CECILS SCHUTZENGEL

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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© 2004 by Thorsten Oberbossel

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Vorige Story

P R O L O G

Als am 24. Juni 1995 das trimagische Turnier zu Hogwarts mit dem tragischen Tod Cedric Diggorys endete, begann die zweite Daseinszeit des dunklen Lords Voldemort. Doch dessen in Hogwarts unter falscher Identität arbeitender Diener wurde enttarnt und durch einen Dementor seiner Seele beraubt. Dessen Körper wird vom Zaubereiministerium versteckt, aber von nicht mit den Zaubereigesetzen einverstandenen Hexen gefunden und nach der Umwandlung zur Frau in einem mächtigen Ritual mit der in einem dunklen Medaillon geborgenen Seele der Hexenmatriarchin Anthelia wiederbelebt. Dieses Ritual wird von dem halbwüchsigen Freizeitsportler Benjamin Calder belauscht. Anthelia bringt ihn in ihre Gewalt und belegt ihn mit Flüchen, die ihn zwar stark und gutaussehend machen sollen, ihn aber auch geistig an sie binden. So kehrt er als Kundschafter Anthelias in seine Welt der nichtmagischen Menschen zurück.

Anthelia belegt ihre neuen Schwestern, mit denen sie den Orden der schwarzen Spinne gründet, mit einem Treue- und Verschwiegenheitsfluch. Sie versucht, sich in den Besitz alter Geheimnisse der Dunkelhexe Sarah Redwood zu bringen, was zu scheitern droht, weil diese ihr Haus mit einem Fluch umgibt, der nur Blutsverwandte von ihr einläßt. Sie lockt den Nachfahren Sarahs, Chuck Redwood, durch Telepathie in das geschützte Haus seiner Vorfahrin, in dem er an verschiedenen Gefahren vorbeikommen muß, bis er die in einem Steinsarg im magischen Tiefschlaf ruhende Sarah Redwood findet. Diese will ihn zunächst von ihrer Sache überzeugen. Doch er weigert sich, ihr zu folgen und wird von ihr in den Steinsarg gezwungen. Kurz darauf trifft Sarah auf Anthelia, der sie nicht glaubt, daß sie wirklich die berühmte Nichte einer mächtigen Dunkelhexe aus Frankreich ist. In einem Zaubererduell findet Sarah den Tod. Anthelia fängt den aus dem Körper fliehenden Geist in ihrem dunklen Seelenmedaillon ein und erwirbt damit doch noch Sarahs umfassendes Wissen.

Ben Calder muß wenig später miterleben, wie zwei gewaltsüchtige Großbanden seine Heimatstadt zum Schlachtfeld ihres Bandenkrieges machen, wobei die Stadt vollständig niederbrennt. Er zieht mit seiner Mutter nach Seattle, wo er jedoch bald wieder zwischen zwei Fronten gerät. Er muß fliehen. Die Hexen des Spinnenordens passen ihn ab und bringen ihn in ihr Hauptquartier, wo er in magischen Tiefschlaf versenkt wird, bis Anthelia jemanden findet, als der sich Ben ausgeben kann.

Voldemort versucht, seine Getreuen in anderen Ländern zu mobilisieren. Zwei von ihm angeheuerte Dementoren kommen nach New York. Dort läuft ihnen die FBI-Agentin Maria Montes über den Weg und wird beinahe ihr Opfer. Nur einem alten Erbstück und ihrer Gabe, auch ohne selber zaubern zu können Zauberwesen sehen zu können rettet sie. Die behördlichen Zauberer jagen die Dementoren. Dabei gerät Maria ins Fadenkreuz und muß fliehen. Ihr in New Orleans lebender Kollege Marchand klärt sie auf, daß es die Zaubererwelt gibt und stellt ihr die Hexe Jane Porter vor, die für ein Institut zur Abwehr dunkler Zauberphänomene arbeitet. Diese sagt Maria, daß sie eine Fensterguckerin sei, eben magische Dinge mit ihren Sinnen wahrnehmen kann, ohne selbst zaubern zu können.

Neben Voldemort, der seine früheren Befürworter in anderen Ländern anschreibt, stellt sich eine aus langem Schlaf erwachte Zauberkreatur als größte Bedrohung für Anthelia heraus. Dieses Wesen sucht in New York den Wissenschaftler Richard Andrews auf, dessen nicht nutzbare Zauberkraft sie geweckt hat und knüpft durch leidenschaftliche Liebesakte und Gesänge ein immer festeres Band zu ihm. Während Anthelias Hexenschwestern einen Machtkampf dunkler Magier in Amerika anzetteln und sich einer anderen dunklen Schwesternschaft in Australien bedienen, um dortige Schwarzmagier auszuschalten, versucht Voldemort, die Tochter des Abgrunds, jenes unheimliche Zauberwesen, auf seine Seite zu ziehen. Dieses Vorhaben scheitert jedoch. Er reist nach Amerika, um den aufgeflammten Krieg der schwarzen Bruderschaften zu beenden und erkennt, daß er nichts ausrichten kann. Grausam verfluchte Mitglieder der Schwarzberg-Bruderschaft tauchen übers Land verteilt auf, das Haus des Dunkelmagiers Lohangio Nitts wird von einem künstlichen Ungeheuer niedergebrannt. Nur dessen Lehrling Ornatus Pane überlebt dieses Inferno.

Nachdem Anthelia es erreicht hat, die mächtigsten dunklen Orden Nordamerikas auszuschalten, kümmert sie sich wieder um Ben Calder und die Tochter des Abgrunds.

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Der späte September schenkte den Bürgern Pennsylvanias noch herrlich warme Sonnentage. Wer Zeit und Gelegenheit hatte, verbrachte die Tagesstunden im Freien. So hielt es auch der sportliche, hellblonde Teenager Cecil Wellington, dessen Vater Senator dieses Bundesstaates war. Als begeisterter Schwimmer, Leichtathlet und Reiter genoss er jede freie Minute, wenn der große weißgelbe Feuerball am Himmel seine wärmenden Strahlen zur Erde schickte. Heute, am 23. September, vier Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag, hatte er die ihm lästigen Schulaufgaben in Rekordzeit abgehandelt. sein Mathematik-Nachhilfelehrer, Mr. Schlessinger, war ihm gnädig und hatte ihm erlaubt, sich draußen auszutoben.

Cecil hatte sich von Fairbanks, dem familieneigenen Chauffeur, zu Alfred Codys Reitstall fahren lassen, allerdings nicht im Rolls Royce seines Vaters, sondern im neuen, wenn auch nicht ganz so luxuriösen VW Golf, den der Senator als Drittwagen für die Einkaufsfahrten seiner Frau angeschafft hatte.

"Mit dem Rolls fährst du nicht aus, Cecil. Schon schlimm genug, wenn du in der Schule großspurig auftrittst. Gewöhn dich an kleine Autos! Wenn du selber fahren kannst, kriegst du von mir bestimmt nichts anderes", hörte er seinen gestrengen Vater immer wieder sagen, wenn er schnurstracks auf den Rolls Royce oder den Crysler zusteuerte, sobald er einen motorisierten Untersatz für größere Fahrten brauchte. Fairbanks hatte immer gegrinst, wenn Cecil verärgert dreinschaute. Aber natürlich ließ er sich dabei nicht beobachten.

Cody freute sich. Er war das Urbild eines Nordstaatenfarmers, mit wettergegerbter Haut, groß und kräftig von der ständigen körperlichen Arbeit. Er hatte einen großen Stall mit angeschlossener Koppel, groß wie sechs Footballfelder. Zehn begüterte Familien aus Harrisburg, Philadelphia und Pittsburg hatten bei ihm gute Pferde stehen, um die er sich mit seiner Frau Nancy und seinen beiden Söhnen Ross und Steve kümmerte und dafür gut bezahlt wurde. Als Cecil, angetan mit seiner grasgrünen Reiterkluft mit schwarzen Stiefeln und fuchsroter Kappe von der Rückbank des deutschen Durchschnittsautos kletterte, lächelte Alfred Cody aufmunternd.

"Mir war klar, daß du heute vorbeikommen würdest. Die junge Signorina Carlotti ist auch da. Habt ihr euch verabredet?"

"Wenn's so wäre bräuchte ich Ihnen das nicht zu erzählen", knurrte Cecil. "Mein alter Herr ist heute wieder blendend drauf. Hoffentlich zahlt er Ihnen das nächste Futtergeld. Ist Bullet auf der Koppel oder in der Box?"

"Dein Pferd steht in der Box. Lady Larissa ist gerade wieder rossig. Ich wollte ihn nicht in Versuchung führen, solange dein Vater mir nicht den Auftrag dazu gibt", sagte Cody mit verruchtem Grinsen. Cecil nickte. Lady Larissa war eine Lipizanerstute eines Bankiers aus Harrisburg, besser das Pferd seiner Tochter, einer pummeligen Neunjährigen, die er ab und an beim Ausreiten getroffen hatte. Manchmal ließ der Geldsack die Stute decken, aber wenn dann nur von rassegleichen Hengsten. Bullet dagegen, genauer Silver Bullet war ein schneller aber nicht so reinrassiger Grauer Hengst mit silbrigem Schweif und Mähne. Diese Färbung und seine Kraft und Schnelligkeit hatten die Wellingtons vor zwei Jahren so fasziniert, daß sie für Cecil dieses Pferd gekauft hatten, in dessen Ahnenlinie angeblich ein großer Renn-Champion enthalten war. Na ja, immerhin konnte Bullet zehn Kilometer im gestreckten Galopp zurücklegen, ohne ins Schwitzen zu geraten. Cecil genoss es immer, wenn er dieses Pferd reiten konnte.

Der Hengst der Wellingtons freute sich sichtlich, als Cecil mit Zaumzeug und Sattel in die Box trat und ihn erst freundlich ansprach, ihm den muskulösen Hals tätschelte und ihm dann Sattel und Zaumzeug anlegte. Auf der Hut vor möglichen Versuchen des Pferdes, irgendwo hinzulaufen, wo es nicht hin sollte, führte Cecil es am Zügel hinaus vor den gut belüfteten Stall, in dem jeden Tag neues Stroh auf den Boden gestreut und mit größter Sorgfalt ausgemistet wurde. Als er Silver Bullet auf das freie Feld geführt hatte, saß er auf, ergriff mit kräftigen Fäusten die Zügel und trieb den Hengst zum Schritt an. Zweihundert Meter weiter weg ließ er das Pferd in Trab verfallen, erst langsam und dann schnell. Weitere zweihundert Meter weiter, wo er sich sicher war, daß die Muskeln und Gelenke des grauen Vierbeiners nun warm genug waren, drückte er ihm die Schenkel in die Seiten und schnalzte mit der Zunge.

"Und los, Bully! Lass uns mal sehen, ob du's noch drauf hast!"

Im geschmeidigen Galopp lief Bullet mit wehendem Schweif über das weite Grasfeld, auf dem Cody gegen großzügige Platzmieten Feste veranstaltete. Wendig und kraftvoll warf der Hengst seine Beine im flotten Rhythmus nach hinten und trug den kerzengerade auf ihm sitzenden Senatorensohn schnell wie der Wind dahin. Unterwegs sah Cecil eine schwarze Stute, auf der ein junges Mädchen mit nachtschwarzem Haar und rehbraunen Augen in einem königsblauen Reitkostüm saß. Das Mädchen hörte wohl das Hufgeklapper hinter sich. Ihr Pferd ging Schritt und hatte es wohl nicht eilig.

"Ach, da ist sie ja!" Rief Cecil und ließ Bullet noch schneller laufen, um das Mädchen auf dem schwarzen Pferd einzuholen. Sie lachte ihm zu und winkte mit einer Hand.

"Ciao Cecilio! Come estaci?"

"Immer bestens, Laura!" Rief Cecil vergnügt und zog die Zügel an. Bullet bremste stark ab und verfiel auf Höhe des schwarzen Pferdes in Schritt.

"Wann lernst du es, meinen Namen richtig auszusprechen und nicht in dieser englischen Verunstaltung?" Fragte das Mädchen und meinte damit, daß Cecil ihren Vornamen englisch betont hatte und nicht italienisch, wie sie es von der Wiege an gewohnt war.

"Wenn du endlich meinen Namen richtig hinkriegst, Signorina", erwiderte Cecil schlagfertig.

Laura Carlotti war die Tochter eines Bauunternehmers, der vor zehn Jahren von der Ostküste hier herauf gezogen war. Sie und Cecil hatten sich vor einem Jahr hier auf der Pferderanch von Cody kennengelernt, und der Reitsport hatte sie einander sympathisch finden lassen. Ihre Stute Bella Nera hatte sich in gleicher Weise mit Bullet angefreundet, wie ihre zweibeinige Besitzerin mit dessen zweibeinigem Besitzer. Zwar hatten die beiden Pferde noch nichts angestellt, was über ein freundliches beschnuppern und Schmusen hinausging, aber sowohl die Italoamerikanerin als auch der Spross einer streng konservativen Pionierfamilie waren sich sicher, daß, wenn man die Pferde mal einen Tag und eine Nacht alleine zusammenlassen würde, bestimmt was handfestes dabei herauskam. Sie selbst waren zu gut erzogen, um ihren Tieren zuvorzukommen, meinten sie zumindest. Hinzu kam ja noch, daß Lauras Familie gerne einen reichen Landsmann für sie als Ehemann erträumte, während Cecil ein partytiger war, dem die Mädchenherzen zuflogen. Mochte das an der Stellung seines Vaters liegen oder an seiner eigenen Ausstrahlung, ihm war es egal. Aber vielleicht machte dieser Unterschied den Reiz aus, sich einander immer besser kennenzulernen. Sie trafen sich jedoch nur hier oder beim China-Imbiß. Ansonsten telefonierten sie nur miteinander, natürlich über Handy. Cecil war sich sicher, daß Laura Carlottis Vater ihm die Hölle heiß machen würde, wenn er das rausbekam, daß seine Tochter mit einem Angloamerikaner herumlief, der noch dazu nicht römisch-katholisch getauft und erzogen war.

Die beiden jungen Leute ritten einstweilen zusammen über das Feld und unterhielten sich über ihre Alltagssorgen. Beide gingen sie in Privatschulen. Beide hatten nur beste Noten abzuliefern, wenngleich Laura eher in den Kunstfächern gut zu sein hatte, während Cecil in Politik, Geschichte und Naturwissenschaften Spitzenleistungen zu bringen hatte. Sie sprachen oft über ihre Lehrer, aber selten über ihre Familien. Daß Cecils Vater Senator war, wußte Laura aus der Zeitung. Cecil hatte es ihr komischerweise nicht von sich aus erzählt, was er sonst jedem und jeder gleich aufs Brot schmierte. Aber irgendwie hatte der Junge es im Gefühl, daß dieses Mädchen nicht einfach zu beeindrucken war. Was sie wirklich miteinander verband war der Reitsport.

Eine Stunde lang trabten sie auf ihren Pferden übers Gelände, galoppierten sogar mehrere Kilometer durch den Wald jenseits der Ranch. Die Sonne schien vom Himmel her und wärmte sie. Sie lachten und flachsten miteinander. Zwischendurch wechselten sie sogar die Sprache. Da Cecil neben Englisch auch noch Französisch und Spanisch lernte, das erste wegen seiner Mutter, das zweite auf Betreiben seines Vaters, hatte Laura Carlotti ihn immer wieder angestachelt, doch auch die edle Sprache DaVincis, Gallileis und Verdis zu erlernen. Doch Cecil hatte gemeint, daß er mit drei alteuropäischen Sprachen genug konnte, zumal US-Dollar und American Express Gold überall verstanden wurden. Sicher, er hatte noch keine goldene Kreditkarte, aber spätestens zum Abschluß der Highschool würde er eine einfordern, wenn er schon keinen Porsche oder Thunderbird zum Fahren kriegen sollte.

Auf dem Rückweg zum Stall trieben Laura und Cecil ihre Pferde noch einmal zur schnellsten Gangart an. Klar, daß Silver Bullet Bella Nera schon nach zwei Sekunden um zwei Längen hinter sich ließ. Der Sohn des Senators genoss es immer wieder, wenn er seinen Hengst voll ausreizte. Das gab ihm irgendwie das Gefühl von Macht, etwas, das ihm sichtlich behagte. Er hatte von einem älteren Schulkameraden gehört, daß Sex und schnelles Autofahren was ähnlich herrliches mit einem anstellten. Cecil schmunzelte immer darüber, wenn er sich klarmachte, daß Sex und schnelles Autofahren ja jedes Für sich mit seiner wilden Reiterei verglichen werden konnten. Doch ob es dabei das selbe herrliche Gefühl bewirkte -?

Unvermittelt wieherte Bullet los, sprang hoch und preschte dann unkontrolliert los. Cecil erschrak, als der Hengst nun wie in wilder Panik durchging, querfreldeingaloppierte und offenbar total verängstigt war. Der junge Reiter zog kräftig am Zügelriemen und brüllte "Brrrr, Bully! Brrr!" Doch der Hengst gehorchte nicht. Er schlenkerte nach links und rechts und stob durch den Fichtenwald an der Nordseite der Ranch. Hier zog Cody stattliche Weihnachtsbäume heran, die im November geschlagen und in die größeren Städte transportiert und verkauft wurden. Cecils Geschwindigkeitsrausch war gänzlich verflogen und von einer ständig wachsenden Hilflosigkeit und unbestimmbaren Angst verdrängt worden. Was ging in Bullet vor?

Laura sah mit schreckgeweiteten Augen, wie der gut und gerne hundert Längen vor ihr dahinjagende Hengst urplötzlich zusammenschrak, mit den Vorderbeinen kurz nach oben stieg und dann wie von einer Bogensehne geschnellt lospreschte, daß seine Hufe Erdkrumen und Grasbüschel nach hinten fortschleuderten. Sie trieb Bella zu einem noch schärferen Galopp an. Doch die Rappstute keuchte bereits vor übergroßer Anstrengung. Bullet, noch dazu wenn er nun durchging, konnte sie nicht einholen. Dies sah sie erst ein, als der graue Hengst mit einer halsbrecherischen Wende nach links abbog und zwischen den hohen Fichten verschwand. Sie zügelte ihr Pferd sofort und brachte das schweißgebadete Tier etwa hundert Meter vom Wohnhaus der Codys zum Stehen. Sie zog ihr Handy und drückte die Speichertaste für Codys Festnetzanschluß. Dann hörte sie das wütende Gebrumm eines aufgescheuchten Insektenschwarms vor sich und erkannte einen aufgebrochenen Hornissenbau. Die großen schwarz-gelben Insekten schwärmten in alle Richtungen. Sie erschrak. Bella Nera schnaubte erregt und trippelte hektisch mit allen vier Hufen.

"Dio mio!" Dachte Laura und sah, wie zwei der gefährlichen Insekten knapp vor ihr über den Boden dahinsurrten und dann wild davonschwirrten.

"Ja, hallo, Mr. Cody. Cecil Wellingtons Pferd geht durch. Ich kann ihn nicht einholen!" Rief Laura ins Handy-Mikrofon. Cody fragte, was passiert sei. Laura erzählte es gerade, als zwei langgezogene Schreie ihr Stimme und Atem verschlugen. Der eine Schrei war eindeutig menschlich. Der zweite Schrei schrill und tierhaft. Dann hörte sie über ihren in den Ohren pochenden Herzschlag und das Keuchen der überanstrengten Stute hinweg ein fürchterliches Knacken und Poltern, dann noch einen unmenschlichen, durch Marg und Bein gehenden Schrei, schmerz und höchste Angst verkündend. Laura hatte niemals zuvor ein Pferd solche Laute von sich geben hören. Doch sie wußte, daß es ein Pferd war: Bullet schrie und Wieherte in dieser grauenhaften, alles andere als gutes verheißenden Art. Dann krachte es irgendwo vor ihr noch einmal laut, und die schrecklichen Geräusche verstummten. Bella, die von den Schreien und Wieherlauten des Hengstes selbst in Panik zu geraten drohte, schnaubte, tänzelte und wollte schon losrennen. Laura hielt sie mit aller Mühe zurück, verlor dabei das Handy, weil sie von einer Sekunde zur anderen beide Hände am Zügel brauchte, um ihr Pferd zu bändigen. Mit einem häßlichen Knacken zertrat Bellas rechter Hinterhuf das Mobiltelefon.

"Santa Madonna!" Wimmerte Laura und fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.

Cody kam auf seinem braven, wenngleich nicht so fürstlich aussehenden Fuchshengst Bucky herangeritten, ohne Sattel, nur mit Zügeln. Eine der aufgestöberten Hornissen sauste gerade vom Ausschwärmen zurück zum freigelegten Erdbau. Bucky zitterte nur für einen Moment, trabte dann aber folgsam weiter und holte Laura auf ihrem Pferd ein. Er brauchte nicht zu hören, was sie gesehen und vor allem gehört hatte. Er sah das Hornissennest vor sich und schüttelte in wildem Selbstvorwurf den Kopf.

"Bullet muß den Bau aus Versehen freigelegt haben. Wie konnte ich nur so blöd sein", knurrte der Rancher und sah das weinende Mädchen an.

"Ich habe die Schreie durchs Handy gehört, Ms. Carlotti. Wie weit war das von hier weg?"

"Dahinten im Wald, rechts!" Brach es aus Laura heraus. Ihre Arme waren wie mit Blei gefüllt. Sie schaffte es nur mit großer Anstrengung, auf die vermutete Stelle im Wald zu deuten. Cody erbleichte schlagartig. Er sagte kein Wort. Er trabte mit Bucky los, hielt sich dabei aber sehr weit vom Hornissennest entfernt. Laura wußte, daß ihre Bella bestimmt auch erschrecken würde, wenn sie den Insekten zu nahe käme. Doch sollte sie nun warten? Sie beschloss, soweit nach links auszuweichen, wie es ging und dann dem Rancher zu folgen.

Sie ritt bedächtig um das Nest im Erdboden herum und trieb ihre Stute erst zu einer schnelleren Gangart, als sie sicher war, daß keine Hornissen aufgescheucht wurden. Durch den Fichtenwald ging es zu einer Stelle, wo ein umgefallener Baumstamm den Weg versperrte. Rechts davon ging es einen steilen Abhang hinunter zu einem kleinen Fluß, der Cody kostenloses Wasser für Haus- und Land lieferte und sogar eine kleine Mühle antrieb, die den Rancher von den weit entfernten Kraftwerken unabhängig hielt. Bucky stand vor dem Baumstamm und scharrte mit den Hufen. Sein Herr und Reiter war abgestiegen und kletterte gerade den Abhang hinunter. Lauras Augen weiteten sich vor blankem Entsetzen. Sie starrte wie ein Kaninchen vor der Schlange hinunter zum Fluß, der eilig aber friedlich dahinplätscherte. Am diesseitigen Ufer erkannte sie einen großen grauen Fleck von roten Flecken unterbrochen. Sie konnte sogar was grünes ausmachen, daß sich vom Grün der Pflanzen abhob. Sie ahnte, nein sie erkannte, was dort unten lag und daß dies bestätigte, was die Schreie des Pferdes schon verraten hatten.

Cody kletterte den steinigen und von wilden Gräsern durchsetzten Abhang hinunter. Er mußte höllisch aufpassen, nicht abzurutschen. Denn der Abhang reichte an die fünfzig Meter hinunter. Zwischendurch sah er Schleifspuren und herausgelöste Steinbrocken, die unterwegs liegen geblieben waren. Er arbeitete sich bis zum Grund des Hanges hinunter und klopfte sich den Dreck von den Händen. Dann wandte er sich um.

Vor ihm lag, die vier einst so geraden Beine in einer höchst unnatürlichen Weise von sich gestreckt, der graue Hengst Silver Bullet. Große Schürfwunden verunzierten ihn. Etwa zwanzig Meter entfernt, genau im Bett des so friedlichen Flusses, lag Cecil Wellington mit dem Gesicht unter Wasser. Er mußte beim Absturz so weit von Bullet fortgeschleudert worden sein, daß er genau im gerade mittelhohen Wasser aufgeschlagen war. Sofort lief Cody zum Fluß und besah sich den Jungen, der offenbar bewußtlos war. Oder war es vielleicht schon zu spät? Er stapfte ins dahinrauschende Wasser und zog den Jungen ohne Beachtung von Vorsichtsmaßnahmen aus dem Wasser. Er war kalt, total durchnäßt und schlaff. Erst am Ufer fiel Cody ein, daß er eigentlich erst hätte sichern sollen, daß das Genick des Jungen nicht gebrochen war. Erst vor kurzem hatte er in einer Fernsehserie, die sich mit Unfällen und Rettungsmaßnahmen befaßte erfahren, daß manche Ersthelfer aus Versehen jemanden töten konnten, wenn sie einem Absturzopfer ohne Fixierung des Nackens halfen, es herumdrehten oder gar wegschleppten, weil ein Genickbruch erst dann die tödliche durchtrennung des Hauptnervenstranges verursacht hatte. Doch wenn Cecil tot war, hatte das für Cody eh keine Bedeutung. Er besah sich den Jungen und atmete auf, weil der Nacken des Halbwüchsigen wohl nicht verletzt war. Doch wollte Cecil nicht atmen. Käseweiß und mit ins leere starrenden Augen lag er vor ihm. Cody horchte an der Brust des Jungen und hörte keinen Herzschlag. Cecil war wohl tot. Doch der Rancher wollte das nicht einfach so hinnehmen. Er drehte den schlaffen Körper Cecils so, daß er dessen Herz massieren konnte und gleichzeitig das vielleicht in den Lungen gefangene Flußwasser austreiben konnte. Er war kein professioneller Sanitäter. Doch die wichtigsten Dinge hatte er doch gelernt. Wer auf dem Land lebte, mußte handeln können, bevor ein Arzt zur Stelle war. Das hatte seine Frau ihm und den Jungen immer eingeschärft. So massierte er Cecils Herz und versuchte, möglicherweise in die Lungen eingedrungenes Flußwasser herauszudrücken. Er kämpfte verbissen gegen den Tod des Jungen, der sein Leben doch noch vor sich haben sollte. Es verging wohl eine Minute, bis der Herzschlag mit einem kurzen Rumpeln wieder einsetzte und dann regelmäßiger wurde, wenn auch sehr schwach. Dann schaffte es Cody auch, die Atmung anzuregen. Merkwürdigerweise spie Cecil nur zweimal Wasser aus. Aber er kam nicht zur Besinnung. Die Atmung war sehr Flach. Cody versuchte, den Jungen durch Mundzumundbeatmung und weitere Herzmassagen anzuregen, kräftiger zu atmen und vielleicht wieder zu sich zu kommen. Doch Cecil blieb ohnmächtig. Jetzt erst besann sich der Rancher darauf, die Feuerwehr zu rufen, damit sie mit Rettungswagen und Bergungsgerät anrückte. Er zog sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke und wählte 911, die in allen US-Bundesstaaten geltende Notrufnummer.

Als er dem Vermittler am anderen Ende der Leitung geschildert hatte, was passiert war und daß er den Jungen zumindest vorerst am Leben gehalten hatte, wurde er genau nach der Ursache des Unfalls befragt. Er erzählte, daß das Pferd wohl von einem Hornissenvolk, das im Boden sein Nest hatte, in Panik versetzt worden war. Er besah sich Bullet genauer. Das Pferd atmete noch. Er erkannte tatsächlich neben den blutigen Platz- und Schürfwunden eine angeschwollenen Insektenstich unterhalb des linken Hinterbeins, dessen Fersenknochen bleich und Blutig herauslugte. Überhaupt konnte er nun das volle Ausmaß der Verletzungen erkennen. Drei beine des Pferdes waren an mehreren Stellen gebrochen. Als Landwirt und Pferdepfleger wußte er, was dies bedeutete. Ja, und er wußte auch, was ihm noch bevorstehen mußte, wenn Cecil hoffentlich bald und schnell abtransportiert worden war. Er hatte gelernt, daß starke Männer nicht weinen durften. Doch gerade das wäre ein triftiger Grund dazu, erkannte Alfred Cody.

Laura sah von oben, wie der Rancher sich unten zu schaffen machte. Sie wollte hinunterklettern. Doch nachdem sie den Abhang noch einmal genau betrachtet hatte, schwand ihr der Mut. Sie sah Cody zu, wie er Cecil wiederbelebte und dann wohl die Feuerwehr rief. Dann sah sie, wie der Rancher in seine grobe Jacke griff und einen Revolver herausholte. Ihr Herz übersprang zwei Schläge, als sie sah, wie Mr. Cody die Waffe hob und auf den Kopf des Pferdes richtete. Zweimal peitschte ein Schuß. Laura schlug sich die Hände vor's Gesicht. Warum hatte Cody Bullet erschossen?

Wenige Minuten später schwebte ein Rettungshubschrauber heran und landete auf der großen Wiese. Lauras Pferd erschrak und rannte fort, Richtung Stall. Laura ließ sie rennen. Apathisch dreinschauend bekam sie mit, wie ein Arzt und ein Sanitäter ein Seil an einer stämmigen Fichte festmachten und sich schnell den Abhang hinunterließen. Unten angekommen kümmerten sie sich zunächst um Cecil. Dann kamen vom Hubschrauber her noch zwei Männer in Uniformen und brachten eine Trage. Diese wurde schnell abgeseilt. Als Cecil dann sorgfältig darauf festgeschnallt war, hievten sie die Trage wieder hoch. Der Sanitäter und die beiden anderen Männer aus dem Helikopter trugen den Jungen im Geschwindschritt fort. Der Arzt betrachtete Laura Carlotti und sprach sie an. Sie antwortete nicht auf seine Fragen. Er untersuchte ihren Puls, ihre Pupillenreflexe und ihre Atmung und rief per Walkie-Talkie seine Kameraden, daß er sie mit zur Maschine bringen würde. Er sprach behutsam auf sie ein und führte sie wie ein verschüchtertes Kleinkind an der Hand zum Hubschrauber, dessen Zwillingsrotoren gerade wieder auf Touren kamen. Der Sanitäter nahm Laura behände auf und legte sie in die Maschine. Sie bekam plötzlich eine Heidenpanik und schrie auf. Doch bevor sie sich und andere verletzen konnte, hatten der Sanitäter und der Arzt ihre Arme und Beine schon festgeschnallt, und Laura fühlte den Einstich einer Spritze in der rechten Armvene. Danach schwanden ihr die Sinne gänzlich.

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Vier Wochen war das nun her. Laura Carlottis Eltern hatten ihre Tochter aus dem St.-Mary-Grace-Hospital abgeholt. Sie hatte sich schwer von dem Schock erholt. Doch als sie hörte, daß Cecil den Reitunfall überlebt hatte, ging es ihr bald besser. Doch ein Schatten überdeckte ihre Freude weiterhin: Cecil lag seit dem verhängnisvollen Panikanfall seines Pferdes im Koma. Die Ärzte hatten festgestellt, daß sein Herz-Kreislaufsystem wohl vier Minuten ausgesetzt hatte. Das Gehirn war also vier volle Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt worden. Dies barg eine erschreckend hohe Wahrscheinlichkeit, daß Cecil einen dauerhaften Hirnschaden davongetragen hatte, wenngleich sein übriger Körper durch den Sturz ins kalte Wasser so gut wie unverletzt geblieben war. Doch die Wellingtons wollten ihren Sohn nicht aufgeben. Um seine Hilflosigkeit und den Ansturm der Besorgnis heuchelnden Medien abzureagieren trat Senator Reginald Cecil Wellington zwei Wochen nach der Überführung seines Sohnes in die John-McKurton-Privatklinik vor Mikrofone und Kameras aller Bundesweiten Nachrichtenverbreiter und verkündete:

"meine Damen und Herren, ich bedanke mich recht herzlich dafür, daß Sie und ihre Leser, Zuhörer und Zuschauer so großen Anteil am Schicksal meines Sohnes nehmen. Ich möchte im Moment nicht näher darauf eingehen, was alles an Gerüchten und Anmutungen verbreitet wurde. Sie dürfen jedoch versichert sein, daß ich mich weder von meiner Verantwortung für den Bundesstaat Pennsylvania, noch von meiner Verantwortung als Familienvater abhalten lasse. Ich habe nach dem höchst unerfreulichen Unfall, dem mein Sohn zum Opfer fiel, alles erdenkliche unternommen, um die Ursache dieses Zwischenfalls lückenlos aufklären zu lassen. Es stellte sich heraus, daß der Unfall auf ein Versäumnis des Eigentümers des Landes zurückzuführen ist, welcher das Pferd meines Sohnes in Pflege hatte. Ein Hornissennest, meine Damen und Herren, sollte nicht auf einem als Reitweg nutzbaren Pfad geduldet werden. Ein aufgescheuchtes Hornissenvolk hat das Pferd meines Sohnes in Panik versetzt und damit in den Absturz getrieben. Ich habe natürlich zivil- und strafrechtliche Schritte gegen den Betreiber der Pferderanch eingeleitet. Das wird meinen Sohn zwar nicht schneller gesunden lassen, jedoch der Gerechtigkeit dienen. Denn wenn unsere Kinder schon nicht einmal arglos in der Natur ihre Zeit mit Sport und Spiel verbringen können, wo dann? Noch liegt mein Sohn in einem Koma. Doch die besten Ärzte der USA, und somit die Bbesten Ärzte weltweit, kümmern sich darum, daß er bald sein Bewußtsein und damit seine vollständige Gesundheit wiedererlangen wird. Solange dieser Prozess dauern mag, er wird am Ende meinen Sohn wieder gesunden lassen. Näheres kann und möchte ich im Moment nicht verlautbaren. Bitte haben Sie dafür Verständnis! - Vielen Dank noch mal für Ihre Anteilnahme!"

"Mr. Cody, gegen den Sie Klage wegen fahrlässiger Körperverletzung und schwerer Sachbeschädigung erhoben haben hat seine Ranch verpfändet, um Ihre Forderungen bezahlen zu können, Senator. Nennen Sie das Gerechtigkeit, vier Menschenleben für eines zu opfern?" Fragte eine brünette Reporterin, die Senator Wellington als glühende Verehrerin der demokratischen Partei kannte, welche er wiederum mit allen Fasern seines Herzens verachtete.

"Ihre Spitzfindigkeiten, teuerste Mrs. Marcowic sind mir hinlänglich vertraut. Im politischen Geschäft mögen Sie mir amüsant erscheinen. Aber Sie werden mir hier und jetzt nicht die Schuld am Versäumnis dieses Bauern zuweisen", knurrte Wellington, der um seine Selbstbeherrschung rang.

"Dann stimmt es, daß Sie die medizinischen Fachkräfte in der McKurton-Klinik von Mr. Cody bezahlen lassen wollen?" Fragte ein anderer Reporter, der eine Schwäche des Politikers witterte.

"Mein Sohn bekommt die bestmögliche Pflege und betreuung, welche den Preis wert ist, der dafür bezahlt wird. Natürlich bezahle ich Unterbringung und Versorgung meines Sohnes Cecil. Das möchte Ihnen genügen."

"Ja, aber Cody gab uns die Auskunft, daß Sie, Herr Senator, zwölf Millionen Dollar Schadensersatz von ihm verlangen und ihn noch dazu ins Gefängnis bringen wollen, eben wegen angeblicher fahrlässiger Körperverletzung", bohrte die Wellington so unsympathische Reporterin nach.

"Wir leben in einem Land, in dem Recht und Gesetz gelten. Auch wenn gewisse Herrschaften in sehr hoher Stellung dies nicht immer beherzigen", gab der Senator sich doch eine Blöße und ärgerte sich. Die Anspielung auf Präsident Clintons frühere Ausschweifungen, die dieser als Gouverneur von Arkansas begangen haben sollte, warf nicht gerade ein gutes Licht auf seine eigene Seriosität. Alle lachten tatsächlich. Ein Reporter wohl Ende dreißig fragte:

"Erlaubt das amerikanische Recht wirklich, daß zwei minderjährige Jungen Heim und Familie verlieren und wegen Ihrer Schadensersatzansprüche wohl auch Ihre Ausbildung nicht ordentlich beenden können? Wer in der Natur herumtobt, ist ihr ausgeliefert. Oder hat Mutter Natur schon mitteilen lassen, daß Sie nicht über zwölf Millionen Dollar verfügt?"

"Sie sehen mir nicht so aus, als wären Sie gestern erst Journalist geworden", wandte sich Wellington nach einer kollektiven Lachsalve in den Reihen der Funk- und Presseleute an den Fragenden. "Also wissen Sie, daß Sie mir weder solch absurde Fragen stellen sollen, noch von mir eine wie auch immer geartete Antwort darauf erwarten oder gar verlangen dürfen. Ich habe Ihnen allen gesagt, was ich Ihnen mitteilen wollte, aus gebotenem Respekt vor den Mühen Ihrer Leser, Zuhörer und Zuschauer. Auf kindische Wortspielereien werde ich jedoch nicht eingehen. Ich hoffe, Sie bringen dafür das notwendige Verständnis auf. Guten Tag noch!"

Wellington wandte sein Gesicht ab und zog sich aus dem großen Raum zurück, in dem er die kurzfristig einberufene Pressekonferenz gegeben hatte. Das aufgeregte Tuscheln der Reporter und das Klicken und Blitzen der Fotokameras ignorierte er berufsmäßig. Sicher, nun würden sie ihn noch ärger beharken, aber gleichzeitig zeigen, daß sie keinen Respekt vor ihm als Familienvater hatten. Womöglich waren ihre Redakteure intelligent genug, sich nicht auf unnötige Verläumdungsklagen einzulassen. Als Politiker stand er zwar zu jeder Minute im Licht der Öffentlichkeit. Doch im Mutterland der Menschenrechte galt die Privatsphäre genausoviel wie die Pressefreiheit. Nur sensationsgierige Paparazzi meinten, Pressefreiheit sei das wichtigste aller Güter, dem sich alles andere zu unterwerfen habe.

