eingelassen, Sir, bei allem Respekt."
"Ms. Ardentia, der Jugend sei mancher übereilte Ausspruch verziehen, heißt es, weil jeder Mensch aus seinen Fehlern und Fehlschlüssen lernen soll. Aber ich möchte Sie dringend ersuchen, meine Autorität nicht in dieser Weise zu unterminieren", stellte der Leiter des Institutes klar. Ardentia lächelte. Sie sah Julius an und meinte:
"Wir haben genug Zeit vertrödelt. Komm, hol alles, was du ohne Tasche am Leib tragen kannst! Dein Besen und deine Reisetasche bleiben solange in unserem Sicherheitsschrank."
"Ach, und woher weiß ich, daß ich die wiederkriege, wenn ich aus irgendeinem Grund doch mein Gedächtnis verliere?" Fragte Julius aufsässig.
"Die Sachen würden unsere Beweglichkeit einschränken. Ich habe einen Harvey-Besen. Dem kannst du nicht hinterherfliegen. Außerdem würdest du sofort gesehen, wenn du mit mir beispielsweise über eine Muggelstadt dahinfliegst", sagte Ardentia Truelane. "Also prüfe nach, was du am Leib tragen kannst! Dann brechen wir auf."
"Warum kann ich nicht hierbleiben?" Fragte er. "Eigentlich könnte ich Ihnen bestimmt eher helfen, wenn ich im Institut bin. Außerdem möchte ich wissen, was mit meiner Mutter passiert." Davidson sah ihn betreten an und dann wieder sehr ernst.
"Ich fürchte wie gesagt, daß im Institut Leute von Swift arbeiten, die darauf warten, dich ihm auszuliefern. Du kannst nicht hierbleiben."
"Wer sagt mir, daß Ms. Truelane mich nicht irgendwem von seinen Leuten ausliefert?" Fragte Julius.
"Wenn Sie es täte wüßte ich ja, wer der Spion ist", sagte Davidson. Also wäre sie schön dumm, wenn sie es täte. Da sie mit Mrs. Porter und dir in dieser Sache am meisten zu tun hatte, überantworte ich ihr, dich sicher unterzubringen."
"Okay, dann kuck ich mal raus, was ich mitnehmen kann, was ich nicht jetzt schon mithabe", sagte Julius. Er stand auf, als Mr. Davidson ihm zunickte. Zusammen mit Ardentia Truelane ging er zu seinem Gästezimmer und schloß die Tür von innen, während Ardentia draußen wartete. Er schnallte den schmalen Gürtel mit dem Zauberstabfutteral um, das er wieder im Hosenbein unterbrachte, prüfte noch einmal den Inhalt seines Practicus-Brustbeutels und stellte fest, daß alle wichtigen Gegenstände noch darin waren, wie die Centinimus-Bibliothek, die große Gegengiftflasche von Aurora, sowie die zwei Zweiwegspiegel ... Da kam ihm Eine Idee. Er zog seinen Zauberstab, verschloß wortlos die Tür und legte mit dem nun trainierten inneren Schweigen in seinem Bewußtsein unterstützt einen provisorischen Klangkerker an. Dann fischte er den Spiegel mit dem Sonnensymbol heraus und hielt ihn vor sein Gesicht.
"Gloria Porter!" Wisperte er. Es kam keine Antwort. Er wartete dreißig sekunden. Dann versuchte er es erneut. Wieder kam keine Antwort. Sie hatte den Spiegel nicht zur Hand oder jemand anderes hatte ihn, der natürlich nicht Gloria Porter hieß. Julius stampfte mit dem Fuß auf. Das wäre noch eine gute gelegenheit gewesen, seiner Hogwarts-Schulfreundin was mitzuteilen. Also war er auf sich alleingestellt. Da fiel ihm ein, daß der Klangkerker die Verbindung stören könnte oder irgendwelche Schutzzauber. In Beauxbatons hatte die Verbindung immer geklappt, weil er dort nicht in einem Raum mit Klangkerker gewesen war, sondern schallschluckende Vorhänge um sich herumgehabt hatte. So steckte er den Spiegel wieder fort. Den von Mrs. Porter zu versuchen wäre eh Unfug gewesen, wo sicher war, daß dieser Swift sie eingebuchtet hatte. Ein Langziehohr war ebenfalls noch im Brustbeutel. Ob er das gebrauchen konnte wußte er jetzt noch nicht. Ansonsten trug er außer dem Zauberstab noch die magische Armbanduhr, die Phiole Goldblütenhonig, die ihn gegen mittelstarke Flüche schützte und sein silbernes Pflegehelferarmband. Als er es berührte, fühlte es sich so warm an, als sei es mit seinem Blutkreislauf verbunden. Dabei fiel ihm wieder ein, was er gespürt hatte, als er mit Brittany im Bus gesessen hatte. Es war so ein merkwürdiges Kribbeln gewesen, eine Sekunde lang, als diese strohblonde Frau in Rosa an ihm vorbeimarschiert war. Komisch, daß ihm das jetzt wieder einfiel. Hatte das vielleicht doch was zu bedeuten?
Es klopfte an die Tür. Der Klangkerker hielt ja nur die Geräusche in einem Raum, war aber für von außen kommende Laute völlig durchlässig. Julius öffnete die Tür und löschte damit den Klangkerker.
"Du weißt doch, daß du in deinen Ferien nicht rumzaubern darfst", tadelte ihn Ardentia Truelane. "Hat's denn wenigstens was genützt?"
"Ich weiß nicht, wovon Sie reden", tat Julius unschuldsvoll, mied aber den direkten Blickkontakt mit der Hexe. Diese grinste feist und sagte leise:
"Denkst du, ich hätte den Klangkerker nicht mitbekommen. Außerdem ist dein Türschließezauber abgewehrt worden, weil nur spezielle Schließzauber die Tür verriegeln können. Hier kann keine Magie unaufgespürt aufgebaut werden, Julius. Aber ich denke, du hast alles gefunden und eingesteckt, was du mitnehmen willst. Wir werden jetzt eine längere Flugreise machen. Wohin, verrate ich dir erst, wenn wir fast angekommen sind. Los geht's!"
Julius brachte seine Tasche und den Besen in eine große Stahlkammer, die aus mehreren begehbaren Fächern bestand, die wie der Vielraumkoffer bezaubert waren, bei unterschiedlichen Schlüsseln und Passwörtern andere Inhalte aufzunehmen oder freizugeben. Julius wußte, daß seine Tasche und der Besen nicht von fremden fortgenommen werden konnten und sah zu, wie sie hinter der schweren Stahltür verschwanden. Dreimal klickte es laut, dann war die kleinere Kammer versperrt. Ardentia hieß Julius, sich ein Gedankenpasswort auszusuchen, das er mit der Zauberstabspitze am Schloß und der freien Hand auf einem knallroten Konturbild einer Hand formulieren sollte.
"Dann kommt auch sonst keiner dran", sagte sie und trat zurück. Julius wählte Queue Dorée. Das war der französische Name der Knieselin, die ihn in Beauxbatons als ihren Vertrauten ausgewählt hatte. Was würde er jetzt darum geben, wenn Goldschweif nun hier wäre. Sie könnte ihm zeigen, wer es gut oder schlecht mit ihm meinte und ihn führen, wie sie es in Slytherins Galerie getan hatte. Doch sie war nicht hier. Niemand, mit dem er gut klargekommen wäre war jetzt hier. Catherine sah sich mit Joe die olympischen Spiele an, die übermorgen zu Ende gehen würden, Madame Faucon, sowie die Dusoleils waren in Millemerveilles. Hoffentlich ging es ihnen gut! Seine Mutter war bei diesem Marchand, von dem Julius nicht wußte, ob der nicht doch zu Minister Pole stand, und sein Vater ... Sein Vater war nicht mehr am Leben, obwohl er noch atmete. Das tat ihm in der Seele weh, doch seine anerzogene Logik wies ihn unerbittlich darauf hin, daß der Mann, der da eine Polizeitruppe und mehrere wehrlose Frauen umgebracht hatte nicht sein Vater sein konnte, obwohl er dessen Erinnerungen, dessen Aussehen, ja alles andere von ihm hatte, nur nicht diese unerschütterlich geglaubte Ablehnung gegen alles gesetzlose, vom Ladendieb bis zum Massenmörder. Denn zu den letzteren gehörte er ja seit März selbst.
"So, Julius, ich hörte, du hast schon mal einen Walpurgisausritt mitgemacht und bist daher ein sehr guter Hexensozius", sagte Ms. Truelane, als sie einen silbrigen Harvey-Besen aus der Halterung bei der Eingangstür des roten Backsteinhauses holte. Mr. Davidson kam noch einmal und wünschte Julius, daß er bald wieder frei herumlaufen dürfe. Dieser sagte trotzig:
"Das könnte ich jetzt schon, wenn so'n übereifriger Zauberer nicht gesungen hätte, daß ich was über meinen Vater rausgekriegt habe, was andere gerne für sich behalten hätten."
"Wir werden sicher keine Freunde, Mr. Andrews. Aber vergessen Sie nie, daß die Vergebung von Fehlern bei anderen überragender ist als die Einsicht, Fehler gemacht zu haben! Viel Glück, junger Mann!"
"Steck's dir, Heuchler", dachte Julius nur für sich und hörte auch keinen Widerhall der Gedanken. Also hatte er diese nicht aus Versehen weitermentiloquiert.
"Ich melde mich, wenn ich den Jungen außer Landes bringen kann, Sir. Kümmern Sie sich um seine Mutter! Vielleicht sollten wir gewisse Verkehrsmittelbeschränkungen vergessen, solange Swifts Sonderrechte noch in Kraft sind", sagte Ardentia Truelane. Dann öffnete sie die Tür und winkte Julius, ihr nach draußen zu folgen. Auf dem freien Platz vor den Gebäuden saßen die beiden auf und wurden sofort unsichtbar, als der Besen abhob. Mr. Davidson sah noch eine Viertelminute auf die Stelle, an der sie eben noch gewesen waren und vermeinte das Schwirren der Luft durch die Reisigbündel zu hören. Doch das war Einbildung. Der Harvey-Besen war so geschmeidig gebaut, daß er auch bei hohen Geschwindigkeiten so leise war, als schwebe er wie eine Feder dahin.
Das silberne Tor öffnete sich über dem Besen. Ardentia warf sich mit Julius in einen fast senkrechten Steigungswinkel und trieb den Besen durch die nichtstoffliche Passage, die das Laveau-Institut vom Rest der Welt abschirmte. Julius war versucht, zu schreien, als der besen fast zwanzig Sekunden lang im Rosselini-Raketenaufstieg in den Himmel hinaufjagte. Doch er hielt sich nur fest an der Hexe, die rank und schlank vor ihm saß und sich doch erheblich besser umfassen ließ als Mrs. Porters gut genährte Figur.
"Schon lange her, daß ich mal mit wem hinten drauf so einen langen Rosselini hingelegt habe", freute sich Ardentia wie ein Kind, als sie mit Karacho an einer blütenweißen Wolke wie ein Berg aus Watte vorbeizischte. Es wurde merklich kälter, und Julius fühlte, daß seine Lungen sich mehr anstrengen mußten, genug Luft einzusaugen.
"Wollen wir in die Stratosphäre?" Keuchte er, als sie nach einer Minute immer noch fast senkrecht aufstiegen.
"Wo immer die sein soll, dahin geht's nicht", sagte Ardentia. "Bist du noch nie über den Wolken geflogen?"
"Öhm, im Flugzeug", sagte Julius nur.
"Oh, gut zu wissen, daß hier oben welche rumschwirren könnten", erwiderte die Hexe. "Dann sollten wir lieber jetzt den eigentlichen Kurs einschlagen."
Julius empfand es immer noch als unheimlich, daß er weder sich, noch die steuernde Hexe, noch den Besen sehen konnte. Er kam sich vor wie die Luftmassen, die sie durchpflügten. Er dachte daran, daß Mrs. Porter und er diese Stirnbänder der unsichtbaren Freunde getragen hatten, um sich selbst noch sehen zu können. Hatte Ardentia Truelane sowas auch eingepackt? Doch wenn sie ihn lediglich vom Institut am Standort A zu einem unbekannten Zielort B fliegen und da wieder verstecken sollte, waren sie wohl überflüssig. Zu gerne hätte er auch sein Naviskop benutzt, um zu sehen, wo sie gerade waren. Doch das ging ja eh nur, wenn sie gerade festen Boden unter den Füßen hatten, beziehungsweise nicht flogen.
"Wie lange fliegen wir jetzt?" Fragte Julius. Ardentia rief zurück:
"Wir werden jetzt vier Stunden am Stück fliegen! Das ist die längste Zeit, die ein moderner Harvey-Besen bei dem Tempo aushält ..."
Es grummelte hinter ihnen, dann rauschte es leise. Julius wußte, was das war.
"Achtung, Düsenflieger von hinten, ungefähr auf sieben Uhr!" Rief er, während das Rauschen zu einem immer lauteren Tosen anschwoll und sich ein hoher Ton hineinmengte.
"Sieben Uhr? Höhenwinkel?"
"Null!" Rief Julius, als er den Jumbojet zwischen zwei weißen Wolkenbergen ausmachte, der rasch aufholte. Offenbar hatte Ardentia etwas Ahnung von Muggelfliegerei, denn sie verstand und tauchte rasch nach unten, während das Brausen der Triebwerke immer lauter und ohrenzerrüttelnd wurde. Dann heulten die Motoren des großen Silbervogels in unmittelbarer nähe. Julius hielt sich so fest es ging. Da kam auch schon der Orkan der von den Düsen aufgewirbelten und von der Maschine zur Seite verdrängten Luftmassen bei ihnen an. Mit an der Schädeldecke reißendem Getöse und Geheul fegte das Passagierflugzeug mit vier brennenden Abgasfahnen über sie hinweg, wohl keine hundert Meter über ihnen. Julius konnte den Schriftzug "DELTA AIRLINES" auf der Unterseite der Tragflächen erkennen, bevor das fligende Ungetüm sich so entfernte, daß er es nur noch von hinten sehen konnte. Er bekam jedoch noch mit, daß die Maschine gerade im Steigflug war. Offenbar war sie hier in der Gegend gestartet und stieg nun auf ihre Reiseflughöhe auf, vielleicht richtung Europa. Da fiel Julius was ein. Er wartete, bis der Düsenlärm weit genug abgeklungen war und fragte:
"Könnten wir nicht einfach nach Mexiko reinfliegen? Einfach über den Golf und dann nach Yucatan."
"Gute Idee, aber leider zu leicht zu erraten, Julius. Minister Pole hält gute Kontakte mit seinen Kollegen in Mexiko und auch auf Kuba, obwohl die Muggel von da ja mit denen von hier nicht gut können", erwiderte Ardentia. "Sobald wir irgendwo in Mexiko runtergehen, fallen wir auf wie die bunten Hunde. Mein Spanisch ist ziemlich dürftig, und ich denke, du hast dich mehr mit Französisch befaßt als mit anderen Fremdsprachen. Egal wo wir da untertauchen, die würden uns genauso kassieren wie Swifts Leute. Insbesondere dann, wenn Pole tatsächlich dieses Kopfgeld von fünfzigtausend Galleonen ausgesetzt hat, von dem ich gestern nachmittag was gehört habe."
Julius schluckte. Daß hier im Land der unbegrenzten Geldverdienstmöglichkeiten und der alten Westernsitten ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt werden könnte hatte er sich vorstellen können. Aber daß ein Zaubereiminister gleich mit fünfzigtausend Galleonen winkte, wenn ihm jemand Julius brachte oder nur verpfiff, das überstieg seine Vorstellungen doch ziemlich heftig. In Gedanken spielte er mit der Situation, er selbst könne sich für soviel Geld ausliefern. Dann fragte er sich, ob sein Gedächtnis soviel Geld wert war, daß er es einfach ausradieren ließ, nur um diese Menge Gold zu kriegen. Die Antwort war nein. Sein intaktes Gedächtnis war unbezahlbar.
"Wie sieht es mit Kanada aus? Ich weiß, daß da viele Amerikaner hingeflüchtet sind, als die Staaten gegen eine Gruppe Vietnamesen Krieg geführt haben."
"Kanada liegt unter der vereinigten Rechtsprechung des britischen und US-amerikanischen Zaubereiministeriums, sowie zum Teil auch dem französischen Ministerium. Aber gerade deshalb wird Pole die Wege dahin gut absichern lassen. Zwar kann man die Magie eines Gegenstandes schwerer orten als einen direkten Zauber, aber wenn ich das richtig mitbekommen habe, haben die vom Ministerium Spürzauber ausprobiert, die mit bestimmten Arten von Magie wechselwirken, wie dem Flugzauber und der Unsichtbarkeit. Die Grenzen sind dicht, selbst wenn sie sehr lang sind. Spürzauber lassen sich innerhalb von wenigen Stunden einrichten."
"Oh, dann hat dieser Kerl wirklich was gegen mich", erkannte Julius. Sicher, die Grenzen der USA waren sehr langgezogen. Sie lückenlos zu überwachen war ein Wunschtraum der nichtmagischen Regierung hier. Aber wenn die Zauberer das konnten, irgendwelche Ortungseinrichtungen zu installieren, dann war das ganze Land ein einziges Gefängnis für ihn, dessen Strafe darin bestand, daß er nicht wußte, wann er gegen die Mauer prallte und dann, wenn es passierte, sofort eingesackt wurde.
"Dann könnten die doch auch die Staatsgrenzen zumachen", sagte er. "Wir könnten ja dann nicht einmal nach Texas oder Alabama rüber."
"Tja, da hat er dann ein Problem. Er müßte hunderte von Leuten da hinsetzen, die jeden ordinären Besen anhalten und die Leute darauf fragen und untersuchen", erwiderte Ardentia. Für Julius hörte es sich so an, als grinse die Hexe bei diesem Gedanken. Er mußte auch grinsen, wenn er sich vorstellte, daß alle Zauberer Nordamerikas dazu verdonnert würden, die Staatsgrenzen zu überwachen, nur um einen bestimmten Besen zu erwischen. Dann fragte er, ob man einen Steckbrief ausgehangen habe, weil sich das für gesuchte Verbrecher so gehöre.
"Ich habe gestern noch keinen gesehen", erwiderte Ardentia Truelane. "Aber ich bin gestern nicht groß in der Zaubererwelt herumgegeistert. Wahrscheinlich ging er gestern noch davon aus, er könne Mrs. Porter und dich so erwischen. Vielleicht hängt jetzt in den Zaubererdörfern wie Cloudy Canyon oder Viento del Sol einer."
Hmm, eigentlich nicht, weil der nette Herr nämlich dann begründen müßte, wieso ich so ein gefährlicher Gangster bin, daß man mich schon an den Häuserwänden aushängt." Natürlich würde Minister Pole kein großes Aufsehen um ihn machen. Vielleicht war das mit dem Kopfgeld auch nur eine Übertreibung Ardentias, damit er schön in der Spur blieb.
"Sind das Hexen oder Zauberer, bei denen Sie mich unterbringen wollen?" Fragte Julius nach fünf Minuten unsichtbarer Reise.
"Weder noch, Julius. Wir werden uns in einer Muggelstadt einquartieren, wo ich vor einem halben Jahr eine Wohnung angemietet habe. Da wirst du erst einmal einen Tag bleiben, während Mr. Davidson unserem wackeren Minister Pole eine Geschichte auftischt, er habe dich immer noch im Institut. Wenn sie ihm dann auf die Bude rücken, wirst du wohl irgendwohin verschwunden sein, und Pole kann lange suchen, bis er dich findet."
"Ja, aber er wird drauf kommen, daß Sie mich versteckt haben", sagte Julius.
"Erst wenn es zu spät ist", sagte Ardentia Truelane. Wenn ich das richtig mitbekommen habe habt ihr beiden ja gestern schon Leute getroffen, die das weitererzählen werden, ohne daß Pole das verhindern kann."
"Will sagen, wir brauchen nur zu warten, bis die Zeitungen damit rauskommen, daß Minister Pole seinen Leuten nicht erzählen wollte, daß ein bitterböses Monster herumläuft, das Muggel totmacht. Sind ja auch nur Muggel."
"Nicht so sarkastisch, Julius. Es ist wirklich schlimm genug, was passiert ist. Gerade du solltest besser nicht darüber spotten", wies ihn Ardentia zurecht. Julius nickte, obwohl das keiner sehen konnte.
So flogen sie mehr oder weniger schweigend dahin. Um sich wachzuhalten redeten sie über Beauxbatons, zumindest das, was Julius darüber erzählen durfte, über Hogwarts und ob er Quidditch gespielt habe und wie gut, wie ihm die Walpurgisnacht im Vergleich zu Halloween gefallen habe und was er von der Rückkehr dessen, der nicht beim Namen genannt werden durfte dachte. Er war auf der Hut, sich nicht zu persönlichen oder schuleigenen Geheimnissen ausfragen zu lassen. Er erwähnte nur, daß er eine Freundin habe, deren Namen er aber nicht jedem sagen wolle, weil es eben noch nicht für jeden bestimmt war. So verflog die Zeit, bis der Besen leicht zu zittern anfing.