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Ruckelnd und schlingernd durchpflügte die Boeing 767 der Eastcost Express Airways die dicke, graue Wolkendecke über der Auto- und Soulmusikstadt Detroit. Das Gewölk klatschte mit Tonnen von Wasserdampf gegen Tragflächen und Bug der halbvollen Maschine, die im zweistündlichen Expressdienst New York mit anderen Städten der USA verband. Alle Passagiere waren angeschnallt und bangten darum, ihr Abendessen nicht doch noch ausspeien zu müssen. Captain Woods hatte die Leuchtzeichen "Gurte Schließen" eingeschaltet, als das Flugzeug die für die kurze Strecke empfohlene Reiseflughöhe verließ.

Mehr als die Turbulenzen beim Landeanflug wühlte den einzigen Passagier am Steuerbordfenster in der Geschäftsleuteklasse die Vorstellung auf, heute einen völlig neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Er würde in wenigen Minuten in Detroit landen, von wo aus er in das nahebei liegende Bay City weiterfahren mußte, wo seine neue Firma ihm bereits eine geräumige Wohnung angemietet hatte. War das wirklich die richtige Entscheidung gewesen?

Endlich hatte der Pilot den turbulenten Ritt durch die Wolken geschafft und die Maschine gut zur Landebahn ausgerichtet. Im schnellen Sinkflug stieg die Boeing hinab und legte eine glatte Landung hin. Gleich beim ersten Bodenkontakt blieben die Räder des Fahrwerks auf der Bahn. Keine Sekunde später setzten die Bugräder auf. Sofort bremste die Maschine mit Gegenschub und Bremsen die hohe Aufsetzgeschwindigkeit so stark herunter, daß sie nach zwei dritteln der Landebahn gemütlich auf das Rollfeld abbiegen und die zugewiesene Parkposition ansteuern konnte.

Nach den üblichen Abläufen mit Ausstieg und Gepäckannahme suchte Richard Andrews den Ausgang aus der Ankunftshalle für Inlandsflüge. Ein junger Mann in korrektem dunkelblauen Anzug mit Fliege hielt ein großes Pappschild mit dem Namen "Richard Andrews" in die Luft. Der Mann, der diesen Namen trug stutzte und wandte sich dem Fremden zu. Er nickte und ging dann auf ihn zu.

"Ah, Sie sind Mr. Andrews. Mr. Degenhart hat mir Ihr Foto gezeigt, Sir", begrüßte der junge Mann den Ankömmling aus New York. "Wie war der Flug?" Stellte er dann die höflichkeitsbedingte Frage.

"Für drei Wochen vor Weihnachten gerade noch annehmbar", grummelte Richard Andrews. Der Mann mit dem Pappschild schmunzelte. Dann klappte er das Namensschild zusammen und legte es in eine dunkelbraune Aktentasche, die er mithatte. "Dann freut es uns besonders, daß Sie zu uns stoßen, Sir. Mein Name ist Gereth Degenhart. Ich bin sozusagen das Gammamännchen in unserem Familienverband."

Richard lachte kurz und künstlich über diesen Anflug von Humor und sah den Mann, der ihn hier abgeholt hatte noch mal genauer an.

Mr. Gereth Degenhart wirkte jung und dynamisch. Er besaß dichtes, dunkles Haar und graublaue Augen, die Richard verrieten, daß ihr Besitzer über ein großes Maß Intelligenz verfügte, diese aber wohl zu verbergen trachtete, vielleicht eben weil er nur die Gammaposition, also die dritthöchste Stellung in der Firma einnahm. Richard hatte auf jeden Fall aus den wenigen gewechselten Sätzen erfahren, daß es sich bei der Degenhart Autodesign-Kompanie um einen Familienbetrieb, womöglich einen mittleren bis kleinen handeln mochte. Reno Scott, welcher ihn im Auftrag Degenharts von seiner früheren Arbeitsstelle abgeworben hatte, war da nicht detailliert drauf eingegangen, wie das Unternehmen strukturiert war. Doch Richard war sowieso nicht in Eile, das herauszufinden. Was wichtig war, würde er im Laufe der nächsten Wochen und Monate erfahren.

Die Fahrt nach Bay City in Mr. Degenharts seegrünem Cadillac verlief mit belangloser Unterhaltung. Richard hielt sehr bedacht mit seiner Familiensituation hinter dem Berg und ließ auch nicht durchblicken, daß er all zu gerne die Anstellung gewechselt hatte. Mochten sich die Leute aus der neuen Kompanie sowieso denken, daß er bei ausreichenden Angeboten rasch den Arbeitsplatz aufgab oder nicht. Wer Kopfjäger bemühte, um gut ausgebildete Fachleute zu werben, sollte zumindest nicht all zu viel Wert auf Loyalität legen.

Gereth Degenhart merkte sehr wohl, daß Richard Andrews nicht über private Dinge oder eigene Vorstellungen reden wollte. So betätigte er sich als Fremdenführer und erläuterte dem aus England stammenden Chemiker die Sehenswürdigkeiten der Industriestadt und wer hier alles schon zu Ruhm und Ehren gekommen war. Richard erfuhr auch, obwohl er sich stets von sowas distanziert hatte, daß in Bay City ein weltberühmter Popmusikstar geboren sei, der zwischendurch, wenn die gewaltige Tour- und Produktionsmaschinerie es mal zuließ, die hier noch wohnenden Verwandten besuchte, allerdings heimlich und mit viel Bedacht auf Unkenntlichkeit.

"Die soll mir bloß nicht querkommen", dachte Richard Andrews und sagte laut: "Ich bin aus dem Alter raus, wo mich sowas interessiert. Mal abgesehen davon, daß ich schon bei Woodstock nicht kapiert habe, wie Leute meines Alters sich für drogenabhängige oder ausschweifend lebende Krachmusiker begeistern konnten. Ich bin eher Jazz-Fan."

"Oh, dann hätten wir Ihnen vielleicht in unserer Dependence in New Orleans was finden sollen", grinste der sich selbst als Gammamännchen bezeichnende Fahrer des Cadillacs. "Aber in der Richtung hat die nette Madonna auch schon was ausprobiert. Meine Tochter hat damals eine Filmmusik-CD angebracht, wo sie Swing- und Jazzstücke drauf untergebracht hat. Na ja, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Wir sind in Amerika, dem Land, wo jeder sein kann, was er will."

"So singen Sie in Ihrer Nationalhymne", gab Richard mit künstlicher Belustigung zur Antwort. Innerlich verabscheute er das Getue der US-Bürger. Sicher, die Briten im allgemeinen und die Engländer im Besonderen hatten es ihnen ja vorgemacht, was ihm, Richard, kein Recht gab, sich darüber zu beschweren.

In einer freundlich anmutenden Straße mit großen, weißen Häusern hielt der Cadillac endgültig an. Degenhart stellte den PS-starken Motor ab und deutete auf das weiß gestrichene Haus zur Rechten.

"Wir sind angekommen, Sir. In diesem Haus hat der Boss eine vierzig Quadratmeter große Wohnung für Sie angemietet. Sie brauchen sich nicht um die Mietzahlungen zu kümmern, daß bezahlt alles unser gemeinsamer Boss. Vertragen Sie sich nur gut mit den Nachbarn!"

"Ich hatte nie Probleme mit meinen Nachbarn", grummelte Richard Andrews erst, fing sich dann aber und sagte laut und überzeugend klingend: "Ich lege immer großen Wert auf Ruhe und Frieden, wenn ich nach einem Arbeitstag heimkomme. Ich denke doch, daß ich mit der Nachbarschaft keine Probleme bekommen werde und diese auch nicht mit mir."

"Eine gesunde Einstellung", bemerkte Degenhart und half Richard beim Gepäck. Wenn der Chemiker aus London, der vier Wochen lang in New York gearbeitet hatte, mit seiner neuen Wohnung warm geworden war, wollte er sich alle für ihn wichtigen Sachen aus seinem viel zu großen Haus nachschicken lassen. Das mochte dauern und auch teuer sein. Aber wenn er hier gut klar kam, würde es sich auszahlen.

Das Haus war ein geräumiges Mehrparteien-Mietshaus, jedoch mit mit einem hell gestrichenen Treppenhaus. Ja, auf den Treppen lagen weiche Teppiche, die den Hall so gut dämpften, daß Richard dachte, in einem Lesesaal zu sein. Hinter dem Haus lag ein großer Garten. Um den, so Degenhart, müsse er sich auch nicht sorgen, da seine Firma in eine Gemeinschaftsgärtnerei einbezahlte, die die Gärten dieser Straße in Ordnung hielt. Er müsse lediglich anmelden, wenn er besondere Pflanzen setzen wolle. Richard, der nach der Winston-Churchill-Straße jede Lust an einem großen Garten verloren hatte, nickte zustimmend. Aussehen war eines, aber Arbeit was anderes. Er würde sich nicht um einen Garten kümmern müssen, der adrett aussah, aber wohl auch viel Sorgfalt verlangte.

Sie fuhren mit einem von drei Aufzügen in den fünften der sieben Stockwerke, wo Degenhard dem neuen Mitarbeiter einen Satz Schlüssel aushändigte.

"Das sind Ihre fünf Schlüssel. Einer ist für den Haupteingang. Einer ist für den Hintereingang. Wenn Sie doch einen Wagen haben, können sie mit dem dritten die Tiefgarage betreten. Der Vierte schließlich öffnet das Sicherheitsschloss Ihrer Wohnung. Der fünfte Schlüssel ist für den Briefkasten. Hier ist der Briefeinwurfschlitz", erklärte Gereth Degenhard und wies auf eine lange schmale Klappe rechts der Tür. Dann half er Richard mit dem Gepäck.

Als Richard Andrews seine Sachen untergebracht hatte, drückte ihm Degenhart Junior noch einen Zettel in die Hand. Darauf stand, daß er morgen, am Montag, im Büro der Degenhart-Autodesign-Kompanie vorsprechen sollte, um seinen neuen Arbeitsplatz kennenzulernen. Der Boss und der Personalchef würden ihn persönlich begrüßen. Mit dem Zettel bekam Richard auch eine Monatskarte für die Eisenbahn. Er sollte also vorerst mit einem Pendelzug zwischen dieser kleinen Nachbarstadt und Detroit wechseln. Wehmütig dachte er an seinen Bentley, der in der Garage seines Hauses in London wartete. Sollte er ihn zuerst herüberholen lassen?

Am nächsten Tag stellte sich Richard Andrews wie angewiesen bei seinem neuen Chef vor. Dieser wirkte wie ein zwanzig Jahre älteres, um Bauch und Hüften doppelt so umfangreiches Ebenbild von Gereth Degenhart. Sein dunkler Haarschopf war bereits auf dem Rückzug, und er benötigte eine Brille gegen Kurzsichtigkeit. Sein Händedruck war jedoch so kraftvoll, als würde er jeden Tag mindestens fünf Dutzend Orangen mit bloßer Hand auspressen, vermeinte Dr. Richard Andrews.

"Im wesentlichen werden Sie gemäß den vereinbarten Bedingungen im Molekülbaubüro arbeiten, Dr. Andrews. Die Rechner, die wir haben, verfügen alle über zwei Coprozessoren und sind bereits mit 300 Megahertz getaktet, was wir jedoch alle halbe Jahre aufstocken wollen, um Simulationen noch schneller und mit größerer Bildauflösung laufen zu lassen. Ich erfuhr, daß sie mit CAD-CAM-Programmen schon gearbeitet haben. Wie gut kennen Sie sich da noch aus?"

"Nun, ich bin für Kunststoffentwicklungen zuständig und mußte mich nie mit Bauteilen und deren Eigenschaften im physikalischen Test befassen. Aber natürlich habe ich die gängigen Anwendungen in Fortbildungsseminaren kennen und nutzen gelernt. Ich denke, nach einer bis zwei Stunden Einführung dürfte ich die Software bedienen können. Wenn Sie es möchten, hänge ich die Einführungsstunden in den nächsten Tagen als Überstunden hinten an, um sofort die in mich gesetzten Erwartungen zu erfüllen", bekundete Andrews eifrig. Er wußte, daß er hier nicht nachlässig sein durfte. Mr. Mark Degenhart nickte zustimmend und deutete auf seinen Personalchef, Egon Mathews, der dem neuen Mitarbeiter sein Büro zeigte, von dem aus eine Bild- und Datenleitung zum Produktionsstandort im Industrieviertel geschaltet war. Dr. Nina Zager, die Computerspezialistin, begrüßte Richard an einem der drei PCs, die in Betrieb waren. Sie mochte gerade fünfundzwanzig Jahre alt sein und trug ihr tizianrotes Haar kurz und glatt frisiert. Sie lief in Jeans und Sweatshirt herum, anders als Andrews, der für den Arbeitstag einen feingeschnittenen, hellgrauen Anzug mit passender Krawatte angezogen hatte. Sie zeigte Richard die Handhabung des Modellierprogramms, mit dem Kunststoffverbindungen zusammengestellt und durch verschiedene physikalische Simulationen gejagt werden konnten, wie Hitze, Druck oder Elastizität. Richard war zufrieden, als er die Quelldateien einsah, die die spezifischen physikalischen Eigenschaften bei bestimmten Umweltfaktoren angaben. Seines Wissens nach war an den Tabellen und Formeln nichts verkehrtes.

"Das praktische ist, wenn ein neues Material durch den Computertest gelaufen ist, kann dessen Zusammensetzung zum Labor geschickt werden, wo die chemischen und physikalischen Versuche ablaufen können. Wenn dann die Echtprüfung der Simulation entspricht, kann das Material sofort zur Modellierung weitergeschickt werden, die mit den hier entworfenen Plänen versorgt werden kann. Die Entmontage erledigen dann unsere Roboter. Von hier bis zur Endfertigung sind es sechzehn Kilometer. Sie müssen jedoch keinen Schritt aus diesem Bau tun, um alle wichtigen Prozesse anzukurbeln", erklärte Nina Zager. Richard verstand, daß hier Rationalisierung im großen Stil betrieben wurde. Die studierte Kybernetikerin und EDV-Spezialistin überwachte die elektronische Umsetzung, während er, Richard Andrews, die naturwissenschaftlichen Grundlagen lieferte. Irgendwie kam er sich vor wie ein Steuermann auf einem Schiff, der Ruderbewegungen nur noch per Joystick ausführen mußte und mit einem Handgriff den Maschinenraum anweisen mochte, mit wieviel Kraft der Antrieb arbeiten sollte. Er brauchte wohl nicht mehr direkt in die Labors, sondern konnte per Bild-Sprech-Verbindung mit den dortigen Facharbeitern reden. War das wirklich das, was er immer schon gewollt hatte? Jedenfalls war dies für ihn, der im Moment jede Lust an Teamarbeit in einem Labor verloren hatte, die einstweilen angenehmste Lösung.

Um ihn nicht nur als fernen Kopf der Produktionsgänge bei den Arbeitskräften vor Ort zu betrachten, stellte Roger Degenhart, der älteste der beiden Söhne des Firmenchefs, das sogenannte Betamännchen, den neuen Kunststoffexperten einen Tag später bei der Belegschaft der Materialkunde in den Labors vor. Richard erduldete die lange Begrüßungsarie und versprach, mit den Leuten hier gut zusammenzuarbeiten.

Lästig war für Richard die Zugfahrt. Sicher, er hatte eine gültige Monatsfahrkarte. Doch mit hunderten von einfachen Arbeitern und Familien mit quängelnden Kindern in den Abteilen herumzusitzen mißfiel dem ehemaligen Familienvater, der nun, wo er auf die öffentlichen Nahverkehrsmittel angewiesen war, die Stunden in den Londoner Staus, die er immer verflucht hatte, als kleineres Übel ansah.

Am zweiten Abend in Bay City rief ihn Loretta Irene Hamilton, seine neue leidenschaftliche Freundin, auf seinem Handy an. Er gab ihr seine neue Festnetznummer durch und unterhielt sich dann lange mit ihr über seine ersten Eindrücke von Detroit oder den Nachbarstädten. Sie schlug vor, übers Wochenende zu ihm zu kommen, damit er ihr die neue Umgebung zeigen mochte. Unverzüglich sagte er zu. Denn in ihm erwachte die Begierde, die überragend schöne Archäologin aus seiner Heimat wiederzusehen, sie in den Armen zu halten, langsam aus ihren Kleidern zu befreien und sie dann mit einer früher nie gekannten Leidenschaft zu lieben, sich von ihr nehmen und mit gleicher Unersättlichkeit lieben zu lassen.

Die restliche Arbeitswoche verflog, weil Richard neue Ideen, mit denen er an und für sich bei seinem früheren Arbeitgeber Eindruck machen wollte, in den schnellen Rechnern Degenharts in vielfacher Weise durchspielen und ausfeilen konnte, wo er welche Polymere zusammenkoppeln und welchen Bedingungen er welche neuen Molekülketten unterwerfen konnte. Mit dem Wochenende kam auch Loretta. Sie hatte ihr rotes Haar zu einer wilden Löwenmähne frisiert und trug ein kirschrotes Kostüm dazu. Richard bot ihr eine Stadtrundfahrt durch Detroit und gönnte sich ein Taxi zu seinem Haus, wo sie sich von einem hochwertigen Speisenservice ein Sechs-Gänge-Menü kommen ließen. Irgendwann, so um Mitternacht herum, landeten die beiden in Richards neuem, etwas schmalen Bett, dessen Federung leicht quietschte, als sie in kraftvolle, gleichmäßige Schwingungen versetzt wurde.

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Henriette Wellington saß auf dem schmalen Stuhl neben dem weißen Bett. Um sie herum piepte und Tickte es. Eine Krankenschwester in blütenweißer Tracht saß aufmerksam vor einem Monitor, auf dem eine Kurve und Zahlenreihen flimmerten. Am oberen rechten Bildrand leuchtete die aktuelle Uhrzeit und das Datum. Es war nun 22:02:34 Uhr am zweiten Dezember 1995. Über einen Monat lag Cecil Wellington, Henriettes einziger Sohn, nun auf der Intensivstation. in der McCurton-Klinik. Immer noch wurde er von Maschinen versorgt, die Herz und Atmung kontrollierten, ohne die Cecil wohl schon längst tot wäre. Jeden Tag war sie hergekommen, hatte die ihrem Mann zustehende Hubschrauberflugbereitschaft ausgenutzt, um bei ihrem Sohn zu sitzen, ihm aus der Zeitung vorzulesen oder ihm französische Volkslieder vorzusingen oder ihm seine Lieblingsmusik vorzuspielen. Doch Cecil wollte nicht aufwachen. Obwohl die Computertomographie und die ständigen EEG- und PET-Untersuchungen ergaben, daß Cecils Gehirn nicht schwer geschädigt worden war, wollte er nicht aus dem Koma erwachen, in das er nach dem verheerenden Sturz mit dem Pferd gefallen war. Henriette konnte noch nicht einmal sagen, ob ihr Sohn sie verstehen konnte oder nicht, denn seine Augen öffneten sich nur selten und starrten dann wie durch sie hindurch.

Zwei Tage zuvor war dieses junge italoamerikanische Fräulein, Laura Carlotti, mit einem Blumenstrauß hergekommen und hatte sich lange mit der Frau des Senators unterhalten, die sechs Stunden am Stück hier ausgeharrt hatte. Henriette hatte erfahren, daß dieses Mädchen ihren Cecil wohl gut leiden mochte. Doch der Tod von Silver Bullet war ihr wohl besonders nahegegangen. Selbst wenn Henriette ihr vorsichtig zu verstehen gegeben hatte, daß es für das Pferd besser so sei, hatte Laura auf die Lebenserhaltungsmaschinen gedeutet und gefragt, wieso man für wertvolle und liebgewonnene Tiere nicht denselben Aufwand betreiben wolle, ja das was bei Tieren als human angesehen wurde, bei Menschen absolut undenkbar war.

"Sie glauben doch sicher an Gott, Miss Carlotti. Dann wissen Sie doch sicher, daß jeder von uns seinem Willen unterworfen ist. Er bestimmt, was wir erleben und ertragen müssen."

"Ich hoffe, daß Cecil wieder aufwacht, Mrs. Wellington. Das kann doch nicht Gottes Wille sein, ihn ein Leben lang untätig herumliegen zu lassen", hatte das dunkelhaarige Mädchen überzeugt geantwortet. "Wenn er will, daß er am Leben erhalten wird, dann muß Cecil irgendwann wieder aufwachen."

"Das ist wohl richtig", hatte Henriette Wellington zugestimmt.

Ja, und nun saß sie wieder alleine hier und lauschte dem kalten hohen Piep-Piep-Piep des EKG-Überwachungsgeräts und den mechanischen Geräuschen der Beatmungsanlage, einer monotonen Musik gefühlloser Durchhalteparolen, der seelenlosen Gnade fortschrittlicher Technik unterworfen.

"Mrs. Wellington, es tut mir leid, doch die Besuchszeit ist gleich um. Ich denke, ihr Pilot möchte Sie noch vor Mitternacht heimbringen", wandte sich die Krankenschwester an die betrübte Mutter des Patienten, der da in seinem Bett lag, beatmet und künstlich ernährt von Apparaten, denen er so egal war wie ein Staubkorn im Wind. Henriette Wellington, die in den ersten drei Wochen der unsäglichen Zeit hier alle Tränen verweint hatte, nickte schwerfällig und verabschiedete sich von ihrem Sohn. Sie schlurfte schwerfällig aus dem Krankenzimmer, hin zum Fahrstuhl und fuhr hinauf zum Dach, wo der kleine Hubschrauber stand, mit dem sie heimfliegen konnte. Die McCurton-Klinik verfügte über drei Landeplätze für private Helikopter und drei für Rettungsmaschinen, die jedoch nicht von der allgemeinen Rettung stammten, sondern von den exklusiven Krankenversicherungen finanziert wurden, denen die hier gesundenden Patienten angehörten. Im Fahrstuhl sah Henriette Wellington eine junge Frau in einem eleganten meergrünen Kostüm, das gut zu ihren dunkelgrünen Augen passte, die im kalten, leicht flackernden Neonlicht der Liftkabine einen leichten grauen Widerschein zeigten. Das dunkelbraune Haar der Fremden war sorgfältig hinter dem Nacken zusammengebunden. Henriette Wellington hatte die Frau hier noch nie gesehen. Doch sie wagte nicht, sie anzusprechen. Denn die Fremde wirkte irgendwie abwesend.

Ein lauter Glockenton verkündete, daß der Fahrstuhl das Dachgeschoss erreicht hatte. Die Fremde nickte Henriette Wellington zu und schlüpfte zuerst aus der Kabine. Cecils Mutter stakste marionettengleich aus dem Fahrstuhl und ging langsam auf die große Tür zu, die zum Hubschrauberlandedeck führte. Dieses war auf mehreren Stahlbetongerüsten als Vordach errichtet worden und konnte die Last der möglichen sechs Maschinen tragen, ja sogar das dreifache davon aushalten. Henriette sah sich beiläufig nach der Frau aus der Kabine um. Diese war jedoch verschwunden. Offenbar war sie durch die zweite Tür in die Cafeteria hinübergegangen, die noch bis Mitternacht Angehörige von Patienten mit Essen und Trinken versorgte. Henriette ging hinüber zu ihrem kleinen blau-grauen Hubschrauber und winkte dem Piloten, der im Licht einer Halogenlampe ein Buch las. Der ehemalige Marineflieger, der nun für die Hubschrauberflugbereitschaft der US-Senatoren arbeitete, sprang auf und salutierte aus angedrilltem Reflex. Henriette lächelte gequält und ging auf ihn zu.

"Bringen Sie mich jetzt heim", seufzte sie und wartete, bis ihr der Pilot die Tür zu den bequemen Polstersitzen geöffnet hatte. Als der Rotor der Maschine anlief, legte Mrs. Wellington den Sicherheitsgurt um.

"Helikopter Sierra Whiskey Yankee sieben Bravo für Direktflug nach Harrisburg startbereit. Erbitte Kurs und Flugflächenangabe!" Sprach der Pilot ins Funkgerät. Über Kopfhörer bekam er die gewünschten Informationen, schaltete den Scheinwerfer ein und brachte die Maschine in die Luft. Normalerweise war bei Einbruch der Dunkelheit der Flugverkehr sehr stark beschränkt, wußte Henriette Wellington. Doch die Privilegien ihres Mannes und damit seiner Familie ließen genug Raum für schnelle Reisen. Allerdings, so wußte sie auch, hatten die demokratischen Gegner ihres Mannes schon oft angemahnt, daß Senator Reginald Wellington die Flugbereitschaft nicht beliebig ausnutzen sollte. Dieser hatte jedoch mit der Faust auf den Tisch gehauen und laut eingeworfen:

"Ich möchte Sie alle erleben, wenn Mitglieder Ihrer Familien schwer krank sind und Sie wissen, daß Sie sooft es geht bei Ihnen sein wollen. Es gibt genug Steuersünder, die dem Staat wesentlich mehr abverlangen als Sie oder ich."

Der Pilot war sehr diskret. Ja, er erkundigte sich niemals, was die von ihm beförderten Passagiere an dem Ort taten, an den sie gebracht und von wo sie abgeholt wurden. So war das laute Wummern der Motoren das einzige, was Henriette Wellington auf dem Rückflug zu hören bekam.

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Es war noch dunkel draußen auf dem Land. Der Winter schickte mit klirrender Nachtkälte seine Vorboten über das freie Feld, wo vor mehr als 150 Jahren noch Baumwolle angepflanzt und von afrikanischen Sklaven geerntet werden mußte. Unter einer Decke aus Warmwolle räkelte sich ein zerbrechlich wirkendes Mädchen von etwa zwölf Jahren. Es setzte sich auf und blickte in die Dunkelheit. Links von ihrem Bett lag auf einem Kiefernholztischchen ein etwa sechs Zoll langer Zauberstab. Diesen nahm sie und sagte leise "Lumos!" Ein helles Licht glomm an der Spitze des Zauberstabes auf und beschien einen schmalen Ausschnitt des kleinen Dachgeschosszimmers, in dem das Kind schlief, wenn es nach einem anstrengenden Tag rechtschaffen müde ins Bett wollte. Es dachte an diese merkwürdigen Träume, die es vor drei Tagen noch geträumt hatte. Darin war sie ein ziemlich dürrer Junge gewesen, der bei einem Zauberer namens Nitts in magischen Sachen unterrichtet wurde. Doch diese Träume verflogen langsam. Sicher, sie hatte bei diesem Nitts gelernt, doch sie war nie ein Junge gewesen. Sowas lächerliches zu träumen, wunderte sich die zwölfjährige Dido Pane, war wohl durch den Ärger mit Nitts Feinden passiert, die ihn am Ende sogar umgebracht hatten. Wenn sie die große Anthelia nicht gerettet und von den Verletzungen geheilt hätte, die sie sich bei dem Angriff von den Schwarzberg-Brüdern aus Kalifornien zugezogen hatte, wäre sie sicher gestorben. So war das Hexenmädchen sehr glücklich, endlich unter verständnisvollen Mitschwestern zu leben. Sicher, die dummen Träume von ihr hatten sich hartnäckig gehalten. Sie hatte nach der ersten Nacht bei Anthelia sogar noch geglaubt, sie wäre ein Junge namens Ornatus gewesen. Doch Anthelia hatte sie beruhigt und ihr viel Schlaf empfohlen, um die aufgewühlte Seele wieder zu heilen. Tatsächlich hatte sie an den ersten beiden Tagen bei ihr nur fünf Stunden am Tag wach zugebracht. Irgendwann waren dann auch diese dummen Träume verflogen. Sie konnte sich wieder klar und deutlich daran erinnern, wer sie war und was sie so erlebt hatte. Sie war Dido Pane, die einzige Tochter von Hasdrubal und Morighan Pane, sollte an und für sich vor einem Jahr nach Hogwarts, weil sie dort Zauberei lernen sollte. Doch weil ihr Cousin Brutus dort einen Muggelstämmigen mit einem heftigen Fluch angegriffen hatte, den er nicht können durfte, waren ihre Eltern mit ihr schnell aus England abgereist und in die ehemaligen Kolonien Nordamerikas gereist, die sich heute großspurig als vereinigte Staaten darstellten. Hier war sie bei Lohangio Nitts in die Lehre gegangen, obwohl es besser gewesen wäre, wenn sie bei ihrer Tante Nigradora oder in muggelstämmigenfreien Schulen der Staaten Zauberei und Hexerei gelernt hätte. Denn oft hatte sie gefürchtet, Lohangio könnte irgendwann über sie herfallen, sie schänden oder zur billigen Küchenmagd herabwürdigen, wenn sie etwas älter wäre. Wohl weil sie so zerbrechlich aussah, war ihr so ein Schicksal bisher erspart geblieben. Ja, und nun, nachdem erst Seth Schwarzberg und dann der leibhaftige Lord Voldemort, vor dem jeder große Angst hatte, bei ihrem Lehrmeister aufgetaucht war und das Haus von Nitts niedergebrannt worden war, mußte sie sich ein neues Leben aufbauen, als jüngste Schülerin der wiedergekehrten Anthelia. Diese hatte ihr nach dem zweiten Tag durch einen mächtigen Fluch klargemacht, daß sie niemandem außerhalb der Schwesternschaft, zu der sie nun gehörte, von ihr und der Schwesternschaft erzählen sollte, sofern es nicht galt, neue Mitschwestern zu werben.

"Incendio!" Rief Dido Pane mit einer glockenreinen Stimme, die einer Operndiva die Neidesblässe ins Gesicht getrieben hätte. Im kleinen Ofen des Zimmers flammte ein Kohlenfeuer auf. Dido schloss die eiserne Ofenklappe und fühlte, wie sich wohlige Wärme im kleinen Dachzimmer mit den zwei schrägen Decken ausbreitete. Sie nahm vom Nachttisch zwei Bücher "Die Besenprinzessin" und "Zauberkunst im Alltagsgebrauch". Sie las im Licht ihres Zauberstabes von ihrer Armbanduhr, daß es erst fünf Uhr morgens war. In diesem Haus wurde nie vor sechs Uhr der Tag begonnen, wußte sie. Die wenigen, die hier schliefen - außer Anthelia und sie waren es immer andere Mitschwestern -, erfreuten sich eines gesunden langen Schlafes. So las Dido Pane eine halbe Stunde im Zauberkunstbuch, aus dem sie an diesem Morgen einige Küchenzaubereien vorführen sollte, um dann den Hexenroman von der jungen Hexe zu lesen, die in Hogwarts von ihren Mitschülerinnen wegen ihres plumpen Aussehens verspottet wurde und später zur größten Besenkunstfliegerin ihrer Zeit aufsteigen sollte. Als dann mit lautem Schlag die Standuhr im Salon des alten Hauses sechs Uhr schlug, verließ Dido den Schlafraum und ging zum Gästebadezimmer, wo bereits ein großer Kessel angeheizt war, um für die morgentliche Wäsche warmes Wasser zu bereiten. Der Tempunctuactio-Zauber, den Dido noch bei Lohangio Nitts gelernt hatte, machte es möglich, einen bestimmten Zauber zu einer bestimmten Uhrzeit in Kraft treten zu lassen. Das was die Muggel mit elektrischen Zeitschaltuhren anstellten, war in der Magie schon so alt wie das römische Imperium.

Als Dido eine halbe Stunde später im großen Esszimmer der Daggers-Villa ankam, warteten dort alle im Haus existierenden Geister alter Bürgerkriegssoldaten und vor allem das Gespenst des übergewichtigen, vollbärtigen Stanley Daggers, des letzten Besitzers dieses Hauses, das wie die Soldatengeister ein afrikanischer Seelenverharrfluch in diesem Haus gefangenhielt. Anthelia, die irgendwie wie eine Schwester von Bartemius Crouch Junior aussah, gab den Gewesenen gerade Anweisungen. Sie hatten das Haus in Ordnung zu halten, die Umgebung zu beobachten und für niedere Arbeiten zur Verfügung zu stehen, so wollte es die höchste Schwester. Aufbegehren half nichts. Sie beherrschte Flüche, mit denen sie selbst einem Geist unsägliche Qualen zufügen konnte.

"Ah, Schwester Dido. Schön, daß du schon auf bist. Schwester Lobelia wird nachher mit Schwester Patricia herkommen. Schwester Patricia wird dich heute auf die Probe stellen, wie weit du mit deiner Zauberkunst gediehen bist. Setz dich zu mir und sprich dem Frühstück zu, auf daß du zu Kräften kommst!"

Während des reichhaltigen Frühstücks, daß Anthelia aus der Küche herbeibeschwor, sprach die höchste Schwester die junge Mitschwester noch einmal darauf an, was Dido ihr vor einem Tag noch erzählt hatte. Im Kerker der Unzerstörbarkeit in Lohangios Haus mußte noch das verfluchte Buch von Pacidenyius Nitts lagern, vor dessen Abwehrzaubern ihr früherer Lehrmeister sie immer gewarnt hatte. Anthelia war sehr interessiert an diesem Buch. Doch Dido konnte ihr nur sagen, daß es wohl nur mit besonderen Vorkehrungen gelesen werden könne und selbst von seinem wahren Erben schwer in Besitz genommen werden konnte. Anthelia lächelte von Zeit zu Zeit.

"Ich werde mich heute noch einmal in der Ruine umsehen, wenn die Leute vom Zaubereiministerium es noch nicht geborgen haben, Schwester Dido. Nach dem, was du mir kundgetan hast, hat dieser Magier Nitts wohl wichtige Geheimnisse seiner Zeit in diesem Buch verankert und mit sicherheit durch Zauber wie Legidelirius geschützt. Gegen diesen Zauber kenne ich wirksame Abhilfe, und falls das Buch mich als neue Herrin annimmt, werde ich das, was dein alter Lehrmeister dir vorenthalten wollte, ergründen und im Bedarfsfall euch anderen kundtun. Doch vorerst werde ich gewisse Ereignisse ins Werk setzen, die unserer Sache nützlich sind."

"Welche Dinge sind das?" Fragte Dido neugierig.

"Dies betrifft dich nicht, Schwester Dido. Für dich ist nur bedeutsam, daß du heute von Schwester Patricia in den gebräuchlichen Zaubereien unterwiesen wirst. Jed weiteres Geschick obliegt alleine mir", sagte Anthelia mit ihrer warmen Altstimme, die an und für sich einer netten Tante oder Solosängerin gut stand. Doch Dido hörte unverkennbar bedrohliche Untertöne heraus. Sie wußte, daß Anthelia sehr mächtig war und dumm war, wer sich mit ihr anlegte. So verjagte sie ihre Neugier. Es war ihr bei Lohangio Nitts schon nicht gut bekommen, mehr wissen zu wollen als man sie wissen lassen wollte. So bereitete sich Dido auf die morgentlichen Stunden vor.

Lobelia Wagner apparierte in Jeans und Strickpullover in der Eingangshalle der Villa, die nur fand, wer von Anthelia selbst über die Lage und das Aussehen informiert worden war. Lobelia Wagner war eine leicht untersetzte Hexe mit graubraunem Haar und blauen Augen. Sie arbeitete offiziell in der Abteilung für magischen Handel im Zaubereiministerium. Seit einem Vierteljahr war sie aber auch Mitglied in Anthelias Spinnenorden. Ihre Arbeit ermöglichte es ihr, auch in der Welt der sogenannten Muggel herumzukommen, da die Handelsabteilung auch dafür zuständig war, Zaubergegenstände nicht in Muggelhände fallen zu lassen. Sie war selbst eine Muggelstämmige, deren Eltern in Arizona eine kleine aber gut gehende Lederwarenfabrik betrieben. Anthelia war froh, eine Schwester in ihren Reihen zu haben, die zum einen im Ministerium ein- und ausging und sich zum anderen auch in der nichtmagischen Welt zurechtfand. Zwar hatte Anthelia selbst einen zauberunfähigen Teenager in ihre Gewalt bringen und zu ihrem Kundschafter machen können. Doch dieser Junge hatte fliehen müssen und war nun in der bisherigen Weise nicht mehr verwendbar.

"Höchste Schwester, du wolltest mich sprechen. Hier bin ich, wie du befohlen hast", begrüßte Lobelia Wagner ihre Anführerin, die nun im weißen Umhang des Spinnenordens vor ihr stand. Anthelia nickte und führte die Mitschwester in den Salon. Keine Minute später ploppte es erneut. Eine weitere Schwester des Spinnenordens war angekommen.

"Wir befinden uns in der herrschaftlichen Stube, Schwester Patricia!" Rief Anthelia der Angekommenen zu. Patricia Straton eilte sofort zum großen Salon, wo sie Anthelia und Lobelia begrüßte. Anthelia legte ihre Finger auf die Lippen und sah Patricia konzentriert an.

"Hast du den Ort und die Menschen erneut in Augenschein genommen, Schwester Patricia?" Hörte die in schlichter Muggelgarderobe gekleidete Spinnenschwester Anthelias Gedankenstimme fragen. Sie sandte auf dem Weg des Mentiloquismus zurück:

"Ich habe alle notwendigen Gegebenheiten geprüft, niedergeschrieben und sogar einige Lichtbilder beschaffen können, höchste Schwester. Wir können heute Nacht deinen Plan ausführen."

"Gut, Schwester Patricia. Geh zu unserer neuen Schwester Dido und führe sie in den Trophäenraum, wo du ihr die tägliche Unterweisung erteilen magst! Ich hieß sie, sich in den Reinigungs- und Küchenzaubereien zu üben. Sieh, wie weit sie schon gediehen ist!"

"Sehr wohl, höchste Schwester", sagte Patricia Straton und legte Anthelia einen großen Umschlag auf den Tisch. Die Oberste des Spinnenordens nahm den Umschlag, winkte Lobelia zu und disapparierte. Lobelia folgte ihr. Sie verschwanden in den unzugänglichen Weinkeller, dem eigentlichen Hauptquartier des Ordens, den nur jemand betreten konnte, der apparieren konnte. Patricia suchte Dido Pane in ihrem Schlafgemach auf und führte sie in ein rustikales Zimmer, in dem Köpfe von Büffeln, Elchen und einem Grizzlybären an den Wänden hingen, Zeugen eines fanatischen Jagdeifers der Männlichen Besitzer dieses Hauses. Hier begann Patricia Straton ruhig aber mit der Strenge einer berufsmäßigen Lehrerin, Dido in den angewiesenen Zaubereien abzufragen und sie Übungen machen zu lassen.

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Laura Carlotti hatte Angst. Ihr Vater hatte einen Drohanruf aus Chicago erhalten, demnach man seine Familie angreifen würde, wenn er sich nicht an bestimmte Vereinbarungen hielt. Sie hatte früher nie so recht auf das geachtet, was ihr Vater und die beiden Onkel Mario und Giuseppe taten, außer daß sie bei Richtfesten und Einweihungen von großen Schulen und Krankenhäusern dabei war, die von ihnen gebaut worden waren. Doch daß es irgendwie auch böse Leute außerhalb geben sollte, die das nicht mochten, was ihre Familie tat, wußte sie schon seit sie ein kleines Mädchen war. Daß sie in einer gut abgeschotteten Privatschule für höhere Töchter ging, die einen eigenen Wachdienst unterhielt und auch den Kindern früherer und künftiger Amtsträger ein sehr großes Wissen vermittelte, hatte sie nur selten aus der dumpfen Stimmung reißen können, daß sie eines Tages in große Gefahr geraten mochte. Dieser Gedanke hatte sich in ihr regelrecht festgesetzt, als sie nur noch in Begleitung eines Chauffeurs im Mercedes ihres Vaters zur McCurton-Klinik fahren durfte, um den im Koma liegenden Cecil Wellington zu besuchen. Ihr Vater hatte sie einmal laut angefahren, was ihr denn einfiele, diesen Politikersohn andauernd zu besuchen. Doch irgendwie, o Wunder, hatte er schließlich doch nachgegeben und ihr für die Fahrten den Chauffeur und das Auto zur Verfügung stellen lassen. Doch daß der für seinen Job zu athletisch gebaute Fahrer sie auch noch ins Krankenhaus begleitete, war ihr doch irgendwie lästig.

Nun saß sie am Krankenbett von Cecil Wellington und sprach zu ihm. Sie wußte, daß ein Mensch im Koma durchaus nicht taub und blind für seine Umwelt sein mußte. Als Nonna Donnatella, ihre nun achtzig Jahre alte Großmutter väterlicherseits nach einem Sturz von der Leiter Monate lang bewußtlos dagelegen hatte, war sie auch immer zu ihr gekommen. Später, als sie endlich wieder aufgewacht war, hatte diese ihr erzählt, sie habe es mitbekommen, daß sie an ihrem Bett gesessen und gebetet habe. So saß sie nun auch an Cecils Bett und betete. Warum sie sich so für diesen Jungen engagierte, der im Krankenbett viel von seiner sportlichen Erscheinung eingebüßt hatte, wußte sie nicht. Mochte es ein schlummerndes Schuldgefühl sein, weil sie mit ihm das Wettreiten veranstaltet hatte oder doch eher Mitleid mit ihm. Zumindest war sie einmal pro Woche bei ihm und sprach zu ihm auf Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch. Die Schwester, welche die Intensivapparate überwachte, hatte ein- zweimal gefragt, ob das so viel bringen würde, drei Fremdsprachen zu benutzen. Doch Laura hatte ihr lächelnd versichert, daß Cecil zumindest zwei davon konnte und man ja nicht wußte, was im Gehirn ankam. Tatsächlich hatten die angeschlossenen EEG-Sensoren immer dann, wenn die Besucherin Französisch sprach, höhere Aktivitäten im Sprachzentrum und den Regionen für das Langzeitgedächtnis vermeldet. Darauf hatte der behandelnde Arzt seinen Segen erteilt, daß Laura weiterhin versuchen mochte, über Fremdsprachen das Bewußtsein des Patienten wieder anzuregen.

Der Fahrer saß vor der Tür. Er war mißmutig, weil man an der Eingangstür seine Luga-Pistole gefundenund einstweilen einbehalten hatte, wie es die Sicherheitsvorschriften verlangten. Denn in dieser elitären Privatklinik lagen nicht wenige, die ernstzunehmende Feinde hatten, die die Hilflosigkeit der Patienten liebendgerne ausnutzen würden, um sie umzubringen. Zumindest fühlte sich das junge Mädchen einigermaßen sicher, als sie bei Cecil am Bett saß und über das monotone Piepen und Zischen der Lebenserhaltungsapparate hinweg erzählte, was sie am Tag so getan hatte. Schwester Erikson verließ zwischendurch den Raum und kontrollierte bei den anderen Patienten, die hier intensiv betreut wurden. Laura achtete nicht darauf. Sie saß bei Cecil und sprach über ihren Alltag, jede Kleinigkeit, die sie einem Jungen erzählen mochte. Sie achtete erst auf die Krankenschwester, als diese in Begleitung einer Kollegin ins Krankenzimmer zurückkehrte. Die zweite Schwester wirkte irgendwie gebieterisch, ja strahlte irgendwas aus, das Laura Carlotti unverzüglich ergriff und unterwarf.

"Dr. Goldstein hat befohlen, den Patienten in ein anderes Zimmer zu verlegen", sagte die ältere Krankenschwester mit befehlsgewohnter Stimme. Laura fragte, wer sie sei.

"Ich bin Oberschwester Wilberforth, Ms. Carlotti. Bitte verlassen Sie den Raum, damit wir den Patienten für die Umsiedlung vorbereiten können!"

"Wieso muß er denn in ein anderes Zimmer?" Fragte Laura leicht irritiert.

"Sind Sie eine direkte Verwandte von Mr. Wellington Junior?" Fragte Oberschwester Wilberforth. Laura schüttelte betreten den Kopf. "Dann darf ich Sie nicht über Einzelheiten informieren. Ärztliche Schweigepflicht", legte die autoritäre Oberschwester nach. Schwester Erikson winkte der jungen Italoamerikanerin, das Zimmer zu verlassen. Sie gehorchte widerstrebend aber wortlos. Sie kehrte zu ihrem Fahrer zurück und beschloss, nicht abzuwarten, wohin sie den Jungen bringen würden. Sicher waren die Wellingtons darüber informiert. Außerdem kannte sie das auch von ihrer Großmutter, daß zwischendurch eine Verlegung passierte, um Patienten, die dringendere Hilfe brauchten, näher an wichtigen Behandlungsräumen zu platzieren. Da sie obendrein einen Hubschrauber hörte, meinte sie, um einen solchen Fall handele es sich und verließ mit ihrem Fahrer das Krankenhaus, nicht ohne daß dieser seine Waffe zurückbekam, ungeladen zwar, aber immerhin.

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"Wie, die haben meinen Sohn umquartiert?" Fragte Senator Wellington, nachdem er sich nach dem Befinden seines Sohnes erkundigte.

"Dr. Goldstein hat befunden, daß wir die unstabilen Patienten näher am Reanimationsteam unterbringen müssen", sagte eine dem Senator zu gut vertraute Stimme. Es war Prof. Dr. McCurton persönlich.

"Ach, und dann haben Sie als Chefarzt nicht Einspruch erhoben? Meine Frau wollte heute abend noch bei Ihnen vorbeikommen. Sie wissen genau, daß sie den kurzen Weg vom Helideck zum Zimmer bevorzugt, weil die Gefahr auswärtiger Pressefotografen so gering wie möglich gehalten werden soll. Immerhin liegt mein Sohn schon seit bald anderthalb Monaten bei Ihnen."

"Ich kann nicht alles gleichzeitig überwachen, Herr Senator", grummelte McCurton. "Aber wenn Sie unbedingt darauf bestehen, daß Ihre Gattin einen möglichst kurzen Weg hhat, dann werde ich sicherstellen, daß Ihr Sohn nach der nächsten Untersuchung in ein Zimmer im Dachgeschoss untergebracht wird. Näher geht's nicht ans Helideck. Allerdings werde ich dann eine Schwester zur Einzelüberwachung mehr abstellen müssen. Sie wissen sicher, daß dies nicht kostenlos ist."

"Und sowas wie Sie nennt sich Arzt", stieß Wellington verärgert aus. "Sie sollen den Patienten helfen und nicht deren Angehörige abzocken."

"Herr Senator, es steht Ihnen frei, Ihren Sohn in ein anderes Krankenhaus zu verlegen, wo man sicherlich kostengünstiger mit ihm verfährt. Beschweren Sie sich dann aber bitte nicht über den mangelnden Service!" Konterte der Klinikchef unbeeindruckt. "Wir leben in einem freien Land, wo jeder das Recht hat, sich seinen Arzt auszusuchen, aber jeder Arzt auch das Recht hat, für seine Arbeit bezahlt zu werden. Dasselbe gilt auch für Krankenschwestern."

"Meine Frau wird sich das Zimmer heute abend ansehen und befinden, ob wir den Mehrkostenaufwand hinnehmen. Andernfalls überdenke ich Ihr Angebot, meinen Sohn aus Ihrer Betreuung zu entlassen", erwiderte der Senator, der nach außen den unerschütterlichen Mann gab, der wußte, was er wollte und tat. Innerlich kämpfte jedoch das Gefühl, wegen Cecil immer weiter in eine familiäre und finanzielle Sackgasse zu geraten gegen sein väterliches Pflichtgefühl, alles erdenkliche für seinen Sohn zu tun.

"Ich erkundige mich bei Goldstein, was genau er mit Ihrem Sohn unternommen hat und erwarte Ihre Gattin dann heute abend, falls sie mich noch einmal zu sprechen wünscht, Herr Senator", antwortete McCurton gelangweilt klingend. Doch der Politiker wußte, daß der renommierte Mediziner sich nicht die Blöße geben würde, Cecil Wellington aus seiner Klinik holen zu lassen, womöglich noch unter Beobachtung der Medien, die dann verbreiteten, daß die so gerühmte McCurton-Privatklinik für schwere Fälle den Sohn des Senators weder heilen noch anständig pflegen könne. Wellington dachte auch, daß man seinen Sohn im Handumdrehen auf das Zimmer zurückbringen würde, in dem er seit bald sechs Wochen lag. So machte er sich keine weiteren Gedanken darum, sondern widmete sich einigen Lobbyisten, die ihn wegen staatlicher Subventionen angingen.

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Anthelia und Lobelia warteten, bis Patricia Straton mit ihrer neuen Schülerin im Trophäenraum verschwunden war. Lobelia fragte mit verhaltener Stimme:

"Wie hat er die Umstellung vertragen? Ich fragte mich immer, wie es ist, wenn jemand dem Contrarigenus-Fluch mit Leib und Seele unterworfen wird."

"Sie hat die Umstellung sehr gut überstanden, ja durch meine Anweisungen, viel zu schlafen noch leichter als üblich in ihr neues Dasein hinübergefunden, Schwester Lobelia", erwiderte Anthelia sehr zufrieden. "Es erweckte meine Neugier, wie ein menschliches Wesen diesen Eingriff bestehen mochte. Ich gestehe ein, es wäre schwerwiegender verlaufen, wenn ich ihr nicht zu längeren Schlafzeiten geraten hätte. Ich habe, soweit ich selbst wachen konnte, in die Träume hineingehorcht, die sie auf dem Weg zu sich selbst trugen. Hätte ich nach dem Umgestaltungsfluch nicht diese wichtige Hilfe in Anspruch genommen, so wäre dieser Junge, Ornatus Pane, störend im Geiste unserer neuen Schwester Dido verhaftet geblieben. So wurde sein früheres Dasein ohne Widerstreit vertilgt, zum Erinnerungsschatz der neuen Mitschwester. Ich gedachte eigentlich, ihr von der Geschichte meiner Widerkehr zu berichten. Doch ich werde dies auf eine andere Weise tun als es sich wahrhaftig zutrug. Ich möchte erst eine erkleckliche Zeit dahinfahren lassen, bis ich ihr die Wahrheit über mich künde. - Aber zu uns. Schwester Patricia hat sich in den letzten Tagen, nachdem wir die Angelegenheit mit den Schwarzbergs und den übrigen Bruderschaften siegreich vollendet haben, in der Welt deiner Eltern herumgeforscht und einen Weg gefunden, unseren Kundschafter dorthin zurückkehren zu lassen. Hier, lies diese Niederschriften!"

Lobelia nahm aus dem Umschlag, den Anthelia von Patricia Straton bekommen hatte, mehrere Papierzettel mit handschriftlichen Notizen. Sie erkannte sofort, daß Patricia einen muggelmäßigen Kugelschreiber verwendet hatte. Außerdem waren Ausdrucke eines Computers dabei und einige Fotos eines sportlichen Jünglings mit blondem Haar, der in unterschiedlicher Bekleidung abgelichtet worden war. Sie las einen Zeitungsartikel vom 25. Oktober dieses Jahres laut vor.

"Einziger Sohn des aussichtsreichen Senators Wellington immer noch im Koma!

Cecil Wellington, geboren am 27. September 1979 in Harrisburg, Pennsylvania, Sohn von Reginald Cecil Wellington, studiertem Rechtsanwalt und derzeitigem Senator im Bundesstaat Pennsylvania und dessen Gattin Henriette Annemarie Wellington geborene LaCrois, Tochter des in Paris lebenden Bankiers Jean-Louis LaCrois, kam bei einem Reitunfall am 23. September dieses Jahres beinahe ums Leben. Doch seit man ihn gerettet und zur ärztlichen Versorgung in die renommierte McCurton-Privatklinik für schwere Unfallschäden und neurologische Problemfälle verlegt hat, ist er nicht mehr aus einem tiefen Koma erwacht. Von den besten intensivmedizinischen Geräten unserer Zeit am Leben gehalten, verbringt der früher so aktive Freizeitsportler und Musterschüler seine Zeit in erzwungener Untätigkeit. Senator Wellington bekräftigte unserer Zeitung gegenüber, daß er nichts unterlassen würde, was das Leben seines Sohnes erhalten und auf absehbare Zeit wieder vollständig normalisieren würde." Lobelia legte die Zeitung kurz aus der Hand, damit Anthelia sich die Meldung durchlesen konnte und sagte nur: "Heftige Sache, höchste Schwester. Was nützt uns das?"

"Die übrigen Berichte von Schwester Patricia deuten darauf hin, daß die toten Apparaturen dieser sogenannten Heilkundler den Jüngling nicht von sich aus heilen können, sondern nur den derzeitigen Zustand erhalten, sodaß er nicht stirbt. Wenn ich diese Niederschriften und Depeschen richtig verstehe hat der Jüngling keinen bleibenden körperlichen Schaden hingenommen, sondern war lediglich für mehrere Minuten dem Tode nahe."

"Er war für vier Minuten klinisch tot, höchste Schwester. Herz und Atmung haben ausgesetzt, und die Gehirnfunktionen, wie sie die Muggel messen können, ließen schon drastisch nach. Wären diese Gehirnfunktionen völlig zum Erliegen gekommen, wäre der Junge nicht mehr zu retten gewesen, höchstens noch seine Organe am Leben zu halten gewesen, eben durch diese Maschinen. Die erzeugen nur einen künstlichen Blutkreislauf und beatmen den Körper. Dies würden sie auch ohne ein lebendes Gehirn tun. Doch wenn ich das hier richtig lese, wurden die Maßnahmen nur so weit eingerichtet, daß sie bei abfallender Eigenatmung die notwendige Luftmenge an den Körper weitergeben. Sogesehen kann der Junge auch von den Geräten abgekoppelt werden, würde dann wohl eine unbestimmte Zeit eigenständig atmen und dann entweder sterben oder wieder erwachen. Manche Dinge haben die Muggel eben noch nicht geklärt."

"Meine respektable Tante und ich sind aprobierte Heilerinnen, Schwester Lobelia. Auch Sarah Redwood hat in dieser Tätigkeit großes geleistet. Ich werde mir ansehen, was Schwester Patricia da vorgefunden hat", sagte Anthelia entschlossen. "Gut, daß ich von dem Vielsaft-Tranke noch einen nutzbringenden Vorrat in Verwahrung habe."

"Aber wolltest du nicht jemanden finden, welcher familiär ungebunden ist und damit nicht auffällt?" Fragte Lobelia, die sich an etwas erinnerte, daß ihr Patricia Straton vor einigen Tagen noch erzählt hatte.

"Ja, ich mußte dieses Ansinnen fahren lassen, Schwester Lobelia. Es ist wichtiger, jemanden zu erwählen, der in einem exzellenten Zustand für unsere Sache verharrt und obendrein ein gesellschaftliches Drumherum besitzt, aus dem heraus mir schnell und umfangreich Kunde aus der Welt deiner Eltern zukommt. Ich habe bereits Vorkehrungen getroffen, unseren Kundschafter ohne großes Aufsehen in dieser Welt weiterleben zu lassen, wenn ich erkenne, daß es der richtige Jüngling ist, den Schwester Patricia uns gewiesen hat. So komm! Wir reisen nach der Stadt, die den Namen Harrisburg trägt!" Rief Anthelia zum Aufbruch.

Die beiden Hexen nahmen aus dem Keller eine große verkorkte Flasche mit, die Anthelia hinter einem Stein verborgen hatte. Damit apparierten sie weiter im Norden der Staaten und tauchten in einem Waldstück auf, das Patricia Straton vor mehreren Tagen schon als sicheren Ankunftsort ausgemacht hatte. Auf Lobelias Harvey-Besen, der sich und seine Reiter unsichtbar machte, flogen sie hinein in die pulsierende Stadt, in der Fortschritt und religiöser Konservatismus einträchtig zusammenwirkten. Anthelia beschwor zwischenzeitlich eine Frischluftblase um ihren Kopf. Sie verabscheute die Abgase der Autos und Fabriken und verwünschte diejenigen, die Geräte erfunden hatten, die mit Petroleumanteilen betrieben werden mußten. Würde sie einst die unumschränkte Herrin der Welt sein, würde sie den Gebrauch dieser Fahrzeuge und Geräte untersagen, hatte sie nicht nur einmal bei einer Versammlung ihrer Mitschwestern beteuert. Doch noch mußte sie auf der Hut sein, nicht bereits beim Aufbruch in diese, ihre Ära zu scheitern. Sie dachte zurück an die Zeit, wo Sardonia, ihre Tante, den Magiern und Unfähigen ihres Reiches eine strenge aber kundige Mutter war und gewissenhaft dafür sorgte, daß niemand sich gegen die Natur verging. Viele Menschen hatten dies als Unterdrückung verteufelt, wider Sardonia gekämpft und versucht, sich der gnädigen Hand zu entwinden, die Sardonia über sie alle gehalten hatte. Wer wagte heute, von Gut und Böse zu faseln, wenn er oder sie derartig stinkende Mechanismen wie die vielen Automobile und Motorzweiräder dort unten als gute Sache ansah und alles förderte, was diesen pestilensischen Apparaten dienlich war?

Lobelia Wagner machte sich auch ihre Gedanken, wenn sie den Namen Harrisburg hörte. Hier war vor mehreren Jahren in der Nähe eine Katastrophe in einem dieser Atomkraftwerke passiert. Dabei war viel von dieser schleichend tödlichen Strahlung freigesetzt worden. Sie hatte das noch mitbekommen, bevor sie der Brief mit dem silbernen Wappen erreichte, das einen Drachen mit fünfzackigem Schweif darstellte. Dieser Brief war die Bestätigung, daß sie in Thorntails, der Schule für erkannte Hexen und Zauberer auf US-amerikanischem Boden angenommen war, was ihre Eltern damals in die peinliche Situation versetzt hatte, eine echte Hexe als Tochter zu haben.

"Die Klinik liegt westlich der Stadt, gut zwanzig Kilometer entfernt", sagte Lobelia. Sie flogen in einer Höhe von zweihundert Metern und waren hier oben sicher vor unerwünschten Zuhörern.

"Ich habe die Ortsangaben von Schwester Patricia wohl studiert", drang es merkwürdig gedämpft durch die Kopfblase, die wie Anthelia selbst unsichtbar war. Nach einigen Minuten über der Stadt kamen Vororte und Fernstraßen. Dann überflogen sie einen großen Forst, der wie ein dicker grüner Panzerring das Privatkrankenhaus vor dem Lärm und den Ausdünstungen der Stadt schützte. Mit 180 Stundenkilometern brauchten die Spinnenschwestern nur sechs ein Drittel Minuten vom Stadtrand zur Hubschrauberlandeplattform, wo im Moment kein Helikopter stand.

"Dieses Dach dient dem Verweil mit sich rasend schnell drehenden Flügeln fliegender Flugmaschinen. Wer hier zur Genesung verweilt, hat wohlhabende Angehörige, die gerne auf schnelle Weise ohne durch die Plebs ihrer Welt gestört zu werden an- und abreisen möchten", bemerkte Anthelia. Obwohl die Landeplattform für fliegende Besucher gedacht war, ließ Anthelia sie links liegen und brachte den Harvey-Besen im Park der Klinik zu Boden. Mit einem Zauberspruch tarnte sie den Besen.

"Vorerst müssen wir Vorkehrung treffen, daß unser Wirken hier nicht den Schergen des Zaubereiministers auffällt", sprach Anthelia. Sie holte aus ihrem Umhang kleine, weiße Steine und maß mit den blicken den Halbmesser eines Kreises ab, der um die Klinik herumführen sollte. In zweihundert Schritten Entfernung vom Hauptgebäude suchte sie den Punkt, der der Sonne genau entgegengesetzt lag und drückte den ersten Stein in die lockere Erde der Wiese, auf der sie nun stand. Dabei murmelte sie ein fremdartiges Wort. Pandora Straton hätte es gleich als Beginn eines altdruidischen Zaubers erkannt. Langsam, genau auf der Linie eines nicht gezeichneten Kreises, schritt Anthelia gegen den Uhrzeigersinn weiter, legte einen Stein nach dem anderen ab und sprach ein Zauberwort, wobei sie ihren silbrigen Zauberstab kurz darüberstreichen ließ. Die Magie, die dabei gewirkt wurde, war zu schwach, wußte die Oberste der Spinnenschwestern. Erst dann, wenn sie fertig war, würde sich ein vielfach potenzierter Zauber offenbaren, der jedoch alle ihr bekannten Spürmethoden vereiteln konnte. Jeder Stein, den sie auslegte und aktivierte, fügte sich in ein gesamtes großes Werk, das sie lange und ausgiebig studiert und auch aus dem von ihr errungenen Wissen Sarah Redwoods als noch brauchbare Methode geschöpft hatte. Lobelia blieb respektvoll außerhalb des Kreises, der sich nun langsam ergab. Sie bewunderte Anthelias Orientierungssinn und Bewegungsbeherrschung, daß sie wohl um keinen Meter aus der nur in ihrem Kopf gezeichneten Kreisbahn ausbrach. Als Anthelia dann genau unter den einfallenden Sonnenstrahlen einen pechschwarzen Stein niederlegte, sagte sie zwei Zauberwörter. Dann ging sie weiter, vollendete nach etwa einer Stunde den vollen Kreis. Lobelia hatte genau einhundertachtzig Steinchen gezählt, die ihre höchste Schwester in der Erde versenkt hatte. Als dieser Steinchenkreis nun den Klinikbereich vollständig umfaßte, hob Anthelia den Zauberstab, richtete ihn auf die Sonne und sang laut und kräftig eine Zauberformel herunter. Es schien, als würde der Stab des dunklen Wächters goldene Flammen schlagen, ja das Licht der Sonne anziehen, wie ein Magnet Eisenspäne. Denn zwischen der Sonne und dem Zauberstab spannte sich für wenige Sekunden ein gleißend heller Lichtfaden. Doch kaum senkte Anthelia ihren Stab wieder, schoss dort, wo die kleinen Steinchen lagen, ein nebelhaftes goldenes Licht auf, beinahe unsichtbar und bildete einen mehr als dreihundert Meter hohen Lichtkegel, der genau über der Klinik abschloss, um dann sogleich unsichtbar zu werden.

"Bis das Tagesgestirn sich unter den Horizont gesenkt hat und kein strahl davon mehr die Erde erhellt "wird dieser Kreis der elementaren Verhüllung jedes magische Werk nach außen verbergen, solange wir nicht aus den Kreis hinauszuapparieren trachten. Innerhalb des Kreises können wir nun tun, was uns beliebt, ohne Argwohn und unerwünschtes Tun der Schergen des Zaubereiministers zu erwecken", sprach Anthelia.

"Hast du diese Steine erst jetzt bezaubert, höchste Schwester?" Fragte Lobelia.

"Nein, ich habe die Steine für die genauen Himmelsrichtungen bereits gestern mit besonderen Zaubern belegt. Die restlichen Steine habe ich allerdings erst jetzt behext. Dieser Kegel aus unsichtbarer Kraft schluckt alle Aufspürzauber und birgt in ihm vollbrachtes Zauberwerk. Es war nötig, um zu tun, was wir tun müssen. Tritt nun ohne Arg über die Linie! Eigenständige Bewegungen der Materie sind ohne kleinste Hemmung möglich."

Lobelia trat in den Grundkreis des magischen Kegels, der nun über dem Krankenhaus stand.

"Kann man denn bezaubertes hinein- und heraustragen?" Fragte sie.

"Ja, dies gelingt. Nur die Reise mit Zauberkraft ist nicht möglich", erwiderte Anthelia und näherte sich der Klinik. Einige Schritte weiter blieb sie hinter einem Baum stehen und konzentrierte sich.

Mit dem Exosenso-Zauber horchte sie in die Sinneswelt der Menschen hinein, die in der Klinik waren, sah mit den Augen eines Arztes auf einen verunglückten Motorradfahrer aus reichem Elternhause, roch den frischen Kaffee mit der Nase einer Schwesternschülerin, die gerade zur Frühstückspause eilte und bekam wie selbst ausführend mit, wie Prof. McCurton ein Blatt Papier aus dem Faxapparat zog und las, daß ein Medikament, dessen Name der Hexe nichts sagte, im Laufe des nächsten Tages geliefert würde. Als sie ihre unauffällige Spionagetour beendete, sagte sie zu Lobelia:

"Ich konnte erkennen, wer für den Jüngling Verantwortung trägt. Ich werde mich seines Geistes bemächtigen und dazu bringen, eine Handlung auszuführen, die meinen Plänen zum Erfolg verhilft. Verweile hier und hüte unseren Besen!" Mit einem leisen Plopp verschwand Anthelia.

Weil sie wußte, wo ein selten benutzter Raum war, tauchte sie im Kellerraum auf, wo alte Patientenakten gelagert wurden. Zwischen meterhohen Aluminiumregalen mit verstaubten Ordnern erschien die wiedergekehrte Nichte Sardonias und warf sogleich einen Tarnumhang über ihren Körper. Dann öffnete sie mit ihrer angeborenen Gabe der Telekinese die Tür, schlüpfte hinaus und schloss sie von außen. Leise und unsichtbar gelangte sie zum Fahrstuhl. Doch wenn sie diesen rief, würde dies erkannt, hatte ihr Patricia gesagt, die Tage vorher dieses Krankenhaus schon ausgekundschaftet und die SicherheitsLeute telepathisch und auch legilimentisch ausgeforscht hatte. So stieg sie die stumpfgraue Steintreppe hinauf zur eisernen Tür zum Erdgeschoss. Sie lauschte, ob jemand hinter der Tür war, weil sie wußte, daß das Öffnen dieser Tür in einem Raum der Überwachung bemerkt würde. Selbst wenn sie unsichtbar war würde jemand argwöhnisch werden und nachsehen, wer die Tür bewegt hatte. So wartete sie geduldig, bis sie kein Geräusch hörte und überwand die wenigen Meter durch Apparieren. Schnell eilte sie nun zum Fahrstuhl, der gerade mit zwei Leuten besetzt ankam. Sie schloss sich leise einem einzelnen Mann an, der nach oben fahren wollte, hielt den Atem an und schlüpfte so lautlos wie möglich hinter diesen in den Lift. Sie war auf der Hut, daß der Fremde sie vielleicht doch bemerken könnte und hatte die rechte Hand am Zauberstab, um den Unbekannten mit einem Zauberfluch zuvorzukommen. Doch der einsame Fahrstuhlnutzer bemerkte sie nicht und verließ im dritten Stock die Liftkabine. Anthelia, die zu den Büros wollte, drückte telekinetisch den mit einer großen Sieben bezeichneten Knopf. Sie wollte es nicht riskieren, den Tarnumhang zu lüften, falls in dieser Kabine eines jener tückischen Fernsehaugen der Unfähigen vorhanden war, welches die von ihm gesehenen Bilder an einen Wächter weitergab wie ein Bildverpflanzungszauber. Unangefochten kam sie schließlich dort an, wo sie hinwollte. Sie suchte das Büro von Dr. Goldstein, der gerade mit irgendwem über einen dieser Fernsprechapparate ein wildes Wortgefecht führte. Offenbar war dem sogenannten Heilkundler eine mißliebige Aufgabe zugedacht worden, und er fühlte sich berufen, diese zurückzuweisen, erkannte Anthelia.

Sie hörte Schritte hinter sich und reagierte genau zwei Zehntelsekunden zu spät. Ein Krankenpfleger prallte mit großer Wucht gegen die unsichtbare Hexe. Er erschrak wie diese und tastete nach vorne, wobei er mit großem Schwung die unter dem Umhang unsichtbare rechte Brust der Hexe traf. Diese fuhr noch einmal zusammen über diese rohe Berührung. Dann hatte sie den jungen Mann telekinetisch zu fassen bekommen und hob ihn vom Boden. Mit der rechten Hand zog sie den silbrig glänzenden Zauberstab heraus und murmelte: "Obleviate!" Sofort verklärte sich der Blick des Pflegers. Anthelia löschte alle Ereignisse der letzten Minute aus dem Gedächtnis des Muggels und ließ ihn wieder auf die Beine kommen. Sie achtete darauf, daß er nicht noch einmal mit ihr zusammenstieß, als er seinen eigentlichen Weg fortsetzte. In diesem Moment war Dr. Goldstein mit seinem Ferngespräch fertig. Anthelia fühlte die Wut, die der Arzt ausstrahlte. Irgendwie mußte er von seinem Dienstherren heftig gemaßregelt worden sein. Er riss die Tür auf und sah den Pfleger an.

"Ach, Billings, gut Sie zu erwischen! Professor McCurton will in zehn Minuten zur Patientin Davenport auf Zimmer zwei null vier. Gehen Sie zu Mr. Grene und bestellen Sie ihm bitte höflich, daß ich erst in zehn Minuten zu ihm komme!"

"Jawohl, Doktor Goldstein", nahm der Pfleger den Befehl entgegen. Er eilte davon und ließ Goldstein und Anthelia allein auf dem Flur zurück. Der Arzt wollte gerade los, um dem ihm erteilten Befehl zu folgen, als die Oberste der Spinnenschwestern ihren Zauberstab auf ihn richtete:

"Imperio!" Flüsterte sie und konzentrierte sich mit aller Macht, den Willen des unter Dampf stehenden Arztes zu unterwerfen.

Ungesehen von Patienten und Mitarbeitern der Klinik gelang es Anthelia, dem Arzt einen eindringlichen Befehl in den Verstand zu pflanzen, den er ausführen sollte, wenn er die dringensten Dinge erledigt hatte. Er sollte verfügen, daß der junge Cecil Wellington am Nachmittag in ein abgeschiedenes Einzelzimmer verlegt werden sollte, damit der Raum, in dem der Junge lag, für eventuelle Neuzugänge bereitgehalten wurde. Goldsteinfüllte unter Anthelias Zwang die dafür nötigen Dokumente aus und schickte sie an Oberschwester Wilberforth. Dann ließ sie Goldstein mit einer nachdrücklichen Anweisung, diesen Verlegungsauftrag mit bestem Wissen und Gewissen zu rechtfertigen seines Weges ziehen.

Anthelia kehrte aus einer leeren, nach unten gerufenen Fahrstuhlkabine disapparierend zu Lobelia zurück. Beide Hexen traten unangefochten aus dem Grundkreis des abschirmenden Kegels. Sie nahmen den Besen, entfernten sich im Flug einige dutzend Meter und disapparierten dann.

Am Nachmittag kehrten Anthelia und Patricia zurück. Sie apparierten weit außerhalb des Kegelbereiches, traten über die Grundlinie und apparierten dann in den Keller der Klinik zurück. Sie hatten ein Holzkästchen dabei, daß nicht viel größer als eine Zigarrenkiste war. Wie am Vormittag Anthelia alleine benutzten nun beide Hexenschwestern die Treppe und überwanden die Tür durch Apparieren. Sie schlichen zum Schwesternzimmer und entliehen sich zwei Trachten. Als dann, wie vorher erkundet die Oberschwester eintraf und fragte, wer die beiden denn seien, versetzte ihr Anthelia den Ganzkörperklammerfluch. Sie schlossen die Tür, sahen sich um, ob ein Fernsehauge hier angebracht war, fanden keins und vollführten dann eine schnelle Prozedur. Anthelia schnitt der Oberschwester eines der aschblonden Haare so ab, daß es nicht auffiel. Patricia holte zwei Gläser aus ihrer Handtasche und füllte sie mit einer sirupartigen Flüssigkeit aus der großen Glasflasche. Sie sah Anthelia an.

"Wer übernimmt ihre Rolle?" Fragte sie. Anthelia nahm das linke der beiden Gläser, warf das abgeschnittene Haar der Oberschwester hinein, wartete, bis sich das Gebräu zischend und brodelnd in eine braune Flüssigkeit verwandelte und stürzte das Zeug in Todesverachtung hinunter. Patricia sah gebannt, wie Anthelias Körperformen förmlich verschwammen, sich umänderten. Ihr strohblondes Haar wurde von Augenblick zu Augenblick grauer und spröder, ihre Gesichtszüge bekamen erste Altersfalten, und ihre festen Brüste wurden schlaffer. In weniger als einer Minute stand dort, wo Anthelia gestanden hatte, ein haargenaues Ebenbild von Schwester Wilberforth. Keuchend atmete diese durch Zauberkraft entstandene Doppelgängerin.

"Es ist doch nicht so angenehm", sagte sie mit einer leicht kratzigen Stimme. Dann räusperte sie sich und sprach mit einer festen, befehlsgewohnten Stimme: "Eins, zwei, drei! Ja, die Stimme ist nun wieder frei von Nachwirkungen. Ich werde jetzt die Wachhabende aus dem Zimmer des Jungen herrufen. Wer hat dort Dienst."

Patricia Straton sah im Dienstplan nach und gab ihr die Piepernummer von Schwester Erikson. Damit lockten sie die Krankenschwester zu sich ins Schwesternzimmer. Zwischendrin ließ Patricia Straton den erstarrten Körper der Oberschwester auf Handpuppengröße einschrumpfen und verbarg sie in ihrer Handtasche. Sie selbst schlüpfte kurz unter ihren Tarnumhang, bis Schwester Erikson eintraf. Anthelia, die nun in Oberschwester Wilberforths Ebenbild verwandelt war, ließ telekinetisch die Tür zufallen und erteilte der Krankenschwester den Befehl, den Goldstein am Morgen auf ihren Imperius-Zwang hin ausgegeben hatte. Schwester Erikson nickte. Dann sagte sie, daß eine junge Dame bei dem Patienten sei. Die falsche Oberschwester nickte und meinte, daß man diese junge Dame bitten müsse, das Zimmer zu verlassen. Dann traf Schwester Erikson von irgendwoher die Ganzkörperklammer. Sie konnte noch nicht einmal mehr schreien. Auch sie wurde eingeschrumpft und fortgepackt, nachdem Anthelia ihr eine kleine Haarsträhne abgeschnitten hatte. patricia trank den damit angereicherten Zaubertrank des zweiten Glases und überstand die brennendheißen Wallungen und inneren Schmerzen der Verwandlung. Sie schwor sich, irgendwann eine Technik zu erfinden, mit der man ohne den Intercorpores-Fluch oder den Vielsafttrank den Körper tauschen konnte, und zwar auf unbestimmte Zeit und ohne schmerzhafte Nebenwirkungen. Immerhin mußte sie nicht wieder zu einem Jungen werden, wie im August, wo Anthelia sie ausschickte, das Verschwinden von Chuck Redwood zu verheimlichen und damit ohne Absicht dem dunklen Magier Voldemort eine heftige Schmach zugefügt hatte, weil Patricia einem von seinen Gefolgsleuten den Rest des Tranks, mit dem sie Chucks Ebenbild geworden war, einflößte und ihn dann tötete, als die Verwandlung vollendet war. So hatte Voldemort annehmen müssen, Chuck Redwood sei, wie sein Vater auch, beim Überfall auf dessen Haus umgekommen und somit als unfreiwilliger Helfer unbrauchbar geworden.

Als die beiden Krankenschwestern auf Zeit ihr Bereitschaftszimmer verließen, klingelte das Handy von Oberschwester Wilberforth, das Anthelia in die Außentasche ihrer Tracht gesteckt hatte. Sie meldete sich und fragte, was anläge. Dr. Goldstein wollte nur sicherstellen, daß sein Auftrag nun ausgeführt würde. Anthelia bestätigte den Befehl und trennte die Verbindung wieder, wie Lobelia und Ben Calder es ihr direkt und indirekt mal gezeigt hatten. Ihre nun von mehr als fünfzig Lebensjahren veränderten Lippen brachten ein feistes Lächeln hervor. Zum Glück für Anthelia hatte die echte Oberschwester noch alle natürlichen Zähne im Mund gehabt, sodaß ihr die Peinlichkeit eines Prothesentauschs erspart blieb. Sie gingen zu Cecil Wellington ins Zimmer. Ein junges Mädchen in einem taubenblauen Kleid saß am Bett und sang gerade ein italienisches Volkslied. Anthelia lächelte hinter vorgehaltener Hand. Dieses Lied hatte sie schon als kleines Mädchen von ihrer Mutter Nigrastra vorgesungen bekommen.

"Das ist Laura Carlotti, das Mädchen, welches den Unfall mitbekommen hat", mentiloquierte Patricia Anthelia, wer das schwarzhaarige Mädchen war. Anthelia erklärte dieser dann mit fester Stimme, daß sie Cecil verlegen müßten. Als Laura fragte, wieso, berief sich Anthelia darauf, daß sie ihr keine Auskunft zu geben habe, weil sie keine Verwandte sei. Darauf verließ Laura Carlotti leicht mißgestimmt das Krankenzimmer.