"Alles klar, die erste Zwischenlandung steht an. Wir landen in einem Wald. Da kannst du dann dringende Sachen erledigen, während ich uns was zu Essen mache", sagte Ms. Truelane und ließ den Besen in einem sanften Neigungswinkel nach unten gleiten. Es wurde wieder wärmer, um nicht zu sagen heiß. Julius fragte sich nun, ob er nicht einen Fehler gemacht hatte, daß er sich nicht noch den dicken Pullover und eventuell den Schlafanzug angezogen hatte. Doch im Moment war es zu spät für solche Bedenken.
Der Harvey 5 sauste über einen weitläufigen Wald hinweg, dessen dunkelgrüne Baumwipfel wie ein leicht zitternder Teppich unter ihnen ausgebreitet lagen, bis der Flugbesen so viel Fahrt verloren hatte, daß Julius einzelne Bäume auseinanderhalten konnte. Dann schlüpfte der Harvey durch das Blätterdach und segelte im Slalom zwischen wuchtigen Stämmen hindurch, bis sie auf einer kleinen Lichtung niedergingen. Kaum standen Ardentia und Julius auf eigenen Beinen, wurden sie und ihr Besen wieder sichtbar. Julius sagte nun, daß er fürchtete, sie könnten sich erkälten, wenn sie so lange in großen Höhen flogen.
"Das habe ich bedacht und vorgesorgt. Wir trinken gleich vor dem Essen einen Schluck von dem Erkältungsabwehrtrank. Dann passiert uns in der Richtung erst einmal nichts. Wir bleiben zwei Stunden hier, dann geht es zum Endpunkt der Reise."
"Okay, ich such mir mal einen verschwiegenen Punkt aus", sagte Julius. Ardentia nickte.
"Bleib aber in Rufweite", sagte sie kindermädchenhaft. "Hier gibt es zwar keine Zauberwesen, wie ich weiß, aber wir wissen nicht, ob es hier keine Bären gibt. Ich möchte ungern zaubern, um uns so ein Tier vom Leib zu halten."
"Okay, verstehe", sagte Julius und entfernte sich ein Dutzend Meter, bis er hinter einem Baum verschwand, um da unbeobachtet dringenden Angelegenheiten nachzugehen.
Als er zurückkam, hatte die Hexe bereits eine kleine Tasche auf den Boden gestellt, die etwa dreimal so groß wie Julius' Brustbeutel war. Aus dieser holte sie Geshirr und kleine verschließbare Töpfe, Silberbecher und zwei Flaschen, eine große und eine kleine.
"Erst den Erkältungsabwehrtrank!" Legte Ardentia fest, bevor sie die kleine Flasche entkorkte und in jeden der zwei Becher etwas von dieser roten Flüssigkeit einfüllte, die Julius schon als heftigen Erkältungstrank kennengelernt hatte. Zu gut konnte er sich noch daran erinnern, wie er nach den Weihnachtsferien im ersten Hogwarts-Jahr davon hatte trinken müssen und mit den Ohren fast indianische Rauchzeichen gesendet hatte. Deshalb trank er vorsichtig aus dem Becher, als Ardentia aus ihrem getrunken hatte. Tatsächlich wurde ihm noch heißer als es im Sommer üblich war. Ja, und als er links und rechts seiner Wangen leichten weißen Dunst entlangstreichen sehen konnte, und daß es aus Ardentias Ohren auch heftig qualmte, wußte er, daß es derselbe Hexentrank war, der ihn zwar von einem starken Husten und Prusten kuriert hatte, aber eben diese unangenehme Nebenwirkung besaß. Danach öffnete Ardentia die Tontöpfe, denen der verheißungsvolle Duft von deftigem Eintopf entströmte.
"Aequicalorus?" Fragte Julius, als er die dichten Dampfspiralen sah, die sich vom Eintopf her nach oben drehten.
"Yep. Du kennst dich ja echt aus", erwiderte Ardentia beschwingt. Julius erkannte jetzt, daß es vielleicht nicht so gut war, wenn jemand anderes außer denen, die es ja so mitbekommen hatten wußte, was er wußte und vor allem was er konnte. Denn der Gleichwärmezauber, der den Inhalt eines Behälters über Stunden und Tage auf derselben Temperatur hielt, die er beim Einfüllen hatte, gehörte zu den Zaubern der vierten Klasse in Hogwarts. Das sollte er sich jetzt immer fragen, was er offiziell schon können konnte. Andererseits gab es in Beauxbatons eine Zauberkunst-AG, wo er sowas ja gelernt haben mochte.
Mit genuß aßen sie von dem Eintopf, tranken kühles Quellwasser und lauschten den Geräuschen des Waldes. Hier schien alles im ewigen Frieden zu leben. Julius ärgerte sich zwar, daß er sein Naviskop in der Reisetasche gelassen hatte, ebenso das Superomniglas, Doch sein Brustbeutel konnte nur begrenzt Metallsachen aufnehmen, weil er sonst seinen Schutz vor Diebstahl verlor.
"Und Mrs. Porter hat dich gestern im Mentiloquieren ausgebildet?" Drang eine unhörbare Frage Ardentias in Julius' Bewußtsein ein. Er errötete. Doch dann dachte er nach. Natürlich hatte Mrs. Porter es Ardentia erzählt, bevor sie die beiden eingeschrumpft und aus dem Schutz des Institutes gebracht hatte. So versuchte er, ihr eine Antwort zuzudenken. Es war nicht Mrs. Porter, wie er sofort merkte, doch nach ungefähr einer Minute fühlte er seine Antwort "Ja, hat sie" mit immer deutlicherem Nachall in seinem Bewußtsein.
"Eindeutig. Du bist wirklich gut", kam die prompte Antwort Ardentias. Ob das wirklich so gut war, daß sie das wußte, wußte Julius zwar nicht. Aber etwas zu verleugnen, was sie eh schon wußte wäre dumm gewesen. Mit hörbaren Worten fragte sie dann:
"Was kannst du sonst noch alles, was Drittklässler noch nicht lernen durften oder konnten?"
"Aufrufezauber", sagte Julius frei heraus. Das war noch harmlos genug.
"Den kann ein Zweitklässler lernen, wenn er meint, eine Klasse überspringen zu wollen", tat Ardentia diese Antwort als unbedeutend ab. "Ich weiß noch, wie ich im Letzten Jahr in Thorny mitbekam, wie eine Erstklässlerin bereits damit rumgespielt hat. Apparieren kannst du noch nicht?"
"Da wo ich's lernen könnte, kann ich es nicht ausprobieren und da wo ich es ausprobieren könnte darf ich es nicht", sagte Julius. "Deshalb kann ich das nicht. Ist auch nicht einfach. Ich habe das jetzt öfter als Anhalter mitgemacht. Wenn dieses Einzwängen nicht wäre, wäre es richtig genial."
"Aber du würdest es dir zutrauen, wenn dir das jemand beibrächte?" Wollte Ardentia wissen und sah Julius sehr genau an. Er wandte sofort seinen Blick ab.
"Öhm, das hat Zeit", antwortete er.
"Warum kannst du mir das nicht ins Gesicht sagen?" Wunderte sich die Hexe. "Hast du Angst, ich könnte dich böse anstarren?"
"Man hat mir beigebracht, daß man nicht zu viel von sich zeigen soll", sagte Julius. "Meine Eltern haben das schon gesagt."
"Soso", grinste Ms. Truelane. Offenbar hatte sie erraten, was Julius eigentlich nicht verraten wollte. "Das ist aber unhöflich und nicht gerade mutig, jemanden nicht anzusehen, wenn man ihm oder ihr etwas sagt", verfiel sie wider in diese Kindermädchenrolle, die sie am Morgen gespielt hatte. "Wenn du Angst hast, zu viel von dir zu verraten, gibt es bestimmt Methoden, sich davor zu schützen. Ich weiß das, weil wir vom Institut sowas können müssen, um überhaupt in die engere Wahl gezogen zu werden."
"Kann ich mir vorstellen", sagte Julius ohne zu zögern. Dann lauschte er. War da nicht Kinderlachen gewesen?
"Oh, wir kriegen Gesellschaft", kam eine Gedankenbotschaft bei Julius an. Wortlos zaubernd ließ Ardentia die Gleichwärmeetöpfe in die Tragetasche plumpsen und die Becher blitzblank werden, bevor sie auch in den einschrumpfenden Tiefen des Tragebehälters verschwanden. Ebenso erging es dem Geschirr. Innerhalb von fünf Sekunden war alles weg.
"Aufsitzen! Kein Wort sprechen!" Gebot Ardentia mentiloquistisch. Julius gehorchte. Er schwang sich hinter Ardentia auf den Besen, der aufstieg und unsichtbar wurde. Da kamen auch schon mindestens fünf Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren um den nächsten Baum herum und eilten auf die Lichtung. In der Schwebe bleibend warteten die beiden Besenreiter, was die drei Jungen und zwei Mädchen machten. Tatsächlich packten sie Picknicksachen aus und legten Wolldecken aus, um darauf zu sitzen.
"Wir können noch nicht weiterfliegen, weil der Besen sich noch nicht ganz erholt hat", gedankensprach Ardentia zu Julius. Dieser nickte. So flogen sie höchstens noch hundert Meter weiter bis zu einer anderen Lichtung. Dort blieben sie ganz ruhig im Schutz der Bäume, bis Ardentia mentiloquierte, sie könnten jetzt weiter. Julius sah auf seine Armbanduhr, zwei Uhr nachmittags. Doch der Standortstundenzeiger stand nun eine Stunde weiter zurück als noch in New Orleans. In England war es nun schon acht Uhr abends, und in Frankreich demnach schon neun Uhr abends. Als seine Uhr und er selbst wieder im Unsichtbarkeitsfeld des Harvey 5 verschwanden, dachte er daran, daß in Millemerveilles gerade die Sonne unterging. Hoffentlich hatten die Leute dort eine angenehme Nacht.
Ihr tat der Kopf so weh, als habe sie ein hemmungsloses Trinkgelage zu büßen. Die Gedanken trieben wie Kiselsteine in Öl umher, schwerfällig und träge. Martha Andrews stöhnte und hörte ihre Stimme von nahebeistehenden Kellerwänden widerhallen. Ihre Augen waren verbunden, sodaß sie nicht sagen konnte, ob sie in einem hellen oder dunklen Raum war. Sie fühlte die ziemlich durchgelegene Matratze unter ihrem Rücken und die unerbittlich harten und kalten Stahlringe um ihre Hand- und Fußgelenke. Sie war gefesselt. Dann lauschte sie. Es brummte leise aber gleichmäßig genau auf der Tonhöhe, die sie von amerikanischen Elektrogeräten kannte. Sie vermutete Neonleuchten. Doch die Binde um ihre Augen war so lichtundurchlässig, daß sie nicht den kleinsten Schimmer davon mitbekam. Vielleicht war es auch ein Transformator, der im Bereitschaftsbetrieb arbeitete. Wer konnte das schon genau sagen. Ihr Mund und ihre Nase waren jedoch frei.
Langsam gewannen ihre Gedanken wieder Schwung, und ihre Erinnerungen kehrten zurück. Sie war zusammen mit Zachary Marchand auf dem Weg gewesen, mit ihrem versteckten Mann zu sprechen, als sie dieses betäubende Gas in die Nase bekommen hatte. Seitdem fehlte jede Erinnerung. Sie überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte oder ob es nicht klüger sei, sich noch bewußtlos zu stellen. Sie vermutete, daß ihre Entführer in der Nähe waren und sofort aufmerksam würden, wenn sie sich muckste. Andererseits wurde ihre Lage nicht besser, wenn sie sich weiterhin totstellte. Das konnte darin enden, daß sie wirklich starb. Doch wie sollte sie Kontakt mit den Entführern aufnehmen? Sollte sie rufen, etwas sagen oder versuchen, sich hinzusetzen? Sie hatte viele Kriminalromane gelesen und entsprechende Filme im Fernsehen gesehen. Oft war es da um entführte Menschen gegangen, Geiseln, um jemanden zu erpressen oder Druck auf den Entführten selbst auszuüben. Selten jedoch waren die Geiseln ungeschoren aus der Sache herausgekommen, und wenn das schon im Roman oder Film so war, dann war die Wirklichkeit noch schlimmer. Sie beschloss, egal was ihr zustoßen sollte, keine Gefühle zu zeigen. Wer immer sie hier festhielt, wo immer das war, wielange sie hier bleiben würde und vor allem warum sie hier war, sie würde keine Gefühle zeigen dürfen, weder Angst, noch Wut, noch Traurigkeit. Aber was war mit Zachary Marchand. Hatte man ihn auch hier irgendwo versteckt? Oder war er vielleicht tot? Konnte es sein, daß der Zauberer sich doch noch mit Hilfe der magie gerettet hatte und nun daran arbeitete, sie mit möglichst wenig Zauberei aus der Sache herauszuholen? Nein, sie durfte sich jetzt nicht in Spekulationen versteigen. Sie mußte die Situation so nehmen wie sie kam und durfte nicht an Dinge denken, die sie heftig erschüttern würden. Doch das war ja das Problem. An das, woran man nicht denken durfte, dachte man um so intensiver. So ging ihr Julius durch den Kopf, wie er vielleicht später erfahren würde, daß sie verschleppt und vielleicht getötet worden war. Mochte es sein, daß sie seinetwegen entführt worden war? Nein, das konnte nicht sein, weil die Zauberer sie wesentlich einfacher hätten verschwinden lassen können. Also mußte es mit Marchand oder einem anderen aus der Muggelumgebung zu tun haben. Muggelumgebung! Daß sie dieses Wort so beiläufig dachte, als sei es ihr natürlichster Wortschatz, erstaunte Martha heftig. Dann kam ihr die wahrscheinlichste Erklärung in den Sinn. Ihr Exmann, beziehungsweise dessen Doppelgänger, hatte mehrere Straßenmädchen getötet. Die hatten bestimmt nicht auf eigene Rechnung gearbeitet. Wenn eine Organisation wie die italienische oder russische Mafia durch diesen Massenmörder Umsatzeinbußen erlitten hatte, war Rache ein naheliegendes Motiv. Aber warum dann sie entführen? Auch darauf fiel ihr eine zutreffende Antwort ein. Man wollte sie dazu benutzen, entweder ihren versteckten Exmann Richard aus dem Versteck herauszupressen oder den Doppelgänger aus der Reserve locken, von dem es ja hieß, er sei wohl in die Rolle des Originals geschlüpft. Aber die Vermutung, Richard aus dem Polizeischutz herauszulösen, womöglich um ihn genauer zu denen zu befragen, die ihn benutzt hatten, war wahrscheinlicher. Also mußte sie sich darauf einrichten, demnächst als Unterpfand für diese Unterhandlungen benutzt zu werden. Sie entschloss sich, so gefühlsarm wie es ging damit umzugehen.
Aber was würde mit Julius passieren? Julius, der hatte sie doch angerufen und gesagt, es sei keine Organisation von Verbrechern gewesen, sondern eine einzelne Person, die er mit "sie" bezeichnet hatte. Eine einzelne Frau, die Richard so derartig organisiert in der Gegend herumschicken konnte? Dann erschauerte sie. Ja, das hatte Julius gemeint. Das erklärte auch, weshalb die amtlichen Zauberer in Amerika das nicht bekannt werden lassen wollten. Der, den das FBI mit medienwirksamem Hallo gefunden hatte, war nicht Richard Andrews. Doch das bedeutete in seiner grauenhaften Konsequenz, daß Richard Andrews all diese Untaten begangen hatte, wohl mit magischer Unterstützung oder unter magischem Einfluß. Mochte es sein, daß Richard einer bösartigen Hexe oder einer anderen weiblichen Zauberkreatur über den Weg gelaufen war und weil er wie sie auch altes aber schlafendes Zaubererblut in den Adern hatte zu einer willigen Marionette gemacht hatte? Wie ein Meteorit aus dem Vakuum des Alls schlug eine Erinnerung in ihr Bewußtsein ein, eine Erinnerung an jenen Tag, wo sie mit Mrs. Priestley und den Hardbricks in Hogwarts gewesen war. Da hatte es diesen Zwischenfall mit diesem überragend schönen Mädchen gegeben, Fleur Delacour. Dr. Hardbrick hatte sie wohl ernsthaft beleidigt und sich dafür von ihr heftige Ohrfeigen eingehandelt. Ja, das mußte es sein. Es gab Zauberwesen, die Männer um den Verstand bringen konnten. Vampire gab es, so hatten es ihr Julius und diverse Beauxbatons-Lehrer erklärt. Wo andere Schulkameradinnen von ihr die Bücher von Jane Austin oder andere beziehungsreiche Romane gelesen hatten, war sie bei Arthur Conan Doyle, Edgar Wallace und anderen Autoren hängengeblieben, aber auch bei Bram Stoker und seiner berühmtesten Horrorfigur. Falls von den da geäußerten Beschreibungen von Vampiren etwas stimmen mochte, dann wohl auch, daß sie sich lebende Menschen unterwerfen konnten, wenn ein Geschlechtsunterschied bestand am besten. Tja, und wenn es Vampire gab, was war dann mit den Buhldämonen, Succubi und Incubi? Hieß es von denen nicht, sie würden ihre Opfer im traumartigen Beischlaf regelrecht auszehren? Was für Fragen, auf die sie vielleicht keine Antworten mehr bekommen würde.
Sie lauschte wieder. Doch nur das Brummen der Neonbeleuchtung war zu hören. Wieso brannte hier Licht, wenn sie mit verbundenen Augen und gefesselt auf einer alten Matratze lag? Wozu war das gut?
"Hallo!" Rief sie halb laut. Ihr fiel nämlich ein, daß sie womöglich überwacht wurde. Vielleicht saß sogar einer der Entführer in diesem Raum und wartete darauf, daß sie sich regte. Doch weil sie es nicht sehen würde, mußte er sich nicht melden, konnte sie heftig in Angst stürzen, weil sie denken mochte, völlig allein und vergessen in diesem Raum zu bleiben, bis sie verhungern mußte. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Zwar konnte sie sich hinsetzen. Doch ihre Beine waren zu heftig zusammengekettet, als das sie sie richtig bewegen konnte. Sie konnte sie noch nicht einmal anziehen. Da wußte sie es, daß sie nicht nur an Handschellen, sondern noch an anderen Fesseln hing.
Ein Schaben von Metall auf Metall! Stille! Fünf Sekunden lang Stille. Dann das Geräusch einer sich öffnenden Stahltür. Schritte wie von schmalen Absätzen auf Beton und ein widerlich süßlicher Parfumgeruch, den sie bei einer ihrer Klassenkameradinnen in Fairmaid immer wieder hatte ertragen müssen.
"Ach, unser Ehrengast ist wieder wach", flötete eine weibisch hohe Stimme, die Martha sofort unsympathisch wurde. Dann fühlte sie, wie ihr jemand mit grober Hand an den Hals langte und sie brutal auf die Matratze zurückwarf. Was wurde das jetzt? Würde dieser Kerl sich an ihr vergreifen? "Die Show ist noch nicht dran, Gnädigste. Sie sollten noch etwas schlafen, um den Kater loszuwerden, den unser schnuckeliges Sandmännchengas macht", raunte diese hohe Stimme, eindeutig männlich und doch wieder nicht männlich genug.
"Wer sind Sie?" Fragte Martha Andrews. Den Fremden schien das zu irritieren. Vielleicht hatte er mit der Standardfrage aller aus einer Bewußtlosigkeit aufwachenden Gefangenen gerechnet.
"Ich, ich bin Salu. Aber der Name sagt dir bestimmt nichts, Schätzchen. Zumindest habe ich dich noch nie im Rosa Palast gesehen. Willst du nicht wissen, wo du bist?"
"Würden Sie mir die Frage denn beantworten?" Erwiderte Martha kühl. Ihr war eingefallen, mit welcher Art Zeitgenossen sie es hier zu tun hatte. Ein völlig dümmliches, künstlich auf feminin getrimmtes Gelächter war die Antwort. So sagte sie gelassen: "Habe ich mir gedacht. Deshalb habe ich die Frage nicht gestellt."
"Hui, du bist ja eine Intelligenzbestie. Sowas findet man ja selten unter Evas Töchtern", gab er oder sie, wonach immer diesem Menschen gerade war, zurück.
"Ja, aber weil Gott beim Mann nur geübt hat hat sie vielen Frauen gewisse Geistesfähigkeiten mitgeliefert. Die zeigen wir nur nicht jedem", erwiderte Martha Andrews nun so kaltschnäuzig und bissig wie ein abgerichteter Dobermann. Die Erinnerung an ihre Fairmaid-Zeiten kam wieder hoch, wo sie ähnliche Diskussionen mit noch nicht ganz fertigen Männern geführt hatte. Die Person, die zu ihr hereingekommen war, mußte darüber lachen.