"Die hat genug", schickte Anthelia per Gedankensprache an Patricia zurück. Diese nickte und besah sich die Instrumente und Maschinen, die Cecils Körperfunktionen überwachten.

"Wir können die Verbindung für eine volle Minute abtrennen ohne Alarm auszulösen, wenn wir den Okay-Code in den Telemetriecomputer eingeben", sagte Patricia und präsentierte auf einem Zettel, den sie vor einigen Tagen geschrieben hatte die Zahlenfolge, die in den Überwachungscomputer eingegeben werden mußte. Sie selbst bediente das Gerät. Sollten später mal Fingerabdrücke genommen werden, würden auf den Tasten ja nur die Fingerspuren von Schwester Erikson zu finden sein. Als das grüne OK-Licht aufblinkte arbeiteten die beiden Hexen sehr rasch. Sie drehten die Infusionen zu, die Cecils einzige Nahrungsquelle waren, entfernten vorsichtig den Beatmungsapparat und lösten die Elektroden von EKG und EEG. Kaum war Cecils Körper von angeschlossenen Versorgungs- und Überwachungsgeräten losgemacht, richtete Anthelia ihren Zauberstab auf den halbtot daliegenden Jungen und murmelte: "Lentavita." Nun wirkte Cecil noch lebloser, schier tot. Der Zauber hatte seine ohnehin spärlichen Lebensfunktionen auf ein Zehntel abgesenkt. Dann nahm sie von Patricia die Holzkiste an, öffnete sie und entnahm ihr einen auf zehn Zentimeter geschrumpften Menschen im Pyjama: Benjamin Jacob Calder Junior, der vor einem Monat im Hauptquartier der Schwesternschaft in tiefen Zauberschlaf versenkt worden war, nachdem er als Flüchtling landesweit gesucht wurde. Patricia entschrumpfte den Jungen sogleich. Sie sah auf die Anzeige des Überwachungscomputers. Sie hatten nur noch zwölf Sekunden, bevor die Maschinen den Ausfall aller Lebensfunktionen melden und das Reanimationsteam auf den Plan rufen würden. Patricia sah Bennys Schlafanzug und den von Cecil. Dann vollführte sie innerhalb einer Sekunde einen Platztausch der Pyjamas. Darin, Materielle Objekte durch einen Raumsprung wie bei einem Ringtausch die Plätze wechseln zu lassen, war sie von ihrem Verwandlungslehrer nach der UTZ-Prüfung sehr gelobt worden. Anthelia schloss mit Händen und Willenskraft alle Anschlüsse wieder an. Kaum meldete das EKG, das wieder ein Herzrhythmus gemessen wurde, und zwar einer, der von einem gesunden, nur tief schlafenden Menschen stammte, sprang die Countdownanzeige auf Nullstellung. Die Beatmungsmaschine zischte und fauchte leise. Doch Anthelia war noch nicht fertig.

"Hast du dich jemals gefragt, Schwester Patricia, wieso es nicht andere Formen der Körpervertauschung gibt?"

"Mir fielen außer dem Intercorpores-Fluch und dem Vielsaft-Trank keine anderen Formen ein, Höchste Schwester. Gibt es denn welche?"

"O ja, Schwester Patricia. Allerdings wirkt eine derartige Verwandlung unumkehrbar. Der Bindungsfluch, den ich mit dem Jüngling einging, sowie mein Robusticorpus-elixier werden nicht beeinträchtigt, wenn ich den Zauber der fließenden Anpassung wirke. Dieser wirkt jedoch nur auf bewußtlose Wesen ein und muß zwei volle Minuten lang gewirkt werden. Die Gerätschaften da", sie deutete verächtlich auf die medizinischen Maschinen, "werden dadurch nicht beeinflußt. Sorge dafür, daß ich die Zeit bekomme, die ich brauche und unhörbar bin!"

"In diesem Raum gibt es kein Fernsehauge?" Fragte Patricia, der jetzt erst siedendheiß einfiel, daß man ihren Hokuspokus am Krankenbett beobachten könnte. Anthelia fuhr zusammen. In der Gestalt der etwas behäbigen Schwester Wilberforth wirkte es merkwürdig, irgendwie komisch. Sie suchte das Zimmer ab, fand jedoch keines jener künstlichen Fernsehaugen und atmete auf. Patricia vollführte sofort den Türschließzauber Colloportus und den provisorischen Klangkerker, um eventuelle Laute nicht nach außen dringen zu lassen. Dann begann Anthelia, indem sie von Cecils Kopf erst ein Haar abschnitt und es auf die Stirn von Benny Calder legte. Danach schnitt sie Cecil in die rechte Hand, entnahm ihr etwas Blut und schnitt auch in Bennys rechte Hand ein. Dann ließ sie den Blutstropfen von Cecil in die Wunde bei Benny Calder fallen. Anschließend vollführte sie genau zwanzig Achterbewegungen von Cecil zu Benny und murmelte Wörter, die Zahlen oder Kommandos sein mochten. Patricia kannte die Sprache nicht. Jede Zauberstabbewegung hatte wohl drei Sekunden gedauert. So war bereits eine Minute der zwei verstrichen, die Anthelia erwähnt hatte. Jetzt sang die oberste Hexe des Spinnenordens etwas in einer leiernden, teilweise kehligen Art, das Patricia ebensowenig erkannte. Sie fühlte jedoch, daß damit eine mächtige Magie aufgebaut wurde, noch ehe sie die roten Funken zwischen Cecils und Bennys Körper überspringen sehen konnte. Mit jedem fremdartigen Laut, den Anthelia von sich gab, verdichtete sich der Funkenflug, bis ein rubinroter Lichtbogen zwischen Cecil und Benny gespannt war. Anthelia deutete auf Cecil und rief "Ashgoratar!" Aus ihrem silbernen Zauberstab schnellte ein rosiggoldener Lichtstrahl und traf Cecil, der nun in einen Lichtmantel gehüllt schien, der dieselbe Farbe wie der Zauberlichtstrahl besaß. Zwei Sekunden blieb diese konturgenaue Lichtumkleidung sichtbar. Dann erlosch sie. Der rote Lichtbogen schwankte etwas. Anthelia, in einer sehr starken Konzentration gefangen, deutete auf Benny Calder und rief "Shahagorujan!" Dieses Zauberwort kannte Patricia zu gut. Es hatte Damals den Treuefluch vollendet, mit dem Anthelia sie und ihre übrigen Mitschwestern belegt hatte. Offenbar mußte die höchste Schwester die Sprache eines uralten Zauberervolkes kennen, aus der dieses Wort stammte. Mit einem lauten und beinahe summenden Prasseln und Knistern tobte sich eine Wolke aus roten und goldenen Funken über Benny aus, dessen Konturen nun regelrecht wegschmolzen. Von der letzten der beiden Minuten waren nun noch fünfzehn Sekunden übrig. Genau diese Zeit surrte, prasselte und knisterte der Funkensturm über Benny Calder, der irgendwie von Cecil ausging. Dann krachte es laut, und Patricia fühlte, wie eine freigewordene Kraft ihr die Haare zu Berge stehen machte. Auf dem Krankenbett lag nun ein haargleiches Abbild von Cecil Wellington. Ben Calders Körper war nicht mehr zu erkennen.

"Es war schwieriger als ich ursprünglich wähnte, Schwester Patricia. Offenbar hat mein vorangegangenes Zauberwerk eine gewisse Wandelwehr, was bei euch heute Passivtransfigurationsresistenz heißt, erzeugt. Doch da ich diejenige war, die auch den anderen Zauber gewirkt hat, vereinigten sich die beiden Magien letztendlich doch. Doch mit diesem Körper muß unser junger Gefolgsmann nun sein restliches Leben zubringen, allerdings zu den bereits vorher schon von mir geschaffenen Bedingungen. Gib unserem edlen Körperspender eine geringere Körpergröße, um ihn sicher hier herauszubefördern. Immerhin muß ich über ihn noch den Fluß der sinnhaften Erinnerungen wirken, damit Ben Calder beim Erwachen weiß, wer und wo er ist und sich mit allem und jedem, welchem er begegnen wird, vertraut zurechtfindet. Nichts gefährdet die Mission des Kundschafters im Feindeslager mehr als die Unkenntnis winziger aber eigentlich vertrauter Einzelheiten."

"Wohl wahr", entgegnete Patricia Straton. Sie ließ Cecil auf die Größe einschrumpfen, die Ben Calder vorher hatte und verstaute ihn in der Holzkiste. Dann hob sie den Klangkerker auf und öffnete die Tür. Zum Glück war niemand davor, der sich wunderte, weshalb sie nicht aufgehen wollte.

Patricia schloss die Tür noch einmal von innen und holte die beiden erstarrten und geschrumpften Krankenschwestern aus ihrer Handtasche. Anthelia vollführte mit Hilfe ihres Zauberstabes und ihres Seelenmedaillons eine gründliche Gedächtnisänderung. So sollten die beiden sich an das Gespräch mit Laura Carlotti erinnern, wie auch den Abtransport von Cecil in ein anderes Zimmer in die Wege geleitet haben. Dann ließ sie sie vor dem Krankenbett stehen, wieder normalgroß und unter dem Schock des Gedächtniszaubers noch unfähig, irgendwas zu tun. Anthelia und Patricia verschwanden, bevor die normale Wahrnehmung der beiden wieder einsetzte. Sie landeten im Schwesternzimmer, wo gerade eine Lernschwester saß. Anthelia war darauf gefaßt und verpaßte ihr eine kurze Gedächtnislücke, in der sie nicht mitbekam, wie die beiden die entliehenen Trachten wieder in den Schrank hingen und ihn verschlossen und dann unverzüglich disapparierten. Erst da begann die junge Lernschwester sich wieder zu erinnern, daß sie eigentlich kaffee kochen wollte und offenbar vergessen hatte, wo das Kaffeepulver aufbewahrt wurde.

Im Hauptquartier der Spinnenschwestern untersuchte Anthelia, noch als Oberschwester Wilberforth, den entführten Cecil Wellington und stellte fest, daß ein Ungleichgewicht zwischen Gehirn und Körper eingetreten war, das ein reibungsloses miteinander verhinderte. Für die magische Heilkunde war das kein Problem, sofern man eine Stunde Zeit und die nötigen Zauber parat hatte. Immerhin würde Cecil danach wieder normal sprechen und sich bewegen können. Doch Cecil sollte nicht auferstehen. Denn Benny Calder war nun an seine Stelle gerückt und würde nach einem weiteren Tag beim Sonnenaufgang wieder aufwachen, weil da der volle Mondkreis beendet war. Bis dahin wollte Anthelia eine Erinnerungsbrücke zwischen Cecil und Benny bauen. Cecil sollte dafür im tiefen Zauberschlaf hier unten im Weinkeller des Daggers-Hauses aufbewahrt werden, bis der Fluß der Erinnerungen komplett war und nur noch neue Tageserinnerungen in Bennys Hirn einströmen sollten. Mit dem Seelenmedaillon Dairons, über das sie bereits zu Benny eine ständige Verbindung unterhielt, stellte Anthelia nun eine direkte Verbindung her, als die Vielsaft-Wirkung aufhörte und sie unter heftigen Schmerzen in ihre eigentliche Gestalt zurückverwandelt wurde. Auch Patricia mußte unter gewissen Nebenwirkungen den von Schwester Erikson kopierten Körper gegen ihren angeborenen eintauschen. Sie hofffte, nicht so schnell noch einmal den verfluchten Trank schlucken zu müssen. Anthelia, die nun wieder wie Bartemius Crouches Schwester aussah, blieb im Keller zurück und sang und rief ihre Zauberwörter, während Patricia zu Dido Pane hinaufging, die mit einer weißen Katze mit tiefgrünen Augen spielte, die Patricia sehr gut kannte.

"Die höchste Schwester muß noch etwas erledigen, Dido. Hast du deine Verwandlungshausaufgaben schon erledigt?"

"Bin ich hier denn in der Schule?" Knurrte das schmächtige Mädchen, bei dem gerade erst die körperliche Entwicklung zur Frau andeutungsweise eingesetzt hatte.

"Das kannst du so sehen, Dido. Das ist die Schule des wahren Lebens. Hier gibt es keine Stundenpläne im üblichen, aber doch greifbaren Sinn. Also was hat dir der alte Lohangio über die Vivo-ad-Invivo-Verwandlungen schon beigebracht?"

Die Katze trollte sich. Sie lief in den beheizten Salon, wo zwei Spinnenschwestern Schach spielten, die von zwei komplett entgegengesetzten Punkten der Erde gekommen waren. Die eine war Izanami Kanisaga, die japanische Mitschwester, die andere die muskulöse Australierin Delila Pokes mit der goldblonden Löwenmähne. Die weiße Katze legte sich auf ein freies Sitzkissen, rollte sich ein und beobachtete das Spiel der beiden Hexen.

"Läufer auf g zwei und schach!" Sagte Delila Pokes siegessicher. Izanami, die gegenüber der Australierin zerbrechlich wirkte, sah auf das Muster der weißen und schwarzen Quadrate und erwiderte:

"König auf B sechs."

"Schwester Izanami, das wird so nix", bemerkte die amazonengleiche Hexe aus Australien. "Kuck mal hier! Wenn ich den Turm von mir jetzt um zwei Felder nach links versetze, steht dein König wieder im Schach. Aber aus Erfahrung lernt man. Turm von D zwei nach B zwei!"

"Oh nein, das ist 'ne Falle", quiekte der weiße König, der gerade auf dem rechten Rand des Brettes stand, wo er eigentlich nicht behelligt werden sollte. Zu spät erkannte Delila, daß sie einen Bauern übersehen hatte, der ein Feld vor dem ehemaligen Königsfeld stand.

"Bauer auf E eins! Schach matt!" Frohlockte Izanami. Der Bauer ging auf das befohlene Feld und verwandelte sich unter gewissen Verränkungen in eine Dame, da Izanami ihre erste bereits nach neun Zügen verloren hatte. Somit stand der gegnerische König im Schachmatt, während Izanamis König sich noch ein Fluchtfeld freigehalten hatte.

"Verdammt, wie konnte ich diesen Bauern da übersehen?!" Schimpfte Delila und wollte den zur Dame verwandelten Bauern an der Schleppe packen. Dieser zeterte jedoch: "Lass mich erst wieder ein echter Bursche werden. Wenn ich vom Brett fliege, bevor ich mich zurückverwandeln konnte, muß ich bis zum nächsten Spiel diese blöde Königin bleiben."

"Das haben wir gehört", Zeterte die gleiche Stimme aus dem Bewahrungshäuschen der Schachmenschen. Der Bauer nahm wieder seine gewohnte Gestalt an und ging dann freiwillig vom Feld.

"Wie konnte ich diesen Bauern übersehen?" Knurrte Delila Pokes.

"Weil du dich zu sehr auf meinen König konzentriert hast, Schwester Delila", antwortete Izanami kalt. "Die Zauberkraftlosen in meinem Volk unterschätzen gerne die Macht der kleinen Leute. Dies hast du nun begriffen."

"Ich muß eh wieder weg, bevor die gute Nimoe mißtrauisch wird, warum ich zu spät zu ihrer Party komme. Ich hoffe, die höchste Schwester braucht mich dann nicht mehr. Ich bin bis übermorgen beschäftigt. Das weiß sie ja. Schönen Tag noch!" Sagte Delila und disapparierte. Izanami räumte das Schachspiel wieder fort und meditierte ein wenig, während die weiße Katze sich zum schlafen eindrehte.

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Weil Senator Wellington solch einen Aufstand gemacht hatte, wurde dessen Sohn noch am Abend, als feststand, daß kein Bedarf für ein näher am Hubschrauberlandedeck gelegenes Zimmer bestand, dorthin zurückgebracht, wo er gelegen hatte. Dabei machte die diensthabende Krankenschwester eine Entdeckung, die wenige Minuten später den sonst so auf Beharrlichkeit getrimmten Klinikbetrieb auf Trab brachte.

Schwester Amanda Williams sah erst auf den EKG-Monitor, auf dem die gezackte Kurve der schwachen elektrischen Ströme des Herzens angezeigt wurden. Dann sah sie auf den Monitor des angeschlossenen EEGs, welches die Gehirnströme überwachte und erschrak fast. Die Gehirntätigkeit nahm ständig zu, als gelte es, ein schwieriges Problem zu durchdenken und gleichzeitig eine besonders knifflige Geschicklichkeitsaufgabe zu lösen. Sie rief den diensthabenden Neurologen ins Zimmer, der sich das ansah und sogleich die Aufzeichnungen der letzten drei Tage verlangte. Er sah Cecil Wellington an, der mit dem Beatmungsrohr im Mund dalag. Dann erkannte er, daß dieses Gerät offenbar nicht mehr benötigt wurde, denn Cecils Atemrhythmus änderte sich ein wenig, und die Lungen vollführten stärkere Bewegungen. Er holte schnell den Intensivmedizinspezialisten vom Dienst, Dr. Crake und entschied, die künstliche Beatmung zu beenden. Vorsichtig aber so schnell dies ging, wurde Cecil von dem Apparat befreit und atmete nun eigenständig weiter, ruhig und gleichmäßig, als würde er schlafen. Dr. Crake sah die geschlossenen Augen des Jungen, die sich zu bewegen begannen.

"Der Junge träumt", erkannte die Schwester. Der Neurologe nickte. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben, weder für die Gehirntätigkeit, noch für die schnelle Augenbewegung.

"Dann schläft er jetzt richtig. Irgendwie hat er das Koma überwunden, ohne daß wir davon etwas bemerkt haben", stellte Dr. Crake fest.

"Wir machen am besten gleich eine Thermographische Gehirnabtastung. Ich möchte wissen, was da passiert ist."

"Wenn der Junge jetzt in der REM-Phase ist, dann wäre es vielleicht nicht gut, ihn jetzt zu wecken. Er lag so lange im Koma", meinte Schwester Williams. Die beiden Ärzte schienen zu überlegen, was sie machen sollten. Als darüber zehn Minuten verstrichen waren, in denen sich die Gehirntätigkeit noch etwas verstärkt hatte, wollte der Neurologe schon einen Weckversuch durchführen, weil er fürchtete, irgendwas im Gehirn würde dieses nun überlasten, es regelrecht überhitzen. Doch dann endete die Traumschlaf-Phase, und die Gehirnstrommuster kehrten zu einem verträglichen Wert zurück, ja pendelten sich auf jenen Schwingungen ein, die für tief schlafende Menschen bezeichnend waren.

"Was für ein Traum mag das wohl gewesen sein?" Fragte sich Schwester Williams. Sie hatte im Lehrgang und im speziellen Ausbildungsverfahren für die McCurton-Klinik gelernt, daß Alpträume oder leidenschaftliche Träume hohe Gehirnaktivitäten hervorrufen konnten. Doch Cecil hatte sich nicht bewegt, nicht gestöhnt oder gar geschrien. Auch sonst war wohl alles andere an und in ihm ruhig geblieben.

Gegen das übliche Procedere in der McCurton-Klinik übernahm nun ein Arzt die direkte Überwachung des Patienten, angefangen von Dr. Saunders, dem Neurologen, über Dr. Crake, dem Intensivmedizinspezialisten, bis zu Dr. Waxman, dem Internisten. Ja Prof. McCurton selbst stellte sich ein, als sein oberster Stellvertreter ihn auf schnellstem Wege die neue Entwicklung mitgeteilt hatte. Die Heilkundler diskutierten, wenn sie im Krankenzimmer Cecil Wellingtons standen, mit gedämpfter Stimme aber dennoch aufgeregt, was nun in ihrem so lange hier liegenden Patienten vorging. Merkwürdig erschien den Ärzten, daß der Junge in regelmäßigen Intervallen zwischen Tief- und Traumschlaf wechselte, ja die für den Traumschlaf typischen schnellen Augenbewegungen und Gehirnaktivitäten sehr intensiv und vor allem langgedehnt verliefen, während die dazwischen liegenden Tiefschlafphasen zwar gleichfalls intensiv waren aber nicht einmal halb so lange dauerten.

"Ohne jetzt pathetisch zu werden, Professor McCurton, kann ich den Eindruck nicht ganz verdrängen, daß sich der junge Mr. Wellington irgendwie freiträumt. Ein Koma liegt auf jeden Fall nicht mehr vor, nach den Vitalwerten, insbesondere der cerebralen Aktivitäten", sagte Crake, als er nach drei Stunden wieder die Wache übernahm. Der grauhaarige und sonst sehr humorlose Chefarzt der Privatklinik mußte gegen seine sonstige Natur lächeln. Er sah auf den Patienten und dann wieder auf die Überwachungsmonitore.

"Meinen Sie, wir könnten ihn nun regulär aufwecken?" Fragte der Chefarzt den Intensivmedizinspezialisten. Dieser schüttelte den Kopf.

"Ich habe zwar nicht das Fachwissen vom Kollegen Saunders, möchte dennoch abraten, diesen Prozess zu unterbrechen, der da abläuft. Immerhin ist der Phasenwechsel im Schlaf normal, wenn ich auch zwanzig REM-Phasen in drei Stunden für ungewöhnlich viel halte."

"Womöglich ist durch das temporäre Umbetten ein Prozess ausgelöst worden, der die Gehirnfunktionen stimuliert hat", vermutete McCurton. "Aber ich persönlich halte zwanzig REM-Phasen nicht gerade für normal. Oder hegen Sie die Theorie, der Patient würde nun alle Träume der letzten vier Wochen nachholen, bevor er erwachen kann?"

"Ich hege keine Theorie, Professor. Dazu mangelt es mir an Daten. Physiker und Biologen können theoretisieren. Doch bei denen steht dann ja auch kein Menschenleben auf dem Spiel", revanchierte sich Crake bei den nicht anwesenden Mitstudenten aus den naturwissenschaftlichen Fachbereichen, die ihm früher ständig unter die Nase gerieben hatten, wie unzulänglich die naturwissenschaftliche Ausbildung der künftigen Ärzte doch sei.

"Das würde ich so nicht sagen, Crake. Immerhin könnte eine Therapie fehlschlagen, nur weil ein Molekularbiologe sich bei einem Stoffwechselprozess die falsche Theorie zurechtgelegt und dafür noch den Nobelpreis bekommen hat."

"Eintritt in REM-Phase einundzwanzig", vermeldete Crake, als die ruhigen Gehirnstrommuster wieder zu den betriebsamen Impulsfolgen wechselten und die Augen Cecil Wellingtons sich schnell bewegten, weil sie sich bewegenden Dingen in einem Traum folgten.

"Also das mit dem freiträumen behalten wir mal im Hinterkopf", entschied der Chefarzt, der wie seine Kollegen keine Ahnung hatte, wann, wie und warum Cecil Wellington in diesen neuen Zustand versetzt worden war.

"Sie kennen doch sicher auch die Berichte von Frauen, die im Koma Kinder ausgetragen und geboren haben", meinte Crake. Professor McCurton verzog das Gesicht.

"Nicht nur das. Diese Frauen waren sogar hirntot, konnten also nur noch durch die lebenserhaltenden Maschinen weiterexistieren. Eine fragwürdige Praxis, ein Kind von einer faktisch toten Frau austragen zu lassen. Gibt uns irgendwie doch den Ruch von Frankenstein."

"Ich wollte damit nur sagen, daß menschliche Körper immer noch so viele Geheimnisse bergen. Wir wissen ja auch nicht, woher spontane selbstheilungen kommen oder ob an Berichten über übersinnliche Phänomene nicht doch mehr dran ist als pure Sensationspresse."

"Bleiben Sie bitte seriös, Dr. Crake!" Mahnte McCurton seinen Mitarbeiter zur Selbstbeherrschung. "Auch wenn diese Entwicklung hier eine zugegebenermaßen starke Versuchung darstellt, die eigenen Vorstellungsgrenzen zu überschreiten, müssen wir auf dem Boden bleiben."

"Haben Sie eigentlich schon die Eltern des Patienten informiert?" Erkundigte sich Crake.

"Mrs. Wellington war vor vier Stunden hier. Ich werde sie und den Senator erst anrufen, wenn ich weiß, was hier vorgeht. Wie Sie sagten, eine Störung dieses Prozesses könnte fatale Auswirkungen haben", erwiderte McCurton. Damit war für den rangniedrigeren Arzt die Sache erledigt.

Fünf Stunden später, Cecil hatte mittlerweile einundvierzig REM-Phasen durchlaufen, achtmal so viel, wie bei einem gewöhnlichen Nachtschlaf über sechs Stunden auftraten. Der Körper des Patienten schien bei jeder Schlafänderung stärker und gesünder zu werden. Zwar hielten die Ärzte die künstliche Ernährung durch Infusion noch aufrecht, fragten sich jedoch, ob dies noch lange ausreichen würde, um die Organe des Patienten ausreichend zu versorgen. Zwischendurch entrang sich dem Mund des Patienten ein gequältes Stöhnen. Auch zuckten seine Arme und Beine von Zeit zu zeit, wenn er in einer besonders intensiven Traumphase war. Dennoch wagten die Mediziner nicht, ihn zu stören. Saunders, der Gehirnspezialist, warf einmal eine nicht ganz ernstgemeinte Vermutung in den Raum. Er meinte:

"Irgendwie kommt mir das so vor, als müsse der Patient für andere mitträumen."

"Vielleicht bekommt sein Gehirn ja von außen neue Informationen eingegeben", setzte ein Assistenzarzt einen drauf, der die Monitore überwachte. McCurton, der gerade mit Hilfe der zwölften Tasse Kaffee sein eigenes Schlafbedürfnis auf Abstand hielt lief zornesrot an.

"Was für einen hahnebüchenen Unsinn geben Sie denn nun von sich?" Zischte er gefährlich. "Wie ich vor Stunden anmerkte, gibt uns dieser außergewöhnliche Zustand keinesfalls das Recht, in unhaltbaren Phantastereien zu schwelgen. Oder wollen Sie mir jetzt erzählen, der Patient würde von irgendwelchen Außerirdischen neu programmiert, wie ein lebender Computer?"

"Das natürlich nicht, Professor McCurton", buckelte der Assistenzarzt mit knallrotem Gesicht. Hätte er gewußt, wie haarscharf er an der Wahrheit vorbeigeschrammt war, hätte er entweder selbstzufrieden gelächelt oder wäre in unbändigem Entsetzen erstarrt.

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"Verstoßene Schwester, kehre nun wieder ..." hörte er aus einer alten Villa einen merkwürdigen Gesang, während er auf seinem Rennrad daran vorbeifuhr. Gleich darauf rasten sechs grün gekleidete Gangster auf grünen Motorrädern heran und feuerten aus Maschinenpistolen. Er fuhr durch den Kugelhagel und fiel in eine tiefe Grube. Keine Sekunde später saß er mit einem blonden Mädchen auf einer Couch und kuschelte mit ihr. Doch das Haar des Mädchens wurde schwarz, und das Mädchen, das gerade noch zärtliche Worte in bestem Südstaatenakzent gesäuselt hatte, sang nun in einer Sprache, die er nicht kannte. Dann stand er neben einem untersetzten Mann in einem schnieken Anzug, der eine flammende Rede gegen den Verfall der Werte hielt. Irgendwie kannte er diesen Mann. Ja, es war sein eigener Vater. Daneben stand auch seine Mutter, eine schlanke Frau mit hellblondem Haar. Er wußte jedoch, daß diese Farbe nicht echt war.

Keinen Moment später saß er in einem weißen Sportwagen. Auf dem Rücksitz lagen zwei schlafende Katzen, eine davon goldblond. Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung wußte er, daß dies seine verzauberte Freundin Laura war. Laura? Seine Freundin hieß doch Donna! Doch er konnte nicht weiterdenken. Denn schon raste er auf einem panisch dahingaloppierenden Pferd durch einen Wald und rief um Hilfe. Er zog an den Zügeln und versuchte, den total verängstigten Hengst zu bremsen, wieder zu beruhigen. Doch da rutschte das Tier aus und stürzte einen steilen Abhang hinunter. Pferd und Reiter schrien in letzter Todesangst.

Er kam in einem festlich geschmückten Wohnzimmer zu sich und hörte sich selbst "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" Rufen. Er sah seinen Vater, der zufrieden lächelte, sich dann aber in einen untersetzten Mann mit schütterem Haar verwandelte. Auch das Wohnzimmer änderte sich, wurde irgendwie protzig und groß, und ein Schwarm von Dienstboten trug Essen und Trinken herein. Gäste kamen, die er erkannte. Es waren aber nicht die Leute aus seiner Heimatstadt Dropout. Bei diesem Gedanken fühlte er sich schlagartig auf ein freies Feld in tiefer Nacht versetzt. Weit vor sich sah er orangerot eine ganze Stadt niederbrennen. Er hörte das Rattern und Knallen ferner Schüsse und fühlte ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. Er schrie in Gedanken eine Frau an, die sich Mrs. Stockton nannte. Oder hieß sie doch Anthelia? Anthelia war eine böse Hexe. Mrs. Stockton war seine Englischlehrerin. Doch vielleicht war sie ja die böse Hexe.

Bilder- und Geräuschfluten, die ihn in ein ständiges Wechselbad aus Trauer, Wut, Angst, Freude und Erheiterung stürzten, trugen ihn von einem Erlebnis zum nächsten. Immer verquickte sich etwas, an das er sich von früher erinnerte mit etwas, das er wohl auch schon erlebt hatte, es so aber nicht kannte. Immer häufiger landete er dabei bei diesem schwarzhaarigen Mädchen oder stürzte mit dem Pferd, das Silver Bullet hieß, den Steilhang hinunter. Die Angst- und Schmerzensschreie des Pferdes wurden zu Lachen oder wütendem Gezänk, wenn die Szene wechselte. Er sah weiß gekleidete Frauen mit Holzstäben, sah Halbwüchsige mit Baseballschlägern auf ihn zustürmen, fiel von einer Schaukel oder umarmte eine Frau, die sich immer wieder veränderte und doch seine Mutter war. Die Angst, die ihn ergriff, wenn er auf dem Pferd saß, wurde immer größer. Jedesmal wurde die Szene deutlicher. Merkwürdigerweise fand er sich keinen Augenblick nach dem Absturz in den Armen dieses schwarzhaarigen Mädchens, Donna, oder hieß sie doch Laura? Diese zwei Eindrücke kehrten ständig wieder, als trügen sie alles andere dahin, würden es wie eine Kette zusammenschmieden. Doch er mochte diese Bilder nicht. Zumindest mochte er es nicht, auf diesem Pferd zu sitzen und zu wissen, daß er gleich wieder den Steilhang hinunterstürzen würde. Auch die Eindrücke, die er von diesem tollen Mädchen bekam, wurden immer stärker. Einmal sah er sie sogar nackt auf dem Sofa und ihn anlächeln. Er wollte sie berühren, ihr an die nackten Brüste greifen. Doch da stürmte ihr Vater mit einer Schrotflinte herein, die er wohl aus seinem Laden besorgt hatte, in dem er alle möglichen Waffen verkaufte. Doch als er sprach, war es kein Englisch, sondern diese schnelle, temperamentvolle Sprache, die das Mädchen da auf dem Sofa immer wieder benutzte. Ja, er erkannte die Sprache. Es war Italienisch, die Sprache von DaVinci, Galileiund Pavarotti.

"Eh, lass das, Cess!" Quängelte eines der beiden kleinen Mädchen, das er endlich zu fassen bekommen hatte, als sie und ihre Zwillingsschwester ihn lange genug geärgert hatten. Warum kamen diese beiden Gören auch immer wieder her. Konnte sein Vater sich nicht bessere Freunde aussuchen?

Wieder saß er auf dem Pferd und raste in den sicheren Tod. Dieses Mal wurde die Angst so unerträglich, die Gewißheit so grausam, daß er nur noch schrie, lange bevor das schnelle Tier mit ihm abstürzte. Er schrie und schrie - und erwachte in einem weißgestrichenen Zimmer auf einem Bett. In seinen Armen steckten Schläuche, und er hörte das schnelle Piep-Piep-Piep eines EKG-Gerätes, wie er es aus dem Fernsehen kannte. Er lag in einem Krankenhaus.

__________

Anthelia beobachtete, wie Cecil Wellingtons Geist sich gegen den Zauber wehrte, den sie auf ihn legte. Doch gegen die Kraft des Seelenmedaillons konnte der bewußtlose Junge nichts ausrichten. Kaum daß die Sonne unter den Horizont gesunken war, hatte Anthelia eine direkte Verbindung zwischen ihrem Seelenmedaillon, Cecil Wellington und Benjamin Calder hergestellt. Nun entzog das verfluchte Kleinod aus dem dunklen Schatz Dairons wie ein im Akord zaubernder Legilimentor alle Erinnerungen und Gefühle des im stark verzögerten Komas liegenden. Jede Erinnerung floss auf Benjamin Calder über. Anthelia wußte, daß die räumliche Entfernung ein großes Hindernis darstellte. Deshalb hatte sie den direkten Erinnerungsfluß erst ausgelöst, als sie sicher war, eine ungestörte Verbindung zwischen beiden Jungen errichtet zu haben. Sie selbst konnte jedoch nur bis zehn Uhr abends wachen, um den Vorgang zu steuern. Denn der Gürtel der zwei Dutzend Leben verlangte für seine Dienste eine regelmäßige Schlafpause von acht Stunden länge. Doch wie eine Gerölllawine, die unaufhaltsam einen Hang hinunterpoltert, waren die herausgelösten Erinnerungen Cecils nun auf ihrem Weg. Sie drängten in Benjamin Calders Gedächtnis, wo sie sich weiter anreicherten, mit seinen eigenen Erinnerungen vereinigt wurden. So schloss Anthelia Cecil und sich in ihrem Gemach ein. Sperrte sogar alle Geisterwesen aus, die es betreten mochten und legte sich zur unverzichtbaren Ruhe. Sie konnte aus einem solchen Schlaf nicht geweckt werden, weil der Gürtel der zwei Dutzend Leben dabei neue Kraft aus ihrem Körper zog, sodaß sie für zwei oder drei schlafen mußte. Währenddessen pulsierte das Seelenmedaillon in einem bläulichen Licht. Cecil, dessen Körperfunktionen auf ein Zehntel herabgesetzt waren, lag wie tot da.

Erst um sechs Uhr am Morgen erwachte Anthelia von selbst. Sie war sogleich hellwach und beobachtete, wie der Erinnerungsfluß weiterging. Sie wagte nicht, mit dem Legilimentik-Zauber in den Geist des Jungen einzudringen. Aber was sie mit ihrer angeborenen Telepathie vernahm, reichte auch schon aus, um sie zu verwirren. Immer wieder stiegen Bilder vom Reitunfall auf, sprangen durch das Medaillon auf Ben Calder über und verflogen dann wieder. Anthelia wußte, daß Ben noch den ganzen Tag so zubringen würde. Vielleicht würden die Ärzte merken, daß etwas mit ihm vorging, aber nicht wissen, was es war. Sie schloss das Gemach hinter sich und ging hinunter in die Wohnstube, wo sie mit Dido Pane frühstückte, um ihr dann persönlich Unterricht in Verwandlungszaubern und den Grundlagen der dunklen Künste zu erteilen.

Im laufe des Tages kamen die Mitschwestern Patricia und Charity und berichteten davon, daß die Suche nach der Kreatur, die als Tochter des Abgrunds bekannt war, angelaufen sei. Wie Anthelia es angeraten hatte, waren die Hexenschwestern erst in New York gewesen und hatten an dem Ort gesucht, wo das Seelenmedaillon Anthelias die Anwesenheit dieses Ungeheuers angezeigt hatte. Darüber hinaus hatten sie merkwürdige Todesfälle untersucht, die in den letzten zwei Monaten in und um New York herum passiert waren, angefangen bei einem gefährlichen Verbrecher namens Collin Dampsey, der auf merkwürdige weise seines Lebens beraubt worden war, über den Tod eines Zuhälters namens Alfred Bollmann und dessen Handlanger, der mit nach hinten gedrehtem Kopf neben seinem Geldgeber gefunden worden war, über tote Obdachlose oder Straßengangster, die irgendwo in alten Fabriken oder Lagerhäusern aufgefunden worden waren. Sicher, in New York passierten so viele Schwerverbrechen, daß es schon ein gutes Gespür für ungewöhnliche Einzelheiten brauchte, um Fälle zu erkennen, die nicht im üblichen Rahmen angefallen waren.

"Ich würde ja gerne Leute befragen, ob sie diese Kreatur gesehen haben, höchste Schwester. Aber du hast ja Zurückhaltung befohlen", sagte Patricia einmal.

"Und ich denke, dies geziemt sich im Angesicht unserer Lage, Schwester Patricia", erwiderte Anthelia ruhig. "Wir dürfen nicht erkannt werden. Noch möchte ich das Augenmerk der Ministerialschergen auf den Umstand lenken, daß die Tochter des dunklen Feuers in diesen Landen unterwegs ist. Ich habe aber zumindest genug erfahren, daß dieser Frauenschänder Dampsey offenkundig seiner eigenen Unbändigkeit zum Opfer fiel. Sicher fiel er der Kreatur zur Beute. Womöglich deuchte ihm, sie wie viele andere Frauen zu vor mit roher Gewalt zu nehmen, und sie ging darauf ein, um ihrerseits sein Leben zu verschlingen und ihn wie eine herabgebrannte Kerze in die Welt zurückzuwerfen, wo er später verendete. Warum dieser Hurenmeister ihr zum Opfer gefallen sein könnte, weiß ich nicht. Aber du hast ein gutes Gespür für Einzelheiten, Schwester Patricia. Der Umstand, daß die an sich tödliche Stichwunde ihm erst nach dem Tode beigebracht wurde, deutet auf eine Verhüllung der wahren Todesumstände hin. Ja, und wie stark die Töchter des Abgrunds sind, besonders im Rausch nach Lebensenergie kräftiger Männer, ist hinlänglich niedergeschrieben worden, und meine ehrwürdige Tante hat da selbst bittere Erfahrungen sammeln müssen, als sie wider die in Frankreich hausende Schwester jener kämpfte, welche nun auf diesem Erdteil wandelt und ihrem verheerenden Verlangen nachkommt. Doch wer hat sie geweckt und in dieses Land gelockt? Wen hat sie auserkoren, ihr lebender Erfüllungssklave zu sein, von dem sie zwischendurch zehren kann, ohne ihn ausglühen zu lassen? Diese Schnellrechner und Vielspeicher der Unfähigen erscheinen mir recht brauchbar im Erstellen logischer Verknüpfungen. Gibt es über diese Todesfälle Kunde, welche in diesen Gerätschaften niedergelegt wurde?"