"Dir geht es wohl gut, wie?" Fragte Salu. Martha Andrews sagte dazu nichts. Was sollte sie mit dieser Person noch groß reden. Es war ja wohl offenkundig, daß man ihr dieses Individuum zum Testen ihrer seelischen Verfassung in diesen Raum geschickt hatte.
"Du willst nicht wissen, wo du hier bist oder was du hier sollst?" Wunderte sich Salu.
"Wenn Sie es mir nicht sagen wollen oder dürfen, bringt es nichts, Sie zu fragen", versetzte Martha Andrews. Sie hatte sich nun entschieden, diese unnahbare, ihre Situation verachtende Frau zu geben, solange sie nicht in eine Situation geriet, wo eine andere Haltung gesünder war. Salu kicherte nur albern und meinte dann:
"Okay, dann nicht. Aber was mit dem netten Mann von den Regierungsleuten ist würdest du doch bestimmt gerne wissen, oder?"
"Ich rede nicht mit Clowns in Frauenkleidern", erwiderte Martha nun völlig derb und kalt klingend. Sie hatte im Leben schon viele Gefühlswogen durchlebt, die ihren Verstand überflutet hatten. Hier wollte sie sich nicht überrollen lassen. Hier nicht! Offenbar hatte ihre Bemerkung tief getroffen. Denn Salu rammte ihr die Faust in den Magen und schnaubte jetzt sichtlich gefährlich:
"Ich bin kein Clown. Ich bin Salu, die rechte Hand vom Patron." Das letzte Wort hatte Salu genauso französisch betont wie den angegebenen Namen. Das ließ Marthas seelischen Eispanzer leicht erzittern. Sie hatte mit einem amerikanischen Gangster oder einem eingewanderten Oberhaupt einer Mafia gerechnet. Aber ein französischer Patron? Dann fiel es ihr ein, daß sie wohl noch in New Orleans sein mußte, denn dort konnten Nachfahren alter Gründerfamilien noch groß und stark auftreten.
"Gut, dann sind Sie kein Clown", sagte Martha etwas benommen von dem Schlag in die Magengrube.
"Du willst also auch nicht wissen, was wir mit dem netten Herrn vom FBI gemacht haben?" Hakte Salu nach. Er oder sie grinste hämisch: "Wir haben ihn in einen sehr tiefen Schlaf versenkt, bis der Patron sagt, ob er wieder aufstehen oder für immer liegenbleiben darf. Grandios ist das. Er muß nicht mehr essen, Trinken oder zur Toilette. Das habe ich geschafft, Schätzchen. Vielleicht läßt der Patron dich mal gucken, wie's ihm geht, bevor wir mit dir auf Sendung gehen. Ich hol dich ab, wenn's soweit ist. A bientôt!"
"Soll ich jetzt mit Salu antworten?" Erwiderte Martha Andrews lächelnd. Zumindest fühlte sie ihr gesicht so, als würde sie lächeln.
"Bleibt dir überlassen, Schätzchen", erwiderte Salu und verließ den Raum. Die Stahltür ging wieder zu. Irgendwelche Riegel wurden vorgeschoben. Martha war wieder allein. Zumindest war niemand hörbares mehr in diesem Raum. Auch der widerlich süße Parfümgeruch verflog wieder.
"Ein Transvestit als Gefängniswärter. Mal was neues", dachte Martha für sich. Dann dachte sie an die Worte dieses kuriosen Menschen. Er / sie hatte davon gesprochen, daß Marchand wohl betäubt oder sonstwie in Bewußtlosigkeit gehalten wurde. Also lebte er noch. Das hatte was für sich, dachte Martha. Jemanden in einem künstlichen Koma oder fortdauerndem Drogenrausch zu halten erleichterte die Verwahrung eines Gefangenen erheblich. Ja, man konnte solche armen Tröpfe monatelang sogar in Containern gestapelt unterbringen, ohne daß sie irgendwelche Fluchtversuche machen konnten. Ein Mann oder sowas in der Art konnte dann Dutzende Gefangene unter Kontrolle halten. Eine Horrorvorstellung, wie sie fand. Eine Vorstufe zu jenem Tiefkühlgefängnis, das in manchen dunklen Zukunftsvisionen als achso gnädige Alternative zu Hinrichtungen angeführt wurde, wo die Gefangenen mit Frostschutzlösungen vollgepumpt und dann so tiefgekühlt wurden, daß ihre Lebensfunktionen fast auf Null gesenkt wurden. In jedem Fall hieß es aber, der Gefängniswärter mußte genug von Medizin verstehen, um Zachary Marchand nicht rein aus Versehen sterben zu lassen. Sie fröstelte ein wenig, wenn sie daran dachte, daß man sowas auch mit ihr machen könnte. Aber was hatte dieses Wesen, das sich Salu nannte, zu ihr gesagt? man hatte noch eine Show mit ihr vor, wollte mit ihr "auf Sendung gehen". Darunter verstand sie nichts anderes als die Absicht, sie im Fernsehen oder Radio zu präsentieren, und sei es nur, sie auf Ton- oder Videoband aufzunehmen. Warum summten diese Neonleuchten da über ihr noch? Das konnte nur bedeuten, daß in diesem Raum Kameras waren, vielleicht auch Mikrofone. Sie war nicht nur angekettet, sondern in einem Aquarium, in das jeder hineinsehen konnte. Was blieb in solch einem Fall zu tun? Sie wollte noch einige Zeit schlafen, bis entweder der Hunger, Durst oder ein anderes Bedürfnis sie wecken würden, falls jenes Wesen Salu nicht wieder hereinkam.
Gloria Porter fühlte sich elend. Julius war mit ihrer Oma Jane auf der Flucht vor Leuten aus der Strafverfolgungsabteilung. Swift selbst hatte mit ihrem Großvater, ihr und ihrer Cousine Melanie gesprochen. Sie war sich sicher, daß dieser Zauberer sie sogar geistig ausgeforscht hatte. Dann hatte Swift mit der Gnadenlosigkeit eines angreifenden Drachens verkündet, daß die Porters und Redliefs bis auf weiteres nicht mehr ausgehen dürften und alle Flohpulvergespräche unterbleiben sollten. Dann war er abgerückt. Wenige Minuten später umhüllte ein schwefelgelber Dunstschleier das Haus nr.49 im Weißrosenweg. Opa Livius hatte nur geseufzt und "Arrestaura" gemurmelt. Gloria hatte versucht, Trixie, ihren Steinkauz hinauszuschicken. Doch der sonst so zuverlässige und diensteifrige Vogel war vor der schwefligen Glocke zurückgeschreckt und wild schuhuhend ins Haus zurückgeschwirrt.
"Sie erzeugt bei Tieren heftige Angst, bevor sie die Aura berühren können, und bei Menschen und intelligenten Zauberwesen heftige Schmerzen und das Gefühl, von einer riesigen Faust zurückgeschlagen zu werden", hatte Opa Livius geseufzt. Gloria glaubte ihm. Sie fühlte dieses Unwohlsein, das aus Angst, Verzweiflung und Wut zusammengerührt war. Es war anders als bei den Dementoren, denen sie schon begegnet war. Es war nicht diese grenzenlose Verzweiflung, nie wieder Freude im Leben zu fühlen, sondern diese unbändige Wut wegen der erzwungenen Untätigkeit. Erst langsam fand der Verstand wieder festen Halt, für den sie oft schon gelobt und bewundert worden war. Was hatte ihre Großmutter mit Julius erlebt, daß Swift so dermaßen gnadenlos auftreten ließ? Sicher hatte es mit der Audienz von Julius bei Marie Laveaus Geist zu tun. Allein schon wie Oma Jane darauf reagiert hatte war eindeutig. Irgendwas hatte Julius dabei erfahren, von dem er selbst nicht recht wußte, wie er das verdauen sollte. Tja, und jetzt wurden die beiden wie Schwerverbrecher gejagt und sie selbst waren im eigenen Haus gefangen.
"Offenbar ist an diesen Gerüchten doch mehr dran gewesen", sagte Mel Redlief zu ihrer Cousine und ihrer Schwester Myrna, als die Mädchen sich in Glorias Zimmer trafen.
"An welchen Gerüchten, Mel?" Wollte Gloria wissen.
"Nun", setzte Mel an und sah sich bange um, ob ihr nicht gleich was übles passieren würde, wenn sie was falsches sagte, "einige Muggelstämmige von Thorntails haben davon geredet, daß ein gewisser Richard Andrews in der Osterzeit mehrere Pozilisten oder wie die Strafverfolgungsleute bei den Muggeln heißen, umgebracht hat, als die ihn wegen Mordes an seinem Arbeitgeber und dessen Söhnen festnehmen wollten. Der Typ sei denen entkommen, obwohl die mit diesen Maschinenschußwaffen auf ihn geschossen haben. Es gab wohl gerüchte, er hätte danach irgendwelche Frauen umgebracht, die sich von Männern Geld geben lassen, damit die an ihren Körpern rummachen können. Aber außer den Muggelstämmigen hat das keiner weiter rumerzählt. Ich habe mir nichts dabei gedacht, weil es bestimmt viele Andrews' gibt und Julius nicht unbedingt mit dem verwandt sein mußte. Aber nachdem Brit mit ihm gestern den Ausflug machen wollte habe ich mir schon sowas gedacht."
"Richard Andrews heißt Julius' Vater. Der stammt von einer uralten Zaubererfamilie ab, von der auch jemand wichtiges in Hogwarts abstammt", erwiderte Gloria. "Bei seinem Geburtstag hat Julius mir sogar erzählt, er und seine Freundin Claire hätten dieselben Wurzeln, weshalb die Knieselin, die ihm zugelaufen ist, beide wohl heftig auseinanderzutreiben versucht hat, weil sie für das Tier Bruder und Schwester waren."
"Ach, ein Anstandskniesel?" Kicherte Myrna, bevor sie erkannte, was Gloria eigentlich sagen wollte. "Oh, dann könnte Julius' Vater schlummernde Zauberkräfte haben, die irgendwer, vielleicht euer Du-weißt-schon-wer, geweckt hat. Und jetzt spielt er den wilden Mann, weil er natürlich nicht gelernt hat, richtig damit umzugehen."
"Ja, und weil er die Zauberei haßt", wandte Gloria ein. Doch dann klickte es an einer anderen Stelle in ihrem Gehirn. "Oder er hat unbeabsichtigt was aufgeweckt, das ihm dann nachgelaufen kam und ihn jetzt für sich arbeiten läßt wie ein Zombie."
"Neh, Gloria. Das meinst du jetzt nicht im Ernst. Ich meine, Oma Jane hat dir 'ne Menge Zeug aus ihrem Job erzählt. Aber das glaubst du jetzt nicht ernsthaft", brach es aus Mel heraus, die weiß wie die Wand dahockte und Gloria mit einem Blick anstarrte, als würde die gleich explodieren, aber doch noch den richtigen Weg finden, nicht zu explodieren.
"So wie du mich jetzt anglotzt, Mel, hast du es auch kapiert, was da gelaufen sein könnte, willst es aber nicht wahrhaben, weil euch Bullhorn oder die Purplecloud heftig vor diesen Wesen gewarnt haben", erwiderte Gloria kühl.
"Hallo, kann mir eine von euch süßen mal sagen, wovon ihr's jetzt habt?" Schaltete sich Myrna ein.
"Das würde zumindest die Panik und die Gnadenlosigkeit von Poles Sicherheitstrollen erklären", murmelte Gloria. Melanie nickte.
"Hallo, Glo, Mel, was geht ab?"
"Das is'n Muggelspruch, Myrna", grummelte Mel. Gloria sah die Cousine, die dieses Jahr in die fünfte Klasse kommen würde an und sagte so gefühlsfrei wie möglich:
"Myrna, wir haben es davon, daß es alte Zauberkreaturen gibt, die noch gefährlicher sind als zehn Vampire oder ein Rudel Werwölfe. Sie werden "Die Töchter des Abgrunds" genannt und sollen alten Überlieferungen nach von einer sehr skrupellosen Hexe namens Lahilliota ohne einen Vater auf die Welt gebracht worden sein. Sie sind mit einem sehr mächtigen Fluch beseelt, unsterblich zu sein, aber immer hungrig nach der reinen Essenz menschlichen Lebens allen nachzustellen, die in ihr Futterschema passen. Wie Vampire suchen sie ihre Opfer in der Nacht heim und entziehen ihnen durch körperliche Liebe so viel geistige und körperliche Kraft, bis sie satt sind. Meistens wissen die Opfer danach nur, daß sie einen heftig leidenschaftlichen Traum gehabt haben. Oma Jane hat uns im letzten Sommer eine Liste von bösartigen Zauberwesen gegeben, wo diese Mordweiber noch über Vampiren stehen. Ja, sie hat mir und Pina sogar gesagt, daß diese Biester mit den Vampiren verfeindet sind, die Todfeindinnen der Vampire, wie es der Basilisk für die Spinnen und Du-weißt-schon-wer für die Zaubererwelt ist. Ja, und bevor du die Frage stellst, Myrna, von diesen neun Töchtern des Abgrundes wurden sieben so heftig geschwächt, daß sie in einen tiefen Winterschlaf gefallen sind. Oma Jane sagt, wer magische Kräfte in sich trägt, die er oder sie aber nicht benutzen kann, nicht einmal unbewußt, der kann solch eine schlafende Abgrundstochter aufwecken, die sich dann an ihn ranmacht und ihn umgurrt, beglückt und dann versklavt, je länger sie mit ihm zusammensein kann. Davon hatten Mel und ich es."
"Ach, und solch eine Abgrundstochter gibt es in Amerika?" Fragte Myrna, die jetzt auch erbleicht war. mel und Gloria schüttelten die Köpfe.
"Wenn du meiner Schwester schon Alpträume machen mußt, Glo, dann erzähl ihr die Geschichte auch zu Ende!" Verlangte Mel frustriert.
"Die Geschichte geht so zu ende, daß diese Monster wohl alle in Asien und Europa unterwegs waren oder dort noch schlafen. Wahrscheinlich hat Julius' Vater ohne das zu wollen oder zu wissen einen dieser Schlaforte gefunden und sich da einige Zeit herumgedrückt. Das hat diesem Biest gereicht, wach zu werden. Ja, und weil der dann nach Amerika umsiedelte, weil er sich ja mit Julius' Mutter verkracht hat, ist ihm dieses Monster hinterhergewandert und hat sich hier richtig an ihn ran- und ihn dann an sich drangemacht."
"Der Urtyp des Bösen in Frauengestalt, wie es in der Bibel und anderen Glaubensbüchern drinsteht", beendete Melanie diese für Myrna doch sehr gruselige Erläuterung. "Vermutlich haben die sogenannten Gottesfürchtigen sich deshalb eingeredet, die Männer müßten das stärkere Geschlecht sein, um bloß nichts neues in der Richtung hochkommen zu lassen."
"Ey, das ist voll fies", bemerkte Myrna dazu. "So'ne Höllenfrau hat jetzt Julius' Vater verflucht, daß der für die Leute umbringen muß?"
"Ob's stimmt, wissen wir nicht", sagte Gloria. "Es ist nur eine Erklärung dafür, warum Minister Pole und Swift und Oma Jane solch einen heftigen Wind machen. Das kann auch was anderes sein."
"Ey, vielleicht hat Brittany das mitgekriegt, was Julius da rausgefunden hat. Die war doch mit dem gestern nicht nur in VDS", erwiderte Melanie.
"Ja, und?" Fragte Myrna. "Glos Eule kann oder will nicht durch die gelbe Glocke, Kontaktfeuern wird mitgehört und raus können wir auch nicht, weil dieses Dunstzeug genau so nah dran ist, daß Oma Janes Apparitionsmauer darum herumläuft. Will sagen, wir können nix machen", stieß Myrna aus.
"Aber sicher doch", erwiderte Melanie. Auch Gloria nickte zuversichtlich. "Dann werde ich Brit mal zu erreichen versuchen. Glo und du ihr bleibt schön hier!" Sagte Mel sehr bestimmend Myrna anblickend. Das ist nix für mittelgroße Mädchen." Myrna funkelte sie wütend an, während Gloria sie überlegen angrinste.
"Als wenn wir nicht wüßten was Mentiloquismus ist, Mel. Oma Jane hat mir das zwar noch nicht beigebracht, aber davon erzählt."
"Auf halbem Weg verhungert, Gloria", erwiderte Melanie. "Aber mehr sage ich nicht. Myrnamäuschen hat sowieso schon genug Gruselzeug mitgekriegt heute."
"Ey, Mel, wenn du jetzt diesen blöden Große-Schwester-Krempel abziehst hexe ich dir 'nen langen Bart ins Gesicht!" Stieß Myrna eine Drohung aus, die Melanie mit einer Handbewegung wegwischte wie ein lästiges Insekt.
"Myrna, du würdest dich viel schlechter fühlen, wenn dich alle auf deine bärtige Schwester anquatschen als ich. Es bleibt dabei, du und Glo bleibt hier!"
"Mel, das Zimmer ist meins, und wenn hier wer sagt, wer hier drinbleiben soll dann bin ich das", begehrte Gloria auf, der das bevormundende Getue Mels in dieser Lage genauso wenig schmeckte wie ihrer Cousine Myrna. Innerlich dankte sie ihren Eltern, daß sie die erste Tochter geworden war und daher keine bestimmende große Schwester hatte. Doch Melanie sah Gloria an und sagte mit einer von ihr seltenst gehörten Ernsthaftigkeit:
"Gloria, ich weiß, das Zimmer ist deins, zumindest in den Ferien. Aber ich habe mit Brittany was ausgemacht und durchgezogen, von dem nur wir beide was wissen dürfen, klar. Also bleib schön hier und erzähl Myrna noch etwas über Lahilliotas Töchter, damit ihr die Lust vergeht, sich in Sachen ihrer großen Schwester reinzuhängen!"
"Das ist noch nicht durch, Mel. Wenn Oma Jane wiederkommt erzähl ich ihr das, daß du irgendwas verbotenes angestellt hast, um mit Brit zu quatschen!" Drohte Myrna. Gloria sah nur zu ihrer Kommode hinüber, so kühl wie möglich bleibend.
"Dann hoff mal, daß Oma Jane wiederkommt, Kleines", wehrte Mel auch diese Drohung ab und verließ das Zimmer.
"Myrna, wenn Mel was angestellt hat, um ihre Mentiloquismusstärke zu erhöhen, soll mir das egal sein, und dir auch. Ich habe da was besseres, was nicht so heftig reinhaut. Gut daß Oma Jane mir diesen Bergestein gegeben hat."
"Bergestein?" Fragte Myrna.
"Ja, sowas wie ein Schlüssel, um bestimmte Erinnerungen nur für dich selbst zu versiegeln, daß nur du es weißt, was andere gerne wissen wollen. Wenn Swift wirklich kann, was ich vermute, kam er da zumindest nicht hinter. War an und für sich zum Schutz vor Snapes Hakennase und Umbridges Krötenvisage gedacht. Aber wenn es jetzt immer noch hilft."
"Ey, Glo, was hast du jetzt zu geheimnissen?"
"Tja, so blöd das klingt, Myrna, aber wenn Swift uns wieder heimsucht solltest du das nicht wissen."
"Mann, ihr seid beides blöde Kungelhexen", spie Myrna ihrer Cousine hin und verließ mit trotzig in den Nacken geworfenem Kopf das Zimmer. Gloria schloß schnell die Tür, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um und holte ihren Zauberstab hervor. Dieser Arrestdom würde jeden anderen Zauber überlagern, war sie sich sicher. So machte sie mal eben einen Klangkerker, wie sie ihn in Hogwarts immer dann im Ravenclaw-Mädchenklo gewirkt hatte, wenn sie mit Julius oder Oma Jane sprechen wollte. Sie holte aus ihrer Kommode zwei silbergerahmte Taschenspiegel hervor, von denen einer mit einem Sonnensymbol markiert war und der andere eine eingravierte Planetenkugel trug. den mit der Kugel nahm sie und sprach hinein: "Oma Jane!" Doch es kam keine Antwort. Sie probierte es mehrere Male. Dann legte sie den Spiegel hin und nahm den mit dem Sonnensymbol auf. "Julius Andrews! Ich rufe Julius Andrews!" Auch hier kam auch nach dem fünften Mal keine Antwort. Dann fiel ihr was ein. Das Laveau-Institut war mit zusätzlichen Zaubern abgeschirmt, die Verbindungen zwischen magischen Artefakten unterbrachen. Ihre Oma hatte ihr mal erzählt, dies sei nötig gewesen, um nicht mit Verschwindekabinetten oder ähnlichen Behältern beehrt zu werden, durch die man böswilliges Material oder böswillige Lebewesen schicken konnte. Also waren auch Zweiwegspiegel wertlos, wie auch Findmichs, von denen Julius vor zwei Jahren mal eins im Sommer anhatte, als er seinen Geburtstag zum ersten Mal bei Professeur Faucon ... Das konnte gehen! Gloria sprang auf, schloß die Tür auf, riss sie fast aus den Angeln, stürzte zum Arbeitszimmer ihrer Oma ... und kam nicht durch die Tür, weil diese verschlossen und sicher auch verzaubert war.
"Drachensch...", stieß Gloria aus und schloß schnell den Mund, damit das böse Wort nicht ganz entweichen konnte.
"Was willst du bei Omas Arbeitszimmer, Glo?" Fragte Opa Livius sichtlich alarmiert.
"Opa, du weißt, daß Oma Jane zwei Spiegel hatte", flüsterte Gloria. Opa Livius nickte. "Mit einem davon hat sie Verbindung mit mir gehalten und mit dem anderen eine Verbindung zu Julius", wisperte sie weiter. Ihr Großvater nickte bestätigend. "Der für Julius wurde aber von Professeur Faucon beschlagnahmt, damit die mit Oma Jane reden konnte, als Voldemort wieder ..." Livius Porter erbleichte und sah Gloria erschüttert an. "Ja, Opa, ich weiß, Du-weißt-schon-wer wieder aufgetaucht ist, offiziell meine ich", beendete Gloria ihre Erläuterung.
"Ich weiß, die Spiegel liegen im Wohnzimmer in der Blutschlüsselkommode, wo nur direkte Blutsverwandte von ihr rankommen", sagte Opa Livius. Gloria bekam Augen so groß wie Äpfel und strahlte hocherfreut. Dann eilte sie ins Wohnzimmer und streichelte die alte Kommode, die dort stand. Dann zog sie an der obersten Schublade, die widerstandslos aufglitt. Doch außer irgendwelchem Schmuck, von dem Gloria nicht wußte, ob der nur wertvoll oder auch magisch war, lag nichts darin. In der zweiten lagen vier Bücher zusammengelegt, wohl auch sehr wichtig für Oma Jane. In der Dritten Schublade fand sie endlich drei silberne Taschenspiegel. Sie drehte sie schnell um und sah eine Planetenkugel, einen Halbmond und einen Stern als Gravur. Die Kugel war das Gegenstück zu ihrem Spiegel, der Stern war wohl der neue Spiegel für Julius, wie Oma Jane ihr nach dem Geburtstag bei ihm zugeflüstert hatte. Dann konnte der Halbmond nur der alte für Julius gewesen sein, der jetzt mit Professeur Faucon verbunden war. Sie nahm den Spiegel und schob die Schublade wieder zu. Sie streichelte die Kommode und eilte in ihr Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin kam Mel aus ihrem Zimmer, sichtlich benommen wirkend.
"Hat's geklappt, was du gemacht hast?" Wisperte Gloria.
"Ja, hat es. Brit hat mit Julius 'ne Menge Zeug aus diesem Internet gezogen, das glaubst du nicht. Aber dieser Dunst hätte uns fast die Schädel zerbröselt. Was hast'n du da?" Erkundigte sich Mel, während Gloria ihr Zimmer öffnete. Sie errötete. Dann zog sie Mel hinein und schloß die Tür. In wenigen Sätzen erzählte sie ihr von den Zweiwegspiegeln, da Mel von Ihrer gemeinsamen Großmutter in Okklumentik ausgebildet worden war, wohl sehr zum Unwillen von Purplecloud, Bullhorn und Prinzipalin Wright, die kurz nach Glorias Ferienantritt hier aufgekreuzt war und sich mit Oma Jane lange und heftig gestritten hatte. Gloria hatte das Gespräch damals mit ihrem Langziehohr belauscht. Oma Jane hatte sich durchsetzen können, weil sie erklären konnte, daß dunkle Magier sich über ihre Familienangehörigen an sie selbst ranmachen könnten und sie jedem diese Kunst beibringen würde, auch ihr, Gloria. Offenbar hatte die sonst sehr umgängliche Schulleiterin von Thorntails das eingesehen und war mit der Drohung abgezogen, Jane Porter demnächst in den Schulbetrieb von Thorntails einzubinden, wenn sie sich schon anmaßte, ihre Schüler den Stoff außerhalb des üblichen Lehrplans zu unterrichten.
"Na, hoffentlich glüht dir der Spiegel nicht weg. Ich denke, der Dunst da draußen stört jede Verbindung", sagte Mel.
"Das werden wir sehen", sagte Gloria und nahm den Spiegel hoch. "Professeur Faucon, ich rufe Sie!" Mel sah auf ihre Uhr und fragte, wie spät es denn jetzt in Millemerveilles sei.
"Oh, verdammt, es ist da ja schon halb elf abends", fiel es Gloria ein, als der Spiegel unvermittelt vibrierte.
Wie lange der Harvey-Besen nun unterwegs war wußte Julius nicht. Sein Zeitgefühl war irgendwie eingeschlafen, obwohl er sich selbst sehr wach hielt. Doch dieser Phantomflug wie der Wind über die Berge forderte seine Sinne so sehr, daß er nicht mehr einschätzen konnte, ob sie nun eine Minute oder zehn Minuten mehr unterwegs waren. erst als der Besen wieder zu zittern begann, was seine Ermüdung verriet, wurde Julius klar, daß sie die nächste 4-Stunden-Etappe geschafft hatten. Ardentia Truelane lenkte den Besen nun auf eine große Stadt zu, deren Häuser erst wie kleine graue Kieselsteine aussahen, bis der Harvey 5 tief genug war, daß nun auch die Autos und Busse zu erkennen waren.
"Hier ist unser Reiseziel, Houston, Texas", verkündete Ardentia Truelane, während der Besen im flachen Winkel weiter nach unten glitt und dabei eine sehr sanfte rechtskurve beschrieb, "Hier habe ich die Wohnung angemietet, von der ich gesprochen habe."
"Ach neh, Houston, wo das Hauptzentrum der Weltraummissionen liegt?" Fragte Julius, dem bei diesem Namen so viele Sachen auf einmal einfielen, von der Mondlandung Armstrongs, der schweren Panne von Apollo XIII. die aber noch ein glückliches Ende nehmen konnte, die Flüge des amerikanischen Raumtransporters und so vieles mehr. Er hatte sich schon gewünscht, diese Stadt, die wohl die größte in ganz Texas war, ausgiebig zu besichtigen. Doch mit Onkel Claude war er nie über die Ostküste hinausgekommen. Tja, hätte er sich auf die Fahrt zur Fußball-Weltmeisterschaft in Amerika eingelassen, wäre er vielleicht auch einmal hier vorbeigekommen, weil in Dallas, was ja doch nicht so weit von hier weglag, einige Spiele stadtgefunden hatten, wie er wußte. Das einzige Problem, was er sah war der heftige Dialekt der Texaner, in den er sich bei den Ross' gerade nur deshalb einhören konnte, weil Mr. Ross wohl akademisches Englisch zu sprechen versucht hatte.
"Okay, wir landen gleich auf dem Balkon. Die Tür kriege ich ohne Zauberspruch auf, weil ich mir eine Fernbedienung dafür habe bauen lassen, angeblich, damit ich im Sommer keine Fliegenschwärme in der Wohnung haben muß. Hier in den Staaten ist vieles zu kriegen, auch ohne Magie", sagte Ardentia und ließ den Besen weiter absinken, sodaß sie bald auf der Höhe der spargeldünnen Ausleger großer Fernsehantennen und den silbrigen Schüsseln von Satellitenantennen dahinsegelten. Ab da bekam Julius nur noch Gedankenbotschaften von der Instituts-Hexe. So erklärte sie ihm, daß das Haus ein zehnstöckiges Mietshaus in einem der besseren Stadtteile war, wo gut verdienende Bürger lebten und es im Vergleich zum Durchschnitt sehr wenige Vorkommnisse gebe. Dann sah Julius das Haus, als würde er körperlos darauf zustürzen. Erst einhundert Meter vor dem Haus bremste Ardentia den Flug ab und brachte den Tarnbesen sicher an den Balkon im achten Stock heran. Das Balkongeländer war mindestens zwei Meter hoch angebracht und wurde von mit Holz verschalten Streben und Feilern getragen, die gerade so große Zwischenräume besaßen, das man störungsfrei hindurchblicken, aber nicht einmal ein Kleinkind seinen Kopf hindurchstecken konnte. Außerdem, das fiel Julius auch auf, lief eine stabile Holzwand vom Boden bis wohl einen halben Meter nach oben. Offenbar wollte man hier keine Unfälle mit Kindern haben, die mal eben vom Balkon fielen.
"Achtung, wir landen gleich. Ich bringe uns in einen Winkel von fünf Grad zur Hauswand, damit wir die fünf Meter Balkonfläche am besten ausnutzen können", wisperte Ardentias Gedankenstimme in Julius' Kopf. Er hielt sich gut fest und staunte, wie geschickt die Hexe den Besen so zur wand ausrichtete, daß er fast parallel zur Südseite flog, bis die rechteckige Abgrenzung eines Balkons genau rechts vor ihnen lag. Mit einem leichten Wippen überstrich der Harvey das Geländer und glitt noch zwei Meter weiter, bis seine Reiter kurz vor der gegenüberliegenden Begrenzung die Füße auf den Boden bekamen.
"Hier Basis Meer der Ruhe. Der Adler ist gelandet", kommentierte Julius das Landemanöver. Ardentia lachte.
"Ich weiß, diese Stadt ist bei den Muggeln für die ganzen Raketenflüge berühmt. Ich habe mir deshalb mal ein Buch über diese Raumfahrtprojekte besorgt und die bekanntesten Ereignisse studiert, wie eben die erste Mondlandung, aus der du gerade zitiert hast. Das ist übrigens da drinnen, zusammen mit der Amerikanischen Verfassung, einem Buch über die bedeutensten Erfindungen, Büchern über die Geschichte verschiedener Bundesstaaten und Videos der neueren amerikanischen Geschichte, falls es dir langweilig genug werden sollte, dich mit sowas zu befassen", sagte die Hexe nun wieder mit körperlicher Stimme. Dann fischte sie in ihren Umhang und ließ ihre Hand mit einem kleinen, schwarzen Quader mit winzigen silbernen Knöpfen wieder auftauchen. Sie tippte mit flinken fingern eine Kombination ein und drückte wohl den Sendeknopf. Wie bei einer Zentralverriegelung im Auto gab es ein leises Quietschen und Klacken, als ein unsichtbarer Mechanismus entriegelt wurde.
"Warum sollte was für Autos und Garagen gilt nicht auch bei Balkontüren gehen", dachte Julius anerkennend. Schnell trugen sie beide den Besen in das hinter der Tür liegende Zimmer und verstauten ihn in einem Schrank. Dann durfte sich Julius umsehen.
Die Wohnung war nicht gerade groß, aber sie reichte für die Ansprüche einer Person völlig aus. Es gab ein Wohnzimmer mit technischen Geräten, wie sie bei nichtmagischen Leuten zum Alltag gehörten, ein kleines Schlafzimmer, ein Badezimmer mit einer Wanne, eine separate Toilettenkabine mit elektrischer Entlüftung und eine Küche mit Herd, Spülmaschine, Gefrier- und Kühlkombination und einem Kofferradio, wie es in der Winston-Churchill-Straße auch zur Einrichtung gehört hatte.
"Ist das nicht anstrengend, ohne Zauberei klarzukommen?" Fragte Julius. Ardentia meinte, das sei alles Gewöhnungssache, und sie habe sich zusammen mit früheren Schulkameraden, die muggelstämmig seien gut eingearbeitet. Außerdem würde sie ja nur dann in diese Wohnung kommen, wenn sie für mehrere Tage Stellung in der Muggelwelt beziehen solle. Aber wo sie dann wohnte wisse niemand aus dem Ministerium, und auch Mr. Davidson wisse nur, daß sie in Houston untertauchte, um die Muggel zu erforschen oder aufkommende Gefahren für diese abzuschätzen.
"Ach, und dann haben Sie nicht mitbekommen, was mit meinem Vater passiert ist?" Fragte Julius.
"Ich wußte ja überhaupt nicht, daß du, ein Zauberer, mit diesem Mann verwandt bist. Ja, ich wußte ja zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß es dich überhaupt gibt", wandte Ardentia ein. Julius mußte ihr das wohl glauben. Deshalb fragte er sie, um die Stimmung wieder ins Lot zu bringen, was sie denn jetzt hier machen sollten.
"Wie besprochen, nach einem Weg suchen, dich und deine Mutter aus dem Land zu bringen, und zwar so, daß Minister Pole keine Möglichkeit bekommt, dich wieder zurückschaffen zu lassen. Da Mexiko und Kanada von seiner Gnade abhängen, muß das sofort weit genug weggehen, am besten dahin, wo du mit Jane Porter herkamst."
"Auf die Bahamas zuerst. Die gehören nicht zu den Staaten", antwortete Julius.
"Ja, bei den Muggeln. In wirklichkeit haben sich Ministerin Greengrass vor zwanzig Jahren und ihre damalige britische Amtskollegin Bagnold darauf verständigt, daß die zweihundert Zauberer, die da leben, der Zuständigkeit des amerikanischen Zaubereiministeriums unterstehen. Es wurde sogar darüber nachgedacht, die betreffenden Zauberer umzusiedeln und die Bahamas nicht mehr als verwaltungsgebiet zu bewerten. Weil es da aber einige Sturköpfe gibt, die sich freuen, eine ganze Insel für sich zu haben, ist diese Zuständigkeit noch immer gültig. Das gleiche gilt dann auch für die Bermudas. Kuba hängt wirtschaftlich am goldenen Führstrick Nordamerikas. Wenn dieser Fidel Castro das wüßte, er würde sich entweder selbst umbringen oder ein grausames Massaker veranstalten, um die dort lebenden Zauberer zu vernichten, damit die nicht gegen ihn konspirieren können. Da können wir also auch nicht hin, zumal es sehr viel riskanter ist, mit einem Unkundigen an der Hand zu apparieren, wenn es kontinentale Entfernungen zu überspringen gilt. Von deiner Mutter ganz zu schweigen, die nicht appariert werden darf, egal ob zehn Meter oder zehntausend Kilometer."
"Ja, aber wie sollen wir das von einer Durchschnittswohnung in Houston aus klären? Oder wollen Sie uns mit einem üblichen Flug hier herausbringen?" Fragte Julius.
"Mit den üblichen Verkehrsflugzeugen wohl nicht, weil Poles Leute wohl euer Bild haben und aufpassen, daß ihr denen nicht auf Muggelweise durch die Lappen geht", erwiderte Ardentia Truelane. Dann grübelte sie nach. "Vielleicht können wir das mit einem Privatflugzeug machen, in das irgendwelche größeren Container eingeladen werden."
"Ich will das nicht glauben, daß diese Bande wirklich die ganzen Grenzen der Staaten zumachen kann und da keine Maus mehr durchkommt, wenn sie nicht in der richtigen Tonart piepst."
"Das ginge ja auch nicht, wenn man sich mit den Nachbarn nicht auf ein Hilfsabkommen geeinigt hätte", warf Ardentia ein. "Bei den Muggeln zählt zwar guter Handel, aber um gute politische Beziehungen, die dann alle Grenzkontrollen vereinfachen, scheren die sich hier nicht. Wie dem auch sei. Du bleibst am besten erst einmal hier. Ich besorge die Lebensmittel am besten für eine volle Woche. Vielleicht ist die Geschichte dann schon weit genug herum, daß die Maßnahmen Poles nicht mehr nützen. Dann können wir uns wieder frei bewegen", sagte Ardentia Truelane. Du kannst dir hier Fernsehen oder Videocasetten ansehen oder Musik hören. Ich habe auch CDs mit Unterhaltungsmusik hier, wenn dir langweilig werden sollte."
"Von einem Knast in den nächsten", dachte Julius. Doch was sollte er machen? Wenn dieser Pole darauf scharf war, ihn und seine Mutter einzusacken und zu gedächtnismodifizieren, er das aber nicht wollte, mußte er sich eben gut verstecken.
"Okay, ich gehe dann mal zum Supermarkt und hole genug zu essen. Worauf hast du mal Hunger?"
"Zumindest nicht nur Hamburger", erwiderte Julius.
"Alles klar, ich such was raus, damit wir die ganze Woche jeden Tag was anderes haben", sagte Ardentia Truelane. Dann nahm sie ein Schlüsselbund aus einem kleinen Kästchen gleich bei der Wohnungstür und verließ mit "Bis gleich", die Mietwohnung. Als das Sicherheitsschloß der Wohnungstür mit drei Klickgeräuschen zugesperrt war, ging Julius ins Wohnzimmer. Dort fragte er sich, wo er denn schlafen solle, vor allem, was er in einer ganzen Woche für Wäsche anziehen sollte. Daran hatten sie wohl nicht gedacht, als sie so übereilt losgeflogen waren. Doch er freute sich schon darauf, das verdutzte Gesicht Ardentias zu sehen, wenn er ihr das unter die Nase rieb. Erst einmal zog er den Zaubererumhang aus und legte ihn auf das Sofa, nachdem er seine Goldblütenhonigphiole herausgenommen und in seinen Brustbeutel gesteckt hatte. Dann schaltete er den Fernseher ein, um zu sehen, was in der Muggelwelt gerade so los war.
Er erwischte einen Nachrichtenkanal und erstarrte vor Schreck, als Bilder seiner Mutter und ihm über den Schirm flimmerten.
"... steht zu vermuten, daß die beiden hier gezeigten auf Grund des gestern Abend eingegangenen Drohanrufes des Mannes, der sich als der Ex-Ehemann der Frau und Vater des Jungen ausgab, von organisierten Verbrecherbanden entführt wurden, um sie als Druckmittel zur Herausgabe des unter Zeugenschutz stehenden richtigen Richard Andrews zu benutzen, nachdem der als Richard Andrews auftretende Massenmörder gestern um elf Uhr Abends bei mehreren Pressestellen und dem FBI angerufen hat und eine ungeahnte Anzahl von Toten angedroht hat, wenn nicht bestimmte Bedingungen erfüllt würden. Die Mutter und Sohn Andrews sind seit gestern verschwunden, zusammen mit einem Sonderagenten des FBI. Die Bundesermittlungsbehörde hat eine bundesweite Fahndung nach den beiden veranlaßt. Alle Bürger werden gebeten, bei der Suche mitzuhelfen und sich gegebenenfalls an die nächste FBI-Niederlassung oder die nächste Polizeiwache zu wenden. Es ist davon auszugehen, daß die beiden von gut organisierten Verbrechern verschleppt wurden, die Privatflugzeuge zur Verfügung haben."
Verdammt, dieser Bastard hat echt alles einkalkuliert", grummelte Julius, nachdem er den ersten Schrecken überstanden hatte. Dann ging er an das Telefon im Flur, sah die Wohnungstür an und nahm den Hörer ab. Doch das Telefon war tot. Entweder war es kaputt oder nicht angeschlossen, dachte Julius. Jetzt hätte er gerne ein Mobiltelefon mitgehabt. Denn Joes Mobilnummer hatte er sich genauso notiert wie Martha Andrews.
"Ich kann also mit keinem reden. Es sei denn ... Er holte den Brustbeutel hervor und kramte den Zweiwegspiegel mit dem Sonnensymbol heraus. Vielleicht konnte er jetzt mit Gloria reden.
"Gloria Porter, ich rufe dich!" Sprach er halblaut in den Spigel und wunderte sich nicht, daß sein Atem nicht auf dem Glas beschlug. Immerhin hatte er schon so oft mit Gloria oder Jane Porter gesprochen, daß ... Der Spiegel erzitterte und zeigte ein Muster aus bunten Schlieren.
Es war ein wildes Zittern, wie Gloria es nie zuvor von diesem Spiegel erfahren hatte. Wilde, farbige Schlieren wirbelten auf der reflektierenden Oberfläche herum. Dann sah Gloria zwischen dem Lichtgewitter Professeur Faucons Gesicht. Aus dem Spiegel kam ein schriller, leicht an- und absteigender Sirrton. Dann hörte sie die Beauxbatons-Lehrerin, deren Bild immer wieder im Lichtspektakel zu zerschmelzen schien sehr verzerrt und mit einem merkwürdigen Vielfachecho fragen:
Was ... lososososos, Glor...?!"
"Ju-li-us in Ge-fahr!" Rief Gloria in den Spigel. "Ju-li-us in Ge-fahr! Mei-ne O-ma muß-te mit ihm flie-hen. Mei-ne O-ma muß-te mit ihm flie-hen!" Rief Gloria, jedes Wort in seine Einzelsilben zerlegend.
"Was ist passiert-iert-iert-iert-iert??" Kam die immer undeutlicher klingende Stimme Professeur Faucons zurück. Gloria fühlte, wie der Spiegel nicht nur immer wilder zitterte, sondern dabei auch immer heißer wurde.