"Die von der Polizei aufgenommenen Fälle auf jeden Fall, höchste Schwester. Was die anderen Fälle angeht, so sind wir auf uns allein gestellt", sagte Patricia. Anthelia nickte. Dann sagte sie:

"Mir widerstrebt es, Geräte zu bemühen, welche ihre Antriebskraft aus verbrennendem Petroleum oder alter Kohle erhalten. Dennoch drängt die Zeit, und ich sollte nicht auf Dinge verzichten, die eine schnelle Aufspürung des Ungeheuers in Frauengestalt herbeiführen können. Du und Schwester Lobelia mögt in der Zeit außerhalb eurer üblichen Arbeit versuchen, alle bisherigen Gegebenheiten so zusammenzufügen, daß eines dieser Geräte eine mögliche Beziehung ergründet. Vielleicht kommt dabei heraus, wer der auserkorene Sklave Hallittis ist."

"Wäre es vielleicht nicht besser, die Tochter des schwarzen Wassers zu fangen und zu verhören?" Fragte Charity. "Diese Kreaturen können doch untereinander kommunizieren."

"Der fehlgeleitete Zauberer Voldemort hat dies doch versucht, Hallitti zu erheischen. Seine Diener sind dabei gestorben", erwiderte Anthelia.

"Wissen wir das mit Sicherheit?" Fragte Patricia.

"Schwester Dana sah sie nicht mehr aus der Schlafstatt des Ungetüms entweichen. Sie wird sich wohl deren Lebensenergie einverleibt haben. Außerdem hat eine weitere nützliche Quelle vom Tode dieser zwei Untergebenen gekündet", sagte Anthelia ruhig.

"Wir wissen doch, wo die Tochter des schwarzen Wassers sich herumtreibt. Wenn wir sie mit vereinten Kräften stellen und unterwerfen ..." beharrte Charity auf ihren Vorschlag.

"Würden wir uns vielleicht im Wege stehen und vor allem unnötiges Aufsehen erregen", fuhr Anthelia dazwischen und beendete die Diskussion, indem sie noch mal anwies, mit Hilfe eines Computers alle gesammelten Fälle abzugleichen und nach einer Gemeinsamkeit zu suchen. Sie wußten natürlich, daß auch die Polizei der sogenannten Muggel auf diese Idee kommen mochte und vor ihr ergründen mochte, ob es jemanden gab, der indirekt mit allen Fällen in Beziehung stand. Als dann die beiden Mitschwestern verschwunden waren, ging Anthelia zurück zu Cecil Wellington und bekam mit, wie die letzten Erinnerungsströme gerade auf Ben Calder überflossen, um dann schnell und unmißverständlich zu versiegen. Ben Calder erwachte nun aus dem langen Zauberschlaf, der genau einen Mondzyklus angedauert hatte.

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Das EEG meldete, daß im Gehirn von Patient Cecil Wellington etwas neues vorging. Das EKG zeigte einen Anstieg der Herzfrequenz, jedoch im Rhythmus eines gesunden, sportlich aktiven Halbwüchsigen. Dr. Saunders, der Neurologe, saß gerade mit Oberschwester Wilberforth am Bett des Patienten. Von draußen klang das Geräusch eines anfliegenden kleinen Hubschraubers, dessen Rotordrehzahl abfiel, wie Saunders mit kundigem Gehör vernahm. Doch seine Aufmerksamkeit war auf den Jungen gerichtet, der eine volle Nacht und einen ganzen Tag hindurch geschlafen hatte, wobei er mehr als die üblichen Traumphasen durchgestanden hatte.

"Senator Wellington und seine Frau kommen an, Doktor", kündigte die Oberschwester an. Saunders nickte nur, behielt jedoch die Anzeigen der medizinischen Überwachungsgeräte im Blick.

"Gut, daß wir die letzten achtundvierzig Stunden auf Computerband genommen haben. Das ist absolut außergewöhnlich", murmelte er und strich sich ein ums andere Mal über die Stirn. Was immer mit dem Jungen da im Bett vor ihm passiert war, es unterschied sich von bisherigen Wiederaufwacherfahrungen. Ja, und dieser Patient wachte nun auf. Irgendwas in seinem Gehirn mußte da angeregt worden sein. Doch Saunders konnte sich noch nicht erklären, was es war, und das ihm, dem man in Princeton einen Lehrstuhl für Neurochirurgie angeboten hatte. McCurton hatte mit der Hilfe sehr guter Gönner verhindert, daß der Arzt dem Ruf dieser hoch angesehenen Universität folgte. Jetzt saß er hier und starrte wie ein Student im dritten Semester auf die Vorgänge auf den Überwachungsmonitoren, begierig, alles wichtige mitzukriegen.

Cecil Wellington schlug in dem Moment die Augen auf, als Senator Wellington und seine Frau ins Zimmer stürmten, die Gesichter rot von Aufregung und körperlicher Anstrengung.

"Cessie, mon petit Garçon!" Rief Mrs. Wellington höchst erfreut. Der Politiker sah seinen Sohn an und zeigte das erste ehrliche Lächeln seit langer Zeit. Er trat an das Bett heran, ohne die Klinikangestellten zu beachten. Saunders schnellte von seinem kleinen Holzstuhl hoch und stellte sich ans Bett, um zu sehen, wie Cecil Wellington sich bewegte, langsam, steif, wie nach tiefem Schlaf.

"Cess, Junge. Schön, daß du wieder bei uns bist", freute sich Senator Reginald Cecil Wellington überschwenglich und wollte seinen wiedererwachten Sohn sofort umarmen. Doch Saunders räusperte sich vernehmlich und mahnte zur Behutsamkeit, weil nach einem derartig langen Koma und allem, was in den letzten Stunden passiert war, jede überflüssige Anstrengung vermieden werden mußte.

"Wo bin ich?" Fragte der Junge mit schwacher Stimme. Er sah sich um. Langsam gewannen sein Blick Schärfe und konnte die Einrichtung erfassen, dann den Blick seiner Mutter.

"Mom! Du bist meine Mom!" Rief Cecil und schien sich ein Lächeln abzuringen. Doch offenbar waren die Gesichtsmuskeln wie alles andere an ihm durch die lange Zeit im Koma eingerostet.

"Gott sei Dank, daß du es geschafft hast, mein Sohn", sagte der Senator und blickte nach oben, als könne er seinen Schöpfer dort sehen.

"Wo bin ich?" Fragte Cecil noch einmal. Saunders trat vor und sagte:

"Ich bin Dr. Saunders, Cecil. Du hattest einen Reitunfall. Dein Pferd ist durchgegangen und mit dir einen Abhang hinuntergestürzt. Du wärest fast in einem Bachlauf ertrunken. Wir konnten dich am Leben erhalten, aber du warst im Koma, bis jetzt."

"Du bist hier in der McCurton-Klinik für die Heilung von schweren Unfallfolgen und Anfällen", sagte Senator Wellington.

"Reitunfall?" Fragte Cecil Wellington. Dann zuckte es in seinem Gesicht, als habe sein Gedächtnis eine wichtige, ja erschreckende Information hervorgeholt.

__________

Benny Calder wußte noch, daß diese Hexe Anthelia ihren Zauberstab auf ihn gerichtet hatte. Er war in tiefe Schwärze gestürzt und wußte nicht, ob es Jahre oder nur Sekunden gedauert hatte. Dann war er durch eine Hölle von Erlebniswiederholungen gerast, hatte Dinge gehört und gesehen, die ihn erfreut, erschreckt oder geärgert hatten. Doch dabei waren auch Sachen, die er nie zuvor erlebt hatte. Immer wieder saß er dabei auf einem dahinjagenden Pferd, das mit ihm einen tödlichen Abhang hinunterstürzte. Er konnte sich nicht an einzelne Sachen erinnern, die er in dieser rasenden Fahrt durch vergangene Erlebnisse mitbekommen hatte. Doch irgendwann war er erneut in diese tiefe Dunkelheit gestürzt und nun hier in einem Bett aufgewacht, mit allen möglichen Elektroden an Kopf und Körper. Er hatte die Augen aufgeschlagen und sah einen Mann und eine Frau, die er zunächst nicht erkannte, bis die Frau ihn "mein kleiner Junge" rief. Da strömten unzählige Erinnerungen in sein Bewußtsein zurück, als habe wer eine Schleuse geöffnet, die frühere Erlebnisse zurückgehalten hatte und nun durchließ. Er erkannte diese Leute als seine Eltern. Doch irgendwie fühlte er sich dabei merkwürdig, als seien dies nicht seine richtigen Eltern. Langsam füllte der freigesetzte Schwall der Erinnerungen sein wiedererwachtes Bewußtsein und ließ ihn in einem Strom vieler Gedanken dahintreiben. Ja, diese beiden Leute da, die Frau, die ihn auf Französisch angerufen hatte, was er plötzlich verstand, obwohl er es früher nie gelernt hatte und der untersetzte Mann im schicken Anzug mit Krawatte waren seine Eltern. Ja, er wußte auch, daß er Cecil Wellington hieß und sein Vater ein hochrangiger Politiker in Harrisburg, Pennsylvania war. Doch sein Vater war doch vorher noch Computerexperte gewesen. Außerdem sah der doch ganz anders aus. Ja, er sprach doch auch nicht mit dem Yankee-Akzent, den dieser Herr da benutzte. Jetzt erst viel es ihm auf, daß er selbst so gesprochen hatte, als er wieder aufgewacht war. Was hatte diese Hexe mit ihm angestellt.

"Du hattest einen schweren Reitunfall", hatte dieser Arzt gesagt, der ihn so merkwürdig anglotzte wie eine völlig neue Tier- und Pflanzenart. Reitunfall? Schlagartig erinnerte er sich, daß er am 23. September dieses Jahres mit seinem Pferd Silver Bullet durch einen Wald galoppiert war und mit dem Hengst einen Abhang hinuntergerutscht war. Doch an einen Aufprall konnte er sich nicht mehr erinnern. Aber das konnte nicht stimmen! Er war am 23. September in einem Hochsicherheitskrankenhaus gewesen, wo er sich von dem schweren Schock erholt hatte, den der brutale Bandenkrieg um seine Heimatstadt angerichtet hatte. Er war doch Benjamin Wellington, oder Cecil Calder. Nein, irgendwie war er ben Calder, der gerade als Cecil Wellington wiedergeboren worden sein mußte. Er wußte Dinge dieses Cecil, daß er wie er die Sängerin Madonna verehrte, jedoch nicht die Rapperin Lady Lila, die er sonst noch hörte, sondern Rockmusik wie von den Stones oder AC / DC, womit der werte Senator recht nett geärgert werden konnte. Er erkannte, was Anthelia mit ihm angestellt hatte. ER überlegte schon, ob er diesen Hokuspokus, den sie mit ihm und den Leuten hier trieb nicht sofort herausbrüllen sollte. Doch kaum hatte er dies gedacht, erklang eine ihm viel zu gut vertraute Frauenstimme in seinem Kopf:

"Wenn du dies wagst, Bursche, so werden sie dich für irrsinnig ansehen und für den Rest dieses Lebens in ihren Verwahranstalten drangsalieren. Du bist Cecil Wellington. Du bist nun er. Ich habe dich in sein Leben verbracht, mit Leib und Gedächtnis, mit allem, was ihm wichtig, schön und ärgerlich ist. Du bist nun er und wirst so leben wie er. Weichest du von dem Pfade ab, auf dem er wandelte, so sieh dich der lebenslangen Verwahrung gegenüber! Gehe also nicht darauf aus, dich durch merkwürdige Äußerungen oder Taten verdächtig zu machen! Ich werde dich wie zuvor aus der Ferne beobachten. Du bist wie zuvor mit meinem Geiste verbunden. Mein Geschenk an dich verbleibt auch in diesem neuen Körper, den du hast. Sei froh, daß ich dir nicht Form und Gedächtnis eines Straßenmädchens oder die hilflose Gestalt eines gerade entbundenen Säuglings zugedacht habe! Genieße es, was ich dir feilbiete, Knabe und führe fort, was ich dich einst zu tun hieß!"

"Fällt er wieder ins Koma?" Fragte die besorgte Mrs. Wellington, weil Cecil mit merkwürdig entrücktem Blick einherstarrte. Doch Saunders beruhigte sie.

"Dies sind nur die letzten Auswirkungen des Aufwachprozesses, Mrs. Wellington. Offenbar muß sein Gehirn die verstreuten Erinnerungen sortieren. Ich bin sehr beruhigt, daß er zumindest keine schwere Amnesie erlitten hat."

"Ja, stimmt, die Gefahr bestand ja doch", mußte Senator Wellington zugeben. Benny Calder, der hier im Körper eines ihm vorher völlig fremden aufgewacht war, aber sich an alles erinnern konnte, was diesem Burschen so passiert war, wußte nicht, ob er weinen oder verärgert mit den Zähnen knirschen sollte. Sein Körper fühlte sich jedoch so an, als habe er nur eine lange Nacht durchgeschlafen. Dann durchzuckte es ihn, das er ja am fünften November von Anthelia in diesen Zauberschlaf versenkt worden war. Er fragte:

"Was für'n Tag haben wir heute?"

"Öhm, nun ja - das ist so eine Sache", sagte Dr. Saunders. Senator Wellington zog die Stirn kraus. Benny Calder, der sich wohl oder übel nun mit seinem neuen Leben als Cecil Wellington abgeben lernen mußte stieß vor:

"Also mehr als ein Monat muß wohl her sein. Also, was für'n Datum ist heute?"

"Cessie, es wäre nicht gut, wenn du dich so aufregst", sprach Mrs. Wellington, seine neue Mutter auf ihn ein. Doch ihr Mann trat vor und zeigte die vergoldete Digitaluhr an seinem linken Handgelenk vor. Er drückte auf die winzige Taste der Datumsanzeige. Mit kurzem leisen Piep sprang die Anzeige von 09:50:22 auf 05.12.95 um. Ben / Cecil starrte auf die schwarzen Ziffern in der Flüssigkristallanzeige. Dann nickte er.

"Also um zweieinhalb Monate ist's her. - Was ist mit Bullet?" Fragte Cecil Wellington, der jedoch in diesem Moment nicht aus eigenem Willen sprach. Anthelia hatte seine Gedanken unterworfen und ihn diese Frage stellen lassen.

"Das erzählen wir dir alles, wenn du hier rauskommst", sagte der Senator. Er wandte sich dem Arzt zu und sagte mit gebieterischer Stimme: "Ich werde gleich mit Ihrem Chef sprechen, daß Sie alles tun, um meinen Sohn spätestens zwei Tage vor Weihnachten wieder entlassen zu können. Erzählen Sie mir jetzt ja nicht, daß er noch einen Monat hier zubringen soll! Das würde ich Ihnen keine Sekunde lang abkaufen."

"Nun, die Rehabilitation muß sein, Sir, bei allem Respekt", widersprach Saunders unbeeindruckt. Wenn die internistischen und neurologischen Untersuchungen zeigen, daß Ihr Sohn noch einen Monat Rekonvaleszenszeit benötigt, müssen Sie sich damit begnügen."

"Ich werde diese Untersuchung sehr genau hinterfragen, Dr. Saunders", kündigte Senator Wellington an. Der Gehirnspezialist nickte verhalten. Offenbar schien er sich seiner Sache sicher zu sein.

"Ich schlage vor, daß Sie das mit Professor McCurton besprechen sollten. Es ist sehr erfreulich, daß der Junge wieder aufgewacht ist. Diese Art von Glücksfall kommt ja zwischendurch vor. Aber wir sollten ihn nicht zu heftig mit allem Möglichen bombardieren."

Alle, sogar der Arzt und der Senator, stimmten durch Kopfnicken zu. Cecil Wellington, der früher einmal Benny Calder war, wurde nicht mit weiteren Diskussionen über die nächsten Tage behelligt. Ihm wurde erzählt, was nach dem Unfall passiert war, jedoch ohne zu erwähnen, wie es dem Pferd ergangen sei. Anthelia ließ Cecils Geist nun frei wirken. Offenbar war es ihr wichtig, ihn fragen zu lassen, weil sie dachte, das der echte Cecil, dessen Erinnerungen sie auf magische Weise übermittelt hatte, dies unbedingt hätte wissen wollen. Er fragte nach Schulkameraden, die seiner neuen Erinnerung nach seine Freunde waren oder nach den Lehrern an der Schule, in die er ging. Seine, Cecils eltern erzählten ihm, daß beschlossen worden sei, abzuwarten, ob und wann er aus dem Koma aufwache. Sollte dies noch innerhalb dieses Jahres geschehen, und sollten keine bleibenden Schäden festgestellt werden, könne er im nächsten Jahr die Klasse wiederholen, in die er nach den Sommerferien gekommen sei. Bis dahin könne er sich erholen und körperlich und geistig wieder zu alter Form auflaufen.

Vier Stunden blieben die Wellingtons. Der Senator hatte alle Tagesverabredungen absagen lassen und auch sein Handy ausgeschaltet. Letzteres auch deshalb, weil in dieser Klinik Funktelefone verboten waren, da deren Strahlung die medizinischen Messinstrumente oder Herz-Kreislauf-Maschinen stören konnte. Als die vier Stunden um waren, in denen Ben sich mehr und mehr an den Namen Cecil Wellington gewöhnt hatte, verließen seine neuen Eltern das Krankenhaus. Er hörte einen Hubschrauber starten und wußte, daß die beiden nun über alle Staus hinwegflogen.

Auf dringende Anweisung Prof. McCurtons wurde Cecil Wellington in ein geräumigeres Zimmer mit elektronisch gesicherter Tür verlegt. Senator Wellington hatte befürchtet, das sich die frohe Kunde vom Wiedererwachen seines Sohnes blitzschnell herumsprechen und die Nachrichtenjäger aller Medien anlocken würde. Tatsächlich hörte der Wiedererwachte oft erzürnte Stimmen, von Männern und Frauen, wenn sie von den beiden Sicherheitsbeamten vor der Tür zurückgewiesen wurden.

"Der junge Mr. Wellington ist heute morgen erst aus langem Koma erwacht. Chefarzt McCurton hat jede Aufregung streng untersagt", hörte er und "Ich habe Anweisung, nur Angehörige zu dem Patienten vorzulassen".

Am Nachmittag mußte Cecil Untersuchungen über sich ergehen lassen, als sei er ein Versuchskaninchen im Biolabor. Seine Körperfunktionen wurden chemisch und mit Durchleuchtungsmethoden erforscht. Sein Kopf aus allen Lagen geröngt, mit Infrarotsensoren vermessen und mit speziellen EEG-Messungen erforscht. Er mußte Reaktionstests bestehen, wie gut seine Wahrnehmung war, wie schnell er sich bewegenden Objekten mit den Augen folgen konnte und welche Reaktionszeit er brauchte, um beim Aufleuchten einer kleinen Glühbirne einen roten Knopf zu drücken oder beim Verstummen eines Summtons einen grünen Knopf zu betätigen.

Die Presseleute wurden derweil von vorgeschickten Leuten McCurtons mit den nötigen Nachrichten abgefüttert, um nicht ganz mit leeren Händen in ihre Redaktionen und Sendestudios zurückzukehren. Nachts ließ man ihn unter der maschinellen Überwachung von EKG und EEG schlafen, um zu sehen, ob sein Wach-Schlaf-Mechanismus sich tatsächlich wieder normalisierte. Am nächsten Morgen kamen die ersten körperlichen Tests. Anthelia, die wohl sehr sorgsam darauf bedacht war, daß ihr in die nichtmagische Welt zurückgeschickter Kundschafter nicht zu stark aus dem Rahmen fiel, kontrollierte ihn während der Gymnastikübungen, damit er nicht fitter auffiel als es einem lange im Koma gefangenen Patienten möglich sein durfte. Am Nachmittag kamen Gedächtnistests an die Reihe. Er wurde von Saunders und einem Psychologen unter einer EEG-Haube befragt und überprüft, ob die wichtigen Gehirnfunktionen noch vorhanden waren. Cecil erzählte alles, was ihm auf die persönlichen Fragen der Ärzte einfiel.

Die Untersuchungen und ersten Aufbautherapien liefen schon mehrere Tage, als am ersten Sonntag nach dem Aufwachen des Jungen ein junges Mädchen mit schwarzem Haar in das Krankenzimmer, das nun eher einem Luxushotelzimmer glich, eintrat. Cecil öffnete den Mund und wollte schon "Donna, hallo" sagen. Doch da fiel ihm ein, daß dieses Mädchen nicht Donna Cramer, seine frühere Freundin, war. Sie hieß Laura Carlotti, und sie war mit ihm zusammen öfter ausgeritten. Ihr Pferd war Bella Nera, eine herrliche Rappstute mit glänzendem Fell. Sie freute sich sichtlich, daß Cecil wieder auf den Beinen war und unterhielt sich mit ihm über alles, was in den letzten Wochen geschehen war. Cecil fragte dann irgendwann:

"Die wollten's mir nicht sagen, Laura. Aber möchtest du mir sagen, was mit Bullet passiert ist?"

Laura Carlotti sah ihn betrübt an, als habe sie mit dieser Frage gerechnet, sich aber nicht getraut, daran zu denken, wie sie antworten solle. Irgendwann traten ihr Tränen in die rehbraunen Augen. Sie holte tiefAtem. Atmete wieder aus und holte wieder Aten. Sie blickte auf ihre kleine Armbanduhr und schwieg, als habe sie erkannt, daß die Zeit noch nicht gekommen war, um zu reden. Cecil sah sie nun sehr ernst an und meinte:

"ER ist tot, stimmt's?" Laura erbleichte. Dann nickte sie sehr schwerfällig. Cecil nickte seinerseits und fügte nur ein "Dachte ich mir" an. Laura erzählte ihm dann, was passiert war, wobei sie sich mühsam zusammennehmen mußte, nicht in Tränenfluten zu ertrinken. Irgendwann hatte sie Cecil erzählt, was genau vorgefallen war und warum Cody den silbergrauen Prachthengst hatte erschießen müssen. Cecil entgegnete darauf verächtlich:

"Ist ja gut, das ich mir nicht beide Beine gebrochen habe." Laura schniefte ungehemmt. Dann jammerte sie:

"Das ist doch nicht witzig, Mann."

"Das war das beste Pferd, das ich hatte. Scheiß Hornissennest!" Diesen Satz sagte er sehr inbrünstig, weil es nicht nur Cecil Wellingtons Meinung war, sondern auch Ben Calders Meinung. Andererseits war er nun sicher vor denen, die ihn aus Seattle gejagt hatten und wohl noch suchten. Doch dafür hatte ihn diese weiß gekleidete Teufelsbraut Anthelia noch heftiger an die Kandarre genommen. Das passte ihm überhaupt nicht. Was hatte er damals gedacht, als er von ihr gefangen genommen und mit ihrem schwarzmagischen Getue unter ihre Überwachung gezwungen wurde? Sie würde nur noch überwachen, was er erlebte, wie die NASA losgeschickte Raumsonden per Funk überwachte aber sie nicht mehr zurückholte. Tja, Anthelia hatte ihn aus der Flugbahn gefischt, mit neuer Außenhülle versehen und mit einer Auffrischung der eigenen Daten auf neuen Kurs gebracht. Er war keine Raumsonde, sondern doch ein heimrufbarer Roboter mit scheinbar selbständig arbeitender Programmierung. Doch was hatte er auch gedacht, als er sich über seine neue Lage klar geworden war? Er würde so tun, als sei nichts passiert, solange Anthelia sich nicht in sein Leben einmischte. Er fragte sich zwar, wie mächtig diese Hexen waren, daß sie ihn als Quasiklon von diesem Senatorensohn eingeschleust und noch dazu dessen vollständige Erinnerungen mitgeliefert hatten. Er konnte sich an wirklich alles erinnern, was diesem Cecil vor dem Unfall passiert war, wie er mit zwei Jahren die letzten Windeln vollgemacht hatte, wann er sich in der Schule zum ersten Mal mit anderen Jungen geprügelt hatte oder daß er von einer tollen Liebesnacht mit Rachel Forester geträumt hatte und danach merkte, daß dies wohl auch seinen Körper angeregt hatte. Rachel Forester war seine Sportlehrerin, eine supertoll gebaute Blondine mit graublauen Augen, die es gut verstand, die Jungen zu animieren, ihr bestes zu geben. Tja, und auch wie er Laura Carlotti auf Codys Reiterranch zum ersten Mal getroffen hatte, war so deutlich in seiner Erinnerung, als habe er das wirklich selbst erlebt.

Er unterhielt sich mit Laura Carlotti über das, was nach dem Unfall los war. Die junge Italoamerikanerin erzählte ihm, daß sein Vater Rancher Cody auf ganze zwölf Millionen Dollar Schadensersatz verklagt hatte, und daß Cody sein Land mit hohen Schulden belasten mußte, um im Falle einer Verurteilung zahlen zu können. Cecil Wellington nickte betroffen. Er mochte es nicht, daß jemand, der immer sehr freundlich und hilfsbereit zu seinem neuen Ich gewesen war, derartig heftig bestraft werden sollte. Unfälle in freier Natur konnten nun einmal passieren. Da brachten die überzogenen amerikanischen Rechtsvorschriften absolut gar nichts.

Eine Krankenschwester holte Laura Carlotti nach etwa einer halben Stunde aus dem Zimmer heraus und geleitete sie zum Ausgang, wo ihr persönlicher Leibwächter wartete, der sich gerade mit einer jungen Frau mit langen dunkelbraunen Haaren unterhielt, die sich als Journalistin ausgewiesen hatte und extra aus Jackson, Mississippi angereist war, um über die Sensation des wiedererwachten Senatorensohnes zu recherchieren.

"Wir müssen, Signorina", grummelte der Bauernschrankgleich gebaute Leibwächter zu Laura und warf der Reporterin einen kurzen abschätzenden Blick zu. "Ich weiß nicht, ob man ausgerechnet Sie zu ihm läßt, Miss Grover. Aber ich denke auch, Sie kriegen hier in der Gegend bessere Infos für Ihr Blatt."

"Nun, meine Chefredakteurin will aber über Wellingtons Familie was haben", sagte die Reporterin und zwinkerte dem klobigen Beschützer mit ihren dunkelgrünen Augen zu. Ohne weiteres Wort verließ Laura mit dem zugeteilten Wächter die Klinik und fuhr in einem Tropenstrandweißen Mercedes davon.

"Miss Grover, Professor McCurton hat noch einmal bestätigt, daß kein Vertreter eines Informationsmediums zu dem Patienten Wellington vorgelassen werden darf. Wenn Sie etwas über dessen Zustand zu erfahren wünschen, steht Ihnen Dr. Clarkson, sein Stellvertreter, Rede und Antwort, sofern nicht familiäre Themen angeschnitten werden. Miss Grover nickte zustimmend und erhob sich von ihrem Wartestuhl. Sie folgte der Krankenschwester, die ihr gerade diese Nachricht überbracht hatte und unterhielt sich mit besagtem Dr. Clarkson, wobei sie, als sie mit ihm alleine war, gezielt nach dem Entlassungstermin für Cecil Wellington fragte.

"Nun, dieser Fall ist für die Medizin wenn nicht unmöglich, aber höchst selten. Wir möchten sicherstellen, daß dem jungen Patienten jede Möglichkeit eingeräumt wird, sich von allen offenkundigen und vielleicht noch versteckten Folgen des Unfalls zu erholen. Professor McCurton ist mit Senator Wellington in Verhandlungen getreten, ob die Unterbringung in einem von störenden Einflüssen abgeschirmten Sanatorium nicht die beste Lösung für dieses Problem ist", gab Clarkson auskunft, verweigerte jedoch die Beantwortung jeder Frage nach dem erwähnten Sanatorium. Gerade wollte er Ms. Liberty Grover formvollendet verabschieden, als zwei laut miteinander streitende Männer von weitem herankamen. Es waren Prof. McCurton und Senator Wellington selbst.

"... und übermorgen holen wir den Jungen hier ab, Herr Professor. Ihre ständigen Einwände, er müsse in eine Erholungsanstalt sind so fadenscheinig, daß ich Ihnen abraten möchte, sich jemals für eine politische Karriere zu entscheiden. - Mein Sohn feiert Weihnachten mit seiner Familie."

"Senator, seien Sie nicht unvernünftig. Das Aufwachen vollzog sich dermaßen ungewöhnlich, daß wir absolut sicherstellen müssen, daß ...", entgegnete McCurton sichtlich verärgert, wurde jedoch vom Senator harsch unterbrochen.

"...Daß Sie ihn nicht eher entlassen, bis Sie ihn in seine Einzelteile zerlegt, durchgeknetet und wieder zusammengesetzt haben, Professor. Ich zahle Ihnen nicht dafür, daß Sie meinen Sohn wie eine X-beliebige Laborratte durch Laufräder jagen und piesacken. Er ist wieder wach, alle Tests haben bestätigt, daß er sich gut von dem Unfall erholt hat und er sein gewohntes Leben wieder aufnehmen kann. Also, übermorgen ist der Junge hier raus. Jede Verzögerung oder Ausrede wird ernste Konsequenzen nach sich ziehen, Professor McCurton."

Die Tür flog so heftig auf, daß sie mit lautem Krach gegen die weißgestrichene Wand prallte. McCurton kam mit puterrotem Kopf hereingestürmt. Seine Krawatte saß total schief. Clarkson wußte, daß dies ein Zeichen dafür war, daß der Chefarzt sich sehr aufregte, denn dann zog er gerne an seinem Halsschmuck herum.

"Wer ist die Dame?" Fauchte McCurton und deutete auf Liberty Grover. Diese lächelte freundlich und stellte sich vor. Senator Wellington polterte McCurton hinterher und herrschte ihn an:

"Wenn Sie nicht so schnell wie möglich alles veranlassen, um meinen Sohn zu entlassen, wird der Verlust Ihres Rufes das geringste Ihrer Probleme sein, Herr Professor." Dann sah er Liberty Grover. Diese sah den Senator an. Dieser hörte, wer und was sie war und schnaubte kurz. Doch dann huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, bevor es in einer berufsmäßigen Maske der Undurchschaubarkeit verharrte.

"Sie sind Reporterin? Dann teilen Sie Ihrer Redaktion bitte folgendes mit! Ich, Senator Reginald Cecil Wellington, Doktor Juris, werde kommenden Dienstag meinen hier zur erfreulich erfolgreichen Genesung weilenden Sohn Cecil um 10.00 Uhr abholen, um ihn nach Hause zu bringen, damit er wie alle Söhne und Töchter dieses Landes die Weihnachtstage und den Jahreswechsel im Kreise seiner Lieben verbringen kann. Ich denke, damit wird Ihr Chefredakteur mehr als zufrieden sein."

"Oh, das denke ich sehr, Herr Senator. Danke für diese Auskunft", lächelte Liberty Grover und trug die Aussage des Senators haargenau in ihr kleines veilchenblaues Notizbuch ein. Professor McCurton starrte das kleine Buch wütend an und fauchte:

"Fügen Sie gefälligst an, daß dies ein Wunsch des Senators sei, gegen dessen Erfüllung ich mich als oberster behandelnder Arzt derzeit entschieden verwahren muß, da noch längst nicht alle Tests durchgeführt wurden!"

"Dann setzen Sie dem noch hinzu, Madam, daß ich jede pseudomedizinische Begründung als Verstoß gegen die geltenden Grundrechte verstehen muß, da ich als verantwortungsbewußter und treusorgender Familienvater davon ausgehen muß, daß mein Sohn wegen der ungewöhnlichen Umstände seines Erwachens aus langem Koma zu unerlaubten Menschenversuchen herangezogen werden könnte, da sich Professor McCurton nicht damit abfinden will, daß unser Herr immer wieder Wunder an seinen Kindern wirkt."

"Gott lassen Sie bitte aus dem Spiel, Herr Senator!" Stieß der Chefarzt zornig aus. "Religiöses Pathos steht Ihnen genauso wenig an wie mir."

"Das ist kein Pathos, sondern eine überzeugte Feststellung, Herr Professor. Mein Sohn hat mindestens einen hervorragenden Schutzengel, ohne den Ihre Kunst versagt hätte."

"Nun, ich werde Ihren Wunsch und das was Professor McCurton darauf geantwortet hat an meine Chefredakteurin weitermelden, Herr Senator. Mehr müssen Sie mir nicht sagen. Gut, daß Sie Gott und seinen Engeln für das Aufwachen Ihres Sohnes danken, kann ich ja noch reinschreiben. Aber mehr brauchen wir nicht", sagte Liberty Grover, klappte demonstrativ ihr Notizbuch zu und verließ Clarksons Büro mit wehendem Haar.

Als Clarkson die Tür hinter ihr zugedrückt hatte grinste sie überlegen. Sie horchte mit einem angeborenen Sinn, den nicht jeder Mensch besaß in die vielen Räume des Krankenhauses und ließ dann diesen Sinn über das Chefarztbüro streichen. Sie erfuhr, daß McCurton einwand, durch den vier Minuten Langen Ausfall der inneren Organe könne eine permanente Gehirnschädigung auftreten, die auch zu einer schweren Persönlichkeitsstörung führen mochte. Senator Wellington hielt dagegen, daß diese Persönlichkeitsstörungen ja schon erkannt worden sein müßten, wären sie tatsächlich aufgetreten. Diesen Umstand mußten sie immer bedenken, erkannte die Frau, die sich als Reporterin ausgewiesen hatte, bevor sie weit genug weg vom Büro mit leisem Plopp verschwand, als habe sie sich in Luft aufgelöst.

__________

Die neue Arbeitstelle behagte Richard Andrews sehr. Hier konnte er mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt neue Werkstoffe austüfteln und durch Belastungssimulationen jagen. Die kleinen Modellierrechner waren gute Terminals, um über die firmeneigenen Großrechner die aufwendigen Tests zu fahren, die beispielsweise eine kristalline Polymerverbindung mit eingeschlossenen Metallgitterstrukturen auf vorhersagbare Hitzebeständigkeit oder Kältewiderstände zu prüfen. Sicher, der Rechner konnte nur auf bereits in echten Versuchen erhobene Daten zurückgreifen und nicht den Superstoff an sich vorherberechnen. Darüber war Dr. Andrews auch froh. Weil sonst wäre sein Job überflüssig, und selbst die geistig anspruchsvoll arbeitenden Wissenschaftler wären Opfer ihrer eigenen Schöpfungen geworden und von elektronischen Entwicklungssystemen abgelöst worden.

"Hups, ich wußte nicht, daß diese Verbindung chemisch erzeugt werden kann", stellte Nina Zager anerkennend fest, als ein von Richard zu Versuchszwecken konstruiertes Molekül zu einer Gesamtmasse von 1 Kilogramm hochgerechnet und dann in die physikalische Simulation geschickt worden war. "Ich habe irgendwie gelernt, daß mesomere Molekülketten nicht zu solchen Gitterstrukturen verhakt werden können."

"Ist im Prinzip dieselbe Grundlage wie bei der Diamantbildung, nur daß hier die Entstehung komplizierter ist, mit zwanzig Zwischenstufen", sagte Andrews. "Ihnen das genauer zu erläutern haben wir beide keine Zeit. Begnügen Sie sich damit, das ich rausgefunden habe, wie die abwechselnden Einfach- und Doppelbindungen zwischen den Atomen in alle drei Raumdimensionen ausgedehnt werden können, bis wir haben, was wir wollen!"

ER freute sich schon darauf, diesen Werkstoff, den er für Omniplast noch nicht getestet hatte, seinem neuen Chef vorzuführen, wenn die Simulationen hielten, was sie versprachen. Doch eine Stunde später meldete der Computer, daß bei einer Hitze von 60 Grad Celsius ein Zerfallsprozess eintrat, bei dem die Werkstoffe unbrauchbar wurden, ja sogar giftige Abfallprodukte hinterließen. Irgendwas hatte er wohl verkehrt berechnet. Dennoch fühlte er sich nicht enttäuscht oder frustriert. Er wußte, daß Rückschläge immer ein Fortschritt in der Forschung waren. Er mußte nur die Daten prüfen, die bei der Simulation aufgezeichnet wurden, um zu erkennen, ob er was verkehrt errechnet hatte und ob das zu korrigieren war. Zumindest wurde hierfür kein echtes Material benötigt und somit auch kein echter giftiger Rückstand erzeugt.

Nach einem langen Labortag fuhr Richard mit dem letzten Zug nach Bay City zurück. Die üblichen Berufspendler waren schon vor drei Stunden heimgefahren, und der Wagon in dem Richard saß war relativ leer. irgendwie fühlte er sich jedoch bedroht. Die wenigen Passagiere hier waren Typen, die nicht gerade viel Wert auf ihr äußeres legten. Er wußte, daß er in seinem korrekten Anzug wie ein bunter Hund auffiel. Nicht nur das, als zwei verwegen aussehende junge Männer in zerrissenen Jeanshosen und speckigen Lederjacken mit bunten Flicken auf ihn zukamen, war ihm zu Mute, wie einer Maus, die die nahende Katze wittert, aber doch aus dem Loch heraus muß, um nicht zu verhungern.

"'tschuldigung, Mister, wie spät hamwers?!" Fragte einer der beiden Burschen mit sehr schnodderigem Akzent. Richard roch eine Aura aus kaltem Zigarettenrauch und billigem Alkohol, als der junge Mann ihn ansprach. Richard kannte manche Anmache, die Kleinkriminelle brachten, um ihre Opfer abzulenken oder in eine bestimmte Stellung zu bringen, um dann zuzuschlagen. Deshalb sah er nicht auf die Uhr, sondern meinte nur:

"Meine Uhr ist kaputt. Tut mir Leid. Ich bin froh, daß ich weiß, wo ich rausmuß."