"Ju-li-us weiß, was mit sei-nem Va-ter ist! Sein Va-ter ist wohl von Zau-be-rer-kre-a-tur ver-sklavt wor-den!!" Rief Gloria jede Silbe in den Spiegel. Das Bild Professeur Faucons wurde jetzt in ein Meer aus roten, blauen, grünen, orangen, violetten, gelben und goldenen Blitzen getaucht, wobei es regelrecht zerschossen wurde. Dabei wurde der Spiegel mit einem Mal so heiß, daß Gloria ihn mit einem lauten Aufschrei aus den Fingern gleiten ließ. Mel hielt geistesgegenwärtig ihren Umhangärmel in die Fallbahn und fing den Spiegel auf, dessen Rahmen einen rötlichen Schimmer angenommen hatte. Professeur Faucons Bild verschwand mit einem scharfen Knall und einem für eine Sekunde gleißendblau aufleuchtendem Licht, das den gesamten Spiegel ausfüllte.
"Verdammt!" Rief Gloria vor Schmerz und Wut. Mel fühlte, wie der von ihr balancierte Spiegel sich durch den Ärmel zu brennen begann. Sofort ließ sie ihn auf die steinerne Fensterbank im Zimmer gleiten, die bestimmt eine gewisse Hitze aushalten konnte.
"Das war's dann wohl", meinte Mel zu ihrer Cousine, die sich mit Tränen in den Augen die Finger der rechten Hand besah. Heftig große Brandblasen sprossen aus der tiefrot verfärbten Haut.
"Kein Problem, Glo, dafür haben wir Mittel im Haus", tröstete Mel ihre weinende Cousine, bevor sie sah, daß ihr Umhangärmel bereits sehr stark angekokelt aussah.
"Also, man kann über Poles Ideen sagen was man will. Was er macht, macht er gründlich."
"Mist verdammt!" Fluchte Gloria. "So eine gequirlte Drachenscheiße!"
"Die hilft dir da nicht weiter", warf Melanie belustigt ein und holte ihren Zauberstab hervor. "Ich kühl dir das erst einmal runter, bevor ich die Brandheilsalbe draufmache", sagte sie und ließ einen feinen Wasserstrahl aus dem Stab sprühen, mit dem sie Glorias verbrannte Finger benetzte. Erst nach zwei Minuten hörte sie damit auf und verließ Glorias Zimmer, um aus der kleinen Hausapotheke mit magischen Alltagsproblemlösungselixieren wie Erkältungstränken, Cremes gegen verschiedene Hautverletzungen und Magenberuhigungsmitteln die Dose mit der Brandheilsalbe zu holen. Damit behandelte sie Gloria und sagte zu ihr:
"Immerhin hast du die wesentliche Botschaft noch rüberschicken können, Glo! Wenn die Faucon wirklich so drauf ist, wie ich es ja selbst mitgekriegt habe, dann scheucht die jetzt alles auf, was in ihrer Reichweite ist oder kommt sofort rüber."
"Ja, aber die war so schwer zu hören, Mel. Wenn die mich jetzt nicht verstanden hat?" Quängelte Gloria. Dann wurde sie plötzlich sehr gefaßt. "Du hast recht, Mel. Auch wenn sie mich nicht verstehen konnte wird sie sich denken, daß ich nicht ohne Grund den Spiegel von Oma Jane benutzt habe. Wenn sie dann auch diese Lichtblitze gesehen hat, wird sie sich wohl auch fragen, warum das mit der Verbindung nicht klappen wollte. Ich hoffe nur, ihr Spiegel ist ihr nicht auch zu heiß geworden."
"Die hat genug Leute in der Nähe, zu denen sie dann hinkann, wenn sie nicht auch die üblichen Heilmachertinkturen im Haus hat."
"Ja, aber wo soll sie hin? Ich konnte ihr ja nicht sagen, wo Julius jetzt ist", erwiderte Gloria. Doch auch dazu fiel ihr eine Antwort ein. "Hmm, die wird wohl die Leute aus der Liga kontaktieren. Vielleicht können die ja was drehen."
"Zumindest ist sie jetzt informiert, daß hier was ganz großes am stinken ist", sagte Melanie.
Livius Porter sah Gloria sorgenvoll an, wie sie die dick eingeschmierten Finger hochhielt.
"Das geht also auch nicht", sagte er wehmütig. "Wäre auch zu schön gewesen, nicht wahr?"
"Ich hoffe, der Spiegel ist nicht kaputtgegangen", sagte Gloria, der nun einfiel, daß sie womöglich Oma Janes wertvollen Zweiwegspiegel sprichwörtlich verheizt hatte.
"Das klären wir, wenn wir wieder mit den anständigen Leuten zu tun haben dürfen", sagte Mr. Porter. "Ich hoffe nur, meine Kollegen fragen diesen Herrn quodgroße Löcher in den Bauch, warum ich nicht mehr mit ihnen reden oder arbeiten darf. Der spinnt doch!"
"Torschlußpanik, Opa Livius", sagte Melanie. Myrna kam gerade aus ihrem Zimmer und sah nach, worüber die drei sich gerade unterhielten. Zwar sah sie Melanie immer noch verbiestert an, war aber wohl zu neugierig und wollte nicht den ganzen Tag schmollen. "Irgendwie haben Oma Jane und Julius sich ihm entziehen können, und das macht den jetzt stocksauer", sagte Melanie weiter.
"Oder er hat panische Angst, Mel", sagte Mr. Porter. "Ich kann mich noch zu gut entsinnen, wie eure Oma und ich noch in England gelebt haben, obwohl Jane schon immer wieder in ihre geliebte Heimat zurückwollte. Wir haben das voll mitbekommen, wie die Panik um Ihr-wißt-schon-wem alles und jeden gepackt hielt. Damals hatten die Zauberer des Ministeriums auch Sondervollmachten, und viele anständige Hexen und Zauberer wußten nicht, ob sie mehr vor den übereifrigen Auroren oder den Todessern Angst haben sollten. Dann, in Plinius' letztem Jahr, wo wir beide nach New Orleans zogen und ihm und Dione das Haus überließen, hätten wir echt gedacht, sie würde noch von einem dieser übermütigen Auroren verhaftet. Aber zum Glück konnte sie das noch abwenden. Also, Kids, Angst ist ein heftiges Mittel, Leute zu Berserkern zu machen."
"Dann kann ich auch nicht mit Julius sprechen", sagte Gloria. "Vielleicht kommt er ja aus dem Institut raus."
"Das würde ich dir nach dieser Erfahrung erst mal nicht empfehlen, weil diese Artefakte nicht mit Handschuhen benutzt werden können. Es bleibt uns nichts anderes als zu warten.
"Toll!" stieß Gloria nun sichtlich wütend aus. "Warten bis uns Swift erzählt, daß er Julius total gedächtnisgesäubert hat und uns das gleiche antun muß, weil Minister Pole das für die beste Lösung hält."
"Mädchen, du hast schon was gutes angeschoben", sprach Opa Livius nun sehr ernst und laut. "Mehr können wir im Moment nicht machen. Das, was du gemacht hast, reicht bestimmt schon aus, um die Pläne dieses Geheimmniskrämers zu Staub zu zerblasen. mehr geht im Moment nicht."
"Verstanden, Opa Livius", sagte Gloria kleinlaut.
"Was genau habt ihr denn angestellt?" Fragte Myrna. Mel meinte zu ihr:
"Weil du noch nicht gelernt hast, das zu verbergen, darf ich dir das nicht sagen. Wenn Swift uns wieder besucht und uns ausfragt, könnte er rauskriegen, was Glo und ich gemacht haben."
"Ach, du meinst diesen Okklumentikkram? Den kann Glo doch auch noch nicht, oder?"
"Für das, was ich gemacht habe hat Oma Jane mir einen Schutzzauber gegeben, Myrna. Mehr mußt du nicht wissen."
"Zum Teufel mit Swift und Pole und wer noch alles an denen dranhängt!" Fauchte Myrna sichtlich genervt.
So verging der restliche tag, während dem sich Glorias finger wieder erholten. Als sie dann den Zweiwegspiegel von der Fensterbank nahm, fühlte er sich wieder kalt und normal an. Auch das Glas war unbeschädigt geblieben. Doch ob die innewohnende Magie noch wirkte wußte sie nicht. Sie wußte auch nicht, was Professeur Faucon jetzt gerade machte. Hatte sie wirklich alles aufgescheucht, was in ihrer Umgebung war? Oder wollte sie erst persönlich herüberkommen und die Lage vor Ort prüfen? So oder so, Gloria würde davon nichts mitbekommen, solange dieser dunstige Sperrdom um das Haus im Weißrosenweg stand.
Am nächsten Tag kontaktfeuerte Swift die Porters und Redliefs und stellte unmißverständlich klar, daß jeder Kontaktversuch oder sonstige Handlungen als Verstoß gegen die Arrestbestimmungen des Zaubereiministers sei und es nur zu ihrem Besten geschehe, daß sie einstweilen keinen Kontakt mit den subversiven Elementen hatten, die gegen das Zaubereiministerium agierten. Das ließ Mr. Porters Hals anschwellen und die Stirnadern überdeutlich und dunkel pulsierend hervortreten.
"Mr. Swift, bei dem winzigen Rest von Respekt, den ich noch für Ihre Funktion habe, meine Frau ist kein subversives Element, und schon gar nicht der Junge, Julius Andrews. Haben wir uns da verstanden? Außerdem halten Sie uns hier wiederrechtlich in Sippenhaft. Das sind Methoden eines Diktators, nicht eines Repräsentanten einer demokratischen Grundordnung. Was immer meine Frau und der Junge herausbekommen haben rechtfertigt niemals derlei Maßnahmen, Mr. Swift. Spätestens morgen haben Sie gefälligst diesen widerlichen Arrestzauber abzubauen, wenn Sie und ihr oberster Dienstherr nicht im Kristallherold der Freiheitsberaubung, Nötigung, sowie Verstößen gegen die Grundordnung angeklagt werden und vor eine Untersuchungskommission zitiert werden wollen, die nach den Gesetzen zur Abwägung verwaltungsbedingter Maßnahmen einberufen werden kann, wenn die Maßnahmen ohne gesetzliche Grundlage mindestens ein lebendes Mitglied der hier weilenden Hexen- und Zaubererschaft beeinträchtigen. Bis morgen haben Sie Zeit. Dann werden Sie diesen Zauber abbauen müssen. Oder meinen Sie, den ganzen Weißrosenweg derartig zum Gefängnis umfunktionieren zu können? Sicher werden schon einige Leute mitbekommen haben, daß Sie uns widerrechtlich unter Arrest halten."
"Das nicht, Mr. Porter. Für die anderen sieht es so aus, daß Ihr Haus verlassen ist. Unser Arrestzauber ist von außen nicht zu sehen. Und was Ihren Arbeitgeber angeht, Mr. Porter, so haben Mitarbeiter von Minister Pole ihm mitgeteilt, daß Sie und ihre Familie derzeit auf einer Reise sind, die erst in einer Woche zu Ende gehen wird. Bis dahin werden wir keine Probleme haben, eine glaubhafte Gegendarstellung zu jedem Vorwurf Ihrerseits bereitzuhalten. Ihre Frau hat das Vertrauen des Zaubereiministers mißbraucht und den Jungen zu ungesetzlichen Handlungen angestiftet. Nebenbei konnte sie mittlerweile gefaßt werden. Den Jungen werden wir auch bald haben. Dann wird der Zaubereiminister befinden, wie zu verfahren ist. Ich wünsche einen schönen Tag!" Mit leisem Plopp verschwand Swifts Kopf aus dem Kamin.
"Sie haben Oma Jane", seufzte Mr. Porter. "Sie haben sie festgenommen. Aber der Junge ist noch frei. Offenbar hat Davidson ihn im Institut und gewährt ihm Asyl."
"Dieser Heuchler. Der hat diesen Drachenmist doch losgetreten", schimpfte Gloria. "Ich dachte immer, der würde erst denken und dann handeln."
"Loyalität ist ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft, Kind", hob Mr. Porter einen Sermon an. "Wenn es keine Loyalität mehr gibt, gibt es auch keine Ordnung mehr. Ohne Ordnung jedoch ist jeder jedem ausgeliefert. Anarchie heißt das dann. Keiner, auch du, Gloria, will so leben. Also brauchen wir loyale Leute, die zu dem stehen, was sie geschworen haben und denen beistehen, denen sie Beistand gelobt haben, egal worum es geht und wie sie selbst dabei betroffen werden."
"Ja, aber da gibt es noch das Ding namens Zivilcourage, Opa Livius", widersprach Gloria, und Mel grinste belustigt. "Werte sind in Ordnung, aber dann muß jemand auch hinterfragen dürfen, ob nicht jemand, dem man eigentlich zu gehorchen hat, diese Werte nicht einhält und dann auch entsprechend dagegen vorgehen, auch egal, wie es dann bei einem selbst reinhaut. Das habe ich in Hogwarts gelernt, wo uns Fudge diese Umbridge aufgedrückt hat. Nicht Leute sind wichtig, sondern Werte, Opa Livius. Loyalität für Leute, die solche Werte erst groß verkünden und sie dann einfach wegwerfen ist dumm, dumm wie Flubberwurmbrei."
"Glo, ich bin auch wütend, weil Swift uns so schikaniert. Aber wenn du mal älter bist ..."
"bist du auch älter, Opa", schoss Gloria sofort dazwischen. "Spar dir diesen Generationenquatsch. Pole ist etwas jünger als Oma Jane, Oma Patricia und du. Wenn du dem jetzt recht gibst, ist dein ganzes Gerede von mit dem Alter kommt die Klugheit völlig wertlos." Mr. Porter sah sie entgeistert an, wurde rot wie eine Tomate und keuchte, weil der Ärger seinen Blutdruck heftig nach oben trieb. Doch dann mußte er nicken. Ja, warum sollte er Gloria jetzt noch mit solchen Sachen kommen, wo er selbst doch zweifelte, daß die Loyalität zu Minister Pole offenbar nicht gedankt wurde.
Weil sich Großvater und Enkelin wegen dieses kurzen aber heftigen Ärgers erst einmal nicht mehr sehen konnten blieb Gloria in ihrem Zimmer und las in einem Buch über Zaubertränke. Sie sah in Schulsachen was, wo sie sich gut mit ablenken konnte. Das Mittagessen verlief fast im völligen Schweigen. Myrna hatte immer noch eine gewisse Wut auf Mel und Gloria, Mr. Porter wußte nicht, wie er seinen Enkeltöchtern etwas erklären sollte, woran er selbst jeden Glauben zu verlieren drohte, und Gloria dachte immer wieder an Julius. Wo war dieser jetzt, wenn Oma Jane verhaftet worden war? Wie ging es ihm? Was machte Professeur Faucon gerade? War sie schon unterwegs? War sie vielleicht schon in New Orleans? Es ärgerte sie, daß sie das nicht nachprüfen konnte. Doch sie wollte nicht noch einmal den Spiegel benutzen. Vielleicht wurde der dann so schnell glühendheiß, daß sie ihn nicht rechtzeitig loslassen konnte.
Den Nachmittag vertrieb sie sich mit Schach. Mel spielte gegen sie. Dann, am zweiten Abend des magischen Hausarrests, sirrte Glorias Zweiwegspiegel mit dem Halbmondsymbol, den sie in ihrer verschließbaren Rocktasche trug.
"Mel, kannst du meine Hand und den Spiegel mit Wasser kühl halten? Das ist der von Julius", zischte Gloria ihrer älteren Cousine zu. Diese nahm ihren Zauberstab und wartete, bis Gloria den wild vibrierenden Spiegel herausfischte, der sich bereits wärmer als ihre Hand anfühlte.
"Aguamenti!" Murmelte Melanie, während Gloria den Spiegel vor ihr Gesicht hielt. Ein handbreiter Wasserstrahl spritzte aus dem Zauberstab und traf Glorias Hand und den Spiegel.
"Julius, ich habe nicht viel Zeit!" Rief sie, als sie Julius' Gesicht in einem langsam immer wilderen Lichtgewitter erkannte.
"Ich Sehe, Gloria, der Spiegel spielt verrückt. Blockade wahrscheinlich", kam Julius Stimme mit langsam zunehmendem Echo zurück. "Nur soviel: Mein Vater ist von einer Tochter des Abgrunds versklavt worden. Wenn du den Spiegel mit dem Sonnensymbol bei euch findest, nimm Kontakt mit Madame Faucon auf und sage ihr das noch mal. Ich habe Francis ..schickt-ickt-ickt, aber-aber-aber ..."
"Schon versucht, Julius!" Rief Gloria. Mels Wasserstrahl war kalt wie Bergseewasser. Es netzte Spiegel und Hand so gut, daß Gloria den Zweiwegspiegel etwas länger festhalten konnte als vorher. Doch Julius Gesicht und Stimme verschwamm immer mehr. Dann hörte sie noch einen Ausruf von ihm, der ihr die Schreckensblässe ins Gesicht trieb:von ihm:
"Mist, mein Vater sucht mich! ... Vater sucht mich!!!" Dann brach die Verbindung ab. Der Spiegel zitterte nicht mehr.
"Das klappte tatsächlich", meinte Melanie, als Gloria den pitschnassen Spiegel hinlegte. Der Boden war triefnass.
"Verdammt, sein versklavter Vater versucht wohl, ihn zu finden. Wenn das passiert, bringt der ihn vielleicht um", keuchte Gloria, die sich ihre Finger ansah, denen jetzt aber nichts passiert war. Melanie ließ die riesige Wasserpfütze am Boden und das Wasser aus dem Teppich mit "Telurseco" nach nur zehn Sekunden völlig verschwinden.
"Wie soll der den Jungen denn finden, wenn Swift noch nicht mal weiß, wo der ist?" Fragte Mel ungläubig.
"Sanguivocatus, Mel. Oma hat uns doch mal von dem erzählt, auch wo Pina hier war."
"Der Ruf des Blutes? Oh, Drachendung! Das wollte Oma Jane wohl auch mit Julius machen, damit sie rauskriegt, wo sein Dad jetzt ist. Der macht es mit diesem Monster jetzt in die Gegenrichtung."
"Ja, Mel, und wir hängen hier unter dieser bescheuerten gelben Käseglocke und können überhaupt nix machen!!" Entfuhr es Gloria in einer Mischung aus Wut, Angst und Verzweiflung. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen und strömten wie kleine, warme Bäche die Wangen hinunter, während sie völlig aufgelöst losheulte. Mel sah sie kreidebleich und hilflos an. Dann nahm sie sie vorsichtig in die Arme und bot ihr die Schulter, an der sie sich hemmungslos weiter ausweinte.
"Ist schlimm, Glo. Aber ich bin da", sprach sie leise auf Gloria ein. Das es was brachte glaubte sie nicht. Aber nur zuzusehen und zu hören, wie Gloria in einer Tränenflut erstickte war schlimmer als das was sie jetzt tat.
Martha hatte kein Zeitgefühl mehr. Wie lange war sie eigentlich schon hier? Wielange war es her, daß dieses Individuum Salu sie besucht hatte? Jedenfalls hatte sie jetzt Durst, und in ihrem Magen grummelte es fordernd. Doch sie wollte nichts essen und trinken. Sie wollte denen keine Gelegenheit geben, ihr Gift unterzuschieben. Sicher, wenn sie es wollten konnten sie ihr gewaltsam jede Droge verabreichen. Aber freiwillig wollte sie kein wie immer wirkendes Gift schlucken.
Offenbar mußte sie sich beim Aufwachen anders bewegt haben als vorhin. Denn von draußen klangen Schritte, wieder diese schmalen Absätze. Wieder wurde eine Verriegelung vor der Tür zurückgeschoben, und die Stahltür ging auf. Wieder stieg Martha Andrews dieses widerlich süße Parfüm in die Nase. Salu war wieder bei ihr.
"Hallo, Schätzchen. Wieder wach? Schön, wir sind auch soweit. Bestimmt hast du Hunger, häh? Kein Problem, Essen ist fertig."
"Woher wollen Sie denn wissen, daß ich hunger kriegen könnte? Bin doch erst ein paar Minuten hier", erwiderte Martha kalt. Salu lachte wieder albern. So hatte man dieser Person wohl beigebracht, daß eine amüsierte Frau lachen würde. Aber Martha hörte das künstliche daran heraus und fand es nur lächerlich.
"Nur ein paar Minuten. Schöner Witz!" Giggelte Salu. "Dabei bist du schon acht Stunden hier ... Arrg!"
"Tja, jetzt hast du dich verplappert", frohlockte Martha in Gedanken. Sie brauchte das ja auch nicht laut zu sagen, weil Salu es ja selbst erkannt hatte. Mit einer nun nicht mehr so geschliffen auf Frau getrimmten Stimme schnaubte ihr Gefängniswärter nun:
"Einer der billigsten Tricks, und ich fall drauf rein. Das du keinen Kohldampf hast glaube ich dir nicht. Also hoch mit dir, erst mampfen und dann der Auftritt!"