"Ach ja?" Fragte der Bursche. "Aber die Pelle ist ordentlich, wie?" Pöbelte der Mann, der Richard angesprochen hatte und streckte seine verschmierten Finger nach der Krawatte aus. Richard zwang sich, nicht zurückzuzucken oder ausfällig zu werden. Wenn der Mann Streit suchte, um ihn dann schlagen oder mit einer Waffe angreifen zu können, wollte er nicht so dumm sein, sich so einfach provozieren zu lassen. Er verwünschte den Umstand, keine Waffe mitgenommen zu haben. Doch wäre das in einer solchen Situation auch das richtige?

"Toller Fetzen", sagte der zweite Bursche und griff nun auch nach Richards Schlips und zog kräftig daran. Dann ließ er seine Hand über das korrekt gebügelte Jacket gleiten. Richard sagte:

"Freut mich, daß Ihnen mein Anzug gefällt. Aber Sie müssen ihn nicht anfassen, um sich daran zu erfreuen."

"Eh, Cracker, hör mal wie der redet!" Amüsierte sich der Mensch, der Richard als erster angesprochen hatte. Der Zweite lachte überaus dümmlich. ER hatte seine Hand gerade an der Ausbeulung von Richards Brieftasche.

"Eh, geil, der kerl ist ja wirklich wichtig, Slam", frohlockte er und griff an die Knopfleiste, um das Jacket mehr oder weniger behutsam aufzumachen. Richard sagte sehr gefährlich klingend:

"Lassen Sie mich in Ruhe!" und packte den dreisten Burschen beim Handgelenk.

"Eh, wir haben hunger, und wir müssen was zu essen kaufen, Mann!" Blaffte der, der Slam genannt wurde. Dann hatte er plötzlich ein Klappmesser in der rechten Hand. Jetzt war die Sache klar für Richard. So oder so würde er gleich ausgeraubt und womöglich getötet werden, wenn er sich nicht wehrte. Er wollte jedoch nicht mit seiner ohnehin spärlich trainierten Körperkraft Widerstand leisten, sondern rief überlaut:

"Hilfe, Überfall! Polizei!"

"Eh, Schnauze, Arschloch!" Bellte Cracker und griff nun unbefangen an die Jacke, um die Brieftasche des Chemikers zu stehlen. Sein kumpan hielt Richard das Messer vor. Doch das hätte er besser nicht getan.

Richard fühlte die Hilflosigkeit und Angst in sich anwachsen. Doch auf einmal explodierte etwas in seinem Herzen, das ihn wie ein aufloderndes Feuer durchraste und seinen Rest von klarem Verstand überwältigte. Seine linke Faust packte Cracker am Arm. Laut schrie dieser auf und ließ die bereits hervorgezogene Brieftasche fallen. Slam zuckte kurz zurück und wollte dann vorstoßen, um den Anzugträger das Messer in den Leib zu rammen. Doch dieser wippte zur Seite weck, und die Klinge fuhr in das Sitzpolster. Keinen Augenblick später war Richard vom Sitz hochgefahren und hatte den ersten Gangster bei der Kehle. Dieser wußte nicht, wie ihm geschah. Er versuchte, zuzuschlagen. Doch mit einem Griff wie ein Schraubstock drückte Richard ihm die Luft so kräftig ab, daß er röchelnd hinten überfiel. Cracker ließ seine Faust vorschießen, die voll gegen die zur Abwehr hochgerissene Rechte Richards krachte. Dieser beachtete den Schmerz nicht, der ihm durch die Hand und den Arm raste und schlug seinerseits zu. Krachend und punktgenau landete sein Hieb auf der Nase des zweiten Räubers und trieb ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Dann kippte auch dieser Bandit hinten über und fiel schlaff quer über die Sitze. Aus der nun zu einem roten Klumpen verunstalteten Nase ergoss sich ein Rinnsal aus Blut, das erst das Kinn und dann die Sitzpolster besudelte. Der Räuber jedoch schien bei diesem Treffer das Bewußtsein verloren zu haben. Der erste Verbrecher röchelte und hustete. Taumelnd kam er wieder auf die Beine. Die kurze Ohnmacht hatte ihn offenbar nicht von seinem Vorhaben abbringen können. Richard war jedoch auf der Hut, zog schnell das scharfe Messer aus dem Sitzpolster und hielt es dem Gangster entgegen.

"Komm mir noch mal näher als einen Schritt, Bursche, dann bist du tot!" Knurrte Richard mit einer von ihm selbst nie gekannten Entschlossenheit. Er fühlte sich immer noch wie von einem wilden Feuer durchtobt, das seine Sinne und Gedanken überstrahlte.

"Eh, Typ, bleib ganz cool, ja!" Wimmerte der Gangster. Doch Richard hörte heraus, daß dieser wohl auf eine günstige Gelegenheit lauerte, sich das Messer wiederzuholen. Dann peitschte plötzlich ein Pistolenschuss durchs Abteil.

"Fallen lassen!" Rief ein dunkelhäutiger Mann im Durchschnittsanzug. In der rechten Hand hielt er eine schwere Pistole, aus deren Mündung feiner Rauch wehte. Richard ließ das Messer nicht fallen. ER warf es knapp an Slam vorbei in den Gang, wo es klirrend auf den Boden schlug und noch drei Meter weiterschlidderte.

"Ist Ihnen was passiert, Mister?" Fragte der Mann mit der Pistole und sah Richard sehr aufmerksam an. Dieser schüttelte den Kopf.

"Die beiden hier haben mich angegriffen."

"Kann ich mir vorstellen, Mister. Schnieke Typen sind wie'n Haufen Hundescheiße für Schmeißfliegen. Haben Sie die beiden alleine ...?"

Slam ließ sich auf die Knie fallen und wollte das Messer wieder holen. Doch der Fremde feuerte mal eben eine Kugel knapp an ihm vorbei. "Schlechte Idee, Bürschchen", sagte er noch und sah, wie Slam wie ein getretener Hund auf allen Vieren vor ihm zurückwich.

Weitere Männer mit Schusswaffen kamen herein. Einer holte Handschellen heraus und fesselte Slam. Cracker, der gerade unter Stöhnen zu sich kam, wurde gleichsam gefesselt. Richard erfuhr, daß die Männer von der Bahnlinie als Sicherheitspersonal angeheuert worden waren, da es gerade in den späten Abendstunden zu gewalttätigen Übergriffen auf Passagiere kam. Der Chemiker mußte in Bay City der Polizei berichten, was genau passiert war und wie er sich gewehrt hatte. Der Beamte, der die Aussage zu Protokoll nahm, rümpfte einmal die Nase und meinte:

"Die hätten Sie umbringen können, Dr. Andrews. Die beiden sind einschlägig vorbestraft, gerade wegen gemeintschaftlich begangener Raubüberfälle und Drogendelikten. Der Bursche, dem Sie das Nasenbein zertrümmert haben steht im Ruf, ein brutaler Schläger zu sein, und Slam, der seinen Kampfnamen wegen seiner Neigung zu brutalen Schlägereien hat, hat bereits mal einen unbescholtenen Bürger mit einem Messer schwer verletzt. Wir raten immer, geben Sie Ihre Wertsachen heraus und rufen Sie dann die Polizei! Ihr Leben ist einmalig. Alles andere kann ersetzt werden."

"Ach ja? Sie sagten, daß die schon mit Drogen zu tun hatten. Als Chemiker und Vater eines minderjährigen Sohnes habe ich mich mal kundig gemacht, was Drogen aus Menschen machen, Sir. Dieser Messerstecher hätte mich doch auch so ermordet, auch wenn er meine zweihundert Dollar schon längst gehabt hätte!" Widersprach Dr. Andrews. Der Sergeant, der seine Aussage niederschrieb, verzog das Gesicht.

"Noch ein Kardinalfehler, Sir", tadelte er Richard. "Nehmen Sie bloß nie so viel Bargeld mit! Legen Sie immer vorher fest, was Sie am Tag für Ausgaben haben und nehmen Sie nur mit, was Sie dafür brauchen!"

"Sergeant McKoy, ich bin nicht hier, um mich wie ein Schuljunge belehren zu lassen", knurrte Richard, der dem Polizisten innerlich rechtgeben mußte.

"Nun, wenn Sie wirklich meinen, im Manager-Outfit herumzuspazieren, sollten Sie zumindest nicht auch reiche Beute für solche Strauchdiebe abgeben. Ich dachte, Sie hätten vor Ihrem Arbeitsantritt hier gelernt, was gut und schlecht in unserer Stadt ist. Aber Sie haben natürlich recht, daß ich Sie nicht übermäßig belehren sollte. Ihre Aussage und die der Privatsheriffs haben wir ja, und ich kann Ihnen versichern, daß die beiden wegen dieses Überfalls wieder einige Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Dennoch, solange Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, Doktor, sollten Sie eine etwas weniger herausfordernde Garderobe auswählen. Jungen und Mädchen vom Schlage dieser beiden netten Burschen laufen doch immer noch zu viele hier herum, und ich kenne einige Gangsterbräute, die nicht fackeln würden, Sie erst umzubringen, bevor Sie sie wie einen Erntedank-Truthahn ausnehmen. Mir liegt nämlich was daran, schlimme Sachen zu verhüten und nicht erst anzurücken, wenn's schon brennt. Sonst wäre ich Feuerwehrmann geworden", sagte Sergeant McKoy.

"Na klar, und die Kriminellen diktieren die Konventionen, erst die Kleidung, dann das Verhalten, und schließlich wohl auch noch die politischen Ansichten, wie?" Blaffte Richard den Polizisten an. Der Sergeant grinste nur und meinte:

"Tun sie doch schon seit Jahrzehnten. Oder denken Sie, daß Politiker unschuldige Personen sind?"

"Kein Kommentar", stieß Richard aus.

Die Aufregung des versuchten Raubüberfalls auf ihn hatte Richards Müdigkeit verjagt. Stunden lag er wach in seinem Bett und ließ das aufwühlende Erlebnis wie bei einer Karussellfahrt immer und immer wieder vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. So um drei Uhr nachts erst fand er in den Schlaf. Doch auch im Traum ließ ihn der versuchte Überfall nicht los. Er sah sich in diesem Zugabteil sitzen und die beiden Kerle auf sich zukommen. Neben ihm saß Loretta Hamilton in einem blütenweißen Kleid. Als Slam ihn anpöbelte, warf Cracker ihr einen lüsternen Blick zu. Loretta schien darüber sehr verlegen zu werden. Sie lief knallrot an. Slam wollte Richard angreifen, als sie ihm zuflüsterte:

"Mach sie fertig!" Als hätte sie ein Zauberwort gerufen, daß ihm eine schier unbändige Kampfeslust einflößte, griff er die beiden Verbrecher an und trieb sie mit wuchtigen Schlägen und Tritten aus dem Abteil, bis sie wie nasse und mit Blauen Ausbeulungen verunzierte Säcke vor der Abteiltür liegen blieben. Loretta streichelte ihm anerkennend über die Wange und säuselte:

"Braver Junge. Du konntest das. Ich wußte es." Dieses Lob durchflutete ihn mit einer Woge aus Freude und Zufriedenheit, heizte aber auch seine Begierde an, mit Loretta zusammenzukommen. Sie spürte das wohl und ging auf seinen unausgesprochenen Wunsch ein. Ohne darauf zu achten, daß vielleicht andere Leute ins Abteil kamen, machten sie sich auf den schmalen Sitzen übereinander her, küßten, kosten und vereinigten sich, immer und immer wieder, bis Richard am Rande der Ohnmacht schwer atmend auf dem dreckigen Abteilboden landete. Loretta wollte ihn jedoch immer noch und holte ihn so nahe zu sich wie ihrer beiden Körper dies zuließen. Dabei sang sie ihm jenes merkwürdig eindringliche Lied vor, dessen Töne sie in den Rhythmus des Liebesspiels einflocht. Richard fühlte jeden Ton durch die von Loretta vollendete Vereinigung mit ihm durch den Leib bis hinauf in seinen Kopf. Ton für Ton, bewegung für Bewegung hüllte ihn in einen dichten, warmen dunklen Mantel ein, der seine Sinne von der ach so bösen Außenwelt ausschloss.

Irgendwie merkwürdig, als habe er am Abend zuvor ein hartes Gymnastikprogramm absolviert, erwachte der Chemiker beim ersten Ton der Musik aus seinem Radiowecker und lauschte auf den Text eines elektronisch gespielten Liedes mit merkwürdig dunkler aber entrückter Atmosphäre, der mit den Worten Endete, daß jemand besungenes das gelernte vergessen solle, weil sie, die Sängerin, nie wieder was erklären würde.

"Wer denkt sich denn so'n Text aus?" Fragte sich Richard und wunderte sich, daß er wohl den örtlichen Popmusikkanal eingestellt hatte, denn das Stück danach war ein Rap, Zeug, das sein Sohn Julius früher gerne laut gehört hatte. Julius! Der hörte jetzt bestimmt keinen Ghetto-Unrat aus Amerika mehr. Diese - Personen, die ihn ihm weggenommen hatten, mochten diese in stampfige Rhytmen gezwengten Vulgarismen bestimmt noch weniger als er. So wich die kurze Verärgerung einem Gefühl der Erheiterung und dann leichten Verzweiflung, weil diese Musik ihm zeigte, was er verloren hatte. Doch kein Gedanke an den gestrigen Raubversuch stieg in ihm hoch. Vielleicht hatte er das ja auch nur geträumt, wie die wilde Liebe mit Loretta.

So stand er auf, ging erst steif dann langsam beschwingter werdend ins Bad und verrichtete das übliche Morgenritual mit Dusche, Zähneputzen, Anziehen und Rasieren. Er frühstückte sichtlich gelöst und stellte dann am Radiowecker einen Jazzsender ein, von dem er geweckt werden wollte. Wieso hatte er bloß diesen Geräuschsender eingestellt?

Irgendwie war der Rat von Sergeant McKoy nicht wirkungslos an ihm verpufft. Er zog sich erst schlechte Hosen und einen Pullover an, um dann, als er in der Firma war, auf der Herrentoilette in die konventionelle Kleidung zu schlüpfen. Als Nina Zager, die sich nie um Bekleidungsvorgaben scherte, ihn fragte, was das sollte, erzählte er ihr nur, daß er mal gehört habe, daß gut angezogene Leute in einem Zug am Abend böse Menschen anlockten. Nina schmunzelte.

"Ach neh, das fällt Ihnen jetzt erst ein? Das ist genau der Grund, warum ich im gewöhnlichen Zeug herumlaufe. Der Boss hat zwar mal gemeint, ich solle mich repräsentativer anziehen. Aber ich habe ihm erklärt, daß ich hier sowieso nicht repräsentieren muß und lieber schlicht herumlaufe als von irgendwelchen Gangstern überfallen werden möchte, die meinen, viel Kohle abzuziehen. Wer hier zur Schule gegangen ist, Doktor, lernt das früh, daß unauffällig herumzulaufen wie eine Lebensversicherung ist. Nur Gangster trauen sich, mit teuren Sachen am Leib herumzulaufen."

"Moment, Miss Zager. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ...?" Empörte sich Richard.

"Das gilt für Schüler", wiegelte Nina sogleich ab. "Ich habe nicht behauptet, daß alle so eingeteilt werden."

"Möchte ich Ihnen auch geraten haben", sagte Richard mit sehr ernster Miene.

Irgendwie, so empfand es Richard Andrews, schien der Überfall kein Nachspiel für ihn zu haben. Für ihn war er genauso aufwühlend als habe er ihn als Ausschnitt eines aktionslastigen Krimis im Fernsehen gesehen. Abends fuhr er unbehelligt von dunklen Gedanken oder Mitreisenden nach Hause.

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Dieses Land, hatte sie schon lange vorher erkannt, brachte manch skrupellosen Menschen hervor. Als sie jedoch mitbekam, daß der, den sie sich erwählt und in langen und ausschweifenden Aktivitäten an sich gebunden hatte, von zwei gewöhnlichen Räubern um sein Hab und Gut und womöglich auch noch um das ihr so kostbare Leben gebracht zu werden drohte, wurde sie wütend. Wie konnten diese ffrühzeitig gescheiterten Burschen es wagen, sich an ihrem Eigentum zu vergreifen? Diese Wut loderte in ihr auf wie ein ausbrechender Vulkan. Sie wußte, daß ihr Auserwählter davon was mitbekommen würde. Doch was dann passierte, amüsierte sie. Denn der, welcher sie aus dem langen würdelosen Schlaf aufgeweckt hatte, wurde von der Woge der Wut so stark, daß er die beiden Beutelschneider innerhalb weniger Sekunden eigenhändig außer Gefecht setzte. Das Geplänkel mit den Gesetzeshütern danach verfolgte sie sehr aufmerksam. Als er dann wieder bei sich zu Hause war, beschloss sie, alle Spuren zu beseitigen und die Erinnerung der beteiligten zu verändern, um ihm den Rücken freizuhalten. So begab sie sich in der Nacht als Hauch weißen Nebels zur Polizeiwache und suchte den Sergeanten auf. Hinter ihm nahm sie ihre übliche überragend schöne Gestalt an und flüsterte ihm zu, sich umzudrehen. Er schrak zusammen und fuhr herum. Kaum sah er der unheimlichen Besucherin in die goldenen Augen, strömte ein unbändiger Wunsch in seinen Verstand, alle Akten zum Fall Andrews zu beseitigen. in einem wilden Drang löschte er alle Daten zu diesem Fall und warf die ausgedruckten Protokollseiten dem Reißwolf zum Fraß vor. Als das erledigt war, wußte er nicht einmal mehr, was er gerade getan hatte. Er drehte sich um und sah niemanden mehr.

Die Sicherheitsbeamten aus dem Zug zu manipulieren war für die Tochter des dunklen Feuers, wie sie sich stolz nennen ließ, noch einfacher, indem sie den vier Männern, die bei der Tat dabei waren in ihren Träumen einflüsterte, daß sie die beiden Übeltäter bereits vorher schon gestellt und sie nach einem kurzen Handgemenge überwältigt hatten. Dann suchte sie die beiden Verbrecher selbst auf und setzte auch diesen ihre Version der Ereignisse ins Gehirn. Sie widerstand dem Drang, sich an ihrer Lebenskraft zu sättigen. Dies würde hier in den Kerkern der Kurzlebigen doch auffallen und Nachforschungen heraufbeschwören. So verzichtete sie darauf, die beiden mit ihrer tödlichen Liebe zu Tode zu verzehren. Sie verließ das Gefängnis durch zeitlosen Ortswechsel und suchte Richard auf, den sie in jener tiefen Trance, in der sie ihn schon oft besessen hatte, alle Aufregungen der letzten Stunden und die Erinnerung an den Überfall als tatsächliches Erlebnis austrieb. Sie genoss es, ihn im Zustand zwischen Wachen und Träumen zu lieben, seinen Körper mit ihrem zu vereinigen, jedoch dabei darauf zu achten, nicht mehr von ihm zu nehmen als sein Körper ohne bleibenden Schaden herzugeben vermochte. Als der Radiowecker ansprang und eine mit Hall unterlegte Sängerin "Lass uns besinnungslos werden, Honey" sang, verschwand sie wie ein verfliegender Traum, ohne Spuren zu hinterlassen.

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Anthelia war bei Lobelia Wagner zu Hause. Sie saß mit ihrer Mitschwester vor dem Fernseher und schaute zu, wie eine Horde von Zeitungsreportern eine glückliche Familie in ein unaufhörliches Blitzlichtgewitter hüllte. Cecil Wellington, gekleidet in einen hellen Anzug, stand neben seiner Mutter Henriette, während ein sichtlich verärgerter Prof. McCurton im Hintergrund wartete.

"Dies sind die glücklichen Momente, wenn eine durch Unfall und lange Krankheit getrennte Familie wieder zusammenfindet", kommentierte eine Reporterin, die nicht im Bild zu sehen war die Szene. "Heute kehrt Cecil Wellington, stolzer Stammhalter von Pennsylvanias Senator Wellington in sein Zuhause zurück. Nach mehr als siebzig Tagen kann der an seiner Schule beliebte Hobbysportler die exklusive McCurton-Klinik wieder verlassen und den Weihnachtstagen im Kreise seiner Lieben entgegensehen. Damit endet ein dunkler Abschnitt im sonst so idyllischen Familienleben des für seine sehr streng konservative Haltung bekannten Senators, welcher seine Verpflichtungen in den letzten Monaten zurückgestellt hat, um sich ganz für die Genesung seines Sohnes einzusetzen."

Sie zeigten Cecil Wellington in Nahaufnahme. Er lächelte sehr gekonnt in die auf ihn gerichteten Kameras und winkte zum Abschied. Prof. McCurton schien jedoch nicht sonderlich begeistert zu sein. Er hielt sich wohl im Hintergrund und mied sorgsam den Blick in die Kameras. Als ihm noch ein drahtloses Mikrofon hingehalten wurde, schüttelte er den Kopf. Doch der Reporter war hartnäckig.

"Professor McCurton, Sie äußerten, daß Sie den jungen Mr. Cecil nur auf ausdrückliches Verlangen von Senator Wellington entlassen. Welche Einwände haben Sie?" Fragte der Fernsehreporter. McCurton gab "Kein Kommentar" zur Antwort. Der Fernsehmensch hakte jedoch nach. "Könnte es sein, daß Ihnen der lukrative Aufenthalt des jungen Mr. Wellington einen guten Zugewinn verschafft hat, auf den Sie ungern verzichten?"

"Diese Unterstellung verbitte ich mir entschieden!" Fauchte McCurton. "Sollten Sie oder einer aus Ihrem Kollegenkreis diese unglaubliche Unverschämtheit veröffentlichen, werden Sie von meinem Anwalt hören. Ich habe rein medizinische Einwände erhoben, die ein Entlassen des Patienten Wellington zum jetzigen Zeitpunkt betreffen. Wie Sie und Ihre Kollegen berichtet haben war Mr. Wellington Junior für mehr als drei Minuten ohne erkennbare Lebenszeichen. Wird das Gehirn für mehr als drei Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt, können Nervenschädigungen auftreten, deren Auswirkungen die unterschiedlichsten Störungen aufweisen. Wir hier wollen lediglich sichergehen, daß unsere Patienten auch voll genesen die Klinik wieder verlassen, ohne nachhaltige Traumata oder Funktionsstörungen zu erleiden. Dies, und nur dies, war und ist das Motiv für meine fundierten Einwände. Aber ich kann bedauerlicherweise nicht den eindeutigen Wunsch des Vaters von Mr. Wellington Junior ablehnen, seinen Sohn über die Weihnachtstage bei seiner Familie zu beherbergen. Ich lehne jedoch jede Verantwortung für eventuell auftretende Folgeerkrankungen oder Verhaltensstörungen ab."

"Ist mir schon bekannt", sagte Senator Wellington aus dem Hintergrund. Dann führte er zusammen mit seiner Frau den Jungen aus der Klinik zum wartenden Hubschrauber.

Anthelia wandte ihren Blick vom Bildschirm ab und schloss die Augen. Das Fernsehen war schon eine brauchbare Sache für die sogenannten Muggel. Allerdings mochte sie die flimmernden Bilder nicht lange ansehen. Sie konzentrierte sich auf Ben Calder, der sich in den letzten Tagen daran gewöhnen mußte, als Cecil Wellington angesprochen zu werden. Die magische Bindung, die sie zu ihm aufgebaut hatte, ließ sie ohne größere Schwierigkeiten in seine Wahrnehmung und sein waches Gedächtnis hineingleiten, sodaß sie mit seinen Sinnen miterlebte, wie er im Hubschrauber saß, gut angeschnallt in einem bequemen Sitz. Sie ließ den Flug über sich ergehen, wobei sie manchmal bedauernd, manchmal verärgert daran dachte, wie laut und unbequem es die nichtmagischen Menschen beim Benutzen ihrer Flugmaschinen hatten, die noch dazu mit diesen giftigen Petroleumbestandteilen angetrieben werden mußten, welche sie für eine grobe Schändung von Mutter Natur ansah. Sie hörte, was der Junge, der jetzt Cecil hieß, mit seinen neuen Eltern beredete:

"Was der Professor auch immer behauptet hat, Cess, ich hoffe sehr, daß alles mit dir in Ordnung ist", sagte der Senator. "Wag bloß nicht irgendwann, dich auf mögliche Hirnschäden rauszureden, wenn du was anstellst, was wem nicht passen will! Ich habe die medizinischen Unterlagen von dir von einem Freund einsehen lassen, der in der Klinik wen kennt. Nach denen bist du ja wieder topfit, wenn man bedenkt, daß du ja nur gelegen hast."

"Dad, es ist wohl noch einmal gut gegangen", sagte Cecil Wellington.

Anthelia hatte den Jungen in den letzten Tagen immer wieder ermahnt, sich mit seiner neuen Rolle gut anzufreunden, sie zu verinnerlichen. Sie hatte ihm auch telepathisch mitgeteilt, daß sie ihm sämtliche Erlebnisse des eigentlichen Cecil Wellington übermittelt hatte. So war es Ben nicht zu schwer gefallen, seine neuen Eltern so anzusehen und anzusprechen, wie er seine früheren natürlichen Eltern angesprochen hatte. Er mußte sogar anerkennen, daß er durch die räumliche Entfernung zu ihnen weniger Umstellungsprobleme haben würde. Anthelia hatte ihm versichert, daß sie weiter auf ihn aufpassen würde. Er hatte darauf nur geantwortet, daß sie ihn wohl nicht ständig überwachen könnte. Sie war davon sehr erheitert worden und hatte ihm übermittelt:

"Ich mag dich zwar nicht ständig beobachten, Knabe, aber ich kann, auch ohne daß du dies bemerkst, in deine Erinnerungen hineinhorchen und davon Kunde erhalten, was du getan oder gesagt hast. Wähne dich also nicht frei, wider meine Absichten handeln zu können. Denn du weißt nie, wann ich meine Aufmerksamkeit auf dich richte. Du kennst ja meine Mittel, dir Strafen zu erteilen, wenn du wagst, dich mir zu widersetzen, ob in direkter Handlung oder durch Unterlassung an dich ergangener Aufgaben. Bereite dich also darauf vor, in ein geordnetes Leben heimzukehren!"

Als der Hubschrauberflug beendet war, zog sich Anthelia behutsam aus dem Geist des von ihr überwachten Jungen zurück und wandte sich an Lobelia:

"Hast du mit Schwester Patricia zusammen erkundet, ob es Spuren der wiedererwachten Tochter des Abgrunds gibt?"

"In New York sind einige merkwürdige Todesfälle registriert worden, die als übliche Todesarten mit etwas unüblichen Begleiterscheinungen behandelt wurden. Oft ging es dabei um Gewaltverbrechen oder Tod durch Rauschgiftmißbrauch. Allerdings wurden die ermordeten Leute erst nach dem Tod mit den sonst tödlichen Waffen verletzt. Die Mediziner führen das auf eine Fehleinschätzung der Todeszeit zurück. Es sei ja schon häufiger vorgekommen, daß man Leichen mit zwei zeitlich getrennten Todesursachen untersucht habe. Allerdings hat eine Wissenschaftlerin eine interessante Entdeckung gemacht. Dir sind die kleinsten Lebenseinheiten, die Zellen, vertraut, höchste Schwester?"

"Durchaus", sagte Anthelia.

"Nun, diese Zellen erzeugen und verbrauchen verschiedene Stoffe. Wenn sie sterben, können sie dies nicht mehr. Wenn man nach solchen Stoffen sucht, kann jemand feststellen, welche Zellen zuerst abgestorben sind und auch wann. Bei den besagten Fällen war es so, daß alle Körperzellen gleichzeitig und langsam starben, auch die eigenständigen weißen Blutzellen, die selbst nach dem Tod noch eine kurze Zeit überdauern, wie auch die nicht direkt zum Organismus gehörenden Mikroben, die bei der Verdauung helfen oder Krankheiten übertragen können. Es sieht also so aus, als habe etwas oder jemand den Leuten großflächig Lebensenergie abgesaugt, allerdings nicht mit dem Blut, wie es für Vampire typisch ist. Ja, bei den besagten Toten, die ausschließlich männlich waren, konnten nicht einmal überreste der Keimzellen gefunden werden. Irgendwas hat diese Männer regelrecht leergesogen, ohne ihnen eine äußere Verletzung beibringen zu müssen. Ist dies nicht typisch für die Töchter des Abgrunds?"

"Nur, wenn sie besonders großes Verlangen nach dem Leben gewöhnlicher Menschen haben. Offenbar streifte sie wie ein großes Raubtier umher und holte sich, was sie bei ihrem Auserwählten nicht zu stark einverleiben durfte. Wann trat der letzte Vorfall dieser Art auf?"

"Nun, viele Fälle wurden nicht so gründlich untersucht, höchste Schwester."

"Nun, ich erkenne auch so, daß sie wohl dahintersteckt. Der Mann, der sie unbeabsichtigt geweckt hat, muß also noch leben. Diese Wesen zehren gerne lange von ihren Erwählten, weil die unweckbaren Zauberkräfte ein willkommenes Labsal für sie sind, das außer den vollständigen Zauberkundigen keiner mehr bieten kann. Doch vollständige Zauberkundige haben eine gewisse Widerstandskraft gegen den Raub der körperlichen Lebenskraft, wenn auch keine besonders hohe", erklärte Anthelia. Dann fragte sie, ob jemand in New York geweilt hatte, der vorhin möglicherweise am Schlafplatz der Kreatur verweilt hatte. Lobelia nickte verhalten.

"Aus der Gegend um Dover sind im fraglichen Zeitraum vier Männer nach New York gekommen. Aber du meintest ja, daß es um einen ging, der auf jeden Fall am vorletzten Tag vor Halloween in der Stadt war."

"So ist es. Ich muß bedauern, daß wir damals die Dementoren des Emporkömmlings jagen mußten und nicht auf der Spur bleiben konnten. Eigentlich hätten wir diesem gelben Fuhrwerk folgen müssen. Nun, ich werde ihn schon finden, der da von dieser Kreatur verfolgt wird", sagte Anthelia. Sie fragte nach den vier Männern.

"Clark Woodworth, ein Feriengast hier, Alwin Styles, der Unterhändler einer Reederei, William Davis, der für eine Bankgesellschaft arbeitet und Dave Stuard, ein Pilot, also Flugzeugsteuermann, der von der staatlichen Fluglinie großbritanniens zu einer amerikanischen Gesellschaft gewechselt ist. Alle die zu überwachen dürfte auffallen und unsere eigentlichen Vorhaben verzögern", sagte Lobelia voreilig. Anthelia schüttelte den Kopf. Warnend blickte sie ihre Mitschwester an und sagte leise aber bedrohlich:

"Was meine Pläne sind und wie sie ins Werk zu setzen seien, magst du doch mir überlassen, Schwester Lobelia. Dieses Wesen ist gefährlich genug, um seine Vernichtung allem anderen vorzuziehen, sollte es mir gelingen, seinen Unterworfenen zu finden. Also sucht und findet ihn!"

"Jawohl, höchste Schwester", bekundete Lobelia ihren Gehorsam. Kreidebleich sah sie auf Anthelia, die erst jetzt wieder lächelte. Dann verabschiedete sich die Führerin der Spinnenschwestern von der muggelstämmigen Hexe und verließ zu Fuß das Haus. Draußen holte sie im Schutz einer hohen Mauer ihren silbern schimmernden Harvey-Besen, saß auf und rief den Tarnzauber auf, der Besen und Reiter unsichtbar machte. Dann flog sie im Hui davon, so weit, daß sie fern der Muggelsiedlung war, als sie schließlich in das Hauptquartier der schwarzen Spinne disapparierte.

Anthelia wurde schon von Dana Moore erwartet, die sichtlich unter Zeitdruck stand. Sie sah gerade wieder auf ihre Armbanduhr, als Anthelia erschien. Dido Pane, die mit der schneeweißen Katze spielte, die zu Patricia Straton gehörte, blickte mit einer Mischung aus Neugier und Respekt zu ihrer neuen Lehrmeisterin auf.

"Höchste Schwester, zwei Neuigkeiten", begrüßte Dana ihre neue Anführerin. Diese sah ihre in England lebende Mitschwester erwartungsvoll an und sagte:

"Tu sie kund, Schwester Dana!"

__________

Das Wesen, das sich in der Welt der kurzlebigen Menschen Loretta Irene Hamilton nannte, tauchte in dunkler Nacht auf dem Gelände der vor Monaten niedergerissenen Chemiefabrik in der Nähe von Dover auf und öffnete mit alten Zauberworten einen Spalt im Boden. Das Felsgestein schien aus heißem Gummi zu bestehen, als es sich vor ihr auftat und sie in ihre kuppelförmige Höhle hinunterließ. Augenblicklich strahlte hell golden ein über zwei meter großer Krug mit zwei großen Henkeln auf. Ehrfürchtig schritt das so schön wie gefährlich beschaffene Wesen auf den Krug zu. Loretta murmelte einige alte Zauberformeln, die sie aus einem Buch ihrer Mutter gelernt hatte, welches sie ihren neun Töchtern vermacht hatte. Alte Anrufungen, die die Mächte der Finsternis und der Elemente vereinigten. Sie beschwor die Bindung, die sie zu diesem magischen Krug hatte. Sie hob die Hände und streckte sie vor. Vom Krug selbst fingerten zwei gleißende Strahlen zu ihr und verbanden sich mit ihren Händen. Das goldene Licht formte eine helle Kugelschale um die Frauengestalt und den übergroßen Krug. Gleichzeitig flog eine dicke Strohmatte herbei, durchdrang die Lichtkugelschale und rollte sich zusammen. Loretta klemmte sich die Matte unter den linken Arm und schritt voran. Sie berührte den Krug mit der rechten Hand. Unvermittelt explodierte das Licht wie eine kleine Sonne in alle Richtungen. Dann legte sich Dunkelheit über die große Höhle. Der Eingang verschloss sich krachend und nahtlos. Dann verkleinerte sich die große Höhle, als würde jemand innerhalb von einer Sekunde Tonnen an Felsgestein hineinlegen. Schneller und schneller füllte sich die Höhle, wurde dadurch immer kleiner und verschwand schließlich ganz. Die durch dunkle Magie gebannte Erde hatte sich den angestammten Raum zurückgeholt, war aus ihrer Verbannung entlassen worden.

Loretta fühlte, wie die mächtige Kraft ihres Kruges sie trug, wie ein Portschlüssel der Zaubererwelt, nur daß sie während des Fluges bestimmte, wo sie ankommen wollte. Sie hatte sich in der Zeit, wo sie sich um Richard Andrews kümmerte, einen einsamen Platz in der kalifornischen Mojavewüste ausgeguckt, wo sie durch das Opfer von fünf gespeicherten Leben eine neue Wohn- und Schlafstelle errichten konnte. Als sie wie appariert mit dem großen Krug auf staubigem Sandboden landete, drang die sie umhüllende Lichtsphäre wie durch Luft in den Boden ein und sank ein Dutzend Meter tief hinunter. Dann blähte sich die Kugel auf, während Loretta eine uralte Zauberformel sang, in der sie die Rückkehr in den Schoß von Mutter Erde beschwor. Das Licht ließ den Stein um sie herum verschwinden und baute so eine neue, kathedralenartige Höhle aus. Die untere Hälfte der Kugel klaffte auf, Gab Loretta und den Krug frei und ließ sie auf festem Boden stehen. Als das Licht wie eine selbstleuchtende Wand um Loretta herumstand, sang sie noch eine Zauberformel, in der sie die Ewigkeit von Nacht und Erde anrief. Das gleißende goldene Licht erlosch und hinterließ glatte Steinwände. Loretta fühlte ihre Kräfte schwinden. Die magische Reise und der Aufruf des mächtigen Zaubers, der ihre neue Schlafstelle formte, hatten wahrhaft die Körperkraft und Energie von fünf Menschen restlos verzehrt. Doch sie hatte noch genug fremde Lebenskraft in ihrem Leib, um den letzten Schritt zu vollenden, die Weihe der Heimstatt. Eine volle Minute durchschritt sie die neue Höhle und wirkte ihre ureigene Magie, um die Zuflucht gegen neugierige Blicke zu versperren, ja auch Zauberkundige daran zu hindern, hier einzudringen oder, falls sie diese einließ, aus eigener Kraft zu entkommen. Sie taumelte, als dieses lange Ritual endgültig vollendet war und ging zu dem Krug. Sie deutete auf den Deckel und ließ diesen von Zauberhand aufsteigen und zur Seite schweben. Sie legte ihre Kleidung ab. Völlig nackt stellte sie sich mit einem Fuß in einen der armdicken Henkel wie ein Reiter in einen Steigbügel. Dann schwang sie ihr anderes Bein über den Rand des Kruges und zog das Rechte Bein hinüber. Sie fiel in die orangerote Glut, die im Inneren des Behälters glomm und versank darin. Sie zog Arme und Beine an wie ein Kind im Mutterleib und versank in einer Substanz, die weder flüssig noch gasförmig war. Sie badete in diesem merkwürdigen Etwas, das wie warmes Wasser ihren Körper umschloss und dabei wie leichter elektrischer Strom durch sie hindurchging. Sie atmete tief ein und aus. Jeder Atemzug füllte sie mit neuer Lebenskraft auf. Sie hörte fernes Gemurmel. Die hier eingelagerten Essenzen lebendiger Seelen wisperten ihr zu, alle durcheinander. Eine volle Minute blieb sie in diesem Bad aus eingelagerter Lebenskraft, bevor sie dem Krug wieder entstieg, schön und jung wie ein Frühlingstag bei klarem Wetter. Sie zog ihre Kleidung wieder an, deutete auf den abgehobenen Deckel, der schnell und folgsam auf den Krug zurückkehrte und ihn verschloss. Die neben dem Behälter liegende Strohmatte flog von selbst an einen Platz dicht daneben. Loretta konzentrierte sich und verschwand, ohne jedes Geräusch, direkt aus der neuen Höhle.