Martha wußte, der Mensch da konnte ihr jetzt gefährlich werden, wenn sie nur ein Wort zu viel sagte. Sie hatte ihn in eine psychologische Falle treten lassen und ihn damit bestimmt sehr wütend gemacht. So überraschte es sie nicht, mit welcher Grobheit Salu sie an den Armen packte, hochzog und hinstellte. Dann klickte es zweimal, und sie stand freier da, zumindest waren die Fußfesseln los. Einen Moment dachte sie daran, blindlings nach Salu zu treten. Doch wenn sie ihn nicht gleich richtig erwischte würde er sie garantiert niederschlagen, ohne daß sie sah, wo der Schlag herkam. Außerdem war sie keine Karatekämpferin. Mit einer Mischung aus Bedauern und Wehmut dachte sie an Julius. Wo war der gerade. Wußte er vielleicht schon, daß sie gefangengenommen wurde?
"Na los, zum Trog und dann zur Anprobe!" Trieb sie Salu mit Worten und Schupsen voran. Hilflos stolperte sie aus dem Kellerraum hinaus, vom Echo her wohl in einen Flur. Dann ging es wohl in eine zweite Kabine mit Plastikboden, der merkwürdig unter ihren Füßen vibrierte und klang. Sie hörte das Surren zugleitender Elektrotüren und fühlte einen leichten Ruck aufwärts. Ein Motor und das leise ächzen eines Drahtseils verrieten ihr endgültig, daß sie in einem Fahrstuhl stand. Immer noch umwehte dieser süße Duft Salus sie wie eine bleischwere Nebelwolke. Es knatterte einmal. Offenbar waren sie an einem Haltepunkt vorbeigefahren. Sie sagte kein Wort. Dann knackte es wieder. Ein weiterer Haltepunkt war passiert. Dann kam die Kabine mit einem kurzen Ruckeln zum Halt, die Türen glitten auseinander, und von Salu an den Gefesselten Armen gepackt wurde sie durch einen Gang mit dickem Teppichboden geführt. Sie roch Holzschutzfarbe und Teppichreinigungsmittel. Dann ging es in einen anderen Raum, wo sich neben Salus Parfüm noch angenehmer Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse hineinmengte.
"So, Schätzchen. Hinsetzen und den Bauch einziehen!" Befahl Salu, nun wieder auf Frau machend.
"Martha hatte schon die Idee, ihm eine Frage zu stellen, was er denn jetzt eigentlich sein wollte. Doch sie hatte nicht vergessen, daß dieser Mensch jetzt psychisch angeschlagen war und daher gefährlich werden konnte. Deshalb ließ sie sich von ihm auf einen bequemen Stuhl niederdrücken. Sie wurde mit grober Gewalt in die Lehne gedrückt und mit einer Hand festgehalten. Sie hörte und fühlte etwas aus dem Stuhl herausschnarren und fühlte einen breiten Gurt zwischen Bauch und Brustkorb um sie festgezurrt werden. Es klickte metallisch, als der Gurt in einem Schließmechanismus einrastete. Sie saß nun fest auf dem Stuhl, der wohl auch fest am Boden befestigt war. Dann hantierte Salu an der Augenbinde und zog sie Martha vom Gesicht. Schmerzhaft stach ihr das Licht aus zwölf 100-Watt-Birnen aus einem silbernen Kronleuchter in die Augen. Sie mußte blinzeln, während Salu hinter ihr zurücktrat. Es klickte mehrmals, als die Handfesseln zu boden fielen. Dann sah sie den Mann in Kellnerjacke von Links kommen. Unter dem Tablett lugte eine kleine Pistole hervor.
"Ich würde um Ihrer Gesundheit Willen die Hände erst einmal schön anständig auf dem Tisch lassen, Ma'am!" Quakte der Kellner in einem heftigen Dialekt, den Martha nicht kannte. Sie legte die Handflächen auf den Tisch. Dieser war schmal und Kurz, nur für eine Person. Dann sah sie den Menschen im meergrünen, langen Tüllkleid, der rechts von ihr stand und sie mit rosarot geschminkten Lippen anlächelte. Dunkelblaue Augen in dem rosig gefärbten Gesicht und nachtschwarzes, langes Haar, vielleicht eine sehr hochwertige Perücke, dominierten den Kopf der Erscheinung, die eine sehr üppige Oberweite zur Schau trug. Ihre etwas zu breiten Füße steckten in langen, hochhackigen Schuhen aus feuerrotem Material. Martha stellte fest, daß diese Erscheinung sich wohl an alle Schönheitsvorstellungen führender Frauenmagazine hielt. Für einen geborenen Mann hatte Salu - Die süßliche Duftaura zeigte dies deutlich - gerade soweit ausladende Hüften, daß bei flüchtiger Betrachtung keiner drauf kommen konnte, es mit einem maskierten Mann zu tun zu haben.
"Der Patron hat seinen Chef angewiesen, sich Mühe zu geben, was sättigendes aber gleichzeitig nicht zu voll machendes zu kochen", sagte Salu beim Aufheben der hingefallenen Handschellen, die offenbar ferngesteuert wurden, wie martha vermutete. Der Kellner setzte das Tablett ab, auf dem Geschirr stand und winkte Salu, außerhalb des Schußfelds zu ihm zu kommen. Dann gab er ihm oder auch ihr seine Waffe und fing an, wie ein gewöhnlicher Oberkellner zu bedienen.
Martha gab ihr Vorhaben auf, nichts zu essen. Der Hunger war doch zu groß, und sie wußte, man würde sie nicht eher in Ruhe lassen, bis sie gegessen hatte. Als sie auch das frische Fruchteis geschafft hatte, trat ein Mann mit schwarzem Haar und ebensoschwarzen Augenbrauen ein. Er trug einen dunklen Maßanzug und eine geschäftlich wirkende Aktentasche aus schwarzem Leder am rechten Handgelenk. Er beäugte Martha, die festgeschnallt auf dem weichen Stuhl hockte und gerade wieder von salu gefesselt wurde, der dem Kellner die Pistole zurückgab.
"Guten Abend, Madame", grüßte der Neuankömmling die Gefangene. Alles an ihm strahlte Macht aus, sein Auftreten, seine Miene, der Klang seiner Stimme. Das war wohl der Patron, dachte Martha. Doch konnte es auch sein, daß jemand sie in die Vorstellung treiben wollte, es mit dem Anstifter ihrer Entführung zu tun zu haben. Doch sie wollte wissen, was nun passieren würde. Sie sagte nichts. Erst als der Kellner die Pistole auf ihren Kopf richtete sagte sie ruhig:
"Guten abend, Sir. Verzeihen Sie, daß ich sie nicht im Stehen begrüßen kann."
"Oh, Madame, das macht nichts, zumal ich ja die Anweisung gegeben habe, daß Sie sich nicht verletzen", sprach der Fremde mit leichtem französischen Akzent weiter. "Wir benötigen ja Ihre Mitarbeit, und die setzt eine völlige Unversehrtheit voraus. Ach ja, mich nennt man hier den Patron. Falls Sie dies möchten, dürfen Sie mich auch so ansprechen. Aber Sir oder Monsieur ist mir auch sehr recht."
"Monsieur? Sie wollen mir doch nicht erzählen, wir seien in Frankreich oder Kanada", erwiderte Martha Andrews kühl. "Also gut, sei es Sir", sagte sie dann noch. Der Mann mit der Aktentasche sah sie etwas pickiert an, nickte dann jedoch. Martha ging davon aus, daß er sich nicht von ihr provozieren lassen würde, weil er sich seiner Macht über sie ja bewußt war.
"Nun, Madame Andrews, Sie haben sich ganz bestimmt schon gefragt, wieso ich Sie nicht auf langwierigem Weg um das Vergnügen bitten konnte, mein Gast zu sein", sagte der Patron.
"Logischerweise schon", erwiderte Martha nach fünf Sekunden, als sie sich sicher sein konnte, daß der Patron nichts weiteres sagen wollte. Ihm ins Wort zu fallen wäre wohl taktisch unklug.
"Oh, Sie denken logisch. Merveilleux, Madame. Gut, und was sagte Ihnen Ihre Logik?" Fragte sie der Patron mit herausfordendem Lächeln.
"Das ich zu wenig weiß, um stichhaltige Schlüsse zu ziehen und darauf warten müsse, daß ich entweder mehr erfahre oder gar nichts", erwiderte Martha kalt wie ein Eisberg. Der Mann, der auch als solcher auftreten wollte, sah sie und dann Salu an, während der Kellner sich entfernte.
"Sie haben mir nicht zu wenig versprochen, Mademoiselle", sagte der Patron lächelnd und wandte sich wieder Martha Andrews zu. "Nun, Madame, Sie sind sozusagen ein Schlüssel, ein goldener Schlüssel, mit dem ich an sehr wichtige Informationen gelangen kann, die ich nicht bekommen konnte. Wie Sie wissen, treibt ein sehr barbarischer Unhold in der Maskerade Ihres Mannes sein Unwesen in den Staaten. Direkt hat er mich nicht behelligt, aber indirekt doch sehr schweren Schaden angerichtet, an dem ich heute noch knabbern muß wie an einem vertrockneten Stück Brot. Ihr richtiger Mann, Monsieur Richard Andrews, wurde vom FBI gefunden und gut versteckt. Viele Firmen, denen der falsche Andrews die Umsätze verdorben hat, möchten alles wissen, was er mitbekommen hat, als man ihn für diesen merkwürdigen Austausch vorbereitet hat. Das FBI will es wohl auch wissen. Aber dadurch werden die Umsatzeinbußen nicht getilgt, die andere Firmen und auch mein Unternehmen erlitten haben. Ein lästiger Konkurrent aus Philadelphia sucht nach Ihnen und Ihrem Sohn, da er zu den materillen Verlusten auch einen persönlichen Verlust hinnehmen mußte, seine jüngere Schwester wurde von diesem Unhold getötet, obwohl sie nicht der Profession nachging, die die anderen weiblichen Personen betrieben." Er wirkte verlegen. Martha blieb kühl. "Nun, Madame, ich habe Sie gefunden. Wenn Sie mir helfen wollen, ihren Mann aus der Obhut des FBI herauszulocken, damit ich ihn befragen kann, werde ich Ihnen helfen, Ihren Sohn wiederzufinden, bevor besagter Konkurrent ihn aufspürt. Ansonsten könnte ich fragen, welchen Finderlohn man mir zu zahlen bereit ist, daß ich Sie, La Clé D'or, aufgefunden habe."
"Verstehe", sagte Martha immer noch kühl. Etwas derartiges hatte sie erwartet. Da war ein Verbrecher, der entweder selbst an Richard Andrews herankommen wollte oder anderen Kriminellen gegen eine hohe Summe die Gewalt über sie abtrat, sie wie ein Stück Schlachtvieh verkaufte, vom Bauern zum Metzger. Jetzt wußte sie, woran sie war, und sie wußte ebenfalls, was dieser Transvestit mit der Show gemeint hatte, in der sie auftreten sollte. Falls dieser Mann im Edelzwirn wirklich der Boss der Bande war, wußte martha aber auch, daß sie es keinem anderen weiterverraten könnte, daß sie ihn gesehen hatte. In aller brutalen Klarheit hieß das, man würde sie töten, wenn sie nicht mehr benötigt würde. Denn das hier waren keine Zauberer, die mal eben das Gedächtnis eines Menschen verfremden oder ihn durch magische Zwänge zum Stillschweigen verdammen konnten. Doch sie wollte nicht als ängstliche Frau in ihren Tod gehen, sondern mit freiem Blick und Verstand alle Gelegenheiten ausloten, diesem Schicksal doch noch zu entrinnen. Vor allem fragte sie sich, was mit Zachary Marchand los war. Diese Person Salu hatte behauptet, er läge im tiefen Schlaf.
"Ich wurde von einem Mitarbeiter des FBI begleitet. Ihr - Gehilfe erzählte mir, daß er gerade schliefe. Warum haben Sie ihn auch in Ihre Obhut genommen?" Wollte sie wissen. Salu lächelte überlegen, während der Patron sie amüsiert ansah und leise erwiderte:
"Nun, Sie sind der Schlüssel zu Monsieur Andrews, er ist meine Versicherung, daß seine Kollegen nicht auf die Idee kommen, mir Ungemach zu bereiten. Er liegt deswegen im BUS." Salu nickte und sah den Patron sehr zufrieden an, bevor die dunkelblauen augen des Transvestiten Marthas Blick einfingen und sie einen unverhohlenen Triumph darin leuchten sehen konnte.
"Glauben Sie, mein Ex-Ehemann wäre bereit, sich an meiner Stelle in Ihre fragwürdige Obhut zu begeben?" Fragte Martha, deren seelischer Eispanzer wieder etwas erzitterte. Was für einen Bus meinten die bloß? Aber sie durfte nicht zeigen, daß sie neugierig war, dies zu erfahren. Zumindest sah es so aus, als sei dieses Wesen Salu hauptverantwortlich dafür und genieße es sogar, ja verdiene große Anerkennung dafür.
"Natürlich, Sie sind ja geschieden. Warum eigentlich? Weil Sie beide Ihren Sohn unterschiedlich erziehen wollten, Madame. Ihr Ex-Ehemann wollte ihn in ein englisches Internat schicken, dem Sie nicht zustimmen wollten. Ich weiß genug von Ihnen, Madame, auch daß Sie nun seit einem Jahr in der großartigsten Stadt der Welt leben dürfen und daß Ihr Sohn eine Oberschule in la Grande Nation besucht." Letzteres sagte er so inbrünstig wie jemand, der eine innig geliebte Person beschreibt. Dann wechselte er ins Französische und fragte Martha, ob sie sich darüber klar sei, daß sie nur die Wahl habe, ihm zu helfen oder sich von nicht so kultivierten Leuten vorschreiben lassen wolle, was sie zu tun und zu lassen habe.
Martha zeigte ihm, daß sie der französischen Sprache genauso mächtig war wie der Patron. Salu hörte zu, schien sogar zu verstehen, was gesprochen wurde, schwieg jedoch. Mrs. Andrews sagte ihm, daß sie sich darüber im Klaren sei, daß sie derzeitig keine eigenen Entscheidungen treffen könne und sich bereits damit arrangiert hätte. Diese Abgebrühtheit schien den Patron zu irritieren. Er nickte nur hilflos und fuhr dann fort, daß er gleich eine Videoaufzeichnung von ihr machen lassen würde, in der sie das FBI darum bitten solle, den unter Zeugenschutz stehenden Richard Andrews an einen bestimmten Ort in den Staaten zu bringen, den er ihr noch bezeichnen würde. Sollte sie sich weigern, würde ihr Sohn, den er zweifelsohne noch finden würde, nicht mehr aus den Sommerferien zurückkehren können. Martha, die daran dachte, daß Julius in der Obhut der Zauberer war, so oder so, grinste nur spöttisch und meinte:
"Das ist der Grund, wieso ich nicht mehr verheiratet bin, Monsieur. Mein Exmann hat es vor zwei Jahren schon versucht, unseren Sohn von der Schule fernzuhalten. Es ist nicht gelungen, und die Verantwortlichen seiner neuen Schule wissen das und haben Vorkehrungen getroffen, daß er nicht doch noch am Weiterlernen gehindert wird. Ich bin also zuversichtlich, daß ihm nichts widerfahren wird. Ich werde nicht die hilflose Geisel spielen, die Ihnen hilft, meinen lange genug gebeutelten Exmann in Ihre Gewalt zu überführen. Wie gesagt habe ich mich mit meiner Situation und den sich daraus ergebenen Konsequenzen bereits arrangiert." Das saß wohl. Der Patron wollte sie in eine ängstliche, gefügige Stimmung treiben und war von ihr verhöhnt worden. Das durfte er sich nicht gefallen lassen, selbst wenn nur dieses Kunstgeschöpf Salu dabei zusah.
"Nun, dann muß ich sehen, daß ich die finanziellen Aspekte meiner Umsatzeinbußen bereinigen kann. Docteur, führen Sie Madame Andrews bitte in den Aufzeichnungsraum! Ich werde eine Internetzusammenkunft arrangieren", sagte der Patron nun auf Englisch. Salu fühlte sich wohl angesprochen. Rasch verband der Mann in Frauenkleidung marthas Augen und löste den Fixiergurt um ihren Körper. Dann trieb er sie durch eine andere Tür, hinein in einen anderen Gang, weiter bis zu einer kleinen Kammer mit einer schweren Tür. Kaum war sie darin, meinte sie, einen Hörsturz zu erleben. Denn alle Geräusche wurden derartig gedämpft, daß sie nicht sagen konnte, in was für einem Raum sie war oder ob sie auf einer weiten Ebene in einer völlig leeren Wüstenlandschaft stand.
"Schalltoter Raum, für die Ohren etwas gewöhnungsbedürftig", sagte Salu amüsiert. Dann setzte dieser Mensch Martha auf einen Hockerund fesselte ihre Beine mit Fußgelenkketten an der Metallsäule. Dann nahm Salu ihr die Augenbinde wieder ab und ließ sie auf eine Kamera und ein Mikrofon blicken.
Julius sprach mit Gloria, obwohl der von ihm benutzte Zweiwegspiegel immer heißer wurde. Doch er hielt tapfer aus, bis er seinen Ärmel über die Hand ziehen mußte, wie er es beim Tragen heißer Teller oder Töpfe gemacht hatte. Glorias Bild verschwamm immer mehr in einer irrsinnigen Farbenflut. Dann fühlte er etwas an seinen Ohren entlangstreichen und in seinen Kopf eindringen. Gleichzeitig verspürte er den Drang, seinen Vater zu rufen, obwohl der nicht im selben Raum war. Dann hörte er seine Stimme aus weiter Ferne klingen, immer näher kommend. Er kannte dieses Gefühl zu gut. Erst gestern hatte er es zum ersten Mal erlebt, als Mrs. Porter mit ihm den Sanguivocatus-Zauber angewendet hatte. Ja, das war es. Sein Vater suchte ihn auf magische Weise. Er erschrak und ließ fast den auch durch die übergezogenen Ärmelsäume zu heiß werdenden Spiegel fallen. Schnell rief er hinein:
"Mist! Mein Vater sucht mich! mein Vater sucht mich!!" Dann war es ihm, als brülle sein Vater ihm ins linke Ohr, und er ließ den Spiegel auf den Tisch zurückfallen. Ein leichter Gestank verbrannten Stoffs stieg ihm in die Nase, als er sah, wie der Spiegel sich in die Baumwolltischdecke einbrannte. Sein rechter Ärmel war bereits angerußt.
"Julius, mein Sohn! Wo bist du! Antworte mir!" Scholl die Stimme seines Vaters in seinem Kopf, als halte er ihm ein Megaphon ans linke Ohr oder benutze den Sonorus-Zauber. Er zwang sich, nicht zu antworten. Tat er dies, würde sein Vater und dieses Höllenflittchen wissen, wo er war.
"Was mich stört verschwinde! mein Geist herrscht über meinen Körper. Mein Geist herrscht ..."
"Julius, wo bist du? Antworte mir!" Dröhnte der Ruf seines Vaters in ihm und verwischte die Selbstbeherrschungsformel.
"Paps, ich bin hier!" hörte er sich mit lauter Stimme rufen, ehe ihm wieder einfiel, daß er genau das nicht tun durfte.
"Julius! Komme zu mir! Antworte mir!" Dröhnte die magisch getragene Stimme seines Vaters in ihm. Er fühlte einen unbändigen Drang, ihm zu antworten, ihn freudig und auffordernd entgegenzurufen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und der Drang zu antworten wurde schlagartig stärker.
"Ich bin hier, Paps! In Houston, Texas!" Rief er mit aller Kraft, ohne daß er sich darum scherte, ob ihn sonst noch jemand hören sollte oder nicht. Er war berauscht von einem Glücksgefühl, seinen Vater zu hören, zu wissen, daß er ihn suchte, daß er kommen würde ... Dieser Gedanke ließ ihn kalt erschaudern. In dem Moment brach die magische Verbindung ab. Er fühlte nicht mehr die Nähe seines Vaters. Er hörte nicht mehr seinen magischen Ruf. Dann kehrte der klare Verstand zu ihm zurück. Er hatte sich verraten! Er hatte seinem versklavten, behexten, unterdrückten Vater verraten, wo er war!! Wie lange würde es dauern, bis er auftauchte, um ihn zu holen? Würde er appariert werden? Müßte er zu Fuß oder mit üblichen Verkehrsmitteln reisen, oder konnte er vielleicht sogar fliegen? Er wußte nicht, wie genau dieser Zauber war. Wenn er ähnlich einem GPS-Ortsbestimmungsgerät wirkte, konnte es eine Unstimmigkeit von bis zu 100 Metern geben. Wenn der zauber aber ganz genau wirkte - müßte sein Vater schon bei ihm im Raum stehen. Doch weil das nicht der Fall war, schöpfte Julius wieder Mut. Natürlich konnte dieser Zauber nicht so genau wirken. Selbst wenn er verraten hatte, daß er in Houston war, Houston war groß. Sein Verstand schaltete schnell wie ein Mikrochip. Er klaubte den immer noch heißen Spiegel mit zwei Fingern auf, ließ ihn in den Brustbeutel fallen, der aus feuerfester Drachenhaut bestand, sah sich kurz im Raum um, ob nicht doch mit einem Plopp oder Knall sein Vater auftauchen mochte und sprang auf. Er sprang in einer Sekunde zum großen Schrank, wo der Besen verstaut war. Doch der Schrank ließ sich nicht öffnen. Mit dem Gedanken, daß es jetzt eh egal war, ob sie ihn kassieren konnten oder nicht, langte Julius in sein Hosenbein und zog den Zauberstab hervor. Damit tippte er den Schrank an und murmelte "Alohomora!" Mit einem Knistern sprühten Funken vom Schrank fort, sodaß er zurückspringen mußte. Doch der Schrank blieb geschlossen. Da wußte er, daß Ardentia den bestimmt mit einem Clavunicus-Zauber oder noch besserem abgesichert hatte. schnell steckte er den Zauberstab wieder fort und lief zur Balkontür. Ja, sie ließ sich von innen entriegeln und öffnen. Doch was sollte er auf einem Balkon, wenn er nicht fortfliegen konnte? Sollte er um Hilfe rufen? Würde nicht viel mehr bringen, als daß ihn die Polizei, die ihn nicht schützen konnte, einbuchtete. So lief er zur Haustür. Er kam sich vor wie ein Tier in einem immer enger werdenden Käfig. Wieder holte er den Zauberstab hervor und tippte das Schloß an. Zu seiner freudigen Überraschung rasselte es, und die Tür sprang auf. Offenbar war es Ardentia Truelane zu riskant gewesen, auch das Wohnungstürschloß magisch zu sichern. Er stürzte hinaus auf einen kalten, mit PVC-Belag und weißer Rauhfasertapete ausgekleideten Korridor. Er warf die tür zu, dachte konzentriert: "Porta Clausa", den gewöhnlichen Verschlußzauber für einfache Schlösser und wetzte los, sprichwörtlich wie einer, hinter dem der Teufel her war. Schnell fand er den Aufzug. Doch die Treppe hinter einer feuersicheren Glastür schien ihm der bessere Fluchtweg. So sprang er mehr als zu laufen die Stufen hinunter, immer darauf achtend, ob jemand hinter ihm her war. Er zuckte zusammen, als er tiefes Gebrumm knapp an seinem linken Ohr hörte. Als er die Fliege vor seinem Gesicht vorbeischwirren sah, mußte er über seine Schreckhaftigkeit grinsen. Das Insekt surrte nach oben, wohl in die oberen Regionen des Treppenhauses. Eine Fliege im Hochsommer war ja echt nichts lebensbedrohliches. Er jagte weiter die Treppe hinunter, ganz alleine. Wer würde auch schon Treppen benutzen, wenn es einen bequemen Aufzug im Haus gab? Zumindest in Amerika waren Treppen doch nur Zierde und eher zur Beruhigung des Gewissens von Architekten, die sich von Feuerwehrleuten immer wieder erzählen lassen mußten, wie schnell bei einem Hausbrand der Aufzug zur Falle werden konnte. Er dankte Barbara Lumière, daß sie ihn so hartnäckig in Form gehalten hatte, daß ihm beim Treppabspringen nicht die Puste ausging oder ihm die Beine schmerzten oder er gar verkehrt voranschritt. Er wollte hier aus dem Haus raus, in den Straßen der Millionenstadt untertauchen. "Houston, wir haben ein Problem." Dieser geschichtsträchtige Funkspruch von Apollo XIII erklang in seinem Kopf. Ja, er hatte ein Problem. Hierbei ging es nicht darum, daß ihm etliche Tonnen Wasserstoff und Sauerstoff um die Ohren fliegen konnten oder er im ultrakalten Vakuum des Weltraums sterben mußte, sondern darum, daß eine gefährliche Zauberkreatur zur Jagd auf ihn angesetzt hatte. War es erst der Beginn der Jagd oder bereits der tödliche Sprung auf ihn? Wieso hatte er sich darauf eingelassen, seinen Vater zu suchen? Weil er ihn retten wollte. Doch er würde ihn nicht retten, wenn diese Monsterfrau, die ihn sich gekrallt hatte, nun auch Julius erwischen würde. Ah, da war das Ende der Treppen im Erdgeschoss! Julius warf sich gegen die stählerne, mit dickem Milchglas ausgefüllte Haustür und drückte die schwere Klinke herunter. Doch die Tür ging nicht auf! Sie war verschlossen. Noch mal den zauberstab? nein, war nicht nötig. Julius legte seine rechte Hand ans Türschloss und dachte konzentriert:
"Geh auf! Alohomora!" Es klickte, und die Tür war offen. Es hatte wieder geklappt. Wie damals in der Küche von Aurora Dawn, wo er sogar bezauberte Schranktüren hatte öffnen können. Wieso hatte er es bei dem Besenschrank nicht probiert? Dann wäre er jetzt schon Kilometer weit weg! Doch jetzt zurückzurennen brachte nichts mehr. Er lief einfach auf den Bürgersteig und ließ die Tür hinter sich zufallen. Er wetzte los, einfach die Straße entlang, die nun, da es bereits abend wurde, von großen Laternen erleuchtet wurde. Fast wäre er über eine schneeweiße Katze gestolpert, die mit senkrecht aufgerichtetem Schwanz aus einem Vorgarten lief. Gerade so eben verwandelte er seinen Lauf in einen Weitsprung. Schwung hatte er genug. Sicher setzte er über die Katze hinweg und landete etwa zweieinhalb Meter von ihr entfernt auf den Füßen. Der Schwung zog ihn nach vorne, und er mußte einen Fuß vorschnellen lassen, damit er nicht stürzte. Keuchend blieb er eine Sekunde stehen, während die Katze einmal um ihn herumlief und ihn aus tiefgrünen Augen betrachtete. Die Nähe dieses Tieres verminderte seine Panik und ließ ihn erst einmal ruhig dastehen. Sein Training zahlte sich aus. Er mußte nicht schnaufen oder schnell atmen. Sein Herzschlag war auch noch verträglich langsam, und die Katze da vor ihm sah ihn so vertraut an wie Goldschweif. Eine Minute stand er dem Tier Auge in Auge gegenüber. Dann lief er weiter. Wohin er laufen sollte wußte er nicht. Er mußte nur weit genug von dem Punkt weg, wo sein Vater ihn wohl mit Hallittis Hilfe angepeilt hatte. Konnte Hallitti auch die Zauber, die gewöhnliche Hexen und Zauberer verwendeten? Oder hatte sie nach dem Kunststück von gestern die Idee bekommen, etwas gleichartiges aufzurufen, nur anders vorbereitet? Es sollte ihm egal sein. Er lief einfach drauf los. Hatte er Geld mit? Ja, hatte er noch, zumindest in Scheinen. Sollte er mit einem Bus oder Taxi zum Flughafen fahren und dann, wo er bundesweit gesucht wurde, dem erstbesten Polizisten in die Arme laufen. Nein, das würde nichts bringen. Ja, diese ganze schnelle Flucht brachte nur etwas, wenn er wußte, wo er hinwollte und wie er unangefochten dahinkam. Alles andere war Unsinn. So verlangsamte er seinen Lauf wieder und bog in eine breitere Straße ein, wo um diese Zeit noch so viele Passanten unterwegs waren, daß er sich mühelos dazwischen einsortieren konnte. So schlenderte er eine Weile hinter einem älteren Ehepaar her, blieb für einige Minuten bei jungen Frauen, die wohl gerade von einer Cheerleaderübung zurückkamen, den Gesprächsfetzen nach zu urteilen und wechselte dann bei einer Ampel auf die andere Straßenseite, wo er weitermarschierte, sich jetzt, wo er eine heillose Flucht nicht mehr für sinnvoll hielt, so ruhig wie möglich zu verhalten.
"Vielleicht hätte ich bei Ardentia Truelane in der Wohnung bleiben sollen", dachte er. "Wenn Paps mich eh nicht direkt orten konnte, hätte die mir besser helfen können", erkannte er mit einer gewissen Wut im Bauch. Er wollte schon umkehren, als ein Taxi angetuckert kam. Vielleicht sollte er damit zu einem Bahnhof fahren und sich in einen Zug schmuggeln, wie er es mit Lester und Malcolm schon gemacht hatte, als sie mal mit wenig Geld in der Tasche von London bis Birmingham und zurückgefahren waren, ohne erwischt zu werden. Vielleicht war ihm das Schicksal wieder gnädig.
Das Taxi hielt, ohne daß er ihm zugewunken oder es gerufen hatte. Die Hintertür klappte auf, und ein Männerkopf mit sehr wenig fast weißem Haar tauchte aus dem Fond auf. Julius erschrak so heftig, daß er wie unter einem Erstarrungszauber stocksteif auf der Stelle stand und mit weit aufgerissenen Augen sah, wie der Mann ausstieg. Jeder der die beiden so zusammen gesehen hätte, hätte meinen müssen, Julius träfe seinen betagten Urgroßvater. Doch der Mann, der da in einem viel zu neuen englischen Maßanzug aus dem Wagen kletterte, war Richard Andrews, Julius' leiblicher Vater!
"Wenn du willst, daß deine Mutter am Leben bleibt steigst du da jetzt ein, Junge!" Sprach Richard Andrews mit ziemlich abgenutzt klingender Stimme. Julius lief ein kalter Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter. Sicher, gestern erst hatte er davon gehört, der vermeintliche Doppelgänger sei als älterer Mann verkleidet gewesen. Doch wie sah Richard Andrews nun aus? Fast alle Haare, die er beim letzten Mal, wo Julius ihn gesehen hatte noch besessen hatte, waren ausgefallen. Der klägliche Rest zierte beinahe weiß eine trockene, faltige, leicht angegilbte Kopfhaut. Die Gestalt seines Vaters wirkte geknickt, wie von der ständigen Schwerkraft immer weiter nach unten gezogen worden. Die Arme waren dünn, ebenso die leicht gekrümmten Beine. Im Mund sah Julius ein sehr einfach gearbeitetes Gebiss. Das Gesicht war eingefallen und wirkte auf ihn wie eine riesige, austrocknende Orange. Doch in den Augen glomm ein Feuer, das nicht zu einem von den Jahren gebeutelten Greis passen wollte. Es war ein Feuer aus Intelligenz, Aufmerksamkeit und Bedrohung. Ja, sein heftig gealterter Vater sah ihn sehr gefährlich an.
"du hast Mum nicht, und deine Vampirfreundin auch nicht", explodierte ein lodernder Funke Widerspruchsgeist aus Julius' Mund. "Sie ist gut versteckt."
"Was du nicht sagst, Bengel. Los, rein ins Taxi!"
"Ich rufe um Hilfe, dann ist ratzfatz die Polizei hier", spuckte Julius eine Drohung aus, die ihm noch eingefallen war.
"Dann wirst du morgen in der Zeitung lesen, daß Martha grausam zerstückelt aufgefunden wurde. Ich meine was ich sage", krächzte Richard Andrews. Diese greisenhafte Stimme machte seine Worte noch bedrohlicher. Dann fiel Julius noch etwas ein:
"Du kannst den Fahrer von dem Wagen nicht beeinflussen, toter Mann. Willst du mit mir kämpfen, bis der Typ aus dem Bann aufwacht, in den deine Bettwärmerin ihn gelullt hat?"
"Du nennst sie nicht Bettwärmerin", erwiderte Richard Andrews. Dann sprang er mit einer für einen so alt aussehenden Mann unerwarteten Geschmeidigkeit los und prallte gegen Julius, der jedoch sofort in Karatekampfstellung ging und seine Handkante gegen die Stirn des gefährlichen Greises klatschen ließ. Keuchend fiel Richard Andrews zurück und landete neben dem Taxi. Julius erkannte eine winzige Fluchtchance und sprang in den Wagen. Er wollte gerade die Tür zuziehen, da schoss der am Boden liegende Mann wieder hoch und warf sich wie ein angreifender Wolf auf ihn, drückte ihn brutal zur gegenüberliegenden Tür hin, machte eine schnelle Armbewegung und zog die Tür zu. Der dunkelhäutige Taxifahrer schien davon nicht beeindruckt zu sein. Seelenruhig, eher wie in einer Trance, hockte er hinter seinem Lenkrad und stierte geistesabwesend durch die Windschutzscheibe. Julius konnte einen flüchtigen Blick von seinem Gesicht aus dem Rückspiegel erhaschen. Da wußte er, daß dieser Mann bestimmt keine Hilfe war.
"Fahr los, Mann!" Fauchte Richard Andrews dem Fahrer zu. Dieser machte keine Geste, sagte kein Wort, um die Anweisung zu bestätigen. Er legte den Schalthebel von "Parken" auf "Fahren" um und trat auf das Gaspedal. "Zum Flughafen!" Gab Julius' Vater einen weiteren Befehl. Wieder reagierte der Fahrer mit keinem Wort oder Kopfnicken.
"Was wird das, wenn es fertig ist, Mörder?" Fragte Julius provozierend. Jetzt, wo sein grausam gealterter Vater ihn in seiner Gewalt hatte, war jede Angst verflogen. Trotz und ohnmächtiger Zorn kochten in ihm hoch. Er saß in der Falle und konnte nur noch wild um sich beißen.
"Das wirst du Rotzbengel von einem Zauberer erleben", schnauzte sein Vater ihn an. Nein, das war nicht sein Vater. Das war ein Zombie, ein lebender Leichnam, der keinen Funken Seele mehr im Leib besaß. Ja, dieser Mann, der Julius fest auf dem Sitz hielt, war fähig, ahnungslose Frauen umzubringen, einfach so. Er würde auch ihn umbringen, mit absoluter Sicherheit. Daher wollte Julius nicht wimmernd dahocken, sondern mit fliegenden Fahnen untergehen, wenn er es nicht doch noch schaffte, diesen Mann da zu überwältigen. Doch der war sehr schnell und stark, hatte er am eigenen Leib erfahren müssen. Als er ihn noch mal ansah, fiel ihm auf, daß er jetzt noch weniger Haare und eine noch runzligere Haut hatte. Das erschreckte ihn. Dann kam ihm Marie Laveaus Vision in den Sinn. Er hatte sich selbst mit seinem unheimlich gealterten Vater zusammenstehen gesehen. Ja, er hatte genau dies vorausgesehen. Es graute ihn, daß es tatsächlich anging, daß sich Zukunftsvorhersagen doch erfüllen konnten.
"Was willst du denn am Flughafen, toter Mann? Kannst du mich nicht einfach zu deiner Schlampe aus der Hölle teleportieren, oder mußt du sie dafür erst wieder bespringen?"
"Halt's Maul!" Bellte Richard Andrews. Das war alles. Sein richtiger Vater hätte ihm für eine solche freche Bemerkung sicher eine runtergehauen, früher, wo er noch lebte. Ja, Julius mußte sich das immer einreden. Sein Vater war schon tot, obwohl er noch nicht gestorben war. Monsieur Delamontagnes bedrohliche Bemerkung stimmte.
"Mehr kommt von dir nicht? Wenn du mein Vater wärest, hättest du mir schon eine geballert", spie Julius verächtlich aus. Das Grauen über diesen uralten und doch so lebensgefährlichen Mann war wieder verflogen.
"Loretta will das nicht, daß ich dir eine runterhaue, obwohl mir danach ist", zischte der alte Mann. Julius grinste feist.
"So heißt die für dich. Klingt wie der Name von diesem durchgeknallten Typen aus "Das Leben des Brian", diser Bibelfilmverulkung, der 'ne Frau sein wollte", lachte Julius.
"Du willst mich reizen, damit ich dich umbringe, Bengel. Aber ich werde dich nicht umbringen. Sie will das nicht", schnaubte Richard Andrews. Dann griff er nach Julius' rechtem Handgelenk. Wie von einem Stromstoß getroffen zuckte er aufschreiend zurück. Auch Julius fühlte etwas. Es war wie ein wilder Ruck, bei dem sein silbernes Armband gleichzeitig sengendheiß wurde. Was sollte das?
"Du bastard! Nimm das sofort ab, oder ich sage ihr telepathisch, sie soll deine Mutter umbringen!" Schrie Richard wütend.
"Ach, hat dir mein Pflegehelferarmband wehgetan? Ich kann es aber nicht abnehmen. Das ist magisch an meinem Arm festgeschweißt, du Arschloch. Selbst wenn deine Reitstute Mum finden und umbringen würde, ich kriege das nicht runter."
"Du beleidigst Loretta! Du wagst es, die schönste und mächtigste Frau der Welt zu beleidigen! Das wirst du büßen!" Brüllte Richard mit sich überschlagender Stimme. Julius war sich sicher, daß dieser Kerl da nicht wußte, wo seine Mutter war. Sicher wurde die noch von Zachary Marchand beschützt. Da fiel ihm ein, daß dieser armselige Menschenrest da neben ihm vielleicht Gedanken lesen konnte, und ihm fröstelte, weil er seine Mutter vielleicht gerade zum Tode verurteilt hatte. Deshalb sagte er schnell:
"Okay, ich rede nicht mehr von deiner Vampirfreundin. Warum kann ich dich eigentlich noch im Spiegel sehen, wo du doch von ihr ausgesaugt worden bist?"
"Wie?" Knurrte Richard Andrews. Er sah den Rückspiegel, aus dem sein fahlgelbes, tiefgefurchtes Gesicht wütend zurückglotzte.
"Das liegt ganz einfach daran, daß Loretta kein Vampir ist, Bengel. Diese Unratsschule, auf die du gegangen bist lehrt sowas wohl nicht, was?!" sprach Richard sehr gehässig.
"Hast du eine Ahnung, was ich da lerne", schnaubte Julius. Der Mann neben ihm knurrte wieder wölfisch und schwieg für genau fünf Sekunden. Dann raunte er unheilvoll:
"Was immer du da gelernt hast, es war immer schon Humbug. Das habe ich von Anfang an gewußt. Aber die haben mich ja nicht ernstgenommen. Jetzt, wo Loretta mich als Gefährten hat, weiß ich, wie klein die alle waren, die dir was beibringen wollten. Sie ist mächtiger als alle diese Hexen und Zauberer zusammen, stärker als dieser Tattergreis Dumbledore, als diese Besserwisserin McGonagall, der Zwerg Flitwick oder diese Blumenpflückerin Sprout. Habe ich noch wen vergessen, ach ja, diesen schmierigen, hakennasigen Schleimbeutel Snake."
"Er heißt Snape, toter Mann. Professor Severus Snape."
"Ist mir doch sowas von egal, wie dieser Trottel heißt", blaffte Richard Andrews.
"So, ist dir alles egal? Es ist dir egal, was mit Mum und mir passiert, daß du mehrere Cops umgebracht hast und mehrere Frauen einfach so totgemacht hast? Mein Vater war kein Mörder. Der hätte mich windelweich gehauen, wenn ich im Laden einen Schokoriegel geklaut hätte. Der hätte mich in ein Besserungsheim gesteckt, wenn ich mal ein Bier getrunken hätte, weil er keine Drogen abkann. Der wäre früher auch nie zu Prostituierten gegangen, weil der die für zu schmutzig hält, daß allein ihre Anwesenheit ihm Ausschlag gemacht hätte. Mein Vater ist tot. Was du mir erzählst ist nichts weiteres als das, was du von ihm übrigbehalten wolltest. Du bist zu bemitleiden, bedauernswert."
"Hör damit auf", knurrte Richard Andrews unvermittelt wütend. Julius zuckte zusammen. Hatte er da was angerührt, was diesen durchaus skrupellosen Mann in Bedrängnis brachte?
"Warum soll ich damit aufhören? Dir ist doch alles so egal", schoss Julius einen weiteren wörtlichen Haken auf seinen verfallen wirkenden Vater ab. Darauf griff dieser ihm ansatzlos an den Hals und drückte ihm mit stählernem Griff Luft-und Blutzufuhr ab. Julius hob noch einmal den Arm mit dem Pflegehelferarmband und hieb damit nach seinem Vater. Wieder meinte er, es würde sengendheiß, und sein Vater schrie schmerzhaft auf. Doch dieser Angriff kam zu spät. Julius sah einen blitzartig niedersausenden roten, ins schwarze übergehenden Vorhang und verlor die Besinnung.
Martha Andrews blickte in die Videokamera. Da leuchtete ein rotes Lämpchen auf. Offenbar nahm man sie nun auf. Eine Stimme aus einem winzigen Lautsprecher in der Rechten Ecke flüsterte ihr zu, sie solle ihren Namen sagen und wo sie herkam, sonst würde man ihrem Sohn was antun. Sie war sich zwar sicher, daß der Mann, der wie der Kellner von eben klang, bluffte. Aber sie mußte es jetzt nicht darauf ankommen lassen. So sprach sie ruhig in das Mikrofon:
"Hallo. Ich bin Martha Andrews, geborene Holder. Ich komme aus England und lebe jetzt in Paris, Frankreich. Man hält mich hier gefangen, um den Aufenthalt meines Ex-Manns Richard Andrews herauszubekommen." Dann sagte sie nichts mehr. Kurz darauf ging das rote Licht aus. Sie saß nun da in diesem schalltoten Raum, der selbst die lautesten Geräusche sofort schluckte. Martha rief einigemale. Doch ihr Rufen verschwand förmlich im Nichts. Da man ihr die Armbanduhr weggenommen hatte und ihre Hände wieder auf den Rücken gefesselt waren wußte sie nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Dann kamen Salu und der Patron herein. Der Patron sagte mit geheucheltem Bedauern:
"Es tut mir Leid, Madame Andrews. Aber zwei Anbieter haben aus unerfindlichen Gründen nicht geantwortet, der dritte wollte meinen Preis nicht zahlen und der Vierte kann die Summe erst in einer Woche überweisen. Sie werden also noch unser Gast bleiben. Die Frage ist nur, was machen wir mit Ihnen?"