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"Die Kreatur hat ihren Schlafplatz aufgegeben, höchste Schwester. Das Zaubereiministerium hat in der letzten Nacht eine starke Elementarkraft aufgespürt, die irgendwie aus dem Nichts zu fließen schien. Sie meinen, es hätte was mit dem Spatiopetitio-Zauber zu tun, könnte aber auch eine Verwandlung im großen Stil sein. Von der ortbaren Lage her ist es genau die Stelle, von der die Karten berichten", berichtete Dana Moore der aufmerksamen Anthelia. Dido Pane machte sehr lange Ohren. Sie wußte, daß es dinge gab, die man ihr nicht einfach erzählen wollte. Doch im Moment schien es ...

"Dido, gehe in deine Stube!" Befahl Anthelia und sah das Mädchen an, das mit enttäuschter Miene aufsah. Dann warf Dido ihrer Lehrmeisterin einen bittenden Blick zu. Doch Anthelia war unerbittlich. Ein strenger Blick von ihr reichte, um das schmächtige Kind zum Gehorsam zu zwingen. Schmollend verließ Dido die Wohnstube des alten Plantagenbesitzerhauses. Die weiße Katze lief ihr mit kerzengerade aufgestelltem Schwanz nach, als sei sie ebenfalls aus dem Raum geschickt worden.

"Du gehst davon aus, die Tochter des Abgrunds hat den alten Schlafplatz aufgegeben. Offenbar ist ihr England zu unsicher geworden."

Anthelia lachte lauthals. Dies war das erste Mal, wo Dana Moore diese Hexe lachen hören konnte. Es dauerte lange, bis sie sich soweit wieder beruhigte, daß sie klar sprechen konnte.

"Dieses Geschöpf ist älter als das römische Imperium und hat schon viele Kämpfe erlebt und folgerichtig überlebt. Zur furcht besteht für sie nicht der kleinste Anlaß. Selbst die Begehrlichkeiten des Emporkömmlings wird sie mit einem kalten Lächeln betrachten. Nein, Schwester Dana. Dieses Wesen fürchtet nichts, was nur von seinem eigenen Leben zehren kann." Dann wurde sie schlagartig sehr nachdenklich. Ihr Gesicht fror zu einer starren Maske ein. Dann sagte sie völlig ernst: "Sie verlegt ihre Jagdgründe. Offenbar wittert sie nach dem langen Schlummer bessere Beute, oder jener, dem sie folgte, bleibt fest an einem Orte fern der britischen Gefilde. Diese Kunde ist von fundamentaler Wichtigkeit, Schwester Dana. Aber du sprachst von zwei Botschaften."

"Es wurde versucht, in die Mysteriumsabteilung einzudringen, erneut. Offenbar drängt den Emporkömmling die Zeit doch stärker als er es gedacht hat", sagte Dana.

"Ich weiß, er weiß, daß Dumbledore ihm nachstellt und genug über ihn weiß, um zu erahnen, worauf dieser fehlgeleitete Zauberer ausgehen mag. Ich bekam vor zwei Tagen Kunde, daß er danach trachtet, Getreue aus Askaban zu befreien, wo sie seit seinem Sturz eingekerkert sind. Ich gewahrte, daß er nach den Weihnachtstagen einen Plan ins Werk setzen will, der Getreue wie diese Verräterin Bellatrix Lestrange und ihre verdorbene Sippschaft zu ihm zurückbringen soll. Wenn wir wissen, wo die Tochter des dunklen Feuers sich aufhält, oder auf welcher Erde sie wandelt, werden wir uns wieder mit dem sogenannten dunklen Lord befassen. Mir missfällt, eine kundige Hexe diesem zerstörungssüchtigen Zauberer zu überlassen. Sei es, daß sie zu mir kommt oder daß sie zumindest von ihm lässt, falls ich nicht gezwungen bin, ihr Leben zu beenden. Doch vorerst trachte ich danach, über das neue Jagdgebiet der Tochter des Abgrunds mehr zu erfahren. Ich werde die Suche also auf solche Männer beschränken, die England für einen unbestimmten Zeitraum verließen. Danke für diese wichtige Nachricht!"

__________

Wochen vergingen. Cecil Wellington hatte sich an sein neues Zuhause gewöhnt, wohl auch, weil ihm nichts fremd war. Das ging mit seinem Gesicht im Spiegel los und reichte über die Sammlung seiner CDs und Videocasetten, Bücher und Computerspiele, bis zur Bekanntschaft mit dem Personal. Da waren die vier Leibwächter, von denen zwei direkt im Haus patrouillierten und zwei von außen das weitläufige Anwesen überwachten, der aus England importierte Butler, Mr. Jefferson, Hazel und Stella, die beiden Zimmermädchen, wie Mrs. Vandenburg, die Köchin. Stella, eine brünette junge Frau erzählte ihm, während er seine Sachen durchforschte, daß sie jeden Tag das Fenster für eine Stunde geöffnet hätte. Buck, der hünenhafte Leibwächter, der für die Außenüberwachung zuständig war, erzählte ihm später, daß er dann immer vor dem Fenster gestanden habe, um niemanden hineinzulassen, nicht einmal einen der nicht nach Süden geflogenen Vögel. Cecil fand sich schnell wieder mit seinen Sachen zurecht, nahm sogar die liegengebliebenen Schularbeiten wieder auf. Zusammen mit seinen neuen Eltern bereitete sich der aus dem Krankenhaus entlassene Teenager auf die Weihnachtsfeiern vor. Anthelia, die übermächtige Hexe, hatte sich seit der Entlassung nicht mehr bei ihm gemeldet. Nur einmal hatte er vermeint, Patricia Straton in der Menge zu sehen, als er mit einem ihm zugeteilten Leibwächter in die Stadt fuhr, um neue Kleidung einzukaufen.

Er fing wieder an, seine Muskeln zu trainieren. Sein neuer Vater hatte extra einen persönlichen Trainer engagiert, ebenso wie einen Psychologen, der Cecil über die Zeit vor und nach dem Unfall befragen und bei Problemen helfen sollte, die auftraten. Denn Senator Wellington wollte eines ganz sicher vermeiden, daß Prof. McCurton recht bekam und sein Sohn wirklich persönlichkeitsstörungen aufwies. Überhaupt besuchte Cecil in den Wochen vor Weihnachten diskrete Ärzte, die sein Vater angeheuert hatte, ihm bei auftretenden Körperproblemen zu helfen. Alle wunderten sich darüber, daß er so unbehelligt aus dem langen Koma erwacht war, ja innerhalb von zwei Wochen sogar mit seinem Rad dem persönlichen Trainer davonzufahren schaffte. Noch rechtzeitig ließ er sich zurückfallen, um nicht zu gut auszusehen. Denn Anthelias Warnung war unmißverständlich. Sie mußte ihn nicht ständig überwachen. Sie brauchte nur in seine Tageserinnerungen hineinzuwühlen, wovon er nichts mitbekommen mußte. Vielleicht konnte er das lernen, fremde Mächte in seinem Kopf zu spüren. Doch er müßte dann ja auch lernen, sie abzuwehren. Dann, so wußte er auch sehr genau, wäre er für Anthelia endgültig unbrauchbar, und sie würde ihn beseitigen, vielleicht sogar aus sicherer Entfernung, ohne daß er sie sehen mußte. Er hatte sich früher nur oberflächlich für schwarze Magie interessiert, weil er ja sicher war, daß es sowas nicht gab. Aber das, was er bei Anthelia erlebt hatte genügte ihm, heftige Angst vor ihr zu haben. Sie konnte Dinge durch Willenskraft bewegen, seine Gedanken lesen, Schmerzen ohne Grenzen auslösen und Dinge und Menschen beliebig verwandeln, vom schnellen Ortswechsel ganz zu schweigen. Wehe dem, der sich mit ihr anlegte!

Die Einkäufe in der weihnachtlich geschmückten Stadt verjagten seine düsteren Gedanken. Immer wieder hatte er sich gesagt, daß er lieber nicht wissen wollte, was mit dem echten Cecil passiert war, ob der nicht von Anthelias Hexenschwestern getötet worden war. Doch er fühlte langsam immer mehr wie Cecil Wellington. Er hatte sogar seine alten Freunde wiedergesehen und sich mit ihnen über alles mögliche unterhalten, was Cecil Wellington stark interessierte. Dies erheiterte ihn sehr. Sicher, die übermäßig stark heraufbeschworene Familienzusammengehörigkeit kam ihm schon zu beiden Ohren wieder heraus. Ständig mußte er mit seinen Eltern zu Verwandten, die Cecil schon früher nicht hatte ausstehen können. Als dann noch herumging, daß Senator Wellington ein großes Familienfest mit allen näheren und ferneren Verwandten feiern wollte, fragte er sich doch einmal, was seine wahren Eltern in Seattle nun denken mochten. Für sie würden die Weihnachtstage trübe sein, weil ...

"Scher dich nicht um beendete Geschichten!" Flüsterte es beinahe unhörbar in seinem Kopf. Dieser bestimmt von Anthelia gekommene Gedankenbefehl wirkte sofort. Cecil Wellington fand zu sich. Benny Calder trat wieder in den Hintergrund. Ja, er trat so heftig in den Hintergrund, daß der Junge, der allen als Cecil Wellington, der Sohn eines Senators, vertraut war, keine weiteren Sorgen an irgendwelche Leute in Seattle oder Houston verplemperte.

Es war eine große Parade internationaler Luxusautos. Sein Vater schickte Fairbanks, den Chauffeur, zum Flughafen, um seine Schwestern Cornelia und Monica mit ihren Ehemännern abzuholen, die aus Virginia herüberkamen. Als der grüne Rolls Royce wieder durch die elektronisch gesicherte Stahlpforte glitt, folgten ihm drei Mercedes, ein silberner Chevrolet, ein alter Cadillac, ein Ferrari, ein Porsche und ein Audi 200 auf das große Anwesen. Fairbanks parkte vor der pompösen Eichenholztür, die im Inneren zwei einen Zentimeter dicke Stahlplatten und SicherheitsglasFensterchen besaß. Butler Jefferson trug die taubenblaue Livrée des ranghöchsten Dieners der Wellingtons, als er die vier Gäste begrüßte. Dem walnußbraunen Mercedes ganz vorne in der Reihe entstieg ein älteres Ehepaar, daß Cecil als seine Großeltern väterlicherseits erkannte, Opa Montgomery und Oma Thalia. Aus dem Chevy kletterten gleich fünf Mann, alles Cousins von Mr Wellington. Aus dem Ferrari kletterte Cecils Cousin Titus mit seiner Verlobten Mariah und machte das V-Zeichen des Siegers hinüber zu dem Porschefahrer, einem sonnenbankbraunen Muskelpaket in grünem Anzug, Cecils jüngstem Onkel Ralph, der nur sechs Jahre älter als er selbst war. Offenbar hatten sich die beiden Autofans mal wieder ein Rennen geliefert, und der Ferrari hatte den Porsche geschlagen. Aus dem Cadillac quoll ein kugelrunder Mann heraus, der auf seinen eigenen Füßen eine merkwürdige Mischung zwischen Bierfass und Stelzvogel bot. Das war Cecils ältester Onkel väterlicherseits, Nigel, der in Texas eine ranghohe Stelle im Gouverneursbüro innehatte. Somit, stellte Cecil leicht verächtlich grinsend fest, waren alle da, die sein Vater für wichtig hielt. Die Eltern und Verwandten seiner Mutter kamen in Daddys eigenem Privat-Jet aus Paris und würden wohl in einer Stunde in New York landen, wo der Hubschrauberservice sie aufnehmen und schwuppdiwupp herbringen würde.

Cecil gab den überschwenglich erfreuten Jungen, als er seine Verwandten begrüßte. Sicher, dafür würden die im Geld schwimmenden Onkel und Tanten wohl auch was rüberwachsen lassen. Nur bei seinem Cousin war er ehrlich erfreut, diesen zu sehen.

"Hi, Titus. Haste Onkel Ralph wieder ausgebremst?" Fragte er.

"Der sich selbst, Cess", grinste Titus überlegen. "Bei der vierten Kurve auf der Strecke Harrisburg und hier bin ich voll aufs Gas und habe ihm den Auspuff gezeigt. Der nahm das Rennen an und drehte voll auf. Zwei Meilen hat er mich ziemlich gut abgehängt, bis er in der ersten Kurve nach der Tanke drei Meilen von hier Probleme kriegte und zu heftig in die Eisen stieg. Ich bin dann an ihm vorbegebrettert und habe die Pferdchen noch mal voll zum galoppieren getrieben. Der kam nicht mehr an mich ran. Sowas macht man mit meiner Donna Rossa nur einmal."

Cecil zuckte unwillkürlich zusammen, bis ihm wieder einfiel, daß Titus seinen Wagen ja schon immer so genannt hatte, nachdem er, wohl um die Bedienungsanleitung in Originalausführung lesen zu können, die Heimatsprache seines roten Flitzers gelernt hatte. "Eh, is' was?" Fragte Titus irritiert dreinschauend.

"Neh, nichts is', Titus. Hab' nur gerade dran gedacht, daß ich dir immer noch 'n Zehner schulde für die letzte Wette", sagte Cecil, dem wohl gerade rechtzeitig die glaubhafteste Ausrede für sein Zusammenzucken eingefallen war. Er eilte ins Haus zurück und zog aus seinem Portmonais einen 10-Dollar-Schein und sauste damit zurück nach draußen, wobei er Stella fast umwarf, die gerade einen leeren Servierwagen zur Küche schob.

"Entschuldigung, junger Herr, aber so eilig haben Sie es doch wohl nicht", sagte Stella. Cecil warf sich in die Brust und entgegnete herablassend:

"Wenn du auch so langsam rumläufst! Zeit ist Geld!" Eine gewisse Arroganz dem Personal gegenüber war typisch für Cecil Wellington. Hätte er jetzt eine Entschuldigung erbeten, hätte er sich heftig verdächtig gemacht. Stella erwiderte auch nichts dazu. Ihr stand es nicht zu, die Herrschaft zu kritisieren, solange sie unter deren Dach wohnte und Geld bei ihnen verdiente.

außer dem oberen Dutzend der Familie, das durch seine Großeltern und die Tante aus Frankreich ergänzt wurde, kamen noch gute Freunde des Senators, sowie Laura Carlotti, die Cecil selbst auf die Gästeliste gesetzt hatte. Nach den üblichen Weihnachtswünschen ging es in den Salon mit dem drei Meter hohen Tannenbaum, der vom goldenen Stern an der Spitze bis knapp an den Stumpf mit faustgroßen Silberkugeln, Lametta, Rauschgoldengelchen und kleinen Weihnachtsmännern auf Schlitten behängt war. Vier lange Ketten goldener Elektrokerzen tauchten ihn und das Festzimmer in einen erhabenen, warmen Glanz, der durch mehrere Kerzenleuchter auf den fünf gedeckten Tischen noch verstärkt wurde. Kurz vor dem Beginn des Festschmauses trafen die letzten Gäste ein. Es handelte sich um eine vierköpfige Familie aus dem Süden der Staaten. Cecil kannte die Leute gut genug, um sich hier und jetzt zu fragen, was die hier wollten. Er ging davon aus, daß seine Stimmung durch die Weihnachtsfeier aufgebessert wurde. Besonders mit den Zwillingsschwestern Babs und Jenna hatte er oft genug rumgezankt.

"Ach, der traut sich in den Norden?" Fragte Laura Carlotti, als sie den Spätankömmling ansah. Titus, der links neben Cecil saß, grinste nur:

"Frag den mal, ob er zu Weihnachten noch wen hat hinrichten lassen!"

"Das tust du aber mal nicht, Cecil", zischte Laura ihm zu. "Nachher bildet er sich noch was drauf ein."

"Hast recht, Laura", stimmte Cecil zu.

"Sehr geehrte Freunde und Verwandte", setzte Senator Wellington zu einer kurzen Ansprache an, "ich freue mich über die Maßen herzlich, daß Sie und ihr heute anreisen konntet, um mit mir und meiner Familie dem Heiland, dessen Geburt wir heute feiern, für die Wiedergeburt meines Sohnes Cecil zu danken und zu ehren, in dem wir das preisen, was er uns gelehrt hat, Frieden, Zusammengehörigkeit und Nächstenliebe. So lasst uns beten, daß dieses Weihnachten für uns alle besinnlich und erholsam verlaufen möge!"

"Friedlich auch, weil ein paar Kriegstreiber sind ja jetzt hier", zischte Titus hinter vorgehaltener Hand. Seine Verlobte knuffte ihm in die Seite und deutete auf den Senator, der die Hände faltete.

Nach dem langen Gebet sangen sie noch zwei Weihnachtslieder, dann übernahm die große Stereoanlage mit ihren vier Boxen die Musikuntermalung.

Während des Essens unterhielten sich die jungen Leute, die an einem Tisch saßen, über die Stars aus Film und Popmusik, Cecils letzten zwei Monate im Krankenhaus, wo er einiges verpasst hatte. Laura Carlotti fragte Cecil, was aus Mr. Cody geworden sei. Denn noch hatte sie ihr Pferd, Bella Nera, nicht von der Ranch holen müssen.

"Ich hörte sowas, daß Dad zwölf Millionen von dem haben will. Irgendwie blöd, finde ich. So teuer kann das bei McCurton nicht gewesen sein."

"Wahrscheinlich hat Onkel Reg für ein Jahr im Voraus bezahlen müssen", vermutete Titus mit schadenfrohem Grinsen. Laura sah ihn merkwürdig an.

"Hat dein Cousin keinen Sinn für Existenzsorgen, Cecil?"

Titus antwortete auf Italienisch, auf das Laura ihrerseits auf Italienisch erwiderte. Titus mußte wohl kurz überlegen, ob er die schnelle Wortfolge richtig verstanden hatte und gab wieder was zurück. Mariah fragte leicht ungehalten, was das nun solle. Titus sagte danach:

"Ich habe Cecils Reitpartnerin gesagt, daß ihr das egal sein soll, was ich für Gefühle habe und daß ich nicht so verweichlicht bin, mich um einen Typen zu sorgen, der meinen Cousin über einen schlecht bearbeiteten Weg hat reiten lassen. Sie hat dann was gesagt von wegen neureicher Rohling oder so ähnlich", Laura nickte bestätigend, "worauf ich ihr gesagt habe, daß sie ja wohl ganz ruhig sein soll, weil ja gerade bei den Italos nie ganz klar sei, woher jemand Geld hat, wenn er Geld für'n Pferd und dessen Unterbringung raushauen kann. Mehr war nicht."

"War auch schon zu viel", fauchte Laura Carlotti, deren Wangen rosarot angelaufen waren.

"Ja, das ist ja auch fies, Titus", sprang Mariah Laura bei. Cecil sah die junge Italoamerikanerin an, die einen bitterbösen Blick nach dem anderen auf Titus abfeuerte und sagte ganz ruhig und entspannt:

"Titus hat's bestimmt nicht so gemeint. Er kann es halt nur nicht ab, wenn Leute ihm ein Schlechtes Gewissen wegen seiner Kohle einreden wollen."

"Er könnte aber wohl auch keine zwölf Millionen Dollar zahlen, oder?" Fragte Laura Carlotti schnippisch.

"Das will Daddy haben. Ob er's kriegt ist ja noch sowas von weit weg", berichtigte Cecil.

Die gespannte Stimmung fiel der Hausherrin auf. Sie kam kurz herüber, nachdem sie ein Gespräch mit ihrer Mutter und ihrer Schwägerin Monica unterbrochen hatte und fragte, was los sei. Cecil erzählte ihr kurz, daß alles wieder geklärt sei. Sie mahnte zur Friedfertigkeit, besonders Titus, bevor sie wieder zurück an ihren Tisch ging.

Mehrere Stunden verstrichen mit mehr oder weniger belanglosen Gesprächen. Um die programmierte Langeweile etwas aufzulockern spielten die Jugendlichen einfache Gedächtnisspiele, wie Kofferpacken oder Wortkette, vielleicht noch was für den Kindergarten, aber weil Cecil unbedingt beweisen sollte, daß sein Gehirn nicht zerbröselt war, machten alle mit, auch die beiden Schwestern Babs und Jenna. Diese fragte Ralph, der auch noch zum Jugendtisch gerechnet wurde, wo ihre Großeltern gerade seien.

"Och, die sind gerade wieder Skifahren. Jetzt, wo Opa diesen Vollzeitjob nicht mehr hat, ist er ja ständig unterwegs, wenn er nicht gerade bei Parteitreffen ist. Wir wollen die morgen besuchen, wenn wir auf der Rückreise sind."

"Da sagen Sie noch mal, ich hätte kein Gespür für Geld, Signorina",gab Titus einen an Laura gerichteten Kommentar ab. "Colorado ist ja mal eben um die nächste Ecke."

"Eh, muß das jetzt wieder sein?" Quängelte Babs und suchte ihre Mutter. Doch weil Titus darüber nur verächtlich grinste, ließ sie es nur beim suchen.

Nach dem Essen wurden Geschenke übergeben. Titus hatte für Cecil eine CD-ROM mit einem neuen Action-Spiel und ein Modell seines Ferraris im Maßstab 1 : 18. Von den Onkeln bekam er je 100 Dollar in Bar und 200 Dollar auf sein Sparkonto, das er Bei Erreichen der Volljährigkeit nutzen konnte. Dieses Konto war schon beachtlich, weil diese Anverwandten dreimal im Jahr exakt diese Geldmenge überwiesen, zu Weihnachten, an Ostern und zu seinem Geburtstag. Laura Carlotti schenkte Cecil eine CD mit Oldies aus Italien, zu denen er, wie sie lächelnd sagte, alle rhytmischen Sportübungen machen konnte, die er im Haus absolvierte. Seine Eltern schenkten ihm diverse neue Sachen zum Anziehen, teils schnieke, teils lässig, für jede Gelegenheit eben, aber auch CDs mit Computerspielen und einen tollen Flugsimulator, der verschiedene Flugzeugtypen vom einmotorigen Propellerflugzeug bis zur 747 über die ganze Welt herumfliegen lassen konnte. Titus meinte einmal:

"Eh, genial, mit 'ner Cessna von Japan nach New York nonstop."

"Das glaubst du aber auch nur", wandte Senator Wellington ein. "Der Simulator simuliert eben, also stellt die echten Bedingungen nach. So'n Sportflieger über dem Pazifik aufzutanken dürfte schwer sein."

"Kannst du mir ja mal ausleihen. Ich kuck mal, ob ich den Spritbedarf nicht runterkitzeln kann", sagte Titus, dessen Ruf als Datenschreck und Computerkaiser legendär war, wie Cecils neues Ich wußte und anerkannte.

"Sieht dir wirklich ähnlich, alles durch Manipulation so hinzubiegen, daß du damit keine Probleme mehr hast", knurrte der Senator. Sein Gast aus dem Süden kam herüber und reichte Cecil ein kleines Paket. Cecil bedankte sich höflich, während Titus den Vater von Babs und Jenna mißtrauisch ansah. Cecil öffnete das Paket und holte ein Pferd aus schwarz lackiertem Metall heraus. Das Pferd war in Sprungpose geformt worden. Cecil sah, daß es ein Hengst war, denn wirklich jede Einzelheit eines Echten Pferdes war in dieser Metallfigur beachtet worden. Insgesamt war das Abbild ungefähr zwanzig Zentimeter hoch, ungefähr ein Zehntel eines ausgewachsenen Pferdes. Dann entdeckte Cecil noch einen Brifumschlag, der unter dem Sockel der Figur angeheftet war und öffnete ihn mit gemischten Gefühlen. Wieso bekam er dieses Pferd? Wollte man ihn mit Gewalt daran erinnern, daß Silver Bullet verunglückt war und erschossen werden mußte? Woher kam diese Abbildung? Warum schenkte man ihm sowas?

Im Umschlag steckte ein Brief, in dem stand, daß dieses Pferd aus Kupfer eine detailgetreue Nachbildung von Ebony Champion, einem Sohn des berühmten Rennpferds Excelsio sei, der ihm mit dieser Figur zusammen zum Geschenk gemacht würde. Zwar wisse man, daß er wohl noch an dem Trauma zu arbeiten habe, welches der Unfall verursacht habe, doch die beste Lösung sei, wieder auf ein Pferd zu steigen, wenn man einmal abgeworfen worden sei. Cecil grinste etwas verhalten. Man hatte Bullet einfach gegen einen teuren Rapphengst ausgetauscht? Man konnte doch nicht einfach ein Pferd austauschen wie ein kaputtes Auto gegen ein neues! Dennoch erschien es ihm einleuchtend, daß man ihm die Möglichkeit geben wollte, sprichwörtlich wieder fest im Sattel zu sitzen. Dem Symbolischen Modell des echten Pferdes war von seinen Eltern noch ein Auffrischungskurs Reiten beigefügt worden. Cecil bedankte sich noch einmal. Sicher, er träumte immer noch von diesem Unfall am dreiundzwanzigsten September. Doch dann fiel ihm auch immer wieder ein, daß er selbst diesen Unfall nicht erlebt hatte. Doch er mußte nach außen hin so auftreten, daß es ihn immer noch sehr heftig anrührte, wenn er von Pferden und vom Reiten hörte oder sprach. So sagte er:

"Ich bedanke mich nochmals für dieses sehr großzügige Geschenk. Ich weiß zwar nicht, wann ich wieder fit genug bin, um diesen Renner selbst zu reiten, aber ich hoffe, ich muß nicht bis zum nächsten Weihnachtstag warten."

"Schon in Ordnung, Cecil", sagte der Gast mit starkem Akzent seiner Heimat. "Niemand kann große Schmerzen so einfach abschütteln. Wir haben das Pferd auf meiner Ranch untergestellt, wo es gut versorgt wird, bis du es dir abholen kannst."

"Hmm, ach so ja", sagte Cecil Wellington nur.

Das Telefon klingelte. Der Senator schüttelte den Kopf, als Jefferson hineilen wollte und ging selbst an den Apparat. Er wurde schlagartig knallrot vor Wut.

"Wie konnten Sie diese Person einlassen, Simmons? Wofür kriegen Sie eigentlich so viel Geld? Sagen Sie Falkner, er soll die Dame wieder zum Tor hinausexpedieren!" Hörten alle Anwesenden gespannt mit. Cecil drehte sich so, daß niemand in sein Gesicht sehen konnte. Unvermittelt war er kreidebleich geworden. Mochte es sein, daß eine der Hexen ...?

Es läutete bereits an der Tür. Senator Wellington sagte dazu nur: "Ruhe bewahren, Buck hat sie gleich abgewimmelt."

Doch es klingelte noch viermal, fünfmal und sechsmal. Dann erst kehrte Ruhe ein.

"Was war denn los?" Fragte Ralph seinen Bruder und Gastgeber.

"Ach, eine Reporterin hat es doch geschafft, sich eine Einladungskarte zu besorgen, sie zu kopieren und herzukommen. Simmons hat sie passieren lassen, weil ihr Name auf der Gästeliste stand. Dabei habe ich ihm gestern noch die gültige Gästeliste übergeben, da stand bestimmt keine Liberty Grover aus Jackson, Mississippi drauf."

Cecils verdacht hatte sich bestätigt. Liberty Grover, so hatte sich Patricia Straton ihm vorgestellt, die für Anthelias Hexenorden arbeitete. Was wollte die hier? Warum hatte sie sich so einfach abwimmeln lassen? Hatte sie sich überhaupt abwimmeln lassen?

"Wie hat denn die Gästeliste ausgesehen?" Fragte Onkel Nigel.

"Normaler Computerausdruck. Ich habe den vier Schutzleuten je einen davon gegeben, auch mit der Liste der mitgebrachten Leibwache", sagte Reginald Wellington zu seinem ältesten Bruder.

"Warum kam sie her? Warum hat sie nicht die Wache hypnotisiert oder ist einfach durch die Tür teleportiert?" Fragte Cecil sich in Gedanken. Er wartete förmlich darauf, daß Anthelia antwortete. Doch die Oberhexe tat ihm nicht den Gefallen.

Der kleine Zwischenfall war bald vergessen, und so plauderten sie weiter über mehr oder weniger tiefgründige Sachen. Der Senator lud seine Gäste zu einer Hausbesichtigung ein, da er in den letzten vier Monaten einiges neues angeschafft hatte. Cecil kannte das Haus ja auswendig. Das geräumige Arbeitszimmer seines neuen Vaters, in dem ein PC der neusten Generation stand, bei dem es dem Jungen, der früher ein weithin bekannter Computerkenner war, in den Fingern gekribbelt hatte, die geheimen Dateien zu knacken, die der Senator darin verbarg. Dann hatten sie in dem Haus noch eine regelrechte Gästesuite, die Wellington sehr stolz "Präsidentensuite" nannte, weil sie über starke Sicherheitseinrichtungen wie Kugelsichere Doppelglasfenster, Mit Eichenholz verschalte Stahltüren und ein aufwendiges Luftfilterungssystem mit umschaltbarer Eigensauerstoffbeimischung aus einem mannshohen Stahlzylinder verfügte und mit nahezu nichtentflammbaren Möbeln eingerichtet war. Dann gab es für jeden das eigene Schlafzimmer, das Wohnzimmer, einen zum Gymnastikraum umgebauten Keller neben dem imposanten Weinkeller. So brauchte der Sechzehnjährige nicht hinter dem ganzen Volk herzulaufen, das wie auf einer Schloßbesichtigung durch das Haupthaus wuselte. Doch sein Vater winkte ihm zu, mitzukommen. Wie sollte das auch aussehen, wenn der Sohn des Hauses sich einfach absetzte?

In der Gästesuite standen verschiedene Kunstwerke, die Senator Wellington mal geschenkt bekommen hatte und nicht im Wohnbereich unterbringen konnte. Seine Gäste traten näher an alles heran und begutachteten alles. Cecil kannte jeden Kunstgegenstand hier. So sah er nicht zu, wie der eine da und die andere dorthin ging. Einmal nur sah er, wie Babs' und Jennas Vater sich zu einem hohen Regal hinaufstreckte und nach etwas griff.

"Vorsicht!" Warnte Senator Wellington. Doch da fiel der kunstvoll und detailgetreu bemalte Porzellanglobus, den Cecils Vater vor einem Vierteljahr von einem In New York arbeitenden Studienkameraden geschenkt bekommen hatte mit lautem Klirren auf den Eichenholzsekretär. Der verdutzte Gast hielt den eisernen Fuß des Weltkugelmodells in einer Hand. Auf dem Sekretär und daneben verteilten sich an die dreißig Scherben und ein Stück Eisen, das als Anziehungspunkt für den magnetisierten Fuß unter dem Südpol eingearbeitet gewesen war.

"Jawoll, das war die Welt von heute!" Gab Titus einen sehr bissigen Kommentar ab.

"Oh, Reg, war der wertvoll?" Wollte der Gast wissen, der den Scherbenhaufen angerichtet hatte.

"Weiß ich nicht. Das war ein Geschenk. Aber mit dem, von dem ich es habe, möchte ich keinen Krach haben", sagte Wellington sichtlich verunsichert, ob er gleich losbrüllen oder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen sollte.

"Gut, finde es raus und mail es mir, Reg! Meine Versicherung zahlt das dann", sagte der Übeltäter nun wieder locker klingend.

"Genial! Mit der Einstellung kann euer Daddy Präsident werden", wandte sich Titus an die Zwillingsschwestern, die sichtlich verärgert zurückblickten.

"Klar, da kann er die Erde zerdeppern, und alle anderen dürfen blechen", setzte Cecil nach, der verstanden hatte, was sein Cousin von Anthelias merkwürdigen Gnaden sagen wollte.

"Eh, Cecil, sowas sagt man nicht!" Rief ihn Senator Wellington zur Ordnung. Cecil weigerte sich, das gesagte zurückzunehmen, weil er es einfach einen genialen Witz fand. Sicher, Laura Carlotti lachte genauso wenig darüber wie die Zwillingsschwestern, doch die anderen Jugendlichen grinsten schadenfroh. Um zu zeigen, wie streng Cecils Vater sein konnte, schickte dieser seinen Sohn aufs Zimmer. Er fügte sogar an, daß man sich das mit dem Pferd wohl nochmals überlegen müsse, wenn Cecil so undankbar auftrete. Doch der Junge schien diese Drohung nicht sonderlich ernst zu nehmen. Titus setzte sich mit Mariah von der Besichtigungstruppe ab und ging mit seinem Cousin auf dessen Zimmer.

"Hihi, der war cool", sagte Titus anerkennend. "Wenn das wer geknibst hätte wäre das morgen in allen Zeitungen."

"Hoffentlich wird dieser Tolpatsch nicht doch irgendwann mal Präsident", sagte Mariah etwas ernster. "Nachher meint der noch, wirklich Schaden anrichten zu können, weil andere dafür bezahlen müssen."

"Du weißt doch, wie Onkel Reg drauf ist, Mariah. Amerika ist von Gott gesegnet, und wer nicht an Gott glaubt, gehört bestraft. Was meinst du, was sich Mom hat anhören müssen, weil sie vor drei Jahren Billy Clinton gewählt hat? Verrat an den Werten der vereinigten Staaten, Nestbeschmutzung und Aufweichung der Zucht und Ordnung waren da noch die nettesten Worte", sagte Titus.

"Ja, aber du mußt dich entschuldigen", zischte Mariah. "Oder willst du das Pferd wirklich nicht haben?"

"Ich frage mich echt", setzte Cecil an, "ob ich wirklich von jedem was geschenkt bekommen will. Gerade bei Pferden lehrt die Geschichte, daß man sich da schnell vertun kann."

"So singt Homer, möge Hades ihn auf ewig über die elysischen Felder wandeln lassen", fügte Titus noch hinzu. Es klopfte an die Tür. Cecil rief "Herein!". Laura Carlotti trat ein.

"Nichts für ungut, Cecil, aber deine Eltern haben merkwürdige Freunde. Jetzt lachen sie drüber, was du gesagt hast und spinnen sich was zurecht, wieviel es kosten möge, wenn wirklich mal die ganze Erde zertrümmert wird. Na ja, ich werde sowieso gleich von Paolo abgeholt, meinem Bruder. Ich hoffe, dein Vater hat ihn auf die Liste gesetzt, daß er hereinkommen darf."

"Im Moment werden die wohl keinen mehr reinlassen, nach dem Bock, den die geschossen haben", sagte Cecil. "Wäre besser, wenn wir vor dem Tor auf deinen Bruder warten", sagte Cecil. Laura nahm das Angebot an. So zogen sich die Cousins, Mariah und Laura ihre Übermäntel an, sagten dem Hausherren bescheid und verließen das Wohnhaus. Sofort eilten die beiden Leibwächter herbei, die im Inneren arbeiteten und gerade prüften, ob auch alle Fenster gesichert waren. Sie gingen zum überwachten Haupttor. Cecil fragte Buck, der noch hinzukam, wie er die Reporterin abgewimmelt hätte.

"Ganz einfach: Ich habe ihr klargemacht, daß der Senator sie nicht sehen wolle, sie erst höflich und dann bestimmt aufgefordert, in ihren Maserati zu steigen und wegzufahren, weil sonst die Polizei käme. Das hat gereicht. Wir haben natürlich gekuckt, daß sie auch wirklich rausfuhr. Merkwürdigerweise waren die Fenster des weißen Flitzers getönt, sodaß wir nichts im Inneren sehen konnten. Aber sie saß hinter dem Steuer und fuhr raus. Das konnten wir sehen. Als das Tor dann wieder zuging war die Sache für uns erledigt."

"Joh, Buck", sagte Cecil. Der Benny Calder, der immer noch in ihm steckte, war jedoch nicht besonders beruhigt. Dieser Wagen war komplett verhext. Er konnte alle möglichen Geschosse abhalten, fliegen und sogar unsichtbar werden. Ja, er konnte sogar auf Befehl einschrumpfen und wieder auf Normalgröße anwachsen. Wieso hatte sich diese Hexe so locker verscheuchen lassen? Oder hatte sie sich nicht verscheuchen lassen. Lauerte sie etwa hier irgendwo?

"Wo bist du, Patty? Was habt ihr hinterhältigen Hexen wieder vor?" Fragte Cecil in Gedanken. Wieder erfolgte keine Antwort.

Am Tor warteten die jungen Leute. Buck mahnte zur Vorsicht. Immerhin könne wer draußen mit einer Kamera herumlungern und fotografieren, oder sogar mit einem Gewehr zielen.

"So wichtig sind wir nicht", sagte Cecil, "Daß wer auf uns anlegen wollte."

Als ein schwarzer Alfa neusten Baujahres heranrauschte, zog Buck seine Dienstwaffe, eine neunschüssige Automatikpistole. Laura sah ihn an und beruhigte ihn.

"Das ist Paolo, mein Bruder. Sie dürfen die Waffe wieder fortstecken."

"Alle zehn Meter vom Tor weg und hinter die Ulme, bis ich mit dem Herren gesprochen habe!" Ordnete der Wachmann sehr befehlsgewohnt sprechend. Er zog ein kleines Sprechfunkgerät hervor und rief seinen Kollegen im Überwachungsraum.

"Geht klar, Buck. Ich rufe ihn über die Sprechanlage und nehm einen Videoausschnitt von ihm", quäkte es aus dem Lautsprecher des Handfunkgeräts.

Hinter der Ulme warteten die vier jungen Leute auf das Signal, daß alles in Ordnung sei. Der Alfa brummte durch das sich öffnende Tor und glitt über die Steinplatten bis zum Parkplatz, wo er sich neben den Ferrari stellte. Ein junger Bursche, wohl gerade vier Jahre älter als Laura, hüpfte zur Fahrertür hinaus und umarmte seine Schwester leidenschaftlich. Titus mußte unbedingt "Vorsicht, Inzuchtgefahr" zischen, was Mariah erst rot anlaufen und ihn dann energisch in die Nase kneifen machte.

"Das ist das erste Mal, daß ich von ihrer Familie wen sehe", sagte Cecil und log zum allerersten Mal seit seinem erwachen aus dem Koma nicht.