"Der BUS, Patron?" Fragte Salu, jetzt wieder mit männlich klingender Sprechweise. Martha konnte dem übermäßig geschminkten Gesicht eine kindliche Vorfreude ansehen, als wenn er gleich ein lange erträumtes Spielzeug bekäme oder es endlich ausprobieren dürfe.
"Hmm, warum nicht", sagte der Patron mit einem gönnerhaften Gesichtsausdruck. "Wie lange dauert die Einführung denn?"
"Nur eine halbe Stunde, Patron. Es ist jetzt so gut wie perfekt", erwiderte Salu mit einer unheimlichen Selbstsicherheit und Freude in der Stimme, als habe er endlich die Anerkennung bekommen, die er verdiene. Martha fragte sich jetzt doch, was an einem Bus so überragend sein sollte. Doch das Wort "Einführung" alarmierte sie. Damit war also kein Bus im Sinne von Autobus, Automobilis pro Omnibus gemeint.
"Dann gut, Docteur! Zeigen wir unserem Gast das neue Quartier!" Sagte der Patron nun ölig grinsend. Er klappte seine Aktentasche auf und entnahm ihr einen Revolver. Salu, der von diesem Gangster als Docteur angesprochen wurde, sah seinen Herrn und Gebieter ängstlich an.
"Nein, keine Verletzungen, Patron, keine Drogen. Sie muß physisch unversehrt bleiben, damit die Integration reibungslos verläuft."
"Wenn sie kooperiert, Docteur! Falls nicht, muß ich davon Gebrauch machen."
"Zwei starke Männer reichen mir dafür völlig aus", beteuerte Salu. Der Patron sah ihn an und meinte:
"Außer uns und Mr. Burke soll doch keiner wissen, was Sie da hinbekommen haben. Das war doch die Bedingung, zu der ich die Anlage überhaupt eingebaut habe. Also los, Madame, vorwärts!"
Mrs. Andrews dachte an ihren Sohn Julius, während sie wieder mit verbundenen Augen durch weitere Gänge getrieben wurde. Wieder ging es in einen Aufzug, diesmal nach unten. Es ging immer tiefer, bis sie wohl in dem tiefsten Keller herauskamen, den das Haus, wo immer es lag, zu bieten hatte. Durch hallende Steinkorridore, die wohl sehr schmal waren, trieb der Patron sie mit der Revolvermündung auf Nierenhöhe weiter und weiter. In der Ferne hörte sie ein leises Summen und Gluckern, dann ein Wummern, das langsam auf- und abschwoll. Dann standen sie vor einer Tür. Sie hörte, wie Salu oder Docteur daran hantierte, bis ein elektronisches Schloß piepte, surrte und klackte. Ein summender Servomotor bewegte die Tür nach Innen, wie Martha daran merkte, das sie unverzüglich nach vorne gegen noch weiter zurückweichenden Stahl getrieben wurde. Sie standen nun in einem stählernen Raum, fast wie ein großer Tank, vermeinte Martha. Dann schloß sich die Tür wieder. Es mußte wohl Schränke in diesem Raum geben, weil die beiden Männer nacheinander kleinere Türen öffneten und sich wohl irgendwas nach Plastik klingendes herausholten. Unvermittelt zischte es in unmittelbarer Nähe, und sie roch den widerlichen Gestank von Desinfektionsmitteln. Dieser Geruch sagte Krankenhaus zu ihr, nur wesentlich heftiger, sogar so heftig, daß sie Salus süßes Parfüm nicht mehr riechen konnte. Sie begann zu röcheln, als bitter schmeckende nebelschwaden in ihren Mund gerieten. Dann hörte das Zischen auf. Auf einmal fühlte Martha, wie ein unangenehmer Druck auf ihre Trommelfelle einwirkte. Die Kammer wurde unter Druckluft gesetzt. Dann klingelte eine elektronische Signalglocke, und eine digitalisierte Frauenstimme sagte: "Atmosphäre plus 10 % wieder hergestellt. Schuhe bitte ausziehen!" Jetzt begriff sie. Sie war in einer Luftschleuse.
"Nicht angenehm für die Ohren, der zehnprozentige Überdruck", meinte Salu zu ihr. "Aber das ist gut, um Staub von draußen draußen zu halten." Dann beugte er sich wohl zu ihr und öffnete ihre Schuhe. Mit einer offenbar viel geübten Schnelligkeit zog er der Frau erst den linken, dann den rechten Schuh und sogar die hauchdünnen Strümpfe aus. Dann zog er sehr gekonnt an Marthas Rock, dann hielt sie der Patron mit unerbittlicher Kraft an beiden Armen, während Salu ihr die Handfesseln löste, um ihr die Bluse auszuzihen. Jetzt stand sie halbnackt da, während Salu ihre Hände wieder fesselte.
"Was soll das jetzt?" Fragte Martha, die merkte, wie ihr seelischer Eispanzer rissig wurde und Gefühle wie Angst und Ausgeliefertheit wie zarter Wind durch diese Risse wehten.
"Das gehört zum Procedere, Madame", sagte der Patron jetzt auf Französisch. Salu hantierte wohl an der gegenüberliegenden Tür, die nach dreimaligem Piepen surrend aufschwang. Dabei fühlte sie wieder einen zunehmenden Druck auf die Ohren. Doch sie konnte nicht darauf achten, weil sie förmlich in den Raum hinter der Schleusenkammer geschupst wurde.
Das Summen, Gluckern und Wummern war nun so laut, daß sie meinte, es auch in ihrem Bauch nachschwingen zu fühlen. Dann nahm Salu ihr die Augenbinde ab. Was sie dann zu sehen bekam, verschlug ihr den Atem.
Als Julius wieder aufwachte hing er schlaff über zwei Sitze. Es summte unverkennbar düsenflugzeugmäßig um ihn herum. Er schlug die Augen auf und sah, daß er in einer kleinen Flugzeugkabine lag, wo höchstens sechs Mann Platz finden mochten. Der Mann, der früher sein Vater gewesen sein mochte, saß alleine auf dem vorderen Sitz. Er fuchtelte mit seinen Händen herum und tauchte immer wieder unter die Sitze als jage er etwas winziges, fliegendes.
"Mistvieh, ich krieg dich noch!" Fluchte er immer wieder. Julius verstand das Getue nicht. Er rappelte sich auf und blickte durch eines der ovalen Fenster hinaus. Ja, sie flogen. Unter ihnen lag eine silbrige, vom Mond beschienene Landschaft aus Wattegebirgen und Nebelschluchten. Dann ruckelte es einmal, als das Flugzeug in ein Luftloch hineinfiel. Richard Andrews plumpste dabei auf den Hosenboden und stieß einen derben Fluch aus.
Julius ließ sich wieder auf die Sitze fallen und tat so, als sei er noch nicht ganz klar bei Sinnen. Als sein Vater sich wieder ruhig hingesetzt hatte, diesmal etwas entspannter dreinschauend, prüfte Julius leise seine Habseligkeiten. Sein Zauberstab war ebenso noch vorhanden wie seine Weltzeituhr, der Brustbeutel und das Pflegehelferarmband, auf das sein versklavter Vater so allergisch reagiert hatte. Er stelte fest, daß seit der Fahrt im Taxi fünf Stunden vergangen waren. Solange hatte er also Sendepause gehabt? Das war unheimlich. Dann fühlte er, wie die Maschine in den Sinkflug überging. Sein Vater sprang auf und wandte sich ihm zu.
"Anschnallen, Bengel. Und wenn wir unten sind nimmst du diesen verfluchten Krempel ab, den ich dir nicht abnehmen konnte! Klar?"
"Vergiss es!" Stieß Julius aus. Seine diebstahlsicheren Sachen würde er nicht hergeben.
"Deine Mutter stirbt, wenn du dieses Dreckzeug nicht abnimmst. Vor allem dieses Armband und diesen widerlichen Zauberstab."
"Wie gesagt, toter Mann, vergiss es!" Wiederholte Julius trotzig.
"sie wird es dir schon beibiegen, glaub's mir", drohte Mr. Andrews.
Schweigend verbrachten Vater und Sohn weitere zwanzig Minuten, bis die Maschine landete. Wer immer sie flog mußte wohl genauso verhext gewesen sein wie der Taxifahrer. Denn als das Flugzeug holpernd ausgerollt war kam keine weitere Regung des Piloten.
"Wie hast du so schnell einen Privatjet aufgetrieben, toter Mann?" Fragte Julius, den das doch ziemlich wunderte, wie sein Vater in der kurzen Zeit einen kleinen Düsenflieger gekapert hatte.
"Lorettas Beziehungen. Sie wartet auf uns und wird uns ... Drecksfliege!" Wieder Sprang Richard Andrews auf und stürzte sich auf etwas, daß Julius nicht sofort sehen konnte. Dann erkannte er eine kleine Fliege, die ihm merkwürdig vertraut vorkam. Doch sie schlüpfte unter einen Sitz. Richard Andrews trat kräftig danach und frohlockte: "Habe ich dich erwischt!" Dann packte er Julius brutal an den Armen und zog ihn zur Tür, die er aufschwingen ließ. Zischend fuhr eine kleine Aluminiumleiter aus und setzte fest auf dem Boden auf.
"Runter mit dir!" Trieb Richard seinen Sohn an und brachte ihn fast zum Stolpern, als sie die Sprossen hinunterkletterten. Julius sah für einen winzigen Augenblick die Beauxbatons-Kutsche, aus der die trimagische Delegation ausstieg und in der er selbst auch schon gesessen hatte. Wo waren sie hier? Er nutzte es aus, sich mit den Händen an die kalten Holme zu klammern und las schnell die Uhr ab. Der Standortstundenzeiger war nun acht Stunden hinter dem schwarzen Heimatortstundenzeiger. Von Paris aus befanden sie sich also in einer Zeitzone neun Stunden westlich.
"Pazifikküste, Kalifornien", fiel es Julius sofort ein. Ja, sie waren nun an der Westküste der Staaten, wo auch Viento del Sol, das Zaubererdorf lag.
"Da kommt wer vom Bodenpersonal! Halt ja dein Maul!" Fauchte Richard Andrews. Tatsächlich kam ein Mann in einer schnieken Jacke an und sagte nur:
"Mr. Andrews, Ms. Hamilton wartet im Wagen."
"Gut", sagte Richard Andrews nur und schob seinen Sohn weiter. Julius wußte, gleich würde er der schönen Bestie selbst gegenüberstehen. Wie sollte er mit ihr umgehen? Angst brachte es nicht. Wut auch nicht. Trotz wie bei seinem Vater? War das einzige, was ihm irgendwas brachte. Er wollte nicht so einer werden wie sein Vater. Er wollte lieber sterben als sich dieser Kreatur auszuliefern. Ja, das war es, er hatte eine Verabredung mit seinem Tod. Was immer Marie Laveaus Geist vorhergesagt hatte, es mochte sich als absolut unzutreffend herausstellen.
Wohl oder übel ging er auf den Vorplatz des Flughafens, der wohl eher eine Lande- und Startbahn als ein regulärer Flughafen war. Davor stand ein großer Wagen. Vor diesem stand sie, eine Frau in einem langen, blütenweißen Kleid, schön wie der Tag, Haare, die im Licht der Autoscheinwerfer wie dunkelrotes Feuer flammten. Ja, das war sie, die Tochter des dunklen Feuers. Jetzt hatte sie ihn. Gegen dieses Monster war er völlig machtlos, sobald er ihm in die Augen sehen würde. Also hieß es, ihr eben nicht in die Augen zu sehen.
"Sag schön artig guten Tag, mein Sohn! Das ist Loretta Irene Hamilton, meine Freundin", sagte Mr. Andrews mit einem widerwärtig autoritären Unterton.
"Heute schon wen vernascht, oder bin ich der erste?" Begrüßte Julius die Fremde, ohne ihr in die Augen zu sehen. Sie lachte amüsiert und mit einer wunderschön tiefen Altstimme. Richard machte Anstalten, ihm dafür eine reinzuhauen. Doch dieses Geschöpf, die Schöne und das Biest in Personalunion, winkte ab und zischte ihm was zu, was den betagt aussehenden Mann wie einen gemaßregelten Hund ducken ließ.
"Nein, ich habe seit gestern keine wonnige Berührung mehr gefühlt, Julius Andrews. Ich freue mich, daß du endlich wieder mit deinem Vater vereinigt werden konntest. Die, die meinen, dich beschützen zu müssen, wollten das ja nicht. Aber dein Vater hat sich so danach gesehnt, dich wiederzufinden. Da habe ich ihm geholfen. Denke nicht daran, deinen zauberstab zu nehmen, weil du meinst, dir damit was gutes tun zu können! Ich könnte das als Beleidigung empfinden. Das würde dir nicht gut bekommen."
"Warum ein Flugzeug und kein Zaubertrick?" Fragte Julius, der sich so schnell wie möglich von dieser Drohung ablenken wollte.
"Sieh mir in die Augen und du wirst es erfahren!" Säuselte die Unheimliche, die selbst einem Vampir das Fürchten beibringen konnte, wie Julius von Mrs. Porter erfahren hatte.
"Okay, die Antwort muß ich nicht gleich haben", sagte er dazu nur. "Denkst du, man würde mich nicht suchen?"
"Wie redest du mit Loretta?" Protestierte Richard Andrews.
"Mit Hallitti, wie sie in echt heißt, kann ich nur so reden", knurrte Julius. Die Erwähnte grinste mädchenhaft. Zumindest würde ein richtiges Mädchen so grinsen, fand Julius.
"Richard, er ist jung und stark. Das mag ich an ihm. Er meint, weil ich ihn von dir habe herbringen lassen, daß er eh nichts zu verlieren hat. Das stimmt auch. Er hat was zu gewinnen. Los, in dieses Autoding!"
Richard packte Julius beim Kragen und schob ihn auf den zerbeulten Chevrolet zu, dessen Fahrer genauso teilnahmslos wirkte wie der Taxifahrer. Was sonst war er denn auch? Julius stieg mit seinem Vater auf den zerschlissenen Rücksitz, während die Abgrundstochter neben dem Fahrer Platznahm. Dieser fuhr sofort los und bugsierte den Wagen vom Flughafengelände herunter. Dann trat er aufs Gas und trieb den wohl schon sehr lange benutzten Motor zu Höchstleistungen an. Der Wagen jagte in die Nacht davon, bog nach ungefähr zwanzig Minuten von der Betonstraße ab und ruckelte wild über Sand und Kies. Splitt und Sand wirbelte mit lautem Knallen und Knistern gegen Schutzbleche, Radkappen und Seitenbleche des Wagens. Julius riskierte einen Blick nach draußen. Sie rasten durch eine karge Landschaft, wohl einer Sand- und Geröllwüste. Das mußte die Mojave sein, dachte Julius. Zumindest paßte das mit seiner Weltzeituhr zusammen.
"Hier steigst du aus!" Sagte die Unheilsbraut zu dem Fahrer, nachdem sie eine ganze Stunde im Höllentempo durch diese Wüstenlandschaft gebraust waren. Der Fahrer hielt an und stieg aus. Richard Andrews verließ ebenfalls den Wagen und nahm den Platz des Fahrers ein. Dann ging es weiter, während der ausgesetzte Fahrer, vielleicht sogar Besitzer des alten Wagens widerstandslos stehenblieb. Er machte noch nicht einmal Anstalten, hinterherzurufen.
"Dieses verdammte Weib hat Höllenkräfte!" Dachte Julius. Er kannte den Imperius-Fluch und wußte, das der ähnliches anrichten konnte. Doch so drastisch hatte er dunkle Magie bisher noch nie erlebt, außer in der Bilderwelt.
"Ich hoffe, deiner Mutter geht es gut", versuchte die Abgrundstochter, mit Julius zu reden. Doch dieser sagte keinen Ton. Er versuchte vielmehr, das innere Schweigen zu schaffen, jene Konzentrationsübung, wo er keinen worthaften Gedanken im Bewußtsein haben sollte.
"Sie hat dir was gesagt, Bursche. Antworte ihr gefälligst", knurrte Richard, der trotz des verbraucht wirkenden Körpers noch fließende Bewegungen ausführen konnte.
"Das kriegen wir alles klar, Richard. Alles eine Frage der Zeit. Davon haben wir alle genug", sagte die Kreatur beschwichtigend. Julius wußte zwar, daß dieses Ungeheuer unsterblich war und eben große Kräfte besaß, aber sich vorzustellen, diesem Geschöpf nun machtlos ausgeliefert zu sein machte ihn doch frösteln. Als habe Hallitti ein Machtwort gesprochen blieb es nun ruhig, zwei volle Stunden lang, bis der Wagen anhielt.
"So, wir sind da. Danke, Richie, daß du uns so gut gefahren hast!" Sagte die Abgrundstochter. Dann stieg sie aus und winkte Richard und Julius, ebenfalls auszusteigen. Der Junge spielte mit dem Gedanken an passiven Widerstand und wollte im Wagen bleiben. Doch sein greisenhaft aussehender Vater riss die Hintertür auf und zerrte ihn grob aus dem Wagen.
"Dir werde ich noch beibringen, wie du mit meiner Freundin umgehen sollst, Bursche!" Blaffte er wie ein wütender Hund. Dann warf er die Tür zu. Julius versuchte, ihn noch einmal mit dem Armband zu treffen. Doch sein Vater wich aus und stieß Julius im Gegenzug den Ellenbogen in die Seite. Doch das schien jemandem nicht zu passen. Wie ein geschlagener Hund sprang er jaulend von dem Jungen zurück. Doch Julius war sich sicher, daß sein Pflegehelferarmband diesmal nicht daran Schuld war.
"Du willst ihm beibringen, sich zu benehmen und bist ihm so ein Vorbild? Lern du erst wieder, wie du dich benehmen mußt!" Schnarrte Hallittis Stimme sehr verärgert.
"Ich mag sein Armband auch nicht. Es ist was daran, daß mich stört. Aber wenn er es nicht losmachen kann. Es wird sich schon lösen, wenn ich lange genug mit ihm zusammenbin. Zur Seite jetzt!"
Julius gehorchte diesmal völlig freiwillig. Er sprang zur Seite, als die Unheimliche ihre Hände zu einem Trichter formte. Offenbar wollte sie den Wagen zerstören. Ja, da schoss auch schon ein tiefschwarzer Ball zwischen ihren Händen hervor und krachte in das Auto, dessen Scheinwerfer sofort erloschen. Krachend, knirschend und Knisternd wurde das Auto in eine Wolke aus Dunkelheit gehüllt. Julius fühlte eisige Kälte davon ausgehen und vermeinte, das Prasseln und Knistern großer Flammen zu hören. Ja, das mußte das berüchtigte dunkle Feuer sein, das mächtige Zauberer aufrufen konnten und das das natürliche Element dieser Bestie war.
"Den brauchten wir eh nicht mehr. Es ist nur noch ein kurzer Weg zu meinem trauten Heim", sagte sie und trat an Julius heran, um ihm die schmale rechte Hand auf die Schulter zu legen. Da vibrierte sein Armband heftig und pulsierte. Er dachte erst, Schwester Florence riefe ihn. Doch daß das Armband dabei kalt und heiß wurde gehörte nicht zum Rufen.
"Es ist widerlich", schnaubte sie. "Aber du wirst dich nicht lange damit rumplagen müssen, glaub's mir. Es gibt kein Artefakt, dessen Magie ich nicht brechen kann. Gehen wir!"
Sie gingen wirklich noch zwei Minuten über sehr holperiges Gestein und mußten über mehrere Bodenrinnen treten, wo wohl das seltene Regenwasser kleine Flußbetten gegraben hatte. Dann standen sie auf einem freien Feld aus Sand und geröll. Der mond tauchte es in stumpfgraues Schimmern. Das Feld war so öde und trostlos wie die Oberfläche des Erdtrabanten. Julius wußte, hier war Hallittis geheimer Rückzugsort, wo mit sicherheit auch ihr Lebenskraftsammelbehälter stand. Sie machte merkwürdige Gesten, die in dieser sonst dunklen Nacht ein gruseliges Schattenspiel waren. Dann hob sich der Boden vor ihnen zu einer Kuppel, die senkrecht aufklaffte und wie ein auf der Seite liegendes Maul immer weiter auseinanderrückte. Dahinter sah Julius eine dunkle Kuppelhalle von der Größe einer Kirche.
"Willkommen in meinem Reich!" Sagte Hallitti sehr erfreut.
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