Oi, Ferrari!" Rief Paolo Carlotti begeistert. Titus fühlte sich berufen, darauf zu reagieren und ging stolz hinüber zu seiner "Donna Rossa". Cecil folgte ihm. Laura stellte die jungen Burschen einander vor.

"Siehst noche ziemlische jung aus fur so eine Machina bella", grinste Paolo Titus an. Dieser erwiderte etwas auf Italienisch, was Paolo sichtlich beeindruckte, wobei Cecil nicht wußte, ob es die Sprache war oder was er sagte. Jedenfalls diskutierten die beiden jungen Männer eine Weile über ihre Autos, bis Titus sich Mariah und Cecil zuwandte.

"Eh, der Gentleman hier meint, ich könnte seinen Straßenfeger mal herausfordern. Der meint, er könne mich locker versenken. Ich lass sowas nicht auf mir sitzen. Fährt wer mit?"

"Bist du nicht entschieden zu alt für derlei pubertären und gefährlichen Kram, Titus?" Fragte Mariah. "Vorhin hast du schon dein Rennen gefahren. Jetzt ist es stockdunkel. Da wirst du wohl nicht so wahnsinnig sein, ein Straßenrennen zu fahren."

"Ich habe mir den Wagen zum Fahren gekauft und nicht zum schleichen, Mariah. Also fährst du nicht mit. Cess, wie steht's?"

"Klar doch, Titus", sagte Cecil und stieg in den Ferrari.

"Moment, junger Mann, deine Eltern haben dir nicht erlaubt, mit wem fortzufahren", mahnte Buck und wollte Cecil wieder aus dem Wagen ziehen. Doch dieser stemmte sich dagegen, griff den Wächter beim muskulösen Unterarm und bog diesen beinahe spielerisch zurück.

"Sagen Sie meinem Vater, daß ich nur für fünf Minuten weg bin. Er wird das erlauben, falls ich nicht erzählen muß, was Sie vor vier Jahren in Nevada erlebt haben", flüsterte Cecil. Buck errötete. Dann zog er sich zurück. Mit leisem Klapp ließ Cecil die Wagentür zufallen und schnallte sich an.

"Eh, du hast dich ja wieder schnell hochgearbeitet. Ich dachte, du brichst dem Kampfroboter die Gräten", gab Titus beeindruckt zum besten. Cecil sagte nur:

"Ich habe nicht so viel Spaß in diesem Leben. Tritt drauf!"

"Aber holla die Waldfee!" Rief Titus und ließ den Motor an. Das Tor schwang auf, und die beiden italienischen PS-Schleudern glitten vom Grundstück.

Zuerst ging es zur Schnellstraße, die etwa eine Meile entfernt war. Dann beschleunigte der Alfa plötzlich. Titus hielt jedoch sofort dagegen und jagte seinen Motor auf äußerste Kraft voraus hoch. Cecil fühlte, wie die Beschleunigung ihn in den mit Leder überzogenen Schalensitz presste und fühlte das Rasen von Kolben und Kurbelwelle mit allen Fasern seines Körpers.

"Haste wohl gedacht, 'n Yankee könnte keine italienischen Autos ausfahren", frohlockte Titus, als der Alfa ihn auszubremsen versuchte und Cecils Cousin kurzerhand rechts an dem schwarzen Wagen vorbeizog.

"Jetzt wirste versenkt!" Flötete Titus und trieb die mehr als zweihundert Pferde unter der Motorhaube zum gestreckten Jagdgalopp. Doch der Alfa hielt die Beschleunigung gut mit, konnte jedoch die bereits zwanzig Meter Vorsprung des roten Renners nicht anknabbern.

"WennÄs Blitzt schön lächeln!" Rief Titus und hielt den Gasfuß mit vollem Druck am Boden.

"Auf gerader Strecke ist das ja auch nichts weltbewegendes", warf Cecil ein, der sich fragte, was nun noch kommen würde.

"Ja, da vorne ist Old Smokey mit seiner Kamera, etwa noch zwei Meilen weg. Also in vierzig Sekunden knibst der mich, sofern seine alte Knibse schnell genug für mich ist", sagte Titus und sah, wie der Tachometer die magischen 150 Meilen in der Stunde überschritt.

"Und Klick!" Kommentierte Cecils Cousin, als ein schnell lauter werdendes Piepen die näherkommenden Radarstrahlen anzeigte. Beim langgezogenen Piepton lagen 175 Meilen die Stunde an. Der Fotoblitz löste wohl fünf Meter zu weit hinten aus.

"Tja, bei der Belichtung draußen kriegt ihr nun 'nen Strich aufs Bild", lachte Titus jungenhaft. Cecil lachte mit. Der Rausch der Geschwindigkeit hatte ihn auch gepackt. Der Alfa huschte gerade durch die Falle.

"Wollen wir hoffen, das La-u-ras Bruder auch mit Topgeschwindigkeit da durchgebrettert ist, sonst kriegt der 'ne gepfefferte Rechnung. Aber die aus Südeuropa wollen's ja scharf!" Rief Titus über den am Anschlag röhrenden Motor hinweg. Der Alpha fiel immer weiter zurück. Jede Sekunde dehnte den Vorsprung des Ferraris um zwanzig Meter.

"Da vorne ist 'ne Kurve!" Rief Cecil und klammerte sich am Sitz fest. Titus packte mit aller Kraft das Lenkrad, nahm hundert Meter vorher den Fuß vom Gaspedal und tipte auf die Servobremse. Das Antiblockiersystem griff klackernd ein, um ein Rutschen der Räder zu verhindern. Als die weite Linkskurve kam, jauchzten die beiden jungen Leute wie in einer Achterbahn. Wuchtig wirkte die Fliehkraft auf sie und warf sie nach rechts, bis der rote Sportwagen die Kurve verließ, wo Titus sofort wieder Gas gab.

"So, noch eine Meile, dann drehen wir bei und fahren gemütlich nach Hause. Signore Carlotti hat gesehen, daß ein Ferrari eben immer noch ein Ferrari ist, wenn jemand drin sitzt, der ihn fahren kann."

Die letzte Meile passierte nichts aufregendes. Paolos Wagen war nur noch einhundert Meter weiter zurückgefallen.

"Oh-oh, Titus, dem Freund und Helfer sind Flügel gewachsen!" Rief Cecil, als er das lauter werdende, schnelle Schlagen von schnell drehenden Hubschrauberrotoren hörte.

"Dann haben die mindestens gesehen, daß da wer durch ihren Blitzomaten geschossen ist!" Lachte Titus und tätschelte das Handschuhfach, während er abbremste. Paolo schoss heran und bremste ebenfalls.

"Eh, der Schaumschläger landet ja. Seit wann machen die Polypen denn sowas?" Wunderte sich Titus, als ein großer Hubschrauber mit Zwillingsrotor ganz lässig über sie hinwegknatterte und genau vor ihnen aufsetzte.

"Das sind keine Autobahnsheriffs", sagte Cecil und wurde kreidebleich. Titus schien durch das Adrenalin des Geschwindigkeitsrauschs das Denken verlernt zu haben. Er stoppte am rechten Fahrbahnrand.

"Steige aus und flüchte! Gefahr!" Raste eine überdeutlich starke Gedankenbotschaft Anthelias durch Cecils Bewußtsein. Er erschrak. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Oder hatte er dieses Gefühl nicht gehabt, sondern seine Puppenspielerin?

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Weihnachten mit Loretta Hamilton war etwas anderes als das mit Martha, fand Richard. Nun, wo er sich in seiner neuen Firma gut eingearbeitet und am letzten Arbeitstag vor Weihnachten an einer betriebsinternen Feier teilgenommen hatte, genoss er den Frieden in einem kleinen Dorf bei San Rafael in Kalifornien. Loretta Irene Hamilton hatte ihn eingeladen, sie in ihrem gemieteten Haus zu besuchen. Er hatte keine Sekunde gezögert, der Einladung zu folgen. Da die Inlandsflüge in den Staaten vergleichsweise billig waren, hatte Richard das Geld für das Ticket sehr gerne herausgerückt. Er war zu ihr geflogen und saß nun bei ihr, ohne laufendes Radio, ohne elektrische Weihnachtsbeleuchtung, nur achtzehn weiße Kerzen in sechs dreiarmigen Leuchtern, weißes Tischtuch und irgendwie altmodisch wirkendes Geschirr.

"Fehlt dir die Musik?" Fragte Loretta, nachdem sie das Abendessen beendet hatten. Richard nickte verhalten.

"Zu Hause hatten wir immer irgendeine Weihnachts-CD laufen", sagte er. "Bist du sicher, daß du so leben willst, Lolo?"

"Im Moment gefällt mir das außerordentlich, Richie", sagte die bezaubernd schöne Frau mit dem feuerroten Haarschopf, der ihr bis weit den Rücken herabreichte. "Das hält mich in der Stimmung, in der ich nachvollziehen kann, was ich erforsche. Vor nicht einmal einhundertfünfzig Jahren gab es noch keine elektrisch betriebenen Lichter oder Gerätschaften. Die Menschen haben Jahrtausende ohne diese Dinge gelebt und auch Feste gefeiert. Was soll daran nicht aufregend sein, diese Stimmung zurückzuholen?"

"Da ist was wahres dran", sagte Richard Andrews. Dann erzählte er, wie er einmal in einer Berghütte in Schottland übernachtet hatte, zusammen mit seinen Klassenkameraden aus Eton. Er und Rodney Underhill hatten die stromlosigkeit der Behausung schamlos ausgenutzt, um ihren Betreuer zu foppen, indem sie alle Kerzen unbrennbar gemacht hatten. Richard hatte da so einen Trick aus dem Chemiebaukasten, der das Kunstwachs durchtränkte und nicht brennen ließ. Auch erzählte er davon, daß sie damals aus einem Ziehbrunnen wasser holen mußten. Das alles, so beendete er die Geschichte, hätte man ihnen zugemutet, um sie daran zu erinnern, wie verwöhnt sie alle doch seien, daß sie fließendes Wasser aus einer Leitung im Haus, Heizung und feuerloses Licht hätten.

"Nun, eure Lehrer werden damals wohl gemeint haben, ihr würdet dann besser zu kontrollieren sein", vermutete Loretta und tischte einen reichhaltigen Fruchtsalat zum Nachtisch auf. Richard nickte und grinste. Dann fiel ihm ein, daß Julius, sein Sohn, nur noch in solchen Häusern wohnte. Sicher, fließendes Wasser hatten sie dort, aber kein elektrisches Licht. Aber das zauberten die sich eh, wenn sie es haben wollten.

Zum Abschluß des Weihnachtsfestes überreichte Loretta Richard ein kleines Paket. Er wickelte es aus und fand ein Medaillon mit einer Öse darin. Das Medaillon war aus Gold mit einem Einschluß aus Silber. Es war kreisrund und trug auf der Oberseite eine Umschrift in fremdartigen Zeichen, die Richard zunächst für altgriechische Buchstaben hielt, bis ihm die Keilschrift der Sumerer wieder einfiel. Er fragte Loretta, was da stand. Sie lächelte ein undefinierbares Lächeln und sagte:

"Es ist ein Freundschaftsmedaillon. Die Inschrift steht für Verbundenheit und Treue. Der Gebrauch dieser Schmuckstücke geht auf die alten Babylonier zurück. Ich habe vor einem Jahr den Laden in London entdeckt, der die Dinger für Touristen nachbaut. Ich habe versucht, den Text wörtlich zu übersetzen, bin aber an irgendwelchen Zeichen gescheitert, die noch vor der Zeit entstanden sind, die ich studiert habe. Ungefähr heißt es: "Dem du geweiht bist sei verbunden, in des Tages Lauf der Stunden, erwarte Hilfe, Treue und Kraft, in haltbarer Gemeinschaft." Dann kommt ein Abschnitt, den ich nicht entziffern konnte, bis da noch steht "Dies Band geknüpft für tausend Tage, hält dir vom Leibe Furcht und Plage." Natürlich habe ich jetzt nicht wortwörtlich übersetzt, weil ich doch etwas von der Poesie rüberbringen wollte."

"Klingt fast wie eine Zauberformel. Bist du sicher, daß dies in einem Ramschladen verkauft wurde, in dem ganz normale Leute einkaufen konnten?" Fragte Richard mißtrauisch. Loretta lächelte wieder und sagte:

"Wer ist in London schon normal? Außerdem liefen da auch viele Touristen herum. Außerdem, wenn es eine Zauberformel wäre, dann wäre es doch eher ein Schutzzauber, ein Segen. Glaubst du etwa an Magie?"

"Nein, ich glaube nicht daran", lachte Richard und fügte in Gedanken hinzu: "Weil ich weiß, daß es das gibt."

"Da habe ich dir auch eine Kette beigelegt", sagte Loretta Hamilton und deutete auf die silberne Kette. Richard kam sich zwar albern vor, doch er tat seiner neuen Freundin den Gefallen und hängte sich das Medaillon um den Hals. Als es über seinem Hemd baumelte sagte Loretta:

"Du mußt es auf der nackten Brust tragen, über dem Herzen." Zärtlich hob sie das Medaillon an, knöpfte mit der anderen Hand Richards Hemd auf und schob das Kleinod darunter, bis es unter seinem Unterhemd die nackte Haut seines Brustkorbs berührte.

Richard fühlte einen wärmenden Strom durch seinen Körper fließen. Doch weil Loretta ihn sanft streichelte, dachte er daran, daß sie ihn auf ihre Art wieder anregte, für sie empfänglich zu sein. Doch sie beließ es diesmal beim Streicheln. Sie sagte:

"Wir wollen diesen heiligen Tag nicht entweihen, indem wir uns so leidenschaftlich hingeben wie an jedem anderen Tag." Richard sah zwar enttäuscht auf seine Freundin. Doch ihr Lächeln war so eindeutig wie ein strenger, ein Nein unterstreichender Blick. So fügte er sich und zog sich in das kleine Gästezimmer zurück, daß Loretta eingerichtet hatte.

Sie selbst zog sich in ein Zimmer zurück, wo sie sich dem Licht des Mondes hingab, nackt und hell. Sie atmete langsam und ruhig. Sie hatte es geschafft. Nun, wo sie ihrem Auserwählten das Medaillon der festen Bindung überreicht hatte, war seine Seele wie ein offenes Scheunentor für sie. Sie konnte ihn nun unbegrenzt überwachen oder in seinen Willen eingreifen. Sicher, sie konnte das vorher schon. Doch nun würde er nicht einmal merken, daß er etwas tat, was er früher nie getan hätte. Das Medaillon um seinen Hals barg jedoch noch einen Fluch in sich: Es bot dem Träger ein ständiges Bedürfnis, es zu tragen. Trug er es insgesamt 39 Stunden, konnte er es nicht mehr abnehmen, ohne unter starken Depressionen zu leiden, die ihn in den Wahnsinn treiben mochten, wenn sie dies zuließ. Hinzukam, daß er nun, wo er dieses Kleinod trug, eine Verlängerung ihrer eigenen Zauberkräfte war. Er konnte nun relativ unsterblich sein und Menschen, die er körperlich liebte dabei an Körper, Geist und Seele auszehren, wenn sie dies von ihm wollte. Wenn er in höchste Gefahr geriet, oder sie ihn sofort von Angesicht zu Angesicht sprechen wolte, brauchte sie ihn nicht mehr lange zu suchen. Ein Befehl der Heimkehr würde reichen, um ihn wie appariert in ihrer neuen Schlafstatt ankommen zu lassen. Sie sang Richard von ihrem Zimmer aus ein langes Lied vor, das nun, wo er das Medaillon auf seiner Brust trug, ohne Schallwellen zu ihm kam und ihn durchdrang, seine Glieder durchpulste und seinen Verstand wiegte. Unter diesen ungehörten Klängen glitt er hinüber in einen langen Schlaf ohne bewußten Traum.

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Patricia Straton hatte in Anthelias Auftrag einen Versuch gestartet, offiziell ins Haus des Senators zu kommen. Doch ihr Zauber mit einer Einladungskarte, die sie von Cecils Tante Monica geliehen hatte, als die am Flughafen telefonierte und das nachträgliche Eintragen ihres Muggelweltdecknamens Liberty Grover hatte nicht lange vorgehalten. Als sie auf dem Grundstück war und an der pompösen Haustür klingelte, war ein Wächter gekommen und hatte sie sehr drastisch zum Verlassen des Anwesens aufgefordert. Da sie auf eindeutigen Befehl der höchsten Schwester des Spinnenordens hin keine Zauberei an Muggeln benutzen durfte, war sie abgerückt, jedoch nur vierhundert Meter weiter vom Tor wieder stehengeblieben. Sie machte sich und ihren Maserati unsichtbar und lauschte telepathisch und mit einem magischen Fernschallansaughörrohr, was im Haus geschah. Um kurz nach neun Uhr abends kam Paolo Carlotti mit seinem schwarzen Wagen vorbei, fuhr durch das Tor und kam nach wenigen Minuten wieder heraus, allerdings zusammen mit dem Ferrari von Cecils autonärrischem Cousin und mit Cecil selbst.

"Was fällt dem ein, in dieser dekadenten Potenzersatzmaschine zu sitzen?" Fragte Patricia sich und startete den Motor, den sie per Nullosonatus-Zauber auf totale Geräuschlosigkeit getrimmt hatte, wenn sie nicht wie beiläufig herumfuhr und da natürlich einen hörbaren Motor brauchte. Sie wendete und jagte als unsichtbares Phantom den beiden Wagen nach, die kaum auf der Schnellstraße angelangt beschleunigten. Sie amüsierte sich, weil auch die Muggel immer noch für schnelle Fahrzeuge schwärmten und bekam mit, wie der schwarze Wagen den roten auszumanövrieren versuchte und statt dessen die Führung verspielte.

"Pech", bemerkte Patricia dazu nur. Dann schrak sie auf. Sie fühlte, wie böse Gedanken näher kamen, und zwar von oben. Jemand war unterwegs, den schwarzen Wagen anzugreifen, der gerade seine Höchstgeschwindigkeit auslotete. Sie empfing nun Fetzen von wörtlichen Gedanken und erkannte, daß jemand es auf die beiden Geschwister im Alfa abgesehen hatte. Die Flugmaschine knatterte in großer Höhe über ihnen dahin, ohne Scheinwerfer. Als dann jedoch der überlegen führende Ferrari das Rennen beendete und abbremste, senkte sich der Helikopter rasch herunter und tauchte mit zwei großen Scheinwerfern hundert Meter Autobahnabschnitt in immer helleres Licht.

"Die wollen alle Töten, die um die Carlotti-Geschwister herumlaufen", dachte Patricia Straton, bevor sie Anthelia per Gedankensprechen Meldung machte. Diese reagierte sofort und schickte eine Gefahrenwarnung an Cecil, der früher mal Ben geheißen hatte.

"Fahr hin und beschütze den Jungen!" Kam noch ein unhörbarer Befehl bei der telepathisch begabten Hexe an. Diese jagte den Maserati immer noch unsichtbar und unhörbar über die Autobahn dahin. Ja sie ließ ihn sogar aufsteigen und in niedriger Höhe wie ein unsichtbarer Greifvogel dahinjagen, bis sie zwischen dem Hubschrauber und dem Ferrari ankam und waagerecht nach unten sank, wie der Helikopter zuvor.

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Giuliano Bernadetti hatte Angst. Sein oberster Boss, Arnold Hornsby, hatte ihn beauftragt, die Kinder des Bauunternehmers Carlotti zu finden und zu töten. Sicher, als Profi-Killer aus reichem Elternhaus war das an und für sich kein Problem, wären da nicht die vielen Gerüchte, daß Carlotti mit den einflußreichen Familien der ehrenwerten Gesellschaft zusammenarbeitete, vielleicht sogar selbst einer von ihnen war. Hornsby hatte davon nichts wissen wollen, da ja ständig irgendwelche Gerüchte ins Kraut schossen, wenn ein aus italienischen Einwandererfamilien stammender Geschäftsmann sehr reich und mächtig wurde. Bernadetti hatte natürlich durch seine Arbeit gewisse Kontakte zu Leuten, die wußten, wer in der Cosa Nostra was zu melden hatte und wer gerade in sehr großen Problemen steckte. Er hatte es mal erlebt, daß ein Berufskollege, der zu auffällig gearbeitet hatte, am Tag darauf nicht mit Dollars, sondern Bleikugeln bezahlt worden war, direkt ins Herz. Falls die Gerüchte doch wahr waren - wer wußte das schon, wenn niemand der was wußte redete? - spielte er gerade Jonglieren mit einer vollen Flasche Nitroglyzerin. Andererseits würde Hornsby einen netten Kollegen von ihm anheuern, falls Bernadetti die Sache vergeigte.

Der italoamerikanische Auftragsmörder hatte seine drei Zielobjekte, Adelmo, Paolo und Laura Carlotti, intensiv beobachtet und auf Video aufgenommen. Angeheuerte Technikspezialisten hatten mit Richtmikrofonen alle Familienmitglieder belauscht, wenn sie nicht gerade in den Räumen waren, die gegen Wanzen und Richtmikros abgeschirmt waren. So wußte Bernadetti, daß Laura Carlotti zu einer Weihnachtsfeier bei Senator Wellington fuhr. Ihr Vater hatte sie zwar vorher sehr laut ausgeschimpft, was ihr denn einfiele, zu einen Protestanten zu gehen. Doch Laura hatte ihn übertönt, zusammen mit ihrer Mutter. Sie war dann in einer von zwei gepanzerten Limousinen abgefahren, an deren Fenster reflektierende Folien hafteten, sodaß niemand hineinsehen konnte. Also mußte an den Gerüchten doch mehr wahres dran sein, dachte Bernadetti. Er hatte sich schnell dazu entschlossen, sie auf der Rückfahrt abzupassen. Zu diesem Zweck hielt er einen Hubschrauber in Bereitschaft, den er über einen merkwürdigerweise lange nicht mehr aufgetretenen Kumpel, El Serpiente, für die Lösung von vier unerträglichen Problemen bekommen hatte. Seine Leute bei den Carlottis überwachten die restliche Familie, bis Paolo Carlotti, Lauras zweitältester Bruder, mit seinem Wagen ausfuhr. Offenbar sollte er seine Schwester abholen. Die beiden Limousinen wurden wohl für den Hausherren gebraucht, denn der verließ wohl eine Minute später sein Haus, weil von ihm keine Geräusche mehr zu hören waren.

Bernadetti saß im Hubschrauber. Die Maschine stieg auf und flog rasch zum Anwesen des Senators. Jedoch gab es dort eine kleine Radaranlage, sodaß die Maschine in einem sehr weiten Bogen herumflog und wieder auf die Autobahn einschwenkte. Die fünf Mann an Bord sahen auf dem Bildschirm der Bodenbeobachtungskamera mit Restlichtverstärker, wie sich die beiden Sportwagen jagten und der Ferrari gewann.

"Wir landen genau zwischen den beiden Wagen und greifen den Alfa direkt an. Kein Weitschuß. Sowas kann sich rächen!" Legte Bernadetti fest. Der Pilot nickte.

"Wir können doch die Magnetnummer durchziehen", sagte er.

"Hmm, wäre auch was. Aber dann dürften die im Ferrari uns nicht dabei zusehen", sagte Giuliano. Doch als das Rennen zu Ende war und der Alfa aufschloss, befahl der Profi-Killer mit guten Beziehungen, vor den beiden Wagen zu landen und so zu tun, als seien sie Autobahnpolizei. Immerhin waren die beiden Autos mit absolut überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen, und sie sahen sogar schon Polizeiautos losfahren, um die beiden Raser zu kassieren.

"Wir haben maximal fünf Minuten für die Sache. Wenn die im Ferrari zu nahe dran sind, dann fertigt die auch ab! Ich will keinen Zeugen zurücklassen!" Schärfte Bernadetti seinen Leuten ein. Diese verstanden und entsicherten ihre Maschinenpistolen. Der Pilot prüfte, ob die schwenkbaren MGs klar waren und nickte. Die Maschine landete keine fünfzig Meter vor den beiden Wagen. Im moment war auf dieser Straße kein Betrieb. Alle anderen saßen wohl zu Hause und feierten Weihnachten. Kaum hatten die Kufen des Helikopters fest aufgesetzt, sprangen die vier Killer heraus und rannten im guten Sprinttempo auf die beiden Autos zu. Ein sechzehnjähriger Jüngling schnellte gerade aus dem Ferrari und jagte los, weg vom Hubschrauber. Der Fahrer des Wagens stieg aus und lief ebenfalls los.

"Abziehen!" Rief Bernadetti seinen Leuten zu. Diese richteten die MPs auf die flüchtenden. Da schoss unmittelbar vor ihnen eine bläuliche, spiegelnde Lichtwand auf, die die Autobahnspur komplett überspannte. die hundert abgefeuerten Kugeln zersprühten an dieser Lichtwand wie winzige Flammen blau-roten Elmsfeuers.

"Kassiert die ab!" Rief Bernadetti, den das Lichtschauspiel noch mehr erschreckte. Der Alfa stand wie er stand. Als eine weitere Salve aus vier Maschinenpistolen losratterte, verpufften auch diese Schüsse bläulich-rot an der Lichtwand.

"Ein Energieschirm oder sowas. Ich dachte, sowas könnten wir noch nicht", fuhr es Bernadetti durch den Kopf. Der Alfa drehte auf einmal um und schoss mit quietschenden Reifen und aufheulendem Motor davon.

"Pilot durchstarten, Wagen verfolgen und die flüchtenden Läufer von oben erlegen!" Kommandierte Bernadetti, der wie der Ochs vorm Berg die Lichtwand anglotzte. Schrill heulten die Zwillingsmotoren des Helikopters auf und trieben die Maschine hoch in die Luft. Von irgendwo her schwirrte ein bläulicher Feuerball heran, dem der Pilot gerade so auswich, bevor er über sechzig Meter über Grund war. Der Feuerball fauchte nur fünfzig Meter weit und explodierte mit dumpfem Knall zu einer Wolke gold-roter Flammen.

"Das gibt's nicht", sagte Bernadetti. Einer seiner Leute ballerte immer noch auf die Lichtwand. Diese schien dem Dauerbeschuss nun nicht mehr zu widerstehen. Sie fiel in sich zusammen und zersprühte in silbernen Funken.

"Los, hinter den beiden anderen herfeuern! Lauft!" Rief Bernadetti. DA stellten sich ihm drei Gestalten in Weiß in den Weg, die merkwürdige Stäbe in den Händen hielten.

"Ihr lauft hier keinem nach und bringt auch nicht einfach wen um!" Rief eine dieser Gestalten, unverkennbar eine Frau. Giuliano feuerte einfach auf sie. Doch die Salve verpuffte komplett vor der Fremden, die ganz ruhig ihren merkwürdig silbrigen Stab hob und etwas murmelte. Das letzte, was Bernadetti noch sah, war ein gleißendes, silbernes Licht, bevor ihn eine unbändige Wucht am ganzen Körper traf und ihn seiner Sinne beraubte.

Alle auf dem Boden laufenden Berufsmörder wurden von dieser silbernen Kraft umgeworfen und blieben liegen.

"Schwestern, diese DaVinci-Flugmaschine müssen wir stoppen", sagte die Anführerin der Truppe. Eine von ihnen nickte und tauchte den Kopf voran in das Nichts. Zumindest hätte es ein Augenzeuge so berichtet, wenn es noch einen gegeben hätte.

Der Hubschrauberpilot jagte die Flüchtenden. Er schwenkte gerade die Waffen auf sie ein, als eine Woge unbändiger Erleichterung von allen Gedanken seinen Verstand überflutete. Er konnte nicht feuern. Seine Maschine bockte wie ein störrisches Maultier, weil der Pilot sie nicht korrekt steuerte. Dann erklang in seinem Kopf eine gebieterische Stimme.

"Fliege so hoch wie du kannst, suche dir weites Land und steige aus deinem Fluggerät!"

"Nein, ich will das nicht!" Kämpfte sich eine schwache Stimme durch sein überwältigtes Bewußtsein. "Ich will das nicht!"

"Fliege so hoch wie du kannst! Suche dir ein weites Land und steige aus deiner fliegenden Maschine!" klang die Stimme wieder in seinem Kopf.

"Nein, ich will das nicht! Ich will nicht sterben!" Hielt die andere Stimme dagegen, schwach aber doch ausreichend, um die Hände des Piloten dazu zu bringen, die Maschine schnell zur Seite zu reißen. Schlagartig kehrte die gewohnte Wahrnehmung zurück. Der Pilot jagte nun mit großer Geschwindigkeit dahin. Was war das gerade?

Er verzichtete darauf, den Befehl auszuführen, den er bekommen hatte. Sicher, den Alfa würde er gleich noch an den Elektromagneten hängen, der eine Haftkraft von fünf Tonnen aufbrachte. Aber was war das eben?

"Das waren echte Aliens", dachte der Hubschrauberpilot. Echte Außerirdische hatten ihn angegriffen, mit Hypnosestrahlen! Er war früher ein leidenschaftlicher Zukunftsdichtungsfan gewesen und kannte alles, was in dieser Hinsicht auf dem Markt war. Die Lichtbarriere, die die Maschinenpistolensalven abgefangen hatte, der Feuerball, der ihn fast getroffen hätte und nun noch die gebieterische Stimme in seinem Kopf, waren eindeutige Zeichen für eine dem modernen Menschen überlegene Technik. Angst packte den Piloten, der immer nur aus sicherer Entfernung gemordet hatte. Immer lagen mindestens fünfzig Meter Luftlinie zwischen ihm und seinem Gegner oder eine Fernsehbildverbindung. Er sah den Alfa und drückte zwei Knöpfe.

Ein Knall wie ein Pistolenschuss ließ den Piloten zusammenschrecken. Dann ertönten zwei von einer Frauenstimme gerufene Wörter: "Avada Kedavra!" Außer einem grellen Grünlicht sah er nichts mehr und würde auch nie wieder was sehen.

Als der Hubschrauber schließlich über einem Weizenfeld abstürzte, war außer dem toten Piloten niemand an Bord. In einem gewaltigen Feuerball explodierte die Maschine. Dumpfe Folgeexplosionen klangen nach. Der Farmer, dem der Acker gehörte, rannte aus seinem kleinen Haus, sah die Verwüstung und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Dann eilte er ins Haus zurück und rief das Landesfarmbüro an, um Schadensersatz für die ganze ausgefallene Ernte einzufordern.

"Das ist mir im ganzen Leben noch nicht passiert, daß ein Muggel so heftig den Imperius nidergekämpft hat", meinte Patricia Straton zu ihrer Beifahrerin Charity.

"Du hast ja auch andere Qualitäten, Schwester Patricia", beruhigte Charity die Mitschwester. Gerade eben hatten sie den Hubschrauberpiloten getötet und saßen nun im wie fest verankert über dem Acker schwebenden, unsichtbaren Maserati.

"Was machen wir mit den Beteiligten? Die Polizei hat den Italoamerikaner mit seiner Schwester auf der Rückfahrt gestellt."

"Soll er die Strafgebühr zahlen, die er verschuldet hat", grinste Charity. Patricia nickte, obwohl das im unsichtbaren Zustand keiner sehen konnte.

"Zurück zur höchsten Schwester", entschied Patricia und lenkte den bezauberten Wagen zurück zum Kampfplatz.

"Ich konnte das Gedächtnis der beiden Geschwister noch rechtzeitig verändern, Schwestern. Habt ihr den Flugmaschinenführer ausgeschaltet?" Fragte Anthelia. Patricia nickte schwerfällig und erklärte, daß sie mit dem Imperius-Fluch keinen Erfolg gehabt hätte und in einem riskanten Appariermanöver zu dem Piloten springen und ihn direkt töten mußte, bevor sie den Autopiloten eingestellt und die Maschine sich selbst überlassen hätte.

"Wir haben sie über einen Acker herunterstürzen sehen. Von der Leiche wird nichts verwertbares übrigbleiben", sagte Charity.

"Ich werde unseren Schutzbefohlenen zurückrufen. Seinen neuen Vetter wirst du versorgen, Schwester Patricia. Er läuft gerade wweit von der Fahrstraße in unsere Richtung zurück. Offenbar will er seinen Wagen wiederhaben."

"Er hat kein Handy mit, höchste Schwester", sagte Patricia Straton. "Es liegt in diesem Automobil."

"Dann kann er seine Ordnungshüter nicht rufen. Gut, daß die Schergen dieser Welt meinem Imperius-Fluch unterlagen. Sie wurden gedächtnismodifiziert und dazu angehalten, lediglich die Strafgebühr für das unerlaubte Schnellfahren zu fordern."

"Und was machen wir mit den anderen Leuten hier?" Fragte Charity und deutete auf die langsam wieder zu sich findenden Gangster.

"Den Anführer nehmen wir zum Verhör mit. Er kennt sich offenkundig in der Zunft gedungener Mordbuben aus. Diesen Umstand möchte ich nicht ungenutzt verfliegen lassen", sagte Anthelia. "Mit den anderen könnt ihr nach Belieben verfahren", fügte sie noch hinzu, bevor sie sich konzentrierte, um telepathisch nach Cecil Wellington zu rufen.

Patricia Straton trumpfte mit ihren Verwandlungskünsten auf und machte aus den drei belanglosen Gangstern weiße Mäuse, die sie von der Autobahn heruntertrug und in das spärliche Waldgebiet daneben entließ. Dann apparierte sie zu Titus, der zu seinem Wagen zurückschleichen wollte.

"Obleviate!" Rief sie und korrigierte das Gedächtnis des jungen Mannes, der sich nach dem Erwachen aus der Veränderungstrance nur noch daran erinnern würde, daß er das Straßenrennen gewonnen und sich mit Cecil an den Polizisten vorbeigemogelt hatte.

Cecil Wellington, der früher Ben Calder geheißen hatte, kam folgsam zu Anthelia hin, die ihn musterte und dann wohlwollend sagte:

"Du siehst, Cecil Wellington, daß wir dich immer noch leiden mögen. Was deine neue Bekanntschaft betrifft, so ist sie das Licht, das das blutgierige Nachtgefleuch anzieht. Ich würde mir an deiner Stelle etwas suchen, daß weniger gefahrenträchtig für dich ist!"

"Ich habe mit der nichts", sagte Cecil wild. "Sicher, ich komme mit ihr gut aus und ..."

"hast von ihr schon dreimal geträumt und wärest dabei fast in der ungewollten Wonne träumender Jünglinge vergangen. Du weißt, daß ich weiß, was du denkst, träumst und erlebst. Also nimm diesen wohlgemeinten Rat von mir zu herzen!" Sagte Anthelia sehr ruhig, beinahe mütterlich, streng aber doch gutmütig.

"Wer garantiert mir, daß ich nicht durch diesen Fluch von - Ihnen alles böse anziehe?"

"Das, was ihr das Böse nennt, ist überall, Cecil Wellington. Doch man kann ihm durch Umsicht und Geschick ausweichen. Kehre nun heim zu deiner Familie und verbringe die nächsten Wochen in Frieden!" Gab Anthelia ihm mit auf den Weg.

"Auf nimmer wiedersehen", knurrte Cecil. Anthelia lächelte nur.

"Es wird ein Wiedersehen geben, Cecil. Doch wann dies ist, weiß auch ich noch nicht."

Cecil Wellington stieg in den Ferrari ein, als Titus wiederkam. Dieser wußte von nichts, als sie über die Autobahn zurück zum Wellington'schen Anwesen fuhren. Anthelia hatte ihm das Gedächtnis genommen oder verändert, erkannte Cecil. Er allein wußte, was wirklich passiert war. Laura und Paolo waren inzwischen heimgekehrt. Auch sie wußten nur von dem Rennen, und daß Paolo wohl Ärger mit seinem Vater kriegen würde, weil er sich hatte erwischen lassen.

"Schönes Weihnachtsfest", dachte Cecil, als er in seinem Zimmer alleine war. Die Festgäste waren schon seit einer Stunde weg. Sein Vater hatte die Abbildung von Ebony Champion vom Geschenketisch genommen und an den Gast zurückgereicht, der sie Cecil geschenkt hatte. Dazu mußte kein weiteres Wort gesagt werden. Cecil hatte sich das Pferd, was durch diese Nachbildung symbolisiert war, nicht verdient. Na und? Das war ihm total egal, fand Cecil. Er wußte, daß er ein gestohlenes Leben lebte, das er nicht einmal gezielt beenden konnte. Was war da ein überzüchtetes Pferd auf der Ranch eines texanischen Politikcowboys, den Menschenleben nur interessierten, solange sie sich an seine Vorstellungen von Ordnung und Rechtschaffenheit hielten. Passend zu Weihnachten dachte er an Engel. Jeder Mensch habe seinen Schutzengel, hieß es. Er, Cecil Wellington, hatte eine Unzahl von Schutzengeln. Doch diese waren nicht aus dem Himmelreich, und mit "Friede auf Erden" hatten die wohl auch nichts am Hut.

"Für jeden Tag einen anderen Schutzengel", grummelte Cecil in sein Kissen, als er im Bett lag. "Schutzengel für eine lebendige Marionette. Nur weil ich diesem Hexenclub damals beim Herbeisingen ihrer netten Oberhexe zugehört habe."

Was mochte die nächste Zeit bringen? Er wohnte bei einem Politiker. Anthelia hatte oftt angedeutet, daß sie diese Welt zu einer für sie besser erscheinenden Welt umbauen wollte. Dazu mußte sie ja auch die kennen, die sie regierten. Cecil Wellington grinste verächtlich. Er war der perfekte Spion, der Supergeheimagent, der jederzeit abrufbar war und seine Erlebnisse ohne großen Umweg an die Zentrale schickte, ja nicht einmal mitbekam, wenn die Zentrale sich die Informationen von ihm holte. Er war der umgekehrte Pinocchio, der echte Junge, der nun eine Puppe war, die an einem sehr langen Fadenstrang tanzte und sprach.

"Tolle Schutzengel", sagte sich Cecil noch einmal. Dann fiel er in tiefen Schlaf.

ENDE

